Ken Conagher
Höllenfahrt nach Lincoln Ronco Band Nr. 195/20
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Ja...
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Ken Conagher
Höllenfahrt nach Lincoln Ronco Band Nr. 195/20
Version 1.0
Ronco erzählt seine eigene Geschichte Im Jahre 1967 stießen Bauarbeiter bei Abbrucharbeiten in einer kleinen Geisterstadt im Süden New Mexicos unter einem ausgebrannten Boardinghouse auf eine zugemauerte Kellernische. Sie fanden darin einen alten Revolver, der noch mit drei Patronen geladen war, ein silbernes US-Marshal-Abzeichen und einen indianischen Ledersack. Der mit Stachelschweinborsten und Perlen verzierte Sack enthielt fünf mit Lederriemen zusammengeschnürte Bündel alter Schulhefte. Es handelte sich um das Tagebuch eines Mannes, der in der Pionierzeit Amerikas gelebt hat. Dieser Mann ist nicht in die Geschichte eingegangen. Er hat sich auch nicht darum bemüht, Geschichte zu machen. Trotzdem hat er aufgeschrieben, was er erlebt hat. Vielleicht, weil er niemanden hatte, mit dem er über sein Leben sprechen konnte. Er nannte sich RONCO. Wir wissen nicht, ob das sein richtiger Name war. Vielleicht hat er aus Scham oder Stolz seinen Namen verschwiegen. Denn er war ein Outlaw, ein Gesetzloser, der Grund hatte, seinen Namen manchmal zu verschweigen. Obwohl aus seinen Aufzeichnungen hervorgeht, daß er unschuldig in die Mühlen der Behörden geriet und verzweifelt um seine Rehabilitation kämpfte. Aber seine Berichte zeigen mehr: Sie sprengen den Rahmen unserer Vorstellungen von der Pioniergeschichte der USA. Sie schildern diese Zeit wesentlich härter, rauher und wilder, als wir sie bisher gesehen haben. Basierend auf diesen Unterlagen wurde die Romanreihe RONCO gestaltet. Jedoch handelt es sich bei den für die Serie ausgewerteten Aufzeichnungen nur um einen Teil der Tagebücher. Um Ihnen, unseren Lesern, die ganze Geschichte dieses faszinierenden Mannes RONCO offenzulegen, haben wir uns entschlossen, in Abständen von fünf Wochen die Tagebuchaufzeichnungen dieses Geächteten zu veröffentlichen. Bearbeitet von den Autoren der RONCO-Serie. In diesen Romanen erzählt der Mann, der sich RONCO nannte, seine
eigene Geschichte.
Die Hauptpersonen des Romans Ronco – Erhält einen Job, bei dem er einen Trottel spielen soll. Charly Medialer – Soll eine Kutsche nach Lincoln fahren und hat ziemliche Schwierigkeiten. Marshal Fuller – Transportiert eine Kassette, auf die zwielichtige Existenzen scharf sind. Grace Walton – Will zu ihrem Mann nach Omaha und dort Ihr Kind zur Welt bringen. Elton Carmichel – Tröstet reiche Witwen und ist ein Weichling. George Tulligan – Denkt nur an sich und seine Geschäfte.
Höllenfahrt nach Lincoln 13.Juli 1879 Manchmal glaube ich zu träumen. Denn ich sitze einem Mann gegenüber, der weiß, daß ich unschuldig bin und mir vielleicht helfen wird, das zu beweisen. Noch kennt er mich nicht – jedenfalls nicht direkt – und ahnt nicht, was ich von ihm will. Dieser Mann könnte der Schlüssel sein, meine Rehabilitierung durchzusetzen. Er heißt Richard Dillon und war einmal Major der US-Kavallerie, ein Stabsoffizier, und das ist nicht wenig. Aber er war mehr. Er war Mitglied jener Kommission, die von der Armeeführung eingesetzt worden war, das Massaker im Halcon Canyon zu untersuchen. Ich habe Informationen, daß er über die tatsächlichen Hintergründe Bescheid weiß, aber gezwungen wurde, darüber zu schweigen. O ja – sie alle schweigen. Es ist wie Watte oder Nebel. Dieser Mantel des Schweigens umhüllt alles, verbirgt es, um nicht den Schmutz aufzudecken. Der ehemalige Major Richard Dillon wurde gezwungen, die für die Armee bequeme These zu unterstützen, daß ich, der Zivilscout Ronco, der Alleinschuldige an dem Massaker und damit am Tod von mehr als zweihundert Frauen und Kinder wäre. Kurz nach dem für mich so verhängnisvollen Urteilsspruch des Militärgerichts, durch den ich zum Geächteten wurde, verlor Major Dillon seinen Rang und mußte den Dienst quittieren. Ein Offizier hatte seine Schuldigkeit getan und durfte gehen. Er wußte zuviel, vermutlich wurde er der Armeeführung unbequem. Immerhin aber schaffte es der Exmajor Dillon nach dem Militärdienst, auch im Zivilbereich eine Position zu erringen. Er wurde Bürgermeister in der Stadt Del Norte. Ein tüchtiger Mann. Und dennoch jetzt in Schwierigkeiten. Eine Bande von Falschspielern und Revolvermännern hat die Macht in Del Norte an sich gerissen und Dillon ausgebootet. Er stand den Kerlen im Weg. Mit einer gemeinen Intrige gelang es ihnen, ihm eine
Falle zu stellen und zum Mörder zu stempeln. Ironie des Schicksals? Richard Dillon befindet sich jetzt in einer ähnlichen Situation wie ich. Man klagt ihn eines Verbrechens an, das er nicht begangen hat. Nur die Indizien sprechen gegen ihn – wie bei mir. An diesem Punkt werde ich ansetzen. Ich werde ihm sagen, daß alles das, was er in den letzten Tagen erdulden mußte, nichts ist gegen das, was ich in den letzten Jahren durchstehen mußte. Ich werde ihm sehr hart vorhalten, daß er durch sein Schweigen an meinem Schicksal mitschuldig wurde. Vielleicht besinnt er sich dann. Man sagte mir, er sei ein guter Mann. Das ist meine Chance. Denn ein guter Mann sollte wissen, wo er steht. Kann er sich jetzt noch, nach all den Jahren, der Armee gegenüber loyal verhalten? Und wie weit berührt ihn jetzt menschliches Schicksal? Das Schicksal des ehemaligen Zivilscouts Ronco, der zum Geächteten wurde? Ein Geächteter kann auch Richard Dillon werden – Exmajor und Bürgermeister von Del Norte. Wir werden sehen. Ich habe Zeit, um meine Geschichte weiterzuschreiben, die Geschichte meiner Kindheit …
1. »Dieser mistige Köter muß raus, so wahr ich Jack Tolan heiße und einen Bastardköter von einer Laus unterscheiden kann.« Jack Tolan war ein vierschrötiger Kerl mit einer zerquetschten Nase, aus der rote Haare wucherten. Er saß rittlings auf einem Stuhl, drosch die Faust auf die Tischplatte und stierte mich wild an. Ich stierte zurück. Charly McClister stierte auch. Charly teilte mit mir die Kammer, die über einem der Ställe der »Russell, Majors und Waddell Postkutschengesellschaft« in St. Joseph am Missouri lag. In dem Saloon, in den mich Charly geschleppt hatte, wurde es nach und nach still. Ich lehnte am Tresen und war gerade dabei, die Biere zu verdauen, die Charly mir eingetrichtert hatte. Er hatte auch Shita, meinem Hund, ein paar Biere in den Rachen gegossen. Shita schien Bier besser zu vertragen als ich. Ich kämpfte mit einem Schluckauf und hatte bisher alles sehr lustig gefunden.
Der Saloon hieß »Drivers Inn« und war die Stammkneipe aller Kutscher von St. Joseph. Jack Tolan gehörte allerdings nicht zu unserer Postkutschengesellschaft, sonst hätte er es sich wohl schwer überlegt, Shita zu beleidigen. Denn Shita war für die Kutscher unserer Gesellschaft schon immerhin so etwas wie ein Maskottchen geworden. Unsere Kutscher im »Drivers Inn« fingen an, ihre Ärmel aufzukrempeln. Der Salooner hinter mir am Tresen sagte: »Aber meine Herren!« Ich schaute zwar nicht über die Schulter, aber ich hatte den Eindruck, daß er die Hände rang. Charly McClister neben mir grunzte und zog sich mit einer ruppigen Bewegung die Hosen etwas höher – und dann begann er ebenfalls, seine Hemdsärmel aufzurollen. Er tat das mit viel Genuß. Ich schielte auf seine Unterarme, die da so nach und nach entblößt wurden. Richtige Hämmer, alles was recht ist. Weil die alle ihre Ärmel hochkrempelten, fing ich auch damit an. Zwischen Charlys Unterarmen und meinen bestand ein Unterschied wie zwischen Eichenstämmen und zwei Bohnenstangen. Das fand ich nun wieder gar nicht lustig. Morgen würde ich Charly fragen, auf welche Tour man Bohnenstangen zu Eichenstämmen veredeln könne. Shita trollte sich indessen völlig unberührt vom Tresen weg zum Tisch Jack Tolans. O Gott, dachte ich. Shita steuerte die Stiefel Jack Tolans an, die weit unter dem Tisch hervorragten. Jack Tolan wuchs aus seinem Stuhl und kriegte einen langen Hals. Seine Augen wurden so richtig tückisch, aber auch irgendwie dick, als ob sie gleich aus seinem Kopf platzen würden. Jetzt war es ganz still im »Drivers Inn«. Nur Shitas Hundepfoten tappten über den Holzboden. Ich würgte den Schluckauf hinunter. Shita drehte sich um und blickte zu mir hoch. Er sah aus, als grinse er. »Beiß dem Tolan ins Bein«, sagte Charly. Jack Tolan stemmte die Pranken auf die Tischplatte, kam hoch,
sein Kopf ruckte herum, er starrte Charly an. »Was hast du da gesagt?« Charly langte nach hinten zum Tresen, angelte sich sein Bierglas und trank. Der Salooner hinter mir sagte: »Aber bitte …« »Schnauze«, sagte Charly. Ich blickte mich um. Merkwürdig. Alle unsere Kutscher hier am Tresen und an den Tischen hatten ebenfalls ihre Bierkrüge in den Fäusten und sahen so aus, als sei etwas ganz Herrliches im Gange. Richtig lüstern sahen sie aus. Mittelpunkt war Shita vor dem Tisch Jack Tolans. Und Shita, dieser braunschwarz gefleckte Bastard, benahm sich wie ein Schauspieler. Er hatte mehr Bier als ich getrunken, das kann ich bezeugen. Dieses verdammte Bier mußte raus. Wohin? Ich seufzte, als Shita die Stiefel Jack Tolans näßte – in seltenem Hochmut hob er das rechte Bein und tat das, was ihm nötig erschien. Und Jack Tolan hielt ganz still, geradezu unheimlich still. Das Wässerchen rann an den Stiefeln herunter, auf den Holzboden und bildete dort eine ordentliche Pfütze. Shita schnüffelte an der Pfütze und schien sehr befriedigt zu sein. Er hatte hier und an dieser Stelle eine Marke gesetzt, und daran hatte keiner zu deuteln, zumindest kein anderer Hund. Er schielte zu mir herüber, und nach seinem Gesicht zu urteilen war er sehr glücklich. Jack Tolan war es nicht. Ich frage mich heute noch, warum er nicht eher reagierte. Aber jetzt reagierte er blitzschnell. Er beugte sich nach unten, um sich Shita zu schnappen. Aber Shita war schneller. Es war ein Reflex, dem ein menschliches Auge nicht zu folgen vermag. Sein Kopf, sein ganzer Körper zuckte herum, und schon schloß sich Shitas Fang um Jack Tolans rechten Unterarm. Und dann zerrte Shita. Jack Tolan brüllte, Shita knurrte und beutelte den Arm. Über Jack Tolans Handgelenk floß Blut. »Zurück, Shita!« schrie ich. Ich hätte ihn nicht zurückrufen sollen.
Denn jetzt explodierte der Saloon. Sie alle hatten nur auf die Kampferöffnung gewartet. Mein Schrei hatte sie ausgelöst. Charly stieß sich vom Tresen ab und hieb Jack Tolan den Bierkrug über den Schädel. Shita ließ los und fegte mit einem Satz auf den Tresen. Ich stand da und glotzte blöd. In meinem Magen rumorte das Bier. Vor mir kippten Stühle und Tische um, Männer stießen ineinander, Bierkrüge, flogen durch die Luft oder wurden auf Köpfe gedroschen, Männer brachen zusammen, ein Tisch segelte zur Schwingtür und zerschmetterte den einen Flügel, Flaschen zerbarsten an den Wänden – und sie alle brüllten, als würden sie dafür bezahlt. Ich schwang mich zu Shita auf den Tresen. Der erschien mir zumindest wie ein ruhender Pol in einer tobenden Hölle. Shita hatte ihn ja auch aufgesucht, und er hatte einen Instinkt für sturmsichere Plätze. Zur Zeit knurrte er den Salooner mit gefletschten Zähnen an und schien die Absicht zu haben, ihm an die Kehle zu fahren. Aber der Salooner, bleich wie eine gekalkte Wand, hatte gar nichts im Sinn mit Shita. Er wich mit vorgestreckten Händen zurück, tastete sich am Gläserregal entlang, zuckte zusammen, als eine Flasche in das Regal krachte und ein Glasregen niederprasselte – und verschwand mit einem Satz in der Küchentür. Shita drehte sich zu mir um und wedelte mit dem Schwanz. Seine ausdrucksstarken Augen sagten soviel wie: »Hallo, ist das nicht ein herrlicher Spaß?« Ich stieß mir den Kopf an der Ölfunzel über dem Tresen und fand überhaupt nichts mehr spaßig. So richtig wütend wurde ich. »Du dämlicher Hund!« knurrte ich Shita an. Tatsächlich, ich knurrte. Shita hörte mir gar nicht zu – kein Wunder, bei dem Krach. Er leckte eine Bierlache auf dem Tresen auf, und sein Schwanz ging wie ein Perpendikel. Seine Zunge wischte über den Tresen wie ein Scheuerlappen. Blanker hätte der Salooner den Tresen auch nicht gekriegt. Die Küchentür flog auf, ein Küchenmädchen erschien im
Türrahmen und schrie hysterisch. Shita knurrte sie an, und sie schlug die Tür wieder zu. Genau in diesem Augenblick schoß Jack Tolan wie eine Kanonenkugel auf den Tresen zu. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ihm Dave Colligan, einer unserer Kutscher, einen saftigen Tritt in den Hintern verpaßt, denn Dave lachte noch röhrend, als er von einem Stuhlbein umgelegt wurde. Jack Tolan rammte die Theke und hielt sich an dem umlaufenden Geländer fest. Er stierte zu Shita und mir hoch, und seine Nase sah aus, als sei ein Maultier draufgetreten. Wirklich, sie war noch zerquetschter als vorher. Und sie blutete. Er murmelte etwas, das in dem Höllenlärm nicht zu verstehen war, aber es war bestimmt etwas Unanständiges, das mir und Shita galt. Genau das war der Zeitpunkt, zu dem ich loszuholzen begann. Mich beleidigt keiner, auch kein Jack Tolan, der meinen Hund einen mistigen Köter genannt hatte. Ich holte mit dem rechten Bein aus und knallte Jack Tolan die Stiefelspitze unter das Kinn. Dabei hielt ich mich an der Ölfunzel fest, verbrannte mir die Pfoten und wäre fast vom Tresen gestürzt. Immerhin hatte ich es geschafft, daß Jack Tolan in die Knie ging. Weiter nicht, denn er hatte seine Arme im Umlaufgeländer verhakt und hing darin wie ein Wäschestück zum Trocknen. Sein Kopf befand sich dicht über der Tresenplatte. Und auf diesen Kopf tigerte nun Shita zu – mit gesträubtem Nackenfell, Lefzen, von denen Bier und Speichel tropften, und glühenden Augen. Aus seinem Brustkasten drang ein dumpfes Grollen, was andeutete, daß es für Jack Tolan besser sei, den Rückzug anzutreten. Ich glaube, Jack Tolan wurde bewußtlos. Jedenfalls verdrehte er plötzlich die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und sein Kopf sackte auf die Tresenkante. Shita stutzte, das dumpfe Grollen brach ab, er hob ein Bein und näßte Jack Tolans Schädel mit seiner Marke. Ich lachte aus vollem Hals und sprang vom Tresen auf den breiten Rücken eines Mannes, der gerade dabei war, meinem Charly McClister die Luft abzudrehen. Ich klammerte mich mit den Schenkeln wie ein Affe fest und bohrte dem Kerl links und rechts
meine Zeigefinger in die Ohren. Ich weiß, das war nicht die feine Art eines Kämpfers – und unappetitlich war es auch. Da ließ er von Charly ab und krümmte den Buckel. Er ruckte, aber meine Schenkel waren aus Eisen. Ich ritt einen Bronco zu und hieb ihm die Hacken in die Rippen. Gleichzeitig griff ich in seine Haare und riß an ihnen. Er ging ab wie eine Rakete. An seinem Hosenboden hing Shita, wie ich flüchtig feststellte. Der Kerl war ein Tornado. Er pflügte eine breite Gasse durch die keilenden Männer. Ich thronte oben auf ihm drauf und riß ihm büschelweise die Haare aus. Er brüllte urig, aber nicht nur wegen der Haare. Shita hat prächtige Zähne. Er hatte sich in eine Hinterbacke des Kerls verbissen. Mein lieber Mann! Der Kerl drehte sich wie ein Brummkreisel. An mir flogen Wände, Lampen, Köpfe vorbei. Ich schloß schnell die Augen und schlang meine Arme liebevoll um den kräftigen Hals des Kerls, um nicht weggeschleudert zu werden. Er gurgelte und stoppte sein Karussell. Ich riß die Augen auf. Vor dem Kerl ragte mein Charly auf und hämmerte ihm seine Schmiedepranken in den Magen. Selbst auf dem Rücken des Kerls spürte ich diese Schläge. Wie Erdbebenstöße, dachte ich und rutschte hastig vom Rücken des Kerls. Ich hatte kaum die Beine auf dem Holzboden, da kriegte ich einen Tritt in den Hintern, der mich unter einen Tisch katapultierte. Ich weiß noch, daß ich mit den Ellbogen zwei Stühle wegfegte. Der Tisch stand an einer Wand des Saloons, und diese Wand war meinem Kopf im Weg. Millionen Sternchen explodierten um mich herum. Irgendwann leckte was über mein Gesicht, das feucht war und nach Bier roch. Shita. Ich sammelte mich unter dem Tisch auf, sah vor mir stampfende Beine, umgestürzte Stühle und Tische, Glasscherben, zerbrochene Flaschen, Bierkrüge, und in meinem Kopf bearbeitete jemand eine Kesselpauke.
Shita drückte sich an mich, und wir beschlossen, besser unter dem Tisch zu bleiben. Zusehen macht auch Spaß. Sehr kampfstark fühlte ich mich schon gar nicht. Shita schnappte nach einer Fliege, die sich auf meinem rechten Knie niedergelassen hatte, erwischte sie tatsächlich und schlang sie herunter. Bier und Fliegen! Er mußte einen Magen aus Eisen haben. Aus meinem Blickwinkel unter dem Tisch sah ich, wie irgendein Kerl in Charly McClisters schwarzen, struppigen Vollbart griff, ihn nach unten riß und sein Knie hob. Armer Charly. Es tat direkt weh, das mit ansehen zu müssen. Fast synchron mit Charlys Kopf ruckte auch mein Kopf mit zurück. Ich stieß ihn mir an der Tischplatte und fluchte. Charly sah zum Gotterbarmen aus. Sein linkes Auge war dicht und lila. Seine Unterlippe schwoll an. Auf seiner Stirn hatte er eine Platzwunde. Er stolperte über einen umgestürzten Stuhl und krachte zu Boden. Der Kerl wollte ihm einen Stiefeltritt zwischen die Rippen verpassen. Das war zuviel. Shita und ich schossen unter dem Tisch hervor. Shita war an dem Kerl eher dran und hing mit einem gewaltigen Satz an dem zum Tritt erhobenen Fuß des Kerls. Ich schnappte mir ein Stuhlbein und knallte es dem Kerl über den Schädel. Er ächzte. Shita ließ los, und der Kerl torkelte humpelnd und mit den Armen rudernd durch den Saloon. Nach fünf Schritten kippte er über einen Tisch und blieb auf ihm liegen. Dave Colligan, einer unserer Kutscher – er schien sich wieder erholt zu haben –, klopfte mir auf die Schulter und lachte dröhnend. »Bravo, Kleiner!« brüllte er. »Gib's den Säcken, den verlausten Hurensöhnen!« Er duckte sich und hechtete mit einem wilden Sprung über einen Tisch weg in ein Knäuel prügelnder, ineinander verbissener Männer. Drei riß er gleich im Sprung um. Durch den Saloon wirbelten Tabakschwaden. Männer ächzten, keuchten, schrien, brüllten, Holz splitterte, Stiefel stampften
dröhnend – »Drivers Inn« war das komplette Chaos. Ich zuckte zusammen, als die eine Schwingtür aufflog und gegen die Wand krachte. Die Stadtpolizei! Zwei Colts wummerten und entluden ihre Ladungen gegen die Decke. Ich setzte mich schnell auf einen Stuhl, der nur noch drei Beine hatte. Shita hockte sich daneben auf den Hintern und hechelte. »Ruhe!« brüllte einer der Beamten – der Stadtmarshal, wie ich wußte. Er hatte wilde Augen und die Figur eines unbehauenen Granitblocks. Aus seinem Coltlauf kräuselte ein Rauchfaden. Die Stille nach dem Krach tat direkt in den Ohren weh. Zerbeulte Gesichter wandten sich zur Schwingtür. »Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?« schrie der Marshal. Vor mir ruckte Charly hoch. »Ist was?« fragte er und sah sich um. »Hat hier etwa einer von euch Hundesöhnen geschossen?« »Ja, ich«, sagte der Marshal. Seine Stimme war jetzt eiskalt. »Oh«, sagte Charly. »McClister«, sagte der Marshal ächzend. »Natürlich, wie immer mitten drin. Keine Rauferei ohne McClister.« Der Marshal stutzte. Er hatte mich entdeckt. Er stieß mit dem Stiefel einen umgestürzten Stuhl beiseite und marschierte über knirschende Glasscherben auf mich zu. Drei Schritte vor mir blieb er stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften. Shita begann zu knurren. »Was treibst du denn hier?« blaffte mich der Marshal an. »Ich sah zu«, sagte ich artig und kraulte Shita den Kopf. »Das hier ist mein Hund. Er heißt Shita. Und Charly McClister ist mein Freund. Ich bin nämlich auch bei der ›Russell, Majors und Waddell‹.« Ich blickte mich um. »Wir haben heute abend alle mal ein bißchen gefeiert und so, nicht wahr, Charly?« »Ja«, sagte Charly und nickte treuherzig. Jack Tolan, am Tresen, ächzte, und dann hing er nicht mehr im Umlauf. Er rutschte einfach raus, sackte zusammen und legte sich
unten lang. Der Marshal lächelte höhnisch. »Er hat ein bißchen viel getrunken«, erklärte Charly, »wirklich. Jack, hab ich gesagt, Jack Tolan, trink nicht soviel. Das ist nicht gut, hab ich gesagt. Hab ich das gesagt, Ronco?« »Jawohl, genau das hast du gesagt«, bestätigte ich. »Und du?« fauchte mich der Marshal an. »Was – ich?« »Hast du auch getrunken ?« »Ich …« »Er hat nur Milch getrunken«, sagte Charly hastig. Der Marshal trat drei Schritte vor und beugte sich zu mir nieder. »Hauch mich mal an.« Ich hauchte. Der Marshal prallte zurück. »Es ist eine Schande«, sagte er grimmig, »so jung und säuft schon.« »Ich bin achtzehn – seit letztem Jahr.« »Wenn du achtzehn bist, bin ich achtzig, du Rotznase!« Der Marshal wurde wütend. Ich auch. »Haha! Sie Achtzig? Sie sehen doch wie Ihr eigener Urgroßvater aus!« Er wollte mir eine schmieren. »Vorsicht«, sagte ich. »Mein Hund beißt.« Er ließ die Rechte wieder sinken und kochte vor Wut. »Ist das ein Früchtchen!« Er wandte sich zu Charly um. »Wer ist sein Vater?« »Er hat keinen«, sagte Charly. »Quatsch«, sagte der Marshal. »Jeder hat einen Vater und eine Mutter.« »Die hat er auch nicht.« Charly seufzte tragisch. »Er ist ein armer Waisenjunge, der seine Eltern nicht kennt. Ein trauriges Schicksal in diesen traurigen Zeiten.« Charly schneuzte sich. »Indianer haben ihn geraubt, aber er hat zu uns zurückgefunden.« Der Marshal blickte mich konsterniert an. »Indianer? Was für Indianer?« »Apachen«, sagte ich kalt. »Was dagegen?«
Ich war knapp vierzehn Jahre alt. Vermutlich schätzte der Marshal mein Alter auch richtig ein, begriff aber jetzt, daß ein Junge, der mehrere Jahre bei den Indianern zugebracht hatte, mit anderen Maßstäben als ein gewöhnlicher weißer Junge zu messen war. Für einen kurzen Moment wurde das harte Gesicht des Marshals geradezu menschlich, und etwas wie Achtung schimmerte in seinen grauen Augen. Dann drehte er sich abrupt um und winkte seinen Deputys zu. »Die ganze Bande kommt zur Ausnüchterung ins Stadtgefängnis. Ab mit den Kerlen!« »Ich auch ?« fragte ich. Er wandte sich um. »Du auch«, sagte er knapp. »Wer achtzehn ist, muß für das geradestehen, was er angerichtet hat.« Er zwinkerte mit den Augen. »Klar?« »In Ordnung«, sagte ich und zwinkerte zurück.
