E. Biesinger H. Iro (Hrsg.) HNO Praxis heute 27
E. Biesinger H. Iro (Hrsg.)
HNO Praxis heute Begründet von H. Ganz B...
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E. Biesinger H. Iro (Hrsg.) HNO Praxis heute 27
E. Biesinger H. Iro (Hrsg.)
HNO Praxis heute Begründet von H. Ganz Band 27 Schwindel Unter Mitarbeit von J. H. J. Allum, A. H. Clarke, A. Ernst, K.-F. Hamann, K. Helling, P. Henningsen, K. Janke, J. Langer, T. Lempert, W. Moshage, J. Ronel, B. Schick, L. E. Walther, A. Wienke
123
Dr. med. Eberhard Biesinger Maxplatz 5 83278 Traunstein
Prof. Dr. med. Heinrich Iro Universitäts-HNO-Klinik Waldstraße 1 91054 Erlangen
ISSN 0173-9859 ISBN-978-3-540-47443-2 Springer Medizin Verlag Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeit ungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer Medizin Verlag. springer.com © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2007 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Produkthaftung: Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literarturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Planung: Dr. Lars Rüttinger, Heidelberg Projektbetreuung: Ina Conrad, Dr. Lars Rüttinger, Heidelberg Lektorat: Frauke Bahle, Karlsruhe Design: deblik Berlin Titelbild: deblik Berlin SPIN: 11810421 Satz: Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg Druck: Stürtz GmbH, Würzburg Gedruckt auf säurefreiem Papier 2111 – 5 4 3 2 1 0
V
Vorwort Liebe Kolleginnen und Kollegen, eigentlich hätte das Vorwort für den vorliegenden Band anders ausfallen sollen, aber nun müssen wir leider darauf hinweisen, dass dies die letzte Ausgabe der »HNO-Praxis heute« sein wird! Nachdem die Anzahl der Abonnenten laufend zurückgegangen ist, hat sich der Verlag entschlossen, diese von Herrn Kollegen Ganz mit viel Enthusiasmus begründete Buchreihe einzustellen. Nach nun mehr 27 erfolgreichen Bänden ist dies natürlich eine traurige Mitteilung! Wie das vorliegende Buch wiederum beweist, war diese Reihe hervorragend geeignet, um Themen unter pragmatischen Gesichtspunkten darzustellen, begreifbar zu machen und »trotz« hervorragendem wissenschaftlichem Hintergrundwissen verständlich darzustellen. Unter der Schirmherrschaft von Herrn Prof. Hamann aus München ist nun eine Übersicht über das Thema »Schwindel« entstanden, die in der Literatur Ihresgleichen sucht. Sie werden hier ganz praktische Hilfen für die Diagnostik und Therapie finden und in der Praxis umsetzen können. Endlich können Sie in Ruhe nachvollziehen, wie eine Canalolithiais zustande kommt und wie differenziert man sie behandelt, die modernen diagnostischen Verfahren kennen lernen, mit den Experten über den zervikalen Schwindel streiten, rechtliche Aspekte überdenken und über den Tellerrand in die Neurologie und Innere Medizin schauen! Das Thema »Schwindel« war uns ein besonderes Anliegen, da die Diagnostik und insbesondere auch die Therapie von Gleichgewichtsstörungen in der Praxis besonders gepflegt werden müssen damit die Hals-Nasen-OhrenärztInnen ihre Kompetenz für die verschiedenen Störungen des Gleichgewichtsinnes behalten und ausbauen können! Bleiben Sie also »am Ball« und genießen Sie hochaktuelle Information! In diesem Sinne müssen wir uns leider verabschieden. Traunstein/Erlangen im April 2007 Dr. Eberhard Biesinger Professor Dr.med. Heinrich Iro
VII
Inhaltsverzeichnis 1
Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel . . . . . . . . . .
3 1
K.-F. Hamann 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4 1.3
2
Die Bedeutung des vestibulären Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundlegendes zur VestibularisDiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungen der Blickmotorik . Untersuchungen der Spinalmotorik Weitere Untersuchungsmethoden . Grundlegendes zur Therapie . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
K. Helling, A.H. Clarke
. .
2
. . . . . . .
. . . . . . .
3 4 5 6 6 7 7
Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung . . . . . . . . .
9
3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5
A.H. Clarke 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.4 2.5 2.6
Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik . . . . . . 23
Die Orientierung im Raum . . . . . . . . Das vestibuläre Labyrinth . . . . . . . . . Die vestibuläre Sinneszelle . . . . . . . . Die Sinnesrezeptoren der Bogengänge Die Sinnesrezeptoren der Otolithenorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der vestibulookuläre Reflex . . . . . . . . Der Zusammenhang des VOR mit anderen Arten der Augenbewegung . . Die vestibulospinalen Reflexe. . . . . . . Die zentralvestibulären Bahnen . . . . . Vestibuloautonome Regulation . . . . . Vestibuläre Kompensation. . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10 10 12 13 14 15 15 15 17 19 19 20 21
4
Die Funktion der Otolithenorgane . . . Die Morphologie der Otolithenorgane Funktionsprüfungen der Otolithenorgane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der otolith-okuläre Reflex . . . . . . . . . Funktionsprüfung des Utrikulus . . . . . Funktionsprüfung des Sakkulus . . . . . Klinik der Otolithenorgane . . . . . . . . Funktionsstörungen des Sakkulus . . . Funktionsstörungen des Utrikulus . . . Tumarkin-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegungskrankheit . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24 24 25 25 26 28 29 29 30 31 32 32 33
Der gutartige Lagerungsschwindel: Diagnostik und Therapie . . . . . . . . 37 K.-F. Hamann
4.1 4.2 4.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2
Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathophysiologie . . . . . . . . . . . . . Anamnese . . . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchungsbefunde . . . . . . . . . Befall des hinteren vertikalen Bogengangs . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des horizontalen Bogengangs . . . . . . . . . . . . . . . . Untersuchung des vorderen vertikalen Bogengangs . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Befreiungsmanöver für den hinteren vertikalen Bogengang nach Semont . Befreiungsmanöver für den hinteren vertikalen Bogengang nach Epley . . .
. . . .
39 39 40 40
. 40 . 41 . 41 . 41 . 42 . 42
VIII
Inhaltsverzeichnis
4.5.3
Befreiungsmanöver für den horizontalen Bogengang . . . . . . . Lagerungstraining nach Brandt und Daroff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . Beidseitige Canalolithiasis . . . . . . . Rezidive . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.5.4 4.5.5 4.5.6 4.6
. . 42 . . . . .
. . . . .
43 44 45 45 45
6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5
7 5
Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz . . . . . . . . . . . 47 J.H.J. Allum
5.1 5.2 5.3
5.4
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beobachtung eines Defizits der Gleichgewichtskontrolle im Stehen . . . Beobachtung eines Defizits der Gleichgewichtskontrolle bei Gehbewegungen . . . . . . . . . . . . Der ältere sturzgefährdete Mensch . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 49
53 56 58
Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen . . . . . . . . . 59
7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4 7.3 7.3.1
7.4
L. E. Walther 6.1 6.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6 6.4 6.5 6.5.1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anamnese beim Symptom Schwindel Vestibularisprüfungen . . . . . . . . . . Diagnostisches Konzept . . . . . . . . . Die Suche nach Spontannystagmus . Qualitative Untersuchungen und Screeningverfahren . . . . . . . . . . . . Provokationsnystagmus . . . . . . . . . Die thermische Prüfung . . . . . . . . . Diagnostik der Otolithenorgane . . . . Serologische Untersuchungen bei vestibulären Störungen . . . . . . . . . Therapie ausgewählter Krankheitsbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Akuter isolierter Vestibularisausfall . .
. . . . .
60 60 62 62 63
. . . .
65 66 67 68
. 70 . 72 . 72
. . 73 . . . .
. . . .
74 74 75 76
Die chirurgische Behandlung von Gleichgewichtsstörungen . . . . 79 A. Ernst
7.3.2
6
Menière-Krankheit. . . . . . . . . . . . Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . Borreliose . . . . . . . . . . . . . . . . . Zoster oticus . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsorgans . . . . . . . . . . . Menière-Krankheit. . . . . . . . . . . . . . Endolymphhydrops . . . . . . . . . . . . . Erkrankungen der Bogengänge . . . . . Weitere Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsorgans . . . . . . . . . . . Erkrankungen des zentralen Anteils des Gleichgewichtssystems . . . . . . . . Neurovaskuläre Kompressionssyndrome des 8. Hirnnerven . . . . . . . Weitere Erkrankungen des zentralen Gleichgewichtssystems. . . . . . . . . . . Fazit für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80 80 80 81 81 83 83 83 84 85 85
Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen . . . . 87 B. Schick, H. Iro
8.1 8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.4
Einleitung . . . . . . . . . . . . Das Wachstumsverhalten . . Therapieentscheidungen . . Konservatives Management Operative Therapie . . . . . . Radiochirurgie . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
. . . . . . . .
88 88 89 89 90 94 95 96
IX Inhaltsverzeichnis
9
Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen. . . . . . 99 J. Ronel, P. Henningsen
9.1 9.2 9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5 9.3 9.3.1 9.3.2 9.3.3
9.4 9.5
10
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel als Folge psychischer Einflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Positiv empfundener Schwindel . . . . Somatoforme Schwindelerkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel als Symptom einer Angsterkrankung . . . . . . . . . . . . . Schwindel als Symptom einer depressiven Störung . . . . . . . . . . . Schwindel als Symptom einer dissoziativen Störung . . . . . . . . . . . Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärer somatoformer Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phobischer Schwankschwindel. . . . . Akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen als Folge von organischen Schwindelerkrankungen. . . . . . . . . . . . . . . . Schwindel und psychische Beschwerden als komorbide Phänomene . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 100
10.6
Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis – Auswertung der Erkrankungsfälle . . . . . . . . . . . . . 10.6.1 Material und Methoden . . . . . . . . 10.6.2 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.6.3 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 101 . 101
. . . . . . . . .
117 118 118 119
. 102
11 . 102
Der sogenannte zervikale Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 E. Biesinger
. 103 11.1 . 104 11.2 . 104 . 104 . 105
12
Die Hypothese: Das vestibulookulärzervikale Missmatch . . . . . . . . . . . . 122 Die Expertendiskussion . . . . . . . . . . 124 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Schwindel aus internistischer Sicht . 131 W. Moshage
. 105 . 106 . 106 . 107
Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose . . . . . . . . . . 109
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . Pathogenese . . . . . . . . . . . . . . . Differenzialdiagnosen . . . . . . . . . Klinischer Befund und Diagnostik . . Akutstadium . . . . . . . . . . . . . . . Kompensationsstadium . . . . . . . . Therapie der Neuronitis vestibularis. Akutstadium . . . . . . . . . . . . . . . Kompensationsstadium . . . . . . . .
. . . .
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
12.1 12.2 12.2.1 12.2.2 12.3 12.3.1 12.3.2 12.4
J. Langer 10.1 10.2 10.3 10.4 10.4.1 10.4.2 10.5 10.5.1 10.5.2
. . . .
. . . . . . . . .
110 110 110 110 110 112 117 117 117
13
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik . . Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Internistische Erkrankungen und deren Zusammenhang mit Schwindel Diagnostik und Therapie . . . . . . . . . Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 132 . 132 . 132 . . . . . .
133 138 138 143 144 145
Schwindel aus neurologischer Sicht 147 T. Lempert
13.1 13.2 13.2.1 13.2.2 13.2.3
Migräneschwindel . . . . . . . . . . . Vaskuläre Schwindelsyndrome . . . Labyrinthischämie . . . . . . . . . . . Hirnstamm- und Kleinhirninfarkte . Zerebrale Mikroangiopathie . . . .
. . . . .
. . . . .
. . . . .
148 150 151 151 152
X
Inhaltsverzeichnis
13.2.4 Orthostatische Hypotonie und kardiale Arrhythmien . . . . . . . 13.3 Gangstörungen . . . . . . . . . . 13.4 Neurovaskuläre Kompression des Nervus vestibularis (Vestibularisparoxysmie). . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . 152 . . . . . 153
. . . . . 155 . . . . . 155
14.6 14.7
Strafrechtliche Haftung des Arztes . . . 164 Zusammenfassende Bewertung . . . . . 164 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
15
Physikalische Therapie des Schwindels . . . . . . . . . . . . . . . 167 K.-F. Hamann
14
Rechtliche Aspekte bei Schwindel . . 157 A. Wienke, K. Janke
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ärztliche Behandlung nach dem aktuellen und anerkannten medizinischen Standard . . . . . . . . . . 14.3 Schwindel als Gegenstand der ärztlichen Aufklärung . . . . . . . . . . . . 14.3.1 Therapeutische Sicherungsaufklärung bei Schwindel. . . . . . . . . . . . . . . . . 14.3.2 Eingriffs- und Risikoaufklärung bei krankheitsbedingtem Schwindel . . . . 14.3.3 Eingriffs und Risikoaufklärung bei maßnahmebedingtem Schwindel . . . . 14.4 Überwachungs- und Mitteilungspflichten bei Schwindel . . . . . . . . . . 14.5 Zivilrechtliche Haftung des Arztes . . . . 14.1 14.2
15.1 15.2
159
15.3 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5
159
15.3.6
158
158
160
15.4
Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . Indikationen zum vestibulären Habituationstraining . . . . . . . . . . . Trainingsprogramm . . . . . . . . . . . . Fixationsübungen . . . . . . . . . . . . . Folgebewegungen der Augen . . . . . Optokinetisches Training. . . . . . . . . Motorisches Lernen . . . . . . . . . . . . Habituationstraining bei bettlägrigen Patienten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Habituationstraining bei Störungen des Sakkulus . . . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Empfehlungen . . . . . . . Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. 168 . . . . . .
168 170 171 172 172 173
. 174 . 175 . 175 . 176
160 161 162
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
XI
Autorenverzeichnis Prof. Dr. Biomed. Ing. J. H. J. Allum
Dr. med. J. Langer
Universitätsspital Basel HNO-Klinik Hebelstrasse 10 CH-4031 Basel
Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde Ameos Klinikum St. Salvator Halberstadt GmbH Gleimstraße 5 38820 Halberstadt
Prof. Dr.-Ing. A. H. Clarke Vestibular Research Lab Charité Medical School Campus Benjamin Franklin Hindenburgdamm 30 12200 Berlin
Prof. Dr. med. T. Lempert
Prof. Dr. med. A. Ernst
Prof. Dr. med. W. Moshage
Klinik für HNO-Heilkunde Unfallkrankenhaus Berlin Warener Straße 7 12683 Berlin
Abteilung für Kardiologie Klinikum Traunstein Cuno-Niggl-Straße 3 83278 Traunstein
Prof. Dr. med. K.-F. Hamann
Dr. med. J. Ronel
HNO-Klinik und Poliklinik Klinikum rechts der Isar der TU München Ismaninger Straße 22 81675 München
Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Langerstraße 3 81675 München
Abteilung für Neurologie Schlosspark-Klinik Heubnerweg 2 14059 Berlin
Dr. med. habil. K. Helling HNO-Klinik und Poliklinik Klinikum der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Langenbeckstraße 1 55101 Mainz
PD Dr. med. B. Schick HNO-Klinik Universitätsklinikum Erlangen Waldstraße 1 91054 Erlangen
Prof. Dr. med. P. Henningsen Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar der TU München Langerstraße 3 81675 München
K. Janke Bonner Straße 323 50968 Köln
PD Dr. med. L. E. Walther HNO-Praxis im Main-Taunus-Zentrum 65843 Sulzbach
Dr. A. Wienke Bonner Straße 323 50968 Köln
XIII
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände Audiologie und Pädaudiologie Ambulante Rehabilitation (Seidler) Audiometrie, topodiagnostische (Fleischer/Kießling) Auditive Wahrnehmung, Diagnostik (Berger) Auditive Perzeption, therapeutische Ansätze (Hesse) Der Schweregrad des Tinnitus (Goebel/Biesinger/Hiller/Greimel) Die Deutsche Tinnitus-Liga e.V. (Knör) Die Tinnitusambulanz an der HNO-Klinik (D‹Amelio et al.) Die Tinnitussprechstunde in der Praxis, integrierte Versorgung (Biesinger/Kypke) Frühförderung, hörgestörter Kinder (Kruse) Grenzen der ambulanten Tinnitustherapie und Einweisungsprozeduren (Hesse/Schaaf ) Hörgeräte (Niemeyer) Hörgeräte-Versorgung (Plath) Hörgeräte, knochenverankerte (Niehaus) Hörgeräteversorgung, aktuelle (von Wedel/Meister) Hörprüfung, im ersten Lebensjahr (Plath) Impedanzaudiometrie (Kießling) Lärmschwerhörigkeit, Begutachtung (Niemeyer) Medikamente für die Tinnitustherapie (Mazurek/Haupt/Gross) Moderne instrumentelle, akustische Therapie des Tinnitus (Wesendahl/ Borowsky/Winter) Ohrpassstück (Pawlata/Kubicke) Psychiatrische Komorbidität bei Tinnitus (Goebel/Fichter) Psychologisch fundierte Interventionen bei chronischem Tinnitus (Kröner-Herweg) Schwerhörigkeit durch Lärm (Niemeyer) Simulationsprüfung/objektive Audiometrie (Niemeyer) Stationäre Behandlung von Patienten mit dekompensiertem Tinnitus in einer »Tinnitusklinik« (Goebel) Strukturierte Tinnitusgruppentherapie beim chronisch-komplexem Tinnitus im Rahmen des Tinnitus-Care-Programms (Zenner/Zalaman) Tinnitus heute: ein Wahrnehmungsproblem? (Brehmer) Tinnitussensitivierung (-sensibilisierung) als neurophysiologisches Modell des sekundär zentralisierten Tinnitus (Zenner/Zalaman/Birbaumer) Zentrale Prozesse bei Tinnitus und ihre Bildgebung (Greimel/Biesinger)
Band 21 Band 1 Band 20 Band 21 Band 25 Band 25 Band 25 Band 25 Band 4 Band 25 Band 1 Band 16 Band 15 Band 21 Band 4 Band 2 Band 20 Band 25 Band 25 Band 22 Band 25 Band 25 Band 18 Band 4 Band 25 Band 25 Band 25 Band 25 Band 25
XIV
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Otologie Abstehende Ohren (Koch) Akustikusneurinom (Haid) Antibiotika, ototoxische (Federspil) Cochlea-Implantate (Burian) Cochlea-Implantate, Neues (Laszig/Marangos) Emissionen, otoakustische (Koch) Funktionsweise des Innenohres (Ruppersberg) Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und klinische Relevanz (Allum) Gleichgewichtsstörungen, chirurgische Behandlung (Ernst) Hereditäre Hörstörungen, Otosklerose (Keßler) Hirnabszess, otorhinogener (Pellant et al.) Hörgeräte, Implantation (Weber) Hörsturz (Wilhelm) Innenohrschwerhörigkeit, Pathophysiologie (Zenner) Innenohrschwerhörigkeit, Pharmakologie (Zenner) Kinetosen (Delb) Labyrinthäre Gleichgewichtsstörungen (Morgenstern) Lagerungsschwindel, gutartiger: Diagnostik und Therapie (K.-F- Hamann) Neuronitis vestibularis - Verlauf und Prognose (Langer) Menière, Diagnostik (Delb) Mikrochirurgie des Ohres in der Praxis (Ganz) Mittelohrcholesteatom (Steinbach) Ohrerkrankungen, bei LKG-Spalten (Steinhart) Ohrmuscheltrauma (Weerda) Ohroperationen, Nachbehandlung (Ganz) Ohrtrompete, Erkrankungen (Tiedemann) Ohrtrompete, offene (Münker) Otitis externa (Ganz) Otitis media, kindliche, Therapie (Federspil) Otitiskomplikationen, heute (Fleischer) Otolithenfunktion – vernachlässigtes Element in Klinik und Praxis (Helling, Clarke) Otosklerose, Chirurgie (Schrader/Jahnke) RetroX (Wesendahl) Schwerhörigkeit im Alter (Brusis) Seromukotympanon (Tolsdorff ) Symphonix Soundbridge System (Lenarz) TICA-Hörsystem, Vollimplantation (Zenner) Tinnitus (Lenarz) Trauma, und Hörstörungen (Kellerhals) Tumoren des äußeren Ohres (Koch/Kiefer) Tympanoplastik, Fortschritte (Helms) Tympanosklerose (Steinbach) Vestibuläre Störungen, Diagnostik und Therapie (Walther)
Band 12 Band 5 Band 2 Band 3 Band 18 Band 11 Band 16 Band 27 Band 27 Band 8 Band 19 Band 21 Band 7 Band 21 Band 21 Band 15 Band 8 Band 27 Band 27 Band 14 Band 1 Band 5 Band 17 Band 11 Band 14 Band 4 Band 12 Band 11 Band 4 Band 9 Band 27 Band 14 Band 21 Band 7 Band 13 Band 21 Band 21 Band 10 Band 2 Band 16 Band 12 Band 7 Band 27
XV Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Das vestibuläre System - eine Kurzbeschreibung (Clarke) Vestibularisdiagnostik (Haid) Vestibularisschwannome, aktuelles Management (Schick, Iro) Vertebragener Schwindel (Hülse) Der sog. „zervikale Schwindel“ (Biesinger) Zervikaler Schwindel (Mayer)
Band 27 Band 6 Band 27 Band 24 Band 27 Band 6
Rhinologie Aerodynamik der Nase (Mlynski) Allergie und Nase (Albegger) Entzündliche Erkrankungen der Nebenhöhlen, Komplikationen (Zenk/Constantinidis/Bozzato/Iro) Funktionsdiagnostik (Maranta/Gammert) Keilbeinhöhle, Erkrankungen (Knöbber) Nasenbluten (Koch/Bärmann) Die Nasennebenhöhlen als Fokus (Schick) Nasenpolypen (Ganz) Nasentropfen, Entwöhnung (Ganz) Nebenhöhlenchirurgie heute Teil I: Stirnhöhlenchirurgie (Federspil) Nebenhöhlenchirurgie, endonasale (Draf/Weber) Nebenhöhlenchirurgie, Komplikationen (Ganz) Papilloma inversum (Schuss) Riechstörungen – Ursachen, Diagnostik und Therapie (Hummel et al.) Rhinopathie, vasomotorische (Paulsen) Rhinopathie, vasomotorische – Aktueller Stand der Therapie (Winter) Rhinoplastik, korrektive (Krisch) Septumoperationen (Ganz) Sinusitis beim Kinde (Knöbber) Sinusitistherapie in der Praxis (Messerklinger) Sinusitistherapie heute (Ganz) Tumoren und tumorähnliche Läsionen der Nase und Nasennebenhöhlen (Berghaus/Bloching) Ultraschalldiagnostik, der Nebenhöhlen (Mann) Verletzungen, seitliches Mittelgesicht (Ganz) Verletzungen, zentrales Mittelgesicht (Ganz) Zysten und Zelen der Nebenhöhlen (Ganz)
Band 20 Band 1 Band 22 Band 15 Band 17 Band 14 Band 26 Band 5 Band 2 Band 8 Band 12 Band 3 Band 19 Band 24 Band 11 Band 24 Band 10 Band 2 Band 12 Band 1 Band 19 Band 16 Band 5 Band 9 Band 4 Band 8
Mundhöhle/Rachen Burning-mouth-Syndrom (Reiß/Reiß) Mundschleimhaut- und Zungenbrennen, Burning-mouth-Syndrom (Waldfahrer) Dysphagie, Diagnostik (Walther) Globusgefühl (V. Jahnke) Pharyngitis, chronische (Ganz) Präkanzerosen Mundhöhle/Lippen (Rupec)
Band 22 Band 24 Band 14 Band 6 Band 9 Band 8
XVI
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Schleimhauterkrankungen Mundhöhle (V. Jahnke) Schluckauf (Federspil/Zenk/Iro) Schnarchen, Schlafapnoe-Syndrom (Schäfer/Pirsig) Schwellungen im Parotisbereich (Schätzle) Sialorrhoe und Xerostomie (Zenk et al.) Sonographie Schilddrüse (Becker) Speicheldrüsentumoren (Haubrich) Speichelsteinkrankheit (Knöbber) Speichelsteine, Therapie (Zenk/Iro) Die Tonsille als Fokus (Reiß/Reiß) Tonsillektomie heute (Deitmer) Tonsillektomie und Immunologie (Haubrich/Botzenhardt) Tonsillitis (Wilhelm/Schätzle) Tumoren Mundhöhle und Mundrachen (Schedler/Schätzle) Verletzungen, Mundhöhle und Mundrachen (Ganz) Zysten und Fisteln des Halses (Chilla)
Band 3 Band 17 Band 10 Band 2 Band 24 Band 20 Band 4 Band 8 Band 17 Band 26 Band 20 Band 6 Band 9 Band 10 Band 5 Band 14
Laryngologie/Phoniatrie Akute Luftnot -- was tun? (Knöbber) Aphasien (Rosanowski/Eysholdt) Dysphonie -- die subjektive Seite der (Rosanowski/Hoppe) Elektromyographie (Šram) Halsweichteilschwellungen (Knöbber) Kehlkopf und Trachea, Verletzungen (Ganz) Kehlkopf und untere Luftwege, Endoskopie (Roessler/Grossenbacher) Kehlkopfkarzinom (Steinhart) Kontaktgranulom (Barth) Laryngitis, chronische (Oeken/Behrendt/Görisch) Laryngotrachealstenosen (Gammert) Luft- und Speisewegsfremdkörper (Skerik) Lähmungen, Kehlkopf- (Barth) Musculus cricothyreoideus, Pathologie (Kruse) Phonochirurgie (Eysholdt) Recurrensparese, beidseitige (Iro) Rehabilitation von Kehlkopflosen (Plath) Schilddrüse und HNO-Arzt (Chilla) Singstimme, Erkrankungen (Barth) Sprachentwicklung, Störungen (Barth) Sprachentwicklung und ihre Störungen (Berger) Stimmlippenknötchen (Martin) Stimmstörungen, funktionell-psychogene (Brodnitz) Stimmstörungen, hyper- und hypofunktionelle (Kruse) Stottern und Poltern (Johannsen/Schulze) Tumoren, gutartige, des Kehlkopfes (Knecht/Meyer-Breiting)
Band 7 Band 15 Band 24 Band 15 Band 11 Band 11 Band 11 Band 19 Band 5 Band 9 Band 4 Band 7 Band 7 Band 5 Band 18 Band 19 Band 8 Band 10 Band 14 Band 12 Band 16 Band 6 Band 5 Band 2 Band 13 Band 17
XVII Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Regionale plastische Chirurgie Regionale Lappenplastiken (Staindl) Wundheilung, Narbenbildung, Narbenkorrektur (Staindl)
Band 13 Band 9
Spezielle Tumorkapitel Adenoid-zystisches Karzinom (Wilke) Basaliome (Gammert) Diagnose kein Tumor (Ganz) Lippentumoren, maligne (Schedler/Federspil) Lymphome, maligne (Chilla) Melanom, malignes (Rosemann) Nasenrachentumoren, maligne (Schedler/Schätzle) Tumorschmerzen (Knöbber)
Band 6 Band 5 Band 6 Band 8 Band 15 Band 3 Band 13 Band 15
Allgemeine Themen/Randgebiete Aids-Manifestationen (Weidauer) Akupunktur im HNO-Gebiet (Ganz/Gleditsch/Majer/Pildner) Alles nur Einbildung? Über die Wirkung von »Placebos« (Greimel) Alternative Medizin (Friese) Antibiotikatherapie (Limbert/Klesel) Antibiotikatherapie, lokale (Ganz) Atopisches Kind (Fölster-Holst/Christophers) Autoimmunerkrankungen (Starek/Bystron) B-Bild-Sonographie (Ganz) Botulinumtoxin in der HNO-Heilkunde (Rohrbach/Laskawi) Computerassistierte Chirurgie (Plinkert/Federspil) Computergestützte Navigation (Heermann/Majdani/Lenarz) CT, Leistungsfähigkeit im HNO-Bereich (Elies) Dopplersonographie (Zenk/Iro) Duraläsionen (Oberascher) Endoskopie, an Ohr, Nase und Nebenhöhlen (Hörmann) Epithesen und Hörgeräte, knochenverankerte (Kurt/Federspil) Fibrinkleber im HNO-Bereich (Moritsch) Der Fokus aus dermatologischer Sicht (Hertl) Der Fokus aus rheumatologischer Sicht (Dechant) Der Fokus im HNO-Bereich aus internistisch-onkologischer Sicht (Gramatzki) Der Fokus in der Pädiatrie (Guggenbichler) Fokusproblem (Knöbber) Geruchs- und Geschmacksstörungen (Herberhold) Grenzprobleme zur Stomatologie I: Allgemeines (Muška) II: Parodontopathien (Strott) III: Odontogene Abszesse (Austermann)
Band 10 Band 3 Band 25 Band 18 Band 1 Band 7 Band 20 Band 20 Band 10 Band 24 Band 22 Band 22 Band 6 Band 17 Band 20 Band 12 Band 14 Band 11 Band 26 Band 26 Band 26 Band 26 Band 19 Band 13 Band 7 Band 10 Band 12
XVIII
Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
IV: Kiefergelenkserkrankungen (Strott) V: Okklusionsstörungen (Austermann/Umstadt) Herderkrankungen aus mund-, kiefer- und gesichtschirurgischer Sicht (Keßler) HNO-Onkologie, Lebensqualität (Greimel, Greimel) HWS-Distorsionen (Badke) HWS-Heilmittelverordnung (van den Berg) HWS-orthopädische Probleme (Wimmer) HWS-Physiotherapie (Belzl) HWS-Röntgenbild und HNO-ärztliche Diagnostik (Biesinger) HWS-Traumen (Ernst) HWS-Weichteildistorsion, Akutdiagnostik (Ernst et al.) Idiopathische periphere Fazialisparese (Bell-Parese) (Streppel/Eckel/Stennert) Implantologie, an Kopf und Hals (Beleites/Rechenbach) Innervation des Kopf-Halsbereichs (Neuhuber) Kernspintomographie im HNO-Bereich (Grevers/Vogl) Knotenschieber, der (Schweckendiek) Kopfschmerz (Knöbber) Kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD) – Eine interdisziplinäre Herausforderung (Lechner) Labor, des HNO-Arztes (Allner) Laseranwendungen in der HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie (Rudert/Werner) Laserchirurgie (Höfler/Burian) Literatursuche heute (Reiß/Reiß) Lokalanästhesie, therapeutische (Gross) Mykosen im HNO-Bereich (Stammberger/Jakse) Nahrungsmittelallergien (Thiel) Nahrungsmittelallergien (Rakoski) O2-Therapie, hyperbare (Muth) Piercing (Waldfahrer/Freitag/Iro) Pseudomonasinfektionen (Ganz) Quantenmedizin, und HNO (Pichler) Rechtliche Aspekte bei der Abrechnung von Sonderleistungen (Wienke) Schwindel aus internistischer Sicht (Moshage) Schwindel aus neurologischer Sicht (Lempert) Schwindel, grundsätzliche Überlegungen (Hamann) Schwindel, physikalische Therapie (Hamann) Schwindelerkrankungen, psychische Faktoren (Ronel, Henningsen) Schwindel, rechtliche Aspekte (Wienke, Janke) Sportverletzungen im HNO-Bereich (Loch) Störungen der Halswirbelsäule, funktionelle (Biesinger) Strahlentherapie bei gutartigen Erkrankungen (Micke/Büntzel) Syndrome und HNO (Ganz) Tauchsport und Fliegen (Moser/Wolf )
Band 3 Band 18 Band 26 Band 22 Band 23 Band 23 Band 23 Band 23 Band 23 Band 18 Band 23 Band 16 Band 12 Band 23 Band 11 Band 2 Band 13 Band 24 Band 1 Band 16 Band 4 Band 19 Band 1 Band 7 Band 6 Band 22 Band 20 Band 18 Band 3 Band 17 Band 25 Band 27 Band 27 Band 27 Band 27 Band 27 Band 27 Band 3 Band 9 Band 23 Band 18 Band 9
XIX Themenverzeichnis der bisher erschienenen Bände
Tränenwegserkrankungen (Schätzle/Wilhelm) Umweltschäden, der oberen Luftwege (Winkler) Viruserkrankungen I: Herpes und Zoster (Rabenau/Doerr) II: Epstein-Barr-Infektionen (Schuster) III: Hirnnervenlähmungen (Ganz) IV: Schutzimpfungen (Quast) V: Virustatika (Estler) Vorgehen und Behandlungsmaßnahmen bei psychiatrischer Komorbidität (Seling) Wert Medizinischer Neuerungen (Ganz)
Band 3 Band 12 Band 15 Band 15 Band 15 Band 15 Band 17 Band 25 Band 17
1 Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel K.-F. Hamann
1.1
Die Bedeutung des vestibulären Systems
1.2
Grundlegendes zur Vestibularis-Diagnostik – 3
1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.2.4
Anamnese – 4 Untersuchungen der Blickmotorik – 5 Untersuchungen der Spinalmotorik – 6 Weitere Untersuchungsmethoden – 7
1.3
Grundlegendes zur Therapie – 7 Literatur
–7
–2
1
2
Kapitel 1 · Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel
1.1
Die Bedeutung des vestibulären Systems
Das vestibuläre System ist eines der ältesten, wenn nicht das älteste Sinnessystem überhaupt. Dennoch tritt seine Funktion beim Gesunden kaum ins Bewusstsein, da die meisten seiner Leistungen unbewusst ablaufen. Erst bei Störungen meldet es sich sehr eindrucksvoll, nämlich als Schwindelgefühl. Schwindel zählt zu den am häufigsten geklagten Beschwerdebildern des Menschen überhaupt. Der allgemein gehaltene Begriff »Schwindel« umfasst zunächst alle mit einem Unlustgefühl einhergehenden Störungen der Orientierung im Raum. Ziel der ärztlichen Untersuchung ist es, die dem Schwindel zugrunde liegende Störung zu erkennen, sie möglichst exakt zu definieren, die erkrankten Strukturen zu lokalisieren, den Schweregrad der Schwindelbeschwerden zu bestimmen und schließlich die geeignete Behandlung zu indizieren. Für den Schwindelkranken stellen sich für das Alltagsleben in der heutigen Zeit größere Probleme als in der Vergangenheit. Moderne Fortbewegungsmittel wie Fahrrad, Auto, Schiff und Flugzeug stellen höhere Anforderungen an das Gleichgewichts- und Orientierungssystem des Menschen als früher. Auch in der modernen Arbeitswelt wird ein gut funktionierendes Gleichgewichts- und Orientierungsystem benötigt. Arbeiten in großer Höhe, an sich schnell bewegenden Maschinen und auch an Computerbildschirmen verlangen eine perfekte Regulation von Blickmotorik und Spinalmotorik. Der hohe Stellenwert des Sportes in der Gegenwart hat dazu geführt, dass vom modernen Menschen erwartet wird, sich ausreichend sportlich zu betätigen. Aber fast jede Sportart setzt ein gut funktionierendes Gleichgewichtssystem voraus, sodass sich auch daraus Ansprüche an ein intaktes vestibuläres System ergeben. Ganz wichtige Aspekte für die Bedeutung des vestibulären Systems ergeben sich aus der Tatsa-
che, dass die individuelle Lebenszeit immer länger wird. Denn auch im vestibulären System finden physiologische Alterungsvorgänge statt [10], die zu Einschränkungen der vestibulären Leistungen führen können, die aber prophylaktisch abgefangen werden sollten. Bekanntlich bedeuten vermehrte Stürze nicht nur orthopädische Probleme, sondern sind auch ein Indikator für die Lebenserwartung. Denn mit der Zunahme von Stürzen sinkt die Lebenserwartung [17]. Zu diesen sich aus den physiologischen Vorgängen ableitenden Problemen kommen die eigentlichen krankheitsbedingten Störungen des Orientierungs- und Gleichgewichtssystems hinzu. Der diagnostische Standard für eine Funktionsanalyse des vestibulären Systems ist sehr hoch, die Zuordnung der Befunde zu bestimmten Krankheitsbildern immer noch schwierig, denn die Ätiologie vieler vestibulärer Krankheitsbilder ist nach wie vor unklar. Für alle Themen, die in diesem Buch abgehandelt werden, gilt, dass die Voraussetzungen für das Verständnis der Ätiologie, für eine vernünftige Diagnostik und auch für rational begründete Therapiemaßnahmen in einer Berücksichtigung der aktuell gültigen Kenntnisse der Physiologie und der Pathophysiologie des vestibulären Systems liegen. Das vestibuläre System hat eine große Aufgabe zu bewältigen, nämlich ein Beschleunigungssignal, den eigentlichen vom vestibulären Rezeptor aufgenommenen Reiz, für ein stationäres Ziel, z. B. für die Blickfixation oder den ruhigen Stand umzuwandeln [11]. Dies entspricht im mathematischen Sinne einer zweifachen Integration, nämlich zunächst die Umwandlung des Beschleunigungssignals in ein Geschwindigkeitssignal, was bereits bei der Umwandlung der mechanischen Energie in elektrische Signale erfolgt. Schließlich findet die Umwandlung des Geschwindigkeitssignals in ein Positionssignal statt, was zu einer Ruheposition des Auges bei bewegtem Kopf führt. Die vom Vestibularapparat mit seinen für Drehbewegungen zuständigen Bogengangsrezep-
3 1.2 · Grundlegendes zur Vestibularis-Diagnostik
1
Grundlegendes zur Vestibularis-Diagnostik
toren und mit dem für Linearbewegungen zuständigen Otolithenapparat aufgenommenen Informationen werden über den Vestibularnerv zunächst in die Vestibulariskerne geleitet, wo bereits eine Integration der verschiedenen vestibulären Informationen untereinander, aber auch mit den nichtvestibulären Sinnesinformationen stattfindet. Hier spielt sich ein für das normale Funktionieren des vestibulären Systems entscheidender Vorgang ab, nämlich der Abgleich zwischen Informationen aus dem Vestibulariskerngebiet der rechten und der linken Seite. Erst ein ausgeglichenes Tonusgleichgewicht zwischen den Vestibulariskerngebieten beider Seiten führt zu einem normalen Funktionieren des vestibulären Systems [11]. Nach der Integration der verschiedenen Informationen aus den Teilorganen des Vestibularapparates sowie aus anderen Sinnesorganen im Vestibulariskerngebiet erfolgt die Weiterleitung dieses Integrationsergebnisses zu den eigentlichen Zielorganen (. Abb. 1.1). Dies ist für die bewusste Orientierung im Raum der parieto-temporale Kortex, für den Anteil des vestibulären Systems an der Okulomotorik das Gebiet der okulomotorischen Kerne und für den Anteil des vestibulären Systems an der Spinalmotorik die Vorderhornzellen im Rückenmark.
1.2
. Abb. 1.1. Schematische Darstellung der Verschaltung von Vestibularapparat, Auge und Propriozeptoren in den Vestibulariskernen und ihrer Funktionen beim Gesunden.
. Abb. 1.2. Schematische Darstellung der Entstehung pathologischer Zeichen bei einer Störung im Vestibularapparat, symbolisiert durch Kursivschrift.
Diese Grundtatsachen müssen für Diagnostik und Therapie vestibulärer Erkrankungen berücksichtigt werden. Denn daraus ergibt sich die Leitlinie für das diagnostische Untersuchungsprogramm. Es umfasst die Analyse der Schwindelbeschwerden nach qualitativen und zeitlichen Gesichtspunkten, aus denen bereits wichtige Rückschlüsse auf die Art der Störung und die ihr zugrunde liegende Erkrankung gezogen werden können. Dabei ist darauf zu achten, dass die vestibulären Rezeptoren Sensoren für Kopfbewegungen sind, also ein vestibulär verursachter Schwindel Scheinbewegungen des Kopfes widerspiegelt. Scheinbewegungen des Kopfes auf andere Organe zu beziehen, wie etwa die Halswirbelsäule, entbehren also einer logischen Grundlage. Zum anderen gehören okulomotorische Tests und vestibulospinale Prüfungen zum vollständigen Untersuchungsprogramm bei Schwindelbeschwerden (. Abb. 1.2). Gewisse Besonderheiten des vestibulären Systems machen die Beschäftigung mit ihm so reizvoll. So ist die Beurteilung und Messung seiner Leistungen nicht einfach, da es keine einzige
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1
Kapitel 1 · Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel
Funktion gibt, die das vestibuläre System allein erfüllt. Wenn es also immer nur in Kooperation mit anderen Sinnessystemen arbeitet, ist es äußerst schwierig, den vestibulären Anteil selektiv zu untersuchen. Aufgabe der Vestibularisdiagnostik ist es daher, den vestibulären Anteil an bestimmten Leistungen herauszulesen, den Ort der Störung zu lokalisieren, die Befunde bestimmten Krankheitsbildern zuzuordnen und die Ausprägung der Störung graduell einzuschätzen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten Methoden zum Einsatz kommen, die auf gesicherten und unumstrittenen Kenntnissen über die Physiologie und Pathophysiologie des vestibulären Systems beruhen. Die Befunde müssen auch von anderen Untersuchern reproduzierbar und nachprüfbar sein. Viele strittige Ansichten und Fehlentwicklungen in der Neurootologie sind wohl darauf zurückzuführen, dass Grundtatsachen der Vestibularisphysiologie nicht allgemein bekannt sind oder nicht zur Kenntnis genommen werden. Dies widerspricht der Tradition der Deutschen HalsNasen-Ohren-Heilkunde, die bedeutende Entwicklungen der Neurootologie maßgeblich beeinflusst hat (Bárány, Frenzel, Mittermaier, Stenger u. a.). Die letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich vermehrt Neurologen mit der weiteren Erforschung des vestibulären Systems beschäftigen (Jung, Kornhuber, Brandt u. a.). Die Hals-NasenOhren-Heilkunde muss erkennen, dass von Nachbardisziplinen sehr wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden, die auch für unser Fach wichtig sind. Darüber hinaus sollte sich der nationale Standard am internationalen Niveau orientieren. Auch wenn es schwerfällt, alte und liebgewordene Vorstellungen zu verlassen, so sollte dies ohne Zögern dennoch geschehen, wenn sich neue, allgemein anerkannte Erkenntnisse aufdrängen. Als Beispiel mag der gutartige Lagerungsschwindel dienen. Dieses Krankheitsbild war 1921 erstmalig von Bárány [1] beschrieben worden,
aber erst grundlegende Erkenntnisse von Schuknecht im Jahr 1969 führten zu einem Verständnis dieser Erkrankung [20]. Dies war gefolgt von einer Umsetzung dieser Erkenntnis in eine rationale Therapie durch Brandt und Daroff [2], die ein Lagerungstraining empfahlen. Die Cupulolithiasishypothese wurde durch die Canalolithiasishypothese ergänzt, Beobachtung von frei flottierenden Partikeln in den Bogengängen von Lagerungsschwindelpatienten lagen vor [18] und somit bestanden also klare pathophysiologische Vorstellungen. Dennoch haben sich diese Erkenntnisse in Deutschland nur zögerlich durchgesetzt. Trotz evidenter, reproduzierbarer Befunde wurde lange an anderen nur schlecht begründeten Vorstellungen über diese Schwindelart festgehalten. Der vorliegende Band will dazu beitragen, gesicherte Kenntnisse der Neurootologie verständlich darzustellen und auf Irrwege hinweisen, um damit jedem mit der Schwindeldiagnostik befassten Arzt eine solide Grundlage für seine Arbeit zu geben. Die Vestibularisdiagnostik muss sich darauf ausrichten, die Leistungen, an deren Erfüllung das vestibuläre System beteiligt ist, zu prüfen und ihre Störungen zu erkennen. Dazu gehören die bewusste Orientierung im Raum, die Blickmotorik und die Spinalmotorik (. Abb. 1.1 u. 1.2).
1.2.1 Anamnese Die Erfassung von Störungen der bewussten Orientierung im Raum stützt sich hauptsächlich auf die gezielte Befragung, eine detaillierte »Schwindelanamnese« [6], kann aber auch quantifizierbare Parameter wie die subjektive Vertikale [3, 12] oder die Geradeausprojektion [9] mit einbeziehen. Die Erfragung der Schwindelqualität sollte immer berücksichtigen, dass die vestibulären Rezeptoren Sensoren für Kopfbewegungen darstellen, die Bogengänge für Drehbewegungen, den Otolithenapparat für geradlinige Bewegungen.
5 1.2 · Grundlegendes zur Vestibularis-Diagnostik
Angaben zur Richtung der Scheinbewegungen, beispielsweise ein Drehschwindel oder ein Liftgefühl, geben Hinweise auf den Ort der Störung im vestibulären System. Die Erfragung der zeitlichen Parameter ermöglicht bereits eine Zuordnung zu Diagnosen dank der heute vorhandenen Kenntnisse der Pathophysiologie von bestimmten Erkrankungen. So lässt sich der lange Zeitverlauf der Schwindelbeschwerden über Tage nach einer akuten vestibulären Läsion wie der Neuritis vestibularis leicht dadurch erklären, dass eben die Kompensationsvorgänge einen über Tage anhaltenden Zeitraum benötigen [11]. Die Dauer der Menièreschen Anfälle im Bereich von Minuten bis Stunden findet ihre Erklärung in der Modellvorstellung von Schuknecht [21]. Er nimmt an, dass sich durch die Bildung des Endolymphhydrops die Reissner-Membran so dehnt, dass sie schließlich platzt. Die daraufhin stattfindende Vermischung von Perilymphe und Endolymphe führt zu einer Kaliumintoxikation am Rezeptor mit den Symptomen des MenièreAnfalls. Da aber der Überdruck aus dem Endolymphraum entwichen ist, finden die Lefzen der Reissner-Membran zueinander und bilden eine Narbe, die Schuknecht morphologisch an Felsenbeinpräparaten nachgewiesen hat. Damit können sich Endolymphe und Perilymphe wieder entmischen, der Anfall findet ein Ende [21]. Auch die kurzen, nur im Sekundenbereich und immer nur in Abhängigkeit von Kopfbewegungen stattfindenden Schwindelattacken beim gutartigen Lagerungsschwindel finden ihre pathophysiologische Erklärung in der Canalolithiasishypothese (7 Kap. 4, [15]).
1.2.2 Untersuchungen
der Blickmotorik Der Hauptteil der vestibulären Diagnostik stützt sich auf die Analyse okulomotorischer Reaktionen [14]. Der Grund liegt darin, dass dies rein
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reflektorische Vorgänge sind, die also von der Willkür nicht zu beeinflussen sind. Die Verschaltung des vestibulären Systems mit den äußeren Augenmuskeln erlaubt über die Beobachtung und die Registrierung von Augenbewegungen Rückschlüsse auf das Funktionieren des vestibulären Systems. Zum einen lässt sich das zentrale Tonusungleichgewicht anhand eines Spontannystagmus oder eines durch Provokationsmaßnahmen induzierten latenten Spontannystagmus beurteilen. Zum anderen kann über die experimentellen Prüfungen eine Funktionsbestimmung der vestibulären Rezeptoren vorgenommen werden. Für einige Phänomene wie den thermisch induzierten Nystagmus [19], den rotatorisch ausgelösten und optokinetisch ausgelösten Nystagmus gibt es zwar Werte, die an Gesunden gewonnen wurden und so mit den Werten von Patienten verglichen werden können. Sie stellen aber keine Normwerte im eigentlichen Sinne dar. Für das vestibuläre System ist weniger die quantitative Situation einer Seite ausschlaggebend, als vielmehr der Seitenvergleich. Es muss noch einmal betont werden, dass das vestibuläre System zwar 2 getrennte Rezeptorenapparate besitzt, deren Informationen aber sich bereits im Hirnstamm, in den Vestibulariskernen, treffen. Sein Funktionieren hängt aber entscheidend von einem intakten Tonusgleichgewicht ab, weniger von der Leistung der einzelnen Rezeptoren. Jede Läsionen, die zu einer Störung des Tonusgleichgewichts führt, bedeutet auch das Auftreten des klinisch wichtigsten Symptoms einer vestibulären Störung, nämlich eines pathologischen Spontannystagmus. Daher besteht die wichtigste Untersuchung der Blickmotorik im Fahnden nach einem Spontannystagmus bzw. im Aufdecken eines latent vorhandenen Spontannystagmus [14]. Der Spontannystagmus ist Ausdruck eines zentral-vestibulären Ungleichgewichts, das aufgrund seiner neuronalen Tonusdifferenz eine langsame Augendeviation induziert, die dann zentral mit einer schnellen Augenbewegung rückgestellt wird. Aus dieser Abfolge von langsamen und schnellen Augenbe-
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Kapitel 1 · Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel
wegungen ergibt sich der typische Spontannystagmus. Die Richtung des Nystagmus lässt zunächst keine sichere Zuordnung zur Seite der Erkrankung zu. Es handelt sich zwar in den meisten Fällen um einen Ausfallnystagmus, der zur gesunden Seite hin schlägt, aber auch ein Irritationsnystagmus, der ins kranke Ohr schlägt, oder ein Erholungsnystagmus, der ebenfalls zum ehemals erkrankten Ohr hin schlägt, kommen vor. Zur Provokation latent vorhandener Spontannystagmen sind alle Methoden geeignet, die unspezifisch zu einer »arousal«, zu einer Weckreaktion führen. Dazu zählen grundsätzlich alle vestibulären Prüfungen selbst, die einen latenten Spontannystagmus aktivieren können, aber auch so unspezifische Maßnahmen wie Kopfschütteln, das Zufügen von Schmerz, unspezifische Lagerungen des Kopfes und ähnliches. Die thermische Prüfung gibt seitengetrennt Auskunft über die Erregbarkeit des peripheren Rezeptorenapparates, genau genommen des horizontalen Bogengangs [19]. Die thermische Prüfung steht immer noch im Vordergrund der Schwindeldiagnostik des HNO-Arztes, da er ja der Spezialist für das Innenohr und damit für den peripheren Vestibularapparat ist. Andere Methoden wie der Kopf-Impuls-Test [7] können die Aussage der thermischen Prüfung unterstützen, erlauben aber keine quantitative Beurteilung der Seitendifferenz. Ein weiterer Ansatz, eine peripher-vestibuläre Seitendifferenz aufzudecken, besteht in der Anwendung von Vibrationsreizen. Es konnte gezeigt werden, dass ein vibrationsinduzierter Nystagmus eine sehr hohe Korrelation mit den Ergebnissen der thermischen Prüfung hat [13]. Er schlägt zur Seite der höheren Erregbarkeit, bei einem Ausfall also zur intakten Seite. Die rotatorische Prüfung prüft zwangsläufig beide peripheren Vestibularapparate, erlaubt auf diese Weise eine Beurteilung der zentralen Integration der aus beiden Teilen der Peripherie einlaufenden Informationen. Auch hier erfolgt die Beurteilung anhand des Seitenvergleichs. Die
Antworten sollten, gleiche Reizintensität vorausgesetzt, bei Rechts- und Linksdrehung symmetrisch sein. Abweichungen mit einer pathologischen Seitendifferenz weisen auf ein zentrales Tonusungleichgewicht hin. Naturgemäß ist die Durchführung der rotatorischen Prüfung an das Vorhandensein eines Drehstuhls, also eines erheblichen apparativen Aufwandes geknüpft. In Zentren, die sich speziell mit Schwindeldiagnostik beschäftigen, steht im Allgemeinen ein solcher motorbetriebener Drehstuhl zur Verfügung.
1.2.3 Untersuchungen
der Spinalmotorik Die vestibulospinalen Prüfungen, also die Untersuchung des Stehens und des Gehens, sind in den Hintergrund der neurootologischen Untersuchung getreten. Dies mag daran liegen, dass die einfachen vestibulospinalen Prüfungen wie der Romberg-Stehversuch und der Unterberger-Tretversuch nur subjektiv zu beurteilen sind, andererseits vom Patienten verfälscht werden können. Andere Untersuchungen der Spinalmotorik, also Körperhaltung und Körperbewegungen, sind meist aufwändig und an Apparate gebunden. So ist es möglich, mit der Posturographie den Körperkraftschwerpunkt zu messen [5]. Andere Registrierungen von Körperhaltung und Körperbewegungen können über Beschleunigungsaufnehmer oder Winkelmesser erfolgen [5]. Da die Aufrechterhaltung von Körperhaltung und die Durchführung glatter Körperbewegungen nur in geringem Maße vom vestibulären System abhängen und auch die Kompensation nach vestibulären Störungen schneller verläuft, haben diese genannten Untersuchungsverfahren nur eine geringe Bedeutung im Vergleich zur »Schwindelanamnese« und den Untersuchungsmethoden der Okulomotorik. Einzig die Methode der Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale [16] hat in den letzten Jahren eine größere Bedeutung ge-
7 Literatur
wonnen, da es sich um ein objektives Messverfahren für die Funktion des Sacculus handelt und einen Reflex prüft, der im engeren Sinne zu den vestibulospinalen Reflexen (engl.=vestibulo-collic reflexes) zu zählen ist.
1.2.4 Weitere Untersuchungs-
methoden In den letzten Jahren sind mehrere Methoden entwickelt worden, die eine selektive Diagnostik einzelner Rezeptoren im peripheren Vestibularapparat erlauben. So gestattet die Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP) eine seitengetrennte, selektive Beurteilung der Sakkulusfunktion [16]. Mit der Bestimmung der visuellen subjektiven Vertikalen erfolgt eine Prüfung der Otolithenbahn [3], vorrangig natürlich des Utriculus. Auch wird versucht, durch veränderte Kopfpositionen die verschiedenen vertikalen Bogengänge selektiv zu prüfen. Hier handelt es sich um teilweise standardisierte Methoden, die zu einer Differenzialdiagnostik des peripheren Vestibularapparates beitragen, teilweise sind die Methoden noch in der Erforschung.
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Ätiologie und Pathophysiologie ergeben haben, die schließlich zu einem äußerst wirksamen Behandlungskonzept geführt haben [4, 15]. Dagegen stagniert die Entwicklung der medikamentösen Behandlung. Die »Antivertiginosa«, sich meist von Antihistaminika herleitende sedierende Substanzen, werden immer noch zur Dämpfung des Schwindelgefühls eingesetzt. Obwohl inzwischen einige chemische Transmitter im vestibulären System erkannt worden sind, hat dies noch nicht zu einer Entwicklung spezifischer Therapeutika geführt. Die durch die H1-Antihistaminika und auch durch andere dämpfende Substanzen eintretende Sedierung erreicht zwar kurzfristig das therapeutische Ziel einer Schwindelunterdrückung, wird aber erkauft durch eine Verzögerung der vorgegebenen zentralen Kompensationsvorgänge [23]. Daher sind in den letzten 80 Jahren Substanzen in den Vordergrund gerückt, bei denen erkannt worden war, dass sie zur Kompensationsförderung nach vestibulären Läsionen beitragen. Dies gilt für den Ginkgospezialextrakt EGb 761 [8] und auch für Betahistin [22].
Literatur 1.3
Grundlegendes zur Therapie
Die Behandlung kann sich beim aktuellen Wissensstand nur selten auf eine bekannte Ätiologie stützen, vielmehr basiert sie auf allgemeinen Mechanismen vestibulärer Erholungsvorgänge, die aus Tierexperimenten und aus klinischen Beobachtungen erkannt worden sind [11], letztlich aber unspezifisch im Sinne eines Habituationstrainings angewandt werden. Diese Einschränkung relativiert sich allerdings, da sich diese Therapie als sehr erfolgreich erwiesen hat (7 Kap. 15). Als eine Ausnahme kann das Krankheitsbild des gutartigen paroxysmalen Lagerungsschwindels (BPPV) gelten, für den die Forschungsergebnisse der letzten Jahre eine schlüssige Theorie zur
1. Bárány R (1921) Diagnose von Krankheitserscheinungen im Bereiche des Otolithenapparates. Acta Otolaryngol 2: 334–337 2. Brandt T, Daroff RB (1980) Physical therapy for benign paroxysmal positional vertigo. Arch Otolaryngol 106: 484–485 3. Brandt T, Dieterich M (1994) Vestibular syndromes in the roll plane: topographic diagnosis from brainstem to cortex. Ann Neurol 36: 337–347 4. Brandt T, Steddin S, Daroff RB (1994) Therapy for benign paroxysmal positioning vertigo, revisited. Neurology 44: 796–800 5. Ernst A, Allum JHJ (2001) Posturographische Verfahren in der vestibulären Diagnostik. In: Westhofen M (Hrsg) Vestibuläre Untersuchungsmethoden, PVV Science Publications, Ratingen, 112–120 6. Frenzel H (1982) Spontan- und Provokationsnystagmus. Springer, Heidelberg, Berlin, New York
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1
Kapitel 1 · Grundsätzliche Überlegungen zum Thema Schwindel
7. Halmagyi GM, Curthoys IS (1988) A clinical sign of canal paresis. Arch Neurol 45: 737–738 8. Hamann KF (1985) Physikalische Therapie des vestibulären Schwindels in Verbindung mit Ginkgo-biloba-Extrakt. Therapiewoche 35: 4586–4590 9. Hamann KF, Hopf J, Metzler R, Silberhorn A (1987) Die Abhängigkeit der Rechts-Links-Erkennung von der Funktion des Vestibularapparates. Arch Oto Rhino Larnygol, Suppl. II: 115 10. Hamann KF (1989) Zerebrovaskuläre Erkrankungen und vestibuläres System. In: Böhme G (Hrsg) Sinnesorgane und zerebrovaskuläre Erkrankungen. Thieme, Stuttgart 11. Hamann KF (1994) Physiologie und Pathophysiologie des vestibulären Systems. In: Naumann HH, Helms J, Herberhold C, Kastenbauer E (Hrsg) Oto-Rhino-Laryngologie in Klinik und Praxis. Thieme, Stuttgart, 260–297 12. Hamann KF (1998) Differentialdiagnose zwischen Erkrankungen der Bogengänge und des Otolithenapparates. In: Stoll W (Hrsg) Differentialdiagnose Schwindel. Springer, Heidelberg 13. Hamann KF, Schuster EM (1999) Vibration-induced nystagmus – a sign of unilateral vestibular deficit 61: 74– 79 14. Hamann KF (2001) Spontannystagmus (SPN) – Provokationsnystagmus. In: Westhofen M (Hrsg) Vestibuläre Untersuchungsmethoden. PVV Science Publications, Ratingen 14–18 15. Hamann KF (2006) Benign paroxysmal positioning vertigo: a disease explainable by inner ear mechanics. ORL 68: 329–333 16. Hamann KF, Haarfeldt R (2006) Vestibulär evozierte myogene Potenziale. HNO 54: 415–428 17. Overstall PW, Exton-Smith AN, Imms FJ, Johnson AL (1977) Falls in the elderly related to postural imbalance. Brit Med J I: 261 18. Parnes LS, McClure JA (1992) Free-floating endolymph particles. Laryngoscope 102: 988–992 19. Scherer H, Helling K (2001) Thermische Prüfung. In: Westhofen M (Hrsg) Vestibuläre Untersuchungsmethoden, PVV Science Publications, Ratingen, 63–69 20. Schuknecht H (1969) Cupulolithiasis. Arch Otolaryngol 90: 765–778 21. Schuknecht HF (1993) Pathology of the ear, 2nd ed. Lea & Febiger, Philadelphia 22. Tighilet B, Leonard J, Lacour M (1995) Betahistine dihydrochloride treatment facilitates vestibular compensation in the cat. J Vest Res 5: 53–66 23. Zee DS (1982) Perspectives on the pharmacotherapy of vertigo. Arch Otolaryngol 111: 609–612
2 Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung A.H. Clarke
2.1
Die Orientierung im Raum – 10
2.2
Das vestibuläre Labyrinth – 10
2.2.1 Die vestibuläre Sinneszelle – 12 2.2.2 Die Sinnesrezeptoren der Bogengänge – 13 2.2.3 Die Sinnesrezeptoren der Otolithenorgane – 14
2.3
Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems
– 15
2.3.1 Der vestibulookuläre Reflex – 15 2.3.2 Der Zusammenhang des VOR mit anderen Arten der Augenbewegung 2.3.3 Die vestibulospinalen Reflexe – 17
2.4
Die zentralvestibulären Bahnen – 19
2.5
Vestibuloautonome Regulation – 19
2.6
Vestibuläre Kompensation – 20 Literatur
– 21
– 15
2
10
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
2.1
Die Orientierung im Raum
Bevor die einzelnen Funktionsweisen der vestibulären Rezeptoren und der zentralen Verschaltungen behandelt werden, soll ihre essenzielle Rolle bei der Orientierung im Raum sowie ihre Interaktion mit dem sensorisch-motorischen Komplex verdeutlicht werden. Dies hilft auch dem Verständnis für das breite Spektrum von Schwindelbeschwerden, wie sie im klinischen Alltag vorkommen. An der räumlichen Orientierung sind die peripheren Organe, die vestibulären Nuklei im Hirnstamm, der Thalamus, der Hippocampus sowie der vestibuläre Kortex beteiligt. Die Tatsache, dass die uns bekannte Anordnung des Labyrinths schon vor über 150 Millionen Jahren bei den Sauriern ausgebildet war, deutet auf die existenzielle Relevanz des Labyrinths als Bestandteil des sensorisch-motorischen Systems hin (. Abb. 2.1). Der Begriff »Orientierung im Raum« bezeichnet hier die Koordination zwischen den Eigenbewegungen eines Individuums und den Bewegungen der unmittelbaren Umwelt. Während Bewegungen in der Umwelt weitgehend über das visuelle System vermittelt werden, werden Eigenbewegungen (z. B. Gehen, Laufen, Tanzen) durch
die Integration vestibulärer und propriozeptiver Informationen erfasst. Ein wichtiges Bindeglied zwischen Innen- und Außenwelt ist die Information über die Richtung der Erdanziehungskraft, die primär von den im Vestibularapparat befindlichen Otolithenorganen kontinuierlich ermittelt wird. Hinzu kommen aber auch afferente Informationen, die vermutlich von der viszeralen Propriozeption stammen (Mittelstaedt 1996). So wird eine interne Repräsentation der Vertikalität oder Gravitätsreferenz gebildet, die essenziell für das effiziente Funktionieren des gesamten sensorisch-motorischen Komplexes ist (Clarke 2002). Es wird postuliert, dass ein internes Modell der Newton’schen Gesetze der Bewegung im Gehirn existiert (McIntyre et al. 2001). Bedingt durch die Entwicklungsgeschichte unter irdischen Schwerkraftbedingungen stellt die Erdanziehungskraft bei allen Tierarten die zentrale Bezugsgröße für das räumliche Empfinden dar. Bei der Entstehung der Kinetosen wird die Inkonsistenz – der sog. Sinneskonflikt – zwischen der visuellen Wahrnehmung und der erwarteten Richtung der Schwerkraft als hauptverantwortlich verstanden (Bles et al. 1998). Neben einer akkuraten Gravitätsreferenz ist die korrekte Erfassung und sinnvolle Integration von vestibulären, visuellen und propriozeptiven Informationen für die Beibehaltung der Orientierung essenziell. Die an dem vestibulären System beteiligten Strukturen sind in . Abb. 2.1 dargestellt. Eine Läsion im peripheren oder zentralen vestibulären System führt zu einer unstimmigen Sinnesintegration. Es entsteht Schwindel mit der entsprechenden vegetativen Begleitsymptomatik.
2.2
. Abb. 2.1. An der räumlichen Orientierung beteiligte Strukturen
Das vestibuläre Labyrinth
Die spezifische Funktion der peripheren Vestibularorgane ist, jede Bewegung des Kopfes in ein neuronales Signal umzusetzen (. Abb. 2.2). Entsprechend der 3 Dimensionen des Raumes sorgt das periphere Organ für die Umsetzung von
11 2.2 · Das vestibuläre Labyrinth
2
. Abb. 2.2. Das peripher-vestibuläre System. a MRTSchnitt in Höhe des Kleinhirnbrückenwinkels (mit freundlicher Genehmigung von F. Wuyts, Antwerpen), b Übersicht
a
b
Dreh- und Linearbeschleunigungsreizen in primäre Sinnesafferenzen. Die Anatomie und Physiologie kann aus zahlreichen Handbüchern (z. B. Hamann, 1994; Scherer 1996) entnommen werden. Im Folgenden werden die wichtigsten Details zusammengefasst. Der MRT-Schnitt in Höhe des Kleinhirnbrückenwinkels (. Abb. 2.2 a) zeigt die nahezu sym-
metrisch gelagerten Labyrinthe. Die Rotation des Kopfes um jede beliebige Achse wird durch die annähernd orthogonale Anordnung der 3 Bogengangspaare vollständig erfasst. Hinzu kommt, dass nahezu alle Kopfbewegungen mit einer Linearbeschleunigung einhergehen, und zwar entweder durch Neigung des Kopfes zur Richtung der Schwerkraft oder durch Translation des
12
2
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
Kopfes. Diese Linearbeschleunigungen werden durch die Maculae des Utrikulus und des Sakkulus, in afferente Signale umgesetzt. In der Embryonalphase beginnt die Entwicklung des Vestibularapparats in der dritten Woche. Am lateralen Teil des Rhombenzephalon entsteht die Ohrplakode aus einer Verdickung des Ektoderms. In den folgenden Tagen senkt sich die Ohrplakode und wandelt sich in die Ohrgrube um, bis sich das Ohrbläschen schließlich bis zum Ende der vierten Woche entwickelt hat. Das Ohrbläschen liegt im Mesoderm und bildet später das Felsenbein. Das Bläschen verlängert und teilt sich in den dorsalen utrikulären und den ventralen sakkulären Anteil. Aus dem utrikulären Anteil entwickeln sich Bogengänge und Utrikulus. Aus dem sakkulären Anteil entstehen Sakkulus und Ductus cochlearis. In der dritten Woche beginnt auch die Entwicklung der Sinnesepithelien der Cristae und der Maculae. Die vestibulären Kerne formen sich in etwa der sechsten Woche und projizieren zu den Endorganen. Insgesamt ist die Ent-
a . Abb. 2.3. Die vestibulären Haarbündel. a Schematische Darstellung, b Depolarisierung der Haarzelle durch Auslenkung der Sinneshaare und nachfolgende Erhöhung der neuronalen Entladungsrate (nach Howard u. Hudspeth
wicklung des Labyrinths innerhalb von 10–14 Wochen abgeschlossen.
