Michael Siefener
Hinter der Maske
KBV
Originalausgabe © 2006 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim ww...
92 downloads
831 Views
898KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Michael Siefener
Hinter der Maske
KBV
Originalausgabe © 2006 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim www.kbv-verlag.de
»Wensburg« (S. 122/23) © by Jochen Arlt. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Umschlagfoto: Theo Broere Redaktion, Satz: Volker Maria Neumann, Köln Druck: Grenz-Echo AG, Eupen www.grenzecho.be Printed in Belgium ISBN 3-937001-91-3
Arthur Dreyer hat sein ganzes Leben mit seiner früh verwitweten Mutter in Köln verbracht. Nach ihrem Tod zieht er in ein Eifeldorf, weil er der Trauer und den Erinnerungen entfliehen will. Bald muss er erfahren, dass es in dem Haus, das er sehr günstig erworben hat, angeblich spukt. Er glaubt nicht daran, doch rasch mehren sich Anzeichen dafür, dass mit dem Haus tatsächlich etwas nicht stimmt. Dreyer spricht mit niemandem darüber, weil er Angst hat, ausgelacht zu werden. Er zieht sich immer mehr von den Leuten im Dorf zurück und wird von ihnen bald als Sonderling betrachtet. Nur Daphne, eine junge Frau, die ihr Geld mit Heilkräutern, Horoskopen und allerlei anderen esoterischen Dingen macht, gewinnt sein Vertrauen, und gemeinsam versuchen sie, den Spuk zu ergründen. Dabei stoßen sie auf schreckliche Geheimnisse aus der Vergangenheit, und plötzlich ist nichts mehr so, wie es vor kurzem noch schien… Michael Siefener, geboren 1961, promovierter Jurist, wandte sich 1992 von seinem Beruf ab und lebt seitdem als freier Schriftsteller und Übersetzer in der Eifel und in Hamburg. Er veröffentlichte zahlreiche Romane und Kurzgeschichtensammlungen, hauptsächlich im Genre der Phantastischen Literatur. »Hinter der Maske« ist sein vierter Titel im Programm des KBV.
Für Robert N. Bloch, mentor mirabilis
Prolog
Mit hämmerndem Herzen betrat er das Spukhaus. Leise schloss er die eichene Tür hinter sich und tastete nach dem Lichtschalter an der Wand, fand ihn nach längerer Suche und drückte darauf. Die Finsternis blieb. Das hatte er erwartet. »Wenn es wieder einmal soweit ist«, hatte Gertrud gesagt, »dann fällt oft im ganzen Haus der Strom aus.« Und es werde kalt, hatte sie beteuert. Sein Atem trieb in einer kleinen Wolke vor ihm her. Er sah die weißen Schlieren im gelblichen Licht der Straßenlaterne, das durch ein kleines Sprossenfenster an der linken Wand des schmalen, nicht sehr langen Korridors fiel. Kurz nachdem ihn Gertruds telefonischer Hilferuf erreicht hatte, war er aufgebrochen. Er hatte nicht sofort losfahren können, doch als er endlich in seinem Opel Rekord gesessen hatte, war er wie ein Besessener über die nächtliche Landstraße gerast. Noch nie war er so schnell von Sankt Thomas nach Fangenburg gelangt. Jetzt war es etwa halb eins in der Nacht. Gertrud hatte ihm in den letzten drei Wochen viel über den Spuk berichtet, und er hatte sie immer wieder bedrängt, das Haus zu verlassen. »Wohin sollen wir denn gehen?«, hatte sie stets gesagt und ihn mit ihren tränenerfüllten, blassblauen Augen verzweifelt angesehen. »Ich kann nicht so einfach nach Köln zurückziehen. Außerdem will ich es nicht.« »Wer redet denn von Köln?«, hatte er gesagt. »Du findest doch problemlos ein anderes Haus oder eine Wohnung hier in der Eifel, vielleicht sogar in Fangenburg.« Er hatte ihr angeboten, das Haus zu untersuchen, denn er glaubte nicht
daran, dass es dort wirklich spukte. Allerdings kannte er den Ruf des Anwesens sehr wohl. Er stieß die Tür gegenüber dem kleinen Sprossenfenster auf, nachdem sich seine Augen an das fahle Licht der Straßenlaterne neben dem Haus ein wenig gewöhnt hatten. Gelber Schein von draußen durchwebte den Raum. Ein Bett war zu sehen, ein kleiner Kleiderschrank, ein Stuhl, ein Sessel, ein Kinderschreibtisch. Alles normal. Durch das Zimmer trieb ein leicht säuerlicher Geruch wie nach alter, verschwitzter Kleidung. Auch hier ließ sich die Deckenlampe nicht einschalten. Die große, im Zwielicht beinahe von selbst glimmernde Glaskugel dicht unter der Decke war wie ein Mond in der Nacht dieses Raumes, durch den die Atemwolken gleich zarten Nebeln zogen. Etwas klapperte, fiel zu Boden. Erschrocken zuckte er zusammen; sein Herz setzte einen Schlag aus. Mit zitternden Fingern suchte er in der Außentasche seines Parkas nach der kleinen Lampe, die er vorsichtshalber eingesteckt hatte. Als sie endlich brannte, richtete er das Licht auf den Gegenstand, der eben heruntergefallen war. Nur ein Spielzeugauto. Er atmete auf. Bestimmt war es durch eine Erschütterung ins Rollen geraten; weitere Autos standen in einer Reihe noch auf dem Schreibtisch. Er ließ den Strahl der Taschenlampe durch das Zimmer gleiten. Ein Poster der Beatles an der Wand, ein Kriegsschiff oben auf dem Kleiderschrank, mit dicken, staubverklebten Spinnweben daran, die sanft im Luftzug schaukelten. Im Luftzug? In diesem Zimmer herrschte zwar Eiseskälte, aber die Luft war eigentlich vollkommen still. Hinter ihm regte sich etwas. Er wirbelte herum. Ein metallisches Klappern auf dem Boden. Das zweite Spielzeugauto lag nun dort. Er beleuchtete den Schreibtisch.
