Hort der Finsternis
Atlan und der Berserker im Labyrinth des
Grauens von Horst Hoffmann
Atlan - König von Atlantis -...
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Hort der Finsternis
Atlan und der Berserker im Labyrinth des
Grauens von Horst Hoffmann
Atlan - König von Atlantis - Nr. 483
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In das Geschehen in der Schwarzen Galaxis ist Bewegung gekommen – und schwerwiegende Dinge vollziehen sich. Da ist vor allem Duuhl Larx, der verrückte Neffe, der für gebührende Auf regung sorgt. Mit Koratzo und Copasallior, den beiden Magiern von Oth, die er in seine Gewalt bekommen hat, rast er mit dem Organschiff HERGI EN durch die Schwarze Galaxis, immer auf der Suche nach weiteren »Kollegen«, die er ihrer Lebensenergie berauben kann. Der HERGIEN folgt die GOL'DHOR, das magische Raumschiff, mit Koy, Kolphyr und vier Magiern an Bord. Die Pthorer sind Duuhl Larx auf der Spur, um ihm seine beiden Gefangenen abzujagen, und nähern sich dabei dem Zentrum der Schwarzen Galaxis. Atlan und Razamon sind in Etappen ebenfalls in die Nähe des Ortes ge langt, an dem die Geschicke der Schwarzen Galaxis gelenkt werden. In der Lebensblase, in die sie sich in höchster Not retten konnten, erfuh ren sie die Entstehungsgeschichte des Dunklen Oheims und wurden Zeu gen dramatischer Ereignisse. Anschließend wurden der Arkonide und der Berserker auf den Planeten Ritiquian befördert – doch die beiden Männer landen nicht am ursprünglich angepeilten Ziel, sondern sie kommen an im HORT DER FINSTERNIS …
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan und Razamon - Der Arkonide und der Pthorer im Hort der
Finsternis.
Dillibor - Leiter der »Neffen-Fabrik«.
Pammion - Ein Alve an den Schalthebeln der Macht.
Kolphyr - Der Bera kommuniziert mit dem Raumschiff der Magier.
Panthorg - Ein Gersa-Predogg.
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1. Die neuen Neffen
Der Raum war düster. Schwarzalven bewegten sich hektisch zwischen rie sigen metallenen Blöcken und führten Befehle aus. Licht fiel nur aus er leuchteten Skalen in Instrumenten ein, die alle Wände der Halle bedeckten – mit einer Ausnahme. Eine der Wände bestand nicht aus Metall wie die anderen, sondern war eine Trennscheibe aus geformter Energie, die die eigentliche Halle teilte. Dillibor wußte, was sich hinter ihr befand. Er hatte diese Prozedur schon mehr als einmal mitgemacht. Dennoch fühlte er sich unwohl. Er hat te nicht direkt Angst, denn das, was hinter der dunklen Scheibe in einer Nährlösung schwamm, konnte ihm nichts anhaben. Es waren die Kräfte um ihn herum, die ihn Wünschen ließen, der Prozeß wäre schon beendet. Röhren glühten auf. Entladungsblitze schlugen von Geräten zur Trenn wand über, bedeckten sie für Sekunden mit einem Netz aus wabernder Energie und ließen den Bleichen Alven Arme und Beine erkennen, die sich den leckenden Lichtfingern gierig entgegenstreckten. Ein Summen hob an, dumpf zunächst, dann schnell heller werdend, bis es in den Ohren schmerzte und schließlich die Schwelle der Hörbarkeit überstieg. Unsichtbare Ströme flossen durch den Raum. Dillibor erschauerte. Der Alve sah den Gersa-Predogg an, der zwischen den Arbeitern stand. Der Roboter, ein schwarzer, häßlicher Kasten von knapp zwei Meter Grö ße und einem Meter Breite, schwebte knapp über dem Boden. Nichts deu tete auf die Rolle hin, die er bei diesem Prozeß spielte. Einem Uneinge weihten wäre er desaktiviert erschienen. Dillibor wußte es besser. Seine Nähe war es, die ihn beschäftigte. Wer im Hort der Finsternis höhere Aufgaben zu erfüllen hatte, der mußte diese Maschinen um sich herum ertragen. Sie waren es, die wirklich die Befehle gaben. Die Alven waren nur Ausführer, mit Ausnahme von Pammion in der Zentralen Kuppel. Die Schwarzalven hatten ihre Arbeit beendet. Der Gersa-Predogg drehte sich zu Dillibor um. Eine Lampe oben auf dem Kastenkörper glühte auf wie ein flammendes Auge. Dillibor trat vor ein flaches, halbkreisförmiges Pult. Seine Hand näherte sich einem Regler. »Geht jetzt!« sagte er hart, ohne den Blick von der dunklen Trennwand zu nehmen. Die zwergenhaften, schwarzhäutigen Hominiden beeilten sich, die Halle zu verlassen. Aus den Augenwinkeln heraus sah Dillibor, wie der GersaPredogg sich wieder in der Luft drehte und seine Linsen nun ebenfalls
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starr auf die Trennschreibe richtete. Langsam schob Dillibor den Regler vor, bis zum Anschlag. Der abgetrennte Teil der Halle wurde in gelbliches Licht getaucht. Dilli bor zuckte leicht zusammen, als er das Wesen hinter der Scheibe nun zum erstenmal in seiner vollen Größe sah. Er kannte den Anblick von vielen ähnlichen Prozessen her. Doch immer wieder war es ein neues Erlebnis, bedrückend und erhebend zugleich, zum erstenmal einen neuen Neffen zu erblicken. Dieser dort hinter der Scheibe lebte bereits, wenngleich all seine Bewe gungen noch mechanisch und von keinem bewußten Geist gesteuert wa ren. Der Funke des Lebens war übergesprungen, aber die künstliche Schöpfung noch nicht beseelt. Dillibor verschwendete keinen einzigen Gedanken mehr an jene, die da für sterben oder einen Teil ihrer selbst abgeben mußten. Das Geschöpf war drei Meter groß, und die rudernden und peitschenden Gliedmaßen ließen kaum viel vom eigentlichen Körper erkennen. Dillibor wußte nicht zu sagen, was Arme und was Beine waren. Keines der vielen Glieder paßte zu einem anderen. Sie wuchsen nicht einmal paarweise aus dem Rumpf heraus. Manche waren geschuppt, andere gefiedert oder be haart. Auch in der Färbung waren sie unterschiedlich. Dort, wo der Blei che Alve größere Hautpartien erkennen konnte, wirkten diese zusammen geflickt. Der Kopf saß ohne erkennbaren Übergang auf breiten, klobigen Schultern, die ebenfalls aus verschiedenen Stücken unterschiedlichen Ge webes zusammengesetzt schienen. Dillibor blickte in drei große Augen über einer knollenförmigen Nase und einem breiten, zahnlosen Mund. Noch war kein wirkliches Leben in diesen Augen. Das Wesen drängte sich an die Scheibe, obwohl der Raum dahinter für es dunkel war. Dünne und dicke, lange und kurze Arme und Beine ruder ten durch die bräunliche Nährflüssigkeit. Dann durchlief ein Zittern den Riesenkörper, im gleichen Augenblick, in dem weitere Lichter auf dem Körper des Gersa-Predoggs aufflammten. Dillibor hatte nur eine äußerst vage Vorstellung von dem, was in diesen Momenten geschah. Aber er konnte die unsichtbaren Ströme fast fühlen, die von dem Roboter des Dunklen Oheims auf das neue Geschöpf über flossen. Schließlich sank das Wesen hinter der Trennscheibe wie leblos auf den Boden seines Behältnisses. Sämtliche Glieder hingen schlaff herab. Es war keine Bewegung mehr in ihm. Dillibor wartete einige Sekunden. Dann schaltete er das Licht in der Halle ein. Gleichzeitig verdunkelte sich die Trennscheibe wieder. Der Gersa-Predogg drehte sich zu ihm um. »Die Schwarzalven können ihn holen«, sagte die Maschine dumpf.
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»Das physische Training kann beginnen. In zwanzig Stunden wird er sein Bewußtsein erhalten.« Dillibor erschrak. »So früh schon?« Der Gersa-Predogg gab keine Antwort. Dillibor konnte sie sich selbst geben. Er wußte, was in der Schwarzen Galaxis geschehen war. Der Dunkle Oheim hatte den Ausfall mehrerer Neffen zu verkraften, die von einem Wahnsinnigen getötet worden waren. Der Ersatz mußte schnellstens beschafft werden. »Welchen Namen wird er tragen?« fragte er den Roboter. Der Gersa-Predogg war bereits zum Ausgang der Halle geschwebt. Sei ne Aufgabe war erfüllt – zumindest, was die Grundkonditionierung betraf. Er drehte sich noch einmal um und sagte: »Duuhl Larx. Er wird Duuhl Larx sein.« »Aber Duuhl Larx lebt noch!« entfuhr es Dillibor. »Er ist es doch, der …« Er erhielt keine Antwort mehr. Der Planet Ritiquian war eine etwa erdgroße, kalte und stürmische Welt. Es gab keine Ozeane dort, nur einige flache Binnenmeere, die die meiste Zeit zugefroren waren. Nachts sanken die Temperaturen selbst in Äquator nähe unter den Gefrierpunkt. Weite Tundren wechselten mit riesigen Wü sten und den verwitterten Überresten ehemals mächtiger Gebirgsketten. Das Land war fast unberührt. Nur hier und da mündeten unter pilzförmi gen Dächern Schächte, die zu den subplanetarischen Städten der Alven führten, der Eingeborenen des Planeten. Früher einmal mochte diese Welt anders ausgesehen haben. Heute jedoch gab es keinen Ackerbau mehr, kei ne Städte auf der Oberfläche. Das Leben spielte sich darunter ab – mit ei ner Ausnahme. Nördlich des Äquators, am Rand jenes Gebietes, über das regelmäßig der Schatten der Lebensblase wanderte, der den Planeten als tiefschwarzer Ring umspannte, erstreckte sich eine Bergkette, die nach Süden hin tief ausgebuchtet war. Mitten in dieser Ausbuchtung lag der Hort der Finster nis. Die Anlage war gewaltig. Ineinander verschachtelte Gebäude verschie denster Größen und Formen bedeckten eine quadratische Fläche von fast achtzig mal achtzig Kilometern Kantenlänge. Dieses Machtzentrum wurde umschlossen von einer gut fünfzig Meter hohen Mauer aus schwarzem Metall, in der es zahlreiche Tore gab, die von klobigen Wachhäuschen flankiert waren. Als Wächter der Stadt fungierten die unterschiedlichsten Wesen, wenngleich auch hier die Alven vorherrschten. Hinter den Toren lagen schmale Gassen und Straßen, die wie Schluch ten zwischen hochaufragenden Gebäuden hindurchführten. Im Innern der Anlage gab es Kuppeln, Türme, Flach- und Hochbauten – alle nur denkba
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ren architektonischen Stilrichtungen waren vertreten. Nur an wenigen Stel len gab es größere freie Plätze. Die meisten davon waren mit einem schwarzen Belag überzogen. Auf den anderen wucherte Unkraut zwischen dunklem Schotter. Es gab kaum Zerfall, denn die meisten Gebäude bestan den aus dem gleichen Material wie die Mauer. Nur wenige Bauwerke wa ren aus Stein und zeigten hier und da Spuren des Alters. In diesem Hort, im »Palast des Dunklen Oheims«, hatte jener negative Teil einer Superintelligenz, die als gewaltiger schwarzer Ring die Sonne des Systems umschloß, natürlich niemals selbst gehaust. Der Hort der Fin sternis diente dem Herrscher über die Schwarze Galaxis vielmehr aus schließlich zu anderen, handfesteren Zwecken – und nicht zur Repräsenta tion. Dies hatte er aus naheliegenden Gründen nicht nötig. In der Riesenanlage lebte und arbeitete der größte Teil der Alven von Ritiquian. Hier wurden die Gersa-Predoggs hergestellt, und hier erblickten die Neffen des Dunklen Oheims das Licht der Welt. Alle möglichen Dinge wurden erzeugt. Und nicht nur Alven bevölkerten den Hort der Finsternis. Fast alle Ras sen der Schwarzen Galaxis waren hier in einigen Exemplaren vertreten. Einmal hierhergelangt, gab es keinen Weg zurück mehr in die Freiheit. Dem Stumpfsinn nahe, vegetierten sie dahin, und nur wenige von ihnen mochten sich eine Vorstellung über das grausame Schicksal machen kön nen, das ihnen allen zugedacht war, wenn Artgenossen plötzlich abgeholt wurden und nie mehr zurückkehrten. In solchen Fällen lieferten die Koor dinatoren der Ewigkeit, deren Schiffe die Sterneninsel der dunklen Sonnen durchkreuzten, schnell Ersatz. Und dies war bitter nötig geworden. Immer noch kamen beunruhigende Nachrichten aus den Tiefen der Schwarzen Galaxis. Im Ritiquian-System selbst war es nach dem Sieg des Dunklen Oheims über seinen machtlüsternen Sprößling wieder relativ ruhig geworden. Schwarzalven und Roboter waren dabei, die Spuren der Verwüstungen, von denen auch der Ringplanet und der Hort der Finsternis nicht verschont geblieben waren, zu beseitigen. Gebäude und Kuppeln waren zusammen gestürzt oder explodiert. Viele Alven hatten den Tod gefunden. Die wich tigsten Anlagen jedoch waren nach wie vor funktionsfähig, und die GersaPredoggs sorgten dafür, daß die vor dem Zusammenstoß der beiden Ringe vom Dunklen Oheim befohlenen Arbeiten ohne Zeitverlust fortgeführt wurden, sobald die Alven wieder voll handlungsfähig waren. Dennoch blickten jene, die über die jüngsten Geschehnisse informiert waren, voller Sorge auf den Raumhafen am Fuß der Bergkette, auf dem noch immer das Organschiff stand, mit dem der wahnsinnige Neffe ge kommen war. Und oft wanderten ihre Blicke zum Himmel empor, wenn die Lebensblase den Blick auf den Weltraum freigab. Die Alven wußten
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wenig mit der Information anzufangen, daß just zu dem Zeitpunkt, als der Dunkle Oheim seinen Sprößling regelrecht in sich aufsaugte, ein weiteres, fremdes Raumschiff im Ritiquian-System geortet worden war, eines, wie sie es noch nie zuvor gesehen hatten. Die Eingeweihten hatten keine Angst um sich oder den Dunklen Oheim. Dieser war nicht zu besiegen. Der Angriff des Ringes hatte es gerade wie der gezeigt. Aber das ganze System war während des Kampfes aus dem Gleichgewicht geraten. Organschiffe waren miteinander kollidiert, im Raum zwischen Ringplanet und Sonne war es zu schrecklichen Phänome nen gekommen, und die Alven im schwer erschütterten Hort der Finsternis waren außerstande gewesen, ihre wichtigen Aufgaben zu erfüllen. Nur die Lebensblase war, wie es schien, von alldem völlig unbehelligt geblieben. Dennoch: Die Unruhe wuchs trotz der Erleichterung über den aus der Sicht der Alven und des Dunklen Oheims glücklichen Ausgang des Kamp fes. Zuerst waren die Schreckensmeldungen aus der Schwarzen Galaxis gekommen, dann der Sprößling des Herrschers. Irgend etwas hatte sich an gekündigt. Dinge, die seit undenklichen Zeiten erstarrt gewesen waren, waren in Bewegung geraten. So sahen es die Wissenden im Hort der Finsternis, und sie verdoppelten ihre Bemühungen, das Gleichgewicht wieder zu stabilisieren.
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2. Stunden vorher: Atlan
Mein erster Eindruck war der, daß wir in einer mittelalterlichen Schmiede werkstatt »herausgekommen« waren. Was es genau war, sollten weder Razamon noch ich jemals erfahren. Nur eines war gewiß: Es hatte mit unserer Abstrahlung, mit dem Transport aus der Lebensbla se heraus nicht ganz so geklappt, wie Yeers und Olken sich das vorgestellt hatten. Diese riesige, düstere, raucherfüllte Halle gehörte wohl kaum zum Raumhafen von Ritiquian. Irgend etwas hatte den Transportvorgang beeinflußt – und es war un schwer zu erraten, worum es sich dabei handelte. Das Chaos im RitiquianSystem war also auch auf das von den beiden Körperlosen kontrollierte Transportnetz nicht ohne Auswirkung geblieben. Wir sollten zum Raumhafen gebracht werden, um die Ankunft der GOL'DHOR abzuwarten. Yeers und Olken glaubten felsenfest daran, daß schon in kurzer Zeit die große Plejade eintreffen und die Lebensblase zer stören würde. Sie waren ebenso fest davon überzeugt, daß dies dem Dunklen Oheim einen solchen Schock versetzen würde, daß die GOL'DHOR gefahrlos auf dem Ringplaneten landen konnte. Ich konnte nicht daran glauben. Es erschien alles zu einfach. Dinge, die so lange gebraucht hatten, um ins Rollen zu kommen, sollten sich plötzlich überstürzen, als wäre unsere Ankunft mit Dorkh und dem Ableger des Oheims der Katalysator gewesen. Doch noch war der Herrscher der Schwarzen Galaxis nicht besiegt, und sollte er den Kampf gewinnen, würde er stärker sein als je zuvor. Es hatte wenig Sinn, sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir wa ren am falschen Ort materialisiert – und an diesem Ort wimmelte es von Schwarzalven. Razamon war ebenso verblüfft wie ich. Noch hatten die Zwerge uns nicht gesehen, keine Anlage schlug Alarm. Direkt vor uns, etwa in der Mitte der Halle, befanden sich zwei hohe Reihen aufeinandergestapelter Metallkisten. Ich nahm den Atlanter bei der Hand und zog ihn mit mir in den Spalt dazwischen. Die Alven standen oder hüpften und tanzten vor Feuern, die an den Wänden entlang auf kniehohen Podesten flackerten. Sie gaben seltsam murmelnde Gesänge von sich und schienen wie berauscht zu sein. Dabei fuchtelten sie mit merkwürdigen Werkzeugen in der Luft herum. Sie arbeiteten nicht wirklich. Jedenfalls konnte ich in ihrem Trei ben keinen Sinn erkennen. Es kam mir vor, als führten sie regelrechte Kriegstänze auf. Immerhin waren sie so mit sich selbst beschäftigt, daß wir ungesehen in Deckung gehen konnten.
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Razamon schien endlich zu sich zu kommen. Seine schwarzen Augen funkelten mich grimmig an. Das spärliche Licht reichte gerade aus, um mich sein Gesicht erkennen zu lassen. »In welches Tollhaus sind wir geraten?« flüsterte er, mühsam seine Stimme unter Kontrolle haltend. »Das ist nicht der Raumhafen!« Er kniff die Augen zusammen, als Rauch in sie drang, und fuhr sich mit dem Ärmel des arg mitgenommenen Overalls darüber. Erst jetzt blickte ich an mir herab. Wir trugen nur noch Lumpen am Leib, und es war ver wunderlich, daß wir überhaupt noch etwas anhatten. »Wir müssen hier heraus, um das festzustellen«, antwortete ich leise. »Wahrscheinlich sind wir auf Ritiquian. Wo sonst?« »Aber das würde bedeuten …« »Noch gar nichts«, warnte ich vor voreiligen Schlüssen, obwohl mich der gleiche Verdacht beschlich wie den Pthorer. Razamon rang um seine Beherrschung. Seine Fäuste waren geballt. »Bleib ruhig.« »Ruhig!« flüsterte er. »Du hast Nerven.« Ich legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter und suchte nach einer Möglichkeit, an den Kisten hinaufzuklettern, ohne daß sie gleich mit mir umkippten. Es war zu riskant. Ich schlich bis an ihr Ende weiter und schob meinen Kopf aus dem Spalt. Wir hätten uns direkt hinter die Alven stellen können – ich glaube kaum, daß sie uns bemerkt hätten. Immer mehr steigerten sie sich in Ek stase hinein. Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam. Die Gesänge die ser Geschöpfe wurden immer wilder. Sie waren nicht Herr ihrer Sinne. Ir gend etwas peitschte sie auf. Sie reckten die kurzen Arme in die Höhe und schwangen die Werkzeuge, als wollten sie einem unbekannten Gegner Schläge androhen. Dann wieder sanken ihre Hände herab, und sie tanzten mit eingezogenen Köpfen umeinander herum. Daß sie sich nicht gegensei tig anfielen, war ein Wunder. »Warum schleichen wir uns nicht einfach hinaus?« fragte Razamon, der mir über die Schulter blickte. »Sie sind geistig weggetreten.« Ich zögerte. Ich fühlte mich nicht erschöpft und hatte keine Schmerzen. Der Transport aus der Lebensblase hierher hatte keine Spuren hinterlassen. Vielleicht hätten wir tatsächlich einen Ausgang gefunden, aber wer garan tierte uns, daß die Alven nicht von einem Augenblick auf den anderen nor mal wurden? Ich hatte keine Lust, wieder auf einem Luckirph zu landen. Die Alven begannen zu schreien. Es war ohrenbetäubend. Der beißende Rauch drang nun auch in meine Augen. Zeitweise reichte die Sicht nur wenige Meter weit, und die Alven waren als Schatten zu erkennen, die vor den gespenstisch flackernden Feuern tanzten. Die Halle besaß keine Fenster, nichts, durch das Tageslicht einfallen
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konnte. Wo befanden wir uns dann? Irgendwo tief unter der Oberfläche des Planeten? Zumindest mußte es irgendwo einen Rauchabzug geben. Ich versuchte zu erkennen, wohin der Rauch zog. Es war unmöglich. Immer wilder wurden die Gesänge der Zwerge, immer schriller ihre gräßlichen Schreie. Und nun merkte ich, wie die seltsame Erregung, die sich ihrer bemächtigt hatte, auf mich überzugreifen drohte. Razamon ging es nicht anders. Lange würde ich ihn nicht mehr zurückhalten können. Ich hatte das Gefühl, einen Kampf mitzukämpfen. Ich begriff, was mit den Alven geschah, als sie urplötzlich verstummten und sich nicht mehr rührten. »Sie standen unter dem Einfluß eines anderen Kampfes«, flüsterte ich Razamon zu. »Sie kämpften mit dem Dunklen Oheim.« »Deine Phantasie geht mit dir durch. Und was tun sie dann jetzt?« Die plötzliche Totenstille machte die ganze Szenerie noch unheimlicher. Es war, als wäre den Alven mit einem Schlag alle Lebensenergie entzogen worden. Vergleiche drängten sich mir unwillkürlich auf, und ich erschau erte. »Der Kampf ist beendet«, flüsterte ich. Wie zu Stein erstarrt standen oder hockten die schwarzen Zwerge vor den Feuern, in unnatürlichen Haltungen. Der Eindruck wurde übermäch tig, daß tatsächlich alles Leben hier – und vielleicht in anderen Teilen die ses unbekannten Komplexes – erloschen war. Es hielt mich nicht mehr hinter den Kisten. Razamon murmelte etwas, als ich die Deckung verließ und mich vorsichtig auf die Erstarrten zubewegte. In der Rechten hatte er jetzt eine lange Eisenstange. Als ich ihn fragend anblickte, reichte er mir eine zweite und deutete nur hinter sich auf eine der Kisten. Wir erreichten die ersten Alven. Ihre Augen waren weit offen. Blicklos starrten sie in die Feuer, und allmählich kam wieder Leben in sie. Sie sto cherten mit ihren Werkzeugen – langen Zangen und Schüreisen – in den Feuern herum, aber alle ihre Bewegungen wirkten wie in Zeitlupe. Sie nahmen nichts wahr. Ich fuhr mit der linken Hand direkt vor dem Gesicht eines Zwerges durch die Luft, ohne daß eine Reaktion erfolgte. »Sie sind in Trance«, flüsterte ich. »Wie Marionetten.« Razamon stieß einen Alven von hinten an. Alles, was der Zwerg tat, war ein Bein nach vorne zu setzen, um nicht zu stürzen. »Du hattest vielleicht recht«, knurrte der Pthorer. »Falls sie aber mit dem Dunklen Oheim kämpften … ist er besiegt?« »Von seinem eigenen Ableger«, murmelte ich, aber ich konnte keinen Triumph bei dem Gedanken empfinden. Das plötzliche Erstarren, die Kraftlosigkeit der Alven konnte natürlich die Folge eines solchen Aus gangs sein. Wie stark war ihre Abhängigkeit von ihrem Herrscher?
