Ich, die Chronik von Adrian Doyle
Als die Erde von der großen Flut gereinigt war und die Geschichte der Menschen und V...
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Ich, die Chronik von Adrian Doyle
Als die Erde von der großen Flut gereinigt war und die Geschichte der Menschen und Vampire neu begann, wurde auch ich erschaffen. Auf Pergament aus Menschenhaut, mit Blut verfaßt, zeichnete ich all das auf, was sich gegen den Willen Gottes wandte. Ich sah die Blüte und den Niedergang der Vampire, und die Geburt des Zwitterwesens, das beide Welten verändern sollte: Lilith Eden. Meine Seiten füllten sich mit Wissen, das in ferner Zukunft den Grundstein legen sollte für die Niederwerfung des Menschengeschlechts und die Herrschaft der Hohen Herren. Doch es kam anders. Die Halbvampirin zerstörte den Dunklen Dom und riß die schlafenden Götter in den Untergang. Nur einer überlebte. Und nun griff er allein – und vor der Zeit – nach der Macht …
Was bisher geschah … Bei der Flucht aus den Gefilden der Hölle – eine Dimension, die einst durch den Fall des Engels Luzifer entstand – werden die Persönlichkeiten von Lilith Eden und ihrem ärgsten Feind Landru gelöscht; sie wissen nicht einmal mehr, daß sie Vampire sind! Während Lilith in Australien nach Spuren ihrer Herkunft sucht, taucht Gabriel, eine Inkarnation Satans in Gestalt eines Knaben, bei Landru auf. Er schließt einen Pakt mit ihm und gibt ihm die Erinnerung zurück. Von der Werwölfin Nona erfährt Landru, daß der Dunkle Dom, die Heimstatt der Hüter, zerstört ist! Er muß in Erfahrung bringen, was dort geschah – schließlich war er selbst einer jener Hüter, die mit dem Lilienkelch das Geschlecht der Vampire über die Erde verbreitet haben. Zuvor aber kümmert er sich um Lilith, denn mit ihr hat er besondere Pläne. Derweil erwacht im Dunklen Dom der letzte der Kelchhüter – Anum, der damals auch der erste Hüter war. Landru offenbart Lilith, daß sein Gedächtnis zurückgekehrt ist. Er gibt vor, sich auch an ihre Identität zu erinnern: In Mittelamerika gäbe es eine Stadt, in der ihre gemeinsamen Kinder auf sie warteten. Diese Stadt – Mayab – ist mit Kelchmagie von der Umwelt abgeschirmt. In ihr leben Maya noch so wie vor einem halben Jahrtausend. Die Vampire dort sind Landru treu ergeben. Doch etwas in Lilith wehrt sich gegen die von ihr verlangten Grausamkeiten, und so zieht sie sich gleichermaßen den Zorn Landrus, den Unmut ihrer »Kinder« … und die Sympathien der Maya zu, für die sie zum Hoffnungsträger wird. Zu lange schon hat Landru sich mit seiner Erzfeindin aufgehalten; nun bricht er zum Ararat auf, Lilith in Nonas Obhut zurücklassend. Doch Anum hat den Dom bereits verlassen. Aus der Blutbibel, in der die Geschichte des Bösen verzeichnet ist, erfuhr er von Landrus Machtgelüsten und Versagen. Entsprechend ist sein Zorn auf ihn.
Nun will er das Schicksal seines Volkes in die eigenen Hände nehmen. Um die Blutbibel zu schützen, füllte Anum den Dom mit Säure und ließ einen Wächter zurück, ein Phantom der Tiefe. Landru tappt in die Falle, kann letztendlich aber die Blutbibel erringen und macht sich auf den Weg zurück nach Mayab. Dort spitzt sich die Situation zu. Sehr zum Mißfallen ihrer »Kinder« setzt sich Lilith für die Bevölkerung ein und ermutigt damit die Widerstandsbewegung der Tiefen, den lange geplanten Schlag gegen die Tyrannen zu führen. Nona, die ein Auge auf Lilith haben sollte, plagen andere Sorgen: Die unsichtbare Barriere über Mayab verhindert ihre Metamorphose zur Werwölfin. Nona verläßt die Stadt – und kann so nicht verhindern, daß sich die Vampire an Lilith rächen und ihr ein lähmendes Gift verabreichen. Nur ihr Symbiont schützt Lilith vor einem anschließenden feigen Mord – während die Rebellen den Palast angreifen …
Die Ewige Chronik Um Klarheit zu schaffen, was es mit der Chronik auf sich hat, hier eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse: »… die Quellen der Urflut versiegten, und die Fenster des Himmels wurden geschlossen. Dem Regen ward vom Himmel her Einhalt geboten. Das Wasser sank auf der Erde mehr und mehr, und so nahm es ab nach 150 Tagen …« Mit der Sintflut wollte Gott laut dem Alten Testament das Antlitz der Welt frei von Sünde waschen. Allein Noah und dessen Familien fanden Gnade und überlebten die Katastrophe in einer gewaltigen Arche, um die Urzelle der neuen Menschheit zu bilden. Doch in unserer Serie gab es noch eine zweite Arche, in der sich die Ur-Vampire – geboren von Adams erster Frau Lilith – retteten. Unter denen, die den Unsterblichen während der monatelangen Odyssee als Nahrung dienten, befand sich auch eine sterbliche Frau, die Ninmah hieß und sieben besonderen Kindern das Leben schenkte, kaum daß die Wasser wieder zu sinken begannen. Jene sieben – Artor, Isis, Sem, Neel, Onan, Kaila und Narasin mit Namen – wurden auf einem der Siebentausender des Himalaja-Gebirges ausgesetzt, noch viele Tage bevor die Arche der Vampire den Großen Ararat erreichte, um im erloschenen Vulkankegel mit dem Fels zu verschmelzen und so den Dunklen Dom, die künftige Heimstatt der Hüter, zu formen. Ninmahs Kinder, selbst keine Vampire, aber dennoch mit Kräften ausgestattet, die ihnen ein fast unvergängliches Dasein beschieden, gründeten im Himalaja den KULT, der sieben abgelegene Dörfer vereinnahmte. Von einem Tempel aus überwachten Ninmahs Kinder die Einhaltung des Scherbengerichts: In jedem Dorf stand ein hohler Obelisk, in den die Einwohner allmonatlich eine Tontafel warfen, auf den sie den Namen einer mißliebigen Person aus ihrer Mitte schrieben. Derjenige, dessen Name am häufigsten auf diesen töner-
nen »Scherben« auftauchte, wurde Opfer des KULTS; er verschwand über Nacht aus seinem Dorf. Insgesamt sieben Nepali starben so jeden Monat im Tempel, und sowohl ihre Haut, als auch ihr Blut dienten dazu, die Seiten eines Buches zu erweitern, das zu schaffen Ninmahs Kinder befohlen war: die EWIGE CHRONIK. Die Schreiber dieser einzigartigen Schrift, in die alles Weltgeschehen einfloß, das Einfluß auf die Herrschaft der Vampire haben konnte, waren medial veranlagte Menschen, die aus der ganzen Welt entführt wurden, um die Fortschreibung der CHRONIK über die Jahrtausende zu gewährleisten. Die CHRONIK sollte den zwanzig Kindern der Ur-Lilith in ferner Zukunft wertvolle Dienste leisten. Zwanzig Ur-Vampire hatten sich nach Ende der Sintflut im Dunklen Dom des Ararat zur Ruhe gebettet, und jeder von ihnen sollte tausend Jahre lang mit dem Lilienkelch über die Erde ziehen, um die Saat untoten Lebens zu verbreiten. Um ein neues, allumfassendes Reich zu erschaffen, über das die Zwanzig eines fernen Tages gemeinsam herrschen würden … Soweit kam es jedoch nie. Zuvor erkannte und bereute die Ur-Lilith ihre Schlechtigkeit und tat alles, um die eigene Brut an der Vollendung des Plans zu hindern. Sie war es, die Lilith Eden als Gegenspielerin der Hüter und der Alten Rasse ins Spiel brachte. Und Lilith Eden erfüllte ihre Aufgabe, zerstörte den Dunklen Dom, ging durch den Zeitkorridor bei Uruk zum Anfang der Schöpfung zurück und befreite die Ur-Lilith aus ihrem ewigen Grab, so daß diese sich mit Gott versöhnen konnte. Er vergab ihr – und beschloß, die Vampire von der Erde zu tilgen. Unwissentlich brachte Landru, der Lilith Eden in die Vergangenheit gefolgt war und schließlich die Ur-Lilith tötete, eine verheerende Seuche aus dem Zeitkorridor mit in die Gegenwart und dezimierte so das einst vom Lilienkelch gesäte Leben. Ninmahs Kinder aber erreichte in dem Moment, als Lilith Eden den Dunklen Dom zum Einsturz brachte, von dort ein Hilferuf. Von
der magischen Kraft wurde ihnen befohlen, alle Spuren des KULTS zu tilgen, die EWIGE CHRONIK zu nehmen und mit ihr zum Ararat zu kommen. Sie gehorchten – es blieb ihnen keine Wahl. In den Trümmern des Doms erfuhren sie, daß ihr Gehorsam für sie selbst den Tod bedeuten würde. Sie sollten sterben, damit die Kraft, die ihre Leiber im Sterben verließ, einen sonst dem Tode Geweihten retten konnte: den einzigen Hüter, der Lilith Edens Eindringen in den Dom überlebt hatte, Anum. Für ihn war auch der Inhalt der CHRONIK bestimmt. Aus ihr sollte er sich ein Bild der veränderten Erde machen. Und so erfuhr er von den Taten seines Bruders Landru und den Machenschaften seiner Schwester Felidae. Beiden gibt er seither die Schuld am Niedergang des Großen Plans. Sein Wissen aus der CHRONIK endet exakt dort, wo auch die CHRONIK selbst endet: im Juli 1996 nämlich, dem Tag, an dem Lilith Eden in den Dom eindrang und ihn zerstörte, um mit der Agrippa – einem magischen Schlüssel zum Kerker der Ur-Lilith – zum Zeitkorridor von Uruk zu reisen. Was mit Felidae, Lilith Eden und Landru weiter geschah, entzieht sich noch Anums Kenntnis. Vom Dom aus begibt er sich mit dem Lilienkelch dorthin, wo die Spur der Versager, Feinde und Verräter endet: nach Uruk. Dieser Anum unterscheidet sich elementar von Landru oder Felidae. Alles deutet darauf hin, daß er nicht nur den »Ritterschlag« zum Hüter erhalten hat, sondern – nach vollbrachtem 1000-JahreWerk – noch einen zweiten. Anum erinnerte sich bei seinem Erwachen im Dom an sein Leben vor der Sintflut und auch an sein späteres als Hüter – ohne jede Einschränkung. Und er verfügt auch wieder über die Magie und Stärke, die die Vampire der vorbabylonischen Zeit auszeichnete … Adrian Doyle
Ich kann sie reden hören. Über mich. Über das, was sie mir bereits angetan haben – und noch antun wollen. Was für ein erstickender Alptraum! Mein Name ist Lilith, und ich bin das Weib Landrus. Acht Kinder habe ich mit ihm gezeugt, acht mißratende, hinterhältige Monstren, die mir nach dem Leben trachten! In Landrus Abwesenheit haben sie mich mit Gift geschwächt und beratschlagen jetzt – entsetzlich nah, getrennt nur vom lebendigen Panzer meines besonderen Kleides –, wie sie mir den endgültigen Todesstoß versetzen können. Mir, ihrer Mutter! Nicht nur Dunkelheit, auch Wut und Verzweiflung umschließen mich, als läge ich bereits in meinem kühlen Grab …
Zur gleichen Zeit Die Vampirin kauerte am Boden der Falle, in der sich sengende Hitze staute. Die Grube hatte sich in einen Backofen verwandelt. Die Geknechteten wollten sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, einen weiteren Tyrannen unschädlich zu machen und ihm ein ebenso sicheres wie qualvolles Ende zu bereiten …! Das Knistern und Prasseln des Feuers, das den Schacht über Pomonás Kopf wie ein funkensprühender Pfropf abschloß, ähnelte einem dämonischen Stimmenchor, der all seinen Haß fauchend auf die gefangene Vampirin ablud. Hohe Brüder und Schwestern, dachte Pomoná, von einem Grauen erfüllt, das sie sonst anderen einzuflößen gewohnt war, wo bleibt ihr? Helft mir, oder mir blüht dasselbe Schicksal wie – In diesem Augenblick stach Leichenkälte wie ein Dorn aus Eis in ihr Hirn. Der Schock lähmte sie sekundenlang und ließ sie die Situation, in der sie sich befand, beinahe vergessen, denn der Todesimpuls – um nichts anderes handelte es sich – fraß sich bis in den letzten Winkel ihres Denkens …
Chiquel? C-H-I-Q-U-E-L …? Sein letzter Gruß verwandelte die Vampirin in ein zuckendes, um sich schlagendes, um sich tretendes Bündel, das sich am Grund der Grube krümmte und wälzte, seine Klauenhände in die hartgebackene, ausgetrocknete Erde grub und eine solche Bandbreite von Lauten produzierte, daß Pomoná – wäre sie noch bei Sinnen gewesen – vor sich selbst hätte entsetzt sein müssen. Aber sie war nicht mehr bei klarem Verstand. Des Bruders Tod, dessen Gründe sie nicht einmal erahnte, brachte das Faß ihrer Gefühle lediglich zum Überlaufen. Der blanke Zorn vernebelte ihren Verstand, erstickte ihr Denken. Seit undenklicher Zeit war sie es gewohnt, Macht auszuüben, zu herrschen und keinen Sterblichen als gleichwertige Person neben sich zu dulden … und nun vergingen sich eben diese Sterblichen an den ungeschriebenen Gesetzen Mayabs, lehnten sich gegen ihre Könige auf, erhoben Fäuste und Waffen und – töteten! Töteten die selbsternannten Götter, die sich von ihrem Blute nährten, weil nichts anderes ihren Hunger und Durst zu stillen vermochte … Daß die Bewohner Mayabs es den tyrannischen Vampiren nur endlich mit gleicher Münze heimzahlten, was sie selbst so lange erlitten und erduldet hatten, daran dachte Pomoná keinen einzigen Augenblick. Weder bereute sie ihr Tun seit der Bluttaufe, noch zweifelte sie an der Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens. Noch immer hallte Chiquels lautloser Schrei in ihr nach. Hitze und Feuer verloren ihren Schrecken. Blind vor Wut über den Tod des Bruders, an dem Pomoná denselben Rebellen die Schuld gab, die sie in diese Falle gelockt hatten, mobilisierte sie alle Kräfte, die noch in ihrem geschundenen Leib schlummerten. Noch vor Stunden war sie gnadenlos schön gewesen, hatte sie eine makellos hell schimmernde Haut besessen, pechschwarze Haare, die
sich jetzt vor Hitze kräuselten und jeden Moment zu brennen beginnen konnten! Soweit ließ Pomoná es nicht kommen. Sie transformierte in eine geflügelte Gestalt, deren Häßlichkeit sich wie ein Schutzschild zwischen sie und die flammende Barriere schob, die den Grubenschacht verschloß. Die pechbestrichenen Holzstöcke dort oben wurden immer wieder erneuert, um die Glut in der Grube zu schüren und die Gefangene zu rösten … ICH WERDE EUCH CHIQUELS TOD BITTER BÜSSEN LASSEN! dachte Pomoná in dem Moment, als ihr pelziger Körper mit seinen ledrigen Schwingen in die Flammenwand eintauchte, um sie zu durchstoßen. ICH WERDE EUCH ALLE TÖTEN! Es war ein Akt der puren Verzweiflung. Und des Hasses gegen die Niederen, die es wagten, den Aufstand zu proben. Daß ihr Bruder durch eines Bruders Hand und nicht durch die eines Sterblichen gestorben sein könnte, fiel ihr nicht einmal im Traume ein. Und doch …
* »Wie weit ist es her mit deiner Macht? Ist sie größer als der Tod …?« Cuyo lauschte dem Klang seiner eigenen Stimme nach, der Frage, die er an Lilith gerichtet hatte, als das ohrenbetäubende Bersten seine Worte noch nicht machtvoll übertönt hatte. Inzwischen pflanzten sich heftigste, nie erlebte Stöße durch den Boden, auf dem seine Geschwister und er standen. Die Beben erschütterten den Palast der Vampire in seinen Grundfesten. Steinquader knirschten. Wo Mörtel Verwendung gefunden hatte, platzte er aus den Fugen. »Was – ist das?« Cuyos Blutsschwester Atitlá rief es, und ihr Bruder Tumul war ans Fenster gehastet, um dort draußen nach der Ursache der Explosio-
nen zu forschen. Mit flackerndem Blick und zitternden Lippen wandte er sich nun seinen Geschwistern zu, die schon ein anderes Ereignis in unerträgliche Anspannung versetzt hatte. »Nichts zu erkennen – nichts, was eine Erklärung liefert … Wir müssen die fremde Sicht einsetzen, sofort! Wir alle!« Cuyo bemerkte, wie Atitlá, Oriente und Petén ebenso wie Tumul selbst ihre Augen schlossen, um dessen Aufforderung zu folgen. Es diente der Konzentration, die eigenen Lider zu senken, wenn die fremde Sicht aktiviert wurde. Diese Art des Sehens bedeutete, daß man sich die Augen derer zu eigen machte, die man im Laufe der Zeit mit seinem Keim initiiert hatte. Jeder sterbliche Maya, der im Schatten des Palastes lebte, besaß diesen magischen Abdruck im Blut, den er gleich nach seiner Geburt von einem der acht Tyrannen erhalten hatte, die über die Hermetische Stadt herrschten. Inzwischen, dachte Cuyo düster, sind wir nur noch sechs. Und wo, beim Weltenpfeiler, steckt Pomoná …? Es beschäftigte ihn nicht weiter, obwohl er sich nicht an der hektischen Suche seiner Geschwister nach Erklärungen beteiligte. Während immer neue Detonationen erschollen, glitt sein Blick durch diesen Raum und tastete das Ding ab, das sich wie ein dunkler Panzer um die Frau geschlossen hatte, der sie im Auftrag ihres Hohen Vaters hatten vorgaukeln müssen, sie sei ihre Mutter. Unsere Mutter, deren Schoß wir einst entsprangen, dachte Cuyo angewidert. An seine wirklich Mutter hatte er keinerlei Erinnerung, obwohl er erst im Alter von fünf Jahren die Kelchtaufe empfangen hatte. Aber irgendwie hatte sein Gedächtnis alle Bilder, die mit seinem Vorleben als sterblicher Mensch zusammenhingen, im Laufe der Jahrhunderte getilgt. Spurlos. Auch wenn nicht auszuschließen war, daß sich noch Erinnerungen in der Tiefe seines Bewußtseins verschanzten, so wurde er doch niemals – auch nicht in seinen Träumen – davon belästigt.
Während seine Brüder und Schwestern nach denen forschten, die den Anschlag auf sie verübten, ließ Cuyos Blick das kokonartige Gebilde nicht mehr los, unter dem sie vermutlich den Schock zu verdauen versuchte, daß ihre eigenen »Kinder« versucht hatten, sie umzubringen. Das Pfeilgift kreiste noch in ihrem Blut. Cuyo und seine Geschwister hatten die Abwesenheit ihres Hohen Vaters ausnutzen wollen, um die mißliebige Frau namens Lilith aus dem Weg zu räumen. Sie wollten sich nicht länger verstellen müssen, zumal ihnen die Gründe dieser Farce vorenthalten wurden! Anschließend hatten sie Liliths Tod denen in die Schuhe schieben wollen, auf deren Konto schon der feige Mord an Zapata ging. Und Chiquel … nun, er war durch Cuyos Hand umgekommen, weil er sich vor Lilith gestellt hatte. Er hatte einen Narren an ihr gefressen, weil sie ihn gegen die Strenge des Hohen Vaters in Schutz genommen hatte, schon unmittelbar nach ihrer Ankunft hier in Mayab … Cuyo hegte keinerlei Gewissensbisse wegen des Brudermordes. Er hatte kein Gewissen. Wer sich ihm in den Weg stellte, ganz gleich ob hoher oder niederer Herkunft, mußte dies mit seinem Leben bezahlen. Er war zum Herrschen geboren. Kompromisse lagen ihm nicht. Und deshalb war er es, der vielleicht am meisten unter der Rückkehr des Kelchmeisters litt. Er hätte fortbleiben sollen, geisterte es durch sein Hirn. Alles war gut, alles hatte seine Ordnung, bis er wiederkam – nach einer halben Ewigkeit – und uns behandelte wie … unmündige Kinder …! Ein Aufschrei riß seine Gedanken aus der Abwesenheit. »Ich sehe sie mit Sprengstoff hantieren!« kreischte Petén auf. »Hier im Palast! Ich erkenne den Raum! Schnell – folgt mir!« Ohne abzuwarten, ob die anderen auch wirklich aus ihrer Halbtrance erwachten, stieß sie Tumul, der immer noch vor dem Fenster stand, beiseite, kletterte auf den Sims und stürzte sich in die Tiefe. Cuyo brauchte sich nicht zu vergewissern; es war klar, daß seine Schwester im Fall ihre Flügel entfaltete und ihren Körper den neuen
Anforderungen unterordnete. Nach und nach folgten ihr Tumul, Atitlá und Oriente. Letztere hielt noch kurz auf dem Sims inne und rief Cuyo zu: »Was ist mit dir? Willst du nicht auch –?« »Ich komme nach!« unterbrach er sie grob. »Ich habe hier noch etwas zu erledigen!« Oriente machte eine abfällige Geste. Dann war auch sie verschwunden. »Jetzt sind wir allein«, seufzte Cuyo, der sich neben der dunklen Ikone niederkniete, zu der Lilith geworden war, nachdem sich ihr bunter Corte* schlagartig verändert und wie ein panzerharter, sonnenfinsterer Schutzschuld um ihren Leib geschlossen hatte. »Jetzt gibt es nur noch dich und mich, Mutter. Sei nicht feige und öffne dieses Ding! Laß uns reden. Vielleicht gibt es einen Weg, die anderen loszuwerden. Einen Weg, daß wir beide künftig gleichberechtigt nebeneinander über dieses düstere Reich herrschen …?« Seine Finger berührten den harten Kokon, der sich gebildet hatte, als Cuyo und seine Geschwister ihre Masken fallengelassen und der »Mutter« offenbart hatten, sie töten zu wollen. Lilith hatte sie alle verflucht – aber sie glaubte wohl noch immer, die Brut, die ihr nach dem Leben trachtete, geboren zu haben … Cuyos breiter Mund formte ein böses Grinsen. Eine Zeitlang streichelte er über die Wölbungen des Kokons, die den Busen der Frau nachzeichneten. Es war eine Geste von nur vermeintlich berückender Zärtlichkeit, aber die Vorstellung, sie könnte seine Berührungen spüren, erregte Cuyo dennoch weit über eine normale Mutter-SohnBeziehung hinaus. Immer mehr Verachtung und Haß sammelten sich in seinen Zügen. Seine Umgebung schien von ihm abzurücken, obwohl er sich *Ein Corte ist eine Art ärmelloses Kleid, das aus einer Stoffbahn gefertigt ist und in der Mitte eine Kopföffnung besitzt. Es wird von einem Gürtel in der Taille zusammengehalten.
nicht der fremden Sicht bediente und sich sterbliche Augen lieh. Er schloß die Augen nur aus dem Grund, sein inneres Gleichgewicht und eine Antwort zu finden, wie er Lilith doch noch beikommen konnte. Er wollte sich nicht darauf verlassen, daß das Gift sie tatsächlich tötete. Es mochte sie schwächen, aber umbringen … Als er aufschrak, wußte er nicht, wie lange er gedankenverloren neben dem Kokon ausgeharrt hatte. Seine Gedanken stockten wie gerinnendes Blut, und mit hervorquellenden Augen starrte er auf die wabernden, hitzekochenden Wände, die ihn umgaben. Ganz langsam nur sickerte in sein Bewußtsein, wie grenzenlos naiv er sich verhalten hatte, wie fahrlässig er das wahre Ausmaß der Gefahr ignoriert hatte … Immer noch benommen sprang er auf. Eben noch hatte er darüber nachgedacht, wie er die Fremde beseitigen konnte, die sein Vater aus der Außenwelt mitgebracht hatte, und nun … Nun mußte er erkennen, daß sein eigenes Leben nichts mehr wert war – gar nichts! Wir werden beide umkommen, durchfuhr es seinen Verstand. Und kreatürliche Furcht schnürte ihm die Kehle zu. Es war und blieb ein Unterschied, eines anderen Lebenslicht auszublasen – oder selbst zum Opfer purer Gewalt zu degenerieren. Dennoch gedachte Cuyo keinen Moment des Bruders, den er auf dem Gewissen hatte. Sein Handeln richtete sich nach bloßen Notwendigkeiten. Einen Kodex, wie er jenseits des Walls unter Vampiren existierte, gab es in Mayab nicht. Hier war einer des anderen Wolf! Cuyo zögerte nicht länger, sich in die Metamorphose zur Fledermaus zu flüchten. Er wollte nicht mit Lilith sterben. Sollte sie allein in dieser Hülle krepieren, die sie niemals vor der Höllenglut retten würde, die von allen Seiten nahte und sogar den Stein selbst zu entflammen schien!