Ein Auto nach dem anderen setzte sich in Bewegung. Kippte über die Kante. Das letzte hingegen stieg in die Luft. Und schoss auf seinen Kopf zu. Mit einem Aufschrei warf er die Arme hoch und spürte den schwachen Luftzug des fliegenden Spielzeugautos, unter dem die Härchen auf seinen Handrücken vibrierten. Er wartete mit angehaltenem Atem auf das Geräusch des Aufpralls, doch es kam nicht. Ganz langsam drehte er sich um. Das Auto schwebte kaum einen halben Meter von ihm entfernt in der Luft; die winzigen Räder drehten sich wild. Dann endlich sackte es nach unten, als hätte es jemand plötzlich fallen gelassen. Benommen schüttelte er den Kopf und atmete aus. Vorsichtig verließ er das kleine Zimmer wieder. Das Spukhaus. So hieß es in der ganzen Gegend schon seit Urzeiten. Es wurde behauptet, dass sich im achtzehnten Jahrhundert hier ein Mann das Leben genommen hat, nachdem er seine Seele an den Teufel verkauft und Dämonenbeschwörungen vorgenommen hatte. Seitdem war das Haus nur noch selten bewohnt gewesen, und häufig war von merkwürdigen Erscheinungen und Vorkommnissen berichtet worden. Bevor Gertrud ahnungslos in das Haus gezogen war, hatte es mehr als vierzig Jahre leer gestanden. Er kam zu einer Wendeltreppe, auf dem ein gebogener, im Licht der Straßenlaterne sanft honigfarben schimmernder Handlauf ruhte. Mit schweren Schritten stieg er nach oben in den ersten Stock. Hier befanden sich das Wohnzimmer, das Esszimmer, die Küche. Schwacher Brandgeruch lag in der Luft. Die Möbel waren nichts als Schemen, gedrungene Umrisse, die im ungewissen Licht zu zittern und zu pulsieren schienen. Mit seiner Taschenlampe zerrte er Schattenteile in die Wirklichkeit, stieß sie dann wieder zurück in ihr geheimes Leben. Er sah sich eingehend um, versuchte das vorhin
Geschehene aus seinen Gedanken zu verbannen, wollte das Undenkbare nicht denken. »Glaubst du wirklich an so etwas?«, hatte er Gertrud vor einigen Wochen gefragt, als sie ihm zum ersten Mal von den Phänomenen erzählt hatte. »Das ist kein Glaube«, hatte sie gesagt. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ich habe gesehen, wie die Sektgläser durch die Luft getaumelt sind. Und ich habe gesehen, wie Salz und Pfeffer aus den Streuern senkrecht nach oben herausgeschossen und wie Bienenschwärme durch die Küche geflogen sind. Und das Verrückteste ist, dass beides in die jeweiligen Streuer zurückgekehrt ist. Im Pfeffer war danach kein einziges Salzkörnchen und im Salz keine Spur von Pfeffer.« Später waren es nicht mehr nur Salz und Pfeffer gewesen, sondern Messer aus der Küchenschublade, die sich wie von Geisterhand geöffnet hatte. Bei diesem Angriff wäre Gertrud fast aus dem Haus gerannt, doch schon nach einer Minute war alles vorbei gewesen. Heute Abend waren ihrem verzweifelten Telefonanruf zufolge brennende Kerzen durch das Wohnzimmer geschossen. Da hatte sie es nicht mehr ertragen und war geflohen. Er richtete den Lampenstrahl auf die schweren Samtvorhänge vor den beiden Fenstern und erkannte deutlich die Brandspuren. Auch auf dem Perserteppich waren kleine schwarze Flecken zu erkennen. Nirgendwo hingegen sah er die Kerzen. Er spürte die Bewegung mehr, als dass er sie sah. Blitzschnell zuckte er herum. Hinten, bei der Tür zur Treppe, war etwas vorbeigehuscht. »Wer ist da?«, fragte er. Es war nur ein heiseres Krächzen, das ihm aus dem Mund fiel. Stille. Er hielt die Luft an; es war ihm, als hätte er damit auch die Zeit angehalten. Nicht das
kleinste Geräusch war zu hören. Als er endlich wieder einen Schritt zu machen wagte, drang ihm das Knarren seiner Schuhe und das Rascheln seines Parkas erschreckend laut in die Ohren. Er ging zurück zur Treppe und leuchtete von dort aus nach oben und nach unten. Nichts regte sich. Doch er war sich sicher, jemanden gesehen zu haben. »Kommen Sie heraus!«, rief er. Über ihm ertönte wie zur Antwort ein dumpfes Stöhnen. Sofort schwenkte er den Strahl der Lampe wieder nach oben. Abermals glaubte er am Rande seines Blickfeldes eine Bewegung wahrzunehmen. Im zweiten Obergeschoss des an den Hang gebauten Hauses befanden sich ein Gästezimmer und Gertruds Schlafzimmer. Wie gern wäre er wieder mit ihr hier zusammen gewesen, doch nach jenem Vorfall hatte sie das beständig abgelehnt. Seitdem war sie immer nach Sankt Thomas gekommen, wenn seine Frau nicht da war. Dort liebten sie sich, dort redeten sie miteinander, dort waren sie glücklich. Manchmal trafen sie sich auch in einem Hotel in Kyllburg oder Bitburg. Er stieg hinauf und warf einen kurzen Blick in das Gästezimmer, das wohl kaum je benutzt worden war, denn Gertrud lebte sehr zurückgezogen. Ein alter, für das kleine Zimmer viel zu wuchtiger Schrank, der so aussah, als stehe er seit der Errichtung des Hauses vor mehr als zweihundert Jahren hier, ein nicht viel neueres, unbezogenes Bett, ein Stuhl, ein Kruzifix an der Wand – das war alles. Er drehte sich um und war mit einem Schritt wieder bei der Tür. Ich habe mich geirrt, dachte er. Hier ist nichts Außergewöhnliches. Die Spielzeugautos sind bestimmt aufgrund irgendeiner Erschütterung vom Tisch gerollt. Und der kleine Wagen, der durch die Luft geflogen und dann wie an unsichtbaren Fäden geschwebt war? Eine Sinnestäuschung.