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Ich hätte in diesen Momenten alles dafür gegeben, zu wissen, was sich draußen im Weltraum tat. Doch selbst eine Niederlage des Dunklen Oheims – so unwahrscheinlich mir diese erschien – hätte letztlich nur be deutet, daß ein anderer an seine Stelle getreten wäre. Hier unten würden wir keine Antworten erhalten. Razamon hatte recht. Wir mußten einen Weg aus dieser Halle suchen und herausfinden, wo wir uns überhaupt befanden. Erst dann konnten wir Pläne schmieden. Wir nutzten die momentane relative Handlungsunfähigkeit der Alven. Im flackernden Licht der Feuer bewegten wir uns durch die Halle. Raza mon lief vor, und ich hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Der Berserker war es auch, der den Ausgang fand. Ich warf einen letzten Blick zurück auf die fast unbeweglichen Zwerge. Keiner von ihnen sah uns nach, und niemand gab Alarm. »Komm endlich!« rief Razamon. Vor uns lag eine enge, spärlich beleuchtete Treppe. Das Licht schien di rekt aus den kahlen, schwarzen Wänden zu kommen, was verwirrend ge nug war. Razamon hielt es nicht mehr. Er hastete die hohen, schmalen Stufen hinauf, bis wir auf einem dunklen Korridor herauskamen. Niemand war zu sehen. Nur von Ferne drangen mahlende Geräusche an unsere Ohren. »Weiter!« rief der Pthorer. Wir stiegen über weitere Treppen immer höher, sahen uns nur kurz auf den verschiedenen Stockwerken um, die nur über dunkle Korridore und ebenso dunkle Räume verfügten. Wir sahen weder Alven noch sonstige Lebewesen. Wie tief unter der Oberfläche mochte die Halle liegen, in der wir mate rialisierten? fragte ich mich. Und welchen Zweck erfüllten die Alven dort unten, völlig abgeschnitten von der Welt? Endlich erreichten wir einen erleuchteten Korridor. Er war länger als die anderen, und links und rechts von ihm befanden sich mehrere größere Räume, vollgestopft mit leeren Kisten und technischem Gerät, das von millimeterdickem Staub bedeckt war. »Hier war seit Jahren niemand mehr«, sagte Razamon. »Die Körperlo sen haben uns in eine verlassene Stadt geschickt!« Ob wir uns in einer Stadt befanden, bezweifelte ich. Und zumindest ar beiteten irgendwo in diesem Komplex Maschinen. Ihr Mahlen und Dröh nen war lauter geworden. Wir suchten nach einem Ausgang, doch der einzige schien in weiteren nach oben führenden Treppen zu bestehen. Schon wollte der Atlanter sie benutzen, als mir eine verschlossene Tür auffiel, direkt neben den Treppen. Wir hatten sie nicht bemerkt, weil alle anderen offenstanden und diese sich fast nahtlos in die Wand einfügte.
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»Warte!« flüsterte ich. Razamon blieb stehen und sah zu, wie ich den Kopf gegen die Tür legte und lauschte. Nichts war aus dem dahinterliegenden Raum zu hören. »Es hat keinen Sinn!« drängte Razamon. »Du wirst nichts anderes fin den als in den …« Ich machte ein paar Schritte auf den Korridor zurück, packte die Metall stange fester und rannte die Tür mit der Schulter ein. Krachend flog sie aus verrosteten Angeln. Razamon war hinter mir, als ich, vom eigenen Schwung mitgerissen, fast stürzte. Wir brauchten unsere Waffen nicht. Es war, wie der Pthorer vorausgesagt hatte: Auch hier hielt sich nie mand auf. Staub lag auf den Schaltpulten und überzog als schmierige Schicht eine Reihe von Bildschirmen. Ich beachtete die fremdartigen Geräte allerdings kaum. Helles Tages licht fiel durch ein Fenster ein. Razamon und ich erreichten es gleichzeitig, und wir beide erkannten zur gleichen Zeit, was ich bereits dumpf geahnt hatte. Wir befanden uns nicht am Raumhafen des Ringplaneten. Wir waren in keiner Stadt und in keinem vereinzelt stehenden Gebäude. Wir waren direkt in die Höhle des Löwen geraten. Die Kuppeln und Bauten, die wir durch das Fenster sahen, die technischen Anlagen, die We sen, die sich nur wenige Meter unter uns durch die schmalen Straßen be wegten und der schwarze Ring am Himmel über uns – dies alles konnte nur eines bedeuten. Wäre der Transportvorgang aus der Lebensblase heraus nicht durch die chaotischen Verhältnisse im Ritiquian-System gestört gewesen – die Kör perlosen hätten sich kein schlechteres Ziel für uns aussuchen können. »Der Hort der Finsternis«, murmelte Razamon. Er war bleich geworden. »Dies kann nur der Hort der Finsternis sein!« Und die Schilderungen der Schrecken, die dieser Ort, der »Palast« des Dunklen Oheims, bereithielt, gaben mir eine Ahnung, dessen, was uns be vorstand, und ließen mich alle Hoffnungen, die ich im stillen gehegt hatte, schnell vergessen. Dennoch sollte ich bald merken, daß meine schlimmsten Befürchtungen noch Untertreibungen waren. Razamon sagte nichts mehr. Er blickte mich nur an, als ob er fragen wollte: Und nun? Wir hatten uns damit abzufinden. Anstatt am Raumhafen waren wir mitten in einer unüberschaubaren Anlage, deren Kuppeln und Hochbauten sich bis zum Horizont hin erstreckten, gelandet und hoffnungslos eingeschlos sen. Gefangen an einem Ort, über dessen Natur wir außer dem, was wir von den Körperlosen erfahren hatten – und dies waren nur vage Andeutun
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gen gewesen –, so gut wie nichts wußten. Allein der Name aber ließ ver muten, daß es sich hier um die Schaltzentrale der Macht des Dunklen Oheims handelte, daß hier die Befehle der monströsen Wesenheit empfan gen und entweder gleich umgesetzt oder weitergeleitet wurden bis in die Randbezirke der Schwarzen Galaxis. Es machte keinen Unterschied, ob jener, der die Befehle gab, weiterhin der Dunkle Oheim war oder ein Sprößling, der sich, genau genommen, durch nichts von seinem Erzeuger unterschied. Doch bei aller Niedergeschlagenheit verlor ich unser Ziel für keinen Moment aus den Augen. Wir wollten zum Raumhafen. Nur dort hatten wir vielleicht eine Chance, aus diesem System zu entkommen. Daß der Hafen sich nicht allzu weit vom Hort der Finsternis befand, daran zweifelte ich nicht. Obwohl die unterschiedlichen Wesen in den Straßen keinerlei Be schränkungen unterlagen, wandelten sie unsicher umher, drehten sich um und gingen ziellos den Weg zurück, den sie gekommen waren, um wieder zu verharren und sich unsicher umzusehen. Sie warteten ganz offensicht lich auf Befehle. »Wir sollten uns tarnen«, sagte ich und deutete auf die Straßen hinab. Die Alven, ob Bleiche Alven oder ihre schwarzen Untergebenen, trugen hier ausnahmslos einfache graue Overalls und die uns mittlerweile bestens bekannten Translatoren. Sie waren nicht in Schwarz oder Weiß gekleidet. Alle erschienen uniformiert. Razamon lachte rauh. »Selbst falls wir solche Overalls finden, sie werden uns zu klein sein. Oder willst du schrumpfen?« Ich reagierte nicht auf Razamons Sarkasmus. »Alle Wesen, die sich hier aufhalten, tragen die Overalls«, entgegnete ich. »Sieh dir die Kerle dort bei der Säule an. Sie sind keine Alven, aber vermutlich ihre Helfer. Sie haben in etwa unsere Größe und Statur.« »Ein paar bessere Waffen wären mir lieber.« Der Atlanter sah mich von der Seite her an. Dann nickte er. »Wir schlagen uns zum Raumhafen durch, meinst du. Wenn die Alven zu sich kommen und uns in ihren Over alls sehen, werden sie glauben, daß wir Hilfskräfte sind?« Ich zuckte die Schultern. Ich stellte mir eine Flucht aus dem Hort der Finsternis ganz gewiß nicht einfach vor, auch wenn wir im Moment im Vorteil zu sein schienen. Doch bald schon sollte ich mich einen Narren schelten, die wirkliche Bedeutung dieser gigantischen Anlage nicht annä hernd erfaßt zu haben. »Hast du einen besseren Vorschlag?« Razamon sah an sich herab. »Wir tragen fast die gleichen grauen Overalls, wenn's auch nur Fetzen
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sind. Aber wir haben keine Translatoren.« »Und die brauchen wir, wenn die Alven wieder bei Sinnen sind und wir nicht unnötig auffallen wollen.« Damit war dieses Thema fürs erste erledigt. Ohne Translatoren, das wußte der Pthorer so gut wie ich, war kein Entkommen aus dieser Anlage möglich. Unser Weg würde bei der ersten Begegnung mit wiedererwach ten Alven, über deren Machtmittel ich mir keine Illusionen machte, zu En de sein. Wahrscheinlich waren alle anderen hier lebenden Wesen Gefange ne, die geringe Arbeiten verrichten mußten. Sollten die Alven auch uns für Gefangene halten! Wenn sie nicht zu viele Fragen stellten, konnten wir Glück haben. Es war ein gewagtes Spiel, aber wir hatten keine andere Wahl. Hier war niemand, der uns zu Hilfe kommen könnte. Auf die GOL'DHOR wollte ich mich nicht verlassen. Wir waren auf uns selbst gestellt. Aber auch die Neugier trieb mich. Was geschah in dieser Anlage? Wozu diente der Hort der Finsternis noch, außer als Befehlszentrale für alle in der Schwarzen Galaxis operierenden Hilfsvölker des Dunklen Oheims? Ich drängte die Fragen zurück. Wir verließen den Raum und stiegen über weitere Treppen in noch höherliegende Stockwerke dieses Gebäudes hinauf, von dem wir nicht einmal wußten, wie es aussah und welche Funk tion es hatte. Sämtliche Korridore waren nun erleuchtet. Es gab Abzweigungen, die weit ins Gebäude hineinführten und mir eine Ahnung von dessen gewalti ger Größe vermittelten. Wir mochten die zehnte oder zwölfte Etage erreicht haben, als Razamon mich mitten auf einem Korridor packte und durch eine offenstehende Tür schob. Ich hörte die Schritte im gleichen Augenblick. Die Eisenstangen in den Händen, warteten wir, dicht an die Wände zu beiden Seiten der Tür gepreßt. Als die Fremden heran waren, schob ich vorsichtig den Kopf durch den Eingang und sah mehrere Alven, die auf ei nem Wagen zwei gepanzerte, känguruhähnliche Wesen über den Korridor zogen. Die schwarzen Zwerge mit den spitzen Ohren, den großen dunklen Augen und dem stacheligen Haar bewegten sich langsam und schleppend. Ihre Blicke waren starr in die Ferne gerichtet, so daß es mir wie ein Wun der vorkam, daß sie überhaupt den Weg fanden. Aber sie schafften die beiden Wesen irgendwohin. Die Gepanzerten wa ren Gefangene, daran ließen die Schockpeitschen der Zwerge keinen Zweifel. Und sie waren paralysiert. Ich trat auf den Gang hinaus und verstellte einem Alven den Weg. Der Zwerg sah mich kurz an, ohne mich bewußt wahrzunehmen. Er wich aus und ging an mir vorbei. »Du wirst übermütig, Arkonide!« stellte Razamon fest, als die seltsame
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Prozession im Schneckentempo hinter einer Gangbiegung verschwand. »Mag sein«, gab ich zurück. »Aber wir wissen jetzt, daß wir uns nicht zu verstecken brauchen.« »Bis wann?« fragte Razamon. Meine Gedanken waren schon wieder woanders. Was geschah mit den Gefangenen? Dienten sie dem Dunklen Oheim – oder seinem Nachfolger – nur als unfreiwillige Hilfskräfte, als Sklaven, oder zu ganz anderen Zwecken? Wachsendes Unbehagen beschlich mich. Razamon wartete schon bei der nächsten Treppe auf mich. Ich erwartete, im nächsten Stockwerk wieder auf einem Korridor her auszukommen. Razamon pfiff überrascht durch die Zähne. Wir standen mitten in einer riesigen Halle, deren Ende nicht zu erkennen war. Zu viele Eindrücke strömten auf uns ein, als daß wir uns sofort ein Bild unserer Umgebung hätten machen können. Dazu kam, daß das Mahlen und Sum men der unbekannten Maschinen nun unerträglich laut zu werden begann. Um uns herum befand sich ein wahres Labyrinth aus gläsernen Kam mern. Es gab keine metallenen Wände und keine weitere Treppe nach oben. Es sah ganz so aus, als hätten wir das oberste Stockwerk dieses Ge bäudes erreicht. »Was ist das?« fragte der Atlanter leise. In den Kammern befanden sich die unterschiedlichsten Wesen. Gemein sam hatten sie nur eines: Sie waren alle nackt und gelähmt. Ich sah Echsenabkömmlinge und Vogelähnliche, humanoide Wesen und Riesenquallen, dazu Lebensformen, wie ich sie noch nie erblickt hatte. Auf den ersten Blick wirkte dies alles chaotisch. Dann jedoch erkannte ich ein System in der Anordnung der Kammern. Die gesamte Halle, das ganze Stockwerk war mit ihnen ausgefüllt. Die transparenten Wände teilten sie in Hunderte dieser Kammern, und nur we nige davon schienen unbewohnt zu sein. Die meisten Eingesperrten hatten kaum Platz, um sich zu bewegen, und immer befanden sich mehrere Ex emplare einer Art in einem solchen Gefängnis. Zwischen den Kammern verliefen lange Korridore, in denen Alven standen und stumpfsinnig vor sich hin blickten. Niemand nahm Notiz von Razamon und mir. Langsam gingen wir an den Kammern vorbei. Bald hatte ich den Ein druck, als sei jede Lebensform der Schwarzen Galaxis hier durch einige Musterexemplare vertreten. Aber welchen Sinn sollte das haben? Holten sich die Alven ihre »Helfer« aus diesen Gefängnissen? Als ich schon befürchtete, wir könnten uns in diesem gläsernen Laby rinth hoffnungslos verirren, tauchte auf einem der abzweigenden Korrido re jene Gruppe auf, die ein Stockwerk tiefer an uns vorbeigezogen war.
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»Wir folgen ihnen«, flüsterte ich. Razamon sah mich seltsam an, als wollte er fragen, was ich mir davon versprach. Aber er sagte nichts. Wir warteten, bis die Alven mit ihren beiden Gefangenen, die zweifel los zu einer Gruppe ähnlicher Wesen gehörte, die in einem der Käfige steckten, an uns vorbeigezogen waren. Dann folgten wir ihnen. Sie kamen kaum voran. Es schien, als bereitete ihnen jeder Schritt größ te Mühe, und ich fragte mich, wie sie dann so schnell hier heraufgekom men waren. Es mußte neben den Treppen Aufzüge geben. Eine andere Erklärung fand ich nicht. Vielleicht führten sie uns zu einer Wachstation. Von irgendwoher muß ten die Gefangenen ihre Nahrung bekommen. Dort aber fanden sich mit ein wenig Glück auch Translatoren und neue Overalls für Razamon und mich. Ich sah dem Pthorer an, daß er am liebsten zwei der Alven niederge schlagen und ihnen die Geräte geraubt hätte. Ich selbst hatte kurz mit dem Gedanken gespielt. Alles, was wir davon gehabt hätten, wäre ein Alarm gewesen. Endlich, nachdem ich schon glaubte, Stunden durch die endlos erschei nenden Korridore schleichen zu müssen, sah ich eine schwarze Wand auf tauchen. Eine breite Tür führte hindurch. Wir folgten den Alven und ihren Gefangenen weiter. »Ich dachte, sie würden sie in ihre Kammern zurückbringen«, flüsterte Razamon überrascht. »Was geschieht mit ihnen, Atlan?« Wir sahen es. Die Schwarzalven schafften die Gepanzerten in einen Raum, legten ih nen Ketten an, deren andere Enden an einer Wand befestigt waren, und gingen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Alles, was sie taten, wirkte roboterhaft. Die Wände hier waren nicht mehr aus Glas. Ein gewundener Korridor erstreckte sich hinter der schwarzen Wand. Ihr gegenüber lagen mehrere große Räume, über deren Natur nach dem ersten Blick keine Zweifel be stehen konnten. Es waren Operationsräume mit langen Seziertischen, auf denen nackte Wesen lagen, festgeschnallt und hilflos den Bleichen Alven ausgeliefert, die mit Skalpellen und Zangen in den Händen über sie gebeugt standen. Razamon rang um seine Fassung, und auch mich überlief es eiskalt. Ich war keiner Worte fähig, sah nur die bedauernswerten Geschöpfe auf den Seziertischen und die Hände der Alven. »Das ist kein Gefängnis«, brachte Razamon mühsam hervor. »Das ist ein Schlachthaus!«
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Hinter dem Tisch zerplatzte ein Behälter. Ein zäher, grünlicher Brei quoll aus ihm heraus auf den Boden. Jetzt erst sah ich weitere im Hinter grund stehende durchsichtige Behälter, in denen Gliedmaßen schwammen. Mir wurde übel. Unbändiger Zorn erfaßte mich und wollte mir den kla ren Verstand rauben. Ich wollte mich auf die Bleichen Alven stürzen, ob wohl ich sah, daß sie sich nicht bewegten, aber ich erstarrte mitten in der Bewegung. Eine schwere Hand legte sich von hinten auf meine Schulter. Ich fuhr zusammen. Razamon stand ein Stück vor mir und wandte mir den Rücken zu. Unendlich langsam drehte ich mich um, plötzlich von blankem Entset zen gepackt. Eine Faust traf mich voll ins Gesicht. Der Schlag kam viel zu überra schend, als daß ich noch hätte ausweichen können. Ich taumelte zurück und landete direkt in Razamons Armen. Benommen sah ich ein stämmiges, nacktes humanoides Wesen vor mir. Der Fremde mochte zwei Meter groß sein und hatte eine samtige, tiefblaue Haut. Auf einem kräftigen Hals saß ein ovaler Kopf mit einem menschlich wirkenden Gesicht. Mit einem wütenden Aufschrei stürmte der Blauhäutige vor. Razamon ließ mich zu Boden sinken und war zwischen mir und dem Angreifer. Ein kurzer Kampf entbrannte, in dem der Pthorer schließlich Sieger blieb. Mit wenigen gezielten Schlägen beförderte er den Fremden zu Boden. Ich sprang auf die Beine und sah mich um. Niemand sonst war zu se hen. Wer immer der Blauhäutige war, er war allein gekommen. Razamon kniete über dem Fremden und packte seinen Kopf. Die Blei chen Alven an den Operationstischen rührten sich nicht. Im Gegensatz zu den schwarzen Zwergen schienen sie völlig erstarrt zu sein! »Was soll das?« fuhr Razamon den Humanoiden scharf an. »Wenn du Streit suchst, hast du dir die falschen dafür ausgesucht!« Der Blauhäutige starrte ihn an, dann drehte er den Kopf, soweit Raza mons Griff dies zuließ, und ich blickte in große Augen, aus denen Unbe greifen sprach. Ich rieb mir das Kinn und sah Blut an meinen Fingern kleben. Doch mein Zorn auf den Fremden schwand schnell, als ich erkannte, daß er halb verrückt vor Angst war. »Laß ihn los, Razamon«, sagte ich auf Garva-Guva. Der Fremde zuckte leicht zusammen. Razamon blickte mich protestierend an. Ich nickte ihm zu. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, knurrte der Pthorer. »Ich hoffe es auch.« Razamon stand auf, hielt die Metallstange jedoch zum Schlag bereit.
