Helen D. Boylston
Carol - Ihr größter Wunsch
Theater zu spielen, das ist Carols geheimer Wunsch. Aber die Wirklichke...
22 downloads
484 Views
569KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Helen D. Boylston
Carol - Ihr größter Wunsch
Theater zu spielen, das ist Carols geheimer Wunsch. Aber die Wirklichkeit ist anders und härter, als es sich Carol erträumt hat.
Berechtigte Übersetzung aus dem Amerikanischen von Edith Gradmann Der Titel der Originalausgabe lautet: »Carol goes on Stage«, Little, Brown and Company, Boston 2. Auflage 1976, 12. Tausend Alle Rechte der deutschen Ausgabe vorbehalten © 1969/1976 Benziger Verlag Zürich, Köln ISBN 3 545 32129 0 Gesamtherstellung: Salzer – Ueberreuter, Wien Printed in Austria
1
Es war kurz nach dem Mittagessen. Fünf Jungen und drei Mädchen saßen gelassen in der vordersten Reihe und hörten Miss Waters zu. Miss Waters war Hauptlehrerin für Englisch und Leiterin der jährlichen Theateraufführungen der Mittelschule von Millport. Mit gefalteten Händen, die Ellbogen leicht abgespreizt, stand sie kerzengerade vor ihnen, und ihre Stimme verlor sich fast in dem großen Raum. »Das wäre im Augenblick alles«, sagte sie. »Zieht jetzt eure Kostüme an und schminkt euch; dann meldet euch wieder bei mir.« Als die jungen Leute aufsprangen, fragte sie: »Wo steckt eigentlich Carol?« »Ach, die wird gleich kommen«, erwiderte Loretta. »Sie ist aufgehalten worden.« Mißtrauisch musterte die Lehrerin Lorettas blaue Unschuldsaugen. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, erschien der Hauswart unter der Tür, um sie etwas wegen der Beleuchtung zu fragen. Die drei Mädchen verzogen sich schnell in den kleinen Raum hinter der Bühne. »Puh!« sagte Mary und lehnte sich gegen die geschlossene Tür. »Und wo steckt Carol nun wirklich?« »Woher soll ich das wissen.« Loretta setzte sich auf die lange Bank vor den improvisierten Schminktisch und betrachtete ihr Gesicht. Das dritte Mädchen, Ellen, ließ sich schwungvoll neben Loretta auf der Bank nieder und öffnete den gemeinsamen Schminkkasten mit einer Geziertheit, als ob es die Kassette mit den Kronjuwelen wäre. »Soll das heißen, daß du nicht weißt, wo sie wirklich ist? Soll das heißen, daß kein Mensch es weiß?« »Ich jedenfalls habe keine Ahnung«, sagte Loretta. »In Ordnung, Carol. Es war wirklich eine gute Imitation. Aber jetzt haben wir keine Zeit mehr für Unsinn. Es ist schon Viertel nach zwei, und punkt drei Uhr geht der Vorhang auf.« »Ja, Miss Waters.« »Bist du sicher, daß du dich richtig schminken kannst?« »Ja, natürlich.« »Dann tu’s so schnell wie möglich. Wenn du fertig bist,
wiederhole noch einmal die Anfangssätze aus der ersten Szene des zweiten Akts. Die sitzen noch nicht. Suche jemand, der dich abhören kann.« Miss Waters schwarze Augen entdeckten einen Schminkstift in Ellens Hand. »Nein, nein, Kind, das ist nicht die richtige Farbe. Komm, ich zeig es dir.« Carol zog ihre Bluse aus. Dann setzte sie sich zu den Mädchen auf die lange Bank und begann, sich in eine ältliche Bäuerin zu verwandeln. Sie hatte einige Übung darin. Miss Waters hatte den Mädchen längst alles gezeigt, was sie selber vom Schminken verstand. Carol rieb sich das ganze Gesicht dick mit Cold Cream ein, entfernte sie wieder. Dann legte sie mit den Fingerspitzen dunkelrosa Fettschminke auf. Mit einer Mischung aus Braun und Grau färbte sie die Schläfen und die Haut unter den Wangenknochen, damit es wirkte, als ob die Wangen eingefallen seien. Das gleiche Braun strich sie auf einen kleinen, feinen Pinsel und malte dünne Striche über die Stirn, um die Augenwinkel und von der Nase zum Kinn. Mit einem Augenbrauenpinsel verbreiterte sie die Brauen und schattierte die Lider. Aus der Nähe betrachtet, war das Ergebnis merkwürdig und erschreckend, aber auf die Zuschauer würde es ganz natürlich wirken. Was man mit ein wenig Schminke aus einem Gesicht machen kann, dachte Carol, es ist unglaublich! Nun kam das Haar an die Reihe. Mit Puder färbte sie es an den Schläfen weiß und steckte es auf dem Scheitel zu einem dicken Knoten auf. Dann schlüpfte sie in ein verwaschenes Baumwollkleid und band sich eine Küchenschürze um. »So«, sagte sie, aber niemand antwortete ihr. Miss Waters war gegangen, und die andern Mädchen waren in ihre Schminkerei vertieft. Carol wollte jetzt ihre Rolle nehmen, fand sie jedoch nicht und begann in sämtlichen Büchern, Manuskripten und Handtaschen zu wühlen. »Was ist denn jetzt wieder?« fragte Mary. »Meine Rolle! Ich kann meine Rolle nicht finden, Mary, du mußt mir helfen!« Mary grinste. »Du hast sie ja in der Hand, du Schaf.« »Oh«, sagte Carol. »Danke schön. Und würde vielleicht eine von euch so gut sein, mich in dieser Szene noch einmal abzuhören?« »Nein!« erklang es einstimmig. »Na schön. Fragen ist schließlich erlaubt. Dann bis nachher.«
»Wo gehst du hin?« »Untersteh dich, fortzulaufen!« Sie erhielten keine Antwort, denn Carol war bereits verschwunden. Später behauptete sie steif und fest, sie hätte sich alle Mühe gegeben, jemanden zum Abhören zu finden. Aber nachdem ihr das nicht gelungen sei, wäre sie in den Schulhof gegangen, um die betreffenden Zeilen noch einmal für sich zu repetieren. Der Schulhof sei ja so schön still und friedlich gewesen. Auf jeden Fall ging sie hinaus und schlenderte, leise vor sich hinmurmelnd, gemächlich in der warmen Frühlingssonne auf und ab, bis sie durch die Ankunft eines klapprigen Sportwagens unterbrochen wurde. Am Steuer saß ein großer Junge mit einem schmalen Gesicht und wirren blonden Haaren. »So siehst du also einmal aus, wenn du alt bist«, überschrie Ned Long seinen ratternden Motor. »Ein gräßlicher Anblick!« Er stellte den Motor ab, oder besser gesagt, der Motor gab von selbst den Geist auf. »Komm und hör mich noch einmal ab«, sagte Carol. »Aber Carol, mit einer Person in einer derartigen Aufmachung kann ich mich hier nicht blicken lassen. Schließlich habe ich einen Ruf zu riskieren. Wenn du ein Stückchen mit mir wegfährst, irgendwo an einem versteckten Platz …« »Ich kann nicht. Es ist sicher schon halb drei, und um drei geht der Vorhang hoch. Übrigens wäre es dir sicher peinlich, mich in deinem geheiligten Wagen zu haben.« »Der Wagen wird dir den nötigen Hintergrund geben. Er wird dein gesellschaftliches Ansehen heben. Los, komm. Du kannst deine Rolle genau so gut im Auto studieren wie hier im Hof.« »Bildest du dir wirklich ein, ich würde mich noch einmal in dieses Vehikel setzen, nachdem es uns das letzte Mal derart im Stich gelassen hat!« »Der Wagen ist wieder ganz in Ordnung«, erwiderte Ned beruhigend. »Wir fahren nur bis zum See. Das dauert höchstens fünf bis zehn Minuten. Wenn wir für den Rückweg das gleiche rechnen, könnte ich dich dort – sagen wir mal – fünf Minuten lang abhören. Das Auto ist jetzt wirklich ganz in Ordnung. Deswegen bin ich ja hergekommen, weil ich’s dir vorführen wollte.« »Bis zum See«, sagte Carol, »sind es drei Kilometer.« »Hör doch nur, wie er regelmäßig läuft.« Ned fingerte an
verschiedenen Knöpfen herum, und nach einigem Zögern stieß der Wagen eine Reihe bellender Hustentöne aus. »Na, hörst du? Ach, komm schon!« Ned öffnete einladend die Tür und lächelte. Er konnte entwaffnend lächeln. »Na gut«, meinte Carol zweifelnd – und kletterte hinein. Dann, als der Wagen, immer noch bellend, einen Ruck vorwärts machte, rief sie: »Ned, der hat ja Keuchhusten! Nie im Leben kommt der bis zum See!« Aber er kam hin. Er hielt durch bis zur Abzweigung von der Hauptstraße, von wo aus man den See schon sah. Dann bockte er, verstummte und blieb stehen. »Du lieber Himmel, Ned! Jetzt sitze ich schön in der Tinte. Hätte ich nur nie auf dich gehört!« Sie riß die Tür auf und sprang hinaus. »Bleib nur bei ihm, bis er seinen letzten Atem ausgehaucht hat. Ich mache Autostopp!« »Halt! Warte doch einen Augenblick! Ich kann’s sofort in Ordnung bringen!« Aber von Carol, die den Abhang zur Hauptstraße hinaufkeuchte, war nur noch ein wehender, verwaschener Baumwollrock zu sehen. Der Frühlingswind war kühl, und Carol fröstelte, als sie am Straßenrand wartete. Drei Autos fuhren schnell hintereinander an ihr vorbei. Als dann als viertes eine vertrauenswürdig aussehende Limousine auftauchte, trat sie hoffnungsvoll einen Schritt vor. In dem Wagen saß ein älteres Ehepaar, das auch bereitwillig langsamer fuhr, als Carol die Hand hochhob. Dann trat der Mann aber plötzlich wieder aufs Gas, und sie sausten vorbei. Zwei entsetzte Gesichter musterten Carol mit Abscheu. Carol war einen Augenblick lang verblüfft. Dann dämmerte es ihr plötzlich, und sie erschrak. Ihre Schminke war der Grund. Du lieber Himmel, dachte sie, was mache ich, wenn keiner anhält? Drei Kilometer weit kann ich nicht rennen. Nicht einmal für Miss Waters. Ein hellgelbes Cabriolet näherte sich, und Carol versuchte es wieder. Der Wagen verlangsamte sofort die Fahrt. Ein Mann mit sonnengebräuntem Gesicht, dickem Hals und breiten Schultern beugte sich heraus und lächelte freundlich. Als der Wagen stillstand, sah er Carols Gesicht. »Oh …«, stotterte er. Dann riß er sich zusammen. »Na, mir ist’s gleich, ich hab schon allerhand Leute auf der Straße aufgelesen – steig meinetwegen ein.«
Carol war zurückgewichen. »Ich glaube … es tut mir schrecklich leid«, stotterte sie, »aber ich meine, ich will doch lieber laufen.« »Ist mir auch recht«, sagte der Mann und fuhr wieder los. Carol blickte auf die Seestraße hinunter. Sie konnte Neds Wagen gerade noch sehen und die Gestalt, die sich darüber beugte. Von dort war keine Hilfe zu erwarten. Zwei Autos fuhren in der entgegengesetzten Richtung vorbei. Nach kurzer Zeit jedoch sah sie die Sonne auf einer Windschutzscheibe glitzern, und ein langes, dunkles Coupé rollte auf sie zu. Entschlossen rannte Carol mitten auf die Straße und blieb mit weit ausgebreiteten Armen stehen. Dieser Wagen mußte einfach halten, und wer immer darin war, er mußte sie anhören. Das Coupe wurde sanft gebremst. »Bitte nehmen Sie mich in die Stadt mit!« rief Carol. »Es ist furchtbar eilig. Ich sollte schon längst in der Schule sein.« »Aber natürlich«, sagte eine Frauenstimme, die Carol zu jeder andern Zeit durch ihre gepflegte Aussprache aufgefallen wäre. Im Augenblick, allerdings, hörte sie nur die Zustimmung. Sie rannte zur Tür, riß sie auf und schlüpfte unter den belustigten Blicken der Fahrerin auf den zweiten Sitz. »Gott sei Dank!« seufzte Carol erleichtert. »Es ist der rote Backsteinbau drei Kilometer weiter unten an der Straße.« Die Dame nickte, und der Wagen setzte sich leise und weich wieder in Bewegung. Nun kam Carol erst dazu, ihre Nachbarin anzusehen. Sie trug ein elegantes Tweedkleid und einen dazu passenden nerzgefütterten Mantel, auf dem dunklen Haar eine schmeichelnde Nerzkappe. Am meisten bewunderte Carol das schöne Gesicht mit dem makellosen Teint und den großen, dunklen Augen. Alles an dieser Dame schien Carol ein bißchen vornehmer als bei andern Leuten. Wer war diese Frau? Jetzt wandten sich die dunklen Augen Carol zu, und nach einem kurzen, prüfenden Blick lachte die Frau leise und vergnügt. »Ist es ›Der zerbrochene Krug‹?« fragte sie. »Oder die Mutter Wölfen aus dem ›Biberpelz‹?« »Es ist die Eliza«, sagte Carol verblüfft, »aus dem netten Stück ›Miss Hipkins’ Entscheidung‹. Und könnten Sie – würde es Ihnen etwas ausmachen, ein bißchen rascher zu fahren? Wir haben Kostümprobe.« »Natürlich.« Sie gab mehr Gas, und der Wagen flitzte nur so über die Straße. »Die Eliza ist eine hübsche Rolle.«
»Ja, wirklich«, stimmte Carol ihr bei. »Und das Nette daran ist, daß sich die Eliza überhaupt nicht ändert. Sie ist und bleibt eine Magd, weil sie nichts anderes sein will. Aber sie ist so würdevoll dabei, daß man nur manchmal an einem kurzen Aufleuchten ihrer Augen merkt, wie sie sich über ihr Schicksal freut, oder durch irgendeine Betonung eines Wortes. Wissen Sie, zum Beispiel, wenn sie durchs Fenster dem Schmetterling zusieht und sagt: ›es ist ein lächerliches gelbes Fetzchen Glück‹.« Carols Stimme hatte sich, während sie Elizas Worte zitierte, verändert. Sie war tiefer geworden. Und ihre grünen Augen blickten so, als ob sie den Schmetterling tatsächlich sähe: heiter und zärtlich. Die Dame schaute Carol mit Interesse an. »Du scheinst ja richtig über diese Eliza nachgedacht zu haben?« »Natürlich. Ich muß sie ja schließlich spielen.« »Wie alt bist du – wenn ich fragen darf?« »Siebzehn.« Die Dame machte ein merkwürdiges, leises, heiseres Geräusch. Wenn es jemand anderes gewesen wäre, hätte Carol gedacht, sie habe »Hm« gesagt. »Und ich nehme an, du willst einmal eine berühmte Schauspielerin werden?« »Oh, nein!« erwiderte Carol. »Ich weiß bis jetzt noch gar nicht, was ich werden will. Aber …« Sie hielt inne, weil sie dabei an Ellen dachte. »… aber eines weiß ich genau: daß ich nicht im geringsten theaterverrückt bin.« Die dunklen Augen zwinkerten ihr zu. »Das ist schade. Mit siebzehn gehört es doch fast zum guten Ton, theaterverrückt zu sein.« »Das finde ich ausgesprochen blöd«, erklärte Carol. »Das ganze Geschwätz, wie himmlisch es ist, auf der Bühne herumzustolpern und vorzugeben, jemand anders zu sein, während das Publikum klatscht und so weiter.« »Du hast ganz recht. Aber was du da sagst, kann man auch nicht darstellen nennen. Das ist nur ein Sich-Aufspielen. Darstellen ist etwas ganz anderes. Da muß man sich ganz einsetzen: seinen Verstand, seinen Körper und seine Gefühle. Da muß man eine Idee nachempfinden können oder einen menschlichen Charakter oder eine bestimmte Situation.« »Aber«, erwiderte Carol erstaunt, »das ist ja genau das, was ich mit der Eliza versuche.« »Ganz richtig.«
»Ich …. ich glaube, das habe ich mir bis jetzt noch gar nicht so genau überlegt.« Das rote Schulhaus tauchte vor ihnen auf, und der Wagen hielt am Randstein an. Carol stand schon auf dem Gehsteig. »Vielen, vielen Dank«, sagte sie. »Es war schrecklich nett von Ihnen.« Die Dame lächelte und nickte. Carol warf die Tür zu, wandte sich um und kam dann noch einmal zu dem geöffneten Fenster zurück. »Übrigens«, sagte sie, »wenn man zur Bühne gehen will, muß man Talent haben. Und davon habe ich keine Spur, das weiß ich genau.« Dann rannte sie davon. »Das wäre die Frage«, sagte die Dame nachdenklich und blickte der schlanken Gestalt mit den flatternden Schürzenzipfeln nach. »Das wäre die Frage.«
2
Die Hauptprobe war weder besser noch schlechter, als es Carol erwartet hatte. Ellen, eifrig und gefühlvoll, übertrieb wie gewöhnlich. Jimmie Marshall, der einen älteren, dicklichen Rechtsanwalt zu spielen hatte, verlor ständig sein Bauchpolster. Carol wußte im zweiten Akt zweimal nicht mehr weiter. Der Vorhang blieb stecken. Zwei Scheinwerferbirnen brannten aus, und Miss Waters wurde bei jeder Szene gereizter. Das Stück war ein alter Schmachtfetzen. Seine Heldin, Eliza Hipkins, ist als treue Magd in der Familie eines ländlichen Ladenbesitzers alt und grau geworden. Da fällt ihr eine unerwartete Erbschaft zu, und die ganze Familie beginnt, sie Miss Hipkins zu nennen und versichert ihr, daß sie etwas Besseres sei als eine einfache Angestellte. Alle versuchen auf jede nur mögliche Weise, an das Geld heranzukommen. Nur Helen, die verheiratete Tochter – Ellens Rolle – bittet um nichts und schützt Eliza vor den habgierigen Verwandten. Doch Helens Mann ist krank, und sie braucht dringend Hilfe. Eliza weiß nicht, daß Helen sie verteidigt hat, aber sie spürt genau, worauf die Familie aus ist. Da sie aber ihr einziges Heim nicht verlieren will, ist sie schon beinahe entschlossen, der Familie die Erbschaft zu schenken. Da wird sie zufällig Zeuge eines Familiengesprächs, bei dem Helen den andern ihre gewissenlosen Pläne vorwirft. Ruhig öffnet Eliza die Tür und erklärt, daß sie sich entschieden habe. Sie will zu Helen ziehen, um dort für einen Lohn zu arbeiten, den sie sich aus eigener Tasche bezahlt. Helen soll alles von ihr bekommen, was sie nötig hat. In der letzten Szene des dritten Aktes sieht man eine glückliche und zufriedene Eliza, die in Helens Küche unter der Lampe ein Kinderkleidchen flickt – immer noch eine einfache Magd. Carol gab sich alle Mühe, vor den leeren Sitzreihen des Zuschauerraums eine überzeugende Eliza zu spielen. Aber sie war durch die vorangegangene Aufregung derart abgelenkt, daß ihr ihre Rolle ganz gleichgültig geworden war. Einmal, mitten in einer Szene, glaubte sie, Neds Wagen zurückkommen zu hören. Ihre Stimme zitterte und verstummte dann ganz. Und wenn er jetzt wütend auf sie war? Was dann?
»Na und, Carol?« sagte Miss Waters scharf. Carol riß sich zusammen, aber der Text war wie ausgelöscht, und man mußte ihr soufflieren. Sie atmete auf, als die Probe vorbei war und sie sich abschminken und umziehen konnte. So schnell wie möglich verschwand sie aus der überfüllten Garderobe. Noch unten auf der Treppe hörte sie Ellens atemlose Stimme: »Man muß sich einfach seinen Gefühlen hingeben und sich von ihnen tragen lassen.« Carol fragte sich, wie es möglich sei, eine Rolle zu spielen, wenn man sich dabei dermaßen aufregte, daß man überhaupt nicht mehr denken konnte Im Grunde genommen war es das gleiche, wie wenn man mit einem schwierigen Menschen besonders taktvoll sein wollte. Man mußte sich in den Betreffenden einzufühlen versuchen, um ihn zu verstehen. Aber gleichzeitig mußte man auch denken – und wenn man sich zu sehr aufregte, verdarb man alles. Carol öffnete die Seitentür, und im Zwielicht des Aprilnachmittags erinnerte sie sich an die Dame, die sie mit in die Stadt genommen hatte und hörte wieder die Stimme sagen: Darstellen bedeutet den Verstand einsetzen und den Körper und die Gefühle … Was hatte sie wohl damit gemeint? Und wieso wußte sie so viel darüber? War sie vielleicht selber Schauspielerin? »Du lieber Himmel!« stöhnte Carol. »Und ich habe bestimmt nur lauter dummes Zeug geschwatzt!« Es wurde ihr höchst unbehaglich, und ihre Laune verdüsterte sich bedenklich. Sie war ein Mondkalb, und Ned würde niemals mehr ein Wort mit ihr sprechen. Sie war genauso eine Niete wie Eliza. Einfach gräßlich war das alles. Ein paar Minuten lang war Carol am Verzweifeln. Dann schlug ihr der Blütenduft aus einer Hecke entgegen, und sie hörte Vogelgezwitscher. Ihre Laune hob sich im gleichen Tempo wie sie gefallen war. Die Aprildämmerung, das Grün der Bäume und das Klappern ihrer Absätze auf dem Pflaster ließen sie ihren ganzen Kummer vergessen. »Wie schön ist doch die Welt«, murmelte sie und begann wie ein Kind zu hüpfen und dann zu rennen. Am Ende der Straße lag hinter einem weißen Lattenzaun ein geräumiges, behagliches Haus. Carol rannte durch den großen Garten und die Stufen hinauf zum Haus. Sie stieß die Haustür auf, hinter der sich gerade drei Hunde balgten – ein Terrier und zwei
Dackel. Ihr Gekläff machte jedoch nur einen Teil der Geräusche aus, die aus allen Ecken und Enden des Hauses ertönten. Während Carol sich bemühte, alle drei Hunde gleichzeitig zu streicheln, versuchte sie festzustellen, wo sich die verschiedenen Familienmitglieder befanden. Das Dröhnen des Radios, begleitet von lautem Gehämmer, erklang aus dem Zimmer ihres Bruders Philip im ersten Stock. Im Arbeitszimmer im Parterre donnerte ihr Vater aufgebracht ins Telefon. Das Klappern von Tischtennisbällen und eine Mädchenstimme, die ausrief »Gut gespielt!« ließ darauf schließen, daß ihre zwanzigjährige Schwester Eleanor sich wieder einmal kameradschaftlich und sportlich gab, um Benny Jenkins zu imponieren. Was Eleanor allerdings in diesem langen Lulatsch mit den Hamsterzähnen sah, war Carol ein Rätsel. Es gab so vieles an Eleanor, was Carol nicht verstand. Carol und Phil jedoch verstanden sich ausgezeichnet, und die beiden Semester, die er in Yale studierte, waren Carol sehr lang vorgekommen. Jetzt verbrachte er die Osterferien daheim. Gladys, die Hausangestellte, tauchte in der Halle auf. »Ach, Sie sind’s, Miss Carol. Wie ist’s in der Probe gewesen?« »Es war gräßlich, Gladys. Wo ist meine Mutter?« »Im Wohnzimmer.« Gladys verschwand, und Carol dachte einen Augenblick zweifelnd über Eleanor und Benny nach. Dann zog sie plötzlich den Spazierstock ihres Vaters aus dem Schirmständer und trommelte damit energisch auf den Heizkörper los. Der Erfolg zeigte sich augenblicklich und war beachtlich. Benny stieß einen Schreckensschrei aus. Eleanor entschuldigte sich mit lauter, klagender Stimme. Richter Page schloß die Tür seines Arbeitszimmers mit einem wohlgezielten Fußtritt. Carol flüchtete. Sie fand ihre Mutter im Wohnzimmer. Die Hände gelassen im Schoß gefaltet, schaute sie zum Fenster hinaus. Mrs. Page war immer heiter. Kein Familienmitglied kannte sie anders. Sie war etwas rundlich und sehr hübsch, mit glänzenden schwarzen Haaren, vergnügten braunen Augen. Stets war sie tadellos frisiert und wirkte nie überarbeitet oder gehetzt, obwohl der Haushalt immer reibungslos funktionierte. Ihre Familie betete sie an. Carol setzte sich mit gekreuzten Beinen neben ihre Mutter auf den Boden. »Bist du das gewesen in der Halle eben?« fragte Mrs. Page. »Und
wer hat so gebrüllt?« »Ja. Gebrüllt hat Benny. Ich glaube, Eleanor hat ihm vor lauter Schreck einen Pingpongball an den Kopf geschmettert.« Mrs. Page ließ es auf sich beruhen. Sie hatte eine Frage gestellt und eine Antwort bekommen, folglich wandte sie sich dem nächsten Thema zu. »Wie war die Probe?« »Schauerlich! Einfach grauenhaft. Es ist überhaupt ein total verrückter Nachmittag gewesen.« Carol befand sich mitten in einer längeren Erklärung über ihr Abenteuer mit Ned, als Richter Page im Türrahmen erschien. Er sah verstört aus. »Ich kann meine Brille nicht finden, Rita«, sagte er. Und dann zu Carol: »Na, Carol …« »Sie liegt dort auf dem Tisch, Frank«, erwiderte seine Frau gelassen. »Aber ja, natürlich.« Er machte einen Schritt rückwärts und trat dabei einem der Dackel auf den Fuß. Der Hund jaulte. Richter Page schaute ihn teilnahmsvoll an. »Du Höllenhund!« brüllte er, was seine Art der Entschuldigung war. Der Dackel, der seinen Herrn kannte, wedelte dankbar mit dem Schwanz. Brummend zog sich der Richter zurück. »Und dann also …«, fuhr Carol fort, als Eleanors wütendes Gesicht in der Tür auftauchte. »Mutter!« Sie war fast in Tränen aufgelöst. »Könntest du nicht einmal etwas dagegen tun? Ich weiß nicht, was Benny sich denken soll. Das Radio brüllt, und Vater flucht, und der Hund jault, und irgend jemand …« Sie sah Carol. »Ach, du bist das gewesen!« »Komm, komm«, sagte Mrs. Page, »wenn Benny keinen Lärm ertragen könnte, dann käme er gar nicht hierher. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Geh ruhig wieder hinauf und …« Sie wurde – das Hämmern hatte inzwischen aufgehört – durch ein Gepolter auf der Treppe unterbrochen. Philip kam durch die Tür geschossen und ließ sein schlaksiges Gestell in einen Sessel fallen, wobei er seine Mutter mit den gleichen grünen Augen anblickte wie Carol. »Es ist erledigt«, erklärte er. »Oh, hallo, Kleines. Ich habe dich ja gar nicht gesehen.« Liebevoll grinste er Carol zu. »Warum dieser tierische Ernst, Mutter?« »… und dann sah ich einen phantastischen schwarzen Wagen«,
fuhr Carol, ohne sich stören zu lassen, fort, während sie das Grinsen ihres Bruders erwiderte. »Ich bin froh, daß es erledigt ist, Phil«, sagte Mrs. Page. »Was war es eigentlich?« »Die neue Antenne!« Es klang, als ob er den neugewählten Präsidenten der Vereinigten Staaten vorstellen würde. »… und dann sagte sie mit dieser feenhaften Stimme, Theaterspielen ist … Himmel, hört mir denn keiner zu?« Sofort wandten sich beide ihr höflich zu. »Doch. Erzähl nur weiter.« Carol war gerade mit ihrem Bericht fertig, als Gladys mahnend von der Halle her rief: »Ihr Nachtessen wird ganz kalt, Miss Carol!« »Oh, danke schön.« Carol stand auf. »Ich komme nicht mehr herein, Mutter. Sobald ich geduscht habe, muß ich in die Schule zurück. Also dann auf später.« An der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Phil, kommst du auch zu der Aufführung?« Sie gab sich alle Mühe, es möglichst gleichgültig klingen zu lassen. Aber es war doch ziemlich wichtig, daß ein Bruder, der in Yale studierte, unter den Zuschauern saß. »Schon möglich«, sagte Phil, der die feste Absicht hatte zu kommen. »Übrigens, Carol, am Freitag muß ich nach New York. Ich will mich dort nach einer Arbeit für den Sommer umsehen. Willst du mitkommen? Wir könnten am Abend ins Theater gehen.« »Mit Wonne. Darf ich, Mutter?« »Natürlich.«
3
Carol stand in den Kulissen und wartete auf ihr Stichwort. Sie lauschte auf das Murmeln im Publikum und den Dialog auf der Bühne. Sie war ein wenig nervös. Ihre Handflächen waren feucht. Aber es würde schon alles in Ordnung kommen, sobald sie auf der Bühne stand. Der Anfang des ersten Aktes war die Szene zwischen Mr. und Mrs. Jones, in der sich beide über Eliza beklagten. Der Auftritt zog sich schrecklich in die Länge. Bei sämtlichen Proben hatte Miss Waters immer wieder gesagt: »Nicht so schleppend. Schneller, schneller!« Und alle hatten sich Mühe gegeben. Aber obwohl Eddie und Mary als Mr. und Mrs. Jones schnell und aufgeregt sprachen, gab es lange Pausen. Eddie redete so schnell, daß Carol, hätte sie seine Rolle nicht auswendig gekannt, überhaupt kein Wort verstanden hätte. Nach jedem Satz schaltete er ein langes Schweigen ein. Und Mary machte es ebenso. Auf die Szene zwischen Vater und Mutter Jones folgte der Auftritt des Sohnes und der jüngeren Tochter, und beide – Loretta und Jimmie – stolperten über die Leiste, die die Tür zusammenhielt. Auch davor hatte Miss Waters sie gewarnt. Aus dem Publikum erklang ein nachsichtiges Kichern. Das Stück lief jetzt nicht allzu schlecht. Das einzige war, daß alle am Boden zu kleben schienen. Und Ellen, die jetzt als Helen die Bühne betrat, gestikulierte so wild, daß sich ihre Arme wie Windmühlenflügel bewegten. »Eliza!« Eddie brüllte, und Carol fuhr zusammen. »Was ist denn?« rief sie und trat vor, wobei sie über die Latte stolperte. Das Publikum kicherte wieder, und Carol starrte verwirrt über das Rampenlicht ins Publikum. »Wohin hast du meinen Tabaksbeutel wieder verkramt?« fragte Mr. Jones. Und dann, als Carol ihn hilflos anblickte, zischte Eddie: »Bücherschrank.« Plötzlich hatte sie alles wieder im Kopf. »Der liegt auf dem Bücherschrank, Mr. Jones«, antwortete sie schnell, »wo Sie ihn hingelegt haben.« Sie versuchte, ihren Worten einen würdigen und zugleich vorwurfsvollen Klang zu geben. Der erste Akt ging zu Ende. Mit gierigen Gesichtern belauscht
die Familie Jones den Anwalt, der Eliza mitteilte, daß sie eine Erbschaft von 10 000 Dollar gemacht habe. Da jedoch keiner der jugendlichen Schauspieler eine Ahnung hatte, wie man mimisch Habgier ausdrückt, war das Resultat eine Reihe merkwürdig unnatürlicher Grimassen. Miss Waters stürzte sich auf sie, als sie hinter die Bühne kamen. »Was ist denn mit euch los? Ich weiß ja, daß ihr euch alle Mühe gebt, aber so geht das nicht. Bei den Proben wart ihr viel besser!« Die Schauspieler starrten sie verzweifelt an. Miss Waters holte tief und geduldig Luft und versuchte es noch einmal. »Ihr spielt doch nicht nur für eure Familien und Freunde. Wir haben einen wichtigen Gast im Zuschauerraum. Cora M. Addison, die berühmte Schriftstellerin. Zeigt ihr, was ihr könnt.« »Ja, Miss Waters.« Als sie alle weggehen wollten, rief Miss Waters: »Einen Augenblick noch, Carol, ich will dir etwas sagen.« Carol wandte sich um, darauf bedacht, nicht an die Wohnzimmerwand zu stoßen. »Du bist die einzige, die das Stück noch herausreißen kann. Ich kann dir natürlich nicht den Kopf abbeißen, wenn du’s nicht tust. Aber alles liegt bei dir. Du leierst einfach deine Rolle herunter. Du könntest Eliza lebendig machen! Wirklich Carol! Gib dir doch ein bißchen Mühe!« Carols grüne Augen leuchteten. Miss Waters letzte Worte hatten sie an etwas erinnert. Miss Waters nickte zufrieden. »Das war’s«, sagte sie. »Vergiß nicht, alles hängt an dir.« Carol stand reglos, während rings um sie herum die Kulissen und Versatzstücke rumpelten. Für den zweiten Akt brauchte sie ihr Kostüm nicht zu wechseln. Aber hier konnte sie nicht stehenbleiben. Sie drehte sich um und ging gedankenverloren in eine dunkle Ecke, wo sie sich auf eine Kiste setzte. Dort saß sie, ein wenig vorgebeugt, mit geöffneten Lippen. Die eine Hand lag im Schoß, die Finger der andern strichen nervös über die Kante der Kiste. Sie konnte Eliza lebendig machen. Darstellen hieß das ganze Selbst einsetzen … ein menschliches Wesen nachschaffen. Und wenn sie es könnte … wenn sie es wirklich könnte? Die erste Szene des zweiten Aktes beginnt damit, daß Mrs. Jones über das Alter redet – über die Zeit, die verfließt – über die Jahre, in denen die Familie Jones Eliza ein Heim geboten hat, und daß sie
ihnen nun aus Dankbarkeit ihr Geld schenken solle. Eliza ist müde – verwirrt – eine einfache, vertrauensvolle Seele. Sie glaubt Mrs. Jones … und dann … Carol wiederholte leise die Worte: »Einfach – vertrauensvoll.« Sie hörte ihren Klang – sie fühlte, was sie bedeuteten. Gleich kam ihr Auftritt. Es war Zeit. Wenn der Vorhang hochging, mußte sie am Küchentisch sitzen. Denk an nichts anderes. Denk nur an Eliza – alt – müde – vertrauensvoll. Da war der gewohnte Stuhl. Carol betrachtete ihn zärtlich. Dreißig Jahre war es ihr Stuhl gewesen – sie war mit ihm alt geworden – alt – müde – vertrauensvoll. Der Vorhang hob sich, und Mrs. Jones trat in die Küche. Eliza blickte auf, demütig und verängstigt. »Na, Miss Hipkins, wahrscheinlich kommen Sie sich jetzt sehr erhaben vor, jetzt, wo Sie keine Dienstmagd mehr sind.« »Ich fühle mich genau wie früher«, sagte Eliza. Sie stand auf; ihr Gesicht war verstört. »Hier ist mein Heim wie immer, oder vielleicht nicht?« Die verarbeiteten Finger verschränkten sich unter der Küchenschürze. »Oder nicht, Mrs. Jones?« Aus den Worten klang ein Anflug von Mißtrauen. Das Publikum horchte auf, kein Ton war zu hören. »Gut«, sagte Mrs. Jones, »gerade darüber wollte ich mit Ihnen sprechen, Eliza – Miss Hipkins. Wir haben Ihnen dreißig Jahre lang ein wirkliches Heim geboten, nicht wahr?« Eliza nickte stumm. »Es scheint also, daß auch Sie uns etwas schulden. Sie werden auch älter, Miss Hipkins, und wir möchten nicht, daß Sie in ihren alten Tagen allein sind. Aber natürlich …« Mary spielte ihre Rolle gut, während sie die wachsende Angst in Carols Gesicht beobachtete. Die Szene näherte sich rasch dem Augenblick, in dem Mr. Jones mit seinem niederträchtigen Geschäftsvorschlag herausrückt, und Eliza plötzlich klar erkennt, was die Familie im Sinn hat. Ihr Vertrauen ist jetzt erloschen, Verwirrung und Angst bleiben bestehen. Das Publikum folgte jeder einzelnen Bewegung, die Carol machte. Über das Rampenlicht hinweg spürte sie die gespannte Aufmerksamkeit, und ihre Bewegungen und ihre Betonungen wurden viel ausdrucksvoller. Als James nach seinem plumpen Heiratsantrag vor ihr stand –
James, der ihr als Kind auf Schritt und Tritt nachgelaufen war – wurde Elizas Stimme hart und bitter. »Und das ist aus meiner Erziehung geworden?« Beschämt machte James kehrt und stolperte hinaus. Eliza blieb allein. Im nächsten Augenblick war der Akt zu Ende. Während der Proben hatte Eliza, auf Miss Waters Anraten hin, die Hände vors Gesicht geschlagen und gewartet, bis der Vorhang fiel. Jetzt wußte Carol, daß das falsch war. Eliza würde das nicht tun. Was aber sonst? Die Uhr. Das war doch das ganze Gerede über die Zeit gewesen und über das nahende Alter. Während des ganzen Aktes war Eliza ihr Alter vorgeworfen worden. In tiefstem Schweigen, während Miss Waters verblüfft aus den Kulissen spähte, und Bill Merton erstaunt noch den Vorhang offenhielt, schleppte sich Eliza zur Wanduhr, öffnete sie mit zitternden Fingern und hielt dann das Pendel an. »So«, sagte sie. Der Vorhang fiel, und Miss Waters kam auf die Bühne gelaufen. »Carol, das war gut. Ich habe ja gewußt, daß du’s kannst. Und die Geschichte mit der Uhr war genau richtig. Warum bin ich nur nicht selber darauf gekommen?« Es war höchstes Lob, wenn Miss Waters so etwas sagte. Die andern waren alle erstaunt. Wie hatte sie das nur fertiggebracht? Sie hatte plötzlich uralt ausgesehen. Und was war mit ihrer Stimme gewesen? Die hatte überhaupt nicht mehr wie ihre eigene geklungen. Carol wußte nicht, was sie mit ihrer Stimme gemacht hatte. Es war einfach so gekommen. Sie war Eliza. Das war alles. Bis zum Schluß des dritten Aktes hatte Carol das Publikum fest in der Hand. Und als sie in Helens Küche saß und das Kinderkleidchen flickte, fiel ihr nochmals etwas ein. Eliza legte das Kleidchen beiseite, stand auf und trat zur Küchenuhr an der gegenüberliegenden Wand. Als der Vorhang fiel, war sie, leise vor sich hinsummend, damit beschäftigt, die Uhr aufzuziehen. Das Publikum klatschte und klatschte und wollte nicht aufhören, während sämtliche Schauspieler zusammen und dann Carol allein sich immer wieder zeigen mußten. Carol fühlte sich verwirrt und erschüttert, aber unbeschreiblich glücklich. Von der dritten Reihe strahlten die Gesichter ihrer Familie zu ihr herauf, und sogar Eleanor schien beeindruckt. Ned Long, ganz hinten, starrte mit offenem Mund.
