Höllenzeit
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 150 von Jason Dark, erschienen am 28.09.1993, Titelbild: Oliviero Berni
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Höllenzeit
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 150 von Jason Dark, erschienen am 28.09.1993, Titelbild: Oliviero Berni
Sie existierten seit Anbeginn der Zeiten und sie hatten sich unter der Knute ihres Führers Luzifer zu einer gefährlichen Macht entwickelt. Es gab einen Namen für sie: Kreaturen der Finsternis! Ihre Ziele: Das Ende der Menschheit! Die absolute Herrschaft des Bösen! Sie hatten überall auf der Welt ihre Zeichen gesetzt, und diese waren nicht übersehen worden. Weder von der weißen Macht, dem Geheimdienst des Vatikans, noch von mir. Deshalb schlossen wir einen Pakt, um das Ziel der Kreaturen, die Höllenzeit, zu stoppen...
Der Wind heulte wie ein schwerverletztes Tier, und der Regen war in Schnee übergegangen. In dicken, matschigen Flocken fiel er aus den tiefhängenden Wolken, um das Land mit seinem weißen Leichentuch zu bedecken. Die einsame Gestalt beugte sich tief in den Schatten der Tür, um wenigstens vor den schlimmsten Böen geschützt zu sein. Dennoch zerrte der Wind an der Mönchskutte, er blies durch den Stoff und fuhr mit seinen eisigen Fingern über die Haut. Father Ignatius drehte sich um, als er den Motor hörte. Nur ein schwaches Geräusch, das wie zufällig an seine Ohren drang, dann wendete der Fahrer den Wagen, fuhr einen Bogen und lenkte das Auto auf den Weg zurück, den sie gekommen waren. Der Mönch sah noch das Leuchten der Rücklichter, und ihm kam eine ungewöhnliche Assoziation in den Sinn. Die roten Heckleuchten verglich er mit seinem Leben, das bisher immer normal gestrahlt hatte, von nun an aber in anderen Bahnen verlaufen würde, weil der Tunnel einer ungewissen Zukunft es schluckte wie die Finsternis des Abends die Rücklichter des abfahrenden Autos. Er war allein. Nur das Heulen des Windes umgab ihn. Der Sturm war plötzlich über das Land gekommen, ein Vorbote des Wetterumschwungs, eine der letzten Anstrengungen eines Winters, der nur zu ungern weichen wollte. Das Eingangstor des Klosters lag in einer Nische. In sie hatte sich Father Ignatius tief hineingedrückt, und weil es so finster war und er wegen des Windes kein Streichholz anreißen konnte, suchte er mit seiner Handfläche nach der Klingel und drückte sie. Der Einsame glaubte, tief im Innern des Klosters eine Glocke zu hören, vielleicht war auch nur der Wunsch der Vater des Gedankens. Er hoffte nur, so bald wie möglich von dieser knochenklappernden Kälte befreit zu werden. Noch tat sich nichts, und der Besucher ärgerte sich. Seine Kutte war am Rücken feucht geworden. Regen und Schnee hatten auch die Haut in seinem Gesicht genäßt. Er wischte mit den Fingern darüber hinweg, dann mit dem Ärmel der Kutte, der die Feuchtigkeit aufsaugte. Sein Gefühl bestand aus einer Mischung aus Spannung und Furcht. Spannung deshalb, weil ihn eine neue, gewaltige Aufgabe erwartete, und Furcht, weil er nicht wußte, ob er dieser Aufgabe gewachsen war. Der Ruf war von >ganz oben< gekommen. Da der Father ein gehorsamer Diener seiner Kirche war, hatte er ihm nicht widerstehen können. Er hatte deshalb seinen alten Freunden und Brüdern goodbye gesagt, aber auch seinem Londoner Freund John Sinclair Bescheid gegeben und ihm noch ein großes Paket mit geweihten Silberkugeln geschickt, denn Father Ignatius war es, der die Kugeln herstellte. Es konnte durchaus sein, daß er in Zukunft häufiger mit dem Geisterjäger zusammentraf, denn die neue Aufgabe sollte sich nicht allein auf die Theorie beschränken.
Noch hörte er nichts. Bis auf ein leises Kratzen in Augenhöhe. Als er zwinkernd hinschaute und dabei Wasser aus den Augen rieb, sah er einen Teil eines Gesichts, das ihn durch die Öffnung her anstarrte. Zwei Augen waren hinter einer Nickelbrille zu sehen, doch der Mund war nicht auszumachen, und so hatte Ignatius den Eindruck, als würde die Stimme aus einer großen Tiefe erschallen, die echohaft laut an seine Ohren drang. »Sie sind Father Ignatius?« »Ja, Ehrwürdige Schwester.« Er mußte sich ein Lächeln verkneifen, als er an die Stimme dachte, denn es war kaum zu fassen, daß sie einer Frau gehörte. »Einen Moment bitte.« Etwas bewegte sich knarrend in Schloßhöhe. Ein Schlüssel mußte zweimal gedreht werden. Dann bewegte sich die Tür, und das Knarren kam Ignatius beinahe so laut vor wie das Heulen des Windes. Kaum war die Tür weit genug aufgezogen, als der Mönch rasch die Schwelle überschritt, sich dabei noch duckte, als könnte er den mit Schnee vermischten Windböen entwischen. »Ein Schweinewetter«, klagte die Reibeisenstimme. Hastig wurde die Tür hinter ihm zugedrückt. Father Ignatius war stehengeblieben. Er schüttelte sich wie ein Hund, der aus dem Wasser gekommen war. Dann klopfte er seine Kutte ab, aber die Feuchtigkeit blieb in ihr, und sie hing auch weiterhin wie ein nasser Lappen an ihm. Die Halle des Nonnenklosters war sehr spartanisch eingerichtet. Ein langer Tisch, nur wenige Stühle, zwei Lampen in Eisengestellen hingen von der Decke. Der Steinfußboden schimmerte Schwarz bis Rot, und einige Türen, die zu den anderen Räumen und Gängen des Klosters hin abzweigten, unter anderem auch zum Büro der Äbtissin. Die Nonne, die ihm geöffnet hatte, strich über ihre dunkle Tracht. Die Frau hatte ein rundes Gesicht, trug eine Nickelbrille und verzog den kleinen Mund zu einem Lächeln. »Ein schlechtes Wetter haben Sie mitgebracht, Bruder.« »Leider. Man kann es sich nicht aussuchen. Der liebe Gott hat es heute nicht so gut mit mir gemeint.« Beinahe erschreckt schaute ihn die Nonne an. Sie sah einen Mann vor sich, der irgendwie alterslos wirkte, obwohl er die Sechzig schon erreicht haben mußte. »Sie sollten so etwas nicht sagen, Bruder. Der Herrgott meint es immer gut mit den Menschen, auch wenn er ihnen oft Prüfungen auferlegt.« Ignatius dachte an seine Vergangenheit und auch an einige Erlebnisse, die sie geprägt hatten. »Dann gehöre ich wohl zu den Menschen, die besonders große Prüfungen erleiden mußten.«
»Der eine mehr, der andere weniger.« Die Nonne deutete auf den schlichten Koffer, den Ignatius mitgebracht hatte. »Sind dort Ihre Sachen verstaut?« »So ist es.« »Wenn noch etwas gewaschen oder gereinigt werden soll, sagen Sie es uns bitte.« »Das ist sehr nett, Schwester, aber nicht nötig. Ich komme schon zurecht.« Sie nickte, wirkte dabei etwas verlegen und meinte: »Dann wäre es Ihnen recht, wenn wir jetzt die Ehrwürdige Mutter Agnes besuchen. Sie wartet bereits auf uns.« »Das würde mich freuen.« »Den Koffer können Sie stehenlassen. Ich werde ihn in ihr Zimmer bringen.« »Danke.« Die Schwester ging vor, und Father Ignatius folgte ihr mit ebenso gemessenen Schritten. Wenn er ehrlich war, entsprach dieses Kloster nicht seinem Geschmack. Für ihn war es tot, kein Leben mehr, auch wenn die Nonnen hier arbeiteten und beteten. Einen Vergleich zum Kloster St. Patrick, aus dem er stammte, hielt es auf keinen Fall aus. Dort, in den schottischen Bergen, hatten sich die Mönche ein Refugium errichtet, das wie eine Trutzburg gegen die Mächte des Bösen stand, die es trotz zahlreicher Angriffe nicht geschafft hatten, diese Festung zu stürmen. Selbst die Meute der Horror-Reiter nicht. Father Ignatius hatte im Kloster über alle Freiheiten verfügt, und er war so etwas wie der Mann für alle Fälle gewesen, wozu auch eine Verbindung zum Geisterjäger John Sinclair zählte. Mit ihm hatte er einige Male gegen die Mächte der Finsternis gekämpft, und so etwas hatte sich eben auch bis Rom herumgesprochen. Aus dem Vatikan hatte ihn der Ruf erreicht, und der Father hatte nicht ablehnen können, obwohl es ihm sehr leid getan hatte, das Kloster verlassen zu müssen, das für ihn zu einer Heimat geworden war. Was ihn erwartete, wußte er nicht, aber sein Abt hatte von gewaltigen Aufgaben gesprochen, ohne allerdings auf Einzelheiten einzugehen. Ihn wunderte nur, daß diese Aufgaben gerade in einem Nonnenkloster ihren Anfang nehmen sollten. Nicht daß etwas nicht stimmte, aber er hatte das Gefühl, mit einem Geheimnis vertraut gemacht zu werden, deshalb auch dieser nächtliche Besuch. Sie waren quer durch die Halle gegangen und vor einer dunkel gestrichenen Tür stehengeblieben. Auf dem Holz zeichnete sich kein Schriftzug ab, was auch nicht nötig war, denn jeder wußte, wer sich hinter der Tür aufhielt.
Die Nonne blieb stehen, sie atmete tief durch und konzentrierte sich, bevor sie klopfte. Eine leise Stimme sprach das »Come in…« Die Nonne öffnete. Sie drückte ihren Arm nach hinten und bedeutete dem Mönch, für einen Moment zurückzubleiben. Dann ging sie mit leisen Schritten vor. Etwas verärgert blieb Ignatius stehen. Er ließ die Tür nicht ganz zufallen, sondern stoppte sie mit dem Fuß, damit er noch in das Zimmer schauen konnte. Was ihm auffiel, war ein dunkler Vorhang, der sich quer durch den Raum spannte und aussah wie eine düstere Wand, die Wellen geschlagen hatte und erstarrt war. Die beiden Frauen sprachen miteinander. Father Ignatius hörte das Flüstern, nur konnte er nicht verstehen, was sie sagten, nur die Reibeisenstimme war deutlicher zu vernehmen. Ansonsten war es im Kloster still, so still, daß es schon als menschenleer gelten konnte. Zudem beschlich den Father noch ein anderes Gefühl. Es hing erstens mit dem Zimmer vor ihm zusammen und auch mit dem Vorhang, der von einer Seite zur anderen gespannt war. Dahinter verbarg sich etwas, das auch das Licht einer sehr kleinen Öffentlichkeit scheute. Und der Mönch wurde das untrügliche Gefühl nicht los, daß jenseits der Wand etwas lauerte, das nur mit ihm allein zu tun hatte. Das Flüstern war verstummt. Schritte näherten sich der Tür. Ignatius wollte nicht als neugierig gelten, er trat deshalb etwas zurück und tat so, als hätte er sich interessiert das Gestänge der Eisenlampen angeschaut, die von der Decke hingen. »Sie können hineingehen, Father«, sagte die Reibeisenstimme. Ignatius drehte sich um. Ihm fiel auch das Lächeln der Nonne auf. Es war wissend, sogar geheimnisvoll, aber er dachte nicht weiter darüber nach, sondern drückte die Tür mit der flachen Hand nach innen und lauschte dem leisen Schleifgeräusch. Behutsam schloß er die Tür wieder, schaute nach vorn und sah am Rande des Lichtkreises, der von einer Schreibtischleuchte abgegeben wurde, eine hochgewachsene Gestalt stehen, die eine Kutte trug und Ignatius den Rücken zudrehte. Sehr langsam drehte sich die Gestalt um. Gleichzeitig hob sie den rechten Arm. Die Finger faßten in den Kuttenstoff, den sie vom Kopf zog. Die Kapuze fiel in dem Augenblick nach hinten, als die Äbtissin die Drehung vollendet hatte. Nein, ein Irrtum. Es war keine Äbtissin oder ehrwürdige Mutter. Jetzt wußte Ignatius auch, weshalb die Nonne so gelächelt hatte, denn vor ihm stand ein Mann…
*** Der Mönch schluckte, denn es hatte ihm wirklich die Sprache verschlagen. Damit hätte er nicht rechnen können, und die Überraschung spiegelte sich auf seinem Gesicht nieder. Father Ignatius kannte den Mann nicht, der jünger war als er und glatte, schwarze Haare hatte, die prima zu dem schmalen Gesicht mit der leicht gekrümmten Nase paßten. Außerdem machte der Fremde nicht gerade den Eindruck eines Mannes, der in einem abgeschiedenen, weltfremden Kloster lebte. Dieser Typ kannte das Leben in all seiner Bandbreite, den Blick hatte Ignatius. Der Fremde lächelte. »Sie sind überrascht, Bruder?« »Ja, das kann man sagen.« Ignatius überlegte. Nicht einmal anhand der Kutte ließ sich ausmachen, zu welchem Orden dieser Besucher zählte. Sie war von einem schlichten Grau. Kein Zeichen wies daraufhin, welchen Orden dieser Mann als seine Heimat betrachtete. Auch die Schritte der Nonne waren nicht mehr zu hören, und der Fremde bot Ignatius einen Platz an. »Warum setzen wir uns nicht, Bruder? Im Sitzen redet es sich ungezwungener.« »Bitte, wenn Sie möchten.« Ignatius ärgerte sich über seine steife Antwort, die einmal mehr seine Unsicherheit zeigte. Er kam sich vor wie jemand, der am Rand des tiefen Wassers steht, darauf wartet, hineingeworfen zu werden, ohne schwimmen zu können. Dieser Fremde war ein Fixpunkt seines weiteren Schicksals. Das Büro gehörte der Äbtissin. Ob der trennende Vorhang schon immer den Raum geteilt hatte, wußte Ignatius nicht. Bevor er vor einem schlichten Holzschreibtisch seinen Platz einnahm, streifte er den Vorhang mit einem schnellen Blick, ohne dabei eine Veränderung festzustellen. Der Fremde setzte sich ihm gegenüber. Zwischen ihnen lag die Platte mit der Schreibtischunterlage, darauf stand auch ein Telefon. Ansonsten war der Schreibtisch leer. Nicht einmal ein Bleistift oder ein Kugelschreiber waren zu sehen. »Ich möchte einen Vorteil, den ich Ihnen gegenüber habe, ausgleichen«, begann der Mann. »Ich kenne Sie, Bruder, aber Ihnen ist mein Name unbekannt.« »Das stimmt.« »Es wird sich ändern. Ich darf mich Ihnen vorstellen. Ich bin Monsignore Bentini.« Father Ignatius reagierte nicht. Er hatte sich nur bis gegen die harte Lehne zurückgedrückt. Nein, der Name sagte ihm nichts, deshalb hob er auch die Schultern und lächelte entschuldigend.
»Es ist schon richtig, daß Sie mich nicht kennen, aber Sie sind mir bekannt. Fs hat sich bis zu uns herumgesprochen, daß man Sie als außergewöhnlich bezeichnen kann, Bruder.« Ignatius nickte. »Bis zu uns«, sagte er leise. »Darf ich es so verstehen, daß es dabei um Rom oder den Vatikan geht.« »Ja, das dürfen Sie.« Ignatius räusperte sich. Er dachte plötzlich an seinen Koffer, er dachte auch an den Abschied aus dem Kloster St. Patrick. Man hatte ihm kaum Informationen gegeben, viel wußte er jetzt auch nicht, nur konnte er sich vorstellen, daß er dieses Land bald verlassen würde, weil man im Vatikan auf ihn aufmerksam geworden ) war. Begeistert konnte er davon nicht sein. Das war einfach furchtbar, in die Verwaltungsmaschinerie hineinzugeraten. Er dachte an die Intrigen, die es dort gab, auch an die skandalösen Vorgänge der letzten Jahre, die durch die Presse gegangen und über die auch Bücher geschrieben worden waren. Der Vatikan und die gesamte Verwaltung der Kirche waren ins Zwielicht geraten, und Ignatius war immer froh gewesen, so weit ab zu sein. Wie es aussah, konnte er das jetzt vergessen, aber noch fehlte ihm der Beweis. Er zwang sich zu einem Lächeln und fragte: »Bin ich denn für die hohen Herren in Rom so wichtig, daß man sich um mich kümmert und sogar einen der Repräsentanten des Systems in die Einsamkeit der Berge schickt?« Bentini schüttelte den Kopf. »Das sehen Sie falsch, Bruder. Ich bin nicht das System, ich bin in gewisser Hinsicht ein Repräsentant wie Sie, aber das System ist etwas anderes, über das wir hier nicht reden sollten. Mein Freund und ich gehen den eigenen Weg. Wir sind Forscher, wir sind Sucher, wir sind eigentlich alles, was man sich so vorstellen kann, wenn es darum geht, die gerechte Sache zu verteidigen und sie auszubauen.« »Die gerechte Sache«, murmelte Ignatius. Er wiegte den Kopf. »Was ist denn heute schon gerecht und was nicht?« »Bitte keine haarspaltende Philosophie, Bruder. Ich weiß selbst, daß vieles nicht in Ordnung ist, aber das wird nicht unser Problem sein. Es geht um die beiden Grunddinge.« »Die wären?« Der Monsignore lächelte. »Ich bitte Sie, Bruder, was war denn schon zu Beginn der Zeiten vorhanden? Die Schlange und der Mensch. Gut und Böse also.« »Der Urkampf.« »Sehr richtig.« Ignatius spürte, daß er unruhig wurde. Er ging davon aus, daß der Monsignore innerhalb der Hierarchie nicht eben zu den kleinen Lichtern gehörte. Daß er geschickt worden war, hatte etwas zu bedeuten, und Ignatius dachte daran, daß irgendwo Kräfte dabei waren, gewisse Dinge zu verändern, die der Vatikan nicht gutheißen konnte.
»Er war doch immer da.« Bentini nickte. »Das stimmt. Er wird auch immer bleiben.« Er hob die Arme und deutete eine Waage an, indem er die Hände einmal nach oben und dann wieder nach unten bewegte. »Leider befinden wir uns dabei in einem indifferenten Gleichgewicht, einmal neigte sich die Waage zur rechten, dann wieder zur linken Seite. Die eine ist gut, die andere böse. Ich habe den Eindruck, und da stimmen auch andere mit mir überein, daß sie dabei ist, sich zur falschen Seite zu neigen. Die Zeiten sind nicht gut. In dieser Welt hat es gewaltige Umstürze gegeben, die Machtblöcke wurden auseinandergerissen. Völker sind verunsichert und suchen nach einer neuen Identität, besonders gravierend ist es auf dem Balkan. Es gibt keine Werteordnung mehr, Chaos und Feindbilder herrschen vor, und dieser Nährboden ist natürlich ideal für ihn, wobei Sie wissen, wen ich meine.« »Ja, Satanas!« »Sehr richtig«, flüsterte Bentini. »Der Teufel, Asmodis, wie auch immer man ihn nennen soll. Er ist derjenige, der seine Fühler ausgestreckt hat, sie in die Wunden legt und darin herumrührt. Dieses Wesen kann lachen, es kann sich freuen, es lebt vom Chaos, von der Anarchie, denn es träumt nach wie vor von einer Rückkehr oder von dem endgültigen Sieg, der ihm zu Beginn der Zeiten verbaut wurde. Er hat seine Macht verstärkt und tastet sich immer näher auch an Menschen heran, die ihm sonst nicht eben positiv gegenüberstanden. Das haben wir gesehen, aber das wollen wir nicht akzeptieren.« »Verstehe.« »Nein, Bruder, noch nicht. Ich habe einfach zu allgemein gesprochen, um Ihnen die Lage darzulegen. Jeder wird jetzt gebraucht, und vor allen Dingen auch Sie. Wir müssen uns verstärken…« Ignatius hob die Hand. »Soweit habe ich es begriffen, von wem bitte sprechen Sie?« Bentini ließ sich einen Moment Zeit. Er verengte die Augen, bevor er leise die Antwort gab. »Von der Weißen Macht rede ich.« Father Ignatius schluckte. Er sagte nichts, doch er wußte Bescheid, auch wenn er bisher noch keinen direkten Kontakt mit der Weißen Macht gehabt hatte. »Sie sagen nichts, Bruder?« Ignatius runzelte die Stirn. »Nun, was soll ich darauf denn antworten? Ich kenne die Weiße Macht natürlich. Ich habe von ihr gehört und möchte sie als den Geheimdienst des Vatikans bezeichnen. Habe ich damit unrecht?« »Im Prinzip nicht.« »Dann sind wir schon weiter.« »Moment noch. Es stimmt, daß der Vatikan uns unterstützt, aber wir sind ansonsten selbständig, und zu uns gehören nicht nur Männer, sondern
auch Frauen. Wir haben die engen, elitären Grenzen durchbrochen, wir sind multikulturell, wir haben nur eines nicht – eine Presse. Weder eine positive noch eine negative. Diese Presse existiert nicht. Wir können darauf gut und gern verzichten. Wir sind eben anders, wir arbeiten im Geheimen, wir beobachten die Aktivitäten der anderen Zeit, und wir haben festgestellt, daß eine gefährliche Ära angebrochen ist, wir haben ihr den Namen Höllenzeit gegeben.« Auch wenn Father Ignatius überrascht war, er zeigte es zumindest nicht. Regungslos blieb er auf dem harten Holzstuhl sitzen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Seltsamerweise dachte er an sein Heimatkloster St. Patrick. Bisher hatte er noch geglaubt, daß er dorthin nach getaner Arbeit zurückkehren könnte, doch es sah nicht so aus. Er würde im letzten Drittel seines Daseins einen anderen Weg gehen, er würde Mitglied der Weißen Macht werden, denn nicht grundlos war Monsignore Bentini bei ihm erschienen und hatte ihm all dies erklärt. »Sie ahnen, worauf es hinausläuft, Bruder?« »Sicher. Ich soll zur Weißen Macht. Ich soll diesem Dienst beitreten, denke ich.« »So ist es.« Father Ignatius schaute an sich herab, als wollte er sich selbst schlechtmachen. Er wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Schließlich entschloß er sich dazu, die Schultern zu heben und gleichzeitig eine Frage zu stellen. »Warum gerade ich? Was habe ich getan, um der Weißen Macht beitreten zu können oder zu dürfen?« »Wir brauchen gute Leute.« Ignatius lächelte. Er sah dabei nicht freundlich aus. »Um Himmels willen, was meinen Sie damit? Ich bin nicht gut, ich bin für diese Arbeit zu alt.« »Nein, auf keinen Fall!« widersprach der Monsignore heftig. »Sie sind nicht zu alt, Bruder. Sie sind genau richtig, denn Sie haben die Erfahrung, auf die es uns ankommt. Wir wissen gut über Sie Bescheid, und Sie gehören auch nicht zu den Menschen, die nur im Kloster geblieben sind.« Bentini beugte sich vor, er stützte beide Ellenbogen auf die Schreibtischplatte. »Sie haben einiges erlebt. Sie wissen, wie stark das Böse oft sein kann, denn Sie haben es mit Ihren eigenen Händen bekämpft, wobei ich besonders an die Horror-Reiter denke.« »Das ist Vergangenheit.« »Stimmt. Wollen Sie denn damit sagen, daß Sie out sind und nicht mehr im Geschäft?« »Ich war es lange nicht mehr.« »Das ist wahr, aber Sie haben stets die Augen offengehalten, das wissen wir.« Ignatius lächelte. Er wußte nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte oder nicht, aber um Schmeicheleien zu verteilen, war dieser Mann bestimmt nicht hergekommen. »Ich denke doch, daß ich im Kloster St.
Patrick besser aufgehoben bin als bei Ihnen im Vatikan. Die Weiße Macht ist für mich zu weit weg. Wie für den Indianer am Amazonas der Kühlschrank. Ich glaube nicht, daß ich mich gut integrieren lasse. Ich bin kein Mensch, der sich gern einordnet. Ich hatte im Kloster meine Freiheit, ich konnte es verlassen, wenn ich wollte. Ich bin eigentlich immer glücklich gewesen. Ich habe außer meinen Brüdern Menschen kennengelernt, die ich sehr mag, und ich habe mit Ihnen unvergeßliche Erlebnisse gehabt. Das alles hat mich sehr zufrieden gemacht.« »Und zu bescheiden!« erklärte der Monsignore. »Nein, das nicht. Ich weiß mich wohl sehr gut einzuschätzen, das können Sie mir glauben.« »Andere wissen das auch.« »Wer? Sie?« »Ja, wir von der Weißen Macht.« Bentini hob die Schultern. »Wir haben unsere Fühler ausgestreckt, glauben Sie doch nicht, daß wir nicht wissen, was auf der Welt passiert ist! Doch, unser Dienst funktioniert, aber wir wollen und müssen ihn perfektionieren. Die Menschen driften ab, sie gehen falsche Wege, und wir wollen Sie daran hindern und natürlich den Einfluß des Bösen stoppen.« »Mit mir?« »Unter anderem. Wir brauchen Ihre Kenntnisse, das Böse ist sehr nahe. Dabei spielt es keine Rolle, wer es bringt, wer es abstrahlt. Irgendwo ist doch alles ein Kreislauf, den wir jedoch in Grenzen halten müssen. Und wir haben uns noch etwas dabei gedacht, als wir uns entschlossen, uns an Sie zu wenden.« Ignatius lächelte. »Da bin ich gespannt.« »Ich sage nur einen Namen: John Sinclair!« Der Mönch schwieg. Natürlich, sie wußten alles. Sie wußten auch über seine Freundschaft zu dem Geisterjäger in London. Allerdings war Ignatius nicht bekannt, ob John bereits Kontakt mit der Weißen Macht gehabt hatte, er stellte auch keine Frage, sondern schaute Bentini so an, daß dieser sich gezwungen sah, zu einer Erklärung anzusetzen. »Wie soll ich Ihnen die Skepsis austreiben?« fragte der Monsignore. »Das ist Ihr Problem.« »Sind Sie einverstanden, wenn wir mit Ihrem Freund John Sinclair beginnen.« »Natürlich.« »Er kennt uns. Er ist über die Weiße Macht informiert. Er weiß, daß wir Agenten in unseren Reihen haben, die versuchen, das Böse zu stoppen. Wir sind ihm auf der Spur, denn das Urböse hat sich in den Kreaturen der Finsternis manifestiert, und sie haben es geschafft, die Menschen zu unterwandern. Man erkennt sie nicht mehr, sie verfügen über die perfekte Tarnung, was auch ein Mann wie John Sinclair am eigenen Leibe zu spüren bekommen hat, das kann ich Ihnen versichern.« »Ich glaube es sogar. Aber wie steht John zur Weißen Macht?«
»Positiv.« »Entschuldigen Sie, Monsignore, aber das ist mir zu wenig.« »Kann ich verstehen, Bruder. Ich will es Ihnen erklären. Bei uns gab es eine Agentin namens Franca Simonis. Sie war den Kreaturen der Finsternis ebenfalls auf der Spur, und sie traf dabei mit John Sinclair zusammen. Es geschah damals in der Schweiz, in Pontresina. Dort ist es zu einer gewaltigen Auseinandersetzung zwischen den beiden Urkräften gekommen. John Sinclair hat überlebt, Franca Simonis leider nicht.* Sie starb für die gute Sache im Dienst der Weißen Macht, wenn man so etwas überhaupt sagen kann. Jedenfalls hatte sie John eingeweiht. Er ist also über uns informiert. Wir suchen mit vielen Menschen den Kontakt, und Sie haben wir dazu ausersehen, ihn zu halten. Sie sollen praktisch das Bindeglied zwischen der Weißen Macht und John Sinclair werden. Sind Sie damit einverstanden, Father Ignatius?« Der Mönch lächelte. »Bleibt mir denn eine Wahl?« »Nun ja, zwingen können wir keinen. Wenn Sie sagen, daß Sie nicht wollen, können wir unser Gespräch vergessen. Niemand wird Ihnen die Weigerung verübeln, aber uns würden Sie mit einer Zustimmung schon einen Gefallen erweisen.« Ignatius runzelte die Stirn. »Ich denke, daß ich ja sagen muß.« »Überlegen Sie es sich.« »Wie lange?« »Nicht sehr lange. Ich möchte gern die Entscheidung von Ihnen hören. Wir können anschließend in Details gehen, die, das will ich ehrlich sagen, die Höllenzeit betreffen.« »Ist es so schlimm?« »Es könnte so schlimm werden, wir wollen uns bereits den Anfängen entgegenstellen.« Father Ignatius dachte an seinen Koffer, den er schon mitgenommen hatte. Es war für ihn bereits so etwas wie ein Abschied gewesen. Auch an John Sinclair dachte er. Lange hatte er von ihm nichts mehr gehört, und wenn er ehrlich gegen sich selbst war, hatte er sich doch oft hinter den Mauern von St. Patrick eingeschlossen gefühlt, wobei er ein sehr aktiver Mensch war. »Nun?« »Es fällt mir nicht leicht, Monsignore.« »Das kann ich verstehen.« Der Mönch drehte sich um. Im Hintergrund des Zimmers sammelte sich die Dunkelheit, auch bedingt durch den dunklen Vorhang, der den Raum teilte. »Es hat doch einen Sinn, daß dieser Raum geteilt wurde, wenn ich mich nicht irre.«
* Siehe John Sinclair Band 742-744
»Sie haben es erfaßt, Bruder. Diesen Sinn werde ich Ihnen erklären, wenn Sie sich für unsere Seite entschieden haben.« Ignatius nahm wieder seine alte Sitzposition ein. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. »Sehr gut gemacht. Sie wissen anscheinend immer den richtigen Weg.« »Ich bemühe mich eben.« Auch wenn sich der Mann noch so bescheiden gab, Ignatius hatte ihn schon durchschaut. Der Monsignore wußte, wo es langging. Sicherlich stand er im Verbund oder in der Hierarchie der Weißen Macht so ziemlich oben. »Es reizt mich schon, wieder eine neue Aufgabe zu übernehmen«, erklärte Father Ignatius. Bentini lächelte. »Darf ich das als eine Zustimmung Ihrerseits auffassen?« Ignatius holte tief Luft. Plötzlich zitterte er. Er schloß für einen Moment die Augen. Szenen aus seinem Leben huschten vorbei, er sah sich sogar als kleinen Jungen, erlebte seine Weihe zum Priester noch einmal und seinen ersten Tag im Kloster. Dann öffnete er die Augen. »Ja, Monsignore, Sie dürfen…« Bentini saß starr auf seinem Stuhl. Nur die Augen lebten. Sie schimmerten dunkel, aber nicht unfreundlich. Ein tiefer Atemzug zeigte auch bei ihm an, wie befreit er sich fühlte. Dann stand er auf. Ignatius erhob sich ebenfalls. Monsignore Bentini streckte ihm über den Schreibtisch hinweg die Hand entgegen. Der Father zögerte noch einen Moment. Dann schlug er ein und spürte den Druck. »Willkommen als Agent der Weißen Macht, Father Ignatius!« *** Sie hatten sich wieder gesetzt, und Ignatius lauschte in sein Innerstes hinein, weil er wissen wollte, wie er sich fühlte. Nicht anders als sonst, nicht einmal erleichtert, wohl aber etwas gespannter. Das mußte sein Gegenüber bemerkt haben, denn er griff in die Tasche und holte eine flache Flasche hervor. Er hielt sie hoch und gegen das Licht. »Es ist bester alter Cognac«, sagte er leise. »Ich denke, wir haben jetzt einen Grund gefunden, uns ein Gläschen zu genehmigen.« »Wenn Sie meinen.« »Fs muß sein.« Zwei kleine Silberbecher brachte Bentini ebenfalls zum Vorschein und füllte sie. Er schob einen über den Schreibtisch hinweg auf Ignatius zu, der ihn nahm und hochhob. »Trinken wir darauf, daß wir das Böse in seine Schranken weisen können«, sagte Bentini. »Es zu besiegen, wird uns leider kaum gelingen,
aber es soll uns nicht mehr quälen und weitere Menschen in seinen höllischen Schlund reißen.« »Ich werde mich bemühen.« Beide Männer tranken, und Ignatius mußte sich eingestehen, daß ihm der Cognac gut tat. Er wärmte ihn durch, er war wie ein Strom, der in seinen Magen rann und auch noch die letzte Kälte vertrieb. »Gut, nicht wahr?« »Kann man sagen.« Bentini stellte den Becher weg. Er lächelte dabei versonnen. »Das Destillat stammt aus den Kellern des Vatikans. Auch dort versteht man zu leben.« »Das ist hinreichend bekannt.« Bentini lachte wieder. »Gut, daß Sie es sagen. Sie werden ihn ja kennenlernen, doch Sie werden nicht nur dort wohnen, denn unsere Agenten werden in der gesamten Welt eingesetzt. Wir beobachten alles. Von der Politik bis hin zu einfachen Menschen. Wir besitzen ein hervorragendes Archiv, und ich kann Ihnen versichern, daß wir Sie gut einlernen, damit Sie es beherrschen. Das jedoch sind Nebensächlichkeiten, uns kommt es einfach auf andere Dinge an.« »Sprechen Sie von der Höllenzeit.« »Leider muß ich davon reden. Sie ist da, aber sie steht zum Glück erst am Beginn. Es gibt eine große Infiltration des Bösen, die auch vor uns nicht haltmacht. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten belästigen, aber ich denke mir, daß Sie über das große Ziel informiert sein sollten, das hinter allem steht, vielmehr hinter unserer Seite.« »Ich bin gespannt.« »Wir können die Hölle nur stoppen, wenn wir dem Bösen etwas entgegensetzen.« »Das denke ich mir.« »Wissen Sie denn ein Mittel dagegen, Bruder?« Ignatius lächelte. »Wenn ich antworten würde, es ist das Kreuz, wäre dies zu einfach.« »Sie haben recht, es ist zu simpel, obwohl das Kreuz das Böse besiegt hat. Das jedoch geschah vor zweitausend Jahren, wir gehen weiter, viel weiter zurück.« »Bis an den Ursprung aller Zeiten?« »Ja, auch das. Aber um das Böse zu besiegen, bedarf es gewisser Gesetze. Sehr alter Regeln, die einmal geschrieben worden sind, wenn Sie sich erinnern.« »Nein, nicht direkt, helfen Sie mir bitte.« »Die Gesetze stammen von einem der Stammväter.« Ignatius spürte ein Kribbeln auf der Haut. »Denken Sie dabei an Gebote?« »Ja, an zehn.«
»Weiter«, flüsterte der Mönch. Die Luft kam ihm plötzlich dichter und stickiger vor. Sie sprachen hier über die Keimzelle des Glaubens, und Monsignore Bentini ging noch einen Schritt weiter. »Im Findeffekt und das Ziel überhaupt, das wir erreichen wollen, ist das Auffinden der Bundeslade. Nur durch sie können wir das Böse stoppen. Vor ihr wird selbst Luzifer Respekt haben. Das genau ist das eigentliche Ziel der Weißen Macht, Bruder.« Ignatius hatte das Gefühl, der Stuhl wäre zu einem Floß auf kabbeliger Wasserfläche geworden. Was er soeben gehört hatte, damit hätte er in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet, denn das sprengte Grenzen, das war einfach global und phänomenal. Es ging zurück bis an die Urkräfte der Menschheit, und der Schwindel wollte einfach nicht weichen. Der Stuhl hatte keine Lehnen, deshalb klammerte sich Father Ignatius an den Rändern der Sitzfläche fest, spürte, wie sein Kopf nach vorn sank. Erst dann gelang es ihm, die Fassung zu finden, und er hob langsam den Kopf an. Monsignore Bentini saß ihm gegenüber. Sein Gesicht war glatt, aber nicht ausdruckslos, denn die Lippen zeigten die Andeutung eines schwachen Lächelns. »Damit haben Sie nicht gerechnet, Bruder.« Ignatius hob die Schultern. Es war ihm noch immer nicht möglich, einen Kommentar abzugeben. Er fuhr durch das graue Haar und wühlte es auf. »Ist die Bundeslade tatsächlich das Ziel, das hinter allem steht und am Ende des Weges liegt?« »Wir sehen es so.« »Warum?« Bentini hob die Schultern. »Das ist im Prinzip einfach. Wenn es uns gelingt, dem Bösen die Gebote aufzuzwingen, dann kann es das Böse selbst nicht mehr geben.« Der Mönch runzelte die Stirn. Im Gegensatz zu Bentini war er skeptischer. »Es gibt aber keine Garantie, wie ich mir vorstellen kann.« »Das nicht. Es ist ein Versuch. Wir haben alles genau durchdacht, sofern dies möglich war, und sind eben zu diesem Entschluß gelangt. Bis dahin jedoch ist es noch ein weiter Weg, reich an Dornen und Steinen. Keiner von uns weiß, ob wir dieses Ziel überhaupt jemals erreichen werden.« »Das denke ich auch. Aber Sie bewegen sich darauf zu.« »Wir.« »Natürlich, Monsignore. Ich habe meine neue Position noch immer nicht umrissen. Da wäre noch etwas anderes. Sie haben von Steinen und Dornen gesprochen, die den Weg pflastern. Kann ich davon ausgehen, daß Sie damit gleichzeitig die Höllenzeit gemeint haben?« »Nein, nicht direkt. Die Höllenzeit ist angebrochen, da brauchen Sie nur einen Blick auf die Welt zu werfen. Die Hölle ist mittlerweile überall. Sie
schickt selbst bis in unsere Nähe ihre Schatten. Sie hat sich für den Angriff entschlossen, und ich bin der Meinung, daß sie genau weiß, was wir vorhaben.« »Sie meinen das große Ziel?« »So ist es.« »Welche Gegner stehen uns im Weg?« »Alles, was die Hölle aufbringen kann. Ich denke dabei nicht nur an die Kreaturen der Finsternis, sondern auch an AEBA, die Horror-Reiter, die ja Ihre Spezialität sind…« »So schlimm ist es nicht. John Sinclair hat da mehr Erfahrung.« Bentini lächelte. »Ich wußte, daß sie seinen Namen erwähnen würden, damit haben wir schon wieder die Verbindung, aber darauf möchte ich später zurückkommen. Wie gesagt, Luzifer und seine Schergen versuchen es mit allen Tricks. Natürlich versuchen auch wir, an unsere Helfer zu denken, nicht allein an Menschen, denn selbst die Engel sind durch die Aktivitäten der Hölle aufgeschreckt worden, doch dies ist ebenfalls nicht unser Thema. Wir stehen erst am Beginn und müssen uns heute auf die Infiltration beschränken.« »Sie sprechen vom Bösen.« »Natürlich.« Bentini erhob sich. Dabei schaute er über den Kopf des Fathers hinweg, und Ignatius konnte sich vorstellen, daß sein Gegenüber den Vorhang anschaute. Auch er drehte sich auf seinem Stuhl, aber am Vorhang hatte sich nichts verändert. Eine Frage brannte ihm auf der Zunge, und er stellte sie. »Hat diese Abtrennung etwas mit dem zu tun, was wir besprachen?« »Nicht der Vorhang, aber das, was sich hinter ihm befindet. Es wird gewissermaßen für Sie der erste Beweis sein, Father. Wenn Sie ihn sehen, werden Sie erkennen, daß Sie den richtigen Weg eingeschlagen haben, denn so etwas darf nicht wieder vorkommen.« Bentini hatte es tatsächlich geschafft, die Spannung bis zum Siedepunkt steigen zu lassen. Selbst ein Zittern seiner Finger konnte er nicht mehr zurückhalten, deshalb ballte er die Hände zu Fäusten und folgte dem Monsignore, der bereits auf den Vorhang zuging, für einen Moment stehenblieb, mit den Fingern nach einer Falte faßte und ihn dann mit einer langsamen Bewegung aufzog. Die Ringe schleiften über die Deckenstange, eine Lücke entstand, vergrößerte sich langsam, und Ignatius war enttäuscht, weil er nichts erkennen konnte. Nur einen schwachen Umriß, wahrscheinlich ein Bett, mit einem kleinen Tisch daneben. Diesem Tisch beugte sich der Monsignore entgegen. Er streckte auch seine Hand aus, und der Mönch hörte ein leises Klick, bevor sich die Kugel einer Lampe erhellte und ihr Licht so verteilte, daß es auf das Oberteil eines schlichten Metallbetts fiel, in dem eine Person
lag. Der Mönch konnte nicht erkennen, ob sich der Körper eines Mannes oder einer Frau unter der hellen Decke abzeichnete, auch das Gesicht war nicht sichtbar, denn die Decke war so weit hochgezogen, daß es von ihr verdeckt wurde. Der Monsignore hatte seinen Arm bereits ausgestreckt, aber noch nicht zugegriffen. Er wartete ab, drehte den Kopf und schaute den Mönch an. »Was ich Ihnen gleich zeigen werde, ist der erste Beweis.« Ignatius nickte nur. Er hatte einen ungewöhnlichen Geruch wahrgenommen, der unsichtbar über der Gestalt schwebte. Einordnen konnte er ihn nicht direkt, im entferntesten jedoch erinnerte er ihn an Brandgeruch. An Feuer, das jedoch kein Holz oder Kohle zerstört hatte, sondern Fleisch. »Sind Sie bereit?« Der Mönch nickte. »Gut.« Bentini griff noch fester zu. Er wirkte wie ein Pathologe, der im Schauhaus stand und einem Polizisten eine Leiche zeigen wollte. Auch der zog oft genug die Decke ruckartig ab. Sie schwang nach oben und zurück. Das Gesicht und ein Teil der Oberkörpers lagen frei. Der Mönch trat dichter an das Bett heran. Er schaute in das Gesicht, während Bentini zurücktrat. »Mein Gott«, ächzte Ignatius nur, »mein Gott…« *** Er hatte mit seiner Vermutung recht behalten. Dieser Brandgeruch mußte von dem Gesicht aufgestiegen sein, das einfach scheußlich aussah, denn eine Hälfte war verschmort, verbrannt, so daß die Haut sich zusammengedrückt hatte, zu schwarzen Klumpen geworden war und dem rohen, feuchten, leicht blutigen Fleisch Platz geschaffen hatte. Die linke Hälfte war schrecklich in Mitleidenschaft gezogen worden und hatte selbst das Auge nicht verschont, wo keine Wimper und keine Braue mehr vorhanden waren. Auch an der linken Seite der Nase hatte sich das Fleisch oder die Haut aufgewellt und war dicht unter dem Auge zusammengeklumpt. Die rechte Hälfte des Mundes war ebenfalls nicht vorhanden. Sie sah aus wie aus dunklen Fäden zusammengedreht. Der Mann mußte irrsinnig gelitten haben, denn auch ein Teil seiner Haare war einfach verbrannt, und die freiliegende Kopfhaut zeigte auch schwarze Flecken. Dennoch lebte der Mann. Er atmete, was jedoch nicht als normales Atmen angesehen werden konnte. Es war mehr ein Röcheln, das aus seiner tiefen Kehle drang und sich nahe des Mundes anhörte, als würden dort permanent kleine Bläschen zerplatzen.
