Bice und Achim Hiltrop präsentieren
Folge 5: Horror im Hyde Park Das Eichhörnchen beäugte die Nuß, die ein unachtsamer ...
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Bice und Achim Hiltrop präsentieren
Folge 5: Horror im Hyde Park Das Eichhörnchen beäugte die Nuß, die ein unachtsamer Besucher des Hyde Parks hatte fallen lassen, mit einer Mischung aus Hunger und Furcht. Der Hunger war angesichts des langen Winters, der erst nach langem, zähen Ringen dem Frühling gewichen war, durchaus nachvollziehbar. Ebenso war die Angst, welche das kleine Tier beherrschte, verständlich. Die ungewöhnlich vielen Menschen, die zu dieser frühen Morgenstunde den Park bereits bevölkerten, hatten das Eichhörnchen verstört. Nervös rümpfte es die Nase bei dem Versuch, die Absichten der uniformierten Wesen einzuschätzen. Als es nach einigen erwartungsvollen Minuten zu der Einsicht gekommen war, daß ihm von den Fremden keine unmittelbare Gefahr drohte, sprang es blitzschnell aus seinem Versteck hervor, klaubte die Nuß auf und war bereits wieder auf seinem Baum verschwunden, ehe ihm jemand seine Beute streitig machen konnte. Sergeant Archibald Moore, der das Schauspiel amüsiert beobachtet hatte, drehte sich wieder zu den anderen Polizisten um, die im Kreis auf der Wiese neben der Serpentine Road standen und dem Gerichtsmediziner bei seiner Arbeit zusahen. Doktor MacKinnon kniete neben dem Toten, den ein Nachtwächter am frühen Morgen gefunden hatte, und schüttelte ratlos den Kopf. "Sind Sie schon schlauer, Doktor?", fragte Archibald höflich. Der Arzt sah auf. "Nicht wirklich, Sergeant Moore. Es gibt keine Zeichen von Gewaltanwendung." "Machen Sie Witze?" Archibald deutete auf den Toten, dessen Gliedmaßen in grotesken Winkeln verrenkt waren. "Jemand hat dem Mann alle Knochen im Leib gebrochen, würde ich sagen." "Das sehe ich selbst", gab MacKinnon mürrisch zurück. "Ich meine, daß es keine Anzeichen auf Schuß- oder Stichwunden gibt. Keine Schnittverletzungen, keine Würgemale, nichts. Lediglich ungewöhnlich viele Traumata. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß das Opfer aus sehr großer Höhe herabgestürzt ist. Ich habe mal in den Schweizer Alpen einen Bergsteiger gesehen, der..." "Erlauben Sie mir eine Bemerkung, Doktor", unterbrach ihn Colin Mirth, Archibalds Kollege bei der Kriminalpolizei, "aber haben Sie heute morgen schon einmal nach oben gesehen?" Der Arzt stand auf und legte demonstrativ den Kopf in den Nacken. "So. Sind Sie nun zufrieden, Sergeant Mirth?" Colin lächelte wissend. "Sagen Sie mir, was Sie sehen, Doktor." Mac Gregor zuckte mit den Achseln. "Nichts. Den Himmel." "Eben", Colin zwinkerte Archibald zu, "keine Berge. Kein Kirchturm. Nicht einmal ein Baum, von dem der arme Mann heruntergefallen sein könnte, ist im Umkreis von zwanzig Yards auszumachen. Ich frage Sie, wie er sich ohne fremde Hilfe alle Knochen gebrochen haben kann, wenn er einfach auf der Wiese spazierenging." Archibalds Gesicht verfinsterte sich. "Hmm", machte er nachdenklich, "denken Sie, es hat jemand nachgeholfen?"
Colin Mirth Colin verzog das Gesicht. "Ich bin mir nicht sicher. Wir können es aber nicht ausschließen. Wir können auch nicht ausschließen, daß er woanders zu Tode gekommen ist und erst später hergebracht wurde." "Doch, das können wir", widersprach Mac Gregor, "sehen Sie her!" Er drehte den Toten ein wenig auf die Seite. Colin trat vor und erkannte, was der Doktor meinte: das Gewicht der Leiche hatte das Erdreich einige Zentimeter eingedrückt. "Das muß beim Aufschlag passiert sein", erklärte der Arzt, "und zwar, wie gesagt, aus beträchtlicher Höhe. Wenn er tot hierher gebracht worden wäre, würden Sie statt dessen Schleifspuren oder sehr viel mehr Fußabdrücke sehen." Colin rümpfte die Nase. "Nachdem Sie hier mit zwei Assistenten und drei Constables aufmarschiert sind, werden wir ohnehin keine aussagekräftigen Fußabdrücke mehr finden können", bemerkte er mit einem Blick auf die anderen Beamten, die um den Tatort herum gelangweilt auf und ab gingen. "Tun Sie Ihre Arbeit", gab der Arzt gereizt zurück, "und lassen Sie mich meine machen. Einverstanden, Sergeant Mirth?" Colin hob beschwichtigend die Hände. "Selbstredend." Archibald legte ihm die Hand auf die Schulter und dirigierte ihn entschlossen außer Hörweite der anderen. "Mysteriös, was?", fragte er dann. Colin seufzte. Er ahnte bereits, welchen Verdacht sein Kollege hegte. "Ein Sturz aus großer Höhe, und doch ist da nichts, von wo der Mann hätte herunterstürzen können. Das sieht ganz aus wie... wie ein...", er senkte verschwörerisch die Stimme zu einem Flüstern. "... ein paranormales Phänomen", sagten Archibald Moore und Colin Mirth gleichzeitig. "Ja", sagte Archibald erregt. "Nein", entgegnete Colin nachdenklich. Archibalds buschige Augenbrauen wanderten überrascht in die Höhe. "Nicht?" Colin sah zurück zu dem Fundort der Leiche. Der Arzt wanderte mit einem Zollstock um den Toten herum, während seine Assistenten die Trage vorbereiteten, um das Opfer abzutransportieren. "Eine innere Stimme sagt mir, daß es eine rationale Erklärung für das Rätsel geben muß." "Eine innere Stimme?" Archibald zwirbelte seinen Schnurrbart. "Daß ausgerechnet Sie ein paranormales Phänomen ausschließen, mein Freund..." Colin schmunzelte. Er hatte, ehe er zu Scotland Yard versetzt worden war, als Experte für paranormale Phänomene für den Secret Service gearbeitet. In dieser Zeit hatte er mehr Geister, Werwölfe und andere bizarre Wesen bekämpft, als sein abergläubischer Kollege es sich vorstellen konnte. Colin hatte auch ein Gespür dafür entwickelt, wann eine übernatürliche Kraft am Werke war und wann nicht. In diesem Fall sagte ihm sein Instinkt, daß Archibald auf einer falschen Fährte war. "Denken Sie an den Werwolf von Westminster", erinnerte er ihn. Auch in diesem Fall hatte Archibalds Aberglaube ihn daran gehindert, eindeutige Fakten für eine rationale Erklärung zu sammeln. "Das war etwas anderes", gab Archibald unwirsch zurück. "Wenn Sie es sagen." Colin ging ein paar Schritte auf und ab, den Kopf in den Nacken gelegt, und starrte angestrengt in den Himmel. "Suchen Sie etwas?" "Ja", gab Colin zurück, "Inspiration." Archibald tupfte sich mit einem karierten Taschentuch die Stirn ab. "Mit Perspiration könnte ich vielleicht dienen."