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Der Fremde blieb liegen, den Blick ängstlich auf mich gerichtet. Ich hockte mich vor ihn hin. »Du verstehst mich«, sagte ich, äußerlich ruhig. »Ich weiß es.« Ich deu tete über die Schulter auf die Alven am Operationstisch. »Wir gehören nicht zu ihnen.« »Aber ihr … seht aus wie ihre Helfer!« Er sprach mit einem mir unbekannten Akzent, aber ich konnte ihn ver stehen. »Wir können uns normal bewegen«, sagte ich. »Und wir …« »Das können ihre Helfer draußen auch!« Er kroch, auf dem Rücken liegend, von mir fort, bis er mit dem Kopf gegen die Wand stieß. Verblüfft blickte ich Razamon an, doch der hatte nur Augen für den Fremden. »Wer bist du?« fragte ich, ohne dem Fremden zu folgen. »Du gehörst zu denen, die hier gefangengehalten werden, oder? Aber du bist nicht ge lähmt.« Er schloß die Augen, und doch hatte ich das Gefühl, seine Pupillen wür den mich durch die geschlossenen Lider hindurch anstarren. Mehr noch: ich glaubte, förmlich durchleuchtet zu werden. Irgend etwas war in mei nem Bewußtsein, ganz kurz nur, dann schlug er die Augen wieder auf. »Ich weiß, daß ihr keine Gegner seid«, hörte ich zu meinem Erstaunen. »Ich … Es tut mir leid, aber …« Ich machte mir in diesem Moment keine Gedanken darüber, wie er zu diesem Schluß kam, ob er in meinen Gedanken lesen konnte, obwohl ich mentalstabilisiert war. Die Zeit drängte. Jeden Augenblick konnten die Al ven aus ihrer Starre erwachen, und hier hatten wir vielleicht jemanden ge funden, der etwas Licht in das Dunkel bringen konnte, in dem wir tappten – der uns vielleicht den Weg aus dieser Anlage herauszeigen konnte. Der Blauhäutige schien nach Worten zu suchen. Seine Augen drehten sich schnell in ihren Höhlen. Erregt sah er von mir zu Razamon, dann plötzlich wieder auf den Operationstisch. Mit einem Schrei kam er in die Höhe. Ich hielt Razamon zurück. »Dann müßt ihr mir helfen, meine Freunde zu befreien!« schrie der Nackte. Es war schwer, ihn zu verstehen, denn je erregter er wurde, desto unklarer war seine Aussprache. »Solange die Teufel schlafen!« Ich schüttelte den Kopf und trat wieder auf ihn zu. Diesmal wich er nicht zurück, als ich die Hand auf seine Schulter legte. Razamon postierte sich am Eingang und spähte auf den Korridor hinaus. »Sag mir deinen Namen«, begann ich. Vielleicht wäre es besser gewe sen, ihn mit uns zu nehmen und unterwegs alle Fragen zu stellen. Ich be zweifelte jedoch, daß er dazu bereit wäre. »Blujer«, antwortete der Fremde. »Ich bin ein Zarjer. Ich stamme von
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einer Welt, die sich niemals gegen den Dunklen Oheim auflehnte. Und doch kamen sie und holten uns!« »Sind alle Gefangenen, die sich in den Glaskammern befanden, entführt worden?« fragte ich weiter. »Von Koordinatoren der Ewigkeit?« Der Gedanke kam mir ganz plötzlich. Blujer nickte heftig, fast wie ein Mensch. »So ist es, Fremder. Und wir werden alle sterben, wenn wir nicht flie hen. Worauf wartet ihr? Sollen sie zuerst erwachen, um …?« »Ich muß wissen, was hier geschah«, schnitt ich ihm das Wort ab, im mer unruhiger werdend. »Ihr wurdet zusammen gelähmt? Ihr und die Al ven?« Er schüttelte heftig den Kopf. Unsicher sah er sich um. Immer wieder blickte er zum Operationstisch, wo die Messer der Bleichen Alven dro hend über dem »Patienten« in der Luft hingen. »Nein, nein! Die Alven führten sich zuerst auf wie Besessene. Sie schri en und tanzten und kämpften gegen … gegen Luft! Dann fielen sie ganz plötzlich um und rührten sich nicht mehr, oder sie erstarrten wie diese Bleichen dort mitten in der Bewegung. Ich lag selbst auf einem Sezier tisch, als das geschah. Sie glaubten, ich wäre betäubt, aber ich hatte mich nur verstellt und sprang vom Tisch, auf dem sie mich verstümmeln woll ten.« Verstümmeln? Unwillkürlich blickte ich zu den Behältern mit den kon servierten, abgetrennten Gliedmaßen verschiedenartiger Wesen hinüber. Mein Herz schlug heftig, und ein bitterer Geschmack war in meinem trockenen Mund. Ich begann zu begreifen, daß hier etwas Ungeheuerliches geschah. Alles, was ich im Zusammenhang mit den Koordinatoren der Ewigkeit erfahren hatte, fiel mir schlagartig wieder ein. »Alle Alven waren gelähmt«, fuhr Blujer hastig fort. »Die Gefangenen begannen in ihren Kammern zu toben. Einige versuchten, die Glaswände zu zertrümmern. Ich sah es, als ich nach meinen Freunden suchte. Sie hät ten es vielleicht geschafft, wenn nicht die Roboter …«, Blujer fluchte und redete noch schneller: »Die Roboter kamen und lähmten sie. Ich weiß nicht, wie sie es machten, aber alle Gefangenen lagen still, als die Schwarzalven sich wieder langsam bewegten.« »Moment?« sagte ich. »Die Roboter lähmten die Gefangenen. Aber du bist …« »Ich weiß nicht, warum es mich nicht traf!« rief der Blauhäutige unge duldig aus, immer wieder durch die Tür schielend. »Ich wurde nicht ge lähmt, verstellte mich aber, bis die Roboter abgezogen waren. Die Schwarzalven kamen zu sich, aber sie reagierten gar nicht auf mich. Die Bleichen sind sowieso erstarrt. Wir müssen meine Freunde suchen!« Ich begann zu verstehen. Der Kampf zwischen dem Dunklen Oheim
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und seinem Sprößling war vorbei. Zwischen dem Oheim und den Alven mußte eine derart enge Beziehung bestehen, daß die Zwerge erstarrten, als alles vorüber war. Nur allmählich erwachten die schwarzen wieder zum Leben, im Gegensatz zu den Bleichen Alven, die also noch enger mit dem Dunklen Oheim verbunden sein mußten. Die Roboter, von denen Blujer sprach, konnten nur Gersa-Predoggs sein. Sie kontrollierten diese Anla gen, während des Ausfalls der Alven. Daß sich vielleicht Hunderte dieser Maschinen jetzt völlig unberührt von den Geschehnissen im Weltraum hier bewegten, war ein Schock für mich. Wir waren in weit größerer Gefahr, als wir angenommen hatten! Jeden Moment konnten einige der Maschinen hier auftauchen! »Und die Helfer der Alven können sich alle normal bewegen?« fragte ich. »Sie konnten es die ganze Zeit über. Ich mußte ihnen ausweichen. Sie sind überall! Wir müssen zu meinen Freunden, bevor sie hier erscheinen!« Blujer bebte am ganzen Körper und lief unruhig zum Ausgang. »Sie sind schon da!« rief Razamon leise von dort. »Sie kommen aus der Halle!« Blujer bäumte sich auf, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten. Ich hielt ihn fest. »Bevor wir überhaupt etwas unternehmen können, brauchen wir Waf fen, Blujer. Weißt du, wo sich die Ausrüstungskammern der Alven befin den?« Er sah mich unsicher an und nickte zögernd. »Am Ende des dunklen Korridors habe ich Kammern mit Geräten darin gesehen. Lauft hin! Ich warte auf euch bei meinen Freunden!« Damit riß er sich los. Bevor Razamon oder ich es verhindern konnten, war er durch die Öffnung in der schwarzen Wand gerannt, von wo die schweren Schritte zu hören waren. Razamon hielt mich zurück, als ich ihm nachlaufen wollte. »Bleib hier, Atlan!« knurrte er. »Willst du, daß sie auch uns in die Hän de bekommen?« Blujers grauenvoller Schrei zerriß die Stille. Ich preßte die Zähne auf einander, sah mich ein letztesmal im Raum um und nickte grimmig. Das ausströmende Plasma bildete eine große stinkende Pfütze auf dem Boden, die unsere Füße schon fast erreicht hatte. Der Nackte auf dem Seziertisch begann sich zu bewegen. Er schlug die Augen auf, sah, in welcher Lage er sich befand, und kroch schleunigst vom Tisch, ohne daß die Alven sich rührten. »Komm endlich!« zischte Razamon. Ich mußte mich zwingen, die quälenden Gedanken abzuschütteln. Wir rannten auf den Korridor hinaus und in die Richtung, die Blujer mir durch
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eine Kopfbewegung gewiesen hatte. Überall zu unserer Rechten, der schwarzen Mauer gegenüberliegend, sahen wir Operationsräume oder La boratorien, in denen entweder gerade erwachende Gefangene unter den Händen ihrer Peiniger davonkrochen oder farbige Flüssigkeiten in Behäl tern brodelten. Das alles sah wie eine Hexenküche aus. Was geschah mit den Wesen, die hierhergebracht wurden? Führten die Alven nur grausame Experimente an ihnen durch, oder wurden ihre Gliedmaßen für andere, noch ungeheuerlichere Zwecke gebraucht? Wir rannten weiter, und bald wurde das Licht im Korridor schwächer, bis wir schließlich kaum noch etwas sehen konnten. Der Gang schien die gesamte Halle mit den Glaskammern ringförmig zu umschließen, und schon befürchtete ich, daß wir im Kreis laufen würden, als unser Weg plötzlich zu Ende war. »Das Ende des Korridors«, brachte ich außer Atem hervor. »Aber wo sind die Kammern, von denen Blujer sprach?« Bevor Razamon etwas entgegnen konnte, war das Stampfen metallener Füße wieder zu hören. Und es näherte sich uns! »Das gilt uns«, flüsterte der Pthorer. »Verdammt, wir sitzen in der Fal le!« Das Licht im Korridor flammte auf, und wir sahen sie. Zwei kastenförmige, anderthalb Meter hohe Maschinen kamen mit stampfenden Schritten auf uns zu. Razamon packte die Eisenstange fester. »Sie halten uns für Gefangene, die sich selbständig gemacht haben«, flüsterte ich. Wir wichen bis zum Ende des Ganges zurück, bereit, unsere Haut so teuer wie möglich zu verkaufen. Schweigend und drohend rückten die Roboter heran. Das Mahlen der unbekannten Maschinen irgendwo tief in diesem Komplex war schwächer geworden. Wir nahmen es fast nicht mehr wahr. Das metallische Stampfen hallte von den Wänden wider. Ich hob die Stange zum Schlag. Zwanzig Meter trennten uns noch von den anrückenden Gersa-Predoggs, als vor uns eine Tür krachend aufflog. Erst jetzt, als der Korridor erleuch tet war, sahen wir die Türen in den Wänden. Ein halbes Dutzend unbekleideter, kaum ein Meter großer Vogelwesen stürmte aus dem Raum und genau auf die Roboter zu. Uns schienen sie überhaupt nicht zu bemerken. Atemlos verfolgte ich, wie die bedauerns werten Geschöpfe den Robotern in die Arme liefen. Sie hatten nicht den Hauch einer Chance – aber uns eröffneten sie einen Fluchtweg. Wir verschwanden in dem Raum, aus dem sie gekommen waren, und warfen die Tür hinter uns zu. Sechs Seziertische standen in der Mitte des Saales, und um sie herum ebensoviele Bleiche Alven in ihrer mittlerweile
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bekannten starren Haltung, die Messer und ähnliche Werkzeuge noch über den nun leeren Tischen. Möglicherweise gaben sich die Gersa-Predoggs mit ihrer »Beute« zu frieden und kehrten um. Vielleicht vergaßen sie uns für den Augenblick. Ich wollte mich nicht darauf verlassen. »Dort!« rief Razamon und deutete mit der Eisenstange auf eine offen stehende Tür in der gegenüberliegenden Wand. Wir zögerten nicht. An den Alven vorbei rannten wir durch den Raum und fanden uns in einem zweiten wieder, an dessen Ende sich ein primitiver Lift befand. Wenig später verließen wir ihn einige Stockwerke tiefer. Wir kamen nicht auf einem der Korridore heraus, die wir bereits flüchtig untersucht hatten, sondern in einem weiteren kleinen Raum. Razamon stieß einen Laut der Überraschung aus. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Blujer bis hierhin gelangt sein konnte. Tatsache aber war, daß in einem offenen Wandschrank graue Overalls in allen Größen hingen. Die der Liftöffnung genau gegenüberlie gende Wand bestand fast nur aus kleinen Bildschirmen und einer breiten Kontrolleiste darunter. Auf einigen der Schirme waren bestimmte Teile dieses gigantischen Komplexes zu sehen, unter anderem einige Operati onsräume und die Halle mit den Gefangenen. Eine Tür gab es nicht. Vom Korridor aus hatten wir diesen Raum also gar nicht finden können. Der einzige Zugang bestand im Lift. Wir warteten atemlos, bis wir sicher sein durften, daß wir nicht verfolgt wurden. Dann streiften wir unsere zerfetzten Overalls ab und holten uns neue aus dem Schrank, die paßten wie angegossen. Damit nicht genug, fanden wir eine Reihe jener Translatoren, wie wir sie in Luckirph ausge händigt bekommen hatten – jene »passiven« Geräte, die sich auf die Spra che ihrer Träger einstellten und nur eingleisig funktionierten: Sie übersetz ten fremde Laute in die jeweilige Sprache ihrer Träger, aber nicht umge kehrt. Wir hängten sie uns um und hatten uns mit ihnen zu begnügen, denn an dere fanden wir nicht. Auch nach Waffen suchten wir vergeblich. Aber es schien, daß wir zu mindest im Augenblick sicher waren. »Und nun?« fragte Razamon. Ich zögerte mit der Antwort. Wir konnten, nun getarnt, versuchen, uns als »Hilfskräfte« zum Raumhafen durchzuschlagen. Andererseits war es vielleicht besser, zu warten, bis alle Alven wieder normal waren, um etwas mehr über diese Anlage herauszufinden. Je mehr wir über sie wußten, de sto geringer war die Gefahr, uns durch falsche Reaktionen zu verraten. Denn die Roboter »schliefen« nicht. »Wir warten«, entschied ich.
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Razamon nickte grimmig und setzte sich vor die Bildschirme. Ich kon zentrierte mich auf jene, die die Glaskammern zeigten, und sah bald die beiden Gersa-Predoggs mit den Vogelwesen auftauchen. Überall erwach ten die Gefangenen nun zu neuem Leben. Es dauerte allerdings fast zwei Stunden, bis sich auch die Alven wieder normal bewegten. Die Bleichen Alven erwachten aus ihrer Starre und sa hen bestürzt die leeren Seziertische vor sich. Leider erfüllte sich meine Hoffnung noch nicht, von hier aus Näheres über den Zweck der Anlage herauszufinden. Und im nun überall einset zenden Tohuwabohu war kaum mit einem Erfolg zu rechnen. »Gehen wir«, sagte Razamon. »Bald werden sie auch hier auftauchen.« Ich nickte – und hielt inne. Razamon hielt eine Folie in der Hand. Als er meinen Blick bemerkte, reichte er sie mir. »Ich fand sie zwischen den Translatoren«, sagte er. Und ich fühlte, wie mir etwas den Hals zusammenschnüren wollte, als ich das Wesen sah, das skizzenhaft auf dem Blatt abgebildet war. Ich konnte nicht ahnen, daß in diesen Augenblicken, als wir noch unsi cher über unsere weiteren Schritte nachdachten, irgendwo im Hort der Fin sternis ein solches Wesen wie das auf der Folie skizzierte den Funken des Lebens erhielt und von Schwarzalven, die nach dem Erwachen aus der Trance ihre gewohnte Arbeit unverzüglich wiederaufgenommen hatten, aus der Nährflüssigkeit geholt wurde.
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3. Die neuen Neffen Dillibor wartete, bis die Schwarzalven das unfertige Wesen aus der Nähr flüssigkeit geholt hatten. Zwanzig Stunden! dachte der Bleiche Alve auf dem Weg zum Ruhe raum. Zwanzig Stunden, die ausreichen mußten, um den Neffen, dieses sich selbst noch nicht einmal bewußte Wesen, die künstliche Schöpfung, die noch nicht einmal wußte, wer, was und warum sie war, auf den Augen blick vorzubereiten, in dem sie ihr Bewußtsein erhalten würde. Das war zu wenig! In dieser kurzen Zeit war es so gut wie unmöglich, den neuen Neffen physisch ausreichend zu trainieren. Normalerweise hat ten die Schwarzen dazu die fünffache Zeit und mehr! Aber der Dunkle Oheim hatte seine Befehle gegeben, ob vor oder nach dem Sieg über seinen Sprößling – Dillibor wußte es nicht zu sagen. Der Bleiche Alve gewann lediglich, je länger er grübelte, einen Eindruck von der Dringlichkeit der Herstellung neuer Neffen für die unbesetzten Regio nen der Schwarzen Galaxis. Und bevor dieser neue Duuhl Larx sein Bewußtsein erhielt, sollten be reits zwei weitere Neffen den Funken des Lebens entgegennehmen. Die durch die zeitweise Erstarrung der Alven entstandene Pause hatte Dillibors Zeitplan noch mehr durcheinandergebracht. Doch in den entsprechenden Sektionen wurde auf Hochtouren gearbeitet. Die Gersa-Predoggs waren unnachsichtig. Dillibor betrat den Ruheraum im Zentrum der Kuppel und ließ sich mit einem Seufzer in einen der leeren Sessel fallen. Niemand war anwesend. Dillibor war das recht. Er brauchte Ruhe, wenigstens für kurze Zeit. Ohne sich dessen bewußt zu sein, schaltete er eine Reihe von Monitoren ein. Dies war ihm in den vielen Jahren zur festen Gewohnheit geworden. Die Lautsprecher blieben ausgeschaltet. Dillibor saß mit halb geschlossenen Augen da und blickte versonnen auf die Schirme. Er fühlte, daß das, was mit ihm und seinen Artgenossen geschehen war, seine Spuren hinterlassen hatte. Da war eine gewisse Müdigkeit in ihm, doch mehr als eine Stunde Pause durfte er sich nicht erlauben. Sämtliche Alven und die ohnehin nicht paralysierten Hilfsvölker hatten ihre Arbeit wiederaufgenommen – überall im Hort der Finsternis. Auf fast allen Schirmen waren Gersa-Predoggs zu sehen, die ihre Arbeit überwach ten und sie antrieben, wenn sie zu langsam vorankamen. Dillibor fand nicht die Ruhe, die er suchte. Immer wieder beschlich ihn ein Gefühl des Unbehagens, eine unbestimmte Angst vor etwas, das sein
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und die Leben seiner Artgenossen einschneidend verändert hatte. Auch wenn der Kampf zwischen dem Dunklen Oheim und seinem Ableger vor bei war – irgend etwas war nicht mehr wie früher. Der Bleiche Alve spürte die Last der Verantwortung, die auf seinen Schultern ruhte. Wenn auch die Roboter des Oheims die Befehle gaben – ganz auf ihre Diener konnten auch sie nicht verzichten. Sie brauchten die Alven. Der Dunkle Oheim brauchte sie. Unruhig rutschte Dillibor hin und her, bis er eine Taste drückte. Ein weiterer Bildschirm erhellte sich und zeigte ein Symbol. Schnell be rührten Dillibors Finger weitere Tasten, bis schließlich ein Text auf dem Bildschirm erschien. Der Bleiche Alve las das Arbeitsprogramm für die nächsten beiden Pe rioden, das ihm direkt aus der Zentralen Kuppel geliefert wurde. Er las es zweimal und schüttelte fassungslos den Kopf. In den nächsten beiden Arbeitsperioden, in vierzig Stunden, sollten ins gesamt vier weitere Neffen erschaffen werden. »Das … können wir nicht!« entfuhr es Dillibor. Bevor er sich dessen bewußt wurde, schaltete er eine Direktverbindung zu Pammion in der Zentralen Kuppel. Wenig später blickte ihm der Blei che Alve, dessen Name soviel wie »Sohn« bedeutete, mit ausdruckslosem Gesicht entgegen. Dillibor erschauerte, als er die Spuren der Erschöpfung in Pammions Zügen sah. Er beneidete den mächtigsten aller Alven auf Ri tiquian nicht um seine Verantwortung. »Du hast das Programm gelesen«, begann Pammion, ohne eine Miene zu verziehen. Dillibor lehnte sich vor und nickte heftig. »Allerdings. Und ich weiß, daß es undurchführbar ist!« Pammions Miene verfinsterte sich leicht. »Jeder Wunsch des Oheims wird erfüllt!« sagte er hart. »So war es, und so wird es sein!« »Jeder Wunsch des Oheims wird erfüllt!« beeilte sich Dillibor, die For mel nachzusprechen. »Aber der neue Neffe für das Marantroner-Revier, Pammion! Der Koordinator der Ewigkeit, den wir von dort erwarten, ist noch nicht erschienen!« »Es ist offensichtlich, daß er versagt hat. Ich erwarte ihn nicht mehr. Du wirst auf die Reserven zurückgreifen müssen, Dillibor.« Dillibor schüttelte heftig den Kopf. »Was ist?« fragte Pammion ungehalten. »Sie reichen aus, ich habe die letzten Berichte vorliegen.« »Aber in solch kurzer Zeit! Du weißt, welche Komplikationen auftreten können, wenn wir zu einem solchen Schritt gezwungen sind! Die Spezies sind schon zu lange hier, und uns fehlt die direkte Kontrolle, um festzu
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stellen, ob es nicht auf dieser und jener Welt zu Veränderungen kam!« »Bleibt uns eine andere Wahl, Dillibor?« Der Alve schwieg eine Weile, dann fragte er: »Was kann Tolfex daran gehindert haben, uns rechtzeitig mit Nach schub zu versorgen, Pammion? Wer kann einen Koordinator der Ewigkeit besiegen?« »Die Feinde des Dunklen Oheims sind schwach!« sagte Pammion. »Er wird sie zerschlagen!« Das sagte alles und zeigte die Ratlosigkeit des »Sohnes«. Angesichts des Erscheinens eines wirklichen »Sohnes« des Oheims wirkte der An spruch Pammions plötzlich lächerlich auf Dillibor. »Du wirst deine Aufgabe zur Zufriedenheit des Oheims erfüllen«, sagte Pammion. »Und noch etwas. Bestimmte Anzeichen sprechen dafür, daß Fremde hier eingedrungen sind, während der Kampf tobte.« Dillibor war sprachlos. »Sorge dafür, daß sie unschädlich gemacht werden«, befahl Pammion. »Ich bin nicht sicher, daß mein Verdacht zutrifft, aber eine Reihe unerklär licher Vorkommnisse sprechen dafür.« »Könnten nicht Gefangene …?« »Viele von ihnen erwachten früher als wir.« Pammion hütete sich da vor, laut auszusprechen, daß er die GersaPredoggs dafür verantwortlich machte, weil sie offensichtlich die Betäubung der Gefangenen, zeitlich falsch dosiert hatten. »Diese sind wieder unter unserer Kontrolle. Ich habe bereits Gersa-Predoggs zu dir geschickt, die die Reviere der Gefangenen durchkämmen. Du wirst mit ihnen arbeiten.« Noch immer war Dillibor um seine Fassung bemüht. Pammion sprach so gelassen von etwas Unvorstellbarem, daß Dillibor Scheu vor ihm zu empfinden begann. »Könnten nicht einige Veteranen die Verwirrung ausgenutzt haben, um in den Hort einzudringen?« fragte er, ohne selbst an diese Möglichkeit zu glauben. »Finde es heraus. Setze alle Schwarzen ein, die du entbehren kannst. Doch vernachlässige deine vordringliche Aufgabe nicht!« »Das werde ich nicht«, beeilte Dillibor sich zu versichern, als der Bild schirm schon wieder dunkel geworden war. Der Alve lehnte sich wieder zurück. Lange starrte er blicklos vor sich hin. Fremde im Hort der Finsternis! Wollte Pammion ihn auf eine Probe stellen? Wer sollte unbemerkt ein gedrungen sein, ohne daß die automatischen Alarmanlagen an den Toren auf ihn angesprochen hätten? Das Schiff, das noch auf dem Raumhafen stand, die HERGIEN?
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Dillibor schüttelte den Kopf. Niemand befand sich an Bord. Es war gründlich durchsucht worden, nachdem der wahnsinnige Neffe es verlas sen hatte. War es am Ende Duuhl Larx selbst, der in den Hort eingedrungen war? Seine Ankunft war aufgezeichnet worden, während die Alven handlungs unfähig gewesen waren. Doch niemand wußte, wohin er sich gewandt hat te – wenngleich es für ihn eigentlich nur ein Ziel geben konnte. Dillibors Gedanken drehten sich im Kreis. Der Bleiche Alve stand auf und verließ den Ruheraum, als ein akustisches Signal ihm anzeigte, daß er wieder in der Halle der Schöpfung gebraucht wurde. Der nächste Neffe war zur Belebung bereit. Dillibor fühlte einen unbe stimmten Zorn auf die Gersa-Predoggs in sich aufsteigen. Warum brauch ten sie ihn noch, wenn sie so mächtig waren? Der Bleiche Alve erschrak vor sich selbst. Er riß sich zusammen und machte sich auf den Weg. Der Roboter stand bereits vor der dunklen Trennscheibe, hinter der sich eine neue Nährlösung mit einem neuen Geschöpf darin befand, das noch nichts anderes als ein Körper ohne Leben war. Die Schwarzalven bereite ten die Maschinen vor. Wortlos trat Dillibor an sein Pult. Mit den Gedanken war er bei den geheimnisvollen Eindringlingen. Wenn die Belebung vorüber war, würde er sich um sie kümmern. Er war davon überzeugt, daß schon jetzt ein Kesseltreiben auf sie begann. Das Summen der Maschinen hob an. Die Schwarzalven zogen sich zu rück. Sie taten dies ohne seinen Befehl und viel früher als gewöhnlich. Dilli bor wertete dies als ein Zeichen dafür, daß die Gersa-Predoggs nun end gültig das Kommando im Hort der Finsternis übernommen hatten und über seinen Kopf hinweg agierten. Wahrscheinlich hatten die Schwarzalven be reits vor seiner Ankunft in der Halle ihre Anweisungen erhalten und mach ten sich nun ebenfalls auf die Suche nach den Eindringlingen, von deren Existenz Dillibor nicht einmal überzeugt war. Verbittert wartete der Bleiche Alve auf das Signal des Roboters. Wieder spürte er die finsteren Ströme, die unsichtbar auf das neue Geschöpf hinter der Scheibe überflossen. Gleichzeitig, das wußte Dillibor aus seiner lang jährigen Arbeit als Leiter dieses Komplexes, saugte das entstehende We sen gierig jene anderen Ströme in sich auf, die aus der Lebensblase kamen. Es brauchte beide Komponenten, um leben zu können. Flüchtig dachte der Bleiche Alve daran, daß auf Luckirph, dem Welten fragment des positiven Lebens, Hunderte von Wesen hatten sterben müs sen, um das energetische Gleichgewicht der Lebensblase aufrechtzuerhal ten. Die ungeheuren Energiemengen, die zur Schaffung neuer Neffen be
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nötigt wurden, mußten ersetzt werden. Die ersten Blitze zuckten von den Maschinenblöcken zur Trennscheibe hinüber. Der neue Neffe begann sich zu bewegen.