Die Arme des Mannes lagen so dicht am Körper, als wären sie mit ihm verbunden. Als der Mönch nachschaute, da mußte er feststellen, daß nur die Gesichtshälfte verbrannt, der Körper aber nicht in Mitleidenschaft gezogen war. Das war ein Phänomen, und Ignatius dachte über die Gründe nach, wobei er zu keinem Ergebnis kam. »Kann er sprechen?« fragte er. Bentini hob die Schultern. »Manchmal schon. Aber das müssen wir ihm überlassen. Hin und wieder hat er lichte Momente.« »Wie heißt er?« flüsterte Ignatius. »Es ist Bruder Shiram.« Der Father nickte. Die Lampe kam ihm vor wie ein blasser Mond, der nur diese eine Stelle beleuchtete. »Hat er zu uns gehört? Wagte er sich zu weit vor?« »So könnte man es sagen.« »Es war nicht so – oder?« Der Monsignore schüttelte den Kopf und trat so nahe an das Bett heran wie möglich. »Ich weiß selbst nicht genau, wie ich Bruder Shiram bezeichnen soll. Vielleicht als einen Verräter mit schlechtem Gewissen. Er hat zu uns gehört, das ist richtig, aber er ist den Verlokkungen des Bösen erlegen, die andere Seite hat ihn herumgedreht, und das ist beinahe wie in einem Spionagefilm. Er war ein Doppelagent, er hat sich uns und der Hölle verschrieben, aber er bekam Gewissensbisse. Er wollte nicht mehr mitmachen und suchte nach einem Ausstieg. Er offenbarte sich einem unserer Freunde, der die Idee hatte, ihn hier im Nonnenkloster zu verstecken. Es gelang, aber es gelang nicht ganz, denn unsere Feinde kriegten Wind davon. Sie fingen ihn ab, sie wollten ihn töten, was sie nicht schafften, denn Bruder Shiram kämpfte wie ein Löwe. Man fand ihn schwer verletzt, das Gesicht war verbrannt, und er hat stets vom Feuer der Hölle gesprochen, das ihn so brutal erwischte. Kurz und gut, er entkam trotzdem und befindet sich hier in relativer Sicherheit. Wir gehen zumindest davon aus, daß es noch einige Zeit dauern wird, bis die andere Seite erfahren hat, wo sie nun suchen soll. Wenn das allerdings eintritt, erlebt auch dieses einsame Kloster hier die Höllenzeit.« Father Ignatius hatte bisher sehr genau zugehört, und er fand keine Unlogik in den Erklärungen. Er hatte selbst zu viel erlebt, um darüber zu lächeln. Mit einer müden Bewegung strich er über seine Stirn. Als er sich den Handrücken anschaute, glänzte dieser schweißnaß. Bruder Shiram war der Schlüssel, das hatte er schon begriffen. Wenn er redete, konnte er viel über die andere Seite berichten, was diese auch wußte. Deshalb würden die Mächte der Hölle auch alles daransetzen, um ihn zu vernichten. So und nicht anders sah es aus.
Bentini lächelte. »Ich weiß, was Sie jetzt denken, Bruder. Welche Gedanken auch immer durch Ihren Kopf strömen mögen, Sie sind nahe am Ziel, das glaube ich.« »Meinen Sie?« »Ja, und wir müssen uns gemeinsam etwas einfallen lassen, denke ich.« »Schön, das dachte ich mir. Aber so leid es mir tut, ich bin im Augenblick geblockt.« »Das ist verständlich, deshalb habe ich bereits über den Fall nachgedacht. Ich hoffe, daß es in Ihrem Sinne geschah, nein, ich bin mir sogar sicher, daß Sie mir zustimmen werden, wenn ich Ihnen das Ergebnis bekanntgebe.« »Wie lautet es?« Monsignore Bentini wollte zu einer Erwiderung ansetzen, als er versteifte. Der Verbrannte hatte sich bewegt! Plötzlich war sein rechter Arm auf dem Bett liegend zurückgezuckt. Synchron mit ihm bewegte er seine Augen, was bei dem Brauen- und Wimpernlosen schlimm aussah, denn es wirkte so, als wollte es wie eine glitschige Kugel aus der Hölle quellen. Zwischen den verbrannten Lippen hervor drang ein tiefes Stöhnen. Ein Laut wie aus der Gruft, kratzig und unheimlich. Der Verletzte hatte gespürt, daß jemand neben seinem Bett stand, und er schaffte es sogar, den Kopf etwas zu drehen, ohne sich dabei allerdings auf seine verbrannte linke Seite zu legen. Ignatius warf Bentini einen raschen und auffordernden Blick zu, doch der Monsignore schüttelte nur den Kopf. Mit kaum hörbarer Stimme flüsterte er: »Lassen wir ihn…« Es war gut, daß er so gesprochen hatte, denn Bruder Shiram wollte reden, was ihm sehr schwerfiel, denn seine Worte drangen nur als abstrakte Gebilde über die verbrannten Lippen. »Ich… ich… sehe sie… die anderen sind wieder da…« Bentini übernahm die Antwort. »Nein, Bruder, nein, niemand ist da. Du befindest dich hier in Sicherheit…« »Sie werden kommen!« stieß er hervor und bäumte sich plötzlich auf. Gleichzeitig krallte er seine Hände in das Laken und hielt sich daran fest. Der Mund stand weit offen, die Augen, auch das verletzte, waren verdreht. Er stierte gegen die Decke, als würde sich dort das Bild abmalen, von dem er gesprochen hatte. »Wen meint er damit?« Bentini hob die Schultern. »Unsere Feinde, die Freunde der Hölle. Sie sind auf ihn angesetzt. Sie werden ihn jagen, er weiß einfach zu viel. Er könnte uns Wege zeigen.« »Dann soll er sprechen.« »Das sage ich auch«, erwiderte Bentini nickend. »Aber es ist sehr schwer. Die Erinnerung kommt nicht durch. Sie hat eine Blockade erlebt,
sein Gehirn ist geblockt worden, und wir können dabei von einem magischen Brett sprechen.« »Können wir nachhelfen?« »Nicht wir, auch nicht hier. Möglicherweise in einem Krankenhaus und mit den entsprechenden Medikamenten, aber dort wäre Bruder Shiram nicht mehr sicher.« »Stimmt leider.« Der Verletzte hatte sich wieder soweit erholt, daß er reden konnte. Er gurgelte die Worte hervor, beide Zuhörer hatten große Mühe, ihn zu verstehen. Immer wieder kam er auf das Feuer zu sprechen, das ihn erwischt hatte. »Tod… Tod… der Tod… er ist auf dem Weg. Die Hölle wird sich rächen. Sie gibt sich nicht zufrieden. Sie haßt Verräter, und ich habe alle verraten.« Tief aus seiner Kehle drang ein schluchzender Laut, der über die Zunge hinwegfuhr und auf den zerstörten Lippen allmählich versickerte. Es war vorbei, die Kraft hatte ihn verlassen. Er konnte nicht mehr sprechen und fiel wie in ein tiefes Loch, aus dem er sich so leicht nicht mehr befreien konnte. Er entspannte sich und atmete schwach. Bentini legte die Hand beruhigend auf die gesunde Seite der Stirn. »Er ist zu schwach«, sagte er, »wir sollten ihn auch in Ruhe lassen.« Der Monsignore trat zurück, um dies in die Tat umzusetzen. Er zog auch den Vorhang wieder zu, nur die Lampe ließ er brennen. In ihrem Licht schimmerte ein schwacher Schatten hinter dem Vorhang. Father Ignatius erwartete ihn gedankenverloren am Schreibtisch stehend. Sein Blick war auf seine Füße und gleichzeitig ins Leere gerichtet. Er hatte die Stirn gerunzelt, hing seinen Gedanken nach und strich einige Male gedankenverloren über sein Haar. Bentini nahm wieder seinen alten Platz hinter dem Schreibtisch ein, nur setzte er sich nicht hin, sondern schaute Ignatius an. »Was sagen Sie dazu?« Der Mönch atmete tief durch. »Ich weiß es nicht«, flüsterte er. »Mir fehlen die Worte.« »Sie sind geschockt?« »Ja, das bin ich.« Er räusperte sich, nahm wieder Platz und schüttelte den Kopf. »Nicht allein über das Aussehen, sondern auch über seine Worte. Die andere Seite will ihn finden, und ich frage mich, ob die Mauern dieses Klosters den Angriffen der Hölle standhalten können.« »Sehr richtig.« »Können Sie?« Bentini hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Bisher war ich allein, doch nun haben Sie eingeschlagen, Bruder Ignatius, und stehen mir als Hilfe zur Seite.« »Das ist noch nicht genug.«
»Sie sagen es.« »Aber das Kloster ist nicht leer. Mir hat eine Nonne geöffnet. Ich denke, sie ist eine von vielen…« »Sie war eine von vielen«, unterbrach Bentini ihn. Ignatius versteifte. »Moment mal. Was ist denn mit den anderen Schwestern passiert?« Bentini winkte und wiegelte ab. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Bruder. Ich habe schon dafür gesorgt, daß sie in Sicherheit gebracht wurden. Wir beide sind bis auf Schwester Anna allein. Sie wollte das Kloster nicht verlassen, weil es einfach zu ihrer Heimat geworden war. Schwester Anna lebt schon beinahe fünfzig Jahre hier. Sie möchte auch hier sterben, aber sie will dem Bösen die Stirn bieten.« »Haben Sie die Frau eingeweiht?« »Nein, das habe ich nicht. Sie weiß nur wenig, Details habe ich bewußt außen vorgelassen.« »Dann müssen wir uns also darauf gefaßt machen, angegriffen zu werden. Von welchen und von wie vielen Feinden auch immer. Habe ich das richtig gesehen?« »Es stimmt.« Father Ignatius nickte vor sich. »Die Hölle kann ganze Armeen freisetzen oder auch nur bestimmte Diener, wobei mir die Horror-Reiter in den Sinn gekommen sind. Wenn es um prinzipielle Dinge geht, dann werden auch sie sich in den Kampf schicken lassen.« »Ja, daran habe ich auch gedacht.« »Das ist gut. Aber Sie sind zu dem Entschluß gekommen, daß wir uns beide den Kräften entgegenstellen sollen?« Monsignore Bentini setzte sich wieder hin. Er tat es mit einer ungewöhnlich steifen Bewegung, und er blickte Father Ignatius über den Schreibtisch hinweg an. »Es ist wahr, daß wir nur zu zweit sind. Aber es ist auch sicher, daß dies nicht so bleiben muß. Noch haben wir eine Galgenfrist, die wir nutzen sollten.« »Wie meinen Sie das?« Ignatius hatte bei dieser Frage die Augen leicht verengt. Über das kantige Gesicht huschte ein Lächeln. Bentini streckte den Arm aus. »Dort steht ein Telefon. Sie brauchen nur den Hörer abzuheben und einen bestimmten Anruf tätigen.« Father Ignatius saß starr. Er fragte nicht, aber er wußte, wen sein Gegenüber gemeint hatte. Der Mönch nickte nur. Er griff nach dem Hörer des schwarzen, sehr alten und deshalb schon wieder modern wirkenden Telefons. »Soll ich Ihnen die Nummer noch einmal sagen, Bruder?« fragte der Monsignore. »Nein, das ist nicht nötig. Ich weiß selbst, wie ich meinen Freund John Sinclair erreichen kann…«
*** Daß mein Freund und Kollege Suko nicht mitgekommen war, hatte mich geärgert, aber Sir James brauchte ihn dringend in London, wo er sich auf die Spur einer Sekte setzen sollte, die angeblich Gehirne von Tieren entnahm und damit ihre Feiern zelebrierte. So war ich allein gefahren, immer in Richtung Norden, der Grenze nach Schottland entgegen, wo auch meine Eltern lebten, bei denen ich dann übernachtet hatte und die mich am nächsten Tag eigentlich nicht hatten gehen lassen wollen. Besonders meine Mutter hatte sich sehr besorgt gezeigt und mich gebeten, doch noch einen Tag zu bleiben, auch weil sich das Wetter änderte und ich in Gefahr lief, in den Highlands noch mal einen richtigen Wintereinbruch zu erleben. Ich hatte den Wünschen meiner Mutter nicht nachgegeben und dafür ein Paket mit Proviant entgegengenommen, als hätte sie Angst davor, daß ich auf den knapp siebzig Meilen, die vor mir lagen, noch verhungerte. Es war wie immer ein Abschied mit Tränen gewesen, und auch in den Augen meines Vaters hatte es verdächtig feucht geschimmert. »Gib auf dich acht, Junge«, hatte er nur gesagt. »Mach’ ich doch glatt.« Beide winkten mir noch lange nach. Ich fuhr erst schneller, als ich das freie Land erreicht hatte und damit auch die Berge, in die ich hineinmußte. Das Nonnenkloster, aus dem mich der Anruf meines Feundes Father Ignatius erreicht hatte, lag sehr einsam und in einer gewissen Höhe, zudem in nördlicher Richtung, gegen die ich während der Fahrt immer wieder schaute und auch voller Skepsis die dicken, grauen Wolkenberge sah, die wie eine Drohung über den Bergen lagen. Manche von ihnen hingen so weit durch, daß sie die Gipfel verdeckten. Obgleich ich im Prinzip ein Stadtmensch war, kannte ich mich auch in der Natur und ebenfalls auf dem Lande aus. Diese Wolken verhießen nichts Gutes. Da oben würde es wie verrückt schneien, und ich war froh, daß der Wagen mit Winterreifen ausgerüstet worden war, und daß auch die entsprechenden Schneeketten im Kofferraum lagen. Meine Gedanken beschäftigten sich auch mit dem Anruf. Sehr viel hatte ich nicht erfahren, ich wußte aber, daß es um ein Grundproblem ging, mit dem ich schon mehrmals konfrontiert worden war. Meine Gegner waren diesmal die Kreaturen der Finsternis, damit das Urböse, hinter dem Luzifer stand. Wie gefährlich und raffiniert diese Wesen vorgehen konnten, hatte ich am eigenen Leibe in dem Schweizer Skiort Pontresina erleben müssen, wo ich mit diesen Wesen zum zweitenmal in Kontakt getreten war und ich die größte Enttäuschung meines Lebens zu verkraften hatte, weil sich auch meine Freundin Jessica Long als Kreatur
der Finsternis entpuppt hatte. Ich wußte also, was mich möglicherweise erwartete. Aber das war nicht alles. Mein Freund Ignatius hatte von dem großen Kampf, von der gewaltigen Schlacht zwischen Gut und Böse gesprochen, und er hatte den Begriff Höllenzeit genannt. Uber ihn konnte man nun denken, was man wollte, aber der starke Hauch der Gefahr blieb dabei immer zurück. Wie weit diese Höllenzeit inzwischen fortgeschritten war, wußte ich nicht, sie stand jedenfalls als Drohung und Bedrohung über dem neuen Fall, und Father Ignatius wollte dagegen ankämpfen. Er hatte sogar das Kloster St. Patrick verlassen. Für mich hatte es sich so angehört, als wollte er dorthin nie mehr zurückkehren, um sich den neuen Aufgaben zu widmen. Das hieß im Klartext: Er würde aktiver werden. Dies als Mitglied der Weißen Macht, zu der auch Franca Simonis gehört hatte, die damals leider von Jessica Long getötet worden war. Franca und ich hatten uns gut verstanden. Ihr Tod hatte mir sehr leid getan. Es gibt in den Highlands zwar einige Straßen, aber nur wenig breite. Und keine davon führte direkt in die mächtigen Grampian Mountains hinein, die als steinerne Kulisse vor mir lagen. Zudem fing es an zu schneien. Es waren keine dicken, nassen Schneeflocken, die meinem Rover entgegenwirbelten, sondern sehr feine und körnige. Das war genau der Schnee, der liegenblieb und die Fahrbahn glatt machte. Noch kam ich dank der Winterreifen weiter. Wenn allerdings die Steigungen begannen, mußte ich die Schneeketten anlegen. Etwa die Hälfte der Strecke hatte ich hinter mich gebracht. Auf der Karte hatte ich mir bestimmte Punkte angestrichen, sie dann auch auswendig gelernt, und ich wußte, daß sehr bald ein kleiner Ort auftauchen würde, wo ich die Ketten anlegen und nachtanken konnte. Hinter diesem Ort fingen die Steigungen an. Ich hatte keine Lust, auf der Strecke stehenzubleiben. Es schneite, aber es war nicht allzu dunkel geworden. Hinter den Wolken und auch jenseits des Schneevorhangs stand noch die Sonne wie ein blasser weißlicher Ball, der mich an einen an den Rändern abschmelzenden Schneehaufen erinnerte. Das Licht tauchte die Gegend in ein helles Grau, in das sich der fallende Schnee hineinmischte. Die Flocken wirbelten vor der Frontscheibe, die Wischer schafften sie vom Glas weg, und zu beiden Seiten der Straße bekam die Landschaft allmählich eine weiße Farbe. Hin und wieder trieb eine Windbö den Schnee über die Fahrbahn. Auf der Straße hatte sich die nasse Pracht noch nicht festgesetzt, doch lange würde es nicht mehr dauern, bis ich mich durchwühlen mußte. Je mehr ich an Höhe gewann, um so dichter lag der Schnee auf der Straße.
Etwas verschwommen tauchte an der linken Seite das Ortsschild auf. Das Dorf hieß Farlaine, ich las den Namen in diesem Zusammenhang zum erstenmal, sah auch sehr bald die Häuser als graue, standhafte Schatten inmitten des Schneewirbels und konnte erkennen, daß sich der Rauch aus den Kaminen mit den Flocken vermischte. Häuser, kleine Läden, Kneipen, nur wenig Menschen auf den Gehsteigen und kaum fahrende Autos auf der Straße, das alles bekam ich am Rande mit. Die meisten Fahrzeuge hatten bereits eine weiße Haube bekommen. Sie standen an den Straßenrändern wie zugedeckte Ungetüme, die einfach nur schlafen wollten. Ich suchte nach einer Tankstelle. Jedes Kaff hatte doch eine. Zumeist lagen sie am Anfang oder am Ende des Ortes. Ich hatte bei der Einfahrt keine gesehen, vertraute auf das Ende der Ortschaft und wurde nicht enttäuscht. Durch den Schneevorhang schimmerte ein blaues Schild, das zudem noch von zwei Lichtern umgeben war, die es kaum beleuchteten. Mir fiel ein mittelschwerer Stein vom Herzen, denn der Spritvorrat hatte sich schon bedrohlich dem Ende zugeneigt. Ich ließ den Rover auf dem Gelände der Tankstelle ausrollen und bremste ihn neben der Säule mit dem bleifreien Sprit ab. Mit etwas steifen Gliedern stieg ich aus und schaute zur Straße hin, wo der Schnee noch immer als dichter Vorhang aus den tiefen Wolken wirbelte. Es sah nicht danach aus, als sollte sich das Wetter bald ändern. »Sie wollen in die Berge, Mister?« Ich hatte den Sprecher nicht kommen gehört, drehte mich um und sah den Tankwart vor mir. Er trug einen schmutzigen Overall, an dem er seine ebenfalls schmutzigen Handflächen abwischte, ohne sie allerdings sauber zu bekommen. Seine Strickjacke sah auch aus, als hätte sie schon bessere Zeiten erlebt. »Das hatte ich vor.« »Sieht nicht gut aus.« Er griff nach dem Schlauch. »Wollen Sie volltanken lassen?« »Ja.« Der Mann steckte den Metallhahn in die Öffnung, hakte den Abzug fest, trat zurück und schaute sich mit einem teils prüfenden und teils skeptischen Blick die Reifen an. »Habe ich etwas falsch gemacht?« erkundigte ich mich. Er schüttelte den Kopf. »Bisher nicht, Mister. Aber Sie können vieles falsch machen, wenn Sie jetzt weiterfahren.« »Ich weiß. Mir fehlen die Schneeketten.« »Genau.« »Die liegen im Kofferraum.«
Der Tankwart grinste mich an. »Wenn Sie bereit sind, die Dinger aufzuziehen, gibt es kaum Probleme. Wenn nicht, werden Sie irgendwann mal steckenbleiben.« »Ich werde es gleich nach dem Tanken in Angriff nehmen.« Der Mann druckste etwas herum. »Ich meine, für eine geringe Gebühr würde ich die Arbeit übernehmen.« Er zeigte mir seine Hände. »Ich bin schon schmutzig.« »Das wäre natürlich super.« Der Tankwart freute sich. Kunden waren um diese Zeit rar. »Ich muß leider fahren.« Er hängte den Schlauch wieder an die Säule. »Wo wollen Sie denn hin, wenn ich fragen darf?« »In die Berge.« »Da gibt es aber nichts mehr.« »Ich weiß. Nur eine Straße, ein paar Seen. Und die Sicht ist schlecht, weil es so stark schneit.« »Das haben Sie gut erfaßt, Mister.« Er nahm die Schneeketten entgegen, die ich ihm reichte. »Aber mich geht das nichts an. Machen wir erst mal neue Sohlen unter Ihre Reifen.« »Finde ich toll von Ihnen.« »Wissen Sie, ich will ja nicht hinterher mit einem Abschleppwagen kommen und Sie aus der Schlucht holen.« Er legte die Ketten um den ersten Reifen. »So etwas kann leicht passieren, und es wäre nicht das erstemal, daß man mich rausgeholt hat.« »Sie schleppen auch ab?« »Als einziger weit und breit.« Es dauerte knapp zehn Minuten, dann war alles erledigt. »Was bin ich Ihnen schuldig?« Er deutet auf sein Tankhaus. »Kommen Sie mit rein. Hier ist es zu ungemütlich.« Ich folgte ihm in eine kleine Bude, in der es nach Öl roch, aber auch nach Kaffee. »Trinken Sie eine Tasse mit?« Ich schaute auf die Uhr. Es war noch nicht mal Mittag. In zwei Stunden mußte die Strecke mit den Ketten zu schaffen sein, und auf die eine oder andere Minute kam es nicht an. Deshalb gab ich meine Zustimmung. »Holen Sie sich die Tasse bitte selbst, meine Hände sind zu schmutzig.« Er deutete auf ein Regal, wo nicht nur Tassen standen, sondern auch offene Blechbüchsen mit Zangen, kleinen Hämmern und Schraubenziehern. »Milch, Zucker?« fragte er. »Diesmal schwarz.« »Wunderbar, so nehme ich ihn auch.«
Wir blieben stehen, denn ich hatte lange genug gesessen. Der Tankwart war ungefähr in meinem Alter. Er redete gern, und so erfuhr ich, daß er zu den Aussteigern gehörte. Er war aus Glasgow gekommen und hatte sich hier vor elf Jahren mit seiner Tankstelle selbständig gemacht. In der Stadt war er nur angestellt gewesen, außerdem mochte er die Hektik nicht. »Das kenn’ ich von London her.« »Da ist es noch schlimmer.« Er winkte ab. »Ich war einmal dort – nie wieder.« »Ich habe mich daran gewöhnt.« Noch einen letzten Schluck nahm ich und stellte die Tasse auf das Metall einer Spüle. »So, jetzt muß ich aber zahlen.« Er nannte mir die Summe, die ich noch durch ein gutes Trinkgeld erhöhte, was ihn freute. »Tja«, sagte er und begleitete mich bis zur Tür. »Dann kann ich Ihnen nur eine gute Fahrt wünschen.« »Danke, die werde ich haben.« Er war noch mit nach draußen gekommen und trat gegen den rechten Hinterreifen. »Die Ketten sitzen gut. Sie werden damit keine Schwierigkeiten haben, wenn Sie sich an das Tempolimit halten.« »Mach’ ich doch glatt.« Ich stieg wieder in den Wagen, zerrte die Tür zu und startete. Der Rover vibrierte kurz, dann lief der Motor rund, ich fuhr an und winkte dem Tankwart noch zu. Wenig später, als ich die Ausfahrt in meinem Rücken wußte, machte ich doch große Augen, denn die Straße war unter dem Schnee kaum zu erkennen. Daß es so schlimm werden würde, damit hatte ich nicht gerechnet, aber mit den Ketten kam ich noch gut voran. Was die Anlage der Straße betraf, so hatte ich bisher Glück gehabt, jetzt aber begannen die Kurven. In zahlreichen Serpentinen führte sie in die Berge hinein. Manchmal waren die Kurven sehr eng. Plötzlich tanzte etwas über die Fahrbahn hinweg. Es kam von links, sah aus wie ein Tier, war aber kein Tier, wie ich sehr bald erkannte, denn die Gestalt hob keine Pfoten, sondern zwei Arme, mit denen sie heftig winkte und mich zum Halten zwingen wollte, was ich auch tat. Sehr vorsichtig trat ich auf die Bremse, und ich bekam bei diesem geringen Tempo keine Schwierigkeiten, den Rover in der Bahn und auf der Straße zu halten. Dicht vor der Gestalt kam der Rover zur Ruhe. Es war ein Mann, dereinen Arm hob und mit der flachen Hand leicht auf den Schnee der Kühlerhaube schlug. Ich hatte die Fensterscheibe nach unten gekurbelt, als der Mann neben dem Wagen auftauchte. Nun sah ich, daß er sehr klein war, kein Zwerg, aber doch ungewöhnlich klein. Er brauchte sich nicht mal großartig zu
bücken, um in mein Gesicht schauen zu können. Der Atem dampfte vor seinem breiten Mund, als er mich fragte: »Nehmen Sie mich mit, Mister?« Ich schaute ihn an. Gesehen hatte ich ihn noch nie in meinem Leben, aber er erinnerte mich an den verstorbenen Schauspieler Peter Loire, der als Star zwielichtiger Rollen zu Weltruhm gelangt war. Bei diesem Anhalter war das Gesicht auch slawisch breit, die Augen standen ziemlich weit auseinander, die Nase war klein und flach, der Mund viel zu breit, die Haut glatt, durch die Kälte leicht gerötet, und in den dünnen, dunklen Brauen tauten Schneeflocken. »Es kommt darauf an, wohin Sie wollen.« »In die Berge.« »Bei diesem Wetter. Da ist doch nichts.« Jetzt fange ich schon an wie der Tankwart, dachte ich. Der Mann grinste. »Sie haben ja recht, aber ich muß weiter. Mit dem Wagen schaffe ich es nicht. Ich habe Verwandte oben in Bucksfield, die mich erwarten. Natürlich können Sie den Geburtstag ohne mich feiern, aber das möchte ich Ihnen nicht antun.« Den Ortsnamen Bucksfield hatte ich auf der Karte gelesen. Er lag noch einige Meilen hinter meinem Ziel. »Sorry, aber bis dorthin fahre ich nicht.« »Wie weit denn?« »Ich will zu einem Kloster.« Der Mann überlegte. »Dort gibt es doch sicherlich ein Telefon, nehme ich an.« »Bestimmt.« »Dann könnte ich doch mit meinen Verwandten telefonieren. Wenn ich jetzt zurück in den anderen Ort laufe, ist die Strecke für meinen Bruder bei diesem Wetter viel zu weit. Würden Sie so freundlich sein und mich bis zum Kloster mitnehmen.« Ich lächelte. »Okay, Mister, steigen Sie ein. Zwar nehme ich nicht gern Anhalter mit, aber bei diesem Wetter muß man eben Ausnahmen machen.« »Danke, danke«, sagte er schnell und wischte dabei Wassertropfen aus dem Gesicht. »Nur einen Moment noch, bitte, weil ich eben meinen Koffer holen möchte.« »Tun Sie das.« Der Mann verschwand im Flockenwirbel, ging aber nur bis zum Rand der Straße, wo er stehenblieb, sich bückte und einen dort abgestellten Gegenstand anhob. Ich dachte über ihn nach. Sehr sympathisch war mir der Knabe in seinem schwarzen Mantel und der ebenfalls schwarzen Baskenmütze auf dem Kopf nicht. Aber man soll nicht nach dem Aussehen eines Menschen urteilen, niemand kann sich malen.