2.2.1 Die vestibuläre Sinneszelle Den labyrinthären Sinnesrezeptoren – Crista und Macula – ist die vestibuläre Haarzelle gemeinsam. Ihre Funktion besteht darin, die Rotations- bzw. Translationsreize in primäre Afferenzen umzusetzen. Diese Umsetzung von Kopfbewegungen in ein neurales Signal erfolgt nach dem Prinzip der mechanischen Abscherung ihrer Sinneshaare. Die schematische Darstellung (. Abb. 2.3 a) zeigt den Querschnitt des Haarbündels entlang der Symmetrieachse (d. h. die Ausrichtung der treppenförmigen Stereozilien in Richtung Kinozilium). Die Spitzen der einzelnen Stereozilien, die mit kaliumreicher Endolymphe umgeben sind, sind mit sog. »tip links« verbunden. Bei einer Auslenkung des Haarbündels öffnen sich die Ionenkanäle und Kaliumionen treten vermehrt in den
b 1988 reprinted with permission, from the Annual Review of Biophysics and Biomolecular Structure, Vol. 17 © 1988 by Annual Reviews www.annualreviews.org)
13 2.2 · Das vestibuläre Labyrinth
Zellkörper ein. Dies führt zu einer Depolarisierung der Zelle und schließlich zu einer Erhöhung der Entladungsrate an den afferenten Nervenfasern (. Abb. 2.3 b) entsprechend der Richtung der Beschleunigung. Im menschlichen Labyrinth sind 2 Haarzelltypen vorhanden – die flaschenförmigen Typ-IZellen und die zylinderförmigen Typ-II-Zellen (Wilson u. Melvill Jones 1979). An die flaschenförmigen Typ-I-Zellen lagern sich kelchförmige Nervenendigungen an. Die Typ-II-Zellen sind primäre Rezeptorzellen, die keine eigenen Axone besitzen. Ihre Afferenzen stammen aus dem Ganglion vestibulare und bilden den N. vestibularis. Die efferenten Nervenfasern, die vermutlich die Empfindlichkeit des Rezeptors modulieren, setzen bei der Typ-II-Zelle direkt am Soma und bei der Typ-I-Zelle an der sie umgebenden afferenten Nervenendigung an. Ein funktioneller Unterschied ist daran zu erkennen, dass die von Typ-IZellen stammenden Nervenfasern mit unregelmäßigen, die von Typ-II-Zellen stammenden Fasern hingegen mit regelmäßigen Entladungsraten feuern. Jedes Haarbündel besteht aus 30–100 Stereozilien und einem einzelnen, exzentrisch positionierten Kinozilium (. Abb. 2.3 a). Dabei sind die Stereozilien und das Kinozilium auf der apikalen Membran in Form eines Hexagons äquidistant verteilt. Weiterhin wächst die Länge der Stereozilien in Richtung des Kinoziliums monoton in Form einer Treppe an, wobei die Stereozilien innerhalb jeder Reihe des Hexagons gleich lang sind (Shotwell et al. 1981). Hinzu kommt, dass die Eigenschaften der Haarzellen durch Veränderung der Kalziumionenkonzentration moduliert werden. Durch kontraktile Proteine kann z. B. die Festigkeit der Stereozilien aktiv verändert werden (Orman u. Flock 1983). Es wird vermutet, dass dadurch die Empfindlichkeit der Transduktion moduliert wird. Bei der Transduktion an den Sinneszellen sind mehrere Neurotransmitter aktiv. Es werden überwiegend die exzitatorische Aminosäure Glutamat
2
und die inhibitorische Aminosäure g-Aminobuttersäure (GABA) an den Synapsen zwischen den Haarzellen und den afferenten Fasern des N. vestibularis gefunden (Devau et al. 2000). An den Synapsen der efferenten Fasern mit den Haarzellen wird Acetylcholin (ACh) freigesetzt. Schließlich wurden auch Neuropeptide, vorwiegend »calcitonin gene-related peptide« (CGRP), im peripheren System festgestellt. Ihre genaue Funktion ist noch nicht bekannt, aber ein modulierender Einfluss auf die afferenten Signale wird vermutet (Darlington u. Smith 1996). Es gibt auch zunehmend Hinweise auf Interaktionen zwischen endokrinem und vestibulärem System (Seemungal et al. 2001). Jüngste Berichte zeigen, dass neben den Neurotransmittern auch Steroide eine Rolle im vestibulären System spielen. In einer experimentellen Studie am Menschen konnte bei induziertem Vertigo sowohl eine erhöhte Menge an Steroiden im Serum als auch eine Reduktion der Neurotransmitter festgestellt werden (Dagilas et al. 2005). Ein Überblick über die Rolle der Neurotransmitter im vestibulären System, insbesondere bei der vestibulären Kompensation, geben z. B. Flohr et al. (1995).
2.2.2 Die Sinnesrezeptoren
der Bogengänge In den Ampullen der Bogengänge befinden sich die Cristae ampullares. Die Zilien der Sinneszellen ragen in die gelatineartige Cupula hinein. Beim Menschen schätzt man, dass die Crista 3 000–4 000 Sinneszellen besitzt. Neuere Studien zeigen, dass ein komplexer Ionentransport zwischen den Epithelzellen im Bereich der Crista ampullaris stattfindet (Villegas et al. 2001). Da die Cupula dieselbe spezifische Dichte wie die sie umgebende Endolymphe besitzt, bleibt sie gegenüber Linearbeschleunigungen oder der Erdanziehungskraft neutral. Da sie wie eine Membran den ampullären Raum effektiv schließt (Helling et
14
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
2.2.3 Die Sinnesrezeptoren
der Otolithenorgane
2
. Abb. 2.4. Das Sinnesepithel in den Ampullen der Bogengänge. Die sich zwischen der Ampullenwand und der Crista befindliche Cupula wird durch die Endolymphbewegung verschoben und somit die Zilien der Sinneszellen in der einen oder der anderen Richtung abgeschert (aus Wersall DJ & Bagger-Sjoback D 1974)
al. 2000), führt jede durch Drehbeschleunigung verursachte Endolymphverschiebung entlang des Bogenganges zu ihrer Auslenkung. Somit wird das Haarbündel abgeschert und eine Modulation der afferenten Entladungsrate bewirkt (. Abb. 2.4).
. Abb. 2.5. Die Struktur der Macula des Utrikulus und seiner Membran. Die Macula lässt sich grundsätzlich in 2 Bereiche einteilen: die Striola und die Extrastriola. Die Polarisation der Haarzellen sowie die Prädominanz der Typ-I-
Die Sinnesrezeptoren der Maculae utriculi und sacculi befinden sich jeweils auf einem Epithel mit einer Fläche von weniger als 1 mm2, jedoch mit 10 000–12 000 Sinneszellen. Aus den Maculae ragen die Zilien in die ebenfalls gallertartige Otolithenmembran hinein (. Abb. 2.5). Da die Otolithenmembran eine 2,71-mal höhere spezifische Dichte als die sie umgebende Endolymphe besitzt, verschiebt sich bei einer auf den Kopf bzw. das Labyrinth wirkenden Linearbeschleunigung die gesamte Otolithenmembran gegenüber dem Sinnesepithel. Die Sinneszellen der Maculae weisen eine markante Polarisationstopologie auf, sodass sie effektiv wie ein omnidirektionaler Beschleunigungssensor agieren. Diejenigen Sinneszellen der Otolithenorgane, deren Polarisationsachse parallel zur Richtung der Linearbeschleunigung bzw. Erdanziehungskraft ausgerichtet sind, werden maximal angeregt. Bei jeder linearen Beschleunigung des Kopfes ändert sich entsprechend die Entladungsrate. Bei einer anhaltenden Beschleunigung – in der Regel durch Neigung des Kopfes zur Schwerkraft – bleibt die Tonusänderung der Entladungsrate erhalten (z. B. Fernández u. Goldberg 1976).
Zellen im Bereich der Striola sind zu erkennen. Die komplexe Innervierung der Sinneszellen ist angedeutet (aus Sans 2001)
15 2.3 · Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems
2.3
Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems
In der Regel werden 2 Hauptfunktionen des vestibulären Systems beschrieben, die Stabilisierung des Blickfelds mittels des vestibulookulären Reflexes und die Aufrechterhaltung der Körperhaltung über die vestibulospinalen Bahnen.
2.3.1 Der vestibulookuläre Reflex Die Verschaltung der peripheren Organe mit den vestibulären und okulomotorischen Nuklei bildet die Bahn des vestibulookulären Reflexes (VOR), wie in . Abb. 2.6 dargestellt. Der klassische Bogengangsreflex ist die durch Kopfdrehung ausgelöste kompensatorische Augenbewegung. Dies bewirkt, dass während sämtlicher natürlicher Bewegungsmuster die gezielte Blickrichtung erhalten und das visuelle Bild stabil bleibt. So erhöht sich z. B. bei einer Rechtsdrehung des Kopfes in der Ebene der horizontalen Bogengänge die Entladungsrate des rechten horizontalen Bogengangs. Diese afferente Information wird über ein Neuron im Nucleus vestibularis an ein Effektorneuron im linken Nucleus abducens und an ein Effektorneuron im rechten Nucleus oculomotorius übertragen. Die Kontraktion des linken M. rectus lateralis sowie des rechten M. rectus medialis führt letzlich zu einer kompensatorischen Bewegung der Augen nach links. Durch die dreidimensionale Anordnung der Bogengänge funktioniert dieser Mechanismus bei Kopfdrehungen um jede erdenkliche Achse. Die Leistung des VOR wird mit den Parametern Verstärkungsfaktor (engl.=gain) und Phase beschrieben. Der »Gain-Faktor« ist das Verhältnis der Augen- zur Kopfgeschwindigkeit. Die Phase entspricht der zeitlichen Verzögerung des Auges relativ zum Kopf. Im idealen Fall sollte der »GainFaktor« 1 betragen. Beim horizontalen und vertikalen VOR wird dies annähernd erreicht. Beim
2
torsionalen VOR, d. h. ausgelöst durch Drehen bzw. Rollen des Kopfes von einer Seite zur anderen, ist der »Gain-Faktor« wesentlich kleiner (etwa 0,2–0,3). Beim Kippen des Kopfes aus der aufrechten Haltung zur Seite oder nach vorn oder hinten werden auch die Otolithenorgane durch die Schwerkraft stimuliert und der otolith-okuläre Reflex (OOR) wird ausgelöst. Während einer Bewegung ergänzen sich VOR und OOR. Jedoch ist bei statischer Neigung des Kopfes ausschließlich die otolith-okuläre Komponente – das statische Augengegenrollen – zu beobachten. Diese Reaktion wird durch eine otolithenvermittelte Tonusveränderung der extraokulären Muskeln realisiert. Der »Gain-Faktor« bei statischem Augengegenrollen beträgt etwa 0,1.
2.3.2 Der Zusammenhang des VOR
mit anderen Arten der Augenbewegung Der VOR dient prinzipiell dazu, das Blickfeld während natürlicher Bewegungen des Kopfes zu stabilisieren. Das Blickfolgesystem (engl.=smooth pursuit, . Abb. 2.7) generiert glatte, konjugierte Augenbewegungen, um langsam sich bewegende Objekte visuell zu verfolgen. Währenddessen bleibt das Objekt foveal fixiert. Im gesunden Zustand kann ein sich bewegendes Ziel mit Geschwindigkeiten bis etwa 50 Grad/s glatt gefolgt werden. Da der Kopf ständig in Bewegung ist, arbeiten Blickfolge und vestibuläres System eng zusammen. Bei langsamen Kopfbewegungen wird der VOR auch vom optokinetischen System unterstützt, das auf die relative Bewegung der Umwelt auf der Retina anspricht. Dementsprechend werden die visuellen Informationen über kortikale sowie subkortikale Bahnen zum Kleinhirn und den Gleichgewichtskernen vermittelt. Ein optokinetischer Nystagmus kann sowohl durch Stimulation der gesamten peripheren Retina als auch
16
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
2
. Abb. 2.6. Der vestibulookuläre Reflex: Der zugrunde liegende 3-Neuronen-Bogen vom horizontalen Bogengang (durchzogene Linie) besteht aus einer Haarzelle, d. h. einem pseudobipolaren afferenten Neuron vom Scarpa-Ganglion, einem Zwischenneuron im Nucleus vestibu-
laris medialis und einem Effektorneuron im Nucleus abducens (nach Niewenhuys et al. 1998). Die Bahnen vom anterioren und vom posterioren Bogengang sind mit gestrichelten Linien angedeutet
durch den fovealen Bereich ausgelöst werden. So wird die periphere Reizung mit den subkortikalen, reflexartigen Bahnen, die foveale Reizung mit den komplexeren Bahnen vom Kortex assoziiert. Blickfolge- und optokinetische Bewegungen werden zum Teil über dieselben Bahnen zum
Kortex, zu den vestibulären Nuklei und zu den okulomotorischen Nuklei gesteuert. Die visuellen Informationen über das Zielobjekt werden von der Retina zum visuellen Kortex und dann über den Nukleus des optischen Trakts und das Kleinhirn zu den vestibulären Nuklei übertragen. Dort
17 2.3 · Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems
2
dreht werden. Diese binokulären Aspekte sind für die Differenzialdiagnostik von Gleichgewichtsstörungen, insbesondere zur Erklärung von Phänomenen wie Oszillopsie, interessant. Eine umfangreiche Abhandlung über die Physiologie und Pathologie von Augenbewegungen bieten Leigh und Zee (2006).
2.3.3 Die vestibulospinalen Reflexe
. Abb. 2.7. Die 5 Arten der Augenbewegung und die Lokalität ihrer Generierung (schematische Darstellung)
werden die Informationen mit den vestibulären Afferenzen integriert. Das Resultat wird wiederum an die okulomotorischen Nuklei übermittelt, um die Augen auf das Zielobjekt zu richten. Die Leistung des Blickfolge- und optokinetischen Systems lässt mit dem Alter nach, wird aber auch durch Läsionen im Hirnstamm und Kleinhirn beeinträchtigt. Um die Blickrichtung bewusst zu ändern, werden willkürliche Sakkaden eingesetzt. Sie werden in den frontalen Augenfeldern generiert. Die schnellen Phasen des vestibulären oder optokinetischen Nystagmus gelten hingegen als unwillkürliche Sakkaden, die das Auge zurück zu einer neutralen Position bringen. Wichtige Eigenschaften der Sakkaden sind die hohe Geschwindigkeit (200–600 Grad/s), Konjugiertheit und Zielgenauigkeit (keine Hypo- oder Hypermetrie). Ein oft vernachlässigter Aspekt des vestibulookulomotorischen Systems ist die Rolle der vestibulären Informationen bei der Steuerung von Vergenzbewegungen. Bei großer Distanz des visuellen Ziels spielt dies eine geringere Rolle und der »VOR-Gain« beträgt 1. Bei einer Kopfrotation oder Translation während der Fixierung eines nahen Objektes (d. h. Entfernung <1 m) müssen aber beide Augen um verschiedene Winkel ge-
Um eine stabile, aufrechte Körperhaltung zu gewährleisten, werden im ZNS die vestibulären Afferenzen sowohl von den Bogengängen als auch von den Otolithenorganen kontinuierlich mit dem afferenten Informationsfluss vom visuellen System, den Propriozeptoren, in den verschiedenen Gelenken und den Somatosensoren in den Fußsohlen abgeglichen. Dementsprechend wird die Streckmuskulatur im Rücken und in den Beinen reflexartig aktiviert, um den Tonus und die Balance gegenüber der Schwerkraft aufrechtzuerhalten. Dies wird hauptsächlich über die lateralen und medialen vestibulären Trakte sowie indirekt über den retinospinalen Trakt des Rückenmarks vermittelt. Informationen von den vestibulären Nuklei werden hauptsächlich über den Tractus vestibulospinalis lateralis (LVST) und medialis (MVST) geleitet (. Abb. 2.8). Der MVST hat seinen Ursprung im Nucleus vestibularis medialis und verläuft beidseits im Fasciculus longitudinalis medialis. Die Fasern des MVST enden hauptsächlich monosynaptisch an den Motoneuronen der Halsmuskulatur. Der LVST, der vom Nucleus vestibularis lateralis kommt, zieht ungekreuzt abwärts und endet in allen Abschnitten des Rückenmarks. Er übt einen wesentlichen Einfluss auf die Reflexaktivität und den Tonus der Extensoren und Flexoren aus. Hinzu kommen die Fasern der retikulospinalen Bahnen (nicht abgebildet), die an der Modulation der Haltemotorik beteiligt sind (Nieuwenhuys et al. 1991; Brandt, 1999). Bei Fortbewegung und willkürlichen Lageänderungen werden diese Hirnstammfunktionen
18
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
2
. Abb. 2.8. Überblick über die vestibulospinalen Reflexe
von kortikalen Prozessen überlagert (Akbarian et al. 1993). Diese übergeordnete, willkürliche Kontrolle wird über den kortikospinalen Trakt vermittelt. Obwohl es tonische vestibulospinale Reflexe gibt, wie sie z. B. bei frühgeborenen Säuglingen auszulösen sind, werden sie bei Erwachsenen weitgehend dem hemmenden Einfluss der kortikalen und subkortikalen Zentren ausgesetzt und sind somit ungeeignet für die Untersuchung des Systems. Für die Routinediagnostik werden di-
verse Varianten der Posturographie verwendet, die eine eher grobe Einschätzung der Leistung liefern und der Komplexität des vestibulospinalen Systems schließlich nicht gerecht werden. Ein Überblick zu diesem Thema mit Abhandlung der entsprechenden Syndrome ist bei Allum und Shephard (1999) nachzulesen.
19 2.5 · Vestibuloautonome Regulation
2.4
Die zentralvestibulären Bahnen
Afferente und efferente vestibuläre Nervenfasern bilden zusammen den vestibulären Teil des VIII. Hirnnervs, der zwischen Pons und Medulla oblongata den Hirnstamm verlässt. In der dorsolateralen Medulla enden die Fasern beidseits in den 4 vestibulären Nuklei (superior, lateralis, medialis und inferior). Der superiore Anteil des Nervs innerviert den horizontalen und vorderen Bogengang sowie den Utrikulus und die vordere Spitze des Sakkulus. Der inferiore Anteil innerviert den posterioren Bogengang und den Hauptteil des Sakkulus. Die gegenseitigen Kerngebiete sind durch vielfache kommissurale Bahnen verbunden. Diese bilateralen Verbindungen ermöglichen eine gegenseitige Modulierbarkeit und somit eine Korrektur der vestibulären Reflexe im Falle einer Läsion und beim Alterungsprozess. Die vestibulären Kerne haben auch reziproke Projektionen zum Vestibulozerebellum, d. h. zum Flocculus, zum Nodulus und zur Uvula, die an der vestibulär-visuellen Konvergenz, an der Regelung der Zeitkonstante (engl.=velocity storage mechanism) und der vestibulospinalen Regulation maßgeblich beteiligt sind. Neben den Verbindungen zu den okulomotorischen Kernen führen weitere Projektionen von den Vestibulariskernen über den Thalamus zum Kortex, vorwiegend zum insulären Kortex im Parietallappen, aber auch zu einem komplexen Netz von weiteren Arealen, unter anderem Area 2v am Sulcus intraparietalis, Area 3av im Sulcus centralis und Area 7 (de Waele et al. 2001). Neuere Untersuchungen haben bestätigt, dass es auch Bahnen vom Vestibulariskerngebiet zum Hippocampus gibt, der im weiteren Sinn bei der räumlichen Orientierung involviert ist (Smith 1997). Als interessantes Beispiel ist hier die Studie an Londoner Taxifahrern zu nennen, die offensichtlich wegen der berufsbedingten Ansprüche an ihre Orientierungs- und Navigationsfähigkeiten einen größer
2
ausgebauten Hippocampus besitzen (Maguire et al. 2000). Die Kenntnisse über dieses Netz von vestibulär-kortikalen Arealen basieren hauptsächlich auf neueren Untersuchungen anhand der bildgebenden Verfahren (funktionelle Magnetresonanztomographie [fMRT] und Positron Emissionstomographie [PET]) und sie werden zunehmend präzisiert (Brandt 1999). Im Kortex entsteht schließlich die subjektive Wahrnehmung der Eigenbewegung und der räumlichen Orientierung. Hierfür werden sowohl vestibuläre als auch visuelle und somatosensorische Informationen integriert. Diverse Studien mittels der fMRT-Verfahren deuten an, dass die Interaktion zwischen den vestibulären und visuellen Systemen auf einer gegenseitigen Hemmung basiert, d. h. bei vestibulärer Reizung werden die vestibulären Kortexareale aktiviert, während die visuellen Areale deaktiviert werden (Brandt et al. 2002). Es wurden auch kortikofugale Bahnen zum Vestibulariskerngebiet festgestellt, die auf eine Regelung von Hirnstammfunktionen durch den Kortex hindeuten (Melvill Jones et al. 1985).
2.5
Vestibuloautonome Regulation
Das autonome oder neurovegetative Nervensystem ermöglicht direkte und schnelle Änderungen von Organfunktionen, homöostatische Regulationen sowie vegetative Reflexe (. Abb. 2.9). Obwohl der vestibuläre Einfluss auf die Respiration und den Kreislauf schon länger bekannt ist, sind unsere Kenntnisse über diese vestibuloautonomen Mechanismen noch begrenzt (Yates u. Miller 1996). Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass die durch Lageveränderung und Bewegung notwendige Modulation der Atmung und des Blutdrucks über vestibuloautonome Bahnen geregelt wird (Radtke et al. 2003). Es ist auch allgemein bekannt, dass das vestibuläre System maßgeblich an der Auslösung von Kinetosen be-
20
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
2
. Abb. 2.9. Vestibuloautonome Regulation – Überblick über die Interaktionen zwischen dem vestibulären System
und diversen autonomen Funktionen (mod. nach Yates BJ u. Miller AD 1996)
teiligt ist. Dabei werden die Verbindungen zwischen dem Gleichgewichtskerngebiet und dem benachbarten Brechzentrum (PCRF, engl. = parvicellular reticular formation) aktiviert. Darüber hinaus sind Verbindungen vom vestibulären System zu weiteren Hirnstammbereichen bekannt, die monoaminergische Neuronen besitzen. So wird die Aktivität von zahlreichen Neuronen im Zentralnervensystem beeinflusst. Neuere Untersuchungen weisen sogar auf eine Beteiligung der durch die Otolithen vermittelten Gravität an der Regulierung des Muskel- und Knochenbaus hin (Levasseur et al. 2004).
dass es wiederum zu einer graduellen Rekalibrierung der sensorisch-motorischen Abläufe kommen muss. Auch Lorenz (1973) beschreibt die Wichtigkeit der Adaptation für die Arterhaltung, wobei er besonders auf die überlebenswichtige Rolle der adaptiven Modifikation im Zentralnervensystem eingeht und die Bedeutung der Integration der Sinnesinformationen für die räumliche Orientierung betont.
2.6
Vestibuläre Kompensation
Die Fähigkeit zur Adaptation im sensorisch-motorischen System stellt einen existenziell relevanten Mechanismus dar. Beim natürlichen Wachstums- bzw. Alterungsprozess. Selbst der natürliche Wachstumsprozess
des Menschen von Säuglingsgröße auf volle Körpergröße erfordert eine ständige Korrektur des Gleichgewichtsempfindens bzw. der Sensomotorik. So führen die langsam wachsenden Körperdimensionen zu einer kontinuierlichen Umkalibrierung des Gleichgewichtsempfindens. Im späteren Leben setzen dann die Alterungsprozesse des Körpers und vor allem der Sinnesorgane ein, so-
Bei veränderter Sinnesumgebung. Während der ersten Tage auf See leiden viele Schiffsreisende an Kinetosen. Nach der Sinneskonflikttheorie läuft in dieser Zeit die Sinnesadaptation an die veränderten Umgebungsbedingungen ab. Das heißt, während auf festem Boden die Schwerkraft eine feste Referenz bildet, ändert sich auf See die Körperposition relativ zum Schwerkraftvektor mit den Schiffsbewegungen. Infolgedessen melden die Gravizeptoren des Innenohrorgans ungewohnte und vor allem im Konflikt zu denen des visuellen Systems stehende Informationen an das Gleichgewichtskerngebiet. Dieser Sinneskonflikt löst die Kinetosen aus. Aufgrund der Fähigkeit zur Adaptation erholt sich jedoch die überwiegende Mehrheit der Betroffenen innerhalb einiger Tage. Ein zweites markantes Beispiel ist die Situation des Astronauten in der Schwerelosigkeit des Weltalls. Hier wird das Gleichgewichtssystem mit einer neuartigen Diskordanz konfrontiert. Eine
21 Literatur
Reihe von Untersuchungen haben ergeben, dass die veränderten Afferenzen der Otolithenorgane zunehmend schwächer und stattdessen die visuellen und zum geringeren Teil die propriozeptiven Informationen entsprechend stärker gewichtet werden. Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Anpassung an die veränderten Bedingungen nicht allein durch neurale Adaptation abläuft, sondern auch eine Substitution von Sinnesmodalitäten stattfindet (Clarke 2002). In gewisser Weise ist das Entstehen von derartigen Sinneskonflikten die treibende Kraft bei der überlebensnotwendigen neuralen Adaptation. Eine neuere Übersichtsarbeit fasst die Ursachen, das neurale Substrat und die Behandlungsmöglichkeiten der Kintosen zusammen (Golding u. Gresty 2005). Bei der Rehabilitation nach Gleichgewichtserkrankungen. Eine Läsion des Gleichgewichtssy-
stems ist ein pathologischer Zustand, dessen Rehabilitation hohe Anforderungen an die adaptive Fähigkeit der assoziierten Hirnstrukturen stellt. Hier spielen prinzipiell 2 Mechanismen eine Rolle. Zum einen werden nach der akuten Phase der Läsion durch neurale Adaptation die bestehenden vestibulären Afferenzen neu gewichtet, um eine möglichst akkurate Registrierung von Kopfbewegungen zu liefern. Zum anderen kommt die Substitution der fehlenden vestibulären Informationen durch Afferenzen von anderen Sinnesrezeptoren, z. B. von Halspropriozeption hinzu. Bei Kontrolluntersuchungen nach scheinbar kompletter Kompensation, d. h. gemessen am Abklingen des Ausfallnystagmus, kann nachgewiesen werden, dass im dynamischen Verhalten ein bleibendes Defizit besteht. Dies konnte von Halmagyi und Curthoys (1988) anhand des Kopf-Impuls-Tests (engl.=head-thrust test) nachgewiesen werden. Die Wiederherstellung des Gleichgewichts sollte eher als eine effektive Neugewichtung der multisensorischen Integration verstanden werden, wobei das bleibende vestibuläre Defizit durch andere sensorische Modalitäten
2
substituiert wird. Ein Überblick zum Thema vestibulärer Rehabilitation wurde von Black und Pesznecker (2003) publiziert.
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22
2
Kapitel 2 · Das vestibuläre System – eine Kurzbeschreibung
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3 Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik K. Helling, A.H. Clarke
3.1
Die Funktion der Otolithenorgane – 24
3.2
Die Morphologie der Otolithenorgane
3.3
Funktionsprüfungen der Otolithenorgane
– 24 – 25
3.3.1 Der otolith-okuläre Reflex – 25 3.3.2 Funktionsprüfung des Utrikulus – 26 3.3.3 Funktionsprüfung des Sakkulus – 28
3.4
Klinik der Otolithenorgane – 29
3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5
Funktionsstörungen des Sakkulus – 29 Funktionsstörungen des Utrikulus – 30 Tumarkin-Krise – 31 Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel Bewegungskrankheit – 32
Literatur
– 33
– 32
3
24
Kapitel 3 · Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik
3.1
Die Funktion der Otolithenorgane
Zur räumlichen Orientierung verfügt der Mensch, ebenso wie alle höheren Tierarten, über vestibuläre Sinnesorgane für die Wahrnehmung der Gravitation und die Transduktion von Rotation und Translation des Kopfes im Raum. Zusammen mit den Augen und den im Körper verteilten Propriozeptoren und Somatosensoren sind diese Organe für den koordinierten Ablauf aller natürlichen Bewegungen essenziell. Jede Kopfbewegung im dreidimensionalen Raum kann in eine Kombination von jeweils 3 Dreh- und Linearbewegungskomponenten aufgelöst werden. Dementsprechend sind die Bogengänge und Otolithenorgane im Labyrinth so angeordnet, dass sowohl die 3 rotatorischen als auch die 3 translatorischen Freiheitsgrade vollständig erfasst werden. Eine wesentliche Funktion des Gleichgewichtssystems besteht darin, bei jeder Kopfbewegung eine entsprechende kompensatorische Augenbewegung auszulösen, um das Blickfeld zu stabilisieren. Hierbei sind horizontale, vertikale und torsionale Bewegungskomponenten möglich. Die Registrierung dieses »vestibulookulären Reflexes« liefert uns das wichtigste objektive Hilfsmittel bei der Untersuchung des menschlichen vestibulären Systems. In der Literatur wird zwischen dem okulären Reflex, der aufgrund der Rotation, d. h. durch Reizung des Bogengangsapparates (engl.=angular VOR oder AVOR), und dem okulären Reflex, der aufgrund der Linearbeschleunigung (engl.=linear VOR oder LVOR) zustande kommt, unterschieden. Der lineare VOR wird ausschließlich durch Reizung der Otolithenorgane hervorgerufen und daher auch als otolith-okulärer Reflex (OOR) bezeichnet.
3.2
Die Morphologie der Otolithenorgane
Die quasi orthogonale Lage des Utrikulus und Sakkulus zueinander sowie die multidirektionale Anordnung ihrer Sinneszellen im vestibulären Labyrinth dienen der Transduktion von Linearbeschleunigungen in allen 3 Ebenen des Raumes. Die Sinnesrezeptoren der jeweiligen Maculae sind auf einer Fläche von weniger als 1 mm2 angeordnet. Die Zilien der einzelnen Sinneszellen ragen in die Otolithenmembran hinein. Anhand der Rasterelektronenmikroskopie wurde festgestellt, dass die mechanische Kopplung durch 2 extrazelluläre Schichten hergestellt wird (Ross 2001, Takumida et al. 1988). Die obere etwa 25–30 µm dicke Schicht, die die Otokonien trägt, besteht aus einer Matrix von dicht vernetzten Filamenten. Kachar und Mitarbeiter (1990) sehen die Funktion dieser Schicht in der Bildung einer mechanisch festen Einheit mit den einzelnen Otokonien. So wird die Trägheit der Otolithenmasse einheitlich auf alle Zilienbündel verteilt. Die untere Schicht mit einer Dicke von 5–6 µm verankert die Otolithenmembran auf dem Epithel, wobei der säulenartigen Filamentstruktur dieser Schicht eine mechanische Stabilisierungsfunktion zugeschrieben wird. So werden nur diejenigen Scherkräfte zugelassen, die als adäquater Reiz der Sinneszellen gelten. Neurophysiologischen Erkenntnissen zufolge besitzt jede Sinneszelle eine definierte Polarisationsachse auf der Macula (Shotwell et al. 1981). Durch die Krümmung der Maculae liegen die Polarisationsachsen der Sinneszelle jedoch nicht streng in einer definierten Raumebene. Dennoch wird häufig der Einfachheit halber angenommen, dass die Maculae als 2 planare, orthogonal zueinander gerichtete Beschleunigungssensoren zu betrachten sind. Genaue anatomische Messungen zeigen, dass die Hauptebenen der Maculae utriculi (. Abb. 3.1) relativ zur Horizontalebene etwa 30 Grad nach oben und etwa 15 Grad nach medial gekippt sind,
25 3.3 · Funktionsprüfungen der Otolithenorgane
3.3
. Abb. 3.1. Räumliche Orientierung der Macula utriculi relativ zur Horizontalebene und die Polarisationsvektoren der Haarzellen (Spoendlin 1966)
wogegen die der Maculae sacculi (. Abb. 3.2) einen Winkel von etwa 10 Grad nach anterolateral mit der Sagittalebene bilden (Corvera et al. 1965). Die Verteilung der Polarisationsrichtung der Haarzellen von Macula utriculi und sacculi ist in früheren morphologischen Studien an verschiedenen Spezies untersucht worden (Rosenhall 1972, Igarashi 1974, Watanuki u. Schuknecht 1976). Die Effizienz des Beschleunigungssensors hängt unmittelbar von der Größe des Unterschieds zwischen der Dichte der Endolymphe (1,01 g/cm3) und derjenigen der Otokonien (2,71 g/cm3) ab.
. Abb. 3.2. Räumliche Orientierung der Macula sacculi relativ zur Sagittalebene und die Polarisationsvektoren der Haarzellen (Spoendlin 1966)
3
Funktionsprüfungen der Otolithenorgane
Die Möglichkeiten der klinischen Funktionsprüfung der Otolithenorgane sind von verschiedenen Autoren beschrieben worden (Westhofen 1991, Furman u. Baloh 1992, Halmagyi u. Curthoys 1999, Gresty u. Lempert 2001). Jedoch wurde fast ausschließlich von Prüfungsansätzen mit einer bilateralen Reizung des Otolithensystems berichtet. Erst in den letzten Jahren sind die Ansätze zur unilateralen Prüfung behandelt worden (Colebatch 2001, Paige 2002, Clarke et al. 2003).
3.3.1 Der otolith-okuläre Reflex Im Gegensatz zur früheren Einteilung nach statischem und dynamischem Aspekt wird heutzutage der otolith-okuläre Reflex (OOR) zunehmend nach Funktion und Physiologie klassifiziert. So können folgende 3 Erscheinungsformen des OOR festgestellt werden: 4 Modulation der Augenposition während einer Kippung des Kopfes relativ zum Schwerkraftvektor, 4 kompensatorische Änderung der Augenbewegungsgeschwindigkeit bzw. -position während einer reinen Translation entlang einer beliebigen Achse, 4 Nystagmusreaktionen während der »Off-vertical-axis«-Rotation (Furman et al. 1993), die den Beschleunigungsvektor effektiv um den Kopf rotieren lässt. Diese Technik wurde aufgrund ihrer häufig provokativen Wirkung bei Humanexperimenten bisher nur selten angewandt.
Der OOR bei Kippung des Kopfes relativ zum Schwerkraftvektor Die Augengegenrollung, die bei Kippung des Kopfes aus der aufrechten Stellung zur Seite auftritt, ist seit den Berichten von Bárány (1907) und Fischer (1927) bekannt. Spätere Untersuchungen
26
3
Kapitel 3 · Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik
zeigten, dass die Verstärkung (engl.=gain) dieser Komponente des vestibulookulären Reflexes beim Menschen etwa 0,2 beträgt (Kirienko et al. 1984, Collewijn et al. 1985). Diamond und Markham (1983) konnten weiterhin feststellen, dass Patienten mit peripher-vestibulären Läsionen eine asymmetrische Augengegenrollung zeigen. Die Augengegenrollung kann mit der subjektiven Nachbildmethode (Fischer 1927) oder mit neueren objektiven Messtechniken wie der »Scleralsearch-coil«-Technik (Collewijn et al. 1985) oder der Videookulographie (VOG; Clarke et al. 1991, 2002) gemessen werden. Dai und Mitarbeiter (1989) untersuchten den Zusammenhang zwischen Augengegenrollung und subjektiver Wahrnehmung der Vertikalen und stellten fest, dass Patienten mit peripher-vestibulären Läsionen auch hier eine deutliche Asymmetrie aufweisen.
Der OOR bei Translationsbeschleunigung Durch reine lineare bzw. translatorische Bewegung des Kopfes wird der lineare vestibulookuläre Reflex (LVOR) hervorgerufen. Dieser wurde in den früheren Berichten von Jongkees und Philipszoon (1962) und von Niven und Mitarbeitern (1965) erstmals beschrieben. Mittels Elektrookulographie konnte ein horizontaler Nystagmus registriert werden, der durch eine sinusförmige Linearbeschleunigung entlang der interauralen Achse hervorgerufen wurde. Eine Reihe von jüngeren Studien haben bestätigt, dass der lineare VOR bzw. OOR die Translation des Kopfes kompensiert (Baloh et al. 1988, Paige 1989, Paige u. Tomko 1991, Schwarz et al. 1989, Schwarz u. Miles 1991). Bei Experimenten in der Humanzentrifuge (de Graaf u. de Roo 1996) und auf einer Schlittenanlage (Merfeld et al. 1996) konnte die Wirkung von konstanten bzw. dynamischen Linearbeschleunigungen entlang der interauralen und der longitudinalen Achse des Kopfes untersucht werden. Dabei wurden Augenbewegungen in allen 3 Ebenen mittels VOG-Technik registriert. Es konnte festgestellt werden, dass die durch Reizung
der Otolithenorgane (vorwiegend Utrikulus) hervorgerufene, kompensatorische Augenbewegung bei einer Linearbeschleunigung entlang der interauralen Achse sowohl eine horizontale als auch eine torsionale Komponente aufwiesen (Merfeld et al. 1996). Die Art und Weise, wie das zentrale Nervensystem eine Kippung von einer Translation differenziert, ist noch unklar. Es wird aber allgemein angenommen, dass ähnlich wie bei einem Trägheitsnavigationssystem die Trennung von Schwerkraft und Translationsbeschleunigung durch eine frequenzselektive Filterung der primären Afferenzen bewerkstelligt wird (Glasauer u. Merfeld 1997).
3.3.2 Funktionsprüfung des Utrikulus In jüngster Zeit wurden für die Prüfung der utrikulären Funktion einige Tests vorgeschlagen, deren Nutzen für die klinische Forschung jedoch begrenzt blieb. Dies liegt in erster Linie daran, dass eine bilaterale Reizung der Utrikuli erzeugt wird, sodass ein einseitiges Defizit durch kontralaterale Afferenzen, die zur zentralen Kompensation genutzt werden, verdeckt wird. Systematische Untersuchungen der gestörten Utrikulusfunktion, die über Fallberichte hinausgehen, beschränkten sich bislang auf Patienten mit therapeutischer Durchtrennung des gesamten N. vestibularis (Dai et al. 1989, Curthoys et al. 1991, Böhmer u. Rickenmann 1995) oder mit bilateraler Vestibulopathie (Lempert et al. 1999). Dabei sind jedoch neben den Otolithen- auch die Bogengangsafferenzen betroffen. Zur Zeit werden 2 Ansätze zur unilateralen Prüfung der Utrikulusfunktion verfolgt. Bei beiden wird eine Reizung entlang der interauralen Achse verwendet. Einerseits wird – ähnlich dem »Head-Thrust-Test« für die Bogengänge (Halmagyi u. Curthoys 1988) – ein kurzer translatorischer Impuls mit einem Beschleunigungsschlitten generiert (Lempert et al. 1999, Ramat u. Zee 2002, Tian et al. 2002, Crane et al. 2003).
27 3.3 · Funktionsprüfungen der Otolithenorgane
3
Andererseits handelt es sich um die Utrikulusreizung durch unilaterales Zentrifugieren. Bei einer reinen Drehbewegung um die Körperachse tritt aufgrund der Radialbeschleunigung bzw. der Zentrifugalkraft ein Otolithenreiz auf. Bei zentrischer Rotation (. Abb. 3.3 mitte) wird angenommen, dass die am rechten und linken Otolithenorgan wirksamen Beschleunigungen in ihrer Intensität zwar gleich, jedoch in ihrer Richtung entgegengesetzt gerichtet sind, sodass die afferenten Informationen sich insgesamt aufheben. Im Gegensatz dazu kommt es bei einer lateralen Verschiebung des Probanden zu einer in Intensität und Richtung unterschiedlich wirkenden Beschleunigung. Im Idealfall führt die Verschiebung von etwa 3,5 cm zu einer alleinigen Abscherung der Zilien des exzentrisch gelegenen Organs (. Abb. 3.3 rechts, links). Bei einer einseitigen Prüfung der Otolithenorgane wird dementsprechend der Proband lateral verschoben, sodass jeweils ein Labyrinth in der Rotationsachse liegt. Damit wirkt die Zentrifugalkraft allein auf das »äußere« Otolithenorgan. Dieses Paradigma wird als unilaterales Zentrifugieren bezeichnet (engl.=unilateral centrifugation
[UC]). Es wurde von Wetzig und Mitarbeitern (1992) zum ersten Mal beschrieben und später verfeinert (Clarke et al. 1996, Clarke u. Engelhorn 1998). Als Indikator der Otolithenfunktion werden der OOR und die Bestimmung der subjektiven visuellen Vertikalen (SVV) beim unilateralen Zentrifugieren untersucht (Clarke et al. 2001, 2003). Die Bestimmung der SVV beim unilateralen Zentrifugieren erlaubt eine nahezu seitengetrennte Funktionsprüfung des Utrikulus (. Abb. 3.3 links, rechts). Bei einer unilateralen Funktionsstörung des Utrikulus ist bereits eine zentrische Rotation (. Abb. 3.3 mitte) ausreichend, um durch die an beiden Labyrinthen entgegengerichteten Kräfte eine deutliche Neigungsempfindung zur gesunden Seite hin auszulösen. Erkennbar für den Untersucher wird diese Neigungsempfindung durch die damit verbundene Änderung der SVV. Bei der Bestimmung der SVV richtet der Patient in Dunkelheit eine vor seinen Kopf montierte, um die nasookzipitale Achse drehbare, leuchtende Linie entsprechend seiner subjektiv empfundenen Vertikalen aus. Als Messgröße (SVV-Winkel) dient der Winkel zwischen der
. Abb. 3.3. Wirkung der Beschleunigungskräfte auf die Labyrinthe bei zentrischer und minimal exzentrischer Rotation (d. h. unilaterales Zentrifugieren). Bei einer Drehgeschwindigkeit um die z-Achse von z. B. 300 Grad/s und ei-
nem effektiven Radius von 7 cm (bei einer Lateralverschiebung um 3,5 cm) entsteht auf das exzentrische Labyrinth eine Kippung des gravitoinertialen Vektors um 11 Grad. Dies führt zu einer deutlichen Kippempfindung
28
3
Kapitel 3 · Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik
Körperachse und der Leuchtlinie, die die empfundene Vertikale wiederspiegelt. Bei Normalpersonen entspricht dieser SVV-Winkel bei Kippungen bis etwa 30 Grad ungefähr dem realen Kippwinkel. Das gleiche gilt für die unilaterale Zentrifugation (. Abb. 3.4).
Seit einigen Jahren werden vestibulär evozierte myogene Potenziale (VEMP) als Indikator der
Sakkulusfunktion ausgewertet (Colebatch 2001). Das Phänomen wurde als erstes von Bickford und Mitarbeitern (1964) und später von Townsend und Cody (1971) berichtet, bevor die klinische Relevanz als Sakkulusprüfung von Colebatch und Mitarbeitern (1994) erkannt und ausgearbeitet wurde. Die VEMP lassen sich durch gemittelte EMG-Ableitung vom M. sternocleidomastoideus seitengetrennt gewinnen (EMG = Elektromyographie). Normalerweise besteht die Reizung aus akustischen Klicks (typischerweise 5/s, n=150, 95– 110 dB nHL), die monaural appliziert werden.
. Abb. 3.4. Gegenüberstellung des Prinzips der Schätzung der subjektiven visuellen Vertikalen (SVV) a bei Kip-
pung (obere Reihe), b bei unilateralem Zentrifugieren (untere Reihe)
3.3.3 Funktionsprüfung des Sakkulus
29 3.4 · Klinik der Otolithenorgane
3.4
3
Klinik der Otolithenorgane
Dass die Potenziale primär vom Sakkulus generiert werden, wurde von Murofishi und Mitarbeitern (1995) am Meerschweinchen bestätigt. Die Neuronenbahn wurde anschließend von Uchino und Mitarbeitern (1996) in der Katze untersucht und beschrieben. Inzwischen konnte intraoperativ die neurale Verbindung vom inferioren Teil des vestibulären Nerven zum M. sternocleidomastoideus am Menschen bestätigt werden (Basta et al. 2005). Colebatch und Mitarbeiter (1994) beschreiben 4 Hauptkomponenten der gemittelten Potenziale: nämlich p13, n23, n34 and p44 (. Abb. 3.5). Ihnen zufolge stellt bei normalen Versuchspersonen die p13-n23-Komponente eine ipsilaterale, dagegen die n34-p44-Komponente eine bilaterale Antwort dar. Bei Patienten mit bilateraler sensorineuraler Taubheit konnte die p13-n23-Komponente ausgelöst werden, wohingegen die n34-p44Antwort fehlte. Auf der anderen Seite fehlte die p13-n23-Komponente bei Patienten mit ipsilateral vestibulärem Ausfall. Zwischenzeitlich sind diese Befunde von zahlreichen anderen Gruppen bestätigt worden (z. B. Ferber-Viart et al. 1997, Heide et al. 1999, Todd et al. 2000, de Waele et al. 2001).
Die Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP) stellt eine klinisch einfach verfügbare Methode zur seitengetrennten Funktionsprüfung der Macula sacculi dar. Seit der Einführung der VEMP durch Colebatch und Mitarbeiter sind zahlreiche klinische Publikationen zur Pathologie des Sakkulus erschienen (Colebatch et al. 1994). Von klinischer Relevanz ist vor allem die Verbesserung der Topodiagnostik bei Erkrankungen des N. vestibularis. Durch seine Teilung in eine Pars superior und eine Pars inferior bietet die Untersuchung des Sakkulus durch die VEMP eine seitengetrennte Funktionsprüfung der Pars inferior (Hamann u. Haarfeldt 2006). Es sind zahlreiche Arbeiten erschienen, die auf eine Beteiligung des Sakkulus bei periphervestibulären Erkrankungen hindeuten. Einen Überblick bietet die Arbeit von Welgampola und Colebatch (2005), in der Funktionsstörungen des Sakkulus bei der Neuropathia vestibularis, der Menière-Krankheit, der bilateralen Vestibulopa-
. Abb. 3.5. Beispiel der gemittelten EMG Antwort von einer gesunden Versuchsperson. Ableitung über Oberflächenelektroden von den Mm. sternocleidomastoidei
(SCM). Von primärem Interesse ist die p13-n23-Komponente. Während der Reizung hebt der liegende Proband den Kopf, um die Halsmuskeln anzuspannen.
3.4.1 Funktionsstörungen
des Sakkulus
30
3
Kapitel 3 · Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik
thie und dem Akustikusneurinom beschrieben werden. Bei allen Erkrankungen ist die Beteiligung des Sakkulus geeignet, das Ausmaß der Funktionsstörung genau zu erfassen. Dennoch ist es bisher nicht gelungen, eine spezifische, ausschließlich dem Sakkulus zugeordnete klinische Symptomatik zu beschreiben. Dieses wird möglicherweise in Zukunft gelingen, wenn neben den VEMP zusätzliche Funktionsprüfungen des Utrikulus in der Klinik zur Verfügung stehen.
3.4.2 Funktionsstörungen
des Utrikulus Während Funktionsstörungen des Sakkulus mit der klinischen Einführung der VEMP relativ einfach zu erkennen sind, ist die Funktionsprüfung des Utrikulus deutlich aufwendiger (7 Kap. 3.3.2). Aus diesem Grund sind bisher nur wenige klinische Studien zur Utrikulusläsion erschienen. Folgt man der Vorstellung, dass es sich bei der Neuronitis vestibularis bevorzugt um eine virale Schädigung der Pars superior des N. vestibularis handelt, muss man jedoch von einer häufigen Läsion ausgehen. Diese wäre sowohl als kombinierte Schädigung von lateralem Bogengang und Utrikulus, als auch als isolierte Funktionsstörung des Utrikulus denkbar. Erste Fallberichte zur isolierten Utrikulusläsion zeigen, dass das akute Krankheitsbild im Wesentlichen durch Schwankschwindel gekennzeichnet zu sein scheint (Clarke et al. 2003). Dargestellt wurde das Krankheitsbild von 2 Patienten, die sich mit isoliertem Schwankschwindel in der Klinik vorstellten. Bei einem Fall handelte es sich um eine akute Symptomatik, im zweiten um eine einjährige Krankheitsgeschichte. Die initial durchgeführte neurootologische Abklärung ergab jeweils eine seitengleiche kalorische Erregbarkeit in der Eletronystagmographie und symmetrische Tongehörkurven. Es fanden sich zum Untersuchungszeitpunkt keine Auffälligkeiten der Lageund Lagerungsprüfung. Auch die Ableitung der
VEMP zeigte jeweils beiderseitige Normalbefunde. Erst durch die Bestimmung der SVV bei unilateraler Zentrifugation konnte in beiden Fällen eine einseitige Utrikulusläsion als Ursache des Schwindels dokumentiert werden. Ein ähnliches Bild zeigen Befunde zur Verlaufskontrolle der vestibulären Kompensation nach Vestibularisausfall. Bei Patienten mit einseitigem Labyrinthausfall lässt sich mit dem neuen Paradigma der unilateralen Zentrifugation über mehrere Monate nach dem Ausfall ein Defizit der Otolithenfunktion im erkrankten Labyrinth feststellen. Hingegen weisen das subjektive Befinden und auch die SVV bei beidseitiger Prüfung meist schon einen Normalbefund auf (. Abb. 3.6). Die Ergebnisse in . Abb. 3.6 zeigen, dass bei bilateraler Prüfung bereits nach 4 Wochen ein Normalbefund zu vermuten wäre. Dagegen zeigt die unilaterale Prüfung das fortbestehende Defizit des Labyrinths in Form der vom Normalbereich signifikant abweichenden SVV-Winkel. Die Ergebnisse belegen, dass trotz bleibender peripherer Dysfunktion des erkrankten Labyrinths eine effektive Kompensation durch die Adaptationsfähigkeit des zentral-vestibulären Systems zu erreichen ist. Wie häufig die isolierte Funktionsstörung des Utrikulus als Ursache von peripher-vestibulärem Schwankschwindel zu erwarten ist, kann bisher nur grob abgeschätzt werden. Bei einer Untersu-
. Abb. 3.6. Verlaufsmessung der subjektiven visuellen Vertikalen einer Patientin (56 Jahre) nach einem linksseitigen Labyrinthausfall mit begleitendem Schaden des Utrikulus
31 3.4 · Klinik der Otolithenorgane
chung von 201 Patienten mit gleichzeitiger Funktionsprüfung der Utrikuli durch Bestimmung der SVV unter zentrischer Zentrifugation und gleichzeitiger Prüfung der kalorischen Erregbarkeit zeigten 108 Patienten eine symmetrische Reizantwort bei der thermischen Prüfung. In dieser Gruppe fanden sich relativ gleichmäßig verteilt Patienten mit Schwank- oder Drehschwindel. Bei 48 Patienten konnte eine pathologische SVV als Ausdruck eines einseitigen Utrikulusschadens gefunden werden. Das heißt, dass knapp ein Viertel aller Patienten unabhängig von ihrer Schwindelart einen Schaden im Bereich des Utrikulus aufwiesen (Helling et al. 2006). In der gleichen Untersuchung konnte ein hoher Anteil mit kombinierten Schädigungen von Bogengang und Utrikulus gefunden werden. So wiesen 38 von 70 Patienten (54%) mit einer kalorischen Untererregbarkeit und 13 von 23 Patienten (57%) mit fehlender kalorischer Erregbarkeit einen Utrikulusschaden auf. Somit muss man im klinischen Alltag in mehr der als Hälfte der Fälle mit einer Beteiligung des Utrikulus im Rahmen einer Neuropathia vestibularis rechnen. Diese hohe Anzahl kombinierter Funktionsstörungen passt gut zur Vorstellung der gemeinsamen Innervation durch die Pars superior des N. vestibularis. Leider ist der Zusammenhang der Schwindelbeschwerden (Drehen versus Schwanken) und der Lokalisation einer peripher-vestibulären Läsion weit weniger offensichtlich. Während die beiden anfangs genannten Fallbeispiele aufgrund ihrer Anamnese zur zielgerichteten Diagnostik führten, ist dieses sonst nicht der Fall. Erwarten würde man, dass Utrikulusschäden zu Schwankschwindel und Bogengangsläsionen zu Drehschwindel führen. Betrachtet man die Anamnese unabhängig von der Erkrankungsdauer trifft das aber nicht zwingend zu. So gaben bei der oben genannten Untersuchung nur 54% der Patienten mit einer Utrikulusläsion Schwankschwindel an. Umgekehrt litten nur 50% der Patienten mit einer kalorischen Untererregbarkeit vornehmlich unter Drehschwindel (Helling et al. 2006).
3
Diese Erkenntnisse werden in naher Zukunft erheblichen Einfluss auf die Notwendigkeiten bei der otoneurologischen Diagnostik haben. Insbesondere in der gutachterlichen Bewertung von peripher-vestibulären Erkrankungen muss die Funktionsprüfung der Otolithenorgane Berücksichtigung finden.
3.4.3 Tumarkin-Krise Tumarkin-Krisen sind relativ selten vorkommende Sturzattacken, die gehäuft bei Patienten mit Menière-Krankheit vorkommen. Typisch ist ein plötzlicher, unabwendbarer Sturz ohne jedes Vorzeichen, weshalb es nicht selten zu Verletzungen kommt. Die Patienten erleben den Sturz im Gegensatz zur kardialen Synkope bei vollem Bewusstsein und können sich meist direkt nach einem Anfall wieder aufrichten. Die Ursache von Tumarkin-Krisen wird in einer plötzlichen Schwankung des endolymphatischen Drucks in den Otolithenorganen gesehen. Durch diesen unphysiologischen Reiz kommt es wahrscheinlich über vestibulospinale Bahnen zu einem Tonusverlust mit konsekutivem Sturz. Ein gehäuftes Fehlen der VEMP bzw. eine erhöhte Schwelle bei der Auslösung sprechen für eine mögliche Beteiligung des Sakkulus (Timmer et al. 2006). Allerdings zeigt sich bei der MenièreKrankheit insgesamt eine hohe Schädigungsrate des Sakkulus im Verlauf der Erkrankung (Welgampola et al. 2005), sodass man bei der sehr geringen Zahl der beschriebenen Patienten mit Tumarkin-Krisen keine spezifische sakkuläre Genese annehmen darf. Untersuchungen zur Beteiligung des Utrikulus liegen bisher in der Literatur nicht vor. Bei Tumarkin-Krisen lassen sich wie bei der Menière-Krankheit gute Therapierfolge durch intratympanale Gabe von Gentamicin erzielen. Die Wirksamkeit von Gentamicin zur Ausschaltung der Otolithenorgane durch intratympanale Applikation wurde durch prospektive Untersuchungen
32
3
Kapitel 3 · Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik
belegt (Helling et al. 2007). Durch selektive Funktionsprüfungen der labyrinthären Substrukturen unter Therapie konnte belegt werden, dass es neben dem Ausfall der Bogengangsfunktion immer zum Ausfall der Sakkulusfunktion und meist auch zum Verlust der Utrikulusfunktion kommt.
3.4.4 Benigner paroxysmaler
Lagerungsschwindel Der dem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel (BPLS) zugrunde liegende Pathomechanismus ist in frei beweglichen Otolithen, meist im hinteren Bogengang, zu sehen. Hierdurch kommt es zu einer Sensitivität des betroffenen Bogengangs für Gravitation bzw. Lageänderungen. Aus anatomischen Überlegungen heraus müssen diese Otolithen dem Utrikulus entstammen, weil ein Transport der Otolithen über den Ductus utriculosaccularis und die Enge der utrikuloendolymphatischen Klappe unmöglich erscheint. Insofern haben Untersuchungen über Zusammenhänge des BPLS und der Sakkulusfunktion nur eine geringe klinische Bedeutung. Klinisch ist bei vielen Patienten zusätzlich zur typischen Symptomatik des BPLS, insbesondere aber nach einem Repositionsmanöver, ein unsystematischer Schwindel zu beobachten. Dieser ist möglicherweiser Ausdruck der vorübergehenden reduzierten Otolithenfunktion durch die partielle Ablösung von Otolithen. Gestützt wird die Richtigkeit dieser Annahme durch Untersuchungen von Brevern und Mitarbeitern, die erstmals eine seitenbezogene Reduktion des Gain des otolithokulären Reflexes zeigen konnten (Brevern et al. 2006).
3.4.5 Bewegungskrankheit Die genauen Ursachen für die Entstehung der Bewegungskrankheit bzw. der Kinetose sind bisher nicht endgültig geklärt. Die wesentliche Rolle der
Vestibularorgane ist allerdings unbestritten, weil ein beidseitiger Ausfall vollkommen unempfindlich gegenüber Kinetosereizen macht. Eine besonders starke Provokation stellen Coriolis-Effekte dar, bei der lineare Bewegungen, z. B. Kopfheben und –senken, unter gleichzeitiger Rotation um die Vertikale erfolgen. Eine ähnlich starke Provokation entsteht bei der Schrägachsenrotation (7 Kap. 3.3.1). Bei beiden Provokationen findet die simultane – aber widersinnige – Reizung von Otolithenorganen und Bogengängen statt. Neuere Arbeiten weisen auf eine wesentliche Interaktion zwischen Otolithen- und Bogengangsafferenzen im Bereich des Vestibulozerebellums (Nodulus und Uvula) hin. So konnte gezeigt werden, dass durch wiederholte Kinetoseprovokation die Zeitkonstante des Velocity Storage abnahm, während gleichzeitig die Toleranz gegenüber der Provokation zunahm (Bos u. Bles 1998, Cohen et al. 2003, Dai et al. 2003). Eine wesentliche Erklärung für die Entstehung einer Kinetose ist die Sinneskonflikthypothese, wobei die Otolithenorgane eine wichtige Rolle spielen. Aufgrund widersprüchlicher Afferenzen werden vermehrt Neurotransmitter ausgeschüttet, die eine Aktivierung des Brechzentrums auslösen. Parallel dazu setzen Adaptationsmechanismen ein, um eine Anpassung an die neue Sinneskonstellation zu bewirken. Nimmt man Seekrankheit als Beispiel, so leidet die Mehrzahl der Schiffsreisenden besonders während der ersten Tage. In dieser Zeit läuft eine Sinnesadaptation an die veränderten Umgebungsbedingungen ab. Während auf festem Boden die Schwerkraft ursprünglich eine feste Referenz bildet, ändert sich auf See die Körperposition relativ zum Schwerkraftvektor ständig mit den Schiffsbewegungen. Infolgedessen melden die Gravizeptoren des Innenohrorgans ungewohnte Informationen an das Gleichgewichtskerngebiet und es kommt zur Kinetose. Umgekehrt, wie der Begriff »mal de debarquement« im Französischen andeutet, tritt nach Rückkehr auf festen Boden ein reziproker Effekt auf. Diese Fähigkeit zur Adaptation
33 Literatur
spielt ebenso eine wichtige Rolle bei der Erholung nach einer peripher-vestibulären Läsion oder der Durchtrennung des N. vestibularis. Wenn man so will, ist der Sinneskonflikt die treibende Kraft bei der überlebensnotwendigen Sinnesadaptation. Darüber hinaus ist es bis heute nicht sicher erklärbar, worin die individuell sehr unterschiedliche Empfindlichkeit gegenüber Kinetosereizen begründet liegt. Nach der Otolithenasymmetriehypothese wird postuliert, dass eine unterschiedliche Masse der Otokonien zwischen der rechten und linken Seite besteht, woraus eine seitendifferente Reizwahrnehmung unter Beschleunigungsreizen entstehen würde. Diese Differenz wäre unter physiologischen Beschleunigungen im Alltag leicht zentral kompensierbar, nicht aber bei Kinetoseprovokation. Experimente an Fischen stützen die Annahme, dass eine große Seitendifferenz der Otolithenmassen im Utrikulus eine erhöhte Sensitivität für Kinetosen bedeutet (Helling et al. 2003).
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Kapitel 3 · Otolithenfunktion: Vernachlässigtes Element in Praxis und Klinik
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3
4 Der gutartige Lagerungsschwindel: Diagnostik und Therapie K.-F. Hamann
4.1
Ätiologie – 39
4.2
Pathophysiologie
4.3
Anamnese
4.4
Untersuchungsbefunde
– 39
– 40 – 40
4.4.1 Befall des hinteren vertikalen Bogengangs – 40 4.4.2 Untersuchung des horizontalen Bogengangs – 41 4.4.3 Untersuchung des vorderen vertikalen Bogengangs
4.5
Therapie
– 41
– 41
4.5.1 Befreiungsmanöver für den hinteren vertikalen Bogengang nach Semont – 42 4.5.2 Befreiungsmanöver für den hinteren vertikalen Bogengang nach Epley – 42 4.5.3 Befreiungsmanöver für den horizontalen Bogengang – 42 4.5.4 Lagerungstraining nach Brandt und Daroff – 43 4.5.5 Ergebnisse – 44 4.5.6 Beidseitige Canalolithiasis – 45
4.6
Rezidive
– 45
Literatur
– 45
38
4
Kapitel 4 · Der gutartige Lagerungsschwindel: Diagnostik und Therapie
Die Erstbeschreibung des gutartigen Lagerungsschwindels wird Bárány zugeschrieben [2]. Er charakterisierte das typische Auftreten von kurzen, sekundenlangen Schwindelattacken, die durch Kopfbewegungen ausgelöst werden. Eine weitere Charakterisierung erfolgte durch Dix und Hallpike [6]. Bis in die 60-er-Jahre hinein wurden Endolymphverschiebungen für dieses Krankheitsbild verantwortlich gemacht. Die erste pathophysiologisch begründete Hypothese, die sich auf histologische Befunde bezog, wurde 1969 von Schuknecht [20] entwickelt. Er hatte in Felsenbeinen von 2 Patienten, die zu Lebzeiten an einem gutartigen Lagerungsschwindel gelitten hatten,
a . Abb. 4.1. Schematische Darstellung der Cupulolithiasis und der Canalolithiasis. a Bei der Cupulolithiasis hängen Otolithen fest an der Cupula. b Bei der Canalolithiasis
anorganisches Material (engl.=debris) an der Bogengangscupula identifiziert. Er schloss daraus, dass es sich um Otolithenpartikel handeln müsse und prägte den Begriff Cupulolithiasis. Schuknecht [20] nahm an, dass es bei Kopfbewegungen durch die größere Masse an der Cupula zu einer stärkeren Auslenkung der Cupula und damit zu einer stärkeren Erregung kommen müsse, die von Patienten als kurze Drehschwindelattacke empfunden wird (. Abb. 4.1). Er selbst aber war der erste, der auf gewisse durch seine Hypothese unerklärliche Phänomene des Lagerungsschwindels hinwies. Vor allem konnte er den Zeitverlauf und die Richtung des Nystagmus nicht erklären.
b flottieren die Otolithen frei in der Endolymphe des Bogengangs
39 4.2 · Pathophysiologie
Erst als die Hypothese der »Canalolithiasis« von Parnes und McClure [18] formuliert wurde, konnten alle bekannten Phänomene des gutartigen Lagerungsschwindels erklärt werden. Nach diesen Vorstellungen liegen die Otolithenpartikel nicht direkt der Cupula an, sondern im freien Lumen des Endolymphschlauches des betroffenen Bogengangskanals (. Abb. 4.1). Durch die zusätzlich vorhandene Masse führen dann Kopfbewegungen zu einer verstärkten Endolymphströmung. Diese Anschauungen [12, 23] wurden durch intraoperative Beobachtungen von Parnes und McClure unterstützt [19]. Sie fanden nach Abschleifen der knöchernen Bogengangswand frei flottierende Partikel auf (engl.=free floating particles). Den endgültigen Beweis für die Canalolithiasishypothese lieferten Welling und Mitarbeiter [24]. Sie konnten bei einer Labyrinthdestruktion diese frei flottierenden Partikel asservieren und elektronenmikroskopisch untersuchen. Nach diesen so gewonnenen Bildern handelt es sich um degenerierte Otolithen. Durch die Anwesenheit von Otolithen in einem bestimmten Bogengang lassen sich nun Voraussagen machen über den zu erwartenden Nystagmus, wenn der befallene Bogengang in die Drehebene gebracht und gereizt wird. Denn jeder Bogengang, für sich alleine gereizt, bewirkt eine bestimmte Augenbewegung [22]. Damit wird auch klinisch der Beweis für die Richtigkeit der Canalolithiasishypothese erbracht. Auf diesen Gesetzmäßigkeiten baut die Diagnostik zur Feststellung des betroffenen Bogengangs auf.
