Marius Herzog Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse
VS RESEARCH
Marius Herzog
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Marius Herzog Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse
VS RESEARCH
Marius Herzog
Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse Double-Loop-Learning in einer Prozessrekonstruktion am Beispiel der Linde AG von 1954–1984 Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Meinolf Dierkes
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Technische Universität Berlin, 2010 D 83
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18068-7
Geleitwort
Fragen des Organisationslernens sind zentrale Felder der neueren Organisationsforschung, die in großer Breite bearbeitet werden. Die Arbeit beschäftigt sich mit dem Aufbau von Lernformen in Organisationen: Double-loop learning bzw. deuterolearning oder, in der Sprache der Praxis, mit der Frage: Wie kann eine Organisation von früheren Lernprozessen für einen laufenden Lernprozess lernen? Die Arbeit bietet einen umfassenden, neuen Zugang zu organisationalem Lernen und eine überzeugende Darstellung der vielfältigen Forschung. Daraus entwickelt der Autor das Modell akteurzentrierten Organisationslernens, das anschließend in einer empirischen Fallstudie angewendet wird. Am Beispiel eines Unternehmens, der Linde AG, werden, zunächst hypothetisch, zwei klar voneinander abgegrenzte Lernphasen unterschieden. Die präzise Schilderung der beiden Lernphasen gibt den Lesern die Möglichkeit, die theoretischen Kategorien in der Praxis organisationaler Lernprozesse zu verfolgen. Die Ergebnisinterpretation zeugt von dem tiefen Verständnis hinsichtlich organisationaler Lernprozesse in Unternehmen. Der Autor vollzieht aus organisationssoziologischer Perspektive einen ganz bewussten Brückenschlag zwischen Organisationstheorie und Unternehmensgeschichte. Mit der Perspektive historischen Organisationslernens werden die Potentiale vergangener Lernprozesse als Wegbereiter künftigen organisationalen Lernens deutlich. Die Arbeit stellt eine theorieorientierte Analyse dieser Prozesse dar und geht damit weit über herkömmliche Darstellungen der Unternehmensgeschichte hinaus. Meinolf Dierkes
Danksagung
„Man wird so alt wie ein Haus und lernt nie aus.“ Mit diesem Spruch wartete meine Oma gerne auf, wenn es unerwartete Dinge zu kommentieren galt. Mag dieser Satz auch erst einmal plump klingen, so erschien er mir im Laufe der vorliegenden Arbeit immer wieder in all seinen Facetten. Dabei führten mich die Wege in ein „altes Haus“, die 1879 gegründete Linde AG. Mit dieser Arbeit habe ich zu ergründen versucht, wie sich Veränderungen in solch einem „alten Haus“ bemerkbar machen. Ich habe festgestellt, dass ein solches „Haus“ tatsächlich nie auslernt und gerade deshalb sehr alt werden kann. In diesem Haus (griechisch: Oikos) habe ich auch gelernt, wie unter ökonomischen Bedingungen gedacht, gelernt und agiert wird. Im Hause der Linde AG wurde ich im Laufe des gesamten Untersuchungszeitraums freundlich aufgenommen und nach Kräften unterstützt. Für diese hervorragende Zusammenarbeit möchte ich mich bei der Linde-AG ganz herzlich bedanken, welche durch ein Stipendium eine Arbeit in diesem Umfang überhaupt erst ermöglicht hat. Mein Dank gilt stellvertretend für die Unternehmenszentrale besonders Herrn Schönfeld (Corporate Heritage), der mich maßgeblich während meiner Forschungsarbeit unterstützte, sowie den vielen Interviewpartnern, die sich in Ruhe den Fragen gestellt und damit einen entscheidenden Anteil an den Ergebnissen dieser Arbeit haben. Außerdem danke ich den Kolleginnen und Kollegen vom Zentrum für Technik und Gesellschaft an der TU Berlin sowie dem nexus-Institut für Kooperationsforschung und interdisziplinäre Zusammenarbeit, besonders jedoch Herrn Dr. Dienel, der mir die Kooperation mit beiden Instituten angeboten hat. Seine konstruktive und umfangreiche Unterstützung hat diese Arbeit wesentlich gefördert. Auch möchte ich ganz herzlich Herrn Dr. Gläser insbesondere für die forschungsmethodischen Hinweise sowie Herrn Dr. Eichler für die hilfreichen und intensiven Diskussionen danken. Mein Dank gilt außerdem Herrn Professor Meinolf Dierkes für die Betreuung dieser Arbeit und meinem Zweitgutachter Herrn Professor Arnold Windeler. Beide gaben mit wichtige Impulse und inspirierende Anregungen. Zurückblickend auf diese Wegstrecke möchte ich das Elternhaus und meine Familie nicht unerwähnt lassen. Sie hat mich immer wieder auf unterschiedliche Weise unterstützt. Die größte Bedeutung hat jedoch meine Frau Christina, der
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Danksagung
ich diese Arbeit widme und die mir in der gesamten Zeit Kraft gegeben und die nötigen Freiräume geschaffen hat, die eine solches Werk verlangt. Sie hat mich die ganze Zeit herausragend begleitet und jenen Geist ermöglicht, der diese Arbeit ausmacht. „Man wird so alt wie ein Haus und lernt nie aus.“ In diesem Sinne bietet das vorliegende Buch eine Anregung zu lebenslangem Lernen. Es beruht auf der Tatsache, dass auch ein noch so junges Haus immer schon ein gewisses Alter hat. Marius Herzog
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung ...................................................................................................... 15 2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen.......................................... 23 2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse ................................................. 28 2.1.1 Die Umwelt und Lernauslöser .................................................... 28 2.1.2 Die Struktur im Lernprozess ....................................................... 34 2.1.3 Die Bedeutung der Strategie im Lernprozess.............................. 38 2.1.4 Die Macht der Akteure im Entscheidungsprozess ...................... 42 2.1.5 Die Wissensbasis im Lernprozess............................................... 46 2.1.5.1 Die Vielfalt im Wissensverständnis .................................. 46 2.1.5.2 Veränderung der Wissensbasis als Lernergebnis............... 53 2.1.5.3 Die Akteure als Lernträger ................................................ 55 2.1.5.4 Lernen und Macht ............................................................. 58 2.1.5.5 Sonderformen im organisationalen Lernprozess ............... 60 2.1.5.6 Die Bedeutung der Kultur ................................................. 63 2.1.6 Struktur- und Outputveränderungen als organisationale Lernergebnisse ............................................................................ 65 2.1.7 Implikationen für die vorliegende Arbeit.................................... 69 2.2 Lernfaktoren und Rekursivität: strukturationstheoretische Anleihen ..... 70 2.2.1 Strukturation und Organisation................................................... 73 2.2.2 Organisationales Lernen und die Lernfaktoren aus Perspektive der Strukturation................................................ 76 2.2.3 Forschungsperspektive und Zeitbezug........................................ 84 2.2.4 Implikationen für die vorliegende Arbeit.................................... 87
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Inhaltsverzeichnis
2.3 Die zeitlich-historische Perspektive als vernachlässigte Determinante?. 88 2.3.1 Organisationslernen in seiner Prozessrelation: die Dauer........... 90 2.3.2 Organisationslernen in seiner Quellenrelation: Zeitwahrnehmung und Zeitbesetzung ......................................... 91 2.3.2.1 Die Akteure ....................................................................... 91 2.3.2.2 Die Dokumente.................................................................. 95 2.3.2.3 Die Organisationsgeschichte ............................................. 96 2.3.2.4 Die akademische Organisationsgeschichte........................ 97 2.3.3 Organisationslernen in seiner Darstellungsrelation: Elemente der Rekonstruktion organisationaler Lernprozesse ... 103 2.3.4 Implikationen für die vorliegende Arbeit.................................. 104 2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens................... 106 2.4.1 Individuenbezogene Prämissen................................................. 106 2.4.2 Das Modell des Schleifenlernens .............................................. 109 2.4.3 Die Lernfaktoren....................................................................... 116 2.4.4 Implikationen für die vorliegende Arbeit.................................. 119 2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung................................................................................... 122 2.5.1 Basisannahmen und Organisationsverständnis ......................... 123 2.5.2 Ablauf, Eigenschaften und Wirkungsfelder .............................. 127 2.5.3 Strukturationstheoretische Öffnungen ...................................... 135 2.6 Implikationen für die vorliegende Arbeit.............................................. 136 3 Der Fall Linde: Zentrale Hypothesen und Forschungsfragen ....................... 139
Inhaltsverzeichnis
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4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse .......... 145 4.1 Der erste Lernprozess von 1954-1967 .................................................. 145 4.1.1 Die Wahrnehmung der Umwelt (1)........................................... 147 4.1.2 Die Leistungslücken (1): das Profitdefizit ................................ 149 4.1.3 Die dominanten Koalitionen ..................................................... 151 4.1.3.1 Die erste dominante Koalition......................................... 152 4.1.3.2 Die zweite dominante Koalition ...................................... 155 4.1.4 Der Wissenserwerb (1): Reaktionen auf Leistungslücken durch Strukturveränderungen.................................................... 161 4.1.4.1 Die Abteilung Organisation............................................. 162 4.1.4.2 Die Marketingabteilung................................................... 163 4.1.5 Output (1): Verkauf der Kühlschrankproduktion 1967............. 165 4.2 Der zweite Lernprozess von 1967-1984 ............................................... 168 4.2.1 Die Wahrnehmung der Umwelt (2)........................................... 168 4.2.2 Die Leistungslücken (2)............................................................ 170 4.2.2.1 Verhaltensdefizit ............................................................. 170 4.2.2.2 Strukturdefizit.................................................................. 173 4.2.2.3 Von der Marktforschung zum Wissenserwerb (2): das Strategiedefizit .......................................................... 176 4.2.3 Der Wissenserwerb (2): Reaktionen auf Leistungslücken durch eine Unternehmensstrategie ............................................ 177 4.2.4 Der Entscheidungsprozess und das Erstarken der zweiten dominanten Koalition: Linde auf dem Weg zu einer neuen Führungsstruktur ....................................................................... 181 4.2.5 Veränderungen in der Struktur als Umsetzung der neu gebildeten Unternehmensstrategie ............................... 195 4.2.6 Output (2): Produktumstellung und Ausbau der Kerngeschäfte bis 1984............................................................. 199 4.3 Die Unternehmensentwicklung nach 1984 ........................................... 202 4.4 Ergebniszusammenfassung ................................................................... 204
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Inhaltsverzeichnis
5 Ergebnisinterpretation: Machtstabilisierendes Organisationslernen in zwei Double-Loop Learning-Prozessen.................................................... 213 5.1 Der Verkauf der Kühlschranksparte als Normenveränderung und Ergebnis des ersten Lernprozesses........................................................ 215 5.2 Die Normenveränderung als Basis des zweiten Lernprozesses: Entwicklung und Umsetzung einer Organisationsstrategie .................. 217 5.3 Der Fall Linde als Idealtypus machtstabilisierenden Organisationslernens? ........................................................................... 220 6 Fazit und Ausblick: Historisches Organisationslernen (HOL) Das Lernen von organisationalen Lernprozessen als Wegbereiter organisationaler Entscheidungen .................................................................. 229 6.1 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell historischer Lernprozesse...................................................................... 230 6.2 Double-Loop Learning am Beispiel der Linde AG............................... 231 6.3 Deuterolearning: Historisches Organisationslernen als Forschungsperspektive und Wegbereiter im organisationalen Diskurs 236 7 Gedruckte Quellen und Literatur .................................................................. 247 8 Anhang.......................................................................................................... 263 8.1 Indikatoren OL...................................................................................... 263 8.2 Variablenchronik Phase 1 (1954-1967) ................................................ 264 8.3 Variablenchronik Phase 2 (1967-1984) ................................................ 266 8.4 Chronik der Linde AG (1954-1984) ..................................................... 267 8.5 Umsatzerlöse, Gewinne und Mitarbeiterzahlen von 1954 – 1984 ........ 269 8.6 Interviewleitfaden ................................................................................. 270 8.7 Beispiele für Extraktionstabellen verschiedener Variablen .................. 272
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Organisationslernen in der Vorstellung von Duncan/Weiss ...... 49 Modes of the Knowledge Creation (Nonaka 1994) .................... 52 Forschungsperspektiven im Organisationslernen (eig. Darst.).... 67 Organisationsinterne und -externe Lernergebnisse (eig. Darst.) ........................................................ 68 Abbildung 5: Quellen des (historischen) Organisationslernens im organisationskulturellen Kontext (eig. Darst.) ............................ 96 Abbildung 6: Die Handlungstheorie von Argyris/Schön (Miebach 2007)...... 111 Abbildung 7: Organisationslernen in Anlehnung an Argyris/Schön .............. 113 Abbildung 8: Akteurzentriertes Organisationslernen (eig. Darst.).................. 128 Abbildung 9: Forschungsdesign...................................................................... 142 Abbildung 10: Organisationsplan der Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen, 1954 .................................................... 146 Abbildung 11: Organisationsplan Linde AG, 1965........................................... 161 Abbildung 12: Organisationsplan der Linde AG, 1971 .................................... 184 Abbildung 13: Organisationsstruktur der Linde AG, 1975 .............................. 192 Abbildung 14: Die Umsatzerlöse des Linde-Konzerns, 1978-1982 ................. 203 Abbildung 15: Akteurzentriertes Organisationslernen im Fall der Linde AG................................................................ 205 Abbildung 16: Lernelemente der Linde AG am Beispiel der Produktumstellung auf Flurförderzeuge, 1954-1984. ............... 210 Abbildung 17: Die Bedeutung der Lernfaktoren für den Lernprozess der Linde-AG, 1954-1984 ............................................................... 214 Abbildung 18: Die dominanten Koalitionen der Linde AG, 1954-1984........... 222 Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4:
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5:
Lernauslöser nach Klimecki/Laßleben (1998) ........................... 32 Lernen in Organisationen (Miebach 2007) ................................. 55 Indikatoren organisationalen Lernens ....................................... 263 Variablenchronik Phase 1 (1955-1967) .................................... 265 Variablenchronik Phase 2 (1967-1984) .................................... 266
14 Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10:
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Umsatzerlöse, Gewinne und Mitarbeiterzahlen von 1954 - 1984 ....................................................................... 269 Beispiel für Extraktionstabelle „Wahrnehmung der Umwelt“.. 272 Beispiel für Extraktionstabelle „Performance gap“ .................. 272 Beispiel für Extraktionstabelle „Output“ .................................. 272 Beispiel für Extraktionstabelle „Entscheidungsprozess“ .......... 272
1 Einführung
„Greuel im Vorstand“. Mit dieser Überschrift betitelte am 16. September 1976 der „Spiegel“ in seiner Rubrik „Unternehmer“ einen Vorgang, wie er immer wieder in Organisationen vorkommt: Ein Manager, in diesem Fall der Vorstandssprecher der Linde AG, Hermann Linde, verliert seine Position, weil es zwischen ihm, dem Aufsichtsrat und weiteren Vorstandskollegen gegensätzliche Auffassungen über die Unternehmensführung gibt. Heute, wie damals, finden Machtwechsel in der Führung verschiedenster Organisationen statt und zeugen von grundlegenden Veränderungen im Unternehmen. Während sich Auseinandersetzungen mit organisationalem Wandel noch in den 1970er Jahren als überschaubar erwiesen, ist die Menge der Literatur heute dagegen unübersichtlich. Das Interesse an Veränderungsprozessen in Organisationen scheint die Organisationstheorien heutiger Prägung zu bestimmen. Auch diese Arbeit ist an der Frage interessiert, wie und warum sich Organisationen verändern, genauer: wie sich Veränderungsprozesse in derselben Organisation bedingen. Als Ausgangsperspektive wird die Vorstellung des organisationalen Lernens gewählt, die seit gut 50 Jahren Veränderungsprozesse als Lernprozesse versteht: Welchen Einfluss haben (historische) Lernprozesse der Vergangenheit auf das organisationale Lernen danach? Die Perspektive, Veränderungen als organisationale Lernprozesse zu begreifen, ist keineswegs unproblematisch, da unterschiedliche Ansprüche an Theorie und Praxis, Interdisziplinarität und uneinheitliche Begrifflichkeiten bzw. Erklärungsmuster das Feld prägen. Nicht zuletzt steht das Verständnis organisationalen Lernens in Konkurrenz mit weiteren Theorien organisationalen Wandels (vgl. z.B. Wiegand 1996, Ortmann/Sydow/Türk 2000, Scott 2003, Weik/Lang 2003/2005, Kieser/Ebers 2006, Preisendörfer 2008, Bonazzi 2008). Während es sich auf der einen Seite um Tendenz-bezogene Überlegungen zu organisationalen Veränderungsprozessen handelt, die sich auf spezifische Aspekte konzentrieren (z.B. Taylorismus/Effizienz, Human-Relations/BedürfnisOrientierung, Situativer Ansatz/Strukturkonzentration), erscheinen hier neuere Ansätze interessant, (z.B. Neoinstitutionalismus, Evolutionstheorien, verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorien und deren Weiterentwicklungen
M. Herzog, Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse, DOI 10.1007/978-3-531-93198-2_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einführung
durch z.B. mikropolitische Ansätze).1 Ähnlich dem Lernverständnis gehen diese von einem prinzipiell offenen Ergebnis organisationalen Wandels aus. Neben dem Verzicht auf die Vorstellung einer durchweg rational handelnden Organisation („bounded rationality“, Simon 1955) erscheinen außerdem Perspektiven fruchtbringend, die organisationalen Wandel nicht nur erklären und begründen können, sondern diesen Prozess auch rekursiv konzeptionalisieren und dabei individuelle Einflussmöglichkeiten von Organisationsmitgliedern adäquat berücksichtigen. Da die vorliegende Arbeit Veränderungen untersuchen will, die selbst wiederum auf organisationalem Wandel basieren, kann schon auf der theoretischen Ebene unterstellt werden, dass für einen solchen Vorgang ein Raum oder Speicher innerhalb der Organisation angeordnet sein muss, der es ermöglicht zwei organisationale Zustände (t0 und t1) miteinander zu vergleichen. Insbesondere die aus den verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorien erwachsenen Überlegungen zu organisationalem Lernen weisen auf Erklärungspotential für diese Arbeit hin, da mit dem Lernbegriff ein Grundkonzept erkennbar wird, das die Bezugnahme aufeinander folgender Veränderungsprozesse in theoretischer Hinsicht zu versprechen scheint. Auch die evolutionstheoretischen bzw. populationsökologischen Ansätze gehen von einer prinzipiell ungerichteten kontinuierlichen (lebenslangen) Anpassungsleistung von Organisationen aus. Entgegen den verschiedenen verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorien spielen hier allerdings die Entscheidungsträger wie bei den (Neo)Institutionalistischen Ansätzen keine bedeutende Rolle. Sie konzipieren auch keinen organisationalen Wissensspeicher, der explizit einen organisationsinternen Ergebnisvergleich ermöglicht.2 Derartige Perspektiven bieten allerdings wichtige Anregungen und Einschränkungen (vgl. Wiegand 1996, 112 f.): 1
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Seit den 1980er Jahren verblasst der Einfluss eines „Steuerungsparadigmas“ und wird durch „Gouvernement“-Konzepte abgelöst, welche die instrumentelle Rationalität hinterfragen und zu denen Selbststeuerungstheorien, Kybernetik 2. und 3. Ordnung, Systemtheorie, Konstruktivismus, Theorien der „Reflexiven Moderne“ und der „Postmoderne“ gehören (vgl. Türk/Lemke/Bruch 2002, 193). Preisendörfer (2008) fasst dagegen die Arbeiten Webers, Taylors und die Institutionenökonomischen Ansätze unter der Klammer rationaler Systeme zusammen, während Organisationen als natürliche/soziale Systeme in der Human-RelationsSchule oder den verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorien vertreten sind. Eine ähnliche Unterscheidung wird bereits im Rahmen der postweberianischen Diskussion von Goulder vorgenommen, in dem er zwischen rationaler und natürlicher Organisation zu unterscheiden beginnt, ein Ansatz der erst von Thompson (1967) erfolgreich fortgeführt wird (vgl. Bonazzi 2008, 204). Veränderungen, die aufeinander bezogen sind, werden hier zwar durch Combs, Elemente organisationalen Wissens, präsentiert (Mc Kelvey 1982, Nelson/Winter 1982). Dennoch kann der Kern wiederum auf die verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungstheorien und weiter auf organisationales Lernen bezogen werden, da die Autoren solcher Ansätze die internen Prozesse strukturellen Beharrungsvermögens „letztlich als Routinisierungs- und Institutionalisierungs-
1 Einführung
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Veränderungsresistenzen, wie sie (neo)institutionalistische und populationsökologische Theorien beschreiben, lassen allzu „euphorische“ Ansätze organisationalen Lernens nicht zu und relativieren Handlungsanleitungen mit Rezeptbuch-Charakter. Die theoretische Auseinandersetzung mit organisationalem Lernen kann helfen, die „konzeptionelle Sackgasse der selbstverstärkenden Institutionalistisierung“ (Wiegand) institutionalistischer Ansätze durch verschiedene Lernstufen zu überwinden (vgl. z.B. Eichler 2008). Dabei können wechselseitige Wirkungen (Legitimität und Effizienz) berücksichtigt werden (vgl. Preisendörfer 2008, 151). (Neo-) Institutionalistische Ansätze sind mit organisationalem Lernen aufgrund ihres gemeinsamen interpretativ/wissenssoziologischen Paradigmas einfacher miteinander zu verbinden, als dies mit populationsökologischen Ansätzen möglich ist. Auch die tendenziell-offenen Ansätze lassen sich letztlich auf organisationale Entscheidungen zurückführen, die erstens zeitlich getrennt werden können, zweitens miteinander vergleichbar sind und drittens rekursiv erscheinen, so dass sich auch Überlegungen der Neuen Institutionenökonomie oder des Neoinstitutionalismus schließlich im Rahmen organisationaler Lernprozesse darstellen lassen. Entscheidend sind daher die Entscheider (Akteure), wodurch Veränderungen als Lernprozesse interpretierbar sind.
Da Lernmodelle inhaltlich oft ungerichtet sind und sich als „kumulative Lernprozesse“ konzeptionell kaum von organisationalen Entwicklungsmodellen unterscheiden lassen (vgl. Wiegand 1996, 92)3, berührt eine Auseinandersetzung mit organisationalem Lernen immer auch andere organisationstheoretische Überlegungen und Ansätze der Organisationsforschung. Ansätze, wie etwa die interpretative/kognitive Organisationsforschung, Organisatorische Transformation, Mikropolitik oder Ansätze der Organisationskultur, werden daher bei Bedarf aufgegriffen. Eine dogmatische Trennung wäre unsinnig, da nicht zuletzt der interdisziplinäre Austausch ein großes Potenzial für die gesamte Organisationsforschung darstellt (vgl. Scholl 1995, 442). Organisationales Lernen (OL) wird in der vorliegenden Arbeit
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prozesse und damit als kollektive Lernprozesse rekonstruieren“ (Wiegand 1996, 104). Vgl. auch Preisendörfer (2008, 144), der ebenfalls von einer gewissermaßen versteckten Akteursrolle ausgeht. Ähnlich kann auch für die Neue Organisationenökonomik argumentiert werden (vgl. Wieland 2000, 66). So verweisen etwa Evolutions-Ansätze auf organisationales Lernen (vgl. Pautzke 1989, Vyslozil 1990).
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als eine Perspektive verstanden, organisationalen Wandel zu beschreiben, als ergebnisoffener Prozess begriffen, der nicht einzelne organisationale Faktoren in den Mittelpunkt stellt (z.B. die Struktur im Situativen Ansatz) und bewusst mit der Rolle des (entscheidenden) Akteurs verbunden, der wiederum Einfluss auf Strukturen und organisationales Wissen hat, das im Zentrum dieses Ansatzes steht.
Aufgrund der Vielfalt in den Ansätzen organisationalen Lernens erschließt sich diese Arbeit in Kapitel 2 das Feld mit „Lernfaktoren“, die es ermöglichen, einzelne Aspekte und Überlegungen verschiedener Arbeiten systematisch zu verbinden, damit wesentliche Probleme organisationalen Lernens ansatzübergreifend problematisiert werden können: „Umwelt“, „Struktur“, „Strategie“, „Akteur“, „Wissensbasis“ und „Output“. Trotz dieser Systematisierung erscheinen die Vorstellungen organisationalen Lernens nicht gerade einfacher, ist doch eine enorme Vielschichtigkeit „faktoreninterner Faktoren“ festzustellen, wie sich am Lernfaktor „Akteur“ darstellen lässt: Welchen Einfluss hat das einzelne Organisationsmitglied auf den Lernprozess? Wer genau lernt eigentlich bei OL? Wie wirken sich Lernprozesse innerhalb von Entscheidungsstrukturen aus und wie sind diese konstituiert? Welche Rolle spielt die Organisationskultur? Fragen dieser Art zeugen von der enormen Komplexität, mit der Organisationstheoretiker bei der Erarbeitung organisationaler Lernprozesse konfrontiert sind. Der Lernfaktor „Struktur“ ist mit anderen Problemen verknüpft: Ist die Struktur Ausgangspunkt oder Ergebnis organisationalen Lernens? Wie lässt sich organisationales Verhalten integrieren, wenn es um interne Strukturmaßnahmen geht, die von außen nicht beobachtbar sind? Inwieweit können organisationale Lernprozesse als beendet angesehen werden? Die vorliegende Arbeit versucht das Problem der Komplexität von Lernfaktoren in reduktionistischer Weise zu behandeln und Lösungen in einer Makrotheorie zu finden, die das komplexe Gefüge theoretisch zu vereinfachen vermag. Giddens Strukturationstheorie wird dabei als Möglichkeit gesehen, in organisationalen Lernprozessen die Dualität von Struktur und Handlung als Prinzip zu begreifen. Davon ausgehend schließen sich weitere Fragen an: Lässt sich organisationales Lernen über die Nenner Struktur und Handlung erklären? Worin bestehen mögliche Vorteile? Was bedeutet eine solche Betrachtung für Lernprozesse und die Frage nach den Lernträgern? Und nicht zuletzt: Können ein strukturationstheoretisch informiertes Organisationsverständnis und eine Definition für organisationales Lernen gewonnen werden, die eine forschungspraktische Umsetzung bei der Untersuchung des Einflusses vergangener auf folgende Lernprozesse ermöglichen?
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Lernprozesse, die in der Vergangenheit liegen, erfordern außerdem Auseinandersetzungen mit der Organisationsgeschichte: Inwieweit spielen zeitliche Komponenten bei organisationalem Lernen eine Rolle? In diesem Zusammenhang wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise sich Organisationsforschung und Organisationsgeschichte konzeptionell ergänzen können und müssen. Ein Zusammenhang ist offensichtlich, wenn man organisationskulturelle Bedingungen als Ergebnis vergangener Handlungen betrachtet, die ihrerseits das künftige Verhalten der Organisationsmitglieder prägen. Besonders eindringlich wird dies deutlich in der Idee des Schleifenlernens (vgl. Argyris/Schön 1978), die als Fundament für die Untersuchung aufeinander folgender Lernprozesse begriffen wird und sich in fast jeden Ansatz integrieren lässt oder dort implizit vorhanden ist. Danach werden Lernarten anhand unterschiedlicher Emergenzstufen unterschieden. Gemeint sind damit single-, doubleloop und deuterolearning-Prozesse. Während bei dem single-loop learning Fehlerbehebungen eine Rolle spielen, die ohne grundlegende Veränderungen der Sichtweise einer Unternehmung behoben werden, geht es bei double-loop learning-Prozessen auch um die grundlegende Änderung von Normen, Werten und Zielen. Im Prozess des Deuterolernens schließlich lernt die Organisation zu lernen. Obwohl Modelle des Schleifenlernens, die Zeitlichkeit konzeptionell voraussetzen, über eine breite Akzeptanz verfügen, sind diese selbst bisher kaum systematisch untersucht worden. Um die bis hierhin gewonnenen Erkenntnisse in eine Fall-Studie einbringen zu können und die Wirkungsweise zweier aufeinander bezogener Lernprozesse zu untersuchen, erscheint ein Modell erforderlich, das es vermag, die bestehenden Ansätze und Überlegungen zu integrieren, so dass die wesentlichen Punkte der Forschungsfrage adäquat abgedeckt sind. Vor diesem Hintergrund wird zum Abschluss des zweiten Kapitels ein theoretisches Konzept entwickelt, das die zeitliche Perspektive und mögliche qualitative Veränderungen in der Integration von Schleifenlernprozessen berücksichtigt. Außerdem werden die wesentlich erscheinenden Aspekte der Lernfaktoren adäquat abgebildet. Da es vor dem Hintergrund der Strukturationstheorie einer besonderen Berücksichtigung der Akteure bedarf, rückt an dieser Stelle die Auseinandersetzung mit Macht, Mikropolitik und Entscheidungsprozessen – kurz die Rolle der Akteure als „learning agents“ – in den Mittelpunkt, weshalb das Modell als „akteurzentriertes Organisationslernen“ bezeichnet wird. Indem die Arbeit im Kern davon ausgeht, dass nur auf individueller Ebene gelernt wird, Lernergebnisse jedoch organisational werden können, relativiert sie die Vorstellung des Organisationslernens im Rahmen von Veränderungsprozessen hinsichtlich Definition (Was gilt als Organisation?) und Interpretation (Veränderungen aufgrund von Lernprozessen bzw. die Lernprozesse an sich). Diese Interpretation gelingt
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umso überzeugender, je tief greifender, umfangreicher und organisationsuntypischer die Veränderungen der organisationalen Wissensbasis sind. Das dritte Kapitel widmet sich dem Fall der Linde AG, den Hypothesen und Forschungsfragen sowie der angewandten Forschungsmethode: Wie wirken sich vergangene Lernprozesse auf das folgende Organisationslernen aus? Können single-loop und double-loop learning in der Vergangenheit der Linde AG identifiziert werden und, wenn ja, wie? Die Ergebnisse beruhen auf Experteninterviews sowie umfangreichem Dokumentenmaterial und wurden mit dem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. In diesem Kapitel wird auch auf den besonderen Typus des „Senior-Experten“ eingegangen, da es sich bei den Befragten überwiegend um ehemalige Organisationsmitglieder im Rentenalter handelt. Im vierten Kapitel, dem empirischen Hauptteil der Arbeit, werden die FallErgebnisse dargestellt. Ziel ist eine Prozessrekonstruktion des Lernens der Linde AG in Anwendung des Ausgangsmodells. In diesem Zusammenhang geht es darum, die einzelnen Lernfaktoren konkret werden zu lassen. So soll ein plastischer Eindruck von den Entwicklungen und organisationalen Veränderungen gewonnen werden. Eine besondere Herausforderung bei der Beschreibung historischen Organisationslernens liegt darin, die theoretisch entwickelten Lernfaktoren herauszuarbeiten und gleichzeitig den chronologischen Ablauf möglichst adäquat zu berücksichtigen. In dem betrachteten dreißigjährigen Zeitraum (1954-1984) hat es im Unternehmen Linde, so die Befunde, zwei Lern-Phasen (t0 und t1) gegeben, die getrennt voneinander vorgestellt werden. In der ersten Lernphase, die von 19541967 datiert werden kann, begann eine durchgreifende Strukturveränderung, die sich kaum den üblichen top-down-Entscheidungen zuordnen lässt und als ein Wandel bezeichnet werden kann, der sich zu Ende dieser Phase im operativen Geschäft 1967 äußert. Der Lernprozess hat allerdings auch nach diesem Zeitpunkt in der zweiten Phase, die 1967 beginnt und 1984 endet, zugleich für die gesamte Linde AG massive Auswirkungen. In diese zweite Lernphase fällt eine durchgreifende Strategieumsetzung im Unternehmen. Die Interpretation des Falls, welche t0 als Vorstufe für t1 darstellt, wird im fünften Kapitel vorgenommen. Sie argumentiert für ein zweiphasiges fundamentales double-loop learning der Linde AG, das einen regelrechten Paradigmenwechsel im Unternehmen kennzeichnet. Die akteurzentrierte Perspektive ermöglicht zudem, das rekonstruierte Geschehen bei Linde als machtstabilisierendes Organisationslernen zu bezeichnen. Dabei wird begründet, warum der organisationale Lernprozess der Linde AG einen so langen Zeitraum prägte und Individualakteure eine bedeutende Rolle spielten.
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Das abschließende Kapitel 6 rekapituliert nicht nur die Erkenntnisse der Arbeit in Bezug auf akteurzentriertes Organisationslernen und double-loop learning. Es geht hier auch um die Nutzung organisationaler Lernprozesse für die Zukunft. In diesem Zusammenhang wird die organisationshistorische Perspektive aufgegriffen und im Terminus „Historisches Organisationslernen“ (HOL) manifestiert. Damit wird das Potential gezielter Auseinandersetzungen mit vergangenen Lernprozessen der eigenen Organisation verdeutlicht. Die Reflexion vergangener und aktueller Muster fungiert als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse, bei der ein Gewinner bereits feststeht: die Organisationsidentität.
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Wie der Begriff „Organisationales Lernen“ augenscheinlich vermuten lässt, wird organisationaler Wandel durch dort stattfindende Lernprozesse erklärt und damit ein individuelles Phänomen auf Organisationen übertragen.4 Durch verschiedenste Charakteristika der Auseinandersetzung mit organisationalem Lernen (vgl. Berthoin Antal 1998) wird deren Darstellung allerdings nicht unerheblich erschwert, was auf verschiedene Ursachen zurückzuführen ist. 1) Die Arbeiten zum Organisationslernen sind stark von Interdisziplinarität geprägt. Das Forschungsfeld konstituiert sich aus Arbeiten unterschiedlicher Disziplinen und Wissenschaften und wird aus dem Blickwinkel der Psychologie, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie, Kulturforschung oder vor historischem Hintergrund betrachtet. 2) Auseinandersetzungen mit Organisationslernen verfügen kaum über ein gemeinsames und explizites Organisationsverständnis. Es gibt unterschiedliche Vorstellungen darüber, was genau als Organisation bezeichnet wird oder Organisationsdefinitionen bleiben gänzlich unerwähnt bzw. werden „irgendwie“ vorausgesetzt mit z.T. erheblichen Auswirkungen auf Darstellung, Theorie und Untersuchung. Das gilt sowohl für die Organisationstheorien allgemein, wie für die Forschung zum Organisationslernen im Besonderen.5
4 5
Vgl. zum Aspekt dieser Metapher Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li (1994). Dies kann damit begründet werden, dass eine Definition per se nicht falsch oder richtig sein kann. Wichtig ist, dass sie zweckdienlich ist (vgl. Kromrey 2006, 160 ff.). Ein weiterer Grund liegt in der Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit des Organisationsbegriffs. So muss zwischen dem (dynamischen) Prozess und dem (statischen) Resultat des Organisierens unterschieden werden (vgl. Ortmann/Sydow/Windeler 2000, 315).
M. Herzog, Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse, DOI 10.1007/978-3-531-93198-2_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3) Über das Lernverständnis gibt es unterschiedliche Auffassungen. Hierbei muss von einem „fragmentarischen Charakter“ ausgegangen werden (Pautzke 1989, 103, vgl. auch Walsh/Ungson 1991, Klimecki/ Laßleben/ Rixinger-Li 1994, Schreyögg/Noss 1997, Berthoin Antal et al 2003, Pawlowsky/ Geppert 2005). Deutlich wird das z.B. an den unterschiedlichen Bezeichnungen des Themas. Diese reichen von „Organizational Learning“/„Organisationales Lernen“, „Organisatorisches Lernen“, „Organisationslernen“ oder „Organisationale Lernfähigkeit“ bis hin zur „Lernenden Organisation“ (vgl. Hayn 2007).6 4) Die Arbeiten verfolgen unterschiedliche Ansprüche. Die Auseinandersetzungen mit Organisationslernen verfügen über eine große Bandbreite zwischen vorwiegend normativer Praxisliteratur und wissenschaftlich-theoretischer Fachliteratur. 5) Konzeptionelle Mängel kennzeichnen das Forschungsfeld. In der kritischen Auseinandersetzung der Sekundärliteratur wird immer wieder auf konzeptionelle Mängel hingewiesen, so dass nahezu alle Ansätze nur eine spezifische Reichweite oder Aussagekraft besitzen (vgl. v.a. Wiegand 1996). Dies kann nicht allein auf das fehlende Vermögen der Autoren zurückgeführt werden, sondern lässt sich oft anhand des hier skizzierten Arbeitskontextes begründen.7 6) Die Arbeiten verfolgen unterschiedliche Fragestellungen und Interessen. Die unterschiedlichen Ansätze stellen jeweils verschiedene Perspektiven in den Mittelpunkt, so dass auf unterschiedliche Themen wie etwa Macht oder Kultur
6
7
Vgl. zum Organisationsbegriff und Organisationslernen allgemein Geller (1996, 55 ff.). Eine Zusammenstellung zum Begriff des Organisationslernens bieten Kremmel (1996, 114), Krebsbach-Gnath (1996, 27 ff.) und Scherf-Braune (2000, 10 f.). Eine ausführliche Darstellung von 15 verschiedenen Ansätzen mit unterschiedlichen Begriffen und Bedeutungen organisationalen Lernens, die sich oft ähneln und überschneiden findet sich bei Fyol/Lyles (1985, 808), vgl. auch Shrivastava (1983, 9). Auch heute noch hat sich kaum etwas an diesem Zustand geändert (vgl. etwa Klimecki/Laßleben 1998, Schüerhoff 2006, Hayn 2007, Zinth 2008). Weitere Hinweise auf den fragmentarischen Charakter bieten Duncan/Weiss (1979, 789), Fiol/Lyles (1985, 803), Pautzke (1989, 103) und Reinhardt (1993, 43). Ein typischer Vorwurf bezieht sich daher weniger auf falsche, sondern vielmehr auf fehlende Aussagen.
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genau so eingegangen wird wie auf lernfördernde Bedingungen oder die Geschwindigkeit organisationaler Lernprozesse. 7) Die Erklärungskraft organisationalen Lernens ist umstritten, weil Lernprozesse an sich nur schwer nachweisbar sind und letztlich immer einer Interpretation bedürfen. Organisationales Lernen an sich ist „objektiv“ schwer nachweisbar. Zwei zeitlich unterschiedliche Zustände eines „Objekts“ werden einander gegenübergestellt. Dabei beurteilt ein Beobachter, wobei auch Selbstbeobachtung möglich ist, ob eine Veränderung aufgetreten ist, die als Lernen gekennzeichnet werden kann, so dass organisationales Lernen immer als beobachterzentrierte Untersuchung verstanden werden muss, die sich auf Individuen, Gruppen, Organisationen und Gesellschaften beziehen kann und letztlich auf Interpretation beruht (vgl. Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994, 12, Eberl 1996, 80, Hayn 2007, 14). 8) Das Feld verfügt über einen kaum überschaubaren Ausstoß an Literatur. Er erschwert einen Überblick, der daher nur unvollständig sein kann. Insgesamt ist das Forschungsfeld somit äußerst disparat, allerdings seit Jahrzehnten wissenschaftlich anerkannt und etabliert (vgl. Berthoin Antal/Dierkes/Tsui-Auch 2001, Zinth 2008). 9) Es lässt sich nichts über die „moralische Gerichtetheit“ organisationalen Lernens aussagen. Über die „moralische Gerichtetheit“ des Lernens ist keine Verallgemeinerung möglich, so dass in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen wird, dass organisationale Lernergebnisse offen sind, mit anderen Worten: Sie können „gut“ oder „böse“, erfolgreich oder verheerend sein, beispielsweise so, wie die angestrebte Verbesserung von der Organisation definiert ist (vgl. Argyris/Schön 1996, 4). 10) Vermehrt werden Metatheorien bemüht, um eine integrierende Erklärung für die beschriebenen Probleme zu nutzen. Die Nutzung von Makroperspektiven zeigt die Anschlussfähigkeit organisationalen Lernens (vgl. z.B. Wiegand 1996, systemtheoretisch: Scherf-Braune 2000, Spandau 2002, konstruktivistisch: Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li, 1994,
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Schüerhoff 2006, strukturationstheoretisch Hanft 1996, 1998, Berends/ Boersma/ Weggeman 2003). Trotz der genannten Schwierigkeiten kann auf eine Reihe fruchtbarer Übersichten zum Forschungsfeld verwiesen werden. Diese Klassifizierungen können in autorenzentrierte Darstellungen, theoretische Entwicklungslinien und faktorenbasierte Klassifikationen eingeteilt werden. Autorenzentrierte Darstellungen (vgl. u.a. Geißler 1995, Wiegand 1996, Geller 1996, Nagl 1997, Wahren 1996, Spandau 2002, Gaiser 2003) stellen die Arbeiten bestimmter Autoren in ihrer theoretischen Auseinandersetzung mit organisationalem Lernen in den Mittelpunkt und versuchen, die unterschiedlichen Theorien möglichst ausführlich gegenüberzustellen. Dabei handelt es sich in der Regel um Ansätze und Theorien, die letztlich den gesamten Lernprozess thematisieren und einen eigenständigen theoretischen Bezugspunkt liefern (so etwa Cyert/March 1963, March/Olsen 1975, Argyris/Schön 1978, Duncan/Weiss 1979, Hedberg 1981, Shrivastava 1983, Fiol/Lyles 1985, Pautzke 1989, Senge 1990, Huber 1991, Dodgson 1993, Pawlowsky 1994, Nonaka 1994). Bereits diese Auswahl verläuft in den jeweiligen Darstellungen höchst unterschiedlich und erhebt kaum Anspruch auf Vollständigkeit, zumal sie sich oft den speziellen, in der Arbeit relevanten Aspekten, widmet. Die konzeptionell mangelnde Vollständigkeit der einzelnen Ansätze und deren unzureichende Abdeckung des gesamten inhaltlichen „Phänomens“ organisationalen Lernens erfordern alternative Darstellungsformen. Theoretische Entwicklungslinien stellen daher diese Ansätze, aber auch die sich anschließende Sekundärliteratur in den Zusammenhang bestimmter Erklärungsausrichtungen: „Nevertheless, most approaches seem to be centred on clearly distinguishable theoretical assumptions that make it possible to define genuine qualitative clusters“ (Pawlowsky 2003, 66).
Pawlowsky/Geppert (2005) sprechen von „Perspektiven“ und unterteilen das Feld organisationalen Lernens u.a. in entscheidungsorientierte, kognitivwissensorientierte, systemtheoretische und eklektische Perspektive.8 Als Beispiel für konzeptionell-orientierte Darstellungen können Pawlowskys Analyseebenen des organisationalen Lernens gelten (vgl. Pawlowsky 1998 und 2003, Pawlowsky/Forslin/Reinhardt 2003, Pawlowsky/Geppert 2005). Dabei wird zwischen Lernebenen, Lernphasen, Lernformen und Lerntypen unterschieden. Andere Darstellungen verstehen unter Nutzung derselben oder ähnlicher Begriffe z.T. 8
Vgl. auch Shrivastava (1983), Wiegand (1996), Schüerhoff (2006), Zinth (2008).
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abweichende oder andere Inhalte z.B. Geller (1996), Scherf-Braune (2000), Berthoin Antal/Dierkes (2004). Einen anderen Ansatz verfolgen Darstellungen zum Organisationslernen, die ihre Aufmerksamkeit auf eine Fusion von Theorie und Anwendungsfall lenken. Faktorenzentrierte Darstellungen betonen daher stärker den Praxisbezug und widmen sich Einflüssen auf organisationale Lernprozesse, ohne sich immer explizit auf eine (bestimmte) theoretische Rahmung zu stützen (vgl. z.B. Argyris/Schön 1996, 188 ff., Dierkes et al 2003). So werden intellektuelle und kulturelle Strömungen der Forschung, der Praxisbezug, die untersuchten Organisationsformen, Prozesse und Ansätze, das Akteurverständnis oder die Tendenzen aus Forschung und Anwendung organisationalen Lernens als Dimensionen berücksichtigt (vgl. Berthoin Antal/Dierkes 2002). Aber auch die Beiträge verschiedener Disziplinen (Psychologie, Kulturforschung, Soziologie, Wirtschaftswissenschaften und Geschichtswissenschaften), die Kontroversen im Feld (etwa zu normativen Ansätzen oder um Lernprozesse und Lernformen), Auslöser und Praxisaspekte sowie die Herausforderungen (geographische Grenzüberschreitungen, Diversifizierung der Organisationstypen und die Erweiterung der Akteursebenen) dienen dazu, den Forschungsstand zu reflektieren (Berthoin Antal 1998, Dierkes et al 2001 und 2003, Berthoin Antal/Dierkes 2004).9 Diese umfangreichere Art der Darstellung organisationalen Lernens hat sich erst in jüngerer Zeit etabliert. Da sie sich auf das Phänomen organisationalen Lernens und nicht auf spezifische Ansätze bezieht, können inhaltlicher Umfang und Menge der Literatur prinzipiell besser erfasst werden. Faktisch bauen faktorenzentrierte Darstellungen allerdings immer auf dem Verständnis bestimmter Ansätze, vermittelt etwa durch die „klassischen“ autorenzentrierten Darstellungen, auf. Insgesamt behandeln die Arbeiten zu organisationalem Lernen ein relativ ungenau begrenztes Feld, wobei sie sich oft auf organisationstheoretische Vorläufer oder Weggefährten beziehen. Das spricht für die Bedeutung von Lernfaktoren, die auch in anderen Konzepten organisationalen Wandels genutzt und vor allem reflektiert werden (z.B. Umwelt oder Struktur). Darin offenbaren sich Probleme, aber auch Chancen des multifaktoralen Forschungsgegenstands organisationalen Lernens. Um die bisher entwickelten Arbeiten und Ansätze genauer zu erarbeiten, wird hier aus folgenden Gründen eine faktorenzentrierte Darstellung gewählt: 1.
Es existieren bereits ausreichend autorenzentrierte Darstellungen und die einzelnen Ansätze sind bereits umfangreich erörtert worden.
9
Die Bibliographie (Dierkes et al 2001) kann zusammen mit dem Handbuch zum Organisationslernen (Dierkes et al 2003) als Meilenstein moderner Organisationsforschung gesehen werden, da vergleichbar umfangreiche Übersichten bisher nicht existierten.
28 2. 3.
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Es kann nicht von einem verbindlichen OL-Basisverständnis ausgegangen werden und die einzelnen Ansätze sind oft unvollständig. Mit der Faktorenperspektive lassen sich grundsätzliche Überlegungen organisationalen Wandels strukturieren, so dass Definitionen und Perspektiven zu Organisationsverständnis und organisationalem Lernen diskutiert werden können, um einen theoretisch fundierten und integrierenden Ausgangspunkt für diese Arbeit zu wählen.
Vor diesem Hintergrund soll schließlich 4.
eine möglichst umfangreiche theoretische Fundierung für eine forschungspraktische Umsetzung erreicht werden, die auf Lernfaktoren als zu untersuchende Variablen angewiesen ist.
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse Nach Durchsicht der Literatur können folgende Faktoren identifiziert werden, die sowohl in den genannten Organisationstheorien allgemein, wie auch speziell in der Literatur zum organisationalen Lernen regelmäßig auftauchen und sich im Laufe der Organisationslernforschung als wichtige Bestandteile erwiesen haben, um derartige Lernprozesse fundiert erklären zu können: Umwelt, Struktur, Strategie, Akteur, organisationale Wissensbasis und Output (vgl. z.B. Fiol/Lyles 1985).10 2.1.1 Die Umwelt und Lernauslöser Die Bedeutung der organisationalen Umwelt ist mit der allgemein anerkannten Vorstellung verbunden, dass es sich bei Organisationen um Systeme handelt (vgl. z.B. Probst 1987). Die Systemvorstellung beruht im Kern auf der Abgrenzung von anderen Systemen, wie sie insgesamt in der Umwelt gesehen werden:
10
Da diese Elemente nur als Teilmengen in den Beschreibungen organisationalen Lernens fungieren, werden sie auch als Faktoren oder Variablen bezeichnet (vgl. z.B. v. Werder 1999). Ein anderes Verständnis von Lernfaktoren haben Klimecki/Laßleben/Thomae. Sie verstehen darunter Bestandteile eines dreiphasigen Informationsverarbeitungsprozesses (vgl. Klimecki/Laßleben/Thomae 1999, 71). An anderer Stelle wird von strukturellen und kulturellen „Determinanten“ organisationalen Lernens gesprochen (vgl. Krebsbach-Gnath 1996, 44). Sie werden in der Aufnahme von Informationen aus den Umfeldern, der Form der internen Beziehungsgestaltung, persönlicher Fähigkeiten der Beteiligten, insbesondere der Führungskräfte, strukturellen Voraussetzungen sowie der Existenz einer expliziten Zukunftsorientierung gesehen.
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
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„Daß Systeme eine Umwelt besitzen, ist ein konstitutiver Faktor der Systembildung. Systeme haben nur dann einen Sinn, wenn sie sich von einer nicht dazu gehörenden Umwelt unterscheiden. Es muß also ein „Innen“ (die jeweilige Organisation) und ein „Außen“ (die jeweilige Umwelt) geben“ (Wahren 1996, 103 f.).
Neben dem allgemeinen Minimum-Konsens, dass es sich bei Organisationen um Systeme handelt, kann von einer weiteren grundlegenden Annahme organisationaler Lerntheorien ausgegangen werden: Informationen bewirken Änderungen der kognitiven Struktur einer Organisation (vgl. Laßleben 2002, 101).11 Sie können aus der Organisation selbst oder aus deren Umwelt stammen (z.B. Kunden, Banken, Beratungsunternehmen, Konkurrenz, Lieferanten, externe Experten, Gesetzgeber u.ä).12 Da für den Systemerhalt eine Umweltanpassung notwendig ist (vgl. z.B. Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994, 16), wird die Umwelt besonders häufig thematisiert. In ihrer Eigenschaft als Informationsquelle hält sie das Gros der dazu wichtigen Daten bereit und steht oft im Zusammenhang organisationaler Leistungen. Daher werden unter dem Aspekt organisationalen Lernens sowohl die Umwelt wie auch das Verhältnis zwischen Organisation und Umwelt konzeptionell immer berücksichtigt (vgl. z.B. Cyert/March 1963, March/Olsen 1975, Argyris/Schön 1978, Pautzke 1989, Argyris 1990, Senge 1990, Cohen/Levinthal 1990, Huber 1991, Kim 1993, Nonaka 1994, vgl. auch unter dem unternehmenskulturellen Aspekt: Dierkes/Hähner/Berthoin Antal 1997). Besonders aufschlussreich erscheint die Darstellung der Umwelt als Lernfaktor bei Duncan/Weiss (1979) und Hedberg (1981).
11
12
Als Abweichung sieht Laßleben die frühe Konzeption des Organisationszyklus von March/Olsen (1975, 1976), „die ein stark der Stimulus-Response-Logik folgendes Modell adaptiv-rationalen Lernens entwirft, und in bezug auf Lernauslöser primär auf unmittelbare, individuelle Erfahrung von Reaktionen (Feedbacks) der Umwelt auf organisationale Handlungen abhebt“ [sic] (Laßleben 2002, 101, Fn. 79). Arbeiten wie die von Klimecki/Laßleben et al sehen organisationales Lernen im metatheoretischen Kontext der neueren Systemtheorie aus systemisch-kybernetischen Perspektive (vgl. Klimecki/Probst 1990, Klimecki/ Laßleben/ Rixinger-Li 1994, Klimecki/Thomae 1997, Klimecki/Laßleben/Thomae 2000). Dabei werden Organisationen als umweltbezogene, dynamische, sinnorientierte und sinnstiftende kommunizierende und sich reflektierende Gebilde beschrieben (vgl. Wahren 1996, 103). Systemtheoretische Ansätze (vgl. z.B. Katz/Kahn 1966, Lawrence/Lorsch 1967, Luhmann 1984) beschäftigen sich insgesamt damit, wie die Stabilität von Organisationen aufgebaut ist, damit sie sich von der Umwelt unterscheiden, um selbst nicht aufgelöst zu werden. Dieser Zustand ist jedoch prinzipiell nicht auf Dauer damit ständig auf Erneuerung angelegt und muss sich gewissermaßen immer wieder selbst produzieren (Autopoiesis). Informationen werden dabei als Systemerzeugnisse verstanden (Luhmann 1984, 1995, Schreyögg/Noss 1995). Vgl. dazu auch Geller (1996, 18), die von einer „Lernoberfläche als Quelle von Lernprozessen“ spricht.
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Duncan/Weiss (1979), deren Organisationsverständnis einen starken Umwelt- und Outputbezug aufweist, sehen in der Wahrnehmung der Umwelteinflüsse eine wichtige organisationale Aufgabe, die sie als „domain definition“ bezeichnen. Sie gehen davon aus, dass Organisationen die Umwelt zunächst wahrnehmen, vor allem aber ihre Informationen beurteilen, selektieren und insgesamt interpretieren müssen, bevor sie mit diesem Input umgehen und anschließend eigene an diese zurückgeben können (vgl. auch Brown/Duguid 1991, 51 bzw. „Weltanschauung“ bei Kim 1993, 45): „Before organizational decision makers respond to the environment, they must identify and define the organization’s environment. The process of enactment is one of structuring the situation so as to define and create some meaning and sense to it so that organizational decision makers can react to it” (Duncan/Weiss 1979, 99).13
Die Autoren eröffnen ein weites „Umwelt-Feld“ und unterscheiden verschiedene Umweltkomponenten innerhalb (z.B. die technische Qualifikation der Mitarbeiter) und außerhalb der Organisation (z.B. sozio-politische Einflüsse) (vgl. Duncan/Weiss 1979, 100 ff.). Sie unterscheiden außerdem zwischen mehreren Umwelt-Typen. Diese können einfach, komplex, statisch oder dynamisch jeweils unterteilbar oder nicht unterteilbar sein. Duncan/Weiss sehen insgesamt einen Zusammenhang, der weit über die Konzentration auf die Umwelt hinausgeht. Für sie besteht ein komplexes Zusammenspiel zwischen Organisationslernen, Strategie und Struktur. Um die Umwelteinflüsse richtig einschätzen zu können, schreiben sie der Informationsversorgung des Managements eine besondere Rolle zu. Diese muss um so umfangreicher sein, je komplexer und dynamischer die Umweltbedingungen sind. In diesem Zusammenhang stehen Lernauslöser im Mittelpunkt, die als Leistungslücken („performance gaps“) bezeichnet werden (Duncan/Weiss 1979, 92). Darunter werden organisationale Leistungsabweichungen verstanden, die von den Entscheidungsträgern nicht erwartet werden. Dabei gibt es zwar unterschiedliche Gründe für solche „Klüfte“ (Spandau 2002), aber sie alle sind in ihrer Konsequenz gleich: Sie fordern organisationales Lernen heraus. Organisationale Effektivität ist durch erfolgreiche Ziel- und Aufgabenerfüllung hinsichtlich Produktivität und Profit, Umweltanpassung und geringe Rollenkonflikte (keine Rollenambivalenz) gekennzeichnet (vgl. Duncan/Weiss 1979, 116 f.). Fehlende organisationale Anpassungsleistungen können in folgenden Punkten ausgemacht werden:
13
Damit beziehen sie sich auf Weick (1977) und die interpretative/kognitive Organisationsforschung.
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
31
Die Entscheidungsträger sind nicht fähig, Probleme zu antizipieren, bevor diese auftauchen. Ihre Prognosen hinsichtlich der Umwelt sind falsch. Schlüsselinformationen finden nicht ihren Eingang in den effektiven Entscheidungsprozess. Trotz richtiger Lageeinschätzung kann die Organisation keine geeigneten Maßnahmen ergreifen.
Hedberg (1981) betont indes die Auswirkungen extremer Umweltstabilitäten und -turbulenzen: Während sich die Umwelt kaum verändert, bleiben auch die Lernaktivitäten gering. Rapide wechselnde Umweltbedingungen etwa in Form zunehmender Komplexität, die auch die Zukunft nur noch schwer überschaubar machen, erschweren die Fähigkeit der Organisationen, Voraussagen zu treffen. Auswege bestehen nach Hedberg etwa in einer geringeren Anforderung an den Umgang mit der Informationsfülle oder in einer Selektion mit dem Ergebnis, dass die Informationsquantität und deren Veränderung überschaubar bleiben. Ideale Lernbedingungen liegen zwischen diesen Extremen (vgl. Hedberg 1981, 12 f., March/Olsen 1975, Fiol/Lyles 1985). Ähnlich diesem Spannungsfeld stellt sich für Hedberg auch die Gewogenheit der Umwelt gegenüber der Organisation dar („environmental benevolence or hostility“). So kann weder die „feindliche“ noch die „wohlgesonnene“ Umwelt das Lernen fördern. Zu umweltbedingten Problemen als Lernauslöser gehören aber auch Konkurrenten (vgl. Garvin 1993) und – bedingt – Krisen (vgl. z.B. Fyol/Lyles 1985). Allerdings hält die Umwelt nicht nur Probleme als „trigger“ bereit. Sie spielt bei der Strategiebildung eine Rolle (Dierkes 1992, Berthoin Antal/Dierkes/Hähner 1994, Berthoin Antal/Dierkes/Marz 1998, Berthoin Antal/Dierkes/Marz 1999, Hedberg/Wolff 2003, Galer/van der Heijden 2003) und sie kann bei Lernauslösern in Form von sozioökonomischen Verhältnissen (Rosenstiel/Koch 2003), sozialen Bewegungen und Interessensverbänden (Kädtler 2003) oder als Lernanlass im Rahmen von Transformationsprozessen bestimmter Länder (Merkens/Geppert/Antal 2003) wirken.14 Auf die besonders für wirtschaftlich orientierte Organisationen wichtige Rolle der Umwelt durch Marktsignale weist Stopford (2003) hin, indes für wirtschaftlich-technisch orientierte Organisationen Technologievisionen hervorgehoben werden (vgl. Dierkes/ Marz/Teele 2003). Während sich einige Autoren mehr oder weniger genau darauf festlegen, dass es sich bei den Lernauslösern um Informationen der „external and internal environments“ (Daft/Huber 1987, 10) der Organisation handelt oder auf die 14
Vgl. dazu bezogen auf die Rüstungsindustrie auch v. Werder (1999), deren Arbeit jedoch nicht unter Organisationslernen firmiert.
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
„trends, events, competitors, marktes, and technological developments relevant to their survival“ verweisen (Daft/Weik 1984, 285), verzichten andere Autoren auf derartige Spezifikationen (vgl. Laßleben 2002, 101). Klimecki/Laßleben leiten aus solchen Unterschieden, bezogen auf die verschiedenen Erklärungen von Lernauslösern, ab, dass sie alle im Sinne Batesons (1994, 582) in „die Form eines ‚Unterschiedes, der einen Unterschied ausmacht’ gebracht werden können“ (Klimecki/Laßleben 1998, 78). Sie stellen insgesamt sieben Unterschiede als Lernauslöser fest (vgl. Tab. 1).15 Autor(en)
Auslöser
CangeloVL Dill (1965)
Spannungen
ArgyULV Schön (1978) Duncan/ Weiss (1979) Senge (1990)
Fehler Leistungs Ocken Visionen
Kim (1993)
Diskrepanzen zwischen individuellen und organisationalen mentalen Modellen Garvin (1993) Benchmarking Huff/Chappell Politische Pro(1994) zesse
Unterschiede
Unterschiede in Bezug auf in der Art und Weise, wie Handlungsmuster organisationale Gruppen der Gesamtorgazu Werke gehen nisation zwischen Erwartungen organisationale und Ergebnissen Handlungstheorie zwischen angestrebter und tatsächlicher Leistung zwischen angestrebtem und tatsächlichem Zustand einer Organisation zwischen individuellen und kollektiven Weltsichten
Wissensbasis intellektuelle Verfassung des Unternehmens organisational geteilte Wirklichkeitskonstruktionen
zwischen den Praktiken organisationale einer Organisation und Abläufe denen ihrer Konkurrenten zwischen Interessen Ziele einer Organisation
Tabelle 1: Lernauslöser nach Klimecki/Laßleben (1998, 78) 15
Vgl. auch Pautzke (1989, 118 ff.), der unter Bezugnahme auf Hedberg (1981) sechs Gruppen von Lernauslösern zusammenfasst: Probleme, Gelegenheiten, Personen, verständigungsorientiertes Handeln (Kamingespräche), Divergenzen und Bemühungen um Reflexion.
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
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Wenn Lernauslöser durch ein misfit zwischen Organisationsrealität und Organisationszielen begründet werden, ist unter der empirischen Perspektive der Fragestellung dieser Arbeit zu einem erheblichen Teil die Rolle der Umwelt (der Märkte) in diesem Spannungsfeld gemeint.16 Allerdings darf die Kritik an Duncan/Weiss (Schreyögg/Noss 1997, 70), dass „die enge Verknüpfung von Wissen und faktischem Erfolg viel zu kurz greift“ nicht ignoriert werden, da sonst Ansätze, die nicht unmittelbar in den Zusammenhang mit Erfolg zu bringen sind, nicht berücksichtigt werden können (z.B. Normen, Standards, Klassifikationen oder implizites Wissen, Experimentieren oder neugieriges Suchen) (vgl. auch Levitt/March 1988). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Organisationen aus Beobachtungen von Unterschieden lernen und dass dieses nur geschehen kann, wenn die Organisationen Unterscheidungen vornehmen. Diese prinzipiell systemtheoretischen Annahmen zeugen von einem organisationsindividuellen Verständnis, da die Auslöser organisationalen Lernens mit Unterscheidungen, also „Eigenfertigungen der Organisation“, verbunden sind (Klimecki/Laßleben 1998, 82) und gleichzeitig eine Abgrenzung von der Umwelt bedeuten. Die Umwelt kann als beeinflussender Lernfaktor und als wesentlicher - jedoch nicht einziger - Lernauslöser bezeichnet werden, auch weil organisationale Handlungen oft mit der Umwelt in rekursiver Beziehung stehen (z.B. durch Märkte) und von ihr „bewertet“ werden (z.B. in Form von Leistungslücken).17 Bewertungen dieser Art hängen immer auch von den organisationalen Kriterien der eigenen Leistungsanforderungen und damit vom Organisationsziel ab. Zusammen mit dem Umweltverständnis liegen damit Kriterien vor, die wesentliche Bestandteile einer Organisationsdefinition kennzeichnen, welche entscheidend für das Verständnis organisationaler Lernprozesse ist. Wenn in diesem Abschnitt die Rolle der Umwelt im Verständnis organisationalen Lernens ansatzweise dargestellt wurde, so geschah das einerseits, um ihre Bedeutung als Informationsgeberin und damit Bestandteil organisationaler Lernprozesse zu demonstrieren. Andererseits wurde an dieser Stelle auch die Chance ergriffen, verschiedene Lernauslöser zu benennen, da sie oft im Sinne der geforderten „nahtlosen“ Anpassung der Organisation an die Umwelt (Wahren 1996, 105) dazu verdichtet werden, sich in der Umwelt zu erschöpfen. Keineswegs darf hier der Eindruck hinterlassen werden darf, dass Organisationslernen nur mit Informationen aus der Umwelt funktioniert. Das Innenleben der Organisation 16 17
Dabei muss die Rolle von Unternehmensberatungen berücksichtigt werden. Nicht zuletzt sind diese selbst als „Wissensunternehmen“ existenziell auf organisationale Lernprozesse angewiesen (vgl. Kerlen 2003, 13). Der Beitrag von Duncan/Weiss (1979) erscheint als wichtiger Impuls für diese Arbeit, weil sie wesentliche Lernfaktoren besonders deutlich miteinander in Beziehung setzen.
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bietet dazu schließlich – nicht nur in der Struktur – viel zu viele Alternativen (vgl. Krebsbach-Gnath 1996, 44). 2.1.2 Die Struktur im Lernprozess Die Struktur spielt eine funktionale und lernprozessbezogene Rolle. Organisationstheoriegeschichtlich wurzelt die Strukturbedeutung vor allem im Situativen Ansatz. Als interdisziplinäres Beispiel kann in diesem Rahmen die Arbeit von Chandler (1962) gesehen werden.18 Er versucht, historische Phänomene der USamerikanischen Wirtschaftsentwicklung quasi in organisationssoziologische Zusammenhänge zu überführen, um mit einer These zu schließen: „structure follows strategy“. Chandler geht von folgenden Strategien der Unternehmen (hier wird ausdrücklich von Wirtschaftsunternehmen gesprochen) aus, denen die Strukturen folgen: 1) Wachstum 2) Strukturierung (nach Funktionsprinzip) 3) Expansion und 4) Restrukturierung (nach Produktprinzip). Der Situative Ansatz versucht, unterschiedliche strukturelle Einflussfaktoren wie etwa die Bedeutung der Größe (Caplow 1956, Rushing 1966), der Umwelt (Burns/Stalker 1961 und Lawrence/Lorsch 1967) sowie der Fertigungstechnik (Woodward 1958/1965) auf die Organisationseffizienz zu beziehen, erntet aber auch Kritik (vgl. Kieser 2006b, 231 ff. ):
18
Der Situative Ansatz erklärt nicht, wie eine Anpassung an die Situation erfolgt. Die Organisation hat keinen Einfluss auf die situativen Faktoren, denen sie ausgesetzt ist. Organisationen, die nicht über optimale Strukturen verfügen, werden nicht automatisch vom Markt selektiert. Es wird davon ausgegangen, dass das Management keine Wahl hat, sich der gegebenen Situation anzupassen, und nicht einmal in eingeschränktem Maße die Situation selbst beeinflussen kann. Der Situative Ansatz verschleiert die Ausübung von Macht in der Organisation.
Damals für neu und einzigartig empfunden, gibt es dennoch Anleihen bei Penrose (1959), die sich auch mit Unternehmen und deren Größe auseinandersetzt, aber nicht auf die Struktur eingeht. Chandler gilt als bedeutendster und einflussreichster Unternehmenshistoriker überhaupt. Zudem legt er eine der wenigen konzeptionellen Organisationsgeschichten vor (Freese 2000, 73, Berghoff 2004, 62). Chandlers Werke (1977, 1990, 2001) können daher auch in den Kontext organisationalen Lernens gestellt werden.
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
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Insgesamt wird ein akteurzentrierter Organisationswandel „von innen“ vernachlässigt.19 Daher gehen die verhaltenswissenschaftlich-situativen Ansätze von einer (gewissen) akteurzentrierten Handlungsmöglichkeit aus, wonach nicht allein die Anpassung an die Umwelt die Organisationsstruktur bestimmt. Vor dem Hintergrund dieser Struktur-Verhaltensbeziehung werden z.B. die Ansätze von Chandler (1962), Child (1972), Giddens (1976), Crozier/Friedberg (1979), Miles/Snow (1978) und Kubicek (1980) zum verhaltenswissenschaftlichsituativen Ansatz gezählt (vgl. Staehle 1999).20 Die Organisationsforschung hat sich umfangsreich mit dem funktionalen Einfluss der Struktur auf die Leistungsfähigkeit einer Organisation beschäftigt. Um zweckmäßige und möglichst effiziente Arbeitsabläufe zu gewährleisten, nutzen Organisationen zwei unterschiedliche Formen von Struktur. Während in der Ablauforganisation die Handlungsreihenfolgen einzelner Arbeitsschritte festgelegt werden, widmet sich die Aufbauorganisation als funktionale Organisationsstruktur der Stellen- und Rollenzuschreibung. In der Aufbauorganisation kann etwa zwischen Regionalisierung, Divisionalisierung, Matrixstrukturen und Projektmanagement-Strukturen unterschieden werden. Außerdem bestehen Zusammenhänge zwischen Struktur und Strategie, Umweltbedingungen und Technologie (vgl. aus Perspektive organisationalen Lernens: z.B. Sattelberger 1994, Geller 1996, Kremmel 1996). Wenn die Optimierung der Strukturen als ein entscheidender Faktor des organisationalen Erfolgs gilt, stehen Strukturen, deren Veränderungen und Aussagen über die organisationale Lernfähigkeit in engem Zusammenhang. Während langfristige Umweltstabilität als maßgebliche Determinante für eine Aufbauorganisation mit starrer Bürokratisierung gesehen wird, die sich innovationshemmend und wenig lernfördernd auswirkt, werden Flexibilisierungspotentiale in der Ablauforganisation gesehen (Fiol/Lyles 1985, 805, Reinhardt 1993, 108 ff.). Dabei finden verschiedene Phänomene Berücksichtigung, die als „organizational slack“, „Redundanz“ oder „lose Kopplung“ bezeichnet werden (vgl. Staehle 1991). Der auf Cyert/March (1956) zurückzuführende „organizational slack“ beschreibt den Überschuss organisationaler Kapazitäten, die zwar unökonomisch erscheinen, sich aber hinsichtlich der Veränderungsfähigkeit (z.B. durch ausrei19
20
„Im klassischen situativen Ansatz wird (...) von einer einseitigen Einflußbeziehung zwischen Situationsvariablen (Kontextfaktoren) und Dimensionen der Organisationsstrukturen ausgegangen. Unter Effizienzgesichtspunkten verbleibt nur eine situationsgerechte Gestaltungsalternative; das bedeutet, organisatorische Strukturentscheidungen reduzieren sich auf ein bloßes Anpassungshandeln an externe und interne Umweltgegebenheiten“ (Staehle 1999, 51; Hervorh. im Orig.). An Zuordnungen Chandlers zum Situativen Ansatz (Freese 2000), zum verhaltenswissenschaftlich-situativen Ansatz (Staehle 1999) und zum Organisationslernen (Fiol/Lyles 1985) wird die Problematik von Zuschreibungen organisationstheoretischer Ansätze deutlich (vgl. 2.1.).
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chende Zeitreserven) positiv auswirken können. Mit dem Begriff der „Redundanz“ wird die doppelte oder mehrfache Nutzung von organisationalen Einheiten bezeichnet, die zwar ebenso wie bei dem Phänomen des „organizational slack“ kostspielig sein mag, aber auch zu Innovation, Kreativität und sicheren Ergebnissen führen kann, da entweder ein Wettbewerb zwischen den Einheiten stattfinden kann oder das Versagen einer Einheit nicht zum totalen (Teil-)Ausfall führt. Auch „lose Kopplungen“ (Weick 1976) bergen Vorteile und sind, im Gegensatz zu den erstgenannten Erscheinungen, nicht unwirtschaftlich. Sie beschreiben Subsysteme, die weniger starr in Strukturen eingezwängt sind und durch die so erreichte Flexibilität Störungen und Fehler abmildern können. Obwohl man von einem strukturellen Setting ausgehen kann, welches auf verschiedene Art und Weise eine Organisation prägt (z.B. Mintzberg 1983: strategische Spitze, mittleres Linienmanagement, operativer Kern, unterstützende Einheiten und Technostruktur), kann, entsprechend den Erkenntnissen des Situativen Ansatzes, grundsätzlich kein optimaler Strukturtyp für eine leistungsfähige Organisation ausgemacht werden. Duncan/Weiss (1979) stellen funktionale und dezentrale Organisationsformen gegenüber. Effektive Organisationsstrukturen lassen sich an erfolgreicher Verwirklichung der Organisationsziele, gelungenen Anpassungen an die Umwelt und deren Veränderungen sowie an klar definierten Rollen der Organisationsmitglieder ablesen (vgl. Duncan/Weiss 1979, 106, 116). Um flexibel reagieren zu können, brauchen Organisationen verschiedene Entscheidungsstrukturen, da diese Einfluss auf organisationale Lernprozesse haben. Während starre Strukturen weniger Änderungen ermöglichen, sind organische, dezentralere Strukturen eher in der Lage, Glaubensgrundsätze und Handlungsweisen zu verändern. Wie sich Organisationen genau an die Umwelt anpassen wird im Situativen Ansatz nicht erklärt. Duncan/Weiss, die deutliche Impulse aus dem Situativen Ansatz beziehen, verweisen auf die Rolle der Strategie, wie Chandler sie behandelt: „Strategy leads to the design of the organization“ (Duncan/Weiss 1979, 77, vgl. auch Walsh/Ungson 1991). Sie heben die integrative Funktion der Struktur hervor, wenn sie feststellen: „A most useful way to conceptualize organization structure is from an information processing view. The key charecteristic of the structure of the organization is that it links the various elements of the organization through the transformation of information. The structure of the organization provides the channels of communication through which information flows in the organization” (Duncan/Weiss 1979, 105, vgl. auch Brown/Duguid 1991, 54).
Komplexität entfaltet dieser integrative Aspekt in seiner Ambivalenz hinsichtlich formaler und informeller Struktur. Brown/Duguid (1991) verweisen dabei auf
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die Bedeutung von „communities of practise“. Sie wollen zeigen, dass Arbeiten, Lernen und Innovation keinen Widerspruch darstellen. Lerntheorien widmeten sich allerdings kaum dem Lernumfeld und seien zu oft von der Praxis getrennt. In der Regel gebe es daher auch kein Verständnis für eine abweichende Praxis (vgl. Brown/Duguid 1991, 40 f.). Die Komplexität der konkreten Arbeit muss folglich verstanden werden, um Innovationen zu ermöglichen, da letztlich die gegenwärtige Praxis über den Organisationserfolg bestimmt, die ihrerseits formal eingebettet ist. Dabei unterscheiden die Autoren zwischen kanonialer und nichtkanonialer Praxis: offiziellen („taskforces“/„trainees“) und inoffiziellen Gruppen und Gemeinschaften („communities of practise“). Da Arbeitsbeschreibungen eher hinderlich sind, kompensieren „narrations“ der „communities of practise“ Unsicherheiten, die durch Lücken zwischen Arbeitsanweisungen und Praxis entstehen. „Communities of practise“ zeigen sich in ihrem Kooperationsgeflecht („collaborations“). Die soziale Konstruktion basiert auf Integrationsfunktionen und einem gemeinsamen Praxisverständnis, so dass organisationale Identitäten ermöglicht werden („becoming a member“, „community of interpretation“). Zugehörigkeit erlangen deren Mitglieder, wenn sie sich als „insider“ fühlen können. Diese freien Gruppen bilden sich selbst, sind schwer bestimmbar, werden allerdings als erfolgreiche Lerneinheiten gesehen. Durch Restrukturierungen können sie besonders gut ausgemacht, aber auch bewusst oder unbewusst zerstört werden. Der Ansatz der „communities of practise“ will formale Strukturen nicht in Abrede stellen, sondern dazu anregen, diese zu verbessern, so dass sie weniger formal und eher praxisorientiert sind. Organisationslernen kann strukturell unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt sein. Dabei ist es möglich, dass Struktur organisationales Lernen prägt und umgekehrt. Dierkes (1994) weist auf Lernstrukturen hin, die speziell für organisationale Lernprozesse geschaffen wurden, indem die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen absichtlich von der Produktion getrennt wurden. Eine Studie zum Organisationslernen deutscher Unternehmen konnte nachweisen, dass sowohl flach als auch stark hierarchisierte Unternehmen mit turbulenten Umweltveränderungen durch Lernprozesse erfolgreich zurecht kommen konnten (vgl. Dierkes/Raske 1994). Theoretisch liegen ähnlich dem Systemverständnis im Rahmen des Lernfaktors Umwelt auch dem Strukturbegriff unterschiedliche Vorstellungen zugrunde. Duncan/Weiss sehen zwei Aspekte, wenn sie von Strukturen sprechen: „The objective of the kind of organization structure that is implemented is twofold: (1) to generate information for decision making that reduces uncertainty, and (2) to generate information that will help coordinate the diverse parts of the organization.” (Duncan/Weiss 1979, 105).
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Insgesamt kann die Struktur funktional und theoretisch unterschiedlich betrachtet werden. Dabei lassen sich formale und nicht-formale Struktur (z.B. Hill/Fehlbaum/Ulrich 1994, 1998), konstruktivistisch (vgl. etwa Klimecki/Laßleben/ Riexinger-Li, 1994), systemtheoretische (vgl. z.B. Luhmann 1984), sowie strukturationstheoretische Perspektiven (vgl. Giddens 2008) ausmachen. Es ist fraglich, inwiefern Strukturen nur durch Lernen verändert werden oder inwieweit sie Lernen prägen und somit eine Rekursivität zwischen organisationalem Lernen und Struktur vorliegt. Die Organisationsstruktur stellt, ebenso wie die Umwelt, nur einen Lernfaktor dar und kann infolge dessen nicht allein für Organisationslernen verantwortlich gemacht werden. 2.1.3 Die Bedeutung der Strategie im Lernprozess Funktional und unabhängig von Entscheidungstheorien haben Strategien in der Geschichte der Organisationen schon immer eine Rolle gespielt (z.B. beim Militär). Für die Strategieforschung können wichtige Eigenschaften des Strategieverständnisses von Unternehmen zusammengefasst werden (vgl. Kremmel 1996, 72 f.): Es hat einen instrumentalen Charakter, indem Strategien eingesetzt werden, um übergeordnete Ziele zu erreichen und geht von einem entscheidenden Einfluss der Strategien auf die Unternehmensentwicklung aus. Außerdem befinden sich Unternehmensstrategien im Austausch mit der Umwelt (etwa durch Anpassungsstrategien), geben etwas über die Art und Weise der Einschätzung des Unternehmenspotenzials zur Zielerreichung preis sowie über die allgemein angestrebte Entwicklungsrichtung (durch zu konkretisierende operative Maßnamen). Ziel ist es, Erfolgspotenziale zu erschließen bzw. zu verteidigen, indem Wettbewerbsvorteile aufgebaut werden. Weitere Komponenten jeder Strategie werden in der Analyse der strategischen Ausgangssituation, der Bestimmung der zukünftigen Stellung des Unternehmens in der Umwelt, der Auswahl der Technologien und der Entwicklung der Fähigkeiten und Ressourcen zur Schaffung von Wettbewerbsvorteilen sowie der Definition von Kriterien und Standards gesehen. Diese sind kommunizierbar und messen den Strategieerfolg samt der erwarteten Zielerfüllungsgrade (vgl. zum Strategieerfolg: Paine/Anderson 1977). Auch in der Literatur zum Organisationslernen finden sich viele Beispiele für eine entsprechende Thematisierung strategischer Aspekte (z.B. Argyris/ Schön 1978, Duncan/Weiss 1979, Sitkin 1992, Sattelberger 1994). Bei der Behandlung des Strategieaspekts spielen die Wahlmöglichkeiten eine Rolle, wie sie der verhaltenswissenschaftlich-situative Ansatz propagiert. Der Begriff der „strategischen Wahl“ wurde maßgeblich von Child (1972) geprägt. In den Mittelpunkt des Interesses rückt dabei nicht nur die Frage, welche Rolle Organisati-
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onsstrukturen spielen, sondern die Problematisierung wie organisationale Strukturveränderungen erklärt werden können. Die Ursprünge von Childs Theorie finden sich bei Cyert/March (1963). Sie behandeln „(e)ine verhaltenswissenschaftliche Theorie der Unternehmung“, in der sie eine andere Erklärung für organisationales Verhalten finden als es etwa die neoklassische Ökonomik vermag.21 Die Autoren gehen von vier Einflussfaktoren aus, die organisationale Ziele, organisationale Erwartungen, organisationale Wahlakte und organisationale Kontrolle umfassen. Organisationale Wahlakte basieren auf einem koalitionstheoretischen Modell, nach dem die Organisation lediglich „Quasi-Lösungen“ (Metz 2000, 95) erreicht. Diese Koalitionskonzeption hat einige Vorteile (Scott 1986, 353): „ - Sie krankt nicht an dem Problem der Konkretiation: Individuen und Gruppen haben Interessen, und der Prozeß, in dem diese Interessen und Präferenzen in die Organisation ein- und auf sie übergehen, wird genau spezifiziert. - Obwohl es Individuen sein können, die die Ziele der Organisation benennen, wird weder behauptet, daß sie es als Gleiche tun, noch wird davon ausgegangen, die einzelnen Beteiligten hätten gemeinsame Ziele. - Obwohl Individuen der Organisation Ziele vorgeben, ist ein einzelner in aller Regel nicht mächtig genug, um die Ziele der Organisation umfassend zu bestimmen; das heißt, die Ziele der Organisation sind von den Zielen des je einzelnen Organisationsmitglieds verschieden. - Die Existenz unterschiedlicher Interessen auf seiten der Organisationsmitglieder findet die gebührende Beachtung; einige dieser Differenzen lassen sich durch Verhandlungen auflösen, aber eben nicht alle, so daß es jederzeit konfligierende Ziele geben kann. - Es wird in Rechnung gestellt, daß Umfang und Zusammensetzung der dominanten Koalition von einer Organisation zur anderen, aber auch innerhalb ein und derselben Organisation im Lauf der Zeit variieren können.“
Childs Überlegungen zur Veränderung der Strategie, die durch Chandler (1962) beeinflusst wurden, basieren auf einer „dominanten“ oder „dominierenden Koalition“. Dabei muss diese nicht automatisch mit den Repräsentanten einer Organisation gleichgesetzt sein: „First the term dominant coalition does not necessarily identify the formaly designated holders of authority in an organization; rather it refers to those who collectively happen to hold most power over a particular period of time“ (Child 1972, 13).
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Cyert/March führen die Arbeit von Simon (1955) fort, der als Vertreter des Ansatzes der „bounded rationality“ den organisationalen Entscheidungsprozess untersucht hat und die organisationale Rationalität über den begrenzten Entscheidungshorizont des Individuums stellt.
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Innerhalb der dominanten Koalition, die aus einer bestimmten Gruppe von Entscheidern besteht, können drei Schritte von Gestaltungsentscheidungen ausgemacht werden: „Zuerst bewerten sie die Situation, in der sich die Organisation befindet, wobei sie u.a. berücksichtigen: Erwartungen wichtiger Ressourcenlieferanten (Kapitaleigner, Kreditgeber, Mitarbeiter usw.), Umweltveränderungen, bisher gültige Gestaltungsphilosophien (da sie abrupte Brüche vermeiden wollen) und situative Faktoren. In einem zweiten Schritt legen sie, ausgehend von dieser Lagebeurteilung, externe Strategien fest. Ziel externer Strategien ist es, durch Beeinflussung der Umwelt die Markteffizienz zu steigern. In einem dritten Schritt werden dann interne Strategien bestimmt, die Aktionsparameter der Organisation wie Größe, Technik, HumanRessourcen und die Organisationsstruktur umfassen und auf einer Erhöhung der Effizienz der Organisation abstellen“ (Kieser 2006b, 239, Hervorh. M.H.).22
Die Vorteile dieser Überlegungen bestehen darin, den Schwächen des klassischen Situativen Ansatzes entgegenzutreten. Child wird daher als Vertreter eines Neokontingenz-Ansatzes gesehen, der die Schwächen der Kontingenztheorien abzumildern versucht (vgl. Kieser 2006b, 239). Danach kann die Organisation eine bestimmte Zeit ohne ein Initiative ergreifendes Management auskommen und wird nicht sofort selektiert, also vom Markt verdrängt. Eine eventuell erst nötige Bildung einer dominanten Koalition kann stattfinden. Die dominante Koalition wird als Organ angesehen, welches sehr wohl imstande ist, den situativen Faktoren etwas entgegenzusetzen, indem es nicht nur interne, sondern auch externe Strategien festlegt und umsetzen kann. Damit werden Erklärungsmuster vertreten, die einen Fortschritt gegenüber dem Situativen Ansatz darstellen, der das Eingriffspotenzial von Entscheidern innerhalb der Organisation kaum thematisiert (vgl. Kieser 2006b, Preisendörfer 2008). 23 Mit der Instanz einer dominanten Koalition werden nicht nur die Absender einer Anpassung der Organisationsstruktur an die Situation genannt. Die Annahme, dass die Haupteigenschaft der Managementgruppe darin besteht, dominant zu sein, berücksichtigt darüber hinaus die Existenz von Macht in Organisa22
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Auch Duncan/Weiss nutzen das Modell der dominanten Koalition. Sie beziehen sich auf Thompson (1967) und beschreiben dominante Koalitionen wie folgt: „The dominant coalition represents those organizational members who at any point in time have the power to influence the strategies, goals, and design of the organization.” (Duncan/Weiss 1979, 77). Allerdings ist die Anpassung an die Umwelt mittels einer geeigneten Struktur allein noch Erfolgsgrund. Haben die Entscheidungsträger nicht die richtigen Schlüsse aus den Umwelteinflüssen gezogen oder haben sie gar im Sinne eines evolutiven Prozesses schlicht erfolgversprechende Strukturen anderer Organisationen adaptiert und letztlich die eigentlichen Wirkmechanismen und Zusammenhänge zwischen Organisation und Umwelt nicht verstanden, kann nicht von organisationalem Lernen die Rede sein (vgl. Duncan/Weiss 1979, 103 f.).
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tionen und reagiert damit auf einen weiteren wesentlichen Missstand des klassischen Situativen Ansatzes: Sie berührt zugleich das Problem innerorganisationaler Interessensvertretungen und damit das Feld der Mikropolitik. Wenn auch der wesentliche Vorteil der strategischen Wahl durch eine dominante Koalition nach Child darin besteht, vorhandene mikropolitische Prozesse zur Kenntnis zu nehmen, so wird zugleich die Kritik geäußert, deren Ergebnisse nicht genügend erklären zu können. So werden zwar Fortschritte in der Weiterentwicklung des Ansatzes von Child bei Montanari (1979) gesehen, aber erst durch Paine/Anderson (1977) Einflussfaktoren thematisiert wie z.B. die Wahrnehmungsfähigkeit der Umweltunsicherheit (vgl. Breilmann 1990, 112 ff.). Duncan/Weiss (1979, 102) sehen drei wesentliche Gründe für die Anwendung von Strategien: eine wechselnde und unsichere Umwelt, das Bedürfnis nach Stabilität seitens der operierenden Organisation sowie die Vermittlung zwischen diesen beiden Polen durch das Management. Sie betonen vor allem die Struktur-Komponente in ihrem Strategie-Verständnis (Duncan/Weiss 1979, 105): „Strategy as we view it here then focuses on how organizations carry out their activities through the design of structure.” Derartige Eingriffsmöglichkeiten interessieren besonders die Autoren normativer Ansätze (z.B. Sattelberger 1994). Geller weist im Zusammenhang strategischer Führung darauf hin, „daß sowohl Perzeptionen und Präferenzen der Träger des strategischen Managements als auch die Organisationsstrukturen die strategische Wahl und deren Realisierung steuern“ (Geller 1996, 23, Hervorh. im Orig.). Ebenso wie sich die Struktur in einem Beziehungsgefüge zwischen Strategie, Umweltbedingungen und Technologie befindet, kann ein ähnlicher Komplex auch für die Strategie gelten. So wird z.B. das Verhältnis zwischen Strategie, Struktur und Kultur als Dreieck dargestellt (vgl. Merkens/Schmidt/Dürr 1990, Sattelberger 1994). An anderer Stelle wird untersucht, wie sich Führung und turbulente Umwelt auf die Strategiebildung auswirken (Hedberg/Wolff, 2003, zu Marktsignalen: Stopford 2003) oder in welchem Verhältnis Strategie und Unternehmenskultur stehen (z.B. Hofbauer 1991). Außerdem sind die Funktionen von Leitbildern zu berücksichtigen, die grundsätzlich Strategie-ähnliche Absichten verfolgen, allerdings schwächer in Konkretion und Führungsanspruch sind. Auch in diesem Verständnis gelten Beziehungsgefüge wie für die Organisationsstrategie. So wird z.B. das Verhältnis zwischen leitbildzentriertem Organisationslernen und technischem Wandel behandelt (vgl. Dierkes/Marz 1998). Zudem wirken sich Visionen auf organisationale Lernprozesse aus (vgl. Senge 1990, zu technischen Entwicklungen und Visionen: Dierkes/Marz/Teele 2003). Die Vielschichtigkeit des Lernfaktors „Strategie“ zeigt, ähnlich wie bei der „Struktur“, dass Lernfaktoren einen statischen und einen dynamischen Charakter
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aufweisen können und einen rekursiven Charakter mit funktionalen und lernprozessbezogene Eigenschaften besitzen. So erfolgt die Formulierung strategischer Probleme in Prozessen, in denen individuelle Perspektiven diskursiv in organisationale Entscheidungen übergehen (vgl. Lyles 1981). Die strategische Haltung bestimmt zu einem gewissen Grad („aktiv“) das organisationale Lernvermögen, die Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt, so dass deren Veränderungen sich als weitreichende Umwälzungen ganzer Strategien darstellen können (vgl. Fiol/Lyles 1985, 805). Andererseits wird die („passive“) organisationale Ausrichtung an der Umwelt, um sich im Wettbewerb zu behaupten und das Überleben der Organisation zu sichern, an strategischem Verhalten festgemacht, was als eine der wenigen Übereinstimmungen auf dem Feld organisationalen Lernens gesehen wird (vgl. Fiol/Lyles 1985, 804). Der Lernfaktor Strategie ist für die Organisation von funktionaler Bedeutung und spielt als beeinflussender wie auch als beeinflusster Lernfaktor eine Rolle. Daher sind eindeutige Richtungszuweisungen (vgl. z.B. Chandler 1962 hinsichtlich der Struktur) zu hinterfragen. Die Strategie ist als rekursiver Lernfaktor in unterschiedlichen Bezügen verortet. Als ein bedeutender Komplementärfaktor kann die Umwelt angesehen werden. Veränderungen der Strategie machen organisationale Lern-Prozesse besonders bedeutend: Sie stehen für grundlegende Neueinsichten der Organisation und beeinflussen sie basal und auf die Zukunft gerichtet. Strategien weisen einen zeitlichen Bezug auf. Im Rahmen der Vorstellung von einer dominanten Koalition als Durchsetzungsmacht strategischer Entscheidungen muss die Rolle eines weiteren Lernfaktors in den Blick genommen werden: die Akteure. 2.1.4 Die Macht der Akteure im Entscheidungsprozess Da bereits aus dem bisher angedeuteten Komplex der unterschiedlichen Lernfaktoren Begriffe und Beziehungsgefüge z.T. nur andeutungsweise dargestellt werden konnten, müssen sie an dieser Stelle ergänzt und erweitert werden.24 Allen gemein ist die zunächst vielleicht banal erscheinende Vorstellung, dass sich hinter diesen Aspekten, zentralen Handlungseinheiten und Funktionen Menschen verbergen. So wird auch in dieser Arbeit die Handlung in den Mittelpunkt gestellt und mit dem Begriff des Akteurs operiert, wenngleich betont werden muss, dass es sich dabei nicht nur um das Organisationsindividuum handeln muss (in-
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Um das komplexe Beziehungsgefüge organisationalen Lernens anhand von Lernfaktoren weiterhin einigermaßen freilegen zu können, wird an dieser Stelle, entgegen den vorigen Kapiteln, in der Darstellung auf den Lernaspekt bewusst verzichtet (vgl. aber 2.1.5.3/2.1.5.4).