Trotzdem blieb bei mir ein komisches Gefühl zurück… Der Mann öffnete die linke Fondtür und stellte den Koffer in die Lücke zwischen den Sitzen. Dann stieg er vorne ein, nickte mir zu und sagte seinen Namen. »Ich heiße Jack Moran.« »Angenehm, John Sinclair.« Moran rieb seine Hände. »Nun, dann wollen wir uns mal eine gute Fahrt wünschen.« »Das sagen Sie mal laut«, sagte ich, startete und rollte wieder in den Flockenwirbel hinein… *** Jack Moran gehörte zu den Menschen, die nicht viel sprachen, aber immer auf der Höhe waren. Das erkannte ich an seinen dunklen Pupillen. Sie befanden sich in ständiger Bewegung, als wollten sie jedes Detail aufnehmen. Jede einzelne Schneeflocke und jeden Begrenzungsstein. Die Fahrt verlief im Prinzip ruhig, nur einmal gerieten wir in leichte Schwierigkeiten, denn in einer Kurve hatte der Schnee eine Eisfläche bedeckt, über die unser Wagen rutschte. Er schlingerte etwas, doch es war nicht weiter tragisch. Wir gewannen an Höhe, gerieten in dichte Wolken, kamen aber auch wieder aus ihnen hervor. Es war, als würden wir aus einer verwunschenen Unterwelt auftauchen und uns allmählich dem Licht und der Erlösung nähern, denn vor uns wurde es heller. Jack Moran atmete sehr laut durch, bevor er lachte. Es war das erste Mal, daß ich ihn lachen hörte. »Wenn Engel reisen, lacht der Himmel«, zitierte er und freute sich. Ich schaute gegen den Schneepuder vor der Scheibe. »Glauben Sie wirklich, daß es aufhört?« »Ja, davon bin ich überzeugt. Ich treibe mich nicht zum erstenmal in dieser Gegend herum und kenne den Winter.« Die Bemerkung machte mich mißtrauisch. »Wenn Sie den Winter so genau kennen, Jack, hätten Sie sich auch mit Schneeketten eindecken müssen und die Strecke allein geschafft.« »Das hatte ich, aber der Motor verreckte.« Er grinste bissig. »Wenn ein Wagen fünfzehn Jahre alt ist, muß man einfach damit rechnen. Geld für einen neuen habe ich leider nicht.« Ich hob die Schultern und vergaß seine Erklärung. Statt dessen interessierte mich das Wetter. Die Helligkeit vor uns blieb, und wir fuhren immer weiter auf sie zu. Wolkendecken zeigten Lücken, von grellen Sonnenstrahlen brutal zerrissen. Was uns da noch entgegenrieselte, war nicht mehr als ein schäbiger Rest.
Wir hatten eine relativ gute Höhe erreicht. Knapp dreitausend Fuß, und hier zeigte sich die Natur in ihrer strahlenden Schönheit. Das Panorama raubte mir für einen Moment den Atem, denn diese Hochebene lag wie gezeichnet vor uns. Berge hatten sich etwas zurückgezogen, als wollten sie das Panorama aus Wiesen und Wäldern nicht stören. Über allem hatte der Schnee seinen schimmernden Glanz gelegt, und ich setzte die Sonnenbrille auf, um nicht geblendet zu werden. Zwischendurch war die weiße Fläche durchbrochen. Dort lagen die kleinen Seen wie türkisfarben schimmernde Riesenaugen. Hinter einer langen einsehbaren Linkskurve reichte das Ufer des Gewässers sogar bis dicht an den Rand der verschneiten Straße heran. Der Beifahrer konnte das Wasser beinahe mit ausgestreckter Hand erreichen. Jack Moran reckte sich. »Da ich die Strecke kenne, kann ich Ihnen sagen, daß es nicht mehr weit bis zum Kloster ist. Wenn wir den großen See hinter uns gelassen haben, beginnt der Anstieg. Er zieht sich ungefähr zwei Meilen hin, ist sehr eng, aber mit den Schneeketten müßte es schon zu schaffen sein.« »Ja, das denke ich auch.« Der See rückte näher. Ich kurbelte die Scheibe nach unten, um frische Luft in den Wagen zu lassen, das war auch wichtig, denn der Mantel meines Beifahrers roch nach Mottenpulver. »Darf ich neugierig sein, John?« »Bitte.« »Was treibt Sie hoch in ein Nonnenkloster?« Auf diese Frage hatte ich gewartet und auch schon die entsprechende Antwort parat. »Ich möchte eine alte Tante besuchen, die dort seit über zwanzig Jahren lebt.« Er lachte und schlug dabei die Hände zusammen. »Das finde ich außergewöhnlich nett.« »So bin ich eben.« »Weiß nicht, ob ich die Nerven hätte, eine alte Tante dort zu besuchen. Kann ich mir nicht vorstellen.« »Es ist auch nicht für immer.« »Glaube ich schon.« Er zog die Nase hoch, schaute sich um und drückte sich im Gurt nach vorn, um ebenfalls die Straße zu beobachten, die jetzt direkt am See entlangführte. Zwischen ihr und dem Wasser befand sich noch ein schmaler, weißer Schneestreifen. Auf der Fahrbahn selbst lag auch Schnee, teilweise aber hatte der Wind ihn weggeweht, so daß der graue Asphalt durchschimmerte. Ich wurde etwas mutiger und fuhr schneller. Mein Nebenmann hatte sich im Sitz verkrochen. Er war so klein, daß er von draußen kaum gesehen werden konnte. Diesmal hatte er die Lippen gespitzt und pfiff einige Lieder vor sich hin.
Wieder fuhren wir über eine Eisschicht. Sehr deutlich hörte ich das Rumpeln der Ketten und ging etwas vom Gas. »Wenn sich der Wald zurückzieht, werden Sie das Kloster auf einer Anhöhe liegen sehen können. Es ist sehr einsam dort oben, aber man hat eine tolle Aussicht.« Er stieß mich an, ich drehte den Kopf, schaute auf ihn und nicht auf die Straße. Mein Fehler. Wir gerieten auf die linke Seite. Ich hörte meinen Nebenmann schreien, da rutschten wir schon über den Schnee. Ich lenkte gegen. Die Reifen faßten für einen Moment zu, doch Moran reagierte in seiner blinden Panik völlig falsch. Etwas zerrte an meinem Lenkrad. Ich hörte seinen zischenden Atem, sogar ein leises Knurren, und der Rover brach aus. Dabei bin ich nicht schnell gefahren, dachte ich noch, dann senkte sich die Kühlerschnauze sehr langsam wie unter einem schweren Gewicht. Unter dem Fahrzeug klatschte es, und plötzlich befanden wir uns nicht mehr auf der Straße, sondern im Wasser… *** Ich blieb ruhig, denn Panik war genau das, was ich nicht gebrauchen konnte. Wir schwammen. Es wurde auch so verdammt still um uns herum. Ich saß unbeweglich, war noch angeschnallt und schaute auf die weite Wasserfläche. Auf dem See trieben noch einige Eisschollen wie dicke Fettaugen auf der Suppe. Für einen irrwitzigen Moment überkam mich tatsächlich der Eindruck, in einem Bett zu sitzen, doch dem war leider nicht so. Ich hörte das schmatzende Gluckern und Schlürfen des Wassers, wobei wir tatsächlich in eine leichte Strömung geraten waren, denn wir trieben nach rechts hin ab und der Seemitte entgegen. Ich schaute auf Moran. Er hatte sich so groß wie möglich gemacht, klemmte, vom Gurt gehalten in seinem Sitz und bekam den Mund nicht mehr zu. Ob es ein Ausdruck der Angst war, konnte ich nicht beurteilen, es kam mir beinahe so vor, als hätte er Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Ich bewegte mich vorsichtig und löste den Gurt. »Wir dürfen auf keinen Fall die Nerven verlieren.« »Klar, klar.« Moran hechelte mehr, als daß er sprach. »Das dürfen wir bestimmt nicht.« »Bleiben Sie ruhig.« »Okay.« Eine wie mir schien graue Zungenspitze huschte durch den Lippenspalt und fuhr wieder in die Mundhöhle zurück. Dann schnallte sich Moran los. »Alles klar?«
»Noch, John. Ich frage mich nur, was ich getan habe, daß mir so etwas passieren muß.« »Sie hätten zu Fuß gehen sollen.« »Wie witzig.« Er umklammerte den Haltegriff. »Sagen Sie mal, John, gibt es da nicht einen Trick, wie man aus einem Wagen herauskommt, der dabei ist, abzusaufen.« »Den gibt es.« »Dann machen wir es wie im Film.« »Das denke ich auch.« »Nerven haben Sie.« »Es geht.« Das Wasser umspielte bereits mit gurgelnden Geräuschen meine Füße. Es war irgendwo eingedrungen, die Stelle konnte ich nicht sehen, und die Strömung trieb uns weiter. Zum Glück nicht zu weit vom Ufer weg, doch das Gewicht des Fahrzeugs machte sich schon bemerkbar. Wir sanken. Es geschah wie in einem Zeitlupentempo. Zuerst senkte sich die Kühlerhaube noch tiefer, damit die Wellen sie überlaufen und bis gegen die Frontscheibe klatschen konnte. Im Heck gurgelte etwas. Wieder legte sich der Wagen nach vorn. Für einen Moment schlugen die Wellen sogar über die Frontscheibe hinweg, verliefen sich aber wieder, und als ich einen Blick nach rechts warf, da krabbelten sie bereits in Höhe der Seitenscheibe. »Ich denke, jetzt wird es ernst, mein Lieber.« »War es das nicht schon immer?« Ich ging auf seine Bemerkung nicht ein, sondern sagte: »Wir warten bis zum nächsten Absacken. Dann werde ich die Scheibe nach unten kurbeln und das Wasser hereinströmen lassen. Klar?« »Immer noch.« Er kicherte, was ich wieder völlig unmotiviert fand. Der nächste Ruck erwischte uns. Als hätte sich jemand an der Bodenwanne festgeklammert. Ein schlimmes Geräusch entstand. Neben mir saß Moran, ohne sich zu bewegen. Er hielt den Mund offen, aus einem Winkel rann Speichel, beinahe schien er diesen intervallweisen Untergang zu genießen. Das Gurgeln, Schlürfen und Schmatzen tönte durch den Innenraum, als wären zahlreiche Wassergeister dabei, sich über uns zu amüsieren. Wenn ich hier rauskam, konnte ich meinen Koffer vergessen und auch meinen Mantel. Es reichte auch aus, nur das nackte Leben zu retten. Die Zeit verlief zwar normal, nur kam es mir nicht so vor. Ich hatte eher den Eindruck, alles langsamer zu erleben, um es auch auf eine gewisse Art und Weise genießen zu können, und ich wunderte mich darüber, wie sehr sich mein Begleiter in der Gewalt hatte. Wenn er überhaupt etwas tat, dann reagierte er sehr untypisch. Das Wasser stieg, weil wir gesackt
waren. Nur noch ein Fensterspalt war frei, durch ihn floß die restliche Helligkeit des Tages, ansonsten kam ich mir vor wie in einer Suppenschüssel. Das Wasser stieg weiter. Die Kälte biß an den Füßen. Dort bildete das Wasser eine schimmernde Pfütze. Ein häßliches Gurgeln übertönte unsere Atemzüge, der Wagen senkte sich noch einmal, dann gurgelte Wasser über das Verdeck hinweg. »Jetzt sitzen wir in der Scheiße!« kommentierte mein Nebenmann. Seine Stimme hatte sich nicht so angehört, als würde ihn diese Tatsache sonderlich berühren. Ich enthielt mich einer Antwort. Keine Ablenkung jetzt, denn in den nächsten Minuten kam es darauf an. Je tiefer wir sanken, um so stärker wurde der Druck. Ich kannte die Tiefe des Sees nicht. Zumindest in Ufernähe hätte er flacher sein müssen. Nichts von der Oberwelt war mehr zu sehen. Das Wasser hielt uns umschlossen. Ich kümmerte mich nicht um meinen Nebenmann, der plötzlich anfing zu summen. Meine rechte Hand hatte bereits den Griff umklammert, um das Wasser in den Wagen hereinzulassen. Erst wenn der Druckausgleich vorhanden war, konnte ich die Tür aufstoßen. Ich drehte an der Kurbel, schielte gegen die Scheibe und hatte eine beinahe schon abwehrbereite Haltung im Fahrzeug, als wollte ich jeden Moment aussteigen. Die Scheibe bewegte sich. Sie quietschte. Sie schien mir entgegenzukommen, aber es war das eisige Wasser, das in das Fahrzeug hineinströmte, mich überschwemmte, in das Gesicht klatschte, so daß mir auch die Kälte den Atem raubte. An der anderen Seite hatte Jack Moran ebenfalls an der Scheibe gekurbelt und sie nach unten fahren lassen. Das Wasser hatte auch dort freie Bahn. Es jagte in den Wagen hinein, eine breite, eisige Zunge, die über Moran zusammenschwappte. Ich hörte ihn schreien oder lachen, so genau wußte ich das nicht, denn ich war auch weiterhin damit beschäftigt, die Scheibe nach unten zu drehen. Ich wollte den Wagen so schnell wie möglich vollaufen lassen. Um hier länger als nötig zu sitzen, war das Wasser einfach zu kalt. Es stieg sehr schnell. Eine mit Eis gefüllte Wanne hielt meinen Körper fest. Neben mir hatte Moran die Beine angezogen. Er hockte auf dem Sitz, sein Kopf bewegte sich nach links und rechts, die Zunge fuhr wieder spitz aus seinem Mund, und seine Haut hatte sich verändert. Sie schimmerte bläulich. Wahrscheinlich lag es an der Anstrengung, am Streß den er fühlte. Er hatte meinen Blick gesehen und grinste. »Gleich werden wir aussteigen, nicht?« »Ja.« »Es steigt schnell.«
Ich gab keine Antwort. Außerdem wollte ich meine Kräfte sparen. Ich würde sie noch brauchen, falls es mir tatsächlich gelang, diesem Sarg unter Wasser zu entfliehen. Die eiskalte Klammer hatte bereits meine Brust erreicht und näherte sich dem Hals. Für mich war es einfach furchtbar, immer mehr einzufrieren. Konnte ich mich überhaupt noch bewegen? Dann überlegte ich, ob ich es schon versuchen sollte. Noch stand uns das Wasser nicht bis zum Hals, es war auch noch genügend Luft da. Einen Versuch war es zumindest wert, denn durch die Fensterlücke konnte ich mich nicht zwängen. Eine Bewegung an der linken Seite lenkte mich ab. Dort stemmte sich Jack Moran gegen die Tür. Er hatte den ersten Versuch unternommen, zudem war das Wasser bereits bis zu seinem Kinn gestiegen. Er mußte raus. Ich beugte mich zur Seite, weil ich ihm helfen wollte. Unter Wasser hatte er so seine Schwierigkeiten. Er tauchte kurz unter, schnappte nach Luft. Die Augen hielt er weit offen. »Ich schaffe es allein!« keuchte er und stieß mich zurück. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich rutschte wieder auf meinen Sitz und tauchte unter. Verdammt noch mal, dieser Moran benahm sich wie ein Irrer. Der war verrückt, dagegen mußte ich etwas tun. Wahrscheinlich hatte ihn doch die Panik überfallen. Ich kam wieder hoch. Wasser schwemmte über mein Gesicht. Natürlich auch in die Augen hinein, deshalb konnte ich zunächst nicht viel sehen. Allerdings bekam ich noch Luft, das eindringende Wasser hatte den Wagen noch nicht ganz ausfüllen können. Die Explosion riß mein Kinn fast entzwei. Vielleicht hätte sie es auch zerstört, wäre der Schlag nicht durch das Wasser abgemildert worden. Jedenfalls war ich völlig unvorbereitet erwischt worden, schlug um mich, stieß mit dem Kopf gegen die Scheibe und fühlte mich plötzlich so matt. Der Treffer hatte meine Reaktionen gelähmt, und ich dachte noch einmal über den Grund nach. Sehr bald merkte ich, wie ich mit den Armen paddelte. In meinem Kopf hatte sich ein dumpfes Gefühl ausgebreitet. Überall steckte Watte, hinter der Stirn war der Druck am größten. Ich drückte mich wieder hoch. Luft brauchte ich, schluckte dabei Wasser, denn der Spalt war verdammt schmal geworden. Nein, ich war nicht bewußtlos, nur dachte ich zu langsam. Die Tür durfte nicht geschlossen bleiben. Wenn das geschah, würde ich in meinem eigenen Rover elendig ertrinken. Die Bewegungen, die ich durchführte, liefen automatisch ab. Meine Hand fand den Hebel, ich zog ihn vor und stemmte mich dabei gleichzeitig gegen die Tür. An Moran dachte ich nicht mehr. Es ging jetzt um mein Leben.
Bewegte sich die Tür? Ich bekam es nicht richtig mit. Meine Sinne waren nicht darauf eingestellt, etwas so schnell wahrzunehmen. Jedenfalls kämpfte ich verzweifelt, versuchte auch, den Druck zu verstärken und spürte dann, daß die Tür nachgab. Ich kämpfte weiter. Dabei hielt ich die Luft an. Nur nicht den Mund öffnen und dieses eisige Wasser schlucken. Die Tür schwang auf. Ich war frei! Auf einmal und urplötzlich. Mein Körper trieb zur Seite und gleichzeitig nach vorn, hinein in das Eis, in die Hölle mit ihren unzähligen, kalten Armen, in den Tod, der alles vernichtete und erstarren ließ. Ich bewegte mich. Arme und Beine zog ich an und streckte sie aus. Ein unheimlich starkes Gewicht hing an meinem Körper. Die nasse Kleidung wollte mich immer in die Tiefe zerren. Ich brauchte Luft, alles andere war jetzt egal. Ich paddelte einfach weiter und merkte nicht mal, daß ich mit den Füßen durch den Schlamm am Boden streifte. Alles war mit einemmal hell. Die Sonne blendete mich, als ich die Augen aufriß, den Mund weit, weit öffnete und endlich die eisige Winterluft einsaugte. Geschafft! Luft bedeutet Leben. Ich stand bis zur Brust im Wasser und atmete tief durch. Es war anstrengend, aber auch so herrlich, endlich die Lungen wieder volltanken zu können. Aber die Kälte war gnadenlos. Meinen Körper spürte ich nicht mehr. Er hatte mich verlassen. Ich stand einfach nur da, umgurgelt von den Wellen, die hoch bis zum Kinn schwappten. Irgend jemand versetzte mir einen Stoß. Es konnte die innere Stimme gewesen sein, denn es hatte keinen Sinn, wenn ich länger hier im See stand. Ich mußte weg, ans Ufer, die Sachen ausziehen und… Das bei der Kälte! Jedenfalls ging ich. Meine Hände spürte ich so gut wie nicht. Die Füße ebenfalls nicht. Die Beine bewegten sich wie starke, steife Äste, meine Füße wühlten den Schlamm am Grund auf, er kochte in Wolken hoch, aber ich machte weiter. Nichts stoppte mich mehr, und ich erreichte das Ufer. Meine nassen Schuhe bewegten sich durch den Schnee. Ich ging weiter und wußte, daß ich nur nicht fallen durfte und dann liegenblieb. Auch jetzt konnte ich noch erfrieren. Aber mein Instinkt war nicht abhanden gekommen. Ich ging in die Sonne. In dieser Lichtinsel war es viel wärmer als im Schatten. Irgendwie würde ich dort schon klarkommen. Als ich mein Ziel erreicht hatte, da war es auch vorbei mit der Herrlichkeit. Plötzlich gaben meine Knie nach. Ich fiel in den Schnee.
Warum ich dabei lachte, wußte ich selbst nicht… *** Schwester Anna hatte den beiden Männern ein Mahl serviert. Sehr einfach, aber schmackhaft. Kartoffeln, Gemüse, ein Eintopf mit Hammelfleisch. In einem kleinen Nebenraum saßen sie sich gegenüber und aßen. Es stand hier nur ein Tisch, ansonsten war der Raum mit Bücherregalen bestückt, in denen es keine Lücken gab. Die Äbtissin war ein Büchernarr. Es war Mittag, die Sonne schien, doch unten im Tal sah es anders aus. Da fiel der Schnee in gewaltigen Mengen. Beide sorgten sich um ihren Besucher. Am Tisch saßen sie sich gegenüber, aßen, hingen ihren Gedanken nach und schauten auf, als die Nonne mit der Reibeisenstimme den Raum betrat, jedoch abwartend an der Tür stehenblieb. »Was ist geschehen?« fragte Bentini. »Bruder Shiram rief nach mir.« »Und?« »Er wollte etwas essen.« »Wie bitte?« Bentini ruckte den Stuhl zur Seite. »Er wollte wirklich etwas essen?« »Ich lüge Sie nicht an, Monsignore. Ich habe ihm dann von dem Eintopf gebracht und ihn auch gefüttert. Es ging ganz gut, muß ich sagen. Dann hat er sogar ein Glas Wein getrunken.« »Wein«, wiederholte Bentini, der die Wandlung noch immer nicht fassen konnte. »Sogar Rotwein.« »Wie schön für ihn. Es scheint ihm also besser zu gehen. Hat er sonst noch etwas getan?« »Nein, Monsignore. Er ist nach dem Essen eingeschlafen. Er wollte sich ausruhen.« Die Schwester nickte den beiden Männern zu. »Ich werde mich wieder zurückziehen und bin in der Küche, falls sie mich brauchen. Ich räume dort auf.« »Ja, ist schon recht.« Als Schwester Anna den Raum verlassen hatte, drehte Bentini sich und den Stuhl. Er schaute Father Ignatius an, wobei er den Kopf schüttelte. »Verstehen Sie das?« »Nein, noch nicht.« Der Monsignore starrte auf seinen Teller, als sähe er in den Resten des Eintopfs die Lösung. »Das ist so grundlos, wie ich finde. Er hat all die Zeit in einer Lethargie gelegen, doch plötzlich möchte er essen.
Praktisch ohne eine vorherige Ankündigung uns gegenüber. Da scheint sich bei ihm etwas anzubahnen, denke ich.« Ignatius legte den Löffel neben den Teller. »Es hat sich etwas verändert. Möglicherweise haben wir Bruder Shiram unterschätzt. Es kann sein, daß er diese Veränderungen gespürt hat. Menschen wie er sind oft übersensibel. Die spüren Dinge, die wir überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Die achten dann auf gewisse Strömungen und können daraus ihre entsprechenden Schlüsse ziehen.« Bentini wollte nicht so recht zustimmen. Er überlegte. Dann meinte er: »Geschehen ist nicht viel. Sie haben das Kloster besucht, und ich weiß nicht einmal, ob er Sie wahrgenommen hat. Die letzte Nacht ist gut verlaufen. Es gab keine Schwierigkeiten. Er hat in Ruhe durchgeschlafen. Auch seine Feinde sind ihm nicht auf den Fersen. Wir warten auf John Sinclair, damit wir ihn von hier wegbringen können, wenn er geredet hat. Und das ist der springende Punkt. Bisher hatte er nur Fragmente zum besten gegeben, ich aber glaubte, daß er sich auf dem Weg zur Besserung befindet und dann sprechen wird, wenn John Sinclair hier erschienen ist. Dann wird er wieder soweit hergestellt sein wie nötig. Deshalb sollten wir auch versuchen, uns mit ihm zu beschäftigen, wenn er aus seinem Schlaf erwacht ist.« »Ja, das dachte ich auch.« Bentini hob die Schultern. »Fragt sich nur, wann das soweit sein wird.« Ignatius aß den Teller leer, bevor er die nächste Frage stellte. »Glauben Sie, daß John Sinclair pünktlich eintrifft?« »Nein. Im Tal hat es geschneit. Er wird seine Schwierigkeiten haben. Aber Sinclair ist nicht dumm. Sicherlich hat er Schneeketten mitgenommen. Ich rechne damit, daß er sich um eine oder zwei Stunden verspätet. Alles andere wäre unnormal.« »Stimmt. Dennoch bleibt mein ungutes Gefühl.« Ignatius lehnte sich zurück. »Sein Wagen ist mit einem Telefon ausgestattet. Er kennt die Nummer des Klosters, er hätte anrufen können.« »Wegen der Verspätung?« »Ja.« Bentini winkte ab. »Nehmen Sie doch nicht alles so tragisch, Bruder. Ich rechne damit, daß John Sinclair schon weiß, wie wir…« »Nein, nein, Monsignore. So einfach ist das nicht. Ich kenne ihn, zudem habe ich ein dummes Gefühl. Ich kann es Ihnen nicht genau erklären, aber es fließt meinen Rücken hinab, und es sagt mir, daß sich etwas anbahnt. Wissen Sie eigentlich, daß es mir hier zu ruhig gewesen ist?« Bentini kam da nicht mit. »Zu ruhig?« »Ja, es war nichts los. Wir wissen, daß unsere Feinde nur darauf lauern, uns eins auswischen zu können. Es ist doch durchaus möglich, daß sie Bescheid wissen und versucht haben, unserem Besucher Steine in den Weg zu legen.«
»Nur eine Vermutung. Ihnen fehlen die Beweise.« »Leider.« »Wir werden trotzdem warten, Bruder.« »Das versteht sich. Nur bin ich skeptisch. Halten Sie mich für einen alten Spinner oder Miesmacher, doch ich traue dem Braten nicht. Und ich sage Ihnen auch, daß wir es noch nicht geschafft haben. Sie haben mir erzählt, daß Sie Bruder Shiram gern im Hauptquartier im Vatikan haben wollen. Dagegen ist nichts einzuwenden, auch ich bin der Ansicht, daß er dort in Sicherheit ist. Aber… «, und jetzt legte Ignatius eine kleine Pause ein, »noch haben wir es nicht geschafft. Der Weg dorthin ist sehr weit. Da kann einiges passieren. Daß die Kreaturen der Finsternis mit allen magischen Wassern gewaschen sind, wissen wir beide, und sie werden auch zahlreiche Möglichkeiten kennen, um zu verhindern, daß Shiram sein Ziel erreicht.« Der Monsignore lächelte freudlos. »Wenn man Sie hört, Bruder, klingt das pessimistisch.« »Realistisch.« »Sie haben niemals zuvor mit den Kreaturen der Finsternis zu tun gehabt, denke ich.« »Zum Glück nicht.« »Aber Sie tun so, als würden Sie diese genau kennen.« »Das ist schon richtig. Ich weiß eben, welche Kräfte sie mobilisieren können. Ich habe die Angriffe schrecklicher Dämonen erlebt. Ich weiß nicht genau, ob sie zu den Kreaturen der Finsternis zählten, irgendwo gehören sie ja alle dazu, aber für mich steht fest, daß wir diesmal verdammt auf der Hut sein müssen. Wir können uns nicht den geringsten Fehler erlauben. Wir müssen sogar damit rechnen, daß sie hier im Kloster erscheinen und dabei mit allen Tricks versuchen werden, zumindest Shiram zu töten.« Bentini nickte. »Im Prinzip denke ich auch so. Was mich nur etwas optimistischer macht, ist dieser Ort hier. Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß diese Wesen des Bösen gerade auf diesen Ort scharf sind. Hier würden sie sich auf keinen Fall wohl fühlen, denn hier sind genau die Dinge konzentriert, die sie verachten.« »Wenn es sein muß, springen Sie über ihren eigenen Schatten!« erklärte Ignatius. Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Ich werde mal nach ihm sehen.« »Und dann?« »Vielleicht halte ich an seinem Bett auch Wache.« Der Monsignore seufzte. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können. Ich werde Sie dann ablösen.« »Ist gut.« Ignatius verließ den Raum. Als er im Gang stehenblieb, holte er tief Luft. Es war schade gewesen, daß er den Mann aus Rom nicht hatte
überzeugen können. Wahrscheinlich war der Monsignore noch zu sehr Theoretiker, der die Gefahr in der Praxis nicht kennengelernt hatte. Hinzu kam seine Sorge um John Sinclair. Wenn die andere Seite wußte, daß er unterwegs war, dann würde sie auch Vorkehrungen treffen, um ihn daran zu hindern, das Kloster zu erreichen. Nein, es lief nicht gut… Father Ignatius ging nicht in Bruder Shirams Zimmer, sondern suchte sich ein Fenster aus, von dem er eine gute Aussicht hatte. Es lag dort, wo sich die Nonnen trafen, um die Mahlzeiten einzunehmen, ein Speiseraum, der hell und freundlich war. Er stand im Gegensatz zu der Düsternis des Klosters. Ignatius zog ein Fenster auf und tankte die frische Luft. Hier oben lag Schnee, aber es schneite nicht mehr. Dafür zeigte sich der Himmel in einem herrlichen Blau. Es sah aus wie gemalt, und nur über den fern wirkenden Bergen hatten sich einige Wolken zusammengezogen. Ins Tal konnte er nicht direkt schauen. Nur einen Teil des Sees erfaßte er mit seinem Blick. Dort führte auch die Straße entlang, über die John kommen mußte. Sie war leer und bildete durch den Schnee eine weißgraue Spur. Wo blieb John Sinclair? Father Ignatius hob die Schultern. Er wußte es nicht, aber die Sorgen blieben. Irgendwann drehte er sich um und ging. Seinen Platz fand er jetzt an Bruder Shirams Bett. Als er die Halle am Eingang betrat, hörte er Schritte. Aus einer offenen Tür erschien Schwester Anna. Sie trug einen mit Abfällen gefüllten Eimer, um ihn im Garten auszuleeren. Sie erschreckte, als sie die düster wirkende Gestalt des Mönchs sah. »Huch, wollen Sie nach draußen?« »Nein.« »Aber ich.« »Lassen Sie mal, ich bringe den Eimer schon weg.« Entschieden schüttelte Schwester Anna den Kopf. »Das ist einzig und allein meine Sache. Sie, Bruder, sind da, um sich um andere Dinge zu kümmern.« Ignatius lächelte. »Da haben Sie bestimmt recht. Mal eine Frage. Wie geht es unserem Bruder Shiram?« »Gut, denke ich. Er schläft noch.« »Hervorragend. Eine andere Frage, Schwester. Ist Ihnen hier im Kloster etwas aufgefallen? Sie sind sehr lange hier. Haben Sie irgendeine Veränderung gespürt?« »Nein, überhaupt nicht. Es sei denn, Sie sprechen damit die Leere hier an.« »Die meine ich nicht.« Ignatius lächelte. »Ich weiß auch nicht, wie ich mich ausdrücken soll, denn ich denke da nicht an äußerliche
Veränderungen, sondern mehr an die Atmosphäre zwischen den Wänden des Klosters. Hier kann etwas eindringen wie Gift. Das Böse, das man nicht haben will, Schwester.« Sie schaute ihn verwundert an. »Nein, Father Ignatius, nein, davon habe ich nichts gespürt. Ich bin auch nicht genau über Bruder Shiram informiert. Er ist, wie mir scheint, vom rechten Weg abgekommen, doch die Ruhe hier tut ihm bestimmt gut. Ich weiß, daß Sie einen Angriff des Bösen erwarten, doch gespürt habe ich nichts. Auch nicht in der vergangenen Nacht.« »Danke.« Schwester Anna hob den Eimer wieder an. »Wenn Sie irgendwelche Wünsche und Fragen haben, Sie finden mich in meinem Reich.« »In der Küche.« »Ja. Oder am frühen Abend in der kleinen Kapelle.« Sie ging an Ignatius vorbei und auf eine der rückseitigen Türen zu, um in den Klostergarten einzutauchen. Auch Ignatius blieb nicht länger in der Halle stehen. Sein Gesicht hatte sich verdüstert. Der Schwester war nichts aufgefallen, dem Monsignore ebenfalls nicht. Warum aber machte er sich dann so große Sorgen? Bildete er sich das ein? Das war noch nie passiert, dem wollte Ignatius auch nicht zustimmen. Da mußte etwas anderes vorgefallen sein. Es lag in der Luft. Es war noch relativ weit entfernt, aber es kam näher, das spürte der Mönch genau. Mit festen Schritten ging er zum Krankenzimmer. Der Vorhang war zurückgezogen. Er hörte die tiefen Atemzüge des Mannes, als er die Tür öffnete. Auf dem Nachttisch brannte noch immer die Lampe, sie schickte ihr Licht über die ruhende Gestalt. Ignatius holte sich einen Stuhl. Er stellte ihn neben das Bett, nahm Platz. Sein Blick streifte das Gesicht des Schlafenden. Abgesehen von der verbrannten Hälfte, sah es auf keinen Fall entspannt aus. Eher verzerrt, als würde dieser schlafende Mensch von bösen Träumen gequält… *** Ich war nackt! Ja, ich hatte keinen Fetzen mehr am Leib. Alles hatte ich ausgezogen und war mir dabei vorgekommen wie jemand, der Mühe hatte, auch nur den kleinsten Finger zu bewegen, denn alles an und in mir war so verdammt kalt. Was ich danach tat, sah im ersten Augenblick zwar wie verrückt aus, aber es hatte einen Sinn, denn das Einreiben des Körpers mit Schnee förderte die Durchblutung. Es brachte den Kreislauf in Gang, machte
mich warm und sorgte dafür, daß ich nicht einfror, und ich gab auch nicht auf. Ich hielt eisern durch. Ich rieb und rieb, so daß die Haut sich rötete und aussah, als würde sie in Flammen stehen. Niemand beobachtete mich dabei. Kein Wagen passierte diese Stelle, aber welcher Fahrer hätte schon einen nackten Mann mitgenommen. Wichtig war nur, daß ich lebte. Ja, ich, aber wo steckte dieser Jack Moran? An ihn hatte ich während des Einreibens öfter gedacht, doch mir war keine Antwort eingefallen. Er mußte verschwunden sein, denn ertrunken war er wohl nicht. Nein, nicht dieser Typ. Der gehörte zu der Sorte Überlebenskünstler, und je länger ich über ihn nachdachte, um so mehr sah ich ihn als negative Existenz an. Ich dachte an sein Verhalten, an seine Reden, an die Gespräche, die wir geführt hatten, und im nachhinein mußte ich auch an den Treffer denken, der mein Kinn erwischt hatte. Das war kein Zufall gewesen. In der Hektik hätte dies durchaus passieren können. Nicht bei ihm. Dieser Mann hatte nach meinem Kinn gezielt. Er hatte gewollt, daß ich bewußtlos wurde, und nur das Wasser hatte den harten Treffer gebremst. Ich war wirklich nicht so leicht k.o. zu schlagen, dieser Hieb war wie ein Hammerschlag gewesen, und wenn ich über mein Kinn fuhr, dann spürte ich noch jetzt die Nachwirkungen. Es war etwas geschwollen und hatte sicherlich auch eine andere Farbe angenommen. Das ärgerte mich. Auch deshalb, weil ich diesem kleinen Kerl nicht mit dem gehörigen Mißtrauen begegnet war. Wenn alles stimmte, was ich mir ausgedacht hatte, dann war er von der anderen Seite geschickt worden, um mich aufzuhalten. Man wußte Bescheid. Ich fluchte leise vor mich hin, was allerdings mehr einem Keuchen gleichkam, noch immer stand ich unter einer hohen Anstrengung. Kein Atem floß mehr normal über meine Lippen. Ich war durch das Rubbeln erschöpft, aber Ruhe konnte ich mir nicht gönnen. Ich wollte so schnell wie möglich hoch zum Kloster, auch wenn ich jetzt zu Fuß hinlaufen mußte. So gut es ging, rieb ich den Schnee von meiner geröteten Haut ab und ging dann zu meiner Kleidung, die ich auf dem Boden ausgebreitet hatte. Sie lag in der Sonne, sie dampfte sogar. Ich schaute zu dem hellen Ball hoch und wünschte mir, daß er jetzt, im März, die Kraft des Sommers haben würde. Leider war das nicht möglich. Die Natur ließ sich eben nicht überlisten, und so blieb mir nichts anderes übrig, als die feuchte Kleidung anzuziehen.
