Burt Frederick
Holländer-Gold Die vier Räder der Kutsche verursachten einen harten Klang von Eisen. Die Hufgeräusche d...
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Burt Frederick
Holländer-Gold Die vier Räder der Kutsche verursachten einen harten Klang von Eisen. Die Hufgeräusche der beiden Gespannpferde dröhnten in den engen Hafengassen, und jedesmal, wenn ein Rad von einem buckligen Pflasterstein abglitt, knallte es wie ein Pistolenschuß. Noch lag Dunkelheit über Amsterdam. Nebel kroch aus den Hafenbecken und drang in das Gassen-Labyrinth vor. Die Kutsche, schwarz wie die Gespannpferde, verschmolz fast mit der Finsternis. Die schweren Samtvorhänge waren zugezogen. Der Mann auf dem Bock hatte alle Anweisungen seines Herrn befolgt. Er hatte die Lampen nicht angezündet und benutzte keine Hauptstraßen. Dabei mußte er sich auf den Orientierungssinn der Pferde und auf seine Augen verlassen. Der Kutscher hatte Angst. Sein Schicksal war ungewiß. Es würde sich entscheiden, sobald sie den Kai erreichten, an dem die „Marijke van Brabant" lag. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder durfte er mit an Bord, oder er kriegte einen Tritt in den Hintern...
Die Hauptpersonen des Romans: Wim Wijninga - der feiste Kaufmann setzt sich aus Amsterdam ab, wo ihm der Boden zu heiß geworden ist. Henrietta Wijninga - sie ist das Gegenteil ihres Ehemannes, nämlich ziemlich dünn, und sie hat Haare auf den Zähnen. Joop Wijninga - der Sohn der beiden ist ein Hüne - außerdem liebt er die Gewalt. Gerrit Beekens - sein Vater wurde von Wim Wijninga in den Tod getrieben, und jetzt verlangt er als Sohn Gerechtigkeit. Luise Kerkhoff - als Verlobte von Gerrit Beekens gerät sie in eine prekäre Situation, aus der sie sich nicht aus eigener Kraft befreien kann. Philip Hasard Killigrew - der Seewolf unternimmt einen Alleingang und muß aufs Ganze gehen.
1. „Sei ganz ruhig, Henrietta", sagte Wijninga. Die Fülle seines Leibes wogte, bebte und erzitterte unter den Stößen der Kutsche. Daran vermochten weder die Lederpolster der Sitze noch die komfortable Federung des Zweispänners etwas zu ändern. Das Straßenpflaster war miserabel. Die kleine Flamme einer Öllampe, durch ein korbartiges Eisengehäuse gesichert, erhellte das Innere des Luxusgefährts nur schwach. Seitenwände, Türen und Dach waren mit abgestepptem rotem Samt gepolstert. „Bleibe ruhig", wiederholte Wijninga und versuchte, den Arm um die Schultern seiner Frau zu legen. Wegen der Enge des Raumes und seines eigenen Umfangs gelang es ihm nicht, und er gab den Versuch auf. Die große, hagere Frau an seiner Seite, wandte unwillig den Kopf. „Was?" schrie sie, um den Lärm der Kutschenräder und der Pferdehufe zu übertönen. „Was hast du gesagt?" Ihr Gesicht war streng - Hakennase, stechende Augen und die zum Knoten
hochgesteckten grauen Haare verstärkten diesen Eindruck. „Ich sagte", brüllte ihr Mann, „daß du ganz ruhig sein kannst! Du brauchst keine Angst zu haben!" Er trug sein kostbarstes rotes Wams, das mit gold- und silberdurchwirkter Litze bestickt war. Ein weinrotes Samtbarett hing in verwegener Schrägneigung auf seinem kurzen Haarschopf, der zwischen aschblond und grau nicht genau einzustufen war. Wijningas hellblaue Augen ruhten wäßrig hinter den Fettpolstern seiner Wangen. Die Frau starrte ihn an, als hätte sie es plötzlich mit einem unbekannten Wesen zu tun, das feist und glitschig aus den Tiefen des Meeres herauf gekrochen war. Im nächsten Moment prustete sie los und hieb sich auf die langen, knochigen Schenkel, die sich selbst unter dem Gewand aus schwerer Wolle abzeichneten. „Hast du das gehört, Joop?" schrie sie. „He, hast du das gehört? Dein Vater sagt, ich brauche keine Angst zu haben! Das sagt er!" Sie kicherte schrill. Joop Wijninga zog die Mundwinkel
5 nach unten. Jede weitere Reaktion ersparte er sich. Er saß seinen Eltern gegenüber, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung - blond, groß, wie ein Schrank aus friesischer Eiche. Seine Mutter hatte diesen Vergleich geprägt. Sie bewunderte ihn - gewissermaßen als Ersatz für den eigenen Mann, an dem es nichts mehr zu bewundern gab, seit er sich mit den Jahren einen zusätzlichen Zentner Körpergewicht angefressen hatte. Joop durchschaute die aufgesetzte Heiterkeit seiner Mutter. Er hatte kein Verlangen, sich an den Sticheleien zu beteiligen, mit denen die beiden ihre ehelichen Kämpfe auszufechten pflegten. Henrietta Wijninga spürte das Abweisende in der Haltung ihres Sohnes und wandte sich abermals ihrer fetteren Ehehälfte zu. „Tu nicht so scheinheilig! Spiel dich gefälligst nicht auf! Ich hatte keine Angst - im Gegensatz zu dir! Schließlich habe ich einen großen, starken Sohn, der mich beschützt. Wenigstens das habe ich! Andere Frauen können sich rühmen, von einem mutigen, starken Ehemann . . . " „Mutter, sei bitte still!" unterbrach Joop Wijninga ihren giftigen Wortschwall - allerdings nicht aus Mitleid mit seinem Erzeuger, der starr geradeaus blickte und mit Schmollmund zu erkennen gab, daß er vorläufig nicht mehr gewillt sei, seine Frau zu beachten. „Aber ...", setzte Henrietta an. „Still!" fuhr Joop sie mit einer energischen Handbewegung an. Er hatte die Brauen zusammengezogen und horchte scharf in die Roll- und Hufgeräusche, deren Hall zwischen den Hauswänden zum Dröhnen verstärkt wurde.
Sein Vater sah ihn erschrocken an. „Was ist?" formten seine rosigen Wulstlippen, ohne daß er zu hören war. „Was ist los?" „Ich glaube, das verfluchte Pack ist schon wieder hinter uns", knurrte Joop. Er richtete sich auf, duckte sich unter dem gepolsterten Dach, löschte die Öllampe und zog über den Köpfen seiner Eltern den Vorhang des schmalen Heckfensters beiseite. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er in die Dunkelheit der zu Ende gehenden Nacht. Sie hatten bewußt diesen Zeitpunkt gewählt, weil sie gemeint hatten, daß es die Stunde sei, in der bestimmt alle Menschen im Tief schlaf lagen. Es war der Zeitpunkt, zu dem man am unauffälligsten verschwinden konnte. Aber dieser Hundesohn Beekens schien sogar das gerochen zu haben. Joop Wijninga sah das Blitzen von Pferdegeschirr in großer Entfernung. Im nächsten Moment war es wieder verschwunden, als sie in eine andere Gasse einbogen. Er schloß den Vorhang und setzte sich. Die Öllampe zündete er nicht wieder an, „Da ist tatsächlich jemand hinter uns", sagte er. „Ich wette, Beekens hat alles aufgeboten, um unsere Abreise zu verhindern." „Was tun wir denn jetzt?" kreischte Henrietta. Sie gestikulierte in der Dunkelheit. Wim Wijninga tastete nach der kleinen Truhe, die vor seinem Sitz, unter seinen Beinen, stand. Es befanden sich die wichtigsten geschäftlichen und persönlichen Dokumente darin. Alles andere war schon an Bord der „Marijke van Brabant" und wurde bewacht. Alles andere - vor allem das Barvermögen, das er in Sicherheit zu. bringen gedachte.
6 „Sag, was wir tun können, Joop!" rief Wijninga mit ängstlicher Stimme. „Ganz einfach", erwiderte der Hüne mit lautstarker Zuversicht. „Wir werden sie überlisten." Er schilderte seinen Plan kurz und bündig, mit wenigen Sätzen. Wim Wijninga klatschte begeistert in die Hände. „Phantastisch! Einfach phantastisch!" „Joop weiß immer einen Ausweg", sagte Henrietta Wijninga.
Sie befanden sich noch immer in der Mündung der Themse. Doch längst waren keine Ufer mehr zu sehen. Dieser Aprilmorgen des Jahres 1598 war so grau, wie ein Aprilmorgen nur sein konnte. Feine Regenschwaden wehten über das Deck der Schebecke, die vor einem mäßigen Westwind auf Nordostkurs lag. Die von der Feuchtigkeit durchtränkten Lateinersegel schienen nur widerwillig auf den Wind zu reagieren, klatschten bisweilen erschlaffend und blähten sich dann wieder unter erneut zunehmender Windkraft. An Deck hielten sich achtern nur der Seewolf, Dan O'Flynn und Rudergänger Pete Ballie auf. Vorn ging Ed Carberry breitbeinig auf und ab, die Riesenpranken auf den Rücken gelegt. Al Conroy überprüfte sorgfältig jede einzelne Ölzeugabdeckung, die er und seine Helfer den insgesamt zwölf Culverinen und vier Drehbassen schon am Morgen des vorangegangenen Tages angelegt hatten. London verabschiedete sich auf die Art und Weise von ihnen, die böse Zungen der englischen Hauptstadt
als unabänderliches Merkmal andichteten: neblig, regnerisch, trübe, kalt. Carberry blieb neben dem schwarzhaarigen Stückmeister stehen. „Jetzt fehlt bloß noch, daß es schneit", sagte er mißmutig. Al Conroy zupfte zur Probe an den kreuzweise gezurrten Tauen, die sich über dem Lauf des vorderen Geschützes an Steuerbord spannten. Er richtete sich auf und wandte sich zu dem Mann mit dem Narbengesicht um. „Hast du vergessen, was so ein richtiger englischer April ist, Mister Carberry? Der kann machen, was er will. Und wenn's ihm gefällt, dann liefert er dir auch ein bißchen weiße Pracht." „Ich fühle mich gleich wie Weihnachten", entgegnete der Profos brummend. „Aber feierlich wird's auf jeden Fall. Das kann ich dir flüstern." Er klatschte mit der Linken gegen den vorderen Pfahlmast, als würde der Klang des Holzes seine Prophezeiung bestätigen. „Ich nehme an, du redest nicht davon, daß du uns Weihnachtslieder vorsingen willst." Al Conroy grinste. Der Profos tippte sich an die Stirn. „Himmel, Arsch, ich rede die ganze Zeit vom Wetter. Von was denn wohl sonst?" „Man merkt, daß wir in England waren. Da gibt's ja kein anderes Thema als das verdammte Wetter. Hast dich richtig dran gewöhnt, was?" Carberry grinste ebenfalls. „An das Gerede - ja. Aber an das Wetter selbst nicht. Da ist mir die Karibik doch zehnmal lieber. Dir etwa nicht?" „Klar, Mann. Bloß fasele ich nicht von Schnee und solchen Scherzen. Und feierlich ist mir ganz und gar nicht."
7 Carberry schüttelte mißbilligend den Kopf. „Nicht dir wird feierlich. Keinem von uns. Da oben geht's rund, sage ich dir." Mit hochgestrecktem Daumen deutete er zum wolkenverhangenen Himmel. „Die Nordsee kommt uns diesmal schräg, fürchte ich." „Sturm?" Haargenau." „Woher willst du das wissen?" „Das rieche ich." Der Profos schob das mächtige Rammkinn vor und reckte die Nase in den Wind. „Aus diesem schlappen Lüftchen wird ein höllisch rauher Hundesohn. Darauf kannst du Gift nehmen. Die Luft riecht danach." Der Stückmeister grinste breiter. „Kein Kunststück, deine Vorhersage. So was kann jeder." „Was? Wie?" Der Profos starrte ihn an. „Na klar! Die Wahrscheinlichkeit, daß wir Sturm kriegen, kannst du an zehn Fingern ausrechnen. Erstens geht es auf der Nordsee sowieso selten friedlich zu. Zweitens haben wir April, wie du mittlerweile festgestellt haben wirst. Und drittens werden wir bis Norwegen lange genug unterwegs sein, um von jeder denkbaren Wettersorte was abzukriegen. Laß uns mal ausrechnen, wie wir die Wahrscheinlichkeit in Zahlen ausdrücken können . . . " Ed Carberry nahm Reißaus. Manchmal gierte Al regelrecht danach, sich als Rechenkünstler zu betätigen. Solange es sich auf Pulvermengen und Geschoßgewichte bezog, war dagegen nichts einzuwenden. Doch wenn Al anfing, mit seinen Zahlen öffentlich herumzujonglieren, dann konnte einem leicht der Schädel
schwirren - sofern man ihm nur lange genug zuhörte. Carberry nahm daher schlendernd Kurs auf die Kombüse, zumal ein erstes leises Knurren seines Magens bereits meldete, daß die Frühstückszeit näherrückte. In Vorfreude schnuppernd pirschte er auf das spaltbreit offenstehende Kombüsenschott zu. Weder Mac Pellew, der alte Griesgram, noch der Kutscher ließen sich gern auf die Finger und in die Töpfe gucken. Vor allem morgens konnten sie da giftig werden wie Stachelrochen. Es war also ratsam, die geruchsmäßige Topf- und Pfannenerkundung tarnend und täuschend durchzuführen. Er beschloß, dieses Vorhaben mit der gebotenen Unauffälligkeit in die Tat umzusetzen, ehe er daran ging, dem Rest der Crew ein leises „Reise, reise, aufstehen!" ins Ohr zu flüstern. Natürlich würde er den Anforderungen des Borddienstes dann am besten gewachsen sein, wenn ihn eine gewisse Vorfreude erfüllte. Ein Vorgeschmack auf das, was wohl spätestens in einer halben Stunde Leib und Seele wieder ins Lot bringen würde. Die Gedanken des Profos wanderten in anregende Richtungen, während er sich lautlos dem Kombüsenschott näherte. Er stellte sich knusprig gebraten und doch saftigen Schinkenspeck vor - von gutgenährten englischen Schweinen stammend. Dazu konnten Mac oder der Kutscher ein paar Dutzend von den frischen Eiern, die sie in London eingekauft hatten, in die Pfannen hauen. Englische Hühner legten nur große braune Eier, und die waren bekanntlich besonders nahrhaft. Er wandte kurz den Kopf. Hasard, Dan und Pete sahen ihn. Aber sie
8 „Was geht hier vor?" rief er schnauwürden ihn nicht verraten, das wußte bend, stemmte die Fäuste in die Hüfer. Er konnte völlig beruhigt sein. Er reckte die Nase vor und ver- ten und schob das kantige Kinn vor. suchte, Witterung aufzunehmen. Der Kutscher und Mac Pellew fuhErstaunlich war nur, daß sein Riech- ren herum. Erschrecken und Empöorgan keinen der vermuteten Ge- rung entstanden nahezu gleichzeitig nüsse ankündigte. Nun, auch dafür in ihren schweiß glänzenden Gesichgab es eine Erklärung, das war kein tern. Der Kutscher, der dem Profos Grund zur Beunruhigung. Die Ur- am nächsten stand, hob drohend den sache lag im Einfallswinkel des Win- großen Holzlöffel aus dem Topf. Eine des. Deshalb auch das offenstehende graue, breiige Masse klebte an dem Schott. Die Kombüsenstinte ließen Löffel. die frische Luft hereinwehen, um sich „Was fällt dir ein, hier so reindie Köpfe zu kühlen. Nichts drang zuplatzen?" sagte der Kutscher zorfolglich heraus. nig. Er verharrte vor dem Spalt, der die „Und spiel dich gefälligst nicht Breite von zwei Handtellern hatte. auf", fügte Mac Pellew knurrend hinDrinnen dampfte und brodelte es. zu. „Hier gibt's nichts herumzumekMac Pellew und der Kutscher arbeite- kern. Wenn dir an unserem Essen was ten im Zwielicht aus der mäßigen nicht paßt, kannst du dich hinterher Helligkeit des beginnenden Tages beschweren. Nicht vorher." und dem Schein ihrer Ölfunzeln. „Das könnte dir so passen", entgegEr sah lediglich die Schultern der nete der Profos dröhnend. „Wer ist beiden Männer und ihre roten Köpfe für die Bordroutine verantwortlich im Halbprofil. Sie schwitzten, wäh- du oder ich?" rend sie rührten. Es waren große höl„Was soll denn das wohl mit Bordzerne Löffel, die sie mit beiden Fäu- routine zu tun haben?" fauchte Mac sten halten mußten, um den Inhalt Pellew. „Du denkst doch bloß an deider Töpfe in Bewegung zu setzen. nen eigenen Wanst - beziehungsDie Augen des Profos wurden groß. weise daran, wie du ihn dir am zweckDa waren nur diese Töpfe auf dem mäßigsten vollschlagen kannst." Kochfeuer. Eher Kübel schon, vier an „Keine Diskussionen bitte!" fuhr der Zahl. Nichts sonst. Keine Pfan- der Kutscher energisch dazwischen, nen. Kein Brutzelgeräusch. Nur die- ehe Carberry zu einer donnernden Erses merkwürdige Brodeln, hin und widerung ansetzen konnte. „Wir wolwieder unterbrochen von regelrech- len mit unserer Arbeit fertig werden, tem Schmatzen. Der Profos schnup- und die Männer haben ein Recht auf perte heftiger. ihr Frühstück." Bei allen Seeteufeln, so stark war „Haargenau." Carberry nickte der Wind nicht, daß er jeglichen Ge- grimmig. „Sie haben aber auch ein ruch vertrieben hätte! Irgend etwas Recht darauf, daß sie was Gutes zwistimmte hier nicht. Man mußte das schen die Kiemen kriegen. Und genau Gefühl kriegen, einer Ungeheuerlich- das werde ich jetzt kontrollieren. keit auf der Spur zu sein. Er konnte Was, in aller Welt, ist das?" Sein aussich nicht länger zurückhalten und gestreckter Zeigefinger fuhr wie eine stieß das Schott auf. zustoßende Lanze in Richtung auf
9 das Schmatzen und Blubbern, das aus den Töpfen drang. Die beiden Kombüsenmänner wechselten einen Blick, der ihre uneingeschränkte Einigkeit verdeutlichte. „Porridge", entgegnete der Kutscher, und es klang geradezu trotzig. Die Kinnlade des Profos sackte weg. Mehrere Sekunden lang starrte er die beiden Kombüsenmänner ungläubig an. „Das kann nicht euer Ernst sein", sagte er dann mit tonloser Stimme. „Himmel, Arm und Zwiebelfisch, das kann doch wirklich nicht euer Ernst sein." „Mister Carberry", sagte der Kutscher, indem er seine Haltung straffte. „Ich muß dich ernsthaft bitten, uns jetzt in Ruhe zu lassen. Porridge muß ständig umgerührt werden, sonst brennt er an." Mac Pellew nahm es als wichtigen Hinweis und setzte seine Rührtätigkeit fort, ohne den Profos noch eines Blickes zu würdigen. Der Profos schüttelte den Kopf, als hätte er nicht richtig gehört. „Ich will mich ja nicht aufregen", sagte er und blieb dabei so ruhig, wie er nur konnte. „Ich werde auch nicht anfangen, herumzubrüllen. Keine Sorge. Ihr sollt nicht das Gefühl haben, daß ihr was verbrochen hättet. Alles, was ich will, ist eine klitzekleine Erklärung. Ihr habt also diese englische Pampe zusammengerührt, und das ist alles. Das soll alles sein, was es zum Frühstück gibt? Habe ich das richtig verstanden?" „In der Tat", erwiderte der Kutscher standhaft. „Und ich verwahre mich in aller Form gegen die Bezeichnung ,englische Pampe'. Porridge ist ein nahrhaftes Gericht, das schon Ge-
nerationen von Engländern zu Mumm in den Knochen verholfen hat." „Genau!" rief Mac Pellew bekräftigend. „Auf die guten Sachen aus unserer alten Heimat sollten wir auch mal ein bißchen stolz sein. Das Herummäkeln können wir denen überlassen, die nicht wissen, was gut schmeckt." Carberry verdrehte die Augen und sandte einen hilfesuchenden Blick in die tiefhängenden Wolken. „Herr im Himmel!" sagte er händeringend und mit vollendet gespielter Verzweiflung. „Sei ihren armen Seelen gnädig, denn sie wissen nicht, was sie tun. Sie sind nicht mehr sie selbst, da sie sehenden Auges eine ganze Schiffsmannschaft ins Unglück stürzen." „Jetzt reicht es!" rief der Kutscher zornbebend. „Erstens brauchst du dir keine Mühe zu geben, Pater David nachzuäffen. Das schaffst du sowieso nicht. Und zweitens bin ich nicht mehr bereit, deinen Unsinn anzuhören." „Ich auch nicht!" ließ sich Mac Pellew vernehmen. „Wenn du uns noch länger bei der Arbeit behinderst", sagte der Kutscher, „sehe ich mich gezwungen, mit einer entsprechenden Beschwerde an den Kapitän heranzutreten." Carberrys Kinn klappte zum zweiten Male weg. „Das reicht", sagte er dumpf. Er schüttelte die Rechte mit erhobenem Zeigefinger. „Damit wir uns richtig verstehen, Mister Kutscher und Mister Pellew: Wenn ich von der Bordroutine spreche, habe ich meine Gründe. Dies wird ein harter Tag für die Crew. Das ist abzusehen. Vielleicht gibt es sogar Sturm. Von den
10 Männern wird einiges verlangt werden. Und da sollen sie bis mittags nichts anderes in den Bauch kriegen als diese miese Pampe aus Wasser, Salz und Hafermehl? Sträflinge sind nicht schlechter dran! Ich wette, daß sie im Tower sogar bessere Verpflegung kriegen." Der Kutscher sah auf einmal aus, als hätte er eine Bramstenge verschluckt. „Nein", keuchte er. „Das halte ich nicht mehr aus. Ich bin nicht bereit, solche ungerechtfertigten Vorwürfe noch länger hinzunehmen. Laß mich durch, Mister Carberry, ich werde dem Kapitän diesen ungeheuerlichen Fall vortragen. Es geht nicht anders. Du hast es dir selbst zuzuschreiben." Carberry trat beiseite und grinste. „Umgekehrt wird ein Schuh draus. Du bist derjenige, der klein und häßlich werden wird. Ich sehe euch beide schon, wie ihr die Pampe über Bord kippt. Zu bedauern sind dann bloß die Fische in der Themsemündung. Die armen Viecher kriegen garantiert einen Blähbauch, treiben an die Oberfläche und sind erledigt. Tierquälerei ist das auch noch, aber das werden wir wohl in Kauf nehmen müssen." Der Kutscher ging an ihm vorbei, ohne weiter hinzuhören. Der Seewolf sah Dan O'Flynn lächelnd an. Auch Pete Ballie grinste sich eins. Längst hatten sie den Inhalt der Auseinandersetzung mitgekriegt. Al Conroy, der beim Überprüfen der vorderen Drehbassen innehielt, rieb sich nachdenklich das Kinn. In der Haut des Seewolfs mochte er in diesem Fall nicht stecken. Es war verdammt nicht leicht, eine gerechte Entscheidung zu treffen. Denn was die Verpflegung betraf, waren die
meisten an Bord empfindlich wie Mimosen. „Sir, ich bitte um eine Unterredung", sagte der Kutscher gekränkt und nahm vor Philip Hasard Killigrew Aufstellung. „Gewährt", antwortete der hochgewachsene, breitschultrige Mann, in dessem schwarzem Haar die ersten Silberfäden zu sehen waren. „Die Vorgeschichte kannst du dir ersparen, da ich jedes Wort mitgehört habe." Er wandte sich Carberry zu, der sich mittlerweile neben dem Kutscher aufgebaut hatte. „Jeder von euch beiden erklärt in drei Sätzen, was er dem anderen vorzuwerfen hat." Mit einer Handbewegung forderte er den Mann aus der Kombüse auf, als erster das Wort zu ergreifen. „Mister Carberry mischt sich in Mister Pellews und meine Arbeit ein, Sir. Er beschimpft uns auf unflätige Weise, weil wir das englische Traditionsgericht Porridge zubereiten. Wir tun unser Bestes, und wir wissen sehr genau um die Verantwortung, die wir letztlich für den Gesundheitszustand der Mannschaft tragen." Der Seewolf nickte und gab dem Profos das Zeichen, zu sprechen. „Also, Sir, ich will mal versuchen, das in drei Sätzen zu verklaren..." „Jetzt hast du nur noch zwei, Mister Carberry." Carberry blinzelte und schluckte. Dann zog er die Brauen hoch und gab sich einen Ruck. „Unsere beiden Kombüsenhechte wollen nichts weiter als Porridge zum Frühstück auftischen. Im Hinblick auf die Bordroutine muß ich das beanstanden, weil jeder erwachsene Mann mit dieser labberigen Pampe im Magen nach einer halben Stunde wieder hungrig ist
11 wie ein Seelöwe." Ed strahlte. „Zwei Sätze, Sir!" „Akzeptiert", sagte Hasard grinsend. „In Ordnung, wir wollen kein langes Palaver darüber veranstalten. Die Zeit drängt. Ich verstehe eure Gedanken, die ihr wegen der Traditionspflege angestellt habt." Er sah den Kutscher an. Der stets sehr ernst aussehende Mann lächelte erfreut. „Wir haben den Porridge nicht einmal ausschließlich mit Wasser zubereitet, Sir. Wir haben sogar den Rest der Milch, Zukker und etwas Dörrobst dazugetan." „Sicher, das verfeinert die Sache etwas. Aber die Freude darüber, daß man die alte Heimat nach langer Zeit wiedersieht, sollte nicht so weit gehen, daß man alle Eigenarten des Landes bedingungslos übernimmt. Nicht umsonst heißt es überall in der Welt, daß die englische Küche der schnellste Weg sei, sich den Magen zu verderben." Das Lächeln des Kutschers war wie weggewischt. Hasard blickte den Profos an, der bereits triumphierte. „Andererseits, Mister Carberry, ist Porridge durchaus eine genießbare Speise. Ich glaube, die meisten an Bord würden fair genug sein, es als Frevel zu betrachten, wenn wir die Fische damit fütterten. Also lösen wir das Problem mit einem Kompromiß: Es gibt Porridge zum Frühstück. Und dazu etwas, was den Gaumen freundlich streichelt. Ich könnte mir gebratenen Schinkenspeck vorstellen. Oder etwas in der Art. Haben die beiden Gentlemen Einwände?" Der Kutscher atmete tief durch. „Nein, Sir", sagte er dann. „Schinkenspeck geht in Ordnung. Das haben wir im Handumdrehen geschafft."