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Colin Mirth Colin sah seinen Kollegen überrascht an. Schlagfertigkeit war bislang keiner von Archibald Moores hervorstehenden Charakterzügen gewesen. Er fragte sich, ob seine eigene ironische Ader auf den Sergeant abgefärbt haben mochte. * Nachdem sie Inspector Pryce Bericht erstattet hatten, betraten Colin und Archibald ihr Büro. Colin gähnte verhalten und setzte sich matt an seinen Schreibtisch. "Das war eine kurze Nacht, nicht wahr?" Archibald nickte. "Das können Sie laut sagen." "Und besonders gut geschlafen habe ich auch nicht." Colins Kollege grinste unter seinem buschigen Schnurrbart, der den Mund fast verdeckte. Er räusperte sich und intonierte: "Mohnsaft nicht noch Mandragora, noch alle Schlummerkräfte der Natur verhelfen je dir zu dem süßen Schlaf, den du noch gestern—" Colin winkte ab. "Othello", unterbrach er Archibald, "dritter Akt, dritte Szene." Archibald verstummte. "Ach, das kennen Sie auch?" Mit einem nonchalanten Lächeln lehnte sich Colin in seinem Stuhl zurück. In den letzten Monaten war es für Archibald Moore zu einer regelrechten Besessenheit geworden, Colin mit Shakespeare-Zitaten zu überraschen. Zu Archibalds Verdruß hatte Colin jedoch bislang jeden noch so kurzen Textausschnitt fehlerfrei dem Bühnenstück zuordnen können, dem es entnommen worden war. In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Doktor MacKinnon steckte den Kopf herein. "Nun, Doktor", rief Colin, "wie hieß unser Bergsteiger nun?" "Unser..." MacKinnon stutzte. "Ich weiß es nicht, Sergeant Mirth. Wir haben keinerlei Papiere bei dem Toten gefunden. Ich habe mir aber die Mühe gemacht, seine sterbliche Überreste zu wiegen." Archibald runzelte die Stirn. "Wozu das denn?" "Ganz einfach", entgegnete MacKinnon, "sein Gewicht ist eine Konstante. Die Tiefe des Abdrucks, den sein Körper auf dem Rasen hinterlassen hat, ist eine weitere Konstante. Die noch offene Variable, die sich aus den bekannten Fakten errechnen läßt, ist die ungefähre Fallhöhe." "Interessant", bemerkte Colin. "Haben Sie sie schon ermittelt?" "Ja. Nach meinen Berechnungen muß der Mann aus einer Höhe von mindestens dreihundert Fuß abgestürzt sein." Colin und Archibald wechselten einen ratlosen Blick. "Also zum Beispiel von Big Ben", schlug Colin zum Vergleich vor. "Obwohl das rund drei Meilen vom Hyde Park weg ist", wandte Archibald ein. "Vom Himmel wird er ja nun nicht gefallen sein", brummte Colin. MacKinnon zuckte gleichgültig mit den Achseln. "Nun, Gentlemen, das herauszufinden ist nun Ihre Aufgabe. Guten Tag!" "Der Doktor hat zuweilen einen merkwürdigen Humor", bemerkte Colin, nachdem sich die Tür hinter dem Gerichtsmediziner geschlossen hatte. "Das müssen Sie gerade sagen", schnaubte Archibald verdrießlich. "Also, was schlagen Sie vor?" Colin schürzte die Lippen. "Ich weiß nicht recht... was schlagen Sie vor?" Archibald stand auf und strich die Falten seines Anzugs glatt. "Die übliche Routine, mein Bester. Wir lassen ein Portrait von unserem unbekannten Toten anfertigen, drucken es in der Tageszeitung ab und bitten die Bevölkerung um Mithilfe bei der Identifizierung." Seite 3
Colin Mirth "Ich kann mich nicht entsinnen, eine derartige Veröffentlichung in den letzten Monaten in der Times gelesen zu haben, mein lieber Archie." "In der Times vielleicht nicht", räumte Archibald ein, "im Daily Mirror hingegen regelmäßig." * Es war laut und stickig im Red Lion, als Archibald und Colin ihre Biergläser an ihrem Stammplatz abstellten. "Ich bleibe dabei", sagte Archibald, "wenn er nicht aus großer Höhe abgestürzt sein kann, dann hat ihn jemand mit enormer Wucht zu Boden geschleudert." "Archie..." "Jemand oder etwas", fügte Archibald düster hinzu. Colin nahm einen Schluck von seinem Bier. "Archie, Sie gehen von falschen Voraussetzungen aus. Ich habe genügend Opfer von paranormalen Phänomenen in meiner Zeit beim Secret Service gesehen, und ich sage Ihnen, dieser Mann ist eines normalen Todes gestorben. Wenn auch, das muß ich zugeben, auf eine recht unkonventionelle und vermutlich äußerst schmerzvolle Art." "Ich sehe nicht, was an dieser Todesursache normal sein sollte", brummte Archibald in sein Bier, "irgend jemand oder irgend etwas hat diesem armen Teufel alle Knochen im Leib gebrochen und ihn auch noch ein paar Zoll tief in den Boden gestampft." "Ich konnte aber keine Anzeichen für übernatürliche Aktivität am Tatort spüren", gab Colin zu bedenken, "normalerweise hätte ich fühlen müssen, wenn Geister oder Magie im Spiel gewesen wären." "Nun", Archibald sah seinen Kollegen forschend an, "vielleicht sind Ihre sensiblen Sinne bereits ein wenig abgestumpft?" Colin stutzte. "Wie meinen Sie das?" "Vielleicht hätte jemand anderes etwas gespürt, was Ihnen entgangen ist." "So? Wer denn, zum Beispiel?" Archibald zuckte mit den Achseln. "Abdul, zum Beispiel." Colin lachte trocken. "Archibald, wenn Sie ernsthaft glauben, daß ich am hellichten Tage mit einem orientalischen Flaschengeist zur Spurensuche in den Hyde Park gehe, dann haben Sie sich getäuscht." "Wir könnten ja nachts gehen", Archibald senkte die Stimme. "Wir könnten jetzt gehen." Colin sah auf die Uhr. "Abgesehen davon, daß gleich Sperrstunde ist, würden wir nur unsere Zeit verschwenden." "Nun gut, wenn Sie keine Lust haben, gehe ich allein!" Archibald trank sein Bier in einem Schluck aus und knallte wütend das leere Glas auf den Tisch. Er griff nach seinem Hut und seinen Handschuhen und wandte sich zum Gehen. "Warten Sie." Colin legte ihm die Hand auf den Arm. Dann seufzte er theatralisch, lockerte seinen Hemdkragen und zog die kleine gläserne Phiole, die er an einer dünnen Silberkette um den Hals trug, hervor. Einen Moment lang zögerte er, doch dann reichte er Archibald die Kette. "Hier. Versuchen Sie Ihr Glück. Morgen hätte ich ihn gerne wieder." Archibald Gesicht hellte sich auf. "Sie können sich auf mich verlassen, mein Freund!" * Als Archibald Moore die Phiole entkorkte, stieg eine leuchtend blaue Säule aus Licht und Rauch aus ihr auf, die sich nach einigen Sekunden zu der imposanten Figur eines Seite 4
Colin Mirth blauhäutigen, kahlköpfigen Mannes mit einem muskelbepackten Oberkörper verfestigte. Abdul schaute sich suchend in dem dunklen Park um. Er war mit Archibald Moore allein. Colin Mirth, sein Gebieter, war nirgendwo zu entdecken. "Efendi?" fragte er schüchtern. "Er wollte nicht mitkommen", sagte Archibald gleichgültig, "aber wir beide kommen sicherlich auch ohne ihn zurecht, nicht wahr?" "Wie Ihr meint, Sergeant Moore." Abdul verbeugte sich. "Was wollen wir denn tun?" Archibald ging ein paar Schritte weiter und zeigte auf einen dunklen Fleck auf dem Rasen. "Hier wurde heute morgen eine Leiche gefunden. Ich habe den Verdacht, daß der Mann durch einen Geist oder etwas ähnliches ums Leben gekommen ist. Kannst du vielleicht fühlen, was hier passiert ist?" Abdul schwebte näher und ließ sich auf den Boden herab. Neugierig untersuchte er den Abdruck, die der Tote auf dem Rasen hinterlassen hatte. "Ich bedaure sehr, Ihnen nicht helfen zu können, Sergeant. Ich kann nichts Besonderes entdecken. Wenn ich vielleicht den fraglichen Leichnam einmal untersuchen dürfte, wäre es vielleicht möglich... oh!" Blitzschnell war Abdul wieder in der Phiole verschwunden, die Archibald in der Hand hielt. Ehe der Sergeant begriffen hatte, was geschehen war, hörte er schwere Schritte hinter seinem Rücken. "Das Betreten des Rasens ist verboten", sagte eine krächzende Stimme, "ebenso wie der Besuch der Parkanlagen zu nachtschlafender Zeit." Archibald drehte sich überrascht um und stand einem vertrocknet aussehendem kleinen Mann gegenüber, dessen Uniform ihn als ein Mitglied der Parkwache kenntlich machte. Er leuchtete Archibald mit seiner Laterne ins Gesicht. Er hob beschwichtigend die Hände und zückte seinen Dienstausweis. "Ich kann alles erklären", sagte er lächelnd. * Erst in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Paddington wagte Archibald Moore es wieder, den Flaschengeist aus der Phiole zu lassen. "Das war knapp", sagte Abdul streng, "Ihr müßt stets vorsichtig sein, wenn Ihr die Phiole öffnet, Sergeant." "Schon gut, schon gut." Archibald hängte Hut und Mantel an den Haken neben der Wohnungstür. "Es wird nicht wieder vorkommen. Er hat dich aber nicht gesehen." Abduls Augen wurden groß. "Habt Ihr ihn etwa gefragt?" "Nicht direkt. Ich habe ihn gefragt, ob er etwas Außergewöhnliches beobachtet hat", erklärte Archibald, "und er hat die Frage verneint. Natürlich bezog sich meine Frage eigentlich auf die vorangegangene Nacht. Wo ich schon einmal den Nachtwächter getroffen hatte, hielt ich es für eine gute Idee, ihn darauf anzusprechen." "Und?" Archibald setzte sich und schenkte sich ein Glas Wasser ein. "Leider hatte er in der vergangenen Nacht dienstfrei. Er und sein Kollege wechseln sich jeweils ab. Erst in der kommenden Nacht werden wir also wieder den Wachmann antreffen, der in der Tatnacht Dienst hatte." "Ich verstehe, Sergeant." Abdul driftete durch Archibald Wohnung und betrachtete interessiert die Bilder an den Wänden und die Bücher in den Regalen. Er nahm ein Buch in die Hand, das aufgeschlagen auf dem Tisch des spartanisch eingerichteten Wohnzimmers lag. "Ihr lest auch Shakespeare, Sergeant?"