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4. Atlan
Lange blickte ich auf die Folie. Ein Wesen wie das darauf abgebildete hat te ich nie zuvor gesehen, und doch erschien es mir, als müßte ich wissen, was die Skizze zeigte. »Komm endlich!« drängte Razamon. Er deutete auf die Bildschirme. Ich löste mich von dem Anblick und verstaute die Folie unter dem Overall. Auf den Schirmen waren Alven zu sehen, schwarze und bleiche, die in hektischer Betriebsamkeit zwischen den Glaskäfigen hin und her liefen, einige scheinbar ziellos, andere mit Gefangenen, die sie offensicht lich wieder in die Operationssäle brachten. Ich sah aber auch GersaPredoggs in allen Größen und Gestalten, die die Korridore systematisch abzusuchen schienen. Nach uns? Hatte irgendein verborgenes System unser Erscheinen doch registriert? Oder hatten wir uns durch das Einbrechen in verschlossene Räume oder die Benutzung des Lifts selbst verraten? Wieder wurde mir schmerzlich bewußt, wie wenig wir über diese gigan tische Anlage wußten. Das meiste davon war Spekulation. Was wir von Yeers und Olken erfahren hatten, war vage gewesen. Mit Sicherheit aber diente der Hort der Finsternis nicht nur als Schaltzentrale. Etwas anderes geschah hier, und ich spürte, daß es etwas Ungeheuerliches war. Angesichts dessen – und trotz der immer stärker werdenden Unruhe beim Gedanken daran, daß wir entdeckt worden sein mochten und gejagt werden würden – geriet mein Entschluß, den nächsten Weg aus dem Hort der Finsternis heraus zu suchen, ins Wanken. Diesen Ort umgab ein Ge heimnis, etwas, von dem auch die Körperlosen in der Lebensblase nichts wußten. Der Aufenthalt in der Lebensblase hatte uns die Möglichkeit gegeben, das »Gespräch« zwischen dem Dunklen Oheim und seinem aggressiven Sprößling mitzuhören, bevor es zum Kampf zwischen beiden kam. Wir wußten nun, wer der Dunkle Oheim war, daß es sich bei ihm um eine Macht handelte, die einstmals aus dem negativen Teil einer Superintelli genz entstanden war, der sich von deren positiven Kräften getrennt hatte, um nicht zur Materiesenke zu werden. Wir kannten seine Geschichte und hatten mitverfolgen können, wie er zu dem geworden war, was er heute darstellte – und wie er, beginnend bei den Alven, nach und nach die ge samte Schwarze Galaxis unter sein Joch gebracht hatte, bis überall jenes Chaos herrschte, das er brauchte, um in seiner jetzigen Form zu existieren. Er brauchte negative Bewußtseinsinhalte, und seine Saat war so erfolg reich aufgegangen, daß er bald mit negativer Energie so übersättigt war, daß er sie in Form von neuen, kleinen Ringen und später direkt in die Son
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nen dieser Sterneninsel abgeben mußte, wodurch deren schwarze Kerne entstanden. Was also blieb uns noch zu enträtseln? Bei allem, was wir über den Dunklen Oheim erfahren hatten, war es so gut wie unmöglich, daraus Ka pital gegen ihn zu schlagen. Sicher, die Körperlosen setzten all ihre Hoff nungen in die große Plejade und eine Überladung der Lebensblase, deren Ende unweigerlich das Ende aller Neffen des Dunklen Oheims nach sich ziehen sollte, denn die in ihr gespeicherte positive Energie diente aus schließlich dazu, die Neffen am Leben zu erhalten. Die Neffen! Hastig zog ich die Folie noch einmal hervor. Ich hatte das Gefühl, daß es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Chirmor Flog und Duuhl Larx – beide waren Krüppel gewesen, wenn ich den Umstand richtig zu deuten verstand, daß Larx niemals aus seiner Hülle heraustrat. Flog hatte nicht immer in seinem Gestell gesteckt. War das Wesen auf der Skizze ein Neffe, wie er wirklich aussah – in seiner Originalgestalt? Über die Herkunft der Neffen hatten Yeers und Olken nichts zu sagen gewußt. Aber von wo sollten sie stammen, wenn nicht von hier? »Atlan!« rief Razamon aus. »Willst du warten, bis sie hier sind?« Auf den Schirmen waren nun regelrechte Trupps zu sehen, die sich auf Korridoren bewegten, die ich zu kennen glaubte. Natürlich konnte ich mich täuschen. Zwei oder drei Gersa-Predoggs wurden in der Regel von einem halben Dutzend Schwarzalven begleitet, und sie stießen alle Türen auf. Mein Verdacht wurde zur Gewißheit. Unsere Anwesenheit im Hort der Finsternis war entdeckt worden. Man würde unseren Spuren folgen. Der Berserker hatte recht. Wir hat ten keine Zeit mehr zu verlieren. Alles hing nun davon ab, ob man uns unsere Tarnung abnahm und uns als Helfer der Alven ansah. Ich warf einen letzten Blick auf die Schirme, die einen deprimierenden Eindruck von der Größe der gesamten Anlage vermittelten. Meine Gedan ken behielt ich vorerst für mich. Wir traten in den Lift und wurden weiter nach unten getragen, was uns nur recht sein konnte. Die Eisenstangen lie ßen wir zurück. Als der ziemlich klapprige Aufzug endlich hielt, sahen wir erneut einen dunklen Korridor vor uns. Niemand hielt sich darin auf, obwohl aus der Ferne Stimmen zu hören waren. Vorsichtig betraten wir den Gang. Hier gab es überhaupt keine Türen mehr. Er teilte sich, und zu beiden Seiten des Hauptkorridors mündeten Nebengänge, in denen Alven und andere, ebenfalls in graue Overalls ge kleidete Wesen unterschiedlichster Art standen und sich erregt unterhiel
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ten. Dies war das erstemal, daß wir diese »Helfer« aus unmittelbarer Nähe sahen. Auch sie trugen Translatoren. »Wir kommen nicht weiter, ohne daß sie uns sehen«, flüsterte Razamon. »Riskieren wir es?« Hatten wir denn eine Wahl? Ich spürte wieder den Druck in der Kehle, und mein Herz schlug schneller. Ich schwitzte leicht. Umzukehren hatte keinen Sinn. Jetzt mußte sich entscheiden, ob unsere Tarnung ausreichte. Vielleicht war die riesige Ausdehnung der Anlage jetzt unser entscheiden der Vorteil, denn es war kaum anzunehmen, daß die Alven all ihre unfrei willigen Helfer kannten. »Wir riskieren es«, sagte ich. Razamon nickte grimmig. Seine Blicke sprachen Bände. Es war bestimmt besser für die Alven, wenn sie uns in Ruhe ließen. Ruhigen Schrittes, doch bereit, beim ersten Anzeichen eines Alarms zu rennen, überquerten wir die Kreuzung. Die Alven und ihre Begleiter sahen uns und hörten auf zu reden. Ich schwitzte Blut und Wasser. Als wir angerufen wurden, glaubte ich, Razamon würde sich wie der Berserker, als den ich ihn kennengelernt hatte, auf die Alven stürzen. Aber er blieb stehen, und ich schwöre, jeder seiner Muskeln zuckte in diesem Augenblick. Langsam drehte ich mich zu dem Rufer um. Links von uns standen drei Schwarzalven mit zwei dürren Hominiden in grauen Overalls, rechts von uns fünf Alven, aus deren Mitte sich nun einer der Zwerge löste und einen Schritt auf uns zu machte. »Ihr beide!« rief er, und unsere Translatoren übersetzten seine Worte überflüssigerweise. Die Hand des Alven befand sich noch weit weg von der Lähmwaffe an seinem goldfarbenen Gürtel. Ich wagte nicht zu atmen. Wenn nur Razamon jetzt ruhig blieb! Ich blickte den Zwerg fragend an. »Von wo kommt ihr?« Eine dümmere Frage konnte ich mir nicht vorstellen. Von wo konnten wir schon kommen, wenn nicht vom Aufzug. Allerdings deutete die scheinbare Naivität des Alven darauf hin, daß er sich hier ebensowenig auskannte wie wir. Ich deutete mit ausgestrecktem Arm in den Korridor hinter uns. »Hast du keine Stimme, Kerl?« rief der Alve. Er wartete keine Antwort ab, sondern fragte gleich: »Ihr habt eure Anweisungen erhalten?« »Ja!« knurrte Razamon, bevor ich etwas entgegnen konnte. Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken. Razamon antwortete in reinem Pthora! Einige Sekunden verstrichen, bevor der Alve wieder etwas sagte, Se kunden, die zur Qual wurden. Razamons Antwort, dieses eine auf Pthora gesprochene Wort mußte uns verraten, wenn nicht …
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»Meldet euch bei Dillibor!« rief der Alve endlich über den Gang. »Sobald ihr den euch zugewiesenen Abschnitt nach den Eindringlingen abgesucht habt.« »Ja!« rief der Atlanter erneut. Der Alve drehte sich um und kümmerte sich nicht weiter um uns. Wir waren entlassen – und akzeptiert. Wir beeilten uns, weiterzukommen. Razamon grinste, als er meinen Blick bemerkte. »Das hätte uns das Genick brechen können«, warf ich ihm vor. »Unser Schweigen oder der Versuch, auf GarvaGuva zu antworten, hät te uns viel eher verraten können. Unseren Akzent kennen die Translatoren bestimmt nicht. Und außerdem wissen wir jetzt, daß es unter den Helfern der Alven oder unter den Gefangenen Pthorer gibt.« Mir wurde seltsam zumute bei diesem Gedanken. Auf Pthor hatte alles seinen Anfang genommen, und wie wir vom Dunklen Oheim selbst erfah ren hatten, wurde der Dimensionsfahrstuhl bereits in Kürze hier im Riti quian-System erwartet, um »gesäubert« zu werden. Aber Pthorer hier im Hort der Finsternis? Gab es dann in den Glaskammern, von denen wir wohl nur einen klei nen Teil gesehen hatten, wirklich Vertreter aus allen Revieren der Schwar zen Galaxis? Und wer war Dillibor? Warum sollten wir uns bei ihm melden? Wo war er überhaupt zu finden? Natürlich dachten wir nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten. Wir marschierten weiter, bis sich der Korridor verengte. Niemand kam uns in den Weg. Wir erreichten eine Art Schleuse, durchquerten sie und ge langten in eine riesige transparente Röhre. Unter unseren Füßen lag eine der Straßenschluchten dieser Gigantanlage, und ich sah Fahrzeuge, in de nen in graue Overalls gekleidete Echsenabkömmlinge saßen und Gefäße transportierten, die mich unwillkürlich wieder an Laborausrüstung erinner ten. Wir gelangten durch die Röhre aus dem Gebäude heraus, in dessen Kellergeschoß wir materialisiert waren, und betraten einen hoch in den dunklen Himmel ragenden Turm. Ich drehte mich um und sah jetzt, daß wir uns die ganze Zeit über in einem eckigen Bauwerk von mindestens dreißig Meter Höhe und der dreifachen Breite aufgehalten hatten. »Kein Wunder, daß wir uns darin verlaufen konnten«, murmelte Raza mon. »Ich schätze, jetzt wäre unser Bericht an diesen Dillibor fällig.« Wir gingen vorsichtig weiter. Alven begegneten uns und nahmen kaum Notiz von uns. Dann folgten einige weitere Schrecksekunden, als ein Ger sa-Predogg direkt vor uns, am Eingang zu einer Halle, aus einem Aufzug trat.
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Der Roboter schwebte in geringer Höhe über dem Boden und rotierte um die eigene Achse. Für Sekundenbruchteile hatte ich das Gefühl, von unsichtbaren Sensoren durchleuchtet zu werden. Doch wieder hatten wir Glück. Nichts geschah. Der Roboter schwebte davon, durchquerte die Hal le und verschwand in einem kreisrunden Loch im Boden. »Puh!« machte Razamon. Auch er schwitzte und fuhr sich mit dem Är mel über die Stirn. Ich allerdings begann mich zu fragen, ob wir nicht längst durchschaut worden waren und irgend jemand ein makabres Spiel mit uns trieb, indem er uns in Sicherheit wiegte. »Mach nicht so ein Gesicht, Arkonide«, sagte Razamon. »Wir sind Hel fer der Alven. Alles, was uns jetzt noch fehlt, ist ein Fahrzeug.« Und dann? dachte ich. Die Anlage mochte sich über viele Kilometer hin nach allen Seiten erstrecken. Sollten wir einfach geradeaus fahren oder fliegen, in der Hoffnung, die Benutzung der Wagen oder Gleiter würde nicht irgendwo registriert? Wir brauchten einen Anhaltspunkt, und ich sträubte mich dagegen, blindlings eine abenteuerliche Flucht zu wagen, ohne vorher herausgefun den zu haben, was der Hort der Finsternis wirklich war. Obwohl mir das eigene Fell näher sitzen sollte als das der hilflosen Geschöpfe in den Glas käfigen, ertappte ich mich bereits dabei, darüber nachzudenken, wie ich ihnen das grausame Schicksal, das ihnen ganz offensichtlich bestimmt war, ersparen konnte. Mein Extrasinn quittierte solcherlei Gedanken mit den üblichen Appel len an meinen Verstand. Ich sah ein, daß die GOL'DHOR, sollte sie tat sächlich unbehelligt auf dem Raumhafen landen können, kaum sehr lange auf uns würde warten können, und sie stellte unsere einzige Chance dar, zumindest vorerst aus dem Ritiquian-System und damit aus der unmittel baren Nähe des Dunklen Oheims (oder seines Sprößlings) zu verschwin den. Ich war entschlossen, auf dem Weg in die Freiheit so viele Informatio nen zu sammeln wie möglich. Noch ahnte ich nicht, wie bald schon wir das Geheimnis dieses Ortes erfahren sollten – und mit welchen Konse quenzen für Razamon und mich. Wir durchquerten die Halle und sich anschließende Gänge, gelangten durch transparente Röhren in weitere Gebäude und sahen, daß fast alle Teile dieser Anlage durch solche Röhren miteinander verbunden waren. Es gab nur wenige Eingänge am Boden, und diese schienen in erster Linie für die Transportfahrzeuge vorgesehen zu sein. Eine Stunde lang mochten Razamon und ich durch Gebäude geirrt sein, ohne behelligt zu werden. Wer immer dieser geheimnisvolle Dillibor war, er schien im Moment andere Sorgen zu haben, als sich um zwei »Helfer«
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zu kümmern, deren Bericht überfällig war. Wir gelangten über Treppen in die unteren Stockwerke diverser Gebäude, ohne einen nutzbaren Ausgang ins Freie zu finden. Wo es sie gab, waren sie verschlossen und gut be wacht. Offensichtlich ahnten die Alven, auf welche Weise sich die »Eindringlinge« zu verabschieden gedachten. Wir kletterten wieder höher. Nach einer Weile standen wir vor zwei Röhren, die in eine Schleuse mündeten, die sich halbkugelförmig an der Außenwand eines Turmes befand. Eine der Röhren führte zu einem weite ren Turm, die andere in eine riesige Kuppel, vor der sich, tief unter uns, ein kleiner Fahrzeugpark befand. Alven kamen aus einem breiten Tor in der Kuppel und beluden einige der Wagen mit etwas, das ich erst auf den zweiten Blick erkannte. Razamon stieß einen erstickten Schrei aus. Ich kniff die Augen zusammen und sah wieder hin. Razamons Reaktion zeigte, daß meine Phantasie mir keine makabren Streiche spielte. »Das sind … Leichenteile!« entfuhr es ihm. »Und verstümmelte We sen!« Er blickte mich an. »Welche Teufelei geht hier vor, Atlan?« Ich wußte es nicht. Ich war unfähig, ihm zu antworten. Die Alven schleppten auf kleinen Antigrav-Plattformen halbverstümmelte Geschöpfe aus der Kuppel und luden sie auf Transporter. Abgetrennte Arme und Bei ne wurden in eigens dafür vorgesehene Behälter gelegt und erinnerten mich an die Gliedmaßen, die in den Operationssälen in Nährlösung ge schwommen hatten. Ich dachte an Tolfex, an den Stern der Läuterung und die Herstellung von Organschiffen, und ich wurde von kaltem Grauen gepackt. Welche Ungeheuerlichkeiten spielten sich in dieser Kuppel ab? Unbändiger Zorn erfaßte mich. Razamon hatte die Lippen so fest zu sammengepreßt, daß alles Blut aus ihnen wich. Er erinnerte mich wieder an den Berserker, der kurz vor einem seiner Anfälle stand, die mir zu Be ginn unserer Bekanntschaft Angst und Schrecken eingejagt hatten. Die vollbeladenen Transporter fuhren ab und verloren sich in einer Stra ßenschlucht. Ich sah ihnen nach, und in diesen Augenblicken war der Raumhafen vergessen. »Wir nehmen diese Röhre«, sagte ich grimmig, und ich erschrak beim Klang meiner eigenen Stimme. »Ich will wissen, was in der Kuppel ge schieht!« Auch von den transparenten Verbindungsröhren aus ließ sich nichts erken nen, das Aufschluß über den Ausgang des Kampfes zwischen dem Dunklen Oheim und dessen Sprößling hätte geben können. Der Himmel war nur zum Horizont hin hell. Über uns erstreckte sich das dunkle Band der Lebensblase. Der Hort der Finsternis lag in ewigem Schatten – zumin dest zu dieser Jahreszeit.
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Zwischen einigen Gebäuden lagen Trümmer, die die Alven noch nicht fortgeschafft hatten. Ganze Türme waren in sich zusammengefallen oder explodiert, aber das nahm ich kaum zur Kenntnis. Ich konnte an nichts an deres als an das mehr denken, was uns in der Kuppel erwartete. Vielleicht gelang es uns, bis zum Fahrzeugpark an ihrer Basis zu gelangen. Vorher aber mußte ich mir Gewißheit darüber verschaffen, welche ungeheuerli chen Experimente hier mit wehrlosen Geschöpfen gemacht wurden, die hierher verschleppt worden waren. Ich war mir mittlerweile ziemlich si cher, daß sie von Koordinatoren der Ewigkeit geraubt worden waren. Kaum waren wir in der Kuppel, als uns klar wurde, daß wir tatsächlich eine zentrale Stelle innerhalb der riesigen Anlage gefunden hatten. Waren die Korridore und Hallen in den bisher durchquerten Gebäuden relativ leer gewesen, so wimmelte es hier von Alven, und wir sahen mindestens eben soviele Bleiche Alven wie deren schwarze Artgenossen. Wir bewegten uns durch die Korridore, als ob wir hier zu Hause wären. In meiner momentanen Verfassung wäre mir eine Konfrontation fast recht gewesen. Ich lief Gefahr, vom Zorn übermannt zu werden und jede Vor sicht zu vergessen. Razamon erging es kaum anders. Die Alven beachteten uns nicht. Viel zu sehr waren sie mit ihrer Arbeit beschäftigt. Wahrscheinlich glaubte niemand daran, daß wir, die Eindring linge, so vermessen waren, uns hierher zu trauen. Bleiche Alven und Ro boter gaben Befehle. Schwarzalven schleppten gläserne Gefäße oder fuh ren Wagen mit Flüssigkeitsbehältern über die Gänge. Alles machte den Eindruck, als stünden sie unter gewaltigem Zeitdruck, und mein Gefühl, an der Schwelle des Geheimnisses zu stehen, das den Hort der Finsternis umgab, wuchs. Wir folgten einer Gruppe Schwarzalven, die einen riesigen Tank mit gelblicher Flüssigkeit vor sich her fuhren. Wieder war von irgendwoher das Summen und Mahlen gewaltiger Maschinen zu hören, und aus verbor genen Lautsprechern drangen Befehle. Namen wurden gerufen und Alven oder andere Wesen in Abteilungen beordert, deren Bezeichnung uns nichts sagte. Ich wurde an den hektischen Betrieb in einem irdischen Hospital er innert. Vor einer riesigen Flügeltür am Ende des Korridors machte die Gruppe halt. Die Alven warteten, bis über der Tür Leuchtsymbole erschienen und in schneller Folge über eine schmale Leiste flossen. Auch damit konnten weder Razamon noch ich etwas anfangen. Die Zwerge jedoch drehten sich wie auf Kommando um, ließen den Wagen mit dem Flüssigkeitsbehälter einfach stehen und marschierten davon. »Was jetzt?« fragte Razamon flüsternd. »Sollen wir ihnen folgen? Oder nehmen wir …?« Er blickte auf den Wagen. Ich wußte, was er jetzt dachte, und auch ich
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konnte der Verlockung kaum widerstehen. Der Wagen selbst war flach und besaß zwei Griffe wie eine Schubkarre, so niedrig, daß die knapp ein Meter großen Alven ihn bequem vor sich her schieben konnten, wenn gleich sie zu dritt an einem Griff anpacken mußten. Der Tank allerdings mochte zwei Meter lang und anderthalb Meter im Durchmesser sein. Wenn wir uns direkt hinter ihm hielten, konnte er uns als Deckung dienen. Was hatten wir zu verlieren? Bis jetzt waren wir nicht aufgefallen, und vielleicht bekamen wir so schnell nicht wieder eine Gelegenheit wie diese. Ich nickte dem Atlanter zu. Wir mußten uns bücken, um die Griffe des Wagens zu packen. Als hinter uns niemand zu sehen war, schoben wir ihn durch die Tür. Beide Flügel gaben nach und schnappten hinter uns zu. Wir standen in einer Halle, größer als alle, die wir bisher gesehen hatten – mit Ausnahme jener, in der sich die Glasgefängnisse befanden. Vor den Wänden standen riesige Maschinen, über die in schneller Folge Lichter huschten. Ich sah einige große runde Tische mit Stühlen. Genau im Zen trum der Halle kam eine etwa drei Meter dicke Röhre aus dem Boden und verschwand wieder in der gut zehn Meter hohen Decke. In regelmäßigen Abständen schoß gelbliche Flüssigkeit schäumend hindurch nach oben. Weder Alven noch »Helfer« oder Roboter befanden sich hier, aber ich hatte den Eindruck, daß sie jeden Augenblick durch die vielen kleinen Tü ren zwischen den Maschinen in der Raum stürmen und eine hektische Ak tivität entfalten konnten. Die Maschinen schienen sich warmzulaufen. »Wir warten hier«, entschied ich. Razamon wurde bereits wieder unge duldig. Bevor er protestieren konnte, deutete ich auf einen etwas von der Wand abstehenden Block zu unserer Linken. »Wir verstecken uns dort.« Mit mürrischem Gesicht folgte er mir – und wir zwängten uns keinen Augenblick zu früh in die Nische hinter der leise summenden Maschine. Die Flügeltür, durch die wir gekommen waren, wurde aufgestoßen, und von einem halben Dutzend Schwarzalven geführt, erschien darin ein Ge schöpf, bei dessen Anblick sich mir die Nackenhaare sträubten. Ich mußte schlucken und zog meinen Kopf unwillkürlich so weit zurück, daß ich ge rade noch an einer Ecke des Blockes vorbeiblicken konnte. Meine Knie wurden weich. Ich dachte an die Folie unter meinem Overall, aber es war ein Unter schied, eine Skizze zu betrachten oder das darauf abgebildete Wesen nun lebend vor sich zu sehen – in voller Größe! Es war gut und gerne drei Meter groß. Die Alven wirkten in seiner un mittelbaren Nähe noch zwergenhafter als ohnehin schon. Das Geschöpf, das sich tapsig und unbeholfen auf die Mitte des Raumes zubewegte, war ein gestaltgewordener Alptraum. Von den vielen Gliedmaßen paßte keine zur anderen. Ich sah gefiederte, geschuppte, behaarte und völlig nackte Ar me und Beine und einen monströsen Schädel mit drei riesigen Augen. Die
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Haut der Kreatur sah aus wie aus vielen Flicken zusammengesetzt. Das Wesen wirkte in mancherlei Hinsicht unfertig. Es bewegte sich wie ein Kind, das erst noch lernen mußte, wie es seine Hände, Arme und Beine zu gebrauchen hatte. Und es war nackt, nackt und häßlich. Ein solches Monstrum konnte nie und nimmer überlebensfähig sein! fuhr es mir durch den Sinn. Sein Körperbau verfügte über keine Symme trie. Es wirkte tatsächlich wie aus verschiedenen Stücken zusammenge setzt. Schon in diesen Augenblicken hätte ich die schreckliche Wahrheit er kennen müssen, doch ich war wie gelähmt. Razamons Hand lag auf mei ner Schulter. Er blickte mir über den Kopf, und seine Finger krampften sich schmerzhaft in mein Fleisch. Auch das registrierte ich kaum. Atemlos sah ich zu, wie die Alven das Wesen in der Halle herumführ ten. Sie ließen es keinen Moment aus den Augen. Sie bemutterten es regel recht, und dann und wann, wenn das Geschöpf lallende Laute ausstieß, ge rieten sie förmlich in Ekstase. Sie sprangen um es herum und klatschten begeistert in die Hände. Ich kam mir vor wie in einer komischen Zirkusnummer. Aber was ich sah, war absolut nicht zum Lachen. Der Verdacht, der mich bereits beim Anblick der Skizze beschlichen hatte, wurde nun fast zur Gewißheit, auch wenn ich mir einzureden ver suchte, daß ich mich einfach irren mußte. Sollte dieses Riesenbaby, diese vor Häßlichkeit strotzende Kreatur tat sächlich einer der gefürchteten, mächtigen Neffen des Dunklen Oheims sein? Ein Neffe, der sich von den Alven umsorgen und wie eine Jahr marktskuriosität vorführen ließ? Es war undenkbar, und dennoch … Chirmor Flogs Riesenprothese hatte ebenfalls unzählige Gliedmaßen besessen. War sie seiner einstmaligen wirklichen Gestalt nachgebildet ge wesen? Sah Duuhl Larx unter seiner Energieaura so aus wie dieses … dieses Et was? Ich wußte, daß ich recht hatte mit meiner ungeheuerlichen Vermutung, doch noch immer sträubte sich alles in mir dagegen, die Wahrheit zu ak zeptieren. Die Alven führten den Koloß einige Male um die Säule in der Mitte der Halle herum, bis sie im hinteren Teil des Raumes vor einer riesigen Truhe haltmachten, die Razamon und ich vom Eingang aus nicht hatten sehen können. Immer noch um meine Fassung bemüht, mußte ich nun mitanse hen, wie sie die Truhe öffneten und verschiedene Dinge herausnahmen, die auf den ersten Blick wie lange Strümpfe aussahen. Dazu mußten sie die Kreatur für einige Augenblicke sich selbst überlassen, und das Ge
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schöpf gab wieder lallende Laute von sich, die tatsächlich an die ersten Sprechversuche eines Kleinkinds erinnerten. Aber kein Wesen kam so auf die Welt wie dieses. Es tapste unsicher umher, schwang die vielen Arme durch die Luft und begann, schaukelnde Bewegungen zu vollführen. Ich rechnete damit, daß es jeden Augenblick sein Gleichgewicht verlieren und einfach umkippen mußte. Die Alven hätten einen kleinen Kran gebraucht, um es wieder aufzurichten. Aber es hielt sich auf den Beinen. Und nun begannen die Zwerge damit, die »Strümpfe« über die einzelnen Gliedmaßen zu streifen. Es waren un durchsichtige, dicke Hüllen, die die Arme völlig umschlossen, bis zu ih rem Ansatz reichten und auch die Hände nicht freiließen. Immer mehr von diesen Hüllen wurden aus der Truhe geholt, und als die Arme verhüllt wa ren, kamen die Beine an die Reihe. Das Bild, das sich Razamon und mir bot, hätte nicht grotesker sein können. Drei oder vier Alven mußten mitan packen, um eines der schweren Beine so hoch zu heben, daß ein anderer die Stoffhülle darüberziehen konnte. »Atlan, um alles in der Welt, was ist das?« fragte Razamon so leise, daß ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Ich zuckte zusammen, obwohl es unmöglich sein sollte, daß das Riesen baby uns hören konnte. Dennoch hatte ich für einen schrecklichen Augen blick das Gefühl, eines seiner Augen würde sich genau auf unser Versteck richten. Mit Gewalt unterdrückte ich den Impuls, einfach davonzurennen, aus der Halle hinaus und in die endlosen Korridore – nur fort von diesem un heimlichen Geschehen. Aber ich mußte wissen, was hier vorging. Wenn diese Kreatur ein Neffe des Dunklen Oheims und so jung war, wie es den Anschein hatte, konnte dies nur eines bedeuten. Wieder kon zentrierte ich mich voll auf die Alven, um die einzig logische, ungeheuer liche Schlußfolgerung nicht ziehen zu müssen, denn so wie dieses Ge schöpf wurde kein Lebewesen geboren … Schließlich hatten die Alven es bis zum letzten Glied »eingekleidet«, und nun begannen sie damit, den ganzen Rumpf mit dicken Stoffbahnen zu umwickeln, wozu sie sich auf die Truhe stellen mußten. Das Wesen ließ alles über sich ergehen und hatte ganz offensichtlich seinen Spaß dar an. Zweimal hob es einen Alven einfach hoch und ließ den strampelnden und schreienden Zwerg einfach aus vier Metern Höhe auf den harten Bo den fallen. Sie rappelten sich wieder auf, und auch wenn sie hinkten und sich die schmerzenden Körperstellen hielten, fuhren sie in ihrer Arbeit fort, bis nur noch der Kopf des Kolosses frei war. Das Wesen steckte in einem überdimensionalen Strampelanzug – und fühlte sich wohl darin. Die Hüllen, von denen jede eigens für das entspre
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chende Glied gefertigt worden zu sein schien, waren nahtlos mit den Stoff bahnen verbunden. Kein Quadratzentimeter Haut war noch frei – eben mit Ausnahme des Kopfes. Und den drehte der Koloß plötzlich ganz langsam in unsere Richtung. Es überlief mich eiskalt, und Razamon schnappte nach Luft. Die drei seltsam geformten Augen richteten sich nicht etwa auf unsere Köpfe, die halb hinter der Maschine hervorschauten, sondern auf den me tallenen Block selbst, und es war, als ginge ihr Blick durch diese feste Ma terie mühelos hindurch. Ich wußte, was nun kommen würde, noch bevor das Wesen einen dün nen Schrei ausstieß und alle Arme gleichzeitig hochriß. Es deutete auf un ser Versteck, wobei es sich so ungeschickt anstellte, daß es die Alven, die direkt vor ihm standen und ihr Werk mit offensichtlicher Zufriedenheit be gutachteten, aus reinem Versehen mit seinen rudernden Armen bewußtlos schlug. Ich schrie ebenfalls und stürmte hinter dem Maschinenblock her vor auf die Flügeltür zu. Razamon rannte hinter mir, so schnell seine Bei ne ihn trugen. Markerschütterndes Gebrüll ließ mich herumfahren, als wir nur noch drei, vier Schritte von der Tür entfernt waren. Der Koloß hatte sich zu seiner ganzen Größe aufgerichtet, ließ seine Ar me durch die Luft peitschen und rannte, wie von einem Katapult abgefeu ert, auf uns zu. Razamon war vor Schreck wie gelähmt. Mit bebenden Lippen starrte er das Monstrum aus weit aufgerissenen Augen an. Ich stieß ihn in die Rip pen und hörte mich schreien: »Lauf, was du kannst, Razamon! Das ist ein Neffe!« Ob dies ihn aus der Erstarrung riß oder ob die Panik ihm Flügel verlieh – jedenfalls brüllte er wie ein verletzter Stier und rannte durch die Tür. Ich war dicht hinter ihm und glaubte schon, von den Armen des Wesens be rührt zu werden, als die von uns auf gestoßenen Flügel der Tür zurück schwangen, hart gegen den weit vorgestreckten Kopf des Neffen prallten und ihm einen klassischen Knockout versetzten. Wir rannten weiter, an verblüfften Alven und anderen Wesen in grauen Overalls vorbei immer weiter in einen abzweigenden Gang hinein. Wir sa hen uns nicht um, als hinter uns Schreie durch den Korridor hallten. »Der Schacht dort!« rief Razamon. Vor uns klaffte ein Loch in der Decke, in das eine metallene Treppenlei ter hinaufführte. Ohne lange zu überlegen, kletterten wir hinauf, ohne zu wissen, was uns oben erwartete. Schlimmer als das Tohuwabohu, das jetzt hinter uns einsetzte, konnte es kaum sein. Doch wenn wir gehofft hatten, uns in einem anderen Stock werk wieder unauffällig unter die Helfer der Alven mischen zu können, so konnten wir diese Hoffnung mit dem Aufheulen der Alarmsirenen getrost
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begraben. Die Alven und Gersa-Predoggs wußten nun, in welchem Teil der Rie senanlage die Eindringlinge zu finden waren. Ein Kesseltreiben auf uns würde einsetzen, und nur ein Wunder schien uns noch retten zu können. Wir kletterten weiter, schwitzten und fluchten, und ich wünschte mir in brünstig, wir hätten uns unsichtbar machen können. Die Panik nagte an meinem Verstand, und ich sah Neffen vor meinem geistigen Auge, Dut zende von ihnen, eine ganze Armee von lallenden, frisch aus der Retorte gekommenen Neffen.