Carberry schnaufte. „Nichts dagegen einzuwenden, Sir. Ich würde bloß gern mal wissen, wie viele Tonnen Hafermehl wir an Bord haben. Ich meine, am Ende kommt uns das Zeug zu den Ohren raus, und der alte Torfkopp Thorfin wundert sich, daß wir so aufgequollen aussehen." Der Kutscher mußte nun selber lächeln. „Keine Sorge", antwortete er. „Der Vorrat an Hafermehl reicht bestenfalls noch für eine weitere Mahlzeit." „Mir fällt eine ganze Steilküste vom Herzen", seufzte der Profos erleichtert. „Gut, Gentlemen", sagte der Seewolf grinsend. „Dann kümmert euch mal wieder um Kombüse beziehungsweise Bordroutine." Hasard und die anderen blickten den beiden Streithähnen nach, die sich bereits wieder in bester Eintracht befanden und gemeinsam auf die Kombüse zusteuerten. Carberry würde noch eine Weile den Topfgukker spielen und dann die Crew auf Trab bringen. Die Nordsee hatte nicht den besten Ruf. Jeder an Bord war sich darüber im klaren, was möglicherweise auf sie zukam. Aber sie hatten es schon überall auf den Weltmeeren geschafft, dem Teufel ein Ohr abzusegeln. Ob vor Kap Hoorn oder in der Deutschen Bucht - sie waren jederzeit und überall bereit, mitten in die Hölle zu klüsen, um den Gehörnten am Schwanz zu zwacken. Letzten Endes war es die Freude auf ein Wiedersehen, die sie alle beseelte. Die Arwenacks hatten erfahren, daß Thorfin Njal in London gewesen war. Der Wikinger hatte verlauten lassen, daß er nach Norwegen segeln
12 wollte, um dort Eisenerz für die Karibik zu laden. Außerdem hatte er vor, Island anzulaufen, um dort auf dem Thorgeyrschen Hof nach dem Rechten zu sehen. Natürlich hatte der Poltermann nicht ahnen können, daß der Seewolf und seine Männer gleichfalls an der Themse aufkreuzen würden. Anderenfalls hätte er sicherlich die Liegezeit des Schwarzen Seglers verlängert. Es verstand sich indessen für Hasard und die Arwenacks von selbst, daß sie dem Wikinger nachsegelten. Sie alle brannten darauf, zu erfahren, wie es im Stützpunkt des Bundes der Korsaren wohl aussah. Einen Wertmutstropfen hatte es lediglich kurz vor Ankeraufgehen gegeben. Königin Elizabeth I. hatte einen Kurier geschickt und dem Seewolf mitteilen lassen, er möge bald zurückkehren, da seine Königin einen wichtigen Auftrag für ihn habe. Hasard wußte, daß er sich dieser Order nicht entziehen durfte, obwohl sie ihm ganz und gar nicht gefiel. Daß er die Crew vollzählig an Bord hatte, war sowieso ein Glücksfall. Nach allem, was in London passiert war, hatten zu guter Letzt Ed Carberry, Ferris Tucker, Big Old Shane und Old Donegal Daniel O'Flynn dem Geschehen die Krone aufgesetzt, als sie auf ein Preßkommando hereingefallen waren, das ihnen einen Schlummertrunk serviert hatte. Die Kerle an Bord jenes Seelenverkäufers, auf dem sie themseabwärts fahrend erwacht waren, hatten anschließend allerdings das Fürchten gelernt und waren mitsamt Galeone zum Teufel gegangen.
2. Joop Wijninga zog den seitlichen Fenstervorhang nur ein Stück beiseite. „Es wird bald hell werden", sagte er. Er hatte die kleine Lampe wieder angezündet. Mit seiner dröhnenden Stimme übertönte er mühelos die von den eisenbereiften Rädern und den eisenbeschlagenen Pferdehufen verursachten Geräusche. „Wir können von Glück reden, wenn wir noch im Dunkeln das Schiff erreichen. Wir hätten eine Stunde eher aufbrechen sollen. Wer weiß, wie lange der Bastard Beekens uns jetzt noch aufhält." „Dich trifft keine Schuld, mein Sohn!" rief Henrietta Wijninga. „Du brauchst nichts zu beschönigen. Wir waren alle bereit zum Aufbruch. Aber auf wen mußten wir warten, weil er nicht in die Klamotten kommen konnte und sich dann auch noch eine halbe Stunde lang vollstopfen mußte?" Strafend blickte sie ihren beleibten Ehemann an. „Natürlich!" schrie Wim Wijninga. „Jetzt kriege ich wieder an allem die Schuld! Immer ich!" Joop sah seinen Vater lächelnd an. „Wer ist denn schuld daran, daß wir zu dieser nachtschlafenden Stunde durch die Gegend fahren müssen? Wollen wir uns darüber vielleicht mal ausführlich unterhalten?" Wim Wijninga zog den Kopf ein und schwieg. Ein wenig sah er in diesem Moment aus wie eine Riesenschildkröte, der lediglich der Panzer fehlte, um sich darunter zu verstekken. Henrietta ereiferte sich indessen. „Jawohl, das muß endlich mal gesagt werden! Sag es ihm, Joop! Schließ-
13 lich kann er froh sein, daß wir überhaupt bei ihm sind. Eigentlich sollten wir ihn seinem Schicksal überlassen. Hat er es sich selbst eingebrockt oder nicht? Hat er das?" „Sei bitte still, Mutter", sagte der hünenhafte Joop mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Ich muß jetzt den richtigen Moment abwarten. Haltet bitte Ruhe. Alle beide." Die hakennasige Frau lächelte gerührt und lehnte sich zurück. So war er, ihr großer, starker Sohn. Immer hielt er die Stirn in den Wind, und immer dachte er an das Nächstliegende. Deshalb gab es auch nicht den geringsten Zweifel daran, daß er seinen Plan mühelos in die Tat umsetzen würde. Sie streifte ihren Mann mit einem abschließenden verächtlichen Blick. Er sah in seinem Schuldbewußtsein aus wie zusammengeschrumpft. Henrietta richtete den Blick geradeaus und reckte das Kinn vor. Ja, auf dem geschäftlichen Sektor war ihr ehrenwerter Gatte allerdings ein Genie wohl der gerissenste Fuchs in ganz Amsterdam. Er verkörperte haargenau das, was die Neider einen Pfeffersack nannten. Doch unter seinesgleichen, den Kaufleuten, gab es viele, die ihn deshalb bewunderten. Einige hatten in vertrauensseliger Bierlaune sogar versucht, ihn auszuhorchen, ihm Ratschläge zu entlocken, die sie selbst in die Tat umsetzen konnten, um auch ein Stück von dem großen Kuchen Profit abzuschneiden. Aber es gab auch viele, die ihn haßten, weil sie von ihm übervorteilt worden waren. Wim Wijningas Feinde hatten es verstanden, einige der Mächtigen in Amsterdam auf ihre Seite zu ziehen. Und dann war
das Unvorhersehbare geschehen. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel hatte es die Familie Wijninga getroffen. Henk Beekens, einer von Wijningas schärfsten Konkurrenten, hatte Selbstmord begangen. Niemand kannte den Grund für diesen Selbstmord besser als Wim Wijninga selbst. Er hatte Beekens Spione auf den Hals gehetzt. Nach und nach war es ihm gelungen, dem Konkurrenten minderwertige Ware unterzujubeln, indem er schon transportfertige Partien während der Nachtstunden hatte austauschen lassen. Gewiß, dazu hatten etliche von Beekens' Mitarbeitern bestochen werden müssen, aber auf lange Sicht hatte es sich für Wijninga ausgezahlt. Beekens war bei seinen Kunden in Mißkredit geraten, nachdem es immer häufiger passiert war, daß sie für einen hohen Preis schlechte Qualität erhalten hatten. Im Handel mit Tuchen, Tee und Gewürzen hatte Henk Beekens innerhalb weniger Wochen fast seinen gesamten Kundenstamm verloren. Gemeinsam mit seinem Sohn hatte er noch versucht, die Kunden von der Rechtschaffenheit des Hauses Beekens zu überzeugen. Doch es war zu spät gewesen. Der Bankrott hatte sich nicht mehr vermeiden lassen. Wim Wijninga hatte sich wieder einmal die Hände gerieben, als ihm Zuträger die Nachricht von Beekens' Tod überbracht hatten. Es hatte den dicken Handelsmann nicht weiter berührt, daß sicherlich auch ein anderer Umstand zu Henk Beekens' Entschluß beigetragen hatte, sich das Leben zu nehmen. Seine Frau war erst vor kurzem gestorben. Außer seinem Sohn und seinem Handelshaus hatte
14 er keinen Lebensinhalt mehr gehabt. Gerrit Beekens hatte die Angelegenheit jedoch nicht auf sich beruhen lassen. Der Sohn des Selbstmörders hatte Nachforschungen angestellt und die niederträchtigen Machenschaften Wijningas Stück für Stück aufgedeckt. Schonungslos hatte der junge Beekens die Ergebnisse seiner Erkundigungen an die Öffentlichkeit gebracht. Der feiste Pfeffersack war mehr und mehr in die Enge getrieben worden. Noch reichte es nicht für eine offizielle Anklage, aber das war lediglich eine Frage von Tagen, vielleicht nur Stunden. Wim Wijninga hatte die Zeichen der Zeit erkannt und im Kreis seiner Getreuen zum Abbruch aller Zelte geblasen. Es war nicht leicht gewesen, den größten Teil seines Vermögens in so kurzer Zeit in Bargeld umzuwandeln und es an Bord der „Marijke van Brabant" zu schaffen. Alles das war nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich gewesen, und es hatte Wijninga einen stattlichen Teil eben jenes Vermögens gekostet, genügend Helfer zu bezahlen, die seine Schätze unauffällig und sicher in den Hafen und dort in die Unterdecksräume brachten. Und nun hatte dieser hartnäckige Hurensohn Beekens doch wieder Witterung aufgenommen. Es war zum Verrücktwerden! Aber Joop Wijninga hatte die Fähigkeiten, mit Problemen dieser Art fertig zu werden. In der Beziehung war er eben ein ganz anderer Kerl als sein Vater. Henrietta Wijninga lächelte voller Zuversicht.
Die Kutsche fuhr eine scharfe Rechtskurve, und der Klang der Fahrgeräusche veränderte sich. Joop Wijninga schleuderte den Vorhang weg, stieß die Tür auf und schwang sich hinaus. Indem er die eiserne Dachreling packte, hangelte er sich zügig und geschickt zu dem Kutscher auf den Bock. Joop überzeugte sich mit einem Blick nach hinten, daß sie tatsächlich in eine rechtwinklig abzweigende Gasse eingebogen waren. „Fahr noch bis zum Ende der Gasse", befahl er. „Und halte dann in der nächsten Abzweigung. Verstanden?" „Ja, Mijnheer", erwiderte der Mann. „Ich werde uns die Verfolger vom Hals schaffen. Es ist aber wichtig, daß du wirklich auf mich wartest. Auch deine Sicherheit hängt davon ab." „Sie können sich auf mich verlassen, Mijnheer." Die Stimme des Kutschers war hoffnungsvoll geworden. „Werde ich mit an Bord gehen dürfen?" „Klar", entgegnete Joop Wijninga brummend. „Was denn sonst? Glaubst du, ich lasse jemanden im Stich, der uns immer treu gedient hat? Ich bin nicht der Alte, schreib dir das hinter die Ohren." „Ja, Mijnheer." Der Kutscher war erleichtert. Es verwunderte ihn kein bißchen, daß der junge Wijninga bereits so sprach, als habe er alle Zügel in der Hand. Irgendwann würde er die Macht in der Familie übernehmen. Vielleicht vollzog sich dieser Machtwechsel auch schon jetzt. Entscheidendes lag in der Luft. Das konnte man jedenfalls deutlich spüren.
15 Joop Wijninga schwang sich vom Bock, ohne die Kutsche anhalten zu lassen. Federnd landete er auf dem Steinpflaster und verschwand in der rabenschwarzen Finsternis eines Torwegs. Er verharrte regungslos. Nahezu ohne Übergang wurden die Geräusche des Zweispänners von anderen Kutschengeräuschen abgelöst. Ein Einspänner. Das war aus dem Hufschlag eindeutig herauszuhören. Joop Wijninga spannte die Muskeln an, während er sich lautlos bis an die Gebäudeecke schob. Vorsichtig spähte er in die Gasse. Er brauchte nicht zu befürchten, gesehen zu werden. Noch war es ausreichend dunkel. Zuerst war die schattenhafte Bewegung des Pferdes zu erkennen. Gleich darauf zeichneten sich auch die Umrisse des offenen Gefährts schemenhaft ab. Joop Wijninga meinte, die hellen Flecken zweier Gesichter zu sehen, war sich aber nicht sicher. Es spielte ohnehin keine Rolle. Zwei Gegner schreckten ihn nicht ab. Er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite, und er fühlte sich durchaus in der Lage, es mit zwei Kerlen gleichzeitig aufzunehmen. Die Entfernung schmolz rasch zusammen, denn der Einspänner fuhr in eiligem Schrittempo. Fünf Yards. Vier... Wijninga ließ das Pferd bis auf zwei Yards heran. Dann katapultierte er sich mit der geballten Kraft seiner Beinmuskeln in die Gasse hinaus. Das Pferd scheute und wieherte schrill. Doch bevor es auf die Hinterhand steigen konnte, griff Joop Wikninga ins Geschirr. Mit unbeugsamer Kraft brachte er das Gespann zum Stehen. Eine der beiden Gestalten in dem
offenen Wagen federte hoch und sprang auf das Steinpflaster. Die zweite Silhouette blieb auf ihrem Platz. Eine Frau! Wijninga konnte jetzt ihr hellschimmerndes blondes Haar erkennen. Blitzartig änderte er seinen Plan. Teufel auch, besser konnte er es gar nicht erwischen! Mit einer solchen Möglichkeit hatte er nicht einmal im Traum gerechnet. Er erkannte Gerrit Beekens an der Statur. Der schlanke, dunkelhaarige Mann beging den Fehler, mit bloßen Fäusten auf ihn loszustürmen. Wijninga trat zwei Schritte zur Seite, damit das Pferd nicht scheute. Er empfing Beekens in geduckter Abwehrstellung. Die Hiebe des anderen ließ er wirkungslos an seinen hochgereckten Unterarmen abprallen. Gerrit Beekens versuchte, zurückzuweichen. „Luise!" rief er warnend. „Lauf weg! Lauf, so schnell du kannst!" Joop Wijninga lachte heiser. Dann war er mit einem schnellen Schritt bei seinem Gegner. Er ließ ihm keine Zeit, sich auf eine wirksame Verteidigung, geschweige denn auf einen neuen Angriff einzurichten. Mit unbarmherziger Wucht schmetterte er seine Fäuste gegen den Brustkasten des Mannes und gab ihm mit einem grausamen Hieb unter das Kinn den Rest. Beekens taumelte nur kurz, dann sank er in sich zusammen, ohne noch einen Ton von sich zu geben. Wijninga wandte sich nach rechts. „Keine Bewegung!" rief die junge Frau. Luise Kerkhoff, die Verlobte des jungen Beekens, war eine Schönheit. Sie hatte nicht nur ein äußerst hüb-
16 sches Gesicht, sie war auch schlank und wohlgeformt, mit allen weiblichen Vorzügen am rechten Fleck. Luise war ganz und gar nicht der Typ der drallen Holländerin, bei der ein Mann schon kräftig hinlangen mußte, um sie überhaupt richtig zu fassen zu kriegen. Joop Wijninga lachte dröhnend und überheblich. „Sag bloß, du hast eine Pistole! Glaubst du im Ernst, daß du damit schießen kannst?" „Allerdings", entgegnete sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. „Aber ja!" Wijninga lachte erneut. „Habe mich falsch ausgedrückt, Verehrteste. Schießen kannst du, aber mit dem Treffen ist es eine andere Sache. Erstens wird der Rückstoß dein zartes Händchen verstauchen. Und zweitens wirst du das schwere Ding nach dem Abdrücken so gewaltig verreißen, daß du nicht mal ein Haus damit treffen würdest. Also gib schon auf. Du begleitest mich ein bißchen. Das ist alles. Mehr passiert nicht." Er ging auf den Einspänner zu. „Halt!" schrie Luise. „Dies ist meine letzte Warnung! Bleib stehen, Joop Wijninga, oder ich schieße wirklich. Du wirst dann schon merken, ob ich treffe oder nicht." Er lachte abermals, packte blitzschnell die Lampenhalterung an der Seite des Einspänners und schüttelte ihn. Luise schrie vor Schreck und zog ungewollt durch. Dem Funkensprühen des Feuersteins folgte das Zischen und Puffen des Zündkrauts. Das Krachen des Schusses war wie Donner in der Gasse. Joop Wijninga spürte nicht einmal das Sengen der Kugel über seinem
Kopf. Die jähe schwankende Bewegung der Kutsche hatte genügt, um den Pistolenlauf aus der Visierlinie zu bringen. In der Dunkelheit war es für die entzückende kleine Luise ohnehin unmöglich gewesen, ihr Ziel genau genug zu erkennen. Mit einem Sprung war Wijninga auf dem Wagen. Luise schrie. Er schlug ihr die Pistole aus der Hand und versetzte ihr eine Ohrfeige, die sie verstummen ließ. Eine zweite, härtere Ohrfeige schleuderte sie in den Polstersitz zurück und ließ sie in Bewußtlosigkeit versinken. Ohne besondere Anstrengung warf er sich die Reglose über die Schulter und ging mit weit ausgreifenden Schritten in die Richtung, in der er die Kutsche mit seinen Eltern wußte. Luises Körper war straff und federleicht. Vorfreude erfüllte ihn. Es war geradezu ein Geschenk des Himmels, das Gerrit Beekens ihm dargeboten hatte. An Bord der „Marijke van Brabant" würde er viel Zeit für Luise haben. Und sie würde ebensoviel Zeit haben, seine Vorzüge kennenzulernen. Zuvor war allerdings mit ernsthaftem Verdruß zu rechnen. Joop Wijninga gab sich keinen Illusionen hin. Gerrit Beekens war nicht weltfremd genug, um allein mit seiner Verlobten hinter der Kutsche der Fliehenden herzufahren. Dies hatte Beekens nur getan, um einen Überblick zu haben. Wahrscheinlich befanden sich seine Leute in Bereitstellung, und sie warteten nur auf das Signal zum Losschlagen, das er ihnen geben würde. Vielleicht hatten sie ein solches Signal aber auch gar nicht nötig.
