Zwischen Höllenglut und eisiger Nacht Eine Welt der krassesten Gegensätze – sengende Sonnenglut auf der beleuchteten Hä...
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Zwischen Höllenglut und eisiger Nacht Eine Welt der krassesten Gegensätze – sengende Sonnenglut auf der beleuchteten Hälfte, Kälte und ewige Dunkelheit auf der Nachtseite – das ist der Planet Merkur, auf den uns der neueste UTOPIA-Band führt. Wir erinnern uns kurz an einige Angaben aus dem Anhang zum 16. und 18. Band dieser Reihe: Merkur ist – mit 6 Hundertsteln des Rauminhalts der Erde – der kleinste unter den „großen“ Planeten und im Mittel nur 57,8 Millionen Kilometer von unserem Zentralgestirn entfernt. Diese große Sonnennähe ist daran schuld, daß man Merkur von der Erde aus nur sehr schwierig beobachten kann. Wir wissen daher nicht viel über seine Oberfläche und können nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, in welcher Zeit sich Merkur um seine Achse dreht. Aller Wahrscheinlichkeit nach braucht der Planet zu seiner Achsendrehung die gleiche Zeit, wie zu einem vollen Umlauf um die Sonne, nämlich 88 Tage. Die Folge davon wären geradezu verheerende „Lebensbedingungen“ auf der Planetenoberfläche; denn ewig würde Merkur der Sonne die gleiche Seite zukehren. Auf dieser Seite wäre alles durch die erbarmungslose Sonnenhitze ausgeglüht. Bis zu 385 Grad steigt die Temperatur an den heißesten Stellen. Auf der Rückseite dagegen herrscht eisige Nacht, und die Temperatur dürfte dem „absoluten Nullpunkt“ (-273 Grad Celsius) unangenehm nahekommen. Zwischen diesen lebensfeindlichen Extremen gibt es eine schmale Übergangszone. Sie würde – wenigstens auf eng begrenztem Raum – immerhin noch die erträglichsten Verhältnisse bieten. Sollte Merkur allerdings eine Lufthülle besitzen, was bisher noch nicht erwiesen ist, dann müßten sich gerade in dieser „gemäßigten“ Zone Stürme austoben, die an vernichtender Gewalt jeden irdischen Vergleich in den Schatten stellen würden.
Von Alf Tjörnsen
Hölle ohne Ende! Und man konnte dieser flimmernden Verlorenheit, die sich von dem fernen Plateau mit trockenem Atem heranschob, nicht einmal in das grinsende Antlitz spucken. Die Zunge klebte am geschwollenen Gaumen, und es war schon schlimm genug, daß man alle paar Stunden einige Worte von sich geben mußte. „Lorb – knall mich ab!“ Der schöne Frank Paley, dessen glattes, nichtssagendes Schauspielergesicht die Hitze dieses fremden Planeten aussaugte, setzte den rechten Fuß nicht mehr auf – er stockte plötzlich, stierte benommen auf den rötlichen Felsboden und sackte dann ganz einfach in sich zusammen. Bordingenieur Lorb packte zu, aber der Körper des anderen riß ihn mit herunter. So schlapp waren sie schon! „Du bist ja verrückt, Frank!“ „Ich bin fertig, weißt du?“ „Das sehe ich“, knurrte der Mann, dessen länglicher Oberkörper nur mit einer Asbestkombination bekleidet war. Alles, 3
was er einmal darunter getragen hatte, verschmorte einige Meilen südlich – oder östlich – so genau wußte man es schon nicht mehr … „Knall mich doch ab!!“ Frank Paley stöhnte auf und schob mit letzter Kraft die Hand zwischen das brennende Gesicht und das glühende Geröll, das einmal aus dem Felsen herausgeknallt war. Ganz fest preßte er das Gesicht gegen die Handfläche, und doch wogte vor seinen geschlossenen Augen ein Feuermeer, in dem riesengroß ein unheimliches Sonnentier schwamm. Wieder stöhnte er auf – wild und verzweifelt. „Wird es denn nicht einmal dunkel, verflucht noch mal?“ „Wenn wir noch einige Tage durchhalten, Frank – dann kommen wir in den Zwielichtgürtel.“ „Einige Tage? Was heißt hier noch Tage?“ Lorb erkannte, daß sein Kamerad sich bedenklich dem Rande des Wahnsinns näherte. Das Raubtier Sonne kochte sein bißchen Gehirn aus wie nichts. Mitleidig legte er einen Arm um Frank Paleys Schulter. „Meine Armbanduhr geht noch. Auf der Erde, in Amerika, haben sie jetzt Abend Sie werden uns hier herausholen – glaube es mir, Frank!“ Aber Frank Paley konnte nichts mehr glauben oder an die Erde denken, oder daran, daß man sie noch herausholen würde. Er stand völlig im Bann der schweigenden Sonne, die über der Ebene in der dünnklar blauenden Atmosphäre wie ein unbarmherziger Gott hing, der sich langsam aufblähte und immer größer und furchtbarer wurde. „Sie kommt immer näher“, wimmerte Frank, und sein fluchendes Aufbegehren ging in einem kindlichen Aufschluchzen unter. „Als wenn sie uns fressen will.“ „Das hängt nur damit zusammen, daß der Merkur seinen Abstand zur Sonne sehr rasch ändert.“ 4
Lorb ließ den anderen nicht aus den Augen, während er seinen Proviantbeutel öffnete, der nichts mehr enthielt als einige Wasserdrops und Kalotabletten. Von diesem Zeug, der eisernen Reserve eines jeden Raumfliegers, lebten sie seit mindestens achtundvierzig Tagen. Elf Wasserdrops lagen noch in der Kunststoffdose. Das bedeutete elfmal noch eine letzte Erholung, bevor die Sonnenhölle sie ganz schluckte. Sekundenlang überlegte der Bordingenieur, dann nahm er seufzend einen der Drops, fuhr mit der Zungenspitze über die herrlich kalte Masse und tippte dem Zusammengesunkenen auf die Schulter. „He, du weinender Jüngling, sieh mal her!“ Der schöne Frank ruckte hoch und schielte gierig auf Lorbs Rechte. „Wasser?“ stieß er trocken hervor. „So etwas Ähnliches“, grinste Lorb freundlich. „Nimm!“ Er steckte dem Jüngeren die kleine Scheibe in den Mund, und der atmete tief und genußvoll, als der Drop seine Zunge feuchtete. In seinen entzündeten Augen flackerte der Lebenswille wieder auf – und das war gut so. „Hast du noch mehr davon, Lorb?“ „Sieben“, log der Bordingenieur, der wußte, daß der schöne Frank sonst rasch wieder schlapp machen würde. „Wir müssen uns ’ranhalten.“ Frank Paley schnalzte mit der Zunge und warf sich herum. Sogar den gespenstischen Anblick der riesengroßen Sonnenscheibe konnte er für einen Augenblick ertragen. „Anständig von dir, Lorb – Hunger habe ich auch.“ „Ich auch, mein Lieber! Aber vor zehn Stunden ist es damit nichts. Fünf Minuten kannst du noch deine langen Beine weichmachen, dann müssen wir weiter.“ Der Wasserdrop hatte Frank Paley wieder einigermaßen vernünftig werden lassen. Er schluckte heftig, als er auf ihren Proviantbeutel sah, blieb aber friedlich. „Du – ich habe mal ein Mädel gekannt …“ 5
Lorb nahm einen Felssplitter und warf ihn hoch, daß er im tief heranflutenden Schein der Sonne grell aufblitzte. Seine Augen folgten dem Splitter, und die Landschaft, aus der sie gekommen waren, glitt sekundenschnell an ihnen vorbei: Die weite, rötliche Ebene mit der meilenlangen, schmalen Senke, hinter der der spitze Kegel eines mittelgroßen Berges aufragte, der wiederum einige hundert Meilen vor dem gleichhohen Gebirgszug 38 N stand, an dem ihr Raumschiff zerschellt war. Und alles in ein brütendes, trockenes Schweigen getaucht, das ohne Regung war. Fremde, unfaßbare Welt nahe der Sonne! Aber was war das? „Ein Mädel, kann ich dir sagen!“ phantasierte Frank weiter. „Ich kenne nicht einmal ihren Namen, aber ich wollte, ich hätte sie jetzt neben mir …“ Lorb verstand nichts von dem Gerede, er sah aber etwas, was ihm einen furchtbaren Schrecken einjagte: Hinter dem Bergkegel flammte es auf – in einem magischen, zitternden Leuchten, das gleich wieder in sich zusammenfiel. Und fast gleichzeitig spürte er einen leichten Schlag. ‚Mein Gott’, dachte er, ‚wenn nur der Junge nichts merkt.’ Aber der schöne Frank schwelgte in Erinnerungen an ein rotblondes Mädchen in knallrotem Pullover und Shorts, das er einmal bei einem Studententreffen in Minnesota kennengelernt hatte. „Die fünf Minuten sind um, Frank!“ Lorb taumelte hoch, verzog das Gesicht unter einem stechenden Schmerz, der durch den Schädel raste, als er sich reckte, und überwand eine flüchtige Übelkeit. Verfluchter Merkur! Auch Frank Paley bequemte sich. Die belebende Wirkung des Wasserdrops ließ allmählich nach, aber sie trugen in der Tasche eine Planskizze, die noch von dem berüchtigten Ivor Mexass unseligen Angedenkens stammte und genau das Land 6
zeigte, in dem sie sich bewegten. Und über einer schmalen Zone, die durch Schraffur hervorgehoben war, stand flüchtig hingeschrieben: Wasserhöhlen. Weit vor ihnen lag diese Zone zwischen ewiger Sonnenglut und ewiger, eiskalter Nacht, weit vor ihnen noch. Aber ein barmherziges, mildes Zwielicht würden sie vorfinden. Und Wasserhöhlen! Frank Paley setzte die Füße wieder zu, und die ersten tausend Meter legten sie im Gleichschritt zurück. Wasser – frisches, sprudelndes Wasser aus dem Schoß des Planeten? Das war ihre Rettung! Schon der bloße Gedanke daran machte jeden Schritt über den glühenden, roten Fels leichter. Aber dann brodelten andere Fragen aus der kochenden Stille auf. „Ob die anderen die Erde wieder erreicht haben?“ „Bestimmt haben sie es, Frank!“ „Dann haben sie uns vergessen“, lachte Frank verächtlich. „Walm, Abel und die anderen …“ „Maul halten, Frank – und Luft sparen beim Marschieren!“ * Aber Harry Walm hatte sie nicht vergessen. Er war auf dem Merkur gewesen, als sie sich alle noch mit Ivor Mexass herumbalgten. Nur für Stunden. Aber das wachsende Sonnengespenst hatte er gesehen und die Trostlosigkeit der flimmernden Felsensteppen. Das langte ihm. „Sie können nicht von mir verlangen, Morris, daß ich jetzt meine Kamera schultere und in Europa Modeschauen besuche …“ MacMorris, der dicke Morris, der einmalige Morris, schnaufte auf und hob abwehrend die Hände. „Ihre ‚Gangsterjagd im Weltall’ war ein großes Geschäft, 7
Harry. Aber Sie sind das beste Pferd in meinem Stall, und ich möchte nicht ein zweites Mal an den Rand eines Nervenzusammenbruches getrieben werden, weil ich Sie in der tödlichen Umklammerung des Weltalls weiß.“ „Ihre Fürsorge ist bewunderungswürdig“, grinste Walm spöttisch, wurde aber gleich wieder ernst und beugte sich vor. Das feiste Gesicht des „Cross-Film“-Gewaltigen reizte ihn. „Sie haben so etwas noch nicht mitgemacht, Boß!“ „Gottbewahre!“ stieß der Dicke entsetzt hervor. „Ich bin vor drei Jahren in meiner Wohnung eine Treppe ’runtergefallen – ich hoffe, es wird das einzige Abenteuer meines Lebens gewesen sein. Bedienen Sie sich doch, lieber Harry!“ Harry Walm unterdrückte seine Verachtung und goß sich einen doppelten „Manhattan-Gangster“ ein. „Ich wünsche es Ihnen, mein Lieber. Aber die beiden armen Kerle können in der Hölle Merkur verschmoren, ohne daß Ihr mitfühlendes Herz in Wallungen gerät, wie?“ Mit einem Ruck goß er das scharfe Zeug hinunter, verzog das Gesicht und stand auf. „Aber ohne mich! Ich weiß, wie es ist, wenn die Sonne zehnmal so groß wie dort draußen über Ihrem Rosengarten am Himmel steht, und wenn sie wächst – fast von Stunde zu Stunde …“ MacMorris glotzte dumm. „Wächst?“ „Das kommt von der großen Exzentrizität der Merkurbahn um die Sonne, wirkt aber verdammt unheimlich und herzbeklemmend, kann ich Ihnen sagen. Jedenfalls lasse ich die beiden nicht dort drüben. Sobald Jim Parker so weit ist, starten wir!“ MacMorris kannte diesen Ton, und er wußte, daß es nicht gut war, dem geiergesichtigen Walm noch zu widersprechen. Aber er spürte auch ein flaues Gefühl in der Magengegend, und auch das kannte er. „Sie sollten sich den Wahnsinn sparen, Harry. Ist auch überflüssig. Die ‚Internationale Weltraum-Kontrolle’ hat bereits 8
eines ihrer Raumschiffe auf den Merkur angesetzt. Es ist schon unterwegs …“ „Interessiert mich einen nassen Dreck“, winkte der Wochenschaureporter unhöflich ab und stopfte sich seine Pfeife. „Wir haben damals die Sache gemeinsam ausgefressen, wollten Mexass jagen und tappten tolpatschig in seine Falle. Dabei blieben Lorb und Mexass’ Gefährte, der weichliche Paley, auf dem Merkur zurück. Wäre sehr unanständig von mir, wenn ich nun Modeschauen besuchen würde.“ MacMorris’ Gesicht zeigte eine Anteilnahme, die in seinem Inneren gar nicht vorhanden war. Nachdenklich spielte er mit seiner Schnapsschale. „Der Merkur ist groß, Harry …“ „Ich weiß genau, wo das Mexass-Schiff abgestürzt ist.“ „Trotzdem …“ „Paley trägt eine Kartenskizze von Ivor Mexass bei sich, der schon einmal auf dem Merkur gewesen war. Da sie beim Gebirge 38 N abgestürzt sind, irren sie jetzt bestimmt in der großen Felsensteppe umher, die sich von dem Gebirge aus bis zum Zwielichtgürtel dehnt. Wasser werden sie nicht haben. Nur eine Dose Wasserdrops. Das ist nicht viel. Sie haben Durst und werden versuchen, die Wasserhöhlen zu erreichen, die Mexass angeblich gefunden hat.“ „Wie groß ist die Entfernung?“ „Schätzungsweise zweihundert Meilen.“ „Herzliches Beileid!“ MacMorris schüttelte sich und machte eine entsagungsvolle Handbewegung, als sein bester Mann an den Schreibtisch trat und die Nummernscheibe des Fernsprechers surren ließ. Harry Walm verlangte Orion-City. Schon nach wenigen Minuten hatte er Jim Parker am Apparat. „Hallo Jim, alter Sternenbummler, zurück von der Uransuche? Wie geht es Wernicke, dem teuren Milchknaben?“ „Hallo Harry“, klang eine sonore und sehr sichere Stimme zurück. „Freut mich, von dir zu hören. Wernicke spült sich den 9
Staub aller arabischen Paradiese aus der Kehle. Der Umsatz an hochprozentigen Sachen steigt noch immer.“ „Kann ich mir denken“, lachte Harry. „Auf dem Merkur dürfte es aber noch heißer sein.“ „Ist anzunehmen“, erwiderte der junge Kommodore, der sich bereits auf einen Merkurflug vorbereitete. „Wir müssen uns auf einiges gefaßt machen.“ Harry Walm atmete auf. „Wann starten wir?“ „Meine Vorgesetzten wollen abwarten, ob das I.W.K.-Schiff ‚P 3’ Erfolg hat; länger als drei Tage warte ich aber nicht.“ „Also – Mittwoch?“ „Mittwoch starten wir auf alle Fälle. Halte dich bereit, Harry. Ich lasse dich dann rufen.“ „Ich bin fix und fertig. Hoffentlich können wir die beiden noch heraushauen.“ * „Vorwärts, Frank!“ Weiter! Weiter! Wasser! Wasser! Zehn Stunden marschierten sie nun schon wieder seit ihrer Rast in der glühenden Steppe unter der wachsenden Sonne. Zehn Stunden! Marschieren? Ach – es war ein Vorwärtsquälen, dessen Schmerz und Mühsal bei jedem Schritt durch den Fuß bis in den stechenden Schädel drang. Frank Paleys Zunge hatte schon längst vergessen, daß sie vor Stunden einen Wasserdrop zerlutschte. Der ganze Kerl war groggy bis auf den letzten Knochen, Nur seine Augen waren noch wach genug, um wahrzunehmen, daß der Bordingenieur eine andere Richtung einschlug. „Was soll das, Lorb?“ „Wollen mal feststellen, ob wir schon ins Gelobte Land schauen können.“ Der Bordingenieur ging auf einen Hügel zu, der wellig aus der Ebene herausragte. Voller Erwartung folgte 10
ihm der schöne Frank. Er wurde nicht enttäuscht und stieß so etwas wie einen Jubelschrei aus. „Dahinten wird es dämmrig!“ „Der Zwielichtgürtel“, nickte Lorb, und es war gut, daß der Junge nicht auf das Gesicht seines Kameraden achtete – es war so finster, wie seit Beginn ihrer Höllenpilgerung nicht mehr. „Dann sind wir gerettet“, stieß Paley aufatmend hervor. Es kam ihm von Herzen, und Lorb zwang sich, ihn nicht merken zu lassen, daß sie weit davon entfernt waren. Mexass mußte die Karte nur sehr flüchtig und ohne Rücksicht auf genaue Distanzangaben gezeichnet haben. Was sich dort – weit im Norden und rechter Hand von einem Gebirgszug begleitet – in einer versinkenden Dämmerung erstreckte, war zwar der Zwielichtgürtel – aber er mußte noch fast dreihundert Meilen entfernt sein. Lorb würgte an dieser niederschmetternden Entdeckung. Dreihundert Meilen bedeuteten bei dieser Temperatur glatt einen Marsch von rund zwanzig Tagen. Zwanzig Tage mit zehn Wasserdrops, mit einem körperlich und seelisch schwer angeschlagenen Gefährten, der jedesmal zusammenfuhr, wenn er das Gespenst der Sonne sah. Lorb schnippte mit den Fingern. Ihm war zum Heulen zumute – jämmerlich zum Heulen. „Avanti, Lorb“, rief der schöne Frank und riß seine müden Knochen zusammen, Lorb schlug ihm auf den Rücken. „Hast recht, Kamerad! Weiter! Aber durchhalten!“ „Klar halten wir durch“, munterte sich Paley gewaltsam auf. „Die zwei, drei Tage noch!“ Doch als sie den Hügel wieder herunter in die rote Ebene schritten, umnebelte ihn schon wieder die alte Verzagtheit. „Was nützt es aber, wenn wir wirklich Wasser finden, und keiner holt uns hier ’raus, Lorb?“ „Sie werden schon kommen, Frank!“ Und wie ein Kind klammerte sich Frank an diese Worte. 11