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dividueller Akteur), sondern auch intraorganisationale Einheiten, aber auch ganze Organisationen gemeint sein können (kollektive Akteure).25 Dass Akteure Einfluss auf den organisationalen Entscheidungsprozess haben, wurde im Zusammenhang mit der Interpretation der Umwelt und anhand der Strategie bereits deutlich. Im Mittelpunkt stehen dabei proaktive Akteure, die Ausgangspunkte entscheidender organisationaler Handlungen (z.B. die Interpretationsbereitschaft bei Daft/Weick 1984) darstellen. Dabei bestimmen größtenteils deren interne Beziehungen diesen Lernfaktor (vgl. Wilkesmann 1999). Dessen strukturbedingter Einfluss wird an den organisationalen Beziehungen, die sich in formalen und informellen Strukturen ausdrücken, deutlich. Innerhalb dieser Beziehungen ist also von einem „Faktoren-internen Faktor“ auszugehen: Macht.26 Mit der „dominanten Koalition“ wird ein Regelpostulat aufgestellt, das wesentlich zum Verständnis dieses Faktors beiträgt. Childs Ansatz (1972) bewegt sich also im Bereich von Organisation und Macht und überschneidet sich im Rahmen der verhaltenswissenschaftlichen Ansätze mit dem Forschungsfeld der Mikropolitik, das im englischsprachigen Raum von Burns (1961/62), Pettigrew (1973) und March/Olsen (1975/1976) begründet wurde, bevor es mehr als zehn Jahre später auch in Deutschland eröffnet wurde (Bosetzky 1972). Die neueren mikropolitischen Ansätze gehen von Akteuren aus, die sich in ihrer Organisation aktiv handelnd – jedoch nur begrenzt rational – bewegen. Damit bauen sie diesen Aspekt organisationstheoretisch gründlich aus. Crozier/Friedberg beschreiben in „Macht und Organisation“ (1979) „Zwänge kollektiven Handelns“ und stellen - hier für diesen Lernfaktor exemplarisch einen wichtigen Beitrag dar, da sie die Erklärungen, wie strategische und allgemein organisationale Entscheidungen beeinflusst werden, in besonderer Weise bereichern. Dabei gehen sie von einer begrenzten Rationalität der Organisationsmitglieder aus und beschreiben organisationales Verhalten als inperfekt. Schon durch ein Minimum an Freiheit und den damit verbundenen Spielräumen der Untergebenen muss die Organisation als offizielles System auf diese inoffiziellen Systeme reagieren. Menschliches Verhalten ist daher niemals berechenbar, sondern im Gegenteil immer kontingent (Crozier/Friedberg 1979, 27). Die Autoren erklären Unwägbarkeiten innerhalb akteurzentrierter Ansätze und stellen den Akteur der Formalorganisation gegenüber. Implizit ist damit allerdings 25
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Kollektive Akteure wiederum können formal organisiert sein (korporative Akteure, Organisationen) oder eben nicht: „Als wichtigste organisationsinterne Voraussetzungen können die Fähigkeit zur kollektiven Willensbildung und zur effektiven Steuerung des Handelns der eigenen Mitglieder gelten; hiervon hängt es ab, ob Handlungen der Organisation (statt einzelnen ihrer Mitglieder) zugeschrieben werden können“ Mayntz/Scharpf (1995, 50). Vgl. dazu allgemein z.B. Weber (1972), Parsons (1980), Popitz (1986).
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auch eine Kritik an Organisationstheorien geknüpft, die apriorischer Natur sind. Indes stellen sie die Verhaltensweisen der Akteure in Gruppen, deren unterschiedliche Ziele und Handlungsgelegenheiten im Sinne einer strategischen Situation heraus und damit die Dynamik der Prozesse (Crozier/Friedberg 1979, 28 ff.). Diese Welt der Entscheidungsmöglichkeiten richtet sich nicht gegen die (Formal-) Organisation, sondern spielt sich prozessartig in ihr ab. Crozier/Friedberg gehen von einem proaktiven Akteur aus und geben nur situationsbezogenen Reflexionen eine Chance. Dabei sehen sie eine wichtige Funktion in dem Begriff Strategie: „Der wichtigste Vorteil des Begriffs der Strategie liegt darin, daß er zur Überwindung dieser einseitigen Betrachtungsweise zwingt und diese auch ermöglicht. Während die von den Zielen der Akteure ausgehende Betrachtungsweise dazu tendiert, den Akteur von der Organisation, der er gegenübergestellt wird, zu isolieren, verlangt die auf dem Begriff der Strategie beruhende Denkweise, die Rationalität des Akteurs im organisatorischen Kontext zu suchen und das organisatorische Konstrukt im Erleben der Akteure zu verstehen“ (Crozier/Friedberg 1979, 34).
Um dieser Verstehenswelt einen passenden Begriff an die Seite zu stellen, wählen sie den des Spiels, da so die Dynamik der Macht in Organisationen zum Ausdruck kommen kann: „Die neue Problemstellung, die wir vorschlagen, beruht auf dem Spielbegriff. Es handelt sich dabei nicht um einen Wechsel des Vokabulars, sondern der Logik. Anstatt uns an eine Reihe wohlbestimmter Begriffe wie Struktur, Rolle, Person, zu halten, die die von uns als wesentlich erachteten Phänomene der Beziehungen und Verhandlungen, der Macht und gegenseitigen Abhängigkeit, nicht zu erfassen erlauben, konzentrieren wir uns auf die Integrationsmechanismen eben dieser Phänomene“ (Crozier/Friedberg 1979, 68, Hervorh. im Orig.).
Damit sehen sie die kollektiven Zwänge der Akteure nicht als einen organisationalen Determinismus an. Das Spiel „ist ein konkreter Mechanismus, mit dessen Hilfe die Menschen ihre Machtbeziehungen strukturieren und regulieren und sich doch dabei die Freiheit lassen. Das Spiel ist ein Instrument, das die Menschen entwickelt haben, um ihre Zusammenarbeit zu regeln. Es ist das wesentliche Instrument organisierten Handelns. Es vereint Freiheit und Zwang. Der Spieler bleibt frei, muß aber, wenn er gewinnen will, eine rationale Strategie verfolgen, die der Beschaffenheit des Spiels entspricht, und muß dessen Regeln beachten“ (Crozier/Friedberg 1979, 68).
Die Freiheit des Spiels wird durch vier Machttypen repräsentiert, die – auf die Organisation bezogen – „vier Ungewissheitsquellen“ bezeichnen: 1) funktionale
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Fähigkeit oder Spezialisierung, 2) Beziehungen zwischen der Organisation und ihrer Umwelt, 3) Kommunikation und die Informationsflüsse sowie 4) Benutzung organisationaler Regeln (Crozier/Friedberg 1979, 49 ff.). Machtstrukturen, die diese Typen erfassen, seien das eigentliche Organigramm einer Organisation. Allerdings sind diese organisationsinternen Machtgefüge nicht die einzigen im Zusammenhang mit einer Organisation. So sehen die Autoren auch die Beziehungen zur Organisationsumwelt als Macht und Tauschprozess an (Crozier/ Friedberg 1979, 94 ff.). Dabei spielt die Kultur eine wichtige Rolle zur Aufstellung normativer Lehrsätze. Crozier/Friedberg (1979, 14) verstehen ihre Konzeption letztlich als Grundlage jeder Organisationsanalyse: „Jede ernstzunehmende Analyse kollektiven Handelns muß also Macht in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als tagtägliche Politik. Macht ist ihr Rohstoff“. Anders formuliert: Macht ist Voraussetzung für Handlungsfähigkeit: „Man kann also sagen, daß die Ergebnisse unserer Analysen uns zu einer Umkehrung der Denkweise zwingen, weil wir nun davon ausgehen müssen, daß es kein soziales Handeln, keine kollektive Struktur ohne eine Freiheit der Akteure und daher auch ohne Machtbeziehungen gibt“ (Crozier/Friedberg 1979, 276).
Aus diesem Verständnis lässt sich nachvollziehen, warum dieser Ansatz nicht nur organisationssoziologisch neue Perspektiven eröffnet, sondern auch den Machtbegriff nicht (latent) negativ besetzt (vgl. etwa Bosetzky/Heinrich 1985, Mayes/Allen 1977, Mintzberg 1983) oder moralisiert (vgl. Gebert 1996, Lorson 1996): „Wille zur Macht ist nicht der Grund für Mikropolitik. Eine Blickweise die Macht als Motivation ansieht und versteht, greift ganz einfach zu kurz“ (Friedberg 2003, 99, vgl. auch Scholl 1995, 414). Weiter gehen indes Positionen, die von einer bewussten Nutzung des Rohstoffs Macht mikropolitischer Prozesse ausgehen: „Es kommt darauf an, Macht so zu verteilen, daß sie konstruktiv zur Erreichung eines gemeinsamen Unternehmenszieles gebündelt und gerichtet wird und damit zum vertraglich festgelegten Nutzen aller Organisationsmitglieder eingesetzt wird“ (Bornewasser 1997, 529). Als wesentlicher Beitrag von Crozier/Friedberg ist deren Abkehr von rein kontingenztheoretischen Modellen zu sehen. In Folge dieser „Basislektüre avancierter Organisationstheorie“ (Brentel 2000, 93), sind zahlreiche Folgearbeiten zur Mikropolitik in Organisationen erschienen (vgl. z.B. Becker/ Küpper/ Ortmann 1988, Ortmann et al. 1990, Neuberger 1995). Sie greifen dessen Modifikationen – etwa die von Child (1972) – auf und verändern damit die Forschungsper-
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spektive auf das Verhältnis zwischen Handlung/Entscheidung und Struktur/System (Küpper/Ortmann 1986). Kritiker betonen allerdings, dass Crozier/Friedberg die Organisationsstruktur bei den Machtverhältnissen kaum beachten würden und werfen ihrem mikropolitischen Ansatz ein „Sammelsurium wechselnder Kräfteverhältnisse“ vor (vgl. Alt 2001, 308). Dies allerdings liegt wohl in der Natur der Sache. Zudem werden allzu freie machtbezogene Spielräume über den Begriff der „Entscheidungskorridore“ relativiert. Danach begrenzen hohe interne und externe Barrieren organisationales Handeln (vgl. Ortmann et al 1990, 65). Der Lernfaktor „Akteur“ befindet sich durch Handlungen im Entscheidungsprozess besonders stark in rekursiven Bezügen. Ihn kennzeichnen Einflüsse z.B. auf Struktur, Strategie oder die Umwelt, aber auch faktoreninterne Beziehungen, was an der Komplexität von Macht-Spielen besonders deutlich wird. Das „Ausfransen“ der Akteure (z.B. bei Aufsichtsratsmitgliedern) hinsichtlich ihrer Organisationszugehörigkeit lässt außerdem erneut nach einer Organisationsdefinition und dem damit verbundenen Systemverständnis fragen. 2.1.5 Die Wissensbasis im Lernprozess 2.1.5.1 Die Vielfalt im Wissensverständnis Die Bedeutung des Lernfaktors Wissensbasis kommt schon dadurch zum Ausdruck, dass grundlegende Theorien zum Organisationslernen unter Bezeichnungen wie „wissensbasierte Ansätze“ firmieren.27 Dazu werden Duncan/Weiss (1979), Pautzke (1989), Huber (1991), Walsh/Ungson (1991), Pawlowsky (1992, 1994) und Nonaka (1994) gezählt (vgl. z.B. Wiegand 1996, Pawlowsky 2003, 70). Die Wissensbasis ist aus unterschiedlichen Quellen konstituiert und kann aus verschiedenen Gründen geändert werden, also über unterschiedliche Lernauslöser verfügen. Organisationales Wissen umfasst allgemein „die gesamte Breite jener Kenntnisse, Fähigkeiten und Sinnstrukturen, die Handeln und soziale Koordination im täglichen Miteinander überhaupt erst möglich machen, ohne jedoch unbedingt bewußt oder sprachlich formulierbar zu sein“ (Pautzke 1989, 64). Argyris/Schön (1978, 1990) sehen im Organisationslernen die Bildung von 27
Unterscheidungen der Ansätze zum organisationalen Lernen beziehen sich z.B. auf die Wissensperspektive, bzw. -transformation. So unterscheiden Klimecki/Thomae (1997) in Anlehnung an Shrivastava (1983) zwischen erfahrungsorientierten, informationsorientierten sowie wissens- und interpretationsorientierten Ansätzen.
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handlungsermöglichendem Wissen („actionable knowledge“). Dieses Wissen ist in einer allgemein in der Organisation vertretenen Handlungstheorie verankert, welche durch gemeinsame Grundannahmen der Organisationsmitglieder („assumption sharing“) zum Ausdruck gebracht werden. Für andere Autoren ist organisationales Wissen nicht als Aggregation des Wissens der beteiligten Individuen, sondern als Systemprozess vorstellbar. Die organisationale Wissensbasis kann daher nicht auf einzelne Personen reduziert werden (vgl. Schreyögg/Noss 1997, 73). Eine wichtige Voraussetzung für jegliches Organisationslernen wird in der Fähigkeit gesehen, dass Organisationen, um lernen zu können, über eine „absurptive capacity“ verfügen müssen, welche die Organisation in die Lage versetzt, neues Wissen aufnehmen zu können (Cohen/Levinthal 1990).28 Je stärker diese ausgeprägt ist, desto besser sind Organisationen in der Lage, zu lernen. Die Bewertungen der Ergebnisse sind in Organisationen jedoch negativer bzw. differenzierter als in der Wahrnehmung individueller Akteure (vgl. Levitt/March 1988). Hedberg (1981) rückt ähnlich Argyris/Schön (1978) die kognitiven Organisationssysteme in den Vordergrund, die sich in Mythen oder Interpretationsmustern äußern können. Dabei macht er deutlich, dass Individuen zwar in den organisationalen Lernprozess integriert sind, Organisationslernen jedoch nicht die Summe seiner Teile (sprich der Individuen) ist: „Although organizational learning occurs through individuals, it would be a mistake to conclude that organizational learning is nothing but the cumulative result of their members’ learning“ (Hedberg 1981, 6). In diesem Sinne funktionieren Organisationen als von den Mitgliedern unabhängige Entitäten, die einem Stimulus-Response basiertem Regelkreislauf entsprechen. An dieser Stelle wird wieder die Umwelt als Lernfaktor deutlich (vgl. 2.1.1). Sie übernimmt die Rolle der Stimuli. Für den Response-Effekt ist das „organizational memory“ zuständig, das über eine enorme Speicherfähigkeit verfügt, die organisationales Lernen vom Individuum unabhängig macht: „Members come and go, and leadership changes, but organizations’ memories preserve certain behaviours, mental maps, norms, and values over time“ (Hedberg 1981, 6, vgl. auch Fiol/Lyles 1985, 804)29. Die Komplexität dieser Speicherkraft beschäftigt viele Autoren mit unterschiedlichen Perspektiven.
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Walsh/Ungson (1991, 68 f.) sprechen von einer „supraindividuellen Kollektivität“. Durch den Prozess von Wissensteilung kann schnell reagiert werden: „schemata speed problem solving“. Levitt/March (1988) weisen dagegen darauf hin, dass organisationales Wissen örtlich gebunden, zeitlich und strukturell nur begrenzt haltbar ist. So kann Wissen durch veränderte räumliche Konditionen oder wechselnde Kompetenzen gefährdet werden.
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Walsh/Ungson (1991, 61 ff.) beschäftigen sich mit dem zeitlichen Aspekt der organisationalen Wissensbasis unter dem Begriff des Organisationsgedächtnisses. Es ist ein Konstrukt der Forschung, das Verhaltensweisen der Organisation rekonstruieren und erklären kann, die eigentlich nicht beobachtbar sind. Organisationen speichern demnach Wissen aus der Vergangenheit auch in Handlungsweisen („operation procedures“) und über Strukturen, Architektur oder Strategieorientierungen. Das Organisationsgedächtnis ist in fünf Behältern („bins“) gespeichert: Individuen, Kultur, Transformationen, Strukturen und physischer Struktur („ecology“). Dabei ist der Zugang zu diesem Wissen entscheidend. Der Wissensspeicher einer Organisation hat ähnliche Funktionen wie das Gedächtnis eines Individuums: Auch Organisationen interpretieren. Das Konstrukt des Organisationsgedächtnisses basiert auf dem Verständnis, dass Organisationen Informationen aufnehmen, strukturieren, speichern und abrufen und damit die entsprechenden Konsequenzen daraus ziehen können. Diese Transformationen speichern Wissen vom Input hin zum Output. Alles in allem ist das organisationale Gedächtnis dazu da, gespeicherte Informationen aus der Organisationsgeschichte an den Tag zu bringen und in gegenwärtige Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Es muss zwischen Informationen der Individuen und dem Organisationsgedächtnis unterschieden werden, da nach Vorstellung der Autoren das organisationale Gedächtnis über die gesamte Organisation verteilt ist. Theoretisch stehen alle Informationen für Entscheidungen zur Verfügung (vgl. auch Duncan/Weiss 1979). Dabei gibt es drei Funktionen eines Organisationsgedächtnisses: Informationsabgabe, Kontrolle und die politische Funktion als Machtverstärker (vgl. Walsh/Ungson 1991, 74). Die organisationale Wissensbasis speichert außerdem - etwa in Subkulturen - Widersprüche. Wenn die dominante Koalition keinen Erfolg hat, stechen diese Dissonanzen hervor (vgl. Levitt/March 1988, 328). Interpretationsmuster (Stories, „narrations“, Paradigmen oder andere Rahmungen) machen zentrale Elemente der „communities of practise“ aus und fungieren als „accumulated wisdom“, als Teil des organisationalen Wissens. Sie sind Überlieferungen, die das Wissen über die Arbeitsmaterie, die sozialen Netzwerke und spezifische Erlebnisse speichern (Brown/Duguid 1991, 44, vgl. auch Argyris/Schön 1978, Levit/March 1988). Huber stellt fest, dass Lernen nicht immer im Verhalten ersichtlich sein muss: „...an organization learns if any of its units acquires knowledge that it recognizes as potentially useful to the organization. A corollary assumption is that an organization learns something even if not every one of its components learns that something“ (Huber 1991, 89). Solche Einstellungen zum Organisationslernen ziehen ein derart offenes Lernverständnis nach sich, dass Wiegand es folgendermaßen verdeutlicht:
49
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
„Bemerkenswert ist, dass nach obiger Definition die Organisation bereits dann gelernt hat, wenn beispielsweise ein einzelnes Organisationsmitglied seine Fremdsprachenkenntnisse (privat) erweitert und diese der Organisation im Bedarfsfall zur Verfügung stellt“ (Wiegand, 1996, 242).
Huber verfolgt damit die offenste Konzeption, was den Umfang der Wissensbasis angeht. Das Potenzial organisationalen Wissens ist hierbei (theoretisch) maximiert und zugleich relativiert: „With respect to the idea that information distribution leads to more broadly based organizational learning, consider the fact that organizations often do not know what they know“ (Huber 1991, 100). Daher spielt für ihn der Umgang mit Wissen und Informationen eine besondere Rolle. Er differenziert den Wissensverarbeitungsprozess in „Knowledge Acquisition“, „Information Distribution“, „Information Interpretation“ sowie, zeit- bzw. geschichtsbezogen, „Organizational Memory“. REINFORCEMENT OF EXISTING KNOWLEDGE EXISTING KNOWLEDGE BASE OF THE ORGANIZATION CHANGE IN EXISTING KNOWLEDGE
SEARCH FOR ALTERNATIVE DESIGN KNOWLEDGE
YES PERFORMANCE GAPS
OBJECTIVE ENVIRONMENT
DOMAIN DEFINITIONS
Abbildung 1:
ENACTMENT OF THE ENVIRONMENT
STRATEGY FORMULATION
1 DEFINING THE TASK ENVIRONMENT 2 DEFINING THE STATE OF THE ENVIRONMENT
STRATEGIC CHOICES FOR ORGANIZATION DESIGN
ORGANIZATION DESIGN PROCESS
NO
ORGANIZATION STRUCTURE ENVIRONMENT FIT
Organisationslernen in der Vorstellung von Duncan/Weiss (1979, 98)
Interessant scheint aufgrund der Aspekte, die bislang bei den einzelnen Lernfaktoren herausgearbeitet werden konnten, wiederum die Wissensveränderung nach Duncan/Weiss (1979) zu sein (vgl. Abb. 1). Ein Grund dafür liegt darin, dass es sich dabei um eine direkte Weiterentwicklung von Childs Neokontingenzansatzes und in der dort vorgesehenen Rolle der dominanten Koalition handelt: Die strategische Wahl wird als Veränderung der Wissensbasis modifiziert. Für
50
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Duncan/Weiss (1979, 92) stehen die Handlungs-Ergebnis-Beziehungen im Vordergrund („performance gaps“, vgl. 2.1.1). Dabei wird berücksichtigt, dass sich die Entscheidungsträger das organisationale Wissen (schon aus quantitativen Gründen und jenen des Spezialisierungsgrads) nicht teilen müssen oder können (fragmentiertes Wissen). Sie verstehen unter organisationalem Wissen das der organisationalen Entscheidungsträger: „This [Das organisationale Wissen, M.H.] is definded here as that knowledge which is available to organizational decision makers and which is relevant to organizational activities.” (Duncan/Weiss 1979, 85). Duncan/Weiss konzipieren das organisationale Wissen nicht für alle organisationalen Entscheidungsträger. Größe der Organisation und Umfang des Wissens lassen eine solche Vorstellung für die Autoren unmöglich erscheinen. Sie sehen das organisationale Wissen eher als Speicher an, der auch von Spezialisten verschiedener Abteilungen gefüllt wird, wobei es dabei, ebenso wie bei Walsh/Ungson (1991), weniger auf Wissensbesitz als auf Wissenszugang und Wissensnutzung ankommt (Duncan/Weiss 1979, 86). Dabei bestimmen in erster Linie die Mitglieder der dominanten Koalition, ob eine Lücke zwischen tatsächlichen und beabsichtigten Leistungen der Organisation besteht. Duncan/Weiss unterscheiden individuelles (implizites) Wissen, organisationales (fragmentiertes) Wissen mit Entscheidungsrelevanz, die organisationale Wissensbasis und schließlich das Organisationsparadigma. Dabei räumen sie ein, dass nicht jede Organisation über ein organisationales Wissen in diesem Sinne verfügen muss. Für Organisationslernen ist entscheidend, dass das Gelernte auch auf individueller Ebene Vorteile bringt. Diese beschreiben sie als verändertes Wissen hinsichtlich organisationaler Handlungen (Duncan/Weiss 1979, 87, vgl. auch Levitt/ March 1988):
durch neue Ursache-Wirkungs-Prinzipien oder neue Begleitumstände, die die herkömmlichen Prinzipien bestätigen, durch neue Ursache-Wirkungs-Prinzipien, die alte Vorstellungen ablösen, durch Bestätigung der vorhandenen Erkenntnisse über solche Wirkungsmechanismen.
In diesem Zusammenhang gehen die Autoren davon aus, dass es organisationale Muster gibt, die sowohl über die Gepflogenheiten organisationaler Handlungsund Kommunikationsweisen Auskunft geben als auch darüber, was relevante und wichtige Fragen organisationalen Lernens sind (Duncan/Weiss 1979, 91). Zusammengefasst sieht nach Duncan/Weiss Organisationslernen folgendermaßen aus: Leistungslücken verdeutlichen eine Diskrepanz zwischen organisationalen Taten und den Erwartungen der Entscheidungsträger, so dass (einzel-
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
51
ne) Organisationsmitglieder Lösungsvorschläge erarbeiten, selbst dabei lernen und diese Erkenntnisse innerhalb der Organisation kommunizieren. Dabei unterscheiden die Autoren vier Quellen, aus denen heraus organisationales Wissen entsteht bzw. verändert wird:
formale empirische Methoden, individuelles Erfahrungslernen, „arm chair theorizing“; die deduktive Ableitung von Handlungs-ErgebnisRelationen aus individuellem Wissen, externe Wissensquellen (z.B. durch Unternehmensberater oder Forschungsinstitute).
Die Autoren weisen darauf hin, dass erst dann aus individuellem Wissen, wie es durch diese Quellen zunächst hervorgerufen wird, organisationales wird, wenn es organisationsöffentlich, kommunizierbar und im Sinne einer organisationalen Rechtfertigung akzeptiert wird (Duncan/Weiss 1979, 94).30 Auch Nonaka (1994) widmet sich diesem Aspekt des Organisationswissens. Ihn interessiert die Wissensgenerierung, die sich zwar aus der Organisation heraus, aber im Zusammenspiel mit der Umwelt von den Organisationsmitgliedern ausgehend, organisationsintern ausbreitet. Dabei wird zwischen individueninhärentem Wissen („implicit knowledge“) und allen Organisationsmitgliedern vermittelbarem Wissen („explicit knowledge“) unterschieden. Die organisationale Wissensbasis setzt sich aus explizitem Wissen zusammen. Die Wissensspirale durchläuft nun vier Bereiche, die in einer Vier-Felder-Matrix abgebildet werden können (vgl. Abb. 2). So „wandert“ das Wissen von dem ersten Feld (1 – Sozialisierung) im Austausch zweier Individuen, die ihr persönliches Wissen - den anderen unzugänglich - behandeln (also doppelt implizitem Wissen) in Richtung zweites Feld, der 2 – Externalisierung. Doppelt explizites Wissen hingegen, im Raum der Kommunikation der Organisationsmitglieder ausgetauscht, modifiziert und neu kombiniert, ist jedoch noch keine Wissenserweiterung, sondern lediglich ein Austausch. Damit ist für die Organisation noch nichts Neues entstanden. Lediglich hat ein Wissens-Verbreitungsvorgang stattgefunden. Wissenserweiternd ist erst der dritte Schritt in den Bereich der 3 – Kombination, also die Artikulation des 30
Organisationales Wissen kann in den Stand der organisationalen Wissensbasis nur dann aufgenommen werden, wenn zusätzlich ein innerorganisationaler Kommunikationsprozess möglich ist: „The overall knowledge base emerges out of this process of exchange, evaluation, and integration of knowledge. Like any organzational process, the only actors are individuals. But it ist a social process, one that is extraindividual. It is comprised of the interaction of individuals and not their isolated behaviour” (Duncan/Weiss, 1979, 89).
52
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
impliziten in explizites Wissen. Der/Ein Spiralkreis „schließt“ sich erst dann, wenn die explizierten Informationen vom Individuum internalisiert, sich zu Eigen gemacht werden (4 – Internalisierung). Tacit Knowledge
Tacit Knowledge
To
Explicit Knowledge
Socialization
Externalization
Internalization
Combination
From
Explicit Knowledge
Abbildung 2:
Modes of the Knowledge Creation (Nonaka 1994, 19)
Grundsätzlich entsteht neues Wissen dann, wenn durch Interaktionen des Topmanagements neue Idealziele und Visionen vermittelt werden, sich Mitarbeiter praktisch einbringen oder das mittlere Management zweckorientiert zwischen Visionen und Praxis agieren kann. Das Wissensverständnis weist unter dem Begriff „Organisationsgedächtnis“ ebenso wie der Lernfaktor „Strategie“ zeitliche Bezüge auf. Die erörterten Aspekte der Wissensbasis, die Generierung, Speicherung und Verteilung von Wissen sind wichtige jedoch völlig unterschiedliche Erklärungskomponenten bei der Antwort auf die Frage, ob und wie eine Organisation gelernt hat, gerade lernt oder wie sie noch lernen wird. Sie sind zudem nicht einheitlich konzipiert. Die Veränderung der Wissensbasis spielt insgesamt für organisationale Lernprozesse in Abhängigkeit der entsprechend gewählten OL-Definition eine wichtige Rolle. Folglich erfordert eine konsistente Erklärung organisationaler Lernprozesse auch eine schlüssige Konzeption hinsichtlich der organisationalen Wissensbasis.
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
53
2.1.5.2 Veränderung der Wissensbasis als Lernergebnis Fiol/Lyles (1985, 803) gehen davon aus, dass sowohl bei Individuen als auch bei Organisationen der Prozess, Handlungen durch umfangreicheres Wissen und Verständnis zu verbessern, als Lernen bezeichnet werden kann. Insgesamt kann zwischen verschiedenen Lernkriterien differenziert werden (vgl. Pautzke 1989, 108 ff., Reinhardt 1993, 46 ff.):
Veränderung von Wissen und Wissensstrukturen (Argyris/Schön 1978, Hedberg 1981, Kirsch 1988), Lernen aus Erfahrung/Adaption an die Umwelt (Simon 1953, Cyert/March 1963, Hedberg 1981), Erhöhung der Effizienz oder des Problemlösungspotentials (Duncan/Weiss 1979, Fiol/Lyles 1985) sowie Bildung/Veränderung formaler organisatorischer Systeme (Sedimentation von Wissen) (Jelinek 1979, Shrivastava 1983).
Allerdings muss Pautzke diese Unterscheidungen einschränken, indem er auf ein für OL typisches Phänomen hinweist: Meist werden die Ansätze parallel verfolgt (Pautzke 1989, 104, 107). Pautzke konzipiert die Wissensbasis in horizontaler Form. In seinem Schichtenmodell werden fünf Wissensformen nach ihrer organisationalen Zugänglichkeit gestaffelt, wobei auf der höchsten Stufe das von allen geteilte Wissen (1) verortet wird: der Organisation zugängliches individuelles Wissen (2), der Organisation nicht zugängliches individuelles Wissen (3), Wissen der Umwelt, über das ein Metawissen in der Organisation vorhanden ist (4) und Sonstiges kosmisches Wissen (5). Zusätzlich wird zwischen latentem und aktuellem Wissen unterschieden (Pautzke 1989, 79). Dieses „horizontale Schichtenmodell“, das Wissen nach „seiner unterschiedlich hohen Wahrscheinlichkeit der Aktualisierung in organisatorischen Entscheidungsprozessen ordnet“ (Pautzke 1989, 78), wendet sich gegen Abgrenzungen von Wissensschichten allein durch die Verfügbarkeit des Wissens (vgl. Wiegand 1996, 235). Im „vertikalen Schichtenmodell“ verfolgt Pautzke den Anspruch, zu erklären, warum bestimmtes Wissen, das der Organisation an sich zur Verfügung steht, nicht in den organisationalen Entscheidungsprozess involviert wird. Um zu erklären, wieso nicht sämtliches der Organisation zur Verfügung stehendes Wissens genutzt wird, greift Pautzke ähnlich wie Duncan/Weiss (1979) auf ein „Paradigma“ (Kuhn 1970) zurück, das „ein im Normalfall unwandelbares organisatorisches Weltbild fixiert“ (Pautzke 1989, 86). Damit konstituiert sich für ihn das in Schicht 1 von allen geteilte Wissen. Erst Wissen, das auf diese Weise als „le-
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
gitimes Wissen“ (vgl. Duncan/Weiss 1979) zu organisationalem Wissen wird, erhält die Möglichkeit in Entscheidungsprozesse einzudringen: „Wir verstehen deshalb im folgenden unter ‚verfügbarem Wissen’ immer ein Wissen, das sowohl zugänglich ist als auch im Einklang mit der organisatorischen Weltsicht steht“ (Pautzke 1989, 88).31 Zwar berücksichtigt Pautzke dabei auch den Machtkonflikt, der entsteht, wenn Wissen als Entscheidungsgrundlage dient, das nicht dem herrschenden Paradigma entspricht, überlässt dies jedoch empirischen Untersuchungen (ebd.). Eher geht es ihm um die Darstellung der Wissenstransformationen, die zwischen den einzelnen Schichten bestehen. Deshalb verbindet Pautzke nun auch das horizontale Schichtenmodell, das ja lediglich Wissensformen differenziert, mit dem Begriff „organisatorischen“ Lernens. Damit stellt er die „Transformation der organisatorischen Wissensbasis“ (Pautzke 1989, 112) in den Mittelpunkt, bei der in fünf Lernformen bestimmtes Wissen pro Schicht um mindestens eine Schicht „erhöht“ wird, so dass im Effekt jeweils Wissen organisational verfügbar wird. Obwohl durch turbulente Umwelten Organisationslernen nötig ist, sind oft nur Adaptionslernvorgänge feststellbar (Schein 1996). Hedberg (1981) geht auch dann von organisationalen Lernprozessen aus, wenn nichts verstanden wurde und lediglich Änderungen zu verzeichnen sind, obwohl organisationales Lernen noch weit mehr sei (vgl. Fiol/Lyles 1985, 805). Argyris/Schön (1996, 11) listen unterschiedliche Lernergebnisse auf. Diese können von Überlegungen zu Ursache und Wirkungsbeziehungen oder Zielvorstellungen und Strategien, wie diese zu erreichen sind, bis hin zu Auswertungen von Erfahrungen anderer Organisationen reichen. Entscheidend dabei ist, dass sich dadurch organisationale Verhaltensänderungen ergeben. Die Veränderung der organisationalen Wissensbasis ist demnach ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Unterscheidungskriterium zu anderen Theorien organisationalen Wandels. Duncan/Weiss (1979, 103) grenzen organisationales Lernen entsprechend von evolutionären Prozessen ab. Dabei betonen sie die Rolle von einem Verständnis der Ursache-Wirkungsbeziehungen. Während in evolutionären Prozessen die Anpassung der Organisationsstruktur als eher unreflektierte Adaption erfolgt und sich die Organisationen dann „durchwursteln“ („muddling through“), wissen Organisationen im Rahmen organisationaler Lernprozesse mehr, agieren bewusst(er) und letztlich nachhaltig(er).
31
Auch Levitt/March (1988, 329 ff.) befassen sich mit Wissensdiffusionen. Danach ist Wissen besser gespeichert, wenn eine höhere Nutzungsfrequenz vorliegt. Zugang und Gültigkeit des Wissens verbessern dessen Speicherfähigkeit.
55
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
2.1.5.3 Die Akteure als Lernträger Die Auseinandersetzung mit Lernprozessen stammt aus dem Bereich der Psychologie und beschäftigt sich ursprünglich mit individuellem Lernen (Bower/Hilgard 1983). Die Literatur zum organisationalen Lernen weist erhebliche Anleihen aus den Theorien zum individuellen Lernen auf (vgl. Hedberg 1981, 6). Dabei ist es bereits schwierig zu erklären, wie organisationales Verhalten eigentlich zustande kommt: „The interplay between individual, group, and organizational levels has been poorly described in the literature, and resaerch into the interactions between learning individuals and learning organzations is badly needed“ (Hedberg 1981, 7). Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Handlungsfeld zwischen Individuen und Organisationen aufspannen. Es wird davon ausgegangen, dass Lerninhalte zwischen Individuen und Organisation angesiedelt sind, die sich in organisationalen Routinen der Akteure befinden (vgl. Fiol/Lyles 1985, 804, Wiesenthal 1995, 138). Argyris/Schön (1996, 3 f.) unterscheiden dabei zwischen Lernenden, Lernprozess und Lernergebnis (vgl. Tab. 2). Lernender
Prozess
Ergebnis
Individuum
Individuum
Individuelles Lernen
Individuelle Gedächtnisveränderung
Interaktion
Gruppe als Agent
Interaktives Lernen
Gemeinsame Vorstellung
Organisation
Organisationales Agent
Organisationales Lernen
Artefakte/ Wissensbasis
Tabelle 2: Lernen in Organisationen (Miebach 2007, 157)32 Organisationales Lernen ist danach auf eine verbesserte Aufgabenerfüllung im Zeitablauf aus, was die Autoren als „instrumentelles Lernen“ bezeichnen. 32
Die Tabelle ergibt sich nach Miebach als Konsequenz der Unterteilungen von Argyris/Schön, wird aber von den Autoren in dieser Form nicht dargestellt.
56
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Gleichzeitig muss es klar zu definieren sein, damit eine Wiederholung, also ein erneuter Erfolg des Gelernten, überhaupt möglich ist und es muss einen Agenten, einen Lernträger geben, der die organisationalen Leistungen gezielt zu verbessern bereit und in der Lage ist. Im Folgenden sollen unter Lernträgern diejenigen Akteure bezeichnet werden, die als „Erstlernende“ den Ursprung organisationaler Lernprozesse bilden (vgl. Kremmel 1996, 120). In diesem Zusammenhang ergibt sich zunächst die Frage, wie Probleme definiert werden, bevor organisationale Lernprozesse ablaufen. Brisant erscheint hier, dass Modelle organisationalen Lernens noch um diese Phase zu erweitern sind. Kerlen (2003, 42) stellt dabei heraus, dass Problemdefinitionen als Prozess konzeptionalisiert werden müssen und sich im Zusammenspiel verschiedener Akteure unter Wahrnehmung und Ansprache von Problemen ergeben, an dessen Ende eine Einigung auf eine gemeinsame Problemsicht steht. Dabei erfolgt die Wahrnehmung der Probleme bzw. Leistungslücken (vgl. 2.1.1) auf individueller Ebene und wird unter dem Einfluss von Kulturen und Leitbildern organisational. Folgt man dieser Perspektive und wird organisationales Lernen insgesamt als Entscheidungsprozess verstanden, kann hier von einem (zudem noch kaum erschlossenen!) prozessinternen Entscheidungsprozess ausgegangen werden. Im organisationalen Lernprozess können drei Kategorien von Akteuren unterschieden werden: Führung, Gesamtorganisation und Berater (vgl. z.B. Argyris/Schön 1996, Krebsbach-Gnath 1996, Kerlen 2003). Akteure können jedoch noch stärker differenziert werden. So lässt sich die Führung in Einzelakteure (Geschäftsführer, Vorstandsassistent oder Gewerkschaftsfunktionär) und Gruppen (z.B. Aufsichtsrat) unterteilen.33 Ebenso sind Akteure als Individuen oder Gruppen in der Gesamtorganisation und bei den Beratern zu finden. Legt man das Akteurverständnis von Schimank (2002) zugrunde, kann zwischen individuellen, kollektiven und korporativen Akteuren unterschieden werden.34 Individuelle Akteure sind einzelne Organisationsmitglieder, die als Lernträger fungieren (vgl. March/Olsen 1975, 150, Duncan/Weiss 1979, 89, Kim 1993, 42 ff.). Überindividuelle Akteure verfolgen systematisch eine „übergreifende Zielsetzung“ und sind unterteilbar in kollektive Akteure (z.B. soziale Bewegungen und Kleingruppen), die ohne bindende Vereinbarung auskommen, jedoch über gemeinsame Deutungsmuster und Handlungsabstimmungen verfügen, und korporative Akteure, die sich eben besonders durch bindende Vereinbarungen auszeichnen (vgl. Schimank 2002, 308). Korporative Akteure sind über33 34
Gewerkschaftsfunktionäre fungieren etwa als Mitglied des Aufsichtsrats (vgl. zum Thema Gewerkschaften und Organisationslernen: Drinkuth/Riegler/Wolff 2003). Zur Rolle der Führung: Sadler (2003), zum Aufsichtsrat: Tainio/Lilja/Santalainen (2003). Der Vorteil dabei besteht darin, dass Individuen und Gruppen innerhalb der Organisation eine eindeutige Zuordnung erfahren.
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
57
wiegend formale Organisationen, können aber auch als Koalitionen verstanden werden, die den weniger weit entwickelten Typus des korporativen Akteurs darstellen (vgl. Schimank 2002, 306 ff.).35 Werden Korporative Akteure als Lernträger gesehen, lernt eine Organisation folglich dann, wenn alle Organisationsmitglieder als Lernträger bezeichnet werden (und z.B. über einen gemeinsamen Diskurs zu bestätigten oder veränderten Handlungstheorien führen) (z.B. Argyris/Schön 1978).36 Koalitionen, Gruppen innerhalb korporativer Akteure, können ebenfalls als organisationale Lernträger bezeichnet werden. Dabei kann zwischen elitären (z.B. Argyris/Schön 1978, Duncan/Weiss 1979,) und nicht elitären Gruppen/Koalitionen (z.B. Pautzke 1989, Brown/Duguid 1991) unterschieden werden. Als Träger organisationalen Lernens gelten also auch einzelne Gruppierungen, die über kontextspezifisches Wissen verfügen, das in Subsystemen und Subkulturen gespeichert ist.37 Berücksichtigt man die bereits angesprochenen Entscheidungsprozesse im organisationalen Lernprozess, wie sie durch die dominante Koalition konturiert ist, darf die Berücksichtigung von Quasi-Gruppen nicht fehlen: Diese können z.B. durch Oppositionen, typischer noch „Dritten“ bestehen und sind „keine handlungsfähigen Akteure, jedoch oft Adressaten gezielter Steuerungsversuche“ (Mayntz/Scharpf 1995, 51).38 Obwohl oder weil sich die Vorstellungen als differenzierend darstellen, ist es insgesamt nicht möglich, eine allgemeingültige Einigung darüber zu finden, wer denn „eigentlich“ lernt bzw. wie individuelle und organisationale Interaktionen aussehen müssen, wenn von organisationalem Lernen gesprochen wird. Diese Frage versucht Kim (1993) zu beantworten und verknüpft individuelles Lernen mit organisationalem, indem er kognitive Strukturen und Handlungen als Medien von Lernprozessen begreift. Dabei verfügen sowohl Individuen über handlungsleitende Vorstellungen („Individual Mental Models“) wie auch Organisationen („Shared Mental Modells“). Beide Modelle verfügen über Rahmun35 36
37 38
Pawlowskys Lernebenen sehen zusätzlich Netzwerke vor (Pawlowsky 2003, Pawlowsky/Geppert 2005). Eine ähnlich Rolle spielen interorganisationale Lernprozesse. Vgl. dazu kritisch Kremmel (1996, 123 ff.). Wiegand (1996 424 ff.) problematisiert diesen Aspekt ausführlich anhand verschiedener Autoren (z.B. Duncan/Weiss 1979, Hedberg 1981, Senge 1990, Pautzke 1989, Nonaka 1994, Pawlowsky 1992, 1994) und arbeitet heraus, inwiefern diese widersprüchlich argumentieren und dass es einer Kontexteinbettung organisationalen Wissens bedarf, wenn der „organisationsspezifische Kern“ im Rahmen von Wissen und Handlung heraustreten soll. Hier können „communities of practise“ erfasst werden (Brown/Duguid 1991). Subkulturen sind geprägt durch fachlich-funktionale, hierarchisch bedingte Gemeinsamkeiten oder interorganisationale Professionszugehörigkeiten (vgl. Schein 1996, 12). Hierbei bietet sich allerdings an, den Begriff „Akteur“ durch den der „Einheit“ zu ersetzen, da Akteure an sich als handlungsfähig (Coleman 1974) definiert werden.
58
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
gen („Frameworks“ bzw. „Weltanschauung“) und über Routinen. Bei diesem Ansatz erhält das Individuum Reaktionen auf eigene Handlungen sowohl durch die Organisation als auch aus deren Umwelt. An dieser Stelle kann zunächst festgehalten werden, dass allgemein von einem erheblichen Gewicht der Individuen im Organisationslernen ausgegangen wird.39 Diesen Aspekt verfolgt Senge (1990), der die kognitive Grundlage von Individuum und Organisation hervorhebt und normativ eine lernende Organisation im „Kampf“ entwirft, die in fünf „Disziplinen“ ihre permanente Anpassungsbereitschaft unter Beweis stellt.40 Dabei geht es um die Fähigkeit, organisationseigene Weltbilder zu reflektieren und zu optimieren („Mental Models“) und die organisationalen Wirkungsstrukturen ganzheitlich zu betrachten („Systems Thinking“). Gewohnheiten zu erkennen und proaktiv zu durchbrechen, um Veränderungen zu ermöglichen, („Personal Mastery“) ist auf individueller Seite ebenso bedeutend wie gemeinsame Leitbilder Energien freisetzen, um über „Shared Visions“ zu lernen. Dies geschieht über das „Team Learning“, das systematisch dazu beitragen soll, die individuellen kognitiven Grenzen zu durchbrechen. Senges Ansatz macht deutlich, wie bedeutend das Engagement der einzelnen Organisationsmitglieder im Sinne eines „Empowerment“ für organisationale Lernprozesse ist. Ein weiterer Aspekt des Organisationslernens ist weder bei Kim (1993) noch bei Senge (1990) explizit thematisiert, obwohl er allen organisationalen Handlungen innewohnt: der Einfluss von Macht. 2.1.5.4 Lernen und Macht Akteure stellen einen wesentlichen Faktor im Prozess des organisationalen Lernens dar. Macht (vgl. Crozier/Friedberg 1979) und Interpretation (vgl. Weick 1995) sind zwei wichtige Eigenschaften dieses Lernfaktors. Wenn schon die Macht gegenüber Strukturen nur noch im „Sammelsurium wechselnder Kräfteverhältnisse“ nachzuvollziehen ist (vgl. 2.1.4), bergen die im Lernprozess stattfindenden Beziehungen innerhalb des Faktors Akteur im Zusammenspiel aller weiteren Faktoren erneut Myriaden von Beziehungen. Macht wird teilweise eine - wenn nicht die entscheidende - Rolle im organisationalen Wandel bzw. im Organisationslernen zugewiesen (vgl. Foucault 1980, 39 40
Als Grundlage hierfür kann die Bedeutung des Wissens gesehen werden: „Ohne Individuen kann eine Organisation kein Wissen erzeugen“ (Nonaka/Takeuchi 1997, 254). So spricht Geißler (1998) etwa vom „individuellen organisationalen Lernen“. An dieser Stelle kann zwischen Organisationslernen und lernender Organisation unterschieden werden. Während im ersten Fall, Lernprozesse nicht auf Dauer konzipiert sind, wird in der lernenden Organisation permanent gewissermaßen „strukturiert“ gelernt (vgl. Eichler 2008, 87).
2.1 Faktoren organisationaler Lernprozesse
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Mintzberg 1984, Coopey 1995, Hanft 1996, Hardy/Clegg 1996, Bornewasser 1997, Spandau 2002, Blackler/Mc Donald 2000, LaPalombara 2003), obwohl bislang noch kaum erforscht (Berthoin Antal 1998, Berthoin Antal/Dierkes 2004, 737) bzw. unterschätzt (Blackler/Mc Donald 2000).41 Über „Sponsoren“ (Dierkes 1992) oder „Promotoren“ (Berthoin Antal 1992) können Akteure in ihrer Eigenschaft als Interessenvertreter gekennzeichnet werden. In beiden Fällen handelt es sich um Förderer der dominanten Koalition, die neutrale Akteure - innerhalb oder außerhalb der Organisation - in ihrem Sinne, bezogen auf Interpretationsschema und Veränderung der Wissensbasis, beeinflussen. Andere Autoren sehen Macht „as both the ongoing product, and the medium, of collective activity“ an (Blackler/Mc Donald 2000, 835). Bezugnehmend auf Hardy/Clegg (1996) stellen sie fest, dass Macht als Medium verantwortungsvollen kollektiven Handelns zu sehen ist und nicht ignoriert werden darf, auch wenn sie den eigentlich theoretischen Zusammenhang konterkarieren (vgl. Blackler/Mc Donald 2000, 834 f.). Außerdem wird auf das Potential verwiesen, das in Konflikten organisationalen Lernens steckt und die Auseinandersetzung mit Identitäten der Akteure verlangt (vgl. Rothman/Friedman 2003, 594). Wenn sich auch einige der genannten Autoren speziell mit Macht auseinandersetzen, so heißt das nicht, dass die wissensbasierten Ansätze zum Organisationslernen das Thema kaum berücksichtigen, es wird nur mehr oder weniger unterschiedlich betont bzw. ist implizit. Während Autoren wie Duncan/Weiss (1979) in dieser Arbeit bereits mit dem Machtaspekt in Verbindung gebracht wurden, sind auch andere Ansätze in diesem Licht betrachtet worden. So spielen die bereits dargestellten Vorstellungen von Akteuren eine wichtige Rolle. Spandau (2002) fasst den Machtaspekt der Ansätze von Argyris/Schön (1978), Hedberg (1981), Duncan/Weiss (1979) oder Senge (1990) zusammen. Die Arbeiten von Argyris/Schön werden als „pseudo-diskursives Modell“ bezeichnet. Der Grund dafür liegt in der Konzentration des Lernens auf das machthabende Management: „Hier werden Elemente mächtiger Kommunikation deutlich: Der Machtunterworfene hat sich den Lehrinhalten der Machthaber anzupassen, ansonsten wird er zumindest von weiteren Lernmöglichkeiten ausgeklammert. Lehreffekte nach oben werden von Argyris/Schön nicht thematisiert“ (Spandau 2002, 99, Hervorh. im Orig.).
Die „Organisationsmacht im Organisationslernen“ spielt bei Hedberg (1981) eine besondere Rolle. So sorgen die Machthaber dafür, „dass das Lernen aller 41
Mittlerweile kann dieser Eindruck jedoch durch neuere Arbeiten relativiert werden (z.B. Blackler/Mc Donald 2000, Spandau 2002, Göhlich/König/Schwarzer 2007).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
eine bestmögliche Förderung sowie geringstmögliche Verhinderung erfährt“ (Spandau 2002, 117).42 Entscheidend ist allerdings auch, auf die „Macht der Umwelt“ zu reagieren, die Fähigkeit der Organisation Umwelt-Informationen effizient verarbeiten zu können. Dabei geht es nicht darum die Informationen zu begrenzen, sondern die Komplexität zu reduzieren (vgl. ders., 118). Duncan/Weiss (1979) entwerfen unter Einbeziehung der dominanten Koalition nach Spandau ein Konzept „machtstablisierenden Organisationslernens“: „Die machtunterworfenen Organisationsmitglieder können (und sollen) mit ihrem Lernen zur Entwicklung neuen Wissens und damit auch zu Veränderungen der organisationalen Wissensbasis beitragen, sie haben sich jedoch der Einführung neuer wissensbasierter Lösungen sowie neuer Handlungsstrategien unterzuordnen, diese als neue Elemente des organisationalen Frameworks zu akzeptieren“ (Spandau 2002, 148).
Vergleichend hebt er zudem hervor, dass keines der anderen Modelle einen solch starken Zusammenhang zwischen Lernen und Macht attestiert (vgl. Spandau 2002, 149). Der Ansatz von Senge (1990) wird mit dessen drei unterschiedlichen Führungsarten beschrieben: Topmanagement, operative Führung und Typ des internen Netzwerkers, der ein Machtinstrument darstelle, „welches Lernen qua Überwachung gegenüber Führungskräften durchsetzen soll“ (Spandau 2002, 175). Mit der skeptischen Beurteilung hinsichtlich organisationaler Veränderungen bezeichnet Spandau Senges Ansatz als „macht-camouflierendes Modell, welches durch eine auf alle Organisationsmitglieder ausgerichtete, populär systemisch angelegte Terminologie verdeckt, dass sich dieses OL-Modell fast ausschließlich an real existierenden monologisch strukturierten Machtverhältnissen und damit an den machthabenden Führungskräften einer Organisation orientiert“ (ebd.).
2.1.5.5 Sonderformen im organisationalen Lernprozess Auf Widerstände, die sich gegen eine Veränderung der Wissensbasis im Sinne eines Lernens richten, gehen verschiedene Arbeiten ein (vgl. Duncan/Weiss 1979, Huber 1991, Schreyögg 2000). So werden besonders die organisationale Kommunikation und die Kollision mit der dominanten Koalition als Hindernisse herausgestellt (Duncan/Weiss 1979, 95 ff., Schein 1996, Krebsbach-Gnath 1996, 75). Dabei spielen Strukturveränderungen eine besondere Rolle: „Organizational 42
Walsh/Ungson (1991) betonen allerdings, dass die Rolle des Organisationsgedächtnisses im Management der Organisationen oft undeutlich erscheint.
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designers should be aware that any change in structure is a major organizational change that will be accompanied bay resistance.” (Duncan/Weiss 1979, 119). Die Autoren gehen zwar davon aus, dass dabei immer eine Verbesserung der organisationalen Effizienz zum Ausdruck kommt. Allerdings weisen sie Vorstellungen organisationaler Rationalität unter Verweis auf die unterschiedlichen mikropolitischen Prozesse (z.B. Crozier 1963) als naiv zurück. In diesem Zusammenhang räumen sie ein, dass es mitunter erhebliche Widerstände in organisationalen Lernprozessen geben kann, insbesondere dann, wenn diese organisationale Muster angreifen: „New knowledge is not likely to be accepted if it conflicts greatly with the paradigm held by the organization’s members“ (Duncan/Weiss 1979, 95, vgl. auch Levitt/March 1988, Kerlen 2003). Verhindern diese Muster weniger entscheidendes Organisationslernen, sind die Auswirkungen nicht erheblich. Ist jedoch das organisationale Paradigma gar nicht mehr im Stande, unpassendes neues Wissen zu integrieren, kommt es zur „paradigm revolution“ (Kuhn 1970), die einen Machtkampf bzw. Machtwechsel in der Organisationsspitze im Zusammenhang mit organisationalem Wissen bedeutet (Duncan/Weiss 1979, 95 f.). Allerdings müssen Widerstände sich nicht per se negativ auswirken, sondern können durch kritische Reflexion auch produktiv Veränderungen beeinflussen (vgl. Krebsbach-Gnath 1996, 69 f.). Insgesamt ist relativ wenig Literatur zu Widerständen in Lernprozessen zu verzeichnen. Eine Schwierigkeit, auch empirische Ergebnisse vorzulegen, kann in der Komplexität gesehen werden, die auch in der Vielzahl der Akteure zum Ausdruck kommt, die am Organisationslernen beteiligt sind: „It is neither a matter of waiting for the right hero to arrive, nor of recruiting a specialist for organizational learning. Employees in all functions and at all levels can seek out partners for distributetd leadership on issues that they care deeply about and that they believe the organization should learn to deal with” (Berthoin Antal/Lenhardt/Rosenbrock 2003, 883).
Argyris/Schön gehen auf problematische Lernprozesse ein. Dabei betonen sie verschiedene Kriterien, die Aussagen über Organisationslernen zulassen („for ill rather than for good“ Argyris/Schön 1996, 18 ff.). Dazu gehören verwerfliche Ziele, falsche Einschätzungen über Ursache-Wirkungsbeziehungen („abergläubisches Lernen“) und „Kompetenzfallen“, vormals erfolgreich angewandte Erkenntnisse, die zum Zeitpunkt des erneuten Einsatzes ihre Gültigkeit verloren haben (vgl. Levitt/March 1988). Außerdem weisen die Autoren auf Faktoren hin, die Lernprozesse verhindern. Dazu zählen Sündenbock-Zuschreibungen, einseitige oder fehlende bzw. umgangene Kontrollen, systematische Täuschungen, das Verbergen wahrer Ab-
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
sichten oder die Aufrechterhaltung von Tabus. Lernhindernisse stellen des Weiteren „selbsterfüllende Prophezeiungen“ dar, die durch bestimmte Wahrnehmungsmuster nur das zu sehen ermöglichen, was bereits zuvor angenommen wurde (vgl. Weick 1995, 229 ff.). Huber (1991, 95) fasst Hindernisse des Erfahrungslernens insbesondere unbeabsichtigter und unsystematischer organisationaler Lernprozesse zusammen. Schließlich gibt es auch verhinderte oder unechte OL-Prozesse (vgl. Argyris/Schön 1996, 11 ff.). Diese sind gekennzeichnet durch heimliches oder unentdecktes Lernen, wirkungsloses Lernen (etwa wenn Organisationsmitglieder die Einrichtung verlassen), Nicht-Lernen durch fehlende Wissensteilung oder geänderte organisationale Verhaltensweisen, die andere Ursachen haben (Lustlosigkeit /„inertia“, Verfallserscheinungen). Organisationaler Wandel muss daher nicht automatisch mit Lernprozessen verbunden sein. So bestehen Unklarheiten über die Unterscheidung von unreflektierten Handlungsänderungen und Lernprozessen (vgl. Fyol/Lyles 1985, 808). Die Autoren unterscheiden daher zwischen Lernen („The development of insight, knowledge, and associations between past actions, the effetiveness of those actions, and future actions.”) und Adaptionen („The ability to make incremental adjustments as a result of environmental changes, goals structure changes, or other changes.”) (Fiol/Lyles 1985, 811).43 Krebsbach-Gnath (1996) macht sieben Typen von Einstellungen gegenüber organisationalen Veränderungen aus. Demnach kann zwischen Missionaren, Gläubigen, Lippenbekennern, Gleichgültigen/Abwartenden/Untätigen, Widerstandskämpfern, aufrechten Gegnern und Emigranten unterschieden werden. Hedberg (1981) weist auf eine weitere Beeinträchtigung des Lernprozesses hin. Er betont, dass Organisationen auch verlernen können. Damit sind die Organisationsmitglieder nicht mehr in der Lage, wie gewohnt einer gemeinsamen Weltsicht zu folgen, die Akteure sind gegenüber identifizierten Umweltreizen in ihrer Reaktion blockiert oder sie verlieren ihre „response assemblies“, ihr Set an Reaktionsweisen, so dass ihre „theories of action“ gefährdet sind: „Unlearning thus threatens a learner’s theory of action, or part thereof“ (Hedberg 1981, 19).44 Sonderformen organisationalen Lernens geben Aufschluss darüber, wie Organisationen lernen. Dabei auftauchende Widerstände versprechen Einsichten über die Verhaltensweisen und -möglichkeiten von Oppositionen, die bei 43 44
Schryögg/Noss (1995) stellen die Eigenschaften von Organisationalem Lernen und Organisationsentwicklung gegenüber. Dabei muss darauf hingewiesen werden, dass eine scharfe Abgrenzung beider Konzeptionen nicht gelingt (vgl. auch Hayn 2007, 25). Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass Hedbergs Betonung des Verlernens nicht als autonomer Ansatz zu verstehen ist, da dieser als genuiner Lernprozess konzipiert ist (vgl. Wiegand 1996, 287).
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Duncan/Weiss (1979) nicht ausführlich dargestellt werden. Das gilt auch für empirische Erkenntnisse darüber, wie Oppositionen im Einzelnen entstehen. Dieses Defizit mag daran liegen, dass Widerstände organisationaler Lernprozesse einen heiklen Aspekt der Macht von Akteuren darstellen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass ein fundierter Ansatz organisationalen Lernens auch die negativen und abweichenden Effekte organisationaler Lernprozesse adäquat zu berücksichtigen hat. 2.1.5.6 Die Bedeutung der Kultur Wenn schon für das Organisationslernen eine breite Literaturbasis festgestellt werden konnte, so hängt das mit der Komplexität jener bisher genannten Faktoren zusammen. Ganz besonders aber spielt die Organisationskultur (vgl. Schein 1985) in diesem Zusammenhang eine Rolle. 45 Aussagen über die vergangene Organisationskultur sind meist auch Aussagen über die vergangenen Lernbedingungen. Während die Wissensbasis an sich in der Organisation, also deren physischen Ausformungen, und in den Köpfen ihrer Mitglieder verortet wird, ist eine empirische Rekonstruktion dieser Wissensbasis gleichzeitig mit dem Kontakt zur Organisationskultur verbunden. Insbesondere vor einem zeitlich-historischen Hintergrund, wie er in dieser Arbeit verfolgt wird, spielt die Organisationskultur eine wichtige Rolle: „culture is the accumulation of past learning“ (Schein 1993, 87). In Zeiten kurzfristiger Umschwünge ist beim Organisationslernen die Organisationskultur entscheidend (vgl. Stein/Westermeyer 2000).46 Organisationskultur an dieser Stelle auch nur ansatzweise „vollständig“ zu thematisieren, ist nicht Ziel dieser Arbeit. Vielmehr geht es um einen Verweis auf eine Forschungsrichtung, die in nahezu allen Theorien zum Organisationslernen direkt angesprochen oder implizit vorausgesetzt, nie aber entschieden abgelehnt wird (vgl. Berthoin Antal/Dierkes/Helmers 1993, Sattelberger 1994, Kremmel 1996, Geller 1996, Albach et al 1998, Dierkes 2003).47 Der Grund dafür liegt in der bereits behandelten Bedeutung der Akteure für organisationales 45
46 47
Entgegen der intuitiv naheliegenden Vorstellung, die Organisationskultur im Zusammenhang mit den Akteuren zu nennen, wurde sich für diese Variante aus zwei Gründen entschieden: Die kulturelle Betonung des Wissensaspekts im Organisationslernen und die Tatsache, dass es sich bei Akteuren auch um „organisationsfremde“ Akteure (vgl. dort z.B. Aufsichtsratsmitglieder) handeln kann, die den Einflüssen der Organisationskultur nicht ausgesetzt sein müssen. Diese kann auch im Rahmen einer schnellen Entwicklung entstehen (vgl. Weber 1995). Auch in der Organisationsgeschichte als Forschungsdisziplin lassen sich die organisationskulturellen Einflüsse nicht klar voneinander abgrenzen. Beide Elemente sind Teil des anderen (vgl. Lauschke 1993/2, Nieberding/Wischermann 1999).
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Lernen. Die Auseinandersetzungen mit der Organisationskultur gehen auf die frühe Betriebs- und Organisationsforschung zurück (vgl. Selznick 1957). Einen Überblick über das Forschungsfeld geben z.B. Tiebler/Prätorius (1993), Dierkes (2003), ferner Dubs (2003). Schein (1995, 25) definiert „die Kultur einer Gruppe“ als: „Ein Muster gemeinsamer Grundprämissen, das die Gruppe bei der Bewältigung ihrer Probleme externer Anpassung und interner Integration erlernt hat, das sich bewährt hat und somit als bindend gilt; und das daher an neue Mitglieder als rational und emotional korrekter Ansatz für den Umgang mit diesen Problemen weitergegeben wird.“
Der Kultur-Aspekt hält eine Vielzahl unterschiedlicher Facetten bereit. Schein unterteilt die Unternehmenskultur in drei Ebenen: äußerlich wahrnehmbare Gebilde, gezollte Werte und Basisannahmen (vgl. Schein 1995, 30).48 Ähnlich dem Organisationslernen steht auch der Unternehmenskultur eine Vielzahl von Aspekten und Bezügen gegenüber. So ist es nicht verwunderlich, dass auch jene Faktoren eine Rolle spielen, die bereits dem Organisationslernen zugeordnet wurden. Auch diese (Lern)Faktoren werden im Kontext organisationskultureller Zusammenhänge betrachtet und erforscht. Dabei handelt es sich um den bereits thematisierten Akteur sowie die Struktur (z.B. Geller 1996), die Strategie (z.B. Bleicher 1988, Wollnik 1988, Merkens/Schmidt/Dürr 1990, Scholz/Hofbauer 1990, Hofbauer 1991, Sattelberger 1994, Kremmel 1996) und die Umwelt (z.B. Klimecki/Probst 1990). Die umfangreiche Tiefenwirkung dieses Aspekts stellt also eine bedeutende Hintergrundfolie organisationalen Wissens und organisationalen Lernens dar. Besonders relevant wird die Organisationskultur auch bei Ansätzen, welche den sinnbezogenen und interpretativen Charakter organisationaler Lernprozesse betonen (Argyris/Schön 1978, Weick 1995). Kultur manifestiert sich in vorherrschenden Ideologien und etablierten Verhaltensweisen, in von allen geteilten Ansichten und Normen, die das organisationale Handeln bestimmen. Wenn Organisationen lernen, werden häufig derart entstandene Annahmen restrukturiert (vgl. z.B. Fiol/Lyles 1985, 804). Organisationsstrukturen können im organisationalen Lernprozess auch als Organisationskultur verstanden werden. Dadurch wird die Verbindung zur organisationalen Wissensbasis deutlich (vgl. Argyris/Schön 1996, 185 ff.). Diese wird auch als Ausdruck der Organisationsidentität gesehen.
48
Siehe auch Schein (1996, 11): „deep tacit assumptions“, „espoused values“ und „day-to-day behaviour“ (vgl. Argyris/Schön 1978).
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Duncan/Weiss (1979, 76) weisen darauf hin, dass Organisationen in einem ähnlichen Umfeld und mit vergleichbarer Umwelt unterschiedlich erfolgreich sein können. Um deutliche Aussagen über die organisationale Kultur und die Organisationsidentität zu erhalten, sind Außenstehende als Beobachter nötig (vgl. Walsh/Ungson 1991). Allerdings muss betont werden, dass es nicht nur Einschränkungen in der Erfassung von organisationskulturell bedingten Wissensstrukturen gibt, sondern auch die strukturellen Bedingungen für Konstitution und Veränderung von Unternehmens(sub)kulturen eine Rolle spielen (vgl. Reinhardt 1993, 191f.). Kultur entsteht durch die Organisation, deren Geschichte und die Organisationserfahrungen. Schein geht davon aus, dass es drei wesentliche Formen von Management-Subkulturen gibt: „Operator Culture“, „Engineering Culture“ und „Executive Culture“. „Operator Culture“, ist eine Kultur, die eher produktionsorientiert mit Teamwerten, hohen Kommunikations- und Innovationsfähkeiten arbeitet (z.B. Chemiearbeiter oder Büroangestellte). Aber „it is not clear what elements make this culture broader than the local unit“ (Schein 1996, 13). Die „Engineering Culture“ zeichnet sich durch Vorstellungen perfekter Präzision und Harmonie aus, die ohne menschliche Eingriffe funktioniert. Sie ist sicherheitsorientiert und bevorzugt einfache Ursache-Wirkungsmechanismen. Die „Executive Culture“ ist durch existenzielle Organisationsentscheidungen geprägt und durch die damit verbundene ökonomische Perspektive. Vor (sub-)kulturellem Hintergrund sind nach Levitt/March (1988) für organisationales Lernen Schlussfolgerungen aus der Geschichte nötig, die – in Routinen verschlüsselt – das Verhalten lenken. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass die organisationale Wissensbasis als Lernfaktor besonders komplex ist. Sie beruht zunächst auf unterschiedlichen Vorstellungen hinsichtlich des Verständnisses der organisationalen Wissensbasis. Das gilt gleichermaßen für die Frage wie sich organisationales Wissen durch Lernprozesse ändert wie für das Problem, Lernträger einheitlich zu bestimmen. Zusätzliche „faktoreninterne Faktoren“ wie die Macht im Lernprozess, Sonderformen organisationalen Lernens sowie die Organisationskultur bestärken die Annahme, dass es sich durch derart mannigfaltige rekursive Bezüge bei diesem Lernfaktor gewissermaßen um akkumulierte Komplexität, wenn nicht um den Kristallisationspunkt der Vielschichtigkeit organisationalen Lernens handelt. 2.1.6 Struktur- und Outputveränderungen als organisationale Lernergebnisse Wenn die bisher dargestellten Lernfaktoren („Umwelt“, „Struktur“, „Strategie“, „Akteure“ und „Wissensbasis“) als Aspekte des Organisationslernens die Rolle
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von „Einflussfaktoren“ gespielt haben, so ist der nun behandelte Lernfaktor als „Ergebnisfaktor“ zu bezeichnen. Eine Auseinandersetzung damit, was als Lernergebnis gilt, ist für die vorliegende Arbeit besonders bedeutend: So muss das Lernergebnis hinreichend definierbar sein, um überhaupt organisationale Veränderungen in den Kontext organisationalen Lernens stellen zu können. Dies gilt um so mehr im Zusammenhang einer Untersuchung zweier Lernprozesse, die auch zeitlich auf eine hinreichend deutliche Trennung zwischen t0 und t1 angewiesen ist. Der Begriff „Lernergebnis“ ist allerdings äußerst umfangreich, da erhebliche Unterschiede in den Definitionen von organisationalem Lernen existieren. Trotz und wegen dieser Vielfalt soll an dieser Stelle der Versuch eines integrierenden Zugangs hinsichtlich organisationaler Lernergebnisse unternommen werden.49 Daher wird von einem weitestmöglichen OL-Begriff ausgegangen, der in der Veränderung der organisationalen Wissensbasis auf Grundlage eines einzelnen Organisationsmitglieds gesehen wird (vgl. Huber 1991). Nach dem Organisationsverständnis von Duncan/Weiss stehen Transformationsprozesse zwischen Input und Output im Zentrum organisationaler Tätigkeiten: „At the most fundamental level, formal organizations can be understood to be a group of individuals who engage in activities which transform, or support the transformations of, some set of inputs into some set of outputs“ (Duncan/Weiss 1979, 79).
Begreift man Output als „Ergebnis systeminterner Operationen (Handlungen)“ (Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994, 16), erweisen sich bei näherem Hinsehen relativ viele höchst unterschiedliche Dimensionen von Output. Danach sind Lernergebnisse interner und externer Art zu unterscheiden oder können zwischen physischen Veränderungen des Outputs (z. B. neue Produkte) und Strukturveränderungen sowie restlichen organisationalen Verhaltensänderungen unterschieden werden. Lernergebnisse interner Art wirken sich lediglich innerhalb der Organisation aus, während sich jene externer Art im Austausch mit der Umwelt wiederfinden und nicht allein auf Güter beschränkt sind (z.B. Pressemitteilungen, Beratungsleistungen oder Unfälle).50 Schwierigkeiten bestehen darin, dass ggf. zwar das Lernergebnis, nicht jedoch der Prozess an sich direkt zu beobachten bzw. „latent“ ist (Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994, 21, vgl. Walsh/Ungson 1991, vgl. Hayn 2007). 49
50
Auch an anderer Stelle hat Mannigfaltigkeit der Ansätze und Erklärungsmuster dazu geführt, sich Gedanken über einen „gemeinsamen Bezugsrahmen“ zu machen (vgl. z.B. Klimecki/ Laßleben/ Rixinger-Li 1994, Wiegand 1996, Schreyögg/Noss 1997, Klimecki/Laßleben/Thomae 1999). In diesem Sinne kann auch von Ausstoß gesprochen werden.
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Outputveränderungen bzw. Ergebnisse organisationalen Lernens sind theoretisch leichter zu bestimmen als empirisch nachzuweisen. Während organisationales Lernen einerseits im minimalistischsten Verständnis abstrakt lediglich durch die Veränderung der organisationalen Wissensbasis definiert wird, sind empirische Arbeiten dagegen auf sichtbare organisationale Verhaltensänderungen angewiesen. Empirisch relativ gut zu fassen sind daher formale Strukturveränderungen und Veränderungen oder Neugestaltungen der Outputs, wenngleich Lernergebnisse nicht statisch und von daher auch nicht genau zu bestimmen sind und außerdem reaktiv oder proaktiv orientiert sein können (vgl. z.B. Senge 1990, Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994, Krebsbach-Gnath 1996). Je deutlicher diese empirisch nachzuweisen sind, desto begründeter ist die Basis für Interpretationen, nach denen organisationales Lernen stattgefunden hat. Veränderung der Wissensbasis anhand der Organisations-Umwelt-Kommunikation Phänomenvariante anderer (meist neuer) Input anderer (meist neuer) Output Forschungskonsequenzen Output ändert sich Output ändert sich nicht OL kann unterstellt werden Ļ Ļ Ļ OL kann unterOL kann unterstellt Untersuchung/Inputkontrolle stellt werden, ist forschungsĻ werden praktisch allerdings Inputkontrolle negativ: Ļ schwer zu beweisen Input-unabhängiges OL Untersuchung/ Outputkontrolle Abbildung 3:
Forschungsperspektiven im Organisationslernen (eig. Darst.)
Aus Forschungsperspektive interessiert in diesem „Kommunikationsprozess“ zunächst jeder „sichtbare“ andersartige (meist neue) Input sowie jeder andersartige (meist neue) Output. Konsequenzen dieser Auseinandersetzungen sollen an dieser Stelle kurz skizziert werden (vgl. Abb. 3). Dabei stellt sich allerdings das Problem, organisationales Lernen von simplen organisationalen Veränderungen zu trennen, da Wissens- und Outputveränderungen nicht gleichzeitig in Erscheinung treten (vgl. Fiol/Lyles 1985, 803 ff., Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994, 17). Als Folge lassen sich unterschiedliche Perspektiven auf organisationales Lernen hinsichtlich der Lernergebnisse auf der Ebene des organisationalen Wissens, der Strukturen, neuer Systeme, bloßer
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Handlungsmodifikationen, Kombinationen dieser Aspekte, die sich in Ansätzen des organisationalen Adaptionslernens, des Veränderungslernens oder des Verlernens äußern, ausmachen. Außerdem muss zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis sowie Verhalten unterschieden werden, denn beides repräsentiert nicht nur unterschiedliche Phänomene, sondern ist auch Voraussetzung eines gründlichen Überdenkens des anderen. Angesichts dieser Komplexität soll hier zwischen organisationsinternen und -externen Lernergebnissen unterschieden werden (vgl. Abb. 4): Organisationsinterne Lernergebnisse • Schaffung/Veränderung der Struktur • Veränderung des Paradigmas (Strategie, Kultur, Vision etc.) • Veränderung durch Organisationsmitglieder (i.S.v. Personalmaßnahmen, Individuumsfähigkeiten) • Veränderung der Wissensbasis (Organisationskognition einschließlich bewusster Handlungsunterlassung) Veränderung der Umweltwahrnehmung Organisationsexterne Lernergebnisse • Schaffung/Veränderung des Outputs • Veränderung der Umwelt (mittels Output) Abbildung 4:
Organisationsinterne und -externe Lernergebnisse (eig. Darst.)
Outputveränderungen (z.B. neue Produkte oder Verkäufe von Unternehmensteilen) sind deutliche Indizien für organisationale Lernprozesse, die es ermöglichen diese zeitlich relativ eindeutig voneinander abzugrenzen und damit den Einfluss eines vergangenen Lernprozesses auf den folgenden zu untersuchen. Sie stellen empirisch notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen dar. Insbesondere Veränderungen systeminterner Operationen wie Strukturen informeller Art und veränderte Handlungsweisen machen jedoch einen wichtigen Bestandteil organisationaler Lernergebnisse aus. Die Vielfalt der Ansätze und ihre unterschiedlichen Setzungen und Ansprüche sind dafür verantwortlich, wenn Organisationslernen in seiner Aussagekraft nicht eindeutig ist. Die definitorische Fixierung des Organisationsbegriffs sowie der Vorstellung von organisationalem Lernen und Lernträgern steht in unmittelbarem Zusammenhang mit empirischen Untersuchungen, so dass sie die Definition der Lernergebnisse bestimmt.
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2.1.7 Implikationen für die vorliegende Arbeit Der Wissensstand zum Organisationslernen ermöglicht durch die klassischen Darstellungsweisen (autorenzentriert) das Verständnis bisher erarbeiteter Konzepte, während neuere Übersichten (faktorenzentriert) praxis- und phänomenbezogen den Focus fruchtbringend erweitern. In einer „modernen Kombination“ wurde an dieser Stelle versucht, eine Verständnisgrundlage für organisationale Lernprozesse zu schaffen, um mit den Lernfaktoren die Komplexität strukturierend zu erfassen. Dabei hat sich ergeben, dass diese durch einige organisationstheoretische Arbeiten besonders umfassend behandelt werden. Auch kann festgehalten werden, dass die Umwelt für eine organisationstheoretische Auseinandersetzung durch ein systembezogenes Verständnis von Organisationen die entscheidende Komponente ist und auch im Rahmen von Organisationslernen als ein wesentlicher Bestandteil gesehen wird. Obwohl die Bedeutung als Lernauslöser in der Literatur einen wichtigen Platz einnimmt, ist zu attestieren, dass die Umwelt (z.B. nach erfolgtem Organisationslernen) auch als Empfängerin organisationaler Lernergebnisse in einer Organisations-Umwelt-Interaktion fungieren kann. Autoren des Situativen Ansatzes leisten einen wichtigen Beitrag, die Struktur als Faktor von organisationalen Veränderungen zu benennen, unterliegen aber der grundsätzlichen Schwäche, kaum den Gründen von Strukturveränderungen zu folgen, obwohl im Falle von Chandler (1962) mit der Strategie ein weiterer (Lern-)Faktor etabliert werden konnte. Auf dieser Grundlage ist Child (1972) nicht nur ein Schlüsselartikel hinsichtlich des Kontingenzansatzes gelungen, sondern auch ein Türöffner für die Auseinandersetzung mit Macht und Organisationslernen. Seine Vorstellung von der strategischen Wahl ist ein wesentliches Bindeglied zum Lernfaktor „Akteur“. Akteure sind zentrale Bestandteile organisationalen Lernens. Sie unterliegen neben anderen Einflüssen einem allen Handlungen von Organisationsmitgliedern inhärentem Machtverhältnis. Mit dem Verständnis von Crozier/Friedberg (1979) bildet es eine grundsätzlich neutrale, vor allem aber nicht ignorierbare Größe, welche die Verhaltensweisen von Organisationsmitgliedern und Organisationen beeinflusst. Die Wissensbasis ist die Kernkomponente vom Organisationslernen, da durch ihre Veränderung überhaupt erst von organisationalen Lernprozessen gesprochen werden kann. Sie ist in diesem Zusammenhang allerdings stark vom Verständnis des Organisationslernprozesses abhängig und in der Literatur höchst unterschiedlich definiert bzw. behandelt. Damit verbunden sind gleichzeitig die Reichweiten, die sich daraus theoretisch wie praxisorientiert ergeben.
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Dennoch finden sich exemplarisch bei Duncan/Weiss (1979) alle als bedeutend herausgearbeiteten Faktoren des Organisationslernens in einer umfassenden Theorie, welche sich auf die dominante Koalition als Erklärungskomponente stützt. Vor dem Hintergrund der Trennung zweier Lernprozesse ist für die vorliegende Arbeit der Abschluss eines Lernprozesses bedeutend. Die Frage, wann Lernergebnisse vorliegen und wie sie aussehen müssen, um Lernprozesse als abgeschlossen bezeichnen zu können, erforderte die Problematisierung des Outputs. Es wurde angenommen, dass dieser Aufschluss über Lernergebnisse liefert, auch wenn der Komplexität dieses Faktors damit zunächst nicht weiter nachgegangen wurde. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Faktoren Umwelt, Struktur, Strategie, Akteur, Wissensbasis, und Output eine wichtige Rolle für organisationale Lernprozesse spielen und auch intern jeweils äußerst vielfältig zusammengesetzt sind. Die Komplexität wird zusätzlich durch die Rekursivität der Lernfaktoren erhöht.
Lernfaktoren können nur analytisch getrennt werden, fordern in ihrer rekursiven Komplexität OL-Konzepte heraus und begründen das Disparate aber auch das Gemeinsame in diesem Forschungsfeld. Der Lernfaktor „Struktur“ ist ambivalent: Strukturen können Lerngrundlage, aber auch Ergebnis organisationaler Lernprozesse sein. Das formale Strukturverständnis reicht in diesem Zusammenhang nicht aus. Struktur und Handlung scheinen zentrale Knotenpunkte der komplexen Verflechtung von Lernfaktoren zu sein. Diese Knotenpunkte von Struktur und Handlung erschweren die Bestimmung abgeschlossener Lernprozesse und rücken mit der Frage nach dem Lernträger organisationaler Veränderungsprozesse den Individualakteur in den Mittelpunkt.
2.2 Lernfaktoren und das Problem von Rekursivität: strukturationstheoretische Anleihen Der insgesamt fragmentarische Charakter der Auseinandersetzung mit organisationalem Lernen prägt das Forschungsfeld, so dass eine Makrotheorie, die eine Verortung der divergenten und widersprüchlichen Wissens-, und Lerndefinitionen anbietet, diesem wesentliche Impulse für eine breite Akzeptanz der Idee des Organisationslernens verschaffen kann.
2.2 Lernfaktoren und das Problem von Rekursivität: strukturationstheoretische Anleihen
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Dass diese Anforderung ambitioniert erscheinen mag, liegt in den vielen Gemeinsamkeiten begründet die – trotz aller genannter und z.T. erheblicher Unterschiede – das Feld kennzeichnen: Die „Idee“ organisationalen Lernens ist nicht von ungefähr seit vielen Jahrzehnten mehr als eine Modeerscheinung. Dennoch ist diese Vorstellung offenbar zu weitreichend angelegt, um in einem (einzigen und oft noch unvollständigen oder theoretisch inkonsistenten) Modell abgebildet zu werden. Andererseits ist das Verständnis organisationalen Lernens wiederum zu einheitlich, um nicht integrativ behandelt zu werden, so dass ein makrotheoretischer Ausweg Abhilfe zu verschaffen verspricht. Da Organisationslernen als Middle Range Theorie hinsichtlich makrotheoretischer Grundierungen offen ist, versprechen sich neuere Arbeiten verstärkt einen entsprechenden Rückhalt.51 Vor diesem Hintergrund erscheint die Auffassung von organisationalem Lernen grundsätzlich mit makrotheoretischen Überlegungen vereinbar: Die Middle Range Theorien des Organisationslernens sind für Metatheorien offen, aber auch auf diese „angewiesen“, weil die Komplexität aus
der Interdisziplinarität des Forschungsfelds, den unterschiedlichen Zielen und Ansprüchen inhaltlicher, theoretischer oder praktischer Art, der (Un-)Gerichtetheit des Lernens, den unklaren oder divergierenden Organisationsdefinitionen, den unterschiedlichsten Lernvorstellungen, der Interpretationsbezogenheit, dem Zeitbezug, der Rekursivität im Kontext der Lernfaktoren sowie der Abgrenzung organisationalen Lernens zu anderen Vorstellungen organisationalen Wandels nach Reduktion verlangt. Daher soll eine makrotheoretische Rahmung gesucht werden, wie sie Ortmann/Sydow/Türk (2000, 33 f.) allgemein beschreiben: „Mit Hilfe einer Sozialtheorie erhält man (...) einen analytischen Bezugsrahmen, der auf beliebige soziale Sachverhalten anwendbar ist und auf diese Weise spezifische Phänomene als Manifestationen allgemeiner Prinzipien der Strukturierung des Sozialen interpretiert.“
51
Duncan/Weiss (1979, 75) etwa bezeichnen Ihren Ansatz als Theorie mittlerer Reichweite (vgl. Merton 1968). Diese Einschätzung kann für viele Modelle organisationalen Lernens übertragen werden, da diese zwar organisationalen Wandel erklären können, ihn jedoch nicht in einen generellen gesellschaftstheoretischen Kontext stellen, wie dies für Makrotheorien kennzeichnend ist.
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In dem hier vorliegenden Zusammenhang scheint die Strukturationstheorie von Giddens vielversprechend zu sein. Dabei wird die Füllung dieser Sozialtheorie in den organisationalen Kontext (vgl. Ortmann 2003, 35) als Herausforderung begriffen. Diese nehmen auch Ortmann/Sydow/Windeler (2000) an, die einen strukturations-/organisationstheoretischen Brückenschlag wagen. Inwieweit dieser auch vor dem Hintergrund organisationalen Lernens belastet werden kann, soll hier an den bereits identifizierten Fragen und Problemen, die sich im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Lernfaktoren ergeben haben, überprüft werden. Basale Begrifflichkeiten organisationalen Lernens sind bereits in Giddens’ sozialtheoretischem Verständnis angelegt: „Unter Sozialtheorie verstehe ich die theoretische und gewiß abstrakte Auseinandersetzung mit dem menschlichen Akteur, mit seinem Bewußtsein und Handeln, mit den strukturellen Bedingungen und Konsequenzen dieses Handelns sowie mit den institutionellen Formen und kulturellen Symbolen, die aus diesem hervorgehen“ (Giddens 1988, 287)52.
Giddens setzt seine „abstrakten Auseinandersetzungen“ also gewissermaßen oberhalb und unterhalb organisationstheoretischer Middle Range Theorien an. Damit wird auf der einen Seite der individuelle Akteur thematisiert, auf der anderen Seite die Gesellschaft.53 Dennoch oder vielleicht gerade deswegen ist das „dazwischen“, die organisationale Ebene, in der Vorstellung von Giddens nicht ausgeschlossen, so wie es ihm grundsätzlich um eine integrierende Perspektive geht und nicht um eine Ausschlussorientierung. Um strukturationstheoretisch informiert auf den organisationalen Aspekt eingehen zu können, liegt die Konzentration auf dem rekursiven Verhältnis zwischen Handlung und Struktur: „Strukturen üben auf menschliches Handeln nicht nur Zwang aus, sondern ermöglichen es auch“ (Giddens 1976, 161).54 Nach diesem Verständnis werden 52
53 54
Dabei wird auch der empirische Aspekt berücksichtigt. Nach Giddens hat eine Sozialtheorie Konzepte des Wesens menschlichen sozialen Handelns und des menschlichen Akteurs zu erarbeiten, die für empirische Forschungen fruchtbar gemacht werden können. Ihre Hauptaufgabe ist identisch mit jener der Sozialwissenschaften: die Untersuchung konkreter sozialer Prozesse. (vgl. Giddens 2008, xvii). Insofern ist die Auseinandersetzung mit Strukturen, da sie durch die Handlungen der Akteure immer auch auf Mikroebene angesiedelt ist, nicht ausschließlich Makrosoziologie (vgl. Giddens 2008, 139 ff.). In dieser Arbeit soll und kann es schon aus Gründen des Umfangs nicht um ein vollständiges Referat der Strukturationstheorie und ihre Anwendbarkeit auf Organisationslernen gehen. Dabei muss in Kauf genommen werden, dass das damit verbundene Potential - insbesondere der Dimensionen der Dualität von Struktur - an dieser Stelle nicht ausgeschöpft werden kann. Giddens soll außerdem nicht als Godfather behandelt, die Idee der Strukturation der Sache nach genommen und nicht als Label eines Autors vereinnahmt werden (vgl. Ortmann/Sydow/Türk 2000, 34).
2.2 Lernfaktoren und das Problem von Rekursivität: strukturationstheoretische Anleihen
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Individuen durch Strukturen in ihren Handlungen eingeschränkt. Dabei wird von einem sehr weit gefassten Strukturbegriff ausgegangen. Giddens fasst darunter nicht nur formale Strukturen im herkömmlichen Sinne (z.B. des Kontingenzansatzes).55 Strukturen sind nicht als feste Größen zu verstehen, die unveränderbar sind. Giddens Vorstellung liegt vielmehr ein Verständnis zugrunde, nach dem alle Strukturen vom Menschen gemacht sind, also von Individuen auch (wieder) geändert werden können und demnach auch als veränderbar gedacht werden müssen: Aus dieser Perspektive sind strukturelle Vorgaben jedoch nicht nur veränderbar, sondern auch verändernd, wenn sie modifiziert werden, da sie dann - als Strukturen prägend - den Handlungen neue Muster geben und so die (dann neuen) nachfolgenden Handlungen beeinflussen. Dieses Wechselspiel zwischen Struktur und Handlung bezeichnet Giddens als Strukturation.56 Mit diesem Kunstbegriff werden die Handlung und die Struktur als ein perpetuum mobile gedacht, das ständig seine zwei Funktionen rekursiv wechselt und folglich weniger auf soziale Stabilität als auf sozialen Wandel ausgerichtet ist (vgl. Giddens 1976, 128).57 2.2.1 Strukturation und Organisation Bevor die Lernfaktoren im Verständnis der Strukturation erarbeitet werden, erscheint es zunächst sinnvoll, sich den Vorstellungen von Strukturation und Organisation ausführlicher zu widmen und zu erläutern, wie nach Giddens die Begriffe Struktur und Handlung verstanden werden. Einen wichtigen Aspekt dabei stellen Ortmann/Sydow/Windeler (2000, 315) heraus, indem sie die „Zweideutigkeit“ der Strukturation in den begrifflichen Zusammenhang von Organisation bringen: Prozess (Organisieren) und Zustand (Organisation) verbinden sich demnach in sprachlicher „Weisheitsvermutung“ entsprechend dem „Erzeugen und Erzeugnis“: der Strukturation. Damit löst Giddens den Gegensatz Struktur versus Handlung (Dualismus) auf und ersetzt diesen durch die Dualität, die Strukturation, die „zirkuläre Figur der Rekursivität“ (ebd.). Strukturen können in mehrfacher Hinsicht charakterisiert werden: Sie haben keine objektive Existenz, sondern bestehen lediglich im Bewusstsein der Akteure 55 56 57
Aus diesem Grund wurde der Strukturbegriff, wie Giddens ihn verwendet, auch nicht im Rahmen der Lernfaktoren (vgl. 2.1.2) behandelt. „[S]tructuration, as the reproduction of practies, refers abstractly to the dynamic process whereby structures come into being,“ (Giddens 1976, 128). Ziel der Sozialforschung ist somit, den Prozess der Reproduktion zu untersuchen, also die Zusammenhänge zwischen „structuration“ und „structure“ zu bestimmen (vgl. Giddens 1976, 120).