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5. Das goldene Schiff Kolphyr hörte das immer stärker werdende, unheilverkündende Brausen und Summen der magischen Maschinen aus dem Mittelteil der GOL'DHOR kaum noch. Wie gebannt starrte er durch die glasartige Wand hinaus auf den Weltraum. Die Sonne Ritiquian strahlte nun weitaus heller als vor dem Kampf zwischen dem Dunklen Oheim und seinem Sprößling. Der dunkle Kern war, wie auch die Kerne der hier, im Zentrum der Schwarzen Galaxis, nahe beieinanderstehenden Nachbarsonnen merklich geschrumpft, nachdem der Oheim ihnen einen Großteil der in ihnen ge speicherten negativen Energie entzogen hatte. Der Herrscher dieser Ster neninsel selbst hatte seinen Platz um die Sonne inzwischen wieder einge nommen. Drohender noch als zuvor wirkte der schwarze Ring, nachdem er seinen Ableger besiegt hatte. Der zweite Ring, der um den Planeten Ritiquian, nahm sich im gegen über bescheiden aus. Aber er hatte das Chaos im System allem Anschein nach unbeschadet überstanden. Die Lebensblase existierte noch, obwohl die beiden in ihr gefangenen Körperlosen nichts mehr von sich hören lie ßen. Während die GOL'DHOR sich auf den Ringplaneten zuschob, aber dabei kaum vorwärtskam, als flöge sie nicht durch das Vakuum des Weltalls, sondern durch einen zähen, unnachgiebigen schwarzen Brei, lag Zwertelis, die Denkende, vor dem Podest mit der großen Plejade darauf und wartete auf eine neue Botschaft von Yeers und Olken. Sie war das einzige Wesen an Bord, das sich noch in der Zentrale der GOL'DHOR aufhielt. Alle anderen hatten sich in den hinteren Teil des goldenen Raumschiffs zurückgezogen, als sie die Nähe der mittlerweile unfaßbar stark aufgeladenen Plejade nicht mehr ertragen konnten. Doch selbst hier litten sie unter der zwar positiven, aber schier erdrückenden Strahlung der Kugel. Dies traf im besonderen auf die Magier Querllo, Op kul, Taldzane und Ajyhna zu. Koy, der Trommler, stand neben Kolphyr und versuchte vergeblich, aus der Miene des Beras etwas herauszulesen. Sie alle waren sich schon vor der Flucht aus der Zentrale reichlich über flüssig vorgekommen. Die GOL'DHOR bedurfte der Steuerung durch die Magier nicht mehr. Sie suchte sich selbst ihren Weg, vorangetrieben von der mit vehementer Gewalt zur Lebensblase drängenden großen Plejade, in die das Schiff alle überschüssige Energie abgegeben hatte. Nur Zwertelis schien mit ihrem Schicksal zufrieden zu sein. Niemand hatte den Versuch gemacht, sie ebenfalls aus der Zentrale zu holen, denn niemand konnte wissen, wie die Trennung von der Plejade, mit der sie fast
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schon eine Einheit zu bilden schien, sich auf sie auswirken mochte. Tatsache war, daß die GOL'DHOR von irgend etwas daran gehindert wurde, weiter an die Lebensblase heranzukommen. Und sie mußte sie er reichen, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte. Sie mußte die große Plejade zur Lebensblase bringen, um Yeers und Olken aus ihrem Gefäng nis zu befreien. »Sie ist krank«, hatte einer der Magier gesagt. »Sie braucht Hilfe.« Kolphyr hatte diese Worte noch im Ohr, und auch er war inzwischen zur Überzeugung gelangt, daß das, was dem Schiff so zu schaffen machte, in ihm selbst steckte. »Was denkst du, Kolphyr?« fragte Koy zaghaft. Die Magier saßen oder standen im Hintergrund, unterhielten sich leise oder starrten nach draußen. Ohne Ausnahme machten sie einen reichlich deprimierten Eindruck. Sie, die dieses großartige Schiff so lange als eines ihrer größten Geheimnisse gehütet hatten, waren ratlos. Der Bera wandte sich vom Schirm ab und sah Koy eine Zeitlang schweigend an. Auch er hatte sich verändert. Kolphyr war ernst geworden. Er machte keine Scherze und spielte nicht den Plumpen, wie so oft, wenn er seine Freunde durch schauspielerische Einlagen aufzuheitern versuchte. Wie der Trommler fühlte er, daß der Weg, den sie so lange zusammen ge gangen waren, sich allmählich seinem Ende näherte. Niemand konnte wis sen, was die nahe Zukunft bringen würde, aber es würde anders sein, an ders als bisher. Entscheidungen von unübersehbarer Tragweite bahnten sich an, und die Schicksale einzelner traten hinter Bedeutenderem zurück. Das war es allerdings nicht, was dem Bera Kopfzerbrechen bereitete. »Die GOL'DHOR«, sagte Kolphyr. »Ich werde mit ihr reden.« »Was willst du?« Koy blickte den Riesen verständnislos an. Er schüttel te den Kopf. »Das kannst du nicht! Selbst die Magier wissen nicht mehr weiter! Das Schiff wird dich nicht einmal anhören, geschweige denn ant worten!« »Wir müssen ihm helfen.« »Aber … wie kannst du so gewiß sein, daß ausgerechnet du das kannst?« Kolphyr zuckte die mächtigen Schultern. Nein, sicher war er sich seiner Sache ganz und gar nicht. Er rechnete sich lediglich eine gewisse Chance aus, zu einer Verständigung mit der GOL'DHOR zu kommen. Kolphyrs Heimat war ein Raum zwischen den Universen, in dem es zwar keine Materie gab, dafür aber um so mehr Zustandsenergie, auf deren Formung und Nutzung sich das Volk der Bera so gut wie keine andere Rasse verstand. Und aus nichts anderem als geformter Zustandsenergie be stand auch die GOL'DHOR. Während der Jagd auf Duuhl Larx hatte Kolphyr viel Zeit gehabt, einen
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tieferen Einblick in die Natur der GOL'DHOR zu bekommen – und da durch wieder war ihm das Wesen der Magier erst begreiflich geworden, obwohl er schon früher bei einigen Gelegenheiten ein überraschend gutes Verständnis für deren Techniken an den Tag gelegt hatte. Auch die Magier von Oth taten im Grunde nichts anderes, als Zustands energie für ihre Zwecke zu nutzen. Der einzige Unterschied zwischen ih nen und seinem Volk bestand darin, daß die Magier es weitaus schwerer hatten, an diese spezielle, ungebundene Energie zu kommen. Auch sie stammten aus einem Raum zwischen den Universen, der allerdings nicht so isoliert war wie der Kosmos der Bera. Dort waren die Voraussetzungen zur Entwicklung der erforderlichen Techniken günstig. Die Magier konn ten in Ruhe ihre Studien vorantreiben und in angrenzende Universen ein dringen, um dort die Wirkung ihrer Wissenschaft zu erproben – bis eines Tages Pthor erschien und sie an sich band. Ein feines Lächeln umspielte das breite Froschmaul des Beras, als er unauffällig zu den vier Magiern von Oth hinüberblickte. Freundschaftliche Gefühle regten sich für kurze Zeit in ihm. Seine Gedanken kehrten zum eigentlichen Problem zurück. Er wußte einerseits, nach welchen Prinzipien die GOL'DHOR arbeitete, denn sie wies eine weitgehende Verwandtschaft mit dem Dimensionstau cher auf, in dem er nach Pthor gelangt war. Auch dieser hatte aus geform ter Zustandsenergie bestanden. Andererseits aber war er, Kolphyr, längst nicht so empfindlich wie die Magier für die Impulse, die das Schiff von sich gab. Und Koy mochte recht haben: Vielleicht hatte die GOL'DHOR ihren »Passagieren« gegenüber eine Abwehrhaltung eingenommen und würde ihn nicht einmal anhören. Vielleicht war sie viel zu sehr mit sich selbst be schäftigt. Aber er mußte es wenigstens versuchen! Er konnte nicht mehr länger untätig herumstehen, während sich im Weltraum die gegnerischen Schiffe vielleicht schon zum Angriff auf die GOL'DHOR sammelten. Es war mehr als fraglich, ob die GOL'DHOR in ihrer jetzigen Verfassung in der Lage war, diesen Angriff zurückzuschla gen. Außerdem hatte sich der Dunkle Oheim inzwischen sicher von dem Schock erholt, den ihm das Auftreten des Tochterrings versetzt hatte. Er würde nun doppelt wachsam sein und nichts dulden, das die Ordnung in seiner unmittelbaren Nähe störte. »Ich werde zurück in die Zentrale gehen«, verkündete der Bera. Er mußte fast schreien, um sich verständlich zu machen, denn das Brausen und Summen der Maschinen schwoll an wie in heftigem Protest. Koy wich entsetzt zurück. Die Magier drehten sich zu ihm um und starr ten Kolphyr ungläubig an.
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Kolphyr kannte ihre Einwände. Er hatte sie erwartet und ließ sie gedul dig über sich ergehen. Schließlich sagte er: »Ich weiß, wie gering die Aussicht auf einen Erfolg ist, Freunde. Aber es ist besser, als hier zu warten, bis …« Er überließ es der Phantasie jedes einzelnen, sich die Folgen einer wei teren Passivität auszumalen. Durch die Strahlung der großen Plejade wur de die finstere Ausstrahlung des Dunklen Oheims überlagert, doch jeder war sich der Gefahr, in der sie alle schwebten, vollauf bewußt. »Ich gehe allein«, sagte Kolphyr mit Nachdruck. »Bitte wartet – und sollte es möglich sein, so unterstützt mich von hier aus.« Koy wollte etwas sagen, biß sich aber dann doch auf die Lippen. Er kannte den Gefährten lange und gut genug, um zu wissen, daß sein Ent schluß unumstößlich war. Bangend blickten er und die vier Magier Kolphyr nach, als dieser sich in Bewegung setzte und im Durchgang zur Zentrale verschwand. Der Bera hatte gegen die Strahlung der Plejade anzukämpfen, die ihn plötzlich wieder mit voller Wucht traf. Die Zentrale war in blendendes Licht getaucht. Dort, wo die Marmorkugel lag, war nur noch ein glühen des Wabern zu erkennen. Zwertelis lag vor ihr und reagierte überhaupt nicht auf Kolphyrs Erscheinen. Einen furchtbaren Augenblick lang dachte der Bera, sie müßte tot sein. Doch sie atmete, und der Blick ihrer starr auf die Kugel gerichteten Augen war klar. In der Mitte der Zentrale setzte Kolphyr sich auf den Boden, ver schränkte die Beine und legte die Hände auf die Knie. Er schloß die Augen und kämpfte mit der ganzen Kraft seines Willens gegen das an, was von der großen Plejade kam. Für Sekunden drohte es ihn zu erdrücken. Wie eine Statue saß der Bera da. Seine Brust hob und senkte sich kaum merklich unter flachen Atemzügen. Dann, nach Minuten, schlug er die Augen wieder auf. Er nahm die Aus strahlung der Plejade nicht mehr bewußt wahr. All seine Sinne waren auf das Schiff konzentriert. »GOL'DHOR«, sagte er. »Willst du mit mir reden?« Es war relativ ruhig in der Zentrale. Nur schwach drangen die Geräusche der Maschinen vom Mittelabschnitt hierher, in den Kopfteil des Raum schiffs von der Form eines Rieseninsekts. Kolphyr lauschte. Er blieb still sitzen. Nur einmal blickte er zu Zwertelis hinüber, doch auch jetzt reagier te sie nicht auf ihn. Er wendete den Blick schnell ab, als die Helligkeit in seinen Augen schmerzte. »GOL'DHOR«, wiederholte der Bera nach einer Weile, als er keine Antwort erhielt. »Möchtest du mit mir reden?« Wieder folgte Stille. Kolphyr hatte sich keine Illusionen gemacht. Er kannte die Launen des magischen Schiffes inzwischen gut genug, und
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längst schon hatte er aufgehört, es nur als ein besonders ausgefallenes, prächtiges Raumfahrzeug anzusehen. Jeder, der sich eine gewisse Zeit in ihm befand, begann irgendwann, es als eine Person zu empfinden. Deren »Trotz« zu brechen, erforderte eine Menge Einfühlungsvermögen – und Geduld. Wenn Kolphyr auch glaubte, die Funktionsweise der GOL'DHOR nun zu kennen, so blieb ihm ihr »Seelenleben« doch weitgehend verborgen. Beides aber war nicht voneinander zu trennen. Vielleicht litt das Schiff darunter, hilflos einer Kraft ausgesetzt zu sein, die stärker war als es selbst. »GOL'DHOR, ich weiß daß du mich hörst und verstehst. Wir alle wis sen, daß du Hilfe brauchst. Oft brauchten wir deine Hilfe, und du gabst sie uns. Warum läßt du uns nicht das gleiche für dich tun?« Täuschte er sich, oder war da ein Laut gewesen, ganz kurz nur, als ob jemand zu einer Entgegnung ansetzte, um es sich im letzten Moment doch noch anders zu überlegen? Kolphyr wartete. Er war entschlossen, sich nicht von der Stelle zu rüh ren, bevor er eine Antwort erhalten hatte. Die Minuten verstrichen, und die GOL'DHOR schwieg. »GOL'DHOR?« Keine Antwort. Kolphyr begann zu erzählen, von sich, von seiner Hei mat zwischen den Universen, von seiner Forschungsarbeit, bevor er nach Pthor verschlagen wurde, und von seinem Dimensionstaucher. Er sprach ruhig, wie jemand, der Kindern ein Märchen erzählt. Und in gewisser Hin sicht war es ein Märchen, denn er beschrieb den Dimensionstaucher als ein Schiff, das wie die GOL'DHOR zu Gefühlen und deren Äußerung fä hig war. Dabei ertappte er sich immer häufiger dabei, daß er quasi zu sich selbst redete, und plötzlich war eine große Sehnsucht nach seiner Heimat in ihm. Er hatte Freunde gefunden, die ihm halfen, das Gewesene zu ver gessen. Nun aber, allein mit sich und dem schweigenden Schiff, wurde er sich seiner Einsamkeit wieder bewußt. Er redete und redete und vergaß da bei fast, warum er hier war – bis eine sanfte Stimme ihn unterbrach. »Kolphyr?« Der Bera zuckte leicht zusammen. Die Stimme schien von überall zu kommen, aus den Wänden, dem Boden, der Decke. »Du möchtest reden, GOL'DHOR?« fragte der Dimensionsforscher. »Ihr glaubt, ich sei krank, Kolphyr. Ich bin nicht krank.« Der Bera schwieg. Eine Weile herrschte Stille in der Zentrale. Nur die Maschinengeräusche aus dem Mittelteil waren schwach zu hören. »Ich habe einen Fehler gemacht, Kolphyr«, erklang die sanfte Stimme wieder, und Kolphyr konnte deutlich den Schmerz heraushören, der aus ihr sprach.
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»Welchen Fehler, GOL'DHOR?« Wieder folgte eine Pause, als ob das Schiff mit sich zu ringen hätte. Dann sagte es: »Wir werden die Lebensblase nicht erreichen. Die große Plejade treibt mich mit großer Gewalt auf sie zu, aber sie … stößt mich von sich ab.« »Warum, GOL'DHOR?« »Der Grund dafür ist mir unbekannt. Aber im gleichen Maß, wie die Le bensblase mir entgegenwirkt, verstärkt sich der Sog.« »Der Sog?« Kolphyr ahnte bereits, wovon das Schiff sprach, als die sanfte Stimme nach Sekunden wieder erklang. »Er zieht mich auf den Dunklen Oheim zu, Kolphyr. Ich kann ihm nicht widerstehen.«
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6. Die neuen Neffen Dillibor sah, wie Pammions Gesicht langsam auf dem Bildschirm verblaß te. Mit einem Fluch stand er auf und drehte sich zum hinter ihm wartenden Roboter um. »Du hast gehört, was er sagte!« fuhr er den Gersa-Predogg an. Dillibor hatte einen Zustand erreicht, in dem es ihm egal war, welche Folgen eine rauhere Umgangsart mit den Robotern für ihn haben mochte. Sie gaben sich als reine Arbeitsroboter – zumindest jene, mit denen er es zu tun hatte –, aber jeder von ihnen konnte alles, was die Alven taten oder sagten, un verzüglich zum Dunklen Oheim weitermelden. Jeder Alve war austauschbar, auch er. Und Pammions Worte waren deutlich genug gewesen. Wenn er, Dillibor, in dieser kritischen Situation versagte, würde ein anderer seine Stelle einnehmen. Was dann auf ihn zu kam, konnte er sich ausmalen. Pammion wälzte die Verantwortung für den Neffen-Nachschub auf ihn ab. Dillibor stand quasi mit dem Rücken gegen die Wand. Er konnte sich nicht länger um die Verfolgung der Eindringlinge kümmern, wenn er sei ner eigentlichen Aufgabe nachkommen wollte. Und wenn er das unmög lich Erscheinende schaffte, war seine Position ohnehin gestärkt. Er wußte, daß längst nicht alle Alven die gleiche Angst vor den GersaPredoggs hatten wie er. Sie waren ja auch nicht Zeugen, wenn ein neuer Neffe belebt wurde. Es kostete den Bleichen Alven Überwindung, aber die Angst vor der Bestrafung verlieh ihm grimmige Entschlossenheit. »Du hast es gehört!« schrie er den Roboter an. »Der neue Neffe für das Marantroner-Revier muß geschaffen werden. Das werde ich tun, und nichts anderes! Sage das deinen Freunden! Von nun an laßt mich mit den Eindringlingen in Ruhe! Sucht und findet sie, bevor sie noch mehr Scha den anrichten können!« Dillibor ging zum Ausgang des Kommunikationsraums. Vor der Tür blieb er noch einmal stehen. »Was ist mit Duuhl Larx?« fragte er und fügte schnell hinzu: »Mit dem neuen Larx?« »Er hat keinen Schaden genommen«, antwortete der Gersa-Predogg. »Dann trainiert ihn weiter und gebt ihm und den anderen das Bewußt sein. Ich will nicht gestört werden. Kallgur und Denneter werden an mei ner Stelle zugegen sein!« Damit verließ er den Raum und knallte wütend die Tür hinter sich zu.