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Colin Mirth Archibald gähnte. "Das Buch ist nur geliehen. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, eines Tages eine Textpassage zu finden, mit der ich deinen Efendi überraschen kann. Neulich ist es mir fast gelungen." Abdul blätterte interessiert in dem Buch. "Wie ich sehe, kommen in Der Sturm auch Geister vor? Das ist ja höchst interessant!" * Archibald hatte dunkle Ringe unter den Augen, als er am nächsten Morgen sein Büro betrat. "Guten Morgen, Archibald", begrüßte ihn Colin. Er sah kurz von seiner Zeitung auf und erwartete beinahe, wieder mit einem kuriosen Shakespeare-Zitat überrascht zu werden, doch als er das übernächtigte Gesicht seines Kollegen bemerkte, war ihm klar, daß dieses morgendliche Ritual heute ausfallen würde. "Guten Morgen", brummte Archibald. Er hängte Hut und Mantel auf, schlurfte zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Nachdem er sich ausgiebig gereckt hatte, zog er Abduls Glasphiole an ihrer Kette aus seiner Westentasche und reichte sie Colin. "Mit vielem Dank zurück", sagte er düster, "leider waren unsere Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt." Colin faltete die Zeitung zusammen und legte sie weg. "Ach nein?" "Nein", knurrte Archibald, "aber ich darf heute Nacht wohl noch einmal in den Park gehen, um den Parkwächter zu sprechen, der zur Tatzeit Dienst hatte." Colin zog die Stirn kraus. "Wäre es nicht einfacher, den Mann jetzt gleich aufzusuchen?" "Das würde ich gerne tun, aber der Mann schläft jetzt wahrscheinlich." "Hm." Colin hängte sich die silberne Kette wieder um den Hals und ließ die Phiole, die daran hing, in seinem Hemdkragen verschwinden. Im nächsten Moment klopfte es an der Tür. "Herein." Die Tür wurde geöffnet, und eine Frau von etwa vierzig Jahren betrat das Büro. Sie war gut gekleidet und gehörte augenscheinlich der besseren Gesellschaft an, doch war dies bereits das Netteste, was man über ihr Äußeres sagen konnte. Sie war mindestens einen Kopf kleiner als Archibald Moore, aber mindestens doppelt so schwer. Ihre strohigen Haare rahmten ein zerfurchtes Gesicht ein, das von einer knorrigen Hakennase dominiert wurde. Ihr Gang war gebeugt, und ihr Rücken wurde von einem grotesken Buckel entstellt. In einem Versuch, ihre körperlichen Unzulänglichkeiten auszugleichen, hatte sie sich ausgiebig mit Schmuck behängt und auffallend grell geschminkt. Colins erste Assoziation beim Anblick der Frau war die mit einer Hexe aus den Märchen, die ihm seine Mutter in den Tagen seiner Kindheit vor dem Zubettgehen vorzulesen pflegte. Nun mochte diese Dame sicherlich keine waschechte Hexe sein, aber gewiß war sie die mit Abstand häßlichste Frau, die Colin in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Zumindest für drei Sekunden. Dann betrat eine zweite Frau – der Ähnlichkeit nach zu urteilen, mußte es sich um die Tochter der ersten handeln – das Zimmer, und Colin relativierte seine Meinung umgehend. "Guten Morgen, Gentlemen", schnarrte die Ältere der beiden. Colin und Archibald standen höflich auf. "Guten Morgen, Madam. Was, äh, können wir für Sie tun?", fragte Archibald dienstbeflissen. "Ich bin Florence Worthington, und das ist meine Tochter Gwendolen. Sie haben diesen Artikel hier in die Zeitung setzen lassen?" Mrs. Worthington zog ein Seite 6
Colin Mirth zusammengerolltes Exemplar des Daily Mirrors aus ihrer Handtasche und hielt es Colin entgegen. Auf der Titelseite prangte eine Portraitzeichnung des Toten aus dem Hyde Park, die Archibald gestern für die Zeitung hatte anfertigen lassen. "Das ist korrekt, Mrs. Worthington", Archibald lächelte freundlich. "Mein Name ist Mirth, und das ist Sergeant Moore", stellte Colin seinen Kollegen und sich vor. "Haben Sie etwa sachdienliche Hinweise, die uns bei der Identifizierung des Toten helfen könnten?" Colin hatte noch nicht ausgesprochen, als Miss Worthington herzzerreißend schluchzte und in ein ohrenbetäubendes Geheul ausbrach. "Ist ja schon gut, mein Kindchen, ist ja schon gut", beeilte Mrs. Worthington sich, ihre Tochter zu trösten, "du wirst schon sehen, es wird alles gut." Colin warf Archibald einen fragenden Blick zu. Archibald hob ratlos die Brauen. "Da sehen Sie, was dieser Unhold meiner Gwendolen angetan hat", schnaubte Mrs. Worthington, nachdem sich ihre Tochter wieder einigermaßen beruhigt hatte und nur noch still in ihr bunt besticktes Taschentuch weinte. "Das Herz hat er ihr gebrochen." Colin überlegte, ob es eine gute Idee wäre, Mrs. Worthington und Miss Worthington darauf aufmerksam zu machen, daß der Tote sich selbst deutlich mehr als nur das Herz gebrochen hatte. Er beschloß, es nicht zu tun. "Was können Sie uns denn über den Mann sagen, Miss Worthington?", fragte er betont taktvoll. Die junge Frau sah kurz auf und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ehe sie jedoch ein Wort hervorbringen konnte, wurde sie schon wieder von einem Weinkrampf gepackt und verfiel wieder in das schrille Heulen, das Archibalds Ohren klingeln ließ. "So lassen Sie das arme Kind doch in Ruhe, Sie ungehobelter Klotz", herrschte Mrs. Worthington Colin an. "Verzeihen Sie bitte, Madam! Ich dachte, Sie wären hier, um uns etwas zu sagen", verteidigte er sich. "Theodore Williams hieß der Schuft", zischte Mrs. Worthington, "möge er in der Hölle schmoren." Nachdem der neuerliche Weinkrampf, den diese Bemerkung bei Miss Worthington ausgelöst hatte, abgeebbt war, meldete sich Archibald zu Wort. "Sagen Sie, was genau hat Mister Williams Ihnen denn getan, daß sein Tod eine solche Wirkung auf Ihre Tochter hat, Mrs. Worthington?" "Was er ihr getan?", keifte die Alte. "Was er ihr getan hat, fragen Sie? Sehen Sie sich das arme Kind doch nur an, Sergeant! Die Ehe hat er ihr versprochen, der Verbrecher! Und dann ist er spurlos verschwunden." "Nicht ganz spurlos", gab Colin unvorsichtigerweise zu bedenken und löste damit ein erneutes schrilles Heulen aus. "Was könnte ihn denn Ihrer Meinung nach nachts in den Hyde Park geführt haben?", erkundigte sich Archibald vorsichtig. "Was auch immer ihm dort widerfahren ist, es geschieht ihm ganz recht", giftete Mrs. Worthington. "Einem jungen Mädchen die Ehe versprechen und dann ohne ein Wort verschwinden – also nein, das hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben! Ein Skandal!" Miss Worthington wurde bei der Haßtirade ihrer Mutter von einem weiteren Weinkrampf geschüttelt. Mrs. Worthington tätschelte ihr versöhnlich den Kopf. "Schon gut, mein Kindchen, schon gut. Wir gehen ja gleich. Wir wollten doch nur dem netten jungen Inspektor und seinem Kollegen bei ihrer Arbeit helfen, nicht wahr?" Bei dem Blick, den sie ihm in diesem Moment zuwarf, lief es Colin kalt den Rücken hinunter. Mrs. Worthington verlor offenbar keine Zeit, um sich auf die Suche nach potentiellen neuen Verlobten für ihre Tochter zu machen. Die Aussicht, Gwendolen Worthington näher kennenzulernen, war jedoch alles andere als verlockend. Seite 7