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und werden von ihnen reproduziert. Sie sind an Akteure gekoppelt, die sie schaffen, interpretieren und für ihre Handlungen nutzen. Strukturen sind nicht mit regelmäßigen sichtbaren Paradigmen sozialer Interaktion oder sozialen Handelns gleichzusetzen. Diese finden in sozialen Systemen statt. Strukturen fungieren nicht als gesetzmäßige Regelhaftigkeiten im Sinne homöostatischer Systeme, kontingenztheoretischer Vorstellungen oder evolutionstheoretischer Ansätze. Die Berücksichtigung der Option individueller Handlungen bedeutet: Akteure können prinzipiell auch immer anders handeln, als es einer Strukturlogik entsprechen würde (vgl. Giddens 1976, 75, 121, Giddens 2008, 9, 16, 27f.). Da Strukturen nicht objektiv gegeben sind, sondern nur in den Köpfen der Akteure und deren Handlungen existieren, so dass die vermeintliche Stabilität allein durch „Erinnerungsspuren“ der Handelnden gegeben ist und zudem immer wieder rekursiv geändert werden kann, erhält die Augenblicklichkeit hier eine besondere Bedeutung (vgl. Giddens 2008, 17). Handeln versteht Giddens als „the stream of actual or contemplated causal interventions of corporeal beings in the ongoing process of events-in-the-world“ (Giddens 1976, 75, Hervorh. im Orig.). Dabei verbindet er den Handlungsbegriff direkt mit dem der Praxis und sieht in Praktiken kontinuierlich ablaufende Handlungsfolgen „praktischer Tätigkeiten“, die sich dadurch kennzeichnen, dass Akteure immer Handlungsalternativen nutzen können und Außeneinwirkungen keine Vorbestimmungen zulassen. Durch Anwendung von Handlungen werden Regeln - z.B. Strukturen im Sinne einer Signifikation, wie etwa der Unternehmenskultur - reproduziert, also bestätigt, verstärkend oder mildernd modifiziert, im Kern jedoch zunächst überwiegend (aufrecht) erhalten. Organisationale Sichtweisen auf Dinge erfahren so (zeitweise) ihre Stabilität und Kontinuität. Handlung (Interaktion) kann sich als Kommunikation äußern (herrührend aus der Vermittlung interpretativer Schemata und ursprünglich aufgrund der Signifikation von Regeln). Handlung (Interaktion) kann jedoch auch (ausgehend von der Legitimation der Regeln und mittels Normen) als Sanktion in Form von Machtausübung artikuliert werden. Strukturen sind Handlungslogiken, die soziale Systeme und deren Verknüpfungen festlegen. Der Begriff Strukturmomente betont die Augenblicklichkeit und soll verdeutlichen, „that structure is a ‚virtual order’ of transformative relations“ (vgl. Giddens 2008, 17). Strukturmomente können als sichtbare Strukturkerne, die allerdings nicht alleinbestimmend sind, bezeichnet werden. Sie sind als Phänomene sozialer Systeme (z.B. von Organisationen) zu verstehen, die im Moment (wie bei einer aufgerissenen und sich sogleich wieder verschließenden Wunde) Strukturation offenbaren. Strukturen können dabei auch als Resultate dieser Momente begriffen werden:
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„Crucial to the idea of structuration is the theorem of the duality of structure (…). The constitution of agents ans structures are not two independendly given sets of phenomena, a dualism, but represent a duality. According to the notion of the duality of structure, the structural properties of social systems are both medium and outcome of the practices they recursively organize“ (Giddens 2008, 25, vgl. auch ders. 377).
Soziale Systeme sind als reproduzierte Beziehungen zwischen Akteuren oder Kollektiven zu verstehen, die sich durch regelmäßige soziale Praktiken organisieren (vgl. Giddens 2008, 25). Sie bilden gewissermaßen die Folie für die Ausübung sozialer Praktiken, so dass Strukturen nach Giddens nicht allein mit Organisationsstrukturen oder Organisationskulturen im Kontext organisationalen Lernens in Zusammenhang gebracht werden können. Soziale Systeme sind strukturationstheoretisch über Raum und Zeitkontinuen gefasste soziale Beziehungen und Handlungen (vgl. Giddens 2008, 377). Sie erwachsen aus Verwobenheiten anderer sozialer Systeme über Routinen, die auf bestimmter Ebene paradigmatisch verlaufen und auch als Subsysteme (Professionen, Regionalbereiche, Funktionseinheiten etc.) erscheinen können. Soziale Systeme sind nach Giddens als Interaktionssysteme zu unterteilen in Netzwerke, Assoziationen und Kollektivitäten (Gruppen und Organisationen) (vgl. Giddens 1976, 121, 2008, 200). Organisationen sind strukturationstheoretisch konkrete Beziehungsgeflechte und Strukturen, die mehreren Akteuren in gleicher Weise als Handlungsgrundlage dienen. Giddens sieht in der menschlichen Handlung eine immanente Kontingenz. Neben dem Handlungsvermögen des Menschen ist auch immer die unerkannte Handlungsbedingung sowie die unbeabsichtigte Handlungskonsequenz zu berücksichtigen. Mit Routinisierung absolvieren soziale Akteure den Alltag, sie folgen gewohnheitsmäßig einer großen Masse von sich wiederholenden Handlungen und verfügen somit über Verhaltensstile und Handlungsweisen, mit denen sie ein sicheres Seinsgefühl („ontological security“) erschaffen und das ihnen umgekehrt Rückhalt gibt (Giddens 2008, xxiii, 375). An dieser Stelle verknüpfen Ortmann/Sydow/Windeler (2000, 317) den organisationalen Bezug, den Giddens selbst nicht liefert (vgl. Ortmann 2003, 34), indem sie gleichzeitig die Frage nach der Unterscheidbarkeit von In- und Output sowie formaler Struktur beantworten: „Organisationen werden (...) über organisationale Praktiken gekennzeichnet, über in Organisationen wiederkehrend praktizierte Formen des Handelns, und nicht allein über formale Strukturen, strukturelle Eigenschaften oder Input-Output-Relationen, auch nicht über Kommunikation oder Entscheidung“.
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Folgt man dieser Argumentation, stehen Handlungen im Vordergrund, die letztlich immer auf individuelle Akteure zurückzuführen sind. Damit lässt sich eine Organisation aus der Strukturationsperspektive vorstellen, jedoch eher als strukturierte Gruppe von Handlungen, die zumindest keinen direkten eigenen Handlungsbegriff nach sich zieht (wie z.B. in den Aussagen: „Die Organisation handelt.“ oder „Die Organisation lernt.“). Organisationale Handlungen werden letztlich immer mittels (routinisierter/organisationaler) Handlungen individueller Akteure verstanden. Insofern kommen organisationale Lernfaktoren wie organisationale Wissensbasis und Organisationsstrategie bei Giddens nicht vor, auch wenn sie damit nicht ausgeschlossen sind.58 Windeler liefert eine Organisationsdefinition, die den Begründungszusammenhang dahingehend, warum Organisationen überhaupt lernen, bietet: „Organisationen sind für Giddens (...) Sozialsysteme, die durch „concentrated reflexive monitoring“ ausgezeichnet sind, allgemeine Bedingungen der System(re)produktion hochgradig reflexiv auslegen und hierdurch eine Form hochgradig reflexiver Koordination in und von Zeit und Raum erlauben und voraussetzen“ (Windeler 2002, 227 f.).59
2.2.2 Organisationales Lernen und die Lernfaktoren aus Perspektive der Strukturation Die als Handlung bezeichnete Größe in Giddens Theoriegefüge kommt in den erarbeiteten Lernfaktoren mehrfach vor: Umweltwahrnehmungen, Strukturanpassungen, Strategien, überhaupt Entscheidungsprozesse von Akteuren, Lernvorgänge und auch Handlungen die zu einem (veränderten) Output führen, all diese Elemente organisationalen Lernens bzw. Bestandteile von Lernfaktoren werden mit dem Handlungsbegriff erfasst. Angewendet auf organisationales Lernen, durchdringt dieses weite Handlungskonzept daher die gesamte Idee organisationalen Lernens und vereinfacht sie zugleich. Damit rückt eine wesentliche Forderung, nämlich die der Integrationsfähigkeit einer Metatheorie für die verschiedenen OL-Ansätze über die Form der Reduktion von Begriffen durch Ausweitung ihrer Bedeutung, in greifbare Nähe. Eine weitere Reduktion wird im Sinne der Strukturationstheorie durch den Struktur-Begriff erreicht. Danach werden weite Teile organisationalen Lernens umfasst, die sich - nach den Lernfaktoren orientiert - etwa in Umwelteinflüssen, 58 59
Vgl. etwa die strategische Handlungsvorstellung auf individueller Ebene (Giddens 2008, 288 ff., vgl. auch Crozier/Friedberg 1979, 34). Vgl. den „reciprocal way“ i.S.v. Brown/Duguid (1991, 51).
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der Organisationsstruktur, den Hierarchien der Akteure, den Wissens-Mustern der Organisation oder den Handlungsabläufen im Output wieder finden lassen. Struktur findet sich somit in organisationalen routinisierten Handlungen. Diese Reduktion von der Komplexität organisationalen Lernens, wie sie durch die verschiedenen Lernfaktoren und deren Bezüge untereinander zum Ausdruck kommt, die Konzentration auf Handlung und Struktur, diese Dualität von Struktur und Handlung soll nun anhand der Lernfaktoren weiter verfolgt werden. Obwohl Strukturen menschliches Handeln prägen und dieses unter historischen Bedingungen nicht autonom abläuft, „(T)here is an unstable margin, however, between conduct that can be analysed nomologically as a set of ‚occurrences’“ (Giddens 1976, 160, vgl. „bounded rationality“-Ansätze z.B. Child 1972, Crozier/Friedberg 1979).60 Im Mittelpunkt der Strukturierung steht somit das Verhältnis zwischen Struktur und Handlung, bezogen auf Organisationslernen: zwischen Wissensstruktur und Handlungspraxis (vgl. Rüegg-Stürm 2001, 91). Die Umwelt-Vorstellung kommt im Konzept der Strukturation nicht vor, weil es kein originär organisationstheoretisches Konzept ist. Ortmann/ Sydow/ Windeler (2000, 328) weisen in ihrer Auseinandersetzung mit Giddens dennoch auf diese Perspektive hin, wenn sie auf Regulationen und die Rolle von Institutionen und Institutionalisierung eingehen. Dabei machen sie deutlich, dass eine Beeinflussung der Organisationen durch die Umwelt überproportionale Beachtung findet, hingegen der organisationale Einfluss auf die Umwelt oft in den Hintergrund tritt. Eine weitere Berücksichtigung der Umwelt findet sich in Giddens Kontext-Begriff. Kontext/Soziales/Umwelt wird – und das stellt einen Vorteil gegenüber der Kontingenztheorie dar – unter strukturationsperspektivischer Betrachtung nicht „als einfach gegeben angesehen“ (Windeler 2002, 168). Da der Akteur eben nicht nur als Organisationsmitglied, sondern als gesellschaftlich relevant handelndes Wesen (vgl. Giddens 1976, 160) immer in der Lage ist, sich rollenambivalent zu verhalten, stellt sich auch keine Frage eines ausschließenden „Entweder/Oder“ im Sinne der Organisationszugehörigkeit.61 In der Vorstellung von Giddens kann der Lernfaktor „Strategie“ in den allgemeineren Handlungsbegriff übertragen werden. Dieser jedoch verliert hier, wie auch die Vorstellung von Struktur, seine klare Abgrenzung, wie sie etwa von
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Duncan/Weiss (1979, 118) sprechen von „Redesign“. So ist sind Akteure z.B. als Manager, Mutter, Vereinsmitglied oder Autofahrer verschiedenen Kontexten, Erlebniswelten und Organisationen angehörig und bringen in ihren organisationalen Handlungsspielraum immer „Nicht-Organisationales“ ein. In diesem Zusammenhang werden etwa interorganisationale Netzwerke thematisiert (vgl. Windeler 2002).
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Chandler (1962) gesehen wird: So erlaubt Giddens’ Idee von Dualität und Rekursivität von Struktur „einen gelassenen Umgang mit Kontroversen, die bekanntlich auch in der Organisationstheorie notorisch sind, die wir aber allmählich hinter uns lassen sollten: den Kontroversen in der Frage „Handlung versus Struktur“ (oder System)“ (Ortmann/Sydow/Windeler 2000, 322 f., Hervorh. im Orig.).
Darin sehen Ortmann/Sydow/Windeler wesentliche Vorteile bei Giddens, Vorteile, die sich bei einer makrotheoretischen Anwendung im Zusammenhang von Middle Range Theorien erweisen. Da es sich bei der Strukturationstheorie nicht um eine Organisationstheorie handelt, ist der Strategiebegriff (vgl. Giddens 2008, 288 ff.) nicht im Sinne eines organisationalen Lernfaktors zu verstehen. Das strategische Element ist jedoch in der Konzeption der reflexiven Systemreproduktion durchaus enthalten, da „strategisch situierte Akteure“ über Prozesse selektiver „Informationsfilterung“ versuchen, die Konstitution der Systemreproduktion reflexiv zu regulieren, so dass Dinge erhalten oder verändert werden können (vgl. Giddens 2008, 27).62 Übertragen auf die Organisation lassen sich so die strategischen Ausprägungen der Lernfaktoren „Umwelt“, „Struktur“ und „Strategie“ erfassen, wie sie in der „Wahrnehmung der Umwelt“ – bedingt durch strategische Entscheidungen – z.B. in der Definition und Filterung von „performance gaps“ zum Ausdruck kommen.63 Wie bereits angedeutet wurde, bilden Akteure in der Strukturationstheorie eine ambivalente Schnittstelle zwischen Struktur und Handlung.64 Organisationen sind nicht auf einzelne Akteure angewiesen, könnten aber nicht existieren, wenn alle Akteure nicht mehr vorhanden wären (vgl. Giddens 2008, 24; Argyris/Schön 1996, 8). Das Menschenbild von Giddens ist also im Gegensatz zu den funktionalistischen Annahmen ein „positiveres“.65 Dabei geht Giddens von ei62 63 64 65
Zur zentralen Bedeutungszuschreibung sozialer Akteure heißt es: „The production and reproduction of society thus has to be treated as a skill performance on the part of its members“ (Giddens 1976, 160, Hervorh. im Orig.). Im weitesten Sinne sind Organisationsstrategien aus Sicht der Strukturationstheorie immer „doppelt strategisch“: als strategische Handlungen auf individueller Ebene, die Voraussetzung ist für die strategische Handlung auf organisationaler Ebene (vgl. Lyles 1981, Fiol/Lyles 1985). Giddens benutzt den Begriff der Handelnden und der Akteure synonym (Giddens 2008, xxii). Vergleichbar etwa mit jenem von Argyris/Schön (1978), vgl. auch die proaktiv lernenden „enacting organizations“ i.S.v. Daft/Weick (1984). Giddens betont zudem, dass es eine relative Einigkeit der Sozialtheorien hinsichtlich der Annahme gebe, dass der Mensch sein Verhalten grundsätzlich kontrollieren und verstehen kann und dass die Sprache dabei eine wichtige Rolle spielt (vgl. Giddens 2008, 6). Gesellschaft und Organisation, die auch als „Objekte“ bezeichnet werden können, werden von Subjekten gestaltet. Diese Absage an den Funktionalismus vertritt auch Child (1972) im Sinne des Situativen Ansatzes und gilt für das Wesen organisationalen
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nem aktiven Menschen aus, der sowohl über sein Handlungswissen, also seine persönlichen und sozialen Erfahrungen, wie auch über seine Handlungsfähigkeit (eigenständig in das soziale Geschehen einzugreifen) die soziale Praxis verändern kann (vgl. Giddens 2008, 281 ff.).66 Menschen verändern die Natur und damit ihre Umwelt, aber auch sich selbst (Giddens 1976, 160). Im Sinne eines interpretativen Programms ist der Mensch vernunftbegabt, reflektiert sein Tun jedoch nicht ständig und vor allem nicht vollständig (vgl. Argyris/Schön 1996, 15, Friedberg 1995, 205). Giddens sieht daher in der menschlichen Handlung eine immanente Kontingenz. Neben dem Handlungsvermögen des Menschen ist auch immer die unerkannte Handlungsbedingung sowie die unbeabsichtigte Handlungskonsequenz zu berücksichtigen. Akteure bewegen sich in einem Spannungszustand zwischen Selbstbestimmung und Strukturabhängigkeit (Giddens 2008, 25 f.). Entsprechend dem Handlungsvermögen der Akteure, den Strukturmodalitäten und Ressourcen setzt sich Giddens auch mit dem Machtaspekt im Handeln auseinander: „Processes of structuration involve an interplay of meanings, norms and power“ (Giddens 1976, 161, Hervorh. im Orig.). Damit wird die Konsequenz aus dem freien Spiel im Sinne der sozialen Akteure, wie sie auch bei Crozier/Friedberg (1979) thematisiert wird, im Machtaspekt als einem konstituierenden Element organisationalen Lernens berücksichtigt. Macht wird zudem als akteurgebunden verstanden: Macht wird nur durch Akteure - als Interaktion in Strukturen und im Ressourceneinsatz - ausgeübt (vgl. Giddens 2008, 14 ff.). Sie ist allerdings keine Angelegenheit einzelner Akteure, da diese nie vollständig autonom agieren können, sondern immer in Machtgefüge eingebunden sind. Diese ermöglichen zu gewissen Teilen einen Einfluss der Untergebenen, so dass nicht von unilateralen Machtbeziehungen ausgegangen werden kann („dialectic of control“). Akteure haben letztlich alle Macht, entscheidend ist die Frage, wie sie ihre Fähigkeiten und Ressourcen einsetzen (können). Macht wird als Beeinflussungsmittel, als Medium der Veränderung, verstanden (vgl. Giddens 2008, 14 ff.).67
66
67
Lernens überhaupt, da es ja im Sinne eines Lernverständnisses argumentiert, das vom Individuum herrührt (vgl. Bower/Hilgard 1983). Organisationstheoretisch formuliert: „Mutual adaptions take place where the organizations modifies the individual’s personality and the individual, through the informal activities, modifies the formal organization. These modifications become part of the organization.” (Argyris 1960, 276). Sanktionen sind nicht immer plumpe Gewaltanwendungen oder -androhungen (vgl. Giddens 2008, 175), sondern erfolgen subtiler (z.B. durch stille Missbilligung, Kritik, Zustimmung oder Wertschätzung). Unter Konflikt versteht Giddens den erbitterten Kampf, der zwischen Akteuren oder Gruppen ausgefochten wird, gleichgültig, wie dieser ausgetragen wird oder aus welchen Quellen die Gegner ihre Mittel rekrutieren (vgl. Giddens 2008, 198).
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„Power is the means of getting things done and, as such, directly implied in human action. It is a mistake to treat power as inherently divisive, but there is no doubt that some of the most bitter congflicts in social life are accurately seen als ‘power struggles’ “ (Giddens 2008, 283, vgl. auch Giddens 1976, 124 f.).
Giddens stellt heraus, dass sozialwissenschaftliche Analysen daran interessiert sind, Situationen zu untersuchen, in denen nicht klar ist, welchen Einfluss individuelle Macht wirklich hat und wo diese von außen beschränkt wird (vgl. Giddens 2008, 14 f.). Da er Handlung als eine im Machtkontext befindliche beschreibt, lässt sich dies besonders gut auf Lernprozesse beziehen, deren Eigenschaft ja gerade die Unterschiedlichkeit zweier Zustände thematisiert: „Handeln hängt von der Fähigkeit des Individuums ab, ‚einen Unterschied herzustellen’ zu einem vorher existierenden Zustand oder Ereignisablauf, d.h. irgendeine Form von Macht auszuüben“ (ebd., vgl. Crozier/Friedberg 1979). Versteht man Organisationen als Einheiten reflexiver Koordination (vgl. Windeler 2002), ist strukturationstheoretisch informiertes Organisationslernen daher nicht nur möglich, sondern zwingend logisch, obgleich (wie bei allem Organisationalen) strukturationstheoretisch bei Giddens nicht explizit formuliert. Diese Argumentation kann an all jenen Begriffen vollzogen werden, mit denen sich diskursives und praktisches Bewusstsein – organisationsbezogen verwendet – verbinden lassen: Handlung, Macht und Wissen.68 Nach Giddens ist Wissen auch kollektiver Natur, da Wissen über Strukturen und Handlungen von Akteuren definiert ist. Das Verständnis der „dialectic of control“ konzipiert Wissen und dessen Kontrolle nicht nur in der Organisations68
Diskursives Bewusstsein ist das, „(w)hat actors are able to say, or to give verbal expression to, about social conditions, including especially the conditions of their own action; awareness which has a discursive form” (Giddens 2008, 374). Akteure nutzen nicht Informationen, sondern Informationsinterpretationen als Signifikationsstrukturen, die strukturellen Kontext beeinflussen. Vgl. Argyris/Schön (1996, 29): „An organization’s learning system is interdependent with the theories-in-use that individuals bring to its behavioral world. Individual theories-inuse help to create and maintain the organization’s learning system; this system, in turn, contributes to the reinforcement or restructuring of individual theories in use”. Doch damit ist nur ein Teil der Reflexivität handelnder Individuen begründet, ein Großteil basiert auf praktischem Bewusstsein („practical consciousness“). Es umfasst das, „what actors know (believe) about social conditions, including especially the conditions of their own action, but cannot express discursively; no bar of represssion, however, protects practical consciousness as is the case with the unconscious“ (Giddens 2008, 375). Mit diesen beiden Bewusstseinsformen ausgestattet, verfügen Akteure routinemäßig über ein „theoretisches Verständnis“ (Giddens 2008, 5) ihrer Handlungsgründe (vgl. Giddens 1976, 71 ff., 114 f.). Giddens weist darauf hin, dass die Bewusstheit, die ins praktische Bewusstsein eingebettet ist, eine „außerordentliche Komplexität“ aufweist, wie sie insbesondere in der orthodoxen objektivistischen Sozialwissenschaft ausgeblendet wird (Giddens 2008, 281). Diese Komplexität lässt sich anhand der verschiedenen Handlungsquellen Rationalisierung, Reflexive Steuerung und Motivation weiterverfolgen (vgl. Giddens 2008, 5 f.).
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spitze, sondern überall, wo Akteure eingreifen und damit in der gesamten Organisation. Wissen ist regel- und ressourcenabhängig und wird interaktional verbreitet (Giddens 2008, 91). Die Möglichkeit der Akteure, Bedingungen der Systemreproduktion zu verstehen, hängen nach Giddens von deren sozialer Stellung und ihrer Macht ab, sich Zugang zum Wissen zu verschaffen. Außerdem spielen die Form der Artikulation des Wissens eine Rolle sowie deren Geltungsbedingungen. Schließlich sind auch jene Faktoren einflussreich, die sich als Medienwissen auf die Vermittlung und Verteilung dieses Wissens beziehen (vgl. z.B. Duncan/Weiss 1979, Pautzke 1989, Nonaka 1994). Da die Strukturationstheorie keine Organisationstheorie ist, muss eine organisationale Wissensbasis strukturationstheoretisch konstruiert werden. Die organisationale Wissensbasis kann existieren, wenn Organisationen - als hochgradig reflexive Koordinationseinheiten verstanden - handeln und diese Handlungen diskursiv in Interaktionen ausführen, die auf Speicherung von Informationen angelegt sind. Die Wissensbasis kommt in Strukturen zum Ausdruck und existiert in den Köpfen organisationaler Akteure bzw. ist in deren Aktivitäten „inwendig“ (vgl. Giddens 2008, 25, vgl. auch Argyris/Schön 1996, 36). Organisationale Handlungsroutinen sind folglich Ausdruck dieses Wissens.69 Die organisationstheoretische Frage hinsichtlich des Wissenszugangs lässt sich vor diesem Hintergrund also immer erst nach einer Handlung durch Akteure feststellen, eben erst wenn diese organisational geworden ist. Handlungen werden allerdings auch diskursiv (als in-Betracht-gezogen) verstanden und müssen nicht praktisch ausgeführt werden. Diese Vorstellung bezieht sich auch auf die Frage nach den organisationalen Lernträgern (vgl. Kim 1993), die strukturationstheoretisch „aufgelöst“ wird. Da hinter dieser organisationstheoretischen Frage die Unterscheidung zwischen individuellem und organisationalem Lernsubjekt steckt, strukturationstheoretisch jedoch der Organisationsbegriff ausgeweitet ist und sich nicht auf Akteure und deren Organisationsmitgliedschaft bezieht, sondern (organisationalen) Handlungen und Strukturen verpflichtet ist, „überleben“ strukturationstheoretisch vom Lernprozess letztlich nur die Handlungen: die routinisierten Praktiken professionell agierender Akteure.70 Der Handlungsursprung, die „zündende Idee“, tritt 69 70
Derartige Routinen sind im Detail relativ unerforscht, auch weil sie höchst different sind (vgl. Levitt/March 1988, 327). Levitt/March weisen ferner darauf hin, dass Wissensspeicherung mit Kosten verbunden ist (vgl. auch Hedberg 1981, 15). „Organisationales Lernen kann als Prozess bezeichnet werden, in dem individuelles Wissen von anderen aufgenommen, bewertet, akzeptiert und in eigene Deutungsschemata integriert wird. Die bloße Aufnahme neuen Wissens ist somit eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für organisationale Lernprozesse. Erst wenn Individuen dieses Wissen als relevant für sich einstufen insofern, als sie es in eigene Deutungsschemata integrieren und bei der Umsetzung eigener Handlungsstrategien berücksichtigen, mündet dies in Veränderungen
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hier nicht mehr in Erscheinung, weil er für die Routinen selbst letztlich unerheblich ist.71 Organisational bedeutend aber ist die verbesserte Routine (vgl. Walsh/Ungson 1991, 69). Sie wird von einigen oder vielen Akteuren ausgeführt, sie ist organisational (vgl. Fiol/Lyles 1985, 804). Während sich der Bewusstheitsbegriff bei Giddens auf individuelle Akteure bezieht, bedarf es organisationstheoretischer „Unterfütterungen“ derart, dass Wissen als durch Strukturen begrenzt verstanden wird (Schwarz 2008, 93). Übertragen auf die organisationale Wissensbasis, erklären sich organisationale Lernprozesse als Bestandteile der Strukturation. Dabei wird im Sinne von Duncan/Weiss (1979, 79), wonach organisationales Lernen mehr als die Summe individueller Lernprozesse ist (vgl. auch Fiol/Lyles 1985, 804, Hayn 2007, 13), Wissen akkomodiert. Danach „korrespondiert Akkomodation mit dem Prozess der Veränderung von Strukturen auf der Ebene des Akteurs. Allerdings sind merkbare Veränderungen von sozialen Strukturen nur möglich, wenn sich Wissen und Handeln einer größeren Anzahl von Akteuren verändert. Denn nicht jede individuelle Akkomodation führt zu Strukturveränderungen“ (Schwarz 2008, 93). In diesem Zusammenhang wäre auch die Frage nach dem Organisationalen organisationaler Lernprozesse beantwortet: Organisationales Lernen ist dann erfolgt, wenn eine Veränderung der organisationalen Wissensbasis zu modifizierten Strukturen/Handlungsroutinen führt, also mehrere Akteure ihre Handlungspraktiken im Sinne organisationaler Routinen ändern.72 Organisationslernen ist demnach als Strukturmoment am Wandel organisationaler Routinen „beobachtbar“ und wird vermittelt durch Entscheidungen (vgl. Giddens 2008, 203). Lernen wird also erst über Handlungen und soziale Praktiken organisational.73 Organisationale Lernergebnisse sind als Strukturen zu ver-
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ein, die organisationales Lernen begründen“ Hanft (1998, 51 ff., Hervorh. im Orig.). Vgl. zur Integration in das eigene Deutungsschema auch Nonaka (1994)/ 2.1.5.1. Gleiches gilt auch für die Motivation lernender Akteure. Zudem zeigen sich an dieser Stelle organisationstheoretisch deutlich Bedeutung und Auswirkung einer Organisationsdefinition: Wo Organisationstheorien die Entscheidung über eine klare Begriffsbestimmung der Organisation (smitglieder) scheuen, verhindern sie die Zuordnung zum „ideenzündenden Subjekt“. Dabei muss auf eine „interessante Brechung“ hingewiesen werden: Die Veränderung der Organisationalen Wissensbasis kann durchaus individuellen Ursprungs sein, ist aber bereits im organisational-diskursiven Akt oft kaum mehr zu verorten. Der individuelle Akteur löst sich gewissermaßen in der Strukturation organisational auf. Vgl. Argyris (1960, 274) und Duncan/Weiss (1979, 89): „The overall organizational knowledge base emerges out of the process of exchange, evaluation, and integration of knowledge. Like any organizational process, the only actors are individuals. But it is a social process, one that is extraindividual. It is comprised of the interaction of individuals and not their isolated behavior.”
2.2 Lernfaktoren und das Problem von Rekursivität: strukturationstheoretische Anleihen
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stehen, die organisationale Handlungen ermöglichen und reproduzieren (vgl. Giddens 1976, 124 f.).74 „Fehlleistungen“ sind, ähnlich wie Störungen von Routinen, Gründe für Handlungsreflexionen (vgl. Giddens 2008, 5). Damit sind Lernfaktoren wie „Umwelt“ und „Output“ (bzw. ihre Bestandteile wie z.B. performance gaps) strukturationstheoretisch erklärbar. Sonderformen organisationalen Lernens sind durch Widersprüche auf Strukturebene konzeptionell berücksichtigt (vgl. 2.1.5.5 bzw. Giddens 2008, 193 ff.): Gemeint ist hier der „Gegensatz von Strukturprinzipien, und zwar so, dass diese aufeinander angewiesen sind, sich aber doch wechselseitig negieren; paradoxe Effekte, die aus den entsprechenden Umständen folgen“. Widersprüche können organisationales Lernen forcieren (vgl. Giddens 2008, 198 f.) und bedeuten keine „functional incompatibility“ (Giddens 1976, 128). Widersprüche werden vermittelt durch Mythen (vgl. Giddens 2008, 194) und entstehen durch „unintended consequences of intended acts“ (Giddens 1976, 77). Unter strukturationstheoretischer Perspektive können Probleme der Outputvorstellung erklärt werden. Demnach sind Ergebnisse organisationalen Lernens in Handlung und Struktur zu unterteilen. Dabei ist allerdings ein „festes, dingliches Ergebnis“ nicht zu erwarten. Die bisher erarbeiteten Vorstellungen von „Output“ mögen zwar der Handlung zuzurechnen sein, sind aber nicht sonderlich erheblich, da sie in Giddens’ Vorstellung – entgegen denen der Organisationsforschung – keinen Fixpunkt abgeben. Anders formuliert: Welchen Sinn macht das Festhalten an einer organisationalen Handlung, an einem Output, wie z.B. einem verbesserten Produkt, wenn ebendieses Produkt gleichzeitig oder später Anlass zum Ausbau von Optimierungen bietet und so gleichzeitig wieder Ursprung oder Modifikation neuer Strukturen und Handlungen bedeutet? Zusätzlich muss der 74
Einen Sonderfall, der allerdings auch dazu gehört, stellen Lernprozesse dar, deren Ergebnis nicht in einer offensichtlichen Handlung, sondern in einer bewussten, weil „gelernten“, Handlungsunterlassung besteht (z.B.: „Haben wir einen Chemieunfall und verschmutzen wir Gewässer, schweigen wir lieber und warten ab. Das war auch damals das Beste.“ Ein anderes Beispiel bietet der Zwieback-Hersteller Brandt: Durch Unterlassung aufwändiger Markenumstellungen konnte sich das mittlerweile antiquiert erscheinende Logo zum „Kult“ entwickeln, ausgerechnet unter jungen Leuten, die nicht gerade zum klassischen Zwieback-Klientel zu rechnen sind). Begründet liegt diese Zuordnung im weit gefassten Handlungsbegriff „as the stream of actual or contemplated causal interventions of corporeal beings in the ongoing process of events-in-the-world“ (Giddens 1976, 75, Hervorh. im Orig.). Damit kann er auf den diskursiven Austausch bezogen werden: „Action is a continuous flow of ‚lived-through experience’; its categorization into discrete sectors or ‚pieces’ depends upon a reflexive process of attention of the actor, or the regard of another“ (Giddens 1976, 74). Solches „Handlungsunterlassungslernen“ dürfte individuell äußerst zahlreich sein und einen typischen Bestandteil diskursiven wie praktischen Bewusstseins ausmachen und auch auf organisationaler Ebene weit verbreitet sein.
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Grundsatz permanenter Optionalität beachtet werden. Output ist nicht steuerbar, Akteure können immer auch anders handeln.75 Besonders für Lernprozesse, die nach einigen Mangementverständnissen „entworfen“ werden können, bietet die Strukturationstheorie einer festen Outputvorstellung keinen Halt. 2.2.3 Forschungsperspektive und Zeitbezug Giddens versucht den Schwerpunkt der Sozialforschung vom Individuum und von der Gesellschaft wegzubekommen und setzt dabei auf eine „Reflexivität“ allen menschlichen Handelns (vgl. das Reflexionsverständnis bei Argyris/Schön 1978). Eine solche Einschätzung der Potentiale von Individuen, ihrer Reflexivität und ihrer Gestaltungsmöglichkeit ist fruchtbringend für Organisationslernen mit akteurzentrierter Perspektive. Diese Perspektive auf den Forschungsprozess und die Forschungsmethode stellt den Sozialwissenschaftler nicht über den Forschungsgegenstand und rechtfertigt qualitative Forschungsansätze und die Methode über eine Falluntersuchung einen Theorie- und Praxisbezug herzustellen. Gerade für die vorliegende Analyse ist es entscheidend, über das Bewusstsein von Akteuren in Experteninterviews sich den Handelnden anzunähern, sie zu verstehen. In diesem Sinne ist eine interpretative Soziologie sensu Giddens also in der Lage, die besondere Rolle der Handelnden adäquat zu berücksichtigen. Um aus Perspektive der Organisationsforschung an die „Kerne organisationalen Verhaltens“ zu gelangen, kann nach Giddens nicht einfach „die Struktur“ oder „die organisationale Handlung“ untersucht werden, weil erstens Strukturen nach Giddens nicht den typischen Strukturen der Organisationsforschung entsprechen und zweitens, Handlungen nach Giddens nie unvermittelte Aktionen von Akteuren sind, nur diese jedoch eigentlich befragt werden können. Daher müssen aus der Kommunikation Regelausformungen ermittelt werden (vgl. Giddens 2008, 25 ff.). Sie sind Bezugspunkte der befragten Akteure. Von daher sind es nicht Kommunikation oder Struktur, die untersucht werden (vgl. zum empirischen Aspekt der Strukturationstheorie: Giddens 2008, 281 ff.). An dieser Stelle muss auch die Bedeutung der Interpretation eines organisationalen Lernprozesses strukturationstheoretisch aufgegriffen werden. Diese Vermittlungsleistung ist forschungsrelevant, weniger die Kommunikation der Akteure im Interview oder die Kommunikation (Interaktion/Handlung) „der
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Insofern sträubt sich Giddens gegen funktionalistische Vorstellungen (vgl. Giddens 2008, 293 ff.).
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Organisation“ an sich (vgl. Giddens 2008, 339 f.).76 Strukturationsvorstellungen können angesichts konkreter organisationaler Praktiken lediglich theoretischanalytische Markierungen darstellen (vgl. Giddens 2008, 28 f.). In diesem Sinne spielt die Wissenschaft ihre Erkenntnisse in die Gesellschaft zurück (vgl. Giddens 1976, Argyris/Schön 1996, Friedberg 1995, Giddens 2008). Doch dabei treten einige Einschränkungen auf, weil sich die Untersuchungsobjekte „selbst verändern“. Soziologie befasst sich nicht mit einer „vor-gegebenen“ Welt von Objekten, sondern mit einer, die sich durch Aktivitäten von Subjekten konstituiert und produziert (vgl. Giddens 1976, 160, Argyris/Schön 1996, 48 f.). Doch diese reflexiven Selbstveränderungen laufen zudem noch äußerst unbeständig ab: „There are no universal laws in the social sciences, and there will not be any – not, first and foremost, because methods of empirical testing and validation are somehow inadequate but because (...) the causal conditions involved in generalizations about human social conduct are inherently unstable in respect of the very knowledge (or beliefs) that actors have about circumstances of their own action“ (Giddens 2008, xxxii).
Die Forschung ist somit auf Interpretationen angewiesen, ihr Wissen ist aus dem Forschungsobjekt selbst heraus beeinflussbar.77 Gerade dann, wenn Organisationen ihre Lernprozesse unbewusst vollziehen, ist die Interpretation (dieser Momente der Strukturation) als organisationales Lernen zunächst nur Individualakteuren, die nicht organisational agieren, Interventionisten oder der Forschung (vgl. z.B. Friedberg 1995, Argyris/Schön 1996) möglich. Das Aufeinandertreffen von Interpretationen der Sozialwissenschaften und denen, deren Handeln von den Sozialwissenschaftlern untersucht wird, also den handelnden Laien, bezeichnet Giddens als „doppelte Hermeneutik“ (Giddens 1976, 79, 162, Giddens 2008, xxxii). Eine Trennlinie zwischen den Laieninterpretationen und denen der Sozialwissenschaften zu ziehen, ist allerdings nicht möglich (vgl. Giddens 1976, 161, Giddens 2008, xxxii). Sozialforschung muss daher selbst als kulturell eingebettet verstanden werden (vgl. Giddens 2008, 284) und eine Kompatibilität zwischen den Begrifflichkeiten und Parametern des Untersuchungsgegenstands sowie den Rezipienten der Forschungsresultate herstellen. Dabei spielen der literarische Stil und die Dichte der Beschreibungen eine wichtige Rolle. Der Sozialwissenschaftler wird dabei als „Kommunikator“ 76 77
Die Interpretationsprobleme sind angesichts der Fülle an Faktoren so groß, dass oft die vorhandenen Muster (Signifikationen) konserviert werden, so dass es weniger auf die Geschichte selbst als vielmehr auf deren Deutungsrahmen ankommt (vgl. Levitt/March 1988, 324). Der soziologische Beobachter kann soziales Leben als „Phänomen“ nicht beobachten, ohne daß seine Kenntnis darüber seinen „Forschungsgegenstand“ mitbestimmt. (vgl. Giddens 1976, 161).
86
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
betrachtet (Giddens 2008, 285). Allerdings befreit Giddens sozialwissenschaftliche Studien von überhöhten Ansprüchen. Aufgrund der enormen Komplexität ist in institutionellen Analysen eine erschöpfende Darstellung nicht möglich (vgl. Kieser 2006b, 240, Giddens 2008, 285).78 Aspekte der Organisationsgeschichte werden strukturationstheoretisch explizit berücksichtigt. Dass Strukturen außerhalb von Raum und Zeit existieren, bedeutet nicht, dass sie keine Geschichte haben (vgl. Giddens 1976, 127 ff.). „A structure can be discribed ‘out of time’, but its ‘functioning’ cannot.” (Giddens 1976, 120, Hervorh. im Orig.). Menschliches Handeln funktioniert nicht ohne Vergangenheitsbezug: „The realm of human agency is bounded. Men produce society, but they do so as historically located actors, and not under conditions of their own choosing“ (Giddens 1976, 160, Hervorh. im Orig.). Daher bedürfen sozialwissenschaftliche Untersuchungen der Einbettung in raum-zeitliche Bezüge, um diese mit den institutionalisierten Praktiken zu konfrontieren (vgl. Giddens 2008, 297 f.).79 Allen diesen Handlungen wohnen jedoch Spielräume für Alternativen inne, die Geschichte prägen.80 Dabei wird Geschichte verstanden als „the structuration of events in time and space through the continual interplay of agency and structure: the interconnection of the mundane nature of day-to-day life with institutional forms stretching over immense spans of time and space” (Giddens 2008, 362 f.).
Da Verhaltensstrukturen immer auch Sinnhaftigkeit verlangen (vgl. Giddens 1979), können Bezüge auf frühere Erkenntnisse nicht einfach ignoriert werden, so dass immer auch von „Reibungsverlusten für radikales Organisationslernen“ ausgegangen werden muss, Altes zu gewissem Teil immer überleben wird. Die plötzliche Änderung durch radikale Lernprozesse ist strukturationstheoretisch eher unwahrscheinlich, da die bisher erlangte Stabilität von Reproduktionskreis-
78
79 80
Das Konzept der Dualität von Struktur ist von den vielfältigen Bedeutungen der Begriffe „Bedingungen“ und „Folgen“ des Handelns geprägt (vgl. Giddens 2008, 297). Insofern kann strukturationstheoretisch auch keine klare Ursache-Wirkungszuschreibung versprochen werden. Unter „zeitlichen Kontexten“ kann auch die Tatsache verstanden werden, dass Akteure ihre Informationen z.T. nur zeitlich limitiert oder sogar nur einmalig zu anderen Akteuren transportieren können (z.B. durch Fristen, begrenzte Gesprächsdauer etc.). Giddens (2008, 256, 199 ff.) verweist dabei auf die Redewendung „human beings make history“. Giddens lehnt ein evolutionäres Modell der Menschheitsgeschichte ab (Giddens 2008, 236 ff.).
2.2 Lernfaktoren und das Problem von Rekursivität: strukturationstheoretische Anleihen
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läufen (Giddens 2008, 190 f.; 1996a, 173) in ihrer Gänze in Raum und Zeit kaum radikal geändert werden kann („inertia“).81 Organisationstheorien sind nach strukturationstheoretischem Verständnis gerade im Kontext von Organisationsgeschichte zu betrachten, organisationales Lernen gehört somit unmittelbar in zeitlich-historischen Zusammenhang: „The reversible time of institutions is both the condition and the outcome of the practices organized in the community of daily life, the main substantive form of the duality of structure“ (Giddens 2008, 36). Außerdem spricht sich Giddens nicht zuletzt wegen der zeitlichen Aspekte der Strukturationstheorie für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit aus (vgl. Giddens 2008, 356 ff.). Sozialwissenschaftler, Historiker und Geographen müssen sich gemeinsam mit dem Phänomen Gesellschaft in Zeit und Raum befassen, Geschichte könne gewissermaßen als „Wissenschaft der ‚Vergangenheit’“ bezeichnet werden (vgl. Giddens 2008, 286).82 2.2.4 Implikationen für die vorliegende Arbeit Die Auseinandersetzung mit Lernfaktoren konnte die ausgeprägte Vielschichtigkeit organisationalen Lernens verdeutlichen. Dies führte zu den makrotheoretischen Vorstellungen der Strukturation, welche ermöglichen, diese Komplexität auf die Rekursivität zwischen Struktur und Handlung zu reduzieren. Wichtige Anleihen der strukturationstheoretischen Überlegungen können in den folgenden Punkten zusammengefasst werden:
Die Frage nach den Lernträgern kann strukturationstheoretisch beantwortet werden: Nur Individualakteure können lernen. Vor diesem Hintergrund ist es präziser von Lernen in Organisationen zu sprechen. Da Lernergebnisse durch Output (Struktur und Handlung) organisational werden können, er-
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Damit verbunden ist die „Longue Durée“ der Institutionen. Giddens betont so die prinzipiell länger angelegte Existenz z.B. von Organisationen, im Gegensatz zu der von Individuen oder Elementen der Dauer von Routinen des täglichen Lebens (vgl. Giddens 2008, 34 f.). Während die Durée der Alltagserfahrung, die sich alltäglich wiederholenden Elemente sozialer Reproduktion, ebenso wie die „Longue Durée“ der Institutionen als „reversible Zeiten“ bezeichnet werden, ist menschliches Leben von Beginn an endlich („irreversible Zeit“). Historische Forschung ist nach Giddens (2008, 358) sozialwissenschaftliche Forschung und umgekehrt. So arbeiten Soziologen auch mit Dokumenten und nicht nur mit Interviews. Soziologische Mühen der Interviewdurchführung und Auswertung werden dabei allerdings geringer eingeschätzt als die Durchsicht und Arbeit mit historischen Quellen zumal die Kontextualität der Vergangenheit und die geringe Quellenlage eigene Herausforderungen darstellen (vgl. Giddens 2008, 357). Mit dieser Anmerkung vermag Giddens allerdings kaum die von ihm geforderte Auflösung disziplinärer Grenzen zu unterstreichen.
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
scheint der Begriff organisationalen Lernens summarisch allerdings dann gerechtfertigt, wenn Vorstellungen eines offenen Systems nicht im Mittelpunkt stehen. Durch die Strukturation und das damit verbundene offene Systemverständnis kann die Rekursivität der Lernfaktoren erklärt werden: Umwelt, Struktur, Strategie, Akteur, Wissensbasis und Output stehen im Sinne der Strukturation in einem rekursiven Verhältnis zueinander. Organisationales Lernen kann als Moment der Strukturation verstanden werden. Als Teil der Sozialforschung ist die Untersuchung organisationaler Lernprozesse auf erklärende Interpretationen angewiesen. Organisationslernen und organisationaler Wandel können nicht außerhalb historischer Perspektiven gedacht werden.
2.3 Die zeitlich-historische Perspektive als vernachlässigte Determinante? Der zeitlich-historische Aspekt im Organisationslernen ist nicht nur dieser Arbeit inhärent, weil sich das Phänomen des Organisationslernens grundsätzlich als Prozess darstellt. Prozesse verfügen als Zeitabläufe über verschiedene Zeitpunkte (z.B. den des Lernbeginns oder das Auftauchen eines Lernergebnisses). Insbesondere bei langfristigen Lernprozessen spielt dies eine wichtige Rolle. Ebenso wie organisationales Lernen und Organisationskultur unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. 2.1.5.6), stehen Organisationskultur und Zeit, vermittelt durch die Organisationsgeschichte, in rekursivem Zusammenhang, so dass auch hier eine klare Trennung unmöglich ist. Organisationslernen und Organisationskultur setzen in der Literatur die Organisationsgeschichte voraus, behandeln diesen Aspekt jedoch weder ausführlich noch systematisch. Zwar beruft sich die Organisationskulturforschung immer wieder auf Geschichten und Mythen (vgl. Sackmann 2002), es gibt jedoch relativ wenig Literatur von Seiten der Organisationskulturforschung zur Organisationsgeschichte. So wird die Unternehmensgeschichte lediglich als Gefahr einer Trägheit gesehen (vgl. Ebers 1988, Drumm 1988, Schneider 1988 und Wollnik 1988, May 1997), besonders wenn radikal neue Konzepte gefordert (vgl. Weber/Antal 2003, 358) und selbst in neueren Darstellungen teilweise gar nicht erwähnt sind (vgl. Sackmann 2003, als Ausnahme: Dierkes 2003, 318). In der Organisationskulturforschung beschränkt sich das Interesse eher auf Unternehmensgeschichten im Unternehmen (vgl. Ebers 1988), weniger auf die Unternehmensgeschichte des Unternehmens selbst.
2.3 Die zeitlich-historische Perspektive als vernachlässigte Determinante?
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Mit Organisationslernforschung, die sich speziell auf vergangenes OL bezieht, liegt ein etwas anderer Zugang zur Unternehmenskultur vor, als im bisherigen Sinne einer Konzeptionsorientierung (vgl. z.B. Dierkes 1990, Dierkes/ Rosenstiel/Steger 1993, Kremmel 1996, Geller 1996, Dierkes 2003, Dubs 2003). Die zeitlich-historische Perspektive organisationalen Lernens hat bislang verschiedene Autoren beschäftigt (z.B. Walsh/Ungson 1991, Berthoin Antal 1998, Weber/Berthoin Antal 2003, Fear 2003, ferner Roth 1996, Roth/Kleiner 1998, Bradbury/Mainemelis 2001).83 Dabei geht es darum, die Bedeutung von Zeit und Geschichte im Zusammenhang der Forschungsfrage aufzuzeigen und darum, auf die Dauer von Lernprozessen einzugehen sowie auf das Potenzial der Organisationsgeschichte zu verweisen. Selbst nach gegenwärtigem Literaturüberblick ist die Auseinandersetzung mit dem Komplex Zeit und Organisationslernen kaum ausgeprägt und berücksichtigt diesen Aspekt eher auf grundsätzliche Art und Weise (vgl. Weber/Berthoin Antal 2003, 352). Besonders im Planungsbestandteil organisationaler Lernprozesse und im Sinne der Lerngeschwindigkeit spielt Zeit eine wichtige Rolle (vgl. Schein 1993, Wahren 1996, 165 ff., Wildemann 1995, 34, Friedrich/Raffel 1998, 66 ff.)84. Diese Beobachtung und die Verwunderung über die unzureichend erscheinende Auseinandersetzung mit dem Thema Zeit gelten allerdings auch für die Forschung zur Organisationskultur (May 1997, 229). Das mag an der grundsätzlich engen Verflechtung dieser beiden Forschungsgebiete liegen (vgl. Weber/Berthoin Antal 2003, 358), was zusätzlich die Frage aufwirft, in welchem der beiden Bereiche bzw. wie das Thema Zeit und Organisationslernen sinnvollerweise behandelt werden sollte. Allgemein spielt die Zeit in der Auseinandersetzung mit Organisationslernen eine wichtige Rolle. Dabei bezieht sich die Erkenntnisgrundlage letztlich immer aus a) den gegenwärtigen und b) den vergangenen Bedingungen und Lernprozessen bzw. Lernergebnissen. Daher wird organisationales Lernen zu Recht ausdrücklich in den historischen Kontext gestellt: „Organizational learning is viewed as routine-base, historiy-dependent, and target-oriented.” (Levitt/March 1988, 319). Dabei geht es darum, die Messung und Analyse organisationaler Lernprozesse vorzunehmen und Organisation und Management mit besseren Methoden organisationales Lernen differenziert darzustellen (vgl. Fyol/Lyles 1985, 811). Die Zeit erlangt, wie bei dem Kulturentstehungsprozess, eine entscheidende Bedeutung, weil sie als eine Abfolge von Ereignissen gesehen werden kann (vgl. Dierkes 1977, Weber 2003). 83 84
Damit folgt die Literatur des Organisationslernens den Organisationstheorien allgemein, die sich erst relativ spät gezielt den historischen Perspektiven zu öffnen beginnen, obwohl dies schon seit längerem gefordert wird (vgl. Booth/Rowlinson 2006, 6 ff.). Sattelberger (1994, 23) spricht in diesem Zusammenhang vom „Planungsmythos“.
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
2.3.1 Organisationslernen in seiner Prozessrelation: die Dauer Die Zeit spielt eine wichtige Rolle hinsichtlich der Dauer des organisationalen Lernprozesses. Diese kann im Rahmen definitorischer und einflussbezogener Faktoren bestimmt werden. Wie beim Thema Organisationslernen und Zeit allgemein ist auch im Besonderen zur Frage, unter welchen Bedingungen wie viel Zeit gebraucht wird, kaum Literatur zu finden (vgl. Weber/Antal 2003, 353). Dennoch gibt es verschiedene Beispiele unterschiedlichster Einflussfaktoren auf die Dauer des Lernens, teilweise auch auf die Qualität des Gelernten (vgl. Wahren 1996, 167). In diesem Sinne wird Zeit als Indikator für den Erfolg des Organisationslernprozesses benutzt und es spielt die Zeitwahrnehmung der Befragten eine Rolle, z.B. dann, wenn die Geschwindigkeit grundsätzlich positiv bewertet wird (Wildemann 1995, 34, Wahren 1996, 165 ff.). Weber/Berthoin Antal (2003) fassen verschiedene Aspekte der Literatur zur Dauer des Lernens zusammen, um deren Bedeutung für organisationales Lernen herauszustellen. Wenn Bestätigung, also Erfolg, scheinbar zufällig eintritt, ergibt sich ein langsamerer Lernprozess. Schnelles Lernen wird hingegen durch Erfolge erreicht. Fehler sind im Organisationslernen nicht gleichzusetzen mit fehlendem Erfolg. Im Gegenteil: Fehler sind für Lernprozesse nützlich. Sie können die Organisation aufmerksam(er) machen. Ebenso erhöht sich durch ständige Bestätigung die Lerngeschwindigkeit und Anpassung einer Organisation. Unabhängig vom Erfolg wird der Prozess der Problemdefinition durch die Eigenschaften organisationaler Entscheidungsprozesse mehrfach durchlaufen (vgl. Lyles 1981, 69 ff., vgl. 2.1.4). Ebenso wirkt die Organisationssozialisation verzögernd, da es immer wieder einer gewissen Zeit bedarf, bis die neuen Mitglieder in die Gepflogenheiten der Organisation involviert sind, in dieser Zeit also noch nicht oder kaum lernen können, so dass sogar Überschneidungsbereiche mit Evolutionskonzepten ausgemacht werden (vgl. Schreyögg/Noss 1997). Einen anderen Einfluss auf die Dauer des Organisationslernens übt Druck aus. Lernen unter Druck dauert länger, wenn das Verhältnis zwischen dem Druck und dem Problem unklar ist.85 Eine andere Form des Drucks wird durch die Simultanität von Anforderungen gebildet, die aus der Umwelt auf die Organisation einwirken. Zeitknappheit und die damit verbundene angegriffene organisationale Zeitautonomie schränken die Lernkapazität ein. Als Überraschungsmoment und damit auch als schnelles Organisationslernen fungiert die Synchronisation von Ereignissen und die Wahrnehmung von „windows of opportunities“ (Weber/Berthoin Antal 2003). Ambivalent hingegen sind negative Gefühle im Lern85
Druck kann z.B. in Unternehmen durch den Aufsichtsrats ausgeübt werden (vgl. zur Rolle des Aufsichtsrats im Organisationslernen: Tainio/Lilja/Santalainen 2003).
2.3 Die zeitlich-historische Perspektive als vernachlässigte Determinante?
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prozess. Sie können nützen und/oder schaden (Schein 1993, Geißler 1998, 177 f., Weber/Berthoin Antal 2003, 354). Die Dauer von Organisationslernen ist eine lernprozessimmanente Komponente der Zeit und geht implizit von der prinzipiellen Möglichkeit aus, einen Abschluss feststellen zu können. Daher ist diese Aussage über einen organisationalen Lernvorgang, wie dieser an sich, von der jeweiligen Definition, Beobachtung und Interpretation abhängig. Sie ist nicht zuletzt ein Politikum, wenn z.B. als langfristig bezeichnete Lernprozesse negativ konotiert sind. 2.3.2 Organisationslernen in seiner Quellenrelation: Zeitwahrnehmung und Zeitbesetzung Während die Prozessrelation Dauer innerhalb der Auseinandersetzungen mit organisationalem Lernen gewissermaßen als „hauseigene“ Thematik durchaus Beachtung findet, ist noch wenig darüber reflektiert worden, welche Rolle die Geschichte in diesem Zusammenhang spielt. „Verzerrungseffekte“ sind weder zu vermeiden noch zu ignorieren. Eine Auseinandersetzung mit vergangenen Lernprozessen ist jedoch verpflichtet, sie adäquat zu reflektieren. 2.3.2.1 Die Akteure Die Auseinandersetzung mit vergangenem oder in der Vergangenheit begonnenem Organisationslernen umfasst die Rolle der Akteure, der Geschichte und deren Einfluss auf organisationales Lernen. Walsh/Ungson (1991, 66f.) heben besonders die Bedeutung alter Mitarbeiter hervor, denen sie die Rolle „externer Archive“ zuschreiben. Sie betonen, dass überhaupt nur Individuen die Möglichkeit und die Fähigkeit haben, voll und ganz zu verstehen, warum und in welchem Kontext organisationale Entscheidungen gefällt wurden (vgl. Kim 1993, 44). Ein solches Verständnis kann durch einen analytischen Zugang des Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung („dicision stiumulus“ und „organizational response“) gewonnen werden. Nur so können Fragen nach dem gesamten Entscheidungsablauf beantwortet werden. Außerdem weisen die Autoren darauf hin, dass Individuen im Rahmen der Organisationskultur die einzigen sind, die die Gründe der Entscheidungen erklären können, und dieses Wissen über Kultur und Zeit transportieren. Dennoch können Fehler bei der Überlieferung und Interpretation auftauchen, so dass eine exakte Begründung geradezu unmöglich erscheint (vgl. Walsh/Ungson 1991, 68).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Individuelle Akteure werden unterteilt in diejenigen, die direkt oder indirekt den historischen Lernprozess erlebt haben, und diejenigen, welche erst später vom Lernprozess erfahren haben bzw. in den daraus resultierenden Routinen, Strukturen und Prozessen arbeiteten oder arbeiten. Eine Schnittmenge bilden wiederum diejenigen Organisationsmitglieder, die im Lernprozess und danach in der Organisation aktiv waren oder sind. Levitt/March (1988) betonen in diesem Zusammenhang die Bedeutung subjektiv erlebter Geschichte. Organisationale Veränderungen außerhalb dieses Erfahrungshorizonts beeinflussen dagegen die Bewertung individueller Akteure von Geschichte, Ergebnissen und Zielen. Die zeitliche Dimension wird folglich in Zeitwahrnehmung und Zeitbesetzung unterteilt (vgl. Giddens 2008, xxvii f.). Bei der Zeitwahrnehmung geht es vor allem darum, wie die Zeit an sich von den Individuen bzw. der Organisation erlebt wird, wie die Zeit geplant, wie sie gemessen wird. Aussagen zur Zeitwahrnehmung erstrecken sich sowohl auf die Vergangenheit als auch Gegenwart und Zukunft. Die Zeitbesetzung hingegen geht überwiegend mit vergangenen Ereignissen um und betrachtet alles Gewesene rückblickend mit einer selektiven Zusammenstellung, die sich in der Regel kollektiv entwickelt hat, (noch) entwickelt oder entwickeln wird.86 In Frage kommen hierbei sämtliche Geschehnisse, gleich welcher Art. Geschichte besetzt naturgemäß die Zeitdimension im Nachhinein.87 Die (Organisations-)Kultur stellt in beiden Dimensionen die Grundlage für das organisationale Zeitempfinden und – auf die Vergangenheit bezogen – die Zeitbesetzung (Organisationsgeschichte) dar.88 Während es bei der Zeitwahrnehmung um ein individuelles oder kollektives Erleben geht, das größtenteils nicht steuerbar ist, sind Organisationsgeschichte und Organisationskultur (z.T. gezielt) gestaltbar, laufen aber – wie auch die Zeitwahrnehmung – grundsätzlich unabhängig vom Lernprozess ab, bzw. sind kein unmittelbares Regulativ für die Lerndauer. (Organisations-)Kultur, Zeitwahrnehmungen und Zeitbesetzung existieren, ob die Organisation lernt oder nicht. Man kann sie somit als „eigenständige Lernumstände“ bezeichnen. Akteure spielen eine wichtige Rolle bei den „subjektiven“ Zeitaspekten, welche der Zeit „zusätzlich aufgrund von Wertvorstellungen der Aktivitätsträger, von zugewiesenen Bedeutungsgehalten, eingrenzenden Bedingungen, situativen Begleitumständen usw. 86 87 88
Zukunftsbezogene Zeitbesetzungen sind etwa Planungen, die schon in der Gegenwart gewisse Kräfte binden (z.B. besondere Projekte). Vgl. in diesem Zusammenhang z.B. den Einfluss mächtiger Entscheider in Organisationen auf „organizational memory“ und „collective mind“ (Booth/Rowlinson 2006, 11 f.). Auch die Geschichtsschreibung Dritter (z.B. die Unternehmensgeschichte) speist sich daher aus der Organisationskultur.
2.3 Die zeitlich-historische Perspektive als vernachlässigte Determinante?
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ein spezifisches und jeweils weitgehend individuelles Gepräge verleihen“ (Perich 1992: 245, zit. nach Weber 2003, 15).
Individuelle Lernträger reflektieren in ihrer Zeitwahrnehmung einen Teil der damaligen Bedingungen, die das organisationale Lernen begleitet haben. Somit können rückwirkend die organisationalen Rahmenbedingungen der Einzelnen erforscht werden (Geißler 1998, 175 ff.). Dieser Wahrnehmungsaspekt ist nicht unbedeutend, weil die Zeitwahrnehmungen zwar geteilt werden können, aber immer subjektiv bleiben. Auch nicht unerheblich ist der Aspekt der Einflussnahme durch die Geschichtsschreibung auf diese Wahrnehmenden. Damit ist die inhaltliche Besetzung dieser Zeitwahrnehmung gemeint (z.B. durch die Rezeption von Unternehmensgeschichte). Zusätzlich kann auch in Gegenwart oder Zukunft Einfluss auf diese Wahrnehmung genommen werden (etwa durch das Management oder Dritte, indem Vergangenes schlecht geredet, beschönigt oder schlicht manipuliert wird). Das Ziel dieser Überlegungen besteht darin, Vorstellungen über die Zeitwahrnehmungen zu bekommen bzw. zu reflektieren, um Aussagen der individuellen Lernträger in ihren Entstehungskontext einordnen zu können.89 89
Diese Zeitaspekte werden differenziert. Clark (1985) unterscheidet „even time“, charakterisiert durch die Teilbarkeit in gleiche, kumulierende/kumulierbare Einheiten und „event time“, die sich auf bedeutende Ereignisse bezieht, die das Leben nachhaltig beeinflussen (vgl. Weber 2003, 15). Auf organisationaler Ebene wird in der Organisationstheorie v.a. in der Organisationskulturdebatte zwischen dem Zeitbegriff der Organisationstheorie, den Zeitlichkeiten der Organisationen und denen der Akteure getrennt (May 1997, 230). May verweist auf drei Zeitaspekte: linear (Pfeffer 1981), zyklisch (Berg 1985, Schein 1985, Gagliardi 1986, Dierkes 1988) und dominant durch die organisationskulturelle Vergangenheit für Gegenwart und Zukunft. Organisationale Zeitwahrnehmungen können prinzipiell unterschieden werden. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um eine Einteilung der Zeitwahrnehmungen in die Bereiche objektiv und subjektiv (Weber/Berthoin Antal 2003, 352). Objektiv sind Zeitvorstellungen, die klar auf die Messbarkeit dieser Dimension hinausläuft. Die objektiv mess- und damit auch (über)prüfbare Zeit steht somit einem in dieser Hinsicht unkontrollierbaren Zeitverständnis gegenüber, einer eher subjektiv geprägten Betrachtungsweise. Damit sind die Zeitvorstellungen gemeint, die sich nicht an objektive Kriterien halten, sondern an inhaltlich (subjektiv, aber durchaus kollektiv) geprägte Momente oder Phasen, die zur Zeitstrukturierung herangezogen werden. Folgt man dieser Zeitwahrnehmungsbetrachtung, kann nach May (1997), ähnlich der bereits erwähnten Einteilung in objektive und subjektive Wahrnehmung, grundsätzlich zwischen homogener und heterogener Zeit (und darüber hinaus viel stärker) differenziert werden. So werden homogene Zeitwahrnehmungen als linear und zyklisch betrachtet. Die lineare Variante ist etwa in der westlichen skalierbaren Zeitvorstellung durch schlichten Ablauf vertreten, während wiederkehrende Zeitlichkeiten, z.B. Jahreszeiten als homogen zyklisch bezeichnet werden. Heterogene Zeitvorstellungen vermischen lineare und zyklische Vorstellungen und sind in finite und infinite Muster unterteilt und außerdem in acht verschiedenen Zeittypen (andauernde, täu-
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Auch wenn die vorgestellten Organisationszeitwahrnehmungen, wie auch in dieser Arbeit, in OL-Untersuchungen in ihrer Gänze oft nicht erforscht werden (können), sollte an dieser Stelle die Bedeutung unterschiedlicher Zeitverständnisse berücksichtigt werden (vgl. Baur 2005, Rosa 2005). Innerhalb eines globalisierten OL-Verständnisses sind z.B. auch die asiatischen heterogenen Zeitvorstellungen (vgl. Nonaka/Takeuchi 1997) von Belang. Während die dargestellten Zeitwahrnehmungen sich auf die vergangene Lernprozesszeit beziehen, ist die Zeitwahrnehmung, die sich retrospektiv dem Inhaltlichen zuwendet, mit einer interessanten Erklärungskomponente verbunden: dem (damaligen) Zeitgeist. Er ist in der Gegenwart, also direkt im Lernprozess i.d.R. schwerer zu analysieren, als im Nachhinein. So erforschte Trends der Zeit spielen jedoch auch in organisationale Entwicklungen hinein und bereichern die Komponente der Umweltfaktoren einer organisationalen Lerntheorie. Beispielsweise gelten die 1970er Jahre der Bundesrepublik Deutschland als Ära, in der Familienunternehmen als nicht zeitgemäß angesehen wurden: eine Perspektive, die in einer Untersuchung jener Zeit, selbst von der Forschung nicht unbedingt reflektiert worden wäre. Auch prägen die Managementmoden durch Unternehmensberater (Berghoff 2004, 72), politische Einflüsse (Fear 2003, 182) oder internationale Perspektiven (Kleinschmidt 2002) den Zeitgeist zum Untersuchungszeitpunkt. Nicht nur die geschichtliche Betrachtung spürt diesen Zeitgeist auf und involviert ihn in Informationen über den Lernprozess. Auch Befragte können Umweltbezüge einbringen, die erst aus heutiger Zeit zu Erklärungen beitragen. Obwohl Zeitwahrnehmungen insgesamt eher indirekt Aussagen über organisationales Lernen darstellen, muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass sie sich prinzipiell in allen Quellen, die der Erforschung organisationalen Lernens zur Verfügung stehen, niederschlagen. Damit ist von einem (verändernden) subjektiven Faktor, der allen Quellen innewohnt, auszugehen. Neben dem Aspekt der Zeitwahrnehmungen, die z.T. auch inhaltlich besetzt sind und im Zusammenhang mit OL auf den Bezug des befragten Akteurs zum schende, regellose, zyklische, retardierte, alternierende Zeit und Zeit im voraus sowie explosive Zeit) zusammengefasst. In seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit Zeitwahrnehmungen bezieht sich May auf Arbeiten wie die von Schein (1985), Clark (1990) oder Gurvitch (1990). Eine wissenschaftliche Konzentration allein auf die lineare Zeit bringt also nur wenig darüber zum Ausdruck, wie die Organisationsmitglieder Vergangenheit erleben oder erlebt haben. Eine These könnte in diesem Zusammenhang lauten: Je intensiver der Lernprozess, desto kürzer und intensiver die Zeitwahrnehmung der Beteiligten (vgl. Weber 2003, 16). Daher ist es für eine Auseinandersetzung mit organisationalem Lernen unabdingbar, auch in zyklischen bzw. heterogenen Zeitvorstellungen zu denken bzw. zu forschen. Der recht ungenaue Ausgangspunkt solcher Untersuchungen, bzw. die subjektive Prägung dieses Forschungsbereiches ist dabei notwendigerweise in Kauf zu nehmen.
2.3 Die zeitlich-historische Perspektive als vernachlässigte Determinante?
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Organisationslernen verweisen können, spielen natürlich auch direkt subjektiv verändernde Faktoren eine wichtige Rolle in der Quellenrelation der Forschung. Damit sind alle Informationen innerhalb eines (historischen) Interpretationsrahmens bzw. Paradigmas gemeint, die subjektiv gefärbt sind oder wie bei Lüge und Verfälschung der „Wahrheit“ nicht entsprechen (vgl. z.B. Levitt/March 1988, 323, Argyris/Schön 1996, 48 f.). Ein typischer Grund kann z.B. in der organisationalen Machtkonfiguration der Befragten gesehen werden. Auch die Art und Weise, wie sich der Befragte der OL-Forschung präsentieren möchte, kann zu solchen Verzerrungen führen.90 Davon unabhängig birgt der zeitliche Abstand ein weiteres wesentliches Verzerrungspotenzial dieser Quelle der OL-Forschung. 2.3.2.2 Die Dokumente Obwohl auch Dokumente grundsätzlich der (Organisations-)Kultur in Zeitwahrnehmung und Zeitbesetzung ausgesetzt sind, verfügen sie im Gegensatz zu den Akteuren über den Vorteil, seit Erstellung (in der Regel) nicht mehr verändert zu werden. Das wird z.B. besonders deutlich bei der organisationalen Wissensspeicherung in der Architektur aber auch durch Dokumentationen von Handlungsweisen, Strukturplänen, Strategiepapieren oder Leistungsreporten (vgl. Walsh/Ungson 1991). Diese „eingefrorenen Zeugen“ sind ein wesentlicher Bestandteil forschungstechnischer Kontrollmöglichkeiten in der Auseinandersetzung mit Organisationslernen, obwohl sie auch in dieser Funktion nicht als absolutes Kontrollwerkzeug im Sinne der „Wahrheit“ dienen können.91 Dokumente aus der untersuchten Zeit sind trotzdem gut geeignet, Zeitwahrnehmungen und Zeitbesetzungen, die später vollzogen werden, ins Verhältnis zu setzen. Diese Eigenschaft von Dokumenten wird besonders deutlich, wenn sie einer Untersuchung nicht zur Verfügung stehen bzw. vorenthalten werden. Eine wesentliche Quellenrelation von Dokumenten besteht also im Umfang der zur Verfügung stehenden Materialien bzw. in deren inhaltlicher Relevanz und Qualität. Diese Selektion ist es, die einen entscheidenden Einfluss auf die Güte des Bildes ausüben kann, das zum Ende des Forschungsprozesses entsteht. 90
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Die Motive dafür sind vielschichtig und bei weitem nicht nur „bösartiger Natur“. Eine ausführliche Darstellung solcher Phänomene findet sich in der Methodenliteratur der Sozialforschung (vgl. etwa Gläser/Laudel 2006). Eine Sonderrolle nehmen Dokumente nach Roth (1996) ein. Eine extra angelegte Dokumentation („Learning Histories“) soll in der Praxis das Potenzial organisationaler Lernprozesse erhöhen (vgl. auch Roth/Kleiner 1998, Bradbury/Mainemelis 2001). Vgl. zu dieser Situation sowohl die Methodenliteratur der Sozialforschung wie die der Geschichtswissenschaften (z.B. Maurer 2003).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
2.3.2.3 Die Organisationsgeschichte In einem immerwährenden Zyklus von subjektiver Lebens- und Organisationszeit hat jede Organisation ihre eigene Geschichte (Weber/Berthoin Antal 2003, 358). Wenn, wie auch im Zusammenhang mit den Akteuren und Dokumenten auf den Einfluss der (Organisations-) Kultur hingewiesen wurde, dann aus dem Grund, dass insbesondere die Organisationsgeschichte einen umfangreichen Satz an Informationen bereithält, die mannigfaltige Auskünfte bieten, deren Auswahl jedoch nur einem so umfassenden Phänomen wie dem der Organisationskultur zugeschrieben werden kann. Auch wenn sich im Einzelnen Quellen und Übertragungsketten dieser Informationen nachweisen lassen mögen, ist die Quelle aus der die ursprüngliche Organisationsgeschichte stammt, insgesamt die der Organisationskultur (vgl. Schein 1996, 12). Mit diesem Phänomen ist auch die hier vorgenommene Unterscheidung von ursprünglicher, nicht dokumentierter, sowie dokumentierter Organisationsgeschichte und jener Organisationsgeschichte zu begründen, die als akademisch bezeichnet werden kann (vgl. Berghoff 2004), verbunden (vgl. Abb. 5). Während unter ursprünglicher Geschichte der bereits genannte gesamtmögliche Satz an Informationen gemeint ist, bezieht sich nicht dokumentierte Organisationsgeschichte auf „geschichtete“ und kombinierte Ereignisse im Zeitverlauf, die in keiner Form festgehalten sind. Es handelt sich dabei um „Oral History“ in nicht erfasstem Zustand. Dokumentierte Geschichte hingegen kann als belegbare Vergangenheit betrachtet werden. Sie liegt dann vor, wenn eine (willkürliche) Ereignisdokumentation, also eine retrospektive Zeitbesetzung, (bewusst) vorgenommen wird oder wurde, sei es nun in oder außerhalb der Organisation (vgl. auch Fear 2003, 176). Dabei kann Geschichte in der Organisationsführung intensiv eingesetzt werden, auch wenn sie falsch verwendet wird (vgl. Kieser 1994, 619).
(Organisations-)Kultur Zeitwahrnehmung und Zeitbesetzung
Akteur
Abbildung 5:
Dokumente
(ursprüngliche) Organisationsgeschichte
OrganisationsGeschichte (als akademische Disziplin)
Quellen des (historischen) Organisationslernens im organisationskulturellen Kontext (eig. Darst.)
2.3 Die zeitlich-historische Perspektive als vernachlässigte Determinante?
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Die Organisationsgeschichte als akademische Disziplin kann demgegenüber zwar in letzterem Fall vorkommen, ist aber in der Regel außerorganisational angesiedelt und folgt (mehr oder weniger) wissenschaftlichen Kriterien. Ähnlich den Dokumenten sind dokumentierte Organisationsgeschichten ihrerseits ebenso Dokumente und seit Fertigstellung „eingefroren“, jedoch deutlich absichtsvoller verfasst. Sie enthalten Veränderungen größtenteils auch durch ihre (wertenden) Zusammenfassungen und Verallgemeinerungen. Lawrence (1984) unterscheidet daher zwischen Vergangenheitsforschung und transhistorischen Rückschlüssen, die Übertragbarkeiten von organisationalen Phänomenen erlauben. Diese transhistorischen Untersuchungen eröffnen neue Forschungshorizonte und bieten alternative Erklärungsmuster im Rahmen der Organisationsgeschichte als akademischer Disziplin. 2.3.2.4 Die akademische Organisationsgeschichte „Before one can argue the relevance of any particular historical interpretation, one must argue the relevance of historical perspective.“ Diese Aussage von Stager Jacques (2006, 32, vgl. auch Schwietring 2005) trifft nicht nur auf die Organisationssoziologie allgemein zu. Vor dem Hintergrund einer Fragestellung, die sich auf abgelaufene organisationale Lernprozesse bezieht, ist es bemerkenswert, dass es kaum Arbeiten zum vergangenen, zum geschichtlich abgeschlossenen Organisationslernen gibt, bzw. die Verknüpfung von Ansätzen des organisationalen Lernens zur Unternehmensgeschichte noch wenig ausgeprägt ist (vgl. Berthoin Antal 1998, Fear 2003).92 Ausgangspunkt einer historischen Perspektive stellen in dieser Arbeit v.a. die Beiträge von Lawrence (1984), Levitt/March (1988), Kieser (1994) und Fear (2003) dar. Zunächst ist festzustellen, dass Geschichte überhaupt und gerade in der organisationalen Praxis etwas Unproduktives anhaftet.93 Immer wieder spielen Bedenken eine Rolle, die in der Auseinandersetzung mit Geschichte vor einem Stillstand oder Rückschritt warnen (vgl. Fear 2003, Weber/Berthoin Antal 2003). Dokumentierte Organisationsgeschichte liefert der OL-Forschung subjektive/selektive Ergebnisse und ist damit genau so wenig frei von Fehlerquellen wie 92
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Eine Ausnahme stellen etwa Berends/Boersma/Weggeman (2003) dar. Vgl. dazu allg. auch die seit 2006 erscheinende Zeitschrift „Management & Organizational History“, die sich den Schnittstellen von Organisationsvergangenheit, Management und Organisationstheorien widmet (z.B. Bogdan/Crump/Holm 2006). Diesen Trend, sich eher mit der Zukunft als mit der Vergangenheit zu beschäftigen, hat es allerdings immer schon gegeben (vgl. Lawrence 1984, 307).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
andere Grundlagen der OL-Forschung auch (z.B. Firmendokumente oder Expertenbefragungen). Andererseits ist Organisationsgeschichte frei in ihrer Wahrnehmung: Themen, wie Organisationslernen, bietet sie zunächst nicht von sich aus an. Dafür gibt es verschiedene Gründe (vgl. Fear 2003, 168 ff.). So berücksichtigt Geschichte keine organisationalen Entscheidungsprozesse und Strategien und wendet sich auch nicht der mikropolitischen Ebene zu. Auch die frühen Auseinandersetzungen mit Geschichte, wie jene von Max Weber sind nicht individuenorientiert, Geschichte nicht mikrozentriert. In der Tat gibt es auch aus strukturtheoretischer Sicht kaum entsprechende organisationshistorische Untersuchungen. Gründe dafür mögen in den vielfältigen Bedingungen liegen, die bei einem Strukturwandel zu berücksichtigen sind (vgl. 2.1.2). Kieser/Kubicek sehen denn auch die umfangreichen Entscheidungen und die passenden Forschungsmethoden als Hauptproblem an, wenn sie sagen: „Organisationsstrukturen werden nicht durch eine einmalige Entscheidung geschaffen, sondern sind das Ergebnis einer größeren Anzahl von Entscheidungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten und von unterschiedlichen Personen getroffen werden. (...) Für eine zusammenhängende Analyse der Gesamtheit der Gestaltungsprozesse fehlen uns heute noch sowohl der konzeptionelle Unterbau als auch das methodische Instrumentarium“ (Kieser/Kubicek 1992, 223).
Auch aus Perspektive organisationalen Lernens wird eine Prozessrekonstruktion als ein umfangreiches Unterfangen dargestellt: „There is no question that the concept of organizational learning is complex and difficult to specify with any great detail. However, organizational learning remains central to our understanding of how organizations and their members behave over time in the strategic design of organizations” (vgl. Duncan/Weiss 1979, 121).
Dabei ist es durchaus begründet, sich dieser Herausforderung zu stellen. So prägt Geschichte Organisationsstruktur und -verhalten und damit die Organisationsidentität. Außerdem übt sie einen Einfluss auf die Organisationskultur aus und im Zusammenhang mit Führungsfragen stellen Problemwahrnehmungen und Lösungsansätze Moden dar, so dass historische Analysen Entscheidungswege erklären können (vgl. Kieser 1994). Obwohl dieser Hinweis auf das „schier hoffnungslose Unterfangen“ (Kieser 2006b, 240) nicht unbegründet ist, gibt es Beispiele, die sich dieser Herausforderung stellen (z.B. Chandler 1962). Dennoch genügen diese kaum den Ansprüchen der OL-Forschung, so dass z.B. kulturelle Aspekte dort nicht berücksichtigt werden (vgl. Fear 2003, 169). In diesem Zusammengang sind auch die Vorwürfe zu sehen, dass Geschichte theoriefern sei
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(vgl. Triebel/Seidel 2001, Berghoff 2004).94 Fakten werden, auch mangels Quellen, z.T. recht willkürlich zusammengestellt, um Thesen zu unterfüttern. Giddens problematisiert in diesem Zusammenhang den disziplinbegründenden Status: „History as the writing of history also poses its own dilemmas and puzzles. All I shall have to say about these is that they are not distinctive; they do not permit us to make clear-cut distintions between history and social science. Hermeneutic problems involved in the accurate description of divergent forms of life, the interpretation of texts, the explication of action, institutions and social transformation – these are shared by all the social sciences, including history“ (Giddens 2008, xxviii).
Kieser stellt fest, dass Geschichte seitens der Soziologie vernachlässigt und missachtet wird, was allerdings auch umgekehrt gilt. Er bezeichnet den Streit zwischen Historikern und Soziologen als „Dialog der Tauben“ (Kieser 1994, 12). Während für Historiker Organisationen einmalig seien, betrachteten Soziologen diese als verallgemeinerbar. Fear (2003, 166 ff.) begründet die bisher noch zurückhaltende Theorienutzung der Geschichte mit dem klassischen Interesse der Geschichtswissenschaften an einzelnen historischen Persönlichkeiten und dem Desinteresse an Organisationen sowie mit dem relativ geringen Umfang des wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsfeldes. Insgesamt sieht er jedoch weniger die Theoriearmut der Geschichte als entscheidend an, sondern vielmehr deren unterschiedliche Ziele. Geschichte ist also kaum an organisationalen Entwicklungen interessiert und verfolgt keine Analyseinteressen, da es eher darum geht, Menschen und nicht Organisationen in den Mittelpunkt zu stellen. Im Zentrum der Untersuchungen standen daher immer die Entwicklungen von Gesellschaften, Nationen oder großen Lenkern. Dennoch ist festzustellen, dass spätestens seit Aufkommen der Neuen Institutionenökonomik (vgl. Erlei/Leschke/Sauerland 1999, Göbel 2002, North 2002, Voigt 2002, Richter/Furubotn 2003) der Unternehmensgeschichte eine besondere Bedeutung zukommt und die Wirtschaftsgeschichte, insbesondere die Unternehmensgeschichte, mit ihrer Perspektive den herkömmlichen Geschichtsdarstellungen einen neuen Akzent verleiht (vgl. Wischermann/Nieberding 2004, Berg94
An diesem Punkt sei erneut auf Chandler (2001) verwiesen. „Inviting the Electronic Century“ erscheint zunächst für OL relevant, weil Chandler mit einem Konzept, der „Knowledge Base“ arbeitet. Der theoretische Teil ist allerdings sehr leicht überschaubar und dennoch ist das Problem dabei, zu ermitteln, wo und wie genau bei Chandler diese Wissensbasis zu finden ist und wie sich organisationale Veränderungen innerhalb der Wissensbasis in Beziehung setzen lassen. Auch wird den Akteuren in diesem Prozess kein Platz eingeräumt. Historiker, die mit diesem konzeptionellen Ansatz arbeiten wollen, sind auf „Schützenhilfe“ etwa von Penrose (1959) angewiesen (vgl. Steiner 2005, 13 ff.).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
hoff 2004). Somit wird auf die Erklärungskraft historischer Entwicklung anhand der ökonomischen Institutionen zurückgegriffen. Unternehmen erscheinen als korporative Akteure in der Gesellschaft, deren Verhaltensweisen es zu analysieren gilt. Insgesamt muss ebenso berücksichtigt werden, dass die Organisationsgeschichte im Sinne der Unternehmensgeschichte an sich noch eine recht junge Disziplin ist.95 Als Chimäre kapitalorientierter Interessen und Wissenschaft findet die Unternehmensgeschichte noch nicht so recht Platz in der Forschungslandschaft (vgl. Schröter 2000). Typisches Kennzeichen für dieses Stadium ist u.a. die Methodendebatte, deren Ziel eine allseits anerkannte Position der Unternehmensgeschichte im wissenschaftlichen Umfeld ist (Pierenkemper 1999, Pohl 1999, eine Zusammenfassung bieten Triebel/Seidel 2001, vgl. auch Schröter 2000).96 Die in der Unternehmensgeschichte festgestellte „Theoriearmut“ mag mancher als Mangel empfinden, organisationssoziologisch ist sie jedoch eher eine Chance. Somit wird ein breites Spektrum vergangener Ereignisse und historischer Konstellationen ermöglicht, wie es unter theoriegeleiteten Forschungen durch deren bereits erwähnten Ausschlusscharakter kaum wahrscheinlich wäre (vgl. Fear 2003, 184). Neuere Beschreibungen des Forschungsfeldes vereinen verschiedenste zumeist soziologische und ökonomische Theorien, allerdings ohne damit den generellen Anspruch zu verbinden, diese als Voraussetzung einer Unternehmensgeschichte zu begreifen (vgl. Berghoff 2004). Insbesondere in jüngster Zeit beschäftigt sich die (konzeptionelle) Organisationsgeschichte mit speziellen Aspekten, die auch für den Bereich des Organisationslernens Relevanz besitzen (vgl. Fear 2003, 176).97 Dabei werden Interpretationen angeboten, die eine Herausfor95 96
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Einen Überblick bieten Pierenkemper (2000a) und Berghoff (2004). Triebel/Seidel (2000) beschreiben den Forschungsstand und konstatieren bisher wenig Theoriebildung im Bereich der Unternehmensgeschichte. Die nach ihrer Meinung einflussreichen Konzepte vertreten Pierenkemper (wonach die Unternehmensgeschichte in erster Linie aus sich selbst heraus ökonomisch bewerten solle) und Chandler, der mit seiner Business History, in der industrielle Managerunternehmen als strukturell lern- und anpassungsfähige Organisationen thematisiert werden, da sie sich vom Management eingeschlagenen Unternehmensstrukturen anpassen. Als weiter bedeutend werten sie den Ansatz der New Institutional Economics (NIE), wonach die Aufgaben der Unternehmen darin bestehen, die richtige Koordination von Importfaktoren zu leisten. Schließlich verweisen sie auf North und dessen Theorie des institutionellen Wandels sowie auf Lauschke, der den Betrieb als eigenständiges, geschlossenes Sozialsystem, ähnlich wie Süß und Berghoff sehe. Im Zusammenhang ihrer Darstellung eines Analyserahmens distanzieren sie sich von Pierenkempers Konzentration auf die Wirtschaftsdimension (vgl. Pierenkemper 2000b). Unter konzeptioneller (Organisations-) Geschichte sollen hier Darstellungen gefasst werden, die theoretisch verallgemeinern und über die Beschäftigung mit der konkreten Unternehmens-
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derung für die Organisationstheorien darstellen und damit die Vergangenheitsbewertung in eine fruchtbare Konkurrenz stellen. Interessant ist hierbei die Eigenschaft vieler historischer Darstellungen, Personen bzw. Akteure in den Vordergrund zu rücken (vgl. Fear 2003, Berghoff 2004). Was den Historikern als dramaturgisch notwendig erscheinen mag, ist für organisationstheoretische Konzepte bezogen auf die Akteure von theoretischem/forschungspraktischem Interesse (vgl. Laßleben 1995). Lawrence plädiert daher auch für verstärkt historische Untersuchungen in den Sozialwissenschaften. Sozialwissenschaften können transdisziplinär arbeiten, Verallgemeinerungen seien zeitlos nutzbar. Dieses Potential sei weder neu noch unakzeptiert, sondern werde einfach nicht ausgeschöpft (vgl. Lawrence 1984, 307). Auch für organisationales Lernen kann dies geltend gemacht werden, denn als eine von wenigen Übereinstimmungen auf diesem Feld wird einheitlich anerkannt, dass die Fähigkeiten der Organisationen zu lernen, zu verlernen oder wieder zu erlernen entscheidend für deren Verhältnis zur Umwelt sind und auf deren vergangenem Verhalten basieren (vgl. Fiol/Lyles 1985, 804). Bezieht sich dieses Potential auf individuelles Verhalten, ist auch eine Auseinandersetzung mit organisationalen und kulturellen Phänomenen möglich (vgl. Lawrence 1984, 308). Doch muss an dieser Stelle auch auf die Grenzen hingewiesen werden. Historische Analysen ersetzen keine Organisationstheorien (vgl. Kieser 1994). Die konzeptionelle Historie kann daher nur sekundär für die OL-Forschung benutzt werden.98 Die Wahrscheinlichkeit, dass sie in großen Teilen den Ansprüchen der Fragestellungen von OL-Untersuchungen genügt, ist oft äußerst gering.99 Das ist insofern bedeutend, weil eine OL-Analyse zunächst im Zusammenhang mit einer Fallphänomenisierung und einer Theorieauswahl selbst die relevante Forschungsfrage bestimmt und insofern spezielle Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand zu gewissen Ausblendungen führen können. Grundlegend lässt sich jedoch festhalten, dass die Organisationsgeschichte – und hier vor allem die Unternehmensgeschichte – als akademische Disziplin
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geschichte hinausgehen. Vgl. z.B. zur Auseinandersetzung mit Wissen: Chandler (2001), Steiner (2005). Vgl. Steiner (2005). Dort ist der Ansatz von Chandler kaum reflektiert, obwohl dessen Unzulänglichkeit durch das Hinzuziehen von Penrose (1959) dieses andeutet. Als historische Darstellung verfügt diese Arbeit über die Loewe AG allerdings - in der Anwendung Chandlers konsequent - auch über einen Branchenvergleich, der insofern einen (organisationssoziologischen) Mehrwert hinsichtlich der Verallgemeinerung liefert. Damit stellt diese Form der Darstellung eine konzeptionelle Unternehmens- bzw. Organisationsgeschichte dar. Vgl. zur Bedeutung von Organisationstheorien im Verhältnis zur Geschichte auch Stager Jacques (2006, 45). Mitunter kann sie sogar durch ihre spezielle Fokussierung als Ergänzung gerade zu Beginn einer Falluntersuchung weniger hilfreich sein als eine nicht-konzeptionelle Organisationsgeschichte.