4.1
Ätiologie
Da die Annahme einer Canalolithiasis als pathophysiologisches Korrelat des gutartigen Lagerungsschwindels allgemein anerkannt ist, stellt sich die Frage, durch welche Vorgänge Otolithen aus der Otolithenmembran freigesetzt werden. Eine wichtige Ätiologie besteht in einer Gewaltein-
4
wirkung, wie sie nach Schädel-Hirn-Traumen festgestellt wird. Sie sind meist anamnestisch zu erfahren. Dass ein Trauma schon längere Zeit zurückliegt, spricht nicht gegen diese Genese, da man bedenken muss, dass sich die Otolithen zunächst einmal in den Bogengängen ablagern müssen. Auffallend ist, dass die Canalolithiasis sehr häufig im höheren Lebensalter auftritt – der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel gilt als der häufigste Schwindel im höheren Lebensalter. Dabei muss eine Gewalteinwirkung nicht vorausgegangen sein. Für diese Fälle nimmt man an, dass degenerative Prozesse in der Otolithenmembran dazu führen, dass deren Haltefunktion gemindert wird, sich randständige Otolithen aus ihrer Verankerung lösen und so in die Endolymphe des Bogengangsystems gelangen. Dabei muss immer bedacht werden, dass es sich um ein System kommunizierender Röhren handelt. Ein anderer Gesichtspunkt gewinnt Bedeutung durch eine Kombination von benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel und einer Neuritis vestibularis, dem Lindsay-HemenwaySyndrom [16]. Diese Kombination zweier Krankheitsbilder setzt voraus, dass der untere Ast des Vestibularnerven nicht von der Neuritis betroffen ist, da sonst krankhafte Signale vom hinteren vertikalen Bogengang nicht zu den Zentren gelangen könnten. Es stellt sich die Frage, ob es sich um ein zufälliges Zusammentreffen handelt oder ob ein gemeinsames pathologisches Prinzip zur Canalolithiasis einerseits und zur Neuritis andererseits führt. Für die letzte Hypothese spricht, dass das Lindsay-Hemenway-Syndrom nicht selten ist. Die traumatische Genese ist am besten gesichert, die Altersdegenerationshypothese ist wahrscheinlich und für die entzündliche Genese bleiben noch viele Fragen offen.
4.2
Pathophysiologie
Wegen der als sicher anzunehmenden Canalolithiasishypothese ist es möglich, Voraussagen über
40
4
Kapitel 4 · Der gutartige Lagerungsschwindel: Diagnostik und Therapie
das Auftreten, den Verlauf und die objektiv feststellbaren Symptome beim gutartigen Lagerungsschwindel zu machen. So lässt sich damit die Latenz zwischen Kopfbewegung und Auftreten der Schwindelbeschwerden und auch die Dauer des Schwindels nach der Kopfbewegung erklären. Die Cupula selbst besitzt eine Zeitkonstante, innerhalb derer sie sich nach der Reizung wieder in die Ruheposition zurück bewegt. Diese Zeitkonstante beträgt etwa 20 Sekunden und deckt sich mit den klinischen Angaben der Patienten [10]. Am interessantesten ist jedoch die Möglichkeit, über die Form und die Richtung des Nystagmus Rückschlüsse auf den befallenen Bogengang zu ziehen. Aus Versuchen von Suzuki und Mitarbeitern an Katzen ist bekannt, welcher Bogengang welche Augenbewegung auslöst [22]. Je nach bei der Lagerung auftretender Augenbewegung kann also auf den befallenen Bogengang rückgeschlossen und daraus das geeignete Behandlungsprogramm abgeleitet werden.
4.3
Anamnese
Die Beschwerden beim gutartigen paroxysmalen Lagerungsschwindel sind so typisch, dass in vielen Fällen schon mit hoher Sicherheit auf die Erkrankung geschlossen werden kann. Die Patienten klagen über sehr kurze, für Sekunden anhaltende Drehschwindelattacken, die nur im Zusammenhang mit Kopfbewegungen auftreten. In vielen Fällen kann der Patient sogar angeben, durch welche Kopfbewegungen der Schwindel ausgelöst wird. Nicht selten wird berichtet, dass der Schwindel bei Kopfdrehungen im Bett, also auch während des Schlafes, auftritt und zum Erwachen führt. Sehr häufig, gerade bei jüngeren Menschen, findet man in der Anamnese ein Schädel-HirnTrauma. Hervorzuheben ist, dass der zeitliche Abstand zwischen einem Unfallereignis und dem Auftreten eines Schwindels Monate oder sogar Jahre betragen kann.
4.4
Untersuchungsbefunde
Das Untersuchungsprogramm ist darauf ausgerichtet, den von einer Canalolithiasis befallenen Bogengang zu identifizieren. Dies erreicht man dadurch, dass der fraglich befallene Bogengang in die Drehebene gebracht wird und nach einer durch gezielte Lagerung induzierten Augenbewegung gefahndet wird. Das bedeutet also, dass versucht wird, möglichst jeden der sechs Bogengänge, die von einer Canalolithiasis betroffen sein können, getrennt zu untersuchen.
4.4.1 Befall des hinteren vertikalen
Bogengangs Ziel der Prüfung ist es zunächst, den zu untersuchenden Bogengang selektiv in die Drehebene zu bringen. Dies gelingt für den hinteren vertikalen Bogengang, wenn man den Kopf des Patienten in sitzender Position um 45 Grad von der zu untersuchenden Seite wegdreht. Dann wird der Oberkörper schnell in die Seitlage gebracht, wobei die Kopfposition und die Halswirbelsäule unverändert bleiben. Beim Vorliegen einer Canalolithiasis setzt nach einer kurzen Latenz von etwa 3–10 Sekunden, nur in Ausnahmefällen etwas später, ein geotroper, also zum unten liegenden Ohr gerichteter, horizontal rotierender, heftiger Nystagmus ein (. Abb. 4.2). Er hält mehrere Sekunden an, 30 Sekunden werden nur selten überschritten, und nimmt an Intensität schnell ab. Die Zeitdauer eines Lagenystagmus (2 Minuten) erreicht er nie. Bringt man den Patienten danach wieder in die aufrechte Position, der Kopf bleibt dabei um 45 Grad gedreht, sollte sich im typischen Fall einer Canalolithiasis die Nystagmusrichtung ändern. Der Nystagmus schlägt dann also ageotrop (zum ehemals oben liegenden Ohr), wiederum horizontal rotierend. Auch dieser Nystagmus tritt mit einer Latenz von einigen Sekunden auf und hält im Allgemeinen nicht länger als 30 Sekunden an.
41 4.5 · Therapie
4
. Abb. 4.2. Lagerungsprüfung bei Verdacht auf Canalolithiasis im linken hinteren vertikalen Bogengang. Der Kopf ist um 45 Grad nach rechts gedreht, Kopf und Oberkörper werden mit Schwung auf die linke Körperseite gelagert. Liegt eine Canalolithiasis im linken hinteren Bogengang vor, tritt ein geotrop schlagender, horizontal rotierender Nystagmus auf
Beispiel: Zur Untersuchung des linken hinteren vertikalen Bogengangs wird der Kopf 45 Grad nach rechts gedreht, der Oberkörper nach links gelagert, bei positivem Ausfall ist ein linksschlagender Nystagmus mit rotierender Komponente unter der Frenzelbrille erkennbar (. Abb. 4.2).
4.4.2 Untersuchung des horizontalen
Bogengangs Auch hier wird versucht, den horizontalen Bogengang in die Drehebene zu bringen. Die Untersuchung beginnt in Rückenlage des Patienten. Dann wird der Kopf zunächst um 90 Grad nach links gelagert. Als positiver Nachweis gilt ein geotroper, also zum unten liegenden Ohr gerichteter, rein horizontal schlagender Nystagmus. Auch hier ist die typische Latenz und Dauer zu erwarten. In Ausnahmefällen hält der Lagerungsnystagmus des horizontalen Bogengangs deutlich länger als 30 Sekunden an. In vielen Fällen ist es schwer, die Seite des betroffenen horizontalen Bogengangs zu identifizieren, da in der Drehposition beide horizontalen Bogengänge, die in einer Ebene liegen, gereizt werden. Dann bezieht man sich auf die
Seite, bei der die Nystagmusreaktion am stärksten ausfällt.
4.4.3 Untersuchung des vorderen
vertikalen Bogengangs Die Untersuchung eines vorderen vertikalen Bogengangs geschieht grundsätzlich wie die eines hinteren vertikalen Bogengangs. In der in 7 Kap. 4.4.1 geschilderten Lagerung steht der vordere vertikale Bogengang der Gegenseite ebenfalls in der Drehebene. Allerdings, und dies dient dann als Unterscheidungsmerkmal, schlägt bei einer Canalolithiasis des anterioren Bogengangs der Nystagmus in entgegengesetzte Richtung. Es sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dass eine Canalolithiasis eines vorderen vertikalen Bogengangs extrem selten ist. Die Häufigkeit wird auf höchstens 1% bei allen Patienten mit Lagerungsschwindel geschätzt [1].
4.5
Therapie
Da dem gutartigen paroxysmalen Lagerungsschwindel eine Canalolithiasis, nur in Ausnahme-
42
4
Kapitel 4 · Der gutartige Lagerungsschwindel: Diagnostik und Therapie
fällen eine Cupulolithiasis, in jedem Fall aber eine mechanische Ursache zugrunde liegt, sind die Behandlungsverfahren auf eine Beseitigung der Canalolithiasis bzw. Cupulolithiasis durch mechanische Maßnahmen ausgerichtet. Eine medikamentöse Therapie ist beim gutartigen Lagerungsschwindel nicht sinnvoll! Hauptsächlich werden in der Behandlung des gutartigen Lagerungsschwindels Befreiungsmanöver wie die nach Semont [21] oder nach Epley [7] oder ein Lagerungstraining nach Brandt und Daroff [3] eingesetzt.
folgt das Wiederaufrichten des Patienten in die sitzende Position, in der er mindestens 30 Minuten aufrecht verharren soll (. Abb. 4.3). Wie das von Brandt und Mitarbeitern entwickelte Schema [4] zeigt, wird immer versucht, die freien Otolithen an den tiefsten Punkt des Bogengangs absinken zu lassen, um sie dann durch entsprechende Umlagerung an die gewünschte Endposition, nämlich in die Nähe des Utriculus, zu bringen.
4.5.2 Befreiungsmanöver für den
hinteren vertikalen Bogengang nach Epley 4.5.1 Befreiungsmanöver für den
hinteren vertikalen Bogengang nach Semont Das auf Semont und Mitarbeiter [21] zurückgehende Befreiungsmanöver hat zum Ziel, durch eine möglichst ruckartige, aber gezielte Gewalteinwirkung auf den betroffenen Bogengang fixierte oder verirrte Otolithen zu lösen und durch Abfolge bestimmter Lagerungen an einen Ort im Vestibularorgan zu bringen, von wo aus keine krankhaften Erregungen ausgelöst werden können (. Abb. 4.3). Voraussetzung für eine erfolgreiche Durchführung eines Befreiungsmanövers ist die Kenntnis des betroffenen Bogengangs, damit das Befreiungsmanöver in der Drehebene des betroffenen Bogengangs angreifen kann. Für die Behandlung einer Canalolithiasis in einem der hinteren vertikalen Bogengänge wird der Kopf des Patienten wie bei der Untersuchung um 45 Grad von der zu befreienden Seite weggedreht und dann der Oberkörper heftig in die Seitlage gebracht. Nach einer Wartezeit von etwa 5 Minuten, in der die mobilisierten Otolithen an den tiefsten Punkt des Bogengangs absinken sollen, wird der Oberkörper – Kopf- und Halswirbelsäule bleiben wiederum unverändert – auf die Gegenseite in die Horizontale geschleudert. Erst nach einer Wartezeit von weiteren 5 Minuten er-
Epley [7] hat zur Beseitigung einer Canalolithiasis in einem hinteren vertikalen Bogengang ein Manöver angegeben, das weniger brüsk ist als das Befreiungsmanöver nach Semont, aber etwas komplizierter aufgebaut ist. Durch eine Abfolge von Rückenlage-Kopfdrehungen und schließlichem Wiederaufrichten wird letztlich derselbe Endzustand erreicht wie beim Befreiungsmanöver nach Semont. Am Beginn wird der Kopf des Patienten in sitzender Position um 45 Grad zu der betroffenen Seite gedreht, der Oberkörper dann durch Lagerung nach hinten in die Horizontale gebracht. Nach einer Wartezeit von 5 Minuten wird zunächst der Kopf zur Gegenseite gedreht, dann der Oberkörper nachgeholt. Schließlich richtet sich der Patient nach einer weiteren Wartezeit von 5 Minuten auf. Die freien Otolithen erreichen daher beim Manöver nach Epley dieselbe Endposition wie beim Manöver nach Semont.
4.5.3 Befreiungsmanöver für den
horizontalen Bogengang Für die Behandlung einer Canalolithiasis in einem horizontalen Bogengang, der zweithäufigsten Lokalisation, wird der betroffene Bogengang durch Einnehmen der Rückenlage in die Drehebene ge-
43 4.5 · Therapie
. Abb. 4.3. Schematische Darstellung der Abläufe beim Befreiungsmanöver nach Semont. Bei den verschiedenen Lagerungsabschnitten verlagert sich der Otolithen-Clot
jeweils, um schließlich utrikelnah liegen zu bleiben (aus [4]). A = anterior, P = posterior, H = horizontal, UT = utricular, Cup = Cupula
stellt. Durch Drehen um die Z-Achse, die vertikale Kopfmittelachse, erfolgt die Lösung und Verlagerung der Otolithen aus dem horizontalen Bogengang heraus [17]. Dieses von Lempert [15] als »barbecue-rotation« bezeichnete Manöver wird bis zu einer Drehung von 270 Grad vorgenommen. Die einzelnen Schritte erfolgen jeweils um 90 Grad mit 30 Sekunden Pause in jeder Position. Gedreht wird in Richtung zur gesunden Seite.
4.5.4 Lagerungstraining nach
4
Brandt und Daroff Die genannten Befreiungsmanöver sind als akute Behandlungsmaßnahmen, die vom Arzt selbst oder einem ausgebildeten Physiotherapeuten durchgeführt werden können, konzipiert worden. Da nicht selten heftige vegetative Begleitreaktionen wie Schwindel, Erbrechen oder Stuhlab-
44
4
Kapitel 4 · Der gutartige Lagerungsschwindel: Diagnostik und Therapie
gang auftreten können, sollten die Befreiungsmanöver, zumindest am Anfang, unter ärztlicher Aufsicht erfolgen. Das Lagerungstraining nach Brandt und Daroff [3] kann vom Patienten auch allein zu Hause durch- und weitergeführt werden. Bei diesem Lagerungstraining wird keiner der Bogengänge in seine spezifische Drehebene gestellt (. Abb. 4.4). Dadurch wird eine extreme Reizung eines Bogengangs vermieden. Der Vorteil besteht darin, dass bei diesem Lagerungsvorgang alle Bogengänge mit ihrem Inhalt bewegt werden. Damit ist dieses Training bei allen Formen des gutartigen Lagerungsschwindels einsetzbar.
Durchführung Am Beginn des Lagerungstrainings sitzt der Patient aufrecht auf einer Liege, den Kopf geradeaus gerichtet. Dann legt er sich zunächst auf eine Seite, ohne den Kopf oder die Halswirbelsäule in ihrer Position zu verändern. Er verharrt in dieser Lage 30 Sekunden. Anschließend kehrt er in die sitzende Position für 30 Sekunden zurück, um sich dann auf die andere Seite für 30 Sekunden zu legen (. Abb. 4.4). Nach Rückkehr zum Sitzen und Verbleib für weitere 30 Sekunden im Sitzen beginnt der Ablauf der Lagerungen von neuem. Insgesamt soll jede liegende Position 5-mal eingenommen werden. Diese Übung kann 3-mal täglich wiederholt werden und soll 14 Tage lang durchgeführt werden. Die Erfolge durch das Lagerungstraining erreichen für den gutartigen paroxysmalen Lagerungsschwindel 90% innerhalb von 2 Wochen [3].
4.5.5 Ergebnisse
. Abb. 4.4. Lagerungstraining nach Brandt und Daroff (aus [13]). Jede liegende Position wird 5-mal eingenommen
Die Ergebnisse der Befreiungsmanöver sind beim gutartigen paroxysmalen Lagerungsschwindel sehr gut. So gilt für eine Canalolithiasis des hinteren linken vertikalen Bogengangs, dass bereits in 70% der Fälle nach dem erstmalig durchgeführten Befreiungsmanöver Beschwerdefreiheit erreicht wird. In den anderen Fällen sind Wiederholungen nötig, die im Abstand von mehreren Stunden oder Tagen durchgeführt werden sollen. Insgesamt ist damit zu rechnen, dass nahezu alle Patienten mit einem gutartigen Lagerungsschwindel durch Befreiungsmanöver erfolgreich behandelt werden können. Nur in extrem seltenen Ausnahmefällen kommt eine chirurgische Therapie in Frage. Dann kann entweder ein »plugging« durchgeführt werden, ein Plombieren des betroffenen Bogengangs oder eine selektive Durchtrennung des Vestibularnerven, der den hinteren vertikalen Bogengang versorgt [8, 9].
45 Literatur
Wechsel des betroffenen Bogengangs Auch wenn die freien Otolithen bei einer Canalolithiasis sich in der weit größten Mehrzahl der Fälle in einem der hinteren Bogengänge ansammeln, so ist nicht ausgeschlossen, dass auch andere Bogengänge betroffen werden. Es kann sogar zu einem Wechsel des betroffenen Bogengangs kommen [11, 14]. So sind Fälle berichtet, bei denen während des Befreiungsmanövers, offensichtlich durch eine falsche Bewegung des Patienten, die freien Otolithen über das Crus commune im Bogengangsystem einen unerwünschten Weg, nämlich in einen anderen Bogengang hinein genommen haben. Meist kommt es dann zu einer Canalolithiasis des horizontalen Bogengangs derselben Seite. Klinisch auffällig wird dies dadurch, dass der Patient berichtet, dass die schwindelauslösende Kopfbewegung sich geändert habe. Eine systematische Lagerungsprüfung gibt rasch Aufklärung, ob es tatsächlich zu einem Wechsel des betroffenen Bogengangs gekommen ist oder nicht.
4.6
4
Rezidive
Bedingt durch die Tatsache, dass die freien Otolithen zwar aus dem befallenen Bogengang heraustransportiert werden können, aber letztlich nicht aufgelöst werden, ist mit einer relativ hohen Zahl von Rezidiven zu rechnen. In einer eigenen Untersuchung, bei der ein Beobachtungszeitraum von 2 Jahren bestand, betrug die Rezidivquote 15% [11]. In einer neueren Arbeit von Brandt und Mitarbeitern [5] zeigte sich nach einem Beobachtungszeitraum von 8 Jahren, dass etwa die Hälfte der Canalolithiasis-Patienten mit einem oder mehreren Rezidiven rechnen muss. Diese relativ hohe Zahl erstaunt letztlich nicht. Andererseits muss betont werden, dass es immer gelingt, auch ein Rezidiv durch ein erneutes Befreiungsmanöver erfolgreich zu behandeln. Wichtig ist, den Patienten schon am Beginn der Behandlung auf diese Problematik hinzuweisen, damit er im Fall eines Rezidivs möglichst rasch ein erneutes Befreiungsmanöver durchführen lässt.
4.5.6 Beidseitige Canalolithiasis
Literatur Besonders nach Schädel-Hirn-Traumen muss damit gerechnet werden, dass es in beiden Vestibularapparaten zu einer traumatisch bedingten Herauslösung von Otolithen gekommen ist [11]. Klinisch werden die Patienten dadurch auffällig, dass sie zwar nach einem Befreiungsmanöver über geringe Beschwerden berichten und dass bei einer Kontrolle tatsächlich kein Lagerungsnystagmus mehr in der ursprünglichen Provokationslagerung ausgelöst werden kann. Bei einer Prüfung der Gegenseite jedoch treten nun typische Lagerungsnystagmen auf. Für die Behandlung einer beidseitigen Canalolithiasis empfiehlt es sich, erst eine Seite vollständig zu befreien und dann die Gegenseite ebenfalls durch Befreiungsmanöver zu behandeln.
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46
4
Kapitel 4 · Der gutartige Lagerungsschwindel: Diagnostik und Therapie
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5 Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz J.H.J. Allum
5.1
Einleitung
5.2
Beobachtung eines Defizits der Gleichgewichtskontrolle im Stehen – 49
5.3
Beobachtung eines Defizits der Gleichgewichtskontrolle bei Gehbewegungen – 53
5.4
Der ältere sturzgefährdete Mensch Literatur
– 48
– 58
– 56
5
48
Kapitel 5 · Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz
5.1
Einleitung
Menschen, die an einem Defizit der Gleichgewichtskontrolle leiden, neigen eindeutig zu Stürzen. Ihr Defizit in Bezug auf die Gleichgewichtskontrolle kann das Ergebnis einer Vielzahl verschiedener sensorischer und zentraler Störungen sein. Diese Störungen können entweder einen einseitigen oder einen beidseitigen peripheren Vestibularisausfall beinhalten. Eine Störung des Gleichgewichts kann auch durch eine altersbedingte Abnahme der sensorischen oder motorischen Funktionsfähigkeit verursacht sein. Die Folgen sind jedoch ähnlich: ein Verlust des Gleichgewichts, ein schmerzhafter Sturz und womöglich hohe medizinische Folgekosten. Eine andere Situation liegt bei den Personen vor, die aus finanziellen oder psychologischen Gründen eine schlechte Gleichgewichtskontrolle vortäuschen. Diese »Patienten« stürzen nur selten. Bei all diesen Patientengruppen ist die Feststellung des Status der Gleichgewichtskontrolle beim Patienten eine wichtige klinische Aufgabe. Ihr wird allerdings nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie beispielsweise einem Hörverlust, was wahrscheinlich darin begründet ist, dass einfache Lösungen für schwere Defizite der Gleichgewichtskontrolle gegenwärtig nicht zur Verfügung stehen. Gleichgewichtskontrolle wird oftmals mit einer stabilen Haltungskontrolle im Stehen gleichgesetzt. Tatsächlich muss eine Person jedoch, wenn ein Sturz verhindert werden soll, sowohl beim Stillstehen als auch beim Umhergehen eine aufrechte Haltung beibehalten können, sei es auf einer ebenen Oberfläche, beim Gehen über Hindernisse oder beim Hinauf- und Hinuntergehen einer Treppe. Um das Gleichgewichtsdefizit einer Person korrekt einschätzen und dadurch Hilfsmaßnahmen ergreifen zu können, muss der HalsNasen-Ohren-Arzt fähig sein, Schwierigkeiten, die Patienten bei verschiedenen Steh- und Gehprüfungen zur Gleichgewichtskontrolle haben, wahrzunehmen.
Die Prüfungen, die dabei angewandt werden sollten, sind naheliegenderweise die Prüfungen, die – in Bezug auf die diagnostische Effizienz – am besten für den Patiententyp, dem sich der Facharzt gegenübersieht, geeignet sind. Dies bedeutet, dass der Facharzt die verschiedenen Steh- und Gehprüfungen kennen muss, die ihm eindeutige Informationen zur Art des Gleichgewichtsdefizits, das beim Patienten besteht, liefern. In dem vorliegenden Beitrag sollen diese Informationen vermittelt werden. Die Einschätzung der Fähigkeiten hinsichtlich der Gleichgewichtskontrolle kann als qualitative Einschätzung auf der Grundlage einer visuellen Beobachtung des Patienten erfolgen. Vorzugsweise bedeutet eine Beurteilung des Gleichgewichts eine quantitative Messung der Schwankung des Patienten beispielsweise mithilfe einer Schaumstoffunterlage, die einen Vergleich zwischen den Messwerten des Patienten und denen gesunder gleichaltriger Normalpersonen ermöglichen. Dies erlaubt auch einen leichten Vergleich der Ergebnisse der Patientenuntersuchungen zu verschiedenen Zeitpunkten, um feststellen zu können, ob eine Verbesserung der Gleichgewichtskontrolle erfolgt ist oder nicht. Die Prüfung, der sich der Patient unterzieht, sollte so gewählt werden, dass durch einfaches Beobachten erkennbar wird, ob bei dem Patienten ein instabiles Gleichgewicht besteht; simultan kann diese Beobachtung dann durch quantitative Messungen bestätigt werden. Die Patiententypen mit Gleichgewichtsproblemen, mit denen der Hals-Nasen-Ohren-Arzt sich in der Praxis meistens konfrontiert sieht, können in 3 große Kategorien unterteilt werden: 1. Patienten mit einem einseitigen nicht kompensierten peripheren vestibulären Defizit: In diesem Fall wird sich die Frage stellen, ob der Patient eine normale Funktionsfähigkeit in Bezug auf das Gleichgewicht zurückerlangt hat und imstande ist, wieder einer Arbeit – wohlmöglich mit Sturzgefahr – nachzugehen. 2. Personen, die möglicherweise ein Schleudertrauma und/oder eine Schädelverletzung mit
49 5.1 · Einleitung
einer leichten Hirnverletzung erlitten haben: Typischerweise kann bei einem kleinen Teil dieser Patienten, die vielleicht in einen Autooder Industrieunfall verwickelt waren, vermutet werden, dass sie eine Störung des Gleichgewichts vortäuschen oder diese aggravieren. Die Frage, die sich dem HNO-Arzt stellt, ist, wie man die Patienten mit einem wirklichen Gleichgewichtsdefizit aufgrund eines Schleudertraumas von denen unterscheiden kann, bei denen eine nichtorganische Gleichgewichtsstörung vorliegt. 3. Ältere sturzgefährdete Patienten: Nach einer Bestätigung der Sturzneigung durch Gleichgewichtsprüfungen wird der HNO-Arzt wissen wollen, ob es Interventionsbehandlungen gibt, die das Sturzrisiko vermindern können und die unkontrollierte Körperschwankung des Patienten womöglich wieder in normale Grenzen führen oder zumindest die Geschwindigkeit, mit der sich die Gleichgewichtskontrolle verschlechtert, reduzieren kann. Die allgemeine Situation bei den Patienten mit einem organisch bedingten Gleichgewichtsdefizit ist durchaus mit Sorge zu betrachten. Ein großer Prozentanteil der erwachsenen Population wird im Laufe des Lebens einmal wegen Schwindels einen Arzt aufsuchen, wobei viele dieser Patienten unter chronischen Gleichgewichtsproblemen leiden. Der Prozentanteil von Patienten mit Gleichgewichtsproblemen, bei denen sich eine Sturzneigung entwickelt, ist bei den über 65-Jährigen mit 30% sehr groß und wird mit jeder Lebensdekade um 10% ansteigen, wobei Frauen ein höheres Risiko als Männer aufweisen (Woolf et al. 2003, van Weel et al. 1995). Demgegenüber steht das Problem einer zunehmend älter werdenden europäischen Population sowie die Tatsache, dass die Programme zur Sturzprävention zu einer Abnahme der Stürze um nur 20% führen (Kannus et al. 2005). Diese Situation wird nicht verbessert durch das Fehlen einer
5
angemessenen, leicht verfügbaren Gleichgewichtsprothese. Es ist offensichtlich, dass der HNO-Arzt effektive Werkzeuge zur Untersuchung eines Gleichgewichtsdefizits benötigt und wenn möglich ein Konzept dafür, wie ein Gleichgewichtsdefizit behoben werden kann. Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen diese Notwendigkeiten in Zusammenhang mit den zuvor erwähnten Patientengruppen, denen der HNO-Arzt in der Praxis am häufigsten begegnet.
5.2
Beobachtung eines Defizits der Gleichgewichtskontrolle im Stehen
Das Stehen des Patienten auf einer Schaumstoffunterlage mit geschlossenen Augen (. Abb. 5.1) wurde vor einiger Zeit als optimale Möglichkeit vorgeschlagen, um eine schlechte Gleichgewichtskontrolle im Stehen untersuchen und sie vor allem mit dem bloßen Auge erkennen zu können (Weber u. Cass 1993). Die Technik wurde jedoch wenig angewandt, da die indirekte Messung der Körperschwankung oftmals mithilfe von Posturographieplattformen, auf die Kraftmessdosen angebracht wurden, erfolgte (Baloh et al. 1994, Peterka u. Black 1990). Diese Messungen waren naturgemäß ungenau, wenn erst eine Schaumstoffunterlage auf die Plattform zur Kraftmessung gelegt wurde und dann der Proband auf der Schaumstoffunterlage stand. Mit dem Einsatz von Schwankungssensoren, die am Körper getragen wurden, verschwand dieses Problem mit den Kraftplattformen. Es konnten nun direkte Messungen der Schwankung des Patienten, der auf der Schaumstoffunterlage stand, aufgezeichnet werden. Die gewonnenen Messwerte erwiesen sich für ein Defizit der Gleichgewichtskontrolle infolge eines peripheren Vestibularisausfalls als hoch sensitiv (Allum u. Atkin 2003, Allum u. Carpenter 2005), so wie es auch aufgrund früherer qualitativer Beobachtungen vermutet wurde (Weber u. Cass 1993).
50
Kapitel 5 · Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz
5
. Abb. 5.1. Stehen auf einer Schaumstoffunterlage mit geschlossenen Augen. Der Schaumstoff muss fest und dick genug sein, damit die Patienten den Boden nicht spüren
Wenn der Patient auf einer Schaumstoffunterlage steht, kann er die propriozeptiven Afferenzen der Unterschenkel, vor allem die des Sprunggelenks, nicht nutzen, um die Körperschwankung zu kontrollieren, da diese dann nur ungenaue Informationen zur Neigung des Körpers liefern. (Bei festem Boden bewegen sich die Füße nicht mit der Körperschwankung wie auf der Schaumstoffunterlage.) Bei geschlossenen Augen können keine visuellen Informationen verarbeitet werden. Folglich helfen nur vestibuläre sensorische Informationsfunktionen dabei, beim Stehen auf einer Schaumstoffunterlage mit geschlossenen Augen das Gleichgewicht zu halten.
Wenn der vestibuläre Informationsfluss schwach ist oder nahezu fehlt (. Abb. 5.2 u. 5.3), besteht bei der untersuchten Person die Tendenz, nach hinten zu fallen oder beträchtlich in der anterior-posterioren Pitch-Richtung zu schwanken, wenn sie mit geschlossenen Augen auf einer Schaumstoffunterlage steht. Die nach hinten gerichtete Schwankung ist stärker, da die Stützbasis am kürzesten ist (die Entfernung zu den Fersen im Vergleich zu den Zehen). Diese Tendenz kann mit dem bloßen Auge beobachtet werden oder auch mithilfe eines am Körper getragenen Sensors, der nahe des Körperschwerpunkts platziert wird und die Winkelgeschwindigkeit ermittelt, gemessen werden (. Abb. 5.2). Die Sensorbox ist in . Abb. 5.4 dargestellt, in . Abb. 5.1 jedoch nicht zu sehen. Wenn ein peripheres vestibuläres Defizit sich verbessert, nimmt die Körperschwankung ab, sodass sich die Schwankung 3 Wochen nach Einsetzen eines derartigen Defizits praktisch innerhalb normaler Grenzen bewegt, wenn der Patient mit geschlossenen Augen auf Schaumstoff steht (. Abb. 5.2). Gewöhnlich ist die Gleichgewichtskontrolle im Stehen unter diesen Bedingungen nach 3 Monaten vollständig normal (Allum u. Adkin 2003). Aus einer solchen Beobachtung kann jedoch nicht geschlussfolgert werden, dass die Gleichgewichtskontrolle auch bei Gehbewegungen normal ist. Im Allgemeinen ist der Gang nicht normal und vor allem nicht beim Hinauf- und Hinuntergehen von Treppen (Allum u. Adkin 2003). Sogar beim Stehen auf Schaumstoff mit geschlossenen Augen ist die Verbesserung graduell, wie anhand des typischen Beispiels für einen akuten einseitigen Verlust in . Abb. 5.2 zu sehen ist. Die Spitze/SpitzeWerte der Geschwindigkeit in den Pitch- und RollRichtungen nimmt noch über einen Zeitraum von 3 Monaten ab, obwohl diese Geschwindigkeiten etwa 3 Wochen nach dem akuten Einsetzen des Defizits innerhalb der 95%-Grenze des gleichaltrigen Bereichs für Normalpersonen liegen (Säulen auf der rechten Seite der Abb.).
51 5.1 · Einleitung
5
. Abb. 5.2. Roll- und Pitch-Schwankung des Rumpfes während verschiedener Erholungsphasen bei einem Patienten mit einseitigem peripherem Vestibularisdefizit. a Akutes Stadium (4 Tage nach Beginn), b nach 3 Wochen, c nach 3 Monaten, d Schwankungen bei einer normalen Versuchsperson gleichen Alters und Geschlechts. Jeweils rechts von den Kurven werden die Spitze/Spitze-Pitch-
und Roll-Winkelgeschwindigkeiten über den Untersuchungszeitraum in Säulenform mit normalen Referenzwerten verglichen (Personen gleichen Alters ±5 Jahre). 7=medianer Referenzwert, senkrechte Linie=5 bzw. 95%Grenzen, >=Wert des Patienten ist größer als der normale Wertebereich, <=Wert ist kleiner, ~=Wert liegt innerhalb des normalen Wertebereichs
Wenn der Patient mit offenen Augen auf Schaumstoff steht (und auf einen visuellen Input zurückgreifen kann) oder auf einer festen Oberfläche mit geschlossenen Augen steht (und somit einen effektiveren propriozeptiven Input des Sprunggelenks hat), ist die Schwankung des Patienten geringer und weniger leicht zu erkennen. Hierin liegt eine Möglichkeit zur Dokumentation der Inkonsistenz der Bewegung von Patienten mit einer nichtorganischen Gleichgewichtsstörung. Bei dem Beispiel für eine nichtorganische Gleichgewichtsstörung in . Abb. 5.3 ist sowohl die Schwankung bei geschlossenen Augen auf einer
normalen Oberfläche als auch auf einer Schaumstoffoberfläche größer als normal. Die Schwankung ist jedoch geringer, wenn der Patient mit geschlossenen Augen auf Schaumstoff steht, als wenn sie mit geschlossenen Augen auf einer festen Oberfläche steht. Dies ist mit einer organischen Gleichgewichtsstörung nicht vereinbar. Auch bei dem Patienten der . Abb. 5.2 ist die Schwankung seitwärts größer (in der Roll-Richtung) als in der Pitch-Richtung. Auch dies ist mit einer organischen Störung nicht vereinbar: Bei Stehprüfungen sollte sie in der Pitch-Richtung größer sein (wie in den . Abb. 5.2 u. 5.3 dargestellt).
52
Kapitel 5 · Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz
5
. Abb. 5.3. Rumpfschwankungen. a Patient mit seit mehr als 10 Jahren bestehendem beidseitigem peripherem Vestibularisausfall, b Patient mit vermutetem nichtor-
ganischem Gleichgewichtsdefizit (Erläuterung der Symbole . Abb. 5.2)
Der typische Patient mit einer Gleichgewichtsstörung in Zusammenhang mit einem Schleudertrauma reagiert nicht wie ein Patient mit einem Vestibularisausfall: Die Schwankung auf einer Schaumstoffunterlage ist auch bei geöffneten Augen größer als normal (Sjöström et al. 2003). Es scheint, dass diese Patienten Probleme haben, visuelle und vestibuläre sensorische Signale in Gleichgewichtsbefehle zu integrieren. Die 2 Stehuntersuchungen, die zur Prüfung der Gleichgewichtskontrolle im Stehen vom HNO-Arzt mindestens angewendet werden sollten, erfolgen daher beide bei geschlossenen Augen. Eine Untersuchung wird auf einer normalen Oberfläche durchgeführt und die andere auf einer Schaumstoffunterlage mit einer Höhe von 10 cm und einer Dichte von 25 kg/m3. Die üblicherweise angewandte Untersuchung im Stehen, die mit offenen
Augen auf festem Boden vorgenommen wird, liefert nur wenige oder gar keine brauchbaren Informationen zur Gleichgewichtskontrolle. Effektiver ist es, wenn der Patient mit offenen Augen auf einer Schaumstoffunterlage steht, besonders dann, wenn der Verdacht auf eine Gleichgewichtsstörung in Zusammenhang mit einem Schleudertrauma besteht. Die erste Botschaft mit praktischer Relevanz für den HNO-Arzt lautet folglich, dass der Patient mit geschlossenen Augen auf einer Schaumstoffunterlage stehen soll und dabei die Schwankung beobachtet werden. (Dabei sollte man jedoch darauf vorbereitet sein, den Patienten aufzufangen, falls ein Sturz droht!) Wenn die Schwankung in der Pitch-Richtung (anterior-posterior) größer als normal zu sein scheint, besteht bei der Person vermutlich die Tendenz, aufgrund eines organischen
53 5.1 · Einleitung
5
Gleichgewichtsdefizits zu stürzen. Wenn die Schwankung bei geschlossenen Augen auf einer normalen Oberfläche jedoch größer und in der Roll-Richtung (seitlich) gleich groß wie in der Pitch-Richtung ist, kann eine nichtorganische Gleichgewichtsstörung vermutet werden.
5.3
Beobachtung eines Defizits der Gleichgewichtskontrolle bei Gehbewegungen
Während einer Gehprüfung ist eine andere Gleichgewichtskontrolle erforderlich als während einer Prüfung im Stehen. So müssen beispielsweise bei einer einfachen Gehprüfung die regelmäßigen Bewegungen des Rumpfes in der Pitch- und Roll-Ebene gesteuert werden, um einen Sturz zu vermeiden. Gehprüfungen erfordern eindeutig eine genauere Gleichgewichtskontrolle als einfach mit offenen Augen zu stehen. Die Gehprüfung kann um verschiedene Änderungen ergänzt werden, um entweder die natürliche Pitch- oder die natürliche Roll-Bewegung des Gehens zu betonen und die Durchführung der Prüfung auf diese Weise zu erschweren. Dadurch wird die Prüfung in Bezug auf Defizite der Gleichgewichtskontrolle empfindlicher. Zwei derartige Änderungen sind in den . Abb. 5.4 und 5.6 dargestellt und in einer Praxis leicht durchzuführen, da keine besondere Ausrüstung dafür erforderlich ist. . Abbildung 5.4 zeigt das Gehen, während der Kopf hoch und runter bewegt wird. Diese Prüfung macht es schwer, die Pitch-Bewegungen des Körpers zu kontrollieren, da die Zentren zur Gleichgewichtskontrolle im ZNS die Pitch-Bewegung des Kopfes koordinieren müssen, während gleichzeitig die Pitch-Bewegung des Körpers kontrolliert wird. In diesem Fall muss das ZNS vestibuläre und propriozeptive sensorische Signale, die für eine Kontrolle der Bewegungen geeignet sind, sehr korrekt verarbeiten. Beim Tandemgang, der in . Abb. 5.6 dargestellt ist, wird die seitliche Bewegung des Körpers be-
. Abb. 5.4. Gehen mit Flexion und Extension des Kopfes. Der kleine Kasten, der die Sensoren zur Messung der anterior-posterioren und lateralen Schwankung enthält, ist deutlich sichtbar
tont, da das seitliche Ausmaß der Stützbasis stark reduziert ist. In dieser Situation wird eher die seitliche Kontrolle und weniger die Pitch-Kontrolle untersucht. Die . Abb. 5.5 und 5.7 zeigen, wie sich ein einseitiger Vestibularisausfall der vestibulären Funktion während dieser Gehübungen auf die Gleichgewichtskontrolle auswirkt. Beim Gehen mit Flexion und Extension des Kopfes sind die Pitch- und Roll-Bewegungen des Rumpfes gleichermaßen größer als normal (. Abb. 5.5), beim Tandemgang hingegen sind die Roll-Bewegungen des Patienten nach links (zur defizitären Seite) deutlich größer als normal, was zur Folge hat, dass beim Patienten
54
Kapitel 5 · Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz
5
. Abb. 5.5. Oberkörperschwankungen bei simultanen Flexions- und Extensionsbewegungen des Kopfes beim Gehen. a Normale Person, b Patient mit einem nicht kom-
pensierten peripheren Vestibularisausfall, c Patient mit Schleudertrauma, d Patient mit nichtorganischem Defizit (Erläuterung der Symbole . Abb. 5.2)
die Roll-Geschwindigkeit, nicht jedoch die PitchGeschwindigkeit des Rumpfes (siehe die Säulen rechts der Aufzeichnungen), deutlich größer ist als normal. Wenn dies noch 2 Monate nach der akuten Phase des peripheren vestibulären Defizits immer noch der Fall ist, obwohl das Stehen auf Schaumstoff mit geschlossenen Augen innerhalb eines normalen Bereichs liegt, muss der Arzt daraus schließen, dass der Patient für größere und dynamischere Gehbewegungen im Vergleich zu Standbewegungen noch keinen kompensierten Zustand erreicht hat und ihm beim Treppensteigen eine normale Gleichgewichtskontrolle fehlen wird (Allum u. Adkin 2003). Der Patient benötigt daher
noch mehr Zeit und mehr physiotherapeutische Rehabilitation, um eine normale Kontrolle derartiger Gehbewegungen zu erreichen. Je nach Art der Tätigkeit, der der Patient nachgeht, kann diese Information bedeuten, dass es noch nicht möglich ist, normal zu arbeiten. In . Abb. 5.5 lassen sich die Untersuchungsergebnisse bei einem Patienten mit einem peripheren Vestibularisausfall mit denen eines Patienten mit einer Gleichgewichtsstörung in Verbindung mit einem Schleudertrauma ohne Hirnverletzung vergleichen. Die Schleudertraumapatienten versteifen sich, um ihre Kopfbewegungen im Verhältnis zum Rumpf auf ein Minimum zu beschränken, und ihre Gleichgewichts-
55 5.1 · Einleitung
. Abb. 5.6. Gehen im Tandemgang
kontrolle ist vollkommen anders (Sjöström et al. 2003). Typischerweise treten daher bei der Prüfung des Gehens mit Flexionsbewegungen des Kopfes Roll- und Pitch-Bewegungen des Rumpfes auf, deren Geschwindigkeit geringer ist als normal (Sjöström et al. 2003, . Abb. 5.5). Bei der Prüfung mit dem Tandemgang kann sich möglicherweise ein Roll-Defizit zeigen, je nachdem, ob das Schleudertrauma mit einer Otolithenläsion verbunden ist oder nicht (Beule u. Allum 2005). Genau wie bei den Stehprüfungen treten bei dem Patienten mit einem nichtorganischen Gleichgewichtsdefizit im Allgemeinen auch bei den Gehprüfungen weiterhin Körperschwankungen auf, die mit einem organischen Defizit
5
nicht vereinbar sind. Bei der Prüfung mit dem Tandemgang in . Abb. 5.7 ist der Patient einigermaßen imstande, den Test zu absolvieren, obwohl es ihm anscheinend nicht möglich ist, mit geöffneten Augen auf einem Bein zu stehen. Wie auch bei der Gehprüfung mit Flexion des Kopfes in . Abb. 5.5 besitzt der Patient weder ein Bewegungsmuster, das mit einem Schleudertrauma vereinbar ist, noch ein Muster, das mit einem vestibulären Defizit vereinbar ist. Der Patient in . Abb. 5.5 mit einem nichtorganischen Gleichgewichtsdefizit weist große seitliche Abweichungen (Roll) bei einer Untersuchung auf, die – wenn das Defizit eine vestibuläre Ursache hat – in erster Linie zu großen Abweichungen bei der Pitch-Geschwindigkeit führen sollten. Tatsächlich befinden sich die Geschwindigkeiten der Rumpfbewegung im normalen Bereich, auch wenn die Roll-Winkelabweichungen größer als normal sind. Beim nichtorganischen Defizit treten bei dem Patienten Geschwindigkeiten in der Roll-Richtung auf (siehe die Säulen rechts der Aufzeichnungen), die größer sind als in der Pitch-Richtung. Außerdem bewegt sich der Patient extrem langsam und braucht länger als Patienten mit organischen Gleichgewichtsdefiziten, um den Test zu beenden. (Der Zeitmaßstab bei den unteren Aufzeichnungen in . Abb. 5.5 ist anders.) Kurz gesagt sind die Reaktionen des Patienten weder mit dem Schwierigkeitsgrad des Tests in der Pitch-Richtung noch mit dem bekannten Reaktionsmuster für Patienten mit organischen Gleichgewichtsstörungen vereinbar. Der HNO-Arzt benötigt daher für einige einfache Gehprüfungen nur wenig zusätzliche Zeit für seine klinische Untersuchung, erhält dabei jedoch wertvolle Informationen über die Fähigkeit des Patienten, das Gleichgewicht zu kontrollieren. Der Facharzt ist damit imstande, die Gleichgewichtskontrolle des Patienten vorläufig einzuordnen: ob sie typisch ist für ein Schleudertrauma, für einen nicht kompensierten peripheren Vestibularisausfall, für eine Kombination der beiden infolge einer Kopfverletzung oder für eine nichtorga-
56
Kapitel 5 · Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz
5
. Abb. 5.7. Rumpfschwankungen während des Gehens im Tandemgang. a Normale Person, b Patient mit einseiti-
gem Vestibularisausfall, c Patient mit nichtorganischem Defizit (Erläuterung der Symbole . Abb. 5.2)
nische Störung. Die Empfehlung, Steh- und Gehprüfungen zur Untersuchung der Gleichgewichtskontrolle anzuwenden, ist unsere zweite Botschaft an den HNO-Arzt.
sein Gang dann langsamer und durch eine seitliche Instabilität gekennzeichnet ist (de Hoon et al. 2003). Als Alternative – und wenn er dazu in der Lage ist – kann man den Patienten bitten, den Get-up-and-go-Test durchzuführen. Dafür steht der Patient von einem Stuhl – der idealerweise keine Arme hat – auf und geht 3 Meter. Dauert der Test länger als 8 Sekunden, so kann dies auf eine Fallneigung hindeuten. Quantitative Analysen dieses Tests lassen erkennen, dass Sturzgefährdete sich langsamer erheben, den Rumpf weniger beugen und eine größere seitliche Instabilität als Nichtsturzgefährdete aufweisen (. Abb. 5.8). Die Beobachtung einer schlechten Gleichgewichtskontrolle bei älteren Menschen plus die anamnestische Information über frühere Stürze wird dazu führen, dass sich der Arzt mit einer Lösung dieses Problems beschäftigt. Ein einfaches Mittel – wie es ein Hörgerät bei einem Hörverlust wäre –, beispielsweise eine Gleichgewichtsprothese, befindet sich noch im Entwicklungsstadium
5.4
Der ältere sturzgefährdete Mensch
Aufgrund der verminderten Mobilität älterer Menschen, vor allem derjenigen mit Sturzneigung, sind diese Personen möglicherweise nicht imstande, alle oben beschriebenen Steh- und Gehprüfungen durchzuführen. Wenn dies der Fall ist, sollte das Stehen auf einem normalen Boden mit geschlossenen Augen untersucht werden. Bei einem derartigen Test bedeutet jede Zunahme der Schwankung um ein Grad eine tendenzielle Zunahme der Stürze um 60% (Bischoff-Ferrari et al., 2006b). Außerdem zeigt ein einfacher Gehtest, ob bei dem Patienten eine Fallneigung besteht, da
57 5.1 · Einleitung
5
. Abb. 5.8. Rumpfschwankungen beim Aufstehen aus einem Stuhl und dem Gehen von 3 Metern. a 80-jährige sturzgefährdete Frau, b nicht sturzgefährdete Vergleichsperson gleichen Alters und Geschlechts. Die Zeiten der maximalen Rumpfflexion sind mit einer vertikalen Linie markiert
(Hegeman et al. 2005, Wall u. Kentala et al. 2005, Chiari et al. 2005). Es gibt 2 Möglichkeiten, die man verfolgen könnte. Eine Möglichkeit ist die Gabe von Vitamin D, insbesondere in den Wintermonaten. Es ist bekannt, dass dies eine Abnahme der Stürze um 60% zur Folge hat (bei Frauen) und dadurch die Geschwindigkeit, mit der die Gleichgewichtskontrolle sich verschlechtert, reduziert wird (Bischoff-Ferrari et al. 2006a). Die empfohlene Dosis beträgt 700–800 IE pro Tag (Bischoff-Ferrari et al. 2006b). Die Alternative ist, dass ein Sozialarbeiter die Wohnung des älteren Menschen aufsucht, um dort mögliche Hindernisse zu beseitigen, die zu einem Sturz führen könnten, und/oder ein körperliches Bewegungsprogramm durchführt. Solche multifaktoriellen Ansätze, zu denen Therapiebeurteilung, Anpassung der Medikation (Tinetti et al. 1994) sowie Tai Chi und andere Übungsprogramme gehören (Close et al. 1999, Wolf 1996, Province et al. 1995), reduzieren die Stürze um 25–50%.
Derartige Therapieprogramme sind jedoch teuer in der Durchführung, benötigen einen erheblichen Zeitaufwand für eine Umsetzung und sind sehr auf die vollständige Kooperation des älteren Menschen angewiesen. Vitamin D hat bei geringeren Ausgaben und geringerem Aufwand bei Frauen einen ebenso starken Einfluss auf die Abnahme von Stürzen (Bischoff-Ferrari et al. 2006a). Dieser Appell, Vitamin D einzusetzen, um die Muskeln älterer weiblicher Sturzgefährdeter zu stärken und die Verschlechterung der Gleichgewichtskontrolle zu verlangsamen, ist unsere dritte und letzte Botschaft mit praktischer Relevanz für den HNO-Arzt.
Danksagungen Die Forschung, auf der diese Übersichtsarbeit basiert, wurde durch Forschungsgelder von der Freien Akademischen Gesellschaft in Basel und dem Schweizerischen Nationalfonds (31.104212) unterstützt.
58
Kapitel 5 · Gleichgewichtskontrolle – klinische Bedeutung und praktische Relevanz
Literatur
5
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6 Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen L. E. Walther
6.1
Einleitung
6.2
Anamnese beim Symptom Schwindel
6.3
Vestibularisprüfungen
6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.3.5 6.3.6
Diagnostisches Konzept – 62 Die Suche nach Spontannystagmus – 63 Qualitative Untersuchungen und Screeningverfahren Provokationsnystagmus – 66 Die thermische Prüfung – 67 Diagnostik der Otolithenorgane – 68
6.4
Serologische Untersuchungen bei vestibulären Störungen
6.5
Therapie ausgewählter Krankheitsbilder – 72
6.5.1 6.5.2 6.5.3 6.5.4 6.5.5
Akuter isolierter Vestibularisausfall – 72 Menière-Krankheit – 73 Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel Borreliose – 74 Zoster oticus – 75
Literatur
– 60
– 76
– 60
– 62
– 74
– 65
– 70
6
60
Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
6.1
Einleitung
In den letzten Jahrzehnten haben neue Methoden in der Diagnostik und Therapie zu einer weiteren Aufklärung von Ursachen und damit zu einer Subklassifikation von Schwindeldiagnosen beigetragen. Die unscharfen Diagnosen Menière-Krankheit und Vestibularisausfall beginnen sich aufzulösen. An ihre Stelle tritt zunehmend eine neue begriffliche Systematik von Diagnosen. Das Symptom »Schwindel« ist ein sehr häufiges Symptom bei vielen Erkrankungen. Jedem Arzt ist die Problematik bekannt, die aufgrund des subjektiven Charakters, der individuellen Wahrnehmung und Interpretation sowie der Vieldeutigkeit, Ungenauigkeit und Unschärfe des Begriffs entsteht und zu Schwierigkeiten führen kann. Das Wort Schwindel ist aus dem althochdeutschen Verb »swintilon« (für »In-Ohnmacht-fallen« oder »Schwinden der Sinne«, ca. 800 n. Chr.) hervorgegangen. Erst im Mittelhochdeutschen entstand das Substantiv »Schwindel« mit der ihm innewohnenden Bedeutung des systematischen Schwindels. Es beuteutet heute im medizinischen wie auch im juristischen Sinne, dass irgendetwas nicht zusammen stimmt. Im Gegensatz zum Deutschen wird in anderen Sprachen zwischen gerichteten Schwindelsensationen (engl.=vertigo, frz.=vertige) und unbestimmtem Unwohlsein (engl.=dizziness, frz.=malaise) eindeutig unterschieden [39, 56, 59, 74, 80]. Schwindel ist keine eine Diagnose, sondern ein vieldeutiges fachübergreifendes Symptom. Es wird bei Krankheiten des vestibulären Systems wahrgenommen, ist aber auch nicht selten führendes oder Begleitsymptom vieler nicht vestibulär verursachter Erkrankungen. Unter Gleichgewichtsstörungen im engeren Sinne wird eine Störung der Haltungsregulation verstanden. [80].
Wichtig
Der vestibulookuläre Reflex ist (VOR) ein zentraler Bestandteil des sensomotorischen Systems, das für die Blickstabilisierung, Haltungsregulation, Orientierung im Raum und Wahrnehmung der Eigenbewegungen erforderlich ist [9, 17].
Er überträgt Informationen vom Labyrinth über den Nervus vestibularis und seinen Kerngebieten im Hirnstamm zu den Augenmuskeln und ist verantwortlich für die Stabilisierung des Blickfeldes bei Kopf- und Körperbewegungen. Schwindel und Gleichgewichtsstörungen entstehen, wenn das Zusammenwirken dieser verschiedenen Funktionssysteme gestört ist. Dann entsteht eine Wahrnehmung, die im Allgemeinen als Schwindel interpretiert wird. Häufig treten dabei eine Störung der Stabilisierung des Blickes (VOR), die sich objektiv als Nystagmus äußert, eine Störung der Haltungsregulation (Fallneigung, Ataxie) und vegetative Erscheinungen (Übelkeit) auf. Diese Teilfunktionen können unterschiedlichen Orten im Zentralnervensystem zugeordnet werden [9, 17]. Ziel im ersten Teil der vorliegenden Arbeit ist es, aufzuzeigen, wie mit Hilfe einer differenzierten Anamnese, einer gezielten und individuell abgestimmten Diagnostik eine effiziente differenzialdiagnostische Abklärung des Symptoms Schwindel erfolgen kann. Im zweiten Teil werden unter Hinzuziehung von Fakten der evidenzbasierten Medizin therapeutische Möglichkeiten für die häufigsten Erkrankungen vorgestellt. Zudem werden Tipps und Tricks vermittelt und auf Fehler und Gefahren hingewiesen.
6.2
Anamnese beim Symptom Schwindel
Die Schwindelanamnese stellt den ersten und wichtigsten Schritt eines diagnostischen Algorith-
61 6.2 · Anamnese beim Symptom Schwindel
mus dar. Sie sollte analytisch erfolgen, da die mit ihr vorgenommene Eingrenzung und Einordnung der Beschwerden wesentlichen Einfluss auf die Wahl des späteren diagnostischen Vorgehens hat. Wichtig
Schwindel kann ein erstes Symptom einer gravierenden Komplikation sein und ist deshalb in jedem Fall ernst zu nehmen.
Es ist relativ einfach, Schwindel durch eine gezielte Befragung zu analysieren (Schwindelanalyse, [70, 74]). Aus didaktischen Gründen ist es sinnvoll, zwischen vestibulären (peripheren und zentral bedingten) sowie nichtvestibulären Ursachen zu unterscheiden. Periphervestibuläre Störungen betreffen das Bogengangsystem und den Nerv bis zu seinem Eintritt in den Hirnstamm, der Pforte zum zentralvestibulären System. Nichtvestibuläre Störungen entstehen häufig metabolisch, regulatorisch, gefäß- bzw. kreislaufbedingt. Ihnen liegt nicht selten eine internistische Störung zugrunde. In der Praxis sind kombinierte, multitope Störungen vor allem im höheren Alter häufig anzutreffen [28, 56, 74, 75]. Bereits während der Exploration sollte eine solche differenzialdiagnostische Einordnung getroffen werden. Folgende Fragen haben sich bei der Abklärung der Symptomatik bewährt: 1. Welche Schwindelempfindung wird wahrgenommen? 2. Welches Intensitäts-Zeit-Verhältnis liegt vor? 3. Bestehen Begleitsymptome?
Welche Schwindelempfindung wird wahrgenommen? Die Unterscheidung von gerichteten (systematischen) z. B. Dreh- und Liftgefühl) und ungerichteten (unsystematischen, z. B. Schwanken, Unsicherheit) Schwindel zur groben Einordnung peripherer und zentraler vestibulärer Störungen ist hilfreich. Auch ein isoliertes Drehgefühl
6
kann seine Ursache in einer Störung des zentralvestibulären Systems haben. Unsicherheit, Schwanken und Taumeligkeit sind unter Umständen mit einer alleinigen oder zusätzlichen Störung der Maculaorgane (Otolithen) verbunden. Allein die Klärung der zugrunde liegenden Schwindelempfindung führt nicht immer sicher zum Ziel.
Welches Intensitäts-Zeit-Verhältnis liegt vor? Die Frage nach dem Intensitäts-Zeit-Verhältnis gilt als Schlüssel zur Aufdeckung des Grundleidens und liefert wichtige Informationen für das diagnostische Vorgehen [71]. Jede Erkrankung, die mit Schwindel einhergeht, zeichnet sich durch eine typische Verlaufsform aus, die sich in einem spezifischen Intensitäts-Zeit-Diagramm widerspiegelt. Um diese richtig bestimmen und einordnen zu können, ist es deshalb empfehlenswert, nach Dauer der Schwindelsymptomatik, dem zeitlichen Verlauf einschließlich seiner Intensität über einen längeren Zeitraum, der Belastungsabhängigkeit und der Provozierbarkeit des Schwindels (z. B. bei Änderungen der Kopf- und Körperposition und der Körperlage) zu fragen. Daraus ergibt sich, ob es sich um einen Dauer- oder episodischen (Anfalls-) Schwindel handelt. Episodischer Schwindel kann attackenartig entweder spontan (mit oder ohne Aura) auftreten oder provozierbar sein. Zwar sind sehr intensive Schwindelempfindungen häufig durch eine periphervestibuläre Störung gekennzeichnet, jedoch können auch andersartig lokalisierte, zentrale oder nichtvestibuläre Störungen heftige Schwindelwahrnehmungen verursachen. Drehschwindel, der permanent vorhanden ist, sich jedoch innerhalb der ersten 3 Tage grundlegend bessert, ist typisch für einen akuten isolierten Vestibularisausfall. Pathognomonisch ist der anfänglich asymptotische Kurvenverlauf dieses spontan aufgetretenen Dauerschwindels im Intensitäts-Zeit-Diagramm.
62
6
Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
Ein Schwindelgefühl mit alternierender, eher geringer Intensität, das ständig vorhanden ist und sich innerhalb weniger Tage nicht bessert oder sogar progredient ist, kann für eine zentrale Ursache sprechen. Provozierbarer Schwindel tritt bei Lage- und Lagerungswechsel sowie körperlicher Belastung auf. Er ist charakteristisch für periphervestibuläre Störungen und viele nichtvestibuläre (»kreislaufbedingte«) Erkrankungen (hypotone Regulationsstörungen, Herzinsuffizienz, Gefäßstenosen, Aneurysmen). Beim benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels berichten die Patienten meist spontan über eine kurzzeitige, jedoch ausgeprägte Drehschwindelsymptomatik, die sehr häufig beim Drehen im Bett, Umlagern oder Hinlegen provoziert wird. Bei subtiler Befragung kann sogar die betroffene Seite bei der posterioren Form erfragt werden. Episodischer Schwindel kann migränebedingt oder auch zervikogen verursacht sein, unmittelbar vor einer Synkope oder im Rahmen einer Aura bei Epilepsien auftreten. Wenn es sich um rezidivierende, Minuten bis Stunden anhaltende Drehschwindelanfälle handelt und ein hohes Alter vorliegt, muss jedoch auch an vertebrobasiläre Gefäßprozesse und transitorische ischämische Attacken gedacht werden. Häufig ist der Schwindel dann Prodromalsymptom.
Bestehen Begleitsymptome? Die Frage nach weiteren, den Schwindel begleitenden, subjektiven Symptomen ist von entscheidender Bedeutung. Sind simultan otologische Symptome (Tinnitus, Hörminderung, Ohrenschmerzen, Ohrdruck, Völlegefühl, Ohrsekretion) vorhanden, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine periphervestibuläre, labyrinthäre Störung. Über Wochen andauernde Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen sowie begleitende Affektionen anderer (Hirn)nerven sprechen nahezu immer für eine zentralvestibuläre Ursache des Schwindels. Insbesondere bei Kopfschmerzen sollte einer bildgebenden Darstellung der Vorzug
gegeben werden. Eine Ausnahme stellt der Zoster oticus dar. Hier kommen simultan auch mehrere kaudale Hirnnervenläsionen vor. Pathognomonisch ist das gleichzeitige Auftreten eines herpetiform gruppierten Exanthems in der Region des äußeren Ohres (meist Ohrmuschel), selten auch zusammen mit denselben Hautveränderungen in anderen Dermatomen der Kopf-Hals-Region. Auch Fragen nach Zeckenstichen, SchädelHirn- und Kopfanpralltraumen, HWS-Distorsionen, Genussmitteleinnahme, Lebensgewohnheiten und Begleiterkrankungen (Herz-Kreislauf, Stoffwechsel) können bei der Klärung hilfreich sein. Ein hoher Prozentsatz von Medikamenten kann als unerwünschte Wirkung Schwindel verursachen. Schwindel kann auch ohne nachweisbare organische Ursache (primär somatoformer Schwindel) oder im Rahmen von Angsterkrankungen (sekundärer somatoformer Schwindel) vorkommen. Im Ergebnis dieser Befragung muss eine diagnostische Strategie entwickelt werden.
6.3
Vestibularisprüfungen
6.3.1 Diagnostisches Konzept Verschiedene Vorgehensweisen der vestibulären Diagnostik wurden in der Vergangenheit vorgeschlagen. Einige Autoren favorisieren die Trennung von vestibulärer Basisdiagnostik (Spontannystagmus, Unterberger-Tretversuch, thermische Prüfung, Prüfung der Augentorsion bei Kopfkippung und Lagerungssprüfung) und vestibulärer Spezialdiagnostik (Spontannystagmus mittels Elektro- und Videonystagmographie, Prüfung der Okulomotorik, Otolithendiagnostik wie Schrägachsenrotation und Exzentrische Rotation; [84]). Eine andere Einteilung des diagnostischen Algorithmus impliziert die Labyrinthdiagnostik (Thermische Prüfung, VEMP, Lagerungsprüfung und der Halmagyi-Test) und die VOR-Diagnostik (Spontan- und Provokationsnystagmus und Lateralkippung des Kopfes). Scherer setzt die sehr
63 6.3 · Vestibularisprüfungen
provokativen Untersuchungen wie die thermische Prüfung bewusst an das Ende des diagnostischen Untersuchungsganges [65]. Die praktische Erfahrung zeigt, dass einfachen Verfahren der Vorzug gegeben werden sollte, bevor auf spezielle Untersuchungen zurückgegriffen wird, und dass anamnestische Hinweise richtungsweisend sind. Habituationsphänomene können beispielsweise beim gutartigen Lagerungsschwindel auftreten, wenn zuvor provokative Maßnahmen erfolgten und so zu einer falsch negativen Aussage führen. Mit der Kenntnis dieser Besonderheiten kann Schwindeldiagnostik rationell hinsichtlich Zeit, Aufwand und Kosten gestaltet werden [76]. Die folgenden wichtigen Untersuchungsverfahren tragen heute entscheidend zur Klärung im Rahmen der Vestibularisdiagnostik bei. Daneben existiert eine Vielzahl weiterer orientierender und spezieller Verfahren. Die Abfolge sollte individuell festgelegt werden. Sie richtet sich vor allem nach dem Zustand des Patienten, den Verdachtsdiagnosen und den Besonderheiten der differenzialdiagnostisch vermuteten Erkrankungen: 1. qualitative Diagnostik: a) Fahndung nach spontan vorhandenem Nystagmus (visuell und Frenzelbrille), b) orientierende, qualitative Untersuchungen und Screeningverfahren, c) Suche nach provozierbarem Nystagmus (Lagerungsprüfung bei Verdacht auf benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel zuerst, latenter Nystagmus bei Kopfschütteln, Lageprüfung und ggf. Provokation schwindelauslösender Kopf- und Körperpositionen); 2. quantitative und organspezifische Diagnostik: a) Videonystagmographische Aufzeichnung des Spontannystagmus, b) thermische Prüfung, c) zentrale vestibuläre Testverfahren (okulomotorische Tests), d) Otolithenfunktionsprüfung.