Kaum spürte ich die Unterwäsche auf der Haut, zog diese sich zusammen. Trotz guter Durchblutung fing ich an zu frieren, ich klapperte mit den Zähnen, aber ich biß mich durch und zog alle feuchte Lappen wieder an. Sogar Wasser kippte ich aus den Schuhen. Das Leder war steif geworden, aber es würde sich geben, wenn ich wieder lief. Auf der Straße blieb ich stehen. Das Kloster war von dieser Stelle aus zu sehen. Einige Meilen mußte ich laufen. Auch ein Grinsen huschte über meine Lippen. Ich stellte mir Sir James’ Gesicht vor, wenn er erfuhr, in welch einer >Garage< der Dienstrover jetzt stand. Ich hatte mein Bestes getan, die Umstände waren gegen mich, und die waren für mich greifbar, weil sie auch einen Namen hatten Jack Moran. Auf ihn konzentrierte ich mein Denken. Ich ging einfach davon aus, daß er hinter allem steckte. Er war der Mann, der mich hatte aufhalten wollen, er war derjenige, der zur anderen Seite gehörte. Er hätte es beinahe geschafft, und ich fragte berechtigterweise nach, wo er sich jetzt befand. Spuren hatte ich keine entdecken können. Er war verschwunden, einfach wie weggeschmolzen, doch ich konnte mir ebenfalls vorstellen, daß er seine eigentliche Aufgabe doch nicht beendet hatte. Für ihn ging es weiter. Sein nächstes Ziel lag bestimmt nicht in einem Dorf im Tal, sondern weiter weg. Mein Blick streifte das Gemäuer des Klosters. Wieder fror ich. Diesmal allerdings war daran nicht die Kälte schuld… Auch Schwester Anna genoß die warme Märzsonne. Sie trat hinaus in den Garten, der noch sehr winterlich aussah. Wo Beete abgedeckt waren und einige sogar unter einer Glashaube verschwanden. Schmale Pfade durchkreuzten den Garten. Einer von ihnen führte dorthin, wo die Nonnen einen Zaun errichtet hatten. In seinem Winkel befand sich ihre Schmuddelecke denn dort stand der Komposthaufen. Die Schwester ließ sich Zeit. Sie ging gern durch die Sonne, und sie dachte auch nicht so mißtrauisch wie Father Ignatius. Zwar wußte die Nonne, daß es das Böse gab und es auch immer wieder versuchte, Einfluß in der Welt zu gewinnen, dagegen standen jedoch Trutzburgen wie dieses Kloster hier oben. Nie hatte sich die Frau hinter diesen Mauern unsicher gefühlt. Im Gegenteil, in der >normalen< Welt war sie nur unzureichend zurechtgekommen, und so hatte sie ihre Besuche dort im Laufe der Jahre immer mehr reduziert. Das Kloster und dessen herrliche Umgebung war ihre Welt. Zudem kamen genügend Besucher im Sommer, die von der Welt draußen berichteten und von Schwester Anna gern bewirtet wurden.
Vor dem Komposthaufen blieb sie stehen und stellte fest, daß die Holzbalken erneuert werden mußten, denn sie waren an der Westseite ziemlich faul. Die Nonne hob den Eimer an, stellte ihn für einen Moment auf den Rand und leerte ihn dann aus. Dabei schaute sie zu, wie der Abfall auf den übrigen Kompost klatschte und sich mit dem weichen Zeug vermengte. Im Sommer würden sich hier wieder die Schmeißfliegen versammeln, um diese noch kalte Jahreszeit herum war das kein Thema. Mit den Händen holte sie noch die letzten Gemüseschalen aus dem Eimer, wandte sich wieder ab und ging zurück. Diesmal schien ihr die Sonne ins Gesicht und blendete sie. Schwester Anna genoß die Wärme und freute sich auf den Frühling. Sie hätte auch blind durch den Garten gehen können, so gut kannte sie sich hier aus. Nur wenige Minuten brauchte sie, um die Tür zu erreichen. Dort stellte sie den Eimer wieder für einen Moment ab, denn die Tür war zugefallen. Da hörte sie die Stimme. »He, Schwester…« Die Nonne erstarrte. Sie duckte sich. Das Herz klopfte schneller. Mit dieser Männerstimme hatte sie nicht gerechnet. Sie wußte auch nicht, wer sie angesprochen hatte, denn diese Stimme war ihr unbekannt. Sie drehte sich nach links. Neben einem struppigen Gebüsch stand ein Mann, ein Fremder, und die Nonne erschrak im ersten Augenblick, weil er auf sie einen so fremden Eindruck machte. Das konnte an der Größe, an der dunklen Kleidung, aber auch an der Baskenmütze liegen, und sie stellte fest, daß der Mann zitterte. Der Grund dafür war wohl seine Kleidung, die den Körper wie ein feuchtes Tuch umhing. Das Gesicht des Mannes wirkte auch fremd. Es war zu groß für einen Körper, auch zu breitflächig, die Augen standen weit auseinander, die Nase war flach, der Mund breit, die Haut schimmerte bläulich. Der ganze Kerl befand sich in einem erbarmungswürdigen Zustand, und das Herz der Schwester schmolz dahin. »Wer sind Sie?« »Ich heiße Jack Moran.« »Und wo kommen Sie her?« »Ach«, er winkte ab. »Das ist eine lange Geschichte.« Er deutete zum Himmel. »Sie können sich nicht vorstellen, wie das Wetter unten im Tal aussieht. Ich… ich war so dumm und bin mit einem Motorrad gefahren. Habe leider nicht mehr daran gedacht, daß ich von einem regelrechten Schneesturm überfallen werden könnte. Nun ja, da ist es eben passiert. Ich kam nicht mehr weiter, die Straße war zu glatt. Ich… ich verunglückte
und bin noch mit der Maschine in den See gerutscht. Ich konnte mich retten, aber die Maschine ist hin.« Schwester Anna strich mit einer Hand über ihre linke Wange. »Himmel, das ist ja schlimm gewesen, aber Sie leben, das ist wichtig.« Er nickte und wischte über sein Gesicht. »Ja, ich lebe, nur komme ich mir vor wie ein Eiszapfen, den man auf ein Schüttelrost gestellt hat.« »Das kann ich mir denken. Sie sind ja völlig durchgefroren.« Moran nickte. »Sie haben recht. Wenn Sie so gütig sein würden, Schwester, mir vielleicht etwas Heißes zu trinken bringen, wäre ich Ihnen sehr dankbar.« »Nein, nein, das auf keinen Fall. Sie kommen mit in die Küche. Dort können Sie sich aufwärmen. Ich werde Ihnen auch eine Decke geben.« Er lächelte. »Wenn Sie das tun würden, Schwester, fände ich es unwahrscheinlich toll.« »Natürlich mache ich das. Kommen Sie nur mit.« »Danke.« Die Schwester öffnete die Tür. Das Lächeln des Mannes war ihr wohl aufgefallen, doch sie wußte nicht, was dahintersteckte. Sie hatte es als freundlich empfunden, an einen teuflischen Ausdruck hatte sie dabei nicht im Traum gedacht. Er blieb dicht hinter ihr, als sie das Kloster betraten. Und als er sprach, da flüsterte er nur. »Es kommt mir so leer vor. Wo sind denn Ihre Schwestern.« »Nicht mehr hier.« »Die machen wohl einen kleinen Betriebsausflug, wie?« »So kann man es nennen.« Anna hatte gesprochen, ohne sich umzudrehen. Sehr bald stellte sie fest, daß der Mann nicht hinter ihr blieb, sondern neben ihr herging und dabei versuchte, so leise wie möglich zu sein. Er schaute sich auch um, wobei seine Blicke mehr den von der Halle abzweigenden Türen galten. »Wo bringen Sie mich denn hin, Schwester?« »In die Küche.« »Ah, das ist gut.« »Wieso?« »Ich liebe Küchen.« Anna mußte lachen. »Ich auch, Mister.« »Dann haben wir ja etwas gemeinsam.« Vor der Küchentür blieb die Nonne stehen. »Sie sollten übrigens dem Herrgott danken, daß Sie mit dem Leben davongekommen sind. Wie leicht hätten Sie in diesem eiskalten Wasser ertrinken und auch erfrieren können.« »Ja, da haben Sie recht.« »Wenn Sie wollen, können wir später gemeinsam in die Kapelle gehen und dort beten.«
Sein Lächeln war falsch wie Katzengold. »Darauf werde ich mich vorbereiten, Schwester. Ich freue mich jetzt schon.« »Nett, daß Sie so denken.« Moran atmete auf, als die Nonne endlich die Küchentür öffnete, und er hinter ihr eintreten konnte. Die beiden gelangten in einen großen Raum. In der Mitte stand ein wuchtiger Holztisch, an den Wänden bauten sich die Regale auf, wo Geschirr und Töpfe untergebracht waren. In einem großen Ofen war das Feuer. Hier wurde noch gekocht wie zur Jahrhundertwende. Zwar stand auch ein Elektroherd bereit, doch er sah ziemlich unbenutzt aus. Die Fenster der Küche waren klein und an der oberen Seite mit Rundbögen versehen. Als die Tür wieder zugefallen war, blieb Moran stehen und stemmte seine Fäuste in die Hüften. »Schön haben Sie es hier«, erklärte er. »Wirklich sehr schön.« »Ja, ich fühle mich auch wohl.« »So eine Küche findet man selten.« Schwester Anna zog einen Stuhl vom Tisch weg. »So, am besten ist, wenn Sie ihren Mantel ausziehen und sich dann hinsetzen. Ich werde Ihnen eine Decke holen.« »Danke, das ist nett.« Er öffnete den Mantel, zog ihn aus und hängte ihn an einen Haken neben der Tür, wo auch Kittel und Schürzen hingen. Anna hatte mittlerweile die Tür eines Einbauschranks geöffnet. Dort bewahrte sie nicht nur das Putzgerät auf, sondern auch eine braune Decke. Die Küche war sauber. Selbst in den durch die Fenster fallenden Sonnenstrahlen tanzten kaum Staubpartikel. Der Mann hatte sich jetzt, als Anna hinter ihn trat und ihm die Decke über die Schulter legte, fest darin eingehüllt. Auch seine dunkle Jacke und der Pullover waren feucht geworden, die Unterwäsche klebte am Körper, Jack mußte zweimal niesen, was der Nonne gar nicht gefiel, da sie um die Gesundheit des Mannes besorgt war. »Hoffentlich holen Sie sich keine Lungenentzündung, Mister Moran.« »Ich bin abgehärtet.« »Das soll man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Möchten Sie Tee?« »Gern.« »Das dachte ich mir doch.« Die Nonne ließ Wasser in einen Kessel laufen und setzte ihn anschließend auf die Feuerstelle. Moran beobachtete sie dabei, und immer dann, wenn sich ihre Blicke trafen, lächelten sich die beiden unterschiedlichen Menschen zu. Dabei fiel es Schwester Anna nie auf, daß das Lächeln des Mannes seine Augen nicht erreichte. Sie blieben so kalt, als wäre dort dunkles Wasser zu Eis gefroren.
Für Moran war es wichtig, erst einmal >drin< zu sein. Alles andere würde sich ergeben. Er grinste innerlich, als er an Sinclair dachte. Hoffentlich hatte er ihn so hart erwischt, daß er ertrunken war. Wenn nicht… daran wollte er nicht denken und konzentrierte sich zunächst auf seine Umgebung. Ihm war eine Konsole oder ein altes Sideboard aufgefallen, in das dicht unter der Platte drei Schubladen eingebaut waren. Moran konnte sich gut vorstellen, daß die Nonne dort die Bestecke aufbewahrte, unter anderem auch Messer… Sie war in ihrem Element, lächelte ihren Gast spitzbübisch an und sprach davon, daß sie noch Kuchen hatte. »Das ist doch nicht nötig.« »Sie müssen, und meine beiden anderen Gäste werden schon nicht verhungern.« »Oh – Sie haben noch weitere Wanderer aufgenommen?« »Nein, keine Wanderer, zwei Mönche.« Die Schwester plauderte unbefangen weiter. »Sie werden auch nicht lange bleiben, denke ich, denn sie haben noch andere Aufgaben zu erfüllen.« »Was tun sie denn hier? Sind deshalb ihre Mitschwestern aus dem Kloster geflüchtet?« Er lachte, weil sich die Frage anhören sollte wie ein Witz. Am Schrank stehend drehte sich die Nonne um. »Das auf keinen Fall, sie haben andere Aufgaben zu erledigen.« Moran nickte. Nachfragen wollte er nicht mehr, das hätte ihn verdächtig gemacht. So schaute er zu, wie die Nonne den mit Kuchen gefüllten Teller auf die Tischmitte stellte. »So, Mr. Moran, jetzt dürfen Sie sich bedienen.« »Danke, aber ich möchte warten, bis Sie den Tee zubereitet haben.« »Das wird gleich soweit sein.« Sie deutete auf den Kessel. »Das Wasser kocht schon. Die Kanne steht ebenfalls bereit, ich muß noch die beiden Tassen holen.« Als sie das tat, erhob sich Jack Moran. Er ging mit möglichst leisen Schritten zum Sideboard und blieb so dicht davorstehen, daß die vorspringenden Knöpfe der Schubladen ihn beinahe berührten. Er hatte den Blick nach unten gerichtet, lächelte, schaute noch einmal nach links, wo die Schwester werkelte und völlig ahnungslos war. Er drehte sich in die andere Richtung und räusperte sich dabei einige Male, weil er vermeiden wollte, daß die Frau das Geräusch der sich öffnenden Schublade hörte, denn sie kratzte in den Holzfugen. In ihr glänzte es, und auch die Augen des Mannes nahmen einen harten Glanz an. Messer, Gabeln, Löffel, wie auf dem Präsentierteller lagen die Bestecke vor ihm.
Doch auch Messer, die nicht dazugehörten. Es waren die mit der breiten Klinge, mit ihnen konnte man Fleisch schneiden, und sogar ein kleines Metzgerbeil sah er. Es lag auf der Seite, in der glatten Klinge spiegelte sich sein Gesicht als verschwommener Schatten. Er griff nach dem Beil! Kaum hatte er Kontakt, als er den Strom spürte, der wie heiße Lava durch seine Adern glitt. Es war der Fluß der Gewalt und gleichzeitig der der Veränderung und der Wahrheit. Aus seinem Mund drang ein Knurren. Der Mann duckte sich. Dann zog er das Beil hervor und drehte sich langsam um… *** Die Nonne hatte es aufgegeben, über den Besucher nachzudenken. Sie wurde aus ihm einfach nicht schlau, weil er sich ihrem Geschmack nach zu wechselhaft benahm. Einmal konnte er richtig freundlich sein, zum anderen lag in seinen Fragen stets ein gewisses Lauern, wie auch manchmal in seinen Augen. Das war ihr besonders nach dem Eintritt in das Kloster aufgefallen, und ihr kam zwangsläufig der Gedanke, ob die Hilfsbereitschaft doch nicht ein Fehler gewesen war. Aber hätte sie ihn draußen in der Kälte stehenlassen sollen? Dann wäre er möglicherweise erfroren. Sie schaute zu, wie das Wasser aus der Halsöffnung des Kessels in die Kanne rann, auf deren Boden sich schon die dunklen Teeblätter ausgebreitet hatten und ihn wie eine dünne Schicht bedeckten. Das Wasser vermischte sich mit dem Tee und schickte der Frau den ersten Duft entgegen. Sie hatte auch bemerkt, daß ihr Besucher nicht mehr an seinem Platz stand. Im ersten Augenblick war sie irritiert, dann entdeckte sie ihn an der Konsole. Allerdings hatte er sich gedreht und zeigte ihr den Rücken. Dabei sah er aus, als hätte er eine Schublade aufgezogen. Der Kessel war leer, die Frau stellte ihn wieder auf den Ofen zurück und wollte den Deckel auf die Kanne drücken. Dazu kam es nicht mehr. Moran drehte sich um. Langsam, sehr langsam. Sie sah dabei seinen linken Arm, der lang am Körper herabhing, den rechten konnte sie zwar auch sehen, der aber war angewinkelt, und auch die Hand war für die Nonne unsichtbar. Er schaute sie an. Sie blickte ihn an. Und plötzlich wußte sie, wie der Teufel aussah. Ja, so wie dieser Mensch vor ihr, der beides zugleich war. Trotz seines normalen Gesichts schimmerte dahinter eine zweite Fratze. Sie glühte in einem grellen und hellen Rot und hatte ein breites Maul und eine Schnauze, die in ihrer Form an eine Spitzmaus erinnerte, wenn auch wesentlich länger und
entsprechend breiter. Zudem konnten Mäuse nicht diese Reißzähne haben wie eben das Maul des Mannes. Dann entdeckte sie die Waffe in seiner rechten Hand. Es war das Fleischerbeil, dessen Griff er so hart festhielt, daß sich die Haut über den Knöcheln spannte. Von ihm ging etwas aus, das sich die Nonne nicht erklären konnte. Etwas Gewalttätiges, Furchtbares, Grauenhaftes. Der Teufel hatte seine Arme ausgestreckt, und auch die Mauern des Klosters hatten ihn nicht aufhalten können. Sie schluckte den bitteren Speichel herunter und wußte, daß es der >Geschmack< der Angst war. Moran kam näher. Sein Gesicht veränderte sich dabei. Es konnte sich nicht entscheiden, welchen Ausdruck es annehmen sollte. Mal trat das normale Gesicht in den Vordergrund, dann schob sich wieder diese rote Fratze vor, die voller Feuer zu stecken schien. Die Nonne hatte nie von den Kreaturen der Finsternis gehört, geschweige, eine aus ihrer Mitte gesehen. Nun aber stand dieses höllische, uralte, dämonische Wesen vor ihr, und sie wußte mit einer glasklaren Sicherheit, daß sie ihren Tod wollte. Sterben. Nicht mehr leben. Blutend auf dem Steinboden der Küche zusammensinken! Das schoß ihr durch den Kopf. Anna öffnete den Mund und brachte die Worte stockend hervor. »Heilige Maria, bitte…« Ein böses klingendes Kichern unterbrach sie. »Die wird dir auch nicht helfen, Frau. Du wirst sterben, alle hier werden sterben. Ich bin die Vorhut, ich räume auf.« Eine Wolke hatte sich vor die Sonne gesetzt, filterte einen großen Teil der Helligkeit, und auch in der Küche wurde es düsterer, als wäre bereits der Schatten des Todes in den Raum gefallen. Auch Anna nahm dieses Sinnbild war, sie schaute gegen die Fenster und hatte ihren Kopf leider von ihrem eigentlichen Feind abgewandt. Der war plötzlich vor ihr. Sie wollte schreien. Moran schlug zu. Er traf zielsicher, denn er hatte die Klinge im letzten Augenblick gekantet und auf ihren Hals gezielt. Anna röchelte nicht mal. Ein erstaunter Ausdruck trat in ihre Augen, dann fiel sie zurück. Sie landete mit einem harten Klatschen auf dem Boden und blieb liegen. Die Nonne war tot. Die Kreatur der Finsternis aber lächelte. Sie wischte das Blut der Frau von ihrer Kleidung, und dabei zuckte die Schnauze des zweiten Gesichts stromstoßartig. Die Augen leuchteten auf, als hätten sich dort böse Sonnen vereint, um ihr Grauen in die Welt zu schicken. Die Höllenzeit war angebrochen!
Kein Platz war mehr vor diesem Dämon sicher, und Jack Moran legte die blutige Mordwaffe auf den Tisch, bevor er gelassen seinen Mantel überstreifte. Die Decke lag dort, wo er das Beil aus der Schublade geholt hatte. Er war zufrieden. Auf den Tee verzichtete er. Statt dessen steckte er die Waffe wieder ein, drehte sich um und ging auf die Tür zu, als wäre nichts geschehen. Dabei veränderte sich sein Gesicht. Es löste sich einfach auf, und die anderen Züge gewannen bei ihm die Oberhand. Vor der Tür blieb er stehen. Er mußte sich noch sammeln, denn er wußte genau, daß die nächsten Aufgaben nicht so leicht sein würden. Zwei Männer befanden sich im Kloster, um den zu bewachen, auf den es ihm ankam. Diesen verfluchten Verräter, der versucht hatte, die Hölle reinzulegen. So etwas konnte und durfte nicht gutgehen, und Moran war geschickt worden, um ihn zu bestrafen. Ja, er diente Luzifer gern, und er wollte, daß die Welt bald nur auf ihn hörte. Mit diesem für ihn positiven Abschluß öffnete er die Tür, um den Verräter zu jagen… *** Father Ignatius war harte Sitzflächen gewohnt, deshalb machte es ihm nichts aus, auch längere Zeit neben dem Bett zu sitzen und Bruder Shiram zu beobachten. Er wußte so gut wie nichts über den Mann mit der verbrannten linken Gesichtshälfte. Ihm war allerdings bekannt, daß er in einem Kloster in Israel gelebt und geforscht hatte, wobei es zu seinen Aufgaben gehörte, mehr über die Vergangenheit zu erfahren, besonders über die Verstrickung zwischen Gut und Böse, die sich an gewissen Punkten doch immer wieder trafen. Luzifer und die Kreaturen der Finsternis waren das absolut Böse. Etwas Schlimmeres gab es nicht mehr, und sie existierten leider seit Beginn der Zeiten. Daran hatten auch die Kräfte des Lichts trotz zahlreicher Bemühungen nichts ändern können. Es gab den Gefallenen Engel, der immer wieder einen Vorstoß hin zu den Menschen unternahm und Herrscher über ein gewaltiges Reich mit unendlich vielen Helfern und Strukturen war. Einfach über die Dämonenwelt. Der Mönch durfte nicht daran denken, welche Gewalten hinter dem standen, was als Böse bezeichnet wurde. Im Vergleich dazu war das, was er jetzt tat, lächerlich. Peanuts, mehr nicht, aber es war wichtig, denn dieser Bruder Shiram mußte etwas bei seinen Forschungen entdeckt haben, was den Kreaturen der Finsternis schon bitter aufgestoßen war, sonst hätten sie sich um seinen Tod nicht so sehr bemüht.
Wenn er nur reden würde. Statt dessen lag er auf dem Rücken und schlief. Sogar der in sein verwüstetes Gesicht fallende Schein störte ihn nicht in seinem tiefen, fast todesähnlichen Schlaf. Ignatius merkte, daß er doch nicht mehr zu den Jüngsten gehörte, denn vom langen Sitzen waren ihm die Beine steif geworden. Deshalb stand er auf und streckte sich. Er drückte auch die Arme hoch, er bewegte sie anschließend kreisend in den Gelenken, bevor er bis zur Tür ging und dann wieder zurück. Neben dem Stuhl blieb er stehen und schaute wieder auf das Bett. Hatte es überhaupt noch Sinn, hierbei diesem Mann zu bleiben? Der schlief, endlich einmal, er würde möglicherweise im Schlaf auch eine seelische Reinigung erfahren, um sich nach dem Erwachen wieder an gewisse Dinge erinnern zu können. Ignatius wußte nicht, wie er von der anderen Seite bestraft worden war. Die linke Gesichtshälfte war durch das Höllenfeuer verbrannt, doch das brauchte nicht unbedingt Feuer zu sein. Er hätte diesen Begriff auch als Sinnbild einsetzen können. Wichtig war nur, daß dieser Mann durchhielt, daß die andere Seite ihn nicht in ihre Klauen bekam, denn dann war alles verloren. Die ruhigen Atemzüge wurden nur ab und zu durch ein leises Schnarchen unterbrochen, ansonsten war alles normal, sogar die zugezogenen Vorhänge paßten dazu. Trotzdem ging der Mönch zu einem der Fenster. Er wollte Licht sehen, öffnete den Vorhang spaltbreit und schaute hinaus. Der Himmel war noch blau, doch er dunkelte bereits ein. Über den Berggraten lagen die Wolken wie weiße, voluminöse Schwämme. An den warmen Stellen taute der Schnee weg. Die weißen Flächen verwandelten sich in Lachen, Matsch und kleine Rinnsale. John Sinclair war noch immer nicht eingetroffen! An diesem zweiten Problem hatte Ignatius am meisten zu knacken. An Bruder Shirams Zustand hatte er sich gewöhnt, aber das Nichterscheinen seines Freundes bereitete ihm schon Sorgen. Er kannte John als einen pünktlichen Menschen, der sich auch meldete, wenn ihm etwas dazwischenkam und er einen Termin nicht einhalten konnte, doch in diesem Fall hatte er sich nicht gemeldet. Ignatius glaubte nicht, daß er es vergessen hatte. Der Grund mußte demnach ein anderer sein. John konnte nicht Bescheid sagen! Ignatius merkte, wie nervös er war. Leider stand ihm kein Fahrzeug zur Verfügung. Er hätte sich hineingesetzt und wäre die Straße hinabgefahren, denn so etwas war er von seinem Freund nicht gewohnt. Er gab die Schuld der anderen Seite, obwohl die ihm einen Beweis dafür schuldig geblieben war.
Ignatius löste seine Hand vom Stoff, und der Vorhang schwang wieder zu. Dann drehte sich der Mönch um. Er schaute in das eigentlich dunkle Zimmer hinein. Der nicht ganz geschlossene Vorhang glänzte wie schwarz lackierte Pappe. Das Licht reichte nicht aus, um alle Ecken zu erreichen. Es malte einen hellen Flecken mit ausuferndem Kreis auf den Boden. Der Rest blieb dunkel, und Ignatius kam es vor wie ein düsteres Feld, in dem das Grauen lauerte. Im Bett lag Bruder Shiram. Er schlief, er atmete, aber er atmete nicht mehr so ruhig wie zuvor. Einem Fremden wäre dies kaum aufgefallen, nur hatte der Mönch lange genug an dessen Bett gesessen, um auch auf Kleinigkeiten achten zu können. Diese hier empfand er sogar als relativ gravierend. Er schaute sich um, sah auch nach, ob der Schlafende die Augen offenhielt, was nicht der Fall war. Die Veränderung des Atemgeräusches mußte eine andere Ursache haben, die tief in ihm steckte. Er blieb direkt neben dem Bett stehen und beugte sich über das Gesicht des Mannes. Father Ignatius konzentrierte sich auf die Augenlider. Sie waren geschlossen, aber sie lagen längst nicht mehr so ruhig auf den Augäpfeln wie sonst. Dieses leise Zucken hing bestimmt nicht mit dem Licht zusammen. Shiram bewegte auch die Lippen. Er sprach nicht, aber beide Hälften zitterten leicht. Unruhe hatte den Schläfer erfaßt und jetzt auch den ihn bewachenden Mönch. War es Kälte, vermischt mit einer Gänsehaut, die über seinen Rücken hinwegrann? Näherte sich das Unheil, stand es bereits im Raum? Der Gedanke daran irritierte Ignatius so stark, daß er sich erhob und sich dabei umschaute. Er sah nichts. Licht und Dunkel wechselten sich ab, wobei die Düsternis nach wie vor überwog, aber das wiederum war normal. Warum die Unruhe? Wieder schaute er gegen das Gesicht – und hielt den Atem an. Er hatte die verbrannte Seite unter seine Kontrolle genommen. An den Geruch hatte er sich gewöhnt, der war ihm nicht neu, dafür jedoch das andere, das an dieser Stelle geschah. Wo sich die Haut regelrecht aufgerollt hatte und als schwarze Lappen am Gesicht festhing, da bewegte sich etwas im rosigen, rohen und sichtbaren Fleisch. Keine Täuschung. Dort krabbelte etwas, und es drang aus dem Fleisch hervor. Es schimmerte hell, es war nicht einmal so groß wie ein Fingernagel, aber es war nicht allein. Es hatte Brüder und Schwestern bekommen, die aus der Fäulnis des Fleisches drangen. Würmer… Kleine, widerliche, weiße Totenwürmer, wie man sie wohl auch bei Leichen fand.
Durch die Nase atmete der Mönch ein. Er merkte sehr wohl den Druck in seinem Innern. Es kostete ihn Überwindung, einen dieser weißen Würmer aus der großen Wunde hervorzupicken und ihn dann zu zerdrücken. Ein feuchter Fleck blieb zurück, und der Mann setzte diese Arbeit fort. Wenig später hatte er über zehn dieser Spulwürmer erwischt und hoffte, daß keine neuen auftauchten. Shiram schlief glücklicherweise. Wie hätte er wohl auf diese neue Veränderung reagiert. Steckte dahinter Methode? Wollten die Mächte des Bösen, daß der Mann bei lebendigem Leibe verfaulte? Der Gedanke war furchtbar, aber nicht so utopisch, als daß ihn Ignatius verdrängt hätte. Wer kannte sich schon bei diesen Bestien aus? Wer als Mensch wußte denn zu was sie fähig waren? So hätte dieses Höllenfeuer noch einen perversen Sinn gehabt, so schlimm diese Vorstellung auch sein mochte. Ignatius stellte die Lampe ein wenig anders hin, damit sich der Schein mehr auf das Gesicht konzentrieren konnte. Ja, so war es besser, er konnte mehr erkennen, aber die weißen, widerlichen Maden entdeckte er nicht mehr. Selbst nicht in den tieferen Kuhlen des rohen Fleisches. Er hatte diese große Wunde gesäubert, und das wiederum freute ihn. Was ihn weniger freute, war die Tatsache, daß sich die Größe der Wunde verändert hatte. War sie wirklich breiter und auch höher geworden, hatte er sich nur geirrt, lag es an den ungewohnten Lichtverhältnissen? Diesmal kostete es Ignatius nicht so viel Überwindung, zuzugreifen. Er fand einen Hautlappen, hob ihn an, und im nächsten Augenblick rieselte es kalt seinen Rücken hinab, als er feststellte, wie leicht die Haut abzuziehen war. Blut quoll wieder aus seiner neuen, kleinen Wunde hervor. Shiram stöhnte. Ignatius ließ den Hautlappen los. Wieder erreichte der Gestank von Verbranntem seine Nase. Er stieg aus der frischen Wunde, als hätte er sich bisher dahinter versteckt. Über das Gesicht hinweg blies er seinen Atem, als er sich wieder aufrichtete und nachdenklich neben dem Bett stehenblieb. Hier war etwas passiert, für das er keine Erklärung hatte. Eine Veränderung, die nicht nur allein auf der Unruhe des Schlafenden beruhte, denn auch das Erscheinen dieser weißen Spulwürmer hatte ihm bewiesen, daß Shiram noch immer unter der Kontrolle der anderen Seite stand. Wahrscheinlich hatte sie ein neues Kapitel aufgeschlagen. Sie war da! Er spürte es, aber sie war nicht zu sehen. Sie hielt sich unsichtbar verborgen, sie hatte ihren Schleier bereits um das Kloster gelegt, und dazu paßte auch das Nichterscheinen seines Freundes John Sinclair.