Colin Mirth Nachdem sich die Tür hinter den beiden Damen geschlossen hatte, stemmte Archibald entrüstet die Fäuste in die Hüften. "Das ist doch wohl die Höhe", rief er, "haben Sie das gehört? 'Der nette junge Inspektor und sein Kollege'!" Colin schmunzelte. "Dabei sind Sie doch gar nicht mehr so jung, Archie." Die Tür wurde erneut geöffnet, und Inspector Pryce steckte den Kopf herein. "Sagen Sie mal, was waren denn das für zwei Gestalten, denen ich da gerade auf dem Flur begegnet bin? Waren das etwa welche von Ihren paranormalen Phänomenen, Sergeant Mirth?" "Nicht ganz, Inspector", sagte Archibald säuerlich, "das war Sergeant Mirths Schwiegermutter in spe." * "Florence Worthington", sagte Phoebe Carmichael und seufzte schwer. "Oje." Colin wechselte einen vielsagenden Blick mit Archibald und nahm das Sherryglas von dem Tablett, das ihm die Angestellte seiner Tante reichte. "Was stimmt nicht mit Mrs. Worthington, Tante Phoebe?" Phoebe kicherte boshaft. "Wenn du sie gesehen hast, Colin, weißt du es doch." Archibald verschluckte sich an seinem Drink und schnappte nach Luft. "Mal abgesehen von Äußerlichkeiten", Colin stellte sein Glas auf den Wohnzimmertisch und klopfte Archibald hilfsbereit auf den Rücken, "was erzählt man sich so über Mrs. Worthington und ihr Fräulein Tochter?" "Nun, zum einen sind die Worthigtons reich. Sie haben Ländereien, eine Weberei und eine Schiffahrtslinie, mit der sie mit den Kolonien Handel treiben", zählte Phoebe die Aktiva der Worthingtons auf. "Allerdings will niemand, der etwas auf sich hält, etwas mit ihnen zu tun haben, mein Junge." "Ist das so?", fragte Colin. "Woran liegt das?" Phoebe senkte verschwörerisch die Stimme. "Der alte Worthington, Gott habe ihn selig, war nicht immer so reich. Man erzählt sich, daß es eigentlich nicht möglich ist, allein mit ehrlicher Arbeit in nur wenigen Jahren so einen enormen Reichtum anzuhäufen wie der alte Worthington." "Ich verstehe", sagte Colin, "das ist natürlich ein gewisser Makel." Phoebe leerte ihr Glas. "Das ist stark untertrieben, mein Junge. In der besseren Gesellschaft gibt man sich nicht mit Leuten ab, über deren Herkunft Unklarheit besteht. Der alte Worthington ist nie darüber hinweggekommen, daß er trotz seines Reichtums nicht wirklich zum Establishment gehörte." Archibald legte die Stirn in Falten. "Sagen Sie, Mrs. Carmichael, stammte denn Mister Theodore Williams aus besserem Hause?" "Theodore Williams?" Phoebe dachte einen Moment lang nach. "Ist das nicht der Junge von dem Williams aus Mayfair?" "Schon möglich." Archibald kramte ein Stück Papier aus der Hosentasche, das er aus dem Daily Mirror herausgerissen hatte. "Sah er ungefähr so aus?" Phoebe sah nachdenklich auf das Porträt, das er ihr reichte. "Ja, ich denke, das könnte er sein... Gütiger Himmel! Ist das etwa dieser mysteriöse Tote aus dem Hyde Park, von dem die ganze Stadt spricht?" Colin nickte. "Mrs. Worthington hat uns erzählt, Mister Williams habe ihrer Tochter Gwendolen vor seinem vorzeitigen Tod die Ehe versprochen." Phoebe gab Archibald den Zeitungsausschnitt zurück und sah ihren Neffen vorwurfsvoll an. "Colin, mein Junge, mit so etwas macht man keine Witze." "Nein, wirklich", bekräftigte Archibald. "Das waren ihre Worte, Mrs. Carmichael."
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Colin Mirth Phoebe schüttelte langsam den Kopf. "Ich könnte mich täuschen, Sergeant Moore, aber nach meinem letzten Kenntnisstand war der junge Mister Williams bereits seit einiger Zeit mit einem Mädchen aus Greenwich verlobt. Er kann also der kleinen Gwendolen Worthington gar nicht die Ehe versprochen haben." Archibald schnippte mit den Fingern. "Das erklärt vielleicht, warum er spurlos verschwunden ist." "Das erklärt aber nicht den bedauernswerten Zustand, in dem er wieder aufgetaucht ist", gab Colin zu bedenken. * Als Colin und Archibald in ihr Büro zurückkehrten, warteten dort drei Nachrichten auf sie. Die eine hatte der Bankier Cecil Williams aus Mayfair hinterlassen, welcher in der Zwischenzeit versucht hatte, die beiden Polizisten zu erreichen. Auch er hatte in dem veröffentlichten Bild seinen Sohn Theodore erkannt und bat nun dringend um einen Besuch. Die anderen zwei waren Telegramme. Colin öffnete den ersten der beiden Umschläge mit einem Brieföffner, nahm das Telegramm heraus und überflog es. "Von wem ist es denn?" fragte Archibald, der bereits auf einem Stadtplan das Haus der Familie Williams suchte. "Von den Worthingtons", antwortete Colin mit Grabesstimme. "Hören Sie sich das mal an, Archibald: 'Lieber Sergeant Mirth, wir wünschen Ihnen Glück und Erfolg bei der Aufklärung des Mordes an Gwendolens Verlobten. Bitte halten Sie uns über Ihre Ergebnisse auf dem Laufenden. Liebe Grüße, Ihre Florence Worthington.' Was sagen Sie dazu?" Archibald zwirbelte sich nachdenklich die Schnurrbartspitzen. "Nun ist es also offiziell ein Mordfall, ja?" Colin zuckte mit den Achseln. "Nach einem Unfall sieht es nun mal nicht aus. Wir müssen, wie bereits gesagt, von Fremdverschulden ausgehen. Die Worthingtons nennen es Mord." "Fremdverschulden und Mord sind zwei verschiedene Dinge", gab Archibald zu bedenken. "Vielleicht wollen Sie unsere Gedanken absichtlich in diese Richtung dirigieren..." Colin brummte gleichgültig und öffnete das zweite Telegramm. Sein Gesicht nahm eine ungesunde Färbung an. "Schlechte Neuigkeiten, Colin?" fragte Archibald besorgt. "Das könnte man so ausdrücken", entgegnete Colin sarkastisch. "Die Worthingtons haben mich zum Abendessen eingeladen." Archibald gelang es nur teilweise, sein schadenfrohes Grinsen unter seinem buschigen Schnurrbart zu verbergen. "Was Sie nicht sagen!" "Im Savoy, immerhin." Colin sah auf die Uhr. "Um Himmels Willen, Archibald! Wenn ich mich vorher noch umziehen will, schaffe ich das nie!" "In diesem Fall werde ich Mister Williams wohl alleine aufsuchen. Gehen Sie nur ruhig zu Ihrer Verabredung, Colin", sagte Archibald großmütig. * Das Savoy war gut besucht. Wie Mrs. Worthington es gelungen war, in der Kürze der Zeit einen Tisch zu bekommen, konnte Colin nur vermuten. Entweder dinierten die Worthingtons regelmäßig hier, oder der Tisch war ursprünglich schon vor geraumer Seite 9
Colin Mirth Zeit für Gwendolen Worthington und Theodore Williams reserviert worden, oder die Worthingtons waren einfach so unverschämt reich, daß sich die Direktion des Restaurants es nicht erlauben konnte, derart zahlungskräftige Kundschaft zu verprellen. Gwendolen und ihre Mutter warteten bereits ungeduldig im Foyer, als Colin eintraf. "Da sind Sie ja endlich, Sergeant Mirth", rief Mrs. Worthington erleichtert. Colin verneigte sich und gab den beiden Damen galant einen Handkuß. "Entschuldigen Sie vielmals, falls ich mich verspätet haben sollte. Der Verkehr in der Stadt ist um diese Uhrzeit schier eine Katastrophe. Ich hoffe, Sie haben nicht lange warten müssen?" "Vielleicht fünf Minuten", antwortete Gwendolen schüchtern. "Eine halbe Ewigkeit, Sergeant Mirth", sagte ihre Mutter gleichzeitig. "Verzeihen Sie mir", sagte Colin, "es wird nicht wieder vorkommen." ... daß ich mich jemals wieder auf ein Abendessen mit Ihnen einlasse, fügte er in Gedanken hinzu. "Das will ich hoffen, Sergeant", entgegnete Mrs. Worthington brüsk. Dann änderte sie abrupt den Tonfall. "Aber wer könnte denn einem netten, gutaussehenden jungen Mann wie Ihnen böse sein?" Gwendolen kicherte albern. Colin atmete tief durch und machte sich auf das Schlimmste gefaßt. * Am nächsten Morgen begegneten sich Colin und Archibald am Haupteingang von Scotland Yard. Beiden standen die Spuren einer langen Nacht ins Gesicht geschrieben. "Nanu", gähnte Archibald, "Sie sind aber spät dran heute, mein Bester!" "Es war ein