Bordingenieur Lorb aber überlegte, während sie sich durch den unbarmherzigen Atem des Sonnengespenstes vorwärtskämpften: Könnte – vorausgesetzt, daß Walm und die anderen die Erde wieder erreicht hatten – schon Hilfe von der Erde zu erwarten sein? Oder von der Venus? Die Rechnung konnte aufgehen, aber es war besser, sich keine Hoffnungen vorzugaukeln. Zunächst einmal mußten sie mit dieser Hölle allein fertig werden. „In drei Stunden machen wir Rast, Frank. Proviantempfang. Ein Wasserdrop und zwei Kalotabletten.“ „Okay, Lorb!“ Der gute Junge ahnte nicht, daß der Bordingenieur insgeheim betete: Kommt, Kameraden – sonst sind wir verloren – sonst kocht uns diese Satanssonne aus, bis nichts mehr von uns übrigbleibt als ein Skeletthaufen. Und auch der würde bald zerfallen. * Sie kamen, und es war gewiß nicht die Schuld des Führers des I.W.K.-Schiffes „P 3“, daß auch er ins Verderben raste. „In drei Tagen stehen wir über dem 38 N-Gebirge“, stellte er gerade fest und wies auf einen Punkt der Karte, die vor ihm lag. Sein Erster, ein hünenhafter Schwede, sah ihm über die besternte Schulter. „Hoffentlich halten die armen Kerle so lange durch.“ „Tja!“ Der junge Kapitän legte seinen Druckbleistift beiseite, wandte sich um und wies auf den glosenden Planeten, der zum Bullauge hereingrinste. „Sehen Sie sich das Biest an, und dann stellen Sie sich das Drama dort unten illustriert vor.“ Der Erste nickte düster. „Dantes Hölle“, sagte er schwer, obwohl er sonst ein fideler und wenig nachdenklicher Bursche 12
war. Vielleicht erfaßte ihn auch schon eine Ahnung des kommenden Endes. Denn es sollten die letzten Worte sein, die er mit seinem Käpten sprach. Er ging in den Maschinenraum, um eine Routineüberprüfung des hochentwickelten und hochgefährlichen TU-Antriebs vorzunehmen. Genau dreizehn Minuten später geschah es. Die Mitteldüse flog auseinander wie ein Stück trockenen Drecks und riß den halben Maschinenraum mit. „Warschau!!“ brüllte einer der Assistenten mit heiserer Stimme auf. Der Erste konnte nichts mehr sagen. Die Explosion hatte ihn zerfetzt. Vorn am Kontrolltisch läutete es Sturm. Der Kapitän tat, was er konnte. Er handelte mit einer unglaublichen Umsicht und Folgerichtigkeit. Aber auch das war umsonst. Wie ein rasendes, feuerpeitschendes, brüllendes Meteor raste das Schiff durch die Merkuratmosphäre und zerschellte am Felsboden. Nach einer gewaltigen Explosion war alles still. „Hoffentlich halten die armen Kerle so lange durch“, hatte der junge Kapitän noch vor einer Stunde gesagt. Nun konnte auch er nichts mehr sagen. Und der mutige Einsatz seiner tapferen Männer war umsonst gewesen. * Lorb und Paley sahen den Absturz nicht. Mühsam kämpften sie sich vorwärts. „Ob sie kommen werden?“ fragte Frank wieder einmal besorgt und mit dem Weinen eines ängstlichen Kindes in der trockenen Stimme. „Durchhalten, Frank – sie lassen uns nicht verschmoren.“ Von der weit entfernten Unfallstelle lief eine Erschütterung in zwei Wellen heran. Die beiden Verlorenen spürten es und blieben stehen. Frank wurde blaß. 13
„Erdbeben, Lorb?“ „Unsinn – weiter!!“ * Im Observatorium der irdischen Außenstation „Luna nova“ beobachtete man das Unglück. Der Assistent des Stationsastronomen Professor Henderson winkte seinen Chef herbei. „Die ‚P 3’ stürzt ab, Professor!“ „Unmöglich!“ Henderson sprang von seinem Schreibtisch auf und stürzte zu der großen AllSicht-Tafel, die zehn Meter hoch vor ihnen in der Außenwand aufragte. Seit Tagen war das riesige Fernrohr auf den Merkur gerichtet. Ein winziger, kaum wahrnehmbarer Punkt taumelte durch den leeren Raum auf das ferne Gestirn zu. „Tatsächlich – die ‚P3’!“ „Gott sei ihren Seelen gnädig!“ Während in neunzig Millionen Kilometer Entfernung sechs Raumflieger ihr Leben 14
einbüßten, schrillten auf der Erde – in der Atomstadt, im Londoner WP-Hauptquartier, in der kalifornischen I.W.K.-Station – die Fernsprecher: „,P3’, in Merkurnähe, auf den Planeten abgestürzt!“ Die Dienststellen der Weltpolizei versuchten zunächst, die Schreckensnachricht zu unterdrücken, was sich aber als ebenso überflüssig wie gefährlich erwies. Presse und Rundfunk hatten schon Lunte gerochen, tischten ihrem Publikum nicht nur alles – in den blutroten Farben eines Schauergemäldes – auf, sondern ergingen sich auch in tollkühnen Vermutungen. „Lord und Paley rettungslos dem Schrecken des Merkur preisgegeben.“ „,P3’ durch geheimnisvolle Energieumwandlungen auf dem Merkur vernichtet?“ „Hölle Merkur! Opfert sich nun Jim Parker?“ Die Schlagzeilen knisterten, und die Sensation goß Öl in wißbegierig brennende Herzen. Und die Männer, auf die es jetzt ankam, machten sich bereit. * Harry Walm erwartete jeden Augenblick den Anruf. Mit wenigen, geübten Bewegungen steckte er seine kleine Handkamera in die Reißverschlußtasche und zog seinen Trenchcoat über, als es an der Wohnungstür klingelte. Die Shagpfeife lose im Mundwinkel, schlenderte der Geiergesichtige über den Flur, öffnete und prallte zurück. Vor ihm stand eine ungewöhnlich hübsche junge Dame. „Sheree“, stammelte er und fing automatisch die fallende Pfeife auf. Als er jedoch zu einer zärtlichen Begrüßung übergehen wollte, fiel sein Blick auf das grinsende Vollmondgesicht MacMorris’, der artig seinen Hut zog. „Zum Teufel, Boß – sind Sie zufällig mit Miß Garett gekommen?“ 15
„Rein zufällig, Harry“, antwortete der Cross-Film-Häuptling rasch, dem unter den drohenden Augen seines Chefreporters nicht sehr wohl war. „Ich schwöre es Ihnen …“ „Schwören Sie keinen Meineid“, lachte die junge Dame und drohte dem Dicken mit dem Finger. Dann legte sie Harry die Hand auf die Schulter. „Ich bin Mister Morris aufrichtig dankbar dafür, daß er mich hierherkommen ließ.“ „Also geklatscht haben Sie mal wieder, Sie aufgequollene Kaffeetante“, schnauzte Harry los, stieß seine Freundin unsanft in den Flur und knallte dem händeringenden Morris die Tür vor der Nase zu. „So – und nun darf ich mich wohl nach euren Einfällen erkundigen?“ „Aber du kannst ihn doch nicht draußen stehen lassen!“ „Ich kann noch viel mehr“, grollte er erbost und packte ihren Oberarm. „So zum Beispiel dich in die nächste Maschine nach Chicago setzen.“ „Das kannst du nicht“, lächelte sie, und es war ein eigenartiges, bedeutungsvolles Lächeln, das ihr schmales, leicht gebräuntes Gesicht sogar ernst erscheinen ließ. „Oder nur – wenn du mich nicht wiedersehen willst.“ Er hob die Schultern und wußte nicht recht, was er antworten sollte. Natürlich wollte er sie wiedersehen – er wollte sie überhaupt immer sehen – aber er haßte rührselige Szenen. Und Sheree war schließlich eine Frau. „Morris hatte mir telegrafiert, daß du mit Kommodore Parker zum Merkur willst.“ Er horchte ihrer Stimme nach, die einen vollen, weichen Klang hatte, und half ihr aus dem smaragdgrünen Hänger. „Natürlich hat er das“, nickte er finster. „Er versucht, mich mit allen Mitteln zurückzuhalten. Dürfte das erste Mal sein, daß er sich bewußt eine Sensation aus der Nase gehen läßt.“ „Er hat Angst um dich.“ Sie öffnete ihre Handtasche, ließ sie aber unvermittelt wieder zuklappen und wandte sich um. 16
„Kannst du es nicht verstehen, daß ein Mensch sich um dich ängstigt?“ „Ich schätze so etwas nicht.“ „Es paßt nicht zu deinem Beruf, ich weiß.“ Sherees Rechte fuhr mit einer verhaltenen Zärtlichkeit über die Schulter des Mannes, der so gar nicht zu ihr zu passen schien. „Es ist vielleicht unvernünftig, einen Abenteurer wie dich zu lieben“, sagte sie leise. „Aber …“ „Aber man kann nichts dagegen tun, wie?“ grinste er gerührt und zog sie an sich. „Tja, meine strahlende Hollywood-Erscheinung!“ „Es hat natürlich keinen Zweck, dich jetzt von deinem Plan zurückzuhalten.“ „Ich wäre dir dankbar, wenn du dir jeden Einwand sparen würdest.“ „Du bist einmal dem Weltall entkommen!“ „Soll ich meine Kameraden verrecken lassen?“ murrte er rauh. „Jetzt, wo das I.W.K.-Schiff auch zum Teufel gegangen ist?“ „Das verlange ich nicht von dir.“ Sie sagte es so verständnisvoll und vernünftig, daß er sie ungläubig und in grenzenloser Überraschung anstarrte und nur hervorbringen konnte: „Sheree – verflucht noch mal – du hast nichts dagegen?“ Im Wohnzimmer rasselte der Fernsprecher, aber das war ihm furchtbar gleichgültig, und er hörte es auch kaum. Die wenigen Worte dieser jungen Frau, die ihm alles, die ganze Welt und noch viel mehr, bedeutete, verzauberten ihn. Zum ersten Male war Harry Walm geschlagen. „Es wäre unvernünftig, wenn ich dich zurückhalten würde“, sagte sie noch einmal. „Aber ich will bei dir sein.“ „Wie – meinst du das?“ „Allein lasse ich dich nicht fliegen, Harry!“ 17
„Nein!!“ rief er angstvoll aus. „Das tue ich nicht. Das mußt du dir aus dem Kopf schlagen, Sheree. Du weißt nicht, wie es ist …“ „Ich weiß, wie es ist, wenn man wartet“, unterbrach sie ihn ruhig. „Wenn euch schon was zustößt, will ich dabei sein …“ Sie sagte es so einfach, als handelte es sich um einen Spazierflug. Und dabei hatte sie eine furchtbare Angst vor dem unendlichen Raum der schweigenden Gestirne. Harry Walm fuhr ihr mit der Hand über das volle, mattglänzende Haar. „Muß es sein?“ „Ja, Harry – warten kann ich nicht noch einmal.“ Im Wohnzimmer raste der Fernsprecher. * „Walm meldet sich nicht.“ Fritz Wernicke legte den Hörer wieder auf und wandte sich höchst ungnädig dem jungen Kommodore zu, der eben in der schneeweißen Offiziersuniform des „Staatlichen Atom-Territoriums“ der USA das elegante Arbeitszimmer betrat. „Kein Verlaß ist mehr auf diese rasenden Reporter – entweder ist Harry schon unterwegs, oder …“ Jim Parker winkte ab, sah flüchtig die Post durch, die geöffnet auf dem Schreibtisch lag, und trat dann an das Fenster. Draußen dehnte sich die großartige Atomstadt unter den ersten Sternen des sinkenden Abends. Wernicke runzelte die Stirn. „Ist etwas schiefgegangen?“ „Cunningham will uns kein Raumschiff geben.“ Jim kam wieder zurück, trank einen doppelstöckigen Schnaps und goß auch seinem ewig durstigen Kameraden einen ein. „Sehr anständig von ihm, wie?“ Mechanisch trank der kleine Steuermann aus und stand auf. 18
„Wieso – der Alte läßt doch sonst keinen Menschen umkommen?“ „Er handelt natürlich auf höhere Weisung.“ Jim Parker war erregt. So durfte man ihm nicht kommen! Mit einer wütenden Bewegung zog er den Uniformrock aus und warf ihn in einen Sessel. „Der Absturz der ‚P 3’ hat sie alle kopfscheu gemacht. Cunningham will noch in Washington Rückfrage halten. Es lebe die Bürokratie!“ „Was können wir tun, Jim?“ „Ich werde abwarten, was Washington sagt. Wenn sie nicht wollen, werde ich sie auf Vordermann bringen. Auf jeden Fall starten wir morgen abend. Ich lasse das Schiff bereits klarmachen.“ „Auch ohne amtlichen Segen?“ Das markante Gesicht des Kommodores war eiskalt und eisenhart. Er dachte an zwei Verlorene auf einem feindseligen Planeten. „Darauf kannst du dich verlassen, mein Lieber!“ * Washington! Unterstaatssekretär Watson saß dem zuständigen Minister gegenüber und schüttelte den Kopf, als er den „New York Star“ gelesen hatte. „Sensationsmache, Sir – glauben Sie mir! Die ‚P 3’ wird einen bedauerlichen, aber keineswegs rätselhaften Maschinenschaden gehabt haben ..“ Der Minister legte sorgfältig die Fingerspitzen zusammen und lehnte sich zurück. „Ich bin durchaus nicht bereit, mich von der Presse beeinflussen zu lassen“, sagte er in einem nasalen Tonfall. „Aber stellen Sie sich vor, was geschehen wird, wenn noch ein drittes Raumschiff dem Merkur zum Opfer fällt, und mit diesem – Kommodore Parker!“ 19
„Der Kommodore besteht darauf, daß wir ihm für die Befreiung von Lorb und Paley den ‚Star of the S.A.T.’ zur Verfügung stellen.“ Der Unterstaatssekretär legte unwillkürlich eine gewisse Schärfe in seine Stimme, die der unentschlossene Minister, von dem nun alles abhing, wohl verstand. Aber der Mann fürchtete um seinen Posten und wollte kein Risiko eingehen. „Ich bin grundsätzlich nicht dagegen, Watson“, wand er sich. „Doch will ich zunächst einen Bericht vom ‚Luna-nova’Observatorium über die augenblicklichen Verhältnisse auf dem Merkur einholen. Die Zeitung macht gewisse Andeutungen …“ Watson prickelten die Hände, und er hätte am liebsten auf den Tisch geschlagen. „Das ist völlig sinnlos, Sir – verzeihen Sie meine Offenheit. Ein Jim Parker läßt sich nicht zurückhalten, und wenn auf dem Merkur tausend Höllen losbrächen. Und wenn Sie Wert auf meine Meinung legen: Um Menschenleben zu retten, ist kein Einsatz zu groß.“ Der Minister wurde bleich; sein hageres, ungesundes Gesicht verbarg sich hinter dichten Zigarettenschwaden. „Sie werden von mir hören, Watson!“ * Das hatte Jim Parker nicht voraussehen können! Schuld an diesem unverantwortlichen Zögern eines Ministers war ein wild gewordener Redakteur, dem nur Sensationen heilig waren und der deshalb etwas von Energieumwandlungen auf dem Merkur gefaselt hatte. Er wußte selber nicht, daß ein böser Kobold ihn der Wahrheit – wenn auch nur um ein geringes – nahe kommen ließ. Auf der Außenstation machten Henderson und sein Assistent sich an die Arbeit. In Orion-City boxte Kommodore Parker in diesen Stunden 20
die Startvorbereitungen auf Hochtouren. Eingeübte Hände überholten die „Star of the S.A.T.“ mit wenigen Griffen und schoben die TU-Patronen in die Düsenkammern. Und auf dem Merkur machte Frank Paley wieder schlapp. * Er blieb einfach stehen, stierte seinen Gefährten aus glasigen, weit aufgerissenen Augen an und taumelte in die Knie. „Wasser, Lorb – nur Wasser!“ Zwanzig Meilen hatten sie wieder zurückgelegt. Das waren einige tausend schmerzende Schritte, das war widerliches Weichwerden in den Knien und unerträgliches Stechen im dröhnenden Schädel. Lorb widersprach nicht. Schweigend ließ er sich neben dem Erschöpften nieder und holte den Proviantbeutel hervor. „Noch sieben Wasserdrops, Frank – wir müssen uns noch mehr zusammennehmen.“ Das log er, aber er mußte den armen Burschen neben ihm, mit seinem glühenden, dickgeschwollenen Gesicht unter der Haube des Asbestanzuges, mit seinen schwarzen, verbrannten Händen und dem unguten Krampf in der Brust, noch mehr anspannen. Gierig nahm Frank den gelblichen Drop, war diesmal aber so anständig, einen Blick auf den Bordingenieur zu werfen und mit einer Kopfbewegung zur Dose hin zu sagen: „Du auch einen, Lorb!“ Lorb hatte Durst! Am liebsten hätte er zwei, drei Drops auf einmal in den Mund gesteckt, aber er schloß die Augen und dachte ganz schnell einmal an Wasser oder Schnee oder den Strand von Miami. Jedenfalls konnte er sich noch einmal einreden, daß der Durst gar nicht so schlimm wäre. „Danke, ich nehme bei der nächsten Rast.“ „Verdammt vornehmer Umgangston hier“, grinste der schöne 21
Frank, während er sich das kalte Zeug in die Kehle laufen ließ. „Wann sind wir denn nun endlich im Gelobten Land der Wasserhöhlen?“ „Einige Tage noch, Frank.“ Auch das war faustdick gelogen; denn wenn man für fünfzehn Meilen gut zwanzig Stunden brauchte, konnte man ein Ziel, das zwanzigmal so weit entfernt war, nicht gut in einigen Tagen erreichen. „Die halten wir wohl noch durch, Lorb.“ „Wir müssen es, Frank – und wir können es.“ ‚Nur weiter’, dachte der Bordingenieur, ‚nur weiter. Vielleicht kommt inzwischen noch Hilfe.’ Aber sie waren allein. Über ihnen wuchs die Sonne, die riesengroß und niedrig zwischen dem Zenit und dem Horizont schwamm. Stumm war diese Sonne, aber bösartig und unbarmherzig. Die Hitze knackte. Libellenartige, winzige Insekten schwebten einige Zentimeter über dem Felsboden. Von glosender Unwirklichkeit war diese Welt, und nur die eigenen Gedanken lebten. „Ich habe mal ein Mädel gekannt, Lorb – rotblond und mit einer Figur …“ Lorb schielte zu dem schönen Frank hin, der schon wieder zu seinen Träumereien überging. Armer Kerl! Er hatte sich auf der rechten Seite ausgestreckt und barg den Kopf in die Armbeuge. Phantasierte er, oder hielten die Erinnerungen an ein Mädel Ihn aufrecht? „Wie hieß denn das schöne Kind?“ „Weiß ich doch nicht, Lorb. Wir haben uns nur wenige Stunden gesehen. Sie war aus Chicago und ein feiner Kerl.“ „Ausreichendes Signalement“, stellte der Ingenieur trocken fest. „Könnte dir auch eine wehmütige Geschichte erzählen. Möchtest die Rotblonde wohl gern wiedersehen, wie?“ „Komische Frage!“ 22
Lorb starrte in das Gespenst der Sonne. Wo war die Erde? Gab es sie überhaupt noch, die wundervolle, geliebte Erde? „Vielleicht erscheint uns einmal ein Engel“, meinte er rauh. * „Hätte ich Sie nur in Chicago gelassen“, stöhnte Filmboß MacMorris, als er erfuhr, was Sheree Garett vorhatte. „Der Wahnsinn wird ja immer schlimmer.“ „Es ist sehr gut, daß Sie mich gerufen haben, Mister Morris“, sagte Sheree ruhig und legte dem Reporter, der gerade den Hörer vom Fernsprecher abhob, den Arm um die Schulter. Doch Morris konnte sich nicht beruhigen und trat neben die beiden. „Harry, nun seien Sie doch wenigstens vernünftig, lassen Sie das Mädel hier, ich komme sonst aus den Gewissensqualen nicht mehr heraus.“ Harry mußte dem Dicken innerlich recht geben, denn auch in ihm sträubte sich alles dagegen, Sheree in ein solches Abenteuer mitzunehmen, doch er winkte ab, als aus dem Hörer Jim Parkers Stimme erklang. „Walm, fliege noch nicht nach Orion-City!“ Harry erschrak. „Seid ihr noch nicht soweit?“ „Die ‚Star of the S.A.T.’ ist startklar“, beruhigte ihn Jim. „Aber vielleicht müssen wir kurzfristig umdisponieren. Warte meinen nächsten Anruf ab.“ Harry starrte den schwarzen Kasten an. Irgend etwas stimmte da nicht „Okay, Jim!“ * Der Kommandant der Außenstation, der Franzose Henri Lasalle, hob bedauernd die Schultern. „Tut mir leid, Monsieur – aber aus Washington ist schon wieder eine Anfrage da.“ 23