Es kulminierte, da braute sich etwas zusammen. Vergleichbar mit einem Gewitter, und der Mönch kam sich plötzlich vor, als wäre er umzingelt worden. Er schaute wieder gegen das Gesicht – und erstarrte. Bruder Shiram war wach. Beide Augen hielt er offen und starrte Ignatius an. Der hatte Mühe, sich von seiner Überraschung zu erholen und ein Lächeln zustande zu bringen. Auch sein schnelles Herzklopfen kehrte nur allmählich zurück zur Normalität, als Ignatius es als positiv empfand, daß Shiram nicht mehr schlief. Womöglich war er jetzt in der Lage, über seine Träume zu reden, vorausgesetzt, er hatte welche gehabt. »Du bist hier?« »Ja, Shiram.« »Warum?« »Der Monsignore und ich werden Wache halten. Das haben wir beide so ausgemacht.« Shiram deutete ein Lächeln an. »Es freut mich, daß ihr so besorgt um mich seid.« Mit der Zungenspitze leckte er über seine Lippen. »Ich habe Durst. Kann ich etwas Wasser haben?« »Sicher, daran soll es nicht liegen.« Auf dem Tisch standen noch zwei Flaschen mit Mineralwasser. Eine war fast leer, die andere voll. Ignatius öffnete die frische Flasche, schenkte Wasser in das Glas und ging wieder zurück zu seinem Patienten. Auf halbem Wege hörte er dessen Stimme. Sie klang leise und murmelnd. Der Mann sprach Gebete, er bat um die Vergebung seiner Sünden. Erst als der Mönch neben dem Bett stand, hörte er auf und löste seine ineinandergefalteten Hände, um das Glas Wasser in Empfang zu nehmen, das ihm Ignatius reichte. »Warte, ich helfe dir.« »Danke.« Der Mönch stützte den Rücken des Kranken ab. Er brachte ihn in eine sitzende Haltung und drückte ihm den Rand des Glases gegen die Lippen. Shiram trank in kleinen Schlucken. Er schmeckte und schluckte. Als das Glas leer war, ließ er sich wieder zurücksinken. »Das tat gut«, flüsterte er. »Trotzdem fühle ich mich wieder schlechter.« »Warum? Was ist der Grund? Sind es Schmerzen?« »Die auch«, flüsterte Shiram. »Ich… ich spüre sie in meinem verbrannten Gesicht. Da geschieht etwas, denn es drückt und brennt. Ich kann nicht erklären, was es ist, aber es ist einfach schrecklich. Ich… ich verfaule weiter.« Er hatte ja recht, aber Ignatius hütete sich davor, ihm zuzustimmen. Er wollte ihn nicht noch stärker deprimieren. »Und was belastet dich sonst noch, Bruder?«
»Meine Träume…« »Du hast geschlafen und…« »Ja, ja, ich habe geträumt. Es war schlimm. Ich habe das Böse erlebt. Ich habe die Fratzen gesehen. Ich sah mich als verfaultes Stück Fleisch in einem Grab liegen, und ich weiß, daß dies eintreffen wird. Ich weiß es ganz genau.« Das letzte Wort endete in einem Schluchzen, und Ignatius sah Tränenwasser in dem gesunden Auge schimmern. Er mußte den Mann einfach beruhigen, der in der letzten Zeit zuviel durchgemacht hatte. »Es waren nur Träume, Bruder«, sagte er mit leiser Stimme, »wirklich nur Träume, nicht mehr.« Shiram schaute ihn an. Sein gesundes Auge wirkte seltsam starr, auch wissend. »Es ist kein Trost«, flüsterte er, »überhaupt nicht. Träume haben mich verfolgt, Träume sind bei mir immer Wirklichkeit geworden. Das Böse hat mich verfolgt. Ich habe es verraten, es ist mir auf den Fersen geblieben.« Er hob einen Arm. Sehr hart umklammerten seine Finger das rechte Handgelenk, des Mönchs. »Immer haben sie sich erfüllt. Niemals habe ich mich geirrt, und der letzte Traum ist… er ist… das Böse ist hier, Bruder!« Seine Stimme bebte. »Es ist in der Nähe. Niemand schafft es, das Unheil aufzuhalten, und mögen die Mauern auch noch so dick sein. Diese hier sind dick und wuchtig, aber nicht stark genug. Es hat keinen Widerstand gegeben. Das Böse ist eingedrungen. Es bringt den Tod mit. Nicht nur für mich, für alle hier…« Ignatius wollte lächeln. Es gelang ihm nicht. Diese Worte hatten ihn schon getroffen. Sie saßen tief, und er fragte sich, ob er lieber nachschauen sollte. »Wo kann es denn sein? Wo hält es sich versteckt?« Shiram atmete heftig. Es sah so aus, als wollte er sich erheben, dann schüttelte er den Kopf so gut wie möglich. »Ich kann es dir nicht genau sagen, doch es ist nah. Sogar so nahe, daß ich seinen verfluchten Pesthauch spüren kann. Er streift mein Gesicht, es brennt weiter. Sie wollen mich verfaulen und vermodern lassen. Bitte, du mußt achtgeben oder fliehen. Ja, flieh von hier, weg – nur weg…« »Nein, ich bleibe und werde dich beschützen.« Shiram gab diesmal keine Antwort. Er sah aus wie ein Mensch, der gar nicht zugehört hatte, und er schaute auch an Ignatius vorbei. Die Tür zum Büro der Äbtissin interessierte ihn. Ignatius erkundigte sich nicht, was es dort zu sehen gab. Vielleicht nichts, vielleicht alles. Er drehte sich sehr langsam um, wollte Shiram nicht erschrecken. Dafür erschrak er selbst. Vor der Tür stand eine Gestalt. Schrecklich anzusehen. Mit einem bleichen und irgendwie einem roten Gesicht. Doch Ignatius sah noch mehr.
Mit der rechten Hand umklammerte der Eindringling den Griff eines blutbeschmierten Fleischbeils… *** Haben Sie schon mal gejoggt? Sicher, wie jeder von uns. Ich gehöre nicht zu den großen Joggern, die in den Morgenstunden die Parks und Anlagen bevölkern, doch es machte mir Spaß. Wie an diesem Morgen. Zu Beginn klappte alles hervorragend. Schwierig wurde es erst, als der Weg bergauf führte. Ich geriet ziemlich aus der Puste und wurde langsamer. Bisher hatte ich alle Einsatzorte einigermaßen bequem erreichen können, doch dieses Ziel visierte ich zu Fuß an. Als ich darüber nachdachte, mußte ich lachen, was jedoch wegen der Anstrengung etwas gequält ausfiel. Ich lief nicht gleichmäßig, dazu fehlte mir einfach die Routine. Deshalb tanzte die Welt auch vor meinen Augen, und ich hatte das Gefühl, als würden sich die Schneehänge vor meinen Augen senken und dann wieder in die Höhe steigen. Ich sah das Gebäude des Klosters. Für mich stand es wie auf dem Präsentierteller, nur hatte ich das Gefühl, mich ihm nicht zu nähern. Irgendwie schien mir die Distanz immer gleich zu bleiben. Der Pfad wand sich in Kurven und Kehren in die Höhe. Er war oft steinig, stellenweise aber auch glatt durch Eis und Schnee, und immer wieder mußte ich diesen gefährlichen Rutschfallen ausweichen. Auf halber Strecke blieb ich stehen. Keuchend und hustend, die Arme wie Keulen schwingend. Ich brauchte Luft und natürlich eine kleine Pause. Nach gut zwei Minuten ging es mir besser. Ich lief trotzdem nicht weiter, dafür schaute ich mir die Außenseite des Klosters an, gegen die die Sonnenstrahlen fielen und dem grauen Granit einen silbrigen Schimmer verliehen. Was erwartete mich dort? Sicherlich würde sich Father Ignatius große Sorgen machen. Ich hatte mich nicht melden können, denn unter Wasser funktionierte kein Telefon. Vielleicht bei James Bond, aber nicht bei mir. Dann gab es für mich eine noch unbekannte Größe. Diesen Jack Moran, einen Kerl, dem ich alles zutraute, bis hin zur schrecklichsten Tat, dem Mord. Bestimmt hatte er den Auftrag gehabt, mich auszuschalten, aber wirklich nur mich? Da hatte ich plötzlich meine Zweifel, denn es konnte gut sein, daß er es auch auf andere Menschen abgesehen hatte. Auf die im Kloster, zum Beispiel.
Dieser Gedanke beendete meine Pause abrupt, und ich setzte mich wieder in Bewegung. Meine Muskeln schmerzten, Krämpfe kündigten sich an. Da war die alte Lok auf zwei Beinen und nicht auf vier oder mehr Rädern, die sich zwar langsam den Berg hinaufschob, aber auch nicht unterzukriegen war und durchhielt, als gälte es, einen Preis zu gewinnen. Meine Beine bewegten sich automatisch, und sie bewegten sich plötzlich wieder schneller. Ich war noch zu sehr mit dem eigentlichen Laufen beschäftigt, als daß ich mir darüber Gedanken gemacht hätte. Das änderte sich wenig später, denn mein Tempo steigerte sich von allein. Der Grund war einfach. Ich hatte die lange Steigung hinter mich gebracht und sah vor mir das Kloster wie auf dem berühmten Präsentierteller liegend. Keine Mauer, keine Innenhöfe, nur ein Gebäude mit einer langen Seite aus grauen Steinen, die von zahlreichen Fenstern unterbrochen war. Ein Bau, der in diese Gegend paßte, eben weil er so schmucklos war. Hier konnte er Wind und Wetter trotzen. Er stand da wie ein Symbol des Glaubens, der schließlich auch alle Wirren der Zeiten gut überstanden hatte. Ich wurde wieder langsamer, machte Lockerungsübungen und wunderte mich, wie leicht doch meine Beine plötzlich waren. Ich hatte mich in eine Feder verwandelt, verglich man es mit dem schweren, stampfenden Laufen zuvor. Dann stand ich vor einer grauen Tür. Sie war ziemlich breit, beinahe schon ein kleines Portal. Nach einer Schelle suchte ich vergebens, dafür sah ich einen langen Klopfer, der wie ein übergroßer Schuhlöffel aussah. Er endete in einer Kugel, und sie schlug ich einige Male gegen das Holz der Tür. Es wummerte. Ich wartete ab. Meinen Atem hatte ich noch immer nicht unter Kontrolle. Er war das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach. Von Father Ignatius wußte ich, daß das Kloster aus Sicherheitsgründen von den Nonnen verlassen worden war. Auf mich machte es den Eindruck, als hielte sich niemand dort auf. Ich irrte mich. Ohne daß ich ein zweites Mal klopften mußte, wurde die Tür geöffnet. Sie quietschte, und etwas von der klösterlichen Atmosphäre wehte mir entgegen. Ich roch in die Halle hinein, und sie kam mir weit und leer vor. Der Geruch von Weihrauch vermischte sich mit dem kalter Kerzendochte, aber das konnte ich mir auch einbilden. Bei Klöstern bin ich oft voreingenommen. Ich konzentrierte mich auf den Mann, der mir gegenüberstand. Etwas überrascht war ich schon, denn ich hatte damit gerechnet, von Father Ignatius empfangen zu werden. Da er es nicht war, konnte der hochgewachsene schlanke Mann mit den dunklen Haaren nur Monsignore Bentini sein. »Mister Sinclair?« fragte er. »Ja.« »Sie kommen spät.«
»Tut mir leid, aber ich hatte Probleme.« »Das dachten wir uns bereits. Bitte, treten Sie ein.« »Danke.« Ich ging an ihm vorbei in die schlichte Halle, in der es nun wirklich keinen Prunk gab, abgesehen von einem schlichten Holzkreuz an einer Wand. »Ich bin übrigens Monsignore Bentini«, stellte er sich vor und sah mein Nicken. »Ja, das ist mir bekannt. Father Ignatius hat von Ihnen gesprochen.« Er deutete auf zwei schlichte Stühle. »Bitte, nehmen Sie doch Platz, Mister Sinclair.« Ich winkte ab. »Nein, später vielleicht. Zuerst möchte ich mich doch um Ignatius kümmern.« »Seien Sie beruhigt. Er ist bei unserem Schützling und wacht an dessen Bett.« »Das ist gut.« Bentini schaute mich schrägvon der Seiteheran. »Sie sagen das in einem so ungewöhnlichen Tonfall, Mister Sinclair. Stimmt etwas nicht?« »Das denke ich schon.« »Und was, bitte?« »Es hängt auch mit meiner Verspätung zusammen. Sie müssen davon ausgehen Monsignore, daß die andere Seite bereits informiert ist und gewisse Vorkehrungen getroffen hat.« Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Beunruhigt schien er nicht zu sein. »Welcher Art denn?« »Man hat versucht, mich mit sehr drastischen Mitteln daran zu hindern, das Kloster zu erreichen. Ich bin nicht ohne Grund zu Fuß hergekommen. Mein Wagen liegt unten im See.« »Was, bitte?« »Ja, im See.« »Mein Gott, das ist ja schrecklich. Erzählen Sie.« Die Worte hatten den Mann etwas aus der Fassung gebracht. Seine Ruhe und Überlegenheit waren wie weggeblasen. Wahrscheinlich hatten er und Ignatius sich hier sicher gefühlt, durch meinen Bericht war diese Sicherheit etwas brüchig geworden. »Eine Frage vorweg«, sagte ich. »Haben Sie hier ebenfalls etwas zu spüren bekommen?« »Nein, gar nichts.« »Keinen Angriff also?« »So ist es. Was allerdings nicht heißen soll, daß wir mit ihm nicht rechnen. Deshalb bewachen wir unseren Bruder Shiram auch. Ich gebe gern zu, daß sich etwas verändert hat, zumindest wenn ich den Aussagen des Bruder Ignatius glauben darf. Alles ist zerflossen, ich meine damit unsere Sicherheit. Ignatius gab den Anstoß. Er fühlte sich nicht mehr so gut aufgehoben.«
»Was gab den Anstoß?« Bentini hob die Schultern. »Ich kann es Ihnen nicht sagen, Mister Sinclair, weil ich es nicht weiß. Es muß nichts Konkretes gewesen sein, und ich denke, daß sein Gefühl dabei eine Rolle gespielt hat. Ja, er fühlte sich umzingelt. Ich hatte bei ihm das Gefühl, daß er der Meinung war, sich nicht mehr schützen zu können. Deshalb haben wir auf Ihre Ankunft so dringend gewartet.« »Stimmen Sie Father Ignatius zu?« Er schwankte. »Das kann ich nicht so behaupten. Die Bedrohung leugne ich nicht, kann mir jedoch vorstellen, daß sie sich noch Zeit läßt, um konkret zu werden. Ich denke dabei an die Macht, denn das Böse liebt die Dunkelheit nun mal.« »Wenn Sie sich da nicht mal irren.« »Warum?« »Ich will nicht abweichen, sondern beim Thema bleiben. Ich gebe Ihnen jetzt die Beschreibung eines Mannes, der Jack Moran heißt. Vielleicht wissen Sie etwas über ihn oder kennen ihn auch.« »Gut, aber der Name ist mir unbekannt.« »Abwarten.« Er hörte dann zu, wie ich meinen Anhalter beschrieb. Schon nach den ersten Sätzen schüttelte der Monsignore den Kopf. »Nein, Mister Sinclair, nein, diesen Mann kenne ich nicht. So wie Sie ihn beschrieben haben, wäre er mir auch aufgefallen, wenn ich ehrlich sein soll. Der läßt sich ja nicht übersehen, weil er eben so außergewöhnlich ist, denke ich mir.« »Da haben Sie recht.« »Tut mir ehrlich leid, ich kenne ihn nicht. Dabei ist es für Sie sicherlich wichtig gewesen.« »Für uns. Wenn ich es mir recht überlege, ist er geschickt worden, um mich umzubringen. Ich brauche mir nur die Einzelheiten der Fahrt vor Augen zu halten und vor allen Dingen die Minuten, als wir in den See rutschten. Da ist mir Moran ins Lenkrad gefallen. Sicherlich nicht, um meine Bewegungen zu unterstützen. Im Gegenteil, er hat dafür gesorgt, daß der Wagen die Richtung beibehielt.« Ich schaute für einen Moment auf meine Fußspitzen. »Hinzu kam noch etwas. Kaum sackten wir weg, schien er sich darüber zu freuen. Und kurz vor dem Aussteigen hat er versucht, mich bewußtlos zu schlagen, was auch nicht die feine Art ist. Nein, nein, da steckte schon mehr dahinter, Monsignore. Hier wird mit allen Mitteln gekämpft, die andere Seite weiß längst Bescheid, und sie weiß auch, daß Shiram wohl ein sehr wichtiger Zeuge ist, der einiges in Erfahrung gebracht haben muß.« »Ja!« rief Bentini. In einer Geste der Verzweiflung hob er die Arme. »Das ist alles richtig, Mister Sinclair. Wenn ich nur wüßte, was er denn weiß, meine Güte.« »Er hat nichts gesagt?«
»Nur immer allgemein gesprochen. Auf Details sind wir nicht eingegangen. Hat Ignatius Ihnen eine Beschreibung gegeben?« »Das hat er.« »Dann wissen Sie ja, wie er aussieht. Die linke Seite des Gesichts ist verbrannt. Er hat es als Höllenfeuer bezeichnet, was ich nicht so genau nachvollziehen kann. Es spielt auch keine Rolle, jedenfalls müssen wir zunächst davon ausgehen.« »Nicht schlecht, ich kenne es. Aber er lebt.« »Er hat Schmerzen. Er muß sie haben, auch wenn er ungewöhnlicherweise nicht geklagt hat.« »Er weiß aber, was er getan hat?« »Ja.« »Und er lebt in einem Kloster in Israel?« »Auch das ist richtig. Es ist ein Wüstenkloster. Er muß dort oder in der Nähe auf etwas gestoßen sein, worüber er noch nicht gesprochen hat. Jedenfalls ist es ziemlich gravierend gewesen, und es hängt mit der Vergangenheit zusammen.« »Machte er Andeutungen?« »Nein. Er sprach nur von einem Schrecken. Tch bin mir sicher, Mister Sinclair, daß er deswegen gejagt wird. Die andere Seite will nicht, daß wir erfahren, was dahintersteckt. Ich denke mir, daß mich mein Weg irgendwann nach Israel führen wird.« »Das kann ich mir sogar vorstellen.« Ich lächelte. »Dann werden Sie wohl nicht allein reisen, denn die Kreaturen der Finsternis interessieren mich auch.« »Ich weiß.« »Sie kannten Franca Simonis?« »Nicht persönlich. Ich habe sie einmal kurz gesehen, nicht mit ihr gesprochen. Ich habe nur gewußt, daß sie für uns arbeitet.« »Sie war eine phantastische Frau. Ich hätte Sie damals in Pontresina retten können. Ich habe es versäumt, weil ich noch nicht den richtigen Durchblick hatte. Nun ja, das ist alles Vergangenheit, wir müssen uns auf die Zukunft konzentrieren, und in diese haben Sie, wie ich mir vorstellen kann, auch Father Ignatius eingebaut.« »So ist es. Wir brauchen ihn. Wir wissen über ihn Bescheid, und wir wissen auch, daß er außerhalb des Klosters im Kampf gegen das Böse wertvoller ist als hinter den Mauern, wo er ebenfalls seine durchaus wichtigen Aufgaben hat, die jedoch nicht effektiv sein können. Die Weiße Macht braucht Männer wie ihn und Sie, Mister Sinclair.« Ich lächelte Bentini an. »Danke für das Angebot. Ich fühle mich auch geschmeichelt, aber ich kann es nicht annehmen. Ich möchte lieber neutral bleiben. Außerdem habe ich bereits einen Arbeitgeber, mit dem ich recht gut zurechtkomme.«
»Das dachte ich mir. Dennoch haben wir uns entschlossen, die Zusammenarbeit zu verstärken, Mister Sinclair. Wir sollten wirklich oft getrennte Wege gehen, aber vereint zuschlagen.« »Sehr schön, nur werden wir nicht immer zusammenarbeiten können. Es gibt auch Gebiete, die nur mich etwas angehen, doch darüber zu diskutieren, ist hier nicht der richtige Ort. Außerdem möchte ich Father Ignatius begrüßen und endlich Ihren Schützling kennenlernen.« »Entschuldigung, daß ich mich hinreißen ließ, aber mir ist die Sache zu wichtig.« »Das ist verständlich. Auch ich will das Böse stoppen und weiß, wie kompliziert die Wege oft sind.« Bentini sagte: »Eines möchte ich noch wissen. Wir haben dieselben Gegner, ich möchte von Ihnen nur noch wissen, ob dahinter auch derselbe Feind steht.« »Luzifer!« »So ist es.« Bentini lächelte. »Wir liegen auf derselben Linie. Entschuldigen Sie die vielen Fragen, aber auch ich mußte mir eine gewisse Klarheit verschaffen.« »Das verstehe ich.« Er wollte etwas sagen, hatte sich dabei halb gedreht, als etwas geschah, mit dem wir nicht gerechnet hatten. Ein Schrei erreichte uns. Wir standen regungslos auf der Stelle. Ich kenne mich hier nicht aus, aber Bentini wußte Bescheid. »Mein Gott«, sagte er, »das… das war Ignatius, glaube ich…« *** Der Mönch tat nichts. Er konnte einfach nichts tun, das Auftauchen des Mannes hatte ihn zu sehr überrascht. Er starrte zur Tür, wo der Fremde stand, und er hatte den Eindruck, als hätte sich dort ein Zwerg aufgebaut, zumindest ein sehr kleinwüchsiger Mensch, aber brandgefährlich, wenn nicht tödlich, das allein bewies das Metzgerbeil in seiner rechten Hand. Von der Klinge löste sich ein Blutstropfen. Er fiel auf den Boden, wo er zerplatzte, und Ignatius glaubte sogar, das dabei entstehende Geräusch gehört zu haben. Über seinen Rücken floß Eiswasser, das die Haut straffte. Dort stand ein Killer. Ein grausamer, böser Zwerg, der schon getötet hatte. Ignatius fragte sich, wie er in das Kloster hineingekommen war. Er dachte wieder an das Blut und wußte, daß der Fremde den Weg der Gewalt gegangen war. Hatte er Bentini getötet?
Daran wollte der Mönch einfach nicht denken. Es war zu schlimm für ihn, nur fühlte er sich plötzlich sehr allein gelassen und wieder bedauerte er es, John Sinclair nicht an seiner Seite zu haben. Ignatius war einen Schritt nach vorn gegangen. Das Bett mit Bruder Shiram lag hinter ihm. Er hörte den Verletzten sprechen, und es waren keine aufmunternden Worte, die er sagte. »Wir haben das Böse hier, mein Freund. Es hat seinen Weg gefunden. Nichts kann es aufhalten. Keine Mauer kann so dick sein, um es zu stoppen. Es wird uns vernichten, Bruder, töten, es ist furchtbar…« Diese Worte heiterten Ignatius nicht eben auf. Auch nicht die Reaktion des Eindringlings, der mit gleitenden Schritten vorging, dabei den Arm senkte und auch die Waffe über den Stein schrammen ließ. Es war ein schlimmes Geräusch, das den Mönch nervte. Aber er achtete nicht darauf, das Gesicht war wichtiger, und er fragte sich dabei, ob man es tatsächlich noch als Gesicht bezeichnen konnte. Es war einfach schlimm, normal und trotzdem im Hintergrund aus einer feuerroten Fratze mit einem spitzen Maul bestehend. Dieser Mensch hatte zwei Gesichter, und er hatte es verstanden, das dämonische wieder ins Spiel zu bringen. Mensch und Dämon, zwei in einem. Ignatius wußte, daß er es mit einer Kreatur der Finsternis zu tun hatte. Zum erstenmal in seinem Leben stand er ihr gegenüber, und seine Furcht ließ sich nicht unterdrücken, denn der Eindringling strömte so etwas wie eine tödliche Sicherheit aus. Er war gekommen, um Shiram zu töten. Dabei nahm er jede Schwierigkeit in Kauf. Auch um andere würde er sich kümmern, die sich ihm in den Weg stellten. Grinsend schlich er näher. Seine Augen waren dunkel, sie funkelten trotzdem, der Mund hatte sich verzogen, das Grinsen auf den Lippen war wissend und teuflisch zugleich. »Ihr könnt uns nicht aufhalten, nicht ihr.« Er sprach mit einer rauhen Flüsterstimme. Er war sich seiner Stärke bewußt, und Ignatius wußte nicht mal, wer die Worte gesagt hatte. Der echte oder der dämonische Mund. Der Mönch merkte jedoch, wie sich diese uralte dämonische Kraft ausgebreitet hatte, wie sie Einfluß nahm und wie ein giftiger Pesthauch das Zimmer durchströmte. Der Eindringling hatte eine bestimmte Botschaft mitgebracht, nämlich die des Teufels. In ihm steckte das seit Urzeiten bestehende Böse, und es hatte sich auch sichtbar manifestieren können. Vom Bett her hörte der Mönch das Gemurmel. Noch konnte er sich erlauben, den Kopf zu drehen und einen Blick zurückwerfen. Bruder Shiram hatte sich aufgerichtet, die Hände gefaltet und sprach mit leiser Stimme Gebete. Sosehr Ignatius dafür war, er glaubte jedoch
nicht, daß sie helfen, denn mit diesen Worten konnte man eine Kreatur der Finsternis nicht erschrecken, ebensowenig wie mit dem Kreuz, dem Zeichen des Sieges. Es mußte schon ein anderer kommen, um ihm die Doppelexistenz zu nehmen, das aber befand sich im Besitz des Geisterjägers John Sinclair, und er war nicht gekommen. Stammte das Blut an der Klinge etwa von ihm? Der Gedanke daran wollte Father Ignatius überhaupt nicht gefallen, und er drückte ihn so rasch wie möglich wieder zurück. Es wollte ihm einfach nicht in den Sinn, daß John gegen eine derartige Kreatur verlor. Noch war sie weit genug vom Bett entfernt, aber die normalen und die dahinter schimmernden roten Augen waren nach wie vor starr auf die Liegestatt gerichtet. Er würde alles machen. Er würde den Bruder zerstückeln! Das letzte Wort löste so etwas wie einen inneren Alarm in Bruder Ignatius aus. Es steigerte seinen Willen zum Schutz und auch den, um überleben zu können. Der andere schwang seinen rechten Arm vor. Das Beil bewegte sich wie ein Pendel, es glitt vor und wieder zurück. Ignatius, der waffenlos war, hätte sich jetzt die mit geweihten Silberkugeln geladene Beretta eines John Sinclair gewünscht. Er konnte sich keine Waffe herbeizaubern, aber er trug ein Holzkreuz immer bei sich. Es hing an einer Lederschnur, die den Hals umspannte. Konnte er mit diesem Kreuz den anderen stoppen? Obwohl er so recht nicht daran glaubte, unternahm er trotzdem den Versuch. Er erntete ein Lachen. Der Eindringling war stehengeblieben, hatte den Kopf zurückgelegt und lachte. Ihn interessierte das Kreuz nicht, er sah es nicht als Zeichen des Sieges an, er amüsierte sich über den Anblick, denn er war sich seiner Sache sicher. Sollte er. In diesem Augenblick – der andere war abgelenkt – startete Father Ignatius. Er rannte auf Moran zu, und es waren auch nur wenige Schritte. Vielleicht konnte er ihm die verdammte Axt entwinden, dann sah alles schon besser aus. Moran sah ihn kommen. Er hörte auch den gellenden Schrei, mit dem sich der Mönch selbst Mut machte. Sein Oberkörper spannte sich, er drückte ihn nach vorn, ging in die Knie und stieß sich ab. Die Faust des Fathers rammte ins Leere, denn Moran war wie ein Springteufel in die Höhe gesprungen. Er befand sich über dem Mönch, ließ sich wieder fallen und berührte den Boden in dem Augenblick, als Ignatius stoppte, um sich wieder zu drehen. Er tat es im letzten Augenblick.
Haarscharf wischte die Klinge der Waffe an seinem Hals vorbei. Er war ihr nur durch eine Zufallsbewegung entkommen, weil er einen Schritt zurückgegangen war. Den Angriff hatte Jack Moran mit einem wütenden Knurren begleitet. Sein zweites Gesicht hatte sich stärker nach vorn gedrückt und das erste überschattet. Dieser Kopf sah aus wie ein Kunstgebilde, als wären zwei Hologramme übereinander gelegt worden, um eben dieses neue dreidimensionale Gesicht zu bilden. Locker schwang er den rechten Arm mit der Waffe. Ignatius wich aus. Er ging zurück und gleichzeitig zur Seite. Er suchte nach einer Waffe, mit der er sich verteidigen konnte. Nahe des Vorhangs standen zwei hohe Kerzenleuchter aus Eisen. Er schnappte sich einen und wuchtete ihn hoch, bevor er ihn schräg vor seine Brust hielt. Moran kicherte, ging weiter. Er hatte seinen Spaß. Es freute ihn, wenn sich der Gegner wehrte, um so mehr Vergnügen bereitete es ihm, den anderen zu töten. »Ich kriege dich!« versprach er, »ich…« In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen. Zwei Männer stürmten in den Raum, an der Spitze einer, mit dem Ignatius schon nicht mehr gerechnet hatte. »John Sinclair!« brüllte er. *** Ich war vor Bentini über die Schwelle gestürmt und hörte, wie Father Ignatius meinen Namen schrie. In diesem Schrei lag all die Erleichterung, die er spürte, aber ich konnte mich nicht um ihn kümmern, ich suchte die Gefahr. Und die huschte vor mir hoch und weg. Mit beinahe quietschenden Sohlen kam ich zum Stillstand. Ich war im ersten Augenblick irritiert. Erstens wegen der schlechten Lichtverhältnisse, und zum zweiten hatte ich mit dem huschenden Schatten nichts anfangen können. Das sah auch Ignatius, und mein etwas verstörtes Gehabe gefiel ihm ganz und gar nicht. »Über dir John! Achtung – aufpassen!« Ich schaute und sprang gleichzeitig sicherheitshalber zurück. Mein Glück, denn von der Decke raste so etwas wie ein Teufel in die Tiefe, um mir mit einem mächtigen Schlag den Schädel zu spalten. Das hätte dieses Metzgerbeil mit der blutigen Klinge auch geschafft. So aber huschte es an mir vorbei, und nicht nur die Klinge knallte auf den Boden, sondern auch die Gestalt selbst. Es war Moran!
Er sackte in die Knie, sein Gesicht war nicht mehr dasselbe, denn die Schreckensvisage der Kreatur der Finsternis hatte die Überhand gewonnen. Sie glühte in einem hellen Rot. Die Schnauze glich der einer mutierten Riesenmaus. Zähne schimmerten dabei wie Dolche, und die Bösartigkeit funkelte diamantenkalt in seinen Augen. Er schlug sofort zu. Aus der Hocke heraus schnellte Moran hoch, sein Arm mit der Waffe raste mir entgegen, doch ich war schneller und wich aus. Ich mußte an mein Kreuz, damit konnte die Kreatur vernichtet werden, aber sie kam mir nach und ließ mir keine Zeit. »Wie bist du entkommen?« keuchte er. »Los, du hättest ersaufen sollen, verflucht!« Bei jedem Wort schlug er mit der blutigen Axt nach mir, doch diese Schläge waren nur mehr Finten, weil ich zudem immer geschickt auswich. An der Tür stand Monsignore Bentini. Er war nicht in der Lage, sich zu bewegen, konnte nur starren, aber Father Ignatius wollte mir beistehen. Er näherte sich der kleinen Gestalt vom Rücken her, dabei hielt er den großen Kerzenständer noch fest. Damit wollte er den fauchenden kleinen Teufel in die Schranken weisen. Aber Moran merkte es. Auf der Stelle wirbelte er herum. Der Father hatte den Kerzenständer zum Schlag erhoben und war so gut wie deckungslos. Das sah nicht nur ich, auch Moran bekam es mit. Als sein rechter Arm in die Höhe zuckte, wußte ich genau, was er vorhatte. Er wollte die Axt schleudern und in den Körper des Mönchs wuchten. Ich war schneller. Nicht mit dem Kreuz, sondern mit der Beretta. Ich hatte sie gezogen und jagte eine Kugel in den Körper der Kreatur. Sie schrie auf. Dann sank ihr Arm nach unten. Sie schleuderte die Waffe nicht mehr, denn der Treffer hatte sie aus dem Konzept gebracht. Zwar konnte die Silberkugel das Wesen nicht vernichten, aber es nahm ihm einen Teil der Kraft, und schreiend wälzte es sich über den Boden, wobei es sich einige Male um die eigene Achse drehte, um danach sofort wieder auf die Füße zu springen. Jeder von uns hatte den Weg der geweihten Silberkugel verfolgen können. Sie steckte in seinem Körper und strahlte dort ab. Welche der beiden Gestalten sie nun genau erwischt hatte, war nicht zu sehen, und sie behinderte ihn auch nicht mehr, denn Moran sprang wieder hoch. Sein flaches Gesicht war in den Hintergrund getreten, die Fratze der Kreatur zeigte sich deutlicher. Ich warf mein Kreuz auf Moran zu. Damit hatte er nicht gerechnet. Aber er schrie schon, als das Kreuz sich auf dem Weg befand. Innerhalb
eines kurzen Zeitraumes schien er herausgefunden zu haben, daß die Kraft dieses Kreuzes für ihn so tödlich wie Feuer war. Moran schaffte kein Ausweichen mehr. Das Kreuz traf ihn, und es entfaltete blitzschnell seine Kraft, ähnlich schnell wie der Airbag in einem Auto bei einem Zusammenstoß. Irre Schreie zuckten durch den Raum. Moran verwandelte sich in einen wilden, springenden Feuerteufel, der wieder versuchte, uns zu entkommen, es aber nicht hoch bis zur Decke schaffte, sondern auf halbem Weg der Anziehungskraft folgen mußte und mit einem lauten Klatschen auf dem Boden landete. Er brüllte, er überschlug sich dabei mehrere Male. Er bestand nur mehr aus einem zuckenden Bündel, das von hellen Flammen umrahmt war, und dieses dem Höllenfeuer entgegenstehende zerstörte die alte Gestalt der Kreatur. Zurück blieb der menschliche Körper. Ein zusammengeklumptes, stinkendes Etwas, auf das ich zuging, nachdem ich mein Kreuz wieder an mich genommen hatte. Daneben blieb ich stehen. Bentini hatte das Deckenlicht eingeschaltet. Es fiel direkt auf die Gestalt eines Toten. Mich erinnerte Jack Moran an einen Käfer, der in einen Feuersturm geraten war und diesem nicht hatte widerstehen können. Es war vorbei mit ihm. Das Gesicht sah aus, als wäre es von der Flamme eines Schweißbrenners geschminkt worden. Da hatte sich die Haut gelöst, und was wir zu sehen bekamen, war dunkles, stinkendes Fleisch. Ich schaute hoch. Wie angegossen stand Father Ignatius in meiner Nähe. Er hatte den Kerzenständer wieder weggestellt, schaute mich an, schüttelte den Kopf und kam dann vor. Wir fielen uns in die Arme. »Verflixt, John, weißt du eigentlich, daß ich mit dir kaum noch gerechnet habe?« »Das kann ich mir vorstellen. Beinahe hättest du recht behalten. Moran hatte mich erwischt und dafür gesorgt, daß ich in einen See fuhr. Doch das ist vorbei.« »Zum Glück.« Bentini kam zu uns. »Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, in das Kloster reinzukommen.« Seine Stimme zitterte. »Aber er ist raffiniert gewesen, er ist ein…« Der Mann hob die Schultern. »Ja, er ist ein Dämon.« »Seine Waffe war blutig«, sagte Ignatius. Er hatte die Hände geballt. »Und zwar, als er hereinkam. Er mußte auf Widerstand gestoßen sein und ihn gebrochen haben.« »Anna!« rief Bentini und rannte weg. Zurück blieben Father Ignatius und ich. »Wer ist Anna?« wollte ich wissen.