Cuyo begriff endgültig, daß im Palast keine einfachen Brände wüteten. Dieses Feuer war auch von der Magie der Tyrannen nicht zu ersticken. Es brannte lichterloh, als hätte jemand das ganze Gebäude mit hochentzündlicher Flüssigkeit getränkt … Verzweifelt peitschten Cuyos Schwingen die Luft und trieben ihn auf die hochlodernden Flammen zu, die sich zwischen ihm und dem Fenster errichtet hatten, durch das seine Geschwister sich aufgemacht hatten, die Schuldigen an diesem Überfall zu finden und zu bestrafen. Doch er selbst – – prallte zurück. Er ertrug die sengende Hitze nicht, die sich vor ihm auftürmte! Ohne es zu wollen, aber zu schwach, sich seinen Reflexen zu widersetzen, verlor Cuyo nah bei der Wand aus Feuer seine Flügel. In seiner wahren Gestalt stürzte er dumpf zu Boden und robbte von den Flammen weg, zurück dorthin, wo er seine Chance auf ein Entkommen verspielt hatte. Lilith sah unverändert aus. Und für einen entsetzlich lang anhaltenden Moment stellte Cuyo sich vor, dieses … Ding könnte die Frau, die es umhüllte, tatsächlich vor der verzehrenden Kraft des Feuers bewahren … Nein! dachte er. Es wäre – Weiter kam er nicht. In diesem Moment rückten die Flammen sprunghaft näher, so als gäbe es tatsächlich jemanden, der immer neues Öl ins Feuer goß! Der Gluthauch ließ Cuyo aufheulen. Waidwund brüllen! Die Flammen sogen seine Stimme auf. Niemand hörte seine Qual. Er war allein. Einsamer als jemals zuvor. Die Frau im Kokon war ihm so fern wie das Reich, über das er geherrscht hatte …
*
Pomoná brach durch die Hölzer, die wie ein kleiner Scheiterhaufen über der Grube aufgeschichtet waren. Teile der brennenden Paste, die an den Stöcken klebte und sie über ihre ganze Länge in lodernde Fackeln verwandelte, blieb am Trugkörper der Vampirin haften, brannte Löcher in Flügel und Pelz. Sogar eines der Augen wurde in Mitleidenschaft gezogen, als zähe Tropfen jener brennenden Substanz das geschlossene Lid trafen und sich bis weit in die darunterliegende Augenhöhle fraßen. Pomoná schrie ultraschrill vor Qual. Der Schmerz steigerte die tollwütige Rachsucht, die der Todesimpuls in ihr geweckt hatte. Das Krachen, mit dem der Grubendeckel dem Geschoß aus der Tiefe nachgab, hörte sie kaum. Für ein Paar Herz- und Flügelschläge verharrte sie in der Gluthitze und versuchte sich außerhalb der Grube zu orientieren. Es gelang ihr mühsam. Sie befand sich in dem unterirdische Stollen, in dem sie nach Zapatas Mördern gefahndet hatte und der ihr dann selbst zur Todesfalle geworden war, als unter ihren Füßen der Boden nachgegeben hatte … Ihre Sonarschreie rissen mehrere Gestalten aus dem blutroten Schein der Flammen. Männer, die zu beiden Seiten des Stollens standen und Stöcke in den Händen hielten, um sie immer wieder nachzulegen, das Feuer nicht ausgehen zu lassen. Männer, die jetzt panisch zurückwichen, weil auch sie von den umherfliegenden, brennenden Teilen getroffen wurden. Und weil … … sich ihnen Pomoná in diesem Moment, auf einem Auge blind, zuwandte. Ihnen nachjagte. Sie mit ihren halbverkohlten Schwingen einholte und ihre rußgeschwärzten Klauen in den Rücken eines der Fliehenden bohrte! Die Wucht, mit der sein Vorwärtsdrang gebremst wurde, brachte ihn zu Fall. Schon liegend, schlug und trat er schreiend um sich,
während sich Pomoná über ihm zurückverwandelte. Dies war das Aussehen, das ihre Untertanen fürchteten! Im Erscheinungsbild zwischen Mensch und finstrem Gott schwebend, ließ sie ihre Kiefer über seinem Genick zuschnappen. Knochensplitter und Blut füllten ihren Mund. Sie spie beides aus. Sie war nicht hungrig. Etwas anderes zwang sie, kaum daß sie ihr erstes Opfer geschlagen hatte, bereits Ausschau nach dem nächsten zu halten. Vor ihr rannten drei weitere Gestalten, die die Flammengrube und die vermeintliche Beute darin bewacht hatten! Und hinter Pomoná, auf der anderen Seite der Falle, flohen noch einmal so viele …! Die Vampirin gierte danach, es jedem von ihnen heimzuzahlen. Nur einen einzigen Gefangenen wollte sie machen – einen, der ihr verraten würde, wer noch alles in Mayab an diesem Komplott gegen die Könige beteiligt war. Ein Komplott, von dem die Kinder des Kelchs nie auch nur etwas geahnt hatten! Wir haben uns selbst eingeschläfert, hatte Pomoná schon in der Grube erkannt. Jetzt, da sie sich befreit hatte, dachte sie kaum noch etwas, folgte nur dem sicheren Instinkt, der sie zeit ihres unsterblichen Lebens begleitet hatte. Kurz wünschte sie sich die Jaguare zur Unterstützung, die in ihrem Pferch stets nach Menschenfleisch gierten. Dann hatte sie – auch ohne Flügel – den nächsten Flüchtling erreichte. Er hörte sie kommen, spürte ihren Atem im Nacken. Und dann, als sie bei ihm war, als sie die letzte Distanz mit einem machtvollen Sprung überwand, drehte er sich innehaltend zu ihr um. Das letzte, was Pomoná in diesem von der fernen Glut erhellten Stollen sah, waren die schrecklich verheerten, ausgestochenen Augen des Blinden. Dann – im Niederfallen auf ihn – trieb sie sich selbst die Spitze des
Stockes, den er ihr entgegenstreckte, tief in die Brust, tief in ein Herz, das vor fünfhundert Jahren, während der Taufe zur Königin, schon einmal kurz aufgehört hatte und nun für immer aufhörte zu schlagen. Das Ende der Ewigkeit war gekommen. Noch aus der Asche löste sich ein Schrei. Pomonás letzter Atemstoß …
* »Verdammtes Hurenbalg, was hast du getan?« Noch einmal rann halblaut die Frage über Landrus bebende Lippen. Dann wurde er sich wieder des Gewichts seines Mitbringsels bewußt. Er bückte sich und legte das Buch auf den Boden des Walls, auf dessen Scheitelpunkt der Heimkehrer stand. Unter ihm lag Mayab, und hinter ihm spannte sich die magische Grenze, die jeden Zeugen der verbotenen Kelchtaufe, zu der sich Landru einst hatte hinreißen lassen, für alle Zeit vor dem Rest der Welt fernhielt. Seit Jahrhunderten schon. Neunzehn Generationen hatte die Stadt seither kommen und gehen sehen. Die zwanzigste bevölkerte die Ebene zwischen den Wällen gegenwärtig … Landrus Gehör fing das Grollen ferner Explosionen auf. Er löste den Blick von dem Schatz, den er mitgebracht hatte. Noch bevor seine Blicke wieder richtig zu dem in Flammen stehenden Palast der Vampire zurückfanden, trieb ihn bereits kraftvoller Flügelschlag zum Ort der Tragödie. Seine Sichtweise änderte sich – seine Denkweise nicht. Besorgt fragte er sich, ob tatsächlich Lilith hinter diesem unerwarteten Empfang steckte. Hatte sie herausgefunden, daß er ihr eine falsche Identität vorgegaukelt hatte? Daß sie in Wahrheit nicht die Mutter der Vampire von Mayab war, sondern deren Todfeindin?
Und die meinige auch? Das Reich hinter den Wällen war voller Brandgerüche und Rauchschwaden. Fetter Qualm, der dem Monumentalbau des Palastes entstieg, von dem aus die von Landru gezeugten Maya-Vampire ihre Tyrannei ausübten. Die Herrschaft, die ihnen das eigene Überleben sicherte. Denn sie brauchten das Blut ihrer Untertanen, um die eigene Unsterblichkeit zu wahren. Und obwohl sie ihren magischen Keim in jeden Menschen pflanzten, der das düstere Zwielicht von Mayab erblickte, duldeten sie keine Dienerkreaturen neben sich, die das rare Blut verbraucht hätten. Vieles war anders unter der nächtlichen Sonne … Landru entdeckte unter sich die ersten Menschen, die aus ihren Adobehütten geflohen waren und dorthin hetzten, wo ihre Welt aufhörte. Nicht die Vernunft, sondern nacktes Entsetzen trieb sie dorthin, wo nicht nur ihre winzige Welt, sondern auch ihre Flucht enden würde. Sie rannten von den Geschehnissen davon, die sich in der Residenz ihrer Könige ereigneten. Landru landete unmittelbar vor einer jungen Frau, die gerade aus einem Maisfeld wankte. Sie trug einen höchstens dreijährigen Knaben auf dem Arm, der trotz seiner Jugend bereits ein Mal am Hals hatte wie sie selbst … »Halt!« Landru beherrschte die Sprache, die hier verstanden wurde. Seine Stimme und Gestik geboten Einhalt – am nachdrücklichsten aber wurde die Frau von der hypnotischen Kraft gestoppt, mit der er seinen Ruf begleitete. Die Frau blieb stehen, als wäre sie gegen ein Hindernis geprallt. Das Kind, das Landru aus seinem Bann aussparte, begann zu weinen, wandte das erschrockene Gesicht von dem schrecklich anzusehenden Vampir ab und begrub es schluchzend an der Schulter der Mutter. »Sag mir, was hier vorgeht, dann entlasse ich dich sofort!« ver-
langte Landru. »Was sind das für Explosionen? Und wo sind eure Herren?« Vergeblich hatte er bislang Ausschau nach seinen »Kindern« gehalten. Und Nona? Was war mit seiner Vertrauten, die er gebeten hatte, in seiner Abwesenheit ein Auge auf Lilith zu halten, während er selbst der Spur nachging, die der »Weltenpfeiler« ihm gewiesen hatte. Der Spur zu einem totgeglaubten Bruder …* Die Frau, selbst noch fast ein Kind, blinzelte verwirrt zu ihm herüber. Die Last, die sie trug, überstieg auf Dauer sichtlich ihre Kräfte. Sie war so zierlich, so mager. Der Farbe, die sie auf ihre fahle Haut aufgetragen hatte, gelang es kaum zu kaschieren, daß die Mayas mehr schlecht als recht lebten. Die geringe Zahl der sich ständig selbst replizierenden Bevölkerung hatte zu inzestuösen Auswüchsen geführt. Magie bewirkte eine immense künstliche Fruchtbarkeit, ansonsten wäre dieser Ort längst ausgestorben, hätte die Natur vor den herrschenden Zuständen kapituliert. »Ich – weiß es nicht! Vor einer Stunde ging es los …« »Was ging los?« »Der Donner! Das Feuer …« »Wer hat es gelegt?« Landru glaubte keine Sekunde, daß seine Kinder ihr eigenes Haus in Schutt und Asche legten. »Ich weiß es nicht …!« Er mußte ihr glauben. Wenige konnten dieser Art von Verhör widerstehen – und sie gewiß nicht … Landru hielt sich nicht länger mit ihr oder einem der anderen verängstigt fliehenden Bewohner auf. Er zog seinen Willen aus ihr zurück und verwandelte sich in etwas, in dem er sich besser wiedererkannte als in einem kleinen Tier mit Flügeln. In schnellem Lauf näherte er sich als silbrig grauer Wolf dem Palast. Die Menschen, die *siehe VAMPIRA T32: »Der Fluch des Blutes«
ihn sahen, versetzte er in noch größere Angst als ohnedies schon. Näher und näher kam er dem Flammenmeer, trotzdem zeigte sich auch weiterhin kein vampirisches Wesen bei dem riesigen Bauwerk. Wo sind sie? Sie können nicht alle verschwunden sein! In diesem Augenblick heulte der Wolf auf – als Pomonás Tod in sein animalisches Hirn stach! Landrus Vorderläufe knickten ein, er strauchelte und überschlug sich, ehe er sich knurrend wieder aufrappelte. Er wußte nicht, was die Vampirin umgebracht hatte, aber an ihrem Ende gab es keinen Zweifel. Und ohne eine Sekunde zu überlegen, schlug der Wolf eine neue Richtung ein. Er entfernte sich von dem brennenden Gemäuer des Palastes. Traumwandlerisch sicher fand er Zugang zu dem Stollen, in dem Blinde und Sehende das Ende eines weiteren Tyrannen feierten.
* Für einen Moment überkam Yulúc ein Triumphgefühl, wie er es in seinem ganzen Leben noch nicht verspürt hatte. Panabás verblüfftes Stöhnen klang ihm im Ohr – beinahe nachdrücklicher als der schaurige Schrei, mit dem sich die wütende Furie über seinem blinden Verbündeten in rußschwarzen Staub aufgelöst hatte! Panabá wälzte sich zur Seite. Die dunkel-flockige Masse rieselte zu Boden. Der Schein des Feuers, der den Rand der Fallgrube immer noch umzüngelte, spiegelte sich auf absonderliche Weise in der Asche, zu der die Hohe Königin Pomoná verbrannt war. Verbrannt? Yulúc schüttelte den Kopf. Er war stehengeblieben. Im Zurückblicken hatte er gesehen, wie die Tyrannin mit ihrem fürchterlichen Gebiß erst Chamul getötet hatte und dann über Panabás hergefallen war. Was dann passiert war, erinnerte Yulúc an die Schilderung der
Umstände, die den Tod des Hohen Königs Zapata betrafen. Zapata war der Erste gewesen, der in die Gefangenschaft der Tiefen geraten und dort umgekommen war – ein Geschehnis, an dessen Möglichkeit die Bewohner Mayabs bis dato nicht einmal im Traum geglaubt hatten. Die Tyrannen, das waren unbesiegbare, unsterbliche Gottkönige gewesen – so hoch über ihren Untertanen stehend, daß ihr bloßes Erscheinen genügend Terror ausübte, um jeden offenen Widerstand im Keim zu ersticken. Nicht umsonst hatte sich das Aufbegehren der Tiefen so lange Zeit darauf beschränkt, ein System von Stollen zu erbauen, in dem man sich im Geheimen hatte treffen und von einer Zukunft in Freiheit hatte träumen können … »Hilfe!« Panabás keuchender Ruf veranlaßte Yulúc, zurückzulaufen und dem blinden Freund dabei zu helfen, sich aufzurichten. »Nur ruhig – ich bin da …« »Yulúc?« »Ja.« »Was – ist passiert? Wieso … wieso lebe ich noch?« »Sie ist …« Yulúc schluckte, als hätte sich ein Stein in seine Kehle verirrt. Dann setzte er neu an und sagte heiser: »Sie ist in den Pfahl gestürzt, den du in den Händen gehalten hast. Danach geschah mit ihr das, was auch schon den Leib des Hohen Zapata vernichtete … Alles, was von ihr blieb ist Asche.« »Aber – warum?« Yulúcs Augenhöhlen weiteten sich. Er gehörte auch zu jenen, die einen Weg durch den Wall gesucht hatten, aber nur ins tiefe Reich gelangt waren. Calot selbst hatte das Augenlicht des Mannes zerstört, und ebenso schrecklich zugerichtet sah Panabás Haut aus, die vom Ruch des magischen Gewölbes gereinigt worden war … »Ich weiß es nicht – und jetzt ist auch nicht die Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.«
»Sie ist tot …« »Ja, sie. Aber ihresgleichen leben. Wir sollten uns nicht darauf verlassen, daß Calot und die anderen sie –« Weiter kam Yulúc nicht. Weil ein anderer kam. »Was geschieht jetzt?« preßte Panabá hervor, der den Schrei des Sterbenden ebenso gehört hatte wie Yulúc. Weit voraus – dort, wo ein anderer Tiefer immer noch vor der Hohen Königin floh, deren Ende er nicht gesehen hatte – brach der entsetzliche Laut jäh ab. Yulúcs Hände ließen Panabá los. »Was …?« Yulúc drehte sich um und rannte. Sein Freund stolperte und stürzte. »Yulúc …!« Vergib mir, dachte Yulúc. Dann hetzte er den Weg zurück, den er gekommen war. Genau auf die Grube zu, die wie eine Wunde im Boden des Stollens klaffte. Yulúcs versuchte das Loch im Sprung zu überwinden. Weit vor ihm hasteten weitere Tiefe, die Calot als Bewacher der Gefangenen zurückgelassen hatte, durch den unterirdischen Gang. Sie flohen vor Pomoná. Und letztlich machte es überhaupt keinen Unterschied, vor wem sie es taten. Irgend jemand war da, um den Tod der Hohen Königin zu rächen. Hinter ihnen. In ihrem und Yulúcs Nacken! Und während weit voraus die Blinden nur unter der Welle strauchelten, die unsichtbar durch den Schacht brandete, blieb Yulúc abrupt stehen. Einfach stehen. Ein Schemen glitt durch den in Feuerschein gehüllten Stollen auf ihn zu, bremste jedoch nicht ab. Etwas Hartes traf Yulúcs Gesicht und riß eine blutende Wunde. Dann war der Schemen vorbei, und Yulúc stand immer noch wie
angewurzelt da. Schreie erreichten sein Ohr. Doch sie verstummten schnell, und Stille kehrte ein. Der Schemen kehrte zurück. Er hatte Yulúc nicht vergessen …
* Landru war verblüfft, wieviel Kraft er aufbieten mußte, um den Willen der Blinden, auf die er traf, zu brechen. Im ersten Moment hatte er fast geglaubt, sie überhaupt nicht unterwerfen zu können – doch dann hatte der hypnotische Zwang sie doch gelähmt, und er hatte nur noch tun müssen, was er schon zahllose Male in der wirklichen Welt draußen getan hatte. Töten war ein simples Handwerk. Es erforderte keine Kunstfertigkeit – nur den Mangel an jeglichem Skrupel. Landru stoppte bei der Asche Pomonás. Unscheinbar lagen ihre Reste auf dem sandigen Boden des Stollens. Er widerstand der Versuchung, sie mittels seiner Magie noch einmal zum ursprünglichen Bildnis des Kelchkindes aufblühen zu lassen. Es wäre eine sinnlose Vergeudung von Energie gewesen. Nach kurzem Aufenthalt verwandelte er sich in seine Fledermausgestalt und jagte den Fliehenden hinterher. Die meisten waren blind – seltsam –, nur einer sehend, und dieser eine stoppte sofort in seiner Flucht, als Landrus hypnotischer Hauch ihn streifte. Er schonte ihn, bis er die Blinden eingeholt und für ihr Vergehen zur Rechenschaft gezogen hatte. Dann kehrte er zu ihm zurück. »Wie heißt du?« »Yulúc.« Von Yulúc erfuhr er in groben Zügen, was es mit dem Tiefen Reich und den Tiefen auf sich hatte. Und wer den Überfall auf den Palast angezettelt hatte. Nicht Lilith, sondern die Geknechteten selbst wa-
ren der Herrschaft der blutdurstigen Könige überdrüssig geworden und nun dabei, sie zu stürzen! Am meisten erzürnte Landru bei diesen Eröffnungen, wie leicht seine Kinder es den Sterblichen gemacht hatten, diesen Aufstand anzuzetteln. Sie hatten es gar nicht verdient, dieses Reich zu verwalten! Im Laufe des Verhörs steigerte sich Landru fast mehr in Rage gegen seine Kinder als gegen die Rebellen. Das katastrophale Versagen der Vampire würde von ihm geahndet werden! Pomonás Schicksal nahm nur das Urteil vorweg, das er selbst über die Vampirin verhängt hätte. Und das die anderen Täuflinge noch erwartete …
* Nona hatte die Plattform des an den Palast grenzenden Großen Tempels erstiegen, um sich einen besseren Überblick über die haarsträubende Entwicklung zu verschaffen, von der auch sie überrascht worden war. In ihrer unmittelbaren Nähe hielten sich ein paar Priester auf, deren bemalte Gesichter die Flammen von drüben widerspiegelten und darüber hinaus einen Ausdruck zur Schau trugen, als sollte das nächste Menschenopfer ausnahmsweise an ihnen, den sonstigen Henkern, vollzogen werden … Der Gedanke erheiterte Nona nur wenig. Die Frage, ob sie die dramatische Entwicklung hätte verhindern können, wenn sie im Palast geblieben wäre, statt sich aus egoistischen Gründen zu entfernen, beschäftigte sie unentwegt, auch wenn sie gar nicht lange – höchstens ein paar Stunden – fortgewesen war.* Die Lage war verworren. Immer wieder erklang neuer Explosions*siehe VAMPIRA T34: »Liliths Kinder«
donner, der die Flammen weit aus sämtlichen Öffnungen des Gebäudes trieb. Priester hatten von Gestalten berichtet, die unmittelbar nach den ersten Detonationen aus dem Palast geflüchtet waren. Andere Befragte wollten Schemen gesehen haben, die auch noch nach Ausbruch der Brände ins Innere geeilt waren. Um wen es sich jeweils gehandelt hatte, wollte oder konnte niemand sagen. Unbestätigten Gerüchten zufolge waren die vampirischen Tyrannen kurz auf der gegenüberliegenden Palastseite gesichtet worden. Nona ballte die Fäuste. In ihrer derzeitigen Verfassung war sie außerstande, ins Geschehen einzugreifen. Und das, obwohl »draußen«, hinter Mayabs magischen Grenzen, der Mond in voller Pracht leuchtete! Sein verderblicher Einfluß erreichte Nona jedoch nicht in der Weise, wie sie es gewohnt war. Hier drinnen, innerhalb der verborgenen Stadt, vermochte sie sich nicht in das Mischwesen aus Wolf und Mensch zu verwandeln, das vor nichts und niemandem zurückschreckte. Das jede Herausforderung annahm und über unmenschliche Stärke verfügte, einem Vampir in vielem ebenbürtig, in manchem möglicherweise sogar überlegen! O Geliebter, fieberten ihre Gedanken dem Mann entgegen, um dessentwillen sie all dies auf sich nahm. Was hält dich so lange auf? Wenn du nicht bald zurückkehrst, ist dieses Reich dem Untergang geweiht! Deine Kinder sind nicht fähig, es zu bewahren … Ihre Blicke lösten sich vom brennenden Palast und fanden, wie aufs Stichwort, wonach sie gar nicht gesucht hatten. Nonas leere Eingeweide schien sich zusammenzuziehen. Nein … Zuerst glaubte sie an Einbildung, an einen Streich ihrer überreizten Sinne. Doch Sekunden später hetzte sie bereits die halsbrecherisch steilen Stufen der Pyramide hinab. Landru entgegen.
*
»Wo sind sie alle hin? Wo ist sie …?« Harsch kamen die Fragen des schwer Gezeichneten, der seine Geliebte auf dem gepflasterten Platz zwischen zwei fast gleichhohen Bauwerken – das eine brennend, das andere noch unversehrt – umarmte. Fester, zwingender als sonst preßte er sie an sich. Erst als sie leise aufstöhnte, lockerte er den Griff ein wenig. »Sag endlich, wo sie ist!« »Lilith?« »Wer sonst?« Die goldenen Augen verloren ihren eben noch freudigen Glanz. »Sag du mir zuerst, was mit dir ist! Deine Haare … deine Haut …« Tatsächlich waren die Spuren des Säurebads, in dem Landru beinahe umgekommen wäre, noch nicht restlos getilgt. Obwohl seine Selbstheilungskräfte wahre Wunder gewirkt hatten, war die neue Haut noch immer sehr verletzlich und unfertig. Durch den Verlust seiner Haare bot Landru einen absolut ungewohnten Anblick. Aber trotz dieser krassen Veränderung hatte Nona ihn mühelos schon von weitem erkannt. Zu einzigartig war seine Art, sich zu bewegen, seine Ausstrahlung … »Wer hat dir das angetan?« stieß sie hervor. »Der Bruder, den du gesucht hast?« Landru schwieg. »Warum antwortest du mir nicht?« »Weil keine Zeit dafür ist. Später … Später will ich gern alles berichten, was sich im Ararat zugetragen hat und warum ich …« Er verstummte, ließ Nona los, trat einen Schritt zurück und machte eine unwirsche Geste in Richtung des Palasts. Dann wiederholte er seine Eingangsfrage: »Wo ist sie?« Nona zuckte die Achseln. »Ich wünschte, ich wüßte es.« »Was soll das heißen? Kann ich mich denn auf niemanden mehr verlassen?«
»Wenn du es so sehen willst …« »Von wollen kann keine Rede sein!« Nonas Gesicht wurde maskenhaft starr. »Es war ein Fehler, auf dich zu warten«, sagte sie so leise, als spräche sie nur zu sich selbst. »Ich hätte einfach fortgehen sollen. Mir wäre einiges erspart geblieben …« Landrus Augen glommen noch finsterer, noch zorniger, umrahmt von roher Haut. Natürlich wußte er nicht, worauf sie anspielte, welche Not ihr der Aufenthalt in Mayab bereitete. Wie sollte er auch? Als er sich brüsk von ihr abwandte, erwachte Nona aus ihrer Starre. »Wohin willst du?« Er zeigte keinerlei Bereitschaft, auch nur noch eine einzige Sekunde zu vergeuden. Jeder seiner Schritte drückte kompromißlose Entschlossenheit aus. Ich werde es nicht zulassen! schien er Nona wortlos zuzurufen. Ich werde nicht zulassen, daß alles umsonst war …! Im nächsten Moment war er zwischen Rauch und Flammen verschwunden.