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zunehmend eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung mit organisationaler Vergangenheit spielt, eine Auseinandersetzung, die sich bewusst der Zukunft stellt. Ebenso wie Schug (2003), der sich der Unternehmensgeschichte in „History Marketing“ als Produkt nähert, stellt auch Berghoff Funktionen dieser Materie dar (Berghoff 2004, 14 ff., Berghoff 2005, 24 f.).100 Für Organisationslernen sind besonders die „Lehrfunktion“, die „Kreativitätsfunktion“ sowie die „Trainingsund Korrekturfunktion“ interessant (vgl. auch Booth/Rowlinson 2006, 18 ff.). Dabei werden die Erwartungen an die Lehren aus der Geschichte jedoch relativiert: „Die Umweltbedingungen ändern sich zu dynamisch, um die gegenwärtige Generation nicht aus ihrer Verantwortung für ihr Handeln zu entlassen. Der Manager, der die Geschichte seines Unternehmens und seines Marktes gut kennt, ist gegenüber weniger gebildeten Konkurrenten im Vorteil, muß aber am Ende doch seine eigene Entscheidung unter Bedingungen großer Unsicherheit treffen“ (Berghoff 2004, 18).
Hier wird besonders dem organisationalen Lernen aus Fehlern Chancen eingeräumt: „Das Wissen um sie schützt zuweilen vor ihrer Wiederholung. So haben die Zentralbanken aus früheren Börsenzusammenbrüchen ihre Schlüsse gezogen und ihr einst krisenverschärfendes Verhalten verändert“ (Berghoff 2004, 19). In der „Trainings- und Korrekturfunktion“ stehen indes die indirekt abstrakt funktionierenden Lehren im Mittelpunkt. So könnte die Unternehmensgeschichte etwa in Fallstudien „über die Einführung neuer Produkte oder den Umbau von Konzernen eine konkrete Vorstellung von der großen Herausforderung dieser Aufgaben vermitteln, insbesondere von den zu überwindenden Widerständen“ (Berghoff 2004, 20). Widerstände können sich auch in unterschiedlichen Einschätzungen historischer Abläufe zeigen: „As a result, disagreements over the meaning of history are possible, and different groups develop alternative stories that interpret the same experience quite differently“ (Levitt/March 1988, 324). Die Autoren sehen darüber hinaus wegen simultaner Lernprozesse auf unterschiedlichen Hierarchieebenen große Schwierigkeiten, ex post Aussagen über bessere Handlungsalternativen zu treffen. Allerdings sind sie als durchaus befruchtend zu verstehen. Voraussetzung dafür sind jedoch Fähigkeiten zur Reflexion: „Die Organisation (bzw. die Individuen als Agenten Organisationalen Lernens) muß sich also an ihre vorherigen Lernepisoden und -kontexte „erinnern“, diese vergleichen und auf diese Weise etwas über das Lernen in diesen Kontexten lernen“ (Wiegand 1996, 214 f.). Im Sinne Berghoffs „Kreativitätsfunktion“ von Unternehmensgeschichte, die das 100 Namentlich die Orientierungsfunktion, die Identitätsstiftung und –sicherung, die Lehrfunktion, die Trainings- und Korrekturfunktion sowie die Kreativitätsfunktion. Vgl. dazu Linde 2009.
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Modulieren von vergangenen wie gegenwärtigen Gegebenheiten zum Ausdruck bringt, kennzeichnet sich Geschichte (ganz allgemein und über die Perspektive von historischem Organisationslernen hinaus) durch die Abgeschlossenheit der Ereignisse: „In der Geschichte kann man gut das Zusammenspiel von Ursachen und Wirkungen, von makro- und mikroökonomischen Akteuren studieren, ohne dass sich die historischen Konstellationen jemals genau so wiederholen werden. Der heutige Betrachter lernt aber, worauf er achten muss, welche Informationen für die eigene, möglicherweise ganz andere Entscheidung wichtig sind. Letztlich geht es um konkretes differenziertes Denken“ (Berghoff 2004, 20).
Auch Kieser (1994) betont, dass sich Geschichte selbst nicht wiederholt. Daher kann eine Analyse historischen Organisationslernens im Sinne einer „Generalisierbarkeit mittlerer Reichweite“ (Lawrence 1984, 309) nur helfen, gegenwärtige Strukturen und Theorien zu hinterfragen (vgl. Kieser 1994). 2.3.3 Organisationslernen in seiner Darstellungsrelation: Elemente der Rekonstruktion organisationaler Lernprozesse Während sich die bereits genannten Aspekte der Zeitlichkeit organisationaler Lernprozesse auf die Informationsquellen und deren Veränderung beziehen, erscheint darüber hinaus die Frage, wie man die komplexe Informationsfülle (historischer) OL-Prozesse einigermaßen adäquat darstellen kann. Fear räumt ein, dass Geschichte oft Darstellungsproblemen ausgesetzt ist: „Historian wrestle constantly with this problem of continuity or discontinuity because it goes to the heart of questions about causations, periodization, and identity.” (Fear 2003, 174). Booth/Rowlinson beschreiben dieses Problem, das zwischen den Arbeitern von (Organisations)Historikern und Organisationstheoretikern besteht, folgendermaßen: „Historians, and especially business historians, are not usually expected to produce a methodological justification for their work. The copious notes detailing the location of sources in the archive are usually seen as sufficient methodological justification in their own right. On the other hand, for social science research in general, and for qualitative researchers in organization studies in particular, it is expected that there will be a detailed methodological justification of the research conducted” (Booth/Rowlinson 2006, 9).
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Wie Historiker, so sind auch Organisationsforscher von dieser Problematik betroffen, indes: Sie müssen den theoretischen Bezug und den chronologischen Ablauf berücksichtigen, wollen sie den Eindruck der Zeitlichkeit nicht gar zu sehr entstellen. Eine wichtige Rolle dabei spielen Elemente, die als Merkmale organisationaler Entwicklung verstanden werden können. Lawrence (1984) bezeichnet diese als „transhistorische Elemente“, die verallgemeinert und zeitunabhängig genutzt werden können. Dabei stellt sie sich die Frage, welche Elemente sich in Theorie und Befunden als transhistorisch erweisen: „Answering this question is one test of „grand theory“ – separating that which is truly universal in human behaviour from that which ist not“ (Lawrence 1984, 308). Die Stücke, die sich aus Elementen der theoretischen Modelle, den Ereignissen und den damit verbundenen Teil(Geschichten) zusammensetzen, so anzuordnen, dass sie chronologisch und theoretisch im richtigen Zusammenhang erscheinen, ist eine bedeutende Voraussetzung, über die eine gute Analyse vergangener OL-Prozesse verfügen muss. 2.3.4 Implikationen für die vorliegende Arbeit Die Auseinandersetzung mit Organisationslernen kann entweder zukunftsorientiert, gegenwartsbezogen oder historisch ausgerichtet sein. Organisationslernen befindet sich oft in einem zukunftsbezogenen Kontext (Planung oder Beratung), ermöglicht jedoch auch aus Erkenntnissen vergangener Lernprozesse, der Vergangenheit und bereits entwickelten Theorien zu schöpfen. Ist die zeitlich-historische Auseinandersetzung mit Organisationslernen nun eine vernachlässigte Determinante? Die Antwort lautet: ja und nein zugleich! Nein, denn die Zeit spielt bezogen auf den Lernprozess selbst in Form der Dauer immer eine wichtige Rolle. Allerdings wird sie oft mit der Geschwindigkeit des Lernens und in der Regel mit dem handfesten Ziel in Zusammenhang gebracht, organisationale Lernprozesse für die Zukunft planbarer zu machen und damit gezielter gestalten zu können. Auch die Verzerrungseffekte innerhalb der Informationen, die der OL-Forschung zur Verfügung stehen (bzw. gestellt werden) sind nicht neu und werden (implizit) berücksichtigt. Sie werden oft nur nicht explizit thematisiert! Ja, denn Zeit ist dann eine vernachlässigte Determinante, weil bzw. wenn sie in der Auseinandersetzung mit Organisationslernen die systematische Reflexion über die Vergangenheit nicht umfangreich berücksichtigt. Sowohl in theore-
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tischer wie auch in deskriptiver Hinsicht – bezogen auf empirische Fallbeispiele – sollte daher verstärkt auf Organisationsgeschichte eingegangen werden.101 Die Auseinandersetzung mit der (akademischen) Organisationsgeschichte hat gezeigt, dass jegliche Herablassung gegenüber Zeit und Historie im Sinne rückschrittlicher „inertia“ nicht angebracht ist: Organisationsgeschichte kann für die Erforschung organisationaler Lernprozesse Hilfestellungen in der Informationsgewinnung, -nutzung und -betrachtung bieten, insgesamt ihre Arbeit unterstützen (vgl. 2.2.3). Geschichte als Interpretation ist für Organisationslernforscher also eine wichtige Komprimierungsvariante der Informationen von Akteuren und Dokumenten vielfältiger und eigenständiger Art und kann so zu Sinnbezügen führen, die in ihrer schieren Masse von der OL-Forschung allein nicht berücksichtigt werden können. Quellen für die Organisationslernforschung sind Unternehmensgeschichte ursprünglicher und akademischer Art sowie noch lebende Akteure und (Original)Dokumente. Insofern gilt für beide Forschungsfelder im Sinne Rankes Forderung, nicht den Hinweisen möglicher Lehren aus historischen Organisationslernprozessen zu folgen, sondern sich in erster Linie darauf zu beschränken „wie es eigentlich gewesen“ ist, auch wenn selbst diese Perspektive objektiv nicht zur Verfügung steht (vgl. Fear, 2003, 163).102 In den Grenzen, die (konzeptionelle) Organisationsgeschichte durch ihren Mangel an einer OL-theoretischen Ausrichtung aufweist, liegen gleichzeitig die Chancen von OL-Expertisen: Nur gezielte Untersuchungen führen zu Ergebnissen, die jenseits der „einfachen“ historischen Darstellungen liegen. Diese Autonomie darf eine nötige, weil sinnvolle interdisziplinäre Kooperation nicht verwischen. Organisationstheoretiker können nicht automatisch von relevanten Aufzeichnungen der Historiker ausgehen und sind daher auf eigene Nachforschungen angewiesen. So kann dokumentierte Organisationsgeschichte hinsichtlich der Lernprozesse lückenhaft sein und muss daher speziell rekonstruiert werden. In Kooperationen mit Historikern sind Organisationsforscher jedoch mindestens umfangreicher beraten. Doch trotz gewisser Unterschiedlichkeiten beider Forschungsfelder sind entscheidende Gemeinsamkeiten hervorzuheben. Organisationslernen und Organisationsgeschichte befassen sich mit der Rolle von (entscheidenden) Akteuren. Beide Bereiche stehen letztlich vor derselben Quellenproblematik: unzureichende Materialbestände, Zeitzeugenmangel oder das Verbergen von Informationen. In beiden Fällen ist letztlich ein Mix aus Dokumenten und Interviews gefordert, 101 Allgemein deuten jüngere Beiträge einen „Historic Turn“ in der Auseinandersetzung mit Organisationstheorien an (vgl. Booth/Rowlinson 2006). 102 Nach Ranke (1795-1886) hat der Historiker die Aufgabe, nachzuweisen, „wie es eigentlich gewesen“ ist. Dabei geht es um möglichst große Objektivität bei der Wiedergabe der Geschichte.
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auch und gerade bei der Verfolgung langer Zeiträume und Prozesse ist daher immer eine quellenkritische Betrachtung nötig. Analysen vergangener OL-Prozesse stehen vor der Herausforderung, die theoretischen und chronologischen Einzelheiten sinnvoll und verständlich zu kombinieren. Deshalb erscheint eine prozessrekonstruierende und eingeschränkt organisationshistorische Herangehensweise im Sinne einer Geschichte der internen Kommunikation und Wissenstransmission (vgl. Fear 2003, 175) besonders geeignet. Obwohl der Hinweis auf ein „schier hoffnungsloses Unterfangen“ (vgl. Kieser 2006b, 240) in diesem Zusammenhang durchaus ernst zu nehmen ist, handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um einen Versuch, dennoch historische Organisationsveränderungen rekonstruierend über Lernprozesse zu erfassen:
Zeit spielt im Rahmen von Organisationslernen allein in der Dauer des Lernprozesses selbst eine wichtige Rolle (Prozessrelation). Zeit beeinflusst den Informationsgehalt über organisationale Lernprozesse (Quellenrelation). Die Perspektive der Strukturationstheorie, die mit ihren rekursiven Bezügen die Einnahme einer historischen Perspektive einfordert, verdeutlicht eine Herausforderung hinsichtlich der Darstellung theoretisch-chronologischer Elemente (Darstellungsrelation). Nicht zuletzt die seit langem anerkannten Ansätze des Schleifenlernens basieren auf einer Zeitlichkeit, die in ihrer historischen Dimension noch kaum Beachtung erfahren hat: Lernen zum Zeitpunkt t0, das als Basis für das folgende Lernen zum Zeitpunkt t1 fungiert, impliziert schließlich eine historische Perspektive, erst recht, wenn es sich, wie nicht selten der Fall, um langfristige Schleifen-Lernprozesse handelt.
2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens 2.4.1 Individuenbezogene Prämissen Während zuvor auf verschiedene Lernfaktoren und Aspekte organisationalen Lernens eingegangen wurde, die sich letztlich auf einen Lernprozess beziehen (vgl. 2.1), sieht organisationales Schleifenlernen mehrere aufeinander bezogene Lernprozesse auf unterschiedlichen Ebenen vor. Eine Untersuchung, die sich mit dem Aufbau zweier Lernprozesse beschäftigt, kann zwar von sich wiederholenden gleichartigen Lernvorgängen ausgehen, sollte unterschiedliche Abstraktions-
2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens
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ebenen jedoch immer mit einbeziehen. Wenn dieser Ansatz hier als Basisannahme der vorliegenden Arbeit behandelt wird, dann deshalb, weil er nicht nur in allen genannten Lernfaktoren Bezugspunkte aufweist (wie sie oben bereits erläutert wurden), sondern durch die Eigenschaft des Schleifencharakters auch einen „eigenständigen“ Aspekt verfolgt, der dort keine Beachtung findet. Ein wesentlicher Beitrag besteht darin, verschiedene Emergenzstufen in die Literatur des Organisationslernens einzuführen. Die Vorstellung verschiedener Qualitäten hat dazu geführt, dass das Werk von Argyris/Schön (1978) als Meilenstein der gesamten OL-Literatur bezeichnet werden kann und zu den wohl meist beachteten Werken auf diesem Gebiet überhaupt zählt (vgl. z.B. Wiegand 1996, Wahren 1996, Geller 1996, Hayn 2007).103 Ansätze, die auf verschiedenen Lerntypen aufbauen, sind vielfach zu finden und in ganz unterschiedlicher Ausprägung, so dass die Lerntypen nicht übereinstimmend zu den jeweiligen Konzeptionen zugeordnet werden können. Daher finden sich in der Literatur immer wieder unterschiedliche Zusammenstellungen, die - häufig in Tabellenform - Lerntyp und -konzept gegenüberstellen (z.B. Wiegand 1996, 174 ff., Kremmel 1996, 128, Krebsbach-Gnath 1996, 37 ff., Nagl 1997, 86, Pawlowsky/Geppert 2005, 273). Dabei handelt es sich um Ansätze wie die von Bateson (1972), Argyris/Schön (1978), Hedberg (1981), Shrivastava (1983), Fiol and Lyles (1985), Morgan (1986), Lundberg (1989), Senge (1990) oder Garrat (1990). Trotz der Widersprüche in diesen Zuordnungen ist festzuhalten, dass die Vorstellung verschiedener Lerntypen, also unterschiedlicher Reifegrade im organisationalen Lernprozess, allgemein anerkannt ist.104 Hintergrund dieser Überlegungen ist die Vorstellung, dass Lernprozesse prinzipiell als abschließbar betrachtet werden können.105 Diese Annahme wird besonders von Darstellungen dokumentiert, die Lernkreisläufe gleich einem kybernetischen Modell beschreiben.106 Dafür ist die Vorstellung wesentlich, dass eine Soll-IstKontrolle durchgeführt werden kann und demzufolge eine Regel oder Norm existiert, die den Soll-Zustand definiert. Unterscheidungen nach Lerntypen set103 Verschiedene Autoren bezeichnen Argyris/Schön daher auch als „Klassiker“, „Stammväter“ oder „Urväter“ (Spandau 2002, 71). Mit diesen Würdigungen wird allerdings auch die Klage um eine verkürzte Rezeption verbunden (vgl. Wiegand 1996, 201, Miebach 2007, 159). 104 Die Bezeichnung „Lerntypen“ und die Behandlung dieses Themas wird in der Literatur nicht einheitlich vorgenommen. An dieser Stelle soll Pawlowskys Begrifflichkeit der Lerntypen übernommen werden. 105 Davon unabhängig können Lernprozesse als langsam oder schnell, ungenau oder präzise bzw. oberflächlich oder tiefgreifend klassifiziert werden (vgl. Levitt/March 1988). 106 Vgl. den Lernzyklus von Mach/Olsen 1975, Duncan/Weiss 1979, Hedberg 1981, Kim 1993. Argyris/Schön (1978) beziehen sich bei der Unterscheidung von single- und double-loop learning auf Ashby (1960), der ein thermostatgesteuertes Heiz- oder Kühlsystem für die Darstellung von Anpassungsverhalten eines stabilen Systems benutzt. Vgl. zum kybernetischen Aspekt auch Kremmel (1996, 130).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
zen genau bei dieser Regel oder Norm an, indem sie davon ausgehen, dass es nicht nur bei einem (dem ersten) Grundsatz bleiben muss, sondern dieser verändert werden kann, so dass der dann folgende Lernzyklus aufgrund neuer Kriterien und Maßstäbe bewertet wird. Die organisationalen Lernvorgänge werden – bezogen auf die ursprüngliche Norm – als single-loop learning, double-loop learning und deuterolearning bezeichnet. 107 Um einen Einstieg in die Vorstellungswelt von Argyris/Schön zu bekommen, sind frühere Werke von Argyris aufschlussreich, die Grundannahmen postulieren und damit die Perspektive verdeutlichen, die in den späteren Jahren weiter ausformuliert wurden. Danach geht Argyris (1964) von einem offenen Systemverständnis aus, das wesentliche Lernfaktoren enthält. Organisationale Systeme verfügen danach über Inputs, interne Strukturen, Outputs und Rückkopplungsmechanismen: „The internal structure, in turn, could be coceived as being composed of a number of subopen systems interrelated to create the whole.” (Argyris 1964, 155). In den Anfängen der über 50-jährigen Auseinandersetzungen mit organisationalem Lernen stand zunächst die Frage nach dem Verhältnis zwischen Individuum und Organisation. Argyris hebt dabei den Einfluss des einzelnen Organisationsmitglieds auf die organisationalen Veränderungen hervor (vgl. 2.1.4). Im Rahmen der lerntheoretischen Auseinandersetzungen spielt folglich das individuelle Lernen eine wichtige Rolle, so dass davon ausgegangen wird, dass Individuen grundsätzlich lernen wollen und können - und zwar auch im organisationalen Kontext. Mit diesem Ansatz bringt Argyris aus motivationstheoretischer Perspektive individuumsorientierte Betrachtungen in die Organisationstheorien (vgl. Argyris 1960, 1964), die bei funktionalistischen Modellen, insbesondere den klassischen Managementkonzepten (Taylorismus) oder dem Situativen Ansatz ausgeblendet sind (vgl. Wiegand 1996, 204, Bonazzi 2008, 83). Zu den grundlegenden Annahmen von Argyris gehört ein selbstbestimmtes menschliches Individuum, das im Wechsel vom Kinde zum Erwachsenen den Zustand des unmündigen und abhängigen Verhaltens verlässt und selbstbestimmt und kontrolliert agieren kann. Dabei spielt die kulturelle Prägung eine wesentliche Rolle (vgl. Argyris 1960, 262 f.). Argyris geht davon aus, dass organisationaler Erfolg von einer Passung zwischen den Bedürfnissen der Organisationsmitglieder und den Anforderungen der Organisation abhängig ist. Dieser drückt sich in Produktivität, Loyalität, Arbeitsqualität, der Autorität von Vorgesetzten sowie der Annerkennung von organisationalen Normen aus (vgl. Argyris 1964, 155). In acht Annahmen befasst sich Argyris mit den Grundbedürfnissen der einzelnen Organisationsmitglieder und den Ansprüchen der formalen Organisati107 Den Begriff des single-loop Lernens und den des Deutero-Lernens übernehmen Argyris/Schön von Bateson (1972).
2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens
109
on (vgl. Argyris 1960, 267 ff.). Dabei geht er auf unterschiedliche negative Auswirkungen ein, die auftreten, wenn der Einzelne in der Organisation nicht glücklich oder zufrieden ist, was z.B. in Frustrationen, Konflikten oder informellen Aktivitäten zum Ausdruck kommt. Insgesamt geht er von einem sich verstärkenden Negativtrend für die Organisation (durch Ablehnung oder Destruktivität) aus, wenn sich die Zustände nicht ändern. Für Argyris/Schön stellt das organisationale Handeln eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis organisationalen Lernens dar. Danach handeln etwa Unternehmen, Schulen oder Krankenhäuser dann organisational, wenn „they are cooperative systems governed by the constitutionals principles of a polis“ (Argyris/Schön 1996, 11). Der Rückgriff auf die altgriechische Polis soll dabei verdeutlichen, dass organisationale Handlungen nach Regeln funktionieren, kooperativ fungieren und einen politischen bzw. zielorientierten Charakter aufweisen, durch den sie konstituiert sind. 2.4.2 Das Modell des Schleifenlernens Lernprozesse sind nach Ansicht der Autoren auf individueller Ebene, in Gruppen und in der gesamten Organisation möglich. Dabei gilt ihr Interesse sowohl der Konzeption organisationalen Lernens als auch dessen Beeinflussung. Argyris/Schön (1996, 8 ff.) gehen von zwei Wissensbasen aus, der des Individuums und jener der Organisation. Allerdings nehmen sie an, dass Organisationen nur vermittels ihrer „Agenten“, also der Organisationsmitglieder, handeln können. Diese entscheidende Voraussetzung impliziert, dass jegliches organisationale Wissen – auch hinsichtlich des Organisationslernens – in den Handlungstheorien verankert ist (vgl. Wiegand 1996, 208). Diese Handlungstheorien werden als „theories of action“ bezeichnet und sind ausschließlich im handelnden Individuum verortet, das allerdings individuell aber/und organisational handeln kann.108 „Theories of action“ lassen sich in anwendungsorientierte Vorstellungen („theories in use“) und in jene Vorstellungen unterteilen, die nach außen hin vertreten werden („espoused theory“).109 „Theories in use“ werden dabei nicht als gegeben oder bleibend verstanden, sondern bilden sich durch die Organisationsangehörigen selbst. So wird das 108 Im Weiteren wird auf die Nutzung begrifflicher Übersetzungen verzichtet, da diese eher verwirrend erscheinen (vgl. Wahren 1996, 48). 109 Ein plastisches Beispiel bringt Schein (1996, 12): „I have heard many executives tell their subordinats that they expect them to act as a team but remend them in the same sentence that they are alle competing for the boss’s job!”
110
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
interaktive Verhalten permanent konstituiert und durch formelle und informelle Vorgaben, Entscheidungen und die gesamten Arbeitserfahrungen geprägt, aber: „Each member of an organization constructs his own representation of the theory in use of the whole, but his picture is always incomplete“ (Argyris/Schön 1996, 15). „Theories in use“ finden ihre Anwendung auf inoffizieller Praxis-Ebene und sind Grundlage der organisationalen Arbeit. Aus heutiger Sicht werden sie in Hinblick auf Handlungs- und Sprachbezug der Unternehmenskultur gleichgesetzt (vgl. Probst 1987, 99 ff., Reinhardt 1993, 58). „Espoused theories“ werden dagegen auf der Rechtfertigungsebene angewandt und haben offiziellen Charakter. Handlungen werden auf diese Weise oft im Nachhinein begründet oder legitimiert: „When someone is asked how he would behave under certain circumstances, the answer he usually gives its his espoused theory of action for that situation. This is the theory of action to which the gives allegiance and which, upon request, he communicates to others. However, the theory that actually governs his actions is his theoryin-use, which may or may both be compatible with his espoused theory; furthermore, the individual may or may not be aware of the incompatibility of the two theories” (Argyris/Schön 1978, 11).
Adäquat werden auch bei den Handlungstheorien der Organisation handlungsvertretende („organizational espoused theory“) und handlungsleitende Handlungstheorien („organizational theories in use“) unterschieden (vgl. Abb. 6). Für die Vorstellung der organisationalen Wissensbasis spielen individuelle und organisationale Speichermedien eine wichtige Rolle (Argyris/Schön 1996, 12 ff.). Speichermedien der „organizational espoused theories“ sind etwa offizielle Dokumente mit Rechtfertigungscharakter, z.B. organisationale Verlautbarungen, Unternehmensphilosophien, Führungsgrundsätze oder Strategiepapiere. Die handlungsleitende Theorie der Organisation zeigt sich indes im organisationalen Verhalten der Organisationsmitglieder bzw. in deren eigenen Vorstellungen („private images“) und offiziellen Ausgaben der Organisation („public maps“).110 Speicher der „private images“ sind dagegen die Organisationsmitglieder selbst, die durch ihre subjektiven Organisationserfahrungen über persönliche Bilder von der Organisation verfügen. Eine physische Ausformung der organizational „theory in use“ findet sich dagegen in den „public maps“, die helfen, sich in der organisationalen Handlungsebene zurechtzufinden und dadurch charakterisiert sind, diese zu beschreiben (z.B. durch Organigramme, Stellenbeschreibungen, Richtlinien oder Telefonlisten). 110 An dieser Stelle bleibt allerdings unklar, wie diese in der Praxis aufgefunden und wieder verändert werden können (vgl. Wahren 1996, 51, 57).
111
2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens
Theory of Action
Theory-in-use
Espoused Theory
Organization
Organizational Theory-in-use
Private images
Abbildung 6:
Organizational Espoused Theory
Public Maps
Die Handlungstheorie von Argyris/Schön (Miebach 2007, 159)
Lernauslöser werden in Unstimmigkeiten zwischen Organisationszielen und den tatsächlich eingetroffenen oder besser empfundenen Situationen gesehen (Argyris/Schön 1996, 11, vgl. „performance gaps“ bei Duncan/Weiss 1979). Diese werden entsprechend der individuums- bzw. individualakteurzentrierten Perspektive zunächst auf individueller Ebene von einzelnen oder mehreren Organisationsmitgliedern erfasst bzw. erkannt. Jeder organisationale Lernvorgang beginnt also mit einer subjektiven Erkenntnis bzw. einem Lernvorgang. Erst wenn diese Erkenntnisse auf die gesamte Organisation übertragen werden, kann von einem organisationalen Lernprozess gesprochen werden. Der organisationale Lernprozess setzt also auf individuellen Vorleistungen auf und bekommt dann organisationale Relevanz und organisationalen Charakter, wenn er von Organisationsvertretern durchgeführt wird und mehrere Organisationsmitglieder diese Vorleistungen anerkennen, teilen bzw. modifizieren.111 In 111 Dabei wird von produktivem Lernen gesprochen, um negative Sonderformen (vgl. 2.1.5.5) auszuschließen (Argyris/Schön 1996, 18 ff.). Vgl. zur organisationalen Manifestation der Lernergebnisse 2.1.6.
112
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
diesem Zusammenhang wird von einer organisationalen Untersuchung („inquiry“), man könnte sie auch als Lernoperation bezeichnen, gesprochen, die insgesamt die organisationale Relevanz des Lernens bzw. der festgestellten Unstimmigkeiten hervorhebt: „Inquiry becomes organizational when individuals inquire on behalf of the organization, within a community of inquiry governed, formally or informally, by the roles of the organization“ (Argyris/Schön 1996, 33). Wenn auch die gesamte Organisation lernt, so wird hier im Verständnis der „inquiry“ von wenigen Lernpromotoren ausgegangen. Argyris/Schön (1996, 20 ff.) unterscheiden drei verschiedene Lerntypen, die unterschiedlichen Auswirkungen auf die organisationale Wissensbasis haben (vgl. Abb. 7).112 Single-loop learning verstärkt bereits vorhandene Wissensmuster, so dass grundsätzliche Verhaltensweisen und Strategien nicht in Frage gestellt werden. Dabei lernt die Organisation ihre Handlungen zu verfeinern, zu verbessern oder auszubauen.113 Dennoch erscheint hier der Begriff „Strategie“ ambivalente Verwendung zu finden, da sie einerseits verändert, andererseits (wohl in einem organisational umfassenderen Sinne) unverändert bleiben: „These strategies or assumptions are modified, in turn, to keep organizational performance within the range set by existing organizational values and norms“ (Argyris/Schön 1996, 21).
112 Die Literatur nutzt für die Unterscheidung unterschiedliche Begriffe, so wird von Lernniveau (Nagl 1997, Eichler 2008), Lernebene (Wahren 1996), Lerntyp (Kremmel 1996, Pawlowsky/Geppert 2005, Miebach 2007), Lernart (Geller 1996, so auch Argyris/Schön selbst) oder Lernform (Spandau 2002) gesprochen. 113 Single-loop learning beschäftigt sich mit der möglichst effizienten Zielverfolgung bezogen auf die ursprüngliche Norm. Kremmel spricht daher von „Effizienzlernen“. Es „stellt somit nicht die Dinge, die zu tun sind (den Bezugsrahmen), in Frage, sondern fokussiert auf eine Optimierung des organisationalen Handlungswissens innerhalb eines vorgegebenen Kontexts“ (Kremmel 1996, 129). Pawlowsky konkretisiert: „Die vorgegebenen Ziele und Normen, z.B. für Produktqualität, Umsatz oder Leistung, bleiben dabei grundsätzlich unberührt; sie werden vielmehr durch diesen Lerntypus stabilisiert“ (Pawlowsky/Geppert 2005, 280). Bestimmender Aspekt dieses Lerntypen ist also die Orientierung an Normen. Duncan/Weiss z.B. beziehen ihr Verständnis organisationalen Lernens auf das Outcome. Organisationales Handeln ist demnach auf ein nützliches mit der Umwelt in Beziehung stehendes Resultat konzentriert: „That ist a process characteristic of organizations which has as its function the provision of some organizationally useful outcome.” (Duncan/Weiss 1979, 79, 84). Huber (1991) dagegen kritisiert bei den Ansätzen des Organisationslernens die oft zum Ausdruck gebrachte Konzentration auf Effektivität.
113
2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens
Normen, Werte, Ziele
Handlungen, Strategien
Diskrepanzen zwischen Soll- und Ist-Vergleich
Beseitigung von Fehlern, Anpassung bzw. Veränderung von Handlungen und Strategien single-loop learning
Veränderung von Normen, Werten und Zielen double-loop learning
Metakognitive Fähigkeit (Lernen zu lernen) deutero-learning
Abbildung 7:
Organisationslernen in Anlehnung an Argyris (1990) und Argyris/Schön (1996)
Double-loop learning setzt dann ein, wenn bewährte Muster (bestätigt und verstärkt durch das single-loop learning) nicht mehr ausreichen. Der Lernvorgang ändert sein Niveau und wechselt über auf eine grundsätzliche Ebene. Hierbei werden die Strategien so verändert, dass eine andere Lernqualität vorliegt.114 An dieser Stelle zeigt sich die politische bzw. konfliktäre Seite organisationalen Lernens (vgl. das „polis-Verständnis“ der Autoren), da nun bestehende Leitlinien und in der Vergangenheit getroffene Grundsatzentscheidungen auf- besser angegriffen werden: „There is in this sort of episode a double feedback loop which connects the detection of error not only to strategies and assumptions of effective performance but to the values and norms that define effective performance. In such an example of organizational double-loop-learning, incompatible requirements in organizational theory-inuse- are characteristically expressed through a conflict among members and groups of members. One might say that the organization becomes a medium for translating
114 Dieser Bezugsrahmen wird häufig als Wert, Basisannahme oder Norm bezeichnet. Pawlowsky/Geppert (2005, 281 f.) erläutern dieses Lernen: „Wenn z.B. die Beobachtung, daß Kunden eines Unternehmens neben der Qualität eines Produktes insbesondere die Support- und Serviceleistungen schätzen, zum Überdenken einer Kostenreduktions- und Personalabbaustrategie im Kundendienst führt, liegt ein solcher Lerntyp vor.“
114
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
incomatible requirements into interpersonal and intergroup conflict.” (Argyris/Schön 1996, 23)115.
Deuterolernen („deuterolearning“) abstrahiert noch einmal die Lernvorgänge, indem das/vom Lernen gelernt wird.116 Dabei stehen jene Faktoren im Mittelpunkt, die zu erfolgreichen Lernvorgängen geführt haben, seien es nun single loop oder um double-loop learning- Prozesse. Entscheidend hierfür ist der organisationale Kontext, der allgemein auch als Lernumgebung bezeichnet werden könnte.117 In diesem Zusammenhang greifen die Autoren auf zwei Hintergrundfolien organisationalen Lernens zurück, die sie als Organisationsstrukturen („organizational structures“) und Verhaltenswelt („behavioral world“) bezeichnen (Argyris/Schön 1996, 28). Organisationslernen wird demnach in Organisationsstrukturen ausgetragen, die man auch als „Infrastrukturen organisationalen Lernens“ bezeichnen könnte. Sie zeigen sich z.B. in Kommunikationskanälen, Informationsmedien, Räumlichkeiten, Verhaltensmaßgaben oder Anreizsystemen. Lern-
115 Auch hier wird deutlich, dass die Autoren mit dem Strategie-Begriff ambivalent umgehen. Daran lässt sich Wiegands Kritik anschließen, der den Unterschied zwischen den ersten beiden Lernstufen anzweifelt: „Was jedoch ist (...) der wesentliche Unterschied zum Prozess des single-loop learning? Meines Erachtens kann die Antwort nur lauten: ausgesprochen wenig!“ (Wiegand 1996, 212, Hervorh. im Orig.). Im double-loop learning könnte in diesem Sinne auch die „paradigm revolution“ (Duncan/Weiss 1979, 95 f.) verortet werden, da es hierbei um die Veränderung von Grundannahmen geht. Während sich „single-loop learning“ aus Sicht der Unternehmenskultur (Schein 1984) auf die Veränderung der Oberflächenstruktur beziehen lässt, kann „double-loop learning“ mit grundlegenden Modifikationen der Tiefenstrukturen verbunden werden (vgl. Reinhardt 1993, 66). 116 Die deutsche Übersetzung („Zweitlernen“, Argyris/Schön 1999) bzw. die begriffliche Vorstellung einer „Lernzählung“ erscheint problematisch. Wenn schon unterschiedliche Lernqualitäten gezählt werden, wie das beim Doppelschleifenlernen der Fall ist, dann sollte hier von einem Tripel- oder Dreischleifenlernen gesprochen werden. Vgl. auch Wiegand (1996, 215) und Miebach (2007, 160, Fn. 203). 117 Das deutero-learning wird als Lernen auf höchster Ebene angesehen. Daher wird dieser Lerntyp von Kremmel auch als „Metalernen“ bezeichnet, „da er Lernen zum Objekt seiner Reflexion macht (Lernen zu lernen). (...) Eine unabdingbare Voraussetzung bildet daher die Fähigkeit einer Organisation zur Selbstreflexion und Selbstkritik“ (Kremmel 1996, 134, vgl. Wiegand 1996, 470 ff., insbes. 479 ff.). Pawlowsky/Geppert fassen diesen Aspekt stärker problembezogen zusammen: „Grundlage der Abgrenzung dieses Lerntyps bildet die Problematik, dass Individuen angesichts ihres (unterschiedlich) ausgeprägten Routinisierungs- und Beharrungsbestrebens zu lerndysfunktionalen Verhaltensweisen neigen, so z.B. zum Ignorieren von Fehlern, Inkonsistenz ihres Verhaltens, zur Isolation gegenüber Veränderung der internen und externen Umwelt oder zu mangelnder Kommunikationsbereitschaft“ (Pawlowsky/Geppert 2005, 282). Sofern Organisationen „selbst” erfahren haben, dass z.B. angenehm gestaltete Arbeitsräume Lernprozesse fördern, kann von Deuterolernen gesprochen werden.
2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens
115
förderliche Faktoren dieser Strukturen bezeichnen die Autoren als Initiatoren („enablers“).118 Die Verhaltenswelt dagegen kennzeichnet diese Lernbedingungen, gibt also z.B. Aufschluss über vertrauensvolle oder feindliche, flexible oder starre, konkurrierende oder kooperative Interaktionsmuster und kann daher auch als „Lernatmosphäre“ beschrieben werden. Diese zweite Folie beschreibt damit die Welt der organisationalen Machtgefüge und schließt hierbei an die mikropolitischen Überlegungen von Crozier (1963) an: „A key feature of the behavioral world of an organization is the degree to which organizational inquiry tends to be bound up with the win/lose behavior characteristic of organizational games of interests and powers“ (Argyris/Schön 1996, 29).
Entsprechend der bereits erwähnten Ausgangsüberlegungen von Argyris, die sich mit der mangelnden Passung von individuellen Bedürfnissen und formalorganisationalen Realitäten beschäftigen, wird nicht davon ausgegangen, dass Organisationen reibungslos funktionieren, (vgl. Argyris/Schön 1996, 112). Sie gehen davon aus, dass die meisten Organisationen Zustände erfolgreichen Deuterolernens nicht erreichen können, weil sie in einem defensiven Denken („Defensive Reasoning“, Argyris/Schön 1996, 73 ff.) verharren. Um die unterschiedlich erfolgreichen Lernumgebungen gegenüberzustellen, nutzen Argyris/Schön zwei Modelle handlungsleitender Theorien. Dabei gehen sie zunächst von schlechten Lernbedingungen aus und unterscheiden zwischen hemmenden (Modell O-I) und förderlichen Handlungsleitungen (Modell OII).119 Hintergrund dieser Überlegungen ist die Auseinandersetzung mit den Folgen organisationaler Lernprozesse. Oft wird dabei die „espoused theory“ schneller verändert, als die „theory in use“. Das Denken und Handeln der Organisationsmitglieder hinkt gewissermaßen den äußeren Änderungen, etwa durch neue Organisationspläne oder ein frisches Corporate Design, hinterher. So entsteht ein „mismatch“ zwischen „espoused theory“ und „theory in use“, das wiederum zu defensiven Routinen führt, die letztlich negative Auswirkungen nach sich ziehen: Selbst-Isolierung, verminderte langfristige Effektivität oder single-loop learning sind die Folge. Single-loop-learning wird hier als negativ angesehen: Es ver-
118 Ähnlich konzipieren Duncan/Weiss ihre organisationale Wissensbasis: „The existence of an organizational knowledge base makes possible what may called proctive organizational changes” (Duncan/Weiss 1979, 120, Hervorh. M.H.). 119 Das „O“ soll dabei die organisationale Ebene andeuten, wird aber, wie auch in dieser Arbeit, in der rezipierenden Literatur nicht immer durchgängig wiedergegeben.
116
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
drängt Engagement auf grundsätzlicher Ebene, double-loop learning wird im Modell I ignoriert (vgl. Argyris/Schön 1996, 111). Offene, kritische und aktive Lernbedingungen charakterisieren dagegen das Modell II. Hier werden durch double-loop learning-Prozesse engagierte Lernprozesse ermöglicht, langfristige Effekte erreicht und defensive Routinen kaum festgestellt. Dies zu erreichen, gelingt Organisationen jedoch nach den Erfahrungen von Argyris/Schön und den mangelnden Literaturhinweisen kaum, Organisationen sind somit auf die externe Hilfe von Interventionisten (Organisationsforscher, Unternehmensberater) angewiesen.120 Diese ermöglichen eine Offenlegung („unfreezing“) der Lernumstände und bringen die Vertreter des TopManagements dazu, organisationales Lernen nach Modell II zu betreiben. Hinsichtlich der Vorstellung organisationalen Lernens von Argyris/Schön sind folgende Annahmen festzuhalten: Organisationslernen wird grundsätzlich als dauerhaft begriffen. Lernprozesse hören nicht auf bzw. werden ständig durchgeführt. Ein gewissermaßen visionäres Endziel ist das Erreichen eines offenen und produktiven Lernsystems, das schnell und effizient Lernprozesse hervorbringen kann.121 Die Logik des Schleifenlernens bedeutet allerdings auch, dass Lernergebnisse einen dualen Charakter haben: Sie enthalten einerseits Informationen hinsichtlich ihrer konkreten Anwendung, andererseits auch Informationen darüber, aus welchem Lernprozess und unter welchen Lernbedingungen sie entstanden sind. 2.4.3 Lernfaktoren Das umfangreiche Lernverständnis von Argyris/Schön lässt verschiedene Anknüpfungspunkte hinsichtlich der Lernfaktoren zu. Fasst man die wesentlichen Positionen der Autoren zusammen, so lässt sich festhalten, dass sich Organisationen in ständigem Austausch mit der Umwelt befinden. Argyris geht von einem Organisationsverständnis aus, dass organisationale Aktivitäten in beide Richtungen vorsieht: Organisationen werden durch die Umwelt beeinflusst (insbesondere durch Politik und Kultur), beeinflussen jedoch auch ihrerseits die Umwelt (vgl. Argyris 1964, 25 ff., 153 f.). Sie übernimmt dabei die Rolle des Lernauslö120 In dieser Funktion ist/war Argyris selbst aktiv. Die Interventionsperspektive wird in der Literatur allerdings nicht immer berücksichtigt (vgl. Geller 1996, Kremmel 1996, Nagl 1997, Pawlowsky/Geppert 2005), was u.a. auch daran liegt, dass Interventionsmöglichkeiten die erklärende Funktion organisationstheoretischer Auseinandersetzung nicht (mehr) bedienen. 121 Wiegand (1996, 220, Hervorh. im Orig.) pointiert: „Insgesamt gilt: durch die „richtigen“ Inhalte der Modell II-Handlungstheorie wird die Organisation zum effektiven Perpetuum mobile!“
2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens
117
sers, auch wenn insgesamt Fehler im Zusammenhang von Erwartungen und Ergebnissen verantwortlich gemacht werden.122 Bezeichnend für diesen ist außerdem eine starke Verknüpfung der Lernfaktoren Struktur, Strategie und Akteur. Inwieweit das der Fall ist, lässt sich am Beispiel des Strategieverständnisses zeigen. Für Argyris stellen Struktur und Individuum keinen Widerspruch dar. Er geht davon aus, dass Organisation (eine) Strategie ist (Argyris 1960, 264). Damit berücksichtigt er die Ursprünge formaler Organisationen, die gewissermaßen „am Reißbrett“ entstanden sind. Nur wer einen Plan hat, eine Strategie, kann die Funktionen nach bestem Wissen konfigurieren: „(T)he basic chracteristic of the structure are usually defined by generealisations from economics, scientific management, public administration and traditional formal organization theory. This strategy is crystalized, ’photographed’ and represented as a typical organizational chart” (Argyris 1960, 265).
Die Strategie spielt also einerseits eine wichtige Rolle in der formalen Struktur. Sie taucht jedoch auch im inoffiziellen Bereich der organisationalen Handlungen, der „Theory-in-use“ in Form von „public maps“ auf. Andererseits können sich Strategien nach Argyris/Schön (1978) auch in Strategiepapieren finden („Organizational Espoused Theores“). Darüber hinaus wurde bereits die Doppelrolle der Strategie hinsichtlich single-loop und double-loop learning angesprochen. Diese Überlegungen sind jedoch nur dann sinnvoll, „wenn davon ausgegangen wird, daß eine organisationale Handlungstheorie bereits vorhanden ist“ (Wiegand 1996, 211). Geht man dieser Überlegung weiter nach, die Wiegand ja nur auf die „organizational theory- in-use“ bezieht, ist entsprechend festzuhalten, dass auch hier nur dann sinnvoll von Schleifenlernprozessen ausgegangen werden kann, wenn organisationale Strategien (gleichgültig in welcher Lernschleife) bereits bestehen. Auch die Lernfaktoren Struktur und Akteur stehen in einem rekursiven Verhältnis. Argyris/Schön gehen insgesamt von einem proaktiven Individualakteur aus, der letztlich in einzig möglicher konkreter Handlungseinheit die organisationalen Handlungen ausführen kann. Argyris sieht keinen Widerspruch zwischen Struktur und freiem Handeln. Dazu allerdings müssen die Organisationsmitglieder bereit und in der Lage sein. Das gelingt auch und gerade dann, wenn die organisationale Kontrolle gering oder unmöglich ist:
122 Wiegand (1996, 205) betont im Zusammenhang bedrohlicher Umweltbedingungen „die häufig kritisierte adaptive Orientierung des Ansatzes“.
118
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
„For example, from our viewpoint one may hypothesize that the greater the internal commitment to work, the more the individual will tend to work without external pressures, rewards, and penalties” (Argyris 1964, 195).
Argyris geht es dabei nicht um eine Verurteilung der formalen Organisation aus der Perspektive des einzelnen Organisationsmitglieds. Vielmehr geht es darum, den gleichberechtigten Prozess der Wahrnehmung eigener Interessen beider Seiten zu verstehen und zu untersuchen (Argyris 1964, 267). Der Einzelne, das Individuum, steht dabei im Vordergrund, so dass dieser Ansatz insgesamt als akteurzentriert bezeichnet werden kann. Die Auseinandersetzung mit den klassischen Managementkonzepten der formal strukturierten Organisation (des Taylorismus) wird am Standpunkt des „Ineinandergehens“ von Organisation und Individuum, von Struktur und Handlung deutlich, wenn Argyris von transactions ausgeht: „From our viewpoint it is simply impossible to say that the motivation resides ’in’ the individual or ‚in’ the organization. Our viewpoint suggests the motivation of the participant is best understood as a resultant of the transactions between the individual and the organization“ (Argyris 1960, 274, Hervorh. im Orig.).
Dabei spielt das Organisationsverständnis von Argyris/Schön eine wichtige Rolle. Danach handelt es sich bei Organisationen nicht um statische Einheiten, sondern um aktive Organisationsprozesse (vgl. Weick 1995). Die von den Organisationsmitgliedern entworfenen Vorstellungen von der Organisation prägen diese (Argyris/Schön 1996, 16). Schließlich ist auch der Machtaspekt, dem Lernfaktor Akteur innewohnend, von den Autoren berücksichtigt. Insbesondere das doubleloop learning ist demnach mit Konflikten und mikropolitischen Phänomenen konzipiert. Allerdings wird die Machtfrage hingenommen, ohne die Machtverhältnisse und ihre Auswirkungen auf das organisationale Lernen selbst zu beleuchten: „Es wird akzeptiert, dass das Lernen der Machthaber sich im Kontext institutioneller gegebener Strukturen vollzieht. Es wird verhindert, dass das Lernen der Machthaber sich zum Ziel setzt, den Kontext und die von ihm hergeleiteten Strukturen zu hinterfragen und zu verändern“ (Spandau 2002, 98, vgl. auch Wiegand 1996, 207, Fn. 75; 224, Fn. 105).
Auch die Lernfaktoren Struktur und organisationale Wissensbasis weisen bei Argyris/Schön starke Beziehungen untereinander auf. Außerdem lassen sich die Kontextbedingungen für die Lernsysteme I und II, die als Organisationsstruktu-
2.4 Schleifenlernprozesse als Grundlage zukünftigen Lernens
119
ren bezeichnet werden, ohne weiteres als Organisationskulturen fassen (vgl. z.B. Schüerhoff 2006). Hinsichtlich des Outputs verwischen die Konturen zwischen Strukturen, die kognitiver und formaler Art sein können, und Handlungen. Von „produktivem Lernen“ sprechen Argyris/Schön dann, wenn Leistungsverbesserungen ermöglicht werden, Veränderungen ihrer Maßstäbe und Kriterien zur Leistungsbeurteilung erreicht werden oder Fähigkeiten zum Erlernen der ersten beiden Kriterien verbessert werden (Argyris/Schön 1996, 20). 2.4.4 Implikationen für die vorliegende Arbeit Als wichtigste Implikation des Ansatzes von Argyris/Schön kann an dieser Stelle die theoretische Konzeption aufeinander folgender Lernprozesse in Form des Schleifenlernens festgehalten werden. Sie ermöglicht, die Bedeutung eines vergangenen Lernprozesses bezogen auf einen darauf folgenden theoretisch zu fundieren. Dennoch ist es kein Wunder, wenn ein so breit rezipierter Ansatz gerade vor dem Hintergrund seines langjährigen Bestehens unterschiedlichste Kritik hervorgerufen hat. An dieser Stelle können nur einige für diese Arbeit relevante Punkte behandelt werden, die Anlass zu bestimmten Modifikationen sind. So muss Abstand von Verkürzungen organisationalen Lernens genommen werden: Die Vorstellungen der Autoren zum „monolithischem Lernen“ verkürzen das Potential organisationalen Lernens. Wird von organisationalem Lernen erst dann gesprochen, wenn sämtliche Organisationsmitglieder die neuen Annahmen, also die Lernergebnisse teilen, müssten die organisationalen Kommunikationsstrukturen außergewöhnlich umfangreich und effizient sein. Diese Vorstellung erscheint äußerst unrealistisch und unterschätzt die Bedeutung subkulturellen Wissens (vgl. Duncan/Weiss 1979, 88, Kremmel 1996, 123 f.). Daher ist eine konzeptionelle Verringerung der Menge an Lernträgern sinnvoll und nötig, wie sie Wiegand vorschlägt: Insofern „sollte Argyris’ Ansatz organisationalen Lernens eher als Konzept des Gruppenlernens reinterpretiert werden“ (Wiegand 1996, 224). Die Konzentration auf das Top-Management ist unzureichend. Die Fokussierung auf das Top-Management bei organisationalen Lernprozessen ist verkürzend (vgl. Reinhardt 1993, 45). Mit modernen Maßstäben gemessen,
120
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gewinnen einzelne Wissenskulturen vermehrt an Bedeutung (vgl. Wiegand 1996, 210, 226, Fn. 108). Allerdings muss differenziert werden: Die theoretischen Implikationen der Autoren können oder müssen „vor sich selbst geschützt werden“. In diesem Sinne sind die theoretischen Annahmen von Argyris/Schön von deren Beratungspraktiken und den damit verbundenen Ausführungen zu unterscheiden. Organisationale Lernprozesse - sind sie hierarchieübergreifend gedacht - können sich sehr wohl in ihren praktischen Untersuchungen oder Beratungen auf höchste Führungskreise beziehen und damit die Wirkmächtigkeit dieser Gruppen anerkennen (vgl. Duncan/Weiss 1979). Sie sind allerdings organisationstheoretisch verkürzt, wenn sie Lernvorgänge auf der unteren Ebene faktisch negieren. Die Interventionsperspektive verwirrt im organisationstheoretischen Zugang. Die Einstellung der Autoren, die im Sinne praktischer Theorie handeln wollen, fordert die Wissenschaft in besonderer Weise heraus. Zu Recht wird angemerkt, dass die Beurteilung der Lernqualität in erster Linie von den Interpretationen der Interventionisten abhänge, die omnipotent Lernqualitäten ex-post „aufpflanzen“ würden (Wiegand 1996, 215 f.). Spandau (2002, 69 ff.) wiederum kritisiert die unechte Offenheit bei den Interventionen als „pseudo-diskursives Organisationslernen“. Einerseits werde eine offene Lernatmosphäre für sämtliche Organisationsmitglieder angestrebt, andererseits würden die Interventionalisten nur mit dem Top-Management verhandeln und die vorhandene Machtstruktur nicht hinterfragen. Auch an dieser Stelle scheint also eine deutliche Trennung zwischen den theoretischen Ausführungen und den praktischen Handlungsmöglichkeiten der Organisationstheorie erforderlich. Die drei Lerntypen haben keinen Anspruch, als trennscharf gelten zu können. Wenn oben davon ausgegangen wurde, dass dem Lernverständnis im Sinne von Lernzyklen prinzipiell ein Abschluss zugebilligt wird, so ist das nur theoretisch gemeint, da organisationale Lernergebnisse nicht statisch sind: „Organisationslernen kann also nur als Prozeß verstanden werden, für den man keinen Endpunkt setzen kann“ (Krebsbach-Gnath, 1996, 82).123 Diese Feststellung - unter der Maßgabe, Organisationslernen habe im Sinne einer organisationalen Wissensveränderung stattgefunden - ist dadurch begründet, dass diese Wissensver123 Krebsbach-Gnath (1996, 82) bezieht sich dabei auch auf Senge (1990, 11): „Thus, a corporation cannot be ‘excellent’ in the sense of having arrived at at permanent excellence; it is always in the state of practicing the disciplines of learning, of becoming better or worse.”
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änderungen nicht zu sichtbaren organisationalen Auswirkungen führen müssen. Außerdem können sie so unterschiedlicher Art sein, dass sie weder organisational noch zeitlich genau zu orten sind. Gewissermaßen verhält sich die Veränderung der organisationalen Wissensbasis fluid.124 Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine genaue Differenzierung von Strategien, Normen, Werten und Zielen nicht immer möglich ist. So ist es nicht verwunderlich, dass Lerntypen nicht trennscharf sind: „Diese drei Lerntypen schließen sich in der Praxis nicht aus und lassen sich nicht uneingeschränkt trennscharf voneinander abgrenzen, sie markieren vielmehr Extrempunkte eines Kontinuums, auf dem organisationale Lernprozesse in Abhängigkeit von der Intensität der Auseinandersetzung mit Zielen, Verhalten und Annahmen über Wirkungszusammenhänge zwischen Verhalten und Zielerreichung systematisiert werden können“ (Pawlowsky/Geppert 2005, 282).
Die damit zum Ausdruck gebrachten Emergenzebenen unterschiedlicher Lernprozesse spielen sowohl in qualitativer wie auch in zeitlicher Hinsicht eine Rolle. So gehen Lernmodelle von unterschiedlichen Zeitpunkten des Lernens (t0 und t1) aus (vgl. Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994). Wiegand weist in diesem Zusammenhang auf den in der Literatur insgesamt kaum anzutreffenden Aspekt der „Zustandsgebundenheit“ hin. Ausgehend von der Organisation als Wissensspeicher setzt er voraus, „daß zu einem Zeitpunkt innerhalb der Organisation unterschiedliche Wissensformen mit spezifischen Inhalten vorhanden sind (...). Dieses zeitpunktbezogene Wissen ist einerseits das Ergebnis von Lernprozessen; andererseits beeinflußt es zukünftige Lernprozesse“ (Wiegand 1996, 490).
Diese wiederum können sich über lange Zeiträume erstrecken (vgl. Fiol/Lyles 1985, Argyris/Schön 1996, 211, Wiegand 1996, 212 125). Wenn im Sinne eines Fluidums Organisationslernen hier nicht greifbar scheint, so gilt dies nicht grundsätzlich. Lernprozesse enden zwar nicht eindeutig, aber sie sind (spätestens über den Output) identifizierbar (vgl. 2.1.6). Die genannten Einschränkungen hinsichtlich der Arbeiten von Argyris/ Schön können, zumindest für diese Arbeit, nicht als K.-o.-Kriterien gelten. Auch wenn ein umfassendes und als „kompliziert“ bezeichnetes Modell (Miebach 124 In diesem Zusammenhang sind daher Interpretationen unumgänglich bzw. zwingend logisch. 125 Wiegand weist an anderer Stelle darauf hin, dass Argyris/Schön unter double-loop learning keinen „radikalen (diskontinuierlichen) organisationalen Wandel, wiewohl die oft stark verkürzte Rezeption des double-loop learning genau den umgekehrten Eindruck vermittelt“ verstehen (Wiegand 1996, 214).
122
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2007, 159) vorliegt, hat es breiten Eingang in die Auseinandersetzung mit organisationalem Lernen erreicht. Das liegt zum einen an dem ambitionierten Praxisbezug, zum anderen an der – auch aus organisationstheoretischer Perspektive – überzeugenden Vorstellung des Schleifen- oder Mehrebenenlernens, die sich bei vielen weiteren Autoren wiederfinden lässt und um die es der Arbeit im Eigentlichen geht. Sie verdeutlicht, wie wichtig individuelle und organisationale Handlungstheorien als Ausgangspunkt und Ergebnis sind. Die Autoren spornen daher eher zu Verknüpfungen mit strukturationstheoretischen Überlegungen an, denn: Handlungstheorien zeigen,
dass Strukturen allein nicht als Lernergebnis in Frage kommen, dass Strukturen durch Handlungen erfolgen, dass eine „saubere“ Trennung von Struktur und Handeln nicht/nie möglich ist, dass die Wissensbasis gleichzeitig einen starken Handlungsbezug aufweist und schließlich dass Strukturen in/durch Handlungen verändert werden können.
Im Gegensatz zu anderen Lernmodellen konzentrieren sich Argyris/Schön auf eine (relativ) klare Differenzierung von Lernprozessen. Die aufeinander folgende Anordnung von Lernprozessen in der Zeit führt einschließlich der Tatsache, dass solche Lernprozesse alleine schon mehrere Jahre dauern können, zu der unmittelbaren Frage nach interdisziplinären Untersuchungen, die (organisations)historische Perspektiven einschließen. Eine Untersuchung, wie die vorliegende, die sich mit langjährigen Lernprozessen beschäftigt, ist daher auf eine historische Fundierung angewiesen (vgl. 2.2/2.3). 2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung Obwohl Vertreter des double-loop learning wie etwa Argyris/Schön (1978) die Frage, wie ein Übergang zu höheren Emergenzebenen aussieht, nicht genau beantworten, sind diese Prozesse bisher unzureichend empirisch überprüft worden.126 Da dieses Verständnis organisationalen Lernens nicht nur modellübergreifend anerkannt ist, sondern auch die Zeitlichkeit und damit die Forschungsfrage nach dem Einfluss vergangener auf nachfolgende Lernprozesse impliziert, 126 Im Gegensatz dazu steht die vielfältige Literatur normativer Prägung, die solche Vorstellungen schlicht (und ungeprüft) voraussetzt.
2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung
123
gilt es, ein forschungspraktisches Modell zu entwickeln, das zudem den bereits genannten Lernfaktoren sowie deren Rekursivität Rechnung trägt.127 2.5.1 Basisannahmen und Organisationsverständnis Auf der Suche nach einer für diese Arbeit zweckmäßigen Organisationsdefinition finden sich klassische Merkmale wie Mitgliedschaft, Organisationsziel, Arbeitsteilung, Hierarchie und eine koordinierte Handlungsweise.128 Organisationen zeigen sich nach Argyris/Schön (1996, 191), wenn sie gemeinschaftliche Entscheidungen in einem „Wir-Bewusstsein“ treffen, Handlungsbefugnisse einem Einzelnen im Namen der Gesamtheit übertragen und Auskunft darüber geben können, wer Organisationsmitglied ist und wer nicht. Für Duncan/Weiss (1979, 79 f.) ist die Transformation von Input in Output - der organisationale Zweck - ein wichtigeres Charakteristikum als das Organisationsziel. So ist auch die Perspektive verständlich, nach der Organisationen als Systeme bewusst koordinierter Handlungen oder Kräfte von zwei oder mehr Personen betrachtet werden (vgl. z.B. Barnard 1938, 65 ff., vgl. Weick 1995, Giddens 2008). In dieser Vorstellung machen also Handlungen und nicht etwa Menschen oder deren Hilfsmittel, Organisationen aus. Dennoch können individuelle Akteure nicht grundsätzlich ausgeklammert werden. Organisationen werden daher immer auch als „Orte“ von Akteuren verstanden, die „ihre“ Organisation beeinflussen können: „We have conceptualized organization as an interrelated set of parts striving to achieve a set of objectives. Exactly what one wishes to consider as parts of the organization depends on the state of the science, at a given moment, as well as the problems under study. The parts could be individuals, small groups, departments, or processes such as rewards an penalty, authority, and communication. One could also include, as we have, parts from all theses different levels of analysis” (Argyris 1964, 155, vgl. auch ders. 1960, 276). 127 Ähnlich wie bei Scherf-Braune (2000, 40) wird hier davon ausgegangen, dass „die unterschiedlichen Zugänge durchaus zu einem gemeinsamen inhaltlichen Kern führen können. Dennoch erzeugt die isolierte Betrachtung der einzelnen Versatzstücke Organisationalen Lernens mit ihren unterschiedlichen Begrifflichkeiten zunächst den Eindruck einer ungeheuren Komplexität des Gegenstandes.“ Probleme dieser Erweiterung bestehen darin, dass sich die Auseinandersetzungen mit Strukturation nicht originär mit Organisationen befassen (vgl. 2.2). In diesem Zusammenhang soll und kann nicht einer reinen Interpretation das Wort geredet werden, sondern „a sounder multidimensional theory“ (vgl. Ortmann/Sydow/Türk 2000, 32 in Anlehnung an DiMaggio/Powel 1991, 27, vgl. auch Ortmann/Sydow/Windeler 2000, 353 f.). 128 Vgl. zur Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit des Organisationsbegriffs und dessen empirischer Bedeutung Büschges (1983, 45 ff./68 ff.).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Da Strukturen selbst nicht äußerlich wirken und lediglich „in den Köpfen der Akteure“ (vgl. Giddens 2008, 25) existieren, Handlungen ohne Akteure jedoch nicht möglich sind, werden Organisationen teilweise auch „...nicht als materielle Artefakte, sondern als kognitive Konstrukte begriffen. Organisation und Mitglied stehen dabei in einem doppelten Konstitutionsverhältnis. Ohne miteinander agierende Personen gäbe es keine Organisation; diese wird erst durch das Interagieren der Mitglieder gebildet. Dabei verbindet sich das Wissen, die Orientierungsmuster, die Strukturvorstellungen, die Motivation und die Handlungsqualifikation jedes einzelnen Organisationsmitglieds mit der Organisation“ (Buhr 1998, 81).
Nach einer Vorstellung, die auf Akteursebene versucht, die Komplexität und Verwobenheit der Lernfaktoren zu berücksichtigen, können strukturationstheoretische Annahmen reduzierend zum Verständnis organisationaler Handlungen beitragen, indem sie Interaktion (Handlung) und Struktur verbinden, wobei Strukturen dabei über das klassisch-formale Verständnis hinausgehen (müssen). Dazu abermals Ortmann/Sydow/Windeler (2000, 317): „Organisationen werden (...) über organisationale Praktiken gekennzeichnet, über in Organisationen wiederkehrend praktizierte Formen des Handelns, und nicht allein über formale Strukturen, strukturelle Eigenschaften oder Input-Output-Relationen, auch nicht über Kommunikation oder Entscheidung“.
Organisationsgrenzen sind nach der Strukturationstheorie damit weniger klar zu ziehen, als es klassische Organisationsdefinitionen erlauben.129 Der OL - Bezugsrahmen ist daher insgesamt theoretisch „komfortabel geweitet“. Daher sollen hier Organisationen, strukturationstheoretisch informiert, verstanden werden als soziale Systeme, die durch koordinierte Handlungsroutinen ihrer Mitglieder, deren gemeinsamer Zielvorstellung, Arbeitsteilung sowie Hierarchie gekennzeichnet sind. Auch in der Auseinandersetzung mit einer geeigneten Definition organisationalen Lernens finden sich klassische Merkmale. Diese umfassen die bisher genannten Aspekte und spiegeln sich in den Lernfaktoren wider. Trotz der unterschiedlichen Arbeiten zum Organisationslernen insgesamt, wird die Umwelt immer im Zusammenhang mit dem Lernprozess gebracht. Dabei kann sich die Organisation aktiv und passiv verhalten:
129 Probleme von Abgrenzungen zu inter- und intraorganisationalem Lernen werden strukturationstheoretisch somit aufgelöst.
2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung
125
„Organizational learning includes both the processes by which organizations adjust themselves defensively to reality and the process by which knowledge is used offensively to improve the fits between organizations and their environements“ (Hedberg 1981, 3).
Die Auseinandersetzung mit der Umwelt, die ja aus dem Verständnis erwächst, dass Organisationen Systeme darstellen, ist jedoch nicht allein ausschlaggebend für Lernprozesse in Organisationen. Dabei spielen Unterschiede zwischen organisationalen Erwartungen und Ergebnissen eine wichtige Rolle (vgl. z.B. Argyris Schön 1978, Duncan/Weiss 1979). In diesem Zusammenhang kann auf weitere grundlegende Annahmen verwiesen werden: Informationen bewirken Änderungen. Organisationales Lernen verändert organisationale Routinen und demnach die „handlungsleitenden Strukturen der Organisation“ (Laßleben 2002, 101). Dabei sind es letztlich individuelle Akteure, die einzig in der Lage sind, „wirklich“ zu lernen (akteurzentriertes Organisationslernen). Wie Strukturen, wie organisationale Handlungspraktiken weithin wirksam verändert werden, beschreiben Vorstellungen einer dominanten Koalition im organisationalen Entscheidungsprozess: „Organizational learning thus becomes that process in the organization through which members of the dominant coalition develop, over time, the ability to discover when organizational changes are required and what changes can be undertaken which they believe will succeed” (Duncan/Weiss 1979, 78).
Die organisationale Wissensbasis kann dabei verstanden werden als ein Pool von aktuell unterschiedlich abrufbaren Informationen. Sie allein ist allerdings aufgrund der Bedeutung des Individualakteurs nicht entscheidend, weshalb allgemein zusammengefasst werden kann: „Organizational learning means the process of improving actions through better knowledge and understanding“ (Fiol/ Lyles 1985, 803). Anders formuliert, muss abermals zwischen Organisation und deren Mitgliedern unterschieden werden: „Organisationslernen beschreibt Prozesse der Gewinnung, Verteilung, Interpretation, Umsetzung und Speicherung von Wissen in und zwischen Organisationen, um das Repertoire von möglichen Perzeptionen und Verhalten so zu erweitern, dass eine Organisation und ihre Mitglieder ihre Umwelt besser wahrnehmen und auf Veränderungen und Herausforderungen angemessen (re-)agieren können“ (Berthoin Antal/ Dierkes 2004, 733 Hervorh. im Orig.).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Diese „Reaktionen“ können als Output130 in „zwei grundlegende Kategorien“ unterteilt werden, und zwar in „die Optimierung von Verhalten und die Veränderung von zugrundeliegenden Strukturen, wobei implizit oder explizit eine Verbindung zwischen beiden Aspekten angenommen wird“ (Scherf-Braune 2000, 11, Hervorh. M.H.). Strukturationstheoretisch formuliert: Organisationales Lernen bewirkt eine Veränderung in Strukturen und Handlungen, wobei diese sich auch lediglich in „diskursiver Reflexion“ (Giddens 2008) darstellen lassen, so dass von einem weit gefassten Handlungsbegriff ausgegangen werden kann.131 Im Sinne der Strukturation schlägt sich dieser permanent in organisationalen Routinen nieder, gerinnt so zu Struktur, um sich rückwirkend wieder in Handlungen zu „verflüssigen“. Dabei spielt auch die historische Komponente eine Rolle. Schleifenlernprozesse sind als aufeinander aufbauende Lernprozesse konzipierbar. Sie setzen daher auf vergangenem Organisationslernen auf und eine Zeitlichkeit voraus: „Within such a framework, organizations are seen as learning by encoding inference from history into routines that guides behaviour. The generic term „routines“ includes the forms, rules, procedures, conventions, strategies, and technologies around which organizations are constructed and through which they operate. It also includes the structure of beliefs, frameworks, paradigms, codes, cultures, and knowledge that buttres, elaborate, and contradict the formal routines. Routines are independent of the individual actors who excecute them and are capable of surviving considerable turnover in individual actors” (Levitt/March 1988, 320; vgl. auch Hanft 1998, 51 ff.).
Dabei steht die Interaktion zwischen Individuum/Organisationsmitglied und Organisation im Mittelpunkt. In dieser Arbeit soll, strukturationsperspektivisch, davon ausgegangen werden, dass akteurzentriertes Organisationslernen dann stattfindet, wenn Organisationsmitglieder, z.B. (elitäre) Gruppen, nach einem Diskurs bzw. Entscheidungsprozess im Sinne des Organisationsziels organisationsrelevante Leistungslücken (etwa durch dominante Koalitionen) zu schließen versuchen, so dass sich routinisierte Handlungsmuster ergeben bzw. sich das organisationale Handeln nachweisbar ändert, also individuelle Akteure und Struktur im Sinne der Strukturation von einer veränderten organisationalen Wissensbasis zeugen. 130 Vgl. Duncan/Weiss (1979, 84): „Organizational learning is definded here as the process within the organization by which knowledge about action-outcome relationships and the effect of the environment on these relationships is developed.“ 131 Damit sollen weitergehende Definitionen organisationalen Lernens ausgeschlossen werden, sofern sie Handlungsweisen einschließen, die sich auf spezielle Individuen beziehen, also nicht-organisational sind (vgl. Huber 1991).
2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung
127
Bei dem Phänomen organisationalen Lernens handelt es sich im Prinzip um die Beschreibung von Veränderungen in/der Organisationen aufgrund von Lernprozessen. Während der Organisationsbegriff eine Frage der Definition ist, ist die Begründung der Veränderung als Lernprozess sowie dieser selbst eine Frage der Interpretation. Hier wird davon ausgegangen, dass die Interpretation überzeugender gelingt, je tief greifender, umfangreicher und organisationsuntypischer die Veränderungen der organisationalen Wissensbasis sind. 2.5.2 Ablauf, Eigenschaften und Wirkungsfelder Vergleicht man bisherige Schaubilder organisationaler Lernvorstellungen (z.B. bei Duncan/Weiss 1979, 98, Hedberg 1981, 3, 5, v.a. 10, Pautzke, 1989, 87, Argyris/Schön 1990, 94, Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994, 19 ff., Kim 1993, 44, Nonaka 1994, 19, Kremmel 1996, 145, 147), stößt man auf unterschiedlich „vollständige“ Darstellungen.132 Dabei finden sich typischerweise Kreisläufe oder kybernetische Modelle. Reinhardt (1993, 64) kritisiert, dass „lernende Thermostate“ (vgl. Argyris/Schön 1978) weder lernen können noch müssen. Mit Giddens (2008) formuliert ist der Lernvorgang Ausdruck dessen, dass auch immer anders gehandelt werden kann.133 Im Verständnis der vorliegenden Arbeit geht es um eine integrierende Darstellung, die bisherige Lernvorstellungen berücksichtigt und die Aspekte der Lernfaktoren, des Entscheidungsprozesses (vgl. Duncan/Weiss 1979), des Schleifenlernens (vgl. Argyris/Schön 1990, 1996), der Systemoffenheit (vgl. Hedberg 1981), die individuelle Rolle des Organisationsmitglieds (vgl. Kim 1993) und die Zeitlichkeit (vgl. Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994) forschungspraktisch zu verbinden vermag.134
132 Eine Übersicht bietet z.B. Scherf-Braune (2000, 10 ff.). 133 Ein Regelsystem, das nur auf Konstanz ausgerichtet ist, läuft dem tatsächlich zuwider. Allerdings kann Wiegand (1996, 214) gefolgt werden, der diese Metapher auch hinsichtlich ihrer Fehldeutungen relativierend zu retten versucht, indem er sie nicht überdehnt wissen will und auf ihre bloße Vermittlung der Fähigkeit organisationaler Anpassung durch Lernprozesse verweist. Außerdem stehe bei Argyris/Schön (1978, 3) eigentlich die Handlungstheorie im Vordergrund. 134 Insofern sieht sich das Modell v.a. als Ablauf- und Verortungsmuster organisationaler Lernprozesse (vgl. Klimecki/Laßleben/Rixinger-Li 1994). Dabei wird im Sinne Giddens (2008, xxii) argumentiert, wonach interessante und erhellende Ideen dann mehr als ihre Herkunft zählen, wenn man imstande ist, sie so zu profilieren, dass ihre Nützlichkeit unter Beweis gestellt werden kann, selbst wenn dies in einem völlig anderen Rahmen erfolgt als dem, aus dem sie entstammen. Strukturationstheoretisch pointiert: die reflexive Praxis alleine zählt!
128
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
Umwelt I/II... Wahrnehmung der Umwelt
Wahrnehmung von Leistungslücken
Entscheiderposition
Zeit
dominante Koalition
andere Akteure
Opposition
Organisationsstrategie
Organisation I/II
organisationale
Entscheidungsprozess
Wissensbasis
Veränderung der Wissensbasis/Lernen
Struktur/Output
Umwelt II/III...
„zündende Idee“
Abbildung 8:
single-looplearning
double-looplearning
deuterolearning
Akteurzentriertes Organisationslernen (eig. Darst.)
Insgesamt soll der Gedanke der Strukturation (vgl. Giddens 2008) „durchscheinen“. Daher wird von einem geschlossenen kybernetischen Modell Abstand genommen werden, deren Abbildungen oft geschlossene Konturen enthalten und die Zeitlichkeit nicht im chronologisch darstellbaren Ablauf berücksichtigen.
2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung
129
Die Lernfaktoren können in einen organisationsinternen und einen organisationsexternen Bereich eingeteilt werden (vgl. Abb. 8). Der externe Bereich stellt die Umwelt der Organisation dar. Sie besteht größtenteils selbst aus Organisationen, z.B. Konkurrenzunternehmen, Behörden oder Interessenverbänden und wirkt auf die Organisation ein. Sämtliche andere Größen werden zu den organisationsinternen Faktoren gezählt. Der Lernprozess beginnt normalerweise mit der Lagebeurteilung. Sie basiert auf Kriterien des Organisationsziels und der Umweltbeziehung. In dieser wird - nicht unbedingt explizit - festgelegt, welche Bereiche der Umwelt für die Organisation eine wie große Rolle spielen (vgl. „domain definition“ bei Duncan/Weiss 1979). Mit dem Organisationsziel trifft eine Organisation automatisch Aussagen über ihre Leistungslücken, auch wenn sie diese selbst nicht immer als solche wahrnimmt. In der Wahrnehmung der Umwelt in jedem Falle von Leistungslücken wurzeln Lernprozesse (vgl. 2.1.1). Die Umweltwahrnehmung ist in einer festen Instanz möglich, einem Filter, der irrelevante Nachrichten aussondert (vgl. „Weltanschauung“ bei Hedberg 1981).135 In diesem Zusammenhang können Leistungslücken („performance gaps“ Duncan/Weiss 1979) auffallen. Geschieht dies nicht, kann von „negativ wahrgenommenen“ Leistungslücken gesprochen werden. Entscheidend für Organisationslernen ist jedoch allein, inwieweit eine Organisation Leistungslücken wahrnimmt und Reaktionen startet.136 Negativ wahrgenommene Leistungslücken sind beispielsweise wachsende Gewinne oder die Steigerung des Outputs bzw. die Verbesserung der Aktionsergebnisse, während sich positiv wahrgenommene Leistungslücken bei finanziellen Verlusten oder mangelhaftem Output feststellen lassen. Überhaupt ist der finanzielle Gewinn oder Verlust eines Unternehmens in diesem Sinne in der Einflussgröße Wahrnehmung der Umwelt anzusiedeln. Die Umwelt honoriert die Leistung der Organisation oder eben nicht. Für das Organisationslernen ist allerdings von Interesse, was im Zusammenhang der Wahrnehmung von Leistungslücken geschieht. Grundlage der wahrgenommenen Leistungslücken ist aber nicht nur die Umwelt. Auch organisationsinterne Größen spielen eine Rolle wie intern erkannte Fehler im Output oder in der Struktur (vgl. 2.1.6). Wichtig bei dieser theoretischen Konstruktion ist, dass von einer Wahrnehmung gesprochen wird. Es ist nicht entscheidend, ob z.B. im Output wirklich Fehler gemacht wurden, sondern 135 Was hier nur als abstrakte Größe gedacht ist, kann auch Teil der Struktur sein, z.B. in Form einer Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit oder Marktforschung. 136 Verursacher organisationalen Lernens können verschiedene Umstände sein. Auch in Wachstumszeiten können Veränderungen durch Lernprozesse auftauchen z.B. bei Hewlett Packard (vgl. Probst 1995, 171).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
nur die Tatsache, dass die Organisation Informationen aus diesem Bereich als Fehler interpretiert. Die Wahrnehmung von Leistungslücken wird von den jeweiligen Entscheiderkonstitutionen beeinflusst. Kümmert sich z.B. schlecht ausgebildetes oder dürftig instruiertes Personal um die Leistungskontrolle, liegt sicher eine andere Leistungswahrnehmung vor, als bei versierten oder kritischen Fachkräften. Lernen wird also in einem Falle eher verhindert oder verzögert, im anderen Falle wahrscheinlich ermöglicht bzw. forciert. Während Warnsysteme nicht unbedingt vom individuellen Akteur abhängig sind, gilt dies nicht für den eigentlichen Lernvorgang, die „zündende Idee“, mit der Leistungslücken geschlossen werden können. Diese individuelle und nicht erzwing- und planbare Handlung kann sowohl durch die Motivation von Individualakteuren als auch durch deren Freiheit begründet werden (vgl. Argyris 1960, 1964, Argyris/Schön 1978, Crozier/Friedberg 1979, Klimecki/ Laßleben/ Rixinger-Li 1994, Giddens 2008). Auch Gruppenlernprozesse basieren letztlich auf dicht hintereinander ablaufenden individuellen Lernprozessen, deren Rekonstruktion allerdings extrem schwierig ist. Der organisationsbezogene individuelle Einfall kann daher auch als Lernen in Organisationen bezeichnet werden. Das Organisationale des Begriffs erwächst aus der anschließenden diskursiven Reflexivität bzw. der Routinisierung von organisationalen Praktiken (vgl. Duncan/Weiss 1979, Pautzke 1989 Argyris/Schön 1996, Levitt/March 1988, 320, Hanft 1998, 58). Da der individuelle Lernvorgang offen gefasst ist (Lernträger in diesem Sinne können prinzipiell alle Organisationsmitglieder sein), kann er sowohl im Entscheidungsprozess auftauchen, aber auch vorher ablaufen. In jedem Fall findet er nach der Wahrnehmung von Leistungslücken statt.137 Hier wird jedoch im Rahmen der forschungspraktischen Erfassung akteurzentriertes Organisationslernen hauptsächlich als Entscheidungsprozess im Management verstanden (vgl. Duncan/Weiss 1979, 118 f.). Er ist dafür verantwortlich, dass und inwieweit eine „zündende Idee“ deutlich nachweisbar organisational werden kann und Eingang in die organisationalen Handlungspraktiken findet. Auch wenn das individuelle Wissen in seiner spezifischen Konstitution eine wesentliche Rolle dabei spielt, wirken dieses und überhaupt alle weiteren Einflussgrößen, also der gesamte organisationale Lernprozess, auf Grundlage der organisationalen Wissensbasis (vgl. 2.1.5). Sie besteht aus all jenem Wissen, welches der Organisation im weitesten Sinne zur Verfügung steht. Damit ist auch die Organisationskultur gemeint (vgl. z.B. Argyris/Schön 1978), auch wenn ihr Einfluss oft nur analytisch behandelbar bzw. empirisch schwer nachweisbar ist. Bedeutend an der Wissensbasis ist das vielschichtige kollektive Expertenwis137 In Abb. 8 als Linie mit von ihr ausgehenden Pfeilen dargestellt.
2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung
131
sen, das den Umfang individuellen Wissens weit hinter sich lässt und die Komplexität einer Organisation widerspiegelt (Pautzke 1989). Dem Management bzw. der Entscheider-Ebene steht in der Regel weit mehr dieses Wissens punktuell abrufbar zur Verfügung als bestimmten Teilen der Organisation oder einzelnen Mitgliedern. In diesem Zusammenhang fokussiert das Ausgangsmodell akteurzentrierten Organisationslernens über die Vorstellung von der dominanten Koalition bewusst auf den Machtaspekt. Informationen über die Wahrnehmung von Leistungslücken und ggf. die Lernidee treffen nun auf Entscheidungsträger. Diese erhalten zusätzliche Informationen anderer Organisationsmitglieder bzw. Entscheidungsträger und können selbst Leistungslücken wahrnehmen und notfalls auch Leistungslücken kontrollieren (lassen). Auf diese Weise bilden sich Entscheiderpositionen aus, die hier als Standpunkte von Entscheidungsträgern verstanden werden. Dabei handelt es sich in der Regel um Koalitionen und „andere Akteure“.138 Entscheidungsträger haben einen mehr oder weniger bedeutenden Einfluss auf die (gesamte) Organisation. Dieser Einfluss kann auch darin bestehen, Entscheidungen „von oben“ einfach durchzuführen oder weiterzuleiten, wenn nur das Entscheidungsmoment gegeben ist, also die Möglichkeit besteht, sich auch anders zu verhalten. Entscheidungsträger können als Koalitionen (dominante Koalition und Opposition) oder „andere Akteure“ gefasst werden.139 Bei der dominanten Koalition wie auch bei der Opposition handelt es sich überwiegend um informelle Gruppen von Akteuren, die sich aus Organisationsmitgliedern verschiedener Entscheiderebenen zusammensetzen können.140 In 138 Eine Ausnahme wäre eine Zukunftsabteilung, die zwar neue Lösungen entwickelt und deren Mitarbeiter somit als Entscheider bezeichnet werden könnten, die aber nicht zu Entscheidern im o.g. Sinne zu zählen sind, da sie nur über Vorschlagsvorlagen, nicht aber über ihre Vorschläge selbst entscheiden können. In diesen Kontext sind Berater zu stellen. „Andere Akteure“ entsprechen Quasi-Gruppen (vgl. 2.1.5.3). 139 Wenn von Koalitionen die Rede ist, ist diese Formulierung theoretisch nicht immer zutreffend. Sollten sich nämlich keinerlei Unterschiede in den Handlungsweisen aller Akteure finden, ist von einer absoluten Konsensgemeinschaft auszugehen. Das dürfte in der Realität/Regel jedoch kaum der Fall sein. An dieser Stelle sei nochmals darauf hingewiesen, dass es sich bei Akteuren sowohl um Individuen als auch Gruppen handeln kann. 140 Spandau (2002, 120, Fn. 59) weist darauf hin, dass in der Literatur der Begriff „dominante Koalition“ unterschiedlich verwendet wird: „Machtelite“ (Staehle/Sydow 1991), „dominante Koalition“ (Wiegand 1996), „offizielle Machthaber“ (Petersen 2000). Der von ihm genutzten Vorstellung „offizieller Machthaber“ kann hier nicht gefolgt werden, da die (mikro)politische und nicht die hierarchische Perspektive auf den faktischen Machtzustand hinweist. Indes soll hier der direkten Übersetzung im Sinne Wiegands gefolgt werden. Gerade „die Macht des Faktischen” macht ja das theoretische Erklärungsmoment der dominanten Koalition aus. Durch diesen (explizit) inoffiziellen Charakter wird die Übertragung organisationalen Lernens auf ganz verschiedene Entscheidungsebenen der Organisation (vgl. z.B. Argyris/Schön 1978)
132
2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
beiden Fällen steht ihre Abgrenzung, ihre Koalitionseigenschaft mit dem Entscheidungsinhalt in Zusammenhang, während sich die „anderen Akteure“ kaum in dieser Hinsicht als Gruppe wahrnehmen.141 Organisationssoziologisch relevant werden solche Konstellationen erst dann, wenn sie sich als charakteristisch für einen bestimmten Zeitraum bzw. Entscheidungsprozess erweisen, da sich theoretisch pro Entscheidung immer wieder neue Konstellationen ergeben können. Die dominante Koalition definiert sich im Entscheidungsprozess und zeichnet sich dort als „struktureller Sieger“ aus.142 Hierbei handelt es sich jedoch in erster Linie um die latente Machtstruktur, denn auch die restlichen Akteure sind als Entscheidungsträger in der Hierarchie nicht als Verlierer zu verstehen. Die Entscheidungspositionen in der dominanten Koalition sind i.d.R. einstimmig und werden durch gemeinsam geteilte Meta-Ziele, Strategien oder Visionen gespeist. Außerdem verfügen die teilnehmenden Akteure über ein umfangreiches Repertoire an Handlungsalternativen zum formalen Verfahren. Beispiele hierfür sind interne (grundsätzlich) nicht dokumentierte Absprachen, eigene Informationskanäle oder spezielle Informationsquellen. Nicht selten zeichnen sich dominante Koalitionen auch durch persönliche Zuneigungen aus. Zwar haben die Entscheidungsträger durchaus verschiedene persönliche Motive, wichtig ist in diesem Zusammenhang lediglich die Existenz einer solchen Koalition an sich. Ein weiteres Merkmal ist die Geschwindigkeit bzw. die zeitliche Komponente im Entscheidungsprozess. So befindet sich „im Gepäck“ der dominanten Koalition oft gleich der zweite Schritt: Vorschläge werden nicht nur gemacht, sondern auch mit Folgeaktionen oder -bedingungen verbunden präsentiert, welche die Opposition weder so schnell durchdringen kann noch will, schließlich hat sie die Vorschläge ja nicht gemacht und ist somit i.d.R. an einer Auseinandersetzung mit dem Vorschlag gar nicht interessiert.143 Zusätzlich hat die dominante Koalition den Überraschungseffekt prinzipiell auf ihrer Seite. Der Zeitvorteil reicht aus, um notfalls in der Argumentations- und Faktenlage nachzubessern, während die andere Seite noch den Vorschlag an sich erfassen muss. Hat sich eine dominante Koalition gebildet, muss nicht automatisch eine Opposition im Spiel sein. Das erklärt sich durch die nicht unerhebliche Bedeuüberhaupt erst ermöglicht, auch wenn etwa Lern- und Entscheidungsprozesse auf unteren Ebenen längst nicht so wirkungsvoll oder bedeutend sein mögen. Folgt man diesem Erklärungspotential weiter, lässt sich - mindestens theoretisch - die Entscheidergruppe eher noch erweitern: Eine (zumal tragende) Entscheidung wird ja nicht nur durch die „offiziellen Machthaber“ repräsentiert. 141 Etwa nach dem Motto: „Diese Entscheidung interessiert mich nicht.“ 142 Es gibt aber auch andere Einflüsse der Führung, etwa auf die Umweltwahrnehmung (Hedberg 1981, 9), die sich allerdings indirekt wieder auf den Entscheidungsprozess auswirkt. 143 Die Qualität der Entscheidung verbleibt somit oft im Verantwortungsbereich der dominanten Koalition.
2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung
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tung der anderen Akteure bzw. Entscheidungsträger. Koalitionslose können beiden Lagern entscheidungsbezogen zustimmen bzw. von ihnen „vereinnahmt“ werden. Da diese an den jeweiligen Entscheidungen nicht gründlich interessiert sind, kann die dominante Koalition sich durchsetzen, auch wenn sie weder in der Mehrheit ist noch eine Opposition existiert. Die Opposition verfügt unter Abzug der bereits genannten Vorteile einer dominanten Koalition auf den ersten Blick über die gleichen Möglichkeiten. Auch sie kann Vorstöße wagen und Alternativen anbieten und verfügt über Gefolgsleute in anderen Hierarchiestufen. Sie zeichnet sich allerdings auch dadurch aus, dass sie letztlich immer ein „Zuwenig“ hat und nie ein „Zuviel“. Sollte sie tatsächlich über das gleiche Quantum an Eigenschaften und Mitteln wie die dominante Koalition verfügen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Organisation in dieser Form bestehen bleibt, gering und ein Teilungsprozess vorprogrammiert. Die Arbeitsfähigkeit, aber auch die anderen Akteure werden schließlich nicht unerheblich beeinträchtigt.144 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bedeutung der Machtkonstellation von der Entscheidungsebene und der Menge der involvierten Entscheidungsträger abhängt. Das absolute Minimum umfasst zwei Mitglieder der dominanten Koalition und einen anderen Entscheidungsträger oder Oppositionellen. Die Organisationsstrategie ist als Entscheidungshilfe den eher konstanten Größen des Entscheidungsprozesses zuzuordnen. Sie enthält Prinzipien und langfristige Ziele, ist aber hier auch weiter gefasst und als Ausdruck oder Variante der Organisationskultur zu verstehen (vgl. Hedberg 1981), wird aber nicht direkt durch sie bedingt.145 Die Organisationsstrategie kann kurzfristig bei weniger langfristigen Zielen geändert werden. Je stärker sie jedoch grundlegende Ziele beinhaltet, desto länger dauert ihre Veränderung. Auch die Organisationsstrategie trifft zumindest prinzipiell Aussagen zum Umgang mit Leistungslücken und signalisiert den Koalitionen und „anderen Akteuren“, inwieweit diese „performance gaps“ eklatant sind. Nachdem sich so ein Positionsrahmen aus Koalitionen, „anderen Akteuren“ und Strategie um eine Leistungslücke gebildet hat bzw. diese in jener konstituierten Gemengelage angekommen ist, beginnt der Entscheidungsprozess. Damit sind nun alle Erkenntnisse und Einstellungen der Organisation zu diesem „performance gap“ mehr oder weniger ausgeprägt und verändert (ggf. mit der Lern144 Anders verläuft dies in Organisationen, in denen Machtkonstellationen quasi-demokratisch institutionalisiert sind. 145 Da sich die Entscheiderposition letztlich auch über die Organisationsstrategie spiegelt und sich selbst in der Zugehörigkeit der Koalitionen äußert, diese wiederum auch in Subkulturen betrachtet werden können, ist eine Relativierung an dieser Stelle durchaus angebracht (vgl. Kremmel 1996, Hedberg 1981).