langer Abend", knurrte Colin und hielt seinem Kollegen die Tür auf. Archibald gluckste. "Und, wie war's im Savoy?" "Fragen Sie besser nicht", brummte Colin. "Es gibt Abende, die man nie vergißt und solche, an die man sich nicht erinnern kann. Und dann gibt es noch solche wie den gestrigen, den man am liebsten vergessen möchte." "So schlimm, hmm?" Schweigend trotteten sie nebeneinander her. In ihrem Büro angekommen, entledigten sie sich ihrer Hüte und Mäntel. "Und was erzählt der Bankier?", erkundigte sich Colin. "Nichts, was uns weiterhelfen könnte", antwortete Archibald und setzte sich an seinen Schreibtisch. "Er hat mir bestätigt, daß sein Sohn in der Tat mit einer jungen Dame aus Greenwich verlobt war. Von einer Verbindung mit der Tochter der Worthingtons wußte er nicht. Allein schon der Gedanke daran schien ihm absurd." "Das wiederum kann ich durchaus nachvollziehen", bemerkte Colin, während er sich die Schläfen massierte. "Der Nachtwächter, den ich anschließend getroffen habe, konnte mir auch nicht viel berichten", fuhr Archibald fort. "Er sagte, er habe den Toten unmittelbar vor dem Ende seiner Schicht entdeckt und beim Schichtwechsel seinen Nachfolger informiert, der dann seinerzeit die nächste Polizeidienststelle verständigt." "Gibt es irgendwelche paranormalen Phänomene im Hyde Park, von denen wir wissen sollten?", fragte Colin. Archibald zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. "Nicht wirklich, Colin, leider. Er sagte zwar, er hätte einige Male eine grünlich leuchtende Dame gesehen, die des Nachts im Park flanierte, aber er hat diese Beobachtung darauf zurückgeführt, daß er zwischen Abendessen und Dienstbeginn gelegentlich ein Gläschen Port zu sich nimmt." Seite 10
Colin Mirth "Hmm", machte Colin gedehnt. "Falls es sich jedoch tatsächlich um ein paranormales Phänomen handelt, dann scheint es keines von der Art zu sein, das einem Mann alle Knochen bricht und ihn in den Boden stampft." Es klopfte an der Tür, und ein Telegrammbote trat ein. "Eine Nachricht für Sergeant Mirth", rief er fragend. Colin hob die Hand und nahm den kleinen gelben Umschlag entgegen. "Wenn das jetzt wieder von den Worthingtons ist...", sagte er mit einem drohenden Unterton, als sie wieder unter sich waren. "A propos", Archibald schnippte mit den Fingern, "erwähnte ich schon, was Mister Williams über die finanziellen Verhältnisse der Worthingtons sagte?" Colin schüttelte den Kopf. "Nein, Archibald. Was denn?" Archibald senkte verschwörerisch die Stimme. "Die Worthingtons sind seine Kunden. Und so, wie er es darstellte, sind sie bis über beide Ohren verschuldet. Darum konnte er sich auch überhaupt nicht erklären, daß sein Sohn angeblich eine romantische Verbindung mit Miss Worthington eingegangen sein soll." "Moment mal", Colin hob die Hand. "Wissen Sie, was gestern abend die dominierenden Gesprächsthemen bei unserem Dinner war?" Archibald sah seinen Kollegen gespannt an. "Mein Familienstand, meine Herkunft, meine Familie – und unsere Vermögensverhältnisse", zählte Colin die einzelnen Punkte an den Fingern auf. "Die gute Mrs. Worthington hat mich regelrecht ausgepreßt. Ich habe natürlich versucht, ihr auszuweichen, aber sie hat nicht locker gelassen und ist immer wieder auf diese Fragen zurückgekommen. Was für eine furchtbare Person... Nicht mal die Tatsache, daß ich aus Birmingham stamme, hat sie abgeschreckt." "Jetzt verstehe ich", rief Archibald, "unsere gute Mrs. Worthington ist auf der Suche nach einem neuen Verlobten für ihr Fräulein Tochter." Colin schüttelte sich unwillkürlich. "Und zwar einen mit Vermögen." "Um die Finanzen der Familie Worthington wieder zu sanieren", führte Archibald den Gedanken zu Ende. "Was ist nicht verstehe – wenn die Worthingtons den jungen Mister Williams schon als Kandidaten fest eingeplant hatten, warum weiß dann in seiner Familie niemand davon?" "Und warum wissen wiederum die Worthingtons nichts von dem Mädchen aus Greenwich, mit dem Mister Williams bereits verlobt war?", gab Colin zu bedenken, "und warum und durch wessen Hand mußte der junge Mann dann sterben?" Archibald reckte neugierig den Hals. "Was steht denn nun in dem Telegramm?" "Ach so, das Telegramm..." Colin entfaltete das Papier, überflog die Nachricht und runzelte die Stirn. "Von den Worthingtons?" fragte Archibald. Colin schüttelte den Kopf. "Jemand namens Cedrick Barnes aus Dover möchte mich unbedingt sprechen. Es geht um den Toten im Hyde Park, wie er schreibt." Archibald langte ungeduldig nach dem Telegramm ."Ist das alles, was er schreibt?" "Ja." Colin zuckte mit den Achseln. "Wissen Sie, wann der nächste Zug nach Dover geht?" "Leider nein. Aber was um alles in der Welt wollen Sie in Dover? Das ist doch gar nicht unsere Jurisdiktion!" Colin stand auf und griff nach seinem Mantel. "Wenn dort jemand ist, der uns bei der Klärung des Falles behilflich sein kann, fahre ich zu ihm." "Ich wollte eigentlich heute nach Greenwich, um die Verlobte... die andere Verlobte von Theodore Williams zu befragen", protestierte Archibald. "Und außerdem hatte ich
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Colin Mirth gehofft, daß wir heute abend noch einmal zusammen in den Park gehen, um diese geisterhafte Dame zu suchen." Colin hielt einen Moment inne. Dann zog er Abduls Phiole hervor und öffnete sie. Die leuchtende blaue Wolke nahm in Sekundenschnelle wieder die Form des Flaschengeistes an. Abdul verneigte sich. "'Heil, großer Meister! Heil Dir, weiser Herr! Ich komme, Deinem Winken zu begegnen!'" Colin sah sprachlos von Abdul zu Archibald und wieder zurück. "Das... das ist eine Verschwörung", stieß er verdattert hervor. "Nein, Efendi", widersprach Abdul geduldig, "das ist aus einem Bühnenstück namens 'Der Sturm'." "Erster Akt, zweite Szene", ergänzte Archibald hilfsbereit. "Ich weiß", schnappte Colin gereizt. "Abdul, ich möchte, daß du dem Sergeant heute Nacht wieder hilfst. Halte die Augen offen, im Hyde Park gibt es angeblich eine Geistererscheinung." Abdul nickte gehorsam. "Wie Ihr wünscht, Efendi." Colin sah auf die Uhr. "Falls ich bis heute abend nicht zurück bin, geht ohne mich. Ansonsten treffen wir uns im Park." * Archibald Moore betätigte die Türglocke, und ein adrett gekleideter Butler öffnete ihm. "Ja bitte?" "Guten Morgen. Ich bin von Scotland Yard. Mein Name ist Archibald Moore. Ich hätte gerne mit Miss Priscilla Vandermere gesprochen." Der Butler machte ein säuerliches Gesicht. "Miss Vandermere empfängt keine Besucher, Sir." Archibalds Gesicht verfinsterte sich. "Hören Sie, guter Mann, ich habe weder die Zeit noch das Bedürfnis, mit Ihnen zu streiten. Lassen Sie mich bitte herein und melden Sie mich bei der jungen Dame an. Hier ist meine Karte." Der Angestellte der Vandermeres nahm Archibalds Visitenkarte unschlüssig entgegen. "Ich habe meine Anweisungen, Sir." "Und ich habe die meinigen", erwiderte Archibald ungeduldig. "Lassen Sie mich nun endlich eintreten?" "Wie Sie wünschen, Sir." Der Butler verbeugte sich und machte einen Schritt zur Seite. Archibald trat ein und bemerkte auf den ersten Blick, daß allein die Empfangshalle des Anwesens der Vandermeres doppelt so groß war wie sein eigenes kleines Appartement in Paddington. Der Raum war mit schweren Teppichen ausgelegt, die die Schritte dämpften. An den Wänden hingen große, düstere Ölgemälde und ein Sammelsurium von Geweihen und Zinntellern. Unter der Treppe, die nach oben führte, tickte eine mächtige Standuhr aus dunklem Holz. "Wer ist es denn, Charles?" fragte eine Frauenstimme von oben. "Ein Gentleman von Scotland Yard, Miss Vandermere", antwortete der Butler mit einem Seitenblick auf Archibald. Nach einer kurzen Pause vernahm Archibald mit Erleichterung, daß Miss Vandermere ihn im Salon zu sehen wünschte. Er reichte Charles seinen Mantel und den Hut, und wenige Minuten später betrat er einen kleinen, gemütlich eingerichteten Salon. In einem Sessel am Fenster saß ein hübsches junges Mädchen von etwa zwanzig Jahren und blickte trübsinnig nach draußen. Dunkle Haare umrahmten ein schmales, blasses Gesicht, das von einem schmerzlichen Verlust gezeichnet war. Sie sah nicht auf, als Archibald hereinkam. Seite 12