2. Im Stadtgefängnis war keine Zelle mehr frei. Voll belegt war gar kein Ausdruck dafür. Der Ausnüchterung war das auch nicht sehr zuträglich. Schuld daran hatte aber Jack Tolan, der wieder bei sich war und es nicht lassen konnte. Allerdings befand er sich in der Zelle gegenüber, er und noch acht andere Kerle, die gegen uns geholzt hatten. In meiner Zelle waren nur unsere Leute – Charly, Dave Colligan, Mike Pinker, Chet O'Neill, und wie sie alle hießen. Wir waren acht – mit Shita neun. Auch die sechs anderen Zellen waren belegt. In der neunten, kleineren Zelle war aber keiner der »Drivers-Inn-Kämpfer« untergebracht. Ich merkte das erst, als Jack Tolan loslegte. Er stand an dem Eisengitter, hatte seinen rechten Arm hindurchgesteckt und schüttelte drohend die Faust zu uns herüber. »Warte nur, McClister!« schrie er. »Das nächste Mal kriegst du Zunder, daß die Schwarte kracht!« »Hohoho!« röhrte Charly zurück. »Du mieser Maultiertreiber, du
rotziger Kuhjunge, du Mißgeburt von einem Ziegenbock und einer schwangeren Wanze, du lächerlicher Fliegenfurz, solche Vogelscheuchen wie dich verarbeite ich zu Putzlappen für Nachttöpfe – hohoho!«, Jack Tolan zerbarst vor Wut und brüllte sich die Kehle heiser. Er rüttelte an dem Eisengitter, alle rüttelten an den Eisengittern, und für Minuten herrschte ein Krawall in dem Bau, daß die Wände wackelten. Von den Unflätigkeiten, mit denen sich die Bande gegenseitig titulierte, gar nicht zu sprechen. Ich lernte eine ganze Menge. Als sie Luft schnappen mußten und für einen Moment Ruhe eintrat, sagte eine Stimme: »Verdammte Hurenböcke!« Diese Stimme stammte unverkennbar von einem Wesen weiblichen Geschlechts. Zu ihr gesellte sich eine zweite Stimme, und die sagte: »Wundert dich das, Molly? Dort grölt Jack Tolan und da Charly McClister, die beiden größten Schandschnauzen und Hurensöhne dieser verdammten Stadt!« An den Gittern der acht Zellen drängelten sich die Kämpfer des »Drivers Inn«. Sie stierten wie Mondkälber zu der kleineren Zelle hinüber. Ich erhaschte auch einen Blick. Dort hinter dem Eisengitter standen zwei Ladys, ziemlich angemalt, mit verwuschelten Haaren und in Flitterroben, auf denen im Petroleumlicht tausend Sternchen glitzerten und funkelten. »Molly«, sagte Charly McClister. »Lissy«, sagte Jack Tolan. Und wie aus einem Munde sagten sie beide: »Was macht ihr denn hier?« Molly, ein schwarzhaariges Prachtweib, zeigte auffordernd, was sie oben herum hatte. Es war eine ganze Menge, und sie quetschte es durch die Gitterstäbe. Ich kriegte Schluckauf und Stielaugen. »Fragt den Abendwind«, sagte Molly und lachte heiser. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Das war mal eine Stimme, so richtig rauchig und voller Sünde. Etwas verstand ich ja schon davon, wenn auch nicht alles. »Fragt den Morgenwind«, sagte Lissy, lachte genauso verrucht
wie Molly und zeigte ein netzbestrumpftes Bein zwischen den Gittern. Ganz oben zierte dieses Bein ein neckisches Strumpfband, das, glaube ich, mit kleinen Röschen und allerlei Krimskrams besteckt war. Über dem Strumpfband schimmerte weißes Fleisch. Shita knurrte. Vielleicht hatte er ebenfalls das Fleisch entdeckt und hielt es für Kalbsleberwurst. »Psst«, sagte ich zu Shita. »Oh – wen habt ihr denn da?« fragte Lissy. Charly drehte sich zu mir um und sagte: »Das ist mein Freund Ronco mit seinem Hund Shita.« »Hallo, Ronco!« sagte Lissy und lächelte. Sie stieß Molly an. »Schau doch mal, Molly, ist das nicht ein liebes Kerlchen? Und die Augen! Siehst du seine Augen? Blau wie Bergseen …« Molly kicherte. Ich hatte Blutandrang zum Gehirn, das spürte ich ganz deutlich, selbst meine Ohren wurden heiß und noch heißer. »O wie süß!« sagte Lissy. »Schau mal, er wird richtig rot. Besuchst du mich mal, Ronco?« »Vielleicht.« Meine Stimme klang wie eine rostige Feile. Charly McClister hielt mir die Faust unter die Nase. »Untersteh dich!« fauchte er mich an. »Ach? Und warum?« »Weil du noch zu jung bist, verdammt noch mal!« Ich wurde wütend und hielt ihm gleichfalls die Faust unter die Nase. »So? Zu jung?« raunzte ich ihn an. »Aber zum Biersaufen bin ich nicht zu jung, wie? Ich bin ein Gentleman, verstehst du das; du Ochse? Wenn mich eine Lady um meinen Besuch bittet, ist das meine Sache, verstanden?« »Hahaha!« lachte Jack Tolan drüben in der anderen Zelle. »Habt ihr das gehört, Männer? Ein Gentleman – diese Rotznase! Und die Lady hat ihn um einen Besuch gebeten – hahaha …« Ich trat ganz dicht an die Gitterstäbe. »Jack Tolan«, sagte ich. »Faß mal an dein Kinn.« Er starrte mich verblüfft an. »Wieso?« »Faß mal hin.«
Er hob tatsächlich die Hand, betastete sein Kinn und zuckte zusammen. »Das war meine rechte Stiefelspitze, du Ratte. Das nächste Mal pflanze ich dir auch noch die linke unter dein Großmaul. Und dann brauchst du eine halbe Stunde und noch länger, um wieder auf deinen Füßen zu stehen. Ist das klar?« Und damit ging der Krawall erneut los. Die Anlieger, die um das Stadtgefängnis herum wohnten, hatten bestimmt eine unruhige Nacht. Diese Kutscher und Maultiertreiber hatten ein unerschöpfliches Reservoir an Kraftausdrücken, Flüchen und Schimpfnamen. Shita, diese Frohnatur, lag zusammengerollt in der hintersten Ecke der Zelle und schlief. Ich setzte mich zu ihm, wärmte mich an seinem Fell – es war immerhin schon Spätherbst und empfindlich kalt in dem Gefängnisbau – und versuchte ebenfalls zu schlafen. Irgendwann hörte ich die grollenden Stimmen nur noch aus weiter Ferne wie ein Murmeln, dann überhaupt nicht mehr, und da war ich eingeschlafen. * Jemand rüttelte mich an der Schulter. Verschlafen richtete ich mich auf. Mir taten sämtliche Knochen weh, der Kopf auch, der am meisten. Über mir stand Charly McClister, breit, muskulös. Sein Gesicht mit dem schwarzen Fußabtreter, dem verschwollenen, in allen Farben schillernden linken Auge und der lappigen Unterlippe hätte jeder Mutter als Kinderschreck für die unartigen Kleinen dienen können. Mir nicht, ich kannte ja meinen Charly, den besten Kutscher der Gesellschaft. Er war grundanständig und ehrlich. Nur im Suff wurde er wild und zerschlug alles in Klump. »Du hast die ganze Nacht geschlafen«, sagte Charly vorwurfsvoll. »Und du stinkst und siehst aus, als hättest du eine stürmische Nacht in einer Mülltonne verbracht.« Dave Colligan lachte dröhnend. Er lag mit Mike Pinker unter der Pritsche – der einzigen in der Zelle –, auf der Pritsche hockten wie
Hühner auf der Stange Chet O'Neill und die anderen, und nur Charly stand. Neben mir streckte sich Shita und gähnte lauthals. Ja, wir waren alle noch beisammen. Durch ein schmales vergittertes Fenster über der Pritsche fiel das Licht eines neuen Tages in die Zelle. In den Zellen links und rechts von uns und gegenüber rumorten die anderen Insassen und begrüßten nach einer wüsten Nacht den neuen Tag! »Hallo, Ronco!« rief Lissy von drüben. »Gut geschlafen?« Ich schob mich an der Wand hoch und trat ans Gitter. »Hallo, Lissy – Verzeihung, Ma'am. Ich wünsche Ihnen einen sehr schönen guten Morgen. Danke, ich habe gut geschlafen. Und Sie?« »Oh!« Sie lächelte und schob sich eine Locke aus der Stirn. »Soll ich sagen, daß du mir gefehlt hast?« »Da hört sich doch alles auf!« grollte Charly hinter mir. Er trat an das Eisengitter und blickte wütend zu Lissy hinüber. »Laß ja den Kleinen zufrieden, du alte Nachteule. Der ist noch jenseits von Gut und Böse, ist das klar?« »Charly McClister«, sagte Lissy scharf, »misch dich nicht in Dinge, die dich nichts angehen. Und was war denn wohl gestern abend, he? Ist dieses verdammt ›Drivers Inn‹ vielleicht der richtige Ort für einen Jungen wie Ronco?« »Besser als euer Rotlichtbezirk«, brummte Charly. »Ach?« Jetzt wurde Lissy so richtig spitz. »Was ist wohl besser, Charly McClister, sich zu lieben oder herumzusaufen und sich mit Stuhlbeinen die Schädel einzuschlagen, he? Seht euch doch an, ihr Raufbolde! Zerfetzt, verdreckt, mit Blut beschmiert, Veilchenaugen, Beulen in den Visagen, stinkend wie Jauchegruben – fürwahr! Was für prächtige Mannsbilder, pfui Deibel!« »Na ja«, sagte Charly lahm und blickte an sich hinunter. Ich grinste Charly an. Zur Zeit waren meine Sympathien uneingeschränkt auf selten Lissys. Außerdem konnte er sich wirklich mal waschen, der alte Stinker. Aber Wasser gab's nicht in diesem Bau, etwas zu essen auch nicht – und überhaupt. Ich fragte mich, wie lange uns der Marshal hier wohl schmoren lassen wollte. Und wer bezahlte den Schaden im »Drivers Inn«? Da war kein
Stück auf dem anderen geblieben. Bestimmt wurden wir alle dem Richter vorgeführt. Auweh! Da würde es auch Shita an den Kragen gehen, wegen ihm war ja der ganze Krach losgegangen. Aber man konnte ja keinen Hund verurteilen – eher mich, weil er mir gehörte und ich nicht besser auf ihn aufgepaßt hatte. Ich sah sehr düster in die Zukunft. Konnte Lissy Gedanken lesen? »Alles halb so schlimm, mein Junge!« rief sie zu mir herüber. »Jetzt weißt du wenigstens, was los ist, wenn der alte Saufkopf McClister eine Zechtour unternimmt. Und wenn der lausige Jack Tolan da auch noch mit drinsteckt, dann gibt's Kleinholz.« »Ist denn hier nie Ruhe in dem verdammten Loch?« schrie Jack Tolan. Er erschien taumelnd an den Gitterstäben und sah aus wie seine eigene Leiche. Bevor der allgemeine Tumult wieder vollkommen wurde, erschien der Marshal mit zwei Deputys und – oha! – Cargo Flatt. Ich verdrückte mich blitzschnell vom Gitter und verholte mich in die hinterste Ecke der Zelle. Der Marshal rasselte mit einem Schlüsselbund, schritt die Zellen ab und blieb vor unserer stehen. Neben ihm tauchten seine beiden Deputys auf und hinter ihnen Cargo Flatt. Ich machte mich so klein wie möglich. Cargo Flatt war der Sicherheitsagent unserer Postkutschengesellschaft. Er hatte mir den Job bei der »Russell, Majors und Waddell« besorgt und sich für mich eingesetzt. Einmal hatte ich ihm das Leben gerettet, ein andermal konnte ich einen Schurken entlarven und der Gesellschaft eine Menge Geld zurückbringen. Alles in allem hatte ich bei Cargo Flatt und der Gesellschaft einen schönen dicken Stein im Brett – um so peinlicher war es mir, jetzt hier wie ein Verbrecher in der Zelle zu hocken. Wie oft ich noch Zellen von innen sehen würde, das konnte ich damals noch nicht wissen. Ich hab's vergessen zu zählen. Nun, ich mochte Cargo Flatt, sehr gern. Er war ein feiner Kerl, unheimlich zäh, ein Mann mit Kämpferqualitäten, hart, verwegen, aber immer fair. Einen solchen Mann durfte man nicht enttäuschen. Mir war gar nicht wohl.
Cargo Flatt trat vor, musterte Charly von oben bis unten und schüttelte den Kopf, musterte ihn noch einmal und schüttelte wieder den Kopf. »Charly«, sagte er mit seiner sanften Stimme, die dennoch von einer klirrenden Härte war, »es geht jetzt auf den Winter zu. Erinnerst du dich, wie oft ich dich in diesem Jahr aus dem Jail bereits herausgeholt habe?« Ich sah auf das breite Kreuz von Charly. Er hielt es sehr gerade, aber er senkte den Kopf. »Na?« fragte Cargo Flatt. »Einige – einige Male«, sagte Charly. Er sprach nicht sehr laut, und seine Stimme hatte einen etwas zerquetschten Klang. »Vierzehnmal«, sagte Cargo Flatt, »vierzehnmal. Und jedes Mal, so erinnere ich mich, sollte es auch das letzte Mal gewesen sein. Nun sind wir also beim fünfzehnten angelangt. Eddie Leach hat mir eben sein ›Drivers Inn‹ gezeigt.« Er schüttelte wieder den Kopf und seufzte. »Da sieht's aus wie nach einer Stampede verrückt gewordener Bullen.« Charly schnaufte. »Ich war das aber nicht allein, ich …« Cargo Flatt winkte ab. »Natürlich nicht. Nur merkwürdig, daß bei jeder Stampede immer wieder ein gewisser Charly McClister unbedingt mitholzen muß. Nachweisbar – weil von Eddie Leach bezeugt – wurde die Stampede von dir eröffnet, und zwar schlugst du Jack Tolan einen Bierkrug über den Schädel.« »Jawohl!« schrie Jack Tolan. »Genauso war's!« Cargo Flatt drehte sich zu ihm um und sagte in seiner sanften Art: »Ich würde an deiner Stelle nicht so laut schreien, Jack Tolan. Nachweisbar – weil ebenfalls von Eddie Leach bezeugt – nanntest du einen gewissen Hund namens Shita eine mistige Töle. Zufällig kenne ich diesen Hund und mir scheint, daß er eine solche Beleidigung in der für ihn einzig richtigen Form gebührend zurückgewiesen hat. Womit ich sagen will, daß er mehr Verstand als du gezeigt hat. Ich darf dazu bemerken, daß ich es diesem Hund mit zu verdanken habe, heute noch am Leben zu sein. Er ist ein kluger und treuer Hund – und kein mistiger Köter!« Das war echt Cargo Flatt.
»Bravo!« schrie ich. Shita kläffte, flitzte einfach zwischen den Gitterstäben durch und sprang an Cargo Flatt hoch, um ihm das Gesicht abzulecken. Und jetzt war ich dran. »Du kannst ruhig aus deiner Ecke kommen, Ronco«, sagte Cargo Flatt sanft. »Daß Charly dich mitgeschleppt hat, wußte ich schon seit gestern abend, als eure Sauftour losging. Allerdings hatte ich angenommen, du würdest Charly schon in den Griff kriegen, falls er Krawall anfängt, oder zumindest nicht so dämlich sein, an der Schlägerei teilzunehmen. Na ja, lassen wir das, mitgefangen – mitgehangen.« Er blickte Charly wieder an. »Ich würde euch beide gern hier noch ein paar Tage zappeln lassen und nicht auslösen, aber du solltest laut Fahrplan heute mit einer Concordkutsche nach Lincoln, Nebraska, aufbrechen.« Charly McClister schlug sich die flache Hand vor die Stirn. »Mann, das hab ich glatt vergessen.« Er wurde ganz zappelig. »Ich muß hier raus, sofort.« Cargo Flatt grinste. »Klar mußt du hier raus. Und bestimmt fällt dir jetzt auch wieder ein, wie das funktioniert.« Er rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander. »O verdammt.« Charly stöhnte. »Zieht ihr mir das wieder vom Lohn ab?« »Natürlich, mein lieber Charly, das und deinen Anteil an den Schäden im ›Drivers Inn‹. Der Marshal hat übrigens die Kaution für deine Freilassung erhöht – gewissermaßen als Jubiläumskaution, daß du in dieser Nacht das fünfzehnte Mal in diesem Jahr bei ihm eingesessen hast. Statt wie bisher zwanzig Dollar werden wir dreißig Dollar blechen …« »Wucher!« schrie Charly empört. Sehr ruhig sagte Cargo Flatt: »Willst du die Fahrt nach Lincoln übernehmen, oder sollen wir einen anderen Kutscher einsetzen?« Er tat, als überlege er kurz. »Ja, Tom Randell wäre frei, den könnte ich nehmen.« Charly explodierte. »Tom? Diesen Kuhtreiber? Der kann doch noch nicht mal ein Pferd von einer Maus unterscheiden! Kommt nicht in Frage. Ich fahre und damit basta!«
»Dreißig Dollar plus Schadenersatz für Eddie Leach?« fragte Cargo Flatt sanft. »Ja!« brüllte Charly. »Verfluchter Mist!« »In Ordnung«, sagte Cargo Flatt und grinste. Er blickte in die Zelle. »Und ihr, Jungs? Ich meine, ihr braucht natürlich nur zwanzig Dollar plus Schadenersatz locker zu machen. Wie üblich wird's vom Lohn abgezogen. Oder wollt ihr hierbleiben?« »Nein«, sagte Dave Colligan. »Kommt nicht in die Tüte«, sagte Mike Pinker. »Ich will mit Charly mitfahren«, sagte ich, »damit einer auf ihn aufpaßt.« Gelächter, »Und wann besuchst du mich?« rief Lissy. Sehr lässig sagte ich: »Die Pflichten gehen vor, Ma'am.« Die Kerle brüllten.