6
Zuerst erfolgt immer die Suche nach spontanen Augenbewegungen und danach mittels provokativer Maßnahmen die Objektivierung eines Provokationsnystagmus. Zu den Provokationsmaßnahmen zählen Lagerungsprüfung, Kopfschüttelnystagmus, Lageprüfungen und spezielle schwindelauslösende Kopf- und Körperpositionen, die der Patient selbst einnehmen sollte. Screeningverfahren wie vestibulospinale Tests (Romberg-Versuch, verschärfter Romberg-Versuch) können zur Objektivierung und Reproduktion der vermuteten Seite einer peripheren Läsion im Ergebnis der Nystagmusanalyse beitragen oder den Verdacht auf eine zentrale Störung (z. B. ungerichtete Fallneigung oder Fallneigung nach hinten) erhärten. Zugleich lassen sich damit Funktionsstörungen qualitativ erfassen (laterale Kopfkippung, Kopfimpulstest), die für die weitere Diagnostik (z. B. Otolithenfunktionsprüfungen, zentrale Testverfahren) richtungsweisend sein können.
6.3.2 Die Suche nach Spontan-
nystagmus Der »Blick in die Augen«, d. h. die »Fahndung« nach Nystagmus eröffnet die Vestibularisdiagnostik unabhängig vom Krankheitsbild. Sie stellt die entscheidende Methode im Rahmen der differenzialdiagnostischen Einordnung vor. Liegt ein Spontannystagmus vor, ist eine vestibuläre Störung gesichert. Normalerweise werden die Augen »in Ruhe« gehalten. Erkrankungen führen dazu, dass spontane Augenbewegungen auftreten. Definitionsgemäß versteht man unter Spontannystagmus die Form des Nystagmus, der ohne äußeres Zutun vorhanden ist. Spontannystagmus ist keine alleinige Leistung einer peripheren Funktionsstörung eines Organs. Er muss vielmahr als ein zentral verstellter vestibulookulärer Reflex mit Projektion auf die Augen verstanden werden.
64
6
Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
Wichtig
Wichtig
Vestibuläre Schwindelformen basieren auf Störungen im Bereich des VOR. Sie können mithilfe der klinischen Diagnostik als Nystagmus objektiviert werden.
Die Beobachtung mittels Frenzel-Brille erfolgt bei Geradeausblick im abgedunkelten Raum. Spontannystagmus unter der Frenzel-Brille ist immer pathologisch. Videonystagmographisch nachweisbarer Spontannystagmus besitzt nicht immer Krankheitswert.
Die Erfassung des Spontannystagus kann ohne oder mit Hilfsmitteln erfolgen, und zwar qualitativ: 1. visuell in 5 Blickrichtungen, 2. Leuchtbrille (nur bei Geradeausblick!); oder quantitativ: 3. Elektronystagmographie, 4. Videonystagmographie. Die Schätzung der Amplitude und Frequenz (Schlagzahl) des Nystagmus ist unter qualitativen Kriterien möglich. Für die Objektivierung hat sich heute die Angabe der Winkelgeschwindigkeit (Grad/ s) zur quantitativen Erfassung und Auswertung eines Spontannystagmus durchgesetzt [59, 65]. Für die Beobachtung bzw. Registrierung eines Spontannystagmus gelten in etwa die in . Tab. 6.1 angegebenen Schwellen. Schwache Spontannystagmen unter der Leuchtbrille können in einem nicht vollständig verdunkelten Raum Fixationsmöglichkeiten erlauben und werden so unterdrückt (Fixationssuppression, [59]).
. Tabelle 6.1. Schwellen für den Nachweis von Spontannystagmus mit unterschiedlichen Erfassungsmethoden. Erfassungsmethode
Schwelle [°/s]
Visuell Leuchtbrille Elektronystagmographie Videonystagmographie
>3–4 0,5–4 <0,5 <0,5
Wenn visuell kein spontaner Nystagmus nachweisbar ist, bedeutet das nicht, dass nicht doch ein pathologischer Spontannystagmus (Frenzel-Brille) vorliegt. Die Klassifikation von Spontannystagmus ist für die Differenzialdiagnostik bedeutsam. Vestibulärer Spontannytagmus kann in 3 Grundtypen unterteilt werden [65, 71]: 1. richtungsbestimmter Spontannystagmus, 2. regelmäßiger Blickrichtungsnystagmus, 3. regelloser Blickrichtungsnystagmus. Ein richtungsbestimmter Spontannystagmus wird visuell innerhalb eines Blickrichtungswinkels von ca. 20 Grad (fixierter Kopf) diagnostiziert. Blickrichtungsnystagmus ist erst nach einer Blickrichtung von mehr als 30 Grad erkennbar. Seine Frequenz kann mit der Blickrichtung zunehmen. Er darf nicht mit einem physiologischen Endstellnystagmus verwechselt werden, der ab einer Blickrichtung von etwa 40 Grad auftritt. Blickrichtungsnystagmus ist immer ein Zeichen für eine zentralvestibuläre Affektion. Ebenso sind reine Vertikalnystagmen nahezu immer Ursache einer zentralen Läsion. Sie fordern an dieser Stelle umgehend eine neurologische Differenzialdiagnostik und ggf. eine Bildgebung. Periphere vestibuläre Störungen gehen in der Regel mit horizontal schlagendem vestibulärem Spontannystagmus einher, der nicht selten von einer torsionalen Komponente begleitet ist.
65 6.3 · Vestibularisprüfungen
Wichtig
Wichtig
Horizontal schlagender, richtungsbestimmter Nystagmus kann auch Zeichen einer zentralen Störung (Kleinhirn) sein.
Bei einer einseitigen Funktionsstörung des Labyrinths ist eine kompensatorische Korrektursakkade bei einer Bewegung des Kopfes zur kranken Seite sichtbar [31].
In der Praxis kommt es nicht selten zu Problemen bei der videonystagmographischen Aufzeichnung, speziell bei der Erfassung des Signals der Pupille: Immer gefragt und speziell gesucht werden sollte vor der Untersuchung nach: – künstliche Linsen, – Kontaktlinsen, – Wimperntusche, – große Pupille (Cave: Untersuchungen bei Begutachtung, nach augenärztlichen Vorstellungen mit Erweiterung der Pupillen).
6.3.3 Qualitative Untersuchungen
und Screeningverfahren Orientiernde Untersuchungsverfahren ermöglichen mit geringem Zeitaufwand eine grobe Aussage über Störungen des VOR. Sie gestatten eine qualitative Bewertung verschiedender Funktionssysteme. Ziel ist eine Abgrenzung von Crista- und Maculafunktionsstörungen sowie zentralen Läsionen.
Überprüfung des horizontalen VOR mittels Kopfimpulstest Für die qualitative Abschätzung der Bogengangsfunktion kann der Kopfimpulstest wertvolle Informationen liefern. Voraussetzung ist die Fixation eines Gegenstandes in Blickrichtung geradeaus und eine freie Kopfbeweglichkeit. Der Test erfolgt durch passive Kopfbewegungen mit niedriger Amplitude (10–20 Grad) und hoher Beschleunigung (3 000–4 000 Grad/s) jeweils ruckartig nach lateral. Beim Gesunden kommt es zu raschen entgegengesetzten kompensatorischen Augenbewegungen.
6
Maculafunktionsprüfung durch Prüfung der Augengegenrollung Die Gegenrollung ist eine spezifische Leistung des Otolithenapparates, wahrscheinlich vorwiegend des Utrikulus [90]. Ein einfaches Testverfahren zur Erfassung der statischen Gegenrollung der Augen ist die passive Drehung des Kopfes um eine nasooccipitale Achse [84, 50]. Normalerweise zeigen sich beim Gesunden reflektorisch gegenläufige (torsionale) Augenbewegungen. Die qualitative Einschätzung wird bei passiver lateraler Kippung des Kopfes um ca. 25 Grad im Sitzen durchgeführt. Maurer und Mitarbeiter verwenden Kopfneigungswinkel bis zu 30 Grad [50]. Es lassen sich bei Geradeausblick visuell und unter der Leuchtbrille gegenläufige torsionale Augenbewegungen um ca. 5 Grad erkennen [84]. Zur Quantifizierung verwendet man die dreidimensionale Videonystagmographie [50]. Wichtig
Die Prüfung der Augengegenrollung kann einfach mittels Frenzel-Brille als ein qualitatives Screening der Otolithenfunktion benutzt werden. Normalerweise zeigen sich bei langsamen Kopfneigungen um ca. 30 Grad nach rechts und links gegenläufige torsionale Augenbewegungen bei intakter Otolithenfunktion.
Vestibulospinale Testverfahren, Kordinationsprüfungen und zentrale Testverfahren Die Vestibulospinale Funktion lässt sich mit dem Romberg-Versuch prüfen und wird mit geschlos-
66
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Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
senen Augen durchgeführt. Der vestibulospinale Reflex steuert den Körpertonus vorwiegend über die Streckermuskulatur (aufrechtes Stehen, Gehen). Bei der Prüfung steht der Patient vor dem Untersucher, die Arme sind nach vorn ausgestreckt und die Hände befinden sich in Supinationsstellung. Extreme Anforderungen an die vestibulospinalen Reflexbahnen können mit dem verschärften Romberg-Versuch überprüft werden: Die Füße stehen nicht nebeneinander sondern hintereinander. Ataxie, Intentionstremor sowie Diadochokinese lassen sich durch gezielte (Finger-Nase-Zeigeversuch) und alternierende beiderseitige Handbewegungen schnell prüfen. Dies sind einfache Untersuchungsmethoden auf der Suche nach zentralen Störungen. Als Ataxie bezeichnet man unkoordinierte Bewegungsabläufe. Im Finger-Nase-Zeigeversuch wird das Ziel (die Nase) auf unsicherem Wege erreicht. Intentionstremor ist das zunehmende »Zittern« bei der Bewegung auf ein Ziel, wobei dieses selbst verfehlt wird. Das Symptom tritt häufig bei Kleinhirnstörungen auf, ebenso wie Störungen der Fähigkeit, entgegengesetzte Bewegungen schnell hintereinander geordnet auszuführen (Adiadochokinese). Zentrale Störungen können einfach durch Untersuchung der langsamen Blickfolgebewegungen diagnostiziert werden. Dabei folgen die Augen des Patienten dem Finger des Untersuchers in einer Blickrichtung von ca. 30 Grad. Der Hintergrund sollte nicht bewegt sein. Sakkadierte Blickfolgebewegungen sollten durch weitere zentrale Testverfahren objektiviert werden. Einfach durchzuführen ist auch die Prüfung der Fixationssuppression eines beispielsweise durch Drehung erzeugten Nystagmus. Die Fixation eines Punktes ist besonders bei zerebellären Störungen gestört. Als normal gilt eine Suppressionsfähigkeit von etwa 80%.
6.3.4 Provokationsnystagmus Liegen keine spontanen Augenbewegungen vor, sollte nach provozierbaren Nystagmen gesucht werden.
Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel – eine diagnostische Besonderheit Der in der klinischen Praxis am häufigsten anzutreffende Nystagmus ist die einseitige posteriore Form. Bei der Lagerungsprüfung nach Hallpike oder dem Seitwärtslagerungsmanöver ist typischerweise nach einer Latenz von wenigen Sekunden ein zur Erde schlagender (geotroper), stark rotierender Nystagmus zu sehen, der ebenso wie die einsetzende Schwindelempfindung einen Crescendo-Decrescendo-Charakter aufweist. Um einen Nystagmus sicher provozieren zu können, sollte der Lagerungswechsel zügig erfolgen. Ein abruptes Abbremsen des Kopfes erhöht die Wahrscheinlichkeit, einen Nystagmus zu sichern, erhöht aber auch die Intensität des Schwindels. Der so hervorgerufene Nystagmus dauert nie länger als 1 Minute [9]. Vor einer Lagerung muss der Patient auf die zu erwartenden starken Schwindelsensationen und mögliche vegetative Begleiterscheinungen vorbereitet werden. Unangenehme Schwindelempfindungen können auch noch mehrere Stunden nach der Lagerung empfunden werden. An die seltenen Formen der vorderen (Habituation) und lateralen Bogengänge (keine Habituation), aber auch an ein beidseitiges Auftreten muss gedacht werden. Der gutartige Lagerungsschwindel ist gewissermaßen eine Otolithenstörung im mittleren und im höheren Alter. Die Cupula wird zwangsläufig zum Gravirezeptor [76, 80]. Wichtig
Die Lagerungsprüfung bei Verdacht auf einen gutartigen Lagerungsschwindel muss vor allen anderen provokativen Maßnahmen unmittelbar nach der Prüfung auf Spontannystagmus erfolgen!
67 6.3 · Vestibularisprüfungen
Häufig ist trotz positiver Anamnese, insbesondere bei kürzlichem Auftreten, kein Nystagmus auslösbar. Ursache ist das Phänomen der Habituation, was dazu führt, dass ein typischer Nystagmus für den Untersucher erst nach mehreren Stunden wieder nachweisbar wird. Die anamnestisch vermutete Seite der Läsion sollte zuerst geprüft werden. Auch dadurch werden Habituationseffekte vermieden [76, 80]. Wichtig
Ist bei eindeutiger Anamnese kein Lagerungsnystagmus provozierbar, muss die Funktionsprobe zu einem späteren Zeitpunkt wiederholt werden (Habituation!).
Prüfung eines latenten Nystagmus Provokationsmaßnahmen zur Prüfung eines latenten Nystagmus erfolgen am günstigsten durch mehrfaches Kopfschütteln (2 Hz, 10 Sekunden Kopfschütteln um eine vertikale Achse) und anschließende Beobachtung mit der Frenzel-Brille [59]. Dadurch kann ein in Ruhe nicht sichtbarer, latenter Nystagmus bei einer noch nicht kompensierten peripheren vestibulären Störung für kurze Zeit wieder »erweckt« bzw. sichtbar gemacht werden. Eine schädigungsbedingte »Tonusdifferenz« beider Gleichgewichtsorgane äußert sich als vestibulookulärer Reflex (erschöpflicher, kurzzeitiger horizontal schlagender Nystagmus) entgegengesetzt der Richtung des geschädigten Labyrinths. Damit lassen sich Beschwerden objektivieren, wie sie bei Belastung beklagt werden. Lageprüfungen Die Suche nach Lagenystagmen erfolgt durch langsame Drehung aus der Rückenlage in die Rechts- und Linksseitenlage. Von einem Lagenystagmus sollte dann gesprochen werden, wenn die Dauer des provozierten Nystagmus 60 Sekunden oder länger andauert. Man unterscheidet den richtungsbestimmten Lagenystagmus (provozierter, gelockter Spontannystagmus bei nicht
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vestibulär kompensierten, peripheren Störungen) und den regelmäßig richtungswechselnden Lagenystagmus (regelloser, richtungswechselnder Lagenystagmus, divergierender und konvergierender Lagenystagmus nach Intoxikationen, z. B. nach Alkoholeinnahme, sog. »positional alcohol nystagmus« [PAN]). Es empfiehlt sich, auf der Suche nach Lage- oder auch Lagerungsnystagmen den Patienten aufzufordern, die entsprechende Position einzunehmen, bei der Schwindel auftritt [23, 29, 65]. Nach der Klärung der Frage, ob ein spontaner oder provozierbarer Nystagmus vorhanden ist, kann eine weitere Bestandsaufnahme durchgeführt werden. Damit kann eine weitere differenzialdiagnostische Abgrenzung zwischen vestibulärem und nichtvestibulärem Schwindel vorgenommen werden [28].
6.3.5 Die thermische Prüfung Die thermische Reizung ist das wichtigste Verfahren für die seitengetrennte Objektivierung des Funktionszustandes der Gleichgewichtsorgane. Fälschlicherweise wird das Ergebnis häufig auf das gesamte Labyrinth extrapoliert. Tatsächlich wird jedoch fast ausschließlich der empfindliche horizontale Bogengang geprüft. Die durch thermische Reaktion entstehende Nystagmusreaktion der anderen Bogengänge und der Otolithenorgane bleibt in der vorwiegend horizontal gerichteten Nystagmusantwort weitestgehend verborgen. Der Vestärkungsfaktor (engl.=gain) des horizontalen Bogenganges ist weitaus größer als der der anderen Bogengänge oder Otolithenorgane. Daher fällt die Intensität der Reizantwort auch bei hoher Stimulusintensität für die Anteile des Gleichgewichtsorganes immer gering aus. Dank der Bemühungen von Scherer und Mulch gibt es für die thermische Prüfung der Gleichgewichtsorgane seit 1980 Standardisierungsempfehlungen der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Audiologen und Neurootologen
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Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
(ADANO): Es erfolgt eine Reizung mit 50–100 ml Wasser mit Temperaturen von 44, 30 und evtl. 20°C als Starkreiz, die Spüldauer beträgt 30 Sekunden. Reizfolge: 44 Grad rechts, dann links, 30 Grad links, dann rechts, Kopf-Körper-Positionen nach Hallpike oder Veits, Pause zwischen den Spülungen ca. 5–7 Minuten [65]. Weit verbreitet ist auch die thermische Prüfung mit Luft, da sich Wasser bei Patienten mit Trommelfelldefekten und nach Radikaloperation des Ohres nicht anwenden lässt. Die induzierte Nystagmusreaktion kann jedoch nicht quantitativ sondern nur qualitativ bewertet werden. Nachteilig ist die geringe Wärmekapazität, die hohe Lärmentwicklung und die Entstehung paradoxer Nystagmuseffekte bei feuchten Gehörgängen und Paukenhöhlen bei Reizung mit auf 44°C erwärmter Raumluft. Alternativ kann bei Trommelfelldefekten eine Abdeckung mit Silikonfolie durchgeführt oder eine wasserdurchströmte Sonde benutzt werden [65, 83]. Die Quantifizierung der thermischen Reaktionen erfolgt entweder mittels Elektro- oder Videonystagmographie. Die Angabe der Winkelgeschwindigkeit für thermisch induzierte Nystagmen (Grad/s) ist inzwischen Goldstandard in der Diagnostik, ebenso wie die videonystagmographische Erfassung der induzierten Augenbewegungen. Bei einem Seitenverhältnis bis zu 20% ist von einer normalen Erregbarkeit auszugehen. Wichtig
Die thermische Prüfung ist die einzige Testmethode zur seitengetrennten, quantitativen Objektivierung der Funktion des horizontalen Bogenganges. Zeigt sich bei der thermischen Warmreizung mit Wasser ein normales Seitenverhältnis, kann auf die Kaltspülung verzichtet werden, wenn kein Spontan- und Provokationsnystagmus oder bei der Untersuchung andere Auffälligkeiten nachweisbar sind.
Bei der nicht immer angenehmen Wasserreizung können Probleme durch eine unter Umständen starke vegetative (und vagale) Reaktion mit ausgeprägtem Schwindel entstehen. In der Literatur gibt es Hinweise für eine Beeinflussung vaskulärer, kardialer und respiratorischer Funktionen durch vestibuläre Reize [43, 58]. Wichtig
Die thermische Prüfung ist in jedem Fall durchzuführen, auch wenn keine Hinweis für eine vestibuläre Ursache der Schwindelbeschwerden (kein Spontan-, kein Provokationsnystagmus) objektivierbar sind.
Die thermische Reizung mit Wasser ist mit einem nicht unerheblichen Zeitaufwand verbunden (Vorbereitung und Erfassung mit Pausen ca. 20– 30 Minuten). Die Kombination mit der Otolithendiagnostik (thermische Prüfung in Pronation und Supination) hat sich in der Praxis als eine zeitsparende Methode etabliert [85].
6.3.6 Diagnostik der Otolithenorgane Thermische Prüfung in Pronation und Supination Eine einfach durchzuführende, elegante, jedoch wenig verbreitete Methode ist die Kombination des Untersuchungsverfahrens der thermischen Reizung mit statischen Reizen (Umlagerung von Pronation in Supination, »Wendetest«). Bei einer pathologischen Seitendifferenz nach der Warmspülung (44°C warmes Wasser) erfolgt die Reizung im Anschluss nicht mit 30°C, sondern mit 20°C warmem Wasser (Starkreiz, [85]).) Diese Modifikation der thermischen Reizung erfolgt so, dass der Patient nach Beginn der Kaltspülung (20°C) in der Kulminationsphase bzw. am Gipfelpunkt der thermischen Nystagmusantwort (nach ca. 40 Sekunden) durch eine Lageänderung (Umlagerung, Wendung) um 180 Grad
69 6.3 · Vestibularisprüfungen
um die Körperquerachse aus der Rückenlage (Hallpike-Position) in die Bauchlage (anti-Hallpike-Position, 30 Grad in Bauchlage) gedreht wird (Linksdrehung). In Abhängigkeit von der thermischen Antwort, vorhandenem Spontannystagmus und Nystagmus bei Lagewechsel lassen sich unterschiedliche Nystagmusreaktionen beobachten. Neben der thermischen Stimulation der Bogengänge soll der Utrikulus statisch gereizt werden, der durch die Umlagerung vorwiegend in liegender Position in etwa senkrecht steht. Das Ergebnis der kombinierten thermisch-mechanischen Reizung (Pronation und Supination) erlaubt somit Rückschlüsse auf die Otolithenfunktion. Eine fehlende Umkehr des Nystagmus nach Umlagerung kann als Zeichen einer Maculaschädigung interpretiert werden (. Abb. 6.1). Die Untersuchung der thermischen Nystagmusantwort in Pronation und Supination diente bis zum Ende der 70er-Jahre dazu, ein Screening der Labyrinthfunktion vorzunehmen. Die Umkehr des Nystagmus in Bauchlage wurde bei der Reizung mit nur einer Temperatur (44 oder 30°C) als ein Indiz für eine intakte periphervestibuläre Funktion interpretiert [41]. Die Beobachtung, dass der thermisch induzierte Nystagmus von der Körperlage abhängig ist, wurde bisher in mehreren Untersuchungen bestätigt. Clarke, Coats, Scherer, von Baumgarten und Westhofen haben mit ihren Untersuchungen dazu beigetragen, die Testung der Otolithenfunktion als einen weiteren Faktor neben der Funk. Abb. 6.1. Thermische Prüfung in Pronation und Supination (»Wendetest«). Rechtsseitig normale thermische Reaktion bei Warmreizung (Wasser 44°C, Pronation) und Umkehr des Nystagmus in Supination (Kaltreiz, Wasser 20°C). Links abgeschwächte thermische Antwort bei Warmreizung und fehlende Umkehr in Supination nach Kaltreizung
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tionsprüfung der Bogengänge, auch in Kombination mit der thermischen Prüfung, in die Untersuchungsmethodik der Klinik einzuführen [5, 12, 14, 63, 64, 85]. Nach unseren Erfahrungen fällt die Nystagmusreaktion bei der überwiegenden Mehrzahl der Personen mit gesundem Gleichgewicht in Pronation höher aus als in Supination. Die Otolithenorgane haben einen modulierenden Einfluss auf die Bogengangsfunktion. Sie stehen in der Hierarchie des Zentralnervensystems höher [65]. Das Verfahren lässt sich einfach durchführen. Voraussetzung ist eine kopfseitig verstellbare Untersuchungsliege. Voraussetzungen für die Einschätzung der thermischen Reaktion in Supinationslage sind die Registrierung des Spontannystagmus, Lageprüfungen in Pronation und Supination sowie der Ausschluss eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels. Ohne Zweifel werden bei der thermischmechnischen Reizmethode der »Umlagerung« auch somatosensible und propriozeptive Afferenzen stimuliert, die sich nicht selektiv quantifizieren lassen.
Vestibulär evozierte myogene Potenziale Vestibulär evozierte myogene Potenziale (VEMP) sind akustisch, mechanisch (vibratorisch) oder elektrisch induzierte Potenziale des Gleichgewichtsnervs mittlerer Latenz. Sie können unabhängig von der Hörschwelle registriert werden. Eine Schalleitungsschwerhörigkeit sollte vor der Prüfung der akustisch evozierten VEMPs, wenn
70
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Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
sie über Luftleitung induziert werden, ausgeschlossen werden. Die VEMP-Diagnostik hat sich in der letzten Dekade zur Funktionsdiagnostik der Otolithenorgane, vornehmlich des Sakkulus, durchgesetzt. Die kurze Latzenzzeit der VEMPs (8 ms) zeigt, dass ein oligosynaptischer Reflex zugrunde liegt, der wahrscheinlich über vestibuläre Afferenzen des N. vestibularis inferior verläuft, die auf den Vestibulariskernkomplex und über den vestibulospinalen Trakt auf das Kerngebiet des N. accessorius projizieren. Die Registrierung erfolgt über EMG-Elektroden, die bilateral über dem M. sternocleidomastoideus angebracht sind (sakkulocollischer Reflex, SCR). Die so registrierten vestibulären evozierten myogenen Potenziale basieren auf der residualen, evolutionär bedingten akustischen Empfindlichkeit des Sakkulus des Menschen. Diese geht auf die akustische Funktion des Sakkulus bei primitiven Vertebraten zurück [82]. In der klinischen Praxis werden gegenwärtig unterschiedliche Methoden verwendet: akustische Reize, vibratorische und elektrische Stimuli. Die akustisch durch Clickreize ausgelösten vestibulär evozierten myogenen Potenziale können je nach Methode nach 13 ms (positiv) und 23 ms (negativ) registriert werden und stellen normale Sakkulusantworten und Latenzen dar (p13, n23). Während der Stimulation ist eine tonische Anspannung des M. sternocleidomastoideus erforderlich (Anteversion des Kopfes). Des Weiteren beeinflusst die Intensität des Stimulus die Ableitung entscheidend [82]. Diese elegante Methode ist am weitesten verbreitet und in kurzer Zeit relativ einfach durchführbar. Click-VEMPs sind abgeschwächt oder fehlen bei Patienten mit einem akuten isolierten Vestibularisausfall, Zoster oticus mit vestibulärer Beteiligung, Menière-Krankheit und Akustikusneurinomen. Erhöhte VEMP-Amplituden und erniedrigte Schwellen finden sich bei knöchernen Dehiszenzen des oberen (vorderen) Bogenganges. Die praktische Anwendung im Rahmen der Begutachtung ist etabliert (Diagnostik einer Otolithen-
störung). Zudem werden clickevozierte VEMPs zur Kontrolle der Wirksamkeit einer intratympanalen Gentamycintherapie herangezogen [82]. Wichtig
Akustisch induzierte VEMPs lassen selektive Aussagen über die Funktion des Sakkulus zu.
Vibratorisch ausgelöste VEMPs sind eine elegante Methode zur Erfassung der Sakkulus- und wahrscheinlich auch der Utrikulusfunktion. Durch Klopfen an der Stirn oder auch temporal, z. B mit einem Reflexhammer, können die Otolithenorgane, vornehmlich der Sakkulus, stimuliert und VEMPs registriert werden [7, 10]. Elektrisch induzierte VEMPs (galvanische Reizung) dienen der Diagnostik des Sakkulus oder können bei direkter Reizung des N. vestibularis inferior auch zum intraoperativen Screening beitragen [4, 20].
Weitere Maculafunktionsprüfungen Die Untersuchung der subjektiven visuellen Vertikalen in Ruhe oder nach Drehung, der subjektiven haptischen Vertikalen, die Schrägachsenrotation sowie die exzentrische Rotation stellen weitere Verfahren zur Funktionsprüfung der Otolitenorgane dar [35]. Zur Objektivierung und zum Nachweis der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse, auch im Rahmen einer Begutachtung, sollten mehrere Testverfahren zur Otolithenfunktionsprüfung Anwendung finden (. Tab. 6.2).
6.4
Serologische Untersuchungen bei vestibulären Störungen
Hirnnervenausfälle im Rahmen der Früh- und Spätphase einer Borreliose können in bis zu 60% der Fälle vorkommen [1, 13]. Die beiden Anteile des 8. Hirnnerven sind mit weniger als 5% jedoch weitaus seltener betroffen als der N. facialis (50%
71 6.4 · Serologische Untersuchungen bei vestibulären Störungen
6
. Tabelle 6.2. Qualitative Verfahren zur Erfassung der Otolithenfunktion [nach 7, 10, 82]. Methode
Funktionsprüfung
Normale Antwort
Thermische Reizung in Pronation und Supination
Sakkulus, Utrikulus?
Umkehr der Nystagmusreaktion in Supination
Akustisch induzierte VEMPs (Tonreiz/Click über Luftleitung)
Sakkulus
Ipsilaterales p13, n23
Akustisch induzierte VEMPs (Tonreiz/Burst über Luftleitung)
Sakkulus
Ipsilaterales p1, n1
Akustisch evozierte VEMPs (niederfrequenter Tonreiz über Knochenleitung)
Utrikulus
Ipsilaterales p1, n1
Vibratorisch evozierte VEMPs (durch Klopfen an der Stirn oder temporal mittels Reflexhammer)
Sakkulus, Utrikulus?
Ipsi- und kontralaterales n1, p1, je nach Stimulationsort
Elektrisch evozierte VEMPs (transmastoidale galvanische Stimulation)
Sakkulus, Utrikulus?
Ipsilaterales p13, n23, kontralaterales n12, p20, je nach Stimulationsort
[54]). Die Borreliose als seltene Ursache einer labyrinthären vestibulären Schädigung kann sich mit dem Bild eines Vestibularisausfalls präsentieren [16, 37, 55, 60, 78]. Hinweise aus der Anamnese (Monate zurückliegender Zeckenstich) und der Klinik (Erythema migrans) können nur bedingt für die Entscheidung herangezogen werden, ob eine entsprechende Diagnostik oder Therapie erfolgen soll. Das pathognomonische Erythema migrans zeigt sich etwa nur in der Hälfte aller Fälle der Patienten mit einer manifesten Borreliose [51]. Wichtig
Das zeitnahe Auftreten eines Erythema migrans vor der Symptomatik eines akuten isolierten Vestibularisausfalls spricht für eine mononeuritische Beteiligung des Nerven im Rahmen einer Borreliose-Frühinfektion (Stadium1).
Um die Diagnosestellung einer Borrelieninfektion zu stützen, ist heute die mikrobiologische Diagnostik die bevorzugte Methode. Dabei empfiehlt
sich die Durchführung einer Stufendiagnostik mit einem primären Suchtest für borrelienspezifische IgG- und IgM-Antikörper und einem eventuellen Bestätigungstest (erregerspezifischer Immunoblot). Der Immunoblot ist spezifischer als der ELISA. Damit können sowohl Hinweise auf die beteiligte Borrelienspezies als auch auf das Vorliegen einer Früh- oder Spätinfektion gewonnen werden. Die bei der Borreliose spät einsetzende Antikörperantwort macht eine Diagnostik innerhalb der ersten 6 Wochen problematisch (falsch negative Ergebnisse). Die IgM-Produktion beginnt etwa 2–6 Woche nach Erregerübertragung und kann 2–4 Wochen später wieder auf unauffällige Titer absinken [78] Herpesviren in Form von Herpes-simplexViren Typ 1 (HSV 1) sowie Varizella-zoster-Viren (VZV) werden als ätiologischer Faktor bei der Entstehung des akuten isolierten Vestibularisausfalls vermutet. Die serologische Diagnostik beim akuten isolierten Vestibularisausfall dient der differenzialdiagnostischen Abgrenzung. Therapeutische Konsequenzen können gegenwärtig nicht abgeleitet werden. Die mikrobiologische Diag-
72
6
Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
nostik kann daher für die Praxis beim Erstereignis derzeit nicht empfohlen werden [69, 77]. Beim Zoster oticus erfolgt die Diagnose anhand der herpetifomen Effloreszenzen im KopfHals-Bereich. Die serologische Diagnostik beim Zoster oticus ist empfehlenswert, um die Diagnose zu stützen (Abgrenzung von einer Herpesinfektion). Eine Seropositivität für VZV-IgM- und -IgA-Antikörper bei einem gleichzeitig erhöhten IgG-Titer ist ein sicherer Hinweis für eine Reaktivierung einer Varizella-zoster-Infektion beim Zoster oticus. Ein serologisch nachweisbarer Anstieg dieser Antikörper ist aber erst einige Tage nach Beginn der Erkrankung zu erwarten. Eine nahezu sichere Nachweisbarkeit der Antikörpertiter besteht ca. 1–2 Wochen nach Erkrankungsbeginn [79].
6.5
Therapie ausgewählter Krankheitsbilder
6.5.1 Akuter isolierter
Vestibularisausfall In der Akutphase eines akuten Vestibularisausfalls sind eine Elektrolytsubstitution und die Therapie mit Antiemetika indiziert. Wichtig
Antivertiginosa (z. B. Dimenhydrinat i.v. oder als Suppositorium) dürfen nur für ca. 3 Tage nach Erkrankungsbeginn appliziert werden, andernfalls wird die vestibuläre Kompensation verzögert [9, 89].
Kontrovers wird die Behandlung mit durchblutungsförderenden Medikamenten diskutiert. Einige Autoren betrachten diese Behandlung als unwirksam [9]. Virostatika in Kombination mit Glukokortikoiden stellen einen kausalen Behandlungsansatz dar, wenn eine viral verursachte Erkrankung ver-
mutet wird. Nach der Verabreichung eines antiviralen Medikamentes (Valaciclovir) konnte in einer aktuellen Studie keine Verbesserung der vestibulären Kompensation beim Vestibularisausfall festgestellt werden. Die alleinige Behandlung mit Glukokortikoiden (z. B. Tag 1–3: 100 mg Methylprednisolon, Tag 4–6: 80 mg, Tag 7: 60 mg, weiter in abfallender Dosierung) ist effektiv [72]. Wichtig
Nach evidenzbasierten Kriterien führt die alleinige Gabe von Glukokortikoiden beim Vestibularisausfall zu einer besseren vestibulären Kompensation. Antivirale Medikamente haben keinen positiven Effekt.
Die Gabe einer fixen Kombination von Cinnarizin (20 mg) und Dimenhydrinat (40 mg) führt bereits nach 1 Woche zu einer besseren Reduktion von akuten vestibulären Schwindelbeschwerden, als die Monotherapie mit diesen Medikamenten [67]. Die Kombination von Cinnarizin und Dimenhydrinat sowie auch Betahistin beeinträchtigen einer neueren Studie zufolge die Vigilanz nur geringfügig [66]. Eine signifikante Verbesserung von akuten Schwindelbeschwerden konnte in einer randomisierten Doppelblindstudie auch mit einem homöopathischen Arzneimittel erzielt werden [81]. Bei allen Labyrinthschädigungen erfolgen vestibuläre Kompensationsmechanismen, wenn das Zentralnervensystem zu einer entsprechenden Funktion in der Lage ist. Der Prozess der vestibulären Kompensation wird durch ein spezielles vestibuläres Training gefördert, was in tierexperimentellen Studien belegt werden konnte, sodass ein gestörtes Tonusgleichgewicht bei einer einseitigen Läsion des Gleichgewichtsorgans wiederhergestellt werden kann [9, 38, 65]. Um die zentralen vestibulären Kompensationsvorgänge zu trainieren, ist das allmähliche, systematische, individuelle Aufsuchen von Situationen, die schließlich das gesamte vestibuläre System einbeziehen
73 6.5 · Therapie ausgewählter Krankheitsbilder
(Konfliktsuche), die wirkungsvollste physikalische Therapiemethode [18]. Ziel dieser speziellen physikalischen Therapie ist eine Beschleunigung der Neueinstellung des vestibulookulären Reflexes. Die Neuorganisation des vestibulookulären Reflexes wird nur aufgrund der Plastizität des Zentralnervensystems möglich [15]. Hamann hat in den 80er-Jahren ein vestibuläres Trainingsprogramm entwickelt, mit dem Schwindelbeschwerden in etwa 90% der Fälle gebessert werden können [32, 33]. In der Literatur findet sich eine Vielzahl weiterer komplexer physikalischer Trainingsprogramme [11, 24].
6.5.2 Menière-Krankheit Die Behandlung der Menière-Krankheit kann medikamentös (Anfallstherpie und Anfallsprophylaxe) sowie chirurgisch erfolgen. Initial ist eine Anfallsprophylaxe für einen Zeitraum von ca. 4–12 Monaten empfehlenswert. Hierfür kommt in erster Linie Betahistin infrage. Für die Dauermedikation sollte zunächt die von den Herstellern empfohlene Dosis verordnet werden (3mal 8 bis 3-mal 16 mg). In begründeten Einzelfällen bei unbefriedigendem Therapieerfolg ist eine Dosiserhöhung (3-mal 48 mg oder höher dosiert) erforderlich (off-label use). Beim Versagen ist eine Therapie mit Diuretika (Hydrochloridthiazid und Triamteren) indiziert. Die Anfallstherapie erfolgt mit einem Antivertiginosum, am günstigsten als Suppositorium. Falls Schwindelanfälle mit einer Aura vorliegen, besteht so die Möglichkeit der schnellen Selbsbehandlung [9, 80]. Eine weitere Möglichkeit ist die intratympanale Gentamicintherapie. Trotz hoher Erfolgsraten wird die Methode kontrovers diskutiert, insbesondere im Hinblick auf Hörstörungen sowie eine Wiederkehr der Bogengangs- und Otolithenfunktion. Lange, der die Methode in der klinische Praxis etablierte, berichtete kürzlich über eine intratympanale Intervalltherapie, bei der unter Verwendung niedriger Gentamicindosen nicht mehr
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mit Hörverlusten zu rechnen ist. Die Autoren empfehlen auch eine Behandlung der Gegenseite bei der bilateralen Form [45–48]. Die Labyrinthanästhesie beruht auf der Instillation von Lokalanästhetika (Xylocain, Lidocain) in das Mittelohr [2, 27, 22, 61]. Auch für diese Methode werden hohe Erfolgsraten, aber ebenfalls Verschlechterungen des Hörvermögens berichtet [80]. Wichtig
Die intratympanale Gentamicintherapie und die Labyrinthanästhesie stellen bei erfolgloser Anfallsprophylaxe eine häufig für den Patienten dankbare, wenn auch umstrittene Therapieoption dar.
Für die chirurgische Behandlung sind eine Vielzahl an funktionserhaltenden (Sakkotomie, Cochleosakkulotomie) und destruktiven operativen Therapiemethoden (Neurektomie, Labyrinthektomie) entwickelt worden [80]. Häusler betrachtet die Neurektomie des N. vestibularis aufgrund der hohen Erfolgsraten als Goldstandard für die Behandlung der schweren, therapieresistenten Menière-Krankheit bei noch nutzbarer Hörfunktion. Eine rasche Indikationsstellung wird bei schweren Fällen gefordert [34]. Wesentliche Faktoren für die Wahl der Therapie sind der Zustand des Patienten, die Dauer der Erkrankung, die Erfolge einer konservativen (medikamentösen) Therapie, das Hörvermögen, die Seitenlokalisation sowie der Funktionszustand der Anteile des Gleichgewichtsorganes. Der unregelmäßige Verlauf, die hohe Variabilität und das derzeitige Unvermögen der Abschätzung einer Prognose erschweren die Wahl der Behandlungsmethode [80]. Die praktische Erfahrung zeigt, dass bei der Erkrankung bereits frühzeitig psychische Folgen entstehen können [62].
74
Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
6.5.3 Benigner paroxysmaler
Lagerungsschwindel
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Für alle Formen und Varianten des benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels wurden aktive physikalische Therapieverfahren entwickelt. Ziel aller Behandlungsmethoden ist eine Rückführung der »verloren gegangenen« Teilchen, den Otolithenkonglomeraten, aus den betroffenen Bogengängen in den Utrikulus. Bei der Behandlung werden entweder Beschleunigungskräfte angewendet (Befreiungsmanöver nach Semont) oder die Gravitation ausgenutzt (Repositionsmanöver nach Epley, [19, 68]). Ist der hintere oder vordere Bogengang betroffen, kann das Semont- oder Epley-Manöver angewendet werden [19, 68]. Für die physikalische Behandlung des gutartigen Lagerungsschwindels des vorderen Bogengangs müssen beide Methoden modifiziert angewendet werden [80]. Auch für die sehr seltene Form der horizontalen Canalolithiasis gibt es aktive Therapiemethoden [49, 73]. Auch diese Methoden bedienen sich der Einwirkung der Schwerkraft (»Repositionsmanöver«). In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist mit beiden Methoden eine schnelle und für den Patienten eindrucksvolle Therapie möglich. Ausgeprägte vegetative Reaktionen können die Diagnostik und das therapeutische Vorgehen in Einzelfällen erschweren und verzögern [76, 80]. Wichtig
Bei der Durchführung des Semont-Manövers wird der Therapieerfolg durch schnelle Lagerungen mit abruptem Abbremsen des Kopfes erhöht. Die Kopfposition sollte während der Therapie nicht verändert werden. Die zwischenzeitlichen Pausen während der Seitwärtslagerung sollten wenigstens 1 Minute betragen.
Als passive Therapieform (Selbstbehandlung) kann auch das Brandt-Daroff-Manöver angewen-
det werden [8]. Die Autoren erzielten damit nach 14-tägiger Therapie bei über 90% der Patienten eine Heilung. Nach der aktiven Therapie wird von vielen Patienten eine für mehrere Stunden oder Tage andauernde Schwindelempfindung wahrgenommen, die einem Otolithenschwindel ähnelt und vom Lagerungsschwindel deutlich unterschieden werden kann [76, 80]. Die Behandlung eines gutartigen Lagerungsschwindels kann ausschließlich ambulant durchgeführt werden. Es handelt sich um eine sehr effiziente neurootologische Therapieform. Instruktionen wie das Schlafen mit erhöhtem Kopf nach der Behandlung beeinflussen den Behandlungserfolg nicht. Wichtig
Eine vestibuläre Differenzialdiagnostik und ggf. eine bildgebende Diagnostik muss dann durchgeführt werden, wenn die physikalische Therapie nach mehreren aktiven Therapieversuchen nicht erfolgreich war.
Die operative Therapie des gutartigen Lagerungsschwindels ist sehr selten indiziert und therapieresistenten Fällen vorbehalten [40]. Sie sollte erst durchgeführt werden, wenn die physiotherapeutische Rehabilitation erfolglos war, wenn andere, seltene Formen eines gutartigen Lagerungsschwindels ausgeschlossen worden sind und differenzialdiagnostisch keine andere Erkrankung infrage kommt.
6.5.4 Borreliose Eine generelle Antibiotikaprophylaxe nach Zeckenkontakt ist nach Meinung einiger Autoren nicht sinnvoll [86]. Dagegen kann durch eine Einmalgabe von Doxycyclin (200 mg oral) innerhalb von 72 Stunden nach einem Zeckenstich nach Untersuchungen in einem amerikanischen Ende-
75 6.5 · Therapie ausgewählter Krankheitsbilder
miegebiet mit einer hohen humanpathogenen Erregerlast von Borrelia burgdorferi die Entwicklung einer Borreliose signifikant vermindert werden [52]. Im Hinblick auf eine Therapie muss zwischen der mononeuritischen Verlaufsform einer Borreliose, die sich in der Frühphase als akuter einseitiger Vestibularisausfall manifestieren kann, und einer Neuroborreliose unterschieden werden [78]. Die Therapie der »Mononeuritis« des 8. Hirnnerven sollte ebenso wie beim Erythema migrans mit Doxyxyclin (2-mal 100 mg pro Tag für Erwachsene), Amoxicillin (50 mg/kg pro Tag) oder Cefuroxim (2-mal 500 mg/Tag für Erwachsene) über mindestens 14 Tage erfolgen. In den Leitlinien für die Antibiotikatherapie der Infektionen an Kopf und Hals werden im Stadium 1 der Erkrankung Amoxicillin, Cefuroxim oder Doxycyclin (ab dem 9. Lebensjahr) empfohlen [21]. Eine einmal erworbene und erfolgreich behandelte Erkrankung schützt nicht vor einer Reinfektion. Ein Absinken und späteres vollständiges Verschwinden der Antikörpertiter sind ein Zeichen für einen Therapieerfolg. Wichtig
Im Stadium 1 einer Borreliose sollte im Kindesalter Amoxicillin oder Cefuroxim, im Erwachsenenalter Doxyxyclin der Vorzug gegeben werden. Die Erkrankung hinterlässt keine Immunität. Eine Impfung ist derzeit nicht verfügbar.
6.5.5 Zoster oticus Eine frühe antivirale Therapie unmittelbar nach Diagosestellung eines Zoster oticus wirkt sich positiv auf den Krankheitsverlauf und die Abheilung der Effloreszenzen aus. Die Ergebnisse klinischer Studien haben aber auch gezeigt, dass eine rasche Therapie schmerzlindernd wirkt und das Auftreten einer postzosterischen Neuralgie beim zervi-
6
kalen und kranialen Zoster gerade bei älteren Menschen positiv beeinflusst [6, 42, 57]. Auch einer Chronifizierung von Schmerzen (postzosterische Neuralgie) wird damit vorgebeugt [87]. Ein Therapiebeginn innerhalb von 72 Stunden nach Auftreten der ersten Hautveränderungen wird als optimal angesehen [88]. Aufgrund des unregelmäßigen Krankheitsverlaufes ist eine rechtzeitige kausale Therapie beim Zoster oticus aus klinischer Sicht nur in den seltensten Fällen realisierbar. Im Allgemeinen ist eine systemische virostatische Therapie 72 Stunden nach dem Auftreten der ersten Hauterscheinungen nicht mehr sinnvoll. Bei immunsupprimierten Patienten mit einem Zoster sowie bei einem kranialen Zoster (Zoster oticus et ophthalmicus) ist eine antivirale Therapie aber auch noch nach mehr als 3 Tage nach Erkrankungsbeginn indiziert [87, 88]. Eine orale Gabe virostatischer Medikamente kann beim Zoster oticus ausreichend sein. Die intravenöse Verabreichung ist schweren Fällen, insbesondere bei immunsupprimierten Patienten, vorbehalten (. Tab. 6.3). Die Indikationen für eine antivirale Therapie sind in den Leitlinien »Zoster und Zosterschmerzen« der Arbeitsgemeinschaft Dermatologische Infektologie der Deutschen Gesellschaft für Dermatologie ausführlich dargestellt [25, 26]. Wichtig
Eine multimodale Therapie des Zoster umfasst eine topische Behandlung (Silbersufaziadancreme), eine suffiziente Schmerzbehandlung, die Gabe von Kortikosteroiden und eine kausale und symptomatische antivirale Therapie.Topische Virostatika haben keinen Effekt [25, 26, 42, 87].
Für die Behandlung einer Zosterneuralgie ist der Nutzen für Gabapentin und trizyklische Antidepressiva nach evidenzbasierten Kriterien belegt [44]. Die seit einigen Jahren angebotene Immu-
76
Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
. Tabelle 6.3. Antivirale Therapie des Herpes zoster [nach 25, 26, 87, 88]. Medikament
Dosierung
Applikationsdauer
Aciclovir (i.v.)1
Kinder: 3-mal 5–10 mg/kg Erwachsene: 3-mal 10–15 mg/kg (max. 2500 mg/Tag)
7 Tage
Aciclovir (oral)
Kinder und Jugendliche: 5-mal 15 mg/kg (max. 4000 mg/Tag) Erwachsene 5-mal 800 mg/Tag
7 Tage
Valaciclovir (oral)
Immunkompenente Erwachsene: 3-mal 1000 mg/Tag
7 Tage
1 Die intravenöse Therapie mit Aciclovir ist bei Patienten mit schwerem Krankheitsbild und für immunsupprimierte
Patienten empfohlen, Applikationsdauer und Höchstdosis 10 Tage.
6 nisierung gegen Varicella-zoster-Viren scheint sich ebenfalls positiv auf die Entwicklung eines Zoster auszuwirken.
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Kapitel 6 · Diagnostik und Therapie vestibulärer Störungen
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7 Die chirurgische Behandlung von Gleichgewichtsstörungen A. Ernst
7.1
Einleitung
– 80
7.2
Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsorgans
– 80
7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.2.4
Menière-Krankheit – 80 Endolymphhydrops – 81 Erkrankungen der Bogengänge – 81 Weitere Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsorgans
– 83
7.3
Erkrankungen des zentralen Anteils des Gleichgewichtssystems – 83
7.3.1 Neurovaskuläre Kompressionssyndrome des 8. Hirnnerven – 83 7.3.2 Weitere Erkrankungen des zentralen Gleichgewichtssystems – 84
7.4
Fazit für die Praxis Literatur
– 85
– 85
7
80
Kapitel 7 · Die chirurgische Behandlung von Gleichgewichtsstörungen
7.1
Einleitung
Während sich in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die hörverbessernden chirurgischen Verfahren zügig entwickelt haben, kamen die chirurgischen Eingriffe am Gleichgewichtssystem erst mit einer etwa 10-jährigen Pause Anfang der 60er-Jahre im größeren Umfang in den weltweiten klinischen Alltagseinsatz [38]. Von Pioniertaten und einzelnen Zentren abgesehen (z. B. Eröffnung des Endolymphsacks durch George Portmann 1926 [40]), hat durch die Verfeinerung der mikrochirugischen Techniken [19] und des dazu erforderlichen Instrumentariums bzw. intraoperativer Monitoringtechniken [5, 38], durch die verbesserte Bildgebung (CT, MRT, MR-Angiografie, [2, 15]) und die wissenschaftliche Aufdeckung verschiedener pathophysiologischer Grundlagen von Gleichgewichtsstörungen (isolierte Otolithenfunktionsstörungen, Erkrankungen einzelner Anteile des 8. Hirnnerven [16, 17, 40, 47]) erst relativ spät eine, dann vergleichsweise stürmische Entwicklung eingesetzt, deren Ende heute noch nicht abzusehen ist [10, 25]. Prinzipiell sollte vor dem Abwägen chirurgischer Maßnahmen das Spektrum konservativmedikamentöser oder habituativ-kompensatorisch wirksamer (z. B. Vestibularistraining) Therapieschritte ausgeschöpft werden. Dieser scheinbar triviale Satz gilt umso mehr in Zeiten sich verschärfender medikolegaler Auseinandersetzungen, wo die Indikationsstellung zu einzelnen Eingriffen regelmäßig auf den Prüfstand der Gerichtsbarkeit kommt, sodass der Grundsatz der abgestuften Therapieplanung (nichtinvasive hin zu invasiven, chirurgischen Verfahren [28]) und der Verhältnismäßigkeit (v. a. bei größeren otoneurochirurgischen Therapieverfahren) Berücksichtigung finden muss. Der Verweis auf Leitlinien ist dabei vor Gericht wenig hilfreich, wie die Realität jüngster OLG-Urteile beweist, denn die individuelle Beeinträchtigung der Lebenswirklichkeit des einzelnen Patienten durch die Gleichgewichtsstörung wird beurteilt [3].
7.2
Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsorgans
7.2.1 Menière-Krankheit Die Menière-Krankheit ist eine anfallsartige Erkrankung, die im Vollbild durch die Trias Tieftonschwerhörigkeit, Tinnitus und Drehschwindel charakterisiert ist [28]. Wichtig
Ein Endolymphhydrops lässt sich im MRT oder durch eine Elektrocochloegraphie (EcoG) nur in ca. 30% aller Menière-Patienten nachweisen [22], sodass die Begriffe Endolymphhydrops und Menière-Krankheit keineswegs synonymisch verwandt werden sollten.
Das Spätstadium der Erkrankung wird nach der Einteilung der Amarican Academy of Otolaryngology (AAO-HNS-Klassifikation) durch das Stadium IV charakterisiert. Es führt zu einer hochgradigen, pantonalen Innenohrschwerhörigkeit [7]. Nach frustraner medikamentöser Einstellung (z. B. Betahistin) sollten bei persistierenden Drehschwindelattacken die folgenden Therapiemaßnahmen abgewogen werden (in dieser Reihenfolge, nach [28]): 4 Einlage eines Paukenröhrchens oder eines Installationssystems zum Einbringen von Gentamycin ins Mittelohr [48], 4 Sakkusexposition (chirurgische Exposition des Saccus endolymphaticus [36]), ggf. mit Durchtrennung des oberen Hammerbandes [20], 4 Labyrinthektomie, wenn das Hörvermögen funktionell nicht mehr nutzbar ist [4, 23], 4 Neurektomie des N. vestibularis superior über einen oto-neurochirurgischen Zugang (. Abb. 7.1 [24, 35]). Die Sakkusexposition wird durch eine Mastoidektomie eingeleitet [44], bis der Ductus/Sac-
81 7.2 · Erkrankungen des peripheren Gleichgewichtsorgans
a
7
werden. Damit ist ebenfalls eine sichere Ausschaltung des Wiederauftretens von Drehschwindelanfällen gewährleistet. Der chirurgische Aufwand ist jedoch größer und die Patienten beklagen in der Regel postoperativ zu gelegentlichem Schwankschwindel, der durch die Neurektomie und die damit verbundene Deafferentierung des Utrikulus bedingt ist [6, 31]. Die Kompensation ist (außer bei älteren Patienten) gut, im Dunkeln und bei komplexen Bewegungen kann es jedoch zu verstärkter Unsicherheit kommen [41].
b
7.2.2 Endolymphhydrops
. Abb. 7.1. Darstellung des 8. Hirnnerven nach retrosigmoidalem Zugang zum Kleinhirnbrückenwinkel [10]. a Vor, b nach Neurektomie des N. vestibularis superior
cus endolymphaticus auf der Dura der hinteren Schädelgrube (zwischen Sinus sigmoideus und hinterem Bogengang) von Umgebungsknochen befreit ist [33]. Revisionseingriffe lohnen sich beim Wiederauftreten von Drehschwindelanfällen, denn gelegentlich kommt es zu einer überschießenden Knochenneubildung bzw. Narbenbildung in dieser Region [13]. Die transmastoidal auszuführende Labyrinthektomie [4] stellt die für den Patienten sicherste chirurgische Methode dar, um das Wiederauftreten von Drehschwindelanfällen zu verhindern. Sie ist jedoch nur begrenzt einsetzbar bei Patienten mit funktioneller Taubheit, die keine nutzbaren Hörreste mehr haben. Die Neurektomie des N. vestibularis superior kann entweder translabyrinthär (bei funktioneller Taubheit), über die mittlere Schädelgrube oder über einen retrosigmoidalen Zugang durchgeführt
Ein Endolymphhydrops wird durch das Fehlen von Hörstörungen von der Menière-Krankheit abgegrenzt. Ein Endolymphhydrops kann idiopathisch (AAO-HNS-Klassifikation: vestibular Menière’s disease, Brackmann), immunologisch vermittelt oder posttraumatisch auftreten [17, 42]. Allen gemeinsam ist dabei die pathohistologisch nachgewiesene Fibrosierung des Ductus/ Saccus endolymphaticus: ein lokales Entzündungsgeschehen, hervorgerufen z. B. durch eine Virusinfektion oder einen stumpfen Kopfanprall [32]. Diagnostische Kriterien sind das Auftreten von Drehschwindelanfällen (anamnestisch) und ein positiver Hydropsnachweis mit Hilfe der EcoG (Summationspotenzial/Aktionspotenzial Ratio ! 0,30; . Abb. 7.2 [7, 22]). Die chirurgische Therapie richtet sich nach den Richtlinien der Therapie der Menière-Krankheit, wobei selten eine Neurektomie erwogen werden muss [39].
7.2.3 Erkrankungen der Bogengänge Rezidivierende Canalolithiasis des hinteren Bogengangs Die Canalolithiasis (Synonym: benigner, paroxysmaler Lagerungsschwindel, BPPV) tritt zu 90% im hinteren Bogengang auf [34]. Die Diagnose
82
Kapitel 7 · Die chirurgische Behandlung von Gleichgewichtsstörungen
. Abb. 7.2. Elektrocochleographie (EcoG) beim gesunden Ohr (obere Abbildung) und bei der Menière-Krankheit (untere Abbildung)
7
lässt sich gut über einen auftretenden Reiznystagmus mit rotatorischer Komponente ins betroffene Ohr beim Epley-Manöver stellen. Falls die dann anzuwendenden, konservativen Repositionsmanöver (z. B. nach Semont, Parnes, Epley, Brandt) nur temporär eine Besserung ergeben, kann eine Okklusion des hinteren Bogengangs erfolgen [34]. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Patient entsprechend beruflich exponiert ist (z. B. Bauingeneur). Ein Wiederauftreten im betroffenen Bogengang ist dann nicht mehr möglich. Dieser Eingriff trägt – bei technisch korrekter Ausführung – ein vergleichsweise zu vernachlässigendes Risiko für eine bleibende Innenohrhörstörung in sich [34]. Dabei wird der hintere Bogengang dargestellt, freigeschliffen und
mit einem Patch (z. B. Knochenwachs) verschlossen [1].
Dehiszenzsyndrome Dehiszenzsyndrome (SCDS, PCDS) wurden erst in der jüngsten Vergangenheit durch hochauflösende Felsenbein-CTs dargestellt [21, 45]. Dabei fehlt dem oberen (SCDS) oder dem hinteren (PCDS) Bogengang ein Teil der knöchernen Bedeckung zur mittleren Schädelgrube, sodass hier ein »mobiles drittes Innenohrfenster« entsteht. Die Leitsymptome sind ein Tullio-Phänomen (Schwindel bei lauter akustischer Beschallung), ein Schwankschwindel und variable Hörstörungen. Diese Symptome können auch isoliert vorkommen [45]. Da es keine konservative The-
83 7.3 · Erkrankungen des zentralen Anteils des Gleichgewichtsystems
7
4 Gleichgewichtsreizung durch Mittelohrimplantate (z. B. posttraumatisch dislozierter Stapespiston [46]): Entfernung der Prothese, Abdecken der Öffnung zum Innenohr mit Bindegewebe und Fibrinkleber und begleitende medikamentöse Behandlung; 4 Endolymphsacktumoren (seltene Erkrankung, die zu Drehschwindelanfällen führt [30]): oto-neurochirurgische Entfernung [9, 27]. . Abb. 7.3. Darstellung des oberen Bogengangs (SC) und des hinteren Bogengangs (PC) kurz vor Okklusion mit Knochenwachs über einen transmastoidalen Zugang [34]
rapieoption gibt, sollte eine chirurgische Behandlung eingeleitet werden. Die Abdeckung der Dehiszenz kann transmastoidal (Okklusion des betroffenen Bogengangs) oder über einen oto-neurochirurgischen Zugang erfolgen (middle fossa approach, . Abb. 7.3 [21, 37]).
7.2.4 Weitere Erkrankungen des peri-
pheren Gleichgewichtsorgans Eine Reihe anderer Erkrankungen, die ihren Ursprung im peripheren Gleichgewichtsorgang haben, sind mit dem Leitsymptom »Schwindel« verknüpft. Auch sie sind einer chirurgischen Therapie zugänglich. Zu diesen Erkrankungen gehören: 4 Perilymphfisteln (zumeist posttraumatisch durch Kopfanprall entstanden, gerne in Kombination mit Hörstörungen): Abdecken der runden und ovalen Fensternische mit Bindegewebe und Fibrinkleber [16]; 4 Felsenbeinfraktur (häufig als isolierte Promontorialwandfraktur): Abdecken des Frakturspaltes mit Temporalisfaszie und Fibrinkleber; 4 Labyrinthitis (entzündliche Komplikation einer Mastoiditis): Mastoidektomie (Herdsanierung) und liquorgängige Antibiotikagabe;
7.3
Erkrankungen des zentralen Anteils des Gleichgewichtssystems
7.3.1 Neurovaskuläre Kompressions-
syndrome des 8. Hirnnerven Mikrovaskuläres Kompressionssyndrom Die anatomische Nähe von Gefäßen im Kleinhirnbrückenwinkel zu den dort verlaufenden Hirnnerven macht es möglich, dass es dabei zu einer mechanischen Irritation dieser Nerven durch die Gefäßeigenpulsation kommt, häufig auch verstärkt durch einen arteriellen Hypertonus oder die physiologische Gefäßalterung mit einem relativen Verlust an Wandelastizität [38]. Unbestritten sind die chirurgischen Behandlungoptionen bei Hemispasmus facialis, Trigeminusund Glossopharyngeusneuralgie [14, 29]. Das klinische Bild der neuro(mikro)vaskulären Kompression des 8. Hirnnerven ist sehr variabel und abhängig von der jeweiligen Position, an der es zum Kontakt zwischen der A. inferior cerebelli anterior und dem 8. Hirnnerven kommt. Zudem gleicht es vielfach der Menière-Krankheit. Wichtig
Nach frustraner medikamentöser Therapie sollte vor allem bei anhaltenden Drehschwindelanfällen eine mikrovaskuläre Dekompression durchgeführt werden [8, 18].
84
7
Kapitel 7 · Die chirurgische Behandlung von Gleichgewichtsstörungen
Sichere funktionsdiagnostische Hinweiszeichen einer neuro(mirko)vaskulären Kompression sind eine verlängerte Leitzeit JI-III (BERA, d. h. Welle I – III der brainstem evoked response audiometry), fehlende Stapediusreflexe und ausgefallene TEOAEs (=traniently evoked otoacoustic emissions; bei Normakusis, durch Kompression der akustikofazialen Fasern und der efferenten Fasern) und ausgefallene VEMPs [5, 18]. Der Nachweis wird durch MR-Angiografie geführt. Das operative Vorgehen ähnelt dem der Vestibularisneurektomie (. Abb. 7.4), wobei im Zuge der mikrovaskulären Dekompression zwischen A. inferior cerebelli anterior und 8. Hirnnerven Material eingebracht wird, um eine Trennung vorzunehmen [8, 11, 12]. Einige Autoren empfehlen die gleichzeitige Neurektomie des N. vestibularis superior, um Rezidive sicher auszuschließen, andere weisen darauf hin, dass die Erkrankung einen sekundären Endolymphhydrops (durch Rückstau in der Perieuralscheide) induzieren kann, sodass eine begleitende Sakkusexposition vor allem zur Behebung des Ototonus hilfreich ist [24, 43].
. Abb. 7.4. Blick in den Kleinhirnbrückenwinkel nach durchgeführter mikrovaskulärer Dekompression des 8. Hirnnerven (A), mit eingebrachtem Ivalon-Patch (B), der die A. inferior cerebelli anterior (C) mit einer darübergelegenen Schlinge vom Nerven abhalten soll, unter intraoperativem, neurophysiologischem Hirnnervenmonitoring (D)
Makrovaskuläres Kompressionssyndrom Wenn der Circulus arteriosus Willisii seine Verzweigungen abgibt, kann es bei hyperplastischen Gefäßen zum direkten Gefäßknotakt mit dem Hirnstamm kommen (. Abb. 7.5). Dies verursacht Schwindel, zumeist als diffusen Taumel oder als permanentes Unsicherheitsgefühl, und einen pulssynchronen Tinnitus auf dem HNO-Gebiet. Es kann aber auch zu Herz-Kreislauf-Symptomen wie labilem Hypertonus und Palpitationen aufgrund der Nähe zu den Regulationszentren im Hirnstamm führen [38]. Neurochirurgische Interventionen analog zur mikrovaskulären Dekompression sind möglich, sollten aber aufgrund der Nähe zum Hirnstamm genau gegenüber einer medikamentösen Therapie abgewogen werden.
7.3.2 Weitere Erkrankungen des zent-
ralen Gleichgewichtssystems Das Akustikusneurinom wird in 7 Kap. 8 beschrieben. Daher soll an dieser Stelle lediglich darauf verwiesen werden, dass andere im Klein-
. Abb. 7.5. MR-angiografische Darstellung eines makrovaskulären Kompressionssyndroms am Hirnstamm mit komprimierter A. vertebralis (Pfeil)
85 Literatur
hirnbrückenwinkel und im inneren Gehörgang vorkommende Tumore (z. B. Meningeome) ähnlich wie Akustikusneurinome operiert werden. Da die Operationstechniken zur mikrovaskulären Dekompression bei deren Entwicklung in den 70er- und 80er-Jahren häufig Teflonpatches einsetzten, ist das Wiederaufflackern von Schwindelbeschwerden nach 20 Jahren gelegentlich Folge einer Fremkörperreaktion (Teflongranulom). Dieser Fremdkörper wird mikrochirurgisch entfernt.
7.4
Fazit für die Praxis
Wenn die medikamentöse Therapie bei Gleichgewichtsstörungen versagt, lassen sich periphere Störungen gut und sicher chirurgisch behandeln. Die Vordiagnostik und die Indikationsstellung zum Einsatz chirurgischer Verfahren bei zentralen Gleichgewichtsstörungen erfordert spezielles Equipment und Erfahrung und sollte spezialisierten Zentren vorbehalten bleiben.
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7 30.
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33.
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36. 37.
38. 39.
40.
