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Buch: Auf Sodde Lydfe hausen die Lamviin, eine intelligente Rasse krabbenähnlicher Lebewesen, die gerade dabei sind, mit der Ersten Industriellen Revolution zu Rande zu kommen. Die Lamviin sind extrem wasserscheu, dreigeschlechtlich, und auch ihr Körper ist dreieckig, mit sechs Geh- und drei Greifhänden. Ihre Zivilisation baut konsequentermaßen auf einer Dreiersymmetrie auf. Sie leben in Dreiergruppen – Mann, Beimann und Frau – zusammen; eine Zweierbeziehung wird als suspekt, ja geradezu als pervers empfunden. Dies ist die Geschichte von Agot Edmoot Mav, einer Ihrer Majestäten Kübeliere, die gleichzeitig die Funktion von Polizisten und Feuerwehrleuten erfüllen. Er wird Zeuge eines grausamen Mordes an einem berühmten Wissenschaftler, der kühn die Evolutionstheorie vertrat und behauptete, die Lamviin stammten von den Krabben ab. Dadurch war er den Konservativen ein Dorn im Auge, und ihr Zorn ballte sich über seinem Rückenschild zusammen. Trotzdem – Kübelier Mav macht sich mutig an die Aufklärung des schwierigen Falles, denn er scheut sich nicht, mit allen drei Händen gleichzeitig heiße Eisen anzupacken. Durch seinen munteren, fröhlich-frechen Stil, seine anarchistische Kaltschnäuzigkeit und ein Feuerwerk von Ideen hat Neil Smith frischen Wind in die amerikanische Science Fiction gebracht.
SCIENCE FICTION Herausgegeben von Wolfgang Jeschke
Von L. Neil Smith erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: DAS GALLATIN-UNIVERSUM: Der Durchbruch 06/4250 Der Venus-Gürtel 06/4251 Ihrer Majestäten Kübeliere 06/4252 Der Nagasaki-Vektor 06/5253 Tom Paine Maru 06/4281 Die Gallatin-Abweichung 06/4282
L. NEIL SMITH
IHRER MAJESTÄTEN KÜBELIERE Dritter Roman aus dem Gallatin-Universum
Science Fiction
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4252
Titel der amerikanischen Originalausgabe THEIR MAJESTIES‘ BUCKETEERS Deutsche Übersetzung von Irene Holicki Das Umschlagbild schuf Roy Michael Payne Die Karten zeichnete Erhard Ringer
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1981 by L. Neil Smith Copyright © 1986 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1986 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Wels Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-31234-1
INHALT
Prolog 1. Kapitel - Vorwürfe wegen unziemlichen Verhaltens 2. Kapitel - Die Entstehung des Lamviin 3. Kapitel - Naturphilosophie des Mordes 4. Kapitel - Eine zweifelhafte Einkerkerung 5. Kapitel - Versteckte Anspielungen zum Fenster hinaus 6. Kapitel - Lam der östlichen Ebenen 7. Kapitel - Experimente 8. Kapitel - Der Schrein der Grundwahrheit 9. Kapitel - Die Reise der ›Dessmontevo‹ 10. Kapitel - Der Untersuchungsbereich wird kleiner 11. Kapitel - Auf der Bürgerbrücke 12. Kapitel - Studie in Smaragdgrün 13. Kapitel - Die unschuldig Schuldigen 14. Kapitel - Verzweifeltes Unternehmen 15. Kapitel - Sammelpunkt des Verbrechens 16. Kapitel - Mathas hinter Gittern 17. Kapitel - Eine auf Intuition beruhende Wissenschaft
10 12 26 38 53 71 87 100 113 127 138 152 166 180 191 202 213 228
Anhang - Kurzer historischer Abriß des Gallatin-Universums 236 ÜBER DEN AUTOR
252
Für Owen, als Dank für den freundlichen Schnitt.
Pasje, uai nrytu wesoh lixxu lenoh oj-niiwaav Aus dem Buche Pah
Prolog Über die Entdeckung der Lamviin von Sodde Lydfe durch die Solare Konföderation wird anderswo berichtet. Das ist auch durchaus richtig, da sie ja den ersten Kontakt von Menschen, Primaten und Cetaceen* in der Geschichte mit einer außerirdischen Intelligenz repräsentiert. Hier haben wir jedoch eine Art Tagebuch vorliegen, das von einem Angehörigen dieser Gattung einige Tage lang etwa fünfundzwanzig Jahre vor der Ankunft der ›Tom Paine Maru‹ geführt wurde, ein ganz persönliches Abenteuer aus einer Zeit, die jetzt mit nostalgischen Gefühlen betrachtet wird. Es wäre nicht von besonderer Bedeutung, wenn es nicht von demselben Agot Edmoot Mav handelte, der bei unseren ersten Beziehungen eine so große Rolle spielt, und wenn es nicht eine Vorausschau auf die verzweifelten Umstände bieten würde, die zu unserer immer noch umstrittenen Einmischung führten. Zur Einführung: Die Lamviin sind eine Rasse von behaarten Pseudokrebstieren, ungefähr einen Meter groß und dreiseitig symmetrisch. Rings um den Rückenschild zwischen den großen, dunklen Augen sind drei große Gliedmaßen angeordnet, die sowohl zur Fortbewegung wie auch zum Greifen benützt werden. Etwa auf halber Höhe verzweigt sich jedes dieser ›Beine‹ noch einmal in drei ›Arme‹, die in geschickte, dreifingrige Hände auslaufen. Die Lamviin haben natürlich auch drei Geschlechter, aber es geht weit über den Rahmen (und die Möglichkeit) dieses kurzen Vorworts hinaus, die daraus resultierenden Komplexitäten auch nur anzureißen! Sodde Lydfe wird häufig als ›ungefähr erdähnlich‹ beschrieben. Nur sehr ungefähr: Es ist dort gnadenlos heiß (obwohl es den Lamviin natürlich nicht so vorkommt) und so trocken, daß es beinahe unbeschreiblich ist. Seine Schwerkraft, etwa zwei Drittel des Standardwerts, hält drei ziemlich große, helle, natürliche Satelliten auf Umlaufbahnen. *
Wale und Delphine, eine der drei Intelligenzformen der Erde.
Jene perverse Minderheit von Lesern, die Geschmack an Zahlen und Statistiken finden, mögen sich mit dem offiziellen Bericht über die interstellaren Reisen und Unternehmungen der ›Tom Paine Maru‹ zufriedengeben. Mymys Geschichte, erzählt in sihren (ja, so lautet das Pronomen) eigenen Worten, vermittelt einen viel befriedigenderen Eindruck vom Leben im Reich Groß Foddu während der Zeit, in der Mav sich zu der Person entwickelte, die wir – welch ein verdammtes Glück! – dort vorfanden, die dort auf uns wartete. In mancher Hinsicht ist es eine wohlvertraute Geschichte, voll von all den lebensverzerrenden Einstellungen und Gebräuchen, auf die man immer dort trifft, wo politische und militärische Macht die Vernunft des Einzelnen und den freiwilligen Austausch als Grundlage der Zivilisation verdrängt haben. Daß Mav schon so lange, ehe wir ihn kennenlernten, anfing, diese Umstände zu erkennen, und sich bemühte, sie zu ändern, macht ihn für uns so bemerkenswert. Und auch für Mymy, allen Anzeichen nach. Man stelle sich Sodde Lydfe also so vor, wie wir es zum erstenmal sahen, wie wir es gesehen hätten, wenn wir ein Vierteljahrhundert früher angekommen wären: Der zweite Planet eines orangefarbenen Zwerges namens Pah, klein und ein wenig kühler als unsere Sonne. Vom Weltraum aus ist die Oberfläche ein wildes, wolkenloses Gewirbel aus Braun und Orangegelb, die Meere sind leuchtend rot. Die Bewohner… nun ja, lassen wir Mymy von ihnen erzählen. Und auch von sihr selbst. EdWina Olson-Bear
Chefkulturologe der ›Tom Paine Maru‹ 23. Oktober 276 A. L.
1. Kapitel Vorwürfe wegen unziemlichen Verhaltens Agot Edmoot Mav, Außerordentlicher Ermittlungsbeauftragter bei den Kübelieren Ihrer Majestäten, trabte die ausgetretenen Stufen des Nordheckenbezirksgebäudes in sichtlicher Erregung hinunter und hatte fast den gepflasterten Bürgersteig der Kevod Lane erreicht, ehe er bemerkte, daß ihm jemand folgte. Ich konnte ihm das kaum verübeln: In diesem Augenblick nahm er anscheinend außer der unerträglichen Frustration, die die reaktionäre Haltung unseres unmittelbaren Vorgesetzten immer in ihm hervorrief, nur wenig wahr. Wenn einem offen gesagt wurde, daß es für Kübeliere in Zivilkleidung zwar durchaus einfacher sein könnte, Verbrecher zu fassen, aber daß ein solches Mittel unsportlich und aus diesem Grunde undenkbar sei… Das Fell auf Mavs Rückenschild stand in Stacheln hoch, die seine schlechte Laune anzeigten, als er begann, nach Art seiner Resre-Lehrer tief einzuatmen – wieder so eine ›ausländische Sucht‹, die der Bataillonschef Waad Hifk Tis mißbilligte – eine subtile, aber wirksame Hilfe für einen Gentlelam, um Ruhe zu bewahren. Der Atem pfiff leise durch die Nüstern auf beiden Seiten seiner Gliedmaßen, diese spannte er abwechselnd an und entspannte sie, dabei gewann er die Kontrolle über sein Verhalten wieder. Meiner Ansicht nach war Mav ein Musterexemplar gereifter, fodduanischer Lamviinheit, groß, symmetrisch, gewöhnlich zurückhaltend und höflich, wie es sich für den Stand, in den er hineingeboren war, gehörte, und von einer für die kaiserliche Rasse typischen, lohgoldenen Färbung, die an den Extremitäten in eine tiefere Tönung überging. Eine gepflegte, wohlgeformte, dreifingrige Hand befand sich an jedem der Arme, und er setzte sie mit der ihm angeborenen Grazie ein, sei es nun, daß sie sein Gewicht trugen oder – in Ausübung jener einzigartigen Fähigkeit, die uns von den der Sprache nicht mächtigen
Tieren unterscheidet – ausgestreckt waren und dabei eine Stärke zeigten, die für einen Widerstand leistenden Verbrecher oft überraschend war (und auch für manche verliebte Frau und manchen Beimann, wenn man den Anspielungen in der Abteilung auch nur die geringste Bedeutung beimaß. In meiner Gegenwart war er ein Muster moralischer Korrektheit, obwohl ich damals nie so genau wußte, ob dies auch wirklich wünschenswert war.). Da, wo sich jede Dreiergruppe von Armen vereinigte, schloß eine steife, sorgfältig ausgesuchte Hemdmanschette den Ärmel seiner aristokratisch geschnittenen Uniform ab. Die Glieder oberhalb dieser Gelenke waren (so mußte man annehmen) gleichermaßen wohlgeformt – aber bei einem verursachte eine anhaltende Schwäche, bedingt durch den Pfeil eines Wilden, der ihn während seines kurzen und, wie man hörte, berüchtigten Einsatzes in einem Kolonialkrieg getroffen hatte, andeutungsweise ein Hinken, das er geschickt verbarg, indem er seine Dienstwaffe dort angeschnallt trug, anstatt, wie vorgeschrieben, an der Unterseite seines Rückenschildes. Die dazu nötige Vorrichtung aus abgelagertem Ajot-Leder war, wie ich wußte, eine von Mavs kleineren Erfindungen, von denen einige – trotz energischsten Widerstandes von offizieller Seite – in der Abteilung täglich in Gebrauch waren. Selbst für den höchsten Beamten ist es schwierig, gegen Geräte zu protestieren, die regelmäßig Leben retten. Mit allen Anzeichen von Zufriedenheit untersuchte der Detektiv jetzt die ruhige Struktur seines Fells, während ich – Mymysiir Offe Woom, beimännlicher Kauteriseur, Mavs Bewunderer und Freund und zufällig Zeuge dieser schweren Prüfung in Selbstbeherrschung – mit einem Rasseln durch die hohen, dreieckigen Glastüren des Bezirksgebäudes kam und zu ihm trat. »Schon wieder eine Auseinandersetzung mit unserem Chef?« Auf meinem eigenen Pelz war wohl eine Riffelung belustigten Mitgefühls zu erkennen. Als entschieden unabhängiger Vertreter meines Geschlechts gestehe ich, daß Mavs Bemühungen um den Fortschritt in der Abteilung auffällig mit meinen eigenen parallel zu laufen schienen. »Ich glaube, man konnte euch beide durch massive Steinwände hin-
durch bis ins Krankenrevier hinunter hören!« Mein Gefährte blickte mit einem Auge zynisch in meine Richtung, während er mit den verbleibenden zweien nach einer Lücke im nachmittäglichen Verkehr Ausschau hielt, der lebhaft zwischen ihm und seinem offensichtlichen Ziel, dem ›Schlauch & Federbogen‹ vorbeibrauste. »Mein lieber Mymy, du solltest nicht Impertinenz und Winkelzüge miteinander verbinden. Willst du leugnen, daß es DEIN Umriß war, den ich gerade eben vor der Milchglastür von Tis' Büro gesehen habe?« Damit trat er über den Randstein, war aber gezwungen, wieder zurückzuweichen, als ein schwerer Wagen mit ›Myfins Berühmter Arznei‹ – gegen Fieber und Feuchtigkeit in Rückenschild und Gliedmaßen – ihm in den Weg polterte, von einem schlecht zusammenpassenden Dreigespann von Watun gezogen. Ich ging auf seine Anklage nicht weiter ein, weil ich nicht zulassen wollte, daß unsere Unterhaltung sich vom Thema entfernte. »Lieber Mav, mehr Geduld von deiner Seite hätte vielleicht eine wohltätige Auswirkung auf die Gesundheit unseres Arbeitgebers. Es ist noch kein Jahr her, daß du ihn überredet hast…« »Überredet?« Er zog aus einer Tasche an seinem Jackenbein eine kleine, verzierte Silberröhre und ein dazupassendes, winziges Fläschchen mit dem aromatischen Destillat heraus, das speziell für ihn in der King's High Road gemischt wird. Ein oder zwei Tropfen fielen in eine Öffnung am Ende des Zylinders; er wartete, bis das Öl das Filzfutter durchtränkt hatte, dann schob er die Röhre in ein Nasenloch. »Unser ehrenwerter Bataillonschef mußte praktisch mit der Pistole zu dem Eingeständnis gezwungen werden, daß Verbrechensermittlung auf wissenschaftlicher Basis eines Tages durchführbar sein könnte, vorausgesetzt, ich dürfte anfangen…« »Und du hast auch angefangen, verehrter Herr Ermittlungsbeauftragter, noch dazu mit einer beträchtlichen Verbesserung deiner beruflichen Stellung. Der hochgeschätzte Mav ist nicht länger verpflichtet, gewöhnliche Raufbolde zu verfolgen, wenn ein Mitkübelier in einer dunklen Gasse die Trompete bläst. Und der beneidenswerte Mav marschiert auch nicht mehr zu allen möglichen Abendstunden bei jedem abscheulichen Wetter seine zugewiesenen Runden, und da wir gerade
von abscheulich sprechen…« – ich zeigte auf seine Pfeife, deren Dämpfe mich zum Blinzeln brachten –, »das ist eine ekelhafte Angewohnheit; sie wird eines Tages noch dein Tod sein.« »Nicht«, erwiderte er gelassen, »wenn ich diese dreimal verfluchte Straße überqueren kann, um einer noch ekelhafteren Angewohnheit zu frönen.« Er nahm seine Instrumententasche. »Kommst du mit, Kauteriseur?« Endlich hatten sich Watun und Wagen entschlossen, uns durchzulassen. Wir näherten uns der vertrauten Feierabendzuflucht, einem Lokal, das liebevoll und nach altem Brauch mit dem Spitznamen ›Kübel und Knüppel‹ bezeichnet wurde. Mav schwang die Seitentür zum Restaurant auf, wo der Wirt uns mit einem mürrischen Ausdruck in den Haaren begrüßte. »Heda, Leute von Ihrer Sorte haben hier keinen Zutritt!« Trotz eines natürlichen Zitterns sah ich eisig durch ihn hindurch. »Verzeihung, Schankwirt, ist das nicht eine Schenke für Kübeliere?« Eine gelinde ausgedrückt rhetorische Frage, auf dem Körper des Burschen waren deutlich die Narben und Verbrennungen von tausend Bränden in der Stadt zu sehen. Sein wütend gesträubtes Fell glättete sich bei meinen Worten und zeigte einen Ausdruck stumpfer Verblüffung. »Das wissen Sie doch, Missur Mymy, warum fragen Sie eigentlich, wenn Sie es doch wissen?« Er wischte sich drei schmutzige Hände an der Schürze ab, die zwischen seinen Beinen hing. »Nun, mein lieber Tarnet«, erklärte ich und deutete auf die Abzeichen an meiner Kappe und meinem Ärmel, »dann bin ich also kein Kübelier?« Wir hatten dieses deprimierende Spielchen schon unzählige Male gespielt, aber es fiel mir immer wieder schwer, so mit dem Veteranen zu reden. Die männlichen Stammkunden starrten mich an, als ich so in der Tür stand, die Hälfte meiner Gehhände noch draußen auf dem Gehsteig. Jede Faser auf meinem Rückenschild regte sich in kaum verhohlener Verlegenheit und aufkommendem Zorn. »Ja, Mymy, aber Sie sind auch ein…«
»Kauteriseur? Nun, davon sehe ich auch noch einige: Da drüben ist Nrydmou, und hier, hallo Zihu!« Ich sah davon ab, darauf hinzuweisen, daß dies natürlich die einzigen männlichen Kauteriseure waren, die es im Nordheckenbezirk noch gab. »Aber Missur, ich kann doch nicht… ich meine, seit siebenundzwanzig Nonaden durfte noch nie ein…« »Beimann, Tarnet? Vor genau diesen drei Oktarien gab es auch noch keine friedenshütenden Kübeliere. Aber da sitzen, man könnte sagen, so offen ›wie die Kiefer auf deinem Kopf‹ Dapod und Em und laden sich auf wie richtige Feuerwehrleute. Wie geht's Leute?« Unsere etwas weniger fortschrittlichen Kollegen beachteten meinen Gruß nicht. Mavs Pelz kräuselte sich jetzt ziemlich stark vor Belustigung, obwohl ich glaube, daß er sich nicht wegen meiner Zwangslage amüsierte. »Mymy, komm mit! Ich setze mich mit dir in den Schankraum.« Er nahm meinen Arm, führte mich aus der Tür und wir gingen noch ein paar Schritte die Straße entlang. Der öffentliche oder ›Familien‹-Teil des ›Schlauch & Federbogen‹ war ziemlich genau so eingerichtet wie das Restaurant, zu dem ich nie Zutritt hatte, mit dunklen, alten, abgelagerten Kaktusbohlen und gelbem Sand, der reichlich auf das abgetretene Pflaster gestreut war. Streifen und Flecken auf den Balken zeugten für das Alter des Lokals, wo zuerst Talglichter und später Gaslampen ihre rußigen Zeichen hinterlassen hatten. Jetzt waren die Glashüllen elektrischer Kerzen an den Kupferfassungen und Reflektoren ihrer Vorgänger befestigt. Diese Revolution im Beleuchtungsbereich hatte in den Tagen meiner Großeltern stattgefunden und in Mathas viel dazu beigetragen, die relativ große Bedeutung des feuerbekämpfenden Zweiges unserer Behörde zu verringern. Bisher war die bürokratische Struktur der Organisation dem noch nicht ausreichend angeglichen worden. Tarnet kam wieder zu uns und wandte sich an meinen Gefährten. »Och, es gehört sich einfach nicht für einen Lam, daß Sie Ihren Strom zusammen mit den Damen und den Derren nehmen, Captain.« Mit allen Anzeichen unerträglicher, geistiger Qualen fügte er hinzu: »Kommen Sie wieder ins Restaurant und nehmen Sie einen Schock auf Kosten des Hauses!«
Während ich Mav beobachtete, ließ ich meine anderen Augen kurz über die anwesenden ›Damen‹ wandern und überlegte, wie sehr meine Familie wohl schockiert wäre, wenn sie wüßte, was ich da sah. Das Bezirksgebäude lag nahe am Schnittpunkt dreier deutlich verschiedener Distrikte, und diese Gegend hatte nie so ganz zu einem eigenen Charakter gefunden. Es gab die mondäne und wohlhabende ›Nordhecke‹, wo meine Eltern sich niedergelassen hatten und wo ich es, trotz ihrer energischsten Proteste geschafft hatte, mir eine eigene Wohnung einzurichten – zugegeben, von meiner Mutter ausgesucht und gut überwacht. Dann gab es die ›City‹, wo untertags achtbare Unternehmen florierten, darunter auch die Büros der medizinischen Praxis meines Beivaters. Und dann gab es den Kiiden, wo Theaterbesucher und andere, weniger harmlose Abarten von Sensationslustigen nächtens die Straßen bevölkerten. Neben seinen anderen Funktionen diente das ›Schlauch & Federbogen‹ auch als Sammelplatz und Zuflucht für diese armen Verrufenen, von denen Tarnet gesprochen hatte, während sie sich darauf vorbereiteten, ihre erniedrigende, nächtliche Beschäftigung auszuüben. Außer durch ihre Größe und ihre Kleidung waren ihre beimännlichen Partner (und Partner mußte es geben, denn Perversionen in unnatürlicher Anzahl oder Kombination fanden noch weniger offizielle Duldung als sie unsere Behörde gewöhnlich der normalen ›anständigen‹… – oh, um der Dreiheit willen, sprich es doch aus! – Prostitution gewährt) kaum zu unterscheiden, so niedergeschlagen bauten sie eine trunkene Gleichgültigkeit gegenüber dem auf, was sie in dieser Nacht ertragen mußten, um Geist und Rückenschild zusammenzuhalten. Hier waren natürlich auch meine ebenfalls beimännlichen Kauteriseurkollegen zu finden, die auf das Schauspiel, das ich bisher gegeben hatte, so reagierten, wie es ihrer individuellen Natur entsprach. Poadpo schaute zur Bretterwand und tat so, als habe ser nichts bemerkt. Zoddu blinzelte und zuckte verschwörerisch mit sihrem Fell; obwohl ser nicht den Mut hatte, so etwas selbst anzufangen, bewunderte ser trotzdem meine Tollkühnheit und hatte mir das auch schon einmal gesagt, als wir allein waren. »Soll ich das so verstehen«, wollte mein selbsternannter, aber trotzdem willkommener Beschützer wissen, »daß Sie lieber freiwillig mei-
nen beimännlichen Gefährten im Restaurant bedienen und damit generationenalte Traditionen brechen wollen, als zuzulassen, daß ich, ein Mann, mir meinen Kitzel im Schankraum hole?« Mav hatte noch eine Eigenschaft, die ich bewunderte: Er scheute sich nie, den Kernpunkt einer heiklen Situation unverblümt anzusprechen – mit lautesten Worten, wenn es nötig war. Der Barlam tat mit einem unglücklichen Nicken sein Einverständnis kund und drehte dabei seine Schürze in den Händen. »Dann bedienen Sie uns, guter Lam, und zwar schnell!« Er wedelte mit einer glänzenden, frischgeschlagenen Silberkrone vor den Augen des unglücklichen Burschen hin und her, während wir alle drei zusahen, wie Frauen und Beimänner, Kübeliere wie Huren, aufstanden und ins Restaurant hinübergingen. »Oder sollen wir anderswo Kundschaft werden?« Ich saß unbehaglich auf meinem sandgefüllten Kissen in der Nische, die Mav ausgesucht hatte, meine sechs Gehhände baumelten mehrere Fingerbreit über dem Boden, die Unterseite meines Rückenschildes schwankte leicht, obwohl ich die Ellbogen fest auf die rohbehauene Tischplatte gestemmt hatte. In einem Punkt war Tarnet völlig aufrichtig gewesen: Dieser Teil seines Lokals war nie für die kleineren Geschlechter bestimmt. »Mein lieber Ermittlungsbeauftragter«, mahnte ich, als unser Gespräch wieder auf das Thema Tis gekommen war, »jedes Ding hat drei Seiten…« »Ganz sicher«, erwiderte er, »die richtige Seite, die falsche Seite und die beimännliche Seite.« Er legte seine Felldecke ein wenig in Runzeln und zeigte damit, daß hinter der Spitze Humor steckte. Dann hob er eine Hand und winkte dem Besitzer erneut, um zu bestellen. Zum drittenmal, wie ich mich erinnere. Sein Fell nahm einen nachdenklichen, beinahe bitteren Ausdruck an. »Warum gibt es Wesen, die ihre einzige Pflicht und ihr einziges Vergnügen darin sehen, nur um der Obstruktion willen anderen Hindernissen in den Weg zu legen?« Ich erwiderte: »Und andererseits gibt es Wesen – nach Meinung
meines Vaters hauptsächlich die Jungen –, die alles Neue nur deshalb in die Arme schließen, weil es neu ist.« Ich konnte den alten Gentlelam beinahe wortwörtlich zitieren, denn er hatte das oft genug gesagt, gewöhnlich über mich. »Vielen Dank, lieber Mymy, für das darin enthaltene Kompliment, aber ich bin kaum mehr jung zu nennen – und mit meinem Panzer gegen Tis und seinesgleichen anzurennen hat mich starker altern lassen, als es meine Jahre allein rechtfertigen könnten. Weißt du, ich wette, daß unser angeblicher Vorgesetzter niemals in der Art jung war, über die sich dein Vater beklagt, sondern vielleicht schon jeder Veränderung ängstlich und mißtrauisch gegenüberstand, ehe er noch wußte, welchem Geschlecht er angehören würde. Wie überrascht wäre er, wenn er wüßte, daß mich diese Haltung sehr oft eher traurig als wütend macht.« Seltsam, dachte ich: Bei mir war es genau umgekehrt. Ich brannte bis ins Innerste vor Entrüstung, wenn ich mit diesem anscheinend instinktmäßigen Mißtrauen gegenüber dem Fortschritt konfrontiert wurde. »Mein Haupthindernis«, fuhr Mav fort, »war niemals Tis, sondern meine eigene Unsicherheit und Unfähigkeit.« Das brachte er ganz ohne die glanzlose Schlaffheit des Fells hervor, die bei jedem anderen Lamviin ein solches Geständnis begleitet hätte. Seine erste Behauptung war, wie ich wußte, innerhalb gewisser, undeutlich definierter Grenzen sicherlich zutreffend. Die Beziehungen von Mavs Familie garantierten ihm eine Stellung in unserer Behörde (und in einigen anderen, höheren Positionen) fast ohne Rücksicht darauf, wie er sich seinen Vorgesetzten gegenüber verhielt. Das muß sicher ein wichtiger Aspekt in den Streitigkeiten zwischen ihm und unserem Chef gewesen sein, aber doch einer, den dieser ältere Beamte, genauso eifersüchtig auf seine eigene, niedrige Stellung bedacht wie jeder Lord, niemals in ihre Gespräche einbringen konnte, da die unteren Klassen in diesen Dingen so viel mehr Wert auf Formalitäten legten. Schließlich kam Tarnet zu unserer Nische, seinen großen Schankwirtsschlüssel in den Fingern, den er seitlich in einen Holzkasten einführte, der vor Mav auf dem Tisch stand, dann drehte er ein paarmal
kräftig um, wobei er sich überzeugte, daß das Schnappschloß auf dem Deckel fest eingerastet war. Nachdem er fertig war und die Schuld gegen Mavs früheren, großzügigen Vorschuß aufgerechnet hatte, nickte er und ging zum nächsten Kunden weiter. Mav legte einen Finger von jeder seiner äußeren Hände in das passende Paar Öffnungen auf dem Deckel des Kastens, griff mit seiner mittleren Hand nach dem Schnappschloß und zögerte für einen kurzen Augenblick, ehe er es aufdrückte. »Mymy«, fragte er, »hast du jemals über mein Vorhaben nachgedacht? Ich weiß tief in meinem Herzen, so sicher, wie der Himmel golden ist und im Frühling die Sandgärten blühen, daß es irgendwie möglich ist, den Tatort eines Verbrechens – vorausgesetzt, niemand hat sich dort zu schaffen gemacht – so zu untersuchen, daß man logische Schlüsse ziehen und feststellen kann, was sich ereignet hat, wie es geschah und wer der Schuldige sein muß. Jeder von uns hinterläßt eindeutige Spuren in allem, was er auch unternimmt.« Er spielte wieder am Schloß herum, drückte es aber noch nicht auf. »Trotzdem habe ich das in dem Jahr, seit ich Tis zu meiner diesbezüglichen Theorie ›überredet‹ habe, noch nicht hieb- und stichfest beweisen können. Ich gestehe, daß ich seine Ungeduld begreife. Die Methoden, welche es auch sein mögen, entschlüpfen mir immer wieder.« »Vielleicht«, vermutete ich, »waren die besonderen Verbrechen dieses letzten Jahres nicht so beschaffen, daß sie sich für derartige…« Darauf gebrauchte er einen Ausdruck, den ich vorher nur zweimal gehört hatte, einmal aus genau denselben Nüstern, die ihn auch jetzt wiederholten, das zweitemal von einem gewöhnlichen Dockarbeiter, den ich zufällig belauschte, als ich in den Kaiserlichen Marinehöfen zu tun hatte. Damit drückte er das Schloß auf. Der mit dem Schlüssel aufgezogene Motor surrte in der Kiste und drehte einen Anker. Mav zuckte ganz kurz zusammen und erstarrte dann; als der teuflische Mechanismus langsamer wurde und zum Stillstand kam, entspannte er sich mit einem Seufzer. »Eines muß ich unserem Wirt lassen, er erzeugt den glattesten Strom in dieser Ecke des Kiiden.« Er blinzelte und nahm die Inhalierröhre vom Tisch.
»Da kann ich nicht mitreden«, sagte ich, »obwohl ich mich frage, ob du deine Empfindungen im Laufe der Zeit mit diesem Rohr da einbalsamieren wirst, oder ob du sie noch vorher zum Gerinnen bringst.« Ich gab der Kiste einen kleinen Stoß mit dem Finger. »Du hast noch nicht von der Feuersgefahr gesprochen, die die beiden in Verbindung miteinander ergeben. Mymy, du bist ein wunderbarer, intelligenter und attraktiver Beimann und ein großartiger Kauteriseur. Aber du bist auch ein Nörgler und der schlechteste Gefährte beim Aufladen, den man sich denken kann. Trotzdem…« – er griff in eine Tasche seiner Uniform – »… fällt mir gerade ein, daß du dich vielleicht bei einer Diskussion heute abend im ›Kaiserlichen Museum für Naturphilosophie‹ amüsieren könntest, die höchst anregend zu werden verspricht. Ein alter Freund von mir, vor dem ich den höchsten Respekt habe, hält den Vortrag.« Er wedelte mit einer Dreiergruppe Karten herum, auf denen deutlich der Titel aufgedruckt war: DIE ENTSTEHUNG DES LAMVIIN NEUERE ZEUGNISSE VON KONTINENT Srafen Rotdu Rizmou, Prof. »Und wer«, fragte ich, wobei ich schon genauestens wußte, welche Antwort ich damit heraufbeschwor, »wird heute abend der dritte im Bunde sein?« »Nun, Vyssu natürlich. Sie hat ein lobenswertes Interesse an allen Dingen, die mit Naturphilosophie zu tun haben.« Besonders an den intimst biologischen, dachte ich. »Ehrlich, Mav, warum kannst du dich nicht mit Personen einlassen, die passender sind für… nun ja, deiner eigenen Stellung mehr entsprechen. Diese Kniereiberei mit allen möglichen Rowdies…« »Weil ich, mein lieber Mymy, mit Ausnahme deiner entzückenden, hochgeschätzten Person, die oberen Schichten dieser Stadt – ja, des gesamten Reiches – für die unerträglichste Ansammlung von Langweilern und Dummköpfen halte, die man sich nur vorstellen kann. Es schmerzt mich, daß du Vyssu nicht mehr Nachsicht entgegenbringst,
denn auch sie ist eine geschätzte Freundin von mir und eine scharfsinnige Ratgeberin. Aber sag mir, willst du heute abend mit uns kommen?« Ich zögerte. Mav hatte mich noch nie zu einem gesellschaftlichen Treffen aufgefordert, und seine Einladung erschien mir schmeichelhaft und vielversprechend – damit will ich sagen, daß er vielleicht endlich anfing, seine eigene Ebene im Leben zu suchen. Mir ging durch den Sinn, daß ich vielleicht einen besseren moralischen Einfluß auf ihn ausüben könnte, als es bei seinen gewohnten Gefährten der Fall war. Dazu war es jedoch auch erforderlich, daß ich selbst mich mit diesem furchtbaren Vyssu-Geschöpf in der Öffentlichkeit zeigte – nicht daß ich damit meinem Ruf sehr geschadet hätte. Im Gegenteil, sie war, ich schäme mich, es zu sagen, in letzter Zeit ein richtiger Liebling der Aristokratie geworden. Vielleicht machten sich die Leute vor, daß ihre Kuppelei unter den oberen Schichten keine niedrigere Entsprechung für Angehörige der unteren Stände und Anhänger einer leichtfertigeren, moralischen Einstellung hätte, die ebenfalls zu ihrem Kundenkreis gehörten. Vielleicht wußten diese edlen Kunden sogar darüber Bescheid und fanden ihre Bekanntschaft deshalb nur noch attraktiver. Vielleicht, so hieß es jedenfalls oft, hatten sie sogar selbst Verwendung für… Aber nein, es gibt doch schließlich noch Grenzen, oder nicht? Ich wollte meinem Gefährten gerade antworten, als ihm jemand vom anderen Ende der Schenke her etwas zurief und sich uns mit prahlerischen oder taumelnden Schritten (ich weiß es nicht genau) näherte. Vielleicht von beidem ein wenig. Ich kannte ihn genauso gut wie Mav – ja, so gut, wie man es sich nur wünschen konnte, da es zu einer meiner wenigen angenehmen Pflichten gegenüber der Triarchie und dem Volk gehörte, mich mit Leuten seiner Sorte abzugeben – und seine beißende Grobheit paßte ziemlich genau zu dem, was ihm als Charakter diente. Die Ladekiste, die er unsicher vor sich hielt, sah ziemlich abgenützt aus, wofür man ihm gerechterweise nicht allein die Verantwortung anlasten konnte. Aber seinem unsicheren, schläfrigen Auftreten nach hatte er sie erst vor kurzem und wiederholt in Gebrauch gehabt. »Ahoi, Mav, oller Kaktushüpfer! Wie geht'sch denn 'n Kübelierern
heude? Und Mymy auch noch – im Reschtaurang? – wie reiz'n radikal!« Trotz meiner inständigen Bitten an Mav, er möge ihm keine Beachtung schenken, schob er sich näher heran. »Rewu Uomag Niitood«, erwiderte der Detektiv, »dieses beschwipste Schlurfen würde ich überall heraushören. Warum sind Sie nicht draußen und erfinden Lügen für die Zeitung, die Ihre Laster so großzügig unterstützt?« Niitood stieß ans Ende unseres Tisches, stützte seine Hände darauf und griff sich mit einer seiner Gehhände ein freies Kissen aus der nächsten Nische. »Mein lieber Ermittlungsbeauftragter, ich bereite mich auf die einzig passende Weise auf eine Prüfung vor, die weit über den Ruf der Pflicht hinausgeht. Der ›Kaiserliche Kurier von Mathas‹ hat mit der Weischheit scheinesch Herauschgebersch verfügt, daß ich genau heute abend über eine schildrissige Zuschammenkunft berichten musch…« Er schwenkte die Ladekiste vor unseren Augen hin und her. »Dasch hier sind Auschlagen für die Forschung!« Er griff in einen der vielen mit Geräten vollgestopften Beutel, die an seinem Rückenschild und seinen Beinen herunterhingen, und zog eine Bescheinigung heraus, die mit denen identisch war, die Mav mir vorher gezeigt hatte. »›Aszensionismus – Betrug oder Schwindel?‹ Oder wie kann ein seniler, oller Seelam weiterhin eine leichtgläubige Regierung melken?« Er schielte mit einem seiner trunkenen Augen in meine Richtung. »Willscht du mitkommen, Kleines? Hab auch 'nen Presseausweis!« Ein wenig zu hastig: »Mav, nichts würde mir mehr Vergnügen bereiten, als dich zu Professor Srafens Vortrag zu begleiten – obwohl ich bei einer intimen, musikalischen Soiree erwartet werde, die meine Familie für Herrn, Frau und Derrn Kassafiin gibt. Ich bin sicher, mein Vater wird mich von dieser Verpflichtung mit Rücksicht auf meine Bildung entschuldigen; den Namen unserer dritten Begleiterin werde ich nicht erwähnen.« »Und Vyssu«, sagte Mav, und ein seltsamer Ausdruck bildete sich in seinem Fell, »die sich selbst von einer früheren Verabredung entschuldigen muß, wird höchstwahrscheinlich deinen Namen nicht erwähnen.« Er wandte sein Auge wieder zu Niitood, der weiter ein wenig unzu-
sammenhängend vor sich hingemurmelt hatte. »Was sagten Sie?« »Ich sagte, die gottfeuchten Philosophiefritzen können die Welt einfach nicht in Ruhe lassen. Ständig müssen sie dran rumstochern und rumpfuschen. Ständig machen sie sie gefährlicher und verwirrender. Wenn es nach mir ginge – hicks!« Ehe mein Freund eine angemessen scharfe Bemerkung formulieren konnte, zuckte der Reporter mit seinem Rückenschild, seine Gehbeine brachen unter ihm zusammen, und er ließ sich halb auf seinem Kissen und halb auf dem Boden in einem dem Hann ähnlichen Zustand niedersinken, der zweifellos durch den so hemmungslos genossenen, elektrischen Strom herbeigeführt worden war. Mav nahm ihm den Lader aus den Händen, stellte ihn auf den Tisch und wiederholte diese unverdient freundliche Geste mit einer Kamera, die aus einem nicht geschlossenen Beutel in den Sand des Fußbodens gefallen war. »Elender Bursche.« Mav untersuchte ein elektrisches Zusatzgerät an der Kamera, das dort angeschlossen war, wo eigentlich ein Trog und eine Verschlußkapsel für Blitzpulver hätten sein sollen. »Kein Wunder, daß das Reich in einem so abscheulichen Zustand ist, bei der Qualität seiner Informationsquellen. Ich… Hallo, was haben wir denn da?« Auch ich war durch den vertrauten Radau, der von der anderen Seite der Straße herüberdrang, aufgeschreckt worden. Alle Glocken und Trompeten des Bezirksgebäudes ertönten laut, als die riesigen Türen der Wachstation an ihren massiven Angeln polternd aufschwangen. Vermutlich war irgendwo in unserem Distrikt ein größerer Brand ausgebrochen. »Ich muß los«, sagte ich zu meinem Gefährten. »Obwohl ich gerade aus dem Dienst komme, aber es sieht so aus, als würde ich vielleicht gebraucht.« Draußen stürzte sich das erste Gespann auf die Straße, es zog die neue, dampfgetriebene Pumpmaschine hinter sich her, die Räder mit den Stahlreifen donnerten funkensprühend über die Pflastersteine. Über dem hintersten Rad klammerte sich der Steuerlam an seine Pinne und entging mit jeder Lamhöhe, die sich das Gefährt die enge Straße hinunterbewegte, nur knapp der Katastrophe. »So lebe wohl, du Musterexemplar.« Mav runzelte gutmütig sein Fell. »Ich werde dich heute abend mit einer Kutsche bei dir zu Hause abho-
len, die deinem Rang angemessen ist.« »Treffen wir uns lieber am Museum«, sagte ich, ergriff meine Tasche und eilte zur Tür, wo sich schon weitere Angehörige meines Berufes drängelten und schubsten. Wie die sechs gereizten Zug-Watun fühlte auch ich mich in Hochstimmung und hatte es eilig fortzukommen. »Auf diese Weise hat mein Vater weniger zu fragen, und ich brauche ihm nicht so viele unwahre Antworten zu geben.«
2. Kapitel Die Entstehung des Lamviin Die Anfänge der Kübeliere sind von den Staubstürmen der alten Zeit verhüllt. Die Legende schreibt Neoned, dem Aggressor, dem Entdekker von Foddu, das Verdienst zu, als erster eine solche Körperschaft aufgestellt zu haben, um sein Lager am Brückenkopf des Golfs von Dybod zu schützen. Aber die Legende schreibt Neoned vieles zu, einschließlich des Verdienstes, ein Fymo in einer Minute gelaufen zu sein und die Monde in ihre Bahnen gesetzt zu haben. Wahrscheinlicher ist es, daß irgendein Nachfolger, möglicherweise sein Sohn Adetpo Zimyin, Mathas seine erste Kompanie von ›Sandschleuderern‹ gegeben hat. Sie wurden schließlich dringend gebraucht. Anders als der Kontinent, dessen ursprüngliche Kaktusbestände unsere Ahnen schon lange eingeebnet hatten, ehe die ersten Bronzewerkzeuge gegossen wurden, war Foddu ein unberührtes Wüstenparadies. Darüber hinaus gab es an den nördlichen und westlichen Küsten, auf der Luvseite der ›Arme Pahs‹, deren Wälle unsere gesegnete Insel vor unerwünschter und gottloser Feuchtigkeit schützen (genau wie heute), ein unwegsames Gewirr dieses besonderen Organismus', dessen Stämme und Glieder sich als noch geeigneter für architektonische Absichten erwiesen haben. Diese Feuchtwetterflora zu ernten ist eine gefährliche, schilderweichende Beschäftigung, die höher entlohnt wird als gewöhnliche Arbeit und sogar für viele der verurteilten Schurken als ungeeignet angesehen wird, die Ihre Majestäten ansonsten zu gefährlichen oder widerwärtigen Arbeiten einsetzen. So wurden bis vor ziemlich kurzer Zeit, als durch die Verbesserung der Meeresfahrzeuge gebrochener Stein ein brauchbareres Material wurde, die Wohngebäude von Matas, von denen manche von gewichtiger, historischer Bedeutung waren, großenteils aus organischer Materie erbaut und waren schrecklichen und häufigen Bränden ausgesetzt. Die Kunst der Kauterisation hat einen ähnlich verborgenen, aber ge-
nauso vernünftigen Ursprung. Welche Ironie, daß eine der ausgesprochen robusten Gattungen in der Welt so schnell erliegt, wenn einmal der Rückenschild verletzt ist! Obwohl dazu beträchtliche Kraft vonnöten ist. Dagegen kann ein Erwachsener jeden Geschlechts ein ganzes Glied verlieren und hat nur die demütigende Unbequemlichkeit einer mehrere Monate dauernden Regeneration zu erdulden, selbst seine Kiefer können völlig auseinandergerissen werden (eine widerliche, barbarische Praxis bei den Primitiven in bestimmten Kolonien), wenn die richtigen Heilmaßnahmen getroffen werden, entsteht kaum ein bleibender Schaden. Wird das Opfer jedoch einmal von einem Pfeil oder einer Kugel durchbohrt, ist es nur durch die modernsten und heldenhaftesten Anstrengungen zu retten, wenn diese unverzüglich angewendet werden. Oktarien lang nahm man an, hier müßten, wie sie es in anderen Berufen weiterhin tun, die Männer dominieren. Aber auf Drängen Sihrer Kaiserlichen Hoheit Wiidytno wurde durch eine Reihe von Experimenten zweifelsfrei erwiesen, daß die Beimänner von Natur aus höhere chirurgische Fähigkeiten besitzen, und daraufhin sicherten sich Beimänner den größten Teil solcher vom Staat ausgeschriebener Stellen. Meiner Meinung nach gereicht es nicht nur den Kübelieren, sondern der ganzen Regierung zur Schande, daß die Entlohnung in diesem Zweig der Behörde sofort um die Hälfte reduziert wurde. Zur vereinbarten Stunde war ich umständehalber keineswegs auch nur in der Nähe des Kaiserlichen Museums. Das Feuer hatte sich als ungewöhnlich stark herausgestellt und bedrohte den größeren Teil mehrerer Straßen am Flußufer gegenüber der Armeninsel. Da man einen so großen Bereich nicht den Flammen überlassen konnte, noch dazu so nahe am Hauptbahnhof der Stadt (ja, wäre es nicht um Tausende von unschuldigen Angehörigen der Arbeiterklasse gegangen, vielleicht wäre es ein Vorteil gewesen, sich dieser letzten, noch verbliebenen Balkengebäude auf dieser Seite des Flusses zu entledigen), hatte man eine ungewöhnliche und gefährliche Maßnahme vorgeschlagen. Bei dem Brüllen des Feuers, dem Schreien und Stöhnen der Umstehenden – Opfer, Passanten und Kübeliere, die mit Geräten und ver-
schreckten Tieren kämpfen – und dem Lärm der Motoren, die einen der mit Ketten verbundenen, sandgefüllten Eimer nach dem anderen hochhoben und in die Flammen kippten, wäre mir dieses neuartige Manöver beinahe entgangen, weil ich mich bemühte, eine vielleicht mit dem zwölften, elenden Kind hochschwangere Frau, meine dreißigste oder vierzigste Patientin an diesem Abend, wiederzubeleben. Das Fell an ihrem Rückenschild hatte ein fehlgehender Flammenstoß zu drei Vierteln weggebrannt, das nackte Chiton geschwärzt und ein Auge geblendet. Das würde heilen, und sie hatte Glück, daß nicht noch ein zweites die Sehfähigkeit verloren hatte. Sie würde noch mehr Glück haben, wenn ich verhindern konnte, daß sie vorzeitig niederkam. Ihre Kiefer waren weit geöffnet und in vorgeburtlicher Tetanie erstarrt; ich war dankbar, daß ich eine ganze Reihe von Dozenten ohne Hemmungen gehört hatte, die darauf bestanden, daß wir auch bei einer so heiklen und persönlichen Angelegenheit wie dieser hier alle Anzeichen kennenlernten. Ich tat für die Frau, was ich konnte, gab ihr ein Entspannungsmittel, Fedizeto-Tinktur in zerstäubter Form in die Nüstern eingebracht, schiente ein Bein, das sie gebrochen hatte, und erhob mich erst, als sie auf einen Wagen gehoben wurde. Als ich über die Rückenschilde der Bahrenträger blickte, sah ich eines der erschreckendsten Schauspiele, die ich wohl jemals werde erleben müssen. Abteilungschef Lydoraino Hottyn Nüfysiir hatte genehmigt, daß unsere Sandpumpen an den Rand des Flusses befördert wurden. Dort wurden auf dramatische Weise durch Einsatz von Weißpulverladungen die verrotteten Bohlen und Schoren der Docks beseitigt (für niemanden ein großer Verlust, da der Hauptteil des Handelsverkehrs schon lange auf die gegenüberliegende Küste jenseits der Königsinsel verlegt worden war). Eine Abteilung Feuerlamn löste die Atemschläuche – ein so häufig verwendetes Gerät, daß es, zusammen mit dem Sandkübel, zum Symbol unseres Berufes geworden ist – von den Nüstern, um für ihr Vorhaben ungehindert zu sein. So dick in Schutzkleidung gehüllt, daß sie kaum ein Glied rühren oder sehen konnten, was sie taten, zwangen die neun wackeren Kübeliere ihre scheuenden Gespanne, die hintersten Ecken der Maschinen nach rückwärts direkt ins Wasser hineinzuschieben!
Die kettengetriebenen Baggereimer begannen, die übel aussehende Oberfläche aufzuwühlen, hoben Schlamm und abscheuliche Flüssigkeit Stockwerke hoch über uns. Nun zerstreute sich die gaffende Menge ausnahmsweise einmal ohne Drängen unserer Friedenshüter, weil keiner bereit war, einen verirrten Tropfen zu riskieren, der sich vielleicht (wie die unwissenden Leute in ihrer Überängstlichkeit glauben) durch Haar und Knochen direkt in ihr Gehirn fressen konnte. In der Tat ist es wissenschaftlich erwiesen, daß wir es nicht nur überleben, wenn wir kurz der Feuchtigkeit ausgesetzt werden – völliges Eintauchen unter bestimmten, gut kontrollierten Bedingungen (sonst wäre das Segeln selbst für jene kühnen Seelen, die sich diesen Beruf wählen, viel zu gefährlich) – sondern daß sogar eine bestimmte Menge Wasser notwendig ist, um das Leben zu erhalten! Glücklicherweise sind diese winzigen Spuren in unseren Lebensmitteln und in der Luft enthalten. Ich habe versucht mir vorzustellen, wie es wäre, Flüssigkeit zu mir zu nehmen, sagen wir so, wie man ein Krümelchen Nahrung aufnimmt; bei dem Gedanken wurde mir jedesmal speiübel. Trotzdem gab es unter den zähen Veteranen ringsum keinen einzigen Pelz, der nicht den Ausdruck grimmiger Entschlossenheit zur Überwindung des instinktiven Entsetzens getragen hätte. Der Fluß brodelte und kochte abscheulich, die Motoren zischten und klapperten, und es tropfte von allen Nähten und Trägern. Plötzlich fielen die ersten Portionen feuchten Schlamms vom obersten, mechanischen Glied in die Flammen. Ein lautes, häßliches Zischen war zu hören, unvorstellbare Dampfmengen stiegen auf und vermischten sich mit dem Rauch, und schließlich spürte ich, wie sich die Hitze, die sogar bis hierher zur Rettungsstation, eine Straße weiter, auf meinen Rückenschild gestrahlt hatte, merklich verringerte. Gewaltiger Jubel brauste durch die Gegend, und an unseren Wagen wurden die Glocken geläutet. Das Feuer war eindeutig in zwei Teile geteilt worden. Es ist eine Tatsache, daß feuchtes Holz und Mobiliar nur schwer brennen; unsere Kübeliere machten sich daran, das Feuer noch einmal zu teilen, und dann noch einmal, bis die herkömmlichen Methoden ausreichten, um es zu löschen. Wieder hatte die fodduanische Erfindungsgabe trium-
phiert, aber die Rekruten würden heute abend gewaltig fluchen, wenn sie die durchweichten Löschgeräte mit sauberem, trockenem Sand abschrubben mußten, um alle üblen Gerüche und allen Rost zu beseitigen. Meine letzte Patientin war zum ›Barmherzigen Asyl‹ gefahren worden, einer Einrichtung, die die Kirche auf der anderen Seite des Flusses, bei der Bürgerbrücke unterhielt. Ich schloß erschöpft meine Tasche und freute mich selbst auf ein angenehmes Sandschrubben, als mein Blick zufällig auf die Eisenbahnuhr in ein paar Blocks Entfernung fiel. O je, ich hatte völlig vergessen, daß ich heute abend eine Verabredung hatte! »Sicher ein aufregenderes Schauspiel als ein Vortrag im Museum, das muß ich zugeben!« Mav stand plötzlich neben mir, sein Fell in ironische Falten gelegt, seine Uniform hatte er gegen flotte Abendkleidung vertauscht. »Ich habe mir die Freiheit genommen«, sagte er, als er meine Tasche in die Mietdroschke hob, die vor uns hergezogen wurde, »einen Boten an dein Mädchen zu schicken, sie wird also bereit sein, dir beim Ankleiden zu helfen. Warum bei aller himmlischen Trockenheit läßt du dir eigentlich keine Leitung legen? Schließlich leben wir im sechsundzwanzigsten Jahrhundert. Jetzt müssen wir uns beeilen, um wenigstens die mondäne Verspätung einhalten zu können!« Ich kletterte in die Droschke und stellte mit einiger Freude fest, daß wir allein waren. »Neigt Vyssu auch zu mondäner Verspätung, oder steht sie ungeduldig vor dem Museum und stampft mit der Hand auf den Boden?« »Keines von beiden, fürchte ich – wie sie mir vor einiger Zeit am Telefon erklären konnte. Sie hatte eine gesellschaftliche Verpflichtung, die sie doch nicht absagen konnte: Eine musikalische Soiree für Herrn, Frau und Derrn Kassafiin heute abend im Hause deines Vaters.« Als wir das Museum erreichten, hatte unser Fahrer Mühe, uns durch eine wütend protestierende Menge von Demonstranten zu schleusen, die sich rings um das alte Gebäude versammelt hatten. Die Straßen quollen über von Lamviin, und schließlich entschied Mav nach mehreren, vergeblichen Versuchen unseres Führers, uns einen Weg zu bah-
nen, wir sollten zu Fuß gehen, trotz starken Einspruchs des Droschkenlams, das sei zu gefährlich. Ärgerlicherweise hatte ich meine Tasche in der Kutsche vergessen, während Mav vor meiner bescheidenen Behausung auf seine Uhr an der Kette starrte und auf mich wartete. Es wäre durchaus schicklich gewesen, ihn hereinzubitten, aber ich wußte nur zu gut, daß dies sofort meiner Mutter bei ihrem allwöchentlichen Besuch morgen nachmittag überbracht worden wäre. Mein Dienstmädchen hatte weit weniger die Aufgabe, für meine Bequemlichkeit zu sorgen als meine Familie ständig über mein Tun und Lassen zu unterrichten. Daß man sich auf ihre Schwäche für Lokale wie das ›Kübel und Knüppel‹ verlassen konnte und sie in dieser Umgebung häufiger zu finden war als bei ihrer Arbeit, paßte mir ausgezeichnet. Aber das würde mir im Falle einer so kurz zurückliegenden ›Unüberlegtheit‹ wie einer Einladung an Mav, sich meine Räume anzusehen, nichts nützen – schließlich mußte sie alle neun Tage wenigstens etwas zu berichten haben. Folglich entschloß ich mich, meine Instrumente (ein Geschenk meines Beivaters, das ich sehr in Ehren hielt) lieber nicht einem Fahrer, den ich nicht kannte, zum Rücktransport in meine Wohnung anzuvertrauen, sondern sie mit in den Vortrag zu nehmen, dabei behielt ich ausnahmsweise in einem Disput mit Mav, in dem er mit archaischer Hartnäckigkeit die Last tragen wollte, die Oberhand. Nach dem langen, anstrengenden Tag, der hinter mir lag, hätte ich vielleicht nicht ganz so überzeugend zu sein brauchen. Die Masse machte genausoviel Lärm wie vorher das Feuer. Ich stellte mit Erstaunen fest, daß sich ihr Protest gegen genau den Vortrag richtete, der vor uns lag. Natürlich war das Thema Aszensionismus umstritten; aber wodurch wirkte dieser esoterische Gegenstand so stark, daß er bald (wenn nicht die beherzten Kübeliere gewesen wären, die rings um den Platz eine Innenabsperrung bildeten) einen Aufruhr anzustacheln versprach? Viele in der Menge trugen Fackeln, während andere große Harzbretter hielten, die nach Art der Radikalen und aufständischen Zwangsarbeiter vom Kontinent an Stöcken befestigt waren. Ich fürchte, meine guten Manieren verbieten es mir, an dieser Stelle einige der Verlautba-
rungen anzuführen (sie wurden ohnehin lautstark wiederholt), die auf den Tafeln standen, aber dem Sinn nach ging es darum, daß man mit Professor Srafens Ideen nicht einverstanden war und wünschte, ser möge davon Abstand nehmen, sie öffentlich zu diskutieren. Oder ser müsse sihr nächstes Seminar auf dem Grunde des Flusses Dybod abhalten. Auf einem Wagen, dessen schäbige Watun an einer Stange vor den massiven Türen des Museums angebunden waren, tänzelte eine Gestalt in beschmutzten Gewändern herum, die vielleicht, vor langer, langer Zeit ursprünglich einmal weiß gewesen waren. Oben auf dem Kiefer trug sie einen Pergamentkegel, auf dem in grellen Farben ein lidloses Auge abgebildet war. Dieses Zeichen kannte ich aus Zeitungsberichten der letzten Zeit und aus Geschichtsvorlesungen auf dem College, es war ein uraltes, religiöses Symbol, das neuerdings von einer nicht genehmigten Sekte von Fundamentalisten wiederaufgenommen worden war, um die Kirche der Gemarterten Dreiheit, die offizielle Staatsreligion des Reiches Groß Foddu, auf verzerrte Weise zu verhöhnen. Die zerlumpte Gestalt auf dem Wagen redete auf die Versammelten ein, und ich fand es allmählich ganz lustig, mir vorzustellen, was der Freund meiner Eltern, der Erzpriester von Mathas, wohl mit der primitiven Theologie dieses Burschen anfangen würde. »Der Lamviin wurde unmittelbar und auf wunderbare Weise auf den Ratschluß und nach dem Bilde unseres Schöpfers Pah erschaffen.« Bis dahin war das Geschwätz noch orthodox, obwohl ich mitbekommen habe, daß gewisse, weltoffene Gelehrte in den höheren Rängen der Kirche vorurteilslos der Vorstellung anhängen, hierbei handle es sich eher um eine poetische Metapher als um philosophische Notwendigkeit. »Und doch darf dieser schändliche Lästerer lehren, wir seien ›entstanden‹ – durch zahllose, ungeheuerliche Zufälle der Geburt – aus Wesen wie denen, die Insekten von den Armen des Wüstenkaktus' fressen! Wollen wir diese üble, unmoralische Verleumdung des von Pah selbst geschriebenen Wortes zulassen?« »NEIN!« brüllte die Menge zurück und erschreckte mich noch viel
mehr als früher an diesem Abend die Massen leblosen Schleims, die aus dem Fluß gehoben worden waren. Diese eklige Substanz hatte wenigstens einen Brand gelöscht! »NEIN!« schrie die Menge wieder. Ich fürchtete allmählich, daß es sich hier um mehr als eine kleine Ansammlung von verblödeten Schildrissigen handelte. Ich umfaßte Mavs Arm noch fester und ließ mich von dem harten Umriß der Pistole unter seinem Umhang beruhigen. Er machte einem der Kübeliere an der Tür ein Zeichen, der erkannte uns und löste sich sofort aus dem Kordon, um uns die restlichen paar Meter zu begleiten. Wir hörten im Vorbeigehen so manche unterdrückte Drohung, die der Beamte nur für den Augenblick mit diskreten Püffen zum Schweigen bringen konnte. »Sie sind die letzten«, verkündete ein älterer Lam oben an der Treppe und hakte unsere Eintrittskarten auf einer Liste geladener Gäste sorgfältig ab. Seine Uniform war etwas anders als die unserer Beschützer auf der Straße, und ich vermutete, zutreffend, wie sich herausstellte, daß er im Museum angestellt war. »Wir werden jetzt die Türen versperren und außerdem noch die Riegel vorlegen. Alle, die zu spät kommen, müssen morgen in der Zeitung nachlesen, was los war!« Damit sicherte der Wächter den Eingang und führte uns durch den gewaltigen, düsteren, vorderen Ausstellungssaal zu unserem Bestimmungsort. Srafen Rotdu Rizmou, Professor und Kurator des Kaiserlichen Museums für Naturphilosophie, erwies sich als Beimann von so hohem Alter, daß der ältere Museumswächter, der uns zu unseren Plätzen führte, vergleichsweise munter wirkte. Mav riet mir, ich solle mich nicht allzusehr vom äußeren Anschein täuschen lassen, Srafen sei in den letzten Monaten krank gewesen, erhole sich aber jetzt und klage sogar darüber, daß ser an Gewicht zunehme. Hier und dort war ein Stück des Rückenschilds und der Gliedmaßen durch den sich lichtenden Pelz des Professors zu sehen, und ser bewegte sich auf der Rednertribüne zaghaft und steif, ein Zeichen dafür, welche Schäden ein Leben in feuchteren Klimazonen angerichtet hatte, als sie vielleicht idealerweise unserem Körper zuträglich sind. Das war, ein interessan-
tes Zusammentreffen, auch genau das Thema, von dem ser gerade sprach, als wir unsere Plätze im rückwärtigen Teil des Raumes aufsuchten: »Wo auch immer man auf Sodde Lydfe hinsieht, wo auch immer ich während meiner Jugend im Dienste der Marine Ihrer Majestäten Proben sammelte, überall, von wo mir die heutigen Jugendlichen mit ähnlichen Neigungen Proben schicken, überall, außer in den Wüsten unseres Planeten, denen ich mich im rechten Augenblick zuwenden werde…« – ser stützte sich auf das Rednerpult und hob einen Finger –, »überall entdeckt man einen einzigen, gemeinsamen, höchst informativen Umstand!« Ob die illustre Zuhörerschaft nun Srafens Meinung war oder nicht, alle schienen gebannt von sihrer ungewöhnlich überzeugenden Stimme und sihren ausdrucksvollen Gesten. Ich kann mich aus meiner eigenen Schulzeit höchstens an ein oder drei Lehrer erinnern, die diese Gabe hatten, auch langweilige Dinge interessant zu machen, und keiner davon war auch nur ein Drittel so gut wie ser. »Raubtiere! Gewaltige, erschreckende, kraftvolle Ungeheuer, viele von ihnen neunmal so groß und größer als jeder Lam, der je auf Sodde Lydfe wandelte, die meisten von ihnen weit schneller, wilder und von einer rachsüchtigen Natur besser gerüstet für ein Leben der Verstümmelung, des Mordes und des Kauens!« Hier nahm ser eine komisch bedrohliche Pose ein, als wolle ser sich gleich auf diejenigen stürzen, die in der vordersten Reihe saßen, um sie zu verschlingen. Im Gegensatz zum üblichen Desinteresse der Öffentlichkeit für die Wunder der Naturphilosophie war der Raum zum Bersten gefüllt mit einer erfreulichen Vielfalt von Individuen – Typen, die man normalerweise erwarten durfte: Akademiker, Studenten, Vertreter des Museums und Personal (von denen einige dem gebrechlichen, alten Gelehrten mit sihren oft unhandlichen Proben behilflich waren). Dazu kam natürlich die Presse – ich erspähte Mavs Freund Niitood, der sich von seiner früheren Ausschweifung erholt hatte und weiter vorne zwischen seinen Kollegen saß. Danach vermied ich es geflissentlich, dem Blick seines hintersten Auges zu begegnen. Auch Kübeliere waren im Raume anwesend, anscheinend für den Fall, daß ein hypothetischer Ein-
dringling versuchen sollte, das draußen herrschende Chaos auch hier hereinzutragen. »Es kann also kein Zufall sein«, fuhr Srafen fort, »daß unsere einfachen Vorfahren nur dort gediehen, wo keine großen Raubtiere sie bedrohten – wo es keinen leicht zugänglichen Vorrat an – Sie werden meine Ausdrucksweise verzeihen – Wasser gab.« Durch die Zuhörer ging ein leichtes, unbehagliches Schaudern. »Es ist gleichfalls kein bloßes Zusammentreffen, daß jeder größere, prähistorische und zeitgenössische Fleischfresser in einer feuchten, schimmeligen Umgebung lebt und auf diese abscheuliche Flüssigkeit zu seiner Ernährung angewiesen ist. Selbst wir…« Ser hielt inne, denn von einigen Zuhörern mit schwächerem Magen war ein schwaches, wimmerndes Echo des ›Nein!‹ von draußen zu hören. »Ja, sogar wir, womit ich unsere entferntesten Vorfahren meine, hatten einst ähnlich unappetitliche Gewohnheiten. Aber die Liste der Fossilien demonstriert eindeutig, daß wir, als wir die Sicherheit des Sandes entdeckten, allmählich immer mehr davon abkamen, bis wir nur noch ganz geringe Überreste der abscheulichen Abhängigkeit unserer Vorfahren von… nun, lassen Sie es uns mit wissenschaftlicher Leidenschaftslosigkeit aussprechen: Dihydrogenmonoxid, beibehielten. Erst jetzt sind wir kraft unserer technologischen Leistungen imstande – wenn auch zuweilen höchst widerwillig –, zu Kriegs- und Handelszwecken – was im Reich zeitweilig auf das gleiche hinausläuft – in feuchtere Klimagebiete zurückzukehren.« Von einigen Seiten war verlegenes Glucksen zu vernehmen. Ein großer Teil der Versammlung bestand an diesem Abend aus den erhabeneren Vertretern des Reiches, einige Adelige, volkstümliche Intellektuelle und sogar ein paar Vertreter der gesellschaftlichen Oberschicht. Ich zählte mehrere Dutzend Parlamentsmitglieder – alle drei Häuser waren vertreten –, einschließlich ein oder drei Kabinettsminister. Vertreter der Kirche waren anwesend, was die Volksverhetzer draußen sehr gereizt haben muß. Vielleicht wurden sie dadurch angefeuert, ihre Proteste so laut werden zu lassen, daß sie, wen auch schwach, sogar durch die uralten Wände drangen, die uns zusammen
mit mehreren fest verriegelten und verbarrikadierten Türen von ihnen trennten. Dieser Umstand war mir nur zu recht, wenn ich eingestehen soll, wie feig ich war. »In der freundlichen Wüste, durch willkürliche Veränderungen am Medium der Vererbung – ein unerforschter Vorgang, den ich leider gezwungenermaßen einer anderen Forschergeneration zur Untersuchung überlassen werde –, sozusagen eingeschränkt von den Heimsuchungen und Drangsalen einer feindlich gesinnten Welt, veränderten sich die kleinen Geschöpfe, die nach zahllosen Generationen zu den Lamviin werden sollten und entwickelten eine Vielzahl von Arten.« Ser zeigte auf eine Karte an der linken Wand. »Wenn man sie gemeinsam betrachtet, erkennt man die grundlegende Ähnlichkeit im Aufbau, die allen fortgeschrittenen Arten gemein ist: Dreiseitige Symmetrie; trinäre Reproduktion aller lebenswichtigen Organe; drei Hauptgliedmaßen, die vom Körper ausgehen und sich noch einmal dreifach gabeln, ehe sie den Boden erreichen und in dreifingrige Pfoten oder Hände auslaufen. Selbst die Vögel sind nach diesem einfachen, eleganten Plan gebaut, obwohl sie durch die Aszension stark verändert wurden, ihre Rückenschilde drehten sich, so daß die Kiefer nach unten gerichtet sind, und die Beine wandelten sich zu Flügeln, so daß sie herumflattern konnten« – hier ließ ser den Worten die Tat folgen, indem ser sich mehrmals drehte und das Rednerpult umkreiste –, »auf eine Weise, die das Auge jedes Lamviin verwirren würde und seine Empfindungen durcheinanderbrächte.« Hier rief jemand: »Und was ist dann mit dem Watu?« Der Professor hörte abrupt zu flattern auf und runzelte befriedigt sihren sich lichtenden Pelz. »Wenn dieser Fragesteller sich nicht freundlicherweise spontan gemeldet hätte, hätte ich jemanden dafür bezahlen müssen, denn das Watu wird oft als Einwand gegen meine Theorien angeführt, und aus diesem Grunde habe ich es als Hauptthema dieses heutigen Abends gewählt.« Auf ein Zeichen hin, das ich selbst nicht bemerkte, begann Mav unruhig auf dem Kissen herumzurutschen, auf dem er vorher ganz friedlich gesessen hatte, seine gut trainierten Kübelierreflexe waren kaum
unterdrückt, als er sich, sein Fell in einen argwöhnischen Ausdruck gelegt, in dem gedrängt vollen Saal umblickte. Vielleicht hatte sich wie bei mir der Druck der Draußenstehenden auf seine nervliche Verfassung ausgewirkt. Außerdem war auch innerhalb der Museumstür eine gewisse Spannung spürbar. Schließlich hörte ich auf, mir Vorwürfe wegen meiner feigen Phantasie zu machen und wandte meine volle Aufmerksamkeit wieder dem Vortragenden zu. »… ihre Füße. Wenn wir schließlich zum Mesowatu kommen«, fuhr Srafen fort und zeigte wieder auf das Diagramm, »wird diese Spezialisierung zugunsten von Schnelligkeit und Beweglichkeit immer deutlicher.« An diesem Punkt stand Niitood auf, höchstwahrscheinlich von den dramatischen Luftsprüngen des Professors angeregt, und fingerte mit einem Zusatzgerät zu seiner Kamera herum. Er machte Srafen ein Zeichen, als wolle er sien bitten, diese photogene Pose noch einen Augenblick lang zu halten, und dieser Bitte stimmte der ältliche Gelehrte mit einem freundlichen Zucken sihres Fells zu. »Verschwunden ist die makellose Symmetrie, die sich unsere eigene Gattung bewahrt hat. Die mittlere Verzweigung des ›Vorder‹-Beins ist verkümmert, nur zwei zarte Gliedmaßen sind übriggeblieben. Die beiden ›Hinter‹-Beine sind noch mehr geschrumpft, bis auf einen einzigen Zweig pro Stück. Sehen Sie wie viel länger alle Glieder geworden sind, genau im Verhältnis zu den…« Niitood schien sein Gerät endlich so weit gebracht zu haben, daß es sich genauso kooperativ verhielt wie der Professor. Er hob das Instrument an ein Auge, spannte beide Gehbeine an und rief: »Ruhig bleiben, Doc!« Und plötzlich explodierte der ganze Raum!