3. Das war wenigstens geschafft, und ich fand, daß ich dabei noch ganz gut weggekommen war. Ich hatte ja keine Ahnung. Das Theater ging bereits los, als die Fahrgäste erschienen. Ich muß vorausschicken, daß Cargo Flatt bei der Planung dieser Fahrt nach Lincoln für mich einen ganz besonderen Job ausgeknobelt hatte. Ganz klar bin ich mir auch heute noch nicht, ob er das tat, damit ich mir zusätzlich ein paar Dollar mehr dazuverdienen konnte, oder ob er tatsächlich der Ansicht war, ich sei der richtige Mann an der richtigen Spritze. Ich sollte nicht neben Charly oben auf dem Bock mitfahren, sondern als Fahrgast in der Kutsche – gewissermaßen als geheimer Sicherheitsagent! Wer war ich denn? Ein Bengel von knapp vierzehn Jahren, vielleicht schon größer und breiter als die Jungen meines Jahrgangs, gewiß allerdings aufgrund meiner Jahre bei den Apachen ganz schön ausgekocht, was meinen Willen, zu überleben, betrifft. Aber ich war alles in allem eben noch ein Junge. Ich hatte schon getötet. Ich hatte mit meinen knapp vierzehn
Jahren mehr Not und Tod und Schmerz gesehen als jeder andere weiße Junge. Daran war ich nicht zerbrochen. O nein, mein Wille, zu leben und dieses Leben irgendwie zu bestehen, war immer stärker und härter geworden. Ich betrachtete das Leben als eine Herausforderung, und war bereit, mich ihr zu stellen. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Bestimmt hatte Cargo Flatt das irgendwie erkannt. Eine halbe Stunde, bevor wir losfuhren, hatte er mich in sein Office geholt und mir kurz und bündig meine Aufgabe auseinandergesetzt. Er tat das sehr geschickt. »Mach mal dein dämlichstes Gesicht.« Ich zog die Mundwinkel nach unten und blickte schläfrig nach oben. »Sehr gut. Wie ein Vollidiot.« Er grinste. »Mit diesem dämlichen Gesicht fährst du als Fahrgast mit, klar?« Ich nickte. »Und trotz deines dämlichen Gesichts wirst du verdammt scharf aufpassen – nicht auf Charly. Nein, auf einen US Deputy Marshal, der eine Kassette bei sich hat, die Regierungsgelder für die Reservationen der Sioux in Minnesota enthält. Bis Lincoln reist der Deputy Marshal mit unserer Linie. Und bis Lincoln sind wir es, die zusehen müssen, daß alles klargeht.« Er grinste wieder. »Ein Blödmann wie du fällt nicht auf, wenn er vier Tage lang so etwas wie den Schatten des Deputy Marshals spielt.« »Alles klar«, sagte ich und blickte Cargo Flatt derart blöde an, daß er fast stutzte, »Hast du das kapiert?« fragte er besorgt. »Herrgott, grins doch nicht so dämlich.« »Ich spiel ja nur«, sagte ich und grinste nun echt. »Aber Shita darf doch mit, nicht wahr?« »Natürlich.« »Weiß Charly Bescheid?« »Ja.« »Erwartet ihr Ärger?« Cargo Flatt blickte mich hart an. »Mir wäre wohler, die Armee würde sich um den Transport der Kassette kümmern. Wenn ein USMarshal so ein Ding unter dem Arm mit sich herumschleppt, kann
sich jeder Strauchdieb ausrechnen, daß da keine Kieselsteine drin sind.« Er schüttelte erbittert den Kopf. »Auf einer Kiste Dynamit, zu der die Zündschnur brennt, sitzt man sicherer. So eine Kassette wirkt wie Aas auf die Schmeißfliegen.« »Wir bringen sie durch bis Lincoln«, sagte ich. »Hoffentlich. Und bleibt mir nur ja in einem Stück. Übrigens – die Kaution und den Schadenersatz übernehme ich für dich.« »Danke«, sagte ich. Ich verließ das Office, packte mein Reisebündel, zog eine dicke Felljacke an und trat wieder auf den Hof. Ich blinzelte in die Herbstsonne, sog den Duft nach Pferden, Stallmist, Leder und Wagenschmiere in mich ein und fand das Leben herrlich abenteuerlich. Ich hatte eine Aufgabe, einen geheimen Auftrag, ich, der namenlose Junge, der von den Indianern wieder zu den Weißen gekommen war und nach vielen Irrwegen einen festen Platz gefunden hatte. Und jemand vertraute mir – Cargo Flatt. Er stand hinter der Gardine am Fenster seines Office und beobachtete das Treiben auf dem Hof. »Du kannst dich auf mich verlassen«, sagte ich leise und ging quer über den Hof zu der einen Remise, vor der unsere Concordkutsche stand. Die vier Gespannpferde waren bereits angeschirrt. Charly kletterte auf dem Bock herum und verstaute gerade irgendwelche Klamotten in der Banktruhe unter dem Sitz. Shita scharwenzelte um mich herum und spielte sein dummes Spiel, sich selbst in den Schwanz beißen zu wollen. Er war ziemlich aufgedreht. Neben dem Bock blieb ich stehen und machte mein Trottelgesicht. Charly reagierte prompt. Er knallte den Sitzdeckel zu und starrte zu mir hinunter. Er blinzelte, kratzte sich hinter dem Ohr, starrte. »Ist bei dir 'ne Schraube locker?« fragte er. »Pst. Das soll so sein«, erwiderte ich. »Kriegsbemalung. Cargo Flatt sagte, ich solle den Trottel spielen. Bin ich echt?« »Mann, noch echter, du siehst so richtig behämmert aus. Aber die Idee ist gut. Hast du deine Kanone bei dir?« Ich klopfte auf meine Felljacke. »Hier drunter, im Hosenbund.« Charly grinste. »Schieß dir bloß nicht selbst in den Bauch.«
»Quatsch.« »Pssst!« Charly blinzelte mir zu und deutete mit den Augen unauffällig nach links. Ich setzte mein Reisebündel ab, stellte die Füße nach innen, faltete die Hände und plierte ein Loch in die Luft. Der Mann war geschniegelt und gelackt, roch sogar auf drei Schritte Entfernung noch nach Pomade und war mir auf Anhieb so unsympathisch wie ein vereiterter Zahn. »He! Sie da!« rief er zu Charly hoch. »Ist das die Kutsche nach Lincoln ?« »Ja«, brummte Charly. Der Dandy blickte ihn angewidert an. »Sind Sie der Kutscher?« »Ja«, sagte Charly einsilbig. »Wie sehen Sie denn aus! Hat Ihre Gesellschaft keine anderen Kutscher? Muß man sich so etwas bieten lassen? Unerhört. Sie sehen ja wie ein Wüstling aus.« Ich drehte mich zu dem Dandy um und grinste ihn blöde an. Er wollte noch etwas sagen, verstummte aber irritiert, räusperte sich und strich sich affektiert über das schmale Oberlippenbärtchen. »He, Junge«, sagte Charly, »lang mir mal das Gepäck von dem Mister rauf.« »Wie?« fragte ich dümmlich. »Das Gepäck!« Charlys Stimme wurde grollend. »Mein – mein Vater hat mir verboten, schwer zu heben«, sagte ich. »Weil ich so zart bin. Ich soll auch keine fremden Sachen anfassen – wegen – wegen der Ansteckungsgefahr.« Ich verdrehte die Augen. »Mir wird auch so leicht schwindlig.« Charly kicherte – nicht ganz programmgemäß –, und ich warf ihm schnell einen scharfen Blick zu. Er verstummte und kletterte hastig vom Bock. Ich plierte wieder in den Himmel und beobachtete dennoch mit dem linken Auge; wie sich Shita an den Dandy heranpirschte, an seinem Hosenbein schnüffelte und plötzlich laut nieste. Der Dandy zuckte ordentlich zusammen. So ging also das Theater wieder los. »Geh weg, Hund«, sagte der Dandy. »Ksch!«
Auf »Ksch!« reagiert Shita schon gar nicht. Er schnüffelte an der Reisetasche des Dandys, die der neben sich abgesetzt hatte, hob ein Bein und tat wieder einmal das, was ihm dringend notwendig erschien. Charly war so klug, schnell am Zuggeschirr herumzufummeln. Er hatte nämlich eben das Gepäckstück aufheben wollen. Der Dandy erlitt einen Nervenzusammenbruch. Er starrte mit hervorquellenden Augen auf seine Reisetasche, schluckte, starrte, schluckte und wollte gerade hysterisch losschreien, als ein fetter Kerl mit einer Goldkette über dem Wanst heranwatschelte und laut schnaufend fragte: »Ist das die Kutsche nach Lincoln?« »Ja«, sagte Charly. »Tulligan«, sagte der Dicke, »George Tulligan.« Er blickte den Dandy an, der gerade mit einem Seidentüchlein sein Gesicht abstäubte. »Fahren Sie auch mit, Mister …?« »Carmichel, Elton Carmichel«, sagte der Dandy und hüstelte. »Sehr schön, Mister Cramichel …« »… Carmichel«, sagte der Dandy indigniert. »Wie? Ach so.« Der Dicke lachte dröhnend. »Na, da wollen wir mal, was? Wir werden uns schon vertragen, wir zwei Hübschen. Platz ist ja genug in der Kutsche.« »Ich erwarte noch eine Lady«, sagte Charly, »und noch einen Gentleman. Dieser Junge fährt übrigens auch mit.« Er nickte zu mir hin. »Sie werden also alle etwas zusammenrücken müssen.« Der dicke Tulligan verlor sichtlich an Begeisterung. Der Dandy fixierte mich, als sei ich eine Laus. »Gehört dieser Köter dir?« fuhr er mich an. »Jawohl«, sagte ich so blöde wie möglich. »Das ist mein Hundchen. Es paßt auf mich auf, damit ich nicht verlorengehe …« »Paß du lieber auf, daß dieses Vieh dort uriniert, wo kein Gepäck steht!« fauchte der Dandy. »Was ist das?« fragte ich dümmlich. »Wie?« »Uriniert. Was ist das?« Der Dandy platzte. »Pinkeln!« schrie er. »Seichen! Nässen! Pipi
ma …« »Verzeihung. Ist das die Kutsche nach Lincoln?« Der Dandy kriegte die Gesichtsfarbe einer überreifen Tomate. Die junge Frau übersah ihn und blickte Charly an. »Jawohl, Ma'am«, sagte Charly. »Bitte, darf ich Ihnen helfen? Einen Eckplatz in Fahrtrichtung? Bitte geben Sie mir Ihr Gepäck. Sie dürfen nicht so schwer tragen.« Charly flitzte nur so und geleitete die junge Frau zur Kutsche, half ihr beim Einsteigen und nahm sich ihres Gepäcks an. Der Dandy sah ziemlich betreten aus. Der dicke Tulligan nicht minder. Die junge Frau hieß Grace Walton – und war hochschwanger. Zum ersten Male spürte ich ein leises Unbehagen. Wenn das nur gutgeht, dachte ich. Mister Tulligan und Mister Carmichel standen da wie bestellt und nicht abgeholt. Das waren vielleicht zwei Typen. Der eine stank nach Geld und der andere nach Pomade und sonstigen Wässerchen. Über den Hof klirrte eine Wucht von einem Mann heran, groß, breitschultrig, tiefgeschnallte Waffe, mit einem Gesicht wie ein Wolf, grauäugig, eisgrauer Schnauzbart – unter dem Arm eine Eisenkassette. US-Deputy-Marshal Orville Fuller, ein Mann aus Eisen, ein Eisenfresser, ein Kanonensohn. Wenn ich einen Trottel zu spielen hatte, so spielte ich ihn jetzt zum ersten Male, ohne mich besonders anstrengen zu müssen. Dieser Berg von einem Mann warf mich glattweg um. Auf den sollte ich aufpassen? Haha! Der verspeiste doch morgens zum Frühstück schon eine Kiste Dynamit und gurgelte mit Eisenspänen nach. Der Berg klirrte auf uns zu, musterte uns kurz, tippte mit der Linken an die Hutkrempe, sagte: »Hallo!«, ging zur Kutschtür, tippte wieder an die Hutkrempe, verbeugte sich, »Ma'am, meine Reverenz!«, schob die Eisenkassette über den Kutschboden auf die gegenüberliegende Seite, stieg hinterher, setzte sich Grace Walton gegenüber in die Ecke und stellte die Füße auf die Kassette. Mit einem Ruck zog er sich die Hutkrempe über die Augen, verschränkte die Arme, lehnte sich zurück und rührte sich nicht mehr.
»Was – was ist denn das für einer?« fragte der Dandy schockiert. »Ein Fahrgast«, sagte Charly. »Genau wie Sie. Sie können auch einsteigen. Wir sind vollzählig.« Er wuchtete die Gepäckstücke auf das Dach der Concord, kletterte auf den Bock und zurrte alles fest. Mit einer Plane wurden die Taschen und Koffer abgedeckt. Carmichel und Tulligan stiegen ein. Ich folgte mit Shita. Der Dandy, der sich neben Grace Walton niedergelassen hatte, fuhr hoch, als habe ihm jemand mit einer Stecknadel in den Hintern gepiekt. »Was denn?« schrie er. »Dieser Köter fährt auch mit?« »Unerhört«, sagte auch Mister Tulligan. »Man muß sich beschweren. Wo ist die Geschäftsleitung?« Ich tat weinerlich. »Mein Vater hat für mein Hundchen bezahlt. Und mein Hundchen soll auf mich aufpassen.« »Pff – Hundchen! Eine Pißtöle ist das«, sagte der Dandy aufgebracht. »Er hat meine Reisetasche benäßt, dieses ekelhafte Vieh.« Ich hätte ihm die Zähne einschlagen können und um ein Haar meinen Auftrag vergessen. »Es ist empörend«, mischte sich der dicke Tulligan wieder ein. »Eine Rücksichtslosigkeit sondergleichen. Und wie dieser Köter stinkt. Steig sofort aus, Junge.« »Nein«, sagte ich patzig. »Ich beschwere mich ja auch nicht darüber, daß dieser Mister da nach Pomade stinkt.« Der Marshal schob plötzlich seine Hutkrempe hoch und sah mich erstaunt an. Junge, Junge – paßte der auf. Hatte er bemerkt, daß ich gar nicht so blöd war, wie ich aussah? »Kutscher!« brüllte der dicke Tulligan und sah aus, als platze er gleich. Charly kletterte vom Bock und erschien vor der Tür. »Was gibt's?« fragte er brummig. »Der Bengel mit seinem Köter muß sofort den Wagen verlassen«, zeterte der dicke Tulligan. »So? Und warum?« Charly stemmte die Fäuste in die Hüften.
»Weil wir es wünschen.« »Wer ist ›wir‹?« »Wir alle hier«, erklärte Tulligan. »Mich ausgenommen«, sagte der Marshal und zog die Hutkrempe wieder über die Augen. »Mich auch«, sagte Grace Walton. »Ich mag Hunde und habe nichts dagegen, daß der Hund mitfährt. Wie heißt er denn?« »Shita«, sagte ich. »Ein schöner Name. Indianisch, nicht wahr?« »Ja, Ma'am«, erwiderte ich. »Dann ist ja alles klar«, sagte Charly. »Zwei sind dagegen, zwei dafür, also gibt es keine Mehrheit. Der Hund fährt mit.« »Ich wünsche sofort die Geschäftsleitung zu sprechen«, sagte der Dicke empört. Charly öffnete die Tür. »Bitte sehr, Mister. Über den Hof dort ins Hauptgebäude, zweiter Stock links. Wenden Sie sich an Mister Flatt. Sie können dann mit der nächsten Kutsche fahren. Die geht nächste Woche ab. Um ehrlich zu sein, ich würde mich sehr freuen, sollten Sie auf diese Fahrt verzichten.« »Was soll das heißen?« fauchte der Dicke. Charly ignorierte die Frage. »Wollen Sie sich nun beschweren, oder kann ich endlich abfahren?« »Fahren Sie«, sagte Mister Tulligan wütend. Charly warf die Wagentür krachend zu und stieg auf den Bock. Minuten später rollten wir durch verstopfte Straßen zum Missouri hinunter – und schon bahnte sich der nächste Krach an. * Wie es der Teufel wollte, fuhren wir vom Westrand der Stadt auf die Fährstelle unterhalb des Dampfschiffshafens zu, während sich zur selben Zeit von der Gegenseite ein Frachtwagen näherte, der ebenfalls zur Fähre gelenkt wurde, um übergesetzt zu werden. Und auf diesem Frachtwagen thronte Jack Tolan. Wahrscheinlich hatte ihn seine Frachtwagengesellschaft ebenso ausgelöst wie Cargo Flatt uns und sofort zu einer Fahrt eingesetzt.
Ich saß direkt am Fenster neben Mister Carmichel und dachte, mich laust der Affe. Ein Ruck durchlief die Concord, Charly brüllte wie eine Attacke von Blauröcken da oben auf dem Bock, er schwang die Peitsche und ließ sie auf die Pferderücken klatschen – was er sonst nicht tat –, und die Kutsche raste los. Jack Tolan auf dem Bock des Frachtwagens gebärdete sich genauso irre. Er drosch auf seine Gäule ein und brüllte womöglich noch lauter als Charly. Natürlich hatten sie sich erkannt. Und jeder wollte vor dem anderen an der Fähre sein, denn sie würde nur einen übersetzen. Für zwei Wagen plus Gespannen war sie zu klein. Der Marshal gähnte unter seinem breitrandigen Hut und zog ihn bis zur Nase herunter. Grace Walton stieß nur einen leisen Schrei aus und hielt sich an einer Schlaufe links an ihrem Fenster fest. Der dicke Tulligan mir gegenüber pumpte wie ein Ochsenfrosch, der Luft braucht, und der Dandy an meiner Seite kriegte das Zittern. Die Concord schlingerte über die Katzenköpfe und rappelte wie eine alte Nähmaschine. »Lauft, ihr Bastarde!« brüllte Charly. »Hüo! Jippijeii! Ihr dreimal verlausten Zwiebelchen! Zeigt's dem Hurensohn!« Die beiden Wagen donnerten aufeinander zu, und ich schloß die Augen. »Was – was …«, stotterte der Dandy neben mir. Die Concord kriegte deutliche Schlagseite und kurvte auf zwei Rädern nach links auf die Zufahrt zur Fähre ein. Ich blinzelte durch die Wimpern. Jack Tolan riß sein Gefährt nach links, um nicht mit uns zusammenzuprallen. Vor meinem Fenster flogen schäumende Pferdeköpfe vorbei, in denen grell das Weiß der Augen leuchtete. Ich hätte mit der Hand hinüberlangen können. Bruchteile von Sekunden später war der Spuk vorbei. Charly hatte es geschafft. »Langsam, ihr Zwiebelchen!« rief er und legte sich mächtig in die Gespannzügel. Die Bremsklötze knirschten an den Rädern, fast unmittelbar darauf gingen die Pferde wieder im Schritt und trotteten
über Holzbohlen auf die Fähre zu. Hinter uns tobte und schrie Jack Tolan. Ich verkniff mir ein Grinsen. Charly fuhr bis dicht an die Fähre heran, bremste die Concord dort ab und kletterte vom Bock. Der wollte doch nicht … Ich stieß die Tür auf und sprang nach draußen. Charly stampfte an mir vorbei und krempelte seine Hemdsärmel auf. »Dem geb ich's jetzt«, knurrte er mich im Vorbeigehen an. Ich sagte gar nichts. Was hätte ich diesem Idioten auch sagen sollen? »Was ist, denn nun wieder los?« nörgelte der Dandy. »Warum fahren wir nicht auf die Fähre. Erst geht's gar nicht schnell genug, und jetzt müssen wir hier warten.« »Pause«, sagte ich lakonisch. Und dann riß ich die Augen auf. Jack Tolan schlug mit der Peitsche vom Bock herunter auf Charly ein. Dessen Arm zuckte hoch, packte die Peitschenschnur, ein kräftiger Ruck, und schon flog Jack Tolan hinter seiner Peitsche her vom Bock. Der war was blöd! Er hätte die Peitsche bloß loszulassen brauchen. Im Fliegen war er auch nicht gut. Jeder einigermaßen wendige Mensch hätte im Flug versucht, den Sturz irgendwie abzufangen und sich beim Aufprall abzurollen. Jack Tolan segelte wie ein Frosch durch die Luft und platschte, alle viere von sich gestreckt, wie ein ausgebreiteter nasser Sack auf die Katzenköpfe. Die Peitsche hielt er immer noch fest. Charly entriß sie ihm und zerbrach sie. Er hatte viel Zeit. Jack Tolan schnappte nach Luft, die ihm der Aufprall aus den Lungen gejagt hatte. Dann zog er das linke Bein an, stützte sich auf und kam taumelnd hoch. Sein Gesicht war wutverzerrt. Charly grinste, langte mit der Linken zu, packte Jack Tolan am Halstuch, zog ihn zu sich heran und feuerte ihm die rechte Pranke ins
Gesicht. Wo Charly einmal hinschlug, wuchs kein Gras mehr. »Ogottogott«, ächzte der Dandy hinter mir. Er hing halb aus der Kutsche und schaute mit schreckgeweiteten Augen dem Schlachtfest zu. Denn Charly war tatsächlich dabei, Jack Tolan fertigzumachen. Er hatte ihn nicht losgelassen, sondern pflanzte ihm weitere Prankenhiebe aufs Gesicht. Die Nase sah sehr unschön aus und war keine Nase mehr. Ich glaube, Jack Tolan verlor stehend das Bewußtsein. Er knickte in den Knien ein, aber nicht weiter, weil Charly ihn festhielt. Er stemmte ihn etwas an, trug ihn wie ein abgeschossenes Kaninchen über den Bohlendamm, der zur Fähre führte, und tunkte ihn ins Wasser des Missouri. Ein paar Male – so wie Waschfrauen ein nasses Hemd in den Waschzuber stoßen, um es vorzuspülen, bevor sie es auswringen. Die Wringprozedur ersparte sich Charly allerdings. Er war ja auch keine Waschfrau. Und wenn er Jack Tolan ausgewrungen hätte, wäre bei dem kein Knochen heil geblieben. Aber er warf das Wäschestück Jack Tolan lässig vom Bohlendamm hinunter zum Strand, wo bereits allerlei Treibgut lag – zerbrochene Flaschen, tote Fische, Kistenholz, Äste, ein vergammelter Katzenkadaver, Muscheln und was ein Fluß wie der Missouri eben so alles an die Ufer schwemmt. Jack Tolan paßte prächtig in dieses Treibgut-Sammelsurium. Charly spuckte hinter ihm her, zog sich befriedigt die Hosen hoch, wischte seine Pranken aneinander ab und stapfte zur Kutsche zurück. Der Dandy war inzwischen ausgestiegen und starrte Charly mit einem Ausdruck entgegen, wie ihn manche Menschen zeigen, wenn sie etwas besonders Ekelhaftes sehen – zum Beispiel einen glitschigen Regenwurm oder in der Suppe irgendein Krabbeltierchen. Gleich heult er, dachte ich. Dieser Elton Carmichel war echt zum Kotzen. »Wollen Sie nicht mehr mitfahren?« fragte Charly tückisch und zugleich voller Hoffnung, der Kerl würde sich wirklich trollen. Ich hoffte das gleiche. »Sie – Sie Raufbold!« schrie der Dandy. »Vorsichtig«, sagte Charly. Er deutete mit dem Daumen über die
Schulter. »Wenn diese Mistfuhre vor uns an der Fähre gewesen wäre, hätten wir hier eine Stunde warten können. Geht das in Ihr parfümiertes Gehirn?« »Sie – Sie haben den armen Menschen totgeschlagen!« »Quatsch.« Charly grinste verächtlich. »Jack Tolan ist kein armer Mensch, sondern der übelste Streithammel von St. Joseph. Und totgeschlagen habe ich ihn schon gar nicht, nur ein bißchen herumgestoßen. Wollen Sie nun einsteigen oder zu Fuß über den Missouri laufen?« Der Dandy entschloß sich für das erstere – leider. Und ich wußte, daß wir mit dem noch viel Spaß haben würden. Sehr viel später, als alles vorbei war, fiel mir ein, was ich in diesem Augenblick an der Fähre gedacht hatte. Es wurde nämlich keineswegs spaßig.
4. Das große Wort in der Kutsche führten der dicke Tulligan und der Dandy Carmichel. Ich kriegte aus der Unterhaltung spitz, daß Tulligan Spielhallen betrieb und die Absicht hatte, auch in Lincoln in Nebraska solche Betriebe aufzuziehen. Wie gesagt, er stank vor Geld, genauso wie seine Zigarre, die er allerdings sehr schnell ausdrückte, als Mrs. Walton etwas blaß wurde und der US Deputy Marshal – ohne überhaupt den breitrandigen Hut über die Augen hochzuschieben – sehr laut und deutlich in die Unterhaltung eingriff und sagte: »Scheiß Gestank!« Bitte sehr. Marshal Fuller hatte weder gesehen, daß Mrs. Walton blaß wurde, noch irgendwie registriert, wer was rauchte. Er lehnte in seiner Ecke, die Stiefel auf der Kassette, die Arme über der Brust verschränkt, den Hut tief im Gesicht. Meine Achtung vor ihm stieg ins Ungeheuerliche. Es war lediglich der Klang seiner Stimme, die Mister Tulligan bewog, seiner Zigarre den Todesstoß zu versetzen. Diese Stimme war Eis. Ich konnte sehen, wie der dicke Tulligan fröstelnd die Schultern hochzog und sich widerspruchslos fügte. Das Zigarrenproblem war also gelöst, noch bevor es ein wirkliches
Problem geworden war. Denn irgendwann hätten Mrs. Walton und ich um frische Luft bitten müssen. Der Dandy vielleicht auch. Mister Tulligan zerquetschte die Zigarre, indem er seine feisten Schenkel spreizte, das Stinkdings auf den Boden warf und den linken Stiefelabsatz so lange darauf hin und her drehte, bis nur noch Tabakmus übrigblieb. Shita schnüffelte angewidert. Er lag vor meinen Füßen, seine Schnauze befand sich dicht vor den kläglichen Resten der Zigarre. Sie war bestimmt sehr teuer gewesen. Der Missouri lag hinter uns. Die Concord rollte nordwestwärts über die Overland-Straße – Overland-Straße im heutigen Sinne. Sie war damals mehr ein Karrenweg, über den bisher ein paar hundert Wagen gezogen waren und links und rechts eine Furche gegraben hatten. Die Pause nach dem »Scheißgestank« war leider nur von kurzer Dauer. Auch heute frage ich mich manchmal, warum Menschen immer soviel reden müssen – bestimmte Menschen. Denn der Marshal war ausgesprochen maulfaul, oder er tat nur so. Mrs. Walton verhielt sich ebenfalls still. Na ja, ich bin keine Frau. Und bis auf den heutigen Tag wird es mir ein Rätsel bleiben, was und wie eine Frau empfindet, wenn jener Zeitpunkt ganz nahe rückt, der für ein kleines menschliches Wesen die Geburtsstunde bedeutet. Ich schielte zu ihr hinüber. Sie hatte die Augen geschlossen, ihre Lippen waren etwas zusammengepreßt. Und dennoch erschien es mir, als lächle sie ein klein wenig. Sie sah sehr schön aus. Mehr einsilbig hatte sie auf eine Frage Tulligans, kurz nachdem wir die Fähre verlassen hatten, geantwortet, sie befände sich auf dem Weg nach Omaha, wo ihr Mann bei der Eisenbahn arbeite. Dort auch wolle sie ihr Kind zur Welt bringen. Und jetzt, nach der Schweigepause, sagte der parfümierte Dandy zum Marshal: »Äh, Mister … Wie war doch gleich Ihr Name?« Die eisige Stimme unter der Hutkrempe sagte: »Fuller. US Deputy Marshal.« Der Dandy zuckte zusammen und kicherte nervös. »Oh, und in der Kassette sind sicherlich Steckbriefe, nicht wahr?« »Nein. Hosenknöpfe!«
Das saß. Und Marshal Fullers Stimme war noch um einige Grade eisiger geworden. Erst jetzt schob der Marshal sehr langsam die Hutkrempe hoch und fixierte den Dandy. Er tat es mit einem Blick, dessen frostige Kälte den Dandy glattweg vereiste. »Und wie war Ihr Name, Mister?« Der Dandy schrumpfte in sich zusammen. »Carmichel, Elton Carmichel, Marshal.« »Soso, Carmichel. Doch wohl nicht jener Carmichel, der reiche Witwen zum Traualtar führt, sie eine knappe Woche lang in selige Entzückung versetzt und anschließend mit Schmuck und Bargeld auf Nimmerwiedersehen verschwindet?« Ich hielt die Luft an. Der Dandy war käseweiß geworden, zerrte sein Tüchlein aus der Brusttasche und tupfte die feinen Schweißperlen von seiner Stirn. Etwas zu schrill sagte er: »Das – das muß ein Irrtum sein, Marshal, also wirklich …« Er versuchte zu lachen, und das ging restlos daneben. »So – so leicht wird man mit jemandem verwechselt, der denselben Namen hat und vielleicht auch so aussieht.« »Wie aussieht?« Die Stimme des Marshals war so erbarmungslos wie der Tod. »Wie – wie – wie der Namensvetter.« Elton Carmichel schien die Absicht zu haben, durch den Boden der Concord hindurchzusteigen, Mutter Erde zu küssen und flugs als Maulwurf zu versuchen, das jenseitige Ende dieser Erde zu erreichen – etwa in China, ich weiß das nicht so genau. Wenn ich erwartet hatte, daß der US-Deputy-Marshal jetzt den Heiratsschwindler Elton Carmichel verhaftete, so sah ich mich getäuscht. Er hätte es tun sollen. Vielleicht wäre alles ganz anders verlaufen. Aber der Marshal gähnte den Dandy nur an und sagte: »Was sind Sie doch für ein Glückspilz.« Und damit verschwand sein Gesicht wieder hinter der Hutkrempe. Heute weiß ich es. Der Marshal sollte eine Kassette mit unheimlich viel Geld für die Siouxreservationen nach Minnesota bringen. Da konnte er sich nicht
mit so miesen Typen wie Elton Carmichel aufhalten. Sein Auftrag war bindend, nichts anderes. Als Marshal Fuller den Vorhang seiner Hutkrempe wieder gesenkt hatte, sackte der Dandy wie erlöst in sich zusammen. Mrs. Walton rückte ein deutliches Stück von ihm ab – ich auch. Mister Tulligan grinste breit und beugte sich interessiert vor. »Sie reisen nach Lincoln, Mister Carmichel?« fragte er ölig. »Ja.« Das klang sehr schwach. »Ich habe da gewisse Pläne, mein Lieber«, sagte das feiste Stinktier. »Wir sollten uns darüber unterhalten – natürlich nicht jetzt – Sie verstehen. Wegen der Diskretion.« Er warf einen schnellen Blick nach rechts zum Marshal und grinste dann vertraulich. Schau einer an, dachte ich, die beiden haben sich gesucht und gefunden. Sicherlich waren sie nicht Galgenvögel im üblichen Sinne und Gewaltverbrecher schon gar nicht. Der Dandy konnte kein Blut sehen, und wie ich den feisten Tulligan einschätzte, war er bestimmt keiner von der rauhen Sorte. Aber eins gelang den beiden garantiert: den Dummen auf dieser Erde das Fell über die Ohren zu ziehen. Für des Marshals Kassette waren sie ungefährlich. Allein Fullers Persönlichkeit war da Garantie genug. Das hing nicht nur mit der Autorität seines Amtes zusammen. Ich schloß die Augen und hörte nur noch mit halbem Ohr zu, über was die beiden palaverten. Sie regten sich mächtig über den Präsidentschaftskandidaten Abraham Lincoln auf, den die Republikaner für die Präsidentenwahlen im November nächsten Jahres aufgestellt hatten. Ich gestehe, daß ich damals, 1859, nicht den blassesten Schimmer hatte, was ein Republikaner und was ein Demokrat war. Woher sollte ich das auch wissen? Daß dieses Land regiert werden mußte, leuchtete mir ein, auch wenn ich gewisse Zweifel hegte, ob sich meine roten Brüder darüber freuen würden. Einen Mister Präsidenten hatte ich noch nie gesehen – er war mir so fern wie der Kaiser von China. Nur als die beiden plötzlich über die Indianer sprachen, wurde ich noch einmal munter. »Man sollte sie alle massakrieren«, sagte der feiste Tulligan.