Professor Henderson langte es. „Um diese blödsinnige Bestandsaufnahme über die augenblicklichen Verhältnisse auf Merkur zu machen, brauchen wir drei oder vier Tage. Toomey sitzt seit sechzehn Stunden vor der Sichttafel.“ „Und Sie haben keine besonderen Erscheinungen festgestellt?“ „Bis jetzt ist alles langweilig und normal.“ Henderson lehnte sich im Federsessel zurück und strich sich über die Augen. Jetzt hätte er diese komische Figur von einem Minister vor sich haben mögen, der ihnen die Mehrarbeit eingebrockt hatte. Nur gut, daß Lasalle immer einen anständigen Wein in seinem Privatschrank hatte. „Schenken Sie doch einen ein, Lasalle!“ Der Franzose wußte, was einer mißvergnügten Seele guttat. Während Henderson sich noch in Betrachtungen über abbruchreife Minister erging, öffnete er langsam die Schranktür. „Leicht oder schwer?“ „Sagen wir – mittelschwer.“ „Sollen Sie haben, Professor.“ Der Kommandant nahm eine Flasche und zwei Gläser heraus. „Wenn Sie mir einen großen Gefallen tun wollen, Professor, dann frisieren Sie den Bericht auf optimistisch und lassen ihn noch heute nacht abgehen.“ Henderson nahm bedächtig das Glas, hielt es in den Schein der Tischröhre und warf dann dem Kommandanten einen scharfen Blick zu. „Legen Sie Wert auf einen gemeinsamen Hinausschmiß?“ „Durchaus nicht“, antwortete Lasalle unbewegt. „Aber ich wünsche nicht, daß man Parker vor seinem Start zum Merkur noch Schwierigkeiten bereitet.“ „Ich auch nicht“, sagte der Professor ruhig. „Wenn er nicht gewaltig auf die Tube drückt, wird er sowieso zu spät kommen. Der Merkur ist fürchterlich, Lasalle, und es dürfte nur noch eine Frage von wenigen Tagen sein, wer von den beiden dort drüben als erster den Verstand verliert.“ 24
Lasalle erbleichte. „Ihr Ernst?“ „Das muß so kommen – zwangsläufig.“ „Also – dann kann ich mit Ihnen rechnen?“ „Ich werde mein möglichstes tun.“ Henderson war in dieser Minute fest entschlossen, das Risiko auf sich zu nehmen und dem Minister in Washington einen frisierten Befund an den Kopf zu werfen, der zu einem Besuch des Merkur geradezu einlud. Leider sollte es nicht dazu kommen. Sie saßen beim dritten Glas des ‚Mittelschweren’, als auf Lasalles Schreibtisch das Haustelefon rasselte. Toomey meldete sich, der Assistent vor der All-Sicht-Tafel. „Professor – Sie müssen sofort kommen!“ „Was ist denn mit dem alten Satan?“ fragte Henderson ahnungsschwer. „Eine ungeheure Entdeckung!“ Zwei Gläser wurden achtlos zurückgestellt, zwei Männer sahen sich entsetzt an. Und schweigend eilte Henderson durch die gewölbten Gänge der Außenstation, bis er neben dem bebrillten und vor Erregung halb übergedrehten Jüngling Toomey stand. „Sehen Sie Gespenster?“ fuhr er ihn ungnädig an. Toomey wies auf den Merkur, dessen Oberfläche fast vier Fünftel des großen Bildschirms einnahm. Sein blasses, überarbeitetes Gesicht leuchtete fanatisch im grünlichen Widerschein. Seine Rechte, die den R-Taster bediente, zitterte merklich. „Ein Geiser am Rande des 38 N-Gebirges“, erklärte er mit bebender Stimme, in der aber auch ein aufquellender Triumph mitschwang. „Vor drei Minuten hatte ich das Ding im Einzelquadrat.“ Dem Professor paßte diese fanatische Besessenheit heute nicht. Toomey war ein Streber, aber man konnte es ihm kaum verübeln – es war nicht leicht für einen jungen Astronomen, auf den grünen Zweig zu kommen. Aber diesmal mußte er sich geirrt haben. 25
„Geiser gibt es auf Merkur wohl kaum“, bemerkte er ruhig. Toomey erlaubte sich den Einwand: „Wir sind noch nicht drüben gewesen, Professor“, was ihm aber gleich darauf leid tat. Er wurde rot, schluckte und drehte wie wild am Quadratverstärker. Endlich schien das Oberflächenbild auf dem Schirm zu zerfließen, und ein Detail – eine der üblichen, trostlosen Merkurlandschaften – schob sich näher heran. „Unter dem Querstrich D, Professor.“ Henderson trat ganz dicht an den Schirm heran und fuhr mit der Hand über das Bild, „Verfluchte Gegend“, murrte er leise, und dann sah er es auch. Mitten in der Landschaft brodelte es, schoß es hoch und verschwand wieder. Man konnte keine Einzelheiten ausmachen, aber die Erscheinung wirkte durchaus nicht harmlos. „Ein Geiser ist das nicht, Toomey. Haben Sie Stichproben gemacht?“ Toomey hatte selbstverständlich auch daran gedacht, und Henderson verwünschte – während übereifrige Hände den Spektralapparat schalteten – wieder den Ehrgeiz des Assistenten. „Nur sechs Minuten, Professor.“ Henderson wandte sich um und prüfte die Farbwerte. Toomey sah ihm über die breite Schulter. Leise hechelte der Drehbleistift über den Notizblock. Und eine unnatürlich harte Stimme fragte: „Sie wissen, was das bedeuten kann, Toomey?“ „Selbstverständlich, Professor – diese Materie frißt sich nach und nach in die südliche Bergwand ein und schleudert – wahrscheinlich in Abständen – den radioaktiven Staub über das Land. Und dieser Staub muß für irdische Begriffe ungewöhnlich aktiv sein.“ „Möglich“, knurrte Henderson ungehalten. „Auf jeden Fall dürfte das Biest bösartig sein.“ Mit einer kurz entschlossenen Bewegung zerriß er das Papier und schaltete den Bildschirm ab. 26
„Ich hoffe, Sie können zwei Wochen darüber schweigen, Toomey.“ Der Assistent sah furchtbar dumm aus, als er seine Brille abnahm und mit den kurzsichtigen Augen blinzelte. „Ich verstehe das nicht, Professor.“ „Klarer Fall, Toomey. Wenn die Regierung erfährt, daß die Merkurlandschaft von außergewöhnlich starken aktiven Staubwolken verseucht zu werden droht, verbietet sie jede weitere Hilfe für Lorb und Paley – verstanden?“ „Verzeihen Sie, aber …“ „Ich weiß, Toomey“, fuhr der Professor rasch fort und legte dem jungen Assistenten die Hand auf die Schulter. „Ich weiß, daß es uns unsere Stellung kosten kann, aber denken Sie an die beiden armen Teufel, die einfach gerettet werden müssen!“ Toomey senkte den Kopf. „Ich hätte es gern getan, Professor, aber leider habe ich etwas voreilig gehandelt. Ich habe bereits an Orion-City durchgegeben, daß wir auf Merkur eine Erscheinung entdeckt hätten, die möglicherweise radioaktiver Natur sein könnte.“ Henderson sah plötzlich sehr böse aus. „Sie sind ein Esel, Toomey“, sagte er aufrichtig. * Toomeys Voreiligkeit wirkte sich bereits nach einer halben Stunde aus. In der Hauptverwaltung der Atomstadt legte S.A.T.-Generaldirektor Ted S. Cunningham mit einer müden Geste den Hörer auf die Gabel. „Scheußlich, Parker – nun können wir nichts mehr für sie tun.“ Jim Parker trat an den Schreibtisch des Gewaltigen, und sein straffes Gesicht wurde finster. „Ein Anruf aus Washington, Sir?“ 27
„Genau das, mein Lieber.“ Cunningham schob den Aschenbecher mit der qualmenden Havanna weit von sich und warf einen bösen Blick auf seine geliebte Zigarre. „Das endgültige Verbot, den Merkur anzufliegen.“ Jim reckte sich. „Eine feine Entscheidung. Hat man schon Gedächtnisfeiern für Lorb und Paley angesetzt?“ „Werden Sie nicht zynisch, Jim.“ „Was bleibt mir sonst noch übrig?“ rief der junge Kommodore in offener Empörung aus. „Womit begründet man diese Unmenschlichkeit?“ „Das ‚Luna-nova’-Observatorium hat auf Merkur radioaktive Erscheinungen festgestellt, deren Auswirkungen – es handelt sich um Staubwolken – äußerst gefährlich sein sollen.“ „Ist anzunehmen. Und weiter?“ „Das ist alles, Jim“, erwiderte Cunningham mit bedrückter Miene. „Sie sind empört. Ich verstehe das. Aber ein Minister hat nun einmal Rücksichten zu nehmen und darf nicht so ohne weiteres Raumschiffe und unsere besten Leute aufs Spiel setzen. Außerdem …“ „Außerdem?“ Der Generaldirektor griff wieder nach dem Ascher und schob ihn noch weiter von sich. „Werden Sie nun nicht wild, Jim. Der Minister steht auf einem Standpunkt, den auch ich nicht ohne Widerrede schlucken werde. Er meint nämlich, bei Paley und Lorb handele es sich doch nur um Gangster und Renegaten.“ Jim wurde es eiskalt ums Herz, aber er bezwang sich. „Ich möchte diesen Minister sprechen!“ „Lassen Sie das, Jim – es hat noch keinen Zweck.“ Die Augen des Generaldirektors richteten sich auf den schlanken Jungen und hielten ihn fest. Offenbar hatte er noch mehr auf dem Herzen. „Nach den neuesten Berichten des Ministeriums ist es auch nicht anzunehmen, daß die beiden noch am Leben sind. Man hat vor einer Stunde einen Funkspruch von Lorb aufgefangen …“ 28
Jim Parker rang nach Luft. „Cunningham, was wird hier gespielt?“ „Zweifeln Sie an einem Funkspruch, der von der I.W.K. empfangen und nach Washington übermittelt wurde?“ „Wie lautet der Spruch?“ Cunningham sah auf ein Blatt Papier. „Lorb an I.W.K. durch B-2/9 Z. Haben keine Wasserdrops und Kalotabletten mehr. Machen Schluß. Grüßen die Erde. Lorb.“ „Schwindel!“ Der Kommodore konnte sich nun nicht mehr halten und schrie seinen Generaldirektor an. „Wenn Lorb noch ein intaktes Funkgerät drüben hätte, wäre schon längst ein Lebenszeichen von ihm eingegangen. Das ist ein unglaublicher Schwindel, um uns mit allen Mitteln vom Merkur fernzuhalten.“ „Aber ich bitte Sie, Jim – aus welchen Motiven?“ „Weil der Herr Minister um seine Karriere fürchtet, weil er einfach nicht den Schneid hat, noch einmal ein Schiff mit Freiwilligen auf Merkur anzusetzen.“ Ted S. Cunningham schüttelte den graumelierten Kopf. „Das ist ein vager Verdacht, Jim.“ „Ich werde Ihnen beweisen, daß ich recht habe.“ * Jim hatte recht. Dieser ominöse Funkspruch stammte nicht von Lorb. Er hatte seit ihrem Absturz kein Funkgerät mehr unter die Hände bekommen, und sie dachten auch gar nicht daran, Schluß zu machen. „Wir müssen es schaffen, Paley – in zehn Stunden gibt es einen Wasserdrop.“ „In zehn Stunden?“ Durch die Haube des Asbestanzuges sahen fiebrige Augen ihn erschreckt an. „Bist du verrückt?“ 29
„Wir haben noch vier.“ „Noch vier Drops?“ lallte Paley hoffnungslos und taumelte weiter. Scheußlich sah er dabei aus – wie ein Mensch, der langsam zum Tier wird: mit vorgestrecktem Oberkörper, die Arme kraftlos niederhängend, die Knie bei jedem Schritt so weit eingedrückt, als wolle er sich fallen lassen, fallen lassen auf den glühenden Boden, der schattenlos und gnadenlos um sie war. „Noch vier – noch vier …“ „Verdammt wenig, was?“ lachte der Bordingenieur und zeigte seine weißen Zähne. Dabei hatte er eine große Angst um den Jüngeren. „Sie kommen, Frank – verlaß dich drauf – aber so lange müssen wir noch durchhalten …“ „Noch vier“, wiederholte Paley mit trockener Stimme, die nur noch krächzen konnte. „Zu wenig für zwei.“ Lorb warf ihm einen unauffälligen Blick zu, antwortete aber nicht. Dann war Schweigen zwischen ihren trostlos und unsagbar verlassen hallenden Schritten. Noch vier! Zu wenig für zwei! Noch vier! Zu wenig für zwei! „Sie hauen uns noch heraus, Frank – Parker oder so.“ „Der Teufel soll sie alle holen“, fluchte Paley leise und weinerlich. „Wenn wir nicht bald bei den Wasserhöhlen sind, lege ich uns beide um.“ „Das wäre unvernünftig.“ „Ich habe einen Revolver in der Tasche, einen mit fünf Schuß.“ Wieder glitt unauffällig ein prüfender Blick des Bordingenieurs über den anderen. Langsam wurde die Lage noch ungemütlicher und kritischer. Vielleicht trug Paley tatsächlich eine Schußwaffe bei sich, und er selber war unbewaffnet. Es war besser, nicht mehr den Pfadfinder zu spielen. Lorb blieb stehen und ließ Paley, der einen Schritt schräg hinter ihm ging, herankommen. „Quatsche hier keinen Unsinn, Frank. Das hilft uns nicht 30
weiter. Reiß dich lieber zusammen. Du taumelst hier durch die Gegend wie ein Menschenaffe.“ „Menschenaffe“, grinste Paley dumm. „Das sollte Sheree sehen.“ Seite an Seite kämpften sie sich weiter vorwärts. „Wer ist denn das?“ „Sheree?“ Der schöne Frank stierte auf seine Asbestschuhe, die sich bewegten, als gehörten sie gar nicht zu ihm. Krampfhaft dachte er nach. „Schöner Name, was? Fiel mir nur so ein.“ Dann hob er die Hand und schnippte mit den Fingern. „Nun habe ich es.“ „Deine rotblonde Chicagoerin?“ „Tatsächlich, Lorb – die hieß Sheree – die möchte ich noch einmal wiedersehen.“ Die Erinnerung an das Mädel war wohltuend für den Jungen, auf den bereits aus dem Feuermeer der verlassenen Landschaft die ersten Unholde der geistigen Umnachtung zukrochen. Sie lockerte ihn auf und machte ihn wieder zugänglicher. „Ob die uns wirklich noch heraushauen?“ „Die lassen uns hier nicht umkommen, Frank!“ * „Kommodore Parker, Sir!“ Der Privatsekretär blieb abwartend an der Tür stehen. Der Minister lehnte am Klubtisch und zündete sich eine Zigarette an. Das Streichholz zitterte leicht in seiner Hand. „Ich empfange nur Besucher, die sich schriftlich angemeldet haben.“ „Der Kommodore besteht darauf, vorgelassen zu werden.“ Das Streichholz fiel zischend in den Wasserascher. „Ich lasse bitten!“ Unentschlossen ging er hin und her. Dann schien ihm plötzlich etwas Großartiges einzufallen. Mit einem versteckten 31
Lächeln trat er an den niedrigen Aktenständer und holte einen gelben Schnellhefter hervor. Eifrig blätterte er darin und ließ ihn erst sinken, als der Kommodore in das pompöse Arbeitszimmer getreten war. „Hallo Parker – freue mich, Sie zu sehen.“ Jim erfaßte sofort eine tiefe, gefühlsmäßige Abneigung, als er den Minister sah. Weich war der Mann mit dem bleichen, fast kahlen Vogelkopf und den kalten, unsteten Augen hinter der großen Brille – weich und doch wieder egoistisch, wenn es um ihn selber ging. Das erkannte der junge Kommodore mit seiner feinen Menschenkenntnis sogleich. Mit betonter Distanz nahm er die dargebotene Hand des anderen. „Ich bitte Sie, Sir, mein Eindringen zu entschuldigen, aber gewisse Umstände zwingen mich zu diesem Besuch.“ „Selbstverständlich, mein lieber Kommodore. Ich freue mich außerordentlich über Ihren unverhofften Besuch. Er erspart es mir, nach Orion-City zu fliegen. Aber nehmen Sie doch bitte Platz. Vielleicht hier in diesem Sessel.“ ‚Der Mann hat kein reines Gewissen’, dachte Jim, während er der großartigen Handbewegung des hin und her trippelnden Ministers folgte und sich in eines der tiefen Ungeheuer fallen ließ. „Sie werden sich wohl denken können, weshalb ich komme.“ Der Minister blieb stehen, und während er den Schnellhefter wieder durchblätterte, sah er flüchtig auf. „Nicht ganz, Kommodore – oder meinen Sie etwa die – ahem – menschlich durchaus bedauerliche Tragödie auf Merkur?“ „Allerdings“, nickte Jim gelassen. „Ich wundere mich, daß ein Minister unseres Staates darauf verzichtet, Menschenleben zu retten.“ „Schweren Herzens nur“, wich der andere gewandt aus. „Aber ganz abgesehen davon, daß wir – ahem – von diesem Lorb einen letzten Funkspruch erhielten, welcher von der Funk32
station der I.W.K. aufgefangen würde – ganz abgesehen davon, Kommodore, lassen die radioaktiven Erscheinungen auf dem Planeten – und noch dazu in der Nähe der Absturzstelle – es ratsam erscheinen, die Rettungsaktion einzustellen.“ „Für ein solches Unternehmen kommen nur Freiwillige in Frage, Sir.“ „Gewiß – gewiß – aber auch dann nicht.“ Jim ließ den Minister nicht mehr los, seine blauen, klaren Augen forderten von ihm die Wahrheit, und das war dem anderen sichtlich unangenehm. „Würden Sie mir bitte die Depesche der I.W.K. zeigen?“ „Sie mißtrauen mir doch nicht etwa?“ „Wie sollte ich, Sir“, lächelte Jim ironisch und zündete sich ungeniert eine Maza-Blend an. „Es interessiert mich nur. Ich hielt es für sehr unwahrscheinlich, daß Lorb noch Gelegenheit gefunden haben soll, einen Funkspruch abzusetzen.“ „Aber bitte.“ Der Minister langte zu seinem Schreibtisch hinüber und reichte dem Kommodore eines der amtlichen Chiffreformulare. Sehr aufmerksam prüfte Jim, und er mußte seine Überraschung verbergen. Der Funkspruch der I.W.K. war echt! Er war tatsächlich in Kalifornien aufgefangen und von dort mit genauen Angaben weitergegeben worden. Was wurde hier gespielt? „Ich danke Ihnen, Herr Minister!“ „Oh – mit dem größten Vergnügen geschehen, Kommodore!“ * „Noch einen Zitronenschnaps!“ Fritz Wernicke saß inzwischen in irgendeiner Hotelbar, vertilgte seinen Tagesbedarf und fand, daß Washington ein langweiliges Nest sei. Oder lag es daran, daß er es vor innerer Un33