3. Kapitel Naturphilosophie des Mordes Srafen war in einem blendenden, grellen Feuerball verschwunden, wie von dem getroffen, dessen Zorn die wütenden Fanatiker draußen heraufbeschworen. Die Luft war erfüllt mit Rauch und Dunst, meine Ohren mit Angst- und Schmerzensschreien, meine Augen – wie können bloße Worte das entsetzliche Schauspiel beschreiben, das sich allen offenbarte, als die Atmosphäre allmählich wieder klar wurde. Anstelle des freundlichen, alten Professors stand das feuergeschwärzte Gerüst sihres Rednerpults da. Plattform, Karten, ja sogar die Wände ringsum trieften von smaragdgrünem Blut; ein grünlicher Dunstschleier hing immer noch vor unseren Augen. Bei diesem Anblick gewannen meine beruflichen und lamviinitären Instinkte die Oberhand. Mit einer wenn auch nur kurzzeitigen Kraft, die mich überraschte, kämpfte ich mich durch den verängstigten Mob, zu dem das Publikum sich aufgelöst hatte, dabei nahm ich nur diejenigen wahr, von deren Leiden ich gerufen wurde. Mav folgte bestürzt in meinem Kielwasser und schrie die Menge an, sie solle Ruhe und Ordnung bewahren. Irgendwo im Hintergrund war das Schrillen von Glocken zu hören, aber möglicherweise spielte mir da mein Gehör vorübergehend einen Streich. Vielleicht habe ich zu viel Phantasie, denn als ich anfing, mich um die Opfer zu kümmern, war mir klar, daß sie von einer Salve von einmalig grausigen Geschossen getroffen worden waren, zusätzlich zu den gräßlichen Splittern des Rednerpults entstammten auch viele, ziemlich große Rückenschildstücke und andere Gewebeteile nicht den Körpern, in denen sie jetzt steckten. Bei jedem Opfer schrieb ich Anweisungen auf die Verbände, die Chirurgen sollten diese kläglichen Stücke sammeln und aufbewahren, damit Srafens grausam verstümmelter Leib nicht eines anständigen Begräbnisses entbehren müsse. Ich habe gelernt, bei solchen Anlässen Gefühle beiseite zu lassen,
obwohl ich hinterher oft genau wie jeder Laienlam zitternd und bebend zusammenbreche. Mit dieser augenblicklichen Distanziertheit konzentrierten sich meine Hände und die beiden vorderen Augen auf ihre Aufgabe, während ich Mav beobachtete, wie er, seine gefährlich und fremd aussehende Kolbenpistole in einer ausgestreckten Hand, auf die Bühne sprang. »Achtung, Kübeliere!« schrie er, und als er nicht gleich die erwünschte Reaktion erzielte, pfiff er schrill durch alle sechs Nüstern. »Kameraden, niemand darf diesen Saal unkontrolliert verlassen! Blockiert die Türen und – bei Gottes siebenundzwanzig Beinen! – tretet zurück, ihr Idioten! Ihr verwischt ja alle Spuren!« Die letzten Worte galten einem Priester, zwei Ministern des Kabinetts und dem Bürgermeister persönlich, die, wie jeder gewöhnliche Sensationslustige, näher an den Brennpunkt des Geschehens herangetreten waren, als es unserem Untersuchungsbeauftragten genehm war – und bei ihrem hastigen Rückzug beinahe meine Medizintasche umgeworfen hätten. Endlich hörten die Glocken auf zu läuten, fingen sofort wieder an und verstummten dann endgültig. Ich konnte nicht erkennen, ob Mavs ungestümes Verhalten von seinem Kummer und Zorn über das abscheuliche Ende seines alten Freundes herrührte oder von der Erkenntnis (die auch an mir nicht vorübergegangen war), daß hier, endlich, genau die Situation eingetreten war, nach der er so lange gesucht hatte, um seine Theorien zu beweisen. Sei es, wie es will, er brachte schnellstens Ordnung in das Ganze, so daß, ohne Rücksicht auf Rang oder Klassenzugehörigkeit, keiner das Museum verlassen konnte, ohne von irgendeinem Kübelier oder Wächter, der ihn kannte, eindeutig identifiziert worden zu sein, es sei denn, ein anderer, der den Behörden bekannt war, bürgte für ihn. Man setzte eine Liste auf, aber Mav hatte sich anscheinend überlegt, daß Leute wie der Handelsminister, der Sheriff von Randwood, der beigeordnete Kurator der hiesigen Institution oder sonst jemand aus dieser erhabenen Versammlung höchstwahrscheinlich nicht voll Schuldbewußtsein mit dem nächsten Dampfer zum Kontinent fliehen würden. Ich muß gestehen, daß ich ihn in dieser Beziehung ein wenig zu vertrauensselig fand.
Er war allerdings vorsichtig genug, anzuordnen, daß die Rednertribüne und die ersten paar Sitzreihen abgesperrt und so belassen wurden, wie sie jetzt waren, eine gräßliche Szene, mit schnell eintrocknenden Körpersäften bespritzt. Meinen letzten Patienten kannte ich gut. Niitood schien in Agonie zu liegen, mehrere Maschinenteile waren fest, wenn auch nur oberflächlich in seinen Rückenschild eingedrungen. Seine Hauptsorge war jedoch anscheinend, ob sein Arbeitgeber ihm eine neue Kamera beschaffen oder verlangen würde, daß er dieses kostspielige Gerät von seinem Gehalt bezahlte, das, wie er mir mit ziemlichem Nachdruck versicherte, kriminell kärglich war. Wie es auch ausgehen mochte, sagte ich ihm, mit diesem Auge würde er noch viele Tage lang nicht fotografieren. Nicht mehr als ein halbes Dutzend Personen erwiesen sich als so schwer gefährdet, daß sie mehr, Pflege brauchten, als ich ihnen geben konnte. Diese wenigen wurden angemessen versorgt und ihre Namen auf Mavs Liste eingetragen, wie es sich gehörte, denn es war ja nicht völlig unvorstellbar, daß der Urheber dieser schrecklichen Tat sich bei ihrer Ausführung versehentlich selbst verletzt hatte – oder dieses Risiko bewußt eingegangen war, um den Verdacht von sich abzulenken. Es wurden Vorbereitungen getroffen, sie mit den besten zur Verfügung stehenden Mitteln je nach ihrer sozialen Schicht in verschiedene, barmherzige Einrichtungen zu bringen. Und so hatte ich endlich Zeit, Mavs erste, methodologische Versuche zu beobachten – ja, wenn ich so sagen darf, ihm dafür einen zweiten Satz Hände und Augen anzubieten. Soweit ich zurückdenken kann, habe ich es immer streng mißbilligt, wenn das Leben eines Lam, ganz gleich aus welchem Anlaß, dem Staat verfallen ist. Diese Einstellung habe ich vermutlich von meinem Beivater, der entsetzlich bestürzt gewesen wäre, wenn er erführe, daß ich an diesem Abend in Betracht zog, eine raffinierte und ausgedehnte Ausnahme für solch feige Schufte zu machen, die anonym Sprengstoff deponieren, sich davonschleichen und wahllos Leute umkommen lassen. Im Vergleich dazu sollte der gewöhnliche Verbrecher, der Rük-
kenschild an Rückenschild tötet, freigesprochen werden, vielleicht sollte man ihm sogar den ›Königlichen Orden des Gehhandschuhs‹ verleihen, jedenfalls sollte man ihn nicht wohl oder übel jenem schändlichen Schicksal überantworten, das gerechterweise dem Bombenleger vorbehalten bleiben könnte. Töten sollte anständigerweise eine ganz persönliche Angelegenheit sein. Der Schauplatz des Mordes – und ich glaube nicht, daß Mav diese Bezeichnung für die Tat jemals in Zweifel zog – war ein großer Raum, mehr als dreißig Lamhöhen auf jeder der drei Seiten lang. In der nördlichen Ecke stand die Rednertribüne, sie war selbst genau gleichseitig und vielleicht acht oder neun Lamhöhen breit, ein einfaches, erhöhtes Podest aus Baumholzbohlen, nicht mehr als zwei oder drei Handbreiten über dem polierten Granitboden. Es war offensichtlich erst später errichtet worden, denn die alte, geschichtete Tür aus Kaktusholz in der nordöstlichen Wand daneben (einer von zwei derartigen Eingängen in den nächsten Raum) endete auf dem ursprünglichen Niveau des Fußbodens, nicht auf dem der Tribüne, und war aus diesem Grund anscheinend schon vor Nonaden zugenagelt worden. In der Nähe der südöstlichen Ecke gewährte die zweite Tür Zutritt zu einem der kleineren Ausstellungssäle im Parterre, einem Raum, in dem altertümliche Kriegserinnerungen an den Wänden und in zahlreichen, überall verstreuten Glasvitrinen zur Schau gestellt waren. Diese Tür war während der abendlichen Vorlesung angelehnt geblieben und ermöglichte den Zugang zu den Toiletten auf der anderen Seite des Waffensaales in einem zweiten Raum dahinter. Die beiden kleineren Räume (im zweiten waren, wie ich mich erinnere, abscheulicherweise Tausende von Insekten mit Nadeln auf sauber beschilderte Karten gesteckt) waren an ihrem südlichen Ende quer abgeteilt worden und ließen nur noch einen schmalen Zugang zu den drei modernen Ruheräumen auf der Ostseite des Gebäudes offen. Die nordwestliche Wand des Hörsaales war mit verblichenen Wandteppichen und mit schlachtmüden Fahnen aus einem früheren Zeitalter behängt und hatte keine architektonischen Merkmale, weder Türen noch Fenster, denn sie bildete einen Teil der Außenmauer des Muse-
ums, einem der wenigen, vergleichsweise alten Bauwerke der Stadt, das aus Stein gebaut war (zweifellos in jenen Tagen unter immensen Kosten), es war einmal eine Garnison am Nordrand von Mathas gewesen und später, für einen kürzeren Zeitraum, ein Gefängnis.
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Die letzte, südliche Wand des Raumes war von Dreifachtüren moderner Machart durchbrochen, durch die vorher beinahe alle Anwesenden eingetreten waren und die eine Verbindung zum Großen Ausstellungssaal an der Vorderseite des Museums bildeten. Während der Vorlesung waren sie wegen der Störungen von draußen fest verbarri*
– was 9 Lesrafin entspricht
kadiert und zusammen mit der nahegelegenen, offenen Seitentür, die ich schon erwähnte, gewissenhaft von Kübelieren sowie von dem alten Museumswächter Sdinsu Amh Leds überwacht worden. »Mymy«, sagte Mav, als er sich mir näherte, nachdem der Raum endlich von allen Personen bis auf Beamte in Uniform geräumt war und ich meine Instrumente abwischte. Er zeigte mir eine kleine Notizmappe aus Desleder, die er, wie ich schon vor langer Zeit beobachtet hatte, immer bei sich trug. »Ich habe mir seit mehreren Jahren Notizen über alle Verfahren gemacht, die man meiner Meinung nach in einem Fall wie diesem anwenden müßte, sie in eine geeignete Reihenfolge gebracht und…« Er drehte den Holzknopf am Ende der Mappe, bis er einen Eintrag fand, der ihm zusagte. »Der erste Punkt auf meiner vorläufigen Tagesordnung ist der Versuch, herauszufinden, mit welchen physischen Mitteln das Verbrechen begangen wurde.« Das fand ich vernünftig und sagte es auch, dann fügte ich hinzu: »Wenn ich dich richtig verstehe, sollte dabei ein Hinweis auf die Identität des Schuldigen herauskommen. Wäre das Opfer zum Beispiel mit einem Hammer getötet worden, könnte der Mörder ein Tischler oder Schmied sein.« »Genau, oder vielleicht einer jener gepanzerten Krieger aus dem Waffensaal, obwohl ich fürchte, daß in diesem Fall die Wahrheit nicht ganz so leicht zu entdecken ist.« Richtig, dachte ich, denn welche Art von Beruf oder Beschäftigung bedingt eine Neigung, eine beträchtliche Menge Weißpulver im Rednerpult eines Professors für Philosophie zu verstecken? Das brachte mich wiederum auf die Frage, mit welchen Mitteln die Bombe gezündet worden war, und ziemlich die gleiche Frage muß im selben Moment Mav beschäftigt haben, denn er wollte ziemlich genau von mir wissen, was ich vor der Explosion gesehen und was ich danach getan hätte. Nicht einmal chirurgische Details waren ohne Bedeutung für ihn, und ich mußte manche Beobachtung mehr als einmal wiederholen. Schließlich: »Ich danke dir, Mymy, für deinen Scharfblick und dein hervorragendes Gedächtnis. Und ist der Zeitpunkt, zu dem achtbare Derren zu Hause sein sollten, inzwischen nicht schon lange überschritten?«
Hiermit wollte er seine Notizmappe wegstecken. »Ich fürchte, in all dem Durcheinander habe ich meine Pflichten als…« »Ich bin durchaus fähig, mein lieber Ermittlungsbeauftragter, mich selbst um mein Wohlergehen zu kümmern. Außerdem finde ich, nachdem ich selbst einen Teil dieses Durcheinanders zusammenflicken und aufwischen mußte, daß ich mit Recht an seiner Auflösung interessiert bin.« Er zögerte, durch sein Fell jagten Verblüffung und Belustigung in gegenläufigen Wellen. »Das ist tatsächlich richtig und wohl gesprochen, mein Lieber. Ich warne dich jedoch, ich weiß nicht, bis wie lange ich bei den Untersuchungen zu diesem Fall werde aufbleiben müssen.« »Wenn du zum Aufbruch bereit bist, bin ich es auch, nicht früher. Inzwischen sag mir, wie ich dir weiter behilflich sein kann – ich meine, wir sollten uns vielleicht eine Erfrischung bestellen, da du so ermüdet bist, daß du, was gar nicht zu dir paßt, in deiner letzten Äußerung eine Wendung falsch gebraucht hast.« Er antwortete nicht, gab aber dem Museumswächter ein Zeichen. »Lieber Leds, wären Sie so freundlich, meinem Freund und mir Kood oder sonst etwas zu bringen, was Ihnen nicht zu viel Mühe macht? Ser hat ein wenig über Müdigkeit geklagt und…« »MAV!« »Und ich glaube, wir Lamn könnten alle eine Erholungspause gebrauchen.« Er nahm seine Mappe wieder an sich und sah sich erneut seine Notizen an. »Weißt du, ich kann mir vorstellen, der alte Srafen wäre ziemlich belustigt über das, was heute abend hier geschehen ist.« »Belustigt? Ich kann mir kaum…« »Nun, vielleicht wäre ›erleichtert‹ ein passenderer Ausdruck. Ser haßte es, alt und schwach zu sein, weißt du, besonders, nachdem ser in seiner Jugend so energiegeladen und produktiv gewesen ist. Und das Leben auf so spektakuläre Weise zu beenden! Ich nehme es zurück – ›belustigt‹ ist doch das einzig richtige Wort. Ser wußte eine gut gebrachte Pointe immer zu schätzen.« »Ich hatte mich schon gewundert, warum du nicht mehr betroffen schienst. Und auf welche Weise hat ser sich denn verabschiedet, was
meinst du?« »Verstehe mich nicht falsch, Mymy.« Wieder überblickte er die Tribüne, hüpfte hinauf und fing an, sich die Fußbodenbretter genauer anzusehen. »Eines Tages wird die Welt erfahren, wieviel sie Srafen verdankt, und der Schurke, der das getan hat, wird dafür bezahlen müssen, und wenn ich mein ganzes Leben dazu brauche, diese Schuld einzutreiben. Trotzdem – oh, Dapod, seien Sie doch mal so nett und bringen Sie Ihre Laterne herüber, ja?« Ich wußte von meiner eigenen Arbeit her, daß nie genügend Licht da ist, wenn es Arbeit gibt. Obwohl der Raum mit elektrischen Kerzen ausreichend erleuchtet schien, gab es hie und da Stellen, besonders die Ecke hinter dem Rednerpult, die teilweise im Schatten lagen. Mav schien sich für die verschlossene Tür rechts zu interessieren. Ich überlegte einen Augenblick, dann steckte ich eine Hand in meine Tasche. »Ach ja, Mav, könntest du das vielleicht gebrauchen?« Ich hielt den Gegenstand hoch, so daß er ihn sehen konnte. »Großartig, Mymy! Du hast deine Anwesenheit hier schon gerechtfertigt! Seien Sie so gut und geben Sie mir Mymys Glas, Dapod!« Der ehrenwerte Uniformierte konnte weiter reichen als ich, er streckte den Arm aus und überreichte Mav die Lupe, ein großes, starkes Exemplar, das ich verwende, wenn ich Splitter zu entfernen und Asche und Ähnliches in den Augen von Patienten zu suchen habe. Er reichte dem Detektiv auch seine Karbid-Azetylen-Lampe, wie sie die Kübeliere tragen, und war auf die Ermahnung meines Gefährten hin bedacht, sich nicht selbst auf die Tribüne zu begeben. »Seltsam«, überlegte der Detektiv, und ein wenig später: »Hmmm?« Es sah recht komisch aus, wie er so herumkroch, sein Rückenschild stand beinahe senkrecht und hing, von seiner Mittelhand gestützt, nur einen Fingerbreit über dem Boden. »Merkwürdig!« rief er aus, und: »Ich lasse mich ertränken!« Schließlich hob er einen Gegenstand auf, der lose auf den Brettern lag, stand plötzlich auf und markierte seine Position mit einem Stück Kreide, dann steckte er beides in eine Tasche und sprang leichtfüßig von der Bühne. Dapod und ich erwarteten ihn, auf unserem Pelz waren unübersehbare Fragen zu lesen. Ich wollte wissen, wie die Bombe im Rednerpult
seiner Meinung nach gezündet worden sei, aber er wies mich ab und marschierte quer durch den Raum zu Leds, der die Zutaten für unseren Kood bereitgestellt hatte. Wirklich, überlegte ich und bekämpfte damit meine Gereiztheit, der Tag hat nur siebenundzwanzig Stunden, und inzwischen war jene kurze Stunde des Vergessens, die Körper und Geist neu belebt, bei uns allen lange überfällig. Plötzlich fiel mir ein, daß ich durch das Feuer am Nachmittag zwei Hann-Perioden versäumt hatte. Physiologisch gesehen war der Kood kein angemessener Ersatz, aber er erleichtert und sättigt und ist vielleicht der zivilisierteste Brauch, der vom Reich ausgegangen ist – das Aufhören jeder sinnvollen Betätigung zugunsten einer angenehmen, zweckfreien, gesellschaftlichen Form. Ich habe den Verdacht, daß es das Fehlen eines gleichwertigen Brauches ist, was Foddus Gegner, die Hegemonie Podfet, zeitweilig so barbarisch und mißlaunig macht. An der Rückseite des Saales hatte Leds Stühle in einem behaglichen Kreis um den kleinen, mit Rädern versehenen Serviertisch aufgestellt, den er mitgebracht hatte, und dort kamen wir zusammen, als er ein Streichholz anriß und es an den Docht hielt. Es zischte, und ein oder drei Augenblicke später drangen köstliche, belebende Düfte aus dem Silbergeschirr, als er den durchbrochenen Deckel auf den Koodhalter legte und sich selbst einen Stuhl nahm. Ich atmete tief ein und entspannte mich. »Sag mal, Mav, was hast du denn dort oben auf der Trib… Mav?« Mein Gefährte war verschwunden, während wir uns alle mit dem Kood beschäftigt hatten. »Mav?« »Komme schon, Mymy«, erwiderte eine unsichtbare Stimme, dann trat er aus den Schatten durch die Tür zum Waffensaal, die offengestanden hatte. »Ist das der Kood, was ich da rieche?« Er rieb sich die Hände. »Wie köstlich!« Als er sich neben mich setzte und die Dämpfe einatmete, konnte ich sehen, daß er weit zufriedener war, als es allein mit Erfrischungen oder einem Ausflug zur Toilette zu erklären war. Jedoch erfordert der Anstand, daß nichts von Bedeutung besprochen wird, solange der Docht brennt, also würde ich mich mit dem primitiven Geplauder begnügen müssen, das nicht nur Männern, sondern, was noch schlimmer ist,
auch Kübelieren als höfliche Kood-Unterhaltung dient. Das hatte ich jedenfalls geglaubt. »Ach ja, Leds, mein Alter, das Koodgeschirr, das Sie da haben, ist ja prachtvoll. Gehört es Ihnen?« Vielleicht war die Belastung für Mav doch zu groß gewesen, denn er brachte die Worte im gleichen Tonfall heraus wie ihn die Leute verwenden, die meiner Mutter Vorhänge verkaufen. Der alte Lam legte sein Fell in Falten. »Mir? O nein, Sir, es gehört dem Museum. Fünfundsiebzig Jahre ist es alt, und es hat einmal dem Lordadmiral Roytoyt persönlich gehört. Seine Erben haben es gestiftet, aber Professor Srafen hatte noch ein älteres, hübscheres, daher läßt er uns – das heißt, er ließ uns Burschen dieses hier benützen.« Seine Stimme verriet, wie sehr es ihn bedrückte und bekümmerte, einen so freundlichen und geachteten Arbeitgeber zu verlieren, und sein Fell wurde ganz schlaff. »Verstehe«, antwortete Mav, anscheinend ohne sich der Gefühle des alten Lam bewußt zu sein. »Und wo hebt ihr es auf, wenn es nicht in Gebrauch ist? Im Büro des Kurators am Nordende des Waffensaales?« »Sir? O nein, Sir, in der Wachstation, dort vorne im Atrium. Sie sind heute abend durchgegangen, als Sie hereinkamen.« »Großartig! Tja, und was halten Sie dieses Jahr von Ednotem? Soviel ich höre, geben ihnen die Buchmacher drei zu zwei, daß sie die CityMedaille gewinnen.« Als der Kood fast zu Ende war, hob Mav einen Finger und sagte leise: »Nun, Mymy, ich merke, daß du mir eine Frage stellen willst. Sei so gut und komm mit nach nebenan, denn ich glaube, ich habe dieses Rätsel schon zu mehr als zwei Dritteln gelöst!« Er muß gesehen haben, wie erstaunt ich war, aber er schwieg, als ich meine Tasche nahm und ihm durch die Tür in den Waffensaal folgte. Hier wandte er sich, anstatt geradewegs zu den Toiletten zu gehen, wie ich angenommen hatte, nach links und schob den tragbaren Schirm beiseite, der den Rest des Raumes absperrte. Als wir auf der anderen Seite waren, griff er in seine Tasche. »Ich hoffe, du wirst mir dieses
idiotische Gerede von vorhin über das Koodgeschirr verzeihen. Ich mußte mich vergewissern, daß niemand durch diesen Schirm hier gekommen war und sich in diesem Raum zu schaffen gemacht hatte. Sag mir, Mymy, was hältst du davon?« Der Gegenstand, den er mir reichte, ein Gerät aus Eisen, war offensichtlich sehr alt, denn er wies die bräunlichblaue Patina auf, die solche Metalle annehmen, wenn sie längere Zeit der Atmosphäre ausgesetzt sind. Ungefähr doppelt so lang wie meine Hand war das Ding, es schien ein massiver Stab zu sein, ungefähr so dick wie mein Finger, und ohne bemerkenswerte Kennzeichen bis auf das eine Ende, das eine verheerende Kraft zu einer versengten, gezackten, tödlich aussehenden Blume hatte erblühen lassen, der unverkennbare Gestank von Weißpulverrauch war deutlich zu spüren. Das andere Ende war leicht abgegriffen und verschrammt, kleine Stellen hellen, fleckenlosen Metalls leuchteten durch den Rost, aber es war nicht so auffällig wie das andere Ende, das… nun ja… »Explodiert! Das hast du auf der Bühne gefunden? Was ist es? Ist es…« Er brachte mich wieder mit einer Geste zum Schweigen und führte mich dann ans äußerste Ende des Raums, wo eine Tür nach links ging, an beiden Seiten von eisernen Rüstungen flankiert, eine mit einem massiven Schwert und eine mit einem riesigen Kriegshammer. Im Zentrum der Türtafel hing ein alter Schild, auf dem das Wappen eines Ahnen der guten Königin Viigoot prangte. »Diese Tür«, sagte Mav, »ist dieselbe, die auf der anderen Seite an die Rednertribüne grenzt. Wie du sehen kannst« – er deutete auf den Rahmen –, »ist sie seit ziemlich langer Zeit zugenagelt.« Ich hatte das sogar schon auf der anderen Seite festgestellt. Wir waren jetzt genau gegenüber der Stelle, wo Professor Srafen ermordet worden war, und das sagte ich auch. »Du hast recht. Sieh mal, was noch hier in der Nähe ist!« Er deutete mit einer weit ausholenden Bewegung auf den Raum hinter uns, und mein Auge fiel auf einen Schaukasten, nicht mehr als eine Lamhöhe entfernt, der… »Aufgebrochen wurde er! Wie ist das zugegangen, Mav? Die Explo-
sion konnte doch sicher nicht…« »Wieder hast du völlig recht, Mymy. Dies ist zweifellos einige Zeit früher geschehen, als der Schurke… die Mordwaffe herausnahm!« Er zeigte in den Kasten, und plötzlich wußte ich, was das eiserne Gerät war, das er mir gezeigt hatte. Auf dem Samt, inmitten eines gräßlichen Durcheinanders von Glasscherben lag ein alter, podfettianischer Federbogen, dem sehr ähnlich, nach dem Tamets Schenke benannt ist. Vor Oktarien, ehe Weißpulver und Feuerwaffen erfunden wurden, war das Gerät eine wirksame und beliebte Waffe gewesen, wenigstens bei den Leuten, die an solchen Dingen Gefallen finden. »Aber Neuerungen«, bemerkte Mav, »setzen sich nie auf einmal völlig durch, und zuverlässige Geräte werden nicht so schnell aufgegeben. Sieh dir die Bolzen im Kasten an!« Er zeigte auf eine Anzahl kurzer, schwerer Pfeile, einige hatten häßliche, mit Stacheln versehene Spitzen, andere waren ganz glatt, wie für Schießübungen gemacht. Aber der, auf den er besonders zeigte, mußte einmal ein Gegenstück zu dem beschädigten Bolzen gewesen sein, den er von der Bühne aufgehoben hatte. Anstelle von Stacheln oder Klingen hatte er ein knollenförmiges, hohles Ende. »Siehst du, wie man es abschrauben kann? Jetzt ist es natürlich leer, aber wenn du es mit Weißpulver füllen und am Ende ein Zündhütchen anbringen würdest, dann…« Irgendwo hatte er so einen kleinen Messingbecher hergezaubert, wie man sie bei altmodischen Pistolen findet und wie sie benützt wurden, ehe einteilige Metallpatronen allgemein in Gebrauch kamen. Mein Vater hatte in seiner Jugend eine solche Pistole getragen, und sie hing jetzt, wenn ich mich recht erinnerte, zu Hause über dem Kamin. KRACH! Mav hatte den Federbogenbolzen mit der Spitze voran auf den Granitboden fallen lassen. Ohne Pulverladung war nur das Hütchen explodiert, aber ich begriff allmählich, was mit Srafen geschehen sein mußte. »Willst du damit sagen, daß jemand ihn mit dieser antiken Waffe erschossen hat?« »Man kommt um diesen Schluß kaum herum. Mymy, ich hatte recht, was die Kunst der Verbrechensaufklärung angeht. Die inhärente Logik der Spuren hat mich unmittelbar hierher geführt. Ich wußte, daß im Rednerpult keine Bombe gewesen sein konnte…«
»Was?« »Ganz genau, denn erstens wäre die einzige Möglichkeit, sie zu zünden, eine brennende Lunte gewesen – und die hätte doch sicher Srafen, wenn schon sonst niemand bemerkt –, oder ein Zeitzünder, und dann hätte die Explosion seine Rädchen und Federn über die ganze Bühne verstreut. Ich habe keine derartigen mechanischen Überreste gefunden. Auch das, was du mir über die Verletzungen bei den Zuschauern erzählt hast, hat es deutlich gezeigt: man hätte vernünftigerweise Splitter vom Podium erwarten können, aber niemals Bruchstücke von Srafens Rückenschild – ser ruhe in Frieden –, die hätte eine Bombe im Rednerpult nach oben geschleudert, aber nicht ins Publikum! Diese Hütchen und diese Weißpulverflasche in meiner Tasche wurden später in den Schaukasten geworfen, wo ich sie gefunden habe. Und komm, sieh dir das an!« Wir gingen zur Tür zurück und Mav machte sich daran, den Schild hochzuheben, von dem ich angenommen hatte, er sei festgenagelt. Statt dessen hing das Ding nur da, und dahinter hatte jemand ein großes, gezacktes Loch mit brutaler Gewalt durch das Holz geschlagen. »O Mav, du bist ein Genie! Der Schuldige hat offensichtlich durch die Tür geschossen! Jetzt muß man nur noch die Wächter befragen, um festzustellen, wer während des Vortrags durch die andere Tür gegangen ist, dann…« »Langsam, Mymy. Es ist möglich, daß der Schurke schon einige Zeit vor dem Vortrag hier drin gelauert hat und so nicht durch die Tür zu gehen brauchte, als sie bewacht war. Auch bleiben noch einige praktische Fragen: Wie konnte er durch massives Holz so genau zielen? Nun, vielleicht hatte er die Schußbahn vorher abgeschritten. Auf jeden Fall bin ich zuversichtlich, daß wir es bald herausfinden… He, was ist das denn, bei der ewigen Feuchtigkeit?« Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf den Schaukasten, als Mav anfing, einem mit Stoff bedeckten Metallfaden zu folgen, der von der verglasten Oberseite nach unten führte und dann in den Fugen zwischen den Granitplatten des Fußbodens entlang und durch den Wandschirm an der Vorderseite des Raums nach draußen lief. Wir
folgten ihm um den Schirm herum in den Hörsaal und weiter in den Großen Ausstellungssaal. Auf dem Weg dorthin begegneten wir dem alten Leds, der uns zur Wachstation im Atrium begleitete, wo der Draht sich mit Dutzenden von anderen in einem komplizierten und sehr modern aussehenden Gerät vereinigte, das an der Unterseite der Garderobentheke befestigt war. Allmählich machte sich Abscheu auf dem Fell meines Gefährten bemerkbar, als Leds erklärte, wie das neue, elektrische Alarmsystem des Museums funktionierte. Oder manchmal auch nicht funktionierte. »Muß die Explosion gewesen sein, Sir. Aus irgendeinem Grund hat sich das feuchtkalte Ding gleich danach die verdammten Kiefer aus dem Leib geklingelt. Sobald ich konnte, hab' ich's abgeschaltet, aber jedesmal, wenn ich's wieder anschalten will, klingelt's.« Er demonstrierte uns das mit einem schnellen Umlegen des Messerschalters. »Zweifellos irgendwo 'n paar Drähte locker. Jetzt muß ich jeden einzelnen dieser gottfeuchten Kästen durchsehen…« Er schwang einen Arm in Richtung auf mehrere Morgen Ausstellungsflächen im Großen Saal. »Das glaube ich nicht, Leds. Wir haben Ihren kaputten Kasten gefunden, und ich habe den Verdacht, daß mir dabei gleich ein paar ziemlich glühende Hoffnungen mit kaputtgegangen sind. Du siehst das Problem, nicht wahr, Mymy?« »Ich glaube schon. Wenn der Kasten, der den Federbogen enthielt, aufgebrochen wurde, damit der Mord begangen werden konnte, wieso wurde der Alarm dann erst nach der Explosion ausgelöst?« Mir schwirrte allmählich der Kopf vor Erschöpfung, Verwirrung und, Mavs wegen, vor Enttäuschung. »Und außerdem«, sagte er und untersuchte den beschädigten Federbogenbolzen noch einmal, »wenn dieses verfluchte Ding mit Gewalt durch die Tür getrieben wurde, warum ist es dann nicht bei diesem ersten Aufprall explodiert?« Er hielt meine Lupe sehr dicht vor sein Auge und schob die alte Waffe davor. »Und warum – sag mir das bitte! – ist, wenn es erst explodiert ist, als es unseren armen Professor traf, der untere Teil der Pulverhöhlung
mit Bruchstücken von Kaktusholz vollgepackt?«
4. Kapitel Eine zweifelhafte Einkerkerung Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß niemand zu irgendeiner Zeit mehr als zwei Drittel seines Gehirns benützt. Nach der kurzen Stunde des Hann, die aus Gesundheitsgründen drei- oder viermal am Tag empfohlen wird, zieht sich ein aktiver Lappen zurück, seine Funktionen werden von einem anderen übernommen, der vorher schlief, und das geht bis zum nächsten Hann, wenn der dritte Lappen in Empfindungslosigkeit versinkt. Dieses Phänomen wurde, obwohl es von der Naturphilosophie noch wenig verstanden ist, schon in alten Zeiten beschrieben, denn oft ließen Soldaten mit tödlichen Verletzungen keinerlei Anzeichen davon erkennen, erst einige Stunden später, wenn der Zustand des Hann über sie kam, und dann verschieden sie sofort. Was immer der zugrundeliegende Mechanismus sein mag, wenn es möglich gewesen wäre, alle drei Lappen gleichzeitig zu beschäftigen, so hätte mein Freund Mav genau das getan, als er mich nach Hause brachte. Ob es bei seinem gelegentlichen Gemurmel und seinen unartikulierten Pelzzuckungen um einen nicht eingestandenen Kummer, die Zerstörung seiner voreiligen Hypothese oder die Aufstellung einer neuen ging, konnte ich nicht feststellen. Ohne ein verständliches Wort brachte er mich zur Tür, wo mich mein verängstigtes Dienstmädchen erwartete. Ich war Mavs wegen so besorgt und selbst so erschöpft, daß es mir ziemlich gleichgültig war, ob das verräterische Mädchen morgen früh meiner Mutter erzählen würde, daß ich mit dem Gefängniswagen nach Hause gekommen war, weil zu dieser Stunde so wenig Droschken zur Verfügung standen. Am nächsten Morgen kam ich wie gewöhnlich zum Nordheckenbezirksgebäude, nachdem ich die paar Blocks von meiner Wohnung aus zu Fuß gegangen war. Die ersten Berichte beim Zeitungshändler drehten sich nur um den Mord an Srafen, der je nach dem Stil und der Einstellung der jeweiligen Publikation verschieden behandelt wurde und mit Holzschnitten und Fotos illustriert war, die die üblichen Nachrich-
ten von den jüngsten Missetaten Podfets und vom tapferen, zivilisierenden Widerstand des Reiches in den Hintergrund drängten. Auffällig war, daß im ›Kurier‹ ein derartiges Bild fehlte; die Gründe für diese Unterlassung hatte ich am Abend zuvor stückchenweise chirurgisch aus Niitoods Rückenschild entfernt. Ich rollte die Zeitungen wieder auf ihre Stäbe, steckte sie mir zwischen zwei Arme, schulterte meine Tasche und setzte den Weg zur Arbeit fort. Beim Bezirksgebäude sah ich voll Überraschung eine hübsche, reich ausgestattete, dreispännige Kutsche, die gerade abfahren wollte. Ich brauchte mich nicht anzustrengen, um das Wappen zu erkennen, das auf den Türen angebracht war, denn genau diesen Wagen hatte ich schon oft vor dem Hause meines Vaters vorfahren sehen, mit seinem alten Freund, dem Erzpriester des Nordheckenbezirks darin. Dieser Umstand kam mir etwas sonderbar vor, aber ich schlug ihn mir aus dem Sinn, weil ich viel zu tun hatte und mich darauf verlassen konnte, daß der übliche, inoffizielle Nachrichtenstrom innerhalb des Bezirksgebäudes mich mit der Zeit schon auf den neuesten Stand bringen würde. Man stelle sich mein Erstaunen vor, als ich schließlich eintreten wollte und noch eine, genauso luxuriöse Kutsche hinter mir an den Randstein fuhr. Der Fahrer kletterte herunter, um einer offensichtlich hochstehenden Persönlichkeit beim Aussteigen behilflich zu sein; da ich im Eingang aufgefallen wäre, konnte ich dort nicht stehenbleiben, um weiter zuzusehen, aber trotzdem hatte ich den vornehmen Lord Ennramo, Oberster Ratgeber Ihrer Majestäten und prominentes Mitglied des Lezynsiin oder Oberhauses des Parlaments erkannt. Was ich von all dem genau halten sollte, wußte ich wirklich nicht, also verzichtete ich für den Augenblick auf weitere Mutmaßungen und stieg in den ersten Stock hinauf zum Krankenrevier, wo ich hingehörte. Der Nordheckenbezirk nimmt, wie so manches andere, öffentliche Gebäude (eigentlich ähnlich wie das Kaiserliche Museum) einen ganzen Block in der Stadt ein, in diesem Fall wird es im Süden von der Rihnat Road, im Nordosten von der Kevod Lane, die in den Kiiden führt, und im Nordwesten von der Gesnat Street, einer Hauptstraße
der City begrenzt. Es ist ein massives, eindrucksvolles Gebäude in einem Stil, der vielleicht drei Generationen alt ist, im Erdgeschoß befinden sich der Watustall, die Pumpen- und Leiterkompanien und ein kleines, bedrückendes Zimmer, in dem die Personalien der Verbrecher aufgenommen werden, ehe man sie ins Untergeschoß bringt, wo die Kerker sind. Der erste Stock darüber ist in Arbeitsflächen für Kauteriseure und in Schichträume für die Kübeliere unterteilt, außerdem gibt es dort Dauerwohnungen für die Unverheirateten, die es für gut halten, am Ort ihrer Arbeit auch zu wohnen. Dieser Oktarien alte Brauch stammt noch aus der Zeit, als die fodduanischen Soldaten nach einem nonadenlangen Krieg vom Kontinent zurückkehrten und, da sie keine Arbeit hatten, nach Ansicht des Königs den Frieden und die bürgerliche Ordnung der Stadt bedrohten. So wurden, um den Frieden zu bewahren, die Kübeliere eingesetzt und damit sofort Ruhe und Ordnung wiederhergestellt – was in nicht geringem Maße der Tatsache zu verdanken war, daß man die Soldaten selbst anwarb, um diese Aufgabe zu erfüllen. Im zweiten Stock haben Tis und seine Stellvertreter ihre Büros. Da ja die Nordhecke nicht nur die Kübelierstation für diese Gegend, sondern auch das Bataillonshauptquartier für ein Drittel der City ist, werden Räumlichkeiten für die Verwaltung des Sound Point-Bezirks auf der stromaufwärts gelegenen Spitze der Königsinsel und für den Riverside-Bezirk am nördlichsten Ende der Stadt bereitgehalten. Obwohl der King's Hall-Bezirk offiziell nicht zu unserem Bataillon gehört, stehen wir in ziemlich enger Verbindung damit, möglicherweise deshalb, weil unser Sound Point als Bezirksstation kaum mehr als eine Formalität ist, er schützt angeblich den Palast und die Königlichen Besitzungen und hält, was wichtiger ist, Ausgehuniformen in leuchtendem Smaragdgrün und prächtig aufgezäumte Watun für die häufigen Paraden Ihrer Majestäten bereit. Ich ging die öden, in den Regierungsfarben rosa und rot gestrichenen Korridore entlang und fand schließlich meine Kollegen eifrig damit beschäftigt, Binden in einer Essenz zu sterilisieren, die derjenigen, die Mav in seinem Silberrohr inhaliert, ziemlich ähnlich ist, und sie dann für ihre Taschen aufzurollen. Meine eigenen Vorräte in diesem Bereich
waren stark geschwunden, da ich am Abend zuvor zweimal hatte Gebrauch davon machen müssen, also legte ich die aufgerollten Zeitungen beiseite und ging zu einem halben Dutzend Kollegen an den Arbeitstischen. Ein schöner Kood-Docht glomm vor sich hin, während ich einen bescheidenen Beitrag zum morgendlichen Klatsch lieferte. »Der Lord Ennramo?« kreischte Poadpo. »Da hast du dich sicher getäuscht, Mymy! Hier in der alten Nordhecke? Was sollte ein Lord hier zu suchen haben?« Es folgten zahlreiche, unwahrscheinliche Vermutungen, einige davon in gemischter Gesellschaft unwiederholbar. Poadpo tat immer so, als könne ser die Klatschgeschichten, die ihm von anderen zugetragen wurden, weder verstehen noch glauben. Ich vermute, ser hatte sich diese unangenehme Angewohnheit in der Pubertät zugelegt, als ser enttäuscht war, kein Mann zu werden. Jedenfalls war sihr eigener Gerüchtevorrat stets von der Art, die persönlich am vernichtendsten ist, und ich schaudere, wenn ich mir vorstelle, was ser in meiner Abwesenheit von mir sagte. »Vielleicht«, meinte Zoddu, »hat es etwas mit Chef Niifysiir zu tun, der unseren Chef heute morgen kurz nach Sonnenaufgang besucht hat.« Es schien wirklich ungewöhnlich, daß der oberste Chef hierherkam, noch dazu zu so einer Stunde, daß auch unser eigener Vorgesetzter gezwungen war, früher zu kommen. Ich fügte hinzu, daß ich auch den Erzpriester – oder einen Abgesandten, wie ich zugestand – gesehen hätte, was noch weitere, nichtssagende Bemerkungen von Poadpo hervorrief, aber von Zoddu und anderen, die hier im Bezirksgebäude wohnten, bestätigt wurde. »Wir sind heute ein Anziehungspunkt für alle möglichen Berühmtheiten.« »Hm«, stimmte Nrydmou zu, der in der Tür lehnte. »Und vielleicht hängt es mit dem Gefangenen zusammen, der gestern abend eingeliefert wurde. Ziemlich wütend war er, hat sich über die Rechte des Vierten Standes ausgelassen, was immer das sein mag.« Nrydmou und Zihu, der zweite, männliche Kauteriseur, mieden gewöhnlich unsere ›kleinen Kood-Klatschereien unter Derren‹, daß er jetzt plötzlich auftauchte, war beinahe genauso ungewöhnlich wie die übrigen Ereignisse dieses Morgens. »Jedenfalls habe ich eine Botschaft von unserem Ruhmreichen Führer einen Stock höher, Mymysiir, mein Lieber. Ich soll dir mitteilen, daß er mit dir zu sprechen wünscht, sobald es dir
genehm ist.« Noch eine unerhörte Begebenheit, dachte ich, während ich mit einigem Zagen die Steinstufen um die Spiralrutsche aus Metall hinaufstieg, auf der unsere tapferen Kübeliere schnell zu ihren Wagen gleiten, wenn die Feuertrompete ruft. Ehe ich viel über das nachdenken konnte, was Nrydmou sonst noch offenbart hatte, hörte ich am anderen Ende des von Büros gesäumten Korridors laute Stimmen. »Große, gesegnete Wasserlosigkeit, Lam, wofür halten Sie mich? Sie haben selbst gesagt, der durchnäßte Bastard sei aufgestanden und habe seinen tödlichen Mechanismus gezündet, worauf Ihr Professor einfach…« »Sir, ich habe Ihnen auch diesen Federbogenbolzen gezeigt, der…« »Der nach Ihren eigenen Worten feucht unmöglich so verwendet worden sein kann, wie Sie ursprünglich… dedussiert? sagten Sie – haben.« Tis' Gepolter war unverkennbar, genauso wie Mavs etwas zurückhaltendere Antworten. »Und trotzdem ist diese Spur sicherer als die, auf die Sie sich… Ja, bitte?« Ich klopfte ein wenig schüchtern an das Milchglas. Die Tür schwang auf, Mav hatte den Knopf in seiner linksten Hand. »Komm doch herein, Mymy, und rate, wenn du kannst, wer wegen der unglücklichen Sache mit Professor Srafen in Haft genommen wurde!« Er stand vor dem alten Bataillonschef, sicherlich gereizt, aber so frisch und gepflegt, als hätte nicht auch er ein oder zwei Hannperioden übersprungen. Wenn ich persönlich meine Ruhepause versäume, können meine Gehirnlappen sich nicht entscheiden, welche beiden von ihnen eigentlich arbeiten sollten und brauchen ein oder zwei Tage, um sich wieder zurechtzufinden. Waad Hifk Tis hockte hinter seinem verschrammten Baumholzschreibtisch, das sich lichtende Fell entrüstend aufgestellt, wie immer, wenn die beiden im selben Raum waren. Es war mir wirklich unangenehm, Zeuge dieses Streits zu sein, geschweige denn aufgefordert zu werden, einen Beitrag dazu zu leisten. Der ältere Beamte wirkte zerknittert, aber das war nichts Neues; er gehörte zu den ständig Zerknit-
terten, vermutlich zur Verzweiflung seiner beiden Frauen. Die Trümmer von Niitoods Kamera lagen in großen und kleineren Stücken über den Schreibtisch verstreut, und Tis stocherte gelegentlich daran herum, während er sprach, als wären sie ein kleiner, giftiger Bewohner der feuchteren Regionen östlich der Stadt. Ich bin sicher, daß es seiner Stimmung nicht sehr förderlich gewesen war, zu früher Stunde auf seinen Posten gerufen zu werden. Der Eckstein von Tis' Charakter waren regelmäßige Gewohnheiten. Ich habe sogar gehört (von einem Außerordentlichen Ermittlungsbeauftragten, dessen Namen ich nicht nennen will), daß Tis ohne Ausnahme seit dreißig Jahren jeden Morgen pünktlich zur zweiten Stunde zu Hause seinen Dienstrevolver aus einer Schublade holt, wo er ihn aufbewahrt, ihn an seinem Körper zum Bezirksgebäude trägt und ihn dort unverzüglich in einer identischen Schublade ablegt. Er hat ihn in all den Jahren weder zum Training noch in Ausübung seines Dienstes abgefeuert, außer am Geburtstag der Königin, wenn seine Familie in Tesret Ferien macht. Dann schießt er dreimal in die Luft, leert den Zylinder und lädt aus einem Päckchen Patronen nach, das er vor zwanzig Jahren erstanden hat. Am ersten Tag jedes Monats (und das habe ich selbst beobachtet) zerlegt und putzt er das arme Gerät mit einer Energie, die dazu geführt hat, daß es genauso abgenützt aussieht, als würde er es jeden Tag abfeuern. Kein Wunder, daß es Kübeliere gibt, die Uhr und Kalender nach ihm stellen. Irgendein kühner Geist hat ihn einmal gefragt, warum er seine gewaltige Nachkommenschaft jedes Jahr nach Tesret bringt, da er sich doch jedesmal noch wochenlang über das Essen, das Wetter, die Preise und die Unterkunft beklagt. Warum nicht nach Feviikdyho oder zur Abwechslung sogar einmal nach Ost Gymnat? Er antwortete, er mache immer in Tesret Ferien und sähe keinen Grund, von dieser Gewohnheit abzugehen – was mich zu der Frage veranlaßt, wie er eigentlich ursprünglich zu seinen Gewohnheiten gekommen ist. Sie müssen doch irgend wann einmal neu und daher unvorstellbar für ihn gewesen sein. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder kleineren Rätseln zu und antwortete auf Mavs rhetorische Frage: »Ich denke mir, man hat Rewu Uomag Niitood vom Mathas-Kurier für den Schuldigen gehalten.«
»Nur zu richtig«, murmelte Tis mit streitbarer Befriedigung. »Und das ist das Ende vom Lied!« Er verbeugte sich zu einer Ecke des Raumes hin, wo ein Wesen saß, das ich bis jetzt noch nicht bemerkt hatte und auch nicht kannte, ein ziemlich kleiner, berufsmäßig anonymer Lam in der eintönigen rosa Zivil-›Uniform‹ eines Karrierebürokraten. Diese gesellschaftlich unsichtbare Kreatur nickte bekräftigend und löste damit bei Tis sichtlich Entspannung aus. »Natürlich muß man es auch beweisen«, meinte Mav recht sanft. Tis sprudelte erneut aufgeregt los: »Reine Formsache, sage ich! Bei der Trockenheit, wir werden zeigen, daß er in diesem Bilderkasten irgendeine teuflische Waffe versteckt hatte! Deshalb habe ich Sie heute morgen rufen lassen, Mymy.« Er schob und stieß die zerbrochenen Überreste auf seiner Schreibtischplatte hin und her. Einige Teile hatten die Gewalteinwirkung überraschend unbeschadet überstanden. »Würden Sie sagen, daß das alles ist, oder wurde noch etwas entfernt oder zurückgelassen?« Ich beugte mich über den Schreibtisch und untersuchte, was da war. »Es ist schwierig zu sagen, Sir.« (Der arme, alte Bursche schnitt eine Grimasse, wie er es immer tut. Es verwirrt ihn, daß Leute aus vornehmem Hause wie Mav und ich die Arbeit, die wir machen, gerne tun und ihn folglich mit der Höflichkeitsformel anreden). »Der Schaden ist sicher sehr groß, aber nicht ganz so schlimm, wie ich ihn unter dem Druck der Ereignisse gestern abend in Erinnerung hatte. Daß Niitood genau in diesem Moment aufstand, ist ein Zufall, der untersucht werden sollte. Trotzdem…« »Ja?« brummte Tis, Mav ahmte ihn freundlich ermutigend nach. Der Fremde in Zivil saß wie zuvor schweigend da und zog an einem kleinen Messinginhalator. Ich nahm allen Mut zusammen: »Trotzdem ist an diesen Bruchstükken nichts zu sehen, was darauf hinwiese, daß sie einen größeren Anteil an der Katastrophe hatten, sie waren einfach im Weg, als sich das Unglück ereignete. Sie sind nicht versengt und haben auch nicht den Geruch nach Schießpulver, den Mavs Federbogen…« »Hrrhm… vielen DANK, Mymy, das genügt!« »Sir, wenn ich…«
»Ja, Mymysiir, Sie dürfen jetzt GEHEN. Hrrhm.« »Sir, das wollte ich nicht… ich meine, ich mag Niitood nicht besonders, aber wenn er verurteilt würde, dann würde doch…« »Vorsätzlicher Mord? Die Richtblöcke natürlich, wie er es ja auch wirklich verdient hat!« »Mir wäre der altehrwürdige Brauch des Ertränkens viel lieber«, bemerkte Mav. »Hüten Sie Ihre Zunge, Kübelier, wir haben einen Derrn im Raum!« »Oh, entschuldige, Mymy.« Auf der Seite seines Rückenschilds, die weder Tis noch sein geheimnisvoller Besucher sehen konnten, zuckte Mav belustigt mit seinem Fell. »Jedenfalls fürchte ich, Sir, daß Sie Ihren Gefangenen werden freilassen müssen. Wissen Sie, durch einen merkwürdigen Umstand habe ich genau diese Kamera nicht lange vor dem Mord untersucht, und ich versichere Ihnen…« »Sie haben WAS!« Tis richtete sich auf, und auch der Fremde schien dem Gespräch plötzlich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Kurz und mit vielen freundlichen Korrekturen erzählte der Detektiv, wie wir Niitood im ›Schlauch und Federbogen‹ getroffen hatten. Jedoch erreichte er mit dieser Anekdote im Augenblick nichts weiter, als daß Tis sich eifrig auf die ein wenig drohenden Bemerkungen des berauschten Reporters gegen den Professor stürzte. Mav protestierte, auch das sei als Indiz unzureichend. »Das macht nichts«, beharrte Tis. »Der Bursche ist eindeutig ein gefährlicher Radikaler und hat sich selbst verraten. So war die Sache also.« Er blickte wieder auf den Fremden, um ein Zeichen seiner Zustimmung zu erhalten. »Was ich will – sind Sie immer noch hier, Mymy? Unten gibt es sicher genügend Arbeit für Derren, und wir haben noch einiges unter Lamn zu besprechen. Und jetzt raus mit Ihnen!« Die restlichen Verhandlungen muß ich gezwungenermaßen wie die alten Geschichtsschreiber aufgrund von Schlußfolgerungen berichten, so, als wäre ich draußen vor der Bürotür gestanden und hätte gelauscht. Natürlich tat ich nichts dergleichen, sondern kehrte statt dessen zu meinen Kollegen ins Krankenrevier zurück. »Sehen Sie mal, Mav… Oh, setzen Sie sich doch, Ermittlungsbeauf-
tragter, und holen Sie Ihr Rohr heraus, wenn Sie wollen! Ich habe eine anregende, neue Mischung vom Kontinent, die Sie vielleicht gerne versuchen möchten.« Hier folgte eine Pause, während die Gentlelamn sich der Vorbereitung ihres Lasters widmeten. »Nun, was ich sagen wollte, Sie brauchen diese Situation nicht als unrettbar naß und völlig aussichtslos zu betrachten. Sie glauben, wir haben nicht genug, um diesen Niitood zwischen Granitplatten zu bringen, wo er hingehört. Nun, hier liegt doch Ihre Chance. Beweisen Sie seine Schuld vollständig, so, daß keine Fragen offenbleiben! Wir werden sehen, ob wir dann in Zukunft für Ihre Detektivsache nicht ein wenig mehr tun können, wie?« Dann folgten noch ein paar Worte, die undeutlich gesprochen wurden und weder von Mavs noch von Tis' Zimmerecke zu kommen schienen. »Ganz richtig«, erwiderte Tis. »Wir verlangen nur, daß es schnell erledigt wird.« »Ich wußte gar nicht, daß es so eilig ist«, sagte Mav mit einem ironischen Unterton. »Hrrhm! Nun, je schneller wir diese häßliche Angelegenheit abschließen können, desto besser. Und übrigens habe ich beschlossen, wobei ich ausdrücklich betonen möchte, daß ich damit keinen Präzedenzfall schaffe, es auch mit Ihrer zweiten Idee zu versuchen.« »Welche Idee, Sir? Ich habe viele.« »Das ist wahr, Mav, hm! Ich spreche von der Vorstellung, Ihren Pflichten unbelastet durch Ihre Uniform nachzugehen – obwohl, warum Sie nicht stolz darauf sein sollten, sie zu tragen… nun ja, darum geht es jetzt nicht. Es ist beschlossen: Sie sollen in diesem Fall Ihre Aufgaben in ziviler Kleidung erledigen.« »Wie Sie meinen, Sir, und vielen Dank. Ich habe noch eine Bitte, die…« »Oh, Mav, um Pahs willen, was ist denn jetzt wieder?« »Nun, Sir, Sie könnten mir nicht vielleicht ein oder zwei Kübeliere als Assistenten überlassen?« »Auf keinen Fall! Wir sind ohnehin überlastet, und ich werde keine
Feuerwehrleute abziehen, wo sie gebraucht werden, um sie verschwenderisch…« Hier war wieder, wie zuvor, das Gemurmel zu hören. »Ach ja, richtig, mein lieber Ermittlungsbeauftragter, nehmen Sie Mymy! Ser wird ohnehin nicht zu viel zu gebrauchen sein, bis dieser Unsinn vorbei ist; möglicherweise erweist ser sich als so geschickt dabei, daß man auch den Detektivberuf zu einer Beschäftigung für Beimänner macht. Haha – was würden Sie dazu sagen?« Ich gestehe, daß meine Herzen einmal unkoordiniert zuckten, als ich diese Entwicklung später… äh… schlußfolgerte. Ich war beschäftigt, sehr beschäftigt, mit meiner üblichen Arbeit, als Mav, ein bißchen widerwillig, glaube ich, kam und mich davon in Kenntnis setzte. Ich weiß nicht genau, wie ich persönlich darüber dachte, meine neuen Pflichten in Zivilkleidung auszuüben. Ich war recht glücklich mit meiner Uniform, da ich mich sehr viel mehr als jeder Mann hatte anstrengen müssen, um sie mir zu verdienen. Sie war sogar nach dem Muster männlicher Kleidung gemacht und dementsprechend schlicht und praktisch – ganz anders als die plumpe, veraltete Zwangskleidung, die für ›richtige‹ Beimänner schicklich war. Die Abzeichen waren auf Kappe und Ärmel aufgenäht, aber jetzt hatte Mav die Idee (eine von vielen, die in seiner Notizmappe eingetragen waren), daß man einen der bestickten Flecken entfernen und in einer Geldscheintasche mit sich führen könnte, um ihn bei passender Gelegenheit als Ausweis offiziell vorzuzeigen. »Was hat denn deiner Meinung nach unseren Chef umgestimmt?« fragte ich, als wir die Treppen vom ersten Stock zum Parterre hinuntergingen. Ich hatte noch Zeit gefunden, meine Tasche aufzufüllen, fragte mich aber jetzt, ob ich sie in Zivil mitnehmen sollte, da auch auf ihr die Abzeichen der Kübeliere aufgemalt waren. »Nichts kann Tis jemals umstimmen, Mymy, er ist der Sproß unzähliger Beamtengenerationen und Vater und Großvater weiterer Legionen, deren Schicksal es ist, in seine ausgelatschten Handstapfen zu treten: Wie Srafen es oft ausgedrückt hat, das unerschütterliche, sich gegen den Fortschritt stemmende Rückgrat unseres Reiches – und eine
immer verheerendere Belastung seiner Ressourcen.« Im Erdgeschoß gingen wir nach hinten in das schäbige Büro, wo Mav sich die Erlaubnis holte, den Gefangenen zu besuchen. Wir bekamen auch eine Karbidlampe und wurden ermahnt, auf den Stufen vorsichtig zu sein. Ich wagte es, Mav und seinem Professor vorsichtig zuzustimmen, als wir wieder allein waren, denn ich fand, daß wir, die wir die Livree des Parlaments trugen, von Jahr zu Jahr mehr wurden, während die Geschäftslamn und Arbeiter, die uns ernährten, sich ständig verringerten. »Aber du hast meine Frage nicht beantwortet: Warum entschließt sich Tis gerade in diesem Augenblick dazu…«, begann ich. »Das ist doch wohl offensichtlich, Mymy. Es gibt ein paar Leute, denen es lieber wäre, wenn die Kübeliere den Tod – den viele als wohlverdient und möglicherweise für die Gesellschaft nützlich ansehen – einer Person, die man als gefährlichen Ketzer betrachtete, nicht mit zuviel öffentlicher Begeisterung untersuchten.« Im Weitergehen warnte er mich vor einer tückischen Biegung auf der uralten, in Stein gehauenen Treppe. »Damit meinst du doch wohl nicht den Erzpriester? Ich hatte den Eindruck, daß…« Er hob eine Hand. »Natürlich nicht, und auch nicht den Lord Ennramo, der heute morgen hier war. Ihre Sorge gilt einfach den Interessen der Krone und der Kirche in dieser Angelegenheit, sie wollten hauptsächlich erreichen, daß man der Gerechtigkeit ihren Lauf läßt, trotz eines beträchtlichen politischen Drucks in die andere Richtung – sei hier vorsichtig, ich fürchte, die Stufen sind tatsächlich feucht –, ihnen haben wir es zu verdanken, daß überhaupt etwas unternommen wird.« Wir erreichten schließlich den Fußboden am Ende der Treppe – nur um zu entdecken, daß er den unverkennbaren Duft der Watuställe darüber in höchster Konzentration verströmte. Mav schlug auf eine Bronzeglocke, die an der Wand befestigt war, legte seine Pistole ab und hängte sie an einen Pflock daneben. »Wer bleibt dann noch übrig«, fragte ich, »der genügend Macht hat, einen solchen Einfluß auszuüben?« Ich trat unbehaglich von einem
Fuß auf den anderen, ganz unglücklich angesichts so viel kalter Feuchtigkeit. Ein traurig aussehender Kübelier, der diesen Posten zweifellos zur Strafe bekommen hatte, kam und rief uns von der anderen Seite eines schweren Gitters aus rostigen, mit einander verwobenen Eisenriemen her an. Als Mav ihm versicherte, wir seien offiziell hier, war er beruhigt und legte einen Schalter um. Elektrische Kerzen strahlten ins Dämmerlicht, und Mav löschte seine Lampe. Der Wärter drehte einen Schlüssel und ließ uns unter dem Quietschen und Knarren der rostigen Tür eintreten. Die Beleuchtung war ein fragwürdiger Vorzug, denn der Salpeter und die ekelhafte Feuchtigkeit an Fußboden und Wänden wurden dadurch nur noch deutlicher sichtbar. »Ich spreche natürlich«, flüsterte Mav, als der Kerkermeister davonschlurfte, um unseren Gefangenen zu holen, »von dem Gentlelam, den du in Tis' Büro gesehen hast. Weißt du, wenn ich Bataillonschef wäre, ließe ich diese Verliese für immer schließen – sie sind keine Zierde unserer Behörde.« »Dieser unscheinbare, kleine Bursche? Ich habe ihn für einen Wichtigtuer vom Finanzministerium gehalten – er sah aus wie ein Buchhalter.« »Was er in gewissem Sinne ja auch ist – ein gewählter aus dem Nazemynsiin, dem Mittelhaus des Parlaments. Er vertritt unseren Herrn und Meister, Mymy, das Ministerium für Öffentliche Sicherheit. Und, wie man aus seiner Anwesenheit heute morgen schließen möchte, stecken diese ehrenwerten Lamn jetzt zwischen zwei Steinen.« »Keine sehr schöne Redewendung, in Anbetracht der Umstände – vor allem für Niitood.« Ich blickte angewidert die schimmligen, triefenden Wände an und mußte mir unwillkürlich kleine, glitschige Wesen vorstellen, die in den Schattenteichen herumkrochen. »Trotzdem ist sie angemessen. Du erinnerst dich doch sicher an die Demonstration gestern abend vor dem Museum?« Er führte mich zu einem rohen, bröckeligen Tisch, an dem anscheinend die Kübeliere ihre Mahlzeiten einnahmen – wie es die Lamn allerdings über sich brachten, hier unten zu essen… Den Einrichtungen nach zu urteilen, die den Diensthabenden zur Verfügung standen, schauderte es mich,
wenn ich an die Zustände dachte, die ihre unglücklichen Schützlinge zu erdulden hatten. »Ich dachte eigentlich, dieser Pöbel hätte überhaupt nichts vertreten, was von Bedeutung sein könnte.« »Sie sind nur die äußerste Spitze eines Kaktustriebs, das fürchtete jedenfalls Professor Srafen. Siehst du, während der Fortschritt in diesem Oktarium unschätzbare Vorteile für alle gebracht hat, und ganz besonders für die Massen – öffentliches Gesundheitswesen, Massenproduktion schmutzabweisender Kleidung, billige Nahrungsmittel in reichlicher Menge und ähnliches – während er noch viele weitere Vorteile zu bringen verspricht, hat sich in den unteren Schichten langsam eine irrationale Reaktion angestaut, während die Erinnerung an das, was vorher war, zu verblassen beginnt. Das primitive Leben, das die gewöhnlichen Leute vor Generationen führten, bekommt allmählich einen perversen, romantischen Reiz, während die echten Verbesserungen ihres Schicksals heute als unbedeutend und alltäglich abgetan werden. Das Elend, das es noch immer gibt, wenn auch wesentlich weniger schlimm als noch vor Nonaden, ist trotzdem für die unteren Schichten viel deutlicher als das, an das sich kein lebendes Wesen mehr erinnert.« »Ich hatte keine Ahnung, daß Srafens Interessen auch über die Naturphilosophie hinausgingen, Mav. Außerdem bekenne ich mich selbst zu der Ansicht, daß das gesunde Landleben, das die Leute vor all der schmutzigen, verstädterten Industrialisierung führten…« Hier legte Mav sein Fell in verächtlich ablehnende Falten. »Srafens Interessen lagen in der Naturphilosophie, und ser glaubte, daß es eine Naturphilosophie des Verhaltens und der politischen Ökonomie der Lamviin gäbe, die nur entdeckt zu werden brauchte. In gewissem Sinne war diese sihre Sorge im wesentlichen defensiv, da ser ja im Mittelpunkt von so vielen, volkstümlichen Streitigkeiten stand. Darüber hinaus ist in letzter Zeit eine neue Befürchtung entstanden, daß nämlich Maschinen, die schon jetzt die Lebenserwartung der Bevölkerung von Foddu verdoppelt und ihre Zahl verdreifacht haben – soviel zum gesunden Landleben –, dem gewöhnlichen Arbeiter irgendwie seine Arbeit rauben werden. Gleichgültig, daß heute zehnmal
so viele Leute gewinnbringend beschäftigt sind wie zu Zeiten unserer Urgroßväter, als die meisten auf dem Besitz irgendeines Grundherrn ums nackte Leben kämpften. Und, was noch schlimmer ist, die Hersteller der Maschinen betonen dummerweise immer wieder, daß ihre Geräte die Arbeit von vielen tun werden, anstatt davon zu sprechen, für wie viele sie neue Arbeit schaffen werden. Das erstere ist es, nicht das letztere, was die Arbeiter hören, woran sie glauben und wonach sie handeln.« »Und was hat das mit Niitoods Verhaftung zu tun?« Er zog sein Rohr und die Inhalierflüssigkeit heraus und sammelte mit Hilfe des Rituals seine Gedanken. »Sieh dir doch die Stellung des Mittelhauses an. Bis vor kurzem haben seine Vertreter jede Neuerung begrüßt, aus verschiedenen Gründen, die sie für gut hielten: Das unterschied sie vom Oberhaus, dessen Vertreter von Ihren Majestäten ernannt werden und so zu einem gewissen Konservatismus neigen; die Tendenz aller neuen Entdeckungen und Erfindungen ist es, die Gesellschaft immer stärker zu säkularisieren und den Zugriff der Kirche zu schwächen; und, was vielleicht noch wichtiger ist, die Industrialisierung ist eine Quelle der Macht. Es gibt einige Radikale, und ich neige zu der Ansicht, daß sie Verbindungen zum Nazemynsiin haben, die in den Straßen offen davon sprechen, sich der Fabriken zu bemächtigen und sie ›dem Volk‹ zu übergeben – was natürlich nur heißen kann, den Politikern.« »Wie entsetzlich!« erwiderte ich. »Und warum sind diese Radikalen nicht hier unten im Kerker?« »Aus demselben Grund, aus dem die Kirche in aller Eile die Früchte der modernen Naturphilosophie zu verstehen und anzunehmen sucht – Klugheit. Es ist klug, aus einer kleinen, aber potentiell tödlichen Gruppe von Feinden keine Märtyrer zu machen. Außerdem werden sie vom Unterhaus geschützt, dem Mykodsedyetiin, dessen Hauptanliegen die bürgerliche Freiheit ist, so wie es sicher mein Recht auf Redefreiheit schützen würde und deines ebenso. Trotzdem hat Srafens Tod das Nazemynsiin in die Zwickmühle gebracht – oder vielmehr einen Konflikt noch unterstrichen, der schon bestand. Seine Mitglieder werden auf Distriktsbasis von den Massen
gewählt, und die Massen teilen, wie ich eben erklärt habe, anscheinend nicht ihre Begeisterung für alles, was modern ist. Daher vertreten du und ich, lieber Mymy, einen unbefriedigenden, aber notwendigen Kompromiß zwischen einer richtigen Untersuchung, die einige fördern, und irgendeinem Ersatz, der die Massen beruhigen würde. Ohne Uniform werden wir weniger auffallen – und ich fürchte, wir können auf keine weitere Hilfe rechnen, es sei denn, wir beschaffen sie uns selbst. Vermutlich wird sogar unsere Zeit streng begrenzt werden. Wir müssen… Hallo, da ist Niitood ja endlich.« Der Journalist, der weit mehr angeschlagen schien, als es der Explosion zuzuschreiben war, hinkte aus einem schmutzverkrusteten Korridor heraus. Der Wächter behandelte ihn sanft und fürsorglich, was mich wieder stolz machte, ein Kübelier zu sein. »Mav, alter Junge, und Mymy… Was macht ihr denn hier, im Namen alles Nassen und Schleimigen?« Er nahm sich einen Stuhl und stützte die Arme müde auf den rauhen Tisch. Seine Binden waren schmutzig und zerrissen, seine Hosen unaussprechlich. Ich öffnete meine Tasche und ging daran, den Verband zu wechseln. »Ich habe gute Nachrichten, Niitood, ich habe meine Vorgesetzten überzeugt, daß Sie auf Kaution freigelassen werden müssen. Fünfhundert Silberkronen, fürchte ich – ich habe die Summe nicht festgelegt. Haben Sie eine Möglichkeit, das aufzubringen?« Der Reporter schien nachdenklich. »Mehr als acht goldene Triarche! Sie wissen, daß ich es nicht kann. Aber wenn meine Vorgesetzten auch Seelen aus Feuerstein haben, vielleicht finden sie doch, daß die Geschichte eines Journalisten, der in einem sensationellen Mordfall unrechtmäßig verhaftet wurde, diese Summe im Interesse einer gesteigerten Auflage wert sein könnte. Ist es möglich, mich zu einem Telefon zu bringen?« Während er sprach, schnitt ich die Binden auf und untersuchte die Wunden, die, wie ich mir schon gestern nacht gedacht hatte, nicht sehr schwer waren und trotz der Kälte und Feuchtigkeit im Gefängnis schnell heilten. Mav versicherte dem Wärter, der Gefangene würde ausreichend bewacht, und schickte ihn um einen Boten, da das einzige Telefon auf der Station ein unwillkommenes Eindringen in Tis' Büro
erforderlich gemacht hätte. Dann machte er Niitood, genau wie vorher mit so viel Geduld mir, klar, wie kompliziert unsere Lage war. »Ha!« schnaubte der Reporter, »vermutlich erwarten Sie, daß ich dankbar bin. Oh, Sie sind beinahe so naiv wie Mymy hier, und mit weniger Berechtigung. Alles ist viel verdrehter, als Sie glauben, und viel häßlicher! Natürlich möchte Ennramo ›Gerechtigkeit‹ – um seine Gegner im Haus unter sich in Verlegenheit zu bringen! Auch die Oberen haben ihre Probleme: Sie lieben den Gewinn, den ihre Fabriken abwerfen, aber ihre Diener und Gefolgsleute strömen in die Städte – lieber für sich selbst wie ein Tier arbeiten, als irgendeinem Fatzken für Kost und Logis die Handschuhe polieren! Denken Sie an meine Worte, Kübelier, die entschlossensten Feinde der Industrie werden eines Tages die Angehörigen der besitzenden Klasse selbst sein!« »Solcher Zynismus ist kaum angebracht, nicht einmal von Ihnen, Niitood!« »Wirklich nicht? Dann nehmen Sie das Mittelhaus, hin- und hergerissen zwischen den gleichmacherischen Predigten des Aszensionismus – denn wie kann man Klassenunterschiede rechtfertigen, wenn wir alle von denselben Kaktushüpfern abstammen? – und dem Ruf des Volkes nach Anti-Aszensionismus!« Soviel hatte in wesentlich gemäßigteren Worten auch mein Freund schon gesagt, und das erklärte ich Niitood auch. Der Detektiv dankte mir für die Unterstützung und fügte hinzu, daß die Industriellen von Foddu eigentlich nicht die Oberschicht waren, sondern eine neue Klasse von hochgekommenen Individuen, die sich politisch nicht dem Lezynsiin oder dem Nazemynsiin, sondern dem Mykodsedyetiin zugehörig fühlten. »Nochmals ha! Selbst Ihr vielgerühmtes Unterhaus hofft, daß dieser Fall niedergeschlagen wird – damit sie die Kontrolle über die Justiz den Oberen und die Kübeliere den Mittleren entreißen können, was sie sich schon so lange wünschen. Aber wollen Sie wissen, wer in dieser Sache wirklich die Schuldigen sind? Niemand anders als die Königlichen…« »Pfui!« schrie ich. »Haben Sie keinen Anstand und keine Loyalität?« »Loyalität? Wem gegenüber? – Einem Gezücht, das an der Macht ist,
weil seine Vorfahren mehr Rückenschilde eingedroschen haben als andere? Lügnern und Dieben, die sie ernennen und billigen, daß sie uns regieren?« »Aber Niitood?« fragte ich völlig verwirrt. »Sind Sie denn ein Unarchist?« »Mein Schönster, alle guten Journalisten sind tief in ihrem Innern Unarchisten.« Mav gluckste, völlig ungerührt von den umstürzlerischen Tiraden des Reporters. »Und in der Praxis Nihilisten. Sei es, wie es wolle, Niitood, aber wir brauchen Ihre Hilfe, wenn wir Sie befreien und den wirklichen Mörder aufspüren wollen. Sind Sie bereit?« »Der Regen komme über alle! Ich werde mithelfen, den Mörder Ihres gottfeuchten Professors zu finden – obwohl ich Sie warnen muß, Mav, alte Sandkrabbe, meine Sympathien liegen bei den AntiAszensionisten. Nur finde ich wenig Bewundernswertes an Leuten, die es zulassen, daß ein Unschuldiger unrechtmäßig eingesperrt und zerquetscht wird.« »Oh, man hätte Sie im wahrsten Sinne des Wortes zerquetscht, mein Freund, glauben Sie mir. Es gibt eine Kleinigkeit, die Sie tun können.« Mav hielt ein Stück der zerbrochenen Kamera hoch, das er von Tis' Schreibtisch genommen haben mußte. Jemand hat einmal gesagt, ein guter Kübelier müsse ein genauso geschickter Dieb sein wie die, die er fangen will, und in dieser Beziehung war mein Gefährte sicherlich sehr qualifiziert. »Ich glaube, hierin sind die fotografischen Emulsionen enthalten. Kann es sein, daß das Bild noch intakt ist?« Der Journalist nahm den Gegenstand und untersuchte ihn so genau, wie es das Licht hier zuließ. »Wissen Sie, das hier war eine Maßanfertigung – von einem Modellmacher, den ich durch den Erfinderclub kennengelernt habe – sehr, sehr teuer. Ich kann es nicht sicher sagen, ehe die Platte entwickelt ist, aber es ist möglich. Stellen Sie sich vor – genau in dem Augenblick aufgenommen, als dieser Schildrissige losgeballert hat! Meine Verleger werden…« Von der Eisentür her ertönte ein Klappern. »Ihre Verleger werden die Kaution für Sie bezahlen – wenn auch ungern«, las Mav von einem Zettel ab, den unser Wärterlam ihm gerade gereicht hatte. Anscheinend war der unternehmungslu-
stige Kerkermeister einfach über die Straße gegangen und hatte das neue Telefon im ›Kübel und Knüppel‹ benützt, denn er hatte jenes leicht unsichere Aussehen, das ich mit einer reichlichen Portion elektrischen Stroms in Verbindung bringe.