Kapitel 7 · Die chirurgische Behandlung von Gleichgewichtsstörungen
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8 Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen B. Schick, H. Iro
8.1
Einleitung
– 88
8.2
Das Wachstumsverhalten
8.3
Therapieentscheidungen – 89
– 88
8.3.1 Konservatives Management – 89 8.3.2 Operative Therapie – 90 8.3.3 Radiochirurgie – 94
8.4
Zusammenfassung Literatur
– 96
– 95
8
88
Kapitel 8 · Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen
8.1
Einleitung
Das Vestibularisschwannom stellt mit 8% den häufigsten intrakraniellen Tumor dar, der bei Lokalisation im inneren Gehörgang und/oder dem Kleinhirnbrückenwinkel von den Myelinscheiden des 8. Hirnnerven ausgeht. Wenngleich der Tumor auch als Akustikusneurinom bezeichnet wird, geht die Neubildung in mehr als 90% von den Gleichgewichtsnerven aus. Als Sonderform ist die Neurofibromatose vom Typ 2 zu beachten, bei der überwiegend beidseitige Tumormanifestationen auftreten. Als Erstsymptome werden insbesondere eine langsam progrediente einseitige Hörminderung sowie ein unilateraler, kontinuierlicher und hochfrequenter Tinnitus beobachtet [1]. Vestibuläre Beschwerden werden aufgrund der Kompensation des über einen längeren Zeitraum entstehenden vestibulären Funktionsverlustes hingegen selten angegeben. In der Diagnostik kommen die Hirnstammaudiometrie und als Goldstandard die kernspintomographische Untersuchung des inneren Gehörgangs/Kleinhirnbrückenwinkels zur Anwendung. Die erhöhte Verfügbarkeit von kernspintomographischen Untersuchungsmöglichkeiten hat zu einer gestiegenen Inzidenz von diagnostizierten Vestibularisschwannomen geführt, wobei insbesondere die Anzahl detektierter kleiner Vestibularisschwannome ansteigt. Aktuelle Inzidenzangaben gehen davon aus, dass pro 1 Million Einwohner und Jahr die Diagnose von 6–20 Tumoren zu erwarten ist [2, 3]. Mit der Zunahme der durch die Kernspintomographie diagnostizierten Vestibularisschwannome stellt sich die Frage nach der konkreten Therapieempfehlung, und zwar besonders bei einem Tumor von geringer Größe. Hierbei ist vor allem das in den vergangenen Jahren verstärkt ins Bewusstsein gerückte Wachstumsverhalten dieser Neubildung zu beachten.
8.2
Das Wachstumsverhalten
Das erwartete und insbesondere das dokumentierte Wachstumsverhalten des Tumors bilden heute die Grundlage von Therapieempfehlungen. Im Allgemeinen wird eine geringe Wachstumstendenz (1–2 mm/Jahr) bei Vestibularisschwannomen erwartet. Nur bei einem kleinen Anteil (6%) werden höhere Proliferationsraten genannt [1]. Diese Hinweise zum Wachstumsverhalten werden aber der sehr unterschiedlichen Tumorbiologie nicht in vollem Umfang gerecht. Vestibularisschwannome können kontinuierlich oder bis zu einer bestimmten Größe wachsen. Sie können aber auch eine Stagnation ohne Größenprogredienz oder sogar eine Größenabnahme zeigen [3]. Tumorbiologische Antworten auf dieses unterschiedliche Tumorwachstum konnten trotz der Bestimmung von zahlreichen Wachstumsfaktoren bisher nur in Anfängen gegeben werden. Aggressives Tumorwachstum korrelierte mit einem Verlust der p27-Expression [4]. Von großer Bedeutung für das aktuelle Management des Vestibularisschwannoms ist die Berücksichtigung der jeweils aktuellsten klinischen Datenlage zum Wachstumsverhalten des Tumors. In einer Übersicht berichteten Stangerup und Mitarbeiter (2006), basierend auf Literaturmitteilungen, von der Beobachtung eines Tumorwachstums zwischen 30 und 90%, mit dem Hinweis auf teilweise sehr kleine Patientengruppen und unterschiedliche Einschlusskriterien. In einer prospektiven Analyse von 552 Patienten beobachteten die Autoren nur bei 17% der intrameatalen und bei 28,9% der extrameatalen Vestibularisschwannome mit einem maximalen Tumordurchmesser von weniger als 20 mm in einem Zeitraum von 4 Jahren nach Diagnosestellung ein Tumorwachstum, das als eine Zunahme des größten Tumordurchmessers von mehr als 2 mm definiert wurde. Nach einem Zeitraum von 5 Jahren nach Diagnosestellung wurde bei den 552 Patienten unabhängig von der Lokalisation kein weiteres Tumorwachstum festgestellt [3].
89 8.3 · Therapieentscheidungen
Von diesen Beobachtungen unterscheiden sich die beiden folgenden Sonderformen: Eine Besonderheit stellen zystische Vestibularisschwannome dar, die ein plötzliches und ausgeprägtes Tumorwachstum aufweisen können [5]. Auch Vestibularisschwannome im Rahmen einer Neurofibromatose zeigen ein Tumorwachstum, auf das die zuvor angegebenen Beobachtungen nicht angewendet werden können [6].
8.3
Therapieentscheidungen
Die Behandlung des Vestibularisschwannoms – und hier insbesondere des kleinen Tumors – ist Gegenstand intensiver Diskussionen. Nach der Diagnose eines Vestibularisschwannoms sind 3 Vorgehensweisen grundsätzlich möglich: 1. Bestimmung des weiteren Tumorwachstums durch kernspintomographische Kontrolluntersuchungen (»wait and scan philosophy«), 2. mikrochirurgische Tumorresektion, 3. Radiochirurgie. Während lange Zeit die mikrochirurgische Tumorresektion dominierte, haben die beiden weiteren Optionen im Management des Vestibularisschwannoms insbesondere in den vergangenen Jahren wesentliche Beachtung gefunden. Grundsätzlich besitzt jede der 3 Vorgehensweisen spezifische Vorzüge. Sie sind aber ebenso mit Risiken verbunden, sodass stets in der Zusammenschau aller bestehenden Funktionseinschränkungen und den kernspintomographischen Befunden eine Abwägung im Einzellfall erfolgen muss. Ferner sollte beachtet werden, dass trotz der bereits vorliegenden vielfältigen Erfahrungen unverändert offene Fragen bestehen, die eine endgültige Wertung aller 3 Therapieoptionen nicht zulassen. Entsprechende Langzeitresultate und prospektive Untersuchungen sind an dieser Stelle notwendig. Die nachfolgenden Ausführungen sollten daher stets in dem Kontext einer anhaltenden Entwicklung gesehen werden.
8
In der Abwägung der 3 Optionen stehen neben der Berücksichtigung der Tumorbiologie die Risiken einer Behandlung hinsichtlich funktioneller Defizite, die Frage der langfristigen Tumorkontrolle und das Ausmaß der Einschränkung der Lebensqualität des Patienten im Mittelpunkt der Überlegungen. Beim kleinen Vestibularisschwannom mit erhaltenem Hörvermögen wird für alle Managementkonzepte gegenwärtig die Möglichkeit des Erhaltes des Hörvermögens als zentrale Frage angesehen.
8.3.1 Konservatives Management Das konservative Management strebt durch wiederholte kernspintomographische Untersuchungen an, das Wachstumsverhalten des Tumors zu bestimmen, wobei diese Vorgehensweise in erster Linie beim kleinen Vestibularisschwannom Anwendung findet. Hierdurch werden Antworten auf die Fragen gesucht, ob der früh diagnostizierte Tumor mikrochirurgisch oder radiochirurgisch behandelt werden soll bzw. wann der geeignete Zeitpunkt für eine Behandlung vorliegt. Es sollte bei dem konservativen Management berücksichtigt werden, dass die Bestimmung des Tumorwachstums eines Vestibularisschwannoms im klinischen Alltag spezifische Anforderungen besitzt. Ein wichtiger Aspekt bei der Beurteilung eines Tumorwachstums stellt dabei die Beachtung der möglichen Variabilität von 2 zeitlich versetzten Untersuchungen unter anderem durch die Wahl unterschiedlicher Untersuchungsparameter dar. Als eine praktikable Vorgehensweise zur Erkennung eines Tumorwachstums unter klinischen Bedingungen wird daher der Vergleich des maximalen Tumordurchmessers angesehen [7]. Um eine mögliche Variabilität bei den Untersuchungen zu berücksichtigen, wurde vorgeschlagen, ein Tumorwachstum als eine Zunahme des maximalen Tumordurchmessers von mehr als 2 mm zu definieren [3]. Die Anwendung einer Volumenbestimmung zur exakteren Erfassung
90
8
Kapitel 8 · Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen
des möglichen Tumorwachstums findet bei klinischen Fragestellungen nur selten Anwendung, kann aber insbesondere bei speziellen Studienaspekten sinnvoll sein [8]. Im Vergleich mit einer mikrochirurgischen Tumorresektion oder Radiochirurgie bedeutet die Beobachtung des Wachstumsverhaltens keineswegs einen sicheren Funktionserhalt des Hörvermögens in der Beobachtungszeit. Insbesondere ein möglicher Hörverlust in der Beobachtungszeit mit der fehlenden Möglichkeit, das Hören durch eine der beiden anderen Optionen zu bewahren, wird als ein Kritikpunkt des konservativen Ansatzes benannt [9]. Von 15 Patienten mit einer Tonschwelle von d30 dB zeigten 10 Patienten (67%) bei einer mittleren Beobachtungszeit von 3 Jahren ein stabiles Hörvermögen. In der Gesamtgruppe von 62 Patienten dieser Studie mit einer messbaren Hörleistung verloren 7 vollständig das Hörvermögen im Verlauf der dreijährigen kernspintomographischen Kontrollen [10]. Shirato und Mitarbeiter (1999) gaben auf dem Boden der Untersuchungsbefunde von 23 Patienten mit einem einseitigen Vestibularisschwannom, die über einen Zeitraum von 35 Monaten beobachtet worden waren (Tumorwachstum 3,9 mm/Jahr), an, dass nur 61% der Patienten nach 3 Jahren und 31% der Patienten nach 5 Jahren ein dem Ausgangsbefund gleichwertiges Hörvermögen zeigten [11]. In einer Gruppe von 14 älteren Patienten wurde ein stabiles Hörvermögen bei einer Beobachtungszeit von 3,5 Jahren bei 6 Patienten berichtet [12]. In einer Studiengruppe von 111 Patienten mit den Einschlusskriterien einer Tumorgröße von weniger als 1,5 cm, eines Alters jenseits des 60. Lebensjahres oder der Ablehnung einer operativen Therapie beobachteten Bozorg Grayeli und Mitarbeiter (2005) nur bei 30% der Patienten ein stabiles Hörvermögen, wobei in 47% ein Tumorwachstum, in 47% eine stabile Tumorgröße und in 6% eine Abnahme der Tumorgröße in den kernspintomographischen Kontrollen vorlagen [13].
Diese ersten Erfahrungen belegen, dass ein konservatives Management des Vestibularisschwannoms mit dem Risiko eines Hörverlustes assoziiert ist. Dieser Hörverlust kann sich plötzlich, stufenweise oder kontinuierlich entwickeln. Hierbei ist zu beachten, dass ein Hörverlust nicht nur bei einer Größenzunahme des Tumors, sondern auch bei einem in seiner Größe unveränderten Vestibularisschwannom auftreten kann [14].
8.3.2 Operative Therapie Im Rahmen der operativen Therapie sind im Wesentlichen 3 Zugangswege zu unterscheiden: der translabyrinthäre, der transtemporale und der subokzipitale Zugang. Im Gegensatz zum translabyrinthären Vorgehen bieten der transtemporale und subokzipitale Zugang grundsätzlich die Möglichkeit eines Hörerhalts. Während der subokzipitale Zugang einen besseren Überblick über den Kleinhirnbrückenwinkel bietet, besitzt das transtemporale Vorgehen den Vorzug eines vollständig exponierbaren inneren Gehörgangs [15]. Ohne im Detail auf die Vorzüge und Nachteile der einzelnen Zugangsformen einzugehen, findet der transtemporale Zugang in erster Linie bei intrakanalikulären Tumoren mit dem Ziel des Hörerhalts Anwendung, während der subokzipitale Zugang bei Tumoren mit deutlicher Ausdehnung im Kleinhirnbrückenwinkel und fehlender Ausdehnung in den lateralen Abschnitt des inneren Gehörgangs dominiert. Bei bereits bestehendem Verlust der Hörfunktion ist nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Notwendigkeit einer Retraktion von Hirngewebe der translabyrinthäre Zugang zu beachten. Die grundsätzliche Frage nach der Entscheidung für ein mikrochirurgisches Vorgehen und die Bestimmung des optimalen Operationszeitpunktes stehen im Mittelpunkt der aktuellen Überlegungen zur Therapie des Vestibularisschwannoms [1]. Der Allgemeinzustand, das Alter, die bestehenden Symptome und die Tumor-
91 8.3 · Therapieentscheidungen
größe sind als Basiskriterien anzusehen, die bei der möglichen Wahl eines mikrochirurgischen Vorgehens zu berücksichtigen sind. Während bei großen Tumoren (>3 cm) die Chirurgie dominiert und bei subtotalen Resektionen mit einer Radiochirurgie kombiniert werden kann, stellt sich insbesondere bei kleineren Tumoren die Frage nach der Wahrscheinlichkeit des Erhalts der Gesichtsnervenfunktion sowie bei erhaltenem Hörvermögen die Wahrscheinlichkeit eines funktionellen postoperativen Hörerhalts. Bei all diesen Überlegungen muss der Aspekt der Lebensqualität des Patienten immer mitbedacht werden. Als ein wichtiger Vorzug der mikrochirurgischen Tumorresektion wird die Möglichkeit einer vollständigen Tumorresektion und damit die langfristige Tumorkontrolle benannt [15]. In Studien mit einer großen Patientenzahl werden vollständige Tumorresektionen in durchschnittlich 97% der Fälle angegeben [14]. In welcher Größenordnung bei dem chirurgischen Eindruck einer vollständigen Tumorresektion im Langzeitverlauf aber mögliche Tumorrezidive auftreten, das ist eine Frage, auf die nur in begrenztem Umfang eine Antwort aus den bisherigen Literaturmitteilungen abzuleiten ist. Angaben eines Tumorrezidivs von bis zu 9% im Langzeitverlauf nach mikrochirurgischer Tumorresektion werden in der Literatur angegeben [14]. Im Literaturüberblick wird unabhängig vom Zugangsweg ein Erhalt der N.-facialis-Kontinuität in über 95% und eine normale bzw. nur gering eingeschränkte Nervenfunktion (House-Brackmann-Grad I/II) in 70–90% angegeben [16]. Beim kleinen Vestubularisschwannom mit dem Ziel der Hörerhaltung werden von einzelnen Zentren uneingeschränkte postoperative N.-facialis-Funktionen von 97% mitgeteilt [9]. Es sollte jedoch beachtet werden, dass der N. facialis unabhängig von der Tumorgröße aufgetrieben sein kann. In Einzelfällen ist der N. facialis in den Tumor inkorporiert. Das ist ein Phänomen, das ebenfalls unabhängig von der Tumorgröße beobachtet wird [17], sodass in Einzelfällen ein deutlich erhöhtes
8
Risiko für eine postoperative Funktionseinschränkung des Gesichtsnerven gegeben ist. Wenn die Nervenscheide des N. facialis mit seinen mikrovaskulären Gefäßbündeln von dem Tumor infiltriert ist und eine vollständige Ablösung des Tumors nicht ohne die erhöhte Gefahr einer schweren postoperativen Funktionsstörung des N. facialis möglich ist, werden bei einem derartigen Befund bewusst Tumoranteile in Beziehung zum N. facialis belassen. Funktionsstörungen des N. intermedius haben im Gegensatz zum N. facialis bisher eine geringere Beachtung gefunden, wenngleich Funktionseinschränkungen wie ein trockenes Auge für den Patienten sehr störend sein können. Bei der Befragung von 224 Patienten wurde eine verminderte oder fehlende Tränenflüssigkeitsbildung von 9 Patienten präoperativ und von 162 Patienten postoperativ angegeben [18]. Der N. cochlearis ist bei großen Vestibularisschwannomen (>3 cm) in 90% in den Tumor inkorporiert, sodass der Aspekt eines Hörerhalts in derartigen Situationen keinen Einfluss auf das Managementkonzept nimmt. Die Frage des möglichen Hörerhalts stellt sich daher insbesondere bei Tumoren mit einem Durchmesser von weniger als 3 cm. In einer Literaturzusammenstellung wurde bei mikrochirurgischer Tumorresektion die Erfahrung eines Hörerhalts (Gardner/Robertson Klasse I–II) bei Wahl eines transtemporalen Vorgehens von durchschnittlich 50% und bei einem retrosigmoidalen Zugang von durchschnittlich 31% berichtet [16]. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der retrosigmoidale Zugang in aller Regel bei größeren Tumoren zur Anwendung kommt. Ein durchschnittlicher Hörerhalt von 48% findet sich bei Anwendung des retrosigmoidalen Zugangs bei ausschließlich intrakanalikulären Vestibularisschwannomen [16]. In Einzelfällen ist auch eine Hörverbesserung nach mikrochirurgischer Tumorresektion zu beobachten (. Abb. 8.1–8.4). Als häufigste postoperative Komplikation nach einer mikrochirurgischen Tumorresektion
92
Kapitel 8 · Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen
. Abb. 8.1. Axiale kernspintomographische Darstellung eines Akustikusneurinoms auf der linken Seite nach Kontrastmittelgabe mit intrameataler und geringer extrameataler Tumorausdehnung bei einem 54-jährigen Patienten
8
a . Abb. 8.2. Die präoperativen Untersuchungsbefunde zeigen eine Einschränkungen des Hörvermögens. a Tonaudiometrische Untersuchung, b sprachaudiometrische Untersuchung
b
wird die Liquorrhoe mit einer Häufigkeit von 10–15% berichtet. Als weitere Komplikationen sind eine Meningitis, Ödeme oder Kontusionen von Hirngewebe, intrakranielle Hämatome, eine Hemiparese, ein Hydrocephalus und Wundinfektionen zu beobachten [14]. Diese möglichen Komplikationen werden als ein Argument gegen die mikrochirurgische Therapieoption benannt,
sind aber abgesehen von einer postoperativen Liquorrhoe selten. Untersuchungen zur Lebensqualität nach Vestibularisschwannomresektionen zeigen, dass ein Teil der Patienten keine Beeinträchtigungen angibt, während ein anderer Teil der Patienten unterschiedliche Einschränkungen benennt. In einer Gesamtgruppe von 386 Patienten gaben 231 Pa-
93 8.3 · Therapieentscheidungen
8
a . Abb. 8.3. Erweiterte transtemporale Freilegung des inneren Gehörgangs. Es zeigt sich der betont im inneren Gehörgang lokalisierte rötliche Tumor
tienten (59,8%) keine wesentliche Einschränkung an, während 155 Patienten (40,2%) Einschränkungen in Form von Hörverlust (10,4%), Gleichgewichtsstörungen (10,1%), Funktionsstörungen des N. facialis (9,6%), Tinnitus (5,2%), Kopfschmerzen (3,1%) und ein trockenes Auge (1,8%) als das am stärksten beeinträchtigende Symptom berichteten [19]. Wenngleich der Hörverlust als häufigste Einschränkung benannt wird, ist zu beachten, dass beim Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen die Gesichtsnervenlähmung und ein trockenes Auge die am stärksten belastenden Beeinträchtigungen nach einer Operation sind [20]. Längerfristige Arbeitsunfähigkeiten aufgrund der genannten Einschränkungen sind möglich und werden als ein Nachteil des chirurgischen Therapiekonzeptes angesehen. Eine Abnahme der Lebensqualität in den verschiedenen Teilbereichen wird nach mikrochirurgischen Tumorresektionen berichtet, wobei der Einfluss des Lebensalters, der Tumorgröße und der Tumorlokalisation in der Literatur unterschiedlich bewertet werden.
b . Abb. 8.4. Postoperative Untersuchungsbefunde nach vollständiger mikrochirurgischer Tumorresektion bei uneingeschränkter N.-facialis-Funktion. Verbesserung des Hörvermögens a in der tonaudiometrischen Untersuchung, b in der sprachaudiometrischen Untersuchung
94
Kapitel 8 · Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen
Tufarelli und Mitarbeiter (2006) fanden bei 386 Patienten eine geringere Lebensqualität in allen Teilbereichen des SF36 Erhebungsbogens im Vergleich zur Kontrollgruppe. Darüber hinaus wurden ein Alter jenseits des 45. Lebensjahres, das weibliche Geschlecht und eine extrameatale Tumorlokalisation als Parameter bestimmt, die mit einer ungünstigeren postoperativen Lebensqualität assoziiert waren [19].
8.3.3 Radiochirurgie
8
Die Radiochirurgie des Vestibularisschwannoms erfolgt mit multiplen Kobaltquellen (»gamma knife«) oder mithilfe von Linearbeschleunigern. Grundsätzlich kann eine Radiochirurgie als Primärtherapie, nach einer bewussten subtotalen Tumorresektion oder bei einem Tumorrezidiv zur Anwendung kommen. Die primären Ziele der Radiochirurgie sind die langfristige Tumorkontrolle und der Erhalt des Hörvermögens [21]. In der Mehrzahl kam die Radiochirurgie bisher bei Patienten zur Anwendung, bei denen aufgrund des Alters, des Allgemeinzustandes oder auf eigenen Wunsch keine mikrochirurgische Tumorresektion erfolgte. Diese Aspekte sind dahingehend zu berücksichtigen, dass eine Vielzahl von Erfahrungen der Radiochirurgie an einem spezifischen Patientengut gewonnen wurde und ein direkter Vergleich von mikrochirurgischen und radiochirurgischen Behandlungen des Vestibularisschwannoms mit Einschränkungen erfolgen muss. Tumorkontrollraten bei radiochirurgischer Behandlung liegen in der Literatur bei Nachbeobachtungszeiträumen von 2–12 Jahren zwischen 86 und 100% [9]. Es sollte aber beachtet werden, dass die durch die Radiochirurgie erreichbaren Tumorkontrollraten von der Tumorgröße abhängig sind. Die Beobachtung von Tumorkontrollraten von 89% bei einer Tumorgröße von 2 cm, von 86% bei einer Tumorgröße von 2–3 cm und von 33% bei Tumorgrößen von über 3 cm unterstreichen den unterschiedlichen Stel-
lenwert der Radiochirurgie bei verschiedenen Tumorgrößen [22]. Wenngleich für das kleine Vestibularisschwannom exzellente Tumorkontrollraten vergleichbar der mikrochirurgischen Tumorresektion genannt werden [9], stellt sich die interessante Frage, welche der Tumoren aufgrund der Radiochirurgie und nicht vor dem Hintergrund der spezifischen Tumorbiologie (d. h. des besonderen Wachstumsverhaltens von Vestibularisschwannomen) kein weiteres Wachstum zeigten. Unbekannt bleibt bei der Anwendung der Radiochirurgie das Wachstumspotenzial des jeweiligen Vestibularisschwannoms ohne die Wahl einer spezifischen Therapie, sodass die für die Radiochirurgie benannten Tumorkontrollraten ein Mischbild aus den durch die Radiochirurgie erzielten Wachstumskontrollen und ein bereits therapieunabhängiges fehlendes Wachstumspotenzial des Tumors bedeuten. Ferner sind die erst in der Zukunft verfügbaren Erfahrungen in der Langzeitkontrolle nach Radiochirurgie in der Dimension von Jahrzehnten zu erwarten, um den Stellenwert der Radiochirurgie insbesondere bei jüngeren Patienten dann bestimmen zu können. Eine besondere Situation ergibt sich, wenn eine Radiochirurgie ausgeführt wurde und in den Verlaufskontrollen ein weiteres Tumorwachstum zu beobachten ist. Bei nicht erreichter langfristiger Tumorkontrolle durch die Radiochirurgie ist die mikrochirurgische Tumorresektion grundsätzlich möglich. Sie ist in dieser Situation aber mit deutlich höheren Risiken verbunden. Die durch die Radiochirurgie induzierten Veränderungen in den Tumor-Nerven-Kontaktregionen erschweren die Identifikation der Hirnnerven sowie die Dissektion des Tumors von den Nerven mit einer deutlichen Zunahme des Risikos postoperativer Funktionsstörungen [23, 24]. Als Komplikationen nach einer radiochirurgischen Behandlung eines Vestibularisschwannoms sind ein Hörverlust, Einschränkungen der Gesichtsnervenfunktion, Gleichgewichtsstörungen mit unzureichender zentralvestibulärer
95 8.4 · Zusammenfassung
Kompensation, Kopfschmerzen, Dsyarthrie, Dysphagie, zystische Nekrosen, ein Hydrocephalus und die Induktion einer malignen Entartung berichtet worden [9, 25]. Das Risiko einer potenziellen Malignominduktion wird auf 1:1 000 geschätzt [26]. Schaller (2003) betont, dass der radiobiologische Effekt auf das umgebende Gewebe verzögert auftritt und im Langzeitverlauf Fazialisparesen in 10–32%, Hypästhesien des Gesichts in 19–34% und der Verlust eines funktionellen Gehörs in bis zu 50% nach einer Radiochirurgie in der Literatur genannt wurden. Die Entwicklung des funktionellen Hörverlustes nach Radiochirurgie wird dementsprechend über einen Zeitraum von etwa 2 Jahren berichtet. Das Auftreten der genannten neurologischen Komplikationen nach der Radiochirurgie ist unter anderem von der Strahlendosis und der Tumorgröße abhängig [27], sodass durch eine Reduktion der Strahlendosis auch eine Reduktion der Komplikationsrate erwartet wird. Dementsprechend wurden bereits geringe Einschränkungen der Gesichtsnervenfunktion (0–23%) bei Anwendung der Radiochirurgie mit einer geringen Strahlendosis beschrieben [25]. Insbesondere das intrakanalikuläre Tumorvolumen und die in dieser Lokalisation applizierte Strahlendosis werden als wichtige Determinanten eines Hörerhalts nach Radiochirurgie von Vestibularisschwannomen angesehen [21]. Aktuell wird bei der Anwendung von 12 Gy eine hohe Rate an langfristiger Tumorkontrolle mit einer geringen Rate an Hirnnervenfunktionseinschränkungen erwartet. Die Raten permanenter Fazialisparesen durch reduzierte Strahlendosen und verbesserte Planungsmöglichkeiten liegen übereinstimmend in aktuellen Mitteilungen unter 5% und werden zumeist in Bereichen zwischen 1 und 3% angegeben [14]. Hinsichtlich des Erhalts des Hörvermögens nach Radiochirurgie mit geringeren Strahlendosen finden sich sehr unterschiedliche Angaben. Während einerseits Mitteilungen eines Hörerhalts in 81–93% der Literatur zu entnehmen sind [14], weisen andere
8
Autoren auch unter Berücksichtigung der Weiterentwicklungen der Radiochirurgie auf die unverändert hohe Gefahr eines Hörverlustes von 50– 70% hin [21]. Nur wenige Daten liegen zur Analyse der Lebensqualität nach einer radiochirurgischen Behandlung eines Vestibularisschwannoms vor. Im Vergleich zum konservativen Managementkonzept wurde von der tendenziellen Beobachtung einer verminderten Lebensqualität nach einer Radiochirurgie eines Vestibularisschwannoms berichtet [28], sodass auch dieser Aspekt zu berücksichtigen ist.
8.4
Zusammenfassung
Trotz der Vielzahl von Berichten ist ein Vergleich der 3 grundsätzlichen Therapieoptionen unverändert schwierig. Während die großen Vestibularisschwannome (>3 cm) primär einer chirurgischen Therapie bedürfen, stellt sich insbesondere für das kleine Vestibularisschwannom die immanente Frage nach der für den jeweiligen Patienten geeignetesten Therapieoption. Für jede der 3 verfügbaren Optionen im Managementkonzept des Vestibularisschwannoms treten Protagonisten auf, die die Überlegenheit einer einzelnen Vorgehensweise vertreten. Da einerseits jede der 3 Therapieoptionen Vorzüge und Nachteile aufweist und andererseits unbeantwortete Fragen bestehen, ist eine umfassende Aufklärung des Patienten bezüglich der bestehenden Optionen von großer Bedeutung. Die Kontrolle des Tumorwachstums, die mikrochirurgische Tumorresektion und die Radiochirurgie haben einen festen Stellenwert im aktuellen Managementkonzept des Vestibularisschwannoms. Der Patient muss entscheiden, ob er in dem Bewusstsein des Vorhandenseins eines Hirnnerventumors Kontrolluntersuchungen zustimmen kann. Bei grundsätzlich zunächst fehlender Einschränkung der Lebensqualität bei der Wahl des konservativen Therapieansatzes trägt der Patient
96
8
Kapitel 8 · Aktuelles Management bei Vestibularisschwannomen
das immanente Risiko einer Hörverschlechterung. Bereits Rutherford und King (2005) haben bei dem Vergleich des mikrochirurgischen und radiochirurgischen Vorgehens darauf hingewiesen, dass zum Entscheidungszeitpunkt ein Vergleich der jeweils berichteten besten Erfahrungen erfolgen muss. Während für die mikrochirurgische Resektion des Vestibularisschwannoms eine vollständige Tumorresektion in 97%, keine oder eine nur geringe Einschränkung der N.-facialis-Funktion in 95% und der Erhalt eines audiologisch sinnvollen Hörvermögens in 50% angegeben wird, benennen die besten radiochirurgischen Erfahrungsberichte eine Tumorkontrolle in 90%, keine Einschränkung der N.-facialis-Funktion in 98% und den Erhalt eines audiologisch sinnvollen Hörvermögens in 75% [14]. Wenn auf dem Boden dieser Datenlage dem Patienten zu einem mikrochirurgischen oder radiochirurgischen Vorgehen geraten wird, so müssen die genannten Funktionserhalte konkret am jeweiligen Ort der Behandlung erreicht werden. Der hohe Anspruch an die zuvor genannten Behandlungserfolge wird die Bildung von operativen und radiochirurgischen Zentren in der Zukunft weiter fördern. Auf die Notwendigkeit einer individuellen Therapieentscheidung, die die Grundlage des aktuellen Managementkonzepts bei Vestibularisschwannomen bildet, wurde eingehend hingewiesen. Wenn ein konservatives Management im Sinne einer Verlaufskontrolle des Tumors nicht infrage kommt oder von dem Patienten abgelehnt wird, ist zu prüfen, ob aufgrund des Alters des Patienten (>65 Jahre) und/oder der vorliegenden Begleiterkrankungen mit erhöhtem Operationsrisiko eine radiochirurgische Behandlung zu empfehlen ist. Sind sowohl eine mikrochirurgische als auch radiochirurgische Behandlung ohne Einschränkungen grundsätzlich anwendbar, so stehen für die Arzt-Patienten-Beziehung die Gedanken des Hörerhalts, der Morbidität, der Lebensqualität, bei einem Versagen der Radiochirurgie die erhöhten Risiken eines Funktions-
defizits durch die Tumorresektion und die Gefahr der malignen Entartung des Tumors nach einer Radiochirurgie im Mittelpunkt der Überlegungen. Bei noch unzureichender Datenlage hat an dieser Stelle eine individuelle Therapieentscheidung zu erfolgen.
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9 Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen J. Ronel, P. Henningsen
9.1
Einleitung
– 100
9.2
Schwindel als Folge psychischer Einflüsse
9.2.1 9.2.2 9.2.3 9.2.4 9.2.5
Positiv empfundener Schwindel – 101 Somatoforme Schwindelerkrankungen – 102 Schwindel als Symptom einer Angsterkrankung – 102 Schwindel als Symptom einer depressiven Störung – 103 Schwindel als Symptom einer dissoziativen Störung – 104
9.3
Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik
– 101
– 104
9.3.1 Sekundärer somatoformer Schwindel – 104 9.3.2 Phobischer Schwankschwindel – 105 9.3.3 Akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen als Folge von organischen Schwindelerkrankungen – 105
9.4
Schwindel und psychische Beschwerden als komorbide Phänomene – 106
9.5
Fazit
– 106
Literatur
– 107
100
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
Maria: I feel dizzy, I feel sunny, I feel dizzy and funny and fine And so pretty, Miss America can just resign! Auszug aus dem Libretto der Westside Story von Leonard Bernstein und Stephen Sondheim (Songtexte). Scotty: I have acrophobia, which gives me vertigo, and I get dizzy. What a moment to find out I had it. Midge: You‘ve got it, and there‘s no losing it. And there‘s no one to blame.
9
Dialog aus dem Film Vertigo von Alfred Hitchcock (© Universal, 1958), in welchem der männliche Protagonist Scotty seiner Freundin Midge versucht zu erklären, warum er Madeleine nicht vor einem Sturz aus einem Turm retten konnte.
9.1
Einleitung
Vor mehr als 100 Jahren schrieb Sigmund Freud (1856–1939) über das Symptom des Schwindels als eine mögliche »klinische Symptomatologie der Angstneurose« [1]: »Eine hervorragende Stellung in der Symptomengruppe der Angstneurose nimmt der »Schwindel« ein, der in seinen leichtesten Formen besser als »Taumel« zu bezeichnen ist, in schwererer Ausbildung als »Schwindelanfall« mit oder ohne Angst zu den folgenschwersten Symptomen der Neurose gehört. Der Schwindel der Angstneurose ist weder ein Drehschwindel, noch lässt er, wie der MenièrescheSchwindel, einzelne Ebenen und Richtungen hervorheben. Er gehört dem lokomotorischen oder koordinatorischen Schwindel an wie der Schwindel bei Augenmuskellähmungen; er besteht in einem spezifischen Missbehagen, begleitet von den Empfindungen, dass der Boden wogt, die Beine versin-
ken, dass es unmöglich ist, sich weiter aufrecht zu halten, und dabei sind die Beine bleischwer, zittern oder knicken ein. Zum Hinstürzen führt dieser Schwindel nie. Dagegen möchte ich behaupten, dass ein solcher Schwindelanfall auch durch einen Anfall von tiefer Ohnmacht vertreten werden kann. Andere ohnmachtartige Zustände bei der Angstneurose scheinen von einem Herzkollaps abzuhängen. Der Schwindelanfall ist nicht selten von der schlimmsten Art der Angst begleitet, häufig mit Herz- und Atembeschwerden kombiniert. Höhenschwindel, Berg- und Abgrundschwindel finden sich nach meinen Beobachtungen gleichfalls bei der Angstneurose häufig vor; auch weiß ich nicht, ob man noch berechtigt ist, nebenher einen vertigo a stomacho laeso [Schwindel gastrischen Ursprungs] anzuerkennen.« Wesentliche Sätze Freuds haben bis heute ihre Gültigkeit behalten. Ob der Schwindel – wie bei Freud – als körperlicher Ausdruck eines unerträglichen und nicht zu bewältigenden seelischen Konfliktes zu sehen ist oder eher als funktionelle Störung im Sinne einer unspezifischen körperlichen Reaktion auf eine psychosoziale Belastungssituation, ist eine häufig diskutierte Grundfrage möglicher, sich ergänzender Konzepte psychosomatischer Denkweisen. Das seit den 70er-Jahren zunehmend diskutierte »bio-psychosoziale Modell« eines integrierten Medizinverständnisses [2] sollte auch in der Erforschung, Diagnostik und Behandlung von Schwindelerkrankungen Anwendung finden. Den Patienten im Gesamtzusammenhang als dynamisches Produkt seiner Beschwerden, seiner inneren Welt und der ihn beeinflussenden Umwelt wahrzunehmen, ist allerdings nicht neu und wurde außer von Freud auch bereits von Ärzten wie Paracelsus oder Robert Koch angeregt [3]. Der Schwindel stellt nach dem Kopfschmerz das zweithäufigste Leitsymptom in der neurologischen Praxis dar [4]. Psychische Störungen stehen offenbar grundsätzlich mit Schwindelsymptomen in enger Verwandtschaft [5]. In einer portugiesischen Untersuchung konnte anhand
101 9.2 · Schwindel als Folge psychischer Einflüsse
einer Symptom-Checkliste gezeigt werden, dass etwa 60% aller dort untersuchten Schwindelpatienten unter verschieden ausgeprägten Angststörungen litten, bei 50% lagen Zwangsstörungen vor, 40% fielen mit Somatisierungstendenzen auf und bei 30% waren depressive Symptome zu erheben [6]. Wie bei vielen psychosomatischen Erkrankungen lassen sich auch beim Schwindel drei unterschiedliche psychosomatische Zusammenhänge benennen: 4 Schwindel als Folge psychischer Einflüsse, 4 Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik, 4 Schwindel und psychische Beschwerden als komorbide Phänomene.
. Abb. 9.1. »Rotating Snakes«. Auch optische Illusionen vermögen – nachvollziehbar bei längerer Betrachtung –
9.2
9
Schwindel als Folge psychischer Einflüsse
9.2.1 Positiv empfundener Schwindel Das glückliche Gefühl der Maria aus Bernsteins Westside-Story, das als musikalischer Auftakt diesem Beitrag vorangestellt wurde, ist ein nicht zu gering zu schätzender Bestandteil in der Symptomatologie des Schwindels. Der Schwindel als Metapher für einen inneren Zustand des Glücks unterscheidet sich allerdings von einer bewussten Reizung der Labyrinthe, die als »lustvolles, berauschendes Gefühl« erlebt und durch Achterbahnfahrten, Tanzen und andere Beschleunigungsbewegungen nicht nur bei Kindern ausgelöst werden kann [7]. Auch durch Alkohol oder Drogen kann ein vergleich-
Schwindel hervorzurufen (© Akiyoshi Kitaoka, Department of Psychology, Ritsumeikan University, Kyoto, Japan)
102
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
barer Effekt erzielt werden, der ebenfalls auf eine labyrinthäre Störung zurückzuführen ist, wenngleich die hier geschilderten Phänomene meist nicht Anlass zur ärztlichen Vorstellung geben.
9.2.2 Somatoforme Schwindel-
erkrankungen
9
Als somatoformer Schwindel kann eine Gruppe von Erkrankungen definiert werden, die sich durch unterschiedlichste Schwindelsymptome manifestieren können, wobei keine objektivierbaren organpathologischen Befunde nachweisbar sind [8]. Ein Patient in einer HNO-ärztlichen Praxis kann unter Dauerdrehschwindel oder Attackenschwindel leiden. Die Beschwerden werden häufig als Zustände des Schwankens, der Haltlosigkeit und des Rausches geschildert und unterscheiden sich somit nicht von organischen Schwindelerkrankungen, daher werden Schwindelerkrankungen – seien sie organisch oder psychisch bedingt – allgemein als »subjektive Störungen der Orientierung des Körpers im Raum« definiert [9]. Schaaf unterscheidet den monosymptomatischen Schwindel von Syndromen, die mit verschiedenartigen vegetativen Beschwerden wie Schweißausbrüchen, Mundtrockenheit, Herzrasen, Engegefühl, Atemnot, Brechreiz oder Leeregefühl im Kopf einhergehen können [10]. Zusätzlich können zugrunde liegende psychische Beschwerden hinzukommen, die je nach psychopathologischer Ausprägung für die Ätiologie der somatoformen Schwindelerkrankung wegweisend sind und auf die weiter unten eingegangen wird. Die Symptome werden vom Patienten als real, nicht eingebildet und als sehr belastend wahrgenommen [11] und können durch individuelle Reize und Situationen hervorgerufen werden, teils ohne dass den Patienten bewusst ist, warum diese Situationen als Auslöser fungieren. Die verschiedenen Schwindelsymptome können beim
somatoformen Schwindel alle Qualitäten annehmen, die auch beim organisch bedingten Schwindel auftreten können. Eine genaue Diagnose ist somit nur mithilfe von Zusatzuntersuchungen einschließlich fachspezifischer psychiatrisch-psychosomatischer Diagnostik zu erheben [12]. Voraussetzung für die Diagnosestellung einer somatoformen Schwindelerkrankung im HNOärztlichen Bereich ist eine ausgiebige Diagnostik. Bereits bei der Anamneseerhebung sollte ein Augenmerk auf mögliche psychosoziale Zusammenhänge gerichtet werden. Eine gegebenenfalls interdisziplinäre Untersuchung in Zusammenarbeit mit Internisten und Neurologen ist die Basis der Diagnosestellung. Abhängig von der jeweiligen Indikation sollten sich spezielle Untersuchungsmethoden anschließen. Prüfung auf Blickrichtungs- und Spontannystagmus, Untersuchungen der Blickmotorik, Lage- und Lagerungsprüfungen, Erfassung der vestibulospinalen Reflexe (Romberg-, Unterberger-Versuch), kalorische Untersuchung der Vestibularorgane, Einholung audiometrischer und radiologischer Befunde (cCT, cMRT) sollten bedarfsgerecht Anwendung finden [13]. Bei einer Vielzahl von Patienten mit chronischem Schwindel wird eine psychogene Ätiologie angenommen – einige Autoren gehen von 30–50% aus [14], wobei bei den meisten dieser Patienten die Beschwerden deutlich länger anhalten und chronifizieren als bei Patienten mit organischen Schwindelerkrankungen [15]. Grundsätzlich kann der Schwindel durch verschiedene zugrunde liegende psychopathologische Mechanismen und Erkrankungen geprägt und ausgelöst werden.
9.2.3 Schwindel als Symptom einer
Angsterkrankung Angststörungen stellen die häufigsten psychopathologischen Ursachen einer somatoformen Schwindelerkrankung dar [16]. Paroxysmale
103 9.2 · Schwindel als Folge psychischer Einflüsse
Schwindelattacken können Ausdruck einer Panikstörung sein, die meist plötzlich und unerwartet auftritt und für einige Sekunden bis hin zu mehreren Stunden von vegetativen Beschwerden begleitet sein kann. Das Spektrum der Symptomatik umfasst neben unterschiedlichen Schwindelsensationen auf der somatischen Ebene oftmals sehr bedrohlich erlebte Zustände wie Palpitationen, Tachykardien, hypertensive Entgleisungen, Kaltschweißigkeit, Atemnot (teils bis zu Erstickungsängsten), Globusgefühl, Brechreiz und Durchfälle. Bei einer Panikstörung können zudem auch Symptome einer Hyperventilationsattacke auftreten, die mit Parästhesien und in ausgeprägten Fällen auch mit Pfötchenstellung der Hände (Hyperventilationstetanie) oder parasynkopalen Zuständen einhergehen können [12]. Somatoformen Patienten ist jedoch nicht bewusst, dass die Beschwerden durch Ängste ausgelöst werden, sondern erleben die Angstsymptome als Folge der körperlichen Beschwerden. Meist können zugrunde liegende unbewusste Konfliktfelder nur im Rahmen einer psychotherapeutischen Behandlung erkannt und bearbeitet werden (wobei auch eine psychopharmakologische Therapie in einer akuten Krise indiziert sein kann). Auf der psychischen Ebene können die Patienten die Angst als Panik erleben, in schweren Fällen exazerbiert die Symptomatik bis hin zu Todesängsten. Auch hypochondrische Störungen können eine Rolle spielen, wenn Patienten davon überzeugt sind, an einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt zu leiden. Oftmals kommt es bei diesen Patienten zur Alarmierung eines Notarztes. Patienten berichten gelegentlich auch von Einschlaf- oder Durchschlafstörungen und haben das Gefühl, durch den Schwindel zu erwachen. Wie auch bei anderen Angststörungen (z. B. der Herzangstneurose) kann sich ein Circulus vitiosus manifestieren, der die Symptomatik noch weiter verstärkt: Die Angst vor der Angst kann das Alltagsleben der Patienten in schweren Fällen so massiv beeinflussen, dass relevante Einschränkungen in sozialen Funktionen die Folge sein
9
kann. Ähnlich wie bei der Herzangstneurose wird inzwischen auch ein »vestibulärer Typus der Angststörung« diskutiert [17]. Auch phobische Störungen können somatoformen Schwindelerkrankungen zugrunde liegen. So klagen Patienten über Schwindel, der z. B. durch große Menschenmengen, U-Bahnen, Fahrstühle, Wendeltreppen und große Höhen ausgelöst werden kann. In der Ätiologie des Höhenschwindels allerdings können psychische und physiologische Faktoren kofaktoriell eine Rolle spielen. So ist das psychophysikalische Phänomen des Entfernungsschwindels bekannt, bei dem es aufgrund der Unfähigkeit des Auges, eine Zweipunktunterscheidung in weiter Entfernung vorzunehmen, zu Höhenschindel kommen kann [18]. Spezifische soziale Umstände, die mit innerer psychischer Anspannung verbunden sind wie Gespräche mit Vorgesetzten oder auch Kennenlernszenarien mit potenziellen Partnern können von Schwindelsymptomen begleitet sein. Typische Phobien, die Schwindel auslösen können, sind die Agoraphobie und die Soziophobie. Eine eindeutige Trennung von nicht psychisch bedingtem Schwindel und somatoformem Schwindel, der durch Angst verursacht wird, ist allerdings nicht immer ganz einfach und meist nicht allein über psychometrische Testverfahren herauszufinden. So lassen sich bei Angstpatienten häufig Auffälligkeiten in vestibulären Funktionsprüfungen feststellen [19], während auch in Untersuchungen bei organisch bedingten Schwindelpatienten erhöhte Werte in Angstskalen zu erheben sind [20]. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit psychosomatischen oder psychiatrischen Kollegen ist auch hier ein weiterführender Ansatz.
9.2.4 Schwindel als Symptom einer
depressiven Störung Weitaus seltener aber gleichwohl von Bedeutung sind depressive Störungen als Auslöser von Schwindelsymptomen, wobei ähnlich wie bei Angstpa-
104
9
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
tienten die Beschwerden meist als Folge des Schwindels und nicht als dessen Ursache von den Patienten gewertet werden. Angelehnt an die Kategorisierung im ICD (Kap. F32–F34) können neben melancholischer Stimmungslage, Antriebs- und Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen sowie Appetit- und Libidostörungen in seltenen Fällen auch Suizidalität erfasst werden. Oftmals nehmen die Patienten die Beschwerden nicht als psychische Symptomatik wahr, sodass die Diagnostik meist nur durch eine fachärztlich psychiatrische oder psychosomatische Vorstellung möglich ist. Hierbei ist das Konzept der »larvierten Depression« [21] nützlich. Dietrich und EckhardtHenn [8, 12] weisen darauf hin, dass bei älteren Patienten häufig eine depressive Ätiologie des Schwindels übersehen wird und oftmals fälschlicherweise ein demenzieller Prozess oder eine vaskuläre Erkrankung angenommen wird. Die Autorinnen empfehlen neben einer tiefenpsychologisch orientierten psychotherapeutischen Behandlung den Einsatz von Serotoninwiederaufnahme-Hemmern (z. B. Fluoxetin, Paroxetin oder Citalopram), wobei darauf hingewiesen werden muss, dass verschiedene Antidepressiva als Nebenwirkung ebenfalls Schwindel hervorrufen können [22].
Gefühl, dass der Boden unter ihren Füßen wegfallen würde und dass sie wie gelähmt sei und nur noch schwankend und mit großer Mühe kleinere Erledigungen zu Fuß bewerkstelligen könne. Die Beschwerden hätten 3 Monate zuvor begonnen und seien HNO-ärztlich ohne weiterführende Befunde abgeklärt worden. Erst nach einem längeren Gespräch wurde der Patientin und dem psychosomatischen Untersucher klar, dass es einen engen zeitlichen Zusammenhang mit einer offenbar bedrohlichen Erkrankung der Mutter der Patientin gab. In der weiteren Anamnese wurde deutlich, dass die Patientin als erst 12-Jährige ihre damals jung verwitwete Mutter immer von der Arbeit abholen musste, um dann auf der gemeinsamen Rückfahrt das Steuer des Autos während einer Brückenüberfahrt zu übernehmen, da die Mutter dieses aus Angst nicht konnte. Wir konnten die Patientin in eine niederfrequente tiefenpsychologische Psychotherapie weitervermitteln. Erfreulicherweise besserten sich die Beschwerden der Patientin.
9.3
Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik
9.3.1 Sekundärer somatoformer
Schwindel 9.2.5 Schwindel als Symptom einer
dissoziativen Störung Anders als bei vom Patienten bewusst erlebter Angst oder Depression als auslösendem Mechanismus, führt beim dissoziativen Schwindel ein meist unbewusster und nicht lösbarer Konflikt zur Ausbildung von Schwindel, was in der psychoanalytisch-psychodynamischen Tradition als Konversionssymptom zu verstehen ist. Im Allgemeinen ist eine psychopharmakologische Therapie bei dissoziativen Störungen aus unserer Sicht nicht indiziert. Eine 35-jährige Patientin, die sich in unserer Poliklinik vorgestellt hatte, berichtete über das
Dietrich und Eckhardt-Henn trennen primäre von sekundären somatoformen Schwindelerkrankungen [8, 12]. Bei ersteren handelt es sich um psychosomatische Erkrankungen, die ohne organisches Korrelat und Grunderkrankungen auftreten. Sekundäre somatoforme Schwindelzustände sind durch organische Schwindelerkrankungen ausgelöst und werden immer wieder als deren Residualzustände verkannt. Die organische Läsion dient für prädisponierte Patienten als Modell für die nachfolgende Symptombildung. Die vom Arzt erfassbaren Befunde oder bekannten Organdiagnosen können die Ausprägung der Symptomatik allerdings nicht hinreichend erklären. So ist häu-
105 9.3 · Schwindel als Ursache psychischer Symptomatik
fig im längerfristigen Verlauf einer organisch bekannten Erkrankung eine Veränderung der Symptomatik und der Schwindelqualität zu beobachten. Es kann beispielsweise vom Drehschwindel zum Schwankschwindel oder diffusen Benommenheitsschwindel kommen, was mit der anfangs diagnostizierten Erkrankung zunächst nicht in Einklang zu bringen ist. Die somatoforme Ursache der Beschwerden wird im klinischen Alltag häufig verkannt oder bagatellisiert. Es entstehen Verlegenheitsdiagnosen, die in der Folge für die Patienten unter Umständen kontraindizierte Behandlungen nach sich ziehen, wie beispielsweise die langwierige Einnahme von Antiverginosa oder Rheologika und in seltenen Fällen sogar invasive operative Maßnahmen. Beim sekundären somatoformen Schwindel stehen lerntheoretische und psychodynamische Erklärungsmodelle zur Verfügung. Aus lerntheoretischer Sicht besteht ein konditionierter Zusammenhang zwischen einer Schwindelsensation und einer kognitiv katastrophierenden Bewertung im Sinne einer drohenden schwerwiegenden Erkrankung. Eine Angstreaktion entsteht und steigert sich wie in einem Teufelskreis durch einen Anstieg verschiedener Funktionen des autonomen Nervensystems oder durch hinzukommende körperliche Erscheinungen, die beispielsweise durch Hyperventilation ausgelöst werden, zu Panikattacken und Todesangst. Psychodynamisch wird angenommen, dass eine primär nicht pathologische, subjektive Missempfindung auf einen akuten inneren Konflikt oder eine psychische Belastungssituation treffen und es so zur Symptomausbildung kommt. Die Ausbildung somatischer Affektäquivalente als Versuch, innerpsychische Konflikte abzuwehren, führt zur psychosomatischen Dekompensation [8, 12].
9
erkrankungen überhaupt, stellt der phobische Schwankschwindel (engl.=phobic postural vertigo) dar, der meist in der Folge organischer Schwindelerkrankungen auftreten kann [23]. Der phobische Schwankschwindel ist durch Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, dem Gefühl von anfallsartiger körperlicher Instabilität sowie Angst und Panik charakterisierbar, wobei die Schwindelsensationen durch spezifische phobische Auslösesituationen (Brücken, Wendeltreppen, soziale Belastungssituationen) hervorgerufen werden. Oftmals spielen auch vegetative Symptome, Zwanghaftigkeit und depressive Symptome eine klinische Rolle. Die Patienten entwickeln häufig ein ausgeklügeltes Vermeidungsverhalten bezüglich dieser phobischen Auslösesituationen [24]. Patienten mit phobischem Schwankschwindel stellen eine Gruppe von Patienten dar, die immer wieder in HNO-Ambulanzen und Praxen Hilfe suchen, wobei die psychogene Komponente den Patienten nur zu einem geringen Teil bewusst und aufgrund der vorangegangenen organischen Erkrankung nicht selbstverständlich zu diagnostizieren ist [25]. Durch Aufklärungsarbeit sowie verhaltenstherapeutische Psychotherapie sind gute Behandlungserfolge zu erzielen, was in einer aktuelleren Untersuchung belegt werden konnte [26]. Bezüglich der Variabilität der Symptomatik konnte in einer weiteren Arbeit interessanterweise gezeigt werden, dass Patienten mit phobischem Schwankschwindel bei anspruchsvollen und schwierigen Gleichgewichtsübungen signifikant bessere Balancefähigkeiten aufwiesen als bei deutlich einfacheren Übungen [27].
9.3.3 Akute Belastungsreaktionen
und Anpassungsstörungen als Folge von organischen Schwindelerkrankungen
9.3.2 Phobischer Schwankschwindel Eine nicht seltene Sonderform des sekundären somatoformen Schwindels und der Schwindel-
Ähnlich wie bei anderen Erkrankungen können chronisch verlaufende organische Schwindelerkrankungen in manchen Fällen zu psychischen
106
9
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
Störungen im Sinne von akuten Belastungsreaktionen (ICD 10 F43.0) und Anpassungsstörungen (ICD 10 F43.2) führen [28]. Die Patienten erleben eine nur schwer zu behandelnde Erkrankung als belastendes und bedrohliches Lebensereignis, das nicht zu bewältigen zu sein scheint. Die Symptomatik einer akuten Belastungsreaktion ist häufig mit Bewusstseinseinschränkungen, Desorientiertheit, vegetativen Reaktionen sowie einem sozialen Rückzug verbunden, wobei auch Benommenheitsgefühle hervorgerufen werden. Insofern können Symptome einer akuten Belastungsreaktion den organisch bedingten Schwindel sekundär verstärken. Anpassungsstörungen können bei organischen Schwindelerkrankungen ebenfalls eine Rolle spielen und sind zusätzlich durch depressive oder ängstliche Symptome sowie eine innere Spannung gekennzeichnet. Eine Anpassungsstörung kann beispielsweise durch eine schwere Verlaufsform einer Menière-Krankheit ausgelöst werden. Die Patienten erleiden hierdurch eine anhaltende emotionale Beeinträchtigung, wodurch soziale Funktionen und Leistungen im Alltag deutlich behindert sein können. Unterstützende psychotherapeutische Verfahren sowie Selbsthilfegruppen und Entspannungsübungen können hilfreich sein und verbessern die Prognose.
9.4
Schwindel und psychische Beschwerden als komorbide Phänomene
Es existieren nur wenige Untersuchungen zur Komorbidität von Schwindel und psychischen Beschwerden, wobei ein gleichzeitiges und unabhängiges Auftreten beider Entitäten oft schwer zu belegen ist. In einer neueren Untersuchung wurden gesunde Probanden mit verschiedenen Patientengruppen verglichen: Die einzelnen Patientengruppen litten unter benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel, vestibulärer Neuritis, Menière-Krankheit, vestibulärer Migräne,
Angst, Depression und somatoformen Störungen. Verschiedene vestibuläre Prüfungen wurden angewandt, zusätzlich erfolgte eine psychosomatische Diagnostik. Es war auffällig, dass lediglich die Patientengruppen mit benignem paroxysmalem Lagerungsschwindel und der vestibulären Neuritis pathologische Messwerte bezüglich der vestibulären Untersuchungen zeigten. Die Gruppen mit Menière-Krankheit, der vestibulären Migräne sowie mit psychischen Beschwerden waren bezüglich der HNO-Untersuchungen unauffällig, zeigten aber signifikant höhere Werte in einzelnen psychometrischen Testverfahren. Die Autoren schlussfolgerten, dass speziell hinsichtlich der Angstsymptome eine Unabhängigkeit von den HNO-Diagnosen besteht und dass bei diesen Patienten von präexistenten psychopathologischen Faktoren auszugehen ist [29].
9.5
Fazit
Goethe (1749–1832) schrieb 1814 autobiographisch über seine Erlebnisse am Strassburger Münster [30]: »Ich befand mich in einem Gesundheitszustand, der mich bei allem, was ich unternehmen wollte und sollte, hinreichend förderte; nur war mir noch eine gewisse Reizbarkeit übrig geblieben, die mich nicht immer im Gleichgewicht ließ […] Besonders aber ängstigte mich ein Schwindel, der mich jedesmal befiel, wenn ich von einer Höhe herunterblickte. Allen diesen Mängeln suchte ich abzuhelfen, und zwar, weil ich keine Zeit verlieren wollte, auf eine etwas heftige Weise […] Ich erstieg ganz allein den höchsten Gipfel des Münsterturms und saß in dem sogenannten Hals, unter dem Knopf oder der Krone, wie man‘s nennt, wohl eine Viertelstunde lang, bis ich es wagte, wieder heraus in die freie Luft zu treten, wo man auf einer Platte, die kaum eine Elle ins Gevierte haben wird, ohne sich sonderlich anhalten zu können, stehend das unendliche Land vor sich sieht, indessen die nächsten Umgebungen und Zier-
107 Literatur
raten die Kirche und alles, worauf und worüber man steht, verbergen […] Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward, und ich habe nachher bei Bergreisen und geologischen Studien, bei großen Bauten, wo ich mit den Zimmerleuten um die Wette über die freiliegenden Balken und über die Gesimse des Gebäudes herlief, ja in Rom, wo man eben dergleichen Wagestücke ausüben muss, um bedeutende Kunstwerke näher zu sehen, von jenen Vorübungen großen Vorteil gezogen.« Goethe ergriff offenbar eher verhaltenstherapeutische Maßnahmen zur Bekämpfung des psychogenen Schwindels. In einem medizingeschichtlichen Aufsatz von Jagella über das kulturhistorisch weit verbreitete Phänomen des »bürgerlichen Schwindels« wird diskutiert, dass zum Verständnis der Ursachen des »Münsterschwindels« Goethes auch psychoanalytische Herangehensweisen hilfreich sein könnten [31]. In der HNO-ärztlichen Versorgung gilt es, ein Augenmerk auf psychische Faktoren bei Schwindelsymptomen zu richten, da die meisten Patienten – ungleich Goethe – über innere Ursachen oder gar eine selbstständige Heilung meist nicht zu berichten wissen. Eine Integration des Wissens über psychosomatische Zusammenhänge in der alltäglichen klinischen Arbeit kann
. Abb. 9.2. Manchmal genügt eine falsche Perspektive, um Schwindel auszulösen. Das Haus in San Francisco ist am Hang gebaut, das Bild wurde lediglich gedreht (»Green Street Dizziness«, © Cyre Mia, Brüssel, Belgien)
9
viele langwierige und unbefriedigende Krankheitsverläufe bei Schwindelpatienten positiv beeinflussen.
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108
9
Kapitel 9 · Psychische Faktoren bei Schwindelerkrankungen
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10 Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose J. Langer
10.1 Einleitung
– 110
10.2 Pathogenese – 110 10.3 Differenzialdiagnosen – 110 10.4 Klinischer Befund und Diagnostik
– 110
10.4.1 Akutstadium – 110 10.4.2 Kompensationsstadium – 112
10.5 Therapie der Neuronitis vestibularis
– 117
10.5.1 Akutstadium – 117 10.5.2 Kompensationsstadium – 117
10.6 Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis – Auswertung der Erkrankungsfälle – 117 10.6.1 Material und Methoden 10.6.2 Ergebnisse – 118 10.6.3 Diskussion – 119
Literatur
– 120
– 118
110
10.1
10
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
Einleitung
Die Neuronitis vestibularis, auch Neuropathia vestibularis oder akuter einseitiger Vestibularisausfall genannt, gehört in das Krankheitsspektrum jedes HNO-Arztes und jeder HNO-Klinik. Die Patienten klagen im Akutstadium über starke vegetative Symptome wie Schwindel, Übelkeit und Erbrechen, Herzrasen. Diese Symptome führen häufig zur stationären Einweisung der Patienten. Dabei muss nicht zwingend ein HNO-Arzt als erstbehandelnder Arzt infrage kommen. Während die vegetativen Beschwerden rein subjektiver Art sind, findet man regelmäßig die folgenden objektiven Befunde: 4 Spontannystagmus in das gesunde Ohr mit teilweise deutlicher rotatorischer Komponente, 4 Fallneigung beim Romberg-Stehversuch zur erkrankten Seite, 4 Verstärkung der Beschwerden durch Provokation, 4 normales, nicht akut eingeschränktes Hörvermögen auf der erkrankten Seite. Jeder Patient empfindet die Beeinträchtigung durch die Erkrankung unterschiedlich. Während einige Patienten bereits bei kleinsten Kopfbewegungen mit massiven Übelkeitsattacken kämpfen, gibt es auch Patienten, die sich selbst im Akutstadium einer Neuronitis vestibularis nur minimal beeinträchtigt fühlen.
10.2
Pathogenese
Die Pathogenese der Neuronitis vestibularis ist ähnlich der Entstehung des akuten Hörsturzes nicht ausreichend geklärt. Neben einer vaskulären Ursache werden vor allem virale Ursachen vermutet. Die Verwendung des Begriffes Neuronitis beruht auf der Tatsache, dass verschiedene virale, aber auch bakterielle Erreger die Krankheit auslösen sollen. Als auslösende Erreger seien z. B. In-
fluenzaviren, RS-Viren, Coxsackie- und Adenoviren genannt. Der spezielle Erregernachweis gestaltet sich jedoch oft sehr schwierig oder gelingt gar nicht. Durch (infektbedingte) Störungen der Mikrozirkulation im vestibulären Innenohranteil kommt es zur Auslösung der Erkrankung. Laut einigen Autoren tritt eine Neuronitis vestibularis oft nach Infekten auf und es gibt eine gewisse Häufung der Erkrankung in den sogenannten Erkältungsmonaten. Auch am eigenen Patientengut war diese Tendenz ebenfalls nachweisbar. So findet sich in einer Auswertung der Neuronitis-vestibularis-Erkrankungen über einen Zeitraum von 6 Jahren eine gewisse jahreszeitliche Schwankung: Die meisten Erkrankungen finden sich im Herbst (September bis November, N=124), gefolgt vom Winter (Dezember bis Februar, N=102; . Abb. 10.1).
10.3
Differenzialdiagnosen
Die Neuronitis vestibularis gehört zur Gruppe der peripher-vestibulären Schwindel. Von dieser Erkrankung zu unterscheiden sind dabei: 4 Menière-Krankheit, 4 benigner paroxysmaler Lagerungsnystagmus, 4 entzündliche Veränderungen mit Beeinträchtigung der Funktion des Labyrinthes (Labyrinthitis, chronische Mittelohrentzündungen), 4 traumatische Schädigungen (Felsenbeinfrakturen), 4 Rundfenstermembranrupturen mit plötzlich einsetzendem Schwindel, aber auch mit Hörverlust, 4 zervikal bedingter Schwindel.
10.4
Klinischer Befund und Diagnostik
10.4.1 Akutstadium Der HNO-Status der akut erkrankten Patienten stellt sich regelhaft unauffällig dar. Der bereits er-
111 10.4 · Klinischer Befund und Diagnostik
10
. Abb. 10.1. Jahreszeitliche Verteilung der Neuronitis vestibularis (HNO-Klinikum AMEOS, Klinikum St. Salvator, Halberstadt, 07/1998–06/2006)
wähnte Spontannystagmus in das gesunde Ohr ist ein erster richtungsweisender Befund. Zur ersten Einschätzung der Erkrankten sind eine FrenzelBrille und zumindest eine Stimmgabel (z. B. a1) unabdingbare Hilfsmittel. Mit einer Frenzelbrille zur Beurteilung eines Spontannystagmus kann bereits in der Notaufnahme eine Zuordnung der Patienten in die »richtige« Fachabteilung erfolgen. Die Anamnese der Patienten stellt auch im Fall der Neuronitis vestibularis ein wichtiges Instrument dar. Die Patienten berichten oft über ein akut einsetzendes Schwindelereignis, typischerweise mit Drehschwindel zu einer (der gesunden) Seite. Dabei versuchen die Erkrankten Veränderungen der Körperlage zu vermeiden und halten die Augen geschlossen. Oft kann bereits durch die geschlossenen Lider ein Nystagmus wahrgenommen werden. Im Akutstadium sollten differenzialdiagnostisch neurologische Erkrankungen in Erwägung gezogen und ausgeschlossen werden. Bei vorliegenden Zusatzerkrankungen, die mit
einem Risiko zu zerebralen Durchblutungsstörungen (Blutung, Apoplex) einhergehen könnten, sollte gegebenenfalls interdisziplinär über die Durchführung einer zerebralen Computertomographie (cCT) entschieden werden. Zwar bestehen Unterschiede in der Nystagmusform zwischen peripher und zentral bedingtem Nystagmus, diese können jedoch im Akutfall verschwimmen. Wichtig
Grundsätzlich gilt, dass ein Nystagmus, der peripher-vestibulär verursacht wird, seine Schlagrichtung bei Änderung der Blickrichtung nicht ändert, wohingegen der zentral generierte Nystagmus blickrichtungsabhängig ist.