* »Laßt uns gehen! Wir haben getan, was getan werden mußte. Nun sollten wir an uns denken. Ihre Festung ist zerstört, aber die Tyrannen leben fort. Zumindest sechs von ihnen …« »Fünf!« korrigierte Vador den blinden Calot. »Du vergißt, was Kanxoc berichtet hat, der die Hohen belauschte, ehe er auch im Gemach von König Chiquel Brandsätze zündete. Chiquel wurde durch seinesgleichen umgebracht! Verstehst du nicht, was das bedeutet? Sie zerfleischen sich bereits selbst! Unser Überfall hat sie ins Mark getroffen. Ihre eitle Selbstüberschätzung ist dahin. Sie haben ihren Nimbus verloren. Sie sind nicht länger die unüberwindbaren Gottkönige, die sie uns immer vorgaukelten! Wenn wir diese Chance un-
genutzt verstreichen lassen, sind wir nichts als unbelehrbare Narren! Ein zweites Mal werden wir sie nicht wieder so kalt erwischen, wie es uns heute gelungen ist. Das nächste Mal –« »Es ändert nichts an der Tatsache«, sagte Calot mit fester Stimme, »daß wir fort müssen. Jetzt. Sonst werden die Feuer, die wir gelegt haben, auch uns verschlingen.« Von allen Seiten kam Zustimmung. Auch Vador nickte. »Ich sage nur, daß wir draußen weiterkämpfen müssen! Die Tyrannen sind nicht unverwundbar, das wissen wir jetzt, und wir besitzen Mittel, mit denen ihnen beizukommen ist!« Vador bot Calot seinen Arm, um ihn aus dem brennenden Palast zu führen – so wie er den Blinden schon hereingeführt hatte. Immer wieder stürzten in der Nähe Wand- und Deckenteile ein. Mitunter klang das damit verbundene Bersten, als bräche nicht Stein, sondern Knochen. Als würde hier etwas in den Untergang gerissen, das lebte, und das noch gar nicht begriffen hatte, daß sein Ende unabwendbar war … Calot erbebte innerlich, als er sich bewußt machte, was sie hier angerichtet hatten – welchen immensen, irreparablen Schaden. »Wir haben es gleich geschafft«, sagte Vador. Doch noch im selben Atemzug stieß er einen Warnruf aus: »Aufpassen …!« Calot sparte sich die Frage, wovor Vador warnte. Er wußte es, als er das Rauschen hörte, das keinem Sturm entsprang. Weil Wind etwas völlig Fremdes in Mayabs engen Grenzen war. Flügel peitschten, als die kamen, deren Heim sie zerstört hatten. »Wir werden sterben …!« jammerte einer derjenigen, die noch sehen konnten, was da auf sie zukam. Calot spürte die unverhohlene Panik in der Stimme des Mannes. Er selbst aber reagierte, wie man es von ihm gewohnt war. »Falsch!« übertönte er jedes Zeichen von Schwäche im Umkreis. »Sie werden sterben! Und sie wissen es! Riecht ihr nicht ihre Angst? – Sie fürchten uns, und das mit Recht! Tötet und vernichtet sie! Be-
nutzt, was ihr in euren Händen haltet! Auch ihre gnadenlose Dämonie wird sie nicht länger schützen! Dies ist der Tag, dies ist die Stunde – unsere Stunde! Wehrt euch!« Er glaubte an das, was er ihnen predigte. Und nur deshalb konnte der Funke auf die anderen Tiefen überspringen, ganz gleich, ob sie nun blind oder sehend waren. Inmitten des unter der eigenen Last ächzenden und langsam in sich zusammensinkenden Palastes entbrannte eine Schlacht, wie sie dieses Mayab noch nicht erlebt hatte …
* Petén, Tumul, Atitlá und Oriente hatten sich für die direkteste Verbindung zwischen Chiquels Gemach und dem Palastbereich entschieden: Aus dem Fenster hatten sie sich drei Stockwerke nach unten gestürzt und waren dort in unmittelbarer Bodennähe wieder in das Gebäude eingedrungen. Ihre ledrigen Schwingen hatten sie sodann durch die vom Widerschein des Feuers erhellten Korridore getrieben, die ihnen nie fremdartiger, nie unwirklicher erschienen waren. Und schließlich … … hatten sie den Feind sehen können! Tumul, auch jetzt noch mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit in fremder Sicht schwelgend, zählte knapp zwanzig teils völlig verwahrloste Gestalten, die über den breiten Gang auf den Ausgang zuhasteten. Petén, Atitlá und Oriente flogen ein kurzes Stück hinter ihm, und sie folgten ihm ohne Zögern, als er die Brandstifter attackierte, die ihr Leben verwirkt hatten. Wie ein Schwarm bizarr-unheimlicher Vögel brachen sie über ihre Untertanen herein, doch schon beim ersten flüchtigen Kontakt mit den Menschenkörpern formte sich der personifizierte Terror aus den
Fledermausleibern. »Aaah!« brüllte Tumul dem Mann ins Gesicht, den er im Herabstürzen zu Boden gerissen hatte und nun mit seinem bloßen Gewicht dort festnagelte. Tote Augen erwiderten den beinahe irren Blick stoisch. Augen, die wie verdorrte Früchte in geöffneten Schalen aussahen. Augen, deren Leere den Tyrannen verhöhnte! »Wie heißt du?« schrie er. Der Mund des Blinden stand offen, aber es wich kein Ton, geschweige denn ein Wort aus ihm. Bevor Tumul sich die Zeit nahm, die übrige Lage zu überblicken, hob er seine zur Waffe mutierte Klaue, aus der die leicht gebogenen Nägel überlang, messerscharf und dornenspitz hervortraten. Er wollte die Kehle des Niedergerungenen gerade in einem zornigen Streich zerfetzen, als – als – – er etwas Kaltes an seinem Bauch spürte. Etwas, das die fließende, in jedem Greuel geübte Bewegung seiner Muskeln jäh zum Erliegen brachte! »Keine Bewegung mehr«, sagte der Blinde unter ihm. »Oder wir verabschieden uns beide aus dieser erbärmlichen Welt …!«
* Der Odem der Vernichtung durchströmte die Gänge des Palastes und beraubte sie all ihrer früheren Pracht, all ihres Prunks. Zwiespältig in seinem Empfinden, lauschte Landru dem Echo, das der Anblick in ihm hervorrief. Welch sinnlose Orgie der Zerstörung, dachte er. Und wie häufiger in letzter Zeit, wenn er mit Gewalt konfrontiert wurde, die er nicht selbst zu verantworten hatte, meinte er, jenes Andere zu spüren, das sich in ihm eingenistet hatte und das wie ein toter schwarzer Klum-
pen auf ihn drückte, seit … seit …? Mühsam erstickte er den Gedanken an das, was vom Rand seines Bewußtseins zu ihm herüberschielte, als wollte es über jeden seiner Schritte genau informiert sein … Er hörte Geräusche, die nicht in direkter Verbindung mit dem fortschreitenden Zerfall standen. Schreie. Sie zogen ihn magisch an, zumal er vertraute Stimmen darunter zu hören glaubte. Noch bevor er aber den Ursprungsort erreichte, fielen zwei Detonationen zusammen! Eine im Ganggewirr des Palastes – und eine weitere in seinem Kopf, die der Schockwelle ähnelte, die ihn kurz nach seiner Rückkehr in die Hermetische Stadt erreicht hatte. Nach Pomoná war es diesmal Tumuls Todesimpuls, der in sein Hirn stach! Sekunden später sahen Landrus neue Augen – neu wie seine Haut –, die Tragödie, die ein weiteres seiner Kinder verschlungen hatte …
* Vador hatte Calot zu Boden gedrückt und mit dem eigenen Körper vor den herumschwirrenden Splittern der Granate geschützt, die in unmittelbarer Nähe detoniert war. Als er nach einer Weile wieder aufschaute, besudelte nicht nur Blut die Steinplatten; überall verstreut lagen zerfetzte Körperteile. Sein Verstand sagte Vador, daß es sich dabei um die Reste zweier Körper handeln mußte, aber ein der puren Logik überlegener Aspekt bestritt dies sogleich energisch. Die primitive Bombe hatte zwei Leiber zerrissen, ja, aber nur einer davon war noch menschlich gewesen. Der andere … Vador erinnerte sich an die Umstände, die Zapatas Tod begleitet
hatten. Der Hohe König hatte sich selbst gerichtet, sich selbst in Gefangenschaft das Genick gebrochen, und war daraufhin binnen weniger Augenblicke zu einem Häuflein Asche zerfallen. Und hier … … war etwas ähnliches geschehen. Auch hier war von Tumul nur noch eine amorphe, staubähnliche Masse geblieben! Der Zufall hatte Vadors Blick in die Richtung gelenkt, in der ein Tiefer namens Xuxca attackiert worden war. Xuxca hatte trotz seiner Blindheit als talentiert im Umgang mit Sprengsätzen gegolten. Was aber letztlich zur Zündung der Bombe geführt hatte, die er bei sich getragen hatte, konnte Vador nicht beurteilen. Vielleicht hatte Xuxca sich absichtlich geopfert, weil ihm sein eigenes Leben als kein zu hoher Preis erschienen war, wenn er einen der Tyrannen mit in den Tod nehmen konnte … Unwillkürlich fragte sich Vador, ob er diese Courage auch aufgebracht hätte. Er bejahte es. Fröstelnd. »Was war das?« fragte Calot mit rauher, belegter Stimme. »Xuxca«, antwortete Vador. »Er hat … Tumul mit sich gerissen …« Deutlicher mußte er nicht werden – und ihm blieb auch keine Zeit. Der Vorfall hatte den erbarmungslosen Kampf als Ganzes nur flüchtig zum Stillstand gebracht. Die verbliebenen drei Tyrannen wirkten zwar noch leicht desorientiert, verrichteten aber das einzige Handwerk, das sie wirklich beherrschten, schon wieder überaus drastisch und gekonnt. Als gelte es nun nicht mehr allein die Zerstörung des Palastes zu sühnen, sondern auch den Tod des Bruderkönigs, starben mehrere Tiefe in rascher Folge furchtbare Tode. Fänge – Zähne und Klauen –, die aussahen, als wären sie den Jaguaren entliehen, mordeten, wer sich ihnen entgegenstellte. Aus den Kehlen der Blutsauger brachen Schreie, die zwischen Lust
und Berserkertum schwankten. Auch Vador und Calot, die zunächst nicht angegriffen worden waren, gerieten nun ins Visier der gedemütigten Herren. »Die Lage – wie ist die Lage …?« drängte der blinde Führer der Tiefen seinen sehenden Freund, während die Hohe Königin Oriente bereits mit unwiderstehlichem Zug und fiebrig leuchtenden Augen auf die beiden Männer zueilte. Vador verzichtete darauf, Calot mit der Wahrheit zu deprimieren. Behutsam löste er sich von dessen Berührung und stand auf. Die Waffen, die er bei sich trug, erschienen ihm in diesem Moment wie purer Aberwitz. Und der Sprengsatz in seiner Tasche, um dessen Zünder sich seine Finger schlossen … Ekel überrollte Vador. Ekel vor der eigenen Feigheit, mit der er noch nie zuvor in dieser lähmenden Absolutheit konfrontiert worden war … Orientes Mund, um den herum Blut wie zerlaufene Schminke prangte, rückte näher und näher. Von der Anmut der Hohen Königin war kaum mehr etwas geblieben. Die schrecklichen Schönen – unter diesem Etikett waren Oriente und ihre Geschwister in Mayab ebenso berühmt wie gefürchtet gewesen. Davon stimmte nur noch die erste Behauptung: schrecklich! Unbeschreiblich war das, was Vador entgegenflog. Ohne den Zünder ausgelöst zu haben, zog er seine Hand aus der Tasche zurück und reckte die Arme abwehrend gegen das gierende Tier, dem jede Anmut gewichen war. Erdrückend in seiner Häßlichkeit tauchte der Tod vor Vador auf. Calots Rufe achtete er nicht mehr. Bis ein anderer Ruf erklang – zwar keineswegs lauter, aber dennoch unüberhörbar …
* »Bastarde!«
Die Szene gerann. Alle Bewegung wich daraus und degradierte die Akteure zu hilflosen, ohnmächtigen Statisten! »Vater!« Es waren Atitlás Lippen, von denen schließlich ein Ton rann, wenngleich sie starr blieben, als wären sie aus Wachs. »Vater, du …?« »Undankbares Geschmeiß!« Landru schritt näher. Dabei transportierte seine Stimme ein Vielfaches jener hypnotischen Kraft, deren auch seine Kinder mächtig waren, es aber nicht verstanden hatten, sie zu ihrem Vorteil einzusetzen. »Woher kommst du, Vater? Wir –« Landru schnitt Oriente das Wort ab. Sie stand vor einem geduckt in abwehrender Haltung verharrenden Maya, hinter dem ein zweiter am Boden kauerte. Ein – Tiefer. Einer jener Blinden, von deren Existenz Landru erstmals in dem Stollen erfahren hatte, in dem Pomoná gestorben war. Noch während er den Mann musterte, ahnte er plötzlich, wen er vor sich hatte. »Bist du – Calot?« Der Mann straffte sich. Er war hager und sehnig, und seine Haut war glatter, als man es insgeheim erwartete, wenn man aufgrund anderer Äußerlichkeiten auf sein Alter zu schließen versuchte. Bis auf die gilbweißen Pupillen wirkten seine Züge einnehmend, und lackschwarzes Haar umrahmte schulterlang das Gesicht, das sich jetzt langsam Landru zudrehte. »Wer fragt danach?« »Dein König.« »Es gibt viele, die diesen Anspruch geltend machen wollten …« Der Blinde tastete an seinen vernarbten Hals. »Es war die ›Hohe Königin‹ Petén, die mir gleich nach der Geburt ihr Siegel aufzwang. Lange durfte sie sich meine Augen leihen – um meine Erlaubnis ersucht hat sie mich nie. Doch irgendwann wurden diese Fenster trüb.
Seither bin ich frei. Ich habe keinen Herrn mehr.« »Du irrst! Ich bin dein und –«, Landru nickte seinen Kindern zu, nicht weil er für einen Moment vergaß, daß der Blinde es nicht sehen konnte, sondern weil er wollte, daß sie es sahen, »– und ihr Herr! Solange ein Funke Leben in euch glimmt, dulde ich weder Versagen noch Ungehorsam!« Befriedigt merkte er, wie die Mienen der Vampirinnen – nur noch Petén, Atitlá und Oriente umgaben ihn – sich verfinsterten. »Wo ist eure Mutter?« Er benutzte die Bezeichnung in voller Absicht. »Was ist mit dir passiert, Vater? Deine … Haut …«, begann Oriente. »Wo ist eure Mutter?« Landru wich keinen Zoll von seiner Linie ab. »Zuletzt ging sie mit Chiquel in dessen Gemach …«, erklärte Petén händeringend. »Aber unser Bruder ist tot. Vorhin erreichte uns sein Sterbeimpuls. Das Feuer hatte ihn eingeschlossen. Auch die Frau, die du uns zur Mutter gegeben hattest, muß darin umgekommen sein. Chiquels Ebene ist eine Flammenhölle. Wir versuchten hineinzugelangen – es war unmöglich …« Bevor Landru nähere Auskünfte erhielt, erklang aus einem der höhergelegenen Stockwerke ein Donnern und Rumoren wie von einer Schlagwetterexplosion. Sofort bildeten sich Risse in der Decke, Staub rieselte, Steine krachten herab! Landru zögerte keine Sekunde. Er eilte auf den Blinden zu, bückte sich und zerrte ihn auf die Beine. An Oriente gerichtet befahl er: »Kümmere du dich um den, der vor dir steht! Und ihr beide, Atitlá, Petén … ihr pickt die Sehenden heraus. Die Blinden überlaßt ihr ihrem Schicksal! Ihr Anführer genügt mir …« Mit diesen menschenverachtenden Worten setzte Landru sich in Bewegung und schleifte den kaum Widerstand leistenden Alten mit nach draußen.
Die drei Vampirinnen, die das Desaster überlebt hatten, schlossen sich ihm folgsam an wie geprügelte Hunde.
* »Wohin willst du? Du gehst doch nicht schon wieder …?« »… weg?« Landru, der sich Richtung Wall gewandt hatte und gerade die Metamorphose einleiten wollte, um sich auf ledrigen Flügeln und schnellstem Weg dorthin zu begeben, hielt noch einmal inne und schüttelte, den Blick auf Nona geheftet, den Kopf. »Keine Sorge. Diesmal werde ich nicht lange fortbleiben, und ich verlasse nicht einmal die Grenzen der Stadt – noch nicht.« »Was hast du vor? Kann ich helfen?« Landru blickte nachdenklich auf die Frau mit dem aparten Gesicht, das sich zu jedem vollen Mond in eine wölfische Fratze verwandelte. Ein paar Herzschläge lang schwieg er. Dann schürzte er die mit junger Haut umspannten Lippen und sagte, nicht frei von Vorwurf: »Achte auf meine Kinder, damit sie keine weiteren Fehler begehen, bis ich zurück bin. Achte gut auf sie …« Sein Blick schweifte kurz zum Palast, und Nona verstand den Wink. In ihren goldenen Augen schwappte die Wut schier über. Aber bevor die Wolfsfrau zu einer rüden Erwiderung ansetzen konnte, hatte sich Landru bereits in verwandelter Gestalt in die Lüfte geschwungen und entfernte sich unaufhaltsam zu der Stelle, an der er Mayab betreten hatte. Als Nona sich den Vampiren und deren Gefangenen zuwandte, wurde ihr das Fehlen der meisten Kelchkinder erst richtig bewußt. »Wo sind eure Brüder und Schwestern?« fragte sie. In den Pupillen der Untoten irrlichterte es in einer Weise, die Nona endgültig klarmachte, welche Spannung zwischen Landru und seinen Kelchschöpfungen herrschte. Obwohl sie keine Antwort erhielt, obwohl die verächtlichen Blicke ihren schwelenden Zorn noch hät-
ten schüren müssen, wurde ihr fast kühl ums Herz. Sie ahnte, warum ihr nur noch drei der Täuflinge von einst gegenüberstanden. Und Lilith? War es wirklich vorstellbar, daß sie …? »Ihr hättet fortbleiben sollen!« zischte Oriente, deren sonst sinnlicher Mund von getrocknetem Blut umkrustet war und pure Verdorbenheit ausstrahlte, an Nona adressiert. »Ihr hättet unser Reich nie betreten dürfen … Ja, unser Reich! Ich verfluche unseren Vater und jeden, den er zu uns führte! Ihr habt das Unglück über Mayab gebracht! Diese hier …«, sie zeigte auf den Blinden, den Landru selbst aus dem Palast gezerrt hatte, »… hätten es niemals gewagt, sich gegen uns zu erheben, hätte die alte Ordnung fortbestanden. Mit eurem Kommen kam Unruhe auf. Die Frau, die wir Mutter nennen sollten … sie kümmerte sich viel zu sehr um die, die wir doch nur brauchen, um aus ihnen zu trinken …! Wie konnte er uns zwingen, dieses Spiel mitzumachen, es zu dulden …?« Nona trat einen Schritt auf Oriente zu. Von dem üppigen Jadeschmuck, mit dem sich die Vampire der Stadt gerne behängten, war nichts geblieben. Die drei kelchgetauften Frauen hatten sich selten so kraß auf ihre ureigene Natur beschränkt wie jetzt. Schöngewachsen waren sie ausnahmslos – aber attraktiv von innen heraus keine … Nona wunderte sich über ihre Gedanken. Sie selbst war das, was Menschen als Monster bezeichnet hätten. Sie selbst tötete und wühlte mit ihren Zähnen in dampfendem Menschenfleisch. Und dennoch: Sie hatte Phasen, in denen sie zu menschlichen Regungen, sogar Mitleid fähig war. Darin unterschied sie sich von Ungeheuern, die dem Bösen in jeder Sekunde ihrer Existenz verpflichtet waren! Wesen wie Landru? fragte sie sich ernüchtert. Nein, antwortete sie sich selbst. Er ist noch einmal ganz anders wie die unseligen Kinder, die der Kelch über so lange Zeit hinweg tötete und wiedererweckte. Landru war NIE tot. Kein Hüter war dies je. Sie ruhten in einem Jahrtausend-
schlaf, aber sie mußten niemals sterben, um ein neues Leben beginnen zu können. Die Alte Rasse, das sind nicht die Hüter, das sind all die, in denen der harte Puls der Kelchgeburt nachschwingt. Sie alle haben irgendwann ins Jenseits geblickt – und vielleicht kann niemand, der dies tat, der Liebe fähig sein wie sie Menschen verbindet. Oder eine Wolfsfrau und einen … Hüter. Sie wußte nicht, woher gerade jetzt diese Melancholie kam. Vielleicht war es, weil Landru sie verletzt hatte. Weil er auch ihr Versagen vorwarf, ohne sich überhaupt angehört zu haben, warum auch sie Mayab hatte verlassen müssen – ausgerechnet zu jener Zeit, als hier das Chaos um sich griff. Der volle Mond … Ihr Fluch, der sich zu einer Sucht entwickelt und hinausgetrieben hatte, weil sie den gewohnten wölfischen Drang hier drinnen nicht hatte empfinden können … Sinnlos, hier und jetzt darüber zu grübeln. Beklommen spähte Nona zu den Adobehütten, aus denen verschreckte Gesichter lugten. Gesichter, auf denen Schweiß glänzte. Es war heiß geworden in Mayab. Unnatürlich heiß. Der Palast glühte wie ein Ofen. Und in diesem Moment, völlig warnungslos, begriff Nona, was geschehen war. Sie erzitterte. Lilith war tot! Unglaublich … Sie schüttelte den Kopf, nahm nicht mehr wahr, was ihre Augen sahen. Lilith war tot …
* Wir müssen etwas tun, dachte Atitlá. Wenn wir warten, bis er zurückkehrt, ist es zu spät! Ihr Blick brannte auf der hellhäutigen Frau, die dem Hohen Vater loyaler zugetan war als seine eigenen Kinder. Zu-
allererst müssen wir sie beseitigen … Ein Teil ihrer Irritation, die sie zögern ließ, gründete darauf, daß sie zwar Pomonás und Tumuls Todesimpulse empfangen hatte, bis zur Stunde aber nicht wußte, wo Cuyo abgeblieben war. Wäre er in Chiquels Gemach umgekommen, hätten seine Geschwister dies spüren müssen. Da sie nichts dergleichen registriert hatten, gab es nur die Erklärung, daß Cuyo noch existierte! Aber wo war er? Warum zeigte er sich nicht? Hinderte ihn die Furcht vor Vaters Strenge daran …? Nein, befand Atitlá, man konnte Cuyo vieles nachsagen, aber Feigheit gehörte nicht dazu. Ein Verdacht begann in ihr zu keimen: Was, wenn er sich entschlossen hatte, Lilith nicht in Chiquels Gemach zur Strecke zu bringen, sondern irgendwo anders? Der Schild, hinter den sie sich zurückgezogen hatte, mochte auch bei beherztem Einsatz nicht zu durchbrechen gewesen sein – nicht in der Kürze der Zeit … Ja, dachte Atitlá, so gut wie überzeugt von ihrer These. Cuyo hatte ihre angebliche Mutter aus dem Palast geschafft, weil er nicht überzeugt gewesen war, daß das Feuer sie tatsächlich in diesem DING zu besiegen vermochte …! Falls dies stimmte, durfte der Hohe Vater nicht erfahren, wo der Bruder Lilith versteckt hielt. Sie hätte Landru unweigerlich verraten, daß ihre »Kinder« sie zu töten versucht hatten, und dann … Atitlá wagte es nicht, sich vorzustellen, mit welcher Strafe der Kelchmeister ein solches Vergehen ahnden würde, wo er Chiquel vor Tagen schon wegen einer Bagatelle fast qualvoll hätte sterben lassen. Sie wollte sich mit unverfänglicher Miene der Vertrauten ihres Vaters nähern, um sich ihrer zu entledigen und danach mit ihren Schwestern nach Cuyos Verbleib zu forschen. Doch bevor sie auch nur drei Schritte auf Nona zu getan hatte, hörte sie schon wieder den typischen Flügelschlag, mit dem sich
Landru entfernt hatte. Er kehrte bereits zurück! Selbst in der Fledermausgestalt strahlte er soviel Macht aus, daß Atitlás Kehle ausdörrte. Vorbei! Eine Chance – vielleicht die letzte – war vertan! Nur schleppend fanden ihre Gedanken sich bereit, sich mit dem zu befassen, was Landru mitbrachte. In den Fängen der Fledermaus hing … was? Weder Atitlá noch ein anderer Bewohner Mayabs hatten je einen Gegenstand wie diesen gesehen, und nicht nur Atitlá, auch die beiden anderen Vampirinnen rissen urplötzlich – scheinbar unmotiviert – ihre Arme hoch und preßten die Handflächen gegen ihre Ohren, als müßten sie sich eines ohrenbetäubenden Lärms erwehren. Nona bemerkte das absonderliche Benehmen und nahm an, daß Landru dahintersteckte. Sekunden später landete ihr Geliebter neben ihr und wuchs aus der Fledermausgestalt hervor. Als er sich aufrichtete, ruhte das Mitbringsel auf seinen Unterarmen, als besäße es ein immenses Gewicht. »Ist sie das?« fragte Nona. »Das Buch, für das Tausende ihr Leben geben mußten – und auch die Chronisten selbst?« Landru starrte mit unbewegter Miene an ihr vorbei auf die letzten der hiesigen Kelchkinder. Atitlá, Petén und Oriente krümmten sich wimmernd am Boden. »Hör auf!« fauchte Nona. »Hast du ihnen nicht schon genug angetan?« »Nein!« gab Landru in gleicher Schärfe zurück. »Doch davon abgesehen bin nicht ich es, der sie quält.« »Wer dann?« Er hob das gebundene Pergament aus Menschenhaut. »Das Buch – ich nehme an, es ist das Buch … und das, was niemals darin Ruhe finden kann …«
* Anderenorts Es kommt näher. Es schwillt an. WAS – IST – DAS? Das Feuer? Der Wind? Stimmen? Gesang? Eine – Melodie …? Ich halte inne. Blut füllt meine Kehle. Ich lausche. Seine Wärme ist mir angenehm. Aber was geschieht da draußen? Ich will – nein, muß es wissen. Kann der Versuchung, es herauszufinden, nicht länger widerstehen. Also öffne ich den Panzer an einer winzig kleinen Stelle … und zucke zurück. Einen Moment länger, und nicht nur das Blut in meinem Mund, auch das in meinen Adern hätte zu kochen begonnen. Das, was bei mir ist und mich tröstet inmitten mörderischster Glut, schreit qualvoll auf. Die Lücke schließt sich wie ein schwarzes Lid. Ich bündele Gedanken, um nicht im Morast von Hysterie und Panik zu versinken. WARUM? durchbohrt es mich wie eine stumpfe Klinge. Und aus meiner Kehle gurgelt es: »Warum habt ihr mir das angetan?« Eine andere Stimme, nah an meinem Ohr, übertönt für flüchtige Momente den Chor der Flammen (wenn es denn die Flammen sind), um in einer Weise zu antworten, wie ich es nie erwartet hätte. »Wir mußten es tun, Mutter …« »Warum?« »… weil du gar nicht unsere Mutter bist …«
* »Es war das Buch – ich ahnte es …«
Landru beobachtete, wie sich die drei Vampirinnen, an denen er einst das Kelchritual mit seinem eigenen Blut vollzogen hatte, benommen vom Pflaster erhoben. Nona trat neben ihn. Seine Hände waren leer. »Wo hast du es hingebracht?« »Dort, wo es sie nicht mehr martern kann.« »Martern?« Landru nickte. Sein Blick schweifte über die Vampire hinweg zu dem Palast, der noch älter war als sie – und nur noch eine glosende Ruine. Keiner der Maya, die diese versiegelte Welt bewohnte, hatte einen ohnehin sinnlosen Löschversuch unternommen. Wasser war ein rares Glut in Mayab – rarer noch als Blut … »Ich verstehe immer noch nicht«, hörte er Nonas Drängen auf Erklärungen. »Du behauptest, nicht du, sondern die CHRONIK habe sie in diesen hilflosen Zustand versetzt … Aber wieso spüren du und ich diesen unheilvollen Einfluß, wenn es ihn gibt, nicht? Oder die Leute dort, die angstvoll zu uns herüberschauen?« Obwohl Landru eigenen Gedanken nachhing, antwortete er. »Wer sagt, daß ich nichts spüre? Ich fühle es, seit ich dieses Buch aus Anums Falle geholt habe … Aber ich kann damit umgehen. Du und die Menschen hier, ihr könnt es nicht wahrnehmen, weil euch die Voraussetzungen fehlen. Du warst einmal empfänglich dafür – aber diese Sensibilisierung wurde dir wieder genommen. Du weißt, wann und wo …« Nona schwieg. Ihr Schweigen bewies, daß das Verstehen einsetzte. Landru ging auf die drei Frauen zu, an denen kaum noch etwas die Souveränität erahnen ließ, mit der sie ein halbes Jahrtausend auf dieser Seite der Grenze geherrscht hatten. Wie eine Königin sah keine mehr aus. »Wo sind die anderen?« fragte er sie, nachdem sie wieder aus eigener Kraft zu stehen vermochten.