5. Kapitel Versteckte Anspielungen zum Fenster hinaus Wie mir der Polizeiraum im Erdgeschoß jemals schäbig oder unfreundlich hatte vorkommen können, werde ich nie begreifen. Nach dem Kerker war er praktisch so warm und vertraut wie meine eigene, ordentliche Wohnung. Leider war es mir jedoch nicht vergönnt, direkt Zeuge von Niitoods wissenschaftlichem Fotowunder zu werden, denn während er alle Vorbereitungen für seine Kaution traf, holte Mav diese verfluchte Notizmappe heraus. »Mymy, ich habe aus meinen Überlegungen bezüglich der Mittel zu Srafens Ermordung nicht viel erfahren. Trotzdem habe ich nicht vor, diesen Teil der Ermittlungen völlig außer acht zu lassen. Ich glaube, es geziemt sich jetzt, daß wir uns mit dem zweiten der drei Beine beschäftigen, auf denen eine solche Untersuchung stehen muß.« »Und was könnte das sein? Rücksprache mit einem Medium? Ich bezweifle, ob selbst Srafen wußte…« »Vorlaute Bemerkungen stehen einem Derren deines Standes schlecht an, mein Lieber – obwohl der Gedanke in ein oder zwei Umständen durchaus nützlich sein könnte… hmm.« Dann kritzelte er schnell eine Reihe von Notizen herunter und hatte eine Zeitlang keinen Blick mehr für die reale Welt übrig. Nach einer Weile leuchteten seine Augen auf und sein Fell stand wieder munter ab. »Nun, was wolltest du sagen, Mymy?« Ich blickte mich im Wachraum nach jemandem um, der meine Gereiztheit teilen könnte – vergebens, alle waren beschäftigt, Niitood dabei zu helfen, die Lücken auf zahlreichen Formularen auszufüllen. »Du hast von den nächsten Ermittlungen gesprochen, die wir…« »Oh! Verzeih mir, Mymy, aber du hast mich auf eine Idee gebracht, die in Zukunft nützlich sein könnte – Spiritualismus wäre vielleicht genau das richtige, um abergläubische Kriminelle auszurotten. Was ich meinte, es wäre vielleicht ganz lohnend, mit Srafens persönlichen und
beruflichen Beziehungen anzufangen, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der Grund hatte, gewaltsam gegen sien vorzugehen.« »Ich verstehe – nicht mehr als die Hälfte der unwissenden Stadtbevölkerung, so wie es aussieht.« Ich wechselte unbehaglich meine Tasche auf einen anderen Arm, diese Sache mit der Zivilkleidung sagte mir immer weniger zu. Vielleicht wollte ich einfach deshalb nicht nach Hause, um mich umzuziehen, weil ich wußte, daß meine Mutter da sein würde, voll von unbequemen Fragen. »Kaum. Für mich sieht es immer mehr so aus, als ob für Srafens Tod ein einmalig geschicktes und entschlossenes Wesen verantwortlich sei. Vielleicht besitzen die Anti-Aszensionisten die Mittel, die für eine so teuflisch komplizierte Handlung erforderlich waren, aber…« Wieder verlor er sich einige Augenblicke lang in seinen Gedanken, dann hellte sich seine Miene auf. »Aber sieh her, Mymy, ich war nach meiner Niederlage gestern nacht nicht ganz untätig!« Er führte mich zu einem Kreidebrett, das, wie hier nicht anders zu erwarten, nicht abgewischt war. Mit einem Schwung schmierte Mav in der Kreide herum, dann ging er daran, seine Pläne zu umreißen: WER HAT SRAFEN GETÖTET? SRAFENS GEGENWART: POLITISCH Feinde & Verbündete
AKADEMIE Vorgesetzte & Untergebene
GESCHÄFTLICH Konkurrenten & Partner Angestellte & Arbeitgeber FAMILIE Eltern Ehegatten & Kinder andere Verwandte
GESELLSCHAFT Freunde & Bekannte Feinde SRAFENS VERGANGENHEIT: SCHULE MARINE Mitschüler Vorgesetzte & Untergebene Lehrer Offizierskollegen VERSCHIEDENES: Willkürliche Gewalttätigkeit oder Geisteskrankheit Jemand, der es auf ein anderes Opfer abgesehen hatte – oder ein anderes Verbrechen begehen wollte Unfall oder höhere Gewalt Jemand aus Gegenwart oder Vergangenheit, der unabsichtlich gekränkt wurde Selbstmord Irgendein Anzeichen muß meine Verzweiflung verraten haben, obwohl ich eine so tapfere und begeisterte Miene aufsetzte, wie ich nur konnte, denn Mav fügte eilends hinzu: »Natürlich sind das nicht alles wirkliche Möglichkeiten, und es ist keinesfalls notwendig, das alles einzeln zu untersuchen.« »Zum Beispiel«, schlug ich vor, »›Unfälle oder höhere Gewalt‹ – wenn hinter dieser Explosion nicht die absichtliche Handlung eines Lamviin steckte, werde ich selbst meinen Vorschlag bezüglich des Spiritismus aufgreifen und das Kauterisieren aufgeben.« »Ganz richtig, und wir werden das auch streichen. Gleichfalls können wir alle geschäftlichen Verbindungen beiseite lassen. Srafen hatte Vermögen, aber um die Einzelheiten kümmerten sich jeden Monat sihre Anwälte.« »Die aus diesem Grund auf die Liste gesetzt werden sollten. Ich
würde sogar eine eigene Kategorie für Anwälte, Rechtsvertreter und alle anderen derartigen Geschöpfe befürworten, einfach aus Prinzip!« Mav holte sein Rohr heraus und tropfte Inhalierflüssigkeit hinein. »Langsam redest du wie Niitood. Eltern wollen wir streichen, denn Srafen war sehr alt und sihre Eltern lebten sicher alle drei nicht mehr. Außerdem, obwohl ser der Meinung war, alle jungen Leute, die sich für Naturphilosophie interessierten, seien sihre Nachkommen, weiß ich, daß ser keine Kinder hatte. Ser hatte auch wenig politische Interessen, nach denen ser gehandelt hätte, aber diese Kategorie werde ich für die Anti-Aszensionisten stehenlassen – ihre Bestrebungen scheinen doch auch irgendwie politisch zu sein, meinst du nicht auch?« »Warum hast du dann eine Kategorie für politische Verbündete?« Er zog ein paarmal an seinem Rohr, ehe er ganz ruhig antwortete: »Weil, mein lieber Kauteriseur, Freunde genauso gefährlich sein können wie Feinde. Es gibt immer welche, die glauben, ein Märtyrer könnte der Sache förderlich sein – ganz gleich, um was für eine Sache es dabei geht.« »Und wer redet jetzt wie Niitood?« Er runzelte sein Fell. »Du hast natürlich völlig recht. Zynismus ist anscheinend ansteckend.« Wir waren uns einig, daß man akademische Vorgesetzte, Untergebene und Studenten beiseite lassen könne, denn seit Srafen die Leitung des Museums übernommen hatte, hatte er formell keine derartigen Beziehungen mehr. Wir fügten jedoch Museumsangestellte und, auf mein beharrliches Drängen hin, auch Familienanwälte ein. Außerdem strichen wir, aufgrund derselben Überlegung wie bei den Eltern, auch die Lehrer und Vorgesetzten bei der Marine, die inzwischen wahrscheinlich gestorben waren. Mav hatte bezüglich der meisten Punkte auf der Liste ›Verschiedenes‹ Zweifel, besonders bei Selbstmord. »Und damit sind wir wieder bei der Politik angelangt, einer besonderen Art: Akademische Kollegen – viele, und auf beiden Seiten des Aszensionismus.« »Wieso das?« fragte ich. »Haben auch Professoren das Bedürfnis nach Märtyrern für ihre Sache?«
»Ich kann mir einige vorstellen, die sich wünschten, sie wären selbst auf den Aszensionismus gekommen und vielleicht die Aussicht unwiderstehlich finden, selbst die erste, lebende Autorität auf diesem Gebiet zu werden.« »Ich verstehe. Nun, als nächstes müssen wir Srafens gesellschaftliche Beziehungen untersuchen…« »Genau, und hier kannst du, glaube ich, eine große Hilfe sein. Ich schlage vor, du gehst nach Hause, ziehst dich um und verplauderst den Rest des Tages mit deinen Freunden.« »Was?« »Einfach so, denn Srafens Tod ist bestimmt das Thema vieler Gespräche, und wenn du es geschickt anfängst – und nicht zu auffällig, kannst du sicher viel mehr über sihr gesellschaftliches Leben herausfinden, was mir verborgen bleibt, und ein wenig über sihre Familie, die, wie ich vermute, ungefähr in denselben Kreisen verkehrt wie die deine.« Das war möglich. Mav wollte sich inzwischen um den Rest der Liste kümmern; wir würden einen Ort vereinbaren, wo wir uns am Abend treffen konnten. Ich verabschiedete mich von ihm und Niitood, der immer noch an seinem Papierkram saß und den Herzenswunsch zum Ausdruck brachte, wir hätten ihn unten in seiner Zelle gelassen. Der Himmel war wunderschön gelbgolden – ja, der Tag hatte den Gipfel der Herrlichkeit erklommen, als ich zu meiner Wohnung in der Gamlo Road am unteren Rand des Nordheckendistrikts zurückging. Zu meiner Überraschung und Freude begrüßte mich nicht meine Mutter, sondern ein anderer Elternteil mit einem wahrhaft wundervoll duftenden Gelege von in Öl geschmorten Kaktusbirnen, die ser, trotz der Einwände meines Dienstmädchens, persönlich als Mittagessen für uns zubereitet hatte. »Das ist ja prachtvoll, Sasa. Du weißt ja sehr wohl, daß sie mein Lieblingsessen sind! Aber sag mir, warum ist Mama nicht hier und wieso kommst du an ihrer Stelle?« Mein Beivater runzelte liebevoll sihr Fell, während ser den Kood an-
zündete und den Deckel auf den Halter legte. »Deine liebe Mutter ist leider wieder krank geworden – nein, du brauchst dir wirklich keinerlei Sorgen zu machen; im Gegenteil, wenn sie auf die Nachricht, die wir heute morgen erhielten, nicht so dramatisch reagiert hätte, wäre ich viel mehr erschrocken.« Ser fuhr mit dem Finger über die Tischplatte und untersuchte irgendwelche Krümel, die sich unter dem Gewebe der Decke verkrochen hatten. »Dieses Mädchen, das du da hast, ist ein faules Watu; ich werde mit deinem Vater darüber sprechen müssen.« »Sprich lieber mit Mutter – diese Birnen sind köstlich, hast du mein Öl genommen oder selbst welches mitgebracht? – sie ist Mutters Augen und Ohren in meinen Angelegenheiten und neigt deshalb vielleicht dazu, jegliche Hausarbeit, die sie erledigt, als zusätzliche Belastung anzusehen. Aber spann mich nicht auf die Folter. Woran leidet Mutter?« »Allgemein an deiner Berufswahl – wie immer. Schlimm genug, daß ein Kind von ihr einer produktiven Tätigkeit nachgeht, anstatt den Sohn und die Tochter irgendeiner nutzlosen, untätigen Familie zu heiraten, aber auch noch die Kübeliere? Und jetzt gibst du, nach einer primitiv formulierten Botschaft ohne Unterschrift, die wir erhielten, die Kauterisation auf, um dich mit Verbrechern einzulassen. Ich gestehe, daß selbst ich ein wenig enttäuscht darüber war, wenn es wahr ist, aber ehe wir weiter über diese Sache sprechen, möchte ich dich wenigstens in einer Hinsicht beruhigen: Es ist dein eigenes Leben, das du führst, mein Allerliebster; du darfst niemandem, weder deiner Mutter, noch deinem Vater, nein, nicht einmal mir gestatten zu entscheiden, wie du es zu führen hast.« Ich kenne mehrere Dutzend Eltern, einschließlich zwei von meinen eigenen, bei denen der Sinn dieser Worte ihrer Bedeutung genau entgegengesetzt gewesen wäre. Anders bei Mymysiir Viimede (geb. Kodset) Woom, einem der größten Chirurgen des Reiches – der erste und einzige beimännliche – und, wie ich mit äußerstem Stolz und großer Freude sagen darf, meinem Beivater. »Ich kann mir nicht vorstellen, wer eine solche Botschaft hätte schicken können, Sasa. Ein anonymer Schwätzer, also wirklich! Aber ich habe das Kauterisieren nicht aufgegeben und auch meine Bestre-
bungen, dir in deinem Beruf zu folgen, nicht. Im Gegenteil, genau durch diese Bestrebungen bin ich in die Untersuchung des Mordes an Professor Srafen hineingeraten, von dem du inzwischen sicher gehört oder gelesen hast. Gestatte mir zu erklären…« Und so besprachen ser und ich während der nächsten zwei Stunden die Ereignisse der vergangenen siebenundzwanzig. Ich ertappte mich, wie ich (wie immer) sihr alles erzählte, einschließlich der Gründe, warum ich jetzt zu Hause war und die Uniform ausziehen wollte, die ich liebe. »Ich verstehe«, sagte ser schließlich, »und ich bin völlig einverstanden. Dieser Mav scheint der tollste Bursche zu sein, den du jemals…« »O Sasa, das hat überhaupt nichts damit zu tun!« Mit nicht geringer Anstrengung bekam ich die Struktur meines Fells wieder unter Kontrolle. »Nun ja, jedenfalls nur sehr wenig.« Ser runzelte wieder sihren Pelz. »Wie du meinst. Wie dem auch sei, ich glaube, ich kann dir heute einige Gänge ersparen. Aber warte – ach, Zoobon, mein Mädchen, sei ein Mefiik und springe schnell hinüber zur ›Kaktusrose‹.« Ser reichte ihr ein paar Münzen. »Wir möchten die Nachmittagszeitungen und eine Schnur von diesem neuen, femischen Kood, den Mymy so gerne mag.« Kaum hatte sich die Tür hinter dem Dienstmädchen geschlossen, als mein Beivater auch schon verschwörerisch mit sihrem Fell zuckte. »Wenn ich dein Mädchen richtig eingeschätzt habe, müßte uns das zusätzliche Wechselgeld, das ich ihr gegeben habe, eine weitere, ungestörte Stunde sichern. Ich wollte gerade sagen, daß ich dir wahrscheinlich viel von den Informationen liefern kann, die der junge Mav über Srafens Familie haben wollte. Er hat natürlich völlig recht; der Tod seines Professors hat alles mögliche Gerede ausgelöst, das man sich nur vorstellen kann. Auch würde es mich freuen, wenn du heute abend zu dem Treffen mit ihm meine Tasche mitnehmen würdest, damit die Leute dich für einen zivilen Arzt halten.« »Und was für eine Tasche nimmst du dann, Sasa?« »Nun, ich werde einfach den Inhalt meiner Tasche in deine umleeren – ich habe noch eine in meinem Büro – und dir die deine morgen per Boten zuschicken.« »O Sasa, du bist wirklich zu freundlich, und du denkst an alles!«
»Schon gut, mein Lieber. Ich finde diese ganzen Intrigen einfach faszinierend und freue mich sehr, wenn ich etwas behilflich sein kann. Und jetzt will ich dir erzählen, was ich weiß – innerhalb der Grenzen der medizinischen Ethik natürlich –, und du kannst es dann später mit dem vergleichen, was du von anderen erfährst.« Ich glaube, ich habe noch nie an einem Tag soviel Kood zu mir genommen, wie ich es an diesem Nachmittag tun mußte. Damals dachte ich, ich wäre ganz froh, wenn ich nie mehr einen brennenden Docht zu riechen brauchte. Mein Beivater verabschiedete sich erst nach einer langen Unterhaltung, an deren Ende ser mir versicherte, meine Mutter würde sich mit der Zeit schon von dem Schock erholen, einen Sprößling zu haben, der sihr eigenes Leben führen wollte. Danach machte ich eine Anzahl nicht gerade aufregender Besuche bei einer anscheinend nicht enden wollenden Parade von Onkeln, Tanten und Onten, Vettern aller Art, Nichten, Neffen und Nirren, die alle so nutzlos und untätig waren, daß sie meine Mutter begeistert hätten. Sie verteilten sich von der luxuriösen und reichen Ober(st)en Hecke – die Klammer wird als Stichelei nur von Leuten eingefügt, die nicht dort wohnen – bis in die vornehm verarmte Gegend von Brassie, die meist von Marinepensionisten und hosenärmeligen Verwandten der Reichen bevölkert wird. Ich hielt es auch für sinnvoll, das Königliche Postamt am Empire Point aufzusuchen, wo man mir mitteilte, es würde ungefähr drei Monate dauern, ein Telefon in meiner Wohnung einzurichten – als ich dann meinen Familiennamen angab, reduzierte sich diese Schätzung, wie Pahs angebliche Erschaffung des Lamviin, sofort und auf wunderbare Weise auf ›morgen nachmittag‹. Während ich an der Theke stand, unterhielt ich mich damit, den Telefonvermittlern zuzusehen, die vor der riesigen Wand mit Schaltern und Anschlüssen Nummern schrien und hin- und hertänzelten. Auf dem großen Brett waren ständig vielleicht tausend Fäden zu einem rätselhaften Muster verwoben, und ich weiß noch, wie ich dachte, wenn die fodduanische Moral nicht wäre, könnte das ein ausgezeichneter Ort sein, um Gespräche zu belauschen, die einem Detektiv nützlich
sein könnten. Die Vermittler mußten wenigstens einen Teil der Zeit mit zuhören, um die Teilnehmer einander vorzustellen, die Leitungen am Ende des Gespräches zu trennen und wieder einzustöpseln, wenn man sie das nächstemal brauchte. Ich notierte mir im Geiste, daß ich mit Mav darüber sprechen wollte. Dieser Gedanke führte wieder zu einem anderen, so daß ich, ehe ich dem Angestellten seine wucherische Anzahlung leistete, auf einer Vorführung mit dem Gerät bestand, die zur Überzeugung zögernder Kunden bestimmt war. Ich brauchte zwei Drittel Stunden, um Mav zu finden, inzwischen waren mehrere Vermittler hoffnungslos in einem Gewirr von Armen, Beinen und elektrischen Anschlüssen verstrickt und die Ungeduld des Verkaufsangestellten wurde nur durch die häufige Erwähnung des Vaternamens meines Vaters in Schach gehalten. »Ahoi, Mav! Bist du es wirklich?« »Selbst ahoi, lieber Kauteriseur. Es besteht wirklich kein Grund zu schreien, ich kann dich so deutlich hören, als wärst du nebenan.« Es war schwierig, das Gerät so zu halten, daß der Hörer neben dem Ohr auf meiner Schulter war und die Sprechröhre, wie es sich gehörte, vor einer Nüster. Meine Tasche rutschte immer wieder auf den Boden, was den Angestellten zu einem unterdrückten Kichern reizte. Außerdem merkte ich, daß es mir peinlich war, mit dem Ort, wo Mav sich aufhielt, auch nur zu sprechen, denn er war anscheinend in Vyssus… Unternehmen, und wer weiß, was dort zu dieser nachmittäglichen Stunde vorging? »Nun hast du mich ja gefunden, Mymy, was, wolltest du mir denn sagen?« »Nun, ich… das heißt, ich habe einige Informationen, die ich aber doch wohl nicht auf diese Weise weitergeben kann, denn ich stehe im Postamt und mindestens ein Dutzend Leute hören zu. Wo wolltest du dich mit mir später treffen?« Ich verschlang meine Arme in einer kindischen Wunschgeste, aber seine nächsten Worte enttäuschten mich. »Tja, hier bei Vyssu, wenn das nicht ungünstig für dich ist. Ich habe alles mit ihr besprochen, und ich glaube, du wirst sehen, daß sie uns einige faszinierende Ideen mitzuteilen hat.«
»Uns?« Gnädiger Pah, ein Mann wie Mav, ein Beimann wie ich und diese Vyssu allein im Kiiden? Meine neue Laufbahn verlangte allmählich zu viel von mir. Unsere Familie hat jedoch eine gute Konstitution, also fuhr ich fort: »Gut, ich glaube, ich werde mir eine Droschke nehmen, denn es wird schon dunkel, und…« »Und der Kiiden ist keine Gegend, in der man allein zu Hand unterwegs sein sollte? Ich stimme dir zu, mein Lieber, aber… wie bitte? Eine großartige Idee! Mymy, Vyssu wird dir ihre Kutsche schicken. Du bist im Postamt, sagtest du? Was, auf Sodde Lydfe, tust du denn dort?« »Ich spreche am Telefon mit dir. Das Königliche Postamt am Empire Point. Und jetzt, auf Wiedersehen?« »Auf Wiedersehen. Wir sehen uns dann in einer Drittelstunde, nicht später.« Ich gab dem Angestellten den Apparat zurück, hinterlegte die Anzahlung, ging hinaus und stellte mich an den Randstein. Bald fuhr ein flottes Gespann vor, und ein imponierender Bursche mit dunklem Fell, einer tiefen Narbe im Rückenschild und einer Klappe über einem Auge fragte, ob ich nicht Missur Mymysiir sei, was ich (nicht ohne den Gedanken, es zu leugnen) bejahte. Er half mir auf den Wagen, und erst jetzt, man wird es nicht glauben, bemerkte ich, daß vorne keine Watum angeschirrt waren! »Nur 'n Momentsche, Missur«, sagte er mit einem unheimlichen, fremden Akzent; mir fielen allmählich die vielen Warnungen ein, die mir meine Mutter eindringlichst vermittelt hatte, ehe ich wußte, welches Geschlecht ich haben würde. »Muß erst mal 's Rotorgehäuse ausleer'n.« Er griff unter das Fahrgestell der Maschine, fingerte dort herum und trat schnell zurück. Ein Zischen, und während ich noch verwirrt und voll Angst hinsah, fiel mit unanständigem Platschen eine beträchtliche Menge abscheulicher, wasserähnlicher Flüssigkeit auf die Straße. Als der geheimnisvolle, häßliche Kerl mit der erreichten Menge zufrieden war, griff er wieder unter die Maschine, stellte noch etwas ein, sprang dann leichthändig auf die Fahrerbank, und los ging's! Die Geschwindigkeit war unglaublich, möglicherweise bis zu zwölf oder fünfzehn Fymon pro Stunde, und es überraschte mich, daß die
Schnelligkeit mich nicht zerquetschte. Dann erkannte ich, daß das eigentlich nichts war im Vergleich zu dem phantastischen Flitzer von Tesret, mit dem mein Beivater mich immer in den Ferien nach Nord Wyohfats gebracht hatte. Ich entspannte mich und sah mir die Kutsche an (was viel besser war, als den Straßen, Bürgern und erschrockenen Watun zuzuschauen, die in einem uneinheitlichen Wischer vorbeiströmten). Wie zu erwarten, war das Fahrzeug mit parfümierter Seide, Satin und Samt der teuersten und – nun ja – lüsternsten Sorte bestens ausgelegt. Auf dem Glas waren reichlich elegante Blumen und Vögel eingraviert und gemalt. Als ich eine Quaste zog, die einladend auf- und abhüpfte, entfaltete sich ein raffiniert konstruierter Tisch, in den ein Koodhalter eingelassen war, und daneben eine goldgerahmte, lackierte Ladekiste aus Baumholz und ein dazu passender Behälter für Inhalierröhren. Viele solcher Quasten schwangen an den beiden anderen Wänden der Kutsche auf und ab, aber ich schauderte, wenn ich mir vorstellte, was sie vielleicht verbargen, und so versagte ich es mir, daran zu ziehen, und widmete die verbleibenden Minuten der Fahrt dem vergeblichen Versuch, den kleinen Koodtisch wieder zurückzuklappen. Vyssu wohnte und arbeitete (wenn man so sagen konnte) in der Fadet Road nahe der Ecke Fadyedsu Street, der unheimlichsten und billigsten Gegend, die die Stadt auf dieser Seite des Flusses zu bieten hat. Trotzdem war der kleine Bau fast so ruhig und ungestört wie das Haus, in dem meine Eltern wohnten – wenn man die wilde Musik überhören konnte, die vom Theaterdistrikt über die Hausdächer herüberdröhnte. Ich stieg aus der erstaunlichen wahllosen Kutsche, und Vyssus Kutscher führte mich zur Tür, nahm meinen Umhang und meinen Hut und wollte auch meine Tasche wegtragen, was ich aber nicht zuließ. Danach wurde ich in ein Wohnzimmer geführt, wo Mav an seinem Rohr zog, das Urbild ruhiger Häuslichkeit, und eine Frau, eher gutaussehend als hübsch und jünger, als ich gedacht hatte, ihm gegenübersaß und ausgerechnet stickte. »Guten Abend, Mymy«, sagte Mav und stand auf, als ich durch den Torbogen trat. »Ich glaube, du hast Vyssu persönlich noch nicht ken-
nengelernt, höchstens ihrem Ruf nach.« Die Person auf dem Sofa drehte sich um und runzelte ihr Fell mit einem so freimütig freundlichen Ausdruck, daß mir nichts übrigblieb als zu antworten: »Guten Abend, Mav. Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Miß… äh…« »Sagen Sie einfach Vyssu, wenn ich Sie Mymysiir nennen darf. Möchten Sie Kood? Wir sind gerade mit einem Docht fertiggeworden, aber ich kann…« »Bitte, ich hatte den ganzen Nachmittag lang nichts anderes als Kood und noch einmal Kood. Gar nichts wäre mir am liebsten, wenigstens für eine Weile. Mav, ich habe dir so viel zu erzählen, ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.« »Dann fang damit an, dich hinzusetzen, lieber Mymy, denn ich habe dir auch viel zu erzählen, und dann werden wir zum gleichen Thema einiges von Vyssu hören. Hier, du kannst deine Tasche neben die Tür stellen.« Vyssu klopfte neben sich auf das Sofa, so daß ich mich nicht weigern konnte, mich neben sie zu setzen, wenn ich nicht unhöflich sein wollte. »Danke, Vyssu, Ihnen muß ich auch noch für die Einladung danken und dafür, daß Sie mir Ihren Kutscher geschickt haben. Ich bin noch nie zuvor in einem wahllosen Fahrzeug gefahren; es ist ziemlich aufregend, nicht wahr? Und schnell!« »Sie müssen Fatpa verzeihen, mein Lieber. Er war so etwas wie ein Straßenräuber in Alt Niimebye, ehe die Pdfetiin dort einmarschierten. Manchmal kommt das bei seiner Fahrweise ein wenig durch.« »Ein Straßenräuber? Wie… äh… faszinierend. Jedenfalls, Mav, habe ich aus mehreren Quellen erfahren, daß wir, wenn das Motiv allein zur Verurteilung ausreichte, das Rätsel schon jetzt gelöst hätten. Ich weiß von mindestens zwei Personen, die Srafen nichts Gutes wünschten.« Er nickte. »Sihr Mann und sihre Frau? Oh, es tut mir leid, daß ich dir die Überraschung verdorben habe, du hast dir diese Information anscheinend unter großen Anstrengungen beschafft. Vergiß nicht, daß ich Srafen gut kannte – aber erzähle uns trotzdem, was du herausge-
funden hast!« Ich hoffe, ich habe mir meine Enttäuschung nicht anmerken lassen. So tapfer ich konnte, begann ich: »Ich gebe nur ungern so persönliche Dinge weiter. Nur weil die Hauptperson verstorben ist und sihre Partner so offensichtliche Schurken sind, tue ich es jetzt. Deshalb, und wegen der Tatsache, daß es von Brassie bis Riverside anscheinend ohnehin jeder weiß. Srafen war zweimal verwitwet, die Partner waren so alt wie ser und die Ehe dauerte lange. In den letzten Jahren hat er unverständlicherweise zwei von sihren Studenten geheiratet, Angehörige der Oberschicht und beträchtlich jünger als ser. Der eine…« »Tobymme Toodhagomm Law, ein verschwenderischer Geck und stümperhafter Wissenschaftler«, ergänzte Mav. Vyssu zuckte mit ein oder zwei Haaren, als sie den Namen erkannte. »Ja, er könnte wirklich einen guten Verdächtigen abgeben, wenn man in Betracht zieht, wie gut er zweifellos mit mechanischen Dingen Bescheid weiß. Und was könnte er für ein Motiv haben?« »Vielleicht eine neue Gelegenheit, sich gut zu verheiraten, oder wenigstens die Freiheit, die vielen, taktlosen Beziehungen fortzuführen, die der Klatsch ihm nachsagt.« »Und seine beträchtlichen Spielschulden«, steuerte Vyssu bei. »Ich sollte von einem Kunden nicht so offen sprechen, aber er ist hier nicht länger willkommen.« »Tatsächlich?« erkundigte sich Mav und bewegte sein Fell genau in derselben Weise wie vorher Vyssu, als sie zum erstenmal Laws Namen gehört hatte. »Noch aus anderen Gründen, außer weil er Schulden hatte?« »Keine«, gab Vyssu zu. »Für die romantische Seite seines Lebens schien er durchaus selbst sorgen zu können. Als Spieler war er ungeschickt, ein tollkühner Typ, der dazu neigte, auch dann zu spielen, wenn die Chancen offensichtlich zu schlecht waren, um den Einsatz zu rechtfertigen. Und er bezichtigte den Gewinner gern des Betrugs.« »Ich verstehe«, sagte Mav. »Und was ist mit Srafens zweitem Partner, Mymy?«
»Liimevi Myssmo, geb. Kysz, Law. Verrückt nach Séancen, Handlesekunst, Lunologie – und Lunologen. Besonders nach einem, samt seinem beimännlichen Assistenten. Es wird wirklich überall im Hekkendistrikt darüber gesprochen, nichts als Händchenhalten um einen Tisch herum und so weiter. Aber für Srafen wollen sie keine Séance abhalten, weißt du; vielleicht hat Myssmo Angst davor, was der Geist des Professors enthüllen könnte.« »Tatsächlich. Weißt du etwas über Miß Myssmo, Vyssu?« »Nur den allgemeinen Klatsch. Dieser Lunologe, Mymy, sollte das zufällig ein Doktor Ensda sein? Er ist ziemlich weit hochgekommen – soviel ich weiß, hatte er ein Lusthaus in der Nähe von Kodpiimeth, bis die dortigen Kübeliere ihn höflich fragten, ob er nicht lieber wegziehen wolle.« »Gütiger Himmel! Ihr beiden seid nur hiergesessen und habt genausoviel herausgefunden wie ich, der ich mir in der ganzen Stadt die Hände abgelaufen habe. Ich komme mir richtig unnütz und überflüssig vor, und ich glaube, ich möchte den Kood jetzt doch, wenn es nicht zu viel Mühe macht.« »Überhaupt nicht«, antwortete Vyssu mit überraschender Freundlichkeit. »Und Sie sollten auch nicht glauben, Ihre Mühe sei vergeblich gewesen.« »Bestimmt nicht«, stimmte Mav ein, »denn du hast vieles bestätigt, was ich gehört habe – und von einem höheren Standpunkt aus, dem ich schon seit einigen Jahren keine Aufmerksamkeit mehr gewidmet habe. Bei der großen Trockenheit, wenn das alles überall so bekannt ist, wie du sagst, wären Law und Myssmo ja schwachsinnig gewesen, wenn sie den alten Srafen umgebracht hätten. Andererseits sind die Leute oft schwachsinnig.« »Außerdem«, schlug ich vor, »scheint es mir, als ob ihre getrennten romantischen Interessen gegen ihre Schuld sprächen. Ich meine, wenn sie noch ineinander verliebt wären und einen neuen Beimann für ihre Dreiheit suchten, wäre es etwas anderes.« »Es sei denn, sie hätten sich von Anfang an verschworen, Srafen wegen sihres Geldes umzubringen«, meinte Vyssu und nahm dem Diener den Kood ab. »Vielen Dank, Fatpa, das wäre es erst einmal.«
»Wenn das der Fall ist« – Mav gluckste und runzelte sein Fell –, »werden sie eine schmerzliche Enttäuschung erleben, denn Srafen hatte sihr Vermögen – den Teil, den ser nicht für wissenschaftliche Unternehmungen ausgegeben hatte – dem Museum zur Förderung des Aszensionismus hinterlassen.« »O je. Alle Mühe umsonst. Ich hoffe wirklich, Law und Myssmo waren nicht die Schuldigen, Mav. Es wäre so traurig, auf eine gräßliche Art.« »Du bist wirklich geldgierig, Vyssu. Ich bin nur froh, daß du hier diejenige bist, die das Geld hat.« Sie zuckten beide mit dem Fell und lachten mit einer höflich verhaltenen Zärtlichkeit, die mich gleichzeitig wütend und traurig machte. Oh, ich verstand, warum diese Vyssu auf einen Burschen wie Mav so anziehend wirkte. Sie war hübsch, auf eine ältere, intelligente Art, die sogar ich zeitweise interessant fand. Aber das war nur Tünche, die ihre Herkunft aus den unteren Schichten verdeckte. Trotz ihrer luxuriösen Umgebung, die vielleicht sogar meine Eltern geschmackvoll gefunden hätten, waren wir in diesem Augenblick (eine Tatsache, die ich kaum vergessen konnte) tief im berüchtigten Kiiden, und es war für eine ehrbare Person gefährlich, auf dieser Straße ohne eine fähige und einschüchternde Begleitung auch nur einen Schritt zu wagen. Ich fand meine Stimme wieder und erzählte Mav von der geheimnisvollen, unsignierten Botschaft, die meine Eltern heute morgen erhalten hatten. Ich konnte mir gut vorstellen, daß Tis sie von diesem vorübergehenden Wechsel meiner Tätigkeit unterrichtet hatte, denn er nahm mir gegenüber zeitweilig eine väterliche Haltung ein. Aber er würde das sicher niemals anonym tun, und so ungern ich glauben wollte, die Nachricht stehe in Zusammenhang mit dem Fall, in dem wir ermittelten, so widerstrebte es mir doch noch mehr, Mav nicht davon zu erzählen, falls sie doch etwas zu bedeuten hatte. »Oho! Wie interessant! Du wirst es nicht glauben, lieber Mymy, aber dein Telefonanruf heute war nicht der erste, den ich erhielt. Nein, denn ich war bei mir zu Hause, um mir die Zivilkleidung zu beschaffen, die du vor dir siehst, als jemand anrief – eine rauhe, künstlich verstellte Stimme – um mir anzudeuten, das sei nicht das Betätigungsfeld, mit dem ich den Rest meines Lebens zubringen wollte.«
»Das ist sonderbar«, meinte ich, »glaubst du wirklich, daß es so lange dauern wird, bis wir…« »Der Hintergedanke war, Mymy, daß der Rest meines Lebens nicht mehr sehr lange dauern würde. Ich möchte dich fragen – in aller Fairneß, unter Berücksichtigung der Tatsache, daß wir beobachtet und jetzt auch bedroht werden – ob du es für klug hältst, den Fall weiter zu verfolgen?« »Hast du die Absicht dazu?« Ich sah Vyssu an und blickte wieder weg. »Dann werde auch ich es tun, Ermittlungsbeauftragter, bis zum bitteren Ende – was immer das sein mag. Und jetzt sag mir bitte, was ich als nächstes Unnötiges für dich tun kann.« Das nächste war, wie sich herausstellte, Mav wieder zum Museum zu begleiten. »Siehst du, Mymy, die Spurenuntersuchung hat sich als viel komplizierter herausgestellt, als ich dachte. Ein zerrissener Draht, ein Stück Faden, ein winziger Wachstropfen – alles kann von Bedeutung sein und doch wieder nicht. Wie kann man jedes einzelne Stück in einem Raum auflisten, bis zu und einschließlich der Altersflecken auf dem Holz und der Schatten an der Wand?« Ich hatte keine Lust, ihn nach einem so verbrachten Abend auch noch zu bemitleiden, aber die Spuren, die wir bisher gesammelt hatten, waren ein faszinierendes und frustrierendes, logisches Puzzlespiel. »Ganz recht – vermutlich könnte sogar ein Splitter, der nicht am richtigen Ort sitzt, von Bedeutung sein, nicht wahr? Schließlich…« »Bei den Sandebenen Pahs, ich glaube, da hast du etwas entdeckt! Wir müssen uns beeilen. Es tut mir jetzt leid, daß ich darauf bestanden habe, zu Hand zu gehen – du hattest recht, wir hätten eine Droschke nehmen sollen. Im Museum wartet Arbeit auf uns!« Ich blickte mich um, eine Zeitlang hatte ich vergessen, mich vor meiner Umgebung zu fürchten, aber als ich jetzt wieder daran erinnert wurde, spürte ich, wie mein Fell vor Angst und Nervosität ganz platt wurde. »Du hast doch behauptet, es würde mein Wissen ›erweitern‹, wenn ich mit dir durch den Kiiden ginge. Nun, du…« »Stehenbleiben!« zischte eine Stimme aus dem Durchgang. »Sammelt euch, denn gleich werdet ihr vor eurem Schöpfer stehen!«
6. Kapitel Lam der östlichen Ebenen Mit einer Geschwindigkeit, die mir den Blick verschwimmen ließ, sprang Mav zwischen mich und das bösartige Paar Augenklingen, das um die Ecke glitt. Wir wichen zurück, Schritt für Schritt, als eine schreckenerregende Gestalt aus dem Durchgang auftauchte, ein Lam mit dunklem Pelz, von riesiger Statur, in den groben Kleidern eines Seefahrers und mit einem Fell, das an vielen Stellen von alten, schlecht verheilten Narben gekräuselt war. Er war eine volle Handbreit größer als mein Gefährte, und von unvergleichlich massigerem Körperbau, seine glitzernden Schwertspitzen beschrieben vor uns winzige, bedrohliche Kreise in der Luft. »Remsi vy' by onsen, nrdeikaz!« Er machte eine Bewegung mit der freien Mittelhand. »By reban yat ot me avima!« Wir wichen fast bis an den Randstein zurück, und Mav wollte gerade unter seinen Umhang greifen, als eine fodduanische Stimme hinter dem Matrosen warnte: »Mein Freund sagt, ihr sollt stehenbleiben – ihr könnt nichts tun, um euch zu retten!« Ich ließ meine Medizintasche ein wenig von meiner Schulter rutschen, bereit, sie mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft zu schwingen, denn ich war fest entschlossen, auch wenn mir die Beine zitterten, keinem unserer Angreifer unser Leben so billig zu überlassen, wie sie es anscheinend erwarteten. Mav zog seine Pistole, und der Seelam machte einen Ausfall! Ein Schwertstoß durch das Auge – der einzig sichere Weg, um das Gehirn zu treffen – und sein Opfer würde tot auf dem Pflaster liegen. WAMM! Der Matrose taumelte, eine seiner Waffen fiel klirrend zu Boden, aber Mavs Kugel prallte winselnd, ohne weiteren Schaden anzurichten, vom Rückenschild des Burschen ab und fuhr in eine Ziegelwand auf der anderen Seite des Durchgangs. Staub und Splitter regneten auf das zweite Fußpolster herunter und lenkten ihn ab, als auch er unter seinen Umhang greifen wollte. Mav hielt den Matrosen einen
erstarrten Bruchteil desselben Augenblicks lang mit der Mündung der Kolbenpistole gegen die Schwertspitze des anderen in Schach. Erstaunt, daß ich überhaupt ein Glied rühren konnte, bückte ich mich, um das heruntergefallene Schwert aufzuheben, als der Fodduaner seine eigene, kleinere Pistole herausriß. Fast ohne zu denken hieb ich nach unten; seine rechteste Hand, die Waffe fest zwischen den Fingern, sprang von seinem Arm ab und fiel mit dumpfem Poltern zu Boden. Er schrie – ganz kurz spritzte eine Blutfontäne auf, ehe seine Reflexe voll die Herrschaft übernahmen – dann rannte er, ohne sich umzudrehen, davon und verschwand die Straße hinunter. Mavs Kolbenpistole zückte nicht. Der von der Kugel betäubte Fremde, von seinem verletzten Kameraden im Stich gelassen, blickte mit einem Auge verzweifelt um sich. »Katbami to hamodypen, vezisIdesa! Fy tid ledyn wad fatat… Vyom Hyden!« Er schleuderte sein Schwert mit der Spitze nach vorne auf Mav, der es würdevoll wegschlug. Aber ehe einer von uns sich fassen konnte, duckte sich der Matrose in den Schatten und war, wie schon sein Gefährte, verschwunden. »Feucht!« Mav steckte seine Pistole wieder ein, hob die Waffe des anderen Burschen auf, die aus der langsam absterbenden Hand gefallen war. »Na ja, vermutlich hätte es uns wenig genützt, ihn zu erschießen, obwohl ich ihm gerne eine ganze Anzahl von Fragen…« Er wich einen Schritt zurück und fixierte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. »Der Eidechsentöter bist eindeutig du, lieber Mymy. Mit zerlumpten Hosen und vielleicht einer Augenklappe wärst du wirklich fast ein Pirat!« Ich starrte das tödliche Ding in meiner Hand an und begriff plötzlich, was ich getan hatte. Die vom Rückenschild abgetrennte Hand krümmte sich immer langsamer auf den Pflastersteinen zu unseren Füßen und schien mit einem Finger anklagend auf mich zu deuten. Ich ließ das Schwert angeekelt fallen. »Bitte sei so nett und mach keine Witze darüber! Bei der Liebe Pahs, Mav, ich habe gerade einen Mitlamvin verstümmelt.« In meinem tiefsten Inneren fühlte ich mich elend und wollte mich tatsächlich auf das schmutzige Pflaster setzen. »Steh auf, Kübelier! Hörst du mich? Dieser Bursche war im Begriff,
einen von uns zu erschießen, und sein Komplize schien mehr als bereit, mir für immer das Lebenslicht auszublasen!« Er drehte die kleine Pistole in seiner Hand herum und untersuchte sie. »Aber ich bin Kauteriseur«, murmelte ich, und eine sonderbare Lähmung senkte sich über meine Gliedmaßen, »vereidigt, Leben zu retten, nicht sie zu nehmen.« »Und genau das hast du getan. Steh auf, sage ich! Der Schurke wird sich einen brandneuen Satz Finger wachsen lassen, noch ehe das Jahr zu Ende ist, und wir sind immer noch am Leben – ein moralisch völlig einwandfreier und zufriedenstellender Ablauf, wie ich meine.« Er hob das Schwert auf, das ich hatte fallen lassen, drehte sich um und zog dann das andere, das der Matrose nach ihm geworfen hatte, aus einem Telegrafenmast heraus, wo es, noch immer wippend, steckte. »Große Trockenheit! Die kommen von der podfettianischen Marine.« Das veranlaßte ihn zu einer weiteren, genaueren Prüfung der Pistole – ein doppelläufiges Gerät, hauptsächlich so konstruiert, daß es gut zu verstecken war – laut Mav eine teure Privatanfertigung, ein Werkstück von Rammeth & Rammeth, einer hiesigen Firma, von der sogar ich schon gehört hatte. Er fing an, nach weiteren Spuren zu suchen und beklagte sich bitter, daß er keine Laterne hatte. Ich beruhigte mich allmählich wieder, ließ mich – wenigstens intellektuell – von Mavs Worten trösten, zitterte aber immer noch mehr, als ich zeigen wollte. »Podfettianisch? Ich dachte mir doch, daß ich das Kauderwelsch dieses Burschen erkannt hätte. Ich frage mich, was…?« »Er hat uns gebeten, ihm nichts zu tun, und sich dafür verbürgt, daß er alles, was er jetzt tue, nur für Geld mache. Und dann warf er das Schwert!« Mav steckte sich die kleine, leichte Waffe und ihr Gegenstück unter einen Arm, dann machte er etwas mit der kleinen Pistole. »Nun, vermutest du…?« »Mymy, wenn ich aus diesem Abenteuer bisher etwas gelernt habe, dann, nicht allzuviel zu vermuten, wenn man nur wenig Spuren hat. Du bist immer noch ziemlich wackelig, nicht wahr? Nimm doch meinen Arm, wenn du willst, und wenn du dich dazu in der Lage fühlst, gehen wir zurück zu dem Droschkenstand, das hätten wir gleich zu Anfang tun sollen.«
Und genau das taten wir auch. Trotz Mavs Abhandlung über die Moral der Selbstverteidigung konnte ich die Schreie des Verletzten nicht aus meinem Gedächtnis tilgen. Es half mir auch wirklich nur sehr wenig, daß Mav darauf bestanden hatte, die amputierte Hand in ein Tuch zu wickeln und sie mitzunehmen. »Man weiß nie, was mit der Zeit alles zu einem Indiz werden kann, mein Lieber.« Er half mir beim Einsteigen in die Droschke und gab dem Fahrer – der durch die vielen, waffenförmigen Ausbuchtungen unter dem Arm meines Gefährten (aber schließlich waren wir ja im Kiiden) etwas verblüfft war – unser Ziel an. Es überraschte mich; aber es war nicht Mavs Art, sich selbst durch einen solchen Zwischenfall wie einem Angriff auf offener Straße abschrecken zu lassen. Meine Selbstachtung zwang mich, freudig zuzustimmen, ihn zum Museum zu begleiten, wie wir es ursprünglich geplant hatten. Das Taxi schaukelte und stieß uns herum und brachte meine gestörten Mägen noch mehr in Unordnung. »Ich muß mich wirklich entschuldigen, Mav, weil ich so kindisch bin, aber du verstehst sicher, wie der Gedanke, jemanden absichtlich zu verletzten, allem zuwiderläuft, was ich glaubte, und zwar schon lange, ehe ich wußte, welches Geschlecht ich haben würde.« Sein Fell zuckte freundlich, als er mir beipflichtete. »Natürlich, mein Lieber, und ich fühle auch mit dir. Ich schulde dir meinerseits eine Entschuldigung, nicht nur für meine gefühllosen Worte vorhin, sondern auch dafür, daß ich mich nicht erinnerte, wie mir selbst bei meinem ersten Blutvergießen zumute war.« »Deinem ersten? Willst du damit sagen…?« »Ja, ich schäme mich, aber in meiner buntscheckigen Laufbahn habe ich das mehr als einmal erlebt. Es gab jedoch eine Zeit, da war ich beträchtlich jünger als du, und all das lag noch vor mir…« Du wirst dich erinnern (so erzählte er mir), daß mein Vater Oberst des Heeres in unserer kaiserlichen Garnison im Dominium Dezer war, dessen uralte und geheimnisvolle Kultur er lieben und achten lernte, und dessen Untertanen er mit Freundlichkeit und Vernunft zu regieren suchte. Meine Mutter war – oder vielmehr ist – eine vornehme Dame
aus dem einheimischen Adel, die den Traum ihres Gatten, das Beste aus beiden Zivilisationen zu verschmelzen, teilte und, obwohl sie die Gewalttätigkeit der Eroberung betrauerte, dankbar war, daß das Reich Groß Foddu gekommen war, um der Unwissenheit und Armut ihres Volkes ein Ende zu setzen. Ich wäre wahrscheinlich ebenfalls zum Kolonialoffizier herangewachsen, aber mein Beivater – ein Zeitungskorrespondent – und jawohl, podfettianischer Staatsangehöriger – lehrte mich, von Abenteuern in fernen Ländern zu träumen, die (wie bei fernen Ländern üblich) viel seltsamer und wunderbarer waren als sogar Dezer. Die schlichte Wahrheit ist, daß ser von sihrer Regierung abgestellt worden war, unsere Garnisonen auszuspionieren und, wenn möglich, eine Rebellion anzufachen, aber ser verliebte sich sowohl in die Visionen meines Vaters wie auch in die große Schönheit meiner Mutter. So heirateten die drei, und ich kam zur Welt. Als Folge meiner ungewöhnlichen Erziehung gab ich einige Zeit später ein falsches Alter an und ging zur Kaiserlichen Luftflotte. Obwohl Vater bis zu seinem Tod nie ein Wort darüber verlor, bin ich sicher, daß er seine Enttäuschung über meine Entscheidung für den Militärdienst nie überwunden hat. Aber so bewunderungswürdig seine Träume und Ziele waren, sie waren nicht die meinen, und die schrien wiederum nach Erfüllung, so nebelhaft und ungeformt sie damals vielleicht auch gewesen sein mögen. Mit der Zeit wurde ich auf einen Posten zwei Kontinente entfernt, tief im Innern von Einnyo abgestellt, eine behelfsmäßige, höchst unzivilisierte und dünn besiedelte Gegend, die unvergleichlich vielversprechend – und sofort tödlich für jeden war, der auch nur einen Augenblick lang nicht achtgab. Ich träumte davon, riesige Luftschiffe zu fliegen, aber statt dessen – vermutlich, weil nur so wenige von diesen teuren Maschinen für die Belustigung von subalternen Mischlingen verfügbar waren, die sich immer noch an ihre neu gewonnene Männlichkeit gewöhnen mußten – fand ich mich zum Lam Nummer drei an einer mit zwei Offizieren besetzten Wasserstoffstation ernannt, von der aus in unregelmäßigen Abständen Patrouillen über die flache, endlose Prärie ausgeschickt wurden, die den größten Teil des Kontinents ausmacht. Gelegentlich kamen Wilde, ungezähmte, sonderbare Burschen von rauchgrauer
Farbe und kurzem, stacheligem Fell, um in ihrer stoischen Art Handel mit uns zu treiben. Sie besaßen nicht viele weltliche Güter – schäbige, kleine, halbgezähmte Watun, gewobene Zelte, die man recht raffiniert zusammenfalten konnte, und hin und wieder töteten sie ein Wildbret, das sie nicht gebrauchen konnten und das uns zur Ergänzung unserer mageren, kaiserlichen Rationen willkommen war. Als Gegenleistung nahmen sie gerne alles an, was wir an Plunder zusammenkratzen konnten – hauptsächlich Spiegel und, du wirst es nicht glauben, so ähnliche Vergrößerungsgläser wie deines, mit denen sie ihr Lagerfeuer viel bequemer anzünden konnten als durch Aneinanderreihen von zwei Kaktusstengeln. Sie fanden auch Gefallen an unserer Inhalierflüssigkeit, aber es war uns offiziell verboten, ihnen Bernstein zu geben, den sie heiß begehrten, weil die Admiralität fürchtete, wenn sie Felle oder andere Gewebe auf die alte Art unserer Ahnen behandelten, könnten sie vielleicht berauscht werden und dabei würden dann niedrigere Triebe, wie die Lust zu vergewaltigen und zu morden, erwachen. Der Dienst an der Front ist hauptsächlich durch unerträgliche Perioden erstickender Tatenlosigkeit gekennzeichnet. Aber ich entdeckte Möglichkeiten, diesen Zustand zu verbessern. Ich erkannte, daß ich die Luftschifflamn überreden konnte, mich gelegentlich mitfliegen zu lassen – mein Geschick bei Glücksspielen spielte dabei eine ziemlich große Rolle, und sie waren ihrerseits entzückt, daß ich solche Ausflüge anstelle des Geldes annahm, das sie mir schuldeten. Tausend Lamhöhen über den wogenden Ebenen… ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben glücklicher gewesen zu sein, weder damals noch heute. Die Dampfmotoren – die auch mit Wasserstoff betrieben wurden, den wir zur Verfügung stellten – waren außerordentlich ruhig, ja viel ruhiger als das durchdringende Geräusch des Windes, der durch die Drahtklammern des Luftschiffs und durch die knarrenden Home sihrer Gondel pfiff. Nach einigen solchen Ausflügen vertraute mir sogar der Kapitän allmählich gewisse, einfache Tätigkeiten der Luftschifflamn an, und ich war darüber höchst erfreut. Am Unglückstag waren wir tief in die leeren Ebenen eingedrungen, tiefer vielleicht, als diese Patrouillen gewöhnlich flogen, sicherlich weit über die Reichweite der Semaphore hinaus, mittels derer die Marine sich mit ihren Schiffen auf dem Meer oder in der Luft verständigt.
Unter uns schienen sich gelber Algensand und tiefliegende, orangefarbene Kaktuswälder bis ins Unendliche zu erstrecken; der Schatten unseres kleinen Flugzeugs raste und zuckte wie ein lebendes Wesen über die sanft wogende Landschaft. Plötzlich erspähten wir einen Wagenzug von Kolonisten, und da wußte ich, warum diese außergewöhnlich lange Mission befohlen worden war. Die Gespanne von großen, langsamen Ajotiin trotteten auf irgendeine weit entfernte Siedlung zu, die früher von tapferen und kühnen Seelen im Inneren errichtet worden war. Wir schwebten tiefer und winkten ihnen fröhlich zu, und in diesem Augenblick erhoben sich von einem Abhang weiter vorne mehrere hundert Wilde, donnerten, so schnell sie ihre Watun antreiben konnten, auf die Wagen zu und füllten die Luft unter unserem Kiel mit Pfeilen. Die Bogen, die diese Burschen benützten, waren etwas, worüber man nach Hause schreiben konnte – vorausgesetzt, man überlebte das Scharmützel. Mehr als zwei Lamhöhen lang konnten sie einen halb so langen Pfeil beinahe ein Drittel Fymo weit schleudern und seinen Schaft so tief in abgelagertes Baumholz bohren, (falls ihm so etwas zufällig den Weg versperren sollte), daß man eine Abteilung Kübeliere und ein Watungespann brauchte, nur um ihn wieder herauszuziehen. Die Pionierkompanie tat, was Pionierkompanien immer tun: Sie stellten ihre Wagen, Watunjoch an Hinterrad, zu einem Dreieck zusammen und machten sich bereit, die Feinde zu empfangen. Das Glitzern und Blitzen fodduanischer Gewehrläufe war selbst aus fünfhundert Lamhöhen Höhe deutlich zu erkennen. Die Wilden waren Meister im Umgang mit den Watun, denn sie hatten, so primitiv sie in anderer Beziehung waren, etwas erfunden, woran wir von Foddu noch nicht einmal gedacht hatten: Anstelle von Kampfwagen oder Kutschen schnallten sie eine runde Vorrichtung aus Leder, nicht unähnlich dem Reifen einer Kutsche, oben auf das Vieh, um ihm die Kiefer zusammenzudrücken und einen bequemen Sitz für den Reiter zu bekommen. Dieses Anschnallen wiederholten sie auch weiter oben und befestigten sich dadurch so, daß sie mit beängstigender Behendigkeit herumrasen und alle drei Armgruppen dazu verwenden konnten, Pfeile, Augenspeere oder betäubende Schläge mit massi-
ven Kriegshämmern auszuteilen. Wenn man gegen einen von ihnen kämpft, ist es, als würde man sich mit drei gewöhnlichen Soldaten einlassen, so tapfer und intelligent sind sie. Und sie hatten auch eine Ahnung von Taktik. Sie bildeten einen sich schnell bewegenden Ring rings um die Kompanie, fast außer Schußweite, zogen das fodduanische Feuer auf sich und ließen ihre tödlichen Pfeile in das Wagendreieck hineinprasseln. Ein Dutzend Leute fielen, ehe auch nur die erste fodduanische Salve abgefeuert wurde. Der Kapitän unseres Luftschiffes hatte vor, hinunterzustoßen und den Kolonisten zu Hilfe zu kommen. Wir hatten ein neu herausgekommenes, automatisches Drehgeschütz an Bord, aber es war für den Einsatz gegen andere Flugzeuge gedacht und konnte aus diesem Grund nicht so weit in der Aufhängung gesenkt werden, daß es auch Ziele auf dem Boden beschoß – ein typischer, dummer Fehler des kaiserlichen Militärs. Der Kapitän gab Befehl zum Tiefflug, und ich zog meine Seitenwaffe – einen Marinerevolver in jenen Tagen –, den ich in feindlichem Gelände immer bei mir trug. Wir schwebten tiefer und tiefer, beträchtlich gehemmt durch einen leichten Wind von vorne, der das Schiff auf- und abhüpfen ließ und uns alle zwang, uns an Stützen und Spanndrähten festzuklammern, um den Halt nicht zu verlieren. Vorne in der Kanzel schrie die Geschützmannschaft, die ihre Waffe fertigmachte, wir seien fast tief genug, als plötzlich der Ausguck, der oben auf der durch den Gassack führenden Tunnelröhre saß, herunterrief, wir sollten auf die Wilden achten, von denen eine ganze Anzahl abgesessen waren und genau den Wind, gegen den wir ankämpften, zu ihrem Vorteil ausnützten. Durch ein Teleskop, das neben mir auf dem Geländer angebracht war, konnte ich sehen, daß sie irgendwelche Lappen um ihre Pfeile wickelten und sie in Brand setzten – höchstwahrscheinlich mit den gleichen Gläsern und der Inhalierflüssigkeit, die wir ihnen verkauft hatten. Diese brennenden Geschosse ließen sie auf die Kolonisten herniederregnen, die sie mit dem reichlich vorhandenen Sand hastig löschten. Das Fell des Kapitäns stand ihm bei diesem Anblick rechtwinklig vom Rückenschild ab, und er fluchte und schrie die Besatzung an, sie sollten wieder hochziehen. Wenn auch nur eines dieser Feuergeschosse die Schale unseres Flugzeugs durchdrang, würde ser – und wir mit sihr – im Handumdrehen vernichtet werden.
Es war jedoch eindeutig, daß die Wagenfahrer unten zahlenmäßig schrecklich unterlegen waren und, wenn wir ihnen nicht zu Hilfe kamen, an unserer Stelle sterben würden. Das, so behauptete ich einigermaßen heftig dem Kapitän gegenüber, war nicht die richtige Reihenfolge für die Kaiserliche Luftflotte, aber er gab weiterhin Befehle, die uns ungefährdet aus der Reichweite der flammenden Pfeile bringen würden. Die Geschützmannschaft auf ihrer kleinen, eingezäunten Terrasse vorne in der Kanzel war ganz wild, weil man ihr die Beute entrissen hatte und sie gezwungen war, die langsame, aber sichere Zermürbung unter sich mitanzusehen. Ein Blick auf ihr Fell, und ich war mir dieser Leute sicher. Ich richtete meine Pistole direkt auf das Auge des Kapitäns und befahl ihm, diesen eines Lam unwürdigen Rückzug abzubrechen. Weißt du, ich hatte mich an einen chemischen Versuch aus meiner Schulzeit erinnert: Unser Schiff war sicher dem Untergang geweiht, wenn wir den Kolonisten halfen, aber wenn wir in einer Höhe flogen, in der die Geschützmannschaft einsatzfähig war, konnten wir übrigen gegen Ende des Zielanflugs abspringen – weil Wasserstoff nach oben brennt und unten kühle Luft zurückbleibt. Ich blieb fest und stellte mich gegen den Kapitän an seinem Steuerrad. Seine Günstlinge fanden keine Worte, so verblüfft waren sie von meinem meuterischen Verhalten, aber hinter mir konnte ich sehen, wie die Geschützmannschaft die Deckel von Kisten mit geladenen Magazinen riß und ihre Höhenschraube beinahe aus dem Gewinde drehte, um den Lauf nach unten zu bekommen. Als der Hammer meines Revolvers klickend im Abzugsstollen einrastete, erschlaffte das Fell des Kapitäns resigniert, und er rief die Befehle, die ich ihm gegeben hatte. Unser Bug sank wieder nach unten, und wir hielten auf den Wagenzug zu. Das automatische Drehgeschütz begann zu knattern und spuckte, lange bevor wir richtig in Schußweite waren, leere Messinghülsen, aber die Staubwölkchen in der Nähe des Standorts der Wilden bewirkten sofort zweierlei: Die Wilden hörten auf, auf die Kolonisten zu schießen – wir konnten selbst aus dieser großen Höhe kräftigen Jubel von den Wagen hören – und sie begannen, auf uns zu feuern!