Mit dieser Feststellung hatte er bei mir endgültig ausgespielt. Und in diesem Moment vergaß ich meine Trottelrolle. »Die Indianer sagen das gleiche von den Weißen«, erklärte ich laut und deutlich. Für einen Moment schwiegen die beiden verdutzt und starrten mich an. Der Marshal rührte sich nicht. Der feiste Tulligan fauchte: »Halt's Maul und red nicht über Dinge, die du nicht verstehst!« »Mehr als Sie«, sagte ich patzig, »schließlich habe ich einige Jahre bei den Indianern gelebt.« Vergessen waren meine Sätze, daß ich zart sei, nicht schwer heben dürfe, mir leicht schwindlig würde und mein »Hundchen« auf mich aufpassen müsse. Einmal in Fahrt, gab's kein Bremsen mehr. »Ich bin unter Mangas Coloradas und Cochise geritten – als Krieger. Ich habe erlebt, wie ein Teil meines Stammes niedergemetzelt wurde, ›massakriert‹, wie Sie es nennen. Sie feister Fettkloß haben nicht das Recht, so über die Indianer zu sprechen. Wer sind Sie denn? Ein mieser Tingeltangelbesitzer, der anderen das Geld aus der Tasche klaut – Leute Ihrer Sorte sollten massakriert werden!« Der Dicke war zuerst sprachlos. Dann lief er rot an. Der Dandy hatte wieder nervöse Zuckungen, vielleicht dachte er, ich würde ihn gleich skalpieren. Mrs. Walton lugte neugierig zu mir herüber und hatte ein erstauntes Gesicht. Und der Marshal hatte seine Hutkrempe hochgeschoben. Er musterte mich aus seinen pulvergrauen Augen und schien sich innerlich zu amüsieren. »Ich soll dir wohl den Hintern versohlen?« fuhr mich der dicke Tulligan an. »Nur zu«, sagte ich kalt. »Sie wären nicht der erste Weiße, den ich abmurkse. Wenn ich eins bei den Apachen gelernt habe, dann das, mich meiner Haut zu wehren. Beim nächsten Halt stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.« Jetzt wurde der Dicke käsig. Shita knurrte seine Stiefel an, und er zog sie hastig zurück. »Zwei Bestien!« ächzte der Dandy. »Wir reisen mit zwei
Bestien!« Ich konnte nur grinsen. »Unglaublich – diese Jugend«, sagte der dicke Tulligan. Der Marshal, dieser granitharte Mann, tat etwas anderes. Er lachte. Er lachte so laut, daß die Fenster-Scheiben klirrten. Und Mrs. Walton lächelte vergnügt. Mister Tulligan und Mister Carmichel schwiegen pikiert und vermieden es geflissentlich, einen von uns anzusehen. Wir existierten nicht mehr. * Am Nachmittag passierten wir die Nebraska-Grenze. Die Concord rollte über weite, unbesiedelte Ebenen. Um uns war nichts als grenzenlose Einsamkeit. Mrs. Walton schlief. Der Marshal hatte sich wieder hinter seinem breitrandigen Hut versteckt. Mister Tulligans Kopf hing vornüber und wackelte im Takt der Räder. »Der Dandy« rutschte bereits zum achten Mal auf mich, roch nicht mehr so stark nach Pomade und Veilchen, dafür aber mehr nach Schweiß. Als er zum neunten Mal bei mir Halt suchte, schob ich ihn energisch nach links, und er wachte auf. Erst stierte er mich blöde an, als kapiere er nicht, wo er sei, dann zog er blasiert die rechte Augenbraue hoch und sagte: »Du hast mich eben gestoßen.« »Huch«, sagte ich. »Hat's weh getan?« Er befeuchtete seine ziemlich roten Lippen mit der Zunge und war schon wieder eingeschnappt. Ich fragte mich, was das für Witwen seien, die auf diesen Typ hereinfielen. Er hüstelte hinter der vorgehaltenen Hand. An seinem kleinen Finger funkelte ein Brillantring. Der gehörte bestimmt einer seiner Witwen. »Schöner Ring«, sagte ich. »Haben Sie den bei 'ner Witwe abgestaubt?« Er wurde knallrot. O Heiland! Ostentativ starrte er nach links aus dem Fenster. Seine rechten Finger trommelten einen müden Marsch auf seinem Schenkel. Überhaupt diese Finger. Sie waren lang und dünn, die Nägel waren
poliert und auch ziemlich lang. Vielleicht streichelte er mit denen die Witwen, und deshalb zerschmolzen sie. Würde er mich mit diesen Spinnenbeinen streicheln, würde ich ihm eine scheuern. Es war eine merkwürdige Welt, diese Welt der Weißen. Wieviel Zeit mochte dieser Affe damit verplempern, seine Fingernägel zu polieren? Ich betrachtete meine Fingernägel, fand an ihnen aber nichts Besonderes. Irgendwann döste ich ein. Das Loch über mir war genauso plötzlich da wie das über dem Hut des Marshals. Der Knall war nur schwach zu hören und ging im Poltern der Wagenräder und Klappern der Hufe unter. Der Marshal reagierte wie eine zustoßende Viper. Wie durch Zauberei hatte er den schweren Colt in der Faust und sagte: »Ma'am, Gentlemen, bitte verlieren Sie nicht die Nerven. Es wird jetzt rauchig.« Charly reagierte ebenfalls. Seine Peitsche knallte. Brüllend feuerte er seine »Zwiebelchen« an, »gefälligst die Ärsche zu heben und nicht einzuschlafen«. Die Concord-Kutsche donnerte los. Durch das Kugelloch über dem Kopf des Marshals fuhr ein scharfer Luftzug. Mister Tulligan und Mister Carmichel sahen derart blöd aus, daß ich mit ihnen nicht mehr konkurrieren konnte. Für Mrs. Walton mußte es furchtbar sein. Aber sie biß die Zähne zusammen. Als ich meinen Navy-Colt aus dem Hosenbund angelte, verdrehte Mister Tulligan die Augen und für einen kurzen Moment sah es aus, als habe er die Absicht, in Ohnmacht zu fallen. Und Mister Carmichel zog zwar keine Waffe, aber sein Seidentüchlein, um sich den Schweiß von der Stirn zu tupfen. Es waren vier Kerle, die wie die Teufel hinter uns herritten. Zwei hinten links, zwei hinten rechts. Ihr einer Schuß war wohl ein Warnschuß gewesen. Aber oben auf dem Kutschbock saß Charly McClister, der beste Kutscher der »Russell, Majors und Waddell«, und der war mit Warnschüssen nicht zu beeindrucken und anzuhalten schon gar nicht.
»Laß sie dichter heran!« rief mir der Marshal zu. Ich nickte nur. Mister Tulligan stierte mit schreckgeweiteten Augen durch das Fenster nach hinten. »Warum fährt der Kutscher denn nicht schneller?« jammerte er. »Maul halten«, sagte der Marshal scharf. »Haben Sie keine Waffe, Mister?« »Dooch, aber oben in meinem Gepäck.« »Idiot«, sagte der Marshal sachlich. »Ich will hier raus!« zeterte Mister Carmichel. »Der Kutscher soll sofort anhalten.« »Nehmen Sie sich zusammen, Sie Witwentröster«, sagte der Marshal eisig. »Haben Sie wenigstens eine Waffe?« »N-nein, oder doch, vielleicht …« »Na, was denn?« fuhr ihn der Marshal an. O Himmel! Der Dandy fummelte in seinen Taschen herum und holte ein Taschenmesserchen heraus. Und was für ein Messerchen! Mit zwei Klingen, einer Schere und einer Feile für die Fingernägel. Der Marshal vergaß für einen Augenblick, aus dem Fenster zu sehen. Er starrte auf das Messerchen, das der Dandy in der zitternden Hand hatte, und sah zum ersten Male verblüfft aus. Dann blickte er zu mir hinüber und sagte: »Ist das noch zu fassen?« Ich grinste ihn an und sagte: »Aber ja doch. Die Waffe eines Witwentrösters, die braucht er, um seinen Fingernägeln den nötigen Schliff zu geben. Und mit der großen Klinge streicht er sich die Pomade aufs Haar, wie man Butter aufs Brot schmiert.« Der Marshal grinste zurück. »Genau. Das ist es. Wie heißt du, Junge ?« »Ronco.« Er kniff die Augen zusammen. »Kein Nachname?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wer ich bin.« Eine schöne Unterhaltung! Links und rechts hinter der Concord rasten vermutlich Banditen her, ebenso vermutlich scharf auf die Kassette des Marshals, die ja laut Cargo Flatt »wie Aas auf die Schmeißfliegen« wirken mußte, und wir palaverten im Lärm der
dahindonnernden Kutsche über meinen Namen und die Vorzüge eines Taschenmesserchens für einen Witwentröster. Draußen flogen Büsche und Strauchwerk vorbei. Nordwestlich unterbrach eine Hügelkette die Monotonie der endlosen Ebenen. Auf sie jagte Charly mit der Concord-Kutsche zu. Er drosch wie wild auf die Gespannpferde ein. Dennoch holten die vier Kerle ganz, ganz langsam auf. »Entschuldigung, Ma'am«, sagte der Marshal, »aber ich schätze, ich muß jetzt das eine Fenster hier herunterlassen.« »Bitte«, sagte Mrs. Walton. »Was sein muß, muß sein, nicht wahr?« »Danke.« »Ich protestiere!« schrie Mister Tulligan. »Ich auch!« echote Mister Carmichel. Der Marshal grinste nur. Es sah aus, als fletsche ein Wolf die Zähne. Die beiden verstummten sofort. Ich setzte mich auf die andere Seite mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und ließ das Fenster herunter. Der Marshal tat auf seiner Seite das gleiche. Sofort erfüllte kalte Zugluft das Innere der Kutsche. Es ging auf den Abend zu. Mister Carmichel zitterte und bibberte. Und Mister Tulligan erklärte zum soundsovielten Male, er werde sich bei der Geschäftsleitung beschweren. Der Marshal hatte zwar Nerven wie Stahl, aber unverkennbar erwog er, den beiden Jammerlappen eins auf den Schädel zu geben. Ich hätte das an seiner Stelle schon längst getan, aber er hatte das Kommando. Jetzt war es zu spät, denn die vier Kerle hatten eine Distanz zur Kutsche erreicht, die es ratsam erscheinen ließ, die Waffen sprechen zu lassen. Der Marshal nickte mir zu. »Packen wir's?« Ich nickte zurück, duckte mich etwas und hob die Waffe mit beiden Händen. Der vordere der beiden Reiter auf meiner Seite schrie seinem Kumpan etwas zu. Beide mochten noch so etwa vierzig Yards hinter uns sein. Ich bezweifelte, auf diese Entfernung einen Treffer zu erzielen, und hätte jetzt lieber eine Sharps in den
Fäusten gehabt, Ich visierte den vorderen Reiter an. Rechts neben mir hämmerte der Colt des Marshals los. Mister Tulligan schrie entsetzt, hampelte herum und stieß mich genau in dem Moment an, als ich durchzog. Mist! Meine Kugel bohrte ein Loch in den Himmel. Ich hätte den Dicken erwürgen können. Die beiden Reiter auf meiner Seite fielen zurück. Ich warf einen schnellen Blick auf die Seite des Marshals hinüber. Er hatte tatsächlich einen aus dem Sattel geholt. Der Mann hing mit dem einen Bein noch im Steigbügel und wurde von dem durchgehenden Pferd über den Boden geschleift. Aus der Art, wie der Kerl da hing und mitgezerrt wurde, war ersichtlich, daß er entweder bewußtlos oder tot war. Sein Pferd galoppierte von der Kutsche in einem weiten Bogen weg und verschwand hinter einer Staubwolke. »Einer weniger«, sagte der Marshal. Wie er es sagte, mußte sich der jetzt auf dem Weg zur Hölle befinden. »Und bei dir?« »Keiner weniger«, erwiderte ich wütend. »Ich hab den Schuß verrissen, weil mich dieser blöde Fettsack angestoßen hat.« »Setzen Sie sich auf Roncos Platz, Tulligan!« pfiff der Marshal den Dicken an. »Und Wenn Sie sich noch einmal mucksen, mach ich Hackfleisch aus Ihnen. Das gilt auch für Sie, Carmichel!« Tulligan zog den Kopf ein und wechselte widerspruchslos den Platz. Seine Gesichtsfarbe war jetzt teigig bis grau. Die des Dandys übrigens auch. »Scheißkerle«, murmelte der Marshal. Dem konnte ich nur aus vollem Herzen beistimmen. Ich linste aus dem Fenster und zuckte zusammen. Der eine der beiden Kerle auf meiner Seite hatte ein Gewehr aus dem Scabbard gezogen und lenkte sein Pferd von der Kutsche weg. Außerhalb der Reichweite meiner Waffe holte er auf und ritt parallel zu unserer Fahrtrichtung. Der Marshal hatte ihn auch entdeckt und murmelte einen Fluch. Er wußte genauso wie ich, was der Kerl im Sinn hatte. Auch Charly oben auf dem Kutschbock kannte das Spiel. Natürlich hätte er die Concord von dem Overlandtrail nach links
weglenken können – wenn dort einigermaßen passierbares Gelände gewesen wäre. Aber zwischen dem Strauch- und Buschwerk, den Stein- und Felshindernissen wäre die Kutsche bei dieser Höllenfahrt unweigerlich umgeworfen worden. Aber das blühte uns sowieso – sobald der Kerl auch nur eins unserer vier Gespannpferde abschoß. Genau damit fing er jetzt an. In vollem Galopp hob er das Gewehr an die Schulter und feuerte. Aus der Laufmündung stach eine rote Flamme. Vorbei! Charly brüllte und tobte auf dem Kutschbock. Die »Zwiebelchen« schäumten. Weiße Flocken flogen am Fenster vorbei. Das Schütteln, Stampfen und Schlingern der Concord war höllisch. Ich schaute besorgt zu Mrs. Walton hinüber. Sie hatte die Zähne in die Unterlippe gegraben, ihre Gesichtshaut hatte einen Elfenbeinton. Ganz klein und etwas verkrümmt hockte sie in der Ecke, als könne sie das Kind in ihrem Leib auf diese Weise besser schützen. »Halleluja!« Ich wandte den Kopf nach links und starrte den dicken Tulligan verdutzt an. Er hatte die feisten Finger gefaltet und stierte mit verdrehten Augen zur Decke. »Halleluja – Aller Augen warten auf dich, o Herr, du gibst ihnen ihre Speise zu seiner Zeit. Du tust deine Hand auf und erfüllest alles, was lebet, mit Wohlgefallen …« Der Marshal langte an mir vorbei und schmierte dem Dicken ein Ding auf die Wabbelbacken, daß es nur so krachte. Alle fünf Finger waren auf der teigigen Haut zu sehen, erst sehr weiß, Sekunden später knallrot. Mister Tulligans Augen füllten sich mit Tränen, er hielt sich die Wange, sein Mund schnappte nach Luft. »Beten können Sie später«, sagte der Marshal frostig. Zwei Schüsse peitschten links von mir. Ich sah gerade noch, daß auch der zweite Reiter auf meiner Seite gefeuert hatte. Diesmal trafen sie. Es geschah alles in Bruchteilen von Sekunden. Die Concord kurvte nach links weg, geriet vom Trail, ein Krachen und Splittern
ertönte, das von schrillem Wiehern durchbrochen wurde, die Kutsche kippte nach rechts, nach links, wir flogen durcheinander, ein berstender Krach folgte, irgend jemand quiekte entsetzlich – und über mir schlug die Wagentür auf. Ich stieß mich hoch und hechtete nach draußen. Noch im Fallen sah ich einen undeutlichen Schatten heranjagen. Als ich aufprallte, feuerte ich bereits. Jemand schrie auf, galoppierender Hufschlag entfernte sich. Ich lag neben einem Strauch und hatte das Gefühl, sämtliche Knochen gebrochen zu haben. Links vor mir kläffte Shita wie verrückt. Er tobte um irgend etwas herum und schnappte danach. Ich kroch hin. Ja, ich konnte meine Knochen noch bewegen. Shita knurrte das Etwas da vor mir an, und ich sah, daß es ein Gewehr war, ein Colt-Revolvergewehr. Der Kerl, auf den ich im Fallen geschossen und den ich wohl auch angekratzt hatte, mußte es verloren haben. Ich schnappte mir das Ding und fühlte mich schon etwas wohler. »Ronco?« Das war Charlys Stimme. Dem Klang nach platzte er vor Wut. Auf dem Bauch drehte ich mich um. Charly stieg zerfetzt und mit ein paar blutigen Schrammen im Gesicht aus einem Busch. Ein Schuß krachte. Charly lag wie der Blitz flach und fluchte. Der Schuß war links von mir gefallen. Ich blickte mich weiter um. Shita lag an meiner Seite und hechelte. Die Kutsche war auf die linke Seite gestürzt. Gerade wuchtete der Marshal die Kassette nach draußen und warf sie zu Boden. Dann stieg er wieder zurück und hob Mrs. Walton heraus. Merkwürdigerweise hatten zwei der Gespannpferde das Schlamassel unbeschadet überstanden. Sie schnaubten ängstlich. Die beiden anderen Pferde hingen halb liegend verkrümmt im Geschirr. Eine wüste Schleifspur verlief vom Overlandtrail bis zu der Stelle, wo die Kutsche umgekippt war. Der Marshal hastete gebückt, Mrs. Walton auf beiden Armen, in meine Nähe und bettete sie in einer Kuhle. Grace Walton war ohnmächtig. Quer über ihre Stirn verlief eine Prellung.
Ein Schuß peitschte auf, dann noch einer. Der Marshal warf sich hinter die Kassette. Das eine Pferd brach lautlos in die Knie. Das andere stieg schrill wiehernd hoch, zerrte an der Deichsel, kippte zur Seite, schlug mit den Hufen – und verendete zuckend. Links von mir, wo der erste Schuß gefallen war, der Charly gegolten hatte, bewegte sich das Gebüsch. Ich wälzte mich hastig herum und feuerte mit dem Revolvergewehr. Ein schwarzbärtiger Kerl wuchs aus dem Gestrüpp, den Mund wie zum Schrei aufgerissen. Er krallte in Brusthöhe die Hände in sein Hemd. Ich sah, wie Blut zwischen seinen Fingern hervorsickerte. Der Mann taumelte auf mich zu. Er hatte einen knochigen Totenschädel, eine schiefe, zerquetschte Nase und Stummelzähne. Marshal Fuller feuerte. Und da knickte der Mann sehr langsam in den Knien ein und kippte vornüber. »Nur noch zwei«, sagte der Marshal. Er schob die Kassette vor sich her und rutschte zu mir herüber. Charly stellte sich auch ein. Er robbte, ein Messer quer im Mund, zu der Kuhle, in der Mrs. Walton lag. Unsere Gespannpferde waren tot. Von Mister Tulligan und Mister Carmichel hätte man das nicht behaupten können. Sie tobten in der Kutsche herum und schienen sich gegenseitig beim Aussteigen zu behindern. Der Witz war nur der, daß die Ausstiegluke – der rechte Wagenschlag, durch den ich als erster und nach mir der Marshal mit Mrs. Walton entkommen waren – jetzt im Schußbereich der beiden letzten Banditen lag. Als die beiden Idioten zu toben begannen, pflanzten die Kerle ein paar Schüsse dorthin. Glas splitterte. Dort, wo sich das Trittbrett befand, zerspellten die Kugeln Holz und rissen Späne heraus. Die beiden konnten die Kutsche also nicht verlassen, wurden in ihrem Inneren aber relativ kugelsicher abgeschirmt. Als sie kapiert hatten, daß sie ihre Köpfe nicht zeigen durften, gaben sie zwar das Aussteigen, nicht aber das Lamentieren auf. Und irgendwann ging Mister Tulligan wieder zum Gebet über. Sein »Halleluja« war so falsch wie eine Perücke – oder anders: Es klang, als versuche ein Esel zu gackern. Ich hätte mir die Ohren zuhalten können. Falsche Töne bewirken
bei mir so etwas Ähnliches wie Zahnschmerzen. Nicht nur bei mir. Fast erleichtert hörte ich, wie der Marshal ächzte. Er sagte: »Dieser Tulligan raubt mir den letzten Nerv.« »Mir auch«, sagte ich. Und Charly sagte: »Dem bringe ich noch das Beten bei.« Das war reiner Optimismus. Die Kutsche war im Eimer, die vier Gespannpferde waren tot. Wo die nächste Postkutschenstation war, mochte der Teufel wissen. Zwischen uns lag eine bewußtlose, hochschwangere Frau, irgendwo in den Büschen lauerten zwei Banditen, die scharf auf die Kassette des Marshals waren – und in der Kutsche befanden sich noch zwei Männer, von denen der eine sein Heil im Gebet suchte, während sich der andere vermutlich in die Hosen machte. Es begann zu dunkeln.