ruhe nicht mehr aushalten konnte? Jedenfalls konnten ihn nicht einmal die aufmunternden Blicke reizen, die ebenso gelangweilte Sekretärinnen der Ministerien ihm zuwarfen. Er atmete auf, als Jim in der Tür erschien und ihm zuwinkte. Schweigend fuhren sie zu ihrem Zimmer hinauf, und dort geschah es, daß dem Kommodore endgültig die Nerven durchgingen. „Das ist die größte Schweinerei, die man uns je vorgesetzt hat, Fritz“, rief er empört aus, trat an das Fenster und ließ die Jalousien hochschnellen, daß das Tageslicht hereinflutete. „Ein Minister – ein Minister, mein Lieber! – schwindelt uns frech was vor, und die I.W.K.-Funkstation macht den faulen Zauber mit.“ „Dann müssen wir eben aufräumen, großer Kommodore“, fuhr der unternehmungslustige Steuermann kriegerisch auf. „Komm, Jim – wir sind mit Weltraumgespenstern und Uranbanditen fertig geworden – komm, wir trinken erst einen und dann …“ Jim winkte ab. „Damit ist Lorb und Paley nicht geholfen, daß wir den Schwindel aufdecken. Wir dürfen nun keine Stunde mehr versäumen.“ Das war etwas für Fritz Wernicke. Schon hatte er eine flache Flasche aus der Tasche gefischt und goß ein. „Also höre, große Weltgeschichte, der hochedle Jim Parker und sein wackerer Kampfgefährte meutern gegen Regierung und S.A.T. – eine Sensation! – Auf sie mit Gebrüll!“ „Gebrüll wird es noch genug geben“, lachte Jim grimmig und packte den Aufgeregten an der Schulter. „Aber nun paß mal genau auf!“ Wernicke nahm rasch einen großen Schluck, hörte dann aber aufmerksam zu und fragte, als der Kommodore geendet hatte: „Und was sollte der gelbe Schnellhefter, den der Minister in der Hand hielt?“ „Das war eine Order für uns!“ „Für uns?“ 34
„Yes – vom Wirtschaftsministerium. Wir sind beauftragt worden, in den Uranerzgruben von Alaska nach dem Rechten zu sehen.“ „Alaska?“ Fritz nahm einen zweiten Schluck. „Da waren wir doch schon mal. Die Sache mit der grünen Flamme.“ „Ganz recht. Aber diesmal werden wir nur zum Schein nach Alaska abfliegen und in Wirklichkeit …“ „Lorb und Paley heraushauen“, zwinkerte Fritz. „Ausgezeichnet, mein Alter.“ Mit einem Ruck, mit einer wilden Entschlossenheit, die alle geheimen Intrigen und alle schwachen Halbheiten wegwischen sollte, wandte er sich um, setzte sich an den Schreibtisch und entwarf in wenigen Minuten seinen Schlachtplan. Wernicke, der hinter ihn getreten war und seine Flasche abwechselnd in der ausgestreckten Hand und an den geöffneten Mund hielt, nickte wohlgefällig. „Wenn die alle mitmachen, geht es klar.“ „Unsere besten Spießgesellen“, lächelte der Kommodore, „das sind die Männer, die ich seit Jahren ausgesucht habe und die mit uns durch dick und dünn gehen werden,“ „Jim Parkers gerüchteumwobener Geheimbund.“ „Ach was.“ Noch einmal unterstrich Jim einen Namen und klappte das Notizbuch zu. „Jim Parkers Geheimbund existiert nicht, aber wir brauchen nun einmal Kerle, die alles mitmachen – auch wenn es einmal gegen die eigene Bürokratie geht.“ „Wen willst du beteiligen?“ „Johnson und Berger auf dem Mond, Marxwell in OrionCity und Feichtmayr in Alaska.“ Er gab Fritz das Notizbuch und sah auf die Armbanduhr. „Am besten ist es, du erledigst das hier in der hiesigen Verwaltung. Vorerst nur an Berger, und unter deinem Namen; meinetwegen als Geburtstagsglückwunsch oder so. Ich muß noch zur Regierung.“ Fritz grinste. „Und die Order für Alaska entgegennehmen?“ „Genau geraten!“ 35
* Sie setzten alles auf eine Karte. Fritz Wernicke fuhr umgehend zur Stadtverwaltung, wo er sich bei einem hohen Beamten melden ließ, der sein persönlicher Freund war, und mit diesem zur Radiostation, wo der Zweite Direktor ihnen verständnisvoll die Hände schüttelte. So lief Jim Parkers geheime Aktion an. Für Lorb und Paley! Und wiederum zwei Stunden später erreichte über einige Umwege ein harmloser Funkspruch das gigantische Mondwerk „Luna IV“ und wurde von dem Cheffunker mit regungslosem Gesicht auf den Tisch von Flugingenieur Berger gelegt. „Ein Funkspruch von Mister Wernicke.“ Berger, ein kleiner drahtiger Deutschamerikaner, wußte, was das bedeutete, ließ sich aber nichts anmerken. Als interessierte es ihn nicht sonderlich, schrieb er erst an einer Versuchsliste weiter und nahm dann das Formular mit einem nebensächlichen „Da hat sich der gute Wernicke wohl in meinem Geburtstagsdatum geirrt“ entgegen. Der Funker grüßte und ging davon. Nicht mehr so gelassen, sah Berger dem Mann nach, wandte sich dann aber wieder seiner Arbeit zu und ging erst nach einer guten halben Stunde zu dem neuen Kommandanten der Mondwerke. Wie ein Verschwörer kam er sich vor. „Von Wernicke“, sagte er mit eigenartiger Betonung. Captain Johnson war ein alter Raumflieger, der schon einiges mit Jim Parker erlebt hatte, auch dann, wenn es darum ging, Freund Hein noch in der letzten Sekunde einen Kinnhaken zu versetzen. Auch er wußte, was der Funkspruch bedeutete, und sein breites Gesicht zog sich zusammen. „Das hatte ich mir gedacht!“ 36
„Glaubst du, daß es mit Lorb und Paley zusammenhängt?“ Johnson nickte schweigend, stand auf und sah nach, ob sie hier im Chefbüro ungestört waren. Er schaltete sogar den Werksprecher ab. Auch das wirkte wie mitten in einer Verschwörung. Im Stehen riß er dann das Formular auf. „Chiffre 4B, Berger!“ „Sofort.“ „Es wird bestimmt damit zusammenhängen“, mutmaßte Berger weiter, und als er dann den Text vor sich hatte, zwinkerte er seinem Chef und Kameraden zu. „Raumschiff ‚A 4’ mit Führer zu längerer Versuchsfahrt mit TU-Antrieb klarmachen. Eigenversuch ohne Meldung.“ „Eigenversuch ohne Meldung!“ zerkaute Johnson das Wort, als habe es einen bitteren Geschmack, und schob die Hände in die Hosentaschen. „Das ist anständig von Jim, aber er setzt seine ganze Karriere aufs Spiel.“ „Wenn das schiefgeht, findet er sich vor einem Bundesgericht wieder.“ „Und das wird keine Rücksicht nehmen, auch nicht gegen einen Jim Parker. Gib mal her.“ Johnson nahm das Papier und zerriß es. „Am besten wird es sein, du übernimmst das Schiff. Wir müssen nur versuchen, Parker und seine Leute unbemerkt an Bord zu bringen.“ „Das laß mich nur machen.“ Berger war Feuer und Flamme, und auch der Gedanke an die Schrecken des Merkur konnte ihn nicht erschüttern. Auf Merkur aber ging die stille Tragödie zweier Einsamer ihrem Höhepunkt zu. Nun hatten sie nur noch drei Wasserdrops. Drei Wasserdrops! Und die Sonne wuchs. Fünfhundert Meier legten sie in der Stunde zurück, in einer Zeit, in der der große Zeiger auf Lorbs Armbanduhr einmal den Zahlenkreis rundete. Fünfhundert Meter. 37
„Wo bleiben die Wasserhöhlen?“ „Weiter, Paley – immer weiter!“ „Du hast mich angeschwindelt – wir laufen in die falsche Richtung.“ „Lauf ruhig weiter, mein Engel.“ „Die Sonne ist ein Engel“, grinste der schöne Frank verzweifelt. „Ein Engel, der brennende Küsse um sich wirft. Spürst du, wie sie brennen? Bis auf die Knochen. Bis auf das Herz.“ „Maul halten!“ „Du bist ein Angeber, Lorb“, phantasierte Paley sinnlos in die brütende Verlorenheit der Felsensteppe hinein. Sie gingen beide nebeneinander, beinahe Schulter an Schulter. Aber die Kameradschaft der unbarmherzigen Hilflosigkeit schwand langsam, und aus dem glühenden Nichts quoll ein schleichendes Mißtrauen auf. Sie gingen Schulter an Schulter, weil keiner den anderen aus den Augen lassen wollte. ,Ich könnte ihn abknallen’, dachte Paley. ,Ob er wirklich eine Waffe bei sich trägt?’ grübelte Lorb und wunderte sich, daß es nun auch ihm immer schwerer fiel, die Füße voranzusetzen. Auch der schöne Frank bemerkte es. „Du wirst langsamer, Lorb“, höhnte er. „Nach dir, Paley – immer nach dir …“ „Du bist der größte Angeber, der mir je unter die Augen gekommen ist.“ Wirklich, es war nichts mehr drin in den ausgeglühten Knochen. Der Kopf wurde immer schwerer, die Beine wurden immer leichter. Jetzt würde ein Wasserdrop guttun, was, Lorb? Wollte Paley ihn niederhetzen, wollte er ihn fertigmachen? Wollte er die letzten Wasserdrops für sich haben? Dafür, daß er ihm schon vorher die meisten gegeben hatte? Lorb straffte sich und wollte seine Knochen noch einmal auf Vordermann bringen. Es gelang ihm schlecht. „Du bist kein Kamerad, Paley“, sagte er bitter, obwohl das 38
Sprechen ihm sauer fiel. „Sonst würdest du nicht so dämlich quatschen.“ Kein Kamerad? Frank Paley war ein komischer Knabe, den unklare Gefühle hin und her warfen, aber so recht von Herzen schlecht war er eigentlich nicht. Er zuckte denn auch unter dem Wort und dem Tonfall zusammen. Nun erst erkannte er mit schonungsloser Schärfe, wie übel es dem Bordingenieur erging und daß er sich kaum noch halten konnte. Er blieb stehen und packte zu. „Mensch, Lorb, kann ich etwas für dich tun?“ „Natürlich kannst du das“, keuchte Lorb und zerrte an seiner Asbesthaube. „Bestelle rasch mal ein anständiges Bad für mich und ein handfestes Essen mit sechs Gängen und viel Flüssigkeiten.“ „Das würde ich verdammt gern tun, Lorb“, würgte der schöne Frank. „Aber wir müssen doch sehen, daß wir hier erst einmal ’rauskommen.“ „Deine Worte zeugen von großer Weisheit, Jüngling.“ Lorb ließ sich in die Knie nieder und schüttelte sich. „Kalt hinter uns, was?“ „Kalt?“ Paley erfaßte eine scheußliche, würgende Angst, und unwillkürlich sah er in die Felsensteppe zurück, aus der sie gekommen waren, sah den einzigen Markierungspunkt dieser Trostlosigkeit, den spitzen Bergkegel vor dem 38 N-Gebirge, der schon fast hinter dem Horizont untertauchte. Kalt war es gewiß nicht, aber … „Halt mich fest, Paley. Warum sagst du nichts mehr?“ Paleys Herz raste plötzlich so wild, daß er einfach nichts mehr sagen konnte. Seine Augen umfaßten die Schleier, die vom Süden her über den unwirklich leuchtenden Himmel zogen, daß die Sonnenscheibe zu zerfließen schien. Er konnte nicht erkennen, was es mit diesen hauchdünnen Schleiern auf sich hatte, aber er spürte, wie etwas Unsichtbares und Unbe39
greifliches ihn umtastete, und sah, wie die unbekannte Materie im Sonnenlicht aufleuchtete. „Paley – ist dir der Mund zugefroren?“ Regungslos stand der Junge neben dem Zusammengebrochenen und starrte in den: Himmel. „Friert dich wirklich?“ fragte er tonlos. „Ich bin doch kein Humorist.“ „Dann sieh mal nach oben – sieh dir das an …“ „Wenn es sich lohnt.“ Lorb lehnte den schmerzenden Nacken zurück und wandte langsam den Kopf. Mit glasigen Augen erfaßte er die Erscheinung. Dann erschrak Paley abermals. Stöhnend taumelte der Bordingenieur wieder hoch. Paley hielt ihn. „Bist du verrückt?“ „Radioaktiver Staub“, lallte der andere und sah sich verzweifelt um. „Wenn wir uns nur verbergen könnten, komm, schnell weiter!“ „Mach doch keinen Unsinn, Lorb – du kannst doch nicht …“ „Komm!!“ Komm, komm – es ging nicht, Paley hatte recht, und er mußte bei jedem Schritt fester zupacken – es ging ja gar nicht – aber Lorb wußte, was auf dem Spiel stand. Dreihundert Meter, vierhundert, fünfhundert. Paley vergaß Hunger und Durst und seine eigenen weichen Knie – tief zusammengekrümmt, das Gesicht unter der Haube nur noch ein fahler, fremder Strich – bei jedem Schritt ein unterdrücktes Stöhnen, so ging es weiter. Weiter? Wohin? „Können wir uns denn nirgends verbergen, verflucht noch mal?“ Nein, die Felsensteppe schien unbarmherzig zu sein, unbarmherzig und ohne Ende. Nur die Farbe wechselte sie und begann, in einem grellen Grün noch unheimlicher zu werden. Die Hitze nahm ab, doch die beiden waren weit davon entfernt, aufzuatmen. Staub war über ihnen. 40
Lorb spürte seine Wirkung bereits in den Gliedern. Sie würde ihn abwürgen, und es war eigentlich aussichtslos, was sie hier unternahmen. Aber so leicht gab sich ein Mensch nicht auf. Dichter woben die radioaktiven Schleier über den Himmel. „Weiter, Paley – nicht nachgeben …“ „Gib du nur nicht auf, zum Teufel.“ Dem schönen Frank brach der kalte Schweiß aus. Wütend und ratlos hielt er den Bordingenieur fest. „Kannst du mich noch halten, Frank?“ * „Die armen Teufel – wenn es sie erwischt, sind sie in drei Stunden hinüber.“ Toomey drehte am Quadratverstärker. „Angeblich sollen sie nicht mehr leben.“ „Das ist nur ein Dreh von diesem schlappen Minister“, knurrte Professor Henderson böse. „Aber der saubere Herr dürfte alle Aussichten haben, daß die beiden sang- und klanglos untergehen. Sehen Sie sich das an.“ Auf dem Bildschirm geisterte der Geiser am 38 N-Gebirge. „Ein ungewöhnlich starker Ausbruch.“ „Das geht schon über zehn Minuten so.“ „Und man kann nichts dagegen unternehmen“, sagte der bebrillte Toomey erbittert, der seit einigen Tagen an Gewissensqualen litt. Inzwischen war bekanntgeworden, daß man nunmehr auch Kommodore Parker ein strenges Verbot erteilt hatte, den Merkur anzufliegen, weil man diesen wertvollen Mann nicht einem sicheren Verderben preisgeben wollte. Toomey fühlte sich nicht ganz schuldlos daran. Henderson war taktvoll genug, ihn nicht mit unsinnigen Vorwürfen zu quälen. Er hockte breitbeinig vor der Tafel und sah aus, als wolle er das ferne kosmische Schauspiel mit den Augen verschlingen. 41
„Stichprobe, Toomey!“ Toomeys Hände gingen über eine Tastatur. Dann meldete er sachlich: „1133 T.“ Henderson wandte den Kopf, und seine dichten Augenbrauen schoben sich in einem großen Erstaunen zusammen. „Mehr nicht?“ „Im Augenblick nicht, Sir.“ „Wie ist der Ausschlag?“ „Positiv mit Rechtsneigung.“ „Also kann die Geschichte doch noch dramatischer werden.“ Henderson stand auf und machte einige Schritte, wobei er mit dem Zeigefinger die Bahn der radioaktiven Staubschleier verfolgte, die über das Gebirge nordwärts in die Felssteppe drängten. „Merkwürdig – die Schleier bewegen sich nur in einer Richtung, nämlich zum nördlichen Pol hin.“ „Das fällt mir auch auf.“ „Man müßte sich das einmal aus nächster Nähe ansehen. Na, vielleicht später mal. Beobachten Sie weiter und nehmen Sie alle zwei Minuten eine Stichprobe.“ „Okay, Sir.“ Henderson warf noch einen letzten Blick auf die schräg aufragende All-Sicht-Tafel und verließ die astronomische Station. Wenige Minuten später stand er dem Kommandanten Lasalle gegenüber, der gerade einen Funkspruch erhalten hatte und ihm geheimnisvoll zulächelte. „Armer Jim – nun haben sie ihn doch nach Alaska in die Eiswüste geschickt.“ Henderson stieg das Blut zu Kopf. Verdammte Schlappschwänze! „Darüber lachen Sie, Lasalle? Und auf Merkur greift der radioaktive Tod nach zwei hilflosen Männern! Sollte Parker wirklich diese blödsinnige Uranbauinspektion durchführen?“ „Offiziell muß er es.“ 42
„Und –inoffiziell?“ „Fragen Sie nicht so viel“, zwinkerte Lasalle. Zwei Männer sahen sich in die Augen und verstanden sich. Dann öffnete der Franzose seinen Privatschrank und holte eine Flasche nebst Gläsern hervor. „Trinken wir lieber einen.“ „Mir schmeckt es heute nicht“, winkte Henderson trübe ab. „Ich muß immer an die beiden dort drüben denken. Hoffentlich finden sie irgendeine Spalte oder Höhle, in die sie sich verkriechen können.“ Lasalle stellte die Flasche wieder zurück. „Sie haben recht, Henderson – sparen wir uns den Mittelschweren auf, bis alles ein gutes Ende gefunden hat.“ „Ich glaube nicht, daß Jim es noch schafft.“ „Der holt sie ’runter – verlassen Sie sich darauf!“ * Jim Parker war nach Alaska abgeflogen. Nichts war ihm anzumerken, als er mit dem verstohlen grinsenden Fritz Wernicke die schwere Düsenmaschine bestieg. Es gab nicht wenige Leute, die sich insgeheim wunderten, wie widerspruchslos sich der Kommodore einem Befehl beugte, der auch ihnen unmenschlich erschien – es gab aber nur ein paar, die wußten, daß die Reise in Minneapolis eine „bedauerliche Unterbrechung“ erfahren sollte. Wegen Motorschadens! So etwas kam sonst in der Praxis des S.A.T. nur selten vor, aber schließlich mußten Jim Parker und Fritz Wernicke irgendwo verschwinden können. Und auf dem Flughafen von Minneapolis saßen ein paar schneidige Jungen, die bereit waren, für den Kommodore jeden Schwindel mitzumachen. In Minneapolis aber wohnte auch Harry Walm. Gegen Mittag starteten sie in Orion-City, schon nach einigen 43
hundert Meilen meldeten sie ihren Motorschaden und steuerten den für das S.A.T. zuständigen Flughafen am Mississippi an. Kurz nach dreizehn Uhr raste ein Sportwagen durch die lärmdurchtobten Straßen der Weizenstadt. Fritz Wernicke steuerte ihn – im Räuberzivil eines wildgewordenen Reporters, mit Sonnenbrille und Schlägermütze und einer klotzigen Shagpfeife, die ihn übel werden ließ. An einer Straßenecke winkte er einem Zeitungsjungen. „Die Minnesota Street, mein Sohn?“ „Links ab, Sir – ‚Evening News’ gefällig?“ „Gib her.“ Er ließ sich ein Blatt hereinlangen und den Flitzer weiterrollen. Vor einem langweiligen Mietshaus bremste er und sauste im Lift in den achten Stock. Harry Walm hatte ungute Stunden hinter sich, in denen er ruhelos im Wohnzimmer herumgerast war. Als er den Steuermann sah, stieß er ein wütendes Gebrüll aus. „Wernicke – Wernicke – habt ihr euch in Orion-City in die Federn gelegt – lebt ihr nur noch von Schlaftabletten?“ „Psst!“ fuhr Fritz den Aufgeregten scharf an und drängte ihn rasch in den Flur, wo bereits der dicke MacMorris neugierig glotzte. Wernicke stutzte und nahm vorsichtshalber seine Schlägermütze nicht ab. „Ich möchte dich allein sprechen, Walm – vielleicht hast du einen anständigen Job für mich?“ Harry Walm war durchaus nicht schwer von Begriff, und er verstand die Bemerkung sofort. Aber leider hatte der Filmbonze den Steuermann bereits erkannt. Mit grinsender Vertraulichkeit streckte er ihm die breite Hand hin. „Freue mich, Sie zu sehen, Mister Wernicke. Sie brauchen sich vor mir nicht zu verstecken. Habe bereits erfahren, daß man alle Hilfsaktionen für Merkur einstellen will. Ich kann den Mund halten.“ Wernicke maß den Dicken mit einem tiefbeleidigten Ge44