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Er fühlte sich hoffnungslos überfordert. Er bezweifelte, daß es ihm ge lingen würde, mit den im Hort der Finsternis befindlichen Marantronern den geforderten Erfolg zu erzielen. Aber er würde einen Neffen aus ihnen schaffen. Wenn dieser sich später als untauglich erwies, hatte er dies nicht zu verantworten. Was immer Tolfex daran gehindert haben mochte, recht zeitig nach Chirmor Flogs Ausfall hier zu erscheinen – der Dunkle Oheim hätte dafür sorgen sollen, daß ein anderer Koordinator der Ewigkeit Tol fex' Aufgabe übernahm! Dillibor ließ sich von einem Lift tief unter die Kuppel tragen, ging in einen selten benutzten, kleineren Kommunikationsraum und schaltete alle Bildschirme aus. Er verriegelte die Tür und ließ sich in einen Schwenkses sel fallen. Einige Augenblicke lang saß er mit geschlossenen Augen da und dachte nach. Unwillkürlich drängten sich ihm die Fragen auf, die er zu verdrängen suchte. Wer waren die Eindringlinge? Wie waren sie hierhergekommen und was wollten sie? Nur Narren konnten sich Hoffnungen darauf machen, die Arbeiten im Hort der Finsternis zu sabotieren. Und Duuhl Larx, der Wahnsinnige? Wartete er außerhalb der Mauern, oder war auch er bereits im Hort? Nach allem, was Dillibor über ihn und sein Treiben auf dem Weg hierher gehört hatte, war seine Gier nach nega tiver Lebensenergie unersättlich. Den Dunklen Oheim selbst anzugreifen, würde er nicht wagen. Aber hier, im Hort der Finsternis, gab es negative Energie im Überfluß. Wann griff der Wahnsinnige an? Dillibor gab sich einen Ruck. Er schwenkte den Sessel herum und drückte auf einige Tasten in der Tischplatte. Der kleine Bildschirm eines Datensichtgeräts wurde hell. Dillibor tippte: Marantroner-Revier. Verschiedene schematische Darstellungen eines Neffen erschienen auf dem Schirm. Dillibor studierte sie sorgfältig. Allmählich wurde er ruhiger. Er hatte eine Aufgabe gestellt bekommen, eine Herausforderung an ihn, und sie schlug ihn nun ganz in ihren Bann. Er würde Pammion beweisen, daß er auf die Koordinatoren der Ewigkeit verzichten konnte. Der Dunkle Oheim sollte seinen Neffen erhalten. Spezies, tippte der Bleiche Alve. Nacheinander erschienen alle in Frage kommenden Lebensformen, die das Marantroner-Revier aufzuweisen hatte, auf dem Schirm. Zufrieden stellte Dillibor fest, daß sie ausnahmslos im Hort der Finsternis vertreten waren. Der Computer gab Auskunft darüber, in wie vielen Exemplaren und in welcher Verfassung sie sich befanden. Als das Bild und die Daten eines Havaren erschienen, drückte Dillibor die Stop-Taste. Lange betrachtete er das Wesen, dessen Artgenossen dem Neffen
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Chirmor Flog in erster Linie als Spezialkuriere gedient hatten. Dann nickte er. »Ein Havare wird den Grundstock für den Neffen bilden«, murmelte er. Dillibor begann, sich Notizen zu machen, bis er drei Folien vollgeschrie ben hatte mit Namen von Spezies und den entsprechenden Anmerkungen. Immer wieder rief er Schema-Darstellungen des Neffen ab und schrieb Nummern auf die Folien, eine hinter jeden Namen. Unter die Auflistung kritzelte er in großen Buchstaben: CHIRMOR FLOG! Er blickte auf seine Uhr und nickte. Dann aktivierte er die Bildschirme der Galerie wieder, öffnete die Tür und ließ sich zurück in die höheren Stockwerke der Kuppel tragen. Die Hektik in den Korridoren hatte sich noch verstärkt. Lautsprecherdurchsagen hallten über die Gänge. Die Ein dringlinge waren noch nicht gefaßt. Dillibor marschierte weiter, verließ die Kuppel und begab sich in jenen Teil der Anlage, in dem die Vertreter der Marantroner-Rassen unterge bracht waren. Diesmal wollte er selbst die Auswahl treffen.
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7. Atlan Ich hatte nur einen Gedanken: Fort von hier! Raus aus dieser Kuppel! Razamon fluchte vor sich hin, während seine Hände eine Sprosse der schier endlosen Leiter nach der anderen ergriffen. Ich war dicht hinter ihm und mußte aufpassen, daß er mir nicht auf die Finger trat. Immer noch gellte der Alarm durch die Kuppel. Über und unter uns mochten nun die Roboter und Alven aufmarschieren – und Neffen! Der Schacht führte immer weiter nach oben. Dann und wann fiel Licht durch Ritze in der Verkleidung ein, aber es gab keine Öffnungen auf Kor ridore. Vielleicht mußten wir klettern, bis wir auf dem Dach der Kuppel herauskamen. Ich versuchte, mir unsere Chancen auszurechnen. Wenn wir in andere Gebäude gelangen konnten und uns erst einmal wieder ungezwungen be wegen konnten, mochten wir noch für eine Zeitlang als Hilfskräfte durch gehen. Die Schwarzalven in der Halle hatten uns kaum sehen können, und der Neffe war noch nicht in der Lage, sich verständlich mitzuteilen. Es gab also vermutlich noch keine Beschreibung von uns. Unter den vielen unter schiedlichen Wesen, die im Hort der Finsternis für die Alven arbeiten mußten, würden wir also vorerst kaum auffallen. In der Kuppel allerdings war bestimmt schon kontrolliert worden, welche Hilfskräfte hier sein durf ten und welche nicht. Wir mußten einen Weg aus ihr heraus finden. Nur das zählte jetzt. Alles andere, vor allem die Gedanken, die sich mir so vehement aufdrängten, mußte vorerst zurückgestellt werden. Was ich gesehen hatte, reichte mir. Diese ganze Anlage war eine einzige Fabrik für Neffen, die vom Dunklen Oheim in die Reviere der Schwarzen Galaxis geschickt wurden! Ich durfte nicht an die Wesen in den Glaskammern denken, wenn ich nicht den Verstand verlieren wollte. Vielleicht irrte ich mich. Vielleicht hatte ich zuviel Schreckliches erleben müssen, und meine Phantasie ging tatsächlich mit mir durch. Aber wenn es nicht so war … Ich war einen Augenblick lang unkonzentriert, und Razamon trat mir mit der Stiefelsohle auf den Daumen. Ich konnte den Aufschrei nicht un terdrücken, aber der Pthorer, der unbeirrt weiterkletterte, hatte mich in die Wirklichkeit zurückgebracht. Der Schweiß lief mir über das Gesicht. Meine Hände waren längst feucht. Die belebenden Ströme des Zellaktivators machten sich bemerkbar und bewahrten mich vor Erschöpfung. Razamon dagegen stöhnte und fluchte weiter.
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Als wir schon glaubten, den Rest unseres Lebens kletternd in einem dunklen Schacht verbringen zu müssen, stieß der Pthorer hart mit dem Kopf gegen ein Hindernis. Ich sah, daß der Schacht zu Ende war. Raza mon gab keinen Laut von sich. Plötzlich ganz still geworden, drehte er sich auf der Leiter, bis er mit dem Rücken gegen sie stand, stützte sich mit den Händen gegen die gegenüberliegende Schachtverkleidung, zog den Kopf ein und stemmte die Schultern gegen die Platte. Ich blickte nach unten. Niemand folgte uns, aber wenn nur ein einziger Alve gesehen hatte, wohin wir verschwunden waren, dann würde man uns jetzt erwarten. Ächzend stemmte Razamon die Platte in die Höhe. Licht fiel ein, und ich sah, daß er sich die Lippen blutig gebissen hatte. Mit einer Hand griff er nach und drückte die schwere Platte so weit nach oben, bis sie, von knarrenden Angeln gehalten, nach hinten kippte. Ich stützte ihn, als er aus dem Schacht stieg. Er brachte seine Knie über den Rand und blickte genau in dem Augenblick auf, in dem ich den Kopf ins Freie schob. Drei Schwarzalven hatten ihre Strahler auf uns gerichtet. Ich reagierte rein instinktiv. Ich hörte Razamons Aufschrei und sah, wie er sich zur Seite schnellte. Als die ersten Schüsse fauchten, ließ ich mich in den Schacht zurückfallen. Für Augenblicke baumelten meine Beine frei in der Luft, aber meine Hände umfaßten die oberste Sprosse fest. Es gab einen Ruck, daß ich dachte, die Arme müßten mir aus den Gelenken geris sen werden. Ich fand mit den Füßen Halt und drückte mich so eng wie möglich gegen die Leiter. Razamon schrie noch und rief mit Sicherheit weitere Alven auf den Plan. Aber sie hatten ihn noch nicht gelähmt. Ich wagte nicht zu atmen. Ein schwarzer Kopf erschien über der Schachtmündung, dann eine Hand mit einem Lähmstrahler. Ich schnellte mich nach oben und packte den Arm des Alven. Das We sen stieß einen dünnen Schrei aus, als ich es in den Schacht zog, wo es mit dem Schädel gegen die Verkleidung schlug und sofort die Besinnung ver lor. Schnell entwand ich ihm den Strahler. Mit der Waffe in der rechten Hand schob ich mich höher, während ich den Alven mit der Linken hielt. Ich brachte den Kopf und den Strahler gleichzeitig über den Rand der Schachtmündung. Mit einem Blick erfaßte ich die Situation. Razamon hat te sich hinter einem quadratischen Block verschanzt, und die beiden übrig gebliebenen Alven versuchten, von den Seiten her an ihn zu gelangen. Ich schoß. Gelähmt sackten die Zwerge in sich zusammen. Razamon sprang hinter dem Block hervor und half mir aus dem Schacht. Er blutete aus einer Platzwunde auf der Stirn, die er sich vermutlich bei seinem ge wagten Satz zugezogen hatte. Seine Brust hob und senkte sich unter tiefen
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Atemzügen. »Was willst du mit dem da?« fragte er zornig und deutete dabei auf den Alven, den ich immer noch hielt. »Er wird sich kaum dafür bedanken, daß du ihn nicht hast abstürzen lassen!« »Es wird eine Zeitlang dauern, bis er zu sich kommt«, knurrte ich und schoß den Lähmstrahler zur Vorsicht noch einmal auf ihn ab. Razamon hob eine der beiden anderen Waffen auf. Wir sahen uns um. Schon waren Schritte zu hören. Wir befanden uns in einem kleinen, runden Raum, aus dem zwei Ausgänge herausführten. Die Einrichtung bestand aus insgesamt sechs der würfelförmigen Blöcke. Die Alven kamen nur von einer Seite her und nahmen uns die Entschei dung, wohin wir uns zu wenden hatten, ab. Wir rannten zum anderen Aus gang, stießen die Tür auf und sahen eine der transparenten Röhren vor uns. Erleichtert atmete ich auf. Ich hatte weitere Korridore erwartet und Lifte, aus denen unsere Verfolger stürmten. »Was willst du noch hier?« knurrte Razamon. Er packte mein Handge lenk und wollte mich mit sich in die Röhre ziehen. Ich riß mich los, drehte mich zur Tür um und sah ein halbes Dutzend Schwarzalven und zwei Ger sa-Predoggs in den runden Raum stürmen. »Wenn du glaubst, daß uns das noch rettet!« preßte der Atlanter hervor und schoß im gleichen Augenblick wie ich. Die völlig überraschten Alven sanken gelähmt zu Boden. Aber ich hatte einen Fehler begangen! Die Zwerge konnten paralysiert werden, nicht aber die Roboter. Als ich noch verzweifelt überlegte, wie ich die beiden an unserer Verfolgung hindern konnte, geschah das Unbe greifliche. Genau über dem offenen Schacht kamen die Gersa-Predoggs zum Still stand. Dann schwebten sie einer nach dem anderen in die Tiefe. Sie verfolgten uns nicht! Ich begriff nun überhaupt nichts mehr. Was hatte das nun wieder zu be deuten? Wir hätten keine Chance gegen die Maschinen gehabt. »Verdammt! Komm endlich!« schrie Razamon. Ich rannte hinter ihm her in die Röhre, und wenn ich auch die Hand lungsweise der Roboter nicht begriff, so wußte ich eines mit Sicherheit: Sie hatten uns gesehen. In diesen Sekunden wurde unsere Beschreibung an alle anderen Roboter und von diesen an die Alven und ihre Helfer wei tergegeben. Sie hatten es also gar nicht nötig gehabt, uns zu folgen. Sie wußten, daß es nur einen Fluchtweg für uns gab, denn schon hörte ich weitere Zwerge in den runden Raum kommen. Wir rannten, so schnell unsere Beine uns trugen. Die Alven verfolgten uns nicht. Offenbar hatten sie bereits die Anweisung erhalten, uns ledig
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lich den Rückweg abzuschneiden. Jetzt hing unser Leben an einem seidenen Faden – und was uns erwarte te, wenn wir unseren Gegnern in die Hände fielen, konnte schlimmer sein als der Tod. Alles hing nun davon ab, wer schneller war, sie oder wir, und ob wir schnell genug eine Möglichkeit fanden, uns abzusetzen, ob wir eine Lücke in dem Ring fanden, der sich jetzt um uns herum zusammenzog. Entweder waren die meisten Alven und ihre Helfer tatsächlich in der Kup pel konzentriert (oder in anderen, über die gesamte Anlage verteilt), oder die Kommunikation innerhalb der Anlage funktionierte so schlecht, daß viel zuviel Zeit verstrich, bis unsere Häscher zur Stelle waren. Wir stolperten fast über die eigenen Beine, als wir die Schleuse am En de der Röhre verließen und in das Gebäude eindrangen. Welche Funktion diese Schleusen zu erfüllen hatten, sollte mir für immer schleierhaft blei ben. Vor uns lag ein breiter, flacher Korridor, der sich spiralförmig nach unten wand. Eine Seite bestand aus Metall, die andere ganz aus Glas. Da hinter war Leere. Wir befanden uns ganz offensichtlich in einem Turm, dessen Inneres hohl war. Von Alven, Hilfskräften oder Robotern war nichts zu sehen. Razamon blieb kurz stehen, um zu Atem zu kommen. Ich trat dicht an die Glaswand heran und sah in die Tiefe. Der Turm war ein Silo. Mehrere Dutzend Meter unter uns schwappte ei ne zähe, gelbbraune Masse gegen die Innenwände. Blasen bildeten sich und zerplatzten knallend. Dämpfe stiegen auf und verflüchtigten sich, be vor sie unsere Höhe erreichten. Ich zweifelte nicht daran, daß ich einen organischen Brei sah, eine Pro toplasmamasse. Auf der gegenüberliegenden Innenwand waren die spiral förmig nach unten laufenden Gänge genau zu erkennen. Die Alven brauchten nichts weiter zu tun, als am Fuß des Turms auf uns zu warten. »Wir müssen einen anderen Ausgang finden«, knurrte Razamon. Wir liefen weiter. Es gab keine Türen und keine Fenster in der metalle nen Außenwand. In diesem Turm herrschte fast völlige Stille. Die einzigen Geräusche bestanden in unseren Schritten und dem gelegentlichen Zerplat zen von Blasen auf dem Plasma. Plötzlich war uns der Weg durch ein meterdickes Rohr versperrt, das quer über den Gang lief und auf halber Höhe die Glaswand durchstieß. Razamon fluchte. Ich drückte mich wieder gegen die Scheibe und sah, daß auf gleicher Höhe auch auf der gegenüberliegenden Seite solche Rohre aus dem Glas ragten. Aus einem von ihnen tropfte eine rötliche Flüssigkeit auf das Plasma. Aus »unserem« Rohr hingegen kam nichts – zumindest im Augenblick nicht. Razamon machte sich an einer rechteckigen Platte zu schaffen, durch die offenbar Wartungsroboter ins Rohr gelangen konnten, um es von innen
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zu säubern. Ich erkannte seine Absicht, als er eine der vier großen Flügel schrauben bewegte, die die Platte hielten. »Willst du riskieren, daß wir in den Brei gespült werden, falls die Alven auf die Idee kommen, gerade jetzt irgend etwas durchzupumpen?« fragte ich. »Hast du eine bessere Idee, wie wir hier herauskommen? Hilf mir lie ber!« Ich sah ein, daß er recht hatte, und packte mit an. Nach zwei, drei Minu ten hatten wir die Platte abmontiert und legten sie gemeinsam auf den Bo den. Ich hatte erwartet, daß uns sofort bestialischer Gestank entgegen schlagen würde, doch das Innere des Rohres war spiegelblank. Offensicht lich war es lange Zeit nicht mehr benutzt worden. »Wir passen durch die Öffnung«, sagte der Pthorer. »Wir kriechen hin durch.« Bevor ich etwas entgegnen konnte, hatte er sich mit dem Oberkörper schon ins Rohr geschoben. Seine Stimme klang dumpf, als er rief: »Die Öffnung ins Innere des Turmes ist verschlossen. Hier wird nichts gepumpt! Komm!« Er zog die Beine nach. Ich folgte ihm. Wie lange wir in völliger Dunkelheit krochen, weiß ich nicht. Wir muß ten eine große Strecke zurückgelegt haben, als wir endlich wieder Licht vor uns sahen. Es drang durch eine runde Öffnung über unseren Köpfen, über die ein feines Netz aus Drähten gespannt war. Wir kauerten uns dar unter zusammen und sahen weit über uns Kräne und schwenkbare Rohre. Geräusche von in Betrieb befindlichen Maschinen drangen an unsere Oh ren, gelegentlich unterbrochen von Lautsprecherdurchsagen. Ich wurde an eine chemische Fabrik erinnert, und beim Anblick der klaffenden Rohröff nungen über uns war ich mir nicht mehr so sicher, daß wir keine Dusche zu befürchten hatten. Razamon spannte die Muskeln an, schloß die Augen und sprengte das Netz mit den Schultern aus der Verankerung. Zusammen kamen wir in die Höhe. Ich hielt den Lähmstrahler schußbereit, aber weit und breit war nichts von Alven zu sehen. Wir befanden uns in einer riesigen, hohen Halle. Fremdartige Maschi nen summten und blinkten. Hier geschah alles vollautomatisch. Wir klet terten aus dem Rohr und hatten gleich mehrere Ausgänge zur Auswahl. Da wir keine Orientierung mehr hatten, war es egal, welchen wir nahmen. Ich hatte weitere durchsichtige Röhren erwartet, die uns in andere Ge bäude brachten. Um so größer war meine Überraschung, als wir einen Antigrav-Lift vor uns sahen, durch den verschiedene Behälter langsam nach oben schwebten. Wir vertrauten uns ihm an und gelangten auf einen Korridor, der mich
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an jene in dem Gebäude erinnerte, in dem wir die Glaskammern gefunden hatten. Die gleichen mahlenden Geräusche waren zu hören, und die gleichen Markierungen befanden sich an den Wänden. Waren wir wieder dort ange langt, wo wir materialisiert waren? Die Antwort sollte nicht lange auf sich warten lassen. Kaum hatten wir die erste Abzweigung erreicht, als hinter uns eine Tür zugeschlagen wur de. Ich stand wie erstarrt. Auch Razamon war zu keiner Bewegung fähig. »Ihr beide!« rief eine Stimme hinter uns. »Bleibt hier. Ich brauche euch!« Ich weiß nicht, was geschehen wäre, hätte ich mich in diesem Moment umgedreht und den Alven paralysiert. Vielleicht war es der Klang seiner Stimme, der mich davon abhielt. Ich blieb mit dem Rücken zu ihm stehen und schob die Waffe langsam in eine Tasche des Overalls. Razamon blick te mich überrascht von der Seite her an. Dann folgte er meinem Beispiel. »Hört ihr nicht?« rief der Zwerg. »Ihr sollt herkommen!« Langsam drehten wir uns um. Ein Bleicher Alve stand in der Mitte des Korridors und winkte. Er war unbewaffnet. Es war offensichtlich, daß er in uns nicht die überall gesuchten Eindringlinge erkannte. Seine nächsten Worte machten deutlich, daß er uns für Hilfskräfte hielt. Zu unserem Glück hatte er nicht gesehen, wie wir die Strahler verstauten. »Ich glaubte schon, ich würde niemanden mehr finden«, sagte er, als wir uns zögernd näherten. »Alle hier scheinen den Verstand verloren und nur noch die Fremden im Kopf zu haben. Ihr müßt mir helfen. Vergeßt eu re Aufträge, wer immer sie euch erteilt hat. Folgt mir jetzt!« Er ging an uns vorbei und winkte wieder. Uns blieb keine Wahl, als auf das Spiel einzugehen. Im Gegenteil bot sich uns hier vielleicht eine Mög lichkeit, doch noch ungeschoren ins Freie zu kommen und ein Fluchtfahr zeug zu finden. Das Auftreten des Alven machte deutlich, daß er hier eini ges zu sagen hatte. Vielleicht ließ er sich ausfragen. Jedenfalls sollten wir in seiner Nähe vorerst relativ sicher sein, wenn mir auch unverständlich war, daß er uns nicht sofort erkannte. Wir folgten ihm. Razamon warf mir schwer deutbare Blicke zu, doch ich konnte mir ganz gut ausmalen, was jetzt hinter seiner Stirn vorging. Er mußte mich für verrückt halten. Es ging durch Hallen, immer neue Korridore und Lifte. Nur selten be gegneten uns hier Alven – schwarze Zwerge, die Laborgerät und Plasma behälter über die Gänge schoben. Keiner von ihnen schrie auf und sagte: »Dies sind die Eindringlinge!« Sie grüßten unseren Führer nur mit deutli chem Respekt und sahen zu, daß sie weiterkamen. Offensichtlich kannten sie ihn sehr gut. Vielleicht waren sie alle ihm direkt unterstellt.