Später, als sich Carol unter das Publikum mischte, wurde sie von jedermann beglückwünscht, man klopfte ihr auf die Schulter, und von allen Seiten regnete es Komplimente. Der Abend war eine berauschende Angelegenheit. Miss Addison sagte zu ihr: »Kindchen, ich glaube, Sie haben Talent. Wollen Sie zur Bühne?« »Eigentlich – ich weiß es nicht – ich meine – vielleicht ja.«
4
Die folgenden Aufführungen waren nicht ganz so gut wie die Premiere. Nicht etwa, daß die Schauspieler versagt hätten oder das Publikum nicht begeistert gewesen wäre. In der Morgenzeitung erschien eine blendende Kritik über das Stück im allgemeinen und Carol im besonderen. Aber Carol, tief beeindruckt, ihren Namen in der Zeitung zu sehen, hatte gehofft, noch viel besser zu sein – und das war sie nicht. Sie wußte nicht, woran es lag. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie sich bewegt und wie sie gesprochen hatte. Und sie spielte recht ordentlich. Aber recht ordentlich ist eben nicht wunderbar. Sie merkte, daß es irgendeine Technik geben mußte, um beim Theaterspielen immer die gleich gute Leistung zu bieten. Richtige Schauspieler blieben doch immer gleich. Aber wie? Ob man das durch aufmerksames Beobachten herausfinden konnte? Wenn ja – sie und Phil würden sich ein wirklich gutes Stück ansehen – Nach ihrem Erfolg hatte Phil ihr in einem schwachen Moment versprochen, daß sie das Stück, das sie sich in New York ansehen wollten, selber aussuchen dürfe. Er hoffte, sie würde eines der berühmten Musicals wählen. Das Stück, das sie nach gründlichem Studium der Theaterseite der ›New York Times‹ wählte, war Bernard Shaws ›Candida‹ mit Jane Sefton in der Hauptrolle. Carol hatte Miss Sefton noch nie spielen sehen. Miss Waters hatte gesagt, daß man Jane Sefton mindestens einmal im Leben gesehen haben müsse. »Sie ist eine der größten Schauspielerinnen unserer Zeit«, hatte sie erklärt. Carol sagte es Phil allerdings erst am Freitagmorgen, im Zug nach New York. »Phil«, begann sie, nicht ganz so überlegen, wie sie beabsichtigt hatte, »was hieltest du davon, deine Bildung ein wenig aufzupolieren?« »Was immer das auch heißen mag«, erwiderte er, »meine Antwort ist: nein. Ich poliere meine Bildung bereits seit Jahren. Sie glänzt schon so stark, daß man eine Sonnenbrille braucht, um nicht geblendet zu werden.« »Aber – was meinst du, meine eigene könnte noch etwas Politur brauchen?«
»Keine schlechte Idee«, sagte Phil vergnügt – und dann mißtrauisch: »Was willst du eigentlich?« Carol blickte ihn mit ihren grünen Augen unschuldig an. »Du hast mir’s versprochen«, sagte sie. Phil richtete sich auf. »Was?« »Ich meine, daß wir uns ein gutes, seriöses Schauspiel ansehen sollten.« Phil stöhnte. »Das hätte ich ja wissen müssen. ›Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften.‹« »Nein, nicht Shakespeare. Jane Sefton. Ich habe sie noch nie gesehen.« »Oho, das ist etwas anderes«, sagte er. »Himmel, ist das eine Frau! Niemals werde ich das Stück vergessen, in dem sie ihren Mann erschießt.« »Sie ist die größte Schauspielerin Amerikas. Jetzt spielt sie die Candida. Bitte verzichte auf deine hundert schönen Mädchenbeine – nur dieses eine Mal – mir zuliebe.« »Mir scheint, daß ich noch von Glück sagen kann, nicht in ein antikes Drama geschleppt zu werden.« Nach einem Augenblick fügte er hinzu: »Übrigens könnte sie die Candida einem sogar verständlich machen.« »Sei ehrlich: du bist richtig verschossen in sie.« Gleich nach dem Mittagessen drückte Phil seiner Schwester ein paar zerknitterte Geldscheine in die Hand. »Besorg du die Karten, Kleines«, sagte er mit brüderlichem Mangel an Höflichkeit. »Es hat keinen Sinn, daß du mitkommst, wenn ich mit dem Knaben wegen Arbeit verhandle. Am Times Square gibt es einen Halsabschneider …« »Einen was?« »Eine Billetagentur. Sie verkaufen dort Billets für sämtliche Stücke, die zur Zeit in New York laufen, und verlangen ein Heidengeld dafür. So muß man nicht von Pontius zu Pilatus rennen, und sie haben meistens noch Plätze, wenn die Theaterkassen ausverkauft sind.« »Aber Phil, sollten wir nicht –« »Schau«, sagte Phil geduldig, »Jane Sefton ist eine große Nummer. An der Theaterkasse bekommst du um keinen Preis der Welt auch nur noch einen Klappsitz. Es sei denn, jemand bringt in letzter Minute seine Karten zurück. Und darauf kannst du dich nicht
verlassen. Also müssen wir einfach mehr bezahlen. Das ist nun mal so. Du hast dir’s ja gewünscht, nicht ich.« Carol, die sich unerfahren und kleinstädtisch vorkam, gab nach. »Und Phil, was es mehr kostet zahle ich von meinem Taschengeld.« »Laß nur, es ist sowieso Vaters Geld. Geh jetzt. Verschwinde. Gegen halb fünf treffen wir uns in der Halle des Empire State Building.« Phil stand auf. Carol beschloß, zuerst die Billets zu besorgen. Später konnte sie dann herumbummeln. In New York war immer etwas los. Und der Broadway war ganz besonders aufregend. Er war so lustig und verrückt. Ohne Mühe fand sie die Billetagentur und erhielt tatsächlich auch noch Plätze für die Abendvorstellung. »Es sind gute Plätze«, versicherte der Mann an der Kasse. »Achte Reihe, Mitte, das Beste, was es gibt. Es sind die letzten, die ich noch für die ›Candida‹ habe.« »Was ist mit den Plätzen? Sind sie vielleicht mit Brillanten bestickt?« fragte Carol, als sie ihm das Geld hinlegte. Der Verkäufer grinste. »Sie sind für die von Ihnen gewünschte Vorstellung.« Carol nahm das kleine, weiße Couvert mit den Karten und ging hinaus. Was jetzt? Für einen Spielfilm würde die Zeit nicht reichen, aber sie konnte ja in ein Aktualitätenkino gehen. Der Film dauerte eine Stunde, und als er zu Ende war, bummelte Carol den Broadway entlang. Sie schlängelte sich durch die Menge. Sie sah zwei Mädchen mit silbernen Perücken und war fasziniert. Ob es vielleicht Show-girls waren? Oder Schauspielerinnen? Der ›Millport Courier‹ hatte geschrieben, sie, Carol, hätte Talent, und Miss Addison hatte es auch gesagt. Angenommen, sie würde sich entschließen, zur Bühne zu gehen? Richtig, endgültig entscheiden – nicht nur mit dem Gedanken spielen. Angenommen, sie käme nach New York und erhielt tatsächlich eine Rolle und brächte das Stück zum Erfolg? Was sie ja, laut ›Millport Courier‹ bei ›Miss Hipkins’ Entscheidung‹ getan hatte. Solche Dinge geschahen. Man las es immer wieder. Als Carol nun durch das Menschengewimmel der Theatergegend schlenderte, erging sie sich in allerlei Wunschträumen, die mit riesigen Schlagzeilen in den New Yorker Zeitungen begannen: CAROL PAGE MACHT GESCHICHTE CAROL PAGE, DIE GRÖSSTE SCHAUSPIELERIN UNSERES LANDES.
Es wurde ihr ganz heiß, und ihre Augen begannen zu glänzen. In Gedanken sah sie sich begeisternde Rollen in begeisternden Stücken spielen mit einem hingerissenen Regisseur und zu Tränen gerührten Kollegen. Ellbogen boxten ihr in die Rippen, Schultern stießen sie an, doch Carol merkte nichts davon. Die Zeit vergeht schnell, wenn man mit Selbstbeweihräucherung beschäftigt ist. Carol kam zu spät. Ungeduldig lief Phil in der Halle des Empire State Building auf und ab. Phil lud sie in ein Automatenrestaurant zum Essen ein. Nachher gingen sie dann den ganzen langen Weg bis zum Theater zu Fuß. Das war jedoch ein Fehler, denn es dauerte länger als sie gerechnet hatten, und sie kamen erst kurz vor Beginn der Vorstellung an. Vor dem Eingang staute sich eine Menschenschlange, und Phil sagte: »Ich glaube, es ist besser, du gibst mir die Billets. Wenn wir erst einmal da drin eingekeilt sind, wirst du sie kaum mehr aus deiner Tasche herausfischen können.« Carol suchte flüchtig in ihrer Handtasche – dann mit wachsender Aufregung. Es wurde ihr siedend heiß, als sie immer weiter wühlte und zuletzt verzweifelt Phil in die Augen starrte. Der gab ihr den Blick ironisch und auf alles gefaßt zurück. »Phil, ich glaube – ich habe sie verloren.« »Wie ja nicht anders zu erwarten war. Dein Glück, daß ich gern ins Kino gehe!« Er schluckte leer und packte sie am Arm. »Seit ich dich kenne, ist es immer die gleiche Geschichte.« »Aber Phil, ich habe sie ganz bestimmt eingesteckt. Sie waren in …« »Natürlich. Das kenne ich alles. Hör endlich auf. In welches Kino wollen wir?« Ohne zu antworten, suchte Carol fieberhaft weiter. Die Schlange wurde immer kürzer, und die Leute drängten immer eiliger durch den Eingang. Carol starrte Phil hoffnungslos an. »Ich habe überall gesucht. Ich muß sie … ach du lieber Himmel!« Sie öffnete den Reißverschluß eines kleinen Seitenteils in ihrer Tasche und spähte hinein. Ein verblüfftes, leicht idiotisches Lächeln breitete sich über ihr Gesicht. Phil griff mit der einen Hand nach dem Couvert, und mit der anderen schüttelte er Carols Schulter. »Ein Glück, daß du nur halb so blöd bist, wie du dich benimmst! Komm schnell! Es hat geläutet!«
Carol hinter sich herziehend, quetschte er sich durch die Nachzügler in das Theater hinein und eilte dann durch die Halle und den Gang hinunter. Sie erreichten ihre Plätze genau in dem Moment, als das Licht ausging und der Vorhang sich lautlos über dem Studierzimmer des Pastors James Morell hob. Carol hatte das Stück gelesen und wußte, daß Candidas Auftritt erst ungefähr in der Mitte des ersten Aktes kam. Ehrlich gestanden, hatte sie den Anfang des Schauspiels mit dem ganzen Gerede über Sozialismus immer ein wenig langweilig gefunden. Aber es war doch etwas ganz anderes, wenn Schauspieler die Sätze sprachen und sich im entsprechenden Rahmen bewegten. Carol hörte aufmerksam zu und versuchte sich einzuprägen wie sie alle auf der Bühne redeten und agierten. Es war erstaunlich, wie fließend sich das Stück entwickelte; es gab keine peinliche Pause. Und dann fiel Carol auf, was Mary und Eddie falsch gemacht hatten. Wenn sich hier in einer Szene die Spannung verstärkte, begann die eine Person schon zu sprechen, während die andere mit ihrem letzten Satz noch nicht ganz fertig war. Das also hatte Miss Waters gemeint, wenn sie immer wieder mehr Tempo verlangt hatte. Natürlich gab das dem Spiel Tempo. Nicht daß sie das jedesmal machten. Es gab auch Pausen, aber die Pausen waren genauso gewichtig wie die Worte. Bald würde Candida auftreten. Carol beugte sich erwartungsvoll vor. Dabei hörte sie, wie eine leise Bewegung durch den Zuschauerraum ging. Aber trotz aller Spannung folgten Carols Augen dem Vater der Candida, als er sich erhob, um sich mit Morell zu versöhnen, und daher entging ihr – genau wie der Autor beabsichtigt hatte – das Erscheinen der Candida unter der Tür. Und ebenso seiner Absicht entsprechend, tönte Candidas Stimme als Überraschungsschock über die Bühne. Die Zuschauer applaudierten begeistert – mit einer Ausnahme: Carol Page, die mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen auf die Gestalt in der Türöffnung starrte. Es war eine schlanke Gestalt, mit Paketen beladen und einer Einkaufstasche am Arm – eine bezaubernde, vibrierende Gestalt. Das lachende Gesicht über den Paketen war lebhaft und strahlend – voller Glück, wieder daheim zu sein. Beide Männer auf der Bühne drehten sich gleichzeitig nach ihr um – ihr Gatte mit ungläubigem Entzücken, ihr Vater eifrig und unsicher zugleich.
Carol versuchte, ihre völlig durcheinander geratenen Gedanken zu ordnen. Die Frau im Auto, das war ja Jane Sefton, mit ihr habe ich gesprochen! Es konnte nicht wahr sein. Und doch war es so. »Phil«, flüsterte Carol »erinnerst du dich an letzten Mittwoch, als ich …« »Psst!« zischte es hinter ihr. Phil runzelte die Stirn, und Carol verstummte. Inzwischen spielte Jane Sefton die Candida, schön, gescheit und gütig – eine Frau, die ihr eigenes Leben beherrscht, eine Frau, die sich ihrer Macht bewußt ist und sie liebevoll ausnützt. Phil saß regungslos, wie verzaubert. Carol saß genau so regungslos, in träumerisches Nachdenken versunken. War es möglich, daß sie in Jane Seftons Auto gefahren war, daß sie neben ihr gesessen und mit ihr gesprochen hatte? Als der Vorhang fiel, packte Carol ihren Bruder am Arm. »Phil, du mußt mir zuhören! Die Dame, die mich letzten Mittwoch in ihrem Auto mitgenommen hat – erinnere dich doch –, diese Dame war Jane Sefton.« »Was?« »Das war Jane Sefton, Phil. Ich habe neben ihr gesessen. Ich habe mit ihr gesprochen.« »Du lieber Himmel«, sagte Phil ehrfürchtig. Sie starrten einander an. Die Leute neben ihnen standen auf. »Sie sieht fast genauso aus«, erklärte Carol atemlos. »Nur ein bißchen jünger vielleicht, und …« »Nein, aber so was«, sagte Phil. »Wieso hast du sie denn damals nicht sofort erkannt? Jane Sefton. Du hast doch wirklich genug Bilder von ihr gesehen.« »Natürlich habe ich Bilder von ihr gesehen, du Esel. Aber immer nur in verschiedenen Rollen und in andern Kleidern. Und ich habe doch am Mittwoch nicht an sie gedacht – und wer käme schon auf den Gedanken, daß Jane Sefton einen im Auto mitnimmt?« Carol mußte tief Luft holen. »Schon gut, beruhige dich! Aber wie wär’s, wenn du ihr ein paar Zeilen hinter die Bühne schicken würdest? Schließlich kennst du sie doch – sozusagen.« Carol war entsetzt. »Nein, das ist ausgeschlossen!«
»Warum nicht? Ein Bekannter von mir hat einen Revuestar dadurch kennengelernt, daß er ihr einen Brief hinter die Bühne schickte.« »So was kannst du doch nicht mit Jane Sefton vergleichen.« »Reg dich nicht auf. Schließlich hat sie dich in ihrem Auto mitgenommen, und das mindeste, was du tun kannst, ist ihr zu schreiben, daß du sie großartig findest. Das kann eine Schauspielerin nicht oft genug hören. Und du findest sie doch großartig, oder nicht?« »Natürlich!« Carol mußte sich zusammennehmen, um ihn nicht anzuschreien. »Aber ich kann doch nicht … ich meine … ich käme mir so blöd vor. Und was liegt ihr schon an mir? Und wie schickt man überhaupt einen Brief hinter die Bühne?« »Das kannst du mir überlassen«, sagte Phil großspurig. »Hier ist mein Notizbuch und mein Kugelschreiber. Du brauchst nur ein paar Worte zu schreiben, und ich gebe sie dem Platzanweiser.« »Aber …« Das Klingelzeichen ertönte, und die Leute strömten auf ihre Plätze zurück. Phil und Carol mußten aufstehen, eine weitere Unterhaltung war unmöglich. Als sich der Vorhang über dem zweiten Akt hob, versuchte Carol zu entdecken, mit welchen Mitteln Miss Sefton ihre Effekte herausholte. Der Text war es nicht. Der war nicht so aufregend, daß man alles andere darüber vergaß. Es lag auch nicht daran, wie Miss Sefton ihn sprach. Aber mit irgend etwas machte sie diese Candida zum Inbegriff einer bezaubernden Frau. »Man hat das Gefühl, diese Candida mit Orchideen überschütten zu müssen«, flüsterte Carol in Phils Ohr. »Aber man weiß auch, daß sie das gar nicht will. Sie will genauso leben, wie sie lebt. Sie hat es sich selber ausgesucht, und es macht ihr Spaß.« Phil nickte, den Blick auf der Bühne, wo er den in Candida verliebten neunzehnjährigen Eugene nicht aus den Augen ließ. »Und sie weiß, daß sie aus Zwiebelschälen etwas Aufregendes machen kann, einfach nur dadurch, daß sie es ist, die sie schält. Man bekommt direkt Lust, Zwiebeln zu schälen.« Hinter ihnen zischte wiederum jemand »Psst«. Carol fragte sich, ob der Schauspieler, der den Eugene spielte, wirklich erst neunzehn Jahre alt war – nur zwei Jahre älter als sie. Wenn er das konnte, wer weiß, vielleicht konnte sie es irgendwann
auch. Nach dem zweiten Akt riß Phil ein Blatt aus seinem Notizbuch und drückte es Carol samt Kugelschreiber, in die Hand. Carol dachte nach, dann schrieb sie: Sehr verehrte Miss Sefton, ich wußte nicht, daß Sie das gewesen sind, die mich am Mittwoch nach Millport mitgenommen hat. Mein Bruder ist Student in Yale, und er meint, ich soll Ihnen sagen, wie begeistert ich von Ihrer Candida bin. Ich hoffe, Sie nehmen mir’s nicht übel. Ich finde Sie großartig. Und jetzt verstehe ich auch viel besser, was Sie mir über das Theaterspielen gesagt haben. Vielen, vielen Dank dafür. Mit den allerherzlichsten Grüßen Ihre Carol Page Sie gab den Zettel Phil, der ihn kritisch las. »Mußt du unbedingt sagen, daß ich Student bin?« Phil stand auf und machte sich auf die Suche nach einem Platzanweiser. Als er zurückkam, war er mit sich zufrieden. »Er bringt’s ihr in die Garderobe. Ich habe ihm gesagt, wo wir sitzen.« »Wenn du dir einbildest, daß sie sich auch nur eine Sekunde um dich kümmern wird, so tust du mir leid.« »Das kann man nie wissen«, entgegnete Phil sehr von oben herab. Seine Zuversicht wurde jedoch zusehends geringer als der dritte Akt begann, ohne daß sie irgend eine Antwort von Miss Sefton erhalten hätten. Gegen das Ende war seine Miene derart enttäuscht, daß Carol Mitleid bekam. Auf der Bühne begann die letzte, spannende Szene. Die Szene, in der Eugene und Morell verlangen, daß Candida zwischen ihnen wählen soll. Candida saß in einem Lehnstuhl zwischen den beiden Männern in der Mitte der Bühne. Ihr Haar war im Stil von 1890 auf dem Scheitel hochgesteckt, mit Stirnlocken. Sie trug ein dunkelrotes Seidenkleid – wie Rotwein, durch den die Sonne schimmert – mit Puffärmeln und einem weiten Rock. Ihr Gesicht glich einer Elfenbeinminiatur, und ihre dunklen Augen blickten auf den jungen Menschen und den Mann, die sie beide liebten, wie man auf zwei sich streitende Kinder blickt. Eine mütterliche Weisheit und eine große Zärtlichkeit für beide lag in diesem Blick. Das Publikum wagte kaum zu atmen. Als alles vorüber war, und das Theater vor Applaus dröhnte, tippte ein Platzanweiser Phil auf die Schulter. »Miss Sefton läßt Sie fragen, ob Sie und die junge Dame zu ihr in
die Garderobe kommen möchten?« Phil schluckte. »Wie kommt man von hier aus dorthin?« »Gerade dort hinüber, Sir.« Der Mann wies auf eine Tür links, in der Nähe der Bühne. Als der Vorhang das letzte Mal gefallen war, standen Phil und Carol auf und gingen wortlos auf die Tür zu. In dem schlecht beleuchteten Gang klammerte sich Carol hilfesuchend an Phils Arm, in der vergeblichen Hoffnung, ihre Knie würden dadurch vielleicht weniger zittern. Sie gelangten in einen überfüllten Raum; im Halbdunkel sah Carol stämmige Männer in Overalls eifrig bei der Arbeit. Sie hörte ein Gewirr von Stimmen, und eine Mischung von Staub und Schminke stieg ihr in die Nase. Von oben hingen Seile herunter, und auf dem Boden standen kleinere Versatzstücke herum. Später hatte sie keine Ahnung mehr, wie sie den Weg zu Miss Seftons Garderobe gefunden hatten. Phil klopfte an eine Tür. Eine junge Negerin öffnete, über ihre Schultern sahen sie in ein mit Blumen überfülltes Zimmer. »Sind Sie Miss Page?« »Ja.« »Bitte, bleiben Sie nur ein paar Minuten. Miss Sefton ist heute sehr müde. Eigentlich wollte sie niemanden sehen.« »Oh«, sagte Carol, »dann wollen wir doch lieber …« »Kommt nur herein«, rief die warme Stimme vom letzten Mittwoch. Die Garderobiere trat zur Seite. Carol schritt über die Schwelle. Phil, mit beiden Mänteln über dem Arm, folgte. Jane Sefton, noch immer in ihrem prachtvollen roten Kleid, saß vor einem großen Toilettentisch. Als die beiden eintraten, streckte sie Carol die Hand entgegen. »Ich freue mich, dich wiederzusehen«, sagte Miss Sefton. »Es war nett von dir, mir das Briefchen zu schreiben.« Sie blickte von einem grünen Augenpaar zum anderen und lächelte. »Man sieht, daß das dein Bruder ist. Guten Abend.« Carol versuchte zu sprechen, doch es mißlang kläglich. »Wollt ihr euch nicht setzen?« »Nein, Miss Jane«, sagte die Negerin, »Sie haben versprochen …« »Schon recht, Nelly. Diese beiden jungen Leute stören mich wirklich nicht.« Endlich fand Carol die Sprache wieder. »Ich glaube, wir sollten uns nicht setzen, Miss Sefton. Ich wollte
Ihnen nur sagen, wie herrlich Ihre Candida war. Ich habe die ganze Zeit versucht, herauszubekommen, wie Sie es machen. Aber es gelang mir nicht. Es war – es war, als ob Sie von innen her leuchten würden. Verstehen Sie, was ich meine?« Carol schwieg. Die dunklen Augen strahlten. »Ich danke dir«, sagte die Schauspielerin. »Und wie ist’s mit deiner Eliza gegangen?« Phil erklärte eifrig: »Großartig war sie, Miss Sefton. Sie hat die ganze Sache herausgerissen.« »Das freut mich.« Sie wandte sich an Carol. »Hast du’s dir noch einmal überlegt, ob du nicht doch Schauspielerin werden willst?« Carol antwortete sofort, aber ihr selber kam es vor, als ob sie schrecklich lange zögere, denn all ihre Zweifel stellten sich einen Augenblick lang wieder ein. »Doch, ich will Schauspielerin werden«, sagte sie. Phil blickte sie erstaunt an. »Es ist ein harter, aufreibender Beruf«, sagte Jane Sefton. »Und bist du auch ganz sicher, daß du’s auf dich nehmen willst?« »Ja, ganz sicher.« »Den Eindruck habe ich auch. Aber vergiß nicht, daß es viele Jahre braucht, Jahre voller Enttäuschung und Arbeit, bis man gelernt hat, wie man spielen muß.« »Das ist mir gleich.« »Dann wünsche ich dir viel, viel Glück.« Miss Sefton stand auf und drückte Carol die Hand. Kurz darauf verließen die Geschwister die Garderobe und gingen den hellgrünen Gang entlang. Als sie das Ende des Ganges erreichten, kam Miss Nelly ihnen nachgerannt und rief: »Einen Augenblick! Miss Jane meinte, vielleicht hätten Sie Freude daran.« Sie gab ihnen zwei Fotos von Jane Sefton. »Ach«, jubelte Carol, »wie reizend von ihr. Bitte, sagen Sie ihr meinen allerherzlichsten Dank.« Auf einem Bild stand: Für Philip Page von Jane Sefton, auf dem anderen: Für Carol mit den besten Wünschen für eine erfolgreiche Zukunft. Jane Sefton. »War das ein Abend«, murmelte Phil ganz erschüttert. »Komm, aber jetzt gehen wir. Wir müssen noch den letzten Zug erwischen.«
5
Am Wochenende war Carol ungewöhnlich schweigsam. Es war eine Ruhe, die unklaren Befürchtungen entsprang. Es begann am Samstagabend, als sie mit Ned ins Kino ging und ihm auf dem Heimweg von Jane Sefton erzählte. Seine Reaktion war niederschmetternd. »Schauspielerinnen«, sagte er, »das sind doch alles verrückte Hühner.« »Es gibt viele, die nicht so sind. Miss Sefton zum Beispiel. Sie war bezaubernd – und furchtbar nett.« »Ja, natürlich. Sie hat dir ein bißchen Theater vorgespielt, weil sie zufällig kein anderes Publikum hatte.« Carol rückte von Ned ab und ging auf der anderen Seite des Gehsteigs. Es entstand ein langes, unbehagliches Schweigen. »Es tut mir leid«, rang sich Ned schließlich von der Seele. »Schon gut. Laß nur!« Carol versuchte, es beiläufig klingen zu lassen. »Ach, komm doch, Carol! Ich …« Ned verstummte, als er Carols Gesicht sah. Der Rest des Heimwegs verlief kühl und verstimmt. Am Sonntag, nachdem Phil wieder zur Universität zurückgefahren war, rief Carol bei Ellen an. Doch es antwortete niemand – weder jetzt noch später am Abend. Offensichtlich waren die Greggs fort, und Carol mußte mit ihrer Neuigkeit bis Montag warten. Mit einer Tüte voller Mohrenköpfe in der Hand, verstellte Carol am Montag morgen Ellen den Weg. »Hallo«, sagte sie und öffnete ihre Tüte, »willst du einen?« Ellen griff dankbar zu, und die beiden Mädchen schlenderten zusammen weiter. Carol schlank und zierlich, die grünen Augen vor Spannung ganz dunkel. Ellen blond, mit einem rundlichen Gesicht und langsamen Bewegungen, den Mund zu voll zum Reden. Als Carol mit ihrem Mohrenkopf fertig war, sagte sie: »Du, Ellen, du willst doch wirklich Schauspielerin werden? Ich meine es jetzt ganz ernst – du hast doch tatsächlich die Absicht, nicht wahr?« Ellen setzte ihre beste Zukünftiger-Star-Miene auf – eine Mischung von Erhabenheit, Herablassung und Schwermütigkeit.
»Natürlich werde ich Schauspielerin«, antwortete sie mit tiefer Altstimme. »Ich habe dir doch schon immer gesagt, daß ich …« »Ja, ja«, erwiderte Carol hastig. »Du kannst dir die dramatische Stimme sparen. Ich möchte dir etwas erzählen.« Ellen war, hatte man sie einmal zum Schweigen gebracht, eine recht gute Zuhörerin. Und nun lauschte sie gespannt auf Carols Bericht über die beiden Begegnungen mit Jane Sefton und reagierte höchst befriedigend darauf. »Carol!« quietschte sie, »soll das heißen, daß du Jane Sefton – das ist ja phantastisch – toll – überwältigend – hat sie tatsächlich …?« »Aber keine Spur. Ich habe sie noch nie gesehen. Du weißt doch, daß ich eine krankhafte Lügnerin bin. Aber wenn du dich beruhigt hast, würde ich gern wissen, was du unternehmen willst, um Schauspielerin zu werden. Wie heißt die Schule – oder was das ist – von der du immer sprichst?« »Carol, soll das bedeuten, daß du wirklich Schauspielerin werden willst? Meinst du’s ehrlich?« Carol zögerte. Nach der für sie selber ganz unerwarteten Zustimmung in Jane Seftons Garderobe hatte sie sich selber noch nicht recht klar gemacht, was sie nun eigentlich tun wollte. Und auf keinen Fall wollte sie jetzt mit Ellen darüber reden und ihre geheimsten Träume von allen Seiten beleuchten und zerreden lassen. »Ich weiß bis jetzt noch gar nicht, was ich tun will«, sagte sie. »Ich habe mir nur so dies und jenes überlegt. Und ich wollte einmal genauer wissen, was du vorhast.« Ellens Stimme stieg während ihrer Erklärungen noch um einige Töne höher, und wurde schrill und monoton. Es gab da anscheinend eine himmlische Schule für Schauspielschüler – eine Elevengruppe nannte sie es –, die mit dem Stuyvesant-Theater in New York zusammenhing. Bestimmt hatte Carol schon von Miss Marlowe gehört – Phillis Marlowe – das war die Leiterin. Carol hatte von ihr gehört. Also die Sache verhielt sich folgendermaßen: Miss Marlowe war der Ansicht, daß man jungen Leuten, die zur Bühne wollten, eine Chance geben sollte, an einem richtigen Theater zu studieren. Und natürlich eignete sich ihr Theater am allerbesten dafür. Sie hatte ihre eigene Truppe und gab mindestens zwei Vorstellungen in der Woche. Die Eleven durften bei den Proben zusehen, und in der übrigen Zeit konnten sie ihre eigenen Stücke einstudieren. Miss Marlowe schaute sich dann diese Aufführungen an und sagte ihnen,
was falsch war und so weiter. Sie war die phantastischste Schauspielerin, die es gab. »Ich weiß, daß sie eine große Schauspielerin ist«, sagte Carol. »Aber was kostet das alles?« »Das ist’s ja gerade! Es kostet nichts, gar nichts. Es ist ganz umsonst. Man zeigt dir, wie du dich schminken mußt, und du bekommst Unterricht in der Bühnensprache und in Ballett und was sonst noch alles so dazu gehört. Das machen die Schauspieler des Ensembles. Und die Schüler dürfen bei Massenszenen mitspielen – damit sie sich an das Publikum gewöhnen. Und man sieht echten Schauspielern und Schauspielerinnen bei der Arbeit zu. Es ist die großartigste Sache der Welt.« »Einen Augenblick mal«, sagte Carol. »Und was kommt für sie selber dabei heraus?« »Nichts. Absolut nichts außer ein paar Statisten für die Massenszenen. Sie will einfach jungen, talentierten Menschen helfen – und es ist ihr Theater, sie leitet es.« Ellen hielt inne, um Luft zu holen. Dann: »Mein Daddy hat gesagt, wenn sie mich nimmt, darf ich nächsten Winter zu ihr. Ach, Carol, komm doch mit, das wäre wunderbar.« »Ich weiß nicht recht«, sagte Carol zögernd. »Wir werden’s ja sehen. Hörst du, eben hat’s geläutet. Und bitte erzähl nicht der ganzen Welt, daß ich zur Bühne gehen will. Wahrscheinlich werde ich’s ja doch nicht tun, und das wäre doch dann ziemlich peinlich für dich.« Carols Vertrauen in Ellens Urteil war nicht sehr groß. Sie hatte den Verdacht, daß bei der Schauspielschule, die Ellen anpries, irgend etwas nicht stimmte. Sie beschloß, mit Miss Waters zu reden, die eine Menge über das Theater und was damit zusammenhing, wußte. Nach der letzten Stunde ging sie also in das Klassenzimmer für Englisch, wo Miss Waters noch an ihrem Pult saß und Hefte korrigierte. Carol rutschte auf einen Platz in der vordersten Bank und kam sofort auf ihr Anliegen zu sprechen. Miss Waters war einerseits erfreut, andererseits aber auch bestürzt über Carols plötzliches Interesse an einer Bühnenlaufbahn. Denn, wie sie sagte, hatte Carol zwar unzweifelhaft Talent, aber das hatten auch die vielen andern jungen Leute, die vergebens in den Wartezimmern der Agenten und Direktoren herumsaßen, um ein Engagement zu ergattern.
»Es gibt mehr als 8000 Schauspieler in New York, Carol«, sagte sie, »und von diesen 8000 werden in einer Saison nicht mehr als 2000 engagiert – und unter diesen befinden sich höchstens ein Dutzend Anfänger.« Carol ließ sich nicht entmutigen. »Und was sind eigentlich Bühnenagenten?« »Das sind Büros, die den Produzenten eine Auswahl von Schauspielern und Schauspielerinnen für ihre neuen Stücke anbieten. Wenn dich ein Agent irgendwo unterbringt, mußt du ihm fünf Prozent von deiner Gage abgeben. Aber du wirst dir vorstellen, daß kein anständiger Agent dich empfehlen wird, bevor er dich hat spielen sehen. Und was die Produzenten betrifft, so ist es so gut wie ausgeschlossen, bis zu ihnen vorzudringen, so lange du noch keinen Namen hast. Es sei denn, daß du mit irgend jemandem gut befreundet bist, auf den man beim Theater hört.« Carol dachte sofort an Jane Sefton, doch auf eine so oberflächliche Bekanntschaft konnte man sich nicht berufen. »Und sogar«, fuhr Miss Waters fort, »wenn du eine winzige Rolle in einem Stück bekämst, würde dir das auch nicht weiterhelfen, falls das Stück nicht zufällig einen Riesenerfolg hätte.« Carol seufzte. Ihre Träume von einem meteorhaften Aufstieg hatten sich in nichts aufgelöst. »Das klingt wie ein Glücksspiel, bei dem es kaum eine Chance gibt. Und wie ist das mit einer Schauspielschule?« Hier war Miss Waters weniger skeptisch, aber von Begeisterung konnte auch da nicht die Rede sein. Wie es schien, gab es eine ganze Menge solcher Schulen – einige besser, einige schlechter. Aber wenn es sich um ein Engagement handelte, waren sie keine große Hilfe. Höchstens wenn die Leiter einen Produzenten, der auf der Suche nach jungen Talenten war, dazu überreden konnten, sich eine Schülervorstellung anzusehen. »Und das Schlimmste ist«, fuhr Miss Waters fort, »daß so viele Schauspielschulen ihre Eleven ausbeuten. Sie verlangen große Summen von ihnen, geben ihnen aber im Grunde genommen keinerlei Training und können ihnen nicht die geringste Garantie für ein Engagement bieten.« Carols Zuversicht sank beträchtlich. Sie wagte kaum noch, ihre nächste Frage zu stellen. »Wissen Sie vielleicht etwas über die StuyvesantTheaterschule?« »Oh ja«, sagte Miss Waters. »Miss Marlowe hat einer ganzen
Menge Schauspieler zu ihrem ersten Engagement verholfen. Sie ist eine glänzende Leiterin, und ihre Schule ist nicht nur unentgeltlich, sondern sie vermittelt dir sogar gewisse Erfahrungen, die du sonst nirgends bekommen kannst – nicht einmal am Broadway.« Carol blickte sie fragend an. »Ich meine damit, daß es im Stuyvesant noch eine echte Theatertradition gibt. Dort ist das Theater kein rein kommerzieller Betrieb, sondern eine Kunst, und man weiß, gute alte Stücke zu schätzen, die sonst so oft vernachlässigt werden.« »Dann glauben Sie also?« »Ja, Carol, wenn du dort ankommen könntest!« Ernüchtert ging Carol nach Hause und machte sich Gedanken über das, was sie erfahren hatte. Je mehr sie vom Theaterspielen wußte, desto schwieriger schien es ihr. Jetzt wollte sie mit ihrer Mutter darüber reden. Doch als sie sich ihrem Elternhaus näherte, sah sie eine lange, schwarze Limousine vor der Tür. Entsetzt starrte sie den Wagen an. »Tante Salome!« stöhnte sie und eilte zur Hintertür, um sich ungesehen auf ihr Zimmer zu schleichen. Tante Salome war zwar nur eine angeheiratete Tante, was für sie jedoch kein Hindernis war, sich in alle Familienangelegenheiten einzumischen. Sie war dick, ungepflegt, ständig beleidigt und sehr reich. Ihre einzige Lebensfreude war, unangemeldet bei ihren Verwandten aufzukreuzen und ihnen ihre Sünden vorzuhalten. Beim Anblick von Tante Salomes Auto war Carols Wunsch, mit ihrer Mutter zu sprechen, verflogen. Später, als Tante Salome, wutschnaubend wie gewöhnlich, abgefahren war, merkte Carol, daß sie eigentlich noch gar nicht genau wußte, was sie ihrer Mutter sagen wollte. Es ist besser, noch zu warten, dachte sie, bis ich meiner Sache ganz sicher bin. Ungefähr zehn Tage nach ihrem Gespräch mit Miss Waters wurde ihr klar, wie fest sie bereits entschlossen war. Es war an einem Abend, und sie wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als ihr Vater, mit einigen sehr unjuristisch aussehenden Papieren in der Hand, aus seinem Studierzimmer trat. Er blickte durch das Treppengeländer zu ihr hinauf. »Carol«, sagte er, »du hast die Anmeldeformulare für das College noch immer nicht ausgefüllt. Ich habe doch schon vor Wochen mit dir darüber gesprochen. Hier! Sie müssen jetzt sofort ausgefüllt werden.«
Carol stand ganz still. »Los, Kind«, sagte Richter Page, »es geht ganz schnell. Wenn du willst, helfe ich dir dabei.« »Daddy«, erwiderte Carol zögernd, »ich muß dir etwas sagen – und ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll. Ich …« Sie setzte sich auf eine Treppenstufe und schaute ihren Vater unglücklich an. »Daddy, ich möchte nicht nach Wellesley gehen.« »Es ist eine der besten Schulen von Neu-England«, sagte Richter Page. »Aber wenn du glaubst«, fügte er hinzu, »daß deine Lateinkenntnisse genügen, dann habe ich auch nichts gegen Vassar einzuwenden.« Er lächelte ihr zu. Carol wurde traurig. »Darum handelt es sich nicht, Daddy. Ich möchte überhaupt nicht ins College gehen. Ich will Schauspielerin werden.« Jetzt war es wenigstens draußen. »Was?« »Bitte, Daddy, ich möchte so schrecklich gern. Es ist das einzige, was ich wirklich möchte. Ich möchte in die StuyvesantTheaterschule in New York. Ellen geht auch hin, und ich habe gedacht …« »Ellen!« brüllte Richter Page. »Ellen! Was geht mich Ellen an! Das ist kompletter Unsinn. Ich …« Carol saß erschrocken auf den Stufen, während die Stimme ihres Vaters durchs ganze Haus dröhnte. Sie gab sich alle Mühe, nicht gekränkt zu sein. Von irgendwoher tauchte Eleanor auf und merkte sehr rasch, um was es sich handelte. »Du lieber Himmel«, sagte sie, »ich habe dich wirklich für gescheiter gehalten. Weißt du nicht, daß jede Siebzehnjährige in Jane Sefton vernarrt ist? Ein Bild mit einer Widmung von ihr macht aus dir noch lange kein Genie. Nur keine Angst, Daddy, das geht schon wieder vorbei.« »Natürlich geht es vorbei!« tobte der Richter. »Ich bin wirklich nicht altmodisch, aber ich will nicht, daß sich meine Tochter mit einer dummen Idee ihre ganze Zukunft zerstört.« Aber das ist ja schrecklich, dachte Carol. So etwas gibt es doch gar nicht. Und ganz plötzlich begann sie, still vor sich hin zu weinen. »Ich will zu Mutter«, schluchzte sie. »Bitte, Daddy, ich möchte mit Mutter sprechen. Fragen wir doch sie.« »Komm, Kindchen, komm«, sagte der Richter betroffen.