sicht. „Mein Name ist Hunter, Sir – Elias Hunter. Ich suche einen anständigen Job und bin nicht bereit, mich anfrotzeln zu lassen.“ „Sie irren sich, Boß“, zwinkerte Walm. „Dieser Gentleman heißt tatsächlich Hunter. Ein alter Kollege von mir. Auf Wernicke warte ich wohl vergebens.“ „Verstehe“, zwinkerte Morris zurück, tippte an seinen Hut und ging. Wernicke sah ihm stirnrunzelnd nach. „Das paßt mir nicht, Walm.“ „Morris ist sicher, Fritz“, beruhigte ihn der Wochenschaureporter. „Natürlich hat er so ziemlich alles durchschaut, aber es ist besser, daß du geleugnet hast.“ Aber das sagte Walm so nebenbei, während er den Steuermann in das Wohnzimmer zerrte und sich noch einen Haufen Zigarettenpackungen in die Trenchcoattaschen steckte. „Geht es denn nun endlich los? Mensch, nun sag doch …“ „Du läßt mich ja nicht zu Wort kommen, du Drehorgelspieler. Jim wartet zwanzig Meilen vor der Stadt mit unserem Privatschiff. In einer Stunde starten wir zum Mond. Dort steigen wir um. Klar?“ „Vollkommen.“ Walm lief rot an und sah auf die Uhr. „Nur – ich warte noch auf meinen Gehilfen.“ „Was soll denn der?“ Harry Walm war plötzlich furchtbar nervös. Er riß eine der Zigarettenpackungen auf und mißhandelte die Glaspapierhülle. „Weißt du, Wernicke, es wurde doch abgemacht, daß ich einen Gehilfen mit zum Merkur nehmen kann.“ „Davon weiß ich nichts“, wunderte sich der Steuermann, der sich trotz aller Eile nach etwas Trinkbarem umsah und zu seinem Leidwesen nur Milchflaschen entdeckte, „Aber von mir aus nimm ihn mit. Dem wird es noch schön warm werden. Wenigstens ein netter Junge?“ Walm senkte den Kopf. „Eine junge Dame,“ 45
Nun schnappte Wernicke doch nach Luft. „Bist du verrückt – wir sind doch kein …“ „Wir müssen sie mitnehmen“, bat Walm händeringend. „Sonst ist es aus zwischen ihr und mir.“ „Trauriger Pantoffelheld!“ * „Evening News – Evening News!!“ Der Zeitungsjunge rief unten an der Ecke unermüdlich das Standardblatt der sensationslüsternen Spießbürger von Minneapolis aus. Er hielt das Blatt so, daß die Titelseite zu sehen war, die zwei Männerköpfe zeigte. „Bordingenieur Lorb und Frank Paley sterben auf dem Merkur!“ schrie er den Passanten in die müden Alltagsgesichter. „Lesen Sie unseren ausführlichen Bericht auf der zweiten Seite!“ Er gab sich wirklich Mühe, der kleine, zähe Bursche, und er wunderte sich flüchtig über den Polizeioffizier, der an die Bordkante getreten war und neugierig in die beginnende Minnesota Street sah. Sein scharf geschnittenes Gesicht war nachdenklich, und nun trat er auf den Zeitungsjungen zu. „Sag mal, kennst du den Gentleman, dem du vorhin die Minnesota Street zeigtest?“ „Den Herrn mit der Schlägermütze?“ Zwei hungrige Jungenaugen wurden groß und aufmerksam. „Ist eine Belohnung auf ihn ausgesetzt?“ „Das nicht“, lächelte der Offizier. „Aber es könnte vielleicht eine berühmte Persönlichkeit gewesen sein.“ „Sport, Sir?“ „Raumflieger. Denk mal nach.“ „Donnerwetter!“ Das Jungengehirn lief auf vollen Touren, aber das Geschäft ging schließlich vor, und die nette junge 46
Dame, die mit einigen Paketen die Straße entlangkam, würde sicher eine Zeitung kaufen. „Evening News, meine Dame?“ Sheree Garett hatte noch rasch einige Sachen eingekauft, die sie unbedingt auf die große Reise mitnehmen wollte – vom Spezial-Schlafsack bis zum – wie konnte es anders sein – neuesten Gesichtsnährpuder. Aber sie hatte unterwegs von den radioaktiven Staubwolken gehört, und ihr schmales Gesicht war von einer stillen Bereitschaft gezeichnet, alles zu ertragen, was auch Harry ertragen mußte. Sie hatte Angst, eine jämmerliche Angst vor allem, was vor ihr lag – aber sie konnte ihn nicht allein lassen. „Man sollte doch lieber auf der Erde bleiben“, lächelte der Offizier höflich, als sie die Zeitung in Empfang nahm, und zeigte auf die Bilder. „Andere Planeten sind nicht so freundlich.“ Sheree lächelte zurück, obwohl sie kein Wort verstanden hatte. „Todesschwaden verseuchen Merkur!“ schrie die aufdringliche Schlagzeile, daß es ihr kalt ums Herz wurde vor stillem Entsetzen. „Keine Hoffnung mehr für Lorb und Paley.“ Langsam ging sie weiter. Die Straße quirlte wie immer – die Menschen hasteten – eine ältere Dame promenierte mit ihrem verwöhnten Hündchen, das furchtbar an der Leine riß und ihr das Leben schwer machte – ein Kind stürzte und weinte. „Todesschwaden verseuchen Merkur!“ Das Kind jammerte immer noch, und dieser klagende Ton schnitt Sheree ins Herz. Ihre Augen gingen über die Bilder der beiden Männer. Das Weinen des Kindes versank hinter ihr. „Frank Paley – einst der Gefährte eines Gangsters, nun das hilflose Opfer eines weltenfernen Todes.“ Frank Paley? Ein großes Erstaunen wuchs in ihr. Wo hatte sie dieses weiche, unfertige Gesicht schon gesehen, den Namen gehört? Dann wußte sie es plötzlich. 47
Da war einmal ein Studententreffen gewesen, vor einigen Jahren; und dieser junge Mann war nicht von ihrer Seite gewichen, obwohl sie auf seine Gesellschaft keinen großen Wert gelegt hatte. Frank Paley! Den armen Burschen hatte es auf den Merkur verschlagen? Ein mitleidiges Lächeln umspielte ihren Mund. * Drei Mann standen vor der „All-Sicht-Tafel“ – Henderson, Lasalle und das Nervenbündel Toomey. Vor ihnen zerfloß die Merkurlandschaft. Henderson hatte den Verstärker neu gerichtet. Das Resultat war atemberaubend. „Das ist phantastisch, Professor!“ Henderson würgte eine Unruhe in der Kehle, die keinen Stolz über seine Leistung aufkommen ließ. Unglaublich war es, was sie sahen. Der überreizte Empfänger schnitt aus der fernen Planetenlandschaft ein Detail heraus, das nicht mehr als fünf Meilen im Quadrat hatte. Von den scheußlichen Schleiern des Todes überzogen war diese Landschaft. Aber deren Mächtigkeit schien abzunehmen. „Stichprobe, Toomey!“ „038 – 057!“ „Der Ausbruch scheint überstanden zu sein“, stellte Henderson fest. „Nun wollen wir doch einmal sehen, ob …“ „Professor!“ Toomey wies aufgeregt auf einen Schatten in der Landschaft, der die Eintönigkeit der Steppe unterbrach. „Ein Berg oder ein Hügel ist es nicht …“ „Das genaue Gegenteil davon!“ Der Chefastronom hatte es bereits bemerkt und ließ den roten Teilstrich über das Bild gleiten. „Eine unmittelbare Niveausenkung des Bodens – sieht aus wie ein kleiner, ausgetrockneter See. Wenn die beiden 48
sich da verkriechen könnten, wären sie zunächst einmal geborgen.“ „Wer weiß, ob sie sich ausgerechnet in diesem Gebiet aufhalten“, warf Toomey ein und sah den Professor fragend an. Henderson schob die Hände in die Kitteltaschen. „Sie werden versuchen, den Zwielichtgürtel in möglichst gerader Linie zu erreichen, und müßten nach meinem Dafürhalten in der Nähe dieses Beckens sein.“ Lasalles Augen konnten sich von dem magisch-unwirklichen Anblick nicht losreißen. „Wenn sie noch leben“, sagte er leise. * „Lorb – Lorb!“ Sie waren noch auf den Beinen. Lasalle brauchte sich keine Sorgen zu machen – noch nicht. Meter um Meter legten sie zurück im Todesatem der Staubschleier, die nun ganz um sie waren. Wie ihnen dabei zumute war, wußten sie allerdings selber nicht, denn das Denken hörte langsam auf. Tiere waren es, die vorwärts taumelten. Es war gut, daß Hendersons Zauberschirm noch nicht so überentwickelt war, daß er auch Gestalten auf dem Merkur einfangen konnte – es würde auf der Erde sonst noch einige gutgenährte und wohlrasierte Athleten gegeben haben, die über sie gelacht hätten. „Lorb, wenn du nicht mehr kannst, sag’ es.“ „Zu gütig – bis zum nächsten Hotel halte ich noch aus.“ „Mit oder ohne Warmwasser?“ „Ich bin doch kein Landstreicher!“ Landstreicher? Wie vom Leben ausgespuckt waren sie. Lorb war am schlimmsten dran, und doch hatte er trotz allem noch den sachlicheren Blick und spürte als erster, daß die Kraft der Todesschwaden etwas nachzulassen schien. Sein ausgemergelter 49
Körper bekam plötzlich mehr Luft zum Atmen. In aufflackernder Hoffnung richtete er sich aus dem schmerzvollen Taumelgang auf und spähte nach oben. „Der Himmel wird wieder durchsichtiger – die Schleier verteilen sich …“ „Vielleicht flutschen wir noch mal vorbei!“ Lorbs Kopf fiel wieder herunter. Im trostlosen Rhythmus der schlürfenden Schritte rundete der kleine Zeiger an seinem Armgelenk weiter die Zeit. Wohl wurde es über ihnen wieder heller und klarer, aber von der wieder scharf hervortretenden Sonnenscheibe floß immer stärker werdende Hitze über die Steppe und ließ wieder Wünsche nach Wasser und Schatten wach werden. Weiter! Weiter! Nichts als felsige Steppe um sie, die rot aufleuchtete und ohne Anfang und ohne Ende zu sein schien. Weit vor ihnen sollte der dämmerige Zwielichtgürtel liegen. Die Astronomen hatten von ihm geschrieben, und Mexass wollte dort gewesen sein, aber sie glaubten nicht mehr daran. Nur einmal stutzte Paley und legte die Hand über die Augen. „Sag’ mal, Lorb – gibt es hier Seen?“ „Armer Kerl!“ Der Bordingenieur stoppte sein Vorwärtstaumeln, rutschte dabei in die Knie und zwang sich, den Kopf zu drehen. Paley zuliebe, der sich in den letzten Stunden mächtig anständig gezeigt hatte. Lohnen würde es sich wohl nicht. „Wo denn, du Gespensterseher?“ „Linker Hand – schräg ab …“ „Es waren einmal zwei Männer, die bildeten sich ein, Durst zu haben. Als sie stundenlang durch die Wüste des bösen Königs gegangen waren, erschien ihnen …“ „Kannst du nicht weiter?“ „Sag’ mal, ist da wirklich was?“ Lorbs fahles Gesicht straffte sich, und er wurde sehr aufmerksam. In der unwirklichen Grelle der Merkurlandschaft zerflimmerte etwas, was sich von der 50
Eintönigkeit unterschied. Nur wenige Meilen von ihnen entfernt. Als wenn der Schein der Sonnenscheibe dort tiefer fiele und scharfe Umrisse aus dem Felsboden herausschnitte. „Das ist doch …“ „Ein See?“ „Gibt es hier nicht – aber wenn du mir mal aufhelfen würdest …“ Paley griff schon zu, und von ihrer Wahrnehmung angezogen, änderten sie ihre Richtung. Der schöne Frank dachte nicht daran, zu meckern, weil sie nun nicht mehr nordwärts gingen. Es war ja doch alles gleich. Nach gut zwei Stunden erkannten sie, daß es sich um ein Becken handelte, das scharf abfiel und zwanzig oder dreißig Meter tief sein mußte. „Das hätten wir uns sparen können!“ „Sag’ das nicht“, drängte der Bordingenieur. „Ob wir einige Meter tiefer verrecken oder nicht …“ Aber als sie dann heran waren, sagte er nichts mehr. Vor ihnen lag ein Paradies. Nicht eines mit Palmen, rauschenden Quellen und gebratenen Tauben. Aber Schatten gab es hier! Und Lorb stieß ergriffen aus: „Hat es sich gelohnt, du ungläubiger Knabe?“ Schatten!! Schmal war das Becken nur, aber wie ein ausgetrockneter Flußlauf erstreckte es sich in einem weiten Bogen nordwärts. Die westliche Kante stand einige Meter über und bot Schutz vor dem sengenden Zugriff des wachsenden Sonnengeistes. Sie sahen es und schluchzten und brüllten – und wußten es selber nicht. „Da müssen wir ’runter, Lorb.“ „Natürlich müssen wir es – und ich glaube auch, daß meine Beine …“ „Ich seile dich an.“ „Zu liebenswürdig!“ 51
* „Fertig!“ Jim Parker saß im Kommandostand der „A 4“ und hörte, wie die Hermetikluken geschlossen wurden. Es war soweit! Merkur, nimm dich in acht! Neben ihm stand Berger. Hinten in der Kabine paßte Wernicke auf den Wochenschaureporter und seine rotblonde „Gehilfin“ auf, die mächtig in ihn verschossen sein mußte, da sie dieses verrückte Unternehmen mitmachen wollte. Jim tastete auf Startruf. „Fertig?“ Draußen schnitten Scheinwerfer scharfe Lichtbalken in die eisige Mondnacht. Vom Kommandoturm leuchtete es rot-weiß. Johnson leitete persönlich das Startmanöver auf dem geräumten Flugfeld. Bis jetzt war Jim Parkers geheime Aktion gut verlaufen. Vom Minister bis zu Generaldirektor Cunningham glaubte alles, der Kommodore sei bereits in Alaska eingetroffen. Sollten sie es glauben, bis sie draußen waren! Hoffentlich hatte Feichtmayr in der Nordlandstation geschaltet! „Vier – drei …“ „Vier – drei …“ Die Anzeiger pendelten, der Querstrich im Leuchtauge schnitt den Mittelpunkt. Dann noch einmal Johnson: „Hallo, Jim – soeben meldet sich Lasalle von der AS – sie haben in dem betreffenden Merkurgebiet ein Bodenbecken entdeckt, auf das sie euch zulotsen wollen.“ „Anständig von den Leuten.“ „Macht es gut, Jim – holt sie ’raus – drei – zwei …“ „Geh nach hinten, Berger!“ Während Jim die Zündung voll schaltete, ging der Ingenieur in die Kabine, wo sich Harry Walm um Sheree bemühte, die tapfer sein wollte, aber mit schreckgeweiteten Augen auf 52
die Startuhr sah. Dabei redete sie alles mögliche durcheinander. „Doch, Harry – ich kenne diesen Paley!“ „Mach’ mich nicht eifersüchtig“, grinste er und strich ihr über das Haar. In dieser Sekunde gab Johnson vom Kommandoturm aus das Zeichen: „Zündung!“ Das Schiff ruckte widerwillig an, schien noch einmal in seiner Schwere zu verharren und raste dann die Startbahn hoch. Und im beginnenden Andruck mußte Sheree laut lachen: „Eifersüchtig? Doch nicht wegen Frank Paley!“ * „Vorsicht, Lorb – langsam abstemmen!“ Bordingenieur Lorb hing am Seil und taumelte Meter um Meter in das Becken hinein. Die zackige Felswand riß die Hände in Fetzen. Aber was machte das. Unten war Schatten! Schatten! Oben an der Kante stand der schöne Frank und hielt mühsam das Gleichgewicht. „Laß mal los, Paley.“ „Mach’ keine faulen Witze. Stemm’ dich lieber vorsichtig ab.“ „Die letzten fünfzehn Meter schaffe ich schon.“ Aber er sollte sie nicht schaffen. Das Seil, das Frank Paley vorsichtig durch seine Fäuste gleiten ließ, war an einem Gürtel befestigt, den Lorb trug und der wiederum durch drei Schnallen zusammengehalten wurde. Wahrscheinlich hatte das Material unter der unnatürlich trockenen Hitze gelitten, war gerissen oder sonstwie mürbe geworden – jedenfalls lösten sich die Schnallen, und der Bordingenieur spürte entsetzt, wie der Gürtel von seiner Hüfte glitt. „Verflucht noch mal!“ Instinktiv nahm er die Hände von der Felswand, um das Seil 53
zu greifen, aber sie waren blutverschmiert und lahm und konnten nicht zufassen. In Todesangst schrie er auf. „Hochziehen, Frank – hochziehen …!“ Hochziehen? Paley begriff noch nichts. Für Bruchteile einer Sekunde stand er starr und regungslos. Als er die Situation erfaßte, war es zu spät. Lorb war mit dem Rücken wieder gegen die Felswand gependelt, warf sich herum, versuchte sich festzuhalten an irgendeinem winzigen Vorsprung, dabei löste sich der Haltegürtel ganz von ihm. Er schrie, brüllte, rutschte wieder ab. Da erst löste sich der Bann ganz von seinem Kameraden. „Lorb – halte dich – ich komme!“ Frank warf sich zu Boden, hing den Unterkörper über den gähnenden Abgrund, ließ sich in die Senkrechte fallen und arbeitet sich herunter. Aber auch das kam zu spät. Lorb schwieg plötzlich. Ganz fest preßte er noch einmal den zerschundenen Körper gegen den Felsen. Fiel senkrecht herunter – das verzerrte Gesicht zur Sonnenscheibe, die als hämisch grinsendes Ungeheuer über ihm gloste. Drehte sich einmal im Fallen und klatschte auf. Hart. Es gab nur einen kurzen, häßlichen Laut, aber Frank, der am Felsen hing, wurde vom Grauen geschüttelt. „Lorb – ich komme“, schluchzte er. Aber wahrscheinlich hatte es keinen Sinn mehr. Minuten später kniete er neben dem Bordingenieur. Es war unheimlich still, und der Körper lag regungslos. Das furchtbare Gefühl weltenweiter Verlassenheit wollte ihn übermannen. Doch aus dem starren Schweigen stieg hilflos ein Laut auf: Lorb stöhnte. *
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MacMorris hatte inzwischen Besuch erhalten, der ihm nur ein mitleidiges Lächeln entlocken konnte. Der elegante Herr gab sich als Beamter des Sicherheitsdienstes aus und wollte einige Fragen stellen, die Harry Walm betrafen. Morris bot ihm sehr höflich einen Whisky nebst Zigarette an und wies dann an Hand schriftlicher Unterlagen nach, daß sich sein bester Reporter in Europa befand, wo er die Frühjahrsmodenschauen zu filmen hatte. MacMorris hätte sich diesen – kleinen und gutgemeinten – Schwindel sparen können. Jim Parkers Aktion war vier Stunden nach seinem Start aufgedeckt worden. In Alaska war es schiefgegangen, und in Washington tobte sich nun ein Minister aus. Aber auch dieser Minister hätte sich seinen – großen und nicht so gutgemeinten – Schwindel sparen können; denn die erwartete Dusche der Öffentlichkeit blieb aus. Die Zeitungen, die vorher die sofortige Einstellung für Lorb und Paley gefordert hatten, brachten nun den neuesten Streich des Kommodores in Riesenaufmachung. Der Blamierte war der Minister selber, der sich nun einer peinlichen Untersuchung gegenübergestellt sah. Jim Parker steuerte die „A 4“ mit rasenden TU-Düsen dem fernen Planeten entgegen. Täglich standen sie im Funkverkehr mit „Luna nova“. Was würden sie antreffen? * „Sie sind am Zuge, Miß Garett!“ Ingenieur Berger saß der schönen Sheree am Schachbrett gegenüber. Um das Schiff fiel der schwarze Raum der grellen Sterne. In der kleinen Kabine war es beinahe gemütlich, und doch hätten sie alle auf die Gemütlichkeit gepfiffen, wenn sie nur noch schneller vorangekommen wären. 55