Immer näher kamen wir, unser Trim war auf einen steilen Bugwinkel eingestellt, bis die Wilden sich zurückziehen mußten, wenn sie unter dem Hämmern unseres Geschützes nicht zerfleischt werden wollten. Ich dachte nicht mehr an den Kapitän und schob ein Fenster auf, um dem Geschütz meine geringfügige Feuerkraft hinzuzufügen. Zu seiner Ehre sei gesagt, daß der Kapitän den Kurs beibehielt, und ich wurde von anderen, die lange, sehr zielgenaue Gewehre aus dem Spind des Schiffes geholt hatten, in meinem Bemühen trefflich unterstützt. Immer tiefer sanken wir, bis die von den brennenden Pfeilen der Wilden angefachten Aufwinde es notwendig machten, Wasserstoff abzuwerfen, und dann stürzten wir so rasend schnell, daß uns die Herzen stehenblieben. Die Wilden, das muß man ihnen lassen, ließen sich nicht aus der Fassung bringen, sondern feuerten weiter, während wir über die Wagen hin auf sie zuflogen. Aber sie wurden unerbittlich nonimiert – später zählten wir mehr als hundert Leichen, die, durchlöchert von großkalibrigen Kugeln aus dem Drehgeschütz, in Haufen zwischen den Kadavern ihrer treuen und gleichermaßen heldenhaften Watun lagen. Sie hatten jetzt keine Zeit mehr, ihre fürchterlichen Pfeile in Brand zu setzen – was ein Segen und eine Erleichterung war –, folglich verloren wir durch die, die unseren dünnen Rumpf durchschlugen, nur Gas, und das trug noch weiter zu der Geschwindigkeit bei, mit der wir kopfüber auf sie zustürzten. Als schließlich unser Feind beinahe besiegt und unser Vorrat an Wasserstoff erschöpft war, machten wir mehrere Hundert Lamhöhen vom Standort der Kolonisten entfernt eine sanfte Bauchlandung. Unsere Geschützmannschaft hörte auf, Dauerfeuer zu geben, weil sie keine Ziele mehr hatte, obwohl gelegentlich ein Pfeil an unseren Rükkenschilden vorbeischwirrte, der mit einem sinnlosen Kugelhagel beantwortet wurde. Wir sprangen aus der Kanzel, als der Rumpf darüber langsam zusammenschrumpelte, weil kein Innendruck ihn mehr hielt, und bildeten hastig eine Kolonne für einen Eilmarsch auf die Wagen zu, die Leute im Zentrum der Formation mühten sich unter dem Gewicht des Geschützes ab, das dessen Mannschaft abgeschraubt hatte und unbedingt mitnehmen wollte. Wir hatten etwa die Hälfte des Weges zu unserem Ziel zurückgelegt, als sich eine kleine Gruppe von Feinden, zweifellos vom Haupttrupp
abgeschnitten, als wir sie überflogen hatten, vor uns aus den Präriekakteen erhob und anfing, ihre schlimmen Pfeile geradewegs auf uns abzuschießen. Sie faßten ihre Bogen mit den äußeren Händen und spannten sie mit den mittleren, dadurch war eine gewaltige Durchschlagskraft gesichert, und bald lernten wir ein weiteres, tödliches Geheimnis primitiver Technologie kennen: Eine winzige Wachskugel, auf die Pfeilspitze gespießt, verleiht sogar einem streifenden Geschoß kurzzeitig genügend Haftung – und möglicherweise Schmierung – um seinen bösen Zweck erfüllen zu können. Der Rückenschild eines Lam, von dem unter bestimmten Umständen vielleicht sogar eine Kugel abprallen kann, wurde unerbittlich glatt durchbohrt. Und falls der Pfeil ein Auge treffen sollte, wurde höchstwahrscheinlich der Lam, der hinter dem Opfer stand, ebenfalls getötet. Als die Kolonisten erkannten, in welcher Bedrängnis wir uns befanden, begannen sie ein Kreuzfeuer, das uns bedauerlicherweise mehr schadete als nützte: Die Wilden griffen uns an, weil sie erkannten, daß die Wagenbesitzer das Feuer aus Angst einstellen würden, ihre Verbündeten zu erschießen. So wurde es ein Kampf von Hand zu Hand, bis der letzte, der noch stand – sei er nun Fodduaner oder Wilder – ironisch den Sieg für sich in Anspruch nahm. Ich kämpfte, so gut ich konnte. Wer je verfügt hat, daß ein Militärrevolver nur drei Kammern haben soll, hat bestimmt all seine Kämpfe hinter einem Schreibtisch ausgefochten. Ich benützte meine Pistole als Keule, bis mich ein Pfeil in mein erhobenes Glied traf. Ich wechselte, stand auf dem verletzten Bein und kämpfte mit einer anderen Händegruppe, aber der lange Pfeil, der auf jeder Seite des durchbohrten Gelenks vier Handbreiten weit herausragte, behinderte mich stark, und schließlich stürzte ich unter dem Kriegshammer eines Einheimischen zu Boden. Als ich mein Bewußtsein wiedererlangte, waren die Quälgeister abgezogen, das gesegnete Drehgeschütz und ein Ausfall von den Wagen hatten sie vertrieben. Im Lager war ich der Held des Tages. Und ich stand unter strengem Arrest. Nichts davon war von Bedeutung für mich. Nur Stunden zuvor war ich ein junger, noch ungeprüfter Fähnrich gewesen, begierig nach Abenteuern. Jetzt hatte ich persönlich wenigstens ein Dutzend meiner
Mitgeschöpfe getötet – hatte zugesehen, wie sie ihr smaragdfarbenes Blut in den Sand vergossen und starben – und indirekt vielleicht noch hunderte mehr. Man kann das nicht feststellen: Die Wilden bergen ihre Toten, wenn sie können, und auf dem Schlachtfeld lagen nur die wenigen, bei denen wir sie daran gehindert hatten. Wenn ich in dieser Sache überhaupt ein Verdienst in Anspruch nehmen darf, dann dies, daß mich das Gemetzel unter den Wilden genauso tief erschütterte wie das Sterben meiner eigenen Kameraden. »Ich weiß, glaube ich, worauf du hinauswillst«, antwortete ich nach ziemlich langem Schweigen. Durch die Fenster unserer Droschke sah ich, daß wir uns der Gegend des Kaiserlichen Museums näherten. »Es ist nur ein geringer Trost, recht gehandelt zu haben, wenn man dafür verantwortlich ist, daß jemand verletzt oder gar getötet wird.« »Genau«, erwiderte mein Freund und zog an seinem Silberrohr. »So empfand ich es jedenfalls damals. Man gab mir eine Medaille für die Rettung des Wagenzugs: die Tochter irgendeines Admirals und ihre Familie waren unter den Siedlern gewesen. Ich erwähne dies nicht aus Unbescheidenheit, sondern weil diese fragwürdigen Ehrungen meine Schuldgefühle nicht zerstreuen konnten. Daraufhin wurde ich entlassen – geradezu aus der Flotte hinausgeworfen –, weil ich einen Vorgesetzten mit dem Tode bedroht, Schiff und Besatzung in Gefahr gebracht (das Schiff wurde unversehrt geborgen, sonst hätte ich sien auch noch auf dem Gewissen gehabt) und die Beziehungen mit den Eingeborenen erschwert hatte.« »Aber das ist doch wohl nicht möglich!« »Es war genau, was ich verdiente, und ich hatte Glück, daß ich nicht auch noch wegen Meuterei erschossen wurde – vielleicht wäre das sogar eine Gnade gewesen in Anbetracht dessen, wie ich mich fühlte. Der Vorwurf wegen der ›Beziehungen zu den Einheimischen‹ war vielleicht unbegründet – sie kamen immer noch zum Posten, um Handel zu treiben, und begegneten mir mit ungewöhnlicher Freundlichkeit, während ich dort auf den Rücktransport nach Mathas wartete. Aber Mymy, ich hatte unrecht gehabt mit meinen Gefühlen. Die Wilden – die eigentlich gar nicht so wild waren – lehrten es mich anders.« Er
griff unter seinen Umhang und holte die kleine Pistole hervor. »Ich glaube, die solltest du nehmen. Du bist dazu berechtigt, und es sieht so aus, als würde unser Vorhaben allmählich gefährlich.« »Aber Mav, wie könnte ich…?« »Genauso wie ich, Mymy. Weißt du, diese Wilden waren gar nicht solche Stoiker, wie ich gedacht hatte, sondern mit einer einfachen Würde und einem widerwilligen Verständnis für die Unbeständigkeit des Lebens begnadet. Sie machten mir genauso wenig einen Vorwurf wie ich ihnen: Die Umstände hatten mich zu ihrem Feind gemacht, von dem sie Mut und Zähigkeit erwarteten; ein anderer Umstand ließ es jetzt zu, daß ich ihr Freund war, dem man Achtung und Höflichkeit schuldete. Sicher, es gibt bestimmte Verhaltensprinzipien, die sich niemals ändern dürfen. Eines davon ist die Pflicht zur Selbstverteidigung und das Recht, das Leben anderer zu schützen; das verstanden die Einheimischen viel besser als ich. Ein zweites ist die zweifache Bedeutung von Gefühl und Denken im Leben der Lamviin; so eispelzig sie auch manchmal scheinen mögen, weinen sie doch um einen gefallenen Kameraden wie ein Kind um einen verlorenen Ball. Wir Fodduaner verachten das übermäßig Gefühlsbetonte. Und doch ist es noch leichter, seine Gefühle zu ertränken, bis man nur noch ein halber Lam ist. Was Schwierigkeiten macht, ist, Denken und Gefühl gleichermaßen in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen. Nach diesem Erlebnis beschloß ich, nie wieder einen ungeprüften Konflikt zwischen dem, was ich fühle und dem, was mir meine Vernunft als richtig zeigt, zu dulden.« Widerwillig nahm ich die Waffe und lehnte mich einige Zeit nachdenklich zurück. »Und ist es dir gelungen?« Ein Zucken jagte über seinen Rückenschild. »Mein Lieber, dessen werde ich auch dann noch nicht völlig sicher sein, wenn ich meinen letzten Atemzug tue. Aber ich versuche es, Mymy, ich bemühe mich jeden Tag darum. Und jetzt sehe ich, daß wir beinahe am Ziel sind. Wir wollen uns, wenn deine Mägen es ertragen können, die abgetrennte Hand ansehen – vielleicht gibt uns eine Schwiele oder sonst ein Merkmal einen Hinweis auf ihren früheren Besitzer.«
7. Kapitel Experimente Wie am Abend von Srafens Vortrag – seit dem, wie es mir vorkam, mindestens ein Jahr vergangen war, der aber in Wirklichkeit natürlich vor weniger als fünfzig Stunden stattgefunden hatte – wurden wir am Eingang des Museums von einer Gestalt empfangen, die uns inzwischen vertraut war: »Oh, mein lieber Leds!« rief Mav, während er seinen mit Waffen beladenen Umhang über den Tisch des Wachtpostens hängte. »Die Vorbereitungen, die ich verlangt habe, sind doch sicher getroffen worden?« Der ältere Lam schenkte meinem Gefährten die Andeutung eines militärischen Grußes. »Jawoll, Captain, habe selbst für alles gesorgt, wirklich.« Dann zögerte er, und Muster der Verlegenheit und Unsicherheit zuckten kurz durch sein sich lichtendes Fell. Mav griff freundlich ein. »Bitte sprechen Sie offen, Leds. Gibt es Schwierigkeiten?« »Nur der geschäftsführende Kurator Liimev, Sir. Er kann es nicht erwarten, bis das Haus wieder geöffnet werden wird und hat mich gebeten, Sie zu fragen…« Mav runzelte belustigt sein Fell. »Siehst du, Mymy, ich habe mich auf die Beziehungen meiner Familie berufen, damit Indizien und Beweisstücke unberührt blieben. Aber wir dürfen nicht zulassen, daß durch das Streben nach Gerechtigkeit weiterhin anderen Unrecht zugefügt wird.« Und zu Leds: »Bitte teilen Sie Professor Liimev mit, daß er morgen früh mit den Reparaturen beginnen und die Pforten wieder für die Öffentlichkeit auftun kann, sobald seine eigenen Bemühungen ihm das ermöglichen.« »Oh, danke, Captain.« Der alte Knabe schien immer noch etwas auf dem Herzen zu haben. »Noch eines, Sir, wenn ich bitten dürfte…« »Und was wäre das?«
»Nun, Sir, der Professor war besorgt, ob auch jegliche Vorsicht bei der Benutzung des…« »Des Federbogens? Ich verstehe völlig, und ich versichere Ihnen, daß ich mir seines hohen Zerstörungspotentials mehr als bewußt bin. Ich weiß auch, daß die Waffe selbst alt und zerbrechlich ist. Haben Sie keine Angst, Leds, ich werde vorsichtig sein.« Bei diesen Worten hellte sich die Miene des Wächters beträchtlich auf. »Sehr gut, Sir.« Er klopfte sich die Hände ab, als habe er sich einer unangenehmen, widerwärtigen Aufgabe entledigt. »Kann ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein?« »Im Augenblick nicht. Missur Mymy und ich sind im Waffensaal; falls wir weitere Hilfe brauchen, wird einer von uns Sie rufen.« Von den Vorbereitungen, von denen sie sprachen, hatte ich nicht die leiseste Ahnung, obwohl ich den Verdacht hegte, daß sie einen Teil von Mavs Aufmerksamkeit an diesem Nachmittag in Anspruch genommen hatten, während ich Verwandte besuchte. Das erwies sich als zutreffend. »Siehst du«, sagte er zu mir, als wir vom Hörsaal aus den Waffensaal betraten, da es vom großen Ausstellungssaal aus keinen direkten Zugang gab, »wir haben ein wunderschönes Puzzle vor uns. Ich habe beschlossen, es ein ›Paradox des verschlossenen Zimmers‹ zu nennen – eine Tür war zugenagelt, drei weitere fest verriegelt, und die eine, die noch übrig blieb, wurde von Kübelieren und Museumswächtern scharf bewacht. Außerdem waren auch alle Eingänge von außen fest verschlossen. Ungefähr zweihundert Personen oder mehr waren Zeugen des Geschehens, aber niemand – mich selbst nicht ausgenommen – kann sagen, wie der Mord begangen wurde.« »In dieser Beziehung«, bemerkte ich, »ist es einem Zauberkunststück ziemlich ähnlich, nicht wahr?« Dieser Gedanke gab Anlaß zu Spekulationen bezüglich Myssmos Lunologen. »Ganz richtig, Mymy, und deshalb habe ich auch angeordnet, daß nichts verändert werden dürfte, weil ich hoffte, mit der Zeit hinter die Methoden des Zauberkünstlers zu kommen. Hier ist zum Beispiel der Wandschirm, genau wie vorletzte Nacht – und hier drüben der aufgebrochene Kasten mit dem Federbogen und die zugenagelte Tür mit
dem Loch darin. Ich habe Leds gestattet, den Schaukasten aus dem Alarmschaltkreis zu nehmen, damit wir nicht länger durch sein unaufhörliches Klingeln gestört würden und die Alarmanlage für die anderen Kästen wieder funktionsfähig gemacht werden konnte.« Irgendwie mußte das an der Schalttafel im Atrium gemacht worden sein, da in diesem Raum nichts davon zu sehen war. »Ehe wir jetzt richtig anfangen«, sagte Mav und zog seine Notizmappe aus einer Tasche, »möchtest du vielleicht hören, was seit heute nachmittag sonst noch festgestellt wurde.« »Ich hatte wirklich geglaubt, du hättest die ganze Zeit damit verbracht, meine eigenen Bemühungen überflüssig zu machen.« Und mit Frauen von schlechtem Ruf zu verkehren, fügte ich in Gedanken hinzu. »Komm, komm, Mymy, unter Umständen wie diesen werden wir zwangsläufig hin und wieder unabhängig voneinander über dieselben Fakten stolpern. Eigentlich ist eine solche Duplizität unseren Zwecken sehr dienlich, da ich einer zweifach bewiesenen Spur um so mehr vertrauen kann.« Er fing wieder an, in seinen Taschen herumzukramen. »Ich wünschte, ich könnte dein Selbstbewußtsein teilen. Aber sag mir, Mav, wirst du den Mordversuch an uns heute abend nicht melden?« Ich dachte an die abgetrennte Hand, die auf sein Drängen hin in meiner Tasche lag. »Immerhin hat es eine schwere Verletzung gegeben und…« Er hielt inne und sah mir direkt an. »Keinesfalls! Kannst du dir vorstellen, wie Tis auf diese Nachrichten reagieren würde? Wir haben genügend Hindernisse vor uns und brauchen nicht noch selbst eines hinzufügen.« Er holte den explodierten Federbogenbolzen hervor und legte ihn vorsichtig auf das Glas eines nahegelegenen Schaukastens. »Sei es, wie es wolle. Wir haben jetzt zu tun, und du hast gehört, wie ich Leds versprochen habe, daß dies der letzte Abend sein würde, an dem wir das Museum geschlossen halten. Also ist das unsere letzte Gelegenheit, vorhandene Spuren in situ zu sammeln und zu interpretieren. Da wir gerade davon sprechen, ich habe versäumt, dir etwas zu zeigen, was sich vielleicht als einigermaßen wichtig herausstellen wird.« Er reichte mir eine Papierscheibe, die Photographie einer Szene, die
ich aus begreiflichen Gründen in lebhaftester Erinnerung hatte. »Oh, das ist ja Professor Srafen, praktisch im Augenblick der Explosion. Ich erinnere mich an diese dramatische Bewegung sehr gut, denn Niitood hatte sien gebeten, ›die Pose zu halten‹.« »Genauer gesagt, ein Sekundenbruchteil VOR der Explosion. Ich bin überzeugt, daß dieses Bild Niitood völlig entlastet, denn aus seiner Kamera kommt es natürlich, und wenn darin eine Waffe verborgen gewesen wäre…« »Was nicht der Fall war, denn du hast sie vorher untersucht und ich hinterher die Bruchstücke…« »Ganz richtig. Wie ich gerade sagen wollte, bezweifle ich, daß so ein Gerät gleichzeitig als Kamera und als Waffe funktionieren könnte. Niitood hat mir dieses Bild gemacht, sobald man ihn entlassen hatte. Es war eine höchst unangenehme Prozedur mit mehreren übelriechenden Flüssigkeiten« – er rieb sich gleich drei Nüstern – »ich sah aber trotzdem genau zu, damit man ihm in Zukunft nicht vorwerfen kann, es sei dabei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Du solltest wirklich einmal seine Wohnung sehen, Mymy. Da sieht es aus wie im Labor irgendeines verrückten Philosophen.« »Das möge Pah verhüten«, sagte ich, in meiner Anständigkeit gekränkt, »und ich bin auch nicht unbedingt der Meinung, daß er dadurch von jedem Verdacht gereinigt ist. Mir scheint in diesem sogenannten Beleuchtungszusatzgerät war genügend Platz für Feldartillerie und eine Kompanie Kavallerie samt Wagen und allem.« Er zuckte zufrieden und belustigt mit seinem Fell, behielt sich aber einen Kommentar vor, bis er sein kleines Silberrohr hergerichtet hatte. »Deine Gedankenprozesse laufen bewundernswert parallel mit meinen ab. Ich habe mir einige Mühe gegeben, das Funktionsprinzip von Niitoods Beleuchtungsgerät zu studieren; der Funktion nach ist es einer Ladekiste nicht unähnlich.« »Irgendwie«, erwiderte ich, »überrascht mich das gar nicht. Inwiefern kann man eine solch üble Gewohnheit zu konstruktiven Zwecken verwenden?« Mav zog an seinem Rohr. »Ganz einfach, mein lieber Mymy; obwohl das Gerät in der jetzigen Form ziemlich groß und schwer ist, sind eini-
ge Vorteile gegenüber der Anwendung von Blitzpulver zu erkennen, und Niitood hofft, daß das Gerät durch weitere Vervollkommnung noch leichter und kompakter wird. Der Ladekistenteil hat drei Magnetos, wogegen sonst nur einer vorhanden ist, und eine einzigartig starke Federhemmung, wodurch genügend Strom erzeugt wird, um ein Watu oder ein Ajot zu betäuben.« »Oder vielleicht sogar jemanden wie unseren Niitood«, erkundigte ich mich, »der es gewohnt ist, dauernd unter Strom zu sein?« »Du bist wirklich ein Ausbund an Toleranz, mein Lieber. Ich würde meinerseits lieber von Rückenschildläusen befallen werden, als mit einem wohlmeinenden Freund belastet zu sein, der immer nur ›mein Bestes‹ im Sinn hat. Hast du je daran gedacht, in die kirchliche Arbeit einzusteigen? Egal: Das elektrische Potential wird auf ein Paar einfache Kupferklammern übertragen, in die man ein Paar Stäbe wie diese hier eingefügt hat.« Er reichte mir zwei kreideähnliche, schwarze Zylinder mit einem Durchmesser von vielleicht einer halben Fingerbreite. »Kohle?« »Nichts anderes. Wenn der Abstand zwischen den Enden richtig eingestellt und der Federmotor angelassen ist, wird kurzzeitig ein Licht erzeugt, in dem man Bilder anfertigen kann, wie das in deiner Hand.« »Ich verstehe. Ergo: Keine Waffe in der Kamera; keine im Beleuchtungs…« »Niitood nennt es Bogenkerze. Ich wünschte, er würde auf seine journalistischen Machwerke soviel Mühe verwenden wie auf seine Erfindungen.« »Bogenkerze also. Wie du selbst festgestellt hast, leben wir im Zeitalter der Erfindungen, Mav, in dem sich jeder als Schrittmacher des Fortschritts sieht. Nun gut, im Augenblick der Aufnahme lebte Srafen noch. Ich muß dir schließlich doch zustimmen: Niitood ist nicht unser Mörder. Aber diese Indizien hattest du noch nicht, als du dich um seine Freilassung bemüht hast…« Jetzt war mein Freund an der Reihe, sich verlegen zu zeigen: »Meine Gründe waren alles andere als wissenschaftlich, mein lieber Mymy, sie
waren psychologischer Natur. Ich konnte einfach nie glauben, daß Niitood der Typ sein soll, der einen Mord begeht, noch dazu einen komplizierten, vorsätzlichen. Wie du inzwischen weißt, gebe ich auf solche Gefühle sehr viel, und wenn ich mich in dieser Angelegenheit noch weiter verteidigen muß, so habe ich die Erfahrung gemacht, daß Journalisten als Gattung von Natur aus passive Geschöpfe sind – Zuschauer, nicht Teilnehmer am Leben. Ja, ich habe Korrespondenten erlebt, die Notizen und Bilder gemacht haben, während Soldaten auf dem Schlachtfeld verbluteten, anstatt lamviinitäre Maßnahmen zu ergreifen, wie jedes normale oder anständige Wesen.« Ich konnte mir das nur schwer vorstellen. »Vielleicht übertreibst du ein wenig. Aber erzähle mir von den Vorbereitungen, von denen Leds und du gesprochen haben.« »Das sind verschiedene. Zum ersten erinnerst du dich vielleicht an meine Hypothese, daß jemand sich vor dem Vortrag in diesem Raum versteckt haben könnte und so der Aufmerksamkeit der Lamn entging, die die einzige, offene Tür bewachten.« »Ja, obwohl mich das wundert, in Anbetracht der vielen Geschehnisse, die meine Aufmerksamkeit in der Zwischenzeit in Anspruch genommen haben.« »Du warst wirklich mustergültig, Mymy, das muß man sagen. Jedenfalls hat Leds wieder einmal meine Vermutungen samt und sonders zunichte gemacht: Hier drinnen wurden vor dem Vortrag viele Möbel gerückt; er und seine Helfer waren noch nicht ganz fertig damit, als die ersten Gäste kamen. So war das Zimmer unbeabsichtigt die ganze Zeit gut bewacht und, wie du selbst sehen kannst, gibt es keinen Platz, wo man sich verstecken könnte, selbst wenn das nicht der Fall wäre.« Ich blickte mich im Zimmer um. »Es sei denn, man zöge eine dieser Rüstungen dort drüben neben der beschädigten Tür an, vielleicht die mit dem gewaltigen Hammer.« »Dann müßte unser Wild ein Beimann sein – unsere Vorfahren waren erheblich kleiner als wir, Mymy, und ganz wenige Männer oder sogar Frauen würden bequem in dieses Eisengewand passen. Nun, fällt dir hier irgendeine Veränderung auf?« Wieder überblickte ich prüfend den Raum, schließlich konzentrierte
ich mich auf einen ziemlich großen Gegenstand hinten am Eingang. »Ja, doch, was ist das dort drüben für ein komisches Ding?« Ich zeigte auf eine Reihe großer, dreieckiger Tafeln, die ich vorher nicht bemerkt hatte, weil sie auf dieser Seite des Wandschirms waren und nahe an der südöstlichen Wand standen. Bei näherem Hinsehen erwiesen sie sich als drei ausgebaute Türen, die hintereinander standen, vielleicht mit drei Handbreit Zwischenraum, und an den Rändern durch lange Bohlen miteinander verbunden waren. Hinter dieser Konstruktion war, was da sonst hing, von der Wand genommen worden, und den Fußboden hatte man auf einer Fläche von einer Lamhöhe in allen Richtungen freigemacht. Nachdenklich klopfte ich auf jede der dreieckigen Tafeln, ging um sie herum und bemühte mich, ihren Zweck zu ergründen. Sie waren in jeder wichtigen Beziehung mit den zweien – der einen auf der anderen Seite des Wandschirms und der zugenagelten – die in den Hörsaal führten, identisch. »Leds hat sie für mich vom Speicher geholt«, erklärte Mav und beobachtete mich bei meinen Untersuchungen genau. »Sie sind bei irgendeinem früheren Umbau übriggeblieben – es gibt jetzt viel weniger Wände in diesem Gebäude als früher einmal, und daher auch weniger Türen. Mit Hilfe dieser Türen und des Federbogens, um den er und Professor Liimev so besorgt sind, hoffe ich, einige der höllischen Widersprüche dieses Falles lösen zu können.« Bei den Worten meines Gefährten zuckte ich vor den Türen zurück. »O Mav! Du hast doch wohl nicht vor…?« In seinem Fell zeichnete sich ein Lachen ab. »Nur, wenn es absolut notwendig ist, das versichere ich dir. Ich erinnere mich genauso gut wie du an die Stärke dieser Explosion und an den Schaden, den sie bei so vielen Unschuldigen in ihrer Umgebung angerichtet hat.« Er griff in die Tasche – und ich fragte mich allmählich, ob es irgendwelche Grenzen für ihr Fassungsvermögen gab. »Außerdem, mein lieber Mitarbeiter, waren die Dinger hier teuer, obwohl mir der Hersteller sagte, es finde in letzter Zeit anscheinend eine leichte Wiederbelebung dieses Sports statt…« Er zog ein paar Federbogenbolzen hervor und zeigte sie mir, von
den anderen, die ich gesehen hatte, unterschieden sie sich dadurch, daß sie hell und fleckenlos waren und noch deutliche Streifen von den Werkzeugen des Drehers trugen. Einer der Bolzen war ein glattes, stabähnliches Übungsgeschoß, der andere war von der hohlen, zwiebelförmigen Sorte, in seine Spitze war ein Zündhütchen geschraubt. »Ich glaube«, sagte Mav, »wir werden zuerst das weniger spektakuläre Projektil ausprobieren. Wirst du mir helfen?« Wir waren zu dem beschädigten Schaukasten in der anderen Ecke des Raumes zurückgekehrt. Mav griff hinunter und umfaßte den Federbogen, dabei entfernte er mehrere Glasscherben aus dem oberen Teil der Waffe und schüttelte kleinere Splitter aus dem Mechanismus. Dem Aufbau nach ist ein Federbogen ein Gerät von eleganter Einfachheit – obwohl dieses Exemplar mit Holzschnitzereien und Gravuren auf den Metallteilen prächtig verziert war – im wesentlichen ein hohler Eisenzylinder mit einer tiefen Rinne im oberen Teil zum Einlegen des Pfeils und Schlitzen an den Seiten, wo eine schwere Spiralfeder sichtbar ist. Mav steckte den hohlen Bolzen wieder ein, und wir kehrten in die andere Ecke des Raums zurück. »Wie du siehst, ist der rückwärtige Teil so beschaffen, daß er wie der Kolben eines Gewehrs an den oberen Teil der Gliedmaßen gelegt werden kann.« Tatsächlich, aus dem Behälter ragte ein fester Stab, der in einem großen Zweidrittelzylinder aus ledergepolstertem Blech endete. Den legte Mav um sein oberes Glied, gleich über dem Punkt, wo es sich verzweigte, und umfaßte mit seiner mittleren Hand den Griff, wobei er darauf achtete, den Finger nicht in den Abzugsbügel zu legen. Mit der linken Hand drückte er fest auf einen Bügel an der Unterseite der Waffe und schwang ihn nach unten und nach vorne. Dadurch wurden zwei längliche Hebel nach oben geschwenkt und die Innenfeder zusammengedrückt, bis sie einrastete. Mav brachte den Bügel wieder in seine Ausgangsstellung zurück. »Ein Bogenschütze trug immer zwei Köcher«, erklärte er, »an jeder Gehhand einen. Wenn er mit den äußeren Händen spannte und lud, konnte er eine Feuergeschwindigkeit erreichen, die jedem Hinterlader bis auf unsere allermodernsten Repetiergewehre mit Magazin von heu-
te überlegen war.« Er legte den Übungsbolzen in die Rinne. Ich sagte: »In diesem Fall überrascht es mich, daß diese Waffe je durch Feuerwaffen verdrängt wurde.« Wie ich entdeckte, machte mich die mächtige, gespannte Feder hinter dem Bolzen ziemlich nervös. »Genau darüber habe ich mich auch schon oft gewundert«, antwortete er. »Die Schießpulverwaffen jener Zeit waren äußerst primitiv und wenig leistungsfähig – obwohl man gerechterweise sagen muß, daß sie leichter waren und beim Laden und Abschießen beträchtlich weniger Muskelkraft erforderten. Also, jetzt geht's los!« Er schwang den Federbogen nach oben, richtete ihn auf die Türen und zog den Abzug durch. Ein dumpfes Schwirren war zu hören, der Bolzen flog heraus – mit einem enttäuschend dumpfen Aufschlag. Der Pfeil prallte von der ersten Tür ab und fiel singend und klappernd auf das Pflaster zu unseren Füßen. »Sonderbar«, sagte Mav. »Er hat beim Aufschlag kaum eine Spur hinterlassen.« Tatsächlich, bis auf eine kleine, fingerspitzengroße Delle war die Tür völlig unbeschädigt. »Glaubst du, daß du mit der Waffe nicht richtig umgegangen bist?« »Das bezweifle ich stark. Der Mechanismus ist der Inbegriff der Einfachheit, du kannst dich gerne selbst davon überzeugen.« Diesmal gestattete er mir, das Gerät zu laden, was mir kläglich mißlang, da ich nicht fähig war, den Bügel mehr als ein paar Grad aus seiner Ruhestellung zu drehen. Das brachte mich auf zwei Gedanken: »Jetzt kann ich mir vorstellen, warum Feuerwaffen beliebt waren. Aber paß auf, Mav! Deine Idee, daß sich ein beimännlicher Mörder in einer Rüstung verborgen haben soll, kann nicht stimmen.« Ich blickte noch einmal auf die eindrucksvollen, wenn auch hohlen Gestalten neben der Tür, eine umfaßte ein mächtiges Kampfschwert, die andere einen Kriegshammer von gewaltigen Ausmaßen. »Sei bitte ganz beruhigt«, sagte er, »ich habe diesen Gedanken niemals ernsthaft verfolgt.« Er legte den Bolzen wieder ein und feuerte erneut. Mit genau dem gleichen Ergebnis wie zuvor. Mav legte die Waffe mit dem Kolben voran auf den Boden, lehnte
sich gegen die vorderste der drei Türen und richtete sich sein Rohr wieder her. Ich konnte sehen, wie er sich bemühte, seine ResreAtmung zu praktizieren, ohne daß ich es merkte, aber diesmal sollte ihm das nicht gelingen. »Dieses abscheuliche Gerät!« rief er aus. »Es verkörpert mehr ärgerliche Paradoxa als ein Rudel metaphysischer Philosophen!« Obwohl ich um seinetwillen enttäuscht war, hatte ich selbst Schwierigkeiten – das Lachen zu unterdrücken – denn Mav ist gewöhnlich so ruhig und unerschütterlich. Und außerdem ist er irgendwie sehr anziehend, wenn er wütend ist. Um ihm seinen Stolz und mir meine Seelenruhe zu erhalten, schlenderte ich zurück zur anderen Ecke des Raumes und hob den alten Schild an, um das große gezackte Loch zu untersuchen, das etwas in die Tür gemacht haben mußte – ein Loch, das Mavs Experimente bisher nicht zustandegebracht hatten. »Glaubst du, wenn du den hohlen Explosivpfeil benützt hättest…?« Selbst aus dieser Entfernung war das verneinende Muster in seinem Fell leicht erkennbar. »Nein, erstens ist er schwerer und so zu noch weniger Geschwindigkeit und Durchschlagskraft fähig. Außerdem glaube ich nicht – ich sehe voraus, daß du diese Vermutung gleich anstellen wirst –, daß der Pfeil sich seinen Weg durch die Tür gesprengt hat. Wie hätte er denn dann Srafen töten können? Wenn wir nun zwei Pfeile gefunden hätten… Nein, ich vermute, die Feder in diesem Bogen hat einfach durch das Alter ihre Spannkraft verloren. Ich hatte schon das Gefühl, daß sie sich etwas zu leicht spannen ließ. Und nun stehen wir wieder einmal mit einer Myriade aufreizender Fragen da.« Mein Fell zuckte trotz all meiner Bemühungen. »Hast du nicht oft den verstorbenen Professor Srafen zitiert, der gesagt hat, neue Fragen seien das beste Resultat von Experimenten?« Müßig betastete ich den gezackten Rand des Lochs in der Türtafel. »Du hast heute wieder ein nur zu gutes Gedächtnis, Mymy. Vielleicht solltest du diese Untersuchung übernehmen?« »Vielleicht kann ich – Mav komm her! Hat das etwas zu bedeuten?« Die Ränder des Loches waren unter meinen Fingern wie mürbe Algenkeks zerbröckelt.
»Gütige Verdunstung des Himmels, Mymy! Ich gratuliere dir! Diese Tür ist von Fäulnis richtig durchgefressen, anders als die, die trocken oben im Speicher des Museums aufbewahrt wurden. Ja, ich könnte praktisch…« WAMM! Er schlug mit dem Federbogenbolzen in seiner Hand gegen die Türtafel. Eine häßliche Beschädigung entstand, aber er drang nicht ganz durch. »Nun, hier ist noch mehr intakt, als ich dachte, aber selbst unser abgenützter Federbogen könnte einen Bolzen hindurch und noch ein Stück weitertreiben.« Darüber dachte ich intensiv nach, und dabei blitzte eine Antwort auf ein anderes Problem durch mein Gehirn. »Wieviel Kraft braucht man, um ein Zündhütchen zur Explosion zu bringen?« Er hielt inne. »Oh, ich verstehe, worauf du hinauswillst, aber, nein, ich fürchte, der Aufprall selbst auf einem so wenig stabilen Hindernis würde genügen, um die Explosion auszulösen. Trotzdem, ein bewundernswerter Versuch; du fängst an, wie ein Detektiv zu denken… ich wünschte, ich könnte das auch von mir sagen.« Er ging zu dem abgeschossenen Bolzen und untersuchte ihn. »Jedenfalls müssen wir immer noch eine Erklärung für diese beträchtlichen Spuren von Holzfaser innerhalb der Schießpulverhöhlung finden. Wäre Professor Srafen nicht auf so entsetzliche Weise gestorben, so könnte man folgern… Hallo?« Unvermittelt bewegte sich etwas am Rand des Wandschirms. »Captain?« Mav seufzte. »Ja, Leds, was gibt es denn?« »Kommt jetzt doch keine Explosion? Ich sitze schon eine Stunde lang da und warte darauf.« »Es tut mir wirklich leid, mein Alter, daß ich Ihre Nerven so strapaziert habe. Nein, es wird keine Explosion geben – wenn Sie die Explosionen aus Enttäuschung nicht mitrechnen, die selbst in diesem Augenblick in meinem Gehirn gezündet werden. Und Sie können Ihrem Vorgesetzten morgen endgültig sagen, daß er das Gebäude reparieren lassen kann. Wir werden nichts Wertvolles mehr erfahren, fürchte ich.« Der alte Lam sagte: »Das tut mir leid, Capt'n. Nun, ich gehe jetzt am besten wieder zurück – oh, das hätte ich beinahe vergessen: Hier ist
das Papier, das Sie haben wollten. Deshalb habe ich Sie eigentlich gestört, entschuldigen Sie bitte.« »Ausgezeichnet, danke, Leds. Mymy, hier ist noch eine der Vorbereitungen, von denen ich gesprochen habe. Du wirst dich erinnern, daß ich am Abend des Mordes eine Liste aller hier Anwesenden habe aufstellen lassen, mit gewissen Einzelheiten wie etwa, wo jeder einzelne gesessen hatte, soweit man das noch feststellen konnte. Hier ist zum Beispiel der Erzpriester, und du siehst, daß rechts von uns, in der südöstlichen Ecke, ein halbes Dutzend von Srafens alten Marinekollegen saßen. Nun stehen auf Leds neuer Liste die ursprünglichen Besitzer von Eintrittskarten für den Vortrag, der, in erster Linie wegen der Drohungen der Anti-Aszensionisten, nur für geladene Gäste gehalten wurde. Sieh mal, hier stehe ich, mit drei offiziell bestätigten Eintrittskarten – wenn du damit den späteren Bericht der Kübeliere vergleichst, wirst du feststellen, daß du und ich aufgeführt sind, und daß eine von unseren Karten unbenützt blieb.« Tatsächlich, dachte ich, aber es blieb mir trotzdem nicht erspart, mit Vyssu schließlich doch noch zusammenkommen zu müssen. »Und was hoffst du aus diesen Aufzeichnungen zu erfahren?« Er brütete über den Rollen. »Nun, gerade habe ich schon etwas erfahren – daß Srafens Gatte Law unter den geladenen Gästen war, aber nicht teilnahm. Statt seiner war Myssmo, die Frau der beiden, an diesem Abend hier, zusammen mit einem Gast.« »Etwa zufällig mit einem Dr. Ensda?« »Unsere Myssmo ist nicht gerade besonders diskret oder subtil, nicht wahr? Das muß Srafen ziemlich schmerzlich getroffen haben, da ser ja glaubte, solche Pseudophilosophien wie Lunologie und Wahrsagerei aus Kieferstreifen würden durch die Wissenschaft bald ausgerottet werden. Ist dir an diesem Scharlatan noch etwas aufgefallen?« Die Kübeliere hatten ihn als ›Professor Doktor Zanyw N'botpemy Ensda, Lunologe und Himmlischer Ratgeber‹ aufgeschrieben. »Der Federbogen«, erwiderte ich sofort, »die Augenschwerter und der Matrose. Und vielleicht täusche ich mich, aber ist Zanyw N'botpemy Ensda nicht auch ein podfettianischer Name? Könnte es sein, daß sich da ein Muster er…?«
Und genau in diesem Augenblick gab es wieder einen Tumult hinter dem Wandschirm, und obwohl sich Leds aus Leibeskräften bemühte, das zu verhindern, tauchte Niitood auf, zerlumpt und zerzaust, und zog seine Verbände wie eine Schleppe hinter sich her. »May! Mymy! Ihr müßt sofort kommen! Jemand ist in meine Wohnung eingebrochen und hat alles kurz und klein geschlagen!«
8. Kapitel Der Schrein der Grundwahrheit KRACH!!! »Verstehst du jetzt, Mymy? Man muß den Abzug drücken, nicht durchreißen.« Mav nahm mir die kleine Waffe aus der Hand, schob den Federknopf an der Seite ein kleines Stück vor den T-förmigen Griff, drückte die Läufe um eine Vierteldrehung weiter und warf die beiden verbrauchten Patronen heraus. Obwohl die Pistole ein vergleichsweise kleines Kaliber hatte – genau eine fodduanische Standardfingerbreite oder dreiunddreißig pro Pfund nach alter Rechnung – kribbelte mir die Mittelhand nach einem Dutzend Runden doch; ich sehnte mich danach, aufzuhören und zu unserem Picknick zurückzukehren. Eines muß ich Vyssu lassen: Sie hatte uns ein großartiges Festmahl aufgetischt: Geräucherte Sandkrabben, Obregawurzeln, dünn geschnitten und scharf gewürzt, und meine Leibspeise, Kaktusbirnen in einer ungewöhnlichen Sauce, die aus einem Abguß zerdrückter Nopalschuppen bereitet war. Als Tisch hatte sie eine Schicht sauberen, weißen Sandes aus einem unserer Körbe auf den Boden gestreut, und selbst da, wo ich stand, ein ganzes Dutzend Lamhöhen entfernt, stieg mir das Aroma der Birnen noch höchst verlockend in die Nüstern. Mav drehte die Läufe herum. »Versuch es noch einmal, Mymy!« »Muß ich?« Ich packte den Griff, während mir Vyssu ermutigend zuzuckte. Ich hatte gehört, daß sie so etwas schon öfter hinter sich hatte und selbst ganz anständig schießen konnte. Seufzend richtete ich die Klinge des Korns so aus, daß sie zwischen den beiden Hörnern der Kimme stand, zentrierte alles auf einen dornigen Schmalnetzstrauch, den Mav mir zeigte, und drückte trotz eines nervösen Zitterns in meiner Hand sorgfältig auf den Abzug. Klick. Ich fuhr heftig zusammen, als der Hammer fiel, dann drehte ich
mich verwirrt Mav zu. »Sie ist nicht losgegangen; stimmt etwas nicht?« Sein Fell ließ Unruhe erkennen, bis er den Lauf der Pistole von seinem Auge weggeschoben hatte; dann drückte es Belustigung aus. »Nichts, was man nicht sofort in Ordnung bringen könnte, solange du deinen Ausbilder nicht erschießt. Bitte paß auf, wohin du mit diesem Ding zielst, Mymy! Und verzeih mir, denn ich habe diesmal die Kammern nicht geladen, um zu sehen, ob du etwas entwickelst, was man ein Zurückzucken nennt, oder nicht. Ich fürchte, es ist so.« Ich fühlte, wie mich ein ärgerliches Zucken durchlief. »Das hätte ich dir auch sagen können. Wie kannst du es nur ertragen, diese Kolbenpistole, geschweige denn einen Dienstrevolver mit zweiundzwanzig und zwölf pro Pfund abzufeuern, wie du sagtest?« »Es ist ein Unterschied«, erwiderte er geduldig, »ob die Waffe sich in deiner Hand bewegt, oder ob du das Gefühl hast, daß sie dir weh tut. Diese beiden Dinge werden bei all dem Lärm und so sehr häufig durcheinandergebracht. Das Ziel ist, daß man sich bemüht, zu ›folgen‹, nachdem die Waffe abgefeuert wurde, immer noch die gleiche, relative Position von Visier und Ziel zu haben wie vor dem Durchziehen des Abzugs. Jetzt versuch es noch einmal – diesmal werde ich wirklich laden –, und dann essen wir.« Das war ein Tag voll neuer Erfahrungen, wie so viele, die ich mit Mav verbrachte. Ich war oft hier in Lovely Sands, ein dritt Fymon oberhalb der Hecke, mit meiner Familie zum Picknick gewesen. Nie zuvor hatte ich bei einer solchen Gelegenheit jedoch auch Schießunterricht bekommen. Und ich war auch noch nie auf dem Rücken eines Watu hierhergelangt. Gestern, am Morgen nach unserem zweiten Ausflug zum Museum, hatte ich mein Telefon bekommen, mehrere Stunden früher als erwartet. (Ich vermute, das war eine subtile Rache seitens des Verkaufsangestellten, denn der Besuch am frühen Morgen bereitete Zoobon und mir einige Unannehmlichkeiten, aber wie konnte ich mich über eifrige Bedienung beschweren?) Keine dreißig Minuten später konnte ich auch schon meinen ersten Telefonanruf entgegennehmen.
»Mymy?« »Bist du es, Mav?« »Kein anderer. Ich habe dich hoffentlich nicht beim Frühstück gestört. Wir haben heute viel vor: Zuerst muß ich zu Niitood, der sich schon die Kiefer ausgerenkt hat, weil ich gestern abend einen uniformierten Kübelier mitschickte, anstatt mich selbst um die Sache zu kümmern. Ich habe angeordnet, alles unverändert zu lassen, was ihn noch mehr verwirrte, bis ich Wiedergutmachung leistete und ihn in Vyssus… äh… Unternehmen unterbrachte.« »Ich verstehe. Und hat ihm die Aussicht gefallen?« Es folgte eine merkliche Pause, dann: »Mymy, Vyssu betreibt auch eine völlig konventionelle Pension auf ihrem Grundstück – nun ja, jedenfalls für den Kiiden konventionell. Aber da du gerade davon sprichst, mir ist der Gedanke gekommen, daß ein wenig Gesellschaft ihn vielleicht aufheitern könnte, nachdem er innerhalb von zwei Tagen in die Luft gejagt, eingekerkert und beraubt wurde. Hast du gewußt, daß man ihm noch eine Kamera zerbrochen hat?« »Ich habe allmählich mitbekommen, daß das der Fall war, als er es gestern abend zum siebenundzwanzigsten Mal erwähnte. Hat Vyssu für Gesellschaft für ihn gesorgt, oder hat sie selbst…?« »Mymy, ich schäme mich für deine Einstellung. Vielleicht ist es ganz heilsam, wenn du erfährst, daß sie sozusagen eher Unternehmer als Montagearbeiter ist, und in jedem Fall…« »Was ist in deinem Terminplan heute für mich vorgesehen? Nichts so Überflüssiges wie mein gestriger Auftrag, möchte ich hoffen.« Ein Nachteil des Telefons ist, daß es keine Körpersprache überträgt. Trotzdem kannte ich Mav gut genug, um vor meinem geistigen Auge ein belustigtes Zucken in seinem Fell zu sehen. »Bestimmt nicht, mein lieber, puritanischer Assistent. Du wirst eine höchst wichtige Aufgabe übernehmen, während ich versuche, eine völlig andere zu erledigen. Erinnerst du dich an den Burschen, der am Abend des Vortrags vor dem Museum war?« »O je, da standen hunderte!« erwiderte ich gereizt. Mir ging durch den Sinn, daß diese Art blinder Unterhaltung auch ihre guten Seiten
hatte, denn Mav konnte im Augenblick den wütenden Ausdruck in meinem Fell nicht sehen. »Oh, du meinst den zerlumpten, schmutzigen Kerl auf dem, Wagen, der auf die Massen eingeredet hat?« »Ein gewisser Kymmi Kiidit Adern, laut Bericht Inhaber einer Einrichtung, die sich der ›Schrein der Grundwahrheit‹ nennt und irgendwo auf der Armeninsel liegt.« »Und wonach soll ich ihn fragen?« Wieder eine Pause, ich konnte hören, wie er sein Rohr zuerst vorbereitete und dann daraus inhalierte. »Einfache Fakten bezüglich seines Aufenthaltes während des Mordes, die wir schon von unseren Lamn vor dem Museum haben, die ihn genau in dem Augenblick beobachteten, als sie die Explosion hörten. Von dir möchte ich eine Beurteilung seines Charakters – hatte er genügend Feindseligkeit gegenüber Srafen aufgespeichert, um eine Gewalttat anzuordnen? Ich weiß sehr wohl, wie subjektiv und folglich wie schwierig eine solche Aufgabe ist, aber ich weiß, offen gesagt, nicht, womit ich sonst anfangen soll. In mancher Beziehung ist es noch etwas schlimmer als das Gewirr physischer Spuren, das uns verwirrt.« Jetzt war ich an der Reihe unsichtbar zu glucksen, aber mehr über die Situation als auf Kosten meines Freundes. »Ich werde tun, was ich kann, mein lieber Ermittlungsbeauftragter. Darf ich fragen, wo du zu erreichen bist, während ich mit religiösen Fanatikern verhandle?« »Ich habe vor, den Tag in den Höfen der Kaiserlichen Marine zu verbringen und die alten Freunde von Srafen ausfindig zu machen, die beim Vortrag anwesend waren. Ich schlage vor, du erkundigst dich im Bezirksgebäude nach einer Nachricht, wenn du von der Armeninsel genug hast. Wenn nicht irgendein Notfall eintritt, kannst du mir morgen in Lovely Sands Bericht erstatten.« »Und wen werden wir dort befragen, verdächtige Vögel und Kakteen?« »Wir werden uns selbst befragen. Ich brauche eine Pause, um über das nachzudenken, was wir erfahren – oder nicht erfahren – haben. Und ich glaube, ich werde dir beibringen, genau wie ein Pionier von
Einnyo zu schießen und auf einem Watu zu reiten!« Die Armeninsel ist das oberste von drei großen Hindernissen – die anderen beiden sind die Königsinsel und die Schildinsel – in der gewundenen Mündung des Flusses Dybod, wo er durch Mathas und in den Golf gleichen Namens fließt. Da ich gerade von Namen spreche, möchte ich auch noch sagen, daß die Bezeichnung ›Armeninsel‹ völlig irreführend ist. Auf der anderen Seite des Dybod, direkt gegenüber von Riverside, gibt es einen wirklich verarmten Arbeiterbezirk, der ›Armenbrücke‹ heißt. Von der Insel dazwischen sieht man nach allen Seiten hin auf das Wasser und daher war sie ursprünglich als Wohngegend nicht beliebt, man brachte dort die Armen und Bedürftigen unter, Fabrikarbeiter und Müllerburschen, wie man sie noch auf dem Ostufer findet – ja, sogar überall auf dieser Seite des Flusses. Aber vor einigen Generationen wurde eine hohe Mauer gebaut, die die Aussicht auf das Wasser versperrte, und die Gegend wurde eine Art Zuflucht für Universitätsstudenten, Dichter und Musiker einer besonders übelbeleumundeten Sorte. So blieb es bis vor vielleicht zwölf Jahren, dann fingen andere, weniger unkonventionelle Leute, die aber die besondere Atmosphäre schätzten, an, die Arbeiter wie die Müßiggänger zu verdrängen. Jetzt ist die Insel der letzte Schrei für alleinlebende Personen auf der Suche nach Abenteuern und für junge Dreiergruppen, die noch nicht bereit sind für eine etablierte, konventionelle Lebensform, eine renovierte Wohnung mieten oder kaufen und sich als wagemutige Freidenker, radikale Arbeiterfreunde und ›Künstler‹ geben. Ihre einzige, wirkliche Leistung ist, so scheint mir, daß sie innerhalb von zehn Jahren die Miete auf das ebensovielfache hochgetrieben haben. So war ich etwas überrascht, als Mav mir mitteilte, wo der Schrein der Grundwahrheit zu finden war – man hätte ihn eher in Fasmou Common oder im Cuff vermutet, wo man sich den Pöbel, den wir am Museum gesehen hatten, im Alltag vorstellt. Ich ging nach Süden zur King's Gate High Road, wo ich eine Droschke nahm – diesmal eine anständige mit vorgespannten Watun,
den Fahrpreis wollte ich mir im Bezirksgebäude erstatten lassen –, und fuhr nach Riverside, über die Eisenbahnbrücke, die die Inselmauer durchbohrt, und von da zum Schrein selbst. Der stellte sich als wenig anziehendes Ziegelgebäude heraus, allem Anschein nach früher eine Herberge, das häßliche Symbol, das ich beim Museum gesehen hatte, war auf die Fenster gemalt. Es war wieder ein herrlicher Tag, der Himmel war gelb, der Vordereingang stand weit offen und man sah in eine Halle. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte, aber der hübsche Beimann am Empfang, der an einem kleinen Goldtisch mit Telefon und einer mechanischen Schreibmaschine daneben saß, war gut angezogen und hatte eine überaus gepflegte Sprache und ausgezeichnete Manieren. »Guten Morgen, Missur, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« »Ich hoffe es; ich würde gerne Mr. Adern sprechen, wenn es möglich ist.« »Ich freue mich, Ihnen sagen zu können, daß Hochwürden Mr. Adern hier ist. Haben Sie einen Termin? Oh – sind Sie vielleicht zufällig Missur Mymysiir Offe Woom? Ich sehe gerade, daß Mr. Agot Edmoot Mav heute morgen angerufen und einen Termin für Sie vereinbart hat.« Eine solche Voraussicht war dem systematischen Mav zuzutrauen. Ich fragte mich, welcher Art meine Aufgabe wohl sein sollte. Der Beimann am Empfang stand auf und führte mich durch das hübsch eingerichtete Foyer in ein Vorzimmer, wo ser mich einem männlichen Sekretär übergab, der ebenfalls eine Schreibmaschine und ein Telefon hatte. Und einen Anzug, der das Jahresgehalt eines Kübeliers kostete. Der Sekretär hob das Instrument von seinem Schreibtisch. »Hochwürden? Missur Mymysiir Offe Woom hat einen Termin… Jawohl, Sir.« Er stellte das Telefon wieder auf den Schreibtisch zurück. Man stelle sich das vor, ein Telefon, nur um mit dem Raum nebenan zu sprechen! »Hochwürden Adern läßt jetzt bitten, Missur.« Er öffnete zwei reichgeschnitzte Türen mit versilberten Griffen und Angeln vor mir. Das heißt, ich nahm an, daß sie versilbert waren. Als die Türen aufschwangen, revidierte ich meine Einschätzung, denn
nach dem Sand auf dem Fußboden – einem Sand von zartem Aquamarinblau, der nur handgesiebt und aus jener fernsten unserer Kolonien, Mavs geliebtem Dezer, eingeführt sein konnte – und nach den vielen schönen Reliefbildern auf den elegant mit Leder verkleideten Wänden zu urteilen, hatte ich allen Grund, an meiner Meinung über die Türgriffe zu zweifeln. Ein Lam, für dessen Kleidung man sofort zehn der Anzüge des Sekretärs gegeben hätte, stand inmitten dieser üppigen Menge von Fußbodensand und streckte mir alle drei Hände zur Begrüßung entgegen. »Missur Mymysiir – ich glaube, ich werde Sie Mymy nennen, mein Kind. Kommen Sie doch näher und seien Sie willkommen im Schrein der Grundwahrheit! Ich bin Hochwürden Kymmi Kiidit Adern!« Das sollte die zerlumpte, schmutzige Gestalt auf dem Wagen sein? Meine Bestürzung muß deutlich erkennbar gewesen sein, denn er runzelte sein Fell, als er mich zu einem bequemen Sitz wies und selbst hinter einen beschichteten Peresk-Schreibtisch trat, für den vielleicht hundert kleine Bäume hatten umgeschnitten werden müssen – und vielleicht Dutzende von Leben gefährdet worden waren. »Ich sehe, daß das Äußere unseres elenden Schreins Sie überrascht«, sagte er. »Oder sollten Sie mich vielleicht in meiner eher für die Öffentlichkeit bestimmten Erscheinung erlebt haben – vielleicht vor einigen Tagen am Kaiserlichen Museum? Nun, dies ist Pahs Haus, bestimmt in viel höherem Maße als jede Kathedrale an der Westküste; und ich bin Pahs Diener. Ich bezweifle sehr, ob Pah wünscht, daß Seine Arbeit in schäbiger Umgebung getan wird! Darf ich Ihnen Kood anbieten? Ich fürchte, wir haben sonst nicht viel, denn die Einnahme von Petroleumgeist oder Strom läuft unserem Glauben zuwider.« Sein Pelz runzelte sich bei diesen Worten ein ganz klein wenig, als wäre das eine unbedeutende Vorschrift, die ein etwas übereifriger Arbeitgeber aufgestellt hatte. »Ich selbst nehme keinen Strom, Hochwürden. Aber ein Docht wäre sehr schön.« Wieder dieses Runzeln. Ich fragte mich, was mir daran oder an seinem Besitzer so unangenehm war, daß ich mir wünschte, ich wäre mit einer Dose Scheuersand allein. Er telefonierte nach Kood, der fast
sofort von irgendeinem weiteren Handlanger gebracht wurde. Pah hatte viele Diener in diesem Haus, wie es schien – und auch die Diener hatten ihre Diener. Ich hätte es wissen müssen: Als der Docht angezündet wurde, war es eine ekelhaft süße Mischung, wie sie ältere, unverheiratete Derren und Damen bevorzugen. Adern legte seine Fingerspitzen zu einer Pyramide zusammen. »Dieser Captain Mav, der mich anrief, sagte mir, Sie wollten etwas über unseren Glauben erfahren, besonders über diejenigen Aspekte, die in Gegensatz zur üblen Ketzerei des Aszensionismus stehen. Nun gut, mein Kind, darf ich meinerseits fragen, wieso Sie sich dafür interessieren?« Ich hatte einmal einen Onkel gehabt, der von mir gewohnheitsmäßig als ›mein Kind‹ sprach. Ich glaube, er desertierte aus der Armee und wurde erschossen. »Sie hatten recht, ich war am Museum während Ihrer… hm… Vorführungen. Das waren doch Sie, nicht wahr?« Ich hoffte, daß ich so vorging, wie Mav es gewünscht hätte. Ich hätte zum Beispiel kein Interesse an den religiösen Vorurteilen dieses seltsamen, abstoßenden, kleinen Lam vortäuschen können. »Meine Erziehung war von wissenschaftlicher Natur, und so…« »Höchst ungewöhnlich und wagemutig für einen Frann, mein Kind. Bei unserer Arbeit können wir soviel Initiative in vieler Hinsicht gut gebrauchen, sicherlich besser als beim… was war es doch noch?« Meine Gedanken überschlugen sich. Was sollte ich sagen? Dann bemerkte ich, daß meine Tasche – Sasas Tasche – neben meinen Händen auf dem Fußboden lag. »Ich bin Medizinstudent, studiere bei meinem Beivater und erwerbe mir so viel praktische Erfahrung, wie ich nur kann. Natürlich erstreckt sich meine philosophische Neugier auch auf…« »Die Grundwahrheit, endlich! Ich freue mich mit Ihnen, mein Kind! Sie werden sehen, daß unser Glaube sich nicht allzusehr von dem der etablierten Kirche unterscheidet…« Hatte ich bei diesen Worten ein mikroskopisch kleines, bitteres Abflachen seines Fells entdeckt? »Ja, unser Ziel ist es, wenn ich so sagen darf, als eine Art Gewissen zu dienen, wir versuchen, das theologische Abdriften in Richtung auf ver-
schiedene, materialistische Ketzereien aufzuhalten, das sich in letzter Zeit vollzogen hat.« »Von denen eine der Aszensionismus ist?« Er runzelte sein Fell jetzt wieder, diesmal eher bekümmert als wütend. Ich bin mir absolut sicher, daß er das früher über Jahre hinweg täglich vor einem Spiegel geübt haben muß. »Mein Kind, dieser Unsinn widerspricht ausdrücklich Pahs eigenem, geschriebenem Wort, und es ist die Grundlage unseres Glaubens, daß das Buch Pahs in jeder Zeile und jedem Vers wörtlich zu nehmen ist. Sonst wäre es seiner nicht würdig, nicht wahr, mein Kind?« Ich fragte mich allmählich, was er sagen würde, wenn er wüßte, daß ›sein Kind‹ in Betracht zog, sihre kleine Pistole herauszuholen und ihm seine scheinheiligen Nüstern abzuschießen, wenn er mich noch einmal so ansprach. Geduld, Mymy. »Es fiele mir leichter, das zu glauben, wenn es in Ihrem Buche Pahs nicht Hunderte von offensichtlichen, inneren Widersprüchen gäbe.« Das letztere war ein wörtliches Zitat von Mav, meinem Mentor in diesen Fragen. Adern gestattete sich ein Fellzucken toleranter Belustigung. »Die Logik Pahs ist nicht die Logik des Lam. Diese scheinbaren Widersprüche sind vielleicht nichts anderes als eine Prüfung unseres Glaubens – genau wie Pah vergrabene Knochen als Falle für die geistig Anmaßenden erfand, für diejenigen, die den Geist über die Seele setzen. Die Knochensammlung ist bei weitem nicht vollständig, müssen Sie wissen, und auch das sollte für diejenigen, die sich für so klug halten, ein Zeichen sein.« »Vielleicht«, widersprach ich sanft, »ist der Vorgang der Versteinerung ein so seltenes Ereignis – so ähnlich wie die Entstehung von Diamanten zum Beispiel –, daß wir die relativ große Zahl von Fossilien als Zeichen dafür werten dürfen, daß Professor Srafen bezüglich der Entwicklung des Lamviin absolut im Recht ist.« Hochwürden Dr. Adern hatte viel Übung im Vortäuschen großzügiger Jovialität. Er gab lediglich zurück: »Mein Kind, Sie sind viel zu jung, um sich über eine Welt, in die Sie noch kaum eingeführt wurden, so sicher zu sein. Ihr Urteilsvermögen wird mit der Zeit reifen, aber Sie müssen sich auch jetzt schon bewußt sein, daß der Aszensionis-
mus, wie die gesamte, sogenannte Naturphilosophie, einfach eine weitere Religion ist – eine heidnische noch dazu –, gestützt durch den Glauben an bestimmte, grundlegende Annahmen, die genausowenig demonstrierbar sind wie die des Trinismus. Die Wissenschaftler selbst geben zu, daß der Aszensionismus nichts als eine Theorie ist, obwohl sie unaufhörlich über ihre Gültigkeit schwafeln.« Ich war froh, daß ich mit Mav über dieses Thema gesprochen hatte, und meinem Beivater dankbar, der darauf bestanden hatte, daß ich die Universität besuchen durfte. »Verzeihung, Hochwürden, aber Sie mißverstehen wenigstens eine Wissenschaft, nämlich die Erkenntnistheorie. Ich stimme Ihnen zu, daß das vorherrschende Kennzeichen einer Religion der Glaube ist – der blinde, fraglose Glaube an das Unbewiesene, das Unbeweisbare und, wenn ich so sagen darf, das als falsch Erwiesene. Jene Annahmen der Naturphilosophie, von denen Sie sprechen, werden ständig überprüft, sobald es einen greifbaren Grund dafür gibt. Oder einfach, wie bei der antilinearen Geometrie, um alternative Annahmen auszuprobieren und dadurch das Wissen zu vermehren.« »Mein Kind…« »Der Aszensionismus ist eine Theorie, was in der Sprache der Philosophie eine geordnete Sammlung physikalisch beweisbarer Beziehungen bedeutet. Sie sprechen davon, als wäre er eine Hypothese, eine Idee, die erst noch bewiesen werden muß, was, wie ich nachdrücklich betonen will, nicht der Fall ist. Kein ernsthafter Philosoph zweifelt noch daran; nur über die Einzelheiten der Funktion wird noch diskutiert.« »Mein Kind, Sie sprechen von Naturwissenschaft und kritisieren wie ein Narr die eingebildeten Widersprüche im Buche Pahs. Aber ich verstehe auch etwas von Naturwissenschaft. Genug, um einschätzen zu können, daß Ordnung – damit meine ich das Leben, besonders das Leben des Lamviin – nicht spontan aus dem Chaos entstanden sein kann; diese Annahme verletzt Ihre eigenen, kostbaren Gesetze der Thermodynamik, mit denen Sie eigentlich vertraut sein sollten; so etwas ist nur durch das persönliche Eingreifen Pahs selbst möglich.« O je, worauf hatte ich mich da eingelassen? »Ich finde, Hochwürden, wenn ich Pah wäre, würde ich einigen Wert darauf legen, keine Aus-
nahmen zuzulassen. Eine Gottheit sollte genügend Integrität besitzen, um sich gerade an die Gesetze, die sie selbst aufgestellt hat, auch zu halten. Ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen – ich glaube, die Kirche hat es bemerkt –, daß der Aszensionismus ein ideales Mittel zu diesem Zweck ist? Vielleicht hat Pah…« »Sie vergessen schon wieder die Thermodynamik, mein Kind. Die Richtung geht unvermeidlich von der Ordnung zum Chaos. Angenommen, Sie finden eine elegante Uhr mit Kette im Sand, wäre es dann vernünftiger, anzunehmen – und hier stolpern wir wieder über eines Ihrer wissenschaftlichen ›Gesetze‹, das der ›Einfachsten Erklärung‹ –, daß sie spontan hier aufgetaucht ist, entstanden durch willkürliche Kombinationen und Permutationen von Atomen, oder daß irgendein Großer Uhrmacher…« »Sie ebenso spontan hier erscheinen ließ? Aber Hochwürden, Ihre Erklärung ist bei weitem nicht die einfachste, und der Prozeß der Entstehung ist nicht im entferntesten willkürlich – die Mutationen, die dabei vorkommen, sind von den Erfordernissen des ›Überlebens‹ streng aussortiert und bearbeitet worden, unter wirklich sehr engen Parametergrenzen. Ihre Uhr begann ihre Existenz als so winziger, unkomplizierter Stein oder Welle, wie man es sich nur vorstellen kann. Millionen von Jahren waren für jede geringfügige Veränderung erforderlich, für jede minimale Weiterentwicklung, bis die Welle zu einem Rädchen wurde und die Rädchen sich zusammentaten, um eine Bewegung entstehen zu lassen – jede Veränderung wurde von der grausamen Umwelt geprüft. Ja, manchmal glaube ich, das Unvermögen, die Tatsache des Aszensionismus zu begreifen und zu akzeptieren entsteht – spontan, wenn Sie so wollen – aus nichts anderem als aus dem Unvermögen (oder der Angst davor), den gewaltigen, zeitlichen Abgrund zu erfassen, der uns von unseren Anfängen trennt.« Hochwürden war alles andere als zum Einlenken bereit: »Diese ›Mutation‹ – wenn es sie überhaupt gibt – ist ein viel zu seltenes Ereignis, um unsere Existenz zu erklären. Man spricht so glatt über so viel Zeit, und doch, wenn wir Ihren Fossilien glauben sollen, entstand der Lam selbst aus viel minderwertigeren Stoffen in einigen zehntausend Jahren vielleicht – viel zu kurz, als daß die Entstehungstheorie etwas damit zu tun haben könnte.«
An diesem Punkt erkannte ich allmählich, wie weit ich mich von Mavs Absichten entfernt hatte. Aber was konnte ich, um Himmels willen, tun? »Hochwürden, bitte verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen eine äußerst persönliche Frage stelle, aber wann hat das letztemal ein Haar auf Ihrem Haupte beschlossen, doppelt so lang und so schnell zu wachsen wie jedes andere? Ich wette, Sie würden so eine ›Laune‹ oder Mutation sogar jetzt finden, wenn Sie genau nachsähen. Soviel zur Seltenheit. Ich gebe zu, geologische Spuren bestätigen Ihre Ansicht, daß wir eine recht junge Gattung sind, aber mein Freund Mav teilte mir mit, daß Professor Srafen eine Monographie des Inhalts veröffentlichen wollte, daß die Lamviinheit, sobald sich die Sprache zu entwikkeln begann, ihre Entwicklung selbst kontrollierte und noch mehr Parameter hinzufügte als die Natur…« »Mein Kind! Das ist eine noch viel feuchtere Blasphemie als jede andere, mit denen dieser abscheuliche, ketzerische Dämon unsere Gesellschaft korrumpierte, als ser noch lebte! Unaussprechlich böse – und doch haben Sie sie ausgesprochen! Ist es möglich, daß Sie von sihrem bösartigen Geist besessen sind? Sie waren bei sihrer gesegneten Vernichtung zugegen, mein armes Kind, und…« »Hochwürden Adern. Sie werden mir verzeihen, wenn ich darauf hinweise, daß ich weder Ihr noch sonst jemandes Kind bin, sondern erwachsen und durchaus fähig, meine Lästerungen selbst auszusprechen.« Resigniert griff ich in meine Tasche, suchte die Geldscheintasche mit meinem Kübelierabzeichen und zeigte sie dem hochwürdigen Herrn. »Ich bin im Auftrag Ihrer Majestäten hier, Sir, und muß Ihnen noch eine letzte Frage stellen – vielleicht ist sie nicht so anregend wie unsere bisherige Unterhaltung, aber sie hat beträchtlich mehr Bedeutung zur Sache.« Sein Fell wurde plötzlich schlaff, obwohl ich glaubte, in seinen Tiefen eine listige Unterströmung zu erkennen. »Mein Ki… vielmehr, Missur Mymysiir, Sie haben mich einer grausamen und gewissenlosen Täuschung ausgesetzt. Ich habe gute Lust, einen Brief an…« »Ihre Ansichten stimmen mit denen meines Vorgesetzten vollständig überein, aber er hat trotzdem entschieden, eine solche Täuschung werde von einem Verbrechen wie Mord aufgewogen. Ich habe immer-
hin erfahren, wie tief Sie Professor Srafen verabscheuten. Können Sie mir jetzt sagen, warum ich nicht glauben sollte, Sie hätten sich berechtigt gefühlt, sien töten zu lassen?« »Junger Derr, Sie nehmen sich zuviel heraus! Vergessen Sie nicht, mit wem Sie sprechen.« »Ganz richtig: Mit dem Leiter einer genaugenommen verbotenen Sekte religiöser Abweichler.« »Die etablierte Kirche ist es, die in ihrer immer größer werdenden Toleranz gegenüber dieser und anderen Ketzereien abweicht! Versteht sie denn nicht, welche Folgen das hat? Ja, sollte diese Phantasterei allgemeine Anerkennung finden, wird sie sicher die Basis für eine neue, primitive Ethik werden: Blutiger Kampf mit Kiefern und Klauen ums Überleben vor allem anderen! Schon jetzt wird von ›gesellschaftlichem Aszensionismus‹ gesprochen, der…« »Verzeihung, Hochwürden, Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Die allgemeine Tendenz geht zum Chaos! Nur Pahs Gnade und Segen…« »Hochwürden?« »Der Lamviin ist in so vieler Hinsicht einmalig; er könnte nie entstanden sein aus – Begreifen Sie eigentlich, daß es auf Sodde Lydfe nur eine Gattung geben würde, wenn die Theorie vom Überleben des Stärksten wahr wäre? Hahahahahahaha!« »Hochwürden Adern! Beherrschen Sie sich!« Er atmete eine Zeitlang schwer, und schließlich wurde die stachelige, wirre Masse seines Fells wieder glatt. Eine Zeitlang blickte er erschöpft und verwirrt um sich, als wisse er nicht, was er eigentlich hier zu suchen hätte. Dann: »Vergebung, mein Kind; ich habe mich der Zügellosigkeit schuldig gemacht. Übermäßiger Eifer nützt selbst im Dienste Pahs wenig, um seine Ziele zu fördern. Ich glaube, ich sollte mich jetzt ausruhen, wenn Sie mich entschuldigen wollen. Nein, stehen Sie nicht auf – nehmen Sie bitte diese Schriften. Sie erklären unsere Position in gemäßigteren Worten, als ich es eben getan habe.« Ich wußte nicht recht, wie ich auf diese Vorstellung reagieren sollte –
es war sicherlich eine neue Art, einen Streit zu beenden (oder Fragen auszuweichen) –, nahm aber die kleinen Bücher, während er sich anschickte, das Zimmer zu verlassen. Er schwankte ein wenig und erinnerte mich dabei an Niitood. An der Tür blieb er stehen. »Was immer Sie von uns halten, mein Kind, vergessen Sie nicht, wir wollen eigentlich nichts anderes, als daß es in den Schulen von Foddu und in den Schulbüchern seiner Kinder neben dieser verfluchten Ketzerei auch einen Abschnitt oder ein Kapitel gibt, das die Wahrheit verkündet, daß nämlich Pah die Welt sofort und auf wunderbare Weise erschaffen hat.« Die Tür schloß sich leise hinter ihm, und wenige Sekunden später hörte ich das sofortige und wunderbare Schwirren einer Ladekiste. Ich fragte mich, während ich meine Tasche aufhob und den ›Schrein der Grundwahrheit‹ verließ, wie Hochwürden Dr. Adern reagieren würde, wenn die Wissenschaft ihrerseits von ihm verlangte, von seiner Kanzel eine Predigt über den Aszensionismus zu halten und dem Buche Pahs ein neues, von Srafen verfaßtes Kapitel hinzuzufügen.