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
idee) zu den Entscheidungsträgern vorgedrungen. Jetzt entscheidet sich, ob die Leistungslücke anschließend anerkannt wird bzw. welche Möglichkeiten bestehen, sie zu schließen. Dabei kann eine Lernidee entstehen oder aufgegriffen werden. In beiden Fälle gilt es, über ihre organisationale Umsetzung zu entscheiden. Sie ist Ergebnis des Machtgefüges auf Entscheiderebene. Daher ist entscheidend, wie die dominante Koalition reagiert. Organisationstheoretisch ist dabei unerheblich, wie erfolgreich die Entscheidung ausfällt, da Organisationslernen sich nur über die Veränderung der Wissensbasis (reflexive monitoring) bzw. deren Reaktionen in Form von veränderten organisationalen Handlungspraktiken manifestieren. Für die Organisation dagegen kann eine erfolglose Entscheidung indes zur Existenzfrage werden. Hat sich also die organisationale Wissensbasis geändert, wird erst wieder im Segment einer (erneuten) Lagebeurteilung unter den o.g. Bedingungen die Frage nach der ursprünglichen Leistungslücke gestellt. Nur unter bestimmten Umständen, also nur bei der Wahrnehmung positiver Leistungslücken wird der Kreislauf erneut beginnen. Am Ende des Prozesses steht eine Entscheidung, eine Veränderung des Outputs. Sie kann Strukturen (z.B. Abteilungsgründung) und Handlungen (z.B. Einleitung rechtlicher Schritte, Herstellung eines neuen Produkts) umfassen und dabei Einfluss auf die Umwelt ausüben. Outputveränderungen fungieren als Indikator der veränderten organisationalen Wissensbasis.146 Ein Entscheidungsbzw. Lernprozess ist „vollzogen“. Dieser Vorgang muss weder schnell noch offensichtlich ablaufen (vgl. Krebsbach-Gnaht 1996, Weber/Berthoin Antal 2003). Die Vorstellung von Emergenzstufen im Sinne des Schleifenlernens (vgl. 2.4) ist dem Lernvorgang inhärent. Er wird von Lernschleifen beeinflusst, die sich überwiegend in der Wahrnehmung der Umwelt, in jedem Falle jedoch in der Wahrnehmung der Leistungslücken und der organisationalen Wissensbasis bzw. routinisierten organisationalen Handlungspraktiken widerspiegeln. Dieser Lernkontext gibt über die Emergenzstufe Aufschluss, auf der die Organisation das Problemfeld bisher behandelt hat, so dass der Vergangenheitsbezug offensichtlich wird (vgl. 2.3). Ist die Fehlermenge in Umfang und Auftreten so groß, dass sie sich nicht im Rahmen bestehender Routinen bewältigen lässt, kann es zu einer Veränderung des herrschenden Paradigmas kommen (vgl. Duncan/Weiss 1979). Diese Vorstellung entspricht dem double-loop learning. Eine Erkenntnis 146 So wirken sich z.B. Werksschließungen oder neue Produkte auf die Städte und Gemeinden bzw. den Markt aus. Dieses Ergebnis zählt nun als Umweltbedingung wiederum selbst zu den Einflüssen auf die Organisation und gelangt über die Wahrnehmung der Umwelt in die organisationale Wissensbasis und zur (erneuten) Lagebeurteilung entsprechend dem o.g. organisationsinternen Prozess.
2.5 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell einer Falluntersuchung
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darüber, wie Leistungslücken im Lernen selbst geschlossen werden können, findet als Deuterolernen statt. Ein Wechsel dieser Emergenzstufen ist also direkt mit dem Lernvorgang verbunden. 2.5.3 Strukturationstheoretische Öffnungen Die Rekursivität von Struktur und Handlung berücksichtigt und erklärt die reziproken Verhältnisse der Lernfaktoren untereinander (vgl. Abb. 8, und 2.2). Entscheiderpositionen, die inhaltlich und personell während des Lernprozesses wechseln können, werden dadurch ebenso erfasst wie etwa die Organisationsstrategie.147 Dieses wird verstärkt, indem der permanent inhärente Einfluss der Umwelt auf die Organisationsmitglieder, die ja auch „außer Dienst“ rezipieren, im Sinne eines offenen Systemverständnisses (vgl. Argyris/Schön 1978, Giddens 2008) frei zugänglich erscheint und beispielsweise historische Entwicklungen und den Zeitgeist berücksichtigt. Auf gleiche Weise ist auch die Struktur jederzeit modifizierbar, was sich schon durch die Offenheit gegenüber neuen organisationalen Handlungen/Routinen ausdrückt (Ergebnis des Lernprozesses). Durch die Offenheit gegenüber der Wissensbasis ist der weit gefasste Strukturbegriff im Sinne der Strukturation berücksichtigt. Lernbedingungen (vgl. „organizational structures“ bzw. „behavioral world“ Argyris/Schön 1996) können so erklärt werden. Er lässt offen, ob es sich um formale, informale oder kognitive Strukturen handelt („theories of action“, „theories in use“, „espoused theory“). Auch der Handlungsbegriff im Output ist offen konzipiert, diskursiv/reflexive Interaktionen gelten als Handlung (vgl. Argyris/Schön 1996, Giddens 2008). Dabei werden Vorgänge berücksichtigt, bei denen die Organisation neuen Input in der Weise behandelt, dass kein sichtbarer Output entsteht, so dass die Organisationsforschung schwerlich eine Vorstellung darüber entwickeln kann, ob die Organisation überhaupt über diese (zusätzlichen) Informationen verfügt (z.B. wissentliche Handlungsunterlassungen).148 Ein strukturationstheoretisch informiertes akteurzentriertes Organisationslernen berücksichtigt auch das Problem der Abgeschlossenheit von Lernprozessen, wonach diese nicht aufhören bzw. ständig durchgeführt werden. Strukturation erlaubt hier einerseits die Möglichkeit abgelaufener Lernprozesse, anderer147 Der permanente Einfluss von Akteuren wird in Abb. 7 visualisiert, indem die Lernfaktoren als offene Elemente dargestellt werden. 148 Eine andere Variante ist in ungenutztem Input zu sehen, einem Wissensstand der Organisation, der nicht genutzt wird, jedoch eigentlich der Organisation zur Verfügung steht. Auch im Falle eines noch im Entscheidungsprozess befindlichen Inputs, der sich u.U. dort noch qualifizieren (also geprüft werden) muss, ist nicht von einer Output-Veränderung auszugehen.
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2 Theoretische und zeitlich-historische Grundlagen
seits nicht die organisationale Konstanz, die abgeschlossene Lernprozesse suggerieren können. Insgesamt kann akteurzentriertes Organisationslernen als ein Moment permanenter Strukturation verstanden werden, in dem Individuen/organisationale Akteure, stimuliert durch Fehler organisationaler Routinen/Strukturen, über ihre Handlungen/Interaktionen Strukturen sozialer Systeme verändern. 2.6 Implikationen für die vorliegende Arbeit Die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur Frage leisten, wie vergangenes Organisationslernen auf zukünftige Lernprozesse Einfluss nimmt. Bisher kann festgehalten werden, dass sich im Laufe der langjährigen Auseinandersetzungen auf dem Gebiet des Organisationslernens eine Vielzahl unterschiedlichster Literatur entwickelt hat und ein Grundkonsens in diesem Angebot kaum auszumachen ist. Gewissermaßen prekär ist, dass dies zusätzlich für das Organisationsverständnis sowie den organisationalen Lernbegriff gilt, verbunden mit der Frage, wer denn eigentlich lernt und wie dieser Prozess stattfindet. Dennoch konnten - unter Einschränkungen - strukturierende Faktoren gesammelt werden, die helfen sollen, die Bearbeitung der Ausgangsproblematik zu erleichtern: Umwelt, Struktur, Strategie, Wissensbasis, Akteure und Output. Diese Faktoren stehen in rekursiver Beziehung. Eine saubere Trennung – gleich welcher Art – erscheint weder nötig noch sinnvoll. Dabei spielt der Akteur im Kanon der Bestandteile des Organisationslernens eine besonders wichtige Rolle. In konzeptioneller Hinsicht existieren viele Theorien, Ansätze und Modelle organisationalen Lernens. Die gemeinsame Berücksichtigung der genannten Lernfaktoren scheint eine integrierende Vorstellung des Phänomens OL zu ermöglichen. Unabhängig davon werden grundsätzlich drei Lerntypen anerkannt: singleloop-, double-loop- und deuterolearning. Im ersten Fall werden Fehler behoben, ohne weiter über das Fehlerumfeld zu reflektieren. Zweischleifiges Lernen tut genau das, in dem die Regeln, die darüber entscheiden, wie mit Fehlern umgegangen wird, überdacht werden und so Strategien und Grundannahmen geändert werden können. Deuterolernen basiert auf beiden Lerntypen und befasst sich damit zu lernen, wie (besser) gelernt werden kann. Diese Vorstellung verschiedener Lerntypen erscheint, bezogen auf die vorliegende Frage, sinnvoll. Vergangene Lernprozesse, die sich auf folgende Lernprozesse auswirken, sollten also in einem Modell abgebildet werden, das die drei Lerntypen prinzipiell berücksichtigt.
2.6 Implikationen für die vorliegende Arbeit
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Trotz der allgemeinen Akzeptanz einer Vorstellung von Schleifenlernprozessen werden diese nicht nur empirisch ungenügend berücksichtigt, auch die Auseinandersetzung mit organisationaler Vergangenheit ist im Forschungsfeld unterbelichtet. Das ist insofern bedeutend, als im Modell des Schleifenlernens eine Phasenvorstellung existiert, die von Zeiträumen (t0 und t1) ausgeht, diese in Beziehung setzt und damit immer auch organisationale Vergangenheit impliziert. Vor dem Hintergrund, dass sich Lernprozesse über lange Zeiträume erstrecken können, thematisiert die vorliegende Arbeit vergangene Lernprozesse auch historisch. Zum Verständnis von Organisationsbegriff und Lernvorstellung wurde auf makrotheoretischer Ebene die Idee der Strukturation aufgegriffen. Danach bedingen sich Handlungen von Individuen und Strukturen sozialer Systeme gegenseitig. Organisationen kennzeichnen sich in diesem Verständnis durch organisationale Handlungsmuster, die als Strukturen verstanden werden können. Individuelle Handlungen von Organisationsmitgliedern sind nicht organisational. Durch einen Einfall, eine Idee bzw. einen Lernvorgang können diese jedoch organisational werden, wenn organisationale Praktiken daraus erwachsen und somit Strukturen der Organisation verändert werden. Kombiniert mit den Erkenntnissen aus der Literatur zum Organisationslernen wurde hier ein Modell entwickelt, was neben den Lernfaktoren auch die verschiedenen Lerntypen umfasst. Doch nicht nur das: Die besondere Rolle von Akteuren und Macht wurde in diesem „akteurzentrierten“ Modell organisationalen Lernens speziell berücksichtigt. Sie zeigt sich zum einen im individuellen Ursprung des Lernvorgangs, aber auch im Verständnis, die organisationale Umsetzung dieses Lernvorgangs als machtbezogenen Entscheidungsprozess zu begreifen. Der Gedanke der Strukturation konnte insgesamt dazu beitragen, die Schwierigkeiten „abgeschlossener Lernprozesse“ zu verstehen (Strukturation geschieht permanent). Dabei wurde deutlich, dass es sich letztlich um eine Interpretation im Sinne verstehender Organisationssoziologie handelt, die forschungsmethodisch solide fundiert sein muss. Das gilt besonders für die OLForschung, die organisationales Verhalten ja letztlich selbst als Lernprozess definiert und interpretiert. Es gilt auch dann, wenn Lernprozesse aus Sicht der Organisation nicht bewusst wahrgenommen werden. Gerade die Auseinandersetzung mit Schleifenlernprozessen, die ja eine Aussage über Lernqualitäten trifft, basiert auf Interpretationen. Empirische Falluntersuchungen helfen hierbei, die Fragen danach zu beantworten, wann Lernprozesse von Akteuren auf das gesamte Organisationsverhalten Einfluss nehmen und unter welchen Bedingungen sie als abgeschlossen gelten.
3 Der Fall Linde: Zentrale Hypothesen und Forschungsfragen
Seit ihrem Bestehen im Jahre 1879 setzte die Linde AG die Ideen und Patente ihres Gründers, Carl von Linde, wirtschaftlich um. Die Organisation befasste sich erfolgreich mit der Produktion von Eismaschinen sowie mit der Luftzerlegung und Industriegase-Herstellung und agierte schon früh international. Linde erlebte in den 1960er Jahren allerdings immer stärkere wirtschaftliche und z.T. existenzbedrohende Schwierigkeiten und stellte seine Organisation und Produktion im Laufe der 1960er- und 1970er Jahre um. Spätestens Mitte der 1980er Jahre hatte das Unternehmen schließlich seine Krise überwunden und befand sich auf Erfolgskurs. Ein erster Schritt in dieser Richtung war 1967 der Verkauf der Kühlschrankproduktion, die über viele Jahre die Firma und Marke Linde in der Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte, während 1969 mit Flurförderzeugen (Gabelstapler) und Hydraulik ein neues Arbeitsgebiet hinzukam. Auch danach gab es erhebliche Struktur- und Produktveränderungen sowie einen Wechsel in der Führung. Das bis dahin traditionsreiche Unternehmen wurde nun von externen Managern geleitet. Dieser Führungswechsel umfasste 1976 auch das Ausscheiden des Firmengründerenkels Hermann Linde aus dem Vorstand und war der personelle Höhepunkt in diesem Veränderungsprozess, der sich bis in die 1980er Jahre hinein erstreckte.149 Vor diesem Hintergrund erschienen nahezu ideale Voraussetzungen für eine organisationssoziologische Auseinandersetzung mit organisationshistorischen Veränderungen und organisationalem Lernen. Auffällig war dabei die Gefahr eines „organisationalen Exitusses“ als möglichem Auslöser eines oder mehrerer Lernprozesse verbunden mit der anschließenden Entwicklung zu einem erfolgreichen Unternehmen als potentiellem Lernergebnis. Weiter gab es (noch) Experten, die als Akteure zur damaligen Zeit an dem Geschehen teilnahmen und Do-
149 Da Linde als Aktienunternehmen gegründet wurde, war es nie ein Familienunternehmen im eigentlichen Sinne. Mittlerweile verfügt die Linde AG mit der Herstellung technischer Gase sowie dem Anlagenbau über zwei umfangreiche Arbeitsgebiete. Der DAX-notierte Technologiekonzern „The Linde Group“ beschäftigt heute weltweit rund 50.000 Mitarbeiter.
M. Herzog, Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse, DOI 10.1007/978-3-531-93198-2_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Der Fall Linde: Zentrale Hypothesen und Forschungsfragen
kumente, die Aufschluss über eine veränderte Wissensbasis und den damit verbundenen Prozess geben konnten. In der Untersuchung wurde hypothetisch davon ausgegangen, dass vergangene Lernprozesse auf das folgende Organisationslernen Einfluss haben. Es wurde angenommen, dass eine Veränderung der organisationalen Wissensbasis in Veränderungen des Outputs (Struktur/Handlung) für die organisationale Umwelt, und damit aus der Forschungsperspektive, deutlich feststellbar ist. Weiter wurde davon ausgegangen, dass Lernprozesse dann auf double-loop learning schließen lassen, wenn sich Ziele, Werte und Normen nachweislich so verändert haben, dass Veränderungen erster Schleife (in Struktur und/oder Output) nachweisbar Grundlage der veränderten oder neuen Norm- oder Zielsetzung sind. Die Forschungsfragen lauteten also:
Sind organisationale Lernprozesse der Vergangenheit für die Zukunft prägend und, wenn ja, wie? Wie äußert sich single-loop learning in Bezug auf double-loop learning? Wie kann single-loop learning und double-loop learning in einem Fallbeispiel identifiziert werden?
Damit bestand ein wesentliches Ziel darin, mehr über verschiedene Lernprozesse in Organisationen zu erfahren. Dieses sollte in der Beantwortung weiterer Untersuchungsfragen geschehen. Auf Grundlage der genannten Hypothesen wurde postuliert, dass mit dem Verkauf der Kühlschrankproduktion 1967 auf eine wesentliche von außen wahrnehmbare Veränderung in der organisationalen Wissensbasis und damit auf einen ersten Lernprozess geschlossen werden kann. Veränderungen, wie die Erschließung eines neuen Arbeitsgebiets (Flurförderzeuge/Hydraulik) und zahlreiche Veränderungen in der Organisations- und Führungsstruktur ließen auf veränderte Ziele, Werte und Normen schließen (doubleloop learning). Damit wurden hypothetisch zwei Zeiträume t0 (die Zeit bis 1967) und t1 (die Zeit nach 1967) festgelegt. Bezogen auf die oben genannten Forschungsfragen folgten diesen Hypothesen nun fallspezifisch die Fragen:
Wie entwickelte sich die Linde AG bis 1967 und wie danach? Können single-loop learning und double-loop learning in der Vergangenheit der Linde AG identifiziert werden? Wenn ja, wie?
und zusammenfassend:
3 Der Fall Linde: Zentrale Hypothesen und Forschungsfragen
141
Waren organisationale Lernprozesse in der Vergangenheit der Linde AG bis zum Verkauf der Kühlschrankherstellung 1967 für die Zeit nach 1967 prägend? Wenn ja, wie wirkten sie sich aus?
Da die zu untersuchende Entwicklung offensichtlich einen jahrzehntelangen Prozess kennzeichnete, musste auch die zu erforschende Periode langfristig angelegt sein. Der Untersuchungszeitraum wurde auf die Zeit von 1954 bis 1984 festgelegt. Insgesamt sollte ein großzügiger Untersuchungszeitraum die offensichtlichen Veränderungen innerhalb der Linde AG (Mitte der 1960er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre) abdecken, um die Bedeutung der Dauer und die Einflüsse dieses vermeintlichen Lernprozesses auch sicher erfassen zu können. Bei der Untersuchung eines Zeitraumes in der Vergangenheit der Linde AG standen Akteure des damaligen Entscheidungsprozesses im Mittelpunkt. Dazu wurden das Experteninterview und die qualitative Inhaltsanalyse als Instrument rekonstruierender Untersuchungen gewählt (vgl. Gläser/Laudel 2006, Bogner/ Menz/Littig 2002).150 Diese Forschungsmethode erschien hier, im Gegensatz zu quantitativen Messverfahren, den vorliegenden Bedingungen am besten gerecht zu werden und somit zweckmäßig zu sein. Sie beruht auf der Auswertung von transkribierten Experteninterviews nach dem Extraktionsprinzip, wonach die Auskünfte der Texte einzeln entnommen und gesondert weiter bearbeitet werden.151 Die Auswertung wurde durch einen Methodenmix erreicht, indem zusätzlich Schrift-Quellen für ein umfassendes Bild des Strukturwandels herangezogen wurden, um vor allem in sachlichen und chronologischen Fragen Aufschluss zu geben (vgl. Abb. 9).152 Insgesamt war diese Untersuchung in ihrer historischen Dimension eine Herausforderung. So lag der untersuchte Lernprozess nicht nur relativ lange zurück, auch seine Erforschung wurde tendenziell schwieriger. Dabei stellte das
150 Die hier anzuwendende Middle Range Theorie des akteurzentrierten Organisationslernens wurde im metatheoretischen Rahmen der Strukturationstheorie von Giddens entworfen und fokussiert somit den Akteur im Untersuchungszusammenhang organisationalen Lernens (vgl. 2.2/2.5). Die Rolle von Experten, aber auch deren besonderes Gewicht kann durch strukturationstheoretische Vorstellungen problematisiert, begründet aber auch relativiert werden. Expertenwissen wird zwar immer wichtiger, ist aber nicht mehr den Fachleuten vorbehalten (vgl. Giddens 1976, 115, Giddens 2008, 334 ff.). Vor diesem Hintergrund ist Bogner/Menz (2002b, 40) zuzustimmen, dass es den reinen Experten nicht gibt. Speziell in einem (ehemaligen) Familienunternehmen wie der Linde AG war die Trennung zwischen Beruflichem und Privatem nicht immer sinnvoll. 151 Es wurden insgesamt 267 A-4 Seiten Interviewtranskription und damit über 3.400 Absätze extrahiert. 152 Vgl. auch das Vorgehen von Weber (1995), Krebsbach-Gnath (1996) und Buhr (1998), zu Oral-History-Aufnahmen: Wierling (2003).
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3 Der Fall Linde: Zentrale Hypothesen und Forschungsfragen
Phänomen des „Quellensterbens“ eine besondere Gefahr dar. Dokumente, die für die Untersuchung aufschlussreich waren, mussten teilweise „gerettet“ werden.153 Phase 1: Vorstudie Auseinandersetzung mit Theorie und Methode, Vorgespräche mit LindeMitarbeitern und Dritten (z.B. Wissenschaftlern v.a. Historikern), Datensammlung, Entwicklung der Fragestellung(en), Untersuchungsdesign, Methodenfestlegung Phase 2: Entwicklung des Interviewleitfadens Phase 3: Vorbereitung und Durchführung der Interviews, erneute Materialsammlung Phase 4: Transkription der Interviews Phase 5: Extraktion der Interviews Phase 6: Aufbereitung/Auswertung der Interviews, Dokumentenerfassung, Sortierung, Gruppierung und Zusammenfassung von extrahierten Aussagen Phase 7: Entscheidungs- und Prozessrekonstruktion Phase 8: Entscheidungs- und Prozessrekonstruktion spezieller: Berücksichtigung des Falles, Konkretisierung der Entscheidungen und des Prozessablaufes, PhasenBildung und Entwurf der forschungsrelevanten Aussagen aufgrund der Interviewergebnisse und parallele Kontrolle der Ergebnisse anhand der LindeDokumente und weiterer Interviews Phase 9: Darstellung des Gesamtergebnisses Phase 10: Interpretation des Gesamtergebnisses Abbildung 9:
Forschungsdesign
153 So wurden die Bestände der einzelnen Standorte im Rahmen der Untersuchung in einem Unternehmensarchiv zusammengeführt (vgl. Linde today, 2005, 1, S. 22 f.).
3 Der Fall Linde: Zentrale Hypothesen und Forschungsfragen
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Durch die systematische Berücksichtigung sämtlicher Artikel der LindeUnternehmenszeitschrift „Linde today“ konnte auf eine lückenlose Selbstdarstellung der Organisation zugegriffen werden.154 Mit der Konzentration der Forschungsfrage auf einen vergangenen Entscheidungsprozess richtete sich das Interesse auf die Entscheidungsträger dieser Zeit. Für die Befragung stand nur eine relativ kleine Zahl von Personen zur Verfügung, da es nicht viele in diesem Zusammenhang bedeutende Führungskräfte gegeben hat und wichtige Maßnahmen bereits vor über 40 Jahren diskutiert worden sind, so dass ein großer Teil der hier interessierenden Personen bereits gestorben war. Insgesamt wurden über 20 Interviews geführt.155 Ermittelt wurden diese Personen teils auf Empfehlung, teils durch den Untersuchenden selbst.156 Um diesen Expertentypus vor dem Hintergrund seiner Eigenschaften für die vorliegende Untersuchung zu kennzeichnen, soll im Folgenden vom Typus des Senior-Experten gesprochen werden: Senior-Experten sind (ehemalige) Organisationsmitglieder im Rentenalter, die überhaupt nicht mehr oder nur eingeschränkt für die Organisation aktiv sind. Sie verfügen über besondere Eigenschaften und bedürfen gesonderter Aufmerksamkeit. Gemeinsam ist allen ein fortgeschrittenes Alter, viel Lebenserfahrung und eine große Kenntnis der untersuchten Organisation (vgl. auch Hayn 2007, 181). Es musste damit gerechnet werden, dass die Gesprächspartner nach den Interviews im akuten Krankheitszustand oder Todesfall nicht erneut hätten aufgesucht werden können. Damit stand nicht nur die Wiederholbarkeit der Befragung, sondern auch die Möglichkeit, überhaupt (noch) an bestimmte Informationen zu kommen, in Gefahr. Auch sonst mussten sich die Vorbereitungen
154 Dazu entwickelte und nutzte der Autor eine Datenbank, die alle Beiträge der Firmenzeitschrift „Linde today“ umfasst und damit über mehr als 6.000 verschlagwortete Artikel aus der 70jährigen Erscheinungsdauer zur Verfügung stellt. 155 Befragt wurden (ehemalige) Linde-Mitarbeiter, die in der hier interessierenden Zeit im Management der Zentrale und/oder auf einzelnen oder aber auch mehreren Arbeitsgebieten tätig waren. Die Zahl der Befragten reichte aus, um den Effekt des Zwanges zur Wahrheit zu erreichen. Auch bei unterschiedlichen Aussagequalitäten der Gesprächspartner besteht die Gewähr, „dass sie damit rechnen, dass auch KollegInnen interviewt werden. Darin sehen wir einen immanenten Zwang zur Wahrheit und dazu, z.B. eher zu schweigen als zu lügen. Die Äußerung subjektiver Einschätzung wird dabei nicht verhindert“ (Meuser/Nagel 2002, 91, vgl. auch Bogner/Menz 2002a, 16). In Ergänzung konnte auf weitere verschriftlichte Interviews zurückgegriffen werden, die allerdings nicht in diesem Forschungskontext entstanden und methodisch anders konzipiert sind (vgl. z.B. Interviews Jakobsmeier). 156 So konnten sich die (ehemaligen) Linde-Mitarbeiter über das Forschungsvorhaben informieren und ihre Mitarbeit anbieten („Doktorarbeit zum Strukturwandel bei Linde“ in: Linde today 2004, 5, S. 52, vgl. auch Cool news Ausgabe 19/03, eine Information für Mitarbeiter des Geschäftsbereichs Linde Kältetechnik).
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3 Der Fall Linde: Zentrale Hypothesen und Forschungsfragen
grundsätzlich besonders auf die Eigenschaften der Interviewpartner einstellen.157 So waren Hausbesuche, menschliche Rücksichtnahme und verantwortliches Verhalten besonders gefordert. Nicht zuletzt verfügten sie über eine hohe Teilnahmebereitschaft und - forschungspraktisch relevant - allgemein über genügend Zeit. 158 Durch die bisherige Untersuchung der Linde AG im Rahmen der Unternehmensgeschichte und der durchgeführten Vorstudien (Herzog 2002) war insgesamt ein sehr guter Feldzugang vorhanden. Insbesondere die Mitarbeit des Autors an der Unternehmensgeschichte der Linde AG anlässlich des 125jährigen Firmenjubiläums (Dienel 2005) erwies sich als äußerst günstig, eine umfangreiche Untersuchung dieser Art durchführen zu können (vgl. auch Herzog 2008a). Die gesamte Forschungszeit war durch ein kooperatives Klima geprägt.
157 Die Planung der Gesprächstermine ist besonders wegen längerfristiger Unerreichbarkeiten wichtig. Senior-Experten, die nicht mehr berufstätig sind (und meist über genügend finanzielle Mittel verfügen) können sich über Monate weit entfernt aufhalten (z.B. im eigenen Auslandsanwesen). 158 Bogner/Menz (2002a, 8 f.) sehen die oft ausgeprägte Teilnahmebereitschaft von Experten allgemein in deren Beruf begründet, wo sie als Fachleute in übergreifenden Prozessen gefragt sind, was grundsätzliches Interesse am Thema, Verständnis für die Forschung allgemein, Neugier auf die Befragung speziell und eine oft verlässliche Zustimmung zur Folge hat.
4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse
Wie bereits im Rahmen der Auseinandersetzung mit den historischen Aspekten organisationalen Lernens angesprochen (vgl. 2.3), ist die Darstellung der Ergebnisse, ähnlich jener von Historikern, nicht unproblematisch. Auch im Bereich des (historischen) Organisationslernens sind nicht alle Aspekte nur innerhalb einer chronologischen Abfolge präsentierbar.159 In der folgenden Darstellung wurde der Untersuchungszeitraum entsprechend der Fallhypothese in zwei Zeiträumen (vor und nach 1967) dargestellt und jeweils mit den entwickelten Lernfaktoren so aufbereitet, dass die wichtigsten Ereignisse sowohl zeitlich als auch theoretisch möglichst adäquat Berücksichtigung finden konnten. Einer streng chronologisch-historischen Beschreibung konnte und sollte hier nicht entsprochen werden. Da es sich bei der Linde AG um ein diversifiziertes Unternehmen handelte, werden zur Analyse der Ereignisse vorwiegend jene Entwicklungen näher betrachtet, die deutliche Auswirkungen auf das gesamte Unternehmen hatten.160 4.1 Der erste Lernprozess von 1954-1967 Ursprünglich war die am 21. Juli 1879 von Dr. Carl Linde161 gegründete „Gesellschaft für Lindes Eismaschinen Aktiengesellschaft“ ein Planungs- und Ingenieurbüro. Dieses nutzte als Wirtschaftsunternehmen dessen Erfindung der Kältemaschine (1873), die mit Ammoniak als Kühlmittel arbeitete. Später folgten die 159 Die Interviews sind mit I zur Kennung von Interview und Aussagepassage versehen (z.B. IÜ23). Zitate wurden hier zur Schriftsprache „geglättet“, sind aber im Wortlaut verschriftlicht und ausgewertet worden. Die Sammlung von Verweisen auf die jeweiligen Interviewpassagen pro Aussage musste hier aus zweierlei Gründen relativiert werden: „Ein fünfmal genannter Fakt ist empirisch besser abgesichert als ein nur einmal genannter (...). Ein zwingendes Argument für die ‚größere Richtigkeit’ von Informationen, wie das ein statistisch signifikanter Zusammenhang wäre, ist die größere Häufigkeit einer Beschreibungsvariante aber nicht“ (Gläser/Laudel 2006, 102). Zudem trägt sie nur zur Unübersichtlichkeit aus Lesersicht bei. 160 Vgl. aus unternehmenshistorischer Perspektive Herzog (2008a). Zur Unternehmensgeschichte der Linde AG: Dienel (2005), ferner: Dienel (1995), Linde (1995). 161 Carl Linde wurde 1897 der Adelstitel verliehen.
M. Herzog, Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse, DOI 10.1007/978-3-531-93198-2_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse
Herstellung von flüssiger Luft (1895) und ab 1902 die Produktion von flüssigem Sauerstoff und Stickstoff. In den 1920er Jahren wurden die „...Führungsaufgaben (...) fast ausschließlich von Ingenieuren wahrgenommen. (...) Sie überwachten die Montage, reisten zu Kunden wegen Akquisition, Beschwerden und Wartung. In der Zentrale in Wiesbaden war nur eine kleine Kernmannschaft anzutreffen, nämlich: eine entscheidungsbefugte Leitung, (...) einige projektierende Ingenieure und ein komplettes Zeichenbüro“ (Dienel 1995, 161).
Ende der 1930er Jahre war eine zentrale Führung mit eigenem Sitz noch nicht vorhanden. Das änderte sich erst 1949 mit der Gründung der Zentralverwaltung (später kurz ZV) in Wiesbaden. Die Unternehmungen der Gesellschaft Linde waren in den 1950er Jahre äußerst diversifiziert, da die wirtschaftlichen Auswertungen der Erfindungen Carl von Lindes vielfältig angewendet werden konnten (vgl. Abb. 10). 162 Vorstand Wiesbaden und Höllriegelskreuth
Zentralverwaltung Wiesbaden
Abt. A Wiesbaden
Abt. B Höllriegelskreuth
Abt. C Sürth bei Köln
Abt. D Aschaffenburg
Beteiligungen
Großkälteanlagen
Luft- und GasZerlegungsanlagen Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff, Edelgase Spezial-Schweißgeräte (Ellira, Argonac)
Kleinkälteanlagen Trockeneisanlagen Druckluftwerkzeuge Kompressoren Armaturen
Klein-Dieselmotoren Diesel-Aggregate Ackerschlepper Eisenguß
Angegliederte Werke: Kühlmöbelwerk Kostheim Kühlhaus München Kühlhaus Nürnberg Eisstadion Nürnberg
Angegliederte Werke: Werk II Schalchen 15 Sauerstoffwerke 13 Sauerstoff-Umfüllwerke 8 Azetylenwerke
Angegliederte Werke: Eisengießerei Hennef a.d.Sieg
Matra-Werke GmbH. (100%) Sauerstoff-Fabrik GmbH., Berlin (100%) Heylandt-Gesellschaft Für Apparatebau mbH., Höllriegelskreuth(100%) Blockeisfabrik Köln von Gottfried Linde GmbH. (31,8%) Gesellschaft für Marktund Kühlhallen, Hamburg (13%)
Abbildung 10: Organisationsplan der Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen, 1954 (Quelle: Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen AG 1954, 24)163 162 Vgl. zum Produktumfang der 1950er und 1960er Jahre auch Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen AG (1954) bzw. die Geschäftsberichte dieser Jahre. 163 Der Begriff Werksgruppe wurde in den 1960er Jahren eingeführt und löste die Bezeichnung „Abteilungen“ für die Fabriken vor Ort ab. Bei Linde wurden allerdings die Begriffe „Werksgruppe“, „Arbeitsgebiet“, „Abteilung“, „Sparte“ oder „Bereich“ nie ganz einheitlich und konsequent verwendet. Allerdings verschwanden im Linde-Sprachgebrauch spätestens in den 1960er Jahren die Bezeichnungen für die (alten) Abteilungen A,B, C und D.
4.1 Der erste Lernprozess von 1954-1967
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Von 1954 - 1960 bestand das „Stammhaus“ in Wiesbaden aus der Abteilung Großkälte und der Verwaltung. Mit dem diversifizierten Output der Gesellschaft für Lindes Eismaschinen waren gleichzeitig unterschiedliche Umwelten entsprechend der Produktgruppen verbunden, so dass sich die Wahrnehmung der Organisation auf unterschiedliche Segmente ihrer Umwelt richten musste. 4.1.1 Die Wahrnehmung der Umwelt (1) Besonders in Höllriegelskreuth arbeitete Linde schon immer intensiv mit dem Kunden zusammen. Die Kundschaft wurde in den 1960er Jahren jedoch immer anspruchsvoller. Der Kostendruck stieg auf der Materialseite, da das bisher verwendete Kupfer zu teuer wurde. Im Markt verstärkte sich der Trend, auf Aluminium zu setzen.164 Wesentlich wichtigere Signale erhielt man Anfang der 1960er Jahre aus dem Wettbewerb jedoch dadurch, dass v.a. die amerikanische Konkurrenz schlüsselfertige Gesamtanlagen anbot, also den „heißen“ und den „kalten“ Teil komplett verkaufte, was für die Kundschaft in mehrfacher Hinsicht eine Erleichterung bedeutete. Linde hingegen bot bei den Ethylenanlagen nur den „kalten“ Teil, den Gaszerlegungsteil, an und kam kaum zu Aufträgen in diesem Wachstumsmarkt. Die Abteilung Gase war seit jeher wettbewerbs- und nicht kundenorientiert, das Denken war noch vom Oligopol der 1920er bis 1950er Jahre geprägt. Die Einstellung, als Verteiler und nicht als auf Kunden angewiesener Anbieter aufzutreten, verstärkte sich noch durch die knappen Gasressourcen nach dem Krieg. Das Verhältnis zur Konkurrentin Air Liquide wird als seit jeher gespannt bezeichnet.165 Zudem drängte sie nach dem zweiten Weltkrieg auf den deutschen Markt. Schließlich kam aus den USA der Impuls, dem Kunden nicht nur neue Produkte, sondern auch Anwendungsmöglichkeiten und damit neue Problemlösungen anzubieten: „Ende der 1960er Jahre, 1968 ging das los. Da sind die Amerikaner nach Europa gekommen und haben einen ganz neuen Gedanken hereingebracht, der den GaseFirmen hier noch recht unbekannt war, (...) die so genannte Anwendungstechnik. Die Amerikaner hatten sich überlegt, was man mit Gasen eigentlich alles machen kann. Und damit ist ein ganz neues Feld erschlossen worden, das Linde dann auch 164 Linde verfügte mit Kupfer über einen Werkstoff, der im Unternehmen bis dahin in großem Umfang bearbeitet wurde. Das Unternehmen betrieb in den 1950er Jahren die größte Kupferschmiede der Welt. Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen AG (1954). 165 Brief Wucherers an Oetken in Kopie Simon und Brandi vom 21.10.1966 „Betr.: Geschäftspolitik des Werkes Sürth“.
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4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse
sofort beackert hat. Wir haben dann auch eine Anwendungstechnik aufgemacht, d.h. wir haben insbesondere in der Schweißtechnik sehr viel getan - da sind wir auch heute noch, glaube ich, sehr gut - und dann auch in anderen Verfahren: Stickstoffeinsatz für Kühlung. Die Anwendungstechnik ist dann eigentlich zum Know-How oder Technologiekern des Gasegeschäfts geworden, wenn man einmal von der reinen Versorgungstechnik absieht“ (IEEG-11,12).
Auch im Arbeitsgebiet Kältetechnik konnte eine US-Entwicklung bei der Konkurrenz Fuß fassen und somit den Markt prägen. In der Kühlschrankherstellung zeichnete sich ab, dass sich Bosch, Siemens und AEG auf die „WhitegoodSparte“ in ihrer Gänze konzentrieren würden, die gesamte Branche also die volle Produktpalette der Haushaltselektronik anbieten wollte.166 Linde stand zu jener Zeit vor dem Problem, alleine nicht mehr schlagkräftig auf dem Markt agieren zu können: Linde bot Qualität, war aber zu teuer. Zu jener Zeit trat die Marktsättigung bei Kühlschränken ein und die Werke Kostheim und Sürth waren zusätzlich noch mit der Umstellung der Vertriebsorganisation beschäftigt, was die Situation nicht unbedingt erleichterte. Das Werk Aschaffenburg war, wie die gesamte Branche der Ackerschlepperherstellung, von der Landwirtschaft abhängig. Das führte dazu, dass Linde den Schwankungen der Branche ausgesetzt war. Diese zeichneten sich z.B. durch Maul- und Klauenseuchen, ungünstiges Wetter und die damit verbundenen schlechten Ernten aus. Zusätzlich prägte die Konkurrenz durch die zahlreichen Anbieter in dieser Branche das Geschäft. Die erste wesentliche Rezession nach dem Krieg führte 1968 dazu, dass Linde von einem Überangebot an Ackerschleppern betroffen war. „Gerade in der Schleppersparte war das ja ganz stark, wobei man noch sagen muss, dass der Schlepper - Landmaschinen sowieso - eine bestimmte zyklische Entwicklung haben, die für eine kontinuierliche Auslastung der Fertigung ziemlich ungeeignet ist. (...) Sie müssen mit den Markt-Schwankungen mitgehen, so ähnlich wie in der Baubranche. Das sind Märkte, da muss man also in regelmäßigen Abständen durch sehr bittere Täler gehen“ (I21S-72).
166 Von dieser Hinwendung zu einem größeren Produktprogramm versprachen sich deutsche Firmen wie Bosch, Siemens, AEG oder Bauknecht, entsprechend den Anbietern in den USA neben Rationalisierungswirkungen vor allem den Effekt, bei der Kundschaft mit einer Marke für alle Haushaltsgeräte ins Bewusstsein zu gelangen und damit bei weiteren Käufen einfacher präsent zu sein. Der Name sollte das Produkt entscheidend prägen. Auf Kundenseite entstand ein umfassendes Markenverständnis, so dass bei Unsicherheiten im Kauf oft einfach die Erfahrungen eines völlig anderen Produkts - war es nur von derselben Marke – auf das neue Gerät übertragen wurden, ein Phänomen, das bis heute geblieben ist.
4.1 Der erste Lernprozess von 1954-1967
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Ende der 1960er Jahre stellte sich für Linde die Umwelt auf den unterschiedlichen Märkten komplett anders dar, als es das Unternehmen nach dem Krieg gewohnt war. Die Zeit war geprägt von der Umstellung eines Verteilermarktes auf einen Käufermarkt. Der Kunde musste nun umworben werden und konnte innerhalb der Konkurrenz auswählen. Für die Anbieter im Anlagenbau, in der Traktorenfertigung oder der Kältemaschinenproduktion nahm der Kostendruck zu und die Konzentration musste sich nun stärker auf die Wirtschaftlichkeit richten. In der Gase-Branche herrschten keine Oligopolverhältnisse mehr. Aus der Situation, mit wenig Mühe die Produkte loszuwerden, wurde die aufwändige Arbeit, an Kunden zu gelangen bzw. sie zu halten. Diese Wahrnehmung der Umwelt führte Linde dazu, einem typischen Bestandteil von organisationalen Lernprozessen Beachtung schenken zu müssen: die Auseinandersetzung mit Leistungslücken. 4.1.2 Die Leistungslücken (1): das Profitdefizit Die Abteilung Höllriegelskreuth stand bereits in den 1950er Jahren vor finanziellen Schwierigkeiten. Im Anlagenbau gab es wenige Aufträge und auch der Bereich Gase geriet in die Krise. Im Jahre 1958 hatte die Abteilung einen besonders ausgeprägten Auftragsrückgang.167 Gründe sind in den hohen Preisen zu sehen, die Linde damals prägten. Auch werden die Geschäfte im Gase-Sektor für die 1960er Jahre als bescheiden beschrieben.168 So gab es 1967 ein Auftragstief, so dass Mitarbeiter nicht weiterbeschäftigt und neue Kollegen nicht eingestellt wurden.169 Allerdings war in diesem Geschäftsbereich die Konjunkturabhängigkeit, etwa im Gegensatz zu den Ackerschleppern in Aschaffenburg, sehr gering: „...Da gibt es einen schönen Spruch: Wenn die Konjunktur lahmt, dann wird repariert, wenn sie ganz schlecht geht, wird verschrottet, und wenn sie gut geht, wird gebaut. Und für alles braucht man Gase (lacht). Das heißt, es ist ein relativ konjunkturresistentes Arbeitsgebiet, Gott sei Dank, und das liegt daran, dass die Gase keine Konjunkturartikel sind, sondern (...) chemische Elemente und die sind für bestimmte Prozesse schlicht und einfach notwendig“ (IEEG-38).
167 Vgl. Dienel (2005, 223). 168 Hier muss grundsätzlich auf die ungenaue Aufschlüsselung nach Geschäftsbereichen etwa in den Geschäftsberichten dieser und späterer Jahre verwiesen werden. 169 Die Abteilung Gase litt noch lange unter den Kriegsfolgen, das sie sich mit ihren schweren Verlusten in einem sehr kapitalintensiven Geschäft behaupten mussten.
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Wesentlich geringer waren die Gewinne im Kältesektor.170 Allerdings wird die Ergebnissituation der Abteilung Kälte direkt nach dem Krieg positiv eingeschätzt. Mit dem zunehmenden Konkurrenzdruck hingegen verlor Linde diese Stellung. Als ein wesentliches Problem wird die damit verbundene ausgeprägte Investitionsschwäche bezeichnet, obwohl Linde im Bereich Kühlschrankbau sogar als Marktführer im Kältemöbelsektor galt.171 Jedoch waren die Preise zu hoch. Die geringen Stückzahlen erlaubten keine optimale Preispolitik. Die Kühlschränke waren zu teuer. Der Kältebereich machte Minuszahlen und galt als Konzernschlusslicht.172 Auch in anderen Bereichen dieses Arbeitsgebiets konnten in den 1960er Jahren erhebliche Schwächen festgestellt werden. So litt der Maschinenbau unter einem zu schwachen Umsatz und insgesamt wird der Bereich Kältetechnik (Sürth) als ständiges Schlusslicht bei den Konzern-Gewinnen bezeichnet.173 Selbst vergleichsweise positive Meldungen waren immer im Verlustbereich angesiedelt, wenn es etwa hieß, dass Kostheim 4 Mio. DM geringeren Verlust machen würde als erwartet.174 Auch im Bereich Güldner Aschaffenburg prägten die zunehmenden Verluste die Leistungswahrnehmungen.175 Das Geschäft mit den Ackerschleppern lief schlecht. Auch die Verluste in der Dieselmotoren-Fertigung waren hoch. Zwar waren die Motoren, die zu etwa 50% auch bei den Ackerschleppern eingebaut 170 So hatte man hinsichtlich der getroffenen Maßnahmen in Sürth und Kostheim lediglich die Erwartungen, ab 1953 ohne Verlust und ab 1954 mit Erträgen zu arbeiten. (150. AR-Sitzung, 5.8.1952, Punkt 7.), AR-Protokolle, Vorstandsarchiv, Linde AG). 171 Entsprechend positiv waren die internen Prognosen: Für 1963 rechnete man bei einem Umsatz von 150,4 Millionen DM mit einem Verlust von 10 Mio DM. Für das Jahr 1964 wurde bei einem Umsatz von 215 Millionen DM ein Verlust von 5,5 Mio DM erwartet, während für 1965 mit vermuteten 247 Mio DM ein ausgeglichenes Ergebnis prognostiziert wurde. Für die Folgejahre ging man von weiterhin steigenden Umsätzen bei ebenso steigenden Gewinnen aus: 1966: 295 Mio DM Umsatz, „kleiner Gewinn“, 1967: 295 Mio DM Umsatz, Gewinn 1,8 Mio DM, 1968: 312 Mio DM Umsatz bei 3,7 Mio DM Gewinn (Protokoll des erweiterten Vorstands vom 8.9.1963, Vorstandsarchiv Linde AG). 172 Eklatant waren zudem die technischen Probleme (vgl. Inhalt des Aktes „Werksgruppe Sürth“ Allgemein 1967 sowie Aktenvermerk über ein Gespräch mit Herrn Dr. Klein vom 12.2.1965, S.2). 173 „Zwischen 1948-1957 betrug das Bilanz-Ergebnis von Mainz-Kostheim ungefähr -4.5 Mio DM. Für diesen Zeitraum konnte Kostheim als reiner Fertigungsbetrieb praktisch keinen Gewinn erzielen. Vielmehr wurden dieser Gewinn am Sitz der Vertriebsabteilung (damals Sürth) ausgewiesen“ (Linde: „Entwicklung Werk Kostheim seit der Währungsreform“, 1957) Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth. 174 Vgl. Brief Wucherers an Oetken in Kopie Simon und Brandi vom 21.10.1966 „Betr.: Geschäftspolitik des Werkes Sürth“. Vgl. auch Schreiben Simons an Otto Meyer vom 5.8.1946. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth. 175 Güldner erwartete für 1965 ein ausgeglichenes Ergebnis (Protokolle des erweiterten Vorstands vom 8.9.1963, Vorstandsarchiv Linde AG).
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wurden, von guter Qualität, aber sie waren zu teuer. Linde hatte Schwierigkeiten, gegen die billigeren Produkte der Konkurrenz anzukommen. In den 1950er und 1960er Jahren befand sich Linde in finanziellen Schwierigkeiten, so dass die allgemeinen Umweltwahrnehmungen als Profitdefizit zusammengefasst werden können. Die Liquidität des Gesamtunternehmens hatte sich gegenüber dem Jahresende 1965 um rund 15,3 Millionen DM verschlechtert. Die Bank- und Wechselschulden hatten sich von rund 63,5 Millionen DM auf rund 73,7 Millionen DM erhöht.176 In einen Überblick auf die Geschäftslage des Jahres 1966 wird die Umsatzentwicklung als „recht unbefriedigend“ bezeichnet. Mit 320,6 Mio. DM lag der Umsatz 1,2% über dem vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres.177 Die Erträge waren schwach und vor allem die Einbußen in Sürth wirkten sich auf die Finanzkraft des gesamten Unternehmens aus. Während die Verluste im Anlagenbau weniger nennenswert waren, galten Sürth und Aschaffenburg eindeutig als Verlustbringer. Lediglich die Abteilung Gasverflüssigung in Höllriegelskreuth erzielte Gewinne. Die Leistungslücken und ihre Bedeutung für die gesamte Organisation zu definieren, zog einen langwierigen Prozess nach sich, der zwischen den Entscheidern erst ausgetragen werden musste. 4.1.3 Die dominanten Koalitionen Während sich Leistungslücken relativ einfach, nämlich im Vergleich zur organisationalen Zielsetzung, feststellen lassen, können entsprechende Problemlösungsstrategien wesentlich komplexer sein. Wo an dieser Stelle, wie in der vorliegenden Untersuchung, von der zentralen Rolle der Akteure ausgegangen wird, erhalten Entscheiderpositionen eine besondere Bedeutung. Folglich werden sie hier, dem akteurzentrierten Organisationslernen entsprechend, durch das Konstrukt der Koalition präsentiert. Aufgrund der Umstände, die im Folgenden erläutert werden, wird hier, entgegen dem Ausgangsmodell, von zwei dominanten Koalitionen ausgegangen.178 176 AR-Protokoll vom 29.6.1966, Punkt 2.). Vgl. zu den finanziellen Schwierigkeiten auch die Aufsichtsratsprotokolle vom 27.1.1955, 20.1.1960, 14.5.1963. 1961 lag die Verschuldung bei 6 Millionen DM, die Liquidität der MATRA war angespannt (AR 3.10.1961, Punkt 2) Bericht über die Finanzen). (AR-Protokolle, Vorstandsarchiv Linde AG). Das Unternehmen hatte 1966 12.982 Mitarbeiter. 177 Protokoll des erweiterten Vorstands vom 19.9.1966 (Vorstandsarchiv Linde AG). 178 Die Unterscheidung in deren Reihenfolge berücksichtigt allerdings die Bedeutung für das unmittelbare Geschäft. Insgesamt werden in diesem Zusammenhang Koalitionen in ihrer Prozesshaftigkeit dargestellt und auch vor diesem Hintergrund ist die gewählte Reihenfolge begründet.
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4.1.3.1 Die erste dominante Koalition Auf Vorstandsebene gab es um 1954 einen regelrechten Austausch der Mitglieder. Bis auf Hugo Ombeck, der in diesem Jahr Vorstandsvorsitzender wurde, bestand das gesamte Gremium nun aus neuen Mitgliedern, da deren Vorgänger teils gestorben, teils in den Aufsichtsrat (AR) gewechselt waren.179 Hugo Ombeck wird als sehr starke Persönlichkeit beschrieben: „Ombeck war ein Herr, der war ein typischer Generaldirektor, alten Stils, sehr gerade, sehr offen, schnell entschieden, war sehr schwierig, also Ombeck war gefürchtet.“180 Er leitete den Vorstand von Wiesbaden aus. Obwohl so etwas wie ein personeller Neuanfang im Vorstand stattgefunden hatte, verfolgten die neuen Vorstandsmitglieder in erster Linie die Interessen ihrer Werke und änderten kaum die Einstellung ihrer Vorgänger, nach der die Zentrale in Wiesbaden für ihre Geschäfte lediglich eine formale Funktion hatte.181 Diese Wahrnehmung wird mit einem Umstand verbunden, der sich auf die unterschiedliche finanzielle Ausstattung der einzelnen Abteilungen bezieht. Während man im vorsichtigsten Falle von einer unterschiedlichen Ergebnissituation, die „nicht harmonierte“, spricht,182 benennen andere Befragte klar die dominante Rolle Höllriegelskreuths, wo die Abteilungen für Anlagenbau und vor allem für technische Gase am lukrativsten waren. Die dominante Koalition bestand aus jenen geschäftsleitenden Vorständen in München, die über die Investitionsmittel jener Zeit entscheiden konnten. 183 In der schwächeren Position waren damit diejenigen Entscheider, die entweder kaum Mittel für Ihre Werke erlangen konnten, obwohl sie Bedarf hatten, und jene, die Führungsaufgaben im Gesamtvorstand sahen und dazu die Stellung der Zentralverwaltung unterstützten. Die erste dominante Koalition folgte dem Prinzip finanzieller Eigenständigkeit der Werksgruppen. Außerdem war hier eher die Einstellung vorherrschend, das Alte zu bewahren als sich neuen Entwicklun179 So traten Karl Beichert (1951), Rudolf Wucherer (1954) und Otto Hippenmeyer (1955) nicht mehr im Vorstand auf, während Johannes Wucherer (1954), Willy Müther (1959), Johann Simon (1954), Christian Megerlin (1954) und Otto Wagner (1955) hinzukamen. 180 I28M-30. Ombeck kam aus dem Dampfmaschinen- und Dampfturbinenbau und arbeitete seit 1913 bei Linde. 1928 wechselte er in den Vorstand. Er sorgte für den Ausbau der Abteilung Großkälteanlagen und war über diese Aufgaben hinaus mit den Angelegenheiten des Stammhauses in Wiesbaden beschäftigt (vgl. Werkzeitung Linde 1964, 2, S. 3). 181 Willy Müther und Christian Megerlin können, ähnlich Otto Wagner, als Vertreter „anderer Akteure“ gelten. 182 IS-99. 183 In diesem Zusammenhang wird der Abteilung in Höllriegelskreuth eine Linde-weite BankFunktion zugeschrieben, deren Wirkung sich in der Vergabe von Investitionsmitteln für andere Abteilungen äußerte: „Wer viel Geld verdiente, bekam auch die Mittel zum Investieren, und wer nicht verdiente, der konnte nur bitten, das Notwendigste realisiert zu bekommen“ (IÜ-15).
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gen anzuschließen. Besonders der Familienverbund mit Freundschaftsverflechtungen der Lindes in München kann als Bindeglied dieser Koalition angesehen werden.184 Daher spielen auch die Aufsichtsräte Friedrich und Richard Linde, die Söhne des Unternehmensgründers, eine Rolle, die durch interne und private Verbindungen nicht an einer förmlichen Transparenz und Kontrolle des Unternehmens interessiert waren. Mit Johannes Wucherer saß 1954 erneut ein Mitglied der Linde-Familie im Vorstand.185 Im Rahmen dieser Personal-Entscheidung wurden im Vorstand gegen einen externen Kandidaten Bedenken geäußert. Hingegen spielten bei der Beurteilung Wucherers die familiären Beziehungen eine Rolle. Von einem Vorstandsmitglied hieß es: „Ich (…) will Ihnen nicht verhehlen, dass ich meinerseits diese Bedenken teile, während ich es für selbstverständlich halte, dass Herr Dr. Wucherer als Vertreter der Familie Linde den Vorzug genießen sollte, zumal seine Qualitäten nicht in Zweifel zu ziehen sind…“186
Genau diese familiären Verflechtungen der Lindes in München und die damit verbundene naturwissenschaftlich-technische Unternehmenskultur waren es, die zu einem Konflikt mit dieser Koalition führten, welcher seit den 1950er Jahren zu verzeichnen ist. Mit Walter Ruckdeschel war nämlich seit 1950 ein Ingenieur im Vorstand, der im Gegensatz zum Linde-Block eher ein Unternehmertyp war und weniger Naturwissenschaftler. Ruckdeschel hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg sehr erfolgreich für die Internationalität Lindes im Gasegeschäft eingesetzt.187 Er hatte die Absicht, die wirtschaftliche Seite des Unternehmens zu stärken und auszubauen und sorgte für weiteren Einfluss von Unternehmern aus der Indust184 Auch auf Werksgruppenebene gab es derartige Konstellationen (vgl. z.B. Hinweise in „Niederschrift Besprechung Brandi, Wucherer, Simon“, 3.7.1969). Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth. 185 Johannes Wucherer (1906-2005) war Carl v. Lindes Enkel. Seine Eltern waren der langjährige Linde-Vorstandsvorsitzende Rudolf Wucherer (1928-1954) und Elisabeth Wucherer, die jüngste Tochter Carl von Lindes. Seine Onkel Richard und Friedrich Linde saßen ebenso wie sein Vater im Aufsichtsrat. Die Firmengründerfamilie war seit jeher in München ansässig (vgl. auch Linde today 2005, 4, S. 5). 186 Brief vom 2.2.1950 an R. Linde, o. Verf. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth. 187 Ruckdeschel wirkte zunächst im Außendienst der Abteilung Gasverflüssigung, war häufig auf Auslandseinsätzen und verfügte über gute Sprachkenntnisse sowie ein fundiertes technisches Wissen. Im zweiten Weltkrieg war Ruckdeschel Geschäftsführer der Linde-Tochtergesellschaft Heylandt Apparatebau. Aussagen zufolge, die von einer „hervorragenden Sprachbegabung“ ausgehen (vgl. z.B. I28M-21) muss an dieser Stelle widersprochen werden. Die Sprachbegabungen bewegten sich laut eigenen Niederschriften eher im normalen Maße, dürften sich jedoch durch den Zwang sie zu nutzen kontinuierlich verbessert haben (vgl. Ruckdeschel, 1989).
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rie. So holte Ruckdeschel später die Aufsichtsräte Hermann Brandi und Hermann Holzrichter zu Linde.188 Er war, getrieben von den Risiken des Anlagenbaues, innerhalb der Münchener Werksgruppe zu der Industriegase-Herstellung gewechselt und sah sich in diesem Sektor vor unglaubliche Chancen gestellt. Ein ständiger Widerspruch, in dem er als Werksleiter leben musste, war die Investitionshemmung, die man ihm von Wiesbaden aus zeigte: „...vor der Ära Meinhardt, was da in Wiesbaden versaubeutelt worden ist, was da schiefgelaufen ist, dass geht auf keine Kuhhaut. Wir hätten schon viel früher viel weiter sein können, wenn da Leute gesessen hätten mit Vorausschau, mit Visionen. Aber die Herren in Wiesbaden, die hatten überhaupt keine Visionen, die wussten gar nicht, wie man Vision schreibt. Die saßen in ihrem Verwaltungsgebäude und was die gemacht haben, weiß ich nicht. Da kam gar nichts. Und der Ruckdeschel hat oft gejammert, er hat gesagt, mein Gott noch mal, wenn die mir nur ein paar Millionen geben würden, dann könnten wir schon viel weiter sein“ (IWIIS-171). „Das war eben die Geschichte zu Ruckdeschels Zeiten, der hat immer aus Wiesbaden Geld haben wollen und musste ihnen immer erklären, dass man Geld haben muss, wenn man wachsen will. Aber die Wiesbadener haben gesagt: ‚Nein! Um Gottes Willen! Wir wollen lieber ein Verwaltungsgebäude bauen’, so ungefähr“ (IWIIS-170).
Diese Aussagen widersprechen denen, die von einer Macht im Unternehmen allein abhängig von der Ertragskraft der eigenen Werksgruppe - ausgehen. Zwar konnte Ruckdeschel sich nicht gegen die dominante Koalition durchsetzen, aber es gelang ihm, mit den relativ stabilen Gewinnen seiner Werksgruppe eine gewisse Größe und Unabhängigkeit neben der Linde-Familie im Unternehmen zu erreichen. 1961 löste Wucherer Ombeck, der in den Aufsichtsrat wechselte, als Vorstandsvorsitzender ab und es kam Hermann Linde, ein weiterer Enkel Carl von Lindes, in den Vorstand, „um Ruckdeschels Macht zu begrenzen“.189 Diese Aussage spricht den genannten Gegensatz zwischen Ruckdeschel und Hermann Linde bzw. der Linde-Familie an. Trotz dieser personellen Entwicklung im Vor188 Die Aufsichtsräte der Linde AG kamen, wenn nicht aus der Linde-Familie überwiegend aus der Industrie, wurden nun aber durch Ruckdeschel und nicht durch die Familie Linde bestimmt. Zu Brandi: Linde Werkzeitung 1969, 1, S.6. Zu Holzrichter: Linde Werkzeitung 1973, 5, S. 6; Linde heute 1975, 6, S. 22; 1978, 2; S. 1). 189 I28M-44. Eine ähnlich dynamische Rolle kann Karl Beichert zugeschrieben werden. Auch er, Vorstandsmitglied aus Wiesbaden von 1943-1951, vormals Wirtschaftsprüfer bei Linde und überhaupt als erster Kaufmann im Linde-Vorstand, wollte bereits in den 1940er Jahren Wiesbaden als Nicht-Familienmitglied mehr Einfluss zukommen lassen (vgl. zu Beichert auch: Werkzeitung Linde 1968, 10, S.7.).
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stand mehrten sich in den folgenden Jahren im Unternehmen die Akteure, die zu einer Schwächung der ersten dominanten Koalition führten. 4.1.3.2 Die zweite dominante Koalition Anfang der 1960er Jahre bildete sich die zweite dominante Koalition, die allerdings ganz andere unternehmensrelevante Aktivitäten ausübte, als die begrenzt vorhandenen finanziellen Ressourcen zu verteilen oder die Tradition zu wahren. Sie konzentrierte sich auf die gesamte Unternehmensstruktur und kann als „ProZentralverwaltungspartei“ bezeichnet werden. Im Gegensatz zur ersten dominanten Koalition waren ihre Bemühungen nicht konservativ, sondern progressiv. Ihre Mitglieder wollten langfristige Veränderungen in der Organisation erreichen. Bereits 1954 bekam Ombeck als neu ernannter Vorstandsvorsitzender mit Johann Simon einen Vorstandskollegen, welcher gleichzeitig die Zentralverwaltung leitete. Die restlichen Vorstandsmitglieder traten in der Frage hinsichtlich der Bedeutung Wiesbadens zunächst nicht hervor. Genauso wenig trat Wucherer in dieser Angelegenheit auf, bis er Ombeck als Vorstandsvorsitzenden ablöste. Nun jedoch wandte er sich mit einem konkreten Konzept an den Vorstand, um diesem eine wirkungsvollere Position einzuräumen. Er wollte die bisherige geschäftspolitische Autonomie der Abteilungen durchbrechen, denn ein Merkmal der Unternehmensführung jener Jahre war, dass die Vorstandsmitglieder kaum über die jeweils anderen Abteilungen informiert waren. Die Funktionen des Vorstands und der Zentralverwaltung sollten geändert werden. Auslöser für diesen recht dynamischen Schritt Wucherers, der immerhin als Teil des konservativen Familiengeflechts und der ersten dominanten Koalition fungiert hatte, sind in den wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu sehen. Gleich zu Beginn seines Vorschlags warnt er vor den geringen Erlösen: „Die Firma ist gegenwärtig durch die schlechte Ertragslage insbesondere in Aschaffenburg und Kostheim und durch die erhebliche Bindung von Geldmitteln in Vorräten vornehmlich in denselben beiden Niederlassungen gefährdet. Es wird möglich sein, die diesjährige Bilanz einigermaßen befriedigend zu gestalten, weitere Rückschläge können jedoch nicht mehr aufgefangen werden.“190
190 Wucherer in seinen „Gedanken zu Punkt 21c) der Tagesordnung zur Vorstandssitzung am 6.12.1961“, 5.12.1961. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden.
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Es war wohl eher die Not der Stunde, die zu diesen Reformansätzen führte als eine tief sitzende Überzeugung, den Einfluss des Vorstandsvorsitzenden auszubauen, wenn er sich vorsichtig ausdrückte: „Die räumliche Trennung der Niederlassungen macht es unmöglich, im Gesamtvorstand schnell (…) über wichtige Geschäftsentscheidungen Entschlüsse herbeizuführen. Andererseits soll das Kollegialsystem erhalten bleiben; ich glaube aber, dass ohne dieses aufzugeben folgendes möglich sein wird…“191
Es folgen Aufgaben, die der „Vorsitzer“, also Wucherer selbst, erhalten soll. Gleich als erstes heißt es dort: „1. Grundsätzliche Mitbestimmung bei allen wichtigen Entscheidungen in den Niederlassungen, z. B. bei Geschäften und Vorgängen, die erhebliche Risiken technischer und wirtschaftlicher Art enthalten.“192 Diese Gedanken oder Vorschläge - immerhin aus der Vorstandsvorsitzenden-Position heraus -zeigen, wie wenig Einfluss der Vorstand noch zu Beginn der 1960er Jahre bei Linde hatte. Obwohl diese Reaktionen verspätet und als Notgeburt erscheinen können, brachten sie eine Reihe von Weiterentwicklungen in Richtung Zentralisation in Gang. In den nächsten Jahren folgten immer konkretere Pläne, die für die Konzernleitung ungewohnte Macht bei der Zentrale in Wiesbaden und dem Vorstandsvorsitz ansiedelten.193 Nun wirkte sich aus, was sich in den 1950er Jahren im Vorstand abgezeichnet hatte: Das konservative Münchener Familienlager, das damals die ersten Risse bekam, konnte derartige Tendenzen nicht mehr verhindern. Wucherer hatte als Ingenieur zwar ein gutes Standing im Unternehmen, da er außerordentlich breit und vor allem naturwissenschaftlich gebildet war, verfügte allerdings kaum über kaufmännische Kompetenzen.194 Dennoch war er weitsichtig und hatte die Fähigkeit, diese Schwäche zu akzeptieren und sich helfen zu lassen. So wurde Simon 1965 die daraufhin bei Linde neu eingeführte Position des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden zuteil, um die Bilanz-Darstellung bei Aktionärsversammlungen zu übernehmen. Er wird als „Buchhaltertyp“ beschrieben, der allerdings überhaupt keine unternehmerischen Qualitäten oder Ambitionen hatte.195 Wucherer und Simon hatten die formal bedeutendsten Stellungen im Vorstand inne (Vorsitz bzw. stellv. Vorsitz und Leitung ZV). In konzernpolitischen Dingen nahm Simon allerdings nicht gerade das Heft des Handelns in die Hand. Er hatte bei Linde die Erfolge des Verkäufermarktes mitbekommen und zeigte 191 Ebd., Auslassungen: M.H.. 192 Ebd. 193 Vgl. Auszug aus dem Protokoll über die Vorstandssitzung vom 25. 10. 1966. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 194 Zu Wucherer: Werkzeitung Linde 1966,1, 6, vgl. auch Werkzeitung Linde 1959, 2, S. 19. 195 IE-27-30, I28M-29.
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wenig Anzeichen, sich auf den beginnenden Wettbewerb der 1960er Jahren einzustellen.196 Wichtig für die Zukunft von Linde war Simon allerdings deshalb, weil er - im Gegensatz zu den Vertretern aus Höllriegelskreuth - kein Mann war, der die neue Zentralverwaltung bremsen wollte. Er hatte, im Gegenteil, selbst stark an ihrem Ausbau mitgewirkt.197 Ein weiterer wesentlicher Akteur, der sich für die zentrale Führung von Linde einsetzte, war ein junger gelernter Ökonom, der 1954 von außen auf das Unternehmen Linde stieß: Hans Meinhardt. Dieser gehörte, wie Ruckdeschel, zu jenen, die sich mit der unternehmerischen Seite der Gesellschaft befassten, war aber 25 Jahre jünger als er. Meinhardt begann seine Arbeit bei Linde 1956 in der Revision der Zentralverwaltung, nachdem er eine unternehmensinterne Ausbildung in verschiedenen Werksgruppen absolviert hatte. Es war wohl die Mischung aus konservativer Stagnation, gewachsen aus den Erfolgserlebnissen der 1950er Jahre, die Autonomie der Werksgruppen und die Überforderung der Führungskräfte durch die neuen Gegebenheiten des Marktes, die Meinhardt in diesen Jahren empfunden haben mag. In Wiesbaden, am Ort der Unternehmensgründung, in alten Villen am Wiesbadener Stadtpark gelegen, wurde die Zentrale 1949 nach den Zerstörungen des Kriegs wieder eingerichtet und es ging eher beschaulich zu. Mit Meinhardt war nun ein ehrgeiziger Mann in der Firma, in dessen Vorstellung auch und gerade ein Forschungs- und Industrieunternehmen wie Linde über mehr Mittel als Ingenieurwissen und gute Produkte verfügte. Für ihn mussten, wie für keinen anderen bei Linde zuvor, vor allem die Zahlen stimmen. Meinhardt setzte bei der Unternehmensstruktur an. Sein Ziel war schon frühzeitig, den gesamten Konzern gründlich neu auszurichten.198 Unternehmenspolitisch trat Wiesbaden nicht nennenswert in Erscheinung, da mit der Verlage196 Simon vertrat im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Situation des Kühlschrankgeschäfts die Ansicht, man solle die bestehende Verkaufsorganisation und die bisherigen Verkaufsmethoden beibehalten. Drei Monate später berichtete er von einem Verlust für 1956 von 2,5 Millionen DM. Dadurch werde das Ergebnis in Sürth stark beeinträchtigt (vgl. AR-Sitzung vom 23.10.1956, Punkt 4; AR-Sitzung vom 23.1.1957, AR-Protokolle, Vorstandsarchiv Linde AG). 197 Simon kam nach 17-jähriger Tätigkeit von den Farbwerken Hoechst, wo er zuletzt DirektionsAssistent war, 1947 zu Linde in die Zentralverwaltung. Er baute mit dem damaligen Vorstandsmitglied Karl Beichert die Verwaltungsstelle Wiesbaden zunächst für das Rechnungswesen auf und bearbeitete die Rechts- und Steuerfragen sowie die Beteiligungen von Linde und nahm die Prüfungen bei den Niederlassungen vor. In rascher Folge wurde er 1948 Syndikus, erhielt 1949 Handlungsvollmacht und 1950 Prokura. Simon hatte außer der Zentralverwaltung auch noch die Güldner- Motorenwerke Aschaffenburg und die MATRA-Werke zu betreuen (Werkzeitung Linde 1968, 5, S.7, Linde heute 1971, 2, S.2). 198 „Es war für mich schon eine große Umstellung, in eine damals doch relativ ruhige Zentrale zu wechseln, die sich überwiegend auf Verwaltung konzentrierte“ Meinhardt 1988 in: Capital 3/88, S. 157.
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rung der Abteilung Großkälte im Jahr 1960 auch der Produktionsstandort Wiesbaden wegfiel. Aus Sicht Meinhardts waren die Versuche Wucherers jedenfalls ein Schritt in die richtige Richtung. Doch was Wucherers zaghafte Versuche waren, das Unternehmen „von oben“ zur Umstrukturierung zu bewegen, waren für Meinhardt konkrete Arbeitsschritte innerhalb der Zentrale und der Werksgruppen. Vor allem die Entwicklungen aus den Bereichen Organisation und Marketing sollten von nun an Linde von innen her reformieren. Meinhardt war es, der in den folgenden Jahren die Hauptrolle in dieser zweiten dominanten Koalition spielte, obwohl er selbst, Anfang der 1960er Jahre, nicht im Vorstand war. Er fungierte gewissermaßen als Bindeglied und Motor zwischen den Akteuren, die kaum zu dieser Koalition gehörten, ihr aber auch nicht völlig entgegenstanden (z.B. Ruckdeschel), jenen, die zwar die Führungsfunktion des Vorstands erneuern wollten, aber nicht an einer regelrechten Direktionalverwaltung interessiert waren (Wucherer) und schließlich denen, die die Schwierigkeiten nicht nur im strukturellen oder ökonomischen Kontext sahen, sondern die davon ausgingen, dass schlichtweg die falschen Personen an den entscheidenden Stellen saßen. Diese Position wurde von Aufsichtsratsmitgliedern wahrgenommen, die ihrerseits auch deswegen zur dominanten Koalition zu zählen sind, weil sie aus diesem Gremium nicht nur in den Vorstand und untere Entscheidungsebenen eingriffen, sondern auch innerhalb des Aufsichtsrats die Vorherrschaft bildeten: der Aufsichtsratsvorsitzende August Oetken und sein Stellvertreter Hermann Brandi. Beide erhielten ihre Posten 1965. Während Brandi auch erst seit diesem Jahr für Linde tätig war, war Oetken bereits seit 1950 im Aufsichtsrat. Oetken stellte bereits Ende 1961 fest, dass sich Linde in einer kritischen Situation befand. Er erwartete unter der Voraussetzung, dass es in Mitteleuropa keine kriegerischen Ereignisse gebe, keine Wiederholung der Nachkriegsepoche, sondern im Gegenteil einen kräftigen Aufschwung mit einer Massen-Konjunktur „verbunden mit einer außerordentlich hartnäckigen Konkurrenz und stagnierenden oder sinkenden Preisen für Industrieprodukte“.199 Zusätzlich würde die Ausdehnung der EWG-Organisation auf den westeuropäischen Kontinent und Großbritannien in der Maschinenindustrie enorme Auswirkungen haben, die Konjunktur und Wettbewerb verschärfen ließen. Während er für die Werksgruppe München im Anlagenbau und bei den Technischen Gasen vor allem wachsende Konkurrenz erwartete, prognostizierte er für Sürth und die Großkälte allenfalls mittlere Ertragsfähigkeiten. Indes schätzte er die Chance der Kühlmöbelproduktion, in Kostheim verlustfrei zu arbeiten, sehr gering ein und rechnete mit einer Betei199 Brief Oetkens an Simon vom 4.11.1964 mit Anhang eines „Memorandums über die Entwicklung der Linde A.G. vom 27.12.1961“ Oetkens an den Vorsitzer und stellv. Vorsitzer des AR. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden.
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ligung durch die AEG oder einem Verkauf. Güldner sah er in der gleichen Lage und wies zusammenfassend auf die „katastrophale Entwicklung für Linde“ hin, zumal der Einfluss der Banken als immer größere Gefahr wahrgenommen wurde. Ombeck, vor allem aber Oetken und Brandi, waren es, die ihre Hoffnungen, den Linde-Konzern aus den Schwierigkeiten zu bringen, auf eine personelle Veränderung stützten: die Förderung Meinhardts.200 Meinhardt wurde 1959 Leiter einer neuen, von ihm selbst eingerichteten Abteilung in der Zentralverwaltung: der Abteilung Organisation.201 Außerdem übernahm er 1961/62 die Leitung des kaufmännischen Bereichs in Aschaffenburg.202 Ombeck, als damaliger Vorstandsvorsitzender in Wiesbaden, förderte Meinhardt früh, unauffällig, aber kontinuierlich. So konnte ihm Meinhardt z.B. die Einführung und den Aufbau der Organisationsabteilungen vorschlagen und durchführen. Damals habe es geheißen: „...und der Meinhardt, das ist das Lieblingskind, der hat freie Hand, der kann die schaffen...“203. Auch sollen vor 1965 konkrete Angebote an Meinhardt gegangen sein, in den Vorstand zu wechseln („Da war immer Ombecks Hand mit dabei.“204), die dieser jedoch unter den vorherrschenden Bedingungen abgelehnt habe. Wucherer und Simon, die seit 1965 mehr oder weniger gemeinsam den Vorstand leiteten, werden nur teilweise als Förderer erwähnt.
200 Die Tatsache, dass dieser Beistand keinen formalen Charakter hatte, ist der Grund dafür, dass in diesem Fall Mitglieder der dominanten Koalition direkt gehandelt haben und sich nicht in einem geregelten Verfahren (z.B. gegen Zentralverwaltungsgegner in einem formalen Entscheidungsprozess) durchsetzen mussten. Deshalb wird nun an dieser Stelle und nicht im Abschnitt „Entscheidungsprozess“ auf die Förderung Meinhardts eingegangen bzw. deren Auswirkung wird in den folgenden Abschnitten durchscheinen. An dieser Stelle kann von einem Lernelement gesprochen werden. Außerdem ist der informelle Grad dieser Handlungen an sich kennzeichnend für die dominante Koalition. Das wird in den folgenden Ausführungen der Vorgänge mit den entsprechenden (weitreichenden) Konsequenzen deutlicher. Bemerkenswert ist hierbei, dass diese Förderung von hoher bis höchster Führungsebene relativ früh erfolgte. 201 Vgl. Linde AG (1994, 5): 1959 vgl. Lebenslauf Meinhardt undatiert [1997]: 1959-1962 bzw. Brief Simons an den Vorstand, Betr.: Organisation der Zentralverwaltung, 28.12.1962. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 202 Vgl. Linde AG (1994, 6). „Ab 1961 zusätzlich Übernahme der kaufmännischen Leitung der Werksgruppe Güldner Aschaffenburg“ Lebenslauf Meinhardt undatiert, [1997] Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden; vgl. dazu Brief Simons an den Vorstand, Betr.: Organisation der Zentralverwaltung, 28.12.1962: „Herr Dr. Meinhardt leitet künftig im Werk Aschaffenburg die kaufmännischen Sparten einschließlich Vertrieb und vertritt den Werksleiter. Er wird daneben weiter die Stabsstelle Organisation und Marktforschung bei der Zentralverwaltung betreuen. Der Vorstand wird ihm, vorbehaltlich der Genehmigung durch den Aufsichtsrat, Prokura für Aschaffenburg und für die Zentralverwaltung erteilen“ Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 203 IE-105. 204 IE-63.
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Wenn Wucherer Meinhardt auch nicht unbedingt gefördert hat, so hat er Meinhardt, den er sicherlich als ausgewiesenen Zentralverwaltungs-Vertreter wahrnehmen konnte, jedenfalls nicht behindert. Simon dagegen hatte Meinhardt selbst eingestellt. Außerdem wurde Meinhardt 1965 dessen Assistent und nahm seit dem an allen Vorstandssitzungen (anfangs als Protokollführer) teil. Wenngleich Simon sich in Fragen des operativen Geschäfts in Aschaffenburg eher zögerlich verhalten hatte, so förderte er Meinhardt doch als Zentralverwaltungsmitarbeiter und kooperierte intensiv mit ihm. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass sich die beiden Koalitionen jeweils in ihrem Bereich durchsetzen konnten und zwar so, dass sie jeweils einen unternehmensweiten Einfluss ausübten. Insofern kann also von zwei dominanten Koalitionen gesprochen werden, als dass die erste den Zugriff auf die Finanzen und die formale Unternehmensführung hatte und die zweite sich unangefochten der Struktur und Planung widmete. Das Merkmal des Verdrängtwerdens, welches Oppositionen oder andere Akteure aufweisen, konnte in beiden Fällen nicht festgestellt werden. Die erste dominante Koalition ist unter den theoretischen Aspekten nicht als modelltypisch zu bezeichnen. Zwar kann durch die familiären Verflechtungen ein hoher informeller Grad ermittelt werden, jedoch sind die Ziele und die Motivationen nicht so klar erkennbar, da sie lediglich in der Abwehr (neuer) Ziele zu sehen sind und nicht für darüber hinaus reichende Ansprüche stehen. Damit erscheint hier das Element der Durchsetzungsfähigkeit gegen andere Akteure konservativer und nicht progressiver Natur zu sein. Außerdem konnte sich diese Stabilität auf eine traditionelle Ehrerbietung beziehen, die sich auch in der Anerkennung der naturwissenschaftlichen Ingenieurleistung der Lindes widerspiegelt. Allerdings war deren finanzieller Eigenanteil am Unternehmen relativ gering.205 Während die erste dominante Koalition als familiär verflochten, hochinformell sowie den naturwissenschaftlichen Leistungen traditionell verbunden beschrieben werden kann, lässt sich die zweite dominante Koalition als Reformkraft familienfremder Führungskräfte bezeichnen: Bewahrer auf der einen, Erneuerer auf der anderen Seite. Letztere etablierten und kontrollierten zunehmend Lindes Problemdefinition und verhalfen der Organisation gleichzeitig zu einem neuen Wissenserwerb.
205 Vgl. Dienel (2005, 19, 67).
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4.1.4 Der Wissenserwerb (1): Reaktionen auf Leistungslücken durch Strukturveränderungen Strukturell veränderte sich Linde in den 1960er Jahren zunächst langsam, insgesamt aber kontinuierlich.206
Hauptversammlung
Gesamtbetriebsrat
Executive Vors. u. stellv. Vors. des Vorstandes Assistent
Ausschüsse für Spartenleitung
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Abbildung 11: Organisationsplan Linde AG, 1965 206 Da sich dieser Abschnitt mit dem Wissenserwerb der Organisation Linde beschäftigt, sind nun vor allem die Veränderungen in der organisationalen Wissensbasis von Belang. Sie sind es, die den Kern eines Lernprozesses ausmachen. Im vorliegenden Fall ist zu berücksichtigen, dass der Wissenserwerb sich vor allem in struktureller Hinsicht bei Linde manifestierte und zwar in zwei unterschiedlichen Varianten: erstens als quasi direkte Reaktionen auf die Leistungslücken, und zwar organisationale Defizite, und zweitens die Schwierigkeiten mit dem Käufermarkt, nämlich in Form der Organisations- und der Marktetingabteilung. Auch hier besteht die Schwierigkeit darin, die Komplexität des Ausgangsmodells darzustellen bzw. muss auf andere Abschnitte verwiesen werden. Während jetzt bereits Wissen im Zusammenhang mit Abteilungen angesprochen wird, sind deren Gründungen z.T. erst in Kap. 4.2.5 thematisiert. Beides lief jedoch parallel ab.
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Im Mittelpunkt standen dabei die Abteilungen Organisation und Marketing (vgl. Abb. 11). Die Organisationsabteilung sowie das Marketing hatten drei besondere Eigenschaften. Sie waren Meinhardts erste eigene Projekte, diese Initiative war relativ unabhängig vom formalen Entscheidungsprozess, da Meinhardt Rückendeckung von der dominanten Koalition erhielt und schließlich waren die Abteilungen immer direkt unter der Vorstands- bzw. Geschäftsleitungsebene angesiedelt, so dass die Aktivitäten, hierarchisch betrachtet, fast optimal umgesetzt werden konnten. Meinhardt selbst hatte den Vorstands-Assistenzposten inne. 4.1.4.1 Die Abteilung Organisation Meinhardt und seine Mitarbeiter gründeten ab 1959 innerhalb weniger Jahre nicht nur die Organisationsabteilung in der Wiesbadener Zentralverwaltung, die 1961 dort bereits direkt dem Vorstand unterstellt war, sondern zusätzliche in den Werksgruppen.207 Wenn auch einige Befragte Meinhardt allein für die Einrichtung der Organisationsabteilungen verantwortlich machen, so ist dies insofern zu relativieren, als dass die Unternehmensberatung Dr. Birnmeyer, die auch in Aschaffenburg eingesetzt worden war, formal mit Vorschlägen zur Restrukturierung von Linde beauftragt wurde. Dieses Konzept sah eine umfangreiche Machtfülle für eine neu zu schaffende Organisationsabteilung vor, die jedoch vom Vorstand „als mit der Organisation der Gesellschaft Linde nicht vereinbar“ abgelehnt wurde.208 Dennoch verabschiedete er die Einrichtung eines Referates für grundsätzliche Organisationsfragen, das Simon direkt unterstellt werden sollte. Zu den Aufgaben gehörten die beratende Mitwirkung „in allen grundsätzlichen Organisationsfragen“ der jeweiligen Niederlassungen sowie die Unterrichtung der zentralen Organisationsabteilung bei allen in den Werksgruppen vorgenommenen organisationalen Änderungen. Sollte letztere nicht zustimmen, war eine Entscheidung des Gesamtvorstandes herbeizuführen.209 Auch in den Werken vor Ort, also in Aschaffenburg, Mainz-Kostheim, München und Köln wurden mit den entsprechenden Mitarbeitern Organisations-
207 Vgl. z.B. Organisationsplan Zentralverwaltung 1961. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 208 Brief Meinhardts an den Vorstand vom 8.6.1960. Betrifft: Organisation (Protokoll über die Sitzung der Organisationsleiter am 25. Mai 1960 in Wiesbaden). Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 209 Ebd.
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abteilungen eingerichtet.210 Daraus habe sich ein großer Einfluss dieser Abteilungen ergeben, wenngleich man insbesondere in Köln auf Widerstände bei der Gründung solcher Einrichtungen gestoßen sei.211 Die Ablauforganisation und Strukturanalyse war insbesondere in der Serienfertigung in Mainz-Kostheim und Aschaffenburg von Bedeutung und wurde direkt der jeweiligen Geschäftsleitung unterstellt.212 4.1.4.2 Die Marketingabteilung Der Bereich Werbung wurde bei Linde anfangs gewissermaßen nebenbei betrieben.213 Anfang der 1960er Jahre hatte sich an der Einstellung zu dieser Außenwirkung seit Firmengründung allerdings kaum Wesentliches geändert. Zwar folgte man in Wiesbaden dem Trend der Zeit, mit einer eigenen Werbeabteilung von Unternehmensseite aus, den Markt zu beeinflussen, tat dies jedoch kaum mit wirklicher Überzeugung.214 Dies gilt jedoch nicht für die Marktforschungsabteilung.215 Linde begann nun damit, Experten zu beschäftigen, die professionell die organisationale Umweltwahrnehmung betrieben: „Er [Meinhardt, M.H.] hat dann in Wiesbaden die Marketingabteilung gegründet, weil man in der damaligen Zeit merkte, dass man von dem reinen Verkäufermarkt, den man nach dem Krieg hatte, in einen Käufermarkt überwechselte. Dann musste man schon Marktforschung treiben und das war der Anfang für die Erforschung der Märkte, auf denen wir tätig sein wollten“ (IS-69).
210 In Aschaffenburg wurde zudem eine Unternehmensberatung beauftragt. Schon zuvor gab es in den Werken in Köln und Aschaffenburg Organisationsexperten, die neue Stücklisten, Teilenummern und Fertigungspläne anfertigten. 211 I28M-102 ff.; IE-86-107; vgl. auch Linde AG (1994, 5). Die Aussagen sind widersprüchlich in der Frage, ob Meinhardt im Auftrag oder auf eigenen Vorschlag hin an diesen Abteilungseinrichtungen beteiligt war. 212 Vgl. z.B. Organisationsplan Linde Güldner Nr. 6660315, März 1966. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 213 Vgl. Herzog (2008b). 214 Organisationsplan Zentralverwaltung 1961: Direkt unter dem Vorstand gab es die Stelle Werbung und Presse. Vgl. die Aussagen Johannes Wucherers, dem damaligen Vorstandsvorsitzenden, mit „würdiger“ Reklame für Linde in die Welt herauszugehen, die sich auf den Unternehmensgründer zurückverfolgen lässt: „Die Werbetätigkeit der Gesellschaft Linde in den Jahren 1887 bis 1937. Bemerkungen zu einer Ausstellung im Dr.-Friedrich-Linde Haus, März 1965“. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 215 Vgl. Brief Simons an den Vorstand, Betr.: Organisation der Zentralverwaltung, 28.12.1962. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden.
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Den Bedarf einer Marktforschungsabteilung begründete Meinhardt mit den Veränderungen des Marktes. Zu der Werksgruppenautonomie und der damit verbundenen Geschäftsführung heißt es: „Bisher hat sich die Gesellschaft Linde eine solche Unternehmenspolitik leisten können. Die Produktion konnte gar nicht schnell genug gesteigert werden, um die Nachfrage auf dem Markt zu befriedigen. Die Frage der Wirtschaftlichkeit stand nicht an erster Stelle. Heute hat sich das Bild auf dem Markt, zumindest für einzelne Sparten geändert. Wir stehen vor dem Problem, Nachfrage für unsere vorhandene Produktions-Kapazität zu schaffen.“216
Diese Einsicht war allerdings, als die Abteilung ihre Arbeit aufnahm, längst nicht überall vorhanden. So glichen Bezeichnungen wie Marktforschung oder Marketing, die heute selbstverständlich erscheinen, damals einem Buch mit sieben Siegeln: „...Marktforschung war ein Begriff, also Marketing kannte man fast gar nicht, Marktforschung, Produktforschung das waren so ganz neue Begriffe und man meinte also, man muss ja ein bisschen mit der Zeit gehen, wahrscheinlich und ein bisschen modern sein: Also schaffen wir uns mal (...) Marktforscher an (lacht)“ (IO-12).
217
Auch dieses Ziel musste gegen gewisse Widerstände, zumindest gegen eine Form der Gleichgültigkeit und/oder reichlichen Unverständnisses, durchgesetzt werden. Mit dem damals neuen Begriff des Marketings konnten selbst die Werksgruppenleiter wenig anfangen und die Vertreter der Marketingabteilung hatten Mühe bei ihrer Überzeugungsarbeit: „Damals als junger Mann habe ich mich in Sürth vorgestellt und dem damaligen Werksleiter erzählt, was nun Marktforschung, Produktforschung und Marketing ist. Nach fünf oder zehn Minuten hat er gesagt: ‚Wir gehen jetzt mal in die Fabrik und dann zeige ich Ihnen mal was.’ Und dann sind wir da hingegangen und da waren die Horizontalbohrmaschinen und er hat gesagt: ‚Sehen Sie, da gehe ich jeden morgen dran vorbei und da weiß ich genau, wie weit der Stand der Bearbeitung ist.’ Das war für ihn Markt- und Produktforschung oder Marketing. Das war die Vorstellung! Man konnte sich gar nicht vorstellen, was man damit eigentlich machen konnte, machen sollte und auch was wichtig war. (lacht).
216 „Aktennotiz Betr.: Organisation“ (Meinhardt an Ombeck und Simon), 20.05.1961, S. 3. 217 Noch in den 1970er Jahren kam es zu Missbilligungen der Branche, Marketingmitarbeiter im Gasegeschäft einzustellen (IMEZ-82,83).