Colin Mirth "Ich bin Sergeant Moore", stellte er sich vor. "Darf ich mir zunächst erlauben, Ihnen mein aufrichtiges Beileid auszudrücken, Miss Vandermere?" Das Mädchen zuckte mit den Schultern. "Entschuldigen Sie bitte die Unordnung, Sergeant Moore. Meine Eltern sind verreist. Ich habe sie natürlich gleich benachrichtigen lassen, als ich hören mußte, was mit Theodore geschehen ist." "Wann haben Sie ihren Verlobten zuletzt gesehen, Miss Vandermere?" Archibald zückte Notizbuch und Stift. "Am letzten Wochenende. Wir haben ein Picknick an der Themse gemacht", antwortete sie ruhig. "Ist Ihnen an Mister Williams bei dieser Gelegenheit vielleicht irgend etwas aufgefallen?", fragte Archibald weiter. "Hat er sich anders verhalten als sonst?" Priscilla Vandermere kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. "Nein, eigentlich nicht. Aber wenn ich es so recht bedenke... er schien über irgend etwas besorgt zu sein. Irgendwie konnte er nicht richtig entspannen, wenn Sie verstehen, was ich meine." "Natürlich." Archibald kritzelte besorgt auf seinen Notizblock. "Kennen Sie die Familie Worthington." Priscilla lachte heiser und drehte sich halb zu ihm herum. "Oh Entschuldigung, Sergeant, Sie stehen ja noch! So nehmen Sie doch Platz!" "Danke, Miss Vandermere." "Die Worthingtons..." Sie lächelte schief. "Das sind doch diese seltsamen Neureichen, über die halb London hinter vorgehaltener Hand redet, nicht?" Archibald räusperte sich. "Ich habe zwar bisher nur einmal das Vergnügen mit Miss und Mrs. Worthington gehabt, aber ich glaube, daß Sie und ich in der Tat von den gleichen Personen reden." "Ich hatte das... Vergnügen, wie Sie es zu nennen belieben, schon des Öfteren", sagte Priscilla, "und ich kann Ihnen versichern, Sergeant, daß ich in dieser Hinsicht gerne mit Ihnen tauschen würde." "Ich denke, ich verstehe", schmunzelte Archibald. "Wie stand denn Ihr Verlobter zu den Worthingtons?" "Theodore?" Priscilla hob überrascht die Augenbrauen. "Ich fürchte fast, ich verstehe Ihre Frage nicht, Sergeant Moore." "Nun, äh..." Archibald kratzte sich mit seinem Stift hinter dem Ohr. Die Situation war heikel. Das Letzte, was er tun wollte, war, das hübsche junge Mädchen mit der Neuigkeit zu quälen, ihr kürzlich verstorbener Verlobter habe auch Gwendolen Worthington ein Heiratsversprechen gegeben. "Pflegte Theodore Williams vielleicht gesellschaftlichen Umgang mit den Worthingtons?" Priscilla schüttelte den Kopf. "Welchen Anreiz gäbe es dafür?", bemerkte sie spöttisch. "Nur so ein Gedanke", brummte Archibald ausweichend. Das Mädchen kniff skeptisch die Augen zusammen. "Warum fragen Sie mich das? Haben die Worthingtons etwa mit dem mysteriösen Tod meines Verlobten zu tun?" Archibald seufzte und klappte sein Notizbuch wieder zu. "Das wissen wir nicht, meine Teuerste. Ich kann Ihnen beim derzeitigen Stand der Ermittlungen lediglich sagen, daß der Name Worthington uns gegenüber vor Kurzem bereits fiel. Was die genaue Todesursache betrifft, stehen wir noch immer vor einem Rätsel." "Theodores Vater kam mich gestern noch besuchen", sagte Priscilla plötzlich, "und er sagte auch irgend etwas über die Worthingtons... ich kann mich nur nicht mehr erinnern, was es war... ich muß gestehen, ich habe in den letzten zwei Tagen ein paar Gläser Sherry zu viel getrunken..."
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Colin Mirth Archibald bemerkte erst jetzt die leere Flasche, die neben dem Sessel der jungen Frau stand. Offensichtlich hatte Miss Vandermere den Kummer über den Tod ihres Verlobten in Sherry zu ertränken versucht. "Sie können sich nicht vorstellen, wie das ist, jemanden wie Theodore zu verlieren", fuhr sie fort. "Oh doch, das kann ich nur zu gut", seufzte Archibald leise. Dann wechselte er schnell das Thema. "Können Sie sich erklären, was er im Hyde Park gemacht haben könnte?" Sie zuckte ratlos mit den Schultern. "Er wird spazieren gegangen sein, nehme ich an." "Mitten in der Nacht, Miss Vandermere?" "Ich weiß es nicht", schluchzte sie plötzlich herzzerreißend, "ich weiß es doch nicht!" * Der Zug brauchte drei Stunden für die Fahrt von London nach Dover. Mehr als eine weitere Stunde brauchte Colin, um den Mann ausfindig zu machen, der ihm das Telegramm geschickt hatte. Als der Nachmittag angebrochen war, fragte er schließlich einen Constable der lokalen Polizei, den er in der Nähe der normannischen Burg antraf, nach dem Weg. "Cedric Barnes? Ja, den kenne ich, Sir", sagte der Polizist. "Hätten Sie vielleicht die Freundlichkeit, mir zu sagen, wo ich ihn finden kann?" Der Constable lachte. "Der Zufall will es so, daß ich auch gerade auf dem Weg zu Mister Barnes bin, Sergeant Mirth. Warum kommen Sie nicht einfach mit?" Colins Gesicht hellte sich auf. "Gerne. Gehen Sie nur vor." Der Polizist führte Colin weiter aus der Stadt heraus. Von der Festung aus war es nicht mehr weit bis zu einem bulligen, freistehenden Turm, dessen schroffe graue Steinmauern stellenweise von Gras und Feldblumen bewachsen waren. "Unser römischer Leuchtturm", erklärte der Constable stolz, "das höchste Gebäude aus römischer Zeit, das Sie im gesamten Königreich finden werden, Sir. Ich wette, nicht eimal in London haben Sie so etwas!" "Nein", grinste Colin, "Leuchttürme haben wir in London allerdings nicht." "Nein, Sir, ich meinte... ah, da ist er ja. Cedric!" Der Polizist war stehengelieben und winkte einem Mann, der soeben aus einem bunt gestreiften Zelt getreten war, welches sich zu Füßen des Leuchtturms befand. Der Mann winkte zurück und kam ihnen einige Schritte entgegen. "Hallo Cedric. Wie gehen die Geschäfte?", fragte der Constable, als er und Colin Cedric Barnes trafen. "Schlecht, Bill, schlecht", entgegnete Barnes mürrisch. "Lausige Thermik heute." "Du hast Besuch aus der Stadt", sagte der Polizist und legte Colin die Hand auf die Schulter. "Das ist Sergeant Mirth. Scotland Yard. Er sagte, er habe ein Telegramm von die bekommen. Stimmt das?" Barnes reichte Colin die Hand. "Danke, daß Sie so schnell kommen konnten, Sergeant Mirth." "Keine Ursache", winkte Colin ab, "habe ich Sie richtig verstanden, daß Sie Informationen über den Toten im Hyde Park für mich haben?" "Ich glaube, ja. Warten Sie mal kurz." Barnes verschwand in seinem Zelt und kam nach wenigen Augenblicken mit einem Bogen Zeitungspapier zurück. Er gab Colin das Papier, der sofort die Titelseite des Daily Mirror vom Vortag erkannte. Das Papier fühlte sich klebrig an und verströmte einen eigenartigen Geruch. "Fisch, Mister Barnes?" bemerkte Colin überrascht.