Die Handvoll Aufständischer, die den Anschlag und seine Folgen überlebt hatten, hockten hinter Atitlá, Petén und Oriente lethargisch am Boden und hatten ihre rußgeschwärzten Gesichter in den Händen vergraben. Nur der einzige Sehende unter all den Blinden stand noch dort, wo Landru ihn hingestellt hatte. »Tot! Sie sind alle … tot!« Atitlá antwortete so schnell, daß es auf Landru den Anschein hatte, sie wollte anderen Aussagen zuvorkommen. »Wirklich? Ihr wart acht, nun seid ihr drei … Wollt ihr tatsächlich die Schande eingestehen, eine solche Schlappe zugefügt bekommen zu haben – von Menschen?« Auch wenn es so klang: Er wollte ihnen keine Brücke bauen. Es gab keine Entschuldigung für das, was in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit dermaßen eskaliert war … »Sie – sie werden es bitter büßen!« Petén kreischte fast. »Wir werden ein Exempel an den Elenden statuieren, die das feige Attentat überlebt haben! Wir werden sie öffentlich dafür bezahlen lassen, und nie wieder – nie wieder! – wird ein Bewohner der Stadt es wagen, der Hand, die ihn füttert, zu schaden …!« »Der Hand, die ihn füttert …«, wiederholte Landru, als grübele er wahrhaftig über dem Inhalt dieses Satzes. »Ist es nicht umgekehrt? Füttern sie nicht euch …?« Bevor Petén noch mehr Unsinn reden und Landrus Geduld überstrapazieren konnte, trat Atitlá so entscheiden vor, daß es dem Zürnenden und zutiefst Enttäuschten fast Respekt abnötigte. »Hab Erbarmen, Hoher Vater!« Sie senkte das Haupt. »Wir haben versagt! Jämmerlich versagt! Nicht einmal deinen dringlichsten Auftrag haben wir erfüllt … Die Frau, die du mit unserer Hilfe täuschen wolltest, ist dem Überfall dieser … Krüppel zum Opfer gefallen! Es ist unentschuldbar, auch wenn wir nie erfahren durften, welche eigentliche Absicht du mit deinem Plan verfolgt hast. Und dennoch flehe ich dich auch im Namen meiner Schwestern um Vergebung
an! Was geschehen ist, läßt sich nicht wiedergutmachen! Aber wenn du uns die Chance gibst, wollen wir versuchen, künftig all deine Erwartungen zu erfüllen! Bitte, Hoher Vater, dessen Blut uns einst das Leben wiedergab – hab Erbarmen! Wir sind ganz in deiner Hand …« Landrus Blick wechselte kurz zu Nona, als wollte er abschätzen, welchen Eindruck Atitlás Gnadengesuch bei ihr hinterließ. Doch Nona hielt sich völlig aus der Diskussion heraus. An ihrem Gesicht war abzulesen, daß eigene Sorgen sie quälten. Sie hatte Andeutungen gemacht, aber hier war nicht der rechte Ort, dem nachzugehen. Unvermittelt straffte Landru sich. Seine Augen sogen sich an Atitlás Zügen fest. Die Vielhundertjährige gab nicht zu erkennen, was sie beim Anblick des heimgekehrten Kelchmeisters empfand. Sie hütete sich, es zu zeigen. »Du bist sehr geschickt mit Worten«, sagte er schließlich, beide Hände zu Fäusten geballt und gegen seine Brust gepreßt. »Ich wünschte, du wärst es auch in deinen Taten. Dann müßte ich hier nicht Gericht halten über dich und die, die schweigen. Die sich hinter deinen Reden ebenso verstecken wie du selbst!« Atitlá blickte demütig zu Boden. Oriente und Petén scharrten unruhig mit den Füßen. Landru spürte selbst die Unwirklichkeit dieser Konfrontation. Irgendwie kam er sich vor, als wären die drei Vampirinnen und er – vielleicht noch Nona – ganz allein. Ganz unter sich. Die sonstige Bevölkerung Mayabs, sogar die Tiefen, schienen nicht zu existieren. Erst seine wiedererklingende Stimme brach diesen Zauber. »Es ist unklug«, sagte er, »aber ich billige euch eine letzte Bewährungsprobe zu. Wagt es nicht, mich noch einmal zu enttäuschen, denn dann … gibt es keine Gnade mehr! Und was das bedeutet, werdet ihr erst ermessen können, wenn meine Strafe über euch kommt …«
Er öffnete die Fäuste und zeigte mit dem Finger auf jedes erleichterte Gesicht. »Kümmert euch um die, die sich die Tiefen nennen! Verhört vor allem den Mann, der sich Calot nennt! Er soll euch die Männer und Frauen verraten, die seinem Geheimbund angehören!« »Die Blinden sind nicht … empfänglich für unsere Hypnose«, warf Atitlá zaghaft ein. »Wir haben es versucht, aber –« »Es gibt andere Methoden! Muß ich euch erst zeigen, wie man Folter zelebriert?« Atitlá wich verneinend zurück. »Gut. Wir treffen uns also bei der Hinrichtung.« Er wandte sich Nona zu. »Bei – wessen Hinrichtung?« erreichte ihn Orientes Stimme. Landrus von roher Haut umspanntes Gesicht wandte sich ihr nicht einmal zu. Unbeirrt ging er zu Nona und sagte: »Alle! Ihr werdet sie alle zu meinen Ehren opfern, sobald sie euch verraten haben, wer ihre Mitwisser und Helfer sind! Dort oben auf dem Großen Tempel werden wir gemeinsam feiern, daß Mayab wieder von gestrenger Hand regiert wird! Fortan werden drei, nicht mehr acht über Demut und Gehorsam wachen …!«
* Sämtliche Priester verließen die Kammer. In Windeseile hatten sie auf Landrus Geheiß bunte Webteppiche, weiche Daunenkissen und behagliche Decken in den Raum gebracht, der für ein solches Arrangement nie vorgesehen gewesen war. Blakende Fackeln verbreiteten zudem ein Licht, in dem sich die Unruhe jenseits der Türschwelle zu spiegeln schien. Unschlüssig blieb Nona vor dem Lager stehen. »Mir ist kalt«, sagte sie. Landru trat hinter sie und umschlang sie in vertrauter Umarmung.
Seine Hände schoben sich unter Nonas Kleidung und strichen verlangend über die straffen Brüste. Sein Geschlecht war hart wie Stein und pochte von hinten gegen ihre Pforte. »Nein«, lehnte sie sich gegen den vorhersehbaren Verlauf ihres Beisammenseins auf. »Wir haben uns noch nicht angemessen begrüßt«, raunte der Mann in ihr Ohr, dem nicht einmal die Verunstaltung seines Äußeren die Anziehungskraft hatte nehmen können. Zumindest nicht für Augen, die an der häßlichen Verstümmelung einfach vorbei auf das Bild zu blicken vermochten, das sie in einem abnorm langen Leben in sich gespeichert hatten. »Nein, das haben wir nicht …« Nona entzog sich der Umarmung. »Und jetzt bin ich nicht in der Stimmung.« Er ließ sie gewähren. »Du nimmst mir meine Worte übel«, sagte er. »Das, was ich dir vorwarf, bevor ich mich um die unfähige Brut und die Aufständischen kümmerte …« »Ich nehme sie dir sehr übel«, korrigierte Nona. »Du hast dich immer auf mich verlassen können. Und wenn du das vergißt …« »Es waren Sätze im Affekt. Kannst du nicht verstehen, was in mir vorging? So kurze Zeit war ich fort, und schon –« »– lief alles aus dem Ruder … ich weiß.« Nona setzte ein kühles Lächeln auf, das Landru für einen schmerzhaften Moment an die Maske erinnern mußte, hinter der er sich in tausend Jahren Hüterdasein vor der Alten Rasse, weniger vor den Menschen, versteckt hatte, um sein Inkognito zu wahren. Nona versuchte etwas anderes zu verstecken. Gefühle. Ihr war elend zumute wie selten. »Ich bedauere meine Reaktion. Genügt dir das?« Landru streckte die Arme aus, als wollte er seine Aufforderung, das Gesagte zu vergessen, unterstreichen.
Aber Nona schüttelte den Kopf. »Wir brauchen ein wenig Ruhe voreinander«, sagte sie so leise, als spräche sie nur zu sich selbst. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich das so bald sagen müßte, nachdem wir uns so lange Zeit nicht begegnen durften. Aber ich brauche Ruhe. Ich fühle mich schrecklich müde. Die Strapazen der zurückliegenden Reisen fordern offenbar ihren Tribut. Vieles ist anders geworden. Früher strengte mich nichts nachhaltig an. Aber seit der Dom mir meine Zukunft gestohlen hat …« Obwohl sie sofort verkrampfte, trat Landru nun doch wieder auf sie zu und faßte sie an den Armen. Die Sachtheit, mit der er dabei vorging, löste Nonas Verspannung. »Ach, Landru …«, seufzte sie, als wäre ihr Gemütszustand damit bereits erschöpfend beschrieben. »Wenn du meinst, fortgehen zu müssen«, sagte er, »dann geh. Wir haben immer gespürt, wann uns die Nähe des anderen zuviel wurde. Nur deshalb fühlen wir einander nach so langer Zeit überhaupt noch zugezogen. – Aber bevor du gehst, sag mir, was passiert ist. Ist es nur die Düsternis Mayabs, die dich forttreibt, oder was ist geschehen? Hat es mit … Lilith zu tun? Mit dem, was ich hier für sie inszenierte?« Nona senkte den Blick, als könnte sie ihm nicht dauerhaft in die Augen schauen. »Nein. Es hat damit zu tun, daß ich nicht mehr ich selbst sein kann …« Sie zögerte kurz, dann erzählte sie ihm, warum sie nicht hatte zur Stelle sein können, als der Palast überfallen und in Brand gesetzt worden war. Am Ende machte Landru ein betretenes Gesicht. »Das habe ich nicht bedacht«, gestand er ein. »Ich wußte, daß vieles in Mayab anders ist, aber daß du die Magie des Mondes vermissen könntest … damit habe ich nicht gerechnet, sonst hätte ich dir nicht aufgebürdet, hier auf mich zu warten! Glaubst du mir das?«
Sie lachte in einer Weise, als hätte es keinerlei Bedeutung, ob sie es ihm glaubte oder nicht. »Natürlich. Nur … es hilft mir nicht. Ich bin dem, was hier geschieht, nicht gewachsen. Nicht mehr. Ich muß erst wieder mit mir selbst ins reine kommen. Das kann ich hier nicht. Das kann ich nur …« »… bei Chiyoda?« Sie nickte. »Du hättest dich nicht auf mich verlassen dürfen! Was hätte ich auch ausrichten können, selbst wenn ich zum fraglichen Zeitpunkt zur Stelle gewesen wäre? Nur wenn mich mein Fluch überkommt, besitze ich Kräfte, die mich wehrhaft machen – aber nicht einmal deine Kinder mit ihren besonderen Talenten waren fähig, der Gefahr zu begegnen …« »Erinnere mich nicht daran.« »Es hat keinen Zweck, es zu vergessen. Gleichzeitig bin ich froh, daß du ihnen verziehen hast.« »Wirklich? Warum?« »Weil ich mir, seit ich hier bin, vorzustellen versuche, wie es für jedes denkende Wesen sein muß, hier eingesperrt zu sein. Vielleicht fällt es mir leichter als dir, es mir bewußt zu machen, vielleicht lasse ich es im Gegensatz zu dir auch einfach nur zu, Verständnis für sie aufzubringen …« »Sie?« »Von den Menschen rede ich sowieso. Aber speziell meine ich die Mayas, die einst von dir zwangsgetauft wurden.« »Zwangsgetauft … Was für ein Ausdruck. Es kommt mir vor, als wärst du sehr viel menschlicher geworden – weicher –, seit sich der ewige Lebensquell aus dir verabschiedet hat …« »Und wenn es so wäre?« Kurz blitzte es in Landrus Augen auf. Dann erwiderte er ausweichend: »Komm erst einmal zu dir. Tu, was du angekündigt hast: Begib dich in die Abgeschiedenheit von Chiyodas Refugium. Und gib mir Nachricht, sobald du gefestigt genug bist.«
»Wie werde ich dich finden?« »Wie du mich immer gefunden hast.« Landru zog sie in seine Arme, und Nona erwiderte seinen Kuß. Danach fragte er: »Wann willst du gehen?« »Morgen.« »Gut. Bleib hier und ruh dich aus. Dir steht eine weitere lange Reise bevor.« »Bevor ich gehe, habe ich noch eine Bitte.« »Welche?« »Das Buch, das du mitgebracht hast … Ist es wirklich die CHRONIK, von der Ninmahs Kinder sprachen, als ich ihnen im Ararat begegnete?« »Sie ist es.« »Dann …« Sie stockte. »Ja?« »Dann könntest du für mich darin nach etwas suchen.« Landru erriet auf Anhieb, worauf sie hinauswollte. »Der Ursprung deines Fluchs? Die Wurzeln des Werwolftums?« »Ja!« »Bedaure.« Er zuckte die Achseln. »Aber nur, weil ich die Schrift, in der die Chronik abgefaßt ist, nicht lesen kann. Darum brachte ich sie überhaupt nur mit hierher.« Nona blinzelte fragend, verwirrt und enttäuscht in einem. »Ich wollte Lilith dazu bewegen, mir daraus vorzulesen! Ich bin sicher, sie hätte es gekonnt. Nun gibt es nur noch ihn, an den ich mich wenden könnte …« »Ihn?« »Anum, meinen Bruder.« »Der dir das angetan hat …?« Nonas Blick streifte über Landrus verheerte Haut. »Und wieso vermag er die Schrift der Chronik zu lesen, du aber nicht? Seid ihr nicht gleichen Geblüts, gleicher Herkunft?«
»Das dachte ich auch immer. Aber unsere Wege haben sich vor langer Zeit getrennt. Anum hat sein Hüteramt planmäßig niedergelegt und an den nächsten Kelchmeister weitergegeben – ich hingegen …« »Du meinst, das ist der Grund?« »Es könnte der Grund sein«, sagte Landru ausweichend. »Als ich unsere Mutter tötete, zerschmetterten mich die Visionen beinahe, die mich beim Trinken ihres Blutes überkamen. Damals erfuhr ich erst, wer ich wirklich bin – was es mit der Dunklen Arche und dem untergegangenen Reich im Zweistromland auf sich hatte … Möglicherweise hätte ich all dies auch erfahren, wenn sich unsere Mutter nicht von uns abgewendet hätte. Wenn ich mich nach tausend Jahren Hüterschaft – wie Anum – einst wieder in meine Kammer im Dom gelegt hätte! Womöglich erhielt er nach dem Ende seines Amtes einen zweiten Ritterschlag. Etwas, das ihm all das Wissen, all die Macht und Fähigkeiten wiedergab, die wir einst unser eigen nannten!« Nona schwieg. Und auch Landru löste sich von ihr und ging – wortlos, zutiefst erschüttert, wie es schien – zu der kunstvoll ornamentierten Tür, die aus dem geschwärzten Holz einer Ceiba gefertigt war. »Wohin willst du?« holte sie ihn mit ihrer Stimme ein. »Sehen wir uns noch einmal, bevor du gehst?« fragte er, ohne zu antworten. »Natürlich.« »Gut.« Damit verließ er den Raum, der sich im selben Bauwerk befand wie der Weltenpfeiler – und das BUCH …
* Das Buch. Die Chronik.
Die »andere Bibel«, die unheilige SCHRIFT einer unheiligen Rasse … Landrus Finger strichen über den rauhen, bräunlichen Einband des Folianten, der größer und schwerer war als jedes andere Buch, das er je in Händen gehalten und in dem er geblättert hatte. Geblättert … Er konnte so viele Seiten wenden, wie er wollte, ihr Inhalt blieb ihm so rätselhaft wie jedem anderen Geschöpf auf diesem Planeten, ausgenommen – Landru zwang sich, nicht unentwegt an die zu denken, die nicht zur Verfügung standen, ihm daraus vorzulesen. Ein Fünkchen Hoffnung glomm immer noch in ihm, daß Lilith nicht in der Flammenhölle des Palastes zugrunde gegangen war, sondern sich noch irgendwo in Mayabs Grenzen aufhielt. Und daß er sie über kurz oder lang finden würde, falls sie sich absichtlich versteckt hielt. Doch warum sollte sie das? Ich weiß es nicht, antwortete er seinen eigenen Zweifeln. Wenn sie immer noch ihrer Erinnerungen ledig ist, dürfte es dafür keinen Grund geben. Er verbannte auch Lilith – wie Anum – endgültig aus seinen vordergründigen Überlegungen. Spukhafte Schatten zuckten über die junge Retina seiner Augen. Über seine Haut. Durchdrangen seine Kleidung wie Röntgenstrahlen, als wäre solcher Schutz hinfällig im Einfluß des Gebildes, das wenige Schritte entfernt rotierte? Landru löste kurz den Blick von der EWIGEN CHRONIK und blickte zu dem Pfeiler, der das »Gewölbe« stützte und speiste, das Mayab seit dem frühen 16. Jahrhundert von der übrigen Welt abschottete. Kelchmagie, dachte er. Das nicht einmal bis zur Decke des Raumes reichende Gebilde sah aus wie eine abgeschnittene schwarze Säule, die sich in sinnzerrüttender Weise … drehte? Irgendeine Art von Bewegung, ein Fluß fand statt. Aber was genau
es war, hätte auch Landru trotz seiner immensen Erfahrung im Umgang mit den Kräften des Lilienkelchs nicht zu sagen vermocht. Damals, vor fast einem halben Jahrtausend, hatte das Taufgefäß der Vampire diesen Pfeiler in den mathematisch exakten Mittelpunkt der Maya-Stadt »gestellt«: eine Ballung dunkler Energie, die offenbar keiner Kraftzufuhr mehr bedurfte, sondern sich selbst im Gange hielt. Ein perfektes Perpetuum Mobile! Und dieses mit dem Verstand kaum faßbare Gebilde projizierte den komplizierten, beinahe intelligenten Wall um Mayab, dessen einzige Aufgabe darin bestand, die von Landru unerlaubt gezeugten Maya-Vampire und ihre seit damals fast unveränderte Kultur von der Realität draußen auszuschließen. Dieser Wall war mehr als eine simple undurchlässige Barriere. Denn manches mußte er herein oder hinaus lassen. Um den permanenten Luftaustausch kam er beispielsweise nicht herum, sonst wären die Eingekerkerten schon unmittelbar nach Entstehung des Gewölbes erstickt. Auch Regen fiel von Zeit zu Zeit durch das »Dach« der kleinen Welt, das dennoch nichts anderes, auch nicht die des Fliegens mächtigen Vampire passieren ließ. Landru wußte, daß das Gewölbe, das der Sonne ihre stimulierende Kraft stahl, nur die eine Hälfte der Schale war. Daß der Wall um Mayab in Wirklichkeit eine sich auch durch die Erde fortsetzende Blase war – und dennoch das Sickerwasser abfließen ließ! Eine Absurdität reihte sich an die andere. Mayab war eine unmögliche Stadt, in deren Umland trotz verdüsterter Sonne Pflanzen als Nahrungsmittel gediehen, Tiere eine ähnlich triste Existenz führten wie das seit zwanzig Generationen gefangene Maya-Volk. Zwanzig Generationen. Landru schüttelte unwillkürlich den Kopf. Was die Magie des Kelchs hier erschaffen hatte und im Gang hielt, konnte nur als schlicht genial bezeichnet werden. Nebenbei erhielt sie nicht nur die Fruchtbarkeit der Mayas, sondern hatte sie sogar gesteigert. Das
durchschnittliche Lebensalter einer Generation betrug nicht mehr als etwa dreißig Jahre. Ausnahmen gab es nach oben wie nach unten. Auf diese Weise hatten auch die Kelchkinder nie Durst leiden müssen … In den hier demonstrierten Möglichkeiten sah Landru eine Chance, vielleicht doch noch Einblick in die Geschichtsschreibung der CHRONIK zu erhalten. Auch der Pfeiler war mehr als ein starres Element, das sich – einmal erschaffen – nicht mehr veränderte. Die hier manifestierte Kelchmagie, das hatte Landru an Geist und Seele erfahren, stand in Verbindung mit anderen magischen Depots rund um den Globus. Auch mit dem Dunklen Dom im Ararat existierte ein Kontakt, über dessen genauen Umfang Landru nur Spekulationen anstellen konnte. Vom Weltenpfeiler hatte er den Hinweis erhalten, daß im Dom »ein Bruder erwacht sei«. Anum. Daran, wie oft er darüber nachsann, konnte Landru erkennen, daß ihm der Bruderzwist unerhört nahe ging. Anum hatte dem Phantom im Ararat eindeutige Weisung erteilt, Landru zu töten! Ihm und jedem anderen den Zugang zur CHRONIK zu verwehren! Das, was Anum in der SCHRIFT gelesen hatte, mußte ihn verleitet haben, in seinem Bruder einen Feind zu sehen. Aber vielleicht ließ sich dieses Mißverständnis aufklären, wenn Landru erst selbst wußte, was in der BLUTBIBEL stand … Darüber hinaus erhoffte er sich aber noch anderen Aufschluß. Über ein Wesen, das ihm noch gefährlicher als der Erste Hüter erschien … »Gabriel«, rann der Name des personifizierten Bösen über seine Lippen. Täuschte er sich, oder brachte der Klang seiner Stimme – vielleicht gar die Nennung dieses Namens – die Glyphen auf dem Bucheinband in Unordnung? Hatten sich da … nicht etwas verschoben?
Kopfschüttelnd und beunruhigt ging er auf die Säule aus Energie zu. Das rotierende Nichts, dessen bloßer Anblick Menschenverstand in etwas zersplitterte, was nie wieder zusammenwachsen konnte! Sein Geist widerstand! Weil ich kein Mensch bin! Auch kein Vampir wie jene, die der Kelch erschuf. Aber was … dann …? Das Buch gegen die Brust gepreßt, betrat er die Sphäre aus Magie. WAS DANN?