5. »Marshal!« brüllte eine Stimme, die zu einem Ochsen zu gehören schien. »Du sitzt ganz schön in der Tinte, falls du das noch nicht begriffen hast.« »Haha!« rief der Marshal zurück. »Zwei von euch sind bereits ein Fraß für die Geier, und für euch beide sind die Kugeln schon gegossen.« »Rück die Kassette heraus, und ihr könnt abhauen!« rief der Kerl. »Was für eine Kassette?« fragte der Marshal. »Die du bei dir hast!« »Weißt du denn was drin ist?« »Klar.« »Was denn?« »Bucks, mein Lieber, herrliche Bucks. Ein Vöglein zwitscherte mir, daß es Gelder für die Scheißinjus oben in Minnesota seien. Was sagst du jetzt?« »Irrtum!« schrie der Marshal. »Dein Vöglein hat einen Vogel. In der Kassette befinden sich Regierungsakten für bestimmte Verhandlungen mit den Sioux.«
»Und warum sind die in einer eisernen Kassette?« »Weil sie geheim sind, du Ochse!« schrie der Marshal. »Und weil du wahrscheinlich weder lesen noch schreiben kannst, sind sie für dich sowieso witzlos. Trollt euch, oder ihr seid bald nur noch tot.« Schweigen. Dann knallte ein einzelner Schuß. Er prallte auf die Kassette und wimmerte jaulend in den Abendhimmel. Die Kassette hatten sie also im Visier. Und hinter ihr lag der Marshal. Als Deckung war das Eisendings ja gut, andererseits wirkte es wie ein Magnet auf die Galgenvögel. Ich feuerte dorthin, von wo die Stimme erklungen war. Die Antwort war ein höhnisches Lachen. Wo steckte der zweite Kerl? Befand er sich bei dem Wortführer, oder kroch er hier irgendwo durch die Gegend, um uns von hinten zu erwischen? Wir mußten uns rundum verteidigen oder die beiden Kerle angreifen. Aber angreifen hatte nur Zweck, wenn wir ihren Standort kannten. Allmählich wurde mir doch warm. »Hast du keine Waffe?« flüsterte ich zu Charly hinüber. »Unter dem Kutschbock, verflucht«, flüsterte Charly zurück, »'ne Sharps. Ich konnte sie mir nicht mehr schnappen, als ich vom Bock flog.« Ich schob ihm das Colt-Revolvergewehr zu. »Nimm das solange. In der Trommel sind noch fünf Schuß.« »Ronco!« raunte der Marshal. »Ja?« »Wie gut ist dein Hund?« Ich kapierte sofort und hätte selbst draufkommen müssen. Shita konnte einen oder beide Kerle hochscheuchen – dann hatten wir sie vor den Läufen. Aber es war riskant. Nicht für uns, für Shita. Ich überlegte nur ein paar Sekunden. Als Mrs. Walton stöhnte, entschied ich mich. »Such sie!« flüsterte ich Shita zu. »Verbell die Kerle, aber wenn du einem an die Gurgel gehst, versohl ich dir das Fell, verstanden?« Shita war mit einem Satz weg und verschwunden. Ich lauschte. Der verdammte Mister Tulligan leierte seine Gebete herunter, zwar nicht sehr laut, aber wiederum auch nicht leise genug, um es zu
überhören. Es störte meine Konzentration auf die Geräusche rings um uns herum. Es war zum Ausder-Haut-Fahren. »Tulligan!« schrie der Marshal. »Hören Sie mit Ihrem verdammten Salbadern auf.« Das Geleiere verstummte, und ich atmete auf. Ich sah, wie der Marshal seinen breitrandigen Hut abnahm, ihn auf einen Stock setzte und über den Rand der Kassette schob. Nichts. Kein Schuß fiel. Dafür aber schien Shita Erfolg zu haben. Rechts hinter mir brüllte ein Mann auf, Sekunden später hörte ich das gefährliche Knurren von Shita. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie der Marshal im Liegen herumwirbelte, aufsprang und geduckt loshetzte. Hinter dem Marshal krachten zwei, drei Schüsse. Er stolperte. Charly fuhr wie ein Blitz hoch, das Revolvergewehr im Hüftanschlag, und feuerte in das Gebüsch, aus dem die drei Schüsse aufgeflammt waren. Dort schrie jemand auf. Ich hörte Schritte und sah ganz flüchtig einen Schatten, auf den ich schoß. Der Mann schrie noch einmal. Aber dann war er in der Dunkelheit verschwunden. Kurz darauf hörte ich Hufschlag. Shita kläffte wie wild. Der Marshal schob sich wie ein Wurm über den Boden. Der Mann, den Shita aufgespürt hatte, fluchte, schrie nach seinem Kumpan, der die Flucht ergriffen hatte, und erschien tanzend und um sich schlagend etwa dreißig Yards entfernt von uns neben einem Sandwall. Shita raste wie verrückt um ihn herum. »Hierher, Shita!« schrie ich. Der Marshal feuerte im Liegen. Ich sah, wie die Treffer den Kerl durchschüttelten. Marshal Fuller schoß seine ganze Trommel leer. Die einzelnen Schüsse klangen fast wie einer. Ich habe noch nie einen Mann so schnell schießen sehen. Der Kerl stolperte, ruderte mit den Armen und flog in ein Gebüsch. Dort blieb er bäuchlings hängen. Der Marshal kniete und verharrte so. Sein Kopf war gesenkt, als betrachte er etwas vor sich auf dem Boden. Ich lief zu ihm hin und entdeckte entsetzt den riesigen Blutfleck
auf seinem Rücken. Als er meine Schritte hörte, drehte er etwas den Kopf. »Kassette – aufpassen …« »Ich weiß Bescheid«, stieß ich hastig hervor, »Regierungsgelder für die Siouxreservate.« Etwas wie ein Lächeln huschte über das blutige, schmerzverzerrte Gesicht des Marshals. »Ihr – ihr seid – beide – gut, du und – dein Hund …« Er würgte, und ein Blutstrahl schoß aus seinem Mund. »Nicht mehr sprechen, Marshal, wir bringen Sie durch.« Meine Stimme klang brüchig. Neben mir erschien Charly und blickte mich fragend an. Ich schüttelte unmerklich den Kopf. Unglaublich. Der Marshal stand plötzlich schwankend auf, nickte uns zu – und dann brach er wie von einer Axt gefällt zusammen. Als wir uns über ihn beugten, starrte er aus glanzlosen Augen in den Nachthimmel. Charly drückte ihm die Augen zu. Ohne ein weiteres Wort richtete er sich auf, ging zu der umgestürzten Kutsche und holte eine Schaufel. Behutsam löste ich den Colt aus der rechten Hand des Marshals. Ich ging zu dem toten Banditen im Gebüsch, zerrte ihn heraus und drehte ihn auf den Rücken. Alle Schüsse saßen im Herzen. An seinem rechten Handgelenk sah ich Bißspuren. Also hatte Shita ihn angegriffen, und er mußte seine Waffe verloren haben, bevor er sie gegen Shita hatte einsetzen können. Ich suchte hinter dem Sandwall und fand noch ein Colt-Revolvergewehr. Shita war mir gefolgt und knurrte den toten Banditen an. Dann schaute er zu mir hoch und wedelte mit dem Schwanz. »Braver Hund«, sagte ich, »guter Hund.« Er setzte sich auf die Hinterpfoten, und ich wußte, daß er jetzt lachte. Plötzlich schnüffelte er in der Luft und ging wie eine Rakete ab. Verblüfft hob ich das Revolvergewehr. War der andere Bandit zurückgekehrt? Aber Shita bellte nicht. Er verschwand wie ein Schatten zwischen den Hügeln. Ich wandte mich um und ging zu Mrs. Walton. Sie war wieder bei
Bewußtsein und hatte sich aufgesetzt. Aus der Kutsche krochen Mister Tulligan und Mister Carmichel. Charly schaufelte ein Grab für den Marshal. Im Vorbeigehen hob ich die Kassette auf und setzte sie bei Mrs. Walton ab. »Wie geht es Ihnen, Ma'am?« fragte ich lahm. Sie lächelte. »Den Umständen entsprechend.« Ihr Lächeln verschwand wieder. »Der Marshal – ist er tot?« Ich nickte stumm. »Mein Gott«, sagte sie leise und senkte den Kopf. Hinter mir knirschten Schritte im Sand – Mister Tulligan und Mister Carmichel. Ich drehte mich zu ihnen um. Und schon ging das Geplärre wieder los. »Was tut der Kutscher da?« nörgelte der feiste Tulligan. »Er soll uns nach Lincoln bringen. Er soll sofort die Kutsche aufrichten und abfahren.« Ich starrte ihn an und merkte, wie die Galle in mir hochstieg. »Feine Sache«, sagte ich bissig. »Die Kutsche läßt sich bestimmt aufrichten. Und dann spannen wir Sie davor, und Sie ziehen uns, nicht wahr?« »Wieso?« »Weil alle vier Pferde tot sind.« »Tot?« Sein Unterkiefer klappte nach unten. »Ja, tot.« »Dann – dann müssen wir ja laufen.« »Ich bewundere Ihren Scharfsinn«, sagte ich höhnisch. »Falls Ihnen der Marsch zu beschwerlich wird, kann Mister Carmichel Sie ja tragen.« »Du unverschämter Bengel!« pumpte sich Mister Tulligan auf. »Ich verbitte mir diese frechen Reden, ich werde …« »Ach hören Sie doch auf!« fuhr ich den Fettsack an. »Holen Sie sich Ihr Gepäck von der umgestürzten Kutsche, oder helfen Sie, den Marshal zu begraben. Tun Sie was, aber nörgeln Sie hier nicht herum. Mrs. Walton braucht Hilfe. Vielleicht hat sie Durst. Vorn unter dem Kutschbock befindet sich Reiseproviant. Da muß auch kalter Kaffee dabei sein. Holen Sie das.«
»Ich – ich – wieso ich?« stotterte der Dicke. Mister Carmichel bückte sich indessen nach der Kassette. »Pfoten weg!« sagte ich scharf und hob das Revolvergewehr an. »Diese Kassette ist Regierungseigentum und geht Sie einen Dreck an.« »Du willst sie dir wohl selbst unter den Nagel reißen, wie?« sagte der Dandy giftig. »Irrtum«, sagte ich kalt. »Ich habe vom Sicherheitsagenten der ›Russell, Majors und Waddell‹, Mister Flatt, den Auftrag, dafür zu sorgen, daß diese Kassette nicht in die unrechten Hände gerät. Und diesen Auftrag werde ich erfüllen, solange noch ein Funken Leben in mir ist. Daß ich bei den Apachen gelernt habe, zu kämpfen, sagte ich bereits. Lassen Sie also Ihre Finger von der Kassette weg, oder ich blase Ihnen ein Loch in den Schädel. Das ist ein Versprechen!« Der Dandy schielte mich tückisch an. »Und wer beweist, daß das stimmt, was du da sagst?« »Ich«, sagte Charly hinter ihm. Der Dandy fuhr herum. »Sie stecken wohl mit dem Bengel unter einer Decke, wie?« Charly tat das, was ich auch getan hätte. Er ließ die Schaufel fallen und hieb Mister Carmichel die Faust unter das Kinn. Der Witwentröster stieg senkrecht hoch und flog im hohen Bogen davon. Wie gesagt, wo Charly hinschlug, wuchs kein Gras mehr. Der Dandy krachte zu Boden, und dann war Stille. Charly blies über seine Handknöchel und fixierte den feisten Spielhallenbesitzer. »Würden Sie wohl die Güte haben, Mister, und mir helfen, den Marshal sanft dort in die Grube zu betten? Und dann wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie ein Gebet sprechen würden.« »Ja – jawohl, natürlich, bitte sehr.« Der Dicke stolperte hinter Charly her, der die Schaufel wieder aufgenommen hatte. Ich ging zur Kutsche und holte den Proviantkorb sowie ein paar Decken. Die Decken waren für Mrs. Walton. Sie blickte mich dankbar an. Ich schnitt ihr Brot und Speck zurecht und schenkte kalten Kaffee in einen Becher. Als ich ihr ihn gerade reichte, hechelte Shita heran.
Er legte mir ein Kaninchen vor die Stiefel und wackelte mit dem Schwanz. Also hatte er vorhin die Witterung eines Kaninchens aufgenommen. »Warst du auf der Jagd?« sagte ich. Er kläffte kurz und wollte gelobt werden. Also tat ich es. Dann sammelte ich trockene Äste und Zweige zusammen und entfachte ein kleines Feuer. Mit dem Messer schlug ich das Kaninchen aus der Decke und bereitete ein Hartholz zum Spieß vor. Als das Kaninchen über dem Feuer briet, sprach Mister Tulligan sein Gebet für den Marshal. Er leierte es genauso herunter wie immer – mit dem falschen Zungenschlag und einer Frömmelei, die geradezu widerlich war. Charly, Mrs. Walton, Mister Tulligan und ich standen an dem Grab. Mister Carmichel schlief noch den Schlaf des Ungerechten. Als Mister Tulligan mit seiner Leier, die des toten Marshals unwürdig war, endete, sagte ich: »Verlaß dich drauf, Marshal, die Kassette kriegen Charly McClister und ich durch, so wahr uns Gott helfe, amen!« »Amen!« sagte Charly. Mister Tulligan starrte uns mit offenem Mund an. Mrs. Walton schlug fröstelnd die Decke um ihre Schultern und ging langsam zur Feuerstelle zurück. Ihr Gang war unbeholfen. Etwa zwanzig Minuten später erschien Mister Carmichel am Feuer. Mit seinem angeschwollenen Kinn sah er ziemlich derangiert aus. Seine Augen waren glasig. Er machte einen weiten Bogen um Charly und hockte sich hin. Ich drehte den Spieß mit dem Kaninchen und paßte auf, daß das Fleisch nicht verbrannte. Charly räusperte sich. Er saß neben mir auf der Kassette. Er warf dem Dandy einen kurzen Blick zu, musterte Mister Tulligan und blickte dann Mrs. Walton an. Sein Gesicht war etwas nachdenklich und anders als sonst. Das war nicht mehr der Charly McClister aus dem »Drivers Inn«, der Unmengen Bier soff und sich mit Kerlen wie Jack Tolan herumprügelte, weil Prügeln herrlicher Spaß ist. Nein, Charly McClister war ein anderer geworden. Oder ich hatte ihn
bisher verkannt. Charly sagte: »Die nächste Station auf dem Overlandtrail haben die Duponts. Bis dorthin sind es etwa acht Meilen. Morgen früh werden wir aufbrechen und dorthin marschieren. Eine andere Lösung gibt es nicht.« Er schwieg einen Moment und blickte wieder Mrs. Walton an. »Ma'am, entschuldigen Sie, daß ich Ihnen das zumuten muß. Aber eins verspreche ich Ihnen. Wenn Sie nicht mehr können, werden Ronco und ich Sie tragen. Wir werden es schaffen. Auf der Station sind Pferde und Wagen. Von dort fahren wir dann weiter nach Lincoln.« Jetzt blickte er alle an. »Ich habe noch immer meine Leute dorthin gebracht, wo sie hinwollten. Daran wird sich nichts ändern.« »Ich werde es schon schaffen«, sagte Mrs. Walton leise, aber bestimmt. Mister Carmichel, der Dandy, sagte gar nichts, sondern betastete nur sein Kinn. Mister Tulligan hielt es für nötig, wieder zu jammern und zu stöhnen. »Ich verlange Schadenersatz«, quengelte er. »Wofür?« fragte Charly sanft. »Ich habe wichtige Geschäfte in Lincoln. Wenn ich zu spät …« »Wenn Sie tot sind, ist jedes Geschäft zu spät«, sagte Charly hart. »Wieso tot?« »Sie hätten bei dem Überfall der Banditen erschossen werden können, aber da retteten zum Beispiel Ronco und der Marshal Ihr kostbares Leben. Oder haben etwa Sie die Banditen abgewehrt? Doch wohl kaum. Und im weiteren darf ich darauf hinweisen, daß weite Gebiete von Nebraska noch längst nicht befriedet sind.« »Was wollen Sie damit sagen?« In Mister Tulligans Augen flackerte Angst. Charly hob die Schultern. »Bitte sehr, Sie wollten von St. Joseph nach Lincoln reisen. Dann sollte Ihnen auch bekannt sein, daß eine solche Reise mit Risiken verbunden ist. Abgesehen von Strolchen und Wegelagerern leben hier auch noch Indianer – Cheyennestämme. Die können friedlich sein, müssen aber nicht.« Trocken fügte er hinzu: »Schließlich ist das ihr Land, in dem wir uns breitmachen.«
Der Dicke ächzte. Gottlob aber vergaß er sein »Halleluja«-Gebet. »Vielleicht sollten Sie Ihre Waffe aus Ihrem Gepäck holen«, schlug ich vor. »Wenn drei Männer schießen, ist das wirkungsvoller, als wenn nur Charly McClister und ich unsere Verteidigung übernehmen.« Ich warf einen Blick zu dem Dandy hinüber. »Sie können ja mit Ihrem Taschenmesserchen kämpfen, Sie Witwentröster.« »Wieso Witwentröster?« fragte Charly verdutzt. »Der Marshal kannte ihn. Er hat reiche Witwen ausgenommen und ist dann verduftet.« Charly seufzte. »Der hat uns gerade noch gefehlt.« Der Dandy sagte gar nichts. Seine Mundwinkel waren nach unten gekrümmt, aber in seinen Augen glomm so etwas wie Haß. Bereits auf dem Hof in St. Joseph hatte er mir nicht gefallen. Jetzt gefiel er mir noch weniger. Viel Mumm hatte er nicht, aber er war tückisch, und damit wurde er gefährlich. Außerdem schielte er immer wieder auf die Kassette, auf der Charly saß. Ich hätte etwas darum gegeben, seine Gedanken lesen zu können. Shitas Jagdbeute war im Nu weggeputzt. Wir waren alle hungrig und todmüde. Charly und ich bereiteten für Mrs. Walton ein Nachtlager mit fast allen Decken, die wir hatten. Mister Carmichel versuchte zwar zu meckern – er hätte es mit den Nieren, behauptete er –, aber als sich Charlys Pranke zur Faust schloß, trollte er sich und kroch in die umgestürzte Kutsche. Charly übernahm die erste Wache. Es war jetzt kurz nach Mitternacht. In drei Stunden würde ich ihn ablösen. Ich kuschelte mich in eine Kuhle. Shita wärmte meinen Rücken. Von Nordosten wehte ein kalter Wind über das Hügelland und verlor sich über den Ebenen weiter südlich in der unendlichen Weite. Ich war in Minuten eingeschlafen.
6. Bei Tageslicht brachen wir auf. Ich hatte einen heißen Kaffee zubereitet und den knappen Proviant eingeteilt. Charly übernahm den Colt des Marshals. Beide hatten wir jetzt einen Colt, jeder zusätzlich
ein Revolvergewehr, und Charly hing sich noch seine Sharps über den Rücken. Unsere Taschen stopften wir mit der Munition der beiden toten Banditen und des Marshals voll. Charly trug die Kassette. Ich kümmerte mich um Mrs. Walton und trug ihre Reisetasche. Tulligan und Carmichel schleppten ihre eigenen Klamotten. Charly sprach kaum. Zwischen uns beiden war das auch nicht nötig. Mrs. Walton verhielt sich tapfer und zuversichtlich. Mister Tulligan und Mister Carmichel hatten mürrische Gesichter, denen anzusehen war, daß sie sich schon jetzt bedauerten und bemitleideten und die Erde für ein Jammertal hielten. Ich weiß, daß ich mir damals oft die Frage stellte, wie solche Menschen es eigentlich schafften, in diesem rauhen Land zu bestehen. Sie gehörten nicht zu den Starken und Gesunden, und dennoch lebten sie gut. Später wurde mir klar, daß sie nichts anderes waren als Maden im Speck. Sie schmarotzten. Charly marschierte voran. Er wandte sich zurück auf den Overlandtrail und dann nordwestwärts. An diesem Trail lag ja auch die Station der Duponts, so war es das Vernünftigste, ihn zu benutzen. Außerdem rechnete Charly damit, daß eventuell eine Gegenkutsche von Lincoln bereits unterwegs sein könnte. Da er die Spitze übernahm, war es selbstverständlich, daß ich am Schluß marschierte. So hatten wir Mister Tulligan und Mister Carmichel zwischen uns in der Mitte – Charly trug ja die Kassette. Dem Dandy traute ich nicht über den Weg. Sein Interesse für die Kassette war zu offensichtlich. Außerdem hielt er sich eng an Mister Tulligan, und der hatte eine Waffe. Gesehen hatte ich sie noch nicht, wahrscheinlich war es eine Derringer, wie sie von Spielern benutzt wurde. Mißtrauen und Vorsicht geboten mir, die beiden im Auge zu behalten. Vorerst spielte sich da aber gar nichts ab. Tulligan watschelte mit seinen Fettmassen wie ein müder Gänserich über den Trail und ächzte und stöhnte bereits nach den ersten hundert Schritten. Die Gangart des Dandys verblüffte mich zunächst, bis ich erkannte, daß sie gekünstelt war. Er tänzelte und schwang dabei geziert die Hüften. Vielleicht hatte er damit die reichen Witwen
beeindruckt – auf mich wirkte es eher komisch. Außerdem war mir klar, daß er mit dieser idiotischen Gehweise keine vier Meilen durchhalten würde. Zur zähen Sorte gehörte er schon gar nicht. Mrs. Walton ging neben mir, und sie zerriß mich fast. Natürlich konnte sie das allgemeine Tempo nicht mithalten, aber ohne zu klagen setzte sie tapfer Fuß vor Fuß. Ich hing mir ihre Tasche an einem Riemen über die Schulter, bot ihr meinen Arm, und sie hakte sich ein. Jetzt ging es etwas besser. Shita streunte seitwärts des Trails durchs Gelände, stöberte Hühnervögel und Kaninchen auf und war wahrscheinlich der munterste und glücklichste unserer Reisegesellschaft. Nach etwa zwei Meilen war's bei Mister Carmichel vorbei mit den gezierten Tanzschritten – er begann zu latschen. Hundert Schritte weiter blieb er stehen, hockte sich hin und zog einen Stiefel aus. Links von ihm sackte Mister Tulligan zusammen – wie ein Ballon, aus dem die Luft entweicht. Er atmete keuchend, Schweiß strömte über sein rotes Gesicht, sein ehemals steifer Stehkragen war pitschnaß und zerknautscht und sah aus wie ein ausgedienter Scheuerlappen. Ich rief Charly zu, stehenzubleiben. Charly drehte sich um und kam zurück. »Ich kann nicht mehr«, jammerte Mister Tulligan. »Ich hab einen Stein im Schuh«, sagte Mister Carmichel. »Also Pause«, sagte Charly und bot Mrs. Walton die Kassette als Sitz an. Vorsichtig ließ sich Mrs. Walton auf den Kasten nieder. Ich half ihr dabei. »Ich hab Durst«, sagte Mister Tulligan. »Ich auch«, sagte Mister Carmichel. Charly grinste. »Der nächste Saloon ist in Lincoln, Gentlemen. Dort können Sie Bier faßweise trinken. Hier müssen Sie leider mit Wasser vorliebnehmen – falls wir überhaupt welches finden. Bis dahin empfehle ich Ihnen, nicht an Ihren Durst zu denken. Nehmen Sie einen Kieselstein in den Mund, das hilft für die nächsten Stunden. Im übrigen haben wir unser letztes Wasser heute morgen für den Kaffee verbraucht, von dem Sie beide am meisten getrunken haben.«
»Das stand uns auch zu«, erklärte der Dandy hochmütig. Charly blickte ihn an. »Mrs. Walton steht das gleiche zu, Mister, oder sogar mehr als Ihnen. Sie erwartet ein Kind. Ich habe bisher leider nicht bemerken können, daß Sie darauf auch nur die geringste Rücksicht nehmen. Sie klagen und jammern – im Gegensatz zu Mrs. Walton, von der ich noch nicht einen einzigen Ton der Klage gehört habe. Sie sollten sich schämen.« Charly hatte völlig ruhig gesprochen – sonst war er ruppig und polterte. Wie gesagt, er hatte sich verändert. Nur hatte sein ruhiger Tonfall eine höchst merkwürdige Wirkung. Die beiden Kerle kriegten nämlich wieder Oberwasser. Sich zu schämen – davon waren sie weit entfernt. »Das Kind zu kriegen, ist ja wohl Mrs. Waltons Problem, nicht wahr?« sagte Mister Tulligan und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er lachte meckernd. »Schließlich bin ich ja nicht der Erzeuger.« Jetzt lachte auch der Dandy, als habe der dicke Tulligan einen besonders köstlichen Witz erzählt. Ich biß die Zähne zusammen. Sie waren noch ekelhafter als Schmeißfliegen, diese beiden Kerle. Von der Sorte Mensch waren sie der widerlichste Abschaum – eigensüchtig, gefühlsarm und noch dazu von einer schlüpfrigen Gemeinheit. Charlys Gesicht wurde weiß vor Wut. Und dennoch beherrschte er sich. Er blickte Mrs. Walton und mich an. »Wir gehen weiter«, sagte er heiser und half Mrs. Walton beim Aufstehen. Links klemmte er sich die Kassette unter den Arm, rechts führte er die Frau. Ohne die beiden Kerle weiter zu beachten, setzte er sich in Marsch. »Einen Moment, Charly«, sagte ich. »Der Fettkloß hat eine Waffe. Falls er damit jemals geschossen haben sollte, wird es wohl immer nur von hinten gewesen sein. Das möchte ich uns ersparen.« Ich blickte den Dicken an und richtete das Revolvergewehr auf ihn. »Her mit der Waffe! Und bitte vorsichtig, ich habe den Finger am Abzug!« Das schmierige Grinsen im Gesicht Mister Tulligans war wie weggewischt.