17 Spätestens im Hafen würde es Gewißheit geben.
Henrietta und Wim Wijninga hatten die blonde Frau die ganze Zeit über angestarrt. Sie war noch immer bewußtlos, die linke Wange rot angelaufen und etwas geschwollen. Joop hielt sie fest, er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt. Es sah aus, als hätte Luise sich an ihn geschmiegt und wäre dann an seiner Seite eingeschlafen. Richtig friedlich sahen die beiden nach Henriettas Meinung aus, und sie hätte sich gewünscht, daß es ihrem Sohn gelungen wäre, ein solches Mädchen für sich zu gewinnen. Sie stieß ihrem Mann den Ellenbogen in die Seite. Wim Wijninga ließ einen erschrokkenen Laut hören, der wie ein leises Quieken klang. „Sieh dir die beiden an!" schrie Henrietta. Die Kutsche rollte weiterhin lärmend durch die engen Gassen. „Ist es nicht ein hübsches Paar?" „Entzückend", antwortete der beleibte Kaufmann, froh, daß es ausnahmsweise um ein neutrales Thema und nicht um irgendeine Mäkelei an seiner Person ging. „Was meinst du, ob die beiden sich vielleicht sogar richtig anfreunden könnten?" „Bestimmt", erwiderte Henrietta überzeugt. „Joop kann sehr charmant sein, wenn er will. Stimmt's, mein Junge?" Trotz des schwachen Lampenlichts war zu erkennen, daß der „Junge" rot angelaufen war. Eine Reaktion, die er unter normalen Umständen nicht gezeigt hätte. Doch er war irritiert von diesem weiblichen Körper an seiner
Seite. Wenn sie auch unfreiwillig und nicht wissentlich geschah, so hatte er doch eine derartige Zärtlichkeit nie zuvor erlebt. Es stimmte ihn unsicher, ja, er fühlte sich beinahe unbehaglich. Er war es gewohnt, sich weibliche Zuneigung zu verschaffen, indem er mit klingender Münze dafür zahlte. Hatte das betreffende Weibsstück bereits ausreichend Genever und Bier geschluckt, so blieben hinsichtlich wilder Ausgelassenheit und vulgärer Direktheit keine Wünsche mehr offen. Was aber stets blieb, war jener schale Nachgeschmack, der durch die Gewißheit entstand, daß alles mehr oder weniger vorgetäuscht und nur unter Einfluß von Alkohol möglich war. In diesen Minuten, in denen ihm ausgerechnet seine Mutter wieder auf die Nerven gehen mußte, hatte Joop Wijninga eine vage Vorstellung davon, wie die wirklichen Gefühle und die Liebe einer Frau sein konnten. „Seid still!" rief er wütend. „Ich muß auf Verfolger horchen. Kann mir nicht vorstellen, daß niemand den Schuß gehört hat. Und vielleicht ist Beekens, der Bastard, auch schon wieder wach." „Sei unbesorgt, Joop", entgegnete seine Mutter. „Mit der kleinen Luise haben wir das beste Faustpfand in der Hand, das man sich wünschen kann. Es war eine brillante Idee von dir, sie als Geisel mitzunehmen." „Das ebnet uns alle Wege!" rief Wim Wijninga eifrig beipflichtend. „Wir weren praktisch überhaupt keine Schwierigkeiten mehr haben. Und im übrigen", er beugte sich augenzwinkernd vor, „vielleicht gelingt es dir wirklich, dich ein bißchen mit ihr anzufreunden. Das wäre für uns
18 alle nicht schlecht. Damit hätten wir wieder ein Bein in Amsterdam. Daß die Kerkhoffs angesehene Leute sind, brauche ich dir nicht zu erzählen." Unvermittelt änderte sich der Klang der Huf- und Rädergeräusche. Da waren keine schluchtartigen Gassen mehr, die den Hall vervielfachten. Joop Wijninga wußte augenblicklich, daß sie sich auf der breiten gepflasterten Straße am Kai befanden - bestimmt nur noch ein paar Schritte von der „Marijke van Brabant" entfernt. Zuverlässige Männer waren dort postiert, und auch auf die Crew selbst konnte man sich voll und ganz verlassen. Wijninga riß sich von den Gedanken los, die das Mädchen an seiner Seite betrafen. Ohnehin begann sie, sich zu rühren. Der Zauber verflog. Es kam jetzt darauf an, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden, die sich garantiert einstellen würden. „Paßt auf sie auf", ordnete der Kaufmannssohn an. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Erwachende, während er sich aufrichtete und sie auf den Sitz gleiten ließ. Er war es gewohnt, daß seine Eltern ihn in bestimmten Situationen bereits als Autorität akzeptierten. Er öffnete die Tür, stellte sich auf das Trittbrett und blickte über die obere Türkante hinweg. Der Kai lag noch weitgehend im Dunkeln wie die gesamte übrige Umgebung. Es gab einzelne Pechfeuer in Stangenkörben, und die Umrisse der „Marijke van Brabant" waren zu erkennen. Etwa zehn Mann - es mochte auch ein Dutzend sein - hatten davor Aufstellung genommen. Auch an Bord entstand Bewegung. Schatten näherten sich der achteren Verschan-
zung und blieben erwartungsvoll stehen. „Halte unmittelbar längsseits an!" rief Joop Wijninga dem Kutscher zu. „Jawohl, Mijnheer!" antwortete der Mann auf dem Bock unterwürfig. Es geschah, als er die Gespannpferde bereits zügelte. Ein scharfer Befehl klang in der Dunkelheit bei den Speichern, Kontorhäusern und SchiffsausrüsterWerkstätten. Schattenhafte Silhouetten lösten sich blitzschnell huschend und drangen zum Kai hin vor. Der Kutscher erschrak. Im Zusammenzucken griff er hart in die Zügel, und die Pferde stiegen mit schrillem Wiehern hoch. Nur mit Mühe schaffte er es, sie unter Kontrolle zu halten. Die Gestalten aus der Dunkelheit schwärmten halbkreisförmig aus. Sie verständigten sich mit halblauten Zurufen. Schon jetzt, da sie noch gut dreißig Yards entfernt waren, konnte Joop Wijninga zweifelsfrei erkennen, daß Gerrit Beekens mindestens doppelt so viele Männer aufgeboten hatte wie er selbst. Die Verteidiger des Schiffes, einer prunkvollen Fleute, traten vor und brachten ihre Pistolen in Anschlag. Joop Wijninga tauchte grinsend ins Innere der Kutsche. „Keine Sorge", erklärte er in breiter Zuversicht, als er die angstvollen Augen seiner Eltern auf sich gerichtet sah. „Zum Glück haben wir ja den besten Trumpf, den man sich vorstellen kann." Er packte zu. Luise Kerkhoff, die sich eben auf dem Sitz aufgerichtet hatte und noch benommen blinzelte, hatte keine Chance, den zupackenden Fäusten des jungen Wijninga auszuweichen. Der jähe Schmerz, den sein eisenhar-
19 ter Griff verursachte, ließ sie aufschreien. Er zerrte sie ins Freie. Sie hatte nicht die Kraft, sich zu sträuben. Aber es gelang ihr, den Schrei zu unterdrücken. Mit zusammengebissenen Zähnen hielt sie im Griff des hünenhaften Mannes aus. Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken. „Keinen Schritt weiter!" brüllte Wijninga. Er stand jetzt genau hinter ihr und hielt sie nur noch mit der Linken. Mit der Rechten zog er seine Pistole und spannte den Hahn. Das metallische Knacken klang in der Stille fast wie ein Hammerschlag. Luise erstarrte, als sie den kühlen Stahl der Laufmündung an der rechten Seite ihres Halses spürte. Entsetzen erfaßte sie. Sie stellte sich vor, von dem Blei getötet zu werden. Ein Schauer durchlief sie und schüttelte ihren Körper wie unter Krämpfen. Wijninga ruckte an ihrer Schulter, damit sie still wurde. ,,Stehenbleiben!" brüllte er, obwohl die Männer von Gerrit Beekens längst gehorcht hatten. „Eine falsche Bewegung von euch, und die kleine Luise empfängt die erste Kugel! Ich werde euch nicht den Gefallen tun, sie gleich beim erstenmal zu töten. O nein! Ich werde sie nur ein bißchen ankratzen. Und dann habe ich immer noch mein Messer. Bildet euch also keine Schwachheiten ein." Mit ruckartigen Kopfbewegungen blickte er in die Runde. „Also: Wir gehen jetzt an Bord. Mit Luise! Und richtet Gerrit einen schönen Gruß aus. Er soll nur nicht wagen, irgend etwas gegen uns zu unternehmen. Es wäre doch sehr bedauerlich, wenn seiner Zukünftigen etwas zustößt, stimmt's?" Niemand antwortete. Die schwer-
bewaffneten Männer standen regungslos. Sie wagten nicht, auch nur einen Finger zu rühren, denn sie wußten, daß mit dem riesenhaften Joop Wijninga nicht zu scherzen war. Leere Drohungen waren es ganz gewiß nicht, die er soeben ausgestoßen hatte. So mußten die Freunde von Gerrit Beekens in ohnmächtigem Zorn zusehen, wie der dicke Wim Wijninga und seine raubvogelgesichtige Frau aus der Kutsche kletterten. Der feiste Handelsmann, von dem jeder in Amsterdam wußte, daß er Henk Beekens auf dem Gewissen hatte, beaufsichtigte den Kutscher, der die kleine Truhe mit den wichtigsten Dokumenten an Bord der dreimastigen Fleute trug. Joop Wijninga bewegte sich seitwärts und rückwärts, zog Luise mit sich und ließ die im Halbkreis stehenden Männer keinen Moment aus den Augen. Die eigenen Männer, die ihre Pistolen immer noch schußbereit hielten, wichen mit ihm zurück. Sie schwangen sich über die Verschanzung der „Marijke van Brabant", die mit vollständiger Ausrüstung und den Schätzen Wim Wijningas beladen war und daher beträchtlichen Tiefgang hatte. Zurück blieb nur die Kutsche. Die Gespannpferde tänzelten nervös. Befehle ertönten an Bord. Während die Leinen gelöst wurden, harrte Joop Wijninga mit seiner Geisel unmittelbar an der Steuerbordverschanzung aus. Im Schein einer Deckslaterne, die mittlerweile angezündet worden war, würde man ihn und die junge Frau auch auf größere Entfernung noch deutlich erkennen. Die Crewmitglieder setzten Segel, und unter dem handigen Wind glitt
20 die dreimastige Fleute langsam vom Kai weg in das Hafenbecken hinaus. Als Gerrit Beekens mit dem Einspänner heranjagte, war der Dreimaster schon nahezu außer Sichtweite. Die Dunkelheit, die noch über dem Hafen lastete, nahm das Prunkschiff des skrupellosen Handelsmannes schützend auf. Nur im Osten kündigte sich das Morgengrauen mit einem schwachen hellen Streifen an. Das schmale Gesicht des dunkelhaarigen Mannes war bleich vor Zorn. Die Hände zu Fäusten geballt, stand er noch da, als die „Marijke van Brabant" schon nicht mehr zu sehen war. „Und wenn ich dich bis ans Ende der Welt verfolge, Joop Wijninga", flüsterte er tonlos. „Ich werde dich kriegen, verlaß dich drauf!" 3. Es ging auf den Mittag zu. Der Kutscher und Mac Pellew verwöhnten die Männer an Bord der Schebecke mit den Düften von garendem Fleisch. Eine besonders gelungene Gewürzmischung war es, deren Duft den Arwenacks das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Die beiden Kombüsenmänner, unterstützt von den Söhnen des Seewolfs, taten alles, um für das Frühstück zu entschädigen. Es hatte bei den meisten eine ähnliche Reaktion hervorgerufen wie bei Carberry. Einzig Hasards Kompromißvorschlag hatte eine größere Protestaktion verhindert. Nach wie vor lag der Dreimaster auf Nordostkurs. Das Wetter hatte sich nicht gebessert. Bei zunehmendem Wind aus westlichen Richtungen war die Wolkendecke nur noch dich-
ter geworden. Lediglich die Sichtverhältnisse waren geringfügig besser geworden. Nachdem sie die Themsemündung mit ihrem Nebel und Dunst hinter sich gelassen hatten, konnten die Arwenacks nun - im nördlichen Ausgang des Ärmelkanals - immerhin die Kimm sehen, wenn auch nur als verschwommene Linie. Die Schebecke lief hohe Fahrt, über Steuerbord segelnd. Der Rauch des Kombüsenkochfeuers quoll dunkelgrau aus dem Rohr und wurde augenblicklich vom Wind zerfasert. Die Männer an Deck waren damit beschäftigt, Manntaue zu spannen. Sie konnten nicht damit rechnen, daß der Wind abflauen würde. Immerhin kannten sie die Witterungsverhältnisse in diesen Breiten zur Genüge. Im Zweifelsfall wurde das Wetter eher schlechter. Eine erste Bö hieb in die Lateinersegel. Es war ein spürbarer Schlag, der durch das ganze Schiff ging und es in seinen Verbänden ächzen ließ. Gischt wurde hochgerissen und über das Deck geweht. Die graugrünen Fluten hatten schäumende weiße Hauben. Möwen waren nicht mehr zu sehen. Ben Brighton zog die Stirn kraus und blickte zum trüben Himmel. „Spätestens in einer halben Stunde ist es soweit", sagte er dumpf. „Und wir sind in der außerordentlich glücklichen Lage, keine schützende Bucht in der Nähe zu haben." „Du siehst mal wieder zu schwarz", wandte Dan O'Flynn ein und bedachte den Ersten Offizier mit einem tadelnden Blick. „Bis der Sturm richtig losbricht, können wir bereits vor der holländischen Küste sein. Und dann schleichen wir uns an den Friesischen Inseln entlang nach Norden."
21 Ben zog die Schultern hoch. Der Seewolf nickte. „Anders geht es sowieso nicht mehr. Oder willst du ernsthaft vorschlagen, Mister Brighton, daß wir den Schwanz einziehen und nach England zurücksegeln?" Ben schüttelte den Kopf. „Das wäre sowieso nicht zu schaffen. Mit dem Aufkreuzen würden wir uns nur in noch größeren Schlamassel begeben." „Eben drum", sagte Hasard. „Und mit den friesischen Strandräubern werden wir auch noch fertig, wenn's denn sein muß." Ben und Dan grinsten. Pete Ballie stand breitbeinig am Ruder und führte es mit seinen zuverlässigen Fäusten, die das Format von Ankerklüsen hatten. Später würde er sich am Ruder festzurren lassen, und er würde die Schebecke mit eiserner Hand auf Kurs halten - wie schon so manches andere Schiff der Arwenacks zuvor. In den Stürmen der Biscaya hatte sich der schlanke Dreimaster bereits hervorragend bewährt. Dieses Schiff, das sie im Mittelmeer einer Piratenhorde abgenommen hatten, war in der Tat ein Glücksgriff. Schnelligkeit und Wendigkeit waren die dominierenden Eigenschaften der Schebecke. Im südlichen Mittelmeer, wo dieser Schiffstyp entstanden war, hatte man im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Erfahrungswerte zugrunde gelegt, um die Schebecke zu einem durch und durch ausgereiften Segler werden zu lassen. Wie auch im Fall der Arwenacks, fuhren Schebecken stets Lateinersegel an drei Pfahlmasten. Der vordere Mast war etwas nach vorn geneigt, der kleinere achtere Mast stand auf einer erhöhten und weit ausladenden
Heckgalerie. Charakteristisch für die Schebecke war neben dem durchgehenden Deck insbesondere der weit vorragende Vorsteven-Vorbau. Mit ihrer Länge von rund 30 Yards war die Schebecke das ideale Schiff für die Arwenacks. Es vereinte in sich die guten Eigenschaften einer Karavelle und wesentlich kleinerer Schiffstypen auf geradezu frappierende Weise. Weder im Ärmelkanal nach in der gefürchteten Nordsee mußten sie sich daher ernsthafte Sorgen bereiten. Ihnen blieb Zeit, das Roastbeef zu genießen, das in der Kombüse vollendet worden war. Hasard hatte schon vor dem Backen und Banken das vordere Segel wegnehmen lassen. Nun galt es nur noch, alle Luken und Schotts zu verschalken. Der Seewolf ordnete an, daß niemand mehr etwas an Deck verloren hatte, wenn er nicht ausdrücklich den Befehl dazu erhielt. Immer heftiger orgelten die Böen aus Westen heran. Mächtige Wellenberge rollten unter den schlanken Leib der Schebecke, hoben ihn hoch und ließen ihn abwärts rauschen, bis er mit einem schmetternden Schlag im Wellental aufgefangen wurde. Doch der Dreimaster hielt diesen Schlägen stand und reckte den Vorsteven jedesmal von neuem willig empor, als sei er geradezu begierig darauf, die nächste Belastungsprobe mit Bravour zu meistern. So würde es auch bleiben, wenn der Sturm erst richtig ausgebrochen war. Philip Hasard Killigrew und seine Männer wußten, daß sie sich auf ihr Schiff voll und ganz verlassen konnten.
22 Die „Marijke van Brabant" segelte in Küstennähe, auf Nordkurs liegend. Das prunkvolle Schiff mit dem goldverzierten Heck fuhr Rahsegel an Groß- und Fockmast und ein Lateinersegel am Besan sowie außerdem ein Blindesegel unter dem Bugspriet. Der Rumpf der Fleute war flach und breit, mit halbrundem Bug. Wegen seines geringen Tiefgangs war der Rahsegler vor allem für küstennahe Gewässer geeignet. Alle Kammern befanden sich achtern, unter dem durchgehenden Hauptdeck. Vor den mittschiffs gelegenen Laderäumen war das Mannschaftslogis untergebracht. Noch war das Wetter vor der holländischen Küste ruhig. Was sich aber im Westen und im Südwesten zusammenbraute, konnte jeder an Bord ohne Mühe als ein eindeutiges Warnzeichen erkennen. Die düsteren Wolken verhüllten die Kimm und schienen sich mit den Fluten zu vereinigen. Es konnte nur noch eine Frage von zwei oder drei Stunden sein, bis das Unwetter, das sich da von England herüberschob, auch die holländische Küste erreichte. Letztere war als graue Linie im Osten zu sehen. Joop Wijninga hatte sich zu dem Kapitän gesellt, der seit dem Ankeraufgehen auf dem Achterdeck ausharrte. Ein breitschultriger Mann, dieser Kapitän, wortkarg und mit einem flächigen Gesicht, das entweder vom Wind oder von zuviel Genever ständig gerötet war. Der Kaufmannssohn, der den Kapitän um mehr als einen halben Kopf überragte, deutete mit einer Kopfbewegung auf die Schlechtwetterfront. „Was halten Sie davon, Mijnheer van Renken?"
Kapitän van Renken zog die Stirn in sorgenvolle Falten. „Das sieht nicht gut aus, Mijnheer. Das sieht überhaupt nicht gut aus." „Und was sollten wir Ihrer Meinung nach tun?" „Den nächsten Hafen anlaufen." „Und der wäre?" „Den Helder, Mijnheer, Den Helder." Joop Wijninga nickte und rieb sich nachdenklich das Kinn. Auch auf dem Landweg war es eine beträchtliche Entfernung von Amsterdam nach Den Helder. Man mußte also nicht damit rechnen, daß die Kunde vom Verschwinden der Familie Wijninga aus Amsterdam schon bis in die weiter nördlich gelegenen Küstenorte vorgedrungen war. Zweifellos konnte man in einem dieser Häfen unerkannt und unbehelligt Zuflucht suchen, bis der Sturm abgeflaut war. „Bis nach Texel schaffen wir es also nicht?" vergewisserte sich der hünenhafte Kaufmannssohn. „Ohne daß uns der Sturm erwischt?" „Genau das meine ich, Mijnheer van Renken." „Nein, Mijnheer Wijninga, das schaffen wir nicht. Das können wir gar nicht schaffen." „Es besteht also Gefahr, daß wir auf Legerwall laufen, wenn wir nicht Schutz suchen." „So ist es. Genauso ist es." „In Ordnung. Dann werde ich versuchen, den Alten zu überzeugen." „Versuchen Sie das, Mijnheer Wijninga. Versuchen Sie es." Der blonde Hüne nickte und wandte sich ab. Er hatte van Renken in den letzten Tagen und Wochen des öfteren getroffen - bei der Ausrüstung der „Marijke van Brabant" und
23 zuvor auf der Werft, als der Stapellauf noch bevorgestanden hatte. Van Renken war vorher Erster Offizier auf einem anderen Handelsschiff des Hauses Wijninga gewesen. Der Alte hatte ihn wegen seiner Zuverlässigkeit als Kapitän des Prunkschiffs ausgewählt. Zu jenem Zeitpunkt hatten allerdings weder der Handelsherr noch der Kapitän geahnt, daß die Jungfernfahrt der Fleute zugleich eine Flucht werden würde. Kapitän van Renken war wirklich ein brauchbarer Bursche. Nur seine Angewohnheit, fast jeden Satzkern zu wiederholen oder zu bekräftigen, konnte einem bisweilen auf den Nerv gehen. Joop grinste. Entweder man gewöhnte sich daran, oder man stauchte ihn zurecht. Bald würde er soweit sein, das zu tun. Noch mußte er den Alten in entscheidenden Dingen fragen, bevor er selbst eine Anordnung treffen konnte. Aber mit Hilfe seiner Mutter würde sich eben das in allerkürzester Zeit ändern. Joop Wijninga ging auf die Luke zu, durch die die Achterdeckskammern zu erreichen waren. Sein Vater begab sich gewissermaßen ins Exil. Erstes Ziel war die Insel Texel, wo er schon vor längerer Zeit einen Gutshof gekauft hatte, der sich festungsartig sichern und verteidigen ließ. Später, wenn erst einmal Gras über die Geschichte gewachsen war, würde Wim Wijninga auf die Kanalinsel Jersey übersiedeln, um sich dort zur Ruhe zu setzen. Joop hatte jedoch nicht vor, sich an dieser letzten Reise seines Vaters zu beteiligen. Er würde schon vorher, auf Texel, das Zepter übernehmen. Seine Mutter würde dem Alten gut zureden und ihm verklaren, daß es an
der Zeit wäre, die Verantwortung in jüngere Hände zu legen. Der blonde Hüne lachte leise. Seine Mutter hatte erwiesenermaßen eine sehr überzeugende Art, auf ihren Mann einzuwirken. Und nun, da sich letzterer in einer schlechteren Position befand, kriegte er sowieso kein Bein mehr an die Erde. Joop Wijninga enterte über den Niedergang in das Halbdunkel ab. Ein quadratisches Bleiglasfenster am Ende des Unterdecksganges ließ das Tageslicht matt hereinsickern. Die Schotten waren mit schweren Messingbeschlägen ausgestattet, und bei jenen Kammern, die von Mitgliedern und Gästen der Familie Wijninga bezogen wurden, waren die Knäufe vergoldet. Joop steuerte auf die Kammer seiner Eltern zu, die sich am weitesten achtern, an Backbord, befand. Er verharrte, als er die Stimmen hörte. Sie gaben sich keine Mühe, ihren Streit gedämpft zu führen. „ . . . will ich jetzt wissen!" schrie Henrietta. „Wer ist sie?" „Es gibt sie überhaupt nicht mehr", erwiderte Wim Wijninga gequält. „Was heißt das - es gibt sie nicht mehr?" „Sie ist tot!" „Woher weißt du das, wenn du sie vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen hast?" „Man hat es mir berichtet." „Du hast also ihretwegen Erkundigungen einziehen lassen." „O nein, um Himmels willen, nein!" stöhnte Wim Wijninga. „Sie hatte verfügt, daß man mir im Falle ihres Todes eine Nachricht überbringen solle," „Was für eine Nachricht?" „Daß sie gestorben sei, mein Gott!"