9. Kapitel Die Reise der ›Dessmontevo‹ »Und deshalb befürchte ich«, sagte ich am folgenden Tag in Lovely Sands zu Mav, »daß ich die Informationen, die du haben wolltest, nicht bekommen habe – es sei denn, Adern ist schon soweit hinüber, daß er den Mord befohlen hat.« »Die Möglichkeit besteht eindeutig, so wie es sich anhört«, sagte Vyssu. Der Detektiv saß bei uns am Rand von Vyssus Sandteppich, kaute an einer geräucherten Krabbe und dachte nach. »Meine Lieben, nach dem, was ich bisher von Srafens Ermordung gesehen habe, war dabei viel deutlicher List, vielleicht sogar Genialität im Spiel als Wahnsinn – und ehe einer von euch wieder mit dem alten Schnee kommt, ich habe nie geglaubt, daß große Intelligenz und Geisteskrankheit irgend etwas gemeinsam haben.« Vyssu und ich tauschten schuldbewußte Blicke, da Mav uns beide genau bei der geistigen Handlung ertappt hatte, die er beschrieb. Mehrere Lamhöhen von unserem Picknick entfernt scharrten Mavs drei Watun, die gewöhnlich auf dem Grundstück seiner Mutter an der Ober(st)en Hecke untergebracht waren, müßig Klumpen von Sandflechten aus dem Boden und steckten sie sich ins Maul, offensichtlich hatten sie auch ein Picknick. Mav hatte darauf bestanden, die runden, reifenähnlichen Vorrichtungen an ihren Rückenschilden zu entfernen. ›Sattel‹ war, glaube ich, das Wort, das er dafür verwendete. Bei normalem Gebrauch verhinderten sie, daß der reitende Lamviin den furchterregenden Kiefern der allerdings nur Pflanzen fressenden Tiere zu nahe kam und möglicherweise verletzt wurde, außerdem konnte man (wenigstens theoretisch) bequem auf ihnen sitzen. Wie ich einige Stunden später entdecken sollte, besteht zwischen Theorie und Praxis ein nicht geringer Unterschied, wenn es darum geht, auf einem Watu zu reiten; die ungewöhnliche Haltung, die dieser Sport erfordert, läßt
jedes einzelne Glied vor Schmerzen aufschreien. Sei dem, wie es wolle, es war damals unerhört erfrischend, sich oben auf dem Tier vorwärtszubewegen anstatt dahinter, und es wirkte gedankenstimulierend – das ist vermutlich der beste Ausdruck – wenn man einmal alle Reitgurte bequem angelegt hatte, alle drei Handgruppen gleichzeitig zu etwas anderem als zum Gehen verwenden zu können. Wie es möglich ist, daß nicht mehr als zwei Drittel eines Gehirns drei Augen und neun Arme zu dirigieren vermögen, ohne sie zu einem Wirrwarr zu verflechten, der nur durch radikale, chirurgische Maßnahmen aufzulösen ist, ist eine Tatsache, die die Naturphilosophie eines Tages wird erforschen müssen. Eine genauso interessante Frage, diesmal für Historiker, ist es, warum keine der sogenannten zivilisierten Nationen jemals auf die Idee gekommen ist, direkt auf einem Watu zu reiten. Natürlich ist diese Praxis jetzt weithin bekannt, wenn sie auch nicht allgemein geübt wird, dank der vielen Nachrichtenrollen, Magazine und billigen Sensationsromane über die Kolonien – wir hatten sogar eine befriedigende Anzahl von Blicken aus struppigen Pelzen auf uns gezogen, während wir uns durch die nördlichen Randgebiete der Stadt bewegten – und doch ist es im Zeitalter von Elektrizität und Dampf sonderbar, daß wir eine so großartige Neuerung den Wilden von Einnyo verdanken. Diese Überlegungen führten mich wieder in die Gegenwart und zu unserer Unterhaltung zurück. Mav zog gerade eine Ladekiste auf, die Vyssu mitgenommen hatte. »Vielleicht möchtet ihr beide gerne hören, wie ich den gestrigen Tag verbracht habe«, meinte er und hielt im Drehen inne, um sich ein Stück eingelegte Pfahlwurzel zu nehmen. »Ich fing natürlich mit Niitoods Wohnung an, die genauso aussah, als sei in der Nacht ein Wüstenwirbelsturm hindurchgegangen, hätte alles zertrümmert, einschließlich der neuen Kamera, die er gerade erst bekommen hatte, und Fotografien, Negative und dazu scheußliche Flüssigkeiten zum Bildermachen von der Küche bis hin zur Hannkiste verstreut.« »Armer Niitood«, sagte Vyssu, »wo war er denn, als sich diese Tragödie ereignete?« »Laß mich einmal raten«, sagte ich. »Er hat sich im ›Schlauch und
Federbogen‹ unter Spannung setzen lassen, richtig? Damit ist deutlich erwiesen, welches Unglück das Aufladen unvermeidlich…« »Fast getroffen, aber keine Inhalierröhre«, unterbrach Mav. »Er war im ›Kugel & Anker‹, einem kleinen Lokal von der Sorte, wie man es dem Namen nach erwarten würde, unten in Brassie. Und auf meine besondere Bitte hin hatte er mit einigen seiner Bekannten in der Marine gesprochen.« Ihr werdet verstehen (erklärte Mav), daß ich zögerte, direkt an die Marinelamn heranzutreten, wenigstens zu Anfang. Die unrühmliche Geschichte meiner Jugend geht hin und wieder immer noch bei ihnen um, und obwohl ich anscheinend meine Parteigänger habe, gibt es auch welche, die einen jüngeren Offizier, der sich, und sei es auch aus edelsten Motiven, der Meuterei schuldig gemacht hat, schief ansehen. Der Zweck von Niitoods Auftrag war, jene Personen festzustellen, die an dem tödlichen Abend Srafens Vortrag besucht hatten, eine Aufgabe, die er mit einem Eifer anging, der ihm zur Ehre gereicht – wenn Mymy mich jetzt nicht unterbricht, um zu erklären, daß es sich bei allen um seit langem pensionierte Altersgenossen des Professors handelte, die häufig Lokale wie das ›Kugel & Anker‹ aufsuchten, wo die Elektrizität genauso reichlich fließt wie in Tamets Unternehmen. Nun hat der Einbruch, die Verwüstung, oder was immer es bei Niitood war – und ich wäre wirklich dumm, wollte ich die praktisch sichere Annahme beiseite schieben, daß die Tat in einer noch unerklärten, wesentlichen Beziehung zu diesem Fall stand –, meine Terminpläne gründlich über den Haufen geworfen. Wie sich Vyssu jedoch erinnern wird, haben er und ich am nächsten Morgen mehrere Stunden lang miteinander gesprochen. Ich bat ihn, für mich festzustellen, welche der Offiziere ich von Lam zu Lam ansprechen könne, und bei welchen es notwendig wäre, sie mit meinen gegenwärtigen amtlichen Befugnissen zu beeindrucken – als Gegensatz zu den Verfehlungen in meiner Jugend. Und so nahm ich mir, nachdem ich mit Mymy telefoniert und mit Niitood gesprochen hatte, um mich sozusagen über meine gesellschaftliche Stellung zu orientieren und mir unterwegs seine Wohnung
angesehen hatte, eine Droschke, die mich in die Marinehöfe brachte. Meine Abzeichen reichten aus, um mir widerwillig Zutritt zu gewähren (nach einem kurzen Austausch von Formalitäten mit den MarineKübelieren) – und ein junger Matrose wurde abgestellt, um mich zum Liegeplatz der I. M. S. ›Dobotpo‹ an den Docks zu begleiten. Wenn man an so einer Stelle im Hafen steht, bekommt man einen bestimmten Blickwinkel. Ältere Schiffe, wie das, das ich gerade betreten wollte, liegen Fender an Fender mit ihren schnittigen, modernen Töchtern mit Dampfantrieb. Es gibt Leute, die behaupten, in den Tagen der Segelschiffe seien die Seelamn aus anderem Holz geschnitzt gewesen. Ich kann das nicht bezeugen, aber die alten Schiffe mit den hohen Masten, deren Segel sich träge im leichten Wind drehen wie die Flügel eines riesigen Vogels, haben etwas Romantisches an sich, es ist, als warteten sie nur auf die Hand eines Lotsen, der die Räder in Bewegung setzt und der Schraube gestattet, das Schiff aus dem Golf von Dybod hinaus und in eine Welt voller Gefahr und Abenteuer zu tragen. Ein solches Schiff war die ›Dobotpo‹, sie war ein Zweimaster (auch wenn ihre langen, schmalen Segel im Augenblick zusammengerollt waren und ihre speichenförmigen Spieren nackt in der Sonne lagen), ein Trimaran von alter, vornehmer Bauart. Ihre Kanonen waren natürlich verdeckelt, und an Bord war niemand außer ein paar Leuten zum Schrubben und Polieren. Ich kletterte die Gangway hinauf und ging zum mittleren Rumpf mit der hohen Reling hinüber, einen Augenblick lang blieb ich zwischen zwei Masten stehen, die selbst jetzt noch höher waren als das höchste Gebäude in Mathas. Der Kanal war ein klarer, glatter, grüner Streifen, in den die Lotsenbarkassen eine Schwade geschnitten hatten, und selbst wenn man bedenkt, aus welch einer abscheulichen Substanz er bestand, war er schön und erinnerte an tausend aufregende, ferne Gegenden. Im übrigen Hafen und draußen im Golf ragte das allgegenwärtige Seegras eine Lamhöhe über die Oberfläche und färbte den Horizont und den ganzen Ozean zwischen sich und mir scharlachrot. Dieser dichte Bewuchs war einst eine Plage für Marine und Handel gewesen, er hatte die Durchfahrt blockiert und sich gelegentlich auch in die sorgfältigst konstruierten Schrauben verwickelt. Auch verbargen sich
in seinen Binsenfalten viele große und gefährliche Tiere, denen die alten, weniger schnellen Schiffe unmöglich ausweichen konnten. Vielleicht ist das allein der Grund, warum ich mir die Luftflotte ausgesucht hatte. Pure Feigheit, oder wenigstens die Chance auf einen schnellen, sauberen Tod in der Luft. Jetzt ist das überall vorhandene Unkraut natürlich ein Segen für unsere Marine, und das in mehr als einer Beziehung. Unsere mit Kohlen beheizten Schiffe fahren viel zu schnell, um sich von einem Seeungeheuer stören zu lassen, und die Sicheln an ihrem nach unten gezogenen Bug und die Trockengestelle weiter oben sichern einen reichlichen Vorrat an Brennstoff, falls die Kohle knapp werden sollte. So schnell fahren sie, daß die frischgeschnittenen Pflanzen innerhalb von Stunden zundertrocken sind. Seit der Erfindung der Luftschrauben, jener großen, vergitterten Ventilatoren, die oben am Heck moderner Kriegsschiffe und Frachter sitzen, braucht niemand mehr die schraubenverklumpenden Pflanzen zu fürchten, aber unsere modernen Schiffe sind so niedrig gebaut, daß sich ein Kriegsschiff, vorausgesetzt, der Treibstoff ist trocken genug, um eine minimale Rauchentwicklung sicherzustellen, in den mehrere Lamhöhen hohen Tiefseegräsern vor feindlicher Beobachtung verborgenhalten und erst im letzten, strategisch entscheidenden Augenblick auftauchen kann. Wißt ihr, ich habe die I. M. S. ›Homdu‹ selbst vorbeidampfen sehen, während ich dort war, ein mächtiges Kriegsschiff, größer als der Bahnhof der Nordhecke, mit drei großartigen, kraftvollen Propellern, einem auf dem Heck jedes Eisenrumpfes, und Kanonen so groß wie Eisenbahnmotoren. Habe ich gesagt, daß Segelschiffe etwas Romantisches an sich hätten? Nicht zu vergleichen mit dieser fortschrittlichen Entwicklung. Aber ich komme vom Thema ab. Wie gesagt, ich ging zum Mittelrumpf der ehrwürdigen ›Dobotpo‹ und von da unter Deck zum Krankenrevier, wo sich, wie ich hörte, ein gewisser Kapitän Zedmon Dakods Hedgyt lieber aufhielt als in der Unterkunft für ledige Offiziere an Land. Dieser Hedgyt war, laut Niitood, insbesondere für die Anwesenheit der Marineabordnung bei Srafens Vortrag verantwortlich, denn er war ein alter, alter Freund von
sihr, (ja, wenn du nachsiehst, ist die erste Ausgabe von ›Die Entstehung des Lamviin‹ ihm gewidmet), noch aus der Zeit als Mittschiffslam und Kauteriseur an Bord der legendären I. M. S. ›Dessmontevo‹. Die ›Dessmontevo‹ war, wie du dich erinnern wirst, ein leichter Kreuzer, dieser ›Dobotpo‹ ziemlich ähnlich; heutzutage kennen die Schulkinder ihren Namen noch aus einem anderen Band von Srafens Schriften, denn an Bord dieses Schiffes machte ser jene ersten Entdeckungen, die zur Theorie der Aszension führten. Ich gab mir Mühe, mich von der tonnenförmigen, kleinen ›Dobotpo‹ nicht beeinflussen zu lassen, denn ihr Schwesterschiff und der Professor waren beide miteinander jung gewesen, schnell und schnittig nach den Maßstäben jener Zeit, und durchaus fähig, dem Reich eine Welt (oder wenigstens den Teil davon, der noch nicht gewonnen war) zu erobern. Ich entdeckte Kapitän Hedgyt in einem zellenartigen Büro neben dem Operationsraum des Krankenreviers. »Guten Tag, Sir, ich bin Agot Edmoot Mav von den Kübelieren Ihrer Majestäten.« Der Bursche fuhr ein wenig zusammen, und ich merkte sofort, daß ich ihn aus dem Hann aufgeweckt hatte – oder etwas ähnlichem, denn neben einem seiner Ellbogen lag eine offensichtlich vielbenutzte Ladekiste. »Kübeliere? O ja, wegen meines armen, alten Srafen, nicht wahr? Ich habe alle Fragen schon an dem Abend beantwortet, als ser… als es passierte.« »Ich weiß es und erkenne es an, Sir«, sagte ich, »aber man hat mich dazu abgestellt, Srafens Mörder der Gerechtigkeit zu überantworten, und dazu brauche ich mehr Informationen, als ich damals bekommen konnte.« Der alte Knabe hatte anscheinend Mühe, mir zu folgen, aber im Laufe unseres Gesprächs machten sich seine Sinne immer deutlicher bemerkbar. Als er anfing, mir von sich und Srafen zu erzählen, merkte ich, wie tief ihn alles, was sich ereignet hatte, berührte. »Wissen Sie, ich war mit sihr an Bord der alten ›Dessmontevo‹ – ah,
damals warn wir noch wilde Lammies, der lebendige Schrecken der Marine Ihrer Majestäten! Wenn wir in einen Hafen kamen, die Einheimischen mochten grau, rot oder gelb sein wie wir, suchten wir uns als erstes eine bereitwillige Frauensperson – Professionelle oder begeisterte Amateurin – und gingen auf den Sand!« Es folgten viele zotige, aber irgendwie unschuldige und rührende Reminiszenzen an ihre gemeinsame Dienstzeit, vermischt mit gewalttätigen Abenteuern und der Wissenschaftsgeschichte, die wir ja alle kennen. »Ja, aber dieses Bildungserlebnis auf den Kood-Inseln ist nie in einen Bildband des alten Srafen gelangt, scheinheiliges Frannchen – nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich habe es wirklich nicht so gemeint, denn ser hat sich später dieser glücklichen Zeit niemals geschämt, und wir haben immer davon geklönt, wenn ich im Hafen war.« Ich fragte: »Sie haben Srafen also hin und wieder getroffen?« Er blinzelte und zuckte zustimmend. »Nicht, daß ich soviel Zeit gehabt hätte, inzwischen war ich ja ein vollbepelzter Schiffskauteriseur geworden. Zu viele endlos lange Reisen, zu viele blutige Kriege – und heimliche Unannehmlichkeiten, von denen die Öffentlichkeit manchmal nur wenig erfährt. Flagge zeigen.« Er sprach von mehreren Besuchen vor kurzer Zeit, ja sogar von einer kleineren Operation, die er in aller Stille an dem Philosophen vorgenommen hatte, um sihre Familie und Freunde nicht zu beunruhigen. »Und später, als ich ruhiger wurde, war es Srafen… der alte Srafen…« – er tätschelte die Ladekiste neben sich – »Srafen wurde so richtig aufgezogen, wenn man so sagen will. Weltberühmt ist ser jetzt – und… ja, ich spreche in der Gegenwart, denn sihre Arbeit hat sihr eine Art Unsterblichkeit eingebracht. Ich freue mich darüber, obwohl ich sien schmerzlich vermissen werde.« »Sie waren beide gleichzeitig Schiffskauteriseurstudenten, nicht wahr?« »Mitschiffslammies – ja, das waren wir, das waren wir wirklich. Waffengefährten – und oft auch Kistengefährten. Und wenn ich das bißchen Zeit, das mir noch blieb, darauf verwendete, um für die Medizin zu ochsen (denn ich war immer ein klein wenig langsamer als ser, Sie verstehen, aber wer war das, bei der salzigen Feuchtigkeit, in jenen
Tagen – oder auch heute – nicht?), ging ser bei jedem Anlegen an Land und sammelte sihre gottfeuchten Proben. Ich selbst habe sihr geholfen, sie zu konservieren und zu katalogisieren. Beim großen Pah im Himmel, wenn ich nur hätte sehen können, was ser sah, dann wäre ich jetzt ein berühmter Philosoph – anstatt ein müder, alter Rückenschildsäbler. Aber es macht mir nichts aus, wirklich überhaupt nichts. Ser hat verdient, was ser bekommen hat, und ich habe immer noch einige Chancen mit meinen Erfindungen.« »Ihre Erfindungen?« Heutzutage hält sich jeder für einen Erfinder, aber mein Interesse war aufrichtig, denn, wie ich wohl schon sagte, bin ich vom Fortschritt wirklich ehrlich begeistert. »Jawohl.« Er stand steif auf, schüttelte seine Glieder aus und ging immer gelenkiger werdend auf einen kleinen Lagerraum zwischen zwei massiven Balken an der Decke und dem hinteren Schott des Krankenreviers zu. Darin befand sich ein regelrechter Dschungel von Drähten und mechanischen Teilen. »Das ist meine ›verbesserte Drehkanone‹ – nicht sehr originell, aber eine Idee, die ich für im Grunde gesund halte.« Und das war sie auch, wie sich herausstellte, er hatte den Aufzugshebel eines gewöhnlichen, automatischen Drehgeschützes durch einen ziemlich großen Flaschenzug ersetzt und von da einen Gummiriemen zu einem kleinen Elektromotor geführt. »Welche Feuergeschwindigkeit können Sie erreichen?« Er blinzelte mich an, rechnete damit, daß ich ihm nicht glauben würde. »Ungefähr sechstausend pro Minute, theoretisch. Abzüglich der Zeit, die man braucht, um die Magazine auszuwechseln – und gelegentlich einen abgeschlagenen Bolzen oder ein kaputtes Gehäuse – vielleicht die Hälfte.« Ich war aufrichtig beeindruckt, sagte ihm das auch und fügte noch ein paar Worte bezüglich meiner eigenen Abenteuer mit einem solchen Geschütz hinzu. Er sagte mir, sein Erfinderclub – er lud mich ein, ihm beizutreten – habe ihn ermutigt. »Aber Sie kennen ja das Problem«, sagte er und deckte die Waffe wieder mit einer Plane zu. Er zeigte auf die Balken, wo zu meinem Erstaunen mehrere Öllaternen in Kardanringen hingen. »Die gott-
feuchte Marine hat noch nicht einmal von Elektrizität gehört! Ja, auf einem der neuen Dampfer könnten wir mit einem von den Motoren angetriebenen Dynamo ein Dutzend dieser Waffen anbringen und die Art von Feuerschutz aus geringer Entfernung erreichen, den die Artillerie nicht gibt und das Gewehrfeuer nicht liefern kann. Aber ich sitze hier fest, ein röchelnder Koloß von einem Lam auf einem röchelnden Koloß von einem Schiff. Und die Admiralität beantwortet nicht einmal meine Briefe.« Er tat mir leid, denn ich kannte die bewußt nach rückwärts gewandte Natur kaiserlicher Instituttonen nur zu gut, und daraufhin zeigte er mir noch einen von seinen Apparaten. Wie die Blitzpistole, die Niitood erfunden hatte, basierte er auf einer Ladekiste; nur war diese hier über einen mir unverständlichen Mechanismus mit einer Kupferspule verbunden und am anderen Ende befanden sich die Tastatur eines Eisenbahntelegraphen und die Hörmuschel eines Telefons. »Drahtlose Telegraphie!« rief er aus und fing an, mir das Funktionsprinzip zu beschreiben, das ich bis heute nicht ganz verstanden habe. Ich begriff jedoch, daß er mit diesem Gerät die Semaphore zu ersetzen beabsichtigte, mit denen die Marine immer noch arbeitet, und daß er damit die Reichweite der Verständigung allgemein vergrößern wollte. Er hoffte, eines Tages ein Gerät zu bauen, mit dem man die Stimmen der Lamviin übertragen konnte und sprach träumerisch von einer fernen Zukunft, in der auch Fotografien – sich bewegende Fotografien, mit denen man auch auf dem Kontinent Versuche anstellt – durch die Luft transportiert werden konnten. Wirklich, meine Lieben, wir leben in einem Zeitalter voll von Wundern durch die Hand der Lamn, und es ist ein Glück, in einer solchen Zeit zu leben, in der einfache Reporter, ältere Marineärzte und – in aller Bescheidenheit sei es gesagt – sogar Kübeliere wie ich selbst herumstümpern und vielleicht die Bedingungen verbessern können, unter denen unsere Mitlamviin existieren. Bedauerlicherweise verschmäht es unsere Admiralität, wie bei dem elektrischen Drehgeschütz, auch hier, nur das geringste Interesse für Hedgyts drahtlose Telegraphie zu bezeigen, und zwischen dem Kampf gegen diese Widerspenstigkeit und Srafens plötzlichem Tod verlor er
nun schnell selbst das Interesse am Leben. Ich fragte den alten Knaben, ob er je verheiratet gewesen sei, besonders mit Srafen. Als Antwort zog er seine ganz normale Ladekiste auf, denn wir waren inzwischen in sein kleines Büro zurückgekehrt. Er bot mir einen Schock an; ich dankte, sagte ihm aber, er solle sich nur bedienen. Als er seinen Schock genommen und sich wieder entspannt hatte, sagte er: »Ser wollte mich nicht – vielmehr wollte mich sihre Familie nicht, und so radikal ser in anderen Dingen auch gewesen sein mag, darin gehorchte ser – ich glaube, weil sien am Ende sihres Militärdienstes eine Professur erwartete.« Er dachte nach, zog die Kiste wieder auf und hatte ganz vergessen, daß er mir auch einen Schock angeboten hatte. Als der Magnetzünder aufhörte, sagte er: »Nicht, daß ich es sihr sehr übelgenommen hätte – es ist ein harter Kampf für einen Frann, und damals war es noch feucht viel schwieriger. Ser bekam, was ser brauchte, und ich wünschte sihr alles Gute. Wir waren danach immer dicke Freunde, und ich half gerne, wenn ich konnte.« Er zog die Kiste erneut auf und nahm noch einen Schock. »Jedenfalls hatte auch ich meine Karriere, wasch davon – was davon da war. Gottfeuchte Admiralität, gottfeuchter, oller, wurmzerfressener Sandkübel! ›Dobotpo‹, und ziemlich bald – paß auf, Sohn, es kommt schleichend, man merkt's kaum – gottfeuchter, alter Hedgyt!« Wieder nahm er Strom. »Na, auf dein Wohl, Srafen, verlorene Liebe. Dir ischtsch gut gegangen, und mir ischtsch auch gut gegangen, scho gut, wie esch eben ging. Keine Reue, nein… keine Reu…« Hedgyt glitt in elektrisch erzeugtem Hann von seinem Hocker. Ich streckte seine Glieder, so gut ich konnte, und ließ ihn mit seinen Erinnerungen allein. Ehe ich jedoch ging, zog ich seine Ladekiste auf und nahm auch einen Schock auf den Schatten des Professors, Pah segne sien! Ser war mir ein zweiter Beivater, mein geistiger Führer, und ich mochte Hedgyt, weil auch er sien geliebt hatte. Mav half Vyssu und mir, die Reste unserer Mahlzeit wegzuräumen und scharrte die Sanddecke glatt, aber er war still und nachdenklich dabei. Vielleicht war es die Szenerie oder das Gespräch, aber ich beobachtete
Vyssu und merkte, daß ich kleine, unbedeutende Dinge an ihr bewunderte – die anmutige Krümmung ihrer Handgelenke, als sie die Kaktusblüten aufhob, die sie in die Mitte des Tisches gelegt hatte, ihre tiefen, leuchtenden Augen, den humorvollen, intelligenten Ausdruck ihres Fells. Ich weiß noch, wie ich dachte, daß in dieser modernen Welt, die Mav so sehr liebte, vielleicht weniger Raum für Klassenunterschiede war als zur Zeit unserer Väter, und daß unsere Väter vielleicht sogar unrecht gehabt hatten. Nur weil meine Ahnen ihre Ahnen besiegt hatten… Dann fiel mir wieder ein, womit Vyssu sich beschäftigte, und meine Herzen scheuten wie ein erschrockenes Watu, mein Geist staunte, wie leicht sogar ein Fodduaner aus gutem Hause zu verführen ist, wie leicht er sich von einem hübschen Rückenschild und einem schimmernden Pelz ablenken läßt. Mymysiir Offe Woom, schalt eine Stimme in mir – der meiner Mutter nicht unähnlich –, was ist dir denn jetzt wieder eingefallen!
10. Kapitel Der Untersuchungsbereich wird kleiner Ich war überrascht, als ich erfuhr, daß Srafen am nördlichen Rand der Südhecke gewohnt hatte, eine recht angenehme Wohngegend, aber kaum, was man in Anbetracht sihres vergleichsweisen großen Reichtums und Ruhms erwartet hätte. Trotzdem paßte die Gegend genau zu sihrer Vergangenheit bei der Marine, da sie direkt oberhalb des Militärvororts Brassie lag, und sie paßte auch zu dem, was Mav mir von sihrer anspruchslosen Einstellung zum Leben alles erzählt hatte. Was mich vermutlich sogar noch mehr überraschte, war, daß sihre Frau und sihr Mann, die beiden Schurken, auch jetzt noch dort zu finden waren. Wegen der vielen, skandalösen Gerüchte über ihre voneinander unabhängigen… nun ja… Abenteuer kam es wenigstens mir irgendwie unanständig vor, daß sie noch keine passendere Vereinbarung getroffen hatten. Wie ich bei diesem Fall schnell herausfand, ist Anständigkeit ein wesentlich dehnbarerer Begriff als meine Eltern es mir beigebracht hatten. Als wir von unserem Picknick zurückkehrten, telefonierte Mav vom Kutschenhaus seiner Mutter aus. In ihrem Kaktusgarten fand irgendeine Feier statt; getragene Musik schwebte über die gepflegten Rasenflächen zu uns herüber, und er wollte die Festlichkeiten nicht stören, obwohl ich gerne die legendäre Dame von Dezer kennengelernt hätte. Jedenfalls kam eine Droschke, die uns zuerst zu Vyssus Haus brachte, wo sie ausstieg, um ihren üblichen, nachmittäglichen Beschäftigungen nachzugehen. Ich muß gestehen, daß meine Einstellung ihr gegenüber sich änderte, sei es nun zum Besseren oder zum Schlechteren, und zwar, höchst bemerkenswerterweise deshalb, weil ich sie jetzt schon zweimal beim Stricken erlebt hatte. Irgendwie stellt man sich Frauen mit schlechtem Ruf niemals strikkend vor, oder? Vom Kiiden aus durchquerten wir wieder die Stadt und kamen zur
Südhecke, es war eine schöne Fahrt durch abwechslungsreiche Gegenden, denn mein Freund hatte mittels eines zweiten, elektrischen Gesprächs eine Unterredung mit Srafens ehemaligen Partnern vereinbart. Zu meinem Bedauern schien das Ende einer zugegebenermaßen lang anhaltenden Schönwetterperiode gekommen zu sein. Die Arme Pahs schützen uns ziemlich gut vor vielem, was der Rommische Ozean zu bieten hat, aber die seltenen Südstürme können sie nicht von uns abhalten. Obwohl die Sonne immer noch schien, zeigte sich seewärts ein schmales, dunkles Purpurband, das wenigstens einen Tag der triefenden Unbeweglichkeit versprach, die eine Stadt wie Mathas lähmen kann. Ein- oder dreimal im Jahr steht aller Verkehr still; die Lamviin verstecken sich hinter mit Läden verschlossenen Fenstern und verriegelten Türen; offene Kamine erfüllen die Atmosphäre mit so viel Rauch, daß man kaum die gegenüberliegende Straßenseite erkennen kann. Ich erinnerte mich an einen solchen Sturm im Jahr zuvor, der die Stadt mit einer Sintflut von mindestens einer Fingerbreite abscheulicher Niederschläge überschüttet hatte, und das in einem Zeitraum von nur einer Woche. Es war eine Zeit, in der eingesperrte Kinder mürrisch wurden, ältere Leute sich über ihre schmerzenden Gelenke beklagten, Farmer und Gärtner sich sorgten, daß die Fäulnis in ihre Kakteen kriechen oder ihre Flechtenbeete wegspülen könnte. Mav und ich waren jedoch trotz der bevorstehenden, meteorologischen Misere sehr guter Laune, als wir vor der Wohnung des verstorbenen Professors vorfuhren, denn die kleinen Bleistifthäkchen auf seiner Liste verdächtigter Charaktere häuften sich ziemlich schnell, und der Detektiv war leidenschaftlich davon überzeugt, daß wir früher oder später unvermeidlich auf ein nervöses Individuum treffen würden, das seine Schuld deutlich zu erkennen gab, und dann würde die ganze Sache ordentlich zu Ende geführt werden. Das Srafen-Anwesen, wie die Hausbesitzer in dieser Gegend es gewöhnlich nannten, bestand aus einem ansehnlichen, dreistöckigen Haus, das mit mehreren Nebengebäuden auf einem Hügel mehrere Dutzend Lamhöhen von der Straße entfernt stand. In dieser Region von Mathas machten wir praktisch wieder einen kurzen Urlaub auf
dem Lande. Hinter der kunstvollen, schmiedeeisernen Umzäunung umgab ein hoher, dichter Hain von Skottii und Makrostibs die Gebäude und verbarg das Haus beinahe völlig vor flüchtigen Blicken, während sauber gepflegter Notok das Pflaster der Auffahrt säumte und, wo keine höheren Gewächse das Licht abhielten, dekorative Beete von gelbem und orangefarbenem Algensand dem düsteren Scharlachrot der hohen Kakteen freundliche Farbtupfer beimischten. Mav half mir aus der Droschke, bezahlte den Kutscher, und wir stiegen zur Veranda hinauf, wo ein männlicher Diener uns zum Eintreten aufforderte und uns unsere Oberkleider abnahm. »Der Herr wird Sie sofort empfangen«, teilte er uns nicht besonders begeistert mit, aber ein leicht höhnischer Ausdruck erschien in seinem Fell, der entweder gegen uns oder gegen seinen Arbeitgeber gerichtet war – ich wußte es nicht genau. Jedenfalls verschwanden Hohn und Diener sofort, und so schlug ich mir die Frage aus dem Sinn und versuchte mich zu erinnern, was ich von Srafens verschwenderischem Gatten erfahren hatte. Dabei sollte ich unterbrochen werden, obwohl kein Gatte oder ›Herr‹ uns begrüßte. Statt dessen fegte plötzlich eine teure, umfangreiche Ansammlung von Krepp, Seide und Satin nach der allerneuesten Mode und in den schicksten Schattierungen von Trauerblau um eine gewundene Marmortreppe, das Herzstück der Eingangshalle, herum und nach unten und gab sich als Liimeve Myssmo Law, die trauernde Witwe unseres verstorbenen Professors und Gattin desselben Law zu erkennen, mit dem wir, wie wir glaubten, gleich eine Unterredung haben sollten. »Sie dürfen dem lieben Lawsie wirklich nicht böse sein«, sprudelte sie heraus und führte uns in einen hübsch eingerichteten Salon neben dem Eingang. Bis auf schmale Gehwege zwischen den Möbeln war der farbige Sand in diesem Raum in okkulten Mustern aufgestreut und dann mit Harzen fixiert worden, um das esoterische Arrangement zu konservieren. Der unverkennbare Leimgeruch war noch frisch und verriet, daß diese Neuerung erst vor kurzem eingeführt worden war. »Er ist einfach zu sehr gebrochen über unseren Verlust, um irgend jemandem von Nutzen sein zu können. Vielleicht kann ich Ihnen ein wenig helfen?«
Diese letzte Äußerung wurde von einem lächelnden Kräuseln ihres Pelzes begleitet, das die Vorstellung, sie schlagen zu dürfen (ein Impuls, der so stark und wild war, daß es mich verblüffte), höchst verführerisch erscheinen ließ. Um Mavs beruflicher Absichten willen wie auch meiner eigenen Würde wegen beschloß ich jedoch, vornehm zu sein und mich in Geduld zu üben. Wenigstens solange sich keine weitergehende Provokation ergab. »Ja, das können Sie tatsächlich, Madame Law, denn wir hatten auch Ihnen einige Fragen zum Mord an Ihrem Beigatten stellen wollen. Darf ich meinen Partner Missur Mymysiir Offe Woom vorstellen, ich sehe, Ihr Butler hat meine Karte auf den Tisch gelegt.« Sie fuhr mit einer Hand über Mavs Karte, zuckte zurück, als sei sie ein giftiges, kleines Tier, und schickte sich dann wieder an, sie aufzuheben. »Bitte nehmen Sie doch Platz, ich werde nach Kood läuten. Sie sind also Agot Edmoot Mav von den Kübelieren Ihrer Majestäten? Wie sonderbar: Ich bin sicher, daß ich Ihren Namen schon früher gehört habe, Sir.« »Das schmeichelt mir.« Er setzte sich auf ein Kissen dicht neben ihr, während ich völlig damit zufrieden war, in beträchtlich größerer Entfernung Platz zu nehmen: »Ich war ein Schüler von Srafen, außerdem einer sihrer größten Bewunderer. Soviel ich weiß, waren auch Sie eine sihrer Studentinnen?« Ein ganz leichter Schauer der – was? Verlegenheit? – kroch über ihren stark verzierten Rückenschild, dann ging er in einem anscheinend gewohnheitsmäßig honigsüßen Ausdruck völlig unter. »Nun, das ist richtig, Sir, und ein wenig später assistierte ich dem armen, lieben Srafen in sihrem Labor und katalogisierte alle möglichen, abscheulichen, häßlichen, kriechenden Dinger in widerlichen, stinkenden Flüssigkeiten – und alle hatten sie so lange, verwirrende Namen. Dort an der Universität lernten wir beide Lawsie kennen, und er bot uns an, uns bei den Luftpumpen und all den anderen technischen Geräten zu helfen, ein Jahr danach heirateten wir dann.« Sie läutete endlich nach dem Kood, und ich war froh darüber, denn der Kood würde vielleicht den Geruch des sich setzenden Harzes zerstreuen, der in beinahe sichtbaren Miasmen vom Teppich aufstieg.
Es gab mehr als fünfzig scharfe Fragen, die ich ihr auf ihre letzte Aussage hin gerne gestellt hätte, hauptsächlich, warum im Namen alles Trockenen und Heiligen Srafen mit dieser schnatternden Idiotin jemals auch nur ein Wort gesprochen hatte. Aber Mav führte die Untersuchung, und so hielt ich widerwillig Frieden. Er sagte: »Ich verstehe, Madame. Wie lange kannten Sie also Professor Srafen alles in allem?« »Was für eine sonderbare Frage an eine Witwe.« Sie zupfte an den Schleifen und Rüschen ihrer Trauerkleidung herum. »Nun, lassen Sie mich nachdenken – ich glaube, von der ersten Vorlesung ab, die ich bei sihr besuchte, alles in allem acht oder neun Jahre. Warum fragen Sie mich eigentlich so etwas?« Wieder fuhr das so abstoßende Kräuseln durch ihr Fell. Und Mav zuckte darauf höflich beruhigend. Ich versuchte eine ähnliche Einstellung zu bewahren, trotz stärkster, gegenteiliger Versuchungen. »Ich möchte mich entschuldigen, meine Liebe, wenn ich Ihnen mit meinen Fragen irgendwie zu nahe treten sollte. Darf ich Sie Myssmo nennen? Vielleicht wirkt dann nicht alles gar so kalt und formell. Nun gut, mein Ziel ist herauszufinden, welche Person oder Personen Srafen aus dem Weg haben wollten. Da das das Thema meiner nächsten Frage sein sollte, würden Sie sie freundlicherweise schon als gestellt betrachten?« Krrr! Wie konnte er so… freundlich zu diesem abscheulichen Wesen sein? Sie machte eine, wie mir schien, unangemessen lange Pause – im Lichte meiner sich festigenden Meinung, so viele Gedanken hätte sie gar nicht durchzugehen. Vielleicht hatte sie einfach vergessen, wie Mavs Frage gelautet hatte. »Nun, ich kann mir um alles in der Welt überhaupt niemanden vorstellen, der das Bedürfnis haben könnte, dem armen, komischen, alten Schatz etwas zuleide zu tun. Srafen war so freundlich, geistesabwesend und bei – nun, einfach bei jedermann beliebt. Ich bin völlig ratlos, um die Wahrheit zu sagen.« Aber du verzehrst dich auch nicht gerade vor Kummer, dachte ich, und als ich mir ihre luxuriöse Umgebung ansah, verstand ich auch gut, warum. Überall war die Eleganz von – wie man annehmen mußte –
Srafens einfachem Geschmack mit einem Firnis von billigem – aber kostspieligem – Prunk überkleistert. Von der Decke hing eine raffinierte, pelzige Darstellung der Gemarterten Dreiheit, und überall gab es tausend kleine Fransenkugeln und Samtschnüre. Es juckte mich richtig, selbst ein paar ›frannliche kleine Fragen‹ zu stellen! Ein beimännlicher Dienstbote in raschelnder, steifer, anscheinend neu erworbener Livree brachte in einem kunstvollen Geschirr den Kood. »Sie kennen«, beharrte Mav, »niemanden, keinen Feind, der Srafen vielleicht Böses gewünscht haben könnte?« Er fragte sie außerdem, ob es ihr wohl etwas ausmache, wenn er sich sein Rohr richtete – eine Höflichkeit, die er mir noch nie bezeugt hatte. Ein winziges Flattern wohlberechneter Entrüstung und Besorgnis flitzte über die Oberfläche ihres Fells. »Nun, Mav, wenn ich mir erlauben darf, Sie so anzusprechen, ich bin überrascht! Finden Sie die unnatürliche Ausdünstung, die bei dieser Gewohnheit entsteht, nicht störend für Ihre psychische Aura? Außersinnliche Wahrnehmung ist etwas so Zartes, Zerbrechliches…« »Ich bitte demütigst um Verzeihung, Madame«, erwiderte er und steckte tatsächlich sein Rohr weg! Vielleicht hatte die tausendmal so starke Ausdünstung des Teppichs seine zarten, zerbrechlichen Empfindungen beeinträchtigt. »Soviel ich mitbekommen habe, waren Sie am Abend des Mordes selbst anwesend, nicht wahr?« Ein dramatisches Schaudern war die Antwort. »Ja, das ist richtig. Es war so schrecklich, nicht wahr? Der furchtbare Anblick, der Lärm…« Der in ihren Ohren, dachte ich, genau wie die Kasse eines Kaufmanns hätte klingen können. Ich fragte mich, ob irgend jemand jemals die Absicht hatte, den Kood anzuzünden, als mir einfiel, daß der Raum ja praktisch in Dämpfen schwamm und wir, wenn jemand das täte, weitere Explosionen erleben könnten, diesmal aus dem Inneren heraus. »Ja, wirklich«, erwiderte Mav. »Und haben Sie an diesem Abend nicht auch die religiösen Demonstranten auf der Straße gesehen? Halten Sie
es nicht für möglich, daß sie irgendwelche tödlichen Haßgefühle gegen Ihren Beigatten empfinden könnten?« »O je! Die hatte ich ganz vergessen. Es war noch dazu so wenig standesgemäßes Pack! Wenn der arme Srafen nur auf mich gehört hätte. Glauben Sie wirklich, daß diese Leute…« »Das wollen Missur Mymy und ich ja feststellen. Was meinen Sie damit, wenn Srafen nur auf Sie gehört hätte?« Sah ich da ein gereiztes Zucken um seine Nüstern, oder war es nur meine immer unzuverlässigere Sehkraft? Sie neigte ihren Rückenschild in einer, ihrer Meinung nach wohl dramatisch verschwörerischen Geste ein wenig nach vorne. »Nun, sehen Sie, ich ließ gerade am Tag zuvor eine Trilune für sien werfen – reiner Zufall, Sie verstehen – und Sie werden es nicht glauben, was für eine entsetzliche Warnung sich aus den Gleichungen ergab! Ja, die Trilune mahnte sien eindeutig, bestimmte Geschäfte für den Rest der Woche zu meiden, und zeigte, daß ein Konflikt bevorstand, der zu persönlichen Unannehmlichkeiten führen könnte! Ist das nicht richtig unheimlich? Und genau am gleichen Abend…« »Verzeihung, haben Sie diese… Information Srafen übermittelt?« »Aber ganz sicher, und wissen Sie denn, was ser mir sagte?« Es folgte eine lange Pause. »Ich kann es mir gut vorstellen; Srafens Ansichten über diese… Dinge waren mir recht vertraut. Ich möchte Sie noch fragen…« »Wissen Sie, mir ist gerade eine wirklich großartige Idee gekommen! Warum bitten wir nicht alle den hochgeschätzten Doktor Ensda, einen sehr großen Lam und meinen persönlichen, geistigen Ratgeber – ich bin sicher, Sie haben schon von ihm gehört – für Ihre Untersuchung eine Trilune zu werfen? Wir müßten natürlich genau den Augenblick wissen, in dem sie begann; ich bin sicher, er könnte uns sofort sagen, ob Sie Erfolg haben werden, und…« – hier neigte sich ihr Rückenschild noch weiter vor und ihre Stimme wurde so leise, daß ich sie kaum hören konnte – »und vielleicht könnte er sogar den Schuldigen aufspüren! Nun, was halten Sie davon?« Ich gestehe eine entfernte Möglichkeit zu, daß Mav vor Bewunde-
rung für Myssmos Vorschlag sprachlos war. Andererseits war er vielleicht einfach tief in Gedanken versunken und dachte darüber nach. Dritterseits war er eventuell, genau wie ich auch, damit beschäftigt, sich die Antwort zurechtzulegen, die dieser Vorschlag wirklich verdiente. Nach einer Weile sprach er wieder: »Meine Liebe, das ist wirklich eine Idee. Und ich werde sie, Ehre wem Ehre gebührt, dem guten Doktor selbst vorlegen, denn ich gedenke ihm noch heute nachmittag, gleich nachdem wir hier fertig sind, einen Besuch abzustatten. Was den genauen Augenblick angeht, zu dem meine Untersuchung begann, so waren Sie selbst in dem Moment anwesend, als Srafen starb – ich werde mich nicht eher zufrieden geben, als bis sihr Mörder zu einer Fingerbreite flachgedrückt zwischen zwei Granitblöcken liegt!« Bei dieser Erklärung drohte Myssmos geneigter Rückenschild zu einer Lawine zu werden, denn sie wurde allmählich ohnmächtig. »Entschuldigen Sie, Madame«, warf Mav schnell dazwischen, »ich sehe, daß ich Sie ganz außer Fassung gebracht habe. Vielleicht sollten wir uns jetzt besser verabschieden. Darf ich Ihr Telefon benützen, um eine Droschke zu rufen?« Irgendwie erholte sie sich wieder. »Aber Sie haben doch noch gar keinen Kood gehabt, mein lieber Untersuchungsbeauftragter. Lassen Sie mich doch jetzt den Docht anzünden, und dann erledige ich Ihr Telefongespräch für Sie. Wäre Ihnen das angenehm?« Wieder wünschte ich, man hätte mich vorher gefragt. Sie hielt ein Streichholz an den Docht und tapste dann mit affektierten Schrittchen zwischen den grellen, barbarischen Mustern des Teppichs hindurch in die Diele. Die Tür schloß sich nur zum Teil hinter ihr, und Mav hielt einen Finger an eine Nüster, um mich zum Schweigen zu veranlassen (als ob das an diesem Nachmittag schon einmal nötig gewesen wäre!), auf seinem Pelz war deutlich die Aufforderung zu höchster Vorsicht zu lesen. Dann machte er mir ein Zeichen, ihm zu folgen und ging auf Fingerspitzen in der gleichen Richtung durch den Raum, die Myssmo eingeschlagen hatte. Die Tür war, wie ich schon sagte, noch angelehnt, und wir spähten beide in die Diele, wo Myssmo selbst das Telefon in der Hand hielt. Es war uns natürlich unmöglich, zu verstehen, was sie sagte, denn
die Halle war groß und gut mit Teppichen ausgelegt. Außerdem schrie sie nicht gerade in den Apparat. Sie hielt die Sprechöffnung dicht an ihre Nüster, ihr Pelz war in, wie ich glaube, echter Angst gesträubt, und sie blickte wild um sich, als ob sie von einem riesigen Raubtier verfolgt würde. Sie stellte das Telefon kurz auf seinen kleinen Tisch zurück und bemühte sich um Ruhe, dann nahm sie es wieder auf und sprach in relativ normalem Tonfall mit jemandem in der Leitung. Als sie den Apparat wieder auf den Ständer legte, kehrten Mav und ich hastig an unseren ursprünglichen Standort zurück, und dort blieb mein Gefährte stehen, was ich als Hinweis auffaßte, meine Tasche aufzuheben. »Ihr Fahrzeug ist unterwegs, liebe Kübeliere«, trillerte sie fröhlich, als sie den Raum wieder betrat. »Ich wünschte wirklich, Sie würden Platz behalten, bis es kommt; vielleicht wären Sie interessiert, von einem höchst erstaunlichen Vorfall zu hören, der sich bei einer Séance ereignete, an der ich erst kürzlich an einem Abend teilnahm.« Mavs Fell war in höfliche Falten gelegt: »Ich möchte mich wirklich entschuldigen, Myssmo, und Ihnen aufrichtig für die Gastfreundschaft danken, die Sie uns bezeigt haben. Aber ich muß noch ein paar Worte mit meinem Partner sprechen, und wir brauchen beide frische Luft…« – hier zuckte er mir an einer Seite, die Myssmo nicht sehen konnte, mit dem Pelz zu, eine Fähigkeit, die ich mir auch gelegentlich mal aneignen muß –, »da wir den ganzen Vormittag in unseren Büros eingesperrt waren.« Er zeigte auf die dichter werdende Dunkelheit vor ihren Fenstern. »Ich fürchte, sehr viel mehr Zeit für frische Luft werden wir nicht mehr haben, denn am Horizont sind, wie Sie sehen, deutliche Anzeichen für Regen zu erkennen.« Ich äußerte zu Mavs höflichen Ausflüchten bezüglich unserer morgendlichen Aktivitäten nüchterne Bestätigung, denn im Augenblick ersehnte ich nichts mehr, als dieses verseuchte Zimmer zu verlassen. Mav dankte ihr noch einmal für Kood und Unterhaltung und schlug, als wir unsere Besitztümer zurückbekommen hatten, vor, wir könnten den Weg nach draußen alleine finden. Alles in allem dauerte dieser endgültige Abschied etwas länger, als ich mir gewünscht hätte, da wir noch mehrere Einladungen zu ver-
schiedenen Séancen, Eingeweideschauen und zum Werfen unserer Trilunen ablehnen mußten. Als es uns gelang, die Veranda zu erreichen, konnte man schon unsere Droschke die lange, kreisförmige Auffahrt heraufkommen sehen. Für den Augenblick waren wir allein. »Mymy«, erkundigte sich Mav, einen verständnislosen Ausdruck im Fell, »darf ich fragen, warum du mich bei Myssmos Befragung nicht mehr unterstützt hast? Gnädiger Pah, ich hätte deine Hilfe wirklich dringend…« Ich hatte gerade genügend Luft für eine angemessen entrüstete Antwort geholt, als… WAMM! Links von uns war ein Pistolenschuß zu hören. Das Watu des Droschkenkutschers scheute, stieg hoch und drohte das Gefährt umzustürzen. Mav zog schnell seine Kolbenpistole. Ich tastete mich nach Schußwunden ab. Als ich keine entdeckte, durchsuchte ich als nächstes meine Tasche nach der kleinen Pistole und folgte Mav, obwohl ich mir dabei ziemlich albern und melodramatisch vorkam, um die Ecke des Gebäudes. Dort weiter hinten, an einem Kiesweg, lag eine Reihe von Watuställen, ungefähr wie die, in denen Mav seine eigenen Reittiere untergebracht hatte, aber bei diesen hier war zu sehen, daß sie seit relativ kurzer Zeit nicht mehr benützt wurden. Vor der nächstgelegenen Box schüttete ein aristokratisch aussehender Bursche in schmutziger Arbeitskleidung, die nicht zu ihm paßte, in verzweifelter Hast Sand in einen komplizierten Apparat mit Rädern, von dem eine beträchtliche Menge schwarzer Rauch aufstieg. Mav steckte seine Pistole ein. »Mymy, sei doch so gut und bitte die Droschke, auf uns zu warten. Hier hast du eine Nickelkrone, das müßte den Kutscher festhalten.« Ja, und mich auch, wenn nicht die Wolken gewesen wären, die sich über uns zusammenballten. Ich folgte jedoch seinen Anweisungen und hoffte, der Bursche würde nicht uns für die Explosion verantwortlich machen, dann kehrte ich rechtzeitig an die Seite meines Gefährten zurück, um zu hören, wie sich die beiden gegenseitig vorstellten.
»So, Sie sind also Captain Mav!« Die Karte in der Hand des Fremden trug jetzt einen fettigen Fingerabdruck. »Srafen hat ziemlich oft voll Zuneigung von Ihnen gesprochen, Sir. Ich bin Tobymme Toodhagomm Law. Großartig, daß ich Sie nun endlich kennenlerne, alter Lam!« Er streckte eine geschwärzte Hand aus, zog sie zurück und wischte sie mit einem genauso unansehnlichen Tuch ab, dann reichte er sie Mav wieder. »Guten Tag, Sir«, sagte Mav, »und das hier ist mein Partner Missur Mymy. Mymy, das ist Srafens Gatte. Ist das ein neuer Dampfwagen, an dem Sie da gerade arbeiten?« Ich hatte Tausende von seiner Sorte kennengelernt, während ich heranwuchs, gewöhnlich da, wo sich die müßigen Reichen versammelten, um in kleinen Wagen herumzuflitzen und mit Hämmern einen Lederball zu verfolgen. Es war einer der Hauptgründe, warum ich den Wunsch nach einer nützlichen Beschäftigung hatte. »Nicht ganz«, antwortete der junge Law, »obwohl ich damit angefangen hatte. Das ist eine Erfindung von mir, eine Idee, die mir eines Nachmittags beim Krabbenschießen draußen im Neth auf dem Grundstück eines Freundes kam. Wissen Sie, er hatte diese großartige, neue Kolbenschrotflinte vom Kontinent – dreiläufig, wenn ich mich recht erinnere – und mir fiel ein, man könnte einen Motor nach dem gleichen Prinzip verändern, nach dem so eine Flinte funktioniert, wobei man ein- und dieselbe Verbrennungssubstanz sowohl als Treibstoff wie als Expansionsmedium verwendet, das den Rotor dreht, anstatt erst etwas zu verbrennen, um Wasser zu erhitzen und damit Dampf zu erzeugen.« Zum zweitenmal an diesem Tag glaubte ich Zeuge geworden zu sein, daß Mav völlig sprachlos war. »Eine großartige Idee, Law, eine großartige Idee!« Er zog wieder seine Waffe und zeigte sie dem jungen Erfinder – aber ich bemerkte, daß er nicht so weit ging, sie dem Burschen in die Hand zu geben. »Aber sagen Sie, ist Ihnen dabei nicht aufgefallen, daß es weniger wirkungsvoll ist, eine herkömmliche, dreilappige Dampfmaschine nach dem Rotationsprinzip zu verändern, als gleich dem natürlichen Plan eines Gewehrs zu folgen?« Law zeigte sich verwirrt.
Mav kratzte den Sand weg, der in den Motor geschüttet worden war. »Sehen Sie, hier, stellen Sie sich anstelle dieses trochoidalen Rotors eine Art gefangener Kugel vor, die den Lauf nicht verlassen kann und an einer Kurbelwelle befestigt ist, die die Räder treiben würde. Eine Kolbenmaschine, wäre das nicht etwas? Was würde man da wohl als Treibstoff verwenden?« Law zeigte auf einen Haufen herumliegender Geräte, die am Schuppen lehnten. »Ich habe mit Schießpulver angefangen. Sehen Sie, da sind die Fülltrichter und Meßgeräte, die sich als hoffnungslos kompliziert und ziemlich gefährlich erwiesen haben. Kollegen im Club – Sie sollten beitreten, wissen Sie? – haben mir das schließlich ausgeredet. Bald danach bin ich auf gewöhnliche Inhalierflüssigkeit gestoßen, wie Sie sie in Ihrem Rohr da verwenden.« Ich dachte mir doch, daß ich den widerlichen Duft kannte, und klopfte mit mehreren Gehfingern tadelnd auf den Weg. »Ich finde, das ist eine ziemlich ungesunde Erfindung. Können Sie sich eine ganze Stadt voll von diesen Geräten vorstellen, die die Luft mit Rauch und unverbrannten Dämpfen erfüllen? Ich glaube, da ist mir Vyssus Dampfwagen lieber.« Mavs hinteres Auge leuchtete auf. »Ach, da bist du ja, Mymy, wo warst du denn die ganze Zeit?« Er marschierte ziemlich dramatisch um Laws technische Konstruktion herum und stocherte in den verworfenen Explosionsmechanismus hinein. »Wirklich genial! Ich habe Law gerade einige Fragen über sein… wie nennen Sie es, Sir?« »Einen Innenverbrennungsmotor«, erwiderte er, das Fell ganz flaumig vor Stolz. »Und das ist auch noch eine großartige Bezeichnung! Ich werde die Entwicklung mit großem Interesse verfolgen und bedaure sehr, daß wir uns nun verabschieden müssen. Ich werde es mir wirklich überlegen, Ihrem Erfinderclub beizutreten. Unser Droschkenkutscher wird auf seine Fahrgäste warten, und es sieht so aus, als ginge es uns an den Kragen – was das Wetter betrifft. Ich werde wiederkommen, alter Junge, Sie können sich darauf verlassen. Ich kann es wirklich kaum erwarten, Ihren Motor laufen zu sehen!« Damit nahm er meinen Arm und eilte schon auf die Droschke zu.
»Mein lieber Ermittlungsbeauftragter, hast du den Verstand verloren? Erst schmeichelst du diesem abscheulichen Weib, dann spielst du mit dieser widerlichen Maschine herum und vergißt anscheinend, daß unsere Droschke schon…« Er runzelte das Fell in säuerlicher Belustigung. »Mymy, ich gebe dir ja recht, jede Zivilisation, die ein solches Gerät der sollen wir es Außenverbrennung nennen? – vorziehen sollte, müßte ziemlich verrückt sein. Und ich habe auch nicht völlig den Verstand verloren. Ich glaube nur, daß sich gerade etwas höchst Wichtiges ereignet hat und weiß noch nicht, was ich damit anfangen soll.« »Wenn man fragen dürfte…?« »Das darf man tatsächlich, mein Lieber. Als ich bei der Luftflotte war, kannte ich einen älteren Matrosen, der zufällig seine Hand zwischen zwei Spanndrähte brachte, als die Hülle aufgeblasen wurde. Sie strafften sich, und das Glied wurde leider völlig abgetrennt.« Ich blieb ein Dutzend Schritte von der Droschke entfernt stehen. »Agot Edmoot Mav, was hat das nun wieder mit… mit irgend etwas unter Pahs immer drohender aussehenden Himmeln zu tun?« »Nun, siehst du, alter Junge, der Militärdienst des alten Knaben war beinahe abgelaufen, und nach einer besonders grausamen Laune des Marinegesetzes hätte seine Verstümmelung – und er war in einem Alter, in dem eine schnelle Regeneration ausgeschlossen war – zu seiner vorzeitigen Entlassung geführt und ihn für den Rest des Lebens zum Bettler gemacht. Er flehte mich an, den Unfall nicht zu melden, und ich tat noch mehr: Ich half ihm, die Verletzung zu verbergen. Er ertrug sie mit bewundernswerter Tapferkeit noch weitere sechs Monate und zog sich dann mit einem bescheidenen, aber völlig ehrenhaften Einkommen in den Ruhestand zurück.« »Bitte antworte direkt auf meine Frage, Mav, ehe ich Verwendung für die kleine Pistole in meiner Tasche finde!« »Mymy, vielleicht ist es am klügsten, wenn wir zum Bezirksgebäude zurückkehren und einen Haftbefehl aufsetzen. Du wirst dich an die abgetrennte Hand erinnern, die du außerdem noch in deiner Tasche hast?«
»Nein! Sie ist jetzt im Büro meines Beivaters in Eis gepackt!« Er half mir in die Droschke. »Wie auch immer. Wenn du jedenfalls besser aufgepaßt hättest – und weniger ungeduldig gewesen wärst, nach Hause vor deinen Kamin zu kommen, wie ich wetten möchte – hättest du gesehen, daß unser neuer Freund Law einen leeren Gehhandschuh an seiner gegenwärtig hintersten, rechten Gehhand trägt, genau wie mein Seemann es tun mußte. Und ich glaube, in gewissem Sinne bist du derjenige, der ihm diesen Handschuh verpaßt hat.« Als wir das Tor des verstorbenen Professors verließen, zuckte ein Blitz hernieder, es donnerte, und der Regen begann zu fallen.
11. Kapitel Auf der Bürgerbrücke Natürlich war es der Regen, der unsere nächsten Schritte bestimmte. Er stellte sich als wirklich heftiger Guß heraus; ein tatsächlich sichtbarer, feuchter Schimmer glänzte auf der Straße, als unser Fahrer, plötzlich nicht mehr an seinem Auftrag interessiert, das Fahrzeug wendete und auf einen der Unterstände zuraste, die Ihre Majestäten in Abständen überall in der Stadt zur Verfügung stellen, denn er wünschte für sein Watu und sich selbst die gleiche Wärme und Trockenheit, die wir, so nahm er an, nicht weniger ersehnten als er. Daher wurden wir irgendwo am nördlichen Rand des Geschäftszentrums langsamer und rollten unter das breite, hohe Dach eines scheunenähnlichen Bauwerks, wo in gewöhnlichen Zeiten täglich ein Pfennigmarkt mit Ständen und Handkarren abgehalten wurde. Typischerweise hatte mein Begleiter jedoch ganz andere Pläne. Als unser Gefährt sich in eine enge Lücke zwischen ein Dutzend andere Miet- und Privatkutschen drängte, mitten im Durcheinander von vielleicht hundert höchst verärgerten Handkarrenunternehmern, zog Mav seine Kolbenpistole und klopfte mit ihrem Pereledergriff an das Dach des Wagens. In der Feuchtigkeit gab das einen dumpfen, Bedrückenden Ton. »Hallo, mein Bester!« Mav klopfte erneut, diesmal kräftiger. »Kutscher, können Sie mich hören?« Ein kleines dreieckiges Schiebefenster glitt zur Seite, ein pelzgerändertes, unglückliches Auge wurde in der entstehenden Öffnung sichtbar. »Also, Euer Exzellenz, bitte lenken Sie mich nicht ab, Sie sehen doch, ich bin hier in eine KATASTROPHENSITUATION geraten, mit der ich fertig werden muß.« Der Geruch nach billiger Inhalierflüssigkeit zeigte das Ausmaß seiner Bemühungen an, aber die Großbuchstaben in seiner Rede waren höchst sorgfältig gesetzt und wohlüberlegt: An der Innenwand der Kutsche war deutlich sichtbar ein offiziel-
les Schild angebracht und verkündete die Vorschrift, daß in einer derartigen KATASTROPHENSITUATION der Droschkenkutscher berechtigt sei, sich zu verspäten oder sogar Fahrgäste zu entlassen, je nachdem, wie es für die ›Sicherheit und Bequemlichkeit‹ (des Kutschers) erforderlich war. Und ganz ohne die unerfreuliche Formalität einer Entlohnung. Mav zog selbst sein Inhalierrohr heraus und beschäftigte sich damit, es herzurichten, dabei ließ er unseren Kutscher die ganze Zeit über nicht aus dem Auge, sprach aber kein Wort. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« erkundigte sich der unverschämte Bursche schließlich. »Jawohl, mein Lieber, aber vielleicht sind Sie damit nicht einverstanden, wenn Sie hören, was es ist.« Er tat mit einem Ausdruck gemäßigter Belustigung über die Unverschämtheit des Kutschers einen tiefen Zug an seinem Rohr. »Und was woll'n Se damit sagen, wenn man fragen darf?« Gier und Starrköpfigkeit kämpften im Pelz des Burschen miteinander. »Ich meine, falls Sie einverstanden wären, auf das Recht zu verzichten, das Ihnen diese Vorschrift einräumt…« – hier deutete Mav auf das Schild – »und wieder auf die Straße zurückfahren – lassen Sie mich ausreden, sage ich! –, würde ich persönlich dafür sorgen, daß Sie schnell wieder warm und trocken sind, Ihr Tier abgerieben wird und daß Sie beide eine warme Mahlzeit bekommen… und genügend Entschädigung, um alle beide für den Rest der Woche Ferien zu machen.« Hier endlich ließ Mav zwischen seinen Fingern einen Silberschimmer sehen; er schien, nach dem Ausdruck des Droschkenlams zu urteilen, den düsteren Tag für diesen Ehrenwerten sehr viel heller zu machen. Mav gab die Adresse des Anwesens seiner Mutter an. Unvermittelt glitt die kleine Tür zu, einen Augenblick später schien der Unterstand herumzuwirbeln, und wir wurden beinahe zwischen die Sitze geschleudert. Der beklemmende Geruch von Regen drang von neuem in unser Bewußtsein, und das Watu rannte so schnell und geradewegs, wie es in der Stadt nur möglich ist, direkt zur Ober(st)en Hekke.
Das Heim der Mutter meines Gefährten war ähnlich wie das von Srafen, ein großes Haus mit einer unbestimmten Anzahl von Nebengebäuden, makellos sauber und ordentlich, umgeben von weiten, gepflegten Anlagen; ein Hauch oder Akzent von Fremdartigkeit, schwer irgendwo direkt festzumachen, verlieh dem Besitz eine Geschlossenheit und einen Stil, der ihm sonst vielleicht gefehlt hätte. Mavs Mutter empfing uns in der Watuscheune, sie war telefonisch von, einem Pächter am Pförtnerhaus benachrichtigt worden und ordnete auf Drängen ihres Sohnes an, daß der Droschkenlam und sein Tier versorgt wurden. Sie bestand auch darauf, daß wir eine Mahlzeit zu uns nahmen, und blieb entschieden vor ihrem Sohn und mir stehen, bis sie sich überzeugt hatte, daß wir beide wirklich bereit waren, das, was sie uns vorgesetzt hatte, auch aufzuessen. Ich glaube, in dieser Hinsicht sind alle Mütter gleich. Aber ein oder drei Worte über dieses sanfte, intelligente Geschöpf, Ynyn Sathemoa Mav, die Mutter meines Freundes, Frau eines Soldaten und, nun ja, vielleicht eines Poeten, die auf eigenen, liebevollen Entschluß hin im Exil lebte: Sathe, wie sie von mir genannt werden wollte (und tatsächlich sprachen auch ihre Diener sie so an), muß in ihrer Jugend von seltener und exotischer Schönheit gewesen sein. Sie war viel kleiner als die fodduanischen Frauen und benahm sich weder geziert (wie es viele kleine Frauen tun) noch schüchtern; ihr Pelz war trotz ihres Alters dicht und von rostkastanienbrauner Farbe, dunkler als bei unserer Rasse, wenn auch bei weitem heller als die von engstirnigen Geistern verfertigten Karikaturen ihrer Landslamn, die häufig in den minderwertigeren Veröffentlichungen von Mathas erscheinen. Neben ihrer aristokratischen Haltung hätte der vornehmste Fodduaner wie ein schwerfälliger Bauer gewirkt. Ihre Anmut hatte sich im Lauf der Jahre graziös in herzliche Würde verwandelt, was jedem, mit dem sie in Berührung kam, sei es ein kleiner Droschkenkutscher oder eine Beitochter aus gutem Hause, irgendwie ein Hochgefühl vermittelte. Selbst hier, im Kot und in der Feuchtigkeit des Stalles schien sie den Raum auf seltsame, wunderbare
Weise zu erleuchten. Jeder von uns fühlte sich wärmer und sogar sicherer, bloß (wenn man dieses Wort verwenden kann) durch ihre Gegenwart. Nachdem wir unser einfaches Mahl verzehrt hatten, verschwand Mav für kurze Zeit in einer fernen Ecke des Gebäudes und kehrte bald darauf mit einem riesigen Ballen seltsamen Stoffes in den Armen zurück. »Nun, Mymy, hier haben wir den Grund, warum ich trotz allen Regens darauf bestanden habe, hierher zu kommen: Meine neueste Erfindung, und nie wurde etwas dringender benötigt!« »Wovon du auch sprichst, mein lieber Ermittlungsbeauftragter, ich sehe hier nichts als Lamhöhen von höchst unbequem aussehender Meterware. Was soll das für eine Erfindung sein?« Mav wandte sich, ohne auf meine Frage zu achten, seiner Mutter zu. »Hier ist eines für dich, meine Liebe, damit du ins Haus zurückkehren kannst, ohne feucht zu werden. Gib gut darauf acht, denn bisher existieren nur ein Dutzend davon. Ich hatte vorgehabt, mit Tis darüber zu sprechen, ob man sie nicht für die Kübeliere anschaffen sollte, besonders in Verbindung mit der neuen, flüssigen Methode zum Feuerlöschen. Aber dann kam dieser verfluchte Mord, kurz nachdem ich sie zur Vorführung fertiggestellt hatte, und…« »Mav!« unterbrach ich ungeduldig. Ein kurzes Zucken belustigter Gereiztheit ging durch Sathes Fell. »Würdest du mir bitte sagen, wovon du eigentlich sprichst?« Sein frisch getrocknetes Fell runzelte sich entzückt. »Sei so freundlich und rede nicht so mit älteren Leuten, Mymy, besonders wenn es sich um seltene, geniale Neuerer handelt. Was du vor dir siehst, ist das letzte Wunderwerk eines wunderbaren Zeitalters – der wetterfeste Umhang! Du weißt zweifellos, daß der Saft bestimmter Kakteenarten zu einer Substanz destilliert werden kann, die man für Flaschenverschlüsse verwendet, und…« »Und dafür, Fehler der Schreibkunst auszulöschen, wenn ich mich recht erinnere. Was hat das mit…« »Schon wieder unterbrichst zu mich! Diese Substanz kann auch zu einem flachen Blatt gepreßt und durch mäßigen Einsatz von Hitze an gewöhnlichen Stoff gebunden werden. In diesem Zustand wird sie
ganz feuchtigkeitsfest und ermöglicht es dem Träger, sich in jedem Wetter zu bewegen, das man sich nur vorstellen kann. Ich habe mir in letzter Zeit tatsächlich überlegt, daß ein völlig dichtes Gewand – mit einem Vorrat an Luft – es einem Seelam gestatten könnte, unter Wasser zu gehen, was vielleicht unerwartet notwendig werden mag, um den Boden eines Schiffes zu reparieren oder einen Gegenstand wiederzubeschaffen, der über Bord gefallen ist.« »Mav, du unverbesserlicher Träumer! Wer könnte wohl den Wunsch haben, so etwas Phantastisches…« Hier unterbrach ich mich, denn ich bemerkte plötzlich, wie sehr ich mich anhörte wie Tis. Auch Mav zögerte, in seiner Haltung war plötzlich eine beinahe schüchterne Komponente zu erkennen. »Nun, zum Beispiel ich vielleicht! Ähem! Inzwischen wollen wir, mit deiner gütigen Mithilfe, Mymy, meiner Mutter vorführen, wie man dieses Kleidungsstück anzieht und trägt. So ist es richtig, rück die Augenlöcher so zurecht, daß du sehen kannst… Wenn du gestattest, werde ich jetzt diese Bänder um deine oberen… vielleicht machst du das auch besser selbst.« Sathe sah diesen Vorgängen belustigt und interessiert zu, dann begann sie, Mavs Anweisungen zu folgen. An diesem Punkt blickte der Droschkenlam von seiner dritten Portion Höhlentierbraten auf. »Verstehe, Chef! Tja, damit könnte ich mit meinem Gespann praktisch überallhin fahren, zu jeder Zeit – und wäre immer vor den anderen Jungs da! Wieviel von dem Silber hier wollen Sie für einen von den Umhängen?« »Für einen so mutigen und klugen Burschen wie Sie?« Mavs Fell kräuselte sich richtig vor Stolz und Entzücken. »Alle Achtung, bitte nehmen Sie den hier! Hmm… ich überlege gerade, ob auf dem hinteren Regal nicht noch Stoff liegt.« Unvermittelt schlenderte er wieder davon und ließ mich stehen, ich kam mir lächerlicherweise vor wie ein Nomadenzelt. Sathe runzelte schweigend zum Abschied das Fell und verließ den Stall. Andererseits sah ich, als alles befestigt war (eine Aufgabe, zu der, glaube ich, eigentlich die Hilfe von mindestens drei Kammerdienern nötig gewesen wäre) allmählich ein, daß die Erfindung meines Freundes tatsächlich von einigem Nutzen sein konnte – bei den ein oder
zwei Gelegenheiten im Jahr, wenn es regnete. Ich fragte mich, warum der Gedanke nicht auch dem Fahrer gekommen war, dann fiel mir ein, daß er ja ein Mann war und wie sie alle zu jeder Zeit in jedes Apparätchen verliebt, ganz gleich, ob es praktisch verwendbar war oder nicht. Als Mav schließlich zurückkehrte, brachte er einen Ballen seines wasserdichten Stoffes, eine sehr große Schere und ein seltsames Werkzeug mit, das, wie er uns sofort mitteilte, dafür geeignet war, ›Ösen‹ zu setzen, was immer das sein mochte. Er legte das Tuch neben das ruhende Watu des Droschkenlams auf den Boden, machte ein paar schnelle, gleitende Schnitte, die dem besten Schneider der Stadt zur Ehre gereicht hätten, und begann dann, den Stoff in eine seltsame Form zu falten und zu befestigen. »Nun, mein Lieber, wenn Sie so freundlich wären, Ihr Tier zu halten, könnte ich ihm, glaube ich, denselben Schutz bieten, den Sie fürderhin bei rauhem Wetter genießen werden. Achten Sie auf die Kiefer! Festhalten – das war's!« Gemeinsam steckten sie unter viel Scheuen und Hüpfen von Seiten des Tieres das verängstigte Geschöpf in die Falten des Materials, und Mav nietete Bindebänder an geeignete Stellen, so daß das neue Kleidungsstück, im wesentlichen nichts anderes als die unseren, nur umfangreicher, nicht herunterrutschen konnte, wenn das Tier sich bewegte. Er hatte Rücksicht auf die seltsame, im Grunde viereckige Gestalt des Watu genommen, und es fand sich bald damit ab, den Umhang zu tragen und machte sich sogar wieder daran, sein Futter mit einer Klaue aufzunehmen und es durch eine schlitzförmige Öffnung, die Mav aufmerksamerweise vorgesehen hatte, in sich hineinzustopfen. »Phantastisch!« rief mein Gefährte. »Bitte sagen Sie mir, wenn Sie auf irgendwelche Schwierigkeiten stoßen, damit ich in Zukunft Verbesserungen vorsehen kann. Unsere neue Methode der Feuerbekämpfung ängstigt und gefährdet die Tiere der Abteilung in gleichem Maße wie unsere tapferen Kübeliere. Und dabei fällt mir ein…« Er ging durch den Stall auf eine Holzkiste zu, die an einem der Dachpfeiler hing. In ihrem Innern wurde ein Telefon sichtbar, dieses Gerät aktivierte er und verlangte von der Vermittlung eine Nummer, die ich nur zu gut kannte.