»Was-was …« »Die Waffe!« pfiff ich ihn an. Er griff hastig in seine Brusttasche und zog tatsächlich eine Derringer heraus. »Fallen lassen!« befahl ich. Er ließ die Waffe fallen. »Jetzt dürfen Sie drei Schritte zurückrutschen.« Er schob seinen fetten Hintern von mir weg. Ich bückte mich blitzschnell, hob die Derringer auf und steckte sie ein. Dann nickte ich Charly zu, und wir marschierten los. »Warten Sie!« schrie Mister Tulligan. Wir gingen weiter, ohne uns umzudrehen. Zwei Minuten später hörten wir die beiden hinter uns herkeuchen. Nach einer halben Stunde sackten sie weiter und weiter zurück. Ihr Stöhnen und Quengeln und Fluchen waren kaum zu ertragen. »Hilfe!« schrie Mister Tulligan. »Sie dürfen uns nicht allein lassen!« »Geht weiter«, sagte ich zu Charly und blieb stehen. Mister Tulligan und Mister Carmichel humpelten mir entgegen, als sei ich die Rettung aus langer Qual. Sie stießen sich sogar gegenseitig vom Weg, wenn der eine dem anderen vor die Füße trat. Mister Tulligan war als erster bei mir. Seine Gesichtsfarbe hatte sich ins Krebsrote verfärbt. »Bitte«, keuchte er. »Würden – würden Sie so freundlich sein, mein – mein Gepäck zu tragen, Mister Ronco!« Ich dachte, mich trifft der Schlag. Sein Gepäck tragen! Mister Ronco! Ich fixierte ihn und spürte nichts als Verachtung für diesen Mann. »Ihre Reisetasche zu tragen, ist ja wohl Ihr Problem, nicht wahr?« sagte ich mit jenen Worten, die er vor einer halben Stunde bezüglich Mrs. Waltons benutzt hatte. »Schließlich bin ich weder Ihr Kindermädchen noch Ihr Knecht. Wenn Mrs. Walton für Sie kein Problem darstellt – womit Sie ausdrückten, daß Sie die Beschwerden einer Frau einen Dreck interessieren –, dann sehe ich nicht ein, warum ich mich um Ihr lumpiges Gepäck kümmern soll. Lassen Sie es liegen, oder nehmen Sie es mit. Es interessiert mich nicht.« Die
Wut packte mich. »Bleiben Sie, wo der Pfeffer wächst, Sie jämmerliche Schießbudenfigur! Ihr Witz, nicht der Erzeuger von Mrs. Waltons Kind zu sein, ist so dreckig wie ein Abfallkübel!« Ich spuckte ihm vor die Stiefel, drehte mich um und ging weiter. Nach vier Minuten hatte ich Charly und Mrs. Walton wieder eingeholt. Charly warf mir einen kurzen Blick zu. Es war ein besorgter Blick. »Sie schaffen es nicht, oder?« fragte er. »Mir egal«, knurrte ich ihn an. »Na, na«, sagte Charly sanft. »Dieser Drecks-Tulligan bat mich, sein Gepäck zu tragen. Er sagte sogar ›bitte‹ und ›Mister Ronco‹ zu mir.« »Und du hast abgelehnt.« »Natürlich.« Charly schüttelte den Kopf. »Ich hätte dich für klüger gehalten.« »Wieso?« Sehr geduldig sagte Charly: »Mister Tulligan ist Geschäftsmann. Dem imponiert nur Geld. Genau das könntest du ihm abknöpfen – als Gepäckträger. Die Stunde zu zwanzig Dollar.« Charly grinste. »Das ist angemessen. Außergewöhnliche Situationen verlangen außergewöhnliche Maßnahmen und natürlich dementsprechende Bezahlung. Ich würde mir einen solchen Job nicht entgehen lassen. Hinzu kommt, daß man solche Stinktiere dort treffen muß, wo sie am empfindlichsten sind.« Grimmig fügte er hinzu: »Er hat Mrs. Walton beleidigt. Für diese Beleidigung soll er zahlen, kapiert?« Ich schwieg, weil ich zu verdutzt war. Dieser Charly McClister entwickelte sich weiß Gott zu einem ganz gerissenen Hund. Und er hatte ja recht, er hatte so verdammt recht. Auf diese Tour war die Rache am süßesten – das Schleppen der Reisetasche von Mister Tulligan war ein Klacks für mich. Ich war andere Sachen gewohnt. Ich grinste vor mich hin. »Na?« fragte Charly. »Kapiert«, sagte ich. »Aber ich warte noch ein bißchen, bis er so richtig weich ist.« »Sehr gut«, sagte Charly zufrieden. Ich sah, daß Mrs. Walton lächelte.
* Gegen Mittag erreichten wir ein Wasserloch, das sich rechts vom Trail befand. Shita hatte es entdeckt und verbellt. Dort rasteten wir. Mister Tulligan und Mister Carmichel schleppten sich eine halbe Stunde später heran – da hatten wir bereits getrunken und etwas von unserer knappen Ration gegessen. Mrs. Walton ruhte auf einer Decke und hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht erschien mir etwas durchsichtig. Charly und ich hatten sie zuletzt auf beiden Seiten gestützt. Die Frau mußte Höllenqualen erleiden, aber sie klagte nicht mit einem einzigen Wort. »Wasser!« ächzte Mister Tulligan. »Wasser!« stöhnte Mister Carmichel. Auf einmal konnten sie sehr schnell laufen, ihr Gepäck flog irgendwo in die Gegend, sie hechelten heran und stürzten sich der Länge nach ans Wasserloch. Sie soffen ohne Beherrschung und führten sich auf, als hätten sie nicht am Morgen, sondern vor drei Tagen zum letzten Mal getrunken. »Vorsicht«, sagte ich. »In dem Wasser hat vorhin mein Hund gebadet – und der hat seit frühester Jugend Flöhe.« Mister Carmichel stieß einen gellenden Schrei aus und sprang auf. Er stierte mich aus hervorquellenden Augen an. »Flöhe?« stieß er hervor. »Ja, Flöhe«, sagte ich. »Was dachten Sie? Ameisen?« Der Dandy gurgelte und spuckte. Der Gedanke, Shitas vermeintliche Flöhe im Magen zu haben, veränderte seine Gesichtsfarbe ins Grünliche. Höhnisch hieb ich weiter in die Kerbe. »Kürzlich haben die Flöhe in seinem Fell auch Eier gelegt, so kleine grauweiße Dinger …« »Hahaha!« prustete Charly los. Der Dandy verschwand mit einem Satz hinter einem Gebüsch. Mit Genuß hörte ich, wie er sich erbrach. Hätte ich vielleicht Mitleid mit ihm haben sollen? Mister Tulligan hatte die Wasserstelle für sich allein und soff
weiter. Die Flöhe samt den Floheiern störten ihn nicht. Vielleicht hatte er gesehen, daß Shitas Fell knochentrocken war. Dich mach ich auch noch fertig, dachte ich voller Grimm, stand auf und holte mir seine Reisetasche. Schwer? Nicht die Bohne. Ich schlenkerte sie hin und her und trat zu der Wasserstelle. Mister Tulligan fuhr hoch, wischte sich hastig das Wasser vom Kinn und blaffte mich an. »Stell sofort meine Tasche hin!« Ich setzte die Tasche ab, wandte mich wieder um und sagte über die Schulter: »Dann eben nicht.« »Was meinst du?« »Ich sagte: Dann eben nicht. Vor etwa zwei Stunden baten Sie mich doch, Ihre Tasche zu tragen. Deswegen wollte ich mal sehen, wie schwer sie ist.« Mister Tulligan lächelte ölig. »Und?« »Ich hab's mir überlegt. Hm. Ich trag sie Ihnen.« »Das würdest du wirklich tun?« »Klar. Für vierzig Dollar die Stunde«, sagte ich kalt. »Vierzig – vierzig Dollar?« Der Dicke glotzte mich entgeistert an. »Vierzig Dollar«, sagte ich. »Aber – aber das ist Wucher.« »Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen und natürlich dementsprechende Bezahlung«, sagte ich lässig. Mister Tulligan schnappte nach Luft. Charly beugte sich vor, um sein Grinsen zu verbergen. »Außergewöhnliche …«, begann Mister Tulligan und brach wieder ab. Er sah aus, als habe er mit einem Schmiedehammer einen Schlag auf den Schädel bekommen und müsse den Schlag erst mal verdauen. Es stimmte, was Charlie gesagt hatte. Man mußte ihn an seiner empfindlichsten Stelle treffen. Ich blinkerte Charly kurz zu, und Charly blinkerte zurück. Mister Tulligan verdaute immer noch und wälzte schwere Probleme hinter seiner Fettstirn. Er rechnete wie wir kurz darauf vernahmen.
Er fragte Charly: »Wie lange brauchen wir noch bis zu dieser Station?« »Och«, sagte Charly, »kommt drauf an. Mit einem Pferd schafft man's in zwei, drei Stunden. Zu Fuß natürlich länger.« Mister Tulligan stöhnte zum Gotterbarmen und rang mit seinem Geiz. Sein Geiz verlor, weil Mister Tulligan ein fauler Sack war. Immerhin war er Geschäftsmann und versuchte zu retten, was zu retten ist. »Dreißig Dollar«, sagte er zu mir. »Ist das ein Wort?« »Vierzig«, sagte ich. »Außergewöhnliche Situationen …« »Ja, ja«, unterbrach mich der Dicke und schwitzte. »Ich weiß. Aber ich habe nicht soviel Geld bei mir.« »Ihr Pech«, sagte ich gleichmütig und versetzte seiner Reisetasche einen Tritt, um damit anzudeuten, daß die Unterredung für mich beendet sei. »Warten Sie, Mister Ronco«, sagte er hastig. Jawohl, er sagte wieder »Mister Ronco«. »Also, ich bin einverstanden. Vierzig Dollar die Stunde.« Ich streckte die Hand aus. »Bitte Vorauszahlung – an – für vier Stunden. Macht hundertsechzig Dollar. Der Rest wird später in der Station abgerechnet.« Mister Tulligan brach beinahe in die Knie. »Ich – ich bin ruiniert!« jammerte er. »Mein letztes Geld! Ich werde verhungern!« »Reden Sie keinen Unsinn, Mister Tulligan«, sagte ich. »Aus Ihrem Gespräch gestern in der Kutsche mit Mister Carmichel ging hervor, daß Sie dicke Geschäfte in Lincoln planen. Aber bitte. Sie können Ihre Tasche ja auch selber tragen, wenn Sie meinen Preis nicht bezahlen wollen.« Ich wandte mich wieder ab. »Nein! Einen Moment bitte!« Er watschelte hinter einen Strauch – wohl um uns keinen Einblick in seine Brieftasche zu geben. Zwei Minuten später erschien er wieder und zählte mir einhundertsechzig Dollar in die Hand. Ich steckte sie gleichmütig ein und sagte: »Ich verwahre das Geld, bis wir in Sicherheit sind. Dann erhält es Mrs. Walton, die Sie so unflätig beleidigt haben – als kleine Entschädigung. Im übrigen bin
ich überzeugt, daß sie einen Lumpen wie Sie niemals als Vater ihres Kindes akzeptiert hätte.« Das saß! Und wie es saß. Er wollte auf mich losgehen und stolperte über Charlys Beine, die der rasch vorgestreckt hatte. Mister Tulligan lag im dürren Gras und schlug in ohnmächtiger Wut die Gräser zusammen, immer wieder knallte er seine Faust auf das Gras. Es sah sehr spaßig aus. Inzwischen kreuzte Mister Carmichel wieder auf. Ich bedauerte, daß keine seiner Witwen, die er begaunert hatte, jetzt bei uns weilte. Sein Anblick hätte sie sicherlich für vieles entschädigt, was er ihnen angetan hatte. Vielleicht hätten sie aber auch die Flucht vor ihm ergriffen. In einem Maisfeld hätte man ihn als Vogelscheuche aufstellen können. Der Dandy war Vergangenheit. Leider roch er jetzt auch sehr übel. Seine Kleidung und die Schuhe waren mit Resten des Erbrochenen bekleckert. Shita zog sich knurrend von ihm zurück. Mister Carmichel kriegte einen langen Hals und stierte auf Shita. »Der – der Hund ist ja gar nicht naß«, stieß er hervor. Ich grinste. »Sie merken aber auch alles.« »Du hast mich reingelegt.« »Klar«, sagte ich. »Warum auch nicht? Sie legen Witwen herein. Da ist es doch durchaus gerecht, daß Sie auch mal aufs Kreuz gelegt werden, oder? Wenn Sie so blöd sind, darauf hereinzufallen, ist das Ihr Bier. Und jetzt können wir lachen – so wie Sie, als der Fettsack da Mrs. Walton in seiner dreckigen Art beleidigte. Bilden Sie sich nur nicht ein, daß Sie der liebe Herrgott seien und wir müßten vor Typen wie Ihnen in die Knie sinken. Sie stinken, Mister. Dort ist Wasser. Tun Sie uns einen Gefallen, und waschen Sie sich.« Ich hätte besser aufpassen sollen, statt diesem Idioten Moralpredigten zu halten, die sowieso in den Sand gesetzt waren. Den schwirrenden Laut kannte ich nur zu genau. »Deckung!« brüllte ich und lag bereits platt auf dem Boden. Der Pfeil zischte über mir weg und verfing sich im Gestrüpp eines Strauches jenseits der Wasserstelle. Aus den Augenwinkeln sah ich, daß sich Mister Carmichel ins Wasser stürzte. Charly lag hinter der
Kassette. Ich rollte mich herum und riß den Colt aus dem Hosenbund. Etwa dreißig Schritte rechts von mir brach ein riesiger Indianer hinter Buschwerk hervor und stürmte mit einem Schädelbrecher in der rechten Faust auf uns zu. Das geschah alles innerhalb weniger Sekunden. Mister Tulligan schrie wie am Spieß und rutschte auf allen vieren zur Wasserstelle, wo der Idiot Carmichel herumplanschte. Im Liegen hob ich den Colt und feuerte auf den Indianer. Gleichzeitig belferte Charlys Revolvergewehr los. Er jagte drei, vier Schüsse heraus. Ich sah, wie die Kugeln Löcher in den nackten Oberkörper des Indianers stanzten. Er taumelte, und als Shita ihm zwischen die Beine raste und in die rechte Ferse biß, stolperte er und stürzte der Länge nach hin. Ich blickte in seine dunklen Augen, die schon glanzlos wurden. Er hob noch einmal den Kopf und sagte: »Gottverdammich!« Er sagte es in unserer Sprache, und ich starrte ihn verblüfft an. Er grinste, dann sackte sein Kopf nach vorn, und sein Körper zuckte noch einmal. Ich blieb liegen und lauerte. Shita schnüffelte an dem toten Indianer, trollte sich zu mir herüber und schaute mich mit seinen ausdrucksstarken Augen erwartungsvoll an. »Such«, sagte ich. »Vielleicht sind da noch mehr.« Shita verschwand zwischen den Büschen – dort, wo der rote Krieger aufgetaucht war. Ich beobachtete die Büsche ringsum, konnte aber nirgendwo eine Bewegung entdecken. Alles blieb ruhig – bis Shita zurückkehrte. Auf halbem Weg zu mir verhielt er, blaffte kurz, äugte mich an und kehrte wieder um. Ich sollte ihm folgen und stand auf. »Sei vorsichtig«, sagte Charly hinter mir. Er deutete auf den toten Krieger. »Ein Cheyenne.« Ich nickte nur und ging hinter Shita her, den Colt in der Faust. Aber die Vorsicht war unnötig. Shita führte mich um eine Buschinsel herum auf einen Hügel und blieb dann abrupt stehen.
In einer Senke unter uns war eine Fuchsstute angepflockt. Das Pferd trug einen indianischen Holzgerüstsattel. Es äugte zu uns hoch – ohne die geringsten Zeichen von Unruhe zu zeigen. Langsam bewegte ich mich auf das Tier zu. Es wich nicht zurück. Seine Ohren spielten, es schnaubte einmal, verhielt sich aber so stinknormal, daß es schon fast unnatürlich war. Es war kein Indianerpferd. Seitlich der Kruppe entdeckte ich ein Brandzeichen, das wie eine dreizinkige Forke aussah. Ich grinste. Der Cheyenne hatte das Pferd irgendwo geklaut. Die Stute schnupperte an meiner ausgestreckten Hand und schien mit mir einverstanden zu sein. Auch gegen Shita hatte sie nichts einzuwenden. »Das ist ein Fang«, sagte ich zu Shita, der auf den Hinterpfoten saß und zu mir hochschaute. »Was Besseres konnte uns gar nicht begegnen.« Erst in diesem Augenblick fiel mir ein, daß ich etwas getan hatte, was ich nie für möglich gehalten hätte – ich hatte auf einen Indianer geschossen. Vielleicht war es meine Kugel gewesen, die ihn umgebracht hatte. Ich war kein weißer Apache mehr. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag und versetzte mich in ziemliche Verwirrung. Gegenüber den Weißen verteidigte ich die Indianer, und jetzt hatte ich es fertiggebracht, auf einen zu schießen, und zwar reflexartig, ohne lange nachzudenken. Was war ich für ein Monster! Nein! Ich war es nicht. Der Cheyenne hatte uns angegriffen, und ich hatte das getan, was ich bei den Apachen gelernt hatte: Ich hatte mich verteidigt, mich und die anderen. Aber zwei von den anderen waren Dreckskerle. Sie lebten, und ein Cheyenne mußte sterben. O verdammt. Mir war speiübel. Ich zog die Stute am Zügel hinter mir her, und sie folgte mir willig. Als wir aus den Büschen auftauchten und auf die Wasserstelle zugingen, starrte Charly mit offenem Mund auf das Pferd. »Mann«, sagte er nur. Ich deutete auf das Brandzeichen. »Geklaut!« Dann blickte ich auf Mrs. Walton und sagte: »Ma'am, Sie brauchen nicht mehr zu laufen.
Die Stute ist lammfromm. In dem Indianersattel können Sie wie auf einem Stuhl sitzen – quer zum Pferd. Hier an diesen beiden Aförmigen Holzbügeln werden Sie sich gut festhalten können. Sie brauchen keine Angst zu haben, herunterzufallen.« Sie lächelte zu mir hoch und sagte: »Ich habe keine Angst.« Sie sagte noch etwas, und ich wurde knallrot. Sie sagte: »Du bist ein Gentleman.« Verlegen wandte ich mich um und stieß fast mit Mister Tulligan zusammen. Er hatte seine Brieftasche in der Hand und hielt mir drei Hundertdollarnoten entgegen. »Für das Pferd«, sagte er. »Ich will es reiten.« Die Wasserleiche Carmichel schlurfte heran. »Nein, ich! Ich biete fünfhundert Dollar.« »Sechshundert!« sagte Mister Tulligan schnell. »Ich habe zuerst geboten und muß den Zuschlag erhalten.« Es war schamlos, was sich Mister Tulligan und Mister Carmichel im Beisein einer Frau, die ein Kind in ihrem Leib trug, leisteten. Es war so schamlos, daß ich zum ersten Male nicht mehr wußte, was ich darauf erwidern sollte. Schweigend stieß ich Mister Tulligan zur Seite und führte die Stute zur Wasserstelle, um sie saufen zu lassen. Hinter mir hörte ich die Stimme Charlys. Sie war voll verhaltener Wut. »Mister Tulligan, Mister Carmichel! Noch so ein Angebot, und Sie werden sich hier an der Wasserstelle für immer und alle Zeiten ausruhen können – neben dem toten Cheyenne.« Die beiden sagten gar nichts mehr. Hätten sie es getan, hätte Charly geschossen. Ich übrigens auch. Wir hatten einen Punkt erreicht, an dem wir zu allem fähig waren. Dennoch wäre es Notwehr gewesen. Denn diese beiden Männer bedrohten das Leben einer Frau und eines ungeborenen Kindes.
7. Die Kutschenstation wirkte in der Dunkelheit einsam und verlassen, fast unheimlich. Kein Licht brannte. Ob die Fensterläden geschlossen
waren, konnten wir nicht erkennen. Aber als wir uns wieder in Marsch setzten, stach eine Feuerlanze von der Tür her auf uns zu. Etwas strich über uns weg, die Schußdetonation rollte grollend über den Overlandtrail. »Bist du verrückt, Pierre?« brüllte Charly McClister wütend. »Bist du das, Charly?« schrie eine Stimme zurück. »Wer denn sonst, du Ochse!« Die Tür wurde aufgestoßen. Eine breite Lichtbahn zeigte Stufen, die zu einer Holzveranda hochführten. Eine stämmige Gestalt erschien in der Tür und lachte dröhnend. »War doch nur 'n Schreckschuß, Junge!« schrie der Mann. »Wenn der alte Dupont zielt, trifft er auch.« »Schöner Empfang«, murmelte Charly. »Vorwärts, Leute, wir haben es geschafft. Das ist Pierre Duponts Station.« Ich führte die Stute mit Mrs. Walton auf die Station zu. Charly ging neben mir. Mister Tulligan und Mister Carmichel wankten taumelnd hinter uns her. Tulligans Reisetasche hing auf meinem Rücken. Die Kassette hatten wir hinter dem Indianersattel festgeschnallt. Pierre Dupont war nach meinem Geschmack. Er fragte nicht viel, packte ohne viel Federlesens zu und hob zusammen mit Charly Grace Walton vom Pferd. Er nickte mir zu und sagte: »Der Stall ist hinter der Station. Noch Fragen?« »Nein«, sagte ich, »alles klar.« »Das ist Ronco«, sagte Charly, »der jüngste in unserem Verein, aber mehr wert als die ganze Bande von Taugenichtsen bei der ›Russell, Majors und Waddell‹.« »Hallo!« sagte Pierre Dupont. »Hallo, Mister Dupont«, sagte ich, führte die Stute in den Stall, versorgte sie und kehrte mit der Kassette unter dem Arm in die Station zurück. In dem Aufenthaltsraum war es gemütlich warm. Ein bullerndes Feuer brannte in einem Kanonenofen. Rechts stand ein Holztresen, hinter dem eine Tür zur Küche führte. Ein paar Tische und Stühle waren in dem Raum verteilt.
Auf zwei Stühlen hingen bereits Mister Tulligan und Mister Carmichel – total geschafft und erledigt. Ihre ehemals weißen Hemden waren grau bis dunkel, ihre Anzüge zerknautscht und speckig – von ihren Gesichtern ganz zu schweigen. Zum Nörgeln war ihnen die Puste ausgegangen. Eine mittelgroße, mütterliche Frau lächelte mir zu und sagte: »Hallo, Junge. Tritt ruhig ein, ich beiße nicht.« Ich verbeugte mich artig. »Hallo, Ma'am. Ich hätte bestimmt auch nicht befürchtet, daß Sie mich beißen.« Pierre Dupont lachte. »Das ist Ronco, Maria. Laut Charly ein Tausendsassa.« Ganz plötzlich wurde sein Gesicht ernst, fast traurig. »Unser Henry würde jetzt auch so alt wie Ronco sein.« »Ja«, sagte die Frau weich. »Er würde auch so alt sein.« Charly erschien in einer Nebentür und räusperte sich. »Ma'am, haben Sie wohl etwas heißes Wasser für Mrs. Walton?« Maria Dupont gab sich einen energischen Ruck. »Oh, ich vergesse meine Pflichten. Natürlich, zuerst muß die Lady versorgt werden.« Sie eilte in die Küche und kehrte mit Handtuch, Seife und einem dampfenden Kessel zurück. »In einer halben Stunde könnt ihr essen!« rief sie über die Schulter. Wie Pierre Dupont sprach sie mit einem leichten französischen Akzent. Ich hörte es gern, es klang irgendwie beschwingt. Sie waren Frankoamerikaner und führten die Station schon seit über acht Jahren, wie mir Charly später erzählte. Ihren Sohn Henry hatten sie bei einem Indianerüberfall verloren. Ich stellte die Kassette auf den Tresen, wandte mich um und setzte die Reisetasche vor Mister Tulligans Stiefeln ab. »Wie spät ist es, Mister Tulligan?« fragte ich. Fast automatisch – ohne erst lange nachzudenken – zog er die goldene Uhr aus der Westentasche, klappte den Sprungdeckel auf und schaute auf das Zifferblatt. »Neun Uhr«, sagte er. »Dann schulden Sie mir noch hundertsechzig Dollar. Wir sind gegen ein Uhr mittags bei der Wasserstelle aufgebrochen. Für vier Stunden haben Sie vorausbezahlt. Der Rest steht noch aus.« »Du bist ja verrückt«, sagte Mister Tulligan. »Von mir kriegst du
keinen Cent mehr, du Halsabschneider. Keinen Cent, verstehst du? Aber von eurer Geschäftsleitung in St. Joseph werde ich Schadenersatz fordern und ihr berichten, was du für ein Früchtchen bist, das sich in schamloser Weise an der Not der Reisenden bereichert hat, jawohl.« Er hatte wieder Oberwasser, der saubere Mister Tulligan. Er brauchte nicht mehr über den Trail zu latschen, wir hatten die Postkutschenstation erreicht, er konnte sich wieder sicher fühlen, und damit war der Fall erledigt. Ich zog den Colt aus dem Hosenbund und richtete ihn auf Mister Tulligan. Langsam spannte ich den Hahn. »Ich zähle bis drei. Bei drei liegt das Geld auf dem Tisch, oder Sie haben ein Loch in Ihrem Fettwanst. Eins – zwei …« Ich brauchte nicht weiterzuzählen. Mit fliegenden Fingern riß er seine Brieftasche heraus und blätterte die Scheine auf den Tisch. Mrs. Dupont eilte gerade wieder geschäftig aus dem Nebenzimmer, in dem Grace Walton lag. Ich hielt sie an. »Einen Moment, bitte, Ma'am.« Ich holte die ersten hundertsechzig Dollar aus meiner Felljacke und schob sie mit den anderen zusammen. »Hier sind dreihundertzwanzig Dollar. Sie gehören Mrs. Walton. Bitte übergeben Sie ihr das Geld. Es ist eine Art Entschädigung für eine Beleidigung, die dieser Mister da ihr zugefügt hat.« Maria Dupont staunte nicht schlecht, es war ja auch eine Menge Geld. Sie nickte mir zu. »Wird erledigt, mein Junge.« Ich wandte mich wieder an den Dicken, der mich wütend anfunkelte. »So«, sagte ich. »Sie dürfen sich bei unserer Geschäftsleitung beschweren, Mister. Der Vorwurf, mich bereichert zu haben, zieht nicht mehr. Hier sind genug Zeugen, die bestätigen können, daß Ihre Version eine Lüge ist. Sie hatten mit mir ein Geschäft abgeschlossen – ebenfalls unter Zeugen –, dessen Bedingungen ich erfüllt habe. Jetzt wollten Sie mich betrügen. Es war mein gutes Recht, meine Forderung mit der Waffe in der Hand einzutreiben. Eine andere Sprache verstehen Sie ja leider nicht.« »Siehst du, Pierre«, sagte Charly und grinste breit. »Das ist Ronco.