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Ebenfalls heißt es, dass selbst Oetken und Brandi die Marktforschung mit Skepsis betrachteten. Speziell in der Zentralverwaltung stellte sich die Situation für die damals neu eingestellten Mitarbeiter so dar, dass sie einer doch überwiegend älteren Generation gegenüberstanden, die sich nicht nur im damaligen „etablierten Vorstand“, sondern auch auf Hauptabteilungsleiter oder Bereichsleiter-Ebene wieder fand.218 Dennoch entwickelte sich mit der Marktforschung ein Aufbruch, der von Meinhardt und seinen Mitarbeitern im Rahmen ihrer Arbeit ausging. Auch wenn die Abteilungsbildungen Organisation und Marketing für die Wissensbasis in ihrer ersten Zeit noch keine große Rolle gespielt haben mögen, waren damit nicht unerhebliche Neueinstellungen verbunden. Das bezog sich allerdings weniger auf die Zahl der neuen Mitarbeiter, als auf deren Qualifikation, Herkunft und Ansichten. So waren einige der neuen Kollegen Studienfreunde von Meinhardt und die zweite dominante Koalition erweiterte sich in diesem Sinne nicht unerheblich. Die Arbeit der Marktforschung, die sich gezielt mit der Marktentwicklung in der Zukunft beschäftigte, trug wesentlich zur Wahrnehmung der Umwelt (zunächst für Kostheim und Aschaffenburg) bei. Neben den Veränderungen in der organisationalen Struktur der Linde AG gab es Änderungen organisationaler Handlungen, die sich besonders deutlich bei der Untersuchung des Outputs nachweisen lassen. 4.1.5 Output (1): Verkauf der Kühlschrankproduktion 1967 Zwei wesentliche Einschnitte verdeutlichen erste grundlegende Veränderungen des Outputs, die als Output 1 bezeichnet werden können: Der Einstieg in den Großanlagenbau und der Verkauf der Kühlschrankproduktion. Der Einstieg in den Großanlagenbau ist im Organisationslernen der LindeAG ein Sonderfall und soll hier als Exkurs erscheinen, da er über eine Kombination von Eigenschaften verfügt, auf die später wieder eingegangen wird: Er verlief äußerst schnell, zog direkt Konsequenzen aus den Umweltwahrnehmungen, zeugte von enormer Risikobereitschaft, brachte relativ bald befriedigende Erträge und schloss insgesamt als erste Reaktion auf operativer Ebene die werksgruppenintern vorhandenen Leistungslücken. Nachdem sich Linde Ende der 1950er Jahre im Anlagenbau für die Nutzung von Aluminium als Werkstoff entschied und die damit verbundenen Probleme in Kauf nahm – gleichzeitig verursachte dieser Schritt Schwierigkeiten bei der Übertragbarkeit auf die bisherige Anlagenbauweise – wurde auch der Einstieg in den Großanlagenbau beschlossen.
218 IS-98.
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Diese Entscheidung war für den Vorstand, unter Hermann Linde vorangetrieben, keine leichte, da sie Linde auf einen Schlag nicht nur vor zahlreiche Einzelprobleme stellte, sondern auch in ihrer internationalen Dimension zu sehen war und erhebliche Risiken barg.219 Die Umstellung auf den Großanlagenbau ließ Linde keinerlei zeitlichen Spielraum. In kürzester Zeit mussten sich die Mitarbeiter auf eine völlig neue Materie einstellen, was mit entsprechendem Wissensdefizit verbunden war. Das Unterfangen kostete viel Geld und war personalintensiv. Die LindeFührung unterstützte diese Entwicklung allerdings konsequent auch bei Misserfolgen. Die enormen Anstrengungen, welche die Mitarbeiter der Abteilung in jener Zeit auf sich nahmen, waren motiviert durch eine werksinterne Aufbruchstimmung und den Drang, gemeinsam in neue Wissensgebiete vorzustoßen.220 Der Output von Linde war in den 1960er Jahren auch von den Entwicklungen der Kühlschrankproduktion, die schließlich zu deren Verkauf führten, geprägt. Im Kältesektor hatte Linde drei Möglichkeiten, auf die Umweltwahrnehmungen und die Profidefizite zu reagieren: Man konnte aus eigener Kraft weiterarbeiten, sich mit geeigneten Partnern zusammenschließen oder die verlustbringenden Sparten kurzerhand verkaufen. Doch für das Management im Kältesektor kam das zunächst nicht in Frage.221 Hier galt die Kältebranche als Zukunftsmarkt. Durch eine möglichst breite Aktivität sollte das Risiko vermindert werden, so dass eine Produktreduzierung die Vergrößerung der Unwägbarkeiten bedeutete. Entsprechend der damaligen Vielfalt von Geschäftsfeldern ging ein Grundsatzpapier des damaligen Leiters der kaufmännischen Verwaltung in Sürth, Karlhanns Polonius, auch gar nicht mehr auf einen Verkauf ein und sah Linde vor einer „Schrumpfung oder Expansion“.222 Dabei nannte er drei Faktoren, die Linde daran hinderten, die Situation fundamental und langfristig aus eigener Kraft zu bewältigen: Linde hatte keine Ingenieure und Facharbeiter, es gab einen Mangel an Investitionsmitteln und es fehlte die Zeit für ein „Gesundschrumpfen“. Der Markt stellte Linde unmittelbar vor die Wahl als Full-Liner im Haushaltsgeschäft einzusteigen oder „als Welt219 Infolgedessen tauchten in relativ kurzer Zeit umfangreiche Leistungslücken auf. Sie waren in Einkauf, Sicherheit, Montage, Organisation, Fertigung, Transport und Vertragsabwicklung von Großaufträgen angesiedelt. 220 Vgl. Ranke (2003, 3 ff.) bzw. Interview Jakobsmeier: Bräutigam, März 2004, S.3. 221 Mainz-Kostheim setzte auf eine Expansion durch horizontale und vertikale Ausdehnung der Unternehmen mit der Folge, dass eine Aufgabe des Kältesektors für „völlig falsch“ gehalten wurde. Neuorganisation Kältesparte 3.1.1964, S. 2. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 222 „Gegenwart und Zukunft der Werksgruppe Kälte, Umsatz- und Ergebnisanalyse mit Ausblick auf die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten, April 1965“, S. 42. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. Zu Polonius: Linde heute 1978, 1, S. 13.
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firma Linde“ in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten.223 Mit internationalen Firmen, die ebenfalls Kältetechnik anboten, sollte die Expansion in Form einer Zusammenarbeit vorangetrieben werden, bei der Linde als deutscher Vertriebspartner auftreten konnte. Linde führte sowohl in den USA wie auch in Italien Gespräche über eine zukünftige Zusammenarbeit. Außerdem gab es Kalkulationen über ein erweitertes LindeHausgeräteprogramm und damit die Erforschung der Möglichkeiten, die sich für Linde als Full-Liner boten. Dabei sorgte die Marketingabteilung für die entsprechenden Informationen.224 Linde entschied sich schließlich für eine Zusammenarbeit mit Zanussi.225 Doch der Weg der Verhandlungen, die 1966 zwischen Linde und Zanussi geführt wurden, stand unter keinem guten Stern. Die unterschiedlichen Ansichten zur Verwendung des Namens Linde erschwerten die Verhandlungen. Nachdem sich die Firmen nicht einig werden konnten und die Verhandlungen schließlich eingestellt wurden, verliefen die nachfolgenden Gespräche mit der deutschen AEG reibungslos und vergleichsweise zügig. Zum Jahreswechsel 1966/67 wurde schließlich die Abgabe des LindeHausgerätegeschäfts an die AEG vollzogen, die sich mit 75 Prozent an der Linde Hausgeräte GmbH beteiligte. Erst relativ spät konzentrierte sich das Unternehmen in den Verhandlungen auf die Kühlschrankproduktion Mainz-Kostheim.226 Das lag auch daran, dass die Aktivitäten, sich mit ausländischen Kooperationspartnern auseinander zusetzen, ganz im Zeichen der Autonomie der Werksgruppen standen und teilweise nicht mit dem Vorstand abgestimmt waren. 223 Gegenwart und Zukunft der Werksgruppe Kälte, Umsatz- und Ergebnisanalyse mit Ausblick auf die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten, April 1965, S. 43. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 224 Vgl. Aktennotiz der Besprechung vom 8.5.1963 zum Thema „Neuordnung und Abgrenzung des Vertriebs Kleinkälte“, 14.5.1963). Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth. Da Linde ja nicht über eigene Zahlen und Berechnungsgrundlagen verfügte, musste man sich bei Waschmaschinen auf die schon im Markt agierenden Unternehmen AEG, Bauknecht, Neff und Zanussi beziehen (vgl. Lieferkosten für das erweiterte Hausgeräteprogramm, 23.6.1965; Lieferkosten für das erweiterte Hausgeräteprogramm, 29.6.1965, beide Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden). Im Bereich Marketing wurden Planspiele mit dem Wirtschaftswissenschaftler Ernst Dichter zur Zukunft der Kühlschrankproduktion angestellt. 225 Kleine deutsche Firmen waren nicht leistungsfähig genug und bei den großen vermutete Linde mangelndes Interesse, den Namen Linde entgegen der eigenen Marke zu stärken. An ausländischen Firmen kamen vor allem die italienischen in Betracht, die für die nächsten Jahre in Qualität und Preis am konkurrenzfähigsten eingeschätzt wurden, zumal sie dank staatlicher Förderungen der letzten Jahre über große moderne Produktionsstätten und ein gutes Arbeitskräftereservoir verfügten, was zu Kostenvorteile führte, die die deutschen Hersteller nicht bieten konnten (vgl. Linde-Dokument „Werksgruppe Kälte- Hausgeräte“, 12.7.1965, S. 9.ff. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden). 226 Aktennotiz zur „Zusammenarbeit Linde – Zanussi“, 13.7.1966. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden.
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Damit war das erste Mal in der Linde AG ein traditionelles und bedeutendes Produktsegment abgegeben worden. Die Entscheidung, die Hausgerätefertigung zu verkaufen, stellte auch ein einschneidendes Ereignis in der öffentlichen Wahrnehmung des Konzerns dar. Mit dem Weggang Lindes einziger Serienfertigung für den privaten Endverbraucher schwand das Unternehmen aus dem öffentlichen Bewusstsein.227 Dieser Einschnitt bedeutet, betrachtet mit dem Ausgangsmodell, das Ende eines ersten Durchlaufs sämtlicher Lernfaktoren. Mit dieser deutlich wahrnehmbaren Änderung des Outputs kann gleichzeitig die Trennung von zwei Zeiträumen (t0 und t1) verbunden werden. Die Zeitspanne t1 wird demzufolge zunächst wieder durch die organisationale Wahrnehmung der Umwelt dargestellt. 4.2 Der zweite Lernprozess von 1967-1984 4.2.1 Die Wahrnehmung der Umwelt (2) Zu den eher werksgruppenspezifischen Wahrnehmungen gehörte in Höllriegelskreuth die „Öl-Krise“, die Linde aufgrund seiner Grundwerte traditioneller Energiesparsamkeit als gewohnte Herausforderung empfand.228 Im Bereich Schweißtechnik stellte die Beziehung zur Konkurrenz allerdings ein Problem dar. Die Lieferanten waren selbst im Markt und so waren Gewinnspannen kaum möglich. Im Kältegeschäft hingegen konnte Linde allmählich eine Sättigung bei Kühlhäusern und Kälteanlagen feststellen. Nachdem in den 1970er Jahren das Kühlhausgeschäft florierte, zeigten sich zu Beginn der 1980er Jahre Abschwächungstendenzen.229 Es waren allerdings nicht die gewohnten Auftragseinbrüche, wie sie durch Ausfälle im Kühlgut, beispielsweise durch Misserfolge bei den Ernten,
227 Bereits 1936 fragte sich die Werkzeitung in Bezug auf Fragen, privat gestellt an die Mitarbeiter, zu den beliebten Linde-Kühlmöbeln: „Soll man während der Freizeit an die Arbeit denken?“ (1936, Nr. 7. S. 6). Die Bekanntheit der Marke nach dem Verkauf der Kühlschrankproduktion blieb entweder Fach- bzw. Industriekreisen oder einfach dem Zufall überlassen. Auch mit der Serienfertigung von Kühltheken für Supermärkte hatte Linde, wie alle anderen Anbieter auch, Probleme mit der öffentlichen Wahrnehmung. So konnte das Unternehmen sein Firmenzeichen an die eigenen Produkte nur sehr verhalten anbringen. Der Supermarkt wollte kein Linde-Markt sein, und es interessiert den Supermarkt-Kunden nicht, aus welchem Fabrikat er seine Tiefkühlprodukte nimmt. Linde wollte jedoch, wie andere Hersteller auch, wenigstens unterschwellig den eigenen Namen verbreiten. 228 Linde galt aufgrund der sorgfältigen Energienutzung etwa im Bereich der Kältetechnik seit jeher als „Energiefuchs“ (I25-2-5Kre –159). 229 Vgl. Geschäftsberichte der Linde AG (1980 ff.).
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zustande kamen, sondern der Rückgang der EG-Subventionen, der dazu führte, dass immer weniger Lebensmittel eingelagert wurden. 230 In den 1960er und 1970er Jahren waren viele bundesdeutsche Unternehmen an den Entwicklungen in den USA interessiert. Auch Linde erlangte neues Wissen aus den Vereinigten Staaten.231 Dieses spielte im Bereich Marketing eine wichtige Rolle in der Einschätzung der organisationalen Probleme. Auch wenn die Informationsgrundlage im Gegensatz zu heute relativ bescheidene Ausmaße annahm: „Klar hat man damals auch ohne Internet so ein bisschen was gelesen, was sich in den USA tut. Man hatte etwas ungläubig wahrgenommen, dass das auch mal nach Europa kommt“ (IMZ-74.). Dabei wird rückwirkend der Wechsel von der Technologie- zur Marktorientierung als relativ unreflektiert wahrgenommen: „Ich habe das damals nicht so gewichtet, aber im Nachhinein... Damals war ich begeistert von den Ideen aus Amerika mit der Unternehmensplanung und all diesen Dingen. Wahrscheinlich war die Lernkurve so, dass wir anfangen müssen mit einer neuen Organisation, jetzt fange ich an zu rationalisieren, wie Sie merken, wir müssen einen neuen Rahmen schaffen, eine neue Struktur, neue Spielregeln aufstellen und mit dem Rahmen einen, ich hätte fast gesagt Paradigmenwechsel, das klingt jetzt alles so bombastisch und rationalisiert, einen Paradigmenwechsel vornehmen, weg von der Technologie und hin zum Markt, zur Ökonomie. Das ist jetzt so im Nachhinein zu sehen, das habe ich damals nicht so klar gesehen, das gebe ich ganz offen zu. Damals war es nur so, dass irgendwas Neues, Besseres kam. Sie müssen auch die Zeit verstehen, Aufbruchstimmung, die Themen wie heute: Kriege ich einen Job nach dem Studium? Das war kein Thema, da wurde man gefragt: Ich hatte x-Alternativen“ (IMZ-72, 73).
Einen anderen Teil des Inputs machten weiterhin Unternehmensberatungen aus.232 Zwar waren diese Formen der Informationsaufnahme für Linde zum Ende der 1960er Jahre keineswegs neu, aber die Informationen waren es, und vor allem deren Nutzungspotenzial im Unternehmen begann Aussicht auf Erfolg zu verheißen. Obwohl Linde ab 1967 mit dem Verkauf der Kühlschrankherstellung 230 1972 verursachten in den Herbstmonaten die Missernten in fast allen europäischen Obstanbaugebieten spürbare Umsatzeinbußen. Geschäftsberichte der Linde AG (1972, S. 36). Witterungsbedingte Ausfälle gab es auch 1975 (Geschäftsberichte der Linde AG 1975, S. 47). 231 Vgl. US-Besuch Megerlin, 4.-7.7.1965, Akte „Werksgruppe Kälte“ 1965, A9, (A18: Inhalt des Aktes „Werksgruppe Sürth“ allgemein 1968). Vgl. Dienel/Herzog (2005). 232 Vgl. z.B. „Seminar im Haus der Technik in Essen am 4.11.1969 ‚Marketing in der Investitionsgüterindustrie, Praxis des Marketing für Investitionsgüter’, K. Scheck, Dipl. Volkswirt, Industrieberater, Essen“. Ebenso spielte die Gremienarbeit eine wichtige Rolle. Vgl. z.B. „Bericht über die Jahrestagung der ‚Deutschen Gesellschaft für Mineralölwissenschaft und Kohlechemie’ (DGMK) am 7. u. 8.10.1969 in Stuttgart“ Archiv Linde Höllriegelskreuth.
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eine erste „Notbremse“ gezogen hatte, waren die Verluste längst nicht ausgeglichen und auch in dieser Phase machte sich ein hässliches - weil existenzbedrohendes - Profitdefizit in der Umweltwahrnehmung bemerkbar. Ernste Anzeichen sprachen dafür, dass Linde übernommen werden sollte.233 Eine potentielle Übernahme betraf nicht nur Linde, sondern auch z.B. die beteiligten Geschäftspartner im Zusammenhang mit Lizenzverträgen. So kam es immer wieder darauf an, diese zu beruhigen und den versprochenen Erfolg nachzuweisen. Allerdings war Linde im Zusammenhang seiner diversifizierten Produktpalette für Kaufinteressierte nicht sonderlich attraktiv. Betrachtet man die Wahrnehmung der Umwelt zu Beginn dieser Phase, so kann davon ausgegangen werden, dass sich in einem Soll-Ist-Vergleich kaum eine extremeres Bild für die Linde AG vorstellen lässt: Die Organisation war existenziell bedroht. 4.2.2 Die Leistungslücken (2) Wenngleich die Abteilungen Organisation und Marktforschung bereits gegründet waren, so befanden sie sich noch am Anfang ihrer Aufgaben. Doch gerade in dieser Zeit nahmen deren Mitarbeiter zu den ernsten Signalen aus der Umwelt auch eklatante Leistungslücken im eigenen Unternehmen wahr. Diese können in Verhaltens- und Strukturdefizite unterteilt werden. 4.2.2.1 Verhaltensdefizit Diese Beschreibungen sind vor dem Hintergrund der starken Autonomie der einzelnen Abteilungen, vor allem deren Führungen zu sehen, denn diese waren formal kaum an die Zentralverwaltung gebunden. So waren die Werksgruppenleiter gleichzeitig Vorstandsmitglieder. Eine Beschreibung dieser Situation kommt kaum in den Dokumenten jener Zeit vor, so dass hier von Erzählungen ausgegangen werden muss, die von einer neutralen bis wertenden Einstellung zeugen. Aus der Perspektive der zweiten dominanten Koalition bedurfte Linde einer zentralen Führung in Zusammenarbeit mit dem Stammhaus in Wiesbaden. Um233 Vgl. „Interessiert sich MAN für Linde?“ Die Welt, 17.9.1969, „Notiz über Kooperationen von Bosch mit Linde FH“ vom 8.9.1969 und Niederschrift Besprechung Brandi, Wucherer, Simon, 3.7.1969.) Allerdings wurden schon vorher mehr oder weniger starke Bedrohungen durch Übernahmen wahrgenommen. Vgl. Brief Oetkens an Simon vom 4.11.1964 mit Anhang eines „Memorandums über die Entwicklung der Linde A.G. vom 27.12.1961“ Oetkens an den Vorsitzer und stellv. Vorsitzer des AR. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden.
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gekehrt wurde besonders die selbständige Form der Arbeit in den Abteilungen bzw. Werksgruppen in den Vordergrund gerückt. Eine typische Darstellung dieser Zeit (und auch darüber hinaus) ist etwa jene, nach der die Vorstandsmitglieder, als „Herrscher in diesen ihren ‘Fürstentümern’ ohne zentrale Führung“ fungierten.234 In anderen Aussagen werden die Vorstellungen von einer idealen Unternehmensführung deutlicher. Dabei geht es um den Gedanken, als Unternehmen einheitlich zu agieren. So wird die Zusammenarbeit in der Führung als kaum vorhanden, das Verhalten der einzelnen Werksleitungen als unabhängig, eher noch als „egoistisch“ dargestellt bzw. eine Vorstandsarbeit beschrieben, die nicht abgestimmt war, „wie das eigentlich der Fall hätte sein müssen“.235 Außerdem wird die Rolle der Zentralverwaltung gegenüber den Abteilungen als schwach und unbedeutend angesehen. Die Mitarbeiter der ZV seien zwar geachtet worden, ihre Besuche in den einzelnen Abteilungen endeten jedoch letztlich wirkungslos: „Früher war es so, wenn jemand von der Zentralverwaltung in die Werksgruppe kam, dann war das der Abgesandte des heiligen Stuhls, der aber überhaupt nichts zu sagen hatte. Zu dem war man freundlich, den hat man zum Essen eingeladen, dem hat man erzählt, was vorher abgestimmt war, was die auch sowieso schon wussten, aber sonst war das ein Totläufer“ (IÜ-111).236
Eine typische Wahrnehmung in diesem Zusammenhang bezieht sich auf die Autonomie der Werksgruppe in Höllriegelskreuth. Hier entschied man überwiegend allein, was damit begründet wurde, dass dort mit den größten Gewinnen und dem meisten Geld auch die Macht in München lag und Gewinne nie richtig zur ZV durchdrangen. An dieser Stelle ist Ruckdeschels Position von Bedeutung, der vollständig eigenmächtig ein Werk in Schalchen aufgebaut hatte, ohne den Vorstand zu informieren. So wusste auch das Vorstandsmitglied Hermann Linde nichts von diesen Aktivitäten. Das Phänomen einer machtlosen Zentrale in Wiesbaden kann auch durch den Eindruck belegt werden, den die damaligen Vorstände hinterließen. Zu solchen Verhaltensdefiziten ist die Wahrnehmung zu zählen, dass Simon kaum koordinierende Arbeit geleistet haben soll. Eine Kontrollfunktion als stellvertretender Vorstandsvorsitzender, der zudem noch die Leitung des Stammhauses in Wiesbaden inne hatte, wird ihm kaum zugeschrie234 Linde AG (1994, 11), vgl. auch: IO-119; IE-M 61; M 23; M 21. 235 IS-29 vgl. auch IB-10, 12, 32, 46, 50; IÜ-15. 236 Das Bild ist unter Verkennung der Macht der Vertreter des Heiligen Stuhls gewählt oder nicht auf den Papst bezogen. Der Begriff Werksgruppe wurde in den 1960er Jahren eingeführt und löste die Bezeichnung „Abteilungen“ für die Fabriken vor Ort ab. Aus verständlichen Gründen wurde in den Interviews z.T. schon von Werksgruppen geredet, auch wenn noch die (alten) Abteilungen A-D gemeint waren.
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ben.237 Außerdem galt Wiesbaden nicht gerade als Förderstätte für Innovationen und Investitionen. Unternehmensrisiken wollte man sich nur äußerst ungern aussetzen. Ein weiteres grundsätzliches Problem im Führungsverhalten wird auch in der Tatsache gesehen, dass Vorstände und Aufsichtsratsmitglieder alt waren. Dieses Phänomen trat bei Linde allerdings seit jeher auf.238 Diese Aussagen zur Führungsschwäche des Linde-Vorstands der 1950er und frühen 1960er Jahre decken sich mit dem Eindruck des Aufsichtsrats aus jener Zeit. Die zweite dominante Koalition sah die Führung von Linde als ständig wachsende Gefahr.239 Zudem wollte und konnte sich die Unternehmensführung nicht gegenseitig kontrollieren. Informationen über die anderen Werksgruppen waren nicht erwünscht und werkseigene Angaben wurden nur ungern gewährt. Insgesamt wurden bei Linde bis Ende der 1960er mehrere Ursachen einer schwachen Konzernleitung ausgemacht. So fehlte ein zentral gesteuertes Budget, es fehlte auf Werksgruppenebene ein Bewusstsein für ein gemeinsames Unternehmen, Investitionen und ein progressiv unternehmerisches Handeln wurden gemieden und wesentliche Informationen aus den Abteilungen waren nur schwer zu bekommen. Wenn der Führung also Fehler im Sinne eines Gesamtkonzerns nachgesagt werden können, dann im Unterlassen eines freiwilligen, gemeinsamen Handelns, so dass in struktureller Hinsicht in dieser Zeit nur von einem Verhaltensdefizit gesprochen werden kann, da es Regeln, gegen die hätte verstoßen werden können, nicht gab. Verhaltensdefizite dieser Art wurden schwerpunktmäßig von der zweiten (erstarkenden) dominanten Koalition wahrgenommen und als organisationale Probleme definiert.
237 Vgl. Brief Oetkens an Simon vom 4.11.1964 mit Anhang eines „Memorandums über die Entwicklung der Linde A.G“ vom 27.12.1961 Oetkens an den Vorsitzer und stellv. Vorsitzer des AR. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 238 Vgl. Dienel (2005, 216). 239 In einem Linde-internen Schreiben heißt es zu den bisherigen Vorstößen in Richtung Reorganisation des Vorstands: „ Die Absprache über die Zusammenarbeit im Vorstand, die in der Vorstandssitzung am 18. Juli 1961 getroffen wurde, kann man lediglich als ein Programm werten, weil der Erfolg dieser Regelung vorwiegend von dem entsprechenden Verhalten der einzelnen Vorstandsmitglieder, nicht aber von den Befugnissen des Vorsitzers abhängt. (...) Es muß nämlich künftig vermieden werden, dass die für die einzelnen Sparten verantwortlichen Mitglieder des Vorstandes geschäftliche Dispositionen treffen, für die das Gesamtunternehmen finanziell erheblich belastet wird und die Liquidität sich weiter verschlechtert“ „Vorschläge zur Änderung der Organisation des Vorstandes der Gesellschaft Linde“, o. J. [1962]. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth.
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4.2.2.2 Strukturdefizit Die Aufbauarbeit der Organisationsabteilung war in erster Linie davon geprägt, die vorhandenen Strukturen überhaupt erst einmal zu erfassen und dafür zu sorgen, dass die Zentrale in Wiesbaden einigermaßen anerkannt wurde und einen ersten Überblick von den organisatorischen Begebenheiten in den einzelnen Werksgruppen bekam. Aus Sicht der neuen Mitarbeiter in der Zentralverwaltung war die Möglichkeit, Strukturen zu erfassen bzw. aufzubauen oder Strukturdefizite zu erkennen in zweierlei Hinsicht erschwert. Zunächst waren die Möglichkeiten, Einblicke zu erlangen, je nach Werksgruppe unterschiedlich groß. Die Bereitschaft „sich in die Karten schauen zu lassen“ war bei den erfolgreichen Arbeitsgebieten besonders gering. Insbesondere München war daher für die Wiesbadener ein nur schwer ergründbares Terrain. Außerdem unterschieden sich die organisatorischen Bedingungen im operativen Geschäft, so dass die Serienfertigung über veränderte Strukturmaßnahmen stärker zu beeinflussen war als etwa der projektbezogene Anlagenbau in München. Für die Organisationsexperten war daher die Ablauforganisation in Sürth und Aschaffenburg besonders relevant. Im Bereich Kältetechnik war Linde schon immer von Schwierigkeiten „gebeutelt.“240 Diesem „Sorgenkind“ (Dienel 2005, 220) sollte geholfen werden, indem die Abteilung Kältetechnik (Großkälte) nach Sürth verlagert wurde. Doch löste diese Maßnahme nicht die Probleme, die im Laufe der 1960er Jahre immer größer wurden.241 Aus Perspektive der Organisationsabteilungen, die bei diesen Veränderungen zum Teil schon gegründet waren, war es vor allem die erfolglose Unternehmensführung in Sürth, die mit diesen Maßnahmen unbeholfen reagiert hatte.242 Organisatorisch gesehen waren diese Veränderungen jedoch die ersten Brüche mit der Tradition in der Nachkriegszeit – hatte doch Carl von Linde einst selbst die Großkälte in Wiesbaden begründet – und ein Zeichen erster Rationalisierungsbemühungen. In struktureller Hinsicht erlangten die Schwierigkeiten in den Jahren 1965-67 ihren Höhepunkt. Obwohl die Interview-Aussagen etwa zur Qualität und Struktur des Kundendienstes unterschiedlich sind, weisen Dokumente eindeutig die eklatanten Missstände im Bereich der Kühlmöbel auf.243 240 IFO-86,87. 241 „Die Übersiedlung der Großkälteabteilung nach Sürth und die Verlegung des Verkaufs Gewerbeserienmöbel nach Kostheim hat Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der Zuständigkeiten der Niederlassungen Sürth und Kostheim gebracht“ (Protokoll des erweiterten Vorstands vom 8.9.1963, Punkt 4. Vorstandsarchiv Linde AG). 242 IÜ-7; IE-115. 243 „Der auffallend starke Rückgang des Kühlmöbel-Verkaufs an unsere Belegschaftsmitglieder gibt uns Veranlassung, Ihre Aufmerksamkeit auf beiliegenden ‚Situationsbericht’ unserer Abteilung MWE 6 und den daraus resultierenden, schädlichen Einfluß auf die weitere Entwick-
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Im Bereich Maschinenbau waren strukturelle Mängel vorhanden. So heißt es über die Probleme damals: „Der Maschinenbau war nachteilig organisiert. Der Vertrieb des Maschinenbaus wurde durch Atlas Copco vorgenommen. Wir hatten also nur die Entwicklung und Produktion und deshalb eine außerordentlich schwache Position. Jede Reklamation und schließlich auch eine die nicht durch Linde verursacht war, fiel auf Linde zurück. Wir hatten keine vernünftige Planung bzw. Umsatzplanung. Das war also auch nicht gut“ (IÜ-5).
Ebenso im anderen Arbeitsbereich, der sich mit Serienfertigung befasste, dem Güldner-Werk in Aschaffenburg, wird die Organisation in den 1960er Jahren als desolat bezeichnet. Aus Sicht der Organisationsabteilung in Wiesbaden fehlte Linde zu Beginn der 1960er Jahre nicht nur die Dokumentation für spezielle Arbeitsschritte in den Werksgruppen, sondern zudem eine werksgruppenübergreifende einheitliche und aktuelle Beschreibung der Führungsstruktur. Linde hatte dies zuvor eher sporadisch verfolgt: „Früher war das alles schwammig. Da gab es auch kein Organigramm, so dass man zur Verabschiedung eines Vorstandsmitglieds auch nicht das Lineal anlegen konnte, um zu sagen: alle Hauptabteilungsleiter! In dem früheren Organigramm, wenn es überhaupt eins gegeben hat, da ging es nur nach der Nase, wer wird da eingeladen und wer nicht“ (I08K-137).
Es gab bis Anfang der 1960er Jahre nur wenige Organisationspläne, die, entgegen dem späteren Schablonenverfahren, von Hand gefertigt wurden. Obwohl die Abteilung Organisation den Befugnisumfang, der von der Unternehmensberatung Birnmeyer angedacht war, nicht erhalten hatte, ließen sich die Erkenntnisse selbst aus einem weniger breiten Kompetenzspektrum nicht mehr zurückhalten. Meinhardt, der bereits 1961 die umfangreichen Probleme längst nicht mehr auf organisatorische Fragen begrenzt sah, bemerkte daher in einer Aktennotiz an Ombeck und Simon die fundamentalen Schwächen der damaligen Führungsor-
lung des Kühlmöbelgeschäftes zu lenken. Durchgreifende Maßnahmen zur Änderung erscheinen uns zwingend erforderlich. Die zum Teil sehr massiven Beschwerden und Reklamationen über den Kundendienst beruhen ausschließlich auf den Angaben der Betroffenen, für deren Objektivität wir natürlich nicht die volle Gewähr übernehmen können“ (Brief an Dir. Dr. Polonius vom 22.12.1967, Betr.: Kühlmöbelgeschäft 1967, vgl. auch entspr. Schreiben des Betriebsrats Schalchen vom 23.11.1967). Zu Problemen in der Geschäfts- und Personalpolitik Sürth: Brief Wucherers an Oetken in Kopie Simon und Brandi vom 21.10.1966 „Betr.: Geschäftspolitik des Werkes Sürth“. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth.
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ganisation. In diesem Zusammenhang erläutert er die Schwierigkeiten seiner Arbeit: „...So berichten z.B. die dezentralen Organisationsstellenleiter oft nicht offiziell von organisatorischen Fehlern in der Niederlassung, weil sie befürchten, dass ihr Vorgesetzter ihnen dies übelnimmt. Dies war bisher in mehreren Niederlassungen der Fall. Die Organisationsstellenleiter unterrichteten mich zwar mehrfach, sagten aber im selben Augenblick, dass ich dies nicht verwenden soll, da man sie als Spione ansehen würde.“ 244
Diese Äußerungen zeugen einerseits von der tiefen Kluft, die zu Beginn der 1960er Jahre zwischen den Werksgruppen und der Zentrale herrschten. Sie machen aber andererseits auch deutlich, wie schwierig es für die Organisationsabteilungsleiter war, anerkannt zu werden, da sie ja nur beratend tätig sein sollten. Darauf weist Meinhardt hin, wenn er schreibt, dass die bisherigen Teilerfolge nur geschehen konnten „weil die zentrale Organisationsstelle im Gegensatz zum Vorstandsbeschluß als Exekutivorgan des Vorstands in Wiesbaden auftrat.“245 Die eigentlichen Schwächen bestanden für Meinhardt jedoch in dem Führungsverhalten bzw. der Führungsstruktur von Linde. So ging es nicht nur um die Probleme der Gesellschaft Linde, auf dem Markt adäquat zu agieren, sondern darum, die Praxis autonomer Niederlassungen zu verlassen und zu einer neuen Führungsorganisation zu gelangen: „Ist es nicht gerade jetzt Zeit, wo drei von unseren Niederlassungen (Aschaffenburg, Kostheim und Sürth mit Großkälte) keinen Gewinn oder keinen nennenswerten Gewinn mehr bringen, den veränderten Verhältnissen auch mit einer diesen Verhältnissen besser angepaßten Führungsorganisation zu begegnen?“246
Der konkrete Vorschlag folgt auf dem Fuße: Eine starke Generaldirektion („Vorstandsvorsitzender und Kaufmännisches Vorstandsmitglied“) sollte mit „Überwachungs- und Anweisungsfunktionen“ ausgestattet die Bereiche Organisation, Produktauswahl, Investitionen und Finanzen führen. Dazu sei eine Stabsabteilung von etwa 15 Personen nötig, die sich den Aufgabengebieten der Organisation, Betriebswirtschaft, Revision, Marktforschung, Werbung und Investitionsplanung widmen würde. Die Organisationsstellen der Niederlassungen würden als 244 „Aktennotiz Betr.: Organisation“ (Meinhardt an Ombeck und Simon), 20.05.1961. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. Als Anmerkung heißt es dort: „Der Verfasser dieser Aktennotiz möchte nicht als notorischer Besserwisser erscheinen. Aber auf Grund meiner Tätigkeit in den letzten Jahren sehe ich große Schwierigkeiten auf Linde zukommen, auf die ich mich hinzuweisen für verpflichtet halte“. 245 Ebd. 246 Ebd.
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„zweckmäßige Außenstellen“ der zentralen Stabsabteilung fungieren und die jeweiligen Vorstandsmitglieder wären weiterhin für ihre Niederlassungen verantwortlich „allerdings nicht mehr so uneingeschränkt wie heute.“ 247 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass neben den Strukturdefiziten in den Niederlassungen, auch auf der Führungsebene strukturelle Probleme definiert wurden, die weitere Leistungslücken deutlich machten. So positionierte sich Meinhardt nicht nur als Aktivist einer Strukturveränderung bei Linde, sondern auch als Verfechter einer starken zentralen Führung, der die Gesellschaft Linde als ein Unternehmen begriff und damit für eine neue Ära nach jener der „Fürstentümer“ stand. 4.2.2.3 Von der Marktforschung zum Wissenserwerb (2): das Strategiedefizit Noch vor 1964 reiften Erkenntnisse in einer Gruppe um Meinhardt heran, nach denen eine Konzeption für die Linde-Geschäftsfelder fehlte.248 Die zähen Verhandlungen um den Verkauf der Kühlschrankherstellung trugen nicht unwesentlich dazu bei. Es mangelte zunächst auf erster (operativer) Ebene an einer Entscheidung in den Werksgruppen z.B. bei der Frage: Sollen neben Kühlschränken von Linde noch weitere Whitegoods produziert werden?249 Auf zweiter Ebene fehlte für die Beantwortung dieser Frage eine Art Entscheidungshilfe, letztlich eine Strategie: „Wo will Linde eigentlich hin?“250 Auch in Aschaffenburg wurde die Erkenntnis gewonnen, dass allein aus den ehrlichen Bemühungen heraus, in die Gewinnzone zu gelangen, kein Erfolg zustande kommen würde. Die Marktforschungsabteilung prognostizierte keine realen Wachstumschancen. Also schloss man ganz neue Ideen ein und hinterfragte das bisherige Produktprogramm überhaupt.251 Es zeichneten sich Überle247 Ebd. 248 Diese Erkenntnisse werden hier Meinhardt und seinen Mitarbeitern zugeschrieben. Formell sind sie eher der Marktforschung zuzurechnen, informell im Sinne einer dominanten Koalition, jedoch auch anderen Abteilungen (v.a. den Organisationsabteilungen): vgl. dazu I20M-45, I29L-93, I21S-15. 249 IE-53; IO-13. Vgl. auch „Kommentar zur Planstudie über die Geschäftsentwicklung der Niederlassung Mainz-Kostheim vom Juli, ausgearbeitet im Oktober 1963 durch Zentralverwaltung und Niederlassung, 16.10.1963“, Aktennotiz der Besprechung vom 8.5.1963 zum Thema „Neuordnung und Abgrenzung des Vertriebs Kleinkälte“ 14.5.1963) sowie Brief Wucherers an Oekten in Kopie Simon und Brandi vom 21.10.1966: „Betr.: Geschäftspolitik des Werkes Sürth“. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 250 I29L-189. Vgl. auch I28M-55; IB-10, 46; IO-191-193. 251 Diese Überlegung war für Linde Anfang der 1960er Jahre wirklich neu. Sich von Produkten zu trennen war in der Unternehmensgeschichte bisher kaum nennenswert vorgekommen. Eine ers-
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gungen ab, nach denen die bis dahin als Experiment verstandene Technik der Hydraulik ausgebaut und als innovatives Produkt vorangetrieben werden sollte. Sogar für München kann das gleiche Problem, ein Strategiedefizit, festgestellt werden. Die Herausforderung, im Höllriegelskreuther Anlagenbau in das weltweite Großanlagengeschäft einzusteigen, „sprengte“ die dortigen familiären Vorstellungen der bisherigen Unternehmensgröße: „die Schwierigkeit kam natürlich als die Anlagen größer wurden und unsere FirmenPhilosophie zu der Größe der Projekte gar nicht mehr gepasst hat. Wo eine Einheit statt 20 Millionen sagen wir einmal 200 Millionen gekostet hat. Das hat sich dann in Prozenten aufgeschaukelt und dafür war die Firma Linde am Anfang auf alle Fälle nicht gerüstet. Nicht gerüstet als Familienunternehmen, als solide denkende Menschen. Ich sage das jetzt einmal so. Heute ist das eher verpönt, damals war das schon in Ordnung: solide denkende Menschen, ein bisschen hinter der Zeit noch“ (I5SN19, 21).
Konkretere Erkenntnisse liefen darauf hinaus, die zukünftigen Geschäfte von Linde nur dann erfolgreich führen zu können, wenn man gezielt versuchen würde, die Marktführerschaft zu erringen. Dabei wurden diejenigen Bereiche ins Auge gefasst, die über die größte Wahrscheinlichkeit verfügten, sich auf dem Markt durchsetzen zu können. Insgesamt offenbarte sich für die Marketingabteilung eine neue Leistungslücke: Linde brauchte eine Unternehmensstrategie. 4.2.3 Der Wissenserwerb (2): Reaktionen auf Leistungslücken durch eine Unternehmensstrategie Obwohl bis Mitte der 1960er Jahre ein Strategiedefizit bei Linde ausgemacht wurde, waren die Vorstellungen von einer Konzeption oder gar einer Strategie noch unklar. Das ist insofern verständlich, als dass die Bedingungen in der Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen für solche Ansätze nicht gerade günstig te Überlegung, das Portefeuille der Linde-Gesellschaft zu ändern, findet sich in Meinhardts Aktennotiz an Ombeck und Simon: „...Jede einzelne Niederlassung versucht nun, dieses Problem auf eigene Faust zu lösen. Sollte man nicht zweckmäßiger den Markt für alle Produkte, die Linde herstellt, nüchtern und sachlich untersuchen und unter Umständen sogar Produkte streichen und die vorhandenen finanziellen Mittel für den Ausbau unserer auf lange Sicht gesehenen rentablen Fertigungen verwenden?“ (Aktennotiz von Meinhardt an Ombeck und Simon: Betr.: Organisation, 20.05.1961, S. 3.). Ende diesen Jahres verfasste Oetken sein Memorandum mit ähnlichen Gedanken (Brief Oetkens an Simon vom 4.11.1964 mit Anhang eines „Memorandums über die Entwicklung der Linde A.G“ vom 27.12.1961 Oetkens an den Vorsitzer und stellv. Vorsitzer des AR. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden).
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waren. Selbst Meinhardt, der getrost als Vordenker bezeichnet werden kann, drückte sich, gerade 30-jährig, 1961 noch ganz vorsichtig aus, obgleich er eine unternehmerische Selbstverständlichkeit bündig postulierte: „Wenn man es als richtig ansieht, unsere Niederlassungen sich nicht selbst zu überlassen, sondern die Gesellschaft Linde nach einem Konzept – nämlich dem der Gewinn-Maximierung des Gesamtunternehmens auf lange Sicht – zu führen, ist es erste Voraussetzung, die Organisation zentral zu steuern.“252
Nicht nur die Gewinnmaximierung, sondern auch die Perspektive eines Gesamtkonzerns, einer gemeinsamen Unternehmensstrategie, schälte sich bis Ende der 1960er Jahre immer stärker heraus. Im Zeitraum von 1965-1967 waren es vor allem Oetken und Brandi, die sich nachhaltig für Meinhardt einsetzten. Das wird besonders deutlich durch die Hintergründe, die zu Meinhardts Besuch in den USA führten. Meinhardt, den Oetken und Brandi bereits vorher kennen gelernt haben sollen, bekam 1966/67 von Oetken und Brandi ein Angebot, in den Vorstand zu wechseln. Beabsichtigt war dessen sofortige Übernahme des Kältesektors in Köln. Dies wurde im Rahmen einer „erweiterten Vorstandssitzung“ zur Sprache gebracht, einem eher inoffiziellen Gremium, das eigens eingerichtet war, um die restlichen Aufsichtsräte nicht am Tisch zu haben.253 Oetken, Brandi und Holzrichter schlugen nun Meinhardt den Vorstandsposten vor, obwohl die restlichen Anwesenden des Vorstands weder gefragt noch informiert worden waren. Doch dieses Angebot schlug Meinhardt mit der Begründung aus, die Umstellungsarbeiten in Aschaffenburg seien noch nicht in vollem Maße verwirklicht, so dass es für ihn unmöglich sei, sich neuen, anderen (Vorstands)Aufgaben zu diesem Zeitpunkt zu widmen. Für Meinhardt sei es die Wahl zwischen einer Werkserhaltung und einem Vorstandsposten gewesen. Ein halbes Jahr später kam wieder ein Angebot von Oetken und Brandi mit einer Kombination aus Fortbildung und Führungsauftrag. Meinhardt sollte Linde mit einer neuen Struktur aus den USA aus dem Tief holen. Hintergrund war ein Plan Oetkens. Danach sollte Meinhardt mit einem konkreten Vorschlag aus den USA heimkehren, der eine neue, bessere Unternehmensstruktur enthielt, da man einerseits davon ausging, dass diese bei Linde 252 Aktennotiz Betr.: Organisation von Meinhardt an Ombeck und Simon, 20.05.1961, S. 3. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 253 Vgl. Abb. 11 und I28M-66,67. Der erweiterte Vorstand, ein typisches Indiz für eine dominante Koalition, wurde von Oetken vorgeschlagen. Vgl. „Notiz betr. Besprechung Simons mit Oetken am 29.8.1966“. „Als Gäste“ sind hier Otto Meyer, Hugo Ombeck, Rudolf Wucherer, August Oetken und Otto Hippenmeyer zu nennen. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden.
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unzureichend sei, andererseits den amtierenden Vorstand für unfähig hielt und schließlich in Meinhardt einen geeigneten Kandidaten sah, der sich nicht nur in der Arbeit in Aschaffenburg und der Zentralverwaltung bewährt habe, sondern dem auch zugetraut wurde, diesen Vorschlag Linde-intern durchzusetzen. Dazu war nach der Rückkehr ein Eintritt Meinhardts in den Vorstand geplant. Nachdem Meinhardt seinen Vorschlag Oetken und Brandi aus dem Aufsichtsrat vorgelegt haben würde, sollte dieser anschließend vom Vorstand umgesetzt werden. Dazu war die Unterstützung durch einen Partner geplant, der als Nachfolger von einem Vorstandsmitglied ebenso in den Vorstand kommen sollte wie Meinhardt selbst.254 Das Angebot, unter diesen Bedingungen nach Amerika zu gehen, nahm Meinhardt schließlich an.255 Ein entscheidender Schritt auf dem Weg einer Unternehmensstrategie und damit auch zur Veränderung der Führungsstruktur ist zweifelsfrei der dreimonatige Aufenthalt Meinhardts in den USA im Jahre 1968.256 Neben relevanten Aspekten für die Zentralverwaltung, wie die Übernahme der wichtigsten Stabsressorts, dem Firmen-Hauptgebäude als Vorbild für Linde, und dem Einfluss auf das Unternehmen mittels Stabsstellen, gab es Anregungen zum Führungsstil und für die Organisationsstrategie. Während die Erkenntnis bzgl. des Führungsstils insbesondere von der Kompromisslosigkeit bei Führungskräften geprägt war, waren es vor allem auf organisationsstrategischer Seite folgende Punkte, die Meinhardt in den späteren Jahren vorantrieb257: 254 I28M-116; I28M-10. Ähnliche Planspiele im Sinne einer dominanten Koalition sind für 1967 nachweisbar. Allerdings handelt es sich hierbei um ein wesentlich umfangreicheres Personaltableau und erstreckt sich bis 1973. Vgl. „Gedanken über die künftige Zusammensetzung des Vorstandes“/ „Gedanken über künftige Besetzung des Aufsichtsrats mit Herren, die von der Hauptversammlung gewählt werden“ undatiert [1967], o. Verf. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 255 Diese Version aus den Interview-Aussagen widerspricht allerdings jenen aus den Akten, nach denen sich Meinhardt selbst noch 1968 nicht genau über den Einzug in den Vorstand im Klaren gewesen sein soll. Vgl. Brief Simons an Oetken vom 19.7.1968. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth. 256 Schon 1964 berichtete Meinhardt über US-Firmen (vgl. Kurzdarstellungen verschiedener USOrganisationen unter Aspekten der Struktur- und Führungsorganisation: „Besuch der IBM, WTC. New York, 25.9.1964”, “Besuch des American Institute of Management, New York, 1.10.1964”, “Besuch der Union Carbide Corp., New York, 2.10.1964”, „Besuch der EMHART Corp. Connecticut, 8.10.1964”, “Besuch der EATON MANUCATURING Co., Cleveland, 29.9.1964”, “Besuch der THOMPSON RAMO EOOLDRIDGR Inc., Cleveland, 29.9.1964”, Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden). 1968 besuchte Meinhardt die USA erneut (vgl. IO-102, Linde AG (1994, 8), Industriemagazin, Februar 1984, 58; „Referat von Herrn Dr. Meinhardt vor Leitenden und AT-Angestellten der ZV am 13.5.1985 zum Thema ‚Geschäfts- und Führungsgrundsätze der Linde AG sowie Aufgaben und Stellung der Zentralverwaltung’ “ 257 Vgl. Industriemagazin, Februar 1984, 62; Linde AG (1994, 8 ff.); Meinhardt (1988).
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Konzentration auf wenige gleichstarke Arbeitsgebiete, sich stützende Unternehmenseinheiten durch verschiedene Konjunkturzyklen, das Divisionalitätsprinzip, eine neue Vorstandsstruktur sowie, als gesamtes Leitziel, in den jeweiligen Arbeitsgebieten die Marktführerschaft zu erringen.
Hinter der Konzentration auf wenige gleichstarke Arbeitsgebiete steckte die Überlegung, die schon während der Arbeiten in den Marketingabteilungen entstand: Ein Unternehmen könne nur dann effektiv arbeiten, wenn es sich auf wenige Arbeitsfelder beschränken würde. Es ging darum, sich nicht zu „verzetteln“ und gleichstarke Sparten zu formen, die in Art und Funktion eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen.258 Eine weitere Strategie bestand darin, sich stützende Unternehmenseinheiten zu schaffen. Das bedeutete, dass die angestrebten Arbeitsgebiete zwar in etwa gleich stark, aber jeweils auch mit unterschiedlichen Konjunkturzyklen ausgestattet sein sollten. Berücksichtigt wurde dabei, dass die Erträge der einzelnen Gebiete zu unterschiedlichen Zeitpunkten in eine gemeinsame Kasse flossen und damit auch Bereiche finanziert werden konnten, die gerade Investitionsbedarf hatten, ihn evtl. aber nicht selbst decken konnten.259 Im Vordergrund stand also die Vorstellung eines Gesamtunternehmens und nicht die autonome Sammlung von Werken unter einem Dach.260
258
Angesichts der Tatsache, dass Linde - mit seinen damals 11 Arbeitsgebieten auch oft als „Gemischtwarenladen“ bezeichnet - über viele einzelne, völlig unterschiedliche Unternehmungen verfügte, war diese Erkenntnis relevant. In diesem Zusammenhang wurde von einer „Bereinigung des Portfeuilles“ (Meinhardt 1988) gesprochen. Danach waren z.B. DienstleistungsAktivitäten (etwa dem Touristiksektor) ausgeschlossen. Im Sinne der Strategie wurde weit über den Untersuchungszeitraum hinaus nicht von einem „Mischkonzern“, sondern von einem „diversifizierten“ Unternehmen gesprochen (vgl. Meinhardt 1988, 137). 259 „Da haben wir mal dieses Mobile als Sinnbild gehabt, das haben wir, glaub ich, auch mal in der Werbung irgendwo gemacht. Das heißt also, der Gabelstapler ist relativ konjunkturempfindlich: Wenn die Konjunktur fällt, geht er auch relativ stark mit ab, wenn sie steigt, geht er auch stark mit hoch. Der Anlagenbau wird dadurch weniger berührt, das sind langfristige Projekte, die teilweise über zwei, drei, vier Jahre gehen. Von der Planung bis zur Vollendung sind das ja Großprojekte. Wenn ich eine Chemie-Anlage baue, irgendwo im Iran, dann hat das mit der Konjunktur in Europa wenig zu tun“ (IO-204 f.). 260 Kennzeichnend für das Stadium, in dem sich die Strategieansätze zu jener Zeit befanden, ist die Aussage, dass noch nicht klar war, um welche Richtgröße es sich eigentlich handeln sollte: „Meinhardt hatte die Idee, lasst uns auf die vier konzentrieren, also Anlagenbau, Gase, Gabelstapler und Kältetechnik, die lang bis mittelfristig ein gleiches Gewicht haben sollten. Dabei wurde nicht klar definiert, ob Umsatzgewicht oder Ertragsgewicht“ (IMZ-44).
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Das Divisionalitätsprinzip der verschiedenen Konjunkturzyklen stand allerdings in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Vorstellung eines Gesamtunternehmens, und zwar insofern, als jede Sparte über die Unabhängigkeit verfügen musste, die nötig war, um eigenständig wirklich erfolgreich sein zu können. Motto hierbei war: Soviel Dezentralität wie möglich und soviel Zentralität wie nötig. Ausgangspunkt der Überlegungen zur Führungsstruktur war ein kleiner hochkompetenter Vorstand. Das einzelne Vorstandsmitglied sollte sowohl in einem der wenigen Arbeitsgebiete zuständig und fachkundig sein als auch in Generalaufgaben für die Firmenleitung arbeiten. Die Vorstandsmitglieder, deren Rolle sich als Bindeglied zwischen den Interessen der einzelnen Werke und den Konzerninteressen bezeichnen lässt, sollten intern einem Exekutivorgan (Vorstandsvorsitzenden) unterstehen und das unternehmensweite Organisationsziel, Marktführer auf allen Arbeitsgebieten zu werden, erreichen. Insgesamt ist die in der zweiten Phase entstandene Strategie von drei bedeutenden Eigenschaften geprägt. Sie ist relativ simpel und in sich schlüssig, d.h. die Aussagen stehen im Zusammenhang und bedingen sich gegenseitig, bilden also ein bündiges Konzept. Außerdem war sie zahlen- bzw. umsatz- und ertragsorientiert und damit (für Linde) innovativ. Für die theoretische Annäherung ist sie es auf eine ganz besondere Weise: Sie kann als erste regelrechte Strategie im Unternehmen überhaupt bezeichnet werden. Damit liegt ein besonderer empirischer Befund vor, da die Existenz von Strategien oft einfach vorausgesetzt wird, ihre Bildung jedoch all zu oft unberücksichtigt bleibt. 4.2.4 Der Entscheidungsprozess und das Erstarken der zweiten dominanten Koalition: Linde auf dem Weg zu einer neuen Führungsstruktur Im formalen Entscheidungsprozess sahen sich die Aufsichtsratsmitglieder und Vorstandsmitglieder, die nicht der zweiten dominanten Koalition angehörten, zunehmend mit ausgearbeiteten Vorschlägen konfrontiert, welche die Problemwahrnehmung der zweiten dominanten Koalition präzisierten und etablierten. Die zweite dominante Koalition agierte proaktiv: Oetken, Brandi und Holzrichter für den Aufsichtsrat, Wucherer und Simon für den Vorstand und Meinhardt als de facto Vorstandsmitglied seit 1965. Als der damals neue Vorstandsvorsitzende Wucherer 1961 erste Vorschläge zu einer Unternehmensreform entwarf,261 werden die Anregungen Meinhardts, 261 „Gedanke zu Punkt 21c) der Tagesordnung zur Vorstandssitzung am 6.12.1961 – Organisationsfragen“ von Johannes Wucherer; Auszüge aus dem Protokoll über die Vorstandssitzungen
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die ja bereits über ein halbes Jahr vorher an Ombeck und Simon gingen, eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben. Zu dicht an Meinhardts Vorschlägen und zu weit weg von Wucherers Interessen und dessen bisherigem Führungsstil ist dieses für Linde ja recht untypische Hervorheben einer zentralen Führungsorganisation, um als Wucherers ureigenster Impuls gewertet werden zu können. Wenngleich hier von einer dominanten Koalition als Triebkraft für den Entscheidungsprozess ausgegangen wird, so darf nicht der Eindruck entstehen, dass zwischen Aufsichtsrat und Vorstand, also innerhalb der dominanten Koalition, in gleicher Geschwindigkeit am gleichen Strang gezogen wurde. Zwar legte Oetken ebenfalls 1961 der Aufsichtsratsführung sein umfassend analysierendes Memorandum hinsichtlich der Situation von Linde vor, jedoch scheint es auf keinerlei Resonanz gestoßen zu sein. Erst 1964 „erwähnte“ Oetken es gegenüber Simon bei einem Treffen in Höllriegelskreuth, worauf er es ihm später zuschickte. Wie Oetken selbst bemerkt, bestünden „die darin erwähnten Probleme in gleicher Weise auch heute noch“.262 Bemerkenswert sind Simons Antworten: Für den Bereich Sürth sei Oetkens Beurteilung „zu optimistisch“ gewesen und so seien im Anlagengeschäft und zwar im Allgemeinen Maschinenbau wie im Kältebereich schlechte Ergebnisse zu sehen. Dies beruhe auf der Tatsache, dass man im Allgemeinen Maschinenbau Fehler bei der Auswahl der Erzeugnisse gemacht und im Kälteanlagengeschäft „die Entwicklung mit der Konkurrenz auf dem Weltmarkt nicht Schritt gehalten“ habe. Auch die Hinzuziehung Dritter sei problematisch, da die räumliche Fläche begrenzt sei und eine Übernahme auch deshalb unattraktiv sei, weil keine schwarzen Zahlen geschrieben würden. Ebenso heißt es für Aschaffenburg: „Ein Fremdbeteiligter wird nur dann an Güldner Interesse nehmen, wenn dieses Werk Erträge erwirtschaftet.“263 Aufschlussreich für Simons Position ist die Art seiner Reaktion. Hier entsteht der Eindruck, dass aus dem Behandelten überhaupt keine Konsequenzen hervorgehen werden. Vielmehr erscheint die Entgegnung auf Oetkens Memorandum als Ergebnis eines Fachdiskurses, der beiläufig geführt wurde und sich eher am 6.12.1961, 8. und 15.1.1962, und 15.1.1964, (Anlage 1). Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 262 Brief Oetkens an Simon vom 4.11.1964 mit Anhang eines „Memorandums über die Entwicklung der Linde A.G“ vom 27.12.1961 Oetkens an den Vorsitzer und stellv. Vorsitzer des AR. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. Auch wenn sich hier vermuten lässt, dass Meinhardt gewisse Impulse für Veränderungen in der Struktur gegeben hat, schließlich ist Tatsache, dass Meinhardts Papier auch in diesem Fall früher verfasst worden ist, spricht der inhaltliche Schwerpunkt eine andere Sprache. Oetken setzt nicht auf Struktursondern auf Produktänderungen und schließt zum ersten Mal auch den Verkauf als Mittel gegen die desolate Einnahmesituation nicht aus. 263 Ebd.
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mit der Frage beschäftigt, inwieweit Oetkens Einschätzungen von damals richtig sind. An dieser Stelle wird deutlich, was die Befragten meinen, wenn sie darauf hinweisen, wie schwierig es für Meinhardt und seine Mitarbeiter war, Dynamik in das Unternehmen Linde zu bekommen. Dabei wird von einem langen aufreibenden Prozess gesprochen. Das wird auch in der Entwicklung der folgenden Jahre deutlich. Dennoch oder gerade deswegen setzte ab 1964 eine regelrechte „Vorschlagswelle“ ein. Zu Beginn des Jahres 1967 blickte Linde auf einen mehrjährigen Entscheidungsprozess zurück, bei dem es um wesentliche Veränderungen im Vorstand ging. Diese betrafen hauptsächlich dessen Funktion bzw. die Aufgaben- und Kompetenzverteilungen der einzelnen Vorstandsmitglieder. Außerdem ging es um eine Verbesserung der Unternehmensplanung und die Umstrukturierung der Stabsstellen und eine einheitliche Unternehmenspolitik. Auf Grundlage der „Neugliederung der Unternehmensorganisation“, die als Kernkonzept des Strukturwandels bezeichnet werden kann, entschied sich die Linde-Führung für eine Strukturreform.264 Hermann Linde war zu diesem Zeitpunkt der jüngste Vertreter der ersten dominanten Koalition, die sich langsam aufzulösen begann. Die alten Vorstandsmitglieder, von denen gesagt wird, dass sie eine neutrale Position eingenommen hätten oder ihr Engagement in diesen organisatorischen Fragen entsprechend gering gewesen sei, da ihre Zukunft sowieso nicht mehr davon betroffen sein würde, schieden nach und nach aus. Auch die zweite dominante Koalition verjüngte sich. Im Laufe der 1960er Jahre verblasste die entscheidende Rolle des Aufsichtsrats nach der Absegnung einer grundsätzlichen Änderung der Vorstandsfunktionen, spätestens 1969/1970. Seit 1964 gehörte Ombeck nicht mehr dem Aufsichtsrat an, ebenso Oetken seit 1969. Brandi und Holzrichter waren nun Vorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender dieses Gremiums. 1968 begann außerdem die bis dahin kontinuierlich konstante Mitgliederzahl des Vorstands zu wechseln. Das Ausscheiden einiger Vorstandsmitglieder stärkte die bereits begonnene Entwicklung im Sinne der zweiten dominanten Koalition. Diese Entwicklung kam Meinhardt sehr gelegen, da er einen kleinen, aber schlagkräftigen Vorstand nach US-Vorbild wollte. 265
264 Vgl. „Neugliederung der Unternehmensorganisation“, 22.12.1966. und „Gedanken und Vorschläge über die Organisation des managements der Linde Aktiengesellschaft“, 9.1.1967, Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 265 „Die Entscheidung für eine neue Vorstandsorganisation ist von entscheidender Bedeutung. Der Zeitpunkt für eine Änderung ist jedoch jetzt günstig, da in den nächsten Jahren fast der gesamte Vorstand aus Altersgründen ausscheidet“ „Referat über den Aufenthalt bei der Firma Raytheon Company in Lexington, Massachusetts, USA in der Zeit vom 9. September bis 5. November 1968, mit Vorschlägen für Linde“, 29.1.1969, S. 23.
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Durch personelle und strukturelle Veränderungen in den folgenden Jahren gewann der Vorstand an Bedeutung. Mit Meinhardt, der schon früher für den Vorstand gehandelt wurde und Georg Plötz zogen nun zwei neue Mitglieder in dieses Gremium ein, während die alten Vorstandsmitglieder nach und nach ausschieden (Simon 1971, Wucherer 1972 und Pöhlein 1973). Das erste (und alte) Exekutivorgan löste sich mit dem Ausscheiden Simons und Wucherers auf. Während die Zahl der Vorstandsmitglieder in den 1960er Jahren sich auf etwa 6 einpendelte und 1970 einen Höchststand von 7 erreichte, nahm sie in den darauf folgenden Jahren ab und stellte sich 1974 bei vier Vorstandsmitgliedern ein. In Hermann Lindes Abwesenheit wurde die Stelle des Vorstandsvorsitzenden vom Vorstand abgeschafft, obwohl Meinhardts Vorschläge nach Vorbild eines Chairmans auch einen Vorstandsvorsitzenden vorsahen. 266 Unternehmensleitung: Dr. Wucherer Vors. Dr. Linde Dr. Meinhardt Plötz Pöhlein
Marketing:
Recht:
Dr. Metzler
Dr. Kleemann
Unternehmensplanung: Küster
Kfm. Verwaltung: Geuke
Personalwesen: Dr. Becker
Soziale Einrichtungen: Stadelhofer
Werksgruppe Tieftemperatur- und Verfahrenstechnik
Werksgruppe Technische Gase
Werksgruppe Schweißtechnik
Werksgruppe Sürth I
Werksgruppe Sürth II
Werksgruppe Güldner Aschaffenburg
Betreuendes Vorstandsmitglied: Dr. Linde
Betreuendes Vorstandsmitglied: Plötz
Betreuendes Vorstandsmitglied: Pöhlein
Betreuendes Vorstandsmitglied: Dr. Meinhardt
Betreuendes Vorstandsmitglied: Dr. Meinhardt
Betreuendes Vorstandsmitglied: Plötz
Betreuendes Betreuendes Vorstandsmitglied: Vorstandsmitglied: Dr. Hermann Linde Pöhlein
Geschäftsleitung: Jungmann Kneissl
Geschäftsleitung: Adam Braunschweig Eggendorfer
Geschäftsleitung: Dr. Ruckdeschel Dr. Rau
Geschäftsleitung: NN
Geschäftsleitung: NN
Geschäftsleitung: Dr. Huwendiek Dr. Lohse
Geschäftsleitung: Schlitt
Werksgruppe: Kühlhäuser
MATRA WERKE
Geschäftsleitung: Dr. Biederstedt Bolz
Abbildung 12: Organisationsplan der Linde AG, 1971 Linde erhob dagegen kein Einspruch, da er die Firmeninteressen nicht über seine eigenen stellen wollte. Dennoch waren harte Auseinandersetzungen um die Einflussnahme Wiesbadens, des Vorstands und der Geschäftsleitungen vorprogrammiert, da Linde faktisch als Vorstandsvorsitzender galt. Was im Exekutiv266 Auch Hermann Linde wurde ± allerdings erst 1969 – (auf Vorschlag Simons) in die USA geschickt, um ein neues Managementkonzept für Linde zu entwickeln. Vgl. „Niederschrift Besprechung Brandi, Wucherer, Simon“, 3.7.1969. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden.
4.2 Der zweite Lernprozess von 1967-1984
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organ der 1960er Jahre mit Wucherer und Simon verfolgt wurde, setzte sich Anfang der 1970er Jahre nur in Form einer ungenau formulierten SprecherFunktion fort. Während sich Linde z.B. auf den Hauptversammlungen in München zu den technischen Fragen äußerte, ging Meinhardt auf die kaufmännischen Aspekte der Linde AG ein.267 Zu Beginn der 1970er Jahre war die Bedeutung der ersten dominanten Koalition stark geschwunden und aus der zweiten dominanten Koalition wurde die dominante Koalition. 1971 lag die „Betreuung“ der Werksgruppen bei den Vorstandsmitgliedern (vgl. Abb. 12). Meinhardt kannte Pöhlein, der geschäftsführender Vorstand in Aschaffenburg war, schon seit langem, da er mit ihm eng und einvernehmlich an der Umstellung auf die Flurfördertechnik zusammengearbeitet hatte.268 Auch Plötz hatte ein außerordentlich gutes Verhältnis zu Meinhardt.269 Er war der Partner, der Meinhardt nach Plänen aus dem damaligen Aufsichtsrat (Oetken und Brandi) zur Durchsetzung der Strukturvorschläge zur Seite gestellt wurde und den Meinhardt selbst vorgeschlagen hatte. Plötz wiederum hatte sich in Höllriegelskreuth stark für die Umstellung von Kupfer auf Aluminium engagiert und seine Erfahrungen mit der konservativen und abwartenden Einstellung der „alten“/ersten dominanten Koalition gesammelt. Er war bereit, nun mit Meinhardt an einem modernen Unternehmen zu arbeiten.270 Außerdem gab es für Meinhardt Unterstützung auf zweiter Ebene. So war dieser den Kollegen in der ZV seit Jahren bekannt bzw. vielmehr umgekehrt, da er während seiner Arbeit dort mit ihnen angefangen oder sie eingestellt hatte. Sie begannen auf unterer Hierarchieebene zunehmend Einfluss zu gewinnen und die Situation einer überwiegend älteren Belegschaft in der ZV wandelte sich besonders in dieser zweiten Phase.271 Auch hier kann, ähnlich den technischen Herausforderungen der Ingenieure durch den Einstieg in das 267 1972 gab es nur einen Sprecher (H. Linde). Der Linde-Geschäftsbericht von 1973 weist diese Position allerdings nicht mehr aus. Meinhardt später zum Spiegel über Hermann Linde: „Er war so eine Art Sprecher des Vorstandes“ Hans Meinhardt in: Der Spiegel, S. 72 f., Nr. 38, 16.9.1976. Vgl. auch Linde AG (1979), IA-78, 80, IB-89, 91, 93, IÜ-62; Linde AG (1994, 12 ff.). Die Funktion des stellvertretenden Vorstandsmitglieds wurde schließlich abgeschafft und es gab nur noch ordentliche Vorstandsmitglieder. 268 Vgl. etwa Linde AG (1994). 269 Plötz soll sich als eine Art Technikvorstand, wie damals Wucherer, in die FH-Materie eingearbeitet haben. 270 Aus Münchener Perspektive stand allerdings anfangs nicht fest, ob Plötz wirklich in den Vorstand aufrücken sollte. Ruckdeschel zögerte zunächst die Entscheidung über seinen Nachfolger lange hinaus und schlug schließlich auf Druck des Aufsichtsrats Plötz vor. Dieser war allerdings nicht der einzige Kandidat. 1969 waren H. Linde als Vorstandsvorsitzender, Meinhardt, Plötz und Kneissl, der dem Linde-Lager zuzurechnen ist, als weitere Vorstandsmitglieder vorgesehen. Vgl. Niederschrift Besprechung Brandi, Wucherer, Simon, 3.7.1969. Unternehmensarchiv Linde AG Höllriegelskreuth. 271 Dabei handelte es sich in den 1970er Jahren um etwa 40 Führungskräfte.
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Großanlagengeschäft, von einer „Aufbruchstimmung“ gesprochen werden.272 Das Ziel der zweiten/der jetzigen dominanten Koalition (vor allem Meinhardts) bestand in der Umsetzung der neuen Unternehmensstrategie.273 Auch H. Linde hatte auf unterer Hierarchieebene Unterstützung, vorwiegend aus München. Im Aufsichtsrat und Vorstand hingegen verfügte er über keinerlei Unterstützung und auch Johannes Wucherer, sein Cousin, kam dafür kaum in Frage, da er trotz seines ausgleichenden Charakters doch den Einschätzungen der zweiten dominanten Koalition zustimmen musste.274 In Höllriegelskreuth gab es jedoch schon seit jeher einen Freundes- und Familienkreis der Lindes, der sich vorwiegend aus Naturwissenschaftlern und Ingenieuren zusammensetzte.275 Dieses Lager, das sich vor allem mit dem Anlagenbau befasste, prägte seit den 1950er-Jahren den dortigen Betrieb, ähnlich der „zweiten Reihe“, die Meinhardt im Laufe der Jahre hinter sich versammelt hatte. Sie fußte auf einem als äußerst gesund zu bezeichnenden Selbstbewusstsein und der damit konservierten Werksgruppenautonomie. Das hatte mehrere Gründe. Einerseits beschäftigte man sich im Anlagenbau als einzige Werksgruppe mit Produkten, die „nach Maß“ gefertigt wurden. Jedes Projekt war ein Einzelfall, bei dem wirtschaftliche Rationalisierungsmaßnahmen nur bedingt möglich waren. Werbung und Marketing waren in dieser Arbeit kaum nötig, traditionell eher verpönt oder bereits eigenständig vorhanden und spätestens seit Linde im Club der (weltweiten) Großanlagenbauer aufgenommen war, gestaltete sich der Markt übersichtlich. Auch die Organisationsabteilung verfügte in Höllriegelskreuth nicht über die Bedeutung, die die Wiesbadener ihr zugewiesen hatten. Hier betrachtete man diese Abteilung „als bessere Hausmeisterei“.276 Andererseits konnte der Anlagenbau auf Gewinne verweisen, die zwar nicht an die der Gase heranreichten und zudem durch die unterschiedlichen Abwicklungszeiten unregelmäßig verliefen, doch war die Werksgruppe relativ autonom. Drittens sahen sich die Ingenieure überwiegend in der Tradition Carl von Lindes, mindestens aber erweckten sie bei Angehörigen anderer Werksgruppen den Eindruck „etwas Besseres“ oder 272 Vgl. I EEG-187. 273 Eine typische Aussage über eine dominante Koalition findet sich in der Anmerkung, dass in diesem Kreis keine Widersprüche wahrgenommen wurden: „Ja ich glaube da gab es nicht viele andere Ansichten, denn wie ich weiß, hat Meinhardt die so präzise und klar dargelegt und auch aufgrund seiner Erfahrungen bewiesen, was ihm nachher auch der Erfolg bestätigte, dass sein Konzept, soviel ich weiß, fast total angenommen wurde. Ja man kann sagen total angenommen wurde“ (I20M-35) vgl. auch I20M-39, I20M-35, I20M-37, I20M-74, I08K-25 I08K-52 I08K54). Das gilt auch für die Einrichtung einer dezentralen Führungsorganisation mit starkem Vorstandsvorsitzenden (vgl. I28M-162, I28M-156). 274 Indes existierten wiederum verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Wucherer und Vertrauten Hermann Lindes. 275 Vgl. Interviews Jakobsmeier. Unternehmensarchiv Linde AG Höllriegelskreuth. 276 IW-54.
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schlicht unabhängig zu sein. Außerdem wurde auf christliche Anschauungen und Musikalität Wert gelegt. Diese Form einer Unternehmens(führungs-)kultur ließ sich nicht von blanken Zahlen oder wirtschaftlichen, also nicht-technischen Zielsetzungen beeindrucken. Die Zusammenarbeit zwischen der Zentrale und München wird als problematisch bezeichnet. In München sah man Wiesbaden auch in dieser Phase aus gewisser Distanz, akzeptierte die von dort kommenden Eingriffe und Vorstellungen kaum und verstand die Konzernzentrale als „knapp notwendigen Wasserkopf“.277 Auch befand man sich allgemein in kritischer Distanz zum Seriengeschäft. War in der ersten Phase (1954-1967) die Grundsatzentscheidung darüber gefallen, dass die Aufgaben des Vorstands sich zu ändern hatten, kam es im Laufe der zweiten Phase (insbesondere bis Mitte der 1970er Jahre) zur Diskussion und Verabschiedung der Details. Darin ging es insbesondere um die Festlegung der einzelnen Aufgaben aller Vorstandsmitglieder, bzw. die Funktionen des so genannten Exekutivorgans. Hier ging es wieder um alte Probleme bzw. die Fragen:
Wie stark sollte die ZV sein? Wie unabhängig von der ZV können die Werksgruppen agieren? Welche Rolle spielt dabei der Vorstand? Welche Rolle spielen die Werksleitungen?
und schließlich zusammenfassend:
Wird Linde zentral oder dezentral gelenkt?
Hinter der Auffassung, Linde in wichtigen Fragen zentral zu führen, standen vorwiegend die Überlegungen aus den USA, die von Gestaltungsmöglichkeiten ausgingen, die nicht vor der Tür bestimmter Werkspforten endeten. Für dieses Konzept standen Meinhardt, Plötz, am Ende auch Wucherer, Ruckdeschel, Pöhlein und Simon. Gegen eine starke Zentralisierung sprach sich H. Linde aus. Er war der Meinung, dass die Entscheidungen, die in den Arbeitsgebieten in München zu treffen seien, wegen der besonderen technologischen Stellung im Gesamtunternehmen - also als Nicht-Serien-Geschäft - kaum zentral in Wiesbaden bestimmt werden könnten und bezog Stellung für eine (weiterhin) dezentral geprägte
277 IO-60.
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Struktur.278 Der Prozess war keine Sache von wenigen Sitzungen und wird letztlich als direkte Konfrontation zwischen H. Linde und Meinhardt gewertet. „Und das war auch der personelle, persönliche Gegensatz zwischen diesen beiden Charakteren, Meinhardt und Linde, also zwischen denen stand es auf der Kippe, wer denn schließlich das Rennen macht. Es war nicht so, dass von Anfang an der Hermann Linde ohne jede Chance gewesen ist“ (IÜ-47). 279 „Darüber wurde im Haus nicht groß gesprochen, aber es lag wahrscheinlich daran, dass die beiden nicht miteinander hingekommen sind, der gute Hermann Linde, der hat nicht wirtschaftlich genug gedacht, für ihn stand die Technik im Vordergrund und Meinhardt guckte hauptsächlich darauf, dass auch entsprechend Cash rein kam“ (IA-72). 280
Die fundamentalen Meinungsverschiedenheiten in beiden Lagern waren mit deren Führungsgrundsätzen, aber auch Problemwahrnehmungen verbunden. Hermann Linde hatte als Physiker eine naturwissenschaftliche Sichtweise, nach der Projekte reizvoll waren, die den Konzern vor technische Herausforderungen stellten, dem Kunden hilfreich waren und in Zukunft neue Märkte verhießen.281 Die Vorstellungen von H. Linde lassen sich mit dem Begriff Unternehmensethik beschreiben. In einigen Punkten, die an die Moralvorstellungen seines Großvaters erinnern lassen und zum Teil direkt auf Carl von Linde verwiesen, hatte sich Hermann Linde recht weit von den Gepflogenheiten der freien Marktwirtschaft entfernt und für Wirtschaftskapitäne ungewöhnlich soziale Werte vertreten.282 278 Erst 1969 hatte Linde in einem persönlichen Gespräch mit Brandi „seine Bedenken gegen den Beschluß des Vorstandes über die neue Organisationsform des Managements (...) zurückgestellt, um eine einstimmige Entscheidung, die vom Aktiengesetz gefordert wird, zuzulassen“ „Niederschrift über eine Besprechung mit dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats, Herrn Dr. Brandi, am 31. Juli 1969 in Höllriegelskreuth“ (Auslassungen: M.H.). Anwesend waren außerdem Wucherer und Simon. Später erwähnte Brandi auch, „offenbar inspiriert von Herrn Dr. Linde, dass man von der neuen Gestaltung ohne Schwierigkeiten wieder zu der von Herrn Dr. Linde vertretenen Organisation übergehen kann, indem die einzelnen Vorstandsmitglieder sich stärker und entscheidend in die Belange der Werksgruppen einschalten“ Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 279 Vgl. auch I29L-62. 280 Vgl. auch IEEG-53, IÜ-44. Mit zunehmendem Abstand von Wiesbaden, also etwa in Höllriegelskreuth, wurde die Wahrnehmung des Disputs undeutlicher. Im Aufsichtsrat hielt man die Angelegenheit geheim. 281 Vgl. auch I5SND118. Unter diesem Aspekt kann die Tatsache betrachtet werden, dass sich die Linde AG nicht von der Produktfülle in Sürth trennen wollte, die auch noch die 1970er-Jahre prägte. Hermann Linde zeichnete in den 1960er und 1970er Jahren verantwortlich für Sürth. Allerdings wurde die dortige Geschäftsführung seit jeher (insbesondere aus Höllriegelskreuther Perspektive) als erfolglos und ungeeignet angesehen (IFO-86,87, 100, I5SN-114, IWS-41). 282 Punkt 4 lautete: „Die vom Unternehmen produzierten Güter sollen der Menschheit erkennbar mindestens mehr nützen als schaden.“ Unter Punkt 8 heißt es dort „Es ist in den letzten Jahren
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Dass sich der Mensch als Mitarbeiter und Kunde im Zentrum der Geschäftsziele befindet, ist nicht nur durch die familiäre Prägung verständlich. Im Anlagenbau war Linde auf Ingenieurleistungen angewiesen. Die Ressourcen des Unternehmens waren empfindlich von der Kopfarbeit der Experten abhängig: „Diese Anlagen werden immer komplexer und immer komplizierter und da braucht man einfach sehr gute Leute. Eine Ingenieurfirma ist nichts ohne ihre guten Leute. Das gesamte Kapital verlässt um fünf Uhr oder halb sechs die Firma. Und kommt am nächsten Tag wieder.“283 Ein gutes Betriebsklima und die Überzeugung in einem anständigen Betrieb zu arbeiten, waren wichtige Gründe, bei Linde zu bleiben oder dorthin zurückzukehren.284 Meinhardts Einstellung war von unternehmerischem Kalkül geprägt. Für ihn, den „Serienmann“, zählte vor allem Leistung. Seine „harte Hand“ griff vor allem bei Rationalisierungsmassnahmen und in Unternehmensentscheidungen im Zusammenhang mit Führungskräften durch.285 Während Hermann Linde seine Grundsätze 1969 verschriftlichte, waren Meinhardts Vorstellungen eher in den Köpfen seiner damaligen Mitarbeiter und der Unternehmensführung bekannt und wurden erst Ende der 1970er Jahre niedergeschrieben: „Das Linde System Wir sind Ein Unternehmen, dessen Programm ausschließlich auf zukunftsträchtigen Arbeitsgebieten konzentriert ist. Wir haben Diese Arbeitsgebiete so ausgewählt, dass sie sich sinnvoll ergänzen und die konjunkturellen Risiken in einem ausgewogenen Verhältnis gestreut sind. Wir werden mehrfach vorgekommen, dass im Kampf um den einen oder andern Auftrag dem Kunden von unseren Konkurrenten Argumente gegen uns und unsere Anlagen vorgetragen wurden, die sich vom Boden der Tatsachen entfernten. Man hat uns das Blaue vom Himmel heruntergelogen, um zu erreichen, dass der Auftrag um gotteswillen nicht an Linde geht. Hier dürfen wir Gleiches mit Gleichem nicht vergelten“ („Einige Grundsätze der Unternehmensleitung“ Referat vom 3.3.1969 von Dr. Hermann Linde. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth. Diese Grundsätze beziehen sich auf die Werksgruppe TVT-München und wurden vor Leitenden Angestellten vorgetragen. Vgl. dazu auch Der Spiegel, Nr. 38, 16.9.1976, S. 72, 73). 283 IFO-179. Vgl. auch Interview Jakobsmeier: Bräutigam, März 2004, S.11. 284 Interview Jakobsmeier: Bräutigam, März 2004, S. 3, 11. 285 Mitte der 1980er Jahre, also am Ende des Strukturwandels, unterstrich Meinhardt mit markigen Worten: „Ich verlange Leistung und eine hohe Einsatzbereitschaft. Was ich nicht vertragen kann, sind mittelmäßig schwache Leute“ („Mit eiserner Hand“, Industriemagazin, S. 59 Februar 1984). Vgl. dazu folgende Aussage aus Meinhardts Umfeld über H. Lindes Firmenphilosophie: „Es klingt zu positiv, wenn ich sage, dass das außerordentlich sozial, christlich sozial, geprägt war. Von einem strengen Management, von Strategie und Konsequenz, war das nicht geprägt“ (IÜ-44, 46).
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Auch bei dem weiteren Ausbau eines Unternehmens nach diesen Prinzipien handeln. Das Linde System garantiert Sicherheit und Fortschritt“ 286
1985 trug Meinhardt seine „Geschäfts- und Führungsgrundsätze der Linde AG sowie Aufgaben und Stellung der Zentralverwaltung“ leitenden Angestellten der Zentralverwaltung vor. Im Gegensatz zu Hermann Lindes Einstellungen fielen die sozialen Ansprüche allerdings äußerst knapp aus. „Das Unternehmen tritt für eine freiheitliche, demokratische und sozialverpflichtete Ordnung unserer Gesellschaft ein und bekennt sich zu einer Wirtschaftsordnung auf der Grundlage von Leistung, Wettbewerb und privatem Eigentum. Die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens in der sozialen Marktwirtschaft wird wesentlich beeinflusst von der Kreativität, Einsatzbereitschaft und dem Verantwortungsbewusstsein seiner Mitarbeiter.“287
Diese unterschiedlichen Positionen zeigen sich auch im Entscheidungsprozess der 1970er Jahre. Während die Zentralverwaltung in Wiesbaden in den vergangenen Jahren eine neue, wichtigere Stellung in den Verhandlungen, Vorschlägen und Beschlüssen seitens der Unternehmensgremien Vorstand und Aufsichtsrat einnahm, wuchsen auch ihre physischen Dimensionen und machten einen Umzug erforderlich, so dass organisationsintern und (später) -extern eine Diskussion um den Standort Wiesbaden und München entbrannte, die letztlich auf ein „Duell“ zwischen Meinhardt und Linde hinausliefen.288 H. Linde setzte sich ± entsprechend seinem Standpunkt in der Zentralisierungsfrage ± für München ein, weil die besondere Konstellation im Anlagenbau den Kundenkontakt durch Werksbesuche erfordere. Die Zusammenarbeit im Vorstand würde durch die
286 Aus: „Unternehmens-Philosophie von Linde“, Linde-internes Papier o. J. [1978] (Hervorh. im Orig.); Vgl. auch „Ideen als Fundament des technischen Fortschritts – Ideen als Basis der Entwicklung von Linde“, Linde-internes Papier v. 29.11.1978, „Grundsätze der Unternehmenspolitik“ (Linde-internes Papier, 1983); „Referat von Herrn Dr. Meinhardt vor Leitenden und ATAngestellten der ZV am 13.5.1985 zum Thema Geschäfts- und Führungsgrundsätze der Linde AG sowie Aufgaben und Stellung der Zentralverwaltung’ “ Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden.; Linde AG (1994, 15). 287 Referat von Herrn Dr. Meinhardt vor Leitenden und AT-Angestellten der ZV am 13.5.1985 zum Thema „Geschäfts- und Führungsgrundsätze der Linde AG sowie Aufgaben und Stellung der Zentralverwaltung“ Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 288 „..es gab nur eine Opposition gegen dieses Vorhaben und die kam von dem Dr. Linde (Pause), der für seine Familie das Unternehmen eigentlich in der Weise fortführen wollte, wie es bisher geführt worden war, aber mit dem Hauptsitz in München, das war eine intensive Diskussion. Da gab es also große Differenzen zwischen Meinhardt und Linde“ (IÜ-31).
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dann wegfallenden Reisen nach Wiesbaden bzw. München vereinfacht.289 Für Wiesbaden wurde aus zentralisierungsstrategischer Perspektive argumentiert. Ein Standort zu nahe an einem Arbeitsgebiet (München) sei aus Sicht der anderen Bereiche, der Gefahr „einer Personalunion zwischen Hauptverwaltung und dem Arbeitsgebiet“ ausgesetzt und könnte Befürchtungen erwecken, dadurch die restlichen Werke zu benachteiligen. Durch eine Beihilfe des Landes Hessen war die ZV nicht auf Mittel der Münchener Werke angewiesen und konnte im Konzern fast kostenneutral Grundstückskauf, Bau und Umzug finanzieren. 1974 bezog sie schließlich ihren neuen Sitz in Wiesbaden und nicht in München, von wo vier der fünf damaligen Vorstandsmitglieder stammten. In München wurde 1973 ein Tankschiff-System entwickelt, welches für den Transport von verflüssigtem Erdgas vorgesehen war.290 Im Vorstand stießen erneut Positionen unternehmerischen Kalküls und technisch-wirtschaftlicher Perspektive aufeinander. Die Entscheidung verlief schließlich negativ für das Projekt, da es sich um besonders hohe Investitionen gehandelt habe, die sich auf das Gesamtunternehmen nachteilig ausgewirkt hätten.291 Ein anderer Entscheidungsprozess bezog sich auf das sogenannte „decision tree“-Prinzip. Angeregt durch ein Seminar, an dem H. Linde teilgenommen hatte, bewirkte dieser eine Vorlage im Vorstand, nach der ein neues Entscheidungsverfahren einzuführen sei.292 Auch dieses Vorhaben wurde nicht weiter verfolgt und nach zwei Jahren Probezeit nicht, wie geplant, in ein zweites Folgesystem überführt. Damit gelang es Hermann Linde nicht, Meinhardts Organisationsstrukturen durch ein eigenes Konzept abzulösen. Konfrontationen gab es auch im Streit um die „Lieblingskinder“. Der Ausbau des Werks Aschaffenburg in Richtung Gabelstapler und Hydrauliktechnik wurde von Vorstandsseite, besonders Meinhardt, stark unterstützt. Auch Plötz 289 Interview Jakobsmeier Hermann Linde (2001), vgl. auch IÜ-31. 290 Vgl. „Linde AG entwickelt Tankschiff-System für den Transport von verflüssigtem Erdgas”, Linde-internes Papier, 3.4.1973. Vgl. auch: Hauptabteilungsleiter-Besprechungen 1970-1972 VA und Linde heute 1973, 2, S. 1 sowie 1974, 3, S.1. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 291 IÜ-71. Eine andere Begründung bezieht sich auf die Unternehmensumwelt: „Nachdem ich alle Zulassungen von den großen internationalen Klassifikations-Gesellschaften für die Konstruktion eingeholt hatte, roch es schon stark nach einem wirklichen Auftrag und zwar im Zusammenhang mit dem Gasliefervertrag zwischen dem algerischen Gaslieferanten Sonatrach und einem europäischen Konsortium von Gas-Abnahmegesellschaften. Am Ende ist aber doch nichts daraus geworden; soviel ich weiß, hat die VEBA einen Rückzieher gemacht. Man vermutete, dass die VEBA einen Antrag der Bundesregierung hatte, einen nationalen Ölkonzern zu schmieden. Ein zusätzliches Erdgasprojekt wäre dabei nur hinderlich gewesen. Aber das waren nur Vermutungen“ Interview Jakobsmeier: Bräutigam, März 2004, S.3. 292 Danach sollte bis auf Sachbearbeiter-Ebene eine Entscheidung auf die Frage pro oder kontra reduziert werden. Auf der jeweiligen Entscheidungsebene war die Entscheidung dann angenommen bzw. abgelehnt, wenn über 50% der Argumente dafür bzw. dagegen sprachen.
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und Pöhlein, jedoch nicht H. Linde, setzten sich dafür ein. Während man auf der einen Seite den guten Start nutzen wollte, hielt Linde den Ausbau dieser Sparte für zu stark. Überhaupt zweifelte er die Erfolgsmeldungen aus Aschaffenburg an, da sie seiner Meinung nach keine Aussagen über den eigentlichen Gewinn trafen. Zudem war der Anlagenbau in Höllriegelskreuth ein ausgewiesenes Lieblingskind Lindes. Dieser verwies anlässlich seiner Rede vor der Aktionärsversammlung in der Münchener Kongresshalle 1976 auf die enormen Münchener Auftragseingänge, die andere Arbeitsgebiete nicht erreichten, und ging auf Aschaffenburg nur in diesem Zusammenhang ein.293 Linde AG, Wiesbaden und München Vorstand
Dr. Linde
Dr. Meinhardt Orth
Plötz
Zentralverwaltung Leitung: Dr. Meinhardt Marketing, Organisation und Unternehmensplanung, Technik, Betriebswirtschaft, Revision, Finanzwirtschaft, Recht, Versicherung, Personal, Soziale Einrichtung
Werksgruppen TVT Tieftemperaturund Verfahrenstechnik
TG Technische Gase
IK Industriekälte
KE Kühl- und Einrichtungssysteme
WGA Güldner Aschaffenburg
Kh
Kühlhäuser
GL Jungmann Müller
GL Adam Braunschweig
GL Dr. Huwendiek Küster
GL Dr. Christmann Dr. Metzler
GL
GL
Schlitt
BV
Dr. Linde
BV Dr. Linde
BV Plötz
BV Orth
BV Orth
BV
Dr. Lohse Schongs Dr. Meinhardt
Tochter- und Beteiligungsgesellschaften GL = Geschäftsleitung
BV = Betreuendes Vorstandsmitglied
Abbildung 13: Organisationsstruktur der Linde AG, 1975 (modifiziert übernommen aus EUROPA-CHEMIE 14/75, 280-281)
293 Rede Hermann Lindes auf der Hauptversammlung der Linde AG, 13.5.1976. Linde verglich die Auftragseingangszahlen in Millionen DM. Er unterschied zwischen Anlagenbau und Maschinen- und Fahrzeugbau. Danach stiegen die Auftragseingangzahlen im Linde Konzern im Anlagenbau: 1973 (291 Mio. DM), 1974 (597 Mio. DM, 1975 (819 Mio. DM), während die Steigerung im Maschinen- und Fahrzeugbau in diesem Zeitraum keine Steigerung aufwies: 1973 (534 Mio. DM), 1974 (584 Mio. DM), 1975 (525 Mio. DM).