Zur Differenzierung zwischen peripherem und zentralem Nystagmus kann der Versuch der Fixationssuppression herangezogen werden. Dabei
112
10
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
wird geprüft, ob der Spontannystagmus bei Fixation auf einen bestimmten Punkt seine Frequenz verringert oder vollständig verschwindet. Das kann als Zeichen für einen peripheren Nystagmus gewertet werden. Bewährt hat sich dabei der Einsatz der Videonystagmographie (VNG). Hier besteht die Möglichkeit, die Fixation durch Einschalten einer kleinen LED in der VNG-Brille zu prüfen. Der Romberg-Stehversuch und der Unterberger-Tretversuch sind die wichtigsten vestibulospinalen Tests. Durch sie kann ohne Hilfsmittel relativ leicht eine peripher-vestibuläre Störung diagnostiziert werden. Typischerweise fallen Neuronitis vestibularis-Patienten beim Stehversuch nach Romberg zur erkrankten Seite. Sollte der Krankheitsbeginn bereits einige Tage zurückliegen, kann diese Fallneigung bereits wieder verschwunden sein. Hier stellt der »verschärfte RombergTest« eine Möglichkeit zur Demaskierung des Vestibularisausfalles dar. Die Prüfung erfolgt wie beim Romberg-Test mit geschlossenen Augen und den Armen in Vorhalte, die Füße stehen hier jedoch nicht neben-, sondern voreinander. Der Unterberger-Tretversuch eignet sich erst nach einer gewissen Stabilisierung der Patienten zur Diagnostik. Als pathologisch werden hier Drehungen von mehr als 40–70 Grad zur erkrankten Seite gewertet. Neben der Statokinetik kann jetzt bei stabilisiertem Allgemeinzustand die thermische Prüfung der Vestibularorgane zur Verifizierung des Ausfalls des Vestibularorgans erfolgen. In den letzten Jahren hat die Videonystagmographie (VNG) dabei die Elektronystagmographie (ENG) und die Computernystagmographie (CNG) weitestgehend abgelöst. Der Einsatz der Videonystagmographie zeichnet sich durch die wesentliche Vereinfachung der Untersuchung aus. Auf eine Kalibrierung kann meist verzichtet werden und die Anforderungen an die Räumlichkeiten sind wesentlich geringer, da auf eine Verdunkelung gegebenenfalls verzichtet werden kann. Bei der Aufzeichnung der thermischen Prüfung findet sich regelmäßig ein Spontannystag-
mus zur gesunden Seite. Bei thermischer Reizung der erkrankten Seite fehlt eine erkennbare Änderung des vorbestehenden Spontannystagmus. Bei Prüfung der gesunden Seite kommt es hingegen zu Änderungen der aufgezeigten Nystagmen im Vergleich zum Spontannystagmus (. Abb. 10.2 u. 10.3). In . Abb. 10.2 wird ein Spontannystagmus nach rechts mit einer Schlagzahl von 69/30 Sekunden als Hinweis auf eine Läsion des linken Vestibularorgans aufgezeichnet. Das bestätigt sich bei der Warmspülung des rechten Ohrs (rechts/ warm). Hier wird der vorbestehende Rechtsnystagmus auf eine Schlagzahl von 90/30 Sekunden verstärkt, wohingegen bei den Spülungen des linken Ohrs (links/warm und links/kalt) mit Schlagzahlen von 70 und 73/30 Sekunden keine Änderungen des Spontannystagmus gefunden werden. Auch bei der letzten Spülung (rechts/kalt) kann keine relevante Änderung des Spontannystagmus aufgezeichnet werden (75/30 Sekunden). Dieses Phänomen kann als Hinweis für ein akutes Ereignis gewertet werden. Alternativ kann zur Auswertung der Seitendifferenz in Abhängigkeit der verwendeten VNG-Software die Geschwindigkeit der langsamen Nystagmusphase (SPV) genutzt werden. 4 Wochen nach einem Akutereignis einer Neuronitis vestibularis können dann eindeutige Befunde bei der thermischen Gleichgewichtsprüfung gefunden werden (. Abb. 10.3). Während bei der kalorischen Prüfung des linken Vestibularorgans (links/warm und links/kalt) keine Reaktionen zu verzeichnen sind, findet sich auf der rechten Seite (rechts/warm und rechts/kalt) eine regelrechte Antwort auf die thermische Reizung.
10.4.2 Kompensationsstadium Im weiteren Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer deutlichen Reduktion der vegetativen Beschwerden. Zu diesem Zeitpunkt verlangsamt der Spontannystagmus seine Frequenz und ver-
113 10.4 · Klinischer Befund und Diagnostik
. Abb. 10.2. Beispiel einer VNG-Aufzeichnung bei akuter Neuronitis vestibularis links
10
114
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
10
. Abb. 10.3. VNG-Aufzeichnung 4 Wochen nach akuter Neuronitis vestibularis links
115 10.4 · Klinischer Befund und Diagnostik
schwindet letztendlich. Zu diesem Zeitpunkt kann es unter Umständen auch zur Umkehrung des Spontannystagmus in das erkrankte Ohr kommen. Dieses Phänomen kann als mögliche Erholung des ausgefallenen Vestibularorgans angesehen werden. Zur weiterführenden Diagnostik einer evtl. bereits einsetzenden zentralen Kompensation der Neuronitis vestibularis eignet sich der rotatorische Test (Drehstopp- und Drehpendeltest). Dabei werden die Patienten um die Körperlängsachse gedreht. Durch diese Reizung werden beide Vestibularorgane gleichzeitig erregt. Im Fall einer Neuronitis vestibularis mit fehlender zentraler Kompensation stellt sich im Vergleich der Rechts- und Linksdrehung eine deutliche Seitendifferenz dar (. Abb. 10.4 u. 10.5). Auch bei der rotatorischen Prüfung im akuten Stadium einer Neuronitis vestibularis links kann
10
ein deutlicher Spontannystagmus nach rechts gesehen werden (. Abb. 10.4). In der postrotatorischen Phase nach Rechtsbeschleunigung und -drehung (Drehstopp rechts) kann nur ein ca. 5 Sekunden andauerndes Verschwinden des vorbestehenden Spontannystagmus aufgezeichnet werden. Die fehlende zentrale Kompensation stellt sich in den beiden rechten Diagrammen dar. Während die Rechtsnystagmen sowohl im Drehpendeltest (oberes Diagramm), als auch im Drehstopptest (unteres Diagramm) nachweisbar sind, fehlen im Akutstadium die Linksnystagmen vollständig. Bereits 4 Wochen nach akuter Neuronitis vestibularis links kann eine beginnende zentrale Kompensation in der rotatorischen Prüfung nachgewiesen werden (. Abb. 10.5). Im Drehpendeltest (rechtes oberes Diagramm) kann noch eine deutliche (pathologische) Seitendifferenz (SD) nachgewiesen werden: SD der maximalen
. Abb. 10.4. Aufzeichnung bei akuter Neuronitis vestibularis links in der rotatorischen Prüfung
116
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
10 . Abb. 10.5. Aufzeichnung 4 Wochen nach akuter Neuronitis vestibularis links in der rotatorischen Prüfung. Beginnender Ausgleich in der Drehstoppuntersuchung,
noch deutliche (pathologische) Seitendifferenz im Drehpendeltest
SPV (maximale Geschwindigkeit der langsamen Nystagmusphase – slow phase velocity in Grad/ Sekunde) von 20%, SD der kumulierten Augenposition (Summation der Nystagmusamplituden) von 56%. Im Drehstopptest (rechtes unteres Diagramm) stellt sich hingegen nur noch eine geringe Seitendifferenz der maximalen SPV von 4% dar. Es zeigt sich deutlich, dass die Drehpendeluntersuchung aufgrund der geringeren Reizintensität wesentlich sensibler auf pathologische Seitendifferenzen reagiert als der Drehstopptest mit deutlich überschwelligen Reizen. Bei zentraler Kompensation oder Erholung des peripheren Vestibularorgans kommt es zur Angleichung der Nystagmusantworten und zu einem symmetrischen Ergebnis der rotatorischen Prüfung. Der Drehstopp- und Drehpendeltest
stellt somit eine Möglichkeit zur Abschätzung der zentralen Kompensation einer peripher-vestibulären Störung dar. Als diagnostisches Mittel zur Differenzierung der ausgefallenen Anteile des Vestibularorgans haben sich die vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP) erwiesen. Durch den Einsatz von Tonbursts mit hohem Schalldruck (>90 dB) werden dabei neben den cochleären auch Sakkulusstrukturen stimuliert. Das konnte in tierexperimentellen Untersuchungen nachgewiesen werden. Die akustische Stimulation führt zu Reaktionen im Bereich der Halsmuskulatur. Die Ableitung der Potenziale erfolgt daher über dem M. sternocleidomastoideus. Durch den Einsatz der vestibulär evozierten myogenen Potenziale kann eine Sakkulusfunktionsstörung nachgewiesen werden.
117 10.6 · Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis
10.5
Therapie der Neuronitis vestibularis
10.5.1 Akutstadium Die Therapie zu Beginn der Erkrankung sollte sich auf die Ruhigstellung des Patienten konzentrieren. Gegen die von den Patienten verspürte Übelkeit und gegebenenfalls das Erbrechen können Antiemetika/Antivertiginosa eingesetzt werden, z. B. Dimenhydrinat (Vomex) oder Betahistidinmesilat (Aequamen). Gegebenenfalls kommt die Substitution von Flüssigkeiten (Infusion) infrage. Der Einsatz von Antivertiginosa sollte auf die ersten 2–3 Tage der Behandlung beschränkt sein, da sonst eine zentrale Kompensation des Schwindels beeinträchtigt werden kann. Die medikamentöse Behandlung der Neuronitis vestibularis umfasst in erster Linie den Einsatz von Glukokortikoiden. Den Glukokortikoiden wird neben einer antientzündlichen Wirkung ein positiver Effekt als Antiemetikum und auf die zentrale Kompensation nachgesagt. Auch der Einsatz von Rheologika wird beschrieben, erlangt aber in letzter Zeit keine große Bedeutung mehr. Der Einsatz von Virustatika (Vaciclovir), gegebenenfalls in Kombination mit Glukokortikoiden, wird zur Zeit noch in klinischen Studien untersucht. Die erste Phase der Behandlung der Neuronitis vestibularis muss so kurz wie möglich gehalten werden. Eine zu Beginn der Erkrankung sinnvolle Bettruhe sollte nicht länger als 2, maximal 3 Tage dauern. Hier muss man im Einzelfall Rücksicht auf die allgemeine Konstitution und das Alter der Patienten nehmen. Wichtig
Als Grundregel gilt jedoch, je länger man nicht gegen den Schwindel ankämpft, desto länger wird der Schwindel andauern.
An diese Phase der Ruhigstellung des Erkrankten schließt sich schnell ein vestibuläres Kompensa-
10
tionstraining an. Dieses stellt neben der medikamentösen Behandlung mit Glukokortikoiden und gegebenenfalls Rheologika einen zweiten wichtigen Pfeiler der Behandlung der Neuronitis vestibularis dar. Hierbei wird das Gleichgewichtssystem gezielt mit Schwindel auslösenden Situationen konfrontiert. Dadurch wird durch die wiederholte Reizung eine schnellere Erholung des Vestibularsystems erzielt. Der Einsatz des Gleichgewichtstrainings hat dabei an den einzelnen Patienten und den aktuellen Krankheitszustand angepasst zu erfolgen. Begonnen werden kann dabei mit Fixationsübungen bei gleichzeitiger Kopfdrehung oder dem visuellen Verfolgen von sich bewegenden Gegenständen. Später können dann Übungen im Sitzen, Stehen und beim Gehen folgen. Auch dabei soll ein Gegenstand fixiert werden.
10.5.2 Kompensationsstadium Die Dauer und der Übergang zwischen Akut- und Kompensationsstadium sind individuell sehr verschieden. Die medikamentöse intravenöse Therapie erstreckt sich in der Regel über einen Zeitraum von 7–10 Tagen. Daran schließt sich gegebenenfalls eine Fortführung einer Therapie mit oralen Rheologika über einen längeren Zeitraum an. Wichtig erscheint jedoch die Fortführung der Gleichgewichtsübungen, adaptiert an den Allgemeinzustand. Auch Monate nach einer akuten Erkrankung können Schwindelattacken bei schneller Kopfbewegung persistieren.
10.6
Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis – Auswertung der Erkrankungsfälle
Zum klinischen Befund, den diagnostischen Notwendigkeiten und der Therapie der Neuronitis vestibularis wurde Bezug genommen. Interes-
118
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
sant scheint jedoch die Frage, wie oft es zu einer zentralen Kompensation einer akuten Vestibulopathie kommt oder ob sich das erkrankte Vestibularorgan erholt. Angaben in der Literatur über eine Restitution der akuten Vestibulopathie sind rar. Um diese Frage klären zu können, führten wir über einen Zeitraum von 3 Jahren eine Auswertung der Fälle durch, die mit einer akuten Neuronitis vestibularis stationär behandelt wurden. Ziel der Untersuchung war es, den Verlauf der Erkrankung zu verfolgen, um Aussagen über die Dauer der vestibulären Symptomatik und ihren Verlauf hinsichtlich Restitution oder zentraler Kompensation treffen zu können.
10.6.1 Material und Methoden
10
Neben der routinemäßigen audiologischen Diagnostik während der stationären Behandlung führten wir im Akutstadium eine Videonystagmographie und einen rotatorischen Test zur Beurteilung der zentralen Kompensation der peripher-vestibulären Störung durch. Der Ausfall eines Vestibularorgans wurde bei einer maximum slow-phase velocity (mSPV) von ≤ 3°/Sekunden auf der betroffenen Seite angenommen. Von einer
fehlenden zentralen Kompensation wurde bei einer Seitendifferenz von ≥ 30% zu ungunsten der betroffenen Seite ausgegangen. Die im Akutstadium durchgeführte thermische Prüfung der Gleichgewichtsorgane und Drehstopp-/Drehpendeltests wurden dazu nach 4 und 12 Wochen wiederholt. Es wurden 57 Patienten in die Untersuchungen einbezogen.
10.6.2 Ergebnisse Das Durchschnittsalter der Patienten lag bei 48,4 Jahren (16–83 Jahre). Zwei Drittel der Patienten waren männlich (N= 38), nur 19 Patientinnen wurden behandelt. Das Durchschnittsalter der Frauen lag mit 43,4 Jahren deutlich unter dem der männlichen Patienten (50,9 Jahre). Nach 12 Wochen konnte bei 30 Patienten (53%) eine vollständige Erholung des zunächst akut geschädigten Vestibularorgans gefunden werden (22 Männer und 8 Frauen). Bei immerhin 27 Patienten (48%) fand sich auch 12 Wochen nach Behandlung der akuten Neuronitis vestibularis ein fortbestehender Vestibularisausfall mit einer Unerregbarkeit des betroffenen Vestibularorgans (. Abb. 10.6).
. Abb. 10.6. Verlauf der Neuronitis vestibularis
119 10.6 · Verlauf und Prognose der Neuronitis vestibularis
Von diesen 27 Patienten mit fortbestehendem peripherem Vestibularisausfall 12 Wochen nach Behandlung der Neuronitis vestibularis waren 59% männlich (N=16), Frauen waren in 11 Fällen in dieser Gruppe vertreten. Es erfolgte eine weitere Unterteilung dieser Gruppe in Patienten mit zentraler Kompensation und Patienten ohne zentrale Kompensation des einseitigen Ausfalls des Vestibularorgans. Dabei konnte in 15 Fällen eine zentrale Kompensation im Drehstopp-/Drehpendeltest nachgewiesen werden – 6-mal bei männlichen und 9-mal bei weiblichen Patienten. Bei weiteren 12 Patienten (21% des Gesamtkollektivs) konnte auch nach einem Vierteljahr nach Akuttherapie eines Vestibularisausfalls keine zentrale Erholung gesehen werden. Diese Gruppe stellt erfahrungsgemäß das größte Problempotenzial dar. Auffällig erscheint, dass 10 der 12 Patienten männlich waren (83%), nur 2 Patientinnen fanden sich in dieser Gruppe. Während das Durchschnittsalter der männlichen Patienten ohne zentrale Kompensation 51,6 Jahre betrug, lag das Durchschnittsalter der Frauen dieser Gruppe bei 29 Jahren (. Abb. 10.7).
10.6.3 Diskussion Die Behandlung der Neuronitis vestibularis geht über die akute Phase der Erkrankung hinaus und
. Abb. 10.7. Fortbestehender Vestibularisausfall nach 12 Wochen
10
bedarf der weiteren Betreuung der Patienten über einen längeren Zeitraum. Auch mehr als 12 Wochen nach dem Akutereignis stellen sich Patienten mit fortbestehenden vegetativen Beschwerden vor. Eine Aussage hinsichtlich der Prognose der Erkrankung erscheint nur bedingt möglich. Das Alter der Patienten hat keinen Einfluss auf den Verlauf der Neuronitis vestibularis. Weibliche Patienten scheinen insgesamt im Vorteil zu sein. Nur ein Drittel unserer behandelten Patienten waren Frauen. Das widerspricht teilweise den Literaturangaben, hier wird ein höherer Anteil an weiblichen Patienten beschrieben. Während 10 männliche Patienten nach 12 Wochen noch keine zentrale Erholung aufwiesen (26% der behandelten männlichen Patienten), waren nur 2 Frauen betroffen (11% der behandelten weiblichen Patienten). Bei der Auswertung der Erkrankungsfälle fand sich eine gewisse Häufung in den Herbstund Wintermonaten. Das unterstützt die Hypothese, dass die Neuronitis vestibularis oft mit Infekten einhergeht und durch Infektionserreger ausgelöst wird. Den Patienten ist bereits während der stationären Therapie deutlich zu machen, dass eine aktive Teilnahme am öffentlichen Verkehr erst nach einer vollständigen Erholung des Vestibularorgans oder nach einer zentralen Kompensation möglich ist. Aus diesem Grund sollten die Pa-
120
Kapitel 10 · Neuronitis vestibularis – Verlauf und Prognose
tienten regelmäßig nachkontrolliert werden, bis der Nachweis der Restitution oder Kompensation erbracht werden kann. Die Patienten sind darüber zu informieren, dass eine Arbeitsunfähigkeit bei exponierten Berufen (Dachdecker, Kraftfahrer etc.) auch länger als 12 Wochen bestehen bleiben kann. Im untersuchten Patientengut betrifft das immerhin 21% der Erkrankten.
Literatur
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11 Der sogenannte zervikale Schwindel E. Biesinger
11.1 Die Hypothese: Das vestibulookulär-zervikale Missmatch 11.2 Die Expertendiskussion Literatur
– 130
– 124
– 122
122
Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
Eine Hypothese, gestellt von Dr. Biesinger und eine Expertendiskussion zwischen Professor Dr. Hamann, München Rechts der Isar und Dr. Hölzl, HNO Charité Mitte, Berlin. Zaungast: Professor Dr. Albegger, Salzburg Moderator: Dr. Biesinger
11.1 Die Hypothese: Das vestibu-
lookulär-zervikale Missmatch
11
Die Existenz oder Möglichkeit, dass bei gesunden vestibulären und okulären Reflexen ein vertebragener Schwindel existiert, ist sehr umstritten. Ungeachtet der verschiedenen Expertenmeinungen ist in der Klinik feststellbar, dass bei verschiedenen subjektiven Schwindelformen durch die Behandlung an der Halswirbelsäule mit dem Ziel der Beseitigung funktioneller Störungen der Kopfgelenke eine Beschwerdefreiheit eintritt. Auf der anderen Seite ist es auch tägliche Erfahrung, dass Manipulationen an der Halswirbelsäule, Massagetechniken etc. zu Schwindel führen. Der in der manuellen Diagnostik der Halswirbelsäule erfahrene Therapeut stellt in diesen Fällen häufig eine Asymmetrie des Muskeltonus und der Gelenkstellung im Bereich der Kopfgelenke fest. Das postulierte Missmatch besteht nun darin, dass eine Rotationsstellung des Atlas nicht konform geht mit den Meldungen aus den okulären und vestibulären Systemen (. Abb. 11.1). Das heißt, die Halswirbelsäule meldet »eine Rotationsstellung des Kopfes«, was von den anderen vestibulären Systemen nicht bestätigt wird. Ein solches Missmatch führt typischerweise zum Schwindel. Eine Rotationsstellung des Atlas als Ursache dieser Meldung lässt sich auch im Röntgenbild feststellen: In der anterior-posterior-Aufnahme (. Abb. 11.2 u. 11.3) stellt sich der Dens des Axis neben den Kondylen normalerweise mittelständig dar. Der Abstand von den Kondylen des Atlas ist beidseits symmetrisch, ebenso die Gelenkflächen zwischen Atlas und C2 (. Abb. 11.3, Abb. 11.4).
. Abb. 11.1. Die 3 vestibulären Systeme im Missmatch: Augen und Vestibularorgane melden »gerade«, die Halswirbelsäule meldet eine Drehung
. Abb. 11.2. Röntgenaufnahme (a.-p.): Die Darstellung der Atlaskondylen auf dem Röntgenfilm zeigt gleichgroße Kondylen mit symmetrischem Abstand vom Dens axis
123 11.1 · Die Hypothese: das verstibulookulär-zervikale Missmatch
. Abb. 11.3. Schematische Darstellung der Situation bei der a.-p. Aufnahme bei nicht gedrehtem Atlas
11
. Abb. 11.5. Schematische Darstellung des gedrehten Atlas im Röntgenbild a.-p.: der zur Röntgenröhre hin gedrehte Condylus des Atlas wird auf dem Röntgenfilm größer dargestellt, es besteht außerdem ein unterschiedlicher Abstand zum Dens axis und eine Asymmetrie der Gelenkflächen
Bei einer Atlasrotation (. Abb. 11.5, . Abb. 11.6) werden im Röntgenbild (. Abb. 11.7) die
. Abb. 11.4. Röntgenaufnahme (a.-p.): Die Darstellung der Atlaskondylen auf dem Röntgenfilm zeigt gleichgroße Kondylen mit symmetrischem Abstand vom Dens axis
Kondylen des Atlas verschieden groß im Röntgenbild dargestellt. Es kommt zu einer deutlichen Asymmetrie in der Stellung der Atlaskondylen zum Dens-Axis und auch zu einer unterschiedlich großen Darstellung der Gelenkflächen zwischen den Atlaskondylen und den Axisschultern. Ein solche Rotationsstellung, verbunden mit einem asymmetrischen Muskeltonus und damit einer seitendifferenten afferenten Meldung in die vestibulären Kerngebiete wird als Grundlage für das Vorhandensein eines vertebragenen Schwindels postuliert.
124
Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
. Abb. 11.6. Schematische Darstellung des gedrehten Atlas im Röntgenbild (a.-p.): Der zur Röntgenröhre hin gedrehte Condylus des Atlas wird auf dem Röntgenfilm größer dargestellt, es besteht außerdem ein unterschiedlicher Abstand zum Dens axis und eine Asymmetrie der Gelenkflächen
11.2 Die Expertendiskussion
11
. Abb. 11.7. Rotationsstellung des Atlas mit der Darstellung unterschiedlich großer Atlaskondylen und verschiedenen Abständen der Kondylen zum mittelständigen Dens Axis und verschieden großen Gelenkabständen der Kondylen zu den Axisschultern
Dr. Biesinger: Das vestibuläre System besteht aus den Bogengängen, d. h. aus dem peripher-vestibulären Organ, das mit dem optokinetischen Apparat und dem propriorezeptiven System kooperiert. Sind wir uns da einig, kann ich das so im Raum stehen lassen? – Allgemeine Zustimmung – Jetzt habe ich Ihnen ein Röntgenbild geschickt, in dem wir eine Rotationsstellung des Atlas sehen und zum Schwindel kommt es ja immer dann, wenn im gesamten System die Meldungen nicht konkordant sind, das heißt: Die Augen melden etwas anderes als das vestibuläre System. Meine Hypothese war jetzt: Wenn aus der Halswirbelsäule die Meldung kommt »der Kopf steht rotiert« und dies nicht mit den Meldungen aus dem optischen und vestibulären System übereinstimmt, haben wir damit ein klassisches Missmatch und damit die Voraussetzung für Schwindel. Prof. Hamann: Ja, das ist grundsätzlich richtig. Wir müssen aber bei dieser Betrachtungsweise berücksichtigen, dass es eine Dominanz innerhalb dieser 3 von Ihnen genannten Sinnesorgane und Sinnessysteme gibt und solange 2 von den genannten, nämlich Auge und Gleichgewichtsorgan, dasselbe melden, wird die Information des dritten Organs, in dem Fall der Propriozeptoren,
125 11.2 · Die Expertendiskussion
missachtet oder zumindest so klein gehalten oder so gut kompensiert, dass es eben trotzdem zu einem adäquaten Raumeindruck führt und nicht zu Schwindel. Dr. Biesinger: Worauf beruht Ihre Behauptung, dass diese Dominanz besteht? Prof. Hamann: Auf neurophysiologischen Daten und einfach darauf, dass Patienten mit dieser Stellung an der Halswirbelsäule alle Schwindel haben müssten, wenn Ihre Hypothese stimmt. Das ist nicht der Fall. Dr. Hölzl: Also, ich finde diese vorgegebene Hypothese sehr spannend. Ich denke allerdings, dass die Hypothese, die Dr. Biesinger aufgestellt hat einen Fehler hat: Sie sprechen über eine strukturelle Normvariante. Ich denke, dass eine Stellungsanomalie des Atlas eine Normvariante ist. Unsere Patienten kommen mit einem anderen Beschwerdebild. Man muss hier grundsätzlich unterscheiden zwischen strukturellen Problemen, die sehen wir im Röntgen, oder im MRT. Aber wovon wir reden, das sind Funktionsstörungen. Diese Funktionsstörungen können wir nicht bildmorphologisch darstellen. Im Übrigen ist das auch meines Erachtens eigentlich unser Problem von Seiten der Befürworter dieses Krankheitsbildes, dass wir nämlich die relevante Störung bisher nur tasten und eben nicht objektivieren können. Zu den Einschätzungen von Herrn Prof. Hamann habe ich folgende Meinung: Gut, wenn wir die vestibuläre Hierarchie gemeinsam akzeptieren. Die skizzierte vestibuläre Hierarchie funktioniert so beim Gesunden. Die Sache wird komplexer, wenn nicht übereinstimmende Sinnesinformationen die Kompensationsmöglichkeiten des vestibulären Gefüges übersteigen. Dann kommt krankheitsbedingt diese Hierarchie durcheinander. Welche Rolle nimmt dann der zervikale Faktor ein? Hier denke ich z. B. an Vestibularisausfälle, die nicht kompensieren. Dr. Biesinger: Die dargestellte Rotationsstellung kann auch aufgrund funktioneller Asymmetrien bestehen und ist nicht immer eine Normvariante. Hierüber entscheidet die funktionelle,
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segmentale Untersuchung. Dabei stellt sich heraus, ob es eine Normvariante oder eine Funktionsstörung ist, meistens ist Letzteres der Fall! Prof. Hamann: Wir sehen die Problematik der nicht kompensierten Vestibulariserkrankungen sehr genau, auch wir erreichen mit den üblichen Rehabilitationsmaßnahmen physikalischer Art, wie auch Herr Dr. Biesinger sie durchführt, nie Heilung in 100% der Fälle – anders als beim Lagerungsschwindel. Wir haben eine Erfolgsquote von 90–92%, insofern ist das schon ein Unterschied. Wir haben uns natürlich Gedanken gemacht, woran das liegt, dass manche Menschen nicht ausreichend kompensieren. Unsere Erklärung ist die, dass die Kompensation von verschiedenen Faktoren abhängt. Ein ganz wesentlicher Faktor ist das Alter. Ein weiterer wichtiger Faktor ist die zusätzliche Einnahme von Medikamenten, die der Kompensation entgegen wirken, vor allen Dingen eben Medikamente mit sedierender Begleitwirkung. Ein Dritter, wichtiger Faktor ist das zusätzliche Vorhandensein von anderen Störungen besonders im ZNS. Dies gilt für Strukturen, die wir für die Kompensation brauchen, die aber aus irgendwelchen Gründen selbst erkrankt sind. Dann fällt natürlich die Kompensation schwer. In dem Zusammenhang – und das betone ich immer wieder – da halte ich auch die Halswirbelsäule mit ihren Rezeptoren für einen ganz wesentlichen Faktor. Ich erinnere mich schon an Fälle, die vermutlich wegen zusätzlicher vertebragener Krankheiten nicht ausreichend kompensieren konnten. Meine Hypothese ist ja die, dass die Halswirbelsäule alleine nicht die Ursache sein kann für das Auftreten von Schwindelbeschwerden. Wir brauchen sie aber für die Kompensation. Bei den von uns benutzten Rehabilitationsmaßnahmen wird sie ganz gezielt integriert. Wenn an der Halswirbelsäule zusätzlich eine Störung vorliegt, hemmt, unterdrückt sie oder macht sie eine Kompensation unmöglich. Dr. Hölzl: Also das ist für mich schon einmal ein sehr großes Feld, wo wir uns glücklich treffen.
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11
Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
Dr. Biesinger: Jetzt behaupten viele niedergelassene Kolleginnen und Kollegen mit Erfahrung in der manuellen Therapie, dass sie »ihren HWSSchwindel« zu 80% durch die Behandlung an der Halswirbelsäule beseitigen können. Was sind das dann für Schwindelformen? Prof. Hamann: Also, diese Zahl ist aus meiner Sicht überhaupt nicht nachvollziehbar, denn es ist ja nun nicht so, dass wir als Kliniker nur ausgesuchte Patienten bekommen, sondern wir haben auch eine öffentliche Ambulanz, wo wir in der selben Situation sind wie der niedergelassene HNO-Kollege. Deswegen kann ich diese Zahl überhaupt nicht nachvollziehen. Für mich heißt das, dass die Diagnostik falsch war und ich kann den niedergelassenen Kollegen und Kolleginnen nur raten, doch erst einmal eine saubere konventionelle Vestibularisdiagnostik durchzuführen. Mir sind mehrere Fälle geläufig, bei denen mit der bloßen Vermutung eines zervikogenen Schwindels angefangen wurde zu therapieren, ohne überhaupt die konventionelle Vestibularisdiagnostik durchzuführen Es wurde nicht einmal eine kalorische Prüfung durchgeführt! Dr. Biesinger: Was erwarten Sie vom niedergelassenen HNO-Arzt an »normaler« Vestibularisdiagnostik? Prof. Hamann: Er sollte nach einem Spontannystagmus fahnden, nach einem Provokationsnystagmus unter der Frenzel-Brille, er sollte den Kopfimpulstest machen, er sollte die geführten Augenbewegungen durchführen lassen und grobklinisch die Auslösbarkeit des optokinetischen Nystagmus. Die Frage, die ja einem niedergelassenen HNO-Arzt gestellt wird ist: »Wie steht‘s mit dem peripheren Vestibularorgan?« Deshalb sollte er, MUSS er, eine thermische Reizung durchführen, außerdem die spezifischen Lagerungsprüfungen zum Aufdecken eines gutartigen Lagerungsschwindels. Dann hat er seine Pflicht erfüllt. Aber das, meine ich, ist die unbedingte Voraussetzung und wenn er da einen pathologischen Befund erhoben hat, dann sollte er auch diese Störung einem Krankheitsbild zuordnen und erst
einmal entsprechend behandeln. Wenn er keine pathologischen Ergebnisse gefunden hat, dann muss man eben überlegen, ob irgendetwas anderes dahinter steckt, wobei ich dann natürlich zunächst an eine psychische, eine phobische Störung denke. Dr. Biesinger: Herr Dr. Hölzl, wie sieht die Vestibularisdiagnostik in der Charité aus? Dr. Hölzl: Die Vestibularisdiagnostik in der Charité ist in ihren Grundzügen genau vergleichbar, wie Prof. Hamann das angesprochen hat. Ich denke, wir haben natürlich noch die Möglichkeit der Otolithenfunktionsüberprüfung in dem Forschungslabor von Herrn Prof. Clarke. Zusätzlich machen wir auch noch eine funktionelle, manualtherapeutische Untersuchung der Halswirbelsäule und die uns zur Verfügung stehenden Funktionstests. Dr. Biesinger: Jetzt gibt es ja immer die Diskussion um diesen Halsdrehtest, Herr Dr. Hölzl, vielleicht erklären sie ihn ganz kurz und die Wertigkeit und dann sollten Sie beide darüber diskutieren. Dr. Hölzl: Die Kurzbeschreibung ist, dass bei einem fixierten Kopf eine Auslenkung des Rumpfes durchgeführt wird, hierzu gab es apparative Bemühungen, dass man also genaue Geschwindigkeiten, genaue Gradzahlen apparativ untersucht hat und vorwiegend auf horizontale Nystagmen geachtet hat. Wenn ich also den Rumpf drehe, ohne die Bogengänge zu aktivieren und dabei einen Nystagmus auslösen kann, ist dies ein Hinweis auf einen zervikookulären Reflex. Ich habe Patienten untersucht mit diesem herkömmlich traditionellen Halsdrehtest und konnte mich auch persönlich davon überzeugen, wie sich ein horizontaler Nystagmus durch die Rotation des Rumpfes umdrehen ließ. Ich persönlich kann das nicht anders erklären als durch einen propriozeptiven Input in das vestibulookuläre System auf Hirnstammniveau. Dabei müssen wir den Test an die zervikale Bewegungsgrenze des Patienten heranführen und ihn in dieser Stresssituation halten. Dort entwi-
127 11.2 · Die Expertendiskussion
ckeln sich die Nystagmen pathologischer Art mit einer Latenz von bis zu 20 Sekunden. Eventuell müssen wir den Halsdrehtest ausweiten und in anderen Gelenkstellungen halten. Damit würde zwar das vestibuläre System mitgereizt, aber wenn wir in Endstellung die Bewegung anhalten, kommen von dort ja keine Einflüsse mehr – außer es liegt ein paroxysmaler Lagerungsschwindel vor. Dr. Biesinger: Prof. Hamann, was sagen Sie zum Halsdrehtest? Prof. Hamann: Ja, ich erinnere mich noch gut und das ist noch gar nicht so lange her, dass der Nachweis eines Zervikalnystagmus in eben diesem Halsdrehtest als dem einzig letztlich beweisende Argument und Symptom für einen zervikogenen Schwindel angesehen wurde, nachzulesen in Herrn Prof. Hülses Monografie. Das ist aber nicht mehr haltbar seit den Arbeiten von Holtmann – und es war auch schon vorher eigentlich bekannt, dass man dieses Phänomen auch bei Gesunden findet. In dem Moment, wo ein Test bei Gesunden positiv ausfällt, ist er natürlich nicht mehr als pathognomonisch zu werten. Gut, wenn jetzt ein anderer Nystagmus, der auch durch den Halsdrehtest ausgelöst wird allerdings mit einer Latenz von 20 Sekunden, als Kriterium herangezogen wird, ist dies nicht nerval. 20 Sekunden sind im Nervensystem eine Ewigkeit, wenn man bedenkt, dass sich das normalerweise alles im Millisekundenbereich abspielt. Es tritt doch dann eher die Vermutung auf, dass es sich hier um vaskuläre Phänomene handelt und da möchte ich anmerken, dass es über eine Abklemmung von Gefäßen tatsächlich zum Auftreten von Nystagmen, aber auch von Schwindel kommen kann. Allerdings muss man sagen, sind das auch sehr seltene Fälle. Also: Eine Latenzzeit von 20 Sekunden spricht eindeutig gegen eine nervale Verursachung, eher für eine vaskuläre Genese und damit habe ich keine Probleme. Dr. Hölzl: Dem kann ich nicht zustimmen, Herr Hamann, das ist widerlegt. Ich kann nicht stehen lassen, dass dieses Phänomen vaskulär sein muss. Dafür ist eine massive Störung der A. verte-
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bralis zu selten. Es gibt auch hinreichend Untersuchungen, dass das Durchblutungsverhalten in dieser Rotationsstellung keinen Einfluss nimmt und es ist ja schon überraschend, dass dieser Zervikalnystagmus nach einer Manualtherapie nicht mehr nachweisbar ist. Das wäre nicht vereinbar mit einer vaskulären Hypothese. Zweitens ist diese Verzögerung nicht wie ein Reflex der Patella zu sehen, das wäre natürlich eine Ewigkeit. Hingegen liegt bei den zervikalen Afferenzen ein komplexes Geflecht aus exzitatorischen und inhibitorischen Bahnen – hier vor allen Dingen das Kleinhirn – vor, die einer zentralen Neuromodulation unterliegen. Wir kennen diese Leistung des ZNS, wenn wir beispielsweise von einem Boot heruntersteigen und wieder festen Boden unter den Füßen haben. Da brauchen ungeübte Seefahrer auch ein paar Stunden, bis das »Nachschwanken« – als Ausdruck einer vestibulären Kompensation eines nicht mehr vorhandenen Schwankens – abklingt. Im übrigen auch eine Frage des Trainings. Prof. Hamann: Wie gesagt, wenn man bedenkt, dass gerade der vestibulookuläre Reflex der schnellste Reflex ist, den der Mensch überhaupt hat, dann ist das also, selbst wenn man noch eine kleine Schleife über den Hirnstamm mit einbaut, nicht nerval. Wenn Sie sagen, dass ein Zervikalnystagmus sich nach einer Manipulation nicht mehr nachweisen lässt, so zweifle ich nicht an der Beobachtung, nur an der Erklärung. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass dieser berühmte Ruck an der Wirbelsäule in Wirklichkeit womöglich ein Befreiungsmanöver war. Man hatte einfach einen Lagerungsnystagmus, einen Lagerungsschwindel! Den hatte man damals noch nicht genauer einordnen können. Eine solche Vermutung darf ich ja äußern, aber ich zweifle nicht an Ihrer Beobachtung. Dr. Biesinger: Herr Dr. Hölzl, jetzt müssen sie aber streng widersprechen, weil Herr Prof. Hamann postuliert, dass nach einem chiropraktischen Manöver oder Impuls die Symptomfreiheit deshalb eingetreten ist, weil ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel zugrunde lag.
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Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
Dr. Hölzl: Hier ist natürlich Widerspruch einzulegen. Dies entspricht nicht meiner klinischen Untersuchungspraxis. Selbstverständlich schließe ich einen benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel vorher aus. Im Übrigen bedeutet eine Manualtherapie an den Kopfgelenken nicht zwingend, dass sie aus den oben genannten Gründen zur sofortigen Befreiung der Schwindelbeschwerden führt, sondern dass sich eben auch aufgrund der dominanten zentralvestibulären Kompetenz dieses Reflexsystem erst wieder auf die neue – normale – afferente Situation einstellen muss. Dr. Biesinger: Gut, aber als niedergelassener Arzt würde man sich eine wissenschaftliche Untersuchung wünschen, derart, dass ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel ausgeschlossen wird, Sie einen Ihrer Meinung nach positiven Halsdrehtest reproduzierbar vorfinden, den Patienten an der Halswirbelsäule behandeln und die Erfolge und Befunde nachuntersuchen. Gibt es solche Untersuchungen, haben Sie das durchgeführt oder ist es nur eine klinische Beobachtung in Einzelfällen? Dr. Hölzl: Ich persönlich habe mein Kollektiv noch nicht nach wissenschaftlichen Kriterien standardisiert und direkt durch manualtherapeutische Eingriffe kontrolliert, weil ich das für den derzeitigen Stand der Argumentation für nicht stichhaltig genug gehalten habe. Ich möchte einen therapeutischen Weg verfolgen, der unter wissenschaftlichen Kriterien die Behandlungsergebnisse dokumentiert. Hierzu möchte ich den Einfluss messen, der durch eine kontrollierte und präzise Ausschaltung der zervikalen Afferenzen im HNO Bereich entsteht. Zur Ausschaltung der propriozeptiven Afferenzen aus der subokzipitalen Muskulatur benutzen wir zur Zeit eine CT-kontrollierte Injektion von Bupivacain oder Botulinustoxin. Ich habe mir gedacht, dass das für die Argumentation objektiver ist, als eine manualtherapeutische Intervention, deren Ergebnisse schon vielfach aufgearbeitet worden sind.
Prof. Hamann: Was den Verlauf des Behandlungerfolgs angeht, habe ich da ein Problem: Entweder ist es eine schnelle Sache, ähnlich wie beim Lagerungsschwindel, oder es ist ein anderes Prinzip, das wirksam wird. Dr. Hölzl: Also, ich habe zusammen mit Prof. Hülse ein Kollektiv von ca. 100 Patienten mit Schwindelbeschwerden nach manualtherapeutischer Intervention untersucht. Alle waren neurootologisch unauffällig Diese Patienten hatten eine Therapiezufriedenheit von ca. 80%, aber der Beginn der Therapieeffektivität lag im Durchschnitt bei 2,1 Tagen und das entspricht auch den Verläufen, die ich aus meiner eigenen Sprechstunde hier habe. Und das ist für mich kein Widerspruch. Prof. Hamann: Gut, es ist nur merkwürdig und dies ist ein Punkt, den wir noch gar nicht besprochen haben, ob nicht all diese Phänomene, die ja bis jetzt, noch nicht greifbar, fassbar, objektivierbar sind, ob die nicht auch rein psychischer Natur sein können. Früher war es ja offensichtlich so, dass man mit dem berühmten Ruck sofort einen Erfolg erreichen konnte. Das ist offensichtlich heute nach ihren Aussagen, Herr Hölzl, nicht mehr der Fall. Da hat es also schon einmal, was den Zeitverlauf angeht, doch einen deutlichen »Schwenk« gegeben. Damals hatte ich kritisch gesagt: »Nanu, wie soll denn das so schnell gehen?« Diese Erkenntnisse mit der Kompensation und Missmatch-Theorie, das gibt es seit 30 Jahren, das war alles im Grunde nicht neu. Man hat das Gefühl, man nimmt zu neuen Erklärungen Zuflucht, wenn eine Erklärungsmöglichkeit nun wirklich definitiv ausgeschieden ist. Deshalb kann ich auch damit nicht viel anfangen und möchte doch einmal auch den psychischen Faktor ins Spiel bringen, ob das nicht auch einfach der Erfolg des Therapeuten sein kann?! Dr. Hölzl: Dieser Vorwurf entspricht nicht meinem klinischen Eindruck. Man muss allerdings den Vorwurf akzeptieren, dass von Seiten der manualmedizinischen Gesellschaften zu wenig Arbeit geleistet wurde, um die praktischen
129 11.2 · Die Expertendiskussion
Erfahrungen – insbesondere im HNO-Bereich – auch wissenschaftlich zu untermauern. Das ist ja auch die Motivation für meine Arbeit. Mir werden gelegentlich sogar aus der psychiatrischen Sprechstunde Patienten mit Schwindel vorgestellt, die vorher schon bei HNO-Ärzten waren und die dann nach manualtherapeutischer Behandlung beschwerdefrei sind! Prof. Hamann: Ihre Absichten kann man nur unterstützen, dass da einmal Ordnung rein gebracht wird, das Ganze wirklich wissenschaftlich nachprüfbar! Ein Vorschlag wäre schon einmal, dass ein und derselbe Patient von verschiedenen Manualtherapeuten und zwar im Sinne eines einfachen Blindverfahrens untersucht würde, denn, das sagen sie selbst, manualtherapeutische Untersuchungen sind etwas Subjektives. Daraus könnte man feststellen, ob die verschiedenen Manualtherapeuten übereinstimmende Befunde erheben können. Das würde dazu beitragen, dass tatsächlich etwas Überprüfbares zu diagnostizieren ist. Dr. Hölzl: Das ist sicherlich ein guter Vorschlag und eine von vielen Aufgaben, die zu tun sind. Ich denke aber, dass dies kein spezifisches Problem der Manualtherapie ist. Trotz allem denke ich, wird die Qualität eines Tastbefundes in der Medizin deutlich unterschätzt. Er ist schnell und effektiv. Prof. Albegger: Gibt es auch Fälle, die durch Manualtherapie verschlechtert worden sind? Dr. Hölzl: Die gibt es zweifellos, ich habe auch in meinem eigenen Patientengut Patienten, die durch meine Behandlung verschlechtert worden sind. Prof. Albegger: Weshalb? Dr. Hölzl: Ich kann es nicht ganz sicher sagen, wo das Problem liegt, aber es ist so, dass der Patient durch die Manipulation am Kopfgelenk eine Verschlechterung seiner Schwindel- wie auch der weiteren kraniozervikalen Symptomatik erfahren hat. Man kann diesen negativen Effekt nicht immer vorhersehen. Eventuell ist der propriozeptive Reiz zu groß und ich habe ihn noch weiter in das Missmatch gebracht.
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Dr. Biesinger: Wir sehen regelmäßig, dass Patienten, die da oben kräftig massiert worden sind, danach schwindelig sind. Herr Kollege Sauer aus München hatte hierfür den Begriff des »Postmassagesyndroms« geprägt. Prof. Hamann: Ich sehe etwa im Jahr mindestens 10 Patienten, die durch eine Massage der Halsmuskulatur überhaupt erst Schwindelbeschwerden bekommen haben, wobei ich nicht weiß, warum. Das spricht im Grunde genommen gegen meine Hypothese, das ist mir völlig klar, aber es ist erst einmal ein Phänomen. Und wenn die Patienten mich fragen: »Massieren an der Halswirbelsäule?« Ich rate jedes Mal ab. Herr Hölzl: Aber ich meine, das ist ja klinische Realität! Ich möchte deshalb den Vorschlag machen: Lassen sie uns doch zusammen einige solche Patienten anschauen und diskutieren, ob wir an den Modellvorstellungen ein bisschen hier oder da korrigieren können. Prof. Albegger: Was Massage ist, muss man ja auch noch definieren, ich weiß ja auch nicht, was die machen! Wenn Ihre Patienten berichten »Ich bin massiert worden«, wissen wir nicht genau, was wirklich gemacht wurde. Wenn dann der Patient sagt, es ist schlechter geworden, würde ich gerne durch eine Untersuchungsmethode objektivieren, was sich verschlechtert hat. Dr. Hölzl: Aus meiner Sicht steht der Palpationsbefund bei diesen Patienten im Vordergrund. Ich muss mir Klarheit darüber verschaffen, wie die Kopfgelenke funktionieren, welche Freiheitsgrade eingeschränkt sind. Zweitens möchte ich diese zervikalen Strukturen provozieren durch diesen modifizierten Halsdrehtest und ich möchte schauen, welche Nystagmen lassen sich in welcher Kopfposition provozieren. Und dann würde ich Herrn Prof. Hamann anbieten, dass ich nach München komme und diese Patienten mit einer Lokalanästhesie der Wurzel C2/3 beidseits behandle. Ferner würde ich den Patienten nach seinem Beschwerdeverlauf befragen und auf einer visuellen Analogskala dokumentieren, dann die Kon-
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Kapitel 11 · Der sogenannte zervikale Schwindel
trolluntersuchungsbatterie wieder durchführen und die Befunde mit Herrn Prof. Hamann diskutieren. Prof. Hamann: Eine Frage ist noch, ob das, was die Patienten Schwindel nennen, nicht nur ein anderer Ausdruck ist für Schmerz. Meines Wissens ist Massage von den Ärzten in der physikalischen Medizin genau definiert. Eine Vermutung ist, dass tatsächlich durch die überstarke Beanspruchung oder das »Kneten« der Muskulatur im Grunde genommen Nozizeptoren im übertriebenen Maße erregt werden. Vielleicht kann der Patient dann nicht zwischen Schmerz und Schwindel unterscheiden und drückt sich nicht korrekt aus. Jedenfalls ist es immer ein unsystematischer Schwindel. Dr. Hölzl: Auf jeden Fall, da würde ich auch nicht widersprechen. Prof. Hamann: Das Problem ist, ich sehe diese Patienten nicht lange, es fehlen mir bis jetzt einfach die Langzeitverläufe. Vielleicht kann ich diese Patienten einmal eine längere Zeit beobachten. Ich sag noch einmal, ich nehme das Phänomen zur Kenntnis und räume auch ein, dass ich keine befriedigende Erklärung habe. Im Übrigen bin ich ja auch der Meinung, dass die Halswirbelsäule zum HNO-Arzt gehört, aber wegen der Schmerzen, nicht wegen des Schwindels. Dr. Biesinger: OK, dann kommen wir zum Schluss. Abschließend möchte ich Sie 2 Dinge fragen: Herr Prof. Hamann, was würden sie für diagnostische Tools fordern, um an einen zervikalen Schwindel glauben zu können? Was setzen sie voraus? Und was würden Sie, damit verbunden, Herrn Dr. Hölzl empfehlen, wissenschaftlich weiterhin zu untersuchen? Prof. Hamann: Also, glauben kann ich es ja sofort, aber Sie wollen mich ja überzeugen. Was mich überzeugen würde, wären objektivierbare, also reproduzierbare Untersuchungsergebnisse, allein um schon die Diagnose zu stellen. Auch die therapeutischen Verfahren müsen derselben Objektivität gehorchen. Dadurch ergäbe sich ein objektivierbares Phänomen, das durch eine defi-
nierte Behandlung mit demselben Tool – selbst wenn es Manipulationen sind oder aber Injektionen –zu einem objektivierbaren Ergebnis führt. Das würde mich überzeugen. Dr. Biesinger: Und wissenschaftlich gesehen? Wir überblicken ja jetzt zig Jahre Vestibularisforschung – wo würden Sie ansetzen, um diese Phänomene auszutüfteln? Prof. Hamann: Also, die Frage überfordert mich jetzt. Vielleicht Muskelableitungen, Tiefenableitungen im unterschiedlichen Muskeltonus. Das Schönste wäre ein Nystagmus für uns, aber es muss ja nicht unbedingt Spontan- oder Provokationsnystagmus sein, es können ja auch andere okulomotorische Reaktionen sein. Wenn ich jetzt einen dynamischen Test fände, der irgendeine reflektorische okulomotorische Reaktion bringt und dann beeinflussbar wäre, auch experimentell, das würde mich überzeugen. Dr. Biesinger: Also, daran müssen wir arbeiten. Vielen Dank meine Herren.
Literatur Hamann KF (1985) Kritische Anmerkungen zum so genannten zervikogenen Schwindel. Laryngol Rhinol Otol 64: 156–157
12 Schwindel aus internistischer Sicht W. Moshage
12.1 Einführung – 132 12.2 Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik – 132 12.2.1 Übersicht – 132 12.2.2 Internistische Erkrankungen und deren Zusammenhang mit Schwindel
12.3 Diagnostik und Therapie – 138 12.3.1 Diagnostik – 138 12.3.2 Therapie – 143
12.4 Zusammenfassung – 144 Literatur
– 145
– 133
132
12.1
12
Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Einführung
Schwindel als möglicher Ausdruck einer zugrunde liegenden internistischen Erkrankung ist in der internistischen Praxis ein sehr häufiges, unspezifisches und oft schwer objektivierbares Symptom. Andererseits findet sich aber nur bei einem geringen Anteil von Patienten mit Schwindelsymptomatik tatsächlich primär eine internistische Ursache [4, 7]. Typischerweise handelt es sich bei Schwindel mit einer internistischen Erkrankung als Ursache meist nicht um einen Dauer-, Dreh- oder einen Lagerungsschwindel, sondern es wird ein unspezifisches, anfallsartiges Schwindelgefühl geschildert, oft in Kombination mit anderen Symptomen (z. B. Übelkeit, Schwächegefühl, Schweißausbruch, Angstgefühl, Unsicherheit auf den Beinen, Benommenheit, Leere im Kopf, Herzrasen) bis hin zu präsynkopalen oder synkopalen Zuständen. Grundsätzlich kann offenbar praktisch jede Ursache, die zu einer Störung der zerebralen Perfusion und den entsprechenden Gleichgewichtszentren und -organen führt, Schwindel auslösen. Beispielhaft können die arterielle Hypotonie, eine hypertensive Krise, eine Bradykardie sowie tachykarde Herzrhythmusstörungen ein Schwindelgefühl auslösen. Damit ist das Spektrum internistischer Ursachen für einen Schwindel extrem breit und die Abklärung oft mühsam. Häufig kann auch nach intensivierter Diagnostik keine eindeutige Ursache gefunden werden [4, 15]. Wissenschaftliche Untersuchungen gezielt zu dieser Fragestellung finden sich in der Literatur zudem nur spärlich. Auch wenn ein Zusammenhang zwischen Schwindel und dem Auftreten eines plötzlichen Herztodes nicht eindeutig gesichert ist [4], muss trotzdem bei länger anhaltenden oder häufiger auftretenden Schwindelepisoden unbedingt eine internistisch-kardiologische Abklärung erfolgen, um schwerwiegende Ursachen, die mit einer hohen Letalität verbunden sein können und die in der Regel heute gut therapierbar sind, nicht zu übersehen.
Wegweisend für das weitere diagnostische Vorgehen ist immer eine sorgfältige Anamneseerhebung, gefolgt von einer körperlichen Untersuchung und einer apparativen Basisdiagnostik. Nur wenn sich dadurch Anhaltspunkte für eine zugrunde liegende internistische Erkrankung erhärten, ist eine weiterführende Diagnostik mit Spezialuntersuchungen angezeigt. Unproblematisch ist die internistische Diagnostik bei permanenter Schwindelsymptomatik. Hier kann während der Symptomatik relativ einfach eine Reihe von möglichen Ursachen ausgeschlossenen bzw. eine wahrscheinliche Diagnose gestellt werden. Grundsätzlich gilt, dass eine Diagnostik umso schwieriger wird, je seltener ein Schwindel auftritt und je kürzer er anhält, da im symptomfreien Intervall das pathologische Korrelat meist nicht nachweisbar ist.
12.2
Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik
12.2.1 Übersicht Selbstverständlich führt nicht jede internistische Grunderkrankung, bei der grundsätzlich Schwindel auftreten kann, auch tatsächlich zur Schwindelsymptomatik. Damit ist auch der kausale Zusammenhang zwischen Schwindelsymptomatik und Erkrankung nur dann zu beweisen, wenn die Symptomatik nach kausaler Therapie verschwindet. Die für Schwindel aus internistischer Sicht wichtigsten Ursachen sind: 4 orthostatische Dysregulation, vasovagale Reaktion, 4 arterielle Hypertonie, arterielle Hypotonie, 4 Herzrhythmusstörungen, hypersensitives Karotissinussyndrom, 4 kardiale Erkrankungen: 4 Vitien (Aortenklappenstenose, hypertroph-obstruktive Kardiomyopathie, Mitralklappenstenose), Myxom, Endokardi-
133 12.2 · Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik
4
4
4 4 4
tis, Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion unterschiedlichster Genese (koronare Herzkrankheit, hypertensive Herzerkrankung, Kardiomyopathie), Lungenembolie; Stoffwechselstörungen, Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts, Infektionen: 4 Diabetes mellitus (Hyper- und Hypoglykämie), Hypo- und Hyperkaliämie, Hypooder Hyperthyreose, Exsikkose, Hyponatriämie, Anämie, Leber-, Niereninsuffizienz, Hyperventilation, Infektion, Sepsis; Gefäßerkrankungen: 4 Arteriosklerose (zerebrale Mikroperfusion, Stenosen an den hirnversorgenden Arterien, Subclavian-Steal-Syndrom, Vertebralisstenose), 4 Vaskulitis (Kollagenose, Arteriitis temporalis, Takayasu-Syndrom, Mesaortitis luetica); Medikamente, Drogen, Tumore (Herz, Hirn, Metastasen), Schwangerschaft.
Die Diagnosen stellen nicht die Grunderkrankung dar, diese muss soweit möglich abgeklärt werden. Die Reihenfolge ist weitgehend willkürlich gewählt. Detaillierte Daten, wie häufig diese Erkrankungen zu Schwindel führen bzw. wie häufig diese Erkrankungen als Ursache für eine Schwindelsymptomatik zugrunde liegen, existieren nicht. Zerebrovaskuläre Erkrankungen wurden in einer umfangreichen Literaturrecherche in lediglich 5% aller Fälle mit Schwindel als ursächlich gefunden [4]. Klinisch am häufigsten werden als internistische Ursachen einer Schwindelsymptomatik die orthostatische Dysregulation, die insbesondere bei älteren Patienten und bei Diabetikern auftritt [3, 16], vasovagale Reaktionen, Hyperventilation [3] und multisensorische Defizite [3] diagnostiziert.
12
12.2.2 Internistische Erkrankungen
und deren Zusammenhang mit Schwindel Orthostatische Dysregulation und vasovagale Reaktion Beim Aufrichten aus dem Liegen kommt es normalerweise beim Menschen durch reflektorische und humorale Mechanismen zu einer kompensatorischen Gegenreaktion mit Gefäßkontraktion, die verhindert, dass der Blutdruck durch Volumenverlust in die unteren Extremitäten zu stark abfällt. Zudem tritt eine Herzfrequenzsteigerung mit konsekutiver Erhöhung des Herzzeitvolumens ein. Durch diese Mechanismen wird normalerweise eine ausreichende zerebrale Perfusion aufrechterhalten. Bei der orthostaseinduzierten Dysregulation kommt es bei schnellem Lagewechsel und nicht ausreichender oder fehlender humoraler und neuronaler Gegenregulation zu einer passageren orthostatischen Hypotonie mit zerebraler Minderperfusion, die sich als Schwindel, Bewusstseinstrübung und Bewusstseinsverlust darstellen kann. Gerade dieser zeitliche Zusammenhang mit einem raschen Lagewechsel muss anamnestisch unbedingt beachtet werden, weil damit eine häufige Schwindelursache sehr wahrscheinlich wird. Das Gleiche gilt auch für das zeitliche Zusammentreffen von Schwindel und Ereignissen mit einer möglichen Aktivierung des parasympathischen Nervensystems (Vagus). Bei vasovagalen Reaktionen kommt es ebenfalls zu einem Blutdruckund/oder Frequenzabfall (oder inadäquatem Anstieg) mit entsprechender Beeinträchtigung der zerebralen Durchblutung. Zu derartigen Ereignissen gehören Miktion als sehr häufige Ursache [14], Defäkation, Husten oder Erbrechen sowie emotionale Belastungen wie Angst, starke Schmerzen und medizinische Eingriffe (z. B. Venenpunktion). Gehäuft werden derartige orthostatische Dysregulationen und vasovagale Reaktionen bei jungen Frauen, älteren Personen und Diabetikern beobachtet. Gerade bei letzteren spielt offenbar
134
Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
auch eine autonome Neuropathie eine wesentliche Rolle [16].
12
Arterielle Hypertonie, arterielle Hypotonie Sowohl die arterielle Hypertonie als auch die arterielle Hypotonie können klinisch zu einer Schwindelsymptomatik führen. Besonders typisch für eine ausgeprägte Schwindelsymptomatik sind hypertensive Krisen. Dabei kann die Diagnosestellung, wenn eine Blutdruckmessung während der Symptomatik möglich ist, sehr einfach sein. Gerade bei sehr stark schwankenden Blutdruckwerten können sowohl die Diagnostik als auch eine optimierte antihypertensive Therapie mit Vermeidung von hypotonen Phasen im Einzelfall aber auch recht komplex sein. Sehr problematisch wird dies gerade bei älteren Personen mit arterieller Hypertonie im Liegen, aber persistierendem, ausgeprägtem Blutdruckabfall im Stehen. Hilfreich sind dabei sowohl für die Diagnostik als auch für eine optimierte Therapieplanung Blutdruckselbstmessungen der Patienten nach Schulung mit Dokumentation oder automatisierte 24Stunden-Langzeitblutdruckmessungen. Herzrhythmusstörungen, hypersensitives Karotissinussyndrom Insgesamt werden Herzrhythmusstörungen als tatsächliche Ursache für eine Schwindelsymptomatik nur sehr selten gefunden [7]. Allerdings können andererseits maligne Herzrhythmusstörungen die Prognose der Patienten wesentlich beeinflussen. Bradykarde wie tachykarde Herzrhythmusstörungen, die in Ruhe oder unter körperlicher Belastung hämodyanisch aktiv sind, können zum klinischen Symptom Schwindel führen. Ein klinischer Verdacht auf Herzrhythmusstörungen als Ursache für Schwindel besteht dann, wenn der Patient im direkten zeitlichen Zusammenhang mit einer Schwindelsymptomatik über Pulsunterbrechungen bis hin zu längeren Pausen bzw. über Palpitationen, Pulsunregelmäßigkeiten oder Herzrasen berichtet.
In solchen Fällen muss unbedingt versucht werden, diese Rhythmusstörungen zu objektivieren. Am einfachsten kann dies durch eine EKGRegistrierung während eines Schwindelanfalls erfolgen. Gelingt dies aufgrund der Kürze oder der Seltenheit der Ereignisse nicht, können 24Stunden-EKG-Registrierungen, bei sehr seltenen Ereignissen Event-Recorder weiterhelfen. Praktisch alle denkbaren Reizbildungs- und Erregungsleitungsstörungen des Herzens sind als Ursache für eine internistische Ursache von Schwindel möglich. Das Syndrom des kranken Sinusknoten (Sick-Sinus-Syndrom, SSS) ist typischerweise durch einen Wechsel von bradykarden und tachykarden Phasen charakterisiert (. Abb. 12.1). Durch eine degenerative Dysfunktion des Sinusknotens kommt es einerseits zu SA-Blockierungen unterschiedlichen Schweregrades bzw. zu Sinusarresten, andererseits zu atrialen Tachykardien, Vorhofflattern oder zum Vorhofflimmern. Typisch ist ein inadäquater Pulsanstieg unter Belastung. Degenerativ mitbetroffen im Sinne einer binodalen Erkrankung kann der AV-Knoten sein, der aber auch singulär degenerativ, durch kardiale (Ischämie, Endomyokarditis) oder zahlreiche extrakardiale Ursachen (Medikamente, Elektrolytstörung, Borellien) pathologische Erregungsleitungsstörungen aufweisen kann. Diese äußern sich durch AV-Blockierungen unterschiedlichen Schweregrades. Links- oder Rechtsschenkelblock als Störungen der intraventrikulären Erregungsleitung der Tawara-Schenkel können ebenfalls multifaktoriell verursacht sein und stellen jeder für sich alleine kein Problem dar. Erst ein alternierender Wechsel beider Blockbilder oder ein zusätzlicher höhergradiger AV-Block kann zur Asystolie oder Bradykardie mit der klinischen Symptomatik Schwindel und Synkope führen. Bei Trägern eines Herzschrittmachersystems ist immer eine Dysfunktion des Systems auszuschließen. An tachykarden Herzrhythmusstörungen ist an erster Stelle das tachykarde Vorhofflimmern zu nennen. Vorhofflimmern ist die häufigste Herz-
135 12.2 · Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik
12
. Abb. 12.1. 73-jährige Patientin mit Schwindelsymptomatik bei Sick-Sinus-Syndrom (SSS). Im Ruhe-EKG und im Langzeit-EKG häufige höhergradige SA-Blockierungen bzw. Sinusarrest mit Pause bis 20 Sekunden. Abgebildet sind die bipolaren Extremitätenableitungen I, II und III nach Einthoven und die unipolaren Extremitätenableitun-
gen aVR, aVL und aVF nach Goldberger. Unter Belastung inadäquater Herzfrequenzanstieg. Keine bradykardisierende Medikation. Vollständiges Verschwinden der klinischen Symptomatik nach Implantation eines sequenziellen Herzschrittmachersystems (DDD)
rhythmusstörung überhaupt. Es kann paroxysmal, persistierend oder permanent auftreten. Gerade bei zusätzlichen akzessorischen Leitungsbahnen mit kurzer Refraktärzeit können extrem hohe Herzfrequenzen (»FBI-Syndrom«) bis hin zum Kammerflimmern auftreten. Eine weitere häufige tachykarde Herzrhythmusstörung im Vorhofbereich stellt das Vorhofflattern dar. Kreisende Erregungen zwischen Vorhöfen und Ventrikeln mit Tachykardien kommen durch AV-Knoten-Reentry oder akzessorische Leitungsbahnen beim Wolff-Parkinson-WhiteSyndrom zustande. Davon zu differenzieren sind ventrikuläre Tachykardien als idiopathische Ta-
chykardien, häufig aus dem rechtsventrikulären Ausflusstrakt, oder als Ausdruck einer myokardialen Grunderkrankung mit besonders schlechter Prognose. Zu beachten bleibt, dass Herzrhythmusstörungen selbst allerdings immer nur als Symptom einer kardialen aber auch extrakardialen Erkrankung (häufig: Elektrolytstörung, Hypo- oder Hyperthyreose, Medikamente, Infektionen bis hin zur Sepsis) zu sehen sind. Eine weiterführende internistisch-kardiologische Diagnostik bei Herzrhythmusstörungen ist unverzichtbar, eine kausale Therapie muss die jeweilige Grunderkrankung berücksichtigen.
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Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Eine spezielle Form einer reflektorischen bradykarden Herzrhythmusstörung, die mit einer Schwindelsymptomatik bis hin zur Synkope einhergehen kann, ist das hypersensitive Karotissinussyndrom (HCSS). Im Bereich der Karotisgabel liegen beiderseits Rezeptoren, die für Blutdruck und Herzfrequenzregulation verantwortlich sind. Normalerweise führt ein Druck auf den Karotissinus lediglich zu einem geringen Abfall des Blutdrucks bzw. der Herzfrequenz. Beim hypersensitiven Karotissinussyndrom führt bereits ein leichter Druck auf eine Halsseite, wie er beispielsweise beim Rasieren oder Kopfwenden beim Rückwärtsfahren auftritt, zu einer ausgeprägten Bradykardie, Asystolie, zu AV-Blockierungen oder zu einem Blutdruckabfall. Allerdings ist nicht jeder Patient mit einem pathologischen Karotissinusreflex symptomatisch. Die Diagnose muss deshalb sehr zurückhaltend und in genauer Kenntnis der Anamnese gestellt werden.