Dieser Mister Tulligan wollte ihn aufs Kreuz legen, wie es so seine Art als Spielhallenbesitzer ist, aber unser Kleiner ist ihm über. Der andere da an dem Tisch ist der sehr ehrenwerte Mister Carmichel, dessen Spezialität es ist, reiche Witwen zu heiraten und danach zu verduften – natürlich unter Mitnahme von Barschaften und Schmuck.« Und Charly berichtete dem aufhorchenden Pierrre Dupont, was sich seit unserer Abfahrt aus St. Joseph alles ereignet hatte. Als er fertig war, sagte Dupont düster: »Ihr habt noch Glück gehabt. Ich habe gehört, daß einige Cheyennestämme rebellieren. Sie wehren sich gegen die Ausbreitung der Eisenhahn, die sämtliche Verträge bricht, in denen den Cheyennes die Unverletzlichkeit ihres Landes garantiert wurde. Der Cheyenne, den ihr erwischt habt, muß ein einzelner Späher gewesen sein, oder er sollte eine Botschaft zu einem südlicheren Stamm bringen. Ich befürchte auch, daß sie die Gegenkutsche aus Lincoln überfallen haben. Sie ist überfällig. Wie ich die Sache sehe, solltet ihr hierbleiben. Eine Weiterreise ist zu gefährlich.« Mister Carmichel fuhr auf. »Ich verlange, sofort nach Lincoln gebracht zu werden.« »Ich auch«, echote Mister Tulligan. »Sind Sie schwerhörig?« grollte Pierre Dupont. Mister Tulligan pochte mit dem Handknöchel auf den Tisch: »Ich verlange mein Recht! Ich habe für die Reise bezahlt. Spannen Sie sofort an. Wenn ich nicht rechtzeitig in Lincoln bin und meine Geschäfte deswegen platzen, werde ich Ihre Gesellschaft verklagen und dafür sorgen, daß Sie alle entlassen werden.« Er hieb die Faust auf den Tisch. »Es ist unerhört, was man sich von Ihnen alles bieten lassen muß.« »Jawohl«, sagte der zerknautschte Dandy. »Es ist wirklich unerhört. Und dann diese Rüpeleien, unerhört! Wer ist man denn?« »Ein Witwentröster«, sagte ich verächtlich. »Fragen Sie doch nicht so blöd.« Pierre Dupont grinste und schüttelte dann den Kopf. »Gentlemen, seien Sie vernünftig. Niemand kann für Ihren Schutz garantieren. Ein Teil Ihrer Reise verläuft durch Indianergebiet, und Sie haben ja gehört, daß ein Aufstand ausgebrochen ist.«
»Na und?« schrie der dicke Tulligan aufgebracht. »Dann muß man diese verdammten Wilden eben abschlachten! Wozu haben wir denn eine Armee?« »Nicht für solche Scheißkerle wie Sie«, sagte ich. Ich drehte mich zu dem Stationer um. »Lassen Sie die beiden Kerle, Mister Dupont. Mit denen ist nicht zu debattieren, da ist jedes Wort umsonst.« Dupont nickte. »Scheint mir auch so.« Ein spitzer Schrei erklang aus dem Nebenraum. Mrs. Dupont riß die Tür auf und lief zur Küche. »Was ist, Maria?« fragte Pierre Dupont. »Die Wehen haben eingesetzt. Ich glaube, das wird eine Frühgeburt – kein Wunder, nach allem, was geschehen ist. Die arme Frau. Sie braucht jetzt einen starken Kaffee.« Sie eilte in die Küche. »He, Mann!« rief Mister Tulligan. »Ich möchte jetzt was essen.« »Ich auch.« Mister Carmichels Echo folgte so prompt wie immer. Ich sah, wie Pierre Dupont die Zähne zusammenbiß. »Ich möchte eine Flasche Wein und ein gebratenes Hähnchen!« rief Mister Tulligan. »Und ich ein zartes Filetsteak«, erklärte Mister Carmichel. »Mit Bohnen und Kartoffeln. Haben Sie Pfefferminzlikör?« Pierre Dupont schnappte nach Luft. Charly und ich grinsten uns an. Als Pierre Dupont uns grinsen sah, grinste er mit. Ohne die beiden noch weiter zu beachten, ging er in die Küche, und ich hörte ihn mit Pfannen und Geschirr hantieren. »So ein Flegel«, empörte sich Mister Carmichel. »Ich habe ihn etwas gefragt, und er hält es noch nicht einmal für nötig, mir zu antworten. Muß man sich das bieten lassen, Mister Tulligan?« »Nein. Eins sage ich Ihnen, Mister Carmichel. Diesen Rüpeln werde ich noch Manieren beibringen, so wahr ich George Tulligan heiße.« Nebenan hörte ich das Stöhnen von Mrs. Walton. Ich biß in meine Unterlippe und fühlte mich hilflos. Shita gähnte mich an, bog das Kreuz durch und streckte sich. Dann legte er sich neben dem Tresen hin und bettete seine Schnauze auf die Vorderpfoten. So schielte er zu mir hoch – voller Gleichmut und als wolle er sagen, daß die Geburt eines Kindes und das Genörgel von zwei Vollidioten ganz all
täglich seien. Manchmal wünschte ich mir, ein Hund zu sein. * Charly und ich aßen Spiegeleier mit Speck und Brot und tranken herrlichen, starken Kaffee. Die Hälse von Mister Tulligan und Mister Carmichel wurden lang und länger. Shita war mit einem Knochen beschäftigt. »Wo bleibt mein Hähnchen?« schrie Mister Tulligan. »Wo bleibt mein Steak?« rief Mister Carmichel. Pierre Dupont sortierte hinter dem Tresen Geschirr. Er hob die Schultern und sagte lakonisch: »Das hier ist eine Postkutschenstation und kein Speiserestaurant. Sie können Spiegeleier und Speck kriegen. Wenn Ihnen das nicht paßt, steht es Ihnen frei, zu Fuß nach Lincoln oder zurück nach St. Joseph zu gehen und dort Ihre Bestellungen aufzugeben.« Er grinste. »Wein und Pfefferminzlikör sind seit vorgestern leider ausverkauft. Da war ein Damenkränzchen hier und spielte Bridge. Die Ladys waren sehr trinkfreudig.« Charly gluckste. Ich kicherte. Unter uns zerknackte Shita seinen Knochen. Ich trank einen Schluck Kaffee – und erstarrte. Der Knochen flog in eine Ecke. Shita stand geduckt, mit vorgeschobenem Kopf und gesträubtem Nackenhaar neben dem Tisch und knurrte leise. Er blickte in die eine Ecke des Raums, dann wanderte sein Kopf langsam nach links. Ununterbrochen ertönte sein leises Knurren. Ich setzte die Tasse ab und griff nach dem Colt. »Was …«, sagte Pierre Dupont und brach ab. Die Tür flog auf, und ich schoß. Der Indianer taumelte in den Raum, prallte gegen den Tresen und hob sein Messer. Pierre Dupont zerschlug eine Flasche auf seinem Kopf. Ich raste zur Tür und knallte sie dicht. Die beiden Riegel oben und unten rasteten ein. Der Indianer lag halb über dem Tresen und rammte sein Messer in das Holz. Seine Beine zuckten. Pierre Dupont hieb ihm noch eine
Flasche auf den Schädel. Da war Charly heran, riß den Indianer herum. Der Indianer war tot. Meine Kugel war tödlich gewesen. »Was ist mit der Hintertür?« flüsterte Charly. »Abgeriegelt«, raunte Pierre Dupont. Er holte eine Schrotflinte mit abgesägten Läufen unter dem Tresen hervor. Im Nebenzimmer hörten wir das Keuchen von Mrs. Walton. Maria Dupont sprach beruhigend auf sie ein. Die beiden Helden Carmichel und Tulligan lagen unter einem Tisch und hatten weiße Gesichter. Draußen wieherte ein Pferd, dann noch eins. Shita knurrte wieder. »Verdammt«, murmelte Pierre Dupont. »Wir müssen die Fenster besetzen und die Burschen vertreiben, bevor sie uns das Dach über dem Kopf anzünden.« Charly nickte kurz. »Ich übernehme das Fenster in eurem Schlafzimmer zum Hof hin. Hast du noch Waffen, Pierre?« »Zwei Colts und eine Sharps unten im Kellerraum.« Er bückte sich hinter dem Tresen, und ich hörte, wie er eine Klappe öffnete. Der tote Indianer starrte mich blicklos an. Ich empfand die Anklage und versuchte sie abzuschütteln. Fast wütend wandte ich mich um, ging zu dem Tisch, unter dem Mister Carmichel und Mister Tulligan lagen, und schob ihn zurück. Sie starrten mich aus schreckgeweiteten Augen an. »Stehen Sie auf«, sagte ich hart. »Auch wenn Sie die Hosen voll haben – Sie müssen jetzt kämpfen, wenn Sie nicht Ihre Skalps verlieren wollen.« Sie kamen hoch und schlotterten an allen Gliedern. »Ich – ich habe noch nie geschossen«, wimmerte Mister Carmichel. »Dann werden Sie es jetzt lernen.« Pierre Dupont erschien und reichte den beiden die Colts. Er erklärte Elton Carmichel kurz den Mechanismus der Waffe. Ich stand bereits an dem einen Fenster, das zur Veranda hinausging, und schob leise die Verriegelung der beiden Läden zurück. Charly huschte in das Schlafzimmer der Duponts.
Vorsichtig öffnete ich die Läden und blickte nach draußen. Mit dem Rücken zu mir lauerte eine Gestalt an der Tür. In der rechten Faust hielt der Indianer einen Schädelbrecher. Jenseits des Trails erkannte ich undeutlich zwei Pferde. Der Indianer war so bewegungslos wie ein Monument. Ich drehte mich um und winkte Pierre Dupont heran. Dabei legte ich den Zeigefinger auf die Lippen. Der nickte und glitt leise zu mir ans Fenster. Seine Lippen wurden schmal, als er die bewegungslose Gestalt sah. Blitzartig riß er die Schrotflinte hoch, stieß sie durch die Scheibe des einen Flügels und feuerte. Der Indianer wurde noch im Sprung getroffen. Mit einem wilden Schrei flog er von der Veranda. Die Schrotladung fegte ihn buchstäblich weg. Jenseits des Trails wuchs eine Gestalt hoch, und ich hörte wieder das bekannte Schwirren. Ich riß Pierre Dupont zu Boden. Hinter uns hörte ich ein Gurgeln und einen polternden Fall. Ich fuhr herum. Mister Tulligan wälzte sich auf dem Boden und umkrallte den Pfeil, der in seinem Hals steckte. Ich raste zur Tür, entriegelte sie blitzschnell und sprang nach draußen. Ein Pfeil zischte und schlug mit einem schmatzenden Laut in einen Verandapfosten. Deutlich sah ich, wie der Indianer drüben jenseits des Trails mit einer huschenden Bewegung den dritten Pfeil auf die Sehne legte. Da schoß ich. Der Indianer sprang hoch, der Bogen flog zur Seite. Ich feuerte noch einmal, und wieder war es ein Treffer. Der Indianer wurde zurückgestoßen und kippte hintenüber. Die beiden Indianerponys rechts von ihm rasten wie verrückt los. Ein drittes weiter hinten, das ich nicht gesehen hatte, folgte ihnen. Ich hörte es nur am Hufschlag. Der Indianer bewegte sich nicht mehr. Ich verharrte im Schatten des Verandaüberdachs und wartete. Aber nichts geschah. »Hast du ihn erwischt?« Pierre Dupont erschien in der Tür. »Ja.« Ich verließ den Schatten und ging zu der bewegungslosen Gestalt. Als ich mich über sie beugte, blickte ich in gebrochene Augen.
Da war sie wieder, die Anklage. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden waren vier Indianer gefallen – und ich hatte auf der Gegenseite gestanden. Zwei waren durch meine Hand getötet worden, auf den ersten hatte auch Charly mitgeschossen, einen hatte die Schrotladung Pierre Duponts getroffen. Ich war müde und hatte bleischwere Füße, als ich zurück in die Station ging. Charly schleppte gerade den toten Indianer nach draußen. Mister Carmichel hockte in der hintersten Ecke und heulte. Er saß mit dem Gesicht zur Wand, und ich sah, wie seine Schultern zuckten. Mister Tulligan lag tot am Boden. Die Reise nach Lincoln war für ihn zu Ende. Er würde nie wieder eine Frau beleidigen. Ich sank auf einen Stuhl und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
8. Die Nacht ging vorüber, ohne daß etwas geschah. Charly und Pierre Dupont hatten abwechselnd gewacht. Mich hatte Charly auf eine Matratze unter dem Tresen gepackt, ohne daß ich aufgewacht war – ein böses Zeichen für jemanden, der in der Wildnis überleben will und einen leichten Schlaf haben muß. Ich wachte davon auf, daß mich Shita ableckte. Verschlafen wehrte ich ihn ab, betrachtete die Tresenwand neben mir und stieß mir den Kopf an dem Regalboden, als ich mich aufrichtete. Der Tag fing gut an. Ich wälzte mich unter dem Tresen hervor. Shita kläffte und wedelte mit dem Schwanz. Er war vergnügt wie eh und je. »Na?« fragte Charly. Er saß an einem der Fenster, rauchte eine Pfeife und hatte das Revolvergewehr quer über den Knien. »Na?« sagte ich und gähnte. Mister Tulligan war verschwunden. Dort, wo er gelegen hatte, war ein dunkler Fleck auf dem Holzboden. Mister Carmichel saß an der Rückwand auf einem Stuhl und stierte mich stumpf an. Dabei zog er abwechselnd an seinen
Spinnenfingern, und jedes Mal knackte es. Er war nur noch ein Schatten seiner selbst, der Witwentröster. Pierre Dupont hantierte in der Küche. Der Duft von Kaffee wehte in den Aufenthaltsraum. Aus dem Zimmer nebenan vernahm ich das verhaltene Stöhnen von Grace Walton. Ich blickte Charly fragend an. »Mrs. Dupont meint, daß das Kind bald kommen wird«, sagte Charly. »Aber Mrs. Walton hat Fieber. Eine böse Sache. Sie erwartete das Kind eigentlich erst in zwei, drei Wochen.« »Sie wird es schaffen«, sagte ich und glaubte fest daran. »Vielleicht«, sagte er. »Das ist so eine Sache mit diesen Frühgeburten – mal stirbt das Kind, mal die Mutter, mal alle beide.« »Hör doch auf«, sagte ich wütend. »Ja, ja«, sagte Charly weise und paffte dicke Wolken. »So ist das Leben.« »Ich will hier weg«, meldete sich Mister Carmichel unvermittelt. Charly drehte sich zu ihm um. »Bitte sehr, dort ist die Tür.« Er deutete mit dem Pfeifenstiel zur Tür. »Und vergessen Sie nicht, die Cheyennes von mir zu grüßen. Sie sind nämlich schon da.« Mister Carmichel zuckte zusammen, als habe er einen Peitschenschlag erhalten. »Sie sind da?« flüsterte er. Ich trat an das andere Fenster und blickte nach draußen. Sie hockten auf ihren Indianerponys, bronzene Gestalten, größer und breiter als die Apachen. Der Morgenwind spielte in ihren langen, schwarzen Haaren. Sie wirkten wie steinerne Monumente. Mein Blick wanderte ringsum im Halbkreis, der vom Fenster aus einzusehen war. Sie hatten die Station umstellt. Ganz rechts wartete eine Gruppe von vier Cheyennes in stoischer Ruhe, weiter links waren es drei, dann folgten fünf … Ich hörte auf zu zählen. Es mußten mindestens dreißig sein. Charly grinste mich gleichmütig an. »Gut, was?« Er spähte wieder nach draußen. »Bis jetzt habe ich erst einen entdeckt, der eine Schußwaffe hat – einen Schrotprügel mit abgesägten Läufen. Das bedeutet, wenn ich das richtig sehe, daß sie tatsächlich die
Gegenkutsche abgefangen haben. Die meisten Kutscher von uns sind mit solchen Schrotspritzen ausgerüstet. Wenn sie angreifen, sollten wir uns zuerst diesen Burschen vornehmen, klar?« Ich nickte und überprüfte meinen Colt und das Revolvergewehr. »Sag Pierre Bescheid, daß wir Besuch haben. Er und Carmichel müssen die Hofseite übernehmen.« Pierre Dupont goß gerade aus einem Topf den schwarzen Kaffee in eine Kanne. Er grinste mich an. »Sie sind da, was?«, »Ja.« »Wir können noch vorher frühstücken«, sagte er. Ich starrte ihn entgeistert an. »Vor einer halben Stunde tut sich da gar nichts«, sagte er. »Die lassen uns zappeln, weil sie denken, daß sie viel Zeit haben. Außerdem sollen wir nervös werden. Bist du schon nervös?« »Ich bin ein Apache.« Er musterte mich und lächelte. »Du warst einer, Junge. Charly hat mir alles erzählt. Hilf mir mal. Dieses Tablett mit dem Kaffee und den zwei Tassen bringst du bitte zu Mrs. Walton und meiner Frau. Aber schmeiß es ja nicht hin.« Ich schob mit dem Tablett ab, warf im Vorbeigehen einen Blick aus dem Fenster – unsere Freunde verharrten immer noch bewegungslos –, ging zu dem Nebenzimmer und klopfte. Mrs. Dupont öffnete mir. Sie strahlte mich mit ihrem mütterlichen Lächeln an und sagte: »Hallo, Ronco! Hm, das riecht aber gut. Danke.« Ich überreichte ihr das Tablett und sah für einen kurzen Moment Mrs. Walton. Ihr Gesicht war hochrot und schweißüberströmt. Ihre Haare waren klitschnaß. »Wie geht es ihr?« flüsterte ich. »Wird sie es schaffen?« »Das weiß nur der liebe Herrgott«, sagte Mrs. Dupont leise. »Ich soll dir für das Geld danken.« »Kann ich noch irgendwie helfen?« fragte ich. Sie verneinte lächelnd. Leise schloß ich die Tür. * Sie griffen eine dreiviertel Stunde später an – eine Horde wildgewordener Teufel. Ich schreibe das so, wie ich es damals
empfand. Ihre gellenden, nervtötenden Schreie zerrissen die morgendliche Stille, ein Pfeilhagel prasselte gegen die Station, Staub wallte hoch, Hufe donnerten – die Hölle brach auf. Wir schossen wie die Irren. Die Trommel meines Revolvergewehrs faßte acht Patronen. Ich weiß, daß jede Kugel ihr Ziel fand. Vor meinem Fenster überschlugen sich Pferde, Menschenleiber prallten zu Boden, gerieten unter die Pferde, wurden zertrampelt. Ein riesiger Cheyenne schaffte es. Er raste mit seinem Pferd bis auf die Veranda und schoß mit einem Hechtsprung durch mein Fenster. Er knallte gegen den Tresen, und da saß ihm auch schon Shita an der Kehle und biß zu. Der Hund war wie wahnsinnig. Er wich erst knurrend zurück, als ich ihn anschrie. Der Cheyenne verblutete. Ich löste den Schädelbrecher aus seiner Hand und legte ihn griffbereit auf den Tresen neben die Kassette. Draußen, verebbten die gellenden Schreie. Sie zogen sich hinter den Overlandtrail zurück. Pierre Dupont stand plötzlich neben mir, legte die Sharps auf das Fensterbrett, visierte kurz und feuerte. Ein Cheyenne, etwa hundert Yards entfernt, warf die Arme hoch und kippte aus dem Sattel. Die anderen zogen sich noch weiter zurück, aber Pierre Dupont schoß noch einen aus dem Sattel. Da verschwanden sie hinter den Hügeln. Er lächelte mich grimmig an und lud seine Sharps. Ätzender Pulverqualm zog durch den Raum. Der Durchzug der geöffneten Fenster beförderte ihn nach draußen. Shita saß auf den Hinterpfoten und starrte beleidigt zu mir hoch. »Ist ja gut«, sagte ich zu ihm. »Bist du in Ordnung?« fragte Charly und verließ sein Fenster. »Ja.« Kopfschüttelnd blieb Charly vor dem toten Indianer stehen. »Ich dachte schon, jetzt sei es mit dir aus, als der durchs Fenster flog. Mach mal die Tür auf, damit ich ihn nach draußen befördern kann.« Ich entriegelte die schwere Tür, und Charly zog den toten
Cheyenne an den Füßen auf die Veranda und von dort auf den Vorplatz. Er erschoß ein Pferd, daß noch mit den Läufen zuckte, und blickte sich um. Der Wind zerrte in seinem schwarzen, struppigen Bart. Er wirkte wie ein unbehauener Granitklotz. »Pause«, sagte er und kehrte zurück. »Ist noch Kaffee da?« »Hier«, sagte Pierre Dupont und schob eine Kaffeekanne und eine Tasse über den Tresen. Ich verriegelte die Tür. Charly schenkte sich ein und trank. Über die Tasse weg starrte er Pierre Dupont an. »Dreizehn Tote«, sagte er. »Jetzt werden sie vorsichtiger sein.« »Das schon, aber noch gefährlicher. Sie dachten, die Station stürmen zu können, um hier Beute zu machen. Das ist ihnen mißlungen. Jetzt fragt es sich, ob sie es noch einmal versuchen oder uns ausräuchern. Bei letzterem müßten sie auf Beute verzichten.« »Wir sollten Wassereimer bereitstellen«, sagte ich. »Genau.« Ich hörte wieder das widerliche Knacken und drehte mich um. Mister Carmichel spielte mit seinen Spinnenfingern und zog sie in die Länge. Er stand in der Tür zum Schlafzimmer der Duponts und hatte nervöse Zuckungen um den Mund. Sein Gesicht war pulvergeschwärzt, also hatte er sogar geschossen. Den Colt hatte er in den Hosenbund gesteckt. Langsam näherte er sich dem Tresen und zerrte an seinen Fingern. »Ich habe drei von den Wilden erschossen«, sagte er und leckte sich über die Lippen. Er kicherte albern, stützte die Ellbogen auf die Tresenplatte und knackte mit den Fängern. Keiner von uns erwiderte etwas. Ich wandte mich ab und trat ans Fenster. Der Himmel war bewölkt. Graue Wolkenfetzen wurden vom Wind südwestwärts getrieben. Die Station war wie eine Insel in einem Ozean der Einsamkeit. Staubschleier wehten über den Trail, der Wind sang sein monotones Lied und strich über die Toten weg. Ich stand verloren am Fenster. Bald würde Schnee fallen und alles zudecken.