»Vyssu? Hoffentlich bereite ich dir keine Unannehmlichkeiten, denn ich möchte dich um einen ziemlich ungewöhnlichen Gefallen bitten. Ja doch, mir geht es gut… ja, Mymy auch, er ist bei mir, während ich mit dir spreche – Vyssu läßt dich grüßen, Mymy. Ja doch, natürlich, Mymy läßt auch grüßen.« Das hatte ich nicht getan. »Ach ja, Vyssu, wegen des Gefallens. Könntest du mir sofort deine Dampfkutsche herschicken? Es ist höchst wich… – was? Natürlich weiß ich, daß es regnet! Deswegen rufe ich dich ja an, denn ich weiß, daß deine Kutsche ziemlich wetterfest ist und… Natürlich, hätte ich dich sonst angerufen…? Also dann, vielen Dank, meine Liebe, ich bin bei meiner Mutter in der Obersten, in der Watuscheune, wenn du mir das glaubst. Ich habe ein kleines Geschenk für dich und ein großes Trinkgeld für Fatpa – und auch ein oder zwei anständige Schocks, falls er die nach einem derart qualvollen Erlebnis wie einer Fahrt im Regen brauchen sollte. Schließlich war der arme Kerl früher nur ein ängstlicher Straßenräuber und… Oh – na gut, ebenfalls, und vielen Dank:« »Mav?« fragte ich und meine Stimme klang seltsam unter dem erstikkenden Umhang. »Du hast doch wohl nicht die Absicht…? Gnädige Dreiheit, ich sehe, du hast sie doch! Und ich soll vermutlich mit? Na, das war ja nicht anders zu erwarten. Dafür haben wir diese Regenumhänge, nicht wahr?« Er stand vor mir und betrachtete mich einigermaßen belustigt. »Lieber Mymy, wir haben zu tun, und von einem bißchen Feuchtigkeit darf sich doch ein Kübelier nicht abschrecken lassen, oder?« »Und warum eigentlich nicht?« konterte ich, aber es war vergebens, das wußte ich. Das Unternehmen von Doktor Zanyw N'botpemy Ensda lag in einem angemessen berüchtigten Teil der Stadt, umgeben von anderen, die mit Heilkräutern, Glücksbringern und tausend anderen Arten von schlechtem Rat handelten und in direkter Konkurrenz zu dem standen, den der gute Doktor selbst gab. Seine ›Amtsräume‹, die so aussahen, als seien sie einmal ein Gemüse-
laden gewesen, gingen auf eine schmutzige Straße hinaus; zwei große, ziemlich unsaubere, dreieckige Glasfenster (eines davon hatte seit langem einen Sprung und war flüchtig mit Klebeband repariert) waren fast bis zur Undurchsichtigkeit mit Symbolen bemalt, die eine leicht beeinflußbare und abergläubische Kundschaft aus den unteren Schichten beeindrucken konnten. Die Tür war fest verriegelt und das Haus von innen unbeleuchtet. Mav sah albern aus, wie er so in seine eigene Erfindung eingemummt aus der Kutsche stieg und darauf bestand, daß ich ihn begleitete. Obwohl auch ich einen Regenumhang hatte, bedauerte ich, daß ich nicht ein halbes Dutzend festere Gehhandschuhe angezogen hatte. Vyssu – denn, jawohl, sie hatte ihren Wagen zum Haus seiner Mutter gefahren und ihren Banditenfreund zweifellos vor seinem warmen Feuer zurückgelassen – blieb warm und trocken im Wageninneren sitzen. »Seltsam!« bemerkte der Untersuchende mehr zu sich selbst als zu mir. »Das müßte doch ungefähr die Zeit sein, zu der Ensda seine tägliche Arbeit beginnt; Leute von seiner Sorte wirken immer am besten im Zwielicht. Aber es regnet schließlich, und… Hallo, was ist das denn?« Er rüttelte am Türriegel, der von einem stabilen Vorhängeschloß gehalten wurde, welches, wie ich für die Akten feststellen will, hell lackiert und ziemlich neu war. »Dieses uralte, abgenützte Ding ist im Regen anscheinend fast zusammengerostet, nicht wahr?« »Mav, was machst du da? Ist dir klar, daß du gerade einen Ein…« SCHNAPP! Das Schließband drehte sich von der Tür weg, mit nicht geringer Unterstützung durch Mav, der einen seiner verfluchten Federbogenbolzen dahintergesteckt und es weggehebelt hatte. »… bruch begehst? Was du tust, ist illegal und unmoralisch, ein unerträgliches Verhalten für einen Kübe…« »Halt mal einen Augenblick den Mund, Mymy, und sei so freundlich, hier auf mich zu warten, für den Fall, daß jemand kommt! Es wird, glaube ich, auf keinen Fall der gute Doktor sein. Halte deine Abzeichen für den Fall bereit, daß es jemand von unseren Leuten ist, ja?« Mit diesen Worten trat er durch die Tür, die er aufgebrochen hatte, und verschwand im düsteren Inneren des Hauses. Wie war ich innerhalb so kurzer Zeit so tief gesunken? Aus dem
Schoß einer hochgeachteten, vornehmen Familie zum gewöhnlichen Einbrecher? Oder wenigstens zum Schmieresteher für einen Einbrecher. Soviel zum Dienst für Krone und Vaterland: Er scheint einen kaum merklichen, verderblichen Einfluß zu haben, ganz gleich, wie ernsthaft man dagegen ankämpft. Eine flüchtige Dampfschwade stieg von Vyssus Kutsche auf. Auch sie verhielt sich wie der Prototyp eines Verbrechers, indem sie instinktiv den Motor laufen ließ, falls plötzlich ein schneller Aufbruch erforderlich sein sollte. Oder war es vielleicht sie, die den verderblichen Einfluß ausübte? Jedenfalls stand ich zitternd und frierend im wogenden Dunst, ohne eine Ahnung zu haben, was ich tun würde, falls alles entdeckt werden sollte. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, ich fuhr herum und… »Mav! Du hast mich so erschreckt, daß ich neun Jahre nicht mehr wachsen werde! Schon zurück von deinem kriminellen Ausflug?« Er hielt eine Zeitungsrolle in der Hand, die zurückgeschlagen war, so daß man bei den Dampfschiffahrplänen eine Zeile sehen konnte, die auffällig mit Wachsstift eingekreist war. »Ich hatte recht, Mymy! Dieser erste Telefonanruf, den Myssmo tätigte, ging direkt zu diesem Büro! Es sieht ganz so aus, mein lieber Kauteriseur, als habe der gute Doktor die…« »Mav!« Wieder fuhr ich zusammen, denn plötzlich war, ohne daß ich es bemerkt hätte, ein kleines, triefend feuchtes Kind neben mir aufgetaucht. Diese Regenumhänge beschränkten die Sicht nach der Seite ganz erheblich. »Oh, kleiner Lammie, du bist ja ganz naß!« sagte ich. »Komm doch herein, da ist es wärmer!« »Damit mich die Kübler wegen Einbruch holen? Nicht für Ihr sumpfiges Leben, Missur!« Ich blinzelte. Trotz sihres ungepflegten Aussehens, ganz zu schweigen von sihrer groben Ausdrucksweise, war das kleine Kind fast unwiderstehlich. Sicher, vielleicht würden diese winzigen, beimännlichen Züge, die alle Kinder haben, eines Tages eine männliche oder weibliche Ausprägung bekommen. Und doch würden sie vielleicht so reifen,
wie sie jetzt waren, und das Kind würde, genau wie ich (nach außen hin und, wie ich leider sagen muß, in der gesellschaftlichen Stellung) infantil bleiben. Unsere Zivilisation wäre wirklich sehr verändert, wenn die Babies nur Frauen oder Männern glichen. »Kind«, sagte Mav sofort und ließ eine Münze sehen, »wie lange stehst du schon in dieser Tür?« Er zeigte auf den Eingang zu einem Nachbarunternehmen, das mit unbestimmten Warnungen auf der Basis der Form handelte, die der Koodrauch annahm. »Seit es zu regnen angefangen hat, Chef. Kann sonst nirgends hin.« »Sehr schön, mein Kind, und jetzt sag mir, ob du gesehen hast, wie Doktor Ensda vor einiger Zeit dieses Haus verlassen hat?« »Was, der alte Schwindler? Was wollen Sie denn von dem? Ich kann Ihnen bessere Ratschläge geben und« – das nasse Fell des Kindes nahm einen häßlichen, käuflichen Ausdruck an – »viel billiger.« »Daran zweifle ich nicht, nicht im geringsten«, erwiderte Mav. »Würdest du jetzt meine Frage beantworten?« »Was is' für mich drin, wenn ich's tu?« Ser wußte es natürlich, denn sihre Augen hafteten unverrückbar auf dem Silberschimmer in der ausgestreckten Hand meines Gefährten. »Eine beträchtliche Summe«, sagte er gelassen. »Ja, ich habe ihn weggehen sehen, kaum eine Minute, ehe Sie drei vorgefahren sind. Schauen Sie selbst – das Pflaster unter Ihrem Dampfdingsbums ist fast trocken; da hat die Droschke gewartet. Und jetzt her damit!« Ser grapschte nach der Münze. Mav gab sie aber noch nicht frei. »Noch nicht gleich, kleiner Missur. Das ist eine tolle Geschichte – und ich bin noch nie auf die Idee gekommen, die Beschaffenheit der Straße zu untersuchen; das muß ich mir für künftige Fälle merken. Aber zuerst müssen wir prüfen, ob du auch die Wahrheit sagst – denn in diesem Regen gibt es keine Droschken!« »Doch gibt es welche, wenn sie herkommen, ehe es zu regnen anfängt!« gab das Kind zurück. »Und sie fahren, wohin man will – wenn man dem Kutscher eine Pistole an den Kopf hält! Und jetzt her damit!« Ruhig gab Mav dem Kind das Geld nicht nur, sondern verdoppelte
die Summe noch. »Such dir ein warmes, trockenes Plätzchen!« Er zeigte mir wieder die Zeitung. Eingekreist war die planmäßige Abfahrt des Frachters ›Habo‹, und anders als beim Verkehr von der Stadt zum Festland würde sich diese Abfahrt durch das Wetter um keine Sekunde verzögern; das Schiff würde in fast genau eineindrittel Stunden abdampfen. Mav sprang in den Wagen und zog mich hinter sich her. »Ensda scheint unser Lam zu sein!« schrie er. »Und er kann von hier aus nur über die Bürgerbrücke gefahren sein! Jetzt aber los, damit wir ihn nicht verlieren!« Vyssu sauste ab, ehe wir uns noch richtig hingesetzt hatten. Die Regengewänder tropften und dampften, sie nahmen soviel Platz weg, daß mir das Abteil ziemlich eng und bedrückend vorkam. Ich wurde heftig gegen meinen Freund geworfen, der mir freundlich half, mich wieder zu setzen, und dann waren wir beide lange Zeit ziemlich schweigsam. Vyssu, die durch ein Fenster zu sehen war, das ihren Teil des Wagens mit dem unseren verband, zeigte sich sehr belustigt. Sie hatte den Regenumhang abgelehnt, den Mav ihr angeboten hatte; er lag trocken und ordentlich zusammengefaltet neben ihr auf dem Kissen. Ihre Hände auf dem Steuergriff wirkten beinahe unnatürlich ruhig und tüchtig, genau wie beim Stricken oder Kochen. Ich fragte mich allmählich, ob es in dieser Welt wirklich Dinge gab, für die sich die Männer ausschließlich zuständig fühlen, und die nicht mit viel mehr Geschick (und weniger Tamtam) von einem der anderen Geschlechter bewältigt werden konnten. Mav schien seinerseits nicht das geringste dagegenzuhaben, einer Frau das Fahren zu überlassen; ich muß gestehen, nicht wenige der Ecken, die Vyssu nahm, haben mich vielleicht einen meßbaren Bruchteil meiner normalen Lebenserwartung gekostet. Wir rasten durch die Stadt in Richtung auf den Fluß und den Hafen zu und rechneten jeden Augenblick damit, den einzigen Wagen, der außer uns noch auf der Straße war, und damit einen flüchtigen Mordverdächtigen zu überholen. Unterwegs kamen wir an vielen Droschken und Privatkutschen vorbei, die neben der Straße oder unter irgendeiner Dachkonstruktion abgestellt waren.
Schließlich erreichten wir die Bürgerbrücke. »Anhalten!« schrie Mav Vyssu zu. »So weit konnte er mit einem widerstrebenden Fahrer und einem feuchten, verängstigten Tier sicher nicht so schnell kommen! Ich glaube, wir haben ihn überholt – und können ihn hier immer noch fassen!« Der Wahnsinn (so dachte ich damals) dieser Behauptung sollte von Mavs nächstem Vorschlag bald mehr als erreicht werden. Auf seine Anweisung hin lenkte Vyssu ihre Maschine widerwillig an das andere Ende der Brücke. Hier ist es nötig, die Bürgerbrücke zu beschreiben, auf der wir standen, denn sie wurde schon vor langer Zeit durch eine größere und, wie ich finde, etwas vernünftigere Durchfahrtsstraße ersetzt, die an beiden Enden wie auch mit dem Mittelbogen fest verankert ist. In jenen Tagen hielt man es für unschicklich, daß die Pfähle der Brücke die Insel berührten, die sie überspannte. Die Königsinsel, Standort des königlichen Palastes (und der Kübelierstation Soundpoint) war direkt über die Königliche Brücke zu erreichen, die den Westarm des Flusses Dybod etwas weiter flußabwärts vom Königssaal am Westufer aus überspannte. Aus irgendeinem Grund lag die Bürgerbrücke an der Nordspitze der Insel, an einer Stelle namens Sound Point, aber da sie ja eine BürgerBrücke war, durfte sie nicht auf die Brücke selbst eindringen. So spannte sie sich in einem einzigen, wunderbar glatten Bogen über Fluß und Insel, ein wirkliches Wunder der Technik, ohne vernünftigen Grund unter großen Kosten und Mühen geschaffen. Alles in allem war, wie ich vermute, von der Brücke zur Insel ein Fall von achtzehn oder zwanzig Lamhöhen, und zum Fluß auf beiden Seiten der Spitze vielleicht noch einmal neun oder zehn Lamhöhen. Mav verlangte, wir sollten auf dem östlichen Ende der Brücke die Kutsche abstellen, und zwar so, daß Vyssu mit einem schnellen Herumreißen des Steuergriffs den Wagen wenden und die enge Straße blockieren konnte, so daß kein Fahrzeug (und auch kaum ein Lam auf Fingerspitzen) mehr durchkam. Dort ließ er uns stehen, ermahnte uns zur Wachsamkeit und ging
beinahe bis zur Mitte der Brücke, direkt über dem Ostrand der Insel, zurück. Dort stand er, eingewickelt und behindert von seinem Regenumhang – wegen der regennassen Straße war der ungleichmäßige Rhythmus seines Gangs aufgrund seiner alten Verwundung in den Kolonien deutlich sichtbar – und schaute zu den Eisenstreben auf beiden Seiten der Brücke hinauf, dann erstieg er das Geländer, packte ein Paar sich kreuzender Stützen und fing an zu klettern, bis er die überdachenden Seile und Balken vielleicht drei Lamhöhen über der Fahrbahn erreicht hatte. Unter weiteren Schwierigkeiten überwand er die Verstrebungen, bis er direkt über der Straßenmitte hing, und dort wartete er geduldig mit einem, wie ich fand, wahnsinnigen Vertrauen in seine Theorie, daß wir Doktor Ensda überholt hätten, im wogenden Dunst, eine Hand hatte er unter dem Umhang, sie ruhte zweifellos auf dem Griff seiner Kolbenpistole. Auch ich wartete, bis ich es nicht länger ertragen konnte. Vyssu sah mich an, wortlos, aber mit einem spöttischen Ausdruck im Fell, dann griff sie durch das Kutscherfenster und zog an der kleinen Quaste, die ich schon einmal ausgelöst hatte, als ich zum erstenmal in dieser Maschine fuhr. Sie nahm die Ladekiste aus Baumholz heraus, deren Schlüssel daran befestigt war, und drehte ihn ein paarmal, dann stellte sie sie energisch vor mich hin. »Vielen Dank, Vyssu, ich nehme keinen Strom.« »Ich auch nicht, mein lieber Mymy – aber ich sitze auch gewöhnlich nicht in diesem Wagen im Regen und warte darauf, daß der beste Freund, den ich habe, von einer Brücke in den Tod springt. Und jetzt legen Sie Ihre Finger in die Öffnungen und drücken Sie das Schloß auf, ich brauche nämlich selbst einen Schock, und zwar bald!« Ich sah zuerst sie, dann den Kasten scharf an. Langsam, widerwillig und ängstlich legte ich einen Finger jeder Außenhand in die dafür vorgesehene Stelle. Ich wußte nicht, was mir bevorstand, also atmete ich tief ein, hielt die Luft an und drückte das Schloß auf. !!!!!!!! Jemand hat einmal gesagt, es hätte ein Gutes, wenn man sich ein paarmal selbst mit einem Hammer schlägt: weil es so ein herrliches
Gefühl ist, wenn man aufhört. Das ist, in einer Krabbenschale, die Zusammenfassung des Aufladens. Ich will zugeben, daß es mich entspannte. Ich will auch zugeben, daß ich mir noch eine letzte Entgleisung erlaubte, als Vyssu fertig war. Dann drehte ich mich wieder um und beobachtete meinen Freund auf den Seilen und Streben der Brücke. Denn jetzt kam, so schnell wir nur möglich, ein Watu mit einer schwankenden Droschke im Kielwasser auf uns zu galoppiert.
12. Kapitel Studie in Smaragdgrün Als Tier und Kutsche wie der Blitz unter Mav vorbeiflitzten, sprang er von den Kreuzstreben. Was sich in diesem Moment sonst noch ereignete, kann ich nur raten, denn Vyssu riß den Steuergriff hart herum und trat auf das Dampfventil. Ich wurde wieder zu Boden geworfen; ehe ich mich wieder aufsetzen und aus dem Fenster sehen konnte, hatte uns die Droschke beinahe erreicht, zwei kämpfende Gestalten auf dem Dach hatten sich ineinander verkrallt, während das Watu in wahnsinniger Angst die Augen rollte und weitergaloppierte. Ich zuckte unwillkürlich zurück, denn ich sah, daß das Tier ganz verrückt war. Die Lamn oben auf der Droschke prügelten aufeinander ein, als wären sie sich der Katastrophe gar nicht bewußt, die uns allen unmittelbar bevorstand. Plötzlich, ganz kurz vor dem Zusammenstoß mit Vyssus Dampfmaschine, schleuderte die Droschke und prallte gegen das Geländer. Das schreiende Tier und der Wagen kippten um und schwankten über dem Abgrund. Mav und Ensda, Droschke und Watu verschwanden im Dunst. Ich hörte, wie etwas Riesiges abscheulich unten auf dem Wasser aufschlug. Eine häßliche, gähnende Lücke blieb hinter ihnen im Geländer zurück. Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich aus Vyssus Wagen sprang; ich weiß nur noch, daß ich den Bruchteil eines Augenblicks später direkt am Rand der Fahrbahn balancierte, Vyssu dicht neben mir. Unter uns, am Rand der östlichen Uferlinie, waren die Trümmer der zerschmetterten Droschke und der zermalmte, gebrochene Körper des Watu angespült worden. Ein Stöhnen. Kaum eine Lamhöhe unter unseren Füßen klammerten sich zwei Gestalten an eine herabhängende Strebe der Brücke. Eigentlich nur eine Gestalt, denn Mav hielt sich verzweifelt fest und umfaßte mit seinen Gehhänden noch den schlaffen, stummen Körper seines Gefangenen. Er wollte wieder sprechen, aber aus seinen Nüstern kam nur ein keuchendes Stöhnen.
»Mav, bei der Barmherzigkeit«, rief ich aus, »verzweifle nicht, ich werde dich retten!« Damit riß ich die Bänder meines Regenumhangs weg, warf das Kleidungsstück ohne Rücksicht auf das Wetter ab und streckte es so weit hinunter, daß es den Rückenschild des Detektivs streifte. Vyssu verstand sofort, stemmte sich hinter mir ein, packte die beiden oberen Gliedmaßen, auf denen ich stand und hielt mich fest, damit ich nicht selbst ins Verderben stürzte. Mav stöhnte noch einmal, dann hob er mühevoll seine dritte – verkrüppelte – Handgruppe, bis er den Rand des Regenumhangs zu fassen bekam. Mit einem gewaltigen Zug, bei dem ich beinahe den Halt verloren hätte, zerrte er sich und Ensda am Umhang herauf, bis er drei Hände über den Rand bringen konnte. Ich griff nach ihm und zog. Er glitt auf das Pflaster, und dann holten wir zu dritt den Lunologen herauf. Unten tobte, gräßlich in seiner Nässe, der Fluß, angeschwollen vom Regen – vielleicht auch in einem Aufwallen der Enttäuschung. Mav machte keine Anstalten aufzustehen, sondern blieb noch eine Zeitlang auf der Unterseite seines Rückenschildes liegen und atmete mühsam. Schließlich nahm er letzte, überlamliche Kräfte zusammen, krächzte: »Haltet ihn, er ist unser!« und sank ohnmächtig zurück. Ich suchte im Umhang des Ermittlungsbeauftragten nach seinen Lamschellen, ordnete die neun Schließringe und ließ sie nacheinander um die neun Handgelenke des Verdächtigen schnappen, dabei folgte ich Mavs neuem Verfahren, die Gliedmaßen eines Verbrechers statt nach der üblichen Methode – wieder ein Punkt, über den er noch vor kurzem eine Auseinandersetzung mit Tis gehabt hatte – oberhalb des Körpers zu fesseln, damit der nicht mit den Kiefern nach einem Beamten schnappen konnte. Dann wandte ich mich meinem Freund zu und bedauerte es einen Augenblick lang, daß ich meine Tasche im Wagen gelassen hatte. Plötzlich war sie neben mir, Vyssu hatte sie aufmerksamerweise geholt. Ich riß ein Streichholz an und suchte nach meinen Riechdämpfen. Da, im flackernden Lichtkreis, sah ich, daß Mav in einer Blutlache lag. Die endlose Wagenfahrt von der Brücke zurück zum Kiiden werde ich
nie aus meinem Gedächtnis verlieren, solange ich noch die Last des Lebens zu tragen habe. Ensda lag auf dem Boden, zusammengeschnürt wie ein wildes Tier, Vyssu saß still und gespannt am Steuergriff, und ich bemühte mich, ohne mir viel Hoffnung zu machen, um die Überreste meines lieben Freundes, dessen Abenteuer, genau wie das meine – so sah es jedenfalls inzwischen aus – mit diesem Augenblick am Geländer sein Ende gefunden hatte. Nur wenig Sinnvolles ging während dieser langen Minuten durch meinen gequälten Geist, bis auf Erinnerungen an Mav, hier ein helles Bild, da ein freundliches Wort, ganze Gespräche mit ihm, die ich, wie ich entdeckte, beinahe wörtlich wiederholen konnte und aus denen ich viel über die Welt gelernt hatte. Ein solches Gespräch, bei dem es, nicht zufällig, um Vyssu ging, fiel mir jetzt ein, und ich kam mir plötzlich sehr klein im Geiste und sehr engstirnig vor, weil ich nicht darauf geachtet und so ihren Charakter sehr verkannt hatte. Es war vor kurzem an einem Vormittag gewesen, nach Srafens Ermordung, als der Detektiv und ich uns auf dem Weg zur Bezirksstation befanden, eine zu kurze Strecke, um die Ausgabe für eine Droschke zu rechtfertigen, aber doch lang genug für eine freundschaftliche Unterhaltung. Wir kamen auf dem Weg durch die Stadt zufällig an einem winzigen, verwahrlosten Gör vorbei, an dem gerade die ersten, weiblichen Merkmale erkennbar wurden, es saß an einer Ecke und hielt mit dem Mittelarm ein Tablett mit groben, handgemachten Kämmen, die aus den getrockneten Rückenschildern von Watun und Ajotiin gesägt waren. »Wie rührend«, bemerkte ich traurig, »daß so ein Wesen kein warmes, liebevolles Heim hat, wo es sich sicher fühlen kann, und daher auf der Straße billigen Tand feilbieten muß.« Ich konnte vor meinem geistigen Auge sehen, wie sie eben diese Kämme mit primitiven Werkzeugen beim flackernden Licht einer teuer erkauften Kerze verfertigte und dann, müde von der nächtlichen Arbeit, in der Dämmerung ausging, um sie auf der Straße zu verkaufen. Mav blieb stehen, steckte sein Rohr weg und sah sich die Ware des Kindes voll Interesse an, dann holte er ein oder drei Kupfermünzen
heraus und gab sie für einen der Kämme, ein hübsches, dunkles, gestreiftes Ding, trotz der groben Handarbeit. Er fuhr sich damit versuchsweise durch das Fell auf seinem Arm, bekundete Zufriedenheit, wünschte dem bemitleidenswerten Gör einen so guten Tag, wie sie ihn nur erwarten konnte und drängte mich weiterzugehen. »Ganz im Gegenteil, geschätzter Kollege«, bemerkte er plötzlich, und ich mußte erst überlegen, um zu begreifen, welche meiner Bemerkungen zu dieser Antwort geführt hatte, »obwohl es vielleicht ein Unglück ist, daß es für sie im Augenblick anscheinend nur wenig andere Möglichkeiten gibt, glaube ich, daß so manche Fodduanierin aus besseren Verhältnissen nur profitieren könnte, wenn sie, wenigstens für kurze Zeit, eine solche Laufbahn einschlüge.« Mein Pelz hat bestimmt verraten, wie überrascht und entsetzt ich war. »Was für ein abscheuliches Rezept!« rief ich und stellte mir vor, ich selbst sei an der Stelle dieser verlassenen Waise. »Was könnte man daraus schon Wertvolles lernen, außer vielleicht Verzweiflung und am Ende schreckliche, endgültige Erniedrigung?« »Nun, Mymy, es ist schon befriedigend zu sehen, daß du nicht völlig ein Kind deiner Klasse bist.« Mav runzelte sein Fell und führte die Inhalierröhre wieder in seine Nüster ein. »Du hast einen ideologischen Weg zurückgelegt, der einem ganzen Parlamentshaus entspricht.« Ich nahm meine Tasche in eine andere Hand. »Und was willst du mit einer derart seltsamen Bemerkung genau sagen?« »Einfach daß man, wenn man deine Erziehung berücksichtigt, vernünftigerweise von dir die gleiche Einstellung erwarten könnte, wie sie die meisten Stützen des Reiches aus der Oberschicht vertreten, diejenigen nicht ausgeschlossen, die von der Triarchie ins Lezynsiin berufen wurden…« »Ich wußte gar nicht, daß Straßenhändler eine so große, politische Bedeutung haben.« Wieder runzelte er gutgelaunt den Pelz. »Du hast völlig recht, nur steht unsere kleine Unternehmerin dort hinten stellvertretend für alles, was heute in der politischen Ökonomie von Groß Foddu geschieht, und für die Entscheidungen für die Zukunft, die in diesem Augenblick, angeblich unseretwillen – zum Guten oder Schlechten – getrof-
fen werden. Das Lezynsiin wäre zum Beispiel der Ansicht, daß diese kleine Kammhändlerin ein öffentliches Ärgernis ist, störend für die Bevölkerung und hinderlich für den Durchgangsverkehr, möglicherweise aber potentiell eine Bedrohung, und auf jeden Fall von den Kübelieren unauffällig entfernt werden muß. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß sie infolgedessen täglich einen Teil ihres geringen Verdienstes dem Beamten überläßt, zu dessen Zuständigkeitsbereich ihre Ecke zufällig gehört. Ein informelles Lizenzverfahren, sicher, uralt und unehrenhaft, das manchmal unausrottbar erscheint und so lange bestehen bleiben wird, wie das Lezynsiin und alle, die es vertritt, weiterhin in ihrem jetzigen Glauben verharren.« Ich blieb stehen, weil ich ein wenig gekränkt war. »Und so eine kalte, lieblose Einstellung schreibst du mir zu? Warum…?« Er hob eine Hand. »Einen Augenblick, Mymy, ganz ruhig. Es ist die Meinung, die viele Angehörige deiner Schicht ausdrücken. Ich sagte jedoch, nicht wahr, daß du selbst ein Haus weit davon abgerückt bist, zum Nazemynsiin, dem Mittelhaus des Parlaments hin.« »Das ist vielleicht deine Meinung. Ich glaube jedoch von mir…« »Daß das Kind zu Hause bleiben und versorgt werden sollte, oder, wenn tragische Umstände das nicht zulassen, in irgendeine Schule oder Einrichtung aufgenommen werden muß, wo das, was sie vom Leben erfährt, richtig gefiltert und keimfrei gemacht werden kann – ganz anders als das, was ihr selbst jede Sekunde im wirklichen Leben begegnet. Ich sage dir, dein Haus würde die Lizenzierung sogar noch zwingender machen, weil es das Ziel hat, die Zahl solcher ›Unglücklicher‹, wie sie es ist, zu verringern und sie der absoluten, mütterlichen Obhut des Staates zuzuführen. Und bei dieser Aussicht, mein Lieber, schaudert es mich heftig!« Und mich auch, bis ich erkannte, daß das nicht mehr war als seine eigene, vereinfachte, ein wenig verzerrte Sicht eines komplizierten Sachverhalts, überzeugend ausgedrückt. Ziemlich einfach für Mav, die Oberschicht zu kritisieren, aus der auch er kam, oder sich aus der Sicherheit heraus zu äußern, die er im Vergleich zur Bedürftigkeit und Not der Armen genoß. »Aber Mav, du siehst nicht, wie hart sie kämpfen muß.«
»Genauso hart wie alle anderen, lieber Mymy, sie muß darum kämpfen, sie selbst zu werden. Für manche ist dies ein finanzieller Kampf, für andere ist er politisch oder emotional. Verhätschelung, sei es von Seiten der eigenen Familie oder der Regierung, verschiebt das Problem nur von einem Schlachtfeld auf ein anderes.« »Und das Mykodsedyetiin – das Unterhaus, auf das du in letzter Zeit so große Stücke hältst – welche Ansicht würde es vertreten?« »Die gleiche wie ich«, sagte er, »wie du zweifellos vorausgesehen hast, unsere kleine Kammverkäuferin sollte in Ruhe gelassen werden, von den verbrecherischen Behörden, deren Zuständigkeit sie in keiner Weise verletzt, wie auch von denen, die behaupten, um ihr Wohlergehen besorgt zu sein – und die im Streben danach ihr Leben zerstören würden. Ich garantiere, daß sie nicht lange mit einem Bauchladen verkaufen wird, Mymy. Bald wird sie einen Handwagen haben, und danach, bei einiger Sparsamkeit und einigem Einsatz, einen kleinen Laden. Jegliche ›schreckliche Erniedrigung am Ende‹ wird durch Leute verursacht, die sich einmischen, und das ist die reine Wahrheit. Wenn man sie ihrem eigenen Fleiß und Unternehmungsgeist überläßt, wird es ihren Kindern besser gehen als ihr.« Ich war erschüttert. »Wie sonderbar naiv, Mav! Was erzählst du mir da für ein Märchen! Wen kennst du, dem so etwas wirklich passiert ist?« Diesmal runzelte er nicht das Fell, statt dessen lachte er geradeheraus und lange. Als er sich wieder gefaßt hatte, antwortete er: »Das ist die ganze Sache in einer Krabbenschale, Mymy: ›Wem ist es passiert?‹ Frage lieber, wer es hat passieren lassen, wie es auch unsere kleine Kammhändlerin passieren lassen wird. Die Antwort, mein Allerliebster, wird dich vielleicht gar nicht überraschen.« Vor einigen Jahren (erzählte Mav, während wir unseren Weg zum Bezirksgebäude fortsetzten), wurde in Lower Honwath auf der Ostseite des Flusses, das an die furchtbaren Ipmu-Moore angrenzt, in ärmlichsten Verhältnissen aus einer… – sollen wir es ›flüchtige Beziehung‹ nennen? – ein Kind geboren, dessen unglückliche Mutter bald darauf verschied.
Du warst sicher nie in Lower Honwath, Mymy, und wahrscheinlich wirst du auch nie Gelegenheit dazu haben, obwohl der legendäre Tesret-Flitzer und andere Züge nahe daran vorbeifahren; kann man von der Brücke aus über seine bescheidenen Dächer und abbröckelnden Kaminaufsätze schauen, wenn man Lust dazu hat. Es ist eine Gegend, neben der die elendeste Nachbarschaft des Kiiden einem wie die Oberhecke vorkommt, in deren schmutzigen Straßen ein hilfloser Fremder naiv ist, wenn er nicht damit rechnet, daß ihm, noch ehe er nach Einbruch der Dunkelheit auch nur einen Block weit gegangen ist, die Augen ausgestochen werden, und wo das widerlichste Hausungeziefer das einzige Spielzeug ist, auf das die Kinder jemals hoffen können. In dieser grausamen, armseligen Atmosphäre wuchs unsere kleine Frau – denn als solche stellte sie sich später heraus – auf und gedieh und entwickelte sich gewissermaßen im Lauf der Zeit, sie wurde von den Kollegen ihrer Mutter aufgezogen, auch diese waren Taschendiebe, Straßenhändler und Räuber. Sie wurde so etwas wie ein Maskottchen für diese Leute, und sobald sie gehen und verständlich sprechen konnte, suchte sie sich so etwas wie eine Beschäftigung, indem sie für ein oder drei Münzen Botschaften für die Gassenbewohner hin- und herbeförderte, damit ersparte sie es ihnen, sich auf die Straßen zu wagen und sich, als Folge davon, die Mühe zu machen, jenen paar Kübelieren auszuweichen, die unsere Behörde in diese Gegend entsendet. Dieses Unternehmen dehnte sie bald mit angeborener Genialität auf das nahegelegene Fasmou Common aus, eine industrielle Enklave zwischen Lower Honwath, woher die Fabrikarbeiter kommen, das aber ansonsten eine andere Welt ist, und Lower Dockside, dessen Stammgäste ihre angebliche, lamliche Härte neu einschätzen müßten, wenn sie vom Südarm des Dybod-Flusses nur ein paar Blocks weiter landeinwärts gingen. Die Fabrikbesitzer und Verwalter schätzten die Botschafterdienste der kleinen Frau, und bald hatte sie weitere Gören, denen sie viele dieser Aufträge in die eine oder andere Richtung, gelegentlich sogar bis auf unsere Seite des Flusses übertrug. Etwa zu der Zeit, wenn die Leute erfahren, welches Geschlecht sie haben werden, überbrachte unsere kleine Freundin unter anderem selbst Botschaften für einen reichen, alten Fabrikanten namens Dah-
woms Ott Fiddeu – ein Markenzeichen, das sicher jeder Gärtner von den synthetischen Düngemitteln her kennt. Dieser Mann besaß, abgesehen davon, daß er eine Kette von aggressiven Unternehmen betrieb, auch noch einen beachtlichen Ruf als Wüstling von abstoßendstem Charakter. Dahwoms selbst entdeckte unsere kleine Vyssu – denn genau sie ist natürlich die Heldin unserer Geschichte – bald und erkannte die Möglichkeiten: ein hübsches, unschuldiges, jungfräuliches Kind, das kaum (so dachte er, denn er kannte sie nicht so gut wie wir) mehr als ein niedriges, elendes Leben erwarten konnte. Ein junger Beimann, der auch für sie arbeitete, ein Frann, der wie unsere Vyssu und aus den gleichen Gründen ebenfalls nur einen Namen hatte, Obodiin, fiel ihm ebenfalls auf. Auf sihre Art war Obodiin genauso ehrgeizig wie Vyssu oder Dahwoms, obwohl sihr sowohl der Unternehmungsgeist wie die innovative Denkweise fehlten, die die beiden anderen besaßen. Ser arbeitete mit ziemlichem Eifer für Vyssu, und als der alte Millionär ihnen seinen Antrag machte, nahm ser ohne eine Spur des Zögerns an, das Vyssu anfänglich erkennen ließ. Dahwoms machte ihnen das Angebot, sie sollten bei ihm in seinem Haus leben, eine Privaterziehung erhalten und jeden Luxus genießen, als Gegenleistung hätten sie sich für jeden Zweck, den er sich wünschen mochte, zur Verfügung zu halten. Nun, Mymy, laß deinen Pelz mal ganz ruhig! Ich gebe dir recht, es war eine schändliche, erniedrigende Vereinbarung. Trotzdem wurde sie ganz offen vorgebracht und ohne Zögern angenommen. Dahwoms war zu dieser Zeit schon ziemlich alt, und ich habe den Verdacht, nicht einmal unsere Heldin glaubte, daß diese Beziehung ewig dauern würde. Jedenfalls kamen Vyssu und ihr vormaliger Angestellter zur Mittelhecke, aber es zeigte sich, daß das Geschäft wesentlich anders ablief, als irgend jemand es vorausgesehen hatte. Vyssu war, wie auch jetzt, ein reizendes Geschöpf, scharfsinnig und voll Anmut, flink und mit einer natürlichen Eleganz begabt, die sogar dem empfindungslosesten Lam auffiel. Zu seiner Überraschung und seinem Entsetzen erkannte Dahwoms schnell, daß er sie als Tochter betrachtete und auch dem-
entsprechend behandelte. Obodiin, der, wie ich glaube, einige der weniger ehrenhaften, fleischlichen Neigungen des alten Lam teilte, hatte Vyssu schon lange begehrt; das und sihre Habgier führten sien schließlich ins Verderben, obwohl Vyssu lange nicht erfahren sollte, wie es genau dazu kam. Fünf Jahre lang wohnten die drei mit zahlreichen Dienern in vollständig ehrenwerten Verhältnissen in dem großen, alten Haus an der Mittelhecke. Der alte Dahwoms hielt sich streng an seinen Teil der Vereinbarung, ohne irgendwelche Ansprüche an die Kinder zu stellen, oder etwas anderes von ihnen zu verlangen, als daß sie seinen Tisch mit ihrer Gegenwart beehrten und ihm auch sonst freundlich Gesellschaft leisteten. Dafür und wegen vieler weiterer Gefälligkeiten liebte ihn Vyssu mit der Zeit sehr, aber Obodiin war unzufrieden und wurde immer dreister, als sich ein Jahr der Enttäuschung auf das andere türmte. Keine vornehme Gesellschaft und keine gute Erziehung konnten sien zufriedenstellen. In einer dunklen Nacht nach einer abendlichen Feier zu sihrem Geburtstag stieß Obodiin den beschwipsten Dahwoms die Treppe hinunter und floh mit dem Haushaltsgeld – einer nicht ganz unbeträchtlichen Summe – auf den Kontinent. Vyssu, die inzwischen eine sichere, weltgewandte, junge Dame geworden war, trauerte immer noch um ihren Adoptivvater, verzichtete aber für einige Zeit auf alle Eleganz und beschloß, sich die harten Lehren ihrer ruhmlosen Anfänge und frühen Erziehung zunutze zu machen. Sie folgte dem undankbaren Obodiin zum Kontinent, wo sie volle zwei Jahre abwechselnd damit verbrachte, Kinder reicher und mächtiger Leute zu unterrichten – wobei sie nebenbei viele, einflußreiche Freunde gewann – und den Aufenthaltsort von Dahwoms' Mörder ausfindig zu machen. Irgendwann in dieser Zeit, ich weiß nicht genau, wie (und will es wohl auch gar nicht so genau wissen), lernte Vyssu Fatpa kennen, einen Straßenräuber von ausgezeichnetem Ruf, beinahe einen Helden in jener Gegend, die in der Folge gegen ihren Willen zur Eingliederung in die podfettianische Hegemonie verurteilt war. In jenen Tagen war es ein wildes, abenteuerliches Gebiet, in dem die Männer gewaltige Pisto-
len trugen, um sich zu verteidigen, Frauen und Beimänner oft entführt und traditionsgemäß geehelicht wurden und wo selbst das Leben, obwohl zeitweise teuer erkauft, so billig war wie Zellstoffpapier in einer Hutschachtel. In jenen schroffen, wenig erforschten Bergen traf Vyssu eine private Vereinbarung mit dem Räuber. Es gab eine Außenstation für die Postkutschenlinien zum Wasseraufnehmen, dort wollte sie die Expreßkutsche nehmen, in der, wie sie irgendwie herausbekommen hatte, Obodiin sitzen sollte. Sobald die Kutsche eine Stelle erreichte, auf die sie sich beide geeinigt hatten, sollte Fatpa sie aufhalten. Und alles lief wie geplant. »Stehenbleiben – Geld oder Leben!« Die Postkutsche kam kreischend zum Stehen, die verängstigten Watun stampften und hatten Schaum vor den Kiefern. Der Kutscher griff in eine Kiste nach einer Vogelflinte, die in allen zivilisierten Teilen unseres Reiches seit langem veraltet war, aber Fatpa war sofort über dem Burschen, riß ihm die Waffe weg und schlug ihn damit; der Schlag betäubte zwar, war aber barmherzig leicht und verursachte weiter keine Verletzungen. Darauf hatte Vyssu als Teil der Vereinbarung bestanden. Der Kutscher kletterte vom Wagen herunter auf die staubige Straße, und die Passagiere, eine seltsame Mischung aus Reisenden, Vagabunden und örtlichen Bauern, folgten ihm. Unter ihnen befanden sich Vyssu, dicht verschleiert, wie es in diesem Teil der Welt üblich ist, und ein gleichermaßen unkenntlicher Beimann, aber sie hatte sien tagelang in der Hauptstadt verfolgt und wußte genau, wer ser war. Fatpa erleichterte schnell alle Passagiere um ihre irdischen Güter, einer Bauersfrau nahm er sogar ein Paar gezähmte Sandkrabben ab und legte sie über die Zügelstange seines Wagens. Dann fuchtelte er mit einer riesigen Pistole in jeder Hand herum, forderte die Gruppe zum Einsteigen auf und hielt im letzten Augenblick Vyssu und den Beimann zurück. »Hiergeblieben, hier oben in den Bergen ist es ein bißchen einsam, ich könnte schon ein wenig Spaß vertragen, ehe ich euch beide weiterfahren lasse!« Er schwenkte drohend alle drei Pistolen und Vyssu war
geziemend entrüstet, genau wie der Beimann. Sie fügten sich jedoch seiner Forderung und blieben zurück, der Postkutscher verließ dankbar in aller Eile den Schauplatz des vergangenen und des künftigen Verbrechens. Als sich der Staub hinter den Fliehenden gelegt hatte, drehten sich die Pistolen und waren nur noch auf den Beimann gerichtet, eine wurde Vyssu übergeben, die nun ihre Schleier ablegte. »Obodiin, nimm deinen Hut ab, damit ich dich noch einmal ansehen kann, ehe du stirbst!« Sie hatte noch nie zuvor eine Pistole abgeschossen, und die Waffe schwankte in ihrer Hand hin und her, was noch viel erschrekkender war als es eine richtig gezielte Pistole hätte sein können. Obodiin zog sihren Hut und die Schleier weg, ser war bestürzt, als ser diese Stimme hörte, dieses Gesicht aus einer Vergangenheit sah, von der ser geglaubt hatte, sie liege weit hinter sihr. »O Vyssu, was für eine nette Überraschung, dich hier zu sehen. Was hast du nur in dieser furchtbaren Gegend zu suchen, Liebling?« »Ich muß dafür sorgen, daß Gerechtigkeit geschieht, Obodiin. Das hier ist mein Freund Fatpa. Ich rate dir, dich ganz still zu halten, denn er ist ein todsicherer Schütze, und mit dem Messer, das er mit bestürzender Genauigkeit wirft, kann er sogar noch besser umgehen.« »Aber was willst du von mir? Ich habe dir nichts zuleide getan! Ja, ich habe sogar immer äußerst angenehme Erinnerungen an dich gepflegt, meine Liebe.« »Oh, sei still! Obodiin, wir sind hier wohl kaum in einem KoodKränzchen, nicht einmal vor einem Gerichtshof, deshalb werde ich mich nicht lange mit dir unterhalten. Du hast den armen, alten Dahwoms ermordet, drei der Diener haben dich von verschiedenen Standorten aus beobachtet und sind unabhängig voneinander zu mir gekommen, um es mir zu sagen. Ich habe Beweise, daß du schon Tage vor deiner bösen, undankbaren Tat Reisevorbereitungen getroffen hattest, und ich habe auch die leere Geldkiste in Dahwoms' Arbeitszimmer gefunden. Leugnest du irgend etwas davon?« Obodiin zappelte herum, sah sich nach einem Fluchtweg um und sagte dann schlau: »Nein. Wir sind zusammen aufgewachsen, Vyssu, und du hast, noch ehe wir wußten, welches Geschlecht wir haben
würden, vieles getan, was fast genauso schlimm war. Aber das leichte Leben hat dich weich gemacht, und du wirst mich nicht aus Rache töten – dafür bist du zu vornehm und zivilisiert. Und es wäre feig, die Sache von einem gedungenen Mörder erledigen zu lassen, anstatt sie selbst zu tun – ich sehe, daß auch du dieser Ansicht bist –, du wirst mich also nicht von deinem Grobian hier umbringen lassen. Und so werde ich jetzt wohl gehen. Es war nett, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen. Vielleicht könnten wir das Treffen unter gemütlicheren Umständen mal wiederholen, was meinst du?« Bei diesen Worten feuerte Vyssu ihre Pistole direkt in eines von Obodiins Augen ab, der überführte Mörder fiel tot zu ihren Füßen nieder. Sie ließen sihre Leiche liegen und fuhren mit Fatpas Watun davon, und seitdem ist der Bursche immer bei ihr geblieben. Als sie nach Foddu zurückkehrten, entdeckte Vyssu, was ihr in der Hast vor ihrer Abreise entgangen war, daß ihr Dahwoms nämlich sein ganzes Vermögen hinterlassen hatte. Aus bestimmten Bemerkungen, die Obodiin vor dem Mord gemacht hatte, kann man vermuten, daß ser davon wußte und von Vyssu erwartete, daß sie ihr Glück mit sihr teilte und deshalb wollte ser das Eintreten dieses Ereignisses schneller herbeiführen. Ja, Mymy, ich weiß, daß eine Erbschaft eigentlich nicht die Art von Vorwärtskommen darstellt, die ich im Fall der Kammverkäuferin beschrieben habe, aber das ist noch nicht die ganze Geschichte. Vyssu nahm, was sie geerbt hatte, kein gewaltiges Vermögen, bestimmt nicht, denn Dahwoms' Besitzungen waren schwer mit Hypotheken belastet und seine schlechten Angewohnheiten hatten auch nicht gerade wenig verschlungen. Mit dem, was übrigblieb, nachdem die Schulden bezahlt waren, baute sie ein zweites Vermögen auf, sehr viel größer als das erste. Du wirst mir sicher glauben, wenn ich dir sage, daß Vyssu eine der reichsten Personen in ganz Mathas ist. In unserem unaussprechlichen, gesellschaftlichen Klassensystem wird sie dadurch zwar niemals respektabel werden, aber man wird sie respektieren. Der Erzpriester persönlich borgt sich manchmal für verschiedene kirchliche Unternehmungen Geld von ihr, genau wie gewisse Mitglieder der königlichen Familie das tun.
»Ich glaube, ich verstehe«, sagte ich. »Vyssu schien immer mehr zu sein, als man auf den ersten Blick erkennen konnte, aber sag mir eines, Mav, warum bleibt sie dann weiterhin im Kiiden? Was wurde aus Dahwoms' altem Haus an der Mittelhecke?« »Dieses Haus? Kannst du ein Geheimnis bewahren, Mymy – es ist höchst wichtig, du wirst es sehen.« »Ich glaube nicht, daß ich mich mit einer so wichtigen, vertraulichen Mitteilung belasten möchte. Aber du müßtest mich inzwischen soweit kennen, um zu wissen, daß ich Schweigen bewahren kann.« Ich fühlte mich wieder leicht gekränkt, bemühte mich aber, es mir nicht anmerken zu lassen. Mav entfernte sein Rohr aus einer Nüster und betrachtete es, dabei lief ein humorvolles Zucken durch sein Fell. »Das stimmt, mein Lieber, ich bitte dich aufrichtig um Verzeihung. Und ich werde es dir auf jeden Fall erzählen, denn es ist wirklich ganz erstaunlich. Das fragliche Haus ist durchlöchert von Geheimgängen und hundert verborgenen Zimmern, eine Folge von Dahwoms' verschiedenen, widerlichen Praktiken. Alle diese Räume sind sorgfältigst getarnt und jetzt durch einen unterirdischen Gang mit einigen nahegelegenen Gebäuden verbunden. Dahwoms' Haus wurde vor einigen Jahren verkauft und ist jetzt die podfettianische Botschaft – so, jetzt weißt du es! Die Tunnel führen zu den Geheimdiensten Ihrer Majestäten, und nichts geschieht in diesem Gebäude, worüber wir – damit meine ich die Regierung – nicht genauestens informiert wären. Kluge Dame, unsere Vyssu, denn sie hatte diese Idee und verwirklichte sie, mit beträchtlichem Gewinn für sich selbst, wie ich hinzufügen möchte.« Ich unterbrach Mavs leises Gelächter mit einer weiteren Frage. »Aber Mav, wenn Vyssu so reich ist und, nun ja, soviel Respekt verdient, warum bleibt sie dann im Kiiden und betreibt ein Bordell?« »Mymy, ich bin entsetzt darüber, daß du solche Worte überhaupt kennst! Wirklich! Egal, es ist auch so eine von ihren Ideen. Du weißt doch, was für ein Haus sie führt, geradlinig, keine Abartigkeiten, einfaches, unschuldiges – wenn du den Ausdruck in diesem Zusammenhang gestattest – Vergnügen. Es verschafft jungen Frauen und Bei-
männern der ärmeren Distrikte eine einträgliche Beschäftigung in einer Umgebung, die ihre Würde nicht verletzt. Außerdem erhält Vyssu dadurch ein Reservoir, das ihr die Partner für ihre Heiratsvermittlung in den oberen Schichten liefert, denn sie bildet ihre Angestellten in allen gesellschaftlichen Fertigkeiten aus und verheiratet sie gut, wenn ihre beste Zeit vorüber ist. Auf ihre Weise ist Vyssu eine große Revolutionärin, Mymy, denn sobald sie einmal fertig ist, wird der erbliche Unterschied zwischen oberen und unteren Schichten in dieser Stadt völlig illusorisch sein. Was hältst du davon?«
13. Kapitel Die unschuldig Schuldigen »Ich wollte ihn niemals töten!« Mavs verletzter Körper lag quer über einer Dreiergruppe hastig zusammengetragener Kissen in einem Salon von Srafens Haus, in den man uns vorher, zu glücklicheren Zeiten, nicht eingelassen hatte. Dieses ruhige Zimmer war anscheinend das alleinige Reich des verstorbenen Professors gewesen, seine Wände waren völlig mit Diagrammen und Skizzen von zahllosen, abscheulichen Geschöpfen bedeckt, von denen nur die allerwenigsten noch auf dem Globus zu finden sind, die meisten sind längst ausgestorben und nur noch durch kärgliche, untersoddische Überreste bekannt. Dieser Anblick mit seinem zweifelhaften, ästhetischen Reiz wurde nur von riesigen, vom Boden bis zur Decke reichenden Regalen für die vertrauten, zylindrischen Buchformen unterbrochen, deren etikettierte Rücken verrieten, daß Srafen nicht wenige davon selbst geschrieben hatte, einschließlich – (alphabetisch eingeordnet wie alle anderen Werke hier) – sihres Klassikers ›Die Enstehung des Lamviin‹. Der Raum war recht angenehm vom Duft der alten, abgelagerten Wandvertäfelung aus Kaktusholz, der Pereskin-Regale und der Dutzenden von freistehenden Glasschaukästen von exotischem Ursprung und Material erfüllt – wie auch von den hundert oder mehr bizarren, biologischen Proben, die darin konserviert waren. Es roch jedoch nicht im mindesten nach dem teppichfestigenden Harz, dessen übler Duft das übrige Haus durchzog und verseuchte – ein Punkt, der im Augenblick eindeutig zugunsten dieses Zimmers sprach. Auch ein offener Kamin war vorhanden, dessen Feuer, das gerne lustig geflackert hätte, die düstere Atmosphäre nicht im mindesten zerstreuen konnte, die sich durch das unglückliche Schicksal meines armen Detektivfreundes über uns alle gesenkt hatte. Mit Rücksicht auf Mavs inbrünstiges Verlangen, seine Arbeit gut zu Ende zu bringen, war es Vyssu
wie auch mir am passendsten erschienen, ihn hierher, ins Haus seines alten Lehrers zu bringen. »Ich sage Ihnen, es war nicht meine Schuld, bestimmt nicht!« Diese Worte hatte Srafens treuloser Gatte Law gesprochen und dabei seinen Verschwenderblick nach unten, auf Mavs stumme, reglose Gestalt gerichtet. Ich hatte meine unzulänglichen Fähigkeiten sowie den kärglichen Inhalt meiner Tasche so gut wie möglich zur Rettung des vergänglichen Lebens meines lieben Gefährten eingesetzt, aber die Wunde war auch jetzt noch entsetzlich anzusehen, da sie die Verbände stark mit dunklem Blut durchtränkt hatte. Genau dieses Gelenk, das Mav bei dem Versuch, sein eigenes und Ensdas Leben zu retten, so weit gedehnt hatte, bis es beinahe abriß, hatte vor vielen Jahren durch den Pfeil eines Wilden einen Schaden erlitten, der beinahe zu seiner Verkrüppelung führte. Jetzt war es an einer verborgenen, schlecht verheilten Naht gewaltsam wieder aufgerissen worden und Mavs Leben war auf die Pflastersteine der Bürgerbrücke geronnen. Ich hatte den Blutstrom nicht stillen können; der Schurke Ensda war seinem Verderben praktisch unversehrt entronnen, bedauerlicherweise auf Kosten eines weit besseren Lam, als er selbst es war. Ich war fest entschlossen, dafür zu sorgen, daß der Schurke und Scharlatan jetzt strenger Gerechtigkeit überliefert wurde. Vyssu hatte ihr Fell in die grimmigsten Falten gelegt, die man sich nur vorstellen kann, und mir zugestimmt. Die Fahrt in die Stadt zurück kennzeichnete, wie ich schon angedeutet habe, den bisher tiefsten Punkt in meinem Leben. Den lunologischen Schwindler hatten wir fest zwischen zwei Sitze gepackt, wenn nicht auch mein Freund dabeigewesen wäre, dem das Leben allmählich ganz aus dem mitleiderregend schwachen Griff entglitt, hätte dieser ›Doktor‹ ein beinahe komisches Schauspiel geboten, wie er da auf der Unterseite seines Rückenschildes mit der Bewegung der Kutsche hinund herschaukelte, da seine Gliedmaßen ordentlich über seinen Kiefern zusammengebunden worden waren. Er verwünschte uns heftig und zerstörte damit den Traum, der mich beschäftigt hatte, er verwünschte Mav, verwünschte die Droschke, die er für seine unter einem schlechten Stern stehende Flucht gewählt, verwünschte die Part-
ner, die er sich für seine Verbrechen ausgesucht hatte. Gleichermaßen verwünschte er den Tag, an dem er zum erstenmal den Leuten gesagt hatte, was sie nach Aussage der vermutlichen, relativen Positionen der Monde von Sodde Lydfe tun sollten. »Ihr Idioten!« explodierte er, und ich wünschte vergeblich irgend etwas herbei, womit ich seine Nüstern stillegen konnte – ich dachte an verschiedene Drogen, von denen ich keine zur Verfügung hatte, und an meine Berufsmoral, die sich in Ensdas Fall rasend schnell verflüchtigte. »Wie ihr euch alle anstellen und euren erbärmlichen Verdienst umklammern würdet, bereit, ihn jedem auszuliefern, der euch eure Entscheidungen abnähme! Ich habe tatsächlich einmal einen ganzen Nachmittag damit verbracht, mit äußerstem Scharfsinn eine lunoskopische Karte zu erklären, die ich, wie ich hinterher entdeckte, verkehrtherum aufgehängt hatte. Und doch seid ihr wie bestellt dagestanden, habt fasziniert zugehört, die Augen selig nach innen auf die tröstliche Aussicht gerichtet, daß nie wieder jemand von euch verlangen würde, ihr solltet euch bemühen, einen eigenständigen Gedanken zu erzeugen!« Da ich mich jetzt praktisch damit abgefunden hatte, den Kampf um das Leben meines lieben Freundes zu verlieren, ließ ich mich stumpf ein wenig von dem Mitlam ablenken. »Und doch haben Sie, ›Doktor‹, sich nicht geschämt, Ihren Lebensunterhalt an denen zu verdienen, über die Sie sich jetzt lustig machen, indem Sie die Positionen der Gemarterten Dreiheit ausdeuteten.« Er widmete mir ein stacheliges Glucksen. »Ja, das habe ich getan, und jedesmal habe ich aus vollem Herzen dem abergläubischen Tölpel Dank gesagt, der sie so genannt hat – und eine bestimmte Menge Dankbarkeit habe ich für den glücklichen Zufall reserviert, daß diese Welt hier drei Monde besitzt! Ich werde es nie verstehen: Hat man der Öffentlichkeit nie gesagt, daß ihre kostbare Gemarterte Dreiheit am Himmel nichts anders ist als drei Steinkugeln, deren relative Positionen nichts anderes bedeuten als die Art und Weise, in der sie übereinander und über diesen Planeten stürzen? Ich bin bestimmt kein Philosoph, aber das habe sogar ich begriffen!« »Ich bin auch kein Philosoph«, erwiderte ich und fügte nach einem
erneuten Blick auf Mavs reglosen Körper hinzu: »Und auch kein besonders guter Kauteriseur. Aber wenn ich in diesem Augenblick glauben könnte, und sei es mit der winzigsten Fingerspitze, daß irgendein Zauber mir meinen Freund zurückgeben könnte, würde ich mich sehr wohl in Ihrer Schlange anstellen, Ensda, und mein Geld abliefern. Sie sind ein Verbrecher – Sie beuten die Einsamen und Kranken, die Hoffnungslosen und die von einer Tragödie Geschlagenen aus. Ich hoffe, Sie bekommen, was Sie verdienen!« Wieder dieses zynische Zucken. »Ach, ein Sentimentalist! Und vermutlich besuchen Sie auch die Etablierte Kirche regelmäßig und hören sich deren Sorte von falschen Ratschlägen und Tröstungen an? Die königlich empfohlene Sorte?« »Nein, das tue ich eigentlich nicht.« Und ich hatte es auch seit meiner frühesten Kindheit nicht mehr getan. »Nun, wenigstens darin sind Sie konsequent. Wir sind alle im gleichen Geschäft, wissen Sie – halten eine ›Zeremonie‹ ab, für die kein Bedarf besteht. Mein Lieber, ›Verbrecher‹ wie ich und wie die Hochwürdigen Lamn der Dreiheitskirche wären sofort aus dem Geschäft heraus, wenn Ihre einsamen, kranken, hoffnungslosen, von Tragik geschlagenen Massen einfach ihr Leben selbst in die Hand nähmen. Niemand kann einen anderen weniger einsam oder weniger krank machen, Hoffnung erzeugen oder Tragik beseitigen. Oder auch nur einen anderen glücklich machen. Das können nur wir für uns selbst tun, indem wir feststellen, was wir eigentlich wollen, und dann handeln, um es zu erlangen. Die meisten Leute verbringen ihr Leben damit, dem Wissen, was sie wirklich wollen, auszuweichen, und diese Flüchtlinge vor sich selbst sind dann meine Kunden. Sie verdienen mich, mein Lieber, sie verdienen mich in vollem Maße, und ich tue mein bestes, sie so zu behandeln, wie es ihnen gebührt!« Diesen Zynismus wies ich verächtlich zurück. »Indem Sie ihnen Unsinn verkaufen, anstatt ihnen den Rat zu geben, den sie wirklich brauchen – den Rat, den sie gerade eben mir gegeben haben.« »Genau – indem ich ihnen den Unsinn verkaufe, den sie neuntausendmal lieber annehmen als die Wahrheit. Mit der Wahrheit ist sehr wenig Geld zu verdienen, mein Lieber, sehr, sehr wenig Geld. Ge-
wöhnlich kommt dabei irgendeine Form von öffentlicher Hinrichtung heraus, die ziemlich häßlich ist.« »Ich wollte ihn doch nur erschrecken!« versicherte Law jetzt vielleicht zum dreißigstenmal in einer Stunde. »Seine verfluchte Untersuchung war es! Oh, wie bin ich nur jemals in all das hineingeraten? Warum war ich jemals einverstanden –« »Ruhig, Idiot!« brummte Ensda, der jetzt von einigen seiner Fesseln befreit war. Er stand auf und fing an, in dem kleinen Raum auf- und abzugehen, bis er zurückgerissen und so daran erinnert wurde, daß ich einen der Ringe an seiner Gehhand gelassen und einen zweiten an der von Srafens großem, schwerem Schreibtisch befestigt hatte. Er blieb stehen und sagte zu Law, während er mit dem Finger auf Mav zeigte: »Du bringst uns noch beide zwischen die Richtblöcke, ob dieser elende Schnüffler nun…« »Gentlelamn«, sagte eine vertraute Stimme munter, »seien Sie doch so freundlich, nicht in der dritten Person von mir zu sprechen, denn das ist nicht sehr höflich und im Augenblick noch nicht angebracht!« Meine Herzen machten einen Satz, als Mav sich auf den Kissen regte. »Mymy, mein Lieber, ich danke dir für deine freundlichen Bemühungen; sie waren sehr hilfreich. Wie du sehen kannst, hat die Blutung jetzt aufgehört – wieder ein Erfolg der Resre-Ubungen. Ich glaube, mit einem bißchen Kood…« »Mav! Wenn du nicht stillhältst, wirst du wieder zu bluten anfangen. Kood ist ein Anregungsmittel, das brauchst du nicht – es könnte durchaus eine tödliche Wirkung haben!« »Schließen Sie die Fesseln auf«, erbot sich Ensda mit einem abscheulich höhnischen Grinsen, »dann hole ich ihm seinen Kood mit Vergnügen.« »Ihre Großzügigkeit ist überwältigend, mein lieber Doktor. Ich sehe bei Pah, daß ich Erfolg hatte, nicht nur, weil ich Sie gefaßt habe, sondern auch, weil ich Ihr Leben für die gnädigen Bemühungen der Gerichtsbarkeit Ihrer Majestäten bewahren konnte! Sehr erfreulich, wirklich, Tis wird zufrieden sein!«
Ich ergriff wieder das Wort. »Mav, du mußt wirklich still liegenbleiben. Du hast mich ganz schön erschreckt, weißt du, und Vyssu auch – zweimal eigentlich, denn ich war sicher, daß du im Sterben liegst, und ich verstehe auch nicht ganz, wieso du dich erholt hast.« Vyssu, ausnahmsweise einmal sehr schweigsam, nickte zustimmend. »Ich verstehe es auch nicht völlig, Mymy. Ich glaube, ich habe unbewußt mit den Übungen angefangen, während ich an der Brücke hing. Danach kann ich mich an nichts erinnern, nur an ein unbestimmtes Gefühl, daß ihr beiden höchst aufgeregt wart – ach ja, und an deine wackeren Bemühungen, mein Leben zu retten. Und nun sag mir, was habe ich für Verletzungen?« Ich zögerte, weil ich nicht so recht wußte, was ich darauf antworten sollte. Dann: »Nun ja, nachdem du nicht am Blutverlust zugrundegegangen bist, möchte ich sagen, wenn du dich während der nächsten paar Wochen einigermaßen vorsichtig verhältst, wirst du dieses Glied vielleicht besser bewegen können als in früheren Zeiten. Es war höchst unfachmännisch eingerichtet und…« »Auf dem Schlachtfeld, wenn du dich erinnerst, mein Lieber. Großartig! Nun, wo hast du mein Inhalierrohr versteckt? Und Law, Sie werden mir sofort erklären, was Sie vorhin meinten, sonst landen Sie mit tödlicher Sicherheit zwischen den Richtblöcken. Was wollten Sie damit sagen, daß Sie nicht vorhatten, mich zu töten? Wann?« Law ließ seinen Blick durch das Zimmer wandern und schien sich in sich selbst zurückzuziehen. Nein, keine Seele unter den Anwesenden würde ihn verteidigen. Die einzige außer mir, Mav, Vyssu und dem abscheulichen Ensda noch anwesende Person war völlig stumm geblieben, in beinahe hysterischer Starre; vor Myssmos ungläubigen Augen löste sich ihre Welt auf, und es paßte völlig zu ihrem Charakter, daß sie diese Welt jetzt abwies und in eine dumpfe Apathie versank, eine Art Hann im Wachen. Verschwunden war auch Laws Playboyprahlerei. Er holte Atem und wollte sprechen, aber Ensda brummte wieder, und jetzt war zum erstenmal ein ganz leises Wimmern von Myssmo zu hören. Mav unterbrach: »Ensda, wenn Sie ihm noch einmal drohen, sorge ich persönlich dafür, daß man Sie in die kälteste, dunkelste und feuchteste Zelle von
ganz Mathas steckt, während Sie darauf warten, für den Mord an Professor Srafen hingerichtet zu werden! Und nun sprechen Sie, Law! Vielleicht können Sie sich ein ähnliches Schicksal ersparen.« Nun folgte eine lange Pause, und dann, als Bestätigung dessen, was mein Freund schon die ganze Zeit vermutet hatte, entfernte Law den Gehhandschuh von seiner rechten Hinterhand. Und allem Anschein nach die Hand gleich mit dazu. »Ach, Sie waren derjenige, der uns im Kiiden angegriffen hat!« sagte ich völlig unnötigerweise und, nach Mavs Gesichtsausdruck zu schließen, ohne an der Reihe zu sein. Ja, da waren sie, die ersten, zarten, kindlichen Schößlinge sich regenerierender Finger. Ich wußte jetzt, daß ihre Vorgänger in der Eiskiste im Büro meines Beivaters konserviert wurden. »Und Sie«, antwortete Law mit tonloser Stimme, »haben mir dafür die Hand abgeschlagen!« Er blickte beinahe ungläubig auf sein abgetrenntes Glied. Mit einem Glucksen im Fell bemerkte Mav: »Ganz richtig, alter Lam, und was ist, wenn ich fragen darf – wozu ich ja offiziell verpflichtet bin –, aus Ihrem unfähigen Spießgesellen geworden?« Law zuckte zusammen. »Ach, der? Nur ein Mietling, den ich zufällig in einer Schenke hier in der Nähe aufgegabelt habe. Er müßte inzwischen fort sein, mit dem Schiff, auf dem er hergekommen ist. Ich glaube, sie sollten heute abend abdampfen – es war die ›Habo‹, soviel ich weiß, ein Podfettianer: Ich habe ihn ausgesucht, weil er kein Wort fodduanisch sprach. Nicht, daß er mich verraten hätte, ich…« »Reißen Sie sich zusammen!« schrie Mav plötzlich. »Sie faseln ja.« Law blinzelte. »Oh, entschuldigen Sie. Wo war ich? Sie müssen mir glauben, Sir, ich hatte nie die Absicht, jemandem – und ganz besonders nicht mir selbst – bei dem, was geschah, eine Verletzung beizubringen. Es ist nur so, nun ja, Ihre Ermittlungen führten Sie immer dichter an meine… das heißt, sie schienen mich in Gefahr zu bringen, und deshalb unternahm ich etwas, um Sie abzuschrecken.« »Hmm… allmählich verstehe ich«, erwiderte der Detektiv leise. Er hatte die Tasche in seinem Umhang gefunden, mit dem ich ihn zuge-