24 „Mehr nicht? Wirklich nicht mehr? Lüg mich nicht an!" „Nun, sie hat mir noch geschrieben, daß ihr unsere gemeinsame Zeit damals in Brabant sehr viel bedeutet habe." „Geschrieben?" Henrietta Wijningas Stimme war schrill. „Sie hat dir einen Brief geschrieben?" „Ja, zum Teufel. Was ist denn daran so schlimm?" „Schlimm? Schlimm ist gar kein Ausdruck! Wenn es nichts bedeutet hätte, hättest du mir den Brief gezeigt. Wenn es nichts bedeutet hätte, hättest du dein Prunkschiff nicht nach ihr, sondern nach mir benannt. Schließlich bin ich deine Ehefrau. Oder etwa nicht?" „Doch, doch, natürlich", jammerte der Alte. Joop trat ein, ohne anzuklopfen. Breit grinsend drückte er das Schott zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Seine Eltern starrten ihn an. „Was fällt dir ein!" schnaubte der Handelsherr, dessen Körpermassen in einem Lehnsessel eben Platz hatten. Sein Wams stand offen, der Bauch quoll mit einer mächtigen Rolle über den Gürtel. „Was fällt dir ein, hier einzu . . . " „Halt den Mund!" fauchte Henrietta. „Bestimmt hat er sich nicht anders Gehör verschaffen können — so wie du herumgebrüllt hast." Wim Wijninga schnappte nach Luft, und er sah dabei aus wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Mutter, du hast mal wieder recht", sagte Joop spöttisch. „Ich bin bestimmt nicht der einzige an Bord, der die Geschichte mitgekriegt hat. Jetzt würde ich gern auch den Rest wissen. Wer ist die Marijke, nach der dieses
Schiff benannt wurde?" Er blickte seinen Vater an, der prompt krebsrot im Gesicht wurde. „Oh, das ist kein Geheimnis mehr, wenngleich ich es ihm aus der Nase ziehen mußte", ereiferte sich seine Mutter. „Seine heimliche Liebe, seine Jugendliebe war das! Er hat sie all die Jahre abgöttisch verehrt - auch dann noch, als wir längst verheiratet waren." „Das ist nicht wahr!" heulte der Dicke. „Und ob es wahr ist!" fuhr seine Ehefrau ihn an. „Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgespielt, hast mich arglistig getäuscht. Wahrscheinlich hast du mich nie richtig geliebt und tust es auch heute noch nicht." Gekonnt ließ sie ihre Stimme erstikken. Joop hatte indessen Schwierigkeiten, sich vorzustellen, wie ein Mann seine Mutter lieben konnte - so sehr er sie als Mutter auch schätzte. „Erfahre ich nun, wer Marijke war?" drängte er. „Aber natürlich, mein Junge", schluchzte Henrietta mit gesenktem Kopf. „Er hat sie damals während seiner Lehrjahre in Brabant kennengelernt. Natürlich heißt sie mit Nachnamen anders, a b e r . . . " „Hieß sie!" schrie Wim Wijninga dazwischen. „Sie ist lange tot!" „Und wenn", sagte Henrietta grimmig, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. An ihren Sohn gewandt fuhr sie fort: „Er hat sie immer Marijke van Brabant genannt - in seinen Träumen, in seinen geheimen Gedanken. Und als er sich dann endlich den Wunsch seines Lebens erfüllen konnte, nämlich ein Prunkschiff zu bauen, nun, da stand für ihn von
25 vornherein fest, welchen Namen er diesem Schiff geben würde." „Und ich habe immer gedacht, es wäre irgendeine historisch bedeutende Persönlichkeit aus Brabant", sagte Joop mit gespieltem Staunen. „Eine fromme Frau oder so was." „Habe ich auch gedacht", sagte seine Mutter und nickte. „Er hat uns wirklich arglistig getäuscht. Er ist ein ganz niederträchtiger..." „Jetzt reicht es!" brüllte Wim Wijninga in jäh und neu aufwallender Wut. Er sprang so behende auf, daß seine Frau und auch sein Sohn ihn verblüfft ansahen. Der beliebte Kaufmann stemmte die runden Fäuste in den mächtigen Körper und brüllte weiter, daß die Gläser in einem Schapp klirrten: „Wie ich dieses Schiff nenne, ist einzig und allein meine Sache! Es ist nichts Verwerfliches dabei. Punktum. Marijke van Brabant ist seit vielen Jahren tot. Sie war ihrerseits in 's-Hertogenbosch verheiratet, und wir haben uns nach meinen Lehrjahren nie wiedergesehen. Es gibt nicht den geringsten Grund, deswegen so einen hirnverbrannten Streit vom Zaun zu brechen. Schluß damit!" Nun war es seine Frau, die sich mit öffnendem und schließendem Mund jenem Fisch auf dem Trockenen glich. „Was willst du?" fuhr Wijninga seinen Sohn an. Dem blonden Hünen war das Grinsen längst vergangen. „Ich - ich", stotterte er unwillkürlich, „habe mit van Renken gesprochen." „Dagegen ist nichts einzuwenden", schnaubte sein Vater. „Es handelt sich um das Wetter."
„Ja, und? Was geht mich das Wetter an? Das ist Sache des Kapitäns. Wir haben uns nicht einzumischen. Er bringt uns sicher nach Texel - fertig, aus." „Als Eigner an Bord hast du aber gewisse Entscheidungen zu treffen", fuhr Joop beharrlich fort. „Deshalb bin ich hier." „Was für Entscheidungen, verdammt noch mal?" „Es zieht Sturm auf. Van Renken meint, wir sollten eine schützende Bucht anlaufen." „Unsinn! Wie ist unsere Position?" „Etwa fünf Seemeilen südwestlich von Den Helder." „Ausgezeichnet. Wir schaffen es bis nach Texel. Van Renken fehlt die Erfahrung, wenn er das nicht begreift. Sag ihm, er soll sich gefälligst zusammenreißen, oder er wird seines Postens enthoben, sobald wir die Insel erreicht haben." Joop Wijninga blinzelte ungläubig. ,,Ist das dein Ernst?" „Was denn sonst!" Das Brüllen des Handelsmannes ließ die Scheiben der Kammerfenster scheppern. „Ich will nach Texel, und zwar so schnell wie möglich! Noch habe ich das Sagen! Und es wird euch nicht so schnell gelingen, meinen Tee oder mein Bier zu vergiften, das kann ich euch nur versichern!" Der Hüne glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Er wechselte einen Blick mit seiner Mutter, die jedoch ebenso fassungslos war wie er. „Ist das dein letztes; Wort?" wandte er sich noch einmal an seinen Vater. „Mein allerletztes!" schrie der Feiste mit sich überschlagender Stimme. Joop Wijninga wandte sich ab. Er hatte das verteufelte Gefühl, daß al-
26 les, was er bisher getan hatte, unbedeutend und sinnlos gewesen war. 4. Mit voller Gewalt - wie ein gigantisches Raubtier - war der Sturm über die Schebecke hergefallen. Das Orgeln der Sturmböen übertönte jeden anderen Laut, selbst das Schmettern der Brecher und das Krachen, mit dem der Schiffsrumpf in den Wellentälern aufschlug. Der Seewolf hatte sich am Besanmast festzurren lassen. Ebenfalls durch ein Tau gesichert, hielt Pete Ballie am Ruder aus. Die restlichen Segel waren rechtzeitig geborgen, und ein Treibanker war ausgebracht worden. Die Arwenacks hatten alles getan, um ihr Schiff für den Kampf gegen die entfesselte Naturgewalten zu wappnen. Durch die Manntaue gesichert, versahen Ed Carberry, Ferris Tucker, Smoky und Blacky mittschiffs und auf dem Vordeck ihren Dienst. Ihr besonderes Augenmerk galt den Geschützen und deren Zurrings. Im Wüten der Elemente herrschte nicht nur große Gefahr, daß Culverinen oder Drehbassen über Bord gingen. Noch ernsthafter war die Gefahr, daß eines der tonnenschweren Geschütze aus den Brooktauen und zusätzlichen Sicherungstauen losgerissen wurde und sich selbst in ein Geschoß verwandelte, das schwerste Schäden an Deck verursachen konnte - bis hin zum Durchbrechen der Verschanzung. Vor solchen Schäden war auch ein größeres Schiff nicht sicher, dessen Kanonen sich unter Deck, in eigenen Geschützdecks, befanden. Lösten
sich gleich mehrere Geschütze aus ihren Tauen, konnten sie die Bordwand durchschlagen. Geschah dies auf der Leeseite, dann würde Wassereinbruch die Folge sein. Das einzig Berechenbare an dem Unwetter war die Tatsache, daß der Sturm fortwährend aus Westen heranraste. Dan O'Flynn - in seiner Funktion als Navigator - hatte ermittelt, daß sie sich bei Ausbruch des Unwetters etwa zwanzig Seemeilen südwestlich von Texel befunden hatten, der südlichsten der Friesischen Inseln. Allerdings war je nach Dauer des Sturms damit zu rechnen, daß sie irgendwo zwischen Amsterdam und Den Helder auf den Schlick der holländischen Küste rutschen würden. Im Tosen aus Sturmböen und haushohen Wogen war das Tageslicht nahezu in Dunkelheit abgesunken. Die Fluten hatten sich grauschwarz gefärbt. Der Gischt, der von den Wellenkämmen weggefetzt wurde, war nicht mehr weiß, er hatte vielmehr ein düsteres, bedrohliches Grau angenommen. Die Elemente Wasser und Luft schienen sich auf bösartige Weise zu vereinen, um das lächerliche Menschenwerk, das sich Schiff nannte, in die Tiefe zu ziehen und nie wieder freizugeben. Der Seewolf und seine Gefährten ließen sich dennoch vom Eindruck dieser Übermacht nicht unterkriegen. Jedesmal, wenn ein Brecher über das Deck des Dreimasters gedonnert war, brüllten sie triumphierend, sobald sie festgestellt hatten, daß sie vollzählig waren und alle Taue und Verschalkungen standgehalten hatten. Immer wieder erhob sich die Schebecke unversehrt aus den Wellentä-
27 lern und schien ihr trotziges Eigenleben zu entwickeln, mit dem sie den krachenden Schlägen, die ihren Rumpf trafen, Widerstand leistete. Der Seewolf und seine Männer unterbrachen ihre Wachsamkeit währenddessen keinen Augenblick. Sollte auch nur der geringste Schaden an Bord entstehen, würden sie blitzschnell bereit sein, das Menschenmögliche zu tun.
Der Kaufmannssohn Gerrit Beekens verfügte lediglich über einen einmastigen Ewer mit Namen „Bintje" - ein rahgetakeltes Küstenschiff, das ursprünglich im Wattenmeer der Friesischen Inseln eingesetzt gewesen war. Wegen ihres geringen Tiefgangs war die „Bintje" vor allem für die Fahrt in jenen küstennahen Gewässern geeignet. Im Hafen von Amsterdam hatte sich der gut zu manövrierende Einmaster bei Zubringerdiensten bewährt. Gerrit Beekens hatte nicht mehr als fünf Männer dazu bewegen können, ihn zu begleiten. Diese fünf bereuten ihre Entscheidung bereits, als sie das offene Meer erreicht hatten. Die düstere Schlechtwetterfront war nicht zu übersehen. Doch Gerrit, der die Ruderpinne selbst führte, hatte sich mit eiserner Entschlossenheit durchgesetzt. Erste Böen erreichten den in Küstennähe segelnden Ewer. Gerrit Beekens hatte Fischer und die Kapitäne kleiner Frachtsegler angepreit, um den Kurs der „Marijke van Brabant" zu erfahren. Das Prunkschiff der Wijningas war jedem aufgefallen, der nicht gerade in seiner Koje den Strohsack abge-
horcht hatte. Zumindest dieser Teil der Verfolgung, nämlich, die Fährte des Schurkenpacks aufzunehmen, bedeutete also keine große Schwierigkeit. Die Probleme äußerten sich auch nicht allein durch den heraufziehenden Sturm. Dies wurde abermals deutlich, als der Wortführer der fünf Mann nach einigem Tuscheln und Zögern auf den dunkelhaarigen Kaufmannssohn zutrat. Der Name des Mannes war Willem van der Meulen, ein Riesenkerl mit zerzaustem Blondhaar und Vollbart. Er blieb zwei Schritte vor Beekens stehen, senkte den Kopf und trat verlegen von einem Bein auf das andere. „Ich sehe dir an der Nasenspitze an, was du sagen willst", erklärte der Kaufmannssohn lächelnd. „Also geniere dich nicht, Willem." Van der Meulen hob erstaunt den Kopf. „Aber wie kannst du das wissen?" „Ganz einfach. Ihr habt jetzt noch einen weiteren Grund, mich zur Umkehr zu bewegen: den Sturm." „Du hast recht, Gerrit. Aber entscheidend ist immer noch der erste Grund. Wir sind den Wijningas nicht gewachsen. Unter keinen Umständen. Sie haben mehr Männer an Bord und sind besser bewaffnet." „Hätten die anderen uns mit weiteren Schiffen begleitet, wären wir in der Übermacht." „Vielleicht. Aber du darfst ihr wichtigstes Argument nicht vergessen. Niemand will die Verantwortung für Luises möglichen Tod übernehmen. Denn du weißt, wie unberechenbar die Wijningas sind. Vor allem Joop, der verfluchte Hundesohn." „Es tut euch also leid, daß ihr doch
28 bei mir geblieben seid und nicht wie die anderen den Schwanz eingezogen habt." „Das will ich nicht unbedingt sagen. Aber der Sturm ist eine Sache, mit der wir nicht gerechnet haben." „Der Ewer ist ein sehr widerstandsfähiges kleines Schiff. Wenn es besonders schlimm wird, können wir immer noch Schutz suchen." Willem van der Meulen nickte bedauernd, und er sah dabei aus, als hätte er keine andere Antwort erwartet. „Es ist so, Gerrit: Du bist der Kapitän, und deine Entscheidungen gelten. Wir werden auch nicht meutern oder so etwas. Dazu sind wir schließlich viel zu gut befreundet. Die anderen haben mich lediglich beauftragt, dich auf das Für und Wider hinzuweisen. Wir beugen uns deinen Befehlen, aber wir sind nicht davon überzeugt, daß wir gegen die Wijningas etwas ausrichten können." Gerrit Beekens nickte. „Ich kann eure Sorgen verstehen, Willem. Vor allem bin ich dankbar für eure Treue. Wenn ich nun sage, daß wir den jetzigen Kurs beibehalten, dann faßt es bitte nicht als eine Willkür meinerseits auf. Ich habe aber keine andere Wahl, ich muß es tun. Mein Ziel ist es, Luise zu befreien und die Wijningas zu töten." „Um Himmels willen, mach dich nicht unglücklich!" rief Willem van der Meulen erschrocken. „Gewiß, der alte Wijninga hat deinen Vater sicherlich auf dem Gewissen. Aber es gibt noch keinen Beweis dafür. Wie willst du das vor einem Gericht rechtfertigen? Man würde dich wegen Mordes schuldig sprechen. Aber diese verfluchten Hunde sind es nicht wert, ihretwegen bestraft zu werden."
„Ich weiß", entgegnete Gerrit Beekens und nickte. „Aber wir können die Bastarde auch dazu bringen, daß sie uns angreifen." „Glaubst du, daß du ausgerechnet einen Wim Wijninga veranlassen wirst, mit Waffengewalt gegen uns vorzugehen?" „Dafür hat er seine Leute." „Eben drum, Gerrit. Diese Leute sind nicht die wahren Schuldigen. Vielleicht nicht einmal der Dreckskerl Joop. Der Fettsack, der den Tod deines Vaters verschuldet hat, wird es verstehen, sauber im Hintergrund zu bleiben. Darauf kannst du dich verlassen." Gerrit Beekens rieb sich nachdenklich das Kinn. „Sicher hast du recht, Willem. Unter diesen Gesichtspunkten habe ich mir die Sache noch nicht überlegt. Ich verspreche dir: Wir werden uns etwas einfallen lassen. Wir werden nicht blindlings angreifen. Schließlich muß ich ja vor allem an Luise denken. Joop würde sie rigoros als Druckmittel gegen uns einsetzen." „Vielleicht sollten wir uns erst einmal an die Fleute heranpirschen, ohne daß sie uns bemerken." „Ein guter Vorschlag!" Gerrit Beekens blickte dem bärtigen Mann nach, wie er zu den anderen ging, um ihnen mitzuteilen, daß bei der kurzen Unterredung etwas herausgekommen war, das man fast einen Kompromiß nennen konnte.
Luise Kerkhoff gehörte nicht zu den weinerlichen Naturen. Sie würde niemals eine Frau sein, die ihrem Mann ständig etwas über die vielen Wehwehchen vorjammerte, die sie plagen. Ihrer eisernen Willenskraft
29 entsprechend, hatte sie die Folgen des brutalen Überfalls weitgehend abgeschüttelt. Ihre Wange war nur noch wenig geschwollen. Das Brennen hatte nachgelassen. Ihre körperlichen Kräfte waren wiederhergestellt, und ihre Gedanken hatte die ursprüngliche Klarheit. Sie konnte sich ziemlich genau vorstellen, was ihr blühte. Joop Wijninga war nicht zurückhaltend genug, um eine Gelegenheit wie diese, ungenutzt verstreichen zu lassen. Sobald er vom Borddienst abkömmlich war, würde er sich in ihre Kammer schleichen und versuchen, ihr Gewalt anzutun. Sie brauchte sich also keinerlei Hoffnungen hinzugeben. Jener Schlag mit der flachen Hand, der sie in Bewußtlosigkeit versetzt hatte, war vermutlich fast bedeutungslos gewesen gegen das, was ihr noch bevorstand. Aber sie würde sich zur Wehr setzen. Das schwor sie sich in diesen Minuten, in denen sie keine anderen Laute wahrnahm als die ächzenden Geräusche des Schiffes und das Rauschen der an der Außenbeplankung entlanggleitenden Fluten. Ihre Kammer befand sich offenbar nur knapp über der Wasserlinie, der Bauweise dieser Fleute entsprechend. Die blonde junge Frau lag regungslos in der gemütlichen Koje, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Es mangelte ihr an nichts. Wasser und Wein standen in Karaffen auf einem Schapp. Ein kleiner, krummbeiniger Mann, der offenbar in der Kombüse arbeitete, hatte Hefekuchen gebracht. Sie mußten gleich nach dem Auslaufen begonnen haben, zu bakken. Selbst auf einer Fahrt, die er als eine Flucht zu betrachten hatte, be-
hielt Wim Wijninga offenbar sein leibliches Wohl sorgsam im Auge. Natürlich. Sein Äußeres ließ auch deutlich genug erkennen, was für ein genußsüchtiger Mensch er war. Seine Frau sah indessen aus, als ernähre sie sich nur von Wasser und Brot. Joop, der brutale Riesenkerl, glich keinem von den beiden. Luise hörte, wie Böen über das Schiff heulten. Gleich darauf war das Knarren, das vom laufenden und stehenden Gut ausging, bis in die Unterdeckskammern zu hören. Es erschreckte Gerrit Beekens' Verlobte nicht. Sie hatte ihren Vater manches Mal auf Handelsreisen begleitet. Deshalb wußte sie, was rauhes Wetter auf See bedeutete. Sie hatte es stets gut überstanden. Vielleicht würde Joop Wijninga unter den gegebenen Umständen vorerst nicht auf die Idee verfallen, sich heranzuschleichen, um seine boshaften Spiele mit ihr zu treiben. Luise ließ sich vom Duft es Kuchens überwältigen. Sie setzte sich auf, schwang die Beine aus der Koje und ging hinüber zum Schapp. Es war Hefekuchen mit einem dicken Belag aus Zucker und Eigelb. Luise konnte nicht widerstehen. Sie aß ein Stück und gleich darauf ein zweites. Nach dem dritten Stück mußte sie sich zwingen, aufzuhören. Himmel, sie befand sich nicht auf einer Vergnügungsreise! Sie begab sich zurück zur Koje und streckte sich abermals lang aus. Sicherlich tat die Ruhe gut. Denn sie würde ihre Kräfte bestimmt noch brauchen. Böen waren jetzt in kürzeren Abständen zu hören. Die Bewegungen des Schiffes veränderten sich. Für Luise, die in Fahrtrichtung lag, war
30 es, als steige der Rumpf jeweils mit Mühe eine Anhöhe hinauf und lasse sich dann auf der änderen Seite schwerfällig keuchend in die Senke fallen. Polternde Schritte Wurden laut. Luise erschrak, obwohl sie auf diesen Augenblick vorbereitet gewesen war. Sie zweifelte nicht daran, daß es Joop Wijninga War, der da So ungestüm heranwalzte. Die Schritte des Kombüsenmannes hatten sich anders angehört, und Wim Wijninga war zweifellos nicht in der Lage, sich so schnell zu bewegen. Die Schritte endeten, die Riegelbalken wurden vom Schott weggenommen, und sofort darauf drehte sich der Schlüssel mit einem mahlenden Geräusch im Schloß. Der Verschlußmechanismus schnappte zurück. Luise Kerkhoff fuhr in der Koje hoch und preßte sich mit dem Rücken an die kalte Innenwand der Kammer. Das Schott schwang auf. Luise erstarrte. Joop Wijninga Schob sich herein groß, breit und grinsend. Seine Bewegungen wirkten eckig und ungelenk. Er nickte der jungen Frau zu, und es sah aus wie ein unbeholfener Gruß. Dann warf er das Schott zu, drehte sich halb um und schloß von innen ab. Den Schlüssel verstaute er in seiner rechten Hosentasche. Luise prägte es sich ein, obwohl sie nicht daran glaubte, daß sie eine Chance erhalten würde, sich zu befreien. Vielmehr hatte sie das beklemmende Gefühl, daß sie sich ihre wiedergekehrte Kraft nur eingebildet hatte. Der Anblick des riesigen Kerls mit seinen Händen, die so groß waren wie Flundern, wirkte jedenfalls furchteinflößend auf sie. „Wir kennen uns ja schon", sagte er
gedehnt und blieb in der Mitte des Raumes stehen. „Erinnerst du dich daran, wie wir uns begegnet sind?" Luise wußte, von was er sprach. Der Ball der Kaufmannschaft von Amsterdam war jedes Jahr im Herbst ein großes Ereignis. Luise hatte bereits dreimal daran teilgenommen, beim letztenmal gemeinsam mit Gerrit, der zu jenem Zeitpunkt schon ihr Verlobter gewesen war. Joop hatte sie ein paarmal aufgefordert, aber sie hatte ihm jedesmal einen Korb gegeben. Nur zu gut hatte sie sich an seine aufdringliche Art bei den vorangegangenen Bällen erinnert. Und beim Tanzen verhielt er sich dermaßen vulgär, daß jedes anständige Mädchen rot werden und die Flucht ergreifen mußte. Luise war daher beim zurückliegenden Ball der Kaufmannschaft heilfroh gewesen, einen festen Partner zu haben. Ihr waren indessen auch die haßerfüllten Blicke nicht entgangen, die der junge Wijninga ihr und Gerrit zugeworfen hatte. Sie hatte von jenem Zeitpunkt an gewußt, daß Sie auf der Hut sein mußte. Daß sie dem Riesenkerl allerdings auf diese Weise in die Hände fallen würde, war nicht vorherzusehen gewesen. Dennoch bereute sie es nicht, daß sie Gerrit in der vergangenen Nacht dazu überredet hatte, sie mitzunehmen. Er war so allein gewesen, der letzte Überlebende seiner Familie. Sie hatte ihm einfach nur das Gefühl geben wollen, daß er auf seinem künftigen Lebensweg nicht allein sein würde - wenn er sie nicht zurückwies. Und sie hatte sich nicht getäuscht. Er hatte sie gebeten, Seine Frau zu werden - in der Kutsche, bei der Ver-
31 folgung der Wijningas. Keinen Moment hatte sie gezögert, mit Ja zu antworten. Und nun diese entwürdigende Begegnung mit dem gemeinen Kerl, der sie entführt hatte! „ich habe dich was gefragt", sagte er wütend. Das Grinsen schwand aus seinem Gesicht. „Und ich bin gewohnt, daß man mir antwortet." Luise atmete tief durch. Ihre innere Kraft kehrte zurück. „Dann machst du eben jetzt eine neue Erfahrung", sagte sie scheinbar leichthin. „Ich denke nicht daran, auf eine so dämliche Frage zu antworten. Wie sollte ich deine Unverschämtheiten auf dem kaufmännischen Ball Vergessen!" Joop Wijningas Gesicht verzerrte Sich. Mit zwei schnellen Schritten War er bei der Koje. Luise konnte nicht mehr ausweichen. Er packte ihre Oberarme und schüttelte sie, daß ihr Kopf Vor und zurück flog. „Ich warne dich, du freches Miststück", fuhr er sie an. „Wenn du glaubst, daß du mir so antworten kannst, hast du dich getäuscht!" Er stieß sie Zurück; „Aber bevor ich dich schlage, werde ich dich auf die bessere Art zur Räson bringen. Du wirst lernen, mir gegenüber Respekt zu Zeigen." Luise hatte gerade noch rechtzeitig den Kopf eingezogen, um nicht gegen die Holztäfelung zu prallen. Sie spürte ihren Herzschlag wie ein Hämmern unter den Rippen. Ihr Atem ging stoßweise vor Aufregung. Das Schiff krängte spürbar nach Steuerbord und richtete sich schwerfällig wieder auf. Die Böen orgelten. Schmetterschläge von Brechern trafen das Deck. Der Riesenkerl richtete Sich vor
Luise auf und grinste wieder. Mit beiden Händen griff er nach seiner Gürtelschließe. Luise wußte, daß ihr keine Sekunde Zeit mehr blieb. Sie sammelte alle Kraft. Blitzschnell trat sie mit dem rechten Fuß zu. Und sie traf auf den Punkt. Joop Wijnings klappte zusammen und starrte sie an. Sein Gesicht färbte sich grünlich. Er wankte rückwärts. Erst jetzt brüllte er. Mit dem Rücken prallte er gegen das Schapp. Die beiden Karaffen fielen Zu Boden und zerbrachen. Wasser und Wein bildeten eine Lache. Immer noch brüllte Joop Wijninga. Luise sah sich verzweifelt um und suchte nach einer Hiebwaffe. Nur jetzt hatte sie noch die Chance, ihn zu überwältigen. Ob es ihr auf die Dauer etwas nutzte, war eine andere Frage. Aber sie konnte sich zumindest eine Schonfrist verschaffen. Denn immerhin hegte sie die vage Hoffnung, daß sich Gerrit möglicherweise schon auf Verfolgerkurs befand. Erst als Joop Wijningas Gebrüll in ein Stöhnen überging, waren die hämmernden Faustscnläge am Schott der Kammer zu hören. „Mijnheer Wijninga! Mijnheer Wijninga! Sind Sie dort drinnen?' Joops grünliche Gesichtsfarbe verwandelte sich in ein zorniges Rot. „Ja, verdammt!" schrie er und ächzte gleich darauf wieder unter Schmerzen. „Ihr Vater befiehlt Sie an Deck, Mijnheer! Sturm zieht auf! Wir brauchen Sie an Deck!" Der blonde Hühne stieß einen Fluch aus, gab aber knurrend zur Antwort, daß er der Aufforderung folgen werde. Mit einem letzten haß-
32 erfüllten Blick wankte er zum Schott, schloß auf und war verschwunden. Draußen knirschte das Schloß, dann polterten die Riegel. Luise Kerkhoff sank auf die weiche Koje. Ein Gefühl der Sicherheit wollte sich nicht einstellen - nur ein bißchen Erleichterung. Für den Augenblick. Mehr Zuversicht hatte sie nicht. 5. Joop Wijninga gelangte an Deck und schaffte es mit knapper Mühe, ein Manntau zu erwischen, das in der Nähe der Luke gespannt war. Er sah noch, wie der Bugspriet der „Marijke van Brabant" himmelwärts strebte und sich in dieses tosende Grau bohrte, das der Sturm aus Wasser, Gischt und Wolken zusammenrührte. Dann überrollte eine düstere Wasserwand das Vorschiff und donnerte auf ihn zu. Er war wie erstarrt und vergaß den Schmerz, der noch immer in seinem Unterleib wühlte und pochte. Die Wassermassen warfen sich brüllend auf ihn, hüllten ihn mit erstickender Gewalt ein, begruben ihn unter sich und rissen ihn von den Füßen. Nur seine Fäuste gehorchten noch und krampften sich wie Eisenklauen um das Manntau. Er wurde hochgewirbelt. Nie zuvor in seinem Leben war sein Körper von einer solchen Gewalt zur Willenlosigkeit erniedrigt worden. Mit den Beinen schlug er gegen etwas Hartes. Er wußte nicht einmal, ob es die Verschanzung war, eine Balustrade oder gar der Großmast. Ein Teil der Wassermassen gurgelte in die Luke, die er beim Aufen-
tern geöffnet hatte. Mit den Stiefeln landete er wieder auf den Planken. Ein Decksmann, weiß im Gesicht, arbeitete sich herbei, um die Luke ordnungsgemäß zu schließen. Joop Wijninga, das wußte jeder an Bord, hatte wichtigere Aufgaben. Er fungierte für Kapitän van Renken gewissermaßen als Erster Offizier. Das Wasser lief ab. Gleichzeitig senkte sich das Vorschiff ins nächste Wellental. Der blonde Hüne stierte fassungslos nach vorn. Die Blinde war weggerissen worden. Der Fockmast, der eben noch das Marssegel als letzten Fetzen Tuch getragen hatte, bestand nur noch aus einem Stumpf, der mit seiner weißen Faserspitze aussah wie ein überdimensionaler Rasierpinsel. Die abgeknickten zwei Drittel des Mastes hingen an Steuerbord außenbords, von den noch intakten Resten der Takelung gehalten. Joop Wijninga wandte sich nach achtern. Beinahe fluchtartig hastete er auf Kapitän van Renken zu, der sich an Spanntauen zwischen Besan und Backbordverschanzung hatte festbinden lassen. Auch der Rudergänger war festgezurrt. „Wahrschau!" brüllte van Renken. „Aufpassen, Mann!" Im selben Moment hatte Joop Wijninga das Gefühl, das Schiffsheck werde von einer unsichtbaren Riesenfaust angehoben. Siedendheiß wurde ihm seine Unterlassungssünde bewußt. Er warf sich auf das Manntau zu, das ihm am nächsten war, und erwischte es noch. Nachdem er den Brecher überstanden hatte, war es ein trügerisches Gefühl der Erleichterung gewesen, das ihm Sicherheit vorgegaukelt hatte. Dabei hatte er gelegentlich stür-
Von H H , Straße , 5840 Schwerte, erhielten wir folgenden Brief: Hallo, Seewölfe! Ein dreimal kräftiges Ar-wenack für Ihre Serie! Ich bin seit etwa dreieinhalb Jahren, also seit ungefähr Nr. 418, Leser Ihrer Serie. Ich bin also ,,Jung-Leser". Mir gefällt die Serie ohne Wenn und Aber gut, auch wenn in der letzten Zeit zu schnell und zuviel getötet wird. Aber das war wohl in der Zeit so üblich. Heute habe ich Nr. 600 in der Hand. Ich finde es gut, daß für „Neu-Leser" einBand eingeschoben wurde, in dem die Anfänge der Seewölfe beschrieben werden. Aber ich meine, es wäre auch gut, wenn hin und wieder auch in der Serie und durch Erzählungen über die Seewölfe zurückgeblättert wird. Denn auch im richtigen Leben wird den Jungen oft von der guten alten Zeit erzählt, und die ,,Neu-Leser" sind ja schließlich die Jungen. So, jetzt will ich mir die Abenteuer von Old O'Flynn durchlesen, ich freue mich schon darauf und verbleibe - Heiko Haarmann. Herzlichen Dank für Ihren Brief, lieber Herr H . Ohne daß Sie das ahnen, haben Sie uns Denkanstöße gegeben. Wir werden überlegen, ob wir in Einzelromanen - mal „zwischendurch" - Geschichten über den einen oder anderen See wolf von unseren Autoren schreiben lassen. Wir taten das bereits einmal im OstseeZyklus, nämlich in der SW-Nr. 319, „Hafenballade". In 317 wurde etwas über den Schweden Stenmark erzählt, bevor er zu den Seewölfen stieß, und in 319 berichtete Fred McMason über den Dänen Nils Larsen, der von seiner Heimatinsel Bornholm flüchtete, weil er auf Anordnung der Elternteile „verheiratet" werden sollte - was ihm überhaupt nicht paßte. Wir wissen - aufgrund der Leserbriefe -, daß besonders die Nils-Larsen-Geschichte gut „angekommen" ist. So ist tatsächlich seitens der Redaktion darüber nachzudenken, ob wir Ihrem Vorschlag folgen sollten. Mal sehen!