Noch schneller? Wie ein rasender Pfeil schoß es auf seiner stündlich neuerrechneten Bahn dahin. „Sie sind am Zuge, Miß Garett!“ Sheree setzte einen Springer ein und war allen Ernstes bestrebt, den guten Berger in die Enge zu treiben. Harry Walm stand hinter ihr und schaute ihnen zu. Für ihn war eine Raumschiffkabine ein Gefängnis. Als Wernicke sich durch die niedrige Schottür schob, atmete er auf. „Was Neues, Whiskytöter?“ „In New York steigen die Preise für Spirituosen, und die Hausfrauenverbände von Arizona veranstalten eine Milchwerbewoche“, grinste Wernicke und winkte verstohlen ab. Für einen Augenblick tat auch er so, als vertiefe er sich in das königliche Spiel. Dann schlenderte er unauffällig wieder hinaus. Walm folgte ihm. „Was ist?“ fragte er neugierig. „In drei Tagen kommen wir in die Nähe der Venus“, sagte Wernicke leise und sah durch ein Bullauge in den Sternenraum. „Vielleicht ist es besser, wir setzen Miß Garett ab.“ Walm reckte sich. „Warum?“ „Wir haben einen neuen Funkspruch von der AS erhalten. 56
Das dortige Observatorium befürchtet einen neuen radioaktiven Ausbruch auf Merkur.“ „Damit rechneten wir ja.“ „Gewiß“, nickte der Steuermann und hielt gelassen dem mißtrauischen Blick des anderen stand. „Aber Henderson vermutet, daß der neue Ausbruch außergewöhnlich stark sein wird. Vielleicht wäre es besser …“ „Kommst du im Auftrage von Parker?“ „Jim weiß nicht, daß ich mit dir darüber rede“, schüttelte er den Kopf. „Aber er hat diesmal schon so viel auf seine Schultern geladen. Nun droht wieder diese Atomgefahr. Ich möchte nicht, daß er sich noch mit der Sorge um eine Frau belastet, wenn …“ „Wenn es schiefgeht, meinst du?“ „Gewiß – und es kann sehr leicht schiefgehen.“ „Ich werde es ihr sagen“, meinte der Reporter bedrückt. „Aber man müßte sie wohl dazu zwingen.“ „Wenn du es nicht kannst, können wir es auch nicht.“ * Lorb stöhnte noch einmal. Das war, als der schöne Frank seinen willenlosen Körper umdrehte, und unsichere Hände ihn abtasteten. Dann spürte er noch, wie er hochgehoben wurde, und eine Finsternis über ihn herfiel, die grenzenlos war. Frank Paley schleppte den Bordingenieur durch die Schlucht. Über Geröll und Bodenrisse ging es in den felsigen Schlauch hinein, der sich nordwärts erstreckte. Nach einer halben Meile wich die linker Hand hochragende Felswand zurück und gab eine Art Höhle frei. Schutz vor dem glühenden Leuchten des Sonnengespenstes fanden sie hier, das hoch über ihnen in eine neue Phase getreten war – es schrumpfte zusammen. 57
Die Wissenschaftler hatten Erklärungen dafür. Wer das aber mit seinen eigenen Augen sah und dabei so grenzenlos verlassen neben einem Schwerverletzten hockte, wie der schöne Frank, der erlebte diese kosmische Wandlung mit schauderndem Herzen. „Lorb“, flüsterte er und wischte ihm den Staub aus dem Gesicht. Er konnte noch nichts sagen, der Bordingenieur. Aber er war da. Atmete. Ratlos hockte Paley neben ihm, hatte ihm das Oberteil seiner Asbestkombination unter den Kopf gelegt, damit er nicht den kahlen Felsen spüre. Mehr konnte er nicht tun. Kein Moos und kein Gras gab es hier. Nur der Fels war um sie – vor ihnen mit dem endlos dahinfließenden Canon, der irgendwo im Norden in den Zwielichtgürtel übergehen mußte – hinter ihnen mit einer kahlgewölbten Wand, die aussah, als hätten Wasser sie ausgewaschen. Wasser? Mit der Ruhe des hilflosen Abwartens kam es wieder: Durst! Einmal – die Sonnenscheibe war schon auf die Hälfte ihres größten Umfangs geschrumpft – war es dem Jungen, als höre er es tief im Fels plätschern. Aber das waren wohl Sinnestäuschungen gewesen. Doch keine Täuschung war es, als Lorb sich plötzlich mit seinem Oberkörper aufrichtete, ihn aus großen, unguten Augen ansah und flehte: „Wasser – Wasser, Paley!“ Wasser? Drei Wasserdrops hatten sie noch, oder besser gesagt, zweieinhalb; denn einen hatte Paley regelrecht angeschleckt, als er es nicht mehr aushalten konnte. Ein kalter Hauch war es gewesen, die Spur einer Erlösung – nicht mehr. Nun grinste er den Bordingenieur freundlich an und griff in den Proviantbeutel. 58
„Eine Portion Wasser, Sir – eisgekühlt.“ „Verdammt anständig von dir.“ Das fahle Gesicht schien aufgedunsen. Paley sah es mit Besorgnis. „Wie lange sind wir schon in diesem Hotel?“ „Mindestens zwei Wochen, Sir.“ „Nette Gegend?“ „Einzigartig.“ Mit grenzenloser Gier schmatzte der Bordingenieur den Wasserdrop. Fiel zurück. Unter den schwarzen Schatten der unnatürlich geweiteten Augen breitete sich ein fiebriges Rot aus. Aus der totenähnlichen Ruhe des Schwerverletzten flammte ein Fieber auf, das qualvoll den kleinen Schattenraum erfüllte, Paley konnte den tobenden Körper kaum bändigen. Erst als der Uhrzeiger die irdische Tageszeit dreimal gerundet hatte, wurde er ruhig und kam wieder zu sich. „Wasser!“ flehte er wieder. Paley öffnete seine Kombination und wischte ihm den Schweiß ab. Dann gab er ihm den zweitletzten Wasserdrop. Gierig schluckte Lorb. „Ich schäme mich direkt vor dir, Paley.“ „Maul halten“, knurrte Paley freundschaftlich und dachte mit Schrecken an den letzten, angeschleckten Drop im Proviantbeutel. Und in diesem Augenblick hörte er wieder, wie es irgendwo im Fels rauschte. Aufmerksam und seltsam klar sah der Bordingenieur ihn an. „Aus mit dem Wasser, wie?“ „Ich glaube nicht“, lächelte Paley und horchte. „Denkst du noch an die Rotblonde?“ Paley wollte irgend etwas antworten, aber Lorbs Kopf fiel wieder zurück, und er schlief ein. Wieder kam es dem Jungen endlos vor, wie er so neben seinem Kameraden hockte. Seine Gedanken kreisten wieder um das Mädchen Sheree, das er vor Jahren einmal flüchtig gekannt hatte. In den letzten Wochen 59
hatte er immer an sie denken müssen – er wußte selber nicht, warum. „Ja Lorb“, sagte er leise zu dem Schlafenden. „Ich denke immer an sie.“ Lorb antwortete nicht. Aber über sein Gesicht glitt ein Lächeln. „Sheree!“ Der Junge konzentrierte sich ganz auf diesen Mädchennamen, der zärtlich und tröstlich um ihn war. Er hatte mehr Mädel gekannt und gehabt. Aber es war rätselhaft und beglückend zugleich, wie die Rotblonde aus Chicago sein ganzes Denken einnahm! „Sheree!“ * Sheree sah zu dem Planeten zurück, der weit hinter dem Schiff kleiner und kleiner wurde. „Warum sollte ich denn auf der Venus bleiben, hm?“ Harry Walm stand neben ihr und hatte seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt. ‚Es ist gut, daß sie bei mir ist’, dachte er und hatte doch das miserable Gefühl, als bringe jede Meile sie einer Trennung näher. Laut sagte er: „Es wäre besser gewesen, Sheree – auf Merkur kann bald wieder der Teufel los sein.“ „Du bist sehr offen, Harry!“ Er spürt, wie sie zusammenzuckte. „Verzeih – ich wollte dich nicht erschrecken, aber …“ „Ich fürchte mich nicht.“ Sie lächelte und wollte noch mehr sagen. In diesem Augenblick ertönte das Summzeichen des Schiffsrufs. Harry ging nach vorn. Der Kommodore steuerte die „A4“ und wies gerade auf einen winzigen Weltkörper, der sich links von ihnen bewegte. Der Merkur, mit dem sie in kurzer Zeit zusammentreffen würden. 60
„Was gibt’s Neues?“ fragte der Reporter gespannt. „Allerhand“, antwortete Berger, der neben Jim Parker am Empfänger saß. „Ich hoffe, du hast starke Nerven. Jim, du hast doch nichts dagegen?“ Jim Parker schüttelte den Kopf. „Versteckspielen können wir nicht, Berger“, sagte er schwer. „Mir tut es nur leid um euch.“ „Ist etwas schiefgegangen?“ erkundigte sich Harry Walm besorgt. „Ihr macht nicht gerade freundliche Gesichter. Was steht da alles auf deinem Notizblock?“ Berger brauchte nicht erst abzulesen. „Der Minister hat uns durch die I.W.K.-Station anrufen lassen und uns mitgeteilt, er werde uns nach unserer Rückkehr verhaften lassen. Wohl, um sein Gesicht zu wahren.“ „Nicht schlecht“, grinste Harry erheitert. „Was meinst du, Jim?“ „Ein Witz!“ „Meine Meinung. Hast du noch mehr Fröhliches in deinem Programm?“ „Leider nicht. Auch Chefastronom Henderson von ‚Luna nova’ hat uns einen Funkspruch übermitteln lassen. Der erwartete neue radioaktive Ausbruch auf Merkur stellt unmittelbar bevor. Wir kommen gerade in den Zauber ’rein – wenn wir großes Schwein haben, noch kurz vor dem Ausbruch.“ Harry Walm setzte sich auf eine Röhrenbrücke, steckte eine Zigarette in den Mund, wagte aber nicht, sie anzuzünden. „Schlecht abgepaßt. Hoffentlich müssen wir die Brüder nicht noch lange suchen.“ „Nach unserer Berechnung können sie sich nur in der großen Bodensenke aufhalten.“ „Ich weiß.“ Walm tippte Jim an und wies auf seine Zigarette. Der Kommodore schüttelte den Kopf. Mit einem Seufzer steckte der Reporter den angekauten Glimmstengel wieder in die Brusttasche. „Dann können wir es schaffen, Kameraden – einladen und ab dafür!“ 61
„Du irrst dich, Harry“, schüttelte Jim den Kopf. „Wir funken seit zehn Minuten SOS an alle Raumschiffe und Stationen.“ Harry vergaß, den Reißverschluß über der Tasche zuzuziehen. Er duckte sich und sah erst den Kommodore entsetzt an und dann Berger. „Sagt das noch mal!“ „Du hast mich richtig verstanden.“ Der Reporter sprang auf, rannte in den Kontrollraum, schnüffelte den Kontrolltisch ab, obwohl er nicht viel davon verstand, kam dann zurück und machte eine hilflose Handbewegung: „Aber ich verstehe nicht …“ „Wir sind nicht in unmittelbarer Gefahr“, beruhigte ihn Berger. „Bis Merkur halten wir noch durch. Aber dann fällt der Außenschieber der Mitteldüse aus, und ohne den kommen wir nicht wieder hoch.“ Walm hatte einen schlechten Geschmack im Mund. „Ich verstehe das nicht ganz“, würgte er. „Kann man das Ding denn nicht reparieren?“ „Eine Reparatur müßte sofort vorgenommen werden“, sagte Jim Parker ruhig. „Und dazu müßten wir die Fahrt des Schiffes herabsetzen. Das aber würde bedeuten, daß wir den Anschluß an Merkur verpassen und drei oder vier Wochen später dort drüben sind. Und nun denk’ mal an Lorb und Paley.“ „Verdammte Schweinerei!“ * Mit unverminderter Geschwindigkeit jagte Jim die „A 4“ weiter dem Merkur entgegen. Das Schiff wurde nicht gestoppt. Lorb und Paley warteten. Neue Atomschleier drohten. Dann sollten die beiden wenigstens an Bord des Schiffes sein. Jim drückte auf die Tube, ohne Rücksicht auf Verluste, und was der Kasten nur aushielt. 62
* SOS-Rufe rasten durch das All, wurden von unbewegten Funkern eingefangen und lösten einen ziemlichen Wirbel aus. Eine Stunde nach der Unterredung in der Führerkanzel knallte Generaldirektor Cunningham die Faust auf den Tisch. „Da haben wir den Salat! Das kommt davon, wenn man Raumschiffe überstürzt mit TU-Patronen füttert. Der Minister wird sich freuen. Ich …“ Der Privatsekretär unterbrach ihn mit feinem Lächeln. „Verzeihung, Sir – wünschen Sie auch die Verhaftung von Kommodore Parker und den anderen Herren …?“ „Ob ich was wünsche?“ keuchte der Boß. „Sie sind wohl zufällig geistesgestört? Wer die Hand an Parker legt, wird von mir höchstpersönlich über den Haufen geknallt. Telefon!“ Und dann mißhandelte er sämtliche Apparate, die für ihn greifbar waren. Zwei Raumschiffe setzte er auf Merkur an. Rücksichtslos. Zwischendurch sprach er mit Washington und machte den Minister fertig. Noch rücksichtsloser. Zwei Schiffe starteten. Die „Kosmos V“ und die neue „Interplanet“. Nun auf einmal klappte der Laden. Würden sie noch entscheidend eingreifen können? Niemand glaubte daran. Auch Jim Parker nicht. Die Jungen würden noch unterwegs sein, wenn das neue Unheil der todbringenden Schleier über der Merkurlandschaft hereinbrach. Immer näher schob sich der sonnennahe Planet heran. Als die Höhen und Tiefen in Sicht kamen, die die Merkurlandschaft mit fast geometrischer Gleichmäßigkeit aufteilten, gab Frank Paley – selber schon mit den schwimmenden Bewegungen des langsam Verdurstenden – dem Bordingenieur noch den letzten Wasserdrop. In der tief gelegenen Schattenhöhle … 63
* „Laß ihn dir gut schmecken, Lorb!“ Bordingenieur Lorb verstand die Bemerkung sofort, obwohl er die mehr gekrächzten als gesprochenen Worte kaum hören konnte. Der schöne Frank kniete neben ihm und hielt ihm den gelben Drop hin. „Der letzte, wie?“ „Mach’ dir nichts draus“, grinste Paley und sah mit entzündeten Augen in den Himmel, an dem die Sonnenscheibe bereits wieder wuchs. Sie war aber auch das einzig Lebende in dieser verfluchten, trostlosen Todesstarre. „Mach’ dir nichts draus – sie holen uns ja noch …“ Lorb hielt den Drop in der Hand. „Glaubst du noch daran?“ „Ich weiß es nicht – als ich hier so allein saß und grübelte, war es mir oft, als wenn sie unterwegs wären.“ „Wir wollen immer daran glauben“, sagte der Verletzte und brach den letzten, allerletzten Drop in zwei Teile. Wie eine feierliche Handlung war es. Mit großen Augen folgte der schöne Frank den Bewegungen der zerrissenen Hände. Dann trafen sich ihre Blicke. „Hier, Frank – jedem die Hälfte.“ „Ich habe meinen Anteil an diesem Drop schon weg. Abgeschleckt, weißt du?“ „Ach was – hier nimm!“ Paley merkte, daß der Bordingenieur ihm nicht nur einen armseligen halben Wasserdrop geben wollte. Der Durst, diese brennende Geißel ihrer sonnendurchglühten Verlassenheit, verlor für einen Augenblick an Bedeutung. Paley nahm den halben Drop. „Auf was sollen wir trinken?“ „Ich habe dir zu danken, Paley. Wenn du dich in der letzten 64
Zeit nicht so anständig gezeigt hättest, wäre ich verreckt. Darum trinke ich auf dein Wohl und unsere glückliche Rückkehr.“ „Auf deine Gesundheit!“ Andächtig, langsam und ohne jede Gier genossen sie den letzten Hauch von erfrischender Kühle, die sie durch das All mitgebracht hatten. Dann war es ganz aus. Lorb konnte sein rechtes Bein nicht bewegen; es war wohl durch eine Verletzung gelähmt worden. Nach einigen Stunden stellte sich erneut Fieber ein – nicht gerade erschreckend hoch, aber doch quälend genug, um den Durst wieder zu wecken. Aber in das stumme Verstehen ihrer Blicke klang wieder das ferne, geheimnisvolle Geräusch. Diesmal hörte Lorb es auch. „Mensch, Paley – täuschen mich meine schönen Ohren?“ Frank Paley schüttelte den Kopf. „Im Fels scheint Wasser zu sein.“ „Wasserhöhlen?“ „Ich weiß es nicht.“ Der schöne Frank hockte am Boden und zeichnete mit einem Stück kreideähnlichen Gesteins etwas auf den Felsboden, das wie eine pompöse Gebäudefront aussah, mit Flaggenmast und Schmucksäulen und allen Schikanen. „Sobald ich dich allein lassen kann, gehe ich ’rein.“ „In den Fels?“ Paley sah auf und wies auf einen vorspringenden Zacken, der ihre „Schattenhöhle“ nach Norden abschloß. „Dahinter ist ein Riß, durch den man das Rauschen noch deutlicher hören kann. Ich glaube, man kann dort einsteigen.“ „Entweder wir beide gemeinsam oder …“ „Schon gut, Lorb.“ Er wandte sich wieder seinem Prachtgemälde zu. „Was sagst du zu dem Kasten?“ „Ich habe mich schon gewundert“, grinste der Bordingenieur. „Willst du nachher umsatteln und Architektur studieren?“ „Das ist ein ganz altes Gebäude – ich werde dir mal eine Geschichte dazu erzählen.“ 65
„Hängt natürlich wieder mit deiner Rotblonden zusammen“, mutmaßte Lorb schwach und verzichtete auf die Geschichte. Von seinem kraftlosen Bein ging ein eigenartiges Gefühl durch den Körper, das ihn selber beunruhigte und angstvoll atmen ließ. Paley beobachtete ihn mit Sorge. Wahrscheinlich waren irgendwelche Komplikationen im Anmarsch. Unruhig schlief der Bordingenieur ein. Draußen über der Schlucht wuchs die Hitze mit der Sonnenscheibe. „Wenn wir nur Wasser hätten“, murmelte Paley. „Dann könnte ich ihm alles leichter machen.“ Dann zeichnete er weiter an seinem merkwürdigen, protzigen Gebäude. Dreimal rundete auf Lorbs Armbanduhr, die er nun trug, die irdische Tageszeit. Dreimal vergingen vierundzwanzig Stunden. Es kam kein Raumschiff von der fernen Erde. Das Gebäude auf dem Felsenboden wurde fertig. Einmal war es dem Einsamen, als wühle sich durch die summende Verlorenheit ein heulender Ton heran – von irgendwoher. Er ruckte auf, stürzte aus der Höhle. Aber es war schon alles wieder tot und still. Als er zurückkam, hatte sich der Bordingenieur hochgestemmt. „Ich muß trinken, Paley – sonst werde ich verrückt.“ Es war soweit! Frank Paley strich Lorb über das schmutzige, verklebte Haar. „Ich hole Wasser“, sagte er ruhig. „Das kann ich nicht verlangen.“ * Die „A 4“ war heran! Als Jim Parker das rasende Schiff mit den Bremsdüsen in die Landeellipse zwang, brach das neue Unheil über den Merkur herein. 66