»Komm, wein doch nicht, mein Schatz. Hier, putz dir die Nase.« Verlegen streckte er ihr sein Taschentuch durch das Geländer. »Bitte«, sagte Carol in das Taschentuch hinein, »wir wollen es mit Mutter besprechen.« Sogar Eleanor war gerührt. »Natürlich«, sagte sie, »am besten gehen wir zu Mutter. Komm herunter, los.« »Ich glaube, Mutter ist oben«, sagte Carol mit erstickter Stimme. »Auch recht, dann gehen wir hinauf.« Sie fanden Mrs. Page in einem Lehnstuhl in Phils Zimmer, wo sie einen Haufen Socken sortierte. Falls sie den Lärm in der Halle gehört hatte, ließ sie sich nichts anmerken. »Aber Carol«, sagte sie beim Anblick von Carols tränen überströmtem Gesicht, »was ist denn mit dir?« Ihre Worte hatten diesmal nicht den üblichen beruhigenden Erfolg. Schluchzend fiel ihr Carol um den Hals. »Ich will nicht ins College. Ich will nicht. Ich will Schauspielerin werden. Ich habe geglaubt, wenn ich endlich weiß, was ich will, wird man mir eine Chance geben. Aber Daddy …« Mrs. Page warf einen einzigen Blick auf Eleanor und ihren Gatten. »Eleanor«, sagte sie, »geh doch bitte in die Küche und wärme eine Tasse Milch auf. Und du, Frank, geh hinunter und mach kein so empörtes Gesicht. Es kommt schon alles in Ordnung. Carol, du wäscht dir zuerst einmal das Gesicht, und dann reden wir miteinander. Man kann ja gar nicht vernünftig denken, so lange man so verheult ist wie du.« Eleanor und der Richter beeilten sich zu tun, um was man sie gebeten hatte. Kurze Zeit später saß Carol mit einem gewaschenen Gesicht, einem klaren Kopf und einer Tasse heißer Milch in der Hand vor ihrer Mutter. Und dann sprudelte die ganze Geschichte aus ihr heraus. »Ich will Schauspielerin werden, und du weißt genau, daß ich nicht einfach nur theaterverrückt bin. Wenn ich Ärztin oder Anwältin werden wollte, hätte es diesen ganzen Auftritt nicht gegeben.« »Nein, bestimmt nicht, und ich finde auch, daß du das Recht hast, dir deinen Beruf selber auszuwählen. Aber du sollst keine zu raschen Entschlüsse fassen, und vor allem darfst du nicht vergessen, daß vier Jahre College dir eine gute Allgemeinbildung verschaffen, ganz gleich, was du dann später werden willst. Und sie werden dich bereichern. Dein Vater weiß das, und es ist ihm so wichtig, weil er dich lieb hat und stolz ist auf dich.«
»Aber für mich ist das andere auch wichtig«, drängte Carol. »Und man kann nicht mit einer Theaterlaufbahn beginnen, wenn man schon so alt ist. Und …« Mrs. Page lächelte. »Angenommen, es ist trotz allem nur eine vorübergehende Laune? Mit siebzehn ist es manchmal schwer, ganz sicher zu sein. Und du möchtest doch deinen Vater nicht unglücklich machen, nur wegen einer vorübergehenden Laune. Zugegeben, du hast tatsächlich Talent – aber keiner von uns kann wissen, ob es genügt.« »Ja – aber wie soll ich denn das wissen, bevor ich’s ausprobiert habe?« »Das kannst du wahrscheinlich nicht. Aber muß das denn jetzt auf der Stelle entschieden werden? Und es schadet doch nichts, wenn du jetzt einmal die Formulare für das College ausfüllst. Du weißt, daß das noch zu nichts verpflichtet. Und dein Vater würde sich doch so freuen. Und dann warten wir ab.« »Gut. Das ist wahrscheinlich das Vernünftigste. Aber du wirst sehen, ich ändere meine Meinung nicht. Ich kann’s dir nicht erklären, weshalb ich das so genau weiß.« »Wir werden’s ja erleben. Jetzt geh’ hinunter zum Vater und sei nett zu ihm.«
6
Der Sturm war abgeklungen. Carol füllte die Anmeldung aus, und das Thema Schauspielerin oder College wurde nicht mehr erwähnt. Sie merkte, daß ihre Familie so tat, als sei nichts vorgefallen, weil alle glaubten, je weniger man darüber sprach, desto rascher würde Carols Schrulle verfliegen. Und Carol war froh über diesen Aufschub. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Einwände überwinden sollte. Und während Carol über ihrem Problem brütete, wurden die Frühlingstage länger und wärmer, und langsam rückte der Sommer heran. Carol schrieb Phil und erzählte ihm die ganze Geschichte, doch seine Antwort kam ihr sehr gefühllos und ausweichend vor. Lauf nicht gleich mit den Seiltänzern davon, schrieb er. Die Dinge werden sich schon einrenken. Das ist noch immer so gewesen. In der Schule begannen die Vorbereitungen für die Abschlußfeier, und Carol, die eigentlich aufgeregt und nervös sein sollte, spürte überhaupt nichts, abgesehen von einer merkwürdigen Müdigkeit. Ellen versuchte mehrmals, etwas aus ihr herauszulocken. Carol war überzeugt, daß Ellen alles, was man ihr sagte, brühwarm ihren fünf oder sechs besten Freundinnen weitererzählte. Ich möchte nicht überall durchgehechelt werden, dachte Carol. Sie hätte gern mit Ned darüber gesprochen, aber er hatte auf jeden Versuch mit Unverständnis reagiert. Und sonst gab es niemanden, dem sie sich anvertrauen wollte. Man war schon recht einsam, wenn man Sorgen hatte. In den Sommerferien kam Phil nach Hause. Und sogar er machte keine Bemerkungen bis zur Abschlußfeier. Carol irrte niedergeschlagen durchs Haus, begleitet von Wilfred, dem zweiten Dackel. Als sie in der Halle zögernd einen Augenblick stehen blieb, hörte sie Phils Stimme aus dem Wohnzimmer ihrer Mutter. »Was ist denn nur mit Carol los?« fragte er. »Warum diese Leichenbittermiene?« Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann sagte Mrs. Page zögernd: »Sie will zur Bühne, Phil, und Vater …« »… möchte, daß sie ins College geht. Natürlich, das weiß ich. Aber schau mal, Mutter …«
Carol betrat das Zimmer. »Ich habe gerade gelauscht«, sagte sie, »und wenn ihr schon über mich reden müßt, wäre ich gern dabei.« Sie wandte sich an Phil, der sich’s in einem Lehnstuhl bequem gemacht hatte. »Ich hab’ dir ja alles geschrieben, Phil. Bitte, erklär doch Mutter, daß es nicht nur eine Laune von mir ist.« Phil schwang seine langen Beine über die Seitenlehne des Sessels. »Ich glaub’s wirklich nicht, Mutter«, sagte er ernst. »Ich war ja an dem Abend mit Jane Sefton dabei. Sie hat der Kleinen wirklich keine Ideen in den Kopf gesetzt. Die waren schon vorher drin. Und ich hab’ sie ja auch bei der Schulaufführung gesehen. Carol kann wirklich etwas, Mutter. Sie hat Talent.« »Das weiß ich. Aber eine Menge anderer Mädchen haben das auch. Die Bühne ist ein schwieriger und unsicherer Boden.« »Aber wenn es doch nun einmal ihr Wunsch ist …« Abwehrend hob Mrs. Page die schmale, zierliche Hand. »Wir versuchen ja nicht, ihre Pläne zu durchkreuzen, Phil. Wir wollen nur, daß sie ganz sicher ist und genau weiß, was sie will.« Carol, die unter der Tür stehen geblieben war, blickte verzweifelt von ihrer Mutter zu Phil. Phil rekelte sich in seinem Sessel, nahm die Beine von der Lehne und richtete sich auf. »Das weiß ich alles, Mutter«, sagte er, »und ich glaube, es ist recht und gut. Aber ich kenne eine Menge junger Burschen, deren Familien auch ganz sicher sein wollen, bevor sie ihnen so etwas Hirnverbranntes erlauben, wie zu malen oder zu schreiben oder bei einer Amazonas-Expedition mitzumachen. Wenn die Kerle nicht sehr hartnäckig sind, geben sie schließlich auf und langweilen sich ihr Leben lang. Ich meine, wenn Carol sich derart aufs Theater kapriziert, dann sollte man sie einmal einen Versuch machen lassen.« Carol hielt den Atem an, während sie auf die Antwort ihrer Mutter wartete. Diese erfolgte ruhig wie immer. »Was du sagst, ist ganz richtig, Phil; aber angenommen, es geht für Carol nicht gut aus? Angenommen, sie macht doch immer weiter und versäumt Jahre und Jahre, bis sie endlich merkt, daß es ein Fehler gewesen ist?« Carol machte schnell einen Schritt ins Zimmer hinein. »Mutter«, sagte sie, »ich werde bestimmt nicht Jahre vertun, das verspreche ich dir. Ich bin ja erst siebzehn. Gib mir nur zwei Jahre
Zeit. Dann bin ich neunzehn. Dann kann ich noch immer ins College gehen, wenn ich fürs Theater nicht tauge.« Phil unterstützte sie sofort. »Warum denn nicht, Mutter?« sagte er. »Der Vorschlag ist doch ganz vernünftig. Gib dem Kind eine Möglichkeit. Und wenn du mit Vater sprichst, läßt er sich bestimmt überzeugen.« Mrs. Page blickte von ihrem Sohn zu ihrer Jüngsten. Die beiden schauten sie an – bittend, flehend. Und plötzlich lächelte sie ihnen zu. »Schön, ich werde mit Vater sprechen.« Carol tat einen tiefen, dankbaren Seufzer. Phil grinste. »So, Kleines, das hätten wir geschafft. Deine Laufbahn liegt vor dir. Jetzt mußt du nur noch alles deiner Tante Salome erzählen, damit die alte Vogelscheuche dich im Theater besuchen kann …« »Phil!« sagte Mrs. Page.
7
Carol berichtete Ellen die Neuigkeit, als sie vor der Abschlußfeier nebeneinander vor der Aula standen. Sie hatten keine Zeit für eine lange Unterhaltung, und Ellen konnte ihr nur rasch zuflüstern, daß sie heute morgen einen Brief von Miss Marlowes Sekretärin erhalten hätte. »Am 3. August soll ich zum Vorsprechen kommen«, murmelte sie. »Ich soll den letzten Monolog aus ›Der Widerspenstigen Zähmung‹ vorbereiten.« Und bei dieser Gelegenheit erzählte Carol ihr von der neuen Situation. Ellen stieß einen erstickten Schrei aus. »Oh, Carol, wie herrlich! Dann können wir ja zusammen …« Sie unterbrach sich, da sich die Schlange in Bewegung setzte. Die beiden Mädchen fanden erst am nächsten Tag Gelegenheit, sich wieder zu unterhalten. Nach dieser Unterhaltung ging Carol nach Hause, um ihren Brief an Miss Marlowe zu schreiben und zu fragen, ob sie der Elevengruppe des Stuyvesant-Theaters beitreten dürfe. Ellen hatte ihr vorausgesagt, daß vor acht bis zehn Tagen keine Antwort zu erwarten sei. Während der Wartezeit studierte Carol mit Ellen Katharinas Monolog, wobei sie sich eifrig bemühte, Ellen so gut es ging das Pathos abzugewöhnen. Zum Schluß gab Ellen immer nach, und Carol war mit ihren Fortschritten sehr zufrieden. Carols Brief von Miss Marlowe kam früher als sie gehofft hatte. Es hieß darin, daß man sie am 10. August zum Vorsprechen erwarte, und daß sie den Monolog der Lady Macbeth aus der fünften Szene des ersten Aktes vorbereiten solle. Es war das Selbstgespräch, das mit den Worten »Glamis bist du und Cawdor« beginnt. Carol las die Zeilen immer und immer wieder und versuchte, den ganzen unbändigen Ehrgeiz der Lady Macbeth hineinzulegen. Ihre Härte, ihre Verachtung für ihren Gatten und – auf Miss Waters Vorschlag hin – die eiserne Beherrschung, mit der sie ihr stürmisches und gefährliches Temperament zu zügeln versucht. Es war eine schwere Aufgabe für eine Siebzehnjährige, doch Carol gab sich alle Mühe. Während der schönen Julitage brütete sie darüber, und in den heißen Nächten träumte sie davon. Ständig flüsterte sie die Worte vor sich hin – sogar bei Tisch. Die Familie hatte sich damit abgefunden und war
verhältnismäßig freundlich. Man nahm ihre Geistesabwesenheit und ihr ständiges Gemurmel gelassen hin. Ned hingegen hatte sich nicht damit abgefunden und äußerte seine Mißbilligung oft und heftig. Carol sah ihn daher nur noch selten. Es war zwar zu keinem richtigen Streit gekommen, und sie hatte ihm auch versprochen, nach ihrer Aufnahme in die Elevengruppe oft zu schreiben. Aber sie wußte, und er wußte es ebenfalls, daß diese Briefe immer kürzer und seltener werden und zuletzt ganz aufhören würden. Ach, das ist ja alles halb so schlimm, dachte Carol überrascht und war dabei über die erstaunliche Wankelmütigkeit ihrer Gefühle deprimiert. Am 3. August kam Ellen von ihrem Vorsprechen in einem Zustand zurück, der an Wahnsinn grenzte. Da Carol aber schon darauf vorbereitet war, vermochte sie’s mit Fassung zu ertragen. Ihr Bericht war wirr und unzusammenhängend, aber Carol gelang es trotzdem, ein paar wichtige Tatsachen herauszuhören. Ellen hatte auf einer ganz leeren Bühne vorgesprochen, einzig Miss Marlowe als Publikum. Und als sie mit ihrem Monolog fertig war, hatte ihr Miss Marlowe wortlos ein Blatt Papier mit einem andern Text in die Hand gedrückt. »Ich dachte, mich trifft der Schlag. Ich hatte keine Ahnung, woraus es war. Irgendeine blutrünstige Geschichte über eine Frau. Ich bin felsenfest überzeugt, daß ich’s total verpatzt habe. Und dann, nachdem ich’s vorgelesen hatte, sagte sie mit ihrer himmlischen Stimme – die Stimme ist wirklich himmlisch, Carol –, ›Vielen Dank. In ein paar Tagen werden Sie von uns hören.‹ Carol, ich bin überzeugt, daß ich bis dahin einen Nervenzusammenbruch bekomme.« Ellens Aufnahmebestätigung traf am 9. August ein, und am 10. nahm Carol den Zug nach New York. Jede Begleitung hatte sie sich verbeten. Nach reiflicher Überlegung hatte sie für diese Gelegenheit ein grünes Kleid angezogen, das genau zur Farbe ihrer Augen paßte. Dazu trug sie einen breitrandigen weißen Hut. Sie sah sehr jung und sehr gelassen aus, ganz und gar nicht wie ein Mädchen, das die Angst zu überwältigen droht. Sie murmelte die ganze Zeit vor sich hin. Die Mitreisenden beobachteten sie deshalb mit wachsender Neugier und Verblüffung, und der Kondukteur lief immer wieder durch den Gang, um sie zweifelnd unter seinen buschigen Brauen
hervor zu mustern. Ein paarmal verstand er einige der geflüsterten Worte, und was er hörte, war keineswegs dazu angetan, ihn zu beruhigen. Es klang ungefähr so: »Ellen, ich kann’s, ich kann’s. Alle sagen, ich mache es gut. ›Doch du scheust die Sünde.‹ Schließlich habe ich ja auch geschuftet wie ein Roß. Ich habe wirklich mein möglichstes getan. Kein Mensch hätte mehr arbeiten können. ›Herauf aus eurem Sitz ihr Höllengeister, die Mordgedanken in die Seele säen.‹ Alle sagen doch, daß ich Talent hätte. ›Damit mein Dolch die Wunde nicht erblicke, die er zu schlagen denkt.‹« »Fehlt Ihnen etwas, Miss«, fragte der Kondukteur. Carol blickte erschrocken auf und lächelte, um dann sofort wieder weiter zu murmeln, so daß der arme Mann überhaupt nicht mehr wußte, woran er war. Im Grand Central Bahnhof fuhr sie noch immer mit ihrem Gemurmel fort, und auch noch im Taxi, das sie zur 23. Straße brachte. Und erst als sie vor dem Bühneneingang des StuyvesantTheaters vorfuhren, hörte sie damit auf. Dort wies ihr ein Portier den Weg zu einem Büro im zweiten Stock. Sie nannte einem freundlichen Mädchen hinter einer Schreibmaschine ihren Namen und wurde wieder die Treppe hinuntergeschickt in eines der Künstlerzimmer, wo sie mit den andern Anwärtern auf ihren Auftritt warten sollte. Das nicht sehr große Zimmer war überfüllt mit mindestens zwanzig bis dreißig jungen Leuten. An sich war das Zimmer hübsch möbliert. Mit einem schwachen »Danke« sank Carol auf einen Stuhl, der ihr von einem kleinen, pickligen Jungen angeboten wurde, und versuchte ihrer Aufregung Herr zu werden, indem sie die jungen Leute ringsum betrachtete. Es wurde wenig gesprochen. Fast alle blickten mit starren Augen und flüsternden Lippen vor sich hin. Ab und zu rief eine Stimme vom Gang draußen einen Namen auf, und einer der Flüsterer erbleichte und eilte hinaus. Carols Blick kehrte immer wieder zu zwei Personen zurück. Die eine war ein zartes, zierliches Mädchen, dessen Zerbrechlichkeit so auffallend war, daß Carol geradezu Angst um sie bekam und sich überlegte, ob sie ihr ein Glas Wasser holen solle. Das andere war ein junger Mann von ungefähr sechsundzwanzig Jahren, der sich wesentlich von allen anderen unterschied, und zwar in allem. Nicht nur, daß er sehr schlecht angezogen war – viele der jungen Leute, die hier warteten, trugen schäbige Kleider – er schien
auch seinen Anzug fast zu sprengen. Die Ärmel waren zu kurz, an den Schultern platzten fast die Nähte, und der Kragen seines blauen Hemdes war ausgefranst. Alles an ihm war überdimensioniert, die Ohren, die Nase, die Wangenknochen, die Füße und die Hände. Den langen schwarzen Haaren merkte man an, daß sie zu Ehren des Tages einmal frisch geschnitten worden waren. Dazu kam noch, daß seine klaren, dunkelbraunen, schrägen Augen an Tartarenaugen erinnerten und daß auf seinem Gesicht ein Ausdruck finsterer Angriffslust lag. Er war Carol auf den ersten Blick unsympathisch. Aber sie hatte keine Zeit, Charakterstudien zu treiben. Sie begann, ihren Text leise zu wiederholen. »Murmeln Sie doch nicht dauernd«, sagte eine rauhe Stimme. »Entweder Sie sprechen die Worte laut, oder Sie halten den Mund.« Als Carol aufschaute, blickte sie in die dunklen, schrägen Augen, die sie feindlich anstarrten. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht stören.« »Was rezitieren Sie denn da?« fragte er, und es fiel Carol auf, daß seine Sprache außerordentlich gepflegt klang, ganz im Gegensatz zu seinem Aussehen. »Es ist aus ›Macbeth‹.« »Und Sie spielen die Lady Macbeth?« Sein Blick schien jede Einzelheit ihrer Kleidung, ihrer Haltung, ihrer Sprache zu registrieren. »Genau der Typ«, sagte er und lachte ironisch. »Jeder Zoll eine Lady Macbeth.« Carol musterte ihn ebenfalls. »Und Sie werden jedenfalls irgend etwas aus einer Salonkomödie spielen. Ihr Benehmen wird Ihnen dabei bestimmt außerordentlich nützlich sein.« Doch noch bevor er ihr antworten konnte, rief die Stimme draußen: »Miss Wanda Forrest.« Das zerbrechliche Mädchen stand auf, wurde kalkweiß und wankte hinaus. »Armes Ding«, sagte Carol, ohne zu merken, daß sie laut gedacht hatte. Der große Bursche vor ihr grunzte. »Sie ist so verweichlicht wie ihr alle miteinander. Im Augenblick, wo ihr etwas passiert, was der Papa nicht wieder in Ordnung bringen kann, macht sie schlapp.« Carol starrte ihn in stummer Wut an. Ihre ganze Panik war vergessen. Das hier, dachte sie, war tatsächlich der unangenehmste, widerwärtigste Mensch, dem sie je begegnet war, und der erste, den sie wirklich haßte.
Er blickte sie lange und schweigend an. »Michael Horodinsky«, rief die Stimme draußen im Gang. Der Bursche stand auf, das große Gesicht ausdruckslos. In seinem Benehmen war weder Unsicherheit noch Wichtigtuerei. Erst als er schon an der Tür stand, sah Carol seine Hände – sie waren zu Fäusten geballt. Na also, auch er hatte Angst. Nachdem er verschwunden war, kehrte Carols Panik zurück. Sie fröstelte und war niedergeschlagen. Und als nach langer Zeit ihr eigener Name aufgerufen wurde, hatte sie nur noch einen Wunsch: das ganze Vorhaben fallenzulassen, und ihr künftiges Leben genau nach den Wünschen ihres Vaters einzurichten. Sie war aus dem Künstlerzimmer in einen sehr langen, sehr schmalen, niedrigen, weiß gestrichenen Korridor getreten. Am Ende des Korridors entdeckte sie eine Hand, die ihr winkte. Sie folgte der Hand an Garderoben vorbei – vorbei an Türen, über denen die Namen der verschiedenen Schauspieler standen – vorbei an einer Tür, auf der der Name Miss Marlowe zu lesen war. Der Korridor führte zu einer dämmrigen Treppe, die in einem schwach erhellten Raum neben der Bühne endete. Die Bühne selber war von oben und von der Rampe her beleuchtet. Sie war völlig kahl. Carol bewegte sich automatisch auf die Lichter zu, trat auf die Bühne hinaus und blieb blinzelnd stehen. Vor ihr lag eine Reihe heller Rampenlichter. Darüber ein großer Bogen von Halbdunkel, das in die völlige Dunkelheit des Zuschauerraums überging. Dort sah sie verschwommen ein einziges Gesicht zu ihr heraufblicken. Das Gesicht dort unten war nur ein undeutlicher, blasser Fleck. »Schon gut, Kind. Nur keine Aufregung.« Carol schluckte an dem Kloß in ihrem Hals. »Soll ich anfangen?« Was anfangen? Wo waren die Worte? Wie fing es an? »Wollen Sie lieber noch einen Augenblick warten?« »Wenn ich darf.« »Natürlich.« Carol drehte sich auf dem Absatz um – eine leichte, graziöse Bewegung, die ihr völlig natürlich war, jedoch das Interesse der Schauspielerin weckte. Carol machte ein paar Schritte auf den Hintergrund der Bühne zu. Dort blieb sie ein paar Sekunden still stehen und versuchte, an Lady Macbeth zu denken – an ihren unersättlichen Ehrgeiz und grausamen Willen. Dann machte sie wieder kehrt und kam zurück, in der Hand einen unsichtbaren Brief.
Den Brief las Carol laut, mit ruhiger Stimme, wie man im allgemeinen einen Brief liest. Dann blickte sie auf und begann: »Glamis bist du und Cawdor« – Sie hörte ihre Stimme, die in dem großen Raum dünn und verloren klang. Sie hörte, wie diese Stimme schwächliche Worte sprach, die rund und voll, hart und verächtlich hätten tönen müssen. Sie dachte nicht mehr an ihre Hände und Füße und hatte keine Ahnung, was sie damit machte – falls sie überhaupt etwas damit tat. Als das letzte Wort wirkungslos in der Dunkelheit verhallte, blieb sie abwartend stehen. Miss Marlowe stand auf und reichte ihr über das Rampenlicht hinweg ein beschriebenes Blatt. Es war die letzte Rede der schottischen Königin aus Maxwell Andersons ›Mary von Schottland‹. Carol hatte noch nie etwas von diesem Stück gehört. »Lesen Sie mir das bitte vor.« Miss Marlowe lächelte ermutigend. Carol nahm das Blatt und versuchte, klar und deutlich zu lesen. Sie hatte keine Ahnung, ob es ihr gelang oder nicht. Nach kurzer Zeit war sie von dem Reichtum der Sprache gefesselt. Wie schön das ist, dachte sie. Als sie fertig war, sagte Miss Marlowe nur, genau wie sie zu Ellen gesagt hatte: »Danke. In ein paar Tagen werden Sie von uns hören Wenn Sie wollen, können Sie auf der andern Seite hinausgehen. Dort die Treppe hinunter.« »Danke, Miss Marlowe.« Die Dunkelheit des Zuschauerraums nahm Carol auf. Und das Gefühl, von einem eisigen Wind durchgeblasen zu werden, ließ allmählich nach. Beim Ausgang ins Theaterfoyer blieb sie stehen und seufzte vor Erleichterung tief auf. »Na, schlappgemacht habe ich wenigstens nicht.«
8
Am 10. September um elf Uhr fanden sich Carol und Ellen zum zweiten Mal in dem alten Gebäude des Stuyvesant-Theaters ein. Der Korridor mit den Garderoben kam ihnen schon fast bekannt vor, doch waren sie damals beim Vorsprechen viel zu aufgeregt gewesen, um sich das Theater selber näher anzuschauen. Nun wurde ihnen die Gelegenheit geboten, sich damit vertraut zu machen, denn die ganze Gruppe von fünfzig Eleven wurde von einem Schauspieler aus Miss Marlowes Ensemble durch das Haus geführt. Der Schauspieler, der sich ihnen als Gerald Anders vorgestellt hatte und der später ihr Lehrer für die Bühnensprache wurde, war groß, hatte ein angenehmes, von dunklen Haaren umrahmtes Gesicht, breite Schultern und eine tiefe, wohltönende Stimme. Er war sehr freundlich, keineswegs förmlich oder lehrerhaft. »Wir wollen mit dem Zuschauerraum beginnen«, sagte er, und die Gruppe zottelte hinter ihm den Garderobenkorridor entlang und durch den engen Durchgang, der in den hinteren Teil des Zuschauerraums führte. Mr. Anders blieb dann in der Hälfte des Mittelgangs stehen und wandte sich zu ihnen, um ihnen eine kurze Geschichte des Stuyvesant-Theaters zu vermitteln. Es war eines der ältesten Theater von New York. Früher war es einmal ein Opernhaus gewesen, und viele berühmte Schauspieler hatten schon auf seiner Bühne gastiert. Edwin Booth, Sir Henry Irving, Sarah Bernhardt und die große Duse hatten hier gespielt. Mr. Anders sprach mit seinem vollen Bariton verehrungsvoll von ihnen, und Carol wurde es ganz ehrfürchtig zumute. Mr. Anders war mit seinen Ausführungen fertig, und als er den Mittelgang weiterging, starrten Carol und Ellen die Rokokodekorationen an, die schweren, vergoldeten Schnitzereien und die Amoretten, die den alten und längst nicht mehr benutzten Kronleuchter umschwebten. »Du lieber Himmel«, begann Ellen mit Grabesstimme, und Carol, die einen melodramatischen Ausbruch befürchtete, sagte frivol: »Es sieht genau aus wie in dem Gruselfilm ›Das Phantom der Oper‹.« Hinter ihr kicherte jemand, und nach einem empörten Räuspern hüllte sich Ellen in Schweigen. Mr. Anders blieb wieder stehen, diesmal vor dem
Orchestergraben, und wies auf den großen Bogen, der die Bühne vom Zuschauerraum trennte. »Sie könnten eigentlich jetzt schon damit beginnen, sich an die Fachausdrücke zu gewöhnen. Das hier ist der Proszeniumsbogen, und diese wandschirmartigen Dinger rechts und links, die den seitlichen Blick auf die Bühne versperren, heißen der Mantel. Die verschiedenförmigen Gebilde, die Sie da hinten zusammengestellt sehen, sind die sogenannten Setz- oder Versatzstücke. Sie bestehen aus einem leichten, mit Leinwand oder Nesseltuch bespannten Holzrahmen und werden bei allen Inszenierungen verwendet, entweder einzeln oder aneinander befestigt.« Dann fügte er hinzu, daß der Raum seitlich der Bühne, hinter den Setzstücken, als Kulissen bezeichnet würde. Das überraschte Carol, die immer angenommen hatte, daß die großen Schiebewände und die Versatzstücke die Kulissen seien. Mr. Anders führte sie jetzt durch einen von einem Vorhang verdeckten Gang auf die Bühne hinauf. In den Kulissen blieb er stehen, und erwartungsvoll scharten sich die Eleven um ihn. Er wies auf das offene Sparrenwerk hoch über ihnen. Rollen und Flaschenzüge hingen von den Balken herunter, und an dicken Seilen schwebten Teile eines Bühnenbildes. Ein Baum aus Leinwand und etwas, das wie ein großer Neufundländer aussah. »Der ganze Raum dort oben wird der Schnürboden genannt, und die Galerie an der Wand über den Kulissen ist der Arbeitssteg oder die Arbeitsbrücke.« Er schaute auf die Uhr. »Ich glaube, damit lassen wir’s für heute bewenden. Miss Marlowe wird gleich kommen. Gehen Sie auf die Bühne hinaus, und setzen Sie sich irgendwo hin – wenn Sie etwas zum Sitzen finden.« Er nickte und verschwand. Schüchtern betraten die Eleven die Bühne. Alle dachten sie dabei an den schrecklichen Tag, an dem sie vorgesprochen hatten. Aber heute gab es kein Rampenlicht. Die Bühne wurde von einer einzigen Glühbirne erhellt. Zwanzig oder dreißig Stühle waren in Reihen aufgestellt und dahinter ein paar Bänke. Verlegen und unsicher saßen oder standen die Eleven herum. Wer keinen Sitzplatz mehr gefunden hatte, hockte sich schüchtern auf den Boden oder lehnte sich gegen irgendeinen festeren Gegenstand. Unter den jungen Männern hinten in der Gruppe war auch Michael Horodinsky. Er stützte sich auf die Kante eines Versatzstückes und sah noch größer, noch knochiger, noch finsterer
aus als damals. Carol betrachtete ihn voll Abscheu. Gerade neben ihm saß das zerbrechliche, schöne Mädchen, Wanda Forrest. Carol teilte eine Bank mit der aufgeregten Ellen und einem ernsthaften jungen Mann, der vor sich hinstarrte und dauernd seine Hose über dem rechten Knie zurechtzog. Während sie warteten, wurde es in den entlegeneren Bereichen der Hinterbühne lebendig. Am nächsten Tag sollten die Proben zum ersten Stück der kommenden Saison beginnen. Ibsens ›Nora‹. Die Tätigkeit der Tischler, Bühnenarbeiter und Beleuchter nahm zu – ja sogar die Seile kamen mehr und mehr in Schwung. Leute erschienen und verschwanden, und aus der Ferne hörte man ein Hämmern und Krachen. »Das klingt fast wie bei uns daheim«, flüsterte Carol. Ellen grinste. »Immerhin riecht es bei euch nicht nach Staub und Schminke und Terpentin!« Gerade als Carol antworten wollte, trat Miss Marlowe aus den Kulissen und blieb bei einem kleinen Tisch in der Mitte der Bühne stehen. Die Eleven erhoben sich, und Carol, die mit den anderen aufgestanden war, starrte sie erschrocken an. War das die strahlende Schauspielerin, die als Kameliendame oder Julia die Herzen der Zuschauer eroberte? Die Frau, die dort ruhig neben dem Tisch stand, schien weder groß noch eindrucksvoll. Sie war kaum mehr als mittelgroß, schlank und dunkel, mit einem rechteckigen Gesicht, hohen Wangenknochen und einer unauffälligen Nase. Das Haar fiel ihr auf die Schultern. Es war nachlässig hinter die kleinen, enganliegenden Ohren gestrichen. Carols enttäuschter Blick registrierte auch die bequemen Sandalen, den einfachen Tweedrock und die weiße Bluse und kehrte dann zu Miss Marlowes Gesicht zurück. Und da entdeckte Carol zum ersten Mal, daß die Schauspielerin Augen von durchdringender Intelligenz besaß, die einen geradezu elektrisierten. Ist sie nicht hinreißend? dachte Carol und hörte, wie Miss Marlowe sagte: »Bitte, nehmen Sie wieder Platz.« Die Eleven setzten sich schnell wieder hin. »Sie wurden unter siebenhundert Anwärtern ausgewählt«, sagte Miss Marlowe, »um Mitglieder der Stuyvesant-Elevengruppe zu werden, und ich muß Ihnen jetzt gleich sagen, daß Sie sich hier in einer schwierigen Situation befinden. Im Grund genommen brauchen wir Sie nicht; Sie sind sogar eine Belastung für uns.«
Nach dieser unerwarteten Eröffnung fuhr sie lächelnd fort: »Sie sind hier, weil wir jungen Leuten, die zum Theater wollen, eine Chance geben möchten, zu arbeiten und zu lernen. Aber niemand wird sich die Mühe nehmen, Sie zu dem einen oder andern anzuhalten. Sie befinden sich hier nicht in einer Schule. Wir bieten Ihnen mancherlei Vorteile: das Theater, eine gute Bibliothek, die Möglichkeit, als Statisten vor einem New Yorker Publikum aufzutreten, Unterricht im Schminken, Tanzen und Sprechen. Sie können davon Gebrauch machen oder nicht.« Sie hielt inne und fuhr sich durchs Haar. Wunderschöne Hände hat sie, stellte Carol fest. »Nach einem Jahr können einige besonders Talentierte ein Stipendium von 20 Dollar in der Woche bekommen, falls sie ein zweites Elevenjahr absolvieren wollen. Sie werden dann auch kleinere Rollen bei uns spielen können.« Das war für die meisten eine Neuigkeit. »Kein Mensch kann Sie lehren, wie man theaterspielt«, sagte Miss Marlowe, »das muß von innen herauskommen. Wir können Ihnen nur mit Ratschlägen und gewissenhafter Kritik behilflich sein. Und das will ich Ihnen gleich sagen: ich werde ehrlich sein. Bei einigen von Ihnen wird es sich zeigen, daß sie nicht für die Bühne taugen, und wenn ich das merke, muß ich es ihnen sagen. Talent allein ist nicht genug. Auch das müssen Sie wissen. Sie können der talentierteste Mensch auf Erden sein und doch nicht auf die Bühne passen. Die wirklich wichtigen Dinge für eine Theaterlaufbahn sind Disziplin, Ausdauer, guter Wille zur Arbeit und zur Mitarbeit, gutes Benehmen und Rücksichtnahme auf die andern. Ein Schauspieler mit 25 Prozent Talent und 75 Prozent Charakter kann es beim Theater weiterbringen als einer mit 75 Prozent Talent und 25 Prozent Charakter.« Sie hielt wieder inne und betrachtete die jungen Gesichter vor sich. Niemand rührte sich, und als sie dann fortfuhr, war ihr Ton heiterer und weniger gemessen. »Sie bekommen Ihr eigenes Künstlerzimmer, und wir erwarten, daß Sie sich dort einigermaßen ruhig verhalten. Bei einer Premiere unterlassen Sie bitte, in den Kulissen herumzustehen, falls Sie nicht eine ganz bestimmte Aufgabe im Zusammenhang mit der Vorstellung haben. Premieren sind für uns alle eine Nervenbelastung. Und sollten Sie irgendwann einmal eine kleine Statistenrolle in
einem unserer Stücke bekommen, so erwarten wir von Ihnen, daß Sie bei jeder Probe anwesend sind – und zwar pünktlich. Wenn unser Ensemble die Bühne nicht braucht, so steht sie Ihnen für Ihre eigenen Proben zur Verfügung. Außerdem wird von Ihnen erwartet, daß Sie bei den meisten, wenn nicht bei allen Proben des Ensembles anwesend sind. Hie und da wird es eine Probe bei uns geben, zu der Sie keinen Zutritt haben. Davon bekommen Sie jeweils Mitteilung.« Sie unterbrach sich wieder, und ihre durchdringenden Augen wanderten langsam über die Gruppe – von Gesicht zu Gesicht. »Denken Sie daran, daß nicht Sie uns, sondern wir Ihnen etwas geben.« Sie wartete, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, und Carol dachte, daß man hier wohl schon schlechte Erfahrungen mit Eleven gemacht haben mußte. »Sie werden in Ihrem Künstlerzimmer einen Stundenplan finden«, setzte Miss Marlowe ihre Rede fort. »Im übrigen steht es ganz in Ihrem eigenen Ermessen, wie Sie sich Ihre Arbeit einteilen wollen. Sie können sich selber die Stücke aussuchen, die Sie spielen möchten, Sie können sich Ihre Partner wählen und Ihre eigenen Proben ansetzen. Wenn Sie mir etwas vorführen wollen, so lassen Sie’s mich wissen, und ich komme. Bei den Proben zu unserem ersten Stück in dieser Saison sind Sie uns alle willkommen. Wir beginnen morgen mittag um zwei. So, das wäre alles.« Es war eine schweigsame und etwas verschüchterte Gruppe, die voller guter Vorsätze die Bühne verließ und sich zögernd ins Künstlerzimmer begab. Ellen kam atemlos und aufgeregt hinter ihnen hergehastet. »Oh, Carol«, rief sie, »ist es nicht einfach wundervoll? Wir werden eine himmlische Zeit haben.« Ohne auf eine Antwort zu warten, eilte sie an ihr vorbei. Carol, die ihr nachdenklich folgte, fragte sich, weshalb Ellen wohl plötzlich so guter Laune sei. Es stimmte natürlich, daß alles jetzt so ziemlich in Ordnung war, aber vorher hatte es doch noch allerhand zu knacken gegeben. Die zehn Tage, die sie auf den Bestätigungsbrief hatten warten müssen, waren nicht einmal so schlimm gewesen. Aber als der Brief dann endlich kam, und sie ganz taumelig vor Freude war, da fiel ihr der Ausdruck von Kummer und Enttäuschung auf dem Gesicht ihres Vaters auf. Er hatte sich alle Mühe gegeben, ihn zu verbergen, und hatte ihr gratuliert. Außerdem
hatte er ihr für den ganzen Winter einen Monatswechsel von 200 Dollar versprochen. Aber dieser Ausdruck hatte sie tagelang verfolgt, und selbst der Stolz ihrer Mutter, Phils Begeisterung und Eleanors Staunen halfen ihr nicht, ihn zu vergessen. Dann war der Abschied vom Elternhaus gekommen, um nach New York zu ziehen. Auch das hatte geschmerzt, obwohl sie und Ellen sich zuerst mit dem aufregenden Plan getröstet hatten, zusammen eine kleine Wohnung zu mieten. Die Eltern hatten ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem sie nur sagten: mit siebzehn! Und die beiden Mütter hatten ihre Töchter in einem angesehenen Töchterheim untergebracht. Nach dem Studium der Hausordnung hatte Carol verdrießlich gemeint, da hätte man sie genauso gut in ein Heim für gefallene Mädchen stecken können. Aber wenigstens waren die Zimmer sonnig, und das Essen würde wahrscheinlich besser sein als alles, was sie sich selber gekocht hätten. Während Carol noch über diese Dinge nachdachte, war Ellen schon wieder zurückgeblieben, und als Carol sich umdrehte, um auf sie zu warten, sah sie sich der zerbrechlichen Wanda Forrest gegenüber. »Hallo«, sagte Carol, »ich heiße Carol Page, und du bist Wanda Forrest, nicht wahr? Ich habe deinen Namen gehört, als wir uns beim Vorsprechen trafen. Du hast damals so verängstigt ausgesehen, wie ich mich fühlte.« Wanda Forrest lächelte. »Ich hatte eine irrsinnige Angst«, sagte sie. »Es ist einfach grauenhaft, wenn das ganze Leben von einer einzigen Prüfung abhängt.« »Ja, das stimmt«, sagte Carol verblüfft. Sie wollte gerade fragen, was sie eigentlich damit meine, als Ellen wieder auftauchte. »Carol«, rief sie, »ich habe schon viele Leute kennengelernt.« »Ich auch. Das hier ist Wanda Forrest, und das meine Freundin Ellen Gregg.« »Was für ein reizender Name«, sagte die gutmütige und liebenswürdige Ellen. »Meiner ist gräßlich. Aber ich kann ihn ja später immer noch ändern.« Sie plapperte weiter. »Hast du diesen widerlichen, brutalen Burschen – oder besser gesagt Mann – gesehen mit dem komischen Anzug und den schrägen Augen?« »Und ob ich ihn gesehen habe!« erwiderte Carol hitzig. »Ja, Kinder, er scheint eine Art Genie zu sein. Ich habe gehört, daß er in
einer kleinen Konfektionsfirma gearbeitet hat. Und dann scheint es eine Gewerkschaft der Reinigungs- und Färbereiarbeiter zu geben. Und die sollen eine phantastische Wohltätigkeitsvorstellung veranstaltet haben, bei deren Regie dieser Mike Horodinsky – so heißt er nämlich – mitgewirkt hat. Und die Kritiker sämtlicher Zeitungen hätten geschrieben, daß es großartig gewesen sei. Und die Aufführung wurde am Broadway gegeben, und die Gewerkschaft verdiente einen Haufen Geld damit. Aus lauter Dankbarkeit bezahlt ihm die Gewerkschaft eine Saison lang den Lebensunterhalt, damit er sich bei Miss Marlowe weiterbilden kann. Habt ihr schon jemals so eine tolle Sache gehört?« »Es wäre noch viel toller«, meinte Carol, »wenn er sich wie ein zivilisiertes Wesen betragen würde. Ich finde ihn unausstehlich, und je weniger ich von ihm sehe, desto besser.« Die Mädchen hatten das Künstlerzimmer erreicht, wo ihnen ein aufgeregtes Stimmengewirr entgegenschlug. Die Eleven hatten gerade entdeckt, daß niemand, aber auch gar niemand, ihnen sagte, was sie tun sollten. Jeder von ihnen hoffte, daß der andere eine Idee oder einen Plan hätte. Sie standen in Gruppen zusammen und verhandelten und wurden immer lauter und eigensinniger. Carol und Ellen und hinter ihnen Wanda Forrest blieben schweigend unter der Tür stehen und wußten nicht, was tun. Der einzige andere schweigende Mensch war dieser Horodinsky, der, an eine Wand gelehnt, die übrigen mit einem Ausdruck von spöttischer Verachtung betrachtete, der auf Carol wirkte wie ein Wespenstich. Er blieb noch eine Weile so dort stehen, während Carol verzweifelt nach einer möglichst ätzenden Bemerkung suchte, mit der sie ihn würde treffen können. Jedoch noch bevor sie etwas Passendes gefunden hatte, richtete er sich auf. »Wenn ihr nur einmal für zwei Minuten den Mund halten würdet«, stellte Mike fest, »ließe sich vielleicht etwas machen.« Alle verstummten und warteten still und aufmerksam. »Was wir brauchen«, fuhr er fort, »ist jemand, der die Sache in die Hand nimmt. Wir müssen ein Programm aufstellen. Wenn jemand Vorschläge zu machen hat – bitte. Immer einer nach dem andern.« Erstaunlicherweise kam in kürzester Zeit ein Programm zusammen. Die Elevengruppe des Stuyvesant-Theaters wählte auf
demokratische Weise zuerst einmal einen Generalproduzenten – Michael Horodinsky. »Gut«, sagte Mike, »dann wollen wir uns ein paar Szenen auswählen und die Rollen besetzen. Man hält euch ja alle für Genies, folglich könnt ihr auch aussuchen, was ihr spielen wollt. Du da …« er wandte sich an ein großes, blondes Mädchen, das auf einem der Fensterbretter saß, »wenn dir eine gute Fee erlauben würde, auszusuchen, was du spielen willst, was würdest du dir wünschen?« Das Mädchen grinste. Sie schien Carols Abneigung nicht zu teilen. »Ich würde am liebsten die Julia in der Balkonszene spielen. Meinetwegen kannst du jetzt in Ohnmacht fallen.« »Das werde ich nicht«, erwiderte Mike. »Ich bin Kummer gewöhnt. Findet sich vielleicht ein Romeo hier?« Kurz darauf war die Szene aus ›Romeo und Julia‹ besetzt, vollständig, mit Vater und Mutter und Amme. Ellen sollte die Amme spielen. »Sie wird dir nicht liegen«, sagte Mike, »aber du schnatterst die ganze Zeit, und das ist das Wichtigste bei der Rolle.« Irgend jemand anders hatte sich die Sterbeszene aus der ›Kameliendame‹ ausgewählt. »Du wirst dir schön die Finger verbrennen dabei, aber schließlich sind es deine Finger. Möchte jemand den Armand übernehmen?« Auch die ›Kameliendame‹ wurde besetzt. Dann redete Mike plötzlich Carol an. »Du dort drüben – mit den Katzenaugen. Ja, Page heißt du, glaube ich. Dich meine ich. Was möchtest du spielen? Wenn du überhaupt zu spielen geruhst.« Carol hätte ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. »›Candida‹«, sagte sie, »die letzte Szene.« Mike schüttelte den Kopf. »Das wird verheerend. Das kannst du nicht spielen, und wenn dein Leben daran hängt. Dazu muß man Erfahrung haben.« Mit wütenden Augen funkelte Carol ihn an, das Kinn in der Luft. »Hör auf mit deinen Erfahrungen!« fauchte sie. »Ist es dir schon jemals in den Sinn gekommen, daß du dich vielleicht auch einmal irren könntest?« Mike zuckte die Achseln – eine Gewohnheit, die Carol noch oft auf die Nerven gehen sollte. »Du mußt deine eigenen Möglichkeiten kennen. Und wahrscheinlich tut’s dir ganz gut, dich einmal gründlich zu
blamieren. Wer spielt den Morell?« Carol wartete nicht ab, wer sich für den Morell meldete. Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Zimmer.