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Colin Mirth "In Öl gebacken. Kriegen Sie hier an jeder Ecke, Sir", mischte sich der Constable wieder in das Gespräch ein. "Haben Sie in London doch sicher auch, möchte ich wetten." "Ich pflege nicht zu wetten, guter Mann", wies Colin den Polizisten zurecht, ehe er sich wieder an Barnes wandte. "Man hat Ihnen einen gebackenen Fisch in die Zeitung von gestern eingewickelt, als sie ihn gekauft haben?" "Richtig, Sir. Und da fiel mein Blick auf diese Zeichnung da", bestätigte Barnes. "Den Gentleman kenne ich nämlich." "Ist das so?" Colin hob die Augenbrauen. Was ein Bankierssohn aus London mit Mister Barnes aus Dover zu tun haben mochte, vermochte er sich nicht vorzustellen. "Ja, Sir. Er war vor einer Woche hier bei mir und ist mit mir gefahren." Colin stutzte. "Er ist mit Ihnen gefahren?" "Genau, Sir. Und seit vorgestern fehlt einer meiner Aerostaten, und ich hatte gleich diesen Gentleman aus London als Dieb in Verdacht, weil er neulich so viele Fragen gestellt hat", brummte Barnes. Colin schüttelte verständnislos den Kopf. "Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Mister Barnes. Worüber hat Ihnen Theodore Williams viele Fragen gestellt, bitte?" "Über das Fahren", sagte Barnes geduldig, "das Ballonfahren, meine ich." "Das Ballonfahren", wiederholte Colin tonlos. "Wissen Sie, Sir, ich bin doch Ballonfahrer", sagte Barnes und deutete auf sein buntes Zelt. "Ich habe hier mein Basislager und mache mit Ausflüglern Ballonfahrten. Die Kreidefelsen, die Grafschaft Kent, manchmal sogar bis hinauf zu Ihnen nach London. Je nachdem, wie der Wind steht..." Colin kratzte sich nachdenklich am Kinn. "Ballonfahrten", echote er. "Ich habe einen Heißluftballon und einen Gasballon", verkündete Barnes stolz, "das heißt, jetzt habe ich nur noch den Heißluftballon. Den Gasballon hat man mir vor zwei Nächten gestohlen. Ich sagte ja, mit dem Heißluftballon kann ich bei der momentanen Thermik unmöglich starten." "Das ist übrigens der Grund, warum ich zu Dir wollte", sagte der Constable, "stell dir vor, man hat deinen Gasballon gefunden, Cedric." "Was?", fragte Cedric überrascht. Colins Kopf ruckte herum. "Wo?" Der Polizist zog ein Telegramm aus der Jackentasche. "In Buckinghamshire. Hatte sich in einem Baum verfangen, das gute Stück. Wir haben heute mittag eine Nachricht von der dortigen Polizeidienststelle erhalten." "War jemand an Bord?", fragte Colin schnell. "Nein, Sergeant, niemand. Der Ballon... ich meine, die Passagiergondel war leer, schreibt unser Kollege." Colin dachte kurz nach. "Sagen Sie, Mister Barnes, wie schnell könnten wir mit Ihrem Heißluftballon in Buckinghamshire sein?" "Die Thermik läßt erst gegen Abend nach", sagte Barnes, "aber danach könnte es gehen. Der Wind weht seit Tagen aus Süden, das trifft sich gut. Aber ich würde viel lieber mit dem Pferdefuhrwerk nach Buckinghamshire fahren, sonst habe ich hinterher gleich zwei Ballone auf einmal, die ich auf dem Landweg wieder zurücktransportieren muß. Ein Ballon ist in dieser Hinsicht kein besonders praktisches Transportmittel, müssen Sie wissen." "Ich verstehe. Dann nehme ich doch lieber den Zug." Colin wandte sich zum Gehen. "Moment mal, Sergeant", rief Barnes, "Sie werden doch wohl nicht den Zug einer zünftigen Ballonfahrt vorziehen?" * Seite 15
Colin Mirth Es war so dunkel, daß man die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Archibald wartete, bis es ganz still im Park geworden war. Dann erst zog er die gläserne Phiole an ihrer Silberkette hervor und entkorkte sie. "Guten Abend, Sergeant Moore", begrüßte ihn Abduls leuchtend blaue Gestalt. "Guten Morgen", verbesserte Archibald ihn, "es ist bereits nach Mitternacht, Abdul." "Verzeihung", Abdul verbeugte sich, "wollen wir uns nun auf die Gespensterjagd begeben, Sergeant?" "Stell Dir das nicht zu leicht vor", ermahnte Archibald ihn, "wir jeden hier möglicherweise über ein paranormales Phänomen, das seinen Opfern alle Knochen im Leibe zerschmettert." "Ich dachte, wir suchen nach dem Geist einer Dame, den der Nachtwächter hier gesehen haben will?" "Der eine wird uns hoffentlich zu dem anderen führen, Abdul", sagte Archibald unruhig, "vorausgesetzt, es handelt sich nicht um ein und dieselbe Erscheinung." "Hm", machte Abdul skeptisch und kraulte dabei seinen Kinnbart. Sie wanderten die nördliche und die westliche Ringstraße entlang, durchquerten den Park von Südwesten nach Nordosten und folgten dem Broadwalk in Richtung Süden, ohne einer Menschenseele, geschweige denn einem Geist zu begegnen. In Höhe der Achillesstatue deutete Archibald nach rechts. "Serpentine Road oder Rotten Row?" Abdul legte die Stirn in Falten und leuchtete kurz ein wenig intensiver. "Worin liegt der Unterschied, Sergeant?" Archibald zuckte mit den Achseln. "Die eine führt uns nördlich am Serpentine Lake entlang, die andere südlich davon." Abdul grinste breit. "Ich finde, Rotten Row ist eine vorzügliche Adresse, wenn man auf der Suche nach einem paranormalen Phänomen ist." "Da könntest du sogar recht haben." Archibald erwiderte Abduls schelmischen Gesichtsausdruck. "Sagen Sie, Sergeant", sagte der Flaschengeist und drehte sich noch einmal zu der kolossalen Achillesstatue um, die sich finster vor dem sternenübersäten Nachthimmel abzeichnete, "warum ist dieser Krieger da schwer bewaffnet, aber nackt?" Archibald gluckste. "Ich denke, daß werden sich die Damen, die seinerzeit das Denkmal zu Ehren von Mister Wellington gestiftet haben, auch gefragt haben." Sie hatten erst wenige Schritte auf der Rotten Row getan, als Archibald in der Ferne ein schwaches Leuchten bemerkte. Er blieb wie angewurzelt stehen und hob die Hand. "Siehst du das auch?" flüsterte er. Abdul kniff die Augen zusammen. "Da leuchtet etwas, Sergeant." "Oder jemand", gab Archibald zu bedenken. "Ein Geist, zum Beispiel." "Nein", widersprach Abdul nach einem kurzen Moment. "Das Licht ist nicht grün." "Du leuchtest auch nicht grün, obwohl du ein Geist bist", erinnerte Archibald ihn. "Das ist etwas anderes, Sergeant. Davon versteht Ihr nichts", antwortete der Flaschengeist pikiert. "Ich meine ja nur", verteidigte Archibald sich, "es könnte sich ja trotzdem um ein wie auch immer geartetes paranormales Phänomen handeln." "Wir werden es gleich wissen", sagte Abdul. "Es kommt nämlich näher, Sergeant." Tatsächlich bewegte sich der Lichtpunkt allmählich auf sie zu. Noch war er etwa dreihundert Yards entfernt, doch Archibald konnte bereits sehen, daß der Flaschengeist recht hatte. Es fehlte das charakteristische fahle grüne Leuchten, das Geistererscheinungen gewöhnlich zu Eigen war. Es sah eher so aus, als handelte es sich um den Schein einer normalen Laterne.