* In Calots Welt gab es keine nächtliche Sonne. Dort war immer Nacht. Seit vielen Jahren schwamm sein Bewußtsein wie in einem lichtlosen Tümpel. Aber er hatte sich nie feige darin verkrochen – man hatte ihm keine Gelegenheit dazu gegeben. Vom ersten Tag seiner Erblindung an hatte er etwas tun müssen, wollte er nicht den Schergen der Tyrannen oder den Tyrannen selbst zum Opfer fallen! Aber jeder Weg ging einmal zu Ende. Calot stöhnte unter der Folter. Unter den Qualen, die ihm mit Zangen, Klingen und stumpfen Gegenständen zugefügt wurden. Er blutete aus unzähligen Wunden. Die Tyrannen hatten sich die Mahnung ihres Vaters zu Herzen genommen. In ihrem Namen zelebrierten Priester die Marter, die sie Calot und den anderen Tiefen zufügten. »Die Namen!« wurde Calot immer wieder aufgefordert, wenn sich das Dickicht der Schmerzen ein wenig lichtete. »Nenn uns die Namen, wir erfahren sie ohnehin! Wer unterstützt dich? Wer sympathisiert mit dir? Sag es, und der Tod wird dir eine Erlösung sein …!« Calot widerstand lange Zeit jedem noch so verlockenden Angebot, jeder noch so grausamen Drohung. Aber dann hörte er Vadors Stimme aus unmittelbarer Nähe. Hörte, wie Vador tonlos die Namen all
derer herunterbetete, die ihm bekannt waren … Da zerbrach etwas in Calot, nicht nur seine Widerstandskraft, auch sein Lebenswille allgemein, und er ließ sich zu einer Kurzschlußreaktion hinreißen. Als er die Klinge das nächste Mal auf seinem Bauch spürte, wo sie weitere blutige Opfersymbole einritzen wollte, bäumte er sich ihr mit aller Gewalt entgegen – – und trieb sie sich tief in die Eingeweide! Sofort schien sich glühende Lava durch seinen Unterleib zu wälzen. Ein paar Herzschläge später erbrach Calot Blut, und die Sinne schwanden ihm. Er starb. Und begriff zu spät, daß dies nichts änderte – im Gegenteil. Denn er starb den typischen Tod eines jeden Initiierten …
* Ein anderes Verhör: »Wie heißt du?« »Vador.« »Ich habe dich einst initiiert. Und es macht mich traurig zu sehen, was aus dir geworden ist. Macht es dich auch traurig?« »Nein«, antwortete Vador wahrheitsgemäß. »Ich dachte es mir. – Du bist der einzige Nichtblinde, der das Attentat überlebte. Was hast du mit denen zu schaffen, die sich die Tiefen nennen? Bist du ihr – Führer?« Vador blickte ins Antlitz der als besonders grausam verschrienen Königin Atitlá. Ihre Nähe legte sich wie ein schwerer, dumpfer Druck auf seinen Schädel und seinen Brustkorb. Das Herz hinter seinen Rippen pochte schwammig-überanstrengt, aber davon merkte er kaum etwas. »Nein«, sagte er und starrte dabei auf die verbrannten Stellen an seinen Beinen, wo glühendes Eisen Muster hinterlassen hatte. Atitlá
selbst hielt das Werkzeug in den Händen. »Calot ist unser Anführer. Aber wir alle, ganz gleich, ob blind oder sehend, die dem Bund angehören, sind Seelenverwandte.« Das letzte von ihm gewählte Wort schien das Feuer in Atitlás Augen stärker zu entfachen – es mutete an wie der verzögerte Widerschein der Flammen, die den Palast in eine häßliche Ruine verwandelt hatten und die inzwischen erloschen waren. »Dem Bund?« »Dem Bund der Tiefen.« »Wie viele seid ihr?« Atitlás Stimme gewann nun an Schärfe, obwohl dies so wenig ins Gewicht fiel wie die Folter, die sie Vador angedeihen ließ. Er stand noch immer im Bann von Landrus Suggestivkraft – für das Versagen ihrer eigenen gab es vielerlei Indizien, aber keine Erklärung. Wie geht das zu? Was macht die Tiefen anders als den Rest unserer Untertanen? »Ich weiß es nicht.« »Du weißt nicht, wie viele ihr seid?« »Nicht genau. Der einzige, der Kontakt zu allen pflegt, ist … war …« »Calot?« »Ja.« Atitlás Blick wechselte kurz hinüber zu dem anderen Opferstein, wo Petén den Blinden, über den sie sprachen, gerade ebenso quälte, wie sie selbst es hier bei Vador tat. »Meinst du«, fragte sie den Hypnotisierten, »er wird es uns verraten?« »Nein. Er wird eher sterben.« Um Atitlás Mundwinkel erschien ein Lächeln, so bizarr wie ihre Gedanken. Und wie aufs Stichwort erfüllte Calot schon im nächsten Moment ihrer beider mit Calots Tod verbundenen Erwartungen.
*
WAS WILLST DU? Landru krümmte sich unter dem elektrisierenden Strom, der ihn fragend durchfloß. Er hatte das Gefühl, in einem Nichts zu schweben. Im Vakuum eines sternlosen Raumes. Aber dessen tödliche Kälte und Leere fehlten. Etwas existierte durchaus um ihn herum. Aber nicht einmal seine genügsamen Augen waren in der Lage, auch nur einen schwachen Abglanz von Licht in dieser Finsternis aufzuspüren. Wie schon beim ersten Mal kam es ihm vor, als wäre er nur gelitten an diesem fremden Ort – viel fremder noch als das übrige Mayab –, nicht aber willkommen! Antworten, dachte er. Ich brauche Antworten. SCHON WIEDER? In der Stimme, die sich lautlos wie die Gezeiten eines sonst toten Ozeans in ihm bewegte, meinte er Wesenszüge seiner Mutter wiederzuerkennen. Des einzigen Geschöpfs auf Erden, das er fast noch mehr vermißte als haßte. Das letzte Mal, erwiderten seine Gedanken, suchte ich keine Antworten, nur einen Ersatz für meine Kräfte, die ich im Kampf gegen Lilith verlor.* Ich hatte keine Antworten verlangt! SO IST ES – UND DAS IST DER UNTERSCHIED. Heißt das, du … verweigerst mir deine Hilfe? WIE KÖNNTE ICH DIR ETWAS VERWEIGERN? ICH EXISTIERE ÜBERHAUPT NICHT. ODER WIE WÜRDEST DU MICH DEFINIEREN …? Ich weiß es nicht. Aber du bist mehr als nichts. Du hast … Verstand. Die Magie des Kelchs hat hier einst einen »Ableger« von sich gepflanzt, und irgendwie hat dieser Ableger sich weiterentwickelt – unabhängig von dem, was dem Kelch widerfahren ist. DEINE GEDANKEN KLINGEN, ALS HÄTTEST DU WISSEN *siehe VAMPIRA T32
ÜBER DIESE DINGE. ABER DU WEISST NICHTS. GAR NICHTS. Deshalb kam ich her. DU MACHST ES DIR LEICHT – ZU LEICHT. Landru versuchte sich seine Frustration nicht anmerken zu lassen. Ich habe etwas mitgebracht. BIST DU SICHER? Ja! Die Frage stürzte ihn in insgeheime Zweifel. Er glaubte die CHRONIK noch in seinen Händen zu halten. Sehen konnte er sie nicht mehr. Selbst das, was sein Tastsinn ihm vorgaukelte, erschien ihm plötzlich trügerisch. UND WAS WILLST DU DAMIT? Darin … lesen. DAS IST DIR VERSAGT. Ja. Aber warum? Ich habe dasselbe Recht wie – DU IRRST. DU HAST – ZU RECHT ODER UNRECHT SEI DAHINGESTELLT – NIE DEN LOHN DEINER HÜTERSCHAFT ERHALTEN. DAS UNTERSCHEIDET DICH VON DEM HOHEN MANN, DER DEM UNTERGANG DES DOMS ENTRONNEN IST. ALS EINZIGER. Anum! Die Frage war rhetorisch, und die »Stimme« ging auch nicht weiter darauf ein. Anum hat sich gegen mich gewandt, dachte Landru, und wie einen Feind behandelt! Aber ich bin nicht sein Feind, und das werde ich ihm beweisen! Ich bin sicher, das Mißverständnis läßt sich aufzuklären, wenn ich weiß, was er in der CHRONIK über mich gelesen hat. Es mag die Wahrheit sein – aber Wahrheit ist ein dehnbarer Begriff. Ich will und werde ihn überzeugen, daß wir auf derselben Seite stehen! DAS WIRD DIR NICHT GELINGEN. ODER WÜRDE DICH EIN INSEKT ÜBERZEUGEN, SELBST WENN ES DIR SCHLÜSSIGE BEWEISE LIEFERN KÖNNTE, IRGENDWIE MIT DIR VERWANDT
ZU SEIN …?
* Calot schlug die Augen auf. Absurderweise konnte er wieder … … sehen? Verschwommen noch, umrißhaft, sickerte das Bild seiner Umgebung durch seine Pupillen. »Wieso kann ich …?« Seine Stimme, die ein hohles, fremdes Echo in seinen Schädel warf, verebbte. Er richtete sich auf. Stille. In ihm war Stille. Vollkommenes Schweigen. Um ihn herum jedoch – Calot erkannte die Hohe Königin Petén, die wie schwerelos auf ihn zuglitt, so sicher, als hätte er sie erst gestern – nicht vor mehr als fünfundzwanzig Sonnenjahren – zum letzten Mal zu Gesicht bekommen. »Ehrwürdige …« War er das? Aber wer legte ihm ein solches Wort auf die Zunge? Er blickte an sich herab. Seine Kleidung war dunkel gefärbt, naß und im Bauchbereich zerfetzt. Das Blut, das die Tunika tränkte, war schon kalt. Mein Blut, dachte Calot. Er trat auf Petén zu. Einen Priester, der ihm im Weg stand, stieß er zur Seite, ohne sich Gedanken über die eventuellen Folgen zu machen. Seine Fesseln waren gelöst worden. Er lag nicht mehr auf dem Opferstein. Er war nicht mehr … blind! Träumte er dies alles nur? Hatte er auch nur geträumt, ein Tiefer zu sein …? »Herrin!« seufzte er glückselig, als er vor Petén auf die Knie fiel und mit spröder Zunge über ihre Sandalen leckte, in der Hoffnung,
solche Ehrerbietung könnte ihr gefallen und sie vergessen machen, was er ihr als Lebender angetan hatte. Die Vampirin starrte angewidert auf ihn herab. Dann schloß sie die Augen und betrachtete sich aus der Perspektive des Alten. Ohne die eigenen Lider zu heben, sagte sie: »Wie konnte es nur kommen, daß ihr so lange unbemerkt unter der Erde wühltet? Dumme, schwache, minderwertige Kreaturen wie ihr …?« Calots Blick fand, den Tränen nahe, Vador, den er zuletzt als jungen Mann zu Gesicht bekommen hatte. Er wollte ihn ansprechen, aber ein Knoten in seiner Kehle hinderte ihn daran. Dieser Knoten löste sich erst, als er Peténs Bitte erfüllte. Als er ihr verriet, was sie wissen wollte. Alles. Und jeden. Ungehemmt sprudelte sein Werdegang über seine Lippen – die toten Lippen einer gehorsamen Dienerkreatur. Die Geschichte, wie alles begonnen hatte …
* Nona trat aus dem Raum im Sockel der kleinen Stufenpyramide, die das mathematisch exakte Zentrum Mayabs markierte, hinaus ins Freie. Der Tempel hatte schon hier gestanden, bevor der Lilienkelch sich entschloß, die Stadt in einen Mantel aus Magie zu hüllen. Der Kelch hatte dieses verhältnismäßig kleine Bauwerk ausgewählt, um den Pfeiler aufzunehmen. Seither schlug in einer Kammer auf der Gipfelplattform ein Herz, das nie gelebt hatte – und vielleicht nie sterben würde. Vielleicht, dachte Nona, während sie die von dunklen Aromen erfüllte Luft einsog, würden die Säule und das Gewölbe, das sie stützte, ewigen Bestand haben und irgendwann eine gänzlich verödete Welt umschließen, in der es weder Mensch noch Tier noch Vampir
gab … Während sie sich fragte, wo sich Landru gerade aufhalten mochte, heftete sie ihren Blick auf den Palast, der nur noch eine an vielen Stellen in sich zusammengesunkene Ruine war. Nicht weit davon erhob sich der Große Tempel, wo die letzten Vampire damit beschäftigt waren, Landrus Befehl zu erfüllen. Ab und zu wehten die Schreie der Gefolterten bis zu Nonas Standort herüber. Wie sinnlos, dachte sie. Sie glaubte plötzlich zu wissen, daß Mayab keine Zukunft hatte, und noch stärker packte sie das Verlangen, von hier fortzugehen. Nicht das Ende, den völligen Zusammenbruch dieses unnatürlichen Gesellschaftssystems miterleben zu müssen … Als sie sich ein paar Schritte vom Pyramidensockel entfernt hatte, erschien oben auf der Plattform plötzlich Landru. Da wußte sie, wo er gewesen war. Er stieg zu ihr herab, und Nona unterdrückte gewaltsam das Bedürfnis, sich in seine Arme zu werfen. Ihr Verstand sagte ihr, daß eine zeitweilige Trennung das Beste für sie beide war, und wenn sie jetzt … »Es tut mir leid«, sagte er und unterstrich seine Worte gestenreich. »Leid?« echote sie. In knappen Worten schilderte er ihr, wo er mit der CHRONIK gewesen war – und was er zu erreichen versucht hatte. »Vergeblich«, schloß er. »Ich hatte gehofft, ich könnte den magischen Quell ›überreden‹, mir die Schrift zu übersetzen. Und ich bin immer noch überzeugt, er wäre dazu in der Lage. Aber ich kann ihn nicht zwingen. Vielleicht, wenn ich den Lilienkelch noch in seiner ursprünglichen Form besäße … Ich hätte mir auch deinetwegen gewünscht, die Glyphen zu entschlüsseln.« Er faßte sie eindringlicher ins Auge. »Du – willst schon gehen?« »Nein«, sagte sie. »Nicht vor morgen. Wie ich schon sagte.«
Er nickte. »Was wird aus dem, was du in mich gepflanzt hast, damit ich den Wall passieren kann?« fragte sie. Er zuckte die Achseln, als wüßte er es selbst nicht. »Es hat in der Welt, in die du zurückkehrst, keine nachteiligen Auswirkungen auf dich. Wenn es dich dennoch stört, werde ich es bei unserem nächsten Wiedersehen entfernen.« »Das kann lange sein.« Er schüttelte den Kopf. »Du meinst …«, seufzte sie, »… weil mir die Zeit davonläuft?« »Es ist nicht mehr wie früher«, bejahte er ihre Frage indirekt, »als es egal war, wann wir uns wiedersahen. Als die Jahre, wie viele es auch wurden, keine Rolle spielten …« Sie nickte verkniffen. »Wenn ich dich jetzt bitte, die letzte Nacht mit mir zu verbringen, bedeutet das nicht, daß ich nicht mehr zu dem stehe, was ich vorher gesagt habe. Ich gehe auf jeden Fall. Willst du trotzdem bei mir sein, wenn diese scheußliche Sonne hinter dem Wall versinkt?« Er überlegte lange, bevor er sich zu einer Antwort durchrang. Auch das hatte sich geändert.
* »Ich war der erste Tiefe«, sagte Calot mit leiernder Stimme. »Als junger Mann ließ mich eine Krankheit erblinden. Schon kurze Zeit nach diesem Schicksalsschlag kamen Priester in die Hütte, in der ich mit seiner Familie hauste. Vater und Mutter waren damals noch am Leben. Die Priester forderten mich auf, ihnen zu folgen. Hinauf zur Opferstätte des Großen Tempels. Meinen Eltern teilten sie mit, ich habe mein Leben durch die Krankheit verwirkt. Du, Hohe Königin Petén, die einst mein Blut kosten durfte, hättest es so entschieden, weil sich die Fenster, durch die du aus meinem Kopf heraus spähen
konntest, für immer geschlossen hatten. Damals habe ich erst erfahren, daß unsere Herren sich die Augen ihrer Untertanen zu eigen machen, um auf diese Weise jedes Aufbegehren schon im Keim zu erkennen und zu ersticken. Besondere Umstände haben damals mein Leben gerettet: Auf dem Weg zum Tempel brach der Boden unter mir plötzlich ein. Ein von Mardern gegrabenes und vom Regen weiter ausgeschwemmtes Loch entzog mich den Blicken der Priester, und diese waren wohl zu unentschlossen, mir sofort zu folgen. Bis sie endlich etwas unternahmen, war ich bereits durch einen zweiten Ausgang wieder herausgekrochen und hatte mich im Dickicht verborgen. Ich hörte, wie sich meine Häscher berieten und erfuhr, daß sie das Vorkommnis dem Palast melden wollten. Einer von ihnen ging fort, um es zu tun. Bald darauf erfüllte ein Brausen die Luft, und dann hörte ich plötzlich meinen Namen rufen – in fast unwiderstehlichem Ton: ›Komm heraus!‹ befahlst du mir, Hohe Königin, und fügtest hinzu: ›Erspare es dir, mich noch mehr zu erzürnen!‹ Damals habe ich kaum widerstehen können, aus meinem Versteck hervorzutreten. Der bedingungslose Gehorsam war tief verwurzelt. Aber letztlich verweigerte ich mich doch, auch wenn mich deine bloße Stimme wie trunken machte. Du hast den Priestern befohlen, das Loch, in dem ich verschwunden war, mit trockenem Gehölz aufzufüllen und anzuzünden. Auf diese Weise sollte ich ausgeräuchert werden. Und schon nach kurzer Weile trat der Rauch auch aus dem Ende des Ganges aus, durch den ich geflüchtet war. Auch dieser Schacht wurde aufgefüllt und in Brand gesetzt. Als ich noch immer nicht auftauchte, hast du angekündigt, mit deinem abgerichteten Jaguar wiederzukehren und ihn in den Gang zu schicken … Nachdem sich das Rauschen deiner Flügel entfernt hatte, hielt es mich nicht länger in meinem Versteck. So schnell es meine Blindheit erlaubte, rannte ich fort. Daß ich dabei keinem Priester in die Arme lief, konnte ich selbst kaum fassen. Am Ende rettete mir also diese
Verkettung von Glück und Zufällen das Leben. Nach Hause konnte ich mich nicht mehr wagen. Statt dessen floh ich zu dem kleinen Weiler abseits der Ziegelsteinhütten. Dort fand ich Unterschlupf bei einem befreundeten Bauernsohn, dem ich Jahre zuvor einmal das Leben retten konnte. Dieser Bauernsohn hieß Vador, und ich zeigte mich ihm nie offen, um die Gefahr zu bannen, durch seine Augen entdeckt zu werden. Die ›Fenster‹ in Vadors Kopf sollten dir, Petén, nichts offenbaren, was auch sein Leben in Gefahr gebracht hätte. Aus uns beiden, Vador und mir, entstand die Keimzelle, aus der sich schließlich der Bund derer entwickelte, die zurückgezogen im tiefen Reich auf ihre Stunde warteten …« Petén lächelte. »Ich bin zufrieden mit dir. Jetzt brauche ich nur noch die Position eurer Unterschlupfe und die Namen derer, die euch all die Zeit tatkräftig unterstützt haben.« Calot lieferte ihr alles, was sie wollte. »Nun hast du es dir verdient, Ruhe in der Asche zu finden«, sagte sie am Ende gönnerhaft. Und griff nach seinem Kopf. Griff in sein Haar, um … Aber soweit kam es nicht.
* »Der Hohe Vater …!« Die Priester, die dem Verhör der Gefolterten beiwohnten, wichen vor Landru zurück, als er die Plattform der höchsten Tempelanlage Mayabs betrat und Orientes Ruf erklang. Er lächelte düster. »Was habt ihr erreicht?« dröhnte seine Stimme über das windstille, künstliche Plateau. Petén trat Landru entgegen und zerrte den blinden Alten namens Calot an seinen schütteren Haaren hinter sich her. Vor dem ehemali-
gen Hüter stieß sie ihn zu Boden, ohne daß ein Klagelaut über seine Lippen kam. Noch bevor Calot den Kopf hob, hatte Landru mit erfahrenem Blick erkannt, daß er keinen Menschen mehr vor sich hatte, sondern eine Dienerkreatur. »Du hattest Gründe, ihn von der Folter zu erlösen?« fragte er Petén, ohne sie anzusehen. Die blinden Augen, die jetzt zu ihm hochstarrten, faszinierten ihn – weil sie nicht mehr blind waren. »Es erschien mir als der einzige Weg, mich in den Besitz seines Wissens zu bringen.« Landru nickte anerkennend. Auch er hatte die Widerstandsfähigkeit der Tiefen gegen jegliche Form von Hypnose gespürt. »Und?« fragte er. »Ist es dir gelungen?« »Ja.« »Er hat seine Verbündeten verraten?« »Wie hätte er sich in diesem Zustand weiter widersetzen sollen?« Um Peténs Mund prägte sich ein stolzer Zug. »Der Keim, den ich ihm persönlich nach seiner Geburt einpflanzte, um mir jederzeit seine Augen leihen zu können, tat seine Wirkung. Wir dulden keine Diener, aber das ändert nichts an ihrer hündischen Ergebenheit, solange sie ihr untotes zweites Leben auskosten dürfen. Er würde alles für mich tun …« »Wie du für mich«, sagte Landru. Hinter Peténs vordergründigem Blick zog etwas vorbei, was Landru daran gemahnte, daß er seinen Kindern immer noch nicht wieder vertraute – keinem. Vielleicht nie wieder. »Ja«, sagte Petén rauh. »Wie ich für dich.« Landru zeigte auf Calots Anhänger, deren Augen ihre Sehkraft nicht infolge einer Krankheit eingebüßt hatten, sondern die ausgestochen worden waren. Aber das war nicht alles, wie sich unschwer erkennen ließ, nun, da ihnen jeder Fetzen Kleidung vom Leib geris-
sen worden war. Sie sehen beinahe aus wie ich, dachte Landru. Ihre Haut wirkt wie … gesotten. »Frag ihn«, wandte er sich an Petén, »woher diese Verletzungen rühren.« »Warum fragst du ihn nicht selbst?« »Er ist deine Kreatur.« Petén nickte vorsichtig. »Wenn du meinst …« Sie zerrte Calot hoch und stellte ihn zwischen sich und Landru. Aus seinen von Tod und Neugeburt sehend gemachten Augen schaute er sie an. Nicht erwartungsvoll und nicht neugierig – einfach nur vom Wunsch beseelt, ihr nützlich zu sein. »Du hast gehört, was der Hohe Vater zu wissen verlangt – antworte ihm!« Während Petén sprach, suchten ihre Blicke Hilfe bei den Geschwistern. Aber nur Atitlá wich ihr nicht aus und nickte kaum wahrnehmbar. Indes erklärte Calot mit einer Stimme, die vergessen hatte, daß auch ein angemessener Tonfall zum Reden gehörte, was es mit den Hautverätzungen der Tiefen auf sich hatte. »Wir alle wachsen von Geburt an mit den Überlieferungen unserer Eltern auf – und so geht das weiter von Generation zu Generation …« Landru bezähmte seine Ungeduld. Calots ausschweifender Beginn ließ ahnen, daß er das Thema nicht in schlichten Worten abhandeln würde. Dennoch ließ er ihn gewähren – und gab auch Petén zu verstehen, ihre Unrast zu zügeln. »Schon vor langer Zeit«, fuhr Calot fort, »stießen unsere Vorfahren bei Brunnenbohrungen auf einen fast unversehrten Leichnam, der unter Tage zwischen Sand und Geröll eingequetscht gewesen war. Wie er dorthin hatte gelangen können, obwohl vorher noch gar kein Weg in die Tiefe geführt hatte, blieb zunächst völlig rätselhaft. Er
war aber kaum verwest, als hätte er erst kurze Zeit in der Erde gesteckt, so daß man ihn ohne große Mühe identifizieren konnte und herausfand, daß er wenige Tage zuvor urplötzlich verschwunden war und nur eine Nachricht hinterlassen hatte, daß er des Lebens überdrüssig sei und es nicht länger ertragen, sondern einen Weg aus Mayab heraus suchen wollte. Das Rätsel, wie er unter die Erde gelangt war, beantwortete dies jedoch auch nicht. Da sowohl in seinem Mund, als auch in Lunge, Speiseröhre und Magen Sand gefunden wurde, ging man davon aus, daß er noch gelebt haben mußte, als er an seinen späteren Fundort gelangt war! Offenbar war er im Schoß der Erde qualvoll erstickt, hatte noch verzweifelt versucht, sich bis zur Oberfläche zu wühlen – eine kleine Weile zumindest, denn lange konnte es bis zum Eintritt des Todes unter diesen Umständen nicht gedauert haben. Der Legende nach erhielten die damaligen Bewohner Mayabs erst Jahre später eine Antwort auf die ungelösten Fragen. Denn wiederum eines Tages wurde – diesmal oberirdisch – ein noch atmender, nur besinnungsloser Maya gefunden, der erst tags zuvor verschwunden war, nachdem er Nachbarn hatte wissen lassen, sich in den Wall stürzen zu wollen, um seinem Leben ein Ende zu setzen – bevor die Tyrannen ihm in viel grausamerer Weise zuvorkamen. Letztendlich hatte er ihnen doch nicht entfliehen können, denn bevor sich seine Familie um den Ohnmächtigen kümmern konnten, hatte der Palast reagiert: Ihr, Herrin, und eure Geschwister habt mit euren nicht minder gefürchteten Jaguaren jeden Flecken Mayabs nach dem Frevler durchkämmt. Zwischenzeitlich war dieser aus seiner Ohnmacht erwacht – aber seine verzweifelten Versuche, euch zu entkommen, irgendwo Unterschlupf zu finden, fruchteten nicht. Die Nasen der Raubkatzen fanden seine Witterung – und durften ihn schließlich auf euer Geheiß vor aller Augen zerfetzen. Von da ab wußte ein jeder, was zuvor nur euch Herren allein bekannt gewesen war: Daß der magische Wall um euer Reich jeden,
der den Ausbruch wagt, ins Stadtgebiet zurückschleudert. Irgendwohin. Die magische Entladung kann ihr Opfer in großer Höhe ausspeien, so daß er auf den Boden aufschlägt und ihm alle Knochen im Leib zerschmettert werden. Oder er kommt in der Erde wieder heraus, im Boden … Meist jedoch geschieht es an der Oberfläche, so daß ihr, Hohe Königinnen, eurem blutigen Zeitvertreib frönen können. Gemeinsam mit Vador suchte und fand ich Mittel und Wege, um den ein oder anderen, der die Flucht aus Mayab trotzdem wagte, zu retten und vor einem bitteren Tod unter den Klauen der Jaguare zu bewahren. Wir waren nicht zimperlich, als es darum ging, die Witterung der Spürkatzen zu neutralisieren. Eine spezielle Chemikalie ätzte den ›Geruch‹ des Walls von der Haut der Betroffenen. Und ein jeder, der auf diese Weise von uns gerettet wurde, konnte für den Bund der Tiefen gewonnen werden. Die Aussicht, eines Tages vielleicht tatsächlich zurückzuschlagen, gab ihnen neuen Lebensmut …« »Ihr habt euch diese … Verbrennung der Haut selbst zugefügt?« fragte Petén ungläubig. Schmerzen und die Wonnen der Selbstkasteiung waren ihr keineswegs fremd, aber diese Form der Verstümmelung von Geschöpfen, die sich nicht aus eigener Kraft davon wieder heilen konnten, überstieg spürbar ihre Vorstellungskraft.