»Eine Nonne, die zurückgeblieben ist. Sie wollte das Kloster partout nicht verlassen.« Er biß auf seine untere Lippe, bevor er weitersprach. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie noch lebt.« Dazu sagte ich nichts. Sehr schnell war der Monsignore wieder zurück. In seinen Augen schimmerten Tränen, die Wangen zuckten, er nickte und gab seinen Bericht, immer wieder durch ein scharfes Luftholen unterbrochen. »Sie liegt in der Küche. Sie ist tot. Ihre Kehle, wißt ihr…« »Ja, schon gut.« »Wir werden sie begraben müssen. Heute noch.« Er war völlig durcheinander und schlug für einen Moment die Hände vor sein Gesicht. Wir ließen ihn mit seiner Trauer allein und kümmerten uns um das, was von Moran zurückgeblieben war. Viel war es nicht. Schmieriger Staub und verbrannte Haut. Ignatius besorgte eine Plane und deckte den Rest damit zu. »Ich denke, wir sollten die tote Anna in die Kapelle schaffen. Wir legen sie einfach auf die erste Bank. Ich weiß nicht, ob es hier Särge gibt.« »Okay.« Ich war froh, daß wir überlebt hatten. Die erste Runde war an uns gegangen. Daß es noch nicht vorbei war, wußten wir ebenfalls, denn vor uns lag noch eine lange Nacht. Erst am nächsten Tag würden wir einen Wagen kriegen. Oder vielleicht einen Hubschrauber, der uns aus dieser einsamen Gegend wegbrachte. Das aber konnte ich nicht entscheiden, sondern mein Chef in London… *** Das Bett des Verletzten hatte einen Vorteil. Es ließ sich rollen. Shiram wollte nicht länger in diesem Raum hinter dem Vorhang bleiben. Zu viele böse Erinnerungen schwangen innerhalb der vier Wände mit, deshalb rollten wir ihn in den helleren und freundlicher eingerichteten Speisesaal der Nonnen, wo es neben dem langen Tisch noch genügend Platz gab. Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre. Das lag zum Großteil an der toten Nonne, die in der Kapelle aufgebahrt war. Bentini und Ignatius gaben sich die Schuld an ihrem Tod, und ich konnte sie auch nicht vom Gegenteil überzeugen. Sie machten sich Vorwürfe, nicht besser aufgepaßt zu haben. »Moran war raffiniert. Er hätte auch mich beinahe geschafft. Diese Kreaturen der Finsternis verfügen über eine perfekte Tarnung. Sie bewegen sich wie normale Menschen. Sie haben sich voll in die Gesellschaft integrieren lassen. Sie sind ein Teil von ihr geworden, nur um die anderen Menschen zu täuschen. Tatsächlich aber frönen sie den alten Idealen aus der Urzeit. Sie wollen die Herrschaft Luzifers und nicht
nur irgendeines Dämons, sondern genau seine. Das ist so schlimm daran.« Bentini, der mir gegenübersaß, nickte. »So weit sind unsere Nachforschungen auch gediehen, Mister Sinclair. Aber es war uns bisher nicht möglich, in den inneren Zirkel einzudringen. Die Weiße Macht ist im Prinzip zu schwach. Oder wir haben die Gefahr zu lange unterschätzt, das kann auch sein.« »Mir ist es nicht anders ergangen«, sagte ich. »Keiner braucht sich da einen Vorwurf zu machen. Bei mir hat es jahrelang gedauert, bis ich von ihrer Existenz überhaupt erfuhr. Ich hatte bis dato nicht gewußt, daß es noch Urdämonen gibt aus Zeiten, die für uns nicht einmal vorstellbar sind.« »Das ist an ihnen auch so gefährlich, Mister Sinclair. Sie haben sich damals schon angepaßt, als an Menschen noch nicht zu denken war, und sie haben dann umgedacht und sich der menschlichen Gestalt bedient. Luzifer hatte gottgleich sein wollen, das brachte ihm die ewige Verdammnis ein, doch er scheint auch dort noch gelernt und sich angepaßt zu haben. Wir tragen die Folgen.« Er hatte diesen schwerwiegenden Satz gelassen ausgesprochen. Wie groß die Macht der Kreaturen der Finsternis war, daran durfte ich gar nicht denken, aber schon einmal hatte das Böse verloren, und es konnte sein, daß sich dieser große Kampf in naher Zukunft wiederholte, nur eben mit anderen Mitteln. »Denken Sie über den Gegenpol nach, Mister Sinclair?« »In der Tat.« Der Monsignore lächelte etwas verkrampft. »Ob Sie es mir glauben oder nicht, den gibt es.« »Wie bitte? Habe ich richtig verstanden? Den soll es geben?« »Ja.« »Wo?« »Ich weiß es nicht. Keiner scheint es genau zu wissen.« Er blickte auf den Verletzten, der die Augen geschlossen hatte und röchelnd atmete. »Bruder Shiram ist den falschen Weg gegangen, er hat zu ihnen gehört, aber er kehrte um, damit wir von seinem Wissen profitierten. Er muß eine Spur gefunden haben, denn er weiß auch, worum es geht. Wodurch wir die Kreaturen der Finsternis in ihre Schranken weisen können.« »Da bin ich gespannt.« Father Ignatius wußte es wahrscheinlich, aber erhielt sich zurück und sagte nichts. Bentini räusperte sich. »Kennen Sie die Zehn Gebote, Mister Sinclair?« »Natürlich.« »Kennen Sie auch die Bundeslade?« »Moment…«
»Ja, Sie haben richtig gehört. Auch wenn Sie jetzt einen Schauer bekommen, wie ich bemerkte, aber es geht um die Zehn Gebote und die Kraft der Bundeslade. Ihre Macht wird es sein, die Luzifer und seine Kreaturen der Finsternis stoppen kann.« Ich schwieg. Mein Leben war wirklich nicht arm an Überraschungen, dies aber zu hören, gehörte zu den härtesten und unglaublichsten, die ich je gehört hatte. Die Bundeslade! Ich strich durch mein Gesicht. Gedanken wirbelten wie Staubkörner. Ich kam auf keinen Nenner und fühlte mich wie jemand, den man mit etwas Unglaublichem konfrontiert hatte. War es unglaublich? Zweifel erschienen auf meinem Gesicht, die auch von Bentini entdeckt wurden. »Sie sehen so aus, als würden Sie mir nicht glauben, Mister Sinclair. Ja, so sehen Sie aus.« »Ich würde Sie nie als Lügner bezeichnen, Monsignore. Sie werden Ihre Gründe gehabt haben, aber kann ich davon ausgehen, daß dies wirklich stimmt?« »Alles deutet daraufhin.« »Was ist alles?« »Unsere Forschungen. Wir haben nicht geschlafen. Die Weiße Macht ist aktiv, wir haben auf Umwegen einiges herausgefunden, sogar auf mehreren Wegen, aber eines ist immer gleich geblieben. Das Ziel eben, das wir erreichen müssen.« »Das heißt«, konkretisierte Father Ignatius. »Wir müssen die Bundeslade finden.« Bentini nickte. Nur ich rührte mich nicht. Ich ließ einen Schauer nach dem anderen über meinen Rücken gleiten und dachte daran, daß schon viel über die Bundeslade geschrieben worden war. Man hatte über ihren Verbleib spekuliert, und zahlreiche Fachleute waren der Meinung, daß sie noch existierte, ebenso wie die Arche Noah, die man auf dem türkischen Berg Ararat vermutete. Aber in welche Richtung führte uns die Spur zur Bundeslade? »Wissen Sie mehr, Monsignore?« fragte ich. Er gab mir eine andere Antwort. »Akzeptieren Sie denn, was ich Ihnen sagte?« »Ja, natürlich.« »Voll und ganz?« Ich lächelte. »Warum zweifeln Sie?« »Weil ich dies nicht anders gewohnt bin. Wir sprechen hier über ein Thema, das erstens biblisch und zweitens so gut wie unwahrscheinlich ist. Man hätte uns im Mittelalter als Ketzer an den Pranger gestellt, aber
die Zeiten sind vorbei. Jedenfalls sind wir von der Weißen Macht davon überzeugt, daß es sie gibt.« Ich runzelte die Stirn. »Haben Sie irgendwelche Beweise für Ihre Überzeugung erhalten?« »Sie sprechen jetzt als Polizist zu mir.« »Der bin ich nun mal.« »Ich weiß es. Aber konkrete Beweise, um jemand verurteilen zu können, die haben wir nicht.« Er hob einen Arm. »Allerdings Spuren, die sich dann zu Hinweisen verdichteten.« »Und die führten zur Bundeslade?« »So sehen wir es.« Ich schaute aus dem Fenster, hinter dem allmählich das Tageslicht versickerte, als würde es von einem gewaltigen See aufgesaugt. Bald würde es dunkel werden… Die Bundeslade also, dachte ich. Spuren führten zu ihr. Es sollte sie geben, aber wo? Und wie konnten wir sie dann einsetzen, um die Kreaturen der Finsternis zu vernichten. »Noch immer skeptisch, Mister Sinclair?« »Wo kann sie sein?« Der Mann aus dem Vatikan nickte mir zu. »Genau das ist das Problem. Wir wissen es nicht.« »Aber es gibt Spuren, denke ich.« »Ja, Hinweise, schwache Andeutungen, die ich manchmal mit Wüstensand vergleiche, der verweht. Hinweise sind vorhanden, das steht außer Zweifel. Diesen Hinweisen haben wir entnommen, daß nicht nur wir uns auf die Spur der Bundeslade gesetzt haben, es gibt auch eine andere Gruppe. Ich denke, sie gehören den Kreaturen der Finsternis an. Wenn das stimmt, müssen wir auch davon ausgehen, daß die Bundeslade eben nicht unzerstörbar ist.« »Eine Annahme?« »Eine Folge. Und ich bin davon überzeugt, daß auch Bruder Shiram einen Hinweis gefunden hat.« Er nickte sich selbst zu. »Nicht nur das, ich weiß es genau, denn grundlos ist er von den Kreaturen der Finsternis nicht gejagt worden.« »Was hat er denn herausgefunden?« »Möglicherweise etwas Konkretes, doch er hat noch nicht in unserem Sinne antworten können. Er hat uns ein Land gesagt, er hat von einer Wüste gesprochen, aber Israel ist groß. Ich glaube nicht, daß es so einfach sein wird, den ersten konkreten Beweis zu finden.« »Wie sähe er denn aus?« fragte ich. »Wissen Sie mehr darüber?« »Leider zu wenig. Es soll eine Wand sein. Mehr konnte uns Bruder Shiram nicht sagen.« »Wieso Wand?« »Darüber rätseln wir ebenfalls. Experten gingen davon aus, daß es eine Wand ist, die bei Ausgrabungen gefunden wurde. Das kann gut möglich
sein, denn überall an biblischen Stätten sind Archäologen zu Werke, besonders nach den Bucherscheinungen in den letzten Jahren, wie Sie sicherlich wissen.« »Ja, ich hatte teilweise das Vergnügen, sie zu lesen. Aber von einer Wand habe ich nichts erfahren.« »Das stimmt. Sie ist nirgendwo erwähnt worden, was nicht heißt, daß es sie nicht gibt.« Er schaute in das zerstörte Gesicht des Verletzten. »Ich hoffe auch weiterhin, daß sich Bruder Shiram erinnern wird. Er muß einfach mehr wissen, doch da gibt es meiner Ansicht nach etwas, daß sein Gedächtnis blockiert.« »Eingeimpft durch die andere Seite?« »Das könnte man so sehen.« »Deshalb müssen wir versuchen, die Blockade zu brechen, John«, sagte Father Ignatius. »Es ist wirklich der einzige Weg, um an die konkrete Spur heranzukommen.« »Du hast es versucht?« »Ich nicht.« Der Monsignore hob die Hand. »Ich hatte den Versuch unternommen, aber ohne einen Erfolg. Die Blockade sitzt einfach zu tief. Das Grauen und auch das Wissen stecken in ihm. Schauen Sie sich sein Gesicht an. Die eine Hälfte ist normal, die andere nicht. Für mich ist es das Sinnbild seiner Zerrissenheit. Einerseits möchte er, auf der anderen Seite kann er nicht. Das ist unser Problem.« »Und die böse Seite weitet sich aus«, erklärte Father Ignatius. »Sie ist dabei, ihn zu übernehmen. Ich habe an seinem Bett gewacht und bin zu der Überzeugung gelangt, daß die Haut immer mehr zusammensinkt, daß sie sich allmählich aufrollt. Sie wird noch schwärzer, sie ist dabei zu veraschen, und ich weiß nicht, wie lange er noch durchhält. Sein Leben ist wie Wasser, das anfängt, tropfenweise durch einen Filter zu rinnen, bis es nicht mehr vorhanden ist.« »Was können wir tun?« Ignatius tippte mich an. »Frage nicht, was wir tun können. Jetzt bist du an der Reihe.« »Wie ich?« »Du besitzt das Kreuz. Kein Allheilmittel, ich weiß. Aber es könnte doch sein, daß es dein geweihter Talisman schafft, die Blockade des Bösen zu brechen. Die Höllenzeit darf nicht beginnen.« »Wieder ein neuer Begriff«, sagte ich. »Nicht von uns allein. Auch Bruder Shiram hat ihn gezeigt. Es ist das Synonym für die Kreaturen der Finsternis. Sie wollen als Endziel die Höllenzeit haben.« »Das möchten viele Schwarzblüter.« »Aber nicht mit der gewaltigen Intensität, John.«
»Ja, kann sein, daß du recht hast. Ich möchte noch einmal zusammenfassen. Hier besteht die Überzeugung, daß Shiram mehr weiß.« »Ja, Mister Sinclair.« »Und Sie glauben, daß es mein Kreuz schafft?« Er lächelte. »Es ist die einzige Möglichkeit. Wir haben Sie aus diesem Grunde auch hergebeten. Es steht fest, daß Bruder Shiram gejagt wurde. Er hat einen Ort gesucht, wo er sich verstecken konnte. Bestimmt gibt es sicherere auf dieser Welt, aber ich möchte betonen, daß er unter einem starken Druck stand und nicht die Zeit hatte, es sich aussuchen zu können. Deshalb blieb er hier. Wir haben die Nonnen in Sicherheit gebracht. Es wurde alles von uns geregelt, denn zuvor hatte er sich mit der Weißen Macht in Verbindung gesetzt, und wir taten dann das, was wir tun mußten und evakuierten das Kloster.« »Das war eine gute Idee.« »Finden wir auch.« »Ich habe noch Bedenken.« »Welche?« »Es steht wohl nicht fest, wie stark Shiram durch die andere Seite beeinflußt wurde. Es kann durchaus sein, daß sie mehr als die Hälfte von ihm übernommen hat. Dann wäre der Weg, es mit dem Kreuz zu versuchen, natürlich gefährlich. Es könnte ihn möglicherweise zerstören. Er würde vor unseren Augen sterben.« Beide Männer schwiegen. Meine Bedenken waren nicht aus der Luft gegriffen, das würden sie auch einsehen, und es war Ignatius, der sich meldete und mit leiser Stimme sagte: »Es ist die einzige Chance, wir müssen das Risiko eingehen. Zudem können wir uns auch kaum Zeit lassen, John. Es drängt, du weißt selbst, daß man uns bereits auf der Spur ist. Dieser Moran war der erste. Weißt du, wie viele ihm noch folgen werden. Ich möchte dieses Kloster als einen relativen Schutz bezeichnen. Wenn wir ihn jetzt wegbringen, sind wir in einer anderen Umgebung, die durchaus gefährlich für uns alle werden kann, denn die Kreaturen der Finsternis kennen sich sehr gut aus.« »Das hat mich überzeugt, Ignatius. Sind Sie auch seiner Meinung, Monsignore?« »Sicher. Jetzt kommt es auf Sie an.« Ich schaute nach rechts, wo das Bett stand. Ich wußte nicht, was Bruder Shiram erlebt hatte, es mußte schrecklich genug gewesen sein. Vielleicht hatte er einen Einblick in den inneren Kreis bekommen. Dann würde er uns helfen können. Ob er allerdings überlebte, war mehr als fraglich. »Sind Sie einverstanden, Mister Sinclair?« »Ja, das bin ich.« Beiden Männern fiel ein Stein vom Herzen.
*** Wir machten uns noch nicht sofort an die >Arbeit<, denn es mußten noch gewisse Vorbereitungen getroffen werden. Dazu gehörte auch mein Anruf in London. Ich war wieder in das Büro der Äbtissin gegangen und hatte noch einen Blick auf die Plane geworfen. Darunter rührte sich nichts. Es gab keine Masse, die sich zu einem neuen Wesen geformt hätte, diese Kreatur war erledigt. Auf der Schreibtischkante nahm ich Platz und war dabei sehr nachdenklich. Was ich in den letzten Minuten erfahren hatte, war schon hart gewesen. Ich ging sogar so weit, meine Arbeit in einem ganz anderen Licht zu sehen. Da war ein neues Kapitel im Buch meines Lebens aufgeschlagen worden. Die Weiße Macht war so etwas wie der Geheimdienst des Vatikans. Damals hatte ich in Pontresina mit Franca Simonis darüber gesprochen. Sie hatte mich gekannt, ich sie nicht, und ich war über ihre Ausführungen leicht geschockt gewesen. Jetzt wußte ich mehr, nicht viel mehr, doch es reichte aus, um die gewaltigen Dimensionen zu erkennen, die sich über meinem Kopf zusammendrehten. Es ging um die Weiße Macht, es ging um die Kreaturen der Finsternis, aber es ging auch um die geheimnisvolle Bundeslade und um deren Verbleib. Das war mir neu gewesen und hatte mich nicht unbeeindruckt gelassen. Es ging mir verdammt nah, und ich fragte mich, wie wohl mein Chef, Sir James, reagieren würde, wenn er davon hörte. Ich ließ die Wählscheibe einige Male rotieren, bis ich den Anschluß hatte. »Das hat lange gedauert, John. Wir waren in Sorge.« »Es hat auch Ärger gegeben.« »Berichten Sie.« Ich erzählte von Moran und auch davon, daß ich letztendlich den Kampf gegen ihn gewonnen hatte. Zwischendurch mußte ich zweimal niesen. Die Kleidung war noch immer etwas klamm. Danach aber kam ich auf den wichtigsten Teil zu sprechen, und der haute, so stellte ich es mir vor, Sir James Powell vom Hocker. Zwar hörte ich nichts poltern, aber sein Schweigen hatte eine ähnliche Wirkung. »Das kann doch nicht wahr sein«, flüsterte er. »Leider entspricht es den Tatsachen. Mir sind hier die Augen in völlig neue Perspektiven und Dimensionen geöffnet worden. Es ist etwas hinzugekommen, zu all dem anderen, was schon vorhanden ist, von dem wir nicht wissen, wohin es uns führt.« »Sie meinen nicht nur die Kreaturen der Finsternis?« »So ist es, Sir. Es geht um die Bundeslade.«
Er stöhnte auf. »Schaffen wir das allein?« Diese Frage gab mir einen Stich. Nie zuvor hatte ich Sir James so deprimiert erlebt, und auch seine Stimme hatte entsprechend geklungen. Das machte mir nicht eben Mut. »Mein Gott, John, das ist hart.« »Finde ich auch, Sir.« »Und Sie wollen den endgültigen Beweis?« »Ich werde es versuchen.« »Brauchen Sie Unterstützung? Soll ich Suko schicken?« »Nein, nein, Sir, nicht nötig. Er würde zu spät eintreffen. Wir müssen hier allein zurechtkommen.« »Das sehe ich auch ein. Aber Sie werden mich anrufen, falls sich etwas Neues ergeben hat. Ich bin die Nacht über dann hier im Büro zu erreichen.« »Das ist gut.« »Noch eine Frage zum Schluß, John? Haben Sie eigentlich Angst vor der Zukunft?« Ich ließ mir Zeit, was Sir James störte. »Sie denken darüber nach? Habe ich den Kern getroffen?« »So ungefähr, Sir.« »Wie lautet Ihre Antwort?« »Nein, ich habe keine direkte Angst. Aber ich sehe der Zukunft gespannter entgegen.« »Danke, John, das habe ich nur hören wollen.« »Warum?« »Ich brauche eben Leute, die einen klaren Kopf bewahren. Was da auf uns einstürmt, ist nicht eben normal. Jedenfalls werde ich Suko informieren, damit auch er Bescheid weiß.« »Aber machen Sie es nicht zu schlimm.« »Keine Sorge, Sie können sich auf mich verlassen.« Das Gespräch war beendet, und als ich den Hörer auflegte, sah ich, daß auf dem Kunststoff ein dünner Schweißfilm zurückgeblieben war. Dieses Gespräch mit meinem Chef hatte mich schon aufgewühlt. Mit gesenktem Kopf und langsamen Schritten verließ ich den Raum, um wieder zu den anderen beiden Männern zu gehen. Sie hatten auf mich gewartet und wollten natürlich wissen, wie London reagiert hatte. »Ich habe grünes Licht bekommen.« »Hat Sir James es akzeptiert?« fragte Ignatius. »Blieb ihm etwas anderes übrig?« »Es klang doch ein wenig unglaublich, denke ich.« »Ach je«, sagte ich, »was ist bei meiner Arbeit schon sofort glaubhaft und was nicht? Wichtig ist nur, daß Sir James uns vertraut und wir auch die entsprechende Rückendeckung haben.«
Monsignore Bentini lachte. »Dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen – oder?« »Wir wollen es hoffen«, erwiderte ich. *** Es gibt bestimmte Dinge oder Arbeiten, die sollte man auf keinen Fall überstürzen. So dachte ich, bevor wir unsere große Aufgabe angingen, und ich begann praktisch mit einer profanen Bitte. Ich hätte gern Tee gehabt, um meinen Durst zu bekämpfen. Dieser Wunsch war auf fruchtbaren Boden gefallen, denn Ignatius und der Monsignore dachten ähnlich. Der Father wollte den Tee zubereiten, er verschwand in der Küche. Bentini und ich blieben allein mit dem Verletzten zurück. »Jetzt habe ich plötzlich Furcht«, sagte der Monsignore zu mir. »Vor wem?« »Vor der eigenen Courage.« »Noch können wir zurück.« »Nein, es wäre nicht meine Art. Und ich habe mich wohl auch falsch ausgedrückt. Es ist eigentlich nicht die Furcht vor dem, was wir vorhaben, nein, da ist etwas anderes, das mir Sorge bereitet.« Er drehte den Kopf und schaute zum Fenster. »Wissen Sie, Mister Sinclair, ich kann mir nicht vorstellen, daß die andere Seite so leicht aufgibt. Das paßt nicht zu ihr. Die Kreaturen der Finsternis sind ein Teil grauenvoller, dämonischer Historie. Sie werden versuchen, uns zu vernichten. Sie werden, meine Güte, sie werden keine Rücksicht kennen. Ihr Kreuz und unser Versuch in allen Ehren, Mister Sinclair, aber glauben Sie nicht, daß wir bereits unter ihrer Kontrolle stehen?« »Sie denken an eine Beobachtung?« »Ja, von der wir noch nichts wissen, nur etwas ahnen können, aber auch das ist zu vage.« »Damit rechne ich auch.« »Dann bin ich beruhigt. Wenn Shiram wirklich redet und wenn er etwas weiß, dann dürfen es andere Menschen einfach nicht erfahren. Das… das geht einfach nicht.« »Wir werden sehen.« Der Monsignore holte ein Tuch aus der Tascheifl »Meine Güte, Sie haben Nerven, Sie bleiben so ruhig, während bei mir die Unruhe von Sekunde zu Sekunde steigt. Ich möchte mich auch nicht als absoluter Fachmann bezeichnen, ich habe mich mit den Kreaturen der Finsternis beschäftigt, sehr im geheimen wohlgemerkt, denn ich möchte nicht, daß die Welt davon erfährt. Was ich Ihnen jetzt sage, das weiß auch Bruder Ignatius nicht. Ich werde einfach das Gefühl nicht los, daß sich diese Wesen schon mehr auf der Erde ausgebreitet haben, als wir überhaupt annehmen. Es ist durchaus akzeptabel für mich, daß sie in gewissen
Positionen ihre Leute haben, Schlüsselstellungen besetzt halten und wir es einfach nicht schaffen, dagegen anzukämpfen. Was denken Sie?« »Tja, Monsignore, ich kann Ihre Befürchtungen nachvollziehen, ich denke ähnlich, wobei ich allerdings hoffe, daß es so weit noch nicht gekommen ist.« »Da drücke ich uns und der Menschheit die Daumen. Ich will keine Höllenzeit auf dieser Welt haben. Wir sind einfach zu wenige Personen, die davon wissen. Wir brauchen kompetente Helfer, denke ich. Wissen Sie denn, wer uns noch zur Seite stehen könnte und wer auch dann unser Vertrauen nicht enttäuscht?« »Da gäbe es einige«, sagte ich. »Sie denken an Ihren Kollegen.« »Unter anderem.« »An wen sonst noch?« Ich zog die Lippen zu einem Lächeln in die Breite. »Das kann ich Ihnen nicht so genau sagen. Deshalb bleibe ich lieber allgemein. Ich denke an gewisse Gestalten, sagen wir Geistwesen, die auf unserer Seite stehen.« Bentini überlegte und fand die Lösung. »Meinen Sie Engel damit?« »Ja.« Der Mann aus dem Vatikan nickte. »Ja, ja, das ist wundervoll. Daran habe ich gedacht. Es wurde auch schon im kleinen Kreis durchdiskutiert, doch wir sind zu keinem Ergebnis gekommen, auch weil man mir nicht so recht glaubte.« »Ich kenne es aus eigener Erfahrung. Ich habe Engel erlebt, das können Sie mir abnehmen.« »So etwas gibt mir dann wieder Hoffnung, Mister Sinclair, und die brauchen wir.« »Natürlich.« Unser Freund Ignatius kehrte zurück, aber er war nicht mehr der gleiche wie zuvor. Sein Blick flackerte. Er schien mir noch blasser geworden zu sein. »Was hast du?« fragte ich. Langsam kam er vor und stellte die Teekanne auf den Tisch. Tassen befanden sich in einem Schrank an der Wand hinter uns. Sie holte Bentini hervor und brachte auch eine für Bruder Shiram mit. »Es hat sich etwas verändert, John.« »Was?« »Sie kommen.« »Wer?« »Die andere Seite wird eingreifen. Sie wollen, daß wir nicht viel erfahren. Habe ich dir gesagt, daß ich sogar mit dem Eingreifen der Horror-Reiter rechne?« »Hast du nicht.«
»Dann weißt du es jetzt. Können die Kreaturen der Finsternis denn bessere Helfer finden als sie? Mit ihnen haben wir beide im Kloster St. Patrick ja unsere bösen Erfahrungen machen können. Unsere Feinde werden aufrüsten, und es wird für uns verflixt schwer werden, standhaft zu bleiben und Bruder Shiram zu beschützen.« Sah Ignatius die Lage zu dramatisch? Ich wußte es nicht. Es konnte sein, nur wollte ich es nicht glauben. Ich hatte ihn bisher als einen nüchternen Menschen kennengelernt, und nun hatte ihn so etwas wie Panik erfaßt. Es war ungewöhnlich. »Hast du irgendwelche Beweise gefunden?« fragte ich ihn. »Nein, das habe ich nicht. Aber du weißt selbst, wie sehr Gefühle und Ahnungen warnen können.« »Das stimmt.« Bentini schenkte Tee in die Tassen. Wir nahmen jeder eine, und Ignatius wollte auch eine Tasse dem Verletzten bringen, als der sich mit einem Stöhnlaut meldete und sich dabei gleichzeitig in seinem Bett aufrichtete. Er bewegte den Kopf, das gesunde Auge und schaute uns an, als sähe er uns zum erstenmal. Unruhe hatte ihn überkommen, was auch nicht normal war. Seine Handflächen strichen hektisch über die Bettdecke. »Ich möchte nicht mehr in meinem Bett bleiben.« Bentini war sofort bei ihm. »Warum denn nicht? Gibt es einen Grund?« Die Hände knüllten das Laken zusammen. »Ich will sehen!« flüsterte der Verletzte. Bentini warf mir einen fragenden Blick zu. Auch ich konnte ihm keine Antwort geben, denn ich wußte wirklich nicht, was sich dieser Mann anschauen wollte. Doch irgendwo paßte sein Verhalten auch zur Reaktion meines Freundes Ignatius. Auch er hatte seine Sicherheit verloren und rechnete mit schlimmen Gefahren. »Tun Sie ihm den Gefallen«, sagte ich. Bentini hob den Körper an. Als er Shiram loslassen wollte, schüttelte diesen der Tod. Shiram fing an zu keuchen. »Ich will nicht mehr auf dem Bett bleiben, und muß nach draußen schauen. Es sind Stühle hier. Ich bin kräftig genug, um sitzen zu können.« Er traf selbst Anstalten, das Bett zu verlassen. Da sich der Monsignore in diesem Moment überfordert fühlte, winkte er Ignatius als Helfer herbei. Der faßte mit an. Ich schaute den beiden zu, wie sie Shiram aus dem Bett hievten. Auf dessen Gesicht lag der Schweiß. Die verbrannte Hälfte zuckte immer wieder, und ich holte vom Kopfende des Tisches einen Stuhl herbei, der zwei Seitenlehnen besaß. Der Verletzte konnte sich darauf setzen und an den Armlehnen abstützen. Er schaute mir entgegen. Von zwei Händen wurde er gehalten. »Bitte, setzen Sie sich!«
Er tat es noch nicht, obwohl ich den Stuhl in eine entsprechende Position gedreht hatte. Mir kam es vor, als würde er meine Anwesenheit zum erstenmal wahrnehmen. Er schaute mich an, und sein gesundes Auge zuckte. »Wer sind Sie?« »Mein Name ist John Sinclair?« Er überlegte, bevor er eine zweite Frage stellte. »Sie gehören nicht zum Kloster?« »Nein.« »Sind Sie ein Freund?« »So kann man es sehen.« Sein Mund zog sich in die Breite. Er zuckte dabei. Ich hatte den Eindruck, die verbrannte Hälfte knistern zu hören. »Sie sind anders als Ignatius und der Monsignore. Das merke ich. Von Ihnen geht etwas aus. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich kann es spüren. Da ist was, Mister. Es ist nicht normal…« Er bewegte seinen Kopf. »Wer ist dieser Mann?« keuchte er und wollte Antwort von den anderen beiden haben. »Er wird uns helfen.« »Ja, aber…« Mich traf ein fragender Blick. »Warum spüre ich etwas? Er muß anders sein…« »Nein, Mister Sinclair ist ganz normal«, sagte der Monsignore und drückte den Verletzten in den Sessel. »Er wird uns helfen, wir können ihm vertrauen.« »Er macht mir angst.« Mit diesem Geständnis hatte keiner gerechnet. Wir schauten uns deshalb verblüfft an. Ich hielt mich dabei im Hintergrund, ich war fremd. Wenn jemand sprach, dann sollten es die anderen beiden tun, und sie schafften es, dem Mann ein Geständnis zu entlocken. Wir erfuhren, daß er meinen Namen schon mal gehört hatte. Das war aber vor seiner Zeit der Rückkehr gewesen, und da hatte er noch auf der anderen Seite gestanden. Dort war über mich gesprochen worden. Kein Wunder eigentlich, denn auch bei meinen Feinden hatte es sich herumgesprochen, wer ihnen auf den Fersen war. Außerdem waren den Kreaturen der Finsternis meine bescheidenen Erfolge ein Begriff. Es ging nicht an, daß sich Bruder Shiram gegen mich wehrte, denn wir brauchten ihn noch als Informanten über die angedrohte Höllenzeit, deshalb redeten Ignatius und Bentini auf ihn ein und schafften es, ihn zu beruhigen. Für ihn war alles anders geworden. Er lag nicht mehr in seinem Bett, sondern saß auf dem Stuhl mit dem Gesicht zu einem der Fenster, und er konnte nach draußen schauen. Diese Stellung hatte er gewollt. Die Hände hielten die Lehnen fest, der Blick glitt durch die Scheibe. Er
schaute hinaus in die Natur, wo alles so anders war, so weit, so frei, doch er mußte hier hinter den Mauern bleiben. Der Himmel hatte sein Blau längst verloren. Die großen Schatten hielten ihn bedeckt. Dämmerung kroch über das Land. Die Temperatur war wieder gefallen, und aus den großen Schneeinseln hatten sich Eiskrusten gebildet, die in dunklen Blautönen schimmerten wie kalte Spiegelflächen. Mir war aufgefallen, daß Shiram starr durch das Fenster sah, als hätte er in der Weite des Landes irgend etwas Entscheidendes entdeckt. Er sah, daß ich neben ihn getreten war, schaute nach links und duckte sich dann zusammen. Seine Hände umfaßten die Stuhllehnen noch härter. Wenn er atmete, keuchte er. Ich fragte ihn danach, was er spürte und weshalb er aus dem Fenster schaute. »Ich will sie sehen.« »Wen?« »Die Gefahr, die Hölle mit ihren Boten. Sie sind hier, ich weiß es. Sie halten sich noch versteckt. Sie haben mir nicht verziehen, daß ich sie verriet. Sie werden nicht aufgeben. Ich bin ein Verräter, der zuviel weiß.« »Was wissen Sie, Bruder Shiram?« »Ich kann es nicht sagen«, erwiderte er spontan. »Warum nicht?« »Ich habe es vergessen!« Sollte ich ihm glauben? Nein, nicht direkt. Er konnte insofern recht haben, daß er sein Wissen verdrängt hatte, oder daß andere ihm eine Blockade errichtet hatten. Ich aber war gekommen, um die Blockade zu brechen. Die Chance, mehr über die Pläne der Kreaturen der Finsternis zu erfahren, wollte ich mir nicht entgehen lassen. Deshalb griff ich zu dem Mittel, das mir half. Ich holte das Kreuz hervor, und ich tat es so, daß er es auch sehen konnte. Sein Gesicht zeigte einen mißtrauischen Ausdruck. Er sah es schließlich, wie es von der Kette herab nach unten pendelte und sich Lichtstrahlen auf dem Silber fingen, die zu Reflexen wurden, als wollten sie an verschiedenen Stellen Zeichen setzen. Father Ignatius und der Monsignore waren zurückgetreten. Sie wollten jetzt mir das Feld überlassen, und ich trat so nahe wie möglich an den Verletzten heran. Er hockte in seinem Stuhl und hatte sich mit dem Rücken hart gegen die Lehne gepreßt. Dabei machte er den Eindruck eines Mannes, der zu fliehen versuchte, es aber wegen des Drucks in seinem Rücken nicht schaffte. Er mußte bleiben. »Was… was… ist das?« »Nur ein Kreuz!«
»Ich kenne es. Aber ich will es nicht.« »Es wird Ihnen helfen«, sagte ich mit leiser Stimme, die gleichzeitig auch beruhigend klang. »Sie werden es überstehen, das Grauen wird an Ihnen vorbeigehen. Es wird Sie verlassen, und Sie werden wieder den Weg zurück finden.« Er glaubte mir nicht, das konnte ich ihm ansehen. Er suchte nach einem Ausweg, ohne einen zu finden. Dieser Mann steckte in der Klemme, und das wußte er. Dennoch reagierte er unterschiedlich, eben den beiden Seelen, die in seiner Brust wohnten, entsprechend. Während er mit dem normalen Auge das Kreuz auch normal anschaute, geschah es mit seinem anderen. Bisher hatte ich es als tot angesehen. Die Umgebung war verbrannt worden, das Auge war aus der Höhle getreten und stand etwas vor. Es sah aus wie ein weißer, schleimiger Klumpen mit einer für meinen Geschmack sehr großen Pupille. In der helleren Gallertmasse sah sie aus wie ein dunkler Fleck. »Haben Sie Angst?« fragte ich. »Vor dem Kreuz?« »Ja.« »Weiß nicht. Es ist Hoffnung, aber auch Schrecken.« Er stöhnte auf, denn er spürte, daß es etwas in ihm gab, das dieses Kreuz einfach anwiderte. Es wurde von dieser negativen Kraft abgelehnt, doch darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Hier mußte was geschehen, bevor es zu spät wurde. Ich brachte das Kreuz näher an sein Gesicht. »Weg!« schrie er. »Weg damit!« Den Gefallen tat ich ihm nicht. Im Gegenteil, es näherte sich immer mehr dem Gesicht. Er riß den Mund weit auf und schnappte nach Luft. Beinahe wären seine verbrannten Lippen an der linken Seite noch gerissen, und plötzlich fegte aus seinem Mund ein Schrei. Dann sackte der Mann in sich zusammen und hing in seinem Sessel wie ein Toter… *** Sofort waren Ignatius und Bentini neben mir. Sie schauten zuerst auf Shiram, dann auf mich, und die eine Frage war in ihren Augen zu lesen. Ich kam ihnen mit der Antwort zuvor. »Ich weiß nicht, ob er tot ist. Das kann ich nicht glauben.« Ignatius untersuchte ihn. »Nein«, sagte er, als er sich aufrichtete. »Bruder Shiram lebt. Er hat nur einen Schock bekommen. Es war wohl etwas zu viel für ihn.« »Tut mir leid, aber ich konnte nicht wissen…«
»Schon gut, John, dich trifft keine Schuld. Wir wollten es ja auch. Er muß etwas wissen, aber…« Ein schweres Seufzen unterbrach ihn. Keiner von uns hatte es ausgestoßen, sondern Bruder Shiram, der sich wieder bewegte, noch einmal stöhnte und aus seinem Zustand erwachte. »Ihr seid noch da?« Diese Frage bewies uns, daß er wieder voll dabei war und nichts vergessen hatte. »Ja, wir haben gewartet, Bruder.« Shiram lächelte. »Es tut gut, Freunde zu haben.« Er umfaßte Ignatius’ Hand und hielt sie fest. »Bitte, bleibt bei mir.« »Das werden wir, aber John Sinclair möchte dich etwas fragen. Er will auch, daß du dabei sein Kreuz in die Hand nimmst. Bist du dazu bereit, Bruder Shiram?« Es war der entscheidende Moment. Jetzt kam es darauf an, ob die andere Kraft noch so groß war, daß sie den Willen des >Verräters< beherrschte. Dieser Mann befand sich in einer ungemein schwierigen Lage. Das Kreuz war für Schwarzblütler gefährlich, es würde sie zerstören, aber Shiram zählte nicht direkt dazu. Er überlegte, er kämpfte mit sich selbst. Wir ließen ihm die Zeit und lauschten dabei seinen schweren Atemzügen. Draußen vor den Fenstern nahm die Dunkelheit zu. Da wanderten Schatten über den Himmel wie große Gespenster. Sie ließen die Klarheit des Tages nur mehr Erinnerung sein. Die Dunkelheit des Himmels war wie ein Omen, ein bedrückendes Zeichen, das näher und näher kam. Ich hätte gern nach draußen geschaut, aber ich mußte bleiben. Shiram brauchte mich jetzt. Er atmete tief ein und aus. Sein Atem drang stoßweise aus dem Mund. Das erreichte auch den im Hintergrund wartenden Monsignore Bentini. Er hatte uns das Feld überlassen, da er wußte, daß er jetzt nicht eingreifen mußte. »Ja!« stieß der Verletzte hervor. »Ja, ich will es haben. Gebt es mir, bitte.« Er hatte seine Hand vom Arm des Fathers Ignatius gelöst und bewegte sie zeitlupenhaft auf mich zu. Seine starre Haltung erinnerte mich dabei an die eines Blinden, der versucht, nach etwas zu tasten, das ihm offeriert wird. Ich legte das Kreuz gegen seine Hand. Er griff noch nicht zu. Statt dessen zuckte er zusammen, und es sah so aus, als wollte er auch die Hand zurückziehen. Keiner von uns kannte den Grund. Es konnte an den Kräften des Kreuzes liegen oder nur am Metall, das ziemlich kühl war, verglich man es mit seiner Hand.