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Colin Mirth "Das könnte einer der Nachtwächter sein", zischte Archibald, "versteck dich besser, Abdul." "Und Ihr, Sergeant?" "Ich kann mich ausweisen", gab Archibald zurück und schloß in seiner Manteltasche die Hand um den Griff seines Revolvers. "Und ich kann mich auch verteidigen, wenn es nötig sein sollte." "Wie Ihr wünscht." In Sekundenschnelle war Abdul wieder in der Glasphiole verschwunden, die nun von innen blau leuchtete. Der Fremde mit der Laterne war inzwischen näher gekommen. Archibald räusperte sich. "Scotland Yard", rief er, "wer da?" "Ich bin's nur, Archie", hörte er eine vertraute Stimme, "Colin." "Colin!" Archibald Moore fiel ein Stein vom Herzen. "Mann Gottes, was machen Sie denn hier um diese Zeit?" "Ich wußte, daß ich Sie und Abdul hier finden würde", antwortete Colin und hob die Laterne, damit sein Kollege ihn besser sehen konnte. "Darum bin ich so schnell ich konnte hergekommen. Ich komme gerade mit dem Nachtzug aus Buckinghamshire." "Buckinghamshire?" fragte Archibald überrascht. "Ich dachte, Sie sind nach Dover gefahren!" "Dort war ich auch, und ich habe auch Mister Barnes getroffen", erklärte Colin geduldig, "und stellen Sie sich vor, Theodore Williams war vor ein paar Tagen bei ihm." "So. War er das?" "Sie müssen wissen, daß dieser Mister Barnes ein Ballonfahrer ist, der normalerweise mit Touristen die Steilküste entlangfliegt... pardon, entlangfährt." Colin verfiel unbewußt wieder in seinen dozierenden Tonfall und ging dabei auch wieder auf und ab. "Mister Williams hat Mister Barnes Löcher in den Bauch gefragt, was den Betrieb eines Ballons betrifft, und vor drei Nächten hat er ihm dann seinen Ballon gestohlen." "Woher wissen Sie das?", fragte Archibald überrascht. "Ganz einfach. Der Ballon wurde wiedergefunden, und zwar in Buckinghamshire." Archibald rief sich kurz die geographische Lage der beiden Orte in Relation zu London ins Gedächtnis. "In der Nacht, in der Theodore Williams starb, war er also mit einem Gasballon von Dover nach Buckinghamshire unterwegs und hat dabei London überflogen, ist das richtig?" "Korrekt", bestätigte Colin. Archibald kratzte sich am Kopf. "Was wollte er denn in Buckinghamshire? Und warum hat er nicht einfach den Zug genommen?" "Die Antwort liegt in diesem Brief hier", Colin zog einen Bogen Papier aus der Tasche, "welchen Mister Williams im Korb des Ballons deponiert hatte. Zusammen mit seiner Brieftasche übrigens, die eine Nachricht und eine beträchtliche Aufwandsentschädigung für den armen Mister Barnes enthielt." Archibald griff nach dem Brief. Colin leuchtete ihm mit seiner Laterne. "Der ist ja für Miss Vandermere", rief Archibald. "Wundert Sie das? Sie war seine Verlobte", erinnerte Colin ihn. "Nun... 'Liebste Priscilla, wenn du diese Zeilen liest, werde ich nicht mehr am Leben sein. Etwas Schreckliches ist mir widerfahren. Ich habe es zu Lebzeiten nicht über mich gebracht, dir von meinem Fehler zu berichten, doch nun, da meine Schuld gesühnt ist, sollst du alles wissen.' Das ist ja..." "Lesen Sie schon weiter", drängte Colin. Archibald überflog die nächsten Zeilen, bevor er laut weiterlas. "'... und so hat dieses schändliche Weib mich betrunken gemacht und mir im Zustand völliger
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Colin Mirth Unzurechnungsfähigkeit das Versprechen abgenommen, ihre garstige Tochter zur Frau zu nehmen.'" "Die Rede ist übrigens von den Worthingtons", ergänzte Colin hilfsbereit. Archibald schnaubte verächtlich. "Was Sie nicht sagen. 'Mein Schatz, du wirst dir nicht ausmalen können, wie peinlich mir die ganze Angelegenheit ist. Wie könnte ich je meine Verlobung mit einem süßen Geschöpf wie dir lösen wollen? Und doch setzt mich diese gräßliche Person unter einen solchen Druck, daß ich nicht wage, ihr zu widersprechen. Die Ehre meiner Familie und unserer Bank steht auf dem Spiel. Ich kann nicht...' Hier ist eine Passage unleserlich!" "Tränen, Archie", erklärte Colin. "Hier geht es weiter: '... wäre ein gesellschaftlicher Skandal. Was ich getan habe, ist unverzeihlich. Ich sehe daher keinen anderen Ausweg, als...'" "'... als freiwillig aus dem Leben zu scheiden'", beendete Colin den Satz. "Er hat Selbstmord begangen?" fragte Archibald ungläubig. "Alles spricht dafür." "Mit einem Ballon?" Colin zuckte mit den Schultern. "Ich weiß auch nicht, was in diesem Moment in dem Mann vorgegangen ist. Vielleicht wollte er nur sehr sicher sein, daß er nach seinem Sturz wirklich tot ist und nicht hinterher gelähmt im Rollstuhl landet. Er wollte offenbar ungestört sein, darum hat er gewartet, bis es dunkel ist. Da aber die meisten Gebäude, welche die von ihm angestrebte Höhe haben, öffentliche Gebäude sind und man diese nachts zusperrt, griff er zu der Lösung mit dem Ballon." "Sich wegen so einer Sache umzubringen..." Archibald schüttelte den Kopf. Colin seufzte schwer. "Glauben Sie mir, Archie, ich habe lediglich einen Abend mit Miss und Mrs. Worthington verbringen müssen, und ich wäre auch am liebsten aus dem Fenster gesprungen. Für den jungen Mister Williams war die Situation noch vertrackter. Wie wir schon vermuteten: die gute Mrs. Worthington schreckt vor nichts zurück, um einen zahlungskräftigen Gatten für ihr liebreizendes Töchterlein aufzutreiben." Archibald zwirbelte seinen Schnurrbart. "Ich weiß nicht, wie ich das Miss Vandermere beibringen soll, Colin." Colin legte ihm die Hand auf die Schulter. "Ich auch nicht, Archie. Ich auch nicht." * Nachdem Colin und Archibald am nächsten Morgen Inspector Pryce Bericht erstattet hatten, war der Fall Theodore Pryce offiziell abgeschlossen. In gedämpfter Stimmung trotteten die beiden Polizeibeamten in ihr Büro zurück. Dort wurden sie bereits erwartet. "Mein lieber Sergeant Mirth", schrillte Mrs. Worthington, als Colin die Tür aufstieß. Er zuckte zusammen, als er sich Gwendolen Worthington und ihrer Mutter wieder gegenübersah. Einen Moment lang rang er nach Worten, dann fiel ihm eine passende Textzeile aus Shakespeares 'Coriolan' ein. "'Ihr edlen Frauen, euch beiden guten Tag'", intonierte er. "Wie reizend", zirpte Gwendolen Worthington mit einer Stimme, die sich wie das Quietschen von Kreide auf einer Schreibtafel anhörte. "Wissen Sie, wir waren gerade in der Gegend – guten Morgen, Sergeant Moore – und da dachten wir, wir schauen mal nach Ihnen, Sergeant Mirth", schnarrte Gwendolens Mutter. "Sagen Sie, wir geben am kommenden Samstag einen Empfang. Hätten Sie vielleicht Lust, zu kommen? Gwendolen würde sich ja so über Ihr Erscheinen freuen, nicht wahr, Gwendolen?" Seite 18
Colin Mirth Gwendolen Worthington kicherte hinter vorgehaltener Hand und errötete. Colin und Archibald wechselten einen vielsagenden Blick. Dann räusperte sich Colin vernehmlich, zog ein zusammengefaltetes Papier aus seiner Jackentasche und reichte es wortlos Mrs. Worthington. Sie runzelte die Stirn, nahm das Blatt entgegen und begann zu lesen. Ihre Tochter stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte ihren kurzen Hals, um zu sehen, was auf dem Papier geschrieben stand. Mit jeder Zeile, welche die beiden Frauen lasen, wurden ihre Augen größer. "Das ist ja...", stammelte Mrs. Worthington. "Was erlauben Sie sich, Mister Mirth?" "'Ihre garstige Tochter'?", kreischte Gwendolen und stieß einen schrillen Schrei aus, so daß Archibald sich die Ohren zuhalten mußte. Colin lächelte dünn. "Meine Damen, wenn Sie den Brief bis zu Ende gelesen haben, werden Sie vielleicht Verständnis dafür haben, daß ich Ihre freundliche Einladung ablehnen muß." Mrs. Worthington holte tief Luft. "Dieser jämmerliche..." "Mama!", schrillte Gwendolen. Ihre Mutter verstummte für einen Moment. Dann griff sie nach Gwendolens Hand und zog ihre Tochter hinter sich her. "Sie werden noch von mir hören, Mister Mirth", keifte sie, "ich werde mich über Sie beschweren!" "Gewiß", murmelte Colin, nachdem die Worthingtons die Tür hinter sich zugeknallt hatten. Archibald pfiff leise durch die Zähne. "'Die Widerspenst'ge hast du gut gebändigt.'" "'Ein Wunder bleibts, daß dies so glücklich endigt'", ergänzte Colin lachend. Demnächst: "Schreckliche Stunden in Soho"
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