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Ich begann mich schon wieder zu fragen, in welchem Riesenkomplex wir steckten, und ob es sich nicht doch um das Bauwerk handelte, in des sen Keller wir uns wiedergefunden hatten. Als der Alve durch ein großes Portal in die Halle trat, war ich für Se kunden sogar ganz fest davon überzeugt. Dann aber sah ich, daß die Glaskammern hier viel riesiger waren als je ne, die wir schon gesehen hatten. In einigen waren sogar fremde Planeten landschaften nachgebildet, wenn auch ziemlich lieblos. Es waren selbst kleine Hallen, jede eine Welt für sich, und zu jeder gehörte eine kleine Kammer, in der sich die unterschiedlichsten Möbelstücke befanden, je weils auf die Körperform der entsprechenden Gefangenen abgestimmt. Dies war ein einziger, riesiger Zoo! Und diese Wesen waren nicht gelähmt, sondern hellwach. Sie standen entweder einfach nur da und beobachteten uns durch die Scheiben, oder sie liefen bis in den hintersten Winkel ihrer Gefängnisse und suchten nach Versteckmöglichkeiten. Sie hatten Angst, unbeschreibliche Angst! Unser Führer blieb stehen und sah uns prüfend an. »Das Marantroner-Revier«, erklärte er, wobei er mit beiden Händen ei ne Geste machte, die einen bestimmten Bereich dieses riesigen Zoos um fassen sollte. »Hier werden wir uns das nehmen, was wir brauchen.« Als ich noch Mühe hatte, das Gehörte zu verdauen, kam ein Schwarzal ve aus einem schmalen Gang zwischen den Glaswänden hervor und reich te dem Bleichen ein Bündel von Folien. »Hier sind die Berichte über die letzten Experimente, Dillibor«, sagte der Zwerg. Wir waren beide wie vor den Kopf geschlagen. Was bisher nur eine phan tastische Vermutung gewesen sein konnte, wurde zur Gewißheit: Hier, im Hort der Finsternis, in diesem und vielleicht Dutzenden von ähnlichen Zoos, befanden sich tatsächlich Vertreter jedes einzelnen Volkes der Schwarzen Galaxis. Jedes einzelne Revier hatte seinen besonderen Platz. Ich mußte mich dazu zwingen, diesen Gedanken zu akzeptieren, denn er war zu ungeheuerlich. Eine ganze Galaxis, zusammengedrängt auf Qua dratkilometer! Dillibor, der Dillibor, bei dem wir uns vor kurzer Zeit noch hätten mel den sollen, schritt weiter. Wir folgten ihm, bis wir eine von metallenen Wänden umschlossene Kammer erreichten, in der der Alve sich vor einen mit Folien und fremdartigen Geräten übersäten Schreibtisch setzte. Dies war offensichtlich sein Büro. Unterwegs sahen wir einige Wesen, die uns bekannt vorkamen. Andere konnten wir eindeutig identifizieren. Wir sahen Noots und Tamater, Krejo den und Camagurs. Einige blickten uns scheu an, die Nasen gegen die
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Scheiben ihrer »Gehege« gepreßt. Andere begannen zu toben und mit den Fäusten gegen die Scheiben zu trommeln. Wieder andere verkrochen sich in Erdlöcher. Dillibor beachtete sie nicht. Ich aber verschloß meine Augen nicht länger vor dem Offensichtlichen, als ich überall einzelne Wesen sah, die verstümmelt waren, Opfer der ver brecherischen Experimente der Alven. Ich zitterte leicht, eine eiskalte Hand schien sich in meinen Nacken zu schieben, und ich hatte Mühe, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Razamons Gesicht war verschlos sen. Er vermied es, mich anzusehen, aber es arbeitete in ihm. In diesen Augenblicken hätte ich nicht versucht ihn zurückzuhalten, falls er zu toben und zu rasen begonnen hätte. Er erkannte die schreckliche Wahrheit ebenso wie ich. Die Verstümmelten, die Experimente der Blei chen Alven, die in Nährflüssigkeit schwimmenden einzelnen Gliedmaßen und die Neffen, die aussahen wie aus vielen Stücken zusammengesetzt. Dies alles konnte nur bedeuten, daß die mächtigen Herrscher der Reviere aus den abgetrennten Körperteilen dieser hilflosen Wesen in den Glasge fängnissen regelrecht zusammengeschustert wurden! Meine Gedanken überschlugen sich. Ich war kaum in der Lage, klar zu denken, und folgte Dillibor wie in Trance. Das einzige, das mich davon abhielt, um mich zu schlagen und soviel dieser Teufelsmaschinerie wie ir gend möglich zu vernichten, war meine grimmige Entschlossenheit, vor her noch soviel wie möglich über das Ungeheuerliche, das an diesem Ort geschah, herauszufinden. Die Skizzen über Dillibors Arbeitstisch, die wie Montageanleitungen für einen Neffen aussahen, beseitigten auch die allerletzten Zweifel. Raza mon stand bebend hinter dem Alven, und selten hatte ich den Atlanter so beherrscht gesehen wie in diesen Augenblicken. Was aber sollten er und ich hier tun? Erwartete Dillibor im Ernst von uns, daß wir ihm halfen? Und wobei? Er sagte es uns. Er blätterte in einem Heft und sprach, ohne sich umzudrehen: »Ich weiß nicht, ob ihr bereits Erfahrungen bei der Herstellung der Nef fen gesammelt habt. Das ist auch nebensächlich. Ihr braucht nicht viel zu tun, ihr müßt nur die benötigten Exemplare zu den Alven in den Operati onsräumen bringen. Der Dunkle Oheim braucht einen neuen Neffen für das Marantroner-Revier, nachdem Chirmor Flog schon seit längerer Zeit ausgefallen ist. Da der betreffende Koordinator der Ewigkeit versagt hat, müssen wir diesmal auf die Gefangenen zurückgreifen. Zum Glück haben wir alle Wesen, die zur Erschaffung des neuen Chirmor Flog gebraucht werden, hier zur Verfügung.« So war das also! »Normalerweise« hätte Tolfex die benötigten Wesen
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hierhergebracht. Die riesigen Zoos waren also nichts weiter als ein Reser voir für Notfälle, in denen ein Koordinator der Ewigkeit »versagte«! Dillibor riß eine der Karten von der Wand und stand auf. Ich dachte, un ter seinem Blick vergehen zu müssen, als er uns wieder durchdringend an sah. »Ihr zittert?« fragte er, und ein spöttisches Lächeln trat in sein Gesicht. »So geht es allen beim ersten Mal. Ihr werdet euch daran gewöhnen.« Damit schritt er an uns vorbei. Razamon stieß heftig die Luft aus. Schnell legte ich meine Hand auf sein Armgelenk und blickte ihn be schwörend an. »Jeder Neffe besteht also aus den Intelligenzen, die er beherrscht? Jeder Neffe ist also ein Produkt seines eigenen Reviers?« brachte ich mit Mühe hervor. »So ist es«, antwortete Dillibor, ohne stehenzubleiben. Wir folgten ihm. Ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Vor einem der Gefängnisse machte der Alve halt. Ich konnte sehen, daß auf der Karte in seiner Hand für jedes Organ und jeden Körperteil des Nef fen vermerkt war, von welchem Volk sie stammen sollten. Daneben befan den sich Notizen über den jeweiligen Zustand der Gefangenen. Hinter der Glaswand befanden sich drei Havaren. Unwillkürlich wurde ich an Aislander, den Spezialkurier erinnert. Dillibor deutete auf eines der Wesen. Seine Stimme war eiskalt, als er sagte: »Mit ihm werden wir beginnen. Er wird das künftige Gehirn des neuen Neffen liefern. Holt ihn heraus!«
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8. Das goldene Schiff Kolphyr brauchte eine Weile, um die Auskunft zu verdauen. Der Sog zieht mich auf den Dunklen Oheim zu! Ich kann ihm nicht wi derstehen! Dann aber konnten Kolphyr, Koy, Zwertelis und die Magier ihre Ab sicht in den Wind schreiben, die große Plejade zur Lebensblase zu brin gen. Völlig neue Perspektiven taten sich auf, und Kolphyr war alles andere als begeistert davon. Ein Flug zum Dunklen Oheim bedeutete nichts anderes als das Ende des Schiffes und seiner Passagiere. Und wie die beiden Körperlosen sich auch immer ihre Befreiung durch die große Plejade vorstellten – sie konnten ih re Hoffnungen getrost begraben. Der Bera war allerdings nicht bereit, die Auskunft der GOL'DHOR oh ne weiteres zu akzeptieren. »Hast du eine Erklärung dafür, GOL'DHOR?« fragte er. »Wie ich schon sagte«, kam die Antwort nach einigem Zögern, »der Grund dafür ist mir unbekannt.« Kolphyr stand auf und begann, in der Zentrale auf und ab zu wandern, ohne die große Plejade direkt anzublicken. Sollte er die Magier befragen? Er glaubte nicht, daß sie ihm helfen konnten. Kolphyr hatte das Gefühl, das Problem regelrecht greifen zu können. Übte der Dunkle Oheim einen direkten Einfluß auf das Schiff aus, oder war die Ursache für den Sog und die Unfähigkeit, die Lebensblase zu erreichen, tatsächlich in der GOL'DHOR selbst zu suchen? Der Bera blieb vor einem der Augenfenster stehen, die als Bildschirme dienten. Das Bild des Weltraums erschien darauf, aber es war verzerrt. Kolphyr nahm an, daß die Plejade mit ihrer ungeheuerlichen Strahlung da für verantwortlich sei. Völlig sicher aber war er sich nicht. Undeutlich war die Sonne mit dem monströsen schwarzen Ring zu er kennen, davor der Ringplanet. Es gab keine Bezugspunkte, die nahe genug waren, um eine Bewegung des Schiffes in Richtung eines der beiden Ob jekte festzustellen. »GOL'DHOR«, sagte Kolphyr. »Du verschweigst mir etwas!« Er erhielt keine Antwort. Kolphyr rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was er über dieses magi sche Schiff zu wissen glaubte. Wußte er tatsächlich alles? Machte er es sich nicht vielmehr allzu leicht, indem er es in Gedanken immer wieder
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mit dem Dimensionstaucher und dessen Funktionsweise verglich? Welchen Einflüssen war die GOL'DHOR in den letzten Tagen und Wo chen ausgesetzt gewesen? Hatte das sie verändert? Warum weigerte sie sich, das preiszugeben, was sie fühlte? Technisch war sie in Ordnung. Daran konnte es also nicht liegen, daß sie von der Le bensblase abgestoßen wurde. Yeers und Olken? Auch sie schwiegen beharrlich. Kolphyr hatte keine genaue Vorstellung davon, ob und wieweit sie auf die Lebensblase einwirken konnten. Sie wa ren in ihr gefangen, aber konnten sie sie auch steuern? Falls ja, würden sie alles tun, um die GOL'DHOR heranzuholen. Niemals würden sie sie ab stoßen. Und der Dunkle Oheim? Was sollte er davon haben, das Schiff zu sich zu holen? Im Gegenteil sollte er die große Plejade und deren positive Energie fürchten! Nein, dachte Kolphyr. Weder von der Lebensblase noch vom Dunklen Oheim aus wurde direkt Einfluß auf das Schiff genommen. Die Ursache für den Sog mußte in der GOL'DHOR selbst liegen – oder in der Marmor kugel. Die große Plejade! Kolphyr fiel es wie Schuppen von den Augen. Gerade als er eine weite re Frage stellen wollte, meldete sich die GOL'DHOR wieder. Und diesmal war ihre Stimme verändert, leiser und … zaghaft. »Kolphyr«, sagte sie. »Ich … bin nicht krank.« Der Bera war so überrascht, daß er für einen Augenblick den Faden ver lor. Die Worte des Schiffes lösten tiefe Betroffenheit in ihm aus. Sie wa ren fast flehend, so als erwartete die GOL'DHOR eine Bestätigung von ihm. »Das weiß ich«, hörte er sich sagen. »Nein, Kolphyr. Auch du glaubst es. Ich bin nicht krank!« Der Bera mußte sich mit Gewalt vor Augen führen, daß er es mit einem Raumschiff zu tun hatte, mit einem Schiff zwar, das fühlen, denken und reden konnte, das aber letztlich doch nichts anderes war als ein Produkt magischer Wissenschaft. »Kolphyr?« Der Bera versuchte, seine in Wirrwarr geratenen Gedanken zu ordnen. Plötzlich kam er sich hilflos vor, so wie jemand, der einen anderen leiden sah und nichts für ihn tun konnte. Er stand kurz davor, aus der Zentrale zu eilen und die Magier um Bei stand zu bitten. »Kolphyr, was denkst du?« Er gab sich einen Ruck. Er mußte die flehende Stimme ignorieren, um wieder klare Gedanken zu fassen. Die große Plejade!
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Und der Dunkle Oheim! »Kolphyr … bitte!« Die große Plejade, überladen mit positiver Energie – und der mächtige schwarze Ring des aus negativer Energie bestehenden Oheims! »Zwei Pole«, murmelte der Dimensionsforscher. »Zwei Kraftfelder mit entgegengesetzter Polung, die sich anziehen. So muß es sein!« »Kolphyr, ich verstehe nicht …« Der Bera drehte sich schnell um die eigene Achse, als suchte er einen leibhaftig vor ihm stehenden Gesprächspartner. Die Erregung eines Wis senschaftlers, der kurz vor der Lösung eines Problems stand, hatte von ihm Besitz ergriffen. »Hör zu, GOL'DHOR«, sagte er hastig. »Als du den Einflüssen der Schwarzen Galaxis ungeschützt ausgesetzt gewesen warst, da gewannst du zusätzliche Kräfte. Ich meine, du hast dich um so mehr mit positiver Ener gie aufgeladen, je mehr negative Einflüsse von außen an dich herankamen. Ist das richtig?« »Richtig und bekannt«, antwortete das Schiff. »Dann wäre es denkbar, daß du, obwohl du deine überschüssigen Ener gien an die große Plejade abgegeben hast, einen Gegenpol zu den negati ven Kräften des Dunklen Oheims bildest.« »Ich beginne zu verstehen, Kolphyr.« »Du und der Dunkle Oheim, ihr bildet zwei Kraftfelder, die sich auf grund ihrer gegensätzlichen Polung anziehen«, fuhr Kolphyr eifrig fort. Er blieb in der Mitte der Zentrale stehen und breitete die Arme aus. »Deshalb der Sog, GOL'DHOR! Und deshalb wirst du von der Lebensblase abgesto ßen, wie zwei gleichgepolte Kraftfelder sich gegenseitig abstoßen!« Erneut dauerte es eine Weile, bis das Schiff antwortete, und diesmal klang eine gewisse Erleichterung aus seiner Stimme heraus. »So muß es sein, Kolphyr. Aber was läßt sich dagegen unternehmen?« Kolphyrs kurze Euphorie klang rapide ab, als er sich selbst die einzig mögliche Antwort gab: nichts! Nichts konnte die GOL'DHOR so umwandeln, daß die verhängnisvolle Wechselwirkung in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Ob die positive Energie nun in der GOL'DHOR selbst steckte oder in der großen Plejade, das machte keinen Unterschied. Das Schiff würde mit all seinen Passagieren immer weiter auf den Dunklen Oheim zugerissen werden und schließlich … Kolphyr setzte sich wieder hin, hielt es nicht lange in dieser Stellung aus und glaubte für einen Moment, Zwertelis würde ihn aus den Augen winkeln heraus beobachten, als ob sie seine geheimsten Gedanken kannte. Plötzlich wurde es ihm zu eng in der Zentrale. Die Ausstrahlung der großen Plejade wirkte wieder voll auf ihn. Er war schon am Durchgang
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zum Mittelteil des Schiffes, als er noch einmal die Stimme der GOL'DHOR hörte: »Wohin gehst du, Kolphyr?« Die Frage war überflüssig. Wohin sollte er schon gehen? Aber da war wieder die Unsicherheit in der Stimme, und Kolphyr begann, an seinen ei genen Überlegungen zu zweifeln. Wenn der Grund für den Sog nun doch ein anderer war? Er riß sich zusammen. Es konnte nur diese eine Erklärung geben. Die GOL'DHOR mußte sie akzeptieren. »Ich komme zurück«, sagte er. Bevor das Schiff sich abermals melden konnte, war er im Mittelteil. Koy und die Magier sprangen auf und sahen ihn erwartungsvoll an. »Hast du etwas herausgefunden, Kolphyr?« fragte der Trommler. Knapp berichtete der Bera über seine Unterhaltung und die Schlüsse, die er gezogen hatte. Die Magier schwiegen, aber Querllo und Opkul nick ten. »Dann ist nichts mehr zu retten«, sagte Koy niedergeschlagen. »Es war alles umsonst.« »Vielleicht nicht«, entgegnete Kolphyr. »Nehmen wir an, die GOL'DHOR stürzt tatsächlich in den Dunklen Oheim, dann …« »Dann sterben wir mit ihr«, sagte Koy. »Das war auch mein erster Gedanke. Aber stellt euch vor, die GOL'DHOR hätte nicht all ihre überschüssige Energie an die große Pleja de abgegeben. Stellt euch vor, sie wäre ohne sie ins Ritiquian-System ge langt, aufgeladen mit positiver Energie!« Koy stieß pfeifend die Luft aus. »Du meinst, sie hätte den Dunklen Oheim … in Bedrängnis bringen können?« Der Trommler hatte etwas anderes sagen wollen, aber der Gedanke, ein einziges Schiff, ein Staubkorn im Vergleich zu dem riesigen sonnenum spannenden Ring könnte diesen Ring vernichten, war zu phantastisch. Nicht für Kolphyr. »Ich kann mir durchaus vorstellen, daß der Oheim solche Mengen an positiver Energie, wie sie in der GOL'DHOR steckten, nicht zu verkraften in der Lage ist – zumal er noch vom Kampf gegen den kleineren Ring ge schwächt sein mag.« »Oder gestärkt durch den Sieg«, gab Koy zu bedenken, der sich offen bar nicht mit den Konsequenzen aus Kolphyrs Spekulationen anfreunden wollte. Die Magier ließen die Worte des Beras lange auf sich wirken. »Du sprichst von der GOL'DHOR«, sagte Querllo schließlich. »Aber ih re Energie steckt nun in der großen Plejade.«
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Kolphyr wandte sich den Wänden zu. »Du hörst uns, nicht wahr, GOL'DHOR?« rief er aus. »Läßt sich der Vorgang der Energieübertragung rückgängig machen? Kannst du die Ener gie wieder aus der großen Plejade nehmen und in dir speichern?« »Das ist nicht möglich«, kam überraschend schnell die Antwort. »Die Energieübertragung war der Fehler, von dem ich sprach, Kolphyr.« Kolphyr ließ sich nicht anmerken, ob er Enttäuschung empfand oder nicht. Er wandte sich wieder Koy und den Magiern zu und sagte: »Der Dunkle Oheim ist unser aller Feind. Er ist die Wurzel allen Übels in dieser Sterneninsel. Gegen ihn kämpften wir, und es schien nicht den Hauch einer Chance zu geben, ihn zu besiegen.« Der Bera machte eine be deutungsvolle Pause und sah seine Gegenüber der Reihe nach an. »Wenn meine Vermutungen aber richtig sind und der Oheim das Maß an positiver Energie, das nun in der großen Plejade gespeichert ist, nicht verkraften kann, dann haben wir diese Chance jetzt. Wir allein! Uns allein ist es ge geben, dieses Monstrum zu vernichten oder zumindest entscheidend zu schwächen. Wenn sich der Vorgang der Energieübertragung also nicht rückgängig machen läßt und die GOL'DHOR ohnehin in den Ring stürzen wird, so müssen wir dafür sorgen, daß die große Plejade mit ihr zum Dunklen Oheim gelangt, denn dessen Vernichtung ist wichtiger als die Be freiung der Körperlosen in der Lebensblase!« »Du weißt, was das für uns bedeutet?« sagte Koy tonlos und mit ge senktem Blick. »Ich weiß es. Niemand wird es überleben.« Koy setzte sich hin. Es dauerte eine Weile, bis er Kolphyr wieder ansah. Und er schüttelte den Kopf, als ob er sagen wollte: »Du bist nicht mehr der, den ich kannte, Kolphyr! Wie du dich verändert hast! « Die Magier schwiegen. Sie sahen sich gegenseitig an, dann wieder den Bera, der sich plötzlich in eine Rolle hineingedrängt sah, die er niemals gewollt hatte. Aber sie alle hatten es mit bitteren, harten Tatsachen zu tun. Sie konnten nicht mehr bestimmen, was mit ihnen und der GOL'DHOR geschah. Mächtigere Kräfte entschieden über ihr Schicksal. Im Gründe brauchte niemand mehr ein Wort zu verlieren. Sie konnten nichts gegen das Unvermeidliche tun. Ihre Leben gegen die Leben unzähliger, versklavter Wesen überall in der Schwarzen Galaxis! Dies war die Alternative, die sich ihnen scheinbar bot. Aber wirklich nur scheinbar. Plötzlich hallte eine Stimme von den Wänden wider. Und es war nicht die GOL'DHOR, die sprach, obwohl die Stimme gleich klang. Die GOL'DHOR wirkte nur als Relais, als Verstärkung für die Botschaft ganz
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anderer Wesenheiten, über deren Identität es schon nach den ersten Wor ten keinen Zweifel mehr gab. »Ihr begeht einen Irrtum«, hörten die Verzweifelten. »Einen folgen schweren Irrtum, wenn ihr euch nicht eines Besseren besinnt! Die von der GOL'DHOR stammende Energie ist nicht mehr die gleiche! Sie wurde in der großen Plejade bereits umgewandelt und nur auf die Gegebenheiten der Lebensblase abgestimmt! Ihr könnt den Dunklen Oheim damit nicht treffen, er würde sie mühelos neutralisieren! Setzt nicht eure Leben aufs Spiel, denn das Leben ist das kostbarste Gut im Universum! Wir fordern nichts für uns, denn hättet ihr recht, so dürftet ihr keinen Augenblick zö gern, den Dunklen Oheim anzugreifen. Aber ihr könnt ihm nicht schaden! Du, Kolphyr, irrst dich, denn die Energie der GOL'DHOR in ihrer umge wandelten Form bildet keinen echten Gegenpol mehr zu jener des Oheims! Findet den wahren Grund heraus, warum die GOL'DHOR von der Lebens blase abgestoßen und zum Dunklen Oheim gezogen wird! Und denkt bei allem, was ihr tut, an eure Freunde Atlan und Razamon! Sie befinden sich auf dem Ringplaneten und haben nur durch die GOL'DHOR eine Chance, diesen Planeten jemals wieder zu verlassen!« Die Worte hallten lange in den Bewußtseinen der Magier, Koys und Kolphyrs nach. Die Weggefährten standen wie erstarrt. Niemand wagte, als erster zu reden. Yeers und Olken hatten zu ihnen gesprochen, trotz der Nähe des Dunklen Oheims. Auf geheimnisvolle Weise hatten sie die ziemlich ein seitige Unterhaltung an Bord der GOL'DHOR mitgehört. Vielleicht hatte Zwertelis etwas damit zu tun. Kolphyr versuchte nicht, dies zu begreifen. Er wußte nur, daß die bei den Körperlosen ebenso verzweifelt waren wie er selbst, wenn sie das Ri siko auf sich nahmen, sich hier und jetzt zu melden. Was sie sagten, klang nicht so, als hätten sie nur Angst um sich, weil sie fürchten mußten, daß die große Plejade nie die Lebensblase erreichen wür de. Sie hatten die Wahrheit gesagt – und im Grunde nur das bestätigt, was er insgeheim befürchtet hatte. Seine Kraftfelder-Theorie war falsch. Er hatte zu schnell nach dem ein zigen Strohhalm gegriffen, der sich ihm angeboten hatte. Und nun gab es einen zweiten, sehr handfesten Grund, die GOL'DHOR zum Ringplaneten zu bringen. Atlan und Razamon! Falls die beiden verschollen geglaubten Gefährten sich tatsächlich dort befanden, mußte alles getan werden, um sie zu retten. Aber wie? Welches war die wirkliche Schwierigkeit, mit der die GOL'DHOR zu kämpfen hatte? »Du hast es gehört, GOL'DHOR«, sagte Kolphyr. »Willst du uns nun
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endlich die Wahrheit sagen?« »Ich bin nicht krank!« gellte es durch den Raum. Alle Sanftheit war aus der Stimme verschwunden, und dies war für lange Zeit das letzte, das das goldene Schiff von sich gab. Die Magier waren schockiert. Koy ballte die Fäuste und sah den Bera verzweifelt an. Dieser aber überlegte ebenso verzweifelt, wie sie je nach Ritiquian ge langen sollten, wenn die GOL'DHOR sich ihnen nicht offenbarte. Sie trieb weiter in Richtung auf den Dunklen Oheim zu, und das Brausen der magi schen Maschinen wurde immer stärker, als ob sie sich mit aller Kraft ge gen etwas wehrten. Und die, die schon bereit gewesen waren, sich und das wertvolle Schiff zu opfern, sahen einem Tod entgegen, der absolut sinnlos geworden war. »Ich werde sie zum Reden bringen!« schwor Kolphyr.