Stutzig wurden wir in Ihrem Brief, lieber Herr H , über Ihre Bemerkung, es würde „in der letzten Zeit zu schnell und zuviel getötet". Und auch der Nachsatz - „Aber das war wohl in der Zeit so üblich" - ließ uns aufhorchen. Warum das? Nun, einmal liegt es nicht in der Absicht der Autoren (und der Redaktion), mörderische Geschichten zu Papier zu bringen. Zum anderen, so scheint uns, würde ein falsches Bild entstehen, wenn aufgrund unserer Romane der Eindruck vermittelt wird, die „damalige Zeit" wäre besonders blutrünstig und voller Gewalt gewesen. Sagen wir es einmal anders: Gewalt gab es zu allen Zeiten unserer Menschheitsgeschichte, aber Weltkriege im eigentlichen Sinne wurden erst in diesem unseren Jahrhundert geführt. Man könnte fast versucht sein, zu sagen, daß sie im 20. Jahrhundert „geboren" wurden eben leider mit den furchtbaren technischen Möglichkeiten, über Länder und Meere hinweg Kriege führen zu können. Insofern dürfte die Zeit, über die wir schreiben - die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts -, fast „harmlos" gewesen sein. Also: Wir haben eher den Eindruck - und wir hören dementsprechende Nachrichten tagtäglich -, daß sich die Menschen des 20.Jahrhunderts gewalttätiger und mörderischer gebärden als jene im 16. Jahrhundert. Sie haben sogar die Möglichkeit gefunden, unsere gute Mutter Erde mit einem Knopfdruck auslöschen zu können (ganz abgesehen davon, daß sie „ohne Krieg" kräftig dabei sind, ihre Umwelt zu zerstören). Die gute alte Zeit? Vielleicht - denn die Flüsse, Seen und Meere waren damals noch nicht vergiftet. Und wenn die Zwillinge Hasard und Philip einen Fisch angelten, dann war er nicht verseucht, verkrüppelt oder von Wucherungen überdeckt. Darüber ist nachzudenken. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Mit den beiden Zweimastern auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern zwei Schoner-Typen vor, wie man sie auch heute noch als „Oldtimer" sehen kann. Der Typ A ist ein Toppsegel-Schoner (linke Seite 34), der Typ B ein Gaffelschoner (rechte Seite 35). Beide unterscheiden sich aufgrund ihrer Takelung. Der Toppsegel-Schoner ist ein Zweimast- oder Dreimast-Schoner, der am Fockmast über dem Schonersegel ein oder mehrere Rahtoppsegel fährt. Beim Gaffelschoner hingegen handelt es sich um einen Segelschiffstyp mit zwei bis zu sieben Masten, an denen nur Gaffelsegel und Stagsegel gefahren werden. In Europa beschränkte man sich auf Zweimast- und Dreimast-Gaffelschoner. In Amerika wurden Gaffelschoner mit vier, fünf, sechs und sieben Masten gebaut. A) Die Nummern bedeuten: 1 Fockmast, 2 Großmast, 3 Vorstenge, 4 Großstenge, 5 Vor-Bramstenge, 6 Groß-Bramstenge, 7 Außen-Klüverbaum, 8 Klüverbaum, 9 Bugspriet, 10 Fockrah, 11 Toppsegelrah, 12 Bramrah, 13 Schonersegelbaum, 14 Schonersegelgaffel, 15 Großbaum, 16 Großgaffel, 17 Außenklüver, 18 Klüver, 19 Binnenklüver, 20 Stagfock, 21 Toppsegel, 22 Bramsegel, 23 Schonersegel, 24 Groß-Stengestagsegel, 25 Großsegel, 26 Gaffeltoppsegel, 27 Außen-Klüverstampfstag, 28 Klüverstampf stag, 29 Stampfstock, 30 Stampfstock- Achterholer, 31 Wasserstag, 32 Fockbrassen, 33 Toppsegelbrassen, 34 Brambrassen, 35 Außen-Klüverschot, 36 Klüverschot, 37 Binnen-Klüverschot, 38 Stagfockschot, 39 Schonersegelschot, 40 Großschot, 41 Groß-Stengestagsegelschot, 42 Vorbaumdirk, 43 Großbaumdirk, 44 Vor-Bramstag, 45 Vor-Stengestag, 46 Binnen-Klüverstag, 47 Fockstag, 48 Großstag, 49 Groß-Stengestag, 50 Groß-Bramstag. B) Die Nummern bedeuten: 1 Fockmast, 2 Großmast, 3 Vorstenge, 4 Großstenge, 5 Vor-Bramstenge, 6 Groß-Bramstenge, 7 Außen-Klüverbaum, 8 Klüverbaum, 9 Bugspriet, 10 Stampfstock, 11 Stagfockbaum, 12 Schonersegelbaum, 13 Großbaum, 14 Schonersegelgaffel, 15 Großgaffel, 16 Außenklüver, 17 Klüver, 18 Stagfock, 19 Schonersegel, 20 Vor-Gaffeltoppsegel, 21 Großsegel, 22 Groß-Gaffeltoppsegel, 23 VorBramstag, 24 Vor-Stengestag, 25 Klüverstag, 26 Fockstag, 27 Großstag, 28 Groß-Stengestag, 29 Groß-Bramstag, 30 Außen-Klüverschot, 31 Klüverschot, 32 Stagfockschot, 33 Schonersegelschot, 34 Großschot, 35 Vorbaumdirk, 36 Großbaumdirk.
37 mische Schiffsreisen erlebt. Er hätte wissen müssen, daß es jene Erleichterung erst dann gab, wenn die Naturgewalten sie gewährten — niemals dann, wenn der Mensch sich danach sehnte. Er klammerte sich an dem Tau fest, warf den Kopf herum und glaubte, sein Herz höre vor Entsetzen auf zu schlagen. Das Vorderschiff raste geradezu in das nächste Wellental hinein und schien sich mit dem Stummelrest des Bugspriets in den Grund zu bohren. Wieder gab es dieses furchtbare Krachen, als der Schiffsrumpf aufschlug. Es war, als müßte sich die „Marijke van Brabant" unter der Wucht dieses Aufpralls in ihre Einzelteile auflösen. Aber sie hielt stand. Diesmal waren es nur gischtende Ausläufer, die Joop Wijninga erreichten. Wie weißgraue Schaumfinger krochen sie geschwind über die Decksplanken, als wollten sie überall neugierig lauernd Ausschau halten. Der blonde Hüne schaffte es, in van Renkens Nähe zu gelangen. „Wie ist das möglich?" brüllte er gegen das Toben der Elemente an. „Wie konnte der Sturm so plötzlich ausbrechen?" Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Das war nicht plötzlich, Mijnheer. Überhaupt nicht plötzlich. Sie haben sich nur ein bißchen zu lange unter Deck aufgehalten." Wijninga erbleichte. Er mußte sich zwingen, seine aufwallende Wut zu unterdrücken. Unter anderen Umständen hätte er den Kapitän für diese Frechheit zur Rechenschaft gezogen. Aber in der augenblicklichen Situation waren sie aufeinander angewiesen. „Was können wir tun?" rief er da-
her. „Haben wir überhaupt keine Möglichkeit?" „Beten!" antwortete van Renken trocken. „Nur noch beten." Dann wurde das Gespräch unterbrochen, als die Fleute erneut abwärts rauschte. Diesmal hatte Joop Wijninga das Gefühl, regelrecht von den Füßen gehoben zu werden. Mit aller Kraft klammerte er sich an dem Tau fest. Er beneidete den Kapitän, der sich hatte festbinden lassen. Van Renken brauchte weniger Angst zu haben, über Bord gerissen zu werden. Doch andererseits . . . Van Renken und auch der Rudergänger würden sich nicht schnell genug befreien können, wenn die „Marijke van Brabant" sank. Joop Wijninga erschrak über diesen Gedanken. Hölle und Teufel, so ein stolzer Neubau wie dieses Schiff konnte überhaupt nicht sinken! Wieviel Geld hatte sein Vater dafür ausgegeben! Es mußte das Beste vom Besten sein - höchste handwerkliche Qualität. Ein Schiff wie die „Marijke van Brabant" trotzte mühelos allen Gefahren, schließlich war es entsprechend konstruiert worden. Abermals donnerte die Fleute in die Tiefe eines Wellentals. Der junge Wijninga wollte sich umwenden und mit dem Kapitän beratschlagen, ob irgendwelche Vorsorgemaßnahmen bezüglich der Passagiere ergriffen werden müßten. Im selben Atemzug hatte er das Gefühl, als würde alles an ihm zu Eis. Schwerfällig jetzt, richtete sich die „Marijke van Brabant" auf, um den nächsten Wellenberg anzugehen. Deutlich krängte die Fleute nach Steuerbord. Doch sie stabilisierte sich nicht. Die Krängung blieb.
38 Dem blonden Hünen Wurde bewußt, daß er sich eher durch das Manntau als durch die eigenen Füße noch senkrecht halten könnte. Die Planken unter seinen Stiefelsohlen hatten eine erschreckende Schrägneigung. Auch die Decksleute, die mittschiffs ausharrten, waren vor Entsetzen wie gelähmt. Das Vorschiff der Fleute war unendlich träge geworden. Und die Krängung nach Steuerbord nahm noch zu. Joop Wijninga warf sich herum. „Was, zum Teufel, ist das?" brüllte er. Im selben Moment erschrak er von neuem, als er das Gesicht des Kapitäns sah. Van Renken war weiß wie eine gekalkte Wand. Sein Mund stand offen, aber er brachte keinen Ton hervor. „Was ist das?" wiederholte Wijninga. Das Vorschiff wurde vom Wellenkamm überrollt Van Renken schien den Sohn des feisten Kaufmanns nicht mehr wahrzunehmen. „Die Jollen!" brüllte der Kapitän aus Leibeskräften, „Fiert die Jollen!" Ob sie ihn noch hörten, wußte er nicht. Es war das Ende. Eisiges Grauen packte Joop Wijninga, als er es spürte. Das Donnern und Tosen der Fluten begrub die „Marijke van Brabant" unter sich. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, und der Kaufmannssohn hatte bereits das Gefühl, mit dem Manntau, an das er sich immer noch klammerte, in die Tiefe gezogen zu werden. Aber noch einmal erhob sich das
Schiff wie ein weidwundes Tier aus dem Wirbeln und Schäumen. Doch das war nur ein kurzer Aufschub vor dem Unabänderlichen. Als hätte es einen Schlag von Backbord erhalten, legte es sich rapide auf die Steuerbordseite. Was eben noch Waagerecht gewesen war, war jetzt senkrecht. Joop Wijninga fand sich an dem Manntau hängend, unter ihm versank die Steuerbordverschanzung des Achterdecks bereits in den Fluten. Kapitän van Renken hatte seine Sicherheitsleine losgezerrt Und hangelte sich auf den Rudergänger zu, der noch verzweifelt bemüht war, sich zu befreien. Joop Wijninga sah, daß es den Decksleuten wider Erwarten gelungen war, die Jollen zu Wasser zu bringen. Vielleicht war es aber auch von selbst geschehen. Es spielte keine Rolle. Joop ließ sich kurzerhand fallen und tauchte in die graugrünen Fluten*,die im Schutz des Schiffsrumpfes erstaunlich ruhig Waren. Als er auftauchte, war die kleinere der Jollen nahe vor ihm. Zwei Mann befanden sich bereits an Bord. „Hierher!" brüllte er. „Hierher!" Sie halfen ihm. Keuchend ließ er sich auf die mittlere Ducht sinken. Decksleute Waren es, die Wim Wijninga, seine Ehefrau und Luise Kerkhoff aus den Unterdeckskammern befreiten,während das Wasser dort schon eindrang. Joop Wijninga beobachtete grinsend, wie seine Eltern in die große Jolle geschafft wurden. Beide schrien und jammerten, als Würden Sie massakriert. Luises Rettung war für den blonden Hünen besonders reizvoll anzusehen, da sich ihre Körperformen durch die nasse Kleidung deutlich abzeichneten. Die Boote lagen tief im
39 Wasser. Etliche Decksleute mußten sich an das Dollbord klammern, um nicht in den gurgelnden Fluten zu versinken. Jene, die einen Platz auf den Duchten erwischt hatten, pullten mit aller Kraft. Die Jollen tanzten auf den Wogen. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann das Meer sie verschlang. Die „Marijke van Brabant" sank rasch. Ein letzter Wellenberg donnerte über das Prunkschiff hinweg, dann war es nicht mehr zu sehen. Die Männer und Frauen in den Booten hatten mit ihrem Leben abgeschlossen. Doch es verging keine halbe Stunde, und es traf sie wie der reinste Hohn: Der Sturm flaute rasch ab, als hätte er mit dem Untergang der Fleute sein Werk getan. Einigen der Decksleute erschien es in der Tat wie ein Gotteszeichen. Denn sie wußten um die Schandtaten des Wim Wijninga. Aber sie hüteten sich, das laut auszusprechen. Auf Befehl von Kapitän van Renken stellten die Männer das Pullen ein. Nach und nach flachten die Wogen ab. Erst jetzt wurde den Geretteten bewußt, daß noch immer Tag war - keineswegs Nacht, Wie man im Toben des Unwetters leicht hätte annehmen können. Die Sicht wurde klarer, das trübe Grau wich einem normalen Tageslicht, und die Wolken verloren etwas von ihrer bedrückenden Schwere. Der dunkle Streifen der Küste war nun vor ihnen - so nahe, daß ein Unerfahrener annehmen konnte, hinüberschwimmen zu können. Doch es handelte sich um einen trügerischen
Eindruck, wie der Kapitän und die Decksleute wußten. „Mijnheer van Renken", wandte sich Joop Wijninga an den Kapitän, der im selben Boot saß. „Wie konnte das geschehen? Wie war das möglich?" Van Renken beugte sich zu ihm. „Behalten Sie es für sich?" „Warum?" „Ihr Vater Würde mich vielleicht teeren und federn lassen, wenn ich es laut ausspreche." Der junge Wijninga grinste. „Dann liegt es also an der Bauweise der Fleute?" „Nicht direkt. Ich kann es nur vermuten. Aber ich bin ziemlich sicher. Statt der sonst üblichen Steine wurden kleine Bleikugeln als Ballast verwendet. Der Schiffsbaumeister erhoffte sich dadurch eine bessere Raumausnutzung. Die Kugeln füllten auch kleinere Ecken und Winkel, hatten ein höheres Eigengewicht und beanspruchten demzufolge insgesamt weniger Platz als Findlinge." Joop Wijninga nickte verstehend. „Aber die verdammten Bleikugeln hatten einen entscheidenden Nachteil, an den unser famoser Schiffsbaumeister nicht gedacht hat. Sie sind verrutscht." „Das ist es, was ich vermute. Genau das vermute ich.'' In der nächsten Sekunde starrten sie fassungslos über die See westlich von ihnen. Mastspitzen ragten dort aus dem Wasser. Und es gab keinen Zweifel. Es waren die Spitzen von Besan und Großmast der „Marijke von Brabant". Das Prunkschiff hatte sich nach dem Kentern aufgerichtet und ruhte nun offenbar mit dem Kiel in
40 einer Vertiefung des flachen Meeresbodens. Mehrere Atemzüge lang herrschte Stille. Dann kreischte Wim Wijninga plötzlich los. „Mein Schiff! O mein Schiff, mein schönes Schiff! Da liegt es! Da liegt es! Wir müssen es bergen! Sofort! Schnell, schnell!" Er war aufgesprungen, und die große Jolle geriet in bedrohliches Schwanken. Seine Frau zerrte ihn zurück auf die Ducht. „Reiß dich zusammen!" schrie sie ihn an. „Spiel dich nicht auf wie ein Narr! Erst einmal müssen wir an unsere eigene Sicherheit denken." „Aber mein Geld!" jammerte der feiste Kaufmann. „Mein Gold, mein Silber! All mein schönes Geld!" „Wir werden es uns schon wiederholen", sagte Henrietta Wijninga beruhigend. „Keine Sorge." Ihr entging indessen nicht das Glitzern, das in den Augen etlicher Decksleute erwachte. Wenn sich der Untergang der „Marijke van Brabant", erst einmal herumsprach, würde es einen regelrechten Ansturm auf das Wrack geben. Denn es ließ sich natürlich nicht verheimlichen, daß sich in den Laderäumen all jenes Gold befand, das Wim Wijninga in den Jahren seiner erfolgreichen und zugleich verbrecherischen Geschäfte gehortet hatte. Doch ein Umstand, der den Wijningas als ein versöhnliches Zeichen des Himmels erschien, ergab sich innerhalb der nächsten Minuten. Andere Schiffe hatten sich in der Nähe befunden. Es zahlte sich nun aus, daß sie in Küstennähe gesegelt waren. Gleich zwei Fleuten waren es, die
den Wijningas und ihrer Mannschaft zu Hilfe eilten - beides Dreimaster und nur geringfügig größer als das gesunkene Prunkschiff. Die Namen waren „Swantje" und „Caroline", beide stammten aus 's-Gravenhage. Es fügte sich daher als weiterer glücklicher Umstand, daß Kapitäne und Besatzungen von jenen Hintergründen nichts wußten, die zu der verhängnisvollen Fahrt der „Marijke van Brabant" geführt hatten.