Plötzlich aber griff er zu. Shiram riß mir das Kreuz förmlich aus der Hand. Er hielt es fest und umklammerte es wie einen Rettungsanker. Er hatte sich überwunden, das Kreuz befand sich in seinem Besitz, ab jetzt waren wir gespannt… *** Zunächst geschah nichts. Nur das gesunde Auge hielt er geschlossen, während das verbrannte offen blieb und wie eine helle Kugel aus der Umgebung hervorglotzte. Das Bild war wirklich nicht schön. Es fiel uns auch schwer, es zu akzeptieren, doch das allein störte mich nicht. Mir war etwas anderes aufgefallen, und zwar die Veränderung innerhalb des Auges. Sie kam mir unheimlich vor, denn über das Auge hatte sich ein düsterer Schatten gelegt, der gleichzeitig eine gewisse Durchlässigkeit aufwies, so daß ich direkt in die Pupille schauen konnte. Sie zeigte ein Wechselspiel aus Licht und Schatten. Beides sehr dünn und beinahe an eine optische Täuschung erinnernd, aber dies war erst geschehen, als Shiram den Kontakt mit dem Kreuz bekommen hatte. Wahrscheinlich hatte sich auch in seinem Innern etwas verändert, nur war dies noch nicht so gravierend, als daß ich den beiden anderen Bescheid gegeben hätte. Father Ignatius stand sehr gespannt neben mir. Er machte den Eindruck, als würde er den Atem anhalten und sonst an nichts anderes mehr denken. Die Hände hielt er vor seinem Körper und hatte sie wie zum Gebet zusammengefaltet. Monsignore Bentini war auf leisen Sohlen näher gekommen. Wie ein großer Schutzengel stand er hinter dem Sitzenden und schaute auf ihn herab. In seinem Gesicht regte sich nichts. Von der linken Seite her fiel ein Schatten dagegen und machte es düster. Shirams Hände bewegten sich. Sie ließen das Kreuz nicht los und tasteten es während der Bewegungen ab. Ich sah dies als zufriedenstellend an und auch als einen Vorteil, denn ich hatte befürchtet, daß die negativen Kräfte zu groß waren und den Menschen vor mir vernichteten. Zumindest die gesunde Gesichtshälfte des Mönchs veränderte sich. Sie zeigte so etwas wie ein Lächeln, und dann hörten wir aus seinem Mund einen geflüsterten Satz, der uns sehr zufrieden machte. »Ich fühle mich gut«, sagte er. »Ja, ich fühle mich wunderbar. Ich liebe es. Neue Kraft und…« Er brach ab, hob aber die Hände und zeigte uns das aus ihnen hervorstechende Kreuz. Wir waren sehr zufrieden. »Gut, Bruder Shiram«, flüsterte Ignatius. »Mach bitte weiter so. Versuche es einfach! Denk nicht mehr an deine schlechten Zeiten. Das Kreuz wird dir Kraft geben, um sie überwinden zu können. Schau nach
vorn. Öffne deinen Kopf. Erinnere dich daran, was sie dir angetan haben. Finde wieder zurück auf den rechten Weg…« Shiram nickte. Gleichzeitig erwischte unsere Ohren das Geräusch eines regelrechten Donnerschlags. Wir zuckten zusammen, schauten uns einen Moment lang an, dann bemerkten wir, was an den Fenstern geschehen war. Eine urplötzliche und heftige Windbö hatte die äußeren Läden bewegt und mit Vehemenz gegen die Hauswand geschlagen. »Sturm?« flüsterte ich. Father Ignatius antwortete. Dabei lächelte er beruhigend. »John, das ist nichts Ungewöhnliches zu dieser Zeit. Der Winter will noch nicht weichen, doch das Frühjahr drängt mit großer Macht herbei. Deshalb dieser Sturm.« »Verstehe.« »Oder glaubst du an etwas anderes?« Mein Lächeln war kantig. »Wäre das denn zu weit hergeholt?« fragte ich leise. »Wir wollen es nicht hoffen.« »Er hat uns gewarnt, Ignatius.« Shiram rührte sich nicht. Er bewegte sich auch dann nicht, als der Monsignore zum Fenster ging, davor stehenblieb und nach draußen schaute, wo ein wildes Naturschauspiel wie ein Film vor seinen Augen ablief. Am Himmel kämpften die Gewalten gegeneinander. Dunkel und Hell. Wolken und Licht, alles befand sich in Bewegung. Vor und zurück, gleichzeitig kreisend, als wäre in einem gewaltigen Topf etwas umgerührt worden. Es schneite nicht, es regnete auch nicht, es war von einem Augenblick zum anderen entstanden, ein böser Vorbote des herannahenden Schreckens. Bentini kehrte zurück. Ich sprach ihn an. »Finden Sie das noch immer normal?« Er blieb an seinem alten Platz stehen und senkte den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, Mister Sinclair.« »Was ist mit dir, Ignatius?« Er hob die Schultern. »Alles ist möglich. Ich spüre Unruhe in mir. Ich habe den Eindruck, daß die Luft anders geworden ist. Das Böse umlauert das Haus, aber die Wände schaffen es nicht, es zurückzuhalten. Sie sind einfach nicht abwehrstark genug. Die andere Seite ist zu stark.« Er schaute zur Tür. »Ich könnte nachschauen.« »Nein!« erklärte ich. »Wir bleiben zusammen.« »Es wird auch besser sein«, sagte Bentini und wollte noch etwas hinzufügen, als es passierte. Aus dem Mund des Bruders drang ein tiefes Stöhnen. Ein gequälter Laut. Shiram zitterte, öffnete den Mund, Speichel erschien zwischen seinen Lippen, klebte dort fest, als wollte er die nächsten Worte verhindern.
Shiram brachte sie trotzdem hervor. »Sie… sie kommen. Einige sind schon da…« »Wo?« fragte ich. »Draußen. Ich spüre sie. Mir ist so schrecklich kalt geworden. Ich friere ein. Aber es ist eine andere Kälte, eine sehr böse, eine tiefe aus dem Höllen…« Er verstummte, sein Körper krampfte sich zusammen, und ebenso umkrampfte er auch das Kreuz. Ich wollte sehen, ob es sich verändert hatte. Noch war das nicht der Fall. Es sandte nach wie vor seinen normalen Schimmer ab, und keine Lichtreflexe flirrten über das Silber hinweg. Shiram hatte von außen lauernden Gefahren gesprochen, dem wollte ich auf den Grund gehen. »Gebt auf ihn acht«, bat ich die beiden anderen und verließ meinen Platz, um zum Fenster zu huschen. Ich hatte mir das mittlere ausgesucht, so konnte ich zu beiden Seiten hin gleich weit schauen. Die Landschaft lag vor mir wie das düstere Gemälde eines lebensmüden Malers. Am Himmel tobten sich die Gewalten aus, sie drückten das Licht zurück und drängten die Schatten dem Erdboden entgegen. Waren es echte Schatten oder Vorboten der Hölle? Mir kam vieles in den Sinn. Selbst eine beklemmende Kälte überkam mich. Es konnten die Zeichen einer Vorahnung sein, denn andere Kräfte würden versuchen, dieses Haus zu stürmen. Es war ein Hort des Guten gewesen, diese Abtrennung gab es jetzt nicht mehr. Allein durch das Eindringen eines Jack Moran war sie zerstört worden, und diese Lücke würde sich vergrößern, wenn wir nicht achtgaben. Im Prinzip wußte ich viel zu wenig über die Kreaturen der Finsternis. Mir warnicht bekannt, welche Mittel ihnen zur Verfügung standen, wie sie kämpften, mit welchen bösen Tricks sie uns noch überrumpeln wollten. Ich erinnerte mich daran, daß Father Ignatius von den Horror-Reitern gesprochen hatte. So abwegig fand ich den Gedanken nicht mehr. Sie konnten durchaus erscheinen, und wenn ich nach draußen schaute, sah ich dort die passende Kulisse zu ihrem Auftritt. Jemand rief nach mir. Er hatte es flüsternd getan, und ich hatte nicht heraushören können, wer es gewesen war. Langsam drehte ich mich um. Ignatius winkte mir heftig zu. Bentini stand noch immer hinter dem Verletzten, er schaute starr nach unten und hielt seinen Blick auf das Gesicht des Mannes gerichtet, mit dem irgend etwas geschehen sein mußte, was ich nicht erkennen konnte. Ich drehte den Fenstern den Rücken zu und blieb vor Shiram stehen. Er war sehr ruhig. Der Atem ging flach, ich hörte ihn kaum. Das Kreuz hielt er noch immer fest. Seine Hand zitterte leicht, und mit dem Zeigefinger deutete Father Ignatius auf eine bestimmte Stelle am Kopf des Mannes. Er meinte damit die Augen, und ich konzentrierte meinen Blick auf die Pupillen.
Ich sah nichts und fragte: »Was ist denn?« »Da war etwas, John.« »Wo?« »In den Augen.« Zweifel stiegen in mir hoch, dementsprechend schaute ich Ignatius auch an. »Bist du sicher?« »Ja, es ist ein Bild gewesen, eine magische Projektion, aber nur für einen Moment.« »Was hast du gesehen?« »Etwas Düsteres, John. Einen Teil der Landschaft draußen, glaube ich. Wolken und Himmel, als hätte er das Bild, das du vorhin gesehen hast, in seine Augen hineinprojiziert.« »Er hat recht«, bestätigte Monsignore Bentini. »Auch ich habe es gesehen, zwar nicht so gut wie er, aber…« Ich nickte und senkte den Kopf dem Gesicht des Verletzten entgegen. Die linke Seite hatte sich nicht verändert. Das verbrannte Fleisch, die zusammengerollte Haut, die Adern, der Geruch nach kaltem Rauch und vielleicht auch nach Schwefelgasen. Das Auge stand weit hervor, als hätte es noch mehr Druck von innen her bekommen. Es war wie eine gelierte weißliche Kugel mit der deutlich erkennbaren Pupille, in der die Bilder zu sehen gewesen waren. Jetzt zeigte sich nichts. Ich wandte mich wieder an Ignatius. »Gab es denn einen besonderen Grund für die Veränderung?« »Kann ich dir nicht sagen, John. Ich habe es nur plötzlich gesehen. Wir sollten abwarten. Was ist dir denn draußen aufgefallen? Hast du was gesehen?« »Nichts, nur den Umschwung des Wetters. Der Wind, die Wolken…« »Das ist schon okay.« »Aber keinen Horror-Reiter!« Ignatius duckte sich, als er den Begriff hörte. Dagegen war er allergisch. Sie hatten ihm schon zu oft Schwierigkeiten gemacht und ihn auch bedroht. Meine Gedanken irrten ab. Eine Veränderung zwang mich zur Konzentration auf das Auge. Ignatius hatte sich nicht geirrt. Er mußte tatsächlich ein Bild gesehen haben, und das bekam auch ich präsentiert. Ich wurde daran erinnert, wo ich mal in den Augen eines Dämons zukünftige Situationen bestimmter Fälle entdeckt hatte, die dann über mich gekommen waren. Hier war es ähnlich. Eine Szene konzentrierte sich auf die Pupille. Ich sah eine Bewegung, Schatten waren entstanden, die von einer Seite zur anderen huschten. Etwas Konkretes entdeckte ich nicht, rechnete aber damit, daß sich die Szene noch veränderte.
Dann tauchte etwas auf. Tief aus dem Pupillenschacht, wo das Böse am Tunnel zur Hölle lauerte, erschien ein schreckliches Gesicht, das ich zwar nur verkleinert sah, doch seine Scheußlichkeit direkt mitbekam, weil es eben so anders war. Es war das Gesicht eines Toten, der wohl uralt sein mußte. Die Haut war straff über die Knochen gezogen, die Nase fehlte, dafür war der Mund noch vorhanden. In dem Gesicht spielte sich eine furchtbare Qual. Ich sah es nur für einen Moment, dann war es verschwunden, und in diesem Zeitraum hatte sich auch Shirams Verhalten verändert. Er hatte leise geschrien, und mit einem Blick auf mein Kreuz stellte ich fest, daß es anfing heller zu schimmern. Es hatte die böse Macht im Körper des Mannes gespürt, und es kämpfte dagegen an. Hoffentlich geriet Bruder Shiram nicht zwischen diese gewaltigen Mahlsteine. Dann war das Bild verschwunden. War wieder untergetaucht, die >normale< Pupille lag vor mir. Ignatius stieß mich an. »Das war wie beim erstenmal«, sagte er leise, »nur eben etwas intensiver und länger.« »Hast du eine Erklärung?« »Nein.« »Ich auch nicht.« Unser Gespräch wurde von einem lauten Stöhnen unterbrochen. Der Verletzte hatte es ausgestoßen. Sein Gesicht war durch starke Schmerzen gezeichnet, er krümmte sich plötzlich, ließ auch das Kreuz los, das vor seinen Füßen zu Boden fiel. Ich bückte mich rasch und hob es auf. Shiram mußte Schreckliches erlebt haben. Die Nachwirkungen peinigten ihn, denn sein Körper zuckte. Er hielt den Mund weit offen, saugte die Luft ein wie durch eine Röhre, aber er schaffte es nicht, uns eine Erklärung zu geben. Bentini holte ihm Wasser. Ertrank es hastig, die Flüssigkeit rann noch an seinen Lippen entlang über den Hals. Er hatte kaum noch Kraft, das Glas zu halten. Bevor es zu Boden fallen konnte, nahm ich es ihm ab und stellte es weg. »Es ist so schlimm…« Er quälte sich die Worte über die Lippen. »So grauenhaft…« »Was ist grauenhaft, bitte?« »Alles ist schlimm. Sie haben mich. Ich kann nicht mehr. Sie sind stärker…« Seine Worte gefielen mir nicht. So sollte es nicht laufen. Ich wollte nicht, daß er aufgab und beugte mich ihm entgegen. »Nein, Shiram, sie sind nicht stärker. Es ist so, daß die Hölle nicht stärker sein kann. Hast du gehört?«
»Nichts mehr machen… vorbei… verloren…« Seine Antwort war ein Gestammel, und gleichzeitig zuckte er mit seinem linken Bein, wobei der Fuß über den Boden scharrte. Keiner von uns wußte, was es bedeutete. Wahrscheinlich wollte er uns ein Zeichen geben. Ich stand am günstigsten und schaute nach unten. Bruder Shiram trug eine Kutte. Unter ihrem Saum war auch sein Fuß verschwunden. Um ihn zu sehen, mußte ich die Kutte erst anheben, was ich auch tat. Ich sah einen dunklen Schuh, zerrte den Stoff weiter hoch – und nahm bereits den Geruch war. Kalter Rauch, verbranntes Fleisch… In mir rasselte eine Alarmsirene. Mit einem Ruck zerrte ich die Kutte noch höher. Ich wollte sehen, auch wenn es schlimm war. Es war schlimmer, als ich gedacht hatte. Es war furchtbar und schrecklich. Bis hoch zum Knie konnte ich schauen. Von seinem Bein war bis dorthin nichts mehr normal. Keine Haut, kein Fleisch mehr, weiße Knochen, die wie blinde Spiegelfetzen durch das verbrannte Fleisch schimmerten. Da wußten wir, daß wir verloren hatten… *** In den folgenden Sekunden war es sehr still. Keiner von uns traute sich, ein Wort zu sagen. Wir schauten uns an, und Monsignore Bentini wischte über sein Gesicht, als wollte er dort einen bösen Schatten wegputzen. Er hob die Schultern, sagte nichts, während Ignatius neben mir stand und die Hände zu Fäusten geballt hielt. Hinter meiner Stirn tuckerte es. Ich spürte, wie mich die Kraft für einen Moment verlassen hatte. Auf einmal wünschte ich mich weit, weit weg, es war einfach zu schlimm, diese Niederlage miterleben zu müssen. Ja, wir hatten verloren. Während wir versucht hatten, an sein Geheimnis heranzukommen, hatte es die andere Seite geschafft, ihn weiter unter ihre Kontrolle zu bringen. Bruder Shiram hatte sein Bein ausgestreckt. Drei Augenpaare schauten es an, der Verletzte selbst hielt die Augen geschlossen. Die Wunde war schwarz, sie schimmerte wie Öl, etwas bewegte sich darin. Beim näheren Hinsehen stellte ich fest, daß es Maden oder Spulwürmer waren. Dieser Mensch verfaulte vor unseren Augen, so schlimm es auch war, und über meinen Rücken floß die Kälte wie ein eisiger Schauer. »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust«, zitierte Bentini Faust, und damit hatte er recht. Ja, es waren zwei Seelen – eine normale und eine, die vom Bösen überfallen worden war. Und dieses Böse dachte gar nicht daran, sich zurückzuziehen. Fs blieb, es war das Grauen, das sich immer weiter fraß, und ich sprach das aus,
was die anderen beiden wohl auch dachten. »Wir sollten ihm die Kutte ausziehen.« Ignatius war damit nicht einverstanden. »Meinst du wirklich?« »Ja. Warum bist du dagegen?« Er hob die Schultern. »Ich kann es dir schlecht erklären, und ich denke dabei auch mehr an mich. Die Kutte ist für uns Brüder so etwas wie Symbol. Sie ist nicht nur ein Kleidungsstück, das uns wärmen soll. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, John, aber…« »Doch, mein Freund, das kann ich mir gut vorstellen. Ich finde es jedoch besser, wenn wir sie ihm ausziehen. Wir müssen Klarheit haben, wie weit die andere Seite von ihm Besitz ergriffen hat. Sie will ihn verfaulen lassen, wir haben dies nicht stoppen können, und werden es auch wohl nicht schaffen. Bevor es soweit ist, daß er… nun ja, ihr wißt schon, müssen wir noch einmal versuchen, ihn zum Reden zu bringen.« »Kannst du nicht dein Kreuz einsetzen?« »Wie denn?« »Indem du es auf die linke Körperseite legst.« »Nein.« Meine Antwort hatte so entschieden geklungen, daß er zusammengezuckt war. »Wieso nicht?« »Ich möchte ihn nicht zerstören, verstehst du? Ich will nicht, daß er vernichtet wird, er soll leben, wenigstens so lange wie möglich. Wenn ich die Seite zerstöre, dann wird auch seine andere Körperhälfte kaum noch existieren können. Kommt, wir ziehen ihm die Kutte aus. Wir müssen sehen, wie weit die Veränderung schon fortgeschritten ist, und ich möchte dabeisein, wenn sie sich weiter bildet.« Ob ich meinen Freund Ignatius überzeugt hatte, wußte ich nicht. Jedenfalls sträubte er sich nicht dagegen, Bruder Shiram die Kutte auszuziehen. Auch Bentini half mir. Seinem Gesicht sah ich an, daß es ihm nicht recht war. Draußen tobte weiter der Sturm. Er heulte um das Haus. Manchmal schrie der Wind, als wäre er angefüllt mit jammernden Seelen verstorbener Gestalten. Bruder Shiram bekam kaum mit, daß wir ihn entkleideten. In grauer Unterwäsche saß er vor uns. Wir hatten ihm auch noch ein schlichtes Hemd ausgezogen, und im kalten Licht der Deckenleuchten sahen wir, was mit ihm geschehen war. Die Veränderung, dieses Verbrennen ohne Feuer war weiter fortgeschritten, als wir angenommen hatten. Beinahe die gesamte linke Körperseite bestand aus verbranntem Fleisch, das uns an der Oberfläche vorkam wie knisternde Stoffreste. Nur am Hals waren einige Stellen verschont geblieben, doch auch sie schimmerten bereits bläulich und würden sich bald mit dem anderen vereinigt haben.
Es war ein Schock für mich. Ich hatte gedacht, noch etwas retten zu können und mußte nun einsehen, daß wir mit Bruder Shiram nicht mehr rechnen konnten. Wir schauten uns an. Deprimiert, enttäuscht, und Monsignore Bentini sagte: »Da ist wohl nichts mehr zu machen.« Diesen tiefsitzenden Pessimismus teilte ich nicht. »So würde ich nicht denken, Monsignore. Ich glaube schon, daß wir hier etwas machen können, denn dieser Mann ist nicht tot.« Beinahe strafend blickte er mich an. »Aber so gut wie, und das wissen Sie genau, Mister Sinclair.« »Er wird noch reden können.« »Schauen Sie ihn sich doch an. Die eine Seite ist…« »Er lebt trotzdem.« Auch Shiram hatte uns gehört. »Nicht mehr lange«, sagte er röchelnd. »Ich spüre, daß die andere Seite stärker ist. Ich habe mich zu tief mit ihr eingelassen. Ein Schauer rann über seinen Körper, der nur die normale Hälfte erfaßte. Sie sind nicht zu stoppen. Ihr müßt versuchen, die Lade zu finden. Irgendwann, aber trotzdem so schnell wie möglich.« Legte man strenge Maßstäbe an, so hatte die letzte Antwort nur mehr aus Worthülsen bestanden. Bis eben auf eine Ausnahme. Er hatte den Begriff Lade erwähnt, und darüber war ich gestolpert. »Welche Lade meint er?« Die Frage war sowohl an Bentini als auch an Ignatius gerichtet, beide zögerten mit der Antwort, als wäre sie sehr schlimm. »Ihr wißt Bescheid, nicht?« »Ja«, sagte Bentini leise. »Können Sie sich nicht denken, was er damit gemeint hat?« »Nein, sorry, im Moment nicht.« Der Monsignore nickte. »Manchmal ist man blockiert, deshalb will ich es Ihnen sagen. Es gibt nur einen Gegenstand, der mit dem Begriff Lade bezeichnet werden kann. Ich will ihn präzisieren. Es gehören noch zwei Silben davor. Es ist die Bundeslade…« *** Ignatius erklärte, daß mit dem Finden der Bundeslade die Höllenzeit gestoppt werden konnte, aber das hörte ich nur wie am Rande. Der Schauer hüllte mich ein wie ein Tuch, denn ich dachte zurück an die großen Bibelstellen im Alten Testament, als die Juden aus Ägypten geführt worden waren, Moses auf den Berg stieg, die Zehn Gebote entgegennahm und die Tafeln in der Bundeslade versenkte. Er hatte seinem Volk die Gebote unter Feuer und Blitz entgegengeschleudert, so jedenfalls kannte ich es aus der Überlieferung, und ich wußte auch von
Spekulationen, die immer wieder mal durch die Presse geisterten, daß sich Expeditionen und Forscher darangemacht hatten, die Bundeslade zu finden, ebenso wie sie versuchten, die Arche Noah zu entdecken. Bisher hatte es kein Ergebnis gegeben. Niemand wußte auch, ob die Bundeslade noch existierte, wenn ja, wo man dann nach ihr suchen sollte. Auch ich hätte bestimmt immer wieder ins Leere gestoßen, aber sollte ich den Worten Bruder Shirams mißtrauen? Das kam mir nicht in den Sinn, auch wenn berechtigte Zweifel blieben. Auf meiner Schulter spürte ich den Druck einer Hand. Der Monsignore war nahe an mich herangetreten. Mit leiser Stimme gab er mir seine Erklärung ab. »Ich wußte, daß es Sie schocken würde, aber Bruder Shiram hat nicht gelogen. Es geht um die Lade, denn sie ist wichtig. Es geht darum, daß wir sie finden müssen.« »Wer ist wir?« »Die Weiße Macht. Wir haben eingesehen, daß wir die Kreaturen der Finsternis nur durch die Kraft der Bundeslade zurückdrängen oder vernichten können. Einen anderen Weg gibt es leider nicht. Wir haben sehr lange geforscht, das können Sie uns glauben, nur sind wir nicht näher an das Problem herangekommen.« Ich war noch immer wie vor den Kopf geschlagen und ließ mir deshalb Zeit mit meiner Frage. »Gut, das sehe ich ein. Aber wo sollen wir suchen? Gibt es Spuren?« »Nur sehr spärliche. Eine ist Bruder Shiram. Er muß darüber mehr wissen, deshalb ist es ja so wichtig, daß er redet, Mister Sinclair.« Beinahe hätte ich gelacht, weil ich an den Film Indiana Jones dachte. Da war es auch um die Bundeslade gegangen, und der große Held hatte sie letztendlich auch gefunden. Lichtumtost und die Strahlen so aussendend, daß die Bösewichter vernichtet wurden. Das allerdings war Film gewesen, ich aber bewegte mich in der harten Realität, und ich mußte mit den Problemen fertig werden. Es gab zudem keinen Grund für mich, den Worten und Nachforschungen zu mißtrauen, aus diesem Grunde stimmte ich durch mein Nicken zu. »Ich wollte, daß Sie es wissen, Mister Sinclair. Deshalb auch sind Sie hergekommen. Sie müssen einfach eingweiht werden, denke ich.« »Ja, das war gut.« Er lächelte, aber es fiel schmerzlich aus. Dann hob er die Schultern und drehte den Kopf zur Seite, weil er Shiram anschauen wollte. »Er war unsere Hoffnung, unsere Spur, zumindest eine der spärlichen, von denen ich redete.« »Weiß er denn Bescheid, wo die Lade zu finden ist?« Bentini schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Aber es soll Hinweise geben, die im Sand der Geschichte begraben sind, und die wir erst finden müssen.«
Das wollte mir nicht so recht in den Sinn, und ich versuchte es anders herum. »Wir wissen selbst, welche Macht die Kreaturen der Finsternis haben. Wäre es Ihnen denn nicht ein Leichtes herauszufinden, wo sich die Lade befindet.« »Das sollte man meinen«, gab er zu. »Wo ist der Haken?« »Wohl in der Lade selbst. Soviel wir wissen, sind da gewisse Sicherheiten eingebaut worden, Mister Sinclair. Nicht jeder kann in der Lage sein, die Lade zu finden. Selbst eine Unperson wie Luzifer samt seinen Helfern nicht.« »Wenn die Kreaturen der Finsternis schneller sind und die Lade in ihre Hände bekommen, werden sie versuchen, sie zu zerstören. Sehe ich das richtig?« »Das ist möglich. Vorausgesetzt, sie haben die Macht. Auch die Lade ist mächtig, denn die Zehn Gebote sind nicht so einfach zu übergehen, sage ich mal. Sie werden sich gegen das Böse auflehnen, das weiß die andere Seite sicherlich auch, und deshalb müssen wir verdammt auf der Hut sein.« »Stimmt.« Bentini deutete auf den Verletzten. »Er ist unsere Chance, Mister Sinclair, denn er gehört zu denjenigen Personen, die versucht haben, die Lade zu finden. Dabei kreuzten sich sein Weg und die Wege der Kreaturen der Finsternis. Sie haben es geschafft, ihn in ihre Gewalt zu bekommen, und ich weiß nicht, ob sie schon mehr wissen als wir. Jedenfalls werden sie nicht zulassen wollen, daß Bruder Shiram redet.« »Das ist logisch. Hat er denn schon etwas gesagt?« »Ja und nein«, erwiderte der Monsignore. »Er hat eine Andeutung gemacht, mehr nicht.« »Welche?« »Israel.« »Wie bitte?« »Er nannte nur dieses Land.« Ich verdrehte die Augen und schaute hoch zur Decke. »Kann es denn sein, daß die Bundeslade in Israel versteckt liegt. In irgendeinem Gebiet, bedeckt vom Sand der Zeiten?« »Nein, das glaube ich nicht.« »Warum nicht?« »Es gibt Spuren, Hinweise oder Gerüchte«, er senkte jetzt seine Stimme, »daß die Lade an einen anderen Ort gebracht worden ist, und daß ein bestimmter Orden auch eine Rolle gespielt hat.« Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute er mich an. »Können Sie sich denken, welchen Orden ich damit meine, Mister Sinclair?« »Doch nicht die Templer?« »Ja, die.«
Ich bekam einen trockenen Hals. Auf einmal wußte ich, daß sie mit mir doch den Richtigen geholt hatten. Meine enge Verbindung zu den Templern war auch der Weißen Macht bekannt. »Sind Sie skeptisch, Mister Sinclair?« »Nun ja, das will ich nicht gerade sagen, aber seltsam ist es schon. Sie kennen meine Verbindung zu den Templern.« »Natürlich. Deshalb sind Sie ja auch so wichtig für uns.« »Aber ich habe nichts gehört, Monsignore. Wir haben über vieles gesprochen, dieses Thema allerdings wurde ausgelassen. Es ist nicht mal am Rande erwähnt worden.« »Glauben Sie mir, wir haben einige Hinweise darauf.« »Welche?« Da hob er die Schultern. »Ich kann Ihnen leider nicht mit konkreten Angaben dienen. Man spricht da vom Heiligen Bernhard, der zum zweiten Kreuzzug aufrief und auch wollte, daß die Bundeslade gefunden und an einen anderen Ort geschafft wurde.« »Nicht in Israel?« »Nein.« »Wohin dann?« Father Ignatius mischte sich ein. »Das ist unser Problem, John. Angeblich soll eine Gruppe von Templern damit beauftragt worden sein, die Lade in ein sicheres Versteck im Süden zu schaffen. Mehr wissen wir leider auch nicht.« »Es ist sehr vage.« »Finden wir auch. Der Süden ist groß.« »Und von welch einem Punkt oder Ort ausgehend?« fragte ich. »Von Israel.« Vor meinem Auge entstand die Karte des einmal Heiligen Landes. Ich zog eine Linie in Richtung Süden, doch da lagen einfach zu viele Länder, um konkret werden zu können. Das konnte Ägypten sein, Saudi Arabien, der Sudan und, und, und… »Das ist sehr spärlich, Monsignore.« »Ich weiß es selbst.« Ich hakte nach. »Gibt es wirklich keine weiteren Hinweise. Hat niemand auf ein Ziel gedrungen?« »In gewisser Hinsicht schon.« »Gerüchte, denke ich.« »Ja.« Er schaute zu Boden. Ich hatte den Eindruck, als wollte er mit der Sprache nicht so recht heraus. Bevor ich ihn animieren konnte, sagte er mit leiser Stimme: »Äthiopien möglicherweise.« Ich schlug mir selbst gegen die Stirn. »Natürlich, Äthiopien lag auch im Süden. Dort lebten die koptischen Christen, die sich auch nach Ägypten verirrt hatten und dort in letzter Zeit unter den Verfolgungen fundamentaler Moslems zu leiden hatten.«
»Sind Sie sicher?« »Nein.« »Andere Frage, Monsignore. Wie könnte man sicherer werden? Wen sollte man fragen?« »Ja, das ist schwer«, sagte er stöhnend. »Wie ich schon erwähnte, Mister Sinclair, Sie haben ja beste Verbindungen zu den Templern. Eine Gruppe soll sich der Lade bemächtigt und sie nach Äthiopien gebracht haben.« Er hob beide Arme. »Wie gesagt, das sind Gerüchte. Ich selbst rechne jedoch damit, daß sie ein Fünkchen Wahrheit beinhalten. Wenn es uns gelänge, aus diesem Funken eine Flamme zu zaubern, wäre das wohl ein großer Fortschritt.« »Das finde ich auch.« Dabei dachte ich an Abbé Bloch und an dessen Templer-Brüder. Sie lebten in Südfrankreich. Ich kam mit ihnen sehr gut zurecht, und ich fragte mich natürlich, ob ich dort einhaken konnte, um eine Spur zu finden. Auf der anderen Seite wiederum kostete dies eine Menge Zeit. Leider hatte ich nicht nur die Kreaturen der Finsternis als Gegner, sondern auch andere Schwarzblüter. Die Suche nach der Bundeslade würde möglicherweise Wochen oder Monate in Anspruch nehmen, und ob ich so lange von London wegbleiben konnte, war die große Frage. »Keine Meinung, Mister Sinclair?« »Doch, ich denke nach.« »Über Ihre Freunde, nehme ich an.« »Ja, das auch. Ebenfalls über meine Zeit. Ich wäre wirklich gebunden. Vielleicht ist es das genau, was die andere Seite vorhat.« Ich schüttelte den Kopf, weil mich ein depressives Gefühl überkommen hatte. »Wissen Sie, wie ich mich fühle?« »Nein, woher?« »Ich komme mir vor wie jemand, dem der Boden unter den Füßen weggezogen worden ist. Ich schwebe im luftleeren Raum, ich kann zupacken, aber ich weiß nicht, wohin ich greifen soll, denn die Gefahr besteht, immer ins Leere zu fassen.« »Wir werden auch nicht untätig sein und nachforschen. Wir haben zwar keine unbegrenzten Möglichkeiten als die Weiße Macht, sind aber doch sehr autark.« »Das ist gut.« Der Monsignore hob die Arme, um die Handflächen wenig später zusammenzulegen. »Was ich Ihnen gesagt habe, Mister Sinclair, sind keine Wahrheiten, nur Spekulationen.« »Können wir uns überhaupt an Wahrheiten halten?« »Das weiß ich nicht. Wenn es so etwas wie eine Wahrheit geben sollte, möchte ich an Israel erinnern. Dort soll es einen Hinweis geben, aber auch das ist vage.« »Bestimmt. Woher stammte Bruder Shiram?«
»Er lebte in einem Wüstenkloster. Er und seine Brüder beschäftigen sich mit frühchristlicher oder alttestamentarischer Forschung. Alles ist sehr geheim. Man weiß nicht, wie weit sie schon gekommen sind, und ob sie die Ergebnisse nicht für sich behalten wollen. Meinem Gefühl nach hat sich die isrealische Spur herauskristallisiert, und darüber weiß Shiram am besten Bescheid.« Ich schaute auf ihn nieder. Er sah aus, als hätte er nichts von unseren Gesprächen mitbekommen. Wie weggetreten wirkte er, den Blick seiner unterschiedlichen Augen ins Leere gerichtet, und ich fragte mich, ob es das schon gewesen war. »Wir müssen mit ihm einen neuen Versuch starten«, beschwor ich die beiden anderen. Ignatius war skeptisch. »Wird er dazu in der Lage sein?« »Ich hoffe es.« Als ich mich zu Shiram herabbeugte, hob er den Kopf an. Er hatte mitbekommen, daß ein Schatten über sein Gesicht gefallen war. Draußen tobte noch immer der unerklärliche Sturm. Ich glaubte nicht mehr, daß er mit dem Kampf zwischen Winter und Frühling zusammenhing, hier waren andere, gefährliche Kräfte am Werk gewesen, die sich sammelten, um zuschlagen zu können. »Darf ich dir das Kreuz wieder zurückgeben?« fragte ich leise. Er schaute mich an. Das gesunde Auge hatte Schmerz und Verzweiflung im Blick, das andere glotzte nur starr. »Nun?« »Das… das Kreuz?« »ja, die Hoffnung.« Zitternd streckte er mir seine Hand entgegen. »Ich… ich möchte es haben«, flüsterte er. »Danke«, sagte ich. Er hatte die Finger schon gekrümmt. Ich brachte das Kreuz in die Wölbung, dann drückte er die Hand zusammen und faßte zu. Als er es so festhielt, drang aus seinem Mund ein tiefes Stöhnen. In sein gesundes Auge kehrte der Glanz zurück, sein anderes blieb starr. »Tut es dir gut, Bruder?« »Ja, ja, ich hoffe…« »Das ist wichtig«, flüsterte ich und beugte mich noch tiefer. »Denke an das Kreuz, erinnere dich an seine Kraft, versuche bitte, alles andere fortzuwischen. Die Gefahr ist gebannt, du kannst dich hier sicher fühlen, und wir sind zudem auch noch da, um dich zu beschützen. Hast du das alles verstanden?« »Ich hoffe es.« »Gut, dann können wir weitermachen. Die Bundeslade muß gefunden werden. Du kennst einen Weg, eine Spur. Wir möchten jetzt von dir wissen, was du weißt.« Er schwieg. In seinem Innern kämpften die verschiedenen Kräfte gegeneinander an. Es war genau zu sehen, wie er sich quälte. Er wollte reden, doch er kriegte kein Wort über die Lippen. Dann, nach einer
Weile, sagte er: »Ich denke, es geht mir jetzt besser. Ich spüre seine Kraft, sie tut mir gut.« »Das habe ich gemeint. Vergiß alles andere. Vergiß die Kreaturen der Finsternis, die dich gepeinigt haben, stell dich wieder auf unsere Seite und sage uns, was du weißt.« Flüsternd sprach er den wichtigen Begriff aus, und in seine Augen trat dabei ein besonderer Glanz. »Die Bundeslade… die Bundeslade. Sie ist das Absolute. Wir haben geforscht, wir wissen nichts, wir kennen ihren Ort nicht, aber wir wissen, daß es sie gibt. Im Süden, tief im Süden, aber es gibt eine Spur dorthin.« »Die in Israel?« »Ja.« »Weiter.« »Wir haben sie nicht gefunden. Die Templer könnten mehr wissen. Eine alte Mauer, sehr alt, tief in der Erde. Sie… sie enthielt einen Hinweis, glaube ich. Sie muß gefunden werden.« »Wo können wir suchen?« »Ich weiß es nicht. Jerusalem vielleicht oder in der Nähe. Das Heilige Grab, die Tafeln sind nicht dort. Das wissen wir. Die Wand ist wichtig, nur die Wand.« »Mehr weißt du nicht, Bruder?« »Nein, leider nicht. Aber das Böse ist überall. Es will nicht, daß die Wand gefunden wird. Man ist nahe dran, leider nicht zu nahe. Versucht alles, um sie zu finden…« Die letzten Worte sickerten aus seinem Mund, dann verstummte er. Ich richtete mich wieder auf und drehte mich um. Der Monsignore und auch Father Ignatius hoben die Schultern. Sie waren ebenso schlau wie ich. »Nun?« Ich lächelte Bentini zu. »Das war nicht viel.« »Sagte ich Ihnen doch.« »Weiß er nicht mehr.« »Das ist schwer, Mister Sinclair. Wir haben unsere Hoffnungen auf Sie gesetzt, auf Sie und auch auf Ihr Kreuz. Wir vermuteten, daß sein Anblick Kräfte freisetzt.« »Es ist kein Wundermittel. Bruder Shiram hat nicht auf die Zeichen reagiert.« »Ja, das sah ich auch.« »Wo soll ich dann den Hebel ansetzen?« murmelte ich und versank tief in Gedanken. Vielleicht gab es eine Chance, wenn ich dabei die Templer ins Kalkül zog. Eine Reise in die Vergangenheit, in die Zeit der Bundeslade oder kurz danach. Sie in der Vergangenheit verfolgen, um in der Zukunft nachforschen zu können. Bei meinen Freunden in Alet-lesBains stand der Knochenthron. Dieser aus einem menschlichen Skelett
bestehende Sessel ließ Zeitreisen zu. Vielleicht gelang es mir durch ihn, näher an die Templer aus der Vergangenheit heranzukommen. Das wäre zumindest einen Versuch wert, aber wir sollten auch in der Gegenwart anfangen und versuchen, die Wand zu finden. Dazu mußte ich nach Israel, in ein Land, das von innenpolitischen Unruhen erschüttert wurde. Ich bin kein Seher, aber ich sah Probleme auf mich zukommen, die kaum zu bewältigen waren. Zumindest nicht allein. Da brauchte ich Partner, und zwar einige. »Meine Kontakte in das Land Israel sind nicht besonders gut«, gab ich zu. »Ich wüßte nicht, an wen ich mich dort wenden könnte. Wissen Sie mehr, Monsignore.« »Nein.« »Es wäre eine Chance, wenn ich das Kloster betreten könnte, in dem er gelebt hat.« »Sie nehmen keine Fremden.« »Warum nicht?« »Sie sind Einsiedler. Sie leben nach ihren Gesetzen. Niemand soll ihnen hineinreden können. Bruder Shiram ist einen Ausnahme gewesen, zudem hat er sich auf die andere Seite gestellt.« »Ja, das stimmt.« Ich ging wieder zum Fenster. Ich mußte einfach nachdenken, das konnte ich am besten, wenn ich hinausschaute. Der Himmel zeigte ein Muster aus Wolken, das mich an eine finstere Drohung erinnerte. Ein unheimliches Bild, von einem wilden Sturm geprägt, der um das Haus heulte, als wollte er es aus seinen Fugen reißen. Ein Schrei ließ mich herumfahren. Bruder Shiram hatte ihn ausgestoßen. Er hockte steif in seinem Sessel, schien eingefroren zu sein, und sein Mund stand dabei weit offen. Schaum schimmerte vor den Lippen. Mit einem mächtigen Schwung stemmte er sich in die Höhe, verließ seinen Sessel, bewegte den rechten Arm und warf das Kreuz weg. Es flog in meine Richtung, tickte aber auf die Tischkante und landete am Boden. »Nein, du mußt bleiben!« schrie der Monsignore. Ich wußte nicht, was passiert war, weil ich mich bückte und das Kreuz aufhob. Als ich wieder hochkam, hörte ich das Röcheln, das gar nicht gut klang. Bentini hatte es ausgestoßen, denn Shiram umklammerte den Mann, als wollte er ihn zerreißen. Er hatte sein Hände um die Kehle gepreßt und die Fingerkuppen tief in die Haut hineingegraben, als wollte er dicke Löcher hinterlassen. Shiram schüttelte Bentini dabei, und als Ignatius zu
Hilfe eilen wollte, trat der Verletzte nach hinten aus und erwischte das Schienbein des Mönchs. Ignatius taumelte zurück. Ein böser Schmerz mußte durch sein Bein fluten, denn er hatte das Gesicht verzerrt. Ich war blitzschnell bei Shiram. Mit den Händen zerrte ich ihn zurück, doch er ließ nicht los. An seiner Schulter schaute ich vorbei und sah das Gesicht des Monsignore, das sich zu einer schrecklichen Fratze verzerrt hatte. Lange hielt er nicht mehr aus. Von hinten her drückte ich meine Hände an der Gestalt vorbei und schob sie in die Lücke zwischen den beiden Armen. So wollte ich den Griff sprengen, und mit aller Kraft stieß ich meine Arme in die verschiedenen Richtungen weg. Ich prallte mit den anderen Armen zusammen. Der Druck ließ für einen Moment nach, ich drückte noch einmal zu, und die Hände lösten sich vom Hals des Monsignore. Bentini torkelte zurück. Er fiel gegen den Tisch, der ihn aufhielt. Mit den Händen fuchtelte er durch die Luft, dann krallte er sie gegen seinen Hals, als wollte er ihn auseinanderziehen, um ihn erweitern zu können. Father Ignatius lief auf ihn zu, während ich mich um Bruder Shiram kümmerte. Er hatte versucht, sich aus meinem Griff zu befreien, was ihm nicht gelungen war. Ich hatte ihn zur Seite gewuchtet und dann losgelassen. Bevor er zu Boden fiel, riß er noch zwei Stühle mit um, die neben ihm aufschlugen. Er fauchte wie eine wütende Katze. Ich folgte ihm, und er wollte mir kriechend entkommen, um sich im Dunkel des großen Raumes zu verstecken. Er war kein Mensch mehr, das Böse hielt ihn umklammert, es hatte endgültig die Oberhand gewonnen. Auch das Kreuz hatte es nicht geschafft, ihn zu retten, sondern sich neutral verhalten. Es hatte ihn nicht zerstört, ihm aber auch nicht die alte Gestalt zurückgegeben. Ich holte ihn ein. Auf der Seite war er liegengeblieben, den Kopf halb erhoben, der Atem pfiff über seine Lippen. Er bot einen schlimmen und auch widerlichen Anblick. Mir war es nie so aufgefallen wie in diesem Augenblick. Die verbrannte Haut schimmerte, sie schien von einer Ölschicht bedeckt zu sein. Weiße Maden bewegten sich in den Fleischresten. Und die Verwandlung schritt leider fort. Auch auf der noch gesunden Haut schimmerten blaue Flecken wie Hinweise auf die Beulenpest. Es machte ihm nichts aus. Bruder Shiram lachte mir entgegen wie jemand, der bereits voll und ganz zur anderen Seite gehörte. Es war ein böses, finsteres Lachen, das all die Scheußlichkeiten in sich vereinigte, zu denen er stand. Er kroch weiter.
Ich hielt ihn nicht auf, aber ich folgte ihm. Plötzlich drückte er seinen Körper zusammen. Er zog dabei die Beine an, stemmte sich blitzschnell mit den Händen ab und schnellte einen Moment später in die Höhe. Da war er wie eine männliche Furie, denn gleichzeitig löste sich aus seinem Maul ein furchtbarer Schrei. Es klang wie bei einem Angriff, doch das wollte er nicht. Er lief von mir weg. Sein Ziel war die Tür, die in diesem Augenblick mit einer kaum faßbaren Vehemenz aufflog. Sie rammte nach innen, ein Schwall feuchter und gleichzeitig kalter Luft fauchte in den Raum, der den schwefligen Gestank mitbrachte, den ich ebenfalls kannte. Ich blieb stehen. Hinter mir hörte ich die Stimmen meiner beiden Partner. »Mein Gott, sie sind da!« keuchte der Monsignore. »Wir haben es nicht geschafft.« Ich schaute zurück. Pater Ignatius stand ebenfalls kerzengerade auf der Stelle. In seinen Augen flackerte die Furcht. Auch er empfand es als schlimm, daß die Helfer Luzifers diese Schwelle überschritten hatten. Der Sturm fegte durch den Raum. Heißer Atem aus Untiefen der Hölle umwehte mich. Ich duckte mich, aber Bruder Shiram stellte sich aufrecht hin. Er wippte auf den Zehenspitzen. Dann schrie er: »Ich komme! Ich komme zu euch, Freunde…« Seine Stimme kippte über und ging gleichzeitig unter im Brausen des Sturms. Ich hörte etwas anderes. Hufgetrappel. Und es klang so, als würde jemand mit einem Holzknüppel gegen Gebeine schlagen… *** Im ersten Augenblick war ich so überrascht, daß ich es versäumte, Shiram zu verfolgen. Das Hufgetrappel hatte mich aufmerksam werden lassen. Hatte mir nicht mein Freund Ignatius von den Horror-Reitern berichtet? Er hatte gespürt, daß sie kommen würden, er hatte mit ihnen gerechnet, denn sie waren es, die immer wieder das Böse schützten, und gerade in dieser Gegend waren sie schon des öfteren aufgetaucht. Ich sah sie nicht, doch das hohle Klappern der alten Hufe malträtierte meine Ohren. Shiram war weitergegangen und hatte mittlerweile die Tür erreicht. Er ging nicht hindurch. Dicht vor der Schwelle blieb er stehen. Sehr langsam drehte er sich herum, weil er mich noch einmal anschauen wollte.
Ich sah ein Monster vor mir. Die Haut der gesunden Gesichtshälfte hatte sich zusammengezogen. Sie nahm einen schwarzen Ton an, dabei sandte sie einen verbrannten Geruch aus, bei dem sich mir der Magen zusammenzog. Auch die rechte Körperhälfte zeigte jetzt diese Verbrennungen. Sie hatten das Bein bereits hinter sich gelassen, setzten sich fort, kletterten höher, um auch die Hüfte zu passieren, und die bereits schwarz gewordenen Fingernägel sahen aus, als würden sie jeden Moment abfallen und als vertrocknete Würmer vor seinen Füßen liegenbleiben. Er gehörte jetzt nicht mehr zu den verschiedenen Seiten. Das Böse hatte ihn herübergeholt. »Komm in die Höhle, Sinclair!« schrie er mir krächzend entgegen. »Los, komm her…« Er winkte mit beiden Händen, verbeugte sich dann spöttisch und deutete in die Halle hinein. Dort hatte sich kaum etwas verändert, doch etwas fiel auf: Die Tür war nicht mehr geschlossen. Die Gewalten der Hölle hatten sie aufgerissen und bliesen ihren Atem in die Halle hinein. »Willst du nicht, Sinclair?« »Keine Sorge, ich komme!« »Nein, John, nein!« schrie Ignatius gegen den Wind an. »Das will er doch nur. Du bist zu wichtig. Du darfst nicht vernichtet werden, John! Bleib hier – bitte!« Ich gab eine Antwort, die ihm nicht gefallen konnte, denn ich ging den ersten Schritt auf die Tür zu. Dann den zweiten, und Shiram freute sich. Er lachte freudig auf, und in seinen kaum noch verschiedenen Augen lag ein Funkeln. Das gesunde Auge war ebenfalls ein Opfer der finsteren Mächte geworden. Die Haut auf dem Lid war wie weggeätzt worden. Der Augapfel wirkte größer, die Pupille schimmerte in einem düsteren Dunkel, und die Haut direkt unter dem Auge kohlte weg wie ein alter Lappen, der Feuer gefangen hatte. Es ging weiter, es gab keine Rettung mehr für ihn. Er war zu meinem Gegner geworden, und ich wußte, daß ihn das Kreuz jetzt zerstören würde, wenn er es hielt. Beinahe wie ein Betrunkener taumelte er über die Schwelle hinweg in die Halle hinein, die von einem Wechselspiel aus Licht und Schatten ausgefüllt wurde. Es lag daran, daß die Deckenleuchten den Kräften des Sturms nicht mehr gewachsen waren, in Bewegung gerieten und ihr Licht tanzen ließen. Natürlich tanzten auch die Schatten wild. In dieses irre Muster trat Shiram hinein. Er drehte sich zur Seite, um aus der offenen Tür zu entwischen. Ich blieb ihm auf den Fersen. Als ich die Schwelle überschritt, mußte ich mich ducken, denn mich erfaßte ein gewaltiger Windstoß. Er war warm, stinkend, brachte mich für
einen Moment ins Trudeln, doch an Aufgabe dachte ich nicht. Es war nicht meine Art, jetzt einen Rückzieher zu machen, und ich stemmte mich weiter. Ich mußte ihm einfach auf den Fersen bleiben, denn ich wollte auch seine angeblichen Beschützer sehen. Beim Betreten der Halle war Shiram für mich zweitrangig geworden. Ich sah, daß der mächtige Sturm die Tür aus den Angeln gerissen hatte. Sie lag am Boden. Durch die rechteckige Öffnung konnte der Sturm pfeifen, und er wühlte wie mit unsichtbaren Riesenhänden die Luft in der Halle auf. Er war das unsichtbare Tier, das die Hölle geschickt hatte und keine Gnade kannte. Die andere Kraft war da, der Wind umschloß mich, ich stemmte mich dagegen. Meine Haare wirbelten hoch, als sollten sie aus der Kopfhaut entfernt werden. Shiram lachte. Er schwankte auf die Tür zu. Er zeigte mir seinen Rücken und bewegte die Arme wie ein Schwimmer. »Freunde, ich komme!« Ich kam auch. Nichts konnte mich aufhalten. Der Wind nicht, der warm und sogar heiß um mich herumstrich. Unzählige Höllengeister griffen nach mir. Ich hörte plötzlich ein irres Geschrei und Knurren in meinen Ohren, was mich von einer Verfolgung abhielt. Shiram war schneller. Hinter der Tür lag die normale Landschaft. So zumindest hätte es sein müssen, aber es war nicht so. Das Gebiet vor dem Kloster hatten die Kreaturen der Finsternis im Verein mit den Mächten der Hölle für sich in Anspruch genommen. Das Klappern der Hufe war keine Einbildung gewesen. Ich sah sie, als ich mich der Tür näherte. Sie waren da. Und sie hatten sich auf die Seite Luzifers geschlagen, unterstützten die Kreaturen der Finsternis. Die vier Horror-Reiter. Auch AEBA oder Erzdämonen genannt! *** AEBA! Das genau war der Begriff des Schreckens. Jeder Buchstabe stand für einen Dämon, und da sie hier erschienen waren, machte es die Sache für mich durchsichtiger, denn nun wußte ich, daß auch sie zu den Kreaturen der Finsternis gehörten. Deshalb auch der Begriff Erzdämon, der im glatten Gegensatz zu dem Wort Erzengel stand.
A = Astaroth E = Eurynome B = Bael A = Amducius Eine verfluchte Macht waren sie, denn sie gehörten zu den Gründern der riesigen Reiche und waren so alt wie die Welt. Ob die Reiter mit den eigentlichen Erzdämonen identisch waren, das wußte ich nicht. Bisher war ich davon ausgegangen, daß sie als Leibwächter fungierten, doch ich konnte mich auch irren. Fest stand allerdings, daß sie ganz oben standen in der Hierarchie. Sie kamen direkt nach Luzifer. Möglich war auch, daß sich etwas im schwarzmagischen Machtgefüge änderte, daß Asmodis nicht mehr so mächtig war oder später sein würde, wie er es gern gewollt hätte. Die Höllenzeit war angebrochen, und es würde zu Veränderungen kommen. Dann würde sich die andere Seite womöglich nur auf ein Ziel konzentrieren. Das hatte die Weiße Macht erkannt und mittlerweile auch ich. Die hockten auf ihren pechschwarzen Gäulen. Skelette, die in uralten Rüstungen steckten, mit Lanzen bewaffnet waren und vom stinkenden Rauch umweht wurden, der aus den Nüstern ihrer Höllengäule quoll. Wenn sie erschienen, brachten sie den Schrecken, das Grauen und letztendlich den Tod. Ich wußte dies, nur schien es Bruder Shiram nicht zu wissen. Während ich noch in der Türöffnung stand, das Kreuz in der Hand hielt, dessen Umrisse von einem milchigsilbrigen Licht umflort wurden, lief Bruder Shiram auf die Horror-Reiter zu. Er hielt seine verbrannten Arme vorgestreckt, als wollte er sie umarmen wie die besten Freunde. Ich versuchte es mit einem letzten Ruf, obwohl ich wußte, daß ich nichts erreichen konnte. Wahrscheinlich tat ich es nur, um mich selbst zu beruhigen. »Zurück, Shiram, zurück!« Er lachte nur. Ich hätte ihm auch nicht helfen, sondern ihn nur erlösen können. Seine Seele aber hätte ihren Frieden gehabt, so aber gab er sich genau den falschen Freunden hin. Er rannte weiter auf sie zu, die nebeneinander standen und einen Halbkreis gebildet hatten. Es hatte keinen Sinn, wenn ich es mit den geweihten Silberkugeln versuchte. Ihre Panzer schluckten die Geschosse oder ließen sie als Querschläger davonwirbeln. Es war dunkel vor dem Haus. Der Himmel hatte sich mit einem unendlich großen Rollo bezogen. Blitze huschten durch die Dunkelheit,
zerschnitten die Finsternis und rissen sie auf in zahlreiche Teile, so daß die Dunkelheit wie ein Puzzle wirkte. Die Arme der vier Reiter bewegten sich ebenfalls zuckend. Ich sah es noch im Restlicht des Blitzes, dann fiel die Finsternis über mir zusammen. Für Sekunden, die mir sehr lang vorkamen, sah ich nichts. Dafür hörte ich einen irren Schrei. Vor mir in der Dunkelheit zuckte ein Bündel auf dem Boden. Etwas Schwarzes bewegte sich dort. Ich lief einige Schritte vor, weil ich dem Schutz des Kreuzes vertraute und konnte erst wieder sehen, als das gleißende Licht des Blitzes die Finsternis spaltete und mir so vorkam, als würde es in einer gewissen Stellung verharren, damit ich das Bild auf dem Boden genau mitbekam. Dort lag Bruder Shiram. Er rührte sich nicht mehr. Vier Lanzen steckten an verschiedenen Stellen in seinem Körper und ließen ihn aussehen, als wäre er auf dem Grund festgerammt worden. Er war tot. Shiram hatte zu hoch gereizt. Wen die Mächte der Finsternis einmal in den Klauen hielten, den ließen sie so leicht nicht mehr los. Mit dieser Tatsache mußten sich diejenigen abfinden, die es immer wieder versuchten, aber irgendwo wollten sie nicht. Ich schloß für einen Moment die Augen. Als ich sie wieder öffnete, war die Helligkeit verschwunden, aber die vier Horror-Reiter hatten ihre Plätze nicht verlassen und nur die Lanzen aus dem Körper des Toten gezogen. Da gab es noch einen Gegner, mich! Wieder einmal stand ich ihnen gegenüber. Wieder einmal ging es auf Leben und Tod. Ich hatte mich auf diese Gestalten des Grauens nicht vorbereiten können, aber keiner von uns hatte es bisher geschafft, den anderen zu besiegen. Keine Schußwaffe, dafür das Kreuz! Die schwarzen Gäule schabten mit ihren Hufen. Feuerströme zischten aus den Nüstern. Am Himmel tobten Donnerschläge, Blitze funkelten wie scharf geschliffene, helle Lanzen, und ich stand im Zentrum des Grauens und schrie die Aktivierungsformel des Kreuzes, denn nur sie konnte mir noch helfen. »Terra pestem teneto – Salus hic maneto!« Die einzige Chance. Und sie half! Licht! Strahlend, blendend, wunderbar. Eine herrliche Aura, in der mein Kreuz und ich als Mittelpunkt galten. Eine wunderbare Welt tat sich auf, ein neuer Himmel, der einen Kreisbogen schlug und an dessen zusammengekrümmten Enden ich plötzlich vier Lichtgestalten sah. Das
heißt, mehr die Gesichter, denn die Körper verschwanden innerhalb der vibrierenden Lichtvorhänge. Auf dem Boden standen die vier Erzdämonen. Aber über ihnen, auch irgendwie symbolhaft waren aus einer für den menschlichen Verstand nicht faßbaren Welt die vier Gegenpole erschienen, Erzengel, die auf meinem Kreuz ihre Zeichen hinterlassen hatten. Michael, Gabriel, Raphael und Uriel! Das Licht bewegte sich. Es wirbelte auf die verfluchten Horror-Reiter zu, es trieb sie zusammen, und für einen Moment hatte ich den Eindruck, als wären es nicht mehr die Reiter, sondern die Fratzen der Erzdämonen selbst, die sich wie schwache Zeichnungen innerhalb des Lichts abmalten. Ein gewaltiger Donnerstoß grollte über den Himmel und endete mit einem infernalischen Krachen. Das Licht kippte zusammen. Die Dunkelheit raste wieder heran, sie spülte alles weg, und auch die alterslosen, weisen, freundlichen, aber auch bestimmend wirkenden Gesichter der Erzengel waren verschwunden. Nur ich stand noch da und schaute auf mein Kreuz. Ich war angespannt bis in den letzten Nerv, und es dauerte seine Zeit, bis ich wieder klar denken konnte und ein Lächeln über meine Lippen floß, das erlösend wirkte. Geschafft! Zumindest einen kleinen Teil. Und verflucht noch mal, ich war im Laufe der Zeit bescheiden geworden, denn was sich in meinem Leben über mir zusammenbraute, war ein Gebirge an Angst und Schrecken, angeführt von den mächtigsten Schwarzblütlern des absolut bösen Luzifers. Allein wäre ich verloren gewesen, aber da gab es noch die Kräfte des Lichts, wie ich wieder einmal so wunderbar hatte erleben dürfen. Ich ging auf den zu, der auf zwei Seiten gestanden und dieses Wechselspiel nicht überlebt hatte. Die Höllenzeit war angebrochen, ich aber hatte sie für einen kurzen Moment gestoppt. Dies wiederum ließ Hoffnung in mir aufkeimen. Ich kniete mich neben dem nieder, was einmal ein Mensch gewesen war. Den Ausdruck verdiente der Körper nicht mehr. Vor mir lag ein verbranntes Etwas, in dem nur noch die weißen Augen an einen Menschen erinnerten und die verkrümmten Hände, die sich fest in die Erde hineingeklammert hatten. Der Sturm hatte sich gelegt. Kein Blitz jagte mehr über den Himmel, auch der Donner war nicht zu hören. So hatte denn die Natur zu ihrer nächtlichen Ruhe zurückgefunden. Auch ich trat den Rückweg an, doch für mich war es mehr ein Weg nach vorn. Shiram hatte uns den Weg gewiesen, aber die Probleme waren größer anstatt kleiner geworden…
*** Zwei Männer erwarteten mich in der Halle. Als sie mich anschauten, da lächelte ich. Auf dem Gesicht des Monsignore sah ich so etwas wie Hochachtung, deshalb gut zu erkennen, weil er genau unter der jetzt wieder ruhig hängenden Lampe stand. »Bisher habe ich nur von Ihnen gehört, Mister Sinclair. Nun habe ich Sie erlebt.« »Und?« fragte ich, »enttäuscht?« »Nein, nein. Das glatte Gegenteil ist der Fall. Sie haben das Grauen vernichtet und…« »Irrtum, Monsignore. So gern ich Ihnen recht geben würde, aber ich habe die vier Horror-Reiter nicht vernichten können. Ich habe die Helfer der Erzdämonen und möglicherweise sie selbst nur zurückgestoßen. Vernichtet sind sie nicht – leider. So bleiben wenigstens meine Träume«, fügte ich mit Galgenhumor hinzu. »Irgendwann werde ich es vielleicht schaffen.« »Und auch die Bundeslade finden?« Ich lächelte verloren. »Wissen Sie, Monsignore Bentini, das wird schwer, sehr schwer werden. Es ist ein Hürdenlauf mit verdammt großen Hindernissen. Wir müssen sie überspringen, und jede Hürde wird größer sein als die letzte.« »Das hört sich pessimistisch an.« »Nein, ich bin Realist.« Bentini drehte sich zu Father Ignatius um. »Was sagen Sie denn dazu, Bruder?« »John Sinclair hat recht. Uns werden neue, harte Zeiten bevorstehen.« Bentini nickte nur. Ich aber fragte Ignatius. »Wirst du denn dabeisein?« »Ja, aber nicht mehr im Kloster St. Patrick, sondern als Mitglied der Weißen Macht.« Ich reichte ihm die Hand. »Glückwunsch, das ist genau richtig. Aber eines mußt du mir versprechen.« »Was denn?« »Denk immer daran, daß ich hin und wieder neue Silberkugeln brauche, alter Freund.« »So viel du willst, John«, erwiderte Ignatius, und zum erstenmal lachte er befreit auf…
ENDE