12
Kardiale Erkrankungen, Lungenembolie Bei einer Vielzahl von Erkrankungen des Herzens ist Schwindel als alleinige oder ergänzende klinische Symptomatik denkbar. Gemeinsam ist all diesen Erkrankungen, dass es in Ruhe oder unter körperlicher Belastung zu einer hämodynamischen Beeinträchtigung der zerebralen Perfusion durch Abnahme des arteriellen Mitteldruckes oder/und des Herzzeitvolumens kommen kann. Offenbar spielt jedoch auch eine inadäquate Vasodilatation aufgrund einer paradoxen Baroreflexaktivierung durch pathologische Druckverhältnisse in unterschiedlichen Abschnitten des Kreislaufsystems eine wesentliche Rolle. Grundsätzlich kann eine Schwindelsymptomatik bis hin zu Synkopen bei jedem Vitium cordis auftreten. Besonders typisch sind jedoch als Ursache Obstruktionen des linksventrikulären Ausflusstraktes, wie sie bei der Aortenklappenstenose, der hypertroph-obstruktiven Kardiomyopathie und der asymmetrischen Septumhypertrophie bei hypertensiver Herzerkrankung zu finden sind. Selten tritt eine Schwindelsympto-
. Abb. 12.2. 69-jährige Patientin mit Schwindel aufgrund eines Vorhofmyxoms. Die kernspintomographische Bildgebung zeigt eine inhomogene Raumforderung, die typisch für ein Myxom im Bereich des linken Vorhofs ist. Die klinische Symptomatik verschwindet nach operativer Entfernung des Tumors vollständig
matik bei höhergradigen Mitralklappenstenosen auf. Eine sehr seltene Ursache mit einer intrakardialen Obstruktion stellen Herztumore wie das Vorhofmyxom (. Abb. 12.2) dar, das durch seine Mobilität typischerweise im Vorhofbereich den Bluteinstrom über die Mitralklappe in den linken Ventrikel passager erheblich behindern kann. In ähnlicher Weise kann es bei einer Lungenembolie durch den plötzlich zunehmenden pulmonalvaskulären Widerstand bei gleichzeitiger Aktivierung rechtskardialer Barorezeptoren und Freisetzung vasoaktiver Mediatoren zu einer Gefäßdilatation mit Abfall des mittleren arteriellen Blutdruckes und gleichzeitig des Herzzeitvolumens kommen. Jede Form der klinisch manifesten oder asymptomatischen Herzinsuffizienz kann alleine durch ein niedriges Herzzeitvolumen in Ruhe, inadäquaten Anstieg des Cardiac output unter Belastung, verstärkt durch Herzrhythmusstörungen oder durch eine medikamentöse Therapie mit bradykardisierender Wirkung bzw. mit Verschiebungen im Flüssigkeits- oder Elektrolythaushalt zu Schwindel führen. Dabei ist die Symptomatik primär unabhängig von der Genese der Herzinsuffizienz, die jedoch aufgrund der ansonsten sehr schlechten Prognose der Patienten unbedingt
137 12.2 · Internistische Erkrankungen mit möglicher Schwindelsymptomatik
kardiologisch kausal abgeklärt und optimiert therapiert werden muss. Eine Zwitterstellung nimmt die Endokarditis bzw. Endomyokarditis ein, die einerseits über hämodynamisch wirksame Herzklappenfehler, Herzinsuffizienz und Herzrhythmusstörungen (AV-Knotenbeteiligung, ventrikuläre Rhythmusstörungen), andererseits über septische Embolien mit den Effekten einer systemischen Infektion zum Schwindel führen kann.
Stoffwechselstörungen, Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushalts, Infektionen Stoffwechselstörungen und Störungen des Flüssigkeits- und Elektrolythaushaltes stellen eine sehr breite, aber typisch internistische Palette an Differenzialdiagnosen für Schwindel dar. Dabei können Organerkrankungen mit entsprechendem Anfall an toxischen Stoffwechselprodukten, Medikamenteneffekte, Störungen der autonomen Gefäßregulation, Gefäßveränderungen im Sinne einer Mikro- oder Makroangiopathie mit entsprechenden Organmanifestationen auch am Herzen bis hin zu konsekutiven Herzrhythmusstörungen in der Kausalität zusammenspielen. Ganz ähnlich ist der Zusammenhang bei systemischen Infektionen unterschiedlichster Genese bis hin zur (beginnenden) Sepsis zu sehen: Freisetzung von vasoaktiven Mediatoren und Beeinträchtigung der Mikrozirkulation bis hin zur infektiösen Organbeteiligung (Herz, Lunge, Niere, Gehirn) können neben zahlreichen anderen Symptomen Schwindel auslösen. Der Diabetes mellitus stellt die klassische Erkrankung in diesem Zusammenhang dar [6]. Hyper- und Hypoglykämie, Therapieeffekte durch Medikamente, Insulintherapie (Laktatazidose, Ketoazidose, Hypogykämien) und die zahlreichen Sekundärschäden einschließlich der autonomen Neuropathie können für sich alleine oder in Kombination Schwindel auslösen [16]. Ähnliches gilt für Störungen der Schilddrüsenfunktion. Hypothyreosen können Hypotonien verursachen, aber auch durch myxomatöse Einla-
12
gerungen in zahlreiche Organsysteme über einen ganz anderen Mechanismus als die Hyperthyreose (toxische Schädigung) trotzdem zu demselben Ergebnis führen, nämlich zur Herzinsuffizienz und zu Herzrhythmusstörungen mit Schwindel. Speziell bei akuter, seltener bei chronischer Niereninsuffizienz, aber auch bei Leberinsuffizienz können durch toxische Stoffwechselprodukte und Verschiebungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt Schwindelgefühle auftreten. Auf ähnliche Mechanismen ist eine Schwindelsymptomatik bei Exsikkose, Hyponatriämie und Hyperventilation zurückzuführen [3]. Bei Hypound Hyperkaliämie ist immer das Risiko von tachy- oder bradykarden Herzrhythmusstörungen zu beachten und zu überprüfen. Eine Anämie mit sämtlichen bekannten und abzuklärenden Ursachen verursacht Schwindel in erster Linie durch eine Hypoxie aufgrund eines reduzierten O2-Transportes. Eine mögliche systemische Infektion oder gar eine beginnende Sepsis stellen unabhängig von einer möglicherweise begleitend auftretenden Schwindelsymptomatik eine Indikation zur internistischen Abklärung und Einleitung einer adäquaten Therapie dar.
Gefäßerkrankungen Arteriosklerotisch bedingte Mikro- und Makroangiopathien können durch direkte Störung der zerebralen Perfusion Schwindel auslösen. Typischerweise findet sich ein solcher bei ein- oder doppelseitigem Verschluss der A. vertebralis bzw. bei einer proximalen Stenose oder einem Verschluss der A. subclavia mit retrogradem Blutfluss der A. vertebralis insbesondere bei muskulärer Aktivität der entsprechenden oberen Extremität mit konsekutiver zerebellärer Minderperfusion (Subclavian-Steal-Syndrom). Sehr viel seltener sind entzündliche Veränderungen der Arterien im Sinne einer Vaskulitis. Im Rahmen von Systemerkrankungen (z. B. Kollagenosen), aber auch als eigenständiger entzündlicher Prozess, sind in erster Linie mittelgroße und kleinere Arteriolen und Arterien betroffen.
138
12
Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Diagnostik und Therapie erfolgen im Rahmen der Grunderkrankung. Bei der Arteriitis temporalis, die ein-, aber auch doppelseitig auftreten kann, stehen Kopfschmerzen, im weiteren Verlauf auch Sehstörungen bis hin zur Erblindung im Vordergrund. Möglich ist aber ebenso eine begleitende klinische Symptomatik in Form von Schwindel. Die Diagnose muss so rasch wie möglich gestellt werden. Klinisch imponiert die betroffene A. temporalis meist durch Schwellung und Druckschmerz. Die Diagnose kann sonographisch bestätigt und histologisch gesichert werden. Eine sehr seltene Erkrankung im europäischen Raum stellt die Vaskulitis der Aorta, meist des Aortenbogens im Sinne einer Takayasu-Aortitis dar. Stenosierungen insbesondere am Abgang der supraaortalen Gefäße, aber auch mögliche aneurysmatische Erweiterungen sämtlicher Abschnitte der Aorta und des Aortenbogens mit relativer Aortenklappeninsuffizienz sind typische Merkmale. Abzugrenzen von diesem Krankheitsbild ist eigentlich nur die ebenfalls in Europa inzwischen extrem seltene Mesaortitis luetica, die besonders im Bereich der Aorta ascendens zu monströsen und bizarr geformten Aneurysmata führen kann.
Tumore Die seltenen primär kardialen Tumore (s. kardiale Erkrankungen), primäre Hirntumore und zerebrale Metastasen der unterschiedlichsten Primärtumore dürfen als Ursachen für Schwindel im Grenzbereich Innere Medizin/Neurologie nicht außer Acht gelassen werden. Medikamente, Drogen Bei Anwendung einer Vielzahl von Medikamenten kann eine Schwindelsymptomatik auftreten. Dies gilt insbesondere für zentral wirkende Medikamente (z. B. Antikonvulsiva, Antiemetika, Antidepressiva, Parkinson-Medikamente, Barbiturate, Opiate, Tranquilizer, Schlafmittel), aber auch für vasoaktive Substanzen wie Antihypertensiva und Nitrate [14] sowie Diuretika (durch Verschiebungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt). Beachtet werden
muss, dass zahlreiche Medikamente zu brady- oder tachykarden Rhythmusstörungen führen können. Zu den Bradykardien auslösenden Medikamenten zählen in erster Linie ß-Blocker, Kalziumantagonisten vom Verapamil-Typ und Digitalis. Der Beachtung einer möglichen medikamentösen Auslösung von tachykarden Herzrhythmusstörungen kommt eine ganz besonders wichtige Bedeutung zu, handelt es sich dabei doch häufig um ventrikuläre Tachykardien oder Torsade-dePointes-Tachykardien mit hohem Mortalitätsrisiko und schlechter Prognose. Es muss bekannt sein, dass zahlreiche Medikamentengruppen zu einer Verlängerung der myokardialen Repolarisation (QT-Zeit) führen können mit dem potenziellen Risiko für Torsade-de-Pointes-Tachykardien. Zu diesen Medikamenten gehören insbesondere Antiarrhythmika (z. B. Chinidin, Sotalol), Psychopharmaka (z. B. tri- und tetrazyklische Antidepressiva, Serotoninantagonisten), Antibiotika (Makrolide) und Chemotherapeutika (z. B. Anthrazykline). Daneben können Drogen jeder Art einschließlich Alkohol und Nikotin zu schwindelartigen Symptomen führen.
12.3
Diagnostik und Therapie
12.3.1 Diagnostik Leitlinien zur Diagnostik und Therapie für das Symptom Schwindel als Ausdruck einer internistischen Erkrankung existieren nicht. Allerdings kann sich das diagnostische Vorgehen im Grundsatz an den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von Synkopen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie 2001, mit dem Update 2004 [13] und dem ergänzenden Kommentar des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz und Kreislaufforschung e. V. [11] orientieren. Eine gezielte Anamnese, eine kompetente körperliche Untersuchung und eine apparative Basisdiagnostik erlauben, ähnlich wie bei der Diagnostik von Synkopen [9], in nahezu 50% eine wahrscheinliche Diagnose [15]. Dieses einfache diag-
139 12.3 · Diagnostik und Therapie
nostische Vorgehen soll klären, ob es anamnestische oder klinische Zeichen gibt, die eine internistische Diagnose wahrscheinlich machen, oder ob eine organische Herzerkrankung vorliegt. Neben der kausalen Beseitigung der Symptomatik ist vor allem eine prognostische Differenzierung in Patienten mit guter Prognose und solchen mit hohem Risiko für ein schwerwiegendes kardiales Ereignis bis hin zum plötzlichen Herztod vordringlich. Insofern kommt der Diagnostik und Therapie von möglichen Herzerkrankungen die höchste Bedeutung zu. Häufig ist die Ursache für eine Schwindelsymptomatik multifaktoriell [7]. Trotz intensivierter diagnostischer Bemühen bleibt, ähnlich wie bei der Abklärung von Synkopen mit ca. 25% [9], bei mindestens 10% aller Patienten mit Schwindel die Ursache unklar [4,15],
Anamnese Eine sorgfältige und gezielte Anamneseerhebung kann häufig bereits richtungsweisende Informationen zur Kausalität einer internistischen Ursache für Schwindel liefern [12]. Die optimal erhobene Anamnese erlaubt es häufig bereits, auf (unnötige und teuere) Spezialuntersuchungen verzichten zu können. Schwindel aus internistischer Ursache wird im Gegensatz zum otogenen oder zerebellärem Schwindel sowie zum benignem Lagerungsschwindel typischerweise nicht als Dauer-, Dreh- oder Lagerungsschwindel, sondern als anfallsweise, sehr unspezifische Symptomatik geschildert, verbunden mit Übelkeit, Schwächegefühl, Schweißausbruch, Angstgefühl, Unsicherheit auf den Beinen, Benommenheit, Leere im Kopf, Herzrasen bis hin zu präsynkopalen oder synkopalen Zuständen. Wichtig
Neben einer möglichst genauen Charakterisierung einschließlich der Dauer und Häufigkeit der Symptomatik muss gezielt nach Situationen gefragt werden, in denen der Schwindel auftritt [10].
12
In erster Linie ist bei der Anamneseerhebung gezielt zu suchen nach: 4 Lagewechsel- und Positionsabhängigkeit (als Hinweis auf orthostatische Genese; Kopfdrehen, Halsdruck bzw. Halseinengung als Hinweis auf hypersensitives Karotissinussyndrom), 4 situative Abhängigkeit mit möglichem Vagusreiz (z. B. posturaler Schwindel), 4 Herzrasen und Palpitationen (als Hinweis auf Herzrhythmusstörungen), 4 Dyspnoe (Herzinsuffizienz, Lungenembolie, Hyperventilation), 4 Angina pectoris (Aortenklappenstenose, hypertrophe Kardiomyopathie, koronare Herzerkrankung). Selbstverständlich ist die Frage nach bekannten Grunderkrankungen, insbesondere nach kardialen Grunderkrankungen, nach der Medikation, aber auch nach Synkopen. Zur Beurteilung des Blutdruckverhaltens können dokumentierte Blutdruckselbstmessungen des Patienten zu unterschiedlichen Tageszeiten hilfreich sein. Dies gilt insbesondere bei stark schwankenden Blutdruckwerten.
Körperliche Untersuchung Neben einer internistischen Untersuchung müssen auch bei unspezifischer Schwindelsymptomatik gegebenenfalls konsiliarische Untersuchungen aus den Bereichen Neurologie, HNO und Orthopädie herangezogen werden. Selbstverständlich sind jedoch auch im Rahmen einer internistischen Befunderhebung auf einen Nystagmus zu achten und orientierende Gleichgewichtsprüfungen durchzuführen [12]. Die internistische Untersuchung konzentriert sich neben dem Basisbefund auf: 4 Anzeichen einer kardialen Dekompensation (Beinödeme, Halsvenenstauung, Stauungsleber), 4 Zeichen einer Exsikkose, 4 Blutdruckmessung an beiden Oberarmen im Liegen und im Stehen (arterielle Hypertonie,
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Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Hypotonie, orthostatische Dysregulation, bei Seitendifferenz Hinweis für Gefäßstenosen bis hin zum Subclavian-Steal-Syndrom), 4 Pulsunregelmäßigkeiten (Arrhythmien, Brady- oder Tachykardien), 4 Anomalien der Herztöne und pathologische Herzgeräusche (Herzinsuffizienz, Aortenklappenstenose, HOCM, Endokarditis). Zusätzlich ist ein Palpieren der peripheren Pulse (Arm-, Bein- und Fußpulse) inklusive der Aa. temporales (bei Druckschmerz Hinweis für Arteriitis) unverzichtbar. Sollten sich Auffälligkeiten ergeben, ist eine gezielte weiterführende apparative Spezialdiagnostik erforderlich.
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Labordiagnostik Einen Basislabordiagnostik ist bei jeder internistischen Abklärung einer erstmals aufgetretenen Schwindelsymptomatik notwendig. Dazu gehören mindestens ein kleines Blutbild (Anämie?), Schilddrüsenhormone (TSH), Elektrolyte, Glukose, Kreatinin und Blutsenkungsgeschwindigkeit bzw. C-reaktives Protein als unspezifische Entzündungsmarker. Eine weiterführende Labordiagnostik ist nur bei klinischen Anhaltspunkten und gezielt sinnvoll. Bei Frauen im gebärfähigen Alter darf eine bislang nicht bekannte Schwangerschaft nicht übersehen werden. In Einzelfällen kann ein Urinscreening auf Drogen oder Medikamente notwendig sein. Apparative Basisdiagnostik (EKG) Die einzige unverzichtbare internistische apparative Diagnostik stellt das 12-Kanal-Ruhe-EKG dar. Tagsüber bestehende Sinusbradykardien unter 40/Minute, wiederholte sinuatriale Blockierungen oder Sinuspausen als Hinweis auf ein mögliches Sick-Sinus-Syndrom, höhergradige AV-Blockierungen (AV-Block Grad 2 Mobitz, Grad 3), alternierender Links- und Rechtsschenkelblock, paroxysmale supräventrikuläre oder ventrikuläre Tachykardien oder eine Schrittmacherfehlfunktion mit Pausen können Hinweise
auf eine schwerwiegende Herzrhythmusstörung als Ursache der Schwindelsymptomatik sein, insbesondere dann, wenn zeitgleich eine klinische Symptomatik vorliegt. Zudem können indirekte Hinweise auf potenzielle Herzrhythmusstörung wie Präexzitation, QT-Verlängerung, Repolarisationsstörung beispielsweise im Sinne eines Brugada-Syndroms, Narben nach Myokardinfarkt etc. diagnostiziert werden. Derartige Veränderungen müssen auch bei passagerer Symptomfreiheit während der EKG-Registrierung weiter abgeklärt werden. Umgekehrt schließt selbstverständlich ein weitgehend normales Ruhe-EKG schwerwiegende Herzrhythmusstörungen als Ursache einer Schwindelsymptomatik dann nicht aus, wenn zum Zeitpunkt der EKG-Registrierung keine klinische Symptomatik vorliegt. Deshalb sollte, einen entsprechenden Verdacht vorausgesetzt, stets versucht werden, während eines Schwindelanfalls ein EKG zu registrieren.
Weiterführende Diagnostik, Spezialdiagnostik Eine weiterführende Diagnostik zur Schwindelabklärung muss sich immer an anamnestischen Hinweisen oder auffallenden Untersuchungsbefunden orientieren. Jede einzelne Spezialuntersuchung muss gezielt eingesetzt und fachkundig bewertet werden. Keinesfalls sollte eine aufwendige Diagnostik unkritisch nur mit dem Ziel einer möglichen Komplettierung der Basisdiagnostik erfolgen [4, 1]. In der Regel werden vor dem Einsatz einer invasiven Diagnostik nichtinvasive Verfahren zur Untermauerung einer Verdachtsdiagnose angewandt. Gerade bei der Abklärung einer (meist relativ unspezifischen) Schwindelsymptomatik sollten mögliche pathologische Untersuchungsbefunde nur dann als wahrscheinlich ursächlich für die Symptomatik gewertet werden, wenn die entsprechende Symptomatik im direkten zeitlichen Zusammenhang mit dem pathologischen Untersuchungsergebnis tatsächlich auftritt.
141 12.3 · Diagnostik und Therapie
24-Stunden-Langzeit-EKG. Bei begründetem
Verdacht auf hämodynamisch wirksame Herzrhythmusstörungen können Langzeit-EKG-Registrierungen durchgeführt werden. Diese sind jedoch nur dann Erfolg versprechend, wenn die klinische Symptomatik häufiger (nahezu täglich) auftritt. Wie beim Ruhe-EKG ist auch hier ein kausaler Zusammenhang zwischen Schwindel und Herzrhythmusstörung nur dann wahrscheinlich, wenn die klinische Symptomatik im direkten zeitlichen Zusammenhang mit der elektrokardiographisch dokumentierten Rhythmusstörung nachgewiesen werden kann. Beispielsweise können asymptomatische Bradykardien insbesondere während der Nacht mit Pausen unter 2,5 Sekunden nicht als kausale Ursache gewertet werden. Da auch hier bei passager fehlender Symptomatik eine einmalige normale Registrierung schwerwiegende Herzrhythmusstörungen nicht ausschließt, muss gegebenenfalls eine Wiederholung der Untersuchung erfolgen. Bewiesen werden kann ein Zusammenhang zwischen klinischer Symptomatik und nachgewiesener Herzrhythmusstörung letztlich nur dadurch eindeutig, dass nach kausaler Therapie (Herzschrittmacher bei bradykarder Rhythmusstörung entsprechend den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie [8], Ablation bei tachykarden Herzrhythmusstörungen, medikamentöse Therapie) die Symptomatik vollständig verschwindet.
12
trierung auf den Thorax im Herzbereich aufsetzen und aktivieren. Nur falls die klinische Symptomatik so schwerwiegend ist, dass dieser Vorgang vom Patienten nicht geleistet werden kann, muss auf implantierbare Event-Recorder zurückgegriffen werden, die nach dem Ereignis vom Patienten oder von Angehörigen deaktiviert bzw. fixiert werden müssen. Elektrophysiologische Untersuchung. Sollte in
der Basisdiagnostik ein hochgradiger Verdacht auf tachykarde Herzrhythmusstörungen (mit sehr seltener Ereignisrate) geäußert werden, ist eine elektrophysiologische Untersuchung indiziert. Dies gilt insbesondere dann, wenn der Patient im Zusammenhang mit seltenem Schwindel von anfallsweisem Herzrasen mit »on-off-Symptomatik« berichtet. Mittels programmierter Stimulation können dabei neben potenziellen Reizbildungsoder Erregungsleitungsstörungen vor allem tachykarde Herzrhythmusstörungen auf Vorhof- und Ventrikelebene ausgelöst und im günstigen Fall durch Katheterablation kausal therapiert werden. Am häufigsten werden dabei Vorhofflattern, AV-Tachykardien bei AV-Knoten-Reentry bzw. akzessorischen Leistungsbahnen sowie idiopathische ventrikuläre Tachykardien bzw. monomorphe ventrikuläre Tachykardien bei strukturellen Myokarderkrankungen gefunden. Kammerflimmern und polymorphe ventrikuläre Tachykardien, die durch die Stimulation ausgelöst werden können, sind als unspezifisch zu bewerten.
Event-Recorder. Wenn bei begründetem Ver-
dacht auf schwerwiegende Herzrhythmusstörungen wegen der Seltenheit der klinischen Symptomatik (alle 2–3 Wochen oder seltener) die Durchführung eines oder mehrerer LangzeitEKG-Registrierungen erfolglos ist, kann versucht werden, Herzrhythmusstörungen mittels EventRecorder nachzuweisen. In der Regel werden zur Abklärung einer Schwindelsymptomatik keine implantierbaren, sondern externe Event-Recorder eingesetzt. Im Falle eines klinischen Ereignisses muss der Patient dabei das Gerät zur Regis-
Fahrradergometrisches Belastungs-EKG. Bei kli-
nisch nicht eindeutiger Angina-pectoris-Symptomatik, Schwindel in Zusammenhang mit körperlicher Anstrengung und farbduplexsonographischem Ausschluss eines hämodynamisch wirksamen Vitium cordis ist die standardisierte Durchführung einer fahrradergometrischen Belastungsuntersuchung mit kontinuierlicher EKGRegistrierung indiziert. Die Untersuchung kann belastungsinduzierbare Herzrhythmusstörungen (inadäquater Frequenzanstieg beim Sick-Sinus-
142
Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
Syndrom, Brady- oder Tachykardien) und inadäquates Blutdruckverhalten (arterielle Hypertonie, Blutdruckabfall unter Belastung) als Korrelat einer Schwindelsymptomatik sowie ischämietypische EKG-Veränderungen nachweisen. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass Sensitivität und Spezifität für die Diagnostik einer koronaren Herzerkrankung (KHK) relativ gering sind (1-Gefäß-KHK Sensitivität ca. 50%, 3-GefäßKHK Sensitivität 75%, Spezifität 75%). Schellong-Test. Der Schellong-Test dient als rela-
12
tiv einfaches diagnostisches Verfahren zur Identifikation von orthostaseinduzierter Dysregulation mit orthostatischer Hypotonie, die sich klinisch infolge einer akuten Verminderung des venösen Rückstroms des Blutes zum Herzen und einer fehlenden humoralen und neuronalen Gegenregulation als Schwindel, Bewusstseinstrübung und Bewusstseinsverlust darstellen kann. Der Patient wird dabei abrupt aus einer liegenden in eine stehende Position gebracht. Sowohl vor dem Aufstehen als auch während der Standzeit werden minütlich Puls und Blutdruck registriert. Normalerweise führt die Lageänderung lediglich zu einem kurzzeitigen systolischen Blutdruckabfall (<20 mmHg) mit konsekutiver Sympathikusaktivierung und entsprechendem Frequenzanstieg. Inadäquat hoher Blutdruckabfall bzw. inadäquater Frequenzanstieg oder sogar -abfall kann aufgrund zerebraler Minderperfusion zur klinischen Symptomatik mit Schwindel, Schweißausbruch, Sehstörungen bis hin zum Bewusstseinsverlust führen. Standardisiert sollte ein Schellong-Test erst nach 10- bis 15-minütiger Ruhephase im Liegen durchgeführt werden. Bei einer akuten, fortbestehenden Symptomatik, die auf eine orthostatische Dysregulation hinweist, kann ein modifizierter Test mit Blutdruck- und Pulsmessung nach raschem Aufstehen aber auch in der Akutsituation hilfreich und sinnvoll sein. Kipptischuntersuchung. Der Kipptisch stellt die
aggressivere, standardisiertere Variante des Schel-
long-Tests dar. Er wird deshalb nach nicht eindeutig pathologischem Schellong-Test zur intensivierten Abklärung bei dringendem Verdacht auf eine orthostatische Dysregulation eingesetzt. Die Kipptischuntersuchung ist bezüglich Sensitivität dem Schellong-Test deshalb überlegen [5]. Der Kipptisch ist ein Tisch mit beweglicher Klappe und Fußstützen, die es erlauben, den Patienten aus einer waagrechten in eine stehende Position (bis 80 Grad) zu bringen. Vor Testbeginn sollte der Patient mindestens 4–6 Stunden nüchtern sein, liegen und einen intravenösen Zugang erhalten. Idealerweise erfolgen Herzfrequenzmessung und Blutdruckregistrierung kontinuierlich nichtinvasiv mittels EKG-Monitor und Beat-toBeat-Blutdruckmessung. Die Provokation erfolgt mechanisch (plötzliches Aufrichten des Patienten und Verbleiben in der Orthostase für bis zu 45 Minuten) und gegebenenfalls zusätzlich medikamentös (z. B. Gabe von Glycerolnitrat). Als pathologisch gelten ein inadäquat hoher Blutdruckabfall bzw. ein inadäquat geringer Frequenzanstieg sowie Rhythmusstörungen bis hin zur Asystolie bei entsprechender klinischer Symptomatik. Karotisdruckversuch und Kopfwendemanöver.
Der häufig zum Nachweis eines hypersensitiven Karotissinussyndroms durchgeführte Druckversuch weist nur eine geringe Spezifität auf. Vorangehen sollte deshalb immer zunächst ein Kopfwendemanöver unter EKG- und Blutdruckregistrierung. Falls hierbei bereits ein höhergradiger AV-Block bzw. eine Asystolie von mehr als 3 Sekunden oder ein systolischer Blutdruckabfall um mindestens 50 mmHg verbunden mit der patienteneigenen klinischen Symptomatik auftritt, ist die Diagnose eindeutig. Ansonsten muss (bei Patienten über 40 Jahre nach Auskultation der Karotiden, bei Strömungsgeräusch nach sonographischem Ausschluss einer höhergradigen Stenosierung der Aa. carotes internae) ein einseitiger, kräftiger mechanischer Druck bzw. eine Massage des Karotissinus für 5–10 Se-
143 12.3 · Diagnostik und Therapie
. Abb. 12.3. Praktische Durchführung eines Karotisdruckversuches. Nach Kopfwendemanöver unter kontinuierlicher EKG-Registrierung erfolgt ein einseitiger, kräftiger mechanischer Druck bzw. eine Massage für 5–10 Sekunden des Karotissinus.
kunden erfolgen (. Abb. 12.3). Von Patienten mit positivem Druckversuch leiden allerdings nur 5 bis maximal 20% tatsächlich an einem hypersensitiven Karotissinussyndrom mit entsprechender klinischer Symptomatik. 24-Stunden-Langzeitblutdruckmessung. Die automatisierte Langzeitblutdruckmessung objektiviert die Verdachtsdiagnose einer arteriellen Hypertonie bzw. passageren Hyper- oder Hypotonie dann, wenn Gelegenheitsmessungen beim Arzt oder Patientenselbstmessungen zu keinem eindeutigen Ergebnis führen. In der Diagnostik von vasovagalen Ereignissen kann der Einsatz neben dem 24-Stunden-Langzeit-EKG sinnvoll sein. Die Methode eignet sich sehr gut auch zur objektiven Verlaufs- und Therapiekontrolle der arteriellen Hypertonie. Bildgebung des Herzens. Die Bildgebung des Herzens ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten durch technische Fortschritte wesentlich verbessert und in der kardialen Diagnostik unentbehrlich geworden. Das primäre Verfahren zur bildgebenden Diagnostik des Herzens ist die transthorakale Farbduplexechokardiographie. Ähnlich wie das 24-Stunden-Langzeit-EKG gehört die Echokardiographie jedoch nicht zur Basisdiag-
12
nostik von Schwindel. Erst wenn sich durch Anamnese, körperliche Untersuchung oder RuheEKG Hinweise auf eine kardiale Grunderkrankung wie beispielsweise ein Vitium cordis (Herzgeräusch), eine Herzinsuffizienz (Beinödeme, Dyspnoe) oder eine koronare Herzerkrankung (typische Angina pectoris, Infarktnarbe im EKG) ergeben, wird die Methode unverzichtbar. Zur optimierten Darstellung der Herzklappen (z. B. bei Verdacht auf Endokarditis) und der Vorhöfe sowie zur Beurteilung des Aortenbogens mit Übergang in die deszendierende Aorta kann ergänzend die transösophageale Echokardiographie eingesetzt werden. Die Kardio-NMR (Kernspintomographie des Herzens und der großen Gefäße) vervollständigt die Bildgebung bei speziellen Fragestellung (Tumore, Takayasu-Syndrom, Vitalität, rechtsventrikuläre Kardiomyopathie bzw. Myokarditis bei unklaren ventrikulären Rhythmusstörungen). Zur Optimierung der Sensitivität von Belastungsuntersuchung zur Ischämiediagnostik dienen Stressechokardiographie und Myokardszintigraphie. Zur definitiven Beurteilung der Koronarsituation ist die invasive Koronarangiographie unverzichtbar, das Kardio-CT mittels Multislice-Technik ist in erster Linie zur Ausschlussdiagnostik bei geringer Krankheitswahrscheinlichkeit geeignet. Farbduplexsonographie der supraaortalen Gefäße. Die farbduplexsonographische Beurteilung
der supraaortalen Gefäße spielt in der Schwindeldiagnostik insbesondere bei der Beurteilung der Flussverhältnisse in den Aa. vertebrales und im Rahmen eines Subclavian-Steal-Syndroms eine Rolle. In der Hand des erfahrenen Untersuchers sind die Diagnosen relativ leicht zu stellen.
12.3.2 Therapie Der Ansatz jeder internistischen Therapie bei Schwindel muss kausal erfolgen. Bei der Vielzahl
144
12
Kapitel 12 · Schwindel aus internistischer Sicht
möglicher internistischer Erkrankungen mit Schwindelsymptomatik kann die Therapie eines jeden Krankheitsbildes nicht ausführlich dargestellt werden. Bei arterieller Hypertonie sind die Blutdruckwerte entsprechend den aktuellen Richtlinien [2] auf systolische Werte unter 140 mmHg und diastolische Werte unter 90 mmHg einzustellen, auch wenn möglicherweise dadurch zunächst die Schwindelsymptomatik noch verstärkt wird. Ergänzend wird die Aufnahme eines regelmäßigen körperlichen Ausdauertrainings mit Optimierung des Körpergewichts empfohlen. Bei Diabetikern sind sowohl Hyper- als auch Hypoglykämien zu vermeiden. Therapeutisch schwieriger, aber prognostisch günstig ist die Situation bei arterieller Hypotonie bzw. bei den häufigen orthostatischen Regulationsstörungen. Medikamentös kann der Einsatz eines niedrig dosierten ß-Blockers in Einzelfällen hilfreich sein. Ansonsten sind lediglich allgemeine Maßnahmen wie ausreichende Trinkmenge, Tragen von Kompressionsstrumpfhosen, regelmäßiges körperliches Ausdauertraining [3], Wechselduschen als Gefäßtraining bzw. das Vermeiden von schnellen Lagewechseln (Übergang vom Liegen zum Stehen) zu empfehlen. Meist kausal angegangen werden können dagegen hämodynamisch wirksame Herzrhythmusstörungen mittels medikamentöser Therapie (βBlocker, Antiarrhythmika), Katheterablation oder Implantation von Herzschrittmachersystemen [8] oder automatischen Defibrillatoren. Beim gesicherten hypersensitiven Karotissinussyndrom vom kardioinhibitorischen Typ stellen DDDHerzschrittmacher mit speziellen Algorithmen, die lediglich bei raschem Frequenzabfall primär mit einer hohen Stimulationsfrequenz gegenregulieren, die Therapie der Wahl dar. Entzündliche Gefäßerkrankungen im Sinne einer Vaskulitis großer, mittlerer oder kleiner arterieller Gefäße erfordern meist eine immunsuppressive Therapie im Rahmen der Grunderkrankung. Stenosen oder Verschlüsse der A. subclavia
mit der klinischen Symptomatik eines SuclavianSteal-Syndroms können heute überwiegend interventionell (Angioplastie, PTA und Stent) angegangen werden.
12.4
Zusammenfassung
Schwindel bei internistischer Grunderkrankung tritt typischerweise nicht als ein konstanter Drehoder Lagerungsschwindel, sondern als eine intermittierende, eher unspezifische Symptomatik auf, mit Schwindelgefühl, Übelkeit, Schwächegefühl, Schweißausbruch, Angstgefühl, Unsicherheit auf den Beinen, Benommenheit und Leere im Kopf. Eine diagnostische Abklärung ist nicht nur zur Besserung oder Beseitigung der Symptomatik, sondern vor allem auch zur Abschätzung und Beeinflussung der Prognose notwendig. Dabei ist das mögliche Spektrum von internistischen Erkrankungen, die mit einem Schwindelgefühl einhergehen können, sehr umfangreich. Prognostisch besonders ungünstig sind kardiale Erkrankungen mit Herzrhythmusstörungen, entzündliche Gefäßerkrankungen sowie Stoffwechselerkrankungen, die unbedingt kausal abgeklärt und optimiert therapiert werden müssen. Diese Ursache sind allerdings insgesamt gesehen selten für eine Schwindelsymptomatik verantwortlich. Sehr viel häufiger sind die orthostatische Dysregulation, vasovagale Reaktionen, Hyperventilation und arterielle Hyper- wie Hypotonien. Durch eine gezielte internistische Anamnese, eine optimierte körperliche Untersuchung und ein Ruhe-EKG als Basisdiagnostik kann in über 50% der Fälle bereits eine wahrscheinliche Diagnose gestellt werden, die gegebenenfalls mit Spezialuntersuchungen weiter abgeklärt werden muss. Je seltener und kürzer die Symptomatik auftritt, desto schwieriger kann eine Diagnosestellung werden. Die Therapie richtet sich nach der Grunderkrankung.
145 Literatur
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13 Schwindel aus neurologischer Sicht T. Lempert
13.1
Migräneschwindel – 148
13.2
Vaskuläre Schwindelsyndrome
13.2.1 13.2.2 13.2.3 13.2.4
Labyrinthischämie – 151 Hirnstamm- und Kleinhirninfarkte – 151 Zerebrale Mikroangiopathie – 152 Orthostatische Hypotonie und kardiale Arrhythmien
13.3
Gangstörungen
13.4
Neurovaskuläre Kompression des Nervus vestibularis (Vestibularisparoxysmie) – 155 Literatur
– 155
– 150
– 152
– 153
148
Kapitel 13 · Schwindel aus neurologischer Sicht
Diagnostische Kriterien. Als erster Schritt muss
schmerzen, die 4 Stunden bis 3 Tage anhalten und mindestens 2 der folgenden Merkmale erfüllen: mittel bis sehr stark, einseitig, pulsierend und mit Verstärkung bei Anstrengung. Zusätzlich muss Übelkeit oder Licht- und Geräuschempfindlichkeit vorliegen [2]. Bei der Migräne mit Aura gehen den Kopfschmerzen neurologische Reizsymptome über 5–60 Minuten voraus, meist sogenannte Flimmerskotome mit hellen Blitzen, Zacken oder Farben vor den Augen, seltener Kribbeln auf einer Körperseite, Lähmungen oder Sprachstörungen. Da sowohl Schwindel bei etwa 30% und Migränekopfschmerzen bei etwa 15% der Allgemeinbevölkerung vorkommt, ist schon rein statistisch ein häufiges Zusammentreffen zu erwarten. Allerdings finden sich Drehschwindelattacken 3-mal häufiger bei Migränepatienten als in Kontrollgruppen. Beim einzelnen Patienten ist die alleinige Komorbidität von Migräne und Schwindel sicher nicht ausreichend, um die Diagnose eines Migräneschwindels zu begründen. Es müssen vielmehr klinische Indizien hinzukommen, die eine kausale Beziehung zur Migräne zeigen. Daher verlangen die diagnostischen Kriterien für den sicheren Migräneschwindel nicht nur episodische vestibuläre Symptome und eine Migräne, sondern auch ein simultanes Auftreten von Migränesymptomen und Schwindel . Tab. 13.1). Die Kategorie eines wahrscheinlichen Migräneschwindels (. Abb. 13.1) kommt für Patienten in Betracht, die die obigen Kriterien nur teilweise erfüllen, beispielsweise wenn die Kopfschmerzen nicht vollständig den IHS-Kriterien entsprechen oder bisher gar keine Kopfschmerzen aufgetreten sind. Bei anderen Patienten können Migränesymptome während der Attacke fehlen. Dann sprechen oft andere Umstände für eine Migräneätiologie, etwa eine perimenstruelle Attackenhäufung oder der Erfolg einer medikamentösen Migräneprophylaxe.
nach einer Migräne gefragt werden. Nach den Kriterien der Internationalen Kopfschmerzgesellschaft handelt es sich um rezidivierende Kopf-
Alters- und Geschlechtsverteilung. Migräneschwindel kann in jedem Lebensalter beginnen,
Schwindel entsteht im Kopf als Symptom der erlebten Instabilität. Dass wir uns in der Welt sicher verankert fühlen, ist keineswegs selbstverständlich, sondern eine Leistung des Gehirns, das dazu verschiedene afferente Sinne nutzt, vor allem das vestibuläre, das somatosensorische und das visuelle System. Mithilfe des efferenten motorischen Systems steuert es unsere Bewegungen und das Gleichgewicht. Im engen Wechselspiel von Sensorik und Motorik bewertet das Gehirn beständig die Position im Raum sowie die Eigenund Umweltbewegungen und erzeugt dabei eine innere Repräsentation (oder gar Illusion) vom stabilen Ich in der Welt. Jede reale oder auch nur befürchtete Störung dieses Systems kann Schwindel hervorrufen. Daher verwundert es nicht, dass Schwindel durch ganz heterogene Erkrankungen verursacht werden kann, etwa durch eine akute Labyrinthläsion, eine Angsterkrankung, eine Kleinhirnschädigung oder eine diabetische Polyneuropathie. Im Folgenden werden die in der Neurologie relevanten Schwindelsyndrome vorgestellt.
13.1
13
Migräneschwindel
Vielleicht ist es überraschend, dass die Migräne hier zuerst genannt wird. Tatsächlich haben in den letzten Jahren etliche Fallserien aus spezialisierten Schwindelambulanzen gezeigt, dass die Migräne nach dem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel und dem psychogenen Schwindel auf Platz 3 der Diagnosen mit rezidivierenden Schwindelattacken steht, mit einem Anteil von etwa 10–20% [1]. Die gute Nachricht ist, dass der Migräneschwindel durch die Anamnese leicht erkannt und dann erfolgreich behandelt werden kann.
149 13.1 · Migräneschwindel
13
. Tabelle 13.1. Diagnostische Kriterien für den Migräneschwindel [3]. Sicherer Migräneschwindel
Wahrscheinlicher Migräneschwindel
1. Episodischer vestibulärer Schwindel mäßiger bis heftiger Intensität (Drehschwindel, andere illusionäre Bewegungen, Lageschwindel, Kopfbewegungsintoleranz), 2. Migräne nach den Kriterien der International Headache Society, 3. mindestens eines der folgenden Migränesymptome bei mindestens 2 Schwindelattacken: – migränetypische Kopfschmerzen, – Photophobie, – Phonophobie, – Flimmerskotome oder andere Auren; 4. Ausschluss anderer Ursachen.
1. Episodischer vestibulärer Schwindel mäßiger bis heftiger Intensität, 2. mindestens 1 der folgenden Kriterien: – Migräne nach den Kriterien der International Headache Society, – migränespezifische Auslöser, z. B. spezifische Nahrungsmittel, hormonelle Veränderungen, unregelmäßiger Schlaf, Menstruation, – Besserung des Schwindels durch Schlaf, – Ansprechen auf antimigränöse Medikation in der Attacke oder als Prophylaxe; 3. Ausschluss anderer Ursachen.
gelegentlich schon im Kleinkindalter als benigner paroxysmaler Schwindel der Kindheit, der nur über einige Jahre bis Monate auftritt und dem später eine Migräne folgen kann. Frauen sind vom Migräneschwindel 3- bis 4-mal häufiger betroffen als Männer. Bisweilen tritt der Migräneschwindel Jahre nach dem Sistieren der Migränekopfschmerzen erstmals auf. Nicht selten ist eine familiäre Häufung, die einem autosomal dominanten Erbgang entspricht [4].
zur Menière-Krankheit sein, da der Anfallskern mit Drehillusion dabei kaum länger als 4 Stunden anhält, auch wenn die Übelkeit und eine allgemeine Standunsicherheit bis zum zweiten Tag überdauern können. Kopfschmerzen. Die zeitliche Beziehung von
klagen über Drehschwindel, lageabhängigen Schwindel oder eine Kopfbewegungsintoleranz, womit ein Gefühl ähnlich einer Seekrankheit mit Schwindelzunahme bei Kopfbewegungen bezeichnet wird [5]. Diese Varianten des vestibulären Schwindels können isoliert, kombiniert oder sequentiell während einer Attacke auftreten.
Schwindel und Kopfschmerzen ist variabel. Nur eine Minderheit der Patienten hat regelmäßig Kopfschmerzen während des Schwindels, während eine Mehrheit Schwindelattacken auch ohne Kopfschmerzen kennt und einige Patienten nie beide Symptome in enger zeitlicher Kopplung haben [3, 6]. Da die Migräne zu etwa 40% mit Nackenschmerzen einhergeht [7] und muskuloskelettale Nackenschmerzen umgekehrt Migräneattacken auslösen können, wird der Migräneschwindel oft als zervikogener Kopfschmerz verkannt.
Die Attackendauer. Sie reicht von Sekunden bis Wochen. Nur etwa 20–30% der Patienten haben Attacken, die zwischen 5 und 60 Minuten anhalten und damit einer Aura entsprechen könnten, während 50–70% ihren Schwindel über Stunden bis Tage behalten [6]. Die Attackendauer kann ein wichtiges differenzialdiagnostisches Kriterium
Auditive Symptome. Hörminderung, Tinnitus und Ohrdruck können während der Migräneschwindelattacke in Erscheinung treten, sind bislang jedoch nicht systematisch untersucht worden. Insgesamt kennen 20–50% der Patienten kochleäre Symptome, jedoch nicht notwendigerweise in der Attacke [8]. Im Gegensatz zur Me-
Schwindeltyp. Patienten mit Migräneschwindel
150
Kapitel 13 · Schwindel aus neurologischer Sicht
nière-Krankheit führt der Migräneschwindel jedoch offenbar nicht zu einem progredienten und schweren Hörverlust, wie eine Langzeitbeobachtung von 8 Migräneschwindelpatienten mit fluktuierender Hörstörung ergab [8]. Die Differenzierung von Menière-Krankheit und Migräne stützt sich zunächst auf die Anamnese: Bei der Menière-Krankheit stehen die kochleären Begleitsymptome im Vordergrund, auch wenn gelegentlich Kopfschmerzen oder andere Migränesymptome die Attacken begleiten können [9], beim Migräneschwindel die migränösen. Einzelne Patienten haben bereits im Frühstadium von beidem etwas. Dann helfen wiederholte Audiogramme, um die Menière-typische fluktuierende Hörstörung im Tieftonbereich nachzuweisen. Manchmal gelingt die Differenzierung erst im längeren Verlauf, wenn der charakteristische progrediente Hörverlust bei der Menière-Krankheit sichtbar wird oder aber ausbleibt. Untersuchungsbefunde. Die neurologische Un-
13
tersuchung ist im Intervall meistens unauffällig. Nicht selten finden sich eine einseitige kalorische Untererregbarkeit und geringe zentrale Augenbewegungsstörungen als Hinweise darauf, dass sowohl zentrale und periphere vestibuläre Strukturen betroffen sind [6, 10]. Videookulographisch konnte unsere Arbeitsgruppe während akuter Attacken unterschiedliche zentral-vestibuläre Störungen nachweisen, beispielsweise mit vertikalem oder torsionalem Spontannystagmus oder mit anhaltendem Lagenystagmus, in einigen Fällen auch ein peripher-vestibuläres Ausfallsmuster [11]. Pathophysiologie. Die Pathophysiologie des
Migräneschwindels ist ungeklärt. Zu den diskutierten Mechanismen gehören [1]: 4 Vasospasmus der Labyrintharterie, 4 Freisetzung von Neurotransmittern, die vestibuläre Aktivität modulieren können, beispielsweise von Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und dem Neuropeptid CGRP,
4 Mutationen von Ionenkanälen, 4 eine kortikale Erregung mit nachfolgender
Hemmung (Spreading depression), die auch als Ursache der Migräneauren vermutet wird, der Schwindel könnte dabei in kortikalen Arealen entstehen, die vestibuläre Information verarbeiten. Therapie. Empfehlungen zur Behandlung des
Migräneschwindels fußen auf unkontrollierten Fallserien, während ausreichend große placebokontrollierte Studien noch fehlen. Sinnvoll behandelbar sind nur akute Attacken, die länger als 30 Minuten dauern, damit ein Medikament überhaupt seinen Wirkort erreichen kann. Solche Attacken können unspezifisch durch ein Antivertiginosum gelindert werden, z. B. Dimenhydrinat 150 mg in rektaler Applikation. Alternativ kann ein Versuch mit Triptanen gemacht werden, z. B. Sumatriptan rektal (25 mg) oder Zolmitriptan nasal (5 mg). Zur Prävention des Migräneschwindels sind oft die in der Migräneprophylaxe üblichen Substanzen wirksam, einschließlich Propranolol (max. 240 mg/Tag), Metoprolol (max. 200 mg/Tag), Flunarizin (10 mg/Tag) oder Topiramat (max. 100 mg/Tag). Alle Substanzen außer Flunarizin müssen langsam aufdosiert werden.
13.2
Vaskuläre Schwindelsyndrome
Der Schwindel alter Menschen wird oft auf Durchblutungsstörungen geschoben, bevor andere häufige Erkrankungen dieser Altersgruppe wie etwa ein benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, Gangstörungen oder Fallangst nach einem Sturz bedacht werden. Tatsächlich spielen vaskuläre Erkrankungen als Ursache oder Beitrag zum Schwindel im Alter eine wichtige Rolle. Dabei gibt es nicht den einen »vaskulären Schwindel», sondern klinisch und pathophysiologisch unterschiedliche vaskuläre Syndrome, die auch unterschiedlich behandelt werden.
151 13.2 · Vaskuläre Schwindelsyndrome
13
13.2.1 Labyrinthischämie Die A. labyrinthi entspringt der anterioren inferioren Kleinhirnarterie (AICA), die wiederum aus der A. basilaris hervorgeht. Ein isolierter Verschluss führt zum einseitigen Vestibularisausfall mit Drehschwindel, ipsilateraler Fallneigung und Spontannystagmus zur Gegenseite, meist begleitet von einem ipsilateralen Hörverlust. Wenn die AICA betroffen ist, kommen ipsilaterale Kleinhirn- und Hirnstammsymptome dazu (s. u.). Transitorische ischämische Attacken (TIA) im vertebrobasilären Stromgebiet können sich, entgegen einem verbreiteten Vorurteil in Neurologenkreisen, in seltenen Fällen mit isoliertem Drehschwindel bemerkbar machen. Typisch wäre ein älterer Patient mit vaskulären Risikofaktoren und abrupt einsetzendem Schwindel von Minutendauer [12, 13].
13.2.2 Hirnstamm- und Kleinhirn-
infarkte Die vestibulären Kerne und das Vestibulozerebellum werden von der posterioren inferioren Kleinhirnarterie (PICA) und der anterioren inferioren Kleinhirnarterie (AICA) versorgt. Verschlüsse dieser Gefäße machen sich dementsprechend mit Drehschwindel und Spontannystagmus bemerkbar und werden bisweilen als Neuritis vestibularis fehldiagnostiziert. Der Schlüssel zur Diagnose sind die begleitenden Hirnstamm- und Kleinhirnsymptome. Beim PICA-Infarkt sind es zentrale Augenbewegungsstörungen, Heiserkeit, Schluckstörung, ipsilaterale Gaumensegelparese, Horner-Syndrom und Hemiataxie, Fallneigung zur kranken Seite sowie kontralaterale Sensibilitätsstörungen für Schmerz- und Temperatur. Beim AICA-Infarkt kommt es neben dem ipsilateralen peripheren Vestibularisausfall und Hörverlust zu einer ipsilateralen Fazialisparese, Horner-Syndrom und Sensibilitätsstörung im Gesicht sowie Hemiataxie.
. Abb. 13.1. MRT des Kopfes: Teilinfarkt der posterioren inferioren Kleinhirnarterie (PICA) mit Aussparung des Hirnstamms. Die Symptome sind Drehschwindel, Spontannystagmus zur betroffenen Seite, Gangataxie, leichte Zeigeataxie. Die kalorische Erregbarkeit der Labyrinthe bleibt erhalten!
Diagnostische Schwierigkeiten bereiten vor allem partielle Infarkte dieser Gefäßterritorien, die nicht das beschriebene Vollbild zeigen (. Abb. 13.1). Patienten mit anhaltendem Drehschwindel und Spontannystagmus sollten auch neurologisch untersucht werden, bevor eine Neuritis vestibularis diagnostiziert wird, damit nach zusätzlichen Symptomen gefahndet werden kann, die auf eine Hirnstamm- oder Kleinhirnischämie hinweisen. Eine isolierte Läsion der Vestibulariskerne durch einen lokal begrenzten Infarkt verursacht meist einen rein rotatorischen Spontannystagmus zur Gegenseite, gelegentlich auch mit horizontaler Komponente und eine meist partielle kalorische Untererregbarkeit [14].
152
Kapitel 13 · Schwindel aus neurologischer Sicht
13.2.3 Zerebrale Mikroangiopathie Im Gegensatz zu diesen vestibulären Schwindelsyndromen macht sich die zerebrale Mikroangiopathie nicht mit vorübergehendem Drehschwindel, sondern mit einer anhaltenden Gangunsicherheit bemerkbar. Oft kommen Gedächtnisstörungen und Dranginkontinenz hinzu. Das Gangbild erinnert im Spätstadium mit Kleinschrittigkeit und Schlurfen an die ParkinsonKrankheit [15]. Ursache der Gangstörung sind zahlreiche kleine Infarkte im Marklager der Hemisphären und in den Basalganglien, die die zentrale motorische Steuerung beeinträchtigen Die feinfleckigen Veränderungen sind im CT oder MRT leicht identifizierbar (. Abb. 13.2). Eine kürzlich identifizierte Variante der zerebralen Mikroangiopathie, die ebenfalls mit Gleichgewichtsstörungen einhergeht, ist die pontine vaskuläre Demyelinisierung (. Abb. 13.3). Häufigster Risikofaktor der Mikroangiopathie ist die arterielle Hypertonie, gefolgt vom Diabetes mellitus. Neben der Behandlung dieser Risikofaktoren ist ein physiotherapeutisches Gangtraining oft hilfreich, später kann ein Gehstock oder ein Rollator erforderlich werden.
13
. Abb. 13.2. MRT des Kopfes in T2-Wichtung: multiple signalintensive (helle) Areale im Marklager beider Hemisphären
. Abb. 13.3. MRT des Kopfes: pontine vaskuläre Demyelinisierung bei einer 70-jährigen Patientin mit Gangunsicherheit und Schwindel
13.2.4 Orthostatische Hypotonie
und kardiale Arrhythmien Diese beiden Schwindelursachen verbindet eine gemeinsame pathophysiologische Endstrecke: die transiente globale zerebrale Ischämie. Dabei entsteht ein nicht drehender Schwindel, da der hypoxiesensitive Kortex die Integration der eingehenden Sinnesmeldungen nicht mehr bewältigt. Im weiteren Verlauf kommt es zum Schwarzwerden vor den Augen infolge der retinalen Minderperfusion und mitunter zur Synkope. Die orthostatische Hypotonie wird einerseits durch neurologische Erkrankungen (z. B. Parkinson-Krankheit, Multisystematrophie, autonome diabetische Neuropathie) hervorgerufen, andererseits durch gebräuchliche Medikamente wie L-Dopa, Dopaminagonisten, Trizyklika, Diuretika und Antihypertensiva [16]. Gar nicht selten ist der orthostatische Schwindel bei alten Menschen mit behandeltem Hypertonus. Viel zu selten wird ein Orthostasetest durchgeführt. Zur Überprüfung der Kreislaufanpas-
153 13.3 · Gangstörungen
sung an die Orthostase reichen 3 Minuten, die Version nach Schellong über 15 Minuten ist in der Regel nicht erforderlich. Die 24-stündige Blutdruckmessung ist kein Ersatz, da sie nicht engmaschig genug ist. Kardiale Arrhythmien können nicht nur als Bradykardie, sondern auch als Tachykardie (>220/Minute) Schwindel und Synkopen auslösen. Die Ausbeute des 24-Stunden-EKG zur Aufdeckung symptomatischer Arrhythmien liegt bei nur 4% [17], sodass bei starkem Verdacht wiederholte Ableitungen erforderlich sein können. Die orthostatische Hypotonie ist oft gut behandelbar [18]. Zu den Therapieoptionen gehören: 4 Reduktion auslösender Pharmaka, 4 reichlich Salz und Flüssigkeit, 4 Schlafen mit um 30 Grad erhöhtem Oberkörper, 4 individuell angepasste Stützstrümpfe (die allerdings oft schlecht toleriert werden). Falls diese Maßnahmen nicht ausreichen, kann pharmakologisch behandelt werden. Die beste Evidenz durch kontrollierte Studien liegt für den α-Rezeptoragonisten Midodrin vor (3-mal 2,5 mg täglich, steigern bis maximal 3-mal 10 mg, letzte Dosis am Nachmittag). Häufig wird auch das Mineralokortikoid Fludrokortison eingesetzt (0,1 mg täglich, steigern bis maximal 3-mal 0,2 mg; Cave: Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten).
13.3 Gangstörungen Gerade ältere Patienten klagen oft über einen nicht drehenden Dauerschwindel. Auf Nachfrage stellt sich dann meist heraus, dass sie im Stehen und Gehen unsicher sind, während es ihnen im Sitzen und Liegen gut geht. Ursächlich finden sich einerseits das altersgemäße Nachlassen der vestibulären, somatosensiblen und visuellen Funktionen, andrerseits spezifische Erkrankungen, die zur Beeinträchtigung der sensorischen und moto-
13
rischen Funktionen und damit zu Gleichgewichtsstörungen führen. Zu den häufigsten gehören: 4 Katarakte, 4 Retinopathien, 4 Glaukom, 4 Polyneuropathie, 4 zervikale Myelopathie, 4 Parkinson-Syndrom, 4 zerebrale Mikroangiopathie, 4 Normaldruckhydrozephalus, 4 zerebelläre Degenerationen, 4 Cox- und Gonarthrose sowie Gelenkersatz, manchmal auch noch schlechtes Schuhwerk. Oft ist es erst die Kombination der Störungen, die das Ausmaß der Beeinträchtigung erklärt. Mangelndes Training und eine sekundäre Fallangst können das Problem weiter verstärken. Neben der Behandlung der Grunderkrankung kommt es darauf an, durch Balanceübungen und Gangschulung die Funktionsreserven des Gleichgewichts zu mobilisieren und ängstliches Vermeiden zu überwinden. Die neurologischen Erkrankungen, die zur Gangunsicherheit führen, lassen sich oft schon klinisch erfassen. Polyneuropathie. Leitsymptom ist die langsam zunehmende, meist schmerzlose Taubheit der Füße, gelegentlich mit Atrophien und Paresen der Unterschenkel und Füße. So wie der Neurologe seine Stimmgabel gelegentlich ans Patientenohr hält, um Hörstörungen zu erfassen, kann der HNO-Arzt seine Stimmgabel auf die Knöchel seiner Schwindelpatienten setzen, denn Abschwächung oder Verlust des Vibrationsempfindens sind oft die ersten Zeichen einer Polyneuropathie. Später folgen andere Sinnesqualitäten, Verlust der Achillessehnenreflexe und Paresen. Auch ein Schwanken im Romberg-Versuch nach Augenschluss wird recht früh beobachtet. Mehr als 50% der Neuropathien werden nach wie vor durch Diabetes oder erhöhten Alkoholkonsum verursacht. Weitere häufige Varianten sind hereditäre, metabolische, immunvermittelte, paraneoplastische,
154
Kapitel 13 · Schwindel aus neurologischer Sicht
medikamentös-toxische und durch VitaminMangel induzierte Neuropathien [19]. Zervikale Myelopathie. Die Einengung des Spinalkanals durch degenerative Wirbelveränderungen kann bis zur Kompression des Rückenmarks führen. Am stärksten sind die Halswirbel 4–7 betroffen. Dementsprechend kommt es auf Segmenthöhe zunächst zu einer Taubheit und Ungeschicklichkeit der Hände mit Atrophie der kleinen Handmuskeln. Später entwickelt sich eine Standunsicherheit mit positivem Romberg-Versuch durch Kompression der sensiblen Hinterstrangbahnen und eine Paraspastik durch Beteiligung der Pyramidenbahnen. Die Diagnose wird mittels MRT gesichert, bei rasch fortschreitenden Paresen wird der Spinalkanal operativ dekomprimiert [20]. Parkinson-Krankheit. Neben der klassischen
13
Trias aus Ruhetremor, Akinese und Rigor gehört die gestörte Gleichgewichtsregulation zu den Kardinalssymptomen der Parkinson-Krankheit [21]. Einzelne Patienten klagen früh im Krankheitsverlauf über Schwindel, manchmal bevor die Diagnose gestellt wird. Weitere Frühsymptome sind Muskelschmerzen, eine Veränderung der Handschrift und gelegentlich Heiserkeit. In der Untersuchung fällt die verarmte Mimik auf, ein erschwertes Aufstehen aus dem Sitzen, eine verlangsamte Diadochokinese, ein einseitig vermindertes Mitschwingen des Arms beim Laufen oder ein Ruhetremor. Erst im Verlauf tritt der typische kleinschrittige Gang mit Starthemmung auf. Mit den heute verfügbaren Medikamenten lassen sich die Symptome über viele Jahre um etwa 60–80% verbessern. Eine ausgeprägte Instabilität im Frühstadium lässt an seltenere Varianten des Parkinson-Syndroms wie die Multisystem-Atrophie oder die progressive supranukleäre Blicklähmung denken. Normaldruckhydrozephalus. Leitsymptom ist
die Trias von Gangunsicherheit, Gedächtnisstö-
rungen und Dranginkontinenz, ähnlich wie bei der zerebralen Mikroangiopathie (s. o.). Der Gang dieser Patienten ist kleinschrittig wie bei der Parkinson-Krankheit, jedoch breitbasiger und unsicherer, was vor allem beim Wenden auffällt. Im fortgeschrittenen Stadium kleben die Füße geradezu am Boden. Die Demenz ist eher mild ausgeprägt. Ursache der Erkrankung ist ein hochnormaler Liquordruck mit episodischen Drucksteigerungen, der zur Aufweitung der Seitenventrikel und Druck auf die benachbarten Faserbahnen führt. MRT oder CT zeigen die Aufweitung der inneren Liquorräume. Nach einer probatorischen Liquorpunktion bessert sich das Gangbild oft innerhalb von 1–2 Tagen. Bei eindeutigem Erfolg wird die Indikation zur ventrikuloperitonealen Shuntanlage gestellt, die meist zu einer anhaltenden Besserung führt [22]. Kleinhirnerkrankungen. Im Vordergrund steht die Gangataxie mit spontan verbreiterter Basis, die vor allem im Seiltänzergang zu einer sichtbaren Unsicherheit führt. Begleitend können andere Kleinhirnsymptome hinzutreten: Zeigeataxie, Dysarthrie, gestörte Blickfolge, Blickrichtungsnystagmus und Downbeat-Nystagmus in Primärposition. Der Verlauf lässt Schlüsse auf die Ätiologie zu: Eine akute Entwicklung spricht für eine vaskuläre oder entzündliche Ursache, ein subakuter Verlauf für eine medikamentös-toxische, karzinomatöse oder paraneoplastische Genese und eine langsame Progredienz für eine hereditäre oder sporadische neurodegenerative Erkrankung [23]. Ein MRT des Kopfes ist immer erforderlich. Die häufigsten für das Kleinhirn toxischen Medikamente sind Antiepileptika und Lithium. Bilaterale Vestibulopathie (Dandy-Syndrom).
Leitsymptome der bilateralen Vestibulopathie sind die Gangunsicherheit (v. a. im Dunkeln) und Oszillopsien bei Kopfbewegungen, also Scheinbewegungen der visuellen Umwelt infolge des gestörten vestibulookulären Reflexes. Drehschwin-
155 Literatur
del fehlt typischerweise, wenn beide Gleichgewichtsorgane oder -nerven simultan betroffen sind und so auch kein Aktivitätsunterschied zwischen rechtem und linkem Vestibulariskern auftritt. Weitaus am häufigsten sind die idiopathischen und die Gentamicin-induzierten Fälle, meist nach intensivmedizinischer Behandlung einer Endokarditis oder Sepsis. Seltener sind bilaterale Vestibulopathien bei kongenitalen Fehlbildungen, nach Meningitiden, bei Otolues und autoimmunen Innenohrerkrankungen, nach Gabe von Cisplatin, bei bilateraler Menière-Krankheit und bilateralen Akustikusneurinomen sowie als Zusatzsymptom bei degenerativen Kleinhirnerkrankungen [24, 25]. Die Diagnose wird durch die beidseitige hochgradige kalorische Untererregbarkeit oder Unerregbarkeit gesichert.
13.4 Neurovaskuläre Kompression
des Nervus vestibularis (Vestibularisparoxysmie) Wie bei der Trigeminusneuralgie kann auch ein Gefäß-Nerven-Kontakt am achten Hirnnerven zu kurzen Paroxysmen führen, die sich mit sekundenlangem Drehschwindel, Lagerungsschwindel oder einer Kippillusion bemerkbar machen, gelegentlich begleitet von Tinnitus oder einer Hörminderung [26]. Meist treten täglich mehrere Attacken auf. Im Intervall sind diese Patienten in der Regel klinisch unauffällig. Eine einseitige kalorische Untererregbarkeit, Hörminderung oder verlängerte Interpeak-Latenz I–III in der BERA (brainstem evoked response audiometry) kommt gelegentlich vor, ist jedoch unspezifisch. Das MRT ist wenig hilfreich, da etwa 30% der Gesunden asymptomatische Gefäß-Nerven-Kontakte aufweisen [27]. Die meisten Patienten werden mit Carbamazepin in niedriger Dosierung oder mit Gabapentin beschwerdefrei. Zur operativen Dekompression [28] wird man sich angesichts der diagnostischen Unsicherheit nur selten entschließen.
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Danksagung Herrn PD Dr. Karl-Titus Hoffmann von der radiologischen Klinik der Charité danke ich herzlich für die MRT-Bilder.