deckt hatte, und tropfte, trotz warnendster Blicke von mir, Riechflüssigkeit in sein Silberrohr. Jetzt hörte er damit einen Augenblick lang auf und sah Law ziemlich scharf an. »Und was hat das alles mit Doktor Ensda hier zu tun?« Die Stimme meines Freundes klang plötzlich ganz erschöpft – vermutlich gibt es eine Grenze dessen, was man ertragen kann, so trainiert und fit man auch sein mag. Sein Fell wurde schlaff und schien plötzlich seinen Glanz zu verlieren. Klirrend erreichte Ensda wieder das Ende seiner Kette, starrte mich wütend an, und ließ sich da, wo er stand, auf dem Kissen neben Myssmo nieder, die ganz untypischer-, aber jetzt verständlicherweise vor ihm zurückschreckte und wieder ein leises Wimmern ausstieß. »Ich werde Ihnen sagen, was es mit mir zu tun hat. Ich lasse mir nicht einen Mord anhängen, mit dem ich nichts zu tun hatte! Ich habe schon einmal gesessen, und was immer ich jetzt bekomme, kann ich auf den Kiefern stehend durchhalten – aber ich werde nicht für Leute wie die da zwischen die Richtblöcke gehen!« Er hob eine Hand und zeigte auf Law und Myssmo. »Der Plan war recht einfach, aber diese beiden waren noch einfacher und brauchten folglich meine Unterstützung, nicht nur, um ihn durchzuführen, sondern um ihn sich überhaupt erst auszudenken! Die hier…« – jetzt deutete er auf Myssmo – »glaubt tatsächlich an die Watukugeln, die ich als persönlichen Rat ausgebe. Lunologie? Soll doch alles verfaulen, ich kann nicht einmal die Position des morgigen Sonnenaufgangs berechnen! Aber man braucht nur die richtigen ›Zauber‹Formeln zu benutzen, und Schwachköpfe wie sie glauben immer – und bezahlen!« Bei diesen Worten begann Myssmo zu heulen. »Oh, sei still, albernes Weib, du unterbrichst mich! Das Problem war, daß ihre Zahlungsfähigkeit Beschränkungen unterworfen war. Ihr Beigatte, der wirkliche Algenverdiener (hier richtete er einen langen, verächtlichen Blick auf Law) dieser glücklichen Familie, hatte ihr ein streng begrenztes Taschengeld ausgesetzt. Kein Wunder, wenn man sieht, was sie aus dem Haus gemacht hat, seit der alte Frann ins Gras gebissen hat. Srafen hatte vor, wie ich herausfand, soviel von sihrem beträchtlichen Vermögen wie möglich für die Weiterführung sihrer phi-
losophischen Phantasieflüge zu stiften. Was für eine Verschwendung! Man stelle sich das alles vor, alles wegzugeben, nur damit ein Haufen Dünnpelze noch längere Wörter und noch unverständlichere Theorien absondern kann!« Nun, überlegte ich, das hatte ich schon einmal gehört, es war ein Punkt, in dem dieser Marktschreier, Niitood der Reporter und der Hüter der Grundwahrheit sich einig waren. Es war ein Wunder, fand ich, daß es überhaupt noch irgendwelchen Fortschritt gab, es standen so viele Gegner bereit, die ihn bekämpfen wollten. »Jedenfalls«, fuhr Ensda fort, »trat ich an ›Lawsie‹ heran, denn er schien persönlich einige Verwendungsmöglichkeiten für Geld zu haben…« Hier überraschte mich Vyssu mit einem kurzen Auflachen. »… und es hätte überhaupt keinen Sinn gehabt, mit der Frau hier irgend etwas Geradliniges, Vernünftiges zu besprechen. Nach einigen Verhandlungen trafen wir ein Abkommen und machten einen Plan. Mit Hilfe von einem von Srafens Rechtsanwälten, von dem ich einige peinliche Dinge wußte, begannen wir die Bücher ein wenig zu frisieren. Srafen würde es nie erfahren, daß wir sihre finanziellen Rücklagen anzapften, denn das würde erst offenbar werden, wenn ser das Zeitliche gesegnet hatte – dann würde die Naturphilosophie eben keine Gratismahlzeiten bekommen.« Law sank plötzlich zu Boden und bedeckte jedes Auge mit einer Hand. Myssmo, die all das, genau wie wir, zum erstenmal hörte, schien seltsam ungerührt. Ich behielt auch Mav im Auge, dessen nachdenklicher Ausdruck sich bei jedem neuen Wort des Lunologen mehr verdüsterte. Ensda rechnete mit beiden abwechselnd ab. »Wir sorgten dafür, daß unsere leichtgläubige Freundin hier eine Entschädigung bekam, die jegliche geringfügige Neugier, die sie vielleicht empfand, abblockte. Sie können in diesem Haus sehen, wozu sie das Geld verwendet hat – widerlich! Und du – steh auf, du weichschaliger Schwächling! Stell dich dem, was auf dich zukommt, wie ein Lamviin! Du hast dir deinen Anteil an den Einkünften recht gern gefallen lassen, solange Geld die einzige
erkennbare Konsequenz war! Und da haben Sie nun, mein lieber Ermittlungsbeauftragter, ein vollständiges Geständnis – einer Unterschlagung! Es ist leicht nachzuprüfen; neben anderen Beweisen werde ich Ihnen den Namen von Srafens treulosem Rechtsanwalt nennen. Aber ich sehe, Sie sind verwirrt – warum ich das tue? Weil, sehen Sie, unsere periodischen Plünderungen sihres Vermögens nur möglich waren, solange ser noch am Leben war; bei sihrem Tod wäre der Trust – dieser so herrlich manipulierbare Trust – aufgelöst worden, aller verbleibende Besitz wäre auf das Museum und die Universität übergegangen, und wir hätten keinerlei Nutzen mehr daraus ziehen können. Sie haben mich jetzt als Dieb überführt, aber nie als Mörder – ich hatte viel zu viel zu gewinnen, wenn Srafen weiterhin gesund und munter blieb!« Mav stemmte sich ein wenig hoch, dabei belastete er sein verletztes Glied mehr, als mir lieb war. »Ich verstehe vollkommen, Sir«, sagte er sehr leise. »Und Sie, Law, fürchteten, daß meine Untersuchungen bei Srafens Tod diese Schwindeleien aufdecken würden und beschlossen, gewaltsam gegen mich und meinen Freund vorzugehen.« Er nahm mit einer mutlosen Handbewegung das Inhalierrohr aus seiner Nüster und legte es auf einen Seitentisch. Von Srafens Gatten war kein Laut zu hören, nur in seinem Fell war tiefste Resignation zu sehen. Ensdas Pelz trug einen Ausdruck deutlicher Verachtung. »Und damit hat der Narr die Aufmerksamkeit direkt auf uns gelenkt!« Mav wurde seltsam still, ein Ausdruck, den ich nicht deuten konnte, bedeckte seinen Rückenschild. Er blickte zum Fenster; inzwischen war es draußen stockdunkel geworden und nach diesem Ausdruck zu urteilen sah es in seiner Seele möglicherweise genauso aus. Er war nicht weit von der Wand entfernt, so griff er hinüber und zog den Vorhang zurück. »Ich sehe, der Regen hat aufgehört, Mymy. Sei so gut und rufe im Bezirksgebäude an. Sie werden Dr. Ensda dort haben wollen, und Law auch. Es wird ihr zwar nicht viel nützen, aber ich glaube, wir können Myssmos Namen aus der Sache herauslassen.« Seine Gleichgültigkeit erschreckte mich sehr. Vyssu stand an meiner Stelle auf und verließ den Raum, denn ich
konnte den Detektiv, der seine bittere Enttäuschung so deutlich erkennen ließ, nicht alleine lassen. In diesem Augenblick fürchtete ich viel mehr um sein Leben als irgendwann sonst an diesem Abend, denn man braucht einen Grund, um weiterzuleben, und davon war bei meinem Freund nicht die geringste Spur zurückgeblieben. »Mav«, sagte ich, »wir haben zwei Verbrecher zur Strecke gebracht, und immer noch einen Mörder zu…« »Ich weiß, liebster Freund«, murmelte er sanft, »ich habe es nicht vergessen. Ich glaube, der einzige Weg, der jetzt noch bleibt, ist zu sehen, ob ich mich, wenn ich mich von dieser Wunde erholt habe, ebenfalls ermorden lassen kann oder nicht.«
14. Kapitel Verzweifeltes Unternehmen Mavs Niedergeschlagenheit erwies sich als entsetzlich ansteckend. Er hatte viel kostbare Zeit, Mühe und teure Hoffnungen drangegeben und beinahe auch noch sein eigenes Leben geopfert, um eine Angelegenheit zu verfolgen, die, wie wir jetzt erfahren hatten, überhaupt nichts (oder höchstens in einem äußerst indirekten Sinn) mit Professor Srafens Ermordung zu tun hatte. Daß mein Freund, der Detektiv, sich entmutigt zeigte, überraschte mich nicht. Ich selbst fühlte mich, wie ich feststellte, ununterbrochen erschöpft und begann sogar zu zweifeln, so verwickelt und komplex kamen mir die gewöhnlichsten und unschuldigsten Angelegenheiten der Lamn vor, ob Mavs glänzender Traum, die kriminellen davon auf wissenschaftliche Weise zu entwirren, überhaupt realisierbar war. Vielleicht sollte man solche Aufgaben am besten den Kirchenlamn überlassen und jenen neuen Irrenärzten, die allmählich einen gewissen, notorischen Ruf genossen. Es stellte sich überraschenderweise heraus, daß Ensda die Wahrheit gesprochen hatte, denn seine Geschichte wurde am nächsten Morgen – ich erfuhr dies durch das außergewöhnlichste Telefongespräch, das ich jemals geführt habe – bei der Festnahme des verbrecherischen Rechtsanwalts (ein Ausdruck, den Niitood später als den Gipfel der Redundanz bezeichnen sollte) und seinem anschließenden Geständnis bestätigt. Es ist wirklich erstaunlich, was die Möglichkeit, wegen eines Schwerverbrechens angeklagt zu werden – und vielleicht unter die Richtblöcke zu kommen – vermag, um einen gewöhnlichen Dieb zur Mitarbeit zu bewegen. Irgendwie sollte in den nächsten paar Tagen Vyssus Unternehmen im Kiiden unser inoffizielles Hauptquartier werden, zum Teil vermutlich wegen Mavs Unpäßlichkeit. Er duldete in seiner eigenen Wohnung keine Diener; Fatpa und ein oder zwei andere, die ihren Lebensunter-
halt Vyssu verdankten, überwachten besorgt die Wiedergenesung des Ermittlungsbeauftragten. Das ärgerte mich ein wenig, denn schließlich war ich es, der die Behandlung begonnen hatte und sich nach jeder beruflichen Ethik um ihre Fortführung und Beendigung hätte kümmern müssen. Trotzdem wurde ich am nächsten Morgen nicht aus medizinischen Gründen barsch an die Seite des Detektivs gerufen. Er lag auf einem breiten, satinbezogenen Kissen, der schmale Stab seiner silbernen Inhalierröhre ragte schelmisch schräg aus einer Nüster, und ein Docht von robustem, lamlichem Kood erfüllte den vorderen Salon seiner Freundin (der ihm jetzt als Büro und Krankenstube diente) mit einem, herzhaften Duft. Ich stellte meine Tasche auf den Teppich. »Guten Morgen, Mav. Ich sehe, du läßt es dir wie üblich gutgehen. Trotzdem ein Wort über dein Rohr, das deine Heilung um mindestens…« Er runzelte das Fell und blickte zu mir auf. »Ach, Mymy, auch dir einen guten Morgen. Wenn du mir mein Rohr verbietest, lieber Kauteriseur, bin ich wohl gezwungen, mich dem Aufladen zuzuwenden.« Hier ahmte er recht genau jene plötzliche Starre nach, die der Strom im Körper hervorruft. »Welche Wirkung hätte das wohl auf meine Gesundheit? Soviel ich mitbekommen habe, kannst du jetzt eine fundierte Meinung zu diesem Thema äußern.« »Oh, bei allen… nun gut, führe ruhig zu Ende, was Ensda begonnen hat! Aber teile mir bitte freundlicherweise vorher noch mit, warum Fatpa, dieser seltsame, unangenehme Kerl, heute morgen in meiner Wohnung angerufen und mich in deinem Namen um Unterstützung gebeten hat. Hast du doch noch im Sinn, deine Bemühungen fortzuführen?« Bei dieser unbedachten Äußerung schämte ich mich sofort, denn wenn jemand Mav verstehen und seine vergeblichen Bemühungen und die endgültige Resignation in seinen Worten gestern abend nachempfinden konnte, dann ich. Mav blieb jedoch ganz gelassen. »Ganz richtig, mein Lieber, ganz richtig, obwohl ich dich eigentlich weniger hierherrufen ließ, damit du mich unterstützt, sondern um sicherzustellen, daß du dich weiterhin ungetrübten Wohlbefindens erfreuen kannst. Sag mal, Mymy, hast du noch die kleine Pistole, die wir Law abgenommen haben?«
»Aber ja, ich glaube schon. Es bleibt zu hoffen, daß Law in Zukunft nicht allzuviel Verwendung dafür haben wird. Warum fragst du überhaupt? Möchtest du, daß ich sie zurückgebe?« »Ganz im Gegenteil.« Er lachte. »Glaubst du, daß du nach nur einer kurzen Lektion wirksam damit umgehen kannst?« Er streckte eine Hand aus, was ich als Bitte verstand, die fragliche Waffe zu untersuchen. Ich kramte in meiner Tasche herum, fand die Pistole und gab sie ihm, zögerte aber mit einer Antwort. Wie vorher bei meiner Unterhaltung mit Fatpa wurde mir auch dieses Gespräch immer unverständlicher, je länger es dauerte. »Ich weiß nicht, wie ich bei diesen Dingen Wirksamkeit beurteilen soll, Mav. Ich glaube, ich kann so gut oder besser damit umgehen wie am Morgen unseres Picknicks.« Er schloß die kleine Pistole mit einem Knall. »Großartig. Du mußt jetzt vorsichtig sein und sie so aufbewahren, daß du sie schnell erreichen kannst, denn während der nächsten Tage werde ich dein Leben – und auch mein eigenes, wie ich schnell hinzufügen möchte – auf den Spieltisch legen und alles auf eine Karte setzen, um einen Übeltäter in die Falle zu locken.« Er gab mir die Waffe zurück und schwieg einen Augenblick lang. Dann: »Wenn ich nicht ahnte, mit welch energischer Selbstgerechtigkeit du darauf reagieren würdest, dann würde ich mit dem Vorschlag spielen, du solltest dich hier im Haus, wo ich weniger Sorgen um deine Sicherheit zu haben brauchte, ein Zimmer nehmen.« »Mein lieber Junge«, gab ich eisig zurück, »ich bin sicher, deine Ahnungen werden eintreffen, denn dieser Vorschlag erfüllt mich mit so starker Abneigung, wie du es erwartet hast! Was meine Sicherheit angeht, Sir, so passe ich jetzt seit beinahe…« »Nun, Mymy«, sagte er plötzlich ganz sanft, »hier ist wirklich Grund zur Sorge vorhanden. Du konntest nicht wissen, als du hierherkamst, daß ich öffentlich verkünden will, der Name unseres Mörders sei mir bekannt. Ich fürchte – ja, ich bin ziemlich sicher, – daß diese Ankündigung ihn zwingen wird, noch einen Schlag zu versuchen, ehe…« »Was willst du damit sagen? Warum hast du mir nicht sofort davon erzählt, anstatt…« Ich setzte mich schwerfällig auf das Kissen neben ihm, völlig verblüfft und nicht wenig verärgert, daß ich soviel Mitleid
verschwendet hatte. »Ich sagte nicht, daß ich weiß, wer Srafen ermordet hat, Mymy, nur, daß ich vorhabe, das zu verkünden. Es ist zu hoffen, daß ich mit Hilfe dieser Täuschung und den darauffolgenden Aktionen des Mörders seine Identität entdecken und damit fähig sein werde, mein öffentliches Versprechen zu erfüllen. Kannst du mir folgen?« Meine Gedanken überstürzten sich. »Davon hast du also gestern abend gesprochen! Ich habe es für selbstmörderische Resignation gehalten!« Er lachte, sein Fell runzelte sich dabei bis an die Haarwurzeln. »Nein, keineswegs, mein Liebster, keineswegs. Es tut mir wirklich sehr leid, daß ich dich so erschreckt habe. Vielleicht war mein Tonfall von meinen Wunden und meiner Erschöpfung beeinflußt. Dieser Gedanke war mir gekommen – ja, ich habe mir irgendwann im letzten Jahr einmal ein paar Notizen darüber gemacht – aber als es so aussah, als sei Ensda unser Lam, schob ich ihn beiseite. Jetzt ist er die einzige Zuflucht, die mir noch bleibt, ein Akt berechneter Verzweiflung, denn all meine anderen Spuren sind anscheinend zusammen mit der Feuchtigkeit des gestrigen Regens verdunstet.« Ich atmete den Koodrauch ein, der durchs Zimmer schwebte und wappnete mich wieder. »Ich verstehe. Und auf welche Weise willst du diese Ankündigung machen?« Er griff herüber und streichelte eine meiner Hände. »Ich habe es schon getan, bei Niitood und seinen Kollegen und Konkurrenten, mit Hilfe einer schriftlichen Aussage, von der der gute Fatpa jetzt, in diesem Moment, überall in der Stadt in den Zeitungsbüros Durchschläge verteilt. Möchtest du das Original sehen?« Er reichte mir ein Blatt Papier, das nicht das Siegel der Abteilung, sondern, in sauberen, handgeschriebenen Zeilen, seinen eigenen Namen und die Adresse des Hauses trug, in dem wir saßen und uns unterhielten: AN ALLE, DIE SICH FÜR DIE ANGELEGENHEIT DES VERSTORBENEN PROFESSORS SRAFEN ROTDU RIZMOU INTERESSIEREN:
Nach ausgedehnter Untersuchung der Umstände, unter denen vor kurzem der Kurator des Kaiserlichen Museums für Naturphilosophie brutal ermordet wurde, habe ich beschlossen, die für den Mord verantwortliche Person bei einer Versammlung zu benennen, die in den Amtsräumen des Bataillonschefs Waad Hifk Tis in drei Tagen abgehalten werden soll. Diejenigen Personen, die rechtmäßig an dieser Sache beteiligt sind – und auch andere –, dürfen sich darauf verlassen, daß bis zur äußersten Grenze, die das Gesetz im Namen Ihrer Majestäten zuläßt, Gerechtigkeit geübt werden wird. Agot Edmoot Mav Kübeliere Ihrer Majestäten Fadyedsu Street, Kiiden Es war meiner Aufmerksamkeit keineswegs entgangen, daß Mav mich zum erstenmal, seitdem wir uns kannten, anders mit der Hand berührt hatte, als es zum Beispiel notwendig war, um einem der schwächeren Geschlechter in eine Kutsche zu helfen oder jemanden über eine gefährliche Durchfahrtsstraße zu begleiten. Ja, die Schwierigkeit, die es mir bereitete, diese Unterhaltung mit ihm verständlich zu Ende zu führen, war nur das erste von vielen, ebenso verwirrenden Ereignissen, die während der nächsten paar Dutzend Stunden über unsere Rückenschilde hinwegzuschreiten schienen, und zwar mit solcher Wildheit und Schnelligkeit, daß es mir jetzt richtiggehend albern vorkommt, wenn ich mich daran erinnere, daß ich mich die meiste Zeit ziemlich langweilte. Mav zog weiterhin in Zweifel, ob ich in Sicherheit sei, falls ich innerhalb meiner eigenen Wohnung in der Gamlo Road blieb. Ich weigerte mich meinerseits natürlich hartnäckig, wenn auch nur für kurze Zeit, in einem so berüchtigten Haus wie dem von Vyssu zu wohnen. Wir einigten uns schließlich, und zwar erst nach einer längeren, hitzigen Debatte, daß die Abteilung mir, inkognito, ein Zimmer in einer Pension auf der anderen Straßenseite zur Verfügung stellen sollte. Um wieviel sich dadurch die Schicklichkeit steigerte, weiß ich nicht sicher, aber ich hatte Mav endgültig klargemacht, daß ich allein für meine Lebensführung und Sicherheit verantwortlich war und niemand sonst. Er hatte früher oft festgestellt, daß in einer moralisch intakten
Zivilisation jedes Individuum allein und ausschließlich über sein, ihr oder sihr eigenes Leben müsse bestimmen dürfen; seiner Ansicht nach war das die unbedingt notwendige Voraussetzung, auf der gesellschaftlicher Anstand begründet sein mußte. Aus diesem Grund blieb ihm kein logischer Ausweg mehr, er mußte aufhören, mit mir über die Frage zu streiten, wo ich wohnen wollte, solange diese Situation andauerte. Ich freute mich nicht unbedingt darauf, mit der gleichen Argumentation meine Mutter zu überzeugen, beschloß aber, dieses spezielle Problem, soweit es möglich war, erst anzugehen, nachdem Tatsachen geschaffen worden waren. Zoobon, meinem doppelzüngigen Dienstmädchen, sagte ich einfach, ich müsse unter passender Begleitung eine Reise für die Abteilung machen – was in gewissem Sinne ja stimmte. Die Pension gegenüber von Vyssus Haus besaß und leitete ein netter, kleiner alter Derr, äußerst gebrechlich und in fortgeschrittenem Alter, der mir oder irgendeinem anderen Bewohner oder Besucher scheinbar nicht die geringste Abweichung von anständigem Verhalten durchgehen lassen würde. Wenn Mav und Fatpa mich besuchten, mußten wir uns unter sihrem beiväterlichen Auge in der winzigen Halle aufhalten, und auch das nur in einem streng festgesetzten Zeitraum, der für diesen Zweck bestimmt war, weiter durften sie das Haus nie betreten. Auch ich mußte, wenn ich ausging, jeden Abend lange vor der Dämmerung zurückkommen, sonst hatte ich mit unverzüglicher Ausweisung zu rechnen. Alles in allem kann man sagen, daß ich – wie auch der Sinn für Schicklichkeit, den mir meine Eltern mit einiger Mühe eingeflößt hatten – höchst zufrieden war mit dieser Vereinbarung. Erst ziemlich viel später erzählte mir Mav, wobei ein sanft humorvolles Zucken durch sein Fell ging, daß die strengen Bestimmungen in diesem Haus (anscheinend vergeblich) nur dazu dienen sollten, die örtliche Bevölkerung und die Behörden von bestimmten Verdachtsmomenten abzulenken: Ein ›geheimer‹ Ring von Unarchisten versammelte sich regelmäßig tief im Keller, unter der begeisterten Führung meines netten, kleinen, alten Derrn an jedem zweiten, fünften und achten Tag der Woche um eine tropfende Kerze. Das war, dachte ich, anscheinend eine Verschwörung, die es sich nicht zum Ziel gesetzt hatte, die Welt zu elektrifizieren.
Damals saß ich jedoch lässig und bequem in meinen gemieteten Räumen im ersten Stock und starrte über die Straße zu Vyssus Haus, wie ich schon sagte, relativ zufrieden mit der Situation. Pah in seiner Weisheit allein weiß, daß ich sonst nur sehr wenig mit mir anzufangen wußte. Mavs provozierende Notiz war in allen Zeitungen erschienen, und Exemplare davon waren überall auf dem Boden meiner selbstgewählten Einsiedelei verstreut, jede Zeile jeder einzelnen Seite hatte ich mangels anderer Betätigung immer und immer wieder gelesen. Es war ein Wartespiel, das wir spielten, das rief ich mir jede Stunde mit immer weniger Überzeugung ins Gedächtnis, ein Spiel quälender Langeweile mit der unbestimmten, unsicheren Aussicht auf einen totalen, gewaltsamen Schreck am Ende als Entlastung. Seitdem habe ich begriffen, daß dieses Prinzip typisch für jede Polizeiarbeit ist. Mav sagte, es sei als lege man ein Stückchen Fleisch als Köder in eine Raubtierfalle und bezeichnete uns als Lebendköder, bis ich ihn überzeugen konnte, daß diese Wendung nicht sehr elegant war. Ich bin froh, daß ich Kauteriseur bin, in diesem Beruf beschäftigt man sich mit Notfällen hauptsächlich nach Vereinbarung. Nachdem ich also, wie ich schon sagte, sonst nur wenig oder nichts zu tun hatte, beschloß ich, mein bißchen Erfahrung mit der Pistole, mit der Mav und ich geübt hatten, zu erweitern. Da ich mir dachte, daß der Wirtsderr höchstwahrscheinlich nicht begeistert wäre, wenn ich sihre Wände und sihre Decke mit Schußlöchern vollpfefferte, und daß die anderen Bewohner des Hauses sich vielleicht wegen des Lärms beschweren könnten, überlegte ich mir schließlich, daß sich viele der erforderlichen Fähigkeiten vielleicht auch verbessern ließen, ohne daß man wirkliche Schüsse abfeuerte: Die ruhige Hand, das Anvisieren, das sorgfältige, bewußte Durchziehen des Abzugs – all das konnte man durchaus ohne Munition, Geräusche oder Wut (letztere höchstwahrscheinlich seitens meiner Nachbarn) üben. Außerdem, dachte ich, könnte dadurch, daß der furchtbare Rückschlag fehlte, bei mir vielleicht wirklich jede weitere Entwicklung jener Erscheinung verhindert werden, die Mav – noch so ein wenig eleganter Ausdruck von ihm – als Zurückzucken bezeichnet hatte. So zielte ich mit der kleinen Pistole auf die Lampenhalter an der Wand, auf Ziersimse an Gebäuden, die ich hinter meinen Vorhängen
sehen konnte, auf Insekten oder kleine, zufällige Wirbel im Sand auf dem Boden; ich umklammerte den Griff und bemühte mich, Kimme und Korn in einer Linie zu halten, bis der Hammer fiel. Diese Übungen wiederholte ich, zusammen mit ständigem Laden und Entladen des Dings schätzungsweise neuntausendmal oder öfter in den vielen, trüben Stunden, in denen ich alleine in dem Raum saß. Sollte ich jemals von wütenden Lampenhaltern, wildgewordenen Simsen, aggressiven Mücken oder bösartigen Sandklumpen angegriffen werden, jetzt wäre ich gut geschützt. Mav erholte sich schneller, als ich gedacht hätte, vermutlich dank der Aussicht, sich nun schließlich vielleicht doch einem angenehmen Ausgang dieses sumpfigen, teuflischen Rätsels zu nähern. Er kam mehrmals jeden Tag über die Straße, holte mich ab und ging dann mit mir ins Haus zurück, wo mittlerweile er gegen die Möglichkeit zu handeln anzuzappeln hatte. Wie er seine Zeit verbrachte, wenn ich nicht bei ihm war, darüber wollte ich gar keine Vermutungen anstellen; schließlich war da auch Vyssu, die alles, was sie sonst gewöhnlich unternahm, wegen Mavs seltsam statischer Jagd aufgegeben zu haben schien. Wenn ich bei ihnen war, saßen wir beisammen und unterhielten uns über Kunst und Politik, Sport und Drama, das Wetter und jedes andere, nebensächliche Thema, nur nicht über das, was am nächsten lag. Wenn das Licht schwächer wurde, geleitete mich mein Detektivfreund nach Hause, sein Schritt war jedesmal sichtlich lebhafter und kräftiger. Dann wartete ich allein, bis er das nächstemal auftauchte. An jedem dieser Nachmittage beklagte ich mich, ich wolle einkaufen gehen, Besuche machen oder einfach einen Spaziergang. Da überraschte mich Mav, indem er sich freundlich damit einverstanden erklärte – vorausgesetzt, ich nahm Fatpa überallhin mit! Ich brauchte nicht mehr als ein paar Sekunden, um mir vorzustellen, wie diese Erscheinung ein Kissen im Salon meiner Mutter belegte oder mir mit Paketen durch die goldenen Türen eines geachteten, mondänen Einzelhandelsgeschäftes folgte, den Plan aufzugeben und in die drei Wände zurückzukehren, die ich inzwischen so gut kannte – und so sehr verabscheute. Ein wenig belustigte mich damals die Vorstellung, wie Tis auf die Anwesenheit von Fatpas mächtiger Erscheinung im Bezirksgebäude
reagieren würde. Am Abend des dritten Tages, nach einem weiteren, geselligen Beisammensein mit Mav und Vyssu spürte ich, wie mich allmählich der Zustand des Hann beschlich. Das war mir, wie man sich vorstellen kann, keineswegs unwillkommen, da ich damit eine öde Stunde anständig herumbringen konnte, in der ich sonst die Hornhaut an meinen Abzugsfingern noch verdickt hätte. Ich legte den Riegel an der Tür vor, siebte die oberste Sandschicht in der Hannkiste, machte es mir darin bequem und vergrub alle neun Arme so tief wie nur möglich. Dann schloß ich die Augen und ließ mich treiben. Plötzlich setzte unten auf der Straße ein gewaltiger Tumult ein. Mühsam riß ich mich wieder ins Bewußtsein zurück und tauchte in einem Schauer feinen, sauberen Sandes auf, der auf den Boden spritzte und sich mit der gröberen Qualität mischte, die in diesem Zimmer als Teppich diente. Durch das Fenster konnte ich im Schein der Laternen zwei Wagen sehen, deren Deichseln und Riemen unentwirrbar ineinander verschlungen waren, die Achse des einen Wagens war gebrochen, ein Watu lag, allem Anschein nach schwer verletzt, auf dem Gehsteig. Die Fahrer, Burschen aus der Arbeiterschicht in grober, schmutziger Kleidung, standen am Ort des Zusammenstoßes, wedelten mit allen Armen und schrien so laut, daß die Scheibe klirrte, durch die ich sie beobachtete. Jeden Augenblick würden sie anfangen, sich wie wild zu prügeln, das war klar; trotz der späten Stunde sammelte sich eine Menge in freudiger Erwartung eines solch unvorhergesehenen, sportlichen Ereignisses. Die ganze Nachbarschaft ringsum fühlte anscheinend den Drang, aus voller Kehle beratende und ermunternde Zurufe beizusteuern. Irgendwo im Hintergrund war schwach die Trompete eines Kübeliers zu hören und versprach, daß vielleicht sogar ein Schiedsrichter dabei sein würde. Von meinem Aussichtspunkt aus, ein ganzes Stockwerk über dem potentiellen Handgemenge, erspähte ich plötzlich etwas, was kein anderer bemerken konnte und begriff, was die Szene dort unten wirklich war: nichts als ein Schaukampf. Auf Vyssus Dach zog eine dunkle Gestalt lautlos an einer Klappe, durch die sie ins obere Stockwerk gelangen konnte. Aus irgendeinem sonderbaren Grund veranlaßten mich ihre verstohlenen Bewegungen, noch einen Blick nach unten auf die
Wagen zu werfen – jetzt erkannte ich eines der Fahrzeuge, und auch das Tier, das es hierhergezogen hatte. Ich kannte auch die Gestalt zwischen den Kaminaufsätzen so gut wie irgendeine, obwohl sie jetzt ganz anders gekleidet war als bei unserer letzten Begegnung. Endlich, endlich, sage ich, sollte etwas geschehen, und ich wollte dabei kein Außenstehender bleiben. Ich ergriff meine kleine Pistole, vergaß auch nicht, die Geldscheintasche mit meinen amtlichen Abzeichen mitzunehmen, und stürzte die Treppe hinunter. Die Türen waren schon verriegelt. Als ich mich anschickte, sie zu öffnen, kam der Besitzer aus sihrem Raum. »Aber Missur, was geht denn hier vor? Sie wissen doch, nach Einbruch der Dunkelheit wird hier nicht mehr ausgegangen. Hausordnung.« Ich wedelte mit meinem Kübelierausweis unter sihren plötzlich ganz großen Augen herum. »Zum Teufel mit der Hausordnung! Seien Sie still und helfen Sie mir mit dieser verfluchten Nachtkette, ich bin im Dienste Ihrer Majestäten unterwegs!« Mein Gastgeber gehorchte mit einer Bereitwilligkeit, die sihre unarchistischen Neigungen Lügen strafte. Noch während ich auf die Straße hinausstürzte, erschauerte ich, weil ich diese bewegenden Worte gesprochen hatte, die ich schon so oft von Mav gehört hatte. Ich lief um die Menge herum auf Vyssus Haus zu und hämmerte gegen die Tür. Fatpa machte auf, blähte eine Nüster, als wolle er etwas sagen, bemerkte dann die Waffe in meiner Hand und gab mir den Weg frei. Dabei bemerkte ich, wie er von irgendwo ein angsteinflößendes Messer hervorzog; ohne ein Wort zu sagen folgte er mir nach oben. Da, auf dem Treppenabsatz stand die Gestalt, die ich auf dem Dach gesehen hatte. Beinahe wären wir zusammengeprallt, aber der andere zog sich erschrocken zurück und suchte verzweifelt in den schwarzen Gewändern herum, die er jetzt trug. Ich richtete meine Pistole auf ihn. »Bleiben Sie stehen, im Namen Ihrer Majestäten, sonst…« Etwas Metallisches blitzte in seiner Hand auf, sauste nach oben, fast schneller, als das Auge folgen konnte. Ich zog den Abzug. Ein Krachen und ein scharfer, stechender Schlag gegen meine Hand, beides bemerkte ich im Augenblick fast nicht. Die Gestalt taumelte nach
rückwärts, stieß gegen eine Wand, hob wieder die Waffe. Ich schoß noch einmal. Der Arm fiel herunter, die Waffe entlud sich auf den Fußboden. Als der Rauch zwischen uns sich verzogen hatte, lag Hochwürden Adem in einem Haufen verschlungener Gliedmaßen auf dem Teppich und schickte sich eben an, seinen letzten Atemzug zu tun.
15. Kapitel Sammelpunkt des Verbrechens Ich merkte kaum, daß ich die rauchende Pistole immer noch umklammert hielt, als ich mich neben dem gestürzten Lam niederhockte. Er regte sich ein wenig und brachte, anscheinend unter großen Schmerzen, ein einziges Wort hervor, das ich nicht verstand: »Danokih…« Dann schloß er die Augen, um das Licht der Welt für immer auszusperren, und verschied. Rings um mich auf dem Treppenabsatz sprangen Türen auf, Augen spähten ängstlich auf den Korridor heraus. Mir fiel ganz undeutlich auf, daß jedesmal, in jeder Türöffnung, die Insassen eine einförmige Dreiergruppe bildeten, bestehend aus einem Mann, einem Beimann und einer Frau. Als ich mir den Grund für diese gleichmäßige Verteilung der Geschlechter trotz meiner stark erschütterten Empfindungen endlich klarmachte, lief mir ein Schauder der Verlegenheit durch das Fell. Schließlich war ich ja, wie ich mich erinnerte, bei Vyssu. Ich stand auf und wandte mich der Treppe zu, nur um einer Person gegenüberzustehen, die ich kannte, einem… nun… einem Kunden von Vyssu, den ich und die Gewalt der Umstände unversehens erwischt hatten. Er zog sich hastig und schuldbewußt in den Raum zurück, den er gerade verlassen hatte. »Euer Eminenz!« schrie ich voll Staunen und Entrüstung. »Was in aller Welt tun Sie hier, an einem solchen…« Dann verstummte ich und sagte nichts mehr, denn ich kannte die Antwort auf meine alberne Frage nur zu gut und wußte auch, daß der Erzpriester von Mathas, der gute, achtbare Freund meiner Eltern, mir ohnehin wahrscheinlich niemals eine geben würde. Genau in diesem Augenblick brach im Erdgeschoß ein Tumult los. Da meinem Patienten nicht mehr zu helfen war, eilte ich an den Rand des Treppenabsatzes. Unten wurden Mav und Vyssu, die neben anderen Hausbewohnern allem Anschein nach gerade eben herbeigeeilt
waren, um zu sehen, was die Schießerei zu bedeuten hatte, von einem zornigen Streit am Eingang abgelenkt. Fatpa, ein Bursche, der gewöhnlich durchaus fähig war, mit solchen Drohungen fertigzuwerden, sah sich unbegreiflicherweise von einem zarten, mir wohlbekannten, netten, kleinen, alten Unarchisten überwältigt. »Geh mir aus dem Weg, du flegelhafter Lümmel!« schrie ser. »Du Lakai der Statistenelite! Behindere mich nicht, sage ich dir!« Hier schwenkte ser einen Gegenstand aus Metall, ich erkannte den großen, schweren Ring mit den Schlüsseln zu den zahlreichen Wohnungen, die ser vermietete, diesen Ring trug ser ständig voll Besitzerstolz bei sich. »Einer meiner Derren ist hier in irgendwelchen Schwierigkeiten! Du wirst sien mir sofort und auf der Stelle herholen, sonst hetze ich dir die Kübler auf den Hals!« »Aber, aber, aber, aber…«, sagte Fatpa und wich der massiven Metallkollektion des alten Derren aus, die gefährlich über seinem Rückenschild herumwirbelte. »Aber, aber, aber aber…« »Madame…«, versuchte es Mav, sein Tonfall und sein Pelz wirkten fast so weltmännisch wie der mondäne Morgenmantel, den er trug. »Reden Sie mich ja nicht so an!« gab der Wirtsderr zurück. »Nicht in diesem Haus!« Mein Detektivfreund erholte sich schnell. »Verzeihung, lieber Derr, ich bin Agot Edmoot Mav von den Kübelieren Ihrer Majestäten. Kann ich irgendwie…« »Ein Kübelier?« Ser musterte ihn überaus sorgfältig. »Ich hätte es mir doch denken können! Die Korruption in höchsten…« Plötzlich war ein dröhnender Krach zu hören. Die Vordertüren, die Fatpa wieder verriegelt hatte, ächzten und splitterten, dann gaben sie nach. Ein Trupp von einem halben Dutzend Kübelieren stürzte von draußen herein, die Wagenachse, die sie als Rammbock verwendet hatten, noch in den Händen, dann ließen sie sie fallen, und die Schmiere spritzte auf den Teppichsand. »He, was geht denn hier vor?« Der Anführer, ein kleiner, scharfer Bursche, schwang eine Feueraxt, während sich seine Lamn umsahen, ihrem Verhalten nach zu schließen wußten sie nicht genau, ob sie hier
waren, um einen Kampf zu beenden oder ein Feuer zu löschen. Ein Eiferer unter ihnen stürzte sich auf den Wirtsderrn und begann, sihr Handschellen um die Gelenke zu schließen. Ser schrie ihn ärgerlich an und schwang wieder sihre Schlüssel. Ein anderer hatte mit Fatpa ähnliche Absichten, stellte sich resolut vor diese imponierende Gestalt, musterte sie von Kopf bis Fuß, zuckte blöde mit dem Fell und suchte sich ein anderes Opfer. Seine Genossen drehten jetzt Kissen um und suchten in verdächtigen Falten zwischen den Vorhängen herum. Vyssu sah sich das eine Weile an, zuckte gelangweilt mit den Armen und ging hinaus, um Kood anzusetzen. Mav griff in die Falten seines Morgenmantels, als wolle er seinen Ausweis hervorholen, aber der Anführer des Trupps, der ihn nicht kannte, zog seinen Dienstrevolver: »Hände bleiben in Sicht! Hoch damit, sage ich!« Hinter mir schob sich der Erzpriester, inzwischen wieder voll bekleidet mit einem bauschigen Umhang, der ihn unkenntlich machte, aus dem kleinen Raum, in dem er sich aufgehalten hatte, und wollte sich an mir vorbei zur Treppe schleichen. »Euer Eminenz«, warnte ich ihn, »ich würde nicht da hinuntergehen, wenn ich an Ihrer…« Mein Wirtsderr, den sein erschrockener Möchtegern-Verhafter plötzlich freigelassen hatte, fing an, allen Ernstes mit sihren Schlüsseln auf den armen Kerl einzuschlagen, der sich verängstigt zusammenkauerte. Hinter sihr kam durch die eingeschlagenen Türen eine kleine, verwahrloste Gruppe von Fremden hereingelaufen, erspähten sien mit dem Kübelier und stürzten sich auf die beiden. Also Unarchisten, folgerte ich. Einige weitere Offiziere stürzten sich ins Getümmel, und bald prügelte sich eine wogende, lärmende Masse von Lamviin in Vyssus Salon und Eingangshalle. Ich beschloß, mich von meinem sicheren Standort im oberen Stockwerk nicht wegzurühren. Plötzlich wurde hinter mir klirrend ein Fenster eingeschlagen. Ein Lam in seltsamer Kleidung schwang sich an einem langen Seil durch den zerbrochenen Rahmen, stieß mit einem Hutständer zusammen und stürzte in einem Gewirr von Armen und Kopfbedeckungen darüber. Er rappelte sich wieder auf, sprang auf die Hände und band das Seilende am Metallwandhalter einer umgerüsteten Gaslampe fest, dann
strich er seinen Umhang glatt und griff darunter, um eine große, langläufige Jagdpistole hervorzuholen. Erst in diesem Augenblick erkannte ich, daß ich mein eigenes Schießeisen immer noch in der Hand hielt, beide Läufe waren jedoch abgefeuert, und die Reservemunition befand sich irgendwo auf der anderen Seite der von Massen erfüllten Straße in meiner Medizintasche. Der Bursche sah mich und hob seine Pistole, aber ehe er auch nur ein Wort sagen konnte, glitt ein zweiter von seiner Sorte ungeschickt am Seil herab, dann wieder einer und noch einer. Das Seil erschlaffte einen Augenblick lang, dann straffte es sich wieder. Unter Kreischen und einem erschreckenden Funkenregen wurde der Beleuchtungskörper aus der Wand gerissen und flog aus dem Fenster, wo eine verschwommene Gestalt vorbeisauste, ihr trauriges, resigniertes Klagegeheul wurde sowohl dem Tonfall wie der Lage nach immer tiefer, bis es mit einem häßlichen Platschen unten in der Gasse endete. Die überlebenden Eindringlinge lagen übereinander auf einem Haufen. Beträchtliches Murren, Fluchen, Anstrengungen und viel rauhe Diplomatie waren nötig, ehe sie sich voneinander und vom Hutständer gelöst hatten. Alle auf einmal richteten sie argwöhnische Blicke sowie ein eindrucksvolles Durcheinander von Waffen auf mich und gingen im Gänsemarsch auf die Treppe zu. Hier blieben sie unvermittelt stehen und prallten wieder gegeneinander, als sie die Menge unten erspähten, die immer noch in eine begeisterte, ohrenbetäubende Keilerei vertieft war. Ein Schrei des Erkennens kam von einem der Neuankömmlinge, dann von allen: »Die Dritten Kontrakonventionalisten!« Sie ballten die Fäuste und knirschten mit den Kiefern. Ich packte den letzten in der Reihe am Knopfloch, einen kleinen Burschen, der ein Tranchiermesser trug. »Was ist bitte ein Dritter Kontrakonventionalist?« Er brummte selbstgerecht und zeigte auf meinen Wirtsderrn und sihre Freunde. »Revisionisten und Verräter an der Sache! Wir sind da auf ein Nest gestoßen, wie es scheint!« Seine Gefährten ließen ein zustimmendes Gemurmel hören und bewegten sich die Treppe hinunter. Er wollte sie einholen.
»Einen Augenblick, Sir, wenn Sie so freundlich sein wollen. Darf ich fragen, was in diesem Zusammenhang Sie sind?« »Ein ZWEITER Kontrakonventionalist natürlich, und ich bin sumpfig stolz darauf! Und jetzt lassen Sie mich bitte los, Missur, denn meine Kameraden brauchen mich!« Er folgte seinen Freunden, und sie marschierten zusammen die Treppe hinunter – am Erzpriester vorbei, der sich ängstlich am Geländer festklammerte – und warfen sich mit einem einzigen, blutrünstigen Schrei in die Schlacht. Ich verspürte einen Augenblick lang einen Stich der Enttäuschung, denn ich wollte unbedingt mehr erfahren – über die Ersten Kontrakonventionalisten zum Beispiel – aber es sah so aus, als seien die Zweiten und Dritten nun glücklich miteinander und mit den Kübelieren beschäftigt und nicht geneigt, Fragen zu beantworten. Gab es auch Zweite, Dritte und sogar Erste Konventionalisten? Danach mußte irgendwann Niitood fragen, dachte ich. Die Politik wurde jeden Augenblick komplizierter. Als ich mich umdrehte, um den Überresten von Hochwürden Adern den letzten Dienst zu erweisen, erhob sich noch ein Gewirr von Schreien über den gewalttätigen Lärm unter mir. Ein Schuß krachte! Ich raste wieder zur Treppe und sah, wie Mav ganz ruhig mit dem Finger in einem großen gezackten Loch in der Wand von Vyssus Salon herumstocherte, wo jemand anscheinend gerade auf ihn geschossen – und glücklicherweise nicht getroffen hatte. Auf der anderen Seite des gedrängt vollen Zimmers faßte Fatpa, der jetzt einen schreienden Kübelier an einer Kette herumschwang, mit einer muskulösen Hand in einen mit Vorhängen verdeckten Alkoven, aus dem eine beträchtliche Menge Weißpulverrauch hervordrang. Er zog seinen Arm wieder heraus und mit ihm die zerzauste Gestalt eines Lam, den er sicher, wenn auch nicht gerade allzu würdevoll oben am Rückenschild am Fell gepackt hielt. Fatpa ließ die Kette, an der der Kübelier hing, nicht los, ergriff aber die Waffe in den Fingern des MöchtegernMeuchelmörders. Eine großkalibrige Krabbenflinte. Großer, gnädiger Pah (wie Mav gesagt hätte), das war doch der Bursche, der kleine, graue Bürokrat aus dem Mittelhaus, den wir in Tis' Büro gesehen hatten. Warum…
BLITZ! Das kam von der Eingangstür, wo gerade Niitood, der Reporter, erschienen war und seine Kamera für eine zweite Aufnahme fertigmachte. »Kaiserlicher Kurier!« schrie er sinnloserweise, während er durch den Raum schritt und Personen auswich, die in einem Kampf auf Leben und Tod ineinander verschlungen waren. BLITZ! Er machte noch ein Foto. Der Führer der Kübeliere drehte sich um und holte zu einem gefährlichen Schlag auf den Korrespondenten aus, der tänzelte zurück, um seine Kamera zu schützen, und schoß – BLITZ! – noch ein Bild. Fatpa hatte jetzt an jedem Ende der Schrotflinte eine Hand, nachdem er ein Stück Kette fest um das obere Glied des Bürokraten geschlungen und sowohl ihn wie auch den unglücklichen Kübelier, dem die Kette gehörte, an einen Kronleuchter gehängt hatte, wo sie hin und herschwangen, zusammenprallten und heftig aufeinander schlugen. Vyssus Leibwächter stieß ein Grunzen aus, das ich sogar von da, wo ich stand, deutlich hören konnte, und brach die Flinte entzwei, ihr Kolben zersplitterte in seinen Händen. Dann warf er die Waffe weg, und ehe sie auf dem Boden landete, traf sie einen der Unarchisten – ich glaube, es war ein ZWEITER Kontrakonventionalist, aber es kann auch ein DRITTER gewesen sein – auf den Rückenschild. Er sank bewußtlos zu Boden. Hinter Niitood drängte ein Haufen von Fremden in grober Kleidung herein, die sich auch ihren Platz in dem Handgemenge sichern wollten. Einige von ihnen erkannte ich aus der Menge draußen, wahrscheinlich waren sie jetzt enttäuscht von dem Schaukampf, den zweifellos Adern arrangiert hatte, um sie zu unterhalten und abzulenken. Einer hob ein ziemlich großes Liegekissen auf, warf es durch den ganzen Raum ungefähr in meine Richtung und brachte damit den Erzpriester aus dem Gleichgewicht, der es schon fast bis ans untere Ende der Treppe geschafft hatte. Der Geistliche stolperte, verfehlte Niitoods Kamera knapp, und stürzte über den halb entkleideten Rückenschild einer von Vyssus Frauen, die zu schreien anfing und bei dem unmittelbaren Körperkontakt mit Hochwürden sofort in Ohnmacht fiel. Als sei das ihr Stichwort gewesen, stolperte eine gerade erst angekommene Truppe ernster, würdiger Personen in priesterlichen Gewändern beinahe über den Körper ihres erhabenen Vorgesetzten, der
nun zwischen den Beinen der Kämpfenden hindurch auf die Tür zukroch. Jemand traf einen der Priester mit einem weiteren Kissen, und die Gruppe wurde irgendwie in den Kampf hineingezogen, ehe sie überhaupt wußte, wie ihr geschah. Dicht auf den Fersen dieser Ehrenwerten folgte eine Gestalt in der Uniform der Kaiserlichen Marine, das Zierschwert schleifte auf dem Boden dahin, und der Rest der Kleidung befand sich in einem ungepflegten, unmilitärisch schlampigen Zustand. Ich vermutete, daß das Hedgyt war, Srafens alter Freund, mit dem Mav gesprochen hatte, denn er trug in seinen Armen ein unansehnliches, kompliziertes Gerät, das halb von einem zerlumpten Stück Segeltuch bedeckt wurde. Der alte Marinearzt blickte um sich, verwirrt von dem Aufruhr, in den er hineingeraten war, machte Mav ausfindig und ging auf meinen Freund zu, er hatte eindeutig die Absicht, sich mit ihm zu unterhalten. Aufgrund seines alles verändernden Fanatismus, der mir bei Erfindern schon mehrmals aufgefallen ist, vergaß er seine Umgebung schnell, sobald er den Detektiv ins Gespräch gezogen hatte. Trotz der offensichtlichen Gefahren bei der Überwindung der dazwischenliegenden Strecke wollte ich mich ihnen sofort anschließen, da ich ja für Adern weiter nichts mehr tun konnte, und machte wieder einen genau bemessenen Schritt auf die Treppe zu, als ich von hinten einen heftigen Stoß bekam und das Gleichgewicht verlor, ich stolperte mehrere Stufen hinunter, ein Dutzend von Vyssus weiblichen und beimännlichen Angestellten trampelten über mich hinweg, dicht gefolgt von einem neuen Trupp von Kübelieren, die wahrscheinlich durch die Dachluke hereingekommen waren. Als ich meine aufrechte Haltung und die Orientierung wiedergefunden hatte, überwältigte mich eine weitere Welle voraneilender Lamviin; Vyssus Kunden und noch eine Brigade der Abteilung. Als ich erneut bei vollem Bewußtsein war, fand ich mich irgendwie am unteren Ende der Treppe, diejenigen, die mich so unsanft behandelt hatten, waren jetzt nicht mehr von irgendwelchen anderen zu unterscheiden, die aus Gründen, die sie anscheinend schon lange vergessen hatten, in Vyssus Eingangshalle und Salon miteinander kämpften. Das Handgemenge hatte sich inzwischen auf die Küche und jede andere Nische und Ecke dieses Stockwerks ausgedehnt. Es herrschte ein Wogen und Branden, das sich auch noch die
Treppe hinauf auszubreiten drohte, von wo ich gekommen war. Ich schob mich aus dem Weg, nur um über den Erzpriester zu stolpern, und stürzte mit ihm zu Boden. Die bewußtlose Dirne, über die er gefallen war, war mit einem billigen, grellen Armband in seinem Umhang hängengeblieben; er hatte sie mitgeschleift, bis sie beide direkt vor der Eingangstür waren. Ich schüttelte mich wieder, um meine schwer angeschlagene Fähigkeit zur Wahrnehmung der Realität wieder anzuregen. Zwei Dreiergruppen von Gehhänden erschienen vor mir, die mir irgendwie bekannt vorkamen; ich blickte auf. Da, von allen Leuten der Welt, stand ausgerechnet mein schändliches, treuloses Dienstmädchen Zoobon, und neben ihr meine Mutter, mein Vater und mein Beivater. Ein fliegendes Kissen traf meinen männlichen Elternteil zwischen die Augen. Er schwankte, blieb vermöge seines starken Charakters stehen, rückte mit einer zornigen Bewegung seinen Hut zurecht und starrte mit vorwurfsvoll zitternden Nüstern auf mich hernieder. »Guten Tag, Papa«, kam ich ihm zuvor. »Mama, Sasa – Zoobon, du bist auf der Stelle entlassen! – möchtet ihr nicht ein wenig Kood mit uns nehmen?« Ein schwerer Ring mit Messingschlüsseln wirbelte durch den Raum und traf Zoobon am Ohr. Sie klappte eine Handfläche auf die Öffnung, schrie gequält auf, wirbelte herum und wollte auf ihren Angreifer losgehen, handelte sich aber nur ebenfalls ein Kissen ein. Sie hatte nicht Papas kräftige Konstitution; es warf sie um, und sie wurde sofort von einem vorbeistürmenden Haufen von Kübelieren und Unarchisten niedergetrampelt. Sasa wich zurück, um nicht im Weg zu sein, und packte Mama, aber die Kübeliere stürzten sich auf meinen Vater und legten, obwohl er in voller Lautstärke protestierte und drohte, alle seine neun Gliedmaßen in Eisen. Gegen alle besseren Absichten mußte ich kichern vor Freude, daß ich es noch erleben durfte, wie die Würde meines Vaters ein klein wenig angestochen wurde. Ich wußte, er würde sich dafür revanchieren. Hoffentlich durfte ich auch das erleben. BLITZ! Niitood erwischte Papa in einer höchst peinlichen Stellung, all seine Hände und Gehhände waren über seinen Kiefern zusammengebunden (Mav hatte doch einigen Einfluß, wie es schien). Jemand
schwang eine Vase gegen den Reporter, aber der wich aus, rettete noch einmal mit knapper Not seine Kamera, und das Ding traf Fatpa auf die Kiefer. Als dessen Blick wieder klar wurde, suchte er sich willkürlich einen Kübelier – samt den beiden Gefangenen, mit denen er verbunden war – und schleuderte im Gegenzug den ganzen Klumpen auf den Vasenwerfer zurück. Ein großartiger Krach war zu hören, aber ich konnte nicht genau feststellen, wo, und auch nicht, auf wem das unglückliche Trio gelandet war. Mama und Sasa kauerten sich dicht an die Vorderwand links vom Eingang, wo sie auch dann in Sicherheit waren, als die beiden ursprünglichen Gegner, jene Watukutscher, hereintaumelten; sie waren immer noch in einen Kampf auf Leben und Tod verwickelt – ihr Scheindisput hatte sich anscheinend zu einem ehrlichen Zweikampf ausgewachsen – und jeder blutete reichlich aus einem Dutzend kleinerer Wunden. Einer der beiden stolperte über den Erzpriester, der andere taumelte gefährlich nahe an Niitood und seine kostbare Kamera heran. Der Reporter tänzelte zurück und duckte sich. Die ganze Sache wurde nun rasend schnell zu einem unerhörten Alptraum. Als ich das nächstemal aufzusehen wagte, schaukelte mein Vater auf seinem Rückenschild und schickte sich gerade an, mit einer einzelnen Faust, die er freibekommen hatte, auf eine Person in seiner Reichweite einzudreschen, die, wie sich herausstellte, mein eigener Bataillonschef Waad Hifk Tis war. Zwei Lakaien in bunter Livree, die ich vorher nicht gesehen hatte, balgten sich jetzt mit Fatpa herum, der jemanden in der Kleidung eines Gentlelam über seinem Rückenschild hielt und ihn gerade durch den Raum schleudern wollte. Der Lord Ennramo schrie ganz unvornehm, bis der frühere Straßenräuber sich überzeugen ließ und ihn freigab – was sich ganz am Ende von Fatpas Schwung ereignete. Ennramo flog ein Stück weit, dann krachte er in den Erzpriester, der gerade erst wieder seine Gehhände auf den Boden bekommen hatte. Die beiden blieben bewußtlos ineinander verkeilt liegen. Ganz kurz öffnete sich entlang der Flugbahn des Lord eine Gasse zwischen den Kämpfenden, und ich konnte gerade noch Mav und Hedgyt, den Arzt, sehen, immer noch in ihre Unterhaltung vertieft. Hin und wieder stürzte sich irgendein Grobian mit der Absicht auf sie, sie in den Kampf zu verwickeln. Dann streckte Mav beinahe geistes-
abwesend eine Faust aus, führte einen Präventivschlag, und wandte sich dann wieder seinem Gespräch mit Hedgyt zu. Der Doktor schien kaum etwas zu bemerken. Vyssu stand mit einer außerordentlich langen Inhalierröhre daneben und äußerte gelegentlich auch ein paar Worte. Huii!! Über das donnernde Chaos hinweg schrillte grell eine Pfeife, lenkte die Kämpfenden von ihrer Beschäftigung ab und zog ihre (und meine) Aufmerksamkeit auf den Eingang des Salons. Leds, der alte Museumswärter, stand in der Tür und neben ihm Sathe. Ein Murmeln war zu hören, dann ging ein Stöhnen durch die Menge, während jeder Kampfbegeisterte daran ging, das Ausmaß seiner Verrenkungen und Verletzungen abzuschätzen. Sathe überblickte das vormalige Schlachtfeld und wartete geduldig, bis Mav sein Gespräch unterbrochen hatte und zwischen den beschädigten Rückenschilden hindurch zu ihr vorgedrungen war. Er blieb nur einmal stehen, um einen Schlüsselring vom Boden aufzuheben und ihn dem Wirtsderrn zurückzugeben. »Also wirklich, Mutter! Wie nett, daß du gekommen bist! Wie, in Sodde Lydfe, kommst du denn hierher, in den Kiiden?« Er nahm ihre Hand und nickte dem alten Leds zu, dann bemerkte er Tis, der sich irgendwie in eine Garnitur Frauenunterwäsche verfangen hatte, die über seinen Kiefern hing. Mav nahm diese Erscheinung taktvollerweise nicht zur Kenntnis und gewann sich damit sehr wahrscheinlich einen Freund fürs Leben in Tis. »Guten Abend, mein Lieber«, erwiderte Sathe gleichermaßen würdevoll. »Nun, ich habe deine Anzeige in der Zeitung gelesen und wollte mich einmal erkundigen, wie sich die Sache entwickelte.« Sie blickte noch einmal um sich und nahm dabei den Erzpriester wahr. Die Kübeliere hatten angefangen, eine gewisse Ordnung zu schaffen, aber die Lamschellen wurden ihnen knapp. »Es sieht so aus, als seist du zu gewissen Ergebnissen gekommen.« »Bei Pah, ich glaube, du hast recht! Kennst du Vyssu schon – und Doktor Hedgyt? Und hast du noch Zeit für Kood?« Mav zog die Aufmerksamkeit eines Kübeliers auf sich, der ihn anscheinend erkannte. »Ganz richtig, mein Lieber, sperren Sie nur alle ein – das sind alles
Mordverdächtige, jeder einzelne. Steh bitte auf, Mymy! So ist es recht. Ich glaube, man wird deine Fähigkeiten bald im Bezirksgebäude benötigen.« Draußen war wieder das Grollen schlechten Wetters zu hören, und Regen begann zu fallen. Durch das Fenster des Salons, das beim Kampf wunderbarerweise nicht zerbrochen war, sah ich, wie eine Droschke vorfuhr, die Watun und der Kutscher waren von Mavs neuer, wetterfester Kleidung geschützt. »Braucht jemand eine Droschke?« schrie der Kutscher blasiert. »Mav, wärst du so freundlich, mir eines zu sagen?« »Und was möchtest du wissen, Mymy?« Er fingerte an den Aufschlägen seines Morgenmantels herum und begann, Flüssigkeit in sein Rohr zu träufeln. »Die Bedeutung eines Wortes – nämlich des letzten von Hochwürden Adem. Möglicherweise podfettianisch, so wie es sich anhörte. Das Wort heißt ›danokih‹.« »Ich verstehe. Wie interessant.« Er schüttelte das kleine Fläschchen ungeduldig und hielt es über das Ende seiner Inhalierröhre. »Podfettianisch ist es nicht, aber nahe daran. Es ist altfodduanisch.« »Und was bedeutet es?« fragte ich. Auf der anderen Seite des Zimmers schoß Niitood – BLITZ! – seine letzte Fotografie, blickte aus dem Fenster auf die einsame Droschke und ging energisch auf die Tür zu. Er machte einen Schritt, stolperte über den Erzpriester, stürzte und zermalmte dabei seine Kamera. Ich glaube, das Wort, das er dabei sagte, war auch altfodduanisch. »Das möchtest du gar nicht wissen«, antwortete Mav und blickte angewidert auf sein leeres Fläschchen und auf Niitood. »Das möchtest du nicht wissen.«
16. Kapitel Mathas hinter Gittern Ich glaube zuversichtlich, daß es eines Tages eine rationale Methode geben wird, mit der man bestimmen kann, welchen Opfern bei einer Massentragödie wie zum Beispiel einem Wohnungsbrand oder einem Eisenbahnunglück dringend geholfen werden sollte, welche man vergleichsweise mit Muße im Krankenhaus behandeln kann und welche man auffordern sollte, den Schauplatz sozusagen unter eigenen Segeln zu verlassen. Im Augenblick sind diese kritischen Beurteilungen, die unvermeidlich in höchster Eile und niemals ohne Fehler getroffen werden, eine Kunst für Eingeweihte, die sich die Ausübenden auf pragmatische Weise aneignen, zweifellos auf Kosten vieler Leben. Vielleicht kann ich einmal Richtlinien für dieses Vorgehen endgültig festlegen. Wenn ja, bin auch ich eine Art Erfinder geworden wie Mav, Niitood, Hedgyt, Law oder hundert andere von meinen Bekannten, zusammen mit beinahe allen anderen, die in dieser höchst anregenden Epoche des großfodduanischen Fortschritts leben. Sei dem, wie es wolle, am Abend des Kiidenaufstandes (wie er im Nachhinein genannt wurde, ein typisches Beispiel dafür, wie zuverlässig die Geschichtsschreibung im allgemeinen ist) gab es für mich keine andere Möglichkeit, als unseren Kübelieren zu gestatten, jene Personen abzuführen, die fähig waren, sich aus eigener Kraft zu bewegen, den Teil also, der mit kleineren Brüchen, Fleischwunden und ähnlich schmachvollen Verletzungen davongekommen war. Danach blieb ein Restbestand an Schwerverletzten in Vyssus Etablissement zurück, um den ich mich ziemlich lange kümmern mußte. Pah sei gepriesen, mit Ausnahme von Hochwürden Adern (den ich ja, wie ich mich erschrocken und unglücklich wieder erinnerte, selbst ins Jenseits befördert hatte!) waren keine weiteren Todesfälle zu beklagen, was wahrscheinlich der beträchtlichen Zahl von vorhandenen Pistolen, Messern und Knüppeln zu verdanken war, denn diese Gegenstände beschäftigten die Hände, die sich sonst vielleicht mit tödlicheren Ak-
tionen befaßt, Gelenke ausgerissen, Augen ausgequetscht oder Kiefer aus den Rückenschilden gerenkt hätten. Der himmlischen Trockenheit sei Dank, daß die hartnäckige Vorliebe der Gentlelamn für Waffen sich sogar bis in die unteren Schichten hinein ausgebreitet hat! Ein Kübelier hatte mir meine Tasche geholt, und ich versorgte die Verletzten, die bis auf die schwersten Fälle trotz der wütenden Proteste von Kübelieren anderer Bezirke, die die Mehrheit der anwesenden Delegation bildeten, zum Heckenbezirk geschafft wurden. Tis war der ranghöchste Beamte auf dem Schauplatz; wäre er nicht gewesen, hätte Mav als Ermittlungsbeauftragter genau denselben Befehl gegeben. So wurden sie also in Ketten weggebracht, eine fröhliche, bunte Prozession, angefangen von den beiden Watukutschern bis zum angeschlagenen Lord Ennramo, der, als er sein Bewußtsein wiedererlangte, zuerst gebieterisch schwor, daß Mav seine künftigen Ermittlungen auf einer eisbedeckten Wetterstation auf einer Insel durchführen würde – dann, als er seine eigenen Worte hörte, zu lachen begann, meinem Freund mit seinen gefesselten Händen auf den Rückenschild klopfte, in aristokratischer Haltung durch die Tür in einen wartenden Koodwagen schritt, der für diesen Zweck requiriert worden war, und dort herzlich rief: »Gut gemacht, lieber Ermittlungsbeamter! Wenn alles vorüber ist, kommen Sie zu mir, dann nehmen wir einen lamlichen Schock miteinander!« Furchtbar anständig von dem Burschen, fand ich, bis ich bemerkte, wie Mav mit einem nachdenklichen Ausdruck in seinem Fell weitere Eintragungen in seiner Notizmappe machte. Nachdem also die letzten, bewußtlosen Opfer – oder Mitverbrecher – weggeschafft waren, blieb ich ganz allein zurück. Das schloß auch Vyssu nicht aus, die darauf bestanden hatte, ebenfalls verhaftet zu werden. Anständig von ihr, das gaben alle zu; Mav überzeugte sich mit offensichtlichem Vergnügen davon, daß die Lamschellen an ihren Handgelenken nicht scheuerten. Die Politik, die sie verfolgte, verriet in gewisser Weise einen guten Geschäftssinn, denn ihre Kunden und Bewunderer jubelten, klatschten und zuckten in kameradschaftlichem Beifall für ihren Mut mit dem Fell, als sie Ennramos Handspuren folgte. Aus solchen Gesten entstehen Legenden, und zwar besonders gewinnträchtige.