9
Sie lief in die Theaterbibliothek hinauf. Dort holte sie sich einen Band Shaw und schrieb drei Kopien von der letzten Szene der ›Candida‹ heraus. Sie schrieb sie mühselig mit der Hand, da sie noch zu schüchtern war, sich eine der Schreibmaschinen auszuleihen. Außerdem gab es ihr eine gewisse Befriedigung, es auf die mühsamere Art zu tun. Am nächsten Morgen jagte sie die arme Ellen um acht Uhr aus dem Bett und schleppte sie ins Theater. »Warum diese Eile?« protestierte Ellen. »Die Tanzstunde fängt doch nicht vor zehn Uhr an. Das steht am Schwarzen Brett.« »Ich möchte wissen, wer mit mir die ›Candida‹ spielt.« »Ed Browning. Ich hab’s dir doch schon gestern abend gesagt. Das ist der, der sich gestern immer die Hosen glattgestrichen hat. Er spielt den Morell. Und Keith Macdonald spielt den andern – den Marchbanks. Weißt du, das ist der große Blonde, der –« »Es ist mir gleich, wer sie sind – sehen will ich sie.« »Vielleicht sind sie noch gar nicht da.« »Vielleicht aber doch.« Sie waren da. Carol gab jedem von ihnen eine ihrer Kopien. Nachdem die beiden ihre Rollen überflogen hatten, verabredete man, sich am nächsten Tag zu einer ersten Leseprobe zu treffen. »Wahrscheinlich müssen wir proben, wann und wo es gerade geht«, überlegte Carol laut, und die andern nickten. Der Grund für diese vage Abmachung war, daß es jetzt schon sechs oder sieben Elevengruppen gab, die alle gern auf der Bühne proben wollten, so daß man aufeinander Rücksicht nehmen mußte. Außerdem hatte Miss Marlowes Ensemble für jeden Nachmittag und Abend Proben angesetzt. Und dann hatten die Eleven ja auch noch ihren Stundenplan. Dieser Stundenplan war ziemlich elastisch, bis auf den Tanzunterricht, der von montags bis freitags jeden Morgen um zehn Uhr auf der Bühne stattfand. Sprachtechnik mit Mr. Anders als Lehrer war für Dienstag und Donnerstag um halb sechs Uhr angesetzt, sofern er nicht gerade selber Probe hatte. Im Schminken wurden sie nicht klassenweise unterrichtet, da ja die einzelnen Statistenrollen ganz verschiedene
Masken verlangten. Mr. Turner, der sie in dieser Kunst unterweisen wollte, hatte gesagt, er sei jederzeit bereit, jedem von ihnen alles zu zeigen, was er selber könne. »Schminken«, hatte er hinzugefügt, »ist im Grunde genommen eine Sache des Fingerspitzengefühls. Aber ich will Ihnen alles sagen, was ich weiß, und ich will Ihnen zeigen, wie Sie sich Ihre Statistencharaktere zurechtmachen müssen.« Am ersten Tag gab es für die Eleven kaum eine Ruhepause. Um zehn Uhr hatte die ganze Gruppe barfuß und in Shorts oder Trainingsanzügen auf der Bühne anzutreten, wo sie von Miss Byrne erwartet wurden. Miss Byrne war klein, zierlich und unglaublich graziös. Und höchst amüsant dazu. Außerdem war sie auch noch höchst energisch – wie sie später merken sollten. Am ersten Tag nahm sie allerdings nur eine Reihe von Lockerungsübungen mit ihnen durch. Trotzdem war Carol überzeugt, daß die ganze Klasse am Ende der Stunde wahrscheinlich nur noch auf Händen und Füßen von der Bühne kriechen könne. »Die eigentlichen Ballettschritte werden Sie kaum brauchen«, sagte Miss Byrne. »Viel wichtiger ist es, Ihnen die Beherrschung jedes einzelnen Muskels beizubringen. Sie müssen lernen, wie man sitzt, steht und geht, und was man mit seinen Händen anfängt, wie man sich bückt und eine Treppe hinauf- und hinuntersteigt. – Und nun stellen Sie sich bitte einmal dort drüben an die Wand, und versuchen Sie nachzumachen, was ich tue.« Miss Byrnes leichte Bewegungen nachzumachen, war nicht nur äußerst schwierig, sondern auch noch recht schmerzhaft. Am Ende der Stunde hatten Carol und Ellen das Gefühl, daß ihre Arme und Beine nur noch aus nassen Bindfäden bestünden. »Falls du noch imstand bist, einen Fuß vor den andern zu setzen«, sagte Carol, »wollen wir uns ein bißchen im Theater umsehen. Mr. Anders hat ja gesagt, er hätte uns noch nicht alles gezeigt.« So schlenderten sie eine Weile hinter der Bühne umher, wo die Welt des Scheins auf der Rückseite von einer sehr realen Backsteinmauer begrenzt wurde und rechts und links von verschiedenen Lagerräumen. Die Tür zur Requisitenkammer stand offen, und Ellen stieß einen lauten Schrei aus, als sie sich plötzlich einem Krokodil gegenübersah. Es gab dort Glocken, Schnarren, große Trommeln, eine
Drehorgel, Lampen, Bilder – einfach alles, was zur Ausstattung eines Stückes gehört. Bis nach zwölf Uhr schnupperten die beiden Mädchen herum. Dann aßen sie in einem kleinen Café an der nächsten Ecke zu mittag. Und um zwei Uhr begann die erste Probe zu ›Nora‹, bei der Miss Marlowe Regie führte und auch selbst die Nora spielte. Schon lange vor der Zeit fanden sich die Schauspielschüler im Zuschauerraum ein und suchten sich Plätze in der Mitte des Parketts. In alten, bequemen Kleidern erschienen die Schauspieler auf der kahlen Bühne und gingen den ersten Akt miteinander durch, wobei die meisten ihre Rollen ablasen und jeden Augenblick innehielten, um sich freundschaftlich darüber zu unterhalten. Man machte keinerlei Andeutung zu agieren. Es gab fast keine Bewegungen. Irgend jemand hörte mitten im Satz auf und fragte: »Soll ich hier stehen? Oder wo wird der Tisch aufgestellt?«, und Miss Marlowe, der Inspizient oder irgend jemand aus der Truppe gab die Antwort. Wenn sich Miss Marlowe nicht oben auf der Bühne befand, stand sie unten im Mittelgang, direkt hinter dem Orchestergraben, oder sie ging nach rückwärts, um die Bühne aus größerer Entfernung zu sehen. Nur ganz selten machte sie eine Bemerkung. Nicht einen Augenblick lang verlor sie die Geduld. Die Schauspieler waren leise, höflich und rücksichtsvoll. Gelegentlich machte einer einmal einen Witz, über den dann alle lachten. Und sie lauschten aufmerksam auf alles, was Miss Marlowe sagte. Sie arbeiteten als eine Einheit zusammen, willig und hart, wobei es ihnen anzusehen war, daß sie Freude daran hatten. Nachdem die Eleven einmal aufgehört hatten, Temperamentsausbrüche zu erwarten, waren sie von der Arbeit auf der Bühne gefesselt. Als die Probe vorüber war, blieben den Eleven nur ein paar Minuten Zeit bis zu ihrer ersten Sprachstunde, die in einem der Lagerräume auf der Rückseite des Theaters stattfinden sollte. Die ganze Gruppe versammelte sich dort und wartete gespannt auf Mr. Anders und die Dinge, die da kommen sollten. In dieser ersten Stunde beschäftigte sich Mr. Anders mit Atmung und Haltung. Er lehrte sie, wie sie den Mund öffnen mußten, damit ihre Stimmbänder die richtige Lage einnahmen. Die Übung für das richtige Atmen war einfach. »Stehen Sie alle einmal auf«, sagte Mr. Anders. »Halten Sie sich gerade, die Schultern zurück. So ist’s recht. Und jetzt schließen Sie
die Augen und atmen tief durch die Nase ein – so, als ob Sie etwas Angenehmes riechen würden.« Nachdem die Gruppe das ein paarmal geübt hatte, erklärte Mr. Anders: »Das ist die Grundlage einer guten Atemtechnik. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« Natürlich hagelte es Fragen, und während der Diskussion hatte Mr. Anders Gelegenheit, jede einzelne Stimme zu hören. Carol freute sich diebisch, als er Michael Horodinsky darauf aufmerksam machte, daß er durch die Nase spreche und mit verkrampfter Kehle. »Das ist’s, was Ihre Stimme so heiser macht«, sagte Mr. Anders. »Aber das werden Sie leicht los. Es besteht ja gar kein besonderer Grund dafür, daß Sie derart sprechen.« Dann wandte er sich wieder an die ganze Gruppe. »Sie haben sich bestimmt schon alle in einer Lage befunden, wo ein Gähnen höchst unhöflich gewesen wäre. Wenn es Sie aber trotzdem unwiderstehlich überfiel, so gähnten Sie mit geschlossenem Mund. Und genau das, meine Herrschaften, gibt Ihren Kiefern und Ihrer Kehle die richtige Stellung für die perfekte Resonanz. Versuchen Sie’s doch einmal.« Sie versuchten es alle und wurden natürlich von einem echten Gähnkrampf befallen. Es war die reinste Epidemie, bis die Sache schließlich in einem allgemeinen Gelächter endete. Als sie sich endlich wieder beruhigt hatten, gab Mr. Anders ihnen zwei Übungen auf, die sie zu Hause machen sollten. Die eine war, um den Atem zu kontrollieren, die andere für die Kopfresonanz. Die erste bestand darin, mit leicht gespitztem Mund sehr langsam auszuatmen, so daß die Lippen einen merkwürdigen halb-summenden, halbpfeifenden Ton erzeugten. »Blasen Sie, so lang Sie können«, riet Mr. Anders ihnen. »Halten Sie’s möglichst lange aus.« Die zweite Übung bestand darin, das Wort Nome auszusprechen – aber mit lockeren Kiefern, so daß die Lippen sich kaum berührten. »Dehnen Sie das M, als ob es ein Summen wäre, und wiederholen Sie das Wort immer wieder. Ihre Stimme wird dadurch sehr rasch eine größere Tragfähigkeit bekommen.« Warnend fügte er noch hinzu: »Wenn Sie die Kehle öffnen, übertreiben Sie nicht dabei. Sonst klingt es, als ob Sie eine Kartoffel im Mund hätten. Wenn Sie sie aber andererseits nicht genügend weit aufmachen, klingt ihre Stimme nasal, wie die von Miss Gregg zum Beispiel.«
Ellen wurde knallrot. Als die Stunde vorbei war, forderten Carol und Ellen die blasse Wanda Forrest auf, mit ihnen in dem Café an der Ecke zu essen. Merkwürdigerweise hatten sie das Gefühl, sie beschützen zu müssen. Als sie dann aber in dem Café saßen, bestellte sie sich nur einen Teller Suppe und bestand darauf, ihn selber zu bezahlen. Nun waren die beiden Mädchen wirklich schon sehr gespannt, Näheres über Wanda zu erfahren, und sie versuchten, sie ein wenig auszuhorchen. Wanda schien ihnen die Fragen nicht übelzunehmen und antwortete bereitwillig. Sie lebe allein, sagte sie, und hätte ein kleines Hinterzimmer in einer Pension nahe beim Theater. Sie habe sich mit ihrer Familie zerstritten, weil sie in die Elevengruppe eintreten wollte. Und da ihr Vater sich weigerte, ihr genügend Geld zu geben, war sie, um leben zu können, gezwungen, sich möglichst rasch nach einer Arbeit umzusehen. »Ich habe noch ein bißchen Erspartes«, sagte sie, »das noch für ein paar Wochen reichen sollte.« Und als sie die entsetzten Gesichter der beiden Mädchen sah, fuhr sie fort: »Ihr müßt euch keine Sorgen machen. Ich finde bestimmt etwas, bevor es aufgebraucht ist.« Wanda behielt recht. Sie fand eine Arbeit. Viermal in der Woche half sie abends von 7 bis 11 Uhr in einem kleinen Tabak- und Schreibwarengeschäft. »Leider komme ich dadurch niemals dazu, irgend eine der Vorstellungen im Theater zu sehen«, erklärte sie einige Tage später im Künstlerzimmer. »Das muß ich Miss Marlowe mitteilen. Aber das ist alles immer noch besser, als wenn ich überhaupt nicht hier sein könnte.« Alle erkundigten sich, wie sie denn zu der Stelle gekommen sei. »Michael Horodinsky hat sie mir verschafft. Er ist so nett. Er hat sich alle Mühe gegeben, mir etwas Besseres zu vermitteln, doch er konnte nichts anderes finden.« Carol hielt nicht viel von Mikes Nettigkeit. Und jetzt noch weniger. Nicht nur, weil er ihrer Meinung nach absichtlich eine möglichst unpassende Stelle für Wanda ausgewählt hatte, sondern auch wegen der Art, wie er sich bei den Proben für die ›Candida‹ benahm. Sie und die beiden jungen Leute hatten schwer für ihren Auftritt gearbeitet. Sie hatten ihre Rollen in einer Rekordzeit auswendig gelernt und in jeder freien Minute und auf jedem verfügbaren Fleckchen des Theaters geprobt und während der ihnen
zugestandenen Zeit auch auf der Bühne. Wenn Carol an die Candida dachte, dachte sie an Jane Seftons Darstellung und versuchte, sich jede Bewegung und jede Betonung ins Gedächtnis zurückzurufen. Als die drei zum ersten Mal im Beisein ihres eckigen, überlangen jungen Regisseurs probten, fühlte Carol sich sicher und ihres Erfolgs gewiß. Sie stand an einen unsichtbaren Kamin gelehnt, wandte sich von einem der Männer zum andern und hatte das Gefühl, daß Jane Seftons Stimme aus jeder Zeile klang, die sie sprach. Sie kam nicht dazu, lange zu sprechen. Mike unterbrach die Probe fast augenblicklich. »Um Himmels willen«, sagte er zu Ed Browning, »kau doch die Silben nicht so. Du spielst doch einen Pfarrer – das ist ein Mann mit einer tönenden Stimme. Und du, Macdonald, bring gefälligst etwas Leben in die Sache. Marchbanks mag alles mögliche Komische sein, aber gleichgültig ist er nicht. Er ist ein Dichter. Er ist empfindsam. Er hat Verstand.« Dann wandte er sich an Carol. »Und Sie, Miss Page, sind einfach grauenhaft. Hören Sie auf, Charme zu versprühen und sagen Sie Ihre Rolle her.« Carols Antwort war so eisig wie möglich. »Ich weiß nicht, Mr. Horodinsky, ob Sie das Stück gelesen haben oder nicht, aber auf jeden Fall sollte es Ihnen bekannt sein, daß die Candida eine der charmantesten Bühnengestalten ist, die es gibt. Sie …« »Sie ist eine reife Frau und keine Anfängerin.« Mike kreuzte die Arme und blickte Carol mit unverhohlenem Widerwillen an. »Du spielst sie wie eine Mundwasserreklame. Nimm doch deinen Verstand zusammen. Denk nach!« Er richtete sich auf. »Weiter, Morell. Mach den Mund auf beim Sprechen, wenn er nicht zugewachsen ist.« »Einen Augenblick, bitte.« Carol trat an die Rampe und schaute zu Mike hinab. Mit seinen schrägen Augen gab er ihr den Blick zurück. »Du verstehst wohl nicht viel von Frauen, oder?« fragte sie. »Du vielleicht?« »Na, immerhin mehr als du, da ich ja selber eine bin.« Mike lachte. »Es tut mir leid«, fuhr Carol fort, »aber ich muß diese Rolle so spielen, wie ich sie empfinde.« Eine Sekunde lang wurden Mikes Augen hart. Dann zuckte er die Achseln. »Gut«, sagte er. »Es ist deine Sache. Wenn es dir wohltut,
mach dich lächerlich.« Die Probe begann wieder, und Carol, die an Miss Marlowes ruhige, höfliche Anweisungen dachte und an die Einheit ihrer Truppe, spürte, wie ihr Haß auf Mike mit jeder seiner brummigen Bemerkungen wuchs, obwohl sie zugeben mußte, daß er doch allerhand verstand. »Das ist Candidas Szene«, pfiff er einmal Ed Browning an. »Ihr habt nur Nebenrollen – alle beide. Ihr müßt euch in euren Bewegungen und allem nach ihr richten.« Oder ein andermal: »Nein, nein, Marchbanks, wenn du von rechts hereinkommst, setz den rechten Fuß vor und schließ die Tür mit der linken Hand und umgekehrt. Auf diese Weise zeigst du den Zuschauern immer dein Gesicht. Dein Rücken interessiert sie nicht.« Einmal, als er darauf bestand, daß sie sich in einer bestimmten Art gruppierten, erklärte er ihnen auf ihren fragenden Blick mit einer bei ihm erstaunlichen Geduld den Grund dafür. »Hört zu, warum versucht ihr nicht einmal, ein Buch über Schauspielkunst zu lesen. Ich habe euch in einer Art Dreieck aufgestellt. Das ist die Grundform aller Gruppierungen. Das ermöglicht, ohne große Herumrennerei von einer Szene in die andere überzugehen. Lieber Himmel«, knurrte er, »ihr wollt Schauspieler werden und habt euch nicht einmal die Mühe genommen, herauszufinden, wie man über die Bühne geht.« »Aber ich weiß es«, sagte Carol nachdrücklich. »Ja, du natürlich. Wahrscheinlich habt ihr’s in der Schule gelernt.« »Erraten. Und warum nicht? Wir hatten eine ausgezeichnete Lehrmeisterin.« »Na, wenn ihre Zöglinge alle so sind wie du, hoffe ich, keine von dort mehr zu sehen.« »Danke.« »Und wie muß man nun wirklich über die Bühne gehen?« fragte Keith Macdonald. Mike grinste. »Erklär’s du ihm doch, Sarah Bernhardt«, sagte er. »Gern«, sagte sie zu Keith, ganz unbewußt in Miss Marlowes Ton verfallend. »Wenn du über die Bühne gehen mußt, tu es, während du sprichst. Aber tue es nie, wenn ein anderer redet. Das gilt als unfair, weil du das Publikum dabei von demjenigen ablenkst, der gerade spricht. Und du mußt die Bühne immer in einer geraden Linie überqueren.«
Carol krönte ihren Satz mit einem Lächeln, das dem von Miss Marlowe so ähnlich war, daß es Mike ein höhnisches Grunzen entlockte, und selbst der höfliche Keith ein Feixen unterdrücken mußte. Carol bemerkte beides, doch war es ihr jetzt so wichtig, wie Miss Marlowe zu sein, daß sie alles andere nicht berührte. »Es tut mir leid«, sagte Keith, »daß ich mich so blöd anstelle, aber ich habe bis jetzt noch nie Theater gespielt. Ich weiß nicht einmal, wieso ich mir einbilde, Schauspieler werden zu können. Es ist nun einmal so, und da läßt sich nichts ändern. Aber was soll ich nun wirklich tun, wenn mir, sagen wir mal ein Tisch oder so etwas Ähnliches im Weg steht?« »Dann gehst du gerade auf den Tisch zu, machst kurz davor eine kleine Wendung und legst den Rest des Wegs in einer anderen geraden Linie zurück.« »Danke.« Keith wollte noch etwas hinzufügen, wurde jedoch von Mike unterbrochen. »Genug«, sagte er, »vielleicht versuchst du jetzt zur Abwechslung wieder einmal die Candida zu spielen, falls das überhaupt möglich ist.« Carol trat langsam an die Rampe und blickte hinunter. »Möchtest du mir vielleicht sagen, was das heißen soll?« »Mit Vergnügen. Ich suche zu ergründen, was eigentlich mit dir ist. Es kann sogar sein, daß du Talent hast. Ich weiß es nicht. Aber wenn du welches hast, dann gibst du ihm wenig Chancen. Du bist viel zu sehr damit beschäftigt, andere Leute zu kopieren und dich wichtig zu machen. Du bist nichts anderes als ein ganz verwöhnter Fratz. Du bildest dir ein, es müßte alles nach deinem Kopf gehen. Das ist kindisch.« Er zuckte die Achseln. »Meinetwegen mach was du willst. Die einzige Art, wie du jemals etwas lernen wirst …« »Kommt«, sagte Ed Browning unbehaglich, »wie wär’s, wenn wir weiterproben würden?« »Ja, wie wär’s?« Carol lächelte Ed strahlend zu. Der scharrte mit den Füßen, und die Probe nahm – weiterhin unerfreulich – ihren Fortgang. Die folgenden Proben waren nicht besser. Es gab Tage, an denen Carol völlig erschöpft von den ständigen Zänkereien war. Sie war im allgemeinen keine streitsüchtige Person, und doch stritt sie dauernd. Und die Situation wurde noch dadurch verschlimmert, daß Ed und Keith sich ausgezeichnet mit Mike verstanden, obgleich der arme Ed der schlechteste Schauspieler war, den Carol je gesehen hatte.
Mit Keith verhielt es sich anders. Er besaß zweifellos Talent. Sobald er die Bühne betrat, spürte man seine Gegenwart. Er mochte vielleicht nichts von der Technik des Theaterspielens wissen, doch er fühlte sich auf der Bühne daheim. Schon aus reiner Freude, mit Keith zu spielen, hätte Carol die Proben genossen, wenn nur Mike nicht gewesen wäre. Um die Wahrheit zu sagen, sie fürchtete sich vor ihm. In den Tanzstunden lernten die Mädchen eine ganze Menge, obgleich sie bis jetzt noch gar nie getanzt hatten. Carol besaß eine natürliche Anmut. Jetzt lernte sie, ihre Muskeln richtig und mit vollem Bewußtsein zu gebrauchen – gelockert sowohl als auch gespannt. Ellen, die immer plump und schwerfällig gelaufen war, begann, wie Miss Byrne sagte, ihre Hüften zu entlasten. Sie hielt sich besser und freier, und sie übte stundenlang mit einem Buch auf dem Kopf in ihrem Zimmer. Die Klasse war inzwischen zu den Armbewegungen übergegangen, zu den harmonischen Bewegungen der Handgelenke, Ellbogen und Schultern. Und wenn Miss Byrne vielleicht auch über einige der Versuche am liebsten in Gelächter oder Tränen ausgebrochen wäre, so ließ sie nichts davon merken. Mr. Anders hatte ihnen inzwischen verschiedene Zungenübungen erklärt – strecken, spitz- und breitmachen –, und sie beschäftigten sich jetzt mit den Konsonanten. Das hatte seine komischen Seiten, denn die ganze Klasse lief mit tierischem Ernst im Theater umher und wiederholte die Sätze: Keine Kunde vom kranken Kinde – Kommt kecker Kerl und kündet Kühnem Krieger künftigen Kampf. Oder Da du dir doch den Dank durchdacht, Den Dido durch den Dolch dort duldet. Dazwischen wurde plötzlich die Zunge herausgestreckt, und von Zeit zu Zeit ertönte ein langgezogenes m-m-m-m durch den Garderobenkorridor. Carol wurde ihr Unbehagen wegen der Candida nicht los, obgleich sie überzeugt war, ihre Rolle richtig aufzufassen. »Ich weiß, daß er nicht recht hat«, sagte sie zu der teilnahmsvollen Ellen. »Aber er ist ein solcher Dickkopf, daß er nicht einen Millimeter nachgeben würde.«
»Nimm’s nicht so tragisch. Auf jeden Fall spielst du sie auf deine Art. Wollt ihr eigentlich Miss Marlowe fragen, ob sie sich’s anschauen kommt, wenn ihr fertig seid?« »Selbstverständlich.« »Na, warum regst du dich dann auf? Er wird’s ja hören, was sie dazu sagt.« Carol grinste. »Ich freu mich schon darauf.« »Ich auch. Hoffentlich bin ich dabei. Obgleich ich sagen muß, daß er mich wenig stört. Aber die Amme in ›Romeo und Julia‹ hat ja einfach nur zu plappern, und er behauptet, das fällt mir leicht. Könntest du dich nicht ein wenig beeilen, Carol? Wir kommen sonst zu spät zu Miss Marlowes Probe.« Die Proben für die ›Nora‹ hatten gute Fortschritte gemacht – von der Formlosigkeit der ersten Tage zu klar herausgearbeiteten, ausdrucksvollen Szenen. Die zuschauenden Eleven verstanden bis jetzt zu wenig von der Kunst der Regie, um die raffinierten Einzelheiten zu erkennen, die das Drama erst lebendig machten. Carol jedoch, die unter den täglichen Widerwärtigkeiten von Mikes Regie litt, merkte sehr deutlich den Unterschied zwischen seiner und Miss Marlowes Methode. Sie merkte, daß Miss Marlowe jedem Mitglied ihrer Truppe erlaubte, seine eigene Interpretation der betreffenden Rolle zu geben. Allerdings nur bis zu einem gewissen Punkt. Dann begann sie mit geduldigen Erklärungen und ruhigen Vorschlägen hier und dort etwas zu ändern, bis plötzlich Ensemble, Stück und jeder einzelne Schauspieler ein Ganzes bildeten – und dieses Ganze war Miss Marlowes Werk. Die Premiere war für den 2. Oktober angesetzt, und da man die Eleven gewarnt hatte, sich am Premierenabend auf keinen Fall hinter der Bühne blicken zu lassen, kauften sich manche von ihnen ein Billet. Andere warteten, bis der erste Akt begonnen hatte, und schlüpften dann leise in den Zuschauerraum, um vielleicht in den hinteren Reihen noch einen Sitzplatz zu ergattern, sonst blieben sie einfach dort hinten an der Wand stehen. Sie fühlten sich sehr wichtig, als Mitglieder des Theaters hier zu sitzen oder zu stehen. Sie gehörten nicht mehr zum Publikum. Sie waren Eingeweihte. Sie kannten das Stück genau und wußten, was sich bei den Proben alles ereignet hatte. Miss Young hatte sich erkältet und deshalb plötzlich einen tiefen Baß entwickelt, der beim Ensemble, trotz allen Mitleids und aller Sorge, Lachstürme entfesselt
hatte. So saßen sie glücklich in der Premiere, stolz auf das Ensemble und ganz besonders stolz auf Miss Marlowe. In den Pausen schlenderten sie ins Foyer hinaus und mischten sich unter das Publikum. Mit gespitzten Ohren lauerten sie auf jedes Wort, und hie und da ließen sie einem Kollegen gegenüber eine Bemerkung fallen, die bewies, daß auch sie Schauspieler waren und jeden einzelnen der Truppe persönlich kannten – in der stillen Hoffnung, irgend jemand würde es hören. Die Aufführung schien ein Erfolg zu sein. Die Eleven saßen bis nachts um drei zusammen, um auf die Morgenzeitungen zu warten. Dabei wurde über das Stück, die Schauspieler und Miss Marlowe diskutiert. Endlich erschienen die Morgenblätter. Das Stück war ein Erfolg. Und die Eleven stolperten stolz und glücklich nach Hause, um todmüde vor Aufregung ins Bett zu sinken. Jetzt, nachdem die Premiere vorbei war, durften sie wieder hinter die Bühne. Sie konnten kommen und gehen, wie sie wollten und aus den Kulissen heraus zuschauen. Sie gehörten zum Theater. Carol war noch nie in einem richtigen Theater während der Vorstellung hinter der Bühne gewesen. Am nächsten Abend ging sie hin. Und das Erlebnis würde sie nie mehr vergessen. Sie war allein, da sich Ellen mit einer durchreisenden Kusine zum Nachtessen traf und Wanda Forrest sich nicht ganz wohl fühlte. Carol fand die meisten der Eleven im Künstlerzimmer oder im Korridor vor dem Eiswassertank versammelt. Man rief ihr zu, als sie vorbeiging, und sie antwortete freundlich. Aber sie blieb nicht stehen, um mit den andern zu sprechen. Die Schauspielergarderoben rechts und links vom Gang schienen an diesem Abend verändert. Ob ihre Türen nun offen oder geschlossen waren, es ging von ihnen der deutlich spürbare Eindruck von wohlbehüteter, streng eingehaltener Ruhe aus. Im Vorbeigehen erhaschte Carol da und dort einen Blick auf eine wohlbekannte Gestalt, die an ihrem Schminktisch saß oder bewegungslos und konzentriert vor dem Spiegel stand. Niemand blickte auf, als Carol vorüberkam, und sie ging auf den Zehenspitzen weiter. Da das Hängestück des Hintergrunds einen Teil der Lampen verdeckte, war es in den Kulissen ziemlich dunkel. Carol ging rings um die Bühne herum auf die gegenüberliegende Seite, da es dort drüben einen Platz gab, wo sie stehen konnte, ohne die Schauspieler
bei ihrem Auf- oder Abtreten zu stören. Es war ein Platz in der Nähe des Schaltbretts, und der Beleuchter, der dort wartete, nahm keinerlei Notiz vom Mädchen, das auf den Zehenspitzen an ihm vorbei auf die dunkle Stelle zwischen zwei Hängestücken zustrebte. Der Blick des Beleuchters war auf Mr. Perell, den Inspizienten, gerichtet, einen kleinen, schüchternen Mann von Anfang dreißig. In den Kulissen auf der andern Seite sah Carol zwei Bühnenarbeiter in Overalls beim Vorhangzug warten. Auch ihre Augen waren auf den Inspizienten gerichtet. Hoch oben über den Soffiten sah man hinter einem Scheinwerfer ein anderes Gesicht, unrasiert und gespannt. Von weit weg vernahm man gedämpftes Stimmengewirr, Schritte, Rascheln – alles verschwamm in ein einziges Geräusch: das Publikum. Sie sah nicht, wie, wann und von wem der Orchesterleiter das Zeichen zum Beginn der Ouvertüre bekam. Einen Augenblick später hörte man die Stimme des Regie-Assistenten im Garderobenkorridor. »Ouvertüre. Ouvertüre. Die Ouvertüre hat angefangen.« Die Finger des Beleuchters schlossen sich um den Schalthebel. Die Bühnenarbeiter packten den Vorhangzug. Der Inspizient stand regungslos. Carols Herz begann zu klopfen. Auch sie ließ den Inspizienten nicht aus den Augen. Der Inspizient drehte den Kopf. »Hauslichter«, sagte er ruhig. Und der Beleuchter drückte den Hebel herunter. Es war, als ob die Schalttafel durch einen Draht mit der Musik verbunden sei, denn die Ouvertüre verstummte augenblicklich. Es entstand eine tiefe Stille. Der Inspizient nickte den beiden Gestalten an der Wand zu. Der Vorhang begann zu beben, bewegte sich leicht am Boden, faltete sich zusammen und schwebte langsam hoch. Der erste Akt der ›Nora‹ hatte begonnen.