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13
Kapitel 13 · Schwindel aus neurologischer Sicht
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14 Rechtliche Aspekte bei Schwindel A. Wienke, K. Janke
14.1 Einleitung – 158 14.2 Ärztliche Behandlung nach dem aktuellen und anerkannten medizinischen Standard – 158 14.3 Schwindel als Gegenstand der ärztlichen Aufklärung
– 159
14.3.1 Therapeutische Sicherungsaufklärung bei Schwindel – 159 14.3.2 Eingriffs- und Risikoaufklärung bei krankheitsbedingtem Schwindel – 160 14.3.3 Eingriffs und Risikoaufklärung bei maßnahmebedingtem Schwindel – 160
14.4 Überwachungs- und Mitteilungspflichten bei Schwindel – 161 14.5 Zivilrechtliche Haftung des Arztes – 162 14.6 Strafrechtliche Haftung des Arztes – 164 14.7 Zusammenfassende Bewertung Literatur
– 165
– 164
158
14.1
14
Kapitel 14 · Rechtliche Aspekte bei Schwindel
Einleitung
Zur Beantwortung von Rechtsfragen im Zusammenhang mit Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes sind ohne jeden Zweifel zunächst die allgemeinen medizinrechtlichen Erkenntnisse und grundlegenden Entscheidungen der Rechtsprechung maßgebend. Eine Vielzahl der medizinrechtlichen Grundaussagen gilt daher für die unterschiedlichen medizinischen Sachverhalte gleichermaßen, während in Teilbereichen eine spezifische Betrachtung des jeweiligen medizinischen Tatbestandes erforderlich ist, die wiederum eine rechtliche Differenzierung nach sich ziehen kann. So ist gerade bei der hier im Vordergrund stehenden Erkrankung die Unterscheidung zwischen dem Schwindel als Symptom einer Krankheit und dem Schwindel als Folge einer diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme des Arztes Anknüpfungspunkt für unterschiedliche rechtliche Einordnungen im Rahmen der ärztlichen Aufklärungspflicht. Eine solche Differenzierung ist demgegenüber bei den rechtlichen Anforderungen an eine dem medizinisch-wissenschaftlichen Standard entsprechende Behandlung nicht erforderlich. Ein zentrales Problem im Zusammenhang mit der Schwindelsymptomatik stellt die Fahruntüchtigkeit des Patienten und die damit einhergehenden verkehrsmedizinischen Aufklärungs- und Hinweispflichten des Arztes dar. Dadurch ist eine sehr umfassende und auch praktisch bedeutsame Problematik in den Bereich der rechtlichen Betrachtung des Schwindels einzubeziehen.
14.2
Ärztliche Behandlung nach dem aktuellen und anerkannten medizinischen Standard
Der Arzt muss die Behandlung seiner Patienten stets an dem aktuellen und allgemein anerkannten
Standard der medizinischen Wissenschaft ausrichten; dies gilt für diagnostische, therapeutische, prophylaktische und rehabilitative Maßnahmen gleichermaßen. Der Standard gibt dabei lediglich einen Rahmen vor, in dem sich der Arzt zulässigerweise bewegen und seine Therapiefreiheit ausüben kann (sog. Handlungskorridor). Im Einzelfall kann aber auch gerade das Abweichen von dem Standard geboten sein, wenn dies aus medizinischer Sicht im Einzelfall notwendig ist. Zur Konkretisierung des medizinischen Standards erarbeiten und veröffentlichen die medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften aktuelle und wissenschaftlich konsentierte Empfehlungen (sog. Leitlinien), an denen sich der Arzt neben anderen zugänglichen Erkenntnisquellen (Lehrbücher, Fachzeitschriften etc.) orientieren kann. Unterschreitet der Arzt in nicht vertretbarem Maße, also pflichtwidrig, einen medizinischen Standard oder weicht er in einer sonst unzulässigen Weise davon ab, liegt ein Behandlungsfehler vor. Da der medizinische Standard zugleich den rechtlichen Sorgfaltsmaßstab bestimmt, sind bei einem Behandlungsfehler auch die Voraussetzungen einer Sorgfaltspflichtverletzung im Rechtssinne erfüllt, sodass bei Verschulden eine Haftung des Arztes begründet ist. Diese von der Rechtsordnung vorgegebenen und von der Rechtsprechung in vielen Einzelfällen fortentwickelten Grundsätze gelten in gleicher Weise auch für die Behandlung von und Maßnahmen bei Schwindelerkrankungen. Die zu beachtenden Standards beziehen sich immer auf die zugrunde liegende Krankheit, deren Diagnostik und Therapie. Der Schwindel ist dabei einmal Bestandteil der Krankheit, so etwa bei vestibulären Läsionen, und einmal Bestandteil der Therapie, wie es etwa bei einer medikamentösen Tumortherapie auch in der HNO-Heilkunde denkbar sein könnte.
159 14.3 · Schwindel als Gegenstand der ärztlichen Aufklärung
Wichtig
Bei der Behandlung eines pathologischen Schwindels sind die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (www.hno.org) und die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (www.dgn. org) zu beachten.
Bei medikamentösen Behandlungen oder sonstigen Therapien, die Schwindel verursachen können, sind die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften des jeweils zugrunde liegenden Gebiets heranzuziehen. Soweit der Schwindel z. B. durch anästhesiologische Maßnahmen hervorgerufen wird, sind die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (www.dgai.de) oder fachspezifische Leitlinien zur Anästhesie im jeweiligen Fachbereich zu beachten.
14.3
Schwindel als Gegenstand der ärztlichen Aufklärung
Die ärztliche Aufklärungspflicht untergliedert sich in 2 Teilbereiche: 4 die therapeutische Sicherungsaufklärung, 4 die Eingriffs- und Risikoaufklärung. Die therapeutische Sicherungsaufklärung ist die ärztliche Beratung über ein krankheits- oder therapiegerechtes Verhalten zur Sicherstellung des Behandlungserfolges und zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdungen des Patienten. Dagegen dient die Eingriffs- und Risikoaufklärung der Unterrichtung des Patienten über das Risiko des beabsichtigten ärztlichen Vorgehens (z. B. Operation, Arzneimitteltherapie).
14
14.3.1 Therapeutische Sicherungs-
aufklärung bei Schwindel Soweit der Schwindel durch eine Krankheit, etwa durch Vestibularisschädigungen, verursacht wird, ist im Rahmen der therapeutischen Sicherungsaufklärung über die Umstände der zugrunde liegenden Erkrankung aufzuklären. Der Arzt ist im gesundheitlichen Interesse des Patienten verpflichtet, ihn über alle Umstände aufzuklären und zu beraten, die in Zusammenhang mit der Erkrankung des Patienten stehen. Dies umfasst die Diagnose, die Symptome, die Auswirkungen und auch die Dauer. Bei einer Schwindel verursachenden Krankheit ist insbesondere auf die Folgeprobleme der mangelnden Fahrtüchtigkeit und Arbeitsfähigkeit hinzuweisen (z. B. bei Arbeiten an Maschinen, im Baugewerbe, im Gerüstbau, bei Kranführern, Schiffsführern etc.). Inwieweit ein Patient mit Schwindelbeschwerden aus medizinischer Sicht fahrtüchtig oder arbeitsfähig ist, muss von der Art der zugrunde liegenden Krankheit abhängig gemacht werden (Hamann 2002). In rechtlicher Hinsicht ist die Verordnung über die Zulassung von Personen im Straßenverkehr (Fahrerlaubnisverordnung, FeV) heranzuziehen. Nach deren Nr. 2.3 der Anlage 4 fehlt die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen sämtlicher Klassen in allen Fällen der Störung des Gleichgewichts, unabhängig davon, ob diese ständig oder anfallsweise auftritt. Sobald das Risiko einer Einschränkung der Fahrtüchtigkeit oder Arbeitsfähigkeit besteht, ist der Patient darüber zu informieren. Der Arzt ist auch dazu verpflichtet, sich bei dem Patienten danach zu erkundigen, ob dieser eine Fahrerlaubnis besitzt und gegenwärtig ein Kraftfahrzeug führt oder einen Beruf ausübt, bei dem es mit Schwindelerkrankungen zu Gefährdungen kommen kann. Wenn dies zutrifft, muss der Arzt unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes des Patienten den nachteiligen Einfluss auf die Fahrtauglichkeit und Arbeitsfähigkeit im Einzelnen darlegen und den Patient darauf hinweisen, dass
160
Kapitel 14 · Rechtliche Aspekte bei Schwindel
sein Leiden vorübergehend oder dauerhaft das Führen eines Kraftfahrzeugs verbietet oder bestimmte Arzneimittel vor Fahrtantritt eingenommen werden müssen oder er arbeitsunfähig ist. Dazu gehören auch Warnhinweise über die besondere Gefährlichkeit der Kombination von Medikamenten mit Alkohol und Drogen. Unterlässt der behandelnde Arzt dies, verletzt er seine therapeutische Aufklärungs- und Sorgfaltspflicht. Gleiches gilt für den Fall, in dem der Schwindel nicht durch eine Grunderkrankung, sondern durch das Verabreichen eines Arzneimittels hervorgerufen wird. Der Arzt muss im Rahmen der therapeutischen Aufklärung auch über die Dosis, mögliche Unverträglichkeiten und Nebenwirkungen eines Medikaments aufklären. Als Nebenwirkung ist dann auch auf eine Schwindel verursachende Wirkung des jeweiligen Medikamentes hinzuweisen.
14.3.3 Eingriffs und Risikoauf-
14.3.2 Eingriffs- und Risikoauf-
Der für das Arzthaftungsrecht zuständige 6. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat im März 2005 die Aufklärungsverpflichtungen der verantwortlichen Ärzte für den Bereich der Arzneimitteltherapie ausgedehnt (BGH, 15.3.2005, VI ZR 289/03). In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Fall hatte eine Gynäkologin einer 29-jährigen Patientin ein Antikonzeptionsmittel zur Regulierung der Menstruationsbeschwerden verordnet. Der Ärztin war bekannt, dass es sich bei der Patientin um eine starke Raucherin handelte. Drei Monat nach Beginn der Medikation erlitt die Patientin einen Mediapartialinfarkt (Hirninfarkt, Schlaganfall), der durch die Wechselwirkung zwischen dem Antikonzeptionsmittel und dem von der Patientin während der Einnahme zugeführten Nikotin verursacht worden war. Die Gebrauchsinformation des Präparats enthielt den Warnhinweis, dass bei Raucherinnen, die östrogen-gestagenhaltige Arzneimittel anwenden, ein erhöhtes Risiko besteht, an zum Teil schwerwiegenden Folgen von Gefäßveränderungen (z. B. Herzinfarkt, Schlaganfall) zu er-
klärung bei krankheitsbedingtem Schwindel
14
Bei einem krankheitsbedingten Schwindel ist bei der Eingriffs- und Risikoaufklärung über die verschiedenartigen Schwindeltherapien und deren Risiken aufzuklären. Hier gilt der Grundsatz, dass dem Patient ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des geplanten Eingriffs und des konkreten Risikospektrum zu vermitteln ist, damit der Patient sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Nur der informierte Patient kann wirksam in einen ärztlichen Eingriff einwilligen, sodass bei Verletzung der Aufklärungspflicht in diesen Fällen nicht bloß ein Behandlungsfehler vorliegt, sondern vielmehr die Einwilligung des Patienten unwirksam und somit der ärztliche Eingriff rechtswidrig ist.
klärung bei maßnahmebedingtem Schwindel Sind die Schwindelgefühle des Patienten auf eine Maßnahme des Arztes zurückzuführen, so etwa bei einer Anästhesie, dann gelten die soeben genannten Grundsätze gleichermaßen. Besonderheiten ergeben sich dann, wenn der Schwindel die Folge einer Arzneimitteltherapie ist. Wichtig
Grundsätzlich ist über die Wirkung von Medikamenten im Rahmen der therapeutischen Sicherungsaufklärung zu informieren, da die Verordnung von Arzneimitteln in der Regel keinen selbstständigen ärztlichen Eingriff darstellt, sondern nur eine bestimmte Therapie des Arztes begleitet.
161 14.4 · Überwachungs- und Mitteilungspflichten bei Schwindel
kranken. Dieses Risiko nehme mit zunehmendem Alter und steigendem Zigarettenkonsum zu. Frauen, die älter als 30 Jahre sind, sollten deshalb nicht rauchen, wenn sie östrogen-gestagenhaltige Arzneimittel einnehmen. Nach dieser Entscheidung ist eine Medikation dann als ärztlicher Eingriff einzuordnen und unterfällt damit der Eingriffs- und Risikoaufklärung, wenn es sich um aggressive bzw. nicht ungefährliche Arzneimittel handelt. Welche Arzneimittel als »aggressiv bzw. nicht ungefährlich» einzustufen sind, hängt von den mit ihnen verbundenen Risiken ab. Wichtig
Haftet der Medikation ein spezifisches Risiko an, das bei seiner Verwirklichung die Lebensführung des Patienten besonders belastet, so ist diese als Eingriff zu werten und über die Risiken im Rahmen der Risiko- und Eingriffsaufklärung hinzuweisen. Nicht entscheidend ist, wie oft das Risiko zu einer Komplikation führt.
Nach Auffassung des BGH ist es zur Erfüllung der Aufklärungspflicht nicht ausreichend, dass der Arzt auf die Gebrauchsinformationen des Pharmaherstellers hinweist. Der Arzt muss vielmehr die Nutzen-Risiko-Bilanz seiner Medikationsentscheidung auf den einzelnen Behandlungsfall bezogen individuell erläutern. Die Packungsbeilage des Pharmaherstellers kann dies naturgemäß nicht leisten, das sie nur das allgemeine Arzneimittelmodell und sein generelles Nutzen-Risiko-Profil erklärt. Ein alleiniger Verweis auf die Packungsbeilage des Pharmaherstellers reicht daher nicht aus. Medikamente, die Schwindel hervorrufen, dürften in der Regel nicht als aggressiv bzw. als ungefährlich einzustufen sein, da nur ein Schwindel von gewisser Intensität und Dauer die Lebensführung des Patienten beeinflussen kann. Allerdings ist es sinnvoll, tendenziell bei allen Medikationen auf die Nebenwirkungen und Risiken hin-
14
zuweisen, da nur solche Medikamente aus der Aufklärungspflicht herausfallen, die keinerlei negative Folgen auf die Gesundheit des Patienten haben können. Ratsam ist es auch, die Packungsbeilage als Ergänzung der ärztlichen Aufklärung anzusehen. Das Verhältnis zwischen ärztlicher Aufklärung und Packungsbeilage sollte daher durch ein wechselseitiges Zusammenspiel gekennzeichnet sein: Der Arzt führt eine Grundaufklärung durch, in der er die wesentlichen individuellen patientenbezogenen Aspekte und Risiken der Behandlung darstellt, und darf den Patienten anschließend zur weitergehenden Aufklärung und Information auf die Packungsbeilage verweisen. Insofern ergänzt und vervollständigt der pharmazeutische Unternehmer durch die Angaben in der Packungsbeilage die Aufklärung des Arztes. Bei besonderen Risikopatienten, insbesondere Berufskraftfahrern etc., bei denen auch schon leichtere Schwindelattacken schwerwiegende Konsequenzen haben können (Herabsetzen der Konzentration), muss der Arzt den Patienten ohne Zweifel auf mögliche Arzneimittelrisiken hinweisen.
14.4
Überwachungs- und Mitteilungspflichten bei Schwindel
Demgegenüber besteht grundsätzlich keine Verpflichtung des Arztes, ein von ihm aus therapeutischer Sicht einmal ausgesprochenes Fahrverbot auch zu überwachen, da er nur eine Hinweis- und Beratungspflicht schuldet. Es ist nicht Aufgabe des Arztes, die Einhaltung der notwendigen Ratschläge und Verhaltensanweisungen bei seinen Patienten zu überwachen. Ausnahmsweise besteht eine solche Überwachungspflicht aber in den Fällen, in denen der Arzt aus den Gründen der sogenannten »Ingerenz» zur Gefahrenabwehr verpflichtet ist. Dies ist der Fall, wenn der Arzt die Fahruntüchtigkeit des
162
14
Kapitel 14 · Rechtliche Aspekte bei Schwindel
Patienten nicht nur feststellt, wie etwa beim krankheitsbedingten Schwindel, sondern durch bestimmte therapeutische oder diagnostische Maßnahmen selbst hervorgerufen hat, so beim maßnahmebedingten Schwindel. Kann der Arzt den Patienten in diesen Fällen nicht durch Aufklärung und Mahnung dazu bewegen, auf die Führung seines Kraftfahrzeugs bis zur Wiederherstellung seiner Fahrtauglichkeit zu verzichten, besteht eine Überwachungspflicht. Eine solche kann sich auch dann ergeben, wenn dem behandelnden Arzt durch eigene Erkenntnisse oder von dritter Seite, etwa durch Angehörige, bekannt wird, dass sein Patient die Hinweise und Verhaltensanweisungen, z. B. auch ein Fahrverbot, nicht befolgt. In schwerwiegenden Fällen ist der Arzt sogar verpflichtet, die Polizei oder andere zuständige Behörden (Ordnungsamt, Straßenverkehrsamt) über die Gefährdung des oder durch den Patienten zu informieren. Hier ist regelmäßig eine Abwägung im Einzelfall erforderlich. Hält der Arzt zur Abwendung einer akuten Gefährdung des Patienten oder Dritter eine Mitteilung der Polizei für geboten, ist er hieran auch nicht durch seine ärztliche Schweigepflicht gehindert. Dieses Individualinteresse des Patienten muss dann vor anderen höherwertigen Interessen (Selbst- oder Drittgefährdung) zurückstehen.
14.5
Zivilrechtliche Haftung des Arztes
In zivilrechtlicher Hinsicht haftet ein Arzt sowohl für Behandlungs- als auch Aufklärungsfehler. Haftungsgrundlagen sind dabei entweder der Arztvertrag in Verbindung mit § 280 Abs. 1 BGB (vertragliche Haftung) oder das Recht der unerlaubten Handlung nach den §§ 823 ff BGB (deliktische Haftung). Im zivilgerichtlichen Verfahren muss grundsätzlich jede Partei das Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen der für sie günstigen Rechtsnorm darlegen und beweisen.
Der Patient trägt also die Beweislast für alle belastenden Umstände und der Arzt die Beweislast für alle entlastenden Umstände eines bestimmten Behandlungsgeschehens. Sowohl bei der vertraglichen als auch deliktischen Haftung ist Ersatz für materielle und auch immaterielle Schäden (Schmerzensgeld) zu leisten (§ 253 BGB). Ein Behandlungsfehler liegt bei einem fehlerhaften ärztlichen Eingriff und bei der Verletzung der therapeutischen Sicherungsaufklärung vor. In diesem Bereich obliegt die Darlegungs- und Beweislast für den Behandlungsfehler, den Schaden, das Verschulden und die Kausalität grundsätzlich dem Patienten. Nur unter bestimmten Umständen, etwa wenn der Behandlungsfehler als grob eingestuft wird, kommen dem Patienten Beweiserleichterungen zugute. Liegt der Aufklärungsfehler allerdings im Bereich der Eingriffs- und Risikoaufklärung, so ist dieser nicht als bloßer Behandlungsfehler einzuordnen, sondern hat die Unwirksamkeit der Einwilligung des Patienten zur Folge. Die Darlegungs- und Beweislast für die Einwilligung und somit auch die Aufklärung des Patienten trägt daher der Arzt. Welche Bedeutung die Beweislast im Arzthaftungsprozess haben kann, lässt sich an der oben genannten Entscheidung des BGH zur Aufklärungspflicht bei Arzneimitteln veranschaulichen. Generell ist schon im Rahmen der therapeutischen Aufklärung über die Nebenwirkungen von Medikamenten aufzuklären. Für eine fehlende oder fehlerhafte Aufklärung war die klagende Patientin beweisbelastet. Den Beweis konnte sie jedoch nicht führen, sodass ein Verstoß gegen die therapeutische Sicherungspflicht nicht festgestellt werden konnte. Da aber auch aufgrund der schwerwiegenden möglichen Folgen der Medikation im Rahmen der Eingriffs- und Risikoaufklärung auf die Nebenwirkungen hinzuweisen war, verlagerte sich die Beweislast für eine ordnungsgemäße Aufklä-
163 14.5 · Zivilrechtliche Haftung des Arztes
rung auf die beklagte Ärztin. In diesem Zusammenhang wurden dann erst die Anforderungen an die Aufklärung bei Pharmakotherapien und die Bedeutung des Beipackzettels erörtert und die Haftung der Ärztin begründet. Ein anderer wichtiger Aspekt der Aufklärungsverpflichtung bezieht sich auf die fehlende Fahrtüchtigkeit bei Gleichgewichtsstörungen des Patienten bzw. bei entsprechender Medikation. Ein im Gesamtzusammenhang typischer Sachverhalt, der die haftungsrechtliche Relevanz der Aufklärungs- und Informationsverpflichtungen verdeutlicht, lag einer Entscheidung des Landgerichts Koblenz aus dem Jahre 1972 (NJW 1972, 2223) zugrunde: Ein Arzt hatte ein hoch dosiertes Penicillinpräparat verabreicht, ohne den Patienten auf mögliche Nebenwirkungen der Injektion und damit verbundenen Gefahren für eine Teilnahme am Kraftfahrzeugverkehr hinzuweisen. Der Patient geriet auf seinem Heimweg mit dem Auto von der Fahrbahn ab und prallte gegen einen Baum. Im Prozess konnte der geschädigte Patient nachweisen, dass der Unfall allein auf eine allergische Sofortreaktion und eine damit einhergehende plötzliche Bewusstseinsstörung durch das Penicillin zurückzuführen war. Der Arzt wurde zum Ersatz der durch den Verkehrsunfall entstandenen materiellen und immateriellen Schäden verurteilt. Dieser Fall zeigt, dass der behandelnde Arzt bei jedem Patienten stets sorgfältig abwägen muss, ob eine Beeinträchtigung der Fahrtauglichkeit oder der Arbeitsfähigkeit in Erwägung gezogen werden muss. Wichtig
Besteht auch nur die Gefahr, dass ein Patient einen Schwindelanfall erleiden könnte bzw. ist die Gefahr nicht vollkommen atypisch oder unvorhersehbar, sollte ein Fahrverbot oder Arbeitsverbot ausgesprochen werden, um einer eventuellen Haftung vorzubeugen.
14
Der Ausspruch eines solchen Verbotes sollte zu Beweiszwecken regelmäßig in den Krankenunterlagen dokumentiert werden. Ein weiterer einprägsamer Fall aus der Rechtsprechung des BGH verdeutlicht die Tragweite möglicher Überwachungspflichten fahruntauglicher Patienten (NJW 2003, 2309): Bei einer ambulanten Behandlung wurde der Patient vor einem Eingriff sediert, wodurch seine Tauglichkeit für den Straßenverkehr für einen längeren Zeitraum erkennbar eingeschränkt war. Der Patient war daher auch zuvor darüber belehrt worden, dass er nach der Behandlung kein Kraftfahrzeug führen dürfe, war aber dennoch mit eigenem Pkw und ohne Begleitperson zur Untersuchung erschienen. Nach Durchführung des Eingriffs verblieb der Patient zunächst im Behandlungszimmer und hielt sich anschließend auf dem Flur vor den Dienst- und Behandlungsräumen auf, wo der Arzt mehrfach Blick- und Gesprächkontakt mit ihm hatte. Ohne nach einer Abschlussuntersuchung durch den verantwortlichen Arzt nach Hause entlassen worden zu sein, entfernte sich der Patient aus dem Krankenhaus und fuhr mit seinem Kraftfahrzeug fort. Aus ungeklärter Ursache geriet er auf die Gegenfahrbahn und stieß mit einem Lastzug zusammen. Der Patient verstarb noch an der Unfallstelle. Der Bundesgerichtshof hat die Haftung des Arztes damit begründet, dass derjenige, der Gefahrenquellen schaffe oder verstärke, auch die notwendigen Vorkehrungen zum Schutz des Gefährdeten, hier des Patienten, treffen müsse. Die Sedierung des Patienten vor dem Eingriff habe eine besondere Überwachungspflicht des Arztes auch nach dem Eingriff erfordert, zumal ihm bekannt gewesen sei, dass die verwendeten Medikamente zu einer vorübergehenden Gedächtnisstörung führen und der Patient sich möglicherweise nicht mehr an die vorherige Belehrung und das Fahrverbot erinnern konnte. Der Bundesgerichtshof hat die Unterbringung des Patienten auf dem Flur ohne die Möglichkeit
164
Kapitel 14 · Rechtliche Aspekte bei Schwindel
einer ständigen Beobachtung als nicht ausreichend erachtet, um den Patienten daran zu hindern, sich gegebenenfalls unbemerkt zu entfernen und die Gefahr eines selbstgefährdenden Verhaltens auszuschließen. Ein Mitverschulden des Patienten wurde ausgeschlossen, da die Verhütung des entstandenen Schadens allein dem Arzt oblegen habe. Auch wenn diese sehr restriktive Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in der medizinischen und auch in der medizinrechtlichen Literatur heftig kritisiert worden ist, wird man die grundlegenden Anforderungen, die der BGH in dieser Entscheidung aufgestellt hat, zukünftig zu berücksichtigen haben. Der Sorgfaltsmaßstab wird nämlich ganz entscheidend durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geprägt, sodass auch andere (Unter-)Gerichte sich hieran ausrichten.
14.6
14
Strafrechtliche Haftung des Arztes
Neben den zivilrechtlichen Auswirkungen etwaiger Behandlungs- oder Aufklärungsfehler können diese auch strafrechtlich relevant werden, insbesondere im Bereich der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte und im Bereich der Straßenverkehrsdelikte. Führt der Arzt eine Schwindel- oder Pharmakotherapie nicht entsprechend der medizinischwissenschaftlichen Anforderungen durch und verursacht dadurch schuldhaft einen Gesundheitsschaden oder den Tod des Patienten, so unterliegt er der Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung oder fahrlässiger Tötung nach §§ 222, 229 des Strafgesetzbuches (StGB).
Die tatbestandsmäßige Körperverletzung ist somit nicht durch eine Einwilligung des Patienten gerechtfertigt, sodass eine Strafbarkeit des Arztes wegen fahrlässiger Körperverletzung in diesen Fällen schon allein aufgrund der Eigenmacht des Arztes in Betracht kommt. Aber auch die Verletzung der oben genannten Aufklärungs- oder Beratungspflichten über verkehrsmedizinische und berufsbedingte Aspekte einer Therapie kann die Strafbarkeit des Arztes aufgrund seiner Garantenstellung begründen, wenn infolge der unterbliebenen oder fehlerhaften Information der Patient einen Unfall mit tödlichen oder Verletzungsfolgen erlitten oder verursacht hat. Erforderlich ist jedoch stets der Kausalitätsnachweis zwischen der unterlassenen oder unzureichenden Aufklärung des Patienten einerseits und den Schadensfolgen andererseits. Dieser Nachweis dürfte sich in der Praxis schwierig gestalten, was auch der Grund dafür sein könnte, dass bisher kaum einschlägige Gerichtsentscheidungen oder Strafverfahren im vorliegenden Zusammenhang bekannt geworden sind. Gleiches gilt für eine grundsätzlich in Betracht zu ziehende Strafbarkeit des Arztes wegen einer Beihilfe durch Unterlassen zu den Straßenverkehrsdelikten der §§ 315 c I Nr. 1, 316 StGB (Gefährdung des Straßenverkehrs bei Fahruntüchtigkeit infolge körperlicher Mängel und des Genusses berauschender Mittel, Trunkenheit im Verkehr/ Fahruntüchtigkeit infolge des Genusses berauschender Mittel). Dabei dürfte es jedoch regelmäßig auch an dem für die Beihilfe erforderlichen Vorsatz des Patienten, der sich regelmäßig für fahrtüchtig hält, als auch an dem Vorsatz des Arztes in Bezug auf die Haupttat fehlen.
Wichtig
Verletzt der Arzt seine Pflicht zur Aufklärung über den medizinischen Eingriff und dessen Risiken, so führt dies zu der Mangelhaftigkeit und somit Unwirksamkeit der Einwilligung des Patienten in die ärztliche Maßnahme.
14.7
Zusammenfassende Bewertung
Rechtsfragen im Zusammenhang mit Erkrankungen des Gleichgewichtssinnes sind regelmäßig mit den allgemeinen medizinrechtlichen Er-
165 Literatur
kenntnissen und den grundlegenden Entscheidungen der Rechtsprechung zu beantworten. Die Besonderheiten der Erkrankungen und ihrer Auswirkungen auf die Patienten führen aber dazu, dass die behandelnden Ärzte zusätzliche rechtlich relevante Gesichtspunkte, insbesondere im Bereich der therapeutischen Aufklärung der Patienten, bedenken müssen. Die Anforderungen der Rechtsprechung hierbei sind hoch, sodass viele Ärzte hierauf nur mit Unverständnis reagieren werden, zumal die rechtlichen und wirtschaftlichen Einflüsse auf ärztliches Handeln in den letzten Jahren ohnehin immer größer geworden sind. Aus rechtlicher Sicht sei dennoch allen Ärzten geraten, nach Möglichkeit alles zu tun, um diesen strengen Anforderungen gerecht zu werden.
Literatur Hamann KF (2002) Fahrtüchtigkeit bei vestibulären Läsionen. HNO 12: 1086–1088
14
15 Physikalische Therapie des Schwindels K.-F. Hamann
15.1 Vorbemerkungen
– 168
15.2 Indikationen zum vestibulären Habituationstraining 15.3 Trainingsprogramm – 170 15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4 15.3.5 15.3.6
Fixationsübungen – 171 Folgebewegungen der Augen – 172 Optokinetisches Training – 172 Motorisches Lernen – 173 Habituationstraining bei bettlägrigen Patienten – 174 Habituationstraining bei Störungen des Sakkulus – 175
15.4 Allgemeine Empfehlungen Literatur
– 176
– 175
– 168
168
15.1
15
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
Vorbemerkungen
Die ersten Vorschläge für ein physikalisches Übungsprogramm als Therapie für vestibulären Schwindel stammen von Cawthorne und Cooksey aus dem Jahre 1946 [3, 4]. Sie hatten für Patienten mit vestibulären Schäden, die auf Verletzungen zurückzuführen waren, ein physikalisches Übungsprogramm entworfen mit dem Ziel, vestibuläre Fehlfunktionen mit der noch vorhandenen Restfunktion und mithilfe anderer Sinnesorgane wie dem Auge, dem Muskel- und Gelenksinn zu kompensieren. Auch wenn damals die theoretischen Grundlagen für eine vestibuläre Physiotherapie noch fehlten und erst später durch Dix [5] ergänzt wurden, fand dieses Übungsprogramm im anglo-amerikanischen Sprachraum große Verbreitung. Es wurden von späteren Autoren vielfache Modifikationen vorgeschlagen, die letztlich aber auf den Grundlagen von Cawthorne und Cooksey basieren. In Frankreich erfuhren die Vorschläge von Cawthorne und Cooksey durch Sterkers und Semont [17] eine Erweiterung, in Deutschland erschienen erste Erfahrungsberichte und Empfehlungen zu einer physikalischen Therapie gegen den Schwindel sowohl von neurologischer Seite durch Brandt [1] als auch von otologischer Seite durch Hamann und Bockmeyer [6] zu Beginn der 80er-Jahre. In diesen Jahren wurden die Kenntnisse über die vestibulären Erholungsvorgänge, die vestibuläre Kompensation, erweitert. Schon früher war postuliert worden, dass ein Tonusgleichgewicht Voraussetzung für das störungsfreie Funktionieren des vestibulären Systems ist [9]. Dieses Tonusgleichgewicht konnte mit neurophysiologischen Parametern wie neuronaler Spontanaktivität, Verstärkungsfaktor oder Phasenverhalten definiert werden. Aus Tierversuchen ergab sich, dass kurz nach einer akuten einseitigen Ausschaltung eine starke Asymmetrie dieser Parameter in Höhe der Vestibulariskerne auftritt (. Abb. 15.1). Im Verlaufe
der Zeit kommt es zu einer mehr oder weniger kompletten Wiederangleichung in Höhe der Vestibulariskerne. Grundsätzlich ist es möglich, dass spontan zumindest für die statischen Parameter ein neues Tonusgleichgewicht erreicht wird, eine Angleichung auch für dynamische Parameter (. Abb. 15.1). Aus diesen Erkenntnissen ließ sich eine Rationale für den Einsatz von Trainingsprogrammen ableiten [8]. Dies führte dazu, dass die bis dahin bevorzugte pharmakologische Therapie gegen Schwindelbeschwerden, die aus heutiger Sicht gegenüber vestibulären Kompensationsvorgängen häufig kontraproduktiv ist, in den Hintergrund trat.
15.2
Indikationen zum vestibulären Habituationstraining
Hauptziel eines vestibulären Habituationstrainings ist es, einen an vestibulärem Schwindel leidenden Patienten an eine möglichst zufriedenstellende vestibuläre Kompensation, die spontan nicht immer ausreichend verläuft, heranzubringen. Daraus ergibt sich, dass die Hauptindikation für ein vestibuläres Habituationstraining jede einseitige, nicht genügend kompensierte, periphervestibuläre Unterfunktion ist. Man findet sie bei Krankheitsbildern wie der Neuritis vestibularis, Vestibularisausfällen nach Entfernen eines Vestibularisschwannoms oder nach Labyrinthektomie, Folgezuständen nach Schädel-Hirn-Traumen und nicht erholten Zosterinfektionen. Umstritten ist die Frage, ob auch bei der Menière-Krankheit, einer Erkrankung mit einem von sich aus fluktuierendem Verlauf, ein Habituationstraining empfohlen werden soll. Obwohl der eigentliche Krankheitsverlauf sicherlich nicht durch ein vestibuläres Habituationstraining beeinflusst werden kann, gibt es dennoch Gründe, dies zu empfehlen. Bestehen nämlich auch außerhalb der Anfälle Schwindelbeschwerden mit anhaltender Unsicherheit, kann ein nicht ausreichend kompensierter Zustand der peripheren
169 15.2 · Indikationen zum vestibulären Habituationstraining
a
b
15
c
. Abb. 15.1. Modellvorstellung zum Ablauf der vestibulären Kompensation. a Normalzustand: Das vestibuläre Tonusgleichgewicht wird garantiert durch symmetrische Eingänge des vestibulären (v), optischen (o) und des propriozeptiven Systems (p). Der Informationsabgleich erfolgt über die kommissuralen Bahnen zwischen beiden Vestibulariskerngebieten. b Eine akute vestibuläre Läsion führt zu einem Tonusungleichgewicht. Die kommissuralen Faserverbindungen zwischen beiden Vestibulariskernge-
bieten funktionieren weiter, die Seite der Läsion erhält jedoch keine vestibuläre Information. c Kompensierter Zustand: Durch eine vermehrte Informationsübertragung von der gesunden Seite und einen erhöhten Anteil der optischen und propriozeptiven Information kommt es dank der kommissuralen Faserverbindungen zu einem neuen Tonusgleichgewicht, allerdings auf einem niedrigeren Niveau
Schädigung angenommen werden, aus der sich die Indikation zum vestibulären Habituationstraining ergibt. Aber auch im beschwerdefreien Intervall der Menière-Krankheit ist die physikalische Therapie anzuraten, um das vestibuläre System zu stabilisieren. Dann trifft der nächste Anfall, der ja vorübergehend eine ausgeprägte periphervestibuläre Asymmetrie hervorruft, auf ein stabilisiertes, besser vorbereitetes, zentral-vestibuläres System. Noch einmal sei hervorgehoben, dass der Krankheitsverlauf der Menière-Krankheit bezüglich der Häufigkeit der Anfälle durch eine vestibuläre Übungsbehandlung nicht beeinflusst werden kann, wohl aber das Reaktionsverhalten des vestibulären Systems auf akute Irritationen. Bei den genannten Indikationen ist mit sehr guten Behandlungsergebnissen zu rechnen, vor allem wenn die zentral-vestibulären Strukturen, hauptsächlich im Vestibulariskerngebiet, intakt sind. Die Erfolgszahlen liegen bei über 90% [8, 18].
Die Ergebnisse einer Übungsbehandlung werden andererseits durch verschiedene Faktoren negativ beeinflusst. Dazu zählen vor allem beidseitige vestibuläre Läsionen, Begleiterkrankungen mit zusätzlichen zentralen Läsionen, das Alter und medikamentöse Einflüsse. Problematisch ist ein vestibuläres Habituationstraining vor allem in der Behandlung beidseitiger Läsionen. Während bei einer einseitigen Läsion auf die intakte Seite, die qualitativ die gleichen Informationen wie die vormals gesunde liefert, zurückgegriffen werden kann, ist dies bei einer bilateralen Vestibulopathie nicht möglich. Erwartungsgemäß sind daher die Ergebnisse eines vestibulären Habituationstrainings schlechter. In diesen Fällen ist es nur möglich, Ersatzsysteme wie das visuelle und das propriozeptive System zu verstärken und zu trainieren, damit sie Leistungen des komplett ausgefallenen vestibulären Systems übernehmen. Nach eigenen Erfahrungen ist nur in etwa 50% mit Erfolgen zu rechnen. Ein weiteres Problem stellen die Patienten dar, bei denen zentrale Läsionen vorliegen, die zu
170
15
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
Schwindelbeschwerden geführt haben. Das ursprüngliche Konzept des vestibulären Habituationstrainings setzte voraus, dass die zentralen, für die Kompensation zuständigen Strukturen intakt sind. Nicht bekannt ist aber, welche Strukturen für eine erfolgreiche Kompensation unverzichtbar sind. Im Fall von geschädigten zentralen Strukturen muss zwangsläufig mit schlechteren Kompensationsleistungen gerechnet werden. Da das Gehirn aber mit seiner hohen Redundanz eine Mehrfachabsicherung verschiedener zentraler Strukturen vornimmt, ist es nicht erstaunlich, dass auch bei zentralen Läsionen dennoch gute Erfolge durch ein vestibuläres Habituationstraining zu erreichen sind. In einer an einem neurologischen Krankheitsgut durchgeführten Studie von Hörmann und Mitarbeitern [13] konnte gezeigt werden, dass bei Patienten mit definierten Läsionen im Hirnstamm- und Kleinhirnbereich gleichfalls deutliche Verbesserungen der Schwindelsymptomatik und der Gleichgewichtsstörungen zu erzielen waren. Daraus lässt sich folgern, dass auch bei zentral verursachten Schwindelbeschwerden ein Behandlungsversuch mit einem vestibulären Habituationstraining indiziert ist [2]. Bekanntlich verschlechtern sich die Kompensationsleistungen mit zunehmendem Lebensalter [20]. Während die plastischen Vorgänge in einem jungen Gehirn noch sehr ausgeprägt sind, lässt diese Fähigkeit mit zunehmendem Lebensalter nach. Dies wirkt sich auch auf vestibuläre Kompensationsvorgänge aus. Darum müssen diese Gesichtspunkte in der Prognose für ein vestibuläres Habituationstraining bei älteren Patienten bedacht werden. Da aber meist andere Behandlungsmöglichkeiten zur Behandlung vestibulärer Defizite nicht zur Verfügung stehen, sind auch vergleichsweise kleine Behandlungserfolge als bedeutend einzustufen. Daher stellt das hohe Lebensalter zunächst einmal keinen Grund dar, auf eine vestibuläre Übungsbehandlung von vornherein zu verzichten. Im Gegenteil sollte darauf geachtet werden, eine Verbesserung der allgemeinen
Motorik anzustreben, um die Flexibilität auch des älteren Menschen zu verbessern. Ein besonderes Augenmerk muss auf eine medikamentöse Begleittherapie gelegt werden. Es ist allgemein bekannt, dass sedierende und dämpfende Medikamente vestibuläre Kompensationsvorgänge hemmen und verlangsamen [16]. Wenn ein Patient ein Medikament einnehmen muss, das mit dämpfenden Begleitwirkungen verbunden ist, muss mit den Kollegen der benachbarten Disziplinen diskutiert werden, ob die dämpfende Begleitmedikationen im Zusammenhang mit einem vestibulären Habituationstraining unbedingt erforderlich sind. Auf keinen Fall sollten sedierende Antivertiginosa, die in der Akuttherapie von Schwindelbeschwerden durchaus ihren Stellenwert haben, im Zusammenhang mit einem vestibulären Habituationstraining eingesetzt werden. Sinnvoll erscheint es, aktivierende Substanzen zur Kompensationsförderung einzusetzen. Es gibt sowohl tierexperimentelle als auch klinische Beobachtungen darauf, dass unter Betahistin [19] und Ginkgo-Spezialextrakt [7] eine vestibuläre Kompensationsförderung stattfindet. Zu erwarten ist dies grundsätzlich auch von anderen vigilanzfördernden Pharmaka. Dies gilt auch für den mäßigen Genuss von Koffein in Form von Kaffee oder Tee.
15.3
Trainingsprogramm
Weltweit werden zahlreiche Trainingsprogramme im Sinne eines vestibulären Habituationstrainings eingesetzt, die sich alle mehr oder weniger auf die Vorschläge von Cawthorne und Cooksey beziehen. Die folgende Übersicht beschreibt zunächst ein Trainingsprogramm, das seit über 20 Jahren an der HNO-Klinik des Klinikums rechts der Isar eingesetzt wird [8]. Der Leitgedanke für das hier zusammengestellte Trainingsprogramm war und ist, möglichst gezielt auf die für die vestibuläre Kompensation wichtigen Mechanismen einzuwirken. Auch in dieses Programm gehen Vor-
171 15.3 · Trainingsprogramm
schläge von Cawthorne und Cooksey sowie von Sterkers und Semont ein.
15.3.1 Fixationsübungen Ziel der Fixationsübungen (»point de mire«) während konstanter Körperdrehungen ist es, die visuelle Fixationssupression zu fördern, den Organismus an starke vestibuläre Reize zu gewöhnen, ihn also zu habituieren, und neben dem visuellen System auch die in der tiefen Nackenmuskulatur gelegenen Propriorezeptoren für eine sensorische Substitution zu aktivieren. Für die Durchführung soll sich der Patient mit möglichst gleichmäßiger Geschwindigkeit auf einem Stuhl drehen (. Abb. 15.2). Dies kann auf einem motorbetriebenen Drehstuhl erfolgen, aber auch auf einem einfachen drehbaren Bürostuhl, mit dem sich der Patient selbst durch Abstoßen
15
mit den Füßen in Drehung versetzt. Während der Drehungen hat er die Aufgabe, einen gewählten Fixationspunkt, z. B. eine Türklinke, so lange wie möglich zu fixieren. In dem Moment, wo der Fixationspunkt das Blickfeld verlässt, muss das Blickziel durch eine ruckartige Kopfbewegung und mit den Augen wieder eingefangen werden. Zu empfehlen sind 10 Umdrehungen im Uhrzeigersinn und 10 Umdrehungen entgegen dem Uhrzeigersinn. Der Abstand zwischen dem Kopf des Patienten und dem Fixpunkt sollte 50 cm bis 1 m betragen. Durch das lange Fixieren während der Drehung auf einen Blickpunkt wird die visuelle Fixationssuppression gefördert. Dieses Phänomen, ein Beispiel synergistischer visuovestibulärer Interaktion, dient dazu, vestibulär ausgelöste Augenbewegungen durch das visuelle System zu unterdrücken. Auch wenn dieser Mechanismus nicht in allen Einzelheiten aufgeklärt ist, so ist
. Abb. 15.2. Fixationsübungen (»point de mire«). Der Patient dreht sich auf einem Drehstuhl und fixiert dabei so lange wie möglich einen Punkt
172
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
doch sicher, dass er an einen intakten Flocculus gebunden ist, von dem hemmende Impulse auf die Vestibulariskerne ausgehen. Um die Habituierbarkeit des vestibulären Systems zu stimulieren werden starke Reize angewandt, wie sie bei den ruckartigen Kopfbewegungen entstehen[12, 15]. Bekanntlich enthalten die tiefen Nackenmuskeln eine sehr große Zahl von Muskelspindeln, die vorwiegend auf die Vestibulariskerne projizieren. Da einige von ihnen sogar beschleunigungssensibel reagieren, liefern sie eine den vestibulären Informationen kongruente Information [9]. Gerade bei gestörten vestibulären Rezeptoren sind sie teilweise als Ersatzorgane geeignet. Der bei den Fixationsübungen stattfindende Bewegungsablauf, die Bewegung zwischen Kopf und Rumpf, dient dazu, diesen Mechanismus zu fördern.
15.3.2 Folgebewegungen der Augen
15
Da bei der Blickfixation während Kopfbewegungen das visuelle und das vestibuläre System kooperieren, soll mit Blickfolgebewegungen der Anteil des visuellen Systems bei defizientem vestibulärem System gesteigert werden. Zunächst wird mit unbewegtem Kopf, also mit den Augen allein, ein sich sinusförmig bewegendes Pendel verfolgt (10 Pendelbewegungen, 0,2 Hz, ± 30 Grad). Im zweiten Teil dieser Übung folgen dann Auge und Kopf zusammen dem Blickziel, so wie es bei einer physiologischen Blickfolgebewegung stattfindet (. Abb. 15.3). Die eigentliche Aufgabe des vestibulookulären Reflexes besteht in der Möglichkeit, auch bei bewegtem Kopf ein Blickziel schnell zu fixieren und zu erkennen, was dem visuellen System allein nur mit erheblich großem Zeitaufwand möglich ist. Funktionelle Defizite am vestibulären Rezeptorenapparat führen zu einer Einschränkung dieser schnellen Blickfixation, was der Patient als Verschwommensehen, als Oszillopsien, bemerkt. Unabhängig von der angestrebten Restitution am
. Abb. 15.3. Folgebewegungen der Augen. Der Patient folgt zunächst nur mit den Augen, dann mit Augen und Kopf den Bewegungen eines Pendels
Vestibularapparat selbst soll mit dieser Übung der Verstärkungsfaktor des visuellen Systems erhöht werden. Wenn der Patient die Übung alleine durchführt, reicht es aus, ein selbstgebautes Pendel auszulenken und ihm zu folgen, wie es oben beschrieben ist.
15.3.3 Optokinetisches Training Beim Vorbeiführen von schnellen Blickzielen vor den Augen entsteht ein optokinetisch ausgelöster Nystagmus. Er trägt auch den Namen Eisenbahnnystagmus. Es ist bekannt, dass die Nervenbahn, die zur Auslösung eines optokinetischen Nystagmus dient, über die Vestibulariskerne, die prämotorische Neuronen darstellen, läuft [9]. Durch Auslösung eines optokinetischen Nystagmus lassen sich also die Neuronen der Vestibulariskerne, die ja auch die entscheidende Struktur für die vestibuläre Kompensation darstellen, aktivieren.
173 15.3 · Trainingsprogramm
Zur Auslösung eines optokinetischen Nystagmus benützt man einen Projektor, der über einen Motor eines sich drehenden Streifens Muster erzeugt und auf einen Rundhorizont wirft (60 Grad/ Sekunde, 10 Sekunden in jede Richtung). Eine Begleitperson kann sich durch Betrachten der Augen des Patienten leicht davon überzeugen, dass ein optokinetischer Nystagmus auftritt. Für die Ausführung dieser Übung mit einfacheren Mitteln benützt der Patient einen Wasserball, der ein Streifenmuster oder Spielfiguren trägt, keinesfalls einfarbig sein darf (. Abb. 15.4). An einem Faden aufgehängt, lässt sich der Ball in Drehungen versetzen, sodass beim Patienten ein optokinetisch ausgelöster Nystagmus auftritt. Der Abstand zwischen den Augen und dem Wasserball soll etwa 30 cm betragen, die Auslösbarkeit wird verbessert, wenn der Wasserball möglichst groß ist. Durch eine einseitige partielle oder komplette Läsion des Vestibularapparates kommt es zu einer Reduktion oder einem völligen Erlöschen der neuronalen Aktivität auf einer Seite des Vestibulariskerngebiets. Damit von der gesunden Seite her eine Modulation der neuronalen Tätigkeit erfolgen kann, ist eine bestimmte Ruheaktivität erforderlich. Diese Anregung der sonst stummen
. Abb. 15.4. Optokinetische Reizung. Beim Betrachten eines sich drehenden Balls mit Streifenmuster wird ein optokinetischer Nytagmus ausgelöst
15
oder stark reduziert feuernden Neuronen kann man mit optokinetischer Reizung erreichen. Somit dient die Auslösung eines optokinetischen Nystagmus der Anregung der für die vestibuläre Kompensation wichtigen vestibulären Kernneuronen.
15.3.4 Motorisches Lernen Für die Wiedererlangung einer koordinierten Spinalmotorik, also für die ruhige Körperhaltung und die Durchführung glatter Körperbewegungen, werden Grundprinzipien des motorischen Lernens eingesetzt. Motorisches Lernen erfolgt in den meisten Fällen über bewusste Vorgänge. Erst danach werden die so erzeugten motorischen Programme subkortikal abgespeichert, die dann bei Bedarf als geschlossenes motorisches Programm zur Verfügung stehen und abgerufen werden können. Jedem Mediziner sind diese Mechanismen geläufig. So lernt der junge Medizinstudent einen chirurgischen Knoten zunächst mit angespannter Aufmerksamkeit, vielleicht durch Nachahmen bei einem Kollegen oder nach einer Buchvorlage. Der routinierte Chirurg braucht sich bei Bedarf nicht mehr die einzelnen motorischen Schritte zu vergegenwärtigen. Ihm genügt es, dass er sich den Auftrag gibt, einen Knoten zu knüpfen, danach läuft das gesamte motorische Programm unwillkürlich richtig ab. Die Umsetzung dieser Überlegungen in eine Therapie von Standunsicherheit (Ataxie) setzt voraus, dass sich der Patient die einzelnen Bewegungsabläufe, die bei der Aufrechterhaltung der Körperhaltung stattfinden, bewusst macht. Da bei ruhigem Stehen möglichst wenig Bewegung auftreten soll, genügt es, sich die in diesem Zustand aktivierten Körpereigenfühler ins Bewusstsein zu rufen. Unter physiologischen Bedingungen ist es unmöglich, sich die beim ruhigen Stand benutzten Propriozeptoren bewusst zu machen. Dies gelingt erst durch einen Kunstgriff. Bringt man eine
174
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
kleine Erschwernis ein, z. B. den Zehenspitzenstand, so wird es jedem Menschen möglich, die aktivierten Muskeln zu spüren. Wichtig ist, dass dabei der ruhige Stand erhalten bleibt, er kann sogar durch Abstützen an einer Hilfsperson gesichert werden. Als Hilfsmittel für die Durchführung dieses Trainingsteils benötigt man ein Kippbrett (40 × 60 cm, Höhe der Mittelachse 4 cm), das von einem Schreiner angefertigt werden kann (. Abb. 15.5). Denselben Zweck erfüllt ein Holzbrett, unter das als Achse ein gerolltes Handtuch gelegt wird. Entscheidend ist, dass mit dem Brett eine gekippte Position herbeigeführt werden kann, in der der Patient mit oder ohne Hilfe ruhig steht. Je nachdem, wie sich der Patient auf das Brett stellt, kann der Zehenspitzenstand, der Hackenstand und eine nach rechts oder links geneigte Position eingenommen werden. Der Patient soll jede der 4 Positionen so lange halten, bis er die in der jeweiligen Haltung be-
nutzten Muskeln verspürt. Dies äußert sich meist als ein Ziehen, in seltenen Fällen auch als ein leichter Schmerz. Keinesfalls soll versucht werden, dass Kippbrett durch Balancieren in einem instabilen Gleichgewicht in der Horizontalen zu halten. In diesem Zustand ist es schwer, wenn nicht gar unmöglich, sich die für diese komplizierte Aufgabe eingesetzten Regulationsmechanismen bewusst zu machen.
15.3.5 Habituationstraining
bei bettlägrigen Patienten Aus zahlreichen Untersuchungen ist bekannt, dass es bereits kurz nach einer vestibulären Läsion eine kritische Phase gibt, in der Kompensationsvorgänge besonders gut zu beeinflussen sind [14]. Daher sollte immer versucht werden, die Kompensationsförderung so früh wie möglich zu beginnen. Nicht selten ist der Patient wegen seiner
15
. Abb. 15.5. Motorisches Lernen. Der Patient stellt sich nacheinander im Zehenstand, Hackenstand, nach links geneigt und nach rechts geneigt auf ein Kippbrett
175 15.4 · Allgemeine Empfehlungen
heftigen Schwindelbeschwerden, dies gilt besonders für Patienten mit einer Neuritis vestibularis, noch nicht in der Lage, das ausführliche Habituationstraining durchzuführen. Daher empfehlen wir für bettlägrige Patienten ein Übungsprogramm, das ebenfalls auf die Vorschläge von Cawthorne und Cooksey zurückgeht: 1. Langsame Folgebewegungen der Augen: Ein an der Bettstange befestigtes Pendel, beispielsweise ein einfaches Netz mit einem Tennisball, wird in langsame Schwingungen gebracht, die dann mit Kopf und Augen verfolgt werden sollen. 2. Wurfübungen: In liegender oder sitzender Position im Bett wird ein Ball von einer Hand in die andere übergeben oder geworfen. Auf diese Weise wird bereits die zielgerichtete Körpermotorik und die visuelle Fixation trainiert. 3. Fixationsübungen: Der Patient wird aufgefordert, mit Kopf und Augen Bewegungen seiner ausgestreckten Arme zu folgen, die Hände sind dabei gefaltet.
15.3.6 Habituationstraining
bei Störungen des Sakkulus Seit einigen Jahren ist es möglich, durch Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potenziale (VEMP), seitengetrennt und isoliert Störungen des Sakkulus zu diagnostizieren [10]. Daraus folgt, dass man versuchen muss, auch diese Störungen durch ein Habituationstraining im Sinne der Kompensationsförderung zu behandeln. Um Sakkulusstörungen durch ein Habituationstraining zu behandeln, schlagen wir eine gezielte Reizung des Sakkulus durch forcierte vertikale Bewegungen vor [11]. Wir empfehlen dazu das Springen auf einem Trampolin, 3-mal 5 Minuten täglich. Dabei ist es nicht entscheidend, dass der Patient eine hohe Sprungamplitude erreicht. Dies gilt besonders für ältere Menschen. Es kann sogar empfohlen werden, sich während des Sprin-
15
gens selbst an einer Wand festzuhalten, um nicht zu stürzen. Entscheidend ist, dass eine ausreichende Stimulation des Sakkulus in seiner bevorzugten Reizrichtung, also in der Vertikalen, erreicht wird. Noch einmal sei betont, dass sobald es der Zustand des Patienten zulässt, auf das ausführliche vestibuläre Habituationstraining übergegangen werden soll.
15.4
Allgemeine Empfehlungen
Am Schluss soll darauf hingewiesen werden, dass in der Behandlung von Schwindelzuständen heutzutage aktivierende Maßnahmen für sinnvoll und erfolgreich gehalten werden, sedierende Maßnahmen hingegen nur in der Akutphase von Schwindelbeschwerden. Daher muss die Begleitmedikation von Medikamenten mit sedierenden Komponenten sehr sorgfältig abgewogen werden. Dies gilt auch für Genussmittel wie Koffein und Alkohol. Während zum Genuss von Koffein in Form von Kaffee oder Tee in mäßigem Umfang geraten werden kann, muss von der Aufnahme größerer Alkoholmengen abgeraten werden. Bekanntlich führen hohe Blutalkoholkonzentrationen zu Müdigkeit und lösen selbst wiederum Schwindel aus. Gegen kleine Alkoholmengen bestehen keine Einwände. Im übrigen können alle Tätigkeiten und Sportarten empfohlen werden, die zu einer allgemeinen motorischen Aktivierung führen. Bestimmte Sportarten wie Tischtennisspielen, Tennisspielen und Radfahren fördern sogar gezielt auch vestibuläre Leistungen. Abgeraten werden muss natürlich von sturzgefährdeten Tätigkeiten oder Sportarten. Insgesamt kann aufgrund der heutigen Erfahrungen mit vestibulären Erkrankungen festgestellt werden, dass die Prognose im allgemeinen als sehr günstig einzustufen ist, wenn rationale Konzepte bei der Diagnostik, vor allem aber in der Therapie berücksichtigt werden.
176
Kapitel 15 · Physikalische Therapie des Schwindels
Literatur
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A Acetylcholin (ACh) 13 ACh, 7 Acetylcholin Aciclovir 76 Aequamen 117 AICA, 7 Kleinhirnarterie, anteriore inferiore Akustikusneurinom 84, 88 J-Aminobuttersäure (GABA) 13 Amoxicillin 75 Anämie 137 Aneurysma 62 Angstneurose 100 Angststörung 101, 102 Anpassungsstörung 105, 106 anti-Hallpike-Position 69 Antivertiginosa 7, 72 Arrhythmie, kardiale 152 Arteriitis temporalis 137 Ataxie 66 Atlas, Rotationsstellung 122 Attacke, transitorische ischämische (TIA) 151 Augenfolgebewegung 172 Augengegenrollung 65 AVOR, 7 Reflex, vestibulookulärer angularer
B Bahn, zentralvestibuläre 19 barbecue rotation 43 Basisdiagnostik, vestibuläre 62 Befreiungsmanöver – für den horizontalen Bogengang 42 – nach Epley 42 – nach Semont 42, 74 Belastungsreaktion, akute 106
Betahistidinmesilat 117 Betahistin 73 Bewegungskrankheit 32 Blickfolgesystem 15 Blickmotorik 5 Borreliose 70, 71, 74 BPLS, 7 Lagerungsschwindel, benigner paroxysmaler Brechzentrum 20
C calcitonin gene-related peptide (CGRP) 13 Canalolithiasis 4, 39 CGRP, 7 calcitonin gene-related peptide Cinnarizin 72 Coriolis-Effekt 32 Cristae ampullares 13 Cupulolithiasis 4, 38
E Echokardiographie, transösophageale 143 Eingriffsaufklärung 160 Elektrocochleographie 80 Endolymphhydrops 5, 80, 81 Endolymphsacktumor 83 Erkrankung, kardiale 136 Erythema migrans 71 Event-Recorder 141
F Felsenbeinfraktur 83 Fixationssuppression 111 Fixationsübung 171 Flunarizin 150
G D Dandy-Syndrom 154 Dehiszenzsyndrom 82 Demyelinisierung, vaskuläre 152 Depression, larvierte 104 Diabetes mellitus 133, 137 Diadochokinese 66 Dimenhydrinat 72, 117, 150 Diskordanz 20 Diuretika 73 Doxycyclin 74 Drehpendeltest 115 Drehstopptest 115 Drogen 138 Dysregulation, orthostatische 132, 133
GABA, 7 J-Aminobuttersäure Gain-Faktor 15 Gangstörung 153 Gefäßerkrankung 133, 137 Gefäßstenosen 62 Gentamicintherapie 73 Geradeausprojektion 4 Get-up-and-go-Test 56 Gleichgewichtskontrolle 49, 53 Gleichgewichtsprothese 56 Glukokortikoid 72, 117 Glutamat 13
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H Habituation 67 Habituationstraining, vestibuläres 168 Haftung, zivilrechtliche 162 Hallpike-Position 69 Halmagyi-Test 62 Halsdrehtest 126 Halspropriozeption 21 HCSS, 7 Karotissinussyndrom, hypersensitives Head-thrust-Test 26 Herpesvirus 71 Herzinsuffizienz 62 Herzrhythmusstörung 132, 134 Hirnstamminfarkt 151 Hyperthyreose 137 Hypertonie, arterielle 132, 134 Hypothyreose 137 Hypotonie – arterielle 132, 134 – orthostatische 152
Kinetose 19, 20 – Provokation 32 Kipptischuntersuchung 142 Kleinhirnarterie – anteriore inferiore (AICA) 151 – posteriore inferiore (PICA) 151 Kleinhirnerkrankung 154 Kleinhirninfarkt 151 Kompensation, vestibuläre 20 Kompensationsstadium 112 Kompression, neurovaskuläre des Nervus vestibularis 155 Kompressionssyndrom – makrovaskuläres 84 – mikrovaskuläres 83 Konversionssymptom 104 Koordinationsprüfung 65 Kopf-Impuls-Test 6, 21, 65 Kopfwendemanöver 142 Koronarangiographie 143
L I Immunoblot 71 Innenohrfenster, mobiles drittes 82 Intensitäts-Zeit-Verhältnis 61 Intentionstremor 66
K Kardio-CT 143 Kardio-NMR 143 Karotisdruckversuch 142 Karotissinussyndrom, hypersensitives (HCSS) 132, 134, 136
Labordiagnostik 140 Labyrinthanästhesie 73 Labyrinthdiagnostik 62 Labyrinthektomie 73, 80, 81 Labyrinthischämie 151 Labyrinthitis 83 Lagenystagmus – richtungsbestimmter 67 – richtungswechselnder 67 Lageprüfung 67 Lagerungsschwindel, benigner paroxysmaler (BPLS) 32, 66, 74 Lagerungstraining nach Brandt und Daroff 43 Lernen, motorisches 173 Lindsay-Hemenway-Syndrom 39
A–N
Linearbeschleunigung 12 Lungenembolie 136 LVOR, 7 Reflex, vestibulookulärer linearer LVST, 7 Tractus vestibulospinalis lateralis
M Macula 12 – Funktionsprüfung 65 Menière-Krankheit 73, 80, 150 Menièrscher Anfall 5 Metoprolol 150 Midodrin 153 Migräneschwindel 148 Mikroangiopathie, zerebrale 152 Missmatch, vestibulookulärzervikales 122 Mitteilungspflicht 161 MR-Angiographie 84 MVST, 7 Tractus vestibulospinalis medialis Myelopathie, zervikale 154 Myokardszintigraphie 143
N Nervus vestibularis – neurovaskuläre Kompression 155 Neurektomie 73, 80, 81 Neuronitis vestibularis 110 Neuropathia vestibularis 110 Neuropathie, autonome 134 Normaldruckhydrozephalus 154 Nystagmus, vibrationsinduzierter 6
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O Okklusion des hinteren Bogengangs 82 OOR, 7 Reflex, otolith-okulärer optokinetisches System 15 Oszillopsie 154 Otolithenmembran 14 Otolithenorgan 12
P PAN, 7 positional alcohol nystagmus Panikstörung 103 Parkinson-Krankheit 154 Paukenröhrchen 80 Perilymphfistel 83 PICA, see Kleinhirnarterie, posterior inferiore Pitch, anterior-posteriorer 50 Polarisationstopologie 14 Polyneuropathie 15 positional alcohol nystagmus (PAN) 67 Postmassagesyndrom 129 Posturographie 6, 18 Potenziale, vestibulär induzierte myogene (VEMP) 6, 28–30, 69, 116 Propranolol 150 Provokationsnystagmus 66 Prüfung, thermische 6, 67
R Radiochirurgie 89, 94 Reaktion, vasovagale 132, 133
Reflex – okulärer 24 – otolith-okulärer (OOR) 15, 24, 25 – – bei Translationsbeschleunigung 26 – vestibulookulärer (VOR) 15, 60 – – angularer (AVOR) 24 – – linearer (LVOR) 24, 26 – vestibulospinaler 17 – zervikookulärer 126 Regulation, vestibuloautonome 19 Regulationsstörung, hypotone 62 Repositionsmanöver nach Epley 74 Risikoaufklärung 160 Romberg-Stehversuch 6, 65 – verschärfter 112 Rotationsstellung des Atlas 122
S Sakkade 17 Sakkotomie 73 Sakkulus 12 – Funktionsprüfung 28 Sakkusexposition 80 Sceral-search-coil-Technik 26 Schellong-Test 142 Schleudertrauma 52 Schwankschwindel, phobischer 105 Schwindel 60 – dissoziativer 104 – episodischer 62 – provozierbarer 62 – somatoformer 102 – – sekundärer 104
– therapeutische Sicherungsaufklärung 159 – vaskuläre Syndrome 150 Sicherungsaufklärung, therapeutische 159 Sick-Sinus-Syndrom 134 Sinneskonflikttheorie 20, 32 Spontannystagmus 5, 63, 111 Starkreiz 68 Stoffwechselstörung 133, 137 Störung – depressive 103 – phobische 103 Stressechokardiographie 143 subjektive Vertikale 4 SVV, 7 Vertikale, visuelle subjektive System, optokinetisches 15
T Tandemgang 53, 55 Testverfahren – vestibulospinales 65 – zentrales 65 TIA, 7 transitorische ischämische Attacke Tonusgleichgewicht 5 Topiramat 150 Tractus vestibulospinalis – lateralis (LVST) 17 – medialis (MVST) 17 Training, optokinetisches 172 Trainingsprogramm 170 transitorische ischämische Attacke (TIA) 151 Triptan 150 Tullio-Phänomen 82 Tumarkin-Krise 31
181 Sachverzeichnis
U Überwachungspflicht 161 Unterberger-Tretversuch 6 Untersuchung, serologische 70 Utrikulus 12 – Funktionsprüfung 26
V Vaciclovir 117 Valaciclovir 72 Velocity Storage 32
VEMP, 7 Potenziale, vestibulär induzierte myogene Vergenzbewegung 17 Vertikale, visuelle subjektive (SVV) 4, 27 Vestibularis – Ausfall 72 – Paroxysmie 155 – Schwannom 88 Vestibulopathie, bilaterale 154 Videookulographie 26 Virostatika 72, 117 Vitamin D 57 Vitien 132 Vomex 117 VOR, 7 Reflex, vestibulookulärer
O–Z
Vorhofflattern 135 Vorhofflimmern 134
W wait and scan philosophy 89 Wendetest 68
Z Zentrifugieren, unilaterales 27 Zervikalnystagmus 127 Zoster oticus 62, 72, 75