Nachdem der Sturm abgeflaut war, ließ der Seewolf eine Extraration Rum ausgeben. Die Fässer, die sie in London an Bord gemannt hatten, stammten aus der Karibik. Anzunehmen war, daß sie sich ursprünglich in den Laderäumen spanischer Galeonen befunden hatten, ehe sie von englischen Freibeutern „übernommen" worden waren. Wie dem auch sein mochte - die Arwenacks stellten einen deutlichen Qualitätsunterschied fest. „In der Karibik schmeckt das Zeug viel besser", sagte Edwin Carberry, an die Backbordverschanzung gelehnt, und nippte noch einmal an seiner Muck. „Ein ganz anderes Aroma." Ferris Tucker, der rothaarige Schiffszimmermann, nickte zustimmend. „Rum ist nicht Rum", meinte er. „Genausowenig wie Wein gleich Wein ist." „Wie hast du das bloß rausgefunden?" rief Old Donegal Daniel O'Flynn und spielte kopfschüttelnd den Erstaunten. Ferris bemerkte den Sarkasmus des Alten nicht. „Ist doch ganz ein-
41 fach, Old Man. Erst mal kommt es drauf an, aus welcher Gegend das feine Getränk stammt. Dann spielt die Verarbeitung eine Rolle. Genauso die Lagerung. Jeder Hersteller hat da andere Methoden." „Interessant, interessant", entgegnete Old Donegal. „Dein Wissensstand ist wirklich enorm. Sieht so aus, als ob die Getränkekunde für dich verdammt wichtig ist." Steile Furchen entstanden in Ferris Tuckers Gesicht. „Was willst du damit andeuten?" „Das kann ich dir genau sagen!" mischte sich Carberry dröhnend ein. „Trinkst du zuviel Rum, wird dein Verstand umnebelt. Und ist dein Verstand umnebelt, haben die Mächte der Finsternis leichtes Spiel mit dir. Dann wirst du ihr Opfer! Teufel und Hexen tun mit dir, was sie wollen!" Ferris grinste. „Bei den Hexen hätte ich im Grunde nichts dagegen wenn's hübsche Hexen sind!" Old Donegal verzog das Gesicht, als, hätte er in ein faules Ei gebissen. Er hütete sich, etwas zu erwidern. Denn er wußte nur zu gut, daß er den kürzeren zog, wenn sich die verdammten Kerle erst einmal auf ihn eingeschossen hatten. Dafür, daß er an übersinnliche Dinge glaubte, hatten sie nicht das geringste Verständnis. In seinen Augen war das einfach Ignoranz. Aber was sollte man dagegen tun, wenn sich die ganze Bande vor Lachen ausschüttete? Für die Arwenacks waren die Gruselgeschichten des alten O'Flynn indessen zum Gähnen. Sie kannten sie fast alle auswendig. Deshalb hinderten sie ihn daran, seine Schauermärchen zu erzählen, wo es nur ging. Am besten klappte es, indem man ihn auf den Arm nahm - wie jetzt. Dann zog
er sich in seinen Schmollwinkel zurück, und man hatte Ruhe. In der Kombüse war bereits aufgeklart worden. Deshalb hatte der Kutscher Zeit, sich mit erhobenem Zeigefinger zu Wort zu melden. „Bei alkoholischen Getränken sind vielerlei Aspekte zu berücksichtigen", dozierte er mit jener sorgfältigen Wortwahl, die er sich in seinen Jahren bei Doc Freemont angewöhnt hatte - in eben jener Zeit, in der er auch sein beträchtliches Allgemeinwissen angesammelt hatte. „Womit wir es in unserem Fall zu tun haben, scheint mir aber eindeutig zu sein." „Gleich erfahren wir, daß wir keinen gewöhnlichen Rum schlürfen", sagte Carberry und grinste. „Bin wirklich mal gespannt, was da alles drin ist." Er kniff das linke Auge zu und spähte mit dem rechten in seine Muck, als könne er dort etwas von jenen geheimnisvollen Bestandteilen entdecken, deren Mysterium der Kutscher nun zu enthüllen gedachte. „Das ist ein Irrtum", sagte der Kombüsenmann mit hochgezogenen Augenbrauen. „In seiner Konsistenz unterscheidet sich dieser karibische Rum zweifellos nicht von dem Rum, wie er an Ort und Stelle in der Neuen Welt zu haben ist. Nein, der Unterschied besteht in etwas völlig anderem. Einmal ist es das Klima, und zum anderen ist es die Atmosphäre." Die Arwenacks sahen ihn mit großen Augen an. Was der Kutscher auf Lager hatte, war immer wieder verblüffend. Vor allem hörte es sich gut an. Deshalb unterbrach ihn auch niemand, als er fortfuhr. „Der Rum wird in der Karibik gebrannt. Ich brauche sicherlich keinem von euch zu erklären, wie das Klima dort ist." Er blickte freundlich
42 in die Runde und sorgte allein damit für Verwunderung, denn ein Gesichtsausdruck dieser Art war bei ihm nicht häufig anzutreffen. Jedenfalls war es ein Ausdruck größter Zufriedenheit, wie sie sich bei ihm meist dann einstellte, wenn er andere an seinem Wissen teilhaben lassen konnte. „Nun müßt ihr euch vorstellen, daß der Rum seine Reifezeit unter den klimatischen Bedingungen der Karibik verbringt. Und zwar in Holzfässern, die durch ihre Poren in gewisser Weise atmen können. Stellt euch weiter vor, daß ein solcher Rum plötzlich in eine völlig andere Klimazone gebracht wird - etwa ins kalte und feuchte England." „Wetter auch!" rief Carberry beeindruckt. „Das muß ja ein richtiger Schock für den armen Rum sein!" „Dem vergeht bestimmt das Atmen", fügte Ferris Tucker mit todernster Miene hinzu. Der Kutscher ließ sich nicht beirren. „Im Grunde ist es so - auf die physikalischen Bedingungen übertragen. Nun aber zu dem anderen Punkt, der Atmosphäre. Ich meine damit die Umgebung, in der wir uns befinden und auf welche Weise sie auf unser Gemüt wirkt. Das beeinflußt in erheblichem Maße unser Geschmacksempfinden. Ich gebe euch ein Beispiel: Stellt euch eine Muck mit dampfendem heißem Tee vor." „Mit einem Schuß Rum!" ließ sich Matt Davies vernehmen. Prompt erntete er Beifall dafür. „Gut, mit einem Schuß Rum", sagte der Kutscher geduldig. „Nun stellt euch weiterhin zwei Situationen vor, und jedesmal habt ihr die Muck mit heißem Tee - plus Rum - dabei: einmal an einem glutheißen Sonnentag auf dem Schiffsdeck, ein andermal in
einer bitterkalten Winternacht vor einem Kaminfeuer in einer einsamen, eingeschneiten Hütte. Wo würde das heiße Getränk wohl am besten munden?" „In der kalten Hütte natürlich", sagte Smoky. Er zwinkerte den anderen zu. „Aber in so einer Lage würde mir sehr viel heißer Rum mit nur etwas heißem Wasser und ein bißchen Zucker noch besser gefallen." Zustimmendes Gemurmel zeigte an, daß die anderen mit seiner Geschmacksrichtung durchaus übereinstimmten. „Ihr wißt wahrscheinlich schon, auf was ich hinauswill", fuhr der Kutscher beharrlich fort. „So wie ihr ihn aus der Karibik gewohnt seid, schmeckt der Rum nur in der Karibik - aus den beiden genannten Gründen. Die Wirkung des Klimas auf den Rum und auf uns spielt also eine Rolle." Die Männer nickten anhaltend und beeindruckt. Carberry leerte seine Muck. „Trotzdem", sagte er dröhnend, „hätte ich gegen eine doppelte Ration nichts einzuwenden." Die anderen johlten begeistert Zustimmung. Hasard, der das Gespräch verfolgt hatte, schüttelte energisch den Kopf. „Mit dem Sturm haben wir Glück gehabt. Aber es muß ja nicht sein, daß wir zu guter Letzt auf eine Sandbank brummen." „Wie sollte denn so was wohl passieren, Sir?" rief Ferris Tucker. „Versteht sich doch von selbst, daß Rudergänger und Kapitän nüchtern bleiben müssen!" Diesmal hatte der Schiffszimmermann die Lacher auf seiner Seite. Als der Seewolf indessen mit einer
43 Handbewegung die Diskussion für Wasseroberfläche nahezu völlig glatt beendet erklärte, gab es niemanden war. Am nördlichen Ende der Gasse mehr, der noch länger einen Rum- ragten die Mastspitzen der „Marijke van Brabant" auf. nachschlag gefordert hätte. Wim Wijninga hatte seine getrockDer Kutscher nutzte die Gelegenheit, um einen Vorschlag anzubrin- neten Sachen zurückerhalten. Weder gen, zu dem er sich in einer ungünsti- an Bord der „Swantje" noch auf der geren Stimmung wohl nicht getraut „Caroline" hatte es Reservekleidung gegeben, die für seine Körpermaße hätte. „Mir fällt was ein", begann er ge- ausreichend gewesen wäre. dehnt. „Nun, da wir ja alle gemeinSchnaufend enterte der beleibte sam daran interessiert sind, unsere Kaufmann über den Niedergang zum Hafermehlvorräte so schnell wie Hauptdeck auf. Henrietta, Joop und möglich zu beseitigen, könnten Mac das Mädchen befanden sich noch in und ich für heute abend noch einmal den Unterdeckskammern, die man iheine Portion Porridge aufsetzen. nen zugewiesen hatte. Joop hatte sich Nach dem feinen Braten, den wir zuverlässig um Luise gekümmert, heute mittag hatten, wäre das doch si- und sie fest im Griff gehabt, seit die cherlich . . . " Er sprach nicht weiter. beiden Fleuten zu ihrer Rettung herDie drohende Haltung, die die Ar- angerauscht waren und die Segel gewenacks unvermittelt einnahmen, borgen hatten. veranlaßte ihn, sich abzuwenden und Die kleine Verlobte des Bastards fluchtartig in die Kombüse zu ver- Beekens mußte schnell begriffen haschwinden. Er meinte gesehen zu ha- ben, daß Joop ihr große Schmerzen ben, wie einige die Hände zu Fäusten zufügen konnte, wenn sie den Mund ballten. Und die grimmigen Gesichter aufriß, um etwa nach Hilfe zu waren auch nicht gerade geeignet, schreien. Es war auf jeden Fall besWohlbehagen hervorzurufen. ser, daß sie stillschweigend in eine Der Kutscher wußte, daß er sich im Kammer geschafft worden war. Man Laufe des späten Nachmittags mußte wegen gewisser Nebensächabermals eine Kochfeuerkontrolle lichkeiten nicht unbedingt noch Aufdurch den Profos würde gefallen las- sehen erregen. sen müssen. Wim Wijninga war - in eine Decke gehüllt - bereits Gast in der Kapitänskammer der „Swantje" gewesen, wo sich zur Besprechung auch Kapi6. tän Hendrik Smidt von der „CaroDie beiden Fleuten „Swantje" und line" eingefunden hatte. Der Kapitän „Caroline" lagen mit geringem Ab- der „Swantje" hieß Jan Schoemakers stand vor Anker. Jeweils Heck- und und war ein überaus verständiger Buganker waren ausgebracht wor- Mann. Letzteres galt auch für Smidt, den, so daß auch bei erneut einsetzen- doch war Schoemakers zweifellos der den heftigeren Böen keine Gefahr be- geistig wendigere von beiden. stand. Zwischen den Bordwänden der Wijninga hatte sie im HandumdreSchiffe war eine Gasse von etwa zehn hen davon zu überzeugen gewußt, Yards Breite entstanden, in der die daß sie gewissermaßen nebenbei und
44 ohne großen Zeitverlust ein gutes Geschäft tätigen könnten. Hundert Golddublonen pro Nase hatte er ihnen für den Fall versprochen, daß sie die wertvolle Ladung der „Marijke van Brabant" durch Taucher bergen ließen, Schoemakers hatte sofort zugestimmt, ohne langes Gerede. Smidt hatte dagegen erst wissen wollen, warum das Wrack denn eine Ladung aus Gold und Silber enthalte. Wijninga hatte daraufhin eine Geschichte erzählt, die sich plausibel anhörte. Er sei auf dem Weg nach Texel, um den Wunsch seines todkranken Bruders zu erfüllen. Dort, auf dem großen Gutshof, gebe es keinen männlichen Erben, und beide Töchter seien auf dem Kindbett gestorben. Damit das stattliche Anwesen nach dem Tod des Bruders nicht in fremde Hände falle, habe er, Wim Wijninga, sich bereit erklärt, auf den Gutshof überzusiedeln, sich dort halbwegs zur Ruhe zu setzen und seine Handelsgeschäfte künftig von Texel aus und nur noch in entsprechend begrenztem Umfang fortzuführen. Seine Familie habe schweren Herzens zugestimmt, das komfortable Leben in Amsterdam aufzugeben und ihn nach Texel zu begleiten. Beide Kapitäne hatten ihm diese Geschichte abgenommen und nicht den leisesten Zweifel geäußert, was für Wim Wijninga kein Wunder war. Denn mit einem Lohn von hundert Golddublonen in Aussicht war jeder Mann geneigt, so manches zu glauben. Natürlich war ihnen klar, daß sie ihren Lohn erst erhielten, wenn die Ladung der „Marijke van Brabant" geborgen war. Wijninga bereitete sich keine Sor-
gen darüber, daß Schoemakers oder Smidt etwa auf dumme Gedanken verfallen könnten. Sicher würde beim Anblick der Gesamtladung die Idee aufkeimen, daß man sich ja leicht alles unter den Nagel reißen könnte, statt sich mit ein paar Handvoll Dublonen zu begnügen. Eins der beiden Schiffe brauchte man ohnehin, um die Ladung nach Texel zu bringen. Die gesamte Crew der „Marijke van Brabant" befand sich in weiser Voraussicht auf der „Swantje", deren Mannschaft rein zahlenmäßig sogar geringfügig unterlegen war. Schoemakers würde das sicherlich berücksichtigen, bevor er sich zu Hirnrissigkeiten verleiten ließ. Und hatte man die „Swantje" in der Gewalt, würde man mit der „Caroline" auch fertig werden. Wijninga blieb vor der Luke stehen, legte die Hände in die nicht vorhandenen Hüften und tat, als genieße er die frische Luft. In Wahrheit ließ er seinen Blick unauffällig über das Deck gleiten. Sein Hauptaugenmerk galt dabei der Armierung der Fleute. An Backbord und an Steuerbord standen jeweils vier Culverinen von schätzungsweise siebzehn oder vierundzwanzig Pfund Geschoßgewicht. Die mächtigen Bronzerohre ruhten auf ihren Holzlafetten hinter geschlossenen Stückpforten. Letztere befanden sich in der unteren Hälfte der Verschanzung. Außerdem gab es vorn und achtern je eine Drehbasse. Die in schwenkbaren Gabellafetten gelagerten Hinterlader waren nach Wijningas Einschätzung mit gehacktem Blei geladen. Ein rascher Blick nach Backbord zeigte ihm, daß die „Caroline" über die gleiche Bewaffnung verfügte wie
46 die „Swantje". Ohnehin schien es sich um Schwesterschiffe zu handeln. Jan Schoemakers, ein hochgewachsener Mann mit rötlichblondem Haar und Vollbart, trat vom Achterdeck her auf den beleibten Kaufmann zu. „Nun, wie fühlen Sie sich jetzt, Mijnheer Wijninga?" Der Feiste drehte sich um und strahlte. „Viel, viel besser!" rief er, indem er die Arme ausbreitete und sie dann gegen den Bauch klatschen ließ. „Es ist wahrhaft als ein Geschenk des Himmels zu werten, daß Sie und Mijnheer Smidt zur Stelle waren, als mein Schiff unterging." „Glück im Unglück nennt man so etwas wohl", entgegnete Schoemakers und blieb vor ihm stehen. „Wir haben übrigens die Vorbereitungen abgeschlossen. Die Bergung kann beginnen. Ich habe insgesamt sechs Freiwillige, die sich als Taucher zur Verfügung stellen. Bei der Wassertemperatur ist das kein reines Vergnügen." ,.Die Männer erhalten eine zusätzliche Belohnung von mir", entschied Wijninga spontan. „Sie müssen das nicht auch noch aus Ihrer Tasche bezahlen, Mijnheer Schoemakers." „Vielen Dank", antwortete der Kapitän lächelnd und verneigte sich. „Wenn Sie wollen, können wir uns jetzt die ersten Bergungsarbeiten ansehen." „Sehr gern", erwiderte Wijninga und folgte dem Kapitän nach mittschiffs. „Ich lege übrigens Wert darauf, möglichst zu Anfang meine Truhe mit den wichtigen Familienund Geschäftsdokumenten gesichert zu wissen." Schoemakers nickte. Bei den Tauchern handelte es sich um sechs stäm-
mige Burschen von der „Swantje", die sich bis auf ihre Hosen entkleidet hatten. Wijninga war geneigt, allein bei ihrem Anblick zu frösteln. Die Kerls gehörten aber zu der Sorte, die auch nicht davor zurückscheuen würde, ein Loch ins Eis zu hauen und dann ins Wasser zu springen. Schoemakers teilte ihnen den besonderen Wunsch des Gasts an Bord mit, und Wijninga erklärte, an welcher Stelle sich die besagte Truhe in seiner Kammer befinden müsse. Auch die vorgesehene Zusatzbelohnung ließ er nicht unerwähnt. Als er die strahlenden Gesichter sah, wußte er, daß zumindest die Bergung reibungslos klappen würde. Wie es sich mit dem weiteren Verlauf verhalten würde, blieb abzuwarten. Die Crew der „Marijke van Brabant" hielt sich noch im Mannschaftslogis der „Swantje" auf, um die nassen Sachen zu trocknen, sich an den Öfen zu wärmen und sich mit Hartbrot und Tee aufzupäppeln. Wim Wijninga beschloß, irgendwann während der Bergung abzuentern und bei seinen Männern nach dem Rechten zu sehen. Das würde er zu einem Zeitpunkt tun, an dem er schon absehen konnte, ob es Schwierigkeiten geben würde oder nicht. Notfalls würde er van Renken und den anderen dann heimlich den Befehl erteilen, die Mannschaft der „Swantje" zu überwältigen und das Feuer auf die „Caroline" zu eröffnen. Unter Umständen konnte aber auch Joop die Aufgabe übernehmen, eine solche Aktion zu leiten. Das hing ganz davon ab, wie er mit Luise fertig wurde. Bereits nach wenigen Minuten, während er gemeinsam mit Schoemakers zusah, wie die sechs Männer be-
47 herzt zu der „Marijke van Brabant" hinuntertauchten, hatte Wim Wijninga Anlaß, vor Entzücken in die Hände zu klatschen. Einer der Männer hob triumphierend die kleine Truhe über die Wasseroberfläche. „Das ist sie!" schrie Wijninga begeistert. „Eine Golddublone extra für dich, mein Freund!"
„Zwei ankernde Fleuten an Steuerbord voraus", meldete Dan O'Flynn seine Beobachtung, die er mit bloßem Auge gemacht hatte, während Hasard und Ben Brighton selbst mit Hilfe der Spektive nur Umrisse erkennen konnten, die sie zunächst für nur ein Schiff gehalten hatten. Don Juan de Alcazar gesellte sich zu ihnen, zog sein Spektiv aus und stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als er die beiden Dreimaster erfaßt hatte. „Deine Augen, Dan", sagte er anerkennend, „sind ein wahres Wunderwerk der Natur. Wie ist so etwas nur möglich?" „Da mußt du den Old Man fragen", entgegnete Dan augenzwinkernd. „Bestimmt hatte er sich bei meiner Kiellegung gerade mit irgendwelchen finsteren Mächten verbündet." Hasard und Ben setzten ihre Kieker ab und blickten ihn entrüstet an. „Etwas mehr Respekt, Mister O'Flynn", sagte der Seewolf grinsend. „Du willst deinem Dad doch wohl nicht unterstellen, daß da irgend etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen wäre?" „Lieber nicht", entgegnete Dan und nickte. „Sonst spricht's sich noch herum, und er erinnerte sich an die gute
alte Zeit, als er noch sein Holzbein abzuschnallen pflegte, um mich damit zu verprügeln." Er feixte und setzte eine furchtsame Miene auf. Don Juan lächelte und verdrehte die Augen. „Du liebe Güte, müssen das rauhe Sitten gewesen sein! Dagegen seid ihr heute ja regelrecht lammfromm geworden." „Wenn wir schlafen", entgegnete Dan. „Vielleicht darf ich die Gentlemen noch einmal auf die beiden Fleuten Steuerbord voraus hinweisen", sagte Ben Brighton. „Du darfst", erklärte der Seewolf großzügig. „Und wie ich dich kenne, wirst du gleich darauf erklären, daß wir uns nur Schwierigkeiten einhandeln, wenn wir kurz nachsehen, mit was für Problemen die Jans da drüben zu tun haben." „Sie liegen vor Anker", entgegnete Ben. „Den Sturm scheinen sie gut überstanden zu haben. Wahrscheinlich handelt es sich nur um eine Art Lagebesprechung." „Irrtum", sagte Dan. „Es ist eine Bergungsaktion. Wenn ich die Gentlemen auf die Mastspitzen hinweisen darf..." Er imitierte den Tonfall des Ersten Offiziers. „Wo?" fragte Ben prompt. „Unmittelbar vor dem Bug des Dreimasters, der uns am nächsten liegt." Gleich darauf hatten sich der Seewolf und die beiden anderen mittels ihrer Spektive davon überzeugt, daß Dans Beobachtung auch diesmal haargenau stimmte. Es gab nichts zu überlegen. „Wir bieten zumindest unsere Hilfe an", entschied Hasard. Damit entsprach er jenen ungeschriebenen Gesetzen, die überall auf
48 den Weltmeeren Geltung hatten. Wo Not am Mann war, wo Hilfe gebraucht wurde, da durfte kein guter Seemann so tun, als ob er von allem nichts mitkriegte - auch nicht auf die Gefahr hin, daß er in eine Falle lief. Und danach sah es hier wahrhaftig nicht aus. Der Seewolf nickte seinem Ersten Offizier zu, und Ben Brighton gab Befehl, Kurs auf die ankernden Fleuten zu nehmen. Die Arwenacks gerieten in Bewetung. Pete Ballie legte Ruder. Er sah so frisch und munter aus, als hätte der Sturm überhaupt nicht stattgefunden. Sie waren noch etwa fünf Kabellängen von den Ankernden entfernt, als die Kapitäne erkannt haben mußten, daß da Unterstützung für sie im Anmarsch war. Doch ihre Reaktion zeigte, daß sie kein bißchen erbaut darüber waren. Die Fleute, die mittlerweile als „Caroline" identifiziert worden war, setzte Segel und ging ankerauf. An Bord der „Swantje" wurden die Stückpforten an Backbord geöffnet. Hasard zögerte noch, Befehl zum Abdrehen zu geben. Vermutlich mußte er erst seine freundschaftlichen Absichten kundtun. Daß er sich in letzterem Punkt irrte, wurde ihm kurze Zeit später klar, als die „Caroline" bis auf eine Distanz von drei Kabellänge aufgekreuzt war. Aus der vorderen Stückpforte an Backbord zuckte ein rotglühender Blitz. Der Seewolf und seine Männer hatten bereits erkannt, daß an Bord der Fleute Gefechtsbereitschaft herrschte. Trotzdem glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen.