Er trat in den kleinen Vorraum. Erstaunlich, wie das Haus selbst noch im Frühsommer die Kälte speicherte. Er betrachtete seinen Nebelatem, der durch den Lichtbalken der Taschenlampe trieb. Dann schaute er nach links, dorthin, wo Gertruds Schlafzimmer lag. Sie stand in der geöffneten Tür. Kopf und Beine befanden sich außerhalb des Lichtkegels, doch ihr Rosenkleid war unverkennbar. Sie verschwand in ihrem Schlafzimmer und ließ die Tür offen. »Gertrud? Bist du zurückgekommen?«, fragte er verwundert mit immer noch schrecklich heiserer Stimme. Sie gab keine Antwort. Er folgte ihr. Sie stand am Fenster, hatte die Arme auf der tiefen Höhlung abgestützt und schien nach draußen zu sehen, auf die nächtliche, von der Laterne erhellte Straße. Deutlich zeichneten sich die geschwungenen Linien ihres Rückens unter dem Rosenkleid ab. Dann fiel es in sich zusammen. Er riss die Augen auf. Es war, als hätte man aus einer Gummipuppe die Luft herausgelassen. Wie angenagelt stand er da. Das Kleid raschelte zu Boden, bildete einen kleinen Stoffhügel. Und gleichzeitig schlug die Tür hinter ihm in einem eisigen Luftzug zu. »Da bist du ja«, ertönte eine dumpfe Stimme. Sie klang, als würde sie durch eine ungeheuer lange Blechröhre gepresst, und sie wirkte seltsam körperlos. Er leuchtete mit hektischen Bewegungen das ganze Zimmer ab, doch hier war niemand außer ihm. »Du kannst mich nicht sehen?«, höhnte die Stimme. »Ich hingegen sehe dich sehr deutlich.« »Wer bist du?«, wagte er endlich zu flüstern. Gelächter antwortete ihm. Er hatte das Gefühl, als ob sich genau in der Mitte des Zimmers etwas zusammenbraute. Blitzartig erinnerte er sich daran, dass der Teufelsanbeter aus dem achtzehnten
Jahrhundert der Legende nach in diesem Zimmer seine Beschwörungen durchgeführt und später Selbstmord begangen hatte. Ein Wirbel entstand im Raum; nur undeutlich erkennbare Gegenstände kreisten plötzlich wie in einem Mahlstrom um die stille Mitte. Rasch wurde das Kleid davon erfasst. Es blähte sich auf, geriet in den Strudel, der einige der Gegenstände zu verschlucken und andere wieder auszuspucken schien. Bald war das Kleid verschwunden, dafür rotierten nun Messer, Gläser, eine altertümliche Brille, eine Geldbörse, ein Schlüsselbund und etliche andere Dinge, die er nicht sogleich erkannte. Sie alle lösten sich mit einem ohrenbetäubenden Schlag in Luft auf. Die Windhose fiel in sich zusammen, und nichts regte sich mehr in dem Zimmer. Er wollte die Tür öffnen, doch entweder klemmte sie, oder sie war abgeschlossen. Hastig suchte er nach etwas, womit er die Tür aufbrechen konnte, doch er fand nichts Geeignetes. Immer wieder rüttelte er an der Klinke, ohne auch nur das Geringste zu bewirken. Er lief zum Fenster, wollte es aufreißen und um Hilfe rufen. Doch auch das Fenster widersetzte sich all seinen Bemühungen. Nun hört er hinter sich ein zischendes Geräusch. Rasch drehte er sich um und beleuchtete das, was sich da im Kegel seiner Taschenlampe bildete. Es war eindeutig eine menschliche Gestalt, doch sie wirkte weich und zerfließend, löste sich zum Teil wieder auf, setzte sich erneut zusammen, als kämpfte sie darum, in die Wirklichkeit einzutreten. Sie war der Ursprung der dumpfen Stimme. »Das ist mein Haus«, sagte sie. Während sie diese Worte sprach, hoben sich Bett, Schrank, Schminktisch und Stuhl in die Höhe und veranstalteten einen schrecklichen Tanz. Er versuchte den Möbeln auszuweichen, doch der Schrank traf ihn schmerzhaft an der Schulter. Er wurde zu Boden
geworfen, rollte sich vor dem heranstürmenden Bett zur Seite und versuchte wieder aufzustehen. Der Stuhl rammte sich ihm in den Rücken und presste die Atemluft aus ihm heraus. Rote und blaue Blitze zuckten hinter seinen Augäpfeln. Das Fenster flog mit einem Knall auf und schlug so fest gegen die Wand, dass die Scheiben zersprangen. Ein Schauer aus Splittern ging auf ihn nieder. Schützend legte er die Hände vor das Gesicht. Als er wieder aufschaute, hatte sich die weiße Gestalt in der Mitte des Zimmers verfestigt. Arme und Beine schillerten und verschwammen noch, doch der Leib und vor allem der Kopf waren nun deutlich zu sehen. Ungläubig starrte er auf diese Gestalt, in deren Brust sich plötzlich ein Riss auftat. Ein eiskalter Wind blies aus dem Raum durch das zersprungene Fenster hinaus ins Freie. Der Riss in der Brust der blendend weiß gewordenen Gestalt wurde breiter, und wie bei einer Geburt zwängte sich dort etwas hindurch. Es war ein kleiner Kopf, der wie ein ungeheuerliches Geschwür auf dem rasch wieder zuwachsenden Brustkorb saß. Diesen Kopf, dieses Gesicht kannte er! Die zarten Lippen bewegten sich, zogen sich in einem hämischen Grinsen auseinander. Der Mund öffnete sich zuerst nur einen Spaltbreit, dann weiter, noch weiter. Eine Stimme, die nicht von einem menschlichen Kehlkopf gebildet wurde, sagte: »Willkommen in meiner Hölle, du Teufel.« Er kämpfte sich auf die Beine, schüttelte die Glassplitter ab und starrte in den Schlund, der inzwischen fast den gesamten Kopf eingenommen hatte. Etwas schoss daraus hervor und auf ihn zu. Mit erhobenen Händen taumelte er nach hinten. Er spürte die Fensterbrüstung im Rücken. Der Sturm aus der Mitte des
Zimmers war so stark geworden, dass er kaum mehr dagegen ankämpfen konnte. Das Ding aus dem Schlund des kleinen Kopfes hatte ihn erreicht. Es berührte ihn an den Lippen. Er schrie auf vor Entsetzen über die Flut unbeschreiblicher Bilder, die sich ihm ins Hirn brannten. In dem verzweifelten Versuch, sich von dem schrecklichen Tentakel fortzuwinden, lehnte er sich noch weiter nach hinten. Und verlor das Gleichgewicht. Und stürzte in die Tiefe. Im Fallen sah er einen schimmernden kleinen Kopf, der wie losgelöst über ihm schwebte. Dann schlug er auf das Pflaster. Das Knacken seines brechenden Genicks war der letzte Laut, den er in seinem Leben hörte.
1. Kapitel
Mit gemischten Gefühlen schaute Arthur Dreyer an der Fassade seines neuen Hauses hoch. Der Umzugswagen war gerade erst abgefahren; drinnen warteten viele Kisten und Kartons darauf, ausgepackt zu werden. Doch für diese Arbeit blieb ihm noch viel Zeit. Ein ganzes Leben, wenn er wollte. Arthur konnte kaum glauben, dass dieses wunderschöne Haus aus dem achtzehnten Jahrhundert nun ihm gehörte. Er bestaunte die alte Eichentür mit ihrem barocken Schnitzwerk, den Türsturz, der bereits strenge, klassizistische Merkmale aufwies, die leider leere Mariennische darüber, die breiten Sandsteineinrahmungen der Fenster, das zu beiden Seiten tief heruntergezogene Dach, das er neu hatte decken lassen, und die seltsame Figur, die hoch oben in den Giebel eingesetzt war und die er immer noch nicht deutlich erkennen konnte. Er freute sich über sein neues Heim. Und gleichzeitig war er traurig darüber. Als er ganz verloren in Gedanken an die Ereignisse, die ihn hierher geführt hatten, vor dem Haus stand, hörte er, wie irgendwo links von ihm eine Tür geöffnet und rasch wieder geschlossen wurde. Arthur riss sich von seinen Grübeleien los und drehte sich um. Aus dem linken Nachbarhaus, das kaum zwei Meter von seinem eigenen entfernt stand und zur gleichen Zeit erbaut zu sein schien, war ein Mann mittleren Alters getreten und wie erstarrt stehen geblieben, als er Arthur bemerkt hatte. Der Mann war stämmig und wirkte ein wenig grob, und sein von grauen Strähnen durchzogenes Haar stand in allen Richtungen vom Kopf ab, als hätte er einen Stromschlag abbekommen. Mit
dunklen, unangenehm stechenden Augen sah er Arthur an. Als koste es den Mann große Überwindung, rammte er die breiten Hände in die Hosentaschen, schritt die wenigen Steinstufen vor seiner Tür herunter und kam auf Arthur zu. Dieser räusperte sich und stellte sich mit leiser Stimme vor. Dabei streckte er die Hand aus, doch der Mann tat so, als sähe er sie gar nicht. »Sie sind der Neue?«, brummte er. »Wie bitte?«, fragte Arthur verständnislos. »Der neue Eigentümer!« »Ach so. Ja. Auf gute Nachbarschaft!« Der Mann warf einen kurzen Blick auf Arthurs ausgestreckte Hand. »Na, dann viel Glück«, murmelte er, drehte sich um und ging die abschüssige Straße hinunter. Bald war er außer Sichtweite. Er hatte nicht einmal seinen Namen genannt. Aus den Augenwinkeln sah Arthur, wie sich eine Gardine in einem der Häuser auf der anderen Straßenseite bewegte. Als er genauer hinschaute, wich ein Schatten in die dunkle Tiefe des Zimmers zurück. Willkommen in Fangenburg. Arthur beeilte sich, die wenigen Stufen zu seiner Tür hochzusteigen, warf noch einen Blick auf die steile Straße, die sich bis zur Burg hochzog, und verschwand in seinem Haus. War es vielleicht doch keine gute Idee gewesen, hierher zu ziehen? Er betrat das Zimmer im Erdgeschoss und ließ sich schwer in den alten Ledersessel fallen, der dabei unwillig knarzte. Es war der Sessel, in dem er auch in der Kölner Wohnung am liebsten gesessen hatte. In der Kölner Wohnung… Die Erinnerungen brachen über ihn herein, und er weinte. Er sah wieder seine Mutter, die ihn abends mit dem ewig gleichen gütigen Lächeln begrüßt hatte, wenn er von der Arbeit heimgekommen war; seine Mutter, wie sie in der Küche gestanden und für sie beide gekocht hatte; seine Mutter, wie
sie neben ihm auf dem Sofa saß und gemeinsam mit ihm fernsah; seine Mutter, wie sie ihm morgens die alte, etwas verbeulte Blechdose mit den Butterbroten in die Hand drückte und ihn verabschiedete. Alles vorbei, für immer… Arthur starrte durch den Tränenschleier die Kartons an, die sich mitten im Zimmer stapelten, dann glitt sein Blick über die schmalen, säulenartigen Vitrinen an der Wand. Sie stammten aus dem Lager des Kölner Museums für Völkerkunde und waren seit Jahren nicht mehr benutzt worden, nachdem sich die Museumsleitung entschlossen hatte, alle alten Vitrinen auszumustern und neue, modernere und besser beleuchtete anzuschaffen. Die alten hatte Arthur günstig kaufen können; sie waren gut genug für seine Sammlung. Als er an seine Sammlung dachte, beruhigte er sich wieder ein wenig. Er wischte sich die Trauer aus den Augen, stand ächzend auf und öffnete den ersten Karton. Dieser enthielt die Acrylständer, an denen die einzelnen Stücke befestigt wurden; auch diese Ständer stammten aus dem Museum, seiner alten Arbeitsstätte. So vorsichtig, als seien sie die wahren Exponate, verteilte er sie auf die einzelnen Glasböden der Vitrinen. Dann holte er das erste Exemplar seiner Sammlung aus einem der Kartons. Er hielt es liebevoll und bewundernd in der Hand und spürte sofort wieder die Faszination und Verlockung, die davon wie warme, einhüllende und schützende Strahlung ausging. Dann stellte er die Maske an ihren Stammplatz in einer der Vitrinen. Es war eine Nâga-Sanniya, die Maske eines ceylonesischen Krankheitsdämons. Nur die eine Hälfte des Dämonengesichts mit dem riesigen, glänzenden Auge war zu erkennen; die andere Hälfte wurde von einer aufgerichteten Kobra verdeckt, die sich aus einem Spalt zwischen den Zähnen herausschlängelte. Sie war die erste Maske gewesen, die Arthur bei einem Kölner Antiquitätenhändler gekauft hatte,
und bildete die Keimzelle seiner Sammlung ceylonesischer Dämonenmasken, die er sich in den darauf folgenden Jahren zugelegt hatte. Nach ein paar Stunden waren alle Masken ausgepackt und mit großer Sorgfalt in den schmalen Vitrinen untergebracht. Über dieser Beschäftigung hatte Arthur seine Mutter vorübergehend vergessen, doch als sie ihm nun wieder in den Sinn kam, überfiel ihn ein nagendes Schuldgefühl. Er musste unbedingt öfter an sie denken, dazu war er ihr gegenüber verpflichtet. Er war schließlich ihr dankbarer Sohn, für den sie sich aufgeopfert hatte. Und nun war sie tot. Erneut schluchzte er heftig und warf sich verzweifelt in seinen Ledersessel. Sein Körper zuckte unkontrollierbar. Vorbei. Alles vorbei! Nie wieder würde er in ihr gütiges, mildes Gesicht blicken, nie wieder würde sie ihn mit ihrer sanften Stimme ermahnen, endlich das Hemd zu wechseln oder sich besser zu rasieren. Jetzt war er allein, auf sich selbst gestellt, schutzlos, der ganzen Welt fremd. Es dauerte eine Weile, bis der heiße Schmerz des Verlustes verebbte und er wieder ruhiger atmen konnte. Er seufzte, wischte sich noch eine Träne fort und stand auf. Nach einem letzten, beruhigenden Blick auf seine großartige Maskensammlung verließ er das Zimmer. Arthur stieg die steile Wendeltreppe hoch und hielt sich dabei an dem Handlauf aus altem, glänzendem Eichenholz fest. Seine Gelenke schmerzten bei jedem Schritt. In den letzten Wochen, vor allem seit der Beerdigung, war ihm immer deutlicher bewusst geworden, dass auch er nicht mehr der Jüngste war. Natürlich, mit seinen zweiundfünfzig Jahren gehörte er noch lange nicht zum alten Eisen – seine Mutter war schließlich einundachtzig geworden –, aber er fühlte sich, als
trüge er eine schwere Last auf den Schultern, die mit jedem einsam verlebten Tag drückender wurde. Seufzend kam er im ersten Stock an, wo die Möbel aus dem Wohn- und Esszimmer der Kölner Wohnung standen. Eigentlich brauchte er kein Esszimmer, denn er war nicht einmal in der Lage, richtig zu kochen, und die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses war so geräumig, dass er seine einfachen Mahlzeiten auch dort einnehmen konnte, aber er hatte keine Möbel weggeben wollen. Jedes Stück war mit Erinnerungen überzogen, und jedes Stück stand in diesem Haus etwa so, wie es in der alten Wohnung gestanden hatte. Nur das Maskenzimmer war neu. In Köln hatte Arthur die Vitrinen in seinem Schlafzimmer aufstellen müssen, weil seine Mutter Angst und Abscheu vor den Dämonendarstellungen empfunden hatte. Zwar war er enttäuscht darüber gewesen und hatte beständig gehofft, sie würde eines Tages wenigstens die handwerkliche Präzision und die Schönheit der Formen anerkennen, aber selbstverständlich hatte er die Meinung seiner Mutter akzeptiert. Überall warteten die Kisten und Kartons darauf, ausgepackt zu werden. Aber das eilte nicht. Nichts eilte mehr. Arthur hatte das Gefühl, als wäre sein Leben trotz dieses Umzugs – oder vielleicht gerade wegen ihm – zum Stillstand gekommen. Ohne seine Mutter fühlte er sich so unvollständig, so verlassen. Wahllos öffnete er einige Kartons und räumte ihren Inhalt in die Schränke, dann ließ er die halb ausgepackten Sachen stehen. Von innerer Unruhe getrieben, stieg er nach oben. »Du kannst doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen«, hörte er seine Mutter sagen, als er langsam und bedächtig die Treppe hochschritt. »Du musst erst eine Sache zu Ende bringen, bevor du eine neue anfängst.« Er lächelte wehmütig und sagte leise: »Ja, Mutter.«
Vom Fenster seines Schlafzimmers aus hatte er einen wunderschönen Blick auf das unter ihm liegende Dorf, aus dessen Mitte der Turm der neugotischen Kirche wie ein Finger in den Himmel ragte. »Du musst an Gott glauben«, hatte seine Mutter immer gesagt. »Sonst kommst du nicht ins Paradies.« Ob sie jetzt im Paradies war? Jenseits des Dorfes stieg das Gelände fast genauso steil an wie hier am Burgberg. Fangenburg lag in einem gewaltigen Krater, an dessen verwittertem und abgeschliffenem Ende sich eine Erhebung befand, auf der die Burg wie eine alte, matte Krone thronte, irgendwo über Arthurs Haus, einem Wächter gleich. Die Dächer unter ihm lagen in nachmittäglichem Sonnenschein, doch die Schatten wurden bereits länger. Arthur wandte sich vom Fenster ab, holte aus einem der Umzugskartons Laken und Bezüge für Kissen und Plumeau und machte sich mit ungelenken Bewegungen daran, sein Bett zu beziehen. Erst als er damit fertig war, bemerkte er den Hunger, der in seinem Magen wühlte. Er erinnerte sich daran, bei seinem ersten Besuch in Fangenburg einen kleinen Lebensmittelladen unweit der Kirche gesehen zu haben. Etwas Brot, Aufschnitt, Käse und Butter würden genügen. Arthur ging durch die stille Burgstraße hinunter ins Dorf. Dabei bemerkte er, dass sich in einem der Häuser auf der anderen Seite wieder einmal die Gardinen bewegten. So musste sich ein Tier fühlen, das in freier Wildbahn beobachtet wird. Er hatte keine Lust, sich der ganzen Straße vorzustellen, doch er beschloss, nach dem Einkauf seinem unmittelbaren Nachbarn zur Rechten einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. Arthur ging an der Kirche vorbei über den von großen Linden in Schatten getauchten Vorplatz, an dessen gegenüberliegender Seite das Gasthaus Zum roten Ochsen lag. Dahinter, in der kleinen, schmalen Badstraße, entdeckte er den Laden, den er gesucht hatte: Lebensmittel Bauer.
Ein mageres Glöckchen kündete sein Eintreten an. Eine dickliche Frau, etwas älter als er selbst, war gerade dabei, Süßigkeiten in ein Regal neben der Kasse zu füllen. Sie schaute auf, grüßte ihn knapp und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Rasch hatte Arthur das kleine Kühlregal in dem überfüllten Laden gefunden. Er nahm etwas Wurst, Käse und Butter, wobei er verstohlen auf das Haltbarkeitsdatum schielte – alles war frisch –, und nachdem er sich einen verpackten Brotlaib in die Armbeuge gelegt hatte, ging er zur Kasse. Die Frau wartete bereits auf ihn und sah ihn neugierig zwischen ein paar Blumensträußen an, die offenbar schon seit einiger Zeit vergeblich auf Käufer warteten. Er legte die Waren auf das kleine Band. Die Frau tippte seinen Einkauf in eine alte Registrierkasse ein. Bevor er ihr das Geld geben konnte, fragte sie hastig, als befürchtete sie, er könnte ihr auskunftslos entweichen: »Sind Sie hier in Urlaub?« Arthur schüttelte den Kopf und reichte ihr einen Zehn-EuroSchein entgegen. »Ich bin heute hierher gezogen.« »Nach Fangenburg?«, fragte sie mit tiefem Zweifel in der Stimme, als hätte sie ihn nicht richtig verstanden. »Die meisten Leute ziehen von hier weg«, fügte sie hinzu, während sie den Geldschein annahm. »Warum?«, fragte Arthur. »Es ist doch wunderschön hier.« »Ja, aber es gibt zu wenige Arbeitsplätze in der Region. Hierher kann man nur ziehen, wenn man entweder schon in Rente oder aus anderen Gründen finanziell unabhängig ist.« Ihr Blick war ein einziges Fragezeichen. Arthur musste sich anstrengen, damit er nicht schmunzelte. Aber er sagte nichts. Schließlich schien die Frau es vor Neugier nicht mehr auszuhalten und platzte heraus: »Sie sind doch bestimmt noch kein Rentner, oder?« Sogleich schien ihr die Frage peinlich zu
sein, und sie fügte schnell hinzu: »So jung, wie Sie wirken… na ja, es ist schön, dass Sie nach Fangenburg gezogen sind. Herzlich willkommen. Ich bin Annemarie Bauer. Mir gehört der Laden hier.« Arthur stellte sich ebenfalls vor. »In welches Haus sind Sie denn gezogen? In das Kemper’sche?« »Ich weiß nicht, wie man mein Haus hier nennt«, sagte er und steckte dabei das Wechselgeld ein. »Es liegt in der Burgstraße und hat die Nummer zweiunddreißig.« Frau Bauer sah ihn entsetzt an. »Also das Haus! Aber das ist doch…« »Das ist was?« »Ach, nichts. Ja, das stand lange leer. Ich habe mich schon gewundert, als ich Handwerker drin gesehen habe. War bestimmt viel zu renovieren, nicht war? Häuser mögen es nicht, wenn sie so lange leer stehen.« »Ja, es war eine Menge Arbeit, aber da ich es günstig bekommen habe, hat es sich durchaus gelohnt.« »Bis bald«, sagte sie unvermittelt und stand auf. Sie schien nun keine Zeit mehr für ihn zu haben. Während sie im hinteren Teil ihres Ladens verschwand, rief sie ihm zu: »Viel Glück.« Arthur trug seinen Einkauf nach Hause und aß in der Küche inmitten des Wirrwarrs aus halb ausgepackten Kartons, aufgetürmten Tellern, selten benutzten Kochgerätschaften, Stapeln von geblümten Geschirrtüchern und leeren Vorratsdosen. Obwohl er vorhin so hungrig gewesen war, bekam er nicht viel herunter. Er stellte die Reste in den Kühlschrank und machte sich auf den Weg zu seinem anderen Nachbarn. Arthur klopfte dreimal an der Tür des weiß verputzten Hauses, das mit der Traufe zur Straße gewandt im rechten Winkel zu seinem eigenen stand. Zwischen den beiden
benachbarten Gebäuden befand sich ein breiter Garten, hinter dem die massige Burg mit ihren Türmen und dem Bergfried abweisend aufragte. Sein Nachbar schien nicht daheim zu sein; alles blieb still und reglos. Arthur zuckte die Achseln. Er würde es eben morgen noch einmal versuchen. Den Abend verbrachte er zwischen seinen Masken. Wie sehr er diese bunten Kunstwerke aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt doch liebte! Seine Leidenschaft für die Masken hatte begonnen, als er noch Aufseher im Rautenstrauch-JostMuseum für Völkerkunde gewesen war. Täglich war er an zwei solchen Masken vorbeigeschlendert, und immer wieder hatten sie ihn in ihren Bann gezogen. Wie er bald herausgefunden hatte, waren es Dämonenmasken, die in rituellen Schauspielen eingesetzt worden waren und Krankheiten vertreiben sollten. Irgendwann hatte das Museum eine Sonderausstellung ceylonesischer Masken gezeigt, die in Arthur den bald unbezwingbaren Wunsch erweckt hatte, selbst solche Wunderbarkeiten zu besitzen. Und er war fündig geworden. Es hatte zwar viele Jahre gedauert, bis seine Sammlung einen repräsentativen Umfang angenommen hatte, aber es hatte sich gelohnt. Ein Völkerkundler aus dem Museum, den er einmal mit nach Hause genommen hatte, war begeistert gewesen. Seine Mutter hingegen nicht. Arthur holte die Schlangenmaske, die er heute Vormittag als erste aufgestellt hatte, aus der Vitrine und setzte sie auf. Sie hatte Gucklöcher unterhalb des einen vorstehenden Auges und auf der anderen Seite in einer der Schlangenschuppen. Über den Zähnen befand sich ein Schlitz, damit der Krankheitsdämon während der Zeremonie auch sprechen konnte. Die Welt wurde dunkel, als er sich die Maske überstülpte. Er roch das mehr als hundert Jahre alte Holz; dieser Geruch hüllte
ihn genauso stark ein wie die Finsternis und verschaffte ihm immer wieder ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Durch die kleinen Gucklöcher kroch die Dämmerung herein. Arthur schaltete die Deckenbeleuchtung ein und trat ans Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Draußen, mitten auf der steilen Burgstraße, stand eine Frau. Sie blinzelte in das plötzlich aufgeflammte Licht hinter Arthurs Fenster. Und riss die Augen auf. Und schrie. Als sei der Teufel hinter ihr her, rannte sie in das gegenüberliegende Haus. Zuerst begriff Arthur nicht. Doch dann betastete er seine Maske und die Schlange darauf. Er musste lachen, es klang dumpf hinter dem Holz. Unmenschlich. Er nahm die Maske ab und stellte sie zurück in die Vitrine. Was mochte die Frau nun ihren Nachbarn und den anderen Leuten im Dorf erzählen? Als er daran dachte, hörte Arthur auf zu lachen und seufzte. »Na, das war wohl gerade keine besonders gelungene Antrittsvorstellung«, sagte er zu sich selbst. Er kleidete sich zur Nacht um. Bevor er zu Bett ging, warf er einen Blick in das Gästezimmer. Auch hier stapelten sich noch die Kartons. Morgen würde er das Bett beziehen, auch wenn er keinen Besuch erwartete. Natürlich würde er dafür Mutters Bettwäsche nehmen. Leise schloss er die Tür wieder. Kurz bevor er einschlief, hörte er aus den Tiefen des Hauses ein klackendes Geräusch. Da! Da war es wieder. Und noch einmal. Als ob ein kleiner Gegenstand andauernd zu Boden geworfen und wieder aufgehoben würde. Bestimmt handelte es sich nur um eine knarrende Diele. Oder es war die Wasserleitung. Schließlich lebte er jetzt in einem über zweihundert Jahre alten Haus. Er würde sich daran gewöhnen müssen.
2. Kapitel
In der Nacht sah Arthur seine Mutter wieder. Sie kam ihn in seinem Schlafzimmer besuchen, hatte nebenan gelegen, im Gästezimmer, dessen Bett jetzt bezogen war, wie Arthur mit einem raschen Blick durch die geöffnete Tür feststellte, während er seine Mutter nach unten geleitete. Er zeigte ihr das Haus; es gefiel ihr sehr gut. Nur das Zimmer ganz unten, das mit den Masken in den Vitrinen, mochte sie nicht betreten. Da nahm er ihr das Gesicht ab, das auch nur eine Maske war, und stellte es in eine der Vitrinen. Als er sich wieder umdrehte, wachte er auf, bevor er den gesichtslosen Kopf seiner Mutter hatte sehen können. Verwirrt und schweißgebadet lag er in seinem Bett. Dann kamen die Tränen. Es war immer schlimm, wenn er von seiner Mutter träumte, weil er sie dann nach dem Erwachen noch mehr vermisste. Doch dieser Traum war so grässlich gewesen! Arthur verstand ihn nicht und war zutiefst verunsichert. Schluchzend kletterte er aus dem Bett. Die Sonne schien durch den Mittelspalt in den zugezogenen Vorhängen. Als er sah, dass der kleine Wecker neben seinem Bett bereits zehn Uhr anzeigte, hastete Arthur hinunter ins Badezimmer, wusch und rasierte sich und zog sich an. Dann verließ er das Haus, sprang in sein kleines Auto, das er dicht an der Wand geparkt hatte, und fuhr nach Kyllburg, um sich auf dem dortigen Amt als Neubürger anzumelden. Als er das Kratertal auf der einzigen Straße verließ, die in es hinein und nach Fangenburg führte, war ihm, als ließe er die Schatten der Nacht endlich hinter sich. Die Welt außerhalb des Vulkankegels erschien ihm irgendwie heller, freundlicher. Er
fuhr durch Malberg, das war nicht größer, aber weitaus lebendiger als Fangenburg, und kam schließlich nach Kyllburg. Kurz hinter dem Ortseingang bog er nach rechts auf eine neu wirkende, breite Straße ab, kam über eine Brücke zu einem Kreisel und stellte seinen Micra auf den Parkplatz kurz dahinter. Als er das Rathaus mit der geänderten Adresse in seinem Personalausweis wieder verließ, hatte er das Gefühl, unwiderruflich aus den Schatten seiner Vergangenheit herausgetreten zu sein. Er stand im Licht. Arthur feierte seine Einbürgerung mit einem großen Mittagessen und schlenderte danach durch Kyllburg, das sich einen ebenso steilen Hang hinaufzog wie Fangenburg. Doch von der Burg, die dem Ort einen Teil des Namens gab, stand hier nur noch der Bergfried. Kurz dahinter entdeckte Arthur die kleine Stiftskirche, der er neugierig einen Besuch abstattete. Sie war ein spätgotisches Kleinod und besaß im Chor einige der schönsten Bleiglasfenster, die Arthur je gesehen hatte. Er kam sich wie ein Tourist vor und konnte kaum glauben, dass diese Gegend nun sein Zuhause war. Als er vor dem Altar stand und staunend die Fenster betrachtete, fühlte er sich zum ersten Mal seit der Beerdigung seiner Mutter wieder glücklich. Er blieb lange in der Stiftskirche, erkundete auch den verwunschenen Kreuzgang, atmete gierig die Stille und den weltenfernen Frieden dieses Ortes ein und machte sich erst am frühen Nachmittag auf den Rückweg nach Fangenburg. Er fuhr in das Kratertal ein, und sogleich wucherten Schatten auf den kleinen Feldern und in den Bäumen der Obstwiesen vor dem Dorf. Arthur stellte den Wagen bei seinem Haus ab, und gerade als er die schwere Eichentür aufschließen wollte, rollte ein alter, schwarzer Mercedes an ihm vorbei und parkte vor dem Nachbargebäude zur Rechten. Ein Mann in
schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte stieg aus. Er hätte ein Bestattungsunternehmer sein können, wenn da nicht seine völlig bizarre Haartracht gewesen wäre. Der Kopf war kahl geschoren; nur ein Hauch von Schwarz lag über der Glatze, auf der allerdings von einem Ohr zum anderen ein bürstenartiger Haarkranz wie ein überdimensionierter Kopfhörerbügel thronte. Zu allem Überfluss war dieser Kranz leuchtend rot eingefärbt. »He!«, rief der Mann Arthur zu. In seinen Augen blitzte es. »He, Nachbar!« Arthur zögerte zunächst, doch dann schritt er die seitlichen Stufen von seinem Haus hinunter und ging auf den seltsamen Mann zu. Der Schwarzgekleidete kam ihm entgegen und streckte die Hand aus. »Ich habe einen Nachbarn! Welch unbändige Freude erfüllet mir Leib und Geist!« Arthur ergriff die Hand und sah dem Mann verlegen in die lachenden Augen. »Kommen Sie herein, Sie armer Wicht«, sagte der Mann fröhlich und zerrte Arthur auf die Schwelle seines Hauses. »Treten Sie ein in die Wunderwelt von Benzedron, dem metaphysischsten Künstler der Welt!« Er schloss die Tür auf, und kurze Zeit später stand Arthur in einer Diele, die sich in nichts von den anderen Dielen dieser Welt unterschied. »Enttäuscht?«, fragte der Mann und lachte laut. »Ja, Benzedron zerrt die Abgründe der menschlichen Seele in das Scheinwerferlicht der Kunst – und damit meine ich wirkliche Abgründe. Aber zu Hause lässt er diese Abgründe lieber da, wohin sie gehören: in der Tiefe. Bitte hier entlang.« Ein Wohnzimmer: Anbauwand, Sofa, zwei Sessel, Tisch, Topfpflanzen auf der Fensterbank. Nur das großformatige Bild an der Wand über dem Sofa passte ganz und gar nicht zum Rest der Einrichtung. Auf einer Fläche von etwa eineinhalb
Metern im Quadrat zeigte es das Innere eines fensterlosen Raumes mit feucht glänzenden Wänden. Von der Decke hingen hyperrealistisch gemalte Ketten, deren einzelne Glieder Arthur beinahe klirren zu hören glaubte. Von diesen Ketten wurde etwas gehalten, das Arthur unmöglich erkennen oder begreifen konnte. Während die im gemalten Raum vorherrschenden Farben Schwarz und Grau waren, badete das Ding zwischen den Ketten in allen möglichen Abstufungen von Rot. Das Gebilde schien zu erzittern; dunkles und helles Rot flossen ineinander und verwischten die Umrisse. Arthur glaubte einen Mund mit tiefrotem Gaumen und Zähnen aus Blassrosa zu erkennen – ein Schrei aus den Tiefen der Hölle. »Sie bewundern Avatar 33? Sehr gut. Sie haben Geschmack, nicht wie die anderen Bauerntölpel hier. Wer sind Sie? Wann sind Sie drüben eingezogen?« Arthur stellte sich vor und erfuhr, dass sein Nachbar mit bürgerlichem Namen Franz Schröder hieß. »Aber wir wollen nicht über mich reden«, meinte der Künstler. »Das hören Sie noch alles von den anderen, den braven Bürgern. Nein, wir sollten über Sie und Ihr neues Zuhause plaudern. Ich wundere mich, dass überhaupt jemand das Spukhaus gekauft hat. Nicht, dass ich mich nicht darüber freuen würde…« »Das Spukhaus?«, warf Arthur verblüfft ein. »Natürlich. Unter diesem Begriff kennt es hier jedermann. Sie haben es bestimmt äußerst günstig bekommen, nicht wahr?« Arthur nickte. Schröder schenkte ihm einen Whisky ein und bat ihn, in einem der Sessel Platz zu nehmen. »Damit Sie den Avatar die ganze Zeit über im Blick haben«, erklärte er. »Sehen Sie sich das Wesen genau an. Man kann es nicht genau ansehen, das ist der Trick. Es ist ein Gott. Oder zumindest ein höheres Wesen,
das von dem Zwang der Wiedergeburt endlich befreit ist. Und nun leidet es auf ewig. Schön, nicht wahr?« Schröder setzte sich in den anderen Sessel und schlug die Beine übereinander. »Manche Leute glauben, dass es in meinem Haus so aussieht wie auf diesem Bild.« Er kicherte, nahm einen Schluck Whisky, und seine Wangen wurden so rot wie sein merkwürdiger Haarkranz. »Es gibt allerdings tatsächlich einen Bereich in meinem Besitztum, der meinen Bildern entspricht. Aber den bekommen Fremde für gewöhnlich nicht zu sehen.« Er beugte sich verschwörerisch zu Arthur vor und flüsterte: »Es sei denn, ich porträtiere sie.« Dabei deutete er mit dem inzwischen geleerten Whiskyglas auf sein Gemälde. »Wieso wird mein Haus das Spukhaus genannt?«, wollte Arthur wissen. »Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie sie wirklich hören? – Also gut. Ihr Haus wurde wie meines um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts errichtet, aber im Gegensatz zu meinem hat Ihres eigentlich eine noch längere Geschichte. So soll man beim Bau auf verschüttete, wesentