HORROR
VOM FEINSTEN
2
Unheimliche Geschichten Herausgegeben von
JOACHIM KÖRBER
Originalausgabe
WILHELM HEYNE VER...
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HORROR
VOM FEINSTEN
2
Unheimliche Geschichten Herausgegeben von
JOACHIM KÖRBER
Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE 01/8831
Scanned by Doc Gonzo
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und nicht für den
Verkauf bestimmt
Copyright © 1993
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1993
Copyright © der Einzelrechte s. Quellenverzeichnis
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels
Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-07126-3
Inhalt
Vorwort ....................................................
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ERSTER TEIL
Die Giganten STEPHEN KING: Klapperzähne
................................ ..................... CLIVE BARKER: Verlorene Seelen .............................. DEAN R. KOONTZ: Unten in der Dunkelheit ................... DAN SIMMONS: Zwei Minuten fünfundvierzig Sekunden ...... PETER STRAUB: Das Geisterdorf ............................... RAMSEY CAMPBELL: Gutenachtgeschichte
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ZWEITER TEIL
Die zeitgenössischen Autoren JOHN FARRIS: Der Duft von Veilchen ......................... DENNIS ETCHISON: In der Ecke, leise wimmernd .............. EDWARD BRYANT : Menschliche
Überreste ..................... .................................. STEVE RASNIC TEM: Vorbereitung auf das Spiel ................ CHARLES L. GRANT: Schneemann .............................. JOHN SKIPP, CRAIG SPECTOR: Die man liebt ..................... FELICE PICANO: Absolutes Schwarz .......................... WHITLEY STRIEBER: Die Nixon-Maske ......................... T . E. D. KLEIN: Gute Beziehungen ............................ LISA TUTTLE : Puppenburger
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DRITTER TEIL
Die Literaten PATRICK MCGRATH: Wasser
und: Blut .......................... FAY WELDON: Ein Unschuldsengel ........................... JOYCE CAROL GATES: Der Bingomeister .......................
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308
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VIERTER TEIL
Die neuen Wilden JOHN SHIRLEY: Delia
und die Dinner Party ................... Vampir ....................... JOE R. LANSDALE: Mein toter Hund Bobby .................... KATHE KOJA: Monstrositäten ................................. REX MILLER: Sweetie ......................................... NANCY A. COLLINS: Freakbabies. Ein Stück in einem Akt ...... BRIAN HODGE: Krebs und Ratten ............................. RAY GARTON: Stücke ......................................... ELIZABETH MASSIE: Tod um elf ................................ K. W . JETER: Blau an einem Ende, gelb am anderen .......... WAYNE ALLEN SALLEE: Das Grinsen des Schmerzes ........... RICHARD CHRISTIAN MATHESON:
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Vorwort
Wonne kommt der des Grauens gleich.« Mit diesem Satz Keine eröffnet Clive Barker eine seiner Geschichten in den Büchern des Blutes. Betrachtet man die gegenwärtige literarische Land schaft, kommt man unvermeidlich zum Ergebnis, daß er damit nicht Unrecht haben kann. Horror beherrscht die internationalen Bestsellerlisten, und ein Ende des Siegeszugs der unheimlichen Fantastik scheint nicht in Sicht. Zur Zeit arbeiten mehr Autoren im Genre als jemals zuvor, und auch die Qualität vieler Arbeiten hat ein ansehnliches Niveau erreicht. Als der Verlag mich gefragt hat, ob ich als Nachfolgeband des von Douglas E. Winter edierten Horror vom Feinsten (Prime Evil) ei ne weitere ähnlich geartete Horror-Anthologie zusammenstellen möchte, habe ich begeistert zugegriffen. Zielsetzung war dabei, wie im ersten Band herausragende Geschichten herausragender zeitgenössischer Autoren vorzustellen. Ich habe mich bemüht, das Konzept noch ein bißchen weiterzuentwickeln und einen Gesamt überblick über die gegenwärtige Horror-Szene zu geben, den man mit gewissen Abstrichen als repräsentativ ansehen kann. Besonders gefreut hat mich, daß ich hier die Gelegenheit nut zen konnte, einmal zahlreiche jüngere Autoren vorzustellen, die in ihrer Heimat bereits beachtliche Erfolge verbuchen konnten, hier aber noch weitgehend unbekannt geblieben sind. Betrachtet man die hier zusammengestellten Geschichten, wird man sicher feststellen, daß die stilistische wie inhaltliche Band breite des Genres kaum je vielfältiger war. Der Bogen dieses Bandes spannt sich dabei von Stephen King, der im klassischen Er zählrahmen arbeitet, diesen aber durch neue und originelle Ideen auffrischt und unablässig weiter an seiner Horror-Mythologie des zwanzigsten Jahrhunderts bastelt, bis hin zu jüngeren Autoren, die alte Traditionen aufbrechen und literarisches Neuland betre ten. In diesem Zusammenhang mag es ganz interessant sein zu be trachten, wie sehr sich der Begriff Horror gerade in jüngster Zeit gewandelt hat. Bei vielen Autoren der neuen Generation ist das
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übernatürliche Element einem realen, greifbaren >Alltagsschrek ken< gewichen, der im gewöhnlichen Leben gewöhnlicher Men schen lauert. Käthe Koja beispielsweise greift in >Monstrositäten< das klassische Thema des Vampirismus auf, abstrahiert es aber so, daß es im Kontext ihrer Story kaum noch wiederzuerkennen ist. Und eben dadurch schafft sie mit ihrem Familienvater, der seiner Familie langsam die Lebenskraft aussaugt, eine für unsere Zeit möglicherweise wirksamere und treffendere Metapher, als noch so viele soziologische und gesellschaftliche Studien es je könnten. Auch Dan Simmons, der >shooting star< der amerikanischen Horror-Szene, bezieht sich in seinem Beitrag auf ein reales Ereig nis. Seine Geschichte, die auf Bitte von Ellen Datlow, der Litera turredakteurin des Magazins Omni, entstand, eine Techno-Hor ror-Story < zu schreiben, nimmt die Challenger-Katastrophe zum Ausgangspunkt für den persönlichen Alptraum eines Mannes. Das ist wie viele klassische Horror-Stories eine Geschichte um Schuld und (späte) Sühne, aber sie ist weit entfernt von transsil vanischen Schlössern oder Spukhäusern in dunklen Gassen. Ich habe mich wie gesagt bemüht, einen möglichst breiten Überblick über die derzeitige internationale Horror-Szene zu bie ten und in den vier Teilen, in die sich der Band gliedert, typische Vertreter der jeweiligen Spielart zu Wort kommen zu lassen. Be sonders der vierte führt m. E. eindrucksvoll vor Augen, wie die Grenzen des Genres aufgebrochen und die Definition von Horror ständig weiter gesteckt wird. Höhepunkt für mich ist der kontro verse Beitrag von Wayne Allen Sallee, der mit Stories und einem Roman im Umfeld der >Splatterpunk<-Bewegung Aufsehen erreg te. Mit seiner radikalen Subjektivität, seinen ungewöhnlichen sti listischen Mitteln und dem vertrackten Verwirrspiel — der Autor montiert reale Tagebucheinträge mit fiktiven Szenen zum faszi nierenden Bild einer privaten Hölle — summiert >Das Grinsen des Schmerzes< Ziele und Absichten der neuen Generation von Hor ror-Autoren in trefflicher Weise. Ich habe lange überlegt, ob ich den Beitrag in diesen Band aufnehmen soll, denn zugegebener maßen wird der Begriff Horror hier außerordentlich weit gedehnt, und sicherlich wird er einige Leute vor den Kopf stoßen, aber letztendlich erschien er mir als faszinierendes Stück Literatur (ob man es nun als Horror liest oder nicht), auf das ich nicht verzich ten wollte. Bleibt mir nur zu hoffen, daß die Lektüre der Geschichten Ihnen 8
ebenso viel Freude bereitet wie mir die Auswahl und Zusammen stellung. Selbstverständlich ist es unmöglich, die ganze Palette der zeitgenössischen unheimlichen Literatur in einen einzigen Band zu packen, aber ich denke, bei dem breiten Spektrum der zusam mengestellten Geschichten (»Wer vieles bringt wird jedem etwas bieten«) dürfte jeder genügend Lesestoff finden, auch wenn er/sie seinen/ihren Lieblingsautor vielleicht vermißt. JOACHIM KÖRBER
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ERSTERTEIL
Die Giganten
STEPHEN KING
Klapperzähne er in den Schaukasten sah, war ihm zumute, als sähe er Alsdurch eine schmutzige Glasscheibe ins mittlere Drittel seiner Kindheit, die Jahre zwischen sieben und vierzehn, als ihn solche Sachen fasziniert hatten. Hogan beugte sich näher hin und vergaß das zunehmende Heulen des Windes draußen ebenso wie das knirschende Spick-Spack des Sandes, der gegen das Fenster pras selte. Der Schaukasten war vollgestopft mit unglaublichem Plun der, zweifellos zum größten Teil in Taiwan und Korea hergestellt, aber am Prunkstück der Sammlung konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Es waren die größten Klapperzähne, die ihm je mals unter die Augen gekommen waren. Außerdem waren es die einzigen mit Füßen, die er je gesehen hatte — große, orangefar bene Trickfilmschuhe mit weißen Gamaschen. Ein echter Heu ler. Hogan blickte zu der dicken Frau hinter dem Tresen auf. Sie trug ein T-Shirt mit der Aufschrift NEVADA IST GOTTES LAND (die Worte wölbten sich über ihrem enormen Busen) und etwa zwei Hektar Jeans. Sie verkaufte einem blassen jungen Mann, der das lange blonde Haar mit einem Schnürsenkel zu einem Pferde schwanz gebunden hatte, gerade eine Packung Zigaretten. Der junge Mann, der das Gesicht einer intelligenten Ratte hatte, be zahlte mit Kleingeld, das er umständlich aus der schmutzigen Hand abzählte. »Verzeihung, Ma'am?« sagte Hogan. Sie sah kurz zu ihm herüber, dann wurde die Hintertür mit ei nem Ruck aufgestoßen. Ein schlaksiger Mann mit einem Taschen tuch über Mund und Nase kam herein. Der Wind wirbelte Wü stenstaub um ihn herum auf wie eine Windhose und schüttelte die Pin-up-Schöne auf dem Valvoline-Kalender, der mit Reiß zwecken an der Wand befestigt war. Der Neuankömmling zog ei nen Handkarren, auf dem drei Drahtkäfige gestapelt waren. Im obersten saß eine Tarantel. In den beiden Käfigen darunter befan
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den sich Klapperschlangen. Sie wanden sich hektisch hin und her und ließen aufgeregt ihre Klappern ertönen. »Mach die Scheißtür zu, Scooter, oder bist du in 'ner Scheune zur Welt gekommen?« bellte die Frau hinter dem Tresen. Er sah kurz mit vom Sand gereizten und roten Augen zu ihr auf. »Wart's ab, Frau! Siehst du nicht, daß ich alle Hände voll zu tun habe? Hast du keine Augen im Kopf? Herrgott!« Er griff über den Karren und schlug die Tür zu. Der tanzende Sand stürzte tot zu Boden, dann zog der Mann immer noch brummelnd den Kar ren zum Lagerraum hinüber. »Sind das alle?« fragte die Frau. »Alle bis auf Wolf.« Er sprach es wie Woof aus. »Den steck ich in den Schuppen hinter den Zapfsäulen.« »Von wegen!« erwiderte die dicke Frau. »Wolf ist unsere Haupt attraktion, falls du das vergessen hast. Du bringst ihn hier rein. Im Radio sagen sie, daß es noch schlimmer wird. Viel schlimmer. »Was meinst du, wen du damit verarschen kannst?« Der schlak sige Mann (ihr Ehemann, vermutete Hogan) stand da und sah sie mit an die Hüften gestemmten Händen und einer Art resignier tem Trotz an. »Der verdammte Köter ist nichts weiter als ein Koyotenmischling aus Minnesota, wie jeder erkennen kann, der ihn genauer ansieht.« Der Wind wehte, heulte um die Ecken von Scooter's Lebens mittelladen & Zoo und schleuderte Schwaden trockenen Sandes gegen die Fensterscheiben. Es wurde tatsächlich schlimmer, und Hogan konnte nur hoffen, daß es ihm noch gelingen würde, dem Unwetter davonzufahren. Er hatte Lita und Jack versprochen, daß er bis sieben zu Hause sein würde, spätestens acht, und er gehör te zu den Leuten, die ihre Versprechen gern halten. »Kümmere dich um ihn«, sagte die dicke Frau und drehte sich gereizt wieder zu dem Jungen mit dem Rattengesicht um. »Ma'am?« sagte Hogan wieder. »Noch 'n Augenblick Geduld, bitte«, sagte Mrs. Scooter. Sie sagte es in einem Tonfall, als ertränke sie förmlich in ungeduldi gen Kunden, obwohl in Wahrheit Hogan und der Junge mit dem Rattengesicht die einzigen waren. »Da fehlen zehn Cent, Sonnyboy«, sagte sie zu dem blonden Jungen nach einem raschen Blick auf die Münzen auf dem Tresen. Der Junge sah sie mit großen, unschuldigen Augen an. »Ich dachte, Sie würden sie mir anschreiben?« 13
»Ich glaube nicht, daß der Papst Marlboro raucht, aber wenn, würde ich sie ihm nicht anschreiben.« Der unschuldige Blick verschwand aus den großen Augen. Der Junge mit dem Rattengesicht sah sie einen Moment mit einem mürrischen Ausdruck an (Hogan fand, daß dieser Ausdruck weit besser zum Gesicht des Jungen paßte) und kramte dann noch ein mal durch seine Taschen.
Vergiß es einfach und verschwinde von hier, dachte Hogan. Du schaffst es nie bis acht nach LA., wenn du dich nicht auf den Weg machst. Sturm oder nicht Sturm. Hier kennen sie nur zwei Geschwindig keiten — langsam und stop. Du hast dein Benzin und du hast dafür be zahlt. Also denk einfach, daß du alles erledigt hast und mach dich auf den Weg, bevor der Sturm noch schlimmer wird. Er wäre dem guten Rat seiner linken Gehirnhälfte fast gefolgt — aber dann betrachtete er wieder die Klapperzähne in dem Schau kasten, und die Klapperzähne standen auf ihren großen orange farbenen Trickfilmschuhen da. Mit weißen Gamaschen. Sie waren ein echter Knüller. Jack würden sie gefallen, redete ihm seine rechte Gehirnhälfte ein. Und um ganz ehrlich zu sein, Bill, alter Kumpel: wenn es sich herausstellt, daß Jack sie nicht will, du willst sie auf jeden Fall. Irgendwann in deinem Leben siehst du vielleicht wieder einmal sol che Jumbo-Klapperzähne, möglich ist alles —aber welche, die mit großen orangefarbenen Schuhen herumspazieren? Nn-nnn. Das bezweifle ich wirklich. Diesmal hörte er auf seine rechte Gehirnhälfte ... und so nahm alles seinen Lauf. Der Junge mit dem Pferdeschwanz kramte immer noch in seinen Taschen; sein mürrischer Gesichtsausdruck wurde jedesmal noch mürrischer, wenn er nichts fand. Hogan hielt nichts vom Rau chen — sein Vater, Kettenraucher mit zwei Schachteln pro Tag, war an Lungenkrebs gestorben —, aber er stellte sich vor, daß er in einer Stunde noch darauf warten würde, bedient zu werden. »He! Junge!« Der Junge drehte sich um, und Hogan warf ihm einen Viertel dollar zu. »Hey! Danke, Mann!« »Nichts zu danken.« Der Junge beendete seine Transaktion mit der voluminösen Mrs. Scooter, steckte die Zigaretten in eine Tasche und ließ die 14
verbliebenen fünfzig Cent in einer anderen verschwinden. Er bot Hogan nicht an, das Wechselgeld zurückzugeben, aber Hogan hatte auch nicht damit gerechnet. Jungen und Mädchen wie dieser waren heutzutage Legion — sie lungerten von einer Küste zur an deren auf den Gehwegen herum und ließen sich herumwehen wie Steppenhexen. Möglicherweise waren sie schon immer da gewe sen, aber Hogan fand, daß die gegenwärtige Abart unangenehm und ein wenig furchteinflößend war, wie die Klapperschlangen, die Scooter gerade im Hinterzimmer verstaute. Die Schlangen in den schäbigen kleinen Zoos am Straßenrand konnten einen nicht töten; ihr Gift wurde zweimal die Woche ab gemolken und an Kliniken verkauft, die Medikamente daraus her stellten. Darauf konnte man sich verlassen, wie man sich darauf verlassen konnte, daß Penner sich jeden Dienstag und Donnerstag beim Roten Kreuz sehen ließen, um gegen Bargeld Blut zu spen den. Dennoch konnten einem die Schlangen schmerzhafte Biß wunden zufügen, wenn man ihnen zu nahe kam und sie reizte. Das, überlegte sich Hogan, hatten die heutigen Straßenkinder mit ihnen gemeinsam. Mrs. Scooter kam am Tresen entlang, und die Worte auf ihrem T-Shirt wabbelten auf und ab und von einer Seite zur anderen. »Was woll'n Sie?« fragte sie. Ihr Tonfall war nach wie vor verdros sein. Der Westen stand immer noch im Ruf besonderer Freundlich keit, und in den zwanzig Jahren, die Hogan schon hier als Vertre ter arbeitete, hatte er die Erfahrung gemacht, daß dieser Ruf in den meisten Fällen gerechtfertigt war; aber die Frau hier war so unfreundlich wie ein Ladenbesitzer in Brooklyn, der in den letz ten zwei Wochen dreimal ausgeraubt worden war. Hogan vermu tete, daß Leute ihres Schlages im Westen allmählich ebenso zum Alltag gehörten wie die Straßenkinder. Traurig, aber wahr. »Wieviel kostet das?« fragte Hogan und deutete durch das schmutzige Glas auf den Gegenstand, den das Etikett als JUMBO KLAPPERZÄHNE — SIE LAUFEN! bezeichnete. Der ganze Schau kasten war voll von Scherzartikeln — chinesische Fingerzieher, Pfefferkaugummi, Dr. Wackys Niespulver, Zigarettenkracher (zum Totlachen! laut Verpackung — Hogan vermutete aber, daß sie wahrscheinlich eine tolle Methode waren, sich die Zähne aus schlagen zu lassen), Röntgenbrillen, Plastikkotze (so realistisch!), Furzblasen. 15
»Keine Ahnung«, sagte Mrs. Scooter. »Ich weiß nicht, wo die Verpackung geblieben ist.« Die Zähne waren das einzige Stück in dem Schaukasten, das nicht verpackt war, aber Jumbo waren sie eindeutig, dachte Ho gan — sogar superjumbo, fünfmal so groß wie die aufziehbaren Gebisse, die ihm als Kind in Maine soviel Spaß gemacht hatten. Wenn man die komischen Füße wegnahm, würden sie wie die Zähne eines biblischen Giganten aussehen — die Mahlzähne wa ren große weiße Klötze, und die Fangzähne ragten wie Zeltherin ge aus dem unwahrscheinlich rosa Plastikzahnfleisch. Die Zähne wurden von einem dicken Gummiband zusammengehalten. Mrs. Scooter blies den Staub von den Klapperzähnen, dann drehte sie sie um und suchte auf den Sohlen der orangefarbenen Schuhe nach einem Preisschild. Sie fand keines. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und sah Hogan böse an, als hätte der den Aufkle ber selbst entfernt. »So einen Mist kann nur Scooter gekauft ha ben. Steht schon hier rum, seit Noah aus der Arche ausgestiegen ist. Ich muß ihn fragen.« Plötzlich hatte Hogan die Frau und Scooter's Lebensmittella den & Zoo satt. Es waren tolle Klapperzähne, die Jack ohne jeden Zweifel gefallen würden, aber er hatte es versprochen — späte stens um acht. »Vergessen Sie's«, sagte er. »Es war nur ein ...« »Die Zähne sollten fünfzehn fünfundneunzig kosten, wenn Sie sich das vorstellen können«, sagte Scooter hinter ihnen. »Sie sind nkht nur aus Plastik — das sind weiß bemalte Metallzähne. Wenn sie funktionieren würden, könnten sie Sie teuflisch beißen. Aber sie hat sie vor zwei, drei Jahren beim Abstauben auf den Boden fallen lassen, und jetzt sind sie kaputt.« »Oh«, sagte Hogan enttäuscht. »Das ist schade. Wissen Sie, ich habe noch nie welche mit Füßen gesehen.« »Heute gibt es jede Menge davon«, sagte Scooter. »Sie verkau fen sie in Scherzartikelläden in Vegas und Dry Springs. Aber so große wie die hier habe ich auch noch nie gesehen. War teuflisch komisch, sie auf dem Boden laufen und wie ein Krokodil schnap pen zu sehen. Ein Jammer, daß die Alte sie fallen gelassen hat.« Scooter sah zu ihr, aber die Frau schaute in den wehenden Sand hinaus. Hogan wußte nicht, wie er den Gesichtsausdruck deuten sollte — war es Trauer, oder Abscheu oder beides? Scooter sah wieder Hogan an. »Ich könnte sie für drei fünfzig 16
abgeben, wenn Sie sie wollen. Wir machen sowieso Ausverkauf bei den Scherzartikeln, wir brauchen den Schaukasten für Leih videos.« Er machte die Tür des Lagerraums zu. Das Taschentuch hatte er jetzt heruntergezogen, es hing über dem schmutzigen Vorderteil seines Hemds. Das Gesicht war kantig und zu schmal. Unter seiner Wüstenbräune sah Hogan den Schatten einer mögli cherweise ernsten Krankheit. »Das kannst du nicht machen, Scooter!« schnappte die Frau und drehte sich zu ihm um — stürzte sich fast auf ihn. »Halt die Klappe«, antwortete Scooter. »Meine Plomben tun weh, wenn du so kreischst.« »Ich habe dir gesagt, hol Wolf...« »Myra, wenn du ihn da hinten im Lagerraum haben willst, dann geh ihn doch selber holen.« Er ging auf sie zu, und Hogan war überrascht — sogar fast wie vom Donner gerührt —, als sie nachgab. »Ist sowieso nichts anderes als ein Koyotenmischling aus Minnesota. Drei Dollar glatt, mein Freund, und diese Klap perzähne gehören Ihnen. Und wenn Sie noch einen drauflegen, können Sie auch Myras Woof mitnehmen. Und für fünf verpachte ich Ihnen die ganze Bude. Seit sie die Umgehungsstraße gebaut haben, ist sie sowieso keinen Hundefurz mehr wert.« Der langhaarige Junge stand neben der Tür, riß das Zellophan der Zigarettenschachtel auf, die er mit Hogans Hilfe gekauft hatte, und verfolgte die kleine komische Oper mit einem Ausdruck bos hafter Heiterkeit. Seine winzigen graugrünen Augen funkelten. »Hol dich der Teufel«, sagte Myra grantig, und Hogan sah, daß sie den Tränen nahe war. »Wenn du mein Baby nicht holst, dann hol ich es eben.« Sie drängte sich an ihm vorbei und hätte ihn fast mit einer kürbisgroßen Brust umgestoßen. Hogan stellte sich vor, daß sie den kleinen Mann zu Boden geschmettert hätte, hätte sie getroffen. »Hören Sie«, sagte Hogan, »ich glaube, ich mache mich einfach auf die Socken.« »Na gut«, sagte Scooter. »Stören Sie sich nicht an Myra. Ich hab Krebs und sie ist in den Wechseljahren, und es ist nicht meine Schuld, daß sie nicht damit leben kann. Nehmen Sie die ver dammten Zähne. Wette, Sie haben einen Jungen, dem sie gefallen könnten. Außerdem ist wahrscheinlich nur ein Zahnrad verbogen. Ich glaube, ein Mann mit etwas handwerklichem Geschick könnte sie wieder zum Laufen und Schnappen bringen.« 17
Er drehte sich mit hilflosem und nachdenklichem Ausdruck um. Der Wind draußen schwoll zu einem kurzen, dünnen Kreischen an, als der Junge die Tür öffnete und hinausschlüpfte. Offenbar war er zum Ergebnis gekommen, daß die Vorstellung vorbei war. Eine Wolke feiner Staub wirbelte den Mittelgang entlang, zwi schen Konservendosen und Hundefutter. »Früher hätte ich das wahrscheinlich selber geschafft«, weihte Scooter ihn ein. Hogan antwortete eine ganze Weile nicht. Ihm fiel nichts ein — buchstäblich überhaupt nichts —, das er hätte sagen können. Er sah auf die Jumbo-Klapperzähne, die in dem zerkratzten und ver staubten Schaukasten standen, und suchte verzweifelt nach et was, um das Schweigen zu unterbrechen (jetzt, da Scooter direkt vor ihm stand, konnte er sehen, daß die Augen des Mannes rie sig und dunkel waren und vor Schmerzen und einem starken Schmerzmittel glänzten ... Darvon, möglicherweise Morphium), und so sagte er das erste, das ihm in den Sinn kam: »Nun, sie se hen gar nicht kaputt aus.« Er nahm die Zähne hoch. Sie bestanden tatsächlich aus Me tall — für alles andere waren sie zu schwer —, und als er in den leicht geöffneten Kiefer sah, stellte er erstaunt fest, wie groß die Sprungfeder war, die das Ding betrieb. Er vermutete, daß so eine große erforderlich war, um die Zähne nicht nur zum Zuschnap pen, sondern auch noch zum Laufen zu bringen. Was hatte Scoo ter gesagt? Wenn sie funktionieren würden, könnten sie Sie teuflisch beißen. Hogan zupfte einmal versuchsweise an dem breiten Gum miband, dann zog er es ab. Er studierte immer noch die Zähne, um nicht in Scooters dunkle, schmerzumflorte Augen sehen zu müssen. Er griff nach dem Schlüssel, und dann endlich wagte er, aufzusehen. Erleichtert stellte er fest, daß der hagere Mann ver halten lächelte. »Was dagegen?« fragte Hogan. »Ich nicht, Pilger — lassen Sie's knacken.« Hogan grinste und drehte den Schlüssel um. Zuerst schien alles in Ordnung zu sein; eine Reihe ratschender Klicklaute ertönte und er konnte sehen, wie die Hauptfeder aufgezogen wurde. Dann, nach der dritten Umdrehung, kam ein sponk! von innen, und der Schlüssel drehte sich ohne zu greifen im Loch. »Sehen Sie?« »Ja«, sagte Hogan. Er stellte die Zähne auf den Tresen. Da stan 18
den sie auf ihren grotesken orangefarbenen Füßen und rührten sich nicht. Scooter stieß die zusammengebissenen Backenzähne der linken Seite mit einem hornhautüberzogenen Finger an. Die Kiefer klapp ten auseinander. Ein orangefarbener Fuß hob sich und machte ei nen verträumten halben Schritt vorwärts. Dann blieben die Zähne stehen, und das ganze Gebilde kippte auf die Seite. Die Klapper zähne blieben auf dem Schlüssel liegen, ein schiefes, körperloses Grinsen, mitten im Niemandsland. Nach einigen Augenblicken klappten die Zähne mit einem langsamen Klick wieder zusam men. Das war alles. Hogan, der in seinem ganzen Leben noch keine Zwangsvorstel lung gehabt hatte, war plötzlich von einer deutlichen Gewißheit erfüllt, die unheimlich und ekelerregend zugleich war. In einem Jahr wird dieser Mann seit acht Monaten im Grab liegen, und wenn je mand seinen Sarg ausgraben und den Deckel aufbrechen würde, dann würde der Zähne wie diese sehen, die wie eine emaillierte Falle aus dem vertrockneten toten Gesicht ragen. Er sah in Scooters Augen, die glänzten wie dunkle Edelsteine in beschlagenen Fassungen, und plötzlich war nicht mehr die Frage, ob er hier weg wollte; er mußte hier weg. »Nun«, sagte er (und hoffte panisch, Scooter würde ihm nicht zum Abschied die Hand reichen), »ich muß los. Viel Glück, Sir.« Scooter streckte doch die Hand aus, aber nicht zum Abschied. Statt dessen legte er das Gummiband wieder um die Klapperzäh ne (Hogan hatte keine Ahnung warum, da sie ohnedies nicht funktionierten), stellte sie auf ihre komischen Trickfilmfüße und schob sie über die zerkratzte Oberfläche des Tresens. »Herzlichen Dank«, sagte er. »Und nehmen Sie die Zähne. Kostenlos.« »Oh ... danke, aber ich kann doch nicht...« »Klar können Sie«, sagte Scooter. »Nehmen Sie sie mit und ge ben Sie sie Ihrem Jungen. Wird ihm gefallen, wenn sie in seinem Zimmer auf dem Regal stehen, auch wenn sie nicht funktionieren. Ich kenne mich ein bißchen mit Jungen aus. Hab selbst drei groß gezogen.« »Woher wissen Sie, daß ich einen Sohn habe?« fragte Hogan. Scooter blinzelte. Die Geste war furchterregend und erbar menswert zugleich. »Sehe ich Ihrem Gesicht an«, sagte er. »Los doch, nehmen Sie sie.« Der Wind schwoll wieder an, dieses Mal so heftig, daß die Bret 19
terwände des Hauses ächzten. Der Sand, der gegen die Fenster prasselte, hörte sich an wie feiner Schnee. Hogan hob die Zähne an den Plastikfüßen hoch und stellte wieder überrascht fest, wie schwer sie waren. »Hier.« Scooter zog eine Papiertüte, die an den Kanten fast so runzelig und zerknittert war wie sein eigenes Gesicht, unter dem Tresen hervor. »Tun Sie es da rein. Sie haben einen echt schönen Mantel an. Wenn Sie die Beißerchen in der Tasche tragen, beulen Sie sie aus.« Er stellte die Tüte auf den Tresen, als verstünde er, wie ungern Hogan ihn berühren wollte. »Danke«, sagte Hogan. Er verstaute die Klapperzähne in der Tüte und knüllte das obere Ende zusammen. »Jack dankt Ihnen auch — das ist mein Sohn.« Scooter lächelte und entblößte dabei Zähne, die ebenso falsch (wenn auch nicht annähernd so groß) waren, wie die in der Pa piertüte. »War mir ein Vergnügen, Mister. Fahren Sie vorsichtig, bis Sie den Sturm hinter sich gelassen haben. Wenn Sie erst die Vorgebirge erreicht haben, kann Ihnen nichts mehr passieren.« »Ich weiß.« Hogan räusperte sich. »Nochmals danke. Ich hoffe, daß es Ihnen . . . äh . . . bald wieder besser geht.« »Das wäre schön«, sagte Scooter gelassen, »aber ich glaube nicht, daß das für mich in den Sternen steht. Sie?« »Äh. Nun.« Hogan stellte verdrossen fest, daß er keine Ahnung hatte, wie er diese Begegnung beenden sollte. »Geben Sie auf sich acht.« Scooter nickte. »Sie auch.« Hogan wich zur Tür zurück, machte sie auf und mußte sie fest halten — der Wind versuchte, sie ihm aus der Hand zu reißen und gegen die Wand zu schlagen. Feiner Sand prasselte ihm ins Ge sicht, er mußte die Augen schließen. Er ging hinaus, machte die Tür hinter sich zu und zog den Kra gen seines echt schönen Mantels über Mund und Nase, als er die Veranda überquerte und zu seinem Dodge-Campingwagen haste te, der gleich hinter den Zapfsäulen parkte. Der Wind zerzauste ihm das Haar, Sand prasselte schmerzhaft gegen seine Wangen. Er ging gerade zur Fahrertür, als ihn jemand am Ärmel zupfte. »Mister! He, Mister!« Hogan drehte sich um. Es war der blonde Junge mit dem blas sen Rattengesicht. Er duckte sich nur in seinem T-Shirt und den 20
verwaschenen 501-Jeans gegen Wind und Flugsand. Hinter ihm zerrte Mrs. Scooter einen abgemagerten Köter an einem Würge halsband zur Hintertür des Ladens. Wolf, der Koyotenmischling aus Minnesota, sah wie der halbverhungerte Welpe eines deut schen Schäferhunds aus — und obendrein noch wie der Kümmer ling des Wurfs. »Was?« brüllte Hogan, der genau wußte, was auf ihn zukam. »Kann ich mitfahren?« schrie der Junge über den Wind hinweg zurück. Normalerweise nahm Hogan keine Anhalter mit — seit jenem Nachmittag vor fünf Jahren. Da hatte ihn am Stadtrand von To nopah ein junges Mädchen angehalten. Das Mädchen, das am Straßenrand stand, hatte ausgesehen wie eines dieser traurigen heimatlosen Geschöpfe auf UNICEF-Plakaten, ein Kind, das aus sah, als wären seine Mutter und sein Freund beide letzte Woche beim gleichen Hausbrand ums Leben gekommen. Aber als sie im Auto saß, hatte Hogan die unreine Haut und den irren Blick einer seit langer Zeit Drogensüchtigen erkannt. Da war es freilich schon zu spät. Sie hatte ihm eine Pistole vors Gesicht gehalten und woll te seine Brieftasche. Die Pistole war alt und rostig, der Griff mit zerrissenem Isolierband umwickelt. Hogan hatte bezweifelt, ob sie überhaupt geladen war, und wenn, ob sie losgehen würde. Aber er hatte Frau und Kind in L. A., und selbst wenn er sicher gewesen wäre, lohnte es sich, wegen hundertvierzig Dollar sein Leben zu riskieren? Daran hatte er damals schon nicht gedacht, als er gerade in seinem neuen Metier Fuß faßte und hundertvier zig Dollar viel mehr Geld waren als heutzutage. Er gab dem Mäd chen seine Brieftasche. Inzwischen hielt auch ihr Freund in einem schmutzigen blauen Chevy Nova neben seinem Wagen (damals war es noch ein Ford Econoline, längst nicht so toll wie der umge baute Dodge XRT). Hogan hatte gefragt, ob das Mädchen ihm den Führerschein und die Bilder von Lita und Jack lassen würde. »Leck mich, Süßer«, sagte sie und schlug ihm mit seiner eigenen Brief tasche brutal ins Gesicht, bevor sie ausstieg und zu dem blauen Auto rannte. Anhalter bedeuteten Ärger. Aber der Sturm wurde immer schlimmer und der Junge hatte nicht einmal eine Jacke. Was sollte er ihm sagen? Leck mich, Sü ßer, kriech mit den anderen Schlangen unter einen Felsen, bis der Sturm nachläßt? 21
»Okay«, sagte Hogan. »Danke, Mann! Vielen Dank!« Der Junge lief zur Beifahrertür, zog am Griff, stellte fest, daß abgeschlossen war, und wartete einfach mit eingezogenen Schul tern, bis er einsteigen dürfte. Der Wind bauschte sein Hemd wie ein Segel und gab den Blick auf seinen schmalen, pickligen Rük ken frei. Hogan sah noch einmal zu Scooter's Lebensmittelladen & Zoo und ging zur Fahrertür. Scooter stand am Fenster und sah zu ihm heraus. Er hob ernst die Hand, Handfläche nach außen. Hogan grüßte zurück, dann steckte er den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn herum. Er machte die Tür auf, drückte die Entriegelung neben dem automatischen Fensteröffner und winkte den Jungen herein. Der gehorchte, und dann mußte er die Tür mit beiden Händen wieder zuziehen. Der Wind heulte um den Wagen herum und schüttelte ihn sogar ein wenig. »Mann!« keuchte der Junge und strich sich mit den Fingern heftig durch das Haar (er hatte den Schnürsenkel verloren, das Haar hing ihm strähnig auf die Schultern). »Schöner Sturm, was? Kann sich sehen lassen.« »Ja«, sagte Hogan. Zwischen den beiden Vordersitzen — Sit zen, wie sie in den Prospekten gern als >Kapitänssessel< bezeich net werden —, befand sich eine Konsole, und Hogan legte die Pa piertüte in einen der Dosenhalter. Dann drehte er den Zünd schlüssel. Der Motor sprang sofort mit gutmütigem Brummen an. Der Junge drehte sich auf seinem Sitz herum und sah bewun dernd ins Heck des Wagens. Dort gab es ein Bett (das jetzt zu ei ner Couch zusammengeklappt war), einen kleinen Gasofen, meh rere Staufächer, in denen Hogan seine verschiedenen Muster auf bewahrte, und ganz hinten eine Toilettenzelle. »Gar nicht so bescheiden, Mann!« sagte der Junge. »Mit allem Komfort.« Er sah wieder zu Hogan. »Wohin fahren Sie?« »Los Angeles.« Der Junge grinste. »He, toll! Ich auch!« Er holte das gerade erst erstandene Päckchen Marlboro aus der Tasche und klopfte eine heraus. Hogan hatte die Scheinwerfer eingeschaltet und den Gang ein gelegt. Jetzt schob er den Schalthebel wieder auf Leerlauf und drehte sich zu dem Jungen um. »Eins wollen wir gleich mal klar stellen«, sagte er. 22
Der Junge sah Hogan mit großen, unschuldigen Augen an. »Klar, Amigo — kein Problem.« »Erstens, ich nehme normalerweise keine Anhalter mit. Ich hat te vor Jahren ein schlimmes Erlebnis mit einer. Bin ein gebranntes Kind, könnte man sagen. Ich nehme dich mit durch die Santa Cla ra Vorgebirge, aber das ist auch schon alles. Auf der anderen Seite liegt eine Raststätte — Sammy's, nahe an der Autobahn. Dort trennen sich unsere Wege. Okay?« »Okay. Klar. Wie Sie wünschen.« Immer noch mit den großen Augen. »Zweitens, wenn du unbedingt rauchen mußt, trennen sich un sere Wege gleich hier. Ist das auch okay?« Einen Moment sah Hogan das andere Gesicht des Jungen (und selbst nach der kurzen Bekanntschaft wäre Hogan jede Wette ein gegangen, daß der Junge nur zwei drauf hatte): diesen gemeinen, argwöhnischen Ausdruck. Doch dann war er sofort wieder die großäugige Unschuld, ein harmloser Flüchtling aus Wayne's World. Er steckte die Zigarette hinters Ohr und zeigte Hogan die leeren Hände. Als er sie hob, sah Hogan eine handgeschriebene Tätowie rung auf dem linken Bizeps des Jungen: DEF LEPPARD 4-EVER. »Keine Fluppen«, sagte der Junge. »Kapiert.« »Prima. Bill Hogan.« Er streckte die Hand aus. »Bryan Adams«, sagte der Junge und schüttelte kurz Hogans Hand. Hogan legte den Gang wieder ein und rollte langsam der Route 46 entgegen. Dabei fiel sein Blick kurz auf die Cassette auf dem Armaturenbrett. Es war Reckless von Bryan Adams. Klar, dachte er. Du bist Bryan Adams und ich bin in Wirklichkeit Don Henley. Wir haben nur bei Scooter's Lebensmittel & Zoo Rast ge macht, um ein bißchen Material für unsere nächsten Platten zu sammeln, richtig? Als er auf den Highway einbog, wo er sich bereits anstrengen mußte, um durch den Flugsand sehen zu können, mußte er wie der an das Mädchen denken, das ihn am Straßenrand von Tono pah mit seiner eigenen Brieftasche ins Gesicht geschlagen hatte, bevor sie abgehauen war. Allmählich wurde ihm ungeheuer mul mig zumute. Dann versuchte eine starke Windbö, ihn auf die Fahrspur nach Osten zu drängen, und er konzentrierte sich auf das Fahren.
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Sie fuhren eine Weile schweigend weiter. Als Hogan einmal nach rechts sah, stellte er fest, daß der Junge sich mit geschlossenen Augen zurückgelehnt hatte — möglicherweise schlief er, mögli cherweise döste er, vielleicht tat er aber auch nur so, weil er sich nicht unterhalten wollte. Das machte nichts; Hogan wollte sich auch nicht unterhalten. Zunächst einmal wußte er nicht, was er mit Mr. Bryan Adams aus Nirgendwo, USA, reden sollte. Jammer schade, daß der junge Mr. Adams nicht in der Branche Etiketten und Lesegeräte für universelle Preiscodes tätig war, denn das war Hogans Beruf. Zum anderen wurde es zunehmend zur Herausfor derung, den Wagen auf der Straße zu halten. Der Sturm nahm zu, wie Mr. Scooter vorhergesagt hatte. Die Straße war ein vages Phantom, in unregelmäßigen Abständen von braunen Sandschleiern bedeckt. Die Verwehungen wirkten wie Bremskuppen und zwangen Hogan, mit höchstens fünfundzwan zig dahinzukriechen. Aber damit konnte er leben. An einer Stelle jedoch hatte sich der Sand völlig glatt über den Straßenbelag aus gebreitet; die Straße war nicht mehr zu sehen, und Hogan mußte auf fünfzehn Stundenmeilen heruntergehen; er orientierte sich nur noch nach dem schwachen Licht seiner Scheinwerfer, das von Katzenaugen am Straßenrand reflektiert wurde. Ab und zu tauchte ein entgegenkommender Wagen aus dem wehenden Sand auf wie ein prähistorischer Schemen mit runden, blitzenden Augen. Einer davon, ein alter Lincoln Mark IV, so groß wie ein Kabinenkreuzer, fuhr genau auf der Mitte der Straße. Ho gan drückte auf die Hupe und schwenkte nach rechts, spürte den Sog des Sandes an den Reifen und spürte, wie er hilflos die Zähne fletschte. Als er schon überzeugt war, das entgegenkommende Fahr zeug würde ihn in den Straßengraben drängen, schwenkte der Lincoln gerade soweit auf seine eigene Fahrbahn zurück, daß Hogan daran vorbeikam. Er glaubte, ein metallisches Schaben zu hören, als seine Heckstoßstange die des Mark IV zum Abschied küßte, aber beim konstanten Heulen des Windes bildete er sich das mit ziemlicher Sicherheit nur ein. Aber den Fahrer, den konnte er ganz kurz erkennen — einen alten, kahlen Mann, der stocksteif hinter dem Lenkrad saß und mit einem konzentrierten Blick, der schon ans Manische grenzte, in den Flugsand starrte. Hogan schüttelte die Faust nach ihm, aber der alte Tattergreis sah nicht einmal her. Hat wahrscheinlich nicht einmal bemerkt, daß ich da war. 24
dachte Hogan, geschweige denn, wie nahe er dran war, mich zu ram men. Für einige Sekundenbruchteile sah es dennoch verdächtig so aus, als würde er trotzdem von der Straße abkommen. Er merkte wie der Sand noch heftiger an den rechten Reifen zerrte und wie der Wagen zu schlingern drohte. Er wollte das Lenkrad instinktiv nach links reißen. Statt dessen gab er Gas und lenkte den Wagen geradeaus, während er spürte, wie Schweiß sein letztes gutes Hemd unter den Achseln tränkte. Schließlich ließ der Sog an den Reifen nach und er hatte wieder die Kontrolle über das Fahrzeug. Hogan atmete lange und seufzend aus. »Echt gut gefahren, Mann.« Er hatte sich so sehr konzentriert, daß er seinen Beifahrer ganz vergessen hatte, und verriß in seiner Überraschung das Lenkrad fast ganz nach links, was sie wieder in Schwierigkeiten gebracht hätte. Er drehte sich um und stellte fest, daß der blonde Junge ihn beobachtete. Seine graugrünen Augen leuchteten beunruhigend; sie machten ganz und gar keinen verschlafenen Eindruck. »War nur Glück«, sagte Hogan. »Wenn es eine Stelle gäbe, wo man rechts ranfahren kann, würde ich es tun, aber ich kenne die Strecke. Entweder wir halten bei Sammy's oder gar nicht. Wenn wir das Vorgebirge erreicht haben, wird es besser.« Er verkniff sich die Bemerkung, daß sie wahrscheinlich drei Stunden brauchen würden, um die siebzig Meilen von hier bis zu Sammy's zurückzulegen. »Sie sind Geschäftsmann, richtig?« »Stimmt.« Er wünschte sich, der Junge würde nicht reden. Er mußte sich aufs Fahren konzentrieren. Weiter vorn tauchten Nebelscheinwer fer wie gelbe Gespenster in der Düsternis auf. Ihnen folgte ein Iroc Z mit einem Nummernschild aus Kalifornien. Der Dodge und der Z krochen aneinander vorbei wie alte Damen auf dem Flur ei nes Altersheims. Aus dem Augenwinkel sah Hogan, wie der Jun ge die Zigarette hinter dem Ohr hervorholte und anfing, damit herumzuspielen. Bryan Adams, also wirklich! Warum hatte ihm der Junge einen falschen Namen genannt? Das war wie in einem der alten Filme, die man manchmal noch in der Spätvorstellung sehen konnte, ein Krimi in Schwarzweiß, in dem der Handelsver treter (wahrscheinlich von Ray Milland gespielt) den harten jun gen Burschen mitnimmt (sagen wir, von Nick Adams gespielt), 25
der gerade in Gabbs oder Deeth oder sonstwo aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. . . »Was verkaufen Sie denn, Amigo?« »Etiketten.« »Etiketten?« »Ganz recht. Mit dem universellen Preiscode. Das ist ein klei nes Kästchen mit einer bestimmten Anzahl von schwarzen Stri chen darauf.« Der Junge überraschte Hogan, indem er nickte. »Klar — die zie hen sie dann im Supermarkt über ein elektronisches Auge, und dann erscheint der Preis wie durch Zauberei in der Registrierkas se, richtig?« »Ja. Aber es ist keine Zauberei und kein elektronisches Auge. Es handelt sich um ein Laser-Lesegerät. Die verkaufe ich auch. Die großen und die tragbaren.« »Tolles Geschäft. Amigo-Schatz.« Der sarkastische Unterton in der Stimme des Jungen war verhalten — aber er war da. »Bryan?« »Ja?« »Mein Name ist Bill, nicht Mann, nicht Amig o und schon gar nicht Amigo-Schatz.« Er wünschte sich immer mehr, er könnte die Zeit zurückdrehen und auf dem Parkplatz von Scooter's einfach nein sagen, wenn ihn der Junge fragte, ob er mitfahren durfte. Die Scooters waren keine schlechten Menschen; sie hätten den Jungen bei sich behal ten, bis der Sturm zu Ende war. Vielleicht hätte Mrs. Scooter ihm sogar fünf Scheinchen gegeben, damit er auf die Tarantel, die Klapperschlangen und Wolf aufpaßte, den sensationellen Koyo tenmischling aus Minnesota<. Hogan gefielen die graugrünen Au gen immer weniger. Er spürte ihr Gewicht auf seinem Gesicht wie kleine Steine. »Klar — Bill. Bill der Etiketten-Amigo.« Bill antwortete nicht. Der Junge verschränkte die Finger inein ander und ließ die Knöchel knacken. »Nun, wie meine alte Mama zu sagen pflegte — ist vielleicht nichts Besonderes, aber man kann davon leben. Richtig, Etiketten» Amigo?« Hogan grunzte etwas Unverbindliches und konzentrierte sich aufs Fahren. Das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, war zur Gewißheit geworden. Als er damals das Mädchen mitgenommen 26
hatte, hatte Gott ihn verschont. Bitte, betete er. Noch einmal, okay, lieber Gott? Noch besser — mach doch, daß ich mich in diesem Jungen täusche — bitte mach, daß es nur Paranoia ist, hervorgerufen vom niede ren Luftdruck, vom Sturm und vom Zufall eines Namens, der vielleicht gar nicht so ungewöhnlich ist. Aus der anderen Richtung kam ein riesiger Truck von Mack, dessen silberne Dogge auf dem Kühler in den Flugsand zu spähen schien. Hogan scherte nach rechts aus, bis er spürte, wie der Sand am Straßenrand wieder gierig an seinen Reifen saugte. Der lange silberne Hänger des Mack, verdeckte alles auf Hogans linker Sei te. Er war nur fünfzehn Zentimeter entfernt — vielleicht noch we niger — und schien endlos lang zu sein. Als er schließlich vorbei war, fragte der blonde Junge: »Sieht so aus, als würden Sie nicht schlecht verdienen, Bill — eine Kiste wie die muß Sie mindestens dreißig Riesen gekostet haben. Also war um ...« »Soviel war es gar nicht.« Hogan wußte nicht, ob >Bryan Adams< den nervösen Unterton in seiner Stimme hören konnte, aber er, Hogan, konnte es eindeutig. »Ich habe viel selbst gemacht.« »Trotzdem machen Sie nicht den Eindruck, als liefen Sie hung rig herum. Also warum fliegen Sie nicht und ersparen sich die ganze Scheiße hier unten?« Das war eine Frage, die sich Hogan manchmal selbst auf den langen, einsamen Strecken zwischen Tempe und Tucson oder Las Vegas und Los Angeles stellte, eine Frage, die man sich stellen mußte, wenn man im Radio nichts außer beschissenen Synthipop oder fadenscheinigen Oldies finden konnte, wenn man die letzte Cassette des aktuellen Bestsellers von Recorded Books gehört hat te, und wenn es nichts zu sehen gab, außer meilenweit Wüsten und Brachland, die samt und sonders Onkel Sam gehörten. Er konnte sagen, daß er ein besseres Gefühl für seine Kunden bekam, wenn er durch das Land fuhr, indem sie lebten und ihre Waren verkauften. Das stimmte zwar, aber es war nicht der Grund. Er konnte sagen, daß die Überprüfung seiner Musterboxen, die so unhandlich waren, daß sie nicht unter einen Flugzeugsitz paßten, ein Ärgernis war. Und darauf zu warten, daß sie am Zielort vom Gepäckförderband rollten, war stets ein Abenteuer (einmal war eine Kiste mit fünftausend Etiketten für alkoholfreie Getränke in Hilo, Hawaii, statt in Hillside, Arizona, ausgeladen worden). Auch das stimmte, aber auch das war nicht der Grund. 27
Der Grund war, daß er sich 1982 an Bord eines Linienflugzeugs der Western Pride befunden hatte, das im Hochland, siebzehn Meilen von Reno entfernt, abgestürzt war. Sechs der neunzehn Passagiere und die beiden Besatzungsmitglieder waren ums Le ben gekommen. Er hatte vier Monate im Bett und weitere zehn in einem schweren Gips verbringen müssen, den seine Frau Lita als Eiserne Jungfrau bezeichnete. Sie (wer immer sie sein mochten) behaupteten ja, wenn man von einem Pferd abgeworfen wurde, sollte man sofort wieder aufsteigen. William I. Hogan hielt das für Blödsinn, und abgesehen davon, daß er ein einziges Mal mit zwei Valium im Leibe und mit weißen Knöcheln zur Hochzeit seines Bruders nach Oakland geflogen war, hatte er nie wieder ein Flug zeug betreten. Er erwachte ruckartig aus diesen Gedanken und stellte zweier lei fest: seit der Mack vorbei war, hatte er die Straße wieder für sich, und der Junge sah ihn immer noch mit diesen beunruhi genden Augen an und wartete darauf, daß er die Frage beant wortete. »Ich hatte einmal ein schlimmes Erlebnis auf einem Linien flug«, sagte er. »Seitdem halte ich mich an Verkehrsmittel, wo man auf die Standspur gehen kann, wenn der Motor aussetzt.« »Sie haben wirklich eine Menge schlimme Erlebnisse gehabt, Amigo Bill«, sagte der Junge. Seine Stimme nahm einen gespiel ten Tonfall des Bedauerns an. »Und es tut mir echt leid, aber jetzt werden Sie wieder eins haben.« Ein schneidendes metallisches Klicken — Hogan drehte sich zur Seite und stellte, ohne über rascht zu sein, fest, daß der Junge ein Klappmesser mit einer fun kelnden, zwanzig Zentimeter langen Klinge in der Hand hielt. O Scheiße, dachte Hogan. Jetzt, da es tatsächlich passiert war, hatte er keine große Angst. Er fühlte sich nur müde.O Scheiße, und nur vierhundert Meilen von zu Hause entfernt. Verdammt. »Fahr rechts ran, Amigo Bill. Und schön langsam.« »Was willst du?« »Wenn Sie die Antwort darauf nicht wissen, sind Sie noch dümmer als Sie aussehen.« Ein verhaltenes Lächeln umspielte die Mundwinkel des Jungen. Die selbstgemachte Tätowierung auf dem Arm des Jungen wackelte, als sich die Muskeln darunter be wegten. »Ich will Ihre Knete, und ich schätze, ich will auch Ihr fahrbares Hurenhaus, jedenfalls für eine Weile. Aber machen Sie sich keine Sorgen — nicht weit von hier liegt eine kleine Raststät 28
te Sammy's. Nahe am Highway. Irgendwer wird Sie mitnehmen. Die Leute, die nicht anhalten, werden Sie natürlich ansehen, als hätten Sie Hundescheiße an den Füßen, und wahrscheinlich wer den Sie ein bißchen betteln müssen, aber ich bin sicher, schließlich nimmt Sie doch jemand mit. Und jetzt fahren Sie rechts ran.« Hogan stellte ein wenig überrascht fest, daß er nicht nur Mü digkeit, sondern auch Zorn verspürte. War er auch damals zornig gewesen, als ihm das Straßenmädchen die Brieftasche abgenom men hatte? Er konnte sich wirklich nicht mehr erinnern. »Komm mir nicht mit der Scheiße«, sagte er und drehte sich zu dem Jungen um. »Ich habe dich mitgenommen, als du darauf an gewiesen warst, und ich hab dich nicht betteln lassen. Wenn ich nicht wäre, würdest du immer noch mit ausgestreckten Daumen Sand schlucken. Also steck das Ding weg. Wir ...« Plötzlich stieß der Junge mit dem Messer zu, und Hogan ver spürte sengende Schmerzen in der rechten Hand. Der Wagen scherte aus und kam ins Schleudern, als er wieder über eine der Bremskuppen aus Sand fuhr. »Rechts ran hab ich gesagt. Entweder gehst du zu Fuß, Etiket ten-Amigo, oder du liegst mit durchgeschnittener Kehle und ei nem deiner Etikettenleser im Arsch im nächsten Straßengraben. Und willst du noch was wissen? Ich werde von hier bis Los An geles kettenrauchen, und jedesmal, wenn ich mit einer Ziga rette fertig bin, drück ich sie auf deinem Scheißarmaturenbrett aus.« Hogan betrachtete seine Hand und sah eine diagonale blutige Linie, die sich vom Knöchel des kleinen Fingers bis zum Daumen ansatz zog. Und da war wieder der Zorn — aber jetzt war es re gelrechte Wut, und falls die Müdigkeit auch noch da war, war sie irgendwo in der Mitte dieses irrationalen roten Auges verborgen. Er versuchte, im Geiste ein Bild von Lita und Jack zu beschwören, bevor ihn dieses Gefühl überwältigte und er etwas Verrücktes tat, aber die Bilder blieben verschwommen und unscharf. Er hatte ein klares Bild vor Augen, aber das war das falsche — es war das Ge sicht des Mädchens am Stadtrand von Tonopah, des Mädchens mit dem höhnischen Mund unter den traurigen Waisenaugen, des Mädchens, das Leck mich, Süßer gesagt hatte, bevor sie ihm mit seiner eigenen Brieftasche ins Gesicht schlug. Er trat auf das Gaspedal, und der Wagen beschleunigte. Die ro te Nadel stieg auf dreißig. 29
Der Junge sah überrascht aus, dann verwirrt, dann wütend. »Was machst du da? Ich hab gesagt, du sollst rechts ran fahren! Willst du deine Eingeweide auf dem Schoß sehen, oder was?« »Weiß nicht«, sagte Hogan. Er ließ den Fuß auf dem Gas. Inzwi schen zitterte die Nadel dicht über vierzig. Der Wagen rollte über einige Sandverwehungen und schlotterte wie ein Hund mit Fie ber. »Was willst du denn, Junge? Wie wäre es mit einem gebroche nen Genick? Dazu brauche ich nur das Lenkrad zu drehen. Ich ha be meinen Sicherheitsgurt angelegt. Wie ich sehe, hast du das ver gessen.« Die graugrünen Augen des Jungen waren jetzt riesig, eine Mi schung aus Angst und Wut glitzerte darin. Du sollst rechts ran fahren, sagten diese Augen. So läuft das, wenn ich ein Messer ha be — weißt du das denn nicht? »Sie werden uns nicht von der Straße steuern«, sagte der Junge, aber Hogan fand, er versuchte, sich selbst zu überzeugen. »Warum nicht?« Hogan drehte sich wieder zu dem Jungen um. »Schließlich bin ich ziemlich sicher, daß mir nichts passieren wird, und der Wagen ist versichert. Du machst einen Abgang, Arsch loch. Wir findest du das?« »Du ...« begann der Junge, aber dann riß er die Augen auf und verlor das Interesse an Hogan. »Paß auf!« schrie er. Hogan riß den Kopf herum und sah vier Scheinwerfer, die durch die Staubschleier auf ihn zugerast kamen. Ein Tanklaster, wahr scheinlich voll Benzin oder Propan. Die Hupe plärrte durch die Luft wie eine gigantische, wütende Gans: WONK! WONK! WOOOONK! Der Wagen war ins Schleudern geraten, während Hogan sich mit dem Jungen beschäftigt hatte, und befand sich jetzt halb auf der Gegenfahrbahn. Er riß das Lenkrad fest nach rechts, obwohl er wußte, es würde nichts nutzen, es war schon zu spät. Aber der entgegenkommende Laster wich ebenfalls aus, genau so, wie Ho gan ausgewichen war, um den Mark IV durchzulassen. Die beiden Fahrzeuge tanzten durch den wirbelnden Sand, und nicht einmal eine Handbreit Platz war mehr zwischen ihnen. Hogan spürte, wie die rechten Reifen wieder in den Sand gerieten, und wußte, dieses Mal hatte er nicht die geringste Chance, den Wagen auf der Straße zu halten — nicht bei über vierzig Meilen. Als die vage Form des großen Edelstahltanks (CARTERS FARMBEDARF & KUNSTDÜN GER stand auf der Seite) passiert war, spürte er, wie das Lenkrad sich in seinen Händen verselbständigte und weiter nach rechts 30
zog. Und aus dem Augenwinkel sah er, wie sich der Junge mit dem Messer nach vorne beugte. Was ist los mit dir, bist du verrückt ? wollte er den Jungen anschrei en, aber das wäre eine dumme Frage gewesen, selbst wenn er Zeit gehabt hätte, sie auszusprechen. Klar war der Junge verrückt — man brauchte nur einen Blick in diese graugrünen Augen zu wer fen, um das zu wissen. Hogan selbst mußte verrückt gewesen sein, daß er den Jungen überhaupt mitgenommen hatte. Aber das alles spielte jetzt keine Rolle mehr; er mußte hier mit einer Situa tion fertig werden, und wenn er sich den Luxus gönnte zu glau ben, dies alles könnte ihm nicht zustoßen — wenn er auch nur ei ne Sekunde zuließ, daß er das dachte —, dann würde man ihn wahrscheinlich morgen oder übermorgen mit durchgeschnittener Kehle und von Bussarden ausgepickten Augen finden. Dies stieß ihm tatsächlich zu; es war die Wirklichkeit. Der Junge gab sich große Mühe, Hogan die Klinge in den Hals zu stoßen, aber da kippte der Wagen schon und geriet immer tie fer in den sandgefüllten Graben. Hogan wich der Klinge aus, ließ das Lenkrad ganz los und glaubte, er wäre dem Messer entkom men, bis er spürte, wie die nasse Wärme von Blut seinen Hals tränkte. Das Messer hatte ihm die rechte Wange von der Schläfe bis zum Kiefer aufgeschlitzt. Er fuchtelte mit der rechten Hand und versuchte, das Handgelenk des Jungen zu fassen zu bekom men, und dann prallte der linke Vorderreifen auf einen Felsen, so groß wie eine Telefonzelle, und der Wagen wurde hochgeschleu dert wie ein Stuntfahrzeug in einem Film, der diesem entwurzel ten Jugendlichen zweifellos gut gefallen hätte. Er flog durch die Luft, alle vier Räder drehten sich und fuhren laut Tacho immer noch vierzig Meilen, Hogan spürte, wie ihm der Sicherheitsgurt schmerzhaft Brust und Bauch einschnürte. Es war, als müßte er den Flugzeugabsturz noch einmal durchleben — und heute, wie damals, bekam er nicht in den Kopf, daß es tatsächlich passierte. Der Junge, der noch das Messer hielt, wurde hoch und vorwärts geschleudert. Er stieß sich den Kopf am Wagendach, als Boden und Decke die Plätze tauschten. Hogan sah ihn hektisch mit der linken Hand rudern und stellte zu seiner Verblüffung fest, daß der Junge immer noch versuchte, nach ihm zu stechen. Er war wirklich eine Klapperschlange, da hatte Hogan schon recht gehabt, aber niemand hatte ihm die Giftdrüsen gemolken. Dann prallte der Wagen auf den Wüstenboden, der Dachgepäck 31
träger wurde abgerissen und der Kopf des Jungen stieß wieder gegen das Dach, dieses Mal viel härter. Das Messer fiel ihm aus der Hand. Der Schrank im hinteren Teil des Wagens klappte auf, Musteretiketten und Laserlesegeräte flogen durch den Innenraum. Hogan bekam das unmenschliche Kreischen am Rande mit — das langgezogene, schrille Knirschen, als das Dach des XRT auf der anderen Seite des Straßengrabens über den körnigen Wüstensand rutschte — und dachte: So muß es sein, wenn man sich in einer Konser vendose befindet und jemand den elektrischen Dosenöffner ansetzt. Die Windschutzscheibe zerschellte und brach wie ein bröckelndes Schild mit einer Million zickzackförmigen Rissen nach innen. Hogan kniff die Augen zu und hob die Hände, um sein Gesicht zu schützen, während der Wagen sich nochmals überschlug und ge rade lange genug auf Hogans Seite aufsetzte, daß auch das Sei tenfenster barst und ein Hagel Kies und Sand herein geschleudert wurden, bevor das Fahrzeug sich wieder aufrichtete. Es schwank te, als wollte es auf der Seite des Jungen umkippen — und dann blieb es liegen. Hogan blieb etwa fünf Sekunden reglos, wo er war, hatte die Augen aufgerissen, umklammerte mit den Händen die Armleh nen seines Sitzes und kam sich vor wie Captain Kirk nach einem Angriff der Klingonen. Er war sich bewußt, daß er eine Menge Sand und Glasscherben im Schoß liegen hatte, und noch etwas, aber was dieses Etwas war, wußte er nicht. Er merkte auch, daß der Wind noch mehr Sand durch die zerschellten Fenster herein wehte. Dann raubte ihm kurz ein schneller Gegenstand die Sicht. Bei diesem Gegenstand handelte es sich um fleckige weiße Haut, braunen Sand, aufgeschürfte Knöcheln und rotes Blut. Es war ei ne Faust, die Hogan genau auf die Nase traf. Der Schmerz stellte sich augenblicklich und intensiv ein, als hätte ihm jemand eine Leuchtkugel direkt ins Gehirn geschossen. Einen Moment war sein Sehvermögen völlig dahin, von einem weißen Blitz verschluckt. Es stellte sich gerade wieder ein, als die Hand des Jungen sich plötzlich um seinen Hals krallte und er nicht mehr atmen konnte. Der Junge, Mr. Bryan Adams aus Nirgendwo, USA, beugte sich über die Konsole zwischen den Vordersitzen. Blut aus einem run den halben Dutzend Kopfverletzungen war ihm über Wangen und Stirn und Nase geflossen wie eine Kriegsbemalung. Die grau grünen Augen sahen Hogan voll starrer, irrer Wut an. 32
»Sieh nur, was du getan hast, du Arsch!« schrie der Junge. »Sieh dir an, was du mit mir gemacht hast!« Hogan versuchte zurückzuweichen und bekam halb Luft, als der Griff des Jungen sich für einen Moment lockerte, aber da der Sicherheitsgurt noch geschlossen war — und noch eingerastet, wie es schien —, konnte er nicht ausweichen. Die Hände des Jun gen griffen wieder zu, und diesmal lagen die Daumen auf Hogans Luftröhre und drückten sie zu. Hogan versuchte, selbst die Hände zu heben, aber die Arme des Jungen waren starr wie Gitterstäbe und hinderten ihn. Er ver suchte, die Arme des Jungen wegzuschlagen, aber sie gaben nicht nach. Jetzt konnte er noch einen Wind hören — einen schrillen, heulenden Wind in seinem eigenen Kopf. »Sieh nur, was du angerichtet hast, du blödes Arschloch! Ich blute!« Die Stimme des Jungen, aber weiter entfernt als vorher. Er bringt mich um, dachte Hogan, und eine Stimme antwortete: Ganz recht —- leck mich, Süßer. Das brachte die Wut zurück. Er tastete im Schoß nach dem, was da lag, außer Sand und Glas. Es war eine Papiertüte mit einem unhandlichen Gegenstand darin — Hogan konnte sich nicht ge nau erinnern, was es war. Hogan schloß die Hand darum und rammte die Faust senkrecht auf den Kiefer des Jungen. Er traf ihn mit einem dumpfen Laut. Der Junge schrie vor Schmerz und Über raschung, und der Druck um Hogans Hals verschwand plötzlich, als er nach hinten kippte. Hogan holte tief und krampfhaft Luft und hörte ein Geräusch wie ein Teekessel, der auf der Herdplatte pfeift. Bin ich das, der die ses Geräusch macht?Mein Gott, bin ich das? Er holte noch einmal Luft. Sie war voller Flugsand, tat ihm im Hals weh und brachte ihn zum Husten, aber sie kam ihm den noch vor wie der Himmel. Er blickte auf seine Hände hinab und sah die Umrisse der Klapperzähne deutlich in der braunen Papier tüte. Und plötzlich spürte er, wie sie sich bewegten. Diese Bewegung hatte etwas so erschreckend Menschliches an sich, daß Hogan aufschrie und die Tüte fallen ließ; es war, als hät te er einen menschlichen Kieferknochen angefaßt, der versuchte, mit seiner Hand zu sprechen. Die Tüte fiel auf den Rücken des Jungen und polterte dann auf den Teppichboden des Wagens, während >Bryan Adams< sich be 33
nommen auf die Knie aufrichtete. Hogan hörte das Gummiband reißen — und dann das unmißverständliche Klicken und Schep pern der Zähne selbst, die auf- und zuklappten. Außerdem ist wahrscheinlich nur ein Zahnrad verbogen, hatte Scoo ter gesagt. Ich glaube, ein Mann mit etwas handwerklichem Geschick könnte sie wieder zum Laufen und Schnappen bringen. Möglicherweise reicht auch nur ein kräftiger Stoß aus, dachte Ho gan. Wenn ich dies überlebe und jemals dorthin zurückkehre, muß ich Scooter sagen, daß man nur sein Auto in den Straßengraben fahren und die Klapperzähne dann benützen muß, um einen psychopathischen An halter damit zu schlagen, der versucht, einen zu erwürgen, damit sie wieder funktionieren; so einfach ist das, selbst ein Kind würde es fertig bringen. Die Zähne klapperten und klickten in der zerrissenen braunen Tüte, deren Seiten flatterten, so daß sie aussah wie eine amputier te Lunge, die sich weigerte, zu sterben. Der Junge kroch von der Tüte weg, ohne sie auch nur anzusehen. Er kroch in den rückwär tigen Teil des Lieferwagens und schüttelte den Kopf von einer Sei te auf die andere, um ihn zu klären. Winzige Blutströpfchen reg neten aus seinem verfilzten Haar. Hogan tastete nach dem Verschluß des Sicherheitsgurts und drückte darauf. Nichts tat sich. Das Quadrat in der Mitte der Schnal le gab keinen Millimeter nach; der Gurt war immer noch fest zu geschnürt wie verkrampft, schnitt in den altersbedingten Rettungs ring über dem Hosenbund und zog ihm eine harte Diagonale über die Brust. Er versuchte, sich auf dem Sitz hin und her zu wiegen und hoffte, das würde den Gurt lösen. Der Blutstrom von seinem Ge sicht nahm zu und er spürte, wie seine Wange hin und her klatsch te wie ein Streifen abgerissener Tapete; aber das war auch alles. Er spürte Panik, die durch die Fassungslosigkeit seines Schocks dringen wollte, und drehte den Kopf über die rechte Schulter, um festzustellen, was der Junge im Schilde führte. Wie sich herausstellte, nichts Gutes. Er hatte sein Messer im hinteren Teil des Wagens erspäht, wo es auf einem Haufen von Gebrauchsanweisungen und Broschüren lag. Er ergriff es, schüt telte das Haar aus dem Gesicht und sah seinerseits über die Schulter zu Hogan. Er grinste, und dieses Grinsen hatte etwas an sich, bei dem sich Hogans Eier gleichzeitig zusammenzogen und verschrumpelten, bis es schien, als hätte ihm jemand zwei Pfir sichkerne in die Unterhose gesteckt. 34
Ah, da haben wir es ja! sagte das Grinsen des Jungen. Einen oder zwei Augenblicke habe ich mir Sorgen gemacht — richtig Sorgen — aber jetzt wird doch noch alles gut. Eine Zeitlang haben wir ein bißchen im provisiert, aber jetzt halten wir uns wieder genau ans Drehbuch. »Sitzt du fest, Etiketten-Amigo?« fragte der Junge über das konstante Heulen des Windes hinweg. »So ist es, richtig? Ein Glück, daß du dich angeschnallt hattest, ric htig? Glück für mich.« Der Junge versuchte aufzustehen; er hätte es beinahe geschafft, doch dann gaben seine Knie nach. Ein Ausdruck so übertriebener Überraschung, daß er unter anderen Umständen komisch gewirkt hätte, huschte über sein Gesicht. Dann schüttelte er sich wieder das blutige, fettige Haar aus dem Gesicht und kroch auf Hogan zu, mit der linken Hand den imitierten Beingriff des Messers um klammernd. Seine Tätowierung waberte bei jeder Bewegung sei nes kümmerlichen Bizeps und erinnerte Hogan daran, wie die Worte auf Myras T-Shirt — NEVADA IST GOTTES LAND — ge schaukelt hatten, wenn sie sich bewegte. Hogan packte die Schnalle des Sicherheitsgurts mit beiden Händen und drückte die Daumen so enthusiastisch auf den Druck knopf, wie der Junge ihm seine auf die Luftröhre gedrückt hatte. Absolut keine Reaktion. Der Gurt saß fest. Hogan drehte wieder den Kopf und sah zu dem Jungen. Der Junge war bis zu dem Klappbett gekommen, dort hielt er inne. Der komisch übertriebene, überraschte Ausdruck stand ihm wieder ins Gesicht geschrieben. Er sah starr geradeaus, was be deutete, er betrachtete etwas auf dem Boden, und Hogan fielen plötzlich wieder die Zähne ein. Sie klapperten immer noch auf dem Boden. Er sah selbst hin und bekam gerade noch mit, wie die JumboKlapperzähne auf ihren komischen orangefarbenen Schuhen aus der Papiertüte marschierten. Die Backenzähne und Fangzähne und Schneidezähne zuckten hektisch auf und ab und erzeugten ein Geräusch wie Eis in einem Cocktailshaker. Die Schuhe mit ih ren blütenweißen Gamaschen schienen förmlich auf dem Boden zu hüpfen. Hogan mußte an Fred Astaire denken, der auf der Büh ne steppte, Fred Astaire mit einem Stock unter dem Arm und ei nem keck schräg über ein Auge gezogenen Strohhut. »O Scheiße!« sagte der Junge halb lachend. »Hast du da hinten darum gefeilscht, Etiketten-Amigo? O Mann! Wenn ich dich platt mache, tu ich der Welt einen Gefallen!« 35
Der Schlüssel, dachte Hogan. Der Schlüssel an den Zähnen, mit dem man sie aufzieht — er dreht sich nicht! Und dann hatte er wieder eine dieser hellseherischen Vorah nungen: er wußte genau, was passieren würde. Der Junge würde danach greifen. Die Zähne hörten unvermittelt auf zu laufen und zu klappern. Sie standen einfach auf dem leicht schrägen Boden des Wagens, und die Kiefer klafften ein Stück auseinander. Obwohl sie keine Augen hatten, schienen sie fragend zu dem Jungen aufzuschauen. »Klapperzähne«, sagte Mr. Bryan Adams aus Nirgendwo, USA, staunend. Er streckte den Arm aus und legte die rechte Hand dar um, wie Hogan es vorhergesehen hatte. »Beiß ihn!« kreischte Hogan. »Beiß ihm seine Scheißfinger ab.'« Der Junge hob ruckartig den Kopf und sah mit verblüfften grau grünen Augen auf. Er schaute Hogan einen Augenblick fassungs los an — mit dem übertriebenen Ausdruck völliger, ungläubiger Überraschung — und dann fing er an zu lachen. Sein Lachen klang hoch und schrill, ein perfekter Gegensatz zum Wind, der durch den Wagen heulte und die Vorhänge bauschte wie lange Geisterfinger. »Beiß mich! Beiß mich! Beiß mich!« sang er, als wäre das die Pointe des komischsten Witzes, den er je gehört hatte. »He, Eti ketten-Amigo, ich hab gedacht, ich wäre es, der sich den Kopf ge stoßen hat!« Der Junge klemmte den Griff des Klappmessers zwischen seine eigenen Zähne und steckte den Zeigefinger der linken Hand zwi schen die Jumbo-Klapperzähne. »Ei/? ich!« sagte er um das Messer herum. Er kicherte und bewegte den Finger zwischen den zu groß geratenen Kiefern. »Eiß ich! 0 doch, eiß ich!« Die Zähne bewegten sich nicht. Ebenso wenig die orangefarbe^ nen Füße. Hogans Vorahnung löste sich in Luft auf wie Träume beim Erwachen. Der Junge bewegte noch einmal den Finger zwi schen den Klapperzähnen, zog ihn heraus ... und dann schrie er was die Lungen hergaben. »O Scheiße! SCHEISSE! Elendes MIST STÜCK!« Einen Augenblick schlug Hogans Herz in der Brust schneller, aber dann wurde ihm klar, der Junge schrie zwar, aber in Wirk lichkeit lachte er. Lachte ihn aus. Die Zähne waren die ganze Zeit vollkommen reglos geblieben. Der Junge hob die Zähne hoch, um sie eingehender zu betrach 36
ten während er das Messer wieder ergriff. Er wedelte mit der Klinge vor den Zähnen wie ein Lehrer mit dem Zeigestock vor ei nem ungezogenen Schüler. »Ihr sollt nicht beißen«, sagte er. »Das ist nicht die feine...« Einer der orangefarbenen Füße machte plötzlich auf der schmut zigen Handfläche des Jungen einen Schritt vorwärts. Gleichzeitig klappten die Kiefer auf, und bevor Hogan richtig mitbekam, was da vor sich ging, hatten die Zähne in die Nase des Jungen gebis sen. Dieses Mal war der Schrei von Bryan Adams echt — ein Schrei des Schmerzes und unvorstellbarer Überraschung. Er schlug mit der rechten Hand nach den Zähnen und wollte sie abschütteln, aber sie hatten sich so fest um die Nase des Jungen geschlossen wie der Sicherheitsgurt um Hogans Leibesmitte. Blut und Stränge zerfetzten Knorpels platzten zwischen den Schneidezähnen her vor. Der Junge schnellte wie ein Klappmesser rückwärts, und ei nen Augenblick konnte Hogan nur seinen stürzenden Körper, ru dernde Arme und zappelnde Füße erkennen. Dann sah er das Messer funkeln. Der Junge schrie wieder und schnellte in eine sitzende Haltung. Das lange Haar war ihm wie ein Vorhang vors Gesicht gefallen; die zusammengebissenen Zähne ragten daraus hervor wie das Ruder eines seltsamen Bootes. Dem Jungen war es irgendwie ge lungen, das Messer zwischen die Zähne und die Überreste seiner Nase zu zwängen. »Töte ihn!« schrie Hogan heiser. Er hatte den Verstand verloren; auf einer Ebene war ihm klar, daß er den Verstand verloren haben mußte, aber vorerst spielte das gar keine Rolle. »Los doch. Töte ihn!« Der Junge kreischte — ein langgezogener, schriller Laut — und drehte das Messer. Die Klinge brach, aber zuvor gelang es ihr, die körperlosen Kiefer zumindest teilweise auseinanderzudrücken. Die Zähne fielen vom Gesicht in seinen Schoß. Der größte Teil sei ner Nase fiel mit ihnen ab. Der Junge schüttelte das Haar zurück. Die graugrünen Augen schielten und versuchten, den verstümmelten Stumpf in seinem Gesicht zu sehen. Der Mund war zu einer Grimasse des Schmer zes verzerrt; die Sehnen am Hals standen wie Taue vor. Der Junge griff nach den Zähnen. Die Zähne wichen behende auf ihren orangefarbenen Trickfilmfüßen zurück. Es stapfte auf und ab, marschierte auf der Stelle und grinste zu dem Jungen auf, 37
der jetzt mit dem Hintern auf den Waden hockte. Blut tränkte die Vorderseite seines T-Shirts. Der Junge sagte etwas, das Hogan in seiner Überzeugung be stärkte, daß er, Hogan, den Verstand verloren hätte; nur in einem Alptraum konnten solche Worte gesprochen werden. »Gib me de Nache zurück, du Michtvieh!« Der Junge griff wieder nach den Zähnen, aber dieses Mal liefen sie unter seiner Hand vorwärts und zwischen seine gespreitzten Beine und dann war ein fleischiges mampf! zu hören, als sie sich in der Wölbung der verwaschenen Jeans gleich unterhalb des Reiß verschlusses verbissen. Bryan Adams riß die Augen weit auf. Ebenso den Mund. Er hob die Hände bis auf Höhe der Schultern und breitete sie weit aus, so daß er einen Moment wie eine seltsame Imitation von AI Jolson aussah, die sich anschickte, »Mammy« zu singen. Das Klappmes ser flog über seine Schulter ins Heck des Wagens.
»Herrgott! Herrgott! Heeaaaa ...« Die orangefarbenen Füße tappten rapide, als tanzten sie einen Highland Fling. Die rosa Kiefer der Jumbo-Klapperzähne nickten emsig auf und ab, als wollten sie ja! ja! ja! sagen, und dann schüt telten sie sich ebenso emsig hin und her, als wollten sie nein! nein! nein! sagen.
»... aaaaaAAAAAAA ...« Als der Hosenstoff des Jungen riß — und wie es sich anhörte, war das nicht das einzige, das riß — verlor Hogan das Bewußt sein. Er kam zweimal zu sich. Das erste Mal mußte er nur kurze Zeit später gewesen sein, weil der Sturm immer noch durch den Wa gen heulte und das Licht fast unverändert war. Er wollte sich um drehen, aber unerträgliche Schmerzen schössen ihm durch den Hals. Schnittwunde, natürlich, und wahrscheinlich nicht so schlimm, wie sie hätte werden können — oder morgen sein wür de, was das betraf. Immer vorausgesetzt, er lebte morgen noch.
Der Junge. Ich muß mich vergewissern, daß er tot ist. Nein, das mußt du nicht. Natürlich ist er tot. Wenn er es nicht wäre, wärst du es. Dann hörte er ein neues Geräusch hinter sich — das unablässi ge Klacker-Klicker-Klacker der Zähne. 38
Sie kommen mich holen. Sie sind mit dem Jungen fertig, aber sie haben och Hunger, und darum kommen sie mich holen. Er drückte mit den Händen wieder auf die Schnalle des Sicher heitsgurts, aber der Verschluß klemmte immer noch hoffnungslos, und er hatte ohnehin keine Kraft mehr in den Händen. Die Zähne kamen immer näher — wie es sich anhörte, waren sie inzwischen direkt hinter dem Sitz angekommen —, und Ho gans verwirrter Verstand las einen Reim in ihr unermüdliches Klappern hinein: Klacker-di-li, Klacker-di-la, wir sind die Zähne und wir sind wieder da! Sieh uns kauen, schau uns zu, wir haben ihn gefres sen, und jetzt kommst du! Hogan machte die Augen zu. Das Klappern verstummte. Jetzt waren nur noch das unablässige Heulen des Windes und das Spick-spack des Sands zu hören, der gegen die verbeulte Seite des Wagens prasselte. Hogan wartete. Nach einer langen, langen Zeit hörte er ein ein zelnes Klick, gefolgt vom leisen Geräusch reißender Fasern. Eine Pause, dann wiederholte sich das Klick und das Reißen. Was machen sie nur? Als er das Klicken und Beißen zum dritten Mal hörte, spürte er, wie sich die Rückenlehne seines Sitzes ein wenig bewegte, und da begriff er. Die Zähne zogen sich zu ihm hoch. Hogan dachte daran, wie die Zähne in den Wulst unter dem Reißverschluß der Jeans des Jungen gebissen hatten und wollte wieder bewußtlos werden. Durch die zertrümmerte Windschutz scheibe wehte Sand herein und kitzelte ihn an Wangen und Stirn. Klick ... risch .,. Klick ... risch ... Klick... risch. Das letzte Mal sehr nahe. Hogan wollte nicht nach unten sehen, aber er konnte nicht anders. Und neben seiner rechten Hüfte, wo das Sitzkissen in die Lehne überging, sah er ein breites, weißes Grinsen. Es bewegte sich quälend langsam nach oben und drückte mit den noch unsichtbaren orangefarbenen Füßen, während es ei ne kleine Falte grauen Bezugs zwischen den Schneidezähnen zer malmte ... dann ließ der Kiefer los und die Zähne ruckten krampf haft ein Stück höher. Danach verbissen sich die Zähne in die Tasche von Hogans Hose, und da verlor er wieder das Bewußtsein.
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Als er zum zweiten Mal zu sich kam, hatte der Wind nachgelas sen und es war fast dunkel; ein unheimlicher purpurner Schim mer hing über der Wüste, den Hogan noch nie vorher gesehen hatte. Die Sandwirbel, die jenseits der eingesunkenen Windschutz scheibe durch die Wüste tanzten, sahen aus wie fliehende Geister kinder. Einen Augenblick wußte er überhaupt nicht, was vorgefallen war, daß er gestrandet hier lag; seine letzte klare Erinnerung war, daß er auf die Benzinanzeige geschaut hatte, und daß sie auf ein Achtel gesunken war, und dann blickte er auf und sah ein Schild am Straßenrand, auf dem stand: SCOOTER'S LEBENSMITTEIXADEN & Zoo — BENZIN • SNACKS • GEKÜHLTES BIER • SEHEN SIE LEBENDE KLAP PERSCHLANGEN! Er begriff, daß er sich eine Zeitlang an diese Amnesie klam mern konnte, wenn er wollte; mit der Zeit würde es seinem Un terbewußtsein vielleicht sogar gelingen, gewisse gefährliche Erin nerungen auf Dauer zu verdrängen. Aber es konnte auch gefähr lich sein, sich nicht zu erinnern. Sehr gefährlich. Weil... Der Wind heulte. Sand prasselte gegen die übel eingedrückte Fahrerseite des Wagens. Es hörte sich fast an wie (Zähne! Zähne! Zähne!) Die zerbrechliche Oberfläche der Amnesie zerplatzte, ließ alles durchströmen, und jegliche Wärme verschwand von der Oberflä che von Hogans Haut. Er stieß ein rostiges Krächzen aus, als er sich an das Geräusch erinnerte (mampf!) das die Klapperzähne von sich gegeben hatten, als sie sich um die Hoden des Jungen schlössen, und da hielt er die Hände über den eigenen Schritt und verdrehte die Augen furchtsam in den Höhlen, während er nach dem amoklaufenden Gebiß Ausschau hielt. Er sah es nicht, aber die Mühelosigkeit, mit der seine Schultern der Bewegung der Hände folgten, war neu. Er sah in den Schoß hinab und nahm langsam die Hände vom Schritt. Der Sicherheits gurt hielt ihn nicht mehr gefangen. Er lag in zwei Teilen auf dem grauen Teppich. Die Metallzunge der Halterung steckte noch in der Schnalle, aber danach kam nur noch zerfetzter Stoff. Der Gurt war nicht durchgeschnitten worden; er war durchgebissen. Er sah in den Rückspiegel und stellte noch etwas fest: die Heck türen des Wagens standen offen, und auf dem grauen Bodenbelag 40
wo der Junge gelegen hatte, war nur noch ein vager roter Umriß zu sehen. Mr. Bryan Adams aus Nirgendwo, USA, war fort. Ebenso wie die Klapperzähne. Hogan stieg langsam aus dem Wagen wie ein alter Mann mit schlimmer Arthritis. Wenn er den Kopf kerzengerade hielt, war es nicht so schlimm — aber wenn er das vergaß und ihn in irgendei ne Richtung drehte, fuhren glühende Bolzen durch seinen Hals, die Schultern und die obere Rückenpartie. Selbst der Gedanke, den Kopf einfach zurückzulegen, war unerträglich. Er ging langsam zum hinteren Ende des Wagens, strich mit der Hand behutsam über die verbeulte Oberfläche und die abblätternde Farbe und hörte und spürte das Glas, das unter seinen Füßen knirschte. Er blieb lange Zeit am hinteren Ende der Fahrerseite stehen. Er hatte Angst, um die Ecke zu gehen. Wenn er es tat, würde er den Jungen vor sich sehen, der auf den Hacken kauerte, das Messer in der linken Hand und dieses leere Grinsen im Ge sicht. Aber er konnte nicht einfach stehen bleiben und den Kopf auf dem verkrampften Hals halten wie eine große Flasche Nitro glycerin, während es um ihn herum dunkel wurde, und so ging Hogan schließlich doch weiter. Niemand. Der Junge war tatsächlich fort. So schien es jedenfalls auf den ersten Blick. Der Wind schwoll noch einmal böig auf und wehte Hogan das Haar um das wunde Gesicht, dann ließ er nach. Als das geschah, hörte er ein schabendes Geräusch, etwa zwanzig Meter hinter dem Wagen. Er sah hin und erblickte die Sohlen der Turnschuhe des Jungen, die gerade über die Kuppe einer Düne verschwanden. Die Turnschuhe bildeten ein schlaffes V. Sie hör ten einen Moment auf, sich zu bewegen, als müßte das, was die Leiche des Jungen zog, etwas ausruhen und neue Kräfte sam meln; dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Plötzlich sah Hogan ein Bild von erschreckender, unerträglicher Klarheit vor seinem geistigen Auge. Er sah die Jumbo-Klapper zähne, die unmittelbar hinter der Düne auf ihren komischen oran gefarbenen Füßen standen; in ihren Gamaschen, die so cool wirk ten, daß die Coolsten der California Raisins dagegen wie Hinter wäldler aus Fargo, North Dakota, aussahen — in diesem elektri sierenden purpurnen Licht, das über dem verlassenen Land west lich von Las Vegas lag. Sie hatten sich in eine dicke Strähne vom blonden Haar des Jungen verbissen. 41
Die Klapperzähne räumten auf. Die Klapperzähne zerrten Mr. Bryan Adams nach Nirgendwo, USA. Hogan drehte sich in die andere Richtung und ging langsam zur Straße, wobei er seinen Nitrokopf starr und gerade auf dem Hals hielt. Er brauchte fünfzehn Minuten, bis er den Straßengraben überwunden hatte, und weitere fünfzehn, bis er jemanden fand, der ihn mitnahm; aber schließlich schaffte er beides. Und wäh rend der ganzen Zeit sah er nicht ein einziges Mal zurück. Neun Monate später, an einem klaren, heißen Sommertag im Juni, kam Bill Hogan zufällig wieder an Scooter's Lebensmittelladen & Zoo vorbei — nur hieß es jetzt »Myra's Raststätte«, und auf dem Schild stand BENZIN • GEKÜHLTES BIER • VIDEOS. Unter dem Schild hing ein Bild von Wolf — oder auch nur Woof —, der den Mond anheulte. Wolf selbst, der erstaunliche Koyotenmischling aus Minnesota, lag in einem Käfig im Schatten der Verandaüber dachung. Er hatte die Hinterbeine weit abgespreizt, und seine Schnauze lag auf den Pfoten. Als Hogan zum Tanken aus dem Wagen stieg, stand er nicht auf. Von den Klapperschlangen und der Tarantel war nichts mehr zu sehen. »Hi, Woof«, sagte er, als er die Treppe hinaufging. Der Bewoh ner des Käfigs drehte sich auf den Rücken und ließ die lange rote Zunge lasziv aus dem Maul hängen, während er zu Hogan auf sah. Im Inneren des Ladens sah es größer und sauberer aus. Zum Teil mochte das daran liegen, daß der Tag draußen nicht so be drohlich wirkte. Aber das war nicht der einzige Grund. Zunächst einmal waren die Fenster geputzt, und das machte schon viel aus. Die Bretter waren durch Pinienpaneele ersetzt worden, die noch frisch und harzig rochen. Eine Snackbar mit fünf Hockern war hinten angebaut worden. Der Schaukasten war noch da, aber die Scherzartikel, die Knallzigaretten, und Dr. Wackys Niespulver waren fort. Der Kasten war mit Videocassetten gefüllt. Auf einem handgeschriebenen Schild stand: FILME FÜR ERWACHSENE IM HIN TERZIMMER, »18 JAHRE SONST KEINE WARE.« Die Frau an der Registrierkasse wandte Hogan das Profil zu, sah auf einen Taschenrechner hinunter und rechnete etwas damit aus. Einen Augenblick war Hogan überzeugt, daß es sich um die Tochter von Mr. und Mrs. Scooter handelte — die weibliche Er 42
gänzung zu den drei Jungen, von denen Mr. Scooter gesprochen hatte Dann hob sie den Kopf und Scooter sah, daß es Mrs. Scoo ter selbst war. Es fiel schwer zu glauben, daß dies die Frau sein könnte deren Mammutbusen fast die Nähte ihres T-Shirts mit der Aufschrift NEVADA IST GOTTES LAND gesprengt hatte, aber sie war es. Mrs. Scooter hatte fünfzig Pfund abgenommen und sich die Haare glänzend walnußbraun gefärbt. Nur die Sonnenfältchen um Mund und Augen waren dieselben. »Haben Sie getankt?« fragte sie. »Hab ich. Für fünfzehn Dollar.« Er gab ihr einen Zwanziger, und sie ließ die Kasse klingeln. »Hat sich viel verändert, seit ich das letzte Mal hier war.« »Richtig, eine Menge Veränderungen, seit Scooter gestorben ist«, stimmte sie zu und zog einen Fünfer aus der Kasse. Sie hielt ihn ihm hin, sah ihn zum ersten Mal richtig an und zögerte. »Sa gen Sie — sind Sie nicht der Mann, der fast ermordet worden wä re, als wir letztes Jahr den Sturm hatten?« Er nickte und hielt ihr die Hand hin. »Bill Hogan.« Sie zögerte nicht, sondern griff einfach über den Tresen und schüttelte seine Hand. Der Tod ihres Mannes schien ihre Verfas sung verbessert zu haben. Vielleicht lag es aber auch nur daran, daß sie nicht mehr darauf warten mußte. »Tut mir leid mit Ihrem Mann. Er schien ein anständiger Kerl zu sein.« »Scoot? Ja, der war 'n guter Mann, bevor er krank wurde«, stimmte sie zu. »Und was ist jetzt mit Ihnen? Wieder ganz ge sund?« Hogan nickte. »Ich mußte etwa sechs Wochen eine Halskrause tragen — und das nicht zum ersten Mal —, aber jetzt geht es mir wieder gut.« Sie betrachtete die Narbe auf seiner rechten Wange. »War er das? Der Junge?« »Ja.« »Hat Sie übel zugerichtet.« »Ja.« »Ich habe gehört, er wurde beim Unfall schwer verletzt und hätte sich zum Sterben in die Wüste geschleppt.« Sie sah Hogan listig an. »Ist das so richtig?« Hogan lächelte verhalten. »Kommt hin, schätze ich.« »J.T. — das ist der Staatspolizist hier — hat gesagt, die Tiere 43
hätten ihn übel zugerichtet. Wüstenratten sind nun mal schreck lich unhöflich.« »Davon verstehe ich nicht besonders viel.« »J. T. hat gesagt, die Mutter des Jungen würd' ihn nicht wieder erkannt haben.« Sie legte eine Hand auf ihren geschrumpften Bu sen und sah ihn aufrichtig an. »Ich will tot umfallen, wenn ich lüge.« Hogan lachte laut. In den Wochen und Monaten nach dem Sturm tat er das immer öfter. Seit jenem Tag hatte er eine andere Vereinbarung mit dem Leben getroffen. »Ein Glück, daß er Sie nicht umgebracht hat«, sagte Mrs. Scoo ter. »Sie sind verdammt knapp davongekommen. Gott muß Sie mögen.« »Scheint so«, stimmte Hogan zu. Er sah zum Videoschaukasten. »Wie ich sehe, führen Sie keine Scherzartikel mehr.« »Die scheußlichen alten Dinger? Bewahre! Das war das erste, nachdem ...« Plötzlich wurden ihre Augen groß. »Ach, du liebe Zeit! Ich hab was, das Ihnen gehört. Ich schätze, wenn ich das ver gesse, kommt Scooter aus dem Grab und spukt bei mir!« Hogan runzelte verwirrt die Stirn, aber die Frau verschwand bereits hinter dem Tresen. Sie stellte sich auf Zehenspitzen und holte etwas von einem hohen Regal über dem Zigarettenfach. Es waren, wie Hogan ohne die Spur von Überraschung feststellte, die Jumbo-Klapperzähne. Die Frau stellte sie neben die Registrier kasse. Hogan betrachtete das starre, unbekümmerte Grinsen mit ei nem umfassenden Gefühl von deja vu. Da standen sie, die größten Klapperzähne der Welt, standen auf ihren komischen orangefar benen Füßen neben der Slim Jim Box, cool wie eine Gebirgsbrise und grinsten zu ihm auf, als wollten sie sagen: Hallo, du da! Hast du mich vergessen? Ich habe DICH nicht vergessen, mein Freund. Ganz und gar nicht. »Ich habe sie am Tag nach dem Sturm auf der Veranda gefun den«, sagte Mrs. Scooter. Sie lachte. »Sieht dem alten Scott ähn lich, Ihnen was zu schenken und es dann in eine Tüte zu stecken, die ein Loch hat. Ich wollte es wegwerfen, aber er hat gesagt, er hätte es Ihnen geschenkt und ich sollte es irgendwo aufbewahren. Er hat gesagt, ein Handelsvertreter wie Sie würde wahrscheinlich wieder mal hier vorbeikommen. Und da sind Sie.« »Ja«, stimmte Hogan zu. »Da bin ich.« 44
Er nahm die Klapperzähne und streckte den Finger zwischen die leicht geöffneten Kiefer. Er strich mit der Fingerkuppe über die Backenzähne und hörte im Geiste den Jungen, Mr. Bryan Adams aus Nirgendwo, USA, singen: Beiß mich! Beiß mich! Beiß mich! Waren die hinteren Zähne immer noch mit dem dunklen Blut des Jungen verschmiert? Hogan glaubte, ganz hinten etwas zu se hen, aber möglicherweise war es nur ein Schatten. »Ich habe es aufgehoben, weil Scooter sagte, Sie hätten einen Jungen.« Hogan nickte. »Stimmt.« Und, dachte er, dieser Junge hat noch ei nen Vater. Den Grund dafür halte ich hier in der Hand. Die Frage ist, sind die Zähne auf ihren kleinen Füßen bis hierher zurückgewandert, weil hier ihr Zuhause ist — oder weil sie irgendwie wußten, was auch Scooter wußte? Daß ein Handelsvertreter früher oder später immer wie der dahin zurückkehrt, wo er einmal gewesen ist, so wie ein Mörder an geblich immer wieder den Ort seiner Tat aufsucht ? »Nun, wenn Sie sie immer noch haben wollen, gehören sie Ih nen«, sagte sie. Einen Augenblick sah sie ernst drein, dann lachte sie. »Scheiße, ich hätte sie wahrscheinlich sowieso weggeworfen, aber ich hab sie vergessen gehabt. Natürlich sind sie immer noch kaputt.« Hogan drehte den Schlüssel, der aus dem Zahnfleisch ragte. Er drehte sich zweimal und gab das leise Klicken des Aufziehens von sich, dann drehte er sich einfach nutzlos im Loch. Kaputt. Natür lich waren sie kaputt. Und sie würden es bleiben, bis ihnen ein fiel, es eine Zeitlang nicht zu sein. Und die Frage war nicht, wie sie hierher zurückgelangt waren. Und die Frage war nicht, warum — das war einfach. Sie hatten auf ihn gewartet, auf Mr. William I. Hogan. Sie hatten auf den Etiketten-Amigo gewartet. Die Frage war: Was wollten sie? Er steckte den Finger noch einmal in das weiße Stahlgrinsen und flüsterte: »Beiß mich — oder willst du nicht?« Die Zähne standen nur mit ihren super coolen orangefarbenen Füßen da und grinsten. »Scheint so, als wollten sie nicht reden«, sagte Mrs. Scooter. »Nein«, sagte Hogan, der plötzlich an den Jungen denken muß te. Mr. Bryan Adams aus Nirgendwo, USA. Heute gab es eine Menge Kinder wie ihn. Und eine Menge Erwachsene, die ständig bereit waren, einem die Brieftasche zu rauben,Leck mich, Süßer zu sagen und wegzulaufen. Man konnte aufhören, Anhalter mitzu 45
nehmen (wie er), man konnte sich eine Alarmanlage ins Haus ein bauen (wie er), aber es war dennoch eine grausame Welt, in der Flugzeuge vom Himmel stürzten und die Irren jederzeit überall auftauchen konnten und immer Bedarf für eine kleine Rückversi cherung bestand. Immerhin hatte er eine Frau. Und einen Sohn. Es wäre schön, wenn Jack die Jumbo-Klapperzähne auf seinem Schreibtisch stehen haben würde. Nur falls etwas passierte. Für alle Fälle. »Danke, daß Sie sie aufgehoben haben«, sagte er und hob die Klapperzähne vorsichtig an den Füßen hoch. »Ich glaube, sie wer den meinem Jungen gefallen, auch wenn sie kaputt sind.« »Danken Sie Scoot, nicht mir. Möchten Sie eine Tüte?« Sie grin ste. »Ich hab eine aus Plastik. Garantiert ohne Loch.« Hogan schüttelte den Kopf und steckte die Klapperzähne in die Tasche seines Sportmantels. »Ich nehme sie so mit«, sagte er und grinste zurück. »So habe ich sie griffbereit.« »Wie Sie wollen.« Als er zur Tür ging, rief sie hinter ihm her: »Schauen Sie mal wieder rein. Ich mache ein verdammt gutes Ge flügelsalatsandwich !« »Das glaube ich Ihnen, und ich komme wieder«, sagte Hogan. Er ging hinaus, die Treppe hinunter und blieb einen Moment lä chelnd in der heißen Wüstensonne stehen. Er fühlte sich prächtig. In letzter Zeit fühlte er sich häufig prächtig. Er war zur Überzeu gung gekommen, daß man sich genau so fühlen sollte. Links von ihm stand Woof der erstaunliche Koyotenmi schling aus Minnesota auf, streckte die Schnauze durch das Gitter seines Käfigs und bellte. In Hogans Tasche klickten die Klapperzähne einmal aufeinander. Das Geräusch war leise, aber Hogan hörte es und spürte die Bewegung. Er strich über die Tasche. »Ruhig, Gro ßer«, sagte er zärtlich. Er ging rasch über den Hof, setzte sich ans Steuer seines neuen Chevrolet Transporters und fuhr Richtung Los Angeles. Er hatte Lita und Jack versprochen, um sieben zu Hause zu sein, späte stens um acht, und er gehörte zu den Leuten, die ihre Versprechen gern halten. Alts dem Amerikanischen von Joachim Körber
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RAMSEY CAMPBELL
Gutenachtgeschichte Jimmy war es bald langweilig, seinen Eltern zuzusehen, wie sie winzige Untertassen in den Händen hielten und Kaffee aus noch winzigeren Tassen nippten. Sie sahen ungelenk aus wie Er wachsene bei einer Kinder-Teeparty. Er konnte deutlich erkennen, daß sie ihn nicht dabeihaben wollten, während sie sich unterhiel ten, und so ging er nach oben, obgleich er sich nicht sicher war, ob seiner Großmutter das gefallen würde. Augenblicklich verschlug es ihm den Atem, denn dort waren so viele Dinge, die er noch nie zuvor gesehen hatte: ein vollgestopfter Dachboden, noch geheim nisvoller durch all den Staub; polierte Geländer, die nur darauf warteten, daß man auf ihnen hinunterrutschte; ein kleiner Raum auf halber Höhe des Hauses, der Ausblick auf den Park bot. Un ten im Rosengarten zerschnitten Wege die Rasenflächen in Teile eines gigantischen grünen Puzzles, drüben beim Teich standen Bäume Schlange, um erklommen zu werden, und plötzlich wünschte er, dies wäre sein Zimmer — doch als er sich umdrehte, stand da schon jemand hinter ihm im Raum. Es war nur er selbst im Kleiderschrankspiegel. Die staubig schimmernde Oberfläche hob das Glas optisch aus der hölzernen Umrandung heraus, ließ es wie einen Spiegel in einem anderen Zimmer erscheinen. Er starrte darauf, bis sein Gesicht flach und scheinbar wütend wurde, bis er sich selbst so papierdünn wie sein Spiegelbild fühlte und sich nur allzu bewußt wurde, daß er erst sieben Jahre alt war. Als er nach unten zurückschlich, sagte sein Vater gerade, daß er sicher wäre, eine Hypothek zu bekommen, wenn er nur erst eine neue Stelle als Lehrer hätte. Und Jimmys Großmutter meinte, sie hätte Freunde, die Jimmys Mutter Arbeit bringen könnten, wenn sie nähen lernte, und Jimmy nahm an, daß es sie wohl nun nicht mehr stören würde, wenn er dabei wäre. Als er aber den Blick seiner Großmutter sah, dachte Jimmy zu nächst, sie würde ihn schelten, weil er nach oben gegangen war.
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»Nun, James, du wirst eine Weile bei mir wohnen. Gefällt dir das?« fragte sie. Er konnte spüren, daß seine Eltern eine höfliche Antwort von ihm erwarteten. »Ja«, erwiderte er, denn es war die erste Woche der Sommerferien, und alles schien ein großes Abenteuer. Selbst hier zu wohnen, besonders, nachdem er herausgefunden hatte, daß er in dem Zimmer mit dem Spiegel schlafen sollte. Es schien so, als wäre sein Wunsch schon in Erfüllung gegangen, als er sich selbst im Spiegel gesehen hatte. Es machte ihm nicht einmal et was aus, als seine Mutter an jenem Abend unten blieb, als ihn statt dessen seine Großmutter ins Bett brachte und ihm einen fal tigen Kuß gab. Er schnitt ein Grimasse im Spiegel, in dem er sich dank des Lichtscheins vom Parkweg gerade noch sehen konnte. Dann drehte sie sich in der Tür um und blickte ihn an, mit jenem Blick, der ihm das Gefühl gab, sie wüßte etwas über ihn, von dem sie wünschte, es wäre nicht so, und Jimmy versteckte sich unter der Decke. Am nächsten Morgen lief er gleich nach dem Anziehen hinaus in den Park. Es war so, als würde er den größten Garten der Welt sein eigen nennen. Schon bald freundete er sich mit den Nach barskindern an — Emma und Indira —, die unter ihren Röcken Hosen tragen mußten, und Bruce, der fett war und immer schnief te und der so herrlich kiekste, wenn sie ihn zwickten, sobald ih nen langweilig wurde. Die Kinder machten wett, daß Jimmy jeden Abend viel zu früh von seiner Großmutter zu Bett gebracht wur de, die aus irgendeinem Grund diese Aufgabe übernommen hatte. Ebenso waren die Kinder der Ausgleich dafür, daß er auf die Mi nute pünktlich zu den Mahlzeiten erscheinen mußte, die so for mell wie ein Kirchgang abliefen. Dann trat seine Mutter eine Stel le in der Kinderkrippe an, und sein Vater ging weiter zu Vorstel lungsgesprächen; Jimmy erkannte, daß sein Leben sich noch viel mehr ändern würde. Zuerst war seine Großmutter nur immer um ihn herum und wies ihn an, Dinge zu unterlassen, bis er das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können. Einmal, als er das Diplom seines Vaters — dessen Glas sie täglich auf Hochglanz polierte — von der Wand nahm, kreischte sie so laut: »Faß das nicht an«, daß es ihm beina he aus der Hand gefallen wäre. Noch schlimmer war jedoch, daß er sie nun immer wieder dabei ertappte, wie sie ihn beobachtete, 48
so als würde sie versuchen, nicht zu glauben, was mit ihm los war. Eines Tages, als ein Sturzregen die Scheiben hinunterlief und selbst die Bäume grau aussehen ließ, ging er hinauf auf den Dach boden. Hinter einer rostigen Kiste fand er einige Gemälde, eines davon ein Porträt seines Vaters als kleiner Junge. Bevor er es sich versah, stand sie in der Tür. »Mußt du denn immer Unsinn ma chen, James?« Dabei tat er nichts weiter, als sich bei dem Gedan ken traurig zu fühlen, daß sie Wochen an jedem einzelnen Gemäl de gearbeitet haben mußte, nur um es dann hier oben im Staub abzustellen. In jener Nacht lag er im Bett und fragte sich, was sie wohl ge dacht haben mochte, was er mit ihren Bildern tun würde — fragte sich, was sie wohl wußte. Das staubige Spiegelbild erinnerte ihn an ein Gemälde, die verschwommene Gestalt blieb reglos wie Far be. Es war ein Gemälde, und das bedeutete, daß er sich nicht bewegen konnte. Als es ihm schließlich gelungen war, sich aus dem Bett zu befreien, mochte er den Spiegel nicht mehr sonder lich. Unten hörte er seine Großmutter reden: »Ihr müßt es mir sa gen, wenn ihr denkt, daß ich mich zu sehr einmische — aber ich finde, er könnte sich seine Freunde etwas sorgfältiger aussuchen.« Jimmy konnte am Tonfall seines Vaters erkennen, daß er wieder einmal ein erfolgloses Vorstellungsgespräch hinter sich hatte. »Wie meinst du das?« »Nun, die Kinder aus den Armenwohnungen. Diese Dunkle und die anderen.« »Sie scheinen mir ganz nett zu sein«, erklärte seine Mutter. »Ich vermute, es kommt darauf an, was man gewöhnt ist. Ich fürchte, die Leute in dieser Gegend sind nicht mehr das, was sie waren, als ich noch jung war. Ich weiß, daß man so etwas heutzu tage nicht mehr sagen darf.« Sie seufzte und fuhr fort: »Solche Kinder könnten James das Leben schwer machen, wenn sie her ausfinden, was er ist.« Jimmy bemerkte, daß er sich an der Tür seines Zimmers festge klammert hatte, denn als er nach vorn schlich, um besser lauschen zu können, knallte die Tür hinter ihm zu. »Ich werde nachsehen, was los ist«, erklärte seine Mutter aufgebracht. »Du hast heute schon genug getan.« Jimmy stürmte zurück ins Bett und versuchte auszusehen, als 49
hätte er es nie verlassen. In dem verschwommenen Bett im Spie gel versteckte sich jemand anders unter der Decke. »Bist du wach, Jimmy?« »Ich habe Oma gehört. Was hat sie damit gemeint? Was bin ich?« »Das alte Weibsbild«, flüsterte seine Mutter erregt. »Ich ging schon mit dir schwanger, als wir geheiratet haben, Jimmy, das ist alles. Das bedeutet nicht das geringste, außer für Leute wie deine Großmutter.« Als sie ihm einen Gutenachtkuß gab, sah er, wie sie sich zu dem verschwommenen Gesicht im Spiegel hinabbeugte, und plötzlich schien das Abbild dort realer als er selbst zu sein. Was immer im Argen lag, mußte schlimmer sein als das, was sie gesagt hatte, denn wieso würde seine Großmutter ihn sonst immer so anschau en? Nach jenem Abend konnte er Emma und ihren Freunden nie wieder ganz vertrauen. Er hatte Angst, sie könnten herausfinden, was er war, bevor er das selbst tat. Eines Tages kamen sie ins Haus. Seine Großmutter war im Park und rief einer taub scheinenden Dame »Mrs. Tortoiseshell« hin terher. Jimmy war es müde geworden, der Verfolgungsjagd zuzu schauen, als die anderen hereinkamen. »Ich muß im Haus bleiben, bis sie zurückkommt«, erklärte er. »Ihr könnt meine Comics lesen, wenn ihr wollt.« Er führte sie hinauf in sein Zimmer. Bruce mußte immer alles laut lesen, obwohl er zwei Jahre älter als Jimmy war, und das be ste, was er aus Kryptonit machen konnte, war: »K . . . k . . . krüt oniet.« Jimmy lachte ebenso laut wie die anderen, doch ihm gefiel nicht, wie sie seine Comic -Hefte zerknitterten. »Ich weiß, wo wir hingehen können«, sagte er. »Es gibt da unten einen großen Kel ler.« Da waren Berge von Kohlen und ein paar ergraute Staubwedel und Eimer, die aussahen, als würden sie vom Schatten an der Wand festgeheftet. Und da stand auch der Heizkessel. Es war ein Koloß wie ein Geldschrank, größer als Jimmys Vater und über und über mit Rohren gespickt. Jimmy wünschte, es wäre Winter, denn dann könnte er die Türen öffnen und das lodernde Feuer darin anschauen; nun war nichts darin als Ruß und Asche. Die drei ver steckten sich vor Bruce, um ihn zu erschrecken, als Jimmys Groß mutter sie fand. »Wagt es ja nicht, noch einmal hier hereinzukommen. Denkt 50
immer daran, daß das Polizeirevier nur ein Stückchen die Straße hinauf ist.« Sie warnte Jimmy, daß sie es seinen Eltern erzählen würde, wenn sie nach Hause kämen — doch die schienen dann nicht sonderlich besorgt. »Ich kann nicht verstehen, was du gegen seine Freunde hast«, sagte seine Mutter. Sein Vater runzelte die Stirn, um gegen seine Kopfschmerzen anzukämpfen. »Ich kann es ebensowenig verstehen.« »Ach, könnt ihr das nicht? Früher einmal hättet ihr es verstan den. Jedenfalls«, sagte sie und blickte Jimmys Mutter an, »muß ich darauf bestehen, daß ich entscheide, wer in mein Haus kommt.« Nach einem gequälten Schweigen meinte sein Vater: »Du hast es also gehört, Jimmy. Du mußt tun, was deine Oma sagt.« Jimmy spürte, daß seine Mutter enttäuschter als er selbst war. »Muß ich?« »Da hört ihr es, er kann nicht gehorchen. Er braucht eine kräfti ge Tracht Prügel.« »Von uns wird er sie nicht bekommen«, gab seine Mutter zu rück. »Und jedem anderen, der die Hand an ihn legt, wird es leid tun.« Seine Großmutter ignorierte sie. »Prügel haben dir nie gescha det«, sagte sie zu seinem Vater. Jimmy fand die Vorstellung, wie sie seinen Vater verprügelte, so beunruhigend, daß er blindlings die Treppe hinaufrannte. Sein Körper schien die Entscheidung zum Laufen getroffen zu haben, während Jimmy nicht zu denken versuchte. Was war er, daß seine Großmutter ihn so haßte? Er erreichte den Treppenabsatz und hatte plötzlich Angst, die Tür zu öffnen, für den Fall, daß schon jemand in seinem Bett lag. Ja, es war schon jemand hinter jener Tür und schlich darauf zu, während Jimmy zur selben Zeit hilflos vorwärtstappte. Wenn die Tür erst einmal geöffnet war, würden sie einander von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, und was würde dann mit Jimmy geschehen? Er kämpfte dagegen an, den Knauf herumzudrehen, unfähig, sich gewiß zu sein, daß der Knauf sich nicht schon zu drehen begonnen hatte ... da kam seine Mutter nach oben. »So ist's recht, Jimmy«, sagte sie und unter drückte ihre Wut. »Zeit, ins Bett zu gehen.« Niemand war im Zimmer, außer dem Gesicht, das um den Rand des Spiegels spähte. Er konnte sehen, daß es sein eigenes Gesicht war, bis er sich ins Bett legte. Seine Mutter schien die Ab sicht zu haben, so schnell wie möglich wieder nach unten zu gehen 51
— weil sie hören wollte, was die anderen redeten, sagte er sich selbst, nicht weil da etwas in seinem Zimmer war. »Mach dir kei ne Sorgen, wir werden nicht zulassen, daß dir jemand weh tut«, versuchte sie ihn zu beruhigen, doch er war sich nicht sicher, ob sie um die Art der Bedrohung wußte. Die Nacht war warm und drückend wie ein Berg von Steppdek ken. Er war dem Schlaf noch nicht einen Schritt näher, als seine Großmutter heraufkam. Sie zog sorgfältig die Decke zurecht, die er von sich geworfen hatte, und schüttelte den Kopf, als hätte sei ne Mutter ihre Aufgaben vernachlässigt. »Du mußt mir verspre chen, nie wieder in die Nähe des Heizkessels zu gehen. Weißt du, was mit kleinen Jungen geschieht, die Heizkesseln zu nahe kom men?« Sie erzählte ihm die Geschichte von den Kindern, die die alte Hexe in das Lebkuchenhaus gelockt hatte — nur mit dem Un terschied, daß die Kinder entkommen waren, als seine Mutter ihm die Geschichte vorgelesen hatte. Er versuchte, dem Spiegel Gri massen zu schneiden, damit er keine Angst mehr hatte, doch er konnte dem Gesicht in dem anderen Bett nicht trauen; es schien zu grinsen, was nicht im geringsten dem entsprach, wie er sich fühlte. Er kniff fest die Augen zusammen, und als seine Großmut ter nach einem letzten welken Kuß hinausging, überkam ihn Angst, die Augen wieder zu öffnen; weil er das Gefühl hatte; be obachtet zu werden. Sein Vater wurde immer unbeherrschter, als ein Vorstellungsge spräch nach dem anderen zugunsten eines anderen entschieden wurde. Am Morgen lungerte er meist nahe der Haustür umher, bis die Post kam, und Jimmy hörte ihn »Scheiße« sagen, wenn er seine Briefe öffnete oder wenn gar keine kamen. Im Haus herrsch te eine Atmosphäre wie vor einem Sturm — doch es war am Tag der Teeparty, als der Alptraum begann. Gewöhnlich gelang es Jimmy, solchen Zusammentreffen aus dem Weg zu gehen, doch diesmal bestand seine Großmutter dar auf, ihn ihren Freundinnen vorzustellen. Er stand unbehaglich da, umgeben von ausgeblichenen, von Fransen gezierten Lampen und dem Geruch von Alter und Lavendelwasser, während die alten Damen übertrieben dramatisch die mikroskopisch kleinen Sandwiches lobten und über Streiks, Verbrechen, die Russen, das Fernsehen, die Preise, die Busfahrpläne, Lehrer und Kinder nör gelten. »Er ist kein schlechter Junge«, sagte seine Großmutter und 52
hielt seine Hand, während sie alle ihn anblickten. Er sah eine haa rige Warze, einen Hut wie einen grün-purpurnen Seeigel, Münder von der Farbe und Textur verheilender Wunden. »Er hatte einen schlechten Start, aber das ist ja nicht alles. Er braucht nur eine fe ste Hand.« Jimmy war verwirrter als je zuvor und floh, sobald er die Gele genheit dazu hatte. Als er hinaus auf die schwüle Straße trat, winkte Emma ihm von ihrem Fenster aus zu. »Alle sind weg. Wir können Mama und Papa spielen.« Er und seine Eltern waren oft nackt in ihrer Wohnung umher gegangen, doch nun ließen sie nicht einmal mehr ihn unbekleidet herumlaufen. Natürlich schlug Emma vor, daß sie sich auszogen, bevor sie sich verkleideten, und er war beinahe nackt, als Mrs. Tortoiseshell ihn sah. Sie preßte sich gerade eine Plastiktüte mit Eiswürfeln auf den Kopf und stand wie vom Donner gerührt da, die eine Hand an der Tüte, die andere in die Hüften gestützt, wie die Karikatur einer Ballerina. Dann verschwand sie und schrie so laut nach seiner Großmutter, daß er es durch die zwei Fenster hin durch hören konnte. Schuldgefühle übermannten ihn. Mrs. Tortoiseshell mußte wis sen, was er war. Er konnte es nicht über sich bringen, Emma an zusehen, also floh er hinaus in den Park und versteckte sich hinter einem Busch. Bald darauf kamen die alten Damen heraus, riefen »Tschüßchen« wie ein Schwärm blasser Vögel, und seine Groß mutter entdeckte ihn. »James, komm her.« Sie wollte ihm nur ein altes Buch zeigen. Das erinnerte ihn an die Hexe in einem seiner Comic -Hefte, nur daß das Buch seiner Großmutter für Ärzte war. »Laß die Finger von Mädchen«, sagte sie, »wenn du nicht willst, daß so etwas mit dir geschieht.« Sie zeigte ihm ein Bild, auf dem ein Mensch einem vermodernden Baumstamm glich. Meinte sie damit, daß seine Arme und Beine abfallen würden? Er versuchte noch immer, sich einen Reim dar auf zu machen, als seine Mutter nach Hause kam und das Bild sah. »Was, um Himmels willen, hast du dir nur dabei gedacht? Was willst du denn aus ihm machen?« »Jemand muß sich ja um ihn kümmern, während du Amme für anderer Leute Kinder spielst. Ich hätte nie gedacht, daß mein Sohn einmal mit einem Kindermädchen verheiratet sein würde.« Jimmy dachte, seine Mutter würde explodieren, so krebsrot war ihr Gesicht angelaufen. Dann kam sein Vater herein. Ein Blick auf 53
die Szene vor ihm, und er stöhnte auf. »Was ist denn jetzt schon wieder?« »Sag du es mir. Sag mir, warum sie ihm diesen Mist zeigt, wenn du es kannst.« »Weil er sich mit dieser kleinen Schlampe von nebenan herum getrieben hat.« Als seine Eltern verlangten, sie solle erklären, was sie damit meinte, erwiderte sie: »Ich dachte, ihr würdet das nur zu gut wissen.« »Mach dich doch nicht lächerlich. Er ist erst sieben Jahre alt«, gab sein Vater zurück, und Jimmy hatte ein Gefühl, als wäre er überhaupt nicht da. »Das bedeutet gar nichts, bei all dem Sex, den du ihnen in der Schule beibringst.« »Ich kann niemand etwas beibringen, bei all den Sparmaßnah men im Bildungssektor, die deine verdammte Regierung sich hat einfallen lassen.« »Ach, jetzt ist es meine Schuld, daß du keine Stelle bekommen kannst? Nun, ich sollte das vielleicht nicht sagen, aber ich tue es trotzdem: wenn es nach mir ginge, ich würde nicht zulassen, daß du bei deinen Vorstellungsgesprächen wie ein Penner aussiehst.« Es schien, als würde der Sturm jetzt losbrechen, doch in diesem Moment erschien Mrs. Tortoiseshell oben, auf der Suche nach ih rem Hut. Sie preßte noch immer die Tüte mit den geschmolzenen Eiswürfeln auf ihren Kopf, so als wäre es ein Hut, den jemand an stelle ihres eigenen für sie zurückgelassen hatte. »Ich hätte ihn nicht absetzen sollen«, jammerte sie, und Jimmy stellte sich vor, wie sie ihren Hut über der Plastiktüte tragen würde. Schließlich fand er ihn, ein Helm wie eine rosafarbene Torte mit rüschigen Sahneverzierungen. »Guter Junge«, lobte seine Großmutter und brachte seine Eltern damit zum Kochen. Die Unterbrechung hatte den Streit in feindseliges Schweigen verwandelt. Jimmy war beinahe froh, als es an der Zeit war, ins Bett zu gehen. Als seine Mutter ihn zudeckte, sagte sie: »Ich weiß nicht, was du mit Emma gemacht hast, aber tue es nicht wieder, in Ordnung? Wir haben schon genug Probleme.« Er wollte sie zu rückrufen und ihr erzählen, was wirklich passiert war, doch statt dessen kauerte er sich unter der Decke zusammen: er hatte das Gesicht in dem anderen Bett gesehen, das Gesicht, das geschwol len und fleckig aussah, genau wie das Bild, welches seine Groß mutter ihm gezeigt hatte. Er hatte Angst, sein eigenes Gesicht zu 54
berühren, für den Fall, daß es sich auch so anfühlte. Kaum ver mochte er sich selbst davon zu überzeugen, daß er tatsächlich in seinem eigenen Bett lag. Der Morgen war kalt und naß, ebenso wie die Woche, die darauf folgte. Er vermied es soweit als möglich, sich in seinem Zimmer aufzuhalten. Es war nicht nur, daß es der düsterste Ort im ganzen Haus zu sein schien, die Wände wimmelnd von Geistern des Re gens; es war das Gesicht, das um den Rand des Spiegels spähte, wann immer er das Zimmer betrat. Er mußte hineingehen, bevor er das Licht anschalten konnte, und in jenem Moment grinste das aufgedunsene, schwarz angelaufene Gesicht ihn vom Spiegel aus an. Wenn er das Licht anschaltete, sah sein Gesicht genauso aus, wie es in jedem anderen Spiegel ausschaute, doch er hatte in Co mic-Heften gesehen, wie gut Bösewichte sich verkleiden konn ten. Der Tag, an dem es zu regnen aufhörte, war der Tag, an dem seine Großmutter ihn wissen ließ, daß er ein Bösewicht war. Das feuchte Wetter hatte sie offenkundig rosten lassen, denn wann immer sie aufstand, klagte sie leise. Sie gab ihm eine Fünf-PfundNote, um beim Apotheker eine Salbe zu kaufen. Er fühlte sich ganz erwachsen, daß er so viel Geld in seiner Obhut hatte, doch dann fixierte sie ihn mit ihrem Blick. »Denk daran, James, ich ver traue dir.« Nie hatte er sich schuldiger gefühlt. Sie erwartete, daß er steh len würde. Da sie es tat, zögerte er kaum, als er den neuen roten Ball in dem Spielzeugladen neben der Apotheke sah. Er kostete genau ein Pfund, und der Wind versuchte, ihm die Vier-Pfundno ten aus der Faust zu reißen; er mußte ihr nur erzählen, daß die ei ne davongeweht worden war. Den Ball zu kaufen, gab ihm ein Gefühl der Genugtuung, und er war schon beinahe zu Hause, als er sich zu fragen begann, wie er den Ball erklären sollte. Er mußte ihn verstecken, bevor sie ihn sah. Also rannte er ins Haus — und war schon halb an der Treppe, als sie aus dem Wohnzimmer trat. Verzweifelt warf er den Ball zum Treppen absatz über sich hoch. »Wer ist das?« rief sie, als er — bumm, bumm—auf den Boden sprang. »Wer ist da oben?« »Ich werde nachsehen«, erklärte Jimmy hastig und lief schon die Treppe hinauf, um den Ball zu verstecken, als sie sagte: »Mei ne Salbe und vier Pfund zehn, bitte.« 55
»Ich habe es dort hingelegt.« Er deutete auf den Topf mit der Salbe auf dem Tisch in der Diele, doch sie starrte auf seine geball te Faust, bis er zögernd wieder herunterkam und seine Hand über der ihren öffnete. »Und das andere Pfund bitte auch«, sagte sie, als sich die Geldscheine entfalteten. »Ich habe es nicht.« Zu spät wurde ihm bewußt, daß er das gleich hätte sagen sollen. »Es ist in den Teich geweht worden.« Sie zwang ihn, seine Taschen nach außen umzustülpen. Als sich herausstellte, daß sie, abgesehen von einem Klumpen Bon bons, leer waren, wurde ihr Gesichtsausdruck noch eisiger. »Bleib bitte, wo ich dich sehen kann«, wies sie ihn an, als er ihr nach oben folgte. Der Ball lag nicht auf dem Treppenabsatz. Er mußte in einem der Zimmer sein, deren Türen, mit Ausnahme des seinen, alle of fenstanden. Während sie ihn vor sich herschubste und in alle Räu me spähte, verdunkelte sich der Himmel, und die Bäume began nen zu rascheln und zu glänzen. Sie schubste ihn in sein Zimmer. Die Gestalt mit dem fleckigen, verquollenen Gesicht trat vor, um sich ihm in den Weg zu stellen, und der Ball lag zu ihren Füßen, unter dem Kleiderschrank. Doch Jimmys Großmutter beachtete den Ball kaum, und Jimmy brauchte eine Weile, bis ihm deutlich wurde, daß sie den Ball nicht als neu erkannte. Sie sagte nichts, als seine Mutter nach Hause kam, sondern wartete auf seinen Vater, um ihm zu sagen, daß Jimmy sie bestoh len hatte. »Ist es so gewesen, Jimmy?« fragte sein Vater. »Nein.« Jimmy hatte das Gefühl, als spräche er mit Fremden — als wäre er selbst ein Fremder. »Es wurde in den Teich geweht.« »Das hört sich für mich weit glaubwürdiger an.« Als sich die trotzig vorgeschürzten Lippen der alten Dame öffneten, fuhr sein Vater fort: »Hier ist ein Pfund, und nun laß uns die Sache verges sen. Ich möchte nicht, daß du solche Dinge über Jimmy sagst.« Jimmy fühlte sich sonderbar. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, das Geld genommen zu haben. Jemand anderer hatte es gestohlen: wem immer der Ball jetzt gehörte. Dieser Gedanke machte ihm keine Angst, bis er ins Bett ging und dort lag und auf den gefürchteten Moment wartete, wenn seine Mutter ihn allein in der Dunkelheit zurücklassen würde. Er hatte keine Angst vor dem Alleinsein, ganz im Gegenteil. »Laß das Licht an!« rief er. »Ich möchte hier nicht mehr wohnen.« »Wir müssen das noch eine Weile. Sei tapfer. Dein Vater hatte 56
ein Vorstellungsgespräch, das sehr vielversprechend klang. Wir warten darauf, von den Leuten zu hören.« Er spürte eine Andeutung dessen, wie es früher einmal gewe sen war. »Geh nicht fort und laß mich nicht den ganzen Tag allein. Immer muß ich bei ihr bleiben.« »Nein, das mußt du nicht. Wenn es zu naß zum Spielen ist, kannst du zu Emma gehen. Ich sage, daß du das darfst. Und jetzt sei ein großer Junge und laß mich das Licht ausschalten, oder wir bekommen Ärger, weil wir Strom verschwenden.« Irgendwann schlief er ein — während er betete, daß die Geräu sche vom Fußende des Bettes nur das Klopfen der Heizung wä ren. Am Morgen weckten ihn strömender Regen sowie die über schäumende Freude, nicht im Haus bleiben zu müssen. Emma war froh, ihn zu sehen, denn sie hatte eine Erkältung. Sie spielten den ganzen Tag, und er ging nicht nach Hause, bis er seine Eltern hörte. Seine Großmutter sprach nicht mit ihnen. Wann immer sie mit Jimmy redete, war es ein auf seine Eltern abzielender Angriff. Er hatte das Gefühl, das brennende Schweigen wäre gegen ihn ge richtet, besonders, als sie nach dem endlosen Abendessen Emma niesen hörten. Seine Mutter befühlte seine kribbelnde Stirn. »Du solltest besser ins Bett gehen«, sagte sie sogleich. Er konnte nicht protestieren: etwas hatte ihm die Kraft dazu ge raubt. Als seine Mutter ihm in sein Zimmer half — wobei sie zweifellos glaubte, es wäre Krankheit und nicht Furcht, die seine Schritte auf der Treppe lahmte —, hörte er seine Großmutter sa gen: »Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden. So kümmert sie sich um das Kind.« Seine Mutter steckte ihn ins Bett und gab ihm ein Glas Medizin zu trinken. Viel zu bald war sie wieder an der Tür. »Laß das Licht an«, bettelte er mit einer Stimme, die er selbst kaum noch hören konnte. »Natürlich kannst du das Licht anbehalten«, erwiderte seine Mutter, laut genug, daß man sie unten hören konnte. »Ruf mich, wenn du irgend etwas brauchst.« Eine Weile fühlte er sich sicher, während er auf den Sturzregen lauschte, der gegen die Fensterscheiben peitschte. Als seine Eltern nach oben kamen, dachte er, er würde noch sicherer sein, doch dann hörte er seine Mutter: »Du behauptest dich nie gegen sie. Du hast ihr das Geld ausgehändigt und damit so gut wie zugege 57
ben, daß er ein Dieb ist. Ich habe das Gefühl, du hast noch immer Angst vor ihr. In ihrer Nähe bist du schwach und hilflos.« Das machte Jimmy ebenfalls schwach und hilflos und ließ ihn wieder daran denken, wie sein Vater Prügel bezogen hatte. Er vergrub sein Gesicht im Kissen und versuchte zu entscheiden, ob ihm nun heiß oder kalt war. Dann schlief er schließlich ein. Als er aufwachte, hatte der Regen aufgehört. Es war ganz still, abgesehen von einem dumpfen, beständig wiederkehrenden Plat schen. Alle schienen im Bett zu sein. Er zog sich die Decke vom Gesicht und öffnete die Augen. Es war noch immer dunkel. Je mand hatte das Licht ausgeschaltet. Das Fenster neben seinem Kopf triefte offenkundig vom Regen, denn die Tür jenseits des Fußendes des Bettes wurde von schim mernden Flecken gemustert. Der Umriß des Lichtschalters neben der Tür zerfiel in der Dunkelheit schien bereit, herabzufallen und ihn ohne jegliche Hoffnung auf Licht zurückzulassen. Doch wenn er sich aus dem Bett befreien könnte, wäre der Schalter nur weni ge Schritte entfernt. Das konnte er sicher schaffen, wenn er die Augen schloß, er konnte bestimmt den Schalter erreichen, bevor er irgend etwas anderes sah. Doch er sah schon längst, was in der Ecke neben dem Fenster, ganz dicht bei seinem Gesicht war: ein kleiner runder Umriß, etwa von der Größe seines Kopfes. Als er die Flecken sich verändern sah, wußte er, daß ein Gesicht zu einem Grinsen ansetzte — bis er erkannte, daß es der Ball war. Er war ihm aus der Dunkelheit gesandt worden. Allein, bis auf das dumpfe, regelmäßige Platschen, lag er da und starrte furchter füllt auf den Ball, während er versuchte zu glauben, daß er sich bewegen konnte, daß er aus dem Bett springen und aus dem Zim mer stürzen konnte. Der Spiegel war weiter von der Tür entfernt als er selbst. Wenn er versuchte, tief Luft zu holen, machten seine Atemzüge und sein Herzschlag ihn taub. Er hatte Angst, nicht mehr hören zu können. Oder vielleicht hatte er auch Angst, hören zu können, denn das dumpfe Geräusch klang nicht ganz wie ein Platschen. Und dann war es auch bei ihm im Zimmer. Es wurde offenkundig lauter: er mußte nicht mehr die Ohren spitzen, um zu hören, daß es ein Klopfen war, ein Tappen, das Geräusch von klatschnassen Din gen, die gegen Glas schlugen. Nein, es kam nicht vom Fenster. Es kam von jenseits des Fußendes des Bettes. Schließlich gelang es ihm, den Kopf zu heben. Er würde in der 58
Lage sein zu sehen — ohne in der Lage zu sein zu fliehen. Sein Hals lag in einem komischen Winkel — ein stechender Schmerz versuchte, seinen Kopf wieder zurück auf das Kissen zu zwin gen —, doch nun konnte er über das Brett am Fußende blicken. Es war Entsetzen, nicht Schmerz, was seinen Kopf auf das Kissen zurückfallen ließ. Das verschwommene, schummrige Bett im Spiegel war leer. Eine vom Kopf bis zu den Füßen von schwieligen Flecken bedeckte Gestalt stand jenseits des Betts, preßte Kopf und Hände gegen das Spiegelglas und starrte ihn an. Sobald Jimmys Kopf das Kissen berührte, schrie er und warf sich aus dem Bett. Einen Augenblick später wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, sich zu bewegen. Er floh zur Tür, stolperte über die Bettdecke. Als er stürzte, verstauchte er sich den Knö chel. Das leise Klopfen setzte augenblicklich wieder ein, nunmehr lauter. Es kündete von der Entschlossenheit, das Glas zu durch brechen. Verzweifelt tastete er über den Boden neben seinem Kopf und schleuderte ohne nachzudenken den Ball nach dem Spiegel. Der Ball hatte gerade seine Hände verlassen, als Jimmy bewußt wur de, daß er viel zu leicht war, um den Spiegel zu zerbrechen. Den noch hörte er das Splittern von Glas, hörte, wie klirrend Scherben auf die Dielenbretter fielen. Der Spiegel mußte so dünn wie eine Eierschale gewesen sein, und nun hatte er dazu beigetragen, das ihm etwas entschlüpfen konnte. Dann hörte er die Schritte, die sich anhörten wie Matschklumpen, die jemand auf den Boden fal len ließ, und konnte nur noch die Hände vors Gesicht schlagen, zusammengekauert in eine Ecke zurückweichen und schreien. Obgleich er beinahe augenblicklich hörte, wie sich die Tür öff nete, dauerte es eine Weile, bis das Licht anging. Da wagte er es, aufzublicken, und sah seine Großmutter, die auf den zerbroche nen Spiegel starrte. »Jetzt reicht es«, sagte sie, als seine Eltern sich an ihr vorbeidrängten. »Ich will ihn nicht mehr in meinem Haus haben.« Jimmy nahm das als ein Versprechen und wünschte, es würde auf der Stelle eingelöst werden, denn es schlich noch jemand an derer im Haus herum. Es war nicht seine Großmutter gewesen, die die Tür zu seinem Zimmer geöffnet hatte. Als er unten das Zersplittern von Glas hörte, begann er zu zittern. Seine Großmut ter stürzte nach unten, und sie hörten sie aufschreien. Gleich dar auf kam sie zurückgestürmt, in der Hand das gerahmte Diplom 59
seines Vaters, ihren Schatz, nunmehr zerschlagen und zerrissen. Sie sah aus, als würde sie Jimmy dafür verantwortlich machen, doch er konnte sich nicht sicher sein, daß er tatsächlich die Schuld daran trug. Vielleicht — ja. Nachdem seine Großmutter aus dem Zimmer gegangen war, um zu weinen, überredete ihn seine Mutter, wieder ins Bett zu schlüpfen, doch er ließ nicht zu, daß sie ihn verließ oder das Licht ausschaltete. Schließlich nickte er ein. Einmal wachte er auf, voller Angst, daß jemand mit ihm im Bett liegen würde, doch dieser Ein druck schwand beinahe augenblicklich. Seine Mutter saß noch im mer in dem Sessel neben seinem Bett. Sie hätte sicher nicht zuge lassen, daß sich jemand ins Zimmer schlich. Der Morgen war wolkenlos, und alles schien wie verändert. Sein Vater hatte ein Stelle als Lehrer bekommen. Vielleicht war das der Grund, weshalb Jimmy das Gefühl hatte, sich doch nicht mit Em mas Erkältung angesteckt zu haben. Vielleicht hatte etwas ande res ihm die Kraft geraubt. Seine Großmutter sagte nichts. Jimmy hatte den Eindruck, daß sie sich wünschte, sie hätte letzte Nacht nicht so endgültig ge klungen; jetzt hoffte sie wohl, daß jemand etwas sagen würde, das es ihr erlaubte, ihre Worte zurückzunehmen. Doch sein Vater hatte schon Vorkehrungen getroffen, daß sie die Wohnung einer Freundin nutzen konnten, so lange diese in London war. Jimmy war so aufgekratzt, daß er noch nicht einmal seine Comic -Hefte eingepackt hatte, als der Umzugswagen kam. Auf jeden Fall hatte er sich noch nicht von Emma verabschiedet. Er sagte, er würde bleiben, bis der Umzugswagen noch einmal zurückkehrte. »Ich werde bleiben, wenn du es möchtest«, bot sei ne Mutter an, doch er fand ihre Sorge nur ärgerlich. Er konnte auf sich selbst aufpassen. Sobald sie abgefahren waren, ging seine Großmutter nach oben. Er klingelte an Emmas Tür, doch es kam keine Antwort. Im Haus seiner Großmutter war es wärmer als draußen: sie hatte ver gessen, den Heizkessel abzustellen. Jimmy konnte seine Groß mutter in ihrem Zimmer weinen hören, so als hätte das Leben für sie seine Bedeutung verloren. Sofort empfand er Mitleid für sie und wollte ihr sagen, daß er gelegentlich vorbeikommen und sie besuchen würde. Jetzt machte es ihm nichts mehr aus, denn er ging ja fort. Er lief nach oben. 60
Sie mußte ihn kommen gehört haben, denn sie betupfte gerade ihre Augen und richtete ihr Gesicht am Schminktisch. Er öffnete seinen Mund, um ihr sein Versprechen zu geben, doch statt des sen hörte er sich sagen: »Oma, da stimmt etwas nicht mit dem Heizkessel. Ich bin nicht hinuntergegangen, weil du es mir verbo ten hast.« »Guter Junge.« Sie drehte sich um, weil sie ihm ein tapferes, tränennasses Lächeln schenken wollte — und konnte nicht sehen, was er im Spiegel sah; sein eigenes Gesicht, das kaum ein feistes Grinsen zu verbergen vermochte. Einen Augenblick lang, in dem er hätte aufschreien mögen, erkannte er, daß sich ein anderes Ge sicht unter dem seinen versteckte. Wieder erinnerte er sich an den Eindruck, den er letzte Nacht gehabt hatte und der so schnell wie der geschwunden war — daß jemand zu ihm ins Bett kriechen wollte. »Du kannst mit mir nach unten kommen, wenn du willst«, sag te seine Großmutter, und in ihrer Stimme schwang Vergebung mit. Er mußte ihr einfach folgen, wollte dabei schreien, daß sie oder jemand anders ihn aufhalten müsse, hatte aber keine Kon trolle mehr über sein Gesicht. Also eilte er hinter ihr die Keller treppe hinunter, während er das dumpfe Brüllen der lodernden Flammen im Heizkessel hörte. Und er grinste. Aus dem Englischen von Ute Thiemann
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CLIVE BARKER
Verlorene Seelen die blinde Frau gesehen und Harry gesagt hatte, war unWasbestreitbar real. Welc hes innere Auge Norma Paine auch be sitzen mochte — diese außergewöhnliche Begabung, die ihr er möglichte, die Insel Manhattan von der Broadway Bridge bis zum Battery Park zu überblicken, ohne auch nur einmal einen Zenti meter vor die Tür ihres winzigen Zimmers in der Seventy-fifth zu treten —, dieses Auge war so scharf wie das Messer eines Messer werfers. Hier war das verfallene Haus in der Ridge Street mit den Rußflecken auf der Backsteinfassade. Hier war der tote Hund, den sie beschrieben hatte, der auf dem Gehweg lag, als schliefe er, aber sein halber Kopf fehlte. Und hier, wenn Norma recht behielt, hielt sich auch die Dämonin auf, die Harry suchte: die scheue und gerissen bösartige Cha'Chat. Das Haus, fand Harry, war keineswegs die passende Unter kunft für einen Desperado von Cha'Chats Format. Die infernali schen Geschwister konnten ein wüster Haufen sein, daran be stand kein Zweifel, aber lediglich die christliche Propaganda ver kaufte sie als Kreaturen in Exkrementen und Eis. Wahrscheinli cher schien es, daß die entflohene Dämonin im Waldorf-Astoria Fliegeneier und Wodka genießen würde, als sich hier inmitten sol cher Trostlosigkeit aufzuhalten. Aber Harry hatte sich verzweifelt zu der blinden Hellseherin begeben, da es ihm nicht gelungen war, Cha'Chat mit den kon ventionellen Mitteln aufzuspüren, die einem Privatdetektiv wie ihm gemeinhin zur Verfügung standen. Er war, auch das hatte er ihr gestanden, sogar dafür verantwortlich, daß die Dämonin über haupt freigesetzt worden war. Ihm schien, als hätte er bei den all zu häufigen Begegnungen mit dem Gulf und dessen Nachkom men nicht gelernt, daß die Hölle über geniale Täuschungsmanö ver verfügte. Weshalb hatte er sonst an das Kind geglaubt, das ins Visier getappst war, als er gerade die Waffe auf Cha'Chat gerichtet hatte? — ein Kind, das sich selbstverständlich in eine bunte Luft
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wölke aufgelöst hatte, als die Illusion überflüssig geworden war und die Dämonin ihre Flucht bewerkstelligen konnte. Nun, nach fast dreiwöchiger vergeblicher Suche, stand Weih nachten in New York bevor; die Zeit des guten Willens und der Selbstmorde. Auf den Straßen herrschte reges Leben, die Luft brannte wie Salz in offenen Wunden, und Götze Mammon er strahlte in ungeahnter Pracht. Man konnte sich kaum einen besse ren Spielplatz für Cha'Chats Heimtücke vorstellen. Harry mußte die Dämonin rasch finden, bevor sie ernsten Schaden anrichten konnte. Er mußte sie finden und in die Grube zurückstoßen, aus der sie gekommen war. Im Extremfall würde er sogar die binden den Silben aussprechen, die der verstorbene Pater Hesse ihm ein mal anvertraut und mit so ernsten Warnungen begleitet hatte, daß Harry sie nicht einmal niederzuschreiben wagte. Was immer auch erforderlich sein würde. So lange Cha'Chat nur das Weihnachts fest nicht mehr diesseits des Schismas erlebte. Im Inneren des Hauses in der Ridge Street schien es kälter als draußen zu sein. Harry konnte spüren, wie die Kälte durch zwei Paar Socken drang und seine Füße taub machte. Er schritt gerade den zweiten Treppenabsatz entlang, als er das Seufzen hörte. Er drehte sich um und rechnete endlich damit, Cha'Chat dort stehen zu sehen, deren Augendolden in Dutzende Richtungen gleichzei tig sahen und deren struppiges Fell bebte. Aber nein. Statt dessen stand eine junge Frau am Ende des Flurs. Ihre unterernährten Zü ge deuteten auf eine puertoricanische Herkunft hin, aber mehr als das und die Tatsache, daß sie schwanger war, konnte Harry nicht erkennen, bevor sie die Treppe hinunterfloh. Als er das Mädchen hinablaufen hörte, wußte Harry, daß Nor ma sich geirrt hatte. Wäre Cha'Chat hier, hätte sie so ein Opfer niemals mit den Augen noch in den Höhlen entkommen lassen. Die Dämonin befand sich nicht hier. Damit blieb nur noch der Rest von Manhattan zu durchsuchen. In der Nacht zuvor war Eddie Axel etwas überaus Eigentümliches zugestoßen. Es hatte damit angefangen, daß er aus seiner Lieb lingsbar hinausgestolpert war, die sechs Blocks von dem Lebens mittelladen in der Third Avenue entfernt lag, der ihm gehörte. Er war betrunken und glücklich, und dazu hatte er allen Grund. Heute war er fünfundfünfzig Jahre alt geworden. In diesen Jahren hatte er dreimal geheiratet, er hatte vier legitime Kinder und eine 63
Handvoll Kegel gezeugt, und — vielleicht am allerwichtigsten — er hatte Axel's Superette zu einem äußerst lukrativen Unterneh men gemacht. Die Welt war in Ordnung. Aber, Herrgott, es war kalt! Unmöglich, in einer Nacht, in der eine zweite Eiszeit drohte, ein Taxi zu finden. Er würde zu Fuß nach Hause gehen müssen. Er war vielleicht einen halben Block weit gekommen, als — Wunder über Wunder — tatsächlich ein Taxi an ihm vorbeifuhr. Er winkte ihm, stieg ein, und da hatten die Seltsamkeiten ihren Lauf genommen. Zunächst einmal kannte der Fahrer seinen Namen. »Nach Hause, Mr. Axel?« hatte er gesagt. Eddie hatte dem Gottgeschickten keine Fragen gestellt. Murmelte nur »Ja« und vermutete, daß es sich um ein Geburtstagsgeschenk von jeman dem in der Bar handelte. Vielleicht waren ihm sogar die Augen zugefallen, vielleicht hat te er sogar geschlafen. Wie auch immer, als nächstes stellte er fest, daß das Taxi durch Straßen raste, die er nicht kannte. Er riß sich aus seinem Dösen. Ganz bestimmt war dies das Village, eine Ge gend, die Eddie mied. Sein Viertel waren die hohen Nineties, dicht beim Laden. Die Dekadenz des Village, wo eine Ladenrekla me >Ohrlochstechen. Mit oder ohne Schmerzen< anpries und jun ge Männer mit verdächtigem Hüftschwung in Torbögen herum lungerten, war nichts für ihn. »Das ist nicht die richtige Richtung«, sagte er und klopfte an die Perspexscheibe zwischen ihm und dem Fahrer. Jedoch erhielt er kein Wort der Entschuldigung oder Erklärung, bis das Taxi Rich tung Fluß in eine Straße mit Lagerhallen abbog und die Fahrt zu Ende war. »Dies ist Ihre Haltestelle«, sagte der Fahrer. Eine deutlichere Aufforderung auszusteigen brauchte Eddie nicht. Als er sich hinaushievte, deutete der Fahrer auf einen nebligen Platz zwischen zwei nächtlichen Lagerhallen. »Sie hat auf Sie ge wartet«, sagte er und fuhr weg. Eddie blieb allein auf dem Geh weg stehen. Der gesunde Menschenverstand riet zu einem hastigen Rück zug, aber was er jetzt erblickte, hielt ihn an Ort und Stelle fest. Da stand sie — die Frau, von der der Taxifahrer gesprochen hatte —, und sie war das fetteste Geschöpf, das Eddie je gesehen hatte. Sie hatte mehr Kinns als Finger, und auf ihren Fettwülsten, die an al 64
len Stellen aus ihrem leichten Sommerkleid zu quellen drohten, glänzte entweder Öl oder Schweiß. »Eddie«, sagte sie. Heute abend schienen alle seinen Namen zu kennen. Als sie sich auf ihn zubewegte, wogte das Fett an ihrem Oberkörper und den Extremitäten. »Wer sind Sie?« wollte Eddie gerade fragen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken, als er feststellte, daß die Füße der Dicken den Boden nicht berührten. Sie schwebte. Wäre Eddie nüchtern gewesen, hätte er diesen Hinweis wahr scheinlich aufgegriffen und wäre geflohen, aber der Alkohol in seinem Blut linderte seine Angst. Er blieb stehen. »Eddie«, sagte sie. »Liebster Eddie. Ich habe gute Nachrichten und schlechte Nachrichten. Welche möchtest du zuerst hören?« Eddie dachte einen Moment nach. »Die guten«, sagte er schließlich. »Du wirst morgen sterben«, lautete die Antwort, die von der Andeutung eines Lächelns begleitet wurde. »Das ist gut?« sagte er. »Das Paradies wartet auf deine unsterbliche Seele ...«, murmel te sie. »Ist das nicht eine Freude?« »Und die schlechte Nachricht?« Sie bohrte die Wurstfinger einer Hand in die Spalte zwischen ihren glänzenden Titten. Ein leises protestierendes Quietschen war zu hören, als sie etwas aus einem Versteck zog. Es handelte sich um eine Kreuzung zwischen einem räudigen Gecko und einer kranken Ratte, vereinigte aber die unangenehmsten Eigenschaf ten beider in sich. Die kümmerlichen Gliedmaßen zappelten, als sie es in die Luft hielt, damit Eddie es begutachten konnte. »Das«, sagte sie, »ist deine unsterbliche Seele.« Sie hatte recht, dachte Eddie. Das war keine gute Nachricht. »Ja«, sagte sie. »Ein erbärmlicher Anblick, nicht?« Die Seele zappelte und sabberte, während sie fortfuhr. »Sie ist unterer nährt. Sie ist zu Tode erschöpft. Und warum ?« Sie ließ Eddie nicht einmal die Möglichkeit zu antworten. »Zu wenig gute Taten ...« Eddies Zähne hatten angefangen zu klappern. »Und was soll ich jetzt tun?« fragte er. »Du hast noch ein bißchen Zeit. Du mußt ein Leben zügelloser Habgier wettmachen ...« »Das verstehe ich nicht.« »Verwandle Axel's Superette morgen in einen Tempel der 65
Barmherzigkeit, dann könntest du noch ein bißchen Fleisch auf die Knochen deiner Seele bekommen.« Eddie stellte fest, daß sie langsam in die Höhe gestiegen war. In der Dunkelheit über ihr erklang eine traurige Musik, die sie lang sam in Mollakkorde einhüllte, bis sie völlig verschwunden war. Das Mädchen war verschwunden, als Harry auf die Straße kam. Ebenso der tote Hund. Da ihm sonst nichts einfiel, stapfte er zu Norma Paines Wohnung zurück, aber nur, um Gesellschaft zu ha ben, und nicht wegen der Befriedigung, ihr zu sagen, daß sie sich geirrt hatte. »Ich irre mich niemals«, erzählte sie ihm über den Lärm der fünf Fernseher und ebenso vieler Radios hinweg, die sie ständig eingeschaltet hatte. Diese Kakophonie, behauptete sie, war die einzige Möglichkeit zu erreichen, daß diejenigen aus der Geister welt nicht unablässig in ihre Privatsphäre eindrangen; das Wirr warr schreckte sie ab. »Ich habe die Macht in diesem Haus in der Ridge Street gesehen«, erklärte sie Harry, »klar wie Kloß brühe.« Harry wollte gerade widersprechen, als ihm eines der Fernseh bilder ins Auge fiel. Ein Reporter vor Ort stand auf dem Gehweg gegenüber eines Geschäfts (>Axel's Superette< stand auf dem Schild), aus dem Leichen herausgeschafft wurden. »Was ist?« wollte Norma wissen. »Sieht aus, als wäre ein Bombenanschlag verübt worden«, ant wortete Harry und versuchte, die Stimme des Reporters aus dem Durcheinander der anderen Sender herauszuhören. »Dreh den Ton auf«, sagte Norma. »Ich mag Katastrophen.« Wie sich herausstellte, waren es keine Bomben, die die Verwü stungen angerichtet hatten, sondern Unruhen. Am Vormittag war ein Streit in dem übervollen Geschäft ausgebrochen; warum, wußte niemand so genau. Dieser war jedoch rasch zu einem Blut bad eskaliert. Eine vorsichtige Schätzung sprach von dreißig Toten und doppelt so vielen Verletzten. Der Bericht mit seinen Meldun gen eines spontanen Ausbruchs von Gewalt ließ einen schreckli chen Verdacht in Harry aufkeimen. »Cha'Chat...«, murmelte er. Norma hörte ihn trotz des Lärms in dem kleinen Zimmer. »Warum bist du so sicher?« fragte sie. Harry antwortete nicht. Er hörte sich die Schilderung der Ereig 66
nisse durch den Reporter an und hoffte, er könnte herausfinden, wo sich Axel's Superette befand. Und er fand es heraus. Third Avenue, zwischen Ninety-fourth und Ninety-fifth. »Schön fröhlich bleiben«, sagte er zu Norma, als er sie ihrem Brandy und dem Flüstern der Toten im Badezimmer überließ. Linda hatte das Haus in der Ridge Street als letzte Hoffnung auf gesucht, weil sie dachte, sie würde Bolo vielleicht dort finden. Er war, hatte sie ungefähr ausgerechnet, der wahrscheinlichste Kan didat als Vater für das Kind, das sie in sich trug, aber zu der Zeit hatte es einige seltsame fremde Männer in ihrem Leben gegeben; Männer mit Augen, die in bestimmtem Licht golden glänzten; Männer mit raschem, humorlosem Lächeln. Wie auch immer, Bolo hatte sich nicht in dem Haus aufgehalten, und nun stand sie — wie sie immer geahnt hatte — vollkommen alleine da. Sie konnte nur noch hoffen, daß es ihr gelingen würde, sich hinzulegen und zu sterben. Aber Sterben und Sterben waren zwei Paar Stiefel. Da gab es diese Auslöschung, um die sie Nacht für Nacht betete, einzuschla fen und sich Stück für Stück von der Kälte vereinnahmen lassen. Und es gab diesen anderen Tod, den sie jedesmal sah, wenn Mü digkeit ihr die Lider nach unten zog. Ein Tod, der weder Würde beim Abschied noch Hoffnung auf das Jenseits bereit hielt; der Tod, den ein Mann im grauen Anzug brachte, dessen Gesicht manchmal an einen halb vertrauten Heiligen und manchmal an eine Wand schimmligen Verputzes erinnerte. Sie betete beim Laufen und ging so langsam zum Times Square. Hier im Strom der Kauflustigen, fühlte sie sich eine Zeitlang si cher. Als sie einen kleinen Imbiß gefunden hatte, bestellte sie Eier und Kaffee und stellte die Mahlzeit so zusammen, daß sie genau der erbettelten Summe entsprach. Das Essen veranlaßte das Baby, sich zu regen. Sie spürte, wie es sich im Schlaf drehte und kurz vor dem Aufwachen zu sein schien. Vielleicht sollte sie noch eine Weile kämpfen, dachte sie. Wenn nicht für sich, dann für das Baby. Sie verweilte am Tisch und überdachte das Problem, bis das Murmeln des Inhabers sie beschämt wieder auf die Straße hinaus trieb. Es war Spätnachmittag, das Wetter wurde immer schlimmer. In der Nähe sang eine Frau auf italienisch eine tragische Arie. Den 67
Tränen nahe, wandte sich Linda von dem Schmerz ab, den das Lied vermittelte, und setzte sich wieder ziellos in Bewegung. Als die Menge sie verschluckt hatte, stahl sich ein Mann im grauen Anzug aus der Gruppe davon, die sich um die Diva an der Straßenecke versammelt hatte, und schickte den Jugendlichen, der ihn begleitete, durch das Gewühl nach vorne, um sicherzustellen, daß sie ihre Beute nicht verloren. Marchetti bedauerte, daß er der Darbietung den Rücken kehren mußte. Der Gesang hatte ihm gut gefallen. Ihre Stimme, die sie längst schon in Alkohol ertränkt hatte, lag wiederholt diesen ent scheidenden Halbton neben dem anvisierten Ziel — ein perfektes Testament für das Unperfekte — und machte Verdis hohe Kunst lächerlich, während sie gleichzeitig in Reichweite des Erhabenen kam. Er würde hierher zurückkehren müssen, wenn die Bestie be seitigt war. Wenn er dieser verdorbenen Ekstase lauschte, war er den Tränen näher als seit Monaten, und er weinte so gerne. Harry stand auf der Third Avenue gegenüber von Axel's Superet te und beobachtete die Schaulustigen. Sie hatten sich in der Kälte der hereinbrechenden Nacht zu Hunderten eingefunden, um zu sehen, was es zu sehen gab — und sie wurden nicht enttäuscht. Die Leichen wurden in endloser Folge herausgetragen, in Säcken, in Bündeln, sogar etwas in einem Eimer. »Weiß jemand, was genau sich abgespielt hat?« fragte Harry die anderen Schaulustigen. Ein Mann drehte sich mit von der Kälte gerötetem Gesicht zu ihm um. »Der Mann, dem das Geschäft gehört, hat den Entschluß ge faßt, seine Waren zu verschenken«, sagte er und grinste über diese groteske Vorgehensweise. »Und der Laden wurde niedergerannt. Jemand wurde in dem Gedränge zerquetscht...« »Ich habe gehört, der ganze Ärger fing wegen einer Dose Fleisch an«, meldete sich ein anderer zu Wort. »Jemand wurde mit einer Fleischdose zu Tode geprügelt.« Dieses Gerücht wurde von anderen in Zweifel gezogen; jeder hatte seine Version des Ereignisses. Harry wollte gerade versuchen, Dichtung und Wahrheit zu trennen, als ihn ein Wortwechsel rechts von ihm ablenkte. Ein etwa zehnjähriger Junge hatte seinen Gefährten angesto 68
ßen. »Hast du sie gerochen?« wollte er wissen. Der andere nickte nachdrücklich. »Schlimm, hm?« führte der erste weiter aus. »Da riecht ja Scheiße besser«, lautete die Antwort, worauf beide in verschwörerisches Lachen ausbrachen. Harry sah zum Gegenstand ihres Spotts hinüber. Eine gewaltig übergewichtige Frau, für die Jahreszeit zu leicht angezogen, stand am Rand der Menge und betrachtete den Schauplatz der Katastro phe mit winzigen, funkelnden Augen. Harry hatte die Fragen vergessen, die er den Schaulustigen stel len wollte. Er erinnerte sich so deutlich, als wäre es gestern gewe sen, daran, wie seine Träume die infernalischen Geschwister her aufbeschwörten. Er erinnerte sich nicht an ihre Flüche, nicht ein mal an die Mißbildungen, die sie zur Schau stellten. Er erinnerte sich an ihren Geruch nach verbranntem Haar und Mundgeruch, an in der Sonne verfaultes Kalbfleisch. Er schenkte den Unterhal tungen ringsum keine Beachtung mehr und setzte sich in Rich tung der Frau in Bewegung. Sie sah ihn kommen, und die Fettwülste an ihrem Hals wogten, als sie zu ihm herüberschaute. Es war Cha'Chat, daran hatte Harry keinen Zweifel. Und wie um das zu beweisen, setzte sich die Dämonin im Laufschritt in Bewegung, und ihre Glieder und schwabbelnden Pobacken tanz ten bei jedem Schritt einen Fandango. Als sich Harry durch die Menge gekämpft hatte, bog die Dämonin bereits um die Ecke der Ninety-fifth Street, aber der gestohlene Körper war nicht für Schnelligkeit geschaffen, und so konnte Harry die Entfernung rasch verringern. An mehreren Stellen entlang der Straße waren die Lampen ausgefallen, und als er endlich die Hand nach der Dä monin ausstreckte und etwas reißen hörte, verbarg das Halbdun kel die häßliche Wahrheit volle fünf Sekunden lang, bis ihm klar wurde, daß Cha'Chat irgendwie das in Besitz genommene Fleisch abgestreift hatte und Harry nur einen großen Mantel aus Ekto plasma in der Hand hielt, der bereits schmolz wie überreifer Käse. Die Dämonin, die ihre Last abgeworfen hatte, war entkommen; klein wie die Hoffnung und doppelt so schlüpfrig. Harry ließ den verfaulenden Mantel fallen, setzte die Jagd fort und rief dabei Hesses Silben. Überraschenderweise blieb Cha'Chat wie angewurzelt stehen und drehte sich zu Harry um. Die Augen sahen in jede Richtung, nur nicht himmelwärts; der Mund war aufgerissen und versuchte 69
zu lachen. Es hörte sich an, als würde sich jemand in einen Fahr stuhlschacht erbrechen. »Worte, D'Amour?« sagte sie und ahmte Hesses Silben nach. »Glaubst du denn wirklich, man könnte mich mit Worten aufhal ten?« »Nein«, sagte Harry und pustete ein Loch in Cha'Chats Unter leib, noch ehe eines der vielen Augen der Dämonin die Waffe ge sehen hatte. »Dreckskerl«, heulte sie, »Schwanzlutscher!« und fiel zu Boden, während Blut von der Farbe von Pisse aus dem Loch sprudelte. Harry schlich die Straße entlang zu der Stelle, wo sie lag. Es war fast unmöglich, einen Dämon von Cha'Chats Format mit Kugeln zu vernichten; aber bei ihrem Klan galt eine Narbe als große Schande. Zwei waren fast unerträglich. »Nicht«, flehte sie, als er die Waffe auf ihren Kopf richtete. »Nicht das Gesicht.« »Nenne mir einen guten Grund, warum nicht.« »Du brauchst die Kugeln noch«, lautete die Antwort. Harry hatte Angebote und Drohungen erwartet. Diese Antwort brachte ihn aus der Fassung. »Heute nacht geht etwas um, D'Amour«, sagte Cha'Chat. Das Blut, das eine Lache um sie herum bildete, war dick und milchig geworden wie geschmolzenes Wachs. »Etwas Wilderes als ich.« »Sag mir den Namen«, befahl Harry. Die Dämonin grinste. »Wer weiß?« sagte sie. »Es ist eine seltsa me Zeit, nicht? Lange Nächte. Klarer Himmel. In solchen Nächten werden Wesen geboren, findest du nicht?« »Wo?« sagte Harry und drückte Cha'Chat die Waffe an die Nase. »Du bist ein brutaler Kerl, D'Amour«, sagte sie vorwurfsvoll. »Weißt du das?«
»Sag mir...« Die Augen des Dings wurden dunkler, sein Gesicht schien zu verschwimmen. »Südlich von hier, würde ich sagen . . . « , antwortete sie. »Ein Hotel...« Der Tonfall der Stimme veränderte sich subtil; die Züge verloren ihre Festigkeit. Harrys Zeigefinger juckte, er wollte dem Ding eine Narbe verpassen, die es Zeit seines Lebens von ei nem Siegel fernhalten würde, aber die Dämonin redete noch, und er wollte sie nicht unterbrechen, » . . . i n der Forty-fourth«, sagte 70
sie. »Zwischen Sixth ... Sixth und Broadway.« Die Stimme klang jetzt unbestreitbar weiblich. »Blaue Jalousien«, murmelte sie. »Ich kann blaue Jalousien sehen ...« Beim Sprechen verschwanden die letzten Reste ihrer wahren Gesichtszüge, und plötzlich lag Norma blutend zu Harrys Füßen auf dem Gehweg. »Du würdest doch eine alte Dame nicht erschießen, oder?« flö tete sie. Der Trick dauerte nur Sekunden, aber Harrys Zögern reichte Cha'Chat aus, sich zwischen einer Ebene und der anderen zu be wegen und zu fliehen. Er hatte die Kreatur zum zweitenmal in nerhalb eines Monats verloren. Und um seinem Verdruß die Krone aufzusetzen, fing es auch noch an zu schneien. Das kleine Hotel, das Cha'Chat beschrieben hatte, hatte schon bessere Zeiten gesehen; selbst das Licht in der Halle schien kurz vor dem Erlöschen zu sein. Niemand saß an der Rezeption. Harry wollte gerade die Treppe hinaufgehen, als ein junger Mann, des sen Kopf glatt wie ein Ei rasiert war, abgesehen von einer einzigen Schmalzlocke, die mit Pomade am Schädel klebte, aus dem Halb dunkel trat und ihn am Arm hielt. »Es ist niemand da«, informierte er Harry. In besseren Tagen hätte Harry ihm das Ei wahrscheinlich mit bloßen Fäusten eingeschlagen und es genossen. Heute nacht, dachte er sich, mußte er aber mit dem Schlimmsten rechnen. Da her sagte er nur: »Nun, dann muß ich mir wohl ein anderes Hotel suchen, hm?« Schmalzlocke schien besänftigt; der Griff entspannte sich. Im nächsten Augenblick hatte Harrys Hand die Waffe und die Waffe Schmalzlockes Kinn gefunden. Das Gesicht des Jungen nahm ei nen bestürzten Ausdruck an, als er gegen die Wand sackte und Blut spuckte. Als Harry weiter die Treppe hinaufging, hörte er den Jungen von unten »Darrieux!« rufen. Weder der Ruf noch der Kampf lösten eine Reaktion in einem der Zimmer aus. Das Hotel schien verlassen zu sein. Es war, däm merte Harry langsam, aus einem anderen Grund als Gastfreund schaft ausgewählt worden. Als er den Treppenabsatz entlang ging, ertönte der Schrei einer 71
Frau, der anfing, aber nie beendet wurde. Er blieb wie angewur zelt stehen. Schmalzlocke sprang hinter ihm zwei oder drei Stufen auf einmal die Treppe herauf; vor ihm starb etwas. Das konnte kein gutes Ende nehmen, vermutete Harry. Dann ging die Tür am Ende des Flurs auf, und aus dem Ver dacht wurde eine unumstößliche Tatsache. Ein Mann im grauen Anzug stand auf der Schwelle und streifte gerade ein blutiges Paar Chirurgenhandschuhe ab. Harry kannte ihn vage; tatsächlich erkannte er schon seit Schmalzlocke den Namen seines Arbeitge bers gerufen hatte, ein schreckliches Muster in alledem. Das war Darrieux Marchetti, auch der Brenner genannt, ein Mitglied des Ordens theologischer Assassinen, von dem nur hinter vorgehalte ner Hand gesprochen wurde und dessen Anweisungen direkt von Rom oder der Hölle oder beidem kamen. »D'Amour«, sagte er. Harry mußte gegen den Impuls kämpfen, sich geschmeichelt zu fühlen, weil man sich an ihn erinnerte. »Was ist hier passiert?« wollte er wissen und ging einen Schritt auf die offene Tür zu. »Privatsache«, beharrte der Brenner. »Bitte, nicht näher.« Kerzen brannten in dem kleinen Raum, und in deren Schein konnte Harry die Leichen sehen, die auf dem unbezogenen Bett lagen. Die Frau aus dem Haus in der Ridge Street und ihr Kind. Beide waren mit römischer Zielstrebigkeit erledigt worden. »Sie protestierte«, sagte Marchetti, den es nicht übermäßig zu kümmern schien, daß Harry das Ergebnis seiner Arbeit sehen konnte. »Ich wollte nur das Kind.« »Was ist es?« wollte Harry wissen. »Ein Dämon?« Marchetti zuckte die Achseln. »Das werden wir nie erfahren«, sagte er. »Aber um diese Jahreszeit versucht sich für gewöhnlich etwas einzuschleichen. Wir gehen lieber auf Nummer sicher statt hinterher zu jammern. Außerdem gibt es Leute — zu denen ich mich übrigens auch zähle —, die an ein Übermaß an Messiahs glauben...« »Messiahs?« sagte Harry. Er sah den winzigen Leichnam wie der an. »Eine Macht war hier, vermute ich«, sagte Marchetti. »Aber es hätte sich in beide Richtungen entwickeln können. Seien Sie dankbar, D'Amour. Ihre Welt ist noch nicht bereit für eine Offen barung.« Er sah an Harry vorbei zu dem Jungen, der am oberen 72
Ende der Treppe stand. »Patrice. Sei ein Engel und bring das Auto her, ja? Ich komme zu spät zur Messe.« Er warf die Handschuhe auf das Bett. »Sie stehen nicht über dem Gesetz«, sagte Harry. »Oh, bitte«, protestierte der Brenner, »reden wir keinen Unsinn. Es ist zu spät in der Nacht.« Harry verspürte einen stechenden Schmerz am Schädelansatz und ein warmes Rinnsal, wo Blut floß. »Patrice denkt, Sie sollten nach Hause gehen, D'Amour. Und ich ebenfalls.« Die Messerspitze wurde ein bißchen tiefer hineingebohrt. »Ja?« sagte Marchetti. »Ja«, sagte Harry. »Er war hier«, sagte Norma, als Harry wieder bei ihr im Haus war. »Wer?« »Eddie Axel von Axel's Superette. Er kam klar wie der lichte Tag durch.« »Tot?« »Selbstverständlich tot. Er hat in seiner Zelle Selbstmord be gangen. Fragte mich, ob ich seine Seele gesehen hätte.« »Was hast du geantwortet?« »Ich bin Telefonistin, Harry, ich stelle die Verbindungen nur her. Ich tue nicht so, als würde ich die Metaphysik verstehen.« Sie griff nach der Flasche Brandy, die Harry neben ihr auf den Tisch neben ihrem Sessel gestellt hatte. »Wie nett von dir«, sagte sie. »Setz dich. Trink.« »Ein andermal Norma. Wenn ich nicht so müde bin.« Er ging zur Tür. »Übrigens«, sagte er, »du hattest recht. Es war etwas in der Ridge Street...« »Wo ist es jetzt?« »Fort... nach Hause.« »Und Cha'Chat?« »Immer noch irgendwo da draußen. Und übelster Laune ...« »Manhattan hat schon Schlimmeres erlebt, Harry.« Das war ein schwacher Trost, aber Harry murmelte trotzdem zustimmend, als er die Tür hinter sich schloß. Es schneite immer heftiger. Er stand auf der Treppe und sah zu, wie die Flocken im Licht der Lampen tanzten. Keine zwei, hatte er einmal gelesen, waren 73
je identisch. Wenn schon einer bescheidenen Schneeflocke eine derartige Vielfalt offen stand, konnte es da überraschen, daß die Ereignisse so unvorhersehbare Züge trugen? Jeder Augenblick war sein eigener Herr, überlegte er, während er den Kopf zwischen die Zähne des Schneesturms steckte, und er mußte sich damit trösten, daß es zwischen dieser kalten Stunde und der Dämmerung unzählige solcher Augenblicke gab — mög licherweise blind, wild und gierig —, aber alle zumindest begierig darauf, geboren zu werden. Aus dem Englischen von Joachim Körber
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DEAN R. KOONTZ
Unten in der Dunkelheit wohnt in den Besten von uns. In den Schlimmsten Dunkelheit von uns wohnt die Dunkelheit nicht nur, dort regiert sie. Ich habe der Dunkelheit wohl ab und an Wohnstatt gegeben, ihr aber freilich nie ein Königreich angeboten. Das jedenfalls glau be ich. Ich betrachte mich als grundsätzlich guten Menschen: ein harter Arbeiter, liebender und treuer Ehemann, strenger, aber ge rechter Vater. Aber wenn ich den Keller noch einmal benütze, kann ich nicht mehr so tun, als könnte ich mein Potential des Bösen unterdrük ken. Wenn ich den Keller noch einmal benütze, werde ich in einer ewigen moralischen Sonnenfinsternis existieren und hernach nie wieder im Licht wandeln. Aber die Versuchung ist groß. Ich entdeckte die Kellertür erstmals zwei Stunden nachdem wir die letzten Verträge unterschrieben, der Maklerfirma den Scheck für das Haus übergeben und die Schlüssel bekommen hatten. Sie war in der Küche, in der Ecke hinter dem Kühlschrank: eine Fur niertür, wie alle anderen im Haus nachgedunkelt, mit einer Klinke anstelle des üblichen Knaufs. Ich betrachtete sie ungläubig, denn ich war sicher, daß die Tür vorher nicht dort gewesen war. Anfangs dachte ich, ich hätte eine Vorratskammer entdeckt. Als ich die Tür aufmachte, sah ich zu meiner Verblüffung Stufen, die durch zunehmende Schatten in völlige Schwärze hinabführten. Ein Keller ohne Fenster. In Südkalifornien sind fast sämtliche Häuser — von den billi gen Reihenhäusern bis zu denen von Multimillionären — auf Be tonfundamenten erbaut. Sie haben keine Keller. Das ist eine zweckdienliche Bauweise. Das Land ist weitgehend sandig, mit wenig Felsgestein nahe der Oberfläche. Und in einem Land, das für Erdbeben und Erdrutsche bekannt ist, wäre ein Keller aus Hohlblocksteinen eine Schwachstelle der Konstruktion, in die
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sämtliche Zimmer darüber abstürzen könnten, sollten die Riesen in der Erde plötzlich erwachen und sich strecken. Unser neues Heim war weder Hütte noch Villa, aber es hatte ei nen Keller. Das hatte der Makler nicht erwähnt. Und bis jetzt war es keinem aufgefallen. Als ich die Stufen hinuntersah, war ich zuerst neugierig, dann nervös. Gleich hinter der Tür befand sich ein Lic htschalter. Ich drückte ihn hoch, runter, wieder hoch. Kein Licht ging unten an. Ich ließ die Tür offen und machte mich auf die Suche nach Car men. Sie war im Elternschlafzimmer, hatte die Arme um sich ge schlungen, grinste und bewunderte die handgefertigten, sma ragdgrünen Keramikfliesen und die Waschbecken von Sherle Wagner mit ihren vergoldeten Armaturen. »O Jess, ist es nicht herrlich? Ist es nicht toll? Als kleines Mäd chen hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich einmal in so einem Haus leben würde. Ich hätte bestenfalls auf einen dieser netten Bungalows aus den vierziger Jahren gehofft. Aber dies ist eir Pa last, und ich bin nicht sicher, ob ich mich wie eine Königin beneh men kann.« »Es ist kein Palast«, sagte ich und legte einen Arm um sie. »Man muß Rockefeller sein, wenn man sich in Orange County ei nen Palast kaufen will. Und außerdem hast du schon immer Stil und Benehmen einer Königin gehabt.« Sie löste die Arme von ihrem Körper und schlang sie um mich. »Wir haben es weit gebracht, was?« »Und wir werden es noch weiter bringen, Kindchen.« »Weißt du, ich habe ein bißchen Angst.« »Sei nicht albern.« »Jess, Liebster, ich bin nur Köchin, Tellerwäscherin, Topf schrubberin, eine Generation von einer Wellpapphütte am Stadt rand von Mexico City entfernt. Wir haben dafür gearbeitet, sicher, und zwar viele Jahre ... aber jetzt, wo wir hier sind, scheint es über Nacht passiert zu sein.« »Glaub mir, Kindchen — du würdest in jeder Versammlung von Damen der Gesellschaft in Newport Beach eine gute Figur ma chen. Du hast von Natur aus Klasse.« Ich dachte: O Gott, ich liebe sie so sehr. Siebzehn Jahre verhei ratet, und für mich ist sie immer noch ein Mädchen, immer noch frisch und voller Überraschungen und reizend. 76
»He«, sagte ich, »fast hätte ich es vergessen. Weißt du, daß wir einen Keller haben?« Sie blinzelte mich an. »Es stimmt«, sagte ich. Sie lächelte und wartete immer noch auf die Pointe, als sie sag te: »Ach ja? Und was ist da unten? Der königliche Kerker mit sämtlichen Kronjuwelen? Ein Verlies?« »Sieh selbst«, sagte ich. Sie folgte mir in die Küche. Die Tür war nicht mehr da. Ich betrachtete die kahle Wand und war einen Augenblick starr wie gefroren. »Und?« fragte sie. »Wo ist der Witz?« Ich taute gerade soweit auf, daß ich sagen konnte: »Kein Witz. Da war... eine Tür.« Sie deutete auf den Umriß eines Küchenfensters, der von der einfallenden Sonne auf die Wand gezeichnet wurde. »Wahr scheinlich hast du das gesehen. Das Rechteck des Sonnenlichts, das durch das Fenster auf die Wand fällt. Es hat mehr oder weni ger die Form einer Tür.« »Nein. Nein . . . da war ...« Ich schüttelte den Kopf, legte eine Hand auf den von der Sonne erwärmten Verputz und strich sanft die Umrisse nach, als würde sich der Türspalt dem Tastsinn eher offenbaren als dem Auge. Carmen runzelte die Stirn. »Jess, was hast du denn?« Ich sah sie an und stellte fest, was sie dachte. Dieses reizende Haus schien zu schön, um wahr zu sein, und sie war so abergläu bisch, daß sie sich fragte, ob man sich lange an diesem großen Glück erfreuen konnte, ohne daß uns das Schicksal die Last einer Tragödie zuwarf, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Ein überarbeiteter Mann, der unter Streß litt — oder womöglich einen kleinen Gehirntumor hatte — und anfing, Sachen zu sehen, die gar nicht da waren, und aufgeregt von nicht existierenden Kellern sprach ... Das war genau die Art von schlimmem Ereignis, mit de nen das Schicksal nur allzu häufig die Waagschalen wieder ins Gleichgewicht bringt. »Du hast recht«, sagte ich. Ich zwang mich zu einem Lachen, aber es gelang mir, daß es sich natürlich anhörte. »Ich habe das er leuchtete Rechteck auf der Wand gesehen und für eine Tür gehal ten. Ich habe nicht mal genau hingesehen. Bin gleich zu dir gelau 77
fen. Hat mich dieses Haus verrückt wie einen Affen gemacht, oder was?« Sie sah mich einen Moment ernst an, dann lächelte sie ebenfalls wie ich. »Verrückt wie einen Affen. Aber ... das bist du schon im mer gewesen.« »Stimmt das?« »Mein Affe«, sagte sie. Ich sagte: »Uuk, uuk«, und kratzte mich unter einem Arm. Glücklicherweise hatte ich ihr nicht gesagt, daß ich die Tür auf gemacht hatte. Oder die Stufen nach unten gesehen hatte. Das Haus in Laguna Beach hatte fünf große Zimmer, vier Bäder und ein gewaltiges Wohnzimmer mit offenem Kamin aus Stein. Darüber hinaus hatte es eine, wie sie sagten >Entertainer-Küche<, was selbstverständlich nicht bedeutete, daß Wayne, Newton oder Liberace dort zwischen Gastspielen in Las Vegas auftraten, son dern sich auf Qualität und Anzahl der Geräte bezog: doppelter Herd, zwei Mikrowellen, ein Heißluftherd für Brötchen und Back waren, ein Kochzentrum Marke Jenn Air, zwei Geschirrspülma schinen und noch einen SubZero-Kühlschrank, der groß genug für eine Kantinenküche gewesen wäre. Jede Menge große Fenster ließen die warme Sonne Kaliforniens herein und bildeten Rahmen für die üppige Landschaft dahinter — gelbe und korallenrote Bou gainvilleen, weinrote Azaleen, Springkraut, Palmen, zwei ein drucksvolle indische Lorbeerbäume — sowie die angrenzenden Hügel. In der Ferne glitzerte das sonnenbeschienene Wasser des Pazifik faszinierend wie ein gewaltiger Schatz Silbermünzen. Es war zwar keine Villa, aber zweifellos ein Haus, das sagte: >Die Familie Gonzalez hat Erfolg gehabt und sich ein schönes Heim geschaffene Meine Leute wären darauf wohl sehr stolz gewesen. Maria und Ramon, meine Eltern, waren Einwanderer aus Mexi ko gewesen, die sich in El Norte, dem gelobten Land, ein neues Leben aufgebaut hatten. Sie hatten mir, meinen Brüdern und mei ner Schwester alles gegeben, was Arbeit und Opfer geben konn ten, und wir hatten alle vier Stipendien der Universität erhalten. Heute war ein Bruder von mir Anwalt, der andere Arzt, und mei ne Schwester war Vorsitzende der englischen Fakultät der Univer sity of Californi? La Los Angeles, UCLA. Ich hatte mir eine Laufbahn im Gaststättengewerbe erkoren. 78
Zusammen hatten Carmen und ich ein Restaurant eröffnet, für das ich die geschäftliche Erfahrung mitbrachte, sie die authenti schen mexikanischen Rezepte, und wo wir beide zwölf Stunden täglich, sieben Tage die Woche arbeiteten. Als unsere drei Kinder heranwuchsen, arbeiteten sie als Kellner bei uns. Es war ein Fami lienbetrieb, und es ging uns jedes Jahr besser, aber leicht war es nie. Amerika bietet keinen leichten Reichtum, lediglich Gelegen heiten. Wir ergriffen die Maschinerie der Gelegenheiten, schmier ten sie mit Meeren von Schweiß, und als wir das Haus in Laguna Beach kauften, konnten wir es bar bezahlen. Wir gaben dem Haus im Scherz einen Namen: Casu Sudor -— Haus des Schweißes. Es war ein großes Haus. Und wunderschön. Es hatte alles. Sogar einen Keller mit einer Tür, die verschwand. Der Vorbesitzer war Mr. Nguyen Quang Phu. Unsere Maklerin — eine stämmige, quirlige Frau in mittleren Jahren namens Nancy Keefer — sagte, daß Phu ein vietnamesischer Flüchtling war, einer der mutigen Bootsflüchtlinge, die Monate nach dem Fall von Sai gon geflohen waren. Er gehörte zu den Glücklichen, die Stürme, Kanonenboote und Piraten überlebt hatten. »Er kam in den Vereinigten Staaten mit nur dreitausend Dollar in Goldmünzen und der Entschlossenheit an, etwas aus sich zu machen«, sagte Nancy Keefer uns bei der ersten Hausbesichti gung. »Ein charmanter Mann, und ungeheuer erfolgreich. Wirk lich sagenhaft. Er hat aus diesem bescheidenen Vorrat an Münzen einen Berg Besitztümer angehäuft, den Sie sich nicht vorstellen können. Und das alles in nur vierzehn Jahren! Sagenhafte Ge schichte. Er hat sich ein neues Haus gebaut, vierhundert Quadrat meter Wohnfläche auf einem Grundstück von achtzig Ar in North Tustin, sagenhaft, echt sagenhaft. Sie sollten es sich einmal anse hen, unbedingt.« Carmen und ich machten ein Angebot für Phus altes Haus, das kaum halb so groß wie das war, welches er vor kurzem erbaut hat te, aber für uns war es dennoch ein Traum. Wir feilschten ein we nig, wurden uns aber schließlich handelseinig, und der Verkauf ging in nur zehn Tagen über die Bühne, weil wir bar bezahlten und keine Hypothek brauchten. Die Überschreibung wurde abgewickelt, ohne daß Nguyen Quang Phu und ich einander von Angesicht zu Angesicht gegen überstanden. Das ist keine ungewöhnliche Situation, da es in Ka lifornien, anders als in anderen Bundesstaaten, nicht erforderlich 79
ist, daß sich Käufer, Verkäufer und deren Anwälte zu einer ab schließenden Zeremonie gemeinsam in einem Raum einfinden. Zu Nancy Keefers Gepflogenheiten gehörte es, einen oder zwei Tage nach Vertragsabschluß ein Treffen zwischen Käufer und Ver käufer im Haus zu vereinbaren. Unser neues Zuhause war zwar wunderschön und in erstklassigem Zustand, aber selbst die be sten Häuser haben ihre Macken. Nancy fand es gut, wenn der Verkäufer den Käufer noch einmal herumführte und ihn darauf hinwies, welche Schranktüren gern aus den Führungsschienen rutschten und welche Fenster bei Regen nicht dicht waren. Sie vereinbarte, daß sich Phu am Mittwoch, dem 14. Mai mit mir im Haus traf. Am Montag, den 12. Mai schlossen wir die Prozedur ab. Das war der Nachmittag, an dem ich die Kellertür zum erstenmal sah, als ich durch das leere Haus schlenderte. Dienstagmorgen kehrte ich allein in das Haus zurück. Ich sagte Carmen nicht, wohin ich wirklich ging. Sie glaubte, ich wäre im Büro von Horace Dalcoe und würde ihm wegen seines jüngsten Ausbeutungsplans zusetzen. Dalcoe war Inhaber des kleinen Freiluft-Einkaufszentrums, in dem sich unser Restaurant befand, und er war ganz genau der Typ Mann, für den das Wort >Halsabschneider< geprägt worden war. Unser Mietvertrag, den wir unterschrieben hatten, als Carmen und ich noch ärmer und naiv waren, gab ihm das Recht, bei jeder geringsten Veränderung Einfluß zu nehmen, die wir auf dem Ge lände machten. Als wir sechs Jahre nach der Eröffnung unser Re staurant für 300 000 Dollar renovieren wollten — eine Wertsteige rung seines Eigentums —, mußten wir Dalcoe daher zehntausend Dollar steuerfrei unter der Hand für sein Okay geben. Als ich den Mietvertrag der Schreibwarenhandlung nebenan aufkaufte, damit wir vergrößern konnten, beharrte Dalcoe auf einer stolzen Sum me für seine Zustimmung. Er interessierte sich freilich nicht nur für Batzen, sondern auch für Heller; als ich eine neue, anspre chendere Eingangstür in das Restaurant einbauen ließ, verlangte Dalcoe lausige hundert Piepen unter der Hand, damit er dieser Kleinigkeit zustimmte. Jetzt wollten wir unser altes Schild durch ein neues ersetzen, und ich verhandelte mit Dalcoe über das Schmiergeld. Er hatte keine Ahnung, aber ich wußte inzwischen, daß ihm das Land, auf 80
dem sein eigenes kleines Einkaufszentrum stand, gar nicht gehör te; er hatte vor zwanzig Jahren einen Pachtvertrag über neunund neunzig Jahre abgeschlossen und sich damit sicher gefühlt. Wäh rend ich um ein neues Schmiergeld mit ihm feilschte, verhandelte ich insgeheim über einen Kauf des Landes, wonach Dalcoe her ausfinden würde, daß er mir zwar aufgrund meines Pachtvertrags das Messer auf die Brust setzen konnte, ich aber aufgrund seines Pachtvertrags ihm das Messer auch auf die Brust setzen konnte. Er hielt mich immer noch für einen dummen Mex, vielleicht zweite Generation, aber nichtsdestotrotz ein Mex; er dachte, ich hätte et was Glück in der Restaurantbranche gehabt, Glück und mehr nicht, und schrieb mir keinerlei Intelligenz oder Tüchtigkeit zu. Es würde nicht gerade so sein, daß der kleine Fisch den großen fraß, aber ich hoffte doch, ein zufriedenstellendes Patt herbeizuführen, bei dem er wütend und ohnmächtig sein würde. Diese Verwicklungen, die schon seit einiger Zeit andauerten, gaben mir eine glaubwürdige Ausrede für meine Abwesenheit am Dienstagmorgen. Ich sagte Carmen, ich würde mit Dalcoe in des sen Büro feilschen. In Wahrheit ging ich in unser neues Haus und hatte Schuldgefühle, weil ich sie belogen hatte. Als ich die Küche betrat, war die Tür dort, wo ich sie tags zuvor gesehen hatte. Kein Rechteck aus Sonnenschein. Keine bloße Illu sion. Eine echte Tür. Ich drückte die Klinke nieder. Dahinter führten Stufen in die Dunkelheit hinab. »Was denn?« sagte ich. Meine Stimme hallte zu mir zurück, als wäre sie tausend Meilen entfernt von einer Wand abgeprallt. Der Lichtschalter funktionierte immer noch nicht. Ich hatte aber eine Taschenlampe mitgebracht. Ich schaltete sie ein. Ich trat über die Schwelle. Der Treppenabsatz aus Holz knarrte; die Dielen waren alt, ungestrichen, rauh. Von grauen und gelben Flecken übersät, mit einem Netz haarfeiner Risse durchzogen, die verputzten Wände sahen aus, als wären sie viel älter als das Haus selbst. Der Keller gehörte eindeutig nicht zu diesem Gebäude, war kein integraler Bestandteil davon. Ich trat vom Absatz auf die er ste Stufe. Eine furchterregende Möglichkeit fiel mir ein. Was war, wenn ein Luftzug die Tür hinter mir zuschlug — die dann verschwand wie gestern und mich im Keller einsperrte? 81
Ich ging zurück und machte mich auf die Suche nach etwas, um die Tür festzustecken. Es befanden sich keine Möbel im Haus, aber in der Garage fand ich ein Brett, sechzig auf eins zwanzig, das ausreichend war. Ich stellte mich erneut auf die oberste Stufe und leuchtete hin ab, aber der Strahl reichte nicht so weit, wie er sollte. Ich konnte den Kellerboden nicht sehen. Die pechschwarze Finsternis unten war unnatürlich tief. Es handelte sich um eine Dunkelheit, die nicht nur das Fehlen von Licht war, sondern Substanz, Beschaf fenheit und Masse zu haben schien, als wäre der Kellerraum ein Pool voll Öl, was er selbstverständlich nicht war. Die Dunkelheit absorbierte das Licht wie ein Schwamm; nur zwölf Stufen wurden von dem fahlen Strahl erhellt, bevor dieser in der Düsternis er losch. Ich ging zwei Stufen hinunter, und zwei weitere Stufen erschie nen am Ende des Lichtkegels. Ich ging weitere vier hinab, und wieder tauchten unten vier auf. Sechs Stufen hinter mir, eine unter meinen Füßen, und zwölf vor mir — bis jetzt neunzehn. Wie viele Stufen erwartete man in einem gewöhnlichen Keller? Zehn? Zwölf? Ganz sicher nicht so viele. Rasch und leise ging ich weitere sechs Stufen hinunter. Als ich stehenblieb, waren zwölf Stufen vor mir beleuchtet. Trockene, ur alte Dielen. Hier und da glitzerte ein rostfreier Nagelkopf. Diesel ben fleckigen Wände. Ich drehte mich nervös zur Tür um, die dreizehn Stufen über mir lag. Das Sonnenlicht in der Küche sah warm und einladend aus — und ferner, als es sein sollte. Meine Hände hatten angefangen zu schwitzen. Ich nahm die Taschenlampe von einer Hand in die andere und wischte mir die Handflächen an den Hosen ab. Ein vager Zitronengeruch hing in der Luft, und darunter, noch flüchtiger, das Aroma von Schimmel und Verwesung. Ich ging eilig und lautstark noch einmal sechs Stufen hinunter, dann acht, noch einmal acht und wieder sechs: Jetzt stiegen ein undvierzig hinter mir empor — und immer noch waren vor mir zwölf im Lichtstrahl. Jede Stufe war etwa fünfundzwanzig Zentimeter hoch, was be deutete, ich war schätzungsweise drei Stockwerke nach unten ge gangen. Kein gewöhnlicher Keller hatte eine so lange Treppe. Ich 82
sagte mir, daß es sich um einen Luftschutzraum handeln konnte, wußte aber, daß es nicht so war. Bis jetzt dachte ich nicht daran, wieder umzukehren. Ver dammt, dies war unser Haus, für das wir ein kleines Vermögen bar bezahlt hatten, und ein größer es Vermögen an Zeit und Schweiß, und wir konnten nicht mit so einem Geheimnis unter unseren Füßen darin leben, ohne es zu erforschen. Außerdem, als ich zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig war, fern der Heimat und in Feindeshand, hatte ich zwei Jahre so intensiven und kon stanten Entsetzens durchgemacht, daß meine Angstschwelle hö her war als die der meisten Menschen. Hundert Stufen weiter blieb ich erneut stehen, weil ich mir aus rechnete, daß ich mittlerweile zehn Stockwerke unter der Erde sein mußte, und das war ein Meilenstein, der ein gewisses Maß Nachdenken erforderlich machte. Ich drehte mich um, sah hoch und erblickte das Licht in der offenen Küchentür weit über mir, ein opalisierendes Rechteck, das kaum ein Viertel so groß wie eine Briefmarke zu sein schien. Ich sah nach unten und betrachtete die acht Holzstufen, die vor mir beleuchtet waren — acht, nicht die üblichen zwölf. Je tiefer ich gekommen war, desto wirkungsloser war die Taschenlampe ge worden. Aber die Batterien wurden nicht schwach, so einfach oder erklärbar war das Problem nicht. Dort, wo er durch die Linse kam, war der Lichtstrahl so stark wie eh und je. Aber die Dunkel heit voraus war irgendwie dichter, gieriger, sie absorbierte das Licht auf kürzere Entfernung als weiter oben. Die Luft roch immer noch vage nach Zitrone, aber der Schim melgeruch war inzwischen fast genauso stark wie dieser angeneh mere Duft. Diese unterirdische Welt war unnatürlich still, abgesehen von meinen Schritten und meinem zunehmend keuchenden Atem. Aber als ich an diesem zehn Stockwerke tief gelegenen Punkt ver weilte, bildete ich mir ein, ich würde unten etwas hören. Ich hielt den Atem an, blieb reglos stehen und lauschte. Ich glaubte, weit entfernt seltsame, verstohlene Laute zu hören — Flüstern und ölig plitschende Geräusche —, aber sicher war ich nicht. Sie waren schwach und kurzlebig. Ich konnte sie mir auch eingebildet haben. Ich ging nochmals zehn Stufen hinunter und kam endlich auf einen Absatz, wo ich gegenüberliegende Torbögen in den Mauern 83
der Treppe sah. Beide Öffnungen waren ohne Türen und schmucklos, hinter jeder offenbarte meine Taschenlampe einen kurzen Flur. Ich trat durch den Torbogen links von mir und folgte dem schmalen Flur etwa fünfzehn Schritte weit, bis dieser am An fang einer weiteren Treppe aufhörte, die rechtwinklig zur Treppe, die ich gerade hinter mir gelassen hatte, abwärts verlief. Hier war der Verwesungsgeruch stärker. Er erinnerte mich an den durchdringenden Gestank verfaulender Vegetation. Der Gestank war wie ein Spaten, der längst vergrabene Erinne rungen freilegt. Ich hatte genau diesen Geruch schon einmal wahrgenommen, und zwar an dem Ort, wo ich während meines zweiundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten Lebensjahrs ge fangengehalten worden war. Dort waren manchmal Mahlzeiten serviert worden, die größtenteils aus verfaultem Gemüse bestan den hatten — weitgehend Rüben, Süßkartoffeln und andere Knol len. Noch schlimmer, der Abfall, den wir nicht aßen, wurde in die Schwitzbox geworfen, ein Loch im Boden mit Blechdach, in dem aufsässige Gefangene mit Einzelhaft bestraft wurden. In diesem Loch war man gezwungen, in dreißig Zentimeter tiefem Schleim zu hocken, der so stark nach Fäulnis roch, daß man in von der Hitze erzeugten Halluzinationen manchmal glaubte, man wäre bereits tot und würde die unaufhaltsam fortschreitende Verwe sung des eigenen leblosen Fleisches riechen. »Was geht hier vor?« fragte ich, wartete, erhielt aber keine Ant wort. Ich kehrte zur Haupttreppe zurück und betrat den Flur zur Rechten. Am Ende dieses Korridors führte ebenfalls eine zweite Treppe rechtwinklig nach unten. Aus den unergründlichen Tiefen drang ein anderer übler Geruch herauf, den ich ebenfalls kannte: verfaulende Fischköpfe. Nicht einfach nur verfaulender Fisch, sondern speziell Fisch köpfe — wie sie die Wachen manchmal in unsere Suppe getan hat ten. Dann standen sie grinsend da und sahen zu, wie wir gierig die Brühe schlürften. Wir würgten daran, waren aber normaler weise zu hungrig, um sie unter Protest auf den Boden zu schüt ten. Manchmal würgten wir verhungernd auch die ekelhaften Fischköpfe hinunter, was die Wachen am liebsten sahen. Sie fan den unsere Abscheu — besonders die vor uns selbst — stets be sonders amüsant. Ich ging hastig zur Haupttreppe zurück. Ich stand auf dem Ab 84
satz in zehn Stockwerken Tiefe, schlotterte unbeherrscht und ver suchte, die unerwünschten Erinnerungen abzuschütteln. Inzwischen war ich halb überzeugt, daß ich träumte oder tat sächlich einen Gehirntumor hatte, der Druck auf das umliegende Hirngewebe ausübte und der dadurch diese Halluzinationen er zeugte. Ich ging weiter abwärts und stellte fest, daß die Reichweite mei ner Taschenlampe Stufe für Stufe nachließ. Jetzt konnte ich nur sieben Stufen voraussehen ... sechs ... fünf... vier... Plötzlich war die undurchdringliche Dunkelheit nur zwei Schritte vor mir, eine schwarze Masse, die in Erwartung meines letzten, endgültigen Schritts in ihre Umarmung förmlich zu pul sieren schien. Sie schien zu leben. Und doch war dies nicht das Ende der Treppe, denn ich hörte tief unten wieder dieses Flüstern, ebenso das ölige Putschen, das Gänsehaut auf meinen Armen erzeugte. Ich streckte eine zittrige Hand aus. Sie verschwand in der Dun kelheit, die bitter kalt war. Mein hämmerndes Herz suchte einen Ausweg aus dem Ge fängnis meiner Rippen, mein Mund war plötzlich trocken und säuerlich. Ich stieß einen Schrei aus, der sich wie das schrille Krei schen eines Kindes anhörte, und da floh ich schließlich zurück in die Küche und ins Licht. Am Abend begrüßte ich die Gäste im Restaurant und führte sie zu ihren Plätzen. Selbst nach all den Jahren verbrachte ich die mei sten Abende am Empfangstisch, begrüßte Leute, spielte den Gast geber. Normalerweise habe ich Spaß daran. Viele Kunden kom men seit einem Jahrzehnt zu uns, sind somit ehrwürdige Angehö rige der Familie, alte Freunde. Aber an diesem Abend war ich nicht mit dem Herzen dabei, und mehrere Besucher fragten mich, ob ich krank wäre. Tom Gatlin, mein Buchhalter, kam mit seiner Frau zum Essen vorbei. Er sagte: »Jess, um Gottes willen Sie sind ja ganz grau. Ihr Urlaub ist seit drei Jahren überfällig, mein Freund. Was hat es für einen Sinn, Geld zu horten, wenn man sich keine Zeit nimmt, es zu genießen.« Glücklicherweise ist das Personal des Restaurants erstklassig. Neben Carmen, mir und den Kindern — Stacy, Heather und der junge Joe — haben wir zweiundzwanzig Angestellte, und jeder 85
einzelne kennt seine Aufgabe und erledigt sie gewissenhaft. Ich war nicht in Bestform, aber es gab genügend andere, die in die Bresche springen konnten. Stacy, Heather und Joe. Sehr amerikanische Namen. Komisch. Meine Mutter und mein Vater, Einwanderer, klammerten sich an die Welt, die sie zurückgelassen hatten, indem sie ihren Kindern ausnahmslos traditionelle mexikanische Namen gegeben hatten. Bei Carmens Eltern war es ebenso: Ihre Brüder hießen Jüan und Jose, der Name ihrer Schwester ist Evalina. Mein Name lautete ur sprünglich Jesus Gonzalez. Ich habe ihn vor Jahren in Jess ändern lassen, obwohl meinen Eltern das weh getan hat. Jesus ist ein ge bräuchlicher Name in Mexiko. (Die Spanier sprechen ihn >Hay seuss< aus, aber die meisten Nordamerikaner wie den Namen des christlichen Erlösers. Und wenn man mit einem derart exotischen Namen gestraft ist, kann man unmöglich als einer von den Jungs oder als ernst zu nehmender Geschäftspartner betrachtet wer den.) Es ist interessant, daß die Kinder von Einwanderern, Ameri kaner der zweiten Generation wie Carmen und ich, ihren Kindern für gewöhnlich die populärsten amerikanischen Namen geben, als wollten sie verbergen, wie kurz die Zeitspanne war, seit unsere Vorfahren vom Schiff gegangen sind — oder, in diesem Fall, den Rio Grande überquert haben. Stacy, Heather, Joe. So wie es keine eifrigeren Christen gibt als die erst kürzlich zum Glauben bekehrten, so gibt es auch keine geflissentlicheren Amerikaner als diejenigen, deren Anspruch auf Staatsbürger schaft mit ihnen oder ihren Eltern beginnt. Wir wollen mit aller Verzweiflung Teil dieses großen, weiten, verrückten Landes sein. Anders als viele, deren Wurzeln Generationen zurückreichen, ver stehen wir, was für ein Segen es ist, unter dem Sternenbanner zu leben. Wir wissen auch, daß für diesen Segen ein Preis bezahlt werden muß, und der ist manchmal hoch. Teilweise besteht er darin, daß wir alles zurücklassen müssen, was wir einst waren. Manchmal jedoch wird auch ein schmerzlicherer Preis gefordert, wie ich selbst nur zu gut weiß. Ich habe in Vietnam gedient. Ich war im Gefecht. Ich habe den Feind getötet. Und ich war Kriegsgefangener. Dort habe ich die Suppe mit den verfaulten Fischköpfen geges sen. Das gehörte zum Preis, den ich bezahlen mußte. 86
Während ich jetzt an den unmöglichen Keller unter unserem neuen Haus dachte und mich an die Gerüche des Kriegsgefange nenlagers erinnerte, die aus der Dunkelheit am Ende dieser Trep pe emporgedrungen waren, fragte ich mich allmählich, ob ich den Preis immer noch bezahlte. Ich war vor sechzehn Jahren nach Hause zurückgekehrt — abgemagert, die Hälfte meiner Zähne verfault. Ich war ausgehungert und gefoltert, aber nicht gebro chen worden. Ich hatte jahrelang Alpträume gehabt, aber keine psychiatrische Behandlung gebraucht. Ich hatte es überstanden, wie viele Jungs in den nordvietnamesischen Höllenlöchern. Schlimm verbogen, vernarbt, angeknackst — aber, verflucht, nicht gebrochen. Irgendwo hatte ich meinen Katholizismus verloren, aber das schien damals ein verschmerzbarer Verlust zu sein. Jahr für Jahr hatte ich die Erfahrung hinter mir gelassen. Teil des Prei ses. Teil dessen, was wir bezahlen, damit wir sein dürfen, wo wir sind. Vergessen. Aus. Vorbei. Und es schien, als hätte ich es über wunden. Bis jetzt. Der Keller konnte nicht echt sein, was bedeute te, ich mußte lebhafte Halluzinationen haben. Konnte es sein, daß das mit aller Macht unterdrückte emotionale Trauma von Gefan genschaft und Folter nach all den Jahren profunde Veränderungen in mir bewirkte, daß ich das Problem verdrängt hatte, anstatt mich damit auseinanderzusetzen, und es mich nun in den Wahnsinn trieb? Ich fragte mich, wenn das der Fall war, was meinen geistigen Zusammenbruch so plötzlich ausgelöst hatte. Lag es daran, daß wir das Haus von einem vietnamesischen Flüchtling gekauft hat ten? Das schien als Auslöser zu unbedeutend zu sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie die Nationalität des Vorbesitzers ausge reicht haben sollte, in meinem Kopf Drähte zu überkreuzen, das System kurzzuschließen und Relais durchschmoren zu lassen. Andererseits, wenn mein Frieden mit den Erinnerungen an Viet nam und meine Vernunft lediglich so stabil wie ein Kartenhaus waren, konnte mich der leiseste Hauch vernichten. Verdammt, ich fühlte mich nicht wahnsinnig. Ich fühlte mich stabil — ängstlich, aber völlig beherrscht. Die vernünftigste Erklä rung für den Keller waren Halluzinationen. Aber ich war weitge hend überzeugt, daß die unmöglichen unterirdischen Treppen echt waren, daß der Bruch mit der Realität äußerlich und nicht in nerlich war. Um acht Uhr traf Horace Dalcoe mit einer siebenköpfigen 87
Gruppe zum Essen ein, was mich fast von dem Keller ablenkte. Als unser Pächter glaubt er nicht, daß er in unserem Lokal einen Cent für das Essen bezahlen muß. Wenn wir ihn und seine Freun de nicht bedienen, würde er Mittel und Wege finden, uns das Le ben schwer zu machen, daher fügen wir uns. Er sagt nie Danke und findet normalerweise immer etwas, worüber er sich beschwe ren kann. An diesem Dienstagabend beschwerte er sich über die Margeri tas — nicht genügend Tequila, sagte er. Er machte ein Aufhebens wegen den Maisfladen — nicht knusprig genug, sagte er. Und er nörgelte an der Rinderbrühe herum — nicht genügend Fleisch bällchen, sagte er. Ich wollte dem Dreckskerl den Hals umdrehen. Statt dessen brachte ich Margeritas mit mehr Tequila — ausreichend, eine be ängstigende Zahl Gehirnzellen pro Minute zu vernichten — und neue Maisfladen sowie eine Schüssel Fleischbällchen als Ergän zung zu der ohnehin schon überreichlich mit Fleisch bestückten Suppe. Als ich in jener Nacht im Bett lag und an Dalcoe dachte, fragte ich mich, was passieren würde, wenn ich ihn in unser neues Haus einlud, ihn in den Keller stieß, die Tür verriegelte und eine Weile da unten schmoren ließ. Ich hatte das bizarre, aber unerschütterli che Gefühl, daß etwas tief unten in dem Keller lebte ... etwas Gräßliches, das in der undurchdringlichen Dunkelheit, welche das Licht der Taschenlampe verschluckt hatte, nur wenige Schritte von mir entfernt gewesen war. Wenn etwas da unten war, würde es die Treppe heraufklettern und Dalcoe schnappen. Dann würde er uns keinen Ärger mehr machen. In dieser Nacht schlief ich nicht gut. Am Mittwochmorgen, dem 14. Mai, kehrte ich in das Haus zu rück, um mit dem Vorbesitzer, Nguyen Quang Phu, meinen Rundgang zu machen. Ich kam eine Stunde früher, falls die Kel lertür da sein sollte. Sie war da. Plötzlich dachte ich, ich sollte der Tür den Rücken zukehren, weggehen, sie gar nicht beachten. Ich spürte, ich konnte sie für immer verschwinden lassen, indem ich mich einfach weigerte, sie zu öffnen. Und ich wußte — ohne eine Ahnung zu haben, woher ich das wußte, daß mein Leib und meine Seele auf dem Spiel stan 88
den, wenn ich der Versuchung, diese unterirdischen Gefilde zu er forschen, nicht widerstehen konnte. Ich stemmte sie mit dem Brett auf. Ich ging mit der Taschenlam pe in die Dunkelheit hinab. Mehr als zehn Stockwerke unter der Erde blieb ich wieder auf dem Absatz mit den gegenüberliegenden Torbögen stehen. Der Gestank von verfaultem Gemüse drang von der abzweigenden Treppe links herauf, der faulige Geruch verwesender Fischköpfe von rechts. Ich zwang mich weiterzugehen und stellte fest, daß die eigen tümlich greifbare Dunkelheit nicht so schnell dichter wurde wie gestern. Ich konnte tiefer hinuntergehen. . . als würde mich die Dunkelheit heute besser kennen und in den intimeren Bereichen ihrer Domäne willkommen heißen. Nach weiteren fünfzig oder sechzig Stufen kam ich wieder zu einem Absatz. Auch hier boten gegenüberliegende Torbögen Zu gang zu beiden Seiten. Links fand ich einen weiteren kurzen Flur, welcher zu einer weiteren Treppe führte, die in einer pulsierenden, wabernden, tückischen Schwärze verschwand, die für das Licht so undurch dringlich war wie eine Öllache. Der Strahl meiner Taschenlampe verblaßte nicht in dieser dichten Düsternis, sondern endete tat sächlich in einem Kreis reflektierten Lichts, als würde er eine Wand beleuchten, und die wirbelnde Schwärze glänzte schwach wie geschmolzener Teer. Es war etwas von großer Macht — und über die Maßen abstoßend. Und doch wußte ich, es war nicht bloß Öl oder eine andere Flüssigkeit, sondern vielmehr die Essenz ei ner jeglichen Dunkelheit; es war das sirupartige Destillat von ei ner Million Nächte, einer Milliarde Schatten. Dunkelheit ist ein Zustand, keine Substanz, und kann daher nicht destilliert werden. Und doch sah ich hier eben diesen unmöglichen Extrakt, uralt und pur: Konzentrat der Nacht, der unermeßlichen Schwärze des in terstellaren Raums, verdickt, bis ein öliger Schleim entstanden war. Und es war böse. Ich wich zurück und begab mich wieder zur Haupttreppe. Ich begutachtete die abzweigende Treppe im rechten Flur nicht, weil ich wußte, ich würde dasselbe bösartige Destillat dort unten vor finden, das langsam wirbelte, kreiste. Auf der Haupttreppe ging ich nur ein kleines Stück hinunter, bis ich auf dieselbe üble Präsenz stieß. Sie ragte wie eine Mauer 89
vor mir auf. Ich stand zwei Schritte davon entfernt und zitterte unkontrolliert vor Angst. Ich streckte den Arm aus. Ich legte eine Hand auf die pulsierende Masse der Schwärze. Sie war kalt. Ich streckte die Hand etwas weiter aus. Die Hand verschwand bis zum Gelenk. Die Dunkelheit war so solide, so klar umrissen, daß mein Handgelenk wie der Stumpf eines Amputierten aussah; eine haarscharfe Linie kennzeichnete die Stelle, wo meine Hand in der pechartigen Masse verschwand. Voll Panik riß ich sie zurück. Meine Hand war nicht amputiert. Sie war noch da und mit dem Ende meines Arms verbunden. Ich bewegte die Finger. Ich sah von meinen Fingern auf in die gelatineartige Dunkelheit vor mir, und mit einemmal wußte ich, sie war sich meiner bewußt. Ich hatte sie als böse betrachtet, aber irgendwie nicht als bewußte Kreatur. Als ich ihr in das konturlose Antlitz starrte, spürte ich, wie sie mich in einem Keller willkommen hieß, den ich noch nicht einmal erreicht hatte, in den Kammern tief unten, die noch zahllo se Stufen unter mir waren. Ich wurde eingeladen, die Dunkelheit zu umarmen, ganz über die Schwelle in die Finsternis zu treten, in der meine Hand verschwunden war, und einen Augenblick über kam mich das Verlangen, genau das zu tun, aus dem Licht zu tre ten, hinab, hinab. Dann dachte ich an Carmen. Und meine Töchter — Heather und Stacy. Meinen Sohn Joe. Alle Menschen, die ich liebte und die mich liebten. Das brach den Bann augenblicklich. Die hypnotische Faszination der Dunkelheit verlor ihren Einfluß auf mich, ich drehte mich um und rannte zu der hellen Küche hinauf, so daß meine Schritte auf der schmalen Treppe hallten. Sonne strömte durch die großen Fenster herein. Ich zog das Brett aus dem Weg, schlug die Kellertür zu. Ich zwang sie im Geiste zu verschwinden, aber sie blieb da. »Ich bin verrückt«, sagte ich laut. »Vollkommen verrückt.« Aber ich wußte, daß ich normal war. Die Welt war verrückt geworden, nicht ich. Zwanzig Minuten später traf Mr. Nguyen Quang Phu planmäßig ein, um die Eigenheiten des Hauses zu erklären, das wir von ihm gekauft hatten. Ich empfing ihn an der Eingangstür, und in dem 90
Augenblick, als ich ihn sah, wurde mir klar, warum die unmögli che Kellertür aufgetaucht war und welchem Zweck sie dienen sollte. »Mr. Gonzalez?« »Ja.« »Ich bin Nguyen Quang Phu.« Er war nicht nur Nguyen Quang Phu. Er war darüber hinaus der Foltermeister. In Vietnam hatte er befohlen, daß ich auf eine Bank gefesselt wurde und man mir länger als eine Stunde die Fußsohlen mit ei nem Holzpflock schlug — bis jeder Hieb durch die Knochen mei ner Beine und Hüften drang, durch den Rippenkasten, die Wirbel säule entlang bis zu meinem Kopf, der sich anfühlte, als würde er explodieren. Er hatte mich an Händen und Füßen fesseln und ge waltsam in einen Tank tauchen lassen, der vom Urin anderer Ge fangener verseucht war, die die Tortur vorher über sich ergehen lassen mußten; und wenn ich gerade dachte, ich könnte den Atem nicht mehr anhalten, meine Lungen würden brennen, wenn mei ne Ohren klingelten, wenn mein Herz pochte und jede Faser mei nes Wesens sich nach dem Tod sehnte, wurde ich an die Luft ge zogen und durfte ein paar Atemzüge machen, bevor man mich er neut unter die Oberfläche tauchte. Er hatte befohlen, daß Drähte an meinen Genitalien befestigt und zahllose Stromstöße durchge jagt wurden. Ich hatte hilflos mit ansehen müssen, wie er einen Freund von mir zu Tode geprügelt hatte, und ich hatte auch gese hen, wie er einem anderen Freund von mir das rechte Auge mit ei nem Stilett ausstach, nur weil dieser den Soldaten verflucht hatte, der ihm wieder einmal eine Schüssel mit vom Rüsselkäfer befalle nen Reis servierte. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel an seiner Identität. Die Erinnerung an das Gesicht des Foltermeisters war für alle Zeiten in mein Gedächtnis eingebrannt, war mit der schlimmsten Hitze von allen ins Gewebe meines Gehirns selbst gesengt worden — mit Haß. Er war ungleich gnädiger gealtert als ich. Er sah nur zwei oder drei Jahre älter aus als bei unserer letzten Begegnung. »Freut mich, Sie zu sehen«, sagte ich. »Ebenso«, antwortete er, während ich ihn ins Haus führte. Seine Stimme war so einprägsam wie sein Gesicht: sanft, leise, irgendwie kalt — die Stimme, die eine Schlange gehabt haben könnte, könnten Schlangen sprechen. 91
Wir schüttelten einander die Hände. Er war einen Meter fünfundsiebzig groß, groß für einen Vietna mesen. Er hatte ein langes Gesicht mit vorstehenden Wangenkno chen, einer scharfgeschnittenen Nase, einem dünnen Mund und dem feinen Kiefer einer Frau. Seine Augen waren tiefliegend — und so seltsam, wie sie schon in Nam gewesen waren. In jenem Gefangenenlager hatte ich seinen Namen gekannt. Vielleicht war er Nguyen Quang Phu gewesen. Oder vielleicht war das eine falsche Identität, die er angenommen hatte, als er um Asyl in den Vereinigten Staaten bat. »Sie haben ein wunderbares Haus gekauft«, sagte er. »Es gefällt uns sehr gut«, sagte ich. »Ich war hier glücklich«, sagte er, lächelte, nickte, sah sich in dem leeren Wohnzimmer um. »Sehr glücklich.« Warum hatte er Nam verlassen? Er war auf der Seite der Sieger gewesen. Nun, vielleicht waren er und seine Kumpane in Ungna de gefallen. Oder der Staat hatte ihm harte Farmarbeit oder Dienst in den Minen oder eine andere Aufgabe zugewiesen, die seine Gesundheit ruiniert und ihn vor seiner Zeit ins Grab ge bracht hätte. Vielleicht hatte er beschlossen, mit einem winzigen Boot in See zu stechen, als der Staat ihm keine Position großer Macht und Autorität mehr zugebilligt hatte. Für mich war der Grund seiner Emigration unwichtig. Es zählte nur, daß er hier war. In dem Augenblick, als ich ihn sah und erkannte, wer er war, wußte ich, daß er dieses Haus nicht lebend verlassen würde. Ich würde nicht zulassen, daß er entkam. »Viel gibt es nicht zu zeigen«, sagte er. »Im Bad des Eltern schlafzimmers ist eine Schublade, die aus der Führungsschiene springt und repariert werden müßte. Und die Ziehtreppe zum Dachboden im Schrank hat manchmal ein kleines Problem, aber auch das sollte sich leicht aus der Welt schaffen lassen. Ich zeige es Ihnen.« »Das wäre nett.« Er erkannte mich nicht. Ich vermutete, er hatte so viele Männer gefoltert, daß er sich nicht mehr an jedes einzelne Opfer seiner sadistischen Neigungen erinnern konnte. Sämtliche Gefangenen, die unter seinen Händen gestorben waren, waren wahrscheinlich zu einem einzigen Opfer ohne Gesicht verschmolzen. Dem Folterer lag nichts am Indivi 92
duum, dem er einen Vorgeschmack der Hölle zuteil werden ließ; für Nguyen Quang Phu war jeder Mann auf der Folterbank wie der vorherige, bei dem nicht seine einzigartigen Fähigkeiten zähl ten, sondern seine Gabe zu schreien und zu bluten, sein Eifer, vor den Füßen seines Peinigers zu kriechen. Während er mich durch das Haus führte, nannte er mir auch die Namen von zuverlässigen Klempnern und Elektrikern und War tungsleuten für die Klimaanlage in der Nachbarschaft, sowie den des Künstlers, der die Buntglasfenster in einigen Zimmern ent worfen hatte. »Wenn eines beschädigt wird, möchten Sie es sicher von dem Mann reparieren lassen, der es angefertigt hat.« Ich werde nie verstehen, wie ich mich beherrschen konnte, ihn nicht mit bloßen Händen anzugreifen. Noch unglaublicher: Weder mein Gesicht noch meine Stimme verrieten meine innere Anspan nung. Er hatte keine Ahnung von der Gefahr, in der er schwebte. Als er mir in der Küche die ungewöhnliche Stellung des Ein schaltknopfs des Müllzerkleinerers unter der Spüle gezeigt hatte, fragte ich ihn, ob es bei Regen Probleme mit Feuchtigkeit im Keller gab. Er sah mich blinzelnd an. Seine sanfte, kalte Stimme klang ein wenig höher. »Keller? Oh, aber es gibt keinen Keller.« Ich heuchelte Überraschung und sagte: »Aber gewiß doch. Die Tür ist ja gleich da drüben.« Er betrachtete sie fassungslos. Ich nahm die Taschenlampe von der Arbeitsfläche und machte die Tür auf. Mit dem Einwand, diese Tür habe nicht existiert, solange er in dem Haus gewohnt hatte, ging der Foltermeister in einem Zu stand höchster Verblüffung und Neugier an mir vorbei. Er ging durch die Tür auf den oberen Treppenabsatz. »Der Lichtschalter funktioniert nicht«, sagte ich, drängte mich hinter ihn und hielt den Strahl der Taschenlampe auf die Stufen gerichtet. »Aber damit werden wir genug sehen.« »Aber ... wo ... wie ...?« »Sie wollen mir doch nicht sagen, daß Ihnen diese Kellertür nie aufgefallen ist?« sagte ich und zwang mir ein Lachen ab. »Kom men Sie. Wollen Sie mich verulken, oder was?« Er schwebte wie schwerelos vor Erstaunen von einer Stufe zur nächsten hinunter. Ich folgte ihm dichtauf. 93
Bald wußte er, daß etwas überhaupt nicht stimmte, denn die Stufen verliefen viel zu weit nach unten, ohne daß eine Kellertür in Sicht kam. Er blieb stehen, drehte sich um und sagte: »Das ist merkwürdig. Was geht hier vor. Um Himmels willen, was haben Sie ...« »Weiter«, sagte ich rauh. »Gehen Sie weiter runter, Sie Drecks kerl.« Er versuchte, sich an mir vorbeizudrängen. Ich stieß ihn rückwärts die Treppe hinunter. Er polterte schrei end bis zum ersten Absatz, der von den Torbögen flankiert wurde. Als ich bei ihm ankam, sah ich, daß er benommen war und starke Schmerzen litt. Er gab einen dünnen, wimmernden Laut von sich. Seine Unterlippe war aufgeplatzt; Blut rann ihm am Kinn herab. Er hatte sich die rechte Handfläche aufgeschürft. Ich glaube, ein Arm war gebrochen. Er weinte vor Schmerzen, hielt sich den Arm, sah verwirrt und ängstlich zu mir auf. Ich haßte mich für das, was ich tat. Aber ich haßte ihn noch mehr. »Im Lager«, sagte ich, »haben wir Sie >die Schlange< genannt. Ich kenne Sie. O ja, ich kenne Sie. Sie waren der Foltermeister.« »O Gott«, sagte er. Er fragte weder, wovon ich redete, noch ver suchte er, es zu leugnen. Ich wußte, wer er war, was er war, und er wußte, was aus ihm werden würde. »Diese Augen«, sagte ich mittlerweile vor Wut schlotternd. »Diese Stimme. Die Schlange. Eine ekelhafte, auf dem Bauch krie chende Schlange. Verabscheuenswert. Aber sehr, sehr gefährlich.« Einen Augenblick schwiegen wir beide. Ich für meinen Teil war vorübergehend sprachlos, weil ich ehrfürchtig an die Maschinerie des Schicksals dachte, die uns zu dieser Zeit, an diesem Ort zu sammengeführt hatte. Von unten drang ein Geräusch aus der Dunkelheit herauf: keh liges Flüstern, ein feuchtes Gleiten, bei dem ich zitterte. Jahrtau sendealte Dunkelheit hatte sich in Bewegung gesetzt und strömte empor, die Verkörperung der endlosen Nacht, kalt und tief und ... gierig. Der Foltermeister, der in die Rolle des Opfers gedrängt worden war, sah sich bestürzt um, durch einen Torbogen, durch den ande ren, dann die Treppe hinab, die von dem Absatz, auf dem er lag, weiter abwärts führte. Seine Angst war so groß, daß sie die 94
Schmerzen überwand; er weinte nicht mehr, gab auch dieses Wimmern nicht mehr von sich. »Was ... was ist das für ein Ort?« »Der, wohin Sie gehören«, sagte ich. Ich wandte mich von ihm ab und ging die Treppe hinauf. Ich blieb nicht stehen oder drehte mich um. Ich ließ die Taschenlampe bei ihm, denn ich wollte, daß er das Ding sah, das ihn holen kam. (Dunkelheit wohnt in uns allen.) »Warten Sie!« rief er hinter mir her. Ich hielt nicht inne. »W-w-was ist das für ein Geräusch?« fragte er. Ich ging weiter nach oben. »Was wird mit m-mir geschehen?« »Ich weiß nicht«, sagte ich zu ihm. »Aber was auch immer... es wird das sein, was Sie verdienen.« Schließlich regte sich Wut in ihm. Er sagte: »Sie sind nicht mein Richter!« »O doch, das bin ich.« Oben betrat ich die Küche und machte die Tür hinter mir zu. Sie hatte kein Schloß. Ich lehnte mich zitternd dagegen. Offenbar sah Phu etwas die Treppe unter ihm heraufkommen, denn er heulte vor Entsetzen und hastete mit viel Poltern und Dröhnen die Stufen herauf. Als ich ihn kommen hörte, drückte ich mich fest gegen die Tür. Er hämmerte gegen die andere Seite. »Bitte. Bitte, nein. Bitte, um Gottes willen, nein, um Gottes willen, bitte!« Ich hatte meine Freunde aus der Armee ebenso verzweifelt fle hen gehört, wenn der Foltermeister ihnen rostige Nägel unter die Fingernägel oder durch die von Klammern gehaltenen Zungen ge bohrt hatte. Ich klammerte mich an diese Schreckensbilder, die ich hinter mir gelassen zu haben glaubte, sie gaben mir die Willens kraft, mich Phus bemitleidenswerten Schreien zu widersetzen. Zusätzlich zu seiner Stimme hörte ich nun die schleimartige Dunkelheit hinter ihm emporsteigen, kalte Lava, die bergauf floß: feuchte Laute und dieses bedrohliche Flüstern ... Der Foltermeister hörte auf, gegen die Tür zu klopfen, und stieß einen Schrei aus, der mir sagte, daß die Dunkelheit ihn gepackt hatte. Ein großes Gewicht fiel gegen die Tür und wurde dann wieder entfernt. Die schrillen Schreie des Foltermeisters schwollen an und ab 95
und wieder an, und mit jedem Zyklus des Schreiens, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, wurde sein Entsetzen akuter. Anhand des Klangs seiner Stimme und seiner Füße, die gegen die Wände und Treppenstufen traten, konnte ich hören, daß er nach unten gezogen wurde. Mir war der Schweiß ausgebrochen. Ich konnte nicht atmen. Plötzlich riß ich die Tür auf und betrat den Absatz auf der ande ren Seite. Ich glaube, ich hatte vor, ihn in die Küche zu ziehen, ihn doch noch zu retten. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen. Aber was ich auf der Treppe sah, nur wenige Stufen unten, war so schockierend, daß ich stehenblieb — und nichts tat. Der Foltermeister war nicht von der Dunkelheit selbst ergriffen worden, sondern von den Händen bis zum Skelett abgemagerter Männer, die aus der unablässig wirbelnden schwarzen Masse nach ihm griffen. Tote Männer. Ich kannte sie. Sie waren amerika nische Soldaten, die im Lager durch die Hände des Foltermeisters gestorben waren, während ich dort gewesen war. Keiner war mit mir befreundet gewesen; tatsächlich waren sie alle selbst Böse wichter, böse Menschen, denen der Krieg Spaß gemacht hatte, ehe sie vom Vietcong gefaßt und gefangengenommen worden waren, von dem verabscheuenswerten Typ, der gerne tötet, Schwarz marktgeschäfte betreibt und nach Dienstende Profit scheffelt. Ihre Augen waren eisig, milchig. Wenn sie den Mund aufmachten, um zu sprechen, kamen keine Laute heraus, nur leises Zischen und ein fernes Wimmern, das mich zur Überzeugung brachte, daß das Geräusch nicht aus ihren Körpern, sondern aus ihren Seelen kam, die tief unten in dem Keller angekettet waren. Sie quälten sich aus dem zähen Destillat der Dunkelheit heraus, ohne ihm gänzlich entrinnen zu können, nur in dem Maß entblößt, das ausreichte, Nguyen Quang Phu an beiden Beinen und Armen festzuhalten. Sie zogen ihn vor meinen Augen kreischend in die dickliche Absonderung der Nacht, die ihr ewiges Zuhause geworden war. Als alle drei in der pulsierenden Düsternis verschwanden, floß die wogende, teerähnliche Masse von mir weg und zurück. Stufen ka men in Sicht wie Strand, wenn die Flut zurückgeht. Ich stolperte durch die Tür, quer durch die Küche und zum Spülbecken. Ich hing den Kopf darüber und übergab mich. Ließ das Wasser laufen. Spritzte mir welches ins Gesicht. Spülte mir den Mund aus. Lehnte mich keuchend gegen die Arbeitsplatte. 96
Als ich mich schließlich umdrehte, stellte ich fest, daß die Kel lertür verschwunden war. Sie hatte den Foltermeister gewollt. Dar um war die Tür erschienen, darum hatte sich ein Zugang aufge tan zu . . . zu ... zu dem Ort da unten. Sie hatte den Foltermeister so sehr gewollt, daß sie es nicht erwarten konnte, ihn im natürli chen Lauf der Ereignisse zu bekommen, nach seinem vorbe stimmten Tod, daher hatte sie eine Tür zu dieser Welt aufgetan und ihn verschlungen. Jetzt hatte sie ihn, und meine Begegnung mit dem Übernatürlichen war sicher zu Ende. Das dachte ich. Ich verstand einfach nicht. Gott helfe mir, ich verstand einfach nicht. Nguyen Quang Phus Auto — ein neuer weißer Mercedes — park te in unserer Einfahrt, die abgeschirmt ist. Ich stieg ein, ohne ge sehen zu werden, fuhr das Auto weg und stellte es auf dem Park platz eines öffentlichen Strands ab. Ich ging die paar Meilen zum Haus zu Fuß zurück, und später, als sich die Polizei um das Ver schwinden von Phu kümmerte, behauptete ich, er habe unsere Verabredung nicht eingehalten. Man glaubte mir. Sie verdächtig ten mich nicht im geringsten, denn ich bin ein angesehener Bür ger, ein erfolgreicher Geschäftsmann und habe einen ausgespro chen guten Ruf. In den nächsten drei Wochen tauchte die Kellertür nicht mehr auf. Ich glaubte nicht, daß ich mich in unserem neuen Traumhaus je mals völlig wohl fühlen würde; aber allmählich schwand mein schlimmstes Grauen, und ich vermied es nicht mehr, die Küche zu betreten. Ich hatte einen Frontalzusammenstoß mit dem Übernatürlichen gehabt, aber die Möglichkeit einer weiteren Begegnung war ge ring bis nichtexistent. Eine Menge Menschen sehen einmal in ih rem Leben ein Gespenst, werden in ein übersinnliches Ereignis verwickelt, das ihren Glauben an die wahre Natur der Wirklich keit erschüttert, aber sie haben keine weiteren okkulten Erlebnis se. Ich bezweifelte, ob ich die Kellertür je wiedersehen würde. Dann fand Horace Dalcoe heraus, daß ich im geheimen über den Kauf des Landes verhandelte, das er gepachtet hatte, und er schlug zurück. Brutal. Er hat politische Beziehungen. Ich glaube, er hatte kaum Schwierigkeiten, den Gesundheitsinspektor dazu 97
zu bringen, uns nichtexistierender Verstöße gegen Hygienevor schriften anzuklagen. Wir haben stets ein makelloses Restaurant geführt; unsere eigenen Maßstäbe für den Umgang mit Lebens mitteln und für Reinlichkeit waren stets deutlich über den Vor schriften des Gesundheitsamts. Daher beschlossen Carmen und ich, mit der Sache vor Gericht zu gehen, anstatt das Bußgeld zu bezahlen — und da wurden wir des Verstoßes gegen die Brand schutzvorschriften bezichtigt. Und als wir unsere Absicht verkün deten, dafür zu sorgen, daß diese ungerechtfertigten Vorwürfe zu rückgezogen wurden, brach jemand an einem Donnerstagmorgen um drei Uhr in das Restaurant ein, verwüstete es und richtete ei nen Sachschaden von fünfzigtausend Dollar an. Mir wurde klar, daß ich diese Schlachten alle gewinnen und den Krieg trotzdem verlieren konnte. Wäre ich imstande gewesen, Ho race Dalcoes niederträchtige Methoden anzuwenden, hätte ich Regierungsbeamte bestechen und Schurken anheuern können, hätte ich auf eine Weise zurückschlagen können, die Dalcoe be griff, und er hätte zweifellos einen Waffenstillstand verkündet. Aber obwohl meine Seele von Sünden nicht unbefleckt war, konnte ich mich nicht auf Dalcoes Niveau hinabbegeben. Vielleicht war mein Widerstreben, die Sache brutal zu regeln, mehr eine Frage des Stolzes als aufrichtigen Ehrgefühls, obwohl ich gerne letzteres von mir glaube. Gestern morgen (als ich dies in das Tagebuch der Verdammnis schrieb, das ich angefangen habe zu führen), besuchte ich Dalcoe in seinem plüschigen Büro. Ich erniedrigte mich vor ihm und wil ligte ein, meine Bemühungen aufzugeben, das gepachtete Gelän de zu kaufen, auf dem sein kleines Einkaufszentrum steht. Ich willigte auch ein, ihm dreitausend bar und unter der Hand zu zahlen, damit ich ein größeres, ansprechenderes Schild für unser Restaurant aufstellen durfte. Er war verschmitzt, überheblich, nervtötend. Er behielt mich länger als eine Stunde dort, obwohl wir unser Geschäft binnen zehn Minuten hätten erledigen können, weil er sich an meiner Demütigung weiden wollte. Letzte Nacht konnte ich nicht schlafen. Das Bett war bequem, das Haus still, die Luft angenehm kühl — alles ideale Umstände für einen zufriedenen, tiefen Schlaf —, aber ich mußte unablässig an Horace Dalcoe denken. Der Gedanke, in Zukunft weiter unter seiner Knute zu leben, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich 98
drehte und wendete die Situation im Geiste und suchte nach einer Handhabe, nach einem Weg, Oberwasser zu gewinnen, ehe er herausbekam, was ich vorhatte, aber mir fielen keinerlei brillan ten Ränke ein. Schließlich stahl ich mich aus dem Bett, ohne Carmen zu wek ken, ging nach unten, um ein Glas Milch zu trinken, weil ich hoff te, das Calcium würde mich soweit beruhigen. Als ich, immer noch an Dalcoe denkend, die Küche betrat, war die Tür da. Ich betrachtete sie und hatte große Angst, denn ich wußte, was ihr pünktliches Erscheinen zu bedeuten hatte. Ich mußte mit Ho race Dalcoe fertig werden und bekam die endgültige Lösung des Problems präsentiert. Ich konnte Dalcoe unter dem einen oder an deren Vorwand ins Haus locken. Ihm den Keller zeigen. Und ihn der Dunkelheit überlassen. Ich machte die Tür auf. Ich sah die Stufen hinunter, in die Schwärze tief unten. Längst tote Gefangene, Opfer der Folter, hatten auf Nguyen Quang Phu gewartet. Was würde da unten warten, um Dalcoe zu packen? Ich zitterte. Nicht wegen Dalcoe. Wegen mir. Plötzlich begriff ich, daß die Dunkelheit da unten mich mehr wollte als den Foltermeister Phu oder Horace Dalcoe. Diese Män ner waren keine nennenswerte Beute. Sie würden ohnehin in der Hölle enden. Wenn ich Phu nicht in den Keller begleitet hätte, würde die Dunkelheit ihn früher oder später, nach seinem Tod, so oder so bekommen haben. Ebenso würde Dalcoe nach seinem Tod in den Tiefen von Ge henna enden. Aber indem ich sie vorzeitig dem vorbestimmten Schicksal zuführte, ergab ich mich den dunklen Neigungen in mir und brachte dadurch meine eigene Seele in Gefahr. Als ich die Kellertreppe hinuntersah, hörte ich die Dunkelheit meinen Namen rufen, mich willkommen heißen, mir ewige Kom munikation anbieten. Ihre flüsternde Stimme war verführerisch, ihre Versprechungen wie Balsam. Über das Schicksal meiner Seele war noch nicht entschieden, und die Dunkelheit sah die Möglich keit eines kleinen Triumphs, wenn sie mich eroberte. Ich spürte, daß ich noch nicht verderbt genug war, zu der Dun kelheit zu gehören. Was ich Phu angetan hatte, konnte man als 99
Ausübung einer längst überfälligen Gerechtigkeit ansehen, denn er war ein Mann, dem weder in dieser noch in der nächsten Welt eine Belohnung zustand. Und indem ich Dalcoe vorzeitig seinem vorbestimmten Schicksal zuführte, würde mich wahrscheinlich auch das nicht ewiger Verdammnis anheimfallen lassen. Aber wen mochte ich, wenn ich der Versuchung erlag, nach Ho race Dalcoe in diesen Keller locken? Wie viele und wie oft? Es würde jedesmal leichter werden. Früher oder später würde ich den Keller dazu benützen, Leute loszuwerden, die mich nur ge ringfügig erbost hatten. Manche waren vielleicht Grenzfälle, Menschen, die die Hölle verdienten, aber eine Chance auf Erlö sung hatten, und wenn ich ihr Ende vorzeitig herbeiführte, würde ich ihnen die Möglichkeit nehmen, ihr Leben ins rechte Lot zu bringen und alles wieder gutzumachen. Ihre Verdammnis wäre teilweise meine Schuld. Und dann wäre auch ich verloren ... und die Dunkelheit würde die Treppe heraufwallen und ins Haus kommen und mich holen, wann es ihr beliebte. Unten flüsterte dieses schleimige Destillat von einer Milliarde Neumondnächten mir zu, flüsterte. Ich wich zurück. Ich machte die Tür zu. Sie verschwand nicht. Dalcoe, dachte ich verzweifelt, warum bist du so ein gemeiner Schuft gewesen? Warum hast du dafür gesorgt, daß ich dich so hasse? Dunkelheit wohnt in den Besten von uns. In den Schlimmsten von uns wohnt die Dunkelheit nicht nur, dort regiert sie. Ich bin ein guter Mensch. Ein harter Arbeiter. Ein liebender und treuer Ehemann. Ein strenger, aber gerechter Vater. Ein guter Mensch. Doch ich habe menschliche Schwächen — von denen Rachege lüste nicht die geringsten sind. Ein Teil des Preises, den ich be zahlt habe, war der Verlust meiner Unschuld in Vietnam. Dort ha be ich gelernt, daß viel Böses auf der Welt existiert, nicht im ab strakten Sinne, sondern leibhaftig, und als böse Menschen mich gefoltert haben, steckte ich mich bei diesem Kontakt an. Dort habe ich meine Rachegelüste entwickelt. Ich rede mir ein, daß ich es nicht wage, der einfachen Lösung zu verfallen, welche der Keller darstellt. Wo sollte das enden? Eines Tages, wenn ich genügend Männer und Frauen in diese lichtlose 100
Kammer da unten geschickt habe, werde ich so verderbt sein, daß es leicht sein wird, den Keller für Dinge zu benützen, die vorher undenkbar gewesen waren. Was, zum Beispiel, wenn Carmen und ich stritten? Könnte es bis zu dem Punkt kommen, an dem ich sie bitten würde, die dunklen Tiefen mit mir zu ergründen? Und wenn meine Kinder mich erzürnen, wie es Kinder weiß Gott manchmal tun? Wo wür de ich die Trennlinie ziehen? Und würde ich die Trennlinie ständig neu ziehen? Ich bin ein guter Mensch. Ich gebe der Dunkelheit wohl ab und an Wohnstatt, aber freilich habe ich ihr nie ein Königreich angeboten. Ich bin ein guter Mensch. Aber die Versuchung ist groß. Ich habe angefangen, eine Liste von Menschen zu machen, die mir hier und da einmal das Leben schwergemacht haben. Ich habe selbstverständlich nicht die Absicht, etwas gegen sie zu unternehmen. Die Liste ist lediglich ein Spiel. Ich erstelle sie, und dann zerreiße ich sie und spüle sie die Toilette hinunter. Ich bin ein guter Mensch. Die Liste bedeutet nichts. Die Kellertür wird für immer geschlossen bleiben. Ich werde sie nicht noch einmal aufmachen. Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist. Ich bin ein guter Mensch. Die Liste ist länger, als ich gedacht habe. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber
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DAN SIMMONS
Zwei Minuten fünfundvierzig Sekunden Colvin machte die Augen zu, die Stahlklammer schloß Roger sich über seinem Schoß, und sie begannen mit dem steilen Aufstieg. Er konnte das Rasseln der schweren Kette und das Knir schen von Stahlrädern auf Stahlschienen hören, als sie den ersten Berg der Achterbahn hinaufgezogen wurden. Jemand hinter ihm lachte nervös. Colvin, der schreckliche Höhenangst hatte und des sen Herz schmerzhaft in der Brust klopfte, spähte zwischen den gespreizten Fingern hervor. Vor ihm stiegen das Metallgeländer und der weiße Holzrahmen steil an. Colvin saß im ersten Wagen. Er ließ beide Hände sinken und umklammerte fest die Sicherungsklammer, auf der er den ge trockneten Schweiß früherer Hände spürte. Im Wagen hinter ihm kicherte jemand. Er drehte den Kopf gerade so weit, daß er über die Seite des Geländers sehen konnte. Sie waren sehr hoch und stiegen immer noch. Die Parkplätze in der Mitte wurden kleiner, Personen wurden so klein, daß man sie nicht mehr sehen konnte, und die Menschenmenge wurde zu ei nem bloßen bunten Teppich, der mit dem größeren Mosaik der Geometrie von Straßen und Lichtern verschmolz, als die ganze Stadt sichtbar wurde, dann das gesamte County. Sie ratterten hö her. Der Himmel nahm eine dunkelblaue Farbe an. Colvin konnte in der dunstverhangenen Ferne die Krümmung der Erde sehen. Ihm wurde klar, daß sie sich mittlerweile weit über dem Ufer des Sees befanden, als er das Funkeln von Licht auf Wellen zwischen den Holzbalken hindurch erkennen konnte. Colvin machte die Augen zu, als sie durch den kalten Atem einer Wolke kamen, dann riß er sie schlagartig wieder auf, als sich die Tonlage des Rasseins der Kette veränderte, die Steigung allmählich abflachte und sie den Gipfel erreichten. Und darüber hinwegsausten. Auf der anderen Seite war nichts. Die beiden Schienen krümm ten sich nach außen und abwärts und hörten mitten in der Luft
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auf. Colvin klammerte sich an der Sicherheitsklammer fest, als der Wagen sich nach vorne neigte und kippte. Der Absturz be gann. »He, der schlimmste Teil ist überstanden.« Colvin schlug die Augen auf und sah Bill Montgomery, der ihm einen Drink reichte. Das Geräusch der Turbinen der Gulfstream war ein dumpfes Grollen unter dem sanften Zischen der Luft aus der Lüftungsdüse oben. Colvin nahm den Drink, drehte die Luftzufuhr kleiner und sah zum Fenster hinaus. Logan International war schon nicht mehr hinter ihnen zu sehen, und Colvin konnte unten Nantasket Beach erkennen, eine Vielzahl kleiner, dreieckiger weißer Segel in der Bucht und dem Ozean dahinter. Sie stiegen immer noch. »Verdammt, wir sind so froh, daß du dieses Mal beschlossen hast, mit uns zu kommen, Roger«, sagte Montgomery zu Colvin. »Es ist schön, daß das ganze Team wieder einmal beisammen ist. Wie in den alten Zeiten.« Montgomery lächelte. Die drei anderen Männer in der Kabine hoben die Gläser. Colvin spielte mit dem Taschenrechner auf seinem Schoß und trank seinen Wodka. Er holt tief Luft und machte wieder die Au gen zu. Höhenangst. Immer Höhenangst. Sechs Jahre alt und in der Scheune, stolpert er vom Heuboden, der Sturz scheint endlos zu sein, die Zeit dehnt sich aus, die spitzen Dornen der Gabel rasen ihm entgegen. Er landet, die Luft wird ihm aus den Lungen ge preßt, Wange und rechtes Auge auf dem Stroh — acht Zentimeter von den Stahlspitzen der Gabel entfernt. »Die Firma geht besseren Zeiten entgegen«, sagt Larry Miller. »Zweieinhalb Jahre schlechte Presse sind genug. Wird schön sein, morgen den Start zu sehen. Das bringt alles wieder ins Rollen.« »Hier, hier«, sagte Tom Weiscott. Es war noch nicht Mittag, aber Tom hatte schon zuviel getrunken. Colvin schlug die Augen auf und lächelte. Mit ihm eingeschlos sen befanden sich vier Vizepräsidenten der Firma in dem Flug zeug. Weiscott war immer noch Projektmanager. Colvin preßte die Wange ans Fenster und sah, wie Cape Cod Bay unten vorüber zog. Er schätzte ihre Höhe auf drei- bis viertausend Meter, noch steigend. Colvin stellte sich ein neun Meilen hohes Gebäude vor. Vom Flur im obersten Stock, mit Teppichboden ausgelegt, würde er den Fahrstuhl betreten. Der Boden des Fahrstuhls bestünde aus Glas. 103
Der Fahrstuhlschacht erstreckt sich 4600 Stockwerke unter ihm, jeder Stock ist mit einem Halogenlicht gekennzeichnet, die paral lelen Lichter rücken in den neun Meilen schwarzer Luft unter ihm immer näher zusammen, bis sie ganz unten zu einem Flimmern verschmelzen. Er schaut gerade noch rechtzeitig hoch, daß er das Kabel reißen sehen kann. Er fällt und kratzt vergeblich an den Innenwänden des Fahrstuhls, die so glatt wie der durchsichtige Boden geworden sind. Lichter rasen vorbei, aber man kann den Betonboden des Schachts schon meilenweit tiefer erkennen — ein winziges blaues Quadrat, das wächst, je tiefer der Fahrstuhl stürzt. Er weiß, ihm bleiben fast drei Minuten, in denen er sehen kann, wie das blaue Quadrat näher kommt, ihm entgegensteigt, um ihn zu zerschmet tern. Colvin schreit, Speichel schwebt vor ihm in der Luft, fällt mit derselben Geschwindigkeit, hängt einfach da. Die Lichter rasen vorbei. Das blaue Quadrat wird größer. Colvin nahm einen Drink, stellte das Glas in die runde Vertie fung der Armlehne des Sitzes und tippte etwas in seinen Taschen rechner ein. Fallende Gegenstände in einem Schwerefeld folgen präzisen mathematischen Gesetzen, so präzise wie die Kräftevektoren und Verbrennungsraten der gebündelten Ladungen und Festtreibstof fe, die Colvin zwanzig Jahre lang entwickelt hatte, aber so wie Sauerstoff die Verbrennungsgeschwindigkeit beeinflußt, beein flußt die Luft die Geschwindigkeit eines fallenden Körpers. Die Endgeschwindigkeit hängt von Atmosphärendruck, Massevertei lung und Oberflächenbeschaffenheit ebenso ab wie von der Schwerkraft. Colvin machte die Augen zu und tat so, als würde er dösen, und da sah er das, was er jede Nacht sah, wenn er so tat, als schliefe er: die aufgebauschte weiße Wolke, die sich nach außen ausdehnte wie ein Zeitrafferfilm von schrägen, kippenden Strato kumuluswolken, welche vor einem dunkelblauen Hintergrund er blühen, das rotbraune Innere von Stickstofftetroxidflammen und — gerade noch unter den zufällig entstehenden Kondensstreifen der SRBs zu erkennen — das trudelnde, verschwommene Recht eck des vorderen Fahrgestells, einschließlich Flugdeck. Nicht ein mal die extrem vergrößerten Bilder hatten ihm weitere Einzelhei ten gezeigt — die unversehrte Druckkabine der Besatzung, an der rechten Seite verkohlt, wo das abgesprengte SRB mit seiner Flam 104
me darüber hinweggestrichen war, die sich im freien Fall über schlug und dabei Drähte und Kabel und Fetzen des Fahrgestells hinter sich herzog wie Nabelschnur und Nachgeburt. Auf den frü heren Bildern waren diese Einzelheiten nicht zu erkennen gewe sen, aber Colvin hatte sie nach dem zerschmetternden Aufprall auf das erbarmungslose blaue Meer gesehen, sie berührt. Schich ten winziger Muscheln wuchsen auf der zertrümmerten Hülle. Colvin stellte sich die Dunkelheit und Kälte vor, die am Ende die ses Sturzes gewartet hatten, die kleinen Fische, die sich gütlich taten. »Roger«, sagte Steve Cahill, »woher hast du deine Flugangst?« Colvin zuckte die Achseln und trank seinen Wodka leer. »Ich weiß nicht.« In Vietnam — nicht >Nam< oder >im Landesinneren< —, einem Land, das Colvin immer noch als Land betrachten wollte, nicht als einen Zustand, war er geflogen. Sie flogen Colvin, der damals schon Experte für gebündelte Ladungen und Treibstoffe war, ins Bong Son-Tal an der Küste, um herauszufinden, weshalb eine Schiffsladung Standard C-4-Plastiksprengstoff für eine Aufklä rungseinheit nicht detoniert war, als sich ein Haltebolzen an ih rem Huey löste und der Helikopter ohne Rotor neunzig Meter tief in den Dschungel abstürzte, fast dreißig Meter dichte Vegetation durchschlug und verkehrt herum in Lianen zehn Meter über dem Boden hängenblieb. Der Pilot war sauber von einem Ast aufge spießt worden, der sich durch den Boden des Huey gebohrt hatte. Der Schädel des Kopiloten war an der Windschutzscheibe zer schmettert. Der Schütze war hinausgeschleudert worden und hat te sich Genick und Wirbelsäule gebrochen; er starb am nächsten Tag. Colvin kam mit einem verstauchten Knöchel davon. Colvin sah nach unten, als sie Nantucket überflogen. Er schätz te ihre Höhe auf fünftausendvierhundert Meter, immer noch stei gend. Ihre Flughöhe, das wußte er, würde bei neuntausendsechs hundert Metern liegen. Viel niederer als dreizehntausendacht hundert, besonders ohne den vertikalen Schubvektor, aber soviel hing von der Oberflächenbeschaffenheit ab. Als Colvin ein Junge war, in den fünfziger Jahren, sah er im >alten< National Enquirer die Fotografie einer Frau, die vom Empire State Building gesprungen und auf dem Dach eines Autos gelan det war. Ihre Beine waren an den Knöcheln fast beiläufig überein ander geschlagen; einer ihrer Nylonstrümpfe hatte ein Loch am 105
Zehen. Das Dach des Autos war zusammengedrückt, nach innen gefaltet, fast wie eine dicke Daunenmatratze, in die sich der Um riß eines Schlafenden eingeprägt hat. Der Kopf der Frau sah aus, als wäre er in ein tiefes Kissen eingesunken. Colvin tippte auf dem Taschenrechner. Eine Frau, die vom Em pire State Building sprang, würde fast vierzehn Sekunden fallen, bevor sie auf der Straße aufschlug. Jemand, der in einem Metall käfig aus einer Höhe von dreizehntausendachthundert Metern fiel, würde zwei Minuten fünfundvierzig Sekunden fallen, bis er auf der Wasseroberfläche aufschlug. Woran hat sie gedacht? Woran haben sie alle gedacht? Die meisten populären Songs und Rockvideos sind etwa drei Minuten lang, dachte Colvin. Das ist eine gute Zeitspanne; nicht so lange, daß man sich langweilt, lange genug, eine vollständige Geschichte zu erzählen. »Wir sind verdammt froh, daß du bei uns bist«, sagte Bill Mont gomery wieder. »Gottverdammt«, hatte Bill Montgomery siebenundzwanzig Monate früher vor dem Telekonferenzzimmer der Firma zu Colvin gesagt, »bist du hierbei für oder gegen uns?« Eine Telekonferenz hatte große Ähnlichkeit mit einer Seance. Die Gruppe saß in halbdunklen Räumen, Hunderttausende von Meilen voneinander entfernt, und kommunizierte mit Stimmen, die aus dem Nichts kamen. »Nun, das ist die Wettersituation hier unten«, sagte die Stimme von KSC. »Wie wird es sein?« »Wir haben Ihre gefaxten Unterlagen gesehen«, sagte die Stim me von Marshall, »verstehen aber immer noch nicht, weshalb wir einen so winzigen Gasaustritt, der auf einer Anomalie basiert, so ernst nehmen sollten. Sie haben uns versichert, daß die Ausrü stung so sicher ist, man könnte sie um den Block kicken, wenn man wollte.« Phil McGuire, der Chefingenieur in Colvins Team, rutschte auf seinem Sessel hin und her und sprach zu laut. Die vierkabeligen Telekonferenztelefone hatten Lautsprecher vor jedem Stuhl und konnten die leisesten Geräusche empfangen. »So, das verstehen Sie nicht, ja?« brüllte McGuire fast. »Es ist die Kombination von kalten Temperaturen und der Wahrscheinlichkeit elektrischer Ak tivitäten in dieser Wolkenschicht, die die Probleme verursacht. Bei den vergangenen fünf Flügen haben sich drei vorübergehende 106
Störfälle in den Leitungen zugetragen, die sich von den linear ge bündelten Ladungen der SRBs zu den Range Safety-Funkanten nen erstrecken .. . « »Vorübergehende Störungen«, sagte die Stimme von KSC, »aber innerhalb der Flugbestätigungsparameter?« »Nun ... ja«, sagte McGuire. Er hörte sich an, als wäre er den Tränen nahe. »Aber nur innerhalb der Parameter, weil wir ständig Rundschreiben unterzeichnen und die gottverdammten Parameter ändern. Wir wissen einfach nicht, warum die gebündelten C-12B Sicherheitsladungen der SRBs und ET einen vorübergehenden Stromfluß registrieren, auch wenn keine Aktivierungsfunktion übertragen wurde. Roger denkt, daß möglicherweise die LSC-Ak tivierungskabel oder die C-12-Komponente selbst versehentlich der statischen Entladung ermöglichen könnten, ein Aktivierungs signal zu simulieren ... Oh, verdammt, sag es ihnen, Roger.« Colvin räusperte sich. »Wir beobachten das schon eine ganze Zeit. Vorläufige Daten deuten darauf hin, daß Temperaturen unter achtundzwanzig Grad Fahrenheit den Zinkoxidresten in den C-12B-Einheiten ermöglichen, ein falsches Signal zu leiten ... wenn es ausreichend statische Entladungen gibt... theore tisch ...« »Aber bisher noch keine solide Datenbasis?« sagte die Stimme von Marshall. »Nein«, sagte Colvin. »Und Sie haben das Freigabe-1-Formular, das die Flugsicher heit garantiert, bei den letzten drei Flügen unterschrieben?« »Ja«, sagte Colvin. »Nun«, sagte die Stimme von KSC, »wir haben die Meinung der Ingenieure von Beaunet-HCS gehört, was meinen Sie, welche Empfehlung wir vom dortigen Management bekommen?« Bill Montgomery hatte um fünf Minuten Pause gebeten, und das Managementteam traf sich auf dem Flur. »Gottverdammt, Ro ger, bist du hierbei für oder gegen uns?« Colvin hatte sich abgewandt. »Es ist mein Ernst«, schnappte Montgomery. »Die LCS-Abtei lung hat der Firma dieses Jahr 215 Millionen Dollar Profit erwirt schaftet, und deine Arbeit hat einen bedeutenden Anteil an die sem Erfolg, Roger. Und jetzt scheinst du bereit zu sein, das alles wegen ein paar gottverdammten vorübergehenden Telemetrieer gebnissen wegzuwerfen, die überhaupt nichts bedeuten, wenn man 107
sie mit der Arbeit vergleicht, die wir als Team geleistet haben. In ein paar Monaten wird eine Vizepräsidentenstelle frei, Roger. Ver dirb dir deine Chancen nicht, indem du den Kopf verlierst wie dieser hysterische McGuire.« »Bereit?« fragte die Stimme von KSC, als die fünf Minuten ver strichen waren. »Ja«, sagte Vizepräsident Bill Montgomery. »Ja«, sagte Vizepräsident Larry Miller. »Ja«, sagte Vizepräsident Steve Cahill. »Ja«, sagte Projektmanager Tom Weiscott. »Ja«, sagte Projektmanager Roger Colvin. »Bestens«, sagte KSC. »Ich werde die Empfehlung weiterleiten. Schade, daß die Herren morgen nicht dabeisein und den Start mit verfolgen können.« Colvin drehte den Kopf, als Bill Montgomery ihm von seiner Seite der Kabine etwas zurief. »He, ich glaube, ich kann Long Is land sehen.« »Bill«, sagte Colvin, »wieviel hat die Firma dieses Jahr an der Überarbeitung der C-12B verdient?« Montgomery trank einen Schluck und streckte die Beine im ge räumigen Inneren der Gulfstream aus. »Etwa vierhundert Millio nen, glaube ich, Rog. Warum?« »Und hat die Agentur jemals ernsthaft überlegt, ob sie zu je mand anderem gehen sollten, nachdem ... nachdem?« »Scheiße«, sagte Tom Weiscott, »zu wem hätten sie gehen sol len? Wir haben sie an den kurzen Haaren gepackt. Sie dachten ein paar Monate darüber nach, dann kamen sie zurückgekrochen. Du bist der beste Ingenieur von gebündelten Ladungen und Sicher heitseinrichtungen und Hypergoltreibstoffen im ganzen Land, Rog.« Colvin nickte, arbeitete eine Minute mit seinem Taschenrechner und machte die Augen zu. Die Stahlklammer lag über seinem Schoß, der Wagen, in dem er fuhr, stieg immer höher und höher. Die Luft wurde dünn und kalt, das Kreischen der Räder auf den Schienen wurde zu einem dün nen Pfeifen, als die Achterbahn über die Sechs-Meilen-Marke rollte. Falls der Innendruck der Kabine fällt, fallen selbsttätig Sauerstoffmas ken von der Decke. Bitte drücken Sie diese fest auf Nase und Mund und atmen Sie normal. 108
Colvin sah nach vorne, die schreckliche Steigung der Achter bahn hinauf und spürte den Gipfel des Aufstiegs und die Leere dahinter. Die winzigen Sauerstofftank-Masken-Kombinationen hießen PEAPs — Personal Egress Air Packs oder Persönliche AusstiegsLuftpacks. PEAPs von vier der fünf Besatzungsmitglieder wurden vom Grund des Ozeans geborgen. Alle waren aktiviert. Zwei Mi nuten und fünfundvierzig Sekunden eines jeden Luftvorrats wa ren verbraucht. Colvin sah, wie der Gipfel des ersten Bergs der Achterbahn nä her kam. Die Achterbahn glitt mit einem schrillen, metallischen Ge räusch und einem Schwung über die Kuppe und von den Schie nen herunter. Leute in den Wagen hinter Colvin schrien und hör ten nicht mehr auf zu schreien. Colvin schnellte nach vorne und packte den Sicherheitsbügel, als der Wagen in neun Meilen Leere kippte. Er machte die Augen auf. Ein einziger Blick aus dem Fenster der Gulfstream zeigte ihm, daß die dünnen Linien gebündelter Ladungen, die er dort angebracht hatte, die Backbordtragfläche sauber, chirurgisch ab getrennt hatten. Die Umkreisungsrate deutete darauf hin, daß ausreichend Stummel der Tragfläche übriggeblieben war, um die erforderliche Oberfläche zu schaffen, damit die Endgeschwindig keit etwas unter Maximum blieb. Zwei Minuten fünfundvierzig Sekunden, plus minus vier Sekunden. Colvin griff nach seinem Taschenrechner, aber der schwebte frei in der Kabine und stieß mit durcheinanderwirbelnden Flaschen, Gläsern, Kissen und Passagieren zusammen, die sich nicht ange schnallt hatten. Die Schreie waren sehr laut. Zwei Minuten fünfundvierzig Sekunden. Zeit, über vieles nachzudenken. Und möglicherweise, nur möglicherweise, nach zweieinhalb Jahren traumgequälten Schlafes, würde es Zeit genug für ein kurzes Nickerchen ohne Träume sein. Colvin machte die Augen zu. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber
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PETER STRAUB
Das Geisterdorf
Vietnam kannte ich einen Mann, der in aller Stille und zielInstrebig verrückt wurde, weil ihm seine Frau schrieb, daß sein Sohn sexuell mißbraucht — >angefaßt< — worden wäre, und zwar vom Leiter ihres Kirchenchors. Dieser Mann war ein schwarzer ein Meter achtzig großer Infanterist namens Leonard Hamnet aus einer kleinen Stadt in Tennessee namens Archibald. Bevor sie ihm schrieb, hatte seine Frau gewartet, bis sie die ganze Prozedur hin ter sich gebracht hatte: das Aufsuchen der Polizei, die Unterre dungen mit anderen Eltern, die Rückkehr zur Polizei mit einer weiteren Anzeige; und schließlich war es ihr gelungen, daß man den Mann anklagte. In zwei Monaten sollte der Prozeß sein. Leo nard Hamnet war darüber ebensowenig glücklich wie über das, was seinem Sohn widerfahren war. »Ich muß den Kerl umbringen, wißt ihr, aber ich denke ernst haft daran, auch sie umzubringen«, sagte er. Er hielt noch im mer den Brief in den Händen und sprach gerade mit Spanky Bur rage, Michael Poole, Conor Linklater, SP4 Cotton, Calvin Hill, Tina Pumo, dem großartigen M. O. Dengler und mir. »Da passiert so was — mein Junge braucht Hilfe, dieser Mr. Brewster muß aus einandergenommen werden, muß eingedost und verstaut werden, und sie sagt mir nichts! Am liebsten würde ich sie kaltmachen, Mann. Ihren gottverdammten Kopf abhauen und ihn auf dem Hof auf einen Pfahl stecken, Mann. Mit einem Schild dran: Das ist eine blöde Frau.« Wir befanden uns in jenem inoffiziellen Teil von Camp Cran dall, der Niemandsland genannt wurde, zwischen dem äußeren Drahtzaun und einem ebenfalls inoffiziellen Schuppen, wo ein gerissenes kleines Wiesel namens Wilson Manly geschmuggeltes Bier und Schnaps verkaufte. Niemandsland — so genannt, weil der Kommandierende Offizier so tat, als existiere es nicht — um faßte einen Berg von alten Autoreifen, ein Pissoir und jede Menge
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staubigen roten Boden. Leonard Hamnet warf dem Brief in seiner Hand einen entmutigten Blick zu, steckte ihn zusammengefaltet in die Tasche seiner Drillichhose, schlenderte zwischen den Rei fenstapeln herum und verpaßte denen, die am weitesten hervor ragten, Tritte. »Eine blöde Frau«, wiederholte er. Staub sprühte aus einem zerplatzten, abgefahrenen Pneu. Ich wollte sicherstellen, daß Hamnet sich darüber im klaren war, daß er auf Mr. Brewster wütend sein mußte, nicht auf seine Frau, und so sagte ich: »Sie hat es versucht...« Hamnets großer, glänzender Stierkopf wandte sich mir zu. »Schau dir doch an, was die Frau getan hat. Sie hat diesen Drecksack festgenagelt. Sie hat andere Leute dazu gebracht, zuzu geben, daß er auch mit ihren Kindern rumgemacht hat. So was ist doch fast unmöglich. Und sie hat den Typen verhaften lassen. Den werden sie für lange Zeit wegstecken.« »Diese blöde Kuh werde ich auch wegstecken«, sagte Hamnet und trat kräftig genug gegen einen alten grauen Reifen, daß er fast dreißig Zentimeter in den Stapel zurückrutschte. Alle anderen Reifen bebten und bewegten sich. Eine Sekunde lang sah es so aus, als würde der ganze Berg einstürzen. »Ich rede hier von meinem Jungen«, sagte Hamnet. »Diese Schei ße ist jetzt weit genug gegangen.« »Wichtig ist vor allem«, sagte Dengler, »daß du dich um deinen Jungen kümmerst. Du mußt dafür sorgen, daß er Hilfe bekommt.« »Wie soll ich das von hier aus denn wohl machen?« schrie Hamnet. »Schreib ihm einen Brief«, meinte Dengler, »sag ihm, daß du ihn liebst. Sag ihm, daß es richtig von ihm war, zu seiner Mutter zu gehen. Sag ihm, daß du die ganze Zeit an ihn denkst.« Hamnet holte den Brief aus seiner Tasche und starrte ihn an. Er war schon jetzt fleckig und zerknittert. Ich glaubte nicht, daß er noch viele von Hamnets Lesungen überleben würde. Sein Gesicht schien immer schwermütiger zu werden, was bei einem Gesicht wie dem von Hamnet nicht leicht zu bewerkstelligen ist. »Ich muß nach Hause«, sagte er. »Ich muß nach Hause, um mich um diese Leute zu kümmern.« Hamnet begann Urlaub aus dringenden familiären Gründen zu beantragen — ein Antrag pro Tag. Wenn wir draußen auf Patrouil le waren, sah ich ihn manchmal das zerfetzte Blatt Notizpapier aus seiner Hemdtasche nehmen und es zwei- oder dreimal mit in 111
tensiver Konzentration lesen. Als der Brief an den Falten einriß, klebte Hamnet ihn zusammen. In dieser Zeit gingen wir auf vier- und fünftägige Patrouillen und hatten viele Verluste. Hamnet bewährte sich gut im Feld, aber er hatte sich so sehr in sich selbst zurückgezogen, daß er nur noch in Einzelsilben sprach. Sein Blick war stumpf und glasig, und er bewegte sich wie ein Mann» der gerade ein schweres Abendessen hinter sich hatte. Ich dachte, daß er aussähe, als habe er aufgege ben, und wenn Leute aufgaben, hielten sie nicht mehr lange durch — dann standen sie dem Tod bereits sehr nahe, und die anderen mieden sie. Wir lagerten unter einer Baumgruppe am Rande eines Reis felds. An diesem Tag hatten wir zwei Männer verloren, die so neu waren, daß ich ihre Namen bereits wieder vergessen hatte. Wir mußten kalte C-Rationen essen. Sie aufzuwärmen war unmög lich; dann hätten wir gleich Plakate aufhängen und das Flutlicht einschalten können. Wir durften nicht rauchen, und wir sollten auch nicht sprechen. Hamnets C-Ration bestand aus einer alten Büchse Frühstücksfleisch, die wohl aus einem früheren Krieg stammte, und einer Dose Pfirsiche. Er sah, wie Spanky die Pfirsi che anstarrte, und warf ihm die Dose zu. Dann ließ er das Früh stücksfleisch zwischen seine Beine fallen. Der Geruch des Todes umgab ihn beinahe sichtbar. Er fischte die Nachricht aus seiner Tasche und versuchte, sie im feuchten grauen Zwielicht zu lesen. In diesem Augenblick begann jemand auf uns zu schießen, und der Lieutenant schrie »Scheiße!« Wir ließen unser Essen fallen und erwiderten das Feuer auf die unsichtbaren Kerle, die versuchten, uns umzubringen. Als sie weiter zurückschössen, mußten wir durch das Reisfeld. Das warme Wasser reichte uns bis zur Brust. An den Dämmen krochen wir hoch und ließen uns auf der anderen Seite in den Schlamm fallen. Ein Junge namens Thomas Blevins aus Santa Cruz, Kalifornien, wurde in den Nacken getroffen und stürzte kurz vor dem ersten Damm tot ins Wasser, und ein weiterer Junge namens Tyrell Budd hustete und fiel direkt neben ihn. Wir lehnten uns gerade mit dem Rücken gegen den letzten der beiden Dämme, als die großen Granaten einschlugen. Der Boden bebte, das Was ser schlug Wellen, und die Ränder des Waldes gingen nach und nach in Flammen auf. Wir konnten die Affen schreien hören. Einer nach dem anderen krochen wir über den letzten Damm 112
auf den feuchten, aber festen Boden am anderen Ende des Reis felds. Hier war der Baumbewuchs viel spärlicher, und man sah ei ne kleine Gruppe strohbedeckter Hütten dahinter. Dann geschahen zwei Dinge, die ich nicht verstand, und zwar eins nach dem anderen. Irgend jemand im Wald feuerte eine Mör sergranate auf uns ab — nur eine. Ein Mörser, eine Granate. Das war das erste. Ich ließ mich fallen und preßte mein Gesicht in den Schlamm, und alle um mich herum taten das gleiche. Ich dachte, daß dies meine letzte Sekunde auf Erden sein könnte und sog gie rig alles, was mir an Leben noch bleiben mochte, in mich hinein. Wer immer den Mörser abgefeuert hatte, mußte sehr genau wis sen, wo wir uns befanden, und ich erlebte jenen endlosen Augen blick der schieren, grauenerregenden Hilflosigkeit — einen Au genblick, in dem sich die Seele gleichzeitig an den Körper klam mert und darauf vorbereitet ist, sich von ihm zu lösen —, bis die Granate oben auf dem letzten Damm landete und ihn in Stücke blies. Erdreich, Schlamm und Wasser schwappten um uns herab, und Granatsplitter sausten durch die Luft. Einer der Splitter se gelte über uns hinweg, riß ein hamburgergroßes Stück Rinde und Holz aus einen Baum und schepperte mit einem Geräusch wie ein Ziegelstein auf einer Mülltonne gegen Spanky Burrages Helm. Der Splitter fiel zu Boden, und eine kleine Rauchfahne stieg von ihm auf. Wir standen wieder auf. Spanky sah tot aus, nur daß er noch at mete. Hamnet schlang sich seinen Rucksack um, hob Spanky auf und warf ihn über die Schulter. Er bemerkte, wie ich ihm zusah. »Ich muß mich um diese Leute kümmern«, sagte er. Das andere, was ich nicht verstand — abgesehen davon, wes halb nur eine Mörsergranate abgefeuert worden war —, ereignete sich, als wir das Dorf betraten. Lieutenant Harry Beevers mußte erst noch zu uns stoßen, und wir waren noch fast ein Jahr von den Ereignissen in La Thuc ent fernt, wo alles, die Welt und wir selbst innerhalb der Welt wahn sinnig wurde. Ich muß erklären, was dort dann geschah. Lieute nant Harry Beevers tötete dreißig Kinder in einer Höhle bei La Thuc, und ihre Leichen verschwanden, aber Michael Poole und ich betraten diese Höhle und wußten, daß darin etwas Obszönes vor gefallen war. Wir rochen das Böse, wir berührten seine Schwin gen mit den Händen. Ein bedauernswerter Typ namens Victor 113
Spitalny rannte in die Höhle, als er Gewehrfeuer hörte, und kam sofort wieder herausgetorkelt, schreiend, bedeckt von Schwielen oder Nesselausschlag, der fast sofort wieder verschwand, als er ins Freie kam. Auch der arme Spitalny hatte etwas gespürt. Weil ich zwanzig war und in meinem Kopf bereits Bücher schrieb, überlegte ich mir, daß diese Höhle der Ort sein könne, wo der an dere Tom Sawyer endete, wo Indianer Joe die arme Becky Thatcher vergewaltigt und Tom die Gurgel durchgeschnitten hatte. Als wir auf der anderen Seite des Reisfelds in das kleine Wald dorf kamen, erlebte ich eine Art Vorgeschmack auf La Thuc. Wenn ich das mal so sagen darf, ohne sofort sämtliche Schauerroman glocken zum Läuten zu bringen, so schien dieser Ort von seinem Wesen her inhärent verkehrt zu sein . . . Er war zu ruhig, zu still, völlig ohne Geräusch oder Bewegung. Es gab keine Hühner, Hun de oder Schweine; keine alten Frauen kamen heraus, um uns zu mustern, keine alten Männer entboten uns ein beschwichtigendes Lächeln. Die kleinen, immer noch bewohnbaren Hütten waren leer — etwas, was ich in Vietnam noch nie zuvor gesehen hatte und auch nie wieder sehen sollte. Es war ein Geisterdorf in einem Land, wo die Leute daran glaubten, daß der Boden durch die Lei ber ihrer Vorfahren geheiligt wurde. Pooles Karte besagte, daß der Ort Bong To hieß. Hamnet ließ Spanky in das hohe Gras gleiten, sobald wir die Mitte des leeren Dorfs erreicht hatten. Ich rief ein paar Worte in meinem armseligen Vietnamesisch. Spanky stöhnte. Vorsichtig betastete er die Seiten seines Helms. »Ich habe eine Kopfverlet zung«, meinte er. »Du hättest überhaupt keinen Kopf mehr, wenn du nur deine Mütze getragen hättest«, sagte Hamnet. Spanky biß sich auf die Lippen und schob sich den Helm vom Kopf. Er stöhnte. Eine Blutspur rann neben seinem Ohr herab. Schließlich streifte der Helm über eine apfelgroße Beule, die unter seinem Haar wuchs. Grimassenschneidend betastete Spanky die sen gewaltigen Knoten. »Ich sehe doppelt«, sagte er. »Diesen Helm kann ich nie wieder aufsetzen.« Der Sanitäter sagte: »Immer mit der Ruhe, wir werden dich hier schon rausbringen.« »Hier raus?« Spankys Miene hellte sich auf. »Zurück nach Crandall«, sagte der Sanitäter. Spitalny kam dazu, und Spanky sah ihn finster an. »Es ist nie 114
mand hier«, sagte Spitalny. »Was, zum Teufel, ist hier los?« Er be trachtete das Verlassensein des Dorfs als persönlichen Affront. Leonard Hamnet kehrte ihm den Rücken zu und spuckte aus. »Spitalny, Tiano«, sagte der Lieutenant. »Gehen Sie zurück ins Reisfeld und holen Sie Tyrell und Blevins. Sofort.« Tattoo Tiano, der sechseinhalb Monate später sterben sollte und Spitalnys einziger Freund war, erklärte: »Das können Sie diesmal selber tun, Lieutenant.« Hamnet drehte sich um ging auf Tiano und Spitalny zu. Er sah aus, als sei er plötzlich doppelt so groß wie vorher, als könnte er mit bloßen Händen ganze Felsblöcke heben. Ich hatte vergessen, wie groß er war. Er hatte den Kopf gesenkt, und über der Iris zeig te sich ein Rand aus klarem Weiß. Ich wäre nicht überrascht gewe sen, wenn er aus den Nüstern Rauch gestoßen hätte. »He, bin ja schon weg, bin ja schon da«, sagte Tiano. Zusam men mit Spitalny huschte er schnell zwischen den wenigen Bäu men hindurch. Wer immer den Mörser abgefeuert hatte, hatte in zwischen eingepackt und war gegangen. Mittlerweile war es fast dunkel, und die Moskitos hatten uns entdeckt. »Nun?« sagte Poole. Hamnet fuhr so heftig hoch, daß ich das Beben in meinen Stie feln spüren konnte. Er sagte: »Ich muß nach Hause, Lieutenant. Will nicht respektlos sein, aber ich ertrage diese Scheiße nicht viel länger.« Der Lieutenant erklärte, daß er daran arbeite. Poole, Hamnet und ich ließen die Blicke durch das Dorf schwei fen. Spanky Burrage meinte: »Netter, ruhiger Ort, wo Ham seine Lektüre nachholen kann.« »Vielleicht sollte ich mal nachsehen«, meinte der Lieutenant. Er betätigte das Feuerzeug ein paarmal, dann ging er auf die nächste Hütte zu. Der Rest von uns stand albern herum und lauschte den Moskitos und den Geräuschen, die Tiano und Spitalny machten, als sie die Toten über die Dämme zerrten. Ab und zu stöhnte Spanky und schüttelte den Kopf. Es verging zu viel Zeit. Der Lieutenant sagte in der Hütte etwas beinahe Hörbares. Ei lig kam er heraus, selbst in der Dunkelheit sah er noch beunruhigt und verwundert aus. »Underhill, Poole«, sagte er, »ich möchte, daß Sie sich das anse hen.« 115
Poole und ich tauschten einen Blick. Ich fragte mich, ob ich ge nauso schlimm aussah wie er. Poole schien nur noch wenige gei stige Zentimeter davon entfernt zu sein, sich entweder auf den Lieutenant zu stürzen oder ganz und gar zu explodieren. Die Au gen in seinem schlammigen Gesicht hatten die Größe von Hühner eiern. Er war aufgedreht wie ein billiger Wecker. Ich dachte, daß ich wahrscheinlich ziemlich ähnlich aussah. »Was ist, Lieutenant?« fragte er. Der Lieutenant winkte uns zur Hütte, dann machte er kehrt und ging wieder hinein. Es gab keinen Grund für uns, ihm nicht zu folgen. Der Lieutenant war ein Penner, aber Harry Beevers, unser nächster Lieutenant, war ein Baron, ein Graf unter den Pennern, und wir haben trotzdem fast immer all die blöden Sachen getan, die er uns auftrug. Poole war so genervt und fertig, daß er aussah, als wolle er dem Lieutenant am liebsten in den Rücken schießen. Mir selbst war danach zumute, dem Lieutenant in den Rücken zu schießen, erkannte ich eine Sekunde später. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was in Poole vorging, grummelte etwas vor mich hin und setzte mich in Richtung Hütte in Bewegung. Poole folgte. Der Lieutenant stand in der Tür, blickte über die Schulter und fummelte an seinem Seitengewehr herum. Er blickte uns böse an, um uns wissen zu lassen, daß wir ihm zu langsam gehorcht hat ten, dann knipste er das Feuerzeug an. Die plötzlichen Höhlungen und Schatten in seinem Gesicht ließen ihn aussehen wie eine der Leichen, deren Gräber ich geöffnet hatte, als ich in Camp White Star bei der Gräberregistrierung gewesen war. »Sie wollen wissen, was los ist, Poole? Okay, sagen Sie mir, was das ist.« Er hielt das Feuerzeug vor sich wie eine Fackel und marschierte in die Hütte. Ich stellte mir vor, wie das ganze schwachbrüstige Gebäude plötzlich in Flammen aufging. Diesem Lieutenant war es nicht bestimmt, heil und gesund nach Hause zurückzukehren, und ich bemitleidete und haßte ihn in ungefähr gleichem Maß, aber ich wollte nicht in ein Stück Toast verwandelt werden, nur weil er einen amerikanischen Leichnam in einer Hütte entdeckt hatte und nicht wußte, was deswegen zu tun war. Ich hatte von Kameraden gehört, die die verstümmelten Leichen amerikani scher Gefangener entdeckt hatten, und ich hoffte, daß wir jetzt nicht damit an der Reihe waren. 116
Und dann, in dem kurzen Augenblick, bevor ich Blut roch und sah, wie sich der Lieutenant vorbeugte, um eine Klappe im Fuß boden hochzuheben, dachte ich, daß es nicht der Leichnam eines amerikanischen Kriegsgefangenen war, was ihm einen Schreck eingejagt hatte, sondern der eines Kindes, das man ermordet und an diesem leeren Ort zurückgelassen hatte. Der Lieutenant hatte wahrscheinlich noch keine toten Kinder zu sehen bekommen. Ein Teil des Lieutenants war immer noch damit beschäftigt, was ein Mädchen namens Becky Roddenburger zu Hause in Idaho gerade anstellen mochte, und ein totes Kind würde entschieden zuviel der Realität für ihn sein. Er zog die Bodenklappe hoch, und ich roch Blut. Das Zippo er losch, und die Dunkelheit umschloß uns. Der Lieutenant riß die Klappe an ihren Scharnieren zurück. Der Blutgeruch stieg aus dem Boden auf, was immer darunter sein mochte. Der Lieutenant schnippte das Zippo an, und sein Gesicht sprang plötzlich aus der Finsternis. »So. Sagen Sie mir, was das ist.« »Da verstecken sie die Kinder, wenn Leute wie wir aufkreu zen«, sagte ich. »Riecht so, als wäre etwas schiefgelaufen. Haben Sie mal nachgesehen?« An seinen angespannten Wangen und dem fast lippenlosen Mund erkannte ich, daß er es nicht getan hatte. Er war nicht be reit, hinunterzusteigen und sich von dem Minotaurus umbringen zu lassen, während sein Zug draußen herumstand. »Nachzusehen ist Ihre Aufgabe, Underhill«, sagte er. Eine Sekunde lang blickten wir beide auf die aus geschälten, mit Lumpen zusammengebundenen Ästen bestehende Leiter, die in die Grube hinunterführte. »Geben Sie mir das Feuerzeug«, sagte Poole und entriß es dem Lieutenant. Er setzte sich auf den Rand des Lochs und beugte sich vor, führte die Flamme unter Bodenhöhe. Als er etwas entdeckte, grunzte er und überraschte den Lieutenant und mich, indem er sich vom Rand in die Öffnung hinunterschob. Das Licht erlosch. Der Lieutenant und ich blickten in das dunkle, offenstehende Rechteck im Boden. Das Feuerzeug flammte wieder auf. Ich konnte Pooles ausge streckten Arm erkennen, das zuckende kleine Feuer, einen Boden aus festgestampftem Erdreich. Die Decke des verborgenen Raums befand sich keine zwei Zentimeter über Pooles Kopf. Er entfernte sich von der Öffnung. 117
»Was ist los? Sind dort irgendwelche ...« Die Stimme des Lieu tenants knarzte seltsam. »Irgendwelche Leichen?« »Komm runter, Tim!« rief Poole nach oben. Ich setzte mich auf den Boden und schwang die Beine in die Grube. Dann sprang ich hinab. Unter dem Fußboden war der Blutgeruch so stark, daß einem davon fast übel wurde. »Was sehen Sie?« schrie der Lieutenant. Er versuchte, wie ein Anführer zu klingen, und seine Stimme quiekte beim letzten Wort. Ich sah einen großen Raum in der Form eines riesigen Grabs. Die Wände waren von irgendeinem dicken Papier bedeckt, das von hölzernen Leisten festgehalten wurde, die man im Erdreich befestigt hatte. Sowohl das dicke braune Papier als auch zwei der Leisten wiesen alte Blutflecken auf. »Heiß«, sagte Poole und löschte das Feuerzeug. »Kommen Sie, verdammt«, ertönte die Stimme des Lieute nants. »Kommen Sie da raus.« »Jawohl, Sir«, erwiderte Poole. Er entzündete das Feuerzeug wieder. Viele Schichten dicken Papiers bildeten ein Saugkissen zwischen dem Erdreich und dem Raum, und die oberste, dünnste Schicht war mit senkrechten Zeilen in vietnamesischer Schrift be deckt. Die Schrift sah aus wie Lyrik, wie die linken Seiten von Kenneth Rexroths Übersetzungen von Tu Fu und Li Po. »Na ja«, meinte Poole, und als ich mich umdrehte, sah ich, wie er auf etwas zeigte, das zuerst aussah wie raffiniert verwobene Seilstränge, die an den blutbefleckten hölzernen Pfeilern befestigt waren. Poole trat vor, und das Gewebe bekam ein schärferes Re lief. Etwa einen Meter über dem Boden hatte man Eisenketten an die Pfosten geschraubt. Der dicke Bodenbelag zwischen den bei den Ketten war blutgetränkt. Der Meter Bodenfläche zwischen den Pfosten sah rostig aus. Poole führte das Feuerzeug dichter an eine der Ketten heran, und wir sahen getrocknetes Blut auf den Metallgliedern. »Ich will, daß Sie da rauskommen, und zwar sofort«, winselte der Lieutenant. Poole löschte das Feuerzeug. »Ich habe es mir gerade anders überlegt«, sagte ich leise. »Ich gebe zwanzig Dollar in den Elijahfonds. Heute in zwei Wochen. Das wäre dann wann, am zwanzigsten Juni?« 118
»Sag es Spanky«, meinte er. Spanky Burrage hatte eine Ge meinschaftskasse erfunden, die wir den Elijahfonds nannten, und er verwaltete das Geld. Michael Poole hatte kein Geld in die Kasse eingezahlt. Er dachte, daß ein neuer Lieutenant vielleicht noch schlimmer werden könnte als der, den wir hatten. Natürlich be hielt er recht. Harry Beevers war unser nächster Lieutenant. Elijah Joys, Lieutenant Elijah Joys aus New Utrecht, Idaho, ein Gradu ierter der Universität von Idaho mit seiner Grundausbildung in Fort Benning, Georgia, war ein unfähiger, schwacher Lieutenant, aber kein katastrophaler. Wenn Spanky im voraus gewußt hätte, was noch auf uns zukommen sollte, hätte er das Geld zurückge geben und für die Sicherheit von Lieutenant Joys gebetet. Poole und ich kehrten wieder zur Öffnung zurück. Ich hatte ein Gefühl, als hätte ich das Heiligtum einer obszönen Gottheit ge schaut. Der Lieutenant beugte sich vor und streckte die Hand aus — nutzloserweise, weil er sich nicht weit genug vorbeugte, daß wir ihn hätten erreichen können. Wir stemmten uns mit star ren Armen aus dem Loch, als würden wir aus einem Schwimm becken steigen. Der Lieutenant trat zurück. Er hatte ein dünnes Gesicht und eine dicke, fleischige Nase; sein Adamsapfel tanzte in seiner Kehle umher wie eine Springbohne. Er mochte vielleicht nicht Harry Beevers sein, aber ein Volltreffer in der Lotterie war er auch nicht gerade. »Und, wie viele?« »Wie viele was?« fragte ich. »Wie viele sind da drin?« Er wollte mit einer guten Leichensta tistik nach Camp Crandall zurückkehren. »Eigentlich waren da keine Leichen, Lieutenant«, sagte Poole in dem Versuch, ihn behutsam zu beschwichtigen. Er beschrieb, was wir gesehen hatten. »Wozu soll das denn gut sein?« Er meinte: Wie soll mir das was nützen? »Verhöre, wahrscheinlich«, meinte Poole. »Wenn man da unten jemanden verhören sollte, würde niemand außerhalb der Hütte etwas davon bemerken. In der Nacht könnte man die Leiche ein fach in den Wald schleppen.« Lieutenant Joys nickte. »Feldverhörposten«, sagte er und ver suchte es mit dem Ausdruck zu umschreiben. »Folter, Gebrauch von Gewalt, deutliche Hinweise darauf.« Er nickte wieder. »Rich tig?« »Deutliche«, sagte Poole. 119
»Zeigt uns, mit was für einem Feind wir es in diesem Konflikt zu tun haben.« Plötzlich ertrug ich es nicht mehr, mit Elijah Joys denselben Quadratmeter Raum teilen zu müssen, und ich machte einen Schritt auf die Hüttentür zu. Ich wußte zwar nicht, was Poole und ich genau gesehen hatten, aber ich wußte, daß es kein Feldverhör posten war, Folter, Gebrauch von Gewalt, deutliche Hinweise dar auf ... es sei denn, die Vietnamesen hatten damit angefangen, Af fen zu verhören. Mir fiel ein, daß die Schrift an der Wand mögli cherweise Namen aufführte und keine Gedichte — ich dachte, daß wir in ein Mysterium hineingestolpert waren, das nichts mit dem Krieg zu tun hatte, ein vietnamesisches Mysterium. Eine Sekunde lang erklang in meinem Kopf Musik aus meinem alten Leben, Musik, zu schön, um noch erträglich zu sein. Schließ lich erkannte ich sie: >Der Gang in den Paradiesgarten< aus Romeo und Julia auf dem Lande von Frederick Delius. Damals in Berkeley hatte ich es mir Hunderte von Malen angehört. Ich glaube, wäre nichts anderes geschehen, hätte ich wohl das ganze Stück in meinem Kopf wiederholt. Tränen traten mir in die Augen, und ich ging auf die Hüttentür zu. Da erstarrte ich. Ein zerlumpter vietnamesischer Junge von sieben oder acht Jahren blickte mich aus der gegenüberliegenden Ecke der Hütte mit gro ßem Ernst an. Ich wußte, daß er nicht da war — ich wußte, daß er ein Geist war. Ich glaubte nicht an Geister, aber das war einer. Ir gendein Teil meines Verstands, so distanziert wie ein Kriminalre porter, erinnerte mich daran, daß >Der Gang in den Paradiesgar ten< von zwei Kindern handelte, die im Begriff standen zu ster ben, und daß die Musik in einem gewissen Sinne ihren Tod be schrieb. Ich wischte mir die Augen mit der Hand, und als ich den Arm senkte, war der Junge immer noch da. Er war schön, schön auf die übliche Weise, wie mir vietnamesische Kinder fast immer schön erschienen. Dann verschwand er ganz plötzlich, wie das flackernde Licht des Zippo. Ich hätte beinahe laut aufgestöhnt. Das Kind war in der Hütte ermordet worden: Der Junge war nicht nur gestorben, er war ermordet worden. Ich sagte irgend etwas zu den beiden anderen Männern und ging durch die Tür in die wachsende Dunkelheit hinaus. Ganz un deutlich nahm ich wahr, wie Poole von dem Lieutenant aufgefor dert wurde, seine Beschreibung der Pfähle und der blutigen Kette zu wiederholen. Hamnet und Burrage und Calvin Hill saßen an 120
einen Baum gelehnt. Victor Spitalny wischte sich die Hände an seinem schmutzigen Hemd ab. Weißer Rauch kringelte sich von Hills Zigarette, und Tina Pumo atmete einen langen weißen Dampfstrom aus. Mit absoluter Überzeugung kam mir der ver rückte Gedanke, daß dies der Paradiesgarten war. Die Männer, die in der Dunkelheit herumlungerten; das Muster des Zigaretten rauchs, und die Muster, die sie sitzend oder stehend bildeten; die heranziehende Dunkelheit, so körperlich wie eine Decke; der Rah men der Bäume und der flache, graugrüne Hintergrund des Reis felds. Meine Seele war wieder zum Leben erwacht. Dann bemerkte ich, daß etwas mit den Männern, die da vor mir angeordnet waren, nicht stimmte, und es dauerte wieder einen Augenblick, bis meine Intelligenz meine Intuition eingeholt hatte. Jedes Mitglied einer Kampfeinheit zählt unbewußt mit, wenn Mit glieder der Einheit im Feld fallen; manchmal hängt das Überleben davon ab, daß man weiß, mit wie vielen Leuten man zusammen ist, und so zählt man mit, ohne es selbst richtig zu merken. Ich hatte registriert, daß zwei Männer zuviel vor mir waren. Anstelle von sieben waren es neun, und die beiden Männer, mit denen zu sammen wir eigentlich neun gewesen wären, hielten sich immer noch hinter mir in der Hütte auf. M. O. Dengler sah mich mit wachsender Neugier an, und ich glaube, er wußte genau, was ich dachte. Ein eisiger Schauer durchfuhr mich. Ich sah Tom Blevins und Tyrell Budd außen rechts am Rand des Zugs stehen, etwas schlammiger als die anderen, aber ansonsten nur in einer Hinsicht anders als der Rest — sie sahen mich nämlich, wie Dengler, direkt an. Hill warf seine Zigarette in einem hohen leuchtenden Bogen fort. Poole und Lieutenant Joys traten hinter mir aus der Hütte. Leonard Hamnet klopfte gegen seine Tasche, um sich zu verge wissern, daß er immer noch seinen Brief hatte. Ich sah wieder zum rechten Rand der Gruppe, und die beiden toten Männer wa ren verschwunden. »Dann wollen wir mal aufsatteln«, sagte der Lieutenant. »Hier sind wir nicht mehr von Nutzen.« »Tim?« fragte Dengler. Er hatte den Blick nicht von mir abge wandt, seit ich aus der Hütte gekommen war. Ich schüttelte den Kopf. »Na, was war es?« fragte Tina Pumo. »War es saftig?« 121
Spanky und Calvin Hill lachten und klatschten in die Hände. »Werden wir diesen Ort denn gar nicht abfackeln?« fragte Spi talny. Der Lieutenant ignorierte ihn. »Saftig genug, Pumo. Verhörpo sten. Feldverhörposten.« »Scheiße«, sagte Pumo. »Diese Leute foltern, Pumo. Das ist nur ein weiterer Hinweis darauf.« »Kapiert.« Pumo sah mich an, und seine Augen wurden neu gierig. Dengler kam näher. »Ich habe mich gerade an etwas erinnert«, sagte ich. »An etwas aus einer anderen Welt.« »Die Welt sollten Sie mal lieber vergessen, solange Sie hier sind, Underhill«, sagte der Lieutenant zu mir. »Ich versuche dafür zu sorgen, daß Sie am Leben bleiben, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen sein sollte, aber dazu müssen Sie auch mitarbeiten.« Sein Adamsapfel hüpfte wie ein bettelnder Welpe. Sobald er vorausging, um uns aus dem Dorf zu führen, reichte ich Spanky zwanzig Dollar und sagte: »Heute in zwei Wochen.« »Ist gebongt«, meinte Spanky. Der Rest der Patrouille verlief ereignislos. Am nächsten Abend konnten wir duschen, hatten richtiges Essen, Alkohol, Pritschen zum Schlafen. Bettwäsche und Kopfkissen. Zwei neue Typen ersetzten Tyrell Budd und Thomas Blevins, de ren Namen nie wieder erwähnt wurden, jedenfalls nicht von mir, bis lange nach dem Krieg, als Poole, Linklater, Pumo und ich ihre Namen zusammen mit dem Rest unserer Toten an der Wand in Washington nachlasen. Ich wollte die Patrouille vergessen, vor al lem das, was ich in der Hütte gesehen und erlebt hatte. Ich wollte das Vergessen pulverisieren. Ich erinnere mich, daß es regnete. Ich erinnere mich, wie der Dampf sich vom Boden hob und das Kondenswasser in den Zel ten die Metallstangen herablief. Feuchtigkeit schimmerte auf den mich umgebenden Gesichtern. Ich saß im Zelt der Brüder und lauschte der Musik, die Spanky Burrage auf dem großen Ton bandgerät abspielte, das er auf Erholungsurlaub in Taipei gekauft hatte. Spanky Burrage spielte zwar niemals Delius, aber was er spielte, war paradiesisch: großartiger Jazz von Armstrong bis Col trane, auf Bändern, die ihm von Freunden in Little Rock bespielt 122
wurden und die er so gut kannte, daß er einzelne Stücke und Dar bietungen finden konnte, ohne sich die Mühe zu machen, auf den Zähler zu blicken. Spanky liebte es, bei diesen langen Sitzungen den Discjockey zu spielen, Spulen zu wechseln und Tausende von Metern Band vorzuspulen, um dieselben Stücke von unterschied lichen Musikern anbieten zu können, manchmal sogar denselben Song, der sich hinter verschiedenen Namen versteckte: >Chero kee< und >KoKo<, >Indiana< und >Donna Lee< — oder lange Serien von Songs, die das gleiche Thema hatten: >I Thought About You< (Art Tatum), >You and the Night and the Music< (Sonny Rollins), >I Love You< (Bill Evans), >If I Could Be with You< (Ike Quebec), >You Leave Me Breathless< (Milt Jackson), ja sogar um des Spaßes willen >Thou Swell< von Glenroy Breakstone. An diesem Tag war Spanky in Nur-ein-Künstler-Laune und ging das Werk eines gro ßen Trompeters namens Clifford Brown durch. An diesem schwülen, regnerischen Tag hörte sich Clifford Browns Musik königlich und unirdisch an. Clifford Brown war auf dem Weg in den Paradiesgarten. Ihm zu lauschen war so, als wür de man einem lächelnden Mann dabei zusehen, wie er mit der Schulter eine riesige Tür aufstemmte, um große, blendende Licht strahlen hereinzulassen. Wir waren nicht mehr im Krieg. Die Welt, in der wir uns befanden, war jenseits des Schmerzes und des Verlusts, und die Vorstellungskraft hatte die Furcht verbannt. Selbst SP4 Cotton und Calvin Hill, die James Brown einem Clif ford Brown vorzogen, lagen auf ihren Kojen und lauschten, wäh rend Spanky sich von seinen Instinkten von einem Stück zum nächsten leiten ließ. Nachdem er etwa zwei Stunden lang den Discjockey gespielt hatte, spulte Spanky das lange Band wieder auf und sagte: »Ge nug.« Das Bandende klatschte gegen die Spule. Ich sah Dengler an, der benommen wirkte, als würde er aus einem langen Schlaf erwachen. Die Erinnerung an die Musik war immer noch um uns: Noch immer strömte Licht durch den Spalt in der großen Tür. »Ich brauche was zu Rauchen und was zu Trinken«, verkündete Cotton und stemmte sich von seiner Pritsche hoch. Er ging zum Zelteingang und schob die Klappe beiseite, um das grüne, feuchte Nieseln freizulegen. Das blendende Licht, das Licht aus einer an deren Welt, begann zu verblassen. Cotton seufzte, setzte einen breitkrempigen Hut auf und schlüpfte hinaus. Bevor die steife Klappe zufiel, sah ich ihn auf dem Weg zu Wilson Manlys Bude 123
über die Pfützen hüpfen. Ich fühlte mich, als sei ich von einer lan gen Reise zurückgekehrt. Spanky hatte die Spule mit Clifford Brown wieder in ihrer Pappschachtel verstaut. Irgend jemand im hinteren Teil des Zelts schaltete Armed Forces Radio an. Spanky sah mich an und hob die Schultern. Leonard Hamnet holte seinen Brief aus der Tasche, entfaltete ihn und las ihn sehr gründlich durch. »Leonard«, sagte ich, und er schwang seinen großen Büffel schädel in meine Richtung. »Beantragst du immer noch Urlaub aus dringenden familiären Gründen?« Er nickte. »Du weißt, was ich tun muß.« »Ja«, sagte Dengler mit seiner langsamen, ruhigen Stimme. »Die werden mir erlauben, mich um meine Leute zu kümmern. Sie werden mich zurückschicken.« Er sprach völlig ohne Betonung, wie ein Mann, der gelernt hat te, das zu bekommen, was er wollte, indem er papageienhaft Worte wiederholte, ohne zu wissen, was sie bedeuteten. Dengler sah mich an und lächelte. Eine Sekunde lang wirkte er ebenso fremd wie Hamnet. »Was, glaubst du, wird passieren? Mit uns, meine ich. Glaubst du, es geht einfach Tag für Tag so weiter, bis einige von uns umkommen und der Rest nach Hause zurück kehrt, oder glaubst du, es wird immer seltsamer und seltsamer?« Er wartete meine Antwort nicht ab. »Ich denke, es wird zwar im mer ziemlich gleich aussehen, aber das wird es nicht sein — ich denke, die Ränder fangen an zu schmelzen. Ich denke, das pas siert eben, wenn du lange genug da draußen bist. Dann schmel zen die Ränder.« »Deine Ränder sind schon vor langer Zeit geschmolzen, Deng ler«, sagte Spanky und beglückwünschte sich zu seinem eigenen Witz. Dengler starrte mich immer noch an. Er glich meist einem ern sten, dunkelhaarigen Kind und sah nie so aus, als gehöre er in ei ne Uniform. »Ich meine Folgendes, so ungefähr«, sagte er. »Als wir diesem Trompeter zugehört haben ...« »Brownie, Clifford Brown«, flüsterte Spanky. »... da konnte ich die Noten in der Luft sehen. Als wären sie auf eine Schriftrolle geschrieben. Und nachdem er sie gespielt hatte, blieben sie noch eine Weile in der Luft schweben.« »Süßerchen«, sagte Spanky leise. »Bist ganz schön hip für einen kleinen Querkopf.« 124
»Letzte Woche, als wir in dem Dorf waren«, sagte Dengler. »Er zähl mir davon.« Ich sagte, daß er doch selbst dabeigewesen sei. »Aber irgendwas ist mit dir passiert. Irgendwas Besonderes.« »Ich habe zwanzig Dollar in den Elijahfonds eingezahlt«, sagte ich. »Nur zwanzig?« fragte Cotton. »Was war in dieser Hütte?« fragte Dengler. Ich schüttelte den Kopf. »Also gut«, meinte Dengler. »Aber es passiert, nicht wahr? Die Dinge verändern sich.« Ich konnte nicht sprechen. Ich konnte Dengler nicht vor Cotton und Spanky Burrage erzählen, daß ich mir eingebildet hatte, die Geister von Blevins, Budd und einem ermordeten Kind gesehen zu haben. Also lächelte ich und schüttelte den Kopf. »Prima«, meinte Dengler. »Was, zum Teufel, soll daran prima sein?« wollte Cotton wissen. »Hab ja nichts dagegen, mir diese Musik anzuhören, aber diesen Quatsch mache ich nicht mit.« Er warf sich auf seine Koje und zeigte mit dem Finger auf mich. »Welches Datum hast du Spanky angesagt?« »Den fünfzehnten.« »Der wird länger halten.« Cotton legte den Kopf schräg, als der Song im Radio endete. Armed Forces Radio begann, einen Song von Moby Grape zu spielen. Angewidert wandte er sich mir wie der zu. »Paß auf. Ende August. Dann wird er so müde sein, daß er schlafwandelt. Dann hat er die Hälfte seiner Zeit um. Der Idiot wird in Stücke zerfallen, und dann bekommt er einen ab.« Cotton hatte dreißig Dollar auf den 31. August gesetzt, die ge naue Halbzeit von Lieutenant Joys Dienstzeit. Er hatte viel Zeit, sich mit dem Verlust des Gelds abzufinden, weil er selbst noch so lange am Leben blieb, bis ihn Anfang Februar ein Scharfschütze erschoß. Danach wurde er zu einem Mitglied des Gespensterzugs, der uns folgte, wo immer wir hingingen. Ich glaube, dieser Ge spensterzug, voll von Männern, die ich geliebt und verabscheut hatte, an deren Namen ich mich erinnern oder nicht erinnern konnte, löste sich erst auf, als ich in Washington D.C. an die Mau er ging, und bis dahin hatte ich schon selbst das Gefühl, dazuzu gehören.
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verließ das Zelt mit der vagen Vorstellung, draußen die beIchscheidene Kühle zu genießen, die auf den Regen folgte. Das Päckchen mit Si Van Vos weißem Pulver lag unten in meiner rech ten Vordertasche, die so tief war, daß meine Finger seinen oberen Teil nur streiften. Ich gelangte zu dem Schluß, daß ich ein Bier brauchte. Wilson Manlys Schuppen lag am anderen Ende des Lagers. Ich ging nicht gern in den Club für Unteroffiziere und Mannschaften, wo gerüchteweise billiges vietnamesisches Bier in amerikanischen Flaschen serviert wurde. Auf jeden Fall stimmte, daß die Flaschen oft keine Etiketten mehr trugen und die Kronkorken dem miß trauischen Auge eingebeult schienen; außerdem schmeckte das Bier dort nie ganz so wie das Zeug, das Manly verkaufte. Es blieb noch ein anderer Ort, weiter entfernt als der Club, aber näher als Manlys Schuppen und vom offiziellen Status her ir gendwo dazwischenliegend. Ungefähr zwanzig Minuten Fuß marsch von der Stelle, an der ich gerade stand, direkt an der Kur ve des steil zum Flugplatz und zum Wagenpark führenden Wegs stand ein isolierter Holzbau, der den Namen Billy's trug. Billy selbst, angeblich ein Hauptmann der Green Berets, der eine Handvoll Barmädchen in einem alten französischen Kommando posten einquartiert hatte, war schon vor langer Zeit nach Hause zurückgekehrt, aber sein Club hatte überdauert. Es gab keine Mädchen mehr, falls es überhaupt jemals welche gegeben hatte, und die Markenspirituosen waren ungefähr so zuverlässig wie das Bier im Unteroffiziers- und Mannschaftsclub. Wenn der Club geöffnet hatte, servierte eine Prozession schlanker MontagnardJungen, die in den fast leeren Zimmern im ersten Stock schliefen, die Drinks. Ich habe diese Zimmer zwei- oder dreimal aufgesucht, konnte aber nie in Erfahrung bringen, wo die Jungen hingingen, wenn Billy's geschlossen hatte. Sie sprachen fast kein Englisch. Billy's sah überhaupt nicht aus wie ein französischer Kommando posten, nicht mal wie einer, den man in ein Bordell verwandelt hatte: Es sah aus wie ein Rasthaus. Vor langer Zeit war das Gebäude einmal braun gestrichen ge wesen. Das Holz war jetzt weich von Fäule. Irgend jemand hatte die beiden Vorderfenster im Erdgeschoß zugenagelt, und jemand anders hatte an jedem Fenster wieder einen schmalen Bretterstrei 126
fen abgerissen, so daß das Licht in zwei flachen weißen Bändern eindrang, die im Laufe des Tages über den Boden wanderten. Ge gen achtzehn Uhr dreißig prallte das Licht von dem fleckigen Spiegel hinter der Flaschenreihe ab. Nach fünf Minuten blenden den Lichts verschwand die Sonne hinter den Kiefernbrettern, und ein schattiges rosa Glühen erfüllte zehn oder fünfzehn Minuten lang die Bar. Es gab keine Elektrizität und kein Eis. Die Gläser wa ren bedeckt von Fingerabdrücken. Wenn man auf die Toilette mußte, begab man sich in einen Verschlag mit metallenen Fuß stützen zu beiden Seiten eines Lochs im Boden. Das Gebäude stand in einem kleinen Wäldchen nahe der Kurve des abschüssigen Wegs, und als ich im diffusen rötlichen Licht des Sonnenuntergangs darauf zuging, erschien plötzlich ein schlammbespritzter, tarnfarbengestrichener Jeep gemächlich rechts davon, trat aus der Unsichtbarkeit hervor wie eine optische Täuschung. Es schien, als sei der Jeep aus den dahinterstehenden Bäumen hervorgeschwebt, als sei er ein Teil von ihnen. Ich vernahm gedämpfte Männerstimmen, die sofort abbrachen, als ich auf die weichen Planken der vorderen Veranda trat. Ich musterte den Jeep, suchte nach Abzeichen oder Identifikations nummern, aber der Schlamm bedeckte die Türen. Auf dem Rück sitz leuchtete stumm etwas Weißes. Als ich genauer hinsah, er blickte ich in einer Seilrolle ein Knochenoval, und es dauerte einen Augenblick, bis ich darin die Platte eines sorgfältig gereinigten und gebleichten menschlichen Schädels erkannte. Bevor ich Hand an die Klinke legen konnte, öffnete sich die Tür. Ein Junge namens Mike stand vor mir, in weiten Khakishorts und einem schmutzigen weißen Hemd, das viel zu groß für ihn war. Dann erkannte er mich. »Oh«, sagte er. »Ja. Tim. Okay. Du kannst reinkommen.« Sein wirklicher Name war zwar nicht Mike, aber es hörte sich nach Mike an. Er hatte eine merkwürdige defensive Wachsamkeit an sich und warf mir ein angespanntes, unbehagli ches Lächeln zu. »Letzter Tisch rechts.« »Alles okay?« fragte ich, weil mir alles an ihm sagte, daß dem nicht so war. »Jaaaa.« Er trat zurück, um mich einzulassen. Ich roch Sprengstoff, bevor ich die anderen Männer erblickte. Die Bar wirkte leer, und das durch die Öffnung über den Fenstern eindringende Lichtband hatte bereits den langen Spiegel erreicht und ein helles Gleißen erzeugt, ein weißes Feuer. Ich trat ein paar 127
Schritte vor, und Mike bewegte sich um mich herum, um an sei nen Posten zurückzukehren. »Ach, Scheiße«, sagte jemand zu meiner Linken. »Müssen wir uns so etwas etwa gefallen lassen?« Ich wandte den Kopf, um in das Dämmerlicht auf dieser Seite der Bar zu sehen, und bemerkte drei Männer, die an einem run den Tisch an der Wand saßen. Noch war keine der Petroleumlam pen entzündet worden, und das grelle Strahlen des Spiegels machte die entfernteren Teile der Bar sogar noch unschärfer. »Ist okay, ist okay«, sagte Mike. »Alter Kunde. Alter Freund.« »Das will ich hoffen«, sagte die Stimme. »Laß bloß keine Frauen hier rein.« »Keine Frauen«, erwiderte Mike. »Kein Problem.« Ich schritt zwischen den Tischen hindurch zu dem letzten auf der rechten Seite. »Du willst Whisky, Tim?« fragte Mike. »Tim?« sagte der Mann. »Tim?« »Bier«, sagte ich und nahm Platz. Eine beinahe leere Flasche Johnnie Walker Black, drei Gläser und ungefähr ein Dutzend Bierdosen bedeckten den Tisch vor ih nen. Der Soldat mit dem Rücken an der Wand schob ein paar der Bierdosen beiseite, damit ich die 45er neben der Johnnie WalkerFlasche erkennen konnte. Mit der vorsichtigen Koordination des Betrunkenen beugte er sich vor. Die Ärmel seines Hemds waren abgerissen, und Schmutz hatte seine Haut dunkel gefärbt, als hät te er seit Jahren nicht mehr gebadet. Sein Haar war mit einem Messer geschnitten worden und früher vielleicht einmal blond gewesen. »Ich will in der Sache nur sicher gehen«, sagte er. »Du bist kei ne Frau, stimmt's? Schwörst du das?« »Was immer du willst«, sagte ich. »Hier kommt keine Frau rein.« Er legte die Hand auf die Kano ne. »Keine Krankenschwester. Keine Ehefrau. Keine nichts. Ver standen?« »Verstanden«, erwiderte ich. Mike eilte mit meinem Bier um die Theke. »Tim. Komischer Name. Also Tom — das ist ein Name. Tim klingt wie ein kleiner Typ — wie der da.« Er zeigte mit der Linken auf Mike, mit der ganzen Hand und nicht nur mit dem Zeigefin ger, während seine Rechte noch immer auf der 45er ruhte. »Der 128
kleine Ficker sollte ein Kleid tragen. Scheiße, der trägt ja schon praktisch ein Kleid.« »Magst du keine Frauen?« fragte ich. Mike stellte eine Dose Budweiser auf meinem Tisch ab und schüttelte zweimal schnell den Kopf. Er hatte mich im Club haben wollen, weil er fürchtete, der betrunkene Soldat könnte ihn erschießen, und jetzt machte ich alles nur noch schlimmer. Ich musterte die beiden Männer neben dem betrunkenen Offi zier. Sie waren schmutzig und erschöpft — was immer dem Be trunkenen widerfahren war, war auch ihnen widerfahren. Der Unterschied war nur, daß sie noch nicht betrunken waren. »Das ist eine komplizierte Frage«, meinte der Betrunkene. »Da gibt es Fragen der Verantwortlichkeit. Du kannst für dich selbst verantwortlich sein. Du kannst für deine Kinder und deinen Stamm verantwortlich sein. Du bist für jeden verantwortlich, den du beschützen willst. Aber kannst du auch für Frauen verantwort lich sein? Und wenn, wie verantwortlich?« Mike bewegte sich leise hinter die Theke und setzte sich auf ei nen Hocker, die Arme außer Sicht. Ich wußte, daß er unten ein Schrotgewehr aufbewahrte. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wovon ich spreche, was, Tim, du Etappenscheißer?« »Du hast Angst, du könntest jede Frau erschießen, die hier rein kommt, deshalb hast du dem Barkeeper gesagt, er soll sie drau ßenhalten.« »Dieser Klugscheißer von einem Sergeant, mischt sich persön lich in meinen Geisteszustand ein«, sagte der Betrunkene zu dem stämmigen Mann zu seiner Rechten. »Sag ihm, daß er hier ver schwinden soll, sonst könnte das einen gewissen Grad an Unan nehmlichkeiten nach sich ziehen.« »Laß ihn in Ruhe«, sagte der andere Mann. Streifen aus ge trocknetem Matsch zogen sich über sein dürres, hageres Gesicht. Der betrunkene Beret-Offizier erschreckte mich, indem er sich zu dem anderen Mann hinüberbeugte und in einem klaren, wohl tönenden Vietnamesisch auf ihn einredete. Es war ein altmodi sches, fast literarisches Vietnamesisch, und er mußte wohl darin denken und träumen, um es so gut sprechen zu können. Er nahm an, daß weder ich noch der Montagnard-Junge ihn verstehen wür den. »Das ist ernst«, sagte er, »und mir ist es ernst. Wenn du zu sehen 129
wünschst, wie ernst, dann bleib einfach auf deinem Stuhl sitzen und un ternimm nichts. Weißt du nicht, wozu ich inzwischen imstande bin? Hast du nichts dazugelernt? Du weißt, was ich weiß. Ich weiß, was du weißt. Eine große Schwere ist zwischen uns. Von allen Menschen auf der Welt in diesem Augenblick sind die einzigen, die ich nicht verachte, be reits tot oder sollten es sein. In diesem Augenblick ist Mord gewichtslos.» Es gab noch mehr, und ich kann nicht beschwören, daß er es ganz genau so sagte, aber es kommt der Sache ziemlich nahe. Möglicherweise hatte er auch gesagt, daß Mord leer sei. Dann sagte er, in demselben fließenden Vietnamesisch, das sich selbst für meine Ohren so gestelzt anhörte wie die Sprache eines drittklassigen viktorianisehen Romans: »Erinnere dich daran, was in unserem Fahrzeug (Kutsche) ist; du solltest dich daran erinnern, was wir mit uns gebracht haben, denn ich werde es nie vergessen. Ist es so leicht für dich, zu vergessen?« Man braucht sehr viel Zeit und Geduld, um Knochen zu säu bern und zu bleichen. Ein Schädel würde mehr Arbeit machen als der größte Teil eines Skeletts. »Dein Führer verlangt nach mehr von diesem Nektar«, sagte er und wälzte sich auf seinem Stuhl zurück; dabei musterte er mich, mit der Hand auf seiner Pistole. »Whisky«, sagte der stämmige Soldat. Mike riß bereits die Fla sche vom Regal. Er begriff, daß der Offizier versuchte, sich bis zur Bewußtlosigkeit zu betrinken, bevor es ihm nötig schien, irgend jemanden zu erschießen. Einen Augenblick lang dachte ich, daß der stämmige Soldat zu seiner Rechten mir vertraut schien. Sein Kopf war so kurzgescho ren, daß er schon kahl wirkte, und seine Augen über den Schmutzstreifen waren riesig. An einem Schlitz in seinem Kragen hing eine Uhr aus rostfreiem Stahl. Er streckte einen muskulösen Arm nach der Flasche aus, die Mike ihm reichte, während er sich so weit vom Tisch entfernt hielt, wie er nur konnte. Der Soldat schraubte den Verschluß ab und füllte alle drei Gläser. Der Mann in der Mitte trank sofort den ganzen Whisky in seinem Glas und knallte es auf den Tisch, um es wieder füllen zu lassen. Der hagere Soldat, der bisher Schweigen bewahrt hatte, sagte: »Irgend etwas wird hier passieren.« Er blickte mich direkt an. »Kumpel?« »Dieser Mann ist niemandes Kumpel«, meinte der Betrunkene. Bevor irgend jemand ihn daran hindern konnte, packte er die Ka 130
none, zielte damit und schoß. Es gab einen Feuerstoß, eine gewal tige Explosion und den Geruch von Kordit. Das Geschoß fuhr di rekt durch die weiche Holzwand, ungefähr zweieinhalb Meter links von mir. Ein verirrter Lichtstrahl drang durch das Loch her ein, das es gerissen hatte. Einen Augenblick lang war ich taub. Ich trank den Rest meines Biers aus und stand auf. Mein Kopf klingelte. »Ist es klargeworden, daß ich die Notwendigkeit einer solchen Scheiße verabscheue?« fragte der Betrunkene. »Ist das begriffen worden?« Der Soldat, der mich Kumpel genannt hatte, lachte, und der stämmige Soldat schenkte weiteren Whisky in das Glas des Be trunkenen. Dann stand er auf und kam auf mich zu. Hinter der Erschöpfung und den Schlammstreifen war sein Gesicht ange spannt vor Sorge. Er stellte sich zwischen mich und den Mann mit der Kanone. »Ich bin kein Etappenscheißer«, sagte ich. »Ich will keinen Är ger, aber der Krieg ist kein Eigentum von Leuten wie ihm.« »Würden Sie mir vielleicht gestatten, Ihren Arsch zu retten, Sergeant?« flüsterte er. »Major Bachelor war jetzt drei Jahre lang nicht einmal entfernt in Gesellschaft von Weißen, und er hat ein wenig Eingewöhnungsschwierigkeiten. Verglichen mit ihm sind wir alle nur Etappenscheißer.« Ich musterte sein zerfetztes Hemd. »Sind Sie sein Babysitter, Captain?« Er sah mich empört an, dann blickte er über die Schulter zu dem Major hinüber. »Major, nehmen Sie Ihre verdammte Waffe runter. Der Sergeant ist ein Frontsoldat. Er ist auf dem Weg zu rück ins Lager.« »Ist mir gleich, was er ist«, sagte der Major auf vietnamesisch. Der Captain fing an, mich zur Tür zu zerren, wobei er seinen Körper zwischen mir und dem anderen Tisch hielt. Ich winkte Mi ke, mir zu folgen. »Keine Sorge, der Major wird ihn nicht erschießen, Major Ba chelor liebt die Yards«, sagte der Captain. Er warf mir einen unge duldigen Blick zu, weil ich mich geweigert hatte, mich seinem Tempo anzupassen. Dann sah ich, wie er meine Pupillen bemerk te. »Gottverdammt«, sagte er, dann blieb er gänzlich stehen und sagte noch einmal »Gottverdammt«, doch diesmal in einem ande ren Ton. 131
Ich fing an zu lachen. »Ach, das ist...« Er schüttelte den Kopf. »Das ist wirklich ...« »Wo bist du denn gewesen?« fragte ich ihn. John Ransom wandte sich dem Tisch zu. »He, ich kenne diesen Burschen. Das ist ein alter Footballfreund von mir.« Major Bachelor zuckte die Schultern und legte die 45er wieder auf den Tisch. Seine Augenlider waren fast geschlossen. »Mache mir nichts aus Football«, sagte er, ließ aber doch die Hand von der Waffe. »Gib dem Sergeant einen Drink aus«, sagte der hagere Offizier. »Gib dem verdammten Sergeant einen Drink«, stimmte der Major ein. John Ransom bewegte sich schnell zur Theke und griff nach ei nem Glas, das ihm der verwirrte Mike in die Hand drückte. Ran som ging zwischen den Tischen durch, füllte sein Glas und meins und brachte beide zu mir zurück. Wir sahen zu, wie der Kopf des Majors in kleinen Stufen zur Brust sackte. Als sein Kinn schließlich den aufgeknöpften oberen Teil seines ruinierten Hemds erreichte, sagte Ransom: »Gut, Bob«, und der andere Mann zog die 45er unter der Hand des Majors hervor. Er schob sie neben sein Koppel. »Der Mann ist hinüber«, sagte Bob. Ransom drehte sich wieder zu mir um. »Er war drei volle Tage mit uns auf den Beinen und Gott weiß wie lange vorher schon.« Ransom brauchte nicht erst zu erläutern, wen er mit er meinte. »Bob und ich konnten ein bißchen schlafen, indem wir uns abge wechselt haben, aber er hat unentwegt nur geredet.« Er ließ sich auf einen der Stühle an meinem Tisch fallen und kippte sein Glas an den Mund. Ich setzte mich neben ihn. Einen Augenblick lang sagte niemand in der Bar ein Wort. Die Lichtlinie von dem Spalt im Fenster hatte bereits den Spiegel ver lassen und näherte sich nun jener Stelle an der Wand, die anzeig te, daß sie bald verschwinden würde. Mike hob den Schirm von einer der Lampen und begann damit, den Docht zu schneiden. »Wie kommt das, daß du immer hinüber bist, wenn ich dir be gegne?« »Mußt du das wissen?« Er lächelte. Er sah ganz anders aus als damals, als ich ihn dabei gesehen hatte, wie er sich im Camp White Star darauf vorbereite te, Senator Burrman einen schmutzigen Witz zu erzählen. Sein 132
Körper war kompakter und härter geworden, und seine Augen hatten sich tief in den Kopf zurückgezogen. Er schien mir ein wei tes Stück dem Ziel nähergekommen zu sein, das ich immer vor ihm gesehen hatte, seit er mir damals eifernd davon erzählt hatte, daß man die Ausbreitung des Kommunismus stoppen müsse. Dieser Mann hatte viel vom Krieg in sich aufgenommen, und sehr viel Krieg war nun in ihm. »Ich habe dich aus der Gräberregistrierung in White Star ge holt, nicht wahr?« Ich bestätigte, daß er das getan hatte. »Wie habt ihr das genannt? Die Kadavertruppe? Es war nicht mal eine richtige Registrierungseinheit, nicht?« Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich habe mich auch um euren Captain McCue gekümmert — der hatte da eine Art Müllkippe draus ge macht. Ich weiß nicht, wie er so lange damit durchkommen konn te. Der einzige, der so etwas wie eine Ausbildung hatte, war die ser Sergeant — wie hieß er noch gleich? Italiener.« »DeMaestro.« Ransom nickte. »Die ganze Operation lief aus dem Ruder.« Mi ke entzündete ein großes Küchenstreichholz und führte es an den Docht der Petroleumlampe. »Ich habe da ein paar Sachen ge hört ...« Er sackte gegen die Wand, trank Whiskey, und ich fragte mich, ob er von Captain Havens gehört hatte. Er schloß die Au gen. »Da hinten ist eine Menge verrücktes Zeug gelaufen.« Ich fragte, ob er immer noch im Hochlandgebiet an der laoti schen Grenze stationiert wäre. Er seufzte beinahe, als er den Kopf schüttelte. »Du bist nicht mehr bei den Stammesleuten? Was waren das, Khatu?« Er öffnete die Augen. »Du hast ein gutes Gedächtnis. Nein, ich bin nicht mehr dort.« Er überlegte sich, ob er noch mehr sagen sollte, entschied sich aber dagegen. Offensichtlich war er seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden. »Ich liege gewisser maßen auf Eis, bis sie mich nach oben in die Gegend von Khe Sahn schicken. Da oben wird es besser werden — die Bru sind enorm. Aber im Augenblick will ich nur baden und ins Bett. In ir gendein Bett. Eigentlich würde mir schon ein trockener, ebener Platz auf dem Boden reichen.« »Wo kommst du denn gerade her?« »Landeinwärts.« Sein Gesicht legte sich in Falten, und er zeigte 133
seine Zähne. Die Wirkung war so enervierend, daß ich nicht so fort merkte, daß er lächelte. »Ein ganzes Stück landeinwärts. Wir mußten den Major rausholen.« »Sieht mehr so aus, als hättet ihr ihn rausziehen müssen, wie einen Zahn.« Meine Ignoranz veranlaßte, daß er in die Höhe schoß. »Du meinst, du hast nie von ihm gehört? Von Franklin Bachelor?« Da fiel mir ein, daß ich es doch schon hatte, daß irgend jemand vor langer Zeit mir gegenüber mal seinen Namen erwähnt hatte. »Seit Jahren im Busch. Bachelor hat Sachen gemacht, von de nen gewöhnliche Leute nicht einmal träumen — er ist eine Legen de.« Eine Legende, dachte ich. Wie die Green Berets, die Ransom, ein ganzes Leben war es schon her, in White Star erwähnt hatte. »Hat praktisch eine Privatarmee geführt, hat eine Menge gute Arbeit in der Provinz Darlac geleistet. Er war allein dort draußen. Der Mann ist ein Held. Soviel ist sicher. Bachelor ist an Orte ge langt, die wir nicht mal von weitem gesehen haben. Er ist in ein Lager der nordvietnamesischen Armee eingedrungen, hast du ge hört, in das Lager, und hat lautlos fast eine ganze Division umge legt.« Von allen Menschen, die in diesem Augenblick auf der Welt wa ren, so erinnerte ich mich, waren die einzigen, die er nicht verach tete, bereits tot. Ich glaubte, mich verhört zu haben. »Er war voll in das Rhade-Leben integriert«, sagte Ransom. Ich konnte die Ehrfurcht aus seiner Stimme heraushören. »Der Mann hat sogar geheiratet. Rhade-Zeremonie. Seine Frau hat ihn auf Missionen begleitet. Wie ich höre, war sie schön.« Da wußte ich, wo ich schon einmal von Franklin Bachelor ge hört hatte. Er war Captain gewesen, als Ratman und sein Zug auf ihn gestoßen waren, nachdem ein Gefreiter namens Bobby Swett auf einem Pfad in der Provinz Darlac in Stücke zerrissen worden war. Ratman hatte seine Frau als schwarzhaarigen Engel bezeich net. Und dann wußte ich auch, wessen Schädel da in Tauwerk ver staut auf dem Rücksitz des Jeeps lag. »Ich habe tatsächlich von ihm gehört«, sagte ich. »Ich kannte je manden, der ihm begegnet ist. Auch der Rhade-Frau.« »SeinerEhefrau«,sagte Ransom. Ich fragte ihn, wohin sie Bachelor brächten. 134
»Wir bleiben über Nacht in Crandall, um uns etwas auszuru hen. Dann hopsen wir nach Tan Son Nhut und bringen ihn zu rück in die Staaten — Langley. Ich dachte erst, wir müßten ihn vielleicht festschnallen, aber ich schätze, wir werden ihn einfach nur mit Whiskey abfüllen.« »Er wird seine Kanone zurückhaben wollen.« »Vielleicht gebe ich sie ihm auch.« Sein Blick teilte mir mit, was Major Bachelor seiner Vermutung nach mit seiner 45er tun würde, wenn man ihn nur lange genug damit alleine ließe. »In Langley hat er eine harte Zeit vor sich. Da wird es etwas Ärger geben.« »Weshalb Langley?« »Frag nicht. Aber sei auch nicht naiv. Meinst du nicht, daß die . . . « Diesen Satz wollte er nicht beenden. »Weshalb, glaubst du, mußten wir ihn überhaupt rausholen?« »Weil irgend etwas schiefgelaufen ist.« »Oh, alles ist schiefgelaufen. Bachelor hat völlig die Kontrolle verloren. Er führte seinen eigenen Krieg. Machte eine Menge Ne bengeschichten, von denen einige eigentlich, sagen wir mal, ge nauer beaufsichtigt hätten werden sollen.« Ich konnte ihm nicht folgen. »Vorstöße nach Laos. Geschäftsreisen nach Kambodscha. Manchmal hat er die Flugplätze kontrolliert, die von Air America benutzt wurden, und das bedeutete, daß er die Kontrolle über die Fracht hatte.« Als ich den Kopf schüttelte, fragte er: »Hast du nicht ein kleines Etwas in deiner Tasche? Ein kleines Päckchen?« Eine geheime Welt — innerhalb dieser Welt eine weitere gehei me Welt. »Du verstehst schon, es ist mir ebenso egal, was er gemacht hat, wie es mir egal ist, was du tust. Ich finde, Langley soll sich ruhig ins Knie ficken. Bachelor hat das Spiel doch erfunden. Trotz seiner Nebengeschichten. Trotz des Ärgers, in den er sich verstrickte, was immer es war. Der Mann war effizient. Er hat eine Grenze über schritten, vielleicht einen Haufen Grenzen — aber sag mir doch mal, ob man das, was man von uns zu tun verlangt, erreichen kann, ohne Grenzen zu überschreiten.« Ich überlegte, weshalb er sich selbst zu verteidigen schien, und fragte ihn, ob er in Langley würde aussagen müssen. »Das ist kein Prozeß.« »Ein Abschlußbericht?« 135
»Klar, ein Abschlußbericht. Die können mich fragen, was sie wollen. Ich kann ihnen immer nur sagen, was ich gesehen habe. Das ist mein Beweismaterial, richtig? Was ich gesehen habe! Sie haben keinerlei Beweise bis auf diese, äh, diese menschlichen Überreste, die der Major unbedingt mitnehmen mußte.« Für eine Sekunde wünschte ic h mir, ich könnte die nüchternen, schattenhaften Gentlemen von Langley, Virginia, sehen, die Gentlemen mit den straff zurückgekämmten, geleckten Haaren und den Nadelstreifenanzügen, wie sie Major Bachelor befragten. Die dachten doch, sie seien ernsthafte Männer. »Auf eine komische Weise war das wie Bong Tb.« Ransom er wartete, daß ich nachfragen würde. Als ich das nicht tat, sagte er: »Eine Geisterstadt, meine ich. Ich nehme an, du hast noch nie von Bong To gehört.« »Meine Einheit war gerade da.« Sein Kopf ruckte hoch. »Eine Mörsergranate hat uns in das Dorf getrieben.« »Du hast den Ort gesehen?« Ich nickte. »Komische Geschichte.« Jetzt tat es ihm leid, daß er sie jemals erwähnt hatte. »Na ja, stell dir Bachelor jetzt mal vor. Ich glaube, er muß in Kambodscha oder irgendwo gewesen sein, um dort zu tun, was er eben so tut, als sein Dorf überrannt wurde. Er kommt zurück und findet sie alle tot vor, einschließlich seiner Frau. Ich meine, ich glaube nicht, daß Bachelor diese Leute getötet hat — die waren nicht nur einfach tot, die hatte man darum betteln lassen. Bachelor war also nicht da, und sein Adjutant, ein gewisser Cap tain Bennington, muß davongelaufen sein... wir haben ihn nie gefunden. Offiziell gilt Bennington als vermißt. Es ist einfach. Man findet den Haupttypen nicht, also stellt man sicher, daß er sieht, wie wütend man ist, wenn er wieder zurückkommt. Man tut seinen Leuten ein paar schlimme körperliche Dinge an. Sie waren nicht nett zu seiner Frau, Tim, zu ihr waren sie ganz besonders wenig nett. Was tut er? Er begräbt alle Leichen auf dem Dorffried hof, denn das ist eine heilige Verantwortung. Frag mich nicht, was er sonst noch tut, denn das brauchst du nicht zu wissen, okay? Aber die Leichen werden bestattet. Allgemein gesprochen. Cap tain Bennington kreuzt nie mehr auf. Wir treffen ein und holen Bachelor ab. Aber früher oder später werden ein paar von den Leuten, die entkommen sind, in dieses Dorf zurückkehren. Die werden weiter dort leben. An diesem Ort ist ihnen das Schlimm 136
ste widerfahren, was es geben kann, aber sie gehen nicht weg. Schließlich gesellen sich auch andere Leute aus ihren Familien zu ihnen, wenn sie noch am Leben sind, und die schreckliche Sache wird Teil ihres Lebens werden. Denn es ist undenkbar, daß man seine Toten verläßt.« »Aber in Bong To haben sie das getan«, sagte ich. »In Bong To haben sie das getan.« Ich bemerkte wieder den Ausdruck des Bedauerns in seiner Miene und sagte, daß ich ihn nicht dazu auffordern würde, mir ir gendwelche Geheimnisse anzuvertrauen. »Das ist kein Geheimnis. Es ist nicht einmal etwas Militäri sches.« »Es ist nur eine Geisterstadt.« Ransom war immer noch unbehaglich zumute. Er drehte sein Glas immer und immer wieder in den Händen, bevor er trank. »Ich muß den Major ins Lager bringen.« »Es ist eine echte Geisterstadt«, sagte ich. »Gespenster inbegrif fen.« »Das würde mich, ehrlich gesagt, nicht überraschen.« Er leerte sein Glas und stand auf. Offensichtlich hatte er beschlossen, nicht mehr darüber zu sprechen. »Kümmern wir uns um Major Bache lor, Bob«, sagte er. »In Ordnung.« Ransom brachte unsere Flasche zur Theke und bezahlte Mike. Ich trat auf ihn zu, um dasselbe zu tun, und Ransom sagte: »Schon drum gekümmert.« Da war wieder diese Floskel — und es schien, als hätte ich sie schon den ganzen Tag lang gehört und als wollte ihre Bedeutung einfach nicht nachlassen. Ransom und Bob hoben den Major gemeinsam hoch. Sie waren kräftig genug, um ihn mühelos aufzurichten. Bachelors Kopf rollte vor. Bob steckte die 45er in seine Tasche, und Ransom tat das glei che mit der Flasche. Gemeinsam trugen sie den Major zur Tür. Ich folgte ihnen hinaus. Weit entfernt hämmerte Artillerie auf Hügel ein. Inzwischen war es dunkel geworden, und das Licht der Laternen ergoß sich durch die Ritzen in den Fenstern nach drau ßen. Zusammen stiegen wir die verfaulenden Stufen hinunter, der Major wackelnd zwischen den beiden anderen. Ransom öffnete den Jeep, und sie brauchten eine Weile, um den 137
Major auf den Rücksitz zu bugsieren. Bob quetschte sich neben ihn und richtete ihn auf. John Ransom setzte sich ans Steuer und seufzte. Der nächste Teil seines Jobs schmeckte ihm nicht. »Ich nehm dich bis zum Lager mit«, sagte er. »War nicht gut, wenn ein MP dich mal genauer anschaute.« Ich setzte mich neben ihn. Ransom startete den Motor und schaltete die Scheinwerfer ein. Er riß die Gangschaltung in den Rückwärtsgang und rollte zurück. »Du weißt, weshalb diese Mör sergranate abgefeuert wurde, nicht?« fragte er mich. Er grinste mich an, und wir holperten auf dem Weg zurück, der in den Hauptteil des Lagers führte. »Er hat versucht, euch von Bong To zu verscheuchen, und euer Narr von einem Lieutenant ist statt dessen direkt hineingelaufen.« Er grinste immer noch. »Es muß ihn ziemlich aufgeregt haben, mitanzusehen, wie ein Haufen Glotzaugen da reingehen.« »Weitergefeuert hat er nicht.« »Nein. Er wollte den Ort nicht zerstören. Der soll so bleiben, wie er ist. Ich glaube zwar nicht, daß sie dieses Wort benutzen, aber dieses Dorf soll eine Art Denkmal bleiben.« Er sah mich wie der an. »Der Schande.« Aus irgendeinem Grund konnte ich nur an den betrunkenen Major auf dem Sitz hinter mir denken, der gesagt hatte, daß man für die Leute verantwortlich sei, die man beschützen wolle. Ran som sagte: »Seid ihr in eine von den Hütten gegangen? Habt ihr dort irgend etwas Ungewöhnliches gesehen?« »Ich bin in eine Hütte gegangen. Ich habe etwas Ungewöhnli ches gesehen.« »Eine Liste mit Namen?« »Ich dachte, daß es das wäre.« »Okay«, meinte Ransom. »Kannst du ein bißchen Vietname sisch?« »Ein bißchen.« »Ist dir irgend etwas an den Namen aufgefallen?« Daran konnte ich mich nicht erinnern. Mein Vietnamesisch hat te ich in Bars und auf Marktplätzen aufgeschnappt, und das war fast ausschließlich Umgangssprache. »Vier von ihnen waren aus einer Familie namens Trang. Trang war der Dorfhäuptling, wie schon sein Vater vor ihm und sein Großvater. Trang hatte vier Töchter. Wenn eine davon sechs oder 138
sieben geworden war, brachte er sie in den unterirdischen Raum, fesselte sie an die Pfosten und vergewaltigte sie. Viele dieser Hüt ten haben geheime Lagerräume, aber Trang muß seinen abgewan delt haben, nachdem seine erste Tochter geboren wurde. Das Ko mische ist — ich denke, daß jeder im Dorf genau wußte, was er da tat. Ich sage nicht, daß sie es richtig fanden, aber sie ließen es ge schehen. Sie konnten so tun, als wüßten sie nichts davon: Die Mädchen beschwerten sich nie, und es hat auch nie jemand ir gendwelche Schreie gehört. Ich schätze, Trang war ein ganz or dentlicher Häuptling. Wenn die Töchter sechzehn wurden, gingen sie in die Städte. Schickten auch Geld nach Hause. Vielleicht fan den sie es ja ganz in Ordnung so, aber das glaube ich eigentlich nicht — und du?« »Woher soll ich das wissen? Aber in meinem Zug ist ein Mann, ein Typ aus . . . « »Ich denke, es gibt einen Unterschied zwischen privater und öf fentlicher Schande. Zwischen dem, was zugegeben und dem, was nicht zugegeben wird. Damit wird sich Bachelor herumplagen müssen, wenn er nach Langley kommt. Manche Dinge sind ak zeptabel, solange man nicht darüber redet.« Er sah mich von der Seite an, als wir gerade auf den Nordrand des eigentlichen Lagers zufuhren. Er strich sich über das Gesicht, und Streifen aus ge trocknetem Schlamm pellten sich von seiner Wange. Die freigeleg te Haut sah rot aus, genau wie seine Augen. »Denn so, wie ich das sehe, ist das ein ganz allgemeines Problem. Das Problem lautet: Was ist ausdrückbar? Das geht weit über die Neigung der Leute hinaus, Gedanken, Handlungen oder Verhaltensweisen zu tole rieren, die sie sonst unakzeptabel fänden.« Ich hatte noch nie einen Soldaten auf solch eine Weise reden hören. Es war ein bißchen so, als sei ich wieder in Berkeley. »Ich spreche über den Unterschied zwischen dem, was ausge drückt wird, und dem, was beschrieben wird«, fuhr Ransom fort. »Ein großer Teil des Erfahrungsspektrums wird nicht anerkannt. Die Religion erlaubt uns, etwas von dem nicht anerkannten Zeug auf akzeptable Weise zu handhaben. Aber angenommen — nur einmal angenommen — du wärst gezwungen, einer extremen Er fahrung direkt gegenüberzutreten, ohne Zwischenträger?« »Das habe ich getan«, sagte ich. »Und du hast es auch.« »Extremer als Nahkampf, extremer als Schrecken. Etwas in der Art ist dem Major widerfahren: Er ist Gott begegnet. Es wurden 139
Anforderungen an ihn gestellt. Er mußte das Gewöhnliche zu rücklassen, selbst das, was er als solches definierte.« Ransom war dabei, mir zu erzählen, wie es gekommen war, daß Major Bachelor mit dem Schädel seiner Frau nach Camp Crandall verbracht wurde, aber nichts davon war mir klar. »Ich habe Dinge gehört«, teilte Ransom mir mit. Er flüsterte fast. »Denk doch mal, was wohl alle Leute eines Dorfs dazu bewe gen könnte, wegzugehen, obwohl eine heilige Pflicht sie doch an dieses Dorf fesselt.« »Darauf weiß ich keine Antwort«, sagte ich. »Eine noch heiligere Pflicht, entstanden durch ein wirklich spektakuläres Schamgefühl. Wenn ein Verbrechen zu groß ist, um mit ihm zu leben, wird seine Erinnerung geheiligt. Wird zum Hei ligtum selbst. . . « Ich erinnerte mich, wie ich daran gedacht hatte, daß die Anord nung im Keller der Hütte das Heiligtum einer obszönen Gottheit gewesen sei. »Da haben wir ein Dorf und seinen Häuptling. Das Dorf weiß, und weiß doch nicht, was der Häuptling getan hat. Sie sind es ge wöhnt, sich bei ihm Rat zu holen und ihm zu gehorchen. Dann — eines Tages, verschwindet ein kleiner Junge.« Mein Herz machte einen Satz. »Ein kleiner Junge. Sagen wir — von drei Jahren. Alt genug, um zu reden und in Schwierigkeiten zu kommen, aber zu jung, um auf sich aufzupassen. Er ist einfach weg — paff. Na ja, es ist ja Vietnam, richtig? Da drehst du dich mal um, dein Kind wandert davon, irgendein Tier erwischt es. Er könnte sich im Dschungel verlaufen und in ein Messer rennen. Jemand wie du könnte den Jungen sogar erschießen. Er könnte auf eine Mine treten und nie wieder auftauchen. So etwas könnte passieren. Ein paar Monate später passiert es wieder. Die Mami dreht sich kurz um und: wo, zum Teufel, ist Junior hin? Diesmal suchen sie wirklich, nicht nur Mami und Oma, alle ihre Freunde. Sie durch kämmen das Dorf. Die Dörfler durchkämmen das Dorf, jeden Quadratmeter davon, und dann tun sie dasselbe mit dem Reisfeld, und dann suchen sie den Wald ab. Und rate mal, was als nächstes passiert. Das ist der interessante Teil. Eine alte Frau geht eines Morgens los, um Wasser aus dem Brunnen zu holen, und sieht ein Gespenst. Diese alte Dame ge hört zur weiteren Familie des ersten verschollenen Kindes, aber 140
das Gespenst, das sie sieht, ist nicht das des Kindes — es ist das Gespenst eines in schlechtem Ruf stehenden alten Mannes aus ei nem anderen Dorf, eines Trunkenbolds, um genau zu sein. Ein lo kaler Tunichtgut, um genau zu sein. Er steht einfach nur neben dem Brunnen, die Hände gefaltet, und er hat Hunger — das ist es, was diese Leute von Gespenstern wissen. Der hagere alte Kniich will mehr. Er will gefüttert werden. Die alte Dame stößt einen Krächzer aus und fällt in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich kommt, ist das Gespenst verschwunden. Na ja, die alte Dame erzählt nun jedermann, was sie gesehen hat, und das ganze Dorf gerät in Panik. Böse Mächte sind losge lassen worden. Als nächstes arbeiten zwei dreizehnjährige Mäd chen im Reisfeld, blicken auf und sehen eine alte Frau, die starb, als sie zehn waren — sie ist ungefähr drei Meter von ihnen ent fernt. Ihr Haar ist strähnig und grau, und ihre Fingernägel sind ungefähr dreißig Zentimeter lang. Sie war mal eine freundliche al te Dame, aber inzwischen sieht sie nicht mehr allzu freundlich aus. Sie ist auch hungrig, wie alle Gespenster. Die Mädchen fan gen an zu kreischen und zu weinen, aber niemand sonst kann sie sehen, und sie kommt immer näher, und die beiden versuchen zu fliehen, aber eine von ihnen fällt zu Boden, und schon stürzt sich die alte Frau auf sie wie eine Katze. Und weißt du, was sie tut? Sie reibt ihre schmutzigen Hände über das Gesicht des schreienden Mädchens und leckt ihm die Tränen ab und schlabbert seine Fin ger voll. In der nächsten Nacht verschwindet schon wieder ein kleiner Junge. Zwei Männer gehen, um in der Dorflatrine hinter den Häusern nachzusehen, und dort unten in der Grube erblicken sie zwei Gespenster, die sich gerade Exkremente in den Mund schie ben. Sie eilen zurück ins Dorf, da sehen sie beide ein halbes Dut zend Gespenster um die Hütte des Häuptlings. Darunter ist auch die Schwester eines Mannes, die während des Kriegs gegen die Franzosen gestorben ist, und seine zwanzigjährige erste Frau, die am Denguefieber starb. Die Gespenster wollen essen. Einer der Männer kreischt los, denn er hat nicht nur seine tote Frau gese hen, die so aussieht wie etwas, was wir einen Vampir nennen würden, er hat auch noch mitangesehen, wie sie ohne die Tür zu nutzen in die Häuptlingshütte gedrungen ist. Diese Leute glauben an Geister, Underhill, sie wissen, daß Ge spenster existieren, aber es geschieht äußerst selten, daß sie wel 141
ehe sehen. Und diese Leute sind wie Psychoanalytiker, denn sie glauben nicht an Zufälle. Jedes Ereignis hat einen Sinn. Die tote zwanzigjährige Frau kommt wieder durch die Mauer der Häuptlingshütte heraus. Ihre Hände sind leer, aber sie triefen von Blut, und sie leckt sie ab wie eine verhungernde Katze. Der frühere Ehemann steht da und deutet und plappert, und die Mütter und Großmütter der vermißten Jungen treten aus ihren Hütten. Sie fürchten sich ebensosehr vor dem, was sie gerade denken, wie vor den ganzen Gespenstern um sie herum. Die Ge spenster sind Teil von etwas, von dem sie wissen, daß sie es ken nen, auch wenn die meisten von ihnen bisher noch nie ein Ge spenst gesehen haben. Was ihnen durch den Kopf geht, ist etwas Neues: neu, weil es verborgen war. Die Mütter und Großmütter gehen zur Tür des Häuptlings und fangen an zu heulen wie die Hunde. Als der Häuptling heraus kommt, drängen sie sich an ihm vorbei und nehmen die Hütte auseinander. Und du weißt, was sie finden. Sie haben das Ende von Bong To gefunden.« Ransom hatte den Jeep fünf Minuten zuvor vor dem Haupt quartier meines Bataillons geparkt, und jetzt lächelte er, als hätte er alles erklärt. »Aber was ist passiert?« fragte ich. »Wie hast du davon erfah ren?« Er zuckte die Schultern. »Das haben wir alles beim Verhör er fahren. Als die Frauen den unterirdischen Raum entdeckten, wuß ten sie, daß der Häuptling die Jungen zu Sex gezwungen und sie danach getötet hatte. Sie wußten nicht, was er mit den Leichen gemacht hatte, aber sie wußten, daß er die Jungen getötet hatte. Als die Vietcong das nächste Mal einen ihrer Höflichkeitsbesuche abstatteten, haben sie dem Kaderführer erzählt, was sie wußten. Die VC haben den Rest erledigt. Sie waren angewidert — Trang hatte auch sie verraten —, hatte alles verraten, wofür er doch ei gentlich hätte stehen sollen. Einer der Vietcong, die wir gefangen nahmen, hat den Häuptling hinunter in seinen unterirdischen Raum gebracht und den Mann an den Pfosten festgekettet, hat die Namen der toten Jungen und die von Trangs Töchtern auf die Pa pierdämmung geschrieben, die die Wände bedeckte, und dann ... dann taten sie mit ihm, was sie eben mit ihm taten. Wahrschein lich haben sie die Stücke hinausgetragen und sie in die Fäkalien grube geworfen. Und im Laufe der Monate, einer nach dem an 142
dem, nicht etwa alle auf einmal, sondern langsam, zogen sie aus dem Dorf aus. Inzwischen sahen sie die ganze Zeit Gespenster. Sie hatten eine Art Grenze überschritten.« »Meinst du, die haben wirklich Gespenster gesehen?« fragte ich ihn. »Ich meine, glaubst du, das waren wirkliche Gespenster?« »Wenn du dazu ein Expertenurteil hören willst, mußt du Major Bachelor fragen. Der hat eine Menge über Gespenster zu erzäh len.« Er zögerte einen Augenblick, dann beugte er sich vor, um meine Tür zu öffnen. »Aber wenn du mich fragst, natürlich haben sie das getan.« Ich stieg aus dem Jeep und schloß die Tür. Ransom blickte mich durch das Jeepfenster an. »Paß besser auf dich auf.« »Viel Glück bei deinen Bru.« »Die Bru sind fantastisch.« Er rammte den Gang des Jeeps hin ein und schoß davon, riß das Lenkrad herum, um den Jeep in ei nem riesigen Kreis vor dem Bataillonshauptquartier zu wenden, bevor er den zweiten Gang hineinrammte und seinem Ziel entge genfuhr. Zwei Wochen später gelang es Leonard Hamnet, den lutherani schen Kaplan in Crandall dazu zu bringen, einen Brief für ihn an den Lamettagötzen zu schreiben, und zwei Tage später steckte er schon in einer sauberen Uniform und packte seine Ausrüstung für einen Nachtflug zu einer Basis der Air Force in Kalifornien. Von dort hatte er einen Verbindungsflug nach Memphis, wo ihm die Army einen Platz in einem Sechssitzer-Aufklärungsflugzeug nach Lookout Mountain gebucht hatte. Als ich in Hamnets Zelt kam, war er gerade dabei, in einer Ru hezone, die ihm die anderen Männer eingeräumt hatten, den Reißverschluß seines Seesacks zu schließen. Er wollte nicht dar über reden, wo er hinging oder weshalb, und anstatt meine Fra gen über seine Reise zu beantworten, öffnete er den Reißver schluß einer Seitentasche seines Sacks und reichte mir eine dicke Mappe voller Flugtickets. Ich sah sie durch und reichte sie ihm zurück. »Schweres Rum gereise«, meinte ich. »Von jetzt an ist alles leicht«, widersprach Hamnet. Er wirkte steif und beherrscht, als er die kostbaren Tickets wieder in der Ta sche verstaute. Der Brief seiner Frau war inzwischen nur noch ein 143
von Klebeband zusammengehaltener Fetzen. Ich konnte mir vor stellen, wie er ihn, zum tausendsten oder zweitausendsten Mal, auf dem langen Flug über den Pazifik las. »Sie brauchen deine Hilfe«, sagte ich. »Ich bin froh, daß sie sie kriegen werden.« »Das ist richtig.« Hamnet wartete darauf, daß ich ihn wieder in Ruhe ließe. Weil sein Beutel schwer zu sein schien, fragte ich ihn, wieviel Urlaub er hatte. Er wollte die Flugtickets schon wieder hervorho len, anstatt mir direkt zu antworten, zwang sich aber zum Reden. »Sie haben mir sieben Tage gegeben. Plus Reisezeit.« »Gut«, sagte ich sinnlos, und dann gab es nichts mehr zu sa gen, und das wußten wir auch beide. Hamnet hob seinen Seesack von der Koje und wandte sich ohne die üblichen Verabschiedun gen und Umarmungen der Tür zu. Einige der Männer riefen ihm etwas zu, doch er schien nichts anderes zu hören als seine eigenen Gedanken. Ich folgte ihm hinaus und stand neben ihm in der Hit ze. Hamnet trug eine Krawatte, und seine Stiefel waren blankpo liert. Er schwitzte bereits sein steifes Khakihemd durch und wollte mir nicht in die Augen sehen. Eine Minute später fuhr ein Jeep vor. Der lutheranische Kaplan hatte sich selbst übertroffen. »Auf Wiedersehen, Leonard«, sagte ich, und Hamnet warf sei nen Sack hinten rein und stieg in den Jeep. Er saß steif da wie eine Statue. Der Gefreite am Steuer des Jeeps sagte etwas zu ihm, als sie losfuhren, aber Hamnet antwortete nicht. Ich wette, er hat auch kein Wort mit den Stewardessen gewechselt oder mit den Taxifahrern oder Gepäckträgern oder sonst jemandem, der Zeuge seiner langen Reise nach Hause wurde.
3 Tag, nachdem Leonard Hamnet planmäßig hätte zurückAmkehren sollen, rief Lieutenant Joys Michael Poole und mich in seine Unterkunft, um uns mitzuteilen, was in Tennessee passiert war. Er hielt einen Stapel Papiere in der Hand und schien zugleich wütend und verlegen zu sein. Hamnet würde nicht in den Zug zu rückkehren. Es war ein wenig komisch. Na ja, natürlich war es in Wirklichkeit überhaupt nicht komisch. Die ganze Sache war schrecklich. Das war sie. Und irgend jemand war auch schuld. 144
Verantwortungslose Entscheidungen waren getroffen worden, und wir würden alle von Glück sagen können, wenn es zu keiner Untersuchung käme. Wir hätten dem Mann am nächsten gestan den, ob wir denn nicht gesehen hätten, was sich da abzeichnete? Und wenn nicht, was, zum Teufel, hatten wir dann für eine Ent schuldigung? Ob wir denn keine Ahnung gehabt hätten, was der Mann vor hatte? Na ja, ganz am Anfang, sagten Poole und ich. Aber er schien sich wieder gefangen zu haben. Dummheit und Inkompetenz, die ganze lange Reihe hinunter, meinte Lieutenant Elijah Joys. Da schafft es ein Mann, eine halb automatische Waffe an drei verschiedenen Flughäfen durch die Si cherheitskontrollen zu schleusen, bringt sie in einen Gerichtssaal und macht Drohungen wahr, die er schon Monate zuvor ausge stoßen hat, ohne daß ihn jemand bremste. Ich erinnerte mich an den Seesack, den Hamnet hinten auf den Jeep geworfen hatte; ich erinnerte mich an das Zögern, mit dem er seinen Reißverschluß geöffnet hatte, um mir die Tickets zu zeigen. Hamnet hatte seine Waffe nicht durch die Sicherheitskontrollen der Flughäfen geschmuggelt. Er hatte sie ganz einfach in seinem Seesack transportiert und war in seiner sauberen Uniform und den glänzenden Stiefeln ohne weiteres durch den Zoll spaziert. Sobald der Sprecher der Jury den >Schuldig<-Spruch verkündet hatte, war Leonard Hamnet aufgestanden, hatte die Pistole aus seiner Jacke gezogen und Mr. Brewster am Verteidigertisch hinge richtet. Während die Leute schrien und kreischten und in Dek kung gingen, während der Gerichtsdiener versuchte, ihm die Waffe zu entringen, hatte Hamnet seine Frau und seinen Sohn ge tötet. Als er die Pistole an den eigenen Kopf setzte, schoß ihm der Wachmann bereits zweimal in die Brust. Er starb auf dem Opera tionstisch im Lutheran Hospital von Lookout Mountain, und seine Mutter hatte darum gebeten, daß seine Überreste auf dem Natio nalfriedhof von Arlington beigesetzt würden. »Seine Mutter. Arlington. Ich bitte Sie.« Das hatte der Lieute nant gesagt. Seine Mutter. Arlington. Ich bitte Sie. Ein Gefreiter aus Indianapolis namens E. W. Burroughs ge wann die sechshundertzwanzig Dollar im Elijahfonds, als Lieute nant Joys zweiundreißig Tage vor dem Ende seiner Dienstzeit von einer Splitterbombe getötet wurde. Danach gab man uns, die wir 145
nichts Böses ahnten, in die Obhut von Harry Beevers, dem Verlo renen Boß, dem schlimmsten Lieutenant der Welt. Der Gefreite Burroughs starb eine Woche später unten im Drachental, zusam men mit Tiano und Calvin Hill und ganzen Scharen anderer, als Lieutenant Beevers uns in ein Minenfeld führte, wo wir achtund vierzig Stunden unter Beschuß zwischen zwei Kompanien der nordvietnamesischen Armee lagen. Ich nehme an, daß Burroughs' Mutter in Indianapolis die sechshundertzwanzig Dollar bekom men hat. Aus dem Amerikanischen von Ralph Tegtmeier
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ZWEITERTEIL
Die zeitgenössischen
Autoren
JOHN FARRIS
Der Duft von Veilchen war gerade dabei, meine letzte Runde auf der heruntergeIchkommenen Aschenbahn zu absolvieren, als ein Mann in Trenchcoat und Schal aus dem Nebel auftauchte und meinen Na men rief. »Mr. Mayo, Sir?« Nicht, daß er mich vom Sehen her gekannt hätte. Ich war ver sucht, mit einem knappen Kopfschütteln an ihm vorbeizulaufen, da ich damals mit meinen Autoraten fast drei Monate im Verzug war und eine Rückholung hätte fällig sein können. Doch kurz nachdem er mich zaghaft angerufen hatte, wurde der Mann im Trenchcoat von einem Hustenanfall gepackt, der wie ein Vulkan auszubrechen versuchte. Er lehnte sich gegen den Drahtzaun, der die Aschenbahn und das Fußballfeld des Sprayberry College (>Heimat der Roten Bomber<) einfaßte. Als ich heranjoggte, spürte ich instinktiv, daß er mir nicht mit hartherzigen Mahnungen im Hinblick auf frühere Rechnungen drohen würde. Er schien hier überhaupt nichts zu suchen zu haben, nicht in dieser naßkalten Nachtluft. Trotzdem blieb ich dicht vor ihm stehen, als er versuch te, seinen Husten zu unterdrücken, sich mit einer Hand an dem Zaun abstützte und unter dem anderen Arm einen großen brau nen Umschlag festhielt. Auf der Stelle weiterjoggend, fragte ich: »Ja?« Er bekam sich wieder in den Griff und richtete sich schwerat mend auf. Das Licht der Natriumgaslampe über dem zielnahen Tor, das in dem sich schnell verschiebenden Nebel inzwischen fast unsichtbar geworden war, fiel auf sein Gesicht; es glühte, schien von einem ungesunden Rotton wie bei einer Wundrose. Obwohl es früher Februar war und die Luft von Minute zu Minute kälter wurde, schwitzte er. Er trug eine braune Bartkrause an der Kiefer linie, wie ein abgenutztes Stück Fußabtreter, und hatte nicht allzu viele Haare auf dem Kopf. »Sie sind doch Jack Mayo — der Schriftsteller?«
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Er sprach mit einem leisen Südstaatenakzent; ich erinnerte mich an angenehme, bourbongesättigte Abende in Key West in der Gesellschaft von Tennessee und der lieben, unterganggeweih ten Carson McCullers. »Ja«, gestand ich ungeduldig, inzwischen dem vielsagenden Umschlag, den er mit sich führte, größere Aufmerksamkeit zol lend. Er war in den mittleren Jahren; ich vermutete, daß er nicht hier studierte. Jedenfalls hatte ic h ihn noch nie auf dem Campus gesehen oder schon einmal dieses mitleiderregende Husten ge hört. Sprayberry war eine ziemlich kleine und gründlich herunter gekommene Institution, in der Nähe der Meeresküste und immer am Rande der Insolvenz. »Wer sind Sie?« fragte ich ihn. Er sprach langsam und in einem leisen Ton, als müßte er stän dig den Hustenreiz abwürgen. »David Hallowell, Sir. Sie haben noch nie von mir gehört. Aber ich bin auch Schriftsteller.« »Verstehe«, sagte ich wenig ermutigend und beschloß, die letz ten hundert Meter meines Endspurts ausfallen zu lassen. Ich be gann mit Turnübungen, um mich nicht zu schnell abzukühlen und um das Risiko einer Erkältung zu vermeiden. »Wenn Sie sich da für interessieren sollten, sich für eines meiner Seminare über kreatives Schreiben anzumelden, schlage ich vor, daß Sie Verbin dung mit dem Sekretariat aufnehmen.« »Nein, ich ... ich habe dafür keine Zeit«, erwiderte Hallowell und lächelte flehend, bevor er wieder damit begann, in ein be schmutztes Taschentuchknäuel zu husten. Als er seine Stimme wieder zurückgewonnen hatte, fuhr er fort: »Aber das macht nichts. Ich habe es fast fertig. Mein Buch, meine ich. Noch zwei Wochen — allerhöchstens drei. Ich möchte, daß Sie es jetzt zu se hen bekommen. Und dann wäre es meine größte Hoffnung, daß Sie bereit wären, mich zu beraten. Ich verstehe überhaupt nichts vom Verlagsgeschäft. Ich weiß nicht, was ich als nächstes tun soll. Natürlich wird man es schon veröffentlichen. Es ist gut — sehr gut. Herausragend sogar. Ja, es sollte ein wirklich großer Erfolg werden.« »Wirklich?« grunzte ich und berührte meine Zehen, spürte das Feuer in den Sehnen meiner Schenkel und die alte Schleimbeutel entzündung, die meine rechte Schulter plagte. Ich war amüsiert und, wie ich vermute, ein wenig irritiert von seiner Anmaßung. »Was haben Sie denn geschrieben? Einen Roman?« »Ja, Sir. Das habe ich.« 149
»Sie möchten, daß ich ihn lese und Ihnen einen Verleger besor ge.« Ich konnte den Sarkasmus nicht aus meiner Stimme heraus halten: Allzu viele Jahre der Übung auf Kosten mittelmäßiger Schreiberlinge, die unfähig gewesen waren, es mir mit gleicher Münze heimzuzahlen, hatten meine Treffsicherheit perfektioniert. Er wich ein Stück zurück und verschob den großen Umschlag, bis er von ihm bedeckt wurde wie von einem Schild. Aber ich hatte kein Verlangen danach, seine armselige Würde zu erschüttern. »Ich bin viel zu beschäftigt«, sagte ich, »mit Unterrichten. Und dann ist da noch meine eigene Arbeit...« »Oh, das weiß ich!« entgegnete er, nunmehr zitternd. »Es ist nur, daß ich ihr Werk so sehr bewundere. Ich muß jede der Ge schichten in Tauziehen ungefähr ein dutzendmal gelesen haben. Das handwerkliche Können, die Komplexität, der Humor — Ihr Talent hat mich von Anbeginn meiner eigenen armseligen Ambi tion an beflügelt, und ich ... na ja ...« Er streckte mir den Um schlag entgegen, hielt ihn in Armeslänge von sich. Seine Augen flehten mich an, ihn zu nehmen. »Ich verdanke Ihnen so viel.« »Mr. Hallowell...« »Bitte! Es wird Ihnen gefallen, das weiß ich. Hier ist mein Leben, Sir — alles, was mich die letzten zwei Jahre am Leben gehalten hat.« Wieder das Husten. Ich empfand einen Anflug von Beunruhi gung und dann, vage, ein Schuldgefühl, weil ich sein Manuskript nicht annahm, ihm in dem Nebel und der Kälte noch mehr Leiden verursachte. »Ja, ich schätze, ich werde mir die Zeit schon nehmen können. Also gut.« Er stolperte eifrig vor und drückte den Umschlag in meine Hän de. Ziemlich schwer, es mußten weit über dreihundert Seiten sein, dachte ich. Ich könnte ja wenigstens mal einen Blick darauf wer fen, bevor ich seine Mühe mit ein paar nichtssagenden Worten zu nichte machte. Aus der Nähe sah ich, wie schlimm seine Augen aussahen, wie zerlaufende Eier auf einem billigen Teller, wie dünn und zerlumpt er war. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß er je mals allzu weit aus dem Schutz der Heilsarmee fortstreunte, und schon gar nicht, daß er das hohe Ziel und die Energie aufbringen könnte, die man für das Schreiben eines Romans brauchte. »Sie sind sehr krank«, sagte ich. »Sind Sie in ärztlicher Behand lung?« 150
Er schüttelte den Kopf. »Das sind meine Lungen. Ich war ein kränkliches Kind, und mit vierzehn mußte ich in der Mühle mei nes Onkels arbeiten, auf der Alabamaseite des Chattahoochee Ri ver. Es war ein alter, primitiver Jahrhundertwendebetrieb, und die Luft war ständig voller Baumwollstaub. Ich zog mir eine Staub lunge zu, als ich noch ein junger Mann war. Und, na ja, jetzt kann mir niemand mehr helfen.« Seine Miene veränderte sich in qual vollem Stolz, und er flüsterte heftig: »Aber ich werde meine mir bestimmte Aufgabe beenden. Ich habe die letzten paar Kapitel be reits im Kopf. Nur noch einige Nächte ...« »Sie sollten wirklich in ein Krankenhaus«, meinte ich. Er lächelte, erstaunt, vielleicht zutiefst gerührt, daß es mir et was ausmachen könnte, ob er lebte oder starb. Tränen strömten aus seinen rotfleckigen Augen. Er ergriff meine freie Hand und schüttelte sie. Ich hatte ein Gefühl, als würde ich die knochige Hand des Todes selbst ergreifen. »Sie wissen gar nicht, wie glücklich Sie mich gemacht haben, Sir! Noch vor einem Jahr hätte ich mir nicht einmal vorstellen können, Ihnen zu begegnen, und jetzt... jetzt werden Sie sogar meinen Roman lesen!« »Ja, gewiß werde ich ihn lesen, Mr. Hallowell. Aber ich kann Ih nen nichts versprechen ...« »Sie werden tun, was Sie können!« rief er ekstatisch, während sich seine weinenden Augen von meinem Gesicht abwandten; er schien fast sofort in einen fieberhaften Dämmerzustand hinüber zugleiten und plapperte: »Sie sind ein Mann von großem Talent, ein guter und großzügiger Mann!« — als ob diese Qualitäten syn onym sein müßten. »Ich bedaure nur, daß ich nicht da sein werde, um Ihren Roman zu lesen. Ich weiß, daß es ein Meisterwerk sein wird, nach all den vielen Jahren, die Sie mit dem Schreiben zuge bracht haben ...« »Na ja, ich fürchte, ich habe noch viel zu tun«, sagte ich, es war eine automatische Erwiderung. »So, Sie sollten jetzt wirklich ins Bett, passen Sie auf diesen Husten auf.« Noch während ich sprach, verblaßte sein Aufblühen in dem gie rigen pazifischen Nebel; und da stand ich nun, einen zerfetzten und schmierigen Umschlag haltend, den ich gar nicht wirklich öff nen wollte. »Auf Wiedersehen ... auf Wiedersehen, Mr. Mayo! Meine Adresse steht auf dem Titelblatt. Wenn Sie vielleicht etwas Zeit 151
hätten ... Ich bin ja so begierig darauf, Ihre Meinung zu erfah ren . . . « »Ich werde es sofort lesen!« versprach ich voreilig, inzwischen mit einem Gespenst redend, als er hinter dem Tor verschwand. Ich erschauerte, dann begann ich wieder zu joggen, diesmal in die Gegenrichtung und fort von der See, über den hügeligen Campus zu meinem Studio im Fakultätswohntrakt. Nach einer Dusche und einer leichten Mahlzeit machte ich mich ans Werk, die Arbeiten meiner Studenten zu lesen, wobei ich mich in den Pausen mit einem doppelten Scotch stärkte. Den Um schlag mit David Hallowells Manuskript hatte ich weit hinten auf meinen ohnehin schon überladenen Arbeitstisch gelegt. Die näch sten beiden Stunden wurde meine Stimmung immer mieser, als ich in dem Berg von Streu nach dem Aufblitzen von etwas Talent suchte. Die stilistischen Einflüsse reichten von Saul Bellow bis Erma Bombeck, ja sogar bis zum altehrwürdigen Hemingway. Ich gab auf, als ein Kopfschmerz sich wie ein Dorn zwischen meine Augen bohrte und meine Konzentrationsfähigkeit beeinträchtigte. Erschöpft trank ich die Scotchflasche aus (und erinnerte mich erst zu spät daran, daß es im Spirituosenladen keinen Kredit mehr ge ben würde), dann ging ich ins Bett. Kaum drei Stunden später war ich plötzlich wieder hellwach auf meinem Klappbett, aus einem nichterinnerungswürdigen Traum erwacht; ich hatte ein gequältes Husten gehört oder es zu hören geglaubt. Und in meinem überfüllten Studio hing ein un vertrauter Geruch, die Lieblichkeit wilder Veilchen. Ich stand auf und knipste eine Lampe an, hatte aber keine an dere Gesellschaft außer der Erinnerung an David Hallowells Ge sicht im Nebel. Für eine so kurze Schlafpause fühlte ich mich erstaunlich erfrischt. Es war halb vier am Morgen, aber ich wollte nicht mehr ins Bett zurück und machte Kaffee. Der Veilchenduft verflüchtigte sich langsam, als ich, vor meinen Fenstern stehend, durch die trägen Nebelspiralen auf die Campuslaternen hinunter blickte. Dann drehte ich mich zu einem Regal um und nahm ein Exemplar von Tauziehen herunter. Ich musterte mein Foto auf dem Schutzumschlag — hagerer und mit einem dichteren Haarschopf zu jener Zeit, da ich, in der Wettkampfsprache ausgedrückt, der >kommende Mann< gewesen war. Ich kannte die kurze Biographie auswendig, die meinen jetzigen Zustand der Unfruchtbarkeit in 152
der letzten Zeile zusammenfaßte: Mr. Mayo arbeitet gegenwärtig an einem Roman. Die Anthologie von acht Geschichten in meiner Hand, mein einziges veröffentlichtes Werk, war dreizehn Jahre alt. Jedes Jahr hatte mich der nächste Schub von >kommenden Talenten< weiter und weiter in den nur matt beleuchteten Hintergrund der literari schen Szene zurückgedrängt. Der Roman, der auf der Rückseite des Umschlags so unbekümmert angekündigt wurde, kam nicht. In dreizehn Jahren hatte ich keine hundert Seiten geschafft. Die letzten beiden Jahre kein einziges Wort. Ich hatte mich immer noch nicht sehr gut von der Depression erholt, die von meinem fünfzigsten Geburtstag ausgelöst worden war. Tauziehen beiseite legend, musterte ich meinen Arbeitstisch, sah darauf jetzt aber nur noch den verschmutzten Umschlag mit Da vid Hallowells Manuskript. Ich ärgerte mich über ihn; er litt an ei ner tödlichen Krankheit und hatte doch fast einen Roman been det, während ich überhaupt nichts schreiben konnte. Mit Sicher heit würde es ein furchtbares Stück Mist sein ... aber seine Hinga be, sein Glaube daran, daß er eine Story hatte, die zu erzählen sich lohnte, verdienten Respekt. Ich öffnete den Umschlag, und ein dickes Bündel gelber Notiz blockseiten fiel zu Boden. Es war ein eigenhändig geschriebenes Manuskript, und er schrieb, wie Eugene O'Neill, in einer ver krampften, knausrigen Handschrift; es mußten ungefähr ein hal bes tausend Wörter pro Seite sein. Doch er schrieb so pedantisch, daß jedes Wort auch ohne Lupe lesbar blieb. Ich überflog flüchtig die erste Seite, nachdem ich den Titel schon provokant fand, blät terte zur zweiten und nahm dann mit diesem unordentlichen Bündel in meinem Schoß langsam auf dem Klappbett Platz. Bis zum Morgengrauen hatte ich Engel und Ureinwohner zu Ende gelesen. Es war mir unmöglich gewesen aufzuhören. Es war her vorragend: das Werk eines komischen, pittoresken Lear. Hallo wells Protagonist, ein alter Dichter, und drei liebestolle Töchter fuhren wie die Wirbelstürme über seine Seiten. Satirisch griff er alles an (und zerriß vieles in Stücke): die akademische Welt, die Regierung, die Religion, das ganze Spektrum intellektueller An maßung und kulturellen Firlefanzes unserer Zeit. Als ich die letz te, unvollständige Seite umblätterte, wußte ich, daß David Hallo well ein literarischer Titan war. Jetzt, da ich nichts mehr zu lesen hatte, war mein erster Gedanke eine eindringliche Bitte an die 153
Götter, daß es Hallowell gestattet sein möge, lange genug zu le ben, um sein Meisterwerk zu vollenden. Mein zweiter, entfernt korrumpierender Gedanke war: Das ist der Roman, den ich hätte schreiben sollen. Ich hatte mit beinahe kindlicher Freude bemerkt, daß auf diesen Seiten Anklänge an den alten, den guten Jack Mayo zu finden ge wesen waren. Es stimmte, was Hallowell betont hatte, daß ich ihm geringfügig dienlich gewesen war. Nach meinem Morgenunterricht fuhr ich aus den Bergen in die Altstadt von San Augustin. David Hallowell lebte in einem barrio am Meer, wo der trostlose Nebel noch am Mittag herumhing. Die Straßen waren schmal, die Häuser baufällig, mit ein paar gemei nen Dattelpalmen und rostbraunen Pfefferbäumen in den sandi gen Höfen. An jeder Seitenwand der launderias und bodegas waren primitive spanische Graffiti zu sehen. Ich brauchte eine ganze Weile, bis ich ihn ausfindig gemacht hatte. Die gedrungene Mexikanerin, die mir in dem Haus an der Por tales Street auf meine Nachfrage antwortete, trug einen Säugling auf der Hüfte, während sich weitere Kleinkinder an ihren Rock zipfeln festhielten. »Dah-vied, si, wohnt hier.« Sie sah mich hoffnungsvoll an. »Sie sind Freund?« »Wir haben uns gestern erst kennengelernt«, erwiderte ich. »Oh. Dah-vied sehr krank, immer — tosiendo.« Sie übersetzte das Wort für mich, indem sie in ihre Faust hustete. »Ja, ich weiß. Könnten Sie mich zu ihm bringen?« Sie führte mich durch ihr verwahrlostes Haus und durch die Hintertür zu einer am Straßenzaun stehenden casita. In dem kah len Hof gab es Hühner, weggeworfene Bierdosen und rostige Au tomobilteile. Kohlgestank drang durch den Nebel. Nur zwei Blocks entfernt konnte ich die Brandung hören. Außerdem hörte ich ihn husten, als wir die Tür der casita erreichten. Die Mexikane rin hob ihr quengelndes, halbnacktes Kind von einem stämmigen Arm auf den anderen. »Die ganze Nacht macht er das«, sagte sie über das Husten. »Ich gehe mache jetzt Tee für ihn.« Sie verpaßte einem ihrer Klei nen einen Klaps, als dieses sich gerade vorbeugte, um einen Fin ger in einen frischen Haufen Hühnerkot zu bohren, und kehrte ins Haus zurück. 154
Ich klopfte an die Tür der casita. Gedämpftes Husten, aber kei ne weitere Antwort. Ich zitterte in dem feuchten Grau. Die Tür war nicht abgesperrt, also trat ich ein. Die Luft erwies sich als unerwartet lieblich: Veilchen, ein will kommener Kontrast zu dem säuerlichen Geruch des von Hühnern heimgesuchten Hofs. Die Ein-Zimmer-casita war völlig dunkel, über die verbliebenen Scheiben in der Tür und dem einzigen klei nen Fenster waren Jalousien gezogen. Ich sah ihn auf einem schmalen feldbettähnlichen Gestell liegen, unter einer Decke zu sammengekauert, erbärmlich hustend, die Bettfedern mit der Hef tigkeit seines Anfalls zum Schwingen bringend. »Mr. Hallowell«, sagte ich. »David?« Er schreckte zusammen, ein nackter Fuß schoß unter der Decke hervor, dann setzte er sich auf und blinzelte zur Tür hinüber. »Ja ... ja. Wer ist da?« »Jack Mayo.« »Oh, Mr. Mayo! Entschuldigen Sie mich, Sir, ich ... Bitte, wenn Sie mir ein paar Augenblicke Zeit lassen würden ...« »Gewiß. Ich werde draußen warten.« »Nein! Nein! Bleiben Sie! Ich wache gerade auf. Ich arbeite nämlich nachts, müssen Sie wissen.« Er hatte Schwierigkeiten zu atmen. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht... auf dem Tisch dort... eine Flasche Tequila.« Ich zog die Fenster Jalousie hoch, um etwas von dem fahlen Licht einzulassen. Dann schenkte ich ihm einen Schuß Tequila ein und, auf sein Drängen, auch einen Schuß für mich, denn er hatte einen Vorrat Papierbecher da. Ich traute seiner Erklärung für die Krankheit, unter der er litt, nicht ganz, und ich war schon immer etwas mehr als übervorsichtig, wenn es um Ansteckung ging. Glücklicherweise hatte der Raum durch den beachtlich angeneh men Duft von Frühlingsveilchen nicht die Atmosphäre eines Krankenzimmers. Allerdings sah ich keine Veilchen im Raum, und auch draußen hätte kein keimfähiger Samen lange überleben kön nen. Vielleicht war es Parfüm, von einer kürzlich dagewesenen Besucherin ... Als ich den Duft erwähnte, blickte er verwundert drein. Sein Gesicht war gerötet und glänzte vor Schweiß, die Au gen getrübt, als er an seinem Tequila nippte. »Ach, ja, am Anfang habe ich wohl auch Veilchen gerochen. Aber das ist schon so lange her, daß ich mich inzwischen daran gewöhnt habe. Es fällt mir kaum noch auf.« 155
Seine Erklärung war alles andere als aufschlußreich, aber ich hatte keinen guten Vorwand, um ihn weiter zu befragen. Und meine Aufmerksamkeit hatte sich inzwischen auf den Stapel gel ben Papiers gerichtet, der auf seinem Schreibtisch lag, neben einer gesprungenen Brille mit Drahtgestell und einem Becher, der bis zum Bersten mit Kugelschreibern gefüllt war, von jener billigen Sorte, wie sie jede Firma verschenkt. Ich mußte mich beherrschen, um nicht nach den neuen Blättern zu greifen und sie an Ort und Stelle zu lesen. Statt dessen lächelte ich David Hallowell an. Der Tequila schien seinen Husten vorübergehend unterdrückt zu haben, obwohl er in seiner hageren Brust als dumpfes, gefähr liches Grollen weiterlebte. Auch seine Hautfarbe hatte sich etwas aufgehellt. Mein Lächeln kam unerwartet; es brachte ihn dazu, zusammenzuzucken, dann antwortete er mit einem eigenen, ver legenen Lächeln. »Hatte ich recht? Es ist wirklich gut, nicht wahr?« »Ich glaube, Sie sind ein Genie«, sagte ich. Er kratzte sich am Kopf und zitterte; dann begann er zu weinen und erschütterte das Bett in einem Anfall von Freude und Dank barkeit. Selbst ein wenig überwältigt, verabreichte ich ihm noch mehr Tequila und fragte mich, wie sein Herz diese Belastung nur durchstehen konnte. Etwas von dem Tequila tropfte in die Krause seines drahtigen Barts. »Aber das«, fuhr ich fort, »haben Ihnen andere bestimmt auch schon gesagt.« »Nein. Außer Ihnen hat kein einziger Sterblicher ein Wort von meinem Buch gelesen. Ich bin nach San Augustin gezogen, weil... ich wußte, daß Sie hier sind.« Anstatt mit anzusehen, wie er weitere Anfälle von Dankbarkeit durchlitt, wandte ich mich wieder seinem Schreibtisch zu, auf dem mir ein Exemplar von Tauziehen oben auf einem Stapel stark mitgenommener Taschenwörterbücher auffiel. Ich nahm das Buch, das er offensichtlich aus dem Regal eines Antiquariats erret tet hatte. Gleich hinter dem Deckel steckte ein frischer Ausschnitt aus der örtlich Tageszeitung, in dem mein Foto von der Ankündi gung des Schriftstellerworkshops begleitet wurde, den ich auf dem Campus eingerichtet hatte. Inzwischen war der Veilchenduft fast völlig aus dem Raum ver schwunden; ich konnte eine tropfende Toilette in der Ecke rie chen, und die Scheußlichkeit der casita begann mich zu bedrük 156
ken. Vor David Hallowells Einzug hatte sie offensichtlich zahlrei chen illegalen mexikanischen Einwanderern als Unterkunft ge dient. Auf dem Hof zankten sich Hühner; ein Kind schrie. »Wie lange leben Sie schon hier?« fragte ich ihn. Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Drei Monate? Wohl eher vier.« »Und wo ist Ihr Zuhause? Sie haben, meine ich, Alabama er wähnt.« »Eufaula, Alabama. Das ist schon sehr lange her. Seitdem bin ich nie wieder dort gewesen ...« Es war mühevoll, oder auch eine Qual für ihn, sich zu erinnern. »Jedenfalls«, sagte er ruhig, »gibt es für mich keinen Grund zurückzukehren. Alle, die mir lieb wa ren, haben schon lange ihren gerechten Lohn empfangen.« »Sie haben keine Familie?« Er schüttelte den Kopf. »Ach, das tut mir aber leid, David.« »Eine Unzulänglichkeit der Gene, fürchte ich. Kein Hallowell oder Radburne ist jemals wegen seiner Langlebigkeit berühmt ge worden.« Er schlang seine Decke noch enger um sich und lächelte über sein bevorstehendes Schicksal. Dann sah er mich mit dem lieben, treuherzigen Ausdruck eines Setters an. Dabei wäre doch eigentlich ich derjenige gewesen, der ihm mit wedelnder Rute hätte begegnen müssen. »Man wird Sie feiern«, versicherte ich David Hallowell, »mehr, als Sie es sich je hätten träumen lassen. Überlassen Sie es nur mir.« »Danke«, sagte er. »Mein Freund.« Ich stellte mich schon wieder auf Tränen ein, doch da kam die Mexikanerin mit einem kleinen Tablett an die Tür der casita. Sie hatte Tee mitgebracht und etwas gezuckerten Haferbrei in einer Schüssel. Ich nahm ihr das Tablett ab. Sie blickte besorgt drein. »Nichts essen«, sagte sie. »Schon viele Tage, keine comidas.« »Ich werde dafür sorgen, daß er etwas von dem Haferbrei ißt. Muchas gracias.« David ließ sich bereitwillig füttern, doch nach ein paar klebri gen Löffeln und einer halben Tasse von dem dunklen, aromati schen Tee schaffte er es nicht mehr. Er legte sich matt nieder und schloß die Augen. »Ich werde ein paar Stunden schlafen«, sagte er. »Bis meine Muse sich blicken läßt.« »Haben Sie noch viel vor sich?« 157
»Es ist fast fertig«, murmelte er. »Mit Ihrer Erlaubnis, David, werde ich diese Seiten mitnehmen, die Sie fertiggestellt haben.« Ich zögerte. »Sie haben natürlich ei ne Kopie des Manuskripts?« »Nein. Konnte es mir nicht leisten, Kopien zu ziehen.« »Na gut — ich sorge dafür. Und ich komme morgen wieder.« Er dankte mir, hustete, preßte eine Faust an seinen Mund, und so fiel er auch in Schlaf. Ich ging hinaus und wäre fast zu meinem Wagen gerannt. Ich las die zwanzig Seiten auf der Stelle, in einem schrecklichen Zustand der Aufgeregtheit. Sie waren ganz hervorragend. Der Verfall seines Körpers und der Tequila hatten seine Begabung nicht im mindesten beeinträchtigt. In seiner Üppigkeit war er faulkneresk. Sicher, hier und dort könnte man ein Wort ändern, eine Redundanz streichen. Aber mehr auch nicht. Die nächsten vier Tage kam ich immer pünktlich zur Mittagszeit. Ich hatte meinen Stolz heruntergeschluckt und mir hundert Dollar von einer Fakultätskollegin geliehen, mit der ich einmal eine Affä re gehabt hatte und die immer noch einige Hoffnungen hegte, daß diese Affäre wieder aufgenommen werden könnte, obwohl sie ei ne von jenen Frauen war, für die der Sexualakt den Kalorieninput einer zweipfündigen deutschen Schokoladentorte zu haben schien: Durch unsere Verabredungen hatte sie vierzig Pfund zuge legt. Ich erwarb Hustenmittel, die jedoch nur eine vorübergehend dämpfende Wirkung auf Davids verzehrenden Husten hatten, weiteren Tequila, Schmerzmittel. Und viele Schreibblöcke: David verbrauchte in der Raserei der Vollendung mehr als einen pro Nacht. Jeden Tag übertönte der auf geheimnisvolle Weise anwe sende Veilchenduft den Gestank der Auflösung in der casita. Ich fürchtete um David, hatte beinahe schlaflose Nächte in der Sorge, er könne am Ende doch nicht die schwindelerregende Fertigstel lung seines Romans erleben. Eine Woche nach unserer ersten Begegnung an der Aschenbahn von Sprayberry trat ich ein und nahm mir ein paar Augenblicke Zeit, um mich auf das Omen einzustellen, daß in der casita der Veilchenduft fehlte. David Hallowell lag sehr still auf dem Rücken, die Augen geöffnet und starr, ein leises kindliches Lächeln auf den 158
Lippen. Seine Qual war beendet. In der rechten Hand hielt er eine Nachricht an mich. Wir haben es geschafft! Sie war unterschrieben mit David. Ich nahm die letzten Seiten von Engel und Ureinwohner auf, die über seinen Schreibtisch verstreut lagen, und taumelte schluch zend auf den von Hühnern heimgesuchten Hof hinaus. Die Mexi kanerin, der die Kinder unglücklich am wirbelnden Rock hingen, kam herausgeeilt und begann, nachdem sie mich gehört hatte, mit ihrem eigenen Gejammer. Eines nach dem anderen stimmten auch die Kinder ein. Im ganzen barrio bellten traurig die Hunde. »Er hat keine Familie«, sagte ich zu dem Leichenbeschauer. »Er war der letzte seiner Linie. Und bis auf mich hatte er auch keine Freunde.« Ich verkaufte meinen Wagen, dem Rückholmann um eine Na senlänge voraus, und trieb genug Geld auf, um den Wechsel ein zulösen und David Hallowell ein bescheidenes, aber anständiges Begräbnis zu verschaffen. In der Nacht nach seiner Beerdigung suchte ich alle gelben Blät ter in meinem Studio zusammen, wechselte das Farbband meiner elektrischen Smith-Corona, trank zwei doppelte Scotch, um mich zu stärken, und begann damit, das Buch zu tippen, das zu schrei ben ich geboren war: ENGEL UND UREINWOHNER Roman von Jack Mayo Beim Schreiben machte ich einige geringfügige redaktionelle Än derungen. Nichts Großartiges. Zehn Tage später schickte ich das Typoskript per Post an einen Redakteur in einem feinen Verlags haus in New York, der schon beinahe vergessen hatte, daß ich überhaupt noch existierte. Das Manuskript raste durch das Haus wie ein Buschfeuer. Und es schlug sie alle platt. Engel und Ureinwohner wurde im folgenden Frühjahr veröffent licht, die Erstausgabe hatte eine Auflage von einer halben Million Exemplare. Der Buch-des-Monats-Club bestellte ein weiteres Kontingent von einer Viertelmillion. Zwei Wochen nach Erschei nen sicherte die Mundpropaganda dem Werk Platz Eins auf der Bestsellerliste der New York Times. Achtzehn glorreiche Wochen 159
und sechs Nachauflagen lang blieb der Roman auf Platz Eins. Die Kritiken — ach Gott, die Kritiken! Jede davon ein nahrhaftes Lek kerchen, ein verführerischer Lobgesang, die Preisung eines ein zigartigen Talents! In dieser Saison kehrte ich alle meine Kollegen unter den Teppich — Norman, Philip, John. Selbst die zollten dem literarischen Ereignis des Jahrzehnts ihre Anerkennung. Der ge genwärtig herrschende Rattenkönig in der Traumfabrik schnappte den anderen Ratten den Käse weg, indem er eine nie dagewesene Summe für die Filmrechte zahlte. Dreiunddreißig ausländische Ausgaben waren in Planung. Mein Roman sprach universell an. Mein Roman, ja. Mein mir zugefallenes Gut, wenn man so will. Ich hatte gewußt, was ich tun mußte, noch bevor David Hallo well zur Ruhe gebettet wurde. Denn um die Sache einmal brutal ehrlich auszusprechen: Hätte ich lediglich für eine posthume Ver öffentlichung des Romans gesorgt, wäre er mit seinem Namen darauf weitaus weniger erfolgreich geworden. Vielleicht hätte man Engel und Ureinwohner sträflich vernachlässigt. So etwas kommt vor. Die nackte Wahrheit ist nämlich, daß Verleger und Bil dungsbürger sich kaum für tote Autoren interessieren, vor allem nicht für jene, die das Pech gehabt haben, zu sterben, ohne sich vorher einen Ruf zu machen, der sie gewissermaßen hinüberret ten könnte. Indem ich für das, was David geschrieben hatte, die Anerkennung einheimste, sicherte ich tatsächlich einem großen Buch die weitmöglichste Verbreitung. Ich übernahm die Rolle der literarischen Berühmtheit und muß sagen, daß ich sie mit Verve spielte. Immerhin eine Anforderung der Bestseilerei, der es zu entsprechen galt. Monatelang war ich damit beschäftigt. Und während ich wieder und wieder aus dem Roman vorlas (einige der witzigeren zotigen Passagen sorgten für brüllendes Gelächter auf Cocktailpartys), schlug in meiner Seele die Überzeugung Wurzeln, daß ich der wahre Eigentümer der Worte sei, die ich da zitierte. Für meine Dienste als leitender Berater bei der Verfilmung von Engel und Ureinwohner ergatterte mein Hollywoodagent ein Hono rar, das der halben Staatsverschuldung von Ecuador entsprach. Produktionspläne und große Besetzungscoups sollten auf einer wilden Party des Produzenten und Regisseurs gefeiert werden, ei nes dreißigjährigen Wunderkinds, das — dem Schicksal war's ge dankt — den Mißerfolg erst noch schmecken mußte. 160
Ein großer Teil des Vergnügens, in Hollywood eine Party zu schmeißen, besteht darin, sie in einer boite zu veranstalten, die so begehrt ist, daß man an die wenigen Berühmtheiten, denen die Geschäftsleitung es gestattet zu reservieren, Codenamen verteilt. Es macht viel Spaß zu entscheiden, wen man nicht einladen soll, und die Einladungen erst einen Tag vor dem Ereignis zu verteilen. So konzentrieren sich das Schmerzens- und Empörungsgeschrei der Nichteingeladenen auf eine kurze Zeitspanne, und die Manö ver der also Frischenterbten, mit denen sie versuchen, doch noch berücksichtigt zu werden, verwandeln sich in einen hektischen Schatten, der die Korridore der Glitterstadt auf und ab tänzelt. Ich genoß das alles: aus einer riesigen silbernen Limousine aus zusteigen, das Drängen der Paparazzi und der einfachen Leute, die draußen vor Gepetto's auf dem Bürgersteig umherschwärm ten, die monströse Energie der Verlockung, die in dem vollgepack ten Cafe freigesetzt wurde, die auch als solche ausgesprochene Dankbarkeit des Regisseurs, daß ich ihm das >Rohmaterial< für seinen nächsten Megahit geliefert hatte, die Kameradschaftlich keit des bezaubernd manischen Schauspielers, eines zweifachen Oscar-Preisträgers, der sich in der Kinofassung an der Figur des Lordy Lambkin versuchen sollte ... »Ich frage mich, was David wohl davon gehalten hätte?« Ich stand neben der Theke, wollte gerade wieder auftanken, als sie sprach. Vielleicht nicht mit mir. Aber ich drehte mich dennoch um, denn trotz der Atmosphäre in dem schicken Cafe, den milden Düften frischer Blumen und dem umhauenden Parfüm überall um mich herum setzte sich doch plötzlich der Veilchenduft durch. Der Raum war voll von glamourösen, weltberühmten Frauen, doch selbst in ihrer Gesellschaft war dieses jugendliche Geschöpf, das mich mit einem fragenden Lächeln beobachtete, einzigartig. Vielleicht weil es sich vollkommen wohlzufühlen schien, während alle anderen sich ein bißchen zu sehr darum bemühten. Sie trug ihr rotes Haar streng aus der Stirn zurückgekämmt und hatte es zu einem raffinierten Chignon zusammengebunden. In ihrem ovalen Gesicht lag Lieblichkeit, aber keine Naivität. Ihr Blick war direkt, von kühler Sinnlichkeit, leicht spitzbübisch. Sie trug ein fast fromm-schlichtes, ziemlich altmodisches schulterfreies Kleid aus irgendeinem neutralen, gebrochenen Stoff, der bei jeder Be wegung in exotischen Farben schimmerte wie das Sonnenlicht auf dem Meer. 161
»Wie bitte?« sagte ich, hörbar schnüffelnd. Ich konnte mich nicht beherrschen. Ihr Duft war mir vertraut, und obwohl er ange nehm hätte sein müssen, reagierte ich darauf gegenteilig, beinahe allergisch: Meine Haut fühlte sich plötzlich klamm an, mein Herz raste. Sie schob sich an einem alten Mann mit Pferdeschwanz und ro sa Lederanzug vorbei und stellte sich vor mich hin, ohne ihre leb haften blauen Augen von meinem Gesicht abzuwenden. Sie trank einen von diesen abscheulichen Fuzzy Navels. Ihre Nähe, der durchdringende Veilchenduft, trieben mir die Tränen in die Au gen. »David hätte es nicht gefallen«, sagte sie nachdenklich und senkte ihr langstieliges Glas nach einem Schluck. »Das ganze Ge tue. Ich glaube, wir wären jetzt irgendwo anders, würden an ei nem neuen Buch arbeiten. Meinen Sie nicht auch, Mr. Mayo?« »Ich fürchte, ich weiß nicht, wovon Sie reden«, antwortete ich, zu fasziniert, um ihrem strengen Blick auszuweichen. »Ich rede von David Hallowell«, erwiderte sie. »Von dem Autor von Engel und Ureinwohner. Von dem Buch, das Sie ihm gestohlen haben.« »Was für eine aberwitzige Beschuldigung! Ich kenne keinen Da vid Hallowell!« Ein skeptisches Grübchen erschien auf einer voll kommenen Wange. Ich blickte mich um, um zu sehen, ob uns je mand gehört hatte, aber das Partygeplapper hatte eine solche Lautstärke, daß unser Gespräch bisher privat geblieben war. »Wer hat Ihnen denn diesen albernen Quatsch eingeredet? Wer sind Sie überhaupt?« »Ich bin Dierdre. Und ich war Davids Muse.« Ich fing an zu lachen, obwohl mich die Panik zu überkommen drohte. Irgendwie, irgendwo hatte dieses schöne, gnadenlose Mädchen David Hallowell kennengelernt, und er hatte ihr von dem Buch erzählt, an dem er schrieb. Was machte sie jetzt hier und was hatte sie vor? Ich konnte nur versuchen, mich aus dieser mißlichen Lage freizubluffen, ohne die leiseste Beunruhigung zu zeigen, mit der ich eingeräumt hätte, daß ihre Anschuldigung der Wahrheit entsprechen könnte. Doch meine Nüstern hatten sich geweitet; ich war wieder fast betäubt von dem Veilchenduft. »Ich glaube«, sagte sie, »Sie haben mich bereits wiedererkannt. Obwohl wir einander natürlich nie vorgestellt wurden, weil David ja nachts arbeitete.« 162
»Sind Sie Schauspielerin?« fragte ich und konstruierte einen Ausdruck gutgelaunter Resignation. »Nun, Sie sind ziemlich gut. Ich hoffe, Sie werden in dem Film mitspielen. Würden Sie gern den Regisseur kennenlernen? Ich werde Sie ihm gern vorstellen, denn Sie vergeuden nur Ihr beachtliches Talent mit dieser kruden und ziemlich beleidigenden ...« »Ich besitze einige hundert Seiten eines früheren Entwurfs von Davids Roman. Handgeschrieben, auf Schreibblockpapier. Ein Entwurf, den Sie nie zu sehen bekommen haben. Mit poststem pelgesichertem Copyright. Er beweist ohne jeden Zweifel, wer Engel und Ureinwohner verfaßt hat.« Das alles sagte sie ohne Bös artigkeit, als hätte sie gar kein Interesse daran, mich einzuschüch tern; als sie fertig war, erschien ein bedauerndes leises Lächeln. Eine Augenbraue war leicht gehoben, lud zu jener Gegenwehr ein, von der sie wußte, daß ich sie nicht mehr über mich brachte. »Sie waren ... eine Freundin von ihm?« fragte ich, als ich wie der sprechen konnte. »Mehr als das. Sehr viel mehr. Ich habe es Ihnen schon gesagt. Ich war Davids Muse.« In der Nähe meines Mundwinkels war ein zuckender Muskel, den ich nicht beherrschen konnte. »Ach ja«, sagte ich, verzweifelt mitspielend. »Ihr Parfüm ... der Veilchenduft. Tragen die Götter im Olymp heutzutage so etwas?« »Das ist kein Parfüm. Das ist meine natürliche Essenz.« »Und Ihr Name ist Dierdre. Verzeihen Sie, ich dachte, ich wür de die Namen sämtlicher Musen kennen; Kalliope, Thalia, Terpsi chore — und so weiter. Allerdings gibt es in dem Haufen keine Dierdre.« »Ich bin ein Lehrling.« »Ach so, das erklärt die Sache natürlich.« »Da heutzutage jeder X-Beliebige schreibt oder komponiert, braucht man sehr viele von uns. Erst vorgestern hat die Vereini gung zehntausend neue Lehrlinge eingestellt.« »Ich hoffe, sie sehen alle so aus wie Sie.« »Uns gibt es in allen Gestalten und Größen«, sagte sie, diesmal ohne zu lächeln. »Warum nehmen Sie denn nicht den Drink, des sentwegen Sie hier herübergekommen sind? Sie sehen so aus, als würden Sie gleich in Ohnmacht fallen, Mr. Mayo.« Ich sah keinen Grund für sie, dieses bemühte und unkomische Schauspiel fortzusetzen, diese Übung in Demütigung, der mich 163
zu unterwerfen sie entschlossen zu sein schien. Offensichtlich war sie hinter Geld her. »Wieviel?« fragte ich Dierdre. »Wieviel wollen Sie haben, damit Sie den Mund halten?« Dierdre senkte die Augen und seufzte. »Ich glaube nicht, daß dies die Zeit oder der Ort für ein Gespräch über Wiedergutma chung ist.« »Also schön — wann dann?« »Ich melde mich. Nach der nächsten Vereinigungsversamm lung.« »Die Vereinigung? Wer ist denn das?« »Ich lasse es Sie wissen. Später.« Mit einem gespielten Zupro sten hob sie ihr Glas, lächelte arglos und schlüpfte plötzlich durch eine Lücke in einer sich verschiebenden Gruppe von Leibern. Ich wollte ihr folgen, da spürte ich ein Zupfen an meinem Ärmel und blickte hinunter. Es war unser Produzent, ein buckliger Albino, der für seine Eroberungen hinreißender Frauen berühmt war. »Kommen Sie mit«, sagte er. »Möchte Ihnen jemanden vorstel len.« Er nannte einen prominenten Studiozampano. »Wissen Sie, wer das Mädchen ist?« wollte ich von ihm wissen. Mit wachsamen Häschenaugen blickte er sich um. »Wenn sie im Filmgeschäft arbeitet, kenne ich sie. An welche Schönheit haben Sie denn gedacht?« »Die da — der Rotschopf.« Doch als ich die Menge nach Dierdre absuchte, konnte ich sie nicht ausmachen. Ich drehte mich wie der zu dem Produzenten um. »Mit der ich gerade gesprochen habe.« »Sie haben die letzten zehn Minuten allein dagestanden und in Ihren Bart gemurmelt. Ehrlich gesagt, dachte ich schon, Sie hätten ein bißchen zu viel geschnupft.« »Sie haben sie nicht...« »Sie sehen am Boden zerstört aus, Jacky. Wollen Sie eine Frau? Suchen Sie sich eine aus. Ich sorge persönlich dafür, daß sie pünktlich um ein Uhr nachts an Ihrer Hoteltür abgeliefert wird.« Ich sagte etwas des Inhalts, daß ich mein Liebesleben schon al lein handhaben könne, und ging mit ihm. Natürlich fragte ich ihn nicht, ob auch er die Veilchen riechen könne. Aber der hypnotische Duft blieb erhalten wie eine Geruchshal luzination, obwohl er stündlich schwächer wurde, als ich schlaflos in meinem Bungalow im Beverly Hills Hotel lag. Wo ich mich frag 164
te, wie die Sache enden würde, und ob Dierdre es tatsächlich nur auf Geld abgesehen hatte. Ich verwünschte mich, weil ich David Hallowells Behauptung Glauben geschenkt hatte, daß wir beide die einzigen gewesen sei en, die Engel und Ureinwohner jemals zu Gesicht bekommen hat ten. Die Einsamkeit der Schriftstellerei kann qualvoll sein: Wir müssen alle von Zeit zu Zeit die Erleichterung des Beichtstuhls aufsuchen. Der Amateurwortsteinmetz ist besonders unfähig, über das, was er vorhat, Schweigen zu bewahren. Er muß unent wegt über seine Ziele reden, selbst mit Fremden im Bus. »Ich schreibe gerade einen Roman ...« Und so weiter. Dierdre behaup tete, ein früheres Manuskript zu besitzen ... Was spielte sie nur für ein Spiel? Und wer war sie überhaupt? Wo konnte ich sie fin den? Nach einer Stunde des Auf- und Abschreitens und der Ziga retten gelangte ich zu dem Schluß, daß ich nichts tun konnte, bis sie meinen Spekulationen ein Ende gesetzt hatte, indem sie Kon takt mit mir aufnahm. Ich würde einfach abwarten müssen. Die nächsten drei Tage blieb ich in der Nähe des Hotels, erwar tete, fürchtete ihren Anruf. Es war mir unmöglich, länger als ein paar Sekunden nicht an Dierdre zu denken. Trotz der äußerst gro ßen Bedrohung meines Wohlbefindens, die sie darstellte, fühlte ich mich auf eine perverse Weise zu ihr hingezogen, so sehr sogar, daß ich die zahlreichen Filmsternchen und Nutten, die auf dem Sex-Marktplatz, an dem ich wohnte, zur Verfügung standen, kaum beachtete. Waren sie und David Hallowell Liebende gewe sen? Wenn ja, so war ich neidisch — auf einen Mann im Grab, dem ich bereits alles weggenommen hatte. Alles bis auf Dierdre. Ich schwamm im Swimmingpool und traf mich am Rande des Pools mit dem Drehbuchautor, einem angesehenen Ghostwriter, der seiner Verehrung für meinen Roman Ausdruck verlieh und ei nige gute Ideen für seine Übertragung auf die Leinwand zu haben schien. Die Hotelgärten befanden sich in üppiger Blüte, draußen vor meinem Bungalow roch es hitzig nach Rosen, doch es gab kei ne Veilchen, um meine zerrütteten Nerven zu besänftigen. Ihr Anruf kam, als ich mir gerade von Alberto im Friseurladen des Hotels die Koteletten dunkel färben ließ. »Wissen Sie, welchen Tag wir haben?« »Den vierundzwanzigsten Februar«, erwiderte ich mit klopfendem Herzen. »Weshalb?« 165
»Ich dachte, Sie würden sich erinnern«, sagte sie sanft. »Na ja, macht nichts.« »Wo sind Sie? Ich möchte ... ich halte es für unabdingbar, daß wir uns treffen.« »Wissen Sie, wo das >Bistro< ist?« »Auf dem Canon Drive.« »Ich werde um fünf Uhr davor warten.« Sie legte ohne jedes weitere Wort auf. Ich fuhr ein altes Mercedes Sportcoupe, das mir der Produzent für die Dauer meines Aufenthalts zur Verfügung gestellt hatte. Wie so viele andere Paranoiker in seinem Beruf, hatte er eine pa nische Angst vor Räubern und Kidnappern. Er war Mitglied im Beverly Hills Gunclub und hatte Waffen in allen seinen Automo bilen versteckt. Stolz hatte er mir das Versteck im Fahrersitz des Mercedes gezeigt, den Druckknopf, der einem eine Pistole mit Perlmuttgriff und beachtlicher Mannstoppwirkung in die Hand schob. Am Ende der Hotelzufahrt, wo ich darauf wartete, daß die Am pel am Sunset umsprang, überzeugte ich mich davon, daß die Waffe noch da war. Mit einem leisen metallischen Klicken schlug der Pistolengriff gegen meine Handfläche. Damals wußte ich nicht, weshalb ich das so befriedigend fand und warum es in mei nem Lendenbereich so freudig prickelte. Ich hatte zwar schon mit Pistolen geschossen, war aber kein Waffennarr. Nie hatte ich je mals die Möglichkeit in Erwägung gezogen, jemandem körperli chen Schaden zuzufügen. Obwohl es dunkel wurde, konnte ich Dierdres Aura schon aus zwei Blocks Entfernung ausmachen, als ich im Stoßzeitverkehr auf der Canon in Richtung Süden fuhr. Ich war auf der falschen Straßenseite, um sie einsteigen zu lassen, so bog ich nach links auf die Zufahrt zum Bistro ab und vertrieb mit einem Winken den Parkwächter. Dierdre stieg ein. Genauso schlank, wie ich sie in Er innerung hatte; »... so kalt und lieblich, so tödlich schön.« Byron, glaube ich. Sie trug eine getönte Brille und einen hellbraunen Hosenanzug. Ihr rotes Haar war offen und fließend. Sie hatte eine große Hand tasche dabei, wie eine Satteltasche, und sagte nicht einmal hallo. Der Veilchenduft, der sie umgab, schien eisig, so belebend wie das Bouquet eines großen Weins. »Wohin fahren wir?« fragte ich sie. 166
»Die Küste hinauf. Nach San Augustin.« San Augustin. Dort war ich nicht mehr gewesen, seit ich meine Lehrerstelle im College aufgegeben hatte, kurz nachdem mein Ro man angenommen worden war. Meine Kehle schnürte sich zu sammen. »Weshalb?« »Es ist zwei Jahre her«, erwiderte sie, vor sich hin blickend. »Wir sind David einen Besuch schuldig, meinen Sie nicht?« Da begriff ich, weshalb sie mich am Telefon gefragt hatte, ob ich wisse, welcher Tag es sei. Der 24. Februar. Der Tag, an dem David Hallowell gestorben war. »Ist das nötig?« Sie sah mich zwei Sekunden lang mit neutraler Miene an. »Ja.« Ich hätte mich weigern können. Bei diesem Verkehr würde es über drei Stunden dauern, nach San Augustin zu fahren. Ande rerseits würde mir die lange Fahrt Gelegenheit geben, alles über Dierdre in Erfahrung zu bringen, was ich wissen wollte; die ganze Geschichte ihrer Beziehung zu David Hallowell. Es war sogar möglich, daß ich sie — um ihretwillen — davon überzeugen konn te, nichts gegen mich zu unternehmen. Und wenn nicht... Leider war sie während der Fahrt auf dem Pacific Coast Highway nicht sonderlich gesprächig. Sie antwortete nur spärlich auf Fragen oder überhaupt nicht. Irgendwie schien sie unter einem Druck zu stehen und war nicht die selbstsichere, betörende Ama teurerpresserin, die ich vor drei Abenden kennengelernt hatte. Schließlich gab ich den Versuch auf, mich mit Dierdre zu unterhal ten, und war bereit, es auszusitzen. Ohne meiner Wahrnehmung zu schaden, hatte der Veilchenduft eine förderliche, einlullende Wirkung auf mich. Ich fuhr in der Zuversicht nach Norden, daß sich die Situation schließlich schon noch zu meinen Gunsten wür de ändern lassen. Als wir San Augustin erreichten, trieb gerade der Nebel herein. Der Friedhof, auf dem David Hallowell begraben war, lag an ei nem Hügelhang, nur zweihundert Meter vom Meer entfernt. Mit eingeschalteten Nebelscheinwerfern kroch ich die kurvenreiche Zufahrtstraße an schäbigen und kaum zu erkennenden Denkmä lern kleiner Taten und folgenloser Leidenschaften vorbei. Der dampfende Nebel erlaubte nicht mehr als drei Meter Sichtweite. Ich hatte vergessen, wo er beigesetzt worden war. Dierdre schien 167
es genau zu wissen, als hätte sie viele Besuche gemacht — nach Einbruch der Dunkelheit. »Oben links hoch. Da stehen Eichen und eine Krypta mit einer Sockelplatte. Von dort geht es direkt den Weg hinunter; David liegt an einer Mauer, die parallel zu der Klippe verläuft.« »Jetzt erinnere ich mich«, sagte ich, während mein Gefühl des Wohlergehens sich merklich abnutzte. Ich fragte mich zum ersten mal, ob Dierdre wohl allein hinter dieser Sache steckte. Wenn dem so sein sollte, was bezweckte sie dann in Wirklichkeit damit, mich im Schutz des winterlichen Nebels auf einen abgelegenen Fried hof zu führen? Die Situation, von der ich geglaubt hatte, sie unter Kontrolle zu haben, erwies sich als unschön. Trotzdem hielt ich den Wagen neben den Bäumen an und ließ die Nebelscheinwerfer weiterleuchten. Dierdre stieg sofort aus. Von den laublosen Ästen tropfte Feuchtigkeit auf das Stoffdach. Ich hörte das Rauschen und Dröhnen der Brandung jenseits des untenliegenden Highways. Im Handschuhfach lag eine Taschen lampe. Bevor ich hinter dem Steuer hervorschlüpfte, griff ich nach unten, holte die Pistole aus ihrem Versteck und schob sie in meine Jackentasche, während ich hinter mir die Tür schloß. Ich wußte nicht, was mich vorn im Nebel erwartete, aber Dier dre blickte sich bereits ungeduldig nach mir um. Sie sah nicht aus, als ob sie irgendeine verheerende Spitzbüberei im Sinn hatte. Ihre blauen Augen waren geweitet und zwinkerten nicht, genau wie die Augen auf einem Porträt. »Hier entlang.« Sie führte mich über einen schmalen Pfad aus Trittsteinen zu Davids Grab, während ihre Essenz — wie sie es nannte — die trübselige, triefende Luft versüßte. Ich ließ den Ta schenlampenstrahl auf die kleine, flach auf dem Boden liegende Bronzeplatte fallen, die ich erworben hatte. Ihr Anblick weckte zwar Erinnerungen, aber kein Bedauern, falls sie das erwartet ha ben sollte. Ohne mich wäre Engel und Ureinwohner wahrscheinlich niemals beendet worden. Und in welchem anonymen Grab würde er ohne mich, dicht gedrängt an ungewollte und unbeachtete Menschen, jetzt liegen? Ich war es müde, mich mit ihren Rache fantasien herumzuplagen, wie immer die auch aussehen mochten. »Was wollen Sie, Dierdre?« Langsam hob sie ihren Blick von dem Grab. »Ich hatte gehofft«, sagte sie ruhig, »daß Sie inzwischen wüß ten, was Sie zu tun haben.« 168
»Zunächst einmal möchte ich die Seiten haben, von denen Sie mir erzählt haben. Den früheren Entwurf. Nennen Sie ihren Preis.« Sie runzelte die Stirn, dann öffnete sie ihre Tasche. Ich packte heimlich die Pistole fester. Doch alles, was sie hervorholte, war ein weiterer Stapel der vertrauten gelben Blätter. »Ich habe sie hier.« »Lassen Sie sie auf den Boden fallen.« Das tat sie. »Gibt es sonstwo noch irgendwelche Seiten?« »Nein.« »Ich frage mich, weshalb ich Ihnen nicht glaube.« Sie richtete das Gesicht auf das Meer, das zwar belebter war als dieser Knochenhof, aber unsichtbar. »Heute nacht gehe ich fort. Ich werde nicht zurückkommen. Es spielt keine Rolle, ob Sie mir glauben. Das einzige, was zählt, ist, daß Sie im Gedenken an Da vid Wiedergutmachung leisten.« »Ich fürchte, das würde das Ende meiner Karriere bedeuten.« »Sie könnten vielleicht mal versuchen, etwas Eigenes zu schrei ben«, erwiderte sie scharf. Die Nacht atmete neblig gegen meine Stirn, ihre Kälte bohrte sich in die Wurzeln meines Herzens. Ich erlitt einen kurzen An flug von Selbstekel und haßte sie dafür, daß sie mich verurteilte. Sie war sehr jung; woher sollte sie wissen, wie es sich anfühlte, ein ganzes Leben lang aus dem Rennen gewesen zu sein? Ich trat auf sie zu. Unsere Blicke trafen sich in tödlicher Hitze, und ich bebte vor Zorn und Verlangen. Angezogen von ihrer Es senz, abgestoßen von der Kulisse des Todes, in der meine Lust manifest wurde. »Wenn ich die richtige Muse hätte ...«, sagte ich und warf ihr damit ihren eigenen Scherz wieder vor die Füße. »Weshalb über legen Sie sich nicht, den Job zu übernehmen? Ich würde Sie bes ser behandeln, als es David Hallowell jemals konnte.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich bin nicht die Muse, die Sie verdient haben. Aber es wird Ihnen eine gestellt werden — nach Ihrem Geständnis, daß Sie Davids Roman gestohlen haben, und nachdem Sie alles in Ihrer Macht Stehende unternommen haben, um ihm zur vollen Anerkennung zu verhelfen. Das ist der Wille der Vereinigung.« »Verdammt! Was macht das für David denn jetzt noch für einen Unterschied?« 169
»Es geht um Rechtschaffenheit.« Da begriff ich, daß sie niemals zulassen würde, daß ich sie be rührte. Daß sie meinte, was sie gesagt hatte. Sie würde weggehen. Aber ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß Dierdre auf al le Zeiten meinem Zugriff entzogen sein sollte — die einzige, die alles wußte, ohne zu verzeihen. Ich zog die Pistole aus meiner Tasche und leuchtete ihr mit der Taschenlampe voll ins Gesicht. Sie sah mich gefaßt an, ohne zu blinzeln, kühne Augen, die keinerlei Gefahr registrierten und kei nerlei Furcht zeigten. »Das hat überhaupt nichts zu bedeuten«, entgegnete Dierdre. »Sie können mir nichts antun. Ich bin unsterblich.« »Sie sind verrückt«, sagte ich. »Oder wir sind es beide.« Ich hob die Pistole ein kleines Stück höher und schoß ihr zwischen die Augen. Irgend etwas schien sich aus dem Nebel wie eine Peitsche zu entrollen und mir die Taschenlampe aus der Hand zu reißen. Dier dre verschwand ohne einen Ton; ich war blind im Nebel. Kurz nachdem ich den Schuß abgefeuert hatte, packte mich ein Klonus — eine Serie heftiger Muskelkrämpfe. Unwillkürlich ließ ich die Waffe fallen, dann sank ich neben David Hallowells Grab heftig weinend in die Knie und erwartete irgendeinen tödlichen, überna türlichen Schlag, der meinem Leben ein Ende setzen würde. Doch nichts geschah. Es war niemand da. Ich hatte keinerlei Gesellschaft außer den desinteressierten Toten, zu denen nun auch Dierdre zählte. Die Taschenlampe lag, immer noch funk tionstüchtig, unweit der Stelle, wo ich kniete. Vielleicht hatte ich sie, unfähig, einen Mord anzusehen, unmittelbar nach Betätigen des Abzugs dorthin geworfen. Ich nahm die Pistole wieder auf, kroch zu der Taschenlampe hinüber und suchte im Nebel den Boden nach Dierdres Leichnam ab. Die Handtasche, die sie mit auf den Friedhof gebracht hatte, lag vor der niedrigen Ziegelmauer am Rande der Klippe. Nach Luft ringend, ging ich zu der Mauer und blickte hinüber. Der von dem Nebel zerstreute Lichtstrahl zeigte mir ihren zwanzig Meter in die Tiefe gestürzten Körper. Ich wollte ihre Handtasche durchsuchen, wollte feststellen, wer sie in Wirklichkeit gewesen war, aber ich durfte es nicht riskieren, Fingerabdrücke zurückzulassen. Also sammelte ich alle losen gel ben Blätter des Entwurfsmanuskripts ein, in Panik, daß ich eines 170
übersehen könnte, das die Hühnerhunde des Gesetzes auf meine Spur bringen würde. Als ich sicher war, daß ich sie alle hatte, kehrte ich, gebadet in tödlichen kalten Schweiß, zu dem Mercedes zurück und stieg ein. Die Pistole steckte in meiner Tasche. Ich hat te vor, auf meiner Rückfahrt in die Stadt der Engel die Autobahn zu verlassen und sie weit ins Meer hinauszuwerfen. Bevor ich den Wagen startete, sah ich die Schreibblockblätter durch, die ich so sorgfältig eingesammelt hatte. David hatte nichts darauf geschrieben; sie waren leer. Dierdre hatte geblufft. Sie hat te keinen Beweis für meinen Diebstahl in der Hand gehabt. Ein erbärmlicher Versuch der Erpressung hatte sie das Leben geko stet. Aber hatte sie es wirklich auf Erpressung abgesehen? Ich konn te mir dessen nicht mehr sicher sein. Vielleicht hatte sie den bela stenden Entwurf sicherheitshalber bei jemand anderem aufbe wahrt. In diesem Fall war ich so gut wie erledigt. Ich war zu benommen und verschreckt, um irgend etwas ande res zu tun, als Entfernung zwischen mich und den einsamen Friedhof zu legen. Wieder im Beverly Hills Hotel öffnete ich eine Flasche Scotch, trank daraus, bis mir schwindelte, und stürzte dann ohnmächtig aufs Bett. Ich träumte, gespenstisch, von Hin richtungen; von Dierdres; von meiner. In fiebriger Angst erwachte ich vom Veilchenduft in meinem Bungalow und fuhr hoch, ein Schluchzen in der Kehle. Ich hörte das Klirren eines Flaschenhalses auf einem Glasrand, dann das sanfte Gurgeln einer auf Eiswürfel gegossenen Spirituose. Sie kam, von ihrer eigenen reinen Ausstrahlung erhellt, auf mich zu und hielt mir das Glas entgegen. »Trinken Sie das«, sagte sie. »Sie können es wahrscheinlich ge brauchen.« »Ich habe Sie umgebracht«, sagte ich mit erbärmlich krächzender Stimme; eine eiserne Faust quetschte mein Herz langsam auf die Größe einer Erdnuß zusammen. Sie trug ein schlichtes weißes, glatt fallendes Kleid mit goldener Bordüre. Eine Schulter war frei. Ihr üppiges zedernfarbenes Haar hatte sie zusammengebunden. Dort, wo die Kugel ihre Stirn zer schmettert hatte, war sie ganz unversehrt. Ihre Miene war von ge schäftsmäßiger Nüchternheit, als sei sie nur da, um mich zu be dienen. »Ich habe es Ihnen gesagt«, sagte sie. »Ich bin unsterblich.« 171
Ich nahm ihr den Whisky aus der Hand — sie war aus richtigem Fleisch und Blut, im Gegensatz zu meinen eigenen, versteinerten Fingern — und trank ihn. Die Faust, die mein Herz gepackt hielt, löste sich, und das Blut rauschte in mein beinahe komatöses Hirn. Ich stellte fest, daß ich wieder atmen konnte. »Ich hatte wirklich gehofft, daß Sie mich nicht im Stich lassen würden«, meinte Dierdre. »Daß Sie entschlossen wären, das Rich tige zu tun. Aber ich schätze, das steckt nicht in Ihnen, Jack.« Sie sprach in einem milden Ton, als würde sie einen Welpen tadeln, der ihr Unbehagen bereitet hatte. Ich sagte nichts, starrte ihr nur in die leuchtenden, strengen Augen. Träumte ich? War ich ver rückt? Wenn das Wahnsinn sein sollte, war ich bereit, das Beste daraus zu machen. »Was wollen Sie? Was soll ich jetzt tun?« fragte ich und wünschte mir nichts anderes als ein freundliches Lächeln im Ge genzug für meine Kapitulation. Sie lächelte nicht. »Sie sind kräftig. Gesund. Halten es noch mindestens zwanzig Jahre aus.« Ich nickte hoffnungsfroh. »Jetzt werden Sie die Chance bekommen, sich den Ruhm zu verdienen, den Sie sich so billig angeeignet haben.« »Wie?« »Sie werden schreiben, Jack. Schreiben, schreiben, schreiben. Bis zu achtzehn oder zwanzig Stunden am Tag wird Ihre Muse bei Ih nen sein, wird Sie kaum jemals ruhen lassen.« »Klingt nicht so übel«, meinte ich und griff nach ihr, um sie ne ben mir ins Bett zu zerren. Sie wich höflich zurück, bevor ich sie berühren konnte. »O nein, Jack, das werde nicht ich sein. Ich habe einen anderen Auftrag. Sie werden eine andere Muse bekommen.« »Wen?« Dierdre wandte den Blick ab. »Die Muse, die Sie verdienen«, sagte sie. »In dieser Hinsicht ist die Vereinigung eisern.« »Das ist unfair! Ich habe Sie verdient! Ich bin berühmt! Ich will...« Ihr himmlisches Licht schrumpfte in einer Ecke des dunklen Raums auf die Größe eines rubinbesetzten Marienkäfers, kehrte sich schillernd um und hob sich in die Höhe, flog durch die Wand. Ich taumelte hektisch aus dem Bett, lief zu der Stelle, wo sie ver schwunden war und stellte mich auf einen Stuhl, um sie zu errei 172
chen. Der Fleck war warm und glühte unter meiner Berührung; ei ne Essenz frischer Veilchen stach mir in die Augen. Und dann ver blaßte der hinreißende Duft. Ich fühlte mich verlassen, beraubt. Und ein wenig verängstigt. Ich goß mir noch Dreifingerbreit Scotch ein. Die Uhr auf dem Sims im Wohnzimmer summte und schlug, viermal. Ein ekelhafter Geruch sickerte ins Schlafzimmer, vielleicht kam er von außerhalb des Bungalows. Eine Gestankmischung aus dem patentierten Smog Südkaliforniens mit —- o Gott — toter Katze und überreifem Abfall und verdorbenen Eiern; fast alles Unange nehme und Übelkeitserregende, dessen sich mein Gedächtnis er innern konnte. Ich mußte ein Taschentuch in Scotch tränken und es mir gegen die Nase drücken, als ich in das Wohnzimmer hin ausging, wo ich die Rezeption anrufen und mich beschweren wollte. Es saß in einem Ohrensessel am Kamin, mit dem Gesicht zu mir. Sofern man von einem Gesicht reden konnte. Beobachtete mich. Sofern man von Augen reden konnte. Es winkte mit der Hand — nein, nein, nein, wie hätte man ein derartig mit Widerha ken besetztes und aufgedunsenes Ding eine menschliche Hand nennen können! — und hinterließ dabei eine phosphoreszierende Spur der Fäulnis in der Luft. Es war gänzlich von einer siedenden Korona wie von unsauberem Urgas umgeben. Das Ding rülpste noch mehr Gase hervor und rumpelte und lachte mich an. Ja, man hätte dieses Geräusch als Lachen deuten können, obwohl es furchtbar war. Ich wußte jetzt — ich war dazu verdammt, dieses Lachen selbst in jenen wenigen Stunden erschöpften Schlafs im mer wieder zu vernehmen, die mir den Rest meines natürlichen Lebens noch gewährt sein sollten. »Wenn du schon auf bist, Kumpel«, sagte meine Muse zu mir, »warum machen wir uns dann nicht gleich an die Arbeit?« Aus dem Amerikanischen von Ralph Tegtmeier
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DENNIS ETCHISON
In der Ecke, leise wimmernd einer von jenen hellen Orten, mit denen man mitten in EsderwarNacht nie rechnet; all dieses Porzellan und die Neonbe leuchtung und die weißgetünchten Wände. Ich kam mit meinem alten Armeesack voller Schmutzwäsche eines ganzen Monats her ein und schwang ihn auf eine der in einer langen Reihe warten den, offenstehenden Maschinen. Viertel vor drei am Morgen. Und weit und breit niemand zu sehen. Ich ließ ein Seufzen hören, das sich, was nicht überraschte, in ein Gähnen verwandelte, und tastete nach dem Kleingeld in mei ner Tasche. Zunächst habe ich sie nicht gesehen. Das heißt, ich wußte schon, daß sie da war, ohne mich erst umdrehen zu müssen. Ich denke, es war der Zigarettenrauch, der mich aufmerksam machte. Er schnitt eine scharfe Schneise durch die heiße, stickige, feuchte Trocknerluft, die so dick in dem Waschsalon hing, daß man das Gefühl hatte, man könnte mit dem Finger ein Loch hineinstechen. »Na ja, endlich hat er bekommen, was er wollte.« Ich ging die Wand entlang zu dem Waschmittelspender in der Ecke. Es war sehr spät; ich konnte nicht schlafen und war hierher gekommen, um allein zu sein, um etwas zu tun zu haben und um es allein tun zu können. Keinesfalls war ich zu einem Versuch aufgelegt, Freunde zu gewinnen und Leute zu beeinflussen. Dann hörte ich das Wasser in dem Waschbecken neben mir rau schen. »Das hat er jedenfalls geglaubt.« Ihre Stimme ertönte nun ziemlich dicht neben mir; sie redete weiter, als würde sie ein lau fendes Gespräch zwischen uns fortsetzen. Ich drehte den Kopf gerade weit genug, um einen schnellen Blick auf sie werfen zu können. Sie war jung, aber nicht allzusehr, neunundzwanzig Jahre mit Kurs auf die Vierzig, und auch hübsch, aber ebenfalls nicht son
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derlich. Ihr Haar war lang und hing ihr bis zur Mitte ihres schma len Rückens herab; blonde, eingebleichte Strähnen, sehr schick, Sie wissen schon; eine ihrer falschen Wimpern begann sich in der warmen, feuchten Luft zu lösen. »Ein Haus im Valley, zwei Wagen ... nein, drei... bezahlter Ur laub auf den Jungferninseln, und einen Sohn, ja, einen kleinen Vladimir junior, um seinen ruhmreichen Familiennamen weiter zuführen. Genau, was er immer haben wollte. Aber das war auch alles, was er wollte — das ist der Teil, den sie einem vorher nie er zählen.« Sie ließ die Kippe ihrer Fall Mall fallen und zündete sich eine neue an, nahm tiefe, harte Lungenzüge. »Letzte Woche hat der Junge die Kanone aus dem Schrank ge holt und ist in der Küche auf mich losgegangen«, fuhr sie fort und begann damit, ein Laken im Becken mit der Hand zu waschen. »Hat sie direkt auf meinen Kopf gerichtet und gesagt: >Peng, du bist tot, Mami.< — >Na<, hab ich geantwortet, >tust du es nun oder nicht? Richte nie eins von diesen Dingern auf jemanden, wenn du es nicht auch benutzen willst. < Also hat er es getan. Der Junge hat den Abzug gezogen. Ich hätte nicht gedacht, daß er den Mumm dazu hat. Natürlich war sie nicht geladen. Das hat mich nun wirklich sauer gemacht. Ty pisch Vladimir, ihm nicht beizubringen, was es heißt, ein ..., aber was soll sein Vater auch schon davon verstehen? Was es braucht, ein Mann zu sein.« Sie schrubbte das beschmutzte Laken und hielt inne, um mit ei ner nassen Hand hochzufahren und sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht zu streifen. Da konnte ich nicht anders, ic h mußte mir ihr Gesicht doch genauer anschauen. Es war wie der ganze Rest von ihr: jung und doch alt, angespannt und verkrampft, selbst jetzt noch teuer geschminkt, mitten in der Nacht, wenn gleich offensichtlich hastig; im Ganzen wirkte es müde und matt. Eine Sekunde lang hatte ich den schier überwältigenden Ein druck, daß sie dieselbe junge/alte Frau war, die ich einmal im Fen ster eines Schönheitssalons in Beverly Hills sitzen gesehen hatte; und später in einer Cocktail Lounge mit einem anderen Mädchen, wartend, mit langen, spitzen Fingernägeln, blutfarben; eine Marl boro paffend und mit einem Gesichtsausdruck, der einem mitteil te, daß sie eine Hundertdollarnote in der Tasche verwahrte. Und daß sie wartete. Einfach nur wartete. 175
Mit feuchtem Daumen und Zeigefinger nahm sie ihre Pall Mall auf und zog hart daran. Ich bemerkte die Uhr an der Wand: drei Uhr. »Das hat mir den Rest gegeben. All die vielen Jahre, in denen ich versucht habe, seinem gottverdammten Kind irgendwie etwas beizubringen.« Ich stopfte ein paar Zehner in den Waschmittelspender. Sie hielt lange genug inne, um weiter tief und hastig an ih rer Fall Mall zu ziehen. Es war so still, daß man glauben konnte, das Geräusch des Rauchs zu hören, wie er in das weiße Licht trieb. »Und heute abend kommt er dann nach Hause und mixt die Karaffe mit Martini, genau wie sonst, und geht auf sein Zimmer und schließt die Tür. Ich gehe an die Tür und frage ihn, was, zum Teufel, denn diesmal wieder los ist. Er sagt, er weiß es nicht. Er möchte nur, daß ich ihn alleinlasse.« Sie lacht erschreckend, heiser. »Also gut, du heiße Nummer, dann lasse ich dich eben allein, zum Teufel, denke ich mir. Du willst also wieder einmal heute abend aus deinem gottverdammten Büro kommen, wie eine Lei che aussehend, und herumliegen, bis du zum x-ten Mal wegdäm merst? Na schön, ich werde dich schon lassen! Oder sollen wir mal feststellen, ob du das wirklich willst? Du und diese kleine Memme, dein Sohn, ihr sollt erst einmal ei ne Lektion erhalten, die ihr nie vergessen werdet.« Sie stellte das Wasser voll an. Es rauschte hervor und füllte das Becken schneller, als es sich leeren konnte. »Wer hat bloß behauptet, daß dieses Zeug rausgeht, wenn man es in kaltem Wasser wäscht!Verdammt. Warum, zum Teufel, muß te ich ihm auch ausgerechnet die gestreiften Laken geben? Also wecke ich das Kind auf. Spielt ja keine Rolle — der Junge ist sowieso wach, und das Bett ist ganz naß, wie immer. Ich frage ihn, ob er sich noch an das erinnert, was ich ihm beigebracht ha be. Es braucht ein paar Minuten, aber schließlich begreift er, der blöde kleine Penner. Ich gehe hinauf, um die Patronen zu holen, und sage ihm, er soll da reingehen und mir beweisen, daß er sich noch erinnert, wofür ich ihm letzte Woche den Arsch versohlt habe ...« Ich fing an, mein Zeug in eine Maschine am gegenüberliegen 176
den Ende des Raums zu stopfen. Dann, ganz plötzlich, wurde mir der Kern dessen, was sie da sagte, bewußt. Ich drehte mich nach ihr um. Jetzt war sie dabei, das Bettuch mit einem Seifenriegel zu bear beiten. Der Fleck war am Rand von einem tiefen Braun, fast schwarz, doch in seiner Mitte bemerkte ich immer noch einen dunklen, klebrigen Ton, der dicht an die Farbe ihrer Fingernägel herankam; ihre Finger kneteten den Stoff heftig durch. Um sie herum stieg der Dampf aus dem Becken auf. Ich schloß schnell die Augen. Draußen kam plötzlich ein Wagen aus dem Irgendwo und fuhr eilig vorbei, sauste den leeren Boulevard entlang. Sie beendete ihre Geschichte. Ich wollte sie nicht hören, ver suchte meine Ohren davor zu verschließen, trotzdem erzählte sie alles bis zum Schluß. Es war ihr gleich. Sie hatte ohnehin nie di rekt mit mir gesprochen. Meine Augen blieben zugekniffen, immer fester und fester, bis ich schon graue Figuren sah, die sich vor mir zu bewegen schie nen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, mich jemals in mei nem Leben so lösgelöst gefühlt zu haben, so abseits des Gesche hens. Mühsam stützte ich die Handballen gegen die Waschma schine. Der Vierteldollar entglitt meinen Fingern, schepperte ge gen das Emaille und traf auf den kalten, rissigen Betonboden. Das letzte, was ich sie sagen hörte, war: »... und so sage ich dann hinterher zu dem Kleinen, er solle wieder ins Bett gehen, solle sich schlafenlegen, solle verdammt noch einmal, weiterpennen, aber er kann nicht. Oder will nicht. Er sitzt einfach nur in der Ecke, auf dem Fußboden, die Kanone im mer noch in seinem Schoß, leise wimmernd. So habe ich ihn dann sitzenlassen, die kleine Memme ...« Angewidert — müde und erschöpft und angewidert wie noch nie und bar jeder Hoffnung — zwang ich meine Sachen wieder mit Gewalt in den Sack zurück und stolperte aus dem Waschsa lon. Sie sagte noch etwas zu mir, aber ich wollte es nicht hören. Draußen schlug ich meinen Mantelkragen bis zu den Ohren hoch und begann zu zittern. Ich schnaubte, gegen niemanden im besonderen gerichtet, schnaubte die Nacht und alle Menschen in ihr an, die blöden, hirnlosen Menschen, überall, die es nicht fer tigbringen, einen in Ruhe zu lassen, einen einfach mal alleinzulas sen, wenn man es am meisten braucht. Es gab für mich keinen Ort 177
mehr, wo ich hätte hingehen können, nirgendwo in der ganzen Stadt. Und so machte ich mich Dampf atmend so schnell davon, wie ich nur konnte, folgte der Straße in derselben Richtung, die auch der Wagen genommen hatte, heftig mit den Augenlidern blinzelnd und darauf achtend, daß ich in keine Ritze trat, den gan zen Weg zurück zu meinem Zimmer. Meinem ruhigen Zimmer. Aus dem Amerikanischen von Ralph Tegtmeier
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EDWARD BRYANT
Menschliche Überreste dachte Vicky, ein Mädchen hätte die Puppe in jener DaZuerst mentoilette im Seitengang der Hauptlobby des West Denver Inns vergessen. Es war eine Barbie, genauso eine wie die, an die sie sich aus früheren Jahren erinnerte. Die Puppe war langausge streckt und rosa und unmöglich proportioniert. Sie lag auf den mattweißen Fliesen unter dem Tamponautomaten. Vicky hatte das Klappern gehört, als sie auf ihrem Weg zum Waschbecken dort vorbeigekommen war. Vielleicht hatte sie sie irgendwie mit einem unachtsamen Ellenbogen heruntergeschubst. Etwas stimmte nicht. Die Puppe sah nicht im geringsten so aus, wie sie sich daran erinnerte. Vicky stellte ihre schwarze Lacklederhandtasche auf der Wasch beckenablage aus Marmorimitat ab, wechselte die lederne Akten mappe in die linke Hand und kniete sich hin. Sie sah, daß die Puppe fest mit Schnur umwickelt war. Reißfeste, beinahe durch sichtige Angelschnur schlang sich um die Puppe, verschnürte die Fußknöchel, die Arme auf Höhe der Taille, die Schultern, die Keh le, ja selbst den Kopf, wo sie sich stramm über die geöffneten Lip pen spannte. Die Schnur war so fest angezogen, daß das Plastik des Körpers sich leicht neben den Schlingen vorwölbte. Die Fes seln schnitten in die unechte Haut der Puppe. Vorsichtig streckte Vicky die Finger ihrer rechten Hand aus und berührte Barbies Schulter. Kalt. Hatte das tatsächlich ein kleines Mädchen hier vergessen? Vicky zwang sich, die Puppe aufzuhe ben. Hatte eine der anderen Frauen im Restaurant dies hier zu rückgelassen? Sie hob die Puppe dicht an ihr Gesicht. Glänzte da etwas Rotes in Barbies Mundwinkel? Die Angelschnur reflektierte das grelle Deckenlicht. Nein, da war kein Blut. Nur das Licht spielte ihr einen Streich. Vicky wunderte sich über die offenkundige Festigkeit der Schnur. Wenn sie dies bei dem schier unverwüstlichen Synthetik material der Puppe bewirkte, was konnte sie dann bei einem ge
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fangenen Fisch anrichten? Sie hatte das Gefühl, es würde über menschliche — über ... wie lautete bloß das Wort im Hinblick auf einen Fisch? — Stärke verlangen, um diese Fesseln zu sprengen. Gefangen war gefangen. Sie konnte keine Knoten ausmachen — an den Stellen, wo die Enden sich trafen. Und vielleicht waren sie auch gar nicht nötig. Sinnlos. In der Falle. Unentrinnbar gefangen. Vicky schlang ihre Finger um die Barbie-Puppe und wandte sich zur Tür der Damen toilette um. Sie empfand plötzlich den unbezwingbaren Wunsch, das grelle Licht und den beißenden Geruch der Desinfektionsmit tel hinter sich zu lassen. Dann bemerkte sie, daß die Puppe anscheinend wärmer wurde. Hitze verlor, Hitze gewann. Barbie nahm Wärme von Vickys um sie geschlungenen Fingern, von ihrer Haut, ihrem Körper, ihrem lebendigen, strömenden Blut auf. Während sie die Tür mit der linken Hand nach innen aufzog, steckte Vicky die Puppe in ihre Aktenmappe. Sie hatte nun ein Geheimnis. Es war schon lange her, seit sie ein neues Geheimnis gehabt hatte. Und plötzlich ahnte sie, daß es an diesem Wochenende wichtig sein würde, ein oder zwei Geheimnisse in der Hinterhand zu ha ben. Ein Schauer der Erregung lief über ihren Rücken. Als sie den Tisch verlassen hatte, waren ihre Begleiterinnen ge rade dabei gewesen, sich über die Regionalpolitik von Colorado, Utah, Oregon und Washington, den Präsidentschaftswahlkampf und Bürgerinitiativen für eine veränderte Einstellung gegenüber der Todesstrafe und ihrer Handhabung zu unterhalten. Nun spra chen die vier Frauen über Schuhe. Vicky nahm lächelnd wieder Platz. Ihre halb leergegessenen Abendessenteller waren inzwischen abgeräumt worden. Von ihrer Seite des Tisches aus konnte sie durch das große Panoramafenster des Restaurants hinaus über das Platte River-Tal und nach Osten zur glitzernden Oktober-Skyline Denvers blicken. Über den Lich tern war ein beinahe voller Mond aufgegangen. Es war noch eine Woche bis Halloween. Schnell dahinströmende Lichterketten zo gen sich über den Freeway unterhalb des Restaurants. Dixie, die Blondine aus Oregon, die Vicky längst für eine Möch tegern hielt, sagte: »Hört mal, morgen ist Samstag, da muß es überall in den Einkaufszentren jede Menge Sonderangebote für Schuhe geben.« 180
Sonya und Kate, die dunkelhaarigen Schwestern aus Utah, schauten einander an und lachten. Kate sagte: »Einkaufszentren haben wir auch in Salt Lake.« »Wenn wir Pumps kaufen oder Birkenstock-Schuhe beäugen wollen, dann können wir ja nachher auf dem Zimmer den Schuh kanal einschalten«, bemerkte Sonya, die vielleicht zwei Jahre älte re Schwester. Vicky rückte ihren Stuhl vor und trank einen Schluck Kaffee. Er hatte mittlerweile Raumtemperatur. Entropie. Sie erinnerte sich an das Wort aus einem Zeitschriftenartikel im Wartezimmer ihres Gynäkologen. »In der Southwest-Plaza gibt es 27 verschiedene Schuhgeschäfte«, erklärte sie geistesabwesend. »Hast du sie gezählt?« fragte Carol Anne; sie war deutlich jün ger als die anderen Frauen am Tisch. Vicky dachte darüber nach, nahm jedoch von einer direkten Frage diesbezüglich Abstand. »Ich kaufe dort ein, aber ich habe noch nie die Schuhgeschäfte ge zählt.« Vicky zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls kann man sie im Schuhkanal nicht anprobieren.« »Ich wette, Mrs. Marcos sieht sich das ständig an«, sagte Dixie. »Gibt es wirklich einen Schuhkanal? In Eugene bekommen wir den nicht über Kabel.« Die Gruppe der Abendessensgäste begann sich langsam zu lichten. Vicky bemerkte, daß die meisten Gesichter zu Frauen ge hörten, die sie früher am Nachmittag, als alle im Hotel angekom men waren, gesehen oder mit denen sie sogar gesprochen hatte. »Also gut, laßt uns nicht streiten«, erklärte Dixie lächelnd. Vik ky hatte längst bemerkt, daß sie viel und gern lachte. »Morgen ist ein anderer Tag. Wie steht's mit heute abend? Gehen wir alle zu sammen irgendwo hin? Ich weiß, daß ihr beiden Schwestern ei nen Wagen habt. Gibt es in Denver einen Chippendale's? Carol Anne? Du siehst aus, als wüßtest du, wo die Post abgeht, und du lebst hier.« »Keine Ahnung«, erwiderte Carol Anne. »Ich wohne nach We sten raus, in Golden. Einige von den Vororten. Da gibt es keine scharfen Stripper.« Sie schien etwas verlegen zu erröten. Dixie schaute Vicky an. Vicky bemerkte, daß sie die Aktenmap pe mit der gefesselten Barbie-Puppe in ihren Armen hielt. Sie konnte den harten Körper der Puppe durch das weiche Leder hin durch spüren. »Guck mich nicht so an«, erklärte Vicky. »Ich bin 181
nicht mehr in einem solchen Laden gewesen, seit...« Ein Schauer lief über ihren Rücken und kribbelte in ihrer Magengrube. Seif je ner Fahrt. Ein Mann trat an den Tisch. Zuerst dachte Vicky, es wäre der Kellner, doch dann sah sie, daß es einer der anderen Gäste war. Sie erkannte ihn als den Typen, der mit einer Frau, höchstwahr scheinlich seiner eigenen, am Nebentisch gesessen hatte. Er war ein rotwangiger Mann, wohl in den Fünfzigern, gekleidet in einen dunkelgrauen Anzug. Seine blauen Augen waren klein und durchdringend. Er hatte einen grauen Schnurrbart. Wortlos starrte er auf die Frauen herab. Vicky dachte einen Mo ment lang, Dixie würde etwas sagen. »He«, sagte der Mann schließlich und blickte jeder einzelnen kurz ins Gesicht. »Ich habe gerade mit dem Geschäftsführer ge sprochen. Er ist ein Freund von mir, und er hat mir erzählt, was ihr alle hier macht. Ich muß euch etwas sagen. Ich halte euch alle für einen Haufen miese Schnallen.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging davon. Seine Frau erhob sich eilig von ihrem Tisch und folgte ihrem Mann zur Tür. Vicky bemerkte, daß sie während der ganzen kleinen Szene ihren Blick abgewendet hatte. Die fünf Frauen am Tisch starrten einander an. Sonya drehte sich um und schaute dem davongehenden Mann und seiner Frau hinterher. Sie sah so wütend aus, als wolle sie ihn gleich anspuk ken, doch sie sagte nichts. Kate schüttelte den Kopf. »Ja«, sagte Dixie, »das möchte ich auch. Was für ein Wichser.« Carol Anne sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbre chen. Vicky drückte die Puppe in ihrer Tasche noch fester an sich, dann holte sie ein paarmal tief Luft und lockerte ihren Griff wie der. Sie griff über den Tisch und berührte Carol Annes Hand, um sie zu trösten, zu beruhigen. Der Kellner wählte gerade diesen Moment, um an den Tisch zu treten und zu fragen, ob noch jemand Kaffee nachgeschenkt ha ben wollte. Sie kamen stumm überein, nicht weiter über den Mann in dem dunkelgrauen Anzug und seine schweigende Frau zu sprechen. Die Begeisterung für männliche Stripper war geschwunden. Dixie fing an, von Filmen zu reden. Sonya erwähnte, daß man an der Rezeption Videorekorder leihen könne. »Hat eine von euch ein 182
Video dabei?« fragte sie. »Das Dobson-Band? 29,95 Dollar, bevor es bei K-Mart heruntergesetzt wurde?« »Ich habe es mir einmal angesehen«, erklärte Dixie. »Dieser ganze Mist über Schnaps und Pornos.« » I c h . . . « Carol Anne setzte an, etwas zu sagen, verstummte dann jedoch wieder. Sie wirkte wie Anfang Zwanzig. Sehr hübsch, dachte Vicky bei sich. Langes braunes Haar, das nach hin ten über ihre Schultern frisiert war. Vielleicht wie meine Tochter, wenn ich je eine gehabt hätte. »Was hast du gerade gesagt?« fragte Dixie auffordernd. In Vickys Gehirn ertönte eine Alarmglocke. Dräng sie nicht, dachte sie bei sich. Vielleicht will sie gar nicht reden. Carol Anne erklärte: »Ich habe es mir, ach, vielleicht hundert mal angesehen.« Die anderen Frauen starrten sie an. »Warum?« Vicky hauchte das Wort mehr, als daß sie es laut aussprach. Besessen, schoß es ihr durch den Sinn. Und so, so jung. Die jüngere Frau schaute auf ihren Schoß. »Ich dachte, es ließe sich darin vielleicht... ein Hinweis finden. Irgend etwas. Egal was.« Sie verstummte. Vicky wußte, daß die anderen fragen wollten: Was für ein Hin weis? Wonach suchst du? Keine sagte etwas. Aber, bei Gott, sie wollten es. Besessen. Und dann stand da wieder jemand am Tisch. Es war ein junger Mann in einer Hilfskellnerjacke mit braunen Cordhosen. Über seinem Herzen war der Name >Bobby< aufgestickt. Er schaute von einem Gesicht zum anderen. Seine Augen wirkten weit älter als sein jugendliches Gesicht, dachte Vicky bei sich. »Tschuldigung, meine Damen«, sagte er. »Hat eine von Ihnen Ihre Handtasche ...« Vickys Hand griff schon unbewußt nach der schwarzen Hand tasche. Die nicht auf der Ecke des Tisches stand, wie sie sollte. »... vergessen?« Er hob seine Hand, und da war Vickys schwar ze Handtasche. »Die gehört mir.« Sie streckte die Hand aus und nahm sie ihm ab. »Sie haben sie auf der Damentoilette vergessen«, erklärte Bob by. »Und sie sollten besser aufpassen. Das hier ist die Großstadt.« Ihre Augen trafen sich. Sein Blick blieb auf ihr ruhen. Kühn. Vicky berührte das Leder mit ihren Fingerspitzen. Das Ganze 183
war ein wenig verwirrend. »Danke«, sagte sie. »Ich weiß das zu schätzen. Vielen Dank.« »Nicht der Rede wert«, erwiderte Bobby. Er machte eine vage, abwinkende Geste mit seiner linken Hand. »Es ist ja nichts pas siert.« Er nickte mit dem Kopf, so als wäre er verlegen, und blickte Vicky noch einmal kurz in die Augen; dann drehte er sich um und ging in Richtung Küche davon. Vicky starrte ihm nach. Hatte der junge Mann gelächelt? Sie vermeinte, ein flüchtiges Zucken seiner Lippen gesehen zu haben, als er sich umdrehte. Hatte er gerade mit ihr geflirtet? Vergessene Gegenstände zurückzugeben, wäre eine tolle Methode, Frauen kennenzulernen. Ein Flirt. Sie hatte sehr lange nicht mehr an die ses Wort gedacht. Und dann dachte sie an etwas anderes. Konnten vergessene Gegenstände als Köder benutzt werden? Aber wer war der Ang ler? »Vicky?« sagte Dixie. »Hallo, Erde an Vicky... Bist du da, Mä del?« Vicky zuckte zusammen und bemerkte, daß sie leicht zitterte. Sie versuchte, regelmäßiger zu atmen. »Ich bin hier. Ich vermute, ich habe gerade darüber nachgedacht, wie schrecklich es gewesen wäre, sie zu verlieren«, erklärte sie und umklammerte die Tasche mit ihrer Hand. »Es wäre scheußlich, die Karten verfallen zu lassen«, sagte Ka te, die jüngere Schwester. »Die Karten sind egal«, gab Dixie zurück. »Ich würde mir aber Sorgen darüber machen, daß irgendein Verrückter sich über mei nen Führerschein meine Adresse besorgen und plötzlich vor mei ner Tür auftauchen könnte.« »Ist das nicht ein wenig paranoid?« fragte Kate. Ihre große Schwester lächelte leise. »Sind wir denn nicht alle ein wenig paranoid?« Wie sich schließlich herausstellte, ging keine von ihnen irgendwo hin. Alle fünf blieben, bis erst die Küche und dann die Bar schloß. Sie redeten. Gott, wie sie redeten, dachte Vicky bei sich. Sie sprachen über den tödlichen Höhepunkt jenes Januarmor gens, der erst so wenige Jahre zurücklag. Sechzehn Minuten nach sieben. Es war so wie die Frage: Wo waren Sie, als Präsident Kennedy 184
erschossen wurde? Als John Lennon starb? Als die Challenger ex plodierte. Was taten sie um 7 Uhr 16 am Morgen des 24. Januar 1989? Ich habe Radio gehört. Fernsehen geguckt. Gefleht, daß sei ne Gnadengesuche abgelehnt würden. »Ich habe es verschlafen«, sagte Dixie. »Ich habe fast die ganze Nacht CNN angesehen. Ich bin eingeschlafen. Ich konnte nichts dagegen machen.« »Laßt mich euch etwas sagen«, meldete sich Kate zu Wort. Sie schaute Sonya an. »Meine Schwester und ich kennen eine Frau, deren Tochter umgebracht wurde. Aber sie war schon immer ge gen die Todesstrafe. Sie hat Briefe geschrieben und wohl tausend Anrufe getätigt, um die Hinrichtung zu stoppen.« Sonyas Blick wanderte zu der dunklen Stelle über der Bar. »Was soll man sagen? Sie hatte ein Recht dazu. Sie lag falsch, aber sie hatte ein Recht dazu.« Ihre Stimme erstarb. Sie sagte noch etwas anderes, und Vicky vermeinte, es klänge nach: »Verbrennt ihn. Verbrennt sie alle.« Am Tisch hinter ihnen ertönte gedämpftes Gelächter. Doch nicht an Vickys Tisch. Sie sprachen weiter über die Hinrichtung. »Ich erzähle euch jetzt etwas wirklich Interessantes«, verkünde te Dixie, »obwohl ihr das vielleicht schon wißt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich wußte es nicht. Ich habe es gerade erst her ausgefunden. Es gab da einen Wärter, der sich den Henker ganz genau angesehen hat. Der Typ mit der Hand am Schalter war un ter einer schwarzen Kapuze verborgen, wißt ihr, genau wie in ei nem Horrorfilm. Jedenfalls sagt dieser Wärter, daß die Wimpern des Typen einfach unglaublich waren. Dicht und lang, sagte er. Er dachte bei sich, daß der Henker vielleicht eine Frau war.« Sie dachten alle einen Moment lang darüber nach. »Es gibt kei nen Grund, weshalb es keine gewesen sein sollte«, erklärte Sonya schließlich. »Das nennt man ausgleichende Gerechtigkeit.« »Wie sollte sie den Auftrag bekommen?« fragte Carol Anne. Niemand wußte eine gute Antwort. »Vielleicht war es einfach nur ein Job«, sagte Kate. »Vielleicht haben sie alle Karten gezogen. Die Offiziellen, meine ich. Die PikDame hat vielleicht bedeutet, daß man den Schalter umlegen muß. Ich hätte es getan.« »Ich auch«, erklärte Sonya. »Ich denke, unter der Kapuze hätte ich gelächelt.« Ihre Zähne schlugen klackend aufeinander. »Ich hätte gelacht.« 185
Dixie nickte. Vicky und Carol Anne sagten nichts. Die schon gedämpften Lichter in der Bar flackerten kurz, und alle zuckten zusammen. Sie hatten sich vor dem heutige n Tag nie zu Gesicht bekom men. Vielleicht würden sie sich nie wieder treffen. Doch alle fünf fühlten sie eine unendlich starke Bindung, etwas, das sie mitein ander verband, dachte Vicky. Oder, um vielleicht genauer zu sein, sie teilten ein gemeinsames Glück. Sonya und Kate sprachen über das Leben in Midvale, einer kleinen Gemeinde in Utah, südlich von Salt Lake City. 1974, im Oktober, Sonya war 19 und Kate 17, waren sie von einem Os monds-Konzert in Salt Lake nach Hause gefahren. Gerade war der Chevy noch wie eine Eins gelaufen, und im nächsten Moment gab der Motor plötzlich schleifende Geräusche von sich; einen Moment später rollte er auf den Seitenstreifen des 1-15, ein kleines Stück hinter der Ausfahrt nach Taylorsville. »Es war bizarr«, erzählte Sonya. »Da standen wir nun auf dem Interstate, und es war erst so gegen Mitternacht, und niemand hielt an. Es war, als wären wir unsichtbar.« Und in diesem Moment hatte der gutaussehende Fremde sei nen Volkswagen von der Fahrbahn gelenkt und hinter ihnen an gehalten. Es war zu dunkel, um zu sagen, welche Farbe der VW hatte, doch die Teenager konnten sein Gesicht im Schein der In nenbeleuchtung sehen. Er bot an, Sonya nach Midvale mitzuneh men, schlug jedoch vor, daß Kate beim Chevy bleiben solle, um ein Auge darauf zu halten. »Wir haben natürlich abgelehnt«, sagte Kate. »Entweder wür den wir beide nach Midvale fahren, oder keine von uns.« Der Fremde legte seine Finger um Sonyas Handgelenk, so als wollte er sie in den Volkswagen zerren. Kate hielt einen Wagenhe ber hoch, den sie vom Boden des Chevy aufgehoben hatte. Und das war's. Der Fremde ließ los, entschuldigte sich wie ein Gentle man, schoß schnell über den Kies davon und verschwand in der Nacht. »Er hat dann ein Mädchen aus Midvale umgebracht«, sagte So nya. »Wir kannten sie. Wir kannten sie nicht gut, aber nachdem sie schließlich ihre Leiche gefunden hatten, sind wir zur Beerdi gung gegangen und haben geweint.« Dixies Geschichte war unspektakulärer, wie Vicky schon ver mutet hatte. 186
»Es war 1975«, begann Dixie. »Ich war damals blond, genau wie jetzt, und ich weiß, was ihr denkt. Nun, er hat zwei Blondinen er mordet. Er wollte Brünette, aber er gab sich schließlich mit allem zufrieden. Bei ihm konnte man nie wissen.« Vicky war froh, daß sie zuvor nichts gesagt hatte. Sie hatte von den beiden blonden Opfern gewußt. Sie war nur aus irgendeinem Grund argwöhnisch gegenüber Dixies Ansichten gewesen. »Ich habe für meine Mom ein paar Sachen bei Safeway einge kauft«, fuhr Dixie fort. »In Eugene. Ich erinnere mich daran, daß ich zu meinem Wagen gegangen bin, in jedem Arm eine Einkaufs tüte mit Lebensmitteln, und mir schoß gerade ein schmutziges Wort durch den Sinn, weil ich nicht an die Schlüssel in meiner Jeans kommen konnte, ohne entweder die Taschen abzusetzen oder Äpfel und Limabohnen über den halben Parkplatz zu ver streuen. Jedenfalls, als ich schließlich den Wagen erreichte, da stand da dieser gutaussehende Typ — ich meine, so einen hätte ich nie auf dem Parkplatz von Safeway erwartet — und trug sei nen Arm in einer Schlinge. Ich war völlig vertieft darin, meinen Schlüssel zu fassen zu bekommen, also habe ich zuerst gar nicht darauf geachtet, was er redete, aber wie ich schon sagte, er sah echt toll aus, also habe ich ihn nicht völlig ignoriert. Er brauche Hilfe, um den Reifen an seinem Volkswagen zu wechseln, sagte er. Nicht viel Hilfe, ich sollte ihm nur mit dem Radmutterschlüssel helfen, um die Muttern zu lösen.« Dixie grinste. »Ich kam mir vor wie eine gute Pfadfinderin, also bin ich ein paar Schritte mitge gangen, immer noch mit den Taschen in meinen Armen, und tat sächlich — da stand der VW. Es war ein metallic -brauner Käfer, aber ich konnte keinen Platten entdecken. Und in dem Moment hörte ich die Stimme meiner Mutter, die mir sagte, daß ich nie mals mit Fremden sprechen solle, also sagte ich zu ihm, daß es knapp vier Blocks weiter auf der Willamette eine Texaco-Tankstel le mit einem Mechaniker gäbe und daß er sich dort Hilfe holen könne.« »Das war alles?« fragte Sonya. »Er hat dich nicht gepackt?« »Er war ein perfekter Gentleman«, gab Dixie schroff zurück. »Er hat kein weiteres Wort gesagt. Hat sich nur bedankt, sich um gedreht und ist die Straße hinuntergegangen. Ich bin in den Wa gen meiner Mutter eingestiegen und weggefahren. Das war al les.« Dann fragten sie Carol Anne nach ihrer Geschichte, doch die 187
junge Frau zauderte. »Ich bin sehr müde.« Alle schauten sie an. »Ich meine, ich möchte jetzt nicht darüber reden«, sagte sie. »Ich vermute, ich habe schon Schwierigkeiten damit, einfach nur dem zuzuhören, was ihr alle zu erzählen habt.« »Warum bist du dann hier?« fragte Dixie. »Laß sie in Frieden«, mischte Vicky sich eilig ein. Sie ist noch ein Kind. Das sagte sie jedoch nicht. Es hätte nur noch mehr Fra gen herausgefordert. Sie entschied sich unvermittelt, Carol Anne vom Haken zu befreien. »Außerdem bin ich schon ganz heiß dar auf, meine Beichte abzulegen.« »Also gut«, sagte Kate. Dixie blickte Carol Anne an, dann schaute sie wieder zurück zu Vicky und nickte. »Dann bist du jetzt dran.« »Ich bin getrampt«, begann Vicky. »Es war April 1975, und das Schuljahr war fast zu Ende.« Ich hatte gerade die Schule ge schmissen, dachte sie und fragte sich dann, weshalb sie es nicht eingestehen wollte. Vielleicht besaß sie noch einen Rest Stolz. »Ich war in Grand Junction, drüben am westlichen Hang. Zwar hatte ich das Geld, aber ich beschloß trotzdem, zurück nach Denver zu trampen, nur einfach so.« Um des Abenteuers willen, dachte sie bei sich. Genau. Das Abenteuer. Sich in der Bar rumzutreiben, in der Mädchen für ein paar Trinkgelder oben ohne tanzten. »Ich habe eine Weile am östlichen Stadtrand gewartet. Es war morgens, und es schienen viel mehr Menschen Richtung Westen nach Junction zu fahren. Schließlich hat mich doch jemand mitge nommen. Ich vermute, ihr könnt euch denken, wer mich aufgele sen hat.« Ein langsames, ernstes Nicken von Kate und Sony a. Dixies Mund zuckte. Carol Anne schaute sie nur nüchtern an. »Er war der charmanteste Mann, dem ich je begegnet war«, er zählte Vicky. Und das gilt noch immer, dachte sie bei sich. »Wir sind fast eine Stunde gefahren, bevor etwas passiert ist.« Sie ver stummte. »Und?« drängte Dixie. »Er ist in einen Feldweg eingebogen — sagte, es würde etwas mit dem Motor nicht stimmen. Es klang wie etwas, das ein Highschool-Casanova sagt, wenn er mit dem anständigsten Mäd chen der Klasse in den Wald fährt.« »Und?« fragte Kate. Vicky holte tief Luft. »Er versuchte, mich zu vergewaltigen. Er 188
hatte ein Messer und Handschellen. Als er versuchte, die Hand schellen um mein Handgelenk zu legen, das ihm am nächsten war, habe ich ihn kräftig in die Hand gebissen. Ich konnte die Tür aufstoßen, und dann war ich draußen.« Es war keine Vergewalti gung, dachte sie bei sich. Es war gegenseitige Verführung. Sie hatte das Messer nie gesehen, obgleich die Handschellen durch aus echt waren. Doch ihre Panik hatte am Höhepunkt ihres Or gasmus begonnen, als sich seine starken Finger um ihre Kehle schlössen. In jenem Moment war sie . . . zurückgeschreckt. War von Feigheit übermannt worden, wie sie sich manchmal selbst er klärte, wenn es ihr wirklich dreckig ging. Jedenfalls hatte sie sich mit einem Tritt von dem Fremden befreit. »Ich bin ins Unterholz gelaufen, wohin er mir mit dem Wagen nicht folgen konnte, und dort habe ich mich versteckt. Nachdem es dunkel geworden war, habe ich immer noch gewartet, bis der Mond auf- und wieder un terging, und dann bin ich zum Highway zurückgelaufen. Ich hatte Glück. Der erste Wagen, der anhielt, war ein State Trooper. Ich denke nicht, daß ich in jener Nacht zu irgend jemand anderem in den Wagen hätte steigen können.« Sonya und Dixie und Kate nickten. Wissend. Dann wollte Dixie sich wieder an Carol Anne wenden. »Tut mir leid, diese Runde aufzulösen«, sagte Vicky hastig, »aber es wird schon spät, und ich bin völlig erschöpft. Wir können uns ja morgen noch weiter unterhalten.« Sie schaute Carol Anne durchdringend an. Die junge Frau verstand diesen Wink mit dem Zaunpfahl. »Ich werde mich jetzt auch verabschieden«, erklärte sie. »Mor gen«, sagte sie zu Dixie. »Ich verspreche es.« Die Schwestern aus Utah beschlossen, noch eine Weile zu blei ben und ihre Sodas auszutrinken, obgleich das Eis in den Gläsern längst geschmolzen war. Dixie machte sich in Richtung Fahrstuhl auf. Carol Anne sagte zu Vicky: »Ich möchte vor dem Zubettgehen noch etwas frische Luft schnappen. Da gibt's eine Art Terrasse draußen, über dem Parkplatz und dem Tal. Willst du mitkom men?« Vicky zögerte, dann nickte sie. »Wie spät ist es?« fragte Carol Anne. Sie gingen durch den Aus gang der Bar hinaus. Der Barkeeper schloß hinter ihnen die Tür ab. 189
»Ich habe keine Uhr«, erwiderte Vicky. »Es ist halb drei«, sagte eine Stimme in dem schummrig er leuchteten Gang. Vicky zuckte zusammen, dann spähte sie in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Sie«, sagte sie. »Der Mann, der mir meine Handtasche zurückgebracht hat. Bobby.« »Bobby Cowell«, erwiderte er. »Zu Ihren Diensten, Ma'am.« Es schwang etwas in seiner Stimme mit, das nicht im geringsten un terwürfig klang. »Immer zu Ihren Diensten.« »Nochmals vielen Dank, Bobby«, sagte Vicky. Sie bemerkte, daß Carol Anne einen Schritt zurückgewichen war. »Haben Sie das Geld gezählt?« fragte Bobby und trat näher. Er hatte einen moschusartigen Geruch. »Ich vertraue Ihnen«, erwiderte Vicky. Und sie tat es. Manch mal überraschte sie sich selbst. Bobby mußte das erkannt haben. Er nickte langsam. »Wenn ich etwas für Sie tun kann, so lange Sie hier sind, irgend etwas ...« Die Stimme des Mannes war sorgsam moduliert, ehrlich. »Nochmals vielen Dank.« Vicky führte Carol Anne an Bobby Cowell vorbei. Der Mann verschwand im Gang. »Ich würde Sie gern näher kennenlernen!« rief er ihnen nach. Vicky beschleunigte ihre Schritte. »Ich glaube, er mag dich«, sagte Carol Anne. »Er ist eher dein Alter«, erwiderte Vicky. Aber sie meinte das nicht ganz ehrlich. »Attraktiver Knabe.« Sie hatte solche Typen schon öfters gesehen. O ja. Carol Anne lachte. Vicky konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal laut lachen gehört zu haben. »Er sieht aus wie ein Junger Republikaner« Sie machte eine Pause. »Und er fährt wahrschein lich einen bronzefarbenen VW.« Carol Anne lachte abermals, doch diesmal klang es hohl. Die beiden Frauen standen an der Brüstung, von der aus man das Platte-Valley überblickte. Der Verkehr unter ihnen auf dem 1-25 war nur schwach. Nach Süden hin konnten sie die gleißend hellen Neonlampen irgendeiner Highway-Baustelle erkennen. Vicky konnte Hitze von Carol Anne herüberstrahlen fühlen. »Weißt du, mir geht die ganze Zeit über etwas im Kopf herum«, sagte Carol Anne. »Und was ist das?« Vicky Blick wurde von den roten Flugzeug 190
warnblinklichtern auf den kaum eine Meile entfernten Wolken kratzern angezogen. »Es ist wirklich kleinmütig, und meine Seele wird wahrschein lich in der Hölle schmoren, weil ich es bloß gedacht habe.« »Laß mal hören.« Vickys Aufmerksamkeit wandte sich augen blicklich wieder der Frau an ihrer Seite zu. »Mein Dad erzählte mir einmal, daß seiner Rechnung nach wohl eine Million Menschen in Woodstock waren.« »Das ist vielleicht etwas übertrieben«, gab Vicky zurück. »Nein, ich meine, eine Menge Leute waren so verliebt in die Idee, dort gewesen zu sein, daß sie sagten, sie wären dort gewe sen, selbst wenn sie es nicht waren. Vielleicht glaubten sie sogar, sie wären dabeigewesen.« »Und du meinst damit dieses Zusammentreffen?« fragte Vicky. »Ich denke, jede hier glaubt, sie hätte durchgemacht, was sie durchgemacht hat.« Plötzlich begann sie, sich tatsächlich er schöpft zu fühlen. Ihr Schädel brummte. »Ich vermute ... Nun, schon gut«, sagte Carol Anne. »Laß mich dir etwas sogar noch Beunruhigenderes erzählen«, hob Vicky an. In der Dunkelheit sah sie, wie sich das bleiche Oval von Carol Annes Gesicht ihr zuwandte. »Hast du schon einmal vom Astronauten-Syndrom gehört?« »Nein«, erwiderte Carol Anne. Es klang verwirrt. »Früher sind Leute auf den Mond geflogen«, erklärte Vicky. »Männer, jedenfalls. Ich habe einmal einen Artikel gelesen, in dem sie Typen interviewt haben, die auf dem Mond spazierenge gangen sind. Weißt du, es war das größte, wichtigste Ereignis ih res gesamten Lebens.« »Und?« fragte Carol Anne, die offensichtlich noch immer nicht verstand, worauf Vicky hinauswollte. »Und sie waren zur Erde zurückgekehrt. Und sie mußten den Rest ihres Lebens damit zubringen, Dinge zu tun, die weit, weit weniger aufregend und wichtig waren. Politik und der Verkauf von Versicherungen und das Schreiben von Büchern waren gar nichts im Vergleich dazu, auf dem Mond spazierengegangen zu sein.« Carol Anne schwieg eine Weile. »Und du meinst also, daß alle hier — ich meine, alle Frauen, die hier zu diesem Treffen kamen —, daß sie auf dem Mond spazierengegangen sind?« »Sie sind alle am Leben geblieben«, sagte Vicky. »Sie haben 191
überlebt. Es wird ihnen nie wieder etwas derart Aufregendes ge schehen.« »Wie steht es mit dir?« fragte Carol Anne. Sie schlug die Hand vor den Mund, so als wolle sie die Worte noch zurückhalten. »Ich passe genau in das Muster«, erwiderte Vicky und versuch te zu lächeln, um die Worte zu mildern. »Ich habe eine ganze Rei he Männer, eine Menge Jobs, einen Ehemann, mehr Männer und mehr trostlose Jobs hinter mir. Niemals wieder ist mir etwas so Außerordentliches passiert.« Sie dachte bei sich, daß es wie eine religiöse Erfahrung klang. Und vielleicht ist es das auch. Carol stieß einen leisen Laut aus, der ein wenig nach einem Seufzen und ein wenig nach einem Schluchzen klang. »Und jetzt«, fuhr Vicky fort. »Wie steht es mit dir? Du bist zu jung für den Mond. Du weißt das, und ich weiß das. Wir haben über sie gesprochen. Nun sind hier nur ich und du. Und meine Geschichte hast du gehört.« Nun, wenigstens den größten Teil, dachte sie bei sich. Carol Anne tastete blind nach Vickys Hand und ergriff sie. Sie umklammerte die Hand fest und schien etwas sagen zu wollen. Es funktionierte nicht. »Ganz ruhig«, beschwichtigte sie Vicky. »Es ist alles in Ord nung.« Sie nahm die jüngere Frau in die Arme. »Es ist alles in Ordnung«, wiederholte sie. »Ich habe ihn nie kennengelernt«, sagte Carol Anne, und ihre Worte wurden von Vickys Schulter gedämpft. »Nicht persönlich. Aber ich glaube, daß er meine Mutter getötet hat.« Sie begann zu weinen. Vicky wiegte sie sanft, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ. »Wir wissen es nicht mit Sicherheit«, erklärte Carol Anne schließlich. »Mein Dad und ich, wir wissen es einfach nicht. Man hat nie irgendwelche Überreste gefunden. Ich war 1975 fünf Jahre alt. Meine Mutter war sehr jung, als sie mich bekam. Weißt du was? Mein Geburtstag ist am 24. Januar. Und neunzehn Jahre lang wußte ich nicht, welche Bedeutung das einmal haben würde. 1989 habe ich zu meinem Geburtstag nur ein Geschenk bekom men. Die Hinrichtung.« Sie lächelte, doch es lag keine Wärme darin. »Damals also. 1975. Es war früher in jenem Winter, in dem du ihm entkommen bist. Wir lebten in Vail und haben den Wagen meiner Mutter auf dem öffentlichen Parkplatz gefunden. Er war 192
unverschlossen, und die Polizei sagte später, daß jemand die Zündkabel herausgezogen hätte. Sie sagten, daß es keine Anzei chen für Gewalt gebe. Sie ist einfach verschwunden. Ich habe sie nie wieder gesehen.« Carol Anne begann abermals zu weinen. »Sie ist nicht einfach davongelaufen, wie manche Leute sagen. Er hat sie sich geholt. Und es gibt keine Überreste.« Nach einer Weile zog Vicky ein sauberes Taschentuch aus ihrer Handtasche. »Also, warum bist du hier?« Es folgte ein langes Schweigen, das erst beendet wurde, als Ca rol Anne sich lautstark die Nase schneuzte. »Ich dachte, daß mir vielleicht irgend etwas, was eine von euch sagt, einen Hinweis ge ben könnte. Über meine Mutter. Ich habe alles gelesen. Ich habe alle Videos gesehen. Wieder und wieder. Ich will einfach nur wis sen, mehr als alles in der Welt, was passiert ist.« Nein, dachte Vicky bei sich, das glaube ich nicht. Sie wußte, was geschehen würde, wenn sie das sagte, aber sie sagte es trotz dem. »Deine Mutter ist tot, Carol Anne. Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Aber du weißt das.« Carol Anne verfiel in ein langes Schluchzen. Sie nahm ein fri sches Taschentuch von Vicky entgegen. »Ich weiß es. Ich weiß das. Ich will einfach nur mehr wissen. Wie es passiert ist. Wer...« »Es genügt, daß du akzeptierst, daß sie nicht wiederkommen wird«, sagte Vicky. »Vielleicht wirst du eines Tages mehr heraus finden.« Sie zögerte. »Das hoffe ich für dich.« »Ich bin zweiundzwanzig«, erklärte Carol Anne. »Seit siebzehn Jahren dreht sich mein gesamtes Leben um diese Sache.« »Hast du... jemanden?« »Mein Vater ist vor fünf Jahren gestorben. Ich habe keinen Freund, wenn du das meinst.« Ihre Stimme klang traurig. »Ich vermute, mit meinem Leben ist kein Staat zu machen.« Ich bin froh, daß du es selbst sagst, dachte Vicky. »Das kommt schon noch«, sagte sie laut. »Aber du mußt diese alte Last hinter dich werfen. Du brauchst es nicht zu vergessen, aber du kannst es langsam verblassen lassen. Deine Schuld ist bezahlt. Glaub mir.« Sag einfach Lebewohl, dachte sie bei sich. Auf Nimmerwiederse hen, und das im Ernst. Sie griff abermals nach Carol Annes Hand. Und dann schickte sie die junge Frau ins Bett. An der Tür zu Carol Annes Zimmer sagte Vicky noch: »Ich treffe dich dann morgen früh. Versuch, etwas zu schlafen.« Carol Anne sah aus, als würde sie ein mutiges Lächeln versu 193
chen. Dann schloß sie die Tür. Vicky hörte, wie sie die Kette vor legte. Ihr eigenes Zimmer lag einen Stock tiefer und am gegenüberlie genden Ende des Flügels. Die Fenster gaben den Ausblick auf den Parkplatz frei. Wenn sie ihren Hals reckte, konnte Vicky die Büro türme mit ihrem blinkenden scharlachroten Signallichtern sehen. Sie knipste das Licht nicht an, als sie das Zimmer betrat. Vicky legte sich angezogen auf das Bett, die Handtasche und die Akten mappe an sich geschmiegt wie kleine Kätzchen. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit, so als könne sie noch immer die Sterne sehen; die strahlenden, funkelnden Sterne über den westlichen Hängen Colorados. Die Sternenkonstellationen des Jahres 1975. Sie fragte sich, ob sich wohl das Mondlicht auf dem geschwungenen Dach eines VW-Käfers spiegeln würde, wenn sie zum Fenster ginge und hinunterblickte. Bobbys VW? Da war etwas an seinem Na men, das an ihr nagte, etwas, an das sie sich nicht richtig erinnern konnte. Sie bemerkte, daß ihre Finger, wie aus eigenem Antrieb, die Aktenmappe öffneten und die gefesselte Barbie-Puppe heraushol ten. Vicky konnte es nicht sehen, doch sie konnte fühlen, wie die strammen Schlingen der Angel in das Vinylfleisch der Puppe schnitten. Sie umklammerte den Talisman und lächelte unsicher. Manche Männer, dachte Vicky bei sich, würden nur Blumen schicken. Doch dann, als die Dunkelheit in jede ihrer Poren und Körperöff nungen eindrang und sie mit Nacht und Trauer erfüllte, dachte sie an Carol Anne und begann zu weinen. Vicky hatte seit langer Zeit nicht mehr geweint. Seit siebzehn Jahren nicht mehr, um genau zu sein. Siebzehn Jahre ohne Leben. Siebzehn Jahre auf der Suche. Wenigstens ist Carol Anne noch jung, dachte sie bei sich. Sie kann von diesem Wochenende nach Hause zurückkehren und ihr Leben neu aufbauen. Sie muß nicht leer bleiben. Und was ist mit mir? überlegte Vicky, bevor sie wütend jegli ches Selbstmitleid aus ihren Gedanken verbannte. Ja, was, in der Tat. Vor siebzehn Jahren. Es war bestimmt das zweitwichtigste Erlebnis ihres Lebens. Das wichtigste würde noch kommen. Vielleicht. Es war seit 1975 auf dem Weg. Und es war im 194
Januar 1989 umgeleitet worden. Nein, das ist es auch nicht, dachte
sie bei sich und spürte die langwährende Verwirrung. Ich will nur
noch einmal auf dem Mond Spazierengehen.
Vicky weinte sich in den Schlaf.
Sie wußte, daß sie träumte, doch das tat der Wirkung keinen Ab bruch. Sie lag noch immer auf ihrem Bett, doch nun war es größer, als sie sich daran erinnern, und weicher, als sie es hoffen konnte. Sie war stramm gefesselt, so fest, daß es ihr unmöglich war, sich zu rühren. Doch das Wichtigste an der Hilflosigkeit war, daß sie nicht län ger Verantwortung für irgend etwas übernehmen mußte. Beinahe wie in einen Kokon in die Angelschnur eingesponnen, konnte sie spüren, wie die Schnur in ihre Haut schnitt, tief in das Fleisch, dünne Einschnitte des Schmerzes, die wie Laser brannten. Der Schmerz, erkannte sie, war eine Gnade, verglichen mit den Jahren der Taubheit. Die Fesseln, die ihren Körper banden, ban den auch ihre Hitze, und nun stieg und stieg die Hitze und durch drang sie vom Kern ihres Fleisches bis zu den äußersten Schichten ihrer Haut. Blut rann aus ihren Mundwinkeln, wo die Schnur so fest hin einschnitt, daß sie ihre Zunge nicht heraus strecken konnte, um es abzulecken. Aber einiges von dem Blut lief trotzdem wieder zu rück. Es war warm und klebrig und salzig. Sie stöhnte und bewegte sich, soweit es ihr ihre Fesseln erlaub ten. Es reichte beinahe. Vicky erwachte verwirrt und starrte orientierungslos auf die Uhr auf dem Nachttisch. Sie vermutete, daß es noch immer eine Stun de bis Sonnenaufgang war. Sie hatte nicht lange geschlafen. Doch sie wollte sich recken, und das tat sie. Ihr Körper fühlte sich leben dig an. Mehr noch, er fühlte sich — sie suchte nach dem treffen den Wort — hoffnungsvoll an. Dann wandte sie den Kopf und schreckte ins Kissen zurück. Bobby Cowell stand am Fußende des Bettes. Seine linke Hand schwang langsam hin und her. Etwas Metallisches glitzerte darin. Ein Generalschlüssel. Vicky versuchte zu sprechen. Er hatte sie im Schlaf beobachtet. Er hatte sie beim Träumen beobachtet. 195
»Es ist da etwas an dir«, sagte er leise. Er lächelte im schummri gen Licht, und seine Zähne schimmerten weiß. Es war kein bewußter Plan. Sie schwang ihre Beine vom Bett, hörte, wie ihre Aktenmappe auf den Teppich rutschte, dann setzte sie sich auf und holte ein-, zweimal tief Luft, um sich gegen das plötzliche Schwindelgefühl zu wehren. Nach einigen Augenblik ken stand sie auf und zögerte. Sollte sie zum Telefon stürzen — oder zur Tür? Bei ihm konnte sie keine andere Waffe außer dem Schlüssel entdecken. »Ich weiß, wer du bist«, sagte Bobby. »Ich weiß alles, was du willst.« Er trat von der Tür weg. Sie konnte fliehen. »Was willst du ?« fragte Vicky. »Eine Spritztour mit dir machen. Es ist noch immer eine wun derbare Nacht. Wir fahren rauf in die Berge.« Alles glich einem Traum. Sie dachte nicht daran, einen Mantel mitzunehmen, doch die tiefe, tiefe Nacht schien gar nicht so kalt zu sein, also spielte es keine Rolle. Sie wartete am Fuß der Treppe auf ihn. »Ich dachte mir, daß du mitkommen würdest«, sagte er leise und ergriff ihren Arm. »Das werde ich«, erwiderte Vicky. Schlief sie noch immer? Alles bewegte sich nur ein ganz kleines bißchen langsamer als in der Realität. Sie verließen das Treppenhaus. »Mein Wagen steht auf dem Parkplatz«, erklärte Bobby. Vicky nickte und legte ihre freie Hand über seine Finger auf ih rem Arm. »Das dachte ich mir schon«, sagte sie. Seine Finger wa ren warm. Die Erregung in ihr war kalt. Sie blickte auf und sah den weit entfernten, untergehenden Mond. Sie gingen an der Terrasse vorbei und wandten sich den Stufen zu, die zum Parkplatz hinabführten. Vicky zögerte den Bruchteil einer Sekunde und starrte zurück über Bobbys Schulter. Sie zö gerte einen Augenblick länger. Am anderen Ende der Plattform stand Carol Anne, der Stadt den Rücken zugekehrt, und starrte zu ihnen herüber. Ihr Ge sicht sausdruck veränderte sich wie ein Kaleidoskop aus Quecksil ber. Vicky glaubte nicht, daß Bobby das Mädchen bemerkt hatte. Vielleicht würde sie Carol Anne morgen früh treffen. Vielleicht nicht. »Komm schon«, sagte Vicky und wandte sich wieder zu den 196
Stufen um. Und am Beginn des endgültigen Abstiegs in die Au ßenwelt dachte sie an den letzten rätselhaften Ausdruck auf Carol Annes Gesicht. Wehmut? Sie hoffte — wünschte von ganzem Herzen —, daß es nur das war. Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann
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LISA TUTTLE
Puppenburger sie angestrengt lauschte, glaubte Karen, sie könnte die Wenn Männer hören, die unten nach den Puppen suchten. Sie wußte zwar nicht, wie sie aussahen, aber sie stellte sie sich als be haarte trollähnliche Wesen mit einem großen geraden Pferdegebiß vor. Sie warf einen Blick auf die Dachbodentür. Alle ihre Puppen waren dort in Sicherheit gebracht. Die Männer würden doch ge wiß nicht nach oben und in ihr Zimmer kommen? Schon allein bei der Vorstellung zog sie sich die Decken ans Kinn, und ihr Körper erstarrte unter der Anstrengung, nicht zu at men. Das Bett war ein sicherer Ort; es war immer eine Zufluchts stätte gewesen, aber sie kannte die Macht und die Grenzen dieser Puppendiebe nicht und konnte nur raten, wie man sich gegen sie schützte. Erst heute morgen hatte sie von ihrem Vater von ihnen erfahren. »Daddy, hast du Kristina gesehen?« »Laß Daddy seine Zeitung lesen, Liebling — er weiß doch gar nicht, welche deiner Puppen Kristina ist«, sagte ihre Mutter, die die Pfannkuchen umdrehte. Daddy tunkte die Scheibe Toast in seinen Kaffee und sah den Toast nachdenklich an, ehe er hineinbiß. Er antwortete mit vollem Mund. »Hast du sie unten liegen lassen?« »Ja — ich glaube schon.« Daddy schüttelte den Kopf. »Das hättest du nicht tun dürfen. Das ist gefährlich. Weißt du denn nicht, was Puppen zustößt, die die ganze Nacht über unten liegen bleiben?« Karen warf einen schnellen Seitenblick auf ihre Mutter. Als sie den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht der Mutter sah, zog Karen skeptisch die Augenbrauen hoch. »Nein«, sagte sie in einem Tonfall, der herausfordernd war. Daddy schüttelte wieder den Kopf und verschlang den letzten Bissen Toast.
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»Tja, wenn du deine Puppe unten liegen läßt, dann mußt du damit rechnen, daß diese Männer, wenn sie kommen und sie su chen ...« »Welche Männer?« Er schien überrascht zu sein, daß sie diese Frage überhaupt stellte. »Natürlich die Männer, die Puppenburger essen.« » Puppenburger? « »Puppenburger — genau wie Hamburger, mit dem Unter schied, daß sie aus Puppen gemacht werden.« »Nein.« »Nein?« »Menschen essen keine Puppen, und Puppenburger sind nichts weiter als winzige Hamburger, wie diejenigen, die Mommy an meinem letzten Geburtstag gemacht hat. Mit denen füttert man die Puppen.« »Aber Puppen essen doch nicht — Menschen essen.« »Man tut eben so«, sagte Karen, die die Geduld mit ihm verlor. Er schüttelte den Kopf. »Mir ist egal, wie man kleine Hamburger nennt, aber zufällig kenne ich mich mit Puppenburgern aus. Die Leute essen sie, und sie werden aus Puppen gemacht. Es gibt Leute, die sie unglaub lich gern essen. Natürlich sind sie gesetzlich verboten. Deshalb müssen diese Leute durch die Gegend schleichen und nach Häu sern suchen, in denen kleine Mädchen vergessen haben, ihre Pup pen in Sicherheit zu bringen. Wenn sie Puppen finden, die einfach rumliegen, dann werfen sie sie in einen Sack, bis sie genug Pup pen gesammelt haben, um sie zu Puppenburgern zu verarbei ten.« »Das hast du dir ausgedacht«, sagte Karen. Ihr Vater zuckte die Achseln. »In diesem Haus gibt es keine Puppenburger. Aber Pfannkuchen. Karen, hol dir deinen Teller, wenn du welche willst.« Plötzlich fiel Karen wieder ein, wo sie Kristina liegen gelassen hatte. Natürlich — gestern abend, ehe sie ins Bett gegangen war, hatten sie und Kristina sich in der Wildnis verirrt und waren in ei ne Höhle gekrochen, um dort die Nacht zu verbringen. Kristina mußte noch in der Höhle sein. »Ich komme gleich«, sagte sie und begab sich zielstrebig ins Wohnzimmer. Der Bridgetisch war die Höhle, aber unter dem Tisch lag keine 199
Puppe. Karen kniete sich hin. Kristina war verschwunden. Neben einem Tischbein schimmerte etwas, und sie hob es auf. Ein blaues Auge schaute sie teilnahmslos an. Auf dem Teppich lagen ein paar rosafarbene Plastikscherben. Kristina? »Karen, willst du jetzt Pfannkuchen essen oder nicht?« »Ich komme gleich«, rief sie und hob jeden kleinsten Splitter sorgsam auf und steckte sie alle in die Tasche. Sie sah noch einmal das Auge an. Kristinas Augen waren blau. Sie steckte das Auge in die Tasche. »Daddy«, fragte sie, während sie Pfannkuchen aß, »diese Leute — die Leute, die Puppenburger essen —, kann es vorkommen, daß sie, du weißt schon, Puppen essen? Ich meine, gleich an Ort und Stelle, sobald sie sie gefunden haben?« Ihr Vater dachte darüber nach. »Ich vermute, manchmal sind sie so ausgehungert, daß sie eine Puppe gleich an Ort und Stelle ver schlingen könnten, sie mit den Zähnen zermalmen«, sagte er. »Man kann nie wissen, was sie tun.« »Ich bin ganz sicher, daß Kristina nicht das Geringste zugesto ßen ist«, sagte ihre Mutter. »Ich helfe dir beim Suchen, wenn ich das Geschirr gespült habe.« Nach dem Frühstück ging Karen in ihr Zimmer und sah sich das Auge und die rosafarbenen Plastiksplitter genau an, die letz ten Überreste von Kristina. Dann war es also wahr, was Daddy über die Leute gesagt hatte, die Puppenburger aßen, und er hatte es sich nicht einfach ausgedacht, wie die Geschichte mit dem Grizzlybär im Kiefernschrank. Karen hatte das Dachzimmer. Zum Aufbewahren ihrer Sachen benutzte sie den Dachboden — untapeziert, mit freiliegenden Dachbalken und mit aussortieren Möbelstücken eingerichtet, mit Kisten voller alter Kleider. Dort bewahrte sie ihre Spielsachen auf, und all ihre Puppen wohnten da. Dorthin brachte sie jetzt Kristi nas Auge. Sie stieg auf einen wackligen Stuhl und versteckte es an einem geheimen Ort — auf einem Deckenbalken. Das war wohl eher angebracht als ein Begräbnis, dachte sie, denn von der armen Kristina war sehr wenig übriggeblieben. Die Puppen beobachteten sie mit festem Blick von ihren Plätzen aus. Karen sah sich nach ihnen allen um, während sie auf dem Stuhl stand, und sie empfand sich als die Herrscherin über all das, worauf sie hinabschaute, als gigantische Königinmutter, die für all diese Babys aus Plastik, Stoff und Gummi verantwortlich war. 200
Barbie mit ihrem harten Gesicht saß wie versteinert neben dem dümmlichen Ken vor ihrem Traumhaus. Aus dem Schlafzimmer im ersten Stock quollen ihre Kleider heraus. Zwei nackte Teenager (Barbies Freunde) rekelten sich in der Küche. Die Brautpuppe hatte ihren Platz neben Prinzessin Katherine, wo sie schon seit Monaten ungestört saß. Sie hatte Staub im Haar, und die Schultern ihres weißen Kleides sahen schmutzig aus. Prinzessin Katherines Krone war verbogen, ihr grünes Kleid flek kig, und der untere Teil ihres rechten Beines war mit Pflaster und Klebeband am oberen Teil des Beins befestigt. Lumpen-Ann, Lumpen-Andy, Tante Jemima und der Teddybär lümmelten sich alle auf dem Schaukelstuhl. Die sprechenden Pup pen Elizabeth, Jane und Tina saßen grimmig schweigend da. Die Babypuppen waren in eine Wiege gelegt worden, in der sie wie Maden lagen. Die haarlose, beinlose Susan war behutsam einge hüllt und in der blauen Plastiktragetasche verstaut worden. Karen schaute auf die alte Kommode, auf der Kristina immer mit Beverly gesessen hatte. Jetzt saß Beverly allein da. Karen spürte die Tränen in ihre Augen steigen: Kristina war ihr Liebling gewesen. Plötzlich fühlte sie sich unwohl, als sie auf dem Stuhl stand und über ihre Puppen blic kte, denn sie hatte das Gefühl, daß sie ihr die Schuld an Kristinas Verschwinden gaben. Sie fühlte sich schuldbewußt, ihr Magen schnürte sich zusam men, und sie glaubte, in den stillen starrenden Gesichtern eine grimmige Anklage zu lesen. »Die arme Kristina«, sagte sie. »Wenn mich doch nur jemand gewarnt hätte.« Sie stieg von ihrem Thron und schüttelte traurig den Kopf. »Wenn Daddy es mir doch bloß eher gesagt hätte — dann hätte ich sie beschützen können. Wenn ich daran denke, wie oft ich mehrere von euch draußen liegen gelassen habe — aber jetzt, da ich es weiß, werde ich bestimmt gut auf euch aufpas sen.« Sie sah der Reihe nach alle Puppen an, deren Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte, und plötzlich wurde die Stille des Dachbodens bedrückend. Louisa, Karens beste Freundin, rief am Nachmittag an. »Du und Kristina, hättet ihr vielleicht Lust, zum Tee zu mir und Isabella zu kommen?« fragte sie mit ihrer vornehmsten, damenhaftesten Stimme. Karen schlug einen ähnlichen Tonfall an, um zu erwidern: 201
»Ach, meine Liebe, ich täte es nur zu gern, aber Kristina ist ent führt worden.« »Wie furchtbar, meine Liebe.« »Ja, das ist es wirklich, meine Liebe, aber ich glaube, ich werde meine andere Tochter mitbringen. Elizabeth.« »Sehr gut. Dann sehen wir uns in ein paar Minuten. Tschüß chen.« »Tschüßchen, meine Liebe.« Elizabeth war eine der sprechenden Puppen und immer ihr Liebling gewesen, bis sie Kristina mit dem goldenen Haar als Ge burtstagsgeschenk bekommen hatte. Louisas kleine Schwester Anne und ihre Flickenpuppe Sallylou waren die anderen geladenen Gäste beim Tee, und sie wurden von Louisa und Karen mit einer Spur von Verachtung behandelt, weil es ihnen sehr an den gesellschaftlichen Umgangsformen mangelte. »Warum läßt du Elizabeth nicht ihr eigenes Biskuit essen?« fragte Anne, als Karen ein winziges Stück abbiß. Elizabeth hatte das Biskuit höflich abgelehnt. »Sei still, du Dummkopf«, sagte Louisa, die ihre Rolle vergaß. »Puppen essen keine Biskuits.« »Doch, das tun sie.« »Nein, das tun sie nicht.« »O doch.« »Nein, eben nicht.« »Und wenn sie es nicht tun, was essen sie dann?« »Nichts.« »Künstliches Essen«, räumte Karen ein. »Sie müssen künstli ches Essen essen, weil sie nur künstliche Zähne und künstliche Bäuche haben.« Anne schüttelte den Kopf. »Sallylou hat echte Zähne, und des halb muß sie richtiges Essen essen.« »O nein, das tut sie nicht«, sagte Louisa. »Du tust nichts weiter, als ihr Biskuit ins Gesicht zu schmieren, bis sie voll mit Krümeln ist. Zeig mir ihre Zähne, wenn sie welche hat.« »Das geht nic ht, weil ihr Mund geschlossen ist«, sagte Anne selbstgefällig. »Du bist einfach blöd.« Später, als sie allein miteinander waren, erzählte Karen Louisa, was Kristina zugestoßen war, und sie beobachtete, wie ihre 202
Freundin große Augen bekam. Das war keine erfundene Ge schichte: Sie war wahr und betraf sie unmittelbar, und der Beweis dafür war das blaue Auge, das auf einer dicken Staubschicht lag und unaufhörlich das Dach anstarrte. Karens Ohren schmerzten von der Anstrengung, Bewegungen im unteren Stockwerk zu hören. Sie lag immer ganz oben im Haus wach und spürte, wie die Stille und der Schlaf das Haus von un ten her einhüllten, bis die Stille endlich bei ihr angekommen war und sie auch einschlief. Aber jetzt spannte sie sich bei jedem fer nen Knarzen von Brettern und bei jedem Gluckern in den Rohren an und lauschte angestrengt. Natürlich hatte sie keine Puppen un ten liegen lassen, aber was war, wenn diese Männer sich nicht von der Treppe abschrecken ließen, sondern vom Geruch der Puppen oben im Dachboden angelockt wurden? Sie dachte an Louisa, die auf der anderen Straßenseite wohnte, und sie fragte sich, ob sie wohl auch wachlag und lauschte. Louisa hatte alle ihre Puppen unter das Bett gelegt, der sicherste Ort, der ihr eingefallen war, das wußte sie. Karen dachte plötzlich an ihre eigenen Puppen, die sich noch mehr fürchteten als sie und außer sich vor Angst auf dem dunklen Dachboden saßen, auf die Geräusche horchten und sich fragten, ob die nächste knarzende Bodendiele bedeuten würde, daß sich ein dunkler Sack über ihre Köpfe stülpte und sie als Einlage für Puppenburger bestimmt waren. Es war ihre Pflicht, sie zu be schützen. Barfuß lief sie zur Dachbodentür, und der Vollmond, der durch das Fenster schien, wies ihr den Weg. Sie öffnete die Dachboden tür, und glaubte zu hören, daß sich auf dem Dachboden etwas regte, als sei eine Puppe runtergeworfen worden. Sie mußte mehrere Schritte weit in den Raum hineingehen, da mit sie die Lichtschnur erreichen konnte. Dabei stießen ihre nack ten Füße gegen etwas, und als das Licht anging, schaute sie nach unten, um zu sehen, was es war. Die arme haarlose, beinlose Susan lag nackt auf dem Fußboden, und Karen bemerkte sofort, daß Susan jetzt nicht nur ohne Beine, sondern auch ohne Arme war. Als sie sie aufhob, fielen kleine ro safarbene Plastikscherben von den Armstümpfen. Karen verspürte eine nahezu lähmende Angst. Sie waren hier oben, irgendwo auf dem Dachboden, ohne an ihrem Bett vorbei 203
gekommen zu sein, und sie hatten bereits mit ihrer hilflosesten Puppe begonnen. Sie preßte Susan an sich und hielt sie fest, wäh rend sie alle anderen Puppen einzusammeln begann. Sie hob den Saum ihres Nachthemds und legte die Puppen hinein. Sie waren im Raum verteilt, als seien sie herumgeworfen worden, und keine von ihnen saß an ihrem richtigen Platz. Barbie lag auf dem Fußbo den. Ken saß mit Lumpen-Andy und der Braut auf dem Schaukel stuhl. Jedes Mal, wenn sie sich bückte, um wieder eine Puppe auf zuheben, war sie sicher, daß sie das gedämpfte Atmen der hungri gen Puppenfresser hören und ihren Blick auf ihrem Rücken spü ren konnte. Sie fing an zu beten, und sie flüsterte vor sich hin und dachte: »Oh, bitte, bitte, oh, bitte.« Endlich hatte sie alle Puppen aufgesammelt und wankte zur Tür, schloß sie ab und ließ das Licht auf dem Dachboden brennen. Zur Sicherheit schob sie ihren Stuhl vor die Tür. Dann ging sie zum Bett, legte alle Puppen um sich herum und legte sich dann zwischen sie, und als sie einschlief, war sie von den harten, kleinen Körpern eingezwängt. Sie mochte geträumt haben, aber sie wachte nicht auf, als sie im Lauf der Nacht näher zu ihr heranrückten, und sie sah die Plastik krumen nicht, die aus Elizabeths offenem hungrigem Mund fie len. Aus dem Amerikanischen von Michael Becker
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STEVE RASNIC TEM
Vorbereitung auf das Spiel ist der Tag des großen Spiels. Er hat eine Verabredung mit Eseinem Mädchen, oh, ein wunderschönes junges Mädchen — Mitglied einer der führenden Studentinnenverbindungen auf dem Campus, kastanienbraunes Haar, Parfüm hinter den Ohren und im Dekollete, ein Köder für seine junge rote Alkoholikernase. Konnte es bessere Zeiten geben? Sicher nicht. Nicht, wenn er mit einem solch hübschen Mäd chen verabredet ist, seine erste Verabredung seit Monaten, nicht, wenn sie mit dem Präsidenten seiner Studentenverbindung, der zufällig mit der besten Freundin seines wunderschönen Mäd chens ging, zusammen einen draufmachen würden. Es ging aufwärts für ihn, ganz sicher. Sie halten vor seiner Wohnung. »Ich brauche nur eine Minute«, sagt er fröhlich. Nur kurz umziehen. Seinen Wimpel holen. Sei nen Flachmann. Als er ausgestiegen ist aus dem Wagen, blickt er zurück auf ihr gefrorenes Lächeln. Der Verbindungspräsident kratzt sich an seinen Wollhosen. Die beste Freundin seines wun derschönen Mädchens reibt sich geistesabwesend die Wangen. Er greift in den Wagen und zieht die Hand seines wunderschönen Mädchens aus ihrem Pelzmuff. Und packt Skelettruten aus Kno chen, feingliedrigen Handwurzel- und Mittelhandknochen. Aber nein. Es ist nur die Wirkung von dünner Winterluft auf Haut. Er blickt hinab auf ihre kleine, schmale Hand mit ihrem bleichen, weißen Fleisch. So zart. »Es wird ein großartiges Spiel werden!« ruft er, während er die Stufen zu seiner Wohnung hinaufläuft. In seiner Wohnung durchforstet er die Kleiderberge. Was soll er nur anziehen? Er greift nach seiner karierten grauen Hose, wirft sie hinter sich auf die Couch. Er nimmt das dunkelblaue Poloshirt mit dem Monogramm und wirft es auf den Kühlschrank. Er stol pert durch die Berge von Büchern, Müll und ungerahmten Druk ken mit aufgerollten Rändern hindurch. Was soll er nur anziehen?
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Er ist sich einer Skeletthand bewußt, die auf dem Knauf der Wohnungstür ruht. Ohne aufzublicken, erklärt er ihr: »Ich habe keine Zeit. Ich komme zu spät zum Spiel.« Plötzlich wird ihm bewußt, daß dies das erste Mal ist, daß je mand ihn in seiner Wohnung besucht. Dennoch erklärt er ihr: »Ich habe einfach keine Zeit dafür — ich darf nicht zu spät zum Spiel kommen.« Sie gleitet um den Türrah men herum; ihr kurzes rotes Kleid spannt sich eng über ihren aus gezehrten Körper, und sie hat ihre dürren Hände zu festen Fäu sten geballt. Plötzlich kommt ihm der Gedanke, daß sie es vielleicht darauf abgesehen hat, ihm den Spaß zu verderben. Er dreht sich um, wobei er so tut, als wäre sie gar nicht da; nimmt eine Nehru-Jacke hoch und wirft sie wieder weg; nimmt seinen leuchtend roten Rollkragenpullover hoch und läßt ihn wie der auf den Couchtisch fallen. »Ich habe keine Zeit, ich habe keine Zeit«, fleht er leise, dann stumm. Sie tritt zu ihm, und ihre Augen gleichen zwei dunklen Steinen. Er weicht ihr ungelenk aus und stolpert dabei über einen Berg von Schuhen. Sie schwenkt die Kante einer gewölbten Hand auf sein Gesicht zu. Er macht eilig einen Schritt nach rechts; sein Blick ist abge wendet, während er weiter nach etwas sucht, das er zum Spiel tragen kann. Ihr Schlag verfehlt ihn. Was will sie von ihm? Warum läßt sie ihn nicht in Ruhe? Nun ist er gezwungen, sie anzusehen. Sie hat ihn am Ende der kleinen Frühstücksbar in die Enge getrieben. »Ich werde zum Spiel zu spät kommen«, wiederholt er, beinahe weinend. Ihr schwarzes Haar ist speckig und klebt an ihrem Schädel. Er entflieht ihr, indem er an seinem Fernseher vorbei schlüpft. Etwas Metallisches schimmert in ihrer sich bewegenden Hand. Sie zerschlägt den Bildschirm. »Ich werde zu spät kommen«, wimmert er. Sie tritt näher an ihn heran. Er spürt eine Andeutung von verwesendem Fleisch unter ihren aufgesprungenen, bläuli chen Lippen. Das Blut steigt in ihre Wangen und ihre Augen und verleiht ih nen eine leicht rosa Färbung. Sie schwenkt ihre Hände hin und her, wie in Zeitlupe. Und dennoch versucht er weiterhin, sie zu ignorieren. Er zieht seinen Wintermantel über, den dunkelbraunen mit dem kontra 206
stierenden hellbraunen Muster. Er wickelt sich seinen leuchtend orangefarbenen Schal um den Hals, immer noch sich von ihr ent fernend, während er die Falten des dicken Schals so richtet, daß sie sich im ästhetisch angenehmsten Winkel um seinen Hals le gen; und noch immer folgt sie ihm, schlägt mit den Händen nach ihm, verfehlt ihn, und abermals stolpert er, ganz leicht, bis er sich wieder fängt. Seine Schritte werden schneller. Er versucht, seine Bewegungen unvorhersehbar zu machen. Er spricht es schnell vor sich hin, eine Zauberformel, ein Gebet: »Ich darf nicht zu spät zum Spiel kommen. Ich darf es nicht« Wieder kann er aus dem Augenwinkel sehen, wie sie sich nä hert. Er geht mit schnellen Schritten umher, noch immer nach sei ner Zuschauerkleidung suchend, dann hält er kurz inne, und sein Blick ist geistesabwesend. Sie geht um die niedrige Couch herum, ist jetzt direkt hinter ihm und greift nach seinem Mantel. »Ich darf nicht zu spät kommen, ich darf nicht zu spät kommen«, murmelt er vor sich hin und entscheidet unvermittelt, lieber auf die ange messene Kleidung zu verzichten und jetzt, auf der Stelle, zu ge hen. Denn wäre es nicht ein sträflicheres Vergehen, wenn der Prä sident seiner Verbindung seinetwegen zu spät zum Spiel kommen würde, ganz zu schweigen von dem wunderschönen Mädchen und ihrer besten Freundin? Er eilt, ja läuft fast zur Tür hinüber und reißt sie auf, während sie sich im selben Moment ein letztes Mal entschlossen auf ihn zu stürzen versucht. Er hört das leise Klappern ihrer Fingerknöchel oder, vielleicht, ihrer Wangenknochen, als sie gegen die Tür schla gen, während er die Stufen hinunterläuft und seine schlecht sit zenden Hosen hochzieht, sein Hemd in den Bund stopft und mit nervösen Händen an seiner unpassenden Kleidung herumzupft. Am Bordstein bleibt er bestürzt stehen. Der Wagen mit dem Präsidenten und den beiden hübschen Mädchen darin ist ver schwunden. Das Stadion ist Meilen entfernt; er wird es niemals rechtzeitig dorthin schaffen. Was werden sie nur alle von ihm denken? Er setzt sich auf die Bordsteinkante. Das Geräusch von Schritten auf der Treppe hinter ihm wird lauter. Wochenlang war er unfähig, seine Wohnung zu verlassen. Er schläft mehrere Tage hintereinander, und seine wachen Momente sind so kurz, daß sie ihm wie Träume erscheinen. Abendessen gibt es um zwei Uhr in der Früh, Frühstück zwölf Stunden später. 207
Er wirft den Müll in einen Pappkarton unter dem Spülbecken in der Küche. In der Dämmerung eines Tages erinnert er sich, daß er für eben diesen Tag eine Verabredung hat. Sie gehen alle zu dem großen Spiel. Er, sein wunderschönes junges Mädchen, ihre beste Freun din und der Präsident seiner Studentenverbindung, mit dem er sich noch nie wirklich unterhalten hat und den er vermutlich im mer noch nicht kennengelernt hätte, wenn die beiden wunder schönen jungen Mädchen nicht so gute Freundinnen wären. Wie spät ist es? Er wird zu spät kommen. Das Telefon klingelt. Wieder einmal seine Eltern? Auch wenn er sich nicht ganz entscheiden kann, nicht an den Apparat zu gehen, so scharrt er es dennoch nicht, den Anruf entgegenzunehmen, denn das Klingeln hört schließlich auf. Er durchwühlt Kleiderberge, auf der Suche nach dem einzigen passenden Aufzug für seinen Ausflug nach draußen, zum Spiel. Er muß auf die Toilette, aber da er die knapp zehn Meter zum Klo draußen auf dem Gang nicht laufen möchte, geht er hinüber zum Spülbecken und uriniert dort hinein. Er ist sich einer Skeletthand bewußt, die auf dem Knauf der Wohnungstür ruht. Ohne sich umzudrehen, erklärt er ihr: »Ich habe keine Zeit. Ich komme zu spät zum Spiel.« Plötzlich wird ihm bewußt, daß dies das erste Mal ist, daß je mand ihn in seiner Wohnung besucht. Dennoch erklärt er ihr: »Ich habe einfach keine Zeit dafür. Ich darf nicht zu spät zum Spiel kommen.« Sie gleitet um den Türrahmen herum. Ihr kurzes rotes Kleid spannt sich eng über ihren ausgezehrten Körper, und sie hat ihre dürren Hände zu festen Fäusten geballt. Es wird ihm bewußt, daß er sie schon einmal gesehen hat, bei. einer der Partys seiner Studentenverbindung. Sie tanzte mit Bob, oder mit Tom. Vielleicht tanzte sie sogar mit dem Präsidenten. Es wird ihm bewußt, daß vielleicht sogar er an jenem Abend mit ihr tanzte. Er kann sich nicht an ihren Namen erinnern. Sie nähert sich ihm langsam mit ausgestreckten Armen. Er stol pert rückwärts über die Couch. Abermals klingelt das Telefon. »Ich darf nicht zu spät zum Spiel kommen!« fleht er sie an. Das Telefon hört auf zu klingeln. Draußen plärrt eine Hupe. Es 208
muß der Präsident seiner Studentenverbindung sein, sein wun derschönes Mädchen und dessen beste Freundin. Er vergißt seine guten Klamotten und stürzt zur Tür. »Ich darf nicht zu spät zum Spiel kommen!« schreit er nunmehr. Er kann ihre schneller wer denden Schritte hinter sich hören. Am Bordstein bleibt er stehen und schaut sich verwirrt um. Der Wagen ist verschwunden. Er wird es niemals rechtzeitig schaffen. Plötzlich wird ihm bewußt, daß er nackt ist: seine Beine erschrek ken ihn mit ihrer kreidigen Weißheit. Was werden sie nur alle von ihm denken? Er schaut an sich hinunter und bemerkt, daß seine Füße nackt sind und von dem zerbrochenen Glas auf der Straße bluten. Er hetzt die Straße entlang. Er denkt sich, wenn er nur den rich tigen Bus finden kann, schafft er es noch rechtzeitig zum Spiel. »Ich darf nicht zu spät kommen«, murmelt er, dann packt ihn Ver legenheit und Sorge, weil er denkt, irgendein Passant könnte ge hört haben, wie er mit sich selbst redet und ihn für sonderbar hal ten. Seine schweren Mantelschöße, dunkelbraun mit kontrastierendem hellbraunem Muster, flattern im Wind. Sein leuchtend oran gefarbener Schal hängt lose um seinen Hals und lockert sich beim Laufen immer mehr. Seine Hände greifen nach dem Stoff und ver suchen, seine gepflegte äußere Erscheinung zu bewahren. Gelegentlich schaut er sich um, um zu sehen, ob sie ihm noch folgt. Kleine Hunde knurren zu seinen Füßen. Vor sich vermeint er den Hintereingang zum Busbahnhof zu er kennen, einem hohen weißgetünchten Gebäude mit einem blauen Dach. Doch er kann sich nicht erinnern, welcher Bus zum Stadion fährt. Er hetzt die rückwärtige Treppe hinauf und sucht nach Informa tionen. Er stößt eine Stahltür im ersten Stock auf, wendet sich nach links und reißt eine Holztür auf. Und er ist wieder in seiner eigenen Wohnung, mit dem unge machten Bett, der verstreuten Kleidung und dem süßlichen, fauli gen Gestank von Müll unter dem Spülbecken. Sie hat auf ihn gewartet, hält sein kleines Pfadfinderbeil fest mit ihrer Hand umklammert. »Ich darf nicht zu spät kommen«, beginnt er zu wimmern, dann verstummt er. Er kann seine eigene Stimme nicht hören. Sie kommt jetzt auf ihn zu, das Beil leicht er hoben. 209
Es fällt ihm schwer, sich zu bewegen. Wie lautet noch ihr Name? Er sitzt in dem Restaurant gegenüber seiner Wohnung und nippt an seinem Morgenkaffee. Heute ist das große Spiel, und er wartet nun darauf, daß der Präsident mit seinem neuen Chevy und ihren beiden wunderschönen jungen Mädchen kommt. Er kennt den Präsidenten nicht gut, doch er hofft, daß sich das bald ändern wird. Er trägt seine allerbesten Klamotten: seinen braunen Win termantel mit dem hellbraunen Muster, seinen orangefarbenen Schal und seine dunklen Schuhe aus Alligatorenleder mit den kleinen Quasten. Sie werden in einer Stunde hier sein, denkt er zufrieden bei sich und bereitet sich darauf vor, vor dem Spiel noch ein gemütliches Frühstück zu sich zu nehmen. Doch dann fällt sein Blick auf die Uhr; Stunden sind vergangen, das Spiel hat längst begonnen, ist mittlerweile halb vorbei, schießt es ihm durch den Sinn. Er stürzt aus dem Restaurant und schaut sich verzweifelt auf der Straße um. Kein Anzeichen von irgend welchen Autos. Plötzlich denkt er an all die Zeiten, an denen man ihn vergessen hat, die Zeiten, wo er auf dem Spielplatz zurückge lassen wurde, die Schulpartys, die er verpaßt hatte. Aber sie müs sen vorbeigekommen sein und Stunden gewartet haben, denkt er bei sich, und irgendwie hatte er nicht gemerkt, daß sie dort drau ßen waren. Schließlich war ihnen keine andere Wahl geblieben, als wegzufahren; sie konnten ja nicht zu spät zum Spiel kom men. Er überquert die Straße und steigt die schmale Treppe zu seiner Wohnung im zweiten Stock hinauf. Als er die Tür öffnet, sieht er sie steif auf seiner Couch sitzen, die Hände im Schoß gefaltet. Ihr schwarzes Haar ist speckig und klebt an ihrem Schädel. Er spürt nur eine Andeutung von verwesendem Fleisch unter ihren aufgesprungenen, bläulichen Lippen. Er vermeint, sie zu erkennen. Der Präsident hatte sie zur Initia tionsnacht mit ins Haus gebracht. Nachdem sie mit verbundenen Augen in einer Badewanne voller Pudding nach geschälten Bana nen getaucht waren, nach den Nase-an-Anus-Furzwettbewerben, nach den harten Schlägen mit dem Paddel und dem Leuchtpetro leum, das ihnen in den Schoß gekippt wurde, waren sie einer nach dem anderen in ihr Zimmer geführt worden. Sie war bleich und still gewesen, ihre hohen Wangenknochen gerötet im 210
schummrigen Licht, und jeder von ihnen hatte sie gefickt, jeder für ein, zwei Minuten. Ihre Nase ist die ganze Zeit gelaufen, erinnert er sich. Sie erhebt sich vom Sofa und nähert sich ihm. Leuchtend rote Narben ziehen sich im Zickzack über ihre Handgelenke und Un terarme. Er schaut sich im Zimmer um und sucht nach etwas Nettem, das er zum Spiel anziehen kann, während er so tut, als wäre sie überhaupt nicht da. Sein Blick bleibt an einem Berg schmutziger Unterwäsche neben der Couch hängen. Er kann sie nicht riechen, doch er stellt sich den leichenartigen Geruch vor, wie von einem Haufen toter weißer Kanalratten. Plötzlich hat er Angst, daß sie die Wäsche vielleicht gesehen haben könnte. Er starrt sie aufge regt an, während sie ihre Arme nach ihm ausstreckt. Ein tiefes Gefühl der Peinlichkeit erfüllt ihn. Nach etlichen Blocks angestrengten Laufens schafft er es schließ lich zum Bus und springt auf die unterste Stufe, während der Fah rer im selben Moment hinter ihm die Türen schließt. Der Fahrer schenkt ihm keine Aufmerksamkeit, als er eine Münze in die Me tallbox fallen läßt. Er fragt sich einen Moment lang, ob er wohl da mit durchgekommen wäre, nicht zu bezahlen, so angestrengt be obachtet der Fahrer irgend etwas vor dem Bus. Etwas außer Atem, marschiert er zur Mitte des Busses und setzt sich auf einen Sitz nahe der Seitentür, damit er hinausstürmen kann, sobald sie das Stadion erreichen. Es befindet sich ein halbes Dutzend Fahrgäste im Bus, alle von ihnen alt, still und recht unansehnlich. Ein alter Mann hat ein gro ßes purpurnes Brandmal, das die ganze Seite seines Gesichts be deckt; warzenähnliche Geschwülste, ebenfalls dunkel purpur, übersäen das Fleisch unter seinem rechten Auge. Plötzlich be merkt er, daß er die Geräusche des Verkehrs draußen nicht hören kann. Als der Bus anhält, springt er aus der Tür, und einen Moment lang folgt ihm die Illusion der Geräuschlosigkeit hinaus auf die Straße. Als der Verkehrslärm zurückkehrt, starrt er an einem weißgetünchten Gebäude mit einem blauen Dach hinauf, seinem Mietshaus. Er macht sich daran, die Stufen zu seiner Wohnung im zehnten Stock zu erklimmen. 211
Drei seiner Verbindungsbrüder holen ihn in dem Restaurant ge genüber seines Mietshauses ab. Er hat gerade ein gemütliches Frühstück mit Kaffee, Cornflakes und Eiern hinter sich, die Kell nerin war hübsch und hat viel gelächelt, und er ist nun bereit, viel Spaß bei dem heutigen großen Spiel zu haben. Als er in den Wagen, einen neuen Chevy, steigt, loben seine drei Verbindungsbrüder seinen Kleidergeschmack, den braunen Wintermantel mit dem hellbraunen Muster und den orangefarbe nen Schal. Sie machen einige Witze, klopfen einander auf die Schulter und ziehen mit qualmenden Reifen aus der Parklücke auf die Fahrbahn. Seine Freunde fragen ihn, ob er einen Schluck aus ihrem Flach mann haben möchte. Er erwidert: »Nein, danke, ich habe meinen eigenen dabei.« Doch als er in seine hintere Tasche greift, entdeckt er, daß der Flachmann nicht mehr da ist, daß er zweifellos irgendwann in der Eile, pünktlich zu sein, herausgefallen ist, also ja, er würde gern einen kleinen Schluck trinken. Er hebt die kleine Flasche hoch über seine Lippen und gießt den warmen gelben Schnaps in seinen Mund. Einige Tropfen spritzen auf seinen orangefarbenen Schal. Panik durchflutet ihn, und er verspürt den Drang, sie sofort wegzuwischen, bevor sie den wun derschönen Stoff beflecken können, doch aus irgendeinem Grund ist er außerstande dazu. Er trinkt, endlos, wie es scheint. Er trinkt. Die Brüder singen alte Verbindungs- und Collegelieder, zwi schen denen sie etliche Geschichten des Verbindungslebens aus tauschen. Die Werbung neuer Kandidaten. Die Initiationsnacht und den Spaß, den sie damals hatten. Daß alle Mädchen auf Ver bindungsjacken fliegen. Der dumme Fuchs, der beinahe erstickt wäre, als ein anderthalb Meter tiefes Grab, in das sie ihn zum Spaß gelegt hatten, über ihm einstürzte. Das Picheln von >Purple Jesuses<: Wodka, Rum, Trauben-, Orangen- und Limonensaft. Die Nacht, in der sie ein Schwein gefangen hatten, es schlugen, traten und über den Parkplatz schleiften, es an der Schnauze aufhängten und dann schließlich in der Badewanne ersäuften. Er erinnert sich an seinen alten Kumpan, einen Fuchs seines Jahrgangs, ein fetter Knabe, den niemand sonst mochte. Am Tag vor der Initiation hatten sie ihn zehn Meilen weit hinauf in die Berge gefahren. Seit dem hat er ihn nicht mehr gesehen. Die Verbindungsbrüder fahren einen neuen Weg zum Stadion, einen, den er noch nie zuvor gefahren ist. Der Weg schlängelt sich 212
ins freie Gelände, durch kleine Wäldchen, zwischen Feldern hin durch und an kleinen Farmen vorbei. Einen Moment lang über mannt ihn ein unbehagliches Gefühl, übermannt ihn die Sorge, sie hätten vor, ihn hier draußen auszusetzen, so daß er es niemals rechtzeitig zum Spiel schaffen würde. Als der Wagen eine langgezogene Biegung mitten in einem Wäldchen umrundet, wird er langsamer. Die Brüder halten den Wagen an, und der Fahrer läßt den Motor aufheulen. Sie starren auf die knapp dreißig Meter entfernte, ein Stück unterhalb von ih nen liegende Lichtung. Auf einem Baumstumpf neben der Straße liegt eine Leiche, mit dem Gesicht nach oben, so daß Rücken und Rumpf auf der fla chen Schnittfläche ruhen. Das rote Kleid ist zerrissen und mit Wasserflecken übersät. Der Fahrer grölt nach Leibeskräften, die anderen beiden Brüder stimmen mit ein. Sie hören sich an wie Kojoten. Der Wagen schießt nach vorn, direkt auf den Baumstumpf zu. Der Bruder am Beifahrerseitenfenster holt eine kleine Pistole aus dem Hand schuhfach. Während der Wagen unvermittelt im Bogen um den Baumstumpf schwenkt, schießt der Bruder zwei Kugeln in den Torso der Leiche. Er kann Dutzende von anderen Einschußlöchern und aufgefetz te Stellen in der Haut der Leiche sehen. Ebenso bemerkt er, daß es auch ein Mann sein könnte, oder eine Frau mit kurzen Haaren. Mittlerweile ist die Leiche jedoch völlig geschlechtslos. Als der Wagen mit seinen lachenden und grölenden Brüdern aus dem Wäldchen hinausrast, blickt er zurück zur Lichtung. Er kann sehen, daß sich in der Ferne ein weiterer Wagen nähert und vermeint zu erkennen, daß sich die Leiche bewegt, sich aufzuset zen versucht; seine Beine erstarren bei dem Gedanken. Er weiß, wenn er jetzt bei dem Stumpf stehen würde, und wenn sich die Leiche tatsächlich aufsetzen sollte, dann würde er vermutlich nicht in der Lage sein, seine Beine zu bewegen. Er wäre unfähig, davonzulaufen. Doch dann erkennt er, daß das alles nur seine Einbildung ist, daß es der Wind ist, der die wenigen übriggeblie benen Stoffetzen an der Leiche bewegt, daß sie sich nicht aufset zen wird. Er sieht im Fenster des anderen Wagens eine Pistole auftau chen, bereit, weitere Kugeln in die Leiche zu schießen. Wie ein Straßenschild, denkt er bei sich. 213
Er vermutet, daß es kaum mehr eine Viertelstunde bis zum An pfiff ist. Draußen vor dem Stadion stolpert er und fällt in den Kies. Er wird den Anpfiff verpassen, und dabei war er schon so nah dran. Er hatte Glück gehabt, den Bus zu erwischen; um genau zu sein, hat te er ihn vom Straßenrand aus herangewinkt. Er ist besorgt wegen der Frau in seiner Wohnung, die vermutlich gerade damit beschäf tigt ist, seine verstreuten Kleidungsstücke und sein unordentli ches Zimmer zu betrachten. Er ist besorgt wegen seiner zerrisse nen braunen Hose, seiner abgeschabten Schuhe aus Alligatoren leder. Er ist besorgt über die Leiche auf dem Baumstumpf und we gen der Tatsache, daß er zweifellos den Anpfiff verpassen wird. Als er sich dem Stadioneingang nähert, läuft er seinen Eltern in die Arme. Sie sehen so alt aus. Sein alter Vater, dessen runzlige Lippen es nicht schaffen, den Speichel aufzufangen, der beim Sprechen aus seinem Mund tropft, fleht ihn an und fragt, warum er nicht ans Telefon gegangen wäre. Seine gealterte Mutter nickt geistesabwesend, während sie leise vor sich hin singt. Sein Vater packt ihn am Arm, zieht ihn verschwörerisch näher und flüstert heiser: »Deine Mutter... sie ist nicht mehr dieselbe, und geh dort nicht hinein. Bei meinem ersten Mal... unten bei ei nem der Verbindungshäuser der Studentinnen. Sie hat mich in die Büsche gezerrt... mir den Reißverschluß aufgemacht, ihn sich selbst reingesteckt... war schrecklich, wie 'ne glühendheiße Pfan ne da drinnen ...« Er löst sich aus dem Griff des alten Mannes und drängt sich an seiner Mutter vorbei, immer auf der Suche nach dem Eingang zum Stadion, sieht aber nichts außer glatten Kalksteinmauern. Wo ist der Eingang? Er wird noch zu spät kommen. Sein wunderschönes junges Mädchen wartet dort drinnen auf ihn, die knochigen Finger um einen Pappbecher voller Bier gelegt. Als er das Stadion betritt, sind es noch wenige Minuten bis zur Halbzeit. Es ist ein langer Weg gewesen. Die Menge scheint selt sam still, so als würden sie bei einem packenden Schachspiel zu schauen. Doch er hat seine Eintrittskarten vergessen, nun weiß er das, und er weiß auch, daß er nicht in der Lage sein wird, das Spiel an zuschauen. Er läßt seinen Blick über die Menge schweifen, auf der 214
Suche nach dem Präsidenten seiner Verbindung, ihren wunder schönen Mädchen, seinem wunderschönen Mädchen, doch in die ser Menschenmenge sind sie nicht zu entdecken. Alle sehen gleich aus, gekleidet in Grau, Schwarz, Dunkelblau, die Gesichter bleich, das Haar kurzgeschnitten. Wenn sie versuchen, den Spie lern auf dem Feld zuzujubeln, kommt kein Laut aus ihren Mün dern. Ein Platzanweiser zupft ihn von hinten am Arm, und er be ginnt, eine Ausrede zu formulieren, weil er keine Eintrittskarte hat, doch der Platzanweiser sagt nichts, sondern führt ihn statt dessen zu einem Platz ein Dutzend Reihen weiter unten neben dem Aufgang. Er sitzt neben einer ganzen Familie von Zuschauern. Sie alle haben hellbraunes Haar, der Vater, die Mutter, die Tochter und der Sohn, und ebenso haben sie alle ein perfektes Lächeln, mit dem sie sich, doch nicht ihn, in ihrem gemeinsamen Stolz anlächeln. Sie klatschen im Chor, um ihre Zustimmung zu dem Spiel auf dem Feld unten kundzutun, obgleich er seltsamerweise nicht in der Lage zu sein scheint, selbst das Spiel zu sehen oder das Feld in den rechten Blickwinkel zu bekommen. Ihr Klatschen ergibt keinen Sinn. Er schaut sich ein wenig um. Reihen von Zuschauern, aneinan dergereiht in einem schrägen Winkel, nach hinten und nach oben, so weit er sehen kann. Doch mit Ausnahme der Familie, die neben ihm sitzt, kann er keine Bewegung ausmachen, nicht einmal ein nervöses Zucken. Abermals blickt er auf die Familie neben sich und wird von ihren glatten, zusammengepreßten Lippen angezo gen; und von deren hellblauer Färbung. Niedergeschlagen steht er auf und geht den Gang hinunter zum Spielfeld, noch immer außerstande, seinen Blick auf die Spie ler zu fixieren. Niemand versucht, ihn aufzuhalten. Er erreicht die Absperrungsmauer oberhalb der Seitenlinien, erklimmt sie und springt hinab. Das Patschen seiner Füße auf dem Gras ist der ein zige Laut, den er hört. Als er die Mitte des Spielfelds erreicht, dreht er sich um. Es ist niemand auf dem Feld. Die Tribünen scheinen verlassen. Eine leichte Brise weht raschelnd durch das Gras. Er versucht, abermals das Stadionrund zu betreten, diesmal durch den Tunnel, der zu den Umkleidekabinen der Spieler führt. Das Licht hier unten ist schummrig. 215
Mumifizierte Leichen säumen die Wände, liegen ausgebreitet über Tischen und auf den gekachelten Böden der Duschen. Die Leichen haben den größten Teil ihres Fleischs verloren und nur noch wenige Haarsträhnen behalten. Sie tragen noch immer ihre scharlachroten Jerseytrikots, obgleich der größte Teil der Farbe ausgeblichen ist. Knochen in weißen oder sportlich goldenen Kla motten schimmern aus geöffneten Spinden heraus. Als er das Stadion betritt, entdeckt er zu seiner Erleichterung, daß das Spiel noch nicht begonnen hat. Alles scheint in Ordnung. Kei ne Leichen, keine Eltern und keine merkwürdigen Frauen, die ihn belästigen. Er holt seine Eintrittskarte aus seiner unzerknitterten Hosentasche und macht sich zu seinem Platz an der Fünfzig Yards-Linie auf: Seine Freunde sind alle da und sind überglück lich, ihn zu sehen. Der Präsident der Verbindung klopft ihm auf den Rücken und sagt: »Toll, daß du gekommen bist. Wäre nicht dasselbe ohne dich. Und sag mal... nach dem Spiel würde ich gern mit dir darüber sprechen, ob du nicht unser neuer erster Chargierter werden willst.« Seine Verbindungsbrüder rufen ihm von ihren weiter abseits liegenden Plätzen ihre Glückwünsche zu. Die Menge springt plötzlich auf, um jubelnd den bevorstehen den Anpfiff zu begrüßen. Er ist begeistert von der Bewegung, der Farbe und dem Lärm. Seine Verbindungsbrüder klopfen einander auf den Rücken, stampfen mit den Füßen, brüllen und küssen ihre wunderschönen Mädchen auf die Wangen. Popcorn und leere Pappbecher fliegen durch die Luft. Frisbee-Scheiben werden von einem Block zum nächsten geworfen. Er wendet sich um und will sein wunderschönes Mädchen mit einer Umarmung begrüßen. Sie reißt ihren Mund weit auf. Er be merkt die bläuliche Färbung ihres Halses. Sie grinst und zeigt ihre perfekten weißen Zähne. Später erklimmt er die Stufen, um Popcorn und Limonade für die Mädchen zu holen. Er fragt sich, ob er nicht einfach eines Ta ges das Mädchen, mit dem er heute hier ist, heiraten sollte; sie scheint ihm so ähnlich. Der Tag läuft nun so gut, und er fragt sich auch, ob es nun endlich für ihn an der Zeit ist, ruhiger zu werden, vielleicht eine Familie zu gründen. 216
Langsam wird er sich zweier Arme bewußt, gekleidet in rote Fetzen, die sich von hinten um ihn legen, so als wollten sie ihn umarmen. Die Hände sind dürr, beinahe knochig. Plötzlich ist alles wieder still. Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann
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CHARLES L. GRANT
Schneemann der Schneesturm kam, hätte es eigentlich niemanden überAlsraschen dürfen. Die Wolken hatten beinahe drei Tage über dem Themse-Becken gehangen, beständig tiefer sinkend, bestän dig dunkler werdend, so daß sie die Sonne und die Sterne ver deckten und die Temperatur deutlich unter dem Gefrierpunkt hielten. Pfützen gefroren, Atem gefror, Fensterscheiben schienen außerordentlich dünn und fragil, zu zerbrechlich, als daß man sie berühren mochte; Automobile schnauften, Dampf stieg aus den Gullys auf, die Schlangen an den Theatern waren kurz und ver hielten sich ungeduldig, während die Schlangen an den U-Bah nen nicht im geringsten kurz waren. Es war eine Zeit des Wartens — die Schultern hochgezogen und die Augen zusammengekniffen, eilige Schritte, scharfe Stimmen in der beißenden Luft, während wintergerötete Wangen und blut gerötete Lippen austrockneten und aufplatzten im peitschenden Wind, der über den Fluß blies und Schaum auf der Oberfläche und Eisrüschen an den Schandeckeln von Hausbooten und Schif fen wachsen ließ. Und als der Wind erstarb, kam die Stille, das Warten; und schließlich, eines Abends, der Schneesturm. Harry stand auf dem Leicester Square und lauschte einem schmuddeligen, in kaum mehr als einen zerschlissenen Schal und ein Tweedjackett gekleideten Mann, der mit seiner abgenutzten Bibel in der Hand deklamierte und drohte. Harry lächelte inner lich, während der Mann zur Buße gemahnte, Erlösung in Frage stellte und das riesige schwarze Buch all jenen vor Brust und Ge sicht hielt, die stehengeblieben waren, um sich über ihn zu wun dern oder ihn zu verhöhnen oder sich schlicht die Zeit zu vertrei ben, während sie auf einen Freund warteten. Im Sommer waren solche Wanderprediger eine Ablenkung, vielleicht sogar eine Unterhaltung, aus der Entfernung beobachtet von einem oder zwei Constables, die gleichzeitig auch die Menge
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im Auge behielten; jetzt jedoch wirkte der Mann nur traurig. Wei ter nichts. Traurig. Während er gegen die Kälte, die kahlen Bäume und die scharfen Absätze, die dumpf und ohne Echo über das Pflaster hämmerten, ankämpfte. Harry zog eine Augenbraue hoch, schaute sich um und fuhr beinahe erschreckt zusammen, als in weniger als einem Augen blick, in weniger Zeit, als man für ein Augenzwinkern oder ein Seufzen braucht, die Luft weiß wurde. Kleine Flocken, trocken, eine Mülltonne voll weißer Asche, die umgekippt worden war und deren Inhalt nun unaufhaltsam schnurgerade herabfiel, ohne zu schweben oder umherzutreiben. Etliche Kinder schrien auf und grinsten, doch die Erwachsenen blickten mit wütenden Gesichtern hoch und fluchten, als käme der Schneefall vollkommen unerwartet. Kleine, schwere Flocken, die augenblicklich die Gebäude bleich ten, die Leuchtreklamen verschwimmen ließen, die Schritte und Reifen und die Musik eines Bläsertrios dämpften, das dicht zu sammengedrängt neben einem Baum stand; ihre erspielten Bank noten in einem Kornettfutteral flatterten ganz plötzlich weiß umher. Er schüttelte den Kopf, mitleidig ob des Elends der Musiker, de ren Noten erstarben, gänzlich verstummten und schließlich von gar nicht zur Jahreszeit passenden Flüchen und dem abrupten En de des Konzerts abgelöst wurden. Dann schlug er seinen Mantel kragen hoch, vergrub die Hände in seinen Taschen und fragte sich, ob er wohl heute abend endlich Glück haben würde. Ob die Frau seiner Träume ihm jetzt begegnen würde. Er konnte ganz sicher nichts mehr essen; schon in mindestens einem halben Dutzend Restaurants hatte er Halt gemacht, um zu sehen, wer ohne Begleitung war, um zu sehen, was die Frau sei ner Träume essen würde. Und es würde auch sinnlos sein, sich in eines der Kinos zu setzen. Er hatte alle Filme gesehen — all jene, die er sehen wollte —, und das mindestens schon zweimal, wobei er niemanden entdeckt hatte, der allein saß, einmal abgesehen von ihm selbst in der hintersten Reihe. Der Schnee verdichtete sich. Eisige Wassertropfen liefen seinen Nacken hinunter. Der Prediger war verschwunden, das Trio war verschwunden, und wenn er sich nicht anstrengte, wenn er nicht angestrengt ge nug in den Schneesturm starrte, ohne zu blinzeln, dann hätte er 219
einen Moment lang schwören mögen, daß er nunmehr ganz allein auf dem Platz übrig war. Allein. Ein Seufzen, ein Schauer ob der Kälte, die seinen Mund erfüll te, und er beschloß, daß er ebensogut wieder nach Hause gehen könnte. Wenn man ein schäbiges, nicht im geringsten geräumiges Zimmer in der Nähe von Covent Garden so nennen wollte. Eine feine Adresse für all jene, die London für fein hielten, ganz und gar nicht fein für jene, die hinter rotem Backstein und dreckigem Backstein lebten und darauf warteten, daß die Vermieter genug Geld auftreiben konnten, sie auf die Straße zu setzen und neu zu bauen. Keine Heizung, Wasser Glückssache, funktionierende Glühbirnen im Treppenhaus eine Legende der Vergangenheit. Er vermutete, daß er sich glücklich schätzen sollte. Es würde so wieso keine Frau mit ihm nach Hause gehen wollen, nicht wenn sie die Vorderansicht seiner Mietskaserne sah, und schon gar nicht, wenn sie die Eingangshalle und das Treppenhaus erblickte und seinem zeigenden Finger nach oben zum lichtlosen zweiten Stock folgte. »He!« Er marschierte mit gesenktem Kopf dahin und wünschte, er hätte eine Mütze aufgesetzt, denn er spürte, wie sein dunkles Haar steif wurde, spürte, wie der Schnee ihn zu früh für seine jähre weiß werden ließ. »He, entschuldigen Sie bitte!« Ein Blick über seine Schulter offenbarte niemanden, doch als er nach links schaute, entdeckte er eine kleine dunkle Gestalt, die durch den Schnee auf ihn zugeeilt kam. Er verlangsamte seine Schritte, blieb jedoch nicht stehen, während er vorsorglich schon ein Dutzend Ausreden vorbereitete, mit denen er den Bettler ver scheuchen konnte, wenn der Mann nicht auch so seine Ableh nung spüren und aus eigenem Antrieb verschwinden würde, um sich ein anderes Opfer zu suchen. »Tut mir leid ...«, setzte er an und hielt inne, als sie lachte, ein Auge fest zusammengekniffen. »Ich suche nicht nach Almosen«, erklärte sie und streckte eine unbehandschuhte Hand aus, um damit seinen Arm zu berühren. Dann zog sie die Hand wieder fort. »Ich suche nach der nahegelegensten Subwayhaltestelle.« Sie zuckte zusammen. »Tut mir leid. Ich meine, U-Bahnhaltestelle. Ich 220
möchte nach Bloomsbury, und ich glaube, ich habe mich verlau fen.« Sie zog die Nase kraus. »Zum Teufel, ich weiß, daß ich mich verlaufen habe.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Schnee. »Sie haben sich aber 'ne schöne Zeit dafür ausgesucht, was?« »Die Geschichte meines Lebens«, erwiderte sie mit einem weh mütigen Lächeln, dann legte sie abermals ihre Hand auf seinen Ellbogen und zog einmal an seinem Mantelärmel. »Also. Werden Sie mich nun retten oder nicht?« Sie war einen Kopf kleiner als er, und er bezweifelte, daß sie unter dem Mantel und dem mehrmals um ihren Hals geschlunge nen Schal viel wog. Auf sich allein gestellt, würde sie die Station wahrscheinlich irgendwann finden; andererseits, warum, zum Teufel, debattierte er so lange mit sich selbst, wo ihn doch tatsäch lich eine Frau, eine richtige Frau, angesprochen hatte? »He, können Sie sprechen?« Er grinste. Und die Lichter des Kinos gingen aus. Alle. Ohne ein dramati sches Flackern oder ein Zischen oder ein Funkensprühen. »Guter Gott«, sagte sie und umfaßte seinen Arm fester. »Das hatte ich nicht erwartet, wissen Sie. Ich wollte meine Ferien hier verbringen. Billigflug und das alles, aber damit habe ich nicht ge rechnet.« »Machen Sie sich keine Sorgen«, erwiderte er, während er die Dunkelheit in seinem Rücken spürte und vor sich die fahlen, ver schwommenen Lichter der Straßenlaternen auf der Charing Cross Road sah, die noch immer brannten. »Es ist nicht weit. Ich bringe Sie direkt hin.« Sie nickte ihren Dank, er nickte zurück und zog die Schultern hoch; ein Dutzend Schritte später rutschte sie auf einer verborge nen Eisfläche aus, schrie auf, und ihr Bein schoß nach vorn. Im Fallen riß sie die andere Hand hoch und packte seinen Arm. Er wurde beinahe zu Boden gerissen, fand aber sein Gleichgewicht und seine Stärke wieder und zog sie hoch, dicht an sich heran, halb vor sich, so daß ihr Gesicht einen Moment lang an seiner Brust ruhte. »Guter Gott«, entfuhr es ihr wieder. »Sind Sie in Ordnung?« »Ich werde es überleben, denke ich.« Sie zögerte, bevor sie sich sanft von ihm löste. »Danke.« 221
»Das ist mein Job«, erwiderte er. »Der Ritter vom Leicester Square, immer bereit, eine schöne Prinzessin aus der Gefahr zu erretten.« Sie blickte ihn an, wobei sie abermals das eine Auge zukniff, und diesmal paßte sie auf, daß ihre beiden Hände um seinen Arm lagen, bevor sie sich wieder in Bewegung setzten. »Wie weit ist es bis zur Station?« Sie beugte sich gegen den Schnee vor, so als würde sie dann besser sehen können. »Nur ein Block.« Er deutete in schrägem Winkel nach links. »Direkt an der Ecke dort.« »Oh, wunderbar«, murmelte sie. »Nur ein lausiger Block.« Ein Atemwölkchen bildete sich am Ende ihres Seufzers. »Ich komme mir wie ein Idiot vor.« »Woher sollten Sie es auch wissen?« versuchte er sie zu be schwichtigen. »Hier ist es ganz leicht, die Orientierung zu verlie ren.« Er schenkte ihr ein Lächeln. »Wir sind sehr stolz darauf, daß wir keine geraden Straßen haben.« Der Schnee verdichtete sich, wirbelte umher, fiel wieder schnurgerade vom Himmel. Und mit einem »Passen Sie auf, wo Sie hintreten« gingen sie schweigend weiter, mit achtsamen kleinen Schritten, die schlurf ten und scharrten, während ihre Füße nach verborgenem Eis suchten. Irgendwo zu ihrer Rechten ertönte die einzelne Note eines Kor netts, eingehüllt in Weiß. Hinter ihnen, in weiter Ferne, zitierte eine heisere Männerstim me einen Bibelvers. »Es ist schon unheimlich, finden Sie nicht auch?« sagte sie und preßte sich dichter an ihn. Er runzelte die Stirn. »Ist es das?« Sie löste eine Hand von seinem Arm und gestikulierte damit zum Schneesturm. »Ja, unheimlich. Ich meine, man kann nichts sehen, Herrgott noch mal, und wir sind hier mitten in London, Herrgott noch mal. Finden Sie das denn nicht auch unheim lich?« Er zuckte mit den Schultern, viel zu sehr damit beschäftigt, sich über sein Glück zu freuen und zu hoffen, daß er irgendwie, bevor sie den gekachelten Eingang der U-Bahnstation erreichten, wissen würde, ob sie die eine war, die verhindern konnte, daß er auf ewig einsam bliebe. Es war möglich. Bloomsbury bedeutete für ihn Bed 222
& Breakfast für Studenten und minderbemittelte Reisende mit wenig Geld, oder irgendein piekfeines Hotel, von dem Touristen nur selten hörten; und diese Frau war ganz sicher weder piekfein noch reich. »Nun, ich finde es jedenfalls«, beharrte sie. »Gütiger Gott, ist es hier im Winter immer so?« »Nein«, erwiderte er wahrheitsgemäß. Er räusperte sich und blickte auf sie hinunter, als sie im selben Augenblick zu ihm auf blickte und grinste. »Elisabeth«, erklärte sie ihm. »Stanley. Wagen Sie es ja nicht, mich Liz zu nennen.« »Elisabeth«, wiederholte er und ließ es hallen. »Harry. Harry Kinnon.« Sie nickte, kniff die Augen zusammen und sagte: »Die ver dammten Straßenlaternen sind ausgegangen.« »Das sind sie.« Und das waren sie. Selbst der Verkehr auf der Charing Cross Road hatte sich in Luft aufgelöst. Die Frau seufzte ärgerlich. »Wo, zum Teufel, ist denn die Sta tion?« Ich könnte sie stundenlang umherführen, dachte er bei sich; wir könnten am Embankment landen, und sie würde es nicht merken. Wir könnten den Fluß überqueren, und sie würde es nicht mer ken. Wir könnten ... »Hier«, sagte er und zog sie sanft in den Eingang, schwarz, oh ne jegliches Licht, hohl ohne jegliches Geräusch. »Aber ich möch te bezweifeln, daß Sie im Moment irgendwo hinkommen.« Er leg te den Kopf auf die Seite und tat so, als würde er angestrengt lau schen. »Keine Züge.« Und niemand, der wartete, kein Quietschen der Rolltreppen, keine Uniform in den Glashäuschen, um all jenen die Fahrscheine abzunehmen, die von unten heraufgestiegen kamen. Die ver chromten Fahrkartenautomaten waren dunkel. Nur gelegentlich war ein leises Heulen zu hören, wenn ein unterirdischer Windzug durch die Tunnels wehte. »Nun«, stieß sie hervor, »verdammt!« Mit einer fließenden Handbewegung nahm sie ihre Mütze ab und ließ sie in ihrer Man teltasche verschwinden; langes dunkles Haar fiel unordentlich auf ihre Schultern. Leise fluchend wischte sie den Schnee von ihren Schultern, ihrer Brust, dann machte sie einen Schritt auf die Stra 223
ße zu und starrte wütend hinaus, drehte sich auf dem Absatz um und starrte ihn wütend an. »Ist es weit? Nach Bloomsbury, meine ich.« »Welche Straße?« fragte er ohne nachzudenken. »Spielt das eine Rolle?« gab sie ebenso hastig zurück. »Bloomsbury ist recht groß.« Etwas rumpelte vorbei, doch es war zu dunkel, um etwas zu er kennen, zu weiß, um Schemen auszumachen. Ein Kornett. Ein Bibelvers. In diesem Augenblick wußte er, was sie empfand, was sie fürchtete — ohne zu wissen, wie sie diese Furcht, die sie verspür te, beschreiben sollte; er hatte diese Furcht einmal selbst empfun den — Zuhause, egal, wo das war, egal, wie weit es zurück lag, schien niemals ganz dasselbe zu sein, als London erst einmal eini ge seiner Gesichter, einige seiner Geheimnisse offenbart hatte, als die Stadt in der Nacht geflüstert und im hellen Sonnenschein ge lacht und eine aristokratische, beinahe süffisante Augenbraue hochgezogen hatte, die einem sowohl bedeutete näherzukom men, als einen auch auf Armeslänge fernhielt. Elisabeth schlang die Arme um ihren Oberkörper und stand mit dem Rücken zu ihm da. »Ich wollte Europa sehen«, erklärte sie, während sie die Straße hinauf und hinab schaute und sich nach vorn beugte, um zum Himmel emporzusehen. »Wollte mir ein paar Monate frei nehmen und mit dem Daumen so nah an den Ei sernen Vorhang herankommen, wie sie mich lassen.« Ein Er schaudern. Eine leise Stimme: »Ich bin seit November hier. Ich kann einfach nicht... Ich weiß auch nicht. Manchmal denke ich, ich werde verrückt, weil ich immer hier leben möchte.« Ein hu morloses Lachen. »Ich hatte mich gerade entschlossen, weiterzu reisen. Dann kam dieser verdammte Schnee...« Sie schüttelte wütend den Kopf. »Himmel, was ich sage, ergibt nicht den ge ringsten Sinn.« »London macht das mit einem«, sagte er, weil ihm nichts Besse res einfallen wollte, irgend etwas Geistreiches, irgend etwas Wit ziges, und er verfluchte stumm sein mangelndes Talent für das Blumige, das Romantische, den Köder für eine junge Frau, die sich offenkundig ebenso verängstigt fühlte wie er selbst gewesen war, als er hier ankam. »Ich weiß.« 224
Ihre Schultern hoben sich, als würde sie tief Luft holen, und er konnte schwach eine weiße Wolke sehen, als sie so langsam aus atmete, daß er kaum eine Bewegung wahrnehmen konnte. »Wis sen Sie, daß ich in allen Pubs gewesen bin, in denen es spuken soll?« Er hätte es sich denken können, aber er sagte nichts. »Ich habe sogar diesen dummen Jack the Ripper-Rundgang mitgemacht.« Sie blickte über ihre Schulter. »Wissen Sie, daß an der Stelle, wo der erste Mord geschehen ist, jetzt ein Autohändler oder ein Schrottplatz ist?« Sie schnitt eine Grimasse. »Es ist der Mühe kaum wert, dorthin zu gehen. Ich habe eine tote Ratte gese hen und habe so getan, als wäre sie ein Opfer des Rippers. Aber ich glaube nicht, daß der Führer den Humor der Situation ver standen hat.« Sie wandte den Blick ab, und im selben Moment bewarf eine Windböe sie beide mit Schnee — Fingerspitzen, die sein Gesicht berührten und dann wieder verschwanden, die ihn blinzeln lie ßen, die ihn sich fragen ließen, ob die Wohnung um diese Zeit warm sein würde. Dort drüben. In Covent Garden. Sie stampfte mit dem Fuß auf, dann noch einmal, schwächer. »Das alles gefällt mir nicht.« »Wenigstens ist es still.« »Zu still. Wo, zur Hölle, ist die Stadt?« Die Hölle war hinter und unter ihnen, während der Tunnel wind heulte und dann verstummte. »Sagen Sie mir die Wahrheit«, sagte er und trat dichter an sie heran, blieb aber noch immer hinter ihr, »vermissen Sie es wirk lich?« Ohne sie zu berühren, deutete er über ihre Schulter hinweg auf das Weiße, welches das Dunkle zwischen den Flocken weniger wie eine Farbe und mehr wie endlosen, kalten Raum erscheinen ließ. »All diese Menschen, all den Lärm und das Gehupe und das Spucken und das Spielen und das alles — vermissen Sie das wirk lich?« Einen Augenblick lang lehnte sie sich an ihn, bevor sie sich wie der aufrichtete. »Nun, wenn Sie es so sagen ...« Ein kurzes helles Lachen. »Habe ich eine Wahl?« Und sind Sie, fragte er, während er sich neben sie stellte, die Frau meiner Träume? Nach all dieser langen Zeit, wirst du es sein, Elisabeth, die meine Hände warm hält? 225
Gott, dachte er wütend bei sich; hör mit diesem Mist auf, Kin non. »Nun«, sagte er und beugte sich hinaus, um die verlassene Straße zu betrachten, »würden Sie lieber dort hinuntergehen?« Ein Daumen deutete über seine Schulter auf den Tunnelwind, nunmehr ein Dämonenheulen, dessen Tentakel die Waden ihrer Beine streiften. »Es hört sich schrecklich verlockend an, sollte man denken. Sicher, es ist ziemlich schummrig ...« Darüber lachte sie. »... aber spüren Sie nicht eine gewisse ... Ich weiß auch nicht, eine gewisse Erregung? Die Spannung des Unbekannten oder so was?« Ohne sie zu berühren, konnte er doch tatsächlich fühlen, wie sie darüber nachdachte, wie sie sich in Gedanken blind die ge lähmte Rolltreppe hinunterbewegte, eine Hand über den bewe gungslosen Handlauf tastend, und auf den Wind lauschte und, di rekt darunter, das Gemurmel von Stimmen. Ein Ungeheuer, viel leicht, oder der bestaussehendste Mann, den sie je getroffen hatte; jemand, der vor Angst weinte, oder jemand, der ob des bloßen Vergnügens, einmal etwas anderes zu erleben, lachte. »Dort draußen«, flüsterte er, »ist es sicher. Ganz kuschelig und weiß und weich und zart. Nicht das, was Sie gewohnt sind, ver mute ich.« »Eis«, sagte sie. »Kalt. Ich könnte mir ein Bein brechen.« Eine einzelne traurige Note des Kornetts. »Mein Gott, wie kann er nur immer so weiter spielen? Es gibt ja niemand, der ihm zuhört.« »Sie tun es.« Sie blickte ihn an. »Und dieser Prediger?« Harry zuckte mit den Schultern. »Er predigt. Das ist es ... was er tut.« Sie kratzte sich an der Nase und richtete ihren Schal. »Komisch, aber ich bin auf dem verdammten Platz eine Stunde umherge wandert — habe mich nur umgeschaut, verstehen Sie? —, und ich kann mich nicht an ihn erinnern.« Ihre Stirn runzelte sich. »War er dort?« »Das war er.« »Waren Sie dort?« Immer, dachte er bei sich. »Ja«, erwiderte er. 226
Abermals stampfte ihr Fuß auf; ihr Atem wurde abgefangen und verschmolz wirbelnd mit den fallenden Schneeflocken. »Ich erinnere mich nicht.« »Oder«, sagte er und schaukelte auf den Absätzen vor und zu rück, »Sie könnten wieder nach Bloomsbury gehen, zu diesem ge heimnisvollen Ort, an dem sie leben. Dort wird es warm sein, wie ich mir denke.« Er deutete vage nach vorn. »Ein paar Blocks geradeaus in dieser Richtung, ein- oder zweimal abbiegen, und Sie laufen geradewegs auf das British Museum zu. Können Sie von dort Ihren Weg nach Hause finden?« Er konnte sehen, daß sie verblüfft war und sich vielleicht sogar vor ihm fürchtete, einem Fremden in einer Stadt, die ihr bis jetzt nicht fremd gewesen war. Sie war gefangen in einem Schnee sturm mit einem möglicherweise Wahnsinnigen, einem Vergewal tiger, einem modernen Jack the Ripper oder einem Schwachsinni gen, der sie nur loswerden wollte. Früher oder später würde sie sich entscheiden müssen. »Wo ...« Sie schaute ihm geradewegs ins Gesicht, »wo wohnen Sie, Harry?« Er wagte nicht, zu antworten; es war ihre Entscheidung, nicht seine. Und sie erschreckte ihn, als sie fragte: »Bin ich tot oder so et was?« »Was?« »Bin ich tot? Wissen Sie nicht, was ich meine? Ich meine, ist das hier wie in einer dieser dummen Fernsehsendungen, wo man sich zwischen Himmel und Hölle entscheiden oder auf ewig irgendwo dazwischen umherwandern muß? Sind Sie ein Engel oder so was? Tauchen Sie plötzlich auf, wenn es schneit oder regnet, und brin gen die Seelen in den Himmel? Oh, mein Gott.« Sie blinzelte schnell, und blanke Angst vertrieb den rosigen Schimmer von ih ren Wangen. »Mein Gott, bin ich tot?« Bevor sie sich bewegen konnte, bevor sie ihn abweisen konnte, beugte er sich hinab und küßte sie flüchtig auf den Mund. Er lä chelte sie an, als er sich von ihr löste, und sagte: »Haben Sie das gefühlt?« »Verdammt, ja.« »Dann sind Sie nicht tot.« Ein Schritt zurück. Sie riß ihre Mütze aus ihrer Tasche und zog 227
sie sich eilig wieder über den Kopf. Entschlossenheit trat an den Platz der Angst, und ein roter Flecken der Verlegenheit erschien auf ihrem Kinn. »Harry, es ist nicht böse gemeint, aber Sie sind ebenso unheimlich wie dieser Ort.« Eine hastige Handbewegung, um sich die Schneeflocken aus dem Gesicht zu wischen. »Zei gen Sie mir noch einmal den Weg, ja? Ich denke, ich werde es finden.« Er nickte, während er betete, daß sie seine so spürbare Enttäu schung weder sehen noch bemerken würde. »Hier entlang«, er klärte er ihr... . . . als die Lichter summend wieder zum Leben erwachten und ein schwarzes Taxi an ihnen vorbeiholperte und die Fahrkarten automaten sich wieder anschalteten und das Schnarren der Roll treppe mit dem Kreischen der gedämpften Bremsen einer U-Bahn verschmolz; Straßenlaternen; Kinoreklamen; das rotblaue Schild der U-Bahnstation. »Mann«, entfuhr es ihr. »Haben Sie das gemacht?« »Das gehört alles zum Service, Madam«, erklärte er ihr und verbeugte sich mit einem galanten Ausholen seines Arms. »Wir können doch nicht zulassen, daß sich eine hübsche Lady verläuft, oder?« Sie zögerte, und er hielt den Atem an, bis sie sich plötzlich auf die Zehenspitzen stellte und ihn auf die Wange küßte. »Danke«, sagte sie. »Vielleicht treffe ich Sie einmal wieder, ja?« Und bevor er noch antworten konnte, war sie schon hinaus in den Schnee sturm getreten, warf einen prüfenden Blick auf den Verkehr und hastete über die Straße. Er schaute ihr hinterher, bis sie vom Weiß verschluckt wurde, bis das Weiß sie auslöschte und sie durch ein Abbild ersetzte, das er zu halten versuchte, auch wenn es ihm nicht gelang. Dann räusperte er sich, rieb sich das Gesicht und ging zurück zum Lei cester Square. Sie würde sich nicht an ihn erinnern. Sie würde ihn nie wiedersehen. Doch es würde eine Geschichte geben, die sie dem nächsten Mann erzählen konnte, dem sie begegnete — und er fragte sich, wie sie ihn wohl beschreiben würde, sein Aussehen, seine Stimme. Ach was, zum Teufel damit. Es spielte keine Rolle. Sie war nicht die Frau seiner Träume. Diesmal nicht. Diesmal noch nicht, aber bald. Bald würde sie kommen, und bald würde 228
sie ihre Entscheidung treffen, und bald würde es da jemand ande ren geben, dem man im Schneegestöber zuhören konnte. Während das Kornett ertönte. Und der Prediger schreiend von der Hölle kündete. Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann
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JOHN SKIPP / CRAIG SPECTOR
Die man liebt Im Traum
streiten wir wieder
wie es nur Eheleute können
dieselben alten Sackgassen der Unvernunft
von der Flut uralter Vorurteile überspült
Enttäuschung aus unrealistischen Erwartungen geboren
Vertrauen sorglos gegeben und
noch sorgloser
mißbraucht
im Traum
lieben wir einander nicht mehr
und unsere Augen sind schwarz von toter Romantik
schwarz und kalt wie eine erloschene Hölle
schwarz und irre tobend wie das Auge eines nächtlichen Sturms
weder braun noch oliv hellen ihre wütenden Blicke auf
überhaupt keine besänftigende Farbe
im Traum
sind deine Augen schwarz wie meine über deinen grausamen und lieblichen Lippen Lippen, welche Worte formen die verletzten und zerstören sollten aber hauptsächlich meine Worte daran hindern dich wie Giftpfeile zu treffen um dich zum Schweigen zu bringen so streiten wir und reißen wie mit Zähnen und Nägeln einander die Seele auf. in meinem Traum gibt es keine Ruhe und die Nacht währt ewig
230
Unser Bett steht mitten im Zimmer wie ein Schrein für einen toten Gott wo nächtliche Opfer dargebracht werden auf dem Altar der Gleichgültigkeit Unsere Körper berühren einander nicht aber dein Herz schlägt noch wie die Trommeln eines feindlichen Stammes und hallt durch die Flure unseres kahlen und wunderschönen Hauses in Mörtel geätzt von Steinen und Holz verschluckt ein Helldunkel der Qual wo einst Liebe vorherrschte Ich klammere mich fest wie ein überlebender Schiffbrüchiger klammere mich an die Hoffnung die wie Treibgut schwimmt deine Silhouette ist ein fernes Ufer eine Million Meilen entfernt auf der anderen Seite des Bettes Ich treibe durch Nächte aus Stunden zusammengesetzt aus Minuten und Augenblicken alle vom Schlag meines schwarzen und blutenden Herzens markiert unter der Brandung des Bedauerns betäubt von deinem Sirenengesang Ich verliere
den Halt
und frage mich wie lange
das Schlagen noch dauern kann
ich versinke
in Schwärze
kalt wie eine erloschene Hölle
bis endlich
das Schlagen
nicht mehr weitergehen kann
231
bis endlich
das Schlagen
aufhört
Als die Schmerzen kommen
plötzlich
wie eine Faust
und meine Brust verwüsten
verschmiert der Traum wie Wasserfarben
und auch unsere Stimmen verschmieren
zweifache Schreie über Lautlandschaft
übertönen das Schlagen meines blutenden Herzens
das zu verkrampft ist und explodiert
mich im Schlaf auslöscht
ohne Gebet
ohne einen Laut
in den Schmerzen
existiert man nicht mehr
und die Trümmer des Traums verwehen
wie Atome
als die Schwärze kommt
ist sie tiefer als deine Augen
und dauert ewig
nein
die Dunkelheit schält sich zurück wie eine Hautschicht, und
plötzlich bin ich ohne Vorwarnung wieder in der Welt.
weiche Laken sind fest zwischen meine Finger gekrallt, wulstig
in einem Griff, als meine Hand die Lippen berührt. es fühlt
sich an wie damals, als ich ein Baby war, und die ganze Welt
neu, und die einzigen Emotionen Liebe und Angst.
nur jetzt habe ich keine Angst.
das Universum wird überflutet
mit Geräuschen
Geschmack
Empfindungen
232
und das Licht
in unserem stillen Schlafzimmer
gleicht keinem Licht, das ich je gekannt habe
ich drehe mich um
und da bist du
und ich stelle fest, die Wut ist verschwunden wie der Traum
und ich stelle fest, wenn ich die Augen schließe
bist du auch weg
aber wenn ich sie wieder öffne
kommt alles zurück
mit dir
ich danke dir dafür und ich stelle fest, daß ich dich immer noch liebe - ja nie mehr als jetzt wie du hier neben mir schläfst so erstaunlich warm ich liebe dich jetzt ich liebe dich so sehr denn ich kann mich an alles erinnern und weil du hier bist um mich zu erinnern es ist Liebe für den süßen, herzförmigen Arsch den du versehentlich an mich gedrückt hast Liebe für deinen langen, geschwungenen Rücken Liebe für deinen Herzschlag das Gefühl deines Herzschlags das Gefühl des süßen Gesangs deiner atmenden Lungen es ist Liebe für den Verstand der das Gehirn verstopfte Liebe für das Blut, das die Adern verstopfte es ist Liebe für jeden Teil von dir der meinen Körper näher treibt 233
dein Kopf ist wie üblich
unter dem Kissen vergraben
damit du deine Träume besser verstecken kannst
das Kissen ist weich und riecht nach deiner Haut
es dämpft die Geräusche meiner linkischen Annäherung
aber die Matratze reagiert auf mein verlagertes Gewicht
und du regst dich im Schlaf
erbost
arglos
dein Körper krümmt sich unbewußt von mir weg
und wahrt die abweisende Distanz
zwischen uns
aber ich liebe dich jetzt
mein Körper, dumm und langsam, fällt tastend über dich. der Geruch deines Schweißes ist es, den ich liebe, der Schlafwandler-Tanz von Moschus und trägen Bewegungen unter deinem T-Shirt, das deine sanfte Leibeswärme festhält, meine idiotischen Hände, derbe Fäustlinge aus Fleisch, krallen nach deinen Schulterblättern und halten dich fest, während du aus dem Schlummer erwachst, unter dem Kissen hebst du langsam den Kopf, ich falle auf dich, drücke
linkisch dein Gesicht nieder, meine Lippen streichen über
deinen Nacken, und es wird kein Wort gesprochen.
jetzt.
mein Gesicht wird naß und blind und plötzlich ist mein Mund
voll Knorpel, der zwischen meinen Zähnen bricht und reißt.
kein Wort ertönt unter dem Kissen, kein Streit mehr, nur Schreie
und ein verzweifeltes Aufbäumen, ich mache die Augen zu,
sehe schwarz, fresse weiter in der heißen Dunkelheit, meine
Zähne kratzten über Knochen, als ich weiter hineindringe.
bestialisch, rotverschmiert, du hörst nicht auf zu treten, du hörst
nicht auf zu treten ...
so liebe ich dich.
ich liebe
wie du dich mir
von hinten öffnest
234
ich liebe das scharlachrote Schlürfen
mit dem du meine Haut tränkst
und ich vergrabe mich
ich tauche ein
ich schaffe mir ein Heim in dir
während du vergehst
einen brutalen Bissen nach dem anderen
Zähne und Zunge
pressen beharrlich
schälen Muskeln von Membranen
zerfetzte Blutgefäße von stechenden Nerven
laben sich an Rachenhöhle und Speiseröhre
während ich mich tiefer fresse
und den frisch geöffneten Tunnel der Liebe hinabsehe um dein
ewig verborgenes Herz zu finden
plötzlich entblößt
freigelegt
mein
dann aufwärts steigend
in deine Kiefer
durch Muskeln und Schleim und Fasern
ziehe ich deine Zunge aus dem tiefsten Inneren heraus
ich kenne keine größere Liebe als diese
als ich mich um dich winde
aufbäumend zuckend
du im Einklang zitternd
bis du schließlich
aufhörst
ich tauche auf, um Luft zu holen
die ich nicht mehr brauche
und mein Gesicht verschmiert das durchnäßte Kissen
das wegfällt, als ich dich herumdrehe
und dir in die Augen schaue
ich starre in die Schwärze
die sich dort auftut
in diesen
tiefen weiten
runden Abgründen der Nacht
235
starre blind und sehe
eine Dunkelheit doppelt so kalt und tief
wie eine erloschene Hölle
aber alle Wut
ist verraucht
wir sind eins
es ist köstlich
wie Austern aus der Schale
so tue ich mich eine Stunde
an dir gütlich
und dann höre ich das Geräusch
ich erhebe mich halb — langsam, hirnlos, unsicher — und mein Blick fällt zur Tür. unter mir regst du dich: das erste zaghafte Erbeben, möglicherweise reagierst du auch, einerlei, das Geräusch ertönt wieder, ich quäle mich auf die
Füße und schlurfe zum Flur, reiße die Tür ins Licht auf.
schorfige Fingerspitzen streichen zärtlich über das Muster der
Tapete, die unendlich winzigen Risse im Verputz, sie sind
mir bekannt, ich erinnere mich an alles.
Liebe allein ist mein Antrieb.
sie erwacht
aus dem schrecklichen Traum
daß Mommy und Daddy wieder streiten
sie weint immer noch, als ich das Zimmer betrete
und hält die Ärmchen einer Dreijährigen für mich auf
noch nicht wach genug, die Veränderung zu bemerken
bittet sie mich, sie zu halten
und weiß, ich würde niemals
dieses Vertrauen
mißbrauchen
sie liebt ihren Daddy und ich liebe mein kleines Mädchen Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber
236
FELICE PICANO
Absolutes Schwarz einem heißen, drückenden Abend in Rom Mitte des letzten AnJahrhunderts, wurde das unbefriedigende, ziellose Tete-a-te te zweier gänzlich verschiedener Amerikaner von einem plötzli chen Hämmern und Rufen mehrere Etagen unter ihnen, auf der Via Ruspoli, belebt. Der jünger aussehende der beiden Männer ging zum breiten Sims des Fensters hinüber und berichtete, nachdem er hinunter gespäht hatte, daß zwei grobe Contadini Einlaß in die Pensione be gehrten. »Laß es gut sein, William«, erwiderte sein Freund mit derselben Trägheit und Gleichgültigkeit, die er auch während ihres gesam ten Wiedersehenessens gezeigt hatte, dessen Reste nun den nack ten Holztisch in dem großen, düsteren Speisesalon bedeckten. »Meine Haushälterin, die gute Antonia, wird sich darum küm mern.« »Soll ich gehen?« fragte William. »Möchtest du dich ausruhen?« »Ich hatte den ganzen schrecklichen Sommer in dieser hölli schen Stadt nichts weiter als Ruhe. Nein. Bleibe. Deine Unterhal tung und deine angeborene Heiterkeit spenden mir solchen Trost.« Obgleich sein Besucher Grund hatte, den Wahrheitsgehalt die ser Worte anzuzweifeln, verpflichtete ihn eine Freundschaft, die über viele Jahre hinweg zu ihrer Kindheit jenseits des Ozeans zu rückreichte, zu bleiben. Noch bevor William sich zu seiner Euro pareise aufgemacht hatte, waren ihm die verschiedenen Mißge schicke und Schicksalsschläge seines Freundes und die daraus re sultierende geistige Verwirrung bewußt gewesen. Michaelis, wie er sich selbst nannte und wie er nun auch be kannt war, ein Mann in der Blüte seiner Jahre, war ein Künstler von solch außergewöhnlichem Talent gewesen, daß einst ein Le ben größten Ruhms und der höchsten Belohnungen sein ange stammtes Geburtsrecht zu sein schien.
237
Schon als Junge war sein Talent in der Zeichenkunst und dem Anfertigen von Aquarelles derart ausgeprägt, daß es die Aufmerk samkeit des ehrwürdigen Charles Wilson Peale erregt hatte. Durch seine Förderung wurde ein angeborenes Genie für die dar stellenden Künste genährt und in die rechten Bahnen gelenkt. Nach dem Tod des alten Meisters blieb dem Erben seiner künstle rischen Würde nur ein Weg, den einzuschlagen sich lohnte; er verließ die junge Republik und machte sich auf, Italien zu erobern, das künstlerische Kapitol der Welt. Michaelis' Ankunft in Rom, ein Jahrzehnt zuvor, war ursprüng lich von viel Lob und großen Aufträgen begleitet worden. Er ar beitete bis tief in die Nacht und erfüllte fröhlich viele Aufträge in jenen geräumigen Zimmerfluchten im vierten Stock eines Palazzos auf dem Caelius, die ihm gegen Miete von einer verarmten Con tessa überlassen worden waren; letztere lebte, durch Mittellosig keit dazu gezwungen, in größerer Bescheidenheit außerhalb der Stadttore. Doch das Leben des jungen Künstlers war beileibe nicht nur der Arbeit gewidmet — ungeachtet, wie befriedigend sie auch sein mochte und wieviel Achtung sie ihm bei anderen ein brachte. Der gutaussehende und selbstsichere junge Mann wurde schon bald von den Vertretern der höheren kulturellen Zirkel, die die Hauptstadt zu bieten hatte, aufgesucht — nicht nur von Malern und Bildhauern, sondern auch von Dichtern, Musikern und gele gentlich Wissenschaftlern und Philosophen von großer Scharfsin nigkeit und Abstrusität. Von jenen letztgenannten Intellektuellen hatte Michaelis bald jene rare Kunst der Verfolgung eines Ideals gelernt; und ihrem Beispiel folgend erkannte er schnell die Mög lichkeit einer nützlichen Verbindung zwischen einem solc hen Ideal und seiner eigenen Arbeit. Es gab fröhlichere Dinge, um diese Ernsthaftigkeit im Leben des jungen Mannes auszugleichen: Teegesellschaften, Salons, Di ners, Bälle, bei gutem Wetter tägliche Ausritte, Kirchenfresken, die studiert werden mußten, Palazzi mit Gemälden, die darauf warteten, besucht zu werden. Ebensowenig zeigte sich das schöne Geschlecht abwesend oder abweisend gegenüber Michaelis. Etli che Frauen verschiedenen Alters, verschiedenen Stands und ver schiedener Nationalität hatten insgeheim schon bei der ersten Be gegnung ihr Herz an den schneidigen Maler verloren. Michaelis, seinerseits, hatte die Dame seines Herzens aus den vier hübschen 238
Töchtern eines anglikanischen Predigers, dem inoffiziellen Vor stand der englisch sprechenden Gemeinde in der Stadt, erwählt. Da die junge Frau — obgleich sie sich sowohl der Zuneigung des Künstlers gewahr wurde als diese auch zu erwidern schien — zum Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung noch minderjährig war, vergingen beinahe sechs Jahre, bis das Eheversprechen eingelöst werden konnte. Als sie dann schließlich vor den Traualtar traten, war Michaelis' Glück vollkommen. Er hatte erst kürzlich den Auf trag für ein großes Wandgemälde für das Empfangszimmer eines der mächtigsten Prälaten der römischen Kirche beendet. Seine Ar beiten waren nie gefragter oder höher geachtet gewesen, und sein Ruhm, ebenso wie der seiner Kollegen und seines Freundeskrei ses, überspannte den Kontinent. Charlotte aber war die Blume seines Daseins. Jene extreme Zufriedenheit sollte nur acht Monate andauern. Auf einer Reise in die Campagna wurde die Signora Michaelis un erwartet von einem Fieber überfallen. Da sie von zarter Konstitu tion war, erlag sie ihm innerhalb von vierzehn Tagen. Wie zu erwarten war, kannte Michaelis' Gram kein Maß. Seine bittere Enttäuschung über Charlottes Tod rief eine Melancholie hervor, die sich noch vertiefte, lange nachdem die natürliche Zeit der Trauer verstrichen war. Sein so kurzzeitiger klerikaler Schwie gervater lauschte mit großer Besorgnis und wenig Hilfestellung den Worten des jungen Künstlers, welcher eine gefährliche Nei gung zur Ketzerei entwickelte. Ein Jahr verging, dann ein zweites, und Michaelis sah sich noch immer außerstande, seine früheren Kontakte wieder aufzuneh men oder, was noch wichtiger schien, zu jener Arbeit zurückzu kehren, die einst der Born seines Lebens gewesen war. Wenn man ihn zuvor für die Höhenflüge seiner Vorstellungskraft und seinen ungezwungenen Humor geachtet hatte, so wurde er nun von sei nen Freunden für die verschiedenen langatmigen Klagegesänge über das Düstere gemieden, welche er beim geringsten Anlaß an stimmen konnte. Frühere Gefährten wandten sich von ihm ab oder besuchten ihn nur mehr selten und nur aus einem gewissen Pflichtgefühl heraus. Michaelis' Malerei — einst eine Freude für all jene, die von der ihr innewohnenden strahlenden, edlen Huldigung an Jugend und Hoffnung fasziniert wurden — durchlebte eine Verwandlung, die im völligen Einklang mit seiner veränderten Befindlichkeit stand. 239
Er begann, einer neuen Kunsttheorie anzuhängen: deren Inhalt war, daß Farbe selbst eine Entartung der Sinne, eine Falle der Illu sion wäre. Bald erklärte er, daß alle Farben zugunsten eines kohä renten Systems aufgelöst werden sollten. Michaelis studierte frü here Theoretiker der Farbenlehre und fand heraus, daß der größte Teil ihrer Schriften auf Halbwahrheiten und Fehlern fußte. Schließlich, als Ergebnis einer niemals angemessen erklärten Ket te von Schlußfolgerungen, befand er, daß nur durch eine sub tile, aber vollkommene Mischung der chromatischen Skala Far be sowohl dem Verstand als auch den Sinnen gerecht werden konnte. Als er schließlich wieder seine Pinsel und seine Palette zur Hand nahm, begannen sich seine Schattierungen zu verdunkeln; seine Farbtöne waren kaum noch voneinander zu unterscheiden: Rottöne verwandelten sich in tiefstes Indigo, strahlendes Kobalt blau wurde zu schwärzlichem Mitternachtsdunkel. Seine Kunst fertigkeit war noch immer ebenso offenkundig wie zuvor — ja so gar noch höher entwic kelt, wie seine urteilsfähigeren Kollegen at testierten. Doch nur wenige Auftraggeber wollten Porträts, die derart düster, derart farblos waren, daß man Kandelaber benötig te, um auch nur den im Halbschatten liegenden Hintergrund zu erleuchten, und wo die Einzelheiten von Mimik und Ausdruck so flüchtig wie das Flackern einer Kerze schienen. Die Aufträge blieben aus, und Michaelis' Ruhm verwandelte sich in den eines Exzentrikers — oder, schlimmer noch, in den ei nes Scharlatans. Daß seine neuen Arbeiten verhöhnt und ge schmäht wurden, bestärkte ihn aber nur in seiner Überzeugung, daß er die verborgene Wahrheit der Kunst gefunden hatte. Er machte sich mit neugefundenem Eifer daran, die Düsterkeit seiner Palette, die komplexe Obskurität seiner Visionen zu erweitern. Nach und nach schlichen sich Verbitterung und Armut in sein Le ben. Selbstgewählte Einsamkeit, Trostlosigkeit und ein zuneh mendes Fehlen jeglicher Freude an menschlichen Aktivitäten ver wandelten seine Höflichkeiten in Grobheiten. Mißtrauen, Men schenfeindlichkeit und ein wachsendes Gefühl der Feindseligkeit ließen ihn verstummen. So hatte William seinen Freund vorgefunden, und so war Mi chaelis während des gesamten Besuches geblieben, trotz aller Be mühungen, ihn durch Erinnerungen an gemeinsame jugendliche Freuden und Schwanke der Trübsal zu entreißen. Ebensowenig 240
vermochte William, überzeugende Alternativen und Handlungs weisen für eine Zukunft vorzuschlagen, welche sogar Michaelis selbst als einen immer tieferen Abstieg sah. Der Amerikaner fleh te seinen Freund an, mit ihm in ungefähr zwei Wochen in die we niger düstere Umgebung ihres Mutterlandes und zu den gesünde ren Erinnerungen und Beschäftigungen, die eine solche Reise mit sich bringen würde, zurückzukehren; doch dem Maler mochte der Gedanke nicht gefallen, den Ort seines höchsten Glücks und sei ner tiefsten Verzweiflung zu verlassen. William sollte am über nächsten Tag nach Venedig aufbrechen und sich dann allein nach Boston einschiffen. Bekümmert willigte William ein, wobei er abermals die ausgemergelte Erscheinung musterte, die einst so voller Leben gewesen war; so als wäre er ebenfalls ein Künstler und wünschte, jede grausam aufgezwungene Verzerrung der Ge sichtszüge für ein zukünftiges Porträt in sein Gedächtnis einzu brennen. Michaelis' fortgesetztes Schweigen und das daraus resultieren de Schweigen seines Gefährten wurden plötzlich unerträglich. William war gerade vom Tisch aufgestanden und hatte seine Ab sicht zu gehen bekundet, als von der Wohnungstür her ein Klop fen zu vernehmen war, welches zwar weniger beunruhigend als das zuvor gehörte klang, doch ob der Akustik der hohen Decken einen noch ominöseren Nachhall besaß. Sein Gastgeber bat William, noch eine Minute zu bleiben, wäh rend er selbst zur Tür ging, um nach der Ursache des Klopfens zu forschen. Aus dem äußeren Korridor hörte William das italieni sche Sprachtrommelfeuer der Haushälterin, gefolgt von den keh ligeren Akzenten seines Freundes in derselben Sprache, zwischen die sich bald eine weitere, hellere Stimme mischte, die einen Dia lekt des Italienischen sprach. Michaelis kehrte vollkommen verwandelt ins Zimmer zurück und bat energisch gestikulierend die beiden schmutzigen Conta dini herein, die William zuvor draußen gesehen hatte. Die beiden schauten sich zögernd und ehrfurchtsvoll ob der Größe und Ele ganz der Wohnräume um. Der Künstler machte sich in der Zwi schenzeit daran, auf der Tischmitte einen Platz freizuräumen, und forderte die beiden Männer auf, dort ihr Päckchen abzustellen und es zu öffnen. Nachdem die schimmeligen Tücher entfernt worden waren und man jedem der beiden Bauern einen Bocksbeutel Wein gereicht 241
hatte, berührte und streichelte Michaelis einen rauhen Stein von der Größe und Form eines Drei-Pfund-Laibs frischgebackenen Brots. William war ebenso verblüfft von diesem plötzlichen Stim mungsumschwung seines Freundes — der nun hektische, erregte Begeisterung zeigte —, wie von dem Stein selbst. Ohne sich in der Unterhaltung mit seinem Freund stören zu lassen, nahm der Künstler einen kleinen Holzhammer hoch, wie ihn Marmorsteinmetze benutzen, und schob einen Keil in einen haarfeinen Riß, der sich auf der oberen Hälfte des Steinlaibs ent langzog. »Diese Männer, William, stammen aus dem Landstrich nahe L'Aquila in den Abruzzischen Apenninen, wo es die tiefsten Koh lenminen des gesamten Stiefels gibt — die tiefsten ganz Europas, wenn man den Gerüchten glauben darf. Sie versichern mir, daß das, was sich mir nun gleich offenbaren wird, die feinste, reinste, schwärzeste Knochenkohle ist, die sie oder irgend jemand anders je zu Gesicht bekommen haben. Wenn sie die Wahrheit sagen, dann habe ich endlich das Pig ment gefunden, nach dem ich die gesamten vergangenen drei Jah re gesucht habe; das unausweichliche, doch beinahe ideale Ergeb nis meiner Studien und Experimente; diese Basis werde ich mah len und mit Leinöl vermischen lassen, um mein perfektestes Mei sterstück fertigzustellen — dort! Jene große, verhängte Leinwand, die du schon vorhin bemerkt und nach der du mich gefragt hast — die ich aber weder dir noch irgendeinem anderen Menschen zei gen wollte und die unvollendet brachgelegen hat, in Erwartung dieser endgültigen Farbe. Wenn diese Männer die Wahrheit sagen, William, dann liegt hier vor uns, wovon ich geträumt habe, was ich benötigte, um meine Theorie zu beweisen. Dann werde ich innerhalb von vier zehn Tagen Rechtfertigung erfahren, wenn der neue Salon von Rom eröffnet und mein Gemälde die höchsten Lobeshymnen ein heimsen wird.« Michaelis versetzte dem Keil einen letzten, fast zärtlichen Schlag, und der Stein gab einen Laut so leise wie ein Seufzen von sich, bevor er sich spaltete und glatt auf die ihn umgebenden Tü cher fiel. Darinnen lag, in der Größe einer Männerfaust — eines Männerherzens — ein Block von Kohle — so schwarz, so dicht, daß die Contadini und mit ihnen auch William unwillkürlich einen erschreckten Laut ausstießen und davor zurückwichen. 242
Michaelis starrte darauf und gab schließlich ein kehliges Mur meln von sich. »Ah, welche Schönheit!« William war außerstande, seine Augen von dem dunklen Mine ral auf dem Tisch abzuwenden. Seine Schwärze war so intensiv, daß es vor seinem Blickfeld zurückzuweichen schien, nur um gleichzeitig seinen Blick tiefer in sich hineinzuziehen. »Was ist das?« fragte er. »Jetzt nur ein schönes Stück Kohle. Doch wenn es zu einem Pigment verarbeitet worden ist, William, dann wird es absolutes Ebenholzschwarz sein!« William wiederholte die Worte mit wachsendem Unbehagen. »Alle aus Licht zusammengesetzten Farben lassen sich in reines Weiß verwandeln«, erklärte Michaelis. »Goethe hat das bewiesen. Doch alle aus irdischen Materialien zusammengesetzten Farben vermischen sich zu Schwarz. Daher habe ich ein Meisterwerk in Schwarz gemalt, welches so düster ist, daß im Vergleich dazu Rembrandts dunkelste Werke wie sommerlicher Firlefanz erschei nen. Wir müssen sehen, wie sich dieses Kohlestück pulverisieren läßt. So gut seine Färbung auch ist, es muß sich in der korrekten Weise zermahlen lassen, da es sich sonst nicht richtig verwenden läßt.« Mit diesen Worten schabte er mit der einen Seite des Keils ge gen den Klumpen, bis ein feines Pulver herabrieselte. Dieses hob der Künstler mit einem Finger hoch und studierte es sorgfältig und schließlich befriedigt im Kerzenlicht. »Es wird genügen«, erklärte der Künstler, dann setzte er sich hin und trank einen Schluck Wein, wobei er abermals in trübseli ges Schweigen verfiel. William war überzeugt, daß das Eintreffen der Contadini mit der Kohle einen Wendepunkt im Leben seines Freundes darstellte. Er hatte niemals an Michaelis' Können oder Genialität gezweifelt, doch jenes letzte Geschehnis trug die Vorzeichen eines Disasters in sich. Wenn er einem ganz in Schwarz gehaltenen Gemälde ein noch schwärzeres Pigment hinzufügte, würde er sein Schicksal in Rom besiegeln. Seine Leinwand würde, fertiggestellt, im Salon aufgehängt, verhöhnt und das Objekt von groben Scherzen und Persiflagen werden. Michaelis würde am Boden zerstört sein. Dann konnten Williams Argumente für eine Rückkehr in sein Heimatland die einzige verbleibende Alternative darstellen. So von den Umständen dazu gezwungen, seinen Fehler wie der tu 243
gendhafte und wahrheitsliebende Mann einzusehen, als den Wil liam seinen Freund Michaelis kannte, würde der Künstler dazu gebracht werden, zu einer bescheideneren Theorie und einem Le ben des Lichts und der Farbe zurückzukehren. Doch die Kohle selbst war seltsam beunruhigend, und William sah sich gezwungen, sich anderwärtig zu beschäftigen, auf daß sein Blick nicht immer wieder von dem sonderbaren Objekt ange zogen wurde. Er bezahlte die Bauern aus seiner eigenen Tasche, fand darauf die Haushälterin und schickte sie aus, den Pigment macher Castelgni für Signor Michaelis zu holen, der dringend sei ner Dienste bedürfte. Der Künstler rührte sich nicht von seinem Platz. Er saß da und betrachtete die Kohle mit konzentrierter Aufmerksamkeit, so als sähe er in ihr mehr als seine Rechtfertigung, so als könne er ein vollkommen neues universelles Potential in ihren Tiefen erspä hen. Der Künstler war derart in Trance geraten, daß William ihn aus seiner Versunkenheit aufrütteln mußte, um sich von ihm zu ver abschieden. Als er aus der Pensione auf die Straße trat, wurde Wil liam von dem Pigmentmacher begrüßt, der eilig die breite, schummrige Treppe zu Michaelis' Atelier hinaufhastete. Nachdem der Pigmentmacher einen Splitter von dem Kohleklum pen abgekratzt hatte, zerstieß er ihn zu einem feinen Pulver, das er dann in ein altes Bronzegefäß füllte, welches die altgedienten Spuren vieler vorheriger Mischungen trug. Einige Spritzer Wasser wurden hinzugefügt, dann folgte ein Bindungsmittel — ein Ge misch, dessen Rezeptur Castelgni von seinem Vater gelernt hatte, und der wiederum von seinem Vater, und so weiter, bis zurück zu den Tagen und dem Atelier des großes Veronesers selbst, wie man sich erzählte. Nachdem er damit fertig war, rief Castelgni Michae lis hinzu, der sich derweil damit zu schaffen gemacht hatte, eine große und, wie es dem römischen Gildehandwerker schien, kon turenlose Leinwand zu enthüllen. »Wie sieht die Farbe aus, alter Mann?« »Nerissimo«, erwiderte der Pigmentmacher. »Schwärzer als je des Schwarz zuvor.« In der Tat schien das flache Gefäß, welches kaum mit einem halben Zoll des neuen Pigments bedeckt war, mehr als einen hal ben Liter davon zu fassen, so als hätte es sich unvermittelt zur 244
Größe eines weiten Bocksbeutels geöffnet; so als würden die ge wöhnlichen Gesetze der Tiefe und optischen Verkürzung nicht mehr gelten. »Zermahlen und mischen Sie alles davon — aber vorsichtig, wenn ich bitten darf«, warnte Michaelis. »Ich brauche alles. Brin gen Sie es mir, sobald Sie damit fertig sind.« Er wickelte das übriggebliebene Stück Kohle ein, wobei er es wieder sorgfältig in seinem Schutzmantel aus Stein verschloß. »Sobald Sie damit fertig sind, haben Sie verstanden? Egal, zu welcher Stunde. Lassen Sie mir diese Anmischung da. Ich muß sie ausprobieren.« Nachdem Castelgni gegangen war, nahm der Künstler das Ge fäß hoch, blickte noch einmal in seine Tiefen und trug es dann hinüber zu seiner Palette, die dem nunmehr enthüllten Gemälde gegenüber aufgestellt war. Nicht einmal die römische Nacht war finster genug für die Fein heiten der Dunkelheit, die er schon zuvor auf die Leinwand ge bannt hatte. Die gewirkten Vorhänge des Ateliers waren doppelt übereinandergezogen. Zwei fahle Kerzen in Wandhaltern wurden von bemalten schwarzen Schirmen beschattet. Innerhalb dieser unvergleichlichen Dunkelheit stand Michaelis' neues Gemälde, die Summe seines Lebenswerks, ungleich jedem anderen je ge schaffenen Gemälde. Es war ein lebensgroßes Porträt von Michaelis selbst, gekleidet in das Kostüm eines spanischen Granden des vergangenen Jahr hunderts. Auf dem Gemälde stand er halb dem Betrachter zuge wandt, so als wäre er von ihm fortgegangen und dann plötzlich gerufen worden und hätte sich zum Rufer umgedreht — ein au ßergewöhnlich schwieriger Blickwinkel, selbst wenn er mit Hilfe eines Modells erreicht worden wäre. Daß es ein Selbstporträt war, machte es noch bemerkenswerter, besonders, da Michaelis' Sorg falt und technisches Können sicherstellten, daß das Porträt ein Kompendium jeglicher künstlerischen Fertigkeit der Proportion und Perspektive war. Doch der ungewöhnliche Blickwinkel der dargestellten Person hatte noch einen anderen, wichtigeren Grund: er erlaubte, daß mehr als die Hälfte der gesamten Leinwand einer einzigen Fläche zuteil wurde, die Michaelis nun mit seinem neuen Pigment füllen wollte — die Fläche des knöchellangen Umhangs, den Michaelis 245
trug. Der Umhang fiel schwer von seinen breiten Schultern, sank wie Blei herab und wogte leicht an den oberen Rändern seiner Stiefel, um sowohl die Illusion plötzlicher Bewegung zu vermit teln als auch die übermächtige Gewalt der Schwerkraft. Die Fläche war längst für die neue Farbe vorbereitet. Über Mo nate hatte Michaelis sie mit einer Grundierung aus eigener Her stellung bestrichen, die Pigment und Leinwand untrennbar ver band. Nachdem die Grundierung getrocknet war, hatte der Künst ler die Fläche mit Lampenruß übermalt, der bis dahin dunkelsten Schattierung, die ihm zur Verfügung stand. Für andere hätte dies wohl den Endpunkt seiner Arbeit dargestellt. Michaelis konnte je doch nur voller Schmerz darauf blicken, denn er wußte, wie weit entfernt Lampenrußschwarz von seinem Ideal war. Und doch, nachdem auch diese Malschicht getrocknet war und Michaelis pe dantisch die gesamte Fläche des gemalten Umhangs abgekratzt hatte, konnte er zu seiner größten Zufriedenheit feststellen, wie gut seine Grundierung gehalten hatte. Das Rasiermesser, das er benutzte, war so fein, daß es an manchen Stellen beinahe die Lein wand aufschlitzte — man hätte das Gesicht eines Menschen deut lich durch die zarte Oberfläche sehen können —, und doch war al les schwarz; vorne wie hinten; perfekt vorbereitet für den letzten Farbauftrag. Michaelis entschloß sich zu einer einzigen weiteren Verfeine rung — beinahe ein Scherz. Er würde einen schmalen Rand, etwa einen halben Zoll, Lampenrußschwarz stehenlassen und das neue Pigment mit mehreren weiteren Linien Lampenrußschwarz umrei ßen, als vertikal fließende Andeutung von Falten. Sie müßten ge gen das neue Schwarz beinahe hell erscheinen. Er tauchte einen Pinsel in das Mischgefäß, wobei er größte Sorgfalt walten ließ, um sich nicht ob der sonderbaren Tiefe zu verschätzen. Dann zog er den Pinsel mit einem Tropfen der tief sten Finsternis auf dem dichten Kamelhaar heraus und hob ihn an die Leinwand. Das Pigment sprang beinahe auf das Bild; nur ein schwacher tintiger Fleck blieb auf dem Pinsel zurück. Es wurde augenblick lich völlig von der vorbereiteten Leinwand aufgesogen und hob sich gegen die anderen Schwarztöne ab wie ein Flecken der Un endlichkeit. Eilig, gierig tauchte Michaelis erneut seinen Pinsel ein und legte mehr Pigment auf, vergrößerte den Fleck, fügte noch mehr hinzu, 246
dann noch mehr, dann alles, bis das Gefäß abermals flach erschien und das Pigment, in der Größe einer Männerhand, die obere rech te Ecke des Umhangs bedeckte. »Nerissimo«, flüsterte Michaelis die Worte Castelgnis. »Schwär zer als jedes Schwarz zuvor.« Der Künstler zog sich einen Stuhl heran, setzte sich vor die Leinwand und betrachtete nachdenklich sein Werk, bewunderte die neue Farbe, bis es schien, daß die Stunden der Nacht ausge löscht wären. Als er schließlich auf das Klopfen seiner Haushälte rin hin das Studio verließ, mußte er zu seiner Überraschung fest stellen, daß der Tag schon angebrochen war. Er schlief ein wenig, während des späten Vormittags und Nach mittags. Einmal wurde er kurzzeitig von Williams Stimme drau ßen aus dem Schlummer geweckt: sein Freund verlangte Einlaß und wurde mit entschiedenen Worten von der beschützenden Haushälterin des Künstlers abgewiesen. In der Abenddämmerung kam Castelgni, begleitet von einem Lehrling, der ihm half, einen großen abgedeckten Bottich zu tra gen. Nachdem Michaelis den Deckel hatte abnehmen lassen, blickte er in die unermeßlichen Tiefen des schwarzen Pigments. Die Mischung war wunderbar gelungen. Der Gildehandwerker entschuldigte sich für sein spätes Kom men. Seine Frau, sagte der alte Mann, habe nicht erlaubt, daß der Klumpen Kohle in ihrem Haus bliebe. Die abergläubische alte Närrin hatte Kerzen angezündet und den ganzen Tag über Lita neien gemurmelt. Castelgni war gezwungen gewesen, um Auf nahme in der Werkstatt eines befreundeten Handwerkers zu bit ten, damit er die Mischung fertigstellen konnte. Als er dies hörte, begann der einfältige junge Lehrling, schon jetzt von der intensiven Schwärze des Pigments verängstigt, zu wimmern und flehte, daß der Meister ihm erlauben solle, zu ge hen. »Nun, die Herstellung des Pigments war sehr einfach«, sagte der phlegmatische alte Mann lächelnd. »Beinahe so, als wäre es begierig darauf, zu Farbe für den Signore zu werden.« »Es wird gesagt, daß der große Frans Hals siebenundzwanzig ver schiedene Schattierungen von Schwarz kannte und ebenso darum wußte, wann er welche davon für die perfekteste Wirkung einset zen mußte. Rembrandt selbst benutzte neunundzwanzig ver 247
schiedene Schattierungen von Schwarz für Hüte und Wamse und Hintergründe, um jeden der Ärzte in seinem Massenporträt Die anatomische Vorlesung des Dr. Deyman zu unterscheiden. Die Chi nesen haben gar eine Schule der Tintenzeichnung, in der keine Farbe zugelassen ist. Ihre Abstufungen reichen von Grautönen, die so undeutlich scheinen wie der zarte Fleck, den der Finger ei ner Jungfrau auf dem Blütenblatt einer weißen Chrysantheme hinterlassen hat, bis zum tiefsten Schwarz, das dazu benutzt wird, ein einziges Wort in ihrer sonderbaren visuellen Sprache zu schreiben — jenes Schriftzeichen, dessen Bedeutung ewige Ruhe ist. Die Anzahl ihrer Schwarztöne ist dreißig. Ich habe schon jetzt einen Ton mehr als sie entdeckt. Mir, eben so wie diesen Mandarinen, sind die verschiedenen Schattierungen so vertraut, als hätte jede davon einen eigenen Namen und Cha rakter. Es existiert ein Spektrum von sechs Schwarztönen auf Ei senoxidbasis und der zartesten Andeutung von Scharlachrot, die mir als die wahren Farben des Blutrauschs in der Schlacht und den Fiebern der Pestilenz erscheinen. Andere Schwarztöne, mit Andeutungen von Braun und Grün, sind schwelgerisch, so als wären sie in samtigen Plüsch eingebettet. Einige Schwarztöne sind gewissen Praktiken römischer Kurtisanen zuzuordnen, die mir maskierte Frauen auf orgiastischen Straßenfesten ins Ohr ge flüstert haben, während andere Schattierungen von stiller Diplo matie erzählen, von bekümmerten Höflichkeiten und letzten ed len Worten, die hochgeborene Männer und Frauen sprachen, die ihr Ende durch Verrat und auf dem Block des Henkers fanden. Andere Schwarztöne erscheinen beinahe bezaubernd: einer, mit einer Andeutung von Indigoblau, ist so schrill und aufgedonnert wie eine Pariser Soubrette, Wieder andere sind ernst und nüch tern wie die Trauerschleier einer Witwe, schwer wie die ungehör ten Flüche jahrzehntealter Gefangener in luftlosen Kerkern. Ich habe mich mit diesen Variationen der Mutlosigkeit und Trostlosig keit vertraut gemacht und habe dann meinerseits neue Schattie rungen erfunden, um damit jene tiefe Verzweiflung auszudrük ken, die ich durchlebte. Ein reines Lampenrußschwarz aus Liverpool ist so schwarz, daß es in grellem Licht beinahe weiß glitzert. Aber dies hier! Das beweist nur meine Behauptung. Ich wollte ein Pigment, das nicht prismatisch nach außen reflektiert, sondern nach innen, mittels einer geheimen Verfeinerung der Natur.« 248
Michaelis hielt inne und verfiel in grüblerisches Schweigen. William blieb nichts weiter, als zu seufzen. »Wirst du heute abend beginnen?« fragte er. »In der Minute, in der du mich verläßt. Und ich werde arbeiten, bis es vollendet ist.« »Dann wünsche ich dir eine gute Nacht. Morgen früh reite ich nach Pisa und von dort nach Venedig. Aber ich werde zurückkeh ren, bevor die Ausstellung ihre Pforten öffnet. Versprich mir, an diesem Tag mit mir nach Amerika zurückzukehren.« »Nach der Ausstellung werde ich nirgendwo mehr hingehen müssen«, erklärte der Künstler. »Ich werde angekommen sein.« Es war in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages, als Michaelis die letzten Tropfen des Pigments auf die letzten unbe deckten Quadratzentimeter der Leinwand auftrug. Wie bei jedem vorherigen Pinselstrich schien die Farbe förmlich vom Pinsel auf die Leinwand zu springen, so als würde sie den Teil von sich selbst wiedervereinigen, der durch den Akt des Auftragens ge trennt worden war. Während dieser erschöpfenden Arbeit hatte der Künstler kaum einen Blick auf die Leinwand vor ihm geworfen, und wenn doch, dann nur, um sich zu versichern, daß das neue Pigment glatt und eben neben dem Umriß aus Lampenruß lag, den er als Begren zung vorgesehen hatte. Nun, nach Beendigung der Arbeit, trat er einige Schritte zu rück, um sein Porträt zu betrachten, und spürte augenblicklich, wie Tränen in seine Augen drangen. Es war genau so, wie er es sich vorgestellt hatte: die Figur in ihrer ungewöhnlichen Haltung vor dem düsteren Hintergrund, sein Gesicht halb verborgen von dem schimmernden rußschwarzen Domino, den er mit einer schwarz behandschuhten Hand hochhob, die Schatten, die drei ßig anderen individuellen Schwarztöne, die er für das Kostüm be nutzt hatte; Schattierungen von Silberschwarz, die über Kreuz aufgetragen waren, um das Schimmern von Satin anzudeuten, goldenes Schwarz, zart verziert, um die seidigen Stoffe seines Wamses und seiner Hose darzustellen; bläuliches Schwarz und Indigoschwarz in Wirbeln und winzigen Kreisen, um die Textur einer Halskrause oder die aus jedem dunklen Ärmel hervorblit zenden Hemdrüschen nachzuahmen; braunere Schwarztöne in sorgfältigen Pinselstrichen, um die Einzelheiten des Gesichts 249
haars und die Glanzlichter des breitkrempigen Huts auf seinem Kopf einzufangen, alle genial miteinander verwoben und aufge tragen, daß sie eine Palette anboten, die ebenso reich und kom plex war wie die von David und Delacroix, seinen Zeitgenossen. Selbst wenn jemand so kurzsichtig gewesen wäre, diese vielen dunklen Feinheiten mißzuverstehen, so hätte er erkennen müs sen, daß in dem Selbstporträt das neue Pigment dominierte: die immense und unendliche Schwärze des Umhangs. Während er das Bild so anschaute, hatte Michaelis das Gefühl, er würde durch ein Portal in eine vollkommen neue Dimension blicken, eine Dimension, gänzlich entgegengesetzt allem, was der Mensch je gesehen hatte. Wo die Ränder aus Lampenruß endeten und die neue Farbe begann, wurde eine so scharf gezogene Tren nung sichtbar, daß dies anzuzeigen schien, daß daneben eine an dere Realität existierte. Der dunkle Umhang wölbte sich durch ei ne seltsame Eigenschaft des Pigments nach innen, sog Michaelis' Blick hinein, tiefer und tiefer in einer sich gegen den Uhrzeiger sinn drehenden Spirale, bis Michaelis sich schwerelos fühlte, au ßerstande, sich an der Stabilität des Fußbodens oder der Wände oder der Decke festzuhalten. Plötzlich übermannte ihn Angst, daß er in die Schwärze des Umhangs fallen könne, und er riß sich von der Leinwand los und setzte sich mit akribischer Sorgfalt in eini gem Abstand zur Staffelei in einen Ohrensessel. Jene Vorsichtsmaßnahme half wenig, seinen Eindruck zu ver treiben. Aus einer Entfernung von vier Metern wurde das Gefühl, daß die neu bemalte Fläche sowohl mehr als auch weniger denn eine flache Oberfläche war, nur noch intensiviert — so als hätte er dabei geholfen, die Abgründe des Himmels selbst darzustellen, eines sternenlosen Himmels, der auf sonderbare Weise im Verein mit der Negation aller Materie lebendig zu pulsieren schien. Ein weiterer sonderbarer Nebeneffekt des neuen Pigments war es, daß das große, düstere Atelier nun kleiner, beinahe intim er schien, besonders an dem Ende des Raums, an dem die Leinwand stand. Man mag vielleicht unterstellen, daß das Licht selbst nicht länger einen Ort wie diesem, dem es so absolut an Helligkeit mangelte, seine übliche Macht oder Eigenschaft ausüben konnte. Es war ein bitterer Triumph, dieses ultra-schwarze Gemälde, und dennoch war es ein Triumph, den Michaelis als solchen fühl te. Er war so verliebt in seine Schöpfung, daß er stundenlang da vor saß, bevor er auf der unbequemen Studiopritsche einschlief. 250
Als er aus seinem langen, doch wenig erfrischenden Schlaf er wachte, war der Tag draußen vor seinem Fenster feucht und grau und drückend. Er war noch immer erschöpft und fröstelte infolge der plötzlichen Nässe, die die Stadt den ganzen Tag über in ihrem Griff hielt. Den Nachmittag und Abend verbrachte er versunken in sein Meisterwerk, in dessen Schlund des absoluten Schwarz er den Widerhall all jener Pein und Verzweiflung entdeckte, die er so lange empfunden hatte. Jene Momente, in denen er vermochte, sich von der Leinwand und insbesondere von dem gähnenden Abgrund des Umhangs loszureißen, waren von einem vagen Gefühl der Unbehaglichkeit und der Ruhelosigkeit gekennzeichnet. Er stocherte in seinem ein sam eingenommen Abendessen, blätterte geistesabwesend in ei nem halben Dutzend Bänden mit Gedichten und Philosophie, bei denen er früher in seinen melancholischsten Stunden Trost gefun den hatte, nur um sie jetzt ungelesen wieder fortzuwerfen. Als er in jener Nacht in den Schlaf zu sinken begann, vermeinte er, das entfernte Ansteigen der Flutwasser zu hoffen. Die folgenden Tage verbrachte Michaelis in dem Versuch, einem Gefühl der Mattigkeit Herr zu werden, das sich jedoch nicht ver treiben ließ. Seine Haushälterin sagte, sie hoffe, daß er nicht krank sei, doch da er keine speziellen Symptome odler Beschwerden zu benennen vermochte, konnte der Arzt, nach dem geschic kt wurde, auch nichts finden, was den Künstler plagte, und so ging er schließlich verwirrt wieder fort, nachdem er Michaelis Ruhe verschrieben hatte. Michaelis nutzte die ärztliche Verordnung, um jeglichem Kon takt mit anderen aus dem Weg zu gehen, deren Gegenwart er zu nehmend als unerträglich empfand. Er bat darum, daß seine Spei sen vor seiner Tür abgestellt wurden, wo Antonia sie oft Stunden später noch unberührt vorfand. Der Übergang zwischen Schlaf und Wachsein war einfacher als je zuvor und kam im Verlauf der vierundzwanzig Stunden eines Tages nun auch viel häufiger vor. Bald fiel es ihm schwer, mit Hilfe seiner früherem Überzeugungen zwischen diesen beiden Bewußtseinszuständen zu unterscheiden. Statt dessen begann er, sich in einem Zwischenstadium aufzu halten, und in diesem starrte er dann Stunde um Stunde aus dem Fenster oder — was noch häufiger vorkam — lehnte am Türrah men des Studios, jener Arbeitskammer, die ihm nun in seinen Au gen winzig erschien, abgesehen von dem Gemälde, welches rie 251
senhaft auf der anderen Seite des Raums aufragte und dessen ehrfurchteinflößende Tiefen flackerten und seltsame Stimmungen in Michaelis wachriefen. Er begann, leise Geräusche zu vernehmen, die aus dem Innern der Leinwand zu kommen schienen: Geräusche wie jenes, das er zuerst für ansteigendes Wasser gehalten hatte, so als wäre irgend ein flüssiges Medium mit großem Beharrungsvermögen in weiter Ferne zum Leben erweckt worden; und die Bewegung bewirkte das stille, doch deutliche Bild eines dunklen, zähflüssigen Teichs, der unablässig träge gegen den Rand der Leinwand schwappte. Er begann, sowohl im Schlaf als auch im Wachen, unerklärliche Fantasien zu haben, die von einer kleinen, mißgestalteten Kreatur — schwarz wie die Schwärze des Umhangs — handelten, die sich im Innern des Pigments versteckte und die leise wimmernd von einem schrecklichen, da unerfüllbaren Verlangen kündete. Als er begann, dies zu hören, verstummte das leise Schwappen. Doch das Wimmern setzte sich fort, manchmal über Stunden, manchmal kaum vernehmbar, dann wieder so laut, daß er sich nicht mehr selbst denken hören konnte. Ebensowenig konnte er dem Wimmern entfliehen. Er mußte feststellen, daß er außerstan de war, sich jenseits eines unsichtbaren, wenn auch genau defi nierten Radius um die Leinwand herum zu bewegen, ohne eine unbestimmte, doch allumfassende Panik und tatsächlichen kör perlichen Schmerz in der Form von Migräne zu verspüren. Von Zeit zu Zeit hatte er den Eindruck, das Wimmern wäre so nah, daß es von innerhalb seiner eigenen Venen und Arterien käme. Er wagte nicht, sich auch nur kleinste Kratzer zuzufügen, aus Angst, sein Lebensblut würde nicht in menschlichem Scharlachrot, son dern ebenfalls in absolutem Ebenholzschwarz heraussprudeln. Das kindliche Wimmern näherte sich der Tür seiner Schlafkam mer. Obgleich er schlief und träumte und wußte, daß er schlief und träumte, kam das Wimmern durch die präzise beschriebenen Dimensionen und Einzelheiten seiner Bettkammer immer näher, schwarz und klein, beinahe selbst zähflüssig, langsam und unauf haltsam auf seine Bettkante zu. Ein schreckliches Ding! Er wandte sich ab, vermochte jedoch nicht, aufzuwachen. Es kam an die Bettkante und kletterte langsam und beharrlich auf die Bettdecke, während das Wimmern zu einem leisen Hecheln wurde, nicht so sehr ein Atmen, sondern die Umkehrung von Atmung. Noch im 252
mer außerstande, aufzuwachen oder sich zu rühren, kauerte Mi chaelis sich, ängstlich auf das näher kommende Geräusch lau schend, innerlich zusammen, formte seinen Körper zu einem Ball, wie ein Kind es tun mochte, um dem Geräusch auszuweichen. Das abscheuliche Geräusch hallte nun in seinen Ohren, während sich die Kreatur aus dem Innern des Abgrunds der Leinwand ne ben ihm ausstreckte, sich ganz langsam, mit unendlichem, kaum zu spürendem Druck zäh gegen seinen Rücken, seine Beine, sei nen Nacken preßte, wie ein frierendes Kind sich scheu an einen schlafenden Fremden kuschelt, um sich zu wärmen. Michaelis er bebte erst, dann erschauderte er, und schließlich zitterte er ganz erbärmlich, so intensiv war das Gefühl einer lebendigen Schwär ze und eines lebendigen Nichts, die ihm die Wärme und die Farbe und das Leben aussaugten, bis er endlich aufschreckte, aus dem Bett sprang und aus dem Zimmer stürzte. Im Schrank im Eßzimmer fand er eine Flasche Cognac und trank einen Becher, um sich aufzuwärmen und zu beruhigen. Das halbe Jahrhundert hochprozentiger Geister half, die momentane ren Heimsuchungen des grausigen Alptraums zu verscheuchen, und er wickelte sich in seinen Ausgehmantel und trank weitaus ruhiger noch einen Becher des Branntweins, bis seine Hände, die den Becher umschlangen, nicht mehr zitterten und sein Atem nicht länger den kalten Rand des Metalls überfrosten ließ. Den noch wagte er es nicht, wieder einzuschlafen, und verbrachte die verbleibenden Stunden bis zum Morgengrauen zusammengekau ert im Sessel des Eßzimmers, wobei er abwechselnd zur Ateliertür spähte, die einen Spalt weit offen stand, und nervös aus dem Fen ster starrte, um einen Blick auf die ersten Strahlen der Morgen sonne zu erhäschen. Der Alptraum hatte ihn aus der vergangenen Woche der Le thargie aufgeschreckt. Er badete und zog sich eilig an, und noch bevor Antonia bei ihm erschien, ging er zum erstenmal, seit sein Pigment eingetroffen war, hinunter ins Erdgeschoß und bat sie, daß er sich zum Frühstück mit an den Tisch setzen dürfe, den sie täglich für ihre Familie und mehrere andere Gäste der Pensione deckte. Nach einer so langen und vollkommenen Abwesenheit waren alle erfreut darüber, Michaelis in ihrer Mitte zu sehen und gratu lierten ihm zu seiner Genesung, die sich in seinem neugefunde nen großen Appetit zeigte. 253
Aufgemuntert nahm er einen breitkrempigen Hut, um sich da mit gegen die römische Sonne zu schützen, und beschloß, einen langen Morgenspaziergang zu unternehmen. Antonia hatte Er laubnis, seine Wohnung aufzuräumen und zu lüften, eine Aufga be, der sie freudig entgegensah, da man ihr so lange die Aus übung ihrer haushälterischen Pflichten in diesen Räumlichkeiten untersagt hatte. Michaelis kehrte erst nach Mittag in die Pensione zurück. Schon war der größte Teil der römischen Bevölkerung vor der ermatten den Hitze auf den Straßen geflohen und hatte sich zu einer küh len nachmittäglichen Siesta zurückgezogen. Der Künstler fühlte sich wie neugeboren, denn seine nächtlichen Ängste hatten sich im milden Schein der Morgensonne aufgelöst. Er hatte es sich ge rade am Tisch bequem gemacht und las den wöchentlichen Corrie re, um sich einen Überblick über die Neuigkeiten der Stadt zu ver schaffen, während er freudig dem für den kommenden Abend an gesetzten gemeinsamen Essen mit seinem Freund entgegensah, dessen Rückkehr erwartet wurde, als Antonia vor ihn trat, in der Hand die verschiedenen Instrumente ihres Handwerks und auf dem Gesicht einen ernsten Ausdruck. »Sie haben sehr hart gearbeitet, Signore. Zu viel. Das ist schlecht für Ihre Gesundheit. Als Sie sich heute morgen an unse ren Tisch setzten, waren wir zuerst überzeugt, Sie wären ein bö ser Geist.« Michaelis murmelte eine angemessene Antwort. »Nie zuvor habe ich einen so unermüdlichen Künstler kennen gelernt«, fuhr sie fort und drohte ihm tadelnd mit dem Finger. »Sie malen ja sogar im Schlaf.« »Wie meinen Sie das?« »Sehen Sie es sich an«, sagte sie und führte ihn in seine Bett kammer. »Was habe ich gesagt. Da! Diese schwarzen Flecken haben sich gegen alle meine Versuche gewehrt, sie zu entfer nen.« Auf der entgegengesetzten Seite des Bettes, in dem Michaelis schlief, befanden sich zwei Flecken seines neuen Pigments auf den Dielenbrettern. Der Künstler fragte sich, ob er während der letzten Stadien seiner Arbeit an der Leinwand so geistesabwe send gewesen sein konnte, daß er sie, ohne es zu merken, selbst in den Boden seiner Bettkammer hineingetreten hatte. Er schick te Antonia fort, jedoch nicht ohne ihr vorher zu versichern, daß er 254
den Pigmentmacher nach einem Lösungsmittel fragen würde, mit dem man die Flecken entfernen könnte. Nachdem sie gegangen war, kehrte Michaelis jedoch erst ein mal zum Bett zurück, um sich die Flecken näher zu betrachten. Sie gaben nun ein deutlicheres Bild ab. Einer war kaum mehr als ei nen Zentimeter lang, in der Form eines verwischten Halbkreises. Doch als er die beiden Stellen eingehender studierte, sah er, daß der andere Fleck nichts anderes als der Abdruck des Ballens und der ersten drei Zehen eines kleines Fußes sein konnte: groß, deut lich, exakt die Art von Abdruck, die ein Kind mit Farbe an den Fü ßen machen würde, wenn es sich reckte, um ins Bett zu klettern. »Ich war mir sicher, daß das Gemälde mittlerweile beendet sein würde«, protestierte William. »Du siehst aus, als hättest du ohne eine Minute Schlaf daran gearbeitet, seit ich fortgegangen bin.« »Nur noch eine weitere Nacht der Arbeit, dann bin ich fertig«, erwiderte der Künstler, dem die überschäumende Gesundheit sei nes Freundes nicht entgangen war, die in so krassem Gegensatz zu seiner eigenen Erscheinung stand. »Hast du noch immer vor, es auszustellen? Der Salon eröffnet morgen.« »So wird es sein.« William war noch nicht beschwichtigt. »Wir sollten heute abend die Fertigstellung des Gemäldes feiern. Ebenso wie meine Rück kehr. Gehen wir doch auswärts essen. Ich habe schon in unser beider Namen die Einladung zu einem Fest bei Marchesa de B . . . angenommen.« »Du mußt allein gehen. Morgen abend, nach der Ausstellung, werden wir feiern. Ich bitte dich, hab noch etwas Geduld mit ei nem alten Freund.« »Dann also morgen abend«, erklärte William fröhlich. »Davor wirst du dich aber nicht mit einer Ausrede drücken können, das versichere ich dir. Ich fühle mich verpflichtet, dir zu erlauben, dein Gemälde zu beenden. Die letzten Tage und Wochen der Arbeit ha ben einen schrecklichen Tribut von dir gefordert, fürchte ich.« Obwohl erschöpft und traurig, war Michaelis doch ruhig, was William fälschlicherweise als die Ernsthaftigkeit vor der bevorste henden Beendigung dieses wichtigen Werks deutete und nicht als die Resignation erkannte, die es tatsächlich darstellte. »Laß mich nur eben in die Apotheke gehen«, bat der Künstler. 255
»Man hat mir einen Trank versprochen, der mir über die letzten Stunden der Arbeit hinüberhelfen wird.« William ließ seinen Freund im Laden des Kräuterheilkundigen zurück. Michaelis nahm seine Medizin entgegen und machte sich niedergeschlagen auf den Rückweg zur Pensione. Dort angekommen, mischte er die starken Aufputschmittel, die der Apotheker bereitet hatte, in eine Kanne starken, heißen Es presso und trug die Tasse seufzend in sein Atelier. Vor der verhüllten Leinwand standen zwei große Kanister, die auf seine Bestellung hin vom Pigmentmacher und seinem Lehr ling geliefert worden waren. Michaelis löste die Deckel und schlürfte die erste eines Dutzends Tassen des Espressos mit den Aufputschmitteln, die er in den kommenden Stunden trinken würde. Anfänglich war eine große Überwindung vonnöten, um einen Pinsel in den Bottich vor ihm zu tauchen. Noch größere Kraft brauchte es, den Pinsel an die Fläche der Leinwand zu heben, auf der das absolute Ebenholzschwarz gerade erst getrocknet war. Doch Michaelis zwang sich, eiserne Nerven zu behalten. Nur sein Herz war eine leere, öde Eiswüste vom ersten Moment an, in dem die Pinselspitze die Leinwand berührte und er die Zerstörung sei nes Meisterwerks mit dem reinsten, dicksten, weißesten Zink weiß-Pigment begann, das Castelgnis Geschäft zu bieten hatte. Vielleicht war es aufgrund der Vorsichtsmaßnahmen, die er vor Beginn seiner Arbeit getroffen hatte — Dutzende von Kandela bern mit den hellsten Kerzen erleuchteten den Raum, als würde hier gerade ein großes Fest stattfinden —, vielleicht aus anderen, unbekannten Gründen, doch er hatte schon einen großen Kanister des neuen Pigments auf die Leinwand gebracht und hatte gerade damit begonnen, den Pinsel in den zweiten zu tauchen, als er sich des Pulsierens des verbliebenen schwarzen Pigments bewußt wurde. Er arbeitete schneller, tauchte den Pinsel hastiger ein, trug die Farbe mit breiten Pinselstrichen über großen Flächen Schwarz auf. Dann wurde er sich eines schwappenden Geräuschs bewußt, zuerst so leise, daß er es nur mehr spürte: in den Haarspitzen, auf der Oberfläche der Haut seines Gesichts. Doch es ging weiter, wurde stärker, lauter, bis Michaelis nichts anderes mehr hören konnte und mit größerer Hektik arbeitete, um die verbliebenen 256
Flächen des schrecklichen Schwarz zu bedecken. Mehrere Male spürte er, wie der Pinsel, den er benutzte, ihm förmlich von einer Kraft aus dem Innern der Leinwand aus den Händen gerissen wurde. Als nur noch etwa dreißig Quadratzentimeter des ursprüngli chen Pigments übrig waren, wechselte er zu einem größeren, grö beren Pinsel. Dann begann das Wimmern. Wie zuvor das schwap pende Geräusch, begann auch das Wimmern zuerst kaum hörbar, doch während der Künstler seinen Pinsel eintauchte und ihn mit mehr Zinkweiß zur Leinwand hob, wurde es lauter und wuchs zum Crescendo eines kläglichen, durchdringenden Stöhnens an, welches so allumfassend war, daß er sich sicher wähnte, man kön ne es in dem umgebenden Dutzend Straßen und Häusern hören. Er stopfte sich Wachs in die Ohren, das von den vielen Kerzen um ihn herum heruntergetropft war, und machte sich, derart zeit weilig geschützt, von neuem fieberhaft an die Arbeit. Nun waren nur noch wenige Zentimeter des Schwarz übrig. Doch als er seinen Pinsel in das Zinkweiß tauchte, stellte er fest, daß der Kanister leer war. Die weiße Farbe war aufgebraucht, verschwun den. Verzweifelt kratzte er genug von den Seiten des Kanisters ab, um einen winzigen Flecken zu bedecken, dann fluchte er und kippte die leeren Bottiche mit einem Fußtritt um. Die große Leinwand begann sich vorzuwölben, so als wolle sie das aufgetragene Weiß abstoßen — so als ob das, was im Innern existierte, versuchen wolle, sich zu befreien, herauszukommen — zu ihm. Michaelis ignorierte die blähenden Bewegungen so gut er konnte, während er zitternd all seine abgelenkte Aufmerksamkeit darauf konzentrierte, sich einen Weg auszudenken, wie er den letzten verbliebenen Flecken des Schwarz bedecken könne. Sein Herz hämmerte wie wild ob der Erinnerung an den Besucher der letzten Nacht und den Fußabdruck, den er gesehen hatte, ob des Wimmerns, das nun sogar das Wachs in seinen Ohren durch drang, so als würde der Laut aus seinem Gehirn selbst stammen. Nicht einmal ein Fingerhut voll Weiß war noch übrig. Es war vier Uhr in der Früh: unmöglich, an weitere Farbe zu kommen. Wie sollte er die Stelle übermalen? In diesem Moment wäre Michaelis beinahe verrückt geworden. Er spürte eine Macht innerhalb jenes winzigen übriggebliebenen 257
Flecks schwarzen Pigments, die ausgelöscht werden mußte, auf daß sie nicht alles andere vernichtete. Die Leinwand bebte weiter in ihrer ganzen Höhe, manchmal auch in der Breite, dann wieder diagonal, so als wolle sie die neue Farbe abschütteln. Das würde sie auch. Das würde sie, wenn er nicht jedes letzte bißchen Schwarz bedeckte, dessen war Michaelis sich gewiß. Wie durch eine Inspiration besann er sich plötzlich auf seine ei genen Vorräte, die nun schon mehrere Jahren unbeachtet geblie ben waren, seit er sich den dunklen Farben zugewandt hatte. Ah, und dort, in dem kleinen Schränkchen, fand er es, keine große Menge, doch noch immer rein, unvermischt, eine Tube mit ural tem Zinkweiß, das er einst für Kinderkleider und die Hände der jungen Mädchen gebraucht hatte. Taub und halb verrückt von dem alles durchdringenden Winseln machte er sich daran, das Weiß auf eine Schale zu drücken. Als er dabei aufblickte, sah er, wie sich die Leinwand aufblähte und wieder in sich zusammen sank, so als wäre sie das oberste Segel eines Klippers in einem Taifun. Es gelang ihm, genügend weißes Pigment mit Wasser und Bin demittel zu vermischen und es dann eilig zu verrühren, bis er es für dick genug hielt, um den letzten Flecken Schwarz vollständig zu bedecken. Er tauchte seinen dicken Pinsel in die Farbe und drehte ihn, um jedes Partikel der Flüssigkeit aufzusaugen. Doch als er den Pinsel von der Palette an die betreffende Stelle hob, wurde die aufge blähte Leinwand mit einem Mal ganz flach. Aus dem verbliebe nen Flecken des absoluten Ebenholzschwarz schien die Farbe her auszutreten, so als wäre das Schwarz zu eigenem Leben erwacht. Vor Michaelis entsetzten Augen wuchs das Pigment und formte sich zu den grotesken schwarzen Umrissen einer kleinen, unna türlich proportionierten dreifingrigen Hand, die sich aus der Lein wand herausstreckte. Er biß die Zähne zusammen, um seinem Grauen Herr zu wer den, dann betupfte er mit dem Pinsel die Finger, bedeckte sie mit Linien, Flecken, Streifen von Weiß. Als er das tat, zog sich die Hand zurück; gleichzeitig ertönte ein Kreischen aus dem schwar zen Herzen der Leinwand, so schrill, so voller Angst und Schmerz, daß Michaelis einige Schritte nach hinten taumelte. Das Kreischen verstummte ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte. Nachdem sein Kopf nicht mehr von dem Geräusch 258
schmerzte, näherte sich Michaelis wieder der Leinwand. Alles war still: das Wimmern war verstummt, die Leinwand reglos. Abermals übermalte er den letzten Flecken; dann inspizierte er, nunmehr wieder ruhiger, die Leinwand und führte seinen Pinsel noch einmal über alle Stellen, die vielleicht nicht ausreichend mit Weiß bedeckt worden sein könnten, egal, wie haarfein der Spalt auch sein mochte, bis er schließlich befriedigt feststellte, daß nicht ein Deut schwarzen Pigments mehr übrig war. »Wach auf, lieber Freund. Es ist vier Uhr am Nachmittag vorbei.« Michaelis setzte sich im Bett auf und schaute sich um, als wäre er an einem fremden Ort erwacht. »Trink eine Tasse von diesem Caffe latte. Es wird dir helfen, munter zu werden«, sagte William. Er saß in einem Sessel neben dem Bett und hielt Michaelis eine Tasse hin. Das Licht des späten Nachmittags strömte durch die unverhängten Fenster und tanzte über die Dielenbretter. »Die Ausstellung ist seit Mittag eröffnet«, fuhr sein Freund fort. »Du mußt aufstehen und etwas essen, bevor wir gehen.« Der Künstler trank einen Schluck der faden Flüssigkeit und kam langsam wieder zur Besinnung, so als wäre er aus einem lan gen Traum erwacht. Plötzlich fuhr er zusammen. »Die Leinwand. Sie muß zum Sa lon gebracht werden.« »Beruhige dich, mein Freund. Sie wurde schon fortgebracht.« »Fort?« »Zum Salon. Heute morgen, als ich dich besuchen wollte, fand ich dich fest schlafend vor, das Gemälde beendet und bereit. Ich habe es zum Salon bringen lassen. Du hattest Wachs in deinen Ohren — wie ich annahm, damit du während deiner wohlver dienten Ruhe nicht von irgendwelchem Lärm gestört würdest.« »Hast du es gesehen?« fragte Michaelis. »Leider nein. Die Männer vom Salon kamen herein, packten es ein und trugen es hinaus, während ich versuchte, dich zu wek ken.« William bestand darauf, daß sie in einem beliebten Ristorante in der Nähe der Ausstellungsräume aßen, welches gern von Künst lern und anderen Mitgliedern der Boheme aller Nationalitäten be sucht wurde und das, in Michaelis' glücklicheren Tagen, einst sein eigenes Lieblingsrestaurant gewesen war. 259
Mehrere Male im Verlauf ihres Essens wurde der Künstler von Kollegen und Bekannten erspäht, erwiderte ihre Neugier jedoch nur mit einem kurzen Nicken. Als ihr Nachtisch serviert wurde, trat Reigler, ein berühmter Kunstkritiker und erfahrener Histori ker, an ihren Tisch und bat darum, sich zu ihnen setzen zu dürfen. »Ich habe Ihr Selbstporträt in der Ausstellung gesehen«, erklär te, er und ergriff voller Wärme Michaelis' Hand. »Erlauben Sie mir, der erste zu sein, der Ihnen gratuliert und es ein Meisterwerk nennt.« Als sie sahen, daß Reigler nicht von dem ehemals menschen feindlichen Künstler abgewiesen wurde, traten auch andere an den Tisch. Alle hatten entweder das Porträt gesehen oder davon gehört. Alle waren erfüllt von Glücksgefühlen und jenem unge stümen, aus tiefstem Herzen kommenden Vergnügen, das alle wahren Künstler im Angesicht des Triumphs eines Kollegen über ihre widerspenstigen Materialien und ihre sogar noch launischere Muse empfinden. Champagner wurde bestellt. Trinksprüche auf Michaelis und sein Werk wurden ausgesprochen. Das Essen wur de zu einem Fest. Schon bald ergoß sich die Künstlertruppe hinaus auf die Piazza und marschierte von dort en masse fröhlich lärmend zum Salon. Michaelis hatte kaum die Schwelle des Salons überschritten, als ein Mann, der ihn über die letzten drei Jahre bei allen, die ihm ihr geneigtes Ohr liehen, nur verhöhnt hatte, vortrat, um den Künst ler zu umarmen. »Man hat Ihnen die Palma D'Oro zuerkannt, den höchsten Preis, der einem Kunstwerk verliehen werden kann.« Die Menge hob zu einem Jubelgeschrei an. Andere im Salon, die vom Eintreffen Michaelis' hörten, kamen herbei, um ihn zu begrüßen. Der Präsident der Gesellschaft der Künste heftete ei genhändig die goldene Palmenmedaille an Michaelis' Jacke und setzte dann zu einer blumigen und langen Rede an. Der Künstler hörte und beobachtete all dies mit kaum verhohle ner Häme und ohne jegliche Befriedigung. Was meinten diese Narren? Das Gemälde war eine Entartung, kaum mehr als das Flüstern von einer Möglichkeit dessen, was er im Sinn gehabt, was er sich als sein Ideal vorgenommen hatte. Konnten diese Idio ten denn nicht verstehen, was er getan hatte, was er gezwungen gewesen war, zu vernichten? Würden sie denn nie die Tiefe der 260
Finsternis erkennen, in die er hinabgetaucht war, zuerst in seiner Vorstellung, dann — als das Pigment bereit war — in seiner Kunst, in seinem Leben? Wenn sein Verderben die Ursache solcher Ehre war, was hätten sie dann erst gedacht, wenn sie das Gemälde so gesehen hätten, wie es von ihm zunächst vollendet worden war? Die Rede des Präsidenten war beendet. Dem Applaus folgten weitere Gratulationen, weitere Trinksprüche und mehr Champa gner. Michaelis wurde ebenfalls um eine Rede gebeten und lehnte ab, doch William — derjenige unter all den anderen, an dessen wahrer Freude über den Erfolg seiner Freundes der Künstler nicht zweifeln konnte — überredete ihn schließlich. Also sprach der Künstler, leise, traurig, von seinen Bemühungen, von seiner Su che nach neuen Ausdrucksformen, von seinen Experimenten mit alten und neuen Formen und Themen und Techniken, davon, wie das Ideal, das er vor Augen gehabt hatte, weiterleben würde, auch wenn das fertige Werk immer nur eine Kopie, ein flaues Abbild, eine Imitation jenes Ideals sei. »Lassen Sie uns dieses Wunderwerk der Kunst betrachten«, verkündete der Präsident. »Wir haben es am Ende des großen Sa lons aufgehängt, ohne andere Gemälde in der Nähe, denn alle würden unter dem Vergleich leiden.« »Die anderen sind kaum mehr als Fingerübungen!« hörte Mi chaelis seinen früheren Feind ausrufen. Doch er war bei weitem nicht der einzige, der dieser Meinung Ausdruck verlieh, während die Menge, mit Michaelis in ihrer Mit te, in den großen Salon strömte, vorbei an einem erlesenen Ge mälde nach dem anderen, von denen jedes einzelne ignoriert oder mit hämischen und höhnenden Bemerkungen der Betrachter be dacht wurde. Als sie sich versammelt und einen Kreis um den Maler und sein Porträt gebildet hatten, las William laut den darunterstehenden Titel vor: »Selbstbildnis in absolutem Ebenholzschwarz.« »Erstaunlich, nicht wahr?« bemerkte Reigler. »Fantastisch«, erwiderten mehrere andere. »Welch ein Genie«, sagte ein anderer Mann. »Wer sonst wäre darauf gekommen, die Umrisse des Umhangs in Lampenruß schwarz zu malen.« »Und der Umhang selbst... bemerkenswert.« »Natürlich. Natürlich. Der Umhang!« riefen die anderen im Chor. 261
Während des plötzlich aufkommenden Lärms sprach der Präsi dent in Michaelis' Ohr: »Als die Leinwand gebracht wurde, fürch teten wir schon, daß sie von den Packern beschädigt worden wäre. Zwei winzige Flecken Weiß in der unteren Mitte des Umhangs schienen sie zu verunstalten. Doch binnen Minuten waren sie ver schwunden. Beinahe vor unseren Augen.« Michaelis schien ihn gar nicht zu hören, so reglos stand er da, die Augen starr auf den Anblick vor ihm gerichtet: das Porträt war wieder genau so, wie er es vor anderthalb Wochen beendet hatte, mit dem absolut schwarzen Umhang. »Man hat förmlich das Gefühl, man könne seine Hand mitten in das Pigment dort hineinstecken«, sagte Reigler und streckte sei ne Hand aus. »Fassen Sie es nicht an!« schrie Michaelis. »Er meinte es nicht böse«, beschwichtigte ihn William. »Fassen Sie es nicht an«, wiederholte Michaelis ruhiger, wäh rend ihn Entsetzen und Angst übermannten. »Gehen Sie nicht einmal in seine Nähe.« »So als wäre es ein Fenster zu einer anderen Dimension«, sagte ein weiterer Mann. »Eine Dimension der vollkommenen Finster nis, natürlich.« »Selbst der Raum wirkt an diesem Ende kleiner«, bemerkte ein andere Betrachter. »Als würde er von dem Porträt kleiner ge macht.« »Es hat noch niemals zuvor ein solches Gemälde gegeben«, pflichteten mehrere Stimmen bei. Michaelis wandte sich ab und packte den Arm von William. »Wir müssen gehen«, flüsterte er. »Gehen? Wohin?« »Nach Boston. Heute abend noch. Auf der Stelle.« »Warum?« fragte er. Und dann, als er das Gesicht seines Freun des sah: »Aber die Barke fährt erst morgen nachmittag ab.« »Ich muß heute abend alles Nötige packen. Jetzt gleich. Du wirst mir helfen«, erklärte der Künstler und zog William aus der Menge fort, die noch immer bewundernd vor dem Porträt stand. »Warum diese plötzliche Eile? Wir wollten doch heute abend feiern. Sicher willst du Rom nicht auf der Stelle verlassen. Es ist ein überragender Erfolg.« William mußte seine Frage wiederholen und dann noch einmal stellen. 262
Obgleich Michaelis ihn aus einem Abstand von nur wenigen Zentimetern anstarrte, konnte er seinen Landsmann nicht hören. Er konnte nur das leise, zäh schwappende Geräusch hören — und dann das so schrecklich vertraute, kaum wahrnehmbare Wim mern, das von einem nicht aufzufüllenden Abgrund kündete, der langsam nach ihm greifen und ihn in den Schlund aus absolutem Ebenholzschwarz ziehen würde. Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann
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WHITLEY STRIEBER
Die Nixon-Maske tritt in einem Leben eine Art Stille ein, als hätte eiManchmal ne große Kontrolleinheit den Dienst versagt oder vielleicht eine Chance gesehen, zuzustoßen. Wenn man sich dann genau in der richtigen geistigen Verfassung befindet, kann man spüren, wie sie beobachtet, sich spannt und langsam nach vorne kommt. Und man sieht, im dunklen Licht universeller Wahrheit, daß selbst die gewöhnlichsten Dinge Schatten werfen. Eine solche Stille war über den Präsidenten gekommen. Er war tete darauf, daß die Kinder vom Stab des Weißen Hauses an der Tür seiner Privatwohnung läuteten. In der Hand hielt er ein Ta blett voll ganz gewöhnlicher Halloween-Süßigkeiten. Jetzt sah er den Berg Schokoriegel mit neuen Augen. »Pat, glaubst du ... diese Bonbons ... glaubst du, wir könnten sie ...« »Sie sind prima, Dick. Man nennt sie Mini-Babe Ruths, nicht Bonbons. Die Bonbons sind für Würdenträger.« Der Präsident betrachtete die fragwürdigen kleinen Süßigkei ten. Sie sahen wie das genaue Gegenteil von etwas zu essen aus, das ließ sich nicht verleugnen. Weshalb hatte sie sie ausgewählt? Sicher, die rot-weißen Papierchen wirkten ansprechend. Er stellte das Tablett auf den Tisch in der Diele und berührte eines, spürte die geschwollenen Ränder des Dings, hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich frage mich ... Weißt du, wir könnten einfach ... diese Din ger...« »Weißt du, was von dir verlangt wird, Dick?« »Gewiß. Ich muß nur ... wenn die Kinder kommen ... O Gott, Pat, warum gebe ich Ihnen so etwas?« Die Kinder vom Stab des Weißen Hauses arbeiteten schon seit Tagen an ihren Kostümen. Die Nixons hätten das kleine Hallo ween-Ritual selbstverständlich lieber vermieden. Aber ihnen blieb keine andere Wahl. Der Präsident spürte die ganze Nervosität des
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Augenblicks. Er war überzeugt, daß seine Selbstsicherheit größer wäre, wenn er nur diese unansehnlichen Süßigkeiten nicht hätte. Wenn sie unzufrieden waren — oder schlimmer noch, wenn sie es als einen Affront betrachteten —, dann wären die gewaltigen An strengungen, die er und Pat auf sich nahmen, um einen offenen Angriff zu vermeiden, vergebens gewesen. Hielt er seinen Stab nicht in Schach, hatte kein Präsident wirklich eine Zukunft. Er stocherte in dem Haufen brauner, knotiger Süßigkeiten und wünschte sich, Pat würde ihm nur dieses eine Mal gestatten, et was so zu machen, wie er es wollte. »Hör zu, ich ruf an — ich weiß, wir haben nicht viel Zeit aber Geld spielt keine Rolle. Darum können wir uns kümmern. Dieser Zuckerbäcker... er steht in deinem blauen Buch ... wunderbar. Er macht Marzipankürbisse, Gespenster aus weißer Schokolade ... Geld ... es ist kein ...« »Du könntest ihm eine Million Dollar bezahlen ...« »Kein Problem.« »... und er würde dir deine Marzipankobolde trotzdem nicht rechtzeitig anfertigen können. Die Kinder werden in zwei Minu ten hier sein.« »Ich muß ... meine Blase ...« »Dann geh, aber beeil dich. Gerade diese Kinder können wir nicht warten lassen, weißt du. Diese Kinder nicht.« Während der Präsident urinierte, stellte er sich vor, er hielte sich unten in Key Biscane auf statt in diesem Satingefängnis. Er würde mit Bebe und Herb Ablanap hinten sitzen, einen köstlichen kalten Jack Daniels mit Wasser trinken und über ein angenehmes Thema wie Geld oder Frauen oder das Schicksal sprechen. Als er fertig war, tröpfelte er »Ablanap, Ablanap, Ablanap« in das auf Hochglanz polierte Pissoir des Weißen Hauses. »Gott steh mir bei...«, murmelte er vor sich hin, »ich frage mich, sind sie überhaupt... Sie wirken gar nicht wie ... Kinder.« »Du hast noch vierzig Sekunden«, kreischte Pat von der Diele. Was würde hinter der Tür warten — möglicherweise eine Ka pelle, die Eine Nacht auf dem kahlen Berg spielte —, während er die nur mit Mißbehagen anzusehenden Süßigkeiten verteilte? Als er den Flur entlang zum Empfangsbereich ging, fiel ihm der gräßli che Gesichtsausdruck seiner Frau auf. Ihre Augen, stellte er be kümmert fest, sahen den ganzen Tag schon ängstlich aus. Und mit gutem Grund. Gutem, gutem Grund. 265
»Ich will einen Bourbon«, sagte er. »Ich kann nicht... Diese verdammten Dinger kann man nicht anfassen ... sie sind . . . sie sehen wahrhaftig aus wie . . . Es ist unglücklich. Eine unglückliche Wahl.« »Ich hatte eine Auswahl bestellt. Ich nehme an, mehr hatten sie nicht mehr.« »Das ist bizarr. Was haben sie sich nur dabei gedacht — wir könnten hier in Gefahr sein. Wo hast du sie bestellt?« »In der Küche.« »Pat, Pat, du darfst der Küche nicht trauen. Das darfst du ein fach nicht. Soweit wir wissen, könnte sie vom Stab infiltriert sein.« »Jacques ist mein persönlicher Koch!« »Trotzdem — nun, ich denke, wir könnten . . . Ich frage mich aber... diese Dinger... wer hätte sie als Dessert bekommen sol len? Mein Gott, ich erwarte die Queen von England — ich wage nicht daran zu denken ... Ihre Majestät gezwungen zu sehen ...« »Nicht einmal unser Chefkoch würde der Queen Schokoriegel als Dessert geben. Mr. Tubman kommt eine Woche später. Viel leicht waren sie für ihn.« »Aber natürlich. Das ist der Litauische Präsident, oder nicht?« »Liberianische.« »Nun, irgendeiner. Ich denke ... diese Leute ... selbst Kleinig keiten können sie in Erstaunen versetzen ... der Mann aus Neu Guinea ... weißt du noch . . . er hat nur die Köpfe gegessen ...« Es läutete an der Tür. Nixon schnappte sich das Tablett mit den Süßigkeiten und stellte sich wie besprochen in Position, links von Pat und drei Schritte hinter ihr. Sie machte die Tür auf. Der Präsident ging lautlos noch einmal seine Sätze durch. Wie immer bei Begegnungen mit dem Stab, hatten er und Pat sehr, sehr gründlich geübt. Man konnte nicht einfach nur mit dem Stab reden. Etwas könnte falsch verstanden und die ganze delikate Be ziehung zunichte gemacht werden. Mit dem Stab zu arbeiten war, als würde man in demselben Gewässer mit Barrakudas schwim men. Man blieb, weil »Kudas Menschen normalerweise nicht be helligten«, aber man war sehr, sehr vorsichtig und ließ sein Gold nicht sehen. »Und-eins, und-zwei, und-drei«, sagte eine Stimme aus dem Schatten hinter den Kindern — ein erwachsener Aufseher mit ei nem Schild. 266
»Süßigkeiten oder Schabernack!« riefen die Kinder perfekt ein stimmig. »Liebe Güte«, rezitierte Pat, »was für furchteinflößende Ge spenster, Trolle, Piraten und Hexen.« Sie hörte sich angeekelt an. Ein kleines Kind trat vor. Nixon sah sofort entsetzt und faszi niert eine groteske Karikatur seines eigenen Gesichts, eine mon ströse und absurde Gummimaske. Das Kind trug einen dunklen Anzug und eine >dezente< Krawatte von der Art, wie sie der Präsi dent selbst bevorzugte. In der Hand hielt es ein Glas mit etwas, das wahrscheinlich Bourbon darstellen sollte. »Wofür entscheiden Sie sich, Mr. President«, rezitierte das Kind in höhnischem Singsang, »Süßigkeiten oder — sollen wir Ihnen einen Schabernack spielen?« »Ich sage: Süßigkeiten«, antwortete der Präsident, dessen Ge danken durcheinanderwirbelten und dessen Augen von der schrecklichen Maske magisch angezogen wurden. Was bedeutete sie — und warum war sie so faszinierend? Sie war so unange nehm, daß er sie haben wollte. Das Ausmaß seines Interesses schockierte ihn, und er beging einen schrecklichen Fehler. Er wich vom Drehbuch ab. »Bitte entschuldige, Kleines«, sagte er. Pat sog Luft ein. »Um Himmels willen«, zischte sie, »das ist nicht dein Satz!« Ein aufgeregtes Murmeln ging von der Kinderschar aus. Einige machten Fäuste oder gierige, greifende Bewegungen mit ihren langen, dünnen Fingern. Er hatte sich nicht beherrschen können, und sie wußten es. Er hatte den Barrakudas tatsächlich etwas Gold gezeigt. Verzweifelt zwang er sich zu einem Lächeln, nahm sich zusammen und be schloß, wieder zum Drehbuch zurückzukehren. Erstaunlicherwei se jedoch kamen ihm andere Worte über die Lippen. »Kleines, deine Maske interessiert mich außerordentlich. Könn te ich sie einmal sehen?« Als ihm klar wurde, was er da sagte, spürte er, wie sein Blut in Wallung geriet und sein Herz zu pochen anfing. Pat stöhnte. »Ja, Mr. President«, sagte das kleine Geschöpf. Es begann, die Maske abzunehmen. »Seite zwei: Präsident beugt sich nach vorne und hält Kindern das Tablett hin«, sagte Pat mit bebender Stimme. Das Kind, das die Maske hielt, war wunderschön, blasse Haut, 267
blondes Haar, Sommersprossen fein säuberlich in zwei parallelen Reihen zu je sechs über der Nase verteilt. Seine Wangen glänzten im sanften Licht, als wären sie aus Porzellan gemacht. Tausend vergessene Bilder der Jahreszeit kamen dem Präsiden ten in den Sinn. Leuchtende Kürbislaternen und der hochstehen de Halbmond; das Rascheln alten Laubs und das Tappsen von Fü ßen im Dunkeln. Und Masken, die ältesten menschlichen Kunst gegenstände, Masken und alles, was man unter ihnen anstellen konnte. Die Freiheit der Masken. Der köstliche Geruch des Gummis. Durch Augenhöhlen zu sehen, die nicht die eigenen waren. Alte Rituale ... Hexen, die ums Feuer flogen ... blökende Ren tiere und ächzende Gletscher... Lagerfeuer ... Licht in Augen ... kalte Sterne. Die kostbare Fähigkeit, sich zu verstecken. Eine Maske war ein Werkzeug. Eine Waffe. Der Präsident woll te eine. Diese. Pat packte ihren Mann an der Schulter und vergrub die Finger darin, bis es weh tat. »Du übergibst die Süßigkeiten und gehst sechs Schritte zurück, damit ich die Tür schließen kann! Du nimmst nichts von ihnen, Dick! Du nimmst nichts!« Das Tablett des Präsidenten wackelte, als er eine Hand davon löste, um die Maske zu ergreifen. »Kinder kommen eines nach dem anderen vor, um ihre Süßig keiten in Empfang zu nehmen«, fuhr Pat fort. »Präsident macht eine persönliche Bemerkung zu jedem Kostüm.« Nachdem er die Maske unter den Arm geklemmt hatte, konnte der Präsident zum Drehbuch zurückkehren. »Was für ein furcht einflößendes Gespenst«, sagte er. »Das ist ein Pirat!« fauchte Pat. »Sie haben die Reihenfolge ge ändert. Sie versuchen, uns vollkommen durcheinanderzubrin gen!« Blutflecken waren an ihren Händen zu sehen, wo sie die Fingernägel in die Handflächen gegraben hatte. Der Mund des Präsidenten war trocken. Er zwang sich dazu, sich an seine Dialogzeilen zu halten. Wenn sie nur bis zum Ende des Drehbuchs durchhalten und die Tür schließen konnten, dann hätten sie wieder eine Begegnung mit den seltsamen und mon strösen Wesen überstanden, die seit so vielen Generationen das Weiße Haus in Besitz genommen hatten. 268
Als nächstes kam ein Aschenputtel. »Oh-oh, muß ich über die Planke gehen, kleiner Pirat?« sagte der Präsident. Er ließ mit zitternder Hand einen Schokoriegel in ihre Tasche fallen. Wenigstens rochen sie wie Schokolade, trotz ihres Aussehens. »Danke, Sir, aber ich kann Ihnen diesen Tanz nicht gewähren, denn ich muß bis Mitternacht zu Hause sein.« Als sich das Mädchen entfernte, rezitierte der Präsident seine nächste Zeile; er wußte, auch sie würde wahrscheinlich nicht in der richtigen Reihenfolge sein und den ändern daher eine Chance bieten einzugreifen. Möglicherweise sogar etwas Fatales zu tun, beispielsweise ins Apartment zu kommen, das Drehbuch zu fin den und es zu verbessern. »Ah, mein liebes Mädchen, wie schön du bist. Dürfte ich dich um einen Tanz bitten?« »Wuff! Wuff!« antwortete das nächste Kind, das nicht als Aschenputtel, sondern als Gorilla verkleidet war. Wenn er die ganze Sache hinter sich brachte, würde vielleicht doch alles gut werden. Vielleicht kam ja das nächste Kind in der vereinbarten Reihenfolge. »Oh, ich muß weglaufen«, intonierte der Präsident, »sonst frißt mich dieses haarige Monster auf!« Statt zu einem haarigen Monster, das nirgends zu sehen war, hatte der Präsident, wie er feststellen mußte, seinen Text zu einem kleinen Mädchen im maßgeschneiderten Kampfanzug der Mari nes gesagt. »Ich muß hinter den Schlitzaugen her«, sagte sie, »und ich brauche Süßigkeiten, um Energie aufzutanken!« Nixon, der Pats stechenden Blick im Nacken spürte, fuhr kläg lich fort: »Das haarige Monster hat meine Süßigkeiten genommen«, rezi tierte er. »Oh, da kommt ein Vampir. Ich sollte besser darauf ach ten, daß meine Krawatte fest sitzt!« »Mein lieber Präsident«, antwortete ein wunderschönes, etwa zwölfjähriges Mädchen, »ich bin die gute Hexe aus dem Norden und gekommen, um zu sagen, daß wir gewonnen haben. Nach dem Sie die Süßigkeiten verteilen durften, müssen Sie auch den Schabernack hinnehmen. Ganz und gar.« Sie hob das Gesicht, ih re grauen Augen strahlten, die Lippen hatte sie zu einem zaghaf ten Lächeln entblößt. »Setzen Sie die Maske auf, Mr. President.« 269
Pat unterdrückte einen Schrei. Der Präsident schüttelte den Kopf. Die gute Hexe aus dem Nor den lachte, ein wissendes Kichern, und verabschiedete sich mit ei ner schwungvollen Bewegung ihres mit Alufolie umwickelten Zauberstabs. Das Ereignis näherte sich seinem jämmerlichen Ende, in völli gem Chaos und drei Minuten hinter dem Zeitplan zurück. »Nun«, sagte der Präsident, als Pat die Tür zuschlug, »wie ich immer zu sagen pflege, when the going gets tough, the tough get. . . was? Up? Nein. Mal sehen. When things get tough — wenn es hart wird —, the tough get — gehen die harten Män ner ...« »Oh, halt den Mund. Wir bekommen in nicht einmal einer Mi nute einen Anruf von John Dean, und du hast kaum einen Blick in das Drehbuch deines Teils der Unterhaltung geworfen. Und wirf diese verdammte Maske in den Abfalleimer!« Dean war das gefährlichste Mitglied des Stabs, möglicherweise sogar deren Anführer, falls sie so etwas hatten. Falls Nixon ver nichtet wurde, dann wäre Dean der Auslöser. Nixon, vernichtet. Das verursachte einen eigentümlichen, atemlosen Nervenkitzel in ihm ... Er wartete in seinem Zimmer darauf, Mutters Schritt auf den quietschenden Dielen draußen zu hören; Mutter mit dem lan gen schwarzen Paddel in ihrer zierlichen Hand. Nixon wartet. Der Präsident... wartet. Nixon. Der Präsident sah auf die Maske hin ab und erkannte fasziniert seine eigenen Gesichtszüge verzerrt in dem haftenden, formbaren Gummi. Das Telefon läutete. »Sie geben nie auf! Sie lassen nie locker! Du wirst einfach ablesen müssen.« Nixon ging ins Schlafzimmer. Er konnte das Gummi der Maske riechen, und es war kein unangenehmer Geruch. Als Junge in Whittier hatte ihm Halloween gefallen. Die Nacht zwischen den Welten. Die Nacht der Unartigkeit. Fledermausschwingen und Masken. Er erinnerte sich, wie seine Füße auf dem trockenen Gras gera schelt hatten, während der Mond tief am Himmel stand und er dem gewaltigen Murmeln der Toten lauschte. Hunde heulten, die Glocke der Episkopalkirche schlug neun mal, und der Wind raschelte in den Blättern ... Er stellte fest, daß er weinte. Er wartete auf das dreifache Sum men, das bedeutete, daß Pat ihr Eröffnungsgeplänkel mit Dean 270
beendet hatte und daß er den Hörer abnehmen konnte. Er über flog das Drehbuch, das sie so sorgfältig für ihn vorbereitet hatte. Die Schrift verschwamm wegen seiner Tränen. Sie war ein Soldat, seine Pat. Wie sie sich seinetwegen bemühte, wie sie jede Kon frontation zwischen ihm und dem Stab bis hin zu den Pausen zwischen den Sätzen entwarf, nichts dem Zufall überließ, alles probte und jedes Wort, das gesprochen wurde, mit einem ausge klügelten System von Tonbändern aufzeic hnete. Inzwischen schlotterte er schlimm. Die Maske lag auf seinem Schoß. Er konnte nicht leugnen, daß er sie aufsetzen wollte, ob wohl ihn der Gedanke krank vor Angst machte. Die gute Hexe des Nordens . . . so wunderschön, so gefährlich. Eine Maske ist in Wahrheit eine Tür, eine Geheimtür. Er be trachtete die dunklen Augen, die gerunzelte, brutale Stirn, die vertraute Nase. Sie hatten ihm gegeben, was er sich am meisten wünschte. Sei ne ganze Kindheit hindurch hatte er Verkleidungen gemacht, Schnurrbärte aus alten Zweigen, falsche Brauen aus Moos, Mas ken aus Pappmache. Hübsche Masken, aber nicht so hübsch wie diese. Das dreifache Summen ertönte. Nixon schnappte den Hörer und fing an, vom Drehbuch abzulesen. »Hallo, John. Ihm geht es ausgezeichnet. Wie geht es Ihnen?« »Fein, Mr. President.« »John, zuerst muß ich ein paar Worte mit Ihnen reden, bevor ich Sie mit dem Präsidenten verbinde.« »Sie sind der Präsident.« »Erstens, ich möchte eine Erklärung, weshalb Sie seine Privat sekretärin gefeuert haben. Er hat Rosemary schon seit Jahren bei sich. Ich will dieses Plastikpüppchen nicht, das Sie an ihre Stelle gesetzt haben; Moe heißt sie, glaube ich. Ich möchte, daß Sie ihm seine Rosemary wieder geben.« »Das hat Pat mir gerade gesagt. Übrigens — seit wann haben Sie angefangen, in vollständigen Sätzen zu sprechen?« »Er kann ohne Rosemary nicht arbeiten. Ich muß hier hart durchgreifen. Ich habe ihr Mädchen heute morgen hinausgewor fen, und glauben Sie mir, sie wird nicht zurückkommen.« »Das hat Pat gerade gesagt. Was geht hier vor?« Die First Lady kam ins Zimmer und riß dem Präsidenten das Drehbuch aus der Hand. 271
»Dick, das ist deine Kopie meines Textes! Kannst du nicht lesen — hier steht deutlich: Mrs. Nixon, 31. Oktober 1971, Telefonge spräch mit Dean, planmäßig 20:11 Uhr.« Sie riß die Kopie in Stük ke. »Damit wäre das erledigt. Und jetzt lies deinen eigenen Text, sonst sehen wir noch schwächer aus — falls das überhaupt mög lich ist.« Der Präsident kramte auf dem Nachttisch herum. Pat zog mit einer Handbewegung das korrekte Drehbuch hervor. »Hier, lies!« »Hallo, John, hier spricht... wie geht es Ihnen?« »Bestens, Sir. Wie geht es Ihnen?« »Oh, ich habe nur ... Halloween im Weißen Haus ... Sie wissen ja, die Köche und so weiter... Kinder.« »Ja, das muß spaßig gewesen sein. Hören Sie, ich rufe an, um diese Geheimdienstgeschichte mit Ihnen zu diskutieren. Wir be kommen einfach nicht die Berichte über die Demokraten, die wir brauchen.« »Oh, das ist ein Problem. Selbstverständlich haben wir... ha ben wir... Quellen ... Quellen dort?« »So ist es. Aber wir würden gerne diesen Liddy einschleusen.« »Ah, nun ... ich weiß nicht... die Folgen von so etwas sind im mer ... Was ist mit Mitchell?« »Er steckt mit drin. Wir brauchen eine Eingreiftruppe. Wir wol len diese Leute einfach vollkommen neutralisieren. Wir möchten direkt in ihre Zentrale in Watergate eindringen und unsere Geräte dort verstecken.« »Kein Problem, John.« »Dann habe ich Ihre Erlaubnis, weiterzumachen?« »Ah, nun ... jemand muß es tun.« »Danke, Mr. President.« Dean legte auf. Der Präsident legte den Hörer weg und seufzte. Er wollte gerade den rechten Schuh mit dem linken Fuß ausziehen, als das Telefon wieder läutete. Pat nahm ab. »Tut mir leid«, sagte sie, »der Präsident ist bis neun Uhr mor gen früh nicht erreichbar, es sei denn für Krisenmanagement.« Sie legte den Hörer auf. »Wer. . . « »Niemand. Nach acht bist du nicht mehr zu sprechen, vergiß das nicht. Ausgenommen natürlich für Dean und den Stab. Und das war keiner von ihnen.« Er war der Präsident der Vereinigten Staaten, und er konnte 272
noch nicht einmal einen Anruf ohne Erlaubnis seines sogenann ten Stabs entgegennehmen. Sein ganzer Körper schmerzte. Er war erschöpft. Pat ging langsam hinaus und machte sich zum Schlafengehen fertig. Der Präsident betrachtete seine arme Frau und beschloß, ihrem Leiden ein Ende zu bereiten. Ihr Widerstand gegen den Stab war sinnlos. Man mußte sich nur ansehen, wohin dieser Widerstand Lincoln und McKinley und Kennedy gebracht hatte. Und Johnson — er hatte mitgespielt, aber sie hatten ihn einfach nicht gemocht. Und was das anbetraf, Dick Nixon mochten sie auch nicht beson ders. Aber wie sie sich gebärdeten, wenn Jerry Ford vorbeikam! Ihn liebten sie, den armen dummen Klotz. Sie hatten Wilson und den unglücklichen Cleveland und Grant gehaßt und alle drei rui niert. Die Roosevelts dagegen, die hatten sie geliebt, und auch Ike schien einigermaßen gut mit ihnen ausgekommen zu sein. Die ganzen Jahre, die Ike im Weißen Haus gewesen war, hatten die Nixons keine Ahnung gehabt, was vor sich ging. Mamies Zu stand hätte ihnen verraten müssen, daß etwas nicht stimmte. »Die Hölle sieht wie der Himmel aus«, hatte Mamie einmal gesagt. Nixon erinnerte sich an den Tag — sie waren alle vier in Gettys burg gewesen. Ein schöner Herbsttag. Worum war es bei der Un terhaltung gegangen? Daran konnte sich Nixon nicht erinnern. Aber an das Klicken von Golfbällen, das Heulen des Wagens, das Krächzen einer Krähe, die immer wieder auf Ikes Glatze herab stieß. Und Mamie, ganz in Weiß, die Cutty mit Wasser trank und mit ihrer traurigen, bedächtigen Stimme redete. Pats Stimme klang ebenfalls traurig und bedächtig. Er hob die Maske zum Gesicht. »O Gott, Gott, Dick, nein! Nein!« »Ach, komm schon, Pat.« »Zieh sie nicht auf! Du wirst... ein ... einer von ihnen!« Zorn wallte in ihm auf. »Wenn Dwight D. Eisenhower es für angemessen hielt, ihr Spiel mitzuspielen, dann kann Richard Ni xon es verdammt noch mal auch mitspielen. Wir sind arrogant, Patty-Girl. Und wir werden dafür bezahlen, wenn wir so weiter machen. Ich will wirklich nicht, daß mein Gehirn über den Rück sitz eines verdammten Lincoln verspritzt wird, wie das von Jack.« Sie sah ihn an, und die Augen quollen ihr vor Entsetzen aus den Höhlen. 273
»Tu das nicht, du wirst alles zerstören, was wir aufgebaut ha ben.« »Es ist eine Halloweenmaske.« »Erinnere dich an die Geschichte vom vergifteten Apfel. Vergiß nicht das Trojanische Pferd!« Er betrachtete ihr trockenes Gesicht, die straffe Haut, die ängst lich verzerrten Lippen. Ihre zitternden Finger, die von den knochi gen Händen abstanden, wurden ihm entgegengestreckt. »Gib mir die Maske.« »Pat... wir können ... also wirklich ...« »Gib mir dieses ... dieses Ding!« Er wich vor ihr zurück. »Weißt du denn auch jetzt noch nicht, was es mit diesem Haus auf sich hat, was die Leute, die darin wohnen, sind?« »Ich ... selbstverständlich ... aber du kannst nicht kämpfen ... es gibt keinen Weg ...« »Ich hasse das Weiße Haus. Ich wünschte bei Gott, du hättest es nicht gewollt. O Dick, du hast es tatsächlich gewollt!« »Ich ... es ist nicht ganz so klar... aber selbstverständlich ...« »Du wolltest es, Richard Nixon. Du wolltest in diesem Beinhaus leben!« »Ich war... du kannst es nicht wissen ... ich habe es Ike ver sprochen ...« Sie sank weinend auf einen Sessel. Das Porträt von Lincoln sah finster auf sie herab. Es tat Nixon im Herzen weh, Pat so zu se hen. Seine gute alte Freundin. Seine Beschützerin. Er erinnerte sich an ihre Mädchenjahre, an ihre Liebe zur Musik. Sie hob langsam den Kopf. Sie sah ihn an. »Du ... beim gütigen Gott... du hast verloren. Sie sind schon in dir drin, richtig? Du wirst diese Maske jetzt aufsetzen, weil du keine andere Wahl hast.« Ihre Stimme schwoll zu einem gekränk ten Heulen an. »Sie haben gewonnen. Du gehörst ihnen!« »Ich werde nur... Eigentlich ist es ein bißchen komisch, findest du nicht...?« »Komisch! Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Er war ganz im Gegenteil der Meinung, daß er endlich zu Ver stand gekommen war. Er hob die Maske. Sie schluchzte gebro chen, resigniert. »Wenn ich die aufsetze, werden wir überleben, Pat. Es ist die einzige Möglichkeit.« 274
»Tu es nicht!« Er zog die Maske über den Kopf. Der Gummi drückte sofort ge gen seine Nase, dann gegen Augen und Wangen und Schläfen. Die Maske paßte sich begierig den Konturen seines Gesichts an. Er verspürte ein Gefühl, als würden Ameisen unter seiner Haut krabbeln und wollte sich die Haut herunterkratzen. Ihm war nicht klar gewesen, daß es so sehr weh tun würde. Nicht so sehr! Er machte den Mund auf, konnte aber nicht schreien, die Maske be deckte seine Lippen. Sein Kopf wurde heiß und verschwitzt. Er konnte Pat draußen spüren, die nach ihm griff, an dem Gummi zerrte und kreischte. Er dachte: Gott, ich habe mich geirrt, die Maske kontrolliert mich nicht nur, sie tötet! Tötet und übernimmt. Aber Pat wird denken, daß sie nur Kontrolle ausübt. Sie wird den ken, ich wäre immer noch hier drinnen, aber das werde ich nicht sein! O Gott, Pat, Pat, bitte höre mich ... bitte ... kann nicht... re den ... Er hüpfte auf und ab und hämmerte sich gegen den Kopf, der anschwoll und schmerzte; rasche Ströme des Schmerzes schössen in seinen Kopf, und mit ihnen das lebhafte Flüstern des ganzen Stabs, ein Flüstern, das anschwoll und anschwoll, bis es Gehirn und Verstand und Seele von Richard Milhouse Nixon erfüllte. Dann sahen die Flüsternden zum erstenmal durch diese neuen Augen, erblickten die tränenüberströmte alte Frau und sagten: »Sachte jetzt... ha, ha ... es ist doch nur... siehst du ... nur ei ne Maske. Nur — eine Maske.« Pat schrie ihn an, er solle sie abnehmen, aber das konnte er nicht. Er hatte nichts mehr zum Abnehmen. Nixon war eins ge worden mit der Maske, die ihn trug. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber
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T. E. D. KLEIN
Gute Beziehungen begriff Philip, daß sein erster Fehler darin bestanden Später hatte, ein Zimmer ohne Bad zu nehmen. Jahre zuvor, als er vom Gehalt eines Rechtsanwaltsgehilfen auf Hochzeitsreise in England gewesen war, hatten er und seine erste Frau sehr viel Glück mit solchen Zimmern gehabt; gern hatten sie sich mit >ei nem Badezimmer auf dem Gang< einverstanden erklärt, wann im mer sich diese Option anbot. Auf diese Weise hatten sie unge wöhnliche Preisnachlässe bekommen und sich häufig im ältesten, größten und bezauberndsten Zimmer eines Hotels wiedergefun den, wofür sie auch noch ein Drittel weniger bezahlen mußten als andere Gäste. Auch jetzt, wo Geldsparen kein Thema mehr war, hatte eine jugendliche Angewohnheit ihn dazu bewegen, hier, in diesem geräumigen Gasthaus in New England, um ein ebensol ches Zimmer zu bitten. Vielleicht war es aber auch eine Art Test, der ihm dabei behilflich sein konnte, festzustellen, ob die junge Frau, die er dieses Wochenende mitgebracht hatte, allzu sehr auf eine Luxusreise mit ihm aus war, oder ob sie zu jener Art von Menschen zählte, welche sich durch die kleinen Unannehmlich keiten des Lebens nicht aus der Fassung bringen ließen — von je ner Art vielleicht, die sie dazu prädestinierte, möglicherweise sei ne zweite Frau zu werden. Diesmal hatte er sich jedoch verschätzt. Denn hier im The Bir ches gingen die Zimmer ohne Bad zur Wiese vor dem Haus hin aus, die immer noch vom Schnee des letzten Winters bedeckt war, dazu auf einen glatten, frisch geteerten Weg, der hinter einer Strauchreihe in einen Parkplatz mündete, sowie auf ein ziemlich reizloses weißes Schild mit den Worten FREMDENZIMMER FREI und SEIT 1810, neben dem die leidgeprüfte kleine Gruppe von Birken stand, die dem Haus wahrscheinlich seinen Namen beschert hat te. Die größeren, teureren Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs blickten dagegen auf die bewaldeten Hänge des Romney Mountain, der sich wie eine massive grüne Mauer ir
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gendwo jenseits des Hintergartens in die Lüfte erhob. Und wenn ihr Zimmer sich auch solcher Annehmlichkeiten wie echter Ei chenbalken und eines funktionierenden Kamins brüsten durfte, so hatte es enttäuschenderweise doch kein Telefon. Und ausgerech net jetzt, da der junge Tony keine dreißig Meilen entfernt mühsam in einer Privatschule untergebracht worden war, hätte er gern eins griffbereit gehabt. Er beneidete den Gast im Zimmer gegenüber; denn als er und Margaret letzte Nacht daran vorbeigekommen waren, um ihr Gepäck nach oben zu bringen, hatten sie seinen unsichtbaren Bewohner bei einem lebhaften Telefongespräch hö ren können, offensichtlich in irgendeine dringende Unterhaltung vertieft. Es war außerhalb der Saison; selbst für die begeistertsten Ski läufer war es inzwischen zu spät, aber auch noch zu früh für den jährlichen Ansturm von Wanderern; tatsächlich sah es so aus, als sei der Gasthof kaum halbvoll. Es wäre ein Einfaches gewesen, ein anderes Zimmer zu verlangen, aber irgendein perverses Ge fühl der Verpflichtung gegenüber seinem jugendlichen Selbst hielt Philip davon ab, sich diesbezüglich zu entscheiden. Er hatte seine Wahl getroffen und war — freie Zimmer hin, freie Zimmer her — nicht bereit, wieder zu packen und umzuziehen. Außerdem war es ja sowieso nur für zwei Nächte. Heute war Freitag, der erste Freitag des Jahres, den er sich frei genommen hatte, obwohl er sich damals, als er im letzten Som mer die Firma verlassen hatte, um seine eigene Anwaltspraxis aufzumachen, geschworen hatte, daß es viele solcher Wochenen den geben würde. Vielleicht ließe sich das jetzt mit Margaret tat sächlich realisieren. Sie waren letzten Abend von Boston losge fahren, waren die Route 93 entlang über die hell erleuchteten Ringstraßen gejagt, die die Stadt wie Verteidigungslinien umga ben, durch das Flachland des südöstlichen New Hampshire ge rast, und schließlich, lange nach Einbruch der Dunkelheit, an den undeutlichen Schemen sternenbeleuchteter Gebirgsausläufer und einem fernen Gebirgszug — Sunapee und Monadnocks — vorbei gekommen, die weit im Südwesten lagen. Ihr Ziel befand sich zwölf Meilen vom Highway entfernt, zu erreichen über immer schmaler werdende Straßen in einem Teil des Staats, der vor ei nem Jahrhundert dichter besiedelt gewesen war als heute, da die Menschen das Land nicht mehr bestellten und einstmals wohlha bende Gehöfte wieder dem Wald zum Opfer fielen. Das Gebiet 277
um den Romney Mountain mit seinen Höhlen und malerischen Schluchten hatte sogar noch grandiosere Zeiten gekannt, als dort in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts mindestens zwei lu xuriöse Hotels erbaut worden waren. Auch hatten wohlhabende Bürger aus Boston dort eine Reihe von Sommerresidenzen inne gehabt und, wie es hieß, sogar ein geheimes Casino errichtet. Die Hotels und das Casino waren schon lange verschwunden, doch hatte sich seit einiger Zeit der Immobilienboom der Nachkriegsära auch hier bemerkbar gemacht. Die glitzernde schwarze Straße, die sich durch das Tal zu The Birches wand, war noch vor weniger als einem Jahr ein dürftiger Feldweg gewesen. Sie hatten den größten Teil des Morgens in dem übergroßen Himmelbett zugebracht, das ihr kleines Zimmer beherrschte, un ter einer Patchworkdecke zusammengekuschelt, die an Atmo sphäre wettmachte, was ihr an Wärme abging, und so kamen sie erst lange, nachdem die Tische bereits abgeräumt waren, ins Eß zimmer hinunter. Glücklicherweise hatte die Besitzerin, Mrs. Hartley, immer noch genügend Sinn für Gemütlichkeit, um mit den Spätaufstehern zu sympathisieren; und so hatte sie eine Kan ne Kaffee für sie warmgehalten, dazu eine Extraportion der Blau beerpfannkuchen, die es an diesem Morgen zum Frühstück gege ben hatte. Erst im letzten Frühling hatten sie und ihr Mann The Birches erworben. Davor hatte ihre einzige Beziehung zum Hotel gewerbe darin bestanden, daß sie als Teilzeitkonditorin tätig ge wesen war, während er als Vertreter in Ferienorten Werbeflächen verkauft hatte. Wenn man das Etablissement betrachtete, war es offensichtlich, daß die Hartleys mit mehr Begeisterung als Fach wissen versuchten, dem Gasthof sein ungefähres früheres Ausse hen wiederzuverleihen, oder, sollte das nicht funktionieren, sich wenigstens der Atmosphäre eines Hauses aus einem Gemälde von Currier und Ives anzunähern — von denen eine Reihe von Drucken in zueinander passenden Ahornholzrahmen die Eßzim merwand zierten. Während Margaret wieder nach oben ging, um sich umzuzie hen, sah Philip auf die Uhr. Tony würde seinen Morgenunterricht inzwischen abgeschlossen haben. In der Nische neben der Bar fand er ein altmodisches Wandtelefon und erhielt über die Hotel vermittlung ein Amt. Dann rief er Tonys Schule an. Die Stimme des Jungen, den man vom Mittagessen weggeholt hatte, klang zerstreut. »Ich habe nicht erwartet, daß du vor mor 278
gen anrufen würdest«, sagte er schwer atmend, als sei er gerannt. »Braddon verpaßt uns in einer halben Stunde ein Quiz im Multi ple-choice-Verfahren, und danach habe ich Theaterprobe.« Philip wünschte ihm viel Glück. Er war erfreut, daß der Junge so beschäftigt war, und fragte ihn, wann er ihn morgen am besten besuchen könne. Hauptanlaß dieser Reise war es immerhin, einen Tag mit seinem Sohn zu verbringen; die letzten Jahre war ihre Be ziehung ziemlich belastet gewesen. »Bringst du irgend jemand mit?« fragte Tony argwöhnisch. »Du weißt doch, daß ich mit Margaret hier bin«, erwiderte Phi lip. »Ich dachte, das hätte ich in meinem Brief alles erklärt.« Sofort bedauerte er die Ungeduld in seinem Tonfall. »Hör zu, Sohn, wenn es dir lieber ist, daß ich allein komme, bin ich sicher, daß sie sich auch irgendwo ein paar Stunden anderweitig beschäftigen kann.« »Morgen paßt es sowieso nicht gut«, meinte Tony, nachdem er seinen Vater in diese Konzession hineinmanövriert hatte. »Wir haben einen Leichtathletikwettkampf mit Cobb Hill, und der fin det nicht hier statt. Das haben sie uns zwar schon letzte Woche gesagt, aber ich hatte es vergessen.« Entschuldigend fügte er hin zu: »Die wären wirklich stinksauer, wenn ich daran nicht teil nähme. Ich gehöre zu den beiden Besten der Stafettenlaufmann schaft.« »Wie wäre es dann mit Sonntag?« fragte Philip. »Ich müßte al lerdings um drei wieder fahren.« »Sonntag wäre großartig. Du könntest mich nach Hanover zu einem anständigen Essen ausführen. Und, Paps ...« Philip wartete. »Ja?« »Meinst du vielleicht, daß du Zeit hättest, mir eine Geschichte zu erzählen?« Philip spürte einen unerwarteten Ansturm der Zuneigung — so heftig, daß es ihn schon verlegen machte. »Natürlich«, antwortete er. »Dafür habe ich immer Zeit. « Es war schon Jahre her, seit Tony ihn um eine Geschichte gebeten hatte; früher war es ihr Lieblings zeitvertreib gewesen. Der Tag verstrich schnell. Es war zu kalt zum Schwimmen — tat sächlich war das neue, halbkreisförmige Bassin am Ende des Gar tens auch noch leer —, aber Margaret entpuppte sich als Natur liebhaberin, und wenn The Birches irgend etwas im Übermaß zu 279
bieten hatte, dann waren es Wanderwege. Philip hatte seine liebe Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Trotzdem sprach ihn dieser Pfad finderinnenaspekt durchaus an. Bisher hatte er von Margaret im mer nur die städtische Seite gesehen — das große, fleißig wirken de Mädchen, auf das er in seinem früheren Büro heimlich immer scharf gewesen war und das viel zu intelligent für die Routinear beiten einer Sekretärin zu sein schien, die man ihm abverlangte. Mit vorzüglichen neuen Wanderführern in der Hand, die ihnen von den Hartleys zur Verfügung gestellt worden waren, pilgerten sie am Fuß des Berges entlang, betrachteten pflichtbewußt Pilze in ihren unterschiedlichen, beunruhigenden Formen, bewunderten die frischblühenden Wildblumen und suchten — vergeblich, wie sich herausstellte — nach identifizierbaren Tierfährten, während sie die ganze Zeit Wurst, Brot und Käse futterten, die Mrs. Hartley ihnen eingepackt hatte. Dennoch stellten sie zur Abendessenszeit fest, daß ihr Appetit nicht darunter gelitten hatte. Sie tranken zu sammen eine Flasche Cabernet zum Essen, die sie aus der klei nen, aber ausreichenden Weinkarte des Gasthofs ausgesucht hat ten, und schafften sogar noch einen Nachtisch. Rosig schim mernd, was ebensosehr vom Wein wie von den Myrtenwachsker zen herrührte, die auf jedem der Tische vor sich hinflackerten, mühten sie sich schließlich in den Aufenthaltsraum. In dem stattlichen Raum mit der hohen Zimmerdecke befanden sich bereits einige Gäste, die mit ihren Drinks und Unterhaltun gen nach dem Abendessen beschäftigt schienen. Flammen tänzel ten und flackerten in dem obligatorischen Feldsteinkamin, der den größten Teil der Wand einnahm. Davor saß auf einer Bank, auf der er mehr als den ihm zustehenden Teil des Platzes bean spruchte, ein großer, tonnenförmiger Mann, dessen kahler Schä del im Flammenschein glänzte, die Augen von Falten bekränzt wie die eines Elefanten. Er trug eine weite weiße Hose und eine etwas fadenscheinige Strickjacke. Sie hatten ihn schon im Eßzim mer gesehen, wo er mit beachtlichem Appetit Mrs. Hartleys Lammbraten vertilgte. Abgesehen von einer verschrumpelten alten Dame, die ihn von ihrem eigenen Tisch aus mit unverhohlener Faszination angestarrt hatte, war er der einzige Gast gewesen, der für sich allein gespeist hatte. Es war unmöglich, sein Alter zu be stimmen. »Blockiere ich etwa das Feuer für Sie?« fragte er und blitzte Margaret mit seinem Lächeln an. »Kommt nur, junge Leute, neh 280
men Sie Platz. In diesem Teil der Welt sind die Aprilnächte kühl.« Er sprach mit ein klein wenig Akzent, in seiner Stimme schien ei ne Andeutung der frostigen Feuer und verfallenden Burgen der Alten Welt mitzuschwingen. Dabei rückte er zur Seite und tät schelte die Bank neben sich. Margaret setzte sich höflich. Philip, für den kein Platz blieb, zog einen Holzstuhl heran. »Ich hoffe, Sie beide genießen Ihren Aufenthalt?« Er sagte es wie jemand, der auch mit einer Antwort rechnete. »Bisher schon«, erwiderte Philip. »Eigentlich sind wir gekom men, um meinen Sohn zu besuchen. Er ist ein Stück nördlich von hier auf einer Schule untergebracht.« »Und, natürlich, um uns zu erholen«, fügte Margaret hinzu. »Natürlich!« Der Mann grinste wieder. Seine Zähne waren lang und wiesen breite Abstände auf, wie vom Wasser gebleichte Baumwurzeln. »Und sind Sie denn auch zu Ihrer Erholung ge kommen?« Philip nickte. »Gewissermaßen. Heute sind wir am Berghang spazierengegangen, und morgen machen wir wohl einen Ausflug, halten vielleicht Ausschau nach ein paar Antiquitäten.« »Ah, ein Antiquitätenliebhaber!« Er wandte sich Margaret zu. »Und Sie?« »Ich bin eher eine Schwimmerin. Leider ist das nicht das geeig nete Wetter dafür.« Der Mann legte den Kopf schräg und schien sie einen Au genblick lang zu studieren. »Merkwürdig, daß Sie das sagen, denn zufälligerweise kenne ich ein hervorragendes beheiztes Schwimmbecken, keine halbe Stunde Fußmarsch von hier. Alles unter Dach mit antiken Messingbeschlägen in jeder Ecke und di rekt daneben eine gutbestückte Bar, so dicht am Rand, daß man im Wasser stehend nach seinem Wein greifen kann. Die Barhocker sind mit einem Leder bezogen, das, wenn die Dame mich ent schuldigen möchte...«, er musterte sie einen Moment lang fast kokett, »... von den Hoden eines Pottwals stammt.« Philip und Margaret wechselten einen vorsichtigen Blick, dann lächelten sie. »Wirklich wahr«, sagte der ältere Mann gerade, »ich versichere es Ihnen! Es wurden keine Kosten gescheut. Das Becken wird be heizt von einer eigenen unterirdischen Ölfeuerung, die die Was sertemperatur auf genau einundzwanzig Grad hält. An der Decke finden Sie ein Gemälde, das den Bacchus zeigt und das Sie am be sten auf dem Rücken treibend bewundern können. Der Boden ist 281
mit herzförmigen Fliesen gekachelt, die eigens aus Florenz heran geschafft wurden.« »Ich habe noch nie von einem solchen Ort gehört«, meinte Phi lip. »In den Fremdenführern steht jedenfalls nichts davon.« »Oh, den werden Sie auch in keinem Reiseführer finden, mein Freund. Er ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.« Sein Ton war leise, verschwörerisch. »Es handelt sich um das Privathaus eines gewissen Mr. Hagendorn, auf der gegenüberliegenden Seite des Bergs.« »Klingt, als müßte er sehr vermögend sein.« Der andere zuckte die Schultern. »Haben Sie von der Great Northern Railroad gehört? Einer von Mr. Hagendorns Vorfahren besaß neun Millionen Aktien davon. Da können Sie sich vorstel len, daß Mr. Hagendorn es schon immer gewohnt war, zu bekom men, was er will. Das Bett, in dem er schläft, gehörte einmal ei nem italienischen Prinzen, und das Haus selbst ist einer toskani schen Villa nachempfunden. Es hat sein eigenes Gewächshaus, einen Billardraum mit sechs importierten Buntglasscheiben und eine Sonnenveranda mit einer herrlichen Aussicht auf die Schlucht.« »Sie scheinen den Ort ja ziemlich gut zu kennen«, bemerkte Philip. Ein Schatten huschte über die Miene des anderen. »Ich habe dort gelebt«, sagte er leise. »Sie meinen, es hat Ihnen einmal gehört?« »Nein, ganz und gar nicht. Ich habe lediglich dort gearbeitet. Ich war noch jung, als ich dort anfing, und neu in dieser Gegend, aber mit zwanzig war ic h Mr. Hagendorns persönlicher Assistent geworden. Wein für den Keller, ein antikes Gemälde, ein neues Dienstmädchen — was immer er brauchte, habe ich beschafft. Viele Jahre diente ich ihm treu, und wir stehen immer noch in en ger Verbindung zueinander. Er bittet mich oft zu sich nach Hause. Ich bin dort immer willkommen.« Er seufzte. »Wenn ich also auch kein reicher Mann bin, könnte man doch wohl sagen, daß ich gute Beziehungen habe.« »Es hört sich an«, sagte Margaret, »als wäre das ein ganz sa genhafter Ort.« Die Miene des alten Mannes hellte sich auf. »Würden Sie ihn gern einmal besuchen? Ich bin sicher, daß Mr. Hagendorn erfreut wäre, Sie als Gäste begrüßen zu dürfen. Sie könnten zum 282
Schwimmen kommen, sagen wir morgen nachmittag. Dann ein frühes Abendessen, und kurz nach Einbruch der Nacht bringe ich Sie wieder zurück. Ich kenne den Weg auswendig. « Er beugte sich näher zu ihnen, als fürchtete er, daß die anderen Gäste ihn hören könnten, und fügte hinzu: »Sie wissen nicht, wie schön ein Abendessen sein kann, bis Sie es einmal in der großen Halle mit Blick auf das Tal eingenommen haben. Die neuen Leute, denen dieses Haus hier gehört...«, mit einer Geste umspannte er den Raum, »... bieten zwar eine Küche, wie sie für einen Bauern wie mich durchaus angemessen ist. Doch Mr. Hagendorn hat die be sten Köche Europas angestellt.« »Aber weshalb«, wandte Philip ein, »sollte sich dieser Mann für zwei wildfremde Leute in Umstände stürzen?« »In Wirklichkeit, mein Freund, ist er etwas einsam. Dieser Tage bekommt er nicht mehr viel Besuch, und ich weiß, daß er gern zwei junge Leute wie Sie kennenlernen würde.« »Aber wir haben keine Badekleidung mitgebracht«, sagte Phi lip und hoffte irgendwie, daß die Angelegenheit damit erledigt wäre. »Du vielleicht nicht«, warf Margaret fröhlich ein. »Ich habe mei nen Bikini dabei.« Der Mann wandte sich mit einem Ausdruck an Philip, der be unruhigend einem Augenzwinkern ähnelte, möglicherweise aber doch nur vom Rauch in seinen Augen herrührte. »Ich versichere Ihnen, daß Mr. Hagendorn mehr als genug Badeanzüge bereitlie gen hat — für Männer, Frauen, Jungen, Mädchen. Obwohl Sie vielleicht finden werden, daß sie etwas aus der Mode sind!« Margaret klatschte in die Hände. »Ach, ich liebe altmodische Dinge. Das hört sich sehr vergnüglich an.« Sie wandte sich an Philip. »Sollen wir zusagen, Liebling?« Er schluckte. »Na ja, es gefällt mir nicht, einfach bei dem Mann hereinzuplatzen. Ich meine — was dann, wenn er gerade nicht in Stimmung für Besuch ist?« Der ältere Mann erhob sich, eine überraschend schnelle Bewe gung für jemanden seiner Größe und seines anscheinend doch fortgeschrittenen Alters. »Keine Sorge«, erwiderte er. »Ich werde ihn einfach fragen. Ich spreche ohnehin noch heute abend mit ihm.« Mit einer höflichen Verbeugung entschuldigte er sich und verließ, zwischen den anderen Gästen hindurchschreitend, den Raum. 283
Erst nachdem er gegangen war, fiel Philip auf, daß sie sich gar nicht vorgestellt hatten und daß ihr gesamtes Gespräch mit einer, wie es schien, schon fast unanständigen Neugier, von der ver schrumpelten alten Dame aus dem Eßzimmer beobachtetet wor den war, die nun in der Ecke in einem Ohrensessel saß und ihn und Margaret aus seiner Tiefe hervor mit dunkelglitzernden Au gen betrachtete. »Vielleicht hat sie ja nur ein Faible für ihn«, meinte Margaret spä ter, als sie sich in ihrem Zimmer auf das Zubettgehen vorbereite ten. »Er sieht so aus, als wäre er annähernd ihres Alters, und Männer in diesem Alter sind eben rar.« »Ich wette, daß er es sich bis morgen mit dem Schwimmbecken anders überlegt hat«, meinte Philip mit einem merkwürdigen An flug von Hoffnung. »Ganz bestimmt wollte er damit aufschnei den, was er doch für ein guter Kumpel seines Chefs ist. Wahr scheinlich macht er sich nicht einmal die Mühe, den Burschen an zurufen.« Doch kurz danach, als Margaret aus dem Bad am Ende des Gangs zurückgekehrt war, schloß sie die Tür hinter sich und flü sterte: »Du irrst dich, Liebling. Er erzählt ihm gerade von uns — wie er uns heute abend im Aufenthaltsraum kennengelernt hat.« »Woher weißt du denn das?« »Ich habe ihm zugehört«, sagte Margaret. »Er hat das Zimmer gegenüber.« Philip nahm seine Zahnbürste und das Handtuch und trat vor sichtig auf den Gang hinaus. Tatsächlich, aus dem Raum gegen über konnte er die leise Stimme eines Mannes hören und erkann te sie nun als die ihres Gefährten aus dem Aufenthaltsraum wie der. Immer noch halb dem Badezimmer zugekehrt, als sei dieses unschuldige Ziel alles, was er im Sinn habe, schlich er auf Zehen spitzen näher heran. »Ja, sie kommen beide ... Wie bitte?« Eine Pause. »Nein, über haupt nicht. Sie wirken recht wohlerzogen. . . Ja, sie ist bezau bernd. Sie werden sie mögen.« Wieder eine Pause. »Dann ist es also abgemacht. Morgen um drei.« Irgendwo im Gang klappte eine Tür. Philip fuhr herum und eil te ins Badezimmer. Als er wieder daraus hervorkam, war es im Gang still geworden. Er meinte, ein leises Schnarchen aus dem Zimmer des alten Mannes zu hören. 284
Margaret war bereits im Bett, als er zurückkehrte. Erwartungs voll sah sie auf. »Und? Irgend etwas gehört?« Er gab ihr einen Kuß auf die Lippen. »Er sagt, du wärest bezau bernd.« Sie lachte und zog ihn neben sich aufs Bett. »Wie, um alles in der Welt, hat er das herausbekommen?« Später, als sie im Dunkeln nebeneinander lagen, rührte sie sich noch einmal und sagte verschlafen: »Ich hoffe, du träumst heute nacht nicht wieder.« »Hatte ich letzte Nacht einen Alptraum? Das hast du mir gar nicht erzählt.« »Ich kann mich nicht genau daran erinnern.« Sie preßte das Ge sicht tiefer in das Kissen. »Alles, was ich noch weiß, ist, daß es furchterregend klang. Laß deinen Arm um mich gelegt, ja?« »Ich werde in drei Minuten einschlafen.« »Dann laß ihn eben drei Minuten um mich gelegt.« Er schlief noch schneller ein. Irgendwann später — es mußte gegen Morgen sein, denn hinter den Gardinen war der Himmel schon fahl — wurde er von einem Zerren an seinem Arm geweckt und hörte, wie Margaret seinen Namen flüsterte. »Was ist los?« murmelte er. »Bist du es wirklich?« Die Unsinnigkeit ihrer Frage schien seinem vom Schlaf bene belten Hirn viel zu absurd, um ernsthaft darüber nachzudenken. »Ja«, erwiderte er, »ich bin es.« Im nächsten Augenblick war er wieder eingeschlafen. »Ich war verschreckt«, erklärte sie später am Morgen, als das Sonnenlicht ins Zimmer flutete. »Irgendwie hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, daß jemand bei uns im Bett wäre.« »Du meinst, wie bei einem flotten Dreier?« »Als ob ein anderer Mann zwischen uns läge und sich an uns beide drückte. Und weißt du was — ich glaube, er war schwarz; ein kleiner schwarzer Mann.« »Vielleicht war es der Typ aus dem Postraum.« Sie schien ihn nicht zu hören. »Was daran so komisch ist — ei gentlich bin ich mir ganz sicher, daß es derselbe Traum war, den ich schon in der Nacht davor hatte.« Philip gähnte und rieb sich die Augen. »Na ja, du weißt ja, was man über Träume sagt. Wunschdenken.« Sie knuffte ihn in die Rippen. »Also wirklich, Philip, du bist ja 285
so etwas von trivial!« Stirnrunzelnd ließ sie den Blick durch das Zimmer schweifen — über die Wolkenmustertapete, den spinn webartigen Riß in der Decke, eine Reihe von dunklen Föhren auf dem Gemälde über der Frisierkommode. »Meinst du, daß es hier spukt?« »Apropos trivial...« »Ich meine«, fuhr sie fort, »es gibt doch wirklich Gasthöfe, in denen es spukt.« »Na klar«, meinte er, »in allen. Jedenfalls behaupten sie das. Al le hundertzwölf Jahre kehrt das Gespenst von irgendeinem lange verschollenen Kapitän zurück; oder eine Dienstmagd, die sich mal aufgehängt hat, erscheint zu jedem Vollmond. Hier ist es wahr scheinlich Daniel Websters Schwager. Alles Teil des Ambiente.« »Trotzdem — fragst du die Hartleys mal? Frag sie doch, ob es hier ein Gespenst gibt.« »Warum tust du es nicht selbst?« »Es ist mir zu peinlich.« Philip war es selbst peinlich, als er Mr. Hartley unten im Büro danach fragte, während Margaret oben ihre Toilette beendete. »Keine Gespenster, die mir bekannt wären«, sagte der Mann und kratzte sich das schütter werdende Haar. Plötzlich grinste er. »Aber Sie können mir glauben, ich hätte liebend gern eines. Das würde das Geschäft ankurbeln.« Ihr stämmiger Bekannter erwartete sie im Aufenthaltsraum, als sie mit dem Frühstück fertig waren. »Es ist alles abgemacht«, sag te er jovial. »Mr. Hagendorn würde sich freuen, Sie beide kennen zulernen.« »Es sieht wirklich nach einem sehr schönen Tag aus«, meinte Margaret. Er nickte strahlend. »Hervorragend. Sie werden freie Sicht bis zu den Monadnocks haben.« An diesem sonnigen Morgen schien er die Fröhlichkeit in Person zu sein. »Übrigens habe ich mich ge stern abend gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Laszlo.« Sein Griff war hart wie Eisen, als sie einander die Hand gaben und ver einbarten, nach dem Mittagessen aufzubrechen. Doch zur Mittagszeit erhielt Philip einen Anruf an dem Appa rat neben der Bar. »Tut mir leid, Paps«, sagte Tony, im Hinter grund war das Geplapper jugendlicher Stimmen zu vernehmen. »Ich habe mich vertan. Der Leichtathletikwettkampf ist erst mor gen. Kannst du mich heute besuchen?« 286
»Mist«, sagte Philip, »jetzt haben wir schon andere Pläne. Ich kann doch nicht einfach ...« Er riß sich zusammen. »Also gut, klar, wird wohl gehen. Kein Problem. Welche Zeit paßt dir?« »Das ist es ja gerade. Ich weiß es noch nicht. Jimmy und ich ha ben eine Mitfahrgelegenheit in die Stadt, und dort müßtest du uns abholen.« Es folgte eine Reihe entmutigend komplizierter jugend licher Vorschläge und Einschränkungen, deren Kernaussage sich darauf reduzierte, daß Philip auf Tonys Anruf, »irgendwann am frühen Nachmittag«, warten solle, um dann weitere Instruktionen in Empfang zu nehmen. Ein Dinner bei dem zurückgezogenen Mr. Hagendorn kam also nicht in Frage. Laszlo, der sie im unteren Teil des Gartens, dort, wo der Wanderpfad anfing, erwartete, erklärte sich aber sofort be reit, Margaret allein zum Schwimmen zur Villa hinaufzuführen und versprach, daß er sie vor Anbruch der Nacht, rechtzeitig vor Philips Rückkehr, wieder zurückbringen würde. Er wirkte alles andere als pikiert, ja er reagierte sogar mit überraschender Non chalance auf diese kurzfristige Änderung des Plans. »Mr. Hagendorn wird natürlich enttäuscht sein«, meinte er. »Er hat mir gesagt, wie sehr er sich darauf freut, Sie beide kennenzu lernen. Aber so bringe ich wenigstens die junge Dame mit.« Er trug wieder dieselbe weite weiße Hose, wie ein uralter Medi ziner — sie wies sogar ein Zugband auf, wie Philip bemerkte —, hatte aber über sein weißes Hemd eine warme Gebirgsjacke gezo gen und den kahlen Schädel mit einem altmodischen Homburg bedeckt. Anstatt viel zu gebrechlich für eine ausgedehnte Ge birgswanderung auszusehen, wirkte er jünger und kräftiger als gestern abend am Kamin. Es gab keinen Zweifel daran, daß er im Gebirge zu Hause war. Margaret hatte ihren Badeanzug in ein Handtuch gewickelt. Ei ne Kamera hing ihr an einem Riemen um den Hals. »Ich wette, dort oben hat man einen herrlichen Ausblick«, sagte sie und küßte Philip zum Abschied. Sie warf ihm einen zweiten Abschieds kuß zu, als sie sich fröhlich mit ihrem Begleiter auf den Weg machte. Je höher sie kamen, um so kühler wurde die Luft, doch die Bewe gung hielt sie warm. Der Marsch erwies sich als anstrengender, als Margaret erwartet hatte. »Wie, um alles in der Welt, hat es Ihr Chef jemals geschafft, da oben ein Haus zu bauen?« hatte sie vor 287
ungefähr einer halben Stunde gefragt, als sie einen steilen Ab schnitt des Pfads am Fuß des Bergs hinaufstiegen. »Auf der anderen Seite gibt es eine schmale Straße, die sich dort hinaufwindet«, hatte Laszlo geantwortet und war stehenge blieben, um seinen Hut zurückzuschieben und sich den Schweiß vom kahlen Kopf zu wischen. »Wir kommen von hinten heran. Sie werden jedoch feststellen, daß es so schneller geht.« Seine Stimme war durchaus freundlich gewesen, doch seitdem hatten sie kaum noch ein Wort miteinander gewechselt. Je kälter es wurde, um so kühler schien auch seine Stimmung zu werden; er war schweigsam geworden, gedankenverloren, als lauschte er auf die Stimme des Berges, und als sie ihn gefragt hatte, wie lange es noch dauern würde, hatte er einfach nur mit einem Nicken nach Norden gewiesen und gesagt: »Bald.« Sie waren schon fast eine Stunde unterwegs und folgten jetzt einem Zickzackkurs, den dichtbewaldeten Hang hinauf. Es kam Margaret so vor, als ob Laszlo sie in die Irre führe — vielleicht hat te er sich aber auch selbst verirrt? Obwohl er noch immer beharr lich und zielbewußt dahinschritt, ohne jede Spur von Zögern. Trotzdem begann sie sich zu fragen, ob er den Weg wirklich so gut kannte, wie er behauptet hatte. Der Pfad verlief jetzt wieder gerade, und die Bewaldung war lichter geworden. Als Margaret sich umblickte, konnte sie zwi schen den Baumlücken erkennen, wie weit sie gekommen waren. Unter ihnen erstreckte sich das wogende Grün des Tals, obwohl der Gasthof und sein Gelände hinter einem Bergvorsprung ver borgen blieben. Sie hatten inzwischen die Hälfte des Abhangs er klommen und folgten einem Pfad zur Nordseite. Vor ihr legte Laszlo gerade eine Pause ein und spähte zu einem fernen Felsen bergaufwärts hinüber, während er sagte: »Wir sind fast am Ziel. Es liegt hinter dieser Biegung dort.« Sie schirmte die Augen ab und suchte am Horizont nach Dach giebeln. Plötzlich blinzelte sie. »Wer ist das denn?« »Wo?« »Dort oben zwischen den Felsen.« Sie deutete auf die Stelle, kam sich dann aber töricht vor. Vor einer Sekunde hatte sie noch geglaubt zu sehen, wie eine kleine schwarze Gestalt mit dem Schatten eines Felsbrockens auf dem unebenen Boden ver schmolz. Doch nun, da sie genauer hinsah, stellte sie fest, daß der 288
Boden dort von dichten Unterholz bedeckt war und daß es wohl dies Gestrüpp gewesen war, das sich im Wind bewegt hatte. »Kommen Sie«, sagte Laszlo, »das Haus liegt unmittelbar vor uns, und wir wollen vor Einbruch der Dunkelheit ja wieder zu rück sein.« Philip saß ungeduldig auf der Hinterveranda und blätterte in ei nem der Skimagazine des vergangenen Winters, während er dar auf wartete, daß das Telefon drinnen läutete. Die Topfgeranien wiegten sich sanft in der Gebirgsbrise. Er empfand es als absurd und überflüssig, sich ständig selbst zu versichern, daß es Marga ret mit Laszlo schon gut ergehen würde, dennoch hörte er nicht auf, daran zu denken. Als er aufblickte, stellte er fest, daß er nicht mehr allein war. Die ältere Dame von gestern abend hatte sich in einem nahegelegenen Sessel niedergelassen und Strickzeug hervorgeholt. Sie nickte ihm zu. »Zum erstenmal hier?« »Ja«, antwortete er und sprach automatisch lauter, weil er ver mutete, daß sie etwas schwerhörig sein könnte. »Nur ein Wochen endurlaub.« »Ich komme schon seit über fünfzig Jahren hierher«, sagte sie. »Mein Mann und ich kamen zum erstenmal im Sommer 1935. Er ist 1964 gestorben, aber ich komme immer wieder. Siebenmal ha be ich erlebt, wie dieser Gasthof seinen Besitzer wechselte.« Sie kicherte leise. »Siebenmal!« Philip legte die Illustrierte beiseite. »Und sieht es jetzt hier an ders aus?« fragte er höflich. »Der Gasthof? Nein. Die Gegend ist anders geworden. Es sind viele neue Leute gekommen, und viele von den alten sind gegan gen.« Es schien, als wollte sie gerade alle aufzählen, doch in die sem Augenblick öffnete sich die Schiebetür, und Mrs. Hartley trat heraus, in der Hand ein Kassenbuch. Als sie Philip erblickte, lä chelte sie. »Warten Sie immer noch auf Ihren Anruf?« »Ja«, sagte er. »Ich weiß nicht, was den Jungen aufhält. Hier draußen kann ich das Telefon doch wohl hören, oder?« »Sicher, aber im Augenblick spricht jemand, und es sieht so aus, als könnte es noch eine kleine Weile dauern. Ich werde versu chen, die Dame zu bitten, sich zu beeilen.« Philip furchte die Stirn. »Was ist mit dem Telefon im Büro?« 289
»Mein Mann benutzt es gerade. Er geht mit unserem Lieferan ten unten in Concord die Bestelliste durch. Aber keine Sorge, es wird nicht lange dauern.« »Das Problem ist«, sagte Philip mit wachsender Ungeduld, »daß mein Sohn vielleicht genau in diesem Augenblick versucht, mich zu erreichen. Könnten Sie seinen Anruf nicht auf einen Ap parat im oberen Stock legen? Ich könnte ja in einem der leerste henden Zimmer warten.« Sie schüttelte den Kopf. »Dort oben gibt es keine Telefone. Die beiden hier unten sind die einzigen, die wir haben.« »Aber das ist doch unmöglich«, versetzte Philip. Er spürte, wie sein Herz schneller zu klopfen begann. »Unmöglich! Dieser große Bursche da, Laszlo heißt er, hat doch ein Telefon in seinem Zimmer. Ich habe ihn erst letzte Nacht gehört, und in der Nacht davor auch. Er hat mit jemandem namens Hagendorn gesprochen. Ich habe ihn selbst gehört.« Doch noch während die Worte von seinen Lippen kamen, wußte er, daß es falsch war, was er da sagte; daß es ganz und gar nicht unmöglich war; daß die einzige Stimme, die er gehört hatte, die von Laszlo gewesen war. Vielleicht hatte der Mann ja auch mit den Wänden geredet, mit der Luft, dem leeren Zimmer. Es gab ein Wort für solche Leute, für Leute, die Selbstgespräche führten. Psychos. »Daher kenne ich ihn!« sagte die alte Frau gerade. »Er war Hagendorns Angestellter. Ich wußte doch, daß ich ihn wiedererken ne.« Sie wandte sich an Philip. »Die Person, mit der Sie gestern abend gesprochen haben ... der war so eine Art... ach, ich weiß auch nicht, wie man das nennen soll. Eine Art Kammerdiener. Er arbeitete für einen schrecklichen Kerl, der oben auf dem Berg leb te. Hat ihm Frauen hinaufgebracht und ich weiß nicht, was sonst noch alles. Da gab es jede Menge Geschichten.« »Das ist richtig«, erwiderte Philip, begierig nach jeder Bestäti gung der Tatsachen greifend, wie unappetitlich sie auch sein mochten. »Ein Mann namens Hagendorn. Anscheinend hat er da oben irgendeine Art luxuriöser Villa.« Die Augen der Frau weiteten sich. »Aber dieses Haus ist doch schon 1939 niedergebrannt. Ich kann mich noch daran erinnern — irgendeine schreckliche Explosion. Es hatte mit einem Öltank zu tun. Dieser Hagendorn ist damals zu Tode gekommen, wie ich mich genau erinnere, und alle haben gesagt, daß es auch besser so 290
sei.« Sie schüttelte den Kopf. »Heute ist da oben nichts mehr. Dort steht schon seit Jahren kein Haus.« »Ehrlich, Laszlo«, rief Margaret, »sind Sie sicher, daß wir nicht zu weit gegangen sind? Das kann doch nicht der richtige Weg sein.« Sie waren an den Felsvorsprüngen vorbeigekommen und auf ein schmales Stück ebenen Bodens gelangt; das von Strauchkie fern und Unkraut überwachsen war. Vor ihnen stand, in einer Krümmung an die Bergseite angeschmiegt, eine niedrige, einge stürzte Steinmauer, die von der Vegetation halb bedeckt war. Da hinter schienen die Föhren im blauen Himmel zu wurzeln, denn an ihrem Fuß fiel der Boden hinter großen, willkürlich verstreuten Felsbrocken tausend Fuß in die Tiefe ab, als hätten Riesenfäuste einen Teil des Bergs abgehauen. Laszlo ging ein gutes Stück vor ihr, beherzt ausschreitend, während sie sich vor dem Steilhang fürchtete und nunmehr lang sam ging, argwöhnisch um sich blickend. Mit einem ungeduldi gen Handwedeln bedeutete er ihr, daß sie auf schließen solle. »Laszlo«, sagte sie keuchend, als sie ihn endlich eingeholt hat te, »wo sind wir nur? Wo ist Mr. Hagendorns Haus?« »Wie war das? Das Haus?« Er schürzte die Lippen und blickte einen Augenblick verständnislos drein. Zerstreut sah er um sich wie jemand, der diesen Ort zum erstenmal erblickte. Plötzlich fo kussierte sich sein Blick; sie bemerkte, daß er an ihren Füßen vor beistarrte. »Aber hier ist doch das Haus«, sagte er mit leiser Stim me, als würde er es einem Kind erklären. »Es ist genau hier.« Sie folgte seinem Blick. Er zeigte direkt in die Schlucht. Verwirrt trat sie einen Schritt zurück. Er macht nur einen Witz, sagte sie sich, doch ihr Innerstes weigerte sich, das zu glauben. Sie spürte, wie sich seine Hand leicht auf ihre Schulter senkte. »Ich nehme an«, sagte er, »Sie möchten als erstes das Schwimmbecken sehen.« »O ja«, erwiderte sie, während sie vergeblich versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. »Ja, zeigen Sie mir das Schwimmbek ken, Laszlo.« Für einen Augenblick fiel sein Arm von ihrer Schulter, und sie war frei. Doch schon hatte er ihre Hand ergriffen und riß sie uner bittlich weiter. »Kommen Sie«, sagte er. »Es gibt hier so viel zu besichtigen.« 291
Lächelnd wies er auf das, was vor ihnen lag: eine gewaltige Höh lung im Felsboden, tief wie eine Grube, wie die Tülle einer mon strösen Karaffe scharf in den Steilhang geschnitten. Laszlo zog sie dichter an sich. Mit einem Aufkeuchen erkannte sie, daß die drei steinernen Seiten im rechten Winkel zueinander verliefen, so re gelmäßig wie die Mauern irgendeines gewaltigen Verlieses, nur daß sie inzwischen rissig geworden und verwittert waren, von Flechten und Moos fleckig bedeckt — uralt. Der Boden bestand aus einer Masse von unkrautüberwuchertem Geröll, das unter dem freien Himmel lag. »Und hier«, verkündete er, »haben wir das Schwimmbecken.« Ihr Handgelenk schmerzte, als er sie an den Rand der Grube zerrte. Unter ihr schien der Boden nachzugeben; ein Wolkenvor hang schob sich vor die Sonne, und sie wich verunsichert einen Schritt zurück. »Nein«, sagte er in tadelndem Ton, »Sie können jetzt nicht ge hen. Sie müssen über Nacht bleiben.« Wieder nach vorn gerissen, spähte sie in die schattige Tiefe hin unter. Im wechselnden Licht rührte sich etwas dort unten, so schwarz wie Ruß, wie ein Stock aus verkohltem Holz. »Die Kacheln sind importiert«, sagte er. »Es wurden keine Ko sten gescheut.« Sie fühlte, wie seine freie Hand sich fest um ihre Schulter schloß. Der Boden unter ihren Füßen schwankte, die Schatten vor ihr erhoben sich fordernd. »Und jetzt«, sagte er, »ist es Zeit, Mr. Hagendorn kennenzuler nen.« Die einzige Hilfe, die die Hartleys ihm hatten bieten können, hat te darin bestanden, in einem ihrer örtlichen Fremdenführer eine Karte von Wanderwegen herauszusuchen, die sich über den Berg zogen. Und die alte Dame war dann mit vor Konzentration beben den Lippen in der Lage gewesen, einigermaßen genau zu raten, wo die Villa gestanden hatte: genau über einer zerklüfteten grauen Linie, die auf der Karte als Romney-Schlucht bezeichnet wurde. Der Karte nach schien es, trotz allem, was Laszlo behauptet hatte, ein mindestens einstündiger Marsch zu sein. Doch Philip hatte es in der halben Zeit geschafft — gerade rechtzeitig, um eine stäm mige Gestalt in einer weißen Klinikhose zu erblicken, die soeben mit einer jungen Frau oben am Ende des Pfads rang, am Rand ei 292
nes tief in den Fels geschnittenen Risses, hinter dem nur noch der freie Himmel lag. Mit seiner wenigen verbliebenen Kraft lief er auf sie zu, wis send, daß er, Tage später und weit von hier, seinem Sohn die Ge schichte würde erzählen können — wie es ihm gelang, den einen Teil des Paars von dem Abgrund zurückzureißen, während der andere verschwand, um seinem Schöpfer allein vors Angesicht zu treten. Aus dem Amerikanischen von Ralph Tegtmeier
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DRITTERTEIL
Die Literaten
PATRICK McGRATH
Wasser und Blut Sie sich, zum Schluß, einen würdevollen britischen ButStellen ler vor, der, eine sehr große Teekanne tragend und gefolgt von einem Serviermädchen, das mit einiger Mühe einen Teewagen schiebt, auf dem Tassen und Untertassen und Teller mit Gurken sandwiches stehen, über eine weitläufig angelegte, weiche Rasen fläche schreitet, an deren Fuß ein Bach vorbeiströmt, und am Ufer des Bachs eine große Trauerweide, und in ihrem Schatten sechs junge Leute und eine ältere Dame, die in verschiedenen Posen auf karierten Pferdedecken lagern und gemächlich nach den Fliegen schlagen. Wir schreiben den August 1936, es ist ein wolkenloser Freitagnachmittag, und in England ist Frieden. Richten Sie den Blick nun auf das Haus, von dem aus man den Rasen überblickt, und sehen Sie über der Glastür, die auf die Ter rasse hinausgeht, eine Frau an einem der oberen Fenster stehen. Es ist eine blasse Frau in einem weißseidenen Morgenmantel, völ lig reglos und ohne jeden Ausdruck, und sie sieht über den Kasta nienhain auf dem Kamm der fernen Hügel hinweg in dem tief blauen Himmel dahinter. Dort kreist als winziger Fleck ein einsa mer Turmfalke in der Hitze, fällt und steigt, wie die Strömungen es diktieren. Ungefähr um dieselbe Zeit kommt am Ende der Auffahrt, die zur Vorderfront des Hauses führt, ein graues Auto in. Sicht, das in der Hitze schimmert und eine Staubwolke hinter sich herzieht und sich auf diese Entfernung wie ein Insekt anhöirt. Ge rade als der Butler unten am Bach die siebte Tasse Tee einschenkt, hört die Frau im weißseidenen Morgenmantel auf, vage auf den in der Ferne kreisenden Vogel zu blicken und geht zurück in ihr Zim mer. Sie ist der Grund dafür, daß ein bekannter Spezialist aus der Harley Street, der den Namen Gordon Cadwallader trägt, aus dem grauen Automobil steigt, das inzwischen vor dem Ha us an gehalten hat; ohne auf sein Gepäck zu warten, geht er durch die Vordertür und wird sofort vom Herrn des Hauses entdeckt, der
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seinen Gast in das von der Halle abgehende Arbeitszimmer zieht und die Tür hinter ihnen schließt. Und so kommt es, daß wir uns Dr. Cadwallader aus der Harley Street erst ein paar Stunden später genauer ansehen können; und zwar, als er inmitten wogender Dampfwolken nackt aus seiner Badewanne steigt. Beachten Sie als erstes die Leibesfülle des Mannes. Seine Kinne und Bäuche sind rosig und wabbelig, und seine dicken, feisten Hinterbacken bilden im Sonnenlicht des Spätnachmittags Grübchen, als er behutsam seine hinteren Teile anhebt und mit enormer Vorsicht erst den einen, dann den ande ren Fuß auf die Kacheln setzt. Sein Kopf ist groß, kahl bis auf ein schwarzes Gewirr strähniger Löckchen rund um die Ohren, hat kleine, eng beieinanderliegende Augen, eine kleine, knollige Nase und eine lange Steilfläche zwischen Nase und Lippen. Die Unter lippe schiebt sich vor wie der Kiefer eines mürrischen Süßwasser fisches und ist flankiert von überhängenden Fleischlappen, die sich glatt in die weichen, rosigen Faltungen des mächtigen Halses hineinwölben. Als er sein Handtuch von der Lehne eines Stuhles nimmt und sich aufrichtet, um sich abzutrocknen, breiten seine Brüste sich über die obersten Schwellungen seines Bauches wie in sich zusammengesackte Luftkissen, breite Schläuche aus Fleisch mit weichen Brustwarzen, die, wären da nicht die Glatze des Mannes und das kleine rosige Schläuchlein von Penis, das unten hervorlugt, gewiß dazu geführt hätten, den Körper als weiblich zu identifizieren. In der Ecke des Raums steht eine elfenbeinfarbene, lebensgroße Statue der Minerva, der Göttin der Klempnerei, de ren ausgestreckter Arm am Ellbogen abgebrochen ist, und Cad wallader hat einen braunen Bademantel über den Stumpf dra piert. Zu dieser Statue watschelt der vollbrüstige Arzt nun, nimmt den Bademantel und bindet ihn locker um seine Massen. Nur noch einmal kurz innehaltend, um mit den Füßen in ein Paar rote, marokkanische Pantoffel zu schlüpfen, hängt er sich das feuchte Handtuch über die Schulter und tritt in den Korridor hinaus. Während er dies tut, wird sein Ausdruck frischgeschrubbter Selbstzufriedenheit gröbstens erschüttert durch eine gedämpfte Explosion irgendwo tief in den Eingeweiden des Hauses; und ei nen Augenblick später hört man die jammervolle Stimme einer äl teren Frau rufen: »O nein, Norman! Schon wieder der verflixte Boiler!« Nun befindet sich der Landadel zu diesem speziellen Zeitpunkt 297
der Geschichte nicht unbedingt in einer Blütephase, und als Cad wallader den Boiler explodieren hört, ist er sich nur allzu bewußt, was das bedeutet. Das Haus, Phlange mit Namen, ist ein impo santer, viktorianischer Bau, und die Familie der Percys ist schon seit Generationen hier ansässig. Leider Gottes sind jedoch auch die Installationen seit Generationen hier ansässig, und obwohl der Park von Phlange mit seinen sanft gewellten Wiesen von ei nem Arm des Flusses Kennett durchschnitten wird, wird die Was serversorgung durch eine Rohrleitung vom etwa zwanzig Meilen entfernten Reservoir in Newbury gewährleistet. Der Fluß wird im Grunde nur zum Schwimmen im Sommer und zum Eislaufen im Winter benutzt; obwohl das Eislaufen im Januar 1928 verboten wurde, als nämlich ein kleiner Junge aus dem Dorf durch das Eis brach und ertrank. In jenem selben Winter froren auch die Rohre ein, mit dem Ergebnis, daß die Keller von Phlange im folgenden Frühjahr unter Wasser standen. All dies ist dem Herrn von Phlange nur allzu deutlich bewußt. Es ist Sir Norman Percy, ein kleiner, untersetzter, mürrischer, rö misch-katholischer Gentleman mit dichten, gelben Haaren und gesträubten schwarzen Augenbrauen, die über der Brücke der Na se zusammenstoßen. Als der Boiler explodiert, befindet er sich noch in seinem Arbeitszimmer, geht die Bücher durch und knirscht leise mit den Zähnen; als das Geräusch der Explosion an seine Ohren dringt, zuckt sein Kopf hoch, und dann passiert et was höchst Merkwürdiges: eine Ader an seiner linken Schläfe, die, die sich von der Höhe der Augen zum Haaransatz windet, hebt sich plötzlich deutlich und purpurrot vor der rötlichen Haut ab und fängt sichtlich an zu pochen. Gleichzeitig tritt ein glasiger Blick in die Augen des Mannes, und er steht mit so fest geballten Fäusten auf, daß die Knöchel weiß werden und sich als fahle, kno chige Knoten abzeichnen. Die Wahrheit, die hinter dieser Sache steckt, lautet, daß Sir Norman nun schon seit einigen Monaten unter Phasen plötzlicher und intensiver Orientierungslosigkeit leidet, und gelegentlich hat er auch schon Stimmen gehört. Es gibt eine gewisse Vorgeschichte von Wahnsinn in der Familie, und in seinen klaren Momenten erkennt er, daß er wahrscheinlich je manden konsultieren sollte. Aus diversen Gründen hat er dies bisher nicht getan; und nun, als der Boiler explodiert, bricht eine wichtige psychologische Stützstrebe zusammen, und obwohl man es abgesehen von der pochenden Ader an seiner Schläfe kaum 298
vermuten würde, überschreitet Sir Norman die dünne Linie, die die Verrückten vom Rest von uns scheidet. Aber, wie ich bereits sagte, ist er kaum merklich, dieser Zusammenbruch, und einen Augenblick später bildet die geschwollene Ader — ein Phänomen, das Psychiatern und Barkeepern gleichermaßen als >die Schlange< bekannt ist — sich wieder zurück, und Sir Norman macht sich wie der gute Haushaltsvorstand, der er nun einmal ist, auf den Weg, den Boiler zu reparieren. Und was ist, zum guten Schluß, mit seiner Frau, mit Lady Per cy, der Frau am Fenster? Als der Boiler explodiert, steigt sie, ge nau wie Cadwallader, aus einer Badewanne; aber die tiefe Depres sion, die ihren Geist schrittweise fortschreitend eingenommen hat, ist nun dergestalt, daß die Explosion kaum ein Zucken über ihre faltenlose weiße Stirn gleiten läßt. Sie steht mit dem Rücken zu uns auf dem Kachelboden und erlaubt ihrem Mädchen, näher zu kommen und ihren blassen Körper sanft abzutrocknen, den Körper, der für die Männer aus der Harley Street so ein Problem ist. Sie schlüpft in ihren Morgenmantel und geht dann wie eine, die unter einem Zauber steht, durch das Bad und in ihr Zimmer, und das Badewasser wirbelt hinter ihr mit einer schnellen, klaren und geräuschlosen Bewegung durch den Abfluß. Welch ein Unter schied zur Stimmung des Wassers in Cadwalladers Bad! Denn dort finden wir einen schorfigen Strudel, der gräßliche Saugge räusche von sich gibt, während er sich dreht und in seiner zähen, aber unerbittlichen Abwärtsspirale ein paar Haare, ein paar Flok ken abgeblätterten Putz und mehrere kleine, englische Insekten mit sich trägt. Als der Gong zum Essen ertönt, liegt Sir Norman in Hemdsär meln unter dem Boiler, und neben ihm liegt Tinkler, der sozusa gen das Mädchen für alles des Anwesens ist. Sie befinden sich tief in den Kellern von Phlange, jenen düsteren Gewölben, die immer noch die übelriechenden, schimmligen Narben der Überschwem mung von '28 tragen. Nur unzureichend von einer einzigen, nack ten Glühbirne erleuchtet, ist der eigentliche Boilerraum ein niedri ges Gewölbe mit abgestandener Luft und voller Schatten, und er wird wie von einer großen, gepanzerten Göttin von dem zylindri schen Tank beherrscht, in dem die inneren Wasser von Phlange zum Siedepunkt gebracht und dann durch dichteres, kälteres, her 299
abfließendes Wasser in die höheren Regionen hinaufgezwungen werden. Der Schaden ist weniger verheerend, als man es der Ex plosion nach hätte meinen können; wie üblich ist es eine Frage von schlechten Rohren, schlechtem Gas, und einem Entzün dungsmoment, das durch den leeren Boiler beträchtlich intensi viert wurde. Der Schaden läßt sich natürlich reparieren, aber un verkennbar wird Sir Norman bald einen Fachmann kommen las sen müssen, und es werden größere Arbeiten notwendig sein. An die Belastung für sein Bankkonto — ein löchriges Gefäß, das, im allgemeinen ebenso leer ist wie dieses große, rostende Ding von Wassertank — läßt sich nur mit Grausen denken. Schließlich kriecht Sir Norman hervor, dicht gefolgt von Tink ler, und die beiden Männer stehen rostbesprenkelt vor dem Boiler. Einen Augenblick lang wirkt er in seiner wuchtigen, ramponierten Überalterung irgendwie symbolisch für das Ende aller Dinge, eine große, blecherne Hülle, die nur eine Leere beinhaltet; aber kaum ist ihm dieser Gedanke gekommen, als Sir Norman ihn auch schon mit einem Schnauben verwirft, und er läßt einen schweren Schraubenschlüssel dumpf scheppernd in Tinklers Werkzeugka sten fallen und führt seinen Mann aus der öden, schattigen Sphä re heraus und hinauf ins Licht. An jenem Abend gab es gedünstete Forelle, aber ohne Sir Nor man am Kopf des Tisches fehlte der Gesellschaft der verbindende Faktor, und das Ganze drohte auseinanderzufallen. Die Teenager der Percys — Edgar, Gavin und Charlotte — tranken zu viel und zankten sich laut; Tarquin und Vanessa, die erwachsenen Zwillin ge von Sir Normans jüngerem Bruder, dem Ehrenwerten >verrück ten George< Percy, unterhielten sich ausschließlich miteinander, und zwar im Flüsterton. Roland Crub, ein ausschweifender Sprößling der Northumberlander Crubs, las ein Buch; und Lady Percy, frisch und lieblich duftend nach ihrem Bad, saß schweigsam und reglos am Fußende des Tisches und aß nichts. Cadwallader, zu ihrer Linken, und Mrs. Crub, ihre Mutter, zu ihrer Rechten, waren so ausschließlich mit ihrem Essen beschäftigt, daß von bei den kaum etwas an kreativer oder informativer Unterhaltung zu haben war. Als die Damen sich zusammen mit allen jungen Männern zu rückgezogen und die Portweinkaraffe ihren quasi permanenten Platz vor dem einsamen Cadwallader eingenommen hatte, er 300
schien endlich Sir Norman, sich die Hände an einem feuchten, grauen Lappen trocknend und leise vor sich hinfluchend. Cadwal lader beobachtete ihn gleichmütig, wobei seine kleinen Augen nicht einmal das Flackern eines Ausdrucks verrieten. Sir Norman warf das Handtuch auf das Büffet, nahm seinen Platz am Kopf des Tisches ein und schenkte sich ein großes Glas Rotwein ein. »Nun«, sagte er, nachdem er getrunken hatte, »haben Sie dar über nachgedacht?« »Sir Norman«, sagte der Doktor und legte die Hände flach auf den Tisch, »Ihre Frau ist eine hochgradig depressive Frau. Man darf sie keinen Augenblick allein lassen.« »Unsinn«, fuhr Sir Norman auf. »Sie ist nur still, das ist alles. Sie war schon immer still..« »Ganz im Gegenteil«, sagte der Doktor. »Sie war, wie man so hört, eine eher lebhafte Frau, bis diese merkwürdige Mißbil dung ...« »Hören Sie mir mit ihrer Mißbildung auf, Cadwallader«, sagte Sir Norman scharf. »Der springende Punkt ist, daß ich Ihnen strikt verbiete, den Zustand meiner Frau in die Welt hinauszupo saunen.« »So kann man eine wissenschaftliche Monographie in der Lan cet ja wohl kaum nennen, Sir Norman.« »Ich wiederhole, Cadwallader, daß ich nicht zulasse, daß sie den neugierigen Blicken Fremder ausgesetzt wird. Und das ist mein letztes Wort.« Aus den Tiefen seines gewaltigen Körpers produzierte der Dok tor einen kleinen Seufzer, und seine lange, feuchte Unterlippe verzog sich verärgert. Während man Sir Norman den Fisch vor legte, hatte Cadwallader Gelegenheit, darüber nachzudenken, daß er, obwohl an den Umgang mit den oberen Schichten und an ihr angeborenes Mißtrauen allen Experten gegenüber gewöhnt, und an ihr fast besessenes Beharren auf ihrer Privatsphäre, noch nie auf einen Widerstand gestoßen war, der so knapp ans Patholo gische grenzte wie bei diesem Mann. »Ich möchte«, sagte er als der Butler sich zurückgezogen hatte, »doch nur ein wissenschaft liches Interesse an ihrem Zustand wecken. Es ist schließlich ein ziemlich ungewöhnlicher Fall von klitoraler Vergrößerung ...« »Genug!« rief Sir Norman, und zum erstenmal, seit der Boiler explodiert war, war die Schlange wieder sichtbar. »Seien Sie still, Cadwallader.« 301
»Seien Sie doch vernünftig, Sir Norman«, sagte der fette Mann. »Die Medizin ...« »Zum Teufel mit Ihrer Medizin!« fuhr der aufgebrachte Gastge ber fort, warf seine Serviette hin und sprang von seinem Stuhl auf. »Sie sind der vierte verdammte Quacksalber, den ich hier ha be, und statt meiner Frau zu helfen, könnt ihr nur über ihre Nei gung zum Selbstmord blöken, während ihr eure Karrieren auf ihre Kosten vorantreibt!« Der Butler erschien erneut und wurde mit einer Handbewe gung weggescheucht; Cadwallader war inzwischen ebenfalls sichtlich verärgert. Sein massiger Körper wurde starr, und seine Lippe zitterte feucht. »Wie können Sie es wagen, meine Integrität in Frage zu stellen, Sir!« zischte er. »Wäre da nicht der labile Gei steszustand meiner Patientin, würde ich Ihr Haus auf der Stelle verlassen.« Sir Normans Schlange wütete und tobte inzwischen. »Der Teu fel soll Sie holen, Cadwallader, Sie und Ihre ganze schwärende Brut!« schrie er. »Blutegel und Parasiten, Ihre ganze Bande. Ich will Ihnen etwas sagen, Cadwallader« — inzwischen stand er vor dem Doktor, vorgebeugt, die Hände auf den Tisch gestützt, wäh rend seine Augen den blassen Cadwallader schier wahnsinnig an funkelten — »Sie werden Ihren Willen nicht bekommen! Sie kommt nicht unter Ihr Messer — unter das Messer von keinem von Ihnen! Niemals, hören Sie mich, Cadwallader?« Mit großer Mühe bewahrte der Doktor seine Würde und stand unsicher auf. »Ich muß annehmen, daß Sie unter dem Einfluß von Alkohol stehen, Sir«, sagte er mit schwacher Stimme. »Und ich werde versuchen, diese unglückliche Unterhaltung aus meinem Gedächtnis zu löschen.« Damit floh er, während Sir Norman am Fußende des Tisches die Faust hinter ihm herschüttelte und brüll te: »In meinem Haus löschen Sie verdammt noch mal gar nichts, Cadwallader, verdammt noch mal gar nichts!« Dann sank er schwer atmend auf einen Stuhl, während die Schlange an seiner Schläfe pulsierte wie ein wildes Tier. In den Polizeiakten über den Fall sind die Bewegungen aller Mit glieder des Haushalts während der nächsten vierundzwanzig Stunden in allen Einzelheiten verzeichnet, zusammen mit sie stüt zenden Beweisen. Cadwallader verbrachte, wie es scheint, den größten Teil seines letzten Tages auf dieser Erde in einem Liege 302
stuhl dösend und sporadisch am Kreuzworträtsel der Times arbei tend. Die alte Mrs. Grub nahm an einem Erntefest im Dorf teil und verlieh Preise für das prächtigste Sommergemüse. Später holte sie sich eine von Sir Normans kastanienbraunen Stuten aus dem Stall und unternahm damit einen netten Ausritt über die Downs. Ihre Tochter verbrachte den Tag in ihrem Zimmer, offen sichtlich mit Nichtstun, bis zum späten Nachmittag, als ein hefti ger Sommerregen Cadwallader aus dem Garten ins Haus zurück jagte und er kam, um sie zu untersuchen; er fand ihren Zustand im großen und ganzen unverändert und verordnete ihr ein starkes Antidepressivum. Die Zwillinge, Tarquin und Vanessa, äußerten sich über ihren Verbleib extrem vage und ließen sich nur dazu herab zu sagen, daß sie im Wald Blumen gepflückt hätten. Dies befriedigte die Polizei zwar nicht, aber zu diesem Zeitpunkt stand das Ergebnis der Untersuchung bereits fest, und die beiden wur den nicht weiter befragt. Roland Crub war nach Newbury gefah ren und hatte mehrere Stunden mit einem Begleiter in einem Ho telzimmer verbracht und sich eine Sendung der BBC über die Olympischen Spiele in Berlin angehört. Sir Norman selbst gelang es mit Tinklers Hilfe, den Boiler wieder funktionstüchtig zu ma chen, so gut es eben ging, gab seinem Mann dann den Rest des Wochenendes frei, hieß ihn aber seinen Werkzeugkasten dalassen, für den Fall, daß es wieder Probleme geben sollte. Dann zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, wo er sich, wie er sagte, erst eine Weile mit den Büchern befaßte und dann anfing, Brandy zu trinken. Er trank den ganzen Rest des Tages bis in den Abend hin ein. Er erwähnte der Polizei gegenüber nicht, daß er, als der Regen einsetzte, eine Vision seiner Frau gesehen hatte, wie sie in voller Glorie strahlend am Abendhimmel stand. Wie es scheint, können wir die folgende Kette der Ereignisse re konstruieren, beginnend um oder gegen Viertel nach sieben Uhr an jenem schicksalhaften Samstagabend: Sir Norman, allem äu ßeren Anschein nach völlig normal, in Wahrheit jedoch hochgra dig alkoholisiert, begibt sich mit Tinklers Werkzeugkasten in den Ostflügel des Hauses und schleicht unbemerkt in Cadwalladers Badezimmer. Er versteckt sich im Wäscheschrank und wartet laut los in der Dunkelheit, bis der Doktor, verschwitzt nach seinem Tag in der Sonne, eintritt und das Badewasser einlaufen läßt. Wir wissen bereits, wie Cadwallader aussieht, wenn er seine Waschungen vornimmt. Er ist fett, und rosig; und dank der jüng 303
sten Bemühungen von Sir Norman und Tinkler hat er wieder ein mal das Vergnügen, sich in heißem Wasser zu aalen. Der Sommer regen ist vorüber, und Strahlen späten Sonnenlichts durchdrin gen den Dampf und verleihen der ganzen Szene einen geisterhaf ten und fantastischen Anschein. Dann geht die Tür des Wäsche schranks langsam auf, und der flachshaarige Ritter schlüpft in dieses neblige Reich, dieses Avalen, diese Insel der Toten. In der Hand hält er einen schweren Schraubenzieher, der im Sonnenlicht aufleuchtet, als er sich ungesehen dem Rücken seines Feindes nä hert. Cadwallader, ganz dem Vergnügen des Eingetauchtseins hingegeben, sieht nichts, hört nichts; Sir Norman hebt das schwe re, stählerne Werkzeug hoch in die Luft, die dünne Spitze nach unten gerichtet, und entledigt sich seines Mannes mit einem ein zigen, kraftvollen Schlag. Cadwallader krümmt sich in der Wanne zusammen und neigt sich dann zur Seite wie ein Schiff, das dem schweren Seegang nicht standhalten kann, und das Blut aus sei ner Wunde sickert ins Badewasser. Sir Norman hält sich jedoch nicht damit auf, sich an der vollzogenen Tötung zu freuen; statt dessen zieht er den Werkzeugkasten an die Badewanne heran und wählt daraus eine feinzahnige Laubsäge. Nur innehaltend, um seine Ärmel hochzukrempeln, macht er sich an die Arbeit. In der Zwischenzeit befindet sich Lady Percy in einem Zustand nervlicher und geistiger Erschöpfung in der Folge der Untersu chung durch den Doktor, und sie begibt sich nicht zum Abendes sen hinunter. Sie entläßt ihr Mädchen und sitzt dann allein in ih rem Zimmer im Westflügel an ihrem Ankleidetisch, eine Vase mit blauen Akelei vor sich, deren Blüten sie zwanghaft ordnet und wieder ordnet. Die Seitenflügel des Spiegels des Ankleidetisches sind so eingestellt, daß sie das Bild der Frau und der Blumen von einer Scheibe zur nächsten und wieder zurück spiegeln, und so weiter in die Unendlichkeit; und es ist diese Bewegung des Zu rückgeworfenwerdens, die den Blick von Sir Norman als erstes auf sich zieht, als er das Zimmer betritt. In der einen Hand hält er den Schraubenzieher, und in der anderen einen in ein schwarzes Handtuch eingewickelten Gegenstand. Lady Percy sieht ihn in ih rem Spiegel, dreht sich um, springt mit einem kleinen Schrei auf und eilt in die Mitte des Schlafzimmers. Die langen, weißen Fin ger hat sie an die Lippen gepreßt, und ihre Augen sind geweitet. Sir Norman bleibt reglos mit dem Rücken zur Tür stehen, und die beiden sehen sich quer durch die Weite des Zimmers lange an. 304
Seine Augen brennen vor wahnsinnigem Zorn; ihre sind leer und vergeistigt. Aus dem beladenen schwarzen Handtuch tropft plötz lich eine gewisse Menge Blut auf den feinen türkischen Teppich. »Zeig dich mir«, flüstert Sir Norman und bückt sich, um das Werkzeug und seine blutige Last niederzulegen, wobei seine Au gen das Gesicht seiner Frau nicht verlassen. Lady Percys Hände gleiten langsam von ihren Lippen zu der Schließe am Hals ihres Bademantels, und sie löst sie mit entschlossenem Griff. Hinter ihr steht ihr Himmelbett mit der feingewebten Decke mit mittelalter lichem Muster. Hinter dem Bett sind die Fenster, und hinter den Fenstern, einen weiten Bogen über die Kastanienbäume auf dem Kamm der fernen Hügel schlagend, hat sich ein vollkommener Regenbogen vor dem Himmel gebildet. Lady Percy läßt ihren Ba demantel fallen und steht vor ihrem Mann, der auf ein Knie sinkt. Ihr silberblondes Haar ist in ihrem langen, weißen Nacken zu ei nem festen Knoten geschlungen; ihre schlanken Arme hängen an ihrer Seite; ihre Haut ist blaß wie Elfenbein und ihre Hüften sind schmal; und von dem haarlosen Schamhügel unter ihrem flachen Bauch sprießt ein kleiner, weicher Penis, mollig und rosig gefäl telt, auf einem zarten Hodensack ruhend, der wie ein Regentrop fen vor ihren geschlossenen Schenkeln hängt. Eingerahmt vor dem schimmernden Himmel steht sie dort, gerade und blaß und schmal, und Sir Norman nimmt ihre Hand, senkt den Kopf und drückt ihre Finger an seine Lippen. Als er den Kopf wieder hebt, glüht eine Flamme des Triumphs in seinen eifrigen Augen. Er öff net das durchnäßte schwarze Handtuch und zeigt ihr den abge schnittenen Kopf von Gordon Cadwallader, der mit offenen Au gen daliegt, während das Blut zäh aus den zerfetzten, zerstüm melten Gefäßen seines Halses tropft. Nun reißt er den Kopf an den schwarzen Locken hoch und hebt ihn vor das Gesicht seiner Frau; aber die Dame wendet sich mit einem entsetzten Aufschrei ab und flieht in ihr Badezimmer, dessen Tür sie hinter sich ab schließt. Sir Norman, der sich zu diesem Zeitpunkt tief in psychotischem Territorium befindet, ist fasziniert von den Augen seines Feindes, und er vergißt seine Frau, setzt sich vor den blutigen Kopf, den er zwischen die Spiegel des Ankleidetisches gelegt hat und starrt dort lange in sein unendliches Totsein. Er merkt nicht, daß das Wasser im Badezimmer läuft; in der Tat taucht er erst dann aus seinen grausigen Träumereien auf, als er das Badewasser be 305
merkt, das glitschig, rötlich und dampfend unter der Tür hervor und über den Teppich des Schlafzimmers leckt wie eine Schlange. Seine eigene Schlange ist nun still, und mit einem Schrei der ' Angst läuft er zur Badezimmertür und bricht, da er sie verschlos sen findet, das Schloß mit seinem Schraubenzieher auf. Als er endlich in das dampferfüllte Badezimmer stürzt, ist alles so, wie er gefürchtet hat; seine Frau liegt in einer überfließenden Wanne, ihr Kopf ruht kraftlos auf dem Rand, und ihr linkes Handgelenk ist mit einem seiner eigenen, gutgeschärften Rasiermesser klaf fend aufgeschlitzt. Ihr Blut treibt in diesigen Wirbeln in dem be wegten Wasser, und Sir Norman läßt seinen Schraubenzieher fal len, läuft an die Armaturen und dreht sie mit beiden Händen ab. Dann hebt er den blassen, toten Hermaphroditen tropfend aus dem Wasser, trägt seine Frau mit schweren Schritten ins Zimmer und legt sie auf das Bett. Sanft schließt er ihre Augen, und wäh rend die Tränen über sein Gesicht laufen, legt er ihren rechten Arm an ihre Seite. Den anderen läßt er über die Bettkante fallen, und ohne auf das Blut zu achten, das immer noch leise aus dem Handgelenk pumpt, preßt er die Wunde an seine Lippen. In die sem Augenblick ereignet sich eine zarte atmosphärische Verände rung in der Luft draußen, und Sir Norman hebt den Kopf und sieht, eingerahmt vom Regenbogen, eine große, schimmernde Lichtgestalt, die langsam die Arme ausbreitet und den ganzen Himmel mit ihrem Strahlen erfüllt; und einen Augenblick lang ist er umgewandelt und scheint selbst innerhalb der blendenden Pracht der Gestalt hell in Flammen zu stehen. Aber nur für einen Augenblick; dann löst das Bild sich auf, und die Dunkelheit kehrt zurück, und Sir Norman läßt den Kopf sinken und preßt seine Lippen an die Wunde am Handgelenk der Leiche. Und so verlas sen wir ihn, während die Dunkelheit des Abends sich in das Zim mer stiehlt und die Fliegen bereits anfangen, sich auf den Augen des Doktors zu sammeln. Einige Zeit später fanden zwei Dorfpolizisten Sir Norman Percy neben dem Bett seiner toten Frau kniend. Sie waren von einem Zimmermädchen gerufen worden, das auf die kopflose Leiche von Dr. Cadwallader gestoßen war, der drüben im Ostflügel in seinem eigenen Blut trieb. Sir Norman leistete keinen Widerstand, und am folgenden Tag wurde er vor dem Landgericht in Newbury des Mordes angeklagt. In einer berühmten Verhandlung im Old Bailey 306
im Herbst des Jahres 1936 wurde er aus Gründen der geistigen Unzurechnungsfähigkeit für nicht schuldig befunden und ins Ir renhaus von Broadmoor eingewiesen, wie man damals noch sag te. Nachdem jener erste tragische Schub der Psychose sich selbst ausgebrannt hatte, schlüpfte er wieder in die Rolle, die er sein ganzes Leben lang so gut gespielt hatte, nämlich die des leutseli gen Landherrn, und verbrachte den Rest seiner irdischen Zeit in Broadmoor, in einem Zustand glücklicher und anmaßender Ver rücktheit. Er starb im Jahre 1957 und wurde neben seiner Frau auf dem Friedhof von Phlange beigesetzt. Auf seinem Grabstein ist seltsamerweise ein Vers von Melville eingraviert, der lautet: Welch kosmischer Scherz, welch anarchischer Irrtum zersprengte das menschliche Ganze und schleuderte die Stücke durch des Lebens Tor? Aus dem Englischen von Brigitte Waelitzetz
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FAY WELDON
Ein Unschuldsengel da eine gewisse Art von Unglücklichsein — empfunden Esvongibteiner gewissen Art von Frau, die mit einer gewissen Art von Mann verheiratet ist —, die mit Fug und Recht als zeitlos be zeichnet werden kann: dem Ende zustrebende Jahrhunderte, sich verflechtende Generationen, die sich von Mutter zu Tochter fort setzen, die sich von den feuchten Augen des verwirrten Mäd chens nähren und neue Stärke aus den trockenen Augen der alten Frau gewinnen, die sie einst sein wird — welche, wenn sie an ihre Vergangenheit zurückdenkt, nichts weiter von der Liebe erinnert als Tränen und den Herzschmerz, der durchlitten werden mußte, schweigend, auf daß das Herz nicht ganz zu schlagen aufhöre. Besser, wenn es jetzt zu schlagen aufhörte. Angel wacht in der Nacht auf, hört scharf hallende Schritte auf dem leeren Dachboden über sich und möchte Edward wecken. Sie bewegt ihre Hand, um dies zu tun, doch dann hält sie inne, aus Angst, sie könnte ihn erzürnen. Es ist einfacher, nächtens den Alptraumschrecken von Geistern zu ertragen, als den ganzen Tag über Edwards schweigenden Zorn erdulden zu müssen. Die Schritte, kurz hintereinander und scharf hallend, laufen von einem Punkt über dem Doppelbett, in dem Angel und Ed ward liegen — sie wach, er schlafend — zu einem Punkt irgendwo über der Kommode neben der Tür; sie halten kurz inne, dann kehren sie wieder zurück, trap-trap, klick-klack. Dann folgt eine weitere Pause und das scharrende Geräusch von etwas, das über den Boden gezogen wird; und dann wiederholt sich die Abfolge erneut, einmal, zweimal. Stille. Die angemessene, ungestörte Stil le der Nacht. Zu real, zu deutlich für Geister. Im Universum gibt es keine Ma gie. Für alles gibt es eine Erklärung. Regen vielleicht? Wohl kaum. Angel kann den Mond durch das heruntergezogene Rollo sehen, und in mondhellen Nächten regnet es nicht. Dann ist es vielleicht der Regen der vergangenen Nächte, der sich in irgendeiner ver
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stopften Regenrinne gesammelt hat, um nun endlich spritzend und platschend auf die Tapetenrollen und Farbeimer auf dem Dachboden herabzutropfen, so daß es sich durch irgendeinen Streich der häuslichen Akustik wie Schritte anhört. Sicher! Angel und Edward leben erst seit kurzem in diesem Haus. Der Dachbo den ist noch immer ungestrichen, und alter Putz fällt von den morschen Balken. Edward wird sich früher oder später schon dar um kümmern. Er ist stolz auf seine handwerklichen Fähigkeiten, und Angel, ein Jahr verheiratet, hat gelernt zu warten und zu be wundern, während sie ihre innere Ungeduld unterdrückt. Edward ist ein Maler — von Bildern, kein Hausanstreicher — und hat die Kunsthochschule, wo er viele Preise gewonnen hat, noch nicht lange hinter sich. Angel ist das glückliche Mädchen, das er geliebt und geheiratet hat. Angels Vater hat das abgelegene Landhaus bezahlt, in dem sie nun in Einsamkeit leben und in dem Edward, ungestört von der Häßlichkeit der Stadt, seine Talente entwickeln kann, mit Angel, seiner Muse und Inspiration, an seiner Seite. Ed ward hat dieses Geschenk nur unwillig angenommen — und auch dies eher um Angels als um seiner selbst willen. Angels Vater Ter ry schreibt Thriller und überschrieb seiner Tochter schon in deren Kindheit eine beachtliche Summe Geld, um so die Erbschaftsfor malitäten und die zu erwartende Schenkungssteuer zu umgehen. Angel hielt diese Tatsache bis nach der Hochzeit vor Edward ge heim. Er hat sie für ein gewöhnliches Mädchen aus Chelsea ge halten, Gelegenheitssekretärin und Gelegenheitsbarmädchen und Gelegenheitskünstlermodell. Angel hat zwischen verschiedenen Jobs tatsächlich als Künst lermodell gearbeitet. So hat Edward sie auch zum erstenmal zu Gesicht bekommen: Angel, ganz Unschuld, saß nackt auf ihrem Posiersockel, das blonde lockige Haar unter den gleißenden Lam pen schimmernd, die großen Augen geschlossen unter straffen blaugeäderten Lidern, die schweren Brüste vorgereckt, den borsti gen blonden Busch ärgerlicherweise und schüchtern hinter einem Winkel des Schenkels verborgen, der sowohl Angel Muskel krämpfe bereitete, als auch den Studenten die Pose verdarb. So sagten sie zumindest. »Wenn du dich schon zur Schau stellst«, beschwerte sich Ed ward später bei ihr im Cafe, »dann sei wenigstens nicht so prüde dabei.« Er, jener gutaussehende, dunkeläugige, lächelnde junge Mann, nahm sie mit zu sich nach Hause und machte ihr mit einer 309
nostalgischen Sinatra-Platte den Hof, die die frühere Bewohnerin zurückgelassen hatte; halb ironisch, halb ernst sang er Worte der Liebe in ihr perlfarbenes Ohr; sein warmer Atem in ihrer Ohrmu schel regte ihre Fantasie an, und das sanfte, gelegentliche Knab bern seiner starken Zähne an ihrem Fleisch versprach Leiden schaft und Schmerz jenseits jeder Vorstellungskraft. Angel wei gerte sich trotzdem, sich für ihn auszuziehen: er wurde wütend und schickte sie in einem Taxi nach Hause, ohne ihr Geld für die Fahrt mitzugeben. Zu Hause angekommen, borgte sie sich das nötige Fahrgeld von ihrer Mitbewohnerin. Sie weinte die ganze Nacht und hatte am nächsten Tag, als sie wieder auf ihrem Sockel saß, derart verquollene Lider, daß einige der Studenten sich ge zwungen sahen, die Arbeit des vergangenen Tages abzuändern und zu korrigieren. Doch dann senkte sie ihren Schenkel, als eine Geste der Unterwerfung, und spürte, wie die Stimmung von küh ler Boshaftigkeit zu warmer Zuneigung umschwenkte; sie wußte, daß Edward ihr vergeben hatte. Obgleich sie sich der Menge feil bot, hatte Edward ihr vergeben. »Es stört mich nicht, daß du dich zur Schau stellst«, erklärte ihr Edward in dem Cafe, »um ehrlich zu sein, es erregt mich, aber es stört mich, wenn du schüchtern bist. Du mußt noch viel lernen, Angel.« Zu diesem Zeitpunkt waren Angels Sinne derart erregt, waren ihre Glieder so träge vor Verlangen, war ihr Verstand derart verliebt in sein Abbild, daß sie alles für Edward getan hätte, in der Öffentlichkeit oder im privaten Bereich. Doch er stand auf und verließ das Cafe, wobei er es ihr überließ, die Rechnung zu bezah len. Angel weinte ein wenig und wurde von Edwards Freund Tom getröstet, mit dem sie auch nach Hause und sogar ins Bett ging, wodurch sie sich zeitweilig besser fühlte, auch wenn sie es an schließend für alle Zeiten bereute. »Es stört mich nicht, daß du eine Hure bist«, erklärte Edward vor der nächsten Zeichenstunde, »aber kannst du nicht wenig stens meine Freunde in Frieden lassen?« Angel durchlitt sieben lange Tage der erotischen Folter, bis Ed ward schließlich die Nacht mit ihr verbrachte: zu diesem Zeit punkt ließ sie ihren Schenkel im Studio schon locker baumeln. Sollten es doch alle sehen. Alle. Sie kümmerte das nicht. Der Job war sowieso bald zu Ende. Ihr neuer, als Sekretärin in einer An waltskanzlei, begann am folgenden Montag. Im letzten Augen 310
blick, als sie schon anfing zu glauben, daß das Leben und die Lie be zu Ende seien, gab Edward ihr beides zurück. »Ich liebe dich«, murmelte er in Angels Ohr. »Exhibitionistische Schlampe, Tippse, ist mir egal. Ich liebe dich trotzdem.« Trap-trap, tönten die Schritte über ihr, von neuem erwacht: klick-klack. Wirklicher als wirklich. Nein, so hörte Wasser sich nicht an. Was dann? Ratten? Nein. Ratten huschen und flitzen und kratzen. Es hatte Ratten in der Scheune gegeben, in der An gel und Edward einen gemeinsamen Campingurlaub verbrachten. Ihr Zelt war vom Wind weggeblasen worden: sie waren gezwun gen, in der Scheune Unterschlupf zu suchen. Alle vier. Edward, Angel, Tom und seine neue Freundin Ray. Angel vermißte Edward eines nachts, nachdem sie alle vom Pub zurück zur Scheune ge wankt waren, und nach einigem Suchen fand sie ihn schließlich unter einer Eiche, in inniger Umarmung mit Ray. »Sag mir nicht, daß du neben allem anderen auch noch hyste risch bist«, nörgelte Edward. »Auf alle Fälle verhältst du dich irra tional. Schließlich bist du ja auch mit Tom ins Bett gegangen.« »Aber das war vorher.« Ah, vorher, so lange vorher. Vor den Liebesbeteuerungen, dem Aufgeben aller Schutzwälle, aller Vorsicht, dem Aufgeben jegli chen gesunden Menschenverstands zugunsten des Glaubens, vor dem Einpacken und Überantworten der Seele in augenscheinlich sichere Hände. Und wenn die empfangenden Hände sich teilten, wenn die so vertrauenerweckenden Finger ihren Halt verloren, sei es durch einen Zufall oder mit Absicht, nun, dann war man besser tot. Edward warf die Seele seiner Angel in die Luft und fing sie läs sig mit seinen Händen wieder auf. »Aber wenn es dich eifersüchtig macht«, erklärte er, »dann tue ich es eben nicht... Möchtest du mich heiraten? Ist es das? Würde dich das glücklicher machen?« Wie würde es aussehen, wenn sie dereinst seine Biographie schrieben? Edward Holst, der berühmte Maler, heiratete im Alter von vierundzwanzig Jahren ... was? Ein Künstlermodell, Barmäd chen, Sekretärin, die Tochter eines Krimischriftstellers? Oder eine Exhibitionistin, Hure, Hysterikerin? Wählen Sie selbst. Was im mer den Leser glücklich macht, erklärt der Künstler in schlichten Worten, das ergibt auch die erfolgreichste Version eines Lebens. Die ungeschlachteren Pinselstriche eingeschlossen. 311
»Edward hält sich eben gern alle Türen offen«, sagte Tom, wei gerte sich jedoch, seine Bemerkung zu vertiefen. Er und Ray wa ren die Trauzeugen bei der standesamtlichen Trauung. Angel ver meinte zu sehen, wie Edward an Rays Ohr knabberte, als sie alle einander hinterher küßten, doch dann dachte sie bei sich, daß sie sich wohl geirrt haben müsse. Dies war seine Lie besouvertüre: Edward drehte sich in der dunklen Wärme des Ehebettes zu Angel um, und seine Zähne fanden ihr Ohr und knabberten an dem zarten Fleisch, während seine Hände an ihr hinabwanderten, um ihre Schenkel zu sprei zen. Angel ergriff nie die Initiative bei ihren Liebesspielen. Nein, Angel wartete geduldig. In den frühen Tagen hatte sie es ein, zweimal versucht, indem sie ihre Hand über seinen schlafenden Körper wandern ließ, doch Edward hatte nicht nur keinerlei Reak tion gezeigt, sondern war anschließend auch noch tagelang ihr ge genüber völlig kalt gewesen, hatte sorgsam an seiner Seite des Bettes gelegen, bis ihre Strafe abgebüßt war und er sich wieder warm an sie schmiegte. Edwards Liebe ließ Blumen erblühen, erfüllte das Haus mit Wärme, ließ Wasser wie Wein schmecken. Der glückliche Edward hüllte Angel in Lächeln und zärtliche Ermutigungen ein. Er hielt ihre Seele mit ruhigen Händen. Edwards Zorn kam unerwartet, aus dem Nichts, oder zumindest aus keiner Richtung, die Angel zu erkennen vermochte. Eine noch gestern erlaubte Bemerkung, ein vergebenes Versehen, war heute der Stein des Anstoßes für seine Rage. Eine Bemerkung über das Wetter, um unbehagliches Schweigen zu brechen, mochte als Beweis eines nörglerischen Na turells gewertet werden; auf seine erste unerwartete, schneidende Bemerkung hin in Tränen auszubrechen, diente nur als weiterer Brennstoff für seinen Zorn. Während solcher Stimmungen verschwand Edward in seinem Studio und verriegelte die Tür hinter sich, und obgleich Angel (die alsbald lernte, daß es nur seinen Zorn und ihre Qual verlängerte, vor der Tür zu weinen oder gar stöhnend und schluchzend und aufbegehrend dagegen zu hämmern) dann so, als sei nichts ge schehen, in den Garten hinausging und jätete oder buddelte oder pflanzte, fühlte sie Edwards Wut unter der Tür hindurchsickern, bis sie die Sonne verdunkelte und die Erde vergiftete; oder zumin dest ihre Finger im Umgang mit der Erde ungelenk werden ließ, so daß sie zitterten und Fehler machten und nichts mehr gedieh. 312
Das Rollo bebt. Der Mond verschwindet hinter einer Wolke. Über ihr noch immer dasselbe Trap-trap. Hin und her. Der Wind? Nein. Betrüg dich doch nicht selbst. Es ist nichts von dieser Welt. Ein Geist. Ein Spukgespenst. Eine Frau. Eine kleine, verzweifelte, geschäftige Frau, hier und doch nicht hier, hin und her, außerhalb ihrer Zeit, zurückgekehrt vom Grab, unheilkündend, nur Trauer und Zerstörung mit sich bringend: eine Botschaft, daß nichts so ist, wie es scheint, daß Gott tot ist und die Mächte des Bösen un aufhaltsam auf der Welt einhergehen. Hört Angel es, oder nicht? Durch ihre Angst verspürt Angel das dringende Verlangen, auf die Toilette zu gehen. Sie ist im dritten Monat schwanger. Ihre Blase ist schwach; sie weckt Angel in der Nacht auf, teilt ihr schmerzhaft ihre Bedürfnisse mit, und Angel steigt dann gehor sam aus dem Bett, wobei sie versucht, Edward nicht aufzuwecken. Edward braucht seinen ungestörten Schlaf, wenn er am nächsten Tag gut malen soll. Selbst in seinen besten Momenten argwöhnt Edward, daß Angel, die sich im Schlaf immer wieder stöhnend umherwälzt, ihn absichtlich aufweckt, um ihn zu ärgern. Angel hat Edward noch nicht erzählt, daß sie schwanger ist. Sie schiebt es immer wieder hinaus. Zwar hat sie keinen wirklichen Grund, zu glauben, daß er keine Kinder will: doch er hat auch nicht gesagt, daß er welche will, und anzunehmen, daß Edward will, was andere Leute wollen, ist gefährlich. Angel stöhnt laut auf: voller Furcht, sich zu bewegen, voller Furcht, es nicht zu tun, voller Furcht, Geräusche zu hören, voller Furcht, sie zu überhören. Genauso lag die kleine Angel in ihrem kleinen weißen Bettchen und lauschte auf das Stöhnen ihrer Mut ter, voller Angst, sich zu bewegen, voller Angst, sich nicht zu be wegen, zu hören oder nicht zu hören. Angels Mutter war Verkäu ferin in einem Schuhgeschäft gewesen, die nach sechswöchigem Werben den neuen stellvertretenden Geschäftsführer geheiratet hatte. Daß jener Ehemann dann ein Vermögen mit dem Schreiben von Thrillern machte, die sich in Millionenauflagen verkauften, war sowohl Doras Glück als auch ihre Tragödie. Sie lebte schließ lich zufrieden genug von seinem Geld, in einem Lebensstil, den sie ansonsten nie hätte erwarten dürfen, bis sie an einer unab sichtlich eingenommenen Überdosis Schlaftabletten starb. Danach wurde Angel von einer langen Reihe von Geliebten ihres Vaters und Au-Pair-Mädchen aufgezogen. Ihr Vater Terry mochte Ed ward, was durchaus erstaunlich war — oder jedenfalls war er über 313
sein Auftauchen erleichtert. Er hatte eine gewisse zurückhaltende Vorsicht in Angels Seele befürchtet: zum Beispiel daß sie am Ende vielleicht einen Anwalt oder Börsenmakler heiraten könnte. Künstler waren wenigstens kreativ, und ein Künstler wie Edward Holst mochte eines Tages reich und berühmt werden. Terry hatte sechs Holst-Bilder an seinen Wänden hängen, um den Prozeß zu beschleunigen. Zwei zeigten seine Tochter, nackt, die Schenkel leicht gespreizt vor ihrem borstigen blonden Busch. Angel, besiegt — wie ihre Mutter besiegt worden war. »Ich liebe dich, Dora, aber du mußt das verstehen. Ich bin nicht verliebt in dich.« So wie ich in Heien, Audrey, Rita und wen immer noch verliebt bin: unterwegs zu Tagungen, Partys, unterwegs auf literarischen Rundreisen, auf der Suche nach neuem Material und neuen Hintergründen, im mer jemanden treffend, der aufregender und interessanter war als eine in die Jahre gekommene ehemalige Schuhverkäuferin. War um konnte Dora das nicht verstehen? So unvernünftig von ihr, zu leiden, während sie die weinerliche Angel an ihren alarmierend schlaffen Busen preßte. Konnte er, Terry, denn wirklich die einzige Belebung ihres Fleisches sein? Es lag da deutlich etwas Krankes in ihrer Liebe; etwas, das so gänzlich bar war jener Schönheit, die auch fordernder Hartnäckigkeit noch Anmut verleiht. Angel hatte die großen, traurigen Augen ihrer Mutter. Und trug das Unheil schon in sich. Besser, Doras Herz wäre stehengeblie ben (dabei dachte sie, es würde stehenbleiben: im sechsten Monat schwanger, hatte sie Terry im Bett des Stubenmädchens gefun den. Sie, Dora, die Herrin über die Bediensteten! Welch eine Freude!) und der Embryo Angel hätte nie das Licht der Welt erblickt. Die Geräusche über Angel verstummen. Geister! Was für ein Unsinn! Eine lose Wandverkleidung, die im Wind klapperte und rasselte. Was sonst? Angel faßt wieder Mut und zieht vorsichtig ihre Hand unter Edwards Schenkel heraus, als Vorbereitung dar auf, gleich aus dem Bett zu steigen und auf die Toilette zu gehen. Sie wird alle Lichter anknipsen und schnell laufen. Edward er wacht; setzt sich auf. »Was ist das? Was, in Gottes Namen, ist das?« »Ich kann nichts hören«, sagt Angel, ganz Unschuld. Das kann sie auch nicht, jedenfalls im Moment nicht. Vorerst muß sie sich mit Edwards Unzufriedenheit abfinden; das ist schlimmer als würde das gesamte Universum mit Ketten rasseln. 314
»Schritte, auf dem Dachboden. Bist du denn taub? Warum hast du mich nicht geweckt?« »Ich dachte, ich würde es mir nur einbilden.« Doch sie kann sie abermals hören, so als wäre es mit seinen Ohren. Dasselbe Bewegungsmuster: hin — und wieder zurück. Schritte oder Herzschläge. Nunmehr immer schneller und schnel ler, angetrieben vom Schrecken und der Anspannung der Flucht. Edward streift sich unvorstellbar mutig die Pantoffeln über, greift sich einen herausgebrochenen Geländerpfosten (es gibt fünf davon auf dem Treppenabsatz — bald schon, irgendwann, wird er sich die Zeit nehmen, sie zu reparieren; er will nicht, daß irgend ein von Angel bezahlter Handwerker die Arbeit schlecht macht) und geht hinauf auf den Dachboden. Angel folgt ihm dichtauf. Er läßt nicht zu, daß sie verängstigt zusammengekauert im Bett zu rückbleibt. Ihre Blase schmerzt. Sie verliert kein Wort darüber. Wie könnte sie auch? Noch nicht. Jetzt noch nicht. Bald. »Edward, ich bin schwanger.« Sie kann selbst nicht glauben, daß es wahr ist. Sie fühlt sich wie ein Kind, nicht wie eine erwachsene Frau. »Ist da jemand?« Edwards Stimme hallt durch die drei dunklen Dachbodenkam mern. Stille. Er tastet nach der Lampe und knipst sie an. Leere, verfallene Räume: abplatzender Putz, hängende Dachlatten, ab pellende Tapete. Zerbrochene Dielenbretter. Ein paar Farbeimer, ein Haufen Tapetenrollen, alte Zeitungen. Sonst nichts. »Es könnten Mäuse gewesen sein«, sagt Edward zweifelnd. »Kannst du es denn nicht hören?« fragt Angel, völlig veräng stigt. Das Geräusch hallt in ihren Ohren: Schritte, die ein pochendes Herz übertönen. Doch Edward kann es nicht hören, nicht mehr. »Spiel jetzt nur keine Spielchen«, murmelt er und wendet sich wieder der Wärme und dem Bett zu. Angel huscht ihm voran nach unten, ins Badezimmer; die Geräusche in ihrem Kopf verlieren sich. Ein Strahl Urin plätschert in die Toilettenschüssel. Edward liegt wach im Bett: Angel kann seine wache Ange spanntheit, seine wachsende Feindseligkeit ihr gegenüber spüren, bevor sie wieder ins Zimmer zurückgekehrt ist. »Deine Blase ist sehr schwach, Angel«, nörgelt er. »Noch etwas, das du von deiner Mutter geerbt hast?« Noch etwas, zusammen mit was? Selbstmörderische Neigun 315
gen, Alkoholismus, einen erschlaffenden Busen, die Fähigkeit, be trogen, verlassen und vergessen zu werden? Nicht vergessen von mir, Mutter. Ich vergesse dich nicht, ich liebe dich. Selbst wenn mein Körper bei den Umarmungen dieses Mannes, dieses Liebhabers, dieses Ehemannes aufschreit und mein Mund Worte der Liebe und Versprechen der Ewigkeit formt, vergesse ich dennoch nicht. Ich liebe dich, Mutter. »Ich weiß nichts über die Blase meiner Mutter«, murmelt Angel hitzig. »Jetzt wirst du mich die ganze Nacht wachhalten«, sagt Ed ward. »Ich sehe es schon kommen. Du weißt, daß ich mit dem Bild fast fertig bin.« »Ich werde kein Wort sagen«, entgegnete sie und entscheidet sich dann, so als wolle sie seine Prophezeiung erfüllen, hinzuzu fügen: »Ich bin schwanger.« Schweigen. Stille. Schlaf? Nein, ein Schlag über Nasenflügel, Augen und Mund. Edward hat Angel nie zuvor geschlagen. Es ist kein harter Schlag: er trägt etwas von einem Streicheln in sich. »Mach darüber keine Witze«, erklärt Edward leise. »Aber ich bin schwanger.« Schweigen. Er glaubt ihr. Ihre Stimme hat Zweifel unmöglich gemacht. »Wie weit?« Edward benötigt nur selten weitere Informationen. Es ist ein Akt, der Ignoranz andeutet, und Edward weiß gern mehr als alle anderen auf der Welt. »Dreieinhalb Monate.« Ungläubig wiederholt er die Worte. »Zu weit, um noch etwas dagegen zu unternehmen«, sagt An gel, und sie weiß nun, warum sie es Edward nicht früher erzählt hat, und dieses Wissen läßt ihre Stimme kalt und hart werden. Zu weit für die Abtreibung, die er höchstwahrscheinlich von ihr ver langen wird. Soviel zu den Früchten der Liebe. Liebe? Was ist Lie be? Sex, ja, das war eine andere Sache. Liebe bekommt Babys: Sex hat mit Abtreibungen zu tun. Doch Angel wird Sex in Liebe verwandeln — ja, das wird sie —, wird Sex bei der Kehle packen und würgen, bis er sich ergibt und den Weg der Schwachen geht. Liebe! Edward ängstigt sich zu recht, haßt sie zurecht. 316
»Ich hasse dich«, erklärt er und meint es auch so. »Du willst mich zerstören.« »Ich werde aufpassen, daß es dich nachts nicht stört«, sagt An gel, Angel mit dem borstigen blonden Busch, »wenn es das ist, was dir Sorgen bereitet. Und du mußt es nicht ernähren. Das tue ich sowieso. Oder zumindest mein Vater.« Nun, wie kann sie es wagen! Angel ist nicht annähernd so nett, wie sie selbst gedacht hatte. Rehäugige, bösartige Angel. Klatsch, kommt die Hand abermals, diesmal härter. Angel schreit auf, er brüllt; sie bricht zusammen, kriecht über den Boden — er schmäht sie, sie fleht um Gnade; er spukt seinen Haß, seine Angst, und sie ihre Pein. Wenn die Geräusche oben weitergehen, dann hört sie niemand, denn hier unten geht viel zu viel vor. Das Rascheln der Nacht zerbricht im Wahnsinn. Angel ist unvermittelt ruhig, während sie wimmernd auf dem Fußboden liegt; sie windet sich. Zuerst denkt Edward, sie würde ihm etwas vorspielen, doch ihre weißen Lippen und verkrampften Finger überzeugen ihn, daß etwas mit ihrem Körper, und nicht nur mit ihrem Verstand nicht in Ordnung ist. Er hebt sie wieder aufs Bett und ruft den Arzt. Binnen einer Stunde ist Angel im Krankenhaus. Diagnose: Ver dacht auf Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter. Sie zö gern die Operation hinaus, und der Schmerz läßt nach; einfach ei nes dieser Dinge, die vorkommen, erklären sie schulterzuckend. Edward muß am nächsten Nachmittag seine Malerei unterbre chen, um sie aus dem Krankenhaus abzuholen. »Was war's? Hysterie?« erkundigt er sich. »Wohl kaum!« »Nun, du hattest einen schlechten Start, mit deiner Mutter und dem allem«, gesteht er zu, während er ihre Nase küßt und an ih rem Ohrläppchen knabbert. Es ist Vergebung; doch Angels Augen bleiben ungewöhnlich kalt. Sie bleibt im Bett, nachdem Edward es verlassen hat und in sein Studio zurückgekehrt ist, obgleich noch die Böden zu schrubben und das Geschirr abzuwaschen wäre. Angel sagt nicht, was ihr durch den Kopf geht, was sie als Wahrheit erkannt hat. Daß er enttäuscht ist, sowohl sie als auch das Baby wieder gesund und munter zu Hause zu haben. Er hat gehofft, daß das Baby sterben würde — oder ansonsten wenig stens die Mutter und das Baby mit ihr. Jetzt täuscht er Vergebung vor, während er seine nächsten Schritte plant. Am Abend kommt der Arzt, um nach Angel zu sehen. Er ist ein 317
zarter Mann mit einem traurigen Gesicht: seine Augen hinter den dicken Brillengläsern sind gütig, denkt sie bei sic h. Er spricht langsam und sanft mit ihr. Ich vermute, seine Frau ist glücklich, geht es Angel durch den Sinn, und sie beneidet sie tatsächlich. Angel beneidet die schlampige, ältliche Frau irgendeines Provinz arztes! Die reiche, süße, junge und hübsche Angel. Die tüchtige Sekretärin, das liebenswerte Barmädchen und nun die Ehefrau des berühmten Künstlers! Einmal, für übereilte zwei Wochen, so gar Modell an der Kunsthochschule. Der Arzt untersucht sie, dann zieht er diskret das Nachthemd chen herunter, um ihre Brüste zu bedecken, und zupft an der Bett decke, um ihren Unterleib zu bedecken. Wenn er mein Vater wäre, denkt Angel bei sich, würde er nicht zur Unterhaltung seiner Freunde mein nacktes Porträt an seine Wand hängen. Angel hatte bis zu diesem Moment gar nicht gewußt, daß es ihr etwas aus machte. »Da drinnen ist alles in Ordnung«, erklärt der Arzt. »Tut mir leid, daß ich Sie so übereilt ins Krankenhaus habe schaffen lassen, aber wir dürfen kein Risiko eingehen.« Ah, das Objekt von Fürsorge zu sein. Liebe. Das ist Liebe. Der Arzt macht keine Anstalten, zu gehen. »Vielleicht sollte ich mich mal mit Ihrem Mann unterhalten«, schlägt er vor. Er steht am Fenster und blickt hinaus über die Narzissen und die grünen Wiesen. »Oder ist er sehr beschäf tigt?« »Er malt«, erwidert Angel. »Sie sollten ihn jetzt besser nicht stören. Er ist in der letzten Zeit so oft gestört worden, der arme Mann.« »Ich habe in der Sonntagsbeilage über ihn gelesen«, sagt der Arzt. »Nun, erzählen Sie ihm das besser nicht. Er fand, es würde sei ne Arbeit vulgarisieren.« »Fanden Sie das auch?« Ich? Hat meine Meinung irgendeinen Einfluß? »Um ehrlich zu sein, ich fand den Artikel recht sachkundig«, er widert Angel und spürt gute Laune in sich aufsteigen. Sie setzt sich im Bett auf. »Legen Sie sich hin«, erklärt er. »Gehen Sie es ruhig an. Dies ist ein großes Haus. Haben Sie jemanden, der Ihnen zur Hand geht? Können Sie es sich nicht leisten?« 318
»Das ist es nicht. Aber warum sollte ich von irgendeiner frem den Frau erwarten, daß sie meine Dreckarbeit erledigt?« »Weil sie es vielleicht gern tut und weil Sie schwanger sind, und wenn Sie es sich leisten können, warum nicht?« »Weil Edward keine Fremden im Haus haben mag. Und was soll ich sonst mit meinem Leben anfangen? Ich kann ebensogut saubermachen.« »Es ist sehr abgeschieden hier draußen«, fährt er fort. »Können Sie autofahren?« »Edward braucht Ruhe zum Malen«, erklärt Angel. »Ich kann fahren, aber Edward hält nicht viel von Frauen am Steuer.« »Vermissen Sie denn Ihre Freunde nicht?« »Wenn man verheiratet ist«, sagt Angel, »dann scheint man einfach den Kontakt zu verlieren. Das ist doch bei allen so, oder nicht?« »Hmm«, erwidert der Arzt. Und dann: »Ich bin seit fünfzehn Jahren nicht mehr in diesem Haus gewesen. Es ist jetzt in einem besseren Zustand als damals. Das Haus war in jenen Tagen in Wohnungen aufgeteilt. Ich habe damals eine nette junge Frau be sucht, die auf dem Dachboden lebte. Direkt hier drüber. Vier Kin der, und das Dach war undicht; ein Ehemann, der seine ganze Zeit damit zubrachte, im Pub Cidre zu trinken und der nur nach Hause kam, um sie zu verprügeln.« »Warum ist sie geblieben?« »Wie sollen solche Frauen weggehen? Wo sollen sie das Geld hernehmen? Wohin sollen sie gehen? Was geschieht mit den Kin dern?« Seine Stimme klingt traurig. »Ich vermute, Geld spielt eine wichtige Rolle. Mit Geld ist eine Frau frei«, erklärt Angel und versucht, es zu glauben. »Natürlich«, sagt der Arzt. »Doch sie liebte ihren Mann. Sie konnte es nicht über sich bringen, ihn so zu sehen, wie er war. Nun, es ist schwer. Für eine gewisse Art von Frauen zumindest.« Ja, es war tatsächlich schwer — wenn er deine Seele in seinem Gewahrsam hat, um sie in irgendeiner Bar, im Pub oder im Bett ir gendeiner Frau oder auf einem Sitzplatz im Zug auf seinen litera rischen Rundreisen liegenzulassen. Achtlos! »Aber bei Ihnen ist das anders, nicht wahr?« fragt der Arzt ru hig. »Sie verfügen schließlich über eigenes Geld.« Woher wußte er das nur? Natürlich, der Artikel in der Sonn tagsbeilage. 319
»Niemand wird es lesen«, hatte Angel geweint, als Edward mit steinernem Gesicht vom ersten Überfliegen der beliebten Spalten aufblickte. »Niemand wird es bemerken. Der Artikel ist doch ganz unten in der Ecke versteckt.« Das war er auch: »Edwards engelsgleiche Frau, Angel, die Toch ter des Krimi-Bestsellerautors Terry Toms, hat den Weg nach oben geebnet, nicht nur mit dem sanften Lächeln, das unser Fotograf eingefangen hat, sondern auch indem sie dem erblühenden Genie ermöglichte, die enge und unkomfortable, wenn auch traditionelle Künstlermansarde gegen ein im sechzehnten Jahrhundert erbau tes Landhaus im grünsten Teil von Gloucestershire einzutau schen. Außerdem wäre es durchaus interessant, einmal zu überle gen, ob ein armer Mann in der Lage gewesen wäre, die Weiß-aufWeiß-Technik zu entwickeln, die Holsts Arbeiten so bemerkens wert macht; oder ob der bloße Preis, den man heutzutage für Far be zahlen muß, ihn nicht davon abgehalten hätte.« »Edward, ich habe kein Wort mit diesem Reporter gesprochen, nicht ein einziges Wort.«, sagte sie, als das Eis Tage später die er sten Risse zeigte. »Wovon redest du?« fragte er und wandte ihr seinen abschät zend unfreundlichen Blick zu. »Über den Artikel. Ich weiß, daß du dich darüber aufgeregt hast. Aber es war nicht meine Schuld.« »Warum sollte ein vulgärer Artikel in einer vulgären Zeitung mich aufregen?« Und die Eisdecke schloß sich wieder, dicker als je zuvor. Doch dann fuhr er für zwei Tage nach London, vorgeblich, um seine nächste Ausstellung zu arrangieren, und bei seiner Rückkehr er wähnte er beiläufig, daß er während seines Aufenthalts dort Ray getroffen hätte. Angel hatte während seiner Abwesenheit geputzt, gebacken und Gardinen genäht, alles in der Hoffnung, bei seiner Rückkehr so sein Herz erweichen zu können — und hatte die ganze Nacht über, die er fort war, wach gelegen, während die Furcht vor seiner Untreue so schmerzhaft in ihr brannte, daß sie sogar überlegte, Selbstmord zu begehen, nur um dem allem ein Ende zu bereiten. Sie konnte nicht um beruhigende Auskunft bitten. Er würde ihre Ängste nur treffsicher wie Pfeile zurück in ihr Herz schießen. »Wieso denkst du, ich würde mit irgend jemand anders schlafen 320
wollen? Warum fühlst du dich so schuldig? Weil das genau das ist, was du tun würdest, wenn du nicht bei mir wärst?« Um Brot bitten und Steine bekommen. Lerne Genügsamkeit; zeige niemals Not. Die kleine, zähe Angel des sanften Lächelns, die in der Nacht die Schritte einer anderen Frau hörte und um je mand anderes Trauer willen weinte. Nun, wer kann schon eine Seele brauchen, die von spottenden Händen hierhin und dorthin geworfen wurde, über und über mit blauen Flecken übersät und mißbraucht. Komme ohne sie aus! Edward kam in schlechterer Laune aus London zurück, als er abgefahren war, und schüttelte in fragendem Erstaunen seinen Kopf ob der angesammelten Backwaren seiner Frau: »Ich dachte, du wolltest aufpassen, daß wir nicht mehr so viele Kohlenhydrate zu uns nehmen...«, damit schloß er sich für zwölf Stunden in sein Studio ein, wobei er nur einmal herauskam, um zu sagen: »Nur eine Verrückte würde Gardinen in einem Künstlerstudio aufhängen, oder ein dummes reiches Mädchen, das die Frau eines Künstlers spielt, und das noch dazu in der Öffentlichkeit.« Um dann wieder im Studio zu verschwinden, nachdem er ihr die neuen Gardinen in die Arme gedrückt hatte. Angel hatte das Gefühl, ihre Gedanken würden sich verlangsa men, und sie grübelte, eine ganze Weile über jene letzte Bemer kung nach, bevor sie erkannte, daß Edward damit immer noch den Artikel in der Sonntagsbeilage meinte. »Ich werde das Geld zurückgeben, wenn du es möchtest«, bet telte sie durch das Schlüsselloch hindurch. »Wenn es dir lieber wäre. Und wenn du nicht mit mir verheiratet sein möchtest, macht es mir auch nichts aus.« Das war, noch bevor sie schwanger wurde. Schweigen. Dann kam Edward lachend heraus und erklärte ihr, sie solle sich nicht so lächerlich benehmen. Er trug sie zum Bett, und die guten Zeiten waren zurückgekehrt. Angel sang im Haus, vergaß ihre Pille und wurde schwanger. »Sie verfügen schließlich über eigenes Geld«, sagt der Arzt. »Es steht Ihnen vollkommen frei, zu kommen und zu gehen.« »Ich bin schwanger«, erwidert Angel. »Das Baby muß einen Va ter haben.« »Und Ihr Mann freut sich über das Baby?« »O ja!« sagt Angel. »Ist es nicht ein wunderbarer Tag?« 321
Und tatsächlich nicken heute die Narzissen fröhlich unter ei nem klaren Himmel. Bisher, seit sie aus ihren Knospen erblüht waren, mußten sie sich unter der Last des Regens und des Nebels beugen. Ein enttäuschender Frühling. Angel hatte gehofft, die Natur voller Energie und Farbe erwachen zu sehen, doch das Le ben kehrte nur zögernd zurück, wie es schien mühsam gegen die Wunden der Vergangenheit ankämpfend: die kalten Winde und den harten Frost, so spät für die Jahreszeit. »Oder zumindest«, fügt Angel leise und ungehört hinzu, als der Arzt geht, »wird er sich über das Baby freuen.« Etwa eine Woche lang hört Angel keine weiteren Geräusche in der Nacht. Es hatte Leid in jenen Dachbodenkammern gegeben, und dieses Leid hatte aufgehört. Gute Zeiten konnten schlechte auslöschen. Sicher doch! Edward schläft tief und fest: sie schleicht vorsichtig aus dem Bett zur Toilette, ohne ihn zu wecken. Er ist nett zu ihr und sogar gesprächig, bei jedem Thema, das heißt — ausgenommen ihre Schwangerschaft. Wenn da nicht der Arzt und ihr Aufenthalt im Krankenhaus wäre, könnte sie beinahe denken, sie würde sich das alles nur einbilden. Edward beschwert sich darüber, daß Angel dick wird, so als könne er sich keinen anderen Grund dafür den ken als Gefräßigkeit. Sie möchte mit jemandem über Krankenhäu ser, Entbindungen, Babyausstattungen und Namen reden — doch mit wem? Sie erzählt es ihrem Vater am Telefon: »Ich bin schwanger.« »Was sagt Edward dazu?« fragt Terry vorsichtig. »Nicht viel«, gesteht Angel. »Das habe ich auch nicht anders erwartet.« »Es gibt keinen Grund, kein Baby zu bekommen«, wagt Angel zu bemerken. »Ich denke mir, er steht lieber selbst im Mittelpunkt.« Es ist das erste Mal, daß Terry etwas auch nur annähernd Kritisches über Edward sagt. Angel lacht. Sie kann nicht mehr glauben, daß Edward jemals eifersüchtig auf sie sein könnte, daß er jemals das Gefühl haben könnte, abhängig von ihr zu sein. »Jedenfalls schön zu hören, daß du glücklich bist«, sagt ihr Va ter wehmütig. Seine zwanzigjährige Freundin hat sich mit einem Vertreter für landwirtschaftliche Maschinen verlobt, und obgleich sie angeboten hat, ihre Beziehung neben der Ehe fortzusetzen, 322
fühlt sich Terry gedemütigt und mißbraucht und gezwungen, die Liaison abzubrechen. Er hat begonnen, die Ehe seiner Tochter mit Edward in einem romantischen Licht zu sehen. Die junge Künst lerliebe! »Meine Tochter war ein Modell an der Kunsthochschule, bevor sie Edward Holst geheiratet hat. . . Sie haben von ihm gehört? Es ist wie bei Rembrandt und Saskia.« Er denkt sogar liebevoll an Dora zurück: wenn sie doch nur Verständnis gehabt und abgewar tet hätte, bis die Jugend sich abnutzte. Nun fühlt er sich alt und durchaus in der Lage, einer Ex-Schuhverkäuferin treu zu sein. Wenn sie nur nicht tot wäre! Ein Modell an der Kunsthochschule. Diese zwei Wochen! War um hatte sie es nur getan? Welcher Teufel hatte sie geritten und hatte unsere Angel vom rechten Pfad abgebracht? Sicher, es lag ihr im Blut — ebenso wie es ihrer Mutter im Blut lag, vollständig bekleidet den Pfaden der Tugendhaftigkeit zu folgen. In der Nacht hatte Edward ihren nackten Körper betrachtet, hatte sie hier geküßt, hatte sie dort geküßt und ihre Beine ge spreizt. Nun, die Ehe! Doch jetzt bin ich schwanger, jetzt bin ich schwanger. Oh, sei vorsichtig. Dieser harte Klumpen, wo zuvor mein weicher Bauch war. Sei vorsichtig! Still, Angel. Sprich nicht davon. Sonst wird es nur schlimmer für dich und dein Baby. Angel weiß es. Jetzt hört Angel die Geräusche von Liebesspielen oben auf dem leeren Dachboden, so wie sie es vielleicht in Hotels in fremden Ländern hören würde. Das Kopulieren von Fremden, begleitet von Worten in einer unbekannten Sprache — nur die Schreie und das Atmen sind universell, überall wiedererkennbar. Die Geräusche lassen sie frösteln: sie erregen sie nicht. Sie denkt an die vierfache Mutter, die in diesem Haus mit ihrem be trunkenen, gewalttätigen Mann gelebt hat. Ist es das, was dich bei ihm gehalten hat? Die Ketten der Fleischeslust? War es der Ge danke an die Nacht, der dich die Gefahren des Tages durchstehen ließ? Welche Würdelosigkeit, wenn es so wäre. Oh, ich bilde es mir ein. Ich, Angel, halb verrückt in meiner mit Schweigen gestraften Schwangerschaft, mein Verstand fiebernd, und die Anekdoten des Arztes nähren jenes Fieber noch — ich bilde es mir ein! So muß es sein! Edward wacht auf. 323
»Was ist das für ein Lärm?« »Welcher Lärm?« »Da oben.« »Ich höre nichts.« »Du bist taub.« »Was für ein Lärm ist es denn?« Doch Edward schläft schon wieder. Das Geräusch verliert sich langsam. Angel hört Kinderstimmen. Laß es ein Mädchen sein, lieber Gott, laß es ein Mädchen sein. »Warum wollen Sie ein Mädchen?« fragt der Arzt bei Angels vier tem monatlichen Besuch in der Klinik. »Ich würde gern ein Mädchen hübsch anziehen«, erwidert An gel vage, doch in Wirklichkeit meint sie, daß Edward, wenn es ein Mädchen wäre, nicht so — wie lautet das Wort? — wohl kaum so eifersüchtig, schwierig vielleicht sein würde. Schrecklich. Ja, schrecklich. Edward mit den strahlenden Augen: er geht nun mit Angel spa zieren — lange Spaziergänge über das Gelände, bei denen sie Bachläufe überspringen und von Stein zu Stein hüpfen. Der junge Edward. Sie selbst hat begonnen, sich recht alt zu fühlen. »Ich bin ein bißchen müde«, sagt sie, als sie eines nachts zu ih rem Mondscheinspaziergang aufbrechen. Verwirrt bleibt er stehen. »Warum bist du müde?« »Weil ich schwanger bin«, erwidert sie gegen ihren Willen. »Fang nicht wieder damit an«, sagt er, als wäre es Hysterie von ihrer Seite. Vielleicht ist es das auch. In jener Nacht spreizt er ihre Beine so weit, daß sie glaubt, sie würde gleich platzen. »Ich liebe dich«, murmelt er in ihr ange knabbertes Ohr, »Angel, ich liebe dich. Ich liebe dich wirklich.« Angel spürt, wie die vertraute Antwort sie durchflutet, jene heili ge Dankbarkeit, die Bereitwilligkeit zu sterben, auseinandergeris sen zu werden, wenn es nötig sein sollte. Und dann hört das Ge fühl unvermittelt auf. Es ist verschwunden. Verflogen! Und an seine Stelle tritt eine neugewonnene Stärke. Ein frostiger Eiszap fen der Reaktionslosigkeit, wunderbar, fröhlich. Nein. Es ist nicht recht; das ist es nicht, was nötig ist: ganz im Gegenteil. »Ich liebe dich«, erwidert sie wie gewöhnlich; doch im Geiste kreuzt sie ihre Finger, Vergebung für eine Lüge. Bitte, lieber Gott, lieber Gott, 324
rette mich, hilf mir, mein Baby zu retten. Nicht ich bin es, die er liebt; aber er haßt auch mein Baby. Ich liebe ihn nicht. Ich tat es nie. Es ist schlimm. Ich muß genesen. Und zwar schnell. »So nicht«, sagt Angel und kämpft sich frei — die kühne, un freundliche, prüde Angel —, rettet ihre Beine. »Ich bin schwanger. Es tut mir leid, aber ich bin schwanger.« Edward wälzt sich von ihr herunter, zieht sich aus ihr zurück. »Himmel, du kannst ein Ungeheuer sein. Ein echter Schwanz knicker.« »Wo gehst du hin?« fragt Angel ruhig und neugierig. Edward zieht sich an. Sauberes Hemd; Aftershave. Aftershave! »Nach London.« »Warum?« »Weil man mich dort zu schätzen weiß.« »Laß mich nicht allein. Bitte.« Aber sie meint es nicht. »Warum nicht?« »Ich habe Angst. Hier ganz allein in der Nacht.« »Dir hat doch nie irgend etwas Angst gemacht.« Vielleicht hat er recht. Und schon ist er auf und davon; das Auto zerreißt die Stille der Nacht. Sie schließt sich wieder. Angel ist allein. Trap, trap, trap — über ihr. Es fängt wie auf ein Stichwort an. Hin und zurück. Zu dem ehemaligen Dachkammerbett, zum einst dagewesenen Kleiderschrank; das Scharren des Koffers auf den Dielenbrettern. Lebwohl. Ich gehe. Ich habe hier Angst. Im Haus spukt es. Jemand oben, unten. Oh, überall Frauen — denk nicht, dein Leid würde nicht in die Wände einsickern, nach unten krie chen und dann wieder nach oben. Denk nicht, daß es je vorbei sein wird oder daß die guten Zeiten es auslöschen. Das tun sie nicht. Angel spürt, wie ihr Herz aussetzt und wieder zu schlagen be ginnt. Ein neurotisches Symptom, hat der Arzt ihres Vaters ein mal gesagt. »Es wird besser werden, wenn sie verheiratet ist und Kinder hat«, sagte er. Alles wird besser für Frauen, wenn sie ver heiratet sind und Kinder haben. Es ist ihre natürliche Aufgabe. Angels Herz setzt dennoch aus und fängt wieder an zu schlagen, zum Guten oder zum Schlechten. Angel steigt aus dem Bett, streift ihre Pantoffeln mit den spit zen kleinen Absätzen über und erklimmt die Stufen zum Dachbo den. Woher nimmt sie den Mut? Das Licht, das vom Gang hinauf 325
scheint, ist fahl. Die Geräusche auf dem Dachboden verstummen. Angel hört nur — was? — das Rascheln alter Zeitungen in einer frischen Brise. Das verstummt ebenfalls. So als würde ein Film nun ohne Ton weiterlaufen. Und von oben kommt eine kleine, müde Frau auf Angel zu, gekleidet in ein Nachthemd, die Pantof feln lautlos auf den Stufen, und sie bleibt stehen und starrt Angel an, während Angel sie anstarrt. Ihr Gesicht ist von blauen Flecken gezeichnet. »Wie kann ich das sehen?« wundert sich Angel, nunmehr ohne jede Furcht. »Wo es doch kein Licht gibt?« Mit zitternder Hand knipst sie den Schalter an, und im Licht ist nichts zu sehen als die leeren Stufen und der unberührte Staub darauf, genau wie sie es sich gedacht hat. Angel kehrt ins Schlafzimmer zurück und setzt sich aufs Bett. »Ich habe einen Geist gesehen«, sagt sie durchaus ruhig zu sich selbst. Dann kehrt die Angst zurück: Panik darüber, welche Strei che einem das Universum doch spielt. Schnell, schnell! Angel holt ihren Koffer unter dem Bett hervor — es finden sich noch immer Überreste des Hochzeitskonfettis darin —, und trap-trap geht sie mit scharf hallenden kleinen Schritten vom Kleiderschrank zum Bett, zur Kommode und zurück, nicht so sehr einpackend, als zu rückholend, bergend. Etwas aus dem Nichts schaffend! Angel und ihre Vorgängerin retten einander, da jede außerstan de war, sich allein zu retten, und Rettung immer kommt, irgendwie. Sonst kommt der Tod. Trap, trap, hin und her, in den Koffer, aus dem Haus. Die Gartenpforte schwingt hinter ihr zu. Angel — die Liebe mit sich tragend an einen sichereren Ort. Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann
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JOYCE CAROL OATES
Der Bingomeister kommt er, Joe Pye, der Bingo Master, dramatisch verEndlich spätet um zehn bis fünfzehn Minuten, und jeder in der BingoHalle außer Rose Mallow Odom ruft ihm einen ekstatischen Gruß zu oder lächelt zumindest strahlend, um zum Ausdruck zu brin gen, wie willkommen er ist und wie bereitwillig ihm sein Zuspät kommen verziehen wird. »Sehen Sie sich bloß mal an, was er heute wieder anhat!« entfährt es der pummeligen jungen Mutter, die Rose gegenübersitzt, und ihr hübsches Gesicht bekommt da bei Grübchen wie das eines Kindes. »Ist er nicht hinreißend?« murmelt die Frau und fängt Roses widerstrebenden Blick auf. Joe Pye, der Bingo Master. Joe Pye, das Gesprächsthema von To phet — oder zumindest von gewissen Teilen Tophets. Joe Pye, der den ehemaligen Harlequin-Spielsalon unten in der Purslane Street beim Gayfeather Hotel (von dem Rose dachte, daß es längst mit Brettern vernagelt oder sogar schon abgerissen wäre, aber es steht immer noch und ist in Betrieb) gekauft hat und solchen Er folg mit seiner Bingo-Halle erzielt, daß sogar die gesetzten alten Freunde von Roses Vater in der Kirche oder im Club über ihn sprechen. Im letzten Frühjahr hat die Stadtverwaltung von Tophet die Bingo-Halle zwar zu schließen versucht — erst, weil der Saal wegen des enormen Andrangs hoffnungslos überbelegt war und die feuerpolizeilichen Sicherheitsbestimmungen nicht erfüllt wur den, und dann, weil er irgendein Bußgeld (oder sollte es eher ein Schmiergeld gewesen sein, fragte sich Rose Mallow boshaft) an das Gewerbeaufsichtsamt nicht bezahlt hatte, dessen Inspektor sich schockiert und angeekelt über den Zustand der Toiletten und die Qualität der Riesenbockwürste und Salamipizzas zeigte, die am Erfrischungsstand verkauft wurden. Auch ein paar Kir chen, neidisch auf Joe Pyes Gewinne, die sich durchaus nachteilig auf die ihren hätten auswirken können (denn die Donnerstag abend-Bingoveranstaltungen waren eine wichtige Einnahmequel le für verschiedene Kirchen von Tophet, wenn auch nicht, Gott sei
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Dank, für die Saint Matthias Episcopal Church, wo die Odoms zum Gottesdienst gingen) drangen darauf, Joe Pyes Etablissement zumindest aus dem Stadtgebiet zu verbannen, wie das die Stadt väter im Fall der >Erwachsenen<-Buchläden und Pornokinos ver fügt hatten. In den Zeitungen waren mehrere Leitartikel zu die sem Thema erschienen sowie eine stattliche Anzahl von Leser briefen pro und contra, und obwohl Rose Mallow nur milde Ver achtung für derlei lokalpolitische Belange übrig hatte und kaum wußte, was in ihrer Heimatstadt vor sich ging — wie ihr Vater und ihre Tante sagten, war sie mit ganz anderen Dingen beschäf tigt —, hatte sie die Joe Pye-Kontroverse< nicht ohne eine gewisse Erheiterung verfolgt. Sie war erfreut gewesen, daß man die Bin go-Halle nicht geschlossen hatte, nicht zuletzt deshalb, weil sie vor allem den Leuten um den Golfplatz und den Park und am Van Düsen Boulevard ein Dorn im Auge war, den Bewohnern jenes Stadtteils also, in dem auch sie wohnte; hätte allerdings jemand angedeutet, sie würde dieses Etablissement besuchen — und so gar, wie sie das heute abend tat, unter diesen gräßlich grellen Lichtern an einem der entsetzlich langen, wachstuchgedeckten Ti sche sitzen, inmitten einer fröhlich lärmenden Menge von Men schen, die sich alle zu kennen scheinen und begeistert >Erfri schungen< in sich hineinschlingen, obwohl es erst halb acht ist und sie sicher schon zu Abend gegessen haben, und was finden sie überhaupt an diesem idiotischen Joe Pye! — Rose Mallow hät te schnaubend losgelacht und dabei diese abfällige Handbewe gung gemacht, die sich laut ihrer Tante >nicht gehörten Nichtsdestotrotz, Rose Mallow ist in Joe Pyes Bingo-Halle, sie ist sogar schon früh gekommen und starrt, die Arme unter ihren Brüsten verschränkt, auf den legendären Bingo Master höchstper sönlich. Selbstverständlich gibt es auch andere Mitarbeiter — Hel fer — Mädchen im High School-Alter mit hochaufgetürmtem ge bleichtem Haar, perforierten Ohren mit Ohrringen und kunstvoll geschminkten Gesichtern; sogar ein paar ältere Frauen sind dar unter, in leuchtend rosa Kitteln den Namen Joe Pye als spinngrüne Arabeske am Kragen aufgestickt, und vor dem Eingang hält sich der höfliche kaffeebraune junge Mann im dreiteiligen Anzug auf, dessen Funktion, nimmt Rose an, schlicht und einfach darin be steht, die Bingo-Spieler zu begrüßen und vielleicht auch jegliches zwielichtige Gesindel, weiß oder schwarz, fernzuhalten, denn die Bingo-Halle liegt unleugbar in einem ziemlich verrufenen Viertel. 328
Aber im Mittelpunkt steht Joe Pye. Alles dreht sich um Joe Pye. Sein hohes, rasches, leutseliges Geplauder am Mikrophon ist ge nauso hirnlos, und größtenteils unverständlich, wie der atemlose Monolog jedes x-beliebigen Diskjockeys, von Rose nur mit hal bem Ohr wahrgenommen, als sie auf der Suche nach etwas, das sie ablenken könnte, die Drehscheibe vor ihr in Bewegung setzt; doch alle hören aufmerksam zu und beginnen schon zu kichern, bevor er überhaupt zur Pointe seines Witzes gekommen ist. Der Bingo Master ist ein extrem gutaussehender Mann. Das ist ihr, sie kann es nicht leugnen, sofort in die Augen gestochen: auch wenn sein Spitzbart aussieht, als wäre er mit Tinte aus einem Dis count-Laden gefärbt, genauso wie seine pechschwarzen Augen brauen; seine Haut, so glatt wie Stein und irgendwie auch so un wirklich wie Stein, ist so tief gebräunt wie die Haut eines jener Männer, die auf unzähligen Reklametafeln mit einer brennenden Zigarette zwischen den Fingern in die Sonne blinzeln; daran än dert auch die Tatsache nichts, daß seine Lippen zu rosig sind und die Oberlippe so tief eingekerbt, daß sie beständig zu schmollen scheint. Und schon allein seine Verkleidung (wie sollte man es an ders nennen? Der gute Mann trägt einen leuchtend weißen Tur ban, einen silbernen, mit lachsrosa Fäden durchwirkten Kittel und eine weitgeschnittene, schlafanzugartige Hose aus einem tief schwarzen Material, das fast genauso leuchtet wie Seide), wäre für Rose eigentlich Grund genug, die Augen zu verdrehen und auf der Stelle kehrtzumachen. Nun, er ist attraktiv. Sogar schön, wenn man zu denen gehört — Rose tut es nicht —, die Männer schön nennen. Aus seinen tiefliegenden Augen leuchtet eine Be geisterung, die nicht aufgesetzt sein kann — oder zumindest nicht gänzlich. Seine Aufmachung, absurd wie sie ist, steht ihm ausge sprochen gut, bringt seine wohlproportionierten Schultern sowie die Schmalheit seiner Taille und Hüften hervorragend zur Gel tung. Seine Zähne, die er oft, viel zu oft, entblößt, sind makellos weiß und gerade und ebenmäßig: genauso, wie die von Rose Mal low hätten werden sollen, obwohl sie schon als zwölfjähriges Mädchen gewußt hatte, daß die häßlichen, unangenehmen Span gen und die noch widerlichere Gaumenplatte, die ihr einen stän digen Würgreiz verursachte, ihre Zähne keinen Deut attraktiver machen würden als sie waren — und das war nicht gerade sehr attraktiv. Zähne beeindrucken sie, wecken ihren Neid und sogar eine gewisse Mißgunst. Und um die Sache noch schlimmer zu 329
machen, lächelt Joe Pye unablässig, wenn er, genießerisch die Hände reibend, auf sein hingerissenes, kicherndes Publikum hin abblickt. Seine Stimme ist von Natur aus samten und vertraulich, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt ist, >enthusiastisch< zu sein, und Rose denkt, daß sie, wenn er eine andere Sprache spräche — wenn sie nicht dieses Geschwafel von bezaubernden Damen<, >Jackpot-Preisen<, >Überraschungskarten< und >zehn-Spielen zum-Preis-von-sieben< ertragen müßte (falls es noch komplizier ter würde, käme sie nicht mehr mit) —, seine Stimme durchaus außerordentlich anziehend finden könnte. Unter Umständen, wenn sie sich Mühe gab, auch ihn anziehend finden könnte. Aber sein Gefasel wirkt sich eher abträglich auf seine Verführungskraft — oder -kräfte — aus, und Rose wird abgelenkt, als sie einem der rosa uniformierten Mädchen im Austausch gegen eine schockie rend schmutzige Bingokarte mit irritiert gerötetem Gesicht Geld in die Hand drückt. Natürlich ist dieser Abend nur ein Experi ment, und keineswegs ein ganz ernstzunehmendes Experiment: Sie ist nach Downtown gekommen, mit dem Bus, ohne Beglei tung, in Nylons und ziemlich hochhackigen Schuhen, die Lippen angemalt, parfümiert, nicht ganz so betont hausbacken wie sonst, um, wie es so schön heißt, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Oder vielleicht wäre es genauer, beziehungsweiser weniger narzißtisch zu sagen, daß sie nach Downtown gekommen ist, um sich einen Liebhaber zu angeln ...? Doch nein. Rose Mallow Odom will keinen Liebhaber. Sie will überhaupt keinen Mann, ganz gleich in welcher Form, aber sie nimmt an, daß für das Ritual, das sie zu vollziehen beabsichtigt, einer nötig ist. »Und nun, meine Damen, meine Damen und Herren, wenn Sie alle soweit sind, wenn Sie bereit sind anzufangen.« Und während ein Mädchen mit einer karottenroten Krausfrisur und einem gi gantischen Purpurlächeln den Griff des Drahtkorbs in Bewegung setzt, in dem weiße Bälle von der Größe und dem anscheinenden Gewicht von Tischtennisbällen munter durcheinanderpurzeln, tönt Joe Pye lautstark in den Saal hinaus: »Ich bin bereit anzufan gen und wünsche Ihnen allen, jedem von Ihnen, aus ganzem Her zen viel, viel Glück, und vergessen Sie nicht, es gibt bei jedem Spiel mehr als nur einen Gewinner und Dutzende von Gewinnern jeden Abend, und Joe Pyes ehernes Gesetz lautet sogar, daß nie 330
mand mit leeren Händen nach Hause gehen soll... da, jetzt lassen Sie uns sehen, da: Die erste Zahl ist...« Gegen ihren Willen beugt sich Rose Mallow über das schmutzi ge Rechteck aus Pappe, ein Maiskorn zwischen den Fingern, die Unterlippe zwischen ihren Zähnen eingeklemmt. Die erste Zahl ist . . . Es war vor knapp zwei Monaten, am Vorabend ihres neunund dreißigsten Geburtstags, als Rose Mallow auf die Idee kam, loszu ziehen und ihre Jungfräulichkeit zu >verlieren<. Vielleicht war die Idee gar nicht ihrem Kopf entsprungen, zu mindest nicht ganz. Sie war ihr gekommen, als sie einen ihrer rasch hingeworfenen, drauflosschwadronierenden Briefe schrieb (für die sie, wie sie sehr wohl wußte, von ihren Freunden sehr ge schätzt wurde — ist Rose nicht hochamüsant, pflegten sie zu sagen, und sie nimmt weiß Gott kein Blatt vor den Mund), diesmal an Geor gene Wescott, die sich nach der zweiten Scheidung wieder in New York City aufhielt. Gerade hatte sie eine ziemlich komplizierte und schmeichelhafte, aber (wie Rose argwöhnte) nicht sehr gut bezahlte Stellung an der Columbia University angenommen und für einen renommierten New Yorker Verlag ein neues Buch, eine Essaysammlung über zeitgenössische Künstlerinnen, fertigge stellt. Liebe Georgene, schrieb Rose, das Leben in Tophet ist so absurd wie eh und je. Wie könnte es schließlich anders sein mit Papas & Tante Olivias & meinen eigenen sich überschneidenden Ausflügen zu un seren hochbezahlten Spezialisten-Freunden in dieser gräßlichen Klinik, von der ich Dir erzählt habe. & es scheint, daß es im Frauenclub von To phet zu einem Skandal von unvorstellbaren Ausmaßen gekommen ist, und zwar aus keinem geringeren Anlaß, als daß ein gleichgesinnter Club, der das Gebäude mietet (ich nehme an, es ist irgendsoein links ange hauchter Wohltäter-der-Menschheit-Verein dem Du & Harn & Carolyn angehören würdet, wenn ihr das Pech hättet, hierzu leben) zwei oder drei oder auch mehr schwarze Mitglieder in seinen Reihen zählt. Was wieder um, obwohl es nicht gegen die Statuten des Clubs verstößt, um so mehr gegen den dort herrschenden Geist verstößt. & dann noch etwas, schrieb Rose weiter, sehr spät eines Nachts, nachdem ihre Tante Olivia sich zurückgezogen hatte und selbst ihr Vater, nicht weniger für seine Schlaflosigkeit berühmt wie Rose selbst, zu Bett gegangen war, & dann noch etwas habe ich Dir schon von dem NSWVP-Parteitag hier erzählt . . . im Holiday Inn ... (das es glaube ich, noch nicht gab, als 331
du mit Jack zu Besuch hier warst). . . am Interstate Expressway?... Wie dem auch sei: (& ich fürchte fast, ich habe es Dir schon erzählt, oder war es Carolyn, oder vielleicht auch euch beiden) es war also bereits alles für den Parteitag organisiert, die Zimmer & der Saal gebucht, & dann ent deckt irgendein engagierter junger Dreckaufwühler von Reporter von der Tophet Globe-Times (der inzwischen >nach Norden< zu einem besser be zahlten Job in Norfolk abgewandert ist), daß die Abkürzung NSWVP für Nationalsozialistische Weiße Volkspartei steht, wohinter (& ich übertrei be keineswegs, Georgene, obwohl ich Dich bereits die Nase rümpfen sehe über einen weiteren Fall von RoseMallows mit ihr durchgehender Fanta sie, »Warum packt sie das alles nicht in eine Kurzgeschichte oder ein symbolistisches Gedicht, wie sie das schon einmal getan hat, damit sie etwas vorzuzeigen hätte für ihr Exil & ihr Schweigen & ihre Hinterfot zigkeit auch«, kann ich Dich murmeln hören & und du hast natürlich vollkommen recht) sich nichts anderes verbirgt (jetzt halt Dich fest!) als die amerikanische Nazi-Partei! Ja. Ohne Übertreibung. So eine Partei gibt es tatsächlich &und sie unterhält enge Kontakte, sagt Papa, mit dem Klan & gewissen anderen >Bürgerrechtsorganisationen<, obwohl er sich darüber nicht näher auslassen wollte, möglicherweise weil die alte Jung fer, die seine Tochter ist, gar zu interessierte & ungläubige Augen bekam. Jedenfalls wurde den Nazis die Benutzung des Holiday Inn von Tophet untersagt & und Du hättest wirklich gestaunt, mit welchem Nachdruck diese Leute in verschiedenen Zeitungsartikeln angeprangert wurden. Mir ist zu Ohren gekommen — aber vielleicht ist das nur ein surreales Gerücht —, daß die Nazis insgeheim nicht nur Hakenkreuzarmbinden, sondern unterm Revers kleine Anstecknadeln tragen, natürlich auch mit Hakenkreuzen ... Und dann hatte sie das Thema gewechselt, hatte das Neueste von Freunden und Freundinnen beziehungsweise deren Ehemännern und -frauen berichtet, von den jüngsten Taten gemeinsamer Bekannter, skandalöser und anderweitiger Natur (denn von der lebenslustigen, geselligen, genialischen Gruppe, die sich vor fast zwanzig Jahren in Cambridge, Mass., locker zu sammengeschlossen hatte, war Rose Mallow Odom die einzige wirklich passionierte Briefeschreiberin — diejenige, die alle ande ren durch ihre Post zusammenhielt —, diejenige, die auch weiter einen gut gelaunten Brief nach dem anderen schrieb, obwohl sie schon ein oder zwei Jahre keine Antwort mehr erhalten hatte), und als keckes Postskriptum fügte sie hinzu, daß ihr neunund dreißigster Geburtstag unaufhaltsam näherrücke und daß sie vor habe, sich, gewissermaßen als Geschenk an sich selbst, ihrer 332
Jungfräulichkeit zu entledigen. Da meine berühmte Bügelbrettfigur flacher denn je ist & meine Brüste nach der obligatorischen Frühjahrs grippe & einem neuerlichen Aufkeimen dieser verfluchten Bronchitis die Größe von Wespenstichen haben, wird das wie du Dir sicher unschwer vorstellen kannst, keine geringe Herausforderung darstellen. Natürlich war das nur ein Witz, einer von Roses skurrilen, selbst ironischen Späßen — ein Postskriptum, hingekritzelt, als ihr die Augen vor Müdigkeit zuzufallen begannen. Und doch... und doch, als sie wörtlich schrieb Ich habe vor, mich meiner verdammten Jungfräulichkeit zu entledigen und den Umschlag zuklebte, wurde ihr klar, daß an ihrem Vorhaben kein Weg vorbeiführte. Sie würde die Sache durchstehen müssen. Sie war fest entschlossen, die Sa che durchzustehen, genau wie in den alten Zeiten, vor vielen Jah ren, als sie die vielversprechendste junge Autorin in ihrem Kreis gewesen war und ihr Stipendien und Preise zuhauf in den Schoß gefallen waren; als sie sich gezwungen hatte, ihre unzähligen Pro jekte zu Ende zu führen, und sei es nur wegen der Herausforde rung, die sie für sie darstellten, und der Schmerzen, die sie ihr be reiten würden. (Obwohl Rose auf intellektueller Ebene für die den Odoms eigene puritanische Geringschätzung jeden Vergnügens nur Verachtung fühlte, glaubte sie dennoch, daß schmerzhafte Er fahrungen — und sogar Schmerzen als solche — grundsätzlich ei ne heilsame Wirkung hatten.) Und so zog sie also schon am nächsten Abend, einem Donners tag, los — ihrem Vater und ihrer Tante Olivia hatte sie erzählt, sie würde in die Bibliothek gehen. Als sie, wie sie erwartet hatte, alarmiert fragten, warum um alles in der Welt sie das um diese Zeit tun wolle, entgegnete Rose mit einem schulmädchenhaften Flunsch, das sei ihre Sache. Ob denn die Bibliothek so spät über haupt noch offen sei, wollte Tante Olivia wissen. Donnerstags bis neun Uhr abends geöffnet, sagte Rose. An jenem ersten Donnerstag hatte Rose beabsichtigt, eine Sing le-Bar aufzusuchen, die im Erdgeschoß eines neuen Bürohoch hauses lag; aber erst hatte sie Probleme, das Lokal zu finden, und umkreiste in ihren schlecht sitzenden hochhackigen Schuhen den gigantischen Stahlbetonturm, fortwährend in sich hineinmur melnd, daß keine Erfahrung soviel Mühe wert sei, selbst wenn es sich dabei um eine schmerzhafte handelte. (Sie war natürlich eine keusche junge Frau, deren Grundeinstellung zum Sex sich kaum 333
von der unterschied, die sie in der Grundschule gehabt hatte, als die verwegeneren, leichtsinnigeren und erfahreneren Kinder über die Macht verfügt hatten, die arme Rose Mallow Odom durch das bloße Intonieren bestimmter Worte dazu zu bringen, sich mit bei den Händen die Ohren zuzuhalten.) Dann entdeckte sie endlich die Bar — oder besser: entdeckte eine lange Schlange junger Leu te, die über die dunkle Betontreppe bis zum Gehsteig herunter und dann noch einmal hundert Meter weiter die Straße hinunter standen und offensichtlich darauf warteten, im Chanticleer Einlaß zu finden. Sie war entsetzt, nicht nur über die Vielzahl, sondern auch von der überschwenglichen Jugend dieser Menge: niemand älter als fünfundzwanzig, niemand so gekleidet wie sie. (Sie sah aus wie für den sonntäglichen Kirchgang angezogen, was sie schrecklich fand. Aber wie sonst zogen sich die Leute an?) Also trat sie den Rückzug an und ging schließlich doch in die Biblio thek, wo alle Bibliotheksangestellten sie kannten und respektvoll nach ihrer >Arbeit< fragten (obwohl sie ihnen schon vor Jahren zu verstehen gegeben hatte, daß sie nicht mehr >arbeitete< — die Ver pflichtungen, die sie während der langen Jahre der Krankheit ih rer Mutter auf sich genommen hatte, dann der angegriffene Ge sundheitszustand ihres Vater und nicht zuletzt ihre eigene lange Geschichte von Atemwegserkrankungen, Anämie und leicht bre chende Knochen hatten jede nachhaltige Beschäftigung mit irgend etwas unmöglich gemacht). Sobald sie sich die besorgten, schnat ternden alten Damen vom Hals geschafft hatte, verbrachte sie, was von dem Abend noch übrigblieb, recht gewinnbringend — sie las Die Orestie in einer ihr neuen Übersetzung und machte sich, wie sie das immer tat, eifrig Notizen, animiert von originellen Ge danken für Artikel, Kurzgeschichten oder Gedichte, obwohl sie zum Schluß die Zettel mit den Notizen meist zerknüllte und weg warf. Aber der Abend war nic ht gänzlich verloren gewesen. Am zweiten Donnerstag fuhr sie zum Park Avenue Hotel, dem einzigen guten Hotel von Tophet, in der festen Absicht, so lange in der gedämpft beleuchteten Cocktail Lounge sitzen zu bleiben, bis etwas passierte — aber sie hatte kaum das Foyer betreten, als Barbara Pursley ihren Namen rief; und das Ganze endete damit, daß sie mit Barbara und ihrem Mann, die für ein paar Tage nach Tophet gekommen waren, und Barbaras Eltern, die sie schon im mer gemocht hatte, abendessen ging. Obwohl sie Barbara schon fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen und während dieser fünfzehn 334
Jahre auch kein einziges Mal an sie gedacht hatte (außer sich dar an zu erinnern, daß es eine gute Freundin von Barbara gewesen war, die in der sechsten Klasse den gemeinen, aber vermutlich recht zutreffenden Spitznamen Der Vogel Strauß für Rose geprägt hatte), verbrachte sie einen unterhaltsamen Abend. Jeder außen stehende Beobachter, der ihren Tisch im eichenvertäfelten Speise saal des Park Avenue näher in Augenschein genommen und dabei vor allem auf die große, schlanke, angespannt nervöse Frau ge achtet hätte, die häufig so lachte, daß dabei ihr Zahnfleisch zum Vorschein kam, und außerstande schien, ihre Hand daran zu hin dern, ständig ihr Haar zu betupfen (das babyweic h war, von ei nem hellen Braun, in keinem erkennbaren Stil geschnitten, ohne ihr dabei schlecht zu stehen) und ihre Halskette oder ihre Ohrrin ge zurechtzurücken, wäre ziemlich überrascht gewesen, wenn er erfahren hätte, daß diese Frau (von unbestimmbarem Alter: ihre >sanften<, ausdrucksstarken schokoladenbraunen Augen hätten ebensogut einer naiven Sechzehnjährigen gehören können wie ei ner Frau um die fünfzig) beabsichtigt hatte, den Abend auf der Pirsch nach einem Mann zu verbringen. Und am dritten Donnerstag schließlich (denn die Donnerstage waren inzwischen eine feste Einrichtung geworden: ihre Tante protestierte nur zaghaft, ihr Vater gab ihr ein Buch mit, das sie in die Bibliothek zurückbringen sollte) ging sie ins Kino, und zwar in genau das Kino, in dem sie sich mit dreizehn oder vierzehn zu sammen mit ihrer Freundin Janet Brome mit jemandem getroffen hatte — oder fast getroffen hatte — was damals unter der Be zeichnung >ältere Jungen< von siebzehn oder achtzehn lief. (Große Jungen, Farmerjungen, die den Tag in Tophet verbrachten, in er ster Linie auf der Suche nach Mädchen. Aber nicht einmal im Dunkel des Rialto glichen Rose und Janet der Sorte Mädchen, nach denen diese Jungen Ausschau hielten.) Und es passierte gar nichts. Absolut nichts. Rose verließ das Kino schon nach der er sten Hälfte des Films — eine bis zum Überdruß um sich selbst kreisende Komödie über Ehebruch in Manhattan — und fuhr mit dem Bus nach Hause, wo sie gerade noch rechtzeitig eintraf, um ihrem Vater und ihrer Tante bei Eis und Peek Freans-Biskuits Ge sellschaft zu leisten. »Du siehst aus, als wäre bei dir eine Erkäl tung im Anzug«, sagte Roses Vater. »Deine Augen sind so wäß rig.« Das leugnete Rose, bekam aber schon am nächsten. Tag eine dicke Erkältung. 335
Sie ließ einen Donnerstag ausfallen, aber in der darauffolgen den Woche machte sie sich erneut auf den Weg. Als sie sich voller Zynismus und ohne eine Spur von Zuneigung im Schlafzimmer spiegel begutachtete (der fleckig und verwaschen aussah — aber können Spiegel tatsächlich altern, fragte sich Rose), gelangte sie zu der Überzeugung, daß man sie, ja, durchaus als hübsch hätte bezeichnen können mit ihren großen Straußenaugen und ihrer Straußenhochgeschossenheit und ihrer linkischen, unbeholfenen Würde, wenn ein Mann bei entsprechend gedämpfter Beleuch tung zu ihr herübergespäht hätte. Mittlerweile wußte sie, daß ihr Vorhaben zum Scheitern verurteilt war, aber dennoch erfüllte es sie mit einer Art grimmiger Genugtuung, als sie sich wieder auf den Weg ins Park Avenue Hotel machte, und sei es auch nur, wie sie sich in einem jüngeren Brief geäußert hatte (diesmal an das Mädchen, die Frau, mit der sie während des Studiums in Radcliffe das Zimmer geteilt hatte und die damals so jungfräulich wie Rose gewesen war und möglicherweise sogar noch mehr Angst vor den Männern gehabt hatte als Rose — und nun war Pauline geschie den, hatte zwei Kinder und lebte mit einem irischen Dichter und dessen Kindern in einem Turm im Norden von Sligo, einem Turm nicht unähnlich dem von Yeats), weil sie es endlich mal wissen wollte. Und tatsächlich hatte der Abend recht vielversprechend ange fangen. Eher zufällig geriet Rose in die Zweite Jahresversamm lung der Freunde der Evolution und nahm im hinteren Teil eines dichtbesetzten Ballsaals Platz, um dem Vortrag eines stattlichen, distinguierten Herrn mit Pincenez und roter Nelke im Knopfloch zu lauschen und anschließend in den stürmischen Applaus einzu fallen. (Der Vortrag hatte, schloß Rose nicht ganz richtig, die Not wendigkeit extraterrestrischer Kommunikation zum Gegenstand — oder war eine solche Kommunikation bereits eine Tatsache, die zu unterdrücken das FBI und >Universitätsprofessoren< gemeinsa me Sache machten?) In einem zweiten Vortrag schien eine Frau in Roses Alter, die am Stock ging, die Auffassung zu vertreten, daß sich Christus im Weltraum aufhielt — »irgendwo da draußen im All« —, wie sich mittels eingehenden Studiums der Geheimen Of fenbarung unter Beweis stellen ließ. Nach diesem Vortrag war der Beifall sogar noch stürmischer, obwohl Rose nur höflich dazu bei trug, denn sie hatte sich im Lauf der Jahre zahlreiche Gedanken über Jesus von Nazareth gemacht — und Gedanken über diese 336
Gedanken —, und zum Schluß, eines schönen Tages, hatte sie sich heimlich zu einem Psychiater im Mount Yarrow Hospital begeben und ihm zutiefst beschämt und unter Tränen gestanden, daß sie sehr wohl wisse, daß die ganze Geschichte — die ganze Geschichte — Unsinn wäre, und abgeschmackter Unsinn noch dazu, aber — trotzdem — hatte sie sich manchmal dabei ertappt, wie sie sehn süchtig >glaubt<; und war sie deshalb klinisch geisteskrank? Der Tonfall ihrer Stimme — oder war es eine seltsame Aufwärtsbewe gung ihrer Augen? — müssen dem Mann zu verstehen gegeben haben, daß Rose Mallow Odom jemand war wie er selbst — war sie nicht auch im Norden zur Schule gegangen? —, und so tat er ihre Sorgen einfach ab und versicherte ihr, daß das natürlich alles Unsinn wäre, aber man verspüre eben eine ständig an einem na gende Familienloyalität, ja, man läge in unablässigem Streit mit seiner Familie und bringe dabei schreckliche Dinge über die Lip pen, aber trotzdem würde das der Loyalität keinen Abbruch tun; er würde ihr gern ein Barbiturat verschreiben, wenn sie Schlafstö rungen habe, und ob sie sich nicht lieber einer gründlichen kör perlichen Untersuchung unterziehen wolle? — Weil sie (er meinte das keineswegs böse, er konnte nicht wissen, wie tief er sie damit verletzte) so müde und abgespannt aussehe. Rose erzählte ihm nicht, daß sie gerade ihre gründliche halbjährliche Untersuchung hinter sich hatte und sich, zumindest für ihre Verhältnisse, bester Gesundheit erfreute: keine Probleme mit der Lunge, die Anämie unter Kontrolle. Am Ende ihres Gesprächs fiel dem Psychiater ein, wer Rose war... »Aber Sie sind doch eine lokale Berühmtheit hier. Haben Sie nicht einen Roman geschrieben, der für ziemli chen Wirbel gesorgt hat?« — und Rose hatte ihre Fassung gerade soweit wiedergewonnen, um zu entgegnen, daß in diesem Teil von Alabama niemand berühmt sei; das ursprüngliche Ge sprächsthema war darüber vollends in Vergessenheit geraten. Und nun schwebte Jesus von Nazareth im Weltraum herum... oder umkreiste irgendeinen Mond... oder war Er tatsächlich in einem Raumschiff (der Begriff >Raumschiff< fiel bei den Konfe renzteilnehmern ziemlich oft) und wartete dort auf Seine ersten Besucher von der Erde? Im Lauf des Abends freundete sich mit Rose ein weißhaariger Herr um die siebzig an, der über ein paar Stühle rutschte, um neben ihr zu sitzen, und da war sogar ein et was jüngerer Mann, vielleicht Mitte fünfzig, mit fettigem Kraus haar und einem leichten Stottern, dessen Namensschild ihn als H. 337
Speedwell aus Sion, Florida, auswies und der sie nach Beendi gung der Vortragsreihe auf eine Tasse Kaffee einladen wollte. Ro se verspürte einen Anflug von — ja, was? — Erheiterung, Interes se, Verzweiflung? Sie mußte in einer gouvernantenhaften Geste den Finger an die Lippen legen, da der ältere Herr zu ihrer rechten und H. Speedwell zu ihrer linken mit einem Nachdruck, als woll ten sie Eindruck bei ihr schinden, von eigenen Erfahrungen im Hinblick auf die Sichtung von UFOs sprachen und der dritte Red ner gerade beginnen wollte. Thema des Vertrags war >Die nächste und letzte Stufe der Evo lutions<, gehalten von Reverend Jake Gromwell vom New Holland Institut für religiöse Studien in Stoneseed, Kentucky. Rose saß sehr aufrecht, die Hände im Schoß gefaltet, die Knie züchtig an einandergedrückt (denn, es muß wohl ein Zufall gewesen sein, Mr. Speedwells rechtes Knie preßte sich gegen sie), und tat so, als hörte sie aufmerksam zu. In ihrem Kopf herrschte ein schreckli ches Durcheinander, wie in einem von einem Hund überfallenen Hühnerstall, und es gelang ihr erst, sich über ihre Gefühle Klar heit zu verschaffen, als sich die flatternden Gedanken gesetzt hat ten. Irgendwie befand sie sich an einem Donnerstagabend im September im Regency Ballroom des Park Avenue Hotel und hör te sich den Vortrag eines rosig aufgedunsenen Mannes in einem engen grau-rot karierten Anzug und mit einer knallroten Krawat te an. Ihr war aufgefallen, daß viele der Konferenzteilnehmer be hindert waren — an Stöcken, auf Krücken, sogar in Rollstühlen waren sie gekommen (vor allem einer der Rollstühle, betrieben von einem adlernasigen, jugendlich wirkenden Mann, der etwa in Roses Alter hätte sein können, aber nicht älter als zwölf aussah, war eine tolle Sache, mit einer langen Reihe von Knöpfen, mit de ren Hilfe er offensichtlich so ziemlich alles tun konnte, was er wollte; vor ein paar Jahren hatte sich Rose einmal selbst einen Rollstuhl gemietet, als sie ein eingeklemmter Rückennerv zur Be wegungslosigkeit verurteilt hatte, und ihrer war eine sehr ge wöhnliche Ausführung gewesen) — und die meisten waren schon fortgeschrittenen Alters. Es gab zwar auch Männer in ihrem Alter, aber sie machten alle keinen sehr vielversprechenden Eindruck. Auch Mr. Speedwell, der nach etwas unaufdringlich Seltsamem wie Tapioka roch, machte keinen vielversprechenden Eindruck. Rose blieb noch ein paar Minuten in dem Bewußtsein sitzen, daß sie das aus Höflichkeit und dem Bedürfnis tat, niemanden zu 338
kränken, und ließ sich von der monotonen Stimme Reverend Gromwells und den Motiven der Ball Saaldekoration einlullen (auf dem Teppich wanden sich Schlangen in phosphoreszierendem Orange, Grün und Violett, in der abgestandenen Luft aus unsicht baren Lüftungsschächten kräuselten sich schwere Zwölf-MeterVorhänge, es gab sogar eine grotesk fehl am Platz wirkende, aber doch faszinierende Spiegeldecke mit >Sternflimmern<-Beleuch tung, die den Konferenzteilnehmern trotz ihrer kahlen Köpfe und ihrer zitternden Hälse und Krücken einen Anflug von leicht ge spenstischer Verrufenheit verlieh), bevor sie unter zahlreichen Be kundungen ihres Bedauerns die Flucht ergriff. Jetzt sitzt Rose Mallow Odom an einem der langen Tische in Joe Pyes Bingo-Halle, ihr Magen nach der Orangenlimonade, die sie gerade getrunken hat, etwas in Aufruhr, vor sich eine vielverspre chende — eine sogar sehr vielversprechende — Karte. Sie fragt sich, ob die wachsende Erregung, die sie verspürt, echt ist, oder ob sie nur auf die Orangenlimonade zurückzuführen ist: oder ob es schlicht und einfach einsichtsvolle Furcht ist, da sie natürlich nicht gewinnen will. Sie kann sich nicht einmal vorstellen, so laut Bingo! zu rufen, daß man sie im ganzen Saal hören könnte. Es ist bereits halb elf Uhr abends vorbei, und es hat schon eine Reihe von Gewinnern und Zweitplazierten gegeben; viele haben vor Freude gekreischt, es gab ekstatische Bingos, gebrüllte Bingos, und ein paarmal auch nur ein ungläubiges Einsaugen der Luft, und ei gentlich hätte sie schon längst nach Hause gehen sollen, Joe Pye ist der einzige halbwegs attraktive Mann weit und breit (es sind ohnehin nicht mehr als ein Dutzend Männer anwesend), und es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß Joe Pye in seinem fantasti schen Kostüm, mit seinem von einer goldenen Nadel zusammen gehaltenen leuchtendweißen Turban, seinen anmutigen Schultern und seiner honigtriefenden Stimme ausgerechnet ihr besondere Beachtung schenken sollte. Aber Trägheit oder auch Neugier ha ben sie ausharren lassen. Was soll's auch, denkt Rose, während sie Maiskörner auf abgenutzten Rechtecken aus dicker Pappe her umschiebt und mit anderen Bewohnern von Tophet Bekanntschaft schließt; sicherlich gibt es schlimmere Möglichkeiten, einen Don nerstagabend zu verbringen ...? Am Wochenende würde sie Brie fe an Hamilton Frye und Carolyn Sears schreiben, obwohl ihr bei de noch eine Antwort schuldig waren und ihnen in aller Ausführ 339
lichkeit die an diesem Abend neu gewonnenen Freunde schildern (die pummelige, heftig schwitzende, gutmütige junge Frau, die ihr gegenübersitzt, heißt Lobelia, und fast könnte man es als Iro nie des Schicksals deuten, daß Rose ausgerechnet in diesem Durchgang so gut im Rennen liegt, weil Lobelia sie, bevor das Spiel losging, ganz unvermittelt gefragt hat, ob sie mit ihr die Karten tauschen wolle — »Sie geben mir meine, und ich gebe Ih nen Ihre, Rose!« hatte sie mit bezaubernder Ungenauigkeit und einem strahlenden Lächeln vorgeschlagen, und Rose hatte natür lich sofort eingewilligt); außerdem den deprimierend hell erleuch teten Saal mit der unverhältnismäßig großen amerikanischen Flagge über Joe Pyes Podest und all die seltsamen, eigenartigen, traurigen, begierigen, voll engagierten Spieler, einige darunter ex trem alt, ihre Gesichter verhutzelt, die Hände zittrig, ein paar be hindert oder zu klein geraten oder auf irgendeine vage, aber un bestreitbare Art nicht ganz richtig im Kopf, ein Teil sehr jung (im Grunde genommen ist es sogar ein Skandal, daß Kinder noch so spät wach sind und neben ihren Müttern Bingo spielen, häufig mit zwei oder drei Karten, während ihre Mütter gierig mit vier Karten hantieren, das ist die oberste Grenze), und die schreckliche Musik vom Band, die sich unerbittlich hinter Joe Pyes unermüdli cher Stimme abspult, und natürlich Joe Pye, den Bingo Master selbst, der so ein warmes, zähnebleckendes Lächeln für jeden im Saal übrighat und der — wenn sich das Rose mit ihren durch das grelle Licht gehandikapten schwachen Augen nicht bloß eingebil det hat — bereits früher am Abend tatsächlich ein ganz besonde res Lächeln und ein Zwinkern in ihre Richtung losließ, nachdem er sie offensichtlich als neue Mitspielerin ausgemacht hat. Sie wird aus dem Erlebnis eine ihre reizenden, skurrilen Anekdoten stricken. Dabei wird sie mit gewohnter Härte mit sich zu Gericht gehen und Überlegungen zum Thema Spannung anstellen, des sen psychologischer Bedeutung (ist in gewisser Hinsicht nicht je de Form von Spannung, nicht nur Bingohallenspannung, reichlich dämlich?) und über die Verlierer im Leben, die selbst wenn sie ge winnen Verlierer bleiben (denn was konnte ein Heimhaartrockner oder hundert Dollar in bar oder ein Freiluftgrill oder eine elektri sche Eisenbahn mit Gleisen oder eine Großausgabe der Bibel, illu striert und in weißem Kunstleder gebunden, an der Lebensquali tät dieser Menschen ändern?). Sie wird das Stöhnen des Ärgers und der Enttäuschung registrieren, wenn jemand Bingo! schreit, 340
und das Murmeln, wenn die Gewinnzahlen, abgelesen von einer der gelangweilt dreinblickenden Assistentinnen, endgültig bestä tigt werden. Die häufigen Tränen der Gewinner, die herzlichen Händedrucke und Wangenküsse, in denen Joe Pye schwelgt, als läge ihm jeder Gewinner ganz besonders am Herzen, wäre ein al ter Freund, den er nicht überschwenglich genug begrüßen könnte; und den leuchtend gelben Senf, der auf die Riesenbockwürste mit ihren teigigen Semmeln geklatscht ist; und die Kinder, deren Win deln auf einer unglücklicherweise ziemlich nahen Bank gewech selt werden; und Lobelias abergläubisches Befingern des winzi gen goldenen Kreuzes, das sie an einer Kette um ihren Hals trägt; und das erschöpfte kleine Mädchen, das auf dem Boden schläft, den Kopf auf einen rosa Teddybär gestützt, den jemand aus seiner Familie vor ein paar Stunden gewonnen haben muß; und ... »Gewonnen! Hier. Was sag ich! Sie hat gewonnen! Hier! Diese Karte da! Hier! Joe Pye, hier!« Die großmütterliche Frau zur Linken Roses, mit der sie früher am Abend ein paar nette Worte gewechselt hat (wie sich heraus stellt, heißt sie Cornelia Teasel und hat einmal für die Filarees, Nachbarn der Odoms, saubergemacht), beginnt plötzlich zu schreien und hat, während sie Roses Hand packt, vor lauter Auf regung alle Maiskörner von den Karten gefegt; aber ganz gleich, ganz gleich, Rose hat eine Gewinnkarte, sie ist Bingosiegerin, dar an führt kein Weg vorbei. Ringsum ertönt das übliche Aufstöhnen, untermalt von unter drücktem Schluchzen und enttäuschtem Murmeln, aber das Spiel geht zu Ende, und ein kaugummikauendes Mädchen mit einem Messinghelm aus Haaren verliest Roses Gewinnzahlen, die Joe Pye, jede einzeln, nicht nur mit einem Ja, richtig kommentiert, sondern mit einem Weiter, Schätzchen und So ist es brav und einem strahlenden Lächeln, als hätte er in seinem ganzen Leben nie et was Schöneres erlebt. Ein Hundert-Dollar-Gewinn! Zum ersten mal hier (wenn ihn sein Blick nicht trügt) und schon hundert Dol lar gewonnen! Rose, ihr Gesicht brennend und pochend vor Verlegenheit, muß auf Joe Pyes erhöhtes Podest steigen, um ihren Scheck in Emp fang zu nehmen, zusammen mit Joe Pyes besten, aus ganzem Herzen kommenden Glückwünschen und einem geräuschvollen feuchten Schmatz, den er unbehaglich nahe an ihrem Mund pla ziert (nur mit Mühe kann sie dem Impuls widerstehen, heftig zu 341
rückzuweichen — der Mann ist so körperlich präsent, so wirklich, so da). »Jetzt lächeln Sie aber, meine Liebe, wenn das kein Lächeln ist«, sagt er glückstrahlend. Aus der Nähe ist er genauso gutaus sehend, nur das Weiße seiner Augen ist vielleicht eine Spur zu weiß. Die goldene Nadel in seinem Turban stellt einen krähenden Hahn dar. Seine Haut ist tief gebräunt und der Spitzbart sogar noch schwärzer, als Rose gedacht hat. »Ich beobachte Sie schon den ganzen Abend, meine Liebe, und Sie würden gleich wesent lich besser aussehen, wenn Sie sich etwas entkrampfen und mehr lächeln würden«, flüstert Joe Pye in ihr Ohr. Es strömt ein süßli cher Geruch von ihm aus, wie kandierte Früchte oder Wein. Peinlich berührt weicht Rose zurück, aber bevor sie fliehen kann, greift Joe Pye wieder nach ihrer Hand, ihrer kalten, schma len Hand, die er energisch zwischen seinen eigenen Händen reibt. »Sie sind neu hier?« fragt er. »Heute abend zum erstenmal hier?« »Ja«, sagt Rose so leise, daß er den Kopf zu ihr herabneigen muß, um sie verstehen zu können. »Und Sie stammen aus Tophet? Wohnen Ihre Eltern hier?« »Ja.« »Aber Sie waren bisher noch nie in Joe Pyes Bingo-Halle?« »Nein.« »Und trotzdem gehen Sie schon mit einem Hundert-Dollar-Ge winn nach Hause! Was ist das für ein Gefühl?« »Ach, ganz schön ...« »Was?« »Ganz schön — ich hätte nie damit gerechnet...« »Spielen Sie öfter Bingo? Ich meine, Sie wissen schon, in einer Kirche oder sonstwo?« »Nein.« »Tatsächlich? Sie wollten hier also heute abend nur mal ein biß chen reinschnuppern? Und dann gleich am ersten Abend ein Hundert-Dollar-Gewinn, wenn das kein Glück ist! — Wissen Sie übrigens, meine Liebe, daß Sie wirklich ein verdammt gutausse hendes Mädchen sind? Das bißchen Röte im Gesicht steht Ihnen ganz vorzüglich, ob Sie wohl was dagegen hätten, noch eine Weile hier zu bleiben, sagen wir mal eine halbe Stunde, bis ich hier fer tig bin, es gibt da gleich nebenan eine richtig gemütliche kleine Bar, mir ist nämlich nicht entgangen, daß Sie heute abend ganz al leine hier sind, hm? — Wollen wir uns vor dem Schlafengehen noch einen genehmigen, nur wir beide?« 342
»Also, ich weiß nicht, Mr. Pye ...« »Joe Pye! Joe Pye der Name«, sagt er grinsend und beugt sich zu ihr vor. »Und wie ist wohl der Ihre? Irgendein Blumenname, wenn mich nicht alles täuscht — irgendeine ... eine Blume ...« Zutiefst verwirrt, denkt Rose nur noch an Flucht. Aber er hält ihre Hand fest in der seinen. »Doch nicht etwa zu schüchtern, um Joe Pye Ihren Namen zu sagen?« »Ich — ich heiße Olivia«, stammelt Rose. »Ach. Olivia. Olivia also«, sagt Joe Pye langsam, sein Lächeln plötzlich gefroren. »Olivia heißen Sie also ... Tja, manchmal miß deute ich etwas, wissen Sie; ich bringe etwas durcheinander oder sonst was und dann unterläuft mir ein Fehler; ich habe nie be hauptet, immer hundertprozentig richtig zu liegen. Dann also Oli via. Na gut, schön. Olivia. Warum so nervös, Olivia? Keine Sorge, das Mikrophon überträgt kein Wort von dem, was wir hier spre chen. Haben Sie noch Zeit auf einen kleinen Drink, so gegen elf? Ja? Gleich nebenan im Gayfeather, wo ich wohne. In der Bar ist es richtig gemütlich, fast wie zu Hause, nett und ruhig, wir beide, ganz unverbindlich ...« »Mein Vater wartet auf mich, und ...« »Jetzt hören Sie aber mal, Olivia, Sie sind doch ein TophetMädchen, wollen Sie etwa einem Zugereisten nicht ein bißchen das Gefühl vermitteln, willkommen zu sein?« »Es ist nur, daß . . . « »Also abgemacht? Ja? Werden Sie kommen? Sobald wir hier dichtmachen? Gleich nebenan im Gayfeather?« Rose starrt den Mann an, seine hell funkelnden Augen und den funkelnden Wappenhahn an seinem Turban, und hört sich eine zaghafte Zustimmung murmeln; erst jetzt läßt Joe Pye ihre Hand los. Und so ist es dazu gekommen, gegen alle Wahrscheinlichkeit, ge radezu absurd, daß sich Rose Mallow Odom, als es auf Mitter nacht zugeht, in der gruftartigen Bar des Gayfeather in der Ge sellschaft von Joe Pye, dem Bingo Master, wiederfindet (dessen Turban sogar hier blendend weiß ist, inmitten des schwebenden Rauchs und der gespenstisch flackernden Farben eines Fernsehge räts, das hoch über der Bar thront) und zwei oder drei anderer schemenhafter Gestalten, gestrandet und bedrückt, einsame Trin 343
ker, die ganz eindeutig nichts miteinander zu tun haben wollen. (Einer von ihnen, ein relativ gut gekleideter älterer Herr mit einer aufgedunsenen Boxernase, erinnert Rose vage an ihren Vater — bis auf die Säufernase natürlich.) Sie nippt nervös an einem >Orange Blossonv — ein mädchenhaftes essigsauer-süßes Gemisch, das sie seit 1962 nicht mehr getrunken und heute abend bestellt hat — oder hat es ihr Begleiter für sie bestellt? —, nur weil ihr nichts anderes eingefallen ist. Joe Pye erzählt Rose von seinen Reisen in ferne Länder — Venezuela, Äthiopien, Tibet, Island —, und Rose gibt sich Mühe, den Anschein zu erwecken, als glaube sie ihm, als wäre sie naiv genug, ihm zu glauben, denn sie hat be schlossen, ernstzumachen, sich diesen exotischen Schwindler als Geliebten zu nehmen, nur für eine Nacht oder den Teil einer Nacht, wie lange die Transaktion eben dauern wird. »Noch was zu trinken?« säuselt Joe Pye und legt seine Hand auf ihren wider standslosen Unterarm. Über der Bar knattert der stark gekippte Fernseher unter hefti gem Maschinengewehrfeuer, und verschwommene Schemen, ver mutlich menschlich, rennen unter einem strahlend türkisblauen Himmel über hellen Sand. Verärgert dreht sich Joe Pye herum und gibt dem Barkeeper mit einer schroffen gegenläufigen Drehung der Finger zu verstehen, den Ton leiser zu stellen; dessen soforti ger Gehorsam beeindruckt Rose. Aber andererseits ist sie auch leicht zu beeindrucken. Aber andererseits ist sie normalerweise nicht leicht zu beeindrucken. Aber der prickelnde, stechende, orangefarbene Drink ist ihr in den Kopf gestiegen. »Nach langer Wanderschaft auf diesem Planeten, von Norden nach Süden, von Osten nach Westen, unterwegs auf Frachtern und Zügen, manchmal zu Fuß, zu Fuß durch die Berge, ein Jahr hier, sechs Monate da, zwei Jahre wieder woanders, habe ich mich schließlich wieder auf den Weg nach Hause gemacht, zurück in die Staaten, und habe mich hier so lange umgesehen, bis, Sie wis sen schon, einfach alles perfekt war — wie eben manchmal alles perfekt ist an einer Stadt oder einer Landschaft oder einem ande ren Menschen, und man weiß: das ist mein Schicksal«, sagt Joe Pye leise. »Wenn Sie wissen, was ich meine, Olivia.« Mit zwei dunklen Fingern streicht er über ihren Handrücken. Sie erschauert, obwohl das Gefühl eigentlich ein kitzliges ist. »... Schicksal«, sagt Rose. »Ja. Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.« 344
Sie will Joe Pye fragen, ob es bei ihrem Gewinn mit rechten Dingen zugegangen ist oder ob er das Spiel zu ihren Gunsten ma nipuliert hat. Denn er war schon früher auf sie aufmerksam ge worden. Schon zu Beginn des Abends. Eine Fremde, eine stirn runzelnde, ungläubige Fremde, die ihn mit ihrem intelligenten skeptischen Blick fixiert hat, die am konservativsten und ge schmackvollsten gekleidete Frau im Saal. Aber er scheint kein In teresse daran zu haben, über sein Geschäft zu sprechen, statt des sen will er über sein Leben als >Glücksritter< reden — was immer er damit meint —, und Rose fragt sich, ob so eine Frage vielleicht naiv ist oder beleidigend, immerhin unterstellt sie ihm damit, er könne unehrlich sein und beim Bingo würde geschoben. Aber weiß vielleicht nicht sowieso jeder, daß beim Bingo Schiebung im Spiel ist? — Genau wie beim Pferderennen? Sie will fragen, kann aber nicht. Joe Pye sitzt in der Nische so dicht neben ihr, seine Haut ist so irisch und gesund, seine Lippen so dunkel, seine Zähne so weiß, sein Spitzbart mephistophelisch und sein Benehmen — jetzt, da er nicht mehr im Rampenlicht steht und ganz >er selbst< sein kann — so einnehmend vertraulich, daß sie nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Sie ist durchaus willens, ihre Situation als komisch oder sogar als lächerlich zu se hen (sie, Rose Mallow Odom, voller Verachtung für Männer und alles Körperliche generell, ist im Begriff, diesem Scharlatan zu ge statten, sich einzubilden, er würde sie verführen — aber zugleich ist sie ziemlich nervös, sie ist nicht einmal sonderlich redege wandt); sie muß sie jedenfalls als irgend etwas sehen — und inter pretieren. Aber Joe Pye redet einfach weiter. Als würde er sich halbwegs amüsieren. Als handelte es sich hier um eine ganz nor male Unterhaltung. Hatte sie irgendwelche Hobbies? Tiere? War sie in Tophet aufgewachsen und zur Schule gegangen? Lebten ih re Eltern noch? Was machte ihr Vater beruflich? War er Geschäfts mann — oder eher Akademiker? War sie viel gereist? Nein? War sie mal verheiratet gewesen? Oder ging sie ganz in ihrem Beruf auf? War sie je verliebt gewesen? Rechnete sie damit, sich noch mal zu verlieben? Rose errötet, hört sich selbst verlegen kichern, ihre Worte kom men sich gegenseitig in die Quere, Joe Pye beugt sich zu ihr her über, kitzelt ihren Unterarm, eine Witzfigur in einer Schlafanzug hose aus schwarzer Seide und mit einem Turban und mit einem Duft wie etwas Überreifes. Seine dunklen Augenbrauen sind hoch 345
gewölbt, das Weiß seiner Augen scheint von innen heraus zu leuchten, seine vollen Lippen sind zu einem anziehenden Schmol len gespitzt; er ist unwiderstehlich. Sogar seine Nasenflügel blä hen sich in vorgetäuschter Leidenschaft... Rose fängt an zu ki chern und kann nicht mehr aufhören. »Sie sind ein außerordentlich attraktives Mädchen — vor allem, wenn Sie sich, wie gerade jetzt, etwas gehen lassen«, sagt Joe Pye leise. »Wissen Sie — wir könnten auf mein Zimmer verschwin den; dort wären wir ungestört. Was halten Sie davon?« »Bin ich doch gar nicht«, sagt Rose und holt zitternd tief Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. »Ich bin kein Mäd chen. Immerhin bin ich schon neununddreißig.« »In meinem Zimmer wären wir mehr unter uns. Niemand wür de uns stören.« »Meinem Vater geht es nicht gut, er wartet auf mich«, bringt Rose hastig vor. »Aber inzwischen schläft er doch sicher schon - höchstwahr scheinlich!« »O nein, sicher nicht — er hat Schlafstörungen, wie ich.« »Wie Sie! Tatsächlich? Ich habe nämlich auch Schlafstörungen«, sagt Joe Pye und drückt erregt ihre Hand. »Das ist schon so, seit ich in der Wüste mal ein schlimmes Erlebnis hatte. . . in einem völlig anderen Teil der Welt... Aber davon werde ich Ihnen später erzählen, wenn wir uns näher kennen. Wenn wir schon beide an Schlafstörungen leiden, Olivia, dann sollten wir uns auf jeden Fall Gesellschaft leisten. Die Nächte in Tophet sind so lang.« »Die Nächte sind lang«, sagt Rose errötend. »Aber zu Ihrer Mutter: Sie wartet doch nicht auf Sie?« »Meine Mutter ist schon seit Jahren tot. Ich möchte den Namen der Krankheit, an der sie litt, zwar lieber nicht nennen, aber Sie können sich ihn ja sicher denken; ihr Leiden zog sich endlos hin ; und als sie starb, nahm ich alle meine Sachen — ich hatte diese komische Karriere laufen, mit den näheren Einzelheiten will ich Sie lieber nicht langweilen — alle meine Papiere — Geschichten, Aufzeichnungen und ähnliches — und verbrannte sie mit ande rem Müll, und seitdem bin ich jeden Tag und jede Nacht zu Hause gewesen, und ich fühlte mich gut, als ich die Sachen verbrannte, und gut, wenn ich mich daran erinnere, und — und ich fühle mich in diesem Moment gut«, erklärt Rose trotzig und leert ihr Glas. »Und so weiß ich, daß, was ich getan habe, eine Sünde war.« 346
»Glauben Sie an die Sünde? Ein gebildetes und intelligentes Mädchen wie Sie?« sagt Joe Pye mit einem breiten Lächeln. Der Alkohol ist ein warmer, golden glühender Atem, der ihre Lungen füllt und überfließen läßt und sich in alle Teile ihres Kör pers ausbreitet, bis in die Zehenspitzen, die Ohrläppchen. Doch ihre Hand ist fischig: mag Joe Pye an ihr herummachen, wie er will. Sie wird also tatsächlich verführt, und es ist genauso lächer lich, so unbeholfen, wie sie es sich vorgestellt hat, wie sie sich der lei Dinge schon als junges Mädchen vorgestellt hat. Also. Wie Descartes ganz richtig gesehen hat — ich bin ich, oben in meinem Kopf, und mein Körper ist mein Körper, ausgedehnt im Raum, da draußen; dürfte recht interessant werden zu beobachten, was pas siert, denkt Rose gelassen. Aber sie ist nicht gelassen. Sie hat zu zittern begonnen. Aber sie muß gelassen bleiben, das Ganze ist so absurd. Auf dem Weg nach oben zu Zimmer 302 (der Lift ist außer Be trieb, oder vielleicht gibt es keinen Lift, sie müssen die Treppe nehmen, Rose ist es auf bezaubernde Weise schwindlig, und ihr Begleiter muß seinen Arm um sie legen) erzählt sie Joe Pye, daß sie es nicht verdient hat, beim Bingo zu gewinnen, und eigentlich sollte sie die hundert Dollar zurückgeben oder vielleicht Lobelia schenken (aber sie weiß Lobelias Nachnamen nicht! — wie bedau erlich), denn es war in Wirklichkeit Lobelias Karte, die gewonnen hat, nicht ihre. Joe Pye nickt, obwohl er nicht zu verstehen scheint. Als er seine Tür aufschließt, beginnt Rose mit einer unzu sammenhängenden Geschichte, oder ist es ein Geständnis, von etwas, das sie getan hat, als sie elf Jahre alt war, und das sie noch niemandem erzählt hat, und Joe Pye führt sie in sein Zimmer und schaltet mit einer theatralischen Geste das Licht ein, und mit ihm auch den Fernseher, obwohl er ihn bereits im nächsten Moment wieder ausschaltet. Blinzelnd starrt Rose auf die komplexen ge wundenen Streifen im Teppich, die genau wie Schlangen sind, und mit verschwommener Stimme beendet sie ihr Geständnis: »... sie war so beliebt und so hübsch, und ich haßte sie, ich brach schon vor ihr zur Schule auf und ging dann absichtlich so lang sam, daß sie mich einholte, und manchmal klappte es, manchmal nicht, ich haßte sie wie die Pest, ich kaufte eine ValentinstagGlückwunschkarte, eine von diesen verrückten Witzkarten, sie war etwa dreißig Zentimeter groß und auf Glanzpapier gedruckt und hatte irgendeinen Idioten vorne drauf, und darunter stand: 347
Mutter hat mich geliebt; und wenn man sie aufklappte: aber sie ist gestorben, ich schickte sie also Sandra, weil ihre Mutter gestorben war. . . als wir in der fünften Klasse waren ... und ... und ...« Joe Pye zieht den goldenen Hahn heraus und löst seinen Tur ban, der sich erstaunlich lang entfaltet. Rose, ihre Lippen grin send, fummelt am ersten Knopf ihres Kleids herum. Es ist ein kleiner Knopf, stoffüberzogen, und er widersetzt sich ihren Be mühungen, ihn durch das Loch zu schieben. Aber schließlich be kommt sie ihn durch und steht schwer atmend da. Sie wird es als etwas vollkommen Unpersönliches betrachten, ich muß es so betrachten, als etwas Körperliches, aber nichts Geisti ges, wie eine gynäkologische Untersuchung. Andererseits haßt Rose diese gynäkologischen Untersuchungen. Haßt und fürchtet sie und verschiebt sie, indem sie Termine in letzter Minute absagt. Es geschieht mir recht, denkt sie oft, wenn... Aber der Krebs ihrer Mutter war woanders. Woanders in ihrem Körper und dann über all. Vielleicht gibt es gar keinen Zusammenhang. Joe Pyes Schädel ist bedeckt von moosigem, offensichtlich sehr dichtem, aber kurz geschnittenem dunklem Haar; er muß sich vor einiger Zeit den Kopf kahlgeschoren haben, und nun wächst es unregelmäßig nach. Die vitale Bräune endet an seinem Haaran satz, wo die Haut so teigig weiß ist wie die von Rose. Er lächelt Rose an, liebevoll und fragend, und mit einer abrupt entschlosse nen Handbewegung reißt er sich den Spitzbart ab. Schockiert hält Rose den Atem an. »Aber was tun Sie denn da, Olivia?« fragt er. Plötzlich neigt sich der Boden, so daß sie zu stürzen, in seine Arme zu taumeln droht. Sie macht einen Schritt zurück. Ihr Ge wicht zwingt den Boden nach unten, hält ihn an Ort und Stelle. Nervös, wütend zerrt sie an den altjüngferlichen, kleinen, häßli chen Knöpfen ihres Kleides. »Ich — ich — ich beeile mich ja schon, so gut ich kann«, stößt sie hervor. Joe Pye reibt sich das gerötete Kinn, das leicht wund wirkt, und starrt Rose Mallow Odom an. Selbst ohne seinen majestätischen Turban und seinen Spitzbart ist er ein Bild von einem Mann; er hält sich aufrecht, die Schultern leicht hochgezogen. Er starrt Rose an, als traue er seinen Augen nicht. »Olivia?« sagt er. Sie reißt an ihrem Kleid, und ein Knopf springt ab, es ist zum Lachen, aber jetzt ist keine Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbre 348
chen, irgend etwas stimmt nicht, sie bekommt das Kleid nicht auf, sie sieht, daß der Gürtel noch immer fest geschlossen ist, wie soll sie da das Kleid ausziehen, wenn sie nur dieser Idiot nicht so an starren würde, schluchzend vor Frustration streift sie die Träger über ihre mageren Schultern und entblößt ihre Brust, ihre winzi gen Brüste, Rose Mallow Odom, die sich im Umkleideraum der Schule jahrelang in die hinterste Ecke verkrochen hat, brennend vor Scham, denn der bloße Gedanke an ihren Körper erfüllte sie mit Scham, und nun zieht sie sich voller Verachtung vor einem Fremden aus, der sie anglotzt, als hätte er so etwas wie sie noch nie zuvor gesehen. »Aber Olivia, was tun Sie da ...?« sagt er. Seine Frage klingt sowohl bestürzt, als auch förmlich. Rose wischt sich Tränen aus ihren Augen und sieht ihn verdutzt an. »Aber Olivia, so macht man das doch nicht, nicht so, nicht so schnell und wütend«, sagt Joe Pye. Seine Augenbrauen wölben sich, seine Augen verengen sich mißbilligend; seine Haltung strahlt große Würde aus. »Ich glaube, Sie müssen mein Ansinnen mißverstanden haben.« »Was meinen Sie damit, so macht man das nicht... wer macht das nicht so ... was für Leute ...?« wimmert Rose. Sie muß heftig blinzeln, um ihn weiter scharf sehen zu können, aber die Tränen springen ihr in die Augen und laufen ihre Wangen hinunter, sie werden kleine Rinnsale auf ihrem matten Make-up hinterlassen, das sie vor vielen Stunden so großzügig, wenn auch verächtlich aufgetragen hat, irgend etwas ist schiefgegangen, schrecklich schief sogar, warum starrt sie dieser Idiot nur mit diesem mitleidi gen Blick an? »Anständige Leute«, sagt Joe Pye bedächtig. »Aber ich — ich ...« »Anständige Leute«, sagt er, seine Stimme gesenkt, einen Mund winkel zu einem winzigen ironischen Grübchen gehoben. Trotz des golden-glühenden Brennens in ihrer Kehle hat Rose zu frösteln begonnen. Ihre Brüste sind bläulich weiß, die hellbrau nen Nippel sind hart geworden vor Furcht. Furcht und Kälte und Klarheit. Mit ihren Armen versucht sie sich vor Joe Pyes funkelndem Blick abzuschirmen, aber es gelingt ihr nicht: er sieht alles. Wieder neigt sich der Boden, mit aufreizender Langsamkeit. Wenn das nicht sofort aufhört, wird sie vornüberkippen. Sie wird in seine Arme fallen, ganz gleich, wie sehr sie sich dagegen wehrt, 349
wie sehr sie auch ihr ganzes Gewicht auf ihre zitternden Fersen verlegt. »Aber ich dachte ... Wollen — wollen Sie denn nicht...?« haucht sie. Joe Pye richtet sich zu seiner vollsten Größe auf. Er ist in der Tat ein Hüne von einem Mann: der Bingo Master in seinem silbernen Kittel und den weiten schwarzen Hosen, dem ausschlagartigen Schatten des Spitzbarts, der sein wütendes kleines Lächeln um rahmt, seine Augen vor Abscheu zusammengekniffen. Rose be ginnt zu weinen, als er den Kopf schüttelt. Nein. Und noch einmal — Nein. Nein. Sie schluchzt, sie fleht ihn an, sie taumelt benommen auf ihn zu. Irgend etwas ist schiefgegangen, und sie kann es nicht verste hen. In ihrem Kopf nahmen die Dinge ihren unvermeidlichen Lauf, sie hatte bereits die kalten, klugen Worte gewählt, die ihre Absicht am gewinnendsten beschreiben würden, aber Joe Pye weiß nichts von ihren Plänen, weiß nichts von ihren Worten, ihm liegt nichts anihr. »Nein!« stößt er scharf hervor und holt zum Schlag nach ihr aus. Sie muß gegen ihn gefallen sein, ihre Knie müssen eingeknickt sein, denn plötzlich hat er sie an ihren nackten Schultern gepackt, und, das Gesicht verdunkelt von Blut, schüttelt er sie heftig. Ihr Kopf schnellt vor und zurück. Gegen die Spiegelkommode, gegen die Wand, so plötzlich, so fest, ihr Hinterkopf schlägt gegen die Wand, ihre Zähne klappern, ihre weit geöffneten Augen starren blind aus ihren Höhlen. »Nein nein nein nein nein.« Plötzlich liegt sie auf dem Boden, etwas hat die rechte Seite ih res Munds getroffen, sie starrt durch Schichten aufgewirbelter Luft zu einem rundschädeligen Mann mit feuchten, wahnsinnigen Augen hoch, den sie nie zuvor gesehen hat. Die nackte Glühbirne, in die Deckenfassung geschraubt, so weit weg, brennt mit der Kraft einer grellblanken, blendenden Sonne hinter seinem Schä del. »Aber ich — ich dachte ...«, wispert sie. »Einfach in Joe Pyes Bingo-Halle hereinzustolzieren und sie zu entweihen, und dann hier hereinzustolzieren und mein Zimmer zu entweihen, was haben Sie zu Ihrer Rechtfertigung vorzubrin gen, Miß!« sagt Joe Pye und hilft ihr auf die Beine. Er zieht ihr das 350
Kleid hoch und führt sie harsch zur Tür, dort packt er sie wieder an den Schultern und drückt fest, fest zu, ohne ein Gran Zuneir gung oder Höflichkeit — warum liegt ihm so gar nichts an ihr! —, und dann ist sie draußen im Flur, die Lacklederhandtasche wird ihr hinterhergeschleudert, und die Tür von 302 fällt knallend ins Schloß. Es ist alles so schnell gegangen, Rose kann es noch immer nicht begreifen. Sie starrt auf die Tür, als erwartete sie, daß sie wieder aufgehen würde. Aber sie bleibt geschlossen. Am Ende des Gangs öffnet jemand eine Tür und streckt den Kopf heraus und schließt, als er sie in ihrem aufgelöstem Zustand sieht, auch jene Tür schnell. So daß Rose vollkommen alleingelassen ist. Sie ist zu betäubt, um große Schmerzen zu spüren: nur das ste chend-prickelnde Gefühl in ihrem Kiefer und das Pochen in ihren Schultern, wo Joe Pyes Geisterfinger sie immer noch mit solcher Kraft packen. Warum? Ihm lag überhaupt nichts an ihr... Wie eine Betrunkene den Flur hinuntertorkelnd, mit einer Hand ihr zerrissenes Kleid zuhaltend, mit der anderen unbehol fen die Handtasche gegen ihre Seite pressend. Torkelnd und tau melnd und vor sich hin brabbelnd wie eine Betrunkene. Sie ist ei ne Betrunkene. »Wen meinen Sie mit man — was für Leute ...« Wenn er sie doch nur in seine Arme genommen hätte! Wenn er sie doch nur geliebt hätte! Auf dem ersten Treppenabsatz wird ihr plötzlich sehr schwind lig, und sie denkt, es wäre wohl besser, wenn sie sich hinsetzen würde. Und zwar sofort. Ihr Kopf dröhnt von einem Pulsschlag, den sie nicht kontrollieren kann, sie glaubt, es wäre vielleicht der Pulsschlag des Bingo Masters, und auch seine aufgebrachte Stim me kriecht in ihrem Kopf herum, vermengt mit ihren eigenen Ge danken. Im hinteren Teil ihres Munds bildet sich eine Pfütze — unter heftigem Würgen spuckt sie Blut aus —, und sie stellt fest, daß einer ihrer Vorderzähne lose ist: einer ihrer Vorderzähne hat sich gelockert, und auch der angrenzende Schneidezahn wackelt. »Ach, Joe Pye«, haucht sie, »o mein Gott, was hast du getan ...« Weinend, schniefend fummelt sie am falschen Goldverschluß ihrer Handtasche herum, schafft es endlich sie aufzubekommen und tastet wimmernd darin herum, um sich zu vergewissern, ob . . . aber er ist weg — sie kann ihn nicht finden — ah, da ist er: da ist er also doch, klein zusammengefaltet und ein bißchen zer knittert (das Ganze war ihr so peinlich, daß sie ihn ganz schnell in 351
ihre Handtasche gesteckt hat): der Scheck über hundert Dollar. Ein ganz normaler Scheck, der Joe Pyes große, schwungvolle, schwarze Unterschrift tragen müßte, wenn sich ihre Augen nur lange genug auf einen Punkt konzentrieren könnten, damit sie et was sehen kann. »Joe Pye, was für Leute«, wimmert sie blinzelnd. »Ich habe nie gehört von ... Was für Leute, wo ...?« Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb
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VIERTERTEIL
Die neuen Wilden
JOHN SHIRLEY
Delia und die Dinner Party Fenster im ersten Stock beobachtete Delia die Ankunft Vom der Gäste. Zwei Autos, ein Pärchen pro Wagen, in etwa zehn Minuten Abstand. Heute abend würden vier Gäste zur Dinner Party ihrer Eltern kommen. »Es werden sechs Erwachsene sein«, sagte der Boy. Sie nickte und ging zur Treppe, um das letzte Paar ins Haus kommen zu sehen. »Na, habt ihr's doch noch geschafft!« rief Delias Daddy und begrüßte den Mann per Handschlag. »Wie geht's, Jack?« sagte der Mann. »In letzter Zeit ein bißchen chaotisch, aber seit zwei Monaten geht es wieder aufwärts. Ich mußte mich nach einem neuen Agenten umsehen — Robert Longo hat mir einen wirklich guten Mann empfohlen —, und seitdem finden meine Bilder wieder rei ßenden Absatz. Allein heute habe ich drei an einen Sammler in Chicago verkauft.« »Ist ja großartig«, entgegnete der Mann. Soviel Delia wußte, hieß er Henry irgendwas. Er hatte schütter es Haar, trug eine Hornbrille und einen Pullover mit Turtleneck-Kragen, war we sentlich größer als ihr kleiner, dickbäuchiger Daddy und schrieb Restaurantkritiken. Sie hatte ihn schon früher mal gesehen; ihn und seine pummelige, überfreundliche Frau Lucy in ihrem schik ken taubengrauen und blauen Hosenanzug. Sie war älter als die anderen. »Henry läßt sich von ihr bemuttern«, sagte der Boy. Bisher hatte er sein Buch noch nicht zu Rate gezogen, sondern sprach aus dem Stegreif. Das kleine Buch, das wie eines dieser Golden Wonder-Kinderbücher mit Goldrücken aussah, hatte er unter den Arm geklemmt. Er stand da, steif und förmlich, eins achtzig groß, in einem Strampler und Lauflernschuhen — wo er die Sachen nur immer in dieser Größe herbekam ... Der Boy sah nicht wie ein Junge aus. Ganz im Gegenteil, er sah
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aus wie ein alter Mann — groß, ein bißchen gebückt, altersflek kig, mit schlaffen Lidern, eingefallenen Wangen und grauem Haar. Aber der alte Mann wurde trotzdem der Boy genannt. An so was gewöhnte man sich. »Jetzt könnte ich eine Zigarette vertragen«, sagte der Boy sehn süchtig. Das tat er ziemlich häufig. Sie hatte versucht, ihm Zigaretten zu geben, aber er konnte Dinge aus dieser Welt nicht anfassen, sondern sie nur sehnsüch tig ansehen. »Wer beobachtet uns denn da oben heimlich?« sagte Lucy schelmisch und wackelte spaßig drohend mit dem Zeigefinger. Ein entnervtes Lächeln auf den Lippen, sah Mama zu Delia hoch. Mama hatte dunkle Ringe unter den Augen, dünner wer dendes, hennagefärbtes Haar und einen gepolsterten BH, weil ihr bei einer Krebsoperation eine Brust abgenommen worden war. »Komm nach unten und sag schön guten Tag, Delia.« Der resi gnierte Unterton, der in ihrer Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. Ein ganz ähnlicher Ausdruck machte sich in Daddys Augen be merkbar, als er sie oben an der Treppe entdeckte. Ihre Eltern mochten es nicht, wenn sie ihnen heimlich zusah. Einmal war ihr Daddy schrecklich wütend geworden, als er sie dabei ertappte, daß sie sich unter dem Küchentisch versteckt und ihn beobachtet hatte, und seine Wut hatte sich noch gesteigert, als ihm bewußt wurde, daß sie mitbekommen hatte, wie er schon seit einer Stunde in der Küche herumkramte, alle möglichen Sachen im Kühlschrank probierte und sie wieder zurückstellte, die ComicSeite las, in der Nase bohrte, eine Frau anrief, die Delia nicht kannte, und sich in einem komisch gedämpften Ton mit ihr un terhielt ... Delia kam nach unten und sagte hallo. Die Gäste saßen im Wohnzimmer herum, hörten eine Platte der Gypsy Kings, schlürften Aperitifs und bewunderten Daddys Bilder an den Wänden und Delias Kleid. Die Crenshaws bedachten Delia erst mit einem freundlichen Lächeln, als meinten sie es wirklich so, aber nach einer Weile wurde ihr Lächeln immer angestrengter, wie das meistens der Fall war, wenn sie es nicht erwiderte. Mrs. Crenshaw war eine große, schlanke schwarze Dame, deren Haut nicht eigentlich schwarz war, sondern eher die Farbe von sahni gem Kakao hatte; im Vergleich zu den anderen Gästen wirkte sie 355
mit ihrem tief ausgeschnittenen roten Abendkleid sehr elegant. Sie war mal Model gewesen, hatte Delia ihren Daddy sagen hö ren, und war regelmäßig in Ebony abgebildet worden. Ihr Mann, Buddy Crenshaw, war weiß, untersetzt und kleiner als seine Frau; er hatte ein sauber gestutztes graues Bärtchen und eine kahle Stelle am Hinterkopf. Gerade sprach er davon, daß er ge gen seinen Haarausfall Rogaine nehme — das war das Haar wuchsmittel, für das er Werbung gemacht hatte, aber das Zeug wäre ja sowieso nur Beschiß, bei ihm hatte es nämlich überhaupt nicht gewirkt, und außerdem wäre es ganz schön teuer, aber er würde demnächst noch mal eine Werbekampagne dafür machen. Das fand niemand witzig. Sie sprachen über die Parkmöglichkei ten im Viertel, in den steilen Straßen von San Francisco, und was für Probleme man vor allem Samstagabends damit hatte, weil North Beach ganz in der Nähe war, aber wenigstens war es ein schönes Viertel, so daß man sich »all die tollen viktorianischen Häuser anschauen konnte«, wenn man auf der Suche nach einem Parkplatz durch die Gegend kurvte. Die schwarze Dame, die sie Andy nannten, obwohl das eigent lich ein Männername ist, versuchte Delia in ein Gespräch zu ver wickeln und lachte, als ihr Delia erzählte, wie alt sie war. »Für fünf Jahre bist du aber schon ganz schön groß«, sagte die Andy-Lady mit einem nachsichtigen Lächeln; sie dachte, Delia mache bloß Spaß. »Sie ist fast elf«, schaltete sich Daddy mit einem Anflug von Ärger in der Stimme ein. »Aber sie behauptet immer, sie wäre erst fünf. Davon ist sie felsenfest überzeugt.« Mama warf Daddy einen tadelnden Blick zu. Eigentlich hätte er das Ganze mit einer witzigen Bemerkung einfach abtun sollen, aber nun hatte er es nur noch schlimmer gemacht. Delia spähte durch die Tür ins Eßzimmer und sah dort den Boy in seinem blau-weißen Strampler unbehaglich auf dem Rand des Eßtischs sitzen. Wie schmutzig sein Anzug unter dieser Beleuchtung aus sah. Zwischen den Beinen breitete sich etwas wie Schimmel aus. Sonst nahm niemand von dem Boy Notiz. Obwohl er sie un verwandt anstarrte. Er warf Delia einen auffordernden Blick zu, hielt das Buch hoch und tippte mit dem Finger dagegen. Sie nickte. Ihre Mutter sah sie stirnrunzelnd an, verwirrt und leicht verärgert.
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Abendessen. Andy und Buddy erzählten, daß sie Nurejews neues Ballett gesehen hatten. Anstatt zu tanzen, hatte Nurejew diesmal die Choreographie gemacht, sagten sie, und beide mockierten sich über Nurejews unmögliche Choreographie. »Er wäre weiß Gott besser beraten gewesen, sich ans Tanzen zu halten, aber seine Unfähigkeit wird ja sogar noch als innovativ und revolutio när hingestellt«, fuhr Buddy in seinem vernichtenden Urteil fort, und alle stimmten ihm schnaubend und beifällig nickend zu — wie recht du hast, Buddy, was Nurejew betrifft, sind die Ballett kritiker auf beiden Augen blind, vermutlich gibt es keinen unter ihnen, der nicht schon mal eine Flasche Wodka mit ihm geköpft hat. Gerede von dieser Art eben. Delia war froh, als ihre Mutter sagte, sie brauchte nicht bis zum Nachtisch zu bleiben. »Ein klei nes Mädchen, das kein Dessert mag?« zwitscherte Lucy. »Mein Gott, wo habt ihr die denn her? Vom Mars?« Fast hätte Daddy gesagt, nein, aber manchmal fragen wir uns doch ... Mama warf ihm einen warnenden Blick zu, und er hielt den Mund. Statt dessen sah er Mama an, als wollte er sagen: Ich hab dir doch von Anfang an gesagt, daß das keine gute Idee war. Wir sollten zu Hause keine Abendessen mit Gästen machen. Delia kannte ihre Eltern sehr gut. Mit Hilfe des Boys kannte sie sie sogar besser, als sie sich selbst kannten. Delia ging nach oben — angeblich, um sich im Fernsehen den Disney-Kanal anzuschauen und dann ins Bett zu gehen. Die an deren zogen sich ins Wohnzimmer zurück, wo zum Nachtisch Kaffee und englische Kekse serviert wurden. In ihrem Zimmer wartete der Boy bereits auf sie. Der alte Mann war wie ein kleiner Junge zum Schlafengehen angezogen. Er hatte das Buch aufgeschlagen und wartete auf sie. Sie hatte ein Gefühl ähnlich einer Schlange, die sich vor Erre gung ihren eigenen Schwanz abbeißt. Grauenerregend, wie ihre Kiefer ihn langsam zerkauten. Heute, stellte Delia fest, lautete der Titel des Buchs Delia und die Dinner Party. Sie löschte das Licht. Obwohl es dunkel war, begann der Boy zu lesen. Ein warmes Licht aus dem Buch fiel auf seinen vertrockneten grauen Mund. 357
Seine Lippen bewegten sich wie die einer Marionette. Mit einer Stimme, die alt, aber nicht großväterlich klang, las er: »Delia war ein kleines Mädchen — oder vielleicht war sie auch gar nicht so klein. Wenn man jedenfalls fünf Jahre für klein hält dann war sie klein. Aber vielleicht bist du ja noch nicht fünf fahre alt — und dann könnte sie für dich auch ein großes Mädchen sein.« Delia dachte: Ich bin fünf, seit mir der Boy zum erstenmal die Augen geöffnet hat. »Eines Tages hatten Delias Eltern ein paar Leute zum Abendessen eingeladen. Delia hatte keine Lust, mit ihnen zu sprechen, obwohl ihre Eltern das gern wollten. Delia war ein trauriges kleines Mädchen. Bis auf einen Jungen, der auf dem Dachboden lebte, hatte sie keine Freunde. Nachdem Delia zu Bett gegangen war, dachte sie lange nach. Viel leicht kann ich mich ja eines Tages doch noch mit diesen Leuten anfreun dete, sagte sie sich. >lch werde einfach mal meinen Freund, den Boy, fra gen. < Und so ging sie nach oben und fragte den Boy. Er war ein sehr wei ser kleiner Junge, der einen wundervollen Zauberstrampler trug und mit allen Wesen sprechen konnte, die auf dem Dachboden lebten. >Delia<, sagte er. >lch weiß nicht, ob diese Leute — oder auch deine Eltern — deine Freunde werden können. Die einzige Möglichkeit, das festzustel len, ist, sie dir noch einmal genau anzusehen und dich dann zu entschei den^ Und so ging Delia mit dem Boy in den Schau-Tunnel...« Der Boy klemmte sich das kleine Buch unter den Arm und be deutete ihr mit einer knappen Verbeugung: nach dir. Dann bega ben sie sich in die Ecke des Zimmers, das über dem Wohnzimmer im Erdgeschoß lag. Die Kante, zu der die Wände zusammenlie fen, schien sich in eine andere Dimension zu öffnen, denn mit ei nemmal tat sich dahinter eine staubige Landstraße auf, die in un durchdringliches Dunkel führte. Sie gingen in die Ecke hinein und die Straße entlang. Am Himmel hingen Sterne und Spinnen, beide funkelnd. Außerdem gab es dort oben spinnwebübersäte Dachbalken und Wolken. Über die Mondsichel kroch eine Kaker lake, und es roch nach Staub und Schimmel. Und dann tauchte am Ende der Straße das Wohnzimmer auf. Es war eine Schachtel — eine zimmergroße Schachtel, die von der Stehlampe in der Ecke in warmes Licht getaucht wurde. Sie gingen auf die nächstliegende Wand der durchsichtigen Schachtel zu und sahen sich die Abendgesellschaft an. Ganz deutlich konnten sie die Gäste und Delias Eltern erkennen; aber die Leute in der Schachtel konnten sie nicht sehen. 358
Daddy hatte den Chivas hervorgeholt, und nun saßen alle herum und tranken Whisky — Lucy hatte sich einen Schuß in ih ren Kaffee getan und kicherte immer nervöser, Daddy trank sei nen on the rocks. Delia und der Boy konnten alles hören, was gesprochen wurde; die Stimmen klangen nur etwas gedämpft. »Ich finde das Kleid einfach toll«, sagte Lucy gerade zu Andy. »Ziemlich gewagt, aber es steht dir fantastisch ... nur schade, daß ich sowas nicht tragen kann. An mir würde so ein Kleid absolut deplaziert wirken, aber du siehst einfach großartig darin aus ...« »Die beiden sind doch sehr nett«, meinte Delia. »Andy hat sich gefreut. Sie lächelt.« »Dann gehen wir doch mal da rüber und hören uns an, was Lucy wirklich gesagt hat«, schlug der Boy vor. Delia folgte ihm um die Ecke und sah dieselbe Szene noch ein mal ablaufen. Allerdings übersetzte ihr diesmal der Boy den Dia log. Er las aus seinem kleinen Buch vor: »>Ich finde das Kleid ein fach toll<, sagte Lucy mit gut getarntem Sarkasmus. >Schwarze neigen bekanntlich immer dazu, sich zu auffällig zu kleiden. Wenn du ein schwarzer Mann wärst, hättest du vermutlich eine Goldkette mit einer Uhr dran, damit auch keiner übersieht, daß du es zu was gebracht hast. Falls du um jeden Preis auffallen wolltest, dann ist dir das mit diesem hautengen Satinfummel und seinem Ausschnitt bis zum Nabel runter je denfalls hervorragend gelungen. Allerdings würde ich mich nie im Leben entblöden, so was anzuziehen^« Aber Delia hörte kaum zu; statt dessen starrte sie mit einer Mi schung aus Faszination und Grauen auf die visuelle Umsetzung dessen, was der Boy ihr vorlas. Mit drei Jahren hatte sie ein Buch bekommen, das Die Zauber kinder hieß und von einem kleinen Mädchen handelte, das eines Tages feststellte, daß die Nachbarskinder in Wirklichkeit verklei dete Elfen waren. Auf dem Einband des Buchs befand sich ein kleiner Aufkleber mit einem Kaleidoskopbild der Zauberkinder. Wenn man es von oben anschaute, sahen sie wie ganz normale Kinder aus; neigte man das Buch jedoch zur Seite, veränderte sich das Bild, und der Junge und das Mädchen waren plötzlich Elfen mit Flügeln und spitzen Ohren. Ganz ähnlich verhielt es sich mit der Wohnzimmerschachtel, die ihr der Boy gezeigt hatte. Schaute man von der einen Seite hinein, sahen die Leute darin so aus, wie sie >normal< aussahen. 359
Ging man jedoch um die Ecke und schaute von der anderen Seite hinein, veränderte sich das Bild, und man konnte erkennen, was die Schachtel tatsächlich enthielt. Mama und Daddy, Buddy und Andy, Lucy und Henry. Monster. Die Haut abgezogen, das rote Fleisch und die bläulich weißen Knochen bloßgelegt und widerlich nässend, die Zähne gefletscht, die Finger knochenlos und wie lange, mit scharfen Krallen versehene Tentakel; meterlange schwarze Zungen, ge spalten und vorschnellend wie die Zungen von Eidechsen, oder röhrenförmig, mit Enden wie Saugnäpfe; die Körper mit zum Teil unnatürlich vergrößerten oder seltsam geschrumpften Gliedern. Ihr Vater — sie erkannte ihn an seinen Kleidern, alle trugen ihre menschlichen Kleider — hatte seitlich an seinem Kopf ein zweites Gesicht, das wie ein wütender Hund, der sich jeden Au genblick loszureißen droht, geifernd und hechelnd nach ihrer Mutter schnappte. Mama hatte sogar drei Gesichter: das Daddy zugewandte war wütend und verängstigt, ein Auge war wegge fressen ... Hautlose, zwergenhafte Gesichter, aus denen Blut und Eiter quoll ... Zwischen den Beinen waren große Löcher in die Kleider geris sen, die Genitalien widerlich entblößt. Daddys Penis war ein zweiköpfiges eidechsenartiges Ding, das zischte und zuckte und plötzlich, wie unter einem heftigem Brechreiz würgend, eine klebrige weiße Flüssigkeit erbrach, die schäumend zu Boden klatschte ... Mamas Vagina glich einer großen, haarigen Spinne. Sie lag auf dem Rücken — ihr Bauch war aufgeschlitzt — und zappelte mit ihren borstigen Beinen. Delia wandte den Blick ab. Ihr Magen zuckte wie eine Fliege in einem Spinnennetz ... Aber darauf hatte sie der Boy bereits vorbereitet. Schon seit Jahren zeigte er ihr viele Dinge. Er hatte ihr Einblicke gewährt. Aber noch nie so deutlich. Es ist nur eine Geschichte aus seinem kleinen Buch, versuchte sie sich einzureden. Mehr ist nicht dran an der Sache. Sie beobachtete das Andy-Wesen und das Lucy-Wesen. Das Lucy-Wesen holte mit seinen Fingertentakeln zum Schlag aus und zerkratzte dem Andy-Wesen das Gesicht, bis es mit blutigen Furchen durchzogen war. Das Andy-Wesen zuckte zurück. Ich finde dieses Kleid einfach toll. Ziemlich gewagt, aber es steht dir fanta stisch ... nur schade, daß ich so was nicht tragen kann ... 360
Mit grauenerregender Deutlic hkeit sah Delia, was zwischen den Zeilen gesprochen wurde. Und das war genau die Wahrheit — behauptete zumindest der Boy. Der Boy sagte: »Gehen wir wieder auf die andere Seite und se hen es uns von dort an.« Sie gingen um die Ecke. Nachdem Delia nun wußte, was sich unter der dünnen Fassade befand, empfand sie es als erleichternd und zugleich zutiefst beunruhigend, sie wieder in menschlicher Gestalt zu sehen. Daddy sagte gerade; »Wie läuft's in der Agentur?« »In letzter Zeit etwas zäh«, antwortete Buddy. »Obwohl man eigentlich meinen möchte, daß sich gerade in einer Werbeagentur nie so etwas wie Routine und Langeweile einschleichen dürften, ist genau das der Fall. Wir bekommen zwar ständig neue Auf träge rein, arbeiten kreativ, und trotzdem ...« »Wem sagst du das«, entgegnete Daddy gönnerhaft. »Findest du, äh ...« Mit einem leicht herablassenden Lächeln griff er nach seinem Glas und nahm einen Schluck. »Findest du eigentlich noch Zeit, an dem Roman zu arbeiten, von dem du mir mal er zählt hast?« »An dem Roman? Aber sicher.« Buddy setzte ein gequältes Lä cheln auf. »So was geht zwar nicht von heute auf morgen, aber ich komme ganz gut voran.« Lucy wurde plötzlich ungewöhnlich still.