10
Zu ihrem Erstaunen stellten die Schauspielschüler fest, daß sie, auf ihre eigene Initiative angewiesen, viel mehr arbeiteten, als wenn man ihnen vorgeschrieben hätte, was sie tun sollten. Es gab jetzt nichts anderes mehr für sie als das Theater. Sie saßen in dem kleinen Café an der Ecke und gingen dann sofort wieder ins Theater zurück, entweder um selber zu proben oder um aus den Kulissen heraus die Vorgänge auf der Bühne zu beobachten. Sie unterhielten sich schüchtern mit den Bühnenarbeitern, dem Requisitenmeister und den Beleuchtern. Sie schlossen Bekanntschaft mit dem jungen Maler, der Assistent des Bühnenbildners war. Und sie machten Besorgungen für jeden. Manchmal machten sie Lärm und standen allen im Weg, aber sie waren eifrig und nahmen alles ungeheuer ernst, und die Schauspieler waren unentwegt nett und freundlich zu ihnen, ganz gleich, was sie im stillen denken mochten. Da das Stuyvesant eine Repertoirebühne war, hatten die Proben zu ›Romeo und Julia‹ schon vor der Premiere der ›Nora‹ begonnen. Und kaum war diese Premiere vorbei, teilte Miss Marlowe ihnen mit, daß man für die Massenszenen in ›Romeo und Julia‹ einige Eleven brauche. Sie wählte ein paar von ihnen aus – darunter Carol und Ellen –, und Miss Byrne begann sogleich, die betreffenden Auftritte und Abgänge mit ihnen zu üben, bis sie so weit waren, daß sie bei den Proben mitmachen konnten. Diese Proben dauerten nicht länger als zwei Wochen, und nach der ›Romeo‹-Premiere setzten sofort die Proben für Tschechows ›Kirschgarten‹ ein, für die weitere Eleven benötigt wurden. Der Gedanke, vor einem richtigen New Yorker Publikum aufzutreten, regte die Eleven unglaublich auf, und bei der Premiere hatten sie alle ein derartiges Lampenfieber, daß es ihnen ganz übel war. Aber geteiltes Leid ist halbes Leid, und als sie erst einmal auf der Bühne standen, gelang es ihnen sogar, sich genau so zu bewegen, wie man es ihnen beigebracht hatte, und rechtzeitig mit dem Volksgemurmel einzusetzen. Alles verlief befriedigend. Ihr Make-up für diese Gelegenheit war einfach. Es kam dabei nur darauf an, die Gesichtsfarbe im Rampenlicht möglichst natürlich erscheinen zu lassen, die Augen zu vergrößern und sämtliche Züge zu unterstreichen, damit das Publikum sie deutlich erkennen konnte. Fettschminke als Unterlage und ein wenig Rouge war eigentlich
alles, was man brauchte. Um die Augen zog man den Rand des Ober- und Unterlids kräftig mit dunkler Farbe nach, dann noch ein wenig Lidschatten und zwei kleine, rote Punkte in den inneren Ecken. Die Blonden mußten sich die Brauen noch dunkel färben. Nach der zweiten oder dritten Vorstellung hatten sie sich schon an das Publikum gewöhnt und keinerlei Lampenfieber mehr. »Es macht mir überhaupt nichts mehr aus, auf der Bühne zu stehen«, flüsterte Carol Ellen zu, während sie auf ihr Stichwort warteten. »Ich weiß. Ich denke auch kaum noch daran. Es kommt einem schon ganz natürlich vor. Und ich finde, es ist einfach toll. Es ist das Beste von allem.« Carol nickte zustimmend. Es war wirklich der beste Teil ihrer Ausbildung am Stuyvesant-Theater. Sie und Ellen hatten, genau wie alle andern, schon längst gelernt, von einem Schauspieler, der seinen Text nicht völlig beherrschte, zu sagen ›er ist geschwommen‹. Sich selber bezeichneten sie als ›wir vom Bau‹, und das Publikum war für sie ›das Haus‹. Sie wußten jetzt, daß es in jedem Satz, den ein Schauspieler spricht, ein bestimmtes Wort oder eine Wortgruppe gibt, die als besonders wichtig betont und hervorgehoben werden muß. Man hatte ihnen auch erklärt, wie man eine Steigerung zustande bringen kann, und sie hatten daraufhin versucht, diese Technik auch in ihren eigenen Proben anzuwenden – was ihnen allerdings noch nicht recht gelingen wollte. Eine solche Steigerung verlangt, daß der folgende Satz in einem anderen Ton und mit mehr Nachdruck gesprochen wird als der vorangegangene. Das war ja alles gut und schön, aber die Eleven merkten bald, daß sie dabei ins Schreien gerieten, und wußten nicht, wie dem abzuhelfen sei. Selbst Mike wußte sich keinen Rat, und er schlug vor, Mr. Anders zu fragen. »Ach«, sagte Mr. Anders, »es ist absolut nicht nötig, daß Sie schreien. Wenn Sie eine Szene mit wachsender Heftigkeit spielen, müssen Sie in der Szene selber immer wieder den Ton und die Stärke ändern. Oder gleichen Sie es damit wieder aus, daß Sie in der folgenden Szene leiser sprechen.« »Vielen Dank«, sagte die Abordnung und verabschiedete sich verwirrt. Theaterspielen wurde von Tag zu Tag schwieriger. Inzwischen bereiteten sich die einzelnen Gruppen auf die Vorführung ihrer verschiedenen Akte und Szenen vor. Es sollte alles
am gleichen Nachmittag stattfinden. Die Vorführungen sollten genau wie die Proben vor sich gehen – ohne Ausstattung, höchstens mit einem Tisch oder ein paar Stühlen. Miss Marlowe war der Auffassung, daß kein Schauspieler seine Leistung von einem Bühnenbild oder der Ausstattung abhängig machen dürfe und daß sich die Eleven daran gewöhnen müßten, zwischen nur vorgestellten Möbeln zu agieren. Später im Winter würden sie dann, falls sie Lust dazu hatten, in Kostümen spielen und auch hie und da ein Versatzstück benützen dürfen. Aber im Augenblick mußten sie ohne diese Dinge auskommen. Carol hegte nicht den geringsten Zweifel über ihre Candida. Oder besser gesagt, ihre Abneigung gegen Mike ließ einen solchen Zweifel, den sie natürlicherweise hätte haben müssen, gar nicht erst aufkommen. Sie war überzeugt, daß ihre Darstellung der Rolle die richtige sei. Die andern Eleven spürten natürlich die Gegnerschaft, und da sie sich gegenseitig bei den Proben zuschauten, gab es zweierlei Meinungen, wer im Recht sei, Carol oder Mike. In ihrer Sympathie für Carol waren sich allerdings alle einig. Sie war warmherzig, freundlich und amüsant. Candida hin oder her, man mochte sie gern. Ganz anders verhielt es sich mit Mike. Viele von ihnen bewunderten ihn, doch da er ziemlich unzugänglich war, wagten sie nicht, ihrer Bewunderung Ausdruck zu geben. Der große Tag war auf den 15. Oktober angesetzt. Um halb zwei Uhr betrat Miss Marlowe den verdunkelten Zuschauerraum. Sie nahm in der sechsten Reihe neben dem Mittelgang Platz, und hinter ihr, über das ganze Parterre verteilt, saßen die Eleven in Zweier- und Dreiergrüppchen und warteten auf ihren Auftritt. Miss Marlowes Anwesenheit verlieh der alten Bühne einen überraschenden Glanz. Carol war noch immer zuversichtlich, obgleich sie ein paarmal dachte: es muß einfach gut gehen, besonders nach Wanda Forrests Versuch, eine Szene aus ›Anna Christie‹ zu spielen. Der Auftritt erforderte ein Gefühl von wiedergewonnener Stärke und Glückseligkeit, verbunden mit einer verblüffenden Anmaßung. Die arme Wanda geisterte wie ein zartes, zerbrechliches Schemen herum, ohne eine Spur von Temperament. Sie war reizend anzusehen, aber sie hatte, wie später jemand sagte, so wenig von einer Anna Christie wie ein Postkartenkätzchen. Kurz darauf kam Carol an die Reihe, und als sie ihre Plätze auf der Bühne oben eingenommen hatten – Carols Knie zitterten ein
wenig –, sagte Miss Marlowe ruhig: »Fangen Sie an.« Carol holte tief Luft und wandte sich dann mit einem strahlenden Lächeln zuerst dem einen und dann dem andern Mann zu. Sie versuchte Miss Marlowe zu vergessen und nicht an Mikes schräge Augen zu denken, die sie von unten her anstarrten. Sie gab sich alle Mühe, sich ganz in Jane Seftons Candida zu versetzen. Ich muß mehr fühlen, dachte sie. Ich bin noch nicht genügend drin. Ich muß erwachsener sein, raffinierter. Sie plagte sich redlich, und angespornt durch den wärmeren Klang ihrer Stimme, mischte sie Candidas liebevoller Strenge tatsächlich so etwas wie echten Ärger bei. Das ist schon besser, dachte sie, und zwang sich zu stärkerer Heftigkeit – zu größerem Nachdruck in den Worten. Sie spielte diese Szene in einer – ihrer Meinung nach – überlegenen Art, in der Art von Jane Sefton. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß sie nichts anderes als eine Nachahmung lieferte. Carol glaubte, mit Hilfe ihrer Erinnerung an Jane Sefton eine Candida gestalten zu können, so wie sie eine Eliza gestaltet hatte. Am Schluß sank sie in Morells Arme. So, dachte sie, jetzt werden wir’s ja hören. Die Darsteller der ›Candida‹ verließen die Bühne, um für die nächste Szene Platz zu machen: die Balkonszene aus ›Romeo und Julia‹. Niemand äußerte sich über die ›Candida‹, und Carol, die sich wieder an ihren Platz begab, sah das mitleidige Lächeln der andern nicht. Sie war überrascht über Ellens Amme. Ellen hatte Fortschritte gemacht – ganz entschieden. Ihre Bewegungen waren beherrscht, und sie übertrieb die Geschwätzigkeit der alten Amme nicht. Auch ihre Stimme hatte sich gebessert, und es gelang ihr, eine Mischung von Liebe und Strenge hineinzulegen, die wirklich bemerkenswert war. Die Julia hingegen war ein völliger Versager. Nan Walton, das große blonde Mädchen, übertrieb maßlos. Ihre Stimme war weinerlich, und ihre Bewegungen steif. Ich hätte die Julia spielen sollen, dachte Carol vergnügt. Als alle Szenen vorgeführt waren, kam Miss Marlowe, die ziemlich erschöpft aussah, auf die Bühne. Sie setzte sich auf einen Stuhl, und die Eleven scharten sich erwartungsvoll und aufgeregt um sie. Miss Marlowe begann nicht sofort mit ihrer Kritik. Zuerst hielt sie den Eleven einen kleinen Vortrag über Entspannung.
»So lange Sie derart verkrampft sind, bringen Sie’s zu nichts«, erklärte sie. »Beim Theaterspielen müssen Sie Ihren Gedanken nicht nur mit Worten, sondern auch mit Ihrem Körper Ausdruck verleihen. Und mit verkrampften Muskeln gelingt das nicht. Sie müssen Ihre Füße vom Boden lösen.« Sie lächelte ihnen zu, um dann zu ihrer Kritik überzugehen, indem sie jedem der Eleven erklärte, was er gut gemacht hatte und was nicht und weshalb. Ungefähr in der Mitte der Besprechung kam die ›Candida‹ an die Reihe. »Was die ›Candida‹ betrifft«, begann Miss Marlowe, und Carol hielt den Atem an. »Die Candida war durch und durch falsch angelegt, Miss Page. Sie haben sie gespielt wie eine kokette Achtzehnjährige, die versucht, raffiniert und charmant zu sein.« Wie aus allen Wolken gefallen, hörte Carol die klare Stimme freundlich genau das gleiche sagen, das Mike so unfreundlich gesagt hatte. »Die Candida ist eine Frau mit viel Charme, Miss Page, aber dieser Charme kommt von innen. Sie haben diesen Charme verpfuscht, indem Sie versuchten, ihn rein äußerlich zu bringen. Haben Sie vielleicht Jane Sefton als Candida gesehen? Es besteht ein großer Unterschied zwischen Gestaltung und Nachahmung, verstehen Sie?« Carol hatte unwillkürlich den Kopf gewendet, und ihre Augen suchten Mikes hämisches Gesicht. Aber Mike sah gar nicht hämisch aus. Er schaute nicht einmal zu Carol hin. Mit gekreuzten Beinen saß er auf dem staubigen Boden der alten Bühne und hörte gebannt Miss Marlowe zu. »Und nun, liebes Kind, Sie müssen lernen, ohne Ziererei über die Bühne zu gehen. Sie sind doch von Natur aus graziös. Sie haben sich aufgespielt. Ich bin überzeugt«, fügte sie mit einem Blick auf Carols verzweifeltes Gesicht hinzu, »daß nach ein paar Wochen Arbeit alles in Ordnung ist. Die Tanzstunden helfen Ihnen sicher dabei. Also, nur nicht den Mut verlieren.« Carol war wie betäubt, während Miss Marlowe mit Ed Browning über seine Steifheit sprach und Keith erklärte, daß er eine bestimmte Stelle mißverstanden und sie dadurch um ihre Wirkung gebracht hätte, obgleich seine Darstellung im großen ganzen bemerkenswert gewesen sei. Sie machte Mike darauf aufmerksam, wie er seine Schauspieler besser hätte gruppieren können. Und dann begann sie über ›Romeo und Julia‹ zu sprechen – mit einem besonderen Lob für
die Amme. »Ich glaube, aus Ihnen wird einmal eine echte Komikerin, Miss Gregg«, worauf Ellen beglückt errötete. Später, im Künstlerzimmer, starrte Carol aus dem Fenster. Nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück. Es war klar, daß die anderen nur aus Mitgefühl kein Wort über die ›Candida‹ sagten. Das war schlimmer, als wenn sie ihr auf die Schulter geklopft und zugeredet hätten, den Kopf nicht hängen zu lassen. Mike war noch auf der Bühne geblieben, um mit Miss Marlowe über Ed Browning zu sprechen, der sich in den Werkstätten hinter der Bühne am wohlsten fühlte und sich am liebsten aufs Kulissenmalen verlegt hätte. Vielleicht sollte ich das auch, dachte Carol. Vielleicht sollte ich Modistin werden oder so etwas. »Ich kann nichts. Mutter hat recht. Es geht nicht. Und Mike hat auch recht. Er hat’s gemerkt.«
11
Carols Respekt vor Mike wuchs, obgleich ihre Abneigung gegen ihn nicht geringer wurde. In den Stunden hörte sie kaum noch zu, und die Übungen und schriftlichen Notizen machte sie ganz automatisch. Ich sollte heimfahren, sagte sie sich immer und immer wieder. Ellen versuchte sie abzulenken und aufzuheitern. »Schließlich macht doch jeder einmal etwas falsch. Hör doch auf, Carol. Du benimmst dich wie bei einem Weltuntergang. Sei doch vernünftig. Du kannst nicht einfach hinter der Bühne herumstehen und keine Antwort geben, wenn jemand mit dir spricht.« Aber Carol konnte nicht aufhören. Und als die Eleven bei der nächsten Versammlung beschlossen, ein ganzes Stück aufzuführen – ›Die Scheidungsurkunde‹ – und Carol die Hauptrolle anboten, nahm sie diese Ehrung ohne großes Interesse zur Kenntnis. »Page könnte die Sidney spielen«, sagte Mike. »Sie hat die Figur dafür, und sie kann ernst und eindringlich sein ohne langweilig zu werden. Hier, versuch einmal, diese Szene zu lesen.« Carol las die Szene – zuerst gleichgültig und dann aufmerksam. Es war eine gute Rolle. Wenn es sich zeigt, beschloß sie, daß ich das hier gut spielen kann, dann bleibe ich da. Wenn’s aber wieder nichts wird, dann gehe ich heim. Ein paar Tage später begannen die Proben, und Ed Browning anerbot sich, ein paar Bühnenbilder zu entwerfen. Mike war sofort einverstanden, wollte aber zuerst noch Miss Marlowe um Erlaubnis bitten. Sie hatte nichts dagegen, und die Sache war beschlossen. Inzwischen fühlten die Eleven, daß sie nun zum Theater gehörten und anerkannt wurden. Sie lernten viel, so zum Beispiel, daß bei leichten Stücken die Stimmung hinter der Bühne entspannt und heiter war. Bei andern Stücken wieder war die Stimmung ernst und gespannt, es gab keinerlei Neckereien oder Gespräche, und wenn Miss Marlowe erschien, machten ihr Schauspieler und Eleven respektvoll Platz und warteten schweigend im Halbdunkel auf ihr Stichwort. Einige Wochen nach Carols Versagen als Candida ereignete sich ein Vorfall, der einen tiefen Eindruck auf sie machte. Es gab bei der Truppe einen Eleven im zweiten Jahr, der auf Grund seines außergewöhnlichen Talents ein Stipendium von 40
Dollar in der Woche bezog: Er studierte die Rollen verschiedener Schauspieler als zweite Besetzung und bekam hie und da einen kleinen Auftritt. Er war ein schwieriger Mensch – temperamentvoll, witzig, mit einer Neigung zu Arroganz. Im ›Kirschgarten‹ hatte er eine winzige Rolle zu spielen – drei Sätze vielleicht. Und eines Nachmittags erschien er nicht zur Probe, das heißt, er kam, als schon fast alles zu Ende war. Miss Marlowe, im allgemeinen liebenswürdig und tolerant, erhob sich von ihrem Platz in der ersten Reihe des Zuschauerraums und unterbrach die Probe. »Mr. Martin«, sagte sie, »wenn Sie meinen, Sie hätten es nicht nötig, rechtzeitig zur Probe zu kommen, dann ist in meinem Theater kein Platz für Sie. Es ist mir gleich, wie begabt Sie sind. Sollten Sie je einmal Erfolg haben, so wird dieser bestimmt nicht von langer Dauer sein. So, das wäre alles.« Sie schwieg. Dann: »Luise, wir wollen noch einmal mit der letzten Szene beginnen. Gib bitte das Stichwort.« Nach dieser Begebenheit fanden sich die Eleven stets pünktlich zu ihren eigenen Proben ein, und ›Die Scheidungsurkunde‹ machte langsam und mühevoll Fortschritte. Morgen für Morgen arbeiteten sie sich durch die verschiedenen Akte durch. Am Abend, nach der Vorstellung des Ensembles oder auch manchmal zwischenhinein machten sie lange Spaziergänge durch die Straßen der Stadt – immer sprachen sie über das Theater. Als die Nächte kalt wurden und die bunten Neonlichter sich im regennassen Asphalt spiegelten – rot, grün und gelb –, gingen sie in ihr kleines Café und redeten dort über Theater, Stücke, Rollen, über Technik, Beleuchtung und Make-up. Nach der Vorstellung gesellten sich manchmal Mitglieder des Ensembles dazu und erzählten Anekdoten und gaben gute Ratschläge. Carol liebte diese Gespräche, sie liebte sogar den Heimweg im strömenden Novemberregen und schrieb ihrer Mutter lange Briefe darüber – Briefe, in denen sie nie etwas von ihrem Entschluß erzählte: heimzukommen, wenn sie als Sidney versagte. Ihre Mutter antwortete, sie sei froh, daß es Carol beim Theater gefalle, und die Familie und sämtliche Tiere seien gesund. Ab und zu gingen einige Eleven in das große Café in der City, wo sich die Theaterleute der unteren Ränge trafen. Hier begegneten sie Eleven aus anderen Schulen und
Schauspielern und Schauspielerinnen ohne Engagement. Die Mädchen hörten allerhand bei diesen Zusammentreffen, und was sie hörten war entmutigend. Die Geschichten, die die andern Eleven erzählten, waren nicht so schlimm – aber erschreckend war, daß es kaum einem jungen Schauspieler gelang, auf der Bühne Fuß zu fassen. »Immerhin«, sagte Carol, den dunklen Kopf über ihr Coca gebeugt, »diese Eleven sind ja nicht gezwungen, in ihrer Schule zu bleiben, wenn es ihnen dort nicht gefällt. Es sind die andern, die mir Angst machen, die Schauspieler, die kein Engagement finden.« Ellen war ebenfalls beunruhigt. »Stell dir vor, dieses große, verschüchtert wirkende Mädchen, mit dem ich vorhin sprach, erzählte mir, daß sie seit zwei Jahren immer wieder die Runde bei sämtlichen Agenten macht.« »Ich weiß. Du kannst keine Rolle am Broadway bekommen, wenn du nicht schon einmal eine Rolle am Broadway gehabt hast. Und alle sitzen hier herum und reden und reden und hoffen und hoffen – und erreichen nie etwas. Was glaubst du, was aus uns wird, wenn wir am Stuyvesant fertig sind?« Ellen wirkte sehr entschlossen. »Ich bekomme eine Rolle, und wenn es hundert Jahre dauert. Ich bleibe beim Theater, und ich bringe es auch zu was.« Carol schwieg. »Es gibt immer Leute, die etwas erreichen«, fuhr Ellen fort, »und ich werde es auch.« »Das«, sagte eine Stimme hinter ihnen, »glauben alle. Habt ihr eine Rolle bekommen?« Die Mädchen drehten sich um und sahen eine Frau, Mitte fünfzig, mit einem müden Gesicht, schlecht geschminkt, auffällig gekleidet und mit billigem Schmuck behangen. »Wir sind Eleven beim Stuyvesant-Theater«, sagte Carol und stand höflich auf. »Ja, wenn ihr von dort kommt, habt ihr vielleicht eine Chance – vielleicht auch nicht. Aber glaubt mir, Kinder, wenn ihr innerhalb von drei Jahren keine anständige Rolle am Broadway bekommt, dann packt eure Koffer und fahrt heim.« »Danke«, sagte Carol, »Sie haben sicher recht.« Sie bezahlte, und die beiden Mädchen flohen deprimiert. Zum Repertoire des Stuyvesant-Theaters gehörte auch der ›Peter Pan‹ von James Barrie. Miss Marlowe spielte den Peter, und einige
der Schauspielschüler traten im Chor als Piraten auf. ›Peter Pan‹ war eines jener Stücke, die alle liebten, und als der Thanksgiving Day – ein Dankfest am letzten Donnerstag im November – näherrückte, hörten die Eleven viel von der Nachmittagsvorstellung, die man an diesem Tag gratis für die Kinder der New Yorker Elendsviertel geben würde. »Ihr habt ja keine Ahnung, was das ist«, sagte die Komikerin des Ensembles zu Carol. »Verstehen Sie, für die Kinder ist es Wirklichkeit. Viele von ihnen haben noch nie ein Theater von innen gesehen. Ich kenne aber auch einen Jungen, der schon zehnmal im ›Peter Pan‹ gewesen ist.« Carol hörte voller Interesse zu. »Eigentlich wollte ich am Thanksgiving Day nach Hause fahren«, sagte sie. »Aber vielleicht bleibe ich doch hier und schaue mir die Vorstellung an.« Miss Rawleigh lächelte. »Sie werden es nicht bereuen.« Carol bereute es tatsächlich nicht. Sie kam früh am Nachmittag ins Theater, während Ellen im Café noch eifrig mit Ed Browning über Tschechow diskutierte. Schon im ersten Augenblick merkte Carol, daß eine ganz andere Stimmung im Theater herrschte. Ezra, der Negerportier, begrüßte sie mit ungewöhnlicher Aufregung. »Guten Tag, Miss Page«, grinste er. »Heute ist wirklich ein feiner Tag.« »Ja, wirklich«, stimmte ihm Carol bei, während sie zu dem düsteren Novemberhimmel mit den dicken Wolken hinaufblickte. »Haben Sie schon unsere Eingangshalle gesehen?« »Nein. Warum? Gibt’s dort etwas Besonderes?« »Das sollten Sie sich unbedingt anschauen. Einer von den Herren, denen das große Warenhaus in der nächsten Straße gehört, hat etwas Reizendes gemacht.« Carol drehte sich um und lief die Vordertreppe zur Eingangshalle hinauf. Drinnen blieb sie stehen, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches entdecken. Dann holte sie auf einmal tief Luft. Die Decke der Halle bestand aus lauter bunten Luftballons, die dort, grün, rot und hellblau, schwebten. »Oh!« rief Carol. Das Fräulein am Billettschalter lachte. »Sie sind für die Kinder«, sagte sie. »Wenn die Vorstellung
vorbei ist.« »Wie herrlich!« rief Carol. Der Zuschauerraum lag noch im Dunkel, doch die Bühne war erleuchtet, und das Bühnenbild für den ersten Akt stand bereits. Es war das Schlafzimmer der drei Darling-Kinder mit den Betten und der Hütte für Nana, den Neufundländer, der die Kinderfrau der Geschwister ist. In der Rückwand befand sich ein Fenster. Carol ging schweigend den Mittelgang entlang, schob den Vorhang beiseite, der den Weg in die Kulissen verdeckte, und ging auf die Bühne hinaus. Hoch oben, zwischen den Soffitten, entdeckte sie das Bühnenbild für das Niemandsland, Peters Feeninsel. Da gab es riesige Bäume, Schatten von Tieren und phantastisch blühende Sträucher, zwischen denen aus der Ferne der gefrorene Wintersee funkelte. Carol lächelte allen diesen Dingen zu, und sie lächelte noch mehr, als sie Kinderstimmen hörte. Die Jungen, die Michael und John und die sechs verlorenen Knaben spielten, waren schon da und schwatzten und lärmten im Garderobengang. Carol öffnete eine Kinderzimmertür und ging nach der Hinterbühne, wobei sie beinahe über ein Krokodil stolperte. Direkt hinter dem Kinderzimmerfenster befand sich eine kleine Nische. Carol wußte, daß hier Miss Marlowe warten würde, bis der Moment kam, wo sie durchs Fenster flog. Ach, dachte Carol, wenn ich nur mitspielen könnte. Angelockt vom Gelächter und vergnügten Radau, ging sie zum Garderobenkorridor zurück. Es wimmelte dort von Indianern und Piraten. Miss Rawleigh, die die Mutter Darling spielte, stand bei Miss Marlowe in der Garderobe. »Bist du sicher, daß du den Peter Pan spielen kannst?« fragte Miss Rawleigh. »Soll ich nicht besser rasch einen Arzt rufen? So hohes Fieber …« »Laß doch diesen Unsinn. Ich bin völlig …« Die Garderobentür öffnete sich plötzlich. Carol schrie erschrocken auf, als vor ihr ein riesiger Neufundländer auftauchte, der mit dem Kopf wackelte und probeweise die Schnauze auf- und zuklappte. Carol erholte sich rasch. »Mr. Anders«, flüsterte sie, »stimmt mit Miss Marlowe etwas nicht?«
Der große Kopf hörte auf zu wackeln. »Ja«, antwortete Mr. Anders’ Stimme unter dem Fell hervor. »Sie hat eine Grippe und ziemlich hohes Fieber. Aber sie ist fest entschlossen aufzutreten. Und wenn sie sich etwas vorgenommen hat, bringt kein Mensch sie davon ab.« »Das tut mir aber schrecklich leid. Gibt es wirklich nichts?« »Ich glaube kaum. Und bitte sagen Sie es nicht weiter.« »Selbstverständlich sage ich nichts.« Carol wandte sich um und ging mit nachdenklichem Gesicht zurück, um sich in den Kulissen einen Platz zu suchen. Die Vorstellung sollte um halb drei beginnen, doch schon lange vorher ging es im Zuschauerraum wie auf einem Rummelplatz zu. Kinder jeglichen Alters, von Lehrern, Pfarrern, Sozialhelferinnen und Eltern betreut, rannten im Mittelgang auf und ab, kletterten auf den Sitzen herum, äugten ins Orchester und machten einen ohrenbetäubenden Lärm. Erst als die Lampen erloschen und die Ouvertüre begann, trat Ruhe ein. Jetzt allerdings herrschte atemlose Stille. Durch ein Loch im Vorhang sah Carol Reihe um Reihe erwartungsvoller Kinder, die auf ihren Plätzen herumzappelten. Als sich der Vorhang schließlich hob, entrang sich dem kindlichen Publikum ein langgezogenes O-o-h. Wenn der Autor das sehen könnte, dachte Carol. Als Carol später an diesen Nachmittag zurückdachte, fiel ihr auf, daß es ein paar Dinge gab, die sie ganz besonders beeindruckt hatten. Zum Beispiel die fünf Minuten in der Nische hinter dem Kinderzimmer, wo Miss Marlowe, auf dem Boden liegend, auf ihren Auftritt gewartet hatte. Carol hatte sie hineingehen sehen und sich Sorgen um sie gemacht. Nach kurzem Zögern huschte sie nach hinten und kroch, um nicht durch das Fenster gesehen zu werden, auf Händen und Knien in den kleinen Raum. Miss Marlowe schaute überrascht auf – mit dem Gesicht eines kleinen Jungen. Sie hat die wandlungsfähigsten Züge, die ich kenne, dachte Carol. Sie kann jedes Gesicht daraus machen. »Ja, was ist, Kind?« »Sind Sie auch ganz in Ordnung. Miss Marlowe?« flüsterte Carol. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Ja. Ich glaube, es ist noch Zeit. Bringen Sie mir doch ein Glas Wasser, bitte.« Carol kroch wieder hinaus, sprang auf und rannte zum
Eiswassertank. Dann kam sie mit einem gefüllten Glas zurück. »Vielen Dank. Wollen Sie mir ein bißchen Gesellschaft leisten?« Sie kauerten schweigend in der Nische, und Carol musterte zweifelnd das dünne Drahtseil, das an einem breiten Gürtel befestigt war, den Miss Marlowe unter dem grünen Kostüm trug. Sie wußte, daß das Seil geprüft und noch einmal geprüft worden war. Aber trotzdem. Angenommen, es passierte etwas? Carol zuckte zusammen und blickte Miss Marlowe rasch an. »Was ist?« »Ach, nichts. Ich … Sagen Sie, Miss Marlowe, wie ist es, wenn man fliegt?« Miss Marlowe lachte leise. »Es macht Spaß. Das erstemal hatte ich zwar Angst. Man fühlt sich so hilflos. Aber wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dann ist es wirklich recht vergnüglich.« Miss Marlowe, die gleichzeitig auf den Dialog auf der Bühne lauschte, gab sich plötzlich einen Ruck, sprang auf den Fenstervorsprung, schwang sich hoch und dann hinaus auf die Bühne, um auf dem Kaminsims zu landen. Die nächste Erinnerung war der Piratenchor hinter der Bühne, lustig und ausgelassen. Carol, die auf ihrem Platz in den Kulissen zurückgekehrt war, sah, wie eine Welle der Begeisterung das ganze Haus erfüllte, und dann stimmte sie, wie alle andern, in den Piratenchor ein. Beim Singen wurde ihr leichter zumute. »Warten Sie nur«, flüsterte Miss Rawleigh, »bis das Pulverfaß unter Peter weggezogen wird.« Carol wartete und fragte sich, wie Miss Marlowe es aushalten konnte, so lange ein paar Zentimeter über dem Faß in der Luft zu sitzen, wobei ihr ganzes Gewicht nur von dem breiten Gürtel gehalten wurde. Endlich wurde das Faß weggerissen, während der unerschütterliche Peter genau wie vorher sitzen blieb – mitten in der Luft, die Beine gekreuzt, die Hände um das eine Knie geschlungen. Ein einziger wilder Jubelschrei begrüßte diese Leistung, und Carol, die sich in den dicht besetzten Kulissen umschaute, stellte fest, daß auch die meisten Mitglieder der Truppe lachten. Selbst die Bühnenarbeiter wurden von der Begeisterung mitgerissen, und einer von ihnen, der neben Carol stand, wischte sich mit dem Handrücken eine Träne aus den Augen. Endlich kam Miss Marlowes letzter Flug. Das Drahtseil spannte sich. Es sah sehr dünn und recht unheimlich aus. Peter Pan flog zuerst aufwärts und dann weit hinaus über die Zuschauer hinweg zur Galerie hinauf. Im Parkett wandten sich Reihen um Reihen kleiner
Gesichter zu ihm hinauf. Als dann die winzige Gestalt zurückgeflogen kam und auf der Bühne niederging, da gab es kein Halten mehr. Ohne Rücksicht auf die hilflos mahnenden Erwachsenen drängten sich die Kinder im Mittelgang. Und als der Vorhang fiel, tobten die schrillen Stimmen: »Peter, Peter, komm zurück!« Hinter dem Vorhang fing einer der Bühnenarbeiter Miss Marlowe auf. Unsicher hielt er sie fest. Und dann, bevor noch irgendjemand etwas sagen konnte, wehrte sie sich. »Loslassen!« befahl sie. »Aber Miss Marlowe …« »Lassen Sie mich sofort frei. Ich bin ganz wohl. Die Kinder wollen hinter die Bühne kommen und ihren Peter sehen. Und sie müssen ihn sehen können.« Der Bühnenarbeiter stellte sie auf die Füße. Sie schwankte ein wenig, dann straffte sie sich und ging hinaus, um sich zu verbeugen. Als sie zurückkam, lehnte sie sich einen Moment an Mr. Donalds Schulter. Doch fast sofort schob sie die ängstlichen Hände beiseite und ging in die Garderobe hinunter, um sich dort ihrem begeisterten Publikum noch einmal zu zeigen. Carol blickte hinter ihr her und schluckte. »Das«, stammelte sie zu Ellen, »ist Theater. – Nein, ich geb’s nicht auf, niemals.« »Das sollst du auch nicht, du Schaf.«
12
Mr. Anders’ Stunden zeitigten erstaunliche Resultate, besonders bei Ellen und Mike. Die Schüler waren von den Konsonanten zu den Vokalen übergegangen. Mit starrem Blick, einen Bleistift gegen die Oberlippe gepreßt, den Mund weit aufgerissen, sagten sie unentwegt ma-me mi-mo-mu. Es sah nicht nur lächerlich aus, sondern sie mußten nachher alle auch noch stundenlang gähnen. Sie übten sich im Lesen von Gedichten, die Zunge gelockert, ihre Spitze leicht an den unteren Schneidezähnen. So versuchten sie, die Vokale rund und voll hervorzubringen oder, wie beim E, breit und klar. Sie verrenkten sich die Lippen, während sie versuchten, das beste aus ihren Os und Is zu machen, und am Ende der Stunde taten ihnen alle Gesichtsmuskeln weh. Immerhin war es diesen Übungen zu verdanken, daß Ellens Stimme ihren monotonen, nasalen Klang verlor. Leider zerdehnte sie die Silben immer noch merkwürdig – wenigstens im täglichen Gespräch. Auf der Bühne sprach sie jetzt wie alle andern. »Tatsächlich, Ellen«, sagte Carol eines Tages zu ihr, »du bekommst noch eine wunderschöne Stimme.« »Wirklich? Ich bin so froh. Ich gebe mir ja auch alle Mühe. Ist dir aufgefallen, was mit Mike geschehen ist?« Carol war es aufgefallen. Es konnte keinem entgehen. Die Veränderung hatte mit einer Bemerkung von Mr. Anders begonnen. »Schauen Sie, Horodinsky«, hatte er gesagt, »ich weiß, daß Sie Regisseur und nicht Schauspieler werden wollen. Aber wir müssen trotzdem etwas gegen Ihre Heiserkeit tun. Sie müssen beim Reden den weichen Gaumen mehr krümmen.« »Den weichen Gaumen?« Mike starrte ihn an. »Natürlich. Stellen Sie sich einmal genau vor, Sie hätten etwas siedend Heißes im Mund – was geschieht?« Die ganze Gruppe befolgte diesen Rat, und Carol, die sich daran erinnerte, wie sie sich an heißem Reisbrei den Mund verbrannt hatte, spürte, daß sich ihr weicher Gaumen nach oben zusammenzog. Mr. Anders lachte beim Anblick der Grimassen ringsum. »Genau das ist es«, sagte er zu Mike. »Sie müssen das nur eine Weile üben, und dann werden sich die Muskeln ihres weichen Gaumens schon von selber straffen.« Er wandte sich an die übrigen. »Für Sie sind
diese Übungen überflüssig. Sie brauchen sie nicht. Aber Horodinsky hat sie nötig.« Schon am folgenden Tag konnte man die Veränderung in Mikes Stimme ein wenig merken. Und nach zwei Wochen war seine Heiserkeit verschwunden. Sie zeigte sich nur noch gelegentlich, wenn er sehr müde war. Inzwischen war die Klasse zur korrekten Aussprache von verschiedenen Wörtern übergegangen. Sie machten sich davon eine lange Liste, die Carol immer in ihrer Handtasche bei sich trug. Auch Miss Byrne führte die Eleven in ein neues Gebiet ein. Jedes Mitglied der Gruppe mußte auf Miss Byrne zutreten, vor ihr stehenbleiben und ihr einen Brief übergeben – zuerst als Diener, dann als Freund, als verärgerter Vater und schließlich als Vorgesetzter. Die jungen Leute genossen diese Übungen. Daneben probten sie ›Die Scheidungsurkunde‹. Das Stück begann Gestalt anzunehmen, und Carol hörte jetzt auf Mike, wenn er zu ihr sagte: »Stopp, Page. Sidney macht nicht so in Selbstmitleid. Sie hat Stärke, wenn sie auch manchmal einfältig ist.« Carol dachte viel über ihre Rolle nach. Ihr größtes Problem war, was sie mit ihren Händen und Füßen anfangen sollte. Diese Sidney redete und fühlte mehr, als sie sich bewegte. Manche ihrer Monologe sprach sie im Stehen, und trotz Miss Byrnes Unterricht fühlte Carol sich unsicher. Sie hatte das Gefühl, hundert Füße und hundert Ellbogen zu haben. Sie paßte auf, was sie selbst und die andern mit ihren Händen und Füßen anfingen, wenn sie im Stehen sprachen. Sie beobachtete die Mitglieder der Truppe und ganz besonders Miss Marlowe, die, sogar wenn sie nicht auf der Bühne stand, nicht eine einzige sinnlose oder überflüssige Bewegung zu machen schien. Als im Dezember die ersten Schneefälle einsetzten, probten die Eleven auf einer eisigen Bühne, denn am Morgen war die Heizung gedrosselt. Carol spürte, daß die Zahl ihrer Füße und Ellbogen im Abnehmen begriffen war. Sie hatte sich eine Sammlung von einfachen Bewegungen und Stellungen zugelegt, die sie vor dem Spiegel ausprobierte, um diejenigen herauszufinden, die ihrer Rolle und ihren Monologen am besten entsprachen. Allerdings gab es eine kurze Szene, für die sie noch keine passende Bewegung gefunden hatte. Es war die Szene, in der Sidney den Mann, den sie liebt, aufgeben muß, um das Glück ihrer Eltern zu retten.
Sidney ist völlig verstört vor Schmerz und dem Gefühl, gefangen zu sein. Carol mußte dies alles durch Gesten und Mimik ausdrücken, denn in diesem Augenblick hat Sidney nichts zu sprechen. Sie steht nur da. Wie stand man da, und wie sah man in einem solchen Seelenzustand aus? Ich bin noch nie in einer so gräßlichen Situation gewesen, dachte Carol. Und ich habe auch keinen Menschen in einer solchen Situation gesehen. Was soll ich nur machen? Sie versuchte, die Hände zu ringen. Aber auch ohne Mikes empörten Protest merkte sie, daß hier Händeringen lächerlich und völlig unpassend wirkte. Das nächste Mal strich sie sich mit dem Handrücken das Haar aus der Stirn. »Es sieht noch immer unecht aus«, sagte Mike. »Versuch doch einmal, die Hände zu Fäusten zu ballen und dann ganz langsam zu heben.« Carol versuchte es. Mike schüttelte den Kopf. »Das wirkt genau so unecht. Es sieht aus, als ob du jemand verprügeln wolltest.« »Komm, wir lassen es einstweilen sein«, sagte Carol. »Wenn ich lange genug darüber nachdenke, fällt mir schon noch etwas ein.« Sie wandten sich anderen Problemen zu. Da war Wanda Forrest, deren Darstellung von Sidneys kindlicher, empfindsamer, verzweifelter Mutter von Tag zu Tag farbloser wurde. An einem Spätnachmittag, nach der Stunde für Sprachtechnik, hatte Carol vor, zuerst einmal zuzusehen, wie das Bühnenbild für den Abend aufgebaut wurde, dann wollte sie mit irgend jemandem zum Nachtessen in das kleine Café an der Ecke gehen und nachher bei der Abendvorstellung zuschauen. Ellen konnte nicht mitkommen, da sie Einkäufe machen mußte. »Ich brauche unbedingt neue Strümpfe, du übrigens auch. Und ein neuer Pullover ist auch kein Luxus. Komm doch mit. Es ist langweilig, so allein einzukaufen.« »Meinetwegen«, sagte Carol abwesend. Sie schlug sich bereits wieder mit ihren Problemen als Sidney herum. Schweigend gingen sie den langen Garderobenkorridor hinunter, als sie hinter sich Mike Horodinsky und Ed Browning hörten. Ed dozierte über Bühnenbilder – ein Thema, das ihn so fesselte, daß er alles andere vergaß.
Carol ging rascher. »Komm, Ellen, mir reicht’s, wenn das Monstrum mich auf der Bühne anfaucht. Ich hole noch rasch meinen Mantel, dann können wir gehen.« Im Elevenzimmer war niemand außer Wanda Forrest, die auf dem Fensterbrett kauerte. Als die Mädchen eintraten, stand sie auf. »Hallo, Wanda«, sagte Ellen, »warum warst du nicht in der Stunde?« Wanda antwortete nicht. Sie starrte sie nur an und sank dann plötzlich zu Boden. Ellen schrie, und man vernahm das laute Trampeln rennender Füße. Carol konnte sich vor Schreck nicht rühren. Dann atmete sie tief ein und kniete neben Wanda nieder. »Wanda!« rief sie hilflos, während sie versuchte, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. »Was ist passiert?« fragte Mike hinter ihr. »Es ist Wanda«, jammerte Ellen. »Sie sieht entsetzlich aus.« »Sie ist ohnmächtig«, sagte Carol, und ihr Gesicht war fast genauso weiß wie das von Wanda. Mikes Stimme dröhnte laut. »Nein, Ed, nicht den Kopf hochheben. Liegenlassen.« Das Künstlerzimmer füllte sich rasch mit entsetzten Eleven. Mike jagte sie wieder hinaus. Dann schob er ein paar Kissen unter Wandas Füße. Ellen, noch immer völlig hysterisch, hatte ein Glas Wasser geholt, das Mike Ed zum Halten gab. Ed hielt es verzweifelt umklammert und trat fassungslos von einem Fuß auf den andern. »Nimm dich zusammen, Page«, knurrte Mike. »Nachher kannst du dich aufführen, wie du willst. Aber jetzt hilf mir, Wandas Hände und Arme zu massieren.« Carol gehorchte ihm, und bald bekam Wandas Gesicht wieder etwas Farbe. Ihre Lider flatterten. »Wanda«, drängte Carol, »geht’s dir wieder besser? Wir rufen jetzt gleich einen Arzt, und dann …« »Natürlich geht’s ihr noch nicht besser«, schnaubte Mike wütend. »Red’ doch keinen Quatsch!« Carol funkelte ihn wütend an. »Ich glaube«, sagte sie, »daß wir einen Arzt holen sollten.« Wanda bewegte sich. »Nein«, flüsterte sie. »Ich – will – keinen – Arzt.« Carols Finger schlossen sich beruhigend um Wandas Hand. »Mike, weißt du, wo sie wohnt? Sie hat’s uns nie gesagt. Ich will sie heimbringen.« »Dort kann sie nicht hin. Das ist eine Höhle ohne Heizung.