* Gegen Mittag griffen sie wieder an, aber nicht mit Brandpfeilen. Sie wollten Beute machen und rasten mit verwegenem Mut auf die Station zu. Dieses Mal griffen sie nur von der einen Seite her an – ein taktischer Wahnsinn, denn aus allen Fenstern der Verandaseite schlug ihnen unser Feuer entgegen. Unsere Revolvergewehre belferten, dazwischen krachten die Schrotladungen Pierre Duponts und die Revolverschüsse Elton Carmichels. Ein Knäuel von Menschen- und Pferdeleibern, in den unser Blei schlug, ballte sich vor der Station zusammen. Es war mörderisch. Pferde bäumten sich auf und brachen zusammen oder prallten zu Boden. Die verletzten Tiere schlugen um sich und vergrößerten das Chaos. Ihr Wiehern übertönte die spitzen Schreie der Cheyennes. Ich sah einen Cheyenne, dessen Gesicht von einem Pferdehuf getroffen wurde. Ein anderer flog aus dem Sattel, stieß gegen einen Verandapfosten, umklammerte ihn und empfing so eine Schrotladung Pierre Duponts. Er klatschte auf die Veranda. Einer schaffte den Sprung vom Pferd auf das Verandadach, ohne daß ihn eine Kugel erwischte. Er schwang sich blitzschnell hoch, und seine langschäftigen Mokassins verschwanden aus meinem Blickfeld. Ich starrte zur Decke hoch. Der Cheyenne mußte irre sein. Das ganze Dach dröhnte. Er bearbeitete es mit dem Schädelbrecher. Holz splitterte und barst, Dachschindeln lösten sich und fielen in den Raum. Plötzlich war ein Loch in der Decke, und ich blickte in den grauen Himmel. Eine braune Hand erschien und riß an den Schindeln. Ein Sparren brach ab und krachte nach unten. Pierre Dupont wirbelte herum und schoß. Die Schrotladung zerfetzte die Hand. Der Cheyenne stürzte kopfüber durch das Loch, den Schädelbrecher in der unverletzten Rechten. Er prallte auf einen Tisch, riß ihn um und sprang wie eine Katze auf die Füße.
Ich hob den Colt und schoß. Der Cheyenne wankte und setzte sich auf einen Stuhl. Es war geradezu grotesk. Der Schädelbrecher entfiel seiner Hand. Seine Rechte tastete zur Brust, wo ihn meine Kugel getroffen hatte. Seine Linke hing steif nach unten. Er blickte sich um, als fände er alles hier sehr schön, lächelte und starb im Sitzen. Ein gellender Schrei, wie ich ihn noch nie gehört hatte, ertönte aus dem Nebenzimmer. Ein Schrei voller Schmerzen, aber auch ein Schrei wie nach einer Erlösung aus unendlichen Qualen. Dazwischen krähte ein dünnes Stimmchen. Zumindest Charly, Pierre Dupont und mich durchzuckte es wie ein Peitschenschlag. Ich weiß, daß ich ans Fenster stürzte und schoß, bis der Hammer auf eine leere Patrone klickte. Zu diesem Zeitpunkt war Charly bereits einfach durchs Fenster gesprungen und raste mit wirbelnder Sharps, die er am Lauf gepackt hatte, auf einen Cheyenne zu, der ihm vom Sattel aus fast entgeistert entgegenstarrte. Ich schnappte mir den Schädelbrecher vom Tresen und hechtete ebenfalls durchs Fenster. Das krähende Stimmchen hatte ich noch in den Ohren. Den Cheyenne, der gerade auf die Veranda stieg, traf ich voll. Hinter mir polterte Pierre Dupont auf die Veranda, ein Feuerblitz raste an mir vorbei und fegte einen anreitenden Cheyenne aus dem Sattel. Charly wälzte sich mit seinem Mann durch den Staub und kämpfte wie ein Berserker. Wir drei waren zu reißenden Wölfen geworden. Es war geradezu unwahrscheinlich, aber die Cheyennes wandten sich zur Flucht – sie flohen vor drei Verrückten. Drei schwangen sich hinter ihren Stammesgenossen auf die Pferde, zwei andere liefen davon, als sei der Teufel hinter ihnen her. Charly hatte seinen Gegner erledigt. Um uns waren Blut und Tod und Vernichtung. Ich erwachte wie aus einem Traum und sah mich schaudernd um. Lange Zeit später hörte ich, daß an den Feuern der Cheyennes
dieser Kampf das »Massaker bei der Dupont-Station« genannt wurde. Ich ließ den Schädelbrecher fallen. Pierre Dupont stand auf seine Schrotflinte gestützt und starrte den Indianern nach. Charly hatte blutunterlaufene Augen und stierte mich wild an. »Komm zu dir«, sagte ich zu ihm und sah, wie er zusammenzuckte. Er wischte sich mit der rechten Pranke über die Augen und holte tief Luft. »Mann, Mann«, murmelte er, als er sich umblickte. Ich ging in die Station und merkte unbewußt, daß mir etwas auffiel. Aber da stand Mrs. Dupont in der Tür des Nebenzimmers, lächelte und hielt mir in einem Wickelbündel etwas entgegen, das sich bei näherer Betrachtung als ein verschrumpelter Gartenzwerg herausstellte. »Ein kräftiger Junge«, sagte sie stolz. »Und so hübsch wie die Mutter.« Oje! So hübsch wie die Mutter? Ich hatte da gewisse Zweifel, wagte sie aber nicht zu äußern. »Und wie geht es Mrs. Walton?« fragte ich. »Sie schläft den Schlaf der Erschöpfung.« Ich atmete erleichtert auf und drehte mich zu Charly und Pierre Dupont um, die gerade die Station betraten. Ich erstarrte, denn ich begriff, was mir aufgefallen war. Die Kassette Marshal Fullers war vom Tresen verschwunden. Und mit ihr Mister Elton Carmichel.
9. Charly sah meinen entsetzten Blick zum Tresen und schaltete erstaunlich schnell. Mit einem Satz war er in der Küche. Die Küchentür stand sperrangelweit offen. Er raste zur Tür, ich hinter ihm her. Mister Carmichel schwang sich beim Stall gerade in den Sattel der Fuchsstute. »Halt!« brüllte Charly. »Bleiben Sie stehen, Mann!«
Er lief über den Hof auf Mister Carmichel zu. Der lachte höhnisch und feuerte wie ein Revolvermann aus der Hüfte. Charly wurde herumgeschleudert und brach zusammen. Ich sprang vor und verfluchte mich, nicht meine Waffe bei mir zu haben. Mister Carmichel hieb dem Fuchs die Hacken in die Seiten – er saß wie ein Klammeraffe im Sattel –, und der Fuchs ging wiehernd ab. Ich sah nur noch fliegende Hufe – und hinten über der Kruppe die Kassette. Mister Carmichel galoppierte nach Süden. Ich lief zu Charly. Gottlob, er lebte. Er versuchte, sich aufzusetzen. An seiner linken Hüftseite breitete sich ein Blutflecken aus. Er starrte zu mir hoch. Zwischen zusammengebissenen Zähnen sagte er: »Verdammt, du mußt hinter ihm her. Jag ihm das Eisendings wieder ab, oder der Teufel soll dich holen.« »Paß nur auf, daß er dich nicht holt«, sagte ich. »Werd bloß nicht frech, Kleiner«, ächzte Charly und preßte stöhnend die Hand auf die Hüftwunde. Zusammen mit Pierre Dupont brachte ich Charly in die Station. Er fluchte ununterbrochen und verlor erst das Bewußtsein, als ihm Pierre Dupont die Kugel aus der Hüfte holte. Der tote Cheyenne saß immer noch auf dem Stuhl. Das Baby Walton lag in einer Kartoffelkiste in der Küche und schlummerte. Es war eine Idylle wie in einem Tollhaus – umgeworfene Stühle und Tische, ein Dach, durch das der Himmel lugte, ringsum tote Pferde und Krieger, die Außenwände mit Pfeilen bespickt. Mrs. Dupont bereitete auf dem Herd in aller Ruhe Spiegeleier mit Speck und sagte: »Du mußt ordentlich was essen, bevor du hinter dem Kerl herreitest.« Herreitest? Mit was denn? fragte ich mich. »Du kriegst meinen Wallach«, sagte Pierre Dupont und grinste. »Ein hochbeiniger Ziegenbock, der so zäh wie altes Leder ist.« »Aha«, sagte ich und sah meine Waffen nach. »Die Schrotspritze nimmst du auch mit«, sagte Pierre Dupont. »Im Nahkampf senst die alles von den Füßen, verlaß dich drauf.«
Ich stopfte die Spiegeleier mit Speck in mich hinein und trank drei Tassen Kaffee. Mrs. Dupont packte mir die Satteltaschen mit Speck und Brot voll. Pierre Dupont holte Munition und zwei Scabbards für das Revolvergewehr und die Schrotflinte. Dann ging er nach draußen und sattelte den Wallach. Und Shita? Er schlich im Aufenthaltsraum um den toten Indianer, der auf dem Stuhl saß, herum und knurrte ihn an. Sollte ich ihn hierlassen? Mrs. Dupont mußte wohl meinen Blick gesehen haben. Sie sagte: »Nimm ihn mit, Ronco. Er gehört zu dir und wird dir helfen, den Kerl zu finden.« Da hatte sie allerdings recht. Ich nickte und wischte den letzten Rest Fett mit einer Brotkante vom Teller. Mrs. Dupont füllte Kaffee in eine alte, zerbeulte Armeeflasche. Sie dachte an alles, sogar an Seife und ein Handtuch und Verbandszeug. Ich stand auf. »Komm heil zurück, mein Junge«, sagte sie und hatte plötzlich feuchte Augen. Ich hatte mit einem Mal einen Kloß im Hals. »Grüßen Sie Charly und Mrs. Walton«, sagte ich und ging durch die Küchentür nach draußen in den Hof. Pierre Dupont führte gerade den Wallach aus dem Stall. Shita flitzte an mir vorbei und bellte laut. Der Wallach trompetete ihn an, und es klang, als kichere er. Er war tatsächlich mächtig hochbeinig. Shita setzte sich vor ihn hin und beäugte ihn mit schiefem Kopf. Der Wallach schnaubte sanft. Wenn er gegen Shita nichts hatte, würde er mit mir auch einverstanden sein. Ich trat zu ihm und ließ mich beschnuppern. Dann schnallte ich die Satteltaschen und die beiden Scabbards fest und zog mich in den Sattel. Pierre Dupont hob die Hand. »Viel Glück, Ronco!« »Danke.« In leichtem Trab ritt ich vom Hof und folgte den Spuren der Fuchsstute. Elton Carmichel mochte etwa eine Stunde Vorsprung haben, aber er war kein Mann, der im Sattel aufgewachsen war. Er
war ein verweichlichter Stadtmensch und in der Wildnis hier draußen ein Blinder. Aus den Spuren sah ich, daß er die Fuchsstute wie ein Irrer angetrieben hatte. Wahrscheinlich würde er sie zu Tode hetzen. Ich konnte mir Zeit lassen. Shita hatte begriffen, welcher Spur ich folgte, und übernahm die Führung. Schnüffelnd lief er an ihr entlang. Ich brauchte nur hinter ihm herzureiten. Der Wallach ging leicht und elegant. Er gehorchte auf Schenkeldruck und Aufforderung prompt und diszipliniert. Ich ritt ein gutes Pferd, und das war hier draußen Gold wert. Ich überlegte, wie ich Elton Carmichel angehen sollte, wenn ich an ihm dran war. Es war jetzt Nachmittag. Eine Chance konnte sich ergeben, wenn er gegen Abend campierte. Das würde er bestimmt tun. Ich konnte mir bei einem Mann wie ihm nicht vorstellen, daß er in der Dunkelheit weiterreiten würde. Wenn er schlief, würde ich mich anschleichen können und ihm die Kassette klauen. Was mit ihm weiter geschah, konnte mir gleichgültig sein. Er hatte zwar den unbewaffneten Charly angeschossen, aber ich war nicht sein Richter. Entweder überlebte er die Wildnis, oder er ging unter. Vielleicht erwischten ihn auch die Cheyennes, die für mich ebenfalls ein Problem waren. Sie waren nach ihrem zweiten erfolglosen Angriff abgezogen. Das bedeutete aber keineswegs, daß sich damit die Lage in diesem Gebiet wieder stabilisiert hatte. Ich mußte aufpassen, ich mußte verdammt aufpassen. Shita bog plötzlich hart nach Westen ab. Ja, die Hufspuren zweigten nach rechts weg. Ich zügelte den Wallach und hielt. Als Shita den Hufschlag nicht mehr hörte, drehte er sich um und setzte sich auf die Hinterpfoten. Er wartete hechelnd. Warum war Carmichel plötzlich nach Westen geschwenkt? Wollte er zum Overlandtrail? Vor mir und nach Osten erstreckte sich fast flaches Land mit Büffelgras und ein paar Büschen. Westlich erhoben sich ein paar Hügelkämme. Fühlte sich Carmichel dort sicherer als hier auf dem Präsentierteller der weiten Ebene? Hatte er weiter
südlich oder östlich etwas entdeckt, was ihn so abrupt zu einer Richtungsänderung bewogen hatte? Ich trieb den Wallach wieder an und folgte den Hufspuren westwärts. Eine halbe Stunde später wußte ich die Antwort. Schräg von Süden stießen die Hufspuren von zwei unbeschlagenen Ponys auf die Spuren der Fuchsstute und folgten ihr. Cheyennes! O verdammt! dachte ich. Die Fuchsstute mochte gut sein, wenn sie vernünftig geritten wurde. Aber Carmichel – was wunder! – war in Panik geraten, nachdem er die beiden Indianer entdeckt hatte. Die Spuren der Fuchsstute verrieten es. Dieser Idiot! Ich spähte voraus zu den Hügeln im Westen. Was mochte sich da jetzt abspielen? Entschlossen trieb ich den Wallach zu schnellerer Gangart an, und er folgte willig. Er war ausgeruht, jedenfalls ausgeruhter als die Fuchsstute. Jetzt ritten drei Verfolger auf Carmichels Spuren. Angenommen, die beiden Cheyennes würden ihn vor mir erwischen – und daran gab es eigentlich keinen Zweifel –, was würden sie mit der Kassette tun? Mir wurde es heiß und kalt. Im günstigsten Fall würden sie den Eisenkasten nicht beachten, aber das konnte ich mir nicht vorstellen. Apachen würden das Ding untersuchen, das stand mal fest. Und Cheyennes? Klar, die auch. Jetzt geriet ich in eine leichte Panik, die ich mühsam niederkämpfte. Der Gedanke an Marshal Fuller half mir. Dann würde ich eben die beiden Cheyennes verfolgen! Ronco, der weiße Apache, hatte sich mächtig verändert. Auch das war wieder ein Schock, aber nicht mehr so schlimm wie ehedem. Ich schaltete eisern alle Gedanken aus, die mich bedrängten, und konzentrierte mich auf die drei Hufspuren vor mir. Die Fuchsstute lag hinter dem ersten Hügel – tot. Sie war noch warm. Das Tier hatte eine Frau mit einem Kind im Leib getreulich zur Station getragen. Und ein Dreckskerl hatte es zu Tode geritten. Sogar der Schweiß auf dem Fell war noch nicht getrocknet – ebensowenig wie der Schaum, der blutig war.
Ich zog die Schrotflinte aus dem Scabbard und blickte mich um. Shita lauerte und spürte, daß die Jagd zu Ende ging. Die Stiefelspuren Carmichels zweigten nach rechts in die Hügel ab. Die Trittsiegel der Ponys folgten ihm. Ich glitt aus dem Sattel und führte den Wallach seitwärts in eine Sandkuhle, die von Büschen umwachsen war. Dort pflockte ich ihn an. Shita war uns gefolgt und starrte aufmerksam zu mir hoch. Ich nickte ihm zu und holte Munition für die Schrotflinte aus den Satteltaschen. Dabei dachte ich an Pierre Duponts Worte über den Nahkampf. Shita und ich verließen die Kuhle und folgten den Spuren, die so deutlich waren, als seien sie vor Minuten entstanden. Eine Viertelstunde später befanden wir uns dort, wo die beiden Cheyennes Elton Carmichel erledigten. Ich wunderte mich, daß er nicht schrie. Das war mein erster Eindruck. Er lag in einer Mulde – die Kassette vor seinem Kopf. Aber die beiden Cheyennes hockten etwa dreißig Schritte seitwärts über ihm in den Büschen – der eine links, der andere rechts von ihm – und spickten ihn mit Pfeilen. Ich konnte ihm nicht helfen. Oder ich hätte Selbstmord begangen. Ich befand mich zwischen ihm und dem Cheyenne, der sich rechts vor mir hinter Buschwerk duckte und mit stoischem Gleichmut seine Pfeile aus dem Köcher hinter seiner Schulter zog, auf die Sehne legte, visierte und abschoß. Der Dandy Elton Carmichel starb still und ohne Aufhebens. Vielleicht hatte ihn bereits der erste Pfeil getötet, ich konnte das nicht so genau erkennen. In der rechten Hand mit den Spinnenfingern hielt er den Colt, aus dem er bisher nicht einen einzigen Schuß abgefeuert hatte. Seine linke Hand umklammerte eine Ecke der Kassette, als wolle er sie für immer festhalten. Ein »für immer« gab es für ihn nicht mehr. Die beiden Cheyennes riefen sich etwas zu, das ich nicht verstand. Dann standen sie hinter ihren Deckungen auf und stiegen in die Mulde hinunter. Der eine skalpierte Elton Carmichel, der andere beugte sich über
die Kassette und riß sie aus der Hand Carmichels. Ich atmete tief durch und wartete. Ich lag hinter einem Strauch, die Schrotflinte schußbereit vor mir. Der eine Cheyenne hing sich Carmichels Skalp an den Gürtel und lachte guttural. Der andere fummelte an der Kassette herum und wurde wütend. Er stieß mit dem Fuß dagegen und fauchte seinen Stammesbruder an. Der nahm einen Stein und hämmerte ihn auf die Kassette. Ohne Erfolg. Er spuckte auf die Kassette, und der andere tat es ihm nach. Nachdem das erledigt war, widmeten sie sich Elton Carmichel und zogen ihn aus – zuerst mußten sie alle Pfeile rausziehen. Ich zählte achtzehn. Der eine stieg in Carmichels Hose, der andere versuchte die Jacke anzuziehen. Nichts paßte. Sie waren beide breiter und größer als Elton Carmichel. Der Cheyenne mit dem Skalp behielt nur die Weste an. Dafür erhielt der andere den Colt und den Brillantring, der aber auf seinen kleinen Finger nicht draufpaßte. Er knüpfte ihn sich ins Haar. Ich dachte schon, sie würden sich um die Kassette nicht mehr kümmern, als sie an das Taschenmesserchen gerieten und sich anpalaverten, in wessen Besitz es übergehen solle. Das ging so eine Weile, bis der Cheyenne mit dem Colt wohl den glorreichen Einfall hatte, der andere könne ja die Kassette behalten. Ich schloß das daraus, wie er gestikulierte und auf den Kasten deutete. Dem Skalp-Cheyenne war das Dings nicht geheuer. Der andere grinste und spannte den Hammer. Er hielt den Colt mit beiden Händen fest und richtete ihn auf die Kassette. Der Skalp-Cheyenne schaute ihm verdrossen zu und trat zwei Schritte zurück. Der andere feuerte mit geschlossenen Augen. Er hielt die Arme weit von sich gestreckt. Wummernd entlud sich die Waffe. Die Kugel prallte auf den Eisendeckel – Querschläger! Er pfiff dem anderen um die Ohren, und der warf sich mit einem Hechtsprung zur Seite. Ich schaute fasziniert zu. Der Cheyenne mit dem Colt starrte verständnislos auf die
Kassette, auf seinen flachliegenden Stammesbruder und schließlich in die Laufmündung, aus der ein Rauchfaden hochstieg. Er roch daran – und erschoß sich. Wie das passierte, kann ich mir nicht erklären, es ging zu schnell. Ob er den Hammer wieder gespannt hatte, war nicht ersichtlich gewesen. Er brach wie von einem Axthieb getroffen zusammen. Der andere hob den Kopf, sah, was passiert war, flitzte hoch und jagte nach rechts den Hügel hinauf. Ein paar Minuten später hörte ich galoppierenden Hufschlag, der sich entfernte. Ich atmete tief durch und stieg in die Kuhle hinunter. Der Kassettendeckel hatte eine Delle – mehr nicht. Das Ding war höchstens mit einem Mörser zu zerschießen. Ich hob den Colt auf, schließlich gehörte er ja Pierre Dupont, klemmte mir die Kassette unter den Arm und machte, daß ich fortkam. Ich verwischte meine Spuren, denn ich mußte damit rechnen, daß sich der andere Cheyenne wieder besann und zurückkehrte. Als es dunkel wurde, befand ich mich in der Nähe des Overlandtrails. In einer Buschinsel schlug ich mein Nachtlager auf. * Am nächsten Morgen ritt ich über den Trail zurück zur Station. Als ich auf Sichtweite heran war, hätte ich fast die Flucht ergriffen – es wimmelte dort von Blauröcken. Bei den Apachen hatte ich gegen sie gekämpft. Aber ich war ja kein Apache mehr. Langsam ritt ich auf die Station zu. Die Soldaten liefen zusammen und starrten mir entgegen, als käme ich geradewegs vom Mond. Ein Sergeant mit Säbelbeinen trat mir entgegen. »Hallo, Kleiner!« sagte er. »Der Teufel ist Ihr Kleiner!« knurrte ich ihn an. Es war wie immer, und allmählich mußte ich mich wohl daran gewöhnen. Der Sergeant stemmte die Fäuste in die Hüften und blickte grimmig zu mir hoch. »Du Rotznase«, sagte er.
Am liebsten hätte ich ihm die Kassette auf den Schädel geknallt. »Sie Armleuchter«, sagte ich. Er lief rot an. Die Soldaten grinsten. Er marschierte auf mich los, um mich vom Pferd zu ziehen. »Lassen Sie das, Sergeant!« sagte eine scharfe, helle Stimme. Von der Veranda der Station sprang ein baumlanger Lieutenant und ging auf uns zu. Pierre Dupont folgte ihm. Hinter ihm erschien mein Charly McClister mit einer Krücke und humpelte ihm nach. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd. Der Lieutenant war sehr jung und hatte ein altes Gesicht mit scharfen, grauen Augen. »Lieutenant O'Connell«, sagte er. »Du bist Ronco, nicht wahr?« Ich nickte. Er lächelte und blickte auf die Kassette vor mir auf dem Sattel. »Du hast es also geschafft. Im Auftrag der Armee spreche ich dir meine Anerkennung aus.« Mir wurde es ziemlich warm. Charly strahlte, Pierre Dupont strahlte, die Blauröcke strahlten. Nur der Sergeant kaute auf einer Zitrone herum. Ein Idiot mußte immer dabeisein. »Du kannst dem Lieutenant die Kassette übergeben«, sagte Charly. »Nur gegen Quittung«, sagte ich. Die Blauröcke lachten schallend. Ich erhielt die Quittung und zehn Golddollar. Die Quittung trug das Datum: 3l. Oktober 1859. Die Reise nach Lincoln war zu Ende. Mrs. Walton und ihr kleiner verschrumpelter Gartenzwerg wurden von der Armee nach Lincoln gebracht. Charly und ich ritten nach St. Joseph zurück. Hinter uns auf dem Trail blieben Tote zurück – unter ihnen ein tapferer Marshal und zwei Männer, die gewogen und zu leicht befunden worden waren. Aber ich war nicht ihr Richter …
ENDE
Vorschau Lobo hob blitzschnell die gefesselten Hände und stieß sie dem einen der beiden Kerle ins Gesicht. Gleichzeitig ließ er sich fallen und hob die Füße an. Der Mann wurde zurückgeschleudert und prallte mit dem Rücken gegen das Regal mit den Flaschen. Das Regal krachte zusammen. Die Flaschen mit den in Spiritus eingelegten Tierleichen zerbarsten. Der Mann brüllte, als er den abgehäuteten Kadaver einer Maus auf seinem Schoß sah. Lobo hechtete sofort hinter dem ersten Mann her und schlug zu. Dafür kriegte er auch eine verpaßt. Aber dann wurde es dunkel. Wie aus weiter Ferne hörte er ein irres Kichern … Die Jagd auf RONCO, den Geächteten, geht weiter. Lesen Sie nächste Woche Band 196 dieser großen deutschen WesternSerie:
Tyrons Killergarde