* Die Ruine strahlte eine Fremdheit und Bedrohung aus, die Nona erneut daran gemahnte, daß sie in dieser Welt nicht mehr war als eine ganz normale Frau – mit all ihren Schwächen und nur wenigem, was überhaupt als Stärke bezeichnet werden konnte. Die Wölfin in ihr schlief. Sie zu erwecken würde ihr unter diesem Himmel niemals gelingen. Langsam stieg sie die aschegepuderten Stufen hinauf. Die Brände
waren erloschen, aber die Steinquader strahlten noch immer Wärme aus. Feine Haarrisse und Sprünge durchwoben sie mit fein verästelten Linien, die entfernt an ein Aderwerk erinnerten. Am Ende der Treppe, vor dem wie ein Schlund gähnenden Eingang, hielt Nona kurz inne und spähte zur Tempelpyramide, zu der sich Landru nach ihrer jüngsten Begegnung gewandt hatte. Er hatte sich über den Fortgang der Verhöre erkundigen wollen. »Nach Lilith willst du nicht suchen?« hatte sie ihn gefragt. »Es gibt immer noch keinen eindeutigen Beweis, daß sie in den Flammen umgekommen ist!« Und Landru hatte erwidert: »Ich werde mich der Suche nach ihr noch angemessen widmen, keine Angst. Sobald ich die Ordnung in Mayab wieder halbwegs wiederhergestellt habe. Sobald die drei künftigen Königinnen mir bewiesen haben, daß sie in der Lage sind, ihr Reich zu verwalten. Bleiben sie mir diesen Beweis schuldig …« »Was dann?« »Dann?« Landru hatte ein abseitiges Lächeln aufgesetzt. »Was dann mit ihnen geschieht, habe ich bereits entschieden.« Näher hatte er sich darüber nicht ausgelassen. Aber in seinen Augen hatte Nona einen Glanz gefunden, der sie erleichterte, nicht zu denen zu zählen, über die Gericht gehalten würde. Sie kehrte dem Großen Tempel den Rücken und schritt auf den Palasteingang zu. Insgeheim fragte sie sich, was sie hier eigentlich tat. Warum sie sich solcher Gefahr aussetzte, denn die Stabilität des monumentalen Gebäudes hatte dramatisch gelitten. Vielerorts waren Deckenteile eingestürzt. Überall lagen Trümmer, die den Weiterweg erschwerten, und manchmal glaubte sie in den Mauern ein Ticken und Knistern zu hören, als stünde auch die noch glosende Ruine kurz davor, in einem infernalischen Getöse unterzugehen. Nona setzte ihre Suche dennoch fort. Ja, Suche! Landru mochte glauben, auch später sei noch Zeit, sich Gewißheit über Liliths Ableben zu verschaffen, und für ihn persön-
lich mochte dies auch gelten. Für sie nicht. Sie würde fortgehen – morgen schon. Und wenn sich dann herausstellte, daß Lilith gar nicht umgekommen war, sondern irgendwo in Mayabs Grenzen Schutz vor den Flammen und dem feigen Anschlag gefunden hatte, dann … Dann wäre wertvolle Lebenszeit vergeudet, dachte Nona. Meine Zeit. Denn in den Jahren, die ihr noch verblieben, bevor das Alter ihre Kräfte zermürbte, wollte sie ergründen, worüber nicht einmal Chiyoda Kenntnisse besaß, obwohl ihr weiser Mentor in vielen Welten, in vielen möglichen Zukünften daheim war. Die CHRONIK, so hatten Ninmahs Kinder ihr versichert, enthielt Aufzeichnungen über den Ursprung des Wolfsfluchs, der einige wenige Menschen befiel, und der – dessen war sich Nona sicherer denn je – einen Sinn haben mußte. Sie klammerte sich daran, daß dem so war. Daß die Sünden, die sie begangen hatte und weiter begehen würde, letztlich noch zu etwas anderem führen würden als ihrer Verdammnis … Über immer noch gangbare Treppen erstieg sie Stockwerk um Stockwerk des ausgebrannten Palasts, und Streiflichter dessen, was sie hier vor dem alles vertilgenden Feuer erlebt und gesehen hatte, durchzuckten ihren Geist. Je höher sie stieg, je weiter sie sich vorwagte, desto fragwürdiger erschien ihr das Reich, das der Lilienkelch hier dereinst errichtet hatte. Was für eine Kelchbrut war das, die es nicht einmal schaffte, sich eines Feuers zu erwehren? Allmählich verstand sie Landrus wütende Reaktionen besser. Dann betrat sie die Räume, die einmal dem Hohen König Chiquel gehört hatten. Und fand, wonach sie in dieser Form nie gesucht hatte.
* Bist – nicht – unsere – Mutter … Die Worte kreisen in meinem Kopf. Ebenso all das, was ich außerdem erfahren habe – und nicht begreife. Warum? Warum tut er das? Warum gab Landru vor, sich zu erinnern? Mich heimführen zu wollen zu den meinen …? Diese schreckliche Welt, wer hat sie erschaffen? Landru? Etwa nur, um mich zu … täuschen? Ich liege da und lausche dem Gewicht, das auf mich drückt. Schmecke das Blut dessen, den ich nie geboren habe und dessen Erektion ich spüre, während ich aus ihm trinke. Immer wieder neu die Ader öffne, in der sich etwas verbirgt, das anders ist als das Blut, das ich zuvor auf Landrus Geheiß schmeckte. Die Zeit vergeht. Ich liege da – mit ihm. Ich reibe mich an ihm. Nicht hauteng, sondern wie eine Schale umgibt uns beide, was ich als Kleid zu tragen gelernt habe. Die Geräusche dahinter sind verklungen. Aber noch frisch ist die Erinnerung an die Hölle, die dahinter lauert. Ich zögere, die Schale zu öffnen. Wehre mich gegen das BEGEHREN, das die Enge schürt …! Auf die Fragen, die mich quälen, weiß der, der bei mir ist, keine Antwort. Er spielte ein Spiel, das ein anderer erdachte – ohne ihm das Ziel zu nennen. Das Gift ist aus mir gewichen. Das fremde Blut hat es fortgespült. Ich vermag wieder klar zu denken. Aber solange mir Anhaltspunkte fehlen, werde ich nicht in der Lage sein, Sinn und Regeln dieses »Spiels« zu durchschauen. Hat Landru es erdacht? Oder handelt er im Auftrag eines anderen? Aber wer könnte das sein? Wem könnte daran liegen, daß ich die-
ses Leben, diese Identität annehme? Mit meinen Lippen an der Wunde saugend, die mir neue Stärke schenkt, umfasse ich, womit mein Spender gegen mich drückt. »Machst du das … bewußt?« »Was, Herrin?« Herrin! Mein Schaudern wächst. Mein Hunger auch. Hunger, nicht Durst. Hunger nach … Wie erregend es sich anfühlt. Mir ist, als schwelle es in meiner Hand noch an. »Herrin … Was … was tut ihr?« »Gefällt es dir nicht?« Mein Raunen läßt seinen Körper zucken. Und dann – ergießt er sich in meine Hand. Meine Zähne schürfen tiefer, rücksichtsloser vor Enttäuschung.
* Nona berührte das »Ding«. Es lag inmitten von Schutt und Asche – und war selbst vollkommen frei davon. Nicht der winzigste Partikel hatte sich darauf abgelagert. Matt glänzend schimmerte es wie ein gespenstischer Sarkophag. Ein Fremdkörper inmitten des abgebrannten Gemachs. Seine Herkunft und das, was es verbarg, war ungewiß. Aber Nona wußte von Liliths Symbionten. Von ihrem mimikryfähigen, lebenden Kleid, das oft genug auch Waffe gewesen war und manchen Vampir mit medusenhaften Fäden umsponnen und getötet hatte. War dieses … Ding der Symbiont? Hatte er sich zu dieser Größe aufgebläht, um einen Puffer zwischen sich und der Gluthölle zu errichten? Mit ungläubigem Kopfschütteln tastete Nona über das dunkle, absolut glatte Material. Mit dem Knöchel klopfte sie dagegen, ohne daß das geringste hohle Geräusch hörbar wurde.
Zumindest nicht auf dieser Seite. Sie versuchte sich Lilith in diesem Panzer vorzustellen – lebend. Es gelang ihr nicht, obwohl sie manches Wunder gesehen hatte. Trotzdem war sie, als sie sich wieder aufrichtete, wild entschlossen, Landru unverzüglich hierher zu führen. Er mußte von ihrer Entdeckung erfahren. Nona wollte sich gerade abwenden, als es geschah. Als die Schale sich teilte …
* Die Namen der Verbündeten unter jenen Mayas, die den Putsch gegen ihre Könige unterstützt hatten, hagelten regelrecht aus Calots Mund. Die Kreatur lechzte nach der Anerkennung Peténs! Wenig erinnerte noch an den Blinden, wie Landru ihn zum ersten Mal im untergehenden Palast gesehen hatte. Ein Diener besaß keinen Stolz. Und selten war er das Blut wert, das er kostete … »Genug!« Nicht nur Petén, auch Atitlá und Oriente blickten fragend zu ihrem Vater herüber, dessen Stimme wie Donnergrollen über die Tempelplattform strich. »Tötet sie – tötet sie alle!« wurde er konkret. »Und genauso verfahrt mit denen, deren Namen ihr gehört habt! Schont keinen! Nie wieder soll jemand eure Allmacht in Frage stellen …« Und so leise, daß nur seine Kinder oder die, die ohnehin gleich sterben würden, es hören konnten, fügte er hinzu: »Außer mir.« Orientes Mundwinkel zuckten. Dann wollte sie sich, wie ihre Schwestern, dem Schlachten widmen, das Landru befohlen hatte – als wieder jemand Einhalt gebot. Mit einer Stimme, die besonders Atitlá das nackte Grauen einflößte. »Verzeiht, Vater!« rief derjenige, mit dem Atitlá bis zuletzt gehei-
me Hoffnungen verknüpft hatte – Hoffnungen, die sie jetzt fahren lassen mußte. »Cuyo …« Landru wandte sich der Gestalt zu, die in Nonas Begleitung auf die Plattform trat. Gefolgt von … Drei Königinnen stöhnten wie im Chor. … Lilith!
* Was bei seinen Kindern Bestürzung weckte, löste in Landru zunächst nur Verblüffung aus … dann Erleichterung … und schließlich – Verwirrung. Doch er überwand sein Staunen und eilte der Totgeglaubten entgegen. »Du lebst …?« Das Gesicht seiner Feindin blieb unbewegt, als hindere eine Wachsschicht es an jeder Regung. »Du bist erfreut?« fragte Lilith. »Maßlos! Ich dachte schon, du wärest umgekommen in den Flammen.« »Das bin ich nicht, wie du siehst.« Lilith schaute an Landru vorbei auf Petén, Oriente und Atitlá, deren Züge sich grimassenhaft verzerrten, als streife sie nicht nur ein Blick, sondern ein Feuerodem, wie jener, der den Palast in Schutt und Asche gelegt hatte. »Und wie ihr sehen könnt …« Orientes Mund klaffte auf. »Mutter …« Dann schnappten ihre Kiefer wieder zusammen, als hätten stählerne Federn sie bewegt und die Vampirin sich etwas erinnert, was jedes Weiterreden sinnlos machte. Und gefährlich. »Wo warst du?« Landru blieb ganz nah vor Lilith stehen. Dadurch hatte er nicht nur räumlich Distanz zwischen sich und die Vampi-
rinnen gebracht. Der Ausdruck in Liliths Gesicht war völlig verändert. Und als sie seine Frage mit den Worten »In der Hölle!« beantwortete, war Landru wegen ihrer eigenartigen Betonung tatsächlich kurz überzeugt, sie würde sich ebenso an ihre wahre Identität erinnern wie er selbst. Als wüßte sie wieder, was sich hinter dem Tor im Monte Cargano ereignet hatte, in Luzifers Alptraumreich …* Doch dann streckte sie den Arm aus und zeigte hinüber, wo die geschwärzte Ruine stand, und er begriff, welche Hölle sie meinte. Er nickte, wieder gefaßt, und sagte: »Du hast überlebt, nur das zählt! Komm, laß dich umarmen – und dann erzähl mir in Ruhe, wie das passieren konnte!« Er breitete seine Arme aus, und Lilith lachte. Verächtlich. Vibrierend vor Zorn! »Was ist?« Landrus Augen fanden Nona, die wenige Schritte hinter Lilith stand, neben ihr Cuyo, den Landru ebenfalls für tot gehalten hatte. Der gläserne Blick des Vampirs und Nonas unübersehbare Verunsicherung machten ihm endgültig bewußt, daß die Erleichterung über das Wiedersehen mit Lilith nicht ungetrübt bleiben würde. »Was ist?« Sein scharfer Ton schnitt das Gelächter der Halbvampirin ab. Die Wut und Verachtung in ihren Zügen wurden abgelöst von … Ekel. Als sie neuerlich an Landru vorbei zu den drei Blutsschwestern blickte. »Wollt ihr es ihm selbst sagen?« »Wovon sprichst du, Mutter?« Atitlás verkrampfte Muskulatur löste sich. Sie formte eine Unschuldsmaske. Lilith nickte. »Ich wußte, daß ihr dazu zu feige seid. Aber was habt ihr wohl zu fürchten von einem, der mich selbst belogen und betrogen hat …?« »Mutter, du …« Atitlá trat einen Schritt vor und meinte, an Landru *siehe VAMPIRA T16-25
gewandt: »Die Hitze und was immer sie noch erdulden mußte, hat ihrem Verstand Schaden zugefügt. Hoher Vater, laß mich um sie kümmern. Ich werde ihr –« »– ein Gift servieren, das besser wirkt als jenes, das ihr mit einem heimtückischen Pfeil auf mich geschossen habt? Das eure ruchlose Absicht vollendet?« »Wovon redest du?« Landrus Augen waren mit dem Fortgang des Wortwechsels zwischen Atitlá und Lilith immer schmäler geworden. »Von welchem Gift ist die Rede? Atitlá!« »Sie redet irre, Vater. Die Ärmste muß –« »Sie sagt die Wahrheit, Hoher Vater! Wir alle haben dein Vertrauen auf das Schmählichste mißbraucht! Denn als du fortgegangen bist, sahen wir eine Gelegenheit, uns ihrer zu entledigen!« Cuyos Stimme war voller Bitterkeit, als reute ihn die Tat, der auch er sich schuldig gemacht hatte, wahrhaftig. Landru stand sekundenlang wie vom Donner gerührt da. Atitlás kreischender Widerspruch, die boshaften Beleidigungen, mit denen sie nun auch ihren Bruder belegte, schien gar nicht in sein Bewußtsein zu dringen. Wie eine jener steinernen Stelen, die den Tempel schmückten, ragte er aus dem Boden der Plattform heraus. Lilith schwieg, als wollte sie geduldig seine Reaktion abwarten. Die erfolgen mußte. Und kam. »Ihr Wahnsinnigen!« Landrus Stimme schien nicht nur ihn selbst, sondern auch die überall nistenden Schatten zu beleben. »Wie konntet ihr das tun? Gerade habe ich euch verziehen, da …« Er sprach nicht weiter, verwandelte sich in ein Bildnis der Rache. Da erreichte ihn Liliths Häme. »Gehört das immer noch zum Spiel?« fragte sie. Er ruckte herum. »Spiel?« brodelte es aus seinem Rachen. Er war jetzt nur noch Vampir, kein Quentchen Mensch mehr, hatte die Fassade aus bemühter Güte und väterlicher Vergebung fallenlassen.
»Sie weiß, was du uns aufgetragen hast, Hoher Vater«, antwortete Cuyo an ihrer Stelle. »Ich habe ihr von dem Plan, den Nona überbrachte, erzählt. Ich habe ihr von dem Kelch erzählt, der uns wirklich in dieses unsterbliche Leben geboren hat – und nicht ihr Schoß.«
* Ist mein Name überhaupt Lilith? Stimmt wenigstens das? Ich fühle mich umgeben von Feinden. Umgeben von Niedertracht und Heimtücke. »Ich kann dir alles erklären«, sagt der Mann, dem ich vertraut habe. So sehr, daß ich ihm hierher folgte. In diese Welt, die der Welt vorenthalten wird. Zu Recht! Stünde es in meiner Macht, ich würde sie zerstören – jetzt, auf der Stelle! Für die einen wäre es eine Erlösung, und für die anderen, für die schrecklichen Geschöpfe, die jener »Kelch« geboren hat, die gerechte Strafe … »Erklären?« frage ich. »Darauf bin ich gespannt.« Er nickt. »Aber nicht hier.« »Warum nicht? Mögen es ruhig alle hören!« Eine Geste der Verneinung. Dann winkt er Cuyo zu sich. Doch Cuyo zögert. »Geh nur«, erlaube ich ihm. Hölzern setzt er sich in Bewegung. Neben Landru bleibt er stehen. (Landru? Hector Landers? Was davon ist wahr …?) »Hat sie aus dir getrunken?« Die leidlich verschlossene Wunde an Cuyos Hals bleibt dem Betrüger nicht verborgen. Cuyo bejaht. Daraufhin dreht Landru sich mir wieder zu und sagt: »Ich verstehe.« Dann versteht er mehr als ich selbst – wieder einmal. Ich für meinen Teil weiß nur, daß ich Cuyo zu mir unter die schützende Hülle
des Symbionten zerrte. Nein, meine Instinkte, nicht ich selbst taten dies! Und kaum daß sich meine Augzähne in seine Adern bohrten und ich sein Blut kostete, erlahmte sein Widerstand. Seither ist er … gehorsam. Seither reagiert auf jede meiner Gesten, sogar auf unausgesprochene Wünsche. WIESO? Und warum mundete mir sein Blut weit mehr als jedes, das ich vorher auf Landrus Geheiß trank? Was hat es mit dem Mal in meiner Hand auf sich? Ich hebe die Linke, öffne und wende sie, strecke sie Landru entgegen. »Was ist das?« frage ich ihn. »Offenbar kennst du mich tatsächlich, du weißt, wer ich bin – und verwendest dein Wissen, um mich zu hintergehen. Dann erkläre mir das!« Sein Blick flackert kurz, als er sich an das Mal in meiner Handfläche heftet. Die Tätowierung – oder was immer es ist –, die eine Fledermaus mit ausgebreiteten Schwingen darstellt. Sie war schon vorher da. Schon seit ich im Monte Cargano meine Augen öffnete und begann, die Welt neu zu erlernen. Aber nicht so. Nicht so! Die Zeichnung, die nicht auf die Haut aufgetragen ist, sondern unabwaschbar und nicht im geringsten erhaben unter sie geschoben zu sein scheint, hat ihre unauffällige Farbe verloren. Sie glüht jetzt regelrecht, und ein kaum zu beschreibendes, unangenehmes Gefühl geht davon aus. Ein unterschwelliges Ziehen, ähnlich dem, das ich spürte, als sich das Pfeilgift in mir ausbreitete. Aber das Gift ist überwunden. Mein Organismus hat es besiegt. Auch dank Cuyos Hilfe … »Eine … Entzündung«, sagt Landru lahm. Es scheint ihn nicht wirklich zu interessieren, obwohl ich im ersten Moment Erschrecken in seinen Augen zu lesen glaubte. »Komm jetzt, laß uns reden. Unter vier Augen.«
»Unter acht«, stelle ich meine Bedingung und deute zunächst zu der Frau namens Nona, die mich in inniger Umarmung mit Cuyo in der ausgebrannten Palastruine gefunden und hierher geführt hat, und dann auf Cuyo selbst. »Ich will, daß sie dabei sind. Sie steht auf deiner Seite – er auf meiner. Warum, weiß ich nicht. Aber vielleicht erfahre ich es noch.« »Ich will ihn nicht dabei haben!« Landrus schwarze Augen füllen sich wie mit grauem Rauch. »Daran zweifle ich nicht. Bleiben wir also hier, wo alle uns sehen und hören können …« »Nein!« Er macht eine kapitulierende Geste, der ich ebenso mißtraue wie all seinen anderen Beteuerungen. »Schon gut. Gehen wir …« Er setzt sich selbst als erster in Bewegung. Er will bestimmen, wo wir unsere Unterhaltung fortsetzen. Ich lasse ihn gewähren. Das, worin ich ihn und alle hier Versammelten unterbrach, hat er jedoch nicht vergessen. »Tut, was ich euch befahl!« faucht er Petén, Atitlá und Oriente zu. »Dann wartet hier, bis ich zu euch komme!« Sie erzittern. »Wo sind die anderen?« frage ich, während ich mich Landru und Nona anschließe. »Frag ihn!« erwidert Landru fast spöttisch. »Er müßte es gespürt haben …« Cuyo, der neben mich getreten ist und mich treu ergeben anblickt, sagt: »Tot. Sie sind tot. Chiquel starb durch meine Hand. Pomoná und Tumul vergingen, als ich bei dir lag.« Daß er Chiquel umbrachte, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Aber Pomoná und Tumul … Plötzlich erinnere ich mich an seine scheinbar unmotivierten, anfallartigen Zuckungen, während mich sein Blut tröstete und stärkte. Sie stehen in besonderer Verbindung miteinander, die Kinder, die ich nie zeugte.
Es gibt so vieles, was ich noch nicht begreife und erst lernen muß. Aber ich bezweifele, daß mir die Zeit dafür bleibt. Ich bin umgeben von Feinden. Umgeben von Niedertracht und Heimtücke. Ich habe keine Ahnung, wie ich aus diesem Morast entkommen soll. Schon das nackte Überleben gegen diese Übermacht erfordert mein ganzes Geschick, und doch ist mein Ende – das spüre ich – nur aufgeschoben. Ich fiebere dem Moment entgegen, da Landru die Maske vollends fallenläßt. Und mir die Gründe nennt, warum er mir all dies angetan hat. Ich weiß, es wird fürchterlich. Für mich.
* Mayabs Sonne versank. Die Nacht kehrte ein. Die finstere, erdrückende Nacht, die alles Leben innerhalb der magischen Grenzen zu lähmen schien. Die Vampire nicht ganz. Sie waren erschaffen worden, als die Wälle noch nicht existierten. Und jetzt standen sie auf der Plattform des höchsten Tempels. Allein und verlassen, obwohl hier und da ein Priester in ihrer Nähe kaum zu atmen wagte. Solche Gesellschaft änderte nicht das mindeste an der Einsamkeit der Ewigen. »Wie hat sie das getan …?« Atitlás Stimme weckte ihre Schwestern wie aus tiefer Agonie. »Du meinst das, was mit Cuyo geschehen ist?« fragte Oriente, ohne den Blick aus der Leere zurückzuholen. »Sie hat ihn behext«, sagte Petén. »Er benahm sich wie …«, sie trat nach dem Kleiderbündel, das vor ihr lag und das der alte Calot getragen hatte – mehr war nicht von ihm geblieben, »– wie eine elende Dienerkreatur!« »Aber er lebte«, pflichtete Atitlá ihr mit einem Nicken bei.