Könnte sie nicht bei euch bleiben?« »Natürlich.« Carols Gesicht hellte sich auf. Sie war dankbar, etwas tun zu können. »Wir werden dort ein Zimmer für sie nehmen und einen Arzt kommen lassen. Du könntest ein Taxi besorgen.« Mike ging hinaus. Als er zurückkam, hüllte er Wanda in den Mantel und trug sie auf die Straße. Carol folgte ihm mit Wandas Tasche. Ed und die noch immer ganz benommene Ellen stiegen hinter ihnen ins Taxi. Es war eine schweigsame Fahrt. Als sie in ihrem Heim ankamen, erlaubte die Leiterin, daß Mike das Mädchen in das Zimmer der Freundinnen hinauftrug. Sie versprach Ellen ein Zimmer nebenan. Mike und Ed verabschiedeten sich, und Wanda wurde zu Bett gebracht. In ihrer Aufregung hatte keiner daran gedacht, Miss Marlowe zu unterrichten. Aber sie hatte davon erfahren, und während man noch auf den Arzt wartete, rief sie an. »Bitte, berichten Sie mir, was der Arzt gesagt hat«, bat sie. Endlich kam der Arzt. Er untersuchte Wanda, stellte ihr einige Fragen und sagte dann: »Das ist eindeutig Unterernährung. Sie haben täglich eine Mahlzeit übersprungen, und wenn Sie gegessen haben, war es auch nicht viel. Habe ich recht?« Carol erinnerte sich, daß Wanda selten mit ihnen in das Café gegangen war, und daß, wenn sie mitgekommen war, ihre Mahlzeit meistens aus einem Teller Suppe oder einem Glas Milch bestanden hatte. »Ich glaube auch, daß sie nicht genug gegessen hat«, sagte Carol. »Stimmt’s, Wanda?« Stückchen um Stückchen lockten sie Wandas Geschichte aus ihr heraus. In dem Tabakgeschäft hatte sie 16 Dollar in der Woche verdient. Ihre Miete kostete 30 Dollar im Monat. »Und ich mußte doch auch Strümpfe und sonst noch allerhand kaufen«, sagte Wanda. »Oder ich hätte nicht mehr ins Theater kommen können.« »Wo wohnen Ihre Eltern?« fragte der Arzt. »Schicken sie Ihnen kein Geld?« Wanda schüttelte den Kopf. »Mein Vater haßt das Theater. Er kann sich nicht damit abfinden, daß ich etwas damit zu tun habe. Er drohte, wenn ich zu Miss Marlowe ginge, bekäme ich von ihm keinen Cent. Und er hat mir auch keinen gegeben. Er will, daß ich heimkomme.« »Ja«, sagte der Arzt aufrichtig, »ich glaube, das beste wäre, Sie
würden das tun. So können Sie nicht weitermachen. Geben Sie doch einfach Miss Page die Adresse Ihres Vaters, und sie schickt ihm ein Telegramm.« »Nein!« Die sanfte Wanda schrie beinahe. »Sie können mich nicht verstehen. Ich muß zum Theater. Ich muß Schauspielerin werden. Ich will nicht heim. Ich gehe auch nicht.« Carol überließ es dem Arzt, Wanda zu beruhigen. Sie ging ans Fenster und starrte entsetzt hinaus. Sie wußte, daß aus Wanda niemals eine Schauspielerin werden würde. Sie war schön, und wenn sie die Bühne betrat, verschlug es einem fast den Atem. Doch sobald sie sprach, war der Zauber verflogen. Es fehlte ihr an allem – an Talent, an Wärme und sogar am nötigen Verstand, der aus einem mittelmäßigen Talent doch noch eine Schauspielerin machen konnte. Der Arzt redete weiter auf Wanda ein und erklärte ihr, falls sie nicht eine bessere Stelle finden könne, müsse sie nach Hause zurückkehren, sonst müsse sie sich auf schwerwiegende körperliche Schädigungen gefaßt machen. Die zerbrechliche, fast durchsichtige Wanda blieb unnachgiebig, und schließlich verabschiedete sich der Arzt mit einem Achselzucken, nachdem er noch viel Fleisch und ein Kräftigungsmittel verordnet hatte. Carol versuchte nicht, mit Wanda zu diskutieren. Sie und Ellen kümmerten sich um die Patientin so gut sie konnten, und am nächsten Tag ging es ihr schon besser. Nahrung und Wärme und Ruhe hatten gewirkt. Doch an Wandas Entschluß, sich nicht von der Schauspielerei und dem Hungerleben abbringen zu lassen, war nicht zu rütteln. An diesem Nachmittag kam Miss Marlowe. Wanda bestand darauf, für diesen Besuch aufzustehen, und nach einem kurzen Wortwechsel wagten die beiden Mädchen nicht mehr, ihr zu widersprechen. Immerhin ging es ihr schon besser, und der Arzt hatte gesagt, bei einer richtigen Ernährung könne sie in ein paar Tagen wieder ganz in Ordnung sein. Warum sollte man sie also nicht für eine kleine Weile aufstehen lassen? Bevor Miss Marlowe das Zimmer betrat, unterhielt sie sich draußen kurze Zeit mit Carol. »Sind Sie sicher, daß sie in ein paar Tagen wieder ganz auf der Höhe ist, Miss Page?« »Aber bestimmt, Miss Marlowe. Der Arzt hat gesagt, daß es bis jetzt noch nichts Ernstliches ist. Es kann nur schlimm werden, wenn sie dieses Leben weiterführt. Er meint, sie soll nach Hause gehen.«
Miss Marlowe dachte mit einem gequälten Ausdruck über Carols Worte nach. Schließlich fragte sie: »Glauben Sie, daß sie einen Schock ertragen kann?« Carol verstand sofort, was sie meinte. Seit Beginn der Saison waren schon fünf Eleven heimgeschickt worden. Carol schluckte. »Aber ja, Miss Marlowe. Ich – ich glaube, es ist besser sie erfährt es jetzt, bevor sie wieder hier weggeht und alles noch schlimmer wird.« Miss Marlowe nickte zögernd. Du lieber Himmel, dachte Carol, wie entsetzlich das alles ist. Sie bringt es nicht über sich, Wanda die Wahrheit zu sagen. Am liebsten möchte sie weglaufen. Dann gingen sie hinein. Miss Marlowe war lieb und taktvoll, aber sie war ehrlich. »Liebe Wanda«, sagte sie, als sie sich nach der ersten Begrüßung setzte, »ich glaube, Sie sollten wirklich den Rat des Arztes befolgen und heimgehen. Es gibt eben Leute, die passen nicht auf die Bühne, ganz gleich, wie sehr ihr Herz daran hängt und welche Mühe sie sich geben. Sie sind unerhört tapfer gewesen, und wir bewundern Sie alle. Und ich hoffe, Sie werden jetzt noch tapferer sein und verstehen, was ich Ihnen sagen muß: – aus Ihnen wird niemals eine Schauspielerin. Ich bitte Sie, gehen Sie nach Hause zu Ihrer Familie.« Wanda hatte sich erhoben, während Miss Marlowe sprach, und nun stand sie regungslos da mit herunterhängenden Armen. Als Miss Marlowe sagte, »aus Ihnen wird niemals eine Schauspielerin«, spreizte sich langsam Wandas Hand, und die Finger machten eine zitternde, tastende Bewegung. Ihr Kopf drehte sich – nur ganz leicht – von einer Seite zur andern. Carol dachte – und war gleichzeitig entsetzt über sich selbst, daß sie in einem solchen Augenblick an so etwas denken konnte –, aber sie dachte: das ist’s. Das ist die Bewegung, die Sidney machen muß. Jetzt weiß ich’s endlich. Sie kam sich roh und herzlos vor, haßte sich dafür, daß sie gerade jetzt den lang gesuchten Ausdruck gefunden hatte. Wanda weinte lautlos. Die Tränen schwammen in ihren Augen und liefen ihr dann über die Wangen. »Bitte«, sagte sie, »bitte –« Aber Miss Marlowe ließ sich nicht erweichen. Schließlich ging sie fort. Wanda lag noch lange schluchzend auf ihrem Bett. Carol und Ellen saßen rechts und links neben ihr und wußten nicht, was sie tun oder sagen sollten. Carol hatte dunkle Ringe unter
den Augen. Ellens Gesicht war vor Mitleid ganz blaß. Unsicher starrten sie einander an. Plötzlich hörte Wandas Schluchzen auf. »Ich versuche, ein Engagement am Broadway zu bekommen. Ich gehe zu jedem Agenten in der ganzen Stadt und bleibe dort sitzen, bis er mir etwas gibt.« »Nein, das kannst du nicht!« riefen die beiden Mädchen. »Wanda, das kannst du nicht!« Carol war erschrocken. »Du weißt, wie das ist.« »Aber Wanda«, jammerte Ellen, »kein Mensch engagiert ein Mädchen, das einfach so in sein Büro hereingeschneit kommt. Du mußt irgend jemanden kennen.« »Ich kenne aber niemanden«, sagte Wanda. »Aber nach Hause gehe ich auch nicht. Und wenn ich keine andere Wahl habe, als die Runde durch die Büros zu machen, dann tu ich’s eben.« Carol dachte verzweifelt an alle die Mädchen, von denen man wußte, daß sie seit Jahren erfolglos die Agenturen belagerten. Die alt und verbittert wurden, während sie endlos von Stücken redeten, in denen sie eine Rolle bekommen könnten, und was sie dann tun würden, wenn sie die Rolle hätten. Doch Wanda war nicht umzustimmen. Und sie machte genau das, was sie gesagt hatte. Am nächsten Tag kaufte sie sich eine Theaterzeitung, strich sich alle in Frage kommenden Annoncen an und begann, ein Büro nach dem andern aufzusuchen. Jedermann im Stuyvesant war entsetzt. »Armes Ding«, sagten sie, »armes dickköpfiges Ding.« An diesem Abend kam Wanda mit ausdruckslosem Gesicht in Carols Zimmer, und als die Mädchen darauf bestanden, sie zum Nachtessen einzuladen, nahm sie die Einladung bereitwillig an. »Sobald ich ein Engagement habe, gebe ich euch das Geld zurück«, sagte sie. Die Mädchen fragten, was sie gemacht habe. Sie antwortete, daß sie viel herumgelaufen und viel herumgesessen sei. Das war alles, was sie erfahren konnten, und mehr erzählte sie ihnen auch während der ganzen Woche nicht. Am Anfang der zweiten Woche verließ sie das Mädchenheim und zog wieder in ihr eigenes Zimmer. Sie arbeitete wieder in dem Tabakgeschäft. Während der ganzen zweiten Woche sahen die Mädchen sie nicht. Dann, eines Tages, tauchte sie plötzlich im Elevenzimmer auf. »Carol!« rief sie, »Ellen! Mike! Hört alle! Ich habe eine Rolle am
Broadway bekommen. In einem richtigen Stück!« Sprachlos und – um bei der Wahrheit zu bleiben – ein wenig neidisch drängte sich alles um sie. »Wie ist das zugegangen?« »Erzähl ausführlich.« Und sie erzählte. Schüchtern, glücklich und sehr stolz stand sie da. Sie hatte stundenlang im Büro eines Produzenten gesessen, zusammen mit zwanzig anderen Mädchen, einem halben Dutzend älteren Frauen und ebenso vielen Männern. Plötzlich hatte sich eine Tür geöffnet und ein Mann war herausgekommen. »Ich sah, wie er mich anschaute. Dann ging er zur Sekretärin, sprach mit ihr und ging wieder ins Büro zurück. Ungefähr eine Viertelstunde später tönte dieser Summer, den die Sekretärinnen auf ihrem Schreibtisch haben, und sie sagte: ›Ja, Mr. Henderson?‹, und dann forderte sie mich auf, hineinzugehen.« »Und sie haben dich engagiert?« fragte Carol. »Sie haben dir wirklich eine Rolle gegeben? Einfach so? Was mußt du denn machen?« »Ja, eigentlich nichts«, sagte Wanda. »Versteht ihr, da gibt es eine Szene in einem Ferienlager, und sie brauchen ein Mädchen, das in einem Baum sitzt und hübsch aussieht. Mr. Henderson sagt, ich sei nichts anderes als eine Bühnendekoration. Er war schrecklich nett zu mir«, fügte sie mit plötzlicher Wärme hinzu. »Und die Proben beginnen morgen, und ich bekomme vierzig Dollar in der Woche, und nach der Premiere sechzig.« Die Eleven wollten noch weitere Einzelheiten wissen, und Wanda war der Star des Künstlerzimmers. Nur Carol hörte, wie Mike leise vor sich hinmurrte. »Na, wenn das stimmt, laß ich mich an einem himmelblauen Elefantenschwanz aufhängen!«
13
Carol und Ellen fuhren über Weihnachten nach Hause, sie fühlten sich als Schauspielerinnen sehr erhaben. Einige Bekannte – auch Ned Long – ließen sich allerdings nicht im geringsten imponieren und sagten jedesmal Pah, wenn die Rede aufs Theater kam. Die übrigen jedoch waren beeindruckt. Sie stellten ehrfürchtige Fragen über Miss Marlowe, und beim Weihnachtsball im Sportclub hatte Carol eine anregende Unterhaltung über das moderne Drama mit einem älteren Yale-Studenten. Später merkte sie, daß jedes Wort, das sie gesagt hatte, von Miss Marlowe stammte, aber sie war zu stolz auf ihre Eroberung, um große Gewissensbisse zu haben. »Es ist wundervoll«, versicherte der Student ihr, »ein Mädchen kennenzulernen, das sich den Wind um die Nase wehen läßt.« Silvester verbrachten sie in New York, da sie Statistenrollen im ›Wiegenlied‹ hatten. Nach der Vorstellung gingen sie zusammen mit den übrigen Eleven zum Times Square. Noch nie vorher hatte Carol eingezwängt in einer solch lärmenden Menschenmenge gestanden. Aber trotz der Ellbogen in ihren Rippen und der plumpen Füße auf ihren Zehen, war sie begeistert wie ein Kind – besonders als Schlag Mitternacht die goldene Kugel vom Flaggenmast des Times Building herunterfiel. Wanda Forrest hatte inzwischen drei Wochen Proben gehabt und reiste triumphierend am 2. Januar mit ihrer Truppe nach Rochester, wo das Stück auf seinen Publikumserfolg getestet werden sollte. Die Eleven, die in der ›Scheidungsurkunde‹ mitwirkten, waren gedemütigt. Ihr Stück war gerade über das Anfangsstadium hinaus gediehen, während in der gleichen Zeit eine ganze BroadwayProduktion organisiert worden war. Carol und Ellen sorgten sich wegen Wandas Reise nach Rochester. Sie sah noch immer so zerbrechlich aus. »Ich finde es schrecklich«, sagte Ellen auf dem Bahnhof, »daß du da mit lauter Fremden wegfährst.« »Aber für mich sind es doch gar keine Fremde mehr. Sie sind alle reizend zu mir gewesen. Sie haben mich behandelt, als wäre ich aus Glas oder Porzellan. Und wenn die Proben allzu lange dauerten, hat Mr. Henderson immer dafür gesorgt, daß ich. mich ein wenig ausruhen konnte. Natürlich habe ich nichts anderes zu tun, als in dem Baum zu sitzen, so daß die Proben auch ohne mich weitergehen
können. Aber trotzdem ist es nett von ihm.« In der ersten Probe nach Wandas Krankheit hatte Carol mit schlechtem Gewissen Wandas verzweifelten Blick und ihre Bewegungen ausprobiert. »He, Page«, sagte Mike, »das ist gut. Das ist die richtige Art. Glaubst du, daß du’s bei der nächsten Probe noch weißt?« »Ich werde mir alle Mühe geben«, antwortete sie. »Schließlich bin ich nicht ganz so idiotisch wie manche Leute glauben.« Mike brummte etwas vor sich hin, und die Probe ging weiter. Mike und Carol stritten nicht mehr so erbittert miteinander wie bei der ›Candida‹. Carol hatte Respekt vor Mike als Regisseur bekommen. In den Szenen anderer Eleven hatte er selber einige Rollen gespielt und bewiesen, daß er auch als Schauspieler talentiert war. Daher richtete sich Carol doch mehr nach seinen Anweisungen, und die Zusammenstöße zwischen ihnen waren mehr persönlicher Art. Carol versuchte, es Ellen zu erklären. »Er benimmt sich, als wäre ich die hochnäsigste Person der Welt, die ihm ständig seine kurze Schulbildung unter die Nase reiben will, wogegen er sich schon im voraus durch Anbrüllen wehrt.« Die Aufführung der ›Scheidungsurkunde‹ vor Miss Marlowe wurde für einen Spätnachmittag im Januar angesetzt – ein paar Tage vor der Broadway-Premiere von Wandas Stück, das in Rochester durchgefallen war und wieder in New York geprobt wurde. Seit ein paar Tagen war schönes Wetter, und die Eleven kamen vergnügt aus der beißenden Kälte draußen und eilten lachend den Korridor hinunter. Selbst Carol, der die Erinnerung an ihre Candida noch immer zu schaffen machte und die genau wußte, was von ihrer Darstellung der Sidney abhing, war zuversichtlich. »Hast du denn gar keine Angst?« fragte Ellen in der Garderobe, als sie Carol beim Schminken zuschaute. Mit Hilfe eines Augenbrauenstifts verbreiterte Carol den Abstand zwischen ihren Augen. »Natürlich habe ich Angst. Wir haben so lange an dieser Sache gearbeitet, und ich war in der ›Candida‹ ein solcher Versager, und …« »Aber diesmal bist du ganz anders.« »Möglich. Aber es ist meine erste große Rolle und wenn es dir recht ist, wollen wir jetzt lieber über das Wetter oder so etwas
Ähnliches reden.« »Aber gern«, erwiderte Ellen, fügte aber trotzdem sofort hinzu: »Natürlich kann man es nie wissen, aber ich glaube bestimmt, daß du diesmal kein Versager bist.« »Ellen! Wenn ich jetzt ein Hufeisen hätte, schlüge ich dir den Schädel damit ein.« ›Die Scheidungsurkunde‹ war kein Versager, und auch Carol nicht. Die Szenen folgten sich rasch, genau nach den Anweisungen, die Mike ausgearbeitet hatte. Es gab ein paar holprige Stellen und gelegentliche Längen. Es gab Augenblicke, da die ganze Truppe Heuschnupfen zu haben schien, so daß alle nuschelten und krächzten, aber als Schülervorstellung war das Stück beachtlich. Miss Marlowe war zufrieden und sagte es ihnen auch. »Sie haben gut gearbeitet«, erklärte sie, »und Sie sind auf dem richtigen Weg.« Sie lobte die Einheit des Spiels und Mikes Regie. Und dann sagte sie zu Carol: »Miss Page, Sie haben große Fortschritte gemacht. Sie haben Ihre Rolle intelligent aufgefaßt – sie war gut durchdacht – und ich bin überzeugt, daß Sie so weitermachen können.« Sie lächelte. »Das bedeutet, daß Sie lernen, eine Rolle aufzubauen.« Plötzlich fügte sie noch hinzu: »Die Stelle, wo Sidney am Verzweifeln ist, war gut. Woher haben Sie gewußt, wie Sie es machen müssen?« Carol wurde dunkelrot. Sie zögerte ziemlich lange. Dann sagte sie: »Ich habe einmal eine Freundin, die sehr verzweifelt war, gesehen. Ich habe mir ihre Bewegungen gemerkt. War das schlecht von mir?« »Liebes Kind«, erwiderte Miss Marlowe, »wenn Sie beim Theater weiterkommen wollen – und das wollen Sie ja wohl –, dann werden Sie das immer wieder tun müssen, fürchte ich.« Miss Marlowe besprach nun die Arbeit der andern Eleven, stets freundlich, aber ehrlich. »Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt«, sagte sie zu Ed Browning, der den Vater gespielt hatte, »und ich will sie Ihnen aufrichtig sagen. Ich glaube, Sie machen einen Fehler, wenn Sie sich weiter als Schauspieler versuchen. Ich glaube, daß Sie ein recht guter Bühnenmaler würden. Machen Sie damit weiter. Die paar Bühnenbilder, die Sie entworfen haben, waren ausgezeichnet – vielleicht noch ein bißchen zu konventionell.« Als alles vorbei war, zogen sie höchst befriedigt in den Sprachunterricht. In diesem Augenblick waren sie überzeugt,
Theatergeschichte gemacht zu haben. In der Sprachstunde passierte es. Carol, noch ganz taumelig vor Freude über ihren Triumph, schrieb gerade eine Liste von Wörtern, als Ezra, der Bühnenportier, erschien. »Entschuldigen Sie bitte eine Minute«, sagte er zu Mr. Anders. Und dann zu Carol: »Miss Page, draußen wartet eine Mrs. Salome Page auf Sie. Sie behauptet, Ihre Tante zu sein. Ich habe ihr gesagt, daß Sie in der Stunde sind, aber sie will warten. Mr. Horodinsky leistet ihr inzwischen Gesellschaft.« Jetzt erst fiel es Carol auf, daß Mike nicht in der Stunde war. Sie ahnte Unheil. »Vielen Dank, Ezra«, sagte sie, »ich komme gleich.« Mr. Anders nickte Carol zu. »Gehen Sie nur, Miss Page. Wir sind ohnehin gleich fertig.« Carol packte ihre Notizen zusammen und eilte hinaus. Mike und Tante Salome! Das war das Schlimmste, was passieren konnte. Bevor sie noch das Künstlerzimmer erreichte, hörte sie schon seine Stimme. Es war seine frühere Stimme, kehlig und heiser. Und was noch schlimmer war: keine Spur von seiner gepflegten Sprache und Ausdrucksweise. »Ich habe genau das gleiche Recht, hier zu sein, wie Sie«, gurgelte er, »und das möchte ich gern sehen, wie Sie mich hinaussetzen wollen.« »So! Wirklich!« antwortete Tante Salome. Carol riß die Tür auf, blieb allerdings schon auf der Schwelle stehen. Tante Salome, in einem anscheinend französischen Modellkleid unter dem Zobelmantel, saß steif in einem Sessel und schaute zum Fenster hinaus. Ihre Tasche und die Handschuhe hielt sie so fest umklammert, als sei sie jeden Moment auf einen Raubüberfall gefaßt. Ihr gegenüber flegelte sich Mike auf dem Fensterbrett. Er stand nicht auf, als Carol eintrat. Carol übersah ihn, so gut sie konnte. »Hallo, Tante Sallie«, rief sie, »wie geht es dir? Ich freue mich, dich zu sehen. Möchtest du nicht …« »Carol!« Tante Salomes Stimme schien aus den tiefsten Tiefen zu kommen, und ihr Doppelkinn bebte vor Aufregung. »Wer ist dieser Mann? Sag ihm, daß er sofort verschwinden soll.« Carol blickte Mike an. Ihre Hände zitterten, und sie ließ das
Notizbuch fallen. Mike machte keinerlei Anstalten, es aufzuheben. Carol auch nicht. Sie sagte: »Tante Salome, das ist Mr. Horodinsky, und ich kann ihn nicht bitten, wegzugehen. Er ist auch einer unserer Eleven. Er wird Regisseur und ist wirklich ein hochanständiger Mensch.« In ihrer Panik merkte sie gar nicht, wie diese Worte klangen, bis sie die Wut in Mikes schrägen Augen sah. »Vielen Dank für die Anerkennung, meine Süße!« fauchte er. Tante Salome starrte von Carol zu Mike. »Sie sind unverschämt«, sagte sie. Mike starrte auf Tante Salomes Zobel. Es herrschte eine beängstigende Stille. Dann sagte Mike langsam: »Ich komme selber aus der Branche – Konfektion und Kürschnerei. Ich kenne mich da aus. Dieser Mantel kostet genug, daß ein Haufen Kinder ein Jahr lang davon leben könnte – und ich gehe jede Wette ein, daß Sie nicht einmal eigene Kinder haben.« »Mike!« stöhnte Carol. Aber trotz ihrer Abneigung verstand sie ihn. Mike fuhr noch immer mit dieser langsamen, tonlosen Stimme fort. »Sie sollten sich vor sich selber schämen. Sie sollten …« »Mike! Bitte!« rief Carol flehend. »Du verstehst das nicht, Tante Salome. Er ist wirklich ein anständiger Mensch. Er …« Tante Salome hob die Hand. »Was soll das heißen, daß du diesen Mann auch noch verteidigst? Was geht hier überhaupt vor? Ich …« sie wurde von einer heftigen Detonation unterbrochen. Das ganze Künstlerzimmer bebte, und ein paar Gipsbrocken fielen von der Decke. »Was war das?« »Es ist nur die Untergrundbahn, Tante Sallie, sie sprengen.« »Zum Schluß sprengen sie noch das ganze Haus in die Luft. Das ist gefährlich. Du bist hier nicht sicher.« »Warum lassen Sie eigentlich das Mädchen nicht in Ruhe?« sagte Mike. »Sie ist ihr ganzes Leben lang in Sicherheit gewesen – das ist ja der Fehler an ihr. Sie …« Aber Tante Salome hatte sich erhoben und ihren Zobel zusammengerafft. »Ich habe deiner Mutter von Anfang an gesagt, daß es ein Unsinn ist, dich hierhergehen zu lassen, wo es von ungebildeten, sittenlosen Flegeln nur so wimmelt.«
14
Am nächsten Abend war ein Brief von ihrer Mutter gekommen. Böses ahnend lief Carol die Treppe hinauf in ihr Zimmer; noch in Mütze und Mantel, öffnete sie den Brief. Mein Liebling, Tante Salome ist gerade hier gewesen und hat mir sehr merkwürdige Dinge erzählt. Wir kennen ja ihre Eigenheiten und wissen, daß sie oft übertreibt, aber trotzdem war ihr Bericht für Vater und mich höchst unangenehm. Wir haben beide das Gefühl, daß Du sofort heimkommen solltest. Tante Salome sprach besonders von einem jungen Mann namens Horodinsky. Als Du an Weihnachten daheim warst, hatten wir den Eindruck, daß Du ihn nicht magst. Aber Tante Sallie sagte, Eure Beziehungen seien jetzt ganz anders. Ich habe immer versucht, Dir nicht in Deine Freundschaften hineinzureden, aber Du bist doch noch sehr jung, und dieser Bursche scheint mir wirklich nicht die richtige Gesellschaft für Dich zu sein. Sobald Du daheim bist, werden wir ausführlich über alles sprechen und versuchen, ob es einen andern Weg für Dich gibt, Schauspielerin zu werden. Aber Du mußt sofort nach Hause kommen. Alles, alles Liebe. Mutter. Den Brief in der Hand, stand Carol mitten im Zimmer. Ellen starrte sie erschrocken an. »Carol? Was ist denn los? Was ist passiert?« Dann, nachdem Carol keine Antwort gab, nahm Ellen ihr den Brief aus der Hand und las ihn selber, wobei sie dauernd leise Schreie ausstieß. »Du lieber Himmel«, rief sie schließlich, »das klingt ja, als ob sie meint, du wärst in Mike verliebt. Carol, du kannst nicht heimgehen. Das ist ja schrecklich.« »Ellen, würdest du bitte aufhören zu schreien.« »Aber was willst du tun?« »Meiner Mutter schreiben«, sagte Carol hoffnungslos. »Das wird zwar nichts nützen. Sie ist fest entschlossen. Das ist selten der Fall. Aber wenn sie einmal fest entschlossen ist, dann kann man gar nichts machen. Ich kenne meine Mutter. Im Grunde genommen glaubt sie Tante Sallies Geschichte, nur weil Tante Sallie erwachsen ist und ich
erst siebzehn bin.« Selbstbeherrschung war noch nie Ellens Stärke gewesen, und jetzt brach sie in Tränen aus. »Aber du kannst nicht nach Hause gehen. Und wenn ich dann auch heim muß? Das ist sehr leicht möglich, wenn meine Mutter …« Die beiden Mädchen starrten sich voller Entsetzen an. »Ich hasse deine Tante«, schluchzte Ellen, »und diesen Mike hasse ich auch. Er …« Carol ging zum Schreibtisch, nahm ihren Briefblock und setzte sich auf die Couch. Ihr Brief an ihre Mutter war lang und eindringlich. Sie versuchte alles über Mike zu erklären. Sie versuchte, ihrer Mutter klarzumachen, wie sehr Tante Salome alles mißverstanden hatte. Sie wiederholte immer wieder, daß sie absolut nicht in Mike verliebt sei. Aber noch während sie alles schrieb, wußte sie, daß es nur wirr klingen und Tante Salomes Geschichte nicht entkräften würde. Bitte, Mummy, schrieb sie zuletzt, ich kann jetzt nicht heimkommen. Zwing mich doch bitte nicht dazu. Sie trug den Brief noch am gleichen Abend zum Kasten und lag dann später schlaflos im Bett. Sie wollte beim Theater bleiben. Sie wollte das Klingelzeichen hören, das die Schauspieler rief. Sie wollte gespannt auf das Verlöschen der Lichter im Zuschauerraum warten und auf das Geräusch, das der aufgehende Vorhang machte. Auf die große Stille in der Dunkelheit, jenseits der Rampenlichter, wo das Publikum saß. Und da waren noch all die kleinen Dinge: die angebrochene Tube Fettschminke – der Gips, der von der Rückwand der Bühne abblätterte – das Krokodil aus ›Peter Pan‹, das auf dem obersten Fach in der Requisitenkammer hauste – Seile – Fußlichter – der Staubgeruch der Versatzstücke – ein vergoldeter Stuhl, der zur Ausstattung der ›Kameliendame‹ gehörte. Und es war Mike, der ihr das alles eingebrockt hatte. Carol setzte sich im Bett auf, zitternd vor Wut und Verzweiflung. Aber sie durfte sich nicht derart gehenlassen, sagte sie sich schließlich. Sie würde nicht mit Mike darüber sprechen. Auf keinen Fall sollte er auch noch diese Befriedigung haben. Sie legte sich wieder hin. Aber sie schlief erst ein, als der graue Wintermorgen dämmerte. Das Telegramm ihrer Mutter traf am Nachmittag ein, doch Carol erhielt es erst, als sie und Ellen aus der Abendvorstellung heimkehrten. Das Telegramm war kurz und bündig:
PACK DEINE KOFFER. ANKOMME MITTWOCH 3:30. GRUSS MUTTER.
Carols Entschluß, Mike nichts zu sagen, kam ins Wanken. »Er soll nur wissen, was er angerichtet hat«, sagte sie zur blassen, tränenüberströmten Ellen. »Und wenn es ihm irgendeine Befriedigung gibt, dann soll er sie meinetwegen genießen.« Carol weinte nicht. Sie versuchte zu packen. Es schien eine riesenhafte und schauerliche Aufgabe. Aber in dieser Nacht schlief sie – vor lauter Erschöpfung. Und da Ellen nicht den Mut fand, sie am Morgen zu wecken, verschlief sie sich sogar. Es war fast elf Uhr, als die Mädchen das Theater betraten – Ellen zitternd, Carol finster und entschlossen. Die Eleven standen alle auf der Bühne und redeten laut und aufgeregt durcheinander. Der Augenblick war nicht gerade günstig für eine Auseinandersetzung mit Mike, er befand sich im Mittelpunkt des Aufruhrs. Die Mädchen fragten, was geschehen sei. Keith Macdonald gab ihnen die erste zusammenhängende Auskunft. George Richards, der Besitzer und Direktor eines Sommertheaters, war schon seit Jahren ein Gönner von Miss Marlowes Ensemble. Und jedes Jahr bot er einem begabten Eleven – einem Burschen oder Mädchen – ein Engagement in seinem Theater an. »Nicht als Eleve. Nicht so was, wo man den ganzen Sommer nur 600 Dollar bekommt und dafür alle Arbeit machen muß. Nein, das ist eine anständig bezahlte Sache.« »Und wen wird er wählen?« fragte Carol. »Wird Miss Marlowe ihm jemand besonders empfehlen?« »Die Geschichte ist viel phantastischer«, sagte Keith. »Gestern hat Miss Marlowe Horodinsky, Buchanan und Carell, die drei RegieAnfänger, zu sich rufen lassen und hat ihnen gesagt, daß man ihnen kein Engagement anbietet, höchstens als Schauspieler. Aber sie sollten ein Stück inszenieren, in dem möglichst viele Eleven Gelegenheit hätten, zu zeigen, was sie können. Sie haben sich für ›Lieber Brutus‹ entschieden. Miss Marlowe wird ihnen bei der Rollenbesetzung helfen. Daher die ganze Aufregung.« »Das ist eine tolle Sache«, sagte Carol. »Aber es kommt mir doch auch ziemlich grausam und nervenaufreibend vor, wenn sich alle so um ein einziges Engagement bemühen müssen.«
»Na, so schlimm ist es auch wieder nicht«, erwiderte Keith. »Miss Marlowe selber will auch ein paar von uns engagieren, du verstehst, als Fortgeschrittene mit vierzig Dollar in der Woche. Wie Martin. Und ich glaube, das ist besser als jedes Engagement in einem Sommertheater.« »Das glaube ich auch«, sagte Carol traurig. Für sie kam das alles nicht mehr in Frage. Der Aufruhr begann sich zu legen. »Macdonald, du übernimmst den Dearth«, sagte Mike. »Und Page, ich möchte, daß du dir die Margaret anschaust. Die Leseprobe ist schon für übermorgen angesetzt. Ihr müßt euch also beeilen.« »Ich werde nicht mehr hier sein, um die Margaret zu lesen«, erwiderte Carol. Und dann ganz deutlich: »Wenn es Herrn Horodinsky möglich wäre, mir etwas von seiner kostbaren Zeit zu opfern, will ich ihm gern erklären, warum.« Mike warf ihr einen erstaunten Blick zu, folgte ihr aber in die Kulissen. »Was soll das heißen?« Carol starrte ihn an. »Du hast gute Arbeit geleistet im Künstlerzimmer neulich«, sagte sie. »Ich habe dich nie für ein Vorbild an Takt und Liebenswürdigkeit gehalten, aber das geht über meinen Horizont, daß jemand absichtlich so gemein und niederträchtig sein kann.« »Wenn du deine zobelbehangene Tante meinst, so war es höchste Zeit, daß ihr endlich einmal jemand die Wahrheit sagte. Das hat ihr bestimmt nur gut getan.« »Und alles andere ist dir völlig gleich«, erwiderte Carol. »Da, lies bitte diesen Brief, und dann wirst du vielleicht merken, was du angerichtet hast.« Mike las den Brief mit mürrischem Gesicht. »Und du gehst natürlich«, sagte er. »Wir tun immer alles, was unsere Mutter befiehlt? Wenn du keine solche Zierpuppe wärst, würdest du dir nicht von andern Leuten dein Leben vorschreiben lassen. Dann würdest du dich wehren.« »Ich wehre mich nicht gegen meine Mutter. Und ich bin keine Zierpuppe. Aber du wirst dir jemand anders suchen müssen, mit dem du dich zanken kannst, denn mich siehst du nicht mehr wieder.« »Das wird auch das Beste sein. Mit einer solchen Familie wird sowieso nie eine Schauspielerin aus dir. Wann kommt deine Mutter?«
»Heute nachmittag.« Carol drehte sich rasch um und rannte den Korridor hinunter und auf die Straße hinaus. Sie wußte nicht, wo sie hinging. Sie wußte nur, daß sie sich unbedingt zusammenreißen und einen letzten Versuch machen mußte, ihre Mutter umzustimmen. So lief sie durch die verschneiten Straßen, bis sie nicht mehr weiterkonnte. Dann nahm sie ein Taxi und fuhr zur Bahn, um ihre Mutter abzuholen. Mrs. Page traf pünktlich ein. Sie war nicht vorwurfsvoll, aber unerbittlich. »Nein, Kind«, sagte sie, als sie in Carols Zimmer saßen. »Wir wollen uns doch nicht mehr aufregen, als unbedingt nötig ist. Ich habe dem Zimmermädchen gesagt, daß es deinen Koffer herunterholen soll, und wenn du mir die Kleider aus dem Schrank gibst, packe ich sie dir sorgfältig ein, damit – hallo, Ellen, wie geht’s?« »Mrs. Page«, flehte Ellen, »Sie können doch Carol nicht einfach wegnehmen. Das können Sie nicht! Bitte, nicht.« »Sei doch so lieb und gib mir die Strümpfe herüber, Ellen«, sagte Mrs. Page. »Mein Mann und ich, wir haben uns diese Geschichte genau überlegt, und wir sind überzeugt, daß es so am besten ist. Carol, Schatz, es tut mir leid, daß du so verzweifelt bist. Gibt es hier in der Nähe nicht ein nettes Lokal, wo wir zusammen Tee trinken könnten? Ich glaube, wenn du ein bißchen etwas ißt …« »Ich will keinen Tee, Mutter«, sagte Carol. »Ach, Mummy, wenn du mir doch nur einmal zuhören würdest!« Sie wurde durch das Läuten des Telephons unterbrochen. »Himmel, auch das noch!« rief Carol außer sich. »Bitte, Ellen, nimm du’s ab. Schau, Mutter, ich …« »Was?« quietschte Ellen ins Telephon. »Ja, sie ist hier. Einen Augenblick, bitte.« Carol schluckte die Tränen hinunter. »Wer ist’s?« »Er ist unten. Er möchte dich sprechen.« »Wer ist unten?« fragte Mrs. Page. »Mike. Mike Horodinsky. Er will Carol besuchen.« »Sag ihm, er soll gefälligst verschwinden!« Carols Stimme zitterte. Mrs. Page hatte die Stirn gerunzelt. Jetzt sagte sie: »Ich glaube, wir sollten doch hinuntergehen, Carol. Ich möchte mir diesen jungen Mann einmal ansehen.« »Du wirst hingerissen sein«, versicherte Carol bitter.