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193
Im gleichen Jahr erreichte der bis dahin immer stärker schwelende Machtkampf seinen Höhepunkt.294 Der Führung bei Linde war klar, dass durch diese Situation die Führungskompetenz im Vorstand gefährdet war. Sie befand sich in einem Dilemma. Einerseits war Hermann Linde erst 1975 für eine weitere Vorstandsperiode bestätigt worden und sollte daher fünf weitere Jahre diesen Posten bekleiden.295 Das jedoch hätte weitere fünf Jahre Differenzen im Vorstand bedeutet. Andererseits konnte man sich offiziell nicht ohne weiteres von H. Linde trennen. Durch den Aufsichtsrat wurde Hermann Linde darüber informiert, dass es schwerwiegende Probleme in der Zusammenarbeit auf Vorstandsebene gäbe. Der Kreis gegen H. Linde schloss sich immer stärker und auf seine Nachfragen erhielt er immer ausweichende Antworten oder wurde auf andere Ansprechpartner verwiesen. Zunächst bot der Aufsichtsratsvorsitzende Hermann Holzrichter ihm einen Posten in diesem Kontrollgremium an, was für ein Vorstandsmitglied von nicht einmal 60 Jahren eine ungewöhnlich frühe Bekleidung dieser Position bedeutet hätte.296 Neben der Begründung, damit seinen Vetter Johannes Wucherer im Aufsichtsrat abzulösen, hieß es, dass ein fähiger Mann im Anlagenbau, Joachim Müller, sich unter Lindes Führung eingeengt fühlte und deshalb das Unternehmen Linde zu verlassen drohe.297 Als sich solche Befürchtungen als haltlos herausstellten, wurden in München bereits Spekulationen über die Nachfolge Hermann Lindes geführt. Lindes Versuche, die Mitarbeiter zur Rede zu stellen, wurden von Aufsichtsrat und Vorstand, die nicht hinter ihm standen, als Indiskretio-
294 Schon 1975 wurde der Entscheidungsprozess im Vorstand immer wieder durch gegensätzliche Standpunkte von Meinhardt, Orth und Plötz auf der einen und Hermann Linde auf der anderen Seite geprägt. Dabei ging es um die Handhabung im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Ebenso gab es Meinungsunterschiede zwischen Meinhardt und Linde in den Zuständigkeiten von Personalangelegenheiten und unterschiedliche Auffassungen über die Zuständigkeit auf dem Gebiet der Finanzen. Vorstandsprotokoll vom 3.9.1975 (Vorstandsarchiv Linde AG). Diese Meinungsverschiedenheiten spiegeln sich auch in den entsprechenden Reformulierungen des Protokolls wider und wurden von der Vermittlungsarbeit des Aufsichtsrats begleitet. 295 AR-Protokoll vom 5.3.1975 Punkt 6). Acht Monate später wurden die Vorstandsverträge von Plötz und Meinhardt um 5 Jahre verlängert (AR-Protokoll vom 25.11.1975, Punkt 6a) (ARProtokolle, Vorstandsarchiv Linde AG). 296 Gefährliche technische Probleme mit einem Kolbenkompressor aus Sürth, die H. Linde bei Holzrichter verantworten musste, dürften H. Lindes Position nicht gerade gestärkt haben (Vgl. IFO-89). Aufgrund einer Aktennotiz von Hermann Linde über ein Gespräch mit Herrn Dr. Holzrichter am 28.10.1975 wurde daraufhin im November über mögliche Nachfolger Hermann Lindes diskutiert. Auch dabei gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen Hermann Linde und den restlichen Vorstandsmitgliedern (Vorstandsprotokoll Nr.23/75, 24.11.1975, Vorstandsarchiv Linde AG). Jede Partei hatte einen anderen Favoriten. 297 Vgl. Müller (1993, 9), Linde (2003, 194 ff.).
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nen gewertet, welche die Vorstandsarbeit nicht unwesentlich beeinträchtigten.298 Die Unterstützung aus dem Betriebsrat und der Höllriegelskreuther Belegschaft war Linde zwar sicher, jedoch brachte weder eine Resolution der Mitarbeiter noch die Betriebsversammlung am 29.7.1976, die den Beistand des Personals zum Ausdruck brachte, eine Stärkung Lindes gegenüber den Vorstandskollegen, die derartige Veranstaltungen erst recht als Grund für eine Lösung Hermann Lindes aus dem Vorstand sahen.299 Linde, der unter diesen Umständen den angebotenen Aufsichtsratsposten ablehnte, verließ das Familienunternehmen und den Vorstand schließlich am 30.09.1976 im Dissens und wandte sich, allerdings nicht ganz so freiwillig wie damals sein Großvater Carl von Linde, der Wissenschaft zu.300 Der Abgang Hermann Lindes war sicherlich kein besonders galanter, zumal Linde, damals im besten Alter für seine Vorstandstätigkeit war. Überhaupt war er für die solide Linde-AG der erste Personalskandal schlechthin.301 Doch nicht nur das: Mit dem letzten Familienangehörigen des Gründers Carl von Linde in einer maßgeblichen Führungsposition ging eine Ära zu Ende, bei der die technischen Problemlösungen im Vordergrund und die Aktivitäten in Höllriegelskreuth im Mittelpunkt standen. Besonders an dieser Stelle machte sich die immer größer werdende Schwäche H. Lindes gegenüber der dominanten Koalition bemerkbar. Ein wesentlicher Grund dafür war die fehlende Wahrnehmung für die realen Machtverhältnisse, die sich seit den 1960er Jahren außerhalb Münchens entwickelt hatten. Die Zeiten, in denen die Familie Linde mit dem eigenen Namen und der Gründertradition wie zur Zeit der ersten dominanten Koalition agieren konn-
298 Der Aufsichtsrat wollte sich nicht gegen die Mehrheit des Vorstands wenden, da er befürchtete, ihn so zu verlieren. 299 85,5 % der 2.250 Anwesenden Mitarbeiter in Höllriegelskreuth und Schalchen stimmten der Resolution für Linde zu. Ein damaliger Teilnehmer dazu: „Als wir geschrieen haben, wo auch immer, in der Betriebsversammlung, da war das ja schon vorbei (lacht). Die UnterschriftenAktion hat es ja erst nachher gegeben. Das war keine Riesen-Diskussion. Das war gar keine (lacht)“ (I5SN-131). Bereits im Juni verzichtete Hermann Linde auf die Betreuung der Werksgruppe Kühlhäuser, um sie an den Vorstandskollegen Orth abzugeben (Vorstandsprotokoll Nr.11/1976, 14.6.1976: Punkt 8. AR-Protokolle, Vorstandsarchiv Linde AG). 300 Laut AR-Protokoll scheidet Hermann Linde „im Einvernehmen“ mit dem Aufsichtsrat nach Ablauf des 30.9.1976 aus. (AR-Protokoll vom 6.9.1976, AR-Protokolle, Vorstandsarchiv Linde AG). Linde arbeitete darauf als Honorarprofessor an der TU München. 301 Vgl. dazu die Reaktionen in der Presse: „Auseinandersetzungen im Linde-Vorstand“, Hannoversche Allgemeine, 04.09.1976, „Streit an der Linde-Spitze“, Wiesbadener Kurier, 03.09.1976; „Krach bei Linde“, Mannheimer Morgen, 03.09.1976, „Dr. Hermann Linde verläßt Linde AG“, Main Spitze, 08.09.1976; „Vereist“, Frankfurter Rundschau, 09.09.1976; „Hermann Linde scheidet aus“, FAZ, 08.09.1976, „Linde ohne Linde“, Wiesbadener Kurier, 08.09.1976 insbes. „Greuel im Vorstand“ Der Spiegel, S. 72 f., Nr. 38, 16.9.1976.
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te, waren seit den 1970er Jahren vorbei. Dabei darf die Unterstützung in Höllriegelskreuth nicht überschätzt werden.302 Aus der zweiten dominanten Koalition sowie dem Lager H. Lindes sind die Einschätzungen über dessen Ausscheiden aus dem Unternehmen bemerkenswert. Auf der einen Seite erscheint Meinhardt als jemand, der Hermann Linde zwar aus dem Vorstand herausgedrängt hat, „aber mit Argumenten“, aus dem anderen Lager heißt es, dass Meinhardt damals alle Mittel zum Machterhalt in Anspruch genommen habe, da Hermann Linde fachlich nicht angreifbar war.303 Zusammenfassend wird der Führungsanspruch mit folgenden Worten beschrieben: „... also, ehrlich gemeint haben es alle beide. Sie sind es aber unterschiedlich angegangen.“304 4.2.5 Veränderungen in der Struktur als Umsetzung der neu gebildeten Unternehmensstrategie Spätestens seit 1969 kann die Entwicklung der Linde AG als eine konsequente Umsetzung der neuen Unternehmensstrategie gelesen werden. Dabei nahmen in den 1970er Jahren die Strukturplanungen aus den 1960er Jahren konkret Gestalt an. Die Struktur der Linde AG war in den 1970er Jahren von einer generellen Ausweitung der Zentralverwaltung gegenüber den Werksgruppen geprägt. Diese bezieht sich zum einen auf den Auf- bzw. Ausbau von Abteilungen (nicht zuletzt der Vergrößerung der ZV durch den Umzug innerhalb Wiesbadens), zum anderen auf die nun stärker zum Einsatz gebrachten Formalisierungsverfahren und schließlich auf den personellen Sektor.305 So gab es Stellenbeschreibungen für den Vorstand.306 In den Werksgruppen wurde die Ebene der Geschäftsführungen 302 Auch danach war in der Belegschaft vom Weggang Hermann Lindes nicht viel zu spüren: „Wir haben das nicht gemerkt. Da gab es zunächst eine Doppelspitze in der Geschäftsleitung, zunächst Müller-Plötz (...). Wir haben halt unsere Arbeit gemacht“ (I5SN-159). Indes können die Versuche Hermann Lindes, seine unmittelbaren Untergebenen, denen er sich am stärksten verbunden fühlte, in dem sich abzeichnenden Führungswechsel zu schützen, als interessantes und typisches Indiz einer Koalition gesehen werden (vgl. Linde 2003, 198 ff.). 303 Vgl. etwa IBoui-67 bzw. I25-2-5; Kre –82. 304 I5SN-118. 305 Während dieser Zeit wachsender Formalisierung, die sich allerdings auch schon in der ersten Phase abzuzeichnen begann, sind die Organisationspläne regelmäßiger angefertigt und damit ständig aktualisiert worden. 306 Vgl. z.B. Stellenbeschreibung: Betreuung Werksgruppe Technische Gase, Stand: 1/72, Stellenbeschreibung: Betreuung Werksgruppe Industriekälte, Stand: 1/72, Stellenbeschreibung: Betreuung Werksgruppe Kühl- und Einrichtungssysteme, Stand: 01/72; Spezielle Führungsanweisung für Betreuung, Stand: 1/72, Stellenbeschreibung: Gesamt-Vorstand, Stand: 8/76; Stellenbeschreibung: Unternehmensleitung, Stand: 2/76; Stellenbeschreibung: Betreuung Werks-
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eingezogen und die Geschäftsführer waren, im Gegensatz zu den Vorstandsmitgliedern, nur für ihr Arbeitsgebiet verantwortlich.307 Sie hatten nach der „allgemeinen Führungsanweisung“ zu handeln. 308 Das Unternehmen Linde war fortan auf ein gut funktionierendes Zusammenspiel zwischen Exekutivorgan (Vorstandsvorsitz), Vorstand, Stabsstellen der ZV, Geschäftsführern sowie den einzelnen Werksgruppen angewiesen. Auch auf personeller Ebene waren Veränderungen zu verzeichnen. Die zum Teil neuen Stellen wurden nach Prinzipien besetzt, die einen systematischen Personalaustausch zwischen Wiesbaden und den Werksgruppen vorsahen. So wurde gezielt ein Wissensaustausch zwischen der ZV und den Werksgruppen vorgenommen. War beispielsweise in der Abteilung Fertigungstechnik ein bestimmtes Arbeitsgebiet zu betreuen, kamen entweder für diese Arbeit Leute von dort dazu in die ZV oder diese schickte ihre Experten zunächst vor Ort, um die dortigen Verhältnisse kennenzulernen und besser beurteilen zu können. Als Bindeglied zwischen den Werksgruppen fungierte auch die Mitarbeiterzeitschrift. 1970 wurde die seit 1936 bestehende „Linde Werkzeitung“ in „Linde heute“ umgetauft und inhaltlich stärker auf die Unternehmensaktivitäten ausgerichtet.309 Damit wurde das Bewusstsein für das Gesamtunternehmen Linde in operativer Hinsicht von der Zentralverwaltung gestärkt. Zusätzlich war mit den Veränderungen durch die Zentralverwaltung auch eine gezielte Personalentwicklungsstrategie verbunden, die sich auf potentielle Führungskräfte von Beginn an konzentrierte und deren Karrieren im Hause Linde vorplante, aber auch daran interessiert war, für Ausgewogenheit zwischen gelassenen Charakteren und Karrieristen in den Abteilungen zu sorgen.
gruppe TVT München, Stand: 10/76; für die ZV: Stellenbeschreibung: Leitung der Zentralverwaltung, Stand: 10/76. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 307 Vgl. z.B. „spezielle Führungsanweisung für das einzelne Geschäftsleitungsmitglied“, Stand 9/78. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. Die Kompetenzen ergaben sich aus den Stellenbeschreibungen der einzelnen Geschäftsleitungsmitglieder und aus der Stellenbeschreibung der Geschäftsleitung. 308 Vgl. z.B. „Allgemeine Führungsanweisung Stand 9/78“, Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. Das Unternehmen lag damit voll im Trend der 1950er1970er Jahre, in Führungs- und Organisationsfragen dem „Harzburger Modell“ zu folgen, nach dem eine Entlastung der Führungskräfte durch die Mitarbeiter erreicht werden sollte, die den Vorgesetzten gleichzeitig die Kontrolle durch eine umfassende Formalisierung versprach. Vgl. Kieser (2006a, 130 ff.). 309 Vorher befasste man sich ausführlich mit Reiseberichten von Mitarbeitern, es gab eine Seite für die Frau oder die Rätselrubrik. Die Reiseberichte hatten seit Zeitschriftsgründung 1936 eine lange Tradition, umfassten sowohl private Eindrücke der Mitarbeiterreisen wie auch Montageberichte (vgl. etwa Werkzeitschrift für die Betriebe der Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen 1936, 4, S. 5-6, 1941, 5, S.10-11, Werkzeitung Linde 1953, 4, S. 14-19). Zusammenfassend für die Seite der Frau: Linde today 2005, 6, S. 25.
4.2 Der zweite Lernprozess von 1967-1984
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Im Gegensatz zu dem Verhältnis von Zentralverwaltung und Werksgruppen änderten sich deren Beziehungen untereinander nicht wesentlich. Die Unterschiedlichkeit in den Kooperationsweisen spiegelten auch die seit jeher unterschiedlichen Unternehmenskulturen in den einzelnen Werksgruppen wider. Diese war z.B. von eine starken Produkt-Identifikation seitens der Mitarbeiter geprägt. Überdies zeichneten sich die Arbeitsbereiche nach wie vor durch ihre Unabhängigkeit aus. Jedoch muss nach dem Grad der operativen Verflechtungen unterschieden werden. So stand Aschaffenburg am unabhängigsten da. Zwar war man dort auf die finanziellen Förderungen durch Wiesbaden in den Anfangsjahren der Werksgruppe Flurförderzeuge und Hydraulik (FH) extrem angewiesen, aber technisch hatten die Produkte nichts mit den anderen Werksgruppen zu tun.310 In Sürth sah das anders aus. Dort stellte man Expansionsturbinen für den Anlagenbau her und galt wiederum in Höllriegelskreuth, ähnlich den Aschaffenburgern, lediglich als Serienlieferant.311 In München war der Ruf der Sürther folglich vor allem von deren Produktqualitäten abhängig.312 In München hingegen gab es eine starke geschäftliche Verbundenheit, da die Anlagenbauer wiederum für die Technischen Gase produzierten. Diese Konstellation war insofern nicht unproblematisch, als dass TG die Anlagenbauer preislich unter Druck setzen wollten. Später gab es kurzzeitig sogar Forderungen, dass der Anlagenbau das Produzieren für Konkurrenzunternehmen in der Gasebranche unterlassen solle. Insgesamt wird dem Münchener Anlagenbau eine Art technischer Arroganz nachgesagt, nach der nur anspruchsvolle Hochtechnologie, wie die aus Höllriegelskreuth, wirklich bedeutend sei. Während in den 1960er Jahren schon mit Mainz-Kostheim und Aschaffenburg Ansätze der Fokussierung auf bestimmte Arbeitsbereiche verwirklicht wur-
310 So wird es allerdings auch aus Münchener Perspektive gesehen: „Es ist so, dass wir mit den Gabelstaplern überhaupt nichts zu tun haben. Wenn Sie also die Gabelstapler von heute auf morgen aus dem Linde-Verbund heraus nehmen und eine Extra-Firma daraus machen, dann geht für uns, beim Anlagenbau, das Leben weiter, so als wäre nichts geschehen. Also das zu zerteilen, ist überhaupt kein Problem“ (IFO-121 ff.). 311 Indes war der Sürther Maschinenbau kein Serienbau im eigentlichen Sinne. Das lag an der komplexen Technik der Maschinen, die oft nur als Einzelanfertigungen verkauft wurden, den regelmäßigen Änderungen und geringen Stückzahlen. 312 Immer wieder wird von mangelhafter Ware aus Köln berichtet. „Die Kältetechnik hat sich in der Zeit, in der ich das für Linde beobachten konnte, allerdings immer als ein Jammer herausgestellt. Die haben immer Verlust gemacht. Die sind nie auf einen grünen Zweig gekommen. Die haben Kompressoren und Expansionsturbinen gebaut und natürlich diese Kälteanlagen. Der Kompressorenbau war zu klein und die Leute, die das Geschäft betrieben haben, waren meines Erachtens auch nicht gut genug. Die haben Kompressoren geliefert, die, wenn sie betrieben wurden, auseinander gefallen sind“ (IFO-87, 88).
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den, waren besonders die 1970er Jahre von dieser Umstrukturierung und von stetigem Wachstum geprägt. 313 Entscheidend für die Strukturveränderungen auf Werksgruppen-Ebene war das Jahr 1972, das Jahr der „Zellteilungen“, in dem die bisherige Werksgruppe umstrukturiert wurde.314 Nun gab es die Werksgruppe TVT München (Tiefsttemperatur- und Verfahrenstechnik), die den Anlagenbau umfasste und die Werksgruppe Technische Gase (TG). Sie hatte fortan den Charakter einer handelsrechtlichen Niederlassung.315 Abgesehen von dieser Maßnahme, die den unterschiedlichen Unternehmenskulturen in München entsprochen haben dürfte, änderte sich für den Anlagenbau aus Höllriegelskreuth wenig.316 Wie in München, richtete die Linde AG auch in Sürth eine neue Struktur ein. Aus der damaligen Werksgruppe Sürth, gingen zwei neue Werksgruppen hervor: die Werksgruppen „Industriekälte“ und „Kühl- und Einrichtungssysteme“.317 Diese hatten nun ebenso wie in München den Charakter von handelsrechtlichen Niederlassungen.318 Damit wollte Linde der Diskrepanz begegnen, die zwischen dem profitablen Wachstum der Klimatechnik-Märkte und den eigenen schlechten organisatorischen Voraussetzungen herrschte.319 Am 1. Januar 1979 wurden schließlich die Arbeitsgebiete Kälte- und Klimatechnik, Einrichtungssysteme sowie Kolben- und Turbomaschinen in der Werksgruppe Kälte- und Einrichtungstechnik zusammengefasst. Durch diese Maßnahme sollte die Effizienz des Vertriebs, insbesondere im Ausland, gestärkt sowie die Verwaltung gestrafft werden. Außerdem war eine Konzentration der Entwicklungskapazitäten beabsichtigt. 320 313 Dabei wurden die alten Bezeichnungen „Niederlassungen“ durch die modernen Begriffe „Werksgruppen“ (später „Arbeitsgebiete“) ersetzt. 314 Vgl. dazu „Linde: Zellteilung für gezieltes Marketing”, „absatzwirtschaft“, S. 6-8, Nr. 3, 1972. 315 „Neue Werksgruppen-Bezeichnungen“, Linde-intern, Rundschreiben Nr. 2, 10.01.1972. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 316 Der Strukturwandel ist noch heute baulich erkennbar: Anlagenbau und Technischen Gasen sind durch eine öffentliche Straße getrennt. 317 Vgl. „Neugliederung der Werksgruppe Sürth der Linde AG“, Linde-Papier vom 27.10.1971, sowie „Neugliederung der Werksgruppe Sürth der Linde AG“, Rundschreiben Nr. 66 vom 4.11.1971, Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 318 „Neue Werksgruppen-Bezeichnungen“, Linde-intern, Rundschreiben Nr. 2, 10.01.1972. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 319 Branchenkenner schätzten damals, dass der Markt bis 1980 um jährlich 25 % wachsen würde. Die neue Werksgruppe Industriekälte verkaufte nun Klima- und Kälteanlagen sowie Kolbenkompressoren und Turbomaschinen. In der Werksgruppe Kühl- und Einrichtungssysteme setze man hingegen Kühlmöbel, Ladeneinrichtungen sowie Kälte- und Klimaanlagen ab. 320 „Linde ordnet Kälte- und Kühlmöbelbereich neu“, Linde-Pressemitteilung, 17.1.1979. Vgl. auch „Linde strafft Kälte- und Kühlmöbelbereich“, VWD Montan, 19.1.1979, „Linde macht aus zwei Werksgruppen eine“, Wiesbadener Kurier, 19.01.1979; „Linde strafft Kältebereich“, Die Welt, 19.1.1979.
4.2 Der zweite Lernprozess von 1967-1984
199
4.2.6 Output (2): Produktumstellung und Ausbau der Kerngeschäfte bis 1984 Auch im Output-Bereich änderte Linde über Verkäufe und den Ausbau durch Investitionen oder Zukäufe seine Marktposition. Erst dadurch wurden die organisationsinternen Veränderungen nach außen „kommuniziert“ und für deren Umwelt besonders deutlich wahrnehmbar. Schon seit 1961 stand in Aschaffenburg die verlustbringende und unbeständige Sparte der Landmaschinenherstellung zur Debatte. Linde registrierte die Stärken der Konkurrenz in der Herstellung von großen und kleinen Motoren, die dazu führten, dass die erfolglosen Versuche Lindes in den Kleinmotorenmarkt zu expandieren mit der Aufgabe der Motorenfertigung endeten. In der Werksgruppe Güldner-Aschaffenburg erfolgte 1969 die Einstellung der Produktion von Dieselmotoren und Traktoren, womit sich Linde gleichzeitig vom schwierigen Markt der Landwirtschaftsmaschinen verabschiedete.321 Damit war der Hydrocar, der 1954 entwickelt wurde, der Ausgangspunkt einer ganz neuen Produktpalette bei Linde. Obwohl er schon damals eine echte technologische Innovation darstellte, war dies ursprünglich nicht beabsichtigt. Güldner hatte den Wagen letztlich nur gebaut, um eine Verwendung für das neu entwickelte stufenlose Getriebe zu haben. Die geringe Bedeutung, die die Wettbewerber Linde damals beigemessen hatten, ermöglichte mit den vorher genannten Gründen einen Überraschungscoup, da mit Linde „über Nacht“ ein schlagkräftiger Kontrahent auf dem Markt war. Bald schon stellte sich wirtschaftlicher Erfolg ein und Linde gelang es, eine bedeutende Stellung in diesem Markt zu erlangen.322 Trotz der umfangreichen Vorbereitungen und Wettbewerbsanalysen der Organisationsund Marketingabteilung wird rückwirkend durchaus von gewissem „Fortune“ gesprochen, das Linde bei dem damaligen Einstieg gehabt hätte.323 So wurde dem damals relativ jungen Management eher später die herausragende Bedeutung dieser Entscheidung klar, denn das Risiko war insbesondere deswegen hoch, weil es um Linde finanziell insgesamt immer noch schlecht bestellt war.
321 Damit fiel allerdings auch die Landwirtschaft als Kundenstamm weg, da dort kaum Bedarf an Hydrostatik herrschte. Mähdrescher waren im Prinzip die einzigen hydrostatischen Produkte für die Landwirtschaft. 322 Unter ihnen Clark, Jungheinrich, STILL, Lansing, Atlas und Mannesmann. Vgl. auch Linde AG (1994). Lindes Gabelstapler hatten den Vorteil effizienter arbeiten zu können, da die Kupplung stufenlos funktionierte und sich auf Vorwärts- wie Rückwärtsgang anwenden ließ. Außerdem hatte Linde ein Vertriebsnetz von erfolgreichen, jungen und engagierten Handelsvertretern, dass sich schon bald als dicht und ausbaufähig genug erwies, um die Produktionsaufnahme der Elektro-Gabelstapler einschließlich Ersatzteillager und Kundendienst zu gewährleisten. Inlandvertretungen mit Kundendienst hatte Linde im Inland wie im Ausland. 323 Vgl. z.B. I21S-25 und I29L-38.
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In München wirkte sich die Linde-interne „Zellteilung“ von 1972 im Output als Abgabe der Schweißtechnik und als Stärkung des Anlagenbaus aus. Dieser Tausch bedeutete gleichzeitig einen Zugewinn auf der organisationalen Wissensbasis im Bereich TVT. In Verbindung damit verkaufte die Linde AG ihre Schweißpulverfabrik in Hennef und verpachtete einen Teil des Werkes Lohhof langfristig an Messer Griesheim: „Die ‚führende Stellung’ Lindes auf dem internationalen Kälte-Markt bauten die Wiesbadener vor drei Monaten aus, als sie die gewerblichen Schutzrechte und das Know-how für die Tief- und Tiefsttemperaturtechnik der Messer Griesheim GmbH (eine Tochter der Farbwerke Hoechst AG) erwarben. Im Gegenzug sicherten sich die Griesheimer Lindes-Schweißtechnik.“324
Als Ergänzung des Kühlmöbelgeschäfts in Sürth wurde die Entwicklung von Ladeneinrichtungen zur kompletten Ausrüstung des Lebensmittelhandels vorangetrieben. Im Januar 1971 erwarb Linde die Variant GmbH in Bad Hersfeld als Fertigungsbetrieb für Ladenbaueinrichtungen der Werksgruppe Kühl- und Einrichtungssysteme, dessen Produktionsanlagen anschließend erheblich ausgebaut wurden.325 Zur Überleitung der Kühlmöbelfabrik aus der Linde Hausgeräte GmbH in Eigenfertigung und zur Stärkung der Position im westeuropäischen Kühlmöbelgeschäft erwarb Linde 1976 die Tyler Refrigeration International GmbH in Schwelm/Westfalen.326 Vor allem im Zusammenhang mit den „Butterbergen“ der 1970er Jahre, wurden bei Linde mit der Betreibung von Kühlhäusern lukrative Geschäfte gemacht. Die Auslastung der gewerblichen Kühlhäuser in der Bundesrepublik ging von Ende 1980 bis April 1982 allerdings zurück, obwohl sich noch kleine Trendwenden ergaben.327 Doch mittlerweile entsprach die Auslastung der Kühlhausgruppe dem Branchendurchschnitt, was nicht mit dem Linde-Ziel, Marktführer zu werden, in Einklang zu bringen war. Außerdem passten die Kühlhäuser als Dienstleistungsunternehmen nicht zur strategisch vorge-
324 „Linde: Zellteilung für gezieltes Marketing“, „absatzwirtschaft“, S. 6-8, Nr. 3, 1972; vgl. auch „Messer Griesheim übernimmt Schweißtechnik von Linde“ (Linde-Papier, 23.11.1971/1972). Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 325 Geschäftsberichte der Linde-AG (1971, S. 38). 326 Vgl. dazu ausführlich: „Übernahme der Tyler Refrigeration International GmbH durch die Linde AG, vertraulich“ Linde-Archiv Höllriegelskreuth, 23.10.1975. 327 1982 lag die durchschnittliche Belegung der Kühlhäuser mit rund 68% noch knapp unter der von 1981. Seit Jahresanfang 1983 hatte sich die Auslastung verbessert, aber der durchschnittliche Belegungsgrad lag in diesem Jahr mit rund 80% immer noch unter dem der guten Jahre 1976-1980.
4.2 Der zweite Lernprozess von 1967-1984
201
sehenen technologischen Ausrichtung des Unternehmens.328 1984 wurde die Kühlhausgruppe zu einer rechtlich selbständigen Gesellschaft zusammengefasst und deren Geschäftsanteile an die Markt- und Kühlhallen AG (MuK) in Hamburg, die im Norden Westdeutschlands in stärkerer Position als Linde war, gegen Aktien übertragen. Obwohl die Kältetechnik als viertes Standbein fungierte, schwand Lindes Engagement in diesem Arbeitsgebiet allmählich.329 1984 trennte sich Linde vom Turbomaschinengeschäft der Werksgruppe Kälte- und Einrichtungstechnik, das damals Gas-Kolbenkompressoren, Turbokompressoren, Expansionsturbinen und Druckluftwerkzeuge herstellte. Die Sparte ging an das international agierende schwedische Maschinenbauunternehmen Atlas Copco AB. Auf dem Gabelstapler-Sektor übernahm die Linde-AG 1973 alle Geschäftsteile der STILL (SE Fahrzeugwerke) GmbH in Hamburg.330 Mit dieser Übernahme wurde Linde zum führenden Hersteller von Flurförderzeugen in Westeuropa. Damals stellte man sich in Wiesbaden die Frage, ob nun beide Werke zusammengelegt werden sollten und ob man damit die EntwicklungsProduktions-, Vertriebs- und Verwaltungskosten sparen würde. Schließlich ergaben die Berechnungen, dass die Fixkosten-Einsparungen geringer gewesen wären als der Deckungsbeitragsverlust, den man durch den Umsatzausfall erlitten hätte. Zusätzlich hätte Linde eine Vertriebsorganisation aufgegeben und sie dem Wettbewerb ausliefern müssen. Folglich „marschierte“ man nach einer Mehrmarken-Strategie getrennt.331 Ein weiterer Schritt in Richtung Marktführerschaft auf dem Arbeitsgebiet Flurfördertechnik war die Übernahme des damals größten französischen Gabelstaplerherstellers Fenwick 1984. Der Erwerb des angeschlagenen Unternehmens war für Linde ein „Schnäppchen“ und bedeutete zunächst 328 1981 wurde das Linde-Kühlhaus in Nürnberg, welches zu den ersten Kühlhäusern in Deutschland überhaupt zählte und seit 1910 in Betrieb war, wegen unrationeller Betriebsweise geschlossen. Diese Einstellung eines Kühlhausbetriebs war kennzeichnend für die Situation der Werksgruppe Kühlhaus in den folgenden Jahren. 329 1977 war von einem vierten Standbein schon nicht mehr die Rede. Zu den drei Pfeilern wurden von Meinhardt der Anlagenbau, die Technischen Gase und der Fahrzeug- und Maschinenbau genannt. „Drei große Zweige machen Linde krisenfest“ (Wiesbadener Tagblatt 1. 4. 1977). 330 Im Inland fertigte Linde in der Werksgruppe Güldner Aschaffenburg von nun an Gabelstapler mit Verbrennungsmotor, während der SE Fahrzeugwerke GmbH die Herstellung von Gabelstaplern mit Elektromotor überlassen wurde. Somit konnten beide Werke ihre führenden Marktstellungen weiter ausbauen. Geschäftsberichte der Linde AG (1973). 331 Meinhardt in: „Mit eiserner Hand“, Industriemagazin, S. 60, Februar 1984. Das Denken und die Unternehmenskultur der beiden Häuser in Hamburg und Aschaffenburg waren auch nach der Übernahme durch die Linde AG von gewissem Konkurrenzkampf geprägt, was ganz im Sinne der Konzernleitung war. Ein Beispiel dafür ist das Kopieren erfolgreicher Technik von der jeweils anderen Marke. Zwar gab es in der Frage der Zwei-Markenstrategie keine Opposition im Entscheidungsprozess, es war allerdings auch nicht möglich, die Richtigkeit der Mehrmarkenstrategie zu beweisen.
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4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse
nur die Stärkung auf dem französischen Markt, da Fenwick international nicht sonderlich bedeutend war. Allerdings konnte Linde damit seine Stellung in Europa festigen, um sich gegen die Importe in den europäischen Raum aus Fernost zu behaupten.332 Nachdem 1984 wesentliche Unternehmungen im Bereich Output durchgeführt waren, stellte sich Ende der zweiten Phase die Situation folgendermaßen dar. Die Produktion in Aschaffenburg wurde von Landwirtschaftsfahrzeugen auf Gabelstapler umgestellt und durch Zukäufe erweitert, viele Sparten und Produktionsbereiche wurden abgegeben (z.B. die Schweißtechnik, die Kühlschrankproduktion oder die Abteilung Kühlhäuser) und aus Sicht des Unternehmens galt eine „Optimierung des Portfolios“ innerhalb eines diversifizierten Unternehmens als abgeschlossen.333 4.3 Die Unternehmensentwicklung nach 1984 In der Zeit nach 1984 wuchsen die Unternehmensbereiche kontinuierlich und die Linde AG steigerte ihre Gewinne (vgl. Abb. 14).334 Die Führungsorganisation sowie die gesamte Organisation im Unternehmen waren nun straff organisiert, die Konzernzentrale in Wiesbaden konnte in den bedeutenden Grundsatzentscheidungen durchgreifen.335 Insbesondere Meinhardt nutzte, verkörperte und ermöglichte sie z.B. durch sein wiederholt als außerordentlich geschickt bezeichnetes Zusammenarbeiten mit den Arbeitnehmervertretern und den Anteilseignern im Aufsichtsrat der 1980er- und 1990er Jahre.336 332 333 334 335
Vgl. deutsche hebe- und fördertechnik, Dfh 12/84 409 S. 44 f. Vgl. Meinhardt (1988, 142). Vgl. dazu allg. Dienel (2005) und Geschäftsberichte der Linde AG ab 1984 sowie Tab. 6. Vgl. z.B. die Organisationspläne ab 1985. Unternehmensarchiv Linde AG, Höllriegelskreuth: Bestand Wiesbaden. 336 Dabei stellt sich die Ausgangssituation nicht gerade einfach dar. Meinhardts Durchsetzungsfähigkeit im Aufsichtsrat war gegenüber den Anteilseignern schließlich nicht immer gegeben: „Dann gab es aber für ihn [Meinhardt M.H.] die Möglichkeit, so geschickt war er, zu fragen, was denn mit der Arbeitnehmer-Seite ist. Das waren damals alles Leute, und so meine ich, ist das noch heute, die als Betriebsratsvorsitzende, (...) als Arbeitnehmervertreter in den einzelnen Werksgruppen oder Tochtergesellschaften etwas zu sagen hatten, so dass sie in den Aufsichtsrat gewählt wurden. Das ist alles leichter gesagt als getan. Bringen Sie einmal fünf Werksgruppen zusammen. Wie heißt das so schön: Jeder denkt an sich, nur ich denke an mich (lacht). Das hat aber funktioniert, es waren immer die Leute im Aufsichtsrat, die wirklich die Werksgruppen oder Tochterbetriebe repräsentiert hatten. Und dann hat er aus der Not eine Tugend gemacht und sie schlicht und ergreifend als Steuerungsinstrumente benutzt. Natürlich war damit verbundenen, dass er eine Hausmacht hatte mit acht Sitzen eines 16-köpfigen Gremiums. Damit hatte er zwar immer noch nicht die Mehrheit, weil der Vorsitzende ja doppeltes Stimmrecht hat, aber es war schon eine Hausmacht. Er brauchte also nur noch seinen besten Freund, Stren-
203
4.3 Die Unternehmensentwicklung nach 1984
Millionen DM
Umsatzerlöse des LindesKonzerns (nach Arbeitsgebieten)
3000 2500 784
2000
Anlagenbau und Verfahrenstechnik
467 406 466
1500 400
1000 500 0
734
479
329
432 338
344
503
550
408
446
Kältetechnik Flurförderzeuge und Hydraulik
591
681
775
99
94
111
108
108
1979
1980
1981
1982
1978
Technische Gase
682
674
Übrige Arbeitsgebiete
Abbildung 14: Die Umsatzerlöse des Linde-Konzerns, 1978-1982 (Quelle: Industriemagazin, Februar 1984, 59). 1984 und Jahre später wurden im Unternehmen keine Strategiedefizite (verglichen mit denen früherer Bedeutung) innerhalb der Linde AG ausgemacht. Auch ein Verhaltensdefizit, die fehlende Kooperationsbereitschaft auf Führungsebene, nahm die Linde AG zu dieser Zeit nicht mehr wahr.337 Andere Verhaltensdefizite, etwa mögliche Verkrustungserscheinungen, die sich auch mit der Person Meinhardt v.a. für die (späten) 1990-Jahre behaupten ließen, sind hier weder Gegenstand der Untersuchung, noch haben sie mit dem in der Organisation Linde selbst formulierten Verhaltensdefizit (zur Werksgrupger [Hermann Josef Strenger war von 1986-2001 im Linde-Aufsichtsrat, Anm. M.H.], unter den Arm zu fahren und dann hatte er immer die Mehrheit“ (IRSH-16, 17). 337 „Wenn Sie das erlebt haben, wie ich, wie erfolgreich das Unternehmen gewachsen ist, spricht das ja eigentlich für sich. In dieser Entwicklung, gibt es keine gravierenden Nachteile. Das heißt eigentlich, man würde es wieder so machen. Insofern sind wir davon überzeugt. Es ist eine einheitlich straffe Organisation, die ein geschlossenes System darstellt mit einer gewissen zentralen Ausrichtung, d.h. auch eine gewisse hierarchische Führung mit einer konsequenten Organisation. Das glaub ich, befähigt ein Unternehmen erfolgreich zu arbeiten. Auf allen Gebieten. Das hängt auch ein bisschen von den Produkten, der Art der Zusammensetzung der Arbeitsgebiete und von den Zielen ab, die man hat“ (I21S-125, 126).
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4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse
penautonomie) zu tun.338 Auch mögliche persönliche Verhaltensweisen können hier nur unter dem organisationalen Aspekt, der Umsetzung von Organisationszielen durch einzelne Akteure, betrachtet werden.339 Die Linde AG wuchs nach 1984 stetig und erfolgreich. Das Unternehmen gibt seit 1986 die Umsatzerlöse, Gewinne und Mitarbeiterzahlen für die „Weltgruppe“ an.340 4.4 Ergebniszusammenfassung Es wurde deutlich, dass das Modell des Akteurzentrierten Organisationslernens geeignet ist, komplexe organisationale Lernprozesse zu rekonstruieren und die Frage nach der organisationalen Entwicklung der Linde AG zu beantworten (vgl. Abb. 15). Dabei konnten sich die anfangs aufgestellten Hypothesen hinsichtlich einer Zweiteilung des Lernprozesses bestätigen lassen (vgl. 3). In Phase 1 (1954-1967) ergab die Untersuchung der Umweltwahrnehmung von Linde, dass Bedingungen existierten, die dazu führten, dass das Unternehmen Leistungsdefizite erkannte. Abteilungs- bzw. werksgruppenübergreifend hatte Linde Schwierigkeiten mit den veränderten Marktbedingungen, jedoch auch damit, dieses so zu sehen. So stand Linde im Anlagenbau, der Gasesparte, in der Kältetechnik und bei der Ackerschlepper- und Motorenfertigung vor fundamentalen Problemen. Als besonders klaffende Lücke kann ein Profitdefizit festgestellt werden, welches das gesamte Unternehmen in dieser Zeit kennzeichnete. Die Ergebnisse im Zusammenhang mit den Entscheiderpositionen sind überraschend. Entgegen den Modell-Annahmen konnte in dieser Phase nicht nur eine dominante Koalition ermittelt werden, sondern zwei. Die erste setzte sich aus der Unternehmensgründerfamilie Linde zusammen und war christlichtraditionell/forschungstechnisch orientiert. Ihre Dominanz drückte sich über die wenigen unternehmensweiten Investitionsmittel aus, die sie jedoch kaum im Sinne einer Gesamtorganisation einsetzte. Sie war zwar in der Lage, gewisse Schwierigkeiten bei Linde zu erkennen, konnte oder wollte diese jedoch nicht beheben. Die erste dominante Koalition war an grundlegenden Veränderungen nicht interessiert und kann daher als „konservativ“ bezeichnet werden. 338 Vgl. zu den Nachfolgeproblemen im Vorstand Dienel (2005, 349) sowie DIE ZEIT, Nr. 21/2003 vom 15.05.2003: „Sie wollen ewig herrschen“. 339 Zumindest in dieser Hinsicht, Linde als erfolgreich agierendenden Global Player zu sehen, hat sich Hermann Linde 1999 rückwirkend positiv über Meinhardts Einfluss auf das Unternehmen geäußert. Vgl. Interview Jakobsmeier: Hermann Linde (Juli 1999). Unabhängig davon haben die neuesten Aktivitäten im Bereich Corporate Heritage zu einer „Versöhnung mit der Firmenleitung“ unter Wolfgang Reitzle geführt (Linde today 2005, 4, S. 39). 340 Vgl. Geschäftsberichte der Linde AG nach 1986.
205
4.4 Ergebniszusammenfassung
Umwelt I/II Erhebliches Profitdefizit Struktur- , Verhaltens-, Strategieund Outputdefizit statisch, konservativ
Wahrnehmung von Leistungslücken organisationale
Organisationsstrategie Entscheidungsprozess
Linde AG I,II
Veränderung der Wissensbasis/
neue Führungsstruktur, neue/erste Unternehmensstrategie
„zündende Idee“
Lernen
Struktur/Output
on
andere Akteure
i sit
Verkauf Kühlschrankproduktion
(zweite) dom. Koalition
dynamisch, progressiv
po
erste zweite andere dom. dom. Akteure Koalition Koalition
Aufsichtsrat: Förderung Meinhardts als Innovator Wissenserwerb I: Gründung von Organisationsund Marktforschungsabteilung
Wissensbasis Entscheiderposition
Op
Wissenserwerb II: Bildung einer Unternehmensstrategie
keine grundsätzlichen Leistungslücken mehr (nach 1984)
Wahrnehmung der Umwelt
Entscheiderpositionen: Differenzen durch neue/erste Unternehmensstrategie
z.B. Umstellung auf Gabelstapler, Verkauf Kühlhäuser und Maschinenbau
Umwelt II/III
Lernen I bis 1967
Lernen II bis 1984
Abbildung 15: Akteurzentriertes Organisationslernen im Fall der Linde AG Die zweite dominante Koalition erfasste Linde als Gesamtunternehmen und nahm besonders die Defizite/Leistungslücken wahr. Sie war vorwiegend ökonomisch orientiert und setzte sich überwiegend aus familienfremden Entscheidern zusammen, die zunächst zwar nicht über Investitionsmittel Einfluss ausüben
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4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse
konnten, dafür aber mit strukturellen Lösungen operierten. Sie wollte dem bis dahin operational unbedeutenden Vorstand der recht autonom geleiteten Werksgruppen mehr Aufgaben und eine größere Bedeutung zukommen lassen. Dabei ging es darum, die Arbeit im Vorstand zu ändern und das bisherige „NichtEinmischungsprinzip“ eines Vorstandsmitglieds in Arbeitsgebiete des jeweils anderen aufzugeben und die Einrichtung eines Exekutivorgans zu erwirken. Dazu sollte die Zentralverwaltung als Instrument der Unternehmensführung gestärkt werden. Die Dominanz dieser Koalition offenbart sich in den Möglichkeiten, die deren Zentralakteur Meinhardt besaß. Er wurde früh vom Aufsichtsrat gefördert und engagierte sich stark im Aufbau neuer Abteilungen (Organisation und Marktforschung) und das sowohl in der Zentrale als auch in den einzelnen Arbeitsgebieten, ohne umfangreichen formalen Entscheidungsprozessen unterworfen zu sein. Damit zeigte Linde seinen ersten Lernprozess, der aufgrund erkannter Organisations- und Profitdefizite zu einer neuen Struktur führte (Wissenserwerb I). Im Gegensatz zur ersten dominanten Koalition kann die zweite als „fortschrittlich“ und konstruktiv bezeichnet werden, weil sie konkret versucht hat, die erkannten Leistungsdefizite zu beseitigen. Aufgrund dieser Verhaltensweisen kann hier von zwei dominanten Koalitionen gesprochen werden, da sie sich auf zwei unterschiedlichen Gebieten (Finanzen/operatives Geschäft versus Struktur/Planung) jeweils durchsetzen konnten und sich nicht in ihren Handlungsweisen behinderten. In der Organisationsstruktur brachte die erste Phase entscheidende Veränderungen mit sich. Dazu gehören die Abteilungsgründungen im Bereich Organisation und Marketing, die sich sowohl auf die Zentrale als auch auf die einzelnen Werksgruppen erstreckten. Insbesondere die Organisationsabteilung verhalf der Zentralverwaltung zu mehr Einfluss in den Werksgruppen. Ein besonders auffälliges Ergebnis dieser Phase ist auf operativer Ebene festzuhalten: die klare Entscheidung, sich von den Haushaltskühlschränken zu trennen. Damit kann der Wissenserwerb I in zweifacher Hinsicht beschrieben werden. Linde hatte bis 1967 nicht nur Defizite in Struktur und Profit wahrgenommen und mit strukturellen Maßnahmen zu beheben versucht. Das Unternehmen hat dadurch auch einen Wissenserwerb zum Ausdruck gebracht, der sich auf den Output bezog: Der Verkauf der Kühlschrankproduktion basierte auf den Erkenntnissen der Marktforschung und damit auf neuem Wissen aus einer neuen Abteilung. So kann nach Untersuchung der ersten Phase (1954-1967) mit dem Wissenserwerb I im Sinne des Ausgangsmodells ein grundlegender Wandel in Struktur und Output festgestellt werden. In Phase 2 (1968-1984) bezog sich die Wahrnehmung der Umwelt seitens der Linde AG vor allem auf die Märkte und besonders auf die USA. Dabei
4.4 Ergebniszusammenfassung
207
machte sich die neue Unternehmensstruktur und somit die Arbeit der Marktforschung bemerkbar. Auch wenn die Organisationsfachleute und Marktforscher schon in der ersten Phase aktiv waren, verschärfte sich nun der Eindruck bisheriger Beobachtungen und es wurden neue Leistungslücken bei Linde entdeckt: Verhaltens-, Struktur- und Strategiedefizit. Damit konnte am Fall Linde nachgewiesen werden, inwieweit eine Differenzierung der „performance gaps“ bedeutend ist und wie sie als Indikatoren für das Organisationswissen fungieren. Der Wissenserwerb, der sich im Wesentlichen auf die Organisationsabteilung, die Marketingabteilung sowie die Meinhardt-Visite in den USA zurückführen lässt, gestaltete sich unterschiedlich. Während die Organisationsabteilung „fertiges Wissen“ zu Struktur- und Ablaufplänen in das Unternehmen implantierte, war die Marktforschungsabteilung eine spezielle Einrichtung zur Wahrnehmung der Umwelt. Sie sollte die dort vorhandenen Leistungslücken schließen. Der Wissenserwerb bewirkte aber auch das Erkennen einer neuen Leistungslücke. So wurde im Rahmen der Überlegungen zum Verkauf der Kühlschrankfertigung klar, dass eine eigene Strategie nötig war, um in Entscheidungen dieser Art eine Richtlinie zu haben (Wissenserwerb II). Nach der neuen Organisationsstrategie sollte Linde auf vier Sparten reduziert werden, die zwar ähnlich - nämlich technologisch - ausgerichtet sein sollten, aber doch so unterschiedlich waren, dass sie sich innerhalb der verschiedenen Konjunkturzyklen ausgleichen konnten. Die damit verbundenen Ziele waren gleichstarke Arbeitsgebiete und deren jeweilige Marktführerschaft, geleitet von einem kleinen, aber schlagkräftigen Vorstand. Jedes Vorstandsmitglied sollte ein Arbeitsgebiet betreuen. Der Entscheidungsprozess in der Linde-Führung ab 1968 war vor allem von der Verwirklichung der „Neugliederung der Unternehmensorganisation“ geprägt. Es ging um die bisher erkannten Leistungslücken und damit um die Führungsstruktur. Im Gegensatz zur ersten Phase gab es bald nur noch eine dominante Koalition, die sich aus den Teilnehmern der zweiten dominanten Koalition zusammensetzte, weil ein Generationenwechsel im Vorstand stattfand. Der Entscheidungsprozess war, im Gegensatz zur ersten Phase, vom Vorstand geprägt, während der Aufsichtsrat allmählich an Bedeutung verlor. Ziel der dominanten Koalition war weiterhin die Stärkung des Vorstands und der Zentralverwaltung, da sich eine solche Entwicklung ja erst Ende der Phase 1 vollzog und noch nicht voll funktionierte. Hinzu kam die Bestrebung, die neue Unternehmensstrategie umzusetzen. Schließlich weitete sich die zweite dominante Koalition aufgrund des Generationswechsels und der Personalstrategie aus. Unterdessen schälte sich aus der ersten dominanten Koalition nur noch ein Akteur heraus, der sich in vielen Fragen der Führungsstruktur konträr verhielt:
208
4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse
der Enkel des Unternehmensgründers, Hermann Linde. Er wollte u.a. die Dezentralität im Linde-Konzern der vergangenen Jahre aufrechterhalten und setzte sich besonders für den Linde-Standort München und vor allem für die Autonomie des Anlagenbaus ein. Dieser Konflikt wurde letztlich zwischen Meinhardt und H. Linde ausgetragen, an dessen Ende H. Linde schließlich als einziger Opponent das Gremium, ja sogar das gesamte Unternehmen, im Dissens verließ. Wenn sich die weit reichenden Entscheidungen der ersten Jahre von Phase 2 besonders mit Inhalten struktureller bzw. führungsorganisationaler Art beschäftigten, so spielten danach die operativen Entscheidungen eine Hauptrolle. Die Organisationsstruktur wurde in dieser Zeit vor allem im Rahmen eines Ausbaus verändert, da auf diesem Gebiet die wesentlichen Neuerungen schon vorhanden waren: Die Abteilung Organisation verstärkte sämtliche Bestrebungen in Richtung Spezialisierung, Koordination, Konfiguration, Entscheidungsdelegation und Formalisierung. Entsprechend den Tendenzen im Entscheidungsprozess spielten die operationalen Aktivitäten (Output) der Linde AG eine stärkere Rolle als noch in Phase 1. Die zahlreichen Veränderungen auf dem operativen Sektor, die sich in Verkauf, Abgabe, Kauf und Ausbau eigener und fremder Unternehmenseinheiten niederschlugen, zeugen von dieser Tatsache wie z.B. die Abgabe der Schweißtechnik oder der Einstieg Lindes in die Gabelstaplerproduktion und damit die Käufe von STILL und Fenwick. Besonders bemerkenswert dabei ist der Aufschwung, den das Unternehmen nun vollbrachte. Das gilt besonders für die Entwicklung bzw. Unterstützung der Sparte Flurfördertechnik und Hydraulik (Aschaffenburg). Während Phase 1 mit den Umstrukturierungsarbeiten und dem Entwurf eines neuen Vorstandskonzepts endet, beginnt die zweite Phase mit dessen Umsetzung und schließt mit den Verkäufen der Kühlhäuser sowie der Kolben- und Turbomaschinenproduktion 1984 ab. Damit endete das Anfang der 1970er Jahre auf zehn Jahre angelegte Vorhaben Meinhardts, das Leistungsprogramm der Linde AG zu straffen und neu auszurichten. Der Vorstand war mittlerweile die führende Kraft des Gesamtkonzerns, der Vorstandsvorsitzende, Meinhardt, der Lenker der Lenkenden. In das Ende dieser Phase fiel der Beginn einer Ära, die als „statischer Wandel“ bezeichnet werden kann. Die Strukturen und die Strategie waren gefestigt. Der „dynamische Wandel“ war abgeschlossen. Der hier rekonstruierte Prozess eines dreißigjährigen Strukturwandels ist gleichzeitig ein bedeutender Teil der Linde-Unternehmensgeschichte. Die Organisation Linde ging aus einer existenzgefährdenden Situation als Gewinnerin hervor. Sie verfügte zu Ende des Untersuchungszeitraums nicht nur über eine strategische Grundausrichtung, eine neue Struktur sowie einen neu organisierten Vorstand. Sie steigerte auch kontinuierlich ihre Gewinne.
4.4 Ergebniszusammenfassung
209
Die zuvor als Herausforderung beschriebene Problematik konnte in der Darstellung des Lernprozesses einer Organisation präzisiert werden (vgl. 2.3.3). Die Auseinandersetzung mit dem mikropolitischen Kontext des Ausgangsmodells, also die Nutzung der dominanten Koalition als (ein) Erklärungsfaktor für Organisationslernen, brachte es mit sich, schon recht bald in der Auswertungsphase mit einem theoretischen Konstrukt zu arbeiten, das es erleichtern sollte, den Lernprozess der Linde AG theoretisch angemessen und gut nachvollziehbar zu beschreiben, da dieser sich zunehmend als unübersichtlich herauszustellen begann. So können die Elemente der Prozessrekonstruktion als Bestandteile organisationalen Lernens, als Lernelemente bezeichnet werden.341 Darunter sind Fakten, Situationen, Handlungen oder sonstige Ausdrücke der Realität zu fassen, deren Eigenschaft sich auf die Beschreibung eines Lernprozesses beziehen lässt. Einzeln sind sie lediglich Bestandteile der Organisationsgeschichte (z.B. Personalabbau, hohe Herstellungskosten oder Strategien). Theoretisch und empirisch können Lernelemente durch Variablen erfasst werden. Für die OL-Untersuchung können Lernelemente in organisationalen Wahrnehmungen, Verkäufen, persönlichen Charakteristika oder Erlebnissen der Akteure oder anderen Einzelteilen des gesamten Lernprozesses gesehen werden. Sie sind Bestandteile der Realität und somit nicht an theoretische Bezüge gebunden, obwohl diese sie in deren Konkretisierung unterstützen.342 Eine typische Eigenschaft der Lernelemente ist etwa die Kontinuität, die in einem ablauforientierten Analysemodell nicht als Ereignispunkt darstellbar ist oder die Vielseitigkeit, die dazu führt, dass ein Lernelement sich auf verschiedene Variablen (gleichzeitig) auswirkt. Dies soll für den untersuchten Fall exemplarisch am Lernelement „Aschaffenburg“ verdeutlicht werden (vgl. Abb. 16).
341 Damit sind weder die „Elemente des organisationalen Lernprozesses“ im Sinne Pawlowskys gemeint (vgl. 2.4) noch die transhistorischen Elemente von Lawrence (1984). 342 Vgl. das Phänomen der Rekursivität (v.a. 2.2 und 2.5).
Output
Struktur
Lernen/ Veränderung Wissen
Entscheidungsprozess
Organisationsstrategie
Dominante Koalition, andere Akteure, Opposition
Entscheiderposition
Organisationale Wissensbasis
Wahrnehmung von Leistungslücken
Wahrnehmung der Umwelt
Umwelt Planungseuphorie
1965
Marktwissen FH
Umstellung auf FH Kauf von STILL
Mehrmarkenstrategie
STIL als Linde-Subkultur
1985
Kauf von Fenwick
1980
Relaunch Firmenzeitschrift Gründung Kauf von Fenwick Marketingabtlg. hist. Trennung von Abgabe Schlepperanderen Werksgruppen Einstieg in FH produktion STILL produziert anderen Antrieb Aschaffenburg als Linde-Subkultur
Planungseuphorie
H. Linde gegen Ausbau Aschaffenburg
Zukäufe: Marktführerschaft
Produktinnovation Marktorientierung
Bildung einer Organisationsstrategie
1975
STILL in Problemen
1970
Meinhardt in Pöhlein pro Meinhardt Aschaffenburg und Wiesbaden Aschaffenburg AR pro Meinhardt erscheint Meinhardt rationalisierbar
Entwicklung Hydrocar
Existenzkrise Linde Schlepper- u. Traktorenbau kaum erfolgreich
Traktoren: Abhängigkeit Marktanalysen von Landwirtschaft
Marktsättigung Traktoren
1960
210 4 Die Linde AG von 1954-1984: Rekonstruktion zweier Lernprozesse
Abbildung 16: Lernelemente der Linde AG am Beispiel der Produktumstellung auf Flurförderzeuge, 1954-1984.
4.4 Ergebniszusammenfassung
211
Im Fall Aschaffenburg wurden die Lernelemente überwiegend auf einzelne Variablen bzw. Dimensionen bezogen. Erreichen Lernelemente jedoch einen gewissen „Umfang“, bzw. können sie als Bündel oder Komplex bezeichnet werden, wie etwa ein Kauf, dann ist ihr Erscheinen in bestimmten Dimensionen/Variablen mehrfach möglich.343 Diese Feststellung ist insofern von Bedeutung, als dass sie die Komplexität und Problematik der Darstellung von (historischen) organisationalen Lernprozessen auszudrücken hilft. Der Blick auf (besondere) Lernelemente verdeutlicht also das Überlagern verschiedener Perspektiven auf eine ungeheuer komplexe Ereignis- und Zustandsstruktur. Letztlich gleichen Lernelemente der russischen Matroschka, der Puppe in der Puppe: Der „Kauf von Fenwick“ ist ein eigenständiger Prozess, der selbst aus vielen Lernelementen rekursiv zusammengesetzt ist. Er ist aber zugleich auch Teil des Lernelements „Aschaffenburg“. Mit dem Lernelement „Aschaffenburg“ kann seinerseits wieder gut die Handlungsweise der zweiten dominanten Koalition beschrieben werden: als „Lieblingskind“ Meinhardts; es kann als Primus im Lernprozess (Wissensbasis/Produktinnovation) oder als Beispiel für die Produktreduktion (Outputveränderung) fungieren. Meinungsbildungsprozesse und Denkungsarten sind schwer nachweisbar. Mit dem Begriff der Lernelemente kann es gelingen, sowohl die Komplexität konkret darzustellen und dabei die prinzipielle Erfassbarkeit abstrakter Modelle zu zeigen, auch wenn synchrone und asynchrone Handlungen, Einstellungen und Außeneinflüsse dies nicht gerade erleichtern. Da Lernelemente nicht theoriegebunden sind, können sie auch als einer Interpretation „vorgeschaltet“ bezeichnet werden. Sie sind nicht zuletzt in ihrer Masse kaum zu bändigen und von daher ist jeder Versuch einer qualifizierten Selektion Beginn einer Interpretation.
343 In Abb. 16 rund dargestellt. Umfangreiche Lernelemente sind eckig dargestellt.
5 Ergebnisinterpretation: Machtstabilisierendes Organisationslernen in zwei Double-Loop Learning-Prozessen
Bei der Antwort auf die Ausgangsfrage, ob und wie bei Linde organisationale Lernprozesse der Vergangenheit prägend für die Zukunft (also für die Zeit ab 1967) waren (vgl. 3), basieren die Untersuchungsergebnisse der Prozessrekonstruktion (vgl. 4), ebenso wie die Ergebnisinterpretation auf dem Modell akteurzentrierten Organisationslernens (vgl. 2.5, Abb. 8). Die Organisation Linde hat in Phase 1 gelernt, eine existenzbedrohende Krise selbständig zu bewältigen, in dem sie sich systematisch dem Käufermarkt stellte und die organisationale Norm brach, bedeutende Unternehmensteile nicht zu verkaufen. Daraus lernte sie in Phase 2, dass eine eigene Unternehmensstrategie nötig ist, um systematisch über Entscheidungen in Struktur und Output die organisationale Existenz zu sichern. Eine Interpretation des gesamten Lernprozesses als machtstabilisierendes Organisationslernen verdeutlicht, warum sich dieser über einen so langen Zeitraum vollzog. Im Zusammenhang mit den beiden Phasen und den empirisch nachweisbaren Resultaten auf struktureller und operativer Ebene wird deutlich, dass zunächst ein Strukturwandel, verbunden mit einem Outputwandel zu Ende von Phase 1, stattfand, während sich eine Strategiebildung langsam und gewissermaßen latent entwickelte und erst in Phase 2 die wirklich wichtigen Veränderungen für das Unternehmen auf operationaler Ebene durchgeführt wurden. Die unterschiedlich große Bedeutung der Lernfaktoren für den Wandel der Linde AG ist in Abb. 17 dargestellt. Gegen Ende des gesamten Lernprozesses (1984) finden Wahrnehmungen von negativen Leistungslücken statt (vgl. Duncan/Weiss 1979, 120): Das organisationale Lernen ist erfolgreich gewesen.344
344 Nach Duncan/Weiss (1979) kann Linde nach Abschluss der organisationalen Lernprozesse als effektive Organisation bezeichnet werden: - die dominante Koalition verfügte über das Wissen um den Zusammenhang von Handlung und Ergebnis, so dass bestimmte Aktionen das angestrebte Ziel erreichen konnten - sie konnte erkennen, ob und welche Umweltbedingungen sich verändert hatten, die zu orga nisationalen Konsequenzen führen mussten und
M. Herzog, Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse, DOI 10.1007/978-3-531-93198-2_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Entscheiderposition
Verkauf der Kühlschrankherstellung im Bereich Kältetechnik, Vorbereitung der Umstellung auf Flurfördertechnik und Hydraulik
Neubildung von Abteilungen: Organisation und Marktforschung in Zentrale und Werksgruppen
Strukturwandel nötig, Förderung Meinhardts, neue Vorstandsfunktionen
Entwicklung einer Strategie z.B. durch US-Aufenthalt Meinhardts
zweite dominante Koalition
Entscheidungsprozess/ Lernen
1980
Ausrichtung des Output Leistungsprogramms v.a. Ausbau (-änderung) Flurfördertechnik und Hydraulik
Ausbau der Struktur v.a. Formalisierung, Koordination und Spezialisierung
Ausrichtung des Leistungsprogramms, Umzug Zentrale innerhalb Wiesbadens, Vorstandsumgestaltung
Strategie wird verstärkt umgesetzt
zweite dominante Dominante Koalition setzt sich in Koalition Umsetzung der Strategie gegen andere Akteure durch
Meinungsverschiedenheiten im Vorstand (dominante Koalition versus Opposition)
Wahrnehmung von Leistungslücken Strukturwandel wird als Erfolg angesehen
Phase 2
1975
Struktur (-änderung)
Strategie
Entscheiderposition
1970
Output (-änderung)
Struktur (-änderung)
Entscheidungs- Strategie prozess/ Lernen
Erste dominante Koalition verfügt über erste dominante Invesititionsmittel, Koalition zweite dominante Koalition setzt auf Struktur
erste und zweite dominante Koalition Stärkung der Zentrale
1965
Wahrnehmung von Leistungslücken
Phase 1
1960
Wahrnehmung der Umwelt
Drohender Konkurs, Strukturdefizit, Strategiedefizit, Marketing fehlt
turbulente Umwelt: Umstellung auf den Käufermarkt
1955
214 5 Ergebnisinterpretation
Abbildung 17: Die Bedeutung der Lernfaktoren für den Lernprozess der LindeAG, 1954-1984
sie war in der Lage, die wechselseitigen Abhängigkeiten verschiedener Handlungen innerhalb der Organisation zu erkennen und die Interdependenzen einzelner Aktionen im Entscheidungsprozess zu berücksichtigen.
5.1 Der Verkauf der Kühlschranksparte als Normenveränderung 215
Wie aber kann der Aufbau zweier double-loop learning-Prozesse begründet werden? Dazu bedarf es einer näheren Betrachtung der Strategien, Normen, Werte und Ziele. 5.1 Der Verkauf der Kühlschranksparte als Normenveränderung und Ergebnis des ersten Lernprozesses Der organisationale Lernprozess der ersten Phase wird - insbesondere bezogen auf den Output - vor allem durch die Variablen „Wahrnehmung der Umwelt“ und die „Wahrnehmung von Leistungslücken“ geprägt. Die Wahrnehmung der Umwelt seitens der Vorstände der frühen ersten Phase war getrübt (vgl. „Kompetenzfalle“, Levitt/March 1988). Die erste dominante Koalition, insbesondere die Linde-Familie, konnte, bezogen auf das gesamte Unternehmen, nicht entsprechend auf den Käufermarkt reagieren, wenn sie ihn als Ganzen überhaupt bewusst erlebte und wahrnahm. Dabei können Übereinstimmungen mit den „symptoms regarding ineffective adaptablity“ festgestellt werden (Duncan/Weiss 1979, 117): Zunächst gab es eine Tendenz zu warten, bis ernste Probleme auftauchten, die gelöst werden mussten. Das Management irrte in den Vorhersagen künftiger Entwicklungen, wenn denn überhaupt solche in ernstzunehmendem Umfang bestanden. Die Organisation hatte zunächst kaum die SchlüsselInformationen, um an geeigneter Stelle effiziente Entscheidungen zu fällen. Sie war kaum fähig, Umwelt-Problematiken richtig einzuschätzen, und nicht in der Lage, schnell genug zu reagieren. Die zweite dominante Koalition machte die erste dominante Koalition für diesen Zustand verantwortlich, womit die Bedeutung von Problemdefinitionen nachgewiesen werden konnte und deren Einfluss auf die Dauer organisationalen Lernens (vgl. Kerlen 2003). Als Wahrnehmung von Leistungslücken hatte die erste dominante Koalition allenfalls die Erkenntnis, dass sich Linde insgesamt in einer Lage befand, die gezeichnet war von voranschreitenden wirtschaftlichen Problemen, die seitens der zweiten Koalition viel ernster genommen wurden. Letztere erkannte auch, und hier vor allem die Förderer Meinhardts, dass es dabei personelle Ursachen für diese Misere gab, und nahm darüber hinaus ein Strukturdefizit wahr. Vor allem aber die Ansicht, dass die falschen Personen an den entscheidenden Stellen saßen, bewegte die zweite dominante Koalition dazu, Meinhardt als Reformer zu fördern, da sie die erste dominante Koalition selbst (noch) nicht ohne weiteres schwächen konnte. So sollte diese Lücke erst einmal, wenn auch notdürftig, versorgt werden und Meinhardt konnte die Abteilung Organisation aufbauen. Als „Lernträger“ können demnach Meinhardt selbst sowie dessen Förderer und Mitstreiter identifiziert werden.
216 5 Ergebnisinterpretation Dies jedoch zog eine weit reichende Konsequenz mit sich. Meinhardt war nämlich nicht nur in der Lage, Linde zunächst strukturell zu ordnen und so zu „kontrollieren“, er registrierte gleichzeitig ein weiteres Problem, das selbst seine Förderer nicht unbedingt anerkannten, wenngleich es bald darauf beseitigt wurde: das Fehlen einer Marktforschung. Diese strukturellen Änderungen, die als Moment der Strukturation bzw. als Wissenserwerb I bezeichnet werden können, führen entsprechend dem Ausgangsmodell zu einem Lernergebnis (Output), das sich aus der Struktur heraus als organisationale Handlung empirisch nachweisen lässt: der Verkauf der Kühlschranksparte 1967. Über Umweltwahrnehmungen und das Erkennen von Leistungslücken führte der Entscheidungsprozess (beeinflusst von einer erstarkenden zweiten dominanten Koalition bzw. den neuen Handlungsroutinen der Marktforschung) zu einer Veränderung der organisationalen Wissensbasis, so dass Linde sich schließlich von der Kühlschrankherstellung trennte. An dieser Stelle spielt die Veränderung der Wissensbasis der Linde AG innerhalb des untersuchten Zeitraums eine bedeutende Rolle. Mit diesem Lernergebnis wird die Phase 1 abgeschlossen, da sie den ersten double-loop learningZyklus „beendet“: Einen Unternehmensteil zu verkaufen, war für Linde in der damaligen Zeit neu. Damit löste sich die Organisation von dem bis dato verfolgten Grundmuster, keine Unternehmensteile, schon gar nicht größere - wie die Kühlschrankproduktion sie war und dabei noch über ein beträchtliches und letztlich Lindes größtes Image verfügte - abzustoßen. So wurde im Sinne des Schleifenlernens die bisher unausgesprochene Norm, Geschäftsteile nicht aufzugeben, verlassen. Zwar gab es in der ersten Phase weitere Veränderungen, die sich als markant bezeichnen lassen; jedoch waren diese entweder bloße Strukturveränderungen, die sich letztlich als erfolglos herausstellten (Verlagerung der Großkälte zu Beginn der 1960er Jahre von Wiesbaden nach Sürth) oder sie beeinflussten nicht das gesamte Unternehmen, auch wenn sie durchaus erfolgreich waren (Einstieg in den Großanlagenbau in Höllriegelskreuth), so dass sie lediglich als single-loop learning zur Erreichung der jeweiligen Werksgruppenziele bezeichnet werden können und nicht etwa zur Änderung der Grundmuster oder Basisannahmen des gesamten Unternehmens führten. Damit kann das Problem multipler und synchroner Lernprozesse auf unterschiedlichen organisationalen Ebenen verdeutlicht werden (vgl. Levitt/March 1988, 324) und dass im „Maschinenraum Strukturation“ weitere Motoren organisationalen Lernens liefen. Insgesamt ist der Lernprozess bis 1967 auch deshalb bedeutend, weil er zu einem erheblichen Teil Einfluss auf Phase 2 ausübte.
5.2 Die Normenveränderung als Basis des zweiten Lernprozesses:
217
5.2 Die Normenveränderung als Basis des zweiten Lernprozesses: Entwicklung und Umsetzung einer Organisationsstrategie Während die erste Phase v.a. auf operativer Ebene nur den Ansatz eines doubleloop learning zeigt, weist die zweite Phase deutlichere Züge eines double-loop learning auf und kann stellvertretend für die Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse und wesentlichen Ergebnisse des ersten Lernzyklus gesehen werden. Obwohl mit dem Verkauf der Kühlschrankproduktion ein echter Einschnitt verzeichnet und aus OL-theoretischer Perspektive Phase 1 als „beendet“ erklärt werden kann, ging mit der Trennung vom Traditionsprodukt Kühlschrank und den damit verbundenen Erkenntnissen das Organisationslernen der Linde AG weiter. Die folgenden Gründe sollen den Einfluss des Lernens aus Phase 1 (t 0) auf das Lernen der Phase 2 (t1) verdeutlichen. 1.
2.
3.
4. 5.
Strukturelle und personelle Lernelemente der ersten Phase hatten sich bewährt, mindestens aber etabliert: Die Abteilung Marktforschung spielte bei den Überlegungen zum Verkauf der Kühlschrankproduktion eine entscheidende Rolle. Die Wahrnehmung der Umwelt wurde durch die Abteilungsbildung in einer neuen Struktur institutionalisiert. Meinhardts Ansehen als Repräsentant dieser neuen Arbeitsmethoden und des neuen Wissens wuchs (Entscheiderposition/Entscheiderprozess). Die Erkenntnisse und Handlungen der neuen Abteilungen Organisation und Marktforschung, die mit den Strukturänderungen im Rahmen des Wissenserwerbs I entstanden, vertraten die für Linde ungewöhnliche Option des Verkaufs (Veränderung der Wissensbasis). Das Unternehmen Linde erkannte, dass der 1967 erfolgte Verkauf einer bedeutenden Produktion wirtschaftlich nötig und „gut“ war. Wichtiger für die latenten Verhaltensmuster war aber: Verkäufe von Unternehmensteilen wurden bei Linde praktiziert! Sie stellten nun reale Optionen des Unternehmens (Veränderung der Wissensbasis/Outputänderung) dar: Neue Handlungsroutinen/Strukturen waren geschaffen, so dass weitere Momente der Strukturation organisationalem Lernen zugeschrieben werden können. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren nach 1967 nicht behoben. Veränderungen waren weiter erforderlich und Linde war aus der Gefahrenzone noch längst nicht heraus (Wahrnehmung von Leistungslücken/Profitdefizit). Bereits begonnene Änderungsprozesse, wie etwa die Umstrukturierung der Führungsorganisation mit Exekutivorgan und starker Konzernzentrale, waren nach wie vor nötig (Wahrnehmung von Leistungslücken/Strukturdefizit).
218
5 Ergebnisinterpretation
Die Problematik, von „beendeten“ Lernprozessen zu sprechen, bzw. der Charakter von Strukturation wird an dieser Stelle besonders deutlich. Meinhardt und seine Kollegen erkannten im Zuge der Überlegungen des Verkaufs der Kühlschrankproduktion schon vor 1967, dass sie zwar über eine gewisse Marktforschung verfügten, sich die so gewonnen Informationen jedoch nur dann sinnvoll einsetzen ließen, wenn sie in den Kontext langfristiger Ziele eingebunden werden konnten. Doch diese marktbezogene Vorstellung fehlte bei Linde bisher völlig und damit war eine weitere Leistungslücke entdeckt: Linde fehlte eine Organisationsstrategie. Die Auseinandersetzungen um eine Organisationsstrategie ist als weiterer fundamentaler Lernvorgang der Linde AG zu bezeichnen. Die so entwickelte Strategie gab den folgenden Veränderungen im Rahmen des Schließens der gesamten Leistungslücken einen gemeinsamen Sinn: Es galt, Linde als gesamtes Unternehmen, ausgesetzt einer turbulenten Umwelt, in den einzelnen Arbeitsbereichen zum Marktführer zu machen: eine typische strategische Wahl, die Stabilität in die Organisation bringen sollte (vgl. Child 1972). Damit lernte Linde zum zweiten Mal in wenigen Jahren so fundamental, dass auch in der zweiten Phase von einem double-loop learning gesprochen werden kann. Vor OL-theoretischem Hintergrund ist im Falle der Linde AG zudem eine Besonderheit zu verzeichnen. Während in den Modell-Vorstellungen (vgl. z.B. Argyris/Schön 1978, Duncan/Weiss 1979) bereits von Basisannahmen, insbesondere von Strategien, die für die Organisation kennzeichnend sind, ausgegangen wird, konnte hier der Entstehungsprozess einer Strategie dokumentiert werden. Das double-loop learning zeichnet sich in der vorliegenden Untersuchung also nicht nur durch Veränderungen der Basisannahmen aus (t0), sondern auch dadurch, dass sie geschaffen wurden (t1). Dies zeugt vom kreativen Aspekt organisationalen Lernens hinsichtlich der Strukturation. Es konnte belegt werden, wie Akteure Strukturen und routinisierte Handlungen neu gestalten: Die Führungsorganisation spielte im wahrsten Sinne des Wortes eine zentrale Rolle, denn die Organisationsstrategie ging von einem kleinen zentralen Vorstand aus, der nicht nur für sein zu betreuendes Arbeitsgebiet verantwortlich war, sondern auch Entscheidungen, die das gesamte Unternehmen betrafen, fällen sollte. So wurden die Vorstandsmitglieder dazu veranlasst, über ihren früheren Zuständigkeitsbereich, die eigene Werksgruppe, hinauszublicken (vgl. z.B. das „Aufbrechen“ der „communities of practise“ bei Brown/Duguid 1991). Damit erfolgte eine Stärkung der Zentrale und deren Kontrolle über die einzelnen Arbeitsgebiete im Interesse der gesamten Linde AG. Das in den neuen Vorstellungen vorgesehene Exekutivorgan war nun die letzte Instanz in der Frage, ob die Unternehmensstrategie erfolgreich umgesetzt wurde, und sie war es auch, die notfalls über die Köpfe des Vorstands hinweg Entscheidungen fällen konnte.
5.2 Die Normenveränderung als Basis des zweiten Lernprozesses
219
Mit der Verfestigung und dem Ausbau der Organisationsstrukturen ging gleichzeitig ein Personalwechsel einher. Ab 1968 gab es zunehmend Mitarbeiter, die unter der Führung der zweiten dominanten Koalition eingestellt wurden und diesen Kurs mittrugen. Anfang der 1970er Jahre war die Organisationsstrategie im Prinzip entwickelt und wurde kaum noch verändert (Struktur). Nun ging es vielmehr darum, die daraus resultierenden Vorstellungen im gesamten Unternehmen zu integrieren (Handlung). Dazu wurde das organisationale Wissen der einzelnen Arbeitsgebiete durch die Zentralverwaltung gezielt ausgetauscht, so dass nicht nur sie selbst über ein besseres Wissen der Lage vor Ort verfügte, sondern auch die Manager zwischen den Unternehmensteilen „Wissensbrücken“ schlagen konnten345. Die Berücksichtigung der verschiedenen Konjunkturzyklen als sich ausgleichende Faktoren eines Gesamtunternehmens stärkten das Bewusstsein, in einem Gesamtzusammenhang zu denken und zu handeln und nicht nur auf die eigene Werksgruppe zu achten. Als Beispiel dieser neuen Normen, Werte und Ziele kann die Umgestaltung der Firmenzeitschrift gesehen werden, welche die unternehmensweiten Arbeitsfelder stärker hervorhob und v.a. mehr Informationen über die Aktivitäten des gesamten Unternehmens brachte als je zuvor (vgl. „espoused theory“/ 2.4.2). Linde verfügte über alle vier Wege, auf die Performance gaps zu reagieren (vgl. Duncan/Weiss 1979): formale empirische Methoden (z.B. die Verfahrensweisen der Marktforschungsabteilung), Erfahrungslernprozesse (etwa die Experimente, die dazu führten, dass die Technologie in Aschaffenburg auch den Ausbau der Flurförderzeuge ermöglichte), „arm chair theoryzing“, verkörpert durch die strategischen Überlegungen Meinhardts, sowie „fremde“ Wissensquellen, wie etwa die Erkenntnisse der Unternehmensführung, die Meinhardt aus den USA mitbrachte, oder die Ergebnisse von Unternehmensberatungen, und letztlich auch (zumindest als Mischform) das Wissen der von Meinhardt neu eingestellten Marktforscher und Studienfreunde, die neues Wissen in das Unternehmen brachten. Die Linde AG war Ende der zweiten Phase nicht nur „aus dem Minus“, sondern steigerte ihre Gewinne und entwickelte sich in allen Arbeitsgebieten in Richtung Marktführerschaft im Sinne der Organisationsstrategie. Das zweite double-loop learning der Linde AG war „abgeschlossen“. 346 345 Vgl. auch die „lateral relations“ bei Duncan/Weiss (1979, 109). 346 Obwohl und gerade weil sich an diesem Punkte 1.) die Wahrnehmung „der“ Umwelt, 2.) die Wahrnehmung „der“ Organisation und 3.) die Interpretation gleichen, sei darauf hingewiesen, dass – auch heute noch – alternative Betrachtungen (z.B. von der damaligen Opposition) möglich sind. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass es sich hierbei nicht um eine ökonomische Analyse handelt und die Geschäftsergebnisse demzufolge nicht detailkritisch untersucht werden sollten. Auch geht es nicht um eine Wertung im Sinne besserer Alternativen (vgl. Levitt/March 1988, 324). Organisationstheoretisch ist hier letztlich einzig die Wahrneh-
220
5 Ergebnisinterpretation
Mit der entwickelten Unternehmensstrategie als Lernergebnis dieses OLProzesses, der sich auf die Erkenntnisse der ersten Phase stützen konnte, kann aufgrund der vorliegenden Untersuchung darüber hinaus ein regelrechter Paradigmenwechsel in der Geschichte der Linde AG verzeichnet werden (vgl. „paradigm revolution“ bei Kuhn 1970 bzw. Duncan/Weiss 1979, 95 f.). Das vorher traditionell-technisch geprägte Familienunternehmen, in dessen Mittelpunkt technische Lösungen standen, wurde durch ein wettbewerbsorientiertes Management abgelöst, das seine Verantwortung konzernweit wahrnahm. Der technische Fortschritt der eigenen Produkte, auf die Linde in den 1950er Jahren baute, wurde ökonomisch-dominierend ergänzt durch einen Fortschritt der Größe: durch den Verkauf und Kauf von Unternehmen. Obwohl Wissen zeitlich und strukturell nur begrenzt haltbar erscheint (vgl. Levitt/March 1988), ist die Nutzung der erlernten Organisationsstrategie mindestens für den Rest der Ära Meinhardt bis in das Jahr 2000 hinein zu verzeichnen. Strukturell jedoch prägt das „doppelte“ double-loop learning die Linde AG auch in Zukunft, wurde doch in beiden Phasen eine einheitliche formale Struktur für das gesamte Unternehmen erstmals verbindlich eingeführt und bis heute aufrechterhalten. Ein DeuterolernProzess konnte indes nicht festgestellt werden. Die Untersuchungsergebnisse zeugen kaum von einem derart bewussten Lernverständnis im Unternehmen, wie es in Prozessen benötigt wird, in denen selbstreflektierend vom Lernen gelernt wird. 5.3 Der Fall Linde als Idealtypus machtstabilisierenden Organisationslernens? Im vorliegenden Fallbeispiel liegt gewissermaßen ein Idealtypus machtstabilisierenden Organisationslernens vor. Danach sind „das Lernen, Wissen und die darauf basierenden Entscheidungen bestimmend für Organisationsstruktur und Organisationslernen, Organisationsverhalten und Organisationsziele im Sinne der Machthaber“ (Spandau 2002, 149). Ausgangspunkt dieser Interpretation ist die Auseinandersetzung mit Zeit und Macht aus Perspektive der Koalitionsstruktur und (Individual-)Akteurkonstellationen. Dabei erweist sich die strukturationstheoretische Folie des Ausgangsmodells mit ihrem rekursiven Bezug von Struktur und Handlung vermittelt durch mächtige (Individual)Akteure als besonders tragmung der Linde AG entscheidend, ihre Leistungslücken geschlossen zu haben. Hier zeigt sich die Bedeutung einer Organisationsdefinition. Vorliegend werden also die Aussagen zur erfolgreichen Schließung von Leistungslücken entgegen der oppositionellen Meinung als organisationale Handlungspraxis begriffen (2.5.2).
5.3 Der Fall Linde als Idealtypus machtstabilisierenden Organisationslernens?
221
fähig. Für die Nutzung eines Koalitionsmodells ist der Fall Linde insofern geeignet weil Zuordnungen von Akteuren und deren Handlungen gut möglich sind (vgl. Abb. 18). Folgende organisationsspezifische zeitintensive Prozesse können beispielhaft als Begründung des lange andauernden Lernens der Linde AG herangezogen werden:
der Wechsel zweier dominanter Koalitionen und die Problemdefinition, der Strukturaufbau im Rahmen eines neuen Organisationswissens, die Strategieentwicklung und -umsetzung, die Entwicklung einer „Hausmacht“ von Individualakteuren, der Machtkampf in der Führungsspitze sowie die Entwicklungsprozesse einzelner Individualakteure.
Entgegen der Modellkonstellation, nach der sich die dominante Koalition vor allem im Rahmen der täglichen Verwirklichung von Organisationszielen gegen die anderen Akteure durchsetzt (vgl. Child 1972, Duncan/Weiss 1979), konnte hier auch der Wechsel von dominanten Koalitionen und die Problemdefinition beschrieben werden. Unabhängig von der berechtigten Erwartung, dass sich dieser Wechsel in einem Machtkampf widerspiegelt, haben sich bei Linde nahezu geräuschlos zwei dominante Koalitionen abgelöst. Ein Grund dafür kann darin gesehen werden, dass die erste dominante Koalition von Meinhardt und seinen jungen Kollegen, die zunehmend eine „inquiry“ verkörperten (vgl. Argyris/Schön 1978), sowie von wenigen Akteuren aus Aufsichtsrat und Vorstand schleichend entmachtet wurde. Damit war seitens der ersten dominanten Koalition keine klar erkennbare Front auszumachen, da selbst Meinhardt nicht von Anfang an um die Unterstützung aus dem Aufsichtsrat wusste. Andererseits dürfte die Wahrnehmung derartiger Machtverschiebungen den alten Herrschaften der ersten dominanten Koalition auch entgangen sein, weil sie einfach nicht auf die sich ändernden Konstellationen geachtet hatten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zunächst war die existenzielle Krise der Linde AG ein Politikum, von dem sicher längst nicht jeder das genaue Ausmaß kannte oder sich dafür interessierte (vgl. das Phänomen der „Fürstentümer“), zumal die Zahlen, die den gesamten Konzern betrafen, kaum auf einen Blick zu überprüfen waren.
Abbildung 18: Die dominanten Koalitionen der Linde AG, 1954-1984.
Vorstand
Holzrichter Brandi Pöhlein Meinhardt Plötz Orth Müller Full Lohse Akteure
Richard Linde Rudolf Wucher Johannes Wucherer Hermann Linde Münzer Nesselmann Müther Megerlin Wagner Ruckdeschel Oetken Simon Ombeck Beichert
STATISCH
DYNAMISCH
Akteure
Aufsichtsrat
1950
1960
1965
1970
1955
1960
1965
1970
ZWEITE DOMINANTE KOALITION
ANDERE AKTEURE
ERSTE DOMINANTE KOALITION
1955
OPPOSITION
1950
1975
1975
1980
OPPOSITION
1980
1985
1985
222 5 Ergebnisinterpretation
5.3 Der Fall Linde als Idealtypus machtstabilisierenden Organisationslernens?
223
Außerdem spielte der Faktor Zeit als Kennzeichen der zweiten dominanten Koalitionen eine wichtige Rolle, der insbesondere mit der lang anhaltenden Debatte um die Führungsstruktur die Einnahmen der Werksgruppen unangetastet ließ, was dazu führte, dass sich lange Zeit keine effektiven Fronten (erst recht nicht aus der ersten dominanten Koalition) gegen die immer stärker um sich greifenden Strukturveränderungen gebildet hatten. Besonders das Linde-Lager dürfte diese Veränderungen nicht wirklich ernst genommen haben, obwohl das neue Vorstandskonzept nichts weiter als eine frühzeitig in Struktur gegossene Form einer später richtungweisenden Machtfrage war. Während die vorhandene (dezentrale) Struktur die Konstellation und Ausrichtung der dominanten Koalitionen prägte, wurde sie ihrerseits durch den Strukturaufbau im Rahmen eines neuen Organisationswissens verändert. Die Ausbildung der Organisations- v.a. aber die Marktforschungsabteilung ermöglichten der Organisation neue Leistungslücken systematisch wahrzunehmen und als solche akzeptieren und definieren zu können. Dieser Prozess erforderte Zeit, weil Organisationswissen durch Abteilungsbildungen strukturell nachhaltig verändert werden musste. Gleichzeitig diente es dem Machtausbau der ersten dominanten Koalition und letztlich Meinhardts. Dieser konnte als Bindeglied in der (zweiten) dominanten Koalition fungieren. Er war im Gegensatz zu den restlichen Mitgliedern dieser Koalition zunächst weder im Vorstand noch im Aufsichtsrat aktiv, agierte jedoch als Importeur von neuem Wissen und war Initiator auf struktureller und technologischer Ebene. Nicht zuletzt bildete er die Schnittstelle zu den von ihm ins Unternehmen geholten Führungskräften. 347 Auch die erstmalige und organisationsweite Strategieentwicklung und umsetzung erforderte, nicht zuletzt durch die langjährige Koalitionsentwicklung, Zeit. Die Strategie, auf Konjunkturschwankungen einzelner Geschäftsfelder zu reagieren, indem ein Ausgleich durch die Erträge anderer Arbeitsgebiete vorgenommen wurde, setzte eine langfristige Perspektive voraus bzw. ermöglichte sie. Auch mikropolitisch bot diese Kontingenz einen kontinuierlichen Spielraum.348 Die dezentrale Struktur des Unternehmens spielte eine besondere Rolle. Sie ermöglichte und erforderte die Machtstabilisierung einzelner Akteure über den Aufbau bzw. die Verteidigung einer Hausmacht: Hans Meinhardt und Hermann 347 Vgl. die Rolle des Managements sowie die Funktion des „integrators“ bei Duncan/Weiss 1979 (vgl. dazu auch Spandau 2002, 142). 348 Der Fall Linde hat exemplarisch gezeigt, wie ein solcher Lernfaktor entstehen und welchen Einfluss er auf die Entwicklung des Unternehmens ausüben kann: Damit kann Lindes Unternehmensstrategie der hier untersuchten Jahre als anschauliches Beispiel für Kontingenzansätze dienen. Die sich gegenseitig stützenden Arbeitsgebiete hatten zum einen den Vorteil, jeweils genügend finanzielle Reserven mobilisieren zu können, andererseits auch die Möglichkeit, nicht in allen Sparten ständig erfolgreich sein zu müssen, was marktbedingt auch nicht immer möglich war.