Der Boy schlug sein Buch auf und las die Übersetzung vor:
>»Wie läuft's in der Agentur? Langweilst du dich nicht langsam zu Tode dabei, die Leute mit den ewig gleichen faulen Tricks an der Nase herum zuführen und ihnen irgendwelchen unnützen Schrott aufzuschwatzen, den sie gar nicht brauchen? Schreibst du tatsächlich an dem Roman, von dem du mir erzählt hast? Das wage ich doch sehr zu bezweifeln. Du hast doch längst aufgegeben. So kreativ bist du nun auch wieder nicht, oder? Jedenfalls nicht wie ich. Ich bin Künstler. Ich kann sogar von meiner Kunst leben — und das, ohne mich dem Publikumsgeschmack anzupas sen. Künstler sind etwas Besseres als andere Leute. Du brauchst also erst gar nicht versuchen, dich hier wichtig zu machen, du miese kleine Ratte, ich bin hier die Berühmtheit, ich bin hier der Künstler, nicht du, du bist doch ein Nichts, du kannst froh sein, daß du dich überhaupt in meinem Glanz sonnen kannst ...<« »Hat Daddy das tatsächlich gesagt?« wollte Delia wissen. »Zum Teil habe ich gar nicht verstanden, was er gemeint hat. Wo 361
mit führen sie die Leute an der Nase herum? Und was machen sie in so einer Werbeagentur eigentlich?« »Dort machen sie Werbespots fürs Fernsehen«, erklärte ihr der Boy. »Ach so.« »Hoffentlich wird dir das alles nicht ein bißchen zuviel. Manchmal ist es nicht gerade einfach, die Dinge so auszudrük ken, daß sie eine Fünfjährige verstehen kann.« Delia war schon versucht, ihn wegen dieser Bemerkung zur Rede zu stellen. Sie wußte sehr wohl, daß sie nicht erst fünf war, aber der Boy wollte nicht, daß sie darüber sprach. Sie spähten gerade lange genug um die Ecke, um zu sehen, wie das Daddy-Monster über dem Buddy-Monster stand und diesem mit der Zunge ein Auge aussaugte. Das Buddy-Monster lag auf dem Rücken und streckte wie ein Hund in Demutshaltung Arme und Beine in die Höhe. Der Penis des Daddy-Monsters spritzte eine schäumende weiße Flüssigkeit auf den nackten Bauch des Buddy-Monsters, das sich vor Schmerzen wand ... Findest du noch Zeit, an dem Roman zu arbeiten, von dem du mir er zählt hast? Delias Magen begann wieder zu rebellieren, und sie zog sich rasch auf die andere Seite zurück. Dort sagte Lucy gerade: »Ich glaube, ich geh mal kurz nach draußen — eine rauchen.« »Du kannst gern hier rauchen«, sagte Daddy. »Wenn sich sonst niemand gestört fühlt...?« Er warf einen fragenden Blick in die Runde. Ein bißchen steif entgegnete Andy: »Nein, meinetwegen gern. Das bißchen Rauch macht meinem Asthma sicher nichts aus.« Der Boy schlug das Buch auf und las die Übersetzung: »Und Andy erwiderte: >Tu dir bloß keinen Zwang an — bist ja sowieso schon genug auf mir rumgetrampelt. Warum verpestest du mir also nicht auch noch die Luft zum Atmen? Du widerst mich an.<« Delia wußte bereits, was sie sehen würde, wenn sie um die Ecke schaute: das Andy-Monster, das das Lucy-Monster an ir gendeiner ungeschützten Stelle zerfleischte. »Warum kommst du nicht mit in die Küche, während du deine Zigarette rauchst«, schlug Mama vor. »Bei dieser Gelegenheit kann ich dir gleich das Rezept für die Mousse geben, nach dem du mich letztes Mal gefragt hast.« »Wenn du nichts dagegen hast — sehr gern«, sagte Lucy mit 362
einem eisigen Lächeln in Richtung Andy. Sie stand auf und folgte Mama aus der Schachtel, so daß man sie nicht mehr sehen konnte. »Nur gut, daß sie zum Rauchen das Zimmer verlassen hat«, sagte der Boy traurig. »Ich könnte jetzt auch eine Zigarette ver tragen.« Er wandte sich Delia zu. »Fang bloß nicht zu rauchen an, wenn du je erwachsen werden solltest. Selbst wenn du es schaffst, damit aufzuhören, kommst du nie ganz darüber hin weg.« »Bist du gestorben, weil du so viel geraucht hast?« wollte Delia wissen. »Sie sagen, es war Lungenkrebs, wegen der vielen Zigaretten. Aber das war's nur zum Teil. Zum Teil lag es auch daran, daß meine Frau wollte, daß ich sterbe. Deshalb habe ich erst gar nicht dagegen anzukämpfen versucht. Ich habe gehofft, sie würde da nach ein schrecklich schlechtes Gewissen bekommen.« Delia nickte. Das konnte sie verstehen. Sie hatte vom Boy schon eine Menge Dinge über die Menschen gelernt. Buddy unterhielt sich mit Henry gerade über etwas, das sich Wertpapieroptionen nannte. »Sie tun beide so, als wüßten sie über Wertpapieroptionen Bescheid«, erklärte ihr der Boy. »Aber in Wirklichkeit haben sie keine Ahnung. Sie versuchen nur, sich gegenseitig mit ihren angeblichen Kenntnissen über das Börsen geschäft zu imponieren. Soll ich dir die Übersetzung...?« Er wollte gerade das Buch aufschlagen. »Nein.« Delia beobachtete ihren Vater. Er hatte sich mit Andy von den anderen abgesondert, um mit ihr eine neue CD auszu suchen. »Du wirst doch in einer so wichtigen Angelegenheit nicht auf mich und meinen treffsicheren Geschmack verzichten wollen«, sagte Daddy spaßhaft. Der Boy las seine Übersetzung aus Delia und die Dinner Party vor. >»Komm ein bißchen da rüber<, sagte Daddy. »Dort können wir unge stört miteinander flirten. <« »O nein«, entfuhr es Delia. »So etwas würde Daddy nie tun.« Inzwischen war ihr richtig übel — als müßte sie sich jeden Au genblick übergeben. »Du hast doch das Monster gesehen«, sagte der Boy. »So eine Kreatur ist zu allem fähig.« 363
Sie flirteten miteinander. Die Frau tat so, als schöbe sie ihn mit einem kleinen Hüftstoß zur Seite, um an das Rack mit den CDs heranzukommen, und beide kicherten. Daddy nahm eine CD von James Brown heraus, und die Frau sagte lachend, nächstens würde er noch anfangen, Rap-Platten zu spielen; sie griff nach Bartoks Streichquartetten und flüsterte herausfordernd: »James Brown? Du bildest dir wohl viel ein auf deinen tollen Ge schmack? Und auf deine großartige Männlichkeit — wie?« »Wenn du davon eine Kostprobe haben willst...«, er lachte. »Ich kenne da ein Motel...« »Du solltest dich mal reden hören!« gluckste sie amüsiert. »Jetzt laß endlich diesen Blödsinn.« »Im Ernst — was ich dir eigentlich gern zeigen möchte, ist ein Bild in meinem Atelier. Ich probiere im Moment etwas völlig Neues aus, und mein Gefühl sagt mir, daß du einen ganz guten Draht dafür haben müßtest...« »Das ist wohl deine Variante von Willst-du-dir-mal-meineBriefmarkensammlung-ansehen?« Sie lachten beide, aber trotzdem folgte sie ihm nach unten in sein Kelleratelier. Andy rief ihrem Mann ganz betont beiläufig zu, sie wäre gleich wieder zurück. Der sah sie kaum an und nickte nur, ohne sich weiter von dem Gespräch ablenken zu lassen, in das er gerade vertieft war. Kein Wunder, daß sie ihn betrog, dachte Delia. Delia fröstelte. Sie sah sich um. Bis auf die durchscheinende Schachtel, in der das Wohnzimmer untergebracht war, herrschte undurchdringliches Dunkel. Sie bildete sich ein, einen blau schwarz schimmernden Käfer, so groß wie eine Schubkarre, durch ein Loch im Himmel klettern zu sehen. Und schauderte. »Zu dumm, daß ich keinen Mantel mitgebracht habe«, klagte sie. »Zu dumm, daß ich keine Zigarette habe«, brummte der Boy. »Er wird das doch im Atelier nicht wirklich mit ihr machen?« wollte Delia wissen. »Möchtest du es sehen?« Sie schlang sich die Arme um den Oberkörper. »Nein.« »Das kommt aber als nächstes in dem Buch.« Sie sah auf ihre Schuhe. »Na schön.« Er drehte sich um und zog sich ins Dunkel zurück. Sie folgte ihm. Irgend etwas huschte davon. Und dann stieg er eine un 364
sichtbare Treppe hinunter. Es sah aus, als versänke er im Boden. Auch daran war Delia gewöhnt. Sie trat ebenfalls auf den Boden, der zwar fest aussah, es aber nicht war, und ertastete mit den Ze henspitzen die erste Stufe. Das Atelier im Keller war eine weitere leuchtende Schachtel in einer seltsamen Schattengalerie; sie war kastenförmig und wurde von zahlreichen Leitungsrohren durchbohrt. Es gab einen Stapel Gemälde, einen Tisch voller Farbtöpfe und eine große Staffelei aus Holz mit einer fünf Meter breiten Leinwand. Sie kannte das Bild — an sich eine rein abstrakte Komposition, die jedoch unter schwellig Assoziationen an Orchideenblüten und sich öffnende Falten aus rotem Samt wachrief. Daddy deutete auf die eine Seite des Gemäldes und sagte etwas von organischen und anorgani schen Formen. Und dann nahm er Andy an der Hand und führte sie auf die andere Seite des breiten Bilds. Er ließ ihre Hand noch immer nicht los. Und jetzt sah er sie mit einem von diesen Duweißt-doch-was-ich-damit-ausdrücken-will-Blicken an. »Einfach großartig«, sagte sie. Der Boy nahm Delia an der Hand und führte sie um die Ecke. Die Monster wanden und rieben sich kopulierend aneinander, Daddys widerlicher Tierpenis grub sich mit selbstmörderischer Gier in die Vagina der anderen Kreatur... eine Vagina, die eine alles verschlingende Spirale aus feuchtem Fleisch war, eingefaßt von winzigen Saugnäpfen, übersät mit gestocktem Blut: das Maul eines gigantischen Blutegels. Die zwei hautlosen Kreaturen gaben Geräusche von sich wie Fett im Müllschlucker, wie Schleim in ei ner tuberkulösen Lunge, wie ein rückwärts abgespieltes Tonband, und währenddessen bissen sie mit gefletschten Zähnen, die plötzlich aus ihren Körpern wuchsen, aufeinander ein. Die Brüste der Frau waren wie die Zitzen einer Hündin, und aus ihrem Ge säß entleerte sich unablässig stinkender Kot, während seines Un mengen sich windender Würmer ausspie. Mit ihren langen, schwarzen, röhrenförmigen Zungen leckten sie am Ausfluß des anderen, gierig schmatzend, schlürfend und sabbernd, aber sie hatten keinerlei Spaß dabei, sondern taten es nur, weil sie es aus irgendeinem Grund tun mußten. Auch das Gemälde hatte sich verändert. Es entpuppte sich als ein gigantisches, grotesk photorealistisches Bild einer weiblichen Vagina, schamlos geöffnet und zur Schau gestellt. Heftig würgend, sah Delia auf den staubigen, ins Unendliche 365
führenden Boden und schrie: »DADDY HÖR AUF HÖR AUF HÖR AUF HÖR AUF GEH WEG VON DIESER FRAU HÖR AUF!« Sie rannte auf die andere Seite der Schachtel, wo ihr Daddy wieder menschlich aussah und wo er die Andy-Dame nur küßte. Und aus vollem Hals schreiend hieb sie mit den Fäusten auf die durchscheinenden Wände der Schachtel ein. »HÖR AUF HÖR AUF EIN MONSTER MIT IHR ZU SEIN!« Daddy schaute auf. Nicht zu Delia, aber zu ihrem Zimmer über ihm. »Was treibt die Kleine dort oben nur wieder?« brummte er är gerlich. »Muß sie denn immer solchen Unsinn brüllen? Die The rapeutin hat uns zwar geraten, wir sollten sie das Ganze einfach ausagieren lassen und kein großes Aufhebens davon machen, aber irgendwann wird sie doch gottverdammt noch mal endlich lernen ...« Er entfernte sich in Richtung Treppe. Heftig atmend drehte sich die Andy-Lady herum und gab vor, das Gemälde anzusehen. Der Boy sagte: »Laß uns lieber in dein Zimmer zurückgehen. Wir sollten besser da sein, wenn er nachsehen kommt.« »Schaffen wir das noch?« »Ich weiß nicht.« Auf dem Weg, den sie gekommen waren, eilten sie zurück, fan den die Treppe, stiegen durch die Decke und hasteten durch den dunklen Gang des Schau-Tunnels zur Eingangsecke von Delias Zimmer. Sie konnte Daddy die Treppe heraufkommen hören. Sogar seine schemenhafte Gestalt konnte sie in weiter Ferne ausma chen. Er war sehr wütend und nahe daran, die Beherrschung zu verlieren. Jetzt hatte er die Tür erreicht. Nein. Sie wollte vor ihm da sein. Er sollte nicht merken, daß sie weggewesen war. Am Ende des Schau-Tunnels konnte sie bereits ihr Zimmer er kennen — wo die drei Linien zusammentrafen. Es war eine Schachtel, durchscheinend und weit weg, mit einer anderen leuchtenden Schachtel darin, dem Fernseher. Aufgeregt stürmte Daddy in ihrem Zimmer herum, sah unters Bett, riß die Schrank tür auf, suchte überall, wo sie sich versteckt haben könnte; aus dem Fernseher drang das wütend-heisere Quaken von Donald Duck, der gerade A-Hörnchen und B-Hörnchen durch seine Fi scherhütte jagte. 366
Delia stand an der Grenze des Zimmers und beobachtete, wie ihr Daddy im Kleiderschrank nach ihr suchte. »Geh einfach rein, wenn er nicht hinsieht«, forderte sie der Boy auf. Sie machte einen Schritt nach vorn. Ihr Vater hörte das Ge räusch und wirbelte herum. »Wo, zum Teufel, hast du gesteckt? Verdammt noch mal, Delia — laß endlich diesen Quatsch! Lang sam bist du doch wirklich ein bißchen zu alt für diesen Blödsinn. Du bist nicht fünf, sondern elf, und so benehmen sich nur Fünf jährige ... Kein Wort zu sprechen, alle anzustarren, als hätten sie dich gerade tödlich beleidigt, aus deinem Zimmer nach uns zu rufen und sich dann zu verstecken, wenn ich ...« In diesem Augenblick kam Mama ins Zimmer. »Was ist denn hier los?« »Daddy«, sagte Delia. »Warum warst du mit dieser Frau im Keller und hast dich wie ein Monster benommen?« Er sah sie blinzelnd an. »Was?« »Du hast dich an ihr gerieben und sie geküßt und so. An dieser Andy-Lady.« Mama drehte sich um und starrte ihn an. Es gelang ihm er staunlich gut, den Entrüsteten zu spielen. »Jetzt gehst du aber wirklich zu weit, Delia — wie kommst du denn auf so einen Blöd sinn ...« »Du warst unten mit ihr«, sagte Mama. »Das warst du.« »Ich habe ihr mein neues Bild gezeigt...«, brüllte Daddy los. Er versuchte die Sache wieder hinzubiegen, indem er ein Mords theater veranstaltete. Seine Haut warf Blasen. Unter lautem Blub bern und Zischen begann sie aufzuquellen, und dann löste sie sich in Fetzen ab und wurde von dem gelblich schleimigen Ge brodel, das darunter hervorquoll, fortgespült. Mama fauchte ihn an: »Mein Gott, muß ich mir das wirklich bieten lassen! Du treibst es mit dieser Frau, während wir hier Gäste zum Essen ha ben. Was hast du dir dabei eigentlich gedacht...« Und nun begann auch Mama zu schäumen. Ihre Haut warf ebenfalls Blasen. Schmolz dahin. Und darunter kamen die Mon ster von den Anatomie-Schaubildern — vertauschten AnatomieSchaubildern — zum Vorschein, direkt vor Delias Augen, ohne Schau-Tunnel und Boy. Eines von Mamas Augen flutschte zu sammen mit Tausendfüßlern heraus. Die große Spinne, die sich zwischen ihren Beinen unter ihrem Kleid versteckt hatte, kroch 367
mit grauenhaft langsamen, tastenden Bewegungen hervor. Dad dys Penis versuchte sich verzweifelt loszureißen. Auf ihren Köp fen wuchsen die widerwärtigen kleinen zusätzlichen Gesichter. Seilartige Finger. Muskeln, Knochen und Sehnen freigelegt und von Haut und Fett befreit wie etwas, das man an der Rückwand der Fleischabteilung im Supermarkt hängen sieht. Beide einander haßerfüllt anfauchend, knurrend, zischend; die Mäuler sabbelnd und geifernd; die Kiefer hektisch schnappend. Irgendwann stieß Delia einen gräßlichen Schrei aus — einen Schrei, der sechs Jahre darauf gewartet hatte, sich endlich Luft zu verschaffen. Abrupt wandten sie sich ihr zu, verärgert über den Lärm, den sie machte. Blutrot, triefend und tropfend, knurrend und keifend, stürzten sie sich auf sie. Sie spürte eine pergamentene Hand an ihrem Arm, die sie zu rückzog. Zurück durch die Wand. In die Geborgenheit des Schau-Tun nels. Als sie sich umdrehte, konnte sie sehen, daß sie der Boy an der Hand genommen hatte. Und sie konnte seine Hand spüren. »Ich kann dich spüren«, sagte sie. »Deshalb«, sagte er und deutete auf die transparente Wand. Sie drehte sich um und schaute in ihr Zimmer. Sah ihre Mutter und ihren Vater, die sich in ihrer menschlichen Gestalt über sie beugten. Sie selbst lag auf dem Bett. Lag da und starrte reglos an die Decke. Nur ihre Brust hob und senkte sich noch unter ihrem schwachen Atem, sonst bewegte sich nichts. Ihr Vater, noch immer außer sich vor Wut, konnte es noch im mer nicht fassen. Mama sagte, er solle endlich still sein. Sie spürte, daß die Katatonie echt war. Delia und der Boy wandten sich ab und gingen in den SchauTunnel zurück. Im Gehen las der Boy aus seinem kleinen Buch:
»Und Delia sah, mit absoluter Gewißheit, daß sie sich mit keinem Menschen anfreunden würde außer mit dem Jungen auf dem Dachbo den. Und so beschloß sie, für immer bei ihm zu bleiben, und sie lebten glücklich bis an ihr Ende.« Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb
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RICHARD CHRISTIAN MATHESON
Vampir Mann. Spät. Nacht. Straße. Mann. Suchend. Ausgehungert. Krank. Fährt. Radio. Nachrichten. Suchen. Polizei. Funk. Unfall. Stadt. Nahe. Rasen. Pfützen. Schmerzen. Minuten. Eintreffen. Park. Beobachten. Leichen. Blut. Menschenmenge. Sirenen. Warten. Stunde. Sitzen. Schmerzen. Zigarette. Thermosflasche. Kaffee. Schweiß. Übelkeit. Straßenlaternen. Augen. Bahren. Leintücher. Fleisch. Tod. Zittern. Frösteln. Uhr. Warten. Mehr. Warten. Auto. Gestank. Zigarette. Notarztwagen. Weinen. Abschleppwagen. Leichen. Wegbringen. Menge. Polizei. Fotografen. Betrunkene. Aufbrechen. Fort. Straße. Ruhig. Regen. Dunkel. Feucht. Allein. Tür. Draußen. Stehen. Gehen. Schmerzen. Umsehen. Näher. Gebäude. Stille. Straße. Tod. Blut. Kreide. Umrisse. Näher.
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Stufen. Drinnen. Umrisse. Mitte. Einatmen. Augen. Geschlossen. Denken. Einatmen. Konzentrieren. Fühlen. Atmen. Fließen. Tod. Zusammenstoß. Frau. Schreie. Windschutzscheibe. Ausdruck. Augenblick. Tod. Energie. Konzentrieren. Bilder. Explodieren. Augenblick. Frau. Auto. Lastwagen. Explosion. Zusammenprall. Augenblick. Hast. Fühlen. Essen. Metall. Verbrannt. Schreie. Blut. Tod. Augenblick. Zusammenstoß. Bilder. Schneller. Kraft. Medizin.
Stärker.
Konzentrieren. Besser.
Bilder. Zusammenstoß. Stärker. Sehen. Tod.
Augenblick. Heilen. Augenblick.
Sucht.
Droge. Hast. Leichen. Wärmer.
Tod. Konzentrieren. Heilen. Sucht. Droge.
Warm. Ruhig.
Tod. Medizin.
Tod.
Leben.
Medizin.
Sucht. Stark.
Aufbrechen.
Auto. Motor. Fahren. Regen. Straßen. Freeway. Karte.
Fahren. Entspannen. Sicher. Warm. Hast. Gut.
Radio. Zigarette. Brise.
Nacht.
Suchen. Unfälle. Tod.
Leben.
Armaturenbrett. Uhr. Warten.
Bald.
Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber
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JOE R. LANSDALE
Mein toter Hund Bobby toter Hund Bobby macht keine Kunststückchen mehr. Mein Wenn ich dem Mistvieh in die Augen sehen will, muß ich mich entweder hinknien und meinen Kopf auf den Boden drük ken oder ihm den seinen mit einem Stock hochstützen. Ich habe mir überlegt, ob ich seinen Kopf hinten an die Scheune nageln soll, dann ist es vielleicht nicht ganz so schlimm mit den Ameisen. Aber wie mein Alter immer sagt: »Ameisen können klettern.« Also ist das vielleicht doch keine so gute Idee. Aber er war ein guter Hund, und es stinkt mir, ihn so verfaulen zu sehen. Andererseits habe ich es auch satt, ihn dauernd in ei nem Sack mit mir herumzuschleppen und ihn morgens und abends in die Gefriertruhe zu stecken. Eines noch. Daß er getötet wurde, hat ihm abgewöhnt, Autos hinterherzujagen, und dadurch wurde er ja überhaupt erst zer matscht. Wenn ich jetzt will, daß er mit Autos spielt, muß ich mich an den Rand der Interstate stellen und ihn mitsamt seinem Sack auf die Fahrbahn werfen; gerät er dann unter die Reifen und hüpft hoch, muß ich mich mit dem Fuß auf ein Ende von ihm stellen, damit sich das andere wieder mit Gedärmen füllt. Es ist manchmal so schlimm, daß ich es abends kaum fertig bringe, in . den Sack zu sehen, und ich muß gestehen, ihm seinen Gute nachtkuß auf die Lefzen zu geben, macht längst nicht mehr soviel Spaß wie früher. Er riecht, und die Zähne, die durch seine Schnauze getrieben worden sind, stehen spitz in alle möglichen Richtungen ab, und manchmal zerkratze ich mir das Gesicht daran. Ich werde Bobby morgen wieder mit zum See nehmen. Wenn man ihn an einem aufgepumpten Reifen festbindet, schwimmt er. Das ist keine schlechte Methode, sich nach einem heißen Tag ab zukühlen, und außerdem ertrinken die Ameisen und Maden und so weiter dabei. Auf diese Weise haben wir meinen kleinen Bruder sechs Mo
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nate lang ziemlich gut in Schuß gehalten. Erst als wir anfingen, ihn hinten an der Scheune festzunageln, sah er allmählich durch löchert aus. Letzten Endes haben ihn nicht die Ameisen fertigge macht, die zu ihm raufgekrabbelt sind, sondern die verdammten Nägel. Wir hatten keine guten Stellen mehr, um sie einzuschla gen, nachdem seine Ohren abgefallen waren, und wir mußten immer längere Nägel nehmen, die wir ihm durch den Kopf und den Hals und so weiter treiben konnten. Daß wir die Nägel jeden Tag mit der Beißzange herausziehen mußten, hat sein Aussehen auch nicht gerade verbessert. Mein Alter sagt, wenn er es noch einmal zu tun hätte, würde er meinen Bruder nicht mehr so fest mit dem Stuhl schlagen. Aber das hat er auch von meiner kleinen Schwester gesagt, als er ihr den Kopf eingetreten hat. Die hat übrigens nicht so lange gehal ten. Damals kannten wir noch nicht so viele Tricks wie heute. Nun, ich hoffe, ich bekomme Bobby wieder in seinen Sack. Er wird allmählich aufgedunsen und zerfällt. Jetzt bin ich soweit, ihn einzupacken und nach Hause zu gehen, damit ich Mom se hen kann. Ich sehe sie immer ein paar Minuten an, bevor ich Bobby zu ihr in die Gefriertruhe lege. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber
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KÄTHE KOJA
Monstrositäten Alex' Stimme, verträumt. Im Kreis der Hitze sitBeaumont.« zend, die Vorhänge im Wohnzimmer zugezogen: Sprossen hafte, magentarote Szenen von Vögeln und triefenden Bäumen. »Delcambre. Thibodaux.« Langsam ersterbendes Tröpfeln, wie rostiges Wasser auf dem Badezimmerboden. »Abbeville«, das Zu schlagen einer Autotür; »Chinchuba«, das Zuschlagen der Flie gentür. Triumphierend durch das Echo hindurch: »Baton Rouge!« Barsches, heiseres Brüllen, beinahe kindisch in seinem Zorn: »Hältst du jetzt endlich dein Maul?« Aus der Küche eine Frauenstimme, Randles Stimme, zäh wie auskühlendes Blut: »Mitch ist daheim.« »Verdammt richtig, daß Mitch daheim ist.« Das Klatschen sei ner ungelesenen Zeitung gegen das aufgeplatzte Plastik des Kü chentisches, die gesamte Sitzgruppe für dreißig Dollar von der Wohlfahrt. Keiner der Stühle paßte zu den anderen. Rändle saß auf dem mit dem geflochtenen Sitz, ein Bein hin und her schwin gend, ein wohlgeformtes Metronom, während sie sicherstellte, daß der zerschlissene Ausschnitt ihres Unterhemds Mitch einen guten Einblick erlaubte. Sie fächelte sich träge mit vier Fingern Luft zu. »Schlechter Tag, großer Bruder?« Zu müde, um sich hinzusetzen, lehnte er sich vornübergebeugt auf den Arbeitstisch. »Alle Tage sind schlecht, Francey.« »Mmmmm, vergeßlich. Mein Name ist jetzt Rändle.« »Ist doch egal, wie dein Name ist, du bist immer noch 'n Dreckstück.« Sanft wie Staub, aus dem Wohnzimmer: »De Quincey. Long ville.« Zärtlic h: »Bewelcome.« Mitchs Seufzen. »Ist der Spinner da drinnen immer noch da bei?« »Den ganzen Tag.« Ein weiteres Seufzen, während er sich vorbeugte, um den klo
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bigen Kühlschrank zu durchforsten und dann die Tür wieder zu- i fallen zu lassen. Wieder halb wütend: »Nichts zu essen da, essen Fran... Rändle.« »Na und?« »Was würdest du gern essen?« Mehr als ein Lachen schwingt mit, »Ich glaube nicht, daß du das wirklich wissen möchtest.« Absichtlich eine Brust entblößt, während die Handfläche ganz nebensächlich darunter hin und her streicht, wie die Hand eines Kartentrickspielers an einer Straßenecke. Presto. »Großer Bruder.« Sein drittes Seufzen, die Lippen fest geschlossen. »Mir reicht's«, dicht an der Wand entlang, damit er sie auch ja nicht berührt, ihre Beine auf dem Stuhl ebenso absichtlich, ein lüster nes Spreizen, doch alles bestens verstanden: ein alter, komischer Familien scherz; wie das Belegen mit Schimpfnamen; Spitz namen. Die Tür knallt zu, raus wie rein, und in der auf den Weggang folgenden Stille: »Ist er fort?« Pause, dann weinerlich: »Setz dich doch zu mir.« Süß; doch es gibt Spitznamen und Spitznamen, Scherze und Scherze; eine Million Arten »Ich liebe dich« zu sagen. Durch den braungestrichenen Türbogen ins Wohnzimmer, hin ein in den Gestank, Randles Rücken nun noch steifer, und die Stimme von Alex, fröhlich. »Laß uns reden«, sagt er. Viel später. Mitch, der an der fliegengitterlosen Vordertür inne hielt, während Rändle auf der Veranda eine Zigarette rauchte und damit leuchtende Linien durch die Dunkelheit zog, wie ein Kind mit einer Wunderkerze. »Hat ganz schön lange gedauert«, sagte sie. Schmollend: »So spät ist es nun auch wieder nicht.« »Ich weiß, wie spät es ist.« Er setzte sich, nicht neben sie, aber doch nah genug, um leise sprechen zu können und dennoch verstanden zu werden. »Hast du noch 'ne Zigarette?« Sie holte von irgendwoher die Schachtel hervor und schnippte sie lustlos in seinen Schoß. »Behalt sie. Sind sowieso deine.« Er zündete die Zigarette mit einem Streichholz aus einem Streichholzbriefchen an — JUDY'S DROP-IN. Ein beschämender Im 374
puls, es so wie früher zu machen, ein Streichholz anzureißen und an ihre Fingerspitzen zu halten, um zu sehen, wie lange es dau erte, bis sich Blasen bildeten. Kein Wunder, daß sie ihn haßte. »Haßt du mich?« »Nicht so sehr, wie ich ihn hasse.« Er konnte ihre Bewegung spüren, ein halbes Kopfschütteln. »Weißt du, was er getan hat?« »Die Städte.« »Nicht nur wegen der Städte.« Er sah ihre Finger nicht und be gann zu zucken, als er spürte, wie die Zigarettenschachtel auf sei nem Schenkel aus dem Gleichgewicht rutschte. »Er war unten beim Lebensmittelladen, der Dreckskerl. Hat gespielt. Ich hab' fast 'ne Stunde gebraucht, um ihn zu überreden, nach Hause zu kommen.« Ein schwarzes Seufzen. »Es wird immer schlimmer mit ihm.« »Das sagst du immer.« »Es ist auch immer wahr, Mitch, ob du es nun glauben willst oder nicht. Es wird etwas Schreckliches geschehen, wenn wir ihn nicht...« »Wenn wir ihn nicht was?« Sauer. Nicht bitter. »Zum Arzt bringen? Zu einem Seelenklempner? Wie war's mit einer Direkt fahrkarte nach Scheißdorf, damit er ...« »Gut, das ist gut. Aber wenn die Bullen vorbeischauen, laß ich dich an die Tür gehen«, dann ihre eiligen nackten Füße auf den Stufen, hinein ins Haus. Ein angespanntes, unbewußtes Hoch ziehen seiner Schultern: Knall nicht die Tür zu. Weck ihn nicht auf. Mitch schlief, ein flaches, angespanntes Dösen in der Küche, den Kopf auf die Gelben Seiten gelegt. Bewegung, die geübte Ruhe des Verlangens. Pirschen bis zum Denouement, ein waches Er schrecken im Gegensatz zu Alex' leisem Schnarchen und seinen Lachanfällen, seinem Kichern und seiner Spucke. Über den gan zen Fußboden verteilt. Über den ganzen Fußboden verteilt und seine Hände, o Gott, Alex, deine Hände ... Die er vorzeigte, wie ein kleines Kind, die Ellbogen gedreht, Handflächen nach oben. Die er vorzeigte, im flatterigen Motten licht der Küche, in der letzten halben Stunde vor dem Morgen grauen, und Mitch, der in der Taille abknickte, dann langsam zu rücksank, während die Übelkeit abflaute, unbesiegt trotz dieser Ungeheuerlichkeit, des Geiferns und des Stotterns; da war auch 375
etwas an seinem Mund. Sein Kinn, Mitch mußte seinen Blick ab wenden von dem, was dort klebte. »Mach schon«, sagte er. »Hol deine Schwester.« Und wartete dort mit geschlossenen Augen, die Hände ausge streckt auf den Gelben Seiten wie ein Medium. Während Mitch seine Schwester weckte. Während Rändle den Waschlappen be nutzte. Wieder einmal. Angestaute Seen. Flaches Land. Rändle, die auf dem Rücksitz schlief, zusammengerollt und seltsam heiß, ihre Haut gerötet vom Schweiß in der lieblichen kühlen Luft. Alle Fenster des gro ßen cremefarbenen Buicks heruntergekurbelt. Mitch am Steuer, mit einer schmalen schwarzen Sonnenbrille, wie die Bullen in den Filmen, während Alex neben ihm saß und spielte. Heute war es altes Einwickelpapier, das er mit seinen Fingern zusammenfal tete, bis es zwischen seinen Handflächen verschwand. Immer Pa pier. Druckerschwärze unter seinen Fingernägeln. Glänzende Alufolie von irgendeiner Party, hängengeblieben zwischen den Schnürsenkeln seiner Turnschuhe. Oder dort festgebunden. Rändle mochte das getan haben, es war ihr Stil. Bittere, dumme Scherze. Gegen seinen Willen blickte er nach hinten, auf den Rücksitz, in ihre starrenden, weitgeöffneten Augen, die so asphaltschwarz waren, daß für einen Moment lang Angst in ihm erwuchs, wie ein Riese, der nur darauf wartete, geboren zu wer den, und er dachte: O nein, o nein, nicht auch noch sie. Neben ihm stieß Alex einen kindischen Laut aus. Randles Blick verwandelte sich schlagartig in ihr echtes Lä cheln; sie bleckte spielerisch die Zähne, bevor sie sich zufrieden herumrollte. »Verdammtes Miststück«, mit trockener Erleichterung. Mit Ge fühl. Alex sagte: »Ich habe Hunger.« Mitch sah, daß er begonnen hatte, das Papier zu essen. »Wir werden irgendwo ein Drive-in finden«, sagte er, und einen Mo ment lang träumte er davon, das Lenkrad herumzureißen, träumte er von einem schnellen, fettigen Tod. Sollte doch zur Ab wechslung mal jemand anders den Dreck wegmachen. Ein McDonald's kam in Sicht, Mittagszeit -geschäftig, und plötzlich war Alex aus dem Wagen gesprungen und beugte sich lächelnd durchs Fenster hinein, um zu sagen: »Ich will drinnen 376
essen.« Und dann war er verschwunden, trottete über den Park platz, das Geburtstagspapier vergessen auf dem Beifahrersitz hinter sich zurücklassend. »O Gott«, sagte Mitch und reckte den Hals, um ihm nachzu schauen, »geh ihm nach, Rändle«, und dann Randles Knurren, das helle Klatschen ihrer Sandalen, als sie lief. Während er parkte, überlegte er, ob er nicht einfach davonfahren sollte. Al lein. Ob er sie nicht einfach hier zurücklassen sollte. Verlaß sie nie, schwor's mir. Du mußt es mir schwören, Mitch. Hatte sie das je wirklich gesagt? Hatte sie ein Versprechen herausgepreßt wie einen trockenen Klumpen Scheiße? Ich hoffe, daß es eine Hölle gibt, dachte er bei sich, während er den Wagen wendete, und ich hoffe, daß die Hölle groß und heiß und unendlich ist und daß sie dort drinnen schmort. Sie waren schon fast am Bestelltresen, händchenhaltend. Als Rändle ihn hereinkommen sah, wandte sie den Blick ab; er sah, wie ihre Finger die Hand von Alex drückten, zweimal, ganz lang sam. Wie war das für sie? Mittelsmann. Alex starrte auf die Spei sekarte an der Wand, so als könne er sie lesen. »Ich besorge uns eine Nische«, sagte Mitch. Statt dessen ein Tisch; es gab keine leeren Nischen. Alex zer krümelte einen nach dem anderen die Schokoladenkekse, dann leckte er seine Finger an, um die Krümel aufzusammeln. Mitch trank Kaffee. »Da wird mir ganz schlecht von«, sagte er zu Rändle. Ihr hastiger Blick zu Alex. »Von was?« mit halbvollem Mund, während ein Tropfen Remouladensoße fett auf ihrer Unterlippe glänzte. »Dieser Geruch«, ein Nicken zu ihrem Burger. »Fisch.« Augenblicklich verzog sich der Mund und kaute Fisch und halb verschmierte Soße, und ihm wurde wirklich schlecht. Gottver dammtes Miststück. Sie stubste ihn unter dem Tisch mit ihrem nackten Fuß an. Lachte in ihre Cola. »Du mußt es immer noch schlimmer machen, oder?« Wieder mit vollem Mund: »Es kann nicht schlimmer werden.« An Alex gewandt: »Iß deine Kekse.« Mitch trank noch mehr Kaffee; er schmeckte bitter, eingekocht. Rändle starrte beim Essen über seinen Kopf hinweg: beobachtete sie die anderen Gäste? Starrte sie an die Wand? Alex verschluck te sich an den Kekskrümeln und fing an zu husten, ein leises, 377
trockenes Husten. Er würgte ein bißchen. Dann hustete er stär ker. »Alex?« Rändle legte ihren Burger ab. »Bist du in Ordnung? Klopf ihm auf den Rücken«, im Befehlston zu Mitch, und er tat es, immer stärker, weil Alex weiter hustete; es war jetzt beinahe ein Bellen, und die ersten Köpfe von den umliegenden Tischen zu ihnen um, ein kurzes Zeichen der Aufmerksamkeit, die reger wurde, je mehr sich Alex' Notlage vertiefte; immer lauteres Keu chen, und plötzlich war Rändle auf den Beinen und versuchte, ihn auf die Füße zu ziehen, während Mitch die ersten Blutstrop fen sah. »O Scheiße«, doch es war zu spät, Alex spuckte nun Blut, ver spritzte es in alle Richtungen, hustete es in halbverdauten Klum pen heraus, während Rändle verzweifelt versuchte, ihn auf die Füße zu zerren, und Mitch aus einem dummen Reflex heraus probierte, den Mist mit Papierservietten wegzuwischen. Die Ti sche um sie herum leerten sich. Kinder heulten, laut und veräng stigt, McDonald's-Angestellte umringten sie, doch nicht zu nah, und Rändle brüllte: »Hilf mir, du Arschloch!« während Mitch in stummer Lähmung zuschaute, wie ein winziger, roter, doch er kennbarer Finger aus Alex' Mund flog und naß-klatschend auf dem Stuhl landete. Gib ihm Zunder, keine Zeit zu verlieren, egal, ob es ihm weh tut. Rändle knallte schon mit dem Rücken gegen die Tür, um sie offenzuhalten, und Alex' scharlachroter Auswurf heiß wie Pisse auf seiner Schulter, während Rändle schrie: »Gib mir die Schlüs sel! Gib mir die Schlüssel!« Ihre Hand grub sich grob in seine Ta sche, während er sich mit Alex, mit bleichem Gesicht, auf den Rücksitz und sein Gleichgewicht verlor, als der Wagen mit einem Ruck anfuhr und er nach vorne fiel, mit aller Wucht, dumpf und kühl, gegen den Feststellknauf des Sitzes. Und dort blieb er liegen; der Geruch von Moschus und Motoröl stieg ihm in die Nase, während Alex über ihm in Schweigen ver fiel, und Mitch blieb lange so liegen, bis ihm schließlich einfiel, zu fragen: »Wohin fahren wir?« Er mußte die Frage wiederholen, be vor er sich über das Plärren des Radios hinweg Gehör verschaf fen konnte. Rändle drehte sich nicht um. »Ich hoffe, wir haben nichts in dem Haus gelassen, was du brauchst.«
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Nacht, und abermals die goldenen Bögen. Diesmal aßen sie im Wagen, wobei sie sich abwechselten, um aufs Klo zu gehen und sich zu waschen, in Waschräumen, die nicht größer als Kleider schränke waren. Körnige Seife aus den Spendern. Alex aß nichts. Alex schlief noch immer. Randles umherschweifender Blick. Sie war zu müde, um noch aufrecht zu sitzen. »Du fährst jetzt mal 'ne Weile«, sagte sie. »Bleib auf dem 1-10, bis du nach ...« »Ich weiß«, lauter, als er es wollte; auch er war müde. Es war schon eine Anstrengung, nur seine Hand zum Mund zu heben. Rändle suchte nach etwas, fischte träge unter dem Sitz, in ihrer Handtasche. Als er sie mit hochgezogenen Augenbrauen an schaute, fragte sie: »Hast du Zigaretten?« »Hast du nicht gerade 'ne Schachtel gekauft?« Schweigen, dann: »Ich hab' sie im Haus gelassen. Auf dem Spülkasten vom Klo«, und begann ohne große Vorwarnung zu weinen, eine Hand schlaff vor den Mund gelegt. Mitch wandte den Kopf um und starrte auf den Parkplatz um sie herum, über den zuckende Scheinwerfer flatterten wie fette, ungelenke Vögel. »Ich bin es leid, immer irgendwo Sachen zurückzulassen«, sagte sie. Ihre Hand dämpfte ihre Stimme, ließ sie klingen, als spräche sie unter Wasser, an irgendeinem grünen Ort, den Stimmen nie erreichten. »Weißt du, wie lange ich schon dieses Hemd trage?« und bevor er auch nur darüber nachdenken konnte, ob es richtig wäre, zu antworten: »Fünf Tage. So lange schon. Fünf beschis sene Tage in demselben beschissenen Hemd.« Vom Rücksitz aus sagte Alex: »Breaux Bridge«, in einem Ton fall, so vertrauensvoll und zärtlich wie der eines Kindes. Ohne sich umzudrehen, ohne sich die Mühe zu machen, ihn anzu schauen, versetzte ihm Rändle eine peitschende Ohrfeige mit dem Handrücken, die so hart war, daß Mitch schon beim Zu schauen zusammenzuckte. Tonlos: »Halt dein Maul«, noch immer ohne sich umzudrehen, so als wäre der Rücksitz für sie unsichtbar geworden. »Mehr mußt du nicht tun. Halt nur dein Maul.« Mitch ließ den Wagen an. Alex begann zu stöhnen, ein dump fes Wimmern, das sich mit dem Motorengeräusch verband. Rändle sagte: »Weck mich ja nicht auf, egal, was passiert.« Sie zog sich ihr T-Shirt über den Kopf und warf es aus dem Fenster. 379
»Randle. Um Himmels willen! Warte doch wenigstens, bis wir fahren.« »Laß sie doch gucken.« Ihre Brüste waren an vielen Stellen fleckig, wie von kleinen Hitzepickeln übersät, die im grünlichen Schein der Armaturenbrettbeleuchtung ganz seltsam aussahen, wie irgendeine komplizierte Tätowierung, deren Einzelheiten sich nur im grellen Tageslicht offenbarten. Sie hatte ihren Kopf auf seinen Schenkel gelegt, und das Fleisch, auf dem sie ruhte, war noch vor ihr eingeschlafen. Er fuhr beinahe eine Stunde lang, bevor er sie vorsichtig zur Seite schob. Und auf dem Rücksitz endlose Geräusche von Alex, sein ra schelndes Papier, der sumpfige Gestank seiner Tränen. Für Mitch war das so, als hätte sich der Umhang der Nacht nicht auf ewig um sie geschlossen, doch zumindest für so lange, daß man kei nen Unterschied mehr feststellen oder wahrnehmen konnte. Wie in den guten alten Zeiten. Als Alex im Kreis umherstolperte, auf den Zeitungsteppichen und besonders den Witzseiten, und Blut erbrach, das den schwächeren Gestank von Taubenscheiße aus dem alten Taubenschlag überdeckte. Taubiger schwarzer Dreck, Schwemmschutt, verstreut wie Tarotstaub über dem blaugeka chelten Küchenfußboden. War es nicht sonderbar, daß er sich noch immer an jene Kacheln erinnern konnte, an ihr fröhliches romanisches Muster? Daß er sich an sie erinnern konnte, wie er sich an sein eigenes nervöses Schaudern erinnern konnte, ver borgen wie ein Schatz hinter einer Mahagoniverschalung. Und Randles verängstigtes Lachen. Mama. Versprechen, seine Hände zwischen ihren staubigen Handflächen; sie waren so klein da mals, seine Hände. Alex, der hilflos seinen schorfigen Geifer wegzuwischen versuchte, selbst damals mußte man ihn die ganze Zeit über im Auge behalten. Zerbrochene Gläser, eins nach dem anderen. Weidenfeuer. Die zirpenden Zikaden, nein, das geschah jetzt, oder nicht? Durch die geöffneten Fenster des Buicks. Durch die Stunden und Aberstunden des Fahrens, bis die Luft feucht wurde vom Tageslicht und dem stinkenden Schimmern der Ab gase, und Randle sich mit geschlossenen Augen auf dem Beifah rersitz neben ihm regte und ängstlich im Schlaf murmelte: »Alex?« Er legte eine Hand auf ihren Hals und fühlte die nasse, klamme Haut. »Ssschhhh, ihm geht es gut. Ich bin immer noch dran. Ihm geht es gut.« 380
Und er fuhr weiter. Das Rascheln von Papier auf dem Rücksitz. Alex' leises, schmollendes Summen, wie irgendein seltsamer un erwünschter Motor, den kein Mangel an Treibstoff zum Stehen bleiben bringen konnte, den niemand endgültig abschalten konnte. Und seine Hände auf dem Lenkrad, so still wie Randles ruhi ges Atmen, so beständig wie Alex' Städte, deren Litanei von neuem begonnen hatte: Florien, Samtown, Echo, Lecomte, die wie Rauch von einem verborgenen Feuer herübertrieben, ein Feuer, das immer brannte, wie die Feuer auf den Flußdeichen, wie das Feuer, das ihr Heim verschlungen hatte. Erinnerst du dich daran? Mit offenstehendem Mund, Fliegen fangend, wie seine Mutter gesagt hätte. Blaue Flamme, wie von einem Gas brenner. In welcher Farbe verbrennt Blut? Und sein Kopf beugte sich wie vor Scham, so als wäre er ge plagt und geschunden vom stumpfen Hammer des Zorns, alter Zorn, wie die Feuer, die nie erloschen. Und seine Augen schlös sen sich, schlafend, obgleich er aufwachte und dachte: Halt an, denn das mußte er, und so steuerte er schleudernd wie ein Be trunkener auf den Seitenstreifen, um sich dort nach vorn fallen zu lassen, so daß er mit der Stirn sanft gegen das Lenkrad kippte, wie das Opfer eines ganz leichten Autounfalls. Rändle schlief noch immer auf dem Sitz neben ihm. Alex — sagte er noch im mer seine Städte auf? Alex? Brauchst du Papier zum Spielen? «Alex«, doch er sprach das Wort ohne jegliche Autorität, in Träu men gegen eine Landschaft, die nicht willkommen, doch nötig war: in der das Rascheln von Alex' Papier mit dem trägeren Tröp feln seines Verlangens verschmolz, das Ganze eine endlose Pa vane, die durch die Städte von Louisiana tanzte, die kleineren, die heißeren, die besseren. Und er, und Rändle auch, waren ir gendwie wieder Kinder, Kinder in jenem alten Haus, in dem der alte Mantel des Schutzes sich von neuem um sie legte, und sie waren hilflos und unwissend ihrer Bürde, in Unkenntnis um den Verlust, den sie schon unwiderbringlich erlitten hatten, den Ver lust des Lebens, während man es lebte. Du mußt es mir schwö ren, Michie. Und Randle, damals noch nicht Randle, auch nicht Francey, sondern Marie-Ciaire, das war ihr Name, und MarieClaire versprach es ebenso wie er selbst es tat, die kleine Schwe ster mit ihren ausgestreckten Händen. Der Wagen briet langsam gar im schattenlosen Morgen, zu 381
weit von den Bäumen entfernt. Alex, so ernst wie ein Wasser speier, den man geschickt abgemeißelt hatte, erhob sich lautlos, versuchte zuerst den Griff der hinteren Tür, schob dann seine ge öffneten Handflächen durch das geöffnete Fenster, und ließ bräunliche Flocken auf Mitch und Randle herabregnen, Flocken, die wie Glitzerschnee in einem Briefbeschwerer umherwirbelten, Sprenkel, Sommersprossen, die sich in einen dunkleren Regen verwandelten, so leicht, daß Mitch und Rändle es überhaupt nicht merkten, so leise, daß sie es überhaupt nicht hörten. Und dann war er verschwunden. Eine Ohrfeige, um sie ins Bewußtsein zurückzuholen, Randles Aufschrei, Ekel, ihre Hände ganz schmierig davon, und sie kratzte die Haut ihrer Unterarme, bis neues Blut unter dem ge trockneten hervorquoll. Schorfig mit Blut, angemalt damit. Mitch neben ihr, ähnlich verschorft, wischte es sich mit beinahe distan zierter Bestürzung ab, so als wäre er daran gewöhnt, bedeckt von der Spur der Vorlieben seines Bruders aufzuwachen. »Ich bin nicht seine Mutter!« Schreiend. Sie drehte durch, viel leicht war sie es sogar schon. Verständlicherweise. Sein eigener Verstand war weniger bedroht, lehnte ruhig gegen den Sitz; schockfrei? Vielleicht war er verrückter als sie. Verrückter als Alex, auch wenn das doch etwas zu weit ging. Sie schrie noch immer, und die Wellen ihres Geschreis ließen ihre Brust erbeben. Er bekam eine Erektion. War das nicht toll? »Ich bin es leid, daß er ein Ungeheuer ist. Ich kann nicht...« »Wir müssen ihn suchen.« »Du suchst nach ihm! Du suchst nach ihm! Ich bin es leid, nach ihm zu suchen!« Schnodder auf ihrer Lippe. Er packte sie bei den Brüsten, ein kleines Vergnügen, und schubste sie hart gegen die Tür. Sie hörte auf zu schreien und begann zu weinen, ein trocke nes Schluchzen, das kein Anzeichen dafür war, ob sie aufgegeben hatte oder nunmehr gänzlich zusammengebrochen war. Ah-ah ah. »Zieh dein Hemd an«, sagte er, dann erinnerte er sich, daß sie keines mehr hatte, daß sie es fortgeworfen hatte. Dumme Kuh. Er gab ihr sein Hemd und kurbelte sein Fenster ganz herunter. Soll ten sie fahren oder zu Fuß gehen? Wie weit? Wie lange hatten sie geschlafen? Er erinnerte sich daran, daß es noch immer an ihm war, Alex im Auge zu behalten. Er starrte aus dem Fenster. Wei den. Überschwemmungsebenen. Spanisches Moos. Er hatte Spa nisches Moos immer gehaßt. So heiß, und Randles plötzliches 382
Kreischen, das haßte er auch, haßte die Art, wie sich ihre Lippen durch den Schnodder und das alte Blut und das neue Blut ver zerrten, und sie zeigte mit dem Finger nach vorn, zeigte auf Alex, der auf sie zukam. Er winkte ihnen überschäumend fröhlich zu und trug etwas bei sich, das zu halten er beide Hände brauchte. Selbst auf diese Ent fernung konnte Mitch erkennen, daß Alex' Hemd blutgetränkt war. Gänzlich durchnäßt. Neben ihm hatte sich Randles Krei schen in ein unzusammenhängendes Wimmern verwandelt, von dem er sich diesmal sicher war, das es nicht mehr aufhören würde. Vielleicht nie mehr. Nerven, es ging ihm auf die Nerven, wie eine Mücke mit einem Zahnarztbohrer direkt vor deinem Ohr. In deinem Gehirn. An seinen Fingern, die auf dem Auto schlüssel ruhten, oder vielleicht war das auch nur das Jucken des Blutes, als er den Wagen anließ, ganz langsam losfuhr und dann geradewegs auf der Straßenmitte entlangsteuerte, wo er und Rändle und Alex, bis in die Haarspitzen naß und klebrig, aufein ander treffen würden. Sein Fuß ruhte leicht auf dem Gaspedal, und Alex' Gang schaukelte wie ein Stuhl auf einer Veranda, wäh rend er abermals mit seinen Armen winkte, mit seinen Armen und dem Ding darin. Rändle sprach, und es klang dumpf durch ihren Mund voll Schnodder. »Fahr langsamer«, und er schüttelte den Kopf, ohne sie anzuschauen, er wollte sie in diesem speziellen Moment nicht sehen. »Ich denke nicht«, sagte er, als sein Fuß sich hinabsenkte, wie beim letzten Schritt eines Tanzes. Hinter Alex konnte er die schrägen Schatten von Weidenbäumen sehen, alte Bäume. Stabil? Sicher. Es war kaum noch Benzin im Tank, aber er hatte genug Schwung für sie alle drei. Aus dem Amerikanischen von Ute Thiemann
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REX MILLER
Sweetie war hart auf dem Fuß mit dem schwachen Knöchel aufgeErkommen, als er von der Laderampe des Huey-Dakota-Hub schraubers gesprungen war, und dann zu weit auf dem verletzten Bein gehumpelt. Seine 15EEEEE-Springer-Stiefel hatte er ange lassen. Es hatte keinen Zweck, sich bei dem Versuch abzumühen, den Stiefel Marke Kindersarg über die Schwellung zu zwängen; das hatte er sich wenigstens überlegt. Doch am Morgen hatte er kein Gefühl mehr im rechten Fuß. Nicht einmal ein Prickeln. Er stand vorsichtig auf, bis er sicher war, daß sich sein mächti ges Gewicht gleichmäßig verteilt hatte und daß der schwache Knöchel nicht umknicken konnte. Zögernd machte er ein paar prüfende Schritte. Kein Problem. Sobald er konnte, würde er die Stiefel ausziehen. Die Füße ba den. Gut abtrocknen. Einpudern. Er hatte trockene Socken in ei nem versiegelten Plastikbeutel. Füße abtrocknen und hochlegen. Eine große Mahlzeit, um den knurrenden, krampfenden Bauch zu füllen. Eine lange Ruhepause, und dann — mit etwas Glück — würde er schon einen verletzlichen Menschen finden und den provozierenden Rhythmus der Lebenskraft anpeilen können; den Herzschlag, der ihn anziehen würde wie ein Leuchtturm in der Nacht. Allerdings war er jetzt weit weg von Südostasien. War zurückge kehrt in diese andere Welt und Jahre entfernt von den Qualen, die er in der Dakota erlitten hatte. Immer noch war es aber nichts Ungewöhnliches für ihn, sich den Erinnerungen an lustvolle Tö tungen hinzugeben. Realistischer Pragmatiker, der er war, hielten seine Fantasien sich dabei an eine gewisse verquere Logik. Um sich der Freuden des Eingeborenenmädchens zu erinnern, das er im Busch hinter Kontum vor >hundert< Jahren aufgeschlitzt hatte, mußte er sich aber schon anstrengen.
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Sein Name war Daniel Edward Flowers Bunkowski, und wer ihm unvermittelt gegenüberstand, wich vor Schock und Furcht zu rück. Die Körpergröße eines Basketballspielers. Das Gewicht von zwei Ringern. Harte, häßliche, Autoreifen gleichende Fettwülste, gewickelt um Beine, die massig wie Baumstümpfe waren. Riesig lange Arme mit Fäusten wie Vorschlaghämmer. Drinnen, tief drinnen in den Fettrollen, lebte noch immer ein gequälter, schwer mißhandelter kleiner Junge. Lebte, um zu töten. Überlebte im Herzen eines riesigen, zähen Bergs aus angefressenem Speck. Sein Hauptanliegen bestand darin, sich einen anderen Menschen zu suchen und ihm weh zu tun, bis er starb, um sich dann sein blutiges Herz zu holen — den Lebensquell des verhaßten Fein des. Daniel >Chaingang< Bunkowski. Tötungsspezialist. Jäger von Soldaten. Henker von Söldnern. Unvergleichlicher Massenmör der. Als er gestern in dem Abschleppwagen mitfuhr, brodelnd vor Tötungsgier und dem Verlangen, das arrogante Menschenwesen neben sich zu vernichten, verkrampften sich seine Beine, schlief der rechte Fuß immer wieder ein, während das Radio plärrte und die ekelhafte Stimme und seine Schmerzen und der aufdringliche Fahrer und die Dummheit und die Achtlosigkeit, die ihn in diese Lage gebracht hatten, sich alle miteinander verbanden, ihn be drohten, ihn beinahe an die Grenze seiner Wut trieben — das al les überspülte ihn wie eine grelle, heiße Woge, und er blockte es ab und fantasierte über die Dakota und den langen, heißen Marsch durch den Busch und die folgenden dampfenden Freuden des Schlitzaugenmädchens. Und das war es auch, worüber er nachdachte, als er hinten auf dem alten Laster dahinholperte. Bei Gott, er war schon mit tau send Lastern dieser Art mitgefahren. War zielstrebig abseits der bewachten Bundesautobahnen durch das Land gezogen, per An halter auf den Nebenstraßen des ländlichen Amerika, in zerbeul ten, schlammverkrusteten Kleinlastern, durch die Walachei gur kend und tötend, wenn seine Stimmung danach war. Herz und Verstand raubend, wie er gern sagte, und den Verstand zurück lassend. Es war ziemlich unangenehm hinten auf dem Laster. Die Stoß dämpfer waren schon lange hin, und sein massiger Körper schwappte immer wieder auf und ab. Mit jedem Schwappen drängte sich die Wirklichkeit in seine Fantasien und stieß mit ei 385
nem weiteren knochigen Ellbogen der Irritation nach ihm, Daniel >Chaingang< Bunkowskis Stimmung verdüsterte sich weiter. Er war kein dummer Mann, und die Metapher von der kurzen Lunte und dem Pulverfaß blitzte über seinen geistigen Computerschirm und löste unwillkürlich eine Grimasse aus, die seine düstere und sich ständig verschlechternde Gemütsverfassung widerspiegelte. Der alte Mann am Steuer des zerbeulten Lastwagens fuhr enervierend langsam, zusammengesackt, so daß nur der Scheitel seines Kopfs zu sehen war, doch trotz des Schneckentempos schien er bewußt jedes tiefe Schlagloch der Straße anzusteuern. Genug mit diesem Geholper! Nur noch die innere Stimme des fetten Mannes veranlaßte ihn, die heiße Flut des Zorns niederzu ringen, die ihn mitzureißen drohte. Versuchte er doch stets, sich an den Rat seiner geliebten Mami zu erinnern — alles hat seine Zeit und seinen Ort. Auch gestern war er eine halbe Stunde lang durchgeschüttelt worden, verkrampft und zornig im Führerhaus eines Abschlepp wagens sitzend, der mit seinem frisch gestohlenen Wagen im Schlepp eine größere Autobahn entlanggejagt war. Ein rollendes Plakat mit der Aufschrift FANGT MICH DOCH. Er hatte einen ein Jahr alten Regal gestohlen, den Fahrer mit einem Knüppel erschlagen und seine Brieftasche geklaut. Dann mußte das Ding spät am Nachmittag 20 Meilen vor der nächsten Stadt den Geist aufge ben. Er war müde und gereizt gewesen, die Trennlinie zwischen Frechheit und Tollkühnheit hatte sich verwischt, und er rief ein fach den Automobilclub zum Abschleppen an, wobei er die Kar ten des Opfers benutzte. Ohne Nachzudenken, untypischer weise. Bis zur Abenddämmerung hockte er dann zusammenge krampft auf dem Vordersitz eines lärmenden Abschleppwagens, während seine Wut von Minute zu Minute größer wurde und der Vollidiot von einem Fahrer mit seinem Geplapper ständig die plärrenden Zweiwegeboxen übertönte; hinter ihnen der Wagen eines toten Manns. Während die Daten des Opfers ins Meldenetz eingespeist wurden, rüttelten vier Zentner Gewicht und fast zwei Meter Körpergröße eines erzürnten, zähnefletschenden Killers auf und ab. Jetzt strahlte er, als er sich daran erinnerte, wie der arrogante Fahrer mit einer Kanone geprahlt hatte, die er unter dem Sitz versteckt hielt. Bunkowski hatte ihn nicht lange danach mit einer 386
Kette gefesselt und die dreckige Waffe mit Vergnügen in den Mund des Manns abgefeuert. Daran dachte er, während seine schraubstockgleichen Finger das Seitenteil der polternden Rost laube umklammerten. Schnaufend und klappernd rollt der alte Laster an der Familien tankstelle mit Lebensmittelladen auf der Straßenkreuzung aus, und der riesige Mann springt mit seinem Seesack von der hinte ren Wagenklappe. Der Farmer am Steuer des Lasters hat die alte Klapperkiste schon wieder in Bewegung gesetzt, bevor der See sack des Manns auch nur in den Straßengraben rollt. Er ist froh, den riesigen, ungeschlachten Passagier loszuwerden. Fast hätte er für den hünenhaften Tramper nicht angehalten, aber dann fiel ihm sein Vetter ein, der auch so groß war, und so hatte er ihn hinten auf der Ladefläche mitgenommen. Der Kerl mußte an die vier Zentner wiegen. »Junge!« murmelte der Mann mit einem Lächeln. »Der muß fett genug zum Schlachten sein.« Der Laden an der Kreuzung war mit Museumsstücken veralte ter Reklameschilder behängt. Five-O Chocolate Flavor und McCormick Dairy Equipment, Corn-Belt Feeds und San Felice Cigars, Perry's Dead Livestock Removal und Embro Hybrids bo ten noch immer ihre Waren hier am Straßenrand feil. Der große Mann, den jetzt wieder sein Bein schmerzte, war hungrig und stellte draußen seinen Seesack ab; dabei dachte er, wie leicht er den alten Mann hätte töten können, dachte es ohne Bösartigkeit, so wie man auf die Uhr schaut, und trat dabei durch die Fliegengittertür mit ihrer kleinen Glocke. Er griff sich einen Laib Wonder Bread (>Baut zwölffach starke Körper auf<) und nahm einen Plastikbehälter aus der Gefriertruhe. Beides brachte er zur Theke und zog ein paar schmutzige, zerknüllte, schweiß getränkte Dollarnoten hervor. Die nette ältere Dame hinter der Theke lächelte. »Darf es noch etwas sein?« »Das war's.« »Mächtig heiß da draußen«, sagte sie im Plauderton, während sie sein Wechselgeld auf die Theke legte und die zerknüllten Scheine glättete, um sie in die Registrierkasse zu schieben. Er nahm die Münzen auf und dachte dabei, wie leicht es wäre, ihren papierdünnen Schädel einzuschlagen und die wenigen Scheine 387
aus der Kasse zu nehmen, dachte es automatisch, wie er es im mer tat, während er sich umdrehte, um hinauszuhumpeln. »Ja«, sagte er dabei, »allerdings.« Für ihn grenzte das schon an ein langes Gespräch. Er warf einige Vierteldollarstücke in den Colaautomaten, nahm zwei große, eiskalte Coca-Cola heraus, ignorierte die Dame, als sie etwas von Flaschenpfand sagte, und ließ die Tür mit dem Rainbow Bread-Schild hinter sich zuschla gen. Draußen setzte er sich schwerfällig auf seinen Seesack, um zu essen. Er öffnete den Schinkenbehälter, nahm die Hälfte des Flei sches, gab es auf ein paar Scheiben Brot und rollte alles zusam men; die Hälfte biß er mit einem heftigen Ruck ab und kaute schnell. Das Fleisch war gut. Die Flaschen öffnete er mit den Zäh nen, wie er es immer gern tat, vor allem, wenn ihm jemand dabei zusah, und trank eine Flasche eiskaltes Cola in einem einzigen riesigen Schluck aus. Es brannte wie Feuer, als die Flüssigkeit hinunterschoß, genau, wie er es mochte. Schnell schluckte er den Rest des Fleisches mit einer großen Handvoll Brot und spülte das Essen mit dem Inhalt der anderen kalten Flasche hinunter. Ahhhhh, dachte er, während er einen ausgedehnten Rülpser her vorstieß. Ein großer, lendenlahmer Hund lag ruhig in wenigen Metern Entfernung da, Kopf und Rücken von Fliegen bedeckt. Zerstreut preßte der Mann ein paar der verbliebenen Brotscheiben zu einer Kugel und warf sie dem Hund zu, der sie jedoch ignorierte — wahrscheinlich klugerweise —, um sich statt dessen träge zu er heben und ein paar Meter weiterzuschleichen, bevor er sich wie der auf dem Kies niederließ. Der große Mann saß auf seinem See sack, ruhte sich aus, blickte den alten Hund an und dachte, daß er ihn in wenigen Sekunden töten könnte, indem er ihn einfach nur an der Kehle packte und würgte, bis er aufhören würde, mit dem Schwanz zu peitschen. Er konnte ganz einfach einen großen an greifenden Hund umbringen. Selbst trainierte Dobermänner und ähnliche Rassen waren für ihn keine Herausforderung. Allerdings waren sie sehr schnell, und man mußte vorsichtig sein, wenn man sie packte, sonst wurde man vielleicht schlimm gebissen, und das würde weh tun. Er hatte kein Interesse daran, Hunde zu töten, und versuchte es, wenn möglich, zu vermeiden. Einmal hatte er einen Mann dabei beobachtet, wie er nach einem Hund trat, und das hatte ihn so sehr in Wut versetzt, daß er hinüberge 388
gangen war und dem Mann sehr weh getan hatte; mit einem aus gerenkten Kiefer und einem aus dem Gelenk gerissenen Arm ließ er ihn zurück. Inzwischen hatte er gelernt, seine Wut besser zu zügeln. Der große Mann saß da und studierte die Schilder von Clabber Girl, DeKalb, Dr. Pepper, 99 Brand Chew und Vic's Beer, wäh rend er seinen geschwollenen Knöchel massierte. Schließlich stemmte er sich mit einem Stöhnen hoch und hob seinen Seesack an. Er trug den Seesack so mühelos, wie man eine Tüte mit Le bensmitteln tragen würde, und dabei wog er fast 75 Pfund. Er war es gewöhnt, 50 Pfund schwere Futtersäcke zu tragen, einen auf jeder Schulter, Formen aus Gußbeton zu schleppen und ähn liche Arbeiten zu verrichten; ja, er konnte den ganzen Tag arbei ten, ohne zu ermüden. Sein eigenes Gewicht herumzuschleppen, war etwas anderes. Inzwischen, am Ende eines langen Tages, stellten seine vier Zentner ein ernstes Problem dar. Mühsam humpelte er die Straße entlang, in die Richtung, in der es, wie der Farmer gesagt hatte, ein Hotel geben sollte. Er bemerkte, wie ein Mann aus dem Fenster eines kleinen Bü ros zu ihm hinüberblickte und dachte daran, wie er den Mann erle digen könnte, indem er ihm mit einem Gewehr in die Brust schoß. Viele, viele Menschen hatte er erschossen; er liebte es, Leute mit ganz bestimmten Munitionsarten in den Brustbereich zu schie ßen, weil er die kleinen Einschußlöcher mochte, die die Projektile hinterließen. So gut wie nie wälzte er die Toten herum, sah sich nicht die Austrittswunden an, sondern nur die Einschüsse. Ei gentlich war er sowieso kein Schütze. Er zog die persönliche Be rührung bei weitem vor. Es war gut, darüber nachzudenken, während er die Straße entlanghumpelte. Einmal, erinnerte er sich, hatte er einen Jungen mit einer Handfeuerwaffe erschossen und die Knarre auf einen vorbeifah renden Lastwagen geworfen, als die Polizei gerade mit heulenden Sirenen und blitzendem Licht heranfuhr. Er hatte sich einfach so fort auf die frische Leiche fallen lassen und begonnen, dem Jun gen eine Mund-zu-Mund-Beatmung zu verabreichen, als die Bul len herbeirannten. Das Ganze war dann so abgelaufen, daß er — nachdem die Sanitäter den Appartementkomplex erreicht hatten, wo er dem Jungen das Lebenslicht ausgeblasen hatte — derjenige gewesen war, der dem Mann, der die erste Hilfe leistete, die Ta schenlampe gehalten hatte. Er erinnerte sich daran, daß der Sani 389
täter sagte, der Junge sei »von einem unbekannten Angreifer in die linke Herzkammer« geschossen worden. Und er erinnerte sich noch an den hübschen, sauberen, kleinen schwarzen Ein schuß in der Brust des Jungen und wie es ihm gefallen hatte, an sich selbst als mnbekannten Angreifer zu denken. Als Daniel schließlich das Hotel erreichte, einer Absteige mit dem Namen The Flynn, trug er sich ein. Der weibische Sekretär am Empfang war etwas naßforsch zu ihm und bat ihn in einem Ton um Vorauszahlung, der ihm nicht gefiel. Er war sehr müde und wurde langsam gereizt, erlaubte sich aber nicht, darüber nachzudenken, wie leicht er die Tunte mit einem Kopfkissen er sticken könnte, um dann die Halsschlagader aufzureißen; wie der Anblick und der Geruch und das Gefühl und das Rauschen des heißen, spritzenden Bluts ihn erregen würde, das mit dem Herz schlag hervorgepumpt wurde. Nein, er konnte nicht zulassen, daß er über das nachdachte, was er die Blutflut nannte. So war er damals beim erstenmal in Schwierigkeiten geraten. Der Gefährte seiner Mutter war bösartig zu Mami gewesen. Da niel liebte seine Mutter sehr; es gefiel ihm, sie zu umarmen und ihre frischgewaschenen Röcke zu riechen, als er noch ein kleiner Junge gewesen war; bei ihr fühlte er sich ganz gemütlich und warm und sicher. Aber der schlimme Mann hatte ihr weh getan, und dann, als er mal ein Nickerchen machte, träumte der kleine Danny Boy davon, wie er ein großes Messer genommen und die Blutflut aus dem Rücken des Manns hatte hervortreten lassen, in dem er sehr hart und schnell immer und immer wieder zustach und die spritzende, überraschend warme Röte spürte, wie sie ihn befleckte, als er die Klinge immer und immer und immer wieder in den schreienden Mann versenkte, hübsche, helle, scharlachrote Löcher in den schlimmen Mann machend; so erinnerte er sich im mer noch an die Einzelheiten seines ersten Tötungstraums. Und daran, wie diesem Gedanken schon bald die Tat gefolgt war. Überraschenderweise war Daniel, dieser große, schwere Mann immer sehr schnell gewesen. Besonders seine Handbewegungen konnten unglaublich geschwind und sicher sein. Er konnte sogar eine gewisse Strecke mit rasender und ziemlich furchterregender Geschwindigkeit sprinten, indem er seine gewaltige Masse von den muskelbepackten Baumstammbeinen, die dann wie ge spannte Federn wirkten, voranschnellen ließ. Viele Menschen lebten nicht mehr, weil sie den Mann falsch eingeschätzt, auf die 390
eine oder andere Weise falsch beurteilt hatten. Er war in mancher Hinsicht nicht ganz das, was er zu sein schien. Als Daniel dem Gefährten seiner Mutter die Sache angetan hatte, war das Kind für eine Weile an einen schlimmen Ort ge schickt worden, wo größere Kinder ihm weh getan und ihn auf gezogen und gequält hatten; sie hatten ihn dort bis in die tiefsten Tiefen seiner dunklen, nie verzeihenden Seele gedemütigt. Aber als er ungefähr elf war, fing er an, richtig groß und stark zu wer den, und dann zahlte er es den meisten der Jungen heim, die noch da waren. Der eine Junge, der wirklich schlimme Junge na mens Kenny, der unter den härteren Kindern den Ton angegeben hatte, den hatte er dazu gezwungen, echt lange richtig furchtbare Dinge zu tun, und dann hatte er Kenny dazu genötigt, sich vor der ganzen Mannschaft selbst umzubringen. Das hatte sehr viel Spaß gemacht, weil es ihn nicht sofort in Schwierigkeiten ge bracht hatte. Es hatte ihm gefallen, in das Beerdigungsinstitut zu gehen und in einem Buch mit seinem Namen zu unterschreiben, und er war sogar zu dem Haus gegangen, wo Kenny eine Weile aufgewach sen war, und er hatte der alten Dame dort erzählt, wie leid ihm das täte und so, und daß er ein Freund von Kenny gewesen sei. Und er hatte ihr gesagt, wie schrecklich es doch war, daß Kenny verrückt geworden sei. Nachdem Kenny sich selbst umgebracht hatte, war er von keinem der starken Kinder mehr belästigt wor den. Dann hatten alle sechs Jungen der Bande einmal versucht, sich auf ihn stürzen, als er allein war. Da war er in größte Schwierigkeiten geraten, obwohl das doch reine Selbstverteidi gung war. Manche der Jungen waren hinterher ziemlich schlimm zugerichtet, und einer von ihnen war gestorben. Daniel hatte das eine Weile hinter Gitter gebracht. Er mochte das Gefängnis. Die Strafe abzusitzen, war über haupt nicht schlimm. Das Essen war wirklich gut, und er mochte seine Zelle. Das Steineklopfen machte ihm nicht allzuviel aus, und er verhielt sich als guter Gefangener, solange er hauptsäch lich unter Jugendlichen war. Seine Zeit riß er echt leicht ab. Erst als er verlegt wurde, begann der Ärger. Als er da zwischen die Schwarzen und die Hispanos und die älteren Weißen kam, brachte ihn das in schlimme Schwierigkeiten. Große Schwarze hatten versucht, ihn dazu zu zwingen, gewisse Dinge zu tun, und er hatte zwei von ihnen oben im Gewichtheberaum umgebracht 391
und einem dritten das Rückgrat gebrochen, als er ihn von der oberen Pritsche warf. Mit einer Geisel war er entkommen, und durch schieres Glück, obwohl er doch so auffällig war wie ein bunter Hund, hatten sie ihn lange nicht mehr gekriegt. Der große Mann schlief vierzehn Stunden lang, stand auf, duschte sich dreißig Minuten und kühlte seinen schmerzhaft ge schwollenen Knöchel. Er würde noch eine Nacht hierbleiben und vielleicht jemanden umlegen. Dann würde er sic h etwas Geld und ein Fahrzeug beschaffen. Keine Fußmärsche mehr, versprach er seinem Knöchel. An diesem Nachmittag kaufte er zwei Halb literflaschen Jim Beam, die er am Abend trank und wovon er halbbetrunken wurde, sowie einen 21-Stück-Beutel mit gebrate nen Hühnerteilen, ein Kilo Kohlsalat, zwei Dutzend Brötchen mit Butter und ein halbes Kilo Bohnengemüse. Als er das Mädchen bezahlte, dachte er, wieviel Spaß es machen würde, ihr die Kehle mit einem Rasiermesser durchzuschneiden und sie in der Bade wanne ausbluten zu lassen, während er in ihren schreienden Mund hinein masturbierte. Sie schien aber nett zu sein und sah ihn auch nicht komisch an. Er aß den Kohlsalat und die Bohnen mit einem kleinen Plastik löffel, als er auf seinem Zimmer saß und gläserweise puren Jim Beam auf Eis trank. Er trank manchmal gern Whisky, wenn er sich nicht gut fühlte, zum Beispiel, wenn ihm sein Knöchel weh tat. Auch wenn Whisky nicht so gut schmeckte wie kalte Milch oder Coke. Er fühlte sich meist besser, wenn er richtig gut geges sen hatte. Nachdem er beide Flaschen Beam weggeputzt hatte, ließ er sich auf die Laken sinken und erinnerte sich an die Hure, die er umgenietet hatte, etwa zwei Wochen, nachdem er zum er stenmal aus dem Kittchen geflohen war. Er schlief ein, während er darüber nachdachte, wie er sie getötet hatte. In dieser Nacht schlief er richtig gut, und am nächsten Tag stand er früh auf, bezahlte seine Rechnung, ging mit dem See sack in der Hand davon und wanderte ziellos die Hauptstraße entlang. Seinem Knöchel ging es besser, und er genoß es, lang sam dahinzuschlendern. Heute beachtete er keine Blicke, ließ sich aber schon bald in eine weniger bevölkerte Seitenstraße treiben und fand sich schließlich auf einer ruhigen, schattigen Wohn straße wieder, die schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Ein großes weißes Haus erregte seine Aufmerksamkeit, doch er 392
hatte kein gutes Gefühl dabei, und so ging er weiter. Trotzdem, es erinnerte ihn an etwas. Irgendeine vage Erinnerung an Kinder, die sich vor einem Spukhaus fürchteten. Er fand die Vorstellung, sich vor irgend etwas zu fürchten, sehr erheiternd. Nichts konnte ihm Angst machen. Aber wenn er die Sache genau überlegte, war ja auch er das Furchterregendste weit und breit. Ein Stück den nächsten Block entlang erregte ein kleineres, ge pflegtes, von der Straße zurückgesetztes Haus seine Aufmerk samkeit. Von den Bewohnern war kein Anzeichen zu sehen, doch er spürte, daß dort drin jemand sein würde, was auch tatsächlich zutraf. Er wollte, daß heute jemand zu Hause war, denn er hatte nicht mehr genug Geld für unterwegs. Er ging zur Haustür, klopfte und blickte sich dabei nach Nachbarn um. In einer sol chen Gegend gab es fast immer Leute, die alles beobachteten, aber das würde er miteinkalkulieren. Er hörte einen Hund bellen, beim Nachbarn oder hinter dem Haus, als eine ältere Frau an die Tür kam. »Ja«, sagte sie hinter der angeketteten Tür. Er hätte die Kette mit einem Finger zerreißen können, aber er wollte die Frau im Badezimmer haben. Hier ging es nicht um Spaß. Er brauchte Geld. Im Haus mußte er sich dann wohl beherrschen, denn er wußte, daß die Versuchung, in der Badewanne eine Blutflut an zurichten, sehr groß sein würde. »Ma'am es tut mir schrecklich leid Sie stören zu müssen aber mein Wagen ist ungefähr einen halben Block die Straße hinunter zusammengebrochen ... und ich habe versucht jemanden zu fin den der zu Hause ist damit ich mal das Telefon benutzen kann aber Sie sind die erste Person die an die Tür gekommen ist würde es Ihnen viel ausmachen wenn ich einmal ganz kurz das Telefon benutzen könnte es dauert wirklich nur eine Sekunde und wenn es Ihnen keine Umstände bereitet wäre ich wirklich sehr dank bar.« Die Worte kamen in einem Sturzbach. Er lächelte freund lich, wußte, daß er ein strahlendes, rosawangiges Lächeln hatte, das sein Doppelkinngesicht mit einer grübchenreichen Fastun schuld überstrahlte. »Würde es Ihnen zuviel Umstände machen wenn ich einmal reinkäme um Ihr Telefon zu benutzen Ma'am? Ich wüßte es wirk lich sehr zu schätzen.« Er konnte sich extrem gut und höflich ausdrücken. »Nein, ich . . . Kommen Sie rein«, sagte sie, ein wenig wider 393
besseres Wissen, schloß die Tür, fummelte an der Kette, die sie vor ebendiesen Störungen schützen sollte, und öffnete sie wie der, während sie ein Stück in den Flur zurücktrat. Der riesige Mann kam herein, für einen Menschen von solcher Körpermasse sehr behende, dabei sehr schnell redend und lä chelnd, wie er es immer tat, wenn er seine Opfer einlullte; er sagte jeden Unsinn, nur um die Gehirnwindungen der Frau mit einer Wortflut zu bedecken — damit ihr Verstand beschäftigt blieb, damit sie nicht allzuviel überlegen konnte. Er sprach mit ei ner angenehmen, tiefen Stimme, sprach schnell, aber leise und in einem höflichen, fast unterwürfigen Ton. »...nie wieder einen Gebrauchtwagen kaufen Ma'am und wenn ich ihn tausend Jahre lang abstottern muß noch mal kommt so etwas nicht vor wie mit diesem teuren Schrott von neulich ...« dröhnte er weiter und weiter, als er ihr gestattete, von der offe nen Haustür zurückzutreten, während er die Möglichkeit der Ge genwart anderer Leute im Haus zu erspüren versuchte. Die Frau ist jetzt nur noch daran interessiert, ihn zum Telefon zu bringen und so bald wie möglich wieder aus ihrem Leben zu schaffen, und sie fängt gerade an, auf das Telefontischchen zu zeigen, als ihr Alptraum beginnt. Plötzlich hängt sie mitten in der Luft, unter großen, plötzlichen Schmerzen, kämpft um Atem, als der riesige Mann eine gewaltige Pratze auf ihren Mund preßt und die andere auf den Hinterkopf legt. Unwillkürlich atmet sie durch die Nase weiter, doch im Augenblick weiß sie das nicht, weiß nur, daß sie wieder freikommen muß. Bunkowski trägt sie mühelos von Zimmer zu Zimmer, ignoriert ihr Sträuben mitten in der Luft und die matten Tritte, die er kaum spürt, überprüft schnell alle Zimmer, bis er zum Bad kommt. Er quetscht sich, die Frau immer noch in seinem zweihändigen Klammergriff, mit ihr zusammen durch die Tür und stellt sie mit seinen Schraubstöcken fest vor der Badewanne ab. Sie wehrt sich heftig, und für eine knappe Sekunde steigert er den Druck ein kleines bißchen, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, während er ihr Anweisungen erteilt. »Hören Sie mir gut zu, Lady. Hören Sie auf, sich zu wehren, dann wird Ihnen nichts geschehen. Sie passen ja gar nicht auf.« Er hat solche Dinge schon viele Male in vielen Situationen ge sagt. »Hören Sie! Ich werde Ihnen nicht weh tun, wenn Sie auf hören, sich zu sträuben. HÖREN SIE. Es wird Ihnen NICHTS ge 394
schehen, wenn Sie genau das tun, was ich sage. Ich will Ihnen nicht weh tun oder Sie vergewaltigen oder Sie in irgendeiner an deren Weise belästigen, aber Sie müssen genau das tun, was ich sage, sonst werden Sie sterben. Tun Sie, was ich sage, und Sie le ben weiter. Wenn Sie schreien«, fügt er drohend hinzu, »oder zu fliehen versuchen, werde ich Ihnen ganz schlimm weh tun. Ha ben Sie mich verstanden? Nicken Sie, wenn Sie das getan ha ben ... Okay. Nun werde ich Sie loslassen. Stehen Sie still wie ein Denkmal und hören Sie mir zu. Schreien Sie nicht. Ich werde die ses Handtuch um Sie legen, nur des Schamgefühls wegen. Dann werden Sie Ihre Kleider ablegen, mit dem Handtuch um sich. Ich werde nicht hinsehen oder Sie anfassen, es dient nur zu MEI NEM Schutz, damit Sie, wenn ich wieder gehe, nicht hinauslau fen und ...« Doch er sieht, daß es keinen Zweck hat. Die Erwäh nung ihrer Entkleidung hat sie verängstigt, und sie hat angefan gen, unbeherrscht zu schluchzen. Er versetzt ihr einen kleinen Hieb, für ihn ist es sein leisestes, sanftestes Liebesstreicheln, aber sie kann sich nicht erinnern, jemals einen solchen Schlag verpaßt bekommen zu haben. »Sie müssen aufhören zu weinen. Es gefällt mit nicht.« »Ja, Sir«, schnieft sie. »Bitte, Mister...« Sie hält den Atem an, das Schluchzen hat aufgehört, und er spricht im Flüsterton wei ter, brabbelt in seinem warmherzigsten Tonfall: »Okay. Vergessen wir das mit der Kleidung. Lassen Sie die Kleider an — okay? Ich weiß, daß ich Ihnen vertrauen kann.« Plötzlich mischt sich ein Geräusch dazwischen und ihr Mund ist wieder im Schraubstock seiner linken Hand versiegelt, die Tö tungshand ist an seiner rechten Seite erstarrt, während er die Tür mustert. Langsam dreht er den Knauf, weiß dabei aber schon, daß er niemanden dahinter zu Gesicht bekommen wird, blickt hinunter und lächelt beim Anblick eines kleinen Hunds, der krat zend Einlaß verlangt. »Ich habe den Hund nicht gesehen.« Er löst seine Finger, und sie atmet wieder, rückt ihr Gebiß zurecht. »Wenn er sich erschreckt, verkriecht er sich immer unter dem Bett.« »Guter Hund.« Daniel beugt sich vor, und der Hund weicht zu rück. »Wie heißt er denn?« »Sweetie.« Sie fängt wieder an zu weinen. 395
»Ich habe Ihnen gerade gesagt, daß ich Ihnen nicht weh tun würde — weshalb weinen Sie dann noch?« »Es funktioniert nicht... Ich weiß nicht.« Sie sackt zusammen. »Alles ist so ...« Er streckt den Arm aus und fängt sie auf, als sie zusammensackt, hindert sie daran, zu Boden zu sinken, als sie wieder in Tränen ausbricht. Er zerrt sie aus dem Badezimmer, zwischen seinen Füßen der kleine Hund, und läßt sie auf einen Sessel gleiten. »Reißen Sie sich zusammen«, befiehlt er. »Erst will er Sweetie umbringen, und dann kommen SIE ..'. und, und...« Sie kann anscheinend ihr Weinen nicht beherr schen, will aber nicht, daß er sie schlägt, und so begnügt sie sich mit einem Geräusch, das zwischen Schnaufen und Schluchzen liegt, sitzt da und verfällt in einen immer tieferen Schock. »Jetzt beruhigen Sie sich mal. Es wird Ihnen nichts passieren. Beruhigen Sie sich. Atmen Sie tief.« Der Hund sieht vom Gang aus zu. »Wer wird Ihren Hund umbringen?« »Diese Hippies von nebenan. Mr. Gordon da drüben. Er mag es nicht, wenn er bellt. Dabei ist es doch ein guter Hund. Er will doch gar nicht...« Und schon fängt sie wieder an. »Und Mr. Gordon lebt da drüben, ja?« Es gelingt ihr ein Nik ken in der Tränenflut. »Wer sind die Hippies?« »Da drüben ist gleich ein ganzer Haufen von denen. Die rau chen Rauschgift«, sagt sie. »Sie kommen auf den Hof und ärgern den Hund.« Sie erzählt ihm böse Dinge, die sie tun, und seine riesige Schultern heben und senken sich in einer Art Seufzen. Er führt sie in ihr Schlafzimmer, entdeckt einen Strumpf und hält ihn neben sein Bein, damit sie nicht in Panik gerät, wenn er sich ihr wieder nähert. Er kann kein Weinen mehr hören, und er will der alten Frau auch nichts tun. Das Geräusch bricht plötzlich ab, als er sie von hinten knebelt. »So«, sagt er und lächelt sein Grübchengrinsen. »Nun, Sie bleiben da sitzen und sind ein artiges Mädchen. Irgendwann wird jemand vorbeikommen und Sie losbinden. Ich gehe ej tzt. Und Sie haben vergessen, daß Sie mich je gesehen haben — okay?« Sie nickt, als er ihre Hände hinter ihr festbindet, sie ab sichtlich so verschnürt, daß sie, wenn sie ein wenig am Knoten nestelt, sich selbst wieder befreien kann. »Ich werde mich jetzt um Ihre Hippies kümmern, also seien Sie nicht dumm und rufen 396
Sie nicht die Polizei, sonst muß ich zurückkommen und Ihnen die Kehle aufreißen, okay?« Mit einem Nicken bestätigt sie, daß sie nicht einmal im Traum etwas so Dummes täte. Der riesige Mann spricht zu der Tür. »Lebwohl, Sweetie«, sagt er zu dem Hund, der nach wie vor zu ihm aufsieht und auf weitere Informationen wartet. Und so geht er und begibt sich nach nebenan. Er klingelt. Nichts. Er klopft. Nach einer Weile knurrt eine Männerstimme hinter dem Fliegen gitter. »Ja?« »Hallo! Mr. Gordon?« Chaingang dröhnt die Worte in seinem freundlichsten Basso-profundo. »Wie?« »Gratuliere! Ich bin Ed Frasson von American Magazines. Ihr Haushalt wurde ausgewählt und erhält eine Prämie über hundert Dollar zum Besuch in einem beliebigen Fitneßstudio, Rassmon zum Beispiel, oder einen Gutschein für einen Lebensmittelladen Ihrer Wahl. Sie brauchen nichts zu kaufen — wie gefällt Ihnen denn das zur Abwechslung?« Ganz faltiger, grübchengezeichne ter, strahlender Bär. »Ich will keine verdammten Illustrierten.« Daniel sieht langes Haar. Ein großer Mann ohne Hemd. »Nein, Sir! Keine Illustrierten, sondern jede freie Dienstleistung oder jedes Produkt Ihrer Wahl — beispielsweise freie Lebensmit tel. Darf ich vielleicht einen Augenblick hereinkommen?« Grüb chengezeichnete Unschuld und Not. »Hier ist ein Beispiel für eins der Geschenke, die Sie UMSONST bekommen, Sie brauchen nichts zu kaufen ...« Er öffnet eine der Illustrierten, die er vom Kaffeetisch der alten Dame genommen hat. Nur irgend etwas, um die Wachsamkeit abzulenken, während der Wasserfall aus Worten den Berghang herabstürzt und das Opfer überschwemmt. Etwa jedes zwanzigste Wort ist irgendein Unsinnslaut. Eine Rassmon- oder Frasson- oder Skranz-Floskel, und die KLINGT auch nach etwas, aber es ist der Ton, der sie an den Mann bringt. So dicht an der Aussprache eines richtigen Worts, wie es nur geht, aber verschliffen und gemurmelt und in den Strom der Sprache geworfen, um darin unterzugehen. Etwas, um zu ver wirren, zu betören, abzulenken; ein gepolterter, geholterter, ste ter Wortschleier der Täuschung, und nun ist es zu spät, als der Mann die Tür einen Spalt öffnet, um auf die aufgeschlagenen 397
Seiten zu blicken, und plötzlich besteht seine Welt aus stähler nem Grauen, und die Ein-Meter-Todesschlange aus Kettenglie dern, die in Danny Boys spezieller Stofftasche zusammengerollt war, hat ihn mit einem Kettenschnappen bereits aus seinem Au genblick der Furcht gerissen. Chaingang bewegt sich schon durchs Haus auf der Suche nach Hippies. Aber Daniel findet das schmutzige Heim bar jedes anderen menschlichen Lebewesens. Er fühlt sich jetzt so komisch in sei nem Kopf, als der warme Strom des Verlangens und der Wut ihn durchspült, also schleppt er Mr. Gordon in sein Badezimmer und wischt mit dem blutigen Schädel des Manns und seiner Haar matte die Wand entlang. Er trägt diesen schweren, unbewegli chen Mann, wie man eine Kiste Anmachholz schleppen würde, mühelos und ohne jede erkennbare Emotion — außer Hunger, Lust und Zorn. Im Bad ergreift er die leblose rechte Hand des Manns, zwingt sie über den Heißwasserhahn und drückt den Stopper in die ris sige Porzellanwanne, als das Wasser aus der Leitung hervor rauscht. Der langhaarige Mann trägt nur Levis. Keine Socken oder Schuhe an seinen schmutzigen Füßen. »Was dir fehlt, ist Seife«, murmelt Danny dem Mann zu. Fast liebevoll legt er einen Riegel Seife auf den Badewannenboden zu seinen Füßen und malmt eine der schmutzigen Hacken des gro ßen Manns so fest hinein, daß die Seife über den Wannenrand schießt. Er läßt Mr. Gordon in die Wanne fallen, das Gesicht nach unten, um ihn in heißem Leitungswasser zu ertränken, falls er noch kein Leichnam ist. Schon oftmals hat er Menschen auf diese Weise umgebracht, in Varianten; und es verlangt nicht mehr viel Konzentration. Er kennt alle Bewegungen, und sein vorauswissender Verstand, der Verstand eines körperlich Präkognitiven, jenes seltensten aller Wesen, dessen anomale Sensoren die gewöhnlichen oder >norma len< Grenzen des Bewußtseins übersteigen — dieser Verstand versichert ihm, daß er in keiner unmittelbaren Gefahr schwebt. Er öffnet Schubladen, durchwühlt wertlose Habseligkeiten, wirft Waffen weg, Pornographie, die Spielzeuge der Erwachse nen, Drogen, findet schließlich 47 Dollar und nimmt sich vierzig davon. Wie beschreibt man ein solches menschliches Ungeheuer? Was wissen wir über sein emotionales Gepäck, das verdrehte Verhal 398
tensmuster, die Neigungen eines mentalen Antriebs, das super normale/supranormale Intelligenzpaket, den Grad der Reife und die Schäden an der geistigen Maschinerie? Wie übersetzen wir seine neuropsychiatrischen Befunde in die Muttersprache? Ge nausogut könnten wir gewissermaßen das marsianische ins me trische System übersetzen. Welcher Teil von ihm wird bei der CT-Durchleuchtung zu sehen sein? Welcher Teil der atropischen Regionen wird auf Pneumoencephalographie reagieren? Werden die Zuckungen und scharfen Kurven und zerrissenen Ränder und gefährlichen Spit zen Daniel Chaingang Bunkowskis elektrische Spannung anzei gen? Werden die Elektrobeben dir sein wahres Porträt auf Milli meterpapier zeichnen? Was kannst du von diesem funktionierenden, aber fremden Organismus wissen, der unser Bruder ist? Ist er es wirklich? Ist er Mensch oder Frankenstein? Er hat gerade wieder getötet. Was spielt es für eine Rolle, ob es zum dreihundertsechsundachtzigsten oder zum fünfhundertdrit ten Mal geschah. Das sind Zahlen jenseits der Abermillionen, wenn damit Leben gezählt werden sollen. Zwei Leben bedeutet Grauen. Vier ausgelöschte Leben sind Massenmord. Wie sollen wir die brutale Barbarei im Hinblick auf die Leben, die er genom men hat, begreifen? Also bedenke, wenn du willst, daß das, was er jetzt tut, keinen Bezug zu irgendeiner Handlung haben kann, die du wiedererkennen würdest. Sein nächster Zug, so extrater restrisch er auch erscheinen mag, besteht lediglich darin, großen Hunger zu empfinden. Wenn ich zu dir vom Geschmack des Todes spreche, wirst du nichts davon auskosten. Kein Überbleibsel kupfriger Lust wird deinen Gaumen kitzeln; keine salzige, peptische Verheißung wird dich speicheln machen. Du hast sie nicht gekannt, kannst sie nicht kennen, wirst sie nicht kennen — die Freude, ein frisches Herz aus einem Opfer zu reißen und spitze Tierzähne in seine üppige, blutige Fülle zu schlagen. Nichts ist so wild oder so be friedigend, so verboten, so köstlich lieblich, wie das Herz eines Feindes. Er öffnet die Tür eines alten Kühlschranks, und folgendes regi striert sein Gehirn. Diet Cherry Coke Pet Kondensmilch Weight Watchers Margarine 399
Golden Farms Hüttenkäse Golden Farms pasteurisierte Milch — und er holt die Tüte her aus, schnüffelt daran und trinkt sie mit einem einzigen Schluck aus. Eier. Er holt sie hervor. Williams' Wurst. Er schlägt die Tür zu und geht umher, öffnet Schränke, bis er eine Pfanne findet. Alle neun Eier schlägt er hinein, dreht den Knopf am Gasherd auf >Stark<, entzündet ein Streichholz und damit den Brenner. Er ent deckt eine kleinere Bratpfanne, gibt alle Würste hinein und ent zündet einen weiteren Brenner. Er holt einen Spatel aus einer na hen Schublade, inspiziert ihn mäkelnd, wischt ihn ab, wendet nach einer Weile die Eier und Würste, und als sie gar sind, wirft er die Wurst in die Eierpfanne und beginnt gierig zu essen. Er findet etwas Salz und Pfeffer und verstreut es. Bricht mit ei nem Ruck einen Laib Landweizenbrot auseinander und verteilt die Hälfte einer Margarinedose auf zwei Brocken; bedeckt diese mit so viel von dem Ei-Wurst-Gemisch, wie es nur geht, und stopft sich alles in den aufgesperrten Mund. Er stöbert umher und findet etwas, riecht daran, entscheidet, daß es Honig ist. Holt den Hüttenkäse hervor, läßt den Honig in den Behälter laufen, rührt um und vertilgt das Gemisch mit zwei Mundvoll. Kaut nicht. Atmet ihn ein. Leert den Behälter in sein riesiges Loch, sei nen Haischlund, und schlingt alles mit einem lauten Schmatzen hinunter. Er findet Konserven und öffnet alles, dessen er habhaft wird; Nudelsuppe und Bohnen und Yamswurzeln und Dosenspaghetti und noch mehr Bohnen und wirft alles in einen großen Kessel und gießt den Rest des Honigs hinein und den Rest der Weight Watchers Margarine zum Zerschmelzen und kocht es aber ißt be reits bevor es gekocht ist. Chaingang findet eine Tüte Kartoffelchips und beginnt auch diese zu essen, aber sie sind schal, und er mag dieses Hippiefres sen nicht, und aus keinem besonderen Grund öffnet er die Kühl schranktür und uriniert hinein, versprüht tödlich riechenden gel ben Urin über die Gläser mit Pickles und Miracle Whip. Laut rülpsend nimmt er die schalen Chips und kehrt in das Wohnzimmer zurück, schaltet den Fernseher ein und läßt sich mit einem schweren Krachen auf den größten Sessel fallen, spuckt Chips aus, während er einer Frau in einem merkwürdig unpas senden Cocktailkleid zusieht, wie sie in einer der idiotischen 400
Spielshows, die die Menschen sich anschauen, Buchstaben um dreht. Er schmeckt sie im Geist, und als er sich reibt, bekommt er so fort eine Erektion. Er reibt seinen Penis ein paar Augenblicke lang, dann geht er hinüber und masturbiert ernsthaft, bis er auf den Fernsehschirm ejakulieren kann. Milchig weißes, giftig aus sehendes Sperma trieft am Bild eines Manns herunter, der die Frau in dem Cocktailkleid dümmlich anlächelt. Sie applaudiert und dreht weitere Buchstaben um, während das Sperma an ih rem fleckigen elektronischen Abbild herunterläuft. Vom Bidet in einem anderen Raum nimmt er eine Frauenbluse und kehrt in das Bad zurück, um sich neben dem Leichnam von Mr. Gordon zu entleeren. Mit der Bluse wischt er sich ab, dann mit dem Duschvorhang, wäscht sich sorgfältig die Hände und trocknet sie an der Küchentischdecke. Er denkt daran, das Haus zusammenzuschlagen, kann aber nicht genug Feindseligkeit auf bringen. Er fragt sich, wie lange es dauern wird, bis weitere Men schen kommen. Zuckt mit den Schultern. Seufzt. Und watschelt in den Sonnenschein hinaus, sagt zu den abwesenden, lärmen den Hippies, wer und wo immer sie sein mögen, sagt zu Mr. Gordon, sagt zu dem Haus, als er geht: »Neun von zehn Unfällen passieren im Haushalt.« Er lächelt. Er wird nicht zurückkehren und Mr. Gordon aufreißen und Sweeties Namen an die Wände schreiben, aber der Gedanke daran amüsiert ihn, als er verschwindet. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Ralph Tegtmeier
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NANCY A. COLLINS
Freakbabys Ein Stück in einem Akt Rollen JESSICA KNIGHT, eine Fotografin HARRY CABRINI, ein Jahrmarktsschausteller im Ruhestand FALLON, ein menschliches Nadelkissen RAND HOLSTRUM, der Häßlichste Mann der Welt SALLY HOLSTRUM, Frau des Häßlichsten Manns der Welt EIN HELFER COL. SMIDGEN, ein Zwerg DIE MONSTERBABYS
ERSTE SZENE Ein Jahrmarktszelt mit Mißgeburten. Während Jessica Knight draußen steht, sind die Zeltvorhänge geschlossen. Nachdem sie in das Zelt tritt, werden die Vorhänge zurückgezogen, um das Innere des Zehnmannzelts freizugeben. Gut sichtbar angebracht ein Transparent, das den Häßlich sten Mann der Welt ankündigt. Am Anfang der Szene ist der Lärm vom Hauptweg des Rummelplatzes zu hören. Jessica Knight betritt die Bühne von rechts. Sie trägt eine Fotoausrüstung. Aus dem Zelt sind die Stim men zweier sich streitender Männer zu hören. Als Jessica Knight näher kommt, treten Harry Cabrini und Fallon aus dem Zelt. Fallon verpaßt Cabrini einen Stoß, durch den Jessica Knight versehentlich auf den Hin tern fällt. FALLON:
Gottverdammter Pärrvärrser! Ich will deine häßliche Frat ze nicht mehr hier sehen, verstanden? Geh und verhökre deine Monster gefälligst woanders! Cabrini steht auf und klopft sich den Freizeitanzug ab. Sein Toupet sitzt leicht schief. Er ist wütend, fürchtet sich aber auch vor Fallon. CABRINI: Das wird dir noch leid tun, Fallon! Was glaubst du, wie
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lange Holstrum noch da sein wird? Wenn du erstmal nichts mehr zu fressen hast, wirst du noch angekrochen kommen und den alten Cabrini um Hilfe anwimmern! FALLON: Verdammt unwahrscheinlich! Nun verdrück dich, bevor ich die Helfer rufe!
Cabrini stakst davon, tut so, als würde er Jessica Knight übersehen, die ausgestreckt am Boden liegt. JESSICA KNIGHT: Was, zum Teufel...? Fallen, was ist hier los? FALLON (hilft ihr wieder auf die Beine): Tut mir leid, Süße. Wußte
nicht, daß du vor dem Zelt stehst. Komm rein, ich werd dir alles erklären.
Sie betreten das Mißgeburtenzelt. Dort stehen mehrere Podeste mit Stühlen. An jedem hängt ein Transparent, etwa >Col. Smidgen, d er Kleinste Soldat der Welt<; >die Fröhliche Jenny, die größte Sexbombe der Welt<, usw. Der Zwerg sitzt auf seinem Podest, raucht eine Zigarre und liest im Unterhemd in einer Zeitung. Fallon hat sein eigenes Po dest mit einem Tisch und einem Stuhl darauf. Auf dem Tisch stehen ei ne Flasche Whisky und ein paar Gläser, daneben Fallons Nadeln. Fal lon klettert auf das Podest und schenkt beiden etwas zu Trinken ein, während er die ganze Zeit mit Jessica spricht. FALLON:
Ich schätze, du möchtest gern wissen, was das für ein Aufstand war. Muß sagen, daß ich dir das nicht mal verübeln kann, so wie du dich auf den Arsch gesetzt hast. Das gerade eben war kein geringerer als Harry Cabrini, einer der widerlich sten Mistkerle im ganzen Geschärt, und das heißt schon etwas, das kannst du mir glauben! JESSICA KNIGHT: Cabrini? Was macht der denn? FALLON: Der verkauft Mißgeburten. JESSICA KNIGHT: Was meinst du damit? FALLON: Genau das, was ich gesagt habe. Was glaubst du denn, wie die überhaupt ins Geschäft kommen? Denkste vielleicht, die kommen einfach mal vorbeigefahren, wenn sie hören, daß ein Zirkus in der Stadt ist? Na ja, manche schon. Aber die mei sten Mißgeburten haben nicht zuviel dabei mitzureden, wo sie schließlich enden. Die meisten werden von ihren Eltern ver kauft. So ist Smidgen ins Showgeschäft gekommen. Hat seine Eltern nicht mehr gesehen, seit Eisenhower im Amt war. (an Col. Smidgen gewandt) Stimmt's, Smidge? SMIDGEN
(ohne den Blick von seiner Zeitung zu heben): Verdammt
richtig! 403
FALLON:
Siehste? Manchmal werden sie von den Ärzten verkauft, die sie behandelt haben. So ist Rand ins Geschäft gekommen. Bevor er der Häßlichste Mann der Welt wurde, lag er in irgend einem gottverlassenen Loch von Krankenhaus. Dann hat sein Internist gehört, daß ich eine Hauptattraktion suche und hat dafür gesorgt, daß ich Rand kennenlernen konnte. Dafür habe ich ihm einen Haufen Kohle zugeschoben, und ich habe kein bißchen davon bereut. Ich bin sicher, die sehen das nicht als >verkaufen<. Kommen sich wohl mehr wie Talentsucher vor. JESSICA KNIGHT: Du hast Mißgeburten richtig gekauft? FALLON (trinkt sein Glas aus und beginnt damit, seine Unterlippe, die Ohren, die Oberarme usw. mit langen Nadeln zu durchbohren): Nun beton das mal nicht so, als wäre es Sklaverei, Mädchen! Das ist eher eine Art Finderlohn! Ich zahle meinen Leuten ordentliche Löhne, und sie können kommen und gehen, wie sie wollen! Die Sklavenzeit ist längst vorbei. Aber Cabrini... Cabrini ist ein völlig anderes Kaliber. Cabrini ist kein Agent. Das ist ein Skla venhändler ... Jedenfalls meine ich das. Vielleicht irre ich mich. Aber die Mißgeburten, mit denen Cabrini ankommt... bei de nen stimmt irgend etwas nicht. Die meisten sind schwachsinnig. Oder schlimmer. Ich habe mal den Fehler gemacht, ihm vor ein paar Jahren einen eingelegten Fötus abzukaufen, und seitdem geht er mir auf die Nerven. Will mir einen von seinen lebenden verscherbeln und mir damit Ärger machen! Hier schau doch selbst, ob ich nicht recht habe. (Holt ein Polaroidfoto aus seiner Ge säßtasche und reicht es Jessica.) Er hat mir eins von seinen ver dammten Fotos dagelassen, »falls ich es mir anders überlege«. JESSICA KNIGHT (starrt das Bild mit krankhafter Faszination an): Mein Gott! FALLON: Siehste? Wo kriegt der eine so junge Mißgeburt her? Die meisten in diesem Alter sind heute doch entweder in staatli chen Heimen oder auf Sonderschulen. Wo ist ihre Mama? Und wie kommt es, daß er mehr als eine davon hat? Während Jessica über diese Frage nachdenkt, betreten Rand Holstrum und seine Frau Sally von links die Bühne. Seine linke Gesichtshälfte ist schrecklich geschwollen und deformiert. Seine Hände sind arthri tisch. Rand klingt wie John Hurt in Der Elefantenmensch. Er atmet geräuschvoll und hat Schwierigkeiten beim Sprechen. Sally trägt eine Rolle feinen Maschendraht und einen Hammer. RAND: Jessy. 404
(wendet sich zu Rand und Sally, um sie begrüßen): Rand! Schön, dich zu sehen! Wie lange ist das schon her? Ein Jahr? RAND: Wohl eher zwei! Du erinnerst dich doch noch an meine Frau, nicht? Während Rand sich mit Jessica unterhält, beginnt Sally damit, den Maschendraht zu entrollen und ihn vor Rands Podest anzunageln. Sie winkt ]essica zu, ohne den Blick abzuwenden, JESSICA KNIGHT: Natürlich. Hallo, Sally! FALLON (entfernt Nadeln aus seinem Fleisch): Hör mal, ich muß nach der Fröhlichen Jenny gucken. Sie ist mal wieder verliebt und ißt nichts mehr. Wenn ich nicht aufpasse, habe ich am Schluß noch eine dicke Dame mit Hungerödem! Das ist schlecht fürs Ge schäft! Mach es dir bequem! (Rechts ab) JESSICA KNIGHT: Danke, Fallon! Bis später! RAND (holt seine Börse hervor und zeigt Jessica Schnappschüsse): Habe ein paar neue für dich ... Randy ist jetzt Zahnarzt... Hat eine Praxis in Sheboygan ... Hier ist eins von June mit ihrem Mann und der kleinen Dee-Dee ... Die kann inzwischen schon das ABC aufsagen ... Klug wie sonstwas ... JESSICA KNIGHT: Wie die Zeit vergeht. Ach ja, ich bin heute auf so einen Kerl namens Harry Cabrini, äh, gestoßen ... SALLY (hört auf zu hämmern und blickt Jessica an): Cabrini ist hier? JESSICA KNIGHT: Das war er, aber Fallon hat ihn rausgeworfen. Ich weiß nicht, ob er noch da ist oder nicht... SALLY: Der sollte lieber nicht hier rumhängen! (schüttelt den Ham mer in Richtung Jessicas, um das Gesagte zu unterstreichen) Wenn ich diesen Schleimbeutel noch einmal hier ums Zelt herum schleichen sehe, zeige ich ihm, wo die Affen die tauben Nüsse hintun! RAND: Aber Sally... SALLY (beginnt wieder zu hämmern): Komm mir jetzt nicht mit »Aber Sally«, Rand Holstrum! Dein Problem ist, daß du viel zu gott verdammt nett bist! Selbst zu Leuten, die nichts anderes ver dient haben als das, was du einem Straßenköter antun würdest! Rand schüttelt den Kopf und nimmt auf dem Podest hinter dem Ma schendraht Platz. Weißt du, wobei ich diesen verrückten Arsch erwischt habe? Da komme ich gerade von Burger King zurück und sehe, wie dieser Vollidiot Rands Schädel abmißt! JESSICA KNIGHT
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RAND: Ich SALLY: Ja,
bin schon ... öfter abgemessen worden, Sal ... aber von Ärzten! Was hat so eine Dummbacke wie Harry Cabrini sich um diese Scheiße zu kümmern? (beendet ihr Häm mern und tritt zurück, um ihr Werk zu begutachten.) Was hältste da von? JESSICA KNIGHT: Sieht gut aus, finde ich. SALLY: Ums Aussehen geht es nicht. Gib mir mal die Flasche da. (zeigt auf eine am Boden liegende leere Bierflasche. Jessica reicht sie ihr.) Biste bereit, Liebling? RAND: Aber immer... Sally parodiert einen Baseballspieler, der einen Wurf vorbereitet, dann schleudert sie die Bierflasche auf ihren Mann. Sie prallt harmlos vom Maschendraht ab. RAND (einen Schiedsrichter imitierend): Du bist raus! Ein Helfer von rechts; er trägt eine Tüte voller Hamburger. HELFER: Habe die Burger mitgebracht, die Sie bestellt haben, Miß Holstrum. SALLY: Danke, Süßer! Bist ein Lebensretter! (nimmt die Burger und gibt dem Helfer etwas Geld. Helfer auf selbem Weg ab) Rand! Geh dich umziehen, Liebling. Wirst doch nicht den hübschen Smo king bekleckern wollen, den June dir zum Vatertag geschickt hat! Rand steigt vom Podest, links ab. Sally macht sich daran, einen Kar tentisch und eine Küchenmaschine aufzubauen. JESSICA KNIGHT: Äh, kennst du Cabrini schon lange? SALLY: Ich kann mich noch erinnern, wie er während des Korea kriegs sein eigenes Zehnerzelt hatte. Ein paar Jahre, nachdem sein Hauptdarsteller Pengo der Pinguinjunge an einem Schlag anfall gestorben ist, hat er sich zurückgezogen. Pengo war wirklich ein Klassenummer; er hat Klavier mit dem Gesicht ge spielt! Toller Typ. Cabrini dagegen ... Sagen wir mal, daß ihm keiner eine Träne nachgeweint hat, als er sein Zelt abbaute. Ich weiß nur, daß der Widerling in einem Wohnwagenpark an der River Road wohnt. (Beim Sprechen nimmt Sally die Burger und wirft sie in den Mixer. Sie gibt Flüssigkeit hinzu, mixt und gießt das Ganze in ein hohes Glas.) Hast du Lust, zum Essen zu blei ben? Rand erscheint ohne seine Smokingjacke. Sally reicht ihm das Glas. JESSICA KNIGHT: Diesmal nicht, Sal. Aber danke für die Einladung. Bis später, Rand! (Rechts ab.) 406
SALLY: So
ein nettes Mädchen! Wenn sie doch bloß einen Mann fände und ein Heim gründen würde! RAND: Na ja, Sally, kann ja nicht jeder soviel Glück haben wie du ... (Rand trinkt den Hamburgerbrei, während der Vorhang sich senkt.) ZWEITE SZENE Im vorderen Raum eines Wohnmobils. Es ist schmutzig, überall liegen leere Fastfood-Säcke und weggeworfene Hamburgerverpackungen; der Papierkorb ist voll von leeren Schnapsflaschen, das meiste davon billig, wenn nicht selbstgebrannt; die Aschenbecher quellen über vor Kippen. An den Wänden verblaßte Plakate aus Cabrinis Jahrmarktszelt, im Raum verteilt 20-Liter-Einmachgläser mit in Formaldehyd schwebenden mißgestalteten Föten. Die meisten sind zugedeckt, nur ein oder oder zwei kann man frei einsehen. Die Eingangstür befindet sich auf der linken Bühnenseite; als die Lichter angehen, hört man jemanden an die Tür klopfen. Während das Klopfen lauter wird, ertönt ein gedämpftes Miau en. Cabrini tritt ein, in einen schlechtsitzenden Freizeitanzug aus Syn thetik gekleidet, der so aussieht, als stamme er vom Wohltätigkeitsbasar. Er hat eine beginnende Glatze und schlechte Zähne. CABRINI:
Immer mit der Ruhe, verdammt! Komme ja schon! (dreht sich um und zischt in das Zimmer, das er gerade verlassen hat) Ruhe! Will keinen Mucks mehr von euch hören! Cabrini eilt zu einem alten Seekoffer, durchwühlt die Schubladen und verteilt Strumpfhalter und Socken in alle Richtungen, bis er ein Tou pet in Einheitsgröße hervorgezogen hat. Cabrini klatscht sich das Tou pet auf den Kopf, ohne in den Spiegel zu blicken. JESSICA KNIGHT: Mr. Cabrini? Hallo? Ist da jemand?