In ihrer Nähe lagen die Leichen derer, deren Genick sie gebrochen und so eine Entfaltung des Keims verhindert hatten. Sämtliche Gefangenen waren tot; auch Vador, der einzige Sehende unter ihnen, lag mit glashartem Blick neben einem der Altäre. Diesen Befehl des Hohen Vaters hatten sie befolgt. Der andere – die Verbündeten der Tiefen und die letzten Tiefen selbst aufzuspüren, um sie zu richten – hing noch in der Schwebe. Die neue Weisung, hier auf Landrus Rückkehr zu warten, verhinderte seine Ausführung. Die Suche den Priesterknechten zu überlassen versprach wenig Erfolg … Eine Weile herrschte wieder Schweigen zwischen den Schwestern. Bis Oriente zaghaft fragte: »Was können wir tun, damit er unsere Leben schont und uns verzeiht?« Atitlás heiseres Lachen wäre schon Antwort genug gewesen, aber sie nannte es auch noch brutal beim Namen: »Wir können nichts mehr tun – gar nichts. Er wird uns nicht noch einmal verzeihen. Ich hatte die Hoffnung, Cuyo könnte Lilith besiegt oder in seine Gewalt gebracht haben – nun ist es umgekehrt. Nun kann uns nichts mehr vor seinem Zorn retten!« »Dann müssen wir fliehen!« »Wohin?« Orientes schlanke Gestalt sank regelrecht ein. Bucklig wie die uralte Frau, die sie in Wahrheit auch war, stand sie da. »Der Wall ist undurchdringlich. Aber vielleicht können wir uns in diesem … tiefen Reich verstecken. Solange, bis er Mayab verlassen hat. Er wird nicht lange bleiben. Er gehört nicht hierher –« »Er wird keinen Stein auf dem anderen lassen und die Erde durchpflügen, um uns zu vernichten!« unterbrach Petén sie mit dumpfer Stimme. »Verstehst du immer noch nicht, wie unverzeihlich in seinen Augen wir gehandelt haben? Wir waren egoistisch, und dieser Egoismus wird uns das Leben kosten.« Der Fatalismus ihrer Schwester schien Oriente noch tiefer nieder-
zudrücken. Atitlá wirkte gefaßter. Aber sie widersprach Petén mit keinem Wort, als hätte sie auf den Punkt gebracht, was auch sie dachte. »Wir sollen also hier ausharren und warten, bis er uns tötet?« Oriente wankte. Ohne darauf einzugehen, sagte Atitlá: »Sie sind im Haus des Weltenpfeilers verschwunden. Dorthin flog unser Vater auch mit diesem … Buch, dessen Gebrüll ich jetzt noch in meinem Schädel hören kann. Was mag es gewesen sein? Und was will er damit?« Weder Petén noch Oriente wußte eine Antwort darauf. Stille senkte sich über den Gipfel des Großen Tempels. Schweigen. Eine namenlose, nie für möglich gehaltene Angst knebelte die Tyrannen …
* »Es ist wahr: Ich habe gelogen. Du bist nicht ihre Mutter. Du bist nicht einmal in der Lage, Kinder zu gebären. Aber du bist auch nicht wie sie …«, Landru hält kurz inne und zeigt in abfälliger Manier auf Cuyo, »… sondern wie ich. Wir beide wurden von keinem Kelch gezeugt. Wir waren niemals Menschen, auch nicht als Kinder. Wir sind anders – und werden es bis ans Ende unserer Tage bleiben!« Ich blicke zu dem Vampir von Mayab. Er steht zu meiner Rechten, Landru vor mir. Die Frau namens Nona hält sich neben der Tür zu der Kammer auf, in die wir uns zurückgezogen haben. Fackelschein erhellt den Raum. In einer Ecke liegen Decken und Teppiche am Boden, als hätte jemand hier geschlafen. Cuyo schaut unschlüssig. Sein Mund zuckt. »Was ist?« dränge ich. »Lügt er, oder stimmt es, was er sagt?« »Ich … weiß es nicht«, ringt der Bleiche mit den edlen Zügen und dem perfekt modellierten Körper sich eine Antwort ab. Noch immer
weiß ich nicht, warum er mir so ergeben ist. Aber ich bediene mich seiner Demut ohne jeden Skrupel. »Was heißt das?« »Ich wurde vom Kelch getauft – aber von deiner Herkunft weiß ich nichts.« »Wo ist dieser Kelch?« wende ich mich an Landru. »Er existiert nicht mehr.« »Das soll ich glauben?« »Es ist so.« »Er muß von einem besonderen Wesen erschaffen worden sein, wenn ihm solche Macht innewohnte … Wem gehörte er?« Sein Zögern ist kaum merklich, und sehr unterschiedlich interpretierbar. »Uns.« »Uns?« frage ich. »Uns beiden.« Ich schüttele den Kopf. »Dir und mir? Das glaube ich nicht!« »Aber es ist wahr. Du und ich, wir waren die Hüter jenes Kelchs. Seine Bewahrer. Und wir wechselten uns darin ab, von Ort zu Ort zu reisen, um Geschöpfe zu schaffen, die unsere Macht mehren, unsere Herrschaft festigen sollten …« Wieder wende ich mich an Cuyo. »Er war allein, als er damals zu uns kam und zu Vampiren machte«, berichtet er. »Du warst nicht bei ihm.« Weder bestätigt, noch widerlegt das Landrus Behauptungen. »Wenn du die Wahrheit sagst, warum dann dieses erbärmliche Spiel?« frage ich ihn. »Nein, ich glaube dir nicht! Du bist ein Intrigant, ein Betrüger, dessen Absicht ich nicht kenne. Und sie …«, ich wende mich Nona zu, »sie redet dir nach dem Mund! Von Cuyo weiß ich, daß Sie deine Anweisungen an die Kelchkinder überbrachte. Wer ist sie? Deine hörige Geliebte?« »Sie ist«, antwortet er mit fester Stimme, »unser Mündel.« Nona blickt bei diesen Worten zu Boden. Aus Scheu – oder weil
sie seine Worte nicht als neuerliche Lüge entlarven will? »Mündel?« »Unser Findelkind. Wir nahmen sie vor langer Zeit an Kindes statt bei uns auf, weil wir keine eigenen Kinder bekommen können.« »Aber sie ist nicht wie wir.« »Nein. Sie trinkt kein Blut, und den Fluch konnten wir nie von ihr nehmen.« »Welcher Fluch?« Er erklärt es mir. Nona ist Mensch und Wolf in einem. Eine Werwölfin. Ich höre mir alles an, bis die Ungeduld ein Ende setzt. Längst habe ich begriffen, daß Cuyo mir keine Hilfe ist – weil sich alles, was Landru mir auftischt, seinem Wissen entziehen muß. Er kann nur beurteilen, was das ureigene Geschick Mayabs betrifft. »Wenn all dies wahr wäre, warum dann diese Farce? Warum hast du mir nicht einfach die Wahrheit gesagt?« Die Verzweiflung, die er mir weismachen will, wirkt beinahe komisch. Aber ich halte meine Gefühle im Zaum. »Weil«, antwortet er, »es nichts genützt hätte, dir einfach zu sagen, wer du bist. Du solltest selbst zu dir finden. Selbst wieder ein Gefühl für deine Persönlichkeit entwickeln! Du kannst jemandem, der seine Erinnerung verloren hat, lange Vorträge darüber halten, wer er einmal war – aber er wird dadurch nicht wieder dieselbe Person. Sein früheres Lebens wird für ihn wie das eines anderen klingen, das er danach zwar kennt, aber doch niemals als das eigene annehmen wird … Stimmst du mir wenigstens darin zu?« Das muß ich wohl, denn es klingt plausibel. »Wie sollte es hier in Mayab weitergehen?« frage ich. »Mit mir?« »Du solltest das Herrschen wiedererlernen. Ich wollte dich zu Taten zwingen, die deine verschütteten Erinnerungen schließlich freigelegt hätten! Dafür übernahm ich die Rolle dessen, der kein Erbarmen, kein Mitleid kennt, auch nicht gegen die eigene Brut. Stets
hoffte ich, daß du dich wieder aus eigener Kraft entsinnst, welch große Vergangenheit hinter uns liegt – und welche große Zukunft vor uns liegen könnte. Vereint gehört uns die Welt! Aber ohne dich an meiner Seite ist alle Macht nichts wert! Auch Nona vermißt dich – die, die du einmal warst …« Ich sehe ihn an. Waren die Schocks, denen er mich unterzog, wirklich nur dazu da gewesen, die Mauern um meine Erinnerung niederzureißen? Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. »Was hat uns überhaupt die Erinnerung geraubt?« stelle ich die nächste Frage. »Was geschah in jenem Kloster, dessen Untergang wir nur knapp entgingen?« »Du wirst alles erfahren – und dich hoffentlich wiedererinnern. Ich bin nicht mit leeren Händen gekommen …« »Du warst fort – wo?« »Weit weg. Ich holte etwas, dem du glauben mußt, weil er nicht lügen kann. – Es war nicht leicht, es zu beschaffen …« Ich forsche in seinem Gesicht. In seinen Augen, die wie tiefe Brunnen sind, auf deren Grund die Wahrheit liegen mag. Aber läßt mich sein Mund daran teilhaben – oder spinnt er neue Netze der Lüge? »Von was redest du?« »Von einem Buch.« Ich verhehle meine Enttäuschung nicht. »Es ist kein normales Buch«, versichert er. Und Nona, die er unser Mündel nennt, nickt. Cuyo schweigt. Sein Blick ist fiebrig. Manchmal läuft ein Zittern durch seinen ganzen Körper. »Zeig mir dieses Buch.« »Das wollte ich ohnehin. Es ist ganz in der Nähe.« Der Vampir neben mir, von einem Kelch gezeugt, an den ich mich so wenig entsinne wie an alles andere, stöhnt. »Was hat er?« wende ich mich an Landru, als ich sehe, wie sich
Cuyo krümmt. »Durst«, bekomme ich zu hören. »Sein Körper schreit nach Blut – um zu ersetzen, was du ihm genommen hast! Überlaß ihn mir, ich werde mich um ihn kümmern. Und dann hole ich dir das Buch und gebe es dir zum Lesen. Das Buch, in dem alles steht – keine normale Schrift, sondern lebendige Geschichte, die hoffentlich die Leere ausfüllt, die in die klafft. Und die mir zurückgibt, was ich verloren habe … dich!« Nach diesen Worten bin ich außerstande, mich den Hoffnungen, die er genährt hat, länger zu versagen. »Gut«, sage ich. »Ich bin einverstanden.« In Cuyos Augen lodert etwas, was mich nicht mehr interessiert. Ich habe kein Mitleid, obwohl ich den Zorn in Landru ahne – den Zorn, der über jedes dieser Geschöpfe kommen wird. Und plötzlich bilde ich mir sogar ein, daß es Zorn darüber ist, was sie mir antun wollten. Sie versuchten mich zu töten! Möge nun mit ihnen geschehen, was ihm gefällt …
* Landru erklomm die Stufen der Pyramide, in deren Sockel Lilith und Nona zurückgeblieben waren. Ohne sich nach ihm umzusehen, wußte er, daß Cuyo ihm folgte, obwohl er nur noch der Frau hörig war, die aus ihm getrunken hatte. Zeitlebens würde sich daran nichts mehr ändern. Sie hat ihre Kräfte wieder entdeckt, dachte Landru. Zufällig? Oder regt sich tatsächlich das Erinnern in ihr? Löst sich die Blockade? Gelingt ihr aus eigenem Vermögen, was mir erst Gabriel zurückbrachte …? Kurz schweiften seine Überlegungen zu dem göttlichen Stigma, das Lilith ihm gezeigt hatte. Das Mal, über dessen Funktion ihn Gabriel unterrichtet hatte und das hier – in den Grenzen Mayabs – an-
ders reagierte als in der Welt draußen. Sie hat wieder Gefallen an schwarzem Blut gefunden. Und Cuyo den Keim des Gehorsams eingepflanzt … Die Dinge waren in schnelleren Fluß geraten, als Landru lieb sein konnte. Er fluchte. Dann hatte er das Ende der Treppe erreicht und befahl den dort stehenden Wächtern aus der Priesterkaste, das Tor zu öffnen, hinter dem der Pfeiler rotierte und ein Gewölbe stützte, dessen Gewicht nicht einmal Landru zu schätzen vermochte. Nach ihm trat Cuyo in die Kammer. »Warte hier!« gebot ihm Landru. Die Nähe der CHRONIK, nicht der Durst, der auch in ihm nagte, trieb Cuyo Schweiß auf die Stirn. »Was – ist – das, Hoher Vater?« Landru blieb ihm die Antwort schuldig. Er hatte das Buch der Bücher ursprünglich hier deponiert, weil der Pfeiler die Stimmen darin absorbierte. Stimmen, die seine Kinder ärger quälten als ihn selbst. Alle, in denen vampirisches Blut floß, konnten sie hören. Aber nicht alle konnten sie deuten. Konnte es Lilith …? Landru ließ Cuyo stehen und trat an ihm vorbei in die wogende Energie des Pfeilers – als wäre es der selbstverständlichste Akt der Welt. Vermutlich hatte Cuyo bis zu diesem Moment nicht einmal gewußt, daß man dieses Gebilde betreten konnte …
* »Kann ich ihm glauben?« Nona hält meinem Blick stand. »Es ist deine einzige Chance«, sagte sie. »Wieso denkst du das?« »Weil dein Mißtrauen dich vernichten wird. Du mußt Vertrauen haben.«
»Zu euch? Ich hoffe, du verstehst, wie schwer das nach allem fällt, was ihr inszeniert habt.« Nona nickt. »Das Buch hält die Antworten auf alle Fragen bereit, die dich quälen.« »Du kennst es?« »Nur vom Hörensagen.« »Du kennst es also nicht. Dann weißt du auch nicht, wer es geschrieben hat, und woher dieser Jemand sein angebliches Wissen um die Dinge nahm.« »Doch. Den Hütern des Buches bin ich begegnet. Und du selbst brauchst Landru nur anzusehen, um zu ermessen, was er auf sich genommen hat, es hierher zu schaffen.« Sie hat recht. Hat sie? Landru scheint durch seine ganz persönliche Hölle gegangen zu sein. Entsetzliches ist seinem Körper widerfahren. Aber das allein läßt noch kein neues Vertrauen in mir wachsen. »Wir werden sehen.« Ich fasse Nona ins Auge. »Wie lange kennen wir uns?« »Ich bin so alt wie dieser verborgene Ort.« »Werden alle Werwölfe so alt?« »Nein. Du und Landru, ihr gabt mir einst aus dem Kelch zu trinken – aber es war ein anderes Ritual als jenes, mit dem ihr Vampire gezeugt habt.« »Der Kelch!« bricht es aus mir hervor. »Immer wieder dieser Kelch! Wer gab ihn uns? Und warum gerade uns?« »Es steht alles in dem Buch. Auch«, Nona räuspert sich, »was der Ursprung meiner Art ist, kannst du darin lesen. Willst du?« Ich mache eine abweisende Handbewegung. »Später. Du wirst verstehen, wenn mich vorrangig interessiert.« Sie sieht nicht aus, als wollte sie es verstehen, obwohl sie das Gegenteil behauptet: »Natürlich …« Mich schaudert. Irgend etwas in diesem Raum, in diesem Gebäude
macht mich frieren. Ist es Nonas Nähe? Wir warten. Wir warten beide auf Landrus Rückkehr. Und ich könnte nicht sagen, wer von uns beiden ungeduldiger …
* Cuyo sah Landru wieder aus dem Weltenpfeiler hervortreten, nur wenige Herzschläge, nachdem er darin verschwunden war. Der Hohe Vater war unversehrt. Nun, jedenfalls nicht mehr versehrt als zuvor. So trat er auf Cuyo zu. Unwiderstehlich in seinen Bewegungen, denen zugleich etwas Unheimliches und Endgültiges anhaftete. Cuyo dörrte der Mund aus. Aber er war außerstande, zurückzuweichen. Liliths Keim fesselte und knebelte ihn weiterhin. Ihr Wille war es gewesen, den Kelchmeister hierher zu begleiten. Kaum mehr als eine Handbreit trennte sie voneinander, als Landru vor ihm stehenblieb – und unvermittelt zustach! Das Ding in seiner Hand sah aus wie ein spitzer Pfahl – aber ein Pfahl aus demselben Stoff, der zwei Schritte hinter ihm das Dach und die Wände dieser Welt stützte. Diese entsetzliche Waffe, die der Hohe Vater aus dem Pfeiler mitgebracht hatte, drang in Cuyos Brust ein – doch sie tötete ihn nicht! Der ehemalige Tyrann erstarrte wie zu Eis. Sein Blick wurde starr, seine Gedanken gefroren. Von einer Sekunde zur nächsten war er nicht mehr als ein lebloser Klumpen Fleisch – ein Klumpen jedoch, der noch immer auf Befehle reagieren konnte! »Entschuldige bitte, daß ich dich als Versuchskaninchen benutze«, höhnte Landrus Stimme, »aber ich muß mir Gewißheit verschaffen.« Er ging um Cuyo herum, stieß ihn an und beobachtete, wie der starre Körper trotzdem sein Gleichgewicht hielt. »Wer ist dein Herr?« fragte er dann. Die Stimme des Vampirs klang wie brechendes Eis, als er antwor-
tete. »Lilith Eden ist meine Herrin.« »Gut.« Landru nickte zufrieden. »Nun aber sage ich dir: Ich bin dein Herr! Also …?« »Ihr seid mein Herr.« Die Antwort kam ohne Zögern. Obwohl er es erwartet hatte, durchrann Landru ein leises Frösteln. Dieser Verlauf der Unterhaltung wäre unter normalen Bedingungen vollkommen unmöglich gewesen. Einen versklavten Geist erneut zu vergewaltigen, mußte eigentlich im Tod oder doch zumindest im Wahnsinn des Betroffenen enden. Und was mit Cuyo funktionierte … »Also höre mir gut zu«, fuhr Landru fort. »Im Weltenpfeiler wartet der Tod auf dich. Betrittst du ihn, wirst du vergehen – für immer. Hast du das verstanden?« »Ich habe verstanden«, entgegnete Cuyo leidenschaftslos. »Dann geh hinein!« peitschte Landrus Befehl – und der ehemalige Tyrann gehorchte, ohne auch nur Anstalten zu machen, sich gegen sein Schicksal zu wehren. Die rotierende Ballung aus Magie und Wahnsinn verschlang seinen Körper, kaum daß er darin verschwunden war.
* »Er kommt!« Orientes Blick fand als erster, wonach sie seit Stunden suchten. Die Finsternis vermochte nicht zu verhüllen, was auf ledrigen Schwingen nahte. Wenig später landete Landru vor ihnen und verwandelte sich in die Gestalt, die sie am meisten fürchteten. »Es ist soweit«, sagte er. Atitlá, die vielleicht am kühlsten nach einem Ausweg gesucht hatte, fragte: »Willst du dich uns noch einmal gnädig zeigen?« Landrus Gesicht blieb vollkommen unbewegt. »Nein.« »Also willst du uns töten? Aber was wird dann aus Mayab?«
»Mayab interessiert mich nicht.« »Was haben wir anderes getan als das, was die Taufe uns lehrte?« warf Oriente fast hysterisch ein. »Wir kennen keine Tugenden wie die Menschen! Wie kannst du uns strafen für etwas, das unser Wesen ist?« »Zu anderen könnt ihr so arglistig und unloyal sein, wie ihr wollt«, erwiderte Landru. »Aber mir, mir schuldet ihr bedingungslosen Gehorsam! Ihr solltet Teil meines Planes sein – nicht ihn sabotieren!« »Du hast uns nie gesagt, wozu dieser Plan dient. Hätten wir verstanden, was von uns erwartet wird, dann –« »Ich rede nicht von Verstehen – ich rede von Gehorsam! Ihr habt kein Recht, etwas zu fordern! Und jetzt schweigt – schweigt und folgt mir!« »Wohin?« fragte Petén bebend. Entgegen ihrer eigenen Erwartung erhielt sie eine vage Antwort: »Dorthin, wo auch ihr mir einen letzten Dienst erweisen könnt!« »Auch?« »Euer Bruder ist euch vorausgegangen …« Daß sie keinen Todesimpuls empfangen hatten, nährte ihre Hoffnung bis zuletzt.
* Ich lausche in mich. Ich fühle mich allein, trotz Nonas Gegenwart, die keinen Trost birgt. Ist diese schöne junge Frau, die den Charme eines Mädchens und die Reife einer erfahrenen Frau in sich vereint, nun Freund oder Feind? Sie gehört ganz zweifellos zu Landru – aber gehört sie auch, wie er mich glauben machen will, zu mir …? »Wo bleibt er so lange?« Die herbe Schönheit hat sich auf einen der Teppiche gesetzt und das Kinn auf die angezogenen Knie gestützt. Sie trägt nicht die hier
übliche Kleidung, sondern jene Mode, die ich hinter der magischen Barriere kennengelernt habe, als ich von Italien aus nach Sydney und weiter nach Mesoamerika reiste. Auf meine Frage hin hebt sie den Kopf leicht an und sagt: »Er hat versprochen, dir das Buch zu bringen, und er hält seine Versprechungen.« »Du hast eine hohe Meinung von ihm.« Ich gehe auf sie zu, bleibe aber stehen, bevor ich ihr zu nahe komme. Etwas an dieser Frau, die Jugend und Alter in perfekter Symbiose zu vereinen scheint, hält mich auf Distanz. »Er hat mich nie enttäuscht«, sagt sie. Ich nicke. »Und mich?« Sie senkt den Blick und flüstert gepreßt: »Ich ertrage es nicht!« »Was erträgst du nicht?« »Dich so reden zu hören … Nach allem, was uns verbindet.« »Ich wünschte, ich könnte es glauben – obwohl mich vieles abstößt, was er tut.« »Früher hast du nicht so geredet.« »Es muß etwas sehr Dramatisches geschehen sein, wenn sich meine Empfindungen so gravierend geändert haben …« Die Goldäugige schweigt … Ich habe nie Augen von solcher Farbe gesehen. Sie gefallen mir weit besser als meine eigenen grünen, die Landru jadegrün genannt hat – irgendwann auf unserem gemeinsamen Weg, während unserer gemeinsamen Suche nach der verlorenen Erinnerung. »Hat er dich –«, ich beuge mich ein wenig zu ihr hinab, könnte sie aber nicht einmal mit ausgestreckten Armen erreichen, »– jemals berührt?« »Berührt?« »Anders als man es bei einem … Mündel täte?« Sie spreizt die Hände, die ihre Beine umklammert hielten. »Worauf willst du hinaus?«
»Ich versuche mir ein Bild von uns zu machen – von unserem Zusammenleben. Und da Landru kein Mann ist, der sich an irgendwelche Regeln hält, finde ich es nicht abwegig zu vermuten, daß er …« Ich stocke. In diesem Moment ertönt die Melodie – oder ist es Gesang? –, die ich schon einmal vernahm, als ich mit Cuyo zusammen eingeschlossen im Panzer meines Kleides lag! Nona bemerkt meine Irritation. Sie blickt fragend zu mir auf. »Hörst du das?« Sie verneint. »Was meinst du?« Ich sehe mich um. Wir sind immer noch allein in der kalten Kammer, und die Fackeln an den Wänden flackern nicht unruhiger als zuvor. Und trotzdem … Das Raunen schwillt an, fast schmerzhaft, dann öffnet sich plötzlich die Tür. Landru kehrt zurück. Er ist allein, Cuyo ist nicht mehr bei ihm, aber dafür trägt er das, was er mir versprochen hat, in seinen Armen. Ich reiße die Fäuste hoch und presse sie gegen meine Schläfen. Der Chor der geisterhaften Stimmen brandet auf mich ein, als wollte er mich hinwegfegen. »Du spürst es?« Landru klingt zufrieden, als er die Tür hinter sich wieder schließt und zu mir tritt. Meine Augen hängen nur an dem Folianten. Das Material, aus dem er besteht, saugt meine Blicke förmlich in sich auf, und erstmals meine ich vereinzelte Stimmen zu verstehen. Auch die Schriftzeichen auf dem Einband – sie erinnern mich an etwas … an … (Runen. An ganz bestimmte Runen?) … ich weiß nicht mehr. »Wo ist Cuyo?« versuche ich mich aus dem Bann zu lösen. »Was kümmert dich dieser Narr?«
Nicht nur Landrus Tonfall, seine ganze Ausstrahlung hat sich verändert. Als ich den Blick von seinem Mitbringsel losreiße, sehe ich, wie auch Nona mir verändert gegenübertritt. Sie hat sich vom Boden erhoben. Ihre Haltung widerspricht allem, was man mich zuvor hat glauben machen wollen. »Es ist nicht mehr nötig, dich länger mit Samthandschuhen anzupacken!« zerstört Landru das eigene Lügengebilde. »Freiwillig würdest du mir nie vorlesen, was ich wissen will.« »Ich – verstehe nicht …« Die jäh umschlagende Stimmung erstickt beinahe die Stimmen, die mich rufen. Aus jenem Buch, das Landru festhält. Kälte kriecht in meine Knochen. »Du mußt nicht verstehen«, mischt die Wolfsfrau sich mit feindseliger Stimme ein. »Lies einfach vor! Lies!« Sie nickt Landru zu, und Landru reicht mir das Buch. Ich kann nicht anders. Ich stehe da und streckte die Hände aus, um es entgegenzunehmen. Dennoch sage ich: »Ich verstehe. Es war also doch alles nur Lüge. Ihr wolltet mich lediglich hinhalten.« Ich erwidere Landrus Blick in gleicher Weise. »Was immer du erwartest, jetzt werde ich es erst recht nicht –« Weiter komme ich nicht. Landru hebt etwas in die Höhe, das beinahe wie ein Messer aussieht, sich aber in seinen Fingern zu drehen und zu winden scheint. Als er es nach mir wirft, ist es schon zu spät. Ich versuche das Buch noch fallenzulassen und den Angriff abzuwehren. Aber das unwirkliche Messer ist schneller. »Was ist das?« höre ich Nona schreien, was mir auf der Zunge liegt. »Die Lösung unserer Probleme.« Landrus Antwort ist das letzte, was ich bewußt wahrnehme. Dann bohrt sich das Fremde in meine Brust – und übernimmt mit Eiseskälte meine Augen, meine Zunge … alles.