Das Geschoß orgelte heran und rauschte fünfzig Yards vor dem Bug der Schebecke ins Wasser. Hasard ließ abfallen. Er konnte die Verständnislosigkeit in den Gesichtern der Arwenacks lesen. Aber mit ein bißchen Einsicht würden sie rasch begreifen, daß es unter den gegebenen Umständen absolut keinen Sinn ergab, sich auf eine unnötige Auseinandersetzung einzulassen. Es war völlig unbegreiflich, warum die Holländer ein so offenkundig zu erwartendes Hilfsangebot ablehnten. Sie mußten einen triftigen Grund dafür haben. Eben diesen Grund gedachte Hasard herauszufinden, ehe er weitere Maßnahmen traf. Daß man einen Warnschuß nicht einfach hinnehmen mußte, stand auf einem anderen Blatt. Während die Schebecke nach Südosten auswich, kehrte die Fleute zu ihrem Liegeplatz zurück. „Wir verziehen uns bis knapp außerhalb der Sichtweite", erklärte der Seewolf und blickte Dan an. „Knapp außerhalb unserer Sichtweite, genauer gesagt." Dan grinste. „Daß sich die Jans so sonderbar verhalten, muß mit dem Wrack zusammenhängen", sagte Ben Brighton. „Vielleicht eine Beute, die sie sich von niemandem wegnehmen lassen wollen", meinte Don Juan stirnrunzelnd. Sie kamen nicht dazu, weitere Überlegungen anzustellen. „Einmaster Steuerbord voraus", meldete Dan O'Flynn.
49 Der Seewolf verzichtete darauf, Ge- vorstellte, mit Handschlag. Der Seefechtsbereitschaft herstellen zu las- wolf nannte seinen eigenen Namen sen. Denn zumindest bei diesem rah- und stellte auch die weiteren Männer getakelten Ewer stand eindeutig fest, auf dem Achterdeck vor. Da sie indaß die Mannschaft keine feindseli- zwischen längsseits vertäut hatten, gen Absichten hegte. Nur insgesamt forderte Hasard auch die übrigen sechs Mann waren an Bord. Der Ru- Holländer auf, sich an Bord der Schedergänger war schlank und dunkel- becke zu begeben. haarig. Nach seinem Äußeren und Obwohl noch kein erklärendes Wort seinem Auftreten zu urteilen, mußte gefallen war, war ihm längst klar, er zugleich der Kapitän sein. daß sie es hier mit Verbündeten zu Alle sechs hatten ihre Waffen abge- tun hatten. Mit einem Handzeichen legt, als sie auf die Schebecke zuhiel- gab Hasard dem Profos zu verstehen, ten. daß eine Extraration Rum genehmigt Hasard ließ die Segel wegnehmen sei. und Anker werfen. Der Seewolf bat Gerrit Beekens geKurz darauf ging der Ewer an meinsam mit Ben Brighton, Dan Backbord längsseits. Auf diese Weise O'Flynn und Don Juan de Alcazar auf konnte der Einmaster von der Posi- das Achterdeck. tion der Fleuten aus nicht gesehen „Sie werden nicht nur auf uns zugewerden. Ohnehin ankerte die Sche- halten haben, um uns einen guten becke nur noch knapp innerhalb der Tag zu wünschen", sagte Hasard, inSichtweite. Taktisch, so überlegte der dem er sich an den Holländer wandte. Seewolf, war das für den Anfang „Allerdings nicht", antwortete Gernicht einmal ungünstig. rit Beekens lächelnd. „Meine Die Männer an Bord des Ewers nah- Freunde und ich haben beobachtet, men das Rahsegel weg. Sturmschä- wie Sie von der Fleute einen Schuß den waren nicht zu erkennen. Offen- vor den Bug erhielten." Er sprach bar hatten sie rechtzeitig Schutz su- hervorragendes Englisch. „Dabei chen können. Die Küste war nahe ge- hatten Sie bestimmt vor, Ihre Hilfe nug. Arwenacks und Holländer be- anzubieten, nicht wahr?" grüßten sich auf geradezu „So ist es", antwortete der Seewolf freundschaftliche Weise - so, als wä- und nickte. ren sie sich schon des öfteren begeg„Es war klar, daß diese Hilfe ungenet. Ein blonder, vollbärtiger Riese legen kam", sagte Beekens. Er deuschien der zweite Mann an Bord des tete mit einer Kopfbewegung nach Ewers zu sein. Norden, wo die ankernden Fleuten Der Dunkelhaarige bat um Erlaub- nur noch schemenhaft zu erkennen nis, an Bord der Schebecke kommen waren. „Das Schiff, das dort gesunzu dürfen. ken ist, haben wir verfolgt. Eigner ist „Erlaubnis erteilt!" rief Carberry ein gewisser Wim Wijninga - nach dröhnend, nachdem er sich mit einem meiner Einschätzung der größte Blick zum Achterdeck vergewissert Schurke, der jemals in Amsterdam hatte. herumgelaufen ist. Daß seine Helfer Hasard begrüßte den schlanken an weiterer Hilfe nicht interessiert Mann, der sich als Gerrit Beekens sind, scheint mir nur logisch zu sein.
50 Wahrscheinlich hat er sie ein bißchen an seinem Reichtum riechen lassen." „Das hört sich nach einer langen Geschichte an", sagte Hasard. „Ich werde so kurz wie möglich berichten", entgegnete Gerrit Beekens. Er begann damit, wie sein Vater von Wijninga in den Tod getrieben worden war. Dann schilderte er, wie Wijningas skrupellose Geschäftsmethoden nach und nach aufgedeckt worden waren und dem Dicken schließlich das Wasser bis zum Hals gestanden hatte, so daß ihm keine andere Möglichkeit mehr geblieben war, als sich aus seiner Heimatstadt abzusetzen. Gerrit hatte Mühe, seine Fassung zu bewahren, als er berichtete, auf welche schlimme Weise die Verfolgung der Familie Wijninga mißglückt war. „Und jetzt", schloß er, „weiß ich nicht einmal, ob Luise überhaupt noch am Leben ist - geschweige denn, was sie sich von diesem Dreckskerl Joop gefallen lassen mußte." Hasards Entscheidung stand längst fest. Er sah die anderen fragend an. Dan O'Flynn, Ben Brighton und Don Juan nickten ohne Zögern. Daß auch der Rest der Arwenacks einverstanden war, ließ sich eindeutig daran ablesen, in welcher trauten Runde sie sich mit den Holländern mittschiffs niedergelassen hatten und die Zusatzration Rum genossen. „Wir helfen Ihnen, Mister Beekens", sagte Hasard. „Allein, mit Ihren fünf Männern, schaffen Sie das sowieso nicht. Außerdem haben wir Grund, uns ein bißchen für die freundliche Begrüßung zu revanchieren. Einverstanden?" „Keine Frage!" rief Gerrit Beekens strahlend. „Ehrlich gesagt, ich hatte zwar auf Unterstützung gehofft, als
ich auf Ihr Schiff zuhielt. Aber ich hätte auch verstanden, wenn Sie abgelehnt hätten." Sie begaben sich ebenfalls nach mittschiffs, um eine Lagebesprechung abzuhalten und ihren Anteil am karibischen Rum nicht verkommen zu lassen. Die Arwenacks hatten mittlerweile von Willem van der Meulen und seinen Gefährten die ganze Wijningageschichte erfahren. Alle wußten, daß es vor allem um Luise Kerkhoff ging, die sich vermutlich in der Gewalt des Hundesohns Joop Wijninga befand vorausgesetzt, sie hatte den Untergang der „Marijke van Brabant" lebend überstanden. Jeder an Bord der Schebecke konnte sich verteufelt gut vorstellen, in was für einer Stimmung sich Gerrit Beekens befand. „Wir haben einen Vorteil", sagte der Seewolf, nachdem sie die Lage erörtert hatten. „Die Fleuten sind an ihre Positionen gebunden. Sie werden das Wrack mit seiner wertvollen Ladung unter keinen Umständen im Stich lassen. Also brauchen wir nicht damit zu rechnen, daß sie die Flucht ergreifen oder sich zu einem Angriff auf uns entschließen." „Andererseits wird es ihnen lästig werden, dauernd Beobachter zu haben", sagte Ben Brighton. „Eben das Gefühl wollen wir ihnen nehmen", entgegnete Hasard lächelnd. Sein Plan wurde kurz vor Einbruch der Dunkelheit in die Tat umgesetzt. Die Schebecke und der Ewer gingen ankerauf und nahmen Kurs nach Südosten. Dort gab es einen kleinen Fischereihafen, wie Gerrit Beekens gesagt hatte. Es würde den Beobachtern auf den Fleuten nur logisch erscheinen, daß man sich erst einmal in
51 einen Hafen zurückzog, um sich in einer behaglichen holländischen Schenke mit Bier und Genever aufzumuntern und nach heil überstandenem Sturm die Wasser- und Proviantvorräte aufzufrischen. Indessen verzogen sich die Schebecke und der Ewer lediglich außer Sichtweite, um dann erneut vor Anker zu gehen und die Dunkelheit abzuwarten. Dan O'Flynn war in der Lage, die Umrisse der ankernden Fleuten noch zu erkennen. Bei denen waren nur die üblichen Bordlaternen gesetzt worden. Die Jans hatten also nicht vor, die Bergungsarbeiten während der Nachtstunden fortzusetzen. Und sie dachten offenbar auch nicht daran, nach dem Rechten zu sehen, um sich zu vergewissern, ob sie weiterhin mit Beobachtern zu rechnen hatten. Die Wahrscheinlichkeit, daß ihr Tun von anderen gesehen wurde, war ohnehin groß. Denn die küstennahen Gewässer waren stark befahren. Und so, wie Wim Wijninga rasche Hilfe durch die beiden Fleuten erhalten hatte, mußten sie nun ihrerseits mit der Möglichkeit rechnen, daß laufend Neugierige aufkreuzen konnten. 7. Eine gute Stunde vor Mitternacht brach der Seewolf gemeinsam mit Gerrit Beekens, Edwin Carberry und Willem van der Meulen auf. Das dunkelgraue Rahsegel des Ewers war in der Nacht praktisch unsichtbar. Sie führten das Beiboot der Schebecke im Schlepp. Hasard hatte darauf bestanden, die Befreiungsaktion mit so wenigen Männern wie möglich durchzuführen. Wenn Luise
Kerkhoff noch lebte, dann geriet ihr Leben nur in größere Gefahr, wenn die Besatzungen der Fleuten rebellisch wurden. Schon nach wenigen Minuten waren die Bordlaternen der beiden ankernden Dreimaster zu sehen. Sie hatten also nicht vor, sich zu verstekken. Zweifellos taten sie es allein deshalb nicht, weil sie sich wie in einer offiziellen Mission fühlten. Wim Wijninga hatte in ihnen den Eindruck des rechtmäßigen Tuns bestärkt. Auf Heimlichkeiten jedweder Art brauchten sie sich also nicht angewiesen zu fühlen. Gleichzeitig konnten sie sich selbst das Gefühl vermitteln, daß sie völlig im Recht waren, wenn sie etwaige Gaffer verscheuchten. „Diesen fetten Wijninga würde ich mir zu gern vorknöpfen", flüsterte Carberry, und trotzdem klang seine Stimme wie eine Eisenraspel, über die jemand mit einem rostigen Nagel schabte. „Dann würde ich ihm die Haut in Streifen von seinem dicken Affenarsch ziehen und sie anschließend zum Trocknen aufhängen. Und seinen sauberen Sohnemann würde ich dabei zusehen lassen und ihm hinterher das Fell versohlen, daß er Leder für Seestiefel daraus schneiden kann." Gerrit Beekens und Willem van der Meulen lachten leise. Auch Willem sprach einwandfreies Englisch. Verständigungsprobleme hatte es von Anfang an nicht gegeben. „Schlag dir das aus dem Kopf, Mister Carberry", sagte der Seewolf mit gedämpfter Stimme. „Ihr drei bleibt als Eingreifreserve zurück. So haben wir es besprochen, und so geschieht es." „Kleine Abweichungen vom Plan
52 müßten doch drin sein", brummte der Profos enttäuscht. „Allerdings." Hasard blies die Atemluft durch die Nase. „Aber nur dann, wenn sie uns aufgezwungen werden. Punktum." In der Dunkelheit zog Carberry die Schultern hoch und ließ sie mit einem Schnaufer wieder sinken, was ausdrücken sollte, daß man den Seewolf so leicht nicht von einem einmal gefaßten Entschluß abbringen konnte. Auch für Gerrit Beekens war es schwer gewesen, Hasards Entscheidung zuzustimmen. Aber Beekens hatte sich sagen lassen müssen, daß er zwar ein brauchbarer Bursche war, aber sicherlich nicht über ausreichende Kampferfahrungen verfügte, um Luise Kerkhoffs Befreiung erfolgreich in die Tat umzusetzen. Hasard hatte ausdrücklich darauf hingewiesen, daß auch er nichts garantieren könne. Aber keiner der Arwenacks hatte widersprochen, als er sein geplantes Vorgehen erläutert hatte. Sie wußten alle: Wenn es einen Mann gab, der es unter den gegebenen Umständen schaffen konnte, Luise Kerkhoff zu retten, dann war es Philip Hasard Killigrew. Willem van der Meulen nahm das Rahsegel weg, als sie sich den ankernden Fleuten auf etwa sieben Kabellängen genähert hatten.
Es war eine kühle Aprilnacht. Der Seewolf pullte lautlos. Jeweils nach vier, fünf Schlägen sah er sich um. An Bord der beiden Fleuten brannten die Hecklaternen und je eine weitere Laterne auf dem Vorschiff. Nach den Silhouetten zu urtei-
len, die Hasard bislang gesehen hatte, war jeweils nur ein Mann als Ankerwache eingesetzt. Undeutlich waren Stimmen zu hören — johlende, ausgelassene Stimmen aus den Unterdecksräumen. Kein Zweifel, Retter und Gerettete feierten gemeinsam den Erfolg. Die Bergungsaktion schien bislang wunschgemäß verlaufen zu sein. Es war ihnen jedoch zu kalt, um das Saufgelage an Deck zu veranstalten. Da zogen sie denn doch die Behaglichkeit des Mannschaftslogis und der übrigen Unterdecksräume vor. Hasard hielt auf die „Swantje" zu. Er vermutete, daß die Wijningas und Luise Kerkhoff an Bord dieses Schiffes waren. Es war die „Caroline" gewesen, die zum Angriff ankerauf gegangen war. Mit Schiffbrüchigen an Bord hätte sie das zweifellos nicht getan. Noch etwa zweihundert Yards vom, Heck der „Swantje" entfernt, stellte Hasard das Pullen endgültig ein. Behutsam, ohne das leiseste Geräusch zu verursachen, legte er beide Riemen auf die Duchten. Langsam und lautlos glitt er auf die Achterducht und nahm einen der Riemen wieder auf, um ihm zum Wriggen zu verwenden. Es war stockfinster. Der Wind wehte nach dem Sturm mit mäßiger Kraft und vorherrschend aus Südwest. Die Wolkendecke war indessen nicht aufgebrochen. Mond und Sterne gewährten dem menschlichen Auge mit ihrem fahlen Licht keine Entlastung. Der Schein der Hecklaterne reichte mit seinen Ausläufern nicht weiter als zehn Yards über die Ruderanlage der Fleute hinaus. Hasard konnte die Trosse des Heckankers nur innerhalb jenes Lichtkrei-
54 ses der Laterne erkennen. Den weiteren Verlauf der Trosse bis auf die Wasseroberfläche mußte er sich denken. Er hielt auf diesen imaginären Punkt zu, von dem er hoffte, daß er auch der Wirklichkeit entsprach. Das Wriggen vollzog sich ohne jedes Geräusch. Es konnte sich nur noch um wenige Yards handeln, die er zurückzulegen hatte. Und er hatte dabei den Vorteil, das Schiffsheck unablässig im Auge behalten zu können. Unvermittelt entstand über der Heckverschanzung Bewegung. Die Silhouette verharrte. Der Mann lehnte sich auf die flache Balustrade, die in Brusthöhe auf der Verschanzung montiert war. Hasard verharrte regungslos. Er hatte es mit der Ankerwache zu tun, kein Zweifel. Er erkannte die Umrisse des Mannes wieder, wenn er ihn zuvor auch nur aus größerer Entfernung gesehen hatte. An Bord der „Swantje" hatte sich also nichts geändert. Minutenlang spähte der Wachtposten nach achtern. Zweifellos war das Laternenlicht kein Vorteil für ihn. Die Helligkeit in seiner unmittelbaren Nähe ließ den Seebereich dahinter nur um so finsterer erscheinen. Endlich wandte sich der Mann ab und verschwand zum Vorschiff hin. Das Stimmengewirr aus den Unterdecksräumen war inzwischen deutlicher zu hören. Die Mannschaften dachten noch nicht daran, sich zur Ruhe zu begeben. Und die Kapitäne ließen ihre Männer offenbar gewähren. Die unverhoffte Nebeneinnahmequelle, die sich hier erschlossen hatten, mußte äußerst stimmungsfördernd sein. Der Seewolf wriggte weiter. Schon nach Sekunden war es so-
weit. Der Bug des Bootes verursachte ein Schaben. Hasard hielt inne. Gleich darauf konnte er die armdicke Trosse mit der Linken packen. Vorsichtig holte er den Riemen mit der Rechten ein. Dann vertäute er die Jolle an der Ankertrosse. Er trug nur das Entermesser am Körper. Den Radschloßdrehling hatte er zwar mitgenommen, aber er ließ ihn im Boot. Wenn er an Bord der „Swantje" in Schwierigkeiten geraten sollte, konnte er es sich ohnehin nicht leisten, zu feuern. Denn dann würde er die gesamte Meute auf dem Hals haben. Er band die Scheide des Entermessers mit einer Hanfschnur an seinem Oberschenkel fest. Dadurch verhinderte er, daß die Blankwaffe verräterische Geräusche verursachte. Ohne zu zögern, packte er die Trosse mit beiden Fäusten und legte die Unterschenkel angewinkelt auf den harten Hanf. Zügig hangelte er aufwärts, mit dem Rücken anfangs noch dicht über der Wasseroberfläche hängend. Er verharrte mehrmals, doch nur für Sekunden, um sich zu vergewissern, daß keine Gefahr drohte. Die Schritte der Wache waren nicht zu hören, zumindest wurden sie vom ausgelassenen Lärmen im Mannschaftslogis übertönt. Hinter den Bleiglasfenstern der achteren Unterdecksräume brannte mattes Licht. Die Trosse führte an die Backbordseite des Schiffshecks, so daß der Seewolf außerhalb des Laternenlichts ein letztes Mal verharren konnte, um einen Blick zu riskieren. In der Kammer, die sich am weitesten achtern befand, hielten sich mehrere Personen auf. Des öfteren hoben sie schwere Kristallgläser, deren rubinroter Inhalt im Lampenlicht fun-
55 kelte. Der Kapitän und seine Gäste Die Tatsache, daß es der „Caroline" begnügten sich natürlich nicht mit or- gelungen war, den fremden Dreimadinärem Bier. Für sie mußte es Rot- ster mit einem einzigen Schuß vor wein von der besten französischen den Bug zu verscheuchen, mußte ihre oder spanischen Sorte sein. Der Selbstsicherheit gestärkt haben. Und Dicke, der da wie eine Riesenkröte in die gemeinsame Feuerkraft der beieinem Sessel thronte, mußte Wij- den Fleuten war ja auch nicht zu verninga sein. Die einzige Bewegung, zu achten. der er sich aufraffen konnte, war es, Hasard ließ seinen Blick über die das Glas an die Wulstlippen zu heben. insgesamt acht Culverinen der Die angrenzende Kammer war leer, „Swantje" gleiten. Auch die Drehbasobwohl auch darin Licht brannte. Zu- sen vorn und achtern konnte er ermindest konnte Hasard aus seinem kennen. Er wußte also, womit Blickwinkel niemanden erblicken. schlimmstenfalls zu rechnen war. Geräuschlos ließ er sich über die Er hangelte ein Stück höher. Die dritte Kammer von achtern Verschanzung gleiten und verharrte war ebenfalls erhellt. Hasard sah ei- in deren Schutz einen Augenblick genen leuchtendblonden Haarschopf, duckt. Der Ankerwächter und der Mann und augenblicklich wußte er, daß es Luise Kerkhoff war. Er zog sich noch mit dem Bierkrug waren in ein Geein paar Inches höher, und dann spräch vertieft. Mehrmals wehte ihr konnte er ihren Oberkörper sehen. lautes Lachen herüber, Hasard schlich auf die offene Luke Die Beschreibung stimmte. Es war zu. Sie war nur drei Schritte entfernt. Luise. Ihre Haltung war merkwürdig an- Er spähte den Niedergang hinunter gespannt. Sie hielt eine Faust in und horchte, ehe er riskierte, abzuenMundhöhe, die Fingerknöchel zwi- tern. Behutsam, Stufe für Stufe, schen die Zähne gepreßt. Es war ein- setzte er die Sohlen seiner Seestiefel deutig, daß sie Angst hatte. Wegen aus butterweichem Leder auf. Auf des Lärms aus dem Mannschaftslogis halber Höhe wandte er sich um, den konnte Hasard nicht ergründen, was Rücken zum Niedergang, um sehen die Ursache für Luises Verhalten zu können, was vor ihm war. Jäh wurde ihm klar, warum Luise war. Doch die Gewißheit, daß sie am Le- Kerkhoff so offenkundige Angst hatte. ben war, beflügelte ihn. Ein Kerl von riesenhafter Statur Er zog sich zur Verschanzung hoch und riskierte einen vorsichtigen stand gebeugt vor einem KammerBlick. Im selben Moment mußte er schott. Er hantierte mit einem Brecheisen und murmelte dabei leise grinsen. Der Ankerwächter stand weit vorn, Flüche. beim Fockmast. Ein zweiter Mann Hasard erstarrte zur Bewegungsloschenkte ihm aus einem großen Krug sigkeit. Bier in eine Muck. Die beiden würden Der Kerl, der nur Joop Wijninga noch eine Weile beschäftigt sein. Und sein konnte, hatte ihn noch nicht bemit der Wachsamkeit schien man es merkt. Ohne Zweifel war er völlig in nicht sonderlich genau zu nehmen. sein verbissenes Tun vertieft.
56 Warum er es heimlich tat, war eindeutig. Er hatte sich in der Kammer nebenan aufgehalten, die jetzt leer war. Dem Kapitän und seinen Eltern gegenüber mußte er behauptet haben, sich zur Ruhe begeben zu wollen. Wahrscheinlich hatten die Wijningas dem Kapitän bezüglich der jungen Frau irgendeine Geschichte aufgetischt. Joop hatte sie vermutlich die ganze Zeit über bewacht. Nun aber schien sie den Spieß umgedreht zu haben. Sie mußte eine Möglichkeit gefunden haben, das Schott ihrer Kammer von innen zu verriegeln. Klar, daß er die Nachtstunden abgewartet hatte, um zu ihr vorzudringen. Langsam, unendlich langsam, nahm der Seewolf eine weitere Stufe abwärts. Er verursachte keinen Laut dabei. Aber der hünenhafte Holländer spürte die Bewegung. Sein Instinkt mußte hellwach ein - verständlich in der angespannten Situation, in der er sich befand. Er wirbelte herum und stieß einen Knurrlaut aus. „Wer da?" zischte er. Deutlich war zu sehen, wie sich seine Haltung anspannte. Er duckte sich und rechnete wahrscheinlich noch mit einem ungebetenen Beobachter, der zur Schiffsführung gehörte. Hasard nutzte die Schonfrist, um sich weiter abwärts zu schieben. Er war jetzt nur noch eine Stufe über den Bodenplanken. In diesem Moment begriff Wijninga, daß der hochgewachsene Mann mit den breiten Schultern und den schmalen Hüften nicht zur Besatzung der „Swantje" gehörte. Das schwache Licht, das durch die Luke
vom Hauptdeck hereinfiel, reichte aus, um die Körperkonturen des Seewolfs erkennen zu lassen. „Wer bist du?" stieß Wijninga gepreßt hervor. Offenbar wollte er noch immer verhindern, daß er entdeckt wurde. Seine Gier nach der jungen Frau war stärker als alles andere. Deshalb glaubte er, sich den Unbekannten vom Hals schaffen zu können, um dann damit fortzufahren, sich Zugang zu Luises Kammer zu verschaffen. Hasard antwortete nicht. Er brachte die letzte Stufe des Niedergangs hinter sich. Wijninga packte das Brecheisen mit der Linken, mit der Rechten zog er blitzartig die Pistole. „Keinen Schritt weiter!" sagte er leise und warnend auf holländisch. „Du wirst mir sagen, wer du bist, oder ich brenne dir eine Kugel auf den Pelz!" „Das wirst du hübsch bleiben lassen", entgegnete der Seewolf auf englisch. „Oder willst du die ganze Mannschaft alarmieren?" Joop Wijninga war zusammengezuckt. Hasard wußte schlagartig, daß Luise für den Riesenkerl keine Rolle mehr spielte. Wijninga hatte begriffen, was es bedeutete, daß ein Engländer vor ihm stand. Gefahr drohte den beiden Fleuten - und damit dem eigenen Wohlergehen. „Wer bist du?" wiederholte Wijninga, schon einen Ton schärfer. Er hob die Pistole höher, spannte den Hahn. „Gerrit Beekens schickt mich", erwiderte Hasard leise. Noch während er die letzten Silben aussprach, zog er das Entermesser.