Eine radioaktive Fontäne stieg dem Schiff entgegen. Jim Parker warf mit einem unterdrückten Fluch einen Hebel herum. „Wir müssen noch einmal anfliegen.“ „Dauert sechs Stunden.“ „Sichern!!“ Fritz Wernicke gab den Befehl nach hinten zur Kabine weiter. In fliegender Hast wurden alle Vorkehrungen getroffen, um die tödlichen Wirkungen der Strahlungen, die für irdische Begriffe ungewöhnlich stark sein mußten, wenigstens abzuschwächen. „Nach der Landung müssen die anderen an Bord bleiben“, schlug Wernicke vor, der am Empfänger saß und sich mit einer neuen Meldung herumärgerte, die eben von einem anderen Raumschiff weitergereicht wurde. „Am besten wird es sein, nur wir beide betreten den reizvollen Boden dieser Schönheit.“ Der Kommodore schüttelte den Kopf. „Wir müssen die Unglücksraben möglichst rasch an Bord haben. Alle Mann müssen suchen!“ Mit einem Seitenblick auf den eifrig stenografierenden Wernicke: „Will da noch einer was von uns?“ Wernicke grunzte verächtlich. „Dieser komische Minister in Washington scheint den Drehwurm zu kriegen. Nun verlangt er von den Schiffen, die uns zu Hilfe kommen sollen, daß sie uns Lorb und Paley abnehmen und diese als Gefangene zur Erde bringen.“ „Erst einmal können vor Lachen. Wo stehen diese Schiffe?“ „,Kosmos V’ und ‚Interplanet’? 1170 V und Venus 207!“ „Besten Dank! Wenn wir uns nicht allein helfen, werden sie uns als malerische Atomopfer wiederfinden. Stell’ den Quasselkasten ab – er kann uns doch nichts mehr nützen.“ Mit einer harten, entschlossenen Bewegung schaltete Wernicke aus. Nun waren sie allein. Unter ihnen wurde die Merkurlandschaft schräg weggerissen. Wernicke ließ sie nicht aus den Augen. „Hier möchte ich nicht meine alten Tage verleben!“ 67
„Arme Teufel, die hier aushalten müssen. Die haben schon für alle Sünden gebüßt.“ „Hierher sollte man wild gewordene Minister zur Erholung schicken. Ob wir wieder herauskommen?“ Der Kommodore schaltete die Backborddüsen. „Das kommt darauf an, ob wir den Außenschieber auswechseln können. Viel Aussichten haben wir nicht, Fritz – wir wollen uns nichts vormachen. Hast du dich gut mit Feuerwasser eingedeckt?“ „Für zwei Wochen reicht es!“ Für zwei Wochen? Soviel Spielraum würde ihnen der unten bereits heranfingernde Tod der würgenden Schleier nicht lassen. Sie wußten es. Aber niemand an Bord der „A 4“ dachte auch nur für einen Augenblick daran, das Schiff wieder vom Merkur loszureißen und in das Weltall hinauszuschießen. Lorb und Paley warteten! * „In zwei, drei Stunden bin ich wieder zurück!“ Frank Paley hatte alle Einwände des Bordingenieurs endgültig zum Schweigen gebracht. Er konnte Lorbs weitaufgerissene, schwarzumränderte Augen, in denen unsagbare Qualen brannten, einfach nicht mehr sehen. In diesen Augenblicken wuchs der schöne, weiche Frank endgültig über sich hinaus. Er empfand diese Wandlung aber nicht. Er sah sich nur suchend um. „Einen Eimer hätten wir mitnehmen sollen, Lorb!“ „Ich werde es notieren“, stöhnte der Fiebernde. „Fürs nächstemal!“ „Mich kriegen keine zehn Raumschiffe mehr auf einen fremden Planeten. Bist du damit einverstanden, daß ich unseren Proviantbeutel nehme – der hält dicht.“ „Ich bin mit nichts einverstanden“, murrte Lorb. „Sei doch 68
vernünftig, Frank. Wer weiß, wie es im Fels aussieht, und ob es wirklich Wasser ist.“ „Es ist Wasser!“ sagte Frank kurz. „Und ich hole es!“ Er nahm den Proviantbeutel, stülpte ihn um, daß die Kunststoffdose mit den Kalotabletten dem Bordingenieur in die geöffneten Hände fiel. „Heb’ sie gut auf. Bis nachher!“ Er wollte sich umdrehen, aber die hilflosen Augen hielten ihn fest. „Willst du noch was, Lorb?“ „Ja – ich wünsche, daß du nicht gehst!“ „Das hast du schon mal gesagt. Du kannst aber ganz ohne Sorge sein.“ Frank Paley hob die Hand, grüßte, indem er mit den Fingern schnippte, und wandte sich dann endgültig um. Ein anderer Paley – einer, der schon durch die Hölle gegangen und dem alles Weiche vom Herzen geschmolzen war. Lorb verfluchte seine Hilflosigkeit in allen Tonarten. Als Frank Paley den zackigen Vorsprung erreicht hatte, hinter dem sich der Eingang zu den geheimnisvollen Felsenhöhlen verbergen sollte, blieb er noch einmal stehen. Irgend etwas flog durch die Luft auf Lorb zu. Sein Revolver, mit dessen Hilfe er einmal meutern wollte. „Es ist besser, du behältst ihn hier.“ Lorb rührte sich nicht. Das Grauen erfaßte ihn. „Weshalb, Frank?“ „Für alle Fälle!“ Seine Gestalt verschwand hinter dem Vorsprung. Lorb holte sich den Revolver heran. Hohl und unheimlich waren Paleys Schritte noch zu hören. Dann ein unsicheres Aufsetzen harter Stiefel, so als kämpfe er sich durch den Felsenriß in die schauerliche Finsternis hinein. Lorb betete für den Jungen. Sonst war Stille – eine Stille, die im Gehirn summte und dröhnte. Und das große Sonnengespenst hing über den hohen Felswänden. Es war gut, daß man einen Revolver hatte. Danke, Frank! Stunden vergingen. 69
Was Paley gehört hatte, erreichte nun auch Lorbs Ohren. Das Heulen eines nahenden Raumschiffes. Es riß ihn hoch. Laut rief er nach Frank. Aufgestemmt saß er da, und seine Augen suchten den dünnklaren Himmel ab. Doch was sie sahen, ließ ihn seine jähe Hoffnung wieder vergessen. Am Himmel fingerten sie wieder heran – unhörbar – so harmlos aussehend, wie sonst nichts – die Schleier des würgenden Todes. Ein unnennbares Entsetzen sprang Lorb an die Kehle. Lange saß er so da, ohne seine Lippen zu bewegen, saß und sah auf das Phänomen, von dem er wußte, daß es mächtiger war als alles andere. Und das Heulen eines Raumschiffes? Nichts geschah, nichts! Nur die Stunden schlichen durch die Stille. Plötzlich erschütterte ein Beben die Höhle. Lorbs Herz raste dumpf und schmerzhaft und unregelmäßig auf. War das Schiff abgestürzt? Nichts, nichts – – nur der Himmel verdüsterte sich. Und die brütende, warme Luft wurde schwerer und stickiger. Sie schläferte ihn ein, sie beunruhigte seinen geschwächten Körper so, daß er sich in einen neuen Fiebertraum wälzte. Die Rechte, zerrissen, feucht vom fiebrigen Schweiß, umkrampfte den Revolver. „Frank!!“ schrie er, ohne daß er es wußte. „Frank – wo bleibst du, du Himmelhund?“ Und Wasser rauschte in seinem Gehirn, reißendes Wasser, das einen um sich schlagenden Menschen bis zur Hüfte umspülte und ihn langsam zu Boden riß. „Stemme dich dagegen, du Milchknabe!“ gellte wieder seine Stimme. Sein Körper warf sich auf die Seite. Immer dichter wurden über ihm die fingernden Schleier. Seine Rechte ließ den Revolver nicht los. Sie holte ihn heran. Ganz langsam.
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* „Allah sei’s getrommelt – ’runtergekommen sind wir!“ Das Schiff hatte mit dem Heck aufgesetzt. Jim Parker nahm noch die Standkontrolle vor, während Wernicke und Berger herauskletterten, um sich die Düsensätze zu betrachten. Wernicke federte als erster auf dem Merkurfels auf. „Pfui Deibel, Berger – wie ausgespuckt und liegengelassen!“ „Das kann man wohl sagen.“ Die Männer taumelten gegen das hochaufragende Schiff. Das also war die Hölle! Wie ein einziger Todeshauch aus brodelnder Hitze und zerfallender Materie sprang es sie an. Mit glasigen Augen stemmten sie sich wieder ab. „Verflucht noch mal – als wenn das Biest uns verjagen will!“ „Höllenplanet!“ „Los, Berger – wir müssen sehen, ob wir den Schlitten noch wieder hochkriegen.“ Sie lösten eine kleine Hermetikklappe, die den Blick auf die Düsenkammer freigab. Hinter sie trat Jim Parker, der das Schiff gesichert und für alle Fälle noch den Standort an die ferne Außenstation der Erde gemeldet hatte. Auch Harry Walm und die rotblonde Sheree kamen heran. Sheree ging unsicher und strich sich über die Stirn, als müsse sie jeden Augenblick aus einem bösen Traum erwachen. „Laß mich sehen, Wernicke!“ befahl Jim Parker kurz und stieg ein paar Stufen hoch. Sein Taschenscheinwerfer hellte die flache Kammer auf, während er aus dem Düsenansatz eine Kapsel herausdrehte. Von dieser Kapsel hing alles ab. Die Merkurlandschaft grinste böse dazu. „Aufgeschlitzt?“ fragte Wernicke beklommen. „Nicht ganz“, stellte Jim mit peinigender Nüchternheit fest. „Aber der Seelenstift ist hinüber, es …“ Sein Blick fiel zufällig auf Sheree, die mit angstvollen Augen zusah. „Es ist nicht so 71
schlimm“, sagte er rasch. Über das schmale Mädchengesicht glitt ein Verstehen. „Sitzen wir hier fest, Kommodore?“ fragte sie ruhig. Er schob die Kapsel in die Brusttasche, schloß die Luke und sprang herab. Es war wohl besser, diesem aufgeweckten Mädchen, das immer wieder so tapfer mit allen Furchtgefühlen fertig wurde, nicht mit Ausflüchten zu kommen. „Der Seelenstift muß ausgewechselt werden“, lächelte er, als habe er Dutzende davon in der Tasche. „Aber wir wollen uns noch nicht dabei aufhalten. Ich schlage vor, Berger und …“ Ein Schuß unterbrach ihn. Ein Revolverschuß, der sich an hohen Felswänden zu brechen schien und wie ein Donnergrollen herüberrollte. Sie fuhren zusammen. Wernicke wies mit ausgestrecktem Arm. „Da haben wir sie! Aus der Richtung kam der Schuß.“ Jim Parker packte Berger und wies auf das Schiff. „Du bleibst hier. Miß Garett auch. Ihr zwei kommt mit!“ Aber Sheree schloß sich einfach den Männern an, die über die Steppe davonjagten. Der Kommodore führte den kleinen Trupp an. Vom Süden her zogen immer dichtere Dunstschleier auf. „Hoffentlich stimmt die Richtung.“ Jim Parker zeigte voraus. „Da ist schon das Becken!“ Dann standen sie vor dem Abgrund, der vor Wochen dem Bordingenieur fast das Genick gebrochen hätte. Jim Parker stieg als erster in die Schlucht. Schweigen herrschte hier! Unheimliches Schweigen! * Frank Paley zählte nicht weiter. Zuerst hatte er seine Schritte gezählt, so laut, daß es schaurig 72
widerhallte, dann leiser – aber bei fünfhundertundsechs hatte er den Unsinn aufgegeben. Er sah auch nichts mehr. Frank Paley hatte den Weg verloren. Seine Augen hatten den schroffen Wechsel von der unmenschlichen Grelle des Merkurtages in die Finsternis dieser Höhle, in die er von der Schlucht aus durch einen Kamin gelangt war, einfach nicht mitgemacht. Nur das Rauschen des strömenden Wassers war für ihn noch da. Wasser! Zuerst hatte er vor Freude gejubelt, hatte sein ausgedörrter Körper die feuchte Luft gierig eingesogen, als es klar und kalt um ihn floß. Es reichte ihm nur bis zu den Knien, aber es steckte eine starke Strömung dahinter, und er mußte sich in jeden Schritt hineinstemmen. Wenn er nur etwas sehen könnte! Er wußte selber nicht, warum er in die Höhle hineingegangen war. Seinen Proviantbeutel hatte er schon vorn am Felsenriß vollaufen lassen. Dann war er in das strömende Wasser hineingegangen. Fünfhundertundsechs Schritte hatte er gemacht. Das Sonnenlicht, das ihm zunächst als ein schmaler, greller Leuchtbalken gefolgt war, war immer schwächer geworden, und als er wieder aufsah, war es verschwunden. Um ihn war nichts als abgrundtiefe Finsternis. Und das Rauschen der Gewässer, die ihm noch immer entgegenströmten. Neben ihm eine glitschige Wand, gegen die er fiel; als er die Hand dagegenstemmte, legten sich kleine Fangarme weich und warm um sie und wollten sie festhalten. Paley schrie auf und riß wie wild die Hand los. Es gab an der Wand einen kurzen, bellenden Laut, der plastisch in der Finsternis stand. Und mit dem Laut tastete etwas schleimig über seinen Rücken. Halb wahnsinnig vor Grauen rannte er weiter. Machte kehrt, so daß die Strömung nun von hinten kam und ihn vorwärts schob. 73
Eine Zeitlang ging es gut, und Paley hoffte, auf diese Weise den Weg zurück zu finden. Aber der Sonnenbalken tauchte nicht wieder auf. Und das Wasser stockte, quirlte minutenlang um ihn und begann dann, in die umgekehrte Richtung zu fließen. Als wenn hier Ebbe und Flut herrschten. Irritiert blieb er stehen. Einfach stehen. Wußte nicht, was er sonst tun sollte. Wunderte sich, daß seine Knie naß wurden. Und erfaßte das Schreckliche: Das Wasser stieg! Stieg bis zu seinen Schenkeln. Paley hatte nun endgültig die Orientierung verloren. Über seine geöffneten Lippen kam kein Wort. Doch sein Gehirn schmerzte in jäher Todesangst. Zögernd ließ er den prallgefüllten Proviantbeutel fallen. Hilflos sah er sich um. Stutzte. Der Lichtbalken war wieder da. Ganz fern fiel er in die Finsternis, die von dem immer heftiger strömenden Wasser rauschte und dröhnte. Ganz fern war das Licht. Aber Frank Paley warf sich herum und stemmte sich wieder voran. Durch das steigende Wasser, das sich schon um seine Hüften klammerte. Langsam kam das Licht heran. Langsam. Schrittweise. * In der Atomstadt wurde über ihn gesprochen. Unterstaatssekretär Watson ahnte nicht, daß in dem Augenblick, da er umständlich und lässig seine Shagpfeife ansteckte, in der Nähe der Sonne Frank Paley um sein Leben kämpfen mußte. „Ich habe nichts gegen Paley“, sagte er bedächtig. „Es ist anzunehmen, daß er auf dem Merkur schon gebüßt hat, aber leider erkennen unsere Strafgesetzbücher eine solche Buße nicht an.“ 74
Generaldirektor Cunningham sah mit zusammengeschobenen Augenbrauen auf das Streichholz, das sein unmittelbarer Vorgesetzter ausschwenkte und in den Ascher warf. „Sie sprechen, als wenn Jim Parker die beiden von der nächsten Straßenecke abholte. Es ist sehr gut möglich, daß wir gezwungen sein werden, dem ganzen Haufen einen markanten Nachruf zu widmen.“ „Haben Sie weitere Nachrichten von Parker?“ „Seit seiner Landung auf Merkur nicht mehr. Aber was ‚Luna nova’ stündlich meldet, ist nicht dazu angetan, sich über die Strafverfolgung der beiden Merkurhelden bereits jetzt den Kopf zu zerbrechen. Doch es würde mich interessieren, was nun eigentlich mit diesem Paley los ist.“ „Er war der Kumpan von Ivor Mexass.“ „Das ist mir bekannt, Sir.“ Cunningham nahm eine Havanna aus dem kostbaren Kästchen und drehte sie zwischen den Fingern. „Wie ich weiß, ist er diesem Gangster nur durch einen bösen Zufall in die Hände gefallen. Wiegt das so schwer?“ „Er ist mit an dem Überfall auf die ‚Meteor’ beteiligt gewesen, und zwar sehr aktiv. Sie wissen, daß die gesamte ‚Meteor’Besatzung dabei ums Leben kam.“ „Schlimm!“ Cunningham legte die Havanna rasch wieder hin. „Das langt allerdings.“ „Für eine lebenslängliche Zuchthausstrafe immer. Die Richter werden sich für seine selbstverschuldeten Entbehrungen auf dem Merkur nicht sonderlich interessieren.“ „Schlimm!“ „Kann man wohl sagen. In seinem eigenen Interesse sollte man eigentlich wünschen, daß ihm die Rückkehr zur Erde – ahem – erspart bleiben möge. Es muß niederschmetternd sein, so etwas hinter sich zu haben und dann noch in ein Zuchthaus gesteckt zu werden.“ Er stopfte den Tabak in seiner Pfeife nach. „Oder in eine Todeszelle.“ 75
Cunningham hatte dem nichts hinzuzufügen. Verbrechen blieb schließlich Verbrechen. Es war schwer, in einem solchen Falle zu urteilen. Das Wort Todeszelle hing düster über dem vornehmen Arbeitsraum. Der Atomboß räusperte sich. „Ahem, um beim Thema zu bleiben – was wird aus dem Herrn Minister, dem wir die Verzögerungen der Rettungsaktionen zu verdanken haben?“ Der Unterstaatssekretär hob die Schultern. „Er wird zurücktreten müssen“, erwiderte er ohne Bedauern. „Man hat ihm seine Konfusität sehr übelgenommen.“ „Ich weine ihm keine Träne nach“, lachte Cunningham verächtlich. „Auch beim IWK-Funk in Kalifornien kracht es mächtig. Der zweite Stationshäuptling ist geflogen, der für den Minister den Schwindel mit dem angeblichen Funkspruch vom Merkur drehte …“ „Ich weiß, ich weiß, mein Lieber!“ Eine Viertelstunde später war Cunningham allein. Erregt und aufgewühlt ging er auf und ab. Vom Schreibtisch fiel der freundliche Schein der Kugellampe. Mit einer ärgerlichen Bewegung schaltete er aus und trat ans Fenster. Über der Atomstadt standen die Sterne. Die Sonne war schon hinter den Bergen untergegangen und hatte den Merkur mitgenommen. Cunningham wurde es schwer ums Herz. Verbrechen war Verbrechen. Aber wie mochte den armen Kerlen dort drüben zumute sein? Sein Privatsekretär trat ein. „Auf ‚Luna nova’ macht man nur noch in Schwarzmalerei, Sir.“ Cunningham schaltete wieder die Lampe ein und nahm die Meldung entgegen. Was er las, ließ ihn bleich werden. „Radioaktiver Ausbruch von ungewöhnlicher Stärke steht auf Merkur unmittelbar bevor. Henderson.“ „Wissen Sie, was das bedeutet, Shilling?“ „Gewiß, Sir.“ Cunningham schluckte. „Sprechen Sie es ruhig aus.“ 76
„Das bedeutet, daß nur noch ein Wunder Kommodore Parker und die anderen retten kann.“ „Danke, Shilling.“ Und abermals war Cunningham allein. Mit einer müden Bewegung zerriß er die Meldung. ‚Parker’ dachte er und mußte sich über die Augen wischen. „Lieber Jim Parker.“ Auf dem Merkur aber fanden sie Lorb. * Jim Parker sah ihn zuerst. Der Bordingenieur saß aufrecht und starrte sie an. Er rührte sich nicht. Auch nicht, als Jim Parker mit wenigen Sprüngen bei ihm war und ihm die Hände auf die Schultern legte. „Lorb – Lorb – Menschenskind …“ „Die Sonne ist ein Engel“, stieß der Bordingenieur hervor. „Ein glühender Engel, der nicht nur töten kann.“ Der Kommodore spürte, wie Lorbs Oberkörper zu taumeln begann. Vorsichtig legte er ihn zurück. Seine Bewegungen waren so behutsam und schonend, daß Sheree besorgt fragte: „Steht es schlimm?“ Jim hob unauffällig die Schultern. Sheree beugte sich über Lorb. Seine Augen blieben an ihrem rotblonden Haar hängen. „Ich glaube, mir geht es gar nicht gut“, flüsterte er heiser. „Oder – sind Sie zufällig aus Chicago?“ Sheree und Harry Walm waren weit weniger sprachlos als die beiden Freunde. Sheree kniete nieder. „Ich bin aus Chicago“, lächelte sie freundlich. „Hat Paley etwas gesagt?“ „Wie ist es möglich – wie ist es möglich, daß Sie gekommen sind?“ „Wo ist er?“ „Sie wollen ihn holen?“ sagte er ergriffen und schüttelte fortwährend den Kopf. „Das ist doch nicht möglich! Es soll noch alles gut werden für den armen Jungen? Er ist ein feiner 77