Landru spricht zu mir, aber mein Hirn begreift den Sinn der Worte nicht. Wohl aber DAS ANDERE in mir! Ich beuge mich hinab, lege das Buch auf den Boden, gehe vor ihm auf die Knie und schlage es auf. Und lausche den Stimmen der Glyphen, denen es meine Stimme leiht …
* »Was im alles in der Welt ist das?« Nona starrte auf das abstrakte Ding, das fast zur Gänze in Liliths Brust gedrungen war und dort weiter pulsierte und sich zu drehen schien. »Ich war noch einmal im Pfeiler«, sagte Landru, der den Vorgang mindestens ebenso fasziniert verfolgte wie seine Geliebte, »und habe mir ein Fragment der Wesenheit ausgeliehen.« »Der Wesenheit? Das hier …? Es sieht aus wie –« »Es ist der Pfeiler. Ein Teil davon.« Landru lächelte bizarr. »Die Magie besitzt ein Eigenleben. Ich kann mit ihr kommunizieren, wie ich es einst mit dem Lilienkelch vermochte.« »Ich verstehe immer noch nicht …« »Nun, wir sind sozusagen kompatibel«, erklärte Landru. »Ich kann sie nutzen wie meine eigene Hütermagie. Dadurch werden meine Kräfte derart verstärkt, daß sie jeden geistigen Panzer durchbrechen. Ich habe es zuvor an Cuyo getestet – mit vollem Erfolg.« »Ich verstehe«, sagte Nona. Ihr Tonfall ließ nicht erkennen, ob es ihr auch gefiel. »Leider ist diese Magie an Mayab und den Weltenpfeiler gebunden«, fuhr Landru fort. »So hilfreich sie auch ist, ich kann sie nicht mit mir nehmen … Aber genug der Erklärungen. Laß uns beginnen …« Nona kniff kurz die Lippen zusammen. Dann sagte sie: »Was im-
mer du dir zu erfahren hoffst – vergiß mich nicht. Meine Sache …« Landru gab nicht zu erkennen, ob er ihr zugehört hatte. Vorsichtig trat er auf die am Boden kniende Frau zu, deren Kleid sich gegen diesen Angriff nicht zur Wehr gesetzt hatte. Vielleicht erkannte der Symbiont die artverwandte Macht nicht einmal als Feind. Für einen Moment war Landru wie trunken bei dem Anblick der ihm Unterworfenen, die bereits begonnen hatte, die Seiten des Buches zu wenden. Die Seiten aus Haut und Blut und … Ja, da war noch mehr. Da war ein Echo der verflossenen Leben, die diese Schrift gekostet hatte. Stimmen, deren fernes Wispern auch Landru zu »hören« vermochte. Die Bedeutung jedoch blieb ihm verborgen. Die kryptischen Zeichen waren nicht für ihn gemacht. Er hatte nicht das, was seinen Bruder Anum auszeichnete … (Warum nicht?) Landru drängte die Bitterkeit zurück. »Lies!« verlangte er rauh. »Lies, was ich dir gebiete!« Er ging in die Hocke. Nona blieb hinter ihm. Vor ihm blätterte Lilith in der EWIGEN CHRONIK. Der Dolch aus geronnener Kelchmagie flirrte in ihrer Brust wie ein kaltes Feuer. »Suche nach dem leibhaftigen Satan«, wandte sich Landru an Lilith. »Suche nach seinen Masken, unter denen er in dieser Zeit auf Erden wandelt und Ränke schmiedet. Lies vor, was über einen Knaben namens Gabriel in der CHRONIK vermerkt ist …!« Nonas erschütterte Blicke bemerkte er nicht, denn seine Augen hingen nur an Liliths Lippen. Die geschlossen blieben! Ungläubig sah er zu, wie ihre Hände rasend schnell Seite um Seite des Buches wendeten – – bis keine Seite mehr übrig war. »Darüber steht nichts geschrieben«, sagte Lilith tonlos. Ohnmächtig vor Wut ballte Landru die Fäuste. »Die Schrift endet, als eine Frau namens Lilith Eden in den Dunklen Dom des Berges Ararat dringt und die Agrippa an sich nimmt, wonach die Heimstatt unter-
geht …« »Wann war das?« »Im Juli des Jahres 1996«, erfuhr er. »Das letzte, was niedergeschrieben steht, besagt, daß ein Ruf aus dem zerstörten Dom zu einem Tempel im Himalaja erging, wo die Kinder Ninmahs über mich wachten …« »Mich?« »Die CHRONIK.«
* Ich bin die Schrift aus Blut und Schmerz, aus Tod und Seelen. Ich bin die Hand, die schrieb, die Haut, die stillhielt. Ich bin … (Lilith?) … die CHRONIK. (Aufhören! Ich will nicht! Nicht wei-ter-le-sen!) »Geh noch einmal zurück«, sagt die Stimme. »Suche noch einmal nach dem Satan. Nach seinen Plänen, die nicht erst in dieser Zeit geschmiedet wurden! Er muß uralt sein, und sein Name muß nicht Gabriel lauten. Er nannte sich anders in jeder Zeit. Ich erinnere mich an – 1635. Suche nach diesem Jahr. Such nach Frankreich, nach Paris, vor dessen Toren ich im Körper des Vampirs Racoon starb …«* Racoon. Ich erinnere mich. Ich bin die Chronik. Ich fühle die Hand, die den Federkiel über mich führt. Die warme Tinte auf kalter Haut. Racoon … Ich öffne den Mund, der mein Werkzeug ist, mein Sprachrohr. Ich fange an, von dem zu erzählen, nach dem ich gefragt wurde. Dem Bösen, das viele Gesichter hat, viele Masken – aber nur ein Ziel. Ich verrichte meinen Dienst, gebe preis, was in mir schlummert. *siehe VAMPIRA T20: »Die Loge der Nacht«
Wissen. Macht. Geheimnis. Bis –
* »In drei Inkarnationen konnte er sich teilen – um an drei verschiedenen Orten zugleich die Saat des Krieges und seiner Intrigen auszubringen«, las die am Boden der Kammer kniende Frau mit weit aufgerissenen Augen vor. Das Buch lag aufgeschlagen vor ihr. Die Zeichen darin erschienen Landru fremder, nichtssagender als jede Schrift, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Seine Gefangene aber las sie, als wäre es ihre Muttersprache. Flüssig, ohne ein Stocken kamen die Worte über Liliths Lippen. »Und wenn Satan sich schließlich wiedervereint hatte, war er in der Lage … war er … in …« Liliths Stocken und Nonas Aufschrei fielen zusammen. Verblüfft sah Landru, wie sich der Dolch reiner Kelchmagie in Liliths Brust mit einemmal schwarz färbte! Wie die sinnverwirrende Rotation ins Stocken kam, während Lilith immer noch regungslos da kauerte. Doch ihre Augen … … waren so schwarz geworden wie der Dolch! »Landru! Was geschieht da?« Nonas Stimme kippte fast vor Aufregung. »Geh!« rief Landru ihr zu. »Verlaß den Raum – schnell!« Er selbst blieb. Lilith fesselte seine Aufmerksamkeit, während er aus den Augenwinkeln wahrnahm, wie Nona seinen Rat befolgte, die Tür aufriß und in die dunkle Nacht hinausfloh. Im nächsten Moment hatte er sie vergessen. »Nein!« brüllte er, als er begriff, was Lilith im Begriff stand zu tun. Sie kniete nicht mehr vor der CHRONIK – sie hatte sich förmlich über sie geworfen und zerfetzte nun die Seite, von der sie gerade gelesen hatte! Ein seltsamer Laut wehte durch die Kammer. Zunächst glaubte
Landru, er käme von Lilith, doch dann begriff er, daß das Buch ihn erzeugte, oder vielmehr die Seite, die Lilith gerade verstümmelte. Landru sprang vor und wollte sie zurückreißen. Als er sie berührte, traf es ihn wie ein elektrischer Schlag, und er prallte zurück, begriff quälend langsam, daß nicht Lilith diesen Schlag ausgeteilt hatte, sondern das Stück Pergament, mit dem er in Berührung gekommen war! Der Stimmenchor, der ihm bis dahin wie ein leicht erträgliches Hintergrundrauschen erschienen war, explodierte zum ohrenbetäubenden Crescendo. Landrus Augen traten aus den Höhlen. In seinem Schädel tobte ein geistiger Orkan. Nur verschwommen sah er, wie Lilith in der CHRONIK blätterte, als suchte sie nach einer bestimmten Stelle – und dann noch eine Seite herausriß, zerfetzte … … schließlich die dritte … … um dann übergangslos in ihrer sinnlosen Zerstörungswut innezuhalten, den Kopf schiefzulegen, als würde sie einer nur für sie hörbaren Stimme lauschen – und dann vornüber zu fallen und die CHRONIK unter sich zu begraben.
* Landru richtete sich auf, schüttelte sich wie ein nasser Hund. Die Temperatur innerhalb der Kammer schien um mehrere Grade gefallen zu sein. An den Wänden glitzerte es wie Rauhreif. Die Fackeln waren ausgeblasen von einem Wind, der keinen natürlichen Ursprung gehabt haben konnte. Die Finsternis beeinträchtigte Landrus Sehen kaum. Sein Blick war auch nicht mehr getrübt, die Nachwirkungen des Schocks, der sich durch seinen Körper gepflanzt hatte, klangen bereits ab. Langsam ging er auf Lilith zu. Sie rührte sich nicht. Aber das, was von den zerstörten Seiten noch übrig war, umschlängelte sie wie lebendes Getier.
Landru beobachtete beunruhigende ektoplasmische Effekte, wie er sie zum letzten Mal vor vielen Jahrhunderten im Labor eines Mannes erlebt hatte, der Guiseppe de Balsamo hieß … Er überwand seine Scheu und ging zu der reglos am Boden liegenden Frau, drehte sie vorsichtig, ohne erneut einen der Pergamentfetzen zu berühren, auf den Rücken. Für ein paar Augenblicke hielt er es für möglich, daß sie ihre Freveltat mit dem Leben bezahlt hatte. Doch dann fühlte er ihr Herz durch den Stoff des Symbionten hindurch schlagen. Ein weiterer Blick offenbarte ihm überdies, daß der Dolch aus Kelchmagie verschwunden war, sich rückstandslos ausgelöst hatte. Nur wenig Blut netzte Liliths Brust; die klaffende Wunde hatte sich bereits fast vollständig geschlossen. Auch ihre Augen waren wieder normal, wie Landru erkannte, als er die Lider kurz mit den Daumen anhob. Die Schwärze war daraus gewichen. Nur die Glyphen der aufgeschlagenen Blutbibel selbst strömten noch einen vagen Schimmer, einen abseitigen, finsteren Glanz aus. Glyphen, die Landru auch jetzt verhöhnten. Und an Anum erinnerten. Nona torkelte von draußen ins Dunkel. Ihr Gesicht war gespenstisch verzerrt. Die Arme ausgestreckt, tastete sie sich voran. In dieser fast vollkommenen Schwärze war sie blind wie die Tiefen. »Hier!« rief Landru, um ihr die Orientierung zu erleichtern. »Ich bin hier …« Abrupt blieb sie stehen. »Komm«, sagte sie tonlos. »Komm schnell und sieh es dir an …« Er erhob sich. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und umklammerte ihren Arm. Sofort griff sie nach dem seinen und zog ihn in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Was –?« Sie fiel ihm ins Wort: »Du mußt es dir ansehen! Und dann mußt
du mir schwören, daß es nicht bedeutet, was ich befürchte …« Sie redete so wirr, daß Landru keinen weiteren Versuch unternahm, sie zu verstehen. Er führte sie schneller nach draußen, als sie selbst dazu in der Lage gewesen wäre. Doch schon unmittelbar hinter der Schwelle stoppte er wie vor einer Wand. »Siehst du jetzt, was ich meine …?« Er sah. Aber er verstand nicht, was er sah. Der Wall um die Welt warf seinen Widerschein auf seine Netzhäute, aber Landrus Verstand setzte aus bei der Suche nach einer Erklärung, warum das Gewölbe aus Kelchmagie sich auf diese Weise über Mayab spannte: in finsterster Nacht sichtbar, weil purpur leuchtend und arhythmisch flackernd … »Es … zerbricht«, hörte er Nona neben sich flüstern. »Nicht wahr, diese Welt – geht unter? Ich fühle es. Und sie fühlen es auch …« Sie zeigte auf die Hütten aus Ziegelsteinen, aus denen die Menschen flohen. Menschen voller Angst. Menschen ohne Zukunft … ENDE des ersten Teils
Nachtfahrt Leserstory von Marc Tannous »Das Ding klatschte gegen meine Windschutzscheibe. Hat mich schwer ins Schleudern gebracht. Zuerst dachte ich, es wär’n Vogel oder so, aber als ich ausstieg …« Die beiden Cops sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren – was angesichts von fünf Leichen und der haarstäubenden Geschichte, die ich ihnen auftischte, kaum verwunderlich war. Der verunglückte Truck und die explodierte Tankstelle taten wohl ihr übriges, den Gesetzeshütern die Nachtschicht zu vermiesen. In ihren Blicken las ich, daß sie noch immer dachten, ich hätte die Leute umgebracht und das ganze Chaos angerichtet … Wie, frage ich Sie, hätte ich denen auch glaubhaft versichern sollen, daß die wahre Delinquentin vor etwa zehn Minuten zu Staub zerfallen war? Ich konnte es ja selbst kaum glauben …
* »Verfluchte Scheiße!« Ich traute meinen Augen nicht, als ich aus dem Wagen stieg und die nackte, laut vor sich hinfluchende Schönheit auf meiner Kühlerhaube fand. Die Kollision mit einem tieffliegenden Vogel, so dachte ich, hatte mich zur Vollbremsung gezwungen. Doch der Anblick, der mich bei der Schadensbegutachtung erwartete und der mich in anderer Situation sicherlich zutiefst erfreut hätte, ließ mir in diesem Moment die Knie weich werden. Sie war so Mitte zwanzig, hatte langes rotes Haar und trug, wie bereits erwähnt, keinen Faden am Leib. War dies der Preis für ein
streßüberladenes Berufsleben? Mein Therapeut hatte mich ja gewarnt, aber … »Verdammt noch mal«, fluchte die Schöne weiter. »Ich hätte doch nicht ohne Pause durchfliegen sollen. Steh nicht so herum. Hilf mir gefälligst!« Ihre Stimme klang aufgekratzt. Sie sprach mit einem harten, vermutlich osteuropäischen Akzent, den ich näher zu definieren jedoch nicht in der Lage war. Nach etwa drei langen Schocksekunden, die mich zur Tatenlosigkeit verdammten, fragte ich: »Haben Sie Schmerzen? Bleiben Sie liegen. Ich werde einen Arzt benachrichtigen.« Ich hatte mein Handy schon gezückt, doch sie winkte mit einer verärgerten Geste ab. »Papperlapapp. Ich brauche nur eine kleine Stärkung, das ist alles. Ich würde mich ja gern an dir bedienen, Kleiner, aber ich brauche dich noch. Du fährst mich in die Stadt, klar?«
* »Sie haben die Dame also bei sich einsteigen lassen?« »Hätt’ ich sie vielleicht liegen lassen sollen? Und auf dem Weg in die Innenstadt haben wir dann Ihren Kollegen getroffen.« »Sie meinen den, den wir mit zerfetzter Halsschlagader im Straßengraben gefunden haben?« meinte der Polizist mit herausforderndem Blick. Herrgott, er tat ja gerade so, als konnte ich etwas dafür …
* Das Blaulicht des Motorrad-Cops leuchtete nach etwa fünf Minuten zum ersten Mal in meinem Rückspiegel auf. »Ich glaube, der meint uns«, quetschte ich hervor. »Wir hätten nicht so schnell fahren sollen. Sollten wir nicht besser anhalten?« Auf eigenartige Weise fühlte ich mich außerstande, eine solche Ent-
scheidung ohne die Zustimmung meiner Beifahrerin zu fällen. »Nicht jetzt«, entgegnete sie. »Noch nicht …« Sie wartete, bis der Polizist wild gestikulierend zu uns aufgeschlossen hatte und direkt hinter meinem Wagen fuhr. Im nächsten Moment hämmerte ihr Fuß durch meine Beine hindurch auf die Bremse. Die Vollbremsung mußte den Cop unerwartet erwischt haben. Dies zumindest entnahm ich seiner Reaktion, die daraus bestand, über das Dach des Mercedes zu fliegen, und einige Meter vor uns mit einem häßlichen Geräusch auf dem harten Beton der Fahrbahn aufzuschlagen. »Sind Sie noch ganz dicht? Was soll das?« fuhr ich das Mädchen an. Doch sie beachtete mich gar nicht, sondern öffnete die Tür, lief zu dem verletzten Beamten und kniete vor ihm nieder. Zuerst überkam mich der beruhigende Gedanke, sie wolle ihm zu Hilfe eilen, doch als ich die spitzen Hauer sah, die sie in einer ruckhaften Bewegung in den freigelegten Hals des Mannes schlug, war ich mir dessen nicht mehr so sicher …
* »Sie hat ihn in den Hals gebissen und sein Blut getrunken?« Die Augen des Uniformierten quollen fast aus ihren Höhlen. »Es kommt noch besser«, winkte ich ab. »Hören Sie zu …« Der andere der beiden Cops war zur Seite getreten und nuschelte irgendwelche Anweisungen in sein Funkgerät. Ins Gefängnis würde ich nicht kommen, soviel war mir inzwischen klar geworden. Ein hübsches kleines Zimmer mit gepolsterten Wänden kam der Sache schon näher …
*
Die Gelassenheit, mit der ich das Gesehene an mir vorüberziehen ließ, überraschte mich selbst. Tief in mir hörte ich eine flüsternde Stimme, die mir dazu riet, die seltsame Frau schleunigst loszuwerden. Doch als hätte sie eine unsichtbare Fessel um meinen Willen geschlungen, schien es mir unmöglich, entgegen ihren Anweisungen zu handeln. Die Tankstelle war unser nächstes Ziel. Warum uns der Kassierer anstarrte, als kämen wir von einem anderen Stern, wurde mir erst im Nachhinein bewußt. Die Tatsache, daß meine Begleiterin noch immer keinen Faden am Leib trug, erschien mir inzwischen als das Normalste überhaupt. »Ähm … Sie wünschen?« stammelte der arme Mann, der solch ein Gespann wohl noch nie erlebt hatte. »Einmal volltanken, bitte.« »Wir … ähm … haben hier Selbstbedienung …« »Ausgezeichnet«, meinte das Mädchen knapp, packte den etwa Vierzigjährigen am Kragen seines verwaschenen Grateful-Dead-T-Shirts und zog ihn mit einer lässigen Bewegung auf die andere Seite der Verkaufstheke. Bevor ich es verhindern konnte, hatte sie sich auch schon über ihn gekniet und ihre Zähne in seiner Halsschlagader versenkt. Meine Gedanken wurden durch das ruckhafte Aufstoßen der Tür von dem bizarren Schauspiel abgelenkt. »Alle auf den Boden! Keiner rührt sich, dann wird auch keinem … oh, shit!« Die gezückten Waffen in den Händen der beiden Halbstarken ließen keinen Zweifel an ihren ursprünglichen Absichten. Doch kaum daß sie die Szenerie, die sich ihren Blicken bot, in allen Einzelheiten erfaßt hatten, wich ihr toughes Auftreten einem Moment ratloser Verwunderung. »Was läuft denn hier? Is’ das irgendso ‘ne perverse Orgie, oder was?«
»Komm schon, Butch. Laß uns abhauen. Das is mir nich’ geheuer«, drängte der zweite Kerl. »Wieso, Mann? Ich finde, die Kleine hat ‘nen süßen Arsch. Vielleicht läßt sie uns ja mitspielen. Dreh dich doch mal um, Baby.« Die junge Frau war mit dem Kassierer offenbar fertig und kam der Aufforderung des Jungen ohne zu zögern nach. Ihre Augen glühten wie Feuer, ihr Mund war blutverschmiert, und ihre Züge hatten einen raubtierhaften Ausdruck angenommen. Der Anblick entlockte den Kehlen der Tankstellenräuber ein gequältes Stöhnen. »Was ist denn, Jungs?« gurrte sie. »Kommt doch her. Ich beiße nicht, Ehrenwort.« Ich war wohl der Einzige, der mitbekam, daß sie die Finger hinter ihrem Rücken kreuzte, während sie langsam auf die beiden zuging. »Bleib bloß stehen, du Schlampe! Keinen Schritt weiter!« Der Schuß, der sich aus dem Revolver des Kleineren löste, ging mitten durch die Schulter der Frau. Sie blieb einen Augenblick lang stehen und betrachtete die Wunde eher interessiert als bestürzt. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich das dunkle Loch von selbst wieder geschlossen hatte. Schneller als Butch »Fuck« sagen konnte, war sie über ihm und tat sich, von wilder Gier getrieben, an dem roten Saft gütlich, der heiß aus der Wunde an seinem Hals schoß. Ich stand daneben und beobachtete den Tod des Jungen mit demselben Ausmaß an Mitleid, mit dem mich der Überlebenskampf einer ertrinkenden Pestratte erfüllt hätte. Der zweite Typ, dessen Namen ich nicht kannte, beschloß nach einer Sekunde faszinierten Ekels Fersengeld zu geben. Er riß die Glastür des Verkaufsraumes auf und stürmte in die anbrechende Nacht. Der Fahrer des Budweiser-Trucks, der in diesem Moment die Einfahrt entlanggebrettert kam, hatte offensichtlich nicht mit dem brüllenden Etwas gerechnet, das wild fuchtelnd wie aus dem Nichts vor seiner Windschutzscheibe auftauchte und einen Sekundenbruchteil
später wie ein lästiges Insekt gegen den Kühlergrill klatschte. Das Ausweichmanöver, zu dem sich der Fahrer genötigt sah, führte zu einer kurzen, aber intensiven Bekanntschaft mit einer der Zapfsäulen, bevor Mensch und Maschine in einem tobend gen Himmel strebenden Flammenmeer das jähe Ende ihrer Existenz erfuhren. Rasch griff das Feuer auf die Umgebung über und verwandelte den eben noch stillen Ort in eine wahre Hölle aus Explosionen, Rauch und umherfliegenden Trümmern.
* »Und wo befindet sich die Kleine jetzt?« erkundigte sich der Officer mit einem Unterton, der mir jegliche Hoffnung auf ein wenig Verständnis raubte. Ich dachte daran, wie das Mädchen vor mir aus dem Verkaufsraum gelaufen war. Wie dieser brennende Teil der Leuchtreklame einem Kometen gleich auf sie zugestürzt war und … Jetzt, wo ich die Szene vor meinem geistigen Auge zum zweiten Mal durchlebte, begriff ich die Ungeheuerlichkeit des Gesehenen erst richtig: Ihr Kopf, der vom Rumpf getrennt wird, mit aufgerissenen Augen einige Meter weiter rollt und dann, wie der Rest des Körpers, in einem widernatürlichen Akt zerfällt, bis nur noch einige Aschereste von ihrem absonderlichen Dasein auf Erden zeugen. »Vergessen Sie’s«, seufzte ich, und bat den Officer, mich abzuführen. Bisher hatte ich die Gestalt in dem etwa vierzig Fuß entfernten Polizeiwagen überhaupt nicht bemerkt. Um so überraschter war ich über den Anblick des Mannes in Polizeiuniform, der mir jetzt entgegentrat und mit lüsternem Grinsen die inzwischen verkrustete Wunde an seinem Hals präsentierte. Seine Arme waren seltsam verdreht, als wären sie gebrochen gewesen und dann nicht wieder richtig zusammengewachsen.
»Darf ich vorstellen: Officer Howser«, sagte der Cop, der mich abführte. »Ich denke, Sie kennen sich bereits.« Ich nickte. »Das mit Ihrem Motorrad tut mir leid. Dumme Sache.« »Halb so wild«, winkte er ab und entblößte seine Eckzähne, die sich wie spitze kleine Dolche über seine Lippen schoben. Bisher hatte ich die Leichenblässe auf den Gesichtern der beiden Cops, die mich verhört hatten, auf die Aufregung der letzten Stunde geschoben. Jetzt gaben sie sich keine Mühe mehr, die Bißwunden an ihren Hälsen zu kaschieren. Schließlich würde ich in wenigen Sekunden dem Club angehören …
* Ja, ja, ich weiß, was Sie denken. Aber glauben Sie mir: Vampir zu sein ist gar nicht so übel. Im Grunde genommen ist es sogar erste Sahne. Man braucht nicht zu arbeiten, findet immer genügend Nahrung und kann das Nachtleben in vollen Zügen genießen. Sonnenlicht ist heutzutage sowieso schädlich, und auf ein Spiegelbild verzichtet man gerne, wenn man aussieht wie eine lebende Leiche. Trotzdem bekommt man die tollsten Frauen förmlich auf dem Tablett serviert, ohne Ihnen großartige Versprechungen machen zu müssen. Eigentlich ist es wie das Leben eines Rockstars. Bis auf den Unterschied, daß der mit zirka vierzig den Löffel abgibt. Wir dagegen leben ewig! Und genießen trotzdem jeden Tag, als wäre es der letzte. Was, bitteschön, soll daran so schlimm sein? ENDE © Marc Tannous, Albrecht-Dürer-Str. 6, 90403 Nürnberg
Der Pakt Ein Roman von Timothy Stahl Mayab, die Hermetische Stadt, ist dem Untergang geweiht. Die Tyrannen sind tot, das Volk in Panik, und der Weltenpfeiler droht zu zerbrechen. Es ist wie der Tag des Jüngsten Gerichts – und nur Landru und die Werwölfin Nona besitzen die Fähigkeit, Mayab zu verlassen. Alle anderen, auch Lilith Eden, scheitern an der unsichtbaren Barriere! Inmitten des Chaos beginnt für Lilith ein Wettlauf gegen den Tod – und ihre größte Aufgabe: eine ganze Welt und ihr Volk vor dem Untergang zu bewahren. Dabei weiß sie wohl, daß es keine Rettung geben kann. Bis Hilfe von unerwarteter Seite kommt: vom Bösen selbst …