57 Seine Bewegung war so schnell, daß sie sich mit dem Auge nicht verfolgen ließ. Joop Wijningas Reaktion blieb nicht aus. Er riß den Mund auf, um Alarm zu brüllen. Der jähe Ruck, der durch seinen Körper lief, verriet, daß er im nächsten Sekundenbruchteil abdrücken würde. Hasard blieb keine andere Wahl. Er schleuderte das Entermesser. Der blanke Stahl flirrte durch das Halbdunkel. Ein harter, dumpfer Laut entstand. Joop Wijninga brachte keinen Ton mehr über die Lippen. Die Klinge tötete ihn so plötzlich, daß er nicht einmal mehr imstande war, den Abzug der Pistole durchzuziehen. Hasard war bei ihm, ehe seine Muskeln erschlafften. Rasch nahm er ihm Pistole und Brecheisen ab, packte den Zusammensinkenden und ließ ihn lautlos zu Boden gleiten. Er legte das Eisen und die Faustfeuerwaffe neben den Toten. Dann nahm er das Entermesser wieder an sich und verstaute es in der Scheide. Er richtete sich auf. Luise mußte zumindest mitgekriegt haben, daß sich etwas abgespielt hatte, was der blonde Hüne nicht vorhergesehen hatte. Mit den Lippen nahe am Holz flüsterte der Seewolf: „Luise! Luise Kerkhoff! Können Sie mich hören? Ich bin hier, um Sie zu befreien! Haben Sie keine Angst! Gerrit Beekens und ich sind Verbündete!" Den Namen ihres Verlobten zu hören, mußte letzte Zweifel beseitigt haben. Ein unterdrückter Laut der Freude war aus der Kammer zu vernehmen. Im nächsten Moment entstand ein kurzes Schaben, als ein Riegel weggehoben wurde.
Das Schott schwang auf. Hasard sah Luises blasses, erstauntes Gesicht nahe vor sich. Ihr Blick fiel auf die reglose Gestalt zu seinen Füßen. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. „Wir dürfen keine Zeit verlieren", flüsterte er. „Kommen Sie. Und bewegen Sie sich so leise wie möglich." „Er sah, daß sie erschauerte, als sie sich an dem Toten vorbeischob. Dann aber folgte sie ihm beherzt, von der Hoffnung gestärkt, den Mann, den sie liebte, nun sehr bald wiederzusehen. Hasard enterte vor ihr auf und schob sich langsam über den Lukenrand hinaus. Er spähte zum Vorschiff. Der Ankerwächter und der andere standen noch immer am selben Fleck. Hasard zögerte nicht mehr, gemeinsam mit Luise zur Verschanzung zu huschen. Er zeigte ihr die Ankertrosse. Luise schwang sich ohne Umschweife über das Schanzkleid, erreichte die Trosse und hangelte in die Dunkelheit hinaus. Der Seewolf war gleich darauf bei ihr. Unbehelligt erreichten sie die Jolle. Hasard löste die Leine und begann, mit vorsichtigen Riemenschlägen zu pullen. Das Boot nahm Fahrt auf. Er erklärte Luise, wer er war und wie es zu der Begegnung mit Gerrit Beekens gekommen war. Dann erfuhr er, daß die Wijningas schlecht die Kammern eines fremden Schiffs hatten durchsuchen können, ehe sie die angeblich geistesgestörte Nichte des dicken Kaufmanns unterbrachten und von Joop bewachen ließen. Luise hatte den Riegelbalken in der Kammer gefunden und ihn sofort vorgelegt. Und Joop hatte nicht lautstark Unterstützung beim Aufbre-
58 chen verlangen können. Denn welchen Grund sollte er schon haben, zu einer Cousine vorzudringen, die wirr im Kopf war? Minuten später half der Seewolf der jungen Frau an Bord des Ewers. Mit einem Schluchzen sank sie in Gerrit Beekens' Arme. Hasard, Carberry und Willem van der Meulen übernahmen es, den Ewer in Fahrt zu bringen. Sie kreuzten gegen den Südwest, mit Generalkurs auf die vor Anker liegende Schebecke. Im Bugraum des Ewers kauerten Gerrit und Luise eng aneinandergeschmiegt. 8. Es klopfte - nicht einmal besonders forsch. Dennoch zuckte Wim Wijninga zusammen. Seine Frau, die vor dem Spiegelschapp saß und ihren Haarknoten kontrollierte, zog spöttisch die Mundwinkel nach unten. „Schreckhaft geworden?" Nur mit Hemd und Hose bekleidet, auf der Koje hockend, sah Wijninga aus wie ein riesiger Haufen Elend. „Und du?" rief er vorwurfsvoll weinerlich. „Ein Gefühl wie Trauer kennst du wohl überhaupt nicht!" Henrietta stand auf, um das Schott zu öffnen. „Tu nicht so, als ob dir Joop besonders viel bedeutet hätte. Er war nicht zum Kaufmann geboren, eher für das Handwerkliche. Und ein Schlitzohr wie du war er schon gar nicht. Was meine Trauer betrifft, Wim Wijninga, so spielt sie sich hier drinnen ab." Sie klopfte sich mit der flachen Hand auf die magere Brust. Der Dicke starrte sie an, wie sie das Schott öffnete.
„Ich bitte um Verzeihung", sagte Kapitän Schoemakers, ohne einzutreten. „Ich muß Sie beide bitten, bis auf weiteres die Kammer nicht zu verlassen." „Warum denn das?" entgegnete Henrietta schneidend und mit strenger Miene. „Es scheint Unannehmlichkeiten zu geben", sagte Schoemakers. „Aber Smidt und ich Werden Sie so weit wie möglich davor bewahren. Als Schiffbrüchige haben Sie schließlich genug hinter sich gebracht." Henrietta Wijninga dachte daran, daß es wohl eher die Aussicht auf den angekündigten Lohn war, die den Kapitän zu derartigem Mitgefühl veranlaßte. Sie grinste. „Was für Unannehmlichkeiten?" fragte sie. „Reden Sie nicht um den Brei herum, Mijnheer Schoemakers." „Es handelt sich um den Dreimaster, den Hendrik Smidt und seine Männer gestern verscheucht haben. Jetzt ist er wieder da. Zusammen mit einem rahgetakelten Ewer. Was das zu bedeuten hat, wissen wir noch nicht. Ich bitte Sie aber vorsorglich, unter Deck zu bleiben, solange wir nicht wissen, ob es zu einer Auseinandersetzung kommt oder nicht." „Sie können sich darauf verlassen!" rief Wim Wijninga von der Koje her. „Wir haben kein Interesse, uns unnötigen Verdruß einzubrokken." „Mit anderen Worten, du hast die Hosen voll", sagte Henrietta, indem sie sich halb zu ihm umdrehte. Jan Schoemakers schluckte trokken. „Eine Frage noch", sagte er, um die Demütigung des Kaufmanns in seiner Gegenwart zu überspielen. „Darf ich notfalls auf Ihre Männer zurückgreifen, Mijnheer Wijninga?
59 Ich würde allerdings verstehen, wenn Sie angesichts des furchtbaren Geschehens der letzten Nacht ablehnten ..." „Unsinn", sagte Henrietta. „Die Männer stehen selbstverständlich zu Ihrer Verfügung." Der Dicke konnte auf den fragenden und etwas irritierten Blick des Kapitäns nur müde nicken. Schoemakers deutete eine Verbeugung an und wandte sich ab. Henrietta Wijninga schloß das Schott und lehnte sich mit dem Rükken dagegen. „Gerrit wird getötet, die kleine Kerkhoff befreit. Und dann taucht wieder dieser seltsame Dreimaster auf. Reimst du dir da etwas zusammen, verehrter Gatte?" Er faltete die fleischigen Hände über dem Bauch und setzte eine verzweifelte Miene auf. „Natürlich", ächzte er. „Es muß mit dem Bastard Beekens zusammenhängen." Rauhe Befehlsstimmen waren zu hören - allerdings aus einiger Entfernung. Anzunehmen war, daß die „Caroline" erneut die Aufgabe übernahm, diese aufdringlichen Kerle mit dem Dreimaster zu verscheuchen. Henrietta trat an das Heckfenster der auf der Steuerbordseite befindlichen Kammer. Sie stieß einen überraschten Zischlaut aus. „Sieh mal einer an!" rief sie halblaut. „Komm her, sieh dir das an!" „Muß das sein?" ächzte ihr Ehemann. „Ich will nicht unbedingt sehen, was sich da . . . " „Komm sofort her!" fauchte sie. Seufzend wuchtete er seine Leibesfülle hoch und schlurfte zum Fenster. Der Dreimaster und der Ewer waren nicht zu übersehen. Beide segelten über Steuerbordbug, auf Nord-
westkurs liegend, und sie waren nur noch fünf bis sechs Kabellängen von der „Swantje" entfernt. Der Ewer folgte dem Dreimaster in dessen Kiellinie. „Der Bursche im Heck des Ewers ist Gerrit Beekens", sagte Wim Wijninga, denn er hatte auf den ersten Blick gesehen, was seine bessere Hälfte so in Aufregung versetzte. „Damit dürfte wohl alles klar sein", sagte Henrietta grimmig. „Er hat sich Verbündete verschafft, und jetzt meint er, daß er uns an den Kragen kann." „Da begeht er einen großen Fehler", nuschelte der Dicke. „Smidt wird ihnen mit der ,Caroline' die Leviten lesen." Er war jetzt froh, ans Fenster getreten zu sein, denn das Schauspiel, das sich sicherlich vor seinen Augen abspielen würde, versprach einen wohligen Nervenkitzel in der frühen Morgenstunde. Die „Caroline" rauschte von Nordwesten her ins Blickfeld des Ehepaars, auf einem langen Kreuzschlag nach Südosten liegend. Henrietta und Wim Wijninga hielten den Atem an. Fraglos hatte dieser merkwürdige fremde Dreimaster die bessere Position vor dem Wind. Aber die Fleute unter dem Kommando von Hendrik Smidt war ein stattliches Schiff, die Mannschaft beherzt und die Armierung ausreichend, um einen Segler von der Größenordnung jenes Dreimasters in Grund und Boden zu schießen. Ein dumpfer Schlag, gefolgt von rollendem Donner, ließ die Wijningas zusammenzucken. Erst an der gischtenden Wassersäule, die vor dem Bug des Dreimasters aufstieg, erkannten sie, daß
60 Kapitän Smidt den Fremden abermals einen Warnschuß vor die Nase gesetzt hatte. Nun würden sie begreifen, daß sie sich zuviel zugetraut hatten. Und deshalb würden sie schleunigst umkehren und das Weite suchen. Bestenfalls brauchten sie noch eine zweite Aufforderung. Ähnlich schien auch Hendrik Smidt zu denken. Denn als die Schebecke auf den Warnschuß nicht reagierte, ließ er eine zweite Culverine abfeuern. Und der Stückmeister zeigte, daß er sein Handwerk verstand. Höchstens zwanzig, dreißig Yards vom Bug des Dreimasters entfernt stieg diesmal die Wassersäule auf. Und dann geschah das Unerwartete. Der fremde Kapitän dachte offenbar nicht im Traum daran, diesmal auch nur in irgendeiner Weise auf eine Warnung zu reagieren. Die Schebecke hielt weiter auf die Fleute zu. Und der Ewer folgte wie ein bissiger kleiner Hund, wild entschlossen, im geeigneten Moment zuzupacken. Das Weitere spielte sich so rasch ab, daß Henrietta und Wim Wijninga vor fassungslosem Entsetzen den Mund nicht wieder zukriegten. Unvermittelt, noch in großer Entfernung, zeigte die Schebecke der Fleute die Steuerbordseite. Sechs grellrote Mündungsblitze zuckten auf, bevor sich Kapitän Smidt und seine Crew offenbar von ihrer Verblüffung erholt hatten. Wim Wijninga und seine Frau schlossen gequält die Augen, als sie die schmetternden Einschläge der Geschosse hörten. Als sie die Augen wieder öffneten, hatte die Schebecke gewendet. Der „Caroline" fehlte der Besanmast, und in der Gegend der Ruder-
anlage waren weißfaserige Splitter zu sehen. Die Segel killten. Bevor die Wijningas den Gedanken verkraften konnten, daß die Fleute auf Anhieb manövrierunfähig geschossen worden war, donnerte bereits die Backbordbreitseite der Schebecke. Es krachte und splitterte. Die „Caroline" erzitterte unter den urgewaltigen Schlägen der Siebzehnpfündergeschosse. Schreie gellten. Verzweifelt feuerten die Männer an Bord noch ihre Musketen ab. Die Fleute senkte ihren Bug. Wie groß die Schäden waren, vermochten Henrietta und Wim Wijninga nicht zu erkennen. Aber sie zweifelten nicht mehr daran, daß die „Caroline" vernichtende Treffer unter der Wasserlinie erhalten hatte. Von Bord der Schebecke, die mittlerweile erneut wendete, stiegen feurige Spuren auf, gleich darauf senkten sich Brandpfeile auf das Deck der Fleute. Smidt und die Überlebenden waren nicht mehr in der Lage, die entstehenden Brandherde zu löschen. Befehle ertönten auch an Bord der „Swantje": Kapitän Schoemakers war gezwungen, nun ebenfalls ankerauf zu gehen. Er würde sich nicht tatenlos zu den Fischen schicken lassen. Mit starrem Blick erlebten die Wijningas den Untergang der „Caroline". Neben den Brandpfeilen gab es andere Pfeile, die kleine Detonationen verursachten. Der fremde Dreimaster feuerte eine erneute Breitseite ab. Es reichte. Feuer drang durch eins der klaffenden Löcher in den Decksplanken bis zur Pulverkammer vor. Ein fast weißer Blitz zuckte aus dem Vordeck der Fleute hoch. Der ur-
61 gewaltige Donnerschlag, der im selben Sekundenbruchteil folgte, erreichte selbst die „Swantje" und versetzte ihr einen Hieb wie von einer unsichtbaren Riesenfaust. Die Wrackteile der „Caroline" flogen nach allen Seiten davon. Einige regneten polternd auch auf die Decksplanken der „Swantje" nieder. Wim Wijninga spürte, wie seine Knie weich wurden. Das Grauen packte ihn. Und die Schebecke näherte sich langsam, scheinbar gemächlich. Die „Swantje" konnte in der kurzen Zeit nach dem Ankeraufgehen unmöglich genügend Fahrt entwickeln, um den Verfolgern zu entrinnen oder sich zu einer wirksamen Gegenwehr in Position zu bringen. Der Ewer löste sich aus der Kiellinie des Dreimasters und rauschte nach Nordosten davon. Im Bugraum des Ewers war jetzt eine Drehbasse zu sehen. Hinter dem schwenkbaren Geschütz stand breitbeinig ein riesenhafter blonder Mann mit Vollbart. Die Absicht war klar. Sie würden die „Swantje" in die Zange nehmen. Wim Wijninga stieß einen Laut aus, der sich wie das leise, verzweifelte Wehklagen eines kleinen Kindes anhörte. Henrietta warf ihm einen verächtlichen Seitenblick zu. Aber die wachsende Angst schnürte auch ihr die Kehle zusammen. Sie fühlte sich nicht mehr imstande, ihren Mann mit Worten zu maßregeln.
Platt vor dem Wind liegend, hielt der Seewolf auf die Fleute zu. Die Männer an Bord waren bereit.
Doch sie würden nur kämpfen, wenn es sein mußte. Eine Kapitulation entgegenzunehmen, bedeutete für sie keine Schande, denn sie hatten niemals die Wesenszüge blutrünstiger Piraten angenommen. Ritterlichkeit gegenüber einem Gegner war für sie eins der obersten Gebote. Die „Swantje" drehte unvermittelt in den Wind, weniger als vier Kabellängen von der Schebecke entfernt. Die Stückpforten der Fleute waren geöffnet. Bevor Al Conroy den vereinbarten Schuß vor den Bug abfeuern konnte, blitzten die vier Culverinen der „Swantje" auf. „Steuerbordgeschütze - Feuer!" brüllte der Seewolf, noch bevor die heranorgelnden Geschosse zu hören waren. Die Geschützmannschaften senkten die Luntenstöcke. Das Zündkraut zischte und puffte in den Zündkanälen der Bronzerohre. Nur für einen Moment war noch der Ewer zu sehen, wie er von Osten
62 her mit Todesverachtung auf die „Swantje" zustieß. Musketenfeuer schlug Gerrit Beekens und seinen Männern prasselnd entgegen. Luise Kerkhoff befand sich in Sicherheit in einer Unterdeckskammer der Schebecke. Jene Arwenacks, die nicht an den Geschützen waren, lagen längst in Deckung, als die Breitseite der Schebecke losbrüllte wie ein urwelthaftes Ungeheuer. Fetter schwarzgrauer Pulverrauch wölkte hoch, und das Schiff krängte unter der Wucht des Rückstoßes hart nach Backbord. Die Geschützlafetten rumpelten und wurden von den Brooktauen aufgefangen. Berstende Schläge gingen den Männern durch Mark und Bein. Zwei Geschosse rasten im Augenblick des Krängens durch die Verschanzung, und Holzsplitter wirbelten in den Pulverrauch. Die beiden anderen Geschosse zischten knapp über die Verschanzung weg. Der Seewolf gab Befehl zum Anluven. Pete Ballie, der als Gefechtsrudergänger schon die schlimmste Hölle aus Feuer und Eisen erlebt hatte, legte mit stoischer Ruhe Ruder. Von der Fleute her waren die unverwechselbaren Schmettergeräusche der Einschläge zu hören. Die Männer an Bord der Schebecke sprangen auf und brüllten den alten Kampfruf aus Cornwall. „Ar - we - nack! Ar - we - nack!" In den Hall des Kampfrufes, der seinerseits wie Donner über die Wasseroberfläche rollte, klang das helle Krachen einer Drehbasse. Wieder folgte Splittern von Holz. Im verfliegenden Pulverrauch war zu sehen, wie sich das Ruderblatt der
„Swantje" in seiner Längsachse neigte und in merkwürdig verkanteter Position hängenblieb. Die Schebecke drehte bei. Hasard wollte den Holländern die Möglichkeit der Kapitulation nicht nehmen. Aber im nächsten Moment zeigte sich, daß Al Conroys Präzisionsarbeit an den Geschützen unabänderliche Folgen hatten. Mindestens drei Treffer lagen im Vorschiff der „Swantje" haargenau in der Wasserlinie. Die Manövrierunfähigkeit wurde bedeutungslos, als die Fleute den Bug senkte. Rasch stieg das Heck in die Höhe. Nur eine halbe Seemeile seewärts vom Wrack der „Marijke van Brabant" sank die „Swantje" in Sekundenschnelle. Die Männer, die sich an Deck aufhielten, hatten das Beiboot noch aus den Zurrings lösen können. Und nur ihnen gelang die Rettung. Jene, die unter Deck gewesen waren, wurden in die Tiefe gerissen.
Die Männer im Beiboot der „Swantje" harrten noch lange an der Untergangsstelle aus, um nach etwaigen weiteren Überlebenden Ausschau zu halten. Hasard ließ die Segel bergen, Anker ausbringen und die Jolle fieren, um die Schiffbrüchigen zu unterstützen. Währenddessen ging der Ewer längsseits, und Gerrit Beekens und seine Freunde begaben sich ein letztes Mal an Bord der Schebecke. Luise Kerkhoff war aus der Unterdeckskammer aufgeentert und warf sich voller Freude in Gerrits Arme, als sie ihn unbeschadet an Bord der Schebecke erblickte. Dann gingen sie
63 beide auf den Seewolf zu, um sich zu bedanken. Hasard wehrte lächelnd ab. „Meine Gefährten und ich sind alle so verdammt empfindlich, wenn irgendwo Unrecht geschieht", sagte er. „Und dann ist es der schönste Lohn für uns, wenn wir das Unrecht beseitigt haben." Als feststand, daß die Wijningas den nassen Tod gefunden hatten, ließen die Arwenacks das knappe Dutzend Überlebende ziehen. Bis zur Küste war es nicht weit. Sie würden es mit der Jolle noch bei Tageslicht schaffen. Hasard deutete auf die Mastspitzen, die die Untergangs stelle der „Marijke van Brabant" kennzeichne-
ten. „Ich nehme an, was sich noch in den Laderäumen befindet, gehört Ihnen, Gerrit." Der schlanke junge Mann schüttelte bedächtig den Kopf. „Vielleicht ein Teil davon - soviel, wie notwendig ist, um den Schaden auszugleichen, den er der Firma meines Vaters zugefügt hat. Aber darüber werden die zuständigen Behörden in Amsterdam entscheiden. Ich werde den Fall sofort melden, wenn wir zu Hause sind." Sie blieben noch zu einer gemeinsamen Morgenmahlzeit an Bord der Schebecke. Der Kutscher verzichtete freiwillig darauf, seine Hafermehlvorräte anzugreifen. Statt dessen gab es gebratenen Schinkenspeck von der
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zartesten Sorte und dazu knuspriges, frischgebackenes Brot. Nach dem Abschied von den aufrechten Holländern gingen die Arwenacks auf nordöstlichen Kurs.
Irgendwo dort, jenseits dieses rauhen Meeres, würden sie vielleicht auf Thorfin Njal stoßen, der ihnen berichten konnte, wie es in der Karibik aussah...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 615
Im eiskalten Sturm von Sean Beaufort Die rasend schnelle Fahrt der Schebecke mit achterlichem Wind war ebenso gefährlich wie der Versuch, hart am Wind gegen den Sturm anzuknüppeln. Für einen Augenblick stellte sich trügerische Ruhe ein. Der lange Schiffsrumpf raste mit der gleichen scheinbaren Geschwindigkeit wie die Welle dahin, in der sich die Schebecke befand. Die Segel waren so prall, als wären sie aus einem Stück gefroren. Der heulende Sturm warf fast ohne Pause eiskaltes Wasser und Gischt in die Rücken der Männer. Die Wellen, schwarz und von weißen Schaumkämmen gekrönt, hoben sich hinter dem zertrümmerten Heck drohend in die Höhe. An Backbord schien - undeutlich und nur ab und zu im grellen Sonnenlicht zu sehen - die Landschaft der Küste vorbeizujagen. Und dann brach eine Riesenwelle über das Heck herein...