CABRINI: Ich habe doch gesagt, ich komme, verdammt! (Er öffnet die
an einer Kette befestigte Tür.) Wer, zum Teufel, sind Sie? JESSICA KNIGHTS STIMME: Mr. Cabrini? Mr. Harry Cabrini? CABRINI: Ja, ich bin Cabrini — aber was geht Sie das an, Lady? Ich kaufe keine Pfadfinderkekse! JESSICA KNIGHTS STIMME: Mr. Cabrini, mein Name ist Jessica Knight. Mr. Fallen hat mir erzählt, daß Sie . . . etwas haben, wo für ich mich interessieren könnte. CABRINI (öffnet die Tür und läßt Jessica eintreten): Kommen Sie rein, 407
verdammt! Will nicht gleich jede taube Nuß im ganzen Land mit Ihnen zusammen reinlassen! Jessica betritt den Raum, mustert ihn mit Abscheu. Cabrini beobachtet sie eindringlich. Sie sind das Mädchen, das Mißgeburten fotografiert. Flippo der Robbenjunge hat mir von Ihnen erzählt. JESSICA KNIGHT: Und Fallon hat mir von Ihnen erzählt. CABRINI: Ach ja? Schön, was wollen Sie, Lady? Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit. . . JESSICA KNIGHT (zeigt ihm die Polaroidaufnahmen von Fallon): Ein Fo to. Ich bezahle auch. CABRINI: Okay. Hundert Mäuse. Sonst heißt es Abschiednehmen. Jessica reicht ihm das Geld. Cabrini ist zufrieden, zvühlt in dem Durcheinander und holt zwei Gläser und eine Flasche billigen Fusel hervor. CABRINI: Ich bekomme nicht viel Besuch. Schätze, für Ihr Geld ha ben Sie auch was zu Trinken verdient. (Cabrini schenkt ein. Jessi ca nippt und schneidet eine Grimasse. Cabrini trinkt begeistert.) Wis sen Sie, ich hab schon ein paar von Ihrer Sorte im Geschäft ken nengelernt. Typen, die Fotos machen. Aber Sie sind die erste Frau, der ich begegne. JESSICA KNIGHT: Ich bin Berufsfotografin und sammle seit zehn Jah ren Aufnahmen von ... Jahrmarktsdarstellern. Ich möchte einen Bildband machen ... CABRINI: Sparen Sie sich die Puste für jemand anderen, Schwester! Schnaps bleibt Schnaps und Spanner bleibt Spanner! JESSICA KNIGHT (das Thema wechselnd): Wie haben Sie sie gefunden? CABRINI: Das geht Sie überhaupt nichts an! Sie wollen nur ein Bild. Was spielt es für eine Rolle, wo die herkommen? Die kom men von ganz normalen, gottesfürchtigen Eltern. Wie alle an deren. Genau wie Sie und ich. (Schenkt sich wieder ein.) Das Ge schäft mit Mißgeburten stirbt aus, wissen Sie. Schon seit dem Krieg. Die Leute wissen jetzt, wie Mißgeburten zustande kom men. Früher dachte man, das seien die fleischgewordenen Sün den der Eltern. Und daß sie deshalb keine Seele hätten. Daß sie keine richtigen Menschen wären. Verdammt, der Krieg hat so ziemlich alles vermasselt, was früher den Fisch an Land zog! Und als war das noch nicht schlimm genug, haben jede Menge Staaten Gesetze erlassen, in denen Mißgeburtenshows als an stößig eingestuft werden! Als ob es keinen Unterschied zwi 408
sehen irgendeiner Nutte gäbe, die mit den Titten wackelt, und einer Mißgeburt, die sich zur Schau stellt, um davon zu leben! Verstehen Sie mich nicht falsch. Es gibt immer Leute, die guk ken wollen. Ich denke, das ist so, weil sie sich dann besser füh len. Egal, wie verdammt scheußlich alles sein mag, wenigstens kann man die Straße entlanggehen, ohne daß den Leuten übel wird, nic ht wahr? Aber wer will schon dafür bezahlen, Zwerge zu sehen? Kleinwüchsige? Dicke Damen? Blöde? Klar, die sind schon ziemlich widerlich, aber sowas kriegt man doch täglich umsonst in der Glotze! Nein, wenn man heute wirklich weiter kommen will, muß man etwas bieten, was den Leuten echt Angst macht. Etwas, das sie schockiert! Etwas, das sie vergessen läßt, daß sie da einen Mitmenschen vor sich haben! Starker To bak, was? JESSICA KNIGHT: Äh, ich, na ja ... CABRINI (erwärmt sich für sein Thema): Hab davon gelesen, daß es früher in Europa solche Typen gab. Im finsteren Mittelalter. Diese Burschen hießen Monstermeister. Klingt gut, finden Sie nicht? Na ja, jedenfalls haben diese Monstermeister, wenn die Zeiten schwer waren und wenn es nicht genug natürliche Miß geburten gab, Säuglinge entführt... Das Miauen und Klopfen wird lauter. Und die haben sie dann in Spezialkäfige getan, damit sie ganz verdreht weiterwuchsen. Und sie haben ihnen Spezialmasken angelegt, damit sich ihre Gesichter auf bestimmte Weise ver formten, weil Säuglingsfleisch ja so zart ist und so ... Das Miauen wird noch lauter, Cabrini verliert die Fassung und schlägt gegen die Tür. Verdammt! Ich hab euch gesagt, ihr sollt euch beruhigen! Ich habe Gesellschaft hier draußen! Wo war ich stehengeblie ben ...? Ach ja . . . Manchmal haben sie Babys in Meerjungfrau en verwandelt, indem sie ihnen die Innenhaut der Beine ab schabten und die Beine zusammenbanden, damit sie miteinan der verwuchsen; das gab dann einen Schwanz wie bei einem Fisch. Manchmal haben sie sie bei lebendigem Leib gehäutet, an bestimmten Körperstellen, und haben die menschliche Haut durch Stücke von Hundefell ersetzt. Dann haben sie ihnen die Stimmbänder rausgeschnitten und ihre Gelenke ausgekugelt, damit sie auf allen vieren laufen mußten, wie ein Tier! Jeden falls kriegten diese Monsterbabys davon ziemliche Hirnschä 409
den, das heißt, jene, die nicht gestorben sind. Aber das war den Königen und den Päpsten und den anderen Scheißkerlen da mals völlig egal. Die haben die Mißgeburten waggonweise ge kauft! Monster als Haustiere! (Cabrini lacht und nimmt einen Schluck aus der Flasche.) Das waren noch Zeiten! Allerdings! Da mals gab es keine Mißgeburtenzelte. Aber das spielt keine Rol le. Es wird immer Mißgeburtenzelte geben. Die tragen wir nämlich mit uns rum, wo wir auch hingehen. (Tippt sich an Schläfe und grinst betrunken.) JESSICA KNIGHT (unruhig): Mr. Cabrini, es wird schon spät. CABRINI: Schätze, Sie wollen Ihr Foto schießen und abhauen. Das ist das Problem mit der Welt heute. Die Leute haben es immer eilig. Schön ruhig bleiben; werde mal sehen, ob ich nicht eins von denen rausschleppen kann, damit Sie eine Aufnahme ma chen können. Cabrini öffnet die Tür zum Zimmer der Monsterbabys und huscht hin ein. Das miauende Geräusch wird zu einem verschreckten Quieken, als ob er versuchte, ein Ferkel einzufangen. Man hört Cabrini herum poltern und fluchen. Währenddessen stochert Jessica in dem Müll, der im Wohnzimmer herumliegt, und findet eine Sado-Maso-Maske in Babygröße. Sie starrt sie angewidert, entsetzt und fasziniert zugleich an. CABRINIS STIMME: Verdammt, halt gefälligst still, du kleines Mist stück! KOMM SOFORT ZURÜCK, KLEINES — passen Sie auf die Tür auf! Das kleine Biest hat mich gebissen! Cabrini kommt wieder heraus, die Kleider unordentlich, das Toupet schräg, an seiner verletzten Hand saugend. Was soll ich sagen? Das sind gottverdammte Blöde. Wie die Tie re! Machen nicht hinter sich sauber. Reden nicht. Scheißen, wann ihnen gerade danach ist... Jessica dreht sich um, starrt Cabrini entsetzt an. Cabrini holt ein schmutziges Taschentuch aus der Tasche und wischt sich das Gesicht ab. JESSICA KNIGHT: Schon in Ordnung, Mr. Cabrini. Ich kann ja später wiederkommen, wenn sie nicht so . . . aufgeregt sind. CABRINI: (kommt auf Jessica zu): Was ist denn los, Mädchen? Wollen Sie denn gar kein Foto mehr? JESSICA KNIGHT : Natürlich will ich das ... Es ist nur, daß es schon spät ist und ich . . . äh . . . noch woanders hin muß . . . Ich komme später wieder, wenn Ihnen das recht ist. 410
CABRINI: Bei mir gibt's kein Geld zurück! JESSICA KNIGHT : (weicht rückwärts
zur Tür zurück): Nein, das ist schon in Ordnung! Sie können das Geld behalten ... Es macht mir nichts aus, ehrlich nicht! CABRINI: Wissen Sie, Sie sind richtig hübsch. Viel zu hübsch, um ihre Zeit damit zu verbringen, häßliche Dinge zu fotografieren. Warum tun Sie so etwas? JESSICA KNIGHT: Wie ich schon sagte, ich möchte einen Bildband ... CABRINI: Nee, das ist es nicht. Ich weiß, was Sie sind und was Sie wirklich interessiert! Sie sind alle gleich, egal, wieviel Bildung oder Geld sie haben! Einige von Ihnen sind Ärzte oder Journali sten. Andere sind Künstler, (feixt) Wie Sie. Fanden mich zum Kotzen, haben mich aber trotzdem für die Ehre bezahlt, meine Monsterbabys sehen zu dürfen! Sie behandeln mich doch alle, als wäre ich nur ein Puffbesitzer. Aber was sind Sie dann wohl, kleines Fräulein Künstlerin? JESSICA KNIGHT: Hören Sie, ich will jetzt nur weg ... CABRINI: Mißgeburten anzusehen, das macht Sie richtig heiß, nicht? Macht Sie richtig heiß und feucht, sie anzuschauen und zu wissen, wie schön Sie sind. Ist es das? (Er kommt immer nä her, bis er direkt vor ihr steht.) JESSICA KNIGHT: Nein! Sie irren sich! Das sehen Sie völlig falsch! CABRINI: Tue ich das? Cabrini grapscht Jessicas Haar und versucht, sie an sich zu reißen, um sie zu küssen, die andere Hand greift nach ihren Brüsten. Jessica tritt ihm gegen das Schienbein und zerkratzt ihm das Gesicht. Er torkelt zurück, wischt sich mit seinem Ärmel das Blut von der Wange. Sie gottverdammte Mißgeburt! Gottverdammtes Mißgeburten biest! Bevor Cabrini noch einmal nach ihr greifen kann, packt Jessica eines der Gläser mit den eingelegten Föten und schlägt es Cabrini auf den Kopf. Das Glas zerbricht, die Flüssigkeit und der konservierte Fötus fliegen durch die Luft. Die Monsterbabys quieken und miauen ängst lich. Jessica bleibt einige Sekunden über Cabrini, der auf den Boden ge stürzt ist, stehen, keuchend und zitternd. Sie blickt zur Tür der Mon sterbabys hinüber, dann wieder auf Cabrini. Nach kurzem Zögern beugt sie sich vor und nimmt den Hundertdollarschein, den sie Cabri ni gegeben hat, aus seiner Börse und flieht vom Tatort des Verbre chens. Es bleibt unklar, ob Cabrini tot oder bewußtlos ist. Hinter der Bühne hört man ein davonjagendes Auto. Die Beleuchtung wird ge 411
dämpft, obwohl noch genug Licht bleibt, um die reglose Gestalt Cabri nis zu erkennen. Nach ein paar Herzschlägen öffnet sich die Tür zum Zimmer der Monsterbabys, und ein paar kleine, verwachsene, haarige Gestalten kommen hervor. Es sind die Monsterbabys. Sie zögern, mi auen und wimmern in gedämpftem Ton. Dann berühren und pieksen sie Cabrini prüfend; schließlich zerren sie den Körper zurück in ihr Zimmer, wortlos miteinander jammernd. Hinter ihnen schlägt die Tür zu. VORHANG Aus dem Amerikanischen von Ralph Tegtmeier
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BRIAN HODGE
Krebs und Ratten »... fertig, Sandra? Kamera läuft, drei...« Sie war fest entschlossen, heute dabei zu sein, ganz gleich was passieren würde, und selbst wenn sie es nicht an einem Tag hinter sich bringen könnten. »... zwei...« Nur um sicherzugehen, daß er tatsächlich hinter Gitter wander te — er, der geschworen hatte, auf keinen Fall einzusitzen. Fast wie in dem alten Witz: Wir gehen zu seiner Beerdigung, um uns zu vergewissern, daß er auch wirklich tot ist. »... eins . . . « Völlig regungslos steht sie am Rand des Bildausschnitts im Su cher der Kamera. Der Hintergrund ist deutlich zu erkennen: ein Gebäude aus massiven Steinquadern mit korinthischen Säulen, viel zu wuchtig für etwas so Fragiles wie das Standbild der Justitia mit ihren verbundenen Augen. Sie ist jung, noch keine dreißig. Schlank, die Tüchtigkeit in Per son, die Frisur bewußt altmodisch; eine der Lieblingstöchter der Stadt, obgleich bloß adoptiert. Sie vorzustellen, erübrigt sich. Das wäre nur Zeitverschwendung. Je mehr Meldungen pro dreißigmi nütiger Nachrichtensendung — abzüglich Werbung, Sport und Wetter —, um so brisanter das Ganze. Und je mehr Brisanz, um so mehr Zuschauer und um so höhere Einschaltquoten. Angaben zu Person und Schauplatz werden nachträglich im Studio ein geblendet. Sandra Riley, ActioNews 8 Reporterin, vor dem Straf gericht. Mit dem Mikrophon in der Hand kommt sie ins Bild: »Die Schreckensherrschaft, die vor achtzehn Monaten begann, hat heute Nachmittag mit der Urteilsverkündung im Prozeß ge gen Darryl Hiller ihr Ende gefunden. Der sechsundzwanzigjähri ge Hiller, auch unter dem Namen Bandwurm bekannt, wurde vor fünf Wochen von einem Geschworenengericht des Mords und der Vergewaltigung in sechzehn Fällen schuldig gesprochen. Heute
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nachmittag hat Richter Thornton Steckler erwartungsgemäß die Höchststrafe verhängt: Lebenslänglich ohne Bewährung.« Sie strahlt gelassene Ruhe aus, beständig um die richtige Mi schung aus Kompetenz und Einfühlsamkeit bemüht — eben die ses gewisse Etwas, das später bei der Ausstrahlung, nach der Überarbeitung, dem Schnitt und der Einfügung zusätzlichen Ma terials die Zuschauer in ihren Bann ziehen wird. Es war, als stellte sie sich vor die Kamera und sagte: Was ich euch sage ist die Wahrheit, nicht mehr und nicht weniger. Und genau das ist es doch, was ihr hören wollt und was niemand so gut rüberbringt wie ich. Sandras Trick: Im Gegensatz zu ihren zahlreichen weniger er folgreichen Rivalen um die Gunst des Fernsehpublikums richtet sie ihren Blick nicht auf das Kameraobjektiv, sondern auf eine Stelle einen halben Meter dahinter, ein scheinbar völlig belanglo ses Detail, das jedoch ein ganz maßgeblicher Bestandteil ihrer un leugbaren Starqualitäten ist; etwas, das sie gewissermaßen mit Hilfe der Bildröhre in jedes Wohnzimmer der ganzen Stadt kata pultiert, als wäre sie dort leibhaftig zugegen. In Wirklichkeit muß das Urteil über Darryl Hiller erst noch ge sprochen werden. Sandra und ihr Team — Kameramann, Ton techniker und Redakteur — haben die Sequenz schon vorher auf genommen. Sollten sie sich mit ihrer Prognose getäuscht haben, werden sie das Ganze zum gegebenen Zeitpunkt noch einmal dre hen. Aber kein auch nur halbwegs vernünftiger Mensch kann sich vorstellen, daß der Bandwurm mit weniger als der Höchststrafe davonkommt. Vor der Urteilsverkündung ist das Gedränge vor dem Gerichtsgebäude noch nicht so dicht, und im Hintergrund herrscht weniger Trubel, der die Fernsehzuschauer von Sandra Ri ley ablenken könnte. Außerdem bleibt auf diese Weise nach der Urteilsverkündung mehr Zeit, um ergänzendes Material über die Hauptakteure bei diesem Medienereignis zusammenzutragen: kurze Filmausschnitte über die Anwälte, die an der Festnahme beteiligten Polizeibeamten und die Angehörigen der Opfer. Zuguterletzt wird Sandra Riley eine eigene Pressekonferenz ge ben, ein Ereignis, dem sie mit fast obszöner Vorfreude entgegen sieht. Ihre senderinternen Gegner und die Konkurrenten von den verschiedenen anderen Sendern haben sie bereits mehrfach der Sensationsmache beschuldigt — Vorwürfe, die ihr längst nur noch ein müdes Lächeln entlocken können, da sie sehr wohl weiß, daß nichts als Neid auf ihre Erfolge dahintersteckt. Schließlich sind 414
auch sie um Aktualität bemüht und versuchen genau wie sie, die Öffentlic hkeit auf schnellstmöglichem Weg über die neuesten Er eignisse zu informieren. Das einzige, wodurch sich Sandra von ih nen unterscheidet, ist, daß sie das auf ihre unnachahmliche Art tut: Sie bereitet die Ereignisse gewissermaßen für das Fernsehpu blikum zu und wirft sie ihm in mundgerechten Informationshäpp chen hin. »Doch selbst wenn jetzt die ganze Stadt erleichtert aufseufzt«, fährt sie fort, »ist mit diesem Gerichtsurteil der Gerechtigkeit nicht zum endgültigen Triumph verhelfen worden. Die Polizei hat noch immer keinerlei Anhaltspunkte, was die neue Serie von Ge walttaten betrifft, die vor etwa zwei Monaten eingesetzt haben und die alle die Handschrift des Bandwurms tragen, der zu die sem Zeitpunkt jedoch längst in Untersuchungshaft saß ...« Sandra macht es den Leuten schmackhaft, und Kevin, der Ka meramann, holt es in den Kasten. Sie greift hinter sich, löst den Walkman vom Gürtel ihres Rocks und zieht das Kopfhörerkabel unter ihrer Jacke hervor. Jedes Wort wurde vorher schon von ei nem Manuskript auf Band gesprochen, so daß sie den Text im Kopfhörer mithören und wörtlich nachsprechen konnte. Auf diese Weise erübrigt sich der Einsatz eines Teleprompters, und sie kann sich voll und ganz darauf konzentrieren, sich wie durch einen ge heimen Zauber durch das Kameraobjektiv in jedes Wohnzimmer der Stadt zu projizieren. Showbusiness in Reinkultur. »Stellen wir uns am besten vor Saal C auf«, sagt sie zu ihren Mitarbeitern, als diese ihre Sachen zusammenpacken. Im Ge richtssaal selbst sind keine Kameras erlaubt. Nervös steckt sich Sandra eine Zigarette an. Das Nikotin wirkt beruhigend auf ihren leeren Magen. Bis auf die Handvoll Erdnüs se, die sie sich zum Frühstück in den Mund schob, hat sie den ganzen Tag nichts gegessen, aber die Zigarette hilft ihr, das zu vergessen. Kevin legt die Kamera beiseite und richtet sich auf — ein gro ßer, gutaussehender Schwarzer mit Schnurrbart und Kastenfrisur. »Warum läßt du nicht endlich die blöde Qualmerei? Du weißt doch, daß du davon nur diese verräterischen Falten um den Mund kriegst, die sich vor der Kamera gar nicht gut machen.« Sie lächelt, zieht kurz in Erwägung, die Zigarette auszutreten, tut es dann aber doch nicht. »Bis es so weit kommt, ist meine Glanzzeit ohnehin längst vorbei.« Dabei wird ihr eine steile Kar 415
riere prophezeit; schon mit fünfunddreißig könnte sie eine leiten de Position bei einem der großen Networks bekleiden. Auf dem Bildschirm allerdings zählt nur Jugend; es gibt kein weibliches Pendant zu dem weisen alten Walter Cronkite und zu Harry Rea soner. Und ihre biologische Uhr tickt unaufhaltsam, was nichts mit ihrer Gebärfähigkeit zu tun hat. Um schneller an Ort und Stelle sein zu können, haben sie die Ausrüstung in Koffern verpackt, und Sandra hilft den anderen beim Tragen. Sie hat keine Starallüren, wenn die Kamera nicht läuft, und ihre Mitarbeiter wissen das sehr zu schätzen. Sie ist eine von ihnen. Sie selbst ist sich jedoch hinsichtlich der Lauterkeit ihrer dahintersteckenden Motive keineswegs so sicher. Auch Altruis mus kann sehr egoistische Gründe haben. Als sie die breite Treppe zum Eingang des Gerichtsgebäudes hochsteigen wollen, wird allen schlagartig klar, daß irgend etwas nicht stimmt. In den hallenden Korridoren des Gerichts wird auf geregtes Stimmengewirr laut. Sandra und ihre Männer stürmen die Stufen hinauf und holen im Laufen ihr Equipment heraus. Im selben Moment geraten sie auch schon in einen wilden Tumult. Aufgeregt durcheinanderrufend, drängen uniformierte Polizisten die umstehenden Schaulustigen zurück. Gerichtsdiener sprechen gehetzt in ihre Walkie-talkies. Ein von zwei Polizisten flankierter Gefangenenwärter deutet mit dem Finger zur Decke, als wolle er den Verlauf des Leitungssystems erklären. Ein weinender rothaa riger Mann in zerknitterter Gefängniskluft wird aus der Toilette geführt; die Handschellen, die er trägt, werden ihm abgenommen. Wenig später trägt man einen uniformierten Deputy auf einer Bahre aus der Toilette, sein Gesicht eine blutige, zur Unkenntlich keit entstellte Fratze; ein Polizist brüllt die Umstehenden an: »Zu rück, zurücktreten, zurück ...« »Weißt du, was hier los ist?« zischt Sandra dem Kameramann Kevin zu. Die Kamera balanciert auf seiner breiten Schulter. »Keine Ah nung.« Der Tontechniker drückt ein Mikrophon in ihre ungeduldig aus gestreckte Hand, und sie stürzen sich mitten ins Gedränge. San dra versucht, sich zu konzentrieren, den Ruhepunkt tief in ihrem Innern zu finden, der ihr selbst unter größtem Streß ermöglicht, Gelassenheit und Würde auszustrahlen. Sie kämpfen gegen das allgegegenwärtige Chaos an, um jemanden zu finden, der ihnen 416
sagen kann, was passiert ist. Aber tief in ihrem Innern weiß sie längst, daß dieser Aufruhr nur mit dem Mann zu tun haben kann, der geschworen hat, auf keinen Fall hinter Gitter zu wandern. Das Mikrophon in fast phallischer Aggression in jedes Gesicht mit nur halbwegs offiziellem Anschein haltend, wird sie immer wieder weiterverwiesen, bis sie schließlich eines jungen unifor mierten Polizisten habhaft wird, der vergeblich versucht, Ord nung in das Chaos zu bringen. »Können Sie uns sagen, was passiert ist?« fragt sie zum hun dertsten Mal. Gereizt wirbelt er herum, im Begriff, sie anzuknurren, sie auf zufordern, ihn gefälligst in Ruhe zu lassen. Aber er erkennt sie so fort — es ist sie —, und angesichts ihrer Berühmtheit ist seine ab weisende Haltung blitzartig verflogen. Er ist Wachs in ihren Hän den. Später wird er sich wegen seiner Fehleinschätzung der Lage und seiner Geschwätzigkeit eine ernste Rüge einhandeln. »Er ist entkommen! Darryl Hiller ist entkommen!« stößt er atemlos hervor. Sandra läßt sich den Schock nicht anmerken. »Wie ist das mög lich? Was ist passiert?« »Er... er hat zu seinem Wärter gesagt, er müßte mal auf die Toilette, aber ... aber was dann passiert ist, weiß ich auch nicht! Er hat seine Handschellen abgestreift, den Wärter niedergeschlagen und ihn mit seinen Handschellen gefesselt.« Er deutet auf den rot haarigen Mann. »Dann hat er sich dessen Kleider angezogen und ... und ist einfach verschwunden.« »Was heißt hier verschwunden?« »Er ist verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt, obwohl sich niemand erklären kann, wie das möglich ist.« Das Gesicht des jungen Polizisten ist bleich vor Angst. »Miß Riley... die Toilette hat nicht einmal ein Fenster!« Sieben Monate früher, im November: Sie kam kurz vor Mitternacht nach Hause. Wie üblich hatte sie einen langen und anstrengenden Tag hinter sich. Während sie im Lift zum sechzehnten Stock hochfuhr, ging sie die Post durch, teils adressiert an Sandra Riley, teils an Shanna Riley. Eigentlic h war letzterer Vorname ihr richtiger. Zu dieser Änderung hatte man sie gleich zu Beginn ihrer Fernsehkarriere gedrängt, weil sich Shanna zu sehr wie Sheena aus Königin des Dschungels anhörte, was einige 417
weibliche Zuschauerinnen möglicherweise als zu aggressiv und bedrohlich hätten empfinden können. Aber zumindest hatte man ihr die Wahl ihres neuen Vornamens selbst überlassen. Ihre Füße schmerzten, und anstatt ihrer üblichen hochhackigen Schuhe trug sie bequeme L.A. Gear-Tennisschuhe, wie sie das abends meistens tat, wenn sie auf ihr Äußeres nicht mehr so gro ßen Wert zu legen brauchte. Sie schloß die Wohnungstür hinter sich und sperrte die drei Schlösser ab, schlüpfte aus ihrem Mantel und ließ sich aufs Sofa plumpsen, einzige Lichtquelle eine Steh lampe mit warmem Schein. Ihre Wohnung stand in sympathisch chaotischem Kontrast zu ihrem bis ins kleinste Detail durchgestyl ten Fernsehimage. Überall lagen Stapel von Zeitschriften und Sachbüchern herum, Zeugen ihres unermüdlichen Kampfs, sich in allen wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens wie Politik und Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft auf dem laufenden zu halten. Dann ein paar Tränen — und Schmerzen im Unterleib. ActioNews 8 war ein Tummelplatz gigantisch aufgeblasener Egos und permanenter Umbesetzungen auf höchster Führungsebene. In seinem Gedicht >Das öde Land< hat T. S. Eliot den April als den grausamsten Monat bezeichnet, aber in diesem Punkt war Sandra anderer Meinung. Es war der November. Im November wurden die intensivsten Einschaltquotenermittlungen betrieben, und Ac tioNews 8 rangierte gegenwärtig unter den neun konkurrierenden Sendern an vierter Stelle. So konnte das nicht weitergehen. Als Reporterin und Wochenendmoderatorin hatte sie zwar nicht viel zu verlieren ..., aber doch genug. Natürlich war die ganze Stadt wegen der Morde außer sich. Ir gendein Irrer überfiel Frauen in ihren Wohnungen, fesselte sie, damit sie nicht weglaufen konnten, mit Klebeband, verklebte ih nen den Mund, damit sie nicht schreien konnten ... und klebte ih nen zum Schluß die Nase zu, damit sie nicht mehr atmen konn ten. Und während sie qualvoll erstickten, vergewaltigte er sie noch, bevor er sich aus dem Staub machte. Nach dem dritten Mord hatte sich ein Sprecher der Polizei zu dem Ausspruch hinreißen lassen: »Diesen Wurm werden wir schon fangen«, worauf die Medien umgehend mit dem Spitzna men Bandwurm für den Mörder zur Hand waren und damit dem Bedürfnis der Öffentlichkeit Vorschub leisteten, derlei abnormen Zeitgenossen eine griffige Etikettierung zu verpassen. Sandra hat 418
te gegen diesen Namen zwar erhebliche Vorbehalte, konnte aber dennoch nicht umhin, ihn zu benutzen. Vor dem Schlafengehen noch ein kurzer Blick ins Fernsehpro gramm. Doch als Sandra nach der Fernbedienung griff, die sonst immer auf dem Couchtisch bereitlag, merkte sie, daß etwas fehlte. Die Fernbedienung war verschwunden. Im selben Augenblick ging wie auf ein geheimes Zeichen der Fernseher an. In einem Anfall von Panik wirbelte sie herum. Und sah ihn aus dem dunklen Flur in den Wohnraum kommen, in der einen Hand die Fernbedienung, in der anderen ein Messer. Ihr war sofort klar, wen sie vor sich hatte. Die Rolle Klebeband, die wie ein Armreif von seinem Handgelenk baumelte, bestätigte ihr nur, was sie längst wußte. Sandra stürzte in Richtung Tür, aber er kam ihr zuvor und ver sperrte ihr den Weg. Zurück zum Sofa, gab er ihr mit einem Wink des Messers zu verstehen, und gegen ihren Willen gehorchte sie. Lächerlich. Fügsamkeit hatte ihre sechzehn Vorgängerinnen nicht gerettet. Das Gefühl des Ausgeliefertseins war grauenhaft. »Ich bin nicht deswegen hier«, beruhigte er sie. »Bitte, haben Sie keine Angst.« Unter Hochspannung stehend, ließ sie sich auf das Sofa nieder sinken. Er nahm in einem Sessel Platz. Sie hielt nach irgendwel chen Verteidigungswaffen Ausschau, nach einer Fluchtmöglich keit. Doch nichts im ganzen Raum sah auch nur annähernd so be drohlich aus wie das Messer in seiner Hand. Im Schlafzimmer al lerdings ... Er deutete auf den Fernseher und den Videorecorder. »Sie neh men die Nachrichtensendungen der Konkurrenz auf und sehen sie sich an, wenn Sie nach der Arbeit nach Hause kommen?« Er schien sehr zufrieden über seine Schlußfolgerung. Sie nickte und beobachtete ihn, mühsam um Beherrschung rin gend. Das einzig Außergewöhnliche an ihm war seine absolute Normalität. Identität und Aussehen des Bandwurms hatten zu zahlreichen Spekulationen Anlaß gegeben, und dies um so mehr, als er niemanden am Leben gelassen hatte, um ihn zu beschrei ben. Er war jung, Mitte zwanzig, hatte dünnes, blondes Haar und die ungesunde Blässe einer Person, die bis spät in die Nacht hin ein vor dem Fernseher sitzt. Aus seinen wachen Augen sprachen kühle Rationalität und Intelligenz, jedenfalls keine Spur von fieb rig flackerndem Wahnsinn. 419
Allerdings muß er kräftiger sein, als er aussieht, schoß es ihr durch den Kopf. Durch die Wohnungstür konnte er nicht gekommen sein. Demnach mußte er sich von Balkon zu Balkon sechzehn Stockwerke hochgeschwungen haben. »Wirklich verdammt clever, die Nachrichten der anderen Sen destationen aufzunehmen. Tut mir leid, daß ich Ihre Kassette rausnehmen mußte, aber ich habe sie vorher zurückgespult. Schließlich müssen Sie sich über die Konkurrenz auf dem laufen den halten.« Er nickte, spielte ein bißchen mit dem Messer herum. »Was wollen Sie?« Ihre Stimme, zitternd vor Anspannung, war so ganz anders, als sie die Fernsehzuschauer kannten, wenn sie auf dem Bildschirm die neuesten Tagesereignisse kommentierte. »Ich habe eine eigene Kassette mitgebracht, die ich selbst ge schnitten habe. Sie heißt Sex, Tod und Video. Sehen wir sie uns doch einfach mal an.« Er drückte auf die Fernbedienung, und der Videorecorder schaltete sich ein. Sie spürte, daß er sie keine Se kunde aus den Augen ließ. Er durfte ihr nicht trauen, nein, das durfte er auf keinen Fall. Auf dem Bildschirm ein kurzes Flimmern. Und dann: ...sie selbst Sandra Riley blitzschnell aneinandergeschnittene Bilder von ihr an den Schauplätzen der verschiedenen Verbrechen Szene an Szene Wechsel der Jahreszeiten ersichtlich am Wechsel der Garderobe ihre professionelk Einfühlsamkeit stets die gleiche »Das ist Sandra Riley« weinende Ange hörige frustrierte Polizisten zuckende Rotlichter und mit gelbem Plastik band abgesperrte Tatorte »Wir fangen den Wurm« Kurzcharakteristiken der Opfer Schwarzweißfotos von jungen Frauen die nicht mehr atmen »Das ist Sandra Riley« akademischer Neo-Freudianer mit grauem Bart ein Persönlichkeitsprofil des Mörders von sich gebend dann Material von älteren Morden älteren Tatorten Tode durch Erschießen Erwürgen Erste chen durch Schläge mit einem stumpfen Gegenstand wegen der höchst unterschiedlichen Methoden nie miteinander in Zusammenhang ge bracht beängstigende Kavalkade sprunghafter Schnitte »Das ist Sandra Riley« sie selbst am Wochenendkommentatorentisch »ActioNews 8, das ist Sandra Riley« dasselbe Schlußbild in blitzartiger Wiederholung San dra Riley/Sandra Riley/Sandra Riley/Sandra Riley/Sandra Riley... Flimmern und Rauschen. »Was ... was soll das?« stieß sie gepreßt hervor. »Muß ich Ihnen das wirklich erklären?« Er sah sie ernst an. »Es ist mein Expose.« Sandra Riley, fassungslos, stumm. Etwas nie Dagewesenes. 420
»Begreifen Sie denn noch immer nicht?« fuhr er fort. »Ich möchte mit Ihnen zusammenarbeiten.« Sie zog sich ganz in sich zurück, versuchte, sich zu beruhigen. Das ist nichts Persönliches, überhaupt nichts Persönliches. Jedes Überleben hing davon ab, zwischen Persönlichem und Berufli chem eine klare Linie zu ziehen. Und in beruflicher Hinsicht war sie unschlagbar. Erst vergangenen Herbst hatte sie eine Live-Re portage über die Behinderten-Olympiade gemacht und war bei ei nem Baseballmatch im Pullover auf der Tribüne gesessen. Unter den zahlreichen Regeln und Geboten der Fernsehberichterstat tung gab es nur eine Todsünde: Du sollst auf Sendung nicht aus der Fassung geraten. Sandra war die Ruhe in Person gewesen, als sie, umringt von einer Gruppe behinderter Kinder, auf der Tribü ne saß und ihren Kommentar live in die Kamera sprach. Kaum war sie jedoch zurück in der Pressekabine, hatte sie plötzlich wie eine Verrückte zu kreischen begonnen und sich unter wilden Ver renkungen zwei Heuschrecken aus ihrem Pullover geholt. »Mit Ihnen zusammenarbeiten?« wiederholte sie ruhig. »Wie so?« »Immerhin könnte ich Ihnen eine Menge Informationen be schaffen. Damit mich alle kennenlernen. Sie haben doch noch kaum an der Oberfläche gekratzt. Es ist, als . . . bewunderten sie das Gemälde, ohne den Maler zu kennen.« Er stand auf, plötzlich wesentlich lebhafter, und begann mit dem Messer aufgeregt durch die Luft zu fuchteln. »Sehen Sie doch nur, was ich bereits für Ihre Karriere getan habe! Und umgekehrt: Was Sie für mich getan ha ben!« Sie fing seinen Blick auf. »Ich bin keineswegs die einzige, die über Sie berichtet hat. Das haben alle anderen auch getan.« Das tat er mit einem gereizten Zucken der Klinge ab. »Stümper, alles Stümper.« Er ging vor ihr auf die Knie, als wollte er ihr einen Heiratsantrag machen. »Im Gegensatz zu denen beherrschen Sie Ihr Handwerk perfekt. Sie sind einsame Spitze. Ich sehe mir die Fernsehberichte über mich jeden Abend an — ja, jeden Abend —, und Sie sind die einzige, die es schafft, daß ich mich wieder in meine Gefühle im Moment der Tat zurückversetzen kann. Wenn ich Sie am Tatort stehen sehe — da, wo auch ich vor kurzem ge standen habe —, dann kann ich es riechen, ich kann es schmek ken, ich fühle mich wieder genauso, wie ich mich dort gefühlt ha be . . . , denn Sie kommen einfach durch den Bildschirm, nehmen 421
mich an der Hand und führen mich zurück an den Ort meines Wirkens.« Was habe ich denn da nur angestellt . . . ? schoß es ihr durch den Kopf. »Glauben Sie mir — wenn man Sie im Fernsehen sieht, spürt man ganz instinktiv, daß Sie wissen, worauf es ankommt, wenn man die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich len ken will. Niemand beherrscht diese Kunst so gut wie Sie. Ich muß gestehen, daß ich am Anfang eine Spur zu gerissen vorgegangen bin; ich habe mich jedesmal einer anderen Methode bedient, was jedoch den Nachteil hatte, daß niemand auf die Idee kam, die Morde miteinander in Verbindung zu bringen. Aber ich habe aus meinen Fehlern gelernt.« Mit einem wissenden Zwinkern tippte er sich an die Schläfe. »Ich habe mir sozusagen ein Markenzei chen zugelegt. Und jetzt kennt mich die ganze Stadt. Genau, wie alle auch Sie kennen.« »Und wie haben Sie sich nun unsere Zusammenarbeit vorge stellt?« Sieh zu, daß er weiterspricht, daß er sich in seinen eigenen Gedanken verliert. »Und vor allem: Was für Vorteile würden mir daraus erwachsen?« Wie ein kleiner Junge vor der Weihnachtsbescherung befeuch tete er sich aufgeregt die Lippen. »Ich könnte Sie anrufen und Ih nen sagen, wo ich gerade war. Dann wären Sie vor allen anderen da. Sie wissen schließlich am besten, worauf es ankommt.« Sie verwickelte ihn in ein Gespräch über Detailfragen: ihre Zeit einteilung, moralische Grundsätze ihrer Zusammenarbeit — kurz um, sie sprach aufs Geratewohl alles an, was ihn in dem Glauben bestärken würde, daß sie ernsthaft in Erwägung zog, auf seinen Vorschlag einzugehen. Als ihn die Hoffnung auf die Erfüllung sei ner Träume von unvergänglichem Starruhm vollends hatte Feuer fangen lassen, legte sie den entscheidenden Köder aus: »Warum machen wir nicht schon mal ein Background-Feature? Jetzt gleich.« Obwohl sie unter ihrer sachlich-professionellen Fas sade einer Panik nahe war, deutete Sandra ganz beiläufig auf die Videokamera in dem Durcheinander von elektronischen Geräten neben dem Fernseher. »Erzählen Sie mir einfach ein bißchen über sich selbst.« »Aber sicher. Gern. Gute Idee.« Doch plötzlich erstarrte er, als wittere er ihre Hintergedanken. »Aber sorgen Sie dafür, daß mein Gesicht im Dunkeln bleibt. Ich möchte nicht, daß jeder weiß, wie 422
ich aussehe. So ist das beim Fernsehen doch in solchen Fällen durchaus üblich.« Sie ging die Kamera holen, legte eine Kassette ein und über prüfte die Ladung des Akku. Dann faßte sie sich ein Herz und schleuderte die Kamera mit aller Kraft nach dem Kopf des Band wurms. Das laute Splittern von Plastik, gefolgt von einem wüten den Aufschrei. Im selben Moment stürmte sie bereits ins Schlafzimmer — Gott sei Dank hatte sie ihre Tennisschuhe an —, ließ sich neben dem Nachttisch zu Boden fallen, riß die Schublade auf, zog den 32er Colt heraus und zielte damit auf die Tür, durch die er sich, brül lend vor Wut, mit gezücktem Messer auf sie stürzte. Zielte auf seinen Kopf... Und mußte zu ihrer Verblüffung feststellen, daß sich ihr profes sionelles Ich weigerte, sich den elementaren Forderungen ihres Überlebenstriebs zu unterwerfen. Bring ihn um, und die Sache hat sich. Laß ihn am Leben, und die Festnahme, der Prozeß, die Urteilsverkündung ... das Interesse der Öffentlichkeit an dem Fall wird unerschöpflich sein. Wenn sie das Ganze richtig anpackte, sich vielleicht eine Programmlücke damit erkämpfte, konnte sie sich berechtigte Hoffnungen machen, von ihrem Job als Reporte rin eines Lokalsenders zur Korrespondentin einer der großen, lan desweit tätigen Sendeanstalten aufzusteigen. Sie glaubte den da mit verbundenen Karrieresprung bereits ganz deutlich vor sich se hen zu können. Also zielte sie auf sein Bein. Und schoß zweimal. Wie die Geier lauern Sandra Riley und ihr Team sowie die restli che Journalistenmeute stundenlang vor dem Gerichtsgebäude, bis auch das letzte Restchen an neuen Informationen ergattert und verschlungen ist. Von Darryl Hiller fehlt jede Spur. Die einzige einleuchtende Erklärung — daß es ihm irgendwie gelungen ist, von der Toilette in das Entlüftungssystem des Gerichtsgebäudes zu gelangen — hat sich als unhaltbar erwiesen. Darryl Hillers Ver schwinden hätte sogar einem Harry Houdini alle Ehre gemacht. Die brauchbarsten Informationen stammen von einem Mann, der seinen Namen mit Reggie Blaine angegeben hat — es ist der gedrungene rothaarige Gefangenenwärter, der auf der Toilette von Hiller angegriffen wurde, nachdem sich dieser befreit und sei 423
nen Bewacher mehrmals mit dem Kopf voran in ein Waschbecken gerammt hatte, bis sein Gesicht zur Unkenntlichkeit entstellt war. Blaines beängstigenden Ausführungen zufolge hatte ihn der wahnsinnige Serienmörder gezwungen, die Kleider mit ihm zu tauschen, und anschließend war er mit seinen Handschellen in ei nem der Kloabteile festgekettet worden, um nicht sehen zu kön nen, wohin Hiller verschwand. Sobald es ihr Zeitplan erlaubt, genehmigen sich Sandra und ihr Team in einer von zahlreichen Fernsehleuten frequentierten Bar namens Turnstiles den ersten, wohlverdienten Drink am Ende ei nes arbeitsreichen Tages. Die warme Atmosphäre, geprägt von poliertem Holz und Messing, übt eine ausgesprochen beruhigen de Wirkung aus. Hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Trotzdem kommt es an diesem Abend nicht, wie sonst üblich, zu dem vor Witz und Zynismus sprühenden verbalen Schlagab tausch. Diesmal drehen sich die Gespräche um ernstere The men. »Warum willst du nicht, daß wir dich heute abend nach Hause bringen?« dringt Kevin in sie. Sein dunkles Gesicht, sonst immer gut gelaunt, ist diesmal von Sorgen überschattet. Energisch schüttelt Sandra den Kopf. »Danke, aber ich komme schon allein zurecht.« »Angenommen, er taucht wieder bei dir auf. Du mußt doch ganz oben auf seiner Liste stehen.« Ihre Hand sucht Halt an ihrem Margarita-Glas. »Die Polizei hat mich bereits angerufen. Ich habe nichts zu befürchten. Sie lassen das ganze Haus überwachen.« Kevin zuckt mit den Schultern. »Trotzdem könnte es nicht scha den, wenn du heute abend nicht allein bist. Es macht mir be stimmt nichts aus. Du hast doch eine bequeme Couch. Auf der kann ich problemlos schlafen.« Sie streicht ihm über den Handrücken, dankbar, zärtlich. Er ist vermutlich der beste Freund, den sie auf der ganzen Welt hat, und doch läuft alles, was sie sich beruflich ersehnt, darauf hinaus, daß er ihr eines Tages zum Abschied nachwinkt, wenn sie auf Nim merwiedersehen zu neuen und größeren Taten nach New York aufbricht. Manchmal kommt sie nicht umhin, sich zu fragen, wer hier eigentlich wirklich Verbrecherinstinkte hat. »Er wird nicht zurückkommen«, sagt sie bestimmt. »Das wird er ganz bestimmt nicht.« 424
»Woher willst du das wissen? Bei so einem Irren kann man doch nie sicher sein.« »Er wird nicht wieder auftauchen.« Der Margarita ist eiskalt, salzig, mit einer angenehm betäubenden Wirkung. »Er hat bereits alles von mir bekommen, was er wollte.« »Und was war das, Sandy?« Voller Scham darüber, auf einen so plumpen Trick hereingefal len zu sein, senkt sie den Kopf. Und seufzt. »Ein öffentliches Forum.« Vier Wochen früher, im Mai: Darryl Hiller war nicht weniger interessiert daran, endlich ein mal der Stille seiner Gefängniszelle entrinnen zu können, als die Behörden daran interessiert waren, vielleicht herauszufinden, was für Beweggründe ihn zu diesen grauenhaften Morden getrieben hatten. Aber nur unter einer Bedingung: Er war nicht bereit mit jemand anderem zu sprechen als mit Sandra Riley, seiner Mento rin. Bei ActioNews 8 schaltete man blitzschnell und setzte alle He bel in Bewegung, um eine entsprechende Genehmigung von sei ten der Polizei und der Staatsanwaltschaft zu erwirken, deren vordringlichste Forderung war, das Interview erst nach dem Pro zeß zu führen, um durch die damit verbundenen Enthüllungen Hiller nicht die Möglichkeit in die Hand zu spielen, die Geschwo renen bei seinem Prozeß wegen Befangenheit ablehnen zu kön nen. Sandra hatte mittlerweile die Nachwirkungen des Schocks, den die Begegnung mit dem Bandwurm für sie bedeutete hatte, so weit überwunden, daß sie bereits mit dem Gedanken spielte, eine ganze Abfolge von Fernsehberichten über den gefürchteten Serienkiller zu machen. Das Interview wurde in einem sterilen, spärlich möblierten Raum des Bezirksgefängnisses geführt. Kevin stellte zwei Kame ras mit Scheinwerfern und Reflektoren auf; der Tontechniker steu erte die Mikrophone aus. Als letzter trat Darryl Hiller ein, Hände und Füße in Ketten und für den Fall, daß er auf dumme Gedanken kommen sollte, von zwei finster dreinblickenden Deputies be wacht. »Kamera läuft. Drei, zwei, eins ...« »Ich verzeihe Ihnen«, war das erste, was er zu ihr sagte. »Ich bin Ihnen nicht böse, daß Sie mich den Behörden übergeben ha ben. Zugegebenermaßen war ich natürlich erst etwas enttäuscht. 425
Aber inzwischen ist mir klargeworden, daß es so und nicht anders kommen mußte.« » Wollten Sie vor einem halben Jahr tatsächlich gefaßt werden?« fragte sie. Er schüttelte den Kopf, Visionen vor Augen, die außer ihm kei ner der Anwesenden erschauen konnte. »Nein.« Ein Lächeln. »Aber es mußte so sein. Ich war so weit gegangen, wie ich nur ge hen konnte, ohne meine Anonymität preiszugeben. Ich mußte ei nen Schritt weitergehen. Zur nächsten Stufe. Und jetzt?« Er strahlte. »Jeder kennt Darryl.« Sandra fand, daß er beängstigend normal und durchschnittlich aussah auf seinem Stuhl, auf der anderen Seite des Tisches. Noch immer blaß. Sein kurzgeschorenes Haar verlieh ihm etwas selt sam Jungenhaftes. Sein Gesicht wirkte noch immer nichtssagend und vollkommen gewöhnlich. Nur eine kleine Narbe auf seiner Stirn erinnerte an den Treffer mit der Videokamera. Seine Hände spielten auf dem Tisch herum, mehr aus Langeweile, fand sie, als aus Nervosität. Sie hielt es für besser, ihn einfach drauflos erzäh len zu lassen, anstatt zu versuchen, seine Gedanken in bestimmte Bahnen zu lenken. Sie hatten jede Menge Filmmaterial zur Verfü gung. Er erzählte alle möglichen Geschichten aus seiner Kindheit. Was war damals schiefgelaufen? Alles. Nichts. Noch in der Grundschule hatte er nachts häufig ins Bett gemacht, und zur Strafe hatte ihm seine Mutter seinen Penis jede Nacht am Bauch festgeklebt. Wenn er ihn losgerissen hatte, schlug sie ihn am nächsten Morgen. Doch plötzlich lachte er und sagte, das hätte er sich nur ausgedacht. Es war unmöglich, festzustellen, was nun tatsächlich der Fall war. »Sechzehn junge Frauen vergewaltigt und erwürgt«, warf San dra an einem Punkt des Gesprächs ein. Genau im richtigen Maß schockiert, aber in keiner Weise ausfallend. Absolut professionell. » Warum haben Sie das getan? Was hat Sie dazu veranlaßt?« Er legte den Kopf in den Nacken und ließ den Blick über die Decke wandern. Es war eine Marotte von ihm, jeden Blickkontakt zu vermeiden, wenn er antwortete. »Das Schlimmste, was sich ein Mensch selbst antun kann, ist Anonymität. Es frißt einen Menschen von innen heraus auf, wenn er zu lange in einer bedeutungslosen, vollkommen nichtssagen den Existenz verhaftet bleibt, in der er absolut nichts Bleibendes 426
schaffen kann, sei es nun im positiven oder im negativen Sinn. Das ist kein Leben, sondern lediglich ein Dahinvegetieren. Nie mand sollte zu einem Leben in Anonymität verdammt sein. Und ich? Ich hatte den Mut, aus meiner Anonymität auszubrechen. Nicht mehr und nicht weniger. Ich meine ... aus welchem anderen Grund hätte ich das sonst alles getan? Ich habe kein Mittel gegen Krebs oder Pickel erfunden. Ich kann den Staatshaushalt nicht wieder ins Lot bringen. Ich bin nicht Tom Cruise, für dessen neue sten Film die Leute an den Kinokassen Schlange stehen. Folglich mußte ich mir etwas anderes einfallen lassen. Ich habe mich der mir zur Verfügung stehenden Mittel bedient.« Endlich wieder Blickkontakt. »Und Ihrer. Sie haben mich inspiriert. Denn Sie ha ben das, was Sie tun, zu einer wahren Kunst erhoben. Sie wissen, was es heißt, öffentliches Eigentum zu sein.« »Halten Sie sich für etwas Besonderes? Glaubten Sie sich auf grund einer Art moralischen Überlegenheit ermächtigt — oder gar verpflichtet —, so zu handeln, wie Sie gehandelt haben?« Er sah sie entrüstet an, als wollte er sagen: Wie können Sie nur so etwas von mir denken. »Mit Fragen der Moral oder einem Ge fühl der Überlegenheit hat das überhaupt nichts zu tun. Es ist eine rein wirtschaftliche Frage. Eine Frage von Angebot und Nachfrage.« »Eine wirtschaftliche Frage?« wiederholte sie. »Ganz richtig«, bestätigte er ihr, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. »Wann steigt die Auflage einer Zeitung? Wann schaltet jeder den Fernseher oder das Radio ein? Doch sicher nicht, wenn der gute Onkel Doktor von den Möglichkeiten einer Heilung spricht. Auch nicht, wenn der Finanzexperte seine schlauen Analysen anbietet. Nicht einmal, wenn Tom Cruise sei nen Charme spielen läßt. Nein. Immer dann, wenn ein gefährli cher Killer auf freiem Fuß ist! Das wissen Sie ganz genau ... Wir beide sind nämlich keineswegs so verschieden, wie Sie vielleicht denken. Zwischen mir und Ihnen besteht vielmehr eine still schweigende Symbiose. Sie brauchen mich genauso, wie ich Sie brauche.« Darauf wollte sie etwas erwidern, aber er kam ihr zuvor: »Glau ben Sie, daß es Krebs gibt?« Diese Frage brachte sie für einen Moment aus der Fassung. Später würden sie die Stelle unbedingt herausschneiden müssen. »Natürlich. Jeder kennt jemanden, der an Krebs leidet.« Er nickte. »Und glauben Sie, daß es Ratten gibt?« 427
Die Wendung, die das Gespräch plötzlich nahm, gefiel ihr ganz und gar nicht. »Ja.« »Und glauben Sie an das Ursache-Wirkung-Verhältnis, das zwischen den beiden besteht?« »Daß Ratten Krebs verursachen?« Fragte sie ungläubig. »Nein, anders herum. Krebs verursacht Ratten.« »Da kann ich Ihnen leider nicht mehr folgen.« Er beugte sich vor, näher zu Sandra und Kamera eins hin. »Da draußen ist der Krebs. O ja, das ist er. Er frißt die Menschen auf. All diese Chemikalien und Konservierungsstoffe in unseren Le bensmitteln, gar nicht erst zu reden von dem Dreck, der uns die Luft zum Atmen verpestet. Da hat der Krebs Hochkonjunktur. Und dementsprechend gibt es im ganzen Land diese wissen schaftlichen Forschungslabors, in denen unzählige Wissenschaft ler verzweifelt nach einem Mittel gegen Krebs suchen. Und im Zusammenhang damit gibt es regelrechte Fabriken, in denen Rat ten für die dafür nötigen Experimente gezüchtet werden. Das ist schließlich das einzige, wozu diese Ratten taugen. Sie würden in dieser Vielzahl nicht existieren, wenn es den Krebs nicht gäbe.« Ein tiefes Luftholen, um die Batterien neu aufzuladen. »Genauso verhält es sich mit Ihnen und mir. Dieser ganze Unsinn über die Misere der modernen Großstädte und Kleinstädte, der Gesell schaft überhaupt? Ihr Journalisten seid wie ein Krebsgeschwür, ihr verschlingt das alles mit euren Kameras, stochert mit euren Mikrophonen darin herum. Schon sehr bald ... müssen Sie damit rechnen, daß Ratten wie ich wie die Pilze aus dem Boden schie ßen, um Ihnen mehr Arbeit zu verschaffen — oder sollte ich tref fender sagen: Futter?« »Sie verkehren etwas grundsätzlich Wünschenswertes in etwas zutiefst Verwerfliches und Schmutziges. Was sollte so verderblich daran sein, die Öffentlichkeit zu informieren?« »Dann versuchen Sie sich das ruhig mal weiter einzureden, wenn Ihnen das gelingt.« Er kicherte amüsiert in sich hinein. »Glauben Sie im Ernst, die Ärzte wollen den Krebs wirklich besie gen? Nein. Auf gar keinen Fall. Sie haben keinerlei Interesse, ihn zu heilen — aus rein wirtschaftlichen Gründen. Das ist eine Indu strie, in der Jahr für Jahr Umsätze in Milliardenhöhe gemacht werden. Die Ärzte sind nur daran interessiert, einzelne Patienten zu heilen — um auf diese Weise in unzähligen anderen die Hoff nung nicht erlöschen zu lassen.« Grinsend ließ er sich in seinen 428
Stuhl zurücksinken. »Spielen Sie mir gegenüber also nicht die moralisch Überlegene. Mag durchaus sein, daß ich Sie anwidere und daß Sie mich verabscheuen. Aber Ihr Job sähe ohne mich ganz anders aus.« »Und wie ist ihnen angesichts der weiter anhaltenden Serie von Morden zumute, die alle Ihre Handschrift tragen? Mittlerweile wissen Sie doch sicher schon von dem Mörder, der vor einem Mo nat Ihre Methoden nachzuahmen begonnen hat.« Darryl Hillers Stirn legte sich in nachdenkliche Falten. »Ich füh le mich zutiefst geehrt«, erklärte er bedächtig. »Ich habe das Le ben eines anderen Menschen aufs nachhaltigste beeinflußt.« Ein breites Grinsen. »Endlich einmal war ich Vorbild.« Fünfzig Minuten später, nach Beendigung des Interviews, stürzte Sandra auf die nächste Toilette und stand eine Weile heftig würgend über die Kloschüssel gebeugt, ohne jedoch etwas hoch zubekommen. Sie hatte den ganzen Tag keinen Bissen gegessen, aber die körperliche Reaktion war dieselbe. In der darauffolgenden Woche, nach intensivem Schneiden, Neuzusammenfügen und Überspielen, wurde die fünfteilige Serie über Darryl Hiller in den Elf-Uhr-Nachrichten gesendet. Und sorgte für die höchsten Einschaltquoten in der Geschichte von ActioNews 8. November ist der grausamste Monat, aber ActioNews 8 übersteht ihn gut. Der Sender steht an der Spitze des neun Stationen um fassenden Marktes, was in nicht unerheblichem Maß das Ver dienst von Sandra Riley und ihrer enormen Publikumswirksam keit ist. Sie hat inzwischen ihren festen Platz im Abendprogramm mit einem stattlichen Honorar, das sich im sechsstelligen Bereich bewegt, und das einzige, was die Programmgewaltigen an ihr auszusetzen haben, ist, daß sie sich nicht bereiterklärt, sich länger als ein Jahr an den Sender zu binden. Sie möchte sich alle Türen offenhalten, um sofort verfügbar zu sein, falls von Seiten einer der großen Sendeanstalten ein Ruf an sie ergehen sollte. Der Bandwurm-Nachfolger beliefert sie jede Woche mit einer neuen Leiche. Es ist erwiesenermaßen nicht der ursprüngliche Se xualmörder; das hat eine genetische Analyse der von ihm hinter lassen Spermaspuren zweifelsfrei ergeben. Was aus dem Original geworden ist, weiß kein Mensch. Aber der schockierenden Grau samkeit der Taten seines Nachfolgers tut das keinen Abbruch, und 429
die Öffentlichkeit harrt mit derselben angstvoll gespannten Er wartung seinem nächsten Mord entgegen, um sich dann nicht minder lustvoll daran zu weiden, sobald er blutige Wirklichkeit geworden ist. Sandra moderiert die Vorort-Meldungen, die ein junger Protege, der sie vorbehaltlos bewundert, für sie liefert, und von Mal zu Mal stirbt etwas mehr von ihr selbst. Das Päckchen kommt eines Nachmittags mit UPS, braunes Packpapier, ordentlich beschriftet und an die Redaktion von ActioNews 8 zu ihren Händen adressiert. Kein Absender, aber abge stempelt ist die Sendung auf der anderen Seite des Kontinents in Seattle. Als sie an diesem stürmischen Novembertag endlich etwas Zeit findet, schiebt sie die Kassette in den Videorecorder in ihrem Büro — ihrem neuen Status entsprechend ist es größer, mit Fenstern. Sie drückt auf den Abspielknopf und setzt sich. Der Amateurfilmer hat sogar einen Titel vorgeschaltet, auf dem zu lesen ist: Sex, Tod und Video 2. Wie elektrisiert sitzt Sandra plötzlich kerzengerade in ihrem Sessel und beißt mit entsetzt auf gerissenen Augen in die Knöchel ihrer geballten Fäuste. ... und da ist er, Darryl Hiller, auf einem Hocker sitzend, vor weißem Hintergrund. Nahaufnahme. Nur Kopf und Schultern sind zu sehen. Die Kamera bewegt sich nicht, offensichtlich ist sie auf einem Stativ mon tiert. »Da war so vieles, was ich Ihnen noch sagen wollte, bevor ich vergan genen ]uni von der Bildfläche verschwunden bin.« Er sieht sie unver wandt an, ohne zu blinzeln. »Aber ich bin sicher, daß Sie das verstehen werden. Das tun Sie doch immer. Als wir unser Interview machten, gab es eine Menge Dinge, die ich nicht verstanden hatte. Nicht, daß ich mich getäuscht habe, ich täusche mich nie, ich war nur nicht voll im Bilde. Als ich zu Ihnen sagte, ich müßte einen Schritt weitergehen, hatte ich im Grunde genommen keine Ahnung. Keine Ahnung. Können Sie sich noch erinnern, wie Sie mich gefragt haben, was es für ein Gefühl für mich wäre, jemanden zu inspi rieren, in meine Fußstapfen zu treten, und ich darauf geantwortet habe, das wäre ein großartiges Gefühl ? Inzwischen habe ich festgestellt, daß es wesentlich mehr als das ist. Es bedeutet, daß sich dadurch eine tiefgrei fende Veränderung in mir vollzogen hat. Ich war plötzlich nicht mehr nur eine gewöhnliche Ratte, denn ich hatte etwas nach meinem Bild erschaf fen. Ohne mich hätte mein Nachfolger nie existiert. Das bedeutet, ich bin auf die Stufe von Krebs aufgerückt.« Er beginnt leise in sich hineinzula 430
chen; scheinbar der einzige, der diesen Witz versteht. »Übrigens: So bin ich bei der Gerichtsverhandlung entkommen. Man hat mich aus dem Klo ge führt, und die Beamten haben mir höchstpersönlich die Handschellen ab genommen. Dieser arme Teufel von Reggie Blaine. Er wurde zum un schuldigen Mittäter. Alles, was ich tun mußte, war, einem Mann das Gesicht zu Matsch zu prügeln und eine Lüge in die Welt zu setzen.« Sandra stockt der Atem. Ihr kommt ein schrecklicher Gedanke, begleitet von Erinnerungen an das Material über Reggie Blaine, der vom Bandwurm gezwungen worden war, in seine Gefängnis kluft zu schlüpfen. Das Problem ist nur, daß es von Anfang an nur diese eine Person gegeben hat. Das ist ihr inzwischen klargewor den — mit derselben Deutlichkeit, mit der ihr auch bewußt ge worden ist, daß sie bei einer völlig neuen Perversion des Band wurms als Geburtshelferin herhalten mußte. Angesichts dieser Erkenntnis stirbt noch etwas mehr hinter ihrer ruhig und gefaßt wirkenden Fassade ab. Aber sie sitzt vollkommen reglos, als wäre nichts geschehen, vor dem Bildschirm, und sieht weiter zu . . . ... wie Darryl Hillers Gesicht auf dem Bildschirm zu verschwimmen beginnt und neue Gestalt annimmt. Volle Backen, rotes Haar, sie kennt diese Züge zur Genüge, sieht, wie auf dem Korridor des Gerichtsgebäu des vor laufender Kamera die Tränen darüberfließen. Dann verschwindet es plötzlich, und an seine Stelle tritt ein neues Gesicht, das ohne weiteres dem Jungen von nebenan gehören könnte. Aber es ist dieselbe Stimme, die fortfährt: »Sehen Sie, ich bin der Krebs geworden, der jeden befallen kann ...» Neue Gesichter, in die Kamera glotzend. »... und ich werde schon sehr bald wieder zurückkommen, um Sie zu sehen ...« Eine Schurkengalerie von vollkommener Anonymität. »... aber Sie werden mich nicht sehen . . . « Er hebt eine Rolle Klebeband hoch, hält sie dem Kameraobjektiv entge gen, reißt einen Streifen davon ab und leckt die klebrige Unterseite ab. »... weil ich den entscheidenden Trick durchschaut habe, den sich der Krebs zunutzemacht.« Und dann sein letztes Wort, blitzartig hintereinander geschnitten, mit jedem stroboskopartigen Zucken von einem anderen Gesicht gespro chen ... »Mutation/Mutation/Mutation/Mutation/Mutation.« Ausblenden. Schwarz. Aus dem Amerikanischen von Sepp Leeb
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RAY GARTON
Stücke Zeit gehe ich aus dem Leim. InJeletzter mehr Dinge in meinem Verstand aufeinandertreffen, um so mehr scheine ich aus dem Leim zu gehen. Ich war schon sehr lange in Therapie, aber es scheint nicht ge holfen zu haben. Klar, es hat dazu geführt, daß ich ein paarmal zusammenbrach und weinte — etwas, was Männer in unserer Ge sellschaft eigentlich nicht tun sollten, egal, was Phil Donahue da zu sagt —, aber es hat die Sache nicht besser gemacht. Ich war mir nicht einmal sicher, weshalb ich überhaupt existierte, nur daß ir gend etwas irgendwie ... verkehrt zu sein schien. Vor ein paar Tagen traf es mich dann. Es war wie ein Blitz schlag, wie ein Acid-Flashback der 60er oder wie irgendein Erin nerungsblitz, den ein Vietnamveteran haben könnte: Mein Vater, wie er sich in einer regnerischen Nacht im Dunkeln über mein Bett beugt, um mir zu sagen, daß wir gerade ein Spiel spielen, nichts sonst, aber ein geheimes Spiel, ein wirklich geheimes Spiel, von dem niemand anders erfahren darf, deshalb müsse ich es als Geheimnis wahren, als großes, dunkles Geheimnis, und dürfe niemandem davon erzählen, aber auch wirklich niemandem. Aber das Spiel tat weh. Es tat ganz schlimm weh. Es tauchte auf, als ich eines Nachts allein in meiner Unterwä sche auf dem Sofa saß und einen Illustriertenartikel über Kindes mißbrauch las; da schien es aus jenem Teil meines Gehirns her vorzutreten, der nur schwarz war, mit nichts sonst darin, wie ein blinder Fleck in meinem Auge. Tatsächlich explodierte es aus die sem Teil meines Gehirns, und im selben Augenblick fielen mir der kleine und der Zeh daneben vom linken Fuß, der gerade locker von meinem Knie herabbaumelte, und plumpsten mit leisem, tap pendem Geräusch auf den Teppich. Das war damals natürlich nicht mein einziges Problem. Meine Frau hatte mich gerade verlassen, denn, wie sie sich ausdrückte: »Du bist nicht zu verstehen. Es ist irgend etwas an dir, das nicht
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erreichbar und unberührbar ist, und es scheint dich ebenso zornig zu machen, wie es mich traurig macht. Ich halte es nicht mehr aus.« Also ist sie gegangen. Wenige Stunden später brach mein rech tes Ohrläppchen und pellte sich ab wie ein Stück toter Haut. Aber ich schätze, ich schweife wohl zu sehr vom Thema ab, wie? Zurück zu den geheimen Spielen. Ich bin mir nicht sicher, wann sie stattfanden oder wie lange sie dauerten. Bei meinem Thera peuten habe ich sie nie zur Sprache gebracht. Ich hatte vor einer Weile mit der Therapie aufgehört, weil ich mir dachte, daß ich auch verdammt viel billiger zu Hause herumsitzen und weinen könnte, und die Erinnerungsblitze fingen erst an, als meine Sit zungen endeten. Mir standen noch sechs Wochen Urlaub zu — ich bin Schichtlei ter in einem E-Werk —, und nachdem meine Frau mich verließ, beschloß ich, den ganzen Urlaub auf einmal zu nehmen. Ich hatte nichts Besonderes vor, nur... Ruhe. Wollte mich wohl erholen. Ich erinnere mich an etwas, das meine Frau mir einmal sagte: Sie meinte: »Irgend etwas ist in dir, über das du nichts weißt, und du mußt unbedingt mal ausspannen, etwas Urlaub von deinem Le ben nehmen und herausfinden, was es genau ist!« Das war nicht der Grund für meinen Urlaub. Ich war einfach nur müde. Ich meine, da verläßt einen die Frau, und plötzlich überfällt einen eine Erinnerung, die man seit der Kindheit nicht mehr heraufbeschworen hat... Da hat man sich doch wohl einen Urlaub verdient, nicht wahr? Also habe ich ihn mir genommen. Um die Wahrheit zu sagen, allzu viele Sorgen habe ich mir we gen meines Ohrläppchens und meiner Zehen nicht gemacht. Ich habe sie in den Mülleimer geworfen. Hatte doch eigentlich nichts zu bedeuten. Es hatte nicht weh getan, es blutete nicht, und ich mußte nicht einmal humpeln. Aber ich gebe zu, daß mich die Plötzlichkeit ihrer Abschiednahme überraschte. Aber was soll das schon ausmachen? Ein paar Zehen? Ein Ohrläppchen? Ist doch keine große Sache. Also nahm ich den Urlaub. Ich hatte nichts anderes vor, als im Haus herumzusitzen und mich zu entspannen, nichts zu tun. Fernzusehen. Mir Filme auf Video anzuschauen. Zu lesen. Zu schlafen. Mich auszuruhen. 433
Dann traf mich die volle Breitseite dieser Erinnerung dieses ... Ding. Ich schlug es mir aus dem Kopf, verließ das Haus und stöberte in einer Videothek herum, wo ich mir ein halbes Dutzend Filme aussuchte, die ich mir anschauen wollte. Die Videothek befand sich auf einer Einkaufsstraße, und so entschloß ich mich zu einem Schaufensterbummel, um die Zeit totzuschlagen. Ich stand gerade draußen vor einem Geschäft namens Art2Go, als mich die nächste Erinnerung heimsuchte. Im Fenster sah ich ein Gemälde von einem kleinen Jungen, der so unschuldig aus sah ... und doch war irgend etwas in seinen Augen, das erwachsen wirkte, so ausgewachsen und reif — und so furchtbar, furchtbar gequält. Plötzlich war mein Bewußtsein von der Erinnerung an meinen Vater ausgefüllt, wie er mich auf seinem Schoß hielt, und ich erin nerte mich an das harte, pochende Ding unter mir. Meine linke Hand fiel zu Boden. Ich starrte sie an, als wäre sie eine Eiscremewaffel, die ein Kind hatte fallenlassen. Eine fette Frau mit rotgefärbtem Haar und einer braunen Pa piertüte begann zu schreien. Sie kreischte und deutete auf die Hand und ließ ihre Tüte fallen. Ich schwang die Plastiktasche mit den Videos unter meinen lin ken Arm, hob die Hand auf und eilte davon, hoffend, daß nie mand sonst es bemerkt hatte. Hinter mir verstummten die Schreie der Frau. Ich nahm sie mit nach Hause, diese Hand, legte sie auf den Kaf feetisch und starrte sie an, wie ich so auf dem Sofa saß. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, die Videos zu sehen, die ich besorgt hatte. Aber ich legte trotzdem eines ein. Nur wegen des Lärms. Dann setzte ich mich wieder auf das Sofa und starrte hauptsächlich auf meine Hand, die auf dem Kaffeetisch lag. Gelegentlich sah ich auch zu dem Film hinüber. Einmal erblickte ich da ein schreiendes kleines Kind, das gerade von einem Mann einen Gang entlangge jagt wird, einem Mann, dessen große Hände sich wie Pratzen reckten, um das Haar des Kinds zu packen und ... ... plötzlich fiel mir ein, daß mein Vater mit mir dasselbe getan hatte. Die Erinnerung war aus dem Nirgendwo gekommen, schlug mir ins Gesicht wie ein Betonklotz. 434
Mein rechter Arm löste sich von meinem Körper und rutschte aus meinem Hemdärmel, fiel mit einem Plumps zu Boden. Das Kind im Fernseher kreischte und wurde ins Schlafzimmer zurückgezerrt. Meine Augen weiteten sich, bis sie hervortraten. Mein linker Arm plumpste zu Boden. Unkontrolliert begann ich zu weinen. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen. Die Tränen strömten, und mein Körper — das, was davon noch übrig war — bebte schluchzend. Mein Vater hatte mit mir genau dasselbe getan. Er hatte mit mir auch viele andere Dinge getan, Dinge, die am Rande meines Ge dächtnisses herumschlichen. Ich wollte mich an sie erinnern, sie hervorholen ... und doch tat ich es nicht, denn sie waren schreck lich, viel zu schrecklich, um sie zur Inspektion vor mein inneres Auge zu führen. Ich sah auf den Kaffeetisch und erblickte meine Hand. Ich dach te an mein Ohrläppchen und die Zehen. Ich schaute zu Boden und sah meine bleichen, abgetrennten Arme. Und plötzlich wurde mir schlecht. Ich stürzte, armlos, ins Bad und erbrach mich eine Weile, dann eilte ich ins Schlafzimmer, weil ich annahm, daß ich nur noch we nig Zeit hätte. Im Schlafzimmer stand eine elektrische Schreibmaschine auf ei nem kleinen Tisch. Es gelang mir, mit dem Mund ein Stück Papier in den Wagen einzuschieben, dann beugte ich mich vor und be nutzte meinen Mund, um es vorzutransportieren. Als nächstes begann ich, dies hier mit der Nase zu tippen. Es hat sehr lange ge dauert. Aber während dieser Zeit hat mein Geist panisch mit den Erin nerungen gearbeitet, die wie aufgedunsene Leichen vom Boden eines Sumpflochs heraufgeholt worden waren. Tatsächlich habe ich mich erst vor ein paar Minuten daran erinnert, wie mein Vater einmal zu mir sagte: »Tu einfach so, als wäre es ein Eis am Stiel, das ist alles ... nur ein Eis am Stiel... lutsch es, als wäre es ein Eis am Stiel.« Da ist mir das rechte Bein knieabwärts wie eine Schlange aus der Hose geglitten und auf den Schlafzimmerboden ge plumpst. Ich habe versucht, nicht daran zu denken, mich auf das zu kon zentrieren, was ich gerade tue, dies hier so schnell zu tippen, wie 435
ich es mit der Nase eben kann, um demjenigen, der mich finden sollte, zu erklären, was geschehen ist. Aber da kommt mir gerade eine andere Erinnerung, und die ist noch viel schlimmer als alle vorherigen, viel schmerzvoller und... -CD Für Andrew Vachss, einen der letzten wahren Helden. Aus dem Amerikanischen von Ralph Tegtmeier
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ELIZABETH MASSIE
Tod um elf (Für die AIUSA Group Nr. 157, in Liebe) brauchte sieben Minuten zum Sterben. Die ersten JoeStöße,Williams die alles in allem zwei Minuten dauerten, genügten nicht. Der Arzt überprüfte sein Herz, das immer noch schlug. Ver stört und verlegen versuchten die Henker es noch einmal. Noch mehr Volt wurden in Joes Körper gejagt. Man sagte, daß Joes Hand, die er zu einer glänzenden Faust geballt hatte, beim zwei ten Versuch einen krampfartigen Rhythmus auf der Armlehne des Stuhls trommelte. Eine aschfahle Zeugin sagte, als es vorbei war, in die Fernsehkameras vor dem Gefängnis, sie hätte eine Morse botschaft in dem Rhythmus hören können. N-E-I-N, N-E-I-N. Andere Zeugen taten das mit einem nervösen Kichern ab. Joes Hinrichtung hatte die übliche Menschenmenge vor die Vollzugsanstalt gelockt. Gegner der Todesstrafe hielten einander an den Händen, zündeten Kerzen an und sangen mit lauter Stim me. Befürworter der Todesstrafe veranstalteten ein Picknick auf den Ladeflächen ihrer Pritschenwagen und schwenkten selbstge malte Plakate, auf denen ein schwarzer Mann zu sehen war, der von einer lächelnden Wache in einen elektrischen Ofen geschoben wurde. »Fresh Joe wird geröstet«, lauteten die Unterschriften. Auf anderen Schildern stand: »Du hast Ricky umgebracht, drum wirst du jetzt gar gemacht«, und »Laß uns den nächsten se hen, Direktor!« Henry war der nächste. Er saß seit sechs Jahren in der Todeszel le, und nach der gesetzlichen Lotterie abgelehnter Gnadengesu che sollte er im Januar sterben. Donnerstagabend, am zwölften. Und nicht lange nach Joes Tod entschied das Bezirksgericht, daß es einer Zensur gleichkam, die Fernsehausstrahlung von Hinrich tungen zu verhindern. Und so sollte die nächste Hinrichtung live in die Wohnzimmer des ganzen Landes übertragen werden. Selbstverständlich mit Zustimmung des Verurteilten.
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Bruce saß bei laufendem Motor im Auto und sah durch die be schlagene Windschutzscheibe zur Gefängnismauer. Auf dem Bo den lag leichter Schnee. Dieser war grau und naß, voll Kies und Erde. Die Hitze der Lüftung strich über Bruces Wimpern, er muß te blinzeln. Das Radio war eingeschaltet, leise Akkorde einer un kenntlichen Country-Melodie wehten durch die Luft, verschmol zen mit der Hitze und weckten ein überwältigtes und entfremde tes Gefühl in Bruce. Er wartete schon über eine Stunde auf dem Parkplatz, machte den Motor ab und zu aus, um Benzin zu sparen, und sprang ab und zu hinaus, wo er in der Kälte herumstapfte, damit er keinen Krampf in den Beinen bekam. Wenig später, gegen ein Uhr, kam ein Graupelschauer, und er wandte das Gesicht nach oben und hielt still, die Augen geschlossen. Eisiger Regen überzog sein Ge sicht und den Bart. Kalt, aber real. Nach ein paar Minuten stieg er wieder in das Auto ein und schaltete Motor und Heizung an. Wieder ließ er seine Gedanken an Henry von der Musik verwe hen. Der kleine Bruder Henry. Zwei Jahre jünger als Bruce, ein we nig größer, ein wenig hagerer. Seine Augen waren ebenso dunkel braun wie die von Bruce, und früher hatte er das dunkelbraune Haar einmal bis zu den Schultern getragen. Bruce fragte sich, wie Henry wohl jetzt mit kurzgeschnittenem Haar aussehen mochte. Es war drei Monate her, seit Bruce Henry zum letztemal im Ge fängnis besucht hatte. Im ersten Jahr hatte Bruce ihn jede Woche besucht. Jeden Samstag hatte er das Auto mit dem Staubsauger gereinigt, seine Mutter und seine Schwester in ihren Häusern in Draper County abgeholt und war die zweiundvierzig Meilen bis zum Hochsicherheitstrakt in Stocksburg gefahren. Dort hatten die drei den Nachmittag damit verbracht, einander vor dem fettver schmierten Fenster, das Henry von ihnen trennte, den Telefonhö rer hin und her zu reichen. Jeden Samstag. Bei Wind und Wetter. Sommers wie winters. Bruces Frau wußte von dieser Vereinbarung, als sie ihn im Au gust vor fünf Jahren geheiratet hatte. Aber Bruce wußte, daß es ihr heute mehr als alles andere auf die Nerven ging. Das Paar konnte Samstag morgens nie spät frühstücken, mit Kaffee und Morgenzeitung. Sie nahmen nie Einladungen von Freunden zu 438
spontanen Wochenendausflügen zur Küste an. Sie hatten keine trägen Samstagnachmittage voll spontaner Leidenschaft. Die Samstage waren für Henry reserviert. Aber so hatte Bruce es gewollt. Es war seine Entscheidung. Schuldig oder nicht, ehemaliger Drogenabhängiger oder nicht, Henry war Bruces kleiner Bruder. Aber obwohl er seine Mutter und seine Schwester noch nach Stocksburg fuhr, besuchte Bruce Henry nicht mehr. Henry wollte an die Öffentlichkeit gehen. Er wollte gegen den Willen von Bruce vor der Kamera sterben. Dafür haßte ihn Bruce und hätte ihn win delweich geprügelt, wenn er ihn durch das Besucherfenster hätte erreichen können. Der Graupelschauer hörte auf. Bruce machte das Auto wieder aus und lauschte dem Ticken des Motors. Er sah mehrere in dicke Wintermäntel eingemummte Leute, die gebückt über den Park platz zu ihren Autos huschten. Ihre Gesichter konnte er nicht se hen und wollte es auch nicht. Er würde nichts anderes als Müdig keit und Resignation und Verzweiflung darin erkennen. Alle wa ren Verwandte und Freunde von Insassen der Todeszelle. Wie hät ten sie da anders aussehen können? Viertel nach drei, als er an der Tür lehnte und über den hohen Zaun hinweg zu den Wäldern im Westen sah, wurde die Beifah rertür aufgerissen. Bruce zuckte zusammen. Seine Mutter Meg setzte sich neben ihn. Die schwere Handta sche ließ sie neben sich auf den Boden fallen. Dann zog sie einen Schuh aus, bückte sich und massierte sich die Zehen. Marty, Bru ces Schwester, stieg hinter Meg ein. Bruce drehte den Zündschlüssel um. Der erst jüngst überholte Motor sprang sofort an. Meg sog Luft ein, als ihre Finger über ei ne Blase strichen. Sie waren noch nicht zum ersten Tor gekommen, da sagte Meg: »Wer ruft heute abend David an?« Weder Marty noch Bruce sagten etwas. Der Wachmann im Wachlokal nickte beiläufig, als der Wagen passierte. Bruce steuer te auf die Hauptstraße und beschleunigte auf fünfzig. Meg strich ihr Haar zurecht. Kleine Wassertröpfchen ver schwanden in dem Grau. Sie wischte sich die Hand am Rock ab und sagte: »Wer ruft David an?« Bruce spürte, wie sich seine Nackenmuskeln verkrampften. Marty sagte: »Ich habe letzte Woche angerufen.« 439
Meg schniefte. Sie sah zum Fenster hinaus. Aus den Augen winkeln konnte Bruce sehen, wie ihr Kiefer arbeitete. »Ich kann heute abend nicht mit ihm reden«, sagte sie. »Das ist zuviel für mich. Ich kann es nicht. Das wißt ihr. Es ist alles zu na he.« Marty sagte: »Mom.« Sie griff mit der Hand über den Sitz und drückte sanft die Schulter ihrer Mutter. Nach einem Augenblick sagte Meg: »Henry hat nach dir ge fragt, Bruce.«
Bruce nickte langsam. Sag es mir nicht, ich will es gar nicht wissen. »Er hat gehofft, du würdest heute nicht arbeiten müssen, damit du mit uns kommen kannst. Er wollte dich sehen.« Meg wandte sich vom Fenster ab. Sie zog den Schuh wieder an. Marty kramte auf dem Rücksitz in einer Papiertüte. Bruce wuß te, daß sie ihre kleine Flasche suchte. Ihre Lebenshilfe. Sie schraubte mit gedämpftem Knirschen den Verschluß ab. Im Rück spiegel konnte Bruce sehen wie sie einen kräftigen Schluck trank. Dann sagte sie: »Wirst du Dad anrufen, Bruce? Henry hatte ihm einiges zu sagen.« Bruce bremste an der Kreuzung, dann trat er wieder aufs Gas. Wohnwagen und Teerpappehäuser flogen vorbei, der Rauch aus ihren Schornsteinen hing tief in der graupelschwangeren Winter luft. »Es sind keine zwei Wochen mehr«, sagte Marty. »Wir haben Mitteilungen. Bitte?« »Dad will nichts davon wissen«, sagte Bruce. »Er ruft nie an. Er kommt nie nach Stocksburg.« »Du kommst auch nicht mehr mit rein«, murmelte Meg. »Er ist dreihundert Meilen entfernt«, sagte Marty. Jetzt konnte Bruce ihren Atem riechen, den erstickenden, süßlichen Geruch des Vergessens. »Richtig«, sagte Bruce. Meg kramte in der Handtasche. Sie holte einen zusammenge falteten Zettel heraus. »Ich habe die Notizen für David. Ich habe alles aufgeschrieben.« Sie steckte den Zettel in Bruces Mantelta sche. Er holte ihn nicht heraus. Er würde Dad anrufen, oder zu mindest so tun. Im Augenblick hatte es keinen Zweck zu wider sprechen. Nicht bei elf Tagen Frist. Elf Tage und die erste öffentliche Hinrichtung seit einem Auf hängen in Kentucky im Jahre 1936 würde stattfinden. Aber dieses 440
Mal würden sehr viel mehr Leute als die kümmerlichen zwanzig tausend von Kentucky das Privileg haben, dabei sein zu dürfen. Jeder mit einem Fernseher, Kabelanschluß oder einer Satelliten schüssel konnte den La-Z-Boy zurechtrücken, eine Tüte Mikro wellenpopcorn aufreißen und einschalten. Angewandte Presse freiheit. Schwarzweiß oder Farbe. Tod um elf. Die nächsten zehn Minuten fuhren sie schweigend. Eine Abbie gung an der Route 782 brachte sie zu Megs Einfahrt und dem ein stöckigen weißen Haus. Tinker, Megs Hund, kam aus seiner Hütte und sprang am Ende der Kette auf und ab. Meg nahm ihre Handtasche und machte die Autotür auf. Bevor sie ausstieg, sagte sie: »Kommst du nächste Woche mit uns rein, Bruce? Wie sollen wir ihm sagen, daß du wieder arbeiten muß test? Nächste Woche, Bruce. Hör auf mich.« Bruce sah seine Mutter nicht an. Er knirschte mit den Zähnen. Seine Zunge fühlte sich so körnig wie der schmutzige Schnee draußen an. Seine Augen brannten. »Es ist die letzte Woche. Deine letzte Chance, ihn zu sehen. Bruce?« »Warum mußte er es öffentlich machen?« Bruce atmete kontrol liert. Wut stieg in ihm auf. »Ich will nicht mehr darüber reden.« Er mußte sich zusammenreißen, damit er nicht mit der Faust durch das Fenster neben sich schlug. »Warum mußte er es öffent lich machen?« Meg stieg aus und schlug die Autotür zu. Er konnte durch das Glas ihre Lippen lesen. »Das weiß er ebensowenig wie wir!« Damit verschwand sie in einem Wirbel von schwarzem Winter mantel und schwerer Handtasche. Hinten seufzte Marty und griff wieder zur Flasche. Am Dienstag, eine Woche und zwei Tage vor Henrys Hinrichtung, kam die Presse zum Ergebnis, sämtliche Vorbehalte über Bord zu werfen. Es war, als hätten nationale und überregionale Fernseh sender auf einmal beschlossen, eine riesige, spektakuläre VorHinrichtungs-Party zu geben. Die Nachrichten begannen jeden Abend mit kurzen Ausschnitten des bevorstehenden Ereignisses — Interviews mit dem Direktor, mit Polizisten, mit Leuten auf der Straße. Dokumentaraufnahmen von Henrys Verhandlungen wur den mit eingeschnittenen Bildern des wartenden Stuhls gezeigt. 441
Bei dieser ersten Gelegenheit ließen die Sender keine Möglichkeit ungenutzt, ihre gesellschaftlichen Kommentare abzulassen. Aber trotz der neu gewährten Erlaubnis, Henrys Tod live zu übertra gen, hatten die Sender nicht vor, sich selbst den Strick um den Hals zu legen. Sämtliche Berichte, von innerhalb wie außerhalb des Gefängnisses, wiesen grimmig darauf hin, daß der Schuldige nichtsdestotrotz den Preis für seine Taten zu bezahlen hatte. Bru ce ging zur Arbeit, kam nach Hause und mied den Fernseher. Bek ky, seine Frau; redete mit ihm aber es fiel ihm schwer zu antwor ten. Er konnte ihr nur einsilbige Antworten geben. Alles andere war zu schmerzhaften Knoten zusammengezogen und lahmte seine Stimmbänder. Am Donnerstagabend legte ihm Becky die Zeitung neben den Suppenteller. Diese hatte sie an einem Editorial aufgeschlagen, das die unverblümte öffentliche Meinungsmache der Fernsehsen der geißelte. Bruce überflog den Kommentar. »Der einzige Grund, weshalb das Fernsehen beschlossen hat, so einen Festtag aus ihrer bahnbrechenden Übertragung zu ma chen«, schrieb der Chefredakteur, »ist der, daß Henry Huffman ein Weißer ist. Wäre ein Schwarzer als nächstes zur Hinrichtung vorgesehen gewesen, hätten die Medien, das ist die feste Über zeugung des Verfassers, entweder mit weniger Aufhebens rea giert oder die Ausstrahlung verschoben, bis sich eine passendere Hinrichtung gefunden hätte. Zwar wird die Todesstrafe mit schö ner Regelmäßigkeit verhängt, wenn der Täter schwarz und das Opfer weiß ist, aber die Fernsehsender sehen keine Veranlassung, diese Information bekannt zu geben. Sie hat nichts mit ihrer Show zu tun, und sie müssen eine Show über die Bühne bringen. Henry Huffman ist zu ihrem Schützling geworden. Sie passen auf, was sie von sich geben. Weshalb sollten sie Rassismusvor würfe riskieren, wo soviel Zuschauer und Geld auf dem Spiel ste hen?« »Das ist eine gute Meinung«, sagte Becky. Bruce warf die Zeitung über den Tisch. »Es gibt keine gute Mei nung«, sagte er. Beckys Lippen bildeten eine dünne Linie in ihrem Gesicht. »Es gibt keine gute Scheißmeinung«, sagte Bruce. »Henry hat zugestimmt. Er hat es sich selbst zuzuschreiben.« Becky ging ins Wohnzimmer fernsehen. Sie drehte den Ton ganz leise. 442
Freitagnacht erwachte Bruce aus einem Alptraum. Er war ein Kind gewesen; Henry ebenfalls. Henry war in einem Auto einge sperrt, und Bruce versuchte, den Schlüssel zu finden, um ihn her auszulassen. Das Auto sank allmählich in den Boden ein, Men schen hatten sich darum versammelt und sahen zu, deuteten mit den Fingern und lachten. Manche hatten Kameras mitgebracht und beugten sich nahe an die Fenster, damit sie gute Aufnahmen schießen konnten. Bruce durchsuchte das Gras um das Auto her um nach dem Schlüssel, mit dem er Henry befreien konnte. Aber er konnte Henry aus dem Auto rufen hören: »Es ist meine Schuld, Bruce. Tut mir leid. Lebwohl.« Bruce hielt sich die Augen zu, als das Auto unter die Erdoberfläche gesogen wurde. Becky sagte: »Bruce, alles in Ordnung?« Bruce atmete schwer und blieb liegen ohne zu antworten. Er wischte sich die schweiß nasse Stirn ab. Seine Schläfen hämmerten. Becky drehte sich um und legte ihm eine kühle Hand auf seine nackte, fiebrige Brust. Bruce war erregt, zwang sich aber, sich ab zuwenden. Durch die aufgezogenen Vorhänge konnte er einen winzigen, kalten Mond sehen. Er sah hinaus bis der kalte Mond einer kalten Sonne gewichen war. »Das ist die letzte Chance«, sagte Meg. Sie stand neben der offe nen Beifahrertür. »Wenn du jetzt nicht mitkommst, hast du keine Möglichkeit mehr, ihn zu sehen.« Bruce umklammerte das Lenkrad. Der Schnee auf dem Park platz war fort und hatte nur Pfützen in den Schlaglöchern des Asphalts hinterlassen. »Er hat uns angefleht, dich mitzubringen. Er möchte dich se hen.« Bruce sagte: »Ich kann nicht.« Marty stand mehrere Meter von dem Auto entfernt und hatte die Hände in den Taschen stecken. Ihr Gesicht wirkte verbraucht, die Haare waren nicht gebürstet. Sie sah zu Boden. »Er hat uns verraten«, sagte Bruce. Er drehte das Radio auf. Ein Countrysong wurde gespielt. »Hat er nicht«, sagte Meg. »Geht ihn einfach besuchen. Verschwindet.« »Hat er nicht«, sagte Meg. Jetzt weinte sie. 443
»Ich werde sogar Dad anrufen. Ihr müßt mich nicht anflehen. Ist das gut? Und jetzt geht.« Er wußte, es war nicht gut, aber Meg und Marty gingen trotz dem. Am Tag der Hinrichtung ging Bruce nicht zur Arbeit. Er wollte die Gesichter seiner Kollegen nicht sehen. Er ertrug es nicht, in sei nem Büro zu sitzen. Eine Zeitlang überlegte er, ob er alleine aus gehen sollte, aber als er im Auto saß, fiel ihm nicht mehr ein, wie man fuhr. Er machte sich ein einfaches Essen, aber schon nach dem ersten Bissen wurde ihm übel. Am Nachmittag machte er ein Nicker chen, konnte aber nicht schlafen. Becky kam um halb sieben nach Hause. Sie bot ihm an, etwas zu essen zu machen, aber Bruce lehnte ab. Sie fragte ihn, ob sie etwas für ihn tun konnte. Er sagte ihr, es wäre das Beste, wenn sie heute abend Freunde besuchen würde. Sie ging. Bruce saß im Wohnzimmer und starrte den grauen Bildschirm des Fernsehers an. »Er hat uns verraten«, flüsterte er, und die Worte hallten furcht erregend laut in dem kleinen Zimmer. Sie hallten und verspotte ten ihn. Bruce hielt die Hände auf die Ohren. Er schrie: »Er hat uns ver raten!« Der Schrei vibrierte um ihn herum und über ihm bis die Worte selbst eine Lüge wurden. Die Worte waren eine Lüge. Bruce nahm sich zusammen und richtete sich auf. Großer Gott, dachte er. Er versuchte, sich an Henrys Gesicht zu erinnern, konn te es aber nicht. Er versuchte, sich Henrys Stimme vorzustellen, selbst die verzerrte Stimme aus dem Telefon der Besuchszelle. Er konnte sich nicht erinnern. Ja, es gab einen Verrat, aber die Lüge war schuld. Der Verrat ging nicht auf Henrys Konto. Er ging auf das von Bruce. Henrys Entscheidung, die Bruce niemals verstehen konnte, war im Wahnsinn und der Enge der Todeszelle getroffen worden. Bruces Entscheidung war eine vergebliche Übung in Strafe gewe sen, ein Verleugnen des Lebens, das bald enden würde. Und er würde seinen Bruder nie wiedersehen. Vier Minuten vor elf schaltete Bruce den Fernseher ein. Er knie te vor dem Bildschirm nieder, hielt den Blick gesenkt und drückte 444
die Hände auf das Glas. Glas, die große Trennwand, der große Entmenschlicher. Er wünschte sich, es wäre ein Traum und er könnte den Schlüs sel im Gras finden. Es gab nur eine Möglichkeit, Henry wiederzusehen. »Ich hab dich lieb, Mann«, sagte er. Tränen bildeten Streifen im Staub auf der Mattscheibe. »Verzeih mir.« Um elf Uhr wurde der intime Moment zwischen zwei Brüdern von Millionen faszinierten Zuschauern bejubelt. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber
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K. W. JETER
Blau an einem Ende, gelb am anderen war gut. Trinken war gut, weil es ihm ermöglichte, den Trinken Prozeß fein abzustimmen, den köstlichen, furchteinflößenden, nervösen Augenblick auszudehnen, damit zu spielen, als wäre er eine unendlich elastische Substanz, die immer dünner wurde, vom Tau zum Seil, zur Kordel, zur Schnur, zum Faden ... die Worte tanzten einen fröhlichen Nonsenssong in seinem Schä del... zu einer Reihe von Atomen, eines nach dem anderen ... Bis der elastische Faden, der köstliche Augenblick, schließlich riß. Darin bestand das ganze Spiel: zu sehen, wie weit er ihn deh nen konnte, ohne daß er riß. Ohne es zu vermasseln. Ohne zu weit zu gehen. Er wollte es ganz eindeutig nicht vermasseln. Nicht wieder, nicht noch einmal. Der Teil war überhaupt nicht ko misch. Er saß an der Bar und rollte die Kapsel mit dem Finger über die zerkratzte, zigarettenverbrannte Preßspanplatte. (Sehr interessan tes Preßspan; er hatte es früher schon lange und gründlich genug studiert, so daß er die mikroskopischen Worte lesen konnte, die dort verborgen waren.) Auch diesbezüglich mußte er vorsichtig sein. Wenn er zu fest auf die Kapsel drückte, konnte sie zerbre chen, aufplatzen, das bittere weiße Pulver sich ergießen. Das wäre ungeil, weil jeder sehen könnte, wie er das Pulver aufkratzte und vom Ende des Fingers saugte. Sie wußten es ohnehin schon, alle, der Barkeeper an den Zapfhähnen, der ihn beobachtete, die ande ren verstreuten Gäste mit ihren neugierigen Blicken, die sich ihm in den Rücken bohrten . . . Sie wußten es alle, aber er durfte es nicht vermasseln und zu offensichtlich sein. Auch das gehörte zu dem Spiel. Und so drückte er gerade fest genug auf die Kap sel, gerade leicht genug, rollte sie von sich weg, vermied die nas sen Ränder, wo er sein eigenes Glas abgestellt hatte, und rollte sie dann auf dieselbe Weise zurück.
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Mit der anderen Hand hob er das Glas und trank einen Schluck. Er könnte, wenn er wollte, die Kapsel zwischen Daumen und Zei gefinger hochheben, sie behutsam auf die Zunge legen und hin unterspülen, so daß das winzige Kügelchen seinen Hals hinunter rollte. Er befand sich in der entsprechenden Position: das Glas voll Bier, warm und schal, in einer Hand, der ausgestreckte Zeigefin ger der anderen hielt die Kapsel auf der Bar fest. Er betrachtete sich selbst im Spiegel hinter den Flaschenreihen. Die Spiegelbil der seiner Hände waren hinter den aufgestellten Gläsern verbor gen, aber er wußte, daß sie da waren. Es wäre das Klügste, die Kapsel zu schlucken, dann wäre die Welt sicherer. Und langweili ger. Das war das Problem. Wenn er sie schluckte, wäre das Spiel vorbei, jedenfalls bis zum Morgen. Ebensogut könnte er nach Hause gehen und die graue Woge des Fernsehers über seinen Kopf hinwegspülen lassen, eine murmelnde Flut, durch die er aufschauen würde, als befände er sich auf dem Grund eines leuchtenden Meeres. Ein Glas quietschte, als der Barkeeper es mit einem Geschirr tuch trocknete. Der Barkeeper sah von seinen rosa Händen auf, die ihrer Arbeit nachgingen, und betrachtete ihn, wie er dasaß; die Hände schmierten weiter mit dem feuchten Stoff über das Glas. Hinter ihm, an den Tischen der Bar, verstummten die anderen Trinkenden und hörten sich wie Vögel an . . . wie stumme Vögel, die auf einer Oberleitung saßen . . . er machte die Augen zu und sah die Telefonleitungen, die einen hitzeflimmernden Himmel durchschnitten, und die winzigen schwarzen Gestalten, die da oben schwebten und ihn beobachteten ... ein zerquetschtes In sekt, perfekt bis zu den Wirbelsäulen seiner steifen Papierbeine, zappelte in der Umklammerung eines Vogelschnabels, das Schweigen der anderen, die Staub und Straße nach ihrer winzigen Beute absuchten ... Er schlug die Augen auf. Er konnte sie im Spiegel sehen, gerade noch. Aber sie waren da, hinter ihm; die Umrisse von Vögeln mit ihren dunklen, glänzenden Schwingen und den Krallen, die sich an den Gläsern festklammerten ... ihre Knopfaugen betrachteten ihn voll unberechenbarem Haß und Gier... Er mußte sich tief über sein Glas beugen, um das Lächeln zu verbergen, das über sein Gesicht zu kommen drohte. Es ging nicht an — wo immer man sich auch aufhalten mochte —, es ging nicht an, daß man ganz für sich alleine saß und ein breites, be 447
schissenes Grinsen sehen ließ. Das wäre, als würde man sich die Einweisungspapiere ins Sanatorium an die Brust stecken und wie mit einem Neonleuchtschild mit ihnen herumlaufen. Aber es war komisch, sich Krähen vorzustellen, die um einen Tisch herumsa ßen und ihr Bier tranken. Heckle und Jeckyll kippen einen weg. Sie wußten, daß er innerlich über sie lachte, und er konnte auch ohne in den Spiegel zu sehen spüren, wie ihre finsteren Mienen immer verkniffener und haßerfüllter wurden. Darum allein drehte sich das Spiel ja. Er betrachtete seine Fin gerspitze, die die Kapsel ein paar Zentimeter hin und her rollte. So nahe am Rand zu segeln, daß man solche Dinge sah —wirklich sah —, Dinge, die man sonst nie bemerkte. Die sie einen nicht se hen lassen wollten, darum gaben sie einem die Kapseln, damit man sie nicht sah. Er legte den Kopf zu einem weiteren Schluck zurück und ließ das Bier sich ausrollen, eine gütige Schlange in seinem Magen. Als er verheiratet war... und gab es nicht jede Menge Ge schichten, die damit anfingen ... Zeit für alte Sagen, die andere epische Eröffnungszeile war: Als ich im Krankenhaus war... Er trank noch einen Schluck, bis zum letzten Zentimeter des Glases, und konzentrierte sich darauf, den kleinen Splitter der Erinne rung aus seinen tanzenden Gedanken zu bekommen. Als er noch verheiratet gewesen und sie ihn im Krankenhaus besuchen gekommen war ... diese Geschichte ... er hatte sich die fixe Idee in den Kopf gesetzt, daß er sie von ihr bekommen hatte, wie man sich die Grippe bei jemand anderem holt. Als wäre es ein Virus, etwas, das er in ihrem Schweiß geschmeckt hatte oder in ei ner rosa Körperöffnung. Eine sexuell übertragene Krankheit war es. Er hatte den Ärzten und Therapeuten nichts davon erzählt, weil er nicht wollte, daß sie es ihm wegnahmen. Die heimliche Hoffnung, die sich hartnäckig hielt — die Erinnerung daran machte das Bier in seinem Magen sauer —, war die, daß sie wie der vereint sein würden, er und seine Frau, wenn er herauskam, in dieser neuen Welt ganz für sich allein. Aber dazu war es nicht gekommen. Das machte ihn traurig. Er lehnte das taube Gesicht an die Knöchel einer Hand und betrach tete die Kapsel, die er auf der Bar hin und her rollte. Die Kapsel war in zwei hellen Farben gehalten, blau und gelb, der Name der Arzneimittelfirma stand in winzigen Buchstaben auf der Seite. Sie mußten ihre Arbeit lieben, überlegte er, wenn sie ihren Namen 448
auf jede winzige blau-gelbe Kapsel schrieben, die von ihrem Fließband rollte, die Buchstaben mit einem Airbrush auftrugen, der so fein wie eine Wimper sein mußte ... Er hegte keinen Groll gegen sie; sie wußten es einfach nicht besser. Und das mit seiner Frau war zu schade. Es hätte so schön sein können. Sie hätte auch gedacht, daß die schwarzen Vögel am Tisch hinter ihm komisch wären mit ihren zerzausten, wasser tropfenden Federn und den bösartig funkelnden Augen. Sie hatte alles Mögliche für komisch gehalten ... Das war das Problem ge wesen; er mußte es sich eingestehen. Das Geräusch von einem Messer und etwas Nassem drang in seinen Kopf ein und scheuchte die alten Erinnerungen auseinan der. Er sah auf und erblickte den Barkeeper, der eine Zitrone in Scheiben schnitt und den kleinen Plastikbehälter mit den hellro ten Kirschen und allen weiteren Zutaten, rohen geschälten Zwie beln und so weiter, füllte. Der Barkeeper sah ihn über die feuchten Hände hinweg an, die die Schneide des Messers hinabdrückten, und plötzlich verspürte er eine Panik, die ihm die Eingeweide zu sammenzog. Wenn das nun ... (sein Gehirn bekam kleine Rattenfüße, die auf seinen Schädel wänden herumwuselten und nach einem Ausweg suchten) . . . es war überhaupt kein Barkeeper, sondern etwas in einem Barkeeper, etwas, das durch einen langen Schlitz am Rücken in ihn hineingekrochen war, das den Kopf des Barkeepers wie einen Helm aufgezogen hatte und seine Hände in den feisten Händen des Barkeepers hielt? Die Augen im Kopf des Barkeepers sahen ihn an. Ihre Augen sahen ihn an. Und er hatte Angst. Er riß die Kapsel von der Bar und legte sie sich auf die Zunge. Aber seine Zunge war trocken, und sein Hals versagte ihm den Dienst. Alle starrten ihn an, der Barkeeper und die Vögel mit den zerzausten Federn hinter ihm, und er konnte nicht schlucken. Er wußte, es wäre nicht gut, einen Mundvoll aus dem Bierglas zu trinken — er würde es nur ausspucken und mit ihm die Kapsel. Er mußte weg von ihnen, weg von der Last ihrer Blicke, und zwar schnell, bevor er erstickte. Der Barhocker schwankte und kippte um ein Haar um, als er aufstand. Sein Herzschlag raste, aber er ging langsam, damit sie nicht sahen, daß er Angst hatte (es wäre sein Tod, sie würden 449
über ihn herfallen, wenn sie es wüßten), und zwängte sich an den Tischen und Stühlen vorbei. Mit der Kapsel auf seiner anschwel lenden Zunge, hinter den zusammengebissenen Zähnen einge sperrt. Wie schlau, daß er das halb volle Glas Bier auf der Bar hatte ste henlassen! Sie würden denken, daß er zurückkam! Er hatte sie schon getäuscht — wieder einmal! Er schaffte es bis zur Herrentoilette, einen schmalen Flur mit Münztelefon und Zigarettenautomat entlang, der um ihn herum schwankte und bebte. Er sank gegen die Wand, seine Hände schmierten über die glatten weißen Kacheln. Der ganze Raum war weiß und roch nach Desinfektionsmitteln — das rief Erinnerun gen ins Gedächtnis zurück. Noch nicht in Sicherheit. Er tastete hinter sich und fand das Türschloß, einen einfachen kleinen Riegel, den man in ein Loch auf der anderen Seite schob. Als er das geschafft hatte, entspann te er die Wirbelsäule und konnte wieder atmen. Er hätte auch schlucken und die Kapsel wohlbehalten in den Magen befördern können, aber das tat er nicht. Hier war er sicher, er konnte noch eir bißchen weiterspielen. Er rollte die kleine Kapsel auf der Zungenspitze herum, das kleine runde Ende klickerte gegen seine Zähne. Scheiß auf die Arschlöcher da draußen — sie wußten, hier war der Zutritt verbo ten neutrales Territorium. Und er hatte ihnen gegenüber einen Vorteil; wenn sie versuchten, ihm zu folgen, hier einzudringen, blieb ihm noch genügend Zeit, die Kapsel zu schlucken und sie zu besiegen, sie zu den langweiligen, normalen Wesen zu machen, die sie zu sein vorgaben. Er wußte, er würde das Spiel bald beenden müssen. Er war viel zu dicht davor, es im großen Maßstab zu vermasseln. Und das wollte er nicht — es war auch so schon schlimm genug geworden. Er wollte Mister Bad Daddy nicht wiedersehen, oder den Typ mit dem roten, nassen Gesicht, oder denjenigen, den er stets >Werfer wurm< nannte. Der ganzen Scheiße mußte er aus dem Weg gehen. Und ganz besonders, sie wiederzusehen — das wollte er ganz und gar nicht. Das viele Bier, das er während der vielen Stunden des Spiels getrunken hatte — er ging zum Pissoir und zog den Klip seines Reißverschlusses hinunter. Das weiße Porzellan glänzte, eine barocke Perle, sein eigenes 450
Spiegelbild schimmerte vage auf der polierten Oberfläche. Und die Chromteile, Leitung und Griff oben, die Abflußabdeckung gleich einer durchbohrten Münze — er wollte die Stirn gegen das kalte Metall legen und wegen seiner Schönheit weinen. Wut zog seine Brust wie ein Knoten zusammen, als er sah, daß jemand mit Klebeband ein X über das Pissoir geklebt und ein Schild mit der Aufschrift DEFEKT daran befestigt hatte. Diese Dreckskerle. Er stand vor der Kloschüssel, zog den Reißverschluß ganz nach unten, griff hinein. Die Kapsel auf seiner Zungenspitze w ar schlüpfrig geworden, die blau-gelbe Haut löste sich in seinem Speichel auf. Er würde sie bald schlucken müssen, andernfalls würde er das bittere Pulver schmecken, das herausquoll. Dann war sie plötzlich nicht mehr da, die Kapsel war fort, das winzige Gewicht verschwunden, was ihm rätselhaft vorkam, bis er ein glockenähnliches Geräusch hörte, das Plätschern des winzigen Gegenstands, der auf der Wasseroberfläche aufprallte. Scheiße... Er sah bestürzt nach unten und erblickte sie unter den Wellen, die sich kreisförmig zum Rand der Schüssel hin aus breiteten. Die Kapsel schwebte immer noch, das blaue Ende nach oben, dann das gelbe, so versank sie im Wasser. Er sah erstarrt zu, bis sie schließlich auf der inneren Krümmung des Porzellans lie genblieb. Die Kapsel hing am Ende des dunklen Lochs mit seinem glatten Rand; die schwache Strömung in der Kloschüssel wiegte sie zit ternd hin und her. Ein besorgtes Erschauern lief ihm über den Rücken, als er sich auf den Boden kniete und hineingriff. Die kalte Flüssigkeit saugte seinen Ärmel voll und durchnäßte ihn bis zum Ellbogen, während er — vorsichtig — nach der Kapsel tastete. Seine Fingerspitzen strichen über die Kapsel; sie entglitt sei nem Blick und kullerte weiter in die dunklen Nischen des Bek kens. Schwermütig und ängstlich ließ er das Gesicht auf den Rand der Schüssel sinken. Es tut mir leid, flüsterte er in seinem Kopf — er hatte das Spiel zu lange gespielt, hatte es über den kritischen Punkt hinausgedehnt, und jetzt wollte er nicht mehr spielen. Jetzt wollte er nur noch die Kapsel, wollte sie aus den Tiefen holen, am Waschbecken abspülen, sie schlucken und hier raus. An einen an deren Ort — irgendwohin —, wo er sicher wäre. 451
Der Rand drückte ihm unter die Achsel, als er weiter hinein griff. Das Porzellan war weich geworden und pulsierte im Rhyth mus seines eigenen Atems. Aber immer noch kalt und weiß, wie längst totes Fleisch. Er konnte fühlen, wie sich der feuchte Schlund spreizte, seine Hand in sich aufnahm, sich wieder pres send über seinem Handgelenk schloß. Die Kapsel tanzte im blinden Wasser, wich ihm aus, reizte ihn, noch weiter hineinzugreifen. Mit der anderen Hand stützte er sich am Wasserbehälter über der Schüssel ab. Inzwischen reichte ihm das Wasser bis zu den Achselhöhlen. Er konnte sein Murmeln und Seufzen dicht am Ohr hören. Die Kapsel konnte nur einen Zentimeter entfernt sein — ein schwacher elektrischer Funke sprang von ihrer Oberfläche zu sei nen ausgestreckten Fingerspitzen über. Löste sie sich bereits auf und ergoß ihre Medizin ins Wasser? Er weinte und biß sich auf die Lippen, während er seinen Arm bis zum Äußersten streckte. Meilenweit entfernt, hinter sich, hörte er ein Kratzen und Flat tern an der Toilettentür. Etwas versuchte einzudringen, zu ihm zu gelangen — sie wußten, daß er jetzt hilflos war. Seine andere Hand kratzte mit den Nägeln über den schwitzenden Tank. Er wollte nicht so gefunden werden, nicht so sterben. Der Rand der Schüssel veränderte die Form unter seinen Rip pen und zerbrach von einem fast perfekten Oval zu einer verbeul ten Ellipse. Dann weiter zu einem langen, glatten Schlitz, dessen Kanten seinen Arm berührten. Der Schlitz wurde schmaler, die Porzellanlippen quetschten seinen Bizeps. Weiter unten, wo er seinen Unterarm nicht mehr sehen konnte, war das Wasser wärmer und dicker geworden und schmiegte sich eng an seine Haut. Komm schon, du Miststück... Er stöhnte, Schweiß rann ihm über das Gesicht, und streckte die Finger im Rohr unter dem Boden aus. Ein Fingernagel strich über die schmelzende Haut der Kap sel. Hinter ihm hämmerten die Wesen draußen jetzt an die Tür, ihre Klauen kratzten und schabten, die Schnäbel und tückischen Glotzaugen unvorstellbar wild. Das Rohr wurde weich und schloß sich um seinen Arm, bis zum Ellbogen, öffnete und schloß sich mit saugenden, rhythmischen Kontraktionen um Bruchteile von Millimetern. Er konnte die von Adern durchzogene Oberfläche spüren, das Blut, das dicht unter 452
den Membranwänden pulsierte, die Wärme, die zu Hitze wurde, als die Kontraktionen sich dem Rhythmus seines eigenen Pulses anpaßten. Die Tür splitterte unter der Wucht ihrer Schläge. Du Miststück, du Scheißding ... Er weinte, Wut befreite sich aus seinem Herzen. Die Kontraktionen pflanzten sich bis in seine Wirbelsäule fort, eine Schlange, die sich brennend zusammenzog und ihn blendete. Er bekam etwas zu fassen, ballte die Hand zur Faust, strich mit den Knöcheln über die weichen Wände. Nicht die Kapsel, sondern etwas Größeres, das nachgab, als er fester zudrückte. Die Mitte pulsierte und explodierte dann in die Dunkelheit hinunter, die vor ihm verborgen war. Dann erblühte dieselbe Explosion in seiner Brust und riß ihm die Rippen auseinander. Während die Tür aufgerissen wurde und gräßliche Gesichter ihm entgegenstürmten, fiel er in die Dunkel heit und wußte, daß er sie betrogen hatte und gleichzeitig selbst um alles betrogen worden war. Er kam zu sich, als sie ihn in den Rettungswagen beförderten. Die schlimmen Wesen hatten sich wieder in ihre Verstecke verzo gen — er konnte sie nicht mehr sehen, und dafür war er dankbar. Vielleicht hatten sie ihm eine Dosis von irgend etwas verabreicht, eines der starken Beruhigungsmittel, die noch schneller und bes ser wirkten als die Kapseln. Ein Arzthelfer mit kaffeebraunem, lächelndem Gesicht beugte sich über ihn. »Keine Bange — Sie hatten gerade einen kleinen Herzinfarkt. Das ist alles. Wir bringen Sie an einen Ort, wo man Sie gut versorgen wird.« Die Gurte der Bahre fesselten ihm die Arme dicht an die Seiten, aber das störte ihn nicht. Es war schön, wieder ein Gegenstand in der Obhut von anderen zu sein. Sie alle Entscheidungen treffen zu lassen. Er machte die Augen zu und genoß das Gefühl des Flie gens, als sie die Bahre hochhoben. Jemand stieg hinter ihm ein und zog die Türen zu. Er schlug die Augen auf und betrachtete die komplizierten Ap parate. Asphalt rollte unter den Reifen; er konnte es hören. Hinter Chrom und Gummiteilen war alles weiß, wie das Porzellan der Toilette; das war das letzte, woran er sich erinnern konnte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Jetzt wurde ihm klar, daß er sich ganz darin befand. Nicht nur sein Arm. Alles. 453
Der Pfleger drehte sich um und sah ihn mit dem Gesicht seiner Ex-Frau an. Sie lächelte, und er spürte bereits, wie die warmen, weichen Wände ihn umfingen und in ihre heftige, endlose Umarmung zo gen. Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber
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WAYNE ALLEN SALLEE
Das Grinsen des Schmerzes Welcome back my friends To the Show that never ends We're so glad you could attend Come inside, come inside Emerson, Lake & Palmer Karn Evil 9,1973 Here I am again
Up on the stage
There I go
Turn the page
Bob Seger Turn The Page 1972
BRUCHSTÜCKHAFTEREMINESZENZEN AN DEN ERSTEN SOMMER
Früher einmal glaubte ich, daß das lauteste Geräusch, das man für das menschliche Ohr als erträglich bezeichnen konnte, jedenfalls nach meinen Maßstäben, der Lärm des Pendlerzugs auf dem Hochgleis war, wenn dieser in der nordöstlichen Ecke der Loop an der Ecke Lake und Wacker die Kurve nahm. Das trifft nicht mehr zu. Ich habe vor wenigen Sekunden erst ein ohrenbetäubenderes Geräusch kennengelernt: das rhythmische Schlagen meines eige nen Herzens in der Stille meines Apartments. Sehen Sie, ich habe Angst. Wird wirklich irgend jemanden in teressieren, was ich niederschreiben möchte? Ich bin kein be rühmter Politiker oder eine wunderschöne Lady, die in einer Fern sehquizsendung die Buchstaben dreht, und ich habe mit Sicher heit keine Fitness- und Schönheitstips weiterzugeben.
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Ich möchte Ihnen nur vermitteln, wie ich mit meiner cerebralen Schüttellähmung fertig werde. Ich erwarte nicht, daß Sie meine Krankheit verstehen; verdammt, nach mehr als einem Drittel ei nes Jahrhunderts auf diesem Erdball bin ich zu der Erkenntnis ge langt, daß die meisten Menschen Krüppel als sabbernde Quasi modos oder Variationen des Elefantenmenschen betrachten; einen von uns als Gast bei einer Party oder am Arbeitsplatz zu haben, ist etwa dasselbe, als würde eine Horde Vampire in Ihre persönli che Welt eindringen. Schieben Sie uns am Zahltag ruhig einen Vierteldollar zu, wenn Sie glauben, daß Sie deshalb in den Him mel kommen. Oh, ich bin wütend, aber ich werde nicht auf meine Seifenkiste voll leerer Tablettenröllchen und Ben-Gay-Tuben steigen und her umbrüllen wie die Anarchisten aus der Zeit der Depression, die den Bughouse Square bevölkerten. Ihnen ein Kapitel nach dem anderen meine Liebe/Haß-Beziehung zum normalen Teil der menschlichen Rasse darzulegen wäre fast genau so schlimm, als würde ich Ihnen neue Aerobicübungen oder meine Rezepte für die Diät >Letzte Hoffnung< mitteilen. Meine Wut ist eine Mauer, an die ich mich lehne, wenn Tablet ten und Salbe, Fusel und die olle debile Psychose nicht so wollen, wie ich will. Es scheint, als gäbe es keine schmerzstillenden Mittel mehr. O ja, selbstverständlich wäre da Selbstmord. Besten Dank, aber ich ziehe es vor, mein Schreiben als Selbstbefriedigung zu betrachten. Und der Teufel kann sich meinethalben Hitlers verwe sten Fimmel reinschieben, mir egal. Er wird mich noch lange nicht bekommen, wenn ich diese Wor te ausgespien habe. Ich leide seit meiner Geburt an cerebraler Schüttellähmung; ich hatte einen Blutsturz im Gehirn, als meine Mutter während den letzten Minuten von Ben Hur, das im klimatisierten Biograph ge zeigt wurde, dem Kino, in dem John Dillinger 1934 erschossen wurde, vorzeitig die Wehen bekam. Ich bewerkstelligte meinen verfrühten, erzwungenen Eintritt in die Welt in der Mitte der drit ten Reihe, zwanzig Jahre nachdem die Dame in Rot den Gangster an das FBI verraten hatte. Ich erfinde die Geschichte meiner Ge burt nicht; wäre es so, hätte ich behauptet, daß ich Charleton He stons Stimme als die meines Schöpfers gehört habe. Und ich glaube nicht, daß meine bizarre Geburt etwas damit zu tun hatte, daß ich Schriftsteller geworden bin. Möglicherweise ha 456
ben Sie meine anderen Romane gesehen, oder die Gedichtsamm lung, die letztes Jahr veröffentlicht wurde. Aber dies hier wird ein wenig anders. Dies handelt davon, wie es ist, wenn die Worte ei nem im Kopf feststecken, weil die Hände Werwolfkrallen sind so wie meine jetzt und man schreien will, lieber Gott, laß es aufhö ren, laß es einfach aufhören, wenn man grinst vor Schmerzen, ei nen Sekundenbruchteil davon entfernt, sich die Lippen zu zerbei ßen, man aber statt dessen die Zähne zusammenbeißt und grinst, während einem der Wahnsinn ins Gehirn schneidet wie Norman Bates' Lieblingsmesser. Meine Nerven sind Koffein und meine Finger Zylinder, in de nen Glasscherben stecken. Ich bin ein Schriftsteller, der etwas von substantiellem Wert hinterlassen möchte, während er zuckend und stolpernd auf das Grab zutorkelt, unter Krämpfen seltsame Worte auf jeden Grabstein kritzelt, an dem er vorbeikommt, auf jeden Feind, den er überlebt (auch wenn diese zusammenhängen den Verben und Substantive nur symbolisch auf ihre Leiber ge schrieben werden), oder auf die Seite jedes Alptraums, aus dem er erwacht. Keiner von Ihnen kann sich einen Begriff davon machen, was ich erdulde; ich bin nur ein weiterer wahnsinniger Unbekannter wie die Hausfrau mit Platzangst oder der Kriegsveteran im Eck haus. Aber jetzt habe ich Sie am Hals und an den Eiern. Und ich werde nicht loslassen, mein Freund. Also erwarten Sie keine Hold Caufield-Scheiße. Dies ist nicht Der Fänger im Roggen. Es ist mein Vermächtnis und mein Lernmittel, weil jeder Schriftsteller sein ei gener Schüler ist. Und die Welt drehte sich weiter.
Don't you know me? I'm the boy next door ... Huey Lewis & The Newts Walking On A Thin Line, 1983
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Sechster August Hör auf, unbehaglich dreinzuschauen. Hör auf, dein Mädchen oder dein Auto oder die südkalifornischen Wellen anzusehen, die über deine Füße spülen. Be trachte statt dessen deine Hände. Spann die Mus keln. Bekomm eine Erektion, indem du nur daran denkst. Geh auf einer geraden Linie. Macht es dir keine Angst, daß alles so einfach ist? Siebter August Es erfordert meine ganze Willenskraft, daß ich mir die Reste mei nes Haars nicht in Büscheln ausreiße, statt eine Amokfahrt zu ver anstalten wie Huberty oder Wilder, weil ich weiß, das wäre falsch. Ich bin zu stark, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen, und ich habe erst zehn Minuten nach elf meine erste Schmerzta blette genommen, was für mich eine große Leistung darstellt. Nein, ich bin nicht süchtig nach den kleinen Burschen. Ich muß sie nehmen, weil mein Rücken wie bei einer Kreuzigung schmerzt und meine Arme und Hände hohle Äste voll mit Glas sind, das an einem Dutzend Stellen gesplittert ist. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie es sein könnte, Frank Furillo oder A. J. Simon oder auch ein richtiger Mensch wie Richard Matheson oder Den nis Cassady zu sein, die nicht an einer Krankheit leiden, die die meisten nicht einmal richtig aussprechen können. Am meisten aber fühle ich mich wie H. P. Lovecraft, der allein lebte und schrieb und jung starb. Ich bin nicht der Meinung, daß man die Worte >ficken< oder >kommen< für etwas Effektiveres schreiben muß. Ich werde zunehmend und irrational eifersüchtig auf Yup pies. Aber ich bin nicht paranoid, damit sprechen also schon zwei Punkte für mich. Ich will nicht im Lotto gewinnen, ich will nur ein Held sein. Ich weiß, ich würde einer sein, wenn es zu einem Atomkrieg käme. Mädchen wollen nicht mit einem ausgehen, wenn man nach Ben-Gay riecht oder die Arme nicht richtig um sie legen kann. Ich weiß, nicht nur Frauen sind diesbezüglich ober flächlich; mein Freund zum Beispiel weigert sich, mit dicken Frauen auszugehen. Meine Hand tut weh vom Tippen. Ich benütze nur zwei Finger der linken Hand. Meine rechte Hand ist dumm. 458
Sie trifft nicht einmal die Leertaste. Manchmal liege ich im Bett und denke mir, daß diese ganze Sache die Hölle ist, vor der unsere Mütter uns als Kinder immer gewarnt haben, wenn sie uns ein schüchtern wollten, damit wir unsere Teller leeraßen. Achter August Stunden später, dieses Tagebuch immer noch in der Hand, tötet die Sonne die Nacht, und ich denke über eine andere Frage nach: Warum habe ich nicht mit den anderen Punks von der High School, die sich über mich lustig gemacht haben, das Rauchen an gefangen? Zehnter August Dieser Typ hat mich angesehen, während ich die LaSalle entlan gegangen bin, und mir wurde klar, ich muß diese Worte laut aus gesprochen haben, damit ich sie nicht vergesse. Am Abend, als ich im Fabers an der Jackson saß, fiel mir auf, daß die Blondine ne ben mir T. E. D. Kleins MorgenGrauen las, aber ich wußte, nicht einmal mit diesem Gesprächsthema würde sie mit jemandem re den wollen, der nicht einmal ein Messer in der rechten Hand hal ten kann, um seinen Schweinebraten mit Soße zu schneiden. Au ßerdem zündete sie sich nach ihrer Schokocreme eine Tareyton an und knickte beim Lesen den Rücken des Taschenbuchs. Ich gebe sorgfältig auf meine Bücher acht, von den limitierten StephenKing-Ausgaben bis zu den Captain-Atom-Comics. Das können sie auf meinen Grabstein schreiben. Ich weiß, ich werde Mitte der neunziger Jahre tot sein. Manchmal lache ich zitternd wie ein Mann, der einen Raubüberfall auf dem Bahnsteig Thornton El überstanden hat. Ich denke: Was ist aus mir geworden? Dann ist meine Mittagspause vorbei. Vierzehnter August Ich ringe an Maschine 12 im Studio Nautilus nach Luft. Der Mann neben mir hebt Gewichte mit Buchstaben, die auf einem Scrabble feld jede Menge Punkte bringen würden. Meine Buchstaben 459
könnte man mühelos auf jedem Augentestplakat erkennen. Die hübsche Aerobiclehrerin lacht und weiß nicht, daß ich es ernst meine, als ich sage, ich bringe mich in Form für die Hölle. Zehnter September:
Ein Brief an Whoopi Goldberg
Schwellen. Darum handelt es sich, Baby. Am Abgrund wandeln, Bananenschalen in Form von Lektoren und Busfahrern; Frauen in roten, ausgefransten Farbbändern. Und ein paar leere Tuben BenGay zum Abrunden und als zusätzlicher Nervenkitzel. In nur ei nem Jahr habe ich mehr veröffentlicht, als ich je für möglich ge halten hätte; ich machte mehrere Menschen unsterblich, von de nen einige noch leben; kotzte das tiefste meines warmen Erbro chenen aus, und alles im Namen geistiger Gesundheit. Slip sli ding away — davongleiten in Ablehnungsbriefen und Auszeich nungen. Nach Norden ziehen, neue Leute kennenlernen, wie z. B. Mary Lou letzten Freitagabend im Hamilton's, dem dritten Finger meiner linken Hand beibringen, die 9 in 1992 zu tippen. Zwei Jobs gleichzeitig, damit meine Rückenschmerzen vergoldet werden, während ich grinse wie eine Monstrosität aus einem geschmack losen Dr.-Pepper-Werbespot. Ich sah dich als verkrüppelte Frau auf einem Videoband von HBO, das meine Cousine Denise aus Kentucky vorbeigebracht hat. Diese ganzen Worte verknüpfen sich wie Opossumeingeweide und halten eine weitere Schwelle zusammen. Neue Umgebungen auf das alte blaue '59er Modell Schüttellähmung gemalt, unbarmherzig wie die Sonne. Eines von Jerrys Pflegekindern. Ich habe wirklich Angst, daß ich alles von vorne durchmachen muß, wenn ich sterbe. Für eine andere Menge herumreisen und so viele >hot licks< wie möglich bekommen. Ich werde verrückt. Möchten Sie mich begleiten? Fünfzehnter September 17:41 Uhr. Der Mann im Rollstuhl steht nicht an sei nem Platz beim Eingang des Foremost Spirituosen ladens. Zu kalt. Der Herbst ist früh gekommen. Der Wind kräuselt höhnische Tentakel, die Blätter fallen 460
noch nicht. Ich hindere meine Hände daran, sich in die Taschen meiner Sportjacke zu verkriechen. Trotz ist die beste Rache. Neunzehnter September Normalerweise spreche ich mit Elvis, weil er die Po sition verstehen kann, in der ich mich befinde. Er war gezwungen, sein Leben so zu leben, wie es der Oberst wollte. Ich muß so leben, wie es die Spender von Schmerz und Verzückung diktieren. Ha, das ist komisch. Die Spender diktieren, ich schreibe. So ta ke a letter, Maria, adress it to my knife — nimm ei nen Brief, Maria, adressiere ihn an mein Messer. (Bitte beachten Sie, daß die Bläser zu meinem wahn sinnigen Grinsen des Schmerzes stumm bleiben.) Falls Elvis irgendwo in der Hölle auf Tournee ist, spreche ich mit Robert. Er ist der Mann im Rollstuhl, dessen Platz vor der Bank Ecke LaSalle und Madison ist. Meine Freunde. Fünfundzwanzigster September Klasse, sprechen wir heute über Gottes Willen. Die Leute werden sagen, es war Gottes Wille, daß die vier Nonnen in El Salvador vergewaltigt und getötet wurden; daß die kleine Samantha Smith bei dem Flugzeugabsturz in Maine ums Leben kam; Gottes Wille hinderte die Hände von achtunddreißig Menschen daran, die Poli zei anzurufen, wodurch Kitty Genovese hätte gerettet werden können. Und es ist Gottes Wille, daß ich auf diesen schmutzigen Straßen gehe, während Danny und Robert in ihren Roll stuhlen sitzen und die Ewigkeit betrachten, die mit einem breiten, be schissenen Grinsen im Gesicht an ihnen vorbeimarschiert. Be streitet es nicht, Kinder: Ihr alle betrachtet Gottes Willen als kläg liche Ausrede für sämtliche Tragödien, die über euch gekommen sind. Dafür kämpfen die Menschen im Libanon, und vergessen wir nicht die Polizistenwitwen, die die Straßen von Belfast säu men. Nein, Gottes Wege sind unergründlich. Großer allmächtiger 461
Gott. Kannst Du mir ein lautes Halleluja dafür geben, daß Richard Speck 1966 die acht Krankenschwestern ermordet hat? Ich dachte mir, daß Du das kannst. Und es wird die Hand Gottes sein, die den roten Knopf drückt und uns alle auf die Knie zwingt, damit wir in dem Augenblick, bevor wir zu Asche werden, die große, penisförmige Pilzwolke anbeten können. Oder eine Salzsäule, könnte man sagen. Christus betrat die Halle eines Hotels, gab dem Inhaber drei Nägel und fragte ihn: Können Sie mich für eine Nacht festnageln? Klasse entlassen. Dritter Oktober Die vielen Worte und Phrasen, die gegen mein Ge hirn drücken und Geräusche von sich geben wie nasse Handflächen auf Plexiglas. Porträt des Künst lers ohne die leiseste Idee, weshalb er diese Worte weiter auf Eaton's Opaque Diamond Bond Papier schreiben sollte. Als wäre ich eine Art Apostel. Wenn ich sagen würde, daß meine Freunde in mei nem Schatten an der Wand leben, würden die Gaffer und Glotzer mich für Son of Sam halten, und sie würden sich im Büro flüsternd darüber unterhalten, gleich nach der Geschichte von Rudolf Nurejew, der an AIDS starb. Aber da sind sie, flattern im Licht der Natriumdampflampen an der Fargo und Winchester. Vielleicht ist es auch nur der Schmutz des Tages auf meinen erschöpften Lidern. Wenn es so etwas wie Seelen gibt, werde ich ihnen bald wieder die Hände schütteln. Das nennt man das Kumpel-System. Vierter Oktober Mittlerweile ist Ihnen alles bloßgelegt und erklärt worden, wie die diesjährigen Ideen für Urlaubsmitbringsel in der David Letterman Show, aber doch gleichzeitig irgendwie so geheimnisvoll wie Kir bys >Forever People< oder Lovercrafts Cthulhu-Mythos. Aber in den drei Monaten, seit ich dies schreibe, wurden weder Züge noch Dantes Inferno erwähnt. Was soll das auch mit diesem gewaltigen 462
Phallussymbol U-Bahn? Zunächst einmal handelt es sich nicht um das Unterirdische; es handelt sich um die gehobene Hölle der Stadt, über die ich schreibe. Das Inferno ist eine große, einäugige Schlange, das stimmt, aber ihr Kopf leuchtet wie ein Fanal durch die Straßen, schneidet die Pulsadern der Nacht auf und vibriert derweil wie eine Schlampe von der Halsted Street oder ein Hund, der Flöhe abschüttelt. Sie ist ein gigantisches Möbiusband, das die Loop umkreist, der Wurm Ouroboros, der ewig seinen Schwanz verschlingt. Sie ist die Kette meiner Gedanken. Kann ich jetzt ge hen? Vierzehnter Oktober Ist es zuviel für mich, mich zu fragen, ob ich nicht weine und an meiner Wirbelsäule reiße, wenn ich dies in zwei Jahren abtippe? Mein Armband juckt, mein Ben-Gay-Rücken brennt, und ich habe Reve noch nicht einmal kennengelernt, habe ihr Bild mehr oder weniger als Inspiration. In was für ein Schla massel habe ich mich gebracht.
Fünfzehnter Oktober das grinsen des Schmerzes stellte sich ein der tod sagte baby, trinken wir wein Einundzwanzigster Oktober Die Schmerzen kamen heute zurück wie alte Be kannte, die gerade eine schlimme Beziehung abge brochen haben und jemanden brauchen, an den sie sich klammern können. Gegen vierzehn Uhr ver schüttete ich meine Pepsi, weil die Leere lockte. Die Leere war undurchdringlich, krebsähnliche Finger, die streicheln und nach Methan riechen. Hier sehe ich Elvis und Busha, Melvin Malone und Vic Mor row. Manchmal kommt Desmond von der Küste zu 463
einem Besuch. Hören Sie, ich will heute nicht mehr schreiben. Vierundzwanzigster Oktober Ich las eine von Kirby McCauley herausgegebene Anthologie und hörte ständig einen Mann fragen, ob dies schon die Howard Street sei. Das ist die Endhaltestelle der El. Niemand gab ihm eine Antwort; ich las weiter. Als er zum fünften Mal fragte, war er von seinem Sitz aufgestanden, und alle merkten, daß er blind war. Er hatte die Augen zugekniffen und trug eine Krawatte von Barney Miller. Sie wissen, was für eine ich meine. Nun war er eine At traktion für die Pendler, die kicherten und tuschelten, daß seine Kleidung nicht zusammen paßte. Falls auch nur einer der Passa giere eine leichte Arthritis oder einen verdorbenen Magen hatte, ließen sie es durch ihr Kichern und ihre witzigen Bemerkungen nicht erkennen. Außer meinen Augen schätze ich nur noch eines, meinen linken Daumen und Zeigefinger. Und weit abgeschlagen, an dritter Stelle: meine geistige Gesundheit. Sechsundzwanzigster Oktober Ich bin heute nacht in Iowa, Sam Sam ich bin grüne Eier und Speck. Verschwendete meine Zeit damit, mein Problem den Einheimischen am Fluß zu erklä ren, die stets nach mehr dürsten. Dann wieder der Traum von der Treppe. Einst führte sie, wie immer ohne Geländer, auf Highwayasphalt zum Verstand. Heute bestand sie aus dem Beton von Kathedralen. Wissen Sie, manchmal werde ich nicht in Bars hin eingelassen, weil ich gegen Bekleidungsvorschriften verstoße, obwohl ich nicht sabbere. Ich erwachte durch das Plätschern. Ein Einheimischer warf defor mierte Totgeburten ins dunkle Wasser und kippte dann noch mehr Bier. Viel später schlief ich nicht mehr.
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Neurtundzwanzigster Oktober Es wird jetzt früh dunkel, und ich frage mich, was ungeschrieben bleibt, wenn ich wegen meiner Brief tasche überfallen werde und die Scheine der Lotterie von Iowa abgenommen bekomme, vielleicht werde ich nicht in rote Lieferwagen gezerrt, wie es der Rot kehlchen-Killer vor ein paar Jahren mit Mädchen machte, verblute aber bevor ich mich zu meiner Tür schleppen kann und nur den weißen Schneeregen sehe der Buh sagt und dieses Wort wer weiß wie lan ge in meinen Kopf regnen läßt? Nach dem Gehirn tod. Wäre ich nicht zu sehr damit beschäftigt, vor diesen Dämonen zu fliehen, die mein Gehirn infizie ren, würde ich versuchen herauszufinden, weshalb sie überhaupt mich ausgesucht haben. Dreißigster Oktober So unvermeidlich wie jeder Höhepunkt einer Wie derholung von Starsky & Hutch, hat die neue Okto berdunkelheit Billy und Robert und den alten Bur schen gestohlen, der nach Scheiße roch, und auch ihre Rollstühle; und die Bänker und Angestellten, Sekretärinnen und Bauarbeiter atmeten alle erleich tert auf, sogen den Monat in sich auf wie Sonnenan beter und gingen dem dezemberlichen Klangklang lang und Gesang der Heilsarmee aus dem Weg ... Zwölfter November Es war schrecklich ... träumte letzte Nacht, daß es mir auf unerklärliche Weise gut ging; Sie wissen schon, kein Grinsen des Schmerzes, keine Tabletten. Ja, den hatte ich auch schon einmal, aber dieses Mal schrieb ich nicht. Ich ging nach der Arbeit Gewichte heben, trug kurzärmlige Hemden mit bunten Ha waiimustern ohne mich zu schämen, hielt Mädchen 465
fleisch in den bloßen Armen und staunte über meine rechte Hand und wie sie funktionierte. Aber ich schrieb nicht. Kein Wort. Der Traum war in Farbe und es war Frühling und ich hoffe, daß ich das nie wieder durchmachen muß. Nie wieder. Großer Gott. Neunter Dezember ich sah einen zerknitterten mann wie eine zusam mengedrückte blechdose und die Überreste seines schoßes können keinen dank spenden weil die krankheit auch in seiner zunge steckt und seine wor te kommen heraus wie eine dicke fette katze die ein distanziertes mißfallen heraus knurrt ich will her ausfinden ob er hat was ich habe MS MD CP bis der banker in hellblau ihm einen dollar vor das schwarze gesicht mit dem zähnefletschenden grinsen des Schmerzes hielt und sich umsah ob jemand ihn und seinen akt brüderlicher nächstenliebe beobachtete angewidert von dem banker der mit langen ausgrei fenden schritten zu einem taxi am bordstein geht schenke ich dem mann ein lächeln und der augen blick ist vorbei und ich laufe zum Mandel Building zurück und weine auf der toilette im vierzehnten stock. Januar wessen fledermauskuß wird mich als nächstes lieb
kosen?
seht her! Ich bin dürr und könnte eine katze sein!
Januar (4 ... 5 ...?) Die Schreibmaschine ist Weihwasser, meine mon strösen Finger meiden die Arthritis, ein lebendes Wesen, das Krämpfe in meinen Körper atmet. Der Januar hat nicht die Absicht, sich zu verabschieden, 466
und ic h bin ein Ausgestoßener vom Planet der Affen und sitze hier mit Knöcheln wie Ausstechförmchen und drücke einen Zuckerguß aus Ben-Gay auf. Nur ein weiterer Anfall von Veitstanz, Baby, also unver drossen weiter: sorge dich um deine Autoraten und die versäumten Verabredungen zum Essen. Ihr seid alle blinde Narren und ich beneide euch um eure ge sunden Fingerspitzen. Februar der Wind vom See schlägt mich zu Klump, Februarböen brechen meine arthritischen Knochen so mühelos wie ein vertrauter Fremder eine Cellistin unter die quietschenden Reifen der Douglas El stoßen könnte Erster März Meine Krankheit ist heute erträglich, die Glasknochen leicht gesplittert, kleine Armeen bestürmen meine Sehnen, aber sie verschwinden wieder, während ich unbeholfen krieche wie jemand mit Koffein statt Blut: Ich bin in diesem Rahmen gefangen, jedes Bild in unterschiedlichen Gehirnzellen eingeschlossen weil ich zu verkrüppelt zum Schreiben bin, und hinter mir sitzen zwei Sekretärinnen und reden, und reden ... Fünfzehnter März Nachricht für Maureen: das war's also? wir sind alle Trottel wegen einer dummen Bemerkung von einem Macho-Arschloch. Nun, Liebes, wie würde es dir ge 467
fallen, verkrüppelt zu sein, Augen von Schmerzmit teln verquollen, schlurfender Gang ohne ein Bier im Magen, angestarrt und ausgelacht, unfähig das Tele fon zu wählen oder einen zu kippen, während man auf die Verbindung wartet, wie Hemingway das konnte, oder die Mädchen zu sehen, die mit der Bos haftigkeit im Monstrositätenkabinett über den wan delnden Kadaver tuscheln, der mit seinem Krampf in der Ecke sitzt. Ich habe genug gesagt und hasse mich dafür, aber ich bin weder zurückgeblieben noch blind. Zweiter April Die meisten Leute wissen nicht, wo ich gesteckt ha be. Ich blieb vage und machte widersprüchliche An gaben. Manche vermuten die Qualen eines Asyls, andere sprechen von einer religiösen Zurückgezo genheit. Ihr habt alle recht: Ich war in meinem Kopf. Habe die große Führung durch das Haus gemacht, das die Verdammnis gebaut hat. Gene alternativer Schicksale leuchten grün an Gallertwänden. Mich erfüllt mir Sorge, daß der billige Verputz meines Schädels bröckelt.
Dritter April Das Grinsen des Schmerzes tanzt den Bristol Stomp auf meinem Rücken. Mein Schweiß rinnt rot vor Un glauben. Angeblich soll es mir im Grün und Blau gut gehen. Aber es ist trotzdem eine freudlose Fahr stuhlfahrt. Trotzdem. Das Grinsen des Schmerzes macht mit mir, was Dracula mit Renfield gemacht hat. Ich bin der Vertraute des Grinsens des Schmer zes, und das Grinsen des Schmerzes ist allzu ver traut mit mir. Schreib das auf meinen Grabstein, Ro ter Reiter. 468
Vierter April L.A. wußte den heutigen Sonnenschein nicht zu schätzen. 27 ist nichts für uns harte Kerle, die im nördlichen Verfall des Rostgürtels hausen. Kann Bil ly und Robert nicht finden. Keine Spuren von Roll stühlen auf dem Gehweg, ich trauere um die Hori zonte ihres Lächelns. Fünfter April Nägel schwarz von Salbe,
ein schlurfender Bewohner von Innsmouth
mit passendem kahlem Kopf
(dieser Ausdruck, dieser Ausdruck,
wie ein Ghul auf der Titelseite),
es dauert Stunden, den Mut aufzubringen,
das Geflecht meiner Fingerspitzen zu
schneiden, aber nur Sekunden,
bis Blut aus meiner Wange fließt.
Fünfzehnter April Ich erreiche mein Apartment im zweiten Stock er schöpft, aber ohne die Resignation der Alten. Mein Bart wird weißer. Ich sage, das liegt an der Sonne, und vielleicht halten mich die Leute für einen Surfer. Sechzehnter April Ich verdränge die Schmerzen mit dem Gedanken, daß ich mich glücklich schätzen kann, kauen und einschenken und gebutterte Hörnchen essen zu kön nen, den Reißverschluß hochziehen, das alles sind kleine Siege, denn ich kann meine Kontaktlinsen nicht einfügen, ohne meine roten Augen zu verlet 469
zen oder mir den Hinterkopf kämmen; ich fange an zu stottern, und der Himmel weiß, die Tabletten werden mein Herz zerstören. Wissen Sie, manchmal erkläre ich mir das dritte Gleis der U-Bahn vernunft mäßig. Zwanzigster April habe eine halbe Stunde mit Ben-Gay und ein paar Zeilen Mist totgeschlagen — das Kokain des Füllers kratzt über meine Papieradern. Meine Schreibma schine ist meine Geliebte und meine Psychiaterin. Zweiundzwanzigster April bis zum Wochenende könnte ich einen neuen Job ha ben. Nettes Haus mit Blick auf den Lake Michigan, und es geht mir so gut, mir ist gleichgültig, daß die Temperatur wieder auf etwa dreizehn gefallen ist. Mein Verstand ist okay, auch wenn ich eine Karfrei tagskreuzigung auf dem Rücken habe, und mein rechter Arm hat nichts zu tun. Fünfundzwanzigster April eine gute Karfreitagskreuzigung läuft mir über den Rücken wie eine Ameisenarmee auf Gelee. Sehen Sie, jetzt ist der Tag der Wiederauferstehung; ich fühle mich, als wäre ich von den Toten auferstanden (hi, wie geht es dir, Babe?) Ich gehe wieder auf den schmutzigen Straßen, Billy ist ein Opfer des Win ters, eine Gabe im Tempel Chicago. Als ich von dem bröckelnden Bordstein steige, blutet die buntschek kige Menge Freude.
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Dreißigster April in der menge der Stoßzeit dachte ich, ich sehe Billys rollstuhl wo der spirituosenladen an die el haltesteile grenzt, aber es war nur ein weggeworfener regenschirm. Bin ich egoistisch in meiner mutlosigkeit? Sechster Mai kämpfe mit krawatte und manschettenknöpfen mei ne erste hochzeit seit jähren, ich verzweifle so leicht, bin wie ein 13jähriger nach dem nuklearen holo caust, körperliche Beziehungen so leicht für andere, aber niemals für mich, niemals für mich Zwölfter Mai ich glaube, ich schreibe einen song und widme ihn der arbeitenden bevölkerung ich nenne ihn >Euch wird der Geruch von Ben-Gay fehlen, wenn ich ein mal nicht mehr bin .. .< Dreizehnter Mai es ist ein wunderschöner Tag. Ich verweile vor dem Briefkasten und warte geduldig, wie ein Hund auf einen Knochen, auf den Umschlag meiner Nachba rin, gefüllt mit Kodeintabletten, die sie letzte Woche von ihrem Zahnarzt bekommen hat Vierzehnter Mai Ich erinnere mich noch allzu deutlich an meine Wie derauferstehung letztes Frühjahr. Es ist fast Som 471
mer, Herrgott, bedeutet das, daß Chicago die Hölle ist? Kennst du die Antwort, Elvis? Hunka hunka bur ning was? Burning love? Grinsen des Schmerzes? Zum Teufel damit. Meine Augen sind glasig, starr, der Zug zwischen Bissell und Fremont, und ich ver suche vergebens, mich an Witze aus meiner Kindheit zu erinnern. Ameisen, die Stiefel tragen, marschie ren auf meinem Rücken, meine Arme sind Koffein. Können Sie sagen: Beiß dir auf die Lippen, damit die Schmerzen nur einmal eine Sekunde im Gesicht sind, statt überall sonst? Können Sie das sagen? Ich dachte es mir. Es ist ein wunderschöner Tag in der Gegend. Fünfzehnter Mai definieren wir einmal >Krampf<, Kinder. Bohrt in den entzündeten Muskel und erlebt dasselbe Tastgefühl, das ihr empfindet, wenn ihr in eine zugeschraubte Tube Pomade bohren wollt. Meine Hände vibrieren ständig, als würde ich ständig auf der Verwerfung eines Erdbebens stehen. Die Vibrationen sind wie kleine Elritzen, die unter meiner Haut schwimmen. So muß sich Krebs anfühlen.
Zwanzigster Mai Der Fernseher ist nicht defekt. Der innere Verstand gehört immer mir, krallt euch in mein Fleisch, meine Knochen, packt sie im Tod sum mend, denn keiner wird mich lebend bekommen. Selbst heute, wenn meine Schüttellähmung wie krebsverseuchter Zuckerguß über meine Sehnen tropft, mein Gesicht verzerrt zum ewigen Grinsen des Schmerzes. Ich versuche hier, folgendes zu sa gen: Mein Körper ist die äußerste Grenze, und ich bin nicht mehr die Stimme der Kontrolle. 472
Einundzwanzigster Mai Auf Tournee: alle Mitglieder haben hippe Namen wie Dolobid & Flexaril, in Harmonie mit Motrin; Cortison wimmert rot an den Knochen, während Elavil einen mit einer alten Elvis-Melodie mit dem Titel Sucht niederknüppelt; und das Demerol be täubt einen mit seiner friedlichen Seele in der Nacht. Sie nennen sich selbst The Chemical Dependencies — Abhängigkeit von Chemikalien — und sind un unterbrochen auf Tournee durch meinen Körper. Ich wirble in meinem Veitstanz herum, während das Ko dein wirkungslos plärrt.
Zwölfter Juli vor zehn Monaten habe ich mit diesem Tagebuch an gefangen, seit das Grinsen des Schmerzes gekom men und geblieben ist. Ah, aber durch das ewige La chen über diese Lächerlichkeit schreibe und winde ich mich unablässig. Ich nähere mich meinem zwei ten Sommer in der Hölle. Betreten auf eigene Ge fahr. Achtundzwanzigster Juni Twin Lakes, Wisconsin.
Du hast einen Wisconsiner Rasen gemäht, der wie
ein Relief von Europa geformt war. Großer Mann,
kleiner Sieg. Vielleicht hast du es getan, damit du
diesen Eintrag schreiben kannst, Haar schweißnaß,
der Atem harte Murmeln, pack den Füller, Mann,
turn the page — blättere die Seite um.
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Dreißigster Juni Ich glaube, glaube wirklich, wenn Sie wollten, könn ten Sie den Finger durch das Grinsen des Schmerzes in meinen Schädel bohren und Zweifel finden, die wie Salingers Narben an Ihren Fingerspitzen kleben bleiben, naß wie George Romeros Genie, erstickend wie Charles Starkweathers Wahnsinn. *
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*
»If you could see me now ...« Elvis Presley Loving Arms 1975 *
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*
Erster Juli herrgott ich habe das Klischee vom Grinsen des Schmerzes durch und durch satt, sah eine schlafende Frau im Bus, Mund offen, der Kopf bewegte sich im Rhythmus der Straße auf und ab, wodurch sie aus sah, als würde sie einem unsichtbaren einen blasen, ich kann nicht mehr schlafen. Heute, in der Retro spektive: Ist diese ganze Scheiße wirklich der ameri kanische Traum? Dritter Juli Ich sitze im Büro und bemühe mich, den Verstand nicht zu verlieren, und das Lachen der Sekretärin ist Salzwasser in meinen Lungen
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Siebter Juli im Drogenrausch der Wirklichkeit und das, mein Freund, ist genug, o ja, rock it, Elvis. Ich nehme Ta bletten und Fusel wie ein gewöhnliches höfliches Abwischen der Wange der Gesellschaft mit Serviet ten die Tabletten heben auf was die Kapseln bewir ken und der Fusel verdammt ich weiß nicht hast du diese Pillchen gekippt Elvis ich spreche mit dem Schatten eines lange toten Bruders dabei hatte ich nie einen Zwilling nur diesen Wurm im Gehirn frag Patty oder Stacy hunka hunka burning love we can't go on together with suspicious minds Elavil und De merol mit einem Elvisfänger Ma'am das macht die Rock and Roll Heavies soooooo schön Neunter September heute 33 Jahre alt spucke Gehirnblut in meine Augen rasierte mich wie Nicholson in diesem Kuckucksnest oh Miss Ratchet er soll aufhören Getauft Aus Angst Vor Dem Sterben heißt es und das ist ein Lachschla ger als wäre es den geringeren Göttern scheißegal nachdem sie den Sauerstoff aus meinem Putzlap pengehirn ausgewrungen hatten mach dich über sie lustig wenn sie keinen Scheiß vertragen können (wissen Sie, Charles Starkweather wurde '59 hinge richtet vielleicht bin ich er im Fegefeuer) I'm a fool laughing at the faceless one who lives in the bone yard, that's what I am (kann mich erinnern, das Stück von den Bee Gees ging so) ich wollte einen Witz er zählen, über den die ganze Welt lacht, aber der Witz ging auf meine Kosten. Heute ist mein Geburtstag. Zwölfter September 3:27 Uhr: das Erwachen überwältigte das Grinsen des Schmerzes, und darum schwebte ich, konnte 475
weder mit den Augen blinzeln noch den Verstand schließen ... konzentriere mich auf die Metaphern und Verben, das Grinsen des Schmerzes kommt auf einer hohen Welle geritten, mein Füller zittert in arthritischer Auflösung hahahahahaaaaaa surfin u. s. a.
Siebzehnter September herrgott wie wäre es wenn mein Zimmergefährte nach hause käme und mich baumelnd vorfinden würde würde es ein gemälde geben einen schrei in der nacht möglicherweise das buch veröffentlicht das ich immer veröffentlichen wollte
You've got to pay your dues If you want to sing the blues And you know it don't come easy Ringo Starr It don't Come Easy, 1973
Zweiundzwanzigster September: Zupf meine Nerven beginnen wir das Medley in der Wirbelsäule. Dort kommen die Schmerzen am besten. Stell sorgfältig ein, als wäre mein Körper der Walkman, den du jeden Morgen im Bus hörst. Heute läuft ein altes Band aus den sechziger Jahren in der Stoßzeit-Spule mei nes Gehirns. Streiche mit zaghaften Fingern über 476
meinen Bizeps, die blasse Form geronnener Milch, die du am Morgen nach der Party im Haus eines Freundes erbrochen hast, an den du dich nicht erin nern kannst. Flüstere über die Sehnen meines Hal ses, die zerbrochene Trommel meines Magens. Spiel mich und Spiel mir eine Totenklage vom zweiten Herbst. Dreiundzwanzigster September: Carny Manchmal ist es Jahrmarktsmusik: ein abgehackter, fröhlicher Klang — gegen die Wand laufen und den Telefonhörer zwei- bis dreimal verfehlen. Meine rechte Schulter stößt an jede Tür und weiß nicht, was für eine enge Beziehung sie hat. Ben-GayHandflächen pressen böses Clownsmake-up in mei ne Augenhöhlen. Hier, Junge. Nimm einen Ballon. Vierundzwanzigster September: Prolog liege flach als Opfer eines unerwarteten Überfalls in einer Gasse in South Dante, Lippen zurückgezogen, Zunge flach an abgebrochenen Zähnen, als zuckte sie vor dem Blut in meinem Hals zurück. Ich erzähle dir in den letzten schwimmenden Sekunden bevor die Leichenstarre einsetzt, ich erzähle dir, ich ginge dahin, um lemminggleicher zu schreiben, als ich zu geben will. Vierundzwanzigster September:
Das Ritual des Hohns
Herrgott, ich habe mein Grinsen des Schmerzes satt und das Geschwätz vom herbstlichen Zyklus: Sind selbsttäuschende Gedanken wie diese der einzige Grund dafür, daß ich noch schreibe? 477
Fünfundzwanzigster September:
Erinnerungen
Ich mußte gerade an Eeyore von Winnie Pu denken. Nicht aus einem guten Grund oder weil jemand auf der Straße Ähnlichkeit mit diesem Esel hat, sondern weil sein Name das Geräusch ist, das aus meinem Innersten heraus will. Sehen Sie, wenn ich schreie, wird es keiner bemerken. Sechsundzwanzigster September:
Erinnerungen (Wiederholung)
Ich erinnere mich an einen Sgt. Rock-Comic, in dem er die Kontrolle über ein Flugzeug behielt, obwohl das ganze Cockpit in Flammen stand. Daran muß ich denken, während meine Knöchel auf dem kurzen Weg ins Büro zurück auf der Kaffeetasse brennen. Entschlossen werde ich eine negative Milchstraße auf meinen Papierkram schütten (möglicherweise sind es auch Rorschachkleckse). Achtundzwanzigster September: Auf der Interstate Remington, Indiana betrachte die Durstlöscher im Wafara studiere die Kellnerinnen aus Indiana eine Imbißspeisekarte aus alten Fledermausküssen mit sorglosen Augen high auf nichtexistierendem Meskalin (in Wirklichkeit ist es nur die Luft: Gary immer noch einen Traum ent fernt, Chicago ein Splitter im Gehirn) meine Augen kristallklar wie der Oktoberhimmel Cyndi Lauper She-Bop kiekst über das Zischeln toten Fleisches ihr kommt alle Weihnachten über die Registrierkasse zurück Türklingel gehe zurück zur Ader der Straße Wolken ziehen vorüber könnte nicht schöner sein wissen Sie vielleicht und nur vielleicht ist es die Stadt, die mich umbringt 478
Neunundzwanzigster September: Knochenmelodie Ich ergreife mein Tagebuch wie eine Violine Und denke an die falschen Reime: Frauen & Verdruß Tag und Nacht dieselben Knochenmelodien Meine Nervenenden Saiten, die die geringeren Götter zupfen
Erster Oktober: Morgen der Angst das rauschen automobilen lebens ein tickendes metronom jenseits meines schreibtischs die weit erleuchtet von einer schreibtischlampe in zwei tickt die stumme uhr weiter der verstand sucht nach worten in dieser oktobernacht fürchte ich morgendliches grauen den tod oder das telefon das läutet und nicht auf der gabel liegt
Zweiter Oktober: R. I. P. was ist wirklich in dieser Julinacht im Cagney's pas siert?; was ich 1965 von einem toten Mann hörte; was ich in diesem Zimmer sah; ich dachte mir, das alles wären Dinge, die ich wie einen Erinnerungsvi rus mit ins Grab nehme; dann wurde mir klar, daß ich gestorben bin. Ich habe meine Busfahrkarte schon vor Monaten gegen einen Schwerbehinder tenausweis getauscht. Ich atme den ganzen Tag lang Kieselsteine. 479
Zehnter Oktober:
Bill Szostak und Rambo
Onkel Bill streichelt zärtlich meinen wüsten Baby schädel, ich brauche keine Heimvideos, um Gefühle festzuhalten, die meine Augen vor einem Viertel jahrhundert sahen. »Hab keine Angst«, sagte er mir, wohl wissend, daß ich zu jung war, das Wort behindert zu verstehen. Dann ging er in einer Oktobernacht des Jahres 1966 fort, Herzanfall, und ich verlor im Lauf der nächsten zwanzig Jahre die Perspektive, während das Grinsen des Schmerzes immer schlimmer wurde. Eines Tages dann, während eines verhaßten Chica goer Winters, entschuldigte ich mich bei Bill Mur phy, weil ich wegen meiner Schüttellähmung keinen Kaffee machen wollte, Angst hatte, ich könnte den Ball fallen lassen, und Bill fragte mich, ob ich glaub te, daß Rambo guten Kaffee machen konnte. Ich glaube, Bill Szostak hätte diese Bemerkung ge macht, wenn er heute noch leben würde.
Elfter Oktober: Schwerbehinderte Frau esse in John's Garage im Einkaufszentrum, während Hausfrauen ihre Kinder zum Schweigen bringen und über die Speisekarten sehen ihren Veitstanz beobachten die Steaksauce auf ihrer Nase Ellbogen im Salat ihr individualistisches sabbern als der Saft verfehlt aber manchmal muß sie eben raus und essen. 480
Ich wette, Sie haben gedacht, Menschen wie sie gibt es nur im Fernsehen Erster November: sie denkt sie steht über mir sieht mir beim Kritzeln zu Schüttellähmung meisterlich verborgen durch das Dröhnen der Schnellstraße sie denkt ich schreibe wieder über sie mein Füller ist mein Schwanz, vermutet sie als der Bus auf die State abbiegt Dämon müßte hier in Chicago sein laß sie ihre kleinen rosa Hände in seinen Verstand stecken ich ziehe weiter nach Arizona lebe mit den Koyoten unter dem weiten Himmel Siebter November: Blue Suede Shoes Elvis hat das Gebäude mit einem Handtuch um die Schultern verlassen. Er stöhnt erschöpft: Bin ich der einzige, der seine Schmerzen sehen kann? Ich mei ne, weshalb sollte er sonst noch auftreten? Meine Knöchel schwellen an; keine Sauna in Sicht; wirst du warmen Urin auf meine offenen Hände spritzen? Just lay off of my blue suede shoes — bleib einfach von meinen blauen Stoffschuhen runter. Achter November: Schatten der Nacht der Himmel ist klar und blau, daher weiß man, daß es kalt ist: so läuft das in Chicago. In meinem Schat ten sehe ich den watschelnden, dicken Elvis gerade 481
von einem Konzert im Jahre 1977 kommen. Oder ist es John Merrick, der Elefantenmensch? Sicher kann es nicht mein neuer Körper sein, ein Geschenk vom Miststück Flittchen Winter.
Neunter November: Gilligans Ile lleana, wie kann ich den Keil erklären, der mir seit 1976 schreiend folgt und mich schließlich mit einem einzigen letzten Ruck an meiner Wirbelsäule über wältigt hat? Wie bei den Konzerttourneen von Elvis bleibt auch mir nur noch die Selbstausbeutung. Ich denke, mein Füller ist mein Mikrofon, aber manch mal, im Fieber der Nacht, sieht er so fremd und nutzlos wie mein Penis aus. Dies ist der Leib, der mir gegeben wurde, Ile. Iß tüchtig und denke an die Sommersonne in Ile Spider County.
Zwanzigster November: Vorspiel die Werwölfe von Chicago sind der personifizierte November die ewige Jungfrau des April stößt frontal in leidenschaftlichen Wogen von Temperaturumschwüngen mit dem derben Juli zusammen. hier ein heißes Aufbäumen, dort eine Kaltwetterfront, das Stimmungsbarometer schlägt mit den Winden des Lake Michigan um. Liebende bis Oktober bis ihre Liebe in fallenden Blättern von der wahren Farbe der Geburt verbraucht ist, so trennen sie sich und vereinigen sich; sie mit Pfoten, die mit Kälte krallen, er der heulende Wind 482
Einundzwanzigster November:
Fünf Minuten vor sechs an einem Montagabend
Cicero, Illinois
Die Türen der El öffnen sich zischend und stoßen Schlangen von der Arbeit ermüdeter Leiber aus. Die Schuhe des Schriftstellers hallen klackend in der stillen Dämmerung von Cicero. Betonge danken auf Betonstraßen. Ein Schwarzer im Jerseyanzug winkt seiner Liebsten/Frau/Baby/Schlampe in der Telefonzelle. Ich kann sein Gesicht nicht sehen; weiß aber, wie er aussehen muß. Ein ab gerissener Mann mit Stoppeln im Gesicht wühlt sich durch die Schätze in der Mülltonne am Straßenrand. Ein Ausdruck des Tri umphs erfüllt sein Gesicht, als er eine noch nicht völlig leerge trunkene Flasche aus den Tiefen fischt. Welch ein Fang! Die Schu he des Schriftstellers klacken im Einklang mit den Wagen der El, die in die Gegenrichtung fährt. Er dreht sich nicht um. Obwohl er nichts hat, dem er entgegensehen könnte. Er geht zur 23rd Street und verschmilzt wieder einmal mit der Stadt. In der Nähe mur melte ein vierschrötiger Schatten leise etwas von einer Verschwö rung.
Dreißigster November: Die Lektion Ich beobachte arthritische
Krabben an den Kassen von Zayre's
und lasse die Knöchel
knacken; Jahre später
lernte ich, den Preis dafür
zu bezahlen
Zehnter Dezember: Marlboro-Mann ich kann hören, wie sich der Staub auf meinen Schultern absetzt, und das Pochen meiner aufgeris senen Augen — Fußgänger schlurfen vor einer Sil houette, so grau wie eine Nikotinvergiftung 483
Elfter Dezember: Dana D. Ich träumte eine Frau aus L.A., glücklich und nackt, bis auf einen großen roten Ohrring, die mein Gesicht mit Händen und Mund liebkoste. Ihre Nägel waren so rot wie das Blut in meinen Schläfen. Während das geschah, hatte ich Visionen von En geln, die im Brennpunkt der Hüllen von Mordopfern im Südwesten Selbstmord begingen; ihr Atem war ein lieblicher Santa-Ana-Wind der Wecker klingelt und ich erwache wütend
Zwölfter September die zweite fiebrige Elavil 52 vertrieb die Schmerzen anders als der '59er Blutsturz der sanft mein Gehirn badete
Neunter Januar: Am Leben! ... Am Leben! der Morgen kreist um das Schwerefeld, eine Tube Ben-Gay zu finden. Mittag. Mit von Salbe schwar zen Fingernägeln drücke ich die Tube an meine Haut: ein Veitstanz, ich tanze den Monster Mash
Zehnter Januar: Untot die Liebkosung des Schnees ist sanft wie das Ki chern meines letzten Opfers, der Himmel ist etwas Greifbares, ich verstehe die Gründe für meine Schmerzen jetzt besser als meinen eigenen Herz schlag 484
Fünfundzwanzigster Januar:
Superbowl-Sonntag
meine Arme sind schwere Vorhänge oder noch nicht ganz tote Fische, wie Sie wollen. Der Füller in mei ner Hand saust über die Seite wie Gelächter an ei nem sommerlichen Seeufer. Armlehnen-Mittelfeld spieler, das bin ich. Siebzehnter Februar: Das Geheul mein linker Arm ist von einer Ratte zerfressen, gierig, als würde ich Futter horten in den Taschen meines toten Raums und mein rechter Arm dient als tröstliche Werwolfkralle Achtundzwanzigster Februar:
Eine angemessene Las-Vegas-Metapher
Las Vegas, Nevada. im Imperial Palace Hotel findet das Telethon für ce rebrale Schüttellähmung in der Wüstenhitze des Fe bruar statt. Riesige blaue Buchstaben weisen den Weg, und ich frage mich, was das Kind auf dem Pla kat vom Strip mit seinen eigenen Schmerzmitteln halten mag. Da ich auch in diesem Casino verlieren werde, stehe ich an der Tür und lese die Hauswer bung für das Telethon. Eine Timpani erklingt in der Nähe. Gibt es ein neues Heilmittel gegen diese schreckliche Krankheit oder wird wieder nur mit lau ten Paukenschlägen Mist angepriesen? Fünfter März: Liebespuppe 23:00 Uhr: Das nächtliche Stelldichein mit mir, der leblosen Hülle. Ich krümme den Rücken, um sie zu 485
empfangen: ein Augenblic k Erleichterung beendet die Aufgabe. Muskeln verkrampfen sich, das Grin sen des Schmerzes schnurrt. Wie lange ist es her, seit ich meine Jungfräulichkeit verloren habe? Siebter März: Wieder er Der Liebhaber, das Grinsen des Schmerzes, hüpft und tollt steckt seine nassen Finger in meinen Verstand In der Falle gefangen, kann nicht hinaus — Hellvis schlurft mit einer alten Gitarre auf krummen Beinen vorbei murmelt laut, bekommt gesagt er wird aufgezeichnet, nuschelt: Du Hund. Vierter Juni: Fast Sommer die Sauna hat mich endgültig verlassen. 36° und im mer noch ist mir kalt vom Wünschen ... oh ... irgend etwas wünschen. Der Schweiß fällt mir vom Gesicht und liegt, liegt einfach nur, auf der Leertaste meiner Geliebten. Dann senke ich den Kopf wie zum Gebet. Neunter Juni. Unberührbare Bin heute wie Eliot Ness angezogen: ein wahrhaft Unberührbarer — ich kann nicht ein mal den Ursprung meiner Schmerzen ertasten, und meine Tabletten schläfern mich nur ein. Und wenn ich schlafe, bin ich identisch mit den Bus fahrern, die durch meine Tage gehen und die Fenster anstarren als wären diese Spielautomaten in Las Ve gas. Sie mit ihren Walkmen und Yuppie-Turnschu hen. Ich bin wie Eliot Ness angezogen. Zehnter Juli: Mr. Jeckyll und ... Dr. Hyde verschreibt mir immer noch Elavil, dieses wunderbare Beruhigungsmittel, nach dem man sich 486
fühlt wie eine dumme Kuh im Schlachthaus. Es ist dieselbe Tablette, die die Körperfresser Krebspatien ten geben, damit diese sich nicht mehr um triviale Dinge wie ihren bevorstehenden Tod sorgen Dreizehnter Juni: In der Stadt Samstagabend und das Lied ging walk like an egyp tian talk like an egyptian oder so ähnlich und die Katzen und Hühner waren Pharaonen und Königin nen die sich so hip wie nur möglich gebärdeten und ich sitze in der Ecke und schreibe wie ein Höhlen mensch oongawa Vierzehnter Juli: Der gute Stoff Ich habe die letzte Kodeintablette geschluckt, die ich mir für einen Apfel und ein Ei gekauft hatte. (Ich hätte Hure werden sollen.) Würde heute ein Atom krieg anfangen und zu Ende gehen, wäre ich ein Held, aber ich brauchte zuerst diese verdammte Pille Fünfzehnter Juni: Korridore Ich torkle den Flur eines Gebäudes in der Innenstadt entlang, meine Skelettarme sind in den Falten mei nes Kleids versteckt, mein Dickdarm tanzt zu einer fröhlichen Melodie, mein Hals zuckt in metrischen Versen. Ich bin immer noch wie Eliot Ness gekleidet: Wem will ich etwas vormachen? Sechzehnter Juni: Einzelhaft Immer Wortspiele spielen: so bin ich. Wenn es Reinkarnation gibt, dann frage ich mich, als was ich in meiner früheren Inkarnation verurteilt worden bin? 487
Siebzehnter Juni:
Wirbelsäulenpunktion
Ich bin schon daran gewöhnt, daß mir mein Urin am Bein hinabläuft oder auf den Sitz plätschert, also warum nicht noch ein Stück von diesem Monsterkuchen? Es wäre leicht, meine Wirbelsäule dicht über dem Nervenknoten zu brechen ... Achtzehnter Juni: Impression Ich zerfalle wie eine Impression zweier Welten: billi ges Kramladenporzellan, die Haut summt wie bei ei nem Flohmarktserdbeben. Eines Sommers, als ic h dachte, es könnte nicht mehr schlimmer werden, sprang ich fast von einer Vergnügungsjacht in den Lake Michigan. Es war die Nacht, in der Rev. Jenco aus der Gefangenschaft im Libanon entlassen wur de. Ich schreibe dies nicht wegen dem Kitzel. Zwanzigster Juni: Getroststes Glas & Große Kälte ich sitze jetzt in einem Hot Dog Imbiß in der 116th, die Kellnerin kann nicht älter als fünfzehn sein, die Spalte zwischen den Brüsten ist zu sehen, als sie sich über die Fahrerseite beugt und mir mein Wur zelbier gibt; ich trinke gierig, der Schaum ein Bro mid; der Wind weht bei einem anderen Auto über sie hinweg, einem Cutlass, und ihre Stimme erzählt von Strandparty-Sorgen; meine Gedanken kreisen um ernstere Themen Einundzwanzigster Juni: Wie ein Phönix Wissen Sie, sie lassen mich nicht ins Cagney's weil ich Schüttellähmung habe 488
und nicht fahren kann; keinen Führerschein besitze, den sie als Ausweis betrachten obwohl ich einen Paß von Illinois habe, von derselben Verwaltung ausgestellt, mit Unterschrift und allem und sie lassen 17jährige Bimbos rein unterhalten sich mit ihren Jungs über Baseball, morgen beschaffe ich mir vielleicht einen Führerschein, bekomme einen Anfall auf der Straße rase außer Kontrolle durch ihre Eingangstür wende auf ihren Eiern und zeige dann meinen Ausweis bestelle importiertes Bier gebe der Kellnerin einen Dollar Trinkgeld ja, verdammt Zweiundzwanzigster Juni:
Der amerikanische Traum
die Schreibmaschine zeigt deutlich mein Alter tippfehlerfrei; aber Staub liegt zwischen den Typen flüssige Flecken Lebensblut des Farbbands viel zu bald schon 33, werde ich in Fitzgeralds Fußstapfen treten oder allem wie Hemingway ein Ende machen ... Dreiundzwanzigster Juni:
Der amerikanische Träumer
mit der Zeit macht man seinen Frieden mit sich, wel che chronische Krankheit man auch haben mag, die die anderen nicht verstehen: Wahnsinn, Gerüchte über einen Tumor, Agent Orange. Nicht wie in den Kung-Fu-Filmen auf Kanal 66, wo die Leute ihre Körper verlassen und so ein Mist. Ich meine, die Schmerzen lehren einen, und man lehrt die Schmer zen. Nach zwei Jahren bin ich der Musterschüler. 489
Fünfundzwanzigster Juni:
Der amerikanische Narr
Eine Frau, die seit 1984 von der Hüfte abwärts ge lähmt ist, war diesen Monat nackt im Playboy abge bildet. Das blonde Ex-Model behauptet, sie habe ih re Sinnlichkeit verloren, daher zeigt sie uns natürlich Haut. Richtig. Sie ist keine Närrin, denn sie unter nimmt wenigstens etwas gegen ihren Zustand. Der Narr ist derjenige, der beschlossen hat, ihren Roll stuhl nicht mit auf dem Bild zu zeigen. Erster Juli:
Die Ehrlichkeit des Morpheus
Du bist jede warme, fiebrige Nacht, Ich bin der tentakelförmige Krebs der Dämmerung Deine nächtliche Berührung ist süßes Ballett Meine die von Veitstänzern Du hast meine geronnene Zukunft umarmt So daß ich mich häufig selbst mittags krümme Du besteigst meine Brust, während ich den Tag erbreche Dein Kuß ist die Nadel für die Spritze Sonnenlicht Zweiter Juli: Die Liebe des Dings aus den Sümpfen Ich bin krank wie die faulenden Weiden Hände von uraltem Bösen gekrümmt Das Grinsen des Schmerzes bläht sich wie Gas Im Verlangen bösartigen Willens. Ich kann nicht dein Selleck oder Presley sein Oder die großen Namen aus Miami Vice Keine sanfte Umarmung Ich bin ohne Gnade Aber die Liebe eines Schleimmonsters könnte genügen 490
Wir tauchen unter im Schlamm Statt in den Sternen am Himmel Baby, es ist schwer zu erklären Sei einfach meine Abby Arcane und Laß dir meine Liebe des Dings aus den Sümpfen geben Von der ersten Andeutung grünen Morgens Bis zum Hauch der Dämmerung im Westen Gibt es nichts zu fürchten Alles ist gut hier In den orangeroten Röhren in meiner Brust Schluck alles Leib und Seele Und ich gebe dir meine Liebe des Dings aus den Sümpfen Vierter Juli: Im ersten Licht der Dämmerung Mit dem kalten Funkeln einer Messerklinge Der Erleichterung eines pissenden Mannes Dem Glanz des Galgens des verurteilten Mörders So quält die Psychose meinen ersten und letzten amerikanischen Traum
»It is finished.« Ian Gillan Jesus Christ Superstar 1970 »Take it home.« Elvis PresJey im Konzert am 26. Juni 1977 in Sioux Falls, South Dakota MANCHMALKEHRENWIRWIEDER
Der Mann war zweiunddreißig, als er von seinem Agenten hörte, daß sein Roman The Holy Terror kommendes Frühjahr von Mark V. Ziesing als Hardcover veröffentlicht werden würde. Es war 491
schrecklich schwül in jener Juninacht, als sie in der Le Bar Bat in der East 57th saßen und von Unsterblichkeit sprachen. Irgendwo lachte ein Mädchen wie jemand in einem Werbespot der Life Sa vers. Damals hatte er sich noch wie ein Mensch gefühlt. Nichts hatte sich wirklich geändert; der Schriftsteller hatte nicht in der Lotterie gewonnen oder war Erbe eines großen Vermögens geworden, er würde immer noch seiner täglichen Arbeit im Büro eines Privat detektivs nachgehen und weiterhin die Minimalrate seiner Kredit karte bezahlen müssen. Aber jetzt war er unsterblich. Er würde zu einer der Legenden des Horror werden. Sie aßen Ente vietnamesisch und tranken Bloody Marys. »Hier enden die Aufzeichnungen«, sagte Joan. »Ein paar Zeilen weiter hat er geschrieben: >Der Schriftsteller fragte sich, würde er, wenn die Sonne über dem Central Park aufging und den Morgen nebel verbrannte, einfach zu Fuß zur U-Bahn zurückgehen oder von den Strahlen gepfählt werden und zu Staub zerfallen. <« Die Hausfrau und Romanschreiberin aus Shorham, Long Is land, sah auf das Grab hinunter. »Ich weiß noch, wie er angefan gen hat, diese Geschichte vom Schriftsteller als Vampir zu spin nen. Wir waren mit Beth am Moravian College.« »Die Conventions hat er immer mit Anne Rices Theater der Vampire verglichen«, sagte Peggy. Der Verleger von Hell's Kitchen sah über das Grab hinweg zu Jeff, Yvonne und Andrew. Sie hat ten ihn bei einem gemeinsamen Essen in der Innenstadt von Chi cago als letzte gesehen. »Schriftsteller ernähren sich von anderer Leute Leben«, sagte Andrew. »Er hat sich von seinem eigenen ernährt.« Sie fanden sich immer am achtzehnten März hier ein, dem Jah restag des Todes des Schriftstellers, um aus seinem Tagebuch zu lesen. Seinem >Buch der Gemeinplätze<, wie Karl Edward Wagner es immer nannte. Jeff legte eine Ausgabe von Bruno Shultzes Street of Crocodiles ab. Peggy legte eine Penguin-Klassikerausgabe von Victor Hugos Der lachende Mann hin. Nach einigen Minuten verließen sie den Friedhof. Kurz danach brach die Dämmerung herein. 492
Nichts würde sich je einen Weg aus dem Grab herauskrallen können, im Gegensatz zu dem, was ich Ihnen auch erzählen mag. LIEBE IM SCHLACHTHAUS:
Eine Art Epilog
Das also waren die letzten zwei Jahre meines Lebens. Ich werde mein Tagebuch fortsetzen, wahrscheinlich privat; aber ich dachte mir, was ich fertiggestellt habe, sollte auch von anderen gelesen werden, von denen, die wie ich sind, von der Frau im Sexheft chen, dem Typen im VA Hospital, dem Mädchen im Imbiß. Viele Leute haben mir geholfen, das durchzustehen. Sie, der Leser/die Leserin, kennen möglicherweise ein paar davon. Ich schreibe vielleicht über mein Leben, aber diese Leute kennen es aus erster Hand. Mehr als alles andere ist mir ihre Inspiration ein Ansporn. Peggy Nadramia, Peter Gilmore, Elizabeth Massie, De nise Szostak, Cousin Slick, Kathryn Felice, Brian Hodge, Kathleen Jürgens, Mark Rainey — sie waren alle von Anfang an dabei. Seither muß ich hinzufügen: Joe Lansdale, Yvonne Navarro, Jeff Osier, H. E. Fassl, Jennifer Christiane, Dallas Mayr, H. An drew Lynch, Lucy Taylor, Lee Seymour, Norman Partridge und Tracy Knight. Und natürlich Douglas C. Klauba, der schon seit mehr als zehn Jahren mein Helfer auf dem Schlachtfeld Chicago ist. Er hat mich dazu gebracht, meinen @#%*!$" zweiten Vornamen zu benützen, wenn ich meine Stories und Tagebücher schreibe. Diesen Männern und Frauen gilt meine Liebe aus dem Schlachthaus, bis ich die endgültige Dämmerung der Worte errei che. Danke, Tal, daß du mich damit hast durchkommen lassen. Ich ziehe mich immer noch wie Eliot Ness an. Gelegentlich. Wayne Allen Sallee Chicago, Illinois 8. Januar 1993 war mir ein Vergnügen, Freund Aus dem Amerikanischen von Joachim Körber 493