224
5 Ergebnisinterpretation
Linde waren „Kronprinzen“ in „Fürstentümern“, die im Unternehmen aufgebaut wurden bzw. sich bewähren mussten, da Linde in den 1960er Jahren nicht über eine unangefochtene durchsetzungsstarke Führungspersönlichkeit verfügte. In der Werksgruppe München (Höllriegelskreuth) ermöglichte die dezentrale Struktur mit dem Einstieg in den Großanlagenbau vergleichsweise schnell und unabhängig von der Zentrale auf die veränderten Marktbedingungen zu reagieren. Mit dem Boom in dieser Sparte ergab sich für Hermann Lindes Lieblingskind ein weiterer entscheidender Schritt in Richtung Münchener Unabhängigkeit, die er allerdings hinsichtlich der (latenten) Koalitionsentwicklungen in Wiesbaden größtenteils ignorierte.349 Aschaffenburg, Meinhardts Lieblingskind, stand mit der neuen Technologie der Flurförderzeuge für eine wahre Innovation, das erste wirklich neue Produkt, das sich in Zeiten ausgesprochener Risikomeidung besonders gut unter der zunehmenden Macht Meinhardts und vor allem dessen Ehrgeiz entwickeln konnte. Ohne wirtschaftlichen Erfolg in Aschaffenburg und zusätzliche Investitionen wäre dieses Unternehmen allerdings aussichtslos gewesen. Er mag zwar (später) immer aus Sicht des Gesamtunternehmens argumentiert haben, aber letztlich dürfte es auch darum gegangen sein, ein Gegengewicht zu schaffen, sich finanziell von München zu etablieren und konzernweit Anerkennung zu erlangen (vgl. auch Dienel 2005).350 Meinhardt kritisierte zwar die Werksgruppen der 1950er und 1960er Jahre als „Fürstentümer“, konnte aber durch diese Dezentralität eine Hausmacht wie Aschaffenburg überhaupt erst ausbauen. Geradezu idealtypisch verkörpert der Machtkampf in der Führungsspitze zwischen Hermann Linde und Hans Meinhardt machtstabilisierendes Organisationslernen.351 Dabei lässt sich der Kampf nur bedingt als „Duell“ bezeichnen. 349 Die Arbeit in Höllriegelskreuth lief auch insofern wirklich autonom, als dass dieser Erfolg nie von der zweiten dominanten Koalition angezweifelt oder ausgeschlachtet wurde. Die Entwicklung des Anlagenbaus hat in der Darstellung Meinhardts Strategie – obwohl sie dort voll hineinpasst – eigentlich keine Rolle gespielt. Dieses Beispiel rechtfertigt die Bedeutung von Lernelementen, hat Höllriegelskreuth doch mit dem Einstieg in den Großanlagenbau erheblich gelernt, wenn auch kaum in einem solchen Umfang über Strukturen und Strategien wie es später bei Linde allgemein der Fall war: „Like organizational control or coordination, organizational learning will occour at all levels and in alls parts of the organization “ (Duncan/Weiss 1979, 97). Damit ist auch eine jener Schwierigkeiten erklärt, die während der Phasenbildung bestanden und die Rolle der Organisationsdefinition verdeutlichen: Der Höllriegelskreuther Einstieg in den Großanlagenbau gilt in dieser Arbeit als Einzelfall: Linde als Gesamtorganisation hatte noch nicht gelernt. 350 So ist auch Hermann Lindes kritische Sicht auf den Erfolg dieses „verhätschelten Kindes“ zu verstehen. Sie kann überdies durch dessen bzw. Meinhardts Kulturkontext begründet werden (vgl. die Management-Subkulturen „operator“- bzw. „engineering culture“ versus „executive culture“ nach Schein 1996 bzw. 2.1.5.6). 351 Warum der Machtkampf (vgl. Giddens 2008, 198 f.) ausgelöst wurde, indem die zweite dominante Koalition verpasst hatte, H. Linde den Vorstandsvertrag nicht zu verlängern, bleibt un-
5.3 Der Fall Linde als Idealtypus machtstabilisierenden Organisationslernens?
225
Zwar waren es letztlich zwei Kontrahenten, aber der Kampf verlief ungleich. So lässt sich das Verhalten der zweiten dominanten Koalition, die Umzingelung Hermann Lindes, als Manipulation bezeichnen, bei der sachliche Argumente keine Rolle mehr spielen konnten oder sollten. Tragischer Hintergrund dieser Entwicklung mag Hermann Lindes „Unangreifbarkeit“ sein: Für ihn sprachen sein Ansehen als Enkel des Unternehmensgründers, seine fachliche Kompetenz und sein formal korrekte Vertragsverlängerung als Vorstandsmitglied. Auch das Höllriegelskreuther Autonomieverhalten war durch Meinhardts Wirken nicht aufhebbar, wenn überhaupt gewollt.352 Zwar konnte Meinhardt mit der Teilung der Werksgruppe München in Anlagenbau und Technische Gase in letzterer erfolgreich seinen Koalitionär Georg Plötz in der ertragsreichsten Sparte „installieren“ und damit München als Ort der Opposition strategisch schwächen, doch war selbst ein einarbeitungsbegabter Meinhardt in fachlicher Hinsicht kaum in der Lage, Hermann Linde Fehler nachzuweisen, zumal die ihn interessierenden Zahlen in der Bilanz akzeptabel waren. 353 klar. Entweder war die dominante Koalition einfach nicht stark genug oder - und das ist vielleicht wahrscheinlicher - es wurde schlicht übersehen, dass mit den weiteren fünf Jahren die Führungsspitze aufgrund der vergangenen Streitigkeiten stumpf zu werden drohte („bounded rationality“). Zur Beantwortung der weichenstellenden Forschungsfragen dieser Arbeit sind allerdings sämtliche Details darüber „wie es eigentlich gewesen“ ist nicht von primärem Interesse: Die Handlungsweise einer dominanten Koalition konnte nachvollzogen werden und damit das machtstabilisierende Organisationslernen theoretisch und fallspezifisch Anwendung finden (vgl. 4.1.3, v.a. 4.2.4). 352 Widersprüche, im Sinne der Vorstellung Meinhardts, „alles unter einem Dach“ ablaufen zu lassen, obwohl die Autonomien der Werksgruppen faktisch nie in Frage standen, können erklärt werden, da sie nicht in Konflikte ausarteten, sondern auch für Meinhardt selbst, etwa in Aschaffenburg, gewisse Handlungsspielräume ermöglichten (vgl. Giddens 2008, 198 f., Giddens 1976, 160). 353 H. Linde indes kann auch insofern in einer tragischen Rolle gesehen werden, als dass er dem „Fluch der letzten Generation“ ausgesetzt war, und in der zweiten Phase als jüngster Gründernachkomme im Vorstand, im Gegensatz zu den früheren Jahren, keine koalitionäre Unterstützung mehr in Anspruch nehmen konnte. Allerdings hat er sich auch kaum um sie gekümmert. Dies kann mit einer spezifischen Ingenieurkultur begründet werden (vgl. Schein 1996). Macht spielte im Höllriegelskreuther Anlagenbau eine untergeordnete Rolle. Technische Probleme und deren Lösbarkeit prägten das Denken. Um das kreative Potenzial der Ingenieure nutzen zu können, war ein menschlich ausreichend harmonisches und freies Miteinander nötig. Daher lässt sich auch unter unternehmerischen Gesichtspunkten die sozial-christliche Einstellung H. Lindes erklären. Mehrwertschöpfung konnte demnach auch durch Werte in der Schöpfung ermöglicht werden (vgl. zur Werteorientierung lernfähiger Organisationen: Reinhardt 1993, 404). Seine Situation mit dem Gegenüber Meinhardt kann mit dem Spiel „Slotter“ verglichen werden (vgl. Dienel/Herzog 2005). Dabei geht es abwechselnd um zwei Spieler, die zwischen sich eine Wand mit Rädern haben, die wie Zahnräder ineinander greifen und dabei Spielmünzen von oben nach unten transportieren sollen. Wer zuerst alle Münzen unten hat, hat gewonnen. Das Problem besteht jedoch darin, dass die Räder auf der Seite des Gegenübers anders eingestellt sind und dieser Spieler oft gegenläufig am Rad dreht, um das gleiche Ziel, als erstes alle Mün-
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5 Ergebnisinterpretation
Im Hinblick auf die Entwicklung einer „Hausmacht“ lässt sich auch der Zeitpunkt des Machtkampfes erklären: Beide Koalitionen (der zweiten Phase), also das Linde- und das Meinhardt-Lager, erlebten zunächst eine Aufbruchsstimmung im jungen Management, das den Erfolg des Einstiegs in den Gabelstaplermarkt bzw. Großanlagenbau ja nicht garantieren konnte. Erst nachdem sich Linde und Meinhardt als Manager bewährt hatten, konnten und mussten die widersprüchlichen Ansichten im Vorstand aufeinanderprallen. Im Sinne des wettbewerbsorientierten Organisationsziels schadete der Machtkampf bzw. Abgang Hermann Lindes nicht, im Gegenteil: Die Linde AG war nach den Querelen im Vorstand erfolgreicher als zuvor. Stabilität und Kontinuität waren dringend benötigte Erfolgsfaktoren eines Unternehmens nach einer Zeit existenzieller Bedrohung. Nicht zuletzt der Entwicklungsprozess einzelner Individualakteure trug zum langfristigen Organisationslernen der Linde AG bei. Besonders Meinhardt konnte von der „Gnade der frühen Unternehmenszugehörigkeit“ profitieren. Er „nahm“ sich Zeit: Er hatte keine Eile, formal an die Spitze des Unternehmens zu gelangen, da er sich bei Linde langfristig als Manager beweisen wollte – und musste. Meinhardt hatte Visionen. Visionen schießen einen Bogen in die Zukunft. Sie erlauben, zeitlich unbekanntes Terrain abzustecken, zu strukturieren. Je sicherer die Pflöcke sitzen, desto besser ist Geduld in der Gegenwart möglich: Früh erkannte Meinhardt die Defizite im Unternehmen und dessen Potenzial, sie zu beheben. Er nutzte, ebenso wie eine dominante Koalition, die Vorteile von Geschwindigkeit, denn den Vorsprung an Linde-spezifischem Wissen und Erfahrung, den sich Meinhardt in kurzer Zeit intensiv anzueignen wusste, konnten seine später hinzugezogenen Mitstreiter nie aufholen. Vielleicht war das der entscheidende Grund, warum diese, oft jünger als er, Meinhardt nie wirklich ablösen konnten. Außerdem wurde es immer schwieriger, Meinhardt eklatante Fehler nachzuweisen, da er es geschafft hatte, erfolgreich für Linde zu arbeiten und das trotz oder wegen fehlendem Einfluss der LindeFamilie. Überdies wurden seine Koalitionäre gezielt in verschiedene Werksgrupzen nach unten zu drehen, zu erreichen. H. Linde versuchte also, das Rad in seine Richtung zu lenken und erlebte ständig Widerstände, die nicht in sein Weltbild und das der langjährigen familiären Unternehmenstradition passen wollten. Meinhardt wiederum spielte zuletzt nicht nur gegen einen Gegner, sondern gleichsam mit den Rädern. Es dürfte schwierig sein, zu untersuchen und zu unterscheiden, wann er Misserfolge in seine Richtung interpretierte, um Veränderungen zu begründen, und wann seine Misserfolge im Sinne der Unternehmensstrategie als auszugleichende Geschäftsfelder - und damit gerade in Dynamik befindlich - bezeichnet wurden. Hier kann problematisiert werden, inwieweit bei Linde schon Anfang der 1960er Jahre Unternehmensberatungen bewusst genutzt wurden, um den Propheten nicht im eigenen Lande zu haben. An diesem Beispiel wird erneut die Bedeutung der Organisationsdefinition (z.B. als offenes System) deutlich.
5.3 Der Fall Linde als Idealtypus machtstabilisierenden Organisationslernens?
227
pen eingesetzt und kontrolliert, um die Zentrale zu festigen. Auch wenn Plötz nie so in Erscheinung getreten ist, wird er als der einzige gesehen, der Meinhardt hätte etwas entgegensetzen können, doch selbst das bleibt fraglich. Es gibt in Deutschland wenige Fälle, in denen Führungskräfte so absolut und lang anhaltend ein Unternehmen geleitet haben. Bei der Organisation Linde erscheint ein „great man“ in Gestalt Meinhardts, vor dem Hintergrund wirtschaftsorganisationaler Folie, besonders plastisch, in einem organisationalen System, das weitestgehend unabhängig vom demokratischen Prinzip funktioniert (vgl. auch die „powerfull individuals“ bei Duncan/Weiss 1979, 96).354 Dabei kann festgestellt werden, dass er nicht machthungrig, aber durchaus machtbewusst handelte. Zeit war jedoch auch ein Faktor für die Mitarbeiter und deren Karrieren bei Linde. Strategieentwicklungen und -änderungen konnten gut mit Akteuren durchgeführt werden, die eine (langfristige) Zukunft im Unternehmen hatten ± und wollten. Eine sofortige Erfolgsgarantie hätten weder Meinhardt noch seine Koalitionäre liefern können. Die Untersuchung der Linde AG hat gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit vergangenen und abgeschlossenen Lernprozessen in Organisationen über einiges Potenzial verfügt, das in dieser Arbeit nicht ausgeschöpft werden konnte und sie daher sowohl fallbezogen als auch forschungstheoretisch verschiedener Ergänzungen bedarf. So darf, kann und will eine Interpretation von OL ± hier im Fall des Unternehmens Linde ± nicht mit einer ökonomisch orientierten Beurteilung verwechselt werden, die Managementhandlungen als solche analysiert und v.a. bewertet. Nicht in diesem Sinne ist die Frage Rankes danach, „wie es eigentlich gewesen ist“ zu stellen.355 Das Lernen in der Linde AG, das hier über einen langen Zeitraum von etwa dreißig Jahren nachgewiesen werden konnte, rückt die Bedeutung langfristigen 354 Sollte Macht hier sowohl im Sinne Crozier/Friedbergs (1979) als auch Giddens’ (1976, 2008) neutral und mit ihren beiden Seiten (beschränkend und ermöglichend zugleich) gesehen werden, so ist über die Verdrängung und die erfolgreiche Zieldurchsetzung hinaus auch der machtstabilisierende Faktor, den Spandau (2002) bei Duncan/Weiss (1979) betont, entscheidend für eine organisationstheoretische Darstellung: Wo durch eine dominante Koalition Macht stabilisiert wird, um erfolgreich agieren und regieren zu können, eben nicht nur reagieren zu müssen, kann die Stabilität schleichend Formen der Verkrustung annehmen. Wo Meinhardt selbst einst für Impulse gesorgt hatte, die er im Sinne der windows of opportunities äußerst geschickt, erfolgreich, geduldig und fast weise zu nutzen wusste, entstand ab 1984 unbeabsichtigt jene Atmosphäre, die seit der neuen Ära unter dem gegenwärtigen Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Reitzle durch „frischesten“ Wind verdrängt wurde. 355 OL-Untersuchungen beschreiben die Veränderung der organisationalen Wissensbasis als Lernprozess und hier auch nur das, was die Organisation empfunden hat, nicht, „wie es eigentlich gewesen ist“. Organisationstheoretisch sind Meinhardts Unternehmungen innerhalb der Linde AG im Sinne der Bereinigung des Portefeuilles, ähnlich dem Rommé Spiel, wo erfolgsträchtige Karten gesammelt und die restlichen abgegeben werden, nur in dieser, im Unternehmen auch so wahrgenommenen, Regelhaftigkeit interessant.
228
5 Ergebnisinterpretation
strategischen Denkens und weit reichender Perspektiven in den Fokus von organisationalen Lernprozessen (vgl. 2.3). In diesem Sinne bekommt die Unternehmensgeschichte der Linde AG einen konkreten Bezug, wenn Jeske sich in „Linde today“ folgendermaßen äußert: „Wer sich mit Unternehmensgeschichte beschäftigt, wird (...) über einen besseren Sinn für längerfristige Perspektiven verfügen, wird die Komplexität der Wirklichkeit eher erkennen, wird das gesellschaftliche Umfeld sehen, einen Blick haben für vergleichbare Entwicklungen oder Situationen und damit auch für Alternativen“ (Jeske 2005, 30 f.).
Zusammenfassend muss ebenso betont werden, dass im vorliegenden Fall die Untersuchung davon ausging, durch einen fundierten Nachweis Organisationslernen im Nachhinein der Organisation zuschreiben zu können: Aus Sicht des Unternehmens wird und wurde nicht bewusst v.a. nicht im theoretischen Sinne über einen organisationalen Lernprozess im genannten Zeitraum gesprochen. Aus der nachfolgenden Zeit, die erheblich durch Meinhardt und seine nun ebenfalls konservative Führungsspitze geprägt wurde, ist die Bedeutung dieses Machtkampfes und die machtstabilisierende Wirkung des organisationalen Lernens der Linde AG zu ersehen: Die (zweite) dominante Koalition hatte fortan keine Gegner mehr.356
356 Dennoch, und nicht nur aus rationellen Erwägungen heraus, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Unternehmensgeschichte, die sich zwangläufig wieder den Lindes hätte zuwenden müssen, lange Zeit kaum beachtet worden. Als Versöhnung hingegen wurde organisationsintern ein Treffen im Jahre 2005 von Hermann Linde mit dem jetzigen Vorstandsvorsitzenden Wolfgang Reitzle gewertet.
6 Fazit und Ausblick: Historisches Organisationslernen (HOL) - Das Lernen von organisationalen Lernprozessen als Wegbereiter organisationaler Entscheidungen
Die Ausgangsfrage danach, wie organisationale Lernprozesse der Vergangenheit die Zukunft prägen, führte zu zwei wesentlichen Erkenntnissen: Organisationales Lernen wird nur unsystematisch im Kontext von Zeit und Organisationsgeschichte betrachtet. Außerdem spielt dieser Zusammenhang, trotz der allgemeinen Akzeptanz von Schleifenlernprozessen, in dieser Vorstellung theoretisch wie empirisch kaum eine Rolle. Daher muss festgehalten werden, dass es aus einer interdisziplinären Perspektive sinnvoll erscheint, vergangene organisationale Lernprozesse, die - wie im vorliegenden Fall - schon viele Jahre zurück liegen, bewusst als historisch zu bezeichnen, da sie den Bereich der Organisationsgeschichte berühren. Eine solch klassifizierende Perspektive befasst sich im organisationssoziologischen Sinne dezidiert mit historischen Ereignissen und bildet eine Ergänzung zu allgemein organisationshistorischen Darstellungen. Dabei wird explizit von historisch „abgeschlossenen“ Lernprozessen ausgegangen. Daher soll in dieser Arbeit bewusst der Begriff des historischen Organisationslernens (HOL) eingeführt werden: Hier wird dann von historischem Organisationslernen gesprochen, wenn ein vergangener organisationaler Lernprozess aus historischer Perspektive als abgeschlossen angesehen und thematisiert werden kann. Es handelt sich dabei weder um einen eigenständigen organisationstheoretischen Ansatz noch um ein damit verbundenes Konzept. Vielmehr soll mit dem hier entwickelten Begriff auf weiterführende Perspektiven verwiesen werden. Das Lernen von organisationalen Lernprozessen kann in doppelter Hinsicht als Wegbereiter organisationaler Entscheidungen verstanden werden: einerseits im Rahmen von double-loop learning als historisches Organisationslernen, andererseits als Deuterolernen im Kontext zukünftiger Entscheidungen aufgrund fundierter HOL-Analysen.
M. Herzog, Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse, DOI 10.1007/978-3-531-93198-2_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
230
6 Fazit und Ausblick
6.1 Akteurzentriertes Organisationslernen als Ausgangsmodell historischer Lernprozesse Mit dem Modell akteurzentrierten Organisationslernens konnte das Ziel der Arbeit, das Phänomen von Schleifenlernprozessen empirisch nachzuweisen, erreicht werden. Es ermöglicht die konkrete Darstellung komplexer Lernprozesse, indem es sich den Herausforderungen organisationalen Lernens umfassend stellt: Die Fragestellung dieser Arbeit führte zwangsläufig zur Auseinandersetzung mit dem höchst disparaten Forschungsfeld organisationalen Lernens. Da es nicht die Theorie zum Organisationslernen gibt und die einzelnen Arbeiten und Ansätze sich insgesamt eher ergänzen als widersprechen, erschien eine Systematisierung erforderlich. Mit dem Versuch, organisationales Lernen über die Lernfaktoren Umwelt, Struktur, Strategie, Akteure, Wissensbasis und Output zu strukturieren, konnten die wesentlich erscheinenden Aspekte und Ansätze integriert werden. Diese wurden im theoretischen Teil (vgl. v.a. 2.1) angedeutet. Auch deren (vielfach mögliche) Anwendung konnte und sollte - auf den Fall Linde bezogen - in dieser Arbeit nur auf einige Punkte beschränkt werden (vgl. 5), so dass weitere Untersuchungen fruchtbringend erscheinen. Das Modell akteurzentrierten Organisationslernens berücksichtigt Macht, da man „Organisationslernen nicht als einen störungsfrei verlaufenden Vorgang, sondern als einen Prozess, dem Barrieren notwendigerweise innewohnen“, begreifen muss (vgl. Kerlen 2003, 154). Das Problem der Abgeschlossenheit von Lernprozessen, das Kern der Ausgangsfrage ist, sowie die Frage danach, wer in Organisationen lernt, verdeutlichte die enorme Komplexität organisationalen Lernens und erforderte Anleihen einer Metatheorie. Die Strukturationstheorie erwies sich dabei als geeignet, die Komplexität der Lernfaktoren zu reduzieren: Sie rückt den Individualakteur in den Mittelpunkt und setzt dessen Handlungsspielraum in den Kontext von Macht. Organisationales Lernen kann, verstanden als Moment der Strukturation, reduziert werden auf die Rekursivität von Struktur und Handlung. Lernprozesse implizieren Handlungen, die - mittels Macht - zu veränderten Handlungsroutinen und somit Strukturveränderungen führen. Als Momente der Strukturation sind Lernprozesse nur theoretisch endlich. Handlungen und Strukturen sind, ebenso wie aufeinander aufbauende Lernprozesse, in Zeitlichkeit gebunden. Auch strukturationstheoretisch lassen sich Einflüsse der Organisationsgeschichte auf organisationale Lernprozesse erklären. Allerdings ist bisher das Bedingungsgefüge zwischen organisationalem Lernen und Zeit kaum systematisch untersucht worden. An dieser Stelle eröffnet sich für das OL-Verständnis jedoch eine historische Perspektive. Es konnte herausgearbeitet werden, wie eine chronologische Perspektive die Darstellung auf theoretischer Grundlage herausfordert.
6.2 Double-Loop Learning am Beispiel der Linde AG
231
Aufeinander aufbauende Lernprozesse finden ihre Basis in der Vorstellung des Schleifenlernens. Danach können Organisationen in drei Schleifenprozessen lernen. Single-loop learning verstärkt bereits vorhandene Wissensmuster, so dass grundsätzliche Verhaltensweisen und Strategien nicht in Frage gestellt werden. Double-loop learning setzt dagegen dann ein, wenn bewährte Muster (bestätigt und verstärkt durch das single-loop learning) nicht mehr ausreichen. Deuterolearning abstrahiert noch einmal die Lernvorgänge, indem das/vom Lernen gelernt wird. Obwohl das Modell des Schleifenlernens Zeitlichkeit impliziert und seit langem anerkannt ist, gibt es - entsprechend der zeitlich-historischen Perspektive - kaum explizit empirische Auseinandersetzungen mit diesem Thema. Das in diesem Zusammenhang erneut aufkommende Problem abgeschlossener Lernprozesse konnte nun mit der Strukturationstheorie erklärt werden: Lernprozesse des Schleifenlernens sind nicht trennscharf! Um der Ausgangsfrage und dem Forschungsdesiderat einer empirischen Fall-Analyse von Schleifenlernprozessen begegnen zu können, wurde ein Modell entwickelt, das die bisherigen Erkenntnisse integriert. Das Modell akteurzentrierten Organisationslernens berücksichtigt
die Lernfaktoren, um zentrale Ansätze der OL-Forschung zu integrieren, die Schleifenlernvorstellung, um die Aufbauprozesse abzubilden, die Rekursivität von Handlung und Struktur, um Fragen nach den Lernträgern und der Abgeschlossenheit von Lernprozessen zu begegnen, und nicht zuletzt die Macht der Individualakteure, um individuelles Lernen als Ausdruck organisationaler Handlungen erklären zu können.
6.2 Double-Loop Learning am Beispiel der Linde AG Ziel der anschließenden Fall-Studie war der empirische Beleg schleifenlerntheoretischer Vorstellungen, um die Mechanismen solcher Lernprozesse freizulegen. Ein nahezu ideales Fallbeispiel ließ sich in der Linde AG finden. In Anwendung des Modells akteurzentrierten Organisationslernens war es erforderlich, den Kontext von Lernträgern und Macht nachweisen zu können, wobei sich der zeitliche Abstand zu den Ereignissen von etwa zwanzig Jahren als vorteilhaft erwies. Ebenso war es möglich, aufgrund der organisationshistorischen Entwicklung die Abgeschlossenheit des Lernvorgangs zu definieren, da offensichtliche Veränderungen des Outputs auf organisationales Lernen hindeuteten. Die Dauer des Prozesses auf die gesamte Organisation zu beziehen, erforderte in diesem Fall einen langen Untersuchungszeitraum. Eine wesentliche Hilfe bei dessen Erforschung - insbesondere der Macht-Aspekte - boten die in dieser Arbeit befragten
232
6 Fazit und Ausblick
Experten zur Linde AG. Dabei spielte der Typus des „Senior-Experten“ eine besondere Rolle. Die Berücksichtigung der Eigenschaften ehemaliger Organisationsmitglieder im Rentenalter ermöglichte wertvolle Perspektiven auf den zu hebenden organisationshistorischen Schatz der Linde Group. Der lange Untersuchungszeitraum von 1954-1984 ergab mit den Veränderungen im Unternehmen Anhaltspunkte für einen Schleifenlernprozess. Im Rahmen der Ausgangshypothesen wurde angenommen, dass Lernen als eine Modifikation der organisationalen Wissensbasis in verändertem Output (Struktur/Handlung) feststellbar ist und Lernprozesse dann auf double-loop learning schließen lassen, wenn sich Ziele, Werte und Normen nachweislich grundlegend ändern bzw. neu entstehen. Die Kette organisationaler Veränderungen innerhalb der Linde AG wies 1967 Besonderheiten auf und ermöglichte die Unterteilung in zwei Phasen. Diese machen deutlich, dass und wie vergangenes Lernen (t0) auf zukünftiges - also folgendes Lernen (t1) - Einfluss ausgeübt hat. In den 1950er und 1960er Jahren war Linde geprägt von wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die sich durch Probleme bei der Umstellung auf den Käufermarkt ergaben. Die Organisation stellte Leistungslücken, vor allem Profitdefizite fest. Geführt wurde das Unternehmen von der Familie Linde, die in zweiter und dritter Generation christliche Werte vertrat, v.a. aber aus Naturwissenschaftlern und Ingenieuren bestand, die eine Herausforderung in technischen Problemen und den technologischen Anwendungsmöglichkeiten der Gaszerlegung oder Kältetechnik sahen. Vertreter dieser Auffassung, die hier als erste dominante Koalition bezeichnet werden, hielten sich mit Investitionen vor allem mit Grundsatzentscheidungen für das gesamte Unternehmen, das von einer umfangreichen Produktvielfalt gekennzeichnet war, zurück. Ihr Verhalten kann als konservativ bezeichnet werden. Ein Phänomen dieser Zeit waren die „Fürstentümer“, mit denen die unabhängigen Werksgruppen und deren Vertreter im Vorstand gemeint sind. Es gab kaum einen Überblick auf die Gesamtleistung der Organisation und die einzelnen Werksgruppenvertreter ließen sich nicht gerne in die Karten schauen. Diese Verhältnisse wurden von einer weiteren Gruppe, der zweiten dominanten Koalition, kritisiert, zumal Linde in die roten Zahlen rutschte und sich die erste dominante Koalition mit Veränderungen schwer tat. Als dominant kann diese zweite Koalition, die überwiegend informell handelte, deshalb bezeichnet werden, weil sie sich zunächst in strukturellen Fragen durchsetzen konnte, da sie über den Aufsichtsrat einen jungen Mitarbeiter förderte, der diese Koalition noch über Jahre prägte: Hans Meinhardt. Die zweite dominante Koalition war es, die von „Fürstentümern“ sprach und in ihnen strukturelle Probleme der Linde AG erkannte. Meinhardt konnte Strukturen schaffen, so dass sich mit den neuen Organisations- und Marktforschungsabteilungen ein erster Wissenserwerb fest-
6.2 Double-Loop Learning am Beispiel der Linde AG
233
stellen lässt, der sich in der Unternehmensstruktur und später im Output von Linde niederschlug: Die traditionelle Kühlschrankherstellung wurde 1967 verkauft. Dieser Wendepunkt zwischen Phase 1 und 2 und den Zeiträumen t0 und t1 bedeutete nicht den Aufschwung des Unternehmens. Linde nahm durch die neuen Abteilungen sogar ein immer größeres Profitdefizit wahr und erkannte zusätzliche Leistungslücken im Verhalten der Mitarbeiter, in der Struktur sowie bei den Führungskräften und stellte nicht zuletzt ein Strategiedefizit fest. Allerdings sind bereits für die 1960er Jahre Veränderungsaktivitäten kennzeichnend, die sich mit einer Umstrukturierung der Unternehmensleitung befassten. In diesem Prozess, der sich bis in die 1970er Jahre hineinzog, gelang es der zweiten dominanten Koalition immer mehr, die von ihr bevorzugte Zentralisierung des Unternehmens voranzutreiben, zumal Meinhardt, der dazu extra in die USA geschickt wurde, mit neuen Konzepten aufwarten konnte, die in der Wiesbadener Zentrale bereits angedacht waren und nun in einer Gesamtstrategie vollendet wurden. Als sich Anfang der 1970er Jahre die Konstellation der Koalitionen änderte, weil viele Mitglieder der ersten dominanten Koalition ausschieden, setzte sich die zweite Koalition als einzige dominante Koalition durch. Meinhardt war nun im Vorstand und vertrat seine Position und die seiner Kollegen im Sinne einer wettbewerbs- und gewinnorientierten Konzernführung. Hermann Linde, der letzte Vertreter der Gründerfamilie in diesem Gremium, stand dem als einziger Opponent gegenüber. Er setzte sich für ein verantwortungsvolles auf den Anlagenbau konzentriertes Unternehmen ein. Es gelang ihm jedoch nicht: Die Gegner und die Gegenwehr waren zu mächtig. Hermann Linde verließ daraufhin das von seinem Großvater geschaffenen Unternehmen im Dissens. Die zweite dominante Koalition hatte sich erneut durchgesetzt. Durchgesetzt wurde aber auch die Unternehmensstrategie. Erfolgreich reduzierte die Organisation ihre Produkte und konzentrierte sich fortan auf den Anlagenbau, die Technischen Gase, die Gabelstaplerherstellung mit Hydrauliksparte sowie die Kältetechnik. Das Unternehmen wuchs vor allem durch Zukäufe. Der Output hatte sich bis Ende der zweiten Phase Mitte der 1980er Jahre kräftig gesteigert und die vormals erkannten Leistungslücken wurden als geschlossen betrachtet. Insgesamt wurde argumentiert, dass ein double-loop learning gleich zweimal stattgefunden hat. Trennender Bezugspunkt beider Phasen ist die empirisch deutlich wahrnehmbare Veränderung des Outputs 1967 mit dem Verkauf der Kühlschrankherstellung. Linde hatte erstmalig einen traditionellen Geschäftszweig aufgegeben, um weitere eklatante Defizite in einer existenziellen Krise zu vermeiden, doch nicht nur das: Das Unternehmen hatte auch mit einer bis dahin unbewussten Norm gebrochen. Die Organisation lernte damit, zunächst die Produkte grundsätzlich neu v.a. bewusst zu konfigurieren. Diese organisationale
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6 Fazit und Ausblick
Reaktion auf die Umwelt (Umstellung auf den Verkäufermarkt) wurde durch veränderte Verhaltensweisen möglich, deren Ursprünge in der neuen Struktur, in den Organisationsabteilungen vor allem in der Marktforschung, lagen. Das Ergebnis führte dazu, dass sich Linde von der Kühlschrankherstellung trennte (double-loop learning t0 ). Dieses Lernergebnis ermöglichte in der zweiten Phase eine weitere Erkenntnis: Linde brauchte eine Strategie. Diese zweite fundamentale Veränderung im Unternehmen, das bisher keine marktorientierte Gesamtausrichtung kannte, war nicht nur eine besonders bedeutende Normenänderung. Sie war gewissermaßen eine „Normengeburt“ (double-loop learning t1). Damit zeigt die vorliegende Analyse anhand der Untersuchungsergebnisse, wie eine Organisationsstrategie entsteht, wie double-loop learning konkret stattfinden kann. Linde erlebte in diesem Lernprozess jedoch viel mehr. In der erforschten Zeit vollzog das Traditionsgeschäft einen Paradigmenwechsel, der von den „braven“ Ingenieurleistungen eines technologieorientierten Familienunternehmens zu einem weltweit agierenden managementgeleiteten Großkonzern wurde, in dem der wirtschaftliche Erfolg im Mittelpunkt stand. Die Fall-Analyse erbrachte zusätzliche Erkenntnisse:
Koalitionsmodelle erfordern die Berücksichtigung der Opposition sowie mehrerer dominanter Koalitionen. In bestimmten Funktionsfeldern und deren Konstellation können diese parallel agieren und Lern- bzw. Entwicklungsprozesse verzögern. Problemdefinitionen durchlaufen insbesondere bei fundamentalen Leistungslücken einen eigenen Entscheidungsprozess im organisationalen Lernen, der empirisch relativ schwer nachweisbar ist. Die Berücksichtigung von Macht ist dabei unabdingbar. Die Schleifenlernvorstellung erfordert einen theoretischen Rückhalt (hier als strukturationstheoretische Anleihe), der es ermöglicht, die fehlende Trennschärfe von Lerntypen zu erklären. Die Rekursivität von Handlung und Struktur verdeutlicht die komplexen Bezüge zwischen den Lernfaktoren Umwelt, Struktur, Strategie, Akteure, Wissensbasis und Output. Im Rahmen des Lernfaktors Akteur ermöglicht es Macht, aus dem individuellen Lernen organisationales werden zu lassen und damit in die routinisierten organisationalen Verhaltensweisen einzudringen (z.B. Förderung von Lernträgern, Schaffung von Strukturen). Organisationales Lernen kann als Moment der Strukturation durch verändertes Output in struktureller, strategischer und operativer Hinsicht nachgewiesen werden (z.B. Erkenntnisse aus der Marktforschung/Struktur füh-
6.2 Double-Loop Learning am Beispiel der Linde AG
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ren zu Handlungen der zweiten dominanten Koalition/Akteure und damit zur Strategie/Struktur). Der Fall Linde hat gezeigt, was (historisches) Organisationslernen in einer Organisation bedeuten kann: einen Lernprozess, der in seiner „Abgeschlossenheit“ und erst im Nachhinein als solcher begriffen und fundiert nachgewiesen werden kann.357 Die Interpretation als machtstabilisierendes Organisationslernen hat zudem verdeutlicht, warum solche Prozesse so lange dauern können. Meinhardts langfristiger Machterhalt führte außerdem dazu, Komplexität im Lernfaktor „Akteur“ zu reduzieren. Die Studie gab Aufschluss über Probleme der Darstellbarkeit (historischer) Lernprozesse. So kann mit Lernelementen spezieller auf Fall-Phänomene eingegangen werden. Lernelemente sind Eigenschaften innerhalb der Organisationsentwicklung, die sich als Handlung, Verhältnis oder Idee äußern und lernfaktorenübergreifend fungieren bzw. Strukturation repräsentieren. Lernelemente illustrieren die Komplexität der Aspekte eines organisationalen Lernprozesses und können bei einer bewussten Darstellung die Präsentationsproblematik bzw. logik zur Geltung bringen und zu lösen helfen. Der Puppe in der Puppe gleich wurde exemplarisch das Lernelement Aschaffenburg, das sich selbst als Lernprozess darstellen ließe, „entpuppt“. So gleicht die Produktumstellung in Aschaffenburg hinsichtlich der Umwelt-Wahrnehmung relativ genau bestimmten organisationstheoretischen Beschreibungen (vgl. Duncan/Weiss 19979, 99 ff., insbes. 102). Lindes dezentrale Struktur (Werksgruppenautonomie) war geradezu idealtypisch für eine Darstellung organisationaler Lernprozesse im Sinne von Strukturation. Die Untersuchung der Linde AG verweist zusätzlich auf fallbezogene und organisationstheoretische Forschungsdesiderate. Organisationsgeschichte (hier die akademische Unternehmenshistorie) und Organisationslernen befinden sich in einem speziellen Verhältnis zueinander, so dass große und z.T. globale Trends, die über das Unternehmen hinausgehen, berücksichtigt werden können. Außerdem besteht Forschungsbedarf, etwa in der Frage, wie die Linde AG im wirtschaftshistorischen Kontext - verglichen mit anderen Unternehmen - gelernt hat. Dies wären z.B. Fragen bezogen auf den Einfluss von Unternehmensberatungen, die gesamte US-Orientierung der westdeutschen Wirtschaft während der 1970er-Jahre, den Einzug der Manager in bundesdeutsche Familienunternehmen oder die Lernprozesse westdeutscher Industrieunternehmen während der Öl-Krise in den 1970er- und 1980er Jahren. 357 Lindes Lernprozess fand z.T. zu einem früheren Zeitpunkt statt als die Entwicklung der ihm zugrunde liegenden organisationstheoretischen Modelle.
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6 Fazit und Ausblick
Organisationslerntheoretisch erscheinen weitere Untersuchungen z.B. zur Problemdefinitionsphase oder im Kontext organisationaler Schleifenlernprozesse wünschenswert, um die hier vorgestellten Ergebnisse abzusichern, auszubauen oder zu relativieren. Vor diesem Hintergrund bedarf es zusätzlicher Auseinandersetzungen mit der Passung von Strukturationstheorie und organisationalem Lernen. 6.3 Deuterolearning: Historisches Organisationslernen als Forschungsperspektive und Wegbereiter im organisationalen Diskurs Die Frage nach dem Einfluss vergangenen Organisationslernens auf die Lernprozesse der Zukunft wurde in dieser Arbeit auf die Vergangenheit bezogen und darauf wie sich zwei Lernphasen aufeinander, und insofern auf die Zukunft (der vergangenen Folgezeit), beziehen. Damit wurde nicht beantwortet, wie das Lernen der Vergangenheit – gegenwärtig analysiert – sich auf die Praxis und somit auf die Zukunft der Organisation auswirken kann. Fear (2003) reflektiert die Potenziale von Geschichte. Demnach handelt es sich dabei nicht um eine Last, sondern vielmehr eine Erbschaft, in der die Bedeutung von Strategien, Macht oder Kultur thematisiert werde. Er begegnet so dem Vorwurf, Vergangenes nütze nichts hinsichtlich zukünftiger Organisationsentscheidungen (vgl. Giddens 2008, 341). In der Auseinandersetzung mit vergangenen organisationalen (Lern-) Prozessen besteht die Möglichkeit, Unternehmen zu rekonzeptionalisieren. Allerdings gebe es dabei auch die Gelegenheit, nach einem Führungswechsel Geschichte zu verändern oder zu verfälschen. Darüber hinaus sei die Auseinandersetzung mit historischen Organisationslernprozessen mehr als der Versuch einer Darstellung dessen „wie es eigentlich gewesen ist“. Vielmehr würden historische Fallbeispiele Chancen zur Sicherung und Schaffung von Theorien bieten, weshalb eine Auseinandersetzung mit vergleichbaren Fällen nötig ist. Unabhängig davon zeugen mikropolitische Auseinandersetzungen von historischen Entscheidungsprozessen über die damaligen Fehler und Alternativen. Dabei hätten diese Entscheidungsprozesse selbst weniger Bedeutung als deren Prinzipien. In diesem Sinne kann eine HOL-Analyse, wie sie in der hier durchgeführten Untersuchung vorliegt, folgendermaßen charakterisiert werden: Eine HOLAnalyse ermöglicht das Deuterolernen einer Organisation. Die Erkenntnisse, wie in der Vergangenheit gelernt wurde, können als Impulse für künftige Lernprozesse genutzt werden. Damit darf diese Art Deuterolernen nicht programmatisch verstanden werden. Fear fasst den Anspruch organisationalen Lernens folgendermaßen zusammen:
6.3 Historisches Organisationslernen
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„If one develops a sense of how categories and meanings shift over time, this perspective might create a distancing from present practices, initiating reflexivity and learning (...). It might open possibilities, rather than foreclose them. This distancing might be more valuable than learning ‘lessons’ from history, which might appear more conclusive but might actually hinder this process of reflection. Moreover, this perspective might initiate a proactive reflexive learning process without waiting for a breakdown or crisis to trigger organizational change” (Fear 2003, 185, Hervorh. im Orig.).
Die Untersuchung historischen Organisationslernens zeichnet sich insgesamt durch folgende Eigenschaften aus:
Thematisierung feststehender Lernergebnisse Vollständigkeit der Untersuchungsgrundlage abgeschlossener Untersuchungszeitraum leichterer Forschungszugang bei HOL-Untersuchungen: Besonders sensible Bereiche (z.B. Macht) in OL insgesamt besser zugänglich Zeitgeist als zusätzlicher Erklärungsfaktor abschließendes und organisationsspezifisches Ergebnis der HOL-Analyse: Aussagen über das Image, die Kultur und Identität einer Organisation
HOL thematisiert ein feststehendes Lernergebnis Im Gegensatz zu laufenden oder geplanten OL-Prozessen handelt es sich bei HOL um einen Prozess, der unter gewissen Einschränkungen abschließend bewertet werden kann. Wird der Lernprozess als abgeschlossen angesehen, gibt es keinen Grund, das vergangene Lernen nicht als solches zu beurteilen, wie etwa bei laufenden Prozessen, bei denen immer wieder auf deren Offenheit verwiesen werden kann. Solch ein feststehender Lernvorgang ist als Untersuchungsgegenstand ein interessantes Forschungsobjekt, weil gegenwärtige und zukünftige Lernprozesse ja noch nicht über ein Ergebnis und damit über eine Erfolgsaussage verfügen. Fragen des Einflusses von Lernfaktoren können in diesen Fällen nur unzureichend thematisiert werden. Vollständigkeit der Untersuchungsgrundlage Ein weiterer damit verbundener forschungspraktischer Aspekt ist die im Prinzip abgeschlossene Faktenlage. Neben diesem Vorteil gegenüber laufenden Lernprozessen, bei denen ständig neue Situationen und Fakten dazukommen können, ist hierbei allerdings auch die Tatsache zu berücksichtigen, dass z.B. Dokumente „endlich“ sind, was dann für die Forschung eine besondere Rolle spielt, wenn
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6 Fazit und Ausblick
der Lernprozess lange zurückliegt. Im Gegensatz zu Untersuchungen von gegenwärtigem Organisationslernen und der Vorbereitung und Planung von organisationalen Lernprozessen, ist die HOL-Forschung besonders betroffen, wenn Informationen zurückgehalten oder gar vernichtet werden, vor allem dann, wenn relevante Interviewpartner (z.B. Senior-Experten) unerreichbar oder gestorben sind. Bei der Entscheidung, ob eine HOL-Untersuchung durchgeführt werden soll, ist neben der Kalkulation des Erkenntnisgewinns also besonders abzuwägen, ob und wie lange noch mit Planung und Durchführung gewartet werden kann. Abgeschlossener Untersuchungszeitraum HOL-Untersuchungen sind geprägt von Fragen bzw. Problemen, die mit der Annahme, dass der Lernprozess abgeschlossen ist, zusammenhängen. Erst einmal muss glaubhaft dargelegt werden, dass und warum von einem abgeschlossenen Lernprozess die Rede ist. Das ist gar kein so leichtes Unterfangen, wenn der Abschluss eines Lernprozesses als ein organisationsinternes Politikum behandelt wird (War OL erfolgreich oder nicht?) oder dessen Dauer höchst umstritten ist. Probleme dieser Art sind immer im Zusammenhang mit der Forschungsperspektive (Stellung zur Organisation und Fragestellung) zu sehen. Forschungszugang bei HOL-Untersuchungen leichter: Besonders sensible Bereiche (z.B. Macht) in OL sind besser zugänglich HOL-Untersuchungen versprechen einen besseren inhaltlichen Zugang zu den Dokumenten und Akteuren als in gegenwärtigen oder geplanten OL-Prozessen, da die Sachlage aus zeitlicher Distanz zum Untersuchungszeitpunkt mit mehr Abstand betrachtet werden kann.358 Zwar kann eine wie auch immer geartete Verfälschung (etwa im Sinne einer Nostalgie) auftreten, ist aber unter die ohnehin erforderlichen Maßstäbe kritisch reflektierter Befragungen zu subsumieren. Die Entfernung zur augenblicklichen Situation, sei sie nun beruflicher oder privater Natur, fördert die Kommunikationsbereitschaft: Die Forschung ist weder am brisanten Tagesgeschäft noch an der jetzigen Situation der Privatperson primär interessiert.359 Ein weiterer Erklärungsfaktor, über den man bei der Untersuchung gegenwärtiger oder zukünftiger OL-Prozesse weniger leicht etwas erfährt, ist der sen358 Transhistorische Untersuchungen eröffnen neue Forschungshorizonte und bieten alternative Erklärungsmuster (vgl. Lawrence 1984). 359 Eine dennoch existierende emotionale Barrikade ist eher unwahrscheinlich, jedoch nicht ausgeschlossen (im Extremfall persönliches wie organisationales Trauma). „Double-loop“Lernerfahrungen enthalten sowohl stark kognitive als auch stark emotionale Komponenten (vgl. Wiegand 1996, 212, Fn. 87).
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sible Bereich der Macht. Machtanalytische Ansätze ermöglichen über Akteure die Unternehmensgeschichte greifbar und in ihren bedeutendsten Entscheidungen verständlich zu machen. Auch für (Noch-)Nicht-Mitglieder der Organisation (etwa die Familie eines Organisationsmitglieds, die Kundschaft oder Arbeitssuchende) kann seriöse HOL-Forschung kontrollierte und fundierte Interpretationsschnittstellen schaffen. Über HOL-Analysen lässt sich schnell und effizient die Tür zur Organisationsidentität öffnen und die „Logik“ einer Organisation erschließen.360 Gerade nach längerer Zeit können die Teilnehmer einen solchen Lernvorgang entspannter betrachten und mit Erkenntnissen, die sie rückblickend gewonnen haben, ergänzen und erklären. Dabei sollte jedoch das folgende Spannungsgefüge beachtet werden, wenn man von einem „idealen“ Untersuchungszeitpunkt innerhalb der Erforschung historischen Organisationslernens ausgeht:
Je größer der zeitliche Abstand zum Lernprozess-Zeitraum, desto geringer die Material- und Interviewpartnermenge und die wahrscheinliche Genauigkeit der Aussagen – aber – desto größer die Bereitschaft der Interviewten über sensible Zusammenhänge (z.B. in Bezug auf Macht) zu sprechen. Je geringer der Untersuchungszeitpunkt also vom optimalen Zeitpunkt (im o.g. Sinne) entfernt ist, desto größer der praktische Nutzen für die untersuchte Organisation.
Zeitgeist als zusätzlicher Erklärungsfaktor Während gegenwärtiges und zukünftiges OL sich mit den gesellschaftlichen Einflüssen der Gegenwart bzw. Zukunft konfrontiert sehen muss, Einflüssen also, die zum Untersuchungszeitpunkt der Forschung selbst kaum klar oder bewusst sind, hat eine HOL-Untersuchung den Vorteil, Lernprozesse historisch einordnen zu können und verfügt somit über einen zusätzlichen Erklärungsfaktor aus dem Bereich der Organisationsumwelt. Im geschichtlichen Kontext kann so 360 Außerdem kann ein Tabu der Macht gebrochen werden: Die befragten (ehemaligen) Organisationsmitglieder teilen – vermittelt durch die Forschungsresultate – mit ihren Kollegen die organisationale Erbschaft. Speziell Machtfragen können so ihrer mystifizierenden Aura entrissen und mikropolitisch interpretiert werden: Gleichsam wird „der Bart der Entscheidungen“ untersucht. Allerdings sind HOL-Analysen und v.a. deren Ergebnisse mindestens in ihrer Akteurzentrierung immer auch ein Politikum und von daher wissenschaftlich auf eine genaue Überprüfung der Forschungsperspektive und zielführend auf eine sensible Beratung angewiesen. Das gilt insbesondere dann, wenn Akteure mit/in der Vergangenheit unzufrieden waren und bei retrospektiven Untersuchungen realisieren müssen, dass Vergangenes nicht mehr zu ändern ist. Diese Irreversibilität bzw. das potentielle Trauma der Organisation(smitglieder) dürfen nicht unterschätzt werden, auch wenn gerade dort für die Organisation enormes Lernpotenzial besteht.
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mitunter auf eine breite Forschungspalette zurückgegriffen werden, wenn die organisationalen Bedingungen in den historisch-gesellschaftlichen Kontext übertragen werden sollen.361 Unabhängig davon darf eine HOL-Untersuchung jedoch nicht Opfer latent repetierter verschriftlichter Unternehmensgeschichte werden. Sie steht überdies in der Verantwortung, die Freiheiten der Geschichtsbesetzung gegebenenfalls einzuschränken und mit ihren Mitteln zu relativieren. Wo HOL-Forschung Organisationsgeschichte qualifiziert analysiert und sich dadurch von der Unternehmensgeschichte durch ihre vergleichsweise systematischere Methode abhebt, kann sie zu einem genaueren Organisationsverständnis beitragen. Abschließendes und organisationsspezifisches Ergebnis der HOL-Analyse: Aussagen über das Image, die Kultur und Identität einer Organisation Das abschließende Analyse-Ergebnis ist einmalig und für die Organisation von besonderem Wert, da die (noch) existierenden Lernfaktoren in ihrer Spezifizierung und deren Einflüsse auf den vergangenen Lernprozess fallbezogen analysiert werden und durch Übertragung (z.B. im Rahmen qualifizierter Beratung) mittels organisationseigener Wahrnehmungen und Erfahrungen auf laufende oder zukünftige Prozesse zur allgemeinen Verbesserung der Steuerung von Organisationslernen beitragen können.362 Eine Organisationskultur besteht nicht ausschließlich aus gegenwärtigen Faktoren, sondern ist gewachsen. Gerade Lernerfahrungen, man denke nur an erfolglose Versuche, die „von oben“ „abgebügelt“ wurden, prägen mitunter tief die Lernbereitschaft der Organisation. Insofern kann eine HOL-Analyse die Einstellung zu Veränderungsprozessen, zu organisationalem Lernen verdeutlichen und die Bereitschaft und Lernerfahrung kennzeichnen, die in der Organisation vorhanden sind. Damit können (potentielle) (Miss)Erfolge schon im Vorfeld bedacht werden und in den Maßnahmen des Managements Berücksichtigung finden. Es sollte schließlich einbezogen werden, dass auch neue Wege in Richtung einer historischen Reflexion möglich sind.
361 „Die Hinzuziehung historischer Fallstudien ist an amerikanischen und britischen Business Schools selbstverständlich und besitzt ausgehend von Harvard eine lange Tradition. In Deutschland ist der Wert solcher Fallstudien für die Managementausbildung bislang nur unzureichend erkannt worden. Daher meine ich, dass Unternehmen wie Linde gut beraten sind, ihre Unternehmensgeschichte in Zukunft auch für Weiterbildungszwecke zu nutzen. Das Interesse, so zeigt die Erfahrung in vielen Unternehmen, ist hier jedenfalls riesengroß“ (Berghoff 2005, 25). 362 Die Erkenntnisse umfassender Fallanalysen können jedoch nicht direkt auf zukünftige Lernprozesse übertragen werden und lassen sich nur bedingt auf historische Lernvorgänge in anderen Organisationen beziehen.
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HOL-Analysen können als Impulse theoretischer und praktischer Arbeiten dienen. Vergleichende Untersuchungen können Theorie und Forschung zeigen, ob und inwieweit sich das rekonstruierte Lernen (hier im Fall der Linde AG) - über das Verständnis von OL hinaus - in andere Modelle und Konzeptionen organisationalen Wandels einbinden lässt. Auch im Rahmen der Erforschung von Macht können sie wichtige Beiträge liefern. HOL-Analysen sind dagegen im praktischen Einsatz von DeuterolernProzessen besonders für jene Organisationen attraktiv, die eine starke Unternehmensidentifikation wünschen oder erhalten wollen, um dadurch Innovationspotenzial zu erhöhen (z.B. Familienunternehmen, think tanks, Unternehmensberatungen).363 Dabei kann die Bedeutung der Unternehmensgröße entscheidend sein: „Je kleiner das Unternehmen ist, desto stärker schlagen Elemente des Individuallernens, besonders bei sehr hierarchisch–zentral strukturierten Organisationsformen durch. Die Fähigkeiten der Organisation zu lernen hängt hier oft von der Fähigkeit und Bereitschaft des Eigentümerunternehmers oder Geschäftsführers ab. Darüber hinaus können auch in größeren Klein- und Mittelunternehmen dominierende Gruppen stärker vorherrschen und schneller agieren als in Großunternehmen. Sie haben zudem den Vorteil in größerem Umfang die Gesamtorganisation am Lernprozess beteiligen zu lassen“ (Dierkes/Krebsbach-Gnath 1997, 66).
Die Schätze historischen Organisationslernens zu heben, zu analysieren, zu nutzen und damit zu gestalten wird auch in Zukunft einer besonderen Fähigkeit gleichen, keinem automatischen Prozess, sondern einer fundierten Interpretation. Das impliziert weitere Konsequenzen und Erkenntnisse: Die Darstellung von HOL stellt eine Kombination aus verschiedenen Denkrichtungen dar. Sie sollte einerseits den organisationstheoretischen Faktoren, die hier als Lernfaktoren in den Variablen Umwelt, Wissensbasis, Strategie, Akteur, Struktur und Output repräsentiert wurden, gerecht werden und deren Einfluss auf den Lernprozess zum Ausdruck bringen. Sie sollte aber auch die historischen Komponenten berücksichtigen und die Darstellung weitestgehend chronologisch anordnen, damit die Dynamik der geschichtlichen Entwicklung zum Ausdruck kommt. Als Interpretation muss sie schließlich überzeugend sein und sowohl der Unternehmens-
363 Unternehmensgeschichte und deren Ausprägung im historischen Organisationslernen ist in der Lage, Identität (wieder) zu erschaffen, die sowohl für übernehmende als auch für übernommene Organisationen von Bedeutung ist. Nicht von ungefähr werden Familienunternehmen als Käufer wohlmeinender behandelt als anonyme Konsortien. Selbst eine feindliche Übernahme funktioniert nach dem Motto: „The devil that you know is better than the devil that you don’t know“.
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geschichte als auch der Organisationstheorie wechselseitig neue Perspektiven vermitteln. Wenn Organisationsgeschichte aktiv verarbeitet wird, thematisiert sich die Organisation selbst und nutzt ihre Geschichte nicht im Sinne eines herkömmlichen, verstaubten oder apodiktischen Informationspools: Sie lädt zum Streiten und Diskutieren, eben zum „reflexive monitoring“ ein. Sie fordert einen in die Zukunft gerichteten Dialog unter der Berücksichtigung und Interpretation vergangener Erfahrungen. Erfahrungen dieser Art haben gerade für Organisationen, die im Gegensatz zu Einzelpersonen gewissermaßen über erhöhte Reibungsverluste bei der Zielerreichung verfügen, besonderen Wert, denn Erfolge und Misserfolge im HOL stellen jeweils Gefahren und Chancen zugleich dar. Vergleiche mit den Wettbewerbern ermöglichen zwar Aussagen über die Qualitäten der Lernprozesse anderer Organisationen, dürfen jedoch nicht die Komplexität und Einzigartigkeit der jeweiligen Einrichtungen unterschlagen. Besser können solche Vergleiche einer historisch-basierten Stärken- und Schwäche-Analyse der eigenen Organisation dienen. Diese Arbeit gibt insgesamt Gelegenheit, über das „Image“ des Lernens an sich nachzudenken: Misserfolge bieten für HOL-Analysen das beste Ausgangsmaterial. So kann untersucht werden, ob und wie die Organisation mit ihren Leistungslücken umgegangen ist. Dagegen können Lernerfolge später als Gefahr gelten, dann nämlich, wenn die Bereitschaft, Veränderungen zu durchdenken, allmählich nachlässt. Unternehmensgeschichte ist im evolutionstheoretischen Sinne die zeitliche Facette der Produktqualität, besser der organisationalen Zielerreichung, und damit ein Mehrwert der Organisation, der kommuniziert werden kann, will das Unternehmen davon profitieren. Wenn Werbung im Zusammenhang mit Produktqualität steht und deshalb betrieben wird oder werden kann, dann ist diese Produktqualität auch oder vor allem durch die kommunizierte Werbung dem Kunden präsent. Unternehmensgeschichte ist ein eigenständiges Produkt der Unternehmung und kann ebenso vermarktet werden. Hiermit entstehen neue Werbearenen, die auf ein wählerisches Publikum treffen, das an seriösen Informationen und kulturellen Kontexten interessiert ist. Dabei nehmen wissenschaftlich fundierte HOL-Untersuchungen als Veröffentlichungen eine anspruchsvolle Position ein.364 364 Folgt man diesem Gedanken weiter, stoßen Unternehmen/Organisationen auf ein vielleicht kleines, jedoch anspruchsvolles und hochqualifiziertes Entscheider-Publikum aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, das mit einer wissenschaftlich fundierten, glaubwürdigen HOLStudie ein positives Image mit dem Wissen über das Unternehmen verknüpfen kann. Selbstverständlich hebt sich in solchen Wissensarenen eine HOL-Analyse vom History-Marketing ab.
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Ambitionierte HOL-Untersuchungen leisten einen Beitrag zur Identitätsförderung des Unternehmens. Akteure als Organisationsangehörige schaffen in der Regel erst ab einer bestimmten Zeit einen Mehrwert und sind von daher nicht beliebig oft austauschbar. Insbesondere für verantwortliche Entscheidungsträger, die sich ihr Arbeitsumfeld bewusst machen wollen, können akteurzentrierte HOL-Ansätze in der Praxis hilfreich sein. Kenntnisse über die eigene Organisation, gerade auch über die nicht einfach oder überhaupt nicht lösbaren Widersprüche von Handlungen und Haltungen, vermitteln ein stärkeres (Selbst)Bewusstsein sowohl der Organisation als auch ihrer Mitglieder.365 Identitäten sind in der HOL-Forschung gleich zweifach anzutreffen. Sie identifiziert vergangene Lernprozesse und damit vergangene Identitäten und gibt gleichzeitig über jene der Gegenwart, insbesondere in Interviews mit den Organisationsmitgliedern Auskunft. Führungskräfte von Unternehmen, die übernehmen oder übernommen worden sind, können über HOL-Analysen die Lernkultur als Extrakt der Organisationskultur erfahren und als Handlungsparameter berücksichtigen. Nicht nur in dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass bei organisationalen Lernprozessen das Management eine entscheidende Rolle sowohl direkt als auch indirekt spielt. Dennoch erscheint die Rolle des Organisationsgedächtnisses von Organisationen im Management oft undeutlich (vgl. Walsh/Ungson 1991, 74 ff.). Die Autoren gehen von folgenden Annahmen aus: „Decisions that are critically considered in terms of an organization’s history as they bear on the present are likely to be more effective than those made in a historical vacuum. (…) Decision choices framed within the context of an organization’s history are less likely to meet with resistance than those not so framed. (…) Change efforts that fail to consider the inertial force of automatic retrieval processes are more likely to fail than those that do.”
Allerdings weisen sie auch auf die Gefahr hin, nach der durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit gegenwärtige Entscheidungen hinsichtlich Problemdefinition, Alternativen, Generationen und Beurteilungen „vernebelt” werden, so dass Entscheidungen durch eine „corporate tradition“ beeinträchtigt werden können. Die Kontinuität wissenschaftlicher Forschung stellt indes den Praktikern langjährig bewährtes Wissen zur Verfügung, Erkenntnisse, die sich aufgrund So gesehen wäre den Berghoffschen Funktionen der Unternehmensgeschichte (Berghoff 2004) eine sechste, die „Premium-Imagefunktion“, hinzuzufügen. 365 Gerade in Zeiten der Übernahmeschlachten einer globalisierten Welt sind turbulente Umwelten dann eine Herausforderung, wenn die einzelnen Organisationsmitglieder Gefahr laufen, den Halt zu verlieren. Halt, im Sinne von Rückblick, aber auch von Stabilität und Kontinuität.
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permanenter Überprüfungen als brauchbar erwiesen haben (vgl. Argyris/Schön 1996, 35 f.). Außerdem können dadurch Erkenntnisse, etwa bezogen auf die Organisationskultur, eingebracht werden, wie sie nur aus der Perspektive Außenstehender möglich ist (vgl. Walsh/Ungson 1991). Dennoch sollte die Rolle der Forscher, auch wenn sie einen wesentlichen Impuls durch HOL-Analysen ermöglicht, nicht überbewertet werden. 366 Argyris/Schön (1996, 45) skizzieren Leitlinien für die Wissenschaft in der Praxis und heben als beste Theorie jene hervor, wie sie idealerweise auch in der HOL-Forschung Anwendung finden kann: Sie entsteht in der Praxis, mit Organisationsmitgliedern in der Situation/Organisation selbst. Vor diesem Hintergrund räumt Giddens (2008, 341 ff.) neuen Erkenntnissen aus den Sozialwissenschaften nur dann verändernde Folgen ein, wenn diese
sich nicht als falsch erweisen, den entscheidenden Akteuren nicht trivial oder uninteressant erscheinen, sich auf vergangene soziale Ereignisse beziehen und die entsprechenden sozialen Bedingungen noch existieren, Verhaltensparameter, die unbedingt nötig sind, prinzipiell ändern können, ermöglichen, den status quo zu ändern, von Akteuren umgesetzt werden, die Veränderungen bewirken können, adäquat vermittelt werden und ihr Potential deutlich hervortritt.
Gerade die Freilegung der Mitarbeiterpotentiale hinsichtlich ihrer „eigenen“ Firmengeschichte, vor allem aber ihrer diesbezüglichen Interpretationen soll verhindern, dass Berater mit Allmachtsanspruch auftreten, denn so lange in Unternehmen keine Fähigkeiten entwickelt werden, Entscheidungen aufgrund eigener Kompetenzen selbst treffen zu können „solange wird die Illusion aufrechterhalten, dass die Trivialisierbarkeit von Mitarbeitern, Wettbewerbern, Kunden etc. die beste Strategie für den Unternehmenserfolg ist“ und durch fehlende Offen366 In diesem Sinne sollten Überlegungen zur Organisationspraxis nicht als „Vorrecht“ von HOLAnalysten betrachtet werden, sondern diese vielmehr als Berater und Begleiter von Organisationen konzipieren, die durch ihre übrige Forschungsarbeit unabhängig und unparteiisch sind. Hier wird nicht davon ausgegangen, dass organisationale Lernprozesse, insbesondere dann, wenn sie, wie HOL-Analysen-basiert, als Deuterolernprozesse gedacht sind, detaillert steuerbar sind. Westliches Denken, das emotionale Probleme damit hat, prinzipielle Unkontrollierbarkeit zu akzeptieren (vgl. Reinhardt 1993, 193), ist insbesondere in Zeiten „turbulenter Umwelten“ vor eine große Herausforderung gestellt. Auch wenn HOL-Analysen nicht ohne Fachkompetenz erstellt werden können und Organisationen daher in bestimmtem Umfang auf fremde Hilfe angewiesen sind, soll hier kein beratungsabhängiger Ansatz verfolgt werden. Vielmehr geht es um die Chance, durch begleitende Forschungsunterstützung Interpretationsrelationen und Denkanstöße zu erlangen. Vgl. zum Beratungsaspekt im organisationalen Lernen Kerlen (2003, 153), Göhlich/König/Schwarzer (2007).
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heit, Klarheit und Transparenz nachhaltiges Organisationslernen verhindert (Reinhardt 1993, 193, vgl. auch Walsh/Ungson 1991 68, Roth/Kleiner 1998, Bradbury/Mainemelis 2001, Hayn 2007, 190).367 Insgesamt gilt es also, das wertvolle Potential organisationaler Erfahrungsträger bewusster zu nutzen. In einem Diskurs der Organisation über ihr historisches Organisationslernen geht es darum, Impulse anhand von HOL-Analysen im Kontext gegenwärtiger Entwicklungen zu gewinnen, über Kontroversen Deuterolernen zu ermöglichen und damit über Stigmatisierungen der Vergangenheit hinauszukommen. Inwieweit kann HOL als Wegbereiter in Deuterlern-Prozessen fungieren? Bei der Antwort auf diese Frage können die folgenden Erkenntnisse, wie sie in der vorliegenden Arbeit entwickelt oder bestätigt wurden, weiterführen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
7.
8.
Lernen zeugt von der Bereitschaft zur Veränderung. Veränderungen einer Organisation können deren Überleben sichern. Damit erhält organisationales Lernen existenzielle Relevanz. Lernen können nur Individuen. Je stärker OL-Prozesse „von innen“ kommen, desto größer sind die Chancen auf Innovation und organisationale Nachhaltigkeit der Lernergebnisse. Da innovatives Lernen freiwillig erfolgt, erscheint es angebracht, dieses durch Motivation und Identifikation mit der Organisation zu fördern. Organisationales Lernen bzw. Lernen in Organisationen kann nur erfolgen, wenn Organisationsmitglieder in der Lage, vor allem aber bereit sind, ihre Lernergebnisse in die organisationale Wissensbasis einzubringen und damit der Organisation die Chance geben, Lernergebnisse (diskursiv bzw. in Handlungsroutinen) organisational werden zu lassen. Die Bereitschaft von Organisationsmitgliedern, Lernen in Organisationen, organisational werden zu lassen (Lernergebnisse zu kommunizieren) ist die Voraussetzung dafür, dass Lernergebnisse umgesetzt werden und neue Handlungen und Strukturen entstehen können. Diese Kommunikation erfordert „Empowerment“, Vertrauen und Mut. Sie ist auf eine Identifikation des Individualakteurs mit seiner Organisation angewiesen. Diese kann durch kreative und ergebnisoffene HOL-basierte Lernprozesse verstärkt werden.
367 In diesem Kontext muss auf die organisationalen Inter-Generationenbeziehungen verwiesen werden (vgl. Hayn 2007, 180). Dabei besteht die Gefahr, dass Wissenstransfer in der Praxis eher beliebig und ungerichtet verläuft, so dass Anreize geschaffen werden müssen, die junge und alte Mitarbeiter an Prozessen der Wissenszirkulation teilnehmen lässt. Andernfalls schwindet die organisationale Innovationskraft. Investitionen werden abgeschrieben, wo wertvolles Erfahrungswissen verloren geht.
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Macht versetzt Organisationsmitglieder in die Lage, Lernergebnisse organisational wirksam werden zu lassen. 10. Lernvorgänge sind, wie Entscheidungen, von Nicht-Wissen geprägt. Je eher das Individuum bereit ist, sämtliche Situationskomponenten zu akzeptieren, je eher z.B. unlogisch, ineffizient oder unnötig erscheinende Informationen prinzipiell einbezogen werden, um so wahrscheinlicher kommt es zu einer „zündenden Idee“, die Neues generieren und damit einen Unterschied zu bestehendem Wissen herstellen kann. Wenn Organisationen sich mit ihren Wurzeln bewusst auseinandersetzen, wenn sie zurückliegende Entscheidungen kritisch-kreativ zu verstehen versuchen, wenn sie in diesem Sinne lernen und bereit sind für den Weg in die Zukunft, führt ein Weg der Organisationstheorien künftig noch bewusster hinaus in die Vergangenheit.
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8 Anhang
8.1 Indikatoren OL Variable Wahrnehmung der Umwelt
Definition Perzeption der Gesamtheit aller tatsächlichen oder möglichen externen organisierten Aktionspartner einschließlich der strukturellen allg. Handlungsbed. einer Org. oder deren Teile Perzeption und Vergleich von erwarteter und tatsächlich erbrachter Leistung
Wahrnehmung von Leistungslücken Organisationale Wissen, welches einer Organisation und sei es auch nur beWissensbasis stimmten Organisationsmitgliedern zur Verfügung steht, um sowohl organisationsrelevante Entscheidungen zu fällen als auch alle anderen organisationalen Handlungen zu vollziehen Entscheidersubjektive Einstellung des Entscheiders aufgrund seiner position Wahrnehmung intraorganisationaler Bedingungen und jener der Organisationsumwelt sowohl zu bestimmten Entscheidungen als auch allgemein Entscheidungs- Ablauf des Vorganges der Wahl einer Handlung aus einer prozess mehr oder weniger fest umrissenen Menge von Handlungsmöglichkeiten Organisations- Entscheidungsregel, Ordnung aller Handlungsmöglichkeiten strategie einer Organisation, die für das betrachtete Problem relevant sind, nach einem oder mehreren Kriterien, so dass für jede mögliche Situation festliegt, welche Handlung zu wählen ist Struktur sowohl dauerhaftes Gefüge von sozialen Regeln und Regelhaftigkeiten der Arbeitserledigung, Kommunikation und Kontrolle zwischen den Organisationsmitgliedern als auch für das diese Regeln und Regelhaftigkeiten zugrunde liegende Ordnungsprinzip Output organisationale Handlungen und Strukturen, die den (von außen wahrnehmbaren) Ausstoß einer Organisation darstellen Tabelle 3: Indikatoren organisationalen Lernens M. Herzog, Historisches Organisationslernen als Wegbereiter zukünftiger Lernprozesse, DOI 10.1007/978-3-531-93198-2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
264
8 Anhang
8.2 Variablenchronik Phase 1 (1954-1967) Variable
Jahr
Wahrnehmung der Umwelt
ab 1960 1960er ab 1960
Wahrnehmung von Leistungslücken
ab 1964 1964 ab 1962 1959-62 ab 1955 ab 1960 ab 1960 ab 1960 ab 1960 ab 1962 ab 1963 ~1966
~1967 ab 1967 Entschei1954derposition ~1965 19641984
Veränderung der Wissensbasis Organisationsstrategie
ab 1960
ab 1965
Inhalt
Whitegood-Gruppenbildung im Kühlmöbelsektor Verkäufermarkt wechselt über zum Käufermarkt erfolglose Bestrebungen, im Bereich Ackerschlepper und Traktorenbau eine gute Marktstellung zu erlangen Übernahmegefahr für die Linde AG USA-Besuch Meinhardts Werksgruppenleiter bzw. Vorstände handeln ausschließlich auf ihre Werksgruppen bezogen, Werksgruppe in München fungiert als unternehmensinterne Bank Marktforschung fehlt Linde-Gesamtumsatz schwach Linde-Firmen-Struktur insgesamt ungeeignet Leistungen im Ackerschlepper- und Traktorenbau unzureichend Zentralverwaltung schwach, bedeutungslos frühere Generation hat Schwierigkeiten auf Käufermarkt zu reagieren Strategie/Linde-Gesamtkonzept fehlt Vorstand unfähig keine Investitionsmittel für Kühlschrankherstellung MainzKostheim Linde steht vor dem Konkurs Umstellung in Aschaffenburg gilt als Erfolg versprechend erste dominante Koalition verfügt mit der Werkgruppe Technische Gase in München über die einzige Werksgruppe, deren Investitionsmittel auch für andere Werksgruppen reichen zweite dominante Koalition will den jeweiligen Vorstandsmitgliedern Kompetenzen über die eigenen Werksgruppe hinaus einräumen und ein Exekutivorgan zur Leitung des Gesamtunternehmens einrichten und damit den Einfluss der Zentralverwaltung erhöhen sowie eine (neue) Unternehmensstrategie umsetzen das Wissen aus den Abteilungen Organisation und Marketing sowie die strategischen Überlegungen durch Meinhardts USAReise verändert das der Organisation Bildung einer Strategie aus den neuen Abteilungen Organisation v.a. Marketing und der USA-Reise Meinhardts
Tabelle wird forgesetzt
265
8 Anhang
Variable Entscheidungsprozess
Jahr 1961 1962 1964 1966 1967
Struktur
Output
1959 ab 1960 1962 ~1965 1964 1967
Inhalt Vorschlag zum Ausbau der Vorstandskompetenzen Vorschläge zu besserer Vorstandsarbeit jedoch keine Absicht, Kollegialprinzip durch Generaldirektion zu ersetzen Vorstand billigt Einführung einer zentralen Planung Vorstand schlägt neue Aufsichtsrats-, Vorstands- und Zentralverwaltungsfunktionen und neuen Organisationsplan vor Vorschläge für eine integrierte Unternehmensplanung bei Linde Nach prinzipieller Zustimmung durch AR billigt V die Neugliederung der Unternehmensorganisation: erweiterte Aufgaben des Vorstands (Exekutivorgans im Vorstand für gesamte Unternehmenspolitik), der Zentralverwaltung bzw. Funktionsbeschreibung der Stabsstellen. Über die Zuständigkeiten der Stabsabteilungen der Zentralverwaltung und der Werksgruppen ist noch zu verhandeln. Gründung Abteilung Organisation und Planung Ausbau v.a. Einführung von Stellenplänen, Organigrammen etc. Gründung Abteilung Marketing Gründung zentraler Entwicklungsabteilung Die Werke Sürth und Mainz-Kostheim werden zur Werksgruppe Kälte zusammengefasst. Abgabe der Kühlschrankherstellung Mainz-Kostheim Vorbereitungen zur Umstellung in Aschaffenburg auf Flurfördertechnik und Hydraulik
Tabelle 4: Variablenchronik Phase 1 (1955-1967)
266
8 Anhang
8.3 Variablenchronik Phase 2 (1967-1984) Variable Wahrnehmung der Umwelt
Jahr ab Mitte 1960er ab Mitte 1960er ab Anfang 1970er
Wahrnehmung von Leistungslücken Entschei1968-1976 derposition 1967-1972 1970-1976 Veränd. der Wissensbasis Entscheidungsprozess
1967-1970 1970-1976
Organisationsstrategie Struktur
bis 1971
Output
1969 1972
ab 1968
1972 1972
1973 1984 1984 1984
Inhalt Kostendruck steigt Kandidaten, die Linde übernehmen wollen Übernahmegefahr durch Großaktionäre keine besonderen (neuen) Wahrnehmungen
zweite dominante Koalition setzt Einzelheiten des Vorstandsbeschlusses durch neutrale Vorstandsmitglieder, die kaum Interesse an beiden Standpunkten haben Opposition gegen bestimmte Aktionen der zweiten dominanten Koalition s. Organisationsstrategie Neuer Standort für die ZV Streit um Art und Durchführung des Vorstandsbeschlusses insbesondere um Kompetenzen des Exekutivorgans, des Vorstands und der ZV gegenüber den einzelnen WGs Ausbau und Vollendung einer Organisationsstrategie Ausbau von Stellenplänen, Organisationsplänen, Stellenbeschreibungen, Führungsanweisungen, Dienstaufsichts- und Erfolgskontrollen Umstellung auf FH in Aschaffenburg Bildung der Werksgruppe Industriekälte und Kühl- und Einrichtungssysteme in Sürth Bildung der Werksgruppe TVT München und Technische Gase in Höllriegelskreuth Linde übernimmt zur Stärkung des Arbeitsgebiets Tieftemperatur- und Verfahrenstechnik von der Messer Griesheim GmbH die Sparte Tief- und Tiefsttemperaturtechnik und gibt das Arbeitsgebiet Schweißtechnik an Messer Griesheim ab Linde erwirbt alle Anteile an der SE Fahrzeuge GmbH, Hamburg, der heutigen STILL GmbH, und wird damit zum führenden FlurförderzeugeAnbieter in Westeuropa. Ausgliederung des Kühlhausgeschäfts Ausgliederung der Sparte Kolben- und Turbomaschinen an Atlas Copco AB Übernahme des größten französischen Gabelstaplerherstellers Fenwick Manutention S.A. .
Tabelle 5: Variablenchronik Phase 2 (1967-1984)
8 Anhang
267
8.4 Chronik der Linde AG (1954-1984) 1955 1956 1957 1958
1959 1960
1961 1964 1965
1967 1969 1971
Vorstellung des ersten Hydrocars, eines Transportfahrzeugs mit hydrostatischem Getriebe. Mitgründung der TEGA-Technische Gase GmbH, Obereggendorf in Österreich, als erste größere Auslandsbeteiligung nach dem Zweiten Weltkrieg und Beginn des Wiederaufbaus des Auslandsgeschäfts. Rationalisierungsmaßnahmen führen zur Verlagerung des Vertriebs steckerfertiger Geräte, insbesondere Haushaltskühlschränke, von Sürth nach Kostheim mit der Fertigung in Kostheim. Güldner beginnt mit dem Serienbau von Hydraulikeinheiten und Flurförderzeugen; Zusammenfassung der Unterstützungseinrichtung GmbH und der vier Unterstützungsvereine zur Unterstützungseinrichtung GmbH der Gesellschaft für Linde’s Eismaschinen. Das Exportgeschäft Kühlschränke wird von Sürth an das Kühlmöbelwerk Kostheim abgegeben. Verlagerung des Arbeitsgebietes Großkälte von Wiesbaden nach Sürth; in Sürth wird die Produktion von Turbogebläsen radialer Bauart aufgenommen. Das Werk Kostheim nimmt die Produktion von Haushaltsgefriertruhen auf. Erstmalige Ausgabe von Belegschaftsaktien. Die Werke Sürth und Mainz-Kostheim werden zur Werksgruppe Kälte zusammengefasst. Linde macht ersten Schritt in das weltweite Großanlagengeschäft; Bau des Kühlhauses München-Nord für die neu gebildete Werksgruppe Kühlhäuser. Gründung der Linde Hausgeräte GmbH als Vertriebsgesellschaft in Wiesbaden und der Linde Nürnberg GmbH; Gründung der Kühlhaus Linde Nürnberg GmbH. Abgabe des Linde-Hausgerätegeschäfts an die AEG, die sich mit 75% an der Linde Hausgeräte GmbH beteiligt, in die Linde das Kühlmöbelwerk Mainz-Kostheim einbringt. Einstellung der Traktoren- und Dieselmotorenproduktion bei der Werksgruppe Güldner/Aschaffenburg und Konzentration auf die Wachstumssparten Flurförderzeuge und Hydraulik. Beginn des Baus eigener Großsauerstoffwerke; 100-jähriges Bestehen der Maschinenfabrik Sürth; im Werk Mainz-Kostheim fallen bei einem Großbrand die Montagehalle, die Lackieranlagen sowie ein mehrstöckiges Lagergebäude den Flammen zum Opfer. Beteiligung an der Ladenbaufirma Variant GmbH, Bad Hersfeld, zur Er-
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8 Anhang
weiterung des Arbeitsgebiets Einrichtungstechnik. Bildung der Werksgruppe Industriekälte und Kühl- und Einrichtungssysteme in Sürth sowie TVT München und Technische Gase in Höllriegelskreuth. Linde übernimmt zur Stärkung der Tieftemperatur- und Verfahrenstechnik von der Messer Griesheim GmbH die Sparte Tief- und Tiefsttemperaturtechnik und gibt das Arbeitsgebiet Schweißtechnik an Messer Griesheim ab; Gründung der Likos AG gemeinsam mit Messer Griesheim GmbH. 1973 Erwerb aller Anteile an der SE Fahrzeugwerke GmbH, Hamburg, der heutigen STILL GmbH. Umstrukturierung der Matra-Werke GmbH in ein Handelsunternehmen; Abgabe des Werks Kahl/Main an die Werksgruppe Güldner Aschaffenburg. In Wiesbaden bezieht Zentralverwaltung neues Verwaltungsgebäude. 1974 Gründung der Aeroton Gases Industriais Ltda. in Rio de Janeiro und der Linde Gas Pty. Ltd. in Sydney. Gründung der S.A. Linde Chemical Engineering & Manufacturing (Pty.) 1975 Ltd. in Südafrika; Beteiligung an der Selas-Kirchner GmbH, Hamburg, zur Stärkung der Spaltofen- und Wärmetechnologie mit zunächst 35% (vollständiger Erwerb 1985). 1976 Erwerb des Kühlmöbelherstellers Tyler Refrigeration International GmbH in Schwelm und damit Stärkung der Marktstellung bei gewerblichen Kühlmöbeln. 1977 Verlagerung der gewerblichen Linde-Kühlmöbel nach Schwelm/ Westfalen; Linde erwirbt eine Mehrheitsbeteiligung an dem amerikanischen Flurförderzeugeunternehmen Baker Material Handling Corporation, Cleveland. Die Linde AG feiert ihr 100-jähriges Bestehen. 1979 Zusammenlegung der Werksgruppen Industriekälte und Kühl- und Einrichtungssysteme zur Werksgruppe Kälte- und Einrichtungstechnik; die Arbeitsgebiete Kälte- und Klimatechnik, Einrichtungssysteme sowie Kolben- und Turbomaschinen werden in der Werksgruppe Kälte- und Einrichtungstechnik zusammengefasst. Im Werk 2 in Mainz-Kostheim werden (nach der Verlagerung der ge1981 werblichen Linde-Kühlmöbel nach Schwelm/Westfalen 1977) wieder steckerfertige Kühlregale, -theken und Tiefkühlinseln für die Eiskremindustrie gebaut. 1984 Übernahme des größten französischen Staplerproduzenten Fenwick und Gründung der Fenwick-Linde S.A.R.L. Vorgesetzt: Aktivitäten in Form von Beteiligungen, Käufen und Verkäufen (Quelle: Dienel 2005, 468-469) 1972
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8.5 Umsatzerlöse, Gewinne und Mitarbeiterzahlen von 1954 – 1984 Jahr 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984
Umsatzerlöse DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM DM
231.000.000,00 283.000.000,00 322.000.000,00 366.000.000,00 392.000.000,00 433.000.000,00 486.648.495,57 534.788.302,71 560.740.512,92 605.480.842,98 661.695.561,80 688.420.988,01 679.931.848,70 649.863.172,00 677.659.035,00 727.106.515,00 760.866.446,00 981.173.403,00 998.302.820,00 1.229.328.497,00 1.297.719.418,00 1.387.363.772,00 1.553.735.231,00 1.667.494.102,00 1.825.191.136,00 2.012.290.754,00 2.174.775.866,00 2.484.919.674,00 2.512.716.835,00 2.671.146.246,00 2.602.389.033,00
Jahresüberschuss/ Konzerngewinn 3.220.941,22 3.560.497,02 4.416.685,78 6.224.621,13 7.773.136,02 8.794.879,29 9.215.575,22 11.714.665,41 11.725.910,00 11.716.850,00 11.722.710,00 11.726.650,00 9.781.782,00 9.633.060,00 10.974.366,00 11.292.842,00 12.920.327,00 11.206.272,00 12.120.864,00 15.887.369,00 19.635.346,00 22.691.935,00 23.908.195,00 23.039.130,00 27.604.834,00 25.265.645,00 32.477.471,00 32.531.606,00 32.556.509,00 32.685.379,00 36.119.156,00
Mitarbeiter 7716 8761 9309 9923 10339 10 849 12 312 12.305 12.584 12.753 12.954 13.080 12.896 10.219 10.411 10.342 10.865 11.050 10.384 15.605 15.481 14.505 14.757 14.905 15.338 15.679 15.765 15.534 15.094 15.051 13.907
Tabelle 6: Umsatzerlöse, Gewinne und Mitarbeiterzahlen von 1954 - 1984 (Quelle: Dienel, 2005, 474-475)
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8.6 Interviewleitfaden Vorbemerkung Das Ziel dieser Untersuchung ist es, den Veränderungsprozess im LindeKonzern der 60er und 70er Jahre zu erforschen und herauszufinden wie und warum dieser Wandel stattgefunden hat. Das Ziel dieses Interviews ist es, diesen Prozess zu rekonstruieren und die Faktoren zu analysieren, die bei dem Strukturwandel eine Rolle gespielt haben. Die Ergebnisse werden anonymisiert. I. Persönlicher Ausgangspunkt Mich interessieren die Strukturveränderungen bei Linde zwischen Ende der 60er und Ende der 70er Jahre. Welche Position hatten Sie zu dieser Zeit im Linde Konzern inne? II. Lagebeurteilung / performance gaps / dominante Koalition Die Zeit von 1967 bis 1977 wurde häufig als eine Zeit des tiefgreifenden Strukturwandels bei Linde beschrieben. Sind Sie auch dieser Ansicht? wenn ja: Wodurch ist der Strukturwandel damals ausgelöst worden? wenn nein: Gab es überhaupt strukturelle Veränderungen in dieser Zeit? Welche? Wurden Probleme wahrgenommen, die eine Strukturveränderung nötig erscheinen ließen? Gab es unterschiedliche Einschätzungen? wenn ja: Wer hat die jeweiligen Positionen vertreten? wenn nein: Wieso war man sich dermaßen einig? Wie verlief die Diskussion über den Strukturwandel? Wer hat sich an der Diskussion beteiligt? Welche Argumente wurden vorgebracht? Gab es alternative Vorschläge? Wer hatte zuerst Strukturveränderungen vorgeschlagen? Wer hat über die grundsätzlichen Veränderungen entschieden? Welche Vorschläge wurden akzeptiert? Gab es Gegenpositionen? Wer zählte dazu? Wurden die Gegenpositionen berücksichtigt? Warum ja? Warum nicht? Wie wurde damit umgegangen?
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III. Zielfestlegung / strategische Aktion Welche Veränderungen wurden schließlich vorgenommen? Wurden dadurch die Probleme gelöst? IV. Änderung der organisationalen Wissensbasis Wurden im Zusammenhang mit dem Strukturwandel neue Mitarbeiter eingestellt? Haben alte Mitarbeiter neue Positionen oder Funktionen erhalten? Wie haben sich die Abläufe in der Organisation verändert? Wie wurde das Wissen vorher und wie nach dem Strukturwandel festgehalten? V. Persönliche / generelle Einschätzung Wenn Sie den Strukturwandel bei Linde im Nachhinein betrachten: Welche positiven, welche negativen Folgen gab es? Hat Linde als Organisation gelernt? (Wenn ja, was und warum?, wenn nein warum nicht?, was hätte man lernen können?) Vor dem Hintergrund unseres Gesprächs: Wie sehen Sie die Entwicklung von Linde heute? Wie sollte Linde mit diesen Erfahrungen und Entwicklungen umgehen? Wie sollte Linde mit seiner Unternehmensgeschichte umgehen? Schluss Fragen wurden alle gestellt. Danke für das Interview. Gibt es Feedback? Bis dahin aufgeschobene Fragen vom Interviewpartner? Empfehlung weiterer Ansprechpartner, Dokumente?
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8.7 Beispiele für Extraktionstabellen verschiedener Variablen Akteur
Inhalt
Wis- Politik senschaft
IS
Wirtschaft
Wirkung
Verkäufermarkt wird nach dem Krieg von Käufermarkt abgelöst
Marktforschungsabteilungsaufbau
ZeitQuelle punkt/ Zeitraum 60er IS-69 Jahre
Tabelle 7: Beispiel für Extraktionstabelle „Wahrnehmung der Umwelt“ Inhalt
Gegenstand
Akteur Ursache
Wirkung
GB M-K defizitär
Kühlgerätebau M-K
Ü
Kapazitäten nicht ausgelastet
Kühlgerätebau: Sättigung des Marktes
Zeitpunkt/ Zeitraum 1960196[3][1967]
Quelle IÜ-5
Tabelle 8: Beispiel für Extraktionstabelle „Performance gap“ Inhalt
Gegenstand
Ursache Wirkung vielfältiges Programm
Kälteanlagen für Schlachthöfe, Kühlhäuser, Verfahrenstechnik, Chemieanlagen, BASF, Eisbahnen
Zeitpunkt/ Zeitraum 70 er Jahre
Quelle IC-63
Tabelle 9: Beispiel für Extraktionstabelle „Output“ Entscheidungssubjekt/e
Inhalt/ Ergebnis
Entscheidungsbedingungen
Sitz der ZV/ZV bleibt in W
[sehr günstiger Verkaufserlös der alten ZVGebäude]
Alternativen
Entscheidungskriterien Neutralität der ZV
Ursache
Wir Zeitkung punkt/ Zeitraum
Quelle
ZV: schlec hte Unterbringung
Umzug
IÜ-32
zur Zeit des Strukturwandels
Tabelle 10: Beispiel für Extraktionstabelle „Entscheidungsprozess“