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9. Atlan Es war ihm verdammt ernst! Dillibor verlangte wirklich von uns, daß wir jetzt durch eine Öffnung, die er sicher gleich für uns schaffen würde, in dieses gläserne Gefängnis hineingingen, einen Havaren herausholten und ihn gewaltsam zu den Körperverstümmlern in den Operationsräumen brachten! Ich weiß nicht, was in diesen Momenten mit mir geschah. Ich stand ein fach da und starrte auf den hellhäutigen Zwerg vor mir. Ich versuchte, et was von dem zu begreifen, was in den pervertierten Gehirnen dieser Schlächter vorging, ob sie überhaupt noch dazu fähig waren, »menschliche« Gefühle zu empfinden. Und Dillibor erschrak, und ich denke, in diesem Moment begriff der Al ve, wen er vor sich hatte. Ich ließ ihm keine Zeit, um Hilfe zu schreien. Von unkontrollierbarer Wut gepackt, griff ich ihn mir, riß ihn hoch und stieß ihn hart gegen die Glaswand. Was mit uns geschah, war mir in diesen Augenblicken ziemlich gleichgültig. Das Wissen um das Ungeheuerliche, das an diesem Ort ge schah, drohte mich zu ersticken. Alles, was ich so lange zurückgedrängt hatte, schlug wie die Wogen eines Ozeans über mir zusammen. Ich schrie und schlug den Kopf des Alven gegen das Glas, bis sich eine schwere Hand auf meine Schulter legte und mich herumriß. Razamons Gesicht war noch mehr zur Maske geworden. Finster blickte er mich an und deutete auf den noch in meinem Griff hängenden Alven. »Willst du ihn umbringen?« Ich starrte ihn an, dann wieder Dillibor. Der Zwerg war bewußtlos, und Blut sickerte durch seine Haare. Ich war entsetzt über mich selbst. Vorsichtig legte ich Dillibor ab und sah mich um. Mein Geschrei mußte durch die ganze Halle zu hören gewe sen sein. Wo blieben die alarmierten Alven? Und ausgerechnet Razamon, der Berserker, der die ganze Zeit über ei nem kurz vor dem Ausbruch stehenden Vulkan geglichen hatte, hatte sich besser unter Kontrolle als ich! Ich hatte mich wie ein Besessener aufge führt. »Keine Zeit zum Selbstmitleid«, knurrte der Pthorer, als ob er tief in mich hineinblicken konnte. »Du verschwendest deine Energien am falschen Objekt. Wir müssen hier heraus, Atlan. Aber vorher …« Er blickte in die Richtung, in der die Kammer mit dem Arbeitstisch und den Instrumenten lag. Wenn wir von dort aus die Gefangenen befreien
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konnten, mußte sich dieser ganze Komplex in Sekunden in ein Tollhaus verwandeln. Ich hatte das Gefühl, tief in einem ausweglosen Labyrinth zu stecken. Was ich wissen wollte, wußte ich nun, und dieses Wissen lastete zentnerschwer auf mir, drohte mich zu erdrücken. Hier wurden die Neffen für die Reviere der Schwarzen Galaxis hergestellt, zusammengesetzt aus den Körperteilen derer, die sie künftig beherrschen sollten. Hier war der Dunkle Oheim verwundbar. Aber wir hatten nur eine Chance, etwas gegen den Hort der Finsternis zu unternehmen, wenn wir von hier fliehen und unsere Schritte in Ruhe planen konnten. Ich sträubte mich dagegen, die Gefangenen hilflos ihrem furchtbaren Schicksal zu überlassen, aber die bessere Einsicht setzte sich schließlich doch durch. In meiner Verzweiflung redete ich mir ein, die GOL'DHOR müsse jetzt auf dem Raumhafen stehen und auf uns warten. Wenn wir sie erreichten, hatten wir eine Chance, den Hort der Finsternis anzugreifen. Wie das ge schehen sollte, da die GOL'DHOR ausschließlich über Defensivwaffen verfügte, wußte ich jetzt noch nicht. Aber ich war fest entschlossen, die sem Planeten nicht eher den Rücken zu kehren, bevor nicht sichergestellt war, daß hier keine unschuldigen Wesen mehr unter den Skalpellen der Alven sterben oder verstümmelt werden würden. Wir mußten ein Fluchtfahrzeug finden, solange wir unsere Bewegungs freiheit noch hatten. Nun gab es nichts mehr, das mich hier hielt. Es war zu spät. Ich hätte wissen müssen, daß eine Anlage wie diese nicht unüberwacht war. Daß mein Angriff auf Dillibor beobachtet worden war, wurde mir klar, als die Alarmsirenen aufheulten. Razamon hob den Alven auf, lud ihn sich über die Schulter und rannte los. Ich stürmte neben ihm her durch die Gänge, zu deren beiden Seiten die Gefangenen nun wild gegen das Glas trommelten. Sie begriffen, was geschah, und ich sah, wie ihre Münder sich öffneten und schlossen. Sie schrien etwas, das durch die Scheiben bis zur Unverständlichkeit gedämpft wurde. Aber ich wußte auch so, was sie brüllten. Holt uns heraus! Laßt uns nicht sterben! Wir erreichten Dillibors Arbeitsraum. Noch immer war nichts von Al ven oder Robotern zu sehen. Razamon warf mir Dillibor in die Arme und stürmte in die Kammer. Ich sah, wie er einen Stuhl aufhob und ihn mit Wucht in Bildschirme und andere Geräte stieß. Funken sprühten auf, und Stichflammen schossen aus Apparaturen bis zur Decke hinauf. Dies war der Augenblick, auf den ich so lange gewartet hatte. Razamons Zorn und Verzweiflung entluden sich in einem wahren Zerstörungsrausch. Ein Ex plosionsknall drohte mir die Trommelfelle zu zerreißen. Der Boden unter meinen Füßen bebte, und plötzlich war von überallher ohrenbetäubendes Geschrei zu hören.
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Ich fuhr herum. Die Glaskäfige öffneten sich. Die Gefangenen strömten auf die Korridore und rannten schreiend durcheinander. In diesem Chaos würden sie uns zermalmen. Einige hatten Knüppel in den Händen. »Razamon!« schrie ich. Er hörte nicht. Ich ballte die Fäuste, drang in die Kammer ein und schlug dem Berserker mit der flachen Hand ins Gesicht. Für Sekunden bruchteile stand er starr, den Stuhl noch zum Schlag erhoben, und sah mich an wie jemand, den man aus dem tiefsten Schlaf gerissen hatte. Ich fluchte und packte ihn am Arm. Um Dillibor konnten wir uns nicht mehr kümmern. Ich zog Razamon mit mir, bis er endlich wieder klar war. Wir liefen einfach geradeaus, an orientierungslosen und noch völlig ver blüfften Gefangenen vorbei. Irgendwo mußte die Halle zu Ende sein. Ir gendwo mußte der Ausgang liegen. Wir fanden ihn und sahen in die Mündungen von Lähmstrahlern. Wir hatten keine Chance. Unsere eigenen Waffen steckten noch in den Ta schen der Overalls, und selbst wenn wir sie jetzt in den Händen gehabt hätten, hätten wir nur einige der Alven ausschalten können. Aber es waren Dutzende, Hunderte! Sie standen Seite an Seite vor einer schwarzen Wand, wie wir sie bereits kannten, und bildeten eine undurch dringliche Kette, so weit der Blick nach beiden Seiten reichte. Zwischen ihnen und der Wand schwebten Gersa-Predoggs. Sie warteten. Ich drehte mich um und sah, wie aus mehreren Gängen befreite Gefangene herankamen. Ein einziger grauenvoller Aufschrei er füllte die Halle, als diese Wesen ihre Peiniger vor sich sahen. Sie machten Anstalten, sich auf sie zu stürzen, und blankes Entsetzen ergriff mich, als ich schon glaubte, zwischen den aufeinanderprallenden Parteien zer quetscht zu werden. Es kam nicht dazu. Die Alven schossen. Ich spürte, wie mein Körper taub wurde und fühlte keinen Schmerz mehr, als sich die Umgebung um mich zu drehen begann und ich hart auf den Boden schlug. Ich konnte sehen und hören, aber kei nen Finger mehr bewegen. Razamon fiel neben mir wie ein gefällter Baum. Die anrückenden Gefangenen sanken einer nach dem anderen in sich zusammen, und das Röhren der Lähmschüsse wollte kein Ende neh men. Doch dann war es still. Ich lag so, daß ich sehen konnte, wie einige Bleiche Alven die schwar zen Zwerge zu den paralysierten Gefangenen dirigierten und sie anwiesen, wohin diese zurückzubringen waren. Größere Wesen wurden auf flache Wagen geladen und abtransportiert. Roboter schwebten zwischen den Al ven und schienen das, was hier geschah, an eine unbekannte Zentrale wei terzuleiten.
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Niemand kümmerte sich in diesen Minuten um uns. Zwar gruppierten sich einige Schwarzalven mit angeschlagenen Waffen um uns herum, doch sie schienen noch auf ihre Anweisungen zu warten. Dann erschien Dillibor in meinem Blickfeld. Er wurde von zwei Schwarzalven gestützt, blieb vor uns stehen und versetzte Razamon und mir ein paar heftige Tritte in die Seite, von denen ich allerdings im Mo ment nichts spürte. »Sie sind eure Eindringlinge!« rief er den Robotern zu. »Schafft sie mir aus den Augen! Bringt sie zu Pammion. Der soll zusehen, was er mit ihnen anfängt!« »Der Dunkle Oheim wird über ihr Schicksal selbst entscheiden«, kam es von einem der Gersa-Predoggs. Dillibor fuhr herum und starrte die Maschine wütend an. »Ich wüßte eine Verwendung für sie!« kreischte er. Er beugte sich über mich und betastete meinen Schädel. »Schafft sie fort! Aber gebt gut auf sie acht!« Ich wünschte mir, nicht mehr hören und sehen, nicht mehr denken zu müssen. Ich wünschte mir, die Zeit zurückdrehen zu können bis zu jenem verhängnisvollen Augenblick, als Pthor auf Terra materialisierte. Ich wünschte mir, daß, wenn wir schon keine Hilfe mehr zu erwarten hatten und unser Dasein hier im Hort der Finsternis beenden mußten, den Gersa-Predoggs, die uns jetzt packten, auf dem Weg zu diesem Pammion ein Unglück geschah. Je ein Roboter trug Razamon und mich. Metallene Tentakel waren um un sere tauben Körper geschlungen. Selbst wenn wir nicht gelähmt gewesen wären, hätten wir uns nicht bewegen können. Mein Kopf hing nach hinten herab, so daß ich die Umgebung auf dem Kopf stehen sah. Durch Hallen und Korridore gelangten wir zu einem Lift, der uns nach unten trug. Die Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. Dann waren wir plötzlich im Freien. Es war mehr als makaber, daß die Roboter uns dorthin trugen, wohin wir selbst den Weg nicht gefunden hat ten. Sie schwebten mit uns durch Straßenschluchten zwischen riesigen Türmen und gedrungenen Gebäudekomplexen, dann über einen freien Platz. Zwischen pechschwarzen Platten wucherte Unkraut. Mein Kopf wurde durch Grasbüschel und anderes Grünzeug geschleift. Vier, fünf Gleiter tauchten vor uns auf. Sie standen verlassen am Rand des Platzes. Zwei Bleiche Alven stiegen in eines der Fahrzeuge. Ein Motor heulte auf, und der Gleiter erhob sich pfeilschnell in die Lüfte, nachdem die Alven uns einige neugierige Blicke zugeworfen hatten. Die Fahrzeuge blieben unerreichbar für uns. Sie verschwanden aus mei nem Sichtfeld. Dafür tauchten weitere schwarze Gebäude auf. Über mir sah ich die durchsichtigen Röhren, die die Bauwerke miteinander verban
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den. Kalte Verzweiflung erfüllte mich. Warum hatten wir nicht früher den Weg hierher gefunden? Warum hatte ich immer wieder gezögert? Warum hatte ich Narr Dillibor folgen müssen? All das waren quälende Gedanken, die nichts mehr änderten. Wir besa ßen nun ein Wissen, das uns unter anderen Umständen in die Lage versetzt hätte, das ganze Herrschaftssystem der Schwarzen Galaxis aus den Angeln zu heben. Aber es war zu spät dazu! Viel zu spät! Ich nahm kaum noch bewußt wahr, wohin die Roboter uns schleppten. Ich wußte hinterher nur noch, daß eine riesige Kuppel vor uns auftauchte, in die die Gersa-Predoggs uns brachten. Dann ging es wieder weiter durch Korridore und Liftschächte. Irgendwann wurde von einer Gruppe Schwarzalven eine Tür vor uns aufgestoßen, und die Roboter legten uns auf dem kahlen Boden eines dunklen Raumes ab. Ich hörte, wie sich ihre Schritte von uns entfernten und die Tür zuge schlagen wurde. Dann war alles still. Der Boden vibrierte leicht, was dar auf hindeutete, daß auch hier tief unter uns Maschinen arbeiteten. Ich konnte Razamon nicht sehen. Ich lag so, daß mein Blick starr auf ei ne der dunklen Wände gerichtet war. Und es gab nichts, daß wir tun konnten. Wir mußten warten, bis das Ge fühl in unsere Glieder zurückkehrte – oder andere Roboter oder Alven ka men, um uns abzuholen. Beides blieb sich gleich. Die Roboter hatten uns betastet und die Waf fen aus unseren Taschen geholt. Wir waren schutzlos dem ausgeliefert, das auf uns zukam. Und was das war, darüber machte ich mir keine Illusionen. Dillibor war deutlich genug gewesen. Wir konnten nur hoffen, daß Dillibors Einfluß nicht so groß war, wie es den Anschein hatte, und daß der Dunkle Oheim andere Pläne mit uns hatte als Dillibor. So paradox es klingen mochte: Jetzt war unser größter Feind unsere ein zige und letzte Hoffnung geworden. Ich spürte, wie es in meinen Fingern und den Füßen zu kribbeln begann. Von Razamon war noch nichts zu hören. Ich wußte nicht, wieviel Zeit ver strichen war, Stunden vielleicht, in denen ich mir meine Gedanken ma chen konnte und in denen die Entschlossenheit zurückgekehrt war, bis zum letzten Atemzug um unsere Leben zu kämpfen. Ich konnte die Finger bewegen, dann die Hände, schließlich die Arme. Ich massierte sie, um die Blutzirkulation zu beschleunigen. Natürlich ar beitete mein Zellaktivator. Ihm hatte ich es zu verdanken, daß ich auf den
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Beinen war, bevor der Pthorer überhaupt anfing, sich zu rühren. Ich beugte mich über ihn und sah, wie seine Augen sich ruckhaft be wegten. Als er nach Minuten neben mir stand, sahen wir uns um. Der Raum war völlig leer und vielleicht gerade drei mal drei Meter groß. Die Decke war so niedrig, daß wir aufpassen mußten, um nicht mit den Köpfen anzustoßen. Razamon schüttelte den letzten Rest Benommenheit ab und blickte mich finster an. Durch eine schmale Ritze unter der Zellentür fiel gerade soviel Licht ein, daß wir uns gegenseitig erkennen konnten. »Ich könnte versuchen, die Tür aufzubrechen«, waren die ersten Worte des Atlanters. »Vielleicht ist sie unbewacht«, gab ich zu. »Aber was hätten wir davon? Wir wären wieder da, wo wir angefangen haben.« Natürlich war es nicht ganz so. Ich vermutete, daß die Kuppel, in der wir uns nun befanden, die zentrale Anlage des Riesenkomplexes war. Als ich bewegungsunfähig am Boden lag, hatte ich mir schon überlegt, ob es einen unter den Alven gäbe – vielleicht dieser geheimnisvolle Pammion? –, der als Geisel wertvoll genug wäre, um die Alven und Roboter unter Druck zu setzen. Das setzte natürlich voraus, daß wir ihn vorher überwäl tigten, und ich konnte nicht glauben, daß man uns dazu jetzt noch Gele genheit gab. »Und dein berühmtes photographisches Gedächtnis?« fragte Razamon. Er deutete mein Schweigen richtig. »Ich jedenfalls habe mir den Weg gemerkt«, sagte er. »Ich glaube, ich würde uns hier herausbringen können, zu den Gleitern.« »Razamon, wir kämen keine zehn Meter weit!« Er murrte etwas vor sich hin und setzte sich. Er vermied es ebenso wie ich, über das zu sprechen, was uns nach Dillibors Willen bevorstehen soll te. »Wenn diese Kuppel das Zentrum der Anlage ist«, knurrte er, »gibt es hier vielleicht eine zentrale Kraftstation. Wir könnten den gesamten Hort der Finsternis in die Luft jagen – mit ein bißchen Glück.« »Mit Glück«, versetzte ich sarkastisch. »Und die Gefangenen? Sollen dabei Tausende von Unschuldigen sterben?« Ich suchte die Wände nach Mikrophonen und Kameralinsen ab. Falls es sie gab, dann waren sie gut genug versteckt, um nicht entdeckt zu werden. Etwas anderes ging mir durch den Sinn. Die Alven wußten, daß wir in den Hort der Finsternis eingedrungen waren. Sicher zerbrachen sie sich die Köpfe darüber, wie uns das »geglückt« war. Aber wußten sie auch, wer wir waren? Ich hütete mich davor, diese Überlegungen laut auszusprechen und ver suchte verzweifelt, etwas zu entdecken, das ich vielleicht übersehen hatte.
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Eine Schwachstelle unserer Gegner. »Wir unternehmen nichts, Razamon«, flüsterte ich schließlich auf Inter kosmo, mit dem die Translatoren der Alven ihre liebe Mühe haben sollten. »Wir warten, bis wir zu diesem Pammion gebracht werden. Dann sehen wir weiter.« »Ha!« machte der Pthorer nur. Aber er hielt sich zurück, als Schritte zu hören waren und wenig später die Tür unseres Gefängnisses aufgerissen wurde. Vier Bleiche Alven stan den im Eingang und hielten Lähmstrahler auf uns gerichtet. »Kommt mit!« rief einer von ihnen. Ich nickte Razamon zu. »Immerhin kümmern sich jetzt die hohen Tiere selbst um uns«, knurrte er, als er hinter mir auf den Korridor hinaustrat. Zwei Alven gingen vor, zwei blieben hinter uns. Scheinbar willig ließen wir uns abführen. Dann öffnete sich ein riesiges Portal vor uns, und wir blickten in eine Halle, gegen die selbst jene mit den Gefangenen-Zoos armselig wirkten. Nein, es war keine Halle mehr. Dies war ein Dom! Und genau in der Mit te, auf einem Podest zwischen ringförmig angelegten, unübersehbaren Reihen von Kontrollbänken, hinter denen Hunderte von Alven saßen und arbeiteten, saß ein Bleicher Alve in einem Thron. Das also war Pammion! dachte ich. Und dies war das absolute Zentrum der Macht. »Weitergehen!« sagte einer der Zwerge hinter mir und stieß mir die Mündung seiner Waffe in den Rücken. Das Zentrum der Macht, die Schaltstelle schlechthin, über die der Dunkle Oheim die Schwarze Galaxis tyrannisierte! Dies war keine Eingebung, kein Gefühl, dies war Gewißheit. Alven blickten nur kurz auf, als wir an ihnen vorbeigeführt wurden, durch Lücken in den mehr als zehn Ringen, die wie die Schalen einer durchschnittenen Zwiebel das Podest umgaben. Die Zwerge saßen an Bildschirmen und bedienten Terminals, riefen Daten ab und steuerten Pro zesse in den einzelnen Teilen des Riesenkomplexes. Von hier aus erhielten die Kommandanten der Schiffe im Ritiquian und vielleicht weit draußen zwischen den dunklen Sonnen ihre Befehle. Hier liefen tatsächlich alle Fä den zusammen. Überall standen oder schwebten Gersa-Predoggs. Ich sah Dutzende von ihnen. Drei besonders große Roboter befanden sich hinter dem Thron auf dem Podest. Über uns wölbte sich eine hohe, kuppelförmige Decke – natürlich nicht die der Riesenkuppel selbst, in der wir uns befanden. Leuchtröhren liefen an den Wänden entlang. Riesige Bildschirme zeigten Symbole und Stern
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konstellationen. Auf dem größten von allen aber war der Dunkle Oheim selbst zu sehen, der monströse schwarze Ring, der sich wieder über die Sonne geschoben hatte. Das beseitigte die letzten Zweifel über den Aus gang des Kampfes gegen seinen Sprößling. Die furchtbare Ausstrahlung dieser Wesenheit schien bis hierher zu reichen. Stimmengewirr umgab uns. Schalter klickten, und elektronische Geräte summten und klirrten. Ich war tief beeindruckt und vergaß für Augen blicke, warum wir hierhergebracht worden waren. Die Alven trieben uns die Stufen des Podests hinauf, die mich an die mächtigen Stufen von Maya-Pyramiden erinnerten. Ich warf den Kopf in den Nacken und sah den Bleichen Alven, wie er von seinem Thron aus auf uns herabblickte. Er schien von einer leuchtenden Aura umgeben zu sein, ein Effekt, der durch mehrere direkt auf ihn gerichtete Scheinwerfer an der mattschwarz schimmernden Decke erzielt wurde. Der Thron stand auf einer Plattform von mehr als zwanzig mal zwanzig Meter Größe. Seine Sitzfläche war so hoch, daß Pammion selbst dann noch auf uns herabblicken konnte, als wir vor ihm standen. Drohend po stierten sich die drei Roboter um ihn. Ich sah, daß sich viele Knöpfe und große Tasten auf den mächtigen Lehnen befanden, auf denen die Arme des Alven lagen. Pammion bedeutete unseren Bewachern durch eine Handbewegung, daß sie zurückzutreten hatten. Wir standen allein vor ihm und kamen uns win zig vor, obwohl wir die »Riesen« und er der Zwerg war. Die Augen Pammions richteten sich auf uns. Durchdringend blickte er zuerst Razamon, dann mich an. »Wir wissen nun, wer ihr seid«, begann er ohne Übergang. »Wir wissen alles, von euren Umtrieben im Marantroner-Revier angefangen.« Er sprach ruhig, und ich mußte zugeben, daß er eine gewisse Würde ausstrahlte, was durch die Lichteffekte um ihn herum noch verstärkt wur de. Daß wir keinen Kniefall vor ihm tun mußten, war eigentlich ein Wun der. Ich mußte mir mit Gewalt ins Gedächtnis zurückrufen, daß er der wahre Verantwortliche für all die Greueltaten war, die im Hort der Finsternis be gangen wurden. Sicher, die Befehle kamen vom Dunklen Oheim, aber die ser Alve ließ sie ausführen. Wenn ich recht hatte mit meinen Überlegun gen, so war er quasi die rechte Hand des Monstrums, mächtiger als alle Neffen zusammen. »Es dauerte lange, bis wir euch das Handwerk legen konnten«, fuhr er fort. Ich fragte mich, ob er auch wußte, wie wir hierhergekommen waren. »Aber niemand entgeht der Strafe des Dunklen Oheims. Er selbst wird das Urteil über euch fällen!« Razamon und ich wechselten einen schnellen Blick. Ich versuchte, un
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sere Chancen für einen blitzschnellen Angriff abzuwägen, und resignierte. Roboter schwebten nun überall in unserer Nähe, und die auf uns gerichte ten Extremitäten ließen keinen Zweifel an ihrem Zweck offen. Pammion drehte sich halb um und rief einen Namen: »Panthorgh!« Eine der drei großen Maschinen schwebte um den Thron herum und kam knapp vor dem Bleichen Alven zum Stillstand. Pammion schob sich ein Stück vor, um das Brustteil des Roboters be rühren zu können. Während er eine Reihe bestimmter Schaltungen an ihm vornahm, sagte er zu uns: »Ihr werdet die Stimme des Dunklen Oheims hören. Jetzt gleich. Er wird durch Panthorgh zu euch reden!« »Giftzwerg!« knurrte Razamon. Sofort schwebten die Roboter, die uns umkreisten, näher. »Du bist nicht so dumm, Bewohner des Taambergs! Sonst wärst du nicht bis hierher gelangt.« Vielleicht wollte der Zwerg uns beeindrucken, indem er zeigte, wie gut er über uns informiert war und Razamon als »Bewohner des Taambergs« anredete. Als er die Programmierung des Gersa-Predoggs abgeschlossen hatte, beugte er sich jedenfalls zwischen den Lehnen vor und sah uns aus zusammengekniffenen Augen an. »Was ist das für ein Gefühl, bis ans Ziel gelangt und dann doch noch gescheitert zu sein, eh?« fragte er hämisch. Er winkte ab und rutschte zurück. »Panthorgh!« Der Roboter drehte sich in der Luft, bis eine Reihe von Linsen an sei nem halb kugelförmigen »Kopf« auf uns gerichtet waren. Dann begann er zu reden, dunkel und gedehnt. Ich wagte nicht zu atmen und versuchte mir vorzustellen, daß in diesen Augenblicken der mächtige schwarze Ring um die Sonne selbst zu uns sprach. Die Stimme hallte wie Donner durch die Kuppel, und alle Alven sahen von ihren Pulten auf. Hunderte von Augenpaaren richteten sich auf uns. »Die Fremden«, hörten wir, »sollen leben! Sie haben den Tod tausend fach verdient! Doch ihr Mut soll gebührend belohnt werden!« Das war bitterer Hohn. Alles in mir krampfte sich zusammen. »Sie sollen leben und fortan meine treuen Diener sein! Du, Pammion, wirst dafür sorgen, daß ihre Gehirne entsprechend präpariert werden, be vor sie den Grundstock für zwei neue Neffen liefern. Auch wenn sie kei nem Volk der Schwarzen Galaxis entstammen, werden diese beiden aus gezeichneten Gehirne mir zwei besonders kluge und leistungsfähige Nef fen garantieren. Nimm dies unverzüglich in die Hand, Pammion, und kläre sie über den Sinn ihrer künftigen Existenz als Neffen des Dunklen Oheims
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auf!« »Nein!« schrie Razamon gellend und stürzte sich auf die Maschine. EN DE Weiter geht es in Atlan Band 484 von König von Atlantis mit: Das Ende der Statthalter von Horst Hoffmann
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