Aber Mrs. Page führte die erstarrte Carol zum Lift und in den Empfangsraum hinunter. Als sie eintraten, erhob sich eine große Gestalt und kam auf sie zu. Es war Mike – tadellos gekleidet – in Ed Brownings dunkelblauem Anzug. »Ich habe dir ein paar Blumen gebracht, Carol«, sagte er feierlich. »Ich dachte, es ist das einzige, was ich unter diesen Umständen noch tun kann.« Die heisere Stimme war verschwunden. Mike sprach mit einem weichen Bariton und vollendeter Aussprache. Carol nahm den Blumenstrauß verwirrt entgegen. »Mutter, das ist Mr. Horodinsky«, sagte sie schwach. Mrs. Page machte keine langen Umschweife. Sie setzte sich in einen Sessel, schaute Mike an und sagte: »Ich habe von meiner Schwägerin von Ihnen gehört.« Mike lächelte. Er stand noch immer, und Carol auch. »Ich erinnere mich an Ihre Schwägerin«, sagte er. »Eine sehr originelle Frau. Ich fürchte, ich habe mich miserabel benommen.« »Das kann man wohl sagen«, meinte Carol, die langsam wieder zum Leben erwachte. Mike lächelte sehr gewinnend. »Ich war schrecklich aufgebracht«, sagte er. »In peinlichen Situationen benehme ich mich immer falsch. Ihre Schwägerin fragte mich ziemlich schroff, was ich im Künstlerzimmer zu suchen hätte, und es fiel mir gerade keine passende Antwort ein. Also wurde ich grob.« Er spielte jetzt eine Rolle, wie Carol entdeckte, und er spielte sie gut. Nicht die Spur von übertriebenem Charme. Es lag sogar eine gewisse Ehrlichkeit darin. »Meine Schwägerin hat mir gesagt«, antwortete Mrs. Page ohne zu lächeln – ihre Manieren waren ebenso untadelig wie die von Mike –, »daß Sie früher in der Konfektion tätig waren. Hat es Ihnen dort gefallen?« »Ja, in einem gewissen Sinn schon. Mindestens bin ich noch immer stolz darauf, ein guter Zuschneider zu sein. Mein Vater war auch schon Schneider, verstehen Sie. Er hat es nach seiner Einwanderung aus Polen zuerst mit der Landwirtschaft versucht, aber seine wahre Liebe war das Schneidern. Trotzdem –« Mike war jetzt ganz ernst – »das einzige, was mir wirklich wichtig ist, ist das Theater. Das kann jemand, der das nicht selber empfindet, kaum verstehen. Ihre Tochter und ich haben kaum je ein höfliches Wort
miteinander gesprochen, aber ich weiß, sie hat Talent, auch wenn ich ihr das bisher noch nie gesagt habe. Und ich habe großen Respekt vor ihr. Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir diese ganze Geschichte tut. In meinem Alter sollte man sich nicht so gehenlassen.« Es war eine erstaunliche Rede für Mike. Mrs. Page blickte ihn nachdenklich an. »Meine Schwägerin«, sagte sie, »hat eine unglückliche Art, sich auszudrücken.« »Genau wie ich, Mrs. Page. Und ich bin den ganzen Winter lang ganz besonders ungezogen zu Carol gewesen. Ich glaube zwar nicht, daß es sie gestört hat«, er lächelte wieder sein entwaffnendes Lächeln, »aber ich hatte bestimmt nicht die Absicht, ihre Theaterlaufbahn zu zerstören.« Er hielt inne, und dann, als Mrs. Page nichts darauf erwiderte und ihn nur nachdenklich ansah, begann er ihr zu erklären, weshalb die Eleven ›Lieber Brutus‹ aufführen wollten, und welche Hoffnungen sie daran knüpften. »Ich möchte, daß Carol die Margaret spielt, Mrs. Page«, sagte er. »Und deshalb bitte ich Sie um Verzeihung für mein ungehobeltes Benehmen und bitte Sie, ihre Tochter im Stuyvesant zu lassen. Wollen Sie uns den Gefallen tun?« Es entstand eine lange Pause. Mike sagte: »Carol und ich haben eine gemeinsame Freundin, Wanda Forrest, die am Freitag auftritt. Ich habe Billets für die Vorstellung und hatte gehofft, daß Sie vielleicht hierbleiben würden, um mit uns zu gehen – mit Carol, Ellen und mir.« Mrs. Page schaute ihn wieder an. »Hm, ja, Mr. Horodinsky, ich glaube, das wäre sehr nett. Und ich bin auch gespannt, das Stuyvesant Theater zu sehen. Vielleicht treffen wir uns morgen dort.« »Bestimmt«, sagte Mike und verabschiedete sich mit ausgesuchter Höflichkeit. Carol blieb erstarrt und sprachlos stehen und betrachtete verblüfft das zufriedene Gesicht ihrer Mutter. »Das ist ein sehr kluger junger Mann«, sagte Mrs. Page. »Aber diese Tante Salome macht wirklich aus jeder Mücke einen Elefanten. Und es war zu dumm von mir, daß ich wieder einmal darauf hereingefallen bin. Es war sehr taktvoll von ihm, sie ein Original zu nennen. Unmögliche Person wäre das Richtige.«
15
Mrs. Page war am Mittwoch gekommen, um Carol zu holen. Wandas Premiere fand am Freitag statt, und da Mrs. Page so lange in New York bleiben wollte, forderte man sie auf, der Leseprobe für ›Lieber Brutus‹ beizuwohnen. Voller Stolz zeigte Carol ihrer Mutter das alte Theater und stellte sie auch Miss Marlowe vor, die ihr die Gründe für die Elevengruppe auseinandersetzte. Sie sprach auch über den Wert eines großen Repertoires. »Seit sechs Jahren spiele ich schon die Hauptrolle in Tschechows ›Drei Schwestern‹, und erst im letzten Jahr ist mir wirklich aufgegangen, wie sie gespielt werden muß. Ein guter Schauspieler sollte eigentlich jede Rolle spielen können. Und je mehr Rollen er spielt, desto mehr lernt er dabei. Das ist sehr wichtig für das Publikum, denn dadurch hat es die Möglichkeit, immer perfektere Vorstellungen zu sehen. Wir bieten den Leuten auch eine große Auswahl von Stücken. Und sie können sich’s leisten, ins Theater zu gehen und gute Stücke zu erschwinglichen Preisen zu sehen. Mein bestes und verständnisvollstes Publikum besteht zum größten Teil aus Leuten, für die ein Dollar eine große Summe ist, und die Preise am Broadway sind unerschwinglich. Unser höchster Preis, das wissen Sie ja, ist drei Dollar. Die meisten Plätze in meinem Theater kosten nur einen.« »Aber dabei müssen Sie doch Geld verlieren?« »O ja, in jedem Jahr«, antwortete Miss Marlowe. »Ein Repertoiretheater müßte eigentlich subventioniert werden, und in jeder großen Stadt sollte es mindestens eines geben.« Mrs. Page war von Miss Marlowe bezaubert und bemerkte später zu Carol: »Das ist eine großartige Frau – mit Talent und Phantasie. Sie versucht wirklich, etwas Hervorragendes für das amerikanische Theater zu tun.« »Ist sie nicht wundervoll!« sagte Carol. An diesem Tag gab es keine Nachmittagsvorstellung, und die Leseprobe für ›Lieber Brutus‹ begann pünktlich um 13.30 auf der Bühne, wobei die Eleven in einem engen Kreis um Miss Marlowe herumstanden und saßen. Carol hatte ihrer Mutter einen bequemen Stuhl besorgt und ihn am Rande der Gruppe aufgestellt. Dann setzte sie sich zu den andern
auf den Boden. Ihre Augen glänzten aufgeregt, und ihre aus dem Gesicht zurückgestrichenen Haare waren zerzaust. Sie fühlte sich wie ein kleines Mädchen, dessen Mutter in die Schule gekommen ist, um ihm beim Aufsagen eines Gedichtes zuzuhören. Vielleicht sehen wir schrecklich gleichgültig aus, dachte sie, aber trotzdem meinen wir es ernst. Sie schaute zu der einzigen Lampe hinauf. In diesem Licht sah Miss Marlowe müde aus. Dann begann die Lesung. Die Eleven kannten natürlich alle das Stück, dessen Titel auf die Worte in Shakespeares ›Julius Caesar‹ anspielte: ›Lieber Brutus, es ist nicht unserer Sterne Schuld, daß wir so erliegen, nein, unsere eigene.‹ Carol hatte ihrer Mutter den Inhalt des Schauspiels kurz erzählt. Es handelte sich dabei um eine Anzahl Leute, die sich in ihrem Leben noch einmal eine Chance wünschten und sie plötzlich erhielten. »Aber die Sache ist die«, sagte Carol, »es spielt alles in einer Art unwirklicher Verzauberung.« Sie fuhr fort, das Stück zu erklären, dessen erster Akt in dem seltsamen Haus eines kleinen, alten Mannes namens Lob spielte. »Er ist ein altersloser Kobold – der Puck aus dem ›Sommernachtstraum‹ –, und er hat acht Gäste eingeladen, ein Weekend bei ihm zu verbringen, drei Ehepaare und zwei unverheiratete Frauen.« Der zweite Akt spielt in Lobs Blumengarten, der sich an jedem Sommerabend auf magische Weise in einen Wald verwandelt. Dies ist der Wald, in dem Lobs Gäste ihre zweite Chance finden. Für die meisten von ihnen erweist sie sich jedoch als peinliche oder enttäuschende Selbsterkenntnis. Nur für William Dearth, einen heruntergekommenen, stets betrunkenen, unglücklichen Künstler, bringt diese zweite Chance das große Glück. Er findet in dem Wald seine Traumtochter, Margaret, und durch sie wird aus seinem Leben alles, was es hätte sein können. Margaret ist ein lebhaftes, reizendes Kind von zwölf oder dreizehn Jahren, einerseits menschlich genug, um sich das Kleid mit Apfelbrei zu verschmieren und sich im Laub herumzurollen, andererseits aber so elfenhaft, daß sie eine seltsame Weisheit besitzt und am Ende des Aktes erkennt, daß es nur ein So-hätte-es-sein können ist. Der letzte Akt spielt wieder in Lobs Haus mit den verwirrten Gästen, die, einer nach dem andern, aus dem Wald zurückkehren, um
zur Wirklichkeit und Selbsterkenntnis zu erwachen. Carol, die sich an das Darstellen und Tanzen vor den Eleven gewöhnt hatte und an das Gehen und Mimen in Massenszenen vor einem New Yorker Publikum, hatte schon längst alle Befangenheit verloren. Die heutige Probe war jedoch etwas ganz anderes. Denn ein bezahltes Engagement in einem Sommertheater war schließlich eine wichtige Sache. Miss Marlowes Gegenwart gab der Sache noch mehr Gewicht, obgleich keiner dieser Gründe ausreichte, Carols plötzliche Nervosität zu erklären, als es nun zur Wahl der Margaret kam. Es ist, weil Mummy hier ist, fiel ihr auf einmal ein, und als nun sie an der Reihe war, und Charlie Buchanan ihr das Textbuch gab, mußte sie ständig an ihre Mutter denken, die so gelassen dort im Hintergrund saß. Zwei andere Mädchen hatten die Rolle der Margaret schon gelesen, und Carol wußte ohne Eitelkeit, daß sie es besser als die beiden machen konnte, wenn es ihr nur gelang, ihre Befangenheit abzuschütteln. Als Charlie ihr die Rolle reichte, hatte sie sich erhoben und stand nun in der Mitte der Bühne. Die Blätter zitterten ein wenig in ihrer Hand. Sie begann zu lesen, zuerst noch irritiert, und dann, als die Zeilen ihren eigenen Rhythmus fanden, klar und mit wachsender innerer Anteilnahme. Nach kurzer Zeit hatte sie alles um sich herum vergessen. Sie war Margaret, die Traumtochter. Als sie fertig war, kehrte Carol auf ihren Platz zurück. Sie blickte scheu nach ihrer Mutter und stellte zu ihrem Erstaunen fest, daß auf Mrs. Pages Zügen ein Ausdruck von Stolz und Überraschung lag. Schließlich war die Lesung beendet. Als Letzte war noch Ellen in der Rolle der Lady Caroline an die Reihe gekommen, einer Dame, die vor lauter Vornehmheit entsetzlich geziert spricht. Dann zog Miss Marlowe sich mit den drei Regie-Assistenten zu einer Besprechung zurück, und Carol stand vom Boden auf und setzte sich zu ihrer Mutter. »Das hast du fein gemacht, Carol. Du hast wirklich eine Menge hier gelernt.« Jetzt tauchte Ellen neben ihnen auf. »Ist es nicht herrlich, Mrs. Page? Wir haben alle den Winter über wie die Wahnsinnigen geschuftet, und das hat sich heute gezeigt. Ich glaube, wir haben’s alle sehr gut gemacht, meinst du nicht auch? Aber wir haben natürlich in der letzten Zeit viel Pantomime in der Tanzstunde gelernt, und das gibt einem das Gefühl dafür, wie man
die Dinge anpacken soll. Ich glaube …« Mrs. Page lächelte in Ellens eifriges Gesicht. »Du warst ausgezeichnet, Ellen. Und du hast ein ausgesprochenes Talent für Komik entwickelt.« Carol merkte überrascht, daß das tatsächlich stimmte. Ellen, deren größte Sehnsucht war, eine Julia oder Lady Macbeth zu spielen, wurde langsam aber sicher eine Komikerin. Wenn sie Komödie spielt, dachte Carol, scheint sie sich an alles zu erinnern, was sie gelernt hat und denkt auch daran. Nur wenn sie sich als Heldin versucht, wird’s fürchterlich. Carol wandte sich an Ellen. »Ich bin überzeugt, daß du eine große Karriere vor dir hast.« »Glaubst du wirklich?« sagte Ellen verblüfft und errötete vor Glück. Eine Dreiviertelstunde mußten die nervösen Eleven auf den Entscheid der Lesung warten. Carol und Ellen, die sich mit Mrs. Page unterhielten, gaben sich alle Mühe, ruhig zu bleiben, doch bei jedem noch so entfernten Schritt oder beim Geräusch einer zufallenden Tür zuckten sie zusammen. Mrs. Pages Gelassenheit blieb unverändert, doch als Carol sie genauer beobachtete, merkte sie, daß ihre Mutter ebenfalls nervös war. Sie möchte wirklich, daß ich die Margaret spiele, dachte sie. Sie spürt, wie wichtig es für mich ist. Wenn ich die Rolle bekomme, wäre es herrlich, wenn sie mich darin sehen könnte. Schließlich kam Mike – groß und knochig, mit abstehenden Ohren, ein Papier in der Hand. Er ging zur Mitte der Bühne. Nun erschien auch Miss Marlowe und blieb mit Charlie Buchanan und Jack Carell zusammen in den Kulissen stehen. Plötzlich trat Schweigen ein. Sämtliche Eleven blickten Mike an. Der räusperte sich und sagte zu Henry Ashe: »Du spielst den Lob.« Henry strahlte. »Die Mrs. Purdy bekommt Luise Griffin«, fuhr Mike fort und las dann weiter: »John Wilding – Mr. Purdy.« Die Namen erklangen langsam und deutlich. Niemand war überrascht, daß Keith Macdonald den Will Dearth, und der große Arthur Todd den Butler Matey spielen sollte. Nan Walton, das blonde Mädchen, das sich vor so langer Zeit die Julia gewünscht und dann Wandas Rolle in der ›Scheidungsurkunde‹ übernommen hatte, sollte die Alice Dearth darstellen, Wills schöne,
launische, temperamentvolle Frau. »Lady Caroline – Ellen Gregg.« Carol hörte Ellens Keuchen und griff gratulierend nach ihrer Hand. »Margaret – Carol Page.« Ellens Hand erwiderte den Druck. »Mr. und Mrs. Coade – Ed Lessen und Elizabeth Monk –.« Und weiter ertönte ein Name nach dem andern. Carol, die jetzt ihre Mutter anblickte, erhielt als Antwort ein ruhiges, zufriedenes Nicken. Schließlich war die Liste zu Ende, doch als Carol und Ellen das Haus verließen, um mit Mrs. Page zum Mittagessen zu gehen, klang es jetzt nach einem erregten Wortwechsel von der Bühne – einem Wortwechsel zwischen Mike und Ed Browning. »Aber das ist doch völlig falsch!« ereiferte sich Ed Browning. »Man muß es so machen, daß …« Mikes bissige Antwort schnitt ihm das Wort ab. Die Mädchen konnten den Sinn nicht verstehen, doch der Ton war unmißverständlich. Die beiden schauten einander bestürzt an. Da ging also das gleiche alte Gezanke wieder los. Aber warum mit Ed? »Ich möchte wissen, wo’s da wieder brennt?« sagte Carol. »Ach du lieber Himmel, ich weiß es nicht.« Ellens Stimme klang laut und viel zu deutlich. »Ich hatte gehofft, diesmal würde er nicht so gräßlich …« Ein Rippenstoß brachte Ellen zum Schweigen. Carol machte sofort den Vorschlag, zum Essen in die Stadt zu fahren. Am Nachmittag nahmen sie Mrs. Page zu einer Probe des Ensembles mit und am Abend in eine Vorstellung, um ihr Miss Marlowe als Kameliendame zu zeigen. »Morgen abend um die gleiche Zeit«, sagte Carol auf dem Heimweg, »ist Wandas Premiere schon vorbei. Was wird sie machen, wenn das Stück ein Durchfall ist?« »Sag doch so was nicht«, jammerte Ellen. »Es bedeutet Unglück, so etwas zu sagen.« »Aber Ellen«, staunte Mrs. Page, »ich habe ja gar nicht gewußt, daß du abergläubisch bist.« »Ach, ich bin’s ja auch gar nicht – wirklich nicht die Spur. Ausgenommen, wenn sich’s ums Theater handelt.« 16 Am nächsten Nachmittag kreuzte Wanda für ein paar Minuten im
Stuyvesant auf. Sie sah gut aus und schien glücklich zu sein; über das Stück wußte sie nicht viel zu sagen. »Ich bin so mitten drin, und ich habe es so oft gesehen, daß ich schon gar nicht mehr weiß, um was es sich eigentlich handelt. Eine Zeitlang haben sie gedacht, ich könnte eine bestimmte Rolle als zweite Besetzung studieren, aber ich habe es nicht zustande gebracht. Und da hat Mr. Henderson gesagt, ich soll auf meinen Baum zurückgehen und mir weiter keine Sorgen machen. Ich weiß nicht, ob das Stück gut ist oder nicht, aber als ich es zum ersten Mal hörte, kam mir ein Teil des Textes recht lustig vor.« Sie verschwand ebenso schnell wie sie gekommen war. »Sie ist so komisch«, sagte Ellen. »Ich meine, sie benimmt sich so anders als früher.« »Das viele Essen scheint ihr das Gehirn zu vernebeln. Das arme Ding. Du, es kommt mir wirklich merkwürdig vor, mit Mike Horodinsky ins Theater zu gehen. Hat er gesagt, wann er uns abholen will? Oder was wir anziehen sollen? Oder wie wir hinkommen werden?« Ellen kicherte. »Du lieber Himmel, nein. So viel Wohlerzogenheit kannst du nicht von ihm erwarten. Am besten ziehen wir uns sehr früh an. Ich bin überzeugt, daß wir mit der Untergrundbahn fahren.« »Meine Mutter kann die Untergrund nicht ausstehen«, sagte Carol. »Sie behauptet Platzangst zu bekommen. Aber ich sehe wirklich nicht, wie Mike das Geld für ein Taxi aufbringen will.« Dennoch holte Mike sie mit einem Taxi ab, und die Mädchen fragten sich schuldbewußt, ob er wohl für ein paar Tage das Mittagessen gestrichen habe, um Mrs. Page stilgerecht ins Theater zu begleiten. Sie hatten Plätze in der ersten Reihe des Balkons. Ellen, die sich gefährlich weit über die Brüstung beugte, entdeckte eine berühmte Schauspielerin in Nerzcape und Goldlamékleid und einen befrackten Filmschauspieler, und in einem eher schäbigen Individuum in einem abgetragenen Tweedanzug wollte sie einen weltberühmten Bühnenautor erkennen. »Und ich glaube, die Dame mit dem schwarzen Spitzenkleid habe ich auch schon einmal irgendwo gesehen, aber ganz sicher bin ich nicht. Du lieber Himmel, bin ich aufgeregt! Hoffentlich wird es ein Erfolg! Es muß einer werden.« Carol hatte ihrer Mutter Wandas Geschichte erzählt, und Mrs.
Page hoffte mit ihnen, daß das Stück ein Erfolg werden würde. »Wenn es nämlich einer wird«, erklärte Carol eifrig, »bedeutet das, daß Wanda eine lange Zeit beim Theater bleiben kann, ob es ihrer Familie paßt oder nicht. Ich weiß nicht, warum sie so versessen darauf ist, obschon sie nicht einen Funken Talent hat.« Endlich ging der Vorhang hoch, und nach ein paar Minuten schien festzustehen, daß ein Teil des Textes wirklich lustig war. Wenigstens lachte das Publikum laut und herzlich. »Aber das ist bei Premieren immer so«, sagte Mike skeptisch zu Mrs. Page. »Wissen Sie, bei Premieren sitzen immer eine Menge Freunde der Schauspieler im Zuschauerraum. Da läßt sich noch nichts Bestimmtes sagen.« »Meiner Meinung nach ist es aber wirklich gut«, erwiderte Mrs. Page. Der Höhepunkt des Stückes war jedoch – für Carol und Ellen wenigstens – der Moment, als sich der Vorhang für den zweiten Akt hob, und sie Wanda sahen. Wie eine Dryade saß sie in den Baum geschmiegt, hinreißend schön in ihrer grünen Bluse und den grünen Shorts. »Du meine Güte«, murmelte Carol. »So etwas gibt es kein zweites Mal, wenigstens was das Äußere betrifft.« »Tatsächlich nicht«, sagte die ebenso begeisterte Ellen und ließ den Blick nur flüchtig über die andern hübschen Mädchen auf der Bühne schweifen. Als das Stück zu Ende war, gingen sie hinter die Bühne, wo es ganz anders als in dem alten Stuyvesant aussah. Hier war Platz – alles luftig und gut beleuchtet. Hier gab es breite Treppen aus Beton und Chrom, die zu den verschiedenen Garderobenstockwerken führten. Es gelang ihnen, einen Blick in eine dieser Garderoben zu werfen. Sie war groß und hoch, in freundlichen Farben, mit hellen Vorhängen und Bildern an den Wänden, dazu bequeme Polstermöbel. Es war ein erstaunlicher Kontrast zu ihrem eigenen alten Theater an der 23. Straße, zu ihrem geliebten, dunklen, muffigen alten Theater mit seinen winzigen Garderoben und seinen wackligen Holztreppen. Mike, der in eine hypermoderne Garderobe spähte, knurrte nur verächtlich. Er sagte kein Wort, doch die Mädchen verstanden genau, was er damit ausdrücken wollte, und es stimmte mit ihren eigenen Gefühlen überein. Mrs. Page scheute sich vor der Treppe, worauf Mike allein
hinauflief und bald mit Wanda zurückkehrte. »Du warst großartig!« rief Ellen ihr schon von weitem zu. »Ehrenwort, du hast alle anderen ausgestochen.« »Ja, wirklich, das hast du getan«, bestätigte Carol. »Mutter, das ist unsere Freundin, Wanda Forrest.« »Sie haben bezaubernd ausgesehen«, sagte Mrs. Page und schüttelte Wanda die Hand. Sie standen in der großen Halle am Fuß der Treppe – eine weite, hohe Halle mit geschlossenen Türen. Wanda, die schüchtern errötete, hatte gerade zu Mrs. Page gesagt: »Aber ich tu ja gar nichts«, als hinter ihnen eine Tür geöffnet wurde. »Du hast sehr hübsch dort oben gesessen«, sagte eine Männerstimme. Wanda fuhr herum. »Oh«, sagte sie und dann »das ist Mr. Henderson.« Mr. Hendersons schmales Gesicht mit der Hornbrille war nicht hübsch. Aber es ist gescheit und gütig, dachte Carol. Auch war er jünger als sie ihn sich vorgestellt hatte. Er konnte kaum älter als dreißig sein, und sein Benehmen war verblüffend. Sie hatte immer geglaubt, daß Produzenten von BroadwayAufführungen dynamische, diktatorische Wesen seien, ständig in Eile und viel zu erhaben, um mit den unbedeutenderen Mitgliedern der Truppe zu sprechen, geschweige denn mit Fremden. Mr. Henderson war jedoch freundlich. Er hatte schon von Mike gehört und sagte, er hätte die Revue der Färbergewerkschaft sehr geschätzt. »Es will schon etwas heißen, wenn eine Amateurgruppe einen solchen Erfolg hat«, sagte er. »Es hat uns allen Eindruck gemacht.« »Ich glaube, Ihr Stück heute abend ist auch ein Erfolg«, meinte Mike. Mr. Henderson zuckte die Achseln. »Das werden wir erst wirklich wissen, wenn die Morgenblätter erschienen sind. Und inzwischen müssen wir irgendwie weiterleben.« Plötzlich fügte er hinzu: »Man gibt eine große Party jetzt, aber wahrscheinlich wäre ich nur ein Störenfried dabei. Wanda, könnte ich nicht dich und deine Freunde in ein nettes, ruhiges Lokal einladen, wo wir uns ungestört unseren Sorgen hingeben können?« Wanda blickte zweifelnd Mrs. Page an, die Mr. Henderson anscheinend recht sympathisch fand. »Wenn Mr. Henderson auch ganz sicher ist, daß er uns dabei haben will«, sagte sie zu Carols Erstaunen, »fände ich die Idee ganz reizend.« Sie saßen in dem stillen Lokal und machten sich drei Stunden lang Sorgen. Trotz aller Versuche, Mr. Henderson abzulenken, drehten sich seine Gedanken nur um das Stück. »Als ich es zuerst
las, kam es mir frisch und lustig vor – genau das, was man am Broadway braucht. Aber in den letzten zwei Wochen habe ich mich ständig gefragt, wieso ich mein gutes Geld in ein solches Geschwafel stecken konnte.« Mrs. Page protestierte und sagte, sie hätte sich bei dem Stück wirklich gut amüsiert. Aber Mr. Hendersons einzige Antwort bestand darin, Hummersalat zu bestellen und ihn in tiefster Melancholie zu verzehren. Carol war müde und wurde zusehends nervöser. Das ging sogar so weit, daß sie nicht einmal mehr Lust hatte, Mike zu widersprechen. Wanda war erschreckend bleich und sagte überhaupt kein Wort, und selbst Ellen wurde immer einsilbiger. Mike und Mrs. Page waren die einzigen, die noch eine normale Unterhaltung führten. Mr. Henderson hatte den Kellner gebeten, ihm sämtliche Morgenzeitungen zu bringen, sobald sie erschienen seien, aber schon um zwei Uhr drängte er den Mann, doch jetzt schon hinauszugehen und sein Glück zu probieren. Als der Kellner zurückkam, trug er die Morgenblätter unter dem Arm. »Schau du nach«, sagte Mr. Henderson verzweifelt zu Wanda. Und dann: »Nein, gib mir die ›Times‹.« Ellen blätterte bereits im ›Herald Tribune‹. »Mr. Henderson«, rief sie, »hören Sie nur!« Sie las den ersten Absatz vor, in dem die Wörter ›heiter, gescheit‹ und ›witzig‹ vorkamen, zusammen mit dem Satz ›eine willkommene Bereicherung einer flauen Saison‹. »Mein Gott!« sagte Mr. Henderson. »Ja, es hat ihnen gefallen. Hier auch – ›heiter‹ – ausgezeichnete Aufführung‹ – ›wirklich amüsant‹ – ›von hervorragendem Geschmack‹ – ›eine Seltenheit heutzutage‹. Wanda, Wanda, es ist ein Erfolg!« Zu aller Erstaunen riß er Wanda an sich und küßte sie. Wanda keuchte – ebenso Mrs. Page. Aber wenn Mrs. Page dieses Benehmen womöglich für den Beweis der Verderbtheit und der lockeren Sitten in der Theaterwelt hielt, so sah sie sich sehr rasch enttäuscht. Mr. Henderson sagte strahlend: »Sie hat mir versprochen, sie würde auf jeden Fall … Sie hat gesagt, es ist ihr ganz gleich, wie das Stück ausfällt … Ich meine … wir sind nämlich verlobt.« »Was?« rief Carol. Mike grinste. »Oh, Wanda«, plapperte Ellen, »jetzt wirst du immer beim Theater bleiben – ich meine –« Sie stockte.
Mrs. Page legte den Arm um Wandas Schultern.
»Ich freue mich sehr«, sagte sie.
Mr. Henderson wischte sich zerstreut die Stirn mit der Serviette.
»Ich will Ihnen etwas sagen«, stieß er schließlich hervor, »ich
habe mir gedacht, eine so miserable Schauspielerin muß eine blendende Hausfrau sein.«
17
»Es sind zwei Welten«, bemerkte Mrs. Page beim Frühstück am folgenden Morgen. »Ich hatte mir nicht vorgestellt …« »Was sind zwei Welten, Mummy?« »Euer Theater und der Broadway.« Mrs. Page lehnte sich behaglich in ihre Kissen zurück und lächelte Carol zu, die im Bademantel neben ihrem Bett saß. »Der Sprung vom einen zum andern ist höchst interessant, wenn auch anstrengend. Die meisten von uns haben sich daran gewöhnt, das Theater als rein kommerzielle Angelegenheit zu betrachten, so daß wir vergessen, daß es auch eine große Kunst ist.« »Ja aber, Mummy«, sagte Carol erstaunt. Mrs. Page lachte. »Als junges Mädchen hatte ich selber großes Interesse dafür. Ich weiß, daß Theater die Menschen über sich selbst hinausheben und sie denken lehren kann. Und das setzt sich Miss Marlowe zum Ziel. Und das ist großartig.« »Da hast du ganz recht. Unser Theater ist klein und schäbig, und es rentiert sich nicht, aber es ist wunderbar glücklich und lebendig. Und Miss Marlowe hat so herrliche Stücke im Programm.« »Jawohl. Und ich hoffe, wenn du jemals ein Engagement am Broadway bekommst, wirst du nie vergessen, was du im Stuyvesant gelernt hast.« »Bestimmt nicht!« Carol dachte, ihre Mutter sähe müde aus. Aber schließlich war Mrs. Page bis zum Tagesanbruch auf gewesen. Als Mrs. Page am Sonntag nach Hause fuhr, ließ sie eine nachdenkliche und etwas wehmütige Carol zurück. Doch am Montag begann für die beiden Mädchen wieder das gewohnte Leben mit den Tanzstunden, Ensembleproben, Elevenproben und Nachmittags- und Abendvorstellungen. Sie hatten erwartet, sofort mit den Proben zu ›Lieber Brutus‹ anzufangen, und Carol und Ellen hatten bis in die Nacht hinein eifrig ihre Rollen studiert. Nun schien es, daß sie sich gar nicht so hätten hetzen müssen, denn die Produktion Von ›Lieber Brutus‹ nahm riesige Ausmaße an. Es begann alles mit der Frage der Bühnenbilder – eine Frage, die für Miss Marlowes Begriffe gar nicht gestellt werden sollte. Carol hatte angenommen, daß das Stück wie üblich ohne Bühnenbilder oder Ausstattung gespielt werden würde. Und das wäre auch der Fall
gewesen, hätte sich Ed Browning nicht so hartnäckig gewehrt. Er hatte zuerst vorgeschlagen und dann darauf bestanden, daß es Bühnenbilder geben solle. Bestärkt durch Miss Marlowes wohlbekannte Ansichten und unterstützt von den beiden andern Regie-Eleven, war Mike zuerst dagegen. Seiner Meinung nach würden die Schauspieler viel zu abhängig von den Bühnenbildern werden, anstatt aus sich selbst heraus die Sommernachtstraum-Atmosphäre zu schaffen. Ed war taub für alles. Er wollte die Bühnenbilder für ›Lieber Brutus‹ machen, und er würde es auch tun. Ein Teil der Eleven unterstützte ihn, und schließlich konnte er auch noch Buchanan und Carell überzeugen. Mike machte eine letzte Anstrengung. »Hör zu, Ed, ich bin nicht der Alleinherrscher hier, und wenn alle andern Bühnenbilder wollen, dann gebe ich nach. Aber Bühnenbilder kosten Geld. Richards will Schauspieler sehen und keine Kulissen. Warum sollen wir uns ruinieren, um ihm welche zu zeigen?« Ed war geschlagen – aber nicht für lange. Bis zum nächsten Tag hatte sein Gehirn die Idee produziert. »Hört mal, Kinder«, sagte er im Künstlerzimmer, »warum sollen wir eigentlich dieses Stück nur für Richards spielen? Weshalb können wir keine Eintrittskarten dafür verkaufen? Das bringt uns alle Unkosten wieder herein.« Die Eleven und die Darsteller von ›Lieber Brutus‹ waren begeistert. Warum nicht, wenn Miss Marlowe es erlaubte? Andere Eleven gaben auch richtige Vorstellungen für ein richtiges Publikum. »Gut«, sagte Mike und gab nach. »Aber du sprichst mit Miss Marlowe darüber!« Als man Miss Marlowe fragte, war sie erstaunt und belustigt. Sie war aber auch erfreut über den Eifer ihrer Schüler, und nach kurzem Nachdenken gab sie ihre Einwilligung. An einem bestimmten Freitagnachmittag sollte ihnen das Theater zur Verfügung stehen, und für die besten Plätze durften sie einen Dollar verlangen und für den Rest 50 Cents. Miss Ellison, die die Reklame des Stuyvesant besorgte, war begeistert und schlug vor, eine Notiz an die Zeitungen zu schicken. Sie meinte sogar, daß das Theater ihnen eine Anleihe gewähren solle, um den Druck von Plakaten und Billets zu finanzieren. Das Geld könnten sie dann später aus ihren Einnahmen zurückzahlen. Ellen zog sofort los, um sich näher zu orientieren. Ungefähr alle halbe Stunde erschien sie bei Carol mit einem neuen Bericht.
»Es wird einfach toll, eine ganz große Sache! Miss Ellison ist überzeugt, daß sie die Zeitungen veranlassen kann, im redaktionellen Teil einen Hinweis zu bringen, mit Bezug auf Mike. Und die meisten Leute, die ins Stuyvesant gehen, wissen von der Elevengruppe. Und Mike sagt, er wird es in seiner Gewerkschaft bekanntmachen, und er glaubt, daß sie uns eine Menge Karten abnehmen. Es ist die allertollste Sache, von der ich je gehört habe.« Carol war nicht ganz so begeistert. »Es ist schon toll«, sagte sie. »Aber irgendwie ist es doch auch ein Alpdruck. Ich meine, wir müssen ihnen für ihr Geld doch auch etwas bieten.« »Wir haben ja für ›Miss Hipkins’ Entscheidung‹ auch Billets verkauft. Und das war doch kein Vergleich mit dem hier.« »Es ist ein großer Unterschied«, erklärte Carol, »ob man von Freunden und Verwandten Geld verlangt, oder ob man es Fremden aus der Tasche zieht. Der Gedanke macht mich nervös.« Er machte alle nervös, nicht nur die Darsteller, sondern auch Mike, der die Regie führte. Sogar Ed bekam es mit der Angst, er könne seiner Aufgabe nicht gewachsen sein, und er begann die allerkunstvollste Ausstattung zu planen. Mikes Kämpfe mit ihm waren hochdramatisch. »Da kann man ja nur heulen«, brüllte er. »Das hat man doch alles schon hundertmal gesehen – und tausendmal besser als wir’s machen können. Mach es anders! Bring etwas Besonderes hinein. Es soll doch ein Zauberwald sein. Mußt du unbedingt ein Holzhändlerideal draus machen?« »Hier heißt es«, erwiderte Ed eigensinnig und wies auf seine zerlesene Bühnenanweisung, »›ein endloser Wald von hohen Bäumen‹. Und der ganze zweite Akt steht und fällt damit. Und ich möchte wissen, wie du einen endlosen Wald von hohen Bäumen machen willst, ohne daß du Bäume auf den Hintergrund und die Hängestücke malst.« »Du könntest vielleicht ein paar Setzlinge pflanzen.« Während des ersten Zusammenstoßes nahm Carol für Ed Partei. Teilweise weil sie, trotz Mikes unerwarteter Höflichkeit gegen ihre Mutter, ihn immer noch derartig unsympathisch fand, daß sie sich ganz automatisch auf die Gegenseite stellte. Aber auch, weil es ihr schien, Ed hätte recht. Er hatte eine Anzahl Eleven aufgetrieben, die ein wenig vom Malen verstanden, und sie hatten einige recht realistische Bühnenbilder zustande gebracht. Nicht nur den Wald, sondern auch das Wohnzimmer mit dem Fenster auf den Garten war peinlich
genau der Wirklichkeit nachgebildet. Carol war der Meinung, daß diese fleißig und sorgfältig gearbeiteten Bühnenbilder für eine Aufführung, die schließlich nur eine Elevenvorstellung war, gerade richtig waren. »Wir sind doch nur Schüler«, sagte sie sehr nachdrücklich zu Mike, als dieser wieder einmal einen seiner berühmten Wutausbrüche hatte. »Wir brauchen etwas Handfestes im Hintergrund.« »Darum geht es ja gerade«, tobte Mike. »Es ist viel zu handfest. Es erdrückt dich. Das Bühnenbild, das dieses Stück braucht, muß etwas ganz Einfaches und sehr Originelles sein, nicht ein Haufen Pappdeckelstämme. Für meine Begriffe sollte die Szenerie gar nichts anderes tun, als das Licht zu reflektieren.« Carol verstand nicht recht, was Mike meinte, bis das Bühnenbild fertig war und sie daran gingen, es auszuprobieren. Das Bühnenbild war perfekter als die Darsteller, die das Gefühl hatten, daß es der beste Teil der Aufführung sei und daß sie nie dagegen aufkommen könnten. Genau wie Mike es vorausgesagt hatte, begannen sie sich zu fragen, ob es überhaupt nötig sei, die Stimmung eines Zauberwaldes zu gestalten, da er ja schon so deutlich sichtbar war. Mike brüllte und beschwor, und die Truppe gab sich alle Mühe, aber Carol mußte doch zugeben, daß nicht eine einzige Leistung über das Niveau einer gewissenhaften Leseprobe hinausging. Mikes ständige Beschwörungen nutzten nichts. »Himmel«, tobte er, »steht doch nicht wie eine Herde glotzäugiger Mondkälber herum. Legt doch einen Sinn in eure Worte. Seht ihr denn nicht, wie wichtig das ist? Wie oft soll ich euch das noch in eure Holzköpfe hämmern? Ihr verkauft diese Vorstellung. Die Leute zahlen ihr gutes Geld dafür.« Das war nach Carols Meinung das Schlimmste an der ganzen Angelegenheit, denn die Billets fanden reißenden Absatz. »Wir sind nicht gut genug«, sagte sie zu Keith. »Wir machen uns einfach den guten Ruf des Stuyvesant zunutze, damit die Leute kommen, und dann spielen wir ihnen ein Kindergartentheater vor. Und alle miteinander sind wir derart verkrampft und verquält, nur weil wir ständig an dieses Engagement denken. Ach, hätte ich mich nur nie darauf eingelassen.« »Mir kommt es auch so schwerfällig und harzig vor«, stimmte Keith ihr bei. »Aber wegen der Billets brauchst du dir nicht solche
Sorgen zu machen. Ich glaube, daß die meisten an die ›Freunde des Stuyvesant-Theaters‹ gehen. Und Mike hat sich gewaltig bei seiner Gewerkschaft eingesetzt. Aber ganz egal, ich weiß, was du meinst. Wir sind nicht gut genug. Es wäre besser gewesen, alles ohne die Öffentlichkeit abzumachen.« Das Bühnenbild bereitete noch ein weiteres Problem – seine Aufbewahrung nämlich. Es war schnell zu groß für seinen Entstehungsraum geworden, und Miss Marlowe hatte es schließlich in einen Backsteinschuppen hinter dem Theater verbannt, einen Schuppen so alt wie Methusalem und voller Spinnweben. Ed und seine Helfer liefen mindestens sechsmal im Tag hinüber, um sich zu überzeugen, daß der ›endlose Wald von hohen Bäumen‹ nicht der Feuchtigkeit und dem Schimmel zum Opfer fiel.