Kamerad geworden, mein Fräulein – Sie werden bestimmt glücklich mit ihm werden.“ Harry Walm zwinkerte beunruhigt, aber sie lächelte ihm kurz zu. „Es soll alles gut werden“, sagte sie warm. „Aber wir müssen doch wissen, wo er ist.“ Jim Parker sah verstohlen auf den kleinen Geigerzähler, den er am Handgelenk trug. Die Lage wurde langsam kritisch. Es war allerhöchste Zeit, wieder von Merkur loszukommen. Aber wie? Er preßte die Schultern des Verletzten. „Wo ist Paley? Sag’ es rasch, Lorb.“ „Im Felsen ist eine Höhle.“ Der Bordingenieur machte eine Kopfbewegung. „Er wollte dort einsteigen und Wasser holen. Drüben hinter dem Vorsprung.“ Jim und Wernicke waren schon hoch. „Wie lange ist er weg?“ „Weiß ich nicht, Jim – schätze, über zehn Stunden.“ „Walm, du kümmerst dich mit Miß Garett um Lorb.“ Der Kommodore zog seinen Taschenscheinwerfer wieder hervor und befestigte ihn an der Kombination. „Ich steige ein, und Wernicke kann mich vom Einstieg aus sichern.“ „Machen wir, Jim – avanti!“ Sie rannten zum Felsvorsprung hinüber. Der Kommodore zwängte sich bis zu dem Riß vor, der mannshoch vor ihnen aufklaffte. Wie in einer riesigen Muschel rauschte es dahinter. Ein feuchter, unguter Hauch schlug ihnen entgegen. Jim schaltete den Scheinwerfer ein. „Hölle und Teufel, Fritz! Ein unterirdischer Hexenkessel.“ Das Wasser war inzwischen weiter gestiegen und wurde von unsichtbaren Kräften bewegt. Es gischte und quirlte und platschte beinahe schon durch den Riß. In dieser Hölle sollte Paley sein? „Du bleibst hier stehen, Fritz, und läßt mich nicht aus deinem Scheinwerfer.“ „Wenn es sein muß“, murrte Fritz beunruhigt. 78
Jim kletterte durch den Riß. Hielt sich mit den Händen fest. Das schäumende Wasser stieg ihm bis zur Brust, aber dann hatten seine Füße Grund. Während er vorsichtig zutrat, riefen sie laut nach Paley. Aber nur das Wasser rauschte. Doch plötzlich eine Antwort – weit weg, flehend und schwach. „Helft mir – helft mir!“ „Paley, ich komme!“ * „Die Stichprobe, Professor!“ Chefastronom Henderson wußte auch ohne Stichproben, was auf dem Merkur los war. Sie hatten wieder das 38 N-Gebirge im Detailquadrat. Eine Fontäne stieg hoch, doppelt so mächtig und mindestens doppelt so gefährlich wie der erste von ihnen beobachtete Ausbruch. Er sah fast uninteressiert aus, als er den Zettel entgegennahm. „39 44 VO! Das Biest ist wild geworden.“ „Wie beim ersten Ausbruch, Professor – die Schleier bewegen sich nur in nördlicher Richtung. Auf den Landstrich zu, in dem das Bodenbecken liegt.“ „Wollen mal sehen, wie es dort aussieht, Toomey!“ Der Assistent jonglierte mit der Tastatur. Das Bergdetail verschwand. 45 B, 72 C, 29 D hasteten die Quadratzahlen über den Schirm. Dann das langgestreckte Botlen-Becken, in dessen Höhlen es in diesen Minuten um Menschenleben ging. „Stichprobe, Toomey!“ „Da ist allerhand los, Professor, nach der Stärke der Schleier zu urteilen.“ Der Bleistift hechelte. Und ein Ausruf. „Bei allen Heiligen! 17 34 mit P-Ausschlag über O!“ „Über O?“ Henderson riß Toomey den Block aus der Hand und rechnete die hingeworfenen Zahlen durch. Dann sahen sie sich entsetzt an. 79
„Wenn die nicht in drei Stunden vom Merkur verschwinden, brechen sie zusammen wie nichts.“ „Verzeihung, Sir – Ich gebe Ihnen nicht einmal mehr diese drei Stunden.“ Der Chefastronom war schon zum Arbeitstisch gestürzt und riß den Hörer von der Gabel. Gleich darauf gab es in der Funkstation der AS Großalarm. „Sofortspruch an Parker, Merkur. Der Planet ist sofort zu räumen.“ Noch drei Stunden? Und das Raumschiff „A 4“ lag bewegungsunfähig einige Meilen vor dem Becken. * „Helft mir – helft mir!“ Hohl und klagend strich diese Stimme durch das Rauschen des quirlenden Wassers. Am Riß stand Wernicke und ließ den Kommodore nicht aus dem Lichtbalken seines Scheinwerfers. Jim Parker wiederum suchte mit kreisender Lampe die wogende Wasserfläche ab. „Paley – Paley – wo bist du?“ „Ich weiß es nicht – helft mir …!“ Weiter durch das widerliche Gepatsche. Wie groß 80
mochte diese verfluchte Höhle sein? In einem jähen Entschluß blieb Jim stehen und hob zu Wernicke hin den Arm. „Ausschalten – zwei, drei!“ Die Lichtbalken fielen ins wesenlose Nichts. Wie ein blaffendes Ungeheuer sprang die Finsternis zu. Jim hatte Mühe, sich in der Strömung aufrecht zu halten. Für eine halbe Minute schloß er die Augen und sah sich dann um. Die Finsternis war nicht vollkommen. Von zwei Seiten fiel schmal und kraftlos Sonnenlicht herein. „Paley – Paley!“ Ein lautes Wimmern. Sonst nichts. Kein Anhaltspunkt. Nichts. „Wernicke – kurz, lang …“ Kurz, lang grellte Wernickes Scheinwerfer auf. Dann wieder Dunkelheit. Aber es hatte genügt, um sich zu orientieren. Jim kämpfte sich auf den zweiten Felsriß zu, der schräg gegenüberlag. Dabei stellte er fest, daß die Höhle nicht einmal sehr groß war. „Paley – Paley!“ Wieder kreisten Lichtbalken und wischten die Finsternis von der Wasserfläche. Schauerlich genug war es auch so noch. Mit jedem Gepatsche konnte es sich schleimig und bösartig um die Beine legen. Es war ein scheußliches Gefühl. „Paley – Paley!“ Und dann hatte er ihn. Ein totenbleiches, durchsichtiges Gesicht hob sich plötzlich von dem Schaum des Wassers ab. Ein erledigtes Gesicht. In den unnatürlich geweiteten Augen die ersten Schatten einer Dunkelheit, die gütiger und gnädiger sein würde als diese. Erfaßten diese Augen noch etwas? Jim stapfte mühsam zu ihm, erkannte, daß Paley mit dem Oberkörper auf einem Felsblock lag, der noch etwas aus dem Wasser ragte. Als Jim sich niederbeugte, kam er noch einmal zu sich. „Doch gekommen, Kommodore?“ 81
Klar war diese Stimme. Klar und breit. Der schöne Frank machte sich nichts mehr vor. „Können Sie etwas mithelfen, Paley?“ „Ich will es versuchen, aber hier drin ist alles hinüber. Wollte drüben aussteigen und bin abgerutscht. Habe nur noch den Trümmerhaufen gesehen.“ Vorsichtig, unendlich vorsichtig hob Jim den Jungen auf, der in der Merkurhölle hart und reif geworden war. Am Riß stand Wernicke schon bereit und griff zu. „Wir müssen noch mal zurück, Fritz.“ „Von mir aus. Hast du was gefunden?“ „Vielleicht!“ * Sheree Garett stand auf und ging ihnen entgegen, als sie den schönen Frank brachten. Sie sah, wie es um ihn stand, und schwankte etwas. Aber das gab sich gleich wieder. Frank bot keinen schönen Anblick mehr. Er hatte niemand bei sich gehabt, als er an der Höhlenwand zu Fall gekommen war. Sein Oberkörper war zerschmettert, und aus dem Mund lief ein kleines, rotes Rinnsal. Nur die Augen belebten dieses zusammengehauene Menschenbündel noch. Sie lächelten. „Ich glaube, ich träume schon“, sagte er leise. „Oder sind Sie es wirklich?“ „Die Rotblonde aus Chicago“, lächelte sie zurück, und ihre Hände strichen über seine Stirn, über die Schultern. „Ich bin gekommen.“ „Damals wollten Sie nichts von mir wissen.“ „Doch wollte ich es“, log sie eifrig. „Aber wir verloren uns zu schnell aus den Augen. Dann sah ich Ihr Bild in den Zeitungen.“ Er glaubte es. In dieser Stunde kam das Leben noch zu ihm. „Ich habe immer an dich denken müssen, Sheree!“ 82
Dann spürte er, wie sich ihr Gesicht gegen seine Stirn preßte. Er spürte ihre Wärme und ihren Atem. Es war gut, daß sie gekommen war. * „Los, Fritz – nun du …“ Jim Parker hatte sich durch den Riß geklemmt, der auf der anderen Seite aus der Wasserhöhle herausführte. Vor ihm lag eine weite, felsige Ebene. Ein Tafelland. Übersät von den Trümmern eines Raumschiffes. Fassungslos sahen sie sich an. „Mensch – die ‚P 3’?“ Sie rannten darauf zu. Wüst sah es aus. Als wenn eine Titanenfaust ein ganzes gigantisches Raumschiff höhnisch weggeworfen hätte. Irgendwo ein Heckstück mit einer Ziffer. „P 3“. „Arme Teufel“, sagte Wernicke erschüttert. Dann begannen sie zu suchen. Hier, bei den toten Kameraden von der I. W. K. lag die letzte Hoffnung für den schwerkranken Lorb, für eine mutige Frau. Über ihnen verdichteten sich die Schleier, und das Atmen wurde schwer. Die Sonne wuchs wieder. Aber sie stand als riesengroße Scheibe in verschwimmenden Schleiern. Atomschleier … Sie suchten und fanden auch ein Düsenstück. Mit fliegenden Händen zerlegte es der Kommodore. Dann ein Aufschrei. „Es ist wie ein Wunder!“ * Vielleicht aber war es der Lohn für ihren rücksichtslosen Einsatz. Sie fanden einen Seelenstift, der nach einiger Bearbeitung zum Düsensatz ihres Schiffes paßte. Die drei Stunden, die Professor Henderson ihnen gegeben hatte, waren noch nicht vergangen. 83
Da erhob sich das Schiff vom Merkur. Nur einer blieb zurück. Frank Paley. Ruhig und friedlich lag er unter der Sonne, die in ihrem regelmäßigen Rhythmus wuchs und wieder zusammenschrumpfte, nach den ewigen Gesetzen des Alls. Frank Paley kehrte nicht zurück. Und das war gut so. * Generaldirektor Cunningham verneigte sich tief vor Sheree Garett. „Ich habe von Ihrer Geschichte gehört“, sagte er ergriffen. „Es ist wie eine wundersame Fügung, daß sie einem armen Teufel in seiner letzten Stunde noch das Leben bringen konnten.“ Das waren erstaunlich weiche Worte aus dem Munde des sonst so kaltschnäuzigen Atombosses. Sherees Augen waren feucht und doch leuchtend. „Es war wohl Bestimmung, daß ich mit zum Merkur flog“, sagte sie leise. Cunningham nahm ihre Hände in die seinen und drückte sie fest. Dann ging er in das Nebenzimmer, wo die beiden Freunde mit dem Unterstaatssekretär zusammensaßen, der plötzlich in der Atomstadt aufgekreuzt war. „Wenn Sie die beiden festnehmen wollen“, grollte er mißtrauisch, „knalle ich Sie über den Haufen, Watson.“ „Wer spricht denn davon?“ lächelte der Unterstaatssekretär freundlich. „Ich habe dem Kommodore und Mister Wernicke doch nur den Dank der Regierung ausgesprochen.“ Jim Parker zündete sich bedächtig eine „Maza Blend“ an. Seine Gedanken waren weit weg. ,Ich werde noch mal wiederkommen, du Höllenplanet!’ – ENDE –
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Sie fragen – UTOPIA antwortet UTOPIA-BRIEFKASTEN Liebe UTOPIA-Freunde! Heinz M. in Westhofen/Westf. und Armin L. in Essen fragen nach den künftigen Abenteuern Jim Parkers auf fremden Sternen. Unsere Antwort: Einen Seemann kann man nicht für immer an die Ankerkette legen und einen Kommodore Parker nicht auf der Erde festhalten. Wir wollen letzten Endes auch nicht an den Grenzen unseres Sonnensystems haltmachen. * E. M. in Berlin-Neukölln. Ihr ausführliches Schreiben, in welchem Sie über den Fall des Flugkapitäns Schriever berichteten, war uns außerordentlich interessant. Wir denken gar nicht daran, den deutschen Ursprung einer Erfindung zu leugnen! Aber schließlich bringt UTOPIA technische Zukunftsphantasien, nicht jedoch historische Tatsachenberichte! Daher müssen wir auch mit frei erfundenen Namen für die handelnden Personen arbeiten! Der Fall Schriever selbst ist uns aus der „Deutschen Illustrierten“ bekannt. Im übrigen dürfen wir doch um etwas mehr Achtung vor der Arbeit unserer Astronomen bitten. In der modernen Himmelsforschung herrscht sauberste Exaktheit! Es gibt dort weder Raum für unbewiesene Phantasien noch ein kritikloses Weitergeben alter Irrtümer! Nichts für ungut! *
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Volker T. aus Lübeck fragt, ob man mit den heutigen Mitteln schon den Mond erreichen kann, und wenn nein, wann man dazu in der Lage ist. Unsere Antwort: Man kann schon, aber das Projekt scheitert einstweilen noch an der Kostenfrage. Vorher müßte die Außenstation gebaut werden, und die allein wird die Kleinigkeit von 4 Milliarden Dollar kosten. D. G. aus Frankfurt/Main fragt: a) Wie hoch kommt eine Weltraumfahrt? Unsere Antwort: Raketen erreichten bisher eine Rekordhöhe von 402 km. Ein Raumschiff wird stets so hoch (richtiger: so weit) kommen, wie das Ziel entfernt ist, für dessen Erreichung es gebaut wurde. Im Falle des Mondes z. B. rund 384 000 km. Alles natürlich nur unter der Voraussetzung, daß unterwegs keine Panne passiert. b) Wie lange braucht ein Raumschiff, bis es den Mond erreicht hat? Wieviel Meter lang und breit kann ein solches Raumschiff sein? Unsere Antwort: Nach Ansicht des Hayden Planetariums, New York, wird die Flugzeit zum Mond 9 ½ Stunden betragen. Mit den heute verfügbaren Treibstoffen würde es aber wohl länger dauern. Die Länge und Breite eines Raumschiffes richtet sich ganz nach seinem Verwendungszweck, der Wahl der Treibstoffe usw. Bei einer Großrakete, die von der Erde aufsteigt, dürfte das Verhältnis von Länge zu Durchmesser ca. 8:1 betragen. * Die Gesellschaft für Weltraumforschung, Stuttgart, schreibt uns u. a.: „Es wurden schon mehrfach Anfragen an uns herangetragen, ob wir Modellraketen herstellen. Weder wir noch das Deutsche Raketen- und Raumfahrtmuseum stellen solche her oder besitzen Baupläne zu solchen.“ Die G. f. W. bestätigt uns 86
dann, daß eine fertige, gute Modellrakete zu beziehen ist durch Herrn Dipl.-Ing. G. Sautier, für den folgende neue Anschrift gilt: Offenbach am Main, Isenburgring 3. Besten Dank der G. f. W. für ihre freundliche Auskunft! Damit können wir dann auch gleich diverse neue Anfragen nach dem Hersteller von Modellraketen beantworten. Also: siehe oben! Soviel für heute. Zu jeder Auskunft gern bereit ist stets Ihre UTOPIA-Schriftleitung (im Pabel-Verlag, Rastatt/Baden)
Verlag und Druck: Erich Pabel, Rastatt in Baden, 1954 (Mitglied des Verbandes deutscher Zeitschriftenverleger e. V.) Die Bände dieser Serie dürfen nicht in Leihbüchereien verliehen, in Lesezirkeln nicht geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Scan by Brrazo 09/2010
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Lesen Sie im nächsten (30.) UTOPIA Band: In den geheimnisumwobenen Werken der Atomforschung in Amerika und auf dem Planeten Venus arbeitet Professor Skeleton an neuen Atomwaffen von nie gekannter, vernichtender Wirkung. Furchtbar sind die Auswirkungen seiner ersten Großversuche. Aber furchtbarer noch sind die Gefahren, die heraufbeschworen werden, als gewissenlose Spione ans Werk gehen, um die geheimen Forschungsergebnisse an eine ausländische Macht zu verraten. Unterstützt durch den Sicherheitsdienst des Staatlichen Atom-Territoriums, übernimmt Kommodore Parker den schwierigen Abwehrkampf. Sollten Sie die vorhergehenden UTOPIA-Bände 1 bis 28 bei Ihrem Zeitschriftenhändler nicht mehr erhalten, dann wenden Sie sich bitte direkt an den Verlag Erich Pabel, Rastatt (Baden). Zahlen Sie dabei den Geldbetrag (je Band 50 Pf) auf das Postscheckkonto Karlsruhe 224 46 ein. Aber hierbei nicht vergessen, die gewünschten Nummern auf der Rückseite des linken Zahlkartenabschnittes anzugeben. Auch können Sie den Geldbetrag in bar sofort Ihrer Bestellung beifügen.
Auf dem Wege zur Weltraumfahrt 29) An den Grenzen des Sonnensystems Aus geringfügigen Störungen in den Bahnen der Planeten Uranus und Neptun und gewisser Kometen erwuchs bald der Verdacht, daß noch jenseits der Neptunbahn ein weiterer unbekannter Planet um die Sonne kreisen müßte. Im Jahre 1930 gelang seine Entdeckung auf dem Lowell-Observatorium in Arizona. Der Entdecker war ein junger Farmer namens Tombaugh, der eine Anstellung als Hilfsarbeiter an der Sternwarte bekommen hatte. Der neue Planet wurde auf photographischem Wege gefunden und erhielt den Namen Pluto. Wegen seiner großen Entfernung – sein mittlerer Abstand von der Sonne beträgt 5 900 Millionen Kilometer – wissen wir nicht allzu viel über ihn. Pluto braucht für einen Umlauf um die Sonne fast 248 Jahre. Er ist kleiner als die Erde und hat ca. 10 200 km Durchmesser. Man schätzt die Oberflächentemperatur dieses Planeten auf -200 Grad Celsius. Ob er eine Lufthülle hat, ist nicht bekannt. Die Strahlen der lebenspendenden Sonne dringen nur noch äußerst schwach in diese kosmischen Fernen. Das Licht der Sonne, das in jeder Sekunde 300 000 Kilometer durcheilt, erreicht Pluto erst nach 7 Stunden. Als Reiseziel einer Weltraumexpedition kommt dieser Planet praktisch nicht mehr in Betracht. Was hätten wir auch auf diesem fernen, dunklen und unwirtlichen Himmelskörper zu erwarten? Mit dem Planeten Pluto haben wir – gemäß dem heutigen Stand der Forschung – die äußersten Grenzen unseres Sonnensystems erreicht. (Schluß folgt)