So verabschiedeten sich fast alle in einem Geist brüderlicher Verbundenheit, als seien sie auf dem Weg zu einer Feier anstatt ins Gefängnis (was Mav und seinen Untergebenen eine Menge logistischer Schwierigkeiten ersparte), und ich folgte ihnen einige Zeit später. »Oh, wirklich, Mav?« Die ›Kundschaft‹ in unserem Bezirksgebäude hatte sich aus dem kleinen Büro über den Kerker bis in den Watustall ergossen, wo man einen Tisch zum Ausfüllen der notwendigen Papiere aufgestellt hatte. Diese Zeremonie wurde unter damals völlig neuen Umständen durchgeführt: man stellte die Leute, die man von Vyssus Haus hierherbefördert hatte, praktisch ohne Rücksicht auf Rang oder Schichtzugehörigkeit in drei gewundene Reihen vor dem Tisch auf; inzwischen gingen Kauteriseure an den Reihen entlang, legten Verbände an und trugen Salben auf. Wenn die Formulare fertig waren, verwies man die ›Gefangenen‹ in eine andere, überfüllte Ecke des Stalls, wo Kood serviert wurde. »Hallo, Mymy, ich freue mich. – Der Teufel soll den dreimal verfluchten Schreibtischlam holen, der diese Fragebögen zusammengestellt hat!« Er saß hinter dem Tisch und versuchte, Informationen, die mein vormaliger Wirtsderr ihm gab, in Lücken unterzubringen, die viel zu klein waren, um etwas hineinzuschreiben. Das belustigte den alten Unarchisten, der vielleicht nur aus diesem Grunde ungewöhnlich hilfsbereit war. »Ihr voller Name, wenn ich bitten darf – Mymy, hier laufen genügend Kauteriseure herum. Würde es dir sehr viel ausmachen, mir einen Gefallen zu tun?« »Minymmo Pemmopan Viidawasiivyt-Koed«, erwiderte der Derr fröhlich, was sich in kleinen Pinselstrichen auf sihrem Fell ausdrückte. Ich sagte: »Nur wenn es nicht darum geht, daß ich an deiner Stelle diese Formulare ausfüllen soll. Wieviele hast du überhaupt festnehmen lassen?« Er rieb entmutigt an der falsch geschriebenen, ersten Hälfte sihres Nachnamens herum. »Ihr Geburtsname, wenn Sie so freundlich sein wollen – Nein, Mymy, ich habe etwas völlig anderes im Sinn; ich möchte, daß du Tis aufweckst und ihm sagst… Naß!« fluchte er. Der
Radierer hatte das billige, weiche Papier zerrissen. »Jetzt muß ich noch einmal neu anfangen…« »Koed-Viidawasiivyt«, ließ sich der Wirtsderr vernehmen. »Habe einen dritten Cousin väterlicherseits geheiratet. Mit vier i, liebster Inspektor, und einem y. Sagen Sie, wo hat man meine Schlüssel hingebracht?« »Sprich bitte weiter, Mav! Was soll ich Tis sagen?« Ich beobachtete eine andere Reihe: Fatpa stand vor Hedgyt, der seine Erfindung umklammerte. Hinter Hedgyt stand der Bürokrat und stritt sich mit ihm darüber, wer der nächste sei. »Was hat Hedgyt denn da, eine Bombe?« Mav gluckste. »Nein, mein Lieber, eine Uhr; er bildet sich ein, es könnte den Leuten gefallen, die Zeit in Zahlen geschrieben abzulesen, anstatt von einem Zifferblatt. Lächerlich, aber wunderbar durchdacht und auch ausgeführt. Ich würde den Modellbauer überall erkennen, einfach an seinen Drechselspuren. Ja, wo war ich? Ach ja, lieber Derr, Ihre gesetzliche Beschäftigung?« »Aber Mav, du hast mir noch nicht gesagt, was ich in Tis' Büro soll.« Ser schaute nachdenklich auf die verfügbare Lücke hinunter. »Herbergsleiter und Anstandslam für junge Beimänner von gutem Ruf.« Wieder verbreiteten sich Zuckungen über sihr ganzes Fell. »Wirtsderr.« Mav fing an, dieses Wort auf eine punktierte Linie zu schreiben, die nicht einmal für diese neun Buchstaben ausreichte. »Herbergsleiter und Anstandslam!« beharrte der Alte. »Alles andere wäre eine geschäftsschädigende Verleumdung, besonders im Kiiden!« »Da haben Sie vielleicht recht«, gab Mav zu. »Mymy, ich komme gleich zu dir, hab' noch etwas Geduld!« Hier brach sein Stift entzwei; er atmete schwer, dann holte er seine Inhalierröhre und das Fläschchen heraus und entdeckte dabei, daß das letzte immer noch leer war. »Feucht!« fluchte er. »Mav?« »Herbergsleiter und Anstandslam für junge Beimänner von gutem Ruf!« »Junger Bursche, möchten Sie nicht ein oder zwei Tropfen von meinem Stoff?« Hedgyt war mit seinem Kübelier fertig. Jetzt stand er ne-
ben mir, stellte seine Erfindung auf den unordentlichen Tisch und kramte aus seiner Bluse ein ziemlich abgegriffenes Marinefläschchen aus Bronze hervor. »Sehr freundlich von Ihnen…« Mav streckte die Hand aus, dann zog er sie wieder zurück. »Jetzt fällt es mir wieder ein! Mymy, bitte Tis um eine Kostprobe dieses Destillats vom Kontinent, das er mir einmal angeboten hat. Hedgyt möchte vielleicht als Entschädigung für all die Unannehmlichkeiten, die er auszustehen hatte, auch einmal versuchen. Außerdem…« – er drehte das zerrissene Formular um und kritzelte eine ziemlich lange Nachricht auf die Rückseite – »von Rechts wegen müßte das eigentlich mein Rücktrittsgesuch sein, und wahrscheinlich kommt es immer noch so weit. Aber bring das dem alten Knaben und lies es unterwegs, denn zum Teil betrifft es auch dich.« Er stand auf und gab den Bleistiftstummel einem Neuankömmling. »Ich lasse mich mit Wasser vollsaugen, wenn ich noch ein einziges von diesen Formularen ausfülle!« Ich nahm die Nachricht und ließ ihn mit dem Arzt stehen, auf der Wendeltreppe hielt ich inne und las: Mein lieber Tis, bitte verfügen Sie freundlicherweise, daß in zwei Stunden alle entlassen werden, die ich habe verhaften lassen, ausgenommen: a) 2. K'konventionale Unarchisten (nicht 3.!); b) Ypad P'dits Fatpa; c) Rewu Uomag Niitood, Kais. Kurier; d) C'dr Zedmon Dakods Hedgyt, Kais. Marine; e) dieses blöde kleine Geschöpf aus dem Nazemynsiin, ich habe seinen Namen vergessen, der Kerl, der auf mich geschossen hat; f) Seine Gnaden, der Lord Ennramo. Wenn Sie morgen um die dritte Stunde diese Personen (bis auf die Unarchisten, die können direkt in den Kerker gebracht werden) zusammen mit Law, Myssmo und Ensda vorladen, werde ich den Fall endgültig aufklären. Bitte sorgen Sie besonders dafür, daß Law anwesend ist; das kann von höchster Wichtigkeit sein. Inzwischen verbleibe ich
Ihr erg. Diener Agot Edmoot Mav. Am nächsten Morgen waren noch zwei weitere Personen anwesend: ich, nachdem ich einige angenehme Stunden in meiner eigenen Wohnung verbracht hatte (Mav hatte erklärt, nachdem halb Mathas im Kerker säße, sei unser Mörder höchstwahrscheinlich auch dabei); Vyssu, die nicht dageblieben, sondern mit der Absicht in ihr eigenes Haus zurückgekehrt war, es in seinen früheren, eleganten Zustand zurückzuversetzen. Das war gut so; die Nachricht von den Unruhen hatte die Zahl der Sensationslustigen im Kiiden und damit ihre Kundschaft stark vergrößert. Ich möchte oft an der Rasse der Lamviin verzweifeln. Meine Eltern waren jetzt einigermaßen besänftigt, weil man sie nicht mit ›halb Mathas‹ in den Kerker gesperrt hatte – und allem Anschein nach beeindruckt, daß ein paar Worte ihrer kleinen Beitochter zu den Behörden das bewirkt haben sollten. Sie hatten den Abend ebenfalls zu Hause verbracht, und in Zukunft wollten sie mir mehr Vertrauen und Unabhängigkeit gewähren – und auf das Dienstmädchen verzichten. Der Regenschauer am Abend zuvor war nur kurz gewesen; die Sonne schien durch die Fenster in Tis' Büro, aber es waren viel mehr Leute da, als man dort bequem unterbringen konnte, und so gingen wir hinaus auf den Korridor, wobei ein großer, beeindruckender Kübelier an der Treppe Wache hielt, um alle Kommenden und Gehenden zu überwachen. Ich hatte zu meiner großen Befriedigung wieder meine Uniform an. Mav wollte einen Präzedenzfall, der trotz gegenteiliger Behauptungen einmal geschaffen worden war, nicht wieder aufgeben und trug Zivilkleider, die sich mit der Pracht von Hochwürden Adern durchaus messen konnten und viel mehr Geschmack verrieten. Vyssu, die mit ihm kam, hatte sich konservativ angezogen und verbreitete eine Aura teurer Zurückhaltung. Tis sah so zerknittert aus wie gewöhnlich. Niitood, der eine zweite Nacht im Kerker verbracht hatte, bot einen noch schlimmeren Anblick. Er hatte jedoch per Boten eine neue Kamera
erhalten und richtete sich voll Freude darauf ein, sie sogleich zu benützen. Sitzkissen bildeten ein offenes Dreieck in dem breiten Korridor: Eines für Tis an einer Spitze, daneben Mavs, weiter kam dann Vyssus und daneben ein sehr großes für Fatpa. Er allein sah trotz der Nacht hinter Gittern besser aus; mir fiel ein, all das erinnere ihn vielleicht an seine bewegte Jugend. Niitood setzte sich zwischen den früheren Straßenräuber und einen weiteren Kübelier, der die zweite Ecke des Dreiecks belegt hatte. Auf der anderen Seite lag ein Kissen, das man mir anwies; gleich neben mich setzte man Hedgyt, dann Leds und dann den namenlosen Beamten. An dieser Ecke türmte sich wieder ein Kübelier auf. An die letzte Seite plazierte man Ensda, Myssmo, den Lord Ennramo und Law. Ich hatte die ganze Nacht über die Worte gegrübelt, die Mav über den jungen Erfinder geschrieben hatte, nicht um alles in der Welt begriff ich, was an ihm so besonders interessant sein sollte. Hinter Tis ging ein sehr großes Fenster auf die Kevod Lane hinaus. Es fing das Morgenlicht ein und erhellte die sonst öde, scharlachrot gestrichene Halle. Als alle Platz genommen hatten, bestellte Mav einen Docht, das Geschirr dafür hatte er in das Dreieck gestellt, näher zu Ennramo als zu Tis. »Ich möchte mich dafür entschuldigen, daß einige von Ihnen eine unbequeme Nacht verbringen mußten. Ich bin sicher, die Ergebnisse von heute morgen werden Sie alle entschädigen – alle bis auf einen –, denn wie ich in den Zeitungen versprochen habe, will ich jetzt enthüllen, wer der Mörder von Srafen Rotdu Rizmou, Professor und Kurator des Kaiserlichen Museums, meinem guten Freund und Lehrer ist.« Er holte sein Rohr und sein Fläschchen hervor, richtete die kleine Röhre her und schob sie sich in eine Nüster. »Ehe ich fortfahre, möchte ich einigen von Ihnen gerne ein paar Fragen stellen. Hauptsächlich ist es wichtig, herauszufinden, aus welchen Motiven Sie gestern abend bei Vyssu aufgetaucht sind. Wir werden bei Niitood anfangen, denn ich war aus offensichtlichen Gründen da, das gleiche gilt für Vyssu, da das Haus ja ihr gehört, und Fatpa, der dort angestellt ist. Niitood?«
Der Reporter zögerte und spielte mit seiner Kamera herum. »Na ja, Sie alte Sandkrabbe, schließlich bin ich doch Korrespondent. Ich habe Ihre Anzeige gelesen, wartete, bis sich die Nachricht durch die ganze Stadt verbreitet hatte und bin dann gekommen, um auszuschnüffeln, was daraus geworden war.« Mavs Pelz drückte Befriedigung aus. »Dieses Motiv hatten anscheinend volle neunundneunzig Prozent der Leute, die gestern an unserer kleinen Feier teilgenommen haben. Ich werde mir sehr bald über dieses Verfahren mit der Zeitungsannonce einige Gedanken machen müssen. Nun gut, Law wollen wir überspringen, er ist an jenem Nachmittag nicht erschienen. Mylord, warum sind Sie gekommen?« Auch dieser Knabe brauchte einige Zeit, bis er antwortete. »Wie Sie sicher wissen, Sir, vertrete ich einige ziemlich hoch angesiedelte Interessen des Reiches. Gleichermaßen wissen Sie sicher, daß man auf dieser Seite von Anfang an ein Auge auf die Angelegenheit hatte. Ich wollte aus diesem Grunde sehen, welche Folgen Ihre Aktion in den Zeitungen hatte, und daher…« »Verzeihung, Euer Gnaden. Vyssu, möchtest du etwas sagen?« Die Dame hatte nichts dergleichen erkennen lassen, aber ich kannte Mavs Vorgehensweise. Das war sicher vorher abgesprochen worden. Ich sah, wie er Ennramo sorgfältig beobachtete, während er anscheinend Vyssu zuhörte, die eine Nüster blähte, als wolle sie sprechen. »Nun gut denn!« erklärte Ennramo plötzlich. »Es war auch die Adresse, Sir, die Sie in Ihrer Anzeige angegeben hatten! Sie wurde bisher, und das mit allem Recht… äh… mit Diskretion in Verbindung gebracht. Ich bekam Befehl… – aber mehr kann ich nicht sagen, das müssen Sie verstehen.« Mav nahm einen Zug aus seinem Rohr. »Jawohl, und wir werden auch hier in der Öffentlichkeit nicht weiter davon sprechen. Aber halten Sie sich bereit, möglicherweise brauche ich später privat noch einige Antworten von Ihnen. Myssmo und Ensda sind gestern nicht hier erschienen, trotz der Tatsache, daß letzterer ebenso wie Law in einer anderen Sache auf Kaution freigelassen wurde. Sie, mein Herr vom Nazemynsiin – wie heißen Sie eigentlich, bei aller Feuchtigkeit?« Der kleine Bursche, der nach der Abreibung, die Fatpa ihm verab-
reicht hatte, in Verbände gehüllt war, antwortete: »Mrrmh Hnnrhnn Frnnhnnhnn.« »Wie war das noch einmal?« Mav beugte sich vor. »Mrrmh Hnnrhnn Frnnhnnhnn!« »Ich stelle fest, daß Anonymität zur Gewohnheit werden kann. Nun gut, Mr. – Sir, Sie sind gestern bei Vyssu aufgetaucht, um einen Schuß auf mich abzugeben. Hätten Sie sehr viel dagegen, uns zu sagen, warum?« Der Bürokrat saß lange Zeit mürrisch da. Tis holte sein Rohr heraus, Hedgyt und Ennramo taten es ihm nach; der Raum füllte sich langsam mit Dämpfen, gegen die der Kood sauer wirkte. Fatpa rutschte auf seinem Kissen herum; Niitood spielte weiter mit seiner Kamera. Mavs Fell sträubte sich allmählich. »Passen Sie mal auf, Lam, das nützt Ihnen gar nichts! Ich wußte, daß Sie Befehl hatten, meiner Untersuchung ein Ende zu setzen, indem Sie mich erledigten, und dafür, daß Sie diese Befehle befolgen, werden Sie allein strengstens bestraft werden. Vielleicht gibt es mildernde Umstände, unter der Bedingung, daß Sie freiwillig die Namen derjenigen preisgeben, die Ihnen die Befehle gaben.« Der Bürokrat erstarrte. Als Reaktion darauf regten sich Mav und die Kübeliere wie in Kampfbereitschaft. Sogar Niitood hob seine Kamera, und Ennramo griff nach einem Schwert, das gar nicht da war. Tis und Hedgyt, beides Veteranen, zeigten ebenfalls gewisse Kampfeslust. Wäre die Energie der Lamviin von elektrischer Beschaffenheit, wir wären alle ganz gründlich aufgeladen worden. Aber der Bürokrat blieb stumm. »Nun gut«, sagte Mav in einem ziemlich gefährlichen, leisen Tonfall. »Sie können Ihren Vorgesetzten mitteilen – wenn sich in zwanzig oder dreißig Jahren wieder die Gelegenheit dazu ergibt –, daß es Ihnen nicht gelungen ist, die Gerechtigkeit politischen Zwecken zu unterwerfen. Der Philosoph, dessen Geist sie fürchteten, wird gerächt werden, ganz gleich, wie die Öffentlichkeit darauf reagiert! Leds, wieso sind Sie gestern abend bei Vyssu aufgetaucht?« Der alte Wächter schien sich nicht sehr behaglich zu fühlen. »Sir, Ihre eigene Mutter hat mich angerufen und mich gefragt, wie Sie voran-
kämen. Sie hatte irgend etwas falsch verstanden und dachte, Sie führten Ihre Untersuchungen immer noch im Museum durch, deshalb fragte ich sie, ob sie nicht auf Begleitung Wert lege, wenn sie schon in den Kiiden wolle.« Mav lehnte sich auf seinem Kissen zurück. »Ganz richtig. So habe ich es auch von meiner Mutter gehört. Sie können mir das anlasten, wenn Sie wollen, aber sie werde ich nicht als Verdächtige betrachten, und nachdem der gute Leds ihretwegen anwesend war, glaube ich, daß er völlig unschuldig ist. Doktor Hedgyt, bitte erklären Sie uns, wieso Sie an jenem Nachmittag in den Kiiden kamen!« Der alte Kapitän richtete sich wieder auf seinem Kissen auf, schüttelte sich, musterte diejenigen, die ihm gegenüber saßen mit einem Ausdruck, der an Abscheu grenzte, und antwortete: »Nun, ich habe Ihre Anzeige in der Zeitung gesehen, junger Lam, und da ich keine andere Adresse von Ihnen wußte und es versäumt hatte, Ihnen meinen Digitalchronometer vorzuführen – Gnädiger Pah, ich hatte nicht damit gerechnet, mitten in einer allgemeinen Prügelei Anker zu werfen! Hat mich an meine Jugend erinnert, in jedem Hafen eine Rauferei, ich in Matrosenuniform, damit ich mitmachen konnte, ohne dem Offizierskorps Schande zu bereiten. Srafen hat sicher…« »Danke, Kapitän, das hat ser ganz sicher getan, und Ihre Uhr finde ich ganz fesselnd. Mymy, du warst auf meine Veranlassung da, und damit ist die Liste komplett, bis auf Sie, Sir.« Die letzten Worte richtete er an Tis, der zweimal blinzelte und zurückfuhr. »Ich – ich? Mav, was in Pahs Namen wollen Sie damit sagen? Natürlich war ich da – eine Morduntersuchung unter meiner Verantwortung im Gange, und dann auch noch eine Ruhestörung, die die Semaphore in der ganzen Stadt zum Wackeln brachte?« Er schmollte und brummte noch eine Zeitlang weiter, bis er schließlich völlig verstummte. »Ich verstehe«, antwortete Mav. »Sir, die Ruhestörung war eigentlich nicht in Ihrem Zuständigkeitsbereich. Weshalb sind Sie…« »Wegen dieser sumpfigfeuchten Zeitungsannonce von Ihnen, deshalb! Der Fall ist in meinem Zuständigkeitsbereich – und jetzt machen Sie weiter!« »Ja«, schloß sich Lord Ennramo an. »Wer hat diese schändliche Tat
begangen?« Es gab noch weitere, gleichlautende Äußerungen, auf die Mav nicht reagierte. Dann stand er auf und trat in die Mitte. »Sehr geehrte Lamn, meine Dame, lieber Derr.« Er hob eine Hand. »Ich habe Verständnis für Ihre Neugier und Ungeduld. Ich kann Ihnen versichern, daß ich in vieler Hinsicht die letzte Nacht ebenso unbequem verbracht habe wie Sie. Aber ich weiß jetzt genau, wie der Mord begangen wurde, und deshalb weiß ich auch, wie ich es immer für möglich gehalten habe, wer der Mörder ist.« Unruhe kam auf. »Eine Frage ging mir immer im Kopf herum, Srafen wurde mit einer Bombe getötet, aber wo war sie deponiert? Versteckt in Srafens Lesepult, das durch die Explosion ebenfalls völlig zerstört wurde? Mymy sagte mir, wo die Sprengladung gewesen sein muß…« Ich blinzelte mit allen drei Augen. »Ich?« »Ja, wirklich, mein Lieber, in den schönsten, widerwärtigsten, anatomischen Einzelheiten: Der Verteilung der Wunden unter den Zuschauern wie auch der Art der Wunden selbst. Bruchstücke von Srafens Körper flogen in das Publikum hinaus; eine Bombe im Lesepult hätte sie in die entgegengesetzte Richtung geschleudert. Trotzdem bedeckten Blut und Bruchstücke des Rückenschilds auch die hinteren Wände; ergo hatte Srafen die Bombe bei sich getragen, ein Gedanke, der mich schmerzlich belastete, da ich sien nicht für einen Selbstmörder gehalten hatte. Eine so starke Bombe muß ziemlich schwer gewesen sein, und man hätte sie sihr nicht ohne sihr Wissen in die Kleidung schmuggeln können.« Er füllte sein Rohr neu und ging auf und ab, während er weitersprach. »Es gab keinen Mangel an Hinweisen, wie die Bombe dorthingekommen sein könnte, wo sie war. Dieser Federbogenbolzen« – er holte die abgeschossene Waffe aus seinem Umhang und hielt sie hoch – »lag auf der Bühne, wo Srafen zum letztenmal in dieser Welt zu sehen gewesen war. Es ist ein Sprengbolzen, anscheinend wurde er durch eine alte, verfaulende Tür geschossen. Mymy und ich fanden Spuren, die diese Vermutung stützten, im nächsten Raum, obwohl noch gewis-
se, rätselhafte Widersprüche zurückblieben. Könntest du das erklären, Mymy?« »Ich war nicht darauf gefaßt… Nun gut denn: Erstens hätte der Bolzen nicht durch die Tür geschossen werden können, ohne dort zu explodieren. Zweitens entdeckte Mav, als er den Federbogen testete, daß seine Spannung durch das Alter so nachgelassen hatte; er hätte den Bolzen überhaupt nicht durch die Tür treiben können. Oh, und da war noch etwas mit Holzteilen in der Pulverhöhlung. Ich glaube, das ist alles, nicht wahr?« Er gab dem Bolzen einen flüchtigen Stoß. »Abgesehen von der Sache mit dem Alarmsystem, das erst losging, nachdem Srafen anscheinend mit dem Federbogen ermordet worden war. Schließlich stellte ich zu meiner Befriedigung fest, daß niemand vor oder während des Vortrags im angrenzenden Raum gewesen sein konnte. Was schließt du daraus, mein lieber Kauteriseur?« »Daß der Mord nicht so geschehen sein konnte, wie wir glaubten?« »Sehr gut!« Ein zufriedenes Zucken ging durch sein Fell. »Ich habe mich selbst auch zu lange an dieser verdammten Theorie festgehalten, aber sie hat mich zu einem allgemeinen Grundsatz geführt, daß man nämlich, wenn man alles ausgeschaltet hat, was eindeutig unmöglich ist, gezwungen ist, das lediglich Unwahrscheinliche zu untersuchen. Der Schuldige hinterließ die Spuren, nachdem der Mord begangen worden war.« »Was?« Das kam von der Hälfte der Anwesenden, einschließlich meiner Person. »Eine List, um uns von der Fährte abzubringen. Jedoch hat diese List selbst eine Spur hinterlassen, und dadurch konnte dieser Fall schließlich doch gelöst werden. Wo immer die Bombe deponiert war, wie immer sie gezündet wurde, hinterher benützte der Übeltäter die allgemeine Verwirrung, schlüpfte in den Waffensaal, trieb seinen vorher abgeschossenen Bolzen durch die Tür, zerschmetterte den Schaukasten, damit wir genau das denken sollten, was wir auch dachten, und kehrte dann in den Hörsaal zurück!« Er blickte sich mit einem Auge im Raum um. »Sehen Sie, als ich mir einige Bolzen zu Versuchszwecken anfertigen ließ, entdeckte ich, daß
auch andere Leute sich welche herstellen ließen. Bei genauerer Untersuchung zeigte sich, daß dieser hier erst vor kurzem gemacht und künstlich mattiert worden war, damit er alt aussah. Jemand hatte ihn aufgesprengt, ins Museum gebracht und im kritischen Augenblick mit Hilfe eines Kriegshammers, der in der Nähe an einer Rüstung befestigt war, durch die Tür getrieben. Sehen Sie die hellen Flecken hier? Auf dem Hammer gibt es zufällig entsprechende Stellen. Als ich den Bogen aus dem Kasten hob, bemerkte ich etwas, was mir erst gestern abend so richtig wieder einfiel: Große Glasscherben oben auf dem Federbogen, die dort nicht hätten sein können, wäre die Waffe benützt worden! Also hat der Mörder sie niemals berührt (und auch nicht erkannt, wie wenig Spannung sie hatte), sondern er hat einfach den Kasten eingeschlagen, um uns irrezuführen, wahrscheinlich ehe er den Pfeil durchtrieb, dadurch konnte der Alarm den Lärm überdecken, den er dabei machte.« Hier blieb Mav einen Augenblick lang stehen und atmete tief vor Erregung. »All das hatte ich bei verschiedenen Gelegenheiten herausgefunden. Ich will aber gestehen, daß ich bis gestern abend nicht die leiseste Ahnung hatte, wer hinter all dem steckte und wie er es gemacht hatte. Ich war sogar…« – er zog ein Papier aus seiner Tasche – »so weit, Mymy zu bitten, er solle bei Tis meinen Rücktritt einreichen, hatte schon angesetzt, die Worte zu sagen, als mir etwas auffiel und ich erkannte, daß ich den Mord nun doch aufklären konnte und zwar mit genau den Mitteln, die ich immer für anwendbar gehalten hatte. So verließ ich das Gebäude in einiger Eile und prüfte einige Einzelheiten nach, und jetzt weiß ich Bescheid.« »Wer war es?« fragte Tis gleichzeitig mit mehreren anderen, einschließlich eines Kübeliers, der sich richtig hineingesteigert hatte. Mav streckte einen Finger aus. »Sie waren es, Niitood. Sie haben Professor Srafen getötet!« Der Reporter sprang auf die Hände. »Unmöglich, alte Sandkrabbe! Sie haben mich doch selbst von dem Verdacht entlastet! Ich hatte keinen Grund und auch nicht die Mittel dazu. Mein einziges Verbrechen ist, daß ich am Tatort war!« »Trotzdem, alte Sandkrabbe, werde ich es beweisen, ehe wir diesen
Raum verlassen: Es gibt allerdings einen kleinen Haken bei der Sache. Sie wußten nicht, was Sie taten, und aus diesem Grunde sind Sie völlig unschuldig.« Der Reporter plumpste auf sein Kissen zurück. »Wau, bin ich froh, das zu hören – Sie hätten mich beinahe davon überzeugt!« Mav zuckte mit dem Fell. »Tut mir leid, Niitood, aber die Story, die Sie mitnehmen werden, wird Sie besänftigen. Srafen trug wirklich eine Bombe bei sich, obwohl ser nichts davon wußte, ein kompliziertes Gerät, gefüllt mit Weißpulver und verschiedenen anderen Teilen, die es höchst empfänglich für die elektromagnetische Beeinflussung durch Ihr Blitzgerät machten. Ich habe erfahren, daß ein elektrischer Bogen eine korrelierende Vibration im Äther erzeugt, die man zu verschiedenen Zwecken verwenden kann – sogar als Auslöser für eine Bombe.« Wieder streckte er den Finger aus. »Ist es nicht so, Law?« Srafens Gatte blinzelte überrascht. »Vermutlich haben Sie recht, Ermittlungsbeauftragter. Ich hätte nie gedacht, daß Sie, der Sie nichts als Regenmäntel erfunden haben, sich so etwas ausdenken könnten. Gratuliere, ich hoffe, Sie werden für uns beide weitererfinden, während ich im Kerker sitze.« »Oder zwischen den Richtblöcken!« schrie Tis blutrünstig. »Wegen Unterschlagung wird niemand zwischen die Richtblöcke geschickt«, sagte Mav sanft, »und das ist alles, dessen sich Law schuldig gemacht hat. Lieber Junge, ich glaube, Sie sind ziemlich bald wieder draußen. Ihr Gutachten hat meine Theorien bestätigt, und deshalb wird in Ihren Unterlagen stehen, daß Sie die Gerechtigkeit unterstützt haben.« Jetzt drehte sich Mav wieder um und hob anklagend den Finger. Niitood stand ebenfalls auf, denn dies war jetzt der Augenblick, den wir hatten erleben wollen. »Der wirkliche Verbrecher ist…« Hedgyt sprang auf und hielt seine Uhr vor sich. Ehe jemand etwas tun konnte, hatte er sich hinter Tis gestellt. »Bleiben Sie, wo Sie sind! Das ist eine Bombe, und ich werde – NEIN!« Niitood näherte sich ihm und machte seine Kamera fertig. Der Arzt wich entsetzt zum Fenster zurück. Tis glitt ohnmächtig vor seinem Kissen zu Boden.
»NEIN!« schrie Mav, und auch ich erkannte jetzt, was gleich geschehen würde. WUMMM! Als der Blitz aufleuchtete, explodierte der Gegenstand, den der Doktor in der Hand hielt, schleuderte ihn durchs Fenster und erfüllte den Raum mit Rauch. Die Rückseite von Tis' Kissen ging in Flammen auf. Es dauerte lange, bis die Kübeliere Sand brachten, um das Feuer zu löschen. Ich möchte schwören, daß jedes Gebäude in der Stadt feuersicher ist, ausgenommen unsere Bezirksstation. Mit schlaff herabhängendem Fell blickte Niitood auf die Bruchstükke seiner Kamera nieder, die auf dem Boden lagen. Mav ging zu dem zertrümmerten Fenster. Ein Schauder lief durch seinen Pelz und verriet mir, was er unten sah. Weder ich, noch ein Dutzend der besten Ärzte in Mathas würden für unseren alten Kollegen auch nur das Geringste tun können. Eine Menschenmenge sammelte sich; Kübeliere kamen von den Türen der Station, um sie zurückzuhalten. Hedgyt und Srafen waren endlich vereint. Im Tode.
17. Kapitel Eine auf Intuition beruhende Wissenschaft »Noch eine Runde, mein lieber Tarnet!« schrie Mav, als Niitood lautlos auf den Boden des ›Schlauch und Federbogen‹ rutschte. Der siegreiche Detektiv war entschlossen, daß wir alle dem Schicksal des Journalisten folgen sollten, ehe der Nachmittag zu Ende war. »Einen Augenblick, Mav, ehe sich deine Empfindungen völlig verflüchtigt haben!« Ich wurde allmählich ebenso hartnäckig in bezug auf einige Antworten, die mir durch Hedgyts überstürztes Ableben vorenthalten worden waren. »Warten Sie bitte noch, Schankwirt, zuerst ist noch eine Rechnung fällig, die nichts mit Gold und Silber zu tun hat.« Der pensionierte Kübelier und Wirt schaute einigermaßen verwirrt von Mav zu mir, kam dann zu einem Entschluß und zog die Ladekiste auf, dann trat er beiseite, wobei er es gerade noch vermeiden konnte, über Niitood zu stolpern. Es gibt ein Sprichwort, das besagt, daß Pah Kinder und Berauschte schützt; außerdem hatte Niitood keine neue Kamera. Mav griff nach der Kiste, zögerte und schob mir dann das teuflische Gerät über den Tisch hinweg zu. »Mymy, würdest du freundlicherweise einen Schock nehmen und dich beruhigen? Tis gab sich damit zufrieden, daß wir heute morgen unseren Schuldigen gefunden haben, der Lord Ennramo ebenso – und damit auch bestimmte Erhabene Persönlichkeiten, die man besser nicht beim Namen nennt. Myssmo hat keine Fragen gestellt, auch Fatpa und Leds nicht, und Law und Ensda haben sich erst recht gehütet! Und sieh dir Niitood hier an…« »Das ist leicht zu erklären«, sagte ich. »Er ist Journalist und macht sich seine eigenen Antworten im Laufe der Arbeit zurecht!« Vyssu füllte ihre lange Inhalierröhre aus Mavs Fläschchen. »Nun, ich habe auch einige Fragen, mein Lieber, und ich lasse mich nicht länger vertrösten. Mymy, wir werden den Schurken so lange festhal-
ten, bis er gesteht – wie er den Mord tatsächlich geklärt hat.« »Wirklich«, stimmte ich zu, »ich finde, der Fortschritt verlangt eine Verständigung zwischen denjenigen, die ihn schaffen. Das wäre doch wissenschaftlich, oder nicht?« »Oh, zum Teufel mit euch beiden!« fauchte der Detektiv mit einem ärgerlichen Ausdruck in seinem Pelz. »Jedenfalls war dabei nicht viel ›Wissenschaftliches‹, wenigstens nicht bewußt angewendet, und deshalb spreche ich auch so ungern darüber. Na gut, ihr verfaulten Kerle sollt eure Antworten bekommen. Werden euch viel helfen!« Er nahm das kleine Fläschchen aus Vyssus Fingern. »Als Hedgyt, für den ich allmählich einige Zuneigung empfand, mir genau an dem Tag Inhalierflüssigkeit anbot, an dem ich mich bewußt zur Zielscheibe eines Mörders gemacht hatte, entdeckte ich, daß ich nach einer Entschuldigung suchte, um höflich ablehnen zu können. Warum? Damals hatte ich nicht die leiseste Ahnung! Wie gefällt dir das als wissenschaftliche Argumentation, Mymy?« Vyssu gluckste. »Also gibt es doch männliche Intuition. Ich hatte den Verdacht schon oft.« »Vielleicht hast du einen Instinkt für Verbrechen, Mav«, fügte ich hinzu, »oder wenigstens einen für die Entdeckung von Schuldigen.« »›Intuition‹! ›Instinkt‹! Tis würde sagen: ›Fauliges Geschwafel‹! Diese Ausdrücke würden doch bedeuten, daß wir mit einem bestimmten Wissen geboren werden, während wir ganz im Gegenteil, meine Lieben, völlig unwissend in diese Welt kommen – was ein Segen für uns ist, wie Srafen oft sagte, denn es bedeutet, daß wir, anders als die Tiere, die auf vorbestimmte Muster festgelegt sind, lernen und das, was um uns ist, in einer Weise verändern können, die von der Natur nicht vorgegeben ist.« Ich sah Viyssu an, sie sah mich an; dann zuckten wir beide mit den Kiefern. »Trotzdem mißtraute ich ohne vernünftigen Grund Hedgyt plötzlich. Die Psychologen haben in einem Punkt recht: Der Geist des Lamviin besteht aus zwei Teilen, dem bewußten, der scharfsinnig und lenkbar ist, und dem unbewußten, der naiv aber sehr schnell ist. Und was die Gedanken für den bewußten Geist sind, das sind die Gefühle
für den unbewußten.« »Willst du damit sagen«, fragte ich, »daß wir uns von unseren Gefühlen genauso leiten lassen sollten wie von unseren Gedanken? Kaum eine Philosophie für…« »Nein, die Lamviin sind eine denkende Rasse, wir sollten uns von unseren Gedanken leiten lassen, und von unseren Gedanken über unsere Gefühle. Mehr oder weniger tief in mir vergraben waren, das wußte ich, völlig vernünftige Gründe, warum ich Hedgyts Destillat nicht unbesorgt zu mir nehmen sollte. Ich brauchte nur einen Augenblick, um wenigstens einen dieser Gründe zu entdecken; kann einer von euch erraten, was es war?« Erst einmal schwiegen wir beide, dann sprach Vyssu: »Er war Arzt, und ein Angehöriger dieses Berufes könnte sich wahrscheinlich Gift als Waffe vorstellen – und hätte auch Zugang dazu.« »Auch Erfinder«, konterte Mav, »und das hat ihn verraten. Ohne es zu ahnen, hatte ich unbewußt die Arbeit seines Modellbauers studiert und mit der der Federbogenbolzen assoziiert, die ich hatte herstellen lassen, und mit der Bemerkung des Handwerkerlams, daß auch andere Leute Federbogenbolzen verlangten. Wir hielten es beide für einen neuerdings beliebten Sport. Die Mattierung auf dem Pfeil brachte ich mit dem Rost in Verbindung, den man oft auf den Docks antrifft – und höchstwahrscheinlich hat Hedgyt damit das Projektil künstlich auf alt getrimmt. All das entdeckte ich in dem Augenblick wieder, als ich zögerte, seine Flüssigkeit anzunehmen. Später erinnerte ich mich an Hedgyts Bemerkung, er habe Srafen medizinisch betreut, wenn er im Hafen war, und…« »Halt, warte mal einen Augenblick, Mav!« schrie ich. »Was hat das mit…« »Siehst du das nicht, mein lieber Kauteriseur? Wo könnte man eine Bombe ohne Wissen dessen deponieren, der sie trägt? Nun, unter dem Rückenschild, wenn man ein sehr geschickter und erfinderischer Chirurg ist! Ich erinnerte mich, daß Srafen erwähnte, ser habe sich einer Operation unterzogen, und daß er sich später beklagte, er neh-
me plötzlich an Gewicht zu, obwohl ich vor gestern abend keine dieser Aussagen mit Hedgyt in Verbindung brachte.« Ich blinzelte. Kein Wunder, daß ich darauf nie gekommen war; es war mir so fremd, wie es ein Schaden, den man einem Patienten zufügte, nur sein konnte. »Das würde die Spuren tatsächlich erklären. Sag mir, wieso wußte Hedgyt, daß er gerade im Museum auftauchen mußte? Konnte nicht jede Kamera Srafens Bombe zünden?« »Nur die, die von Niitood entworfen und für ihn hergestellt worden war. Weißt du, sie kannten sich alle untereinander, Hedgyt, Niitood und Law, Srafens Gatte. Sie gehörten alle zum selben Erfinderclub, und jeder von ihnen hat mich aufgefordert, dort einzutreten. Ich vermute, unser Mörder erfuhr von Niitood oder irgendeinem Freund, daß ich mit dem Fall zu tun hatte, daraufhin schickte er mir und deinen Eltern, Mymy, seine anonymen Botschaften. Daher wußte Hedgyt, der Versuche mit drahtloser Telegraphie machte, von Niitoods Blitzkamera und von Laws Herumpfuscherei mit Weißpulver. Vielleicht hoffte er, daß man einen von den beiden für den Schuldigen halten würde, vielleicht wollte er uns nur völlig in Verwirrung stürzen – was ihm auch beinahe geglückt wäre.« Vyssu runzelte nachdenklich das Fell. »Warum hat er die Bombe dann in mein Haus gebracht?« »Das werden wir nie erfahren«, antwortete Mav. »Ich glaube, er wollte sie mir zum Geschenk machen, in der Hoffnung, sie würde mich irgendwann, wenn er sich an einem anderen Ort in Sicherheit befand, vernichten. Es kann auch sein, daß er sie selbst zünden wollte, vielleicht durch ein Fenster.« »Ich verstehe«, meldete ich mich, »und als er kam und den Aufruhr sah, geriet er in Verwirrung und beschloß, dir die Uhr doch nicht zu geben, statt dessen hielt er sie den ganzen Abend lang eifersüchtig fest, damit sie nicht untersucht wurde.« Mav zuckte mit dem Fell. »Ich glaube, du hast recht, mein Lieber. Es muß ein Schock gewesen sein, als er Niitood heute morgen hier sah. Hedgyt wußte schon vor dem Ende, daß er seine Vernichtung selbst herbeigeführt hatte.« »Aber warum, in Sodde Lydfe, hat er es denn überhaupt getan?«
wollte ich hartnäckig wissen. »Nach so vielen Nonaden kann er doch keinen Groll mehr gegen Srafen gehabt haben, weil ser ihn nicht geheiratet hat? Sie waren Freunde.« Vyssu zog an ihrer Röhre. »Ich glaube, darauf kann ich antworten, Mav. Es war nicht diese Ablehnung, Mymy. Es war, weil Srafen vor kurzem wieder geheiratet hatte, und ein so widerliches Paar, wie man es sich nur vorstellen kann.« »Sei Law gegenüber nicht zu streng, meine Liebe«, sagte Mav, »denn er ist ein guter Erfinder und wird sich eines Tages wahrscheinlich der Gesellschaft nützlich erweisen, ohne es zu wollen. Besonders lustig ist, daß Srafen trotz sihrer anscheinend irrationalen Begeisterung für die beiden (eine Krankheit, gegen die keiner von uns völlig gefeit ist) ganz genau wußte, was ser für Partner hatte. Als wir zu sihrem Rechtsanwalt kamen, entdeckten wir Srafens Testament – in dem ser feststellt, daß ser die beiden zum Teil deshalb heiratete, um zu verhindern, daß sie sich an einen Unglücklichen hängten, der sie nicht durchschaute.« »Und so hat Srafen vermutlich doch zuletzt gelacht«, sagte ich. »Richtig«, erwiderte mein Freund, »und so hätte es sihr gefallen.« Soviel ich hörte, ist der alte Leds vor ein paar Wochen gestorben. Ich kann darüber nicht allzu traurig sein, denn er hatte ein langes, abenteuerliches Leben hinter sich. Dabei ist mir jedoch eingefallen, daß mich, als ich diese Erinnerungen für das Archiv des interstellaren Raumschiffs ›Tom Paine Maru‹ vorbereite, EdWina Olson-Bear gebeten hatte, zu erzählen, was in den neunundzwanzig Jahren, die seit jenen Ereignissen auf Sodde Lydfe vergangen sind, aus uns allen geworden ist. Tarnet, der Schankwirt, besitzt jetzt eine Kette von Wirtshäusern, die er vor kurzem in Lokale umgewandelt hat, die schlechtes Essen sehr schnell an Leute ausgeben, die draußen in stinkenden watulosen Wagen von der Sorte sitzen, an der Law gearbeitet hat, und von denen ich gehofft hatte, sie würden sich nicht durchsetzen. So können die Leute sich selbst und gleichzeitig auch alle anderen vergiften, worin vermutlich eine bewundernswerte Tüchtigkeit liegt.
Da wir gerade von Umweltverschmutzung sprechen, Myssmo wurde mit der Zeit so etwas wie eine Berühmtheit und trat in laufenden Bildern auf (mit denen man zur Zeit der Srafen-Ermittlungen noch Versuche machte). Soviel ich weiß, ist sie sehr reich, und in ihrem Haus riecht es ständig nach sündteurem sandfixierenden Harz. Law hat weiterhin, wie Mav es vorausgesagt hatte, eine ganze Menge Erfindungen gemacht, aber ich fürchte, seine kurze Bekanntschaft mit Hedgyt hat uns allen mehr geschadet als genützt, denn er ist der Schöpfer genau jener Bombe, die im letzten Krieg gegen Podfet eine so große Rolle spielte – diejenige, mit der man eine ganze Stadt zerstören kann und die eine Wolke von der Form eines Peresk-Baumes hinterläßt. Ich glaube nicht, daß es das ist, was Mav meint, wenn er von ›Fortschritt‹ spricht. Dr. Ensda wurde nie wegen Unterschlagung verurteilt, da er diesmal einen Rechtsanwalt gefunden hatte, der beinahe genauso gerissen war wie er selbst. Und die Wahrsagerei hat er auch nicht aufgegeben, sondern sich nur einem anderen Spezialgebiet zugewandt. Als ich das letztemal von ihm hörte, war er als Wirtschaftsberater für die Regierung Ihrer Majestäten tätig. Auch Fatpa hat eine Stellung im öffentlichen Dienst bekommen, und sie ist der Tätigkeit nicht unähnlich, der er in jüngeren Jahren als Straßenräuber auf dem Kontinent nachging. Er ist jetzt Leiter der inländischen Steuerbehörde und treibt Steuern ein. Sathe? Nun, ich habe sie gestern abend gesehen, ihre Würde und ihr sanfter Einfluß werden von Jahr zu Jahr größer. Sie hat die Fähigkeit, die Schäden wiedergutzumachen, die hundert Ensdas anrichten, und ihre Feste, bei denen man viele einflußreiche Leute treffen kann, lenken unsere Zivilisation allmählich in eine vernünftigere, gesündere Richtung. Ich hoffe, sie erlebt es noch, wie der philosophische Garten ihres Sohnes Früchte trägt. Niitood ist oft unter denen, die Sathe einlädt, obwohl er zynischer und nihilistischer ist denn je. Weder sie noch Mav geben jedoch die Hoffnung auf, ihn bessern zu können, und nur zum Teil deshalb, weil er Chefredakteur des Kaiserlichen Kuriers von Mathas ist. Er ist auch
ein alter Freund. Vyssu hat sich natürlich kurz nach der Aufklärung des Srafenmordes von ihrem zweifelhaften Beruf zurückgezogen und Mav geheiratet. Sie haben drei großartige Kinder, eines könnte der zweite beratende Privatdetektiv von Groß Foddu werden, eines droht, den Handspuren seiner Mutter zu folgen und in die Politik zu gehen, und eines hat zu meiner Freude vor, unter der Obhut seines Beivaters Mymysiir Offe Mav (geb. Woom) Medizin zu studieren, und nun habe ich vermutlich auch schon verraten, wie die private Geschichte von Mav und mir ausgeht. Ich habe mein Studium tatsächlich zu Ende geführt, indem ich meine Zeit zwischen den Kübelieren und der Praxis meines Beivaters aufteilte, die ich schließlich erbte – nicht auf die übliche, tragische Weise, sondern weil der liebe Sasa sich zurückziehen wollte, um mit meinen beiden anderen Eltern auf Reisen zu gehen. Mav seinerseits reichte kurz nach unserem Abenteuer mit dem mörderischen Marinearzt seinen Rücktritt bei den Kübelieren ein und wurde, wie ich schon sagte, Privatdetektiv auf eigene Rechnung. Bei dieser Laufbahn ist er bis zum heutigen Tag geblieben, außer, daß er sich auch an der Politik beteiligt und eine Seite von Srafens Werk aufgreift, die ser vielleicht nicht erwartet hat. Mav war gegen den Krieg mit Podfet und hat sich sehr dafür eingesetzt, aus dem Frieden etwas zu machen. Seiner Ansicht nach hat die Politik wie das Leben selbst drei Hauptaspekte: Es gibt Leute, für die Tradition und Vaterfiguren im Mittelpunkt stehen, die von Gesetz und Ordnung sprechen und ihre Aufmerksamkeit auf das Oberhaus und die Triarchie richten; dann gibt es welche, die sich mit der Gesamtheit des Volkes beschäftigen, mit dem Leiden, und damit, andere um derentwillen leiden zu lassen, die zuerst gelitten haben, sie gehören zum Mittelhaus, und ihr Abgott ist eine falsche Gleichheit der Lamn; schließlich gibt es noch welche (zu denen mein Mann gehört und ich auch), für die es keine Gesamtheit gibt, sondern nur Einzelwesen, die man mögen kann oder nicht, aber nur auf der Grundlage dessen, was sie als Einzelwesen sind oder tun. Für uns ist Freiheit der wichtigste Punkt, und obwohl wir dazu neigen, das Unterhaus für diese Zwecke als nützlich anzusehen, haben wir nur wenig Vertrauen zu irgendwelchen bürokratischen Institutionen und politischen Vereinigungen und
mehr zu den Leuten, die wir kennen, und mit denen wir Handel treiben, die wir lieben und mit denen wir leben. Ich glaube, diese Philosophie ist lebenswichtig, besonders, seitdem sich in den vergangenen neunundzwanzig Jahren die podfettianische Hegemonie aus einem lästigen Faktum zu einer ständigen Bedrohung entwickelt hat. Anscheinend haben auch die Podfettianer Waffen, die Law uns geliefert hat, und so kann die Welt vernichtet werden, wenn wir nicht lernen, über Sprache und Nationalität hinwegzusehen und statt dessen darauf zu achten, was die Leute als Einzelwesen sind. Die ›Tom Paine Maru‹ hat uns dabei geholfen, denn sihre höchst gemischte Besatzung hat in der Geschichte ihrer eigenen Welt solche kritischen Zeiten schon hinter sich gebracht. Aber schließlich können wir uns Freiheit und Frieden nur selbst erringen. Ich merke gerade, daß ich irgendwie ein Einzelwesen übersehen habe. Tis, der bärbeißige alte Bursche, hat sich schließlich in Tesret zur Ruhe gesetzt und kommt jedes Jahr nach Mathas auf Urlaub, wo er sich unweigerlich über das Essen, das Wetter, die Preise und die Unterkunft beklagt. Es gibt Dinge, die ändern sich nie, trotz allem, was Lamn wie Mav tun können, um diesen ›Fortschritt‹ voranzutreiben. Manchmal frage ich mich, warum sie glauben, daß es sich lohnt.
Anhang
Kurzer historischer Abriß des Gallatin-Universums* Im Jahre 1796 C.Z.** beantragte der erfinderische Thomas Jefferson einen neuen Kalender, der auf Gallatins Anregung hin 1776 als das ›Jahr Null‹ festsetzte. Daten, die vor der Unabhängigkeitserklärung liegen, werden weiterhin wie früher gezählt, gefolgt von ›C.Z.‹, wo angebracht auch von ›v. Chr.‹ 100 Erdenjahre entsprechen auf Sodde Lydfe 116, auf Vespucci 132 Jahren. Wissenschaftler seien gewarnt: Es entstehen Mehrdeutigkeiten bei der Katalogisierung von Ereignissen in alternativen Zeitlinien (es gibt offenbar nur eine Konföderation, dagegen sind einige Varianten der Vereinigten Staaten bekannt), auf verschiedenen Planeten oder in Fällen, wo der Verdacht besteht, daß Zeitreisen eine Rolle spielten. Zeit ca. 3001 v. Chr.
ca. 948 v. Chr. ca. 499 v. Chr.
Ereignisse Erfindung der sumerischen Keilschrift; Berichte von Haushunden in Ägypten überliefert; Yamaguchi W523 verläßt Hauptzeitlinie; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Sca. Salomon baut Jahve-Tempel in Jerusalem; Attika von athenischen Königen geeint; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Obsidia. Perikles geboren; Tarquinius Superbus von röm. Revolutionären besiegt; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Vespucci.
Zusammengestellt aus der Enzyklopädie von Nord-Amerika, TerraNovaCom Kanal 485-A von Edward William Bear aus Denver, mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber. ** C.Z. = Christliche Zeitrechnung *
ca. 159 v. Chr.
0 345 1592 1732 1743 1757 1761 1776
A.L. 0 7
C.Z. 1776 1783
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1787
3.Periode der chinesischen Literatur; in Rom Erfindung der Wasseruhr; verirrte Hamiltonisten gründen Kolonie auf Hoand; auf Sodde Lydfe beginnt mit dem Tod der Gemarterten Dreiheit die geschichtlich belegte Zivilisation. Beginn der Christlichen Zeitrechnung (C.Z.) Nach Konstantins Tod setzt Verfall des Römischen Reiches ein; auf Sodde Lydfe gründet Neoned der Aggressor Groß Foddu. Nobunaga-Periode; Japan ›gibt das Gewehr auf‹; ›OMA 789 George Herbert‹ von Zeitbanditen in Tokio entführt. George Washington in Virginia geboren. Thomas Jefferson in Virginia geboren. Alexander Hamilton auf den Westindischen Inseln geboren. Albert Gallatin in der Schweiz geboren. Beginn der neuen Zeitrechnung (A.L.*) im GallatinUniversum. Ereignisse Beginn des Unabhängigkeitskrieges (Revolution)**. Vertrag von Paris (3. September); Ende des Unabhängigkeitskrieges (Revolution). Föderalisten unter Führung von Hamilton, Jay und Madison treffen sich in Philadelphia, stimmen illegalerweise einer neuen ›Verfassung‹ zu, die eine starke Zentralregierung schafft.
A.L. = anno libertatis (Jahr [nach] der Befreiung) In den USA wird der Unabhängigkeitskrieg gegen England als ›Revolution‹ bezeichnet. – Anm. d. Hrsg.
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1803
Ratifizierung durch den neunten und letzten notwendigen Staat (New Hampshire). Verfassung in Kraft; Hamilton Finanzminister unter George Washington. Hamiltons Verbrauchssteuer bewilligt; wütende Farmer aus Pennsylvania versammeln sich in Brownsville und leiten Gegenschlag ein. In Pittsburgh Versammlung der gegen die Steuern eingestellten Kräfte; Washington verkündet Warnung; Farmer teeren und federn Steuereinnehmer. ABZWEIGUNG DES GALLATIN-UNIVERSUMS VON ›UNSEREM‹ USA-UNIVERSUM. 15.000 Mann Bundestruppen gegen Farmer eingesetzt; Albert Gallatin schließt sich der Rebellion an; Washington in Philadelphia standrechtlich erschossen; Verfassung für ungültig erklärt; Gallatin zum Präsidenten ausgerufen; Hamilton verschwindet. Geschäftsführende Regierung gebildet; Gallatin ruft allgemeine Amnestie aus; alle Steuern wieder abgeschafft; Föderalisten und Tories bekommen Eigentum und Rechte zurück. Gallatin vom Kongreß bestätigt; verlangt neutrale Haltung zwischen England und Frankreich, humane Indianerpolitik und Revision der ›Artikel‹. Neue ›Artikel‹ ratifiziert; Betonung auf bürgerlichen Rechten und Wirtschaftsrechten; Landurkunden für Nordwestgebiete tilgen Kriegsschulden; ansonsten ist es den Regierungen verboten, Geld zu prägen oder zu drucken. Gallatin wiedergewählt (zweite Amtszeit); Maße und Gewichte nach Jefferson eingeführt. Gallatin und Monroe vereinbaren Erwerb von Louisiana, borgen von privaten Geldgebern gegen Grundbesitz.
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1817
Gallatin wiedergewählt (dritte Amtszeit); Hamilton in einem Duell in Preußen getötet; Stevens erfindet Dampfschiff. England versucht, Schiffsverkehr einzuschränken; Gallatin beauftragt Freibeuter, amerikanische Schiffe zu beschützen. Franzosen verteidigen Seerechte der Amerikaner; Chesapeake vertreibt britische Kriegsschiffe; Forsyth erfindet System der Aufschlagszündung für Feuerwaffen; Engländer ächten Sklavenhandel; Jefferson beginnt Kreuzzug gegen Sklaverei. Hunderte von britischen Schiffen durch amerikanische Privatmarinetruppen gekapert oder versenkt, Tausende von englischen Seeleuten desertieren; erstes hochseetüchtiges Dampfschiff ›Confederation‹ (Stevens) versenkt britisches Kriegsschiff; Gallatin wiedergewählt (vierte Amtszeit). Jefferson bei Attentatsversuch verwundet, tötet Attentäter. Gallatin verkündet seinen Rücktritt; Edmond Genêt zum Präsidenten gewählt. Klage der Freibeuterliga stürzt die Doktrin der Immunität von Souveränen. Gallatin veröffentlicht ›Prinzipien der Freiheit‹, systematische Behandlung der philosophischen Schriften von Paine und Jefferson. Freibeuteradmiral Jean Lafitte prangert öffentlich Sklaverei an. Genêt wiedergewählt (zweite Amtszeit); beantragt Abschaffung der Sklaverei; Entschädigung der Sklaven durch Landschenkungen im Westen. Sklaverei für alle nach A.L. 44 geborenen Kinder abgeschafft.
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Gallatin veröffentlicht ›Regel der Vernunft‹, tritt darin für nicht bindende, voluntaristische Gesetzgebung ein; in England glaubt man, Explosion im Parlament am Guy Fawkes Day sei durch Gallatins Werke heraufbeschworen; britische Regierung gestürzt. Collier-Shaw-Revolver mit Aufschlagzünder; Patentsystem bricht unter Gallatins Kritik an der Durchsetzung von Monopolen durch die Regierung zusammen. Jefferson zum Präsidenten gewählt; Sklaverei völlig abgeschafft; Jefferson weist öffentlich Angebot zurück, Präsident auf Lebenszeit zu werden, droht mit Rücktritt. Mexiko garantiert amerikanischen Siedlern Land in Texas. Monroe entwirft ›Jeffersondoktrin‹: politischer Isolationismus; Abschaffung von Handelsbeschränkungen; moralische Unterstützung für Kolonien, die ›Grundrecht‹ auf Abfall vom Mutterland geltend machen. Jefferson wiedergewählt (zweite Amtszeit); Verbrennungsmotor erfunden, erste mechanische Rechenmaschinen; anderswo Gründung der Republik Vespucci. Jefferson stirbt im Amt; Monroe übernimmt Präsidentschaft. Monroe gewählt. Erste Dampfeisenbahn (Philadelphia). Monroe stirbt im Amt; John C. Calhoun übernimmt Präsidentschaft. Calhoun gewählt; Nathan Turner erster schwarzer Abgeordneter im Kongreß; England experimentiert mit gallatinistischem Gesetzgebungssystem; Calhouns neue Indianerpolitik von Gallatin angeprangert.
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England schafft Sklaverei ab, Irland davon ausgenommen; englische Regierung stürzt. Colt entwickelt doppelläufigen Revolver; in Georgia Gold gefunden. Gallatin kehrt zurück und besiegt Calhoun; Texaner erklären sich unabhängig; Santa Anna bei San Antonio besiegt und getötet. Philip und Joseph Webley errichten in Birmingham, Alabama, Feuerwaffenmanufaktur. Gallatin tritt wieder zurück; Sequoyah Guess zum Präsidenten gewählt. Mexiko erklärt Alten Vereinigten Staaten sowie Republik Texas den Krieg. US-Streitkräfte in Mexiko; Sequoyahs Gallatin›Lesung‹ in Buena Vista löst massive Desertionen bei den Mexikanern aus; Mexiko City ergibt sich; Sequoyah von Heckenschützen getötet; Osceola übernimmt Präsidentschaft. Osceola gewählt; Trapper Antoine Janis steckt in ›Colona‹ am Cache la Poudre einen Claim ab. Jonathan Brownings Waffenfirma in Nauvoo, Illinois, gegründet. Revolution in Kalifornien; Hamiltonistische ›Republik‹ unter ›Kaiser‹ Joshua Norton ausgerufen. Erste geschlossene Revolverpatronen. Goldfunde in Kalifornien; in ganz Europa gallatinistische Aufstände; Jefferson Davis zum Präsidenten gewählt. Gallatinistische Revolution in Kanada. Gallatinistische Revolutionen in Mexiko und China. Nachricht von Pogromen gegen Gallatinisten in Kalifornien; Klimaanlage erfunden; Lucille Gallegos in San Antonio geboren.
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Albert Gallatin stirbt; weltweite Trauerfeiern, Gerüchte von Freudenfesten in Preußen und Kalifornien; Gifford Swansea zum Präsidenten gewählt. Erstes Dampfschiff ganz aus Stahl überquert Atlantik. Arthur Downing zum Präsidenten gewählt. Gallatinistischer Aufstand in Indien niedergeschlagen; englische Regierung stürzt. Gemeinsames Thesenpapier zur Evolution von Darwin und Wallace. Downing stirbt im Amt; Präsidentin Harriet Beecher befürwortet Alkoholverbot; John Provost, Antoine Janis, zwei Brüder und ihre indianischen Frauen gründen Stadtfirma in Colona. Lysander Spooner zum Präsidenten gewählt; gallatinistische Aufstände in italienischen Staaten; chinesische Gallatinisten stürzen Hamiltonisten in Kalifornien. Große Nordpazifische Eisenbahn nimmt transkontinentalen Betrieb auf, eröffnet Nebenstrecke in Republik Kalifornien hinein. Siedlung Colona in ›Laporte‹ umbenannt. Spooner wiedergewählt (zweite Amtszeit); automatische Pistole von Moray erfunden. Schauspieler John Wilkes Booth von unbekanntem Rechtsanwalt aus Illinois ermordet. Mexiko und Vereinigte Staaten verhandeln über Konföderation. Elisha Gray erfindet Telefon; rauchloses Schießpulver; Alaska von texanischem Konsortium erworben. Spooner wiedergewählt (dritte Amtszeit); beantragt gallatinistische Gesetzgebung in Vereinigten, Staaten;
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Fernmeldesystem von Atlanta nach Philadelphia eingerichtet. Aufgrund eines Rechtsstreits Wahlrecht für Frauen eingeführt; gallatinistische Gesetzgebung angenommen, ›Artikel‹ revidiert. Großbrand in Chicago; offizielle Erklärung in der Presse verlacht, Vorläufer von Griswoods Sicherheitsdienst gegründet. Brrr. Spooner wiedergewählt (vierte Amtszeit). Erste elektrische Straßenbahn (Chicago). Hundertjahrfeier; riesige ›Gallatinstatue‹ in Lake Michigan aufgestellt; Spooner wiedergewählt (fünfte Amtszeit). Thorneycroft erfindet Luftkissenfahrzeug; A. G. Bell erfindet mechanischen Kehlkopf für Schimpansen. ›Manhattankrieg‹ zwischen privaten Schutzfirmen. Admiral/General Wm. Lendrum Mitchell in USVariante und in Konföderation geboren. Spooner tritt zurück; Jean-Baptiste Huang zum Präsidenten gewählt. ›Bewegliche Bilder‹ werden populär; Huang wird wiedergewählt (zweite Amtszeit). Kanada schließt sich Verhandlungen zwischen Vereinigten Staaten und Mexiko an. Geronimo, Nationalmexikaner, wird erster Abgeordneter im Kongreß, der andere, aber nicht sich selber vertritt; erstes drahtloses Telefon; Wahlrecht für Primaten. Großer Blizzard im Osten; erste elektrisch beheizte Straßen (Edison); Frederick Douglass zum Präsidenten gewählt.
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Erste transatlantische Funkverbindung überträgt Wetten bei amerikanischen Pferderennen; Manfred von Richthofen (J. J. Madison) in Schlesien geboren. Benjamin Tucker zum Präsidenten gewählt. Konföderation von Nord-Amerika schließt Alaska, Kalifornien, Kanada, Mexiko, Neufundland, Alte Vereinigte Staaten und Texas ein. Erster motorisierter Schwerer-als-Luft-Flug (Lilienthal); britische Gallatinisten beantragen Konföderation mit NordAmerika; britische Regierung stürzt. Tucker wiedergewählt (zweite Amtszeit); Erfindung des lenkbaren Luftschiffes. Captain Forsyth in Oklahoma City, N.A.K. geboren. Hauptstadt in die Mitte des Kontinents verlegt; Tucker wiedergewählt (dritte Amtszeit); Hugh GabbetFairfax führt großkalibrige ›Mars‹-Automatik ein Bericht der königl. Marine stellt fest: »Niemand, der diese Pistole abfeuerte, wollte ein zweitesmal damit schießen.« Erstes Flugzeug überquert den Kontinent. Lenkbares Luftschiff ›City of Akron‹ fliegt nonstop der Länge nach über den Kontinent und zurück; erster Tonfilm (Ragtime Dance), Premiere in New Orleans. Tucker wiedergewählt (vierte Amtszeit); Nicaraguakanal. Erdbeben in San Francisco, Großbrand. Marion Michael (›Mike‹) Morrison, Filmstar der Konföderation, geboren. Tucker wiedergewählt (fünfte Amtszeit). Erstes Flugzeug überquert Atlantik; erstes lenkbares Luftschiff überquert Pazifik; ›Teeparty von Sidney‹: alle Regierungsbeamten ins Hafenbecken geworfen.
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Geoffrey Couper, Gründer der neoimperialistischen Partei, geboren. Albert Jay Nock zum Präsidenten gewählt. Preußen greift angrenzende Länder an; Kontinentalkongreß erklärt Neutralität; konföderierte Freiwillige rüsten Flug der ›Tausend Luftschiffe‹ aus. Nock wiedergewählt (zweite Amtszeit). Goddard-Raketen dezimieren preußische Luftstreitkräfte; durch starke Verbreitung von Gallatins Werken über Funk Aufruhr ausgelöst. Grippeepidemie; Flotte von lenkbaren Luftschiffen verteilt Versuchsimpfstoff rund um die Welt. Edward Bear, Vater von Edward William Bear, am 1. April in Denver/St. Charles Auraria geboren. Nock wiedergewählt (dritte Amtszeit). Erster Atommeiler vorgeführt (Chicago). Nock wiedergewählt (vierte Amtszeit). Fernsehen; Verständigung mit Delphinen; erstes Kraftwerk nach dem Prinzip der Kernspaltung (Chicago); Edna Cloud, Mutter von Edward William Bear, am 9. August in Los Angeles geboren. Falsche Ernährung als hauptsächliche Krebsursache erkannt; H. L. Mencken zum Präsidenten gewählt; erste Laser. Erstes Kraftwerk nach dem Prinzip der Kernfusion (Detroit); Ooloorie Eckickeck P’wheet irgendwo im Pazifik geboren; Familie Meep baut Restaurantkette auf; Herz-Lungen-Maschine. Düsenflugzeug; lenkbare Luftschiffe mit Fusionsantrieb; Mencken wiedergewählt (zweite Amtszeit); Olongo Featherstone-Haugh geboren. Mencken ermordet; Kontinentalkongreß wählt F. Chodorov zum Nachfolger; Cetaceen (Wale und
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Delphine) schließen sich der Konföderation an; erste Herztransplantationen. Gallatinistische Revolution in Spanien; Chodorov gewählt. Erster künstlicher Satellit im Süden von Mexiko gestartet. Altruistische Schutz-Enklave für Primaten in Stanford gegründet. Edward William Bear in Saint Charles Town, N.A.K. und in Denver, USA, geboren. Rose Wilder zur Präsidentin gewählt. Erster Primat in der Umlaufbahn liest Werke von Gallatin, spielt Schach mit Tümmlern an der Emperor Norton Universität (verliert); hamiltonistischer Staatsstreich in Hawaii; 3D-Fernsehen. Wilder wiedergewählt (zweite Amtszeit); F. K. Bertram in Boston geboren. US-Atombombe zerstört Nagasaki; Norrit Gregamer geboren. Clarissa MacDougall Olson in Laporte geboren; T. W. Sanders in den Vereinigten Staaten geboren. Wilder wiedergewählt (dritte Amtszeit); Regeneration von Gliedmaßen demonstriert. Mondexpedition errichtet Kolonie; Dardick entwikkelt Pistole mit offenem Magazinschacht; Laservisiere für Pistolen. Jennifer Ann Noble (Vorsitzende der Partei der Eigentumsrechtler in den Vereinigten Staaten) in Ithaca, New York, geboren; Profibeschützer GmbH gegründet. A. Rand gewählt, reist als erster Präsident zum Mond.
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Gallatinistische und hamiltonistische Revolutionen erschüttern Afrika. Jennifer Ann Smythe in Ithaca, N.A.K. geboren (Stasisverzögerung). Eugene Guccione erfindet Energiezelle. Russen schießen auf antarktische Kolonisten; Kontinentalkongreß spricht Warnung aus; Zar erklärt Krieg; Rand wiedergewählt (zweite Amtszeit); anderswo beginnt die Kommunistische Reformation. Russen greifen Alaska an, unterstützen Hamiltonisten in Hawaii, marschieren in Japan ein; Admiral Heinlein erringt entscheidenden Sieg in der Beringstraße; Russen erleiden riesige Verluste in Antarctica, Japan und Hawaii. ›Operation Sequoyah‹: starkes Aufgebot von Funk und Fernsehen; Tonnen von schriftlicher Propaganda gegen russisches Mutterland eingesetzt. Mondkolonisten strahlen ständig Sendungen nach Rußland; Regierung bricht zusammen; Zar verschwindet. Hamiltonisten versuchen Staatsstreich auf dem Mond, Überlebende werden ›in den Weltraum gestoßen‹; Robert LeFevre zum Präsidenten gewählt; Neova Luftkissenfahrzeug entwickelt; Sicherheitstechnik GmbH gegründet. Hirnschlag von Ochskahrt in mehreren US-Varianten geboren. LeFevre wiedergewählt (zweite Amtszeit); Laporte Paratronics GmbH gegründet; Dora Jayne Thorens in San Francisco geboren. Francis W. Pololo in Pine Barrens, N.A.K. geboren. Marskolonie im Coprates Canyon; Couper gründet neoimperialistische Partei; ›Keiner der Obigen‹ gewinnt die Wahl.
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Penetrator bei der Suche nach Schneller-als-LichtAntrieb entdeckt. In den Vereinigten Staaten gründet D. Nolan Fraser Partei der Eigentumsrechtler. John Hospers zum Präsidenten gewählt; Kolonien auf Asteroiden errichtet; Terraformung von Ceres durch Harriman, Taggert und Hill. Gründung der Cheyenne Energieversorgung und Klimakontrolle; erster stabiler Durchbruch in Parallelwelt. Zweihundertjahrfeier; Antiparlamentarische Partei; Hospers wiedergewählt (zweite Amtszeit). Erfindung der Basset-Spulen; erste ›große Ausgabe‹ eines Durchbruchs. John Jay Madison gründet in Laporte HamiltonGesellschaft. Hamiltonisten verlieren letzten Stützpunkt in Uganda. Hospers wiedergewählt (dritte Amtszeit); Einweihung des Vergnügungsparks Pellucidar Gardens in Ceres Central; extrasolare Funksignale entdeckt; Gründung von Turner Vendicom. Koko Featherstone-Haugh geboren. Jennifer A. Smythe zur Präsidentin gewählt; in den Vereinigten Staaten organisieren Anti- AbtreibungsTerroristen das ›Aktionskommando Recht auf Leben‹; Bundessicherheitspolizei (Sipo) in aller Stille gegründet; chinesisch-russische Konfrontation führt zu sichtbarer Beschädigung des Mondes; Dornaus und Dixon beginnen mit Lieferung von Bren Ten. Erster Kontakt mit Menschen (V. Meiss) auf der anderen Seite des Durchbruchs; G. Howell Nahuatl geboren.
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1996
Malaise beginnt Dokumentarfilmreihe über die Asteroiden; Agot Edmoot Mao auf Sodde Lydfe geboren; ERSTER MENSCH KOMMT DURCH DEN DURCHBRUCH AUS EINER USA-PARALLELWELT INS GALLATIN-UNIVERSUM (E. W. BEAR, DENVER); hamiltonistische Verschwörung; Siebter (und letzter?) Kontinentalkongreß zusammengetreten; systematische Unterminierung der Vereinigten Staaten durch die Konföderation beginnt. Smythe wiedergewählt (zweite Amtszeit); T. W. Sanders kommt in die Konföderation; ›Patentanzüge‹ erstmalig bei der Erkundung des Weltraums eingesetzt; durch Neuralimplantationen an Cephalopoden (Kopffüßern) bekommen die Cetaceen ›Hände‹; genetische Konstruktionen von Einhörnern; der Stützpunkt ›Navigation Rock‹ im Asteroidengürtel wird errichtet. Malaise verlegt Nachrichtenhauptquartier nach Ceres Central. D. Nolan Fraser zum Bürgermeister von Denver, USA, gewählt. In US-Variante Ermordung von Blocky Yocks; Zusammenbruch des Beil-Systems. Olongo Featherstone-Haugh wird der erste nichtmenschliche Präsident der Konföderation. Bau der Interwelt-Station Laporte begonnen; entführte ›OMA 789 George Herbert‹ gelangt durch Zufall in die Konföderation; Mastodons aus gefrorenen Gewebeteilen (aus Sibirien) geklont; Erfindung von Plasmawaffen. Featherstone-Haugh wiedergewählt (zweite Amtszeit); zum erstenmal werden Massenentführungen von Frauen aus den Vereinigten Staaten bemerkt.
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Erste nanoelektronische Gehirnrindenimplantate bei denkenden Wesen entdeckt; Tormount-MalaiseVerschwörung; geheime hamiltonistische Flotte flieht aus dem Sonnensystem. Asteroid 9656 Bester aus dem Nomadenhaufen kollidiert mit der Venus und schafft zweiten Asteroidengürtel; ›Keiner der Obigen‹ gewinnt die Wahl in der Konföderation; D. Nolan Fraser zum ersten Eigentumsrechtler-Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt; Lucille Olson-Bear in Laporte, N.A.K. geboren. EdWina Olson-Bear als erstes Kind (auf 1939 Chandler) im Venusgürtel, Solare Konföderation, geboren; Erfindung der Quarkotopie. ›Keiner der Obigen‹ wiedergewählt, Mymysiir Offe Woom auf Sodde Lydfe geboren. Ochskahrt (US-Variante) entdeckt Zeitreise; Ochskahrt-Gedächtnisakademie in Ziolkovsky auf Luna errichtet; in der Konföderation wird ›Keiner der Obigen‹ zum Präsidenten auf Lebenszeit gewählt; Enson Sermander auf Vespucci geboren. Bau der Tom- und der Bobflotte begonnen unter der Voraussetzung, daß man den Schneller-alsLicht-Antrieb entdecken wird; Einfall von Komans Viroiden in die Konföderation. MacDougall Olson-Bear auf Vermessungsschiff ›Gordon Kahl‹ geboren. YD-038 auf Vespucci geboren. Konföderation entwickelt trägheitslosen Schnellerals-Licht-Tachyonen-Antrieb; erster ›Kontakt‹ mit den Gunjj. Auf Sodde Lydfe führt der KübelierUntersuchungsbeauftragte Agot Edmoot Mav seine erste Mordermittlung durch.
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Die ›Tom Paine Maru‹ (TPM) entdeckt erste, intelligente Fremdlebewesen (die Lamviin von Sodde Lydfe); 11-D3 auf Vespucci geboren; Lucille Olson-Bear von Wilden ›getötet‹, kommt in Stasis.
ÜBER DEN AUTOR L. Neil Smith, Berater für Selbstverteidigung und früher Reservist bei der Polizei, hat auch schon als Waffenschmied und Berufsmusiker gearbeitet. Er wurde 1946 in Denver geboren, kam als Luftwaffen›göre‹ weit herum und wuchs in einem Dutzend verschiedener Gegenden der Vereinigten Staaten und Kanadas auf. 1964 kehrte er in seine Heimat zurück, um Philosophie, Psychologie und Anthropologie zu studieren und erreichte schließlich – seiner Aussage nach – die vielleicht niedrigste durchschnittliche Punktzahl in der Geschichte der Universität des Staates Colorado. Neil hat vor kurzem seine zweite Amtszeit im Nationalen Wahlprogrammausschuß der ›Libertarian Party‹ hinter sich gebracht. 1978 kandidierte er als Libertarianer für einen Sitz in der Gesetzgebenden Versammlung seines Staates, wobei er gegen einen alteingesessenen Republikaner bei einem totalen Ausgabenetat von 44.000 Dollar fünfzehn Prozent der Stimmen errang. Jetzt ist er hauptberuflich SF-Schriftsteller, Mitbegründer und Vorsitzender des ›Prometheus Committee‹, und lebt mit seiner Frau Cynthia und vier Katzen in Fort Collins, Colorado.