18
Nach dem ersten Versuch mit Eds Wald, wurde wieder ohne Ausstattung geprobt, abgesehen von einem Stuhl und einem Tisch für die Wohnzimmereinrichtung. Um das Bühnenbild herüberzuschaffen, brauchte es viel Kraft, und es sollte daher erst wieder bei der Kostümprobe verwendet werden. Ohne Bühnenbilder schienen die Darsteller auch besser zu arbeiten, und Mike hoffte, sie würden sich inzwischen so in die Stimmung und die Charaktere einleben, daß sie sich von nichts mehr beeinflussen ließen. Er hoffte – doch schien sich diese Hoffnung immer weniger zu erfüllen. Arthur Todd, der Matey, den Butler, spielte, und Ellen als Lady Caroline hatten am wenigsten Mühe. Ihre Rollen erforderten fast keine Gefühle, und ihre natürliche Spielfreudigkeit machte sie ziemlich unempfindlich gegen die allgemeine Nervosität. Es waren Carol, Keith Macdonald und Nan Walton, die die größten Schwierigkeiten hatten. Nan war neunzehn Jahre alt, und Alice Dearth sollte eine Frau Mitte dreißig sein, eine verstörte, heftige, verbitterte Frau. Will Dearth war ebenso schwer zu spielen, denn durch seine alkoholische Abgestumpftheit und weinerliche Reue mußten immer wieder leise Andeutungen aufblitzen von dem Mann, der er hätte sein können. Keith war noch sehr jung. Und mit Carol verhielt es sich so: Obwohl sie von dem heiteren, elfenhaften Wildfang fasziniert war, wollte es ihr doch nicht gelingen, das Mädchen glaubhaft zu machen. Selbst nicht am Ende der Szene, wo Margaret beginnt, die Lage zu verstehen und in der einfallenden Dunkelheit verzweifelt nach ihrem Vater ruft. Carol konnte in Keiths Bemühungen um Dearth eine Wiederholung ihrer eigenen Bemühungen um Margaret erkennen. Und Nan, die zwar im zweiten und dritten Akt nicht schlecht war, versagte im ersten völlig. Natürlich gab es auch gute Stellen. Aber dann versandete plötzlich alles wieder. »Um Himmels willen«, pfiff Mike sie vom Zuschauerraum her an, »könnt ihr denn die Stimmung nicht eine Minute lang halten? Page, du sollst eine Traumtochter spielen und nicht eine Schlafwandlerin.« Er wandte sich an Nan. »Und du, Walton, du hast in dieser Szene zänkisch und verbittert zu sein, und du stehst da wie
eine Schaufensterpuppe.« Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, holte tief Luft und sagte dann etwas ruhiger zu Keith: »Hör, Dearth, du bist im zweiten Akt ein neuer Mensch. Du bist erfolgreich. Du bist glücklich. Du bist selig über das Kind. Aber du bist ein Mann und keine barmherzige Schwester. Krümm dich nicht so über Margaret und wimmere nicht, als ob sie Lungenentzündung hätte.« »Gut«, sagte Keith müde. »Machen wir’s nochmal.« Die Proben, die erst in der letzten Februarwoche begonnen hatten, zogen sich durch den ganzen März, und plötzlich war es April. Es blieben ihnen nur noch wenige Tage. »Es ist so merkwürdig«, sagte Carol zu Ellen, »da fliegt die Zeit vorbei, und es wird Frühling, und wir merken es nicht einmal.« »Du sagst wirklich die komischsten Dinge. Die Zeit geht doch nicht einfach so vorbei. Ich meine, März bleibt immer März, und ich habe es jedenfalls bemerkt. Und jetzt haben wir April, und du wirst mir doch nicht einreden wollen, daß du’s nicht ebenfalls merkst. Der Park ist voller Blumen, und wir tragen keine Wollpullover mehr, und die Leute fahren wieder oben auf den Omnibussen, und in zwei Tagen findet die Aufführung von ›Lieber Brutus‹ statt.« »Ja, und das ist schrecklich. Miss Marlowe meint, wir hätten viel zu viel Zeit für die Proben verschwendet. Und in zwei Wochen schließt das Theater für diese Saison. Alles ist gräßlich.« »Aber keine Spur. Du bist ein alter Pessimist, Carol, wirklich. Beeil dich. Es ist Zeit, daß wir gehen.« Miss Marlowes Ensemble gab eine Nachmittagsvorstellung des ›Kirschgarten‹, und die Mädchen traten, mit ungefähr zwanzig anderen Eleven zusammen in russischer Bauerntracht in der Einladungsszene auf. Später, zwischen fünf und acht, wollten die Darsteller von ›Lieber Brutus‹ noch einige der schlimmsten Stellen ausglätten. Wenn nur etwas geschehen würde, dachte Carol, was ein bißchen Leben in die Sache bringt. Und es geschah. Es geschah während der Nachmittagsvorstellung, obgleich es erst entdeckt wurde, als die Eleven schon für ihre eigene Probe auf der Bühne standen. Mike, der sich hinter dem Orchestergraben im Mittelgang befand, hatte gerade gesagt: »Also, Walton, wir fangen mit deiner Szene mit Dearth im ersten Akt an.« Er wurde von lautem Lärm hinter den
Kulissen unterbrochen. Stolpernde Schritte, von aufgeregten Rufen begleitet, tönten die Garderobentreppe herauf. Ed und seine Malergenossen stürmten auf die Bühne. »Was soll das heißen?« brüllte Mike sie an. »Es ist erledigt«, sagte Ed heiser und stand keuchend, mit grünlich-weißem Gesicht im Rampenlicht. Laut auf ihn einredend, scharten sich die Eleven um ihn. Mike kletterte auf die Bühne hinauf, drängte sich durch die kleine Gruppe und baute sich vor Ed auf. »Was ist erledigt?« »Mein Bühnenbild! Mein schönes Bühnenbild!« »Aber was ist denn passiert?« »Es ist der Schuppen«, erklärte einer von Eds Freunden. »Wir sind hinübergegangen, um nachzusehen, ob auch alles in Ordnung ist. Und das Dach ist eingefallen – und die Wand auch. Ich glaube, die Sprengungen sind daran schuld. Es sind die Backsteine. Sie haben Löcher in die Bilder geschlagen – in die Bühnenbilder meine ich – und dann all der Staub und Mörtel.« Er blickte sich ebenso verzweifelt um wie Ed. »Läßt sich das denn nicht reparieren?« »Ausgeschlossen!« Ed nahm sich zusammen. »Wir haben nicht mehr genügend Zeit. Alles ist voller Löcher. Wir brauchten – ich weiß nicht wie lange. Und in achtundvierzig Stunden beginnt die Vorstellung.« In entsetztem Schweigen blickten die Eleven einander an. »Na also«, sagte endlich irgend jemand. »Das läßt sich jetzt nicht mehr ändern. Aber was machen wir nun?« Wieder herrschte Schweigen. Plötzlich begannen alle auf einmal zu reden. Warum nicht die Billets zurückzahlen und die Idee einer öffentlichen Vorstellung aufgeben? Warum nicht um jeden Preis spielen, auch ohne Bühnenbild? Warum nicht eins von einem andern Theater mieten? Aber woher das Geld nehmen? Konnte das vielleicht jemand sagen? Welcher Blödian hatte gemeint, man solle die ganze Sache abblasen? Und was war mit Richards und seinem Engagement? Und wozu hatte man die ganze Zeit geschuftet wie ein Narr? Die Verwirrung wuchs. Doch nach und nach legte sich die Aufregung, und man einigte sich allmählich. Alle waren der Ansicht, daß, wie die Sache nun einmal stand, die Billetbesitzer betrogen wären, und man ihnen das Geld zurückerstatten müsse. Das Stück sollte aufgeführt werden, doch
ohne Zuschauer – nur für Mr. Richards. Die Eleven trennten sich schließlich unglücklich und deprimiert. Ihr wundervolles echtes Stück war plötzlich zu einer gewöhnlichen Schülervorführung geworden. »Aber kommt trotzdem heute abend alle zur Probe«, mahnte Mike. »Wenn ihr wirkliche Schauspieler seid, könnt ihr nicht alles liegen und stehen lassen, nur weil ein paar Backsteine das Bühnenbild verteufelt haben.« Sie sahen es ein. Mike schien kühl und entschlossen. Carol verdächtigte ihn, daß er dem Bühnenbild keine Träne nachweinte. Sie war sehr erstaunt, ihn ungefähr eine Stunde später in sich zusammengesunken in einem Sessel der Kirschgartendekoration vorzufinden. »Was ist los mit dir?« fragte sie ihn überrascht. Mike starrte sie nur düster an. »Es ist doch nicht etwa wegen des Bühnenbildes? Du hast dich doch von Anfang an mit allen Kräften dagegen gewehrt.« »Ja, schon«, sagte Mike seufzend. »Es hat mir einfach nicht gefallen. Meiner Meinung nach war es ganz falsch. Aber ich hätte das Stück gern vor einem Publikum gespielt.« Es war das erste Mal, daß Mike unvoreingenommen mit Carol sprach, und seine dumpfe Stimme und der niedergeschlagene Ton rührten sie. Zu ihrer Überraschung spürte sie Mitleid mit ihm. »Du meinst, es wäre gut für uns gewesen?« fragte sie. Mike schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kenne nur eine Menge Leute, die sich so darauf gefreut haben. Es hätte ihnen gefallen.« »Aber es ist doch nur eine Elevenvorstellung. Es ist kein Verlust für die Theatersaison.« »Ich denke nicht an die Theatersaison. Ich denke an die Leute, mit denen ich früher gearbeitet habe. Sie gehen nie ins Theater. Sie haben nicht genügend Geld für eine Eintrittskarte oder keine Zeit. Aber sie wären gekommen, weil sie unser Stück sehen wollten.« Er hielt inne und blickte Carol ins Gesicht. Sie schaute ihn ebenfalls an, überrascht und teilnahmsvoll. »Es tut mir ja auch für euch leid«, fuhr er fort. »Daß ihr jetzt keine Gelegenheit habt, euch vor einem Publikum zu zeigen. Aber die andern … Komm, hören wir auf. Du verstehst ja doch nicht, was ich meine.« Aber sie verstand sehr gut. Die Aufführung von ›Peter Pan‹ damals hatte ihr das Verständnis dafür vermittelt. »Mike«, sagte
Carol eifrig. »Mike, können wir nicht doch vor einem Publikum spielen? Ohne Bühnenbilder. Nur mit ein paar Versatzstücken und Beleuchtungseffekten?« Mike schüttelte den Kopf. »Ich habe auch schon daran gedacht. Aber es würde nichts nützen. Es würde falsch und künstlich wirken.« »Nein, bestimmt nicht. Das Wichtigste sind Bäume und Licht und Blumen. Wir könnten echte Blumen nehmen und …« Mike richtete sich auf. Seine Depression war verschwunden. »Der Garten«, sagte er. »Pfingstrosen. Gegen den blau erleuchteten Hintergrund.« »Ja. Du hast doch immer gesagt, daß das Bühnenbild nur gerade das Licht reflektieren sollte. Und der Wald mit dem Mondlicht – grünlich.« »Eine Kleinigkeit!« rief Mike und sprang auf. »Mit Gelatinefarben. Aber was ist mit dem Wald? Vielleicht ein einzelner Baum – beleuchtet. Angestrahlt.« »Nein. Ein echter Baum wäre nicht gut.« Carols schwacher Widerspruch fand kein Gehör. Aufgeregt liefen sie auf der Bühne hin und her, mitten in der Szenerie des ›Kirschgarten‹. Schließlich erinnerte sich Carol an ein Märchenbuch. Ein Buch, in dem es Bäume gab, mit schlanken Zweigen, die sich unter der Last von gläsernen Blüten und Früchten bogen. So mußte der Baum aussehen, der den Zauberwald symbolisieren sollte. Carol gab Mike eine Beschreibung davon. »Natürlich!« rief er. »Ed kann ihn aus Cellophan und Draht machen und mit Scheinwerfern beleuchten. Komm schnell!« Er packte ihre Hand, und sie rannten durch den Korridor zum Künstlerzimmer, wo die Eleven niedergedrückt in Gruppen beieinander saßen. Erstaunt blickten sie auf. »Zuhören! Alle!« befahl Mike. »Page hat gerade eine Idee gehabt.« Er erklärte ihnen alles. Die Eleven waren zuerst skeptisch. Es war nicht mehr genügend Zeit. Alles mußte geändert werden. Es war besser, die Sache ohne Publikum zu machen, und es gehen zu lassen, wie es war. Aber Mike ließ nicht locker. »Natürlich können wir es machen«, sagte er. »Wir müssen schuften, aber das haben wir auch schon früher getan. Und es ist der Mühe wert.«
Die Eleven hatten noch immer nicht das Gefühl, daß es irgend etwas gab, für das es sich lohnte, vierundzwanzig Stunden lang Tag und Nacht zu arbeiten. Nur Ellen war sofort damit einverstanden. »Ich glaube, es wird himmlisch. Nur mit Mondlicht könnten wir vielleicht eine wundervolle Vorstellung geben.« »Natürlich können wir«, sagte Carol. »Und es ist ein reizendes Stück. Es wäre doch zu schade, wenn wir es nur für diesen Wettbewerb spielen würden.« Keith Macdonald grinste. »Na, wenn du davon überzeugt bist, gebe ich mich geschlagen.« Er gab sich gelassen, doch Carol merkte, daß es auch ihn gepackt hatte. »Die ganze Sache wird leichter sein«, drängte Mike. »Es wird nichts Großartiges werden, aber wir können Atmosphäre schaffen. Und das ist alles, was wir brauchen. Was meint ihr, soll ich Miss Marlowe fragen?« Sie blickten sich gegenseitig an, und Ed Browning sagte mit erstaunlicher Munterkeit: »Ich glaube, das ist das Gescheiteste, was wir tun können. Ich will mich sofort hinter diesen Baum machen.« Gemeinsam gingen sie zu Miss Marlowe. Die Darsteller drängten sich in ihrer Garderobe, und die anderen Eleven warteten draußen. Sie trugen ihr ausführlich ihre sämtlichen Pläne vor, und Miss Marlowe hörte ihnen mit nachdenklichem Stirnrunzeln zu. »Ich bin überzeugt, daß wir es machen können«, sagte Mike. »Jack und Charlie und ich, wir haben uns in letzter Zeit sehr viel mit Beleuchtungsproblemen beschäftigt. Alles, was wir brauchen, ist ein einziger Hintergrund.« »Und es ist wirklich schrecklich wichtig«, drängte Carol, als sie merkte, daß Miss Marlowe noch zögerte. »Mike hat ein paar Freunde, denen er dieses Stück ganz besonders gern zeigen möchte. Es wäre ihm schrecklich, wenn sie es nicht sehen könnten.« »Aber Sie können doch Ihre Freunde zu der Aufführung einladen«, sagte Miss Marlowe. »Ich würde mich freuen, wenn sie kämen.« Mike schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das gleiche.« »Vielleicht haben Sie recht«, sagte Miss Marlowe. »Wir versuchen, Ihnen hier eine Menge beizubringen, und manchmal denke ich, daß es uns nicht gelingt. Aber ab und zu glaube ich, daß wir Ihnen doch die wirklich wichtigen Dinge klargemacht haben. Und das ist ermutigend.«
19
Mike, Ed, Charlie Buchanan und Jack Carell verbrachten den ganzen Abend im Künstlerzimmer, umgeben von Bücherhaufen, die alle das gleiche Thema zum Inhalt hatten: wie wird eine Bühne am effektvollsten beleuchtet? Mike, wütend über die vielen mathematischen Formeln, mit denen die Bücher gespickt waren, feuerte sie eines nach dem andern auf die Couch, begleitet von beredten und nicht sehr salonfähigen Ausdrücken. Einige Zeit darauf stand er in den Kulissen und wartete ungeduldig auf das Ende des ›Kirschgarten‹, als er plötzlich ein leises Rascheln und Atmen neben sich hörte. Carol stand neben ihm. Ihre eigene Ungeduld verflog, als sie Firs, den gebeugten, weißhaarigen Diener beobachtete, der von der aufgeregten russischen Familie vergessen worden war, als sie alle ihr Heim für immer verließen. Das Bühnenbild, ein Zimmer des Hauses, wurde nur vom Mondlicht erhellt, und der alte Mann legte sich auf seine Pritsche. Das fahle Licht kroch über den Boden und glitt über seinen weißhaarigen Kopf. Der Vorhang fiel langsam und ohne Geräusch. »Na, endlich!« sagte Mike, als die Lichter aufflammten. Carol sagte kein Wort. Als die Bühne sich endlich geleert hatte, versammelten sich die Darsteller von ›Lieber Brutus‹ auf ihr, unsicher und nervös. Die meisten anderen Eleven, die sich auf keinen Fall etwas entgehen lassen wollten, drängten sich im Hintergrund. Miss Marlowe kam kurz zu ihnen herauf, in ihrem schwarzen Kleid und noch geschminkt, das Haar auf dem Scheitel hoch aufgesteckt. Und ihr Gesicht, das jetzt müde aussah, glich dem Gesicht einer Statue. Sie fragte, ob sie mit ihrem Stück zu Rande kämen, und dann ließ sie sie allein, damit sie ihre Pläne auf eigene Faust ausführen konnten. Mike holte ein Büschel Blätter aus seiner Tasche. »Das Wichtigste ist«, sagte er, »die Beleuchtung richtig einzustellen. Und das kann ziemlich lange dauern. Ihr müßt nicht alle die ganze Zeit hier herumstehen. Ich brauche nur einen von euch, damit wir Stellproben machen können. Page, würdest du vielleicht bleiben?«
»Natürlich.« Die Mitspieler waren jedoch viel zu interessiert, um heimzugehen. Sie blieben in den Kulissen stehen und schauten Ed zu, der nach Mikes Anweisungen am Schaltbrett hantierte. Mike selber stand auf einer Leiter in den Kulissen und stellte die Scheinwerfer ein, während Carol unten sagte »mehr Grün« oder »probier doch noch ein bißchen Blau«. Der Bühnenmeister hatte, auf Miss Marlowes Anweisung hin, einige Französische Fenster stehen lassen. Ed und Mike schoben sie auf eine bestimmte Stelle im Hintergrund der Bühne, ein wenig rechts von der Mitte, mit hellbraunen Versatzstücken rechts und links. Dann wurde ein Tisch mit einem Haufen orangefarbenem Papier links von der Mitte aufgestellt, so daß man einen guten Blick auf die Französischen Fenster hatte, durch die ein blaugelber Hintergrund zu sehen war. »Page«, befahl Mike, »geh doch bitte hinter die Fenster und nimm etwas Weißes in die Hand.« »Warte noch einen Augenblick«, unterbrach ihn Ed. »Ich bin immer noch nicht einverstanden, daß Lob Ende Juni Pfingstrosen in seinem Garten haben soll. Bei uns daheim sind die immer …« »Der Sommer ist dieses Jahr sehr spät«, erwiderte Mike ungeduldig. »Aber wenn es so lange kalt gewesen ist, wieso kann er dann auf seinem Wohnzimmertisch Ringelblumen haben? Dann blühen die doch noch nicht.« »Er hat sie in seinem Gewächshaus gezogen«, brüllte Mike. »Er soll doch ein Wundergärtner sein. Dann macht’s ihm auch bestimmt nichts aus, ein paar Ringelblumen früher blühen zu lassen.« Carol mischte sich dazwischen. »Das ist wirklich nicht so wichtig, Ed«, sagte sie beruhigend. »Schließlich ist Lob ja wirklich Puck – also kann er tun, was er will. Und das Wichtigste ist doch der Farbeffekt.« Ed gab brummend nach, und Carol zog sich wieder hinter die Französischen Fenster zurück, ihr Taschentuch in der Hand. Eine kleine Weile später wurde sie auf eine andere Stelle beordert, oder sie mußte sich setzen oder zwischen zwei Kreidestrichen über die Bühne gehen. Carol wußte nicht das geringste über Beleuchtung, und sie war erstaunt, wieviel die jungen Leute davon verstanden. Die
komplizierten Vorgänge machten sie ganz benommen, und unter dem Einfluß der ständig wechselnden und gleitenden bunten Lichter verlor sie allen Sinn für die Zeit. Gehorsam stellte sie sich hin, wo man sie hinbefahl. Sie flitzte von einem Kreidestrich zum andern, bis ihr der Kopf und die Augen schmerzten, und die Beine vor Müdigkeit zitterten. Die Eleven hatten sich, einer nach dem andern, nach Hause verzogen. Es war fast vier Uhr morgens, als Mike sagte: »Gut. Das hätten wir jetzt. Aber sei morgen möglichst früh wieder hier.« »Früh?« sagte Carol schwach. »Um welche Zeit?« »So ungefähr um neun.« »Jawohl.« Carol verließ stolpernd die Bühne und ging ins Künstlerzimmer hinunter, zu müde, um noch ein Gefühl der Dankbarkeit für die getreue Ellen aufzubringen, die schlaftrunken auf dem Fensterbrett auf sie wartete. Außerdem war ihr plötzlich ein peinlicher Gedanke gekommen. »Wie machen wir’s nur mit dem Heim?« sagte sie zu Ellen. »So spät sind wir noch nie gewesen.« Ellen blickte sie völlig verschlafen an. »Ach, das ist längst geregelt. Ich habe schon vor Stunden telefoniert und der Leiterin alles erklärt.« »Du bist wirklich ein Schatz, Ellen! Komm, wir gehen.« Um neun Uhr am nächsten Morgen stand das Ensemble des ›Lieber Brutus‹ wieder auf der Bühne, und abgesehen von der Zeit, in der Miss Marlowes Truppe ihre Abendvorstellung gab, arbeiteten sie ununterbrochen bis zum nächsten Sonnenaufgang. Im Zusammenhang mit den neuen Lichteffekten mußten sämtliche Stellungen auf der Bühne, sämtliche Auftritte und Abgänge geändert werden. Mike dirigierte sie vom Schaltbrett aus, während Ed in seinem Hinterzimmer mit Leinwand, Farben, dünnen Drähten und Haufen von glitzerndem Cellophan hantierte. Alle waren sie müde, doch zum ersten Mal, seit die Elevengruppe bestand, gab es keinen Streit. Carol arbeitete fröhlich und ohne sich zu beklagen – wie alle andern auch. Wenn sie Hunger hatten, ließen sie sich Kaffee und Sandwiches kommen. Die Probe ging weiter. Drei Dutzend eingetopfte weiße Pfingstrosen wurden gebracht und bis zum Ende der Abendvorstellung irgendwo abgestellt. Die Schale mit den Ringelblumen erschien und fand einstweilen neben
den Pfingstrosen Platz. Das Eleven-Ensemble hielt während der Abendvorstellung ein kleines Schläfchen, nachher fingen sie wieder mit ihrer Arbeit an. Die Pfingstrosen wurden unter die Französischen Fenster gruppiert und die Ringelblumen in ihrer Schale noch einmal geordnet. Miss Marlowe war ebenso besorgt und interessiert wie die Eleven, die übrigen Schauspieler ebenfalls. Jedermann ermutigte jeden. Spät in der Nacht wurde Ed mit seinem Baum fertig. Es war ein großer Baum aus Leinwand und Draht, braun angemalt, mit merkwürdigen Streifen von Aluminiumfarbe, die ihm ein seltsam fleckiges Aussehen verliehen. Seine Äste ließen genügend Raum, daß die Schauspieler sich darunter bewegen konnten, und seine Zweige waren mit Früchten aus Cellophan – Orangen, Äpfeln und Birnen behangen. Diese Früchte hatte Ed aus farbigem Cellophanpapier gebastelt, das er von seinen Helfern zusammenknüllen und in runde oder birnenförmige Hüllen von glasklarem Cellophan stopfen ließ. Mike schaute sich den Baum eine volle Minute schweigend an, warf dann einen kurzen Blick auf Eds müdes Gesicht und sagte kurz: »Gut, stellen wir ihn auf.« »Er sieht schauerlich aus«, flüsterte Carol Ellen zu. »Ich weiß. Aber vielleicht vom Zuschauerraum aus … Auf jeden Fall wird er glitzern.« Miss Marlowe hatte ihnen geraten, möglichst früh aufzuhören, und das taten sie auch – um drei Uhr morgens. Keith Macdonald ging mit Carol zum Künstlerzimmer hinunter. »Hast du vielleicht eine Idee, wie diese Beleuchtungseffekte sich auswirken werden?« »Nein. Nicht die geringste. Gestern hatte ich eine gewisse Vorstellung, aber die habe ich inzwischen längst wieder verloren. Das ganze ist nichts als eine verschwommene Sache von Orange, Grün und Blau.« »Genauso geht’s mir. Ich bin ein paarmal unten im Zuschauerraum gewesen und habe es mir von dort aus angesehen. Aber ich bin so todmüde, daß ich überhaupt nichts mehr aufnehmen kann. Immerhin hat Horodinsky gesagt, daß es am Morgen keine Probe mehr gibt. Jetzt heißt es nur noch siegen oder untergehen. Wir haben nichts anderes mehr zu tun, als uns zu überlegen, wie wir’s bis zum Nachmittag durchhalten sollen.«
Für Carol und Ellen war das kein Problem. Sie schliefen bis um zwölf. Ellen erwachte als erste. »Carol«, quietschte sie, »es ist zwölf Uhr!« Carol stolperte blinzelnd aus dem Bett und unter die Dusche. Dann stürzten sich beide in die Kleider und rasten ins Theater. »Warum habt ihr uns denn nicht telefoniert?« fragte Ellen wütend den armen Ed, den sie am Eiswassertank trafen. »Nur Ruhe! Beiß mir nicht den Kopf ab! Mike hat gesagt, wir sollen alle schlafen lassen, so lange sie können. Weil ihr doch alle geprobt habt, bis ihr fast umgefallen seid und …« »Schon gut.« Die nächsten anderthalb Stunden waren chaotisch. Aber irgendwie wurde doch Maske gemacht, die Kostüme angezogen und die Dekorationsstücke aufgestellt. Dann saß das Ensemble im Künstlerzimmer, alle, außer Carol, in Abendkleidung. Carol sah schlank und kindlich neben den andern aus. Sie trug ein grünkariertes Baumwollkleid, das Haar hing ihr lose und leicht zerzaust über die Schultern. Einer der Schuhe war voller Schmutz, und das Kleid wies viele Flecken und einen großen dreieckigen Riß auf. »Du wirst toll aussehen«, sagte Ed zerstreut und überließ sie ihrem Lampenfieber. Die Truppe zappelte, trappelte und lief murmelnd auf und ab. Und als Charlie Buchanan hereinkam, um zu melden, daß Mr. Richards bereits im Zuschauerraum sei, starrten sie ihn nur noch wortlos an. Ein paar Minuten später hörten sie die bekannte Stimme. »Fünfzehn Minuten«, rief sie. »Fünfzehn Minuten.« Die Eleven schnappten nach Luft und streckten sich. Nach dem Fünf-Minuten-Ruf stolperten sie in die Kulissen hinaus und blieben zitternd dort stehen. »Hauslichter«, sagte Eds Stimme. Und dann: »Vorhang.« Der Vorhang hob sich über einer völlig dunklen Bühne. Nur hinter den Französischen Fenstern lag ein Streifen blaues Licht, das eine Gruppe weißer Pfingstrosen beleuchtete und sich dann unfaßbar und geheimnisvoll in der Ferne verlor. Eine Frauenstimme sagte: »Komm, Cady, führ uns«, und eine kräftige, mütterliche Gestalt hob sich kurz gegen den blauen Lichtstreifen ab. Ihr folgten andere Gestalten, die im Dunkel
schwatzend umhertappten. Dann leuchtete ein Licht auf. Man hatte kein richtiges Wohnzimmer aufgebaut. Es gab nichts anderes auf der Bühne als einen Tisch, ein paar Stühle, die Ringelblumen und die Damen in ihren Seidenkleidern, alles in diesem warmen, orangefarbenen Schein. Carol schlüpfte durch den Bühnengang zu einer der Proszeniumslogen und blickte ins Publikum. Sie wußte, daß Miss Marlowe und Mr. Richards irgendwo dort unten saßen, aber die Gesichter der Zuschauer interessierten sie mehr. Sie waren aufmerksam und verständnisvoll, gefesselt von dem Spiel und eifrig darauf bedacht, ja kein Wort, keine Andeutung zu überhören. Jede Zeile, die ein Lachen verdiente, wurde belacht. Dearth erregte Mitleid, Mr. und Mrs. Coade erweckten Zärtlichkeit. In ihrer Freude über den Empfang, den das Publikum Ellen bereitete, vergaß Carol einen Augenblick lang ihre zitternden Knie. Und Ellen, angeregt und überrascht, begann eine Lady Caroline zu spielen, die besser war als irgend eine Rolle je zuvor. Noch eine kleine Weile blieb Carol beobachtend dort stehen. Dann ging sie zurück ins Künstlerzimmer und setzte sich auf einen Stuhl. Als die andern dann kamen, um sich für den zweiten Akt umzuziehen, ging Carol wieder hinaus und nochmals in die Loge. Sie wollte sehen, wie sich der Vorhang über Eds Wald erhob. »Bitte, bitte, laß es nicht gar zu schlecht sein«, flüsterte sie. Als der Vorhang hochging, schloß sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete, geschah es, weil es wie ein Raunen durch das Publikum ging. Die Bühne war von grünem, wie durch Blätter gefiltertem Mondlicht überflutet, das zu grün-schwarzem Schatten verblaßte. Der Baum stand ein wenig rechts von der Mitte. Er war zerbrechlich, gläsern, mit hängenden Zweigen – ein schimmerndes Silbergebilde unter dem Mond. Seine farbigen Früchte glitzerten unwirklich. Es war ein Baum aus einem fernen Märchenland. Ed hatte Hervorragendes geleistet. Carol wartete eine Sekunde, bis der zweite Akt begonnen hatte. Dann ging sie in die Kulissen zurück, um dort auf ihren Auftritt zu warten. Keith war bereits da. Er lief in dem dunklen, engen Raum zwischen den Hängestücken auf und ab und redete vor sich hin.
Carol blieb neben ihm stehen, die grünen Augen riesig groß über dem karierten Baumwollkleid. Keith schaute sie an, machte ein paar Schritte, drehte sich um und kam wieder zurück. »Angst?« fragte er. »Ich? Keine Spur«, erwiderte Carol mit steifen Lippen. »Nur daß meine Knie nicht mehr recht zu mir gehören.« »Du kannst von Glück sagen, daß du überhaupt noch Knie hast. Wir werden wirklich eine Glanzleistung vollbringen: beide Darsteller fallen auf der Bühne vor Angst tot um, und Ed kommt mit einem Besen und fegt sie weg.« Seine Schwarzmalerei heiterte sie beide auf, und irgendwie getröstet, warteten sie auf ihren Auftritt. Er kam. Carol holte noch einmal tief Luft, warf den Kopf zurück und rannte in das Mondlicht hinaus, während sie über die Schulter »Daddy, Daddy« rief. »Ich habe gewonnen. Hier ist die Stelle.« Sie war sich unklar bewußt, daß jemand etwas mit der Beleuchtung machte. Als sie sich dem Baum näherte, begann er heller und stärker zu schimmern, und einen Augenblick später fiel ein sanfter Scheinwerferstrahl auf sie selbst und folgte ihr, so daß überall, wo sie hinging, das unheimliche, düstere Grün des Waldes durch ein helles Leuchten verdrängt wurde. Sie hörte sich Sätze sagen, die ihr so idiotisch vorkamen, daß sie sich fragte, wie ein erwachsener Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hatte, so etwas hatte schreiben können. Doch Dearths Worte klangen ganz vernünftig. Dearth stellte seine Staffelei auf, wobei Margart ihn dauernd störte. Dann fiel ihr Stichwort wieder. Sie mußte sich wichtigmachen, wie Kinder das tun, indem sie »Daddy, Daddy« rief, »schau mich doch an! Sieh doch zu mir her.« Und dann erzählte sie dem Mond, daß sie so gern von ihrem Vater gemalt werden wolle. Zu Carols Überraschung brach das Publikum in diesem Augenblick in ein leises, zärtliches Lachen aus, und als sie das hörte, war die Trockenheit in ihrem Mund und das gräßliche Herzklopfen verschwunden. Sie dachte: Himmel, sie verstehen ja dieses süße, verrückte Kind, das versucht, die Aufmerksamkeit seines Vaters zu wecken. Sie mögen es. Carols Hände wurden plötzlich warm. Und als sie umherhüpfte und leichtfüßig und graziös über die Bühne rannte, immer begleitet
von dem sanften Scheinwerferlicht, da wußte sie, daß sie das Publikum gewonnen hatte. Auch Keith spürte es. Und Mike starrte sie erstaunt aus den Kulissen heraus an. Nan Walton, die auf ihr Stichwort wartete, um sich zu ihnen zu gesellen, richtete sich auf. Ihr Gesicht strahlte. Aber es war das Publikum, das zählte. Jedesmal, wenn ein leises, halb unterdrücktes Gelächter über die Rampe zu ihr heraufklang, hatte sie das Gefühl, ein einzigartiges, wunderbares Geschenk zu bekommen. Schließlich, als Dearth sie verließ, als die Dunkelheit sich verstärkte, und sie schreckerfüllt nach ihm rufend aus dem glänzenden Mondschein und dem Scheinwerferlicht hinausrannte in den dunklen und immer dunkleren Schatten, da wußte sie, daß das Publikum weinte. Ebenfalls weinend rannte Carol von der Bühne. Sie schüttelte alle tröstenden Hände ab. »Es – ist – schon – alles gut«, schluchzte sie. »Es geht mir ausgezeichnet.« Mike erschien, drückte sie auf einen Stuhl und reichte ihr sein Taschentuch. Carol riß sich zusammen. »Ich habe nicht schlappgemacht. Es – ist – gar nichts Besonderes. Ich – kann nur einfach nicht aufhören.« »Versuch’s doch erst gar nicht«, meinte Mike. »Ich bin nur gekommen, um dir etwas zu sagen. Es sieht so aus, als ob du’s bekämst, Page. Niemand von der ganzen Gruppe reicht an dich heran. Du hast diese Szene hingelegt, das war eine reine Wonne.« Er hielt inne, um ihr väterlich die Tränen abzuwischen. »Hoffentlich wird dir das Dorftheater von Richards gefallen, weil du wahrscheinlich den Sommer dort verbringen wirst.« »Oh, Mike, glaubst du das wirklich?« »Ich weiß es, und ich freue mich ehrlich für dich.« »Ja, aber Mike«, sagte Carol und lächelte ihm verwirrt zu, »ist das wirklich der Horodinsky, den wir alle kennen und lieben?« »Unsinn«, sagte Mike grinsend, »ich bin ja nur froh, dich auf anständige Weise loszuwerden.« Aus Carols Lächeln wurde ein breites Feixen. »Wird das schön sein, dich nicht mehr zu sehen.« Sie stand auf und ging in die Kulissen zurück, um sich noch den letzten Akt anzuschauen. Als schließlich der Vorhang fiel, setzte ein Applaus ein, der sich ständig verstärkte. Es gab unzählige Vorhänge für das ganze
Ensemble – für Nan, Keith und Carol zusammen – und für Carol und Keith. Und schließlich klatschte man Carol allein auf die Bühne. »Das gilt dir, Page«, sagte Mikes Stimme. Carol verbeugte sich, während sie auf die unbekannten klatschenden Hände schaute und den erneuten Applaus vernahm. Welch reizende Leute das doch waren. Sie hatte das Gefühl, alle miteinander gut zu kennen, und sie schrecklich gern zu haben. Dann senkte sich der Vorhang zum letzten Mal. Hinter der Bühne fielen sich sämtliche Mitspieler wechselseitig um den Hals. »Was für ein Mädchen!« sagte Keith und walzte mit ihr den Korridor hinunter – an Miss Marlowes Garderobe vorbei – vorbei an den lächelnden Schauspielern – an den vor Begeisterung tobenden Eleven. Die ganze Gruppe drängte hinter ihnen in das Künstlerzimmer, wo sie erfuhren, daß Mr. Richards und Miss Marlowe eine Besprechung in Miss Marlowes Garderobe hatten. Die Ekstase der Eleven war verflogen. Wie die Schafe im Gewitter standen sie im Künstlerzimmer beisammen. Die Bühnenlichter waren gelöscht. Das Publikum war gegangen. Das große Wagnis war zu Ende. »Ganz gleich«, sagte Carol, »wer was bekommt – es war ein unerhörtes Erlebnis. Ich hätte nie gedacht, daß so etwas möglich ist.« Schritte kamen den Korridor herunter. Sie klangen schicksalsträchtig, obzwar ihnen sogar die Samtpfoten einer Katze schicksalsträchtig geklungen hätten. Es war Miss Rawleigh, die Komikerin der Truppe. Sie lächelte. »Hallo«, sagte sie auf der Schwelle, »wir sind stolz auf Sie. Auf Sie alle. Miss Marlowe möchte Ellen Gregg, Carol Page, Nan Walton, Macdonald und Horodinsky sprechen.« Die Eleven, deren Namen nicht genannt worden waren, seufzten enttäuscht, und als Carol und die übrigen hinausgingen, hörten sie Miss Rawleigh noch einmal wiederholen, daß sie alle gut gewesen wären, und daß Miss Marlowe sehr stolz auf sie sei. »Na, wenigstens einigen von uns steht jetzt etwas Gutes bevor«, sagte Carol draußen auf dem Korridor. »So viel ist einmal sicher.« »Mir nicht«, erwiderte Mike. »Ich werde nächstes Jahr wieder Hosen zuschneiden.« Inzwischen waren sie vor Miss Marlowes Garderobentür angekommen. Sie klopften, und auf das kurze, freundliche »Herein«
traten sie ein. Miss Marlowe saß seitlich vor ihrem Toilettentisch – noch immer merkwürdig blaß. Mr. Richards saß bequem zurückgelehnt in einem Ledersessel. Er war ein kleiner, dicker Mann mit spärlichen Haaren und einer liebenswürdigen, etwas zerstreuten Art. Miss Marlowe stellte die Eleven vor. Mr. Richards richtete sich ein wenig auf. »Ich möchte Ihnen allen gratulieren«, sagte er. »Es war prima.« Er verstummte nachdenklich, und alle fünf Eleven blickten ihn gespannt an. »Ich habe ein Engagement anzubieten«, fuhr er dann endlich fort, »und ich hoffe, Miss Page, daß Sie es annehmen werden. Ich würde mich freuen, Sie in meinem Ensemble zu haben.« Carol fand keine Gelegenheit zu einer Antwort, denn Mr. Richards hatte noch mehr zu sagen und schien es jetzt äußerst eilig damit zu haben. »Es gibt bei uns, genau wie hier, auch eine Elevengruppe. Nur daß die meisten von ihnen ungefähr 400 Dollar bezahlen, was allerdings bei weitem nicht die Mühe aufwiegt, die wir mit ihnen haben. Aber wenn Sie vier –« er wies auf Nan, Keith, Ellen und Mike – »ein Stipendium haben möchten? Das soll heißen, wir zahlen Ihnen nichts, aber Sie brauchen uns auch nichts zu zahlen, und Sie spielen alles, was wir Ihnen geben können. Also, wenn Sie möchten, dann wär’s mir eine Freude, wenn Sie zu uns kämen.« Drei von ihnen murmelten sofort ein freudiges »Ja«, nur Mike sagte nichts. Er stand nur da, knochig, fremdartig und niedergeschlagen. »Was ist denn los mit dir?« flüsterte Ellen. »Willst du denn nicht? Es wird bestimmt ganz toll.« »Ich kann nicht«, erwiderte er leise. »Von einem Stipendium kann man nicht leben, und meine Mutter –« Mr. Richards unterbrach ihn plötzlich. »Was für ein Glück, daß mir der Kopf angewachsen ist, sonst würde ich den auch noch vergessen.« Sie sahen ihn an und warteten höflich. »Ich habe ja ganz verschwitzt, was ich über die Regie sagen wollte. Ausgezeichnet gemacht, wirklich ausgezeichnet. Miss Marlowe erklärte mir, daß Sie dafür verantwortlich sind, Mr. Horodinsky. Wenn Sie als Regie-Assistent zu uns kommen wollen, um unseren Regisseur zu entlasten, so könnten wir Sie gut
gebrauchen. Die Gage wäre nicht gerade üppig, aber zum Leben genug.« »Das«, erwiderte Mike, »hört sich schon besser an. Ich komme schrecklich gern.« »Also, abgemacht!« Mr. Richards erhob sich, drückte Miss Marlowe die Hand und sagte: »Nach der Abendvorstellung bin ich wieder hier«, und verschwand. Miss Marlowe wandte sich an die fünf sprachlosen Eleven. »Sie sind alle hervorragend gewesen. Es hat mir gefallen, wie Sie gearbeitet und sich eingesetzt haben, und ich würde Ihnen mit Freuden ein Stipendium für das nächste Jahr anbieten – wenn ich könnte.« Sie hielt inne. Erschrocken und verständnislos starrten sie sie an. Nach einer kleinen Weile lächelte sie ihnen zu. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich es Ihnen sage«, fuhr sie fort. »Nächstes Jahr wird es keine Elevengruppe und kein Repertoiretheater mehr im Stuyvesant geben. Ich – wir haben unseren einzigen Mäzen durch den Tod verloren. Im kommenden Winter werde ich mit meinem Ensemble auf Gastspielreisen gehen müssen. Wir wollen versuchen, auf diese Weise genügend Geld zu verdienen, um später wieder ein Repertoiretheater eröffnen zu können. Es steht Ihnen frei, mir im Spätsommer zu schreiben. Es ist nicht unmöglich, daß ich, wenn ich die Rollen besetze, ein Engagement für den einen oder anderen von Ihnen habe.« Die fünf gingen langsam, wortlos hinaus. Kein Stuyvesant mehr im nächsten Jahr? Es war unbegreiflich. Von den vierzig Eleven hatten nur Carol und Mike ein Engagement – und das auch nur für zwei Monate. Sie hatten alle gehofft, im nächsten Winter noch einmal hierher zu kommen, entweder mit einem Stipendium oder sonst irgendwie, bevor sie den Versuch wagen würden, sich um eine Rolle am Broadway zu bewerben. Bestimmt würde Miss Marlowe einen Weg finden, das alte Theater wieder zu eröffnen. Und sie würden alle wieder beisammen sein. »Ausgeschlossen«, sagte Mike plötzlich, und sie wußten, daß er recht hatte. »Aber es ist so trostlos«, jammerte Ellen, »daß nach diesem Winter hier jetzt auf einmal alles vorbei sein soll.« In tiefem Schweigen gingen sie den langen Korridor zurück. Ein Schweigen, das plötzlich von Carol unterbrochen wurde. »Ach, beim Theater kommt doch immer alles anders als man denkt«, sagte sie vernehmlich. »Das wissen wir doch alle. Und wenn
wir beim Theater bleiben wollen, müssen wir es nehmen, wie es kommt. Miss Marlowe muß es jetzt ja auch. Und für sie ist es besonders schlimm, weil sie damit ihren Lieblingstraum begräbt. Wenn sie es kann, können wir’s erst recht, denn unser Traum fängt ja gerade erst an.« »Gut gebrüllt, Löwe«, sagte Mike, »Du bist doch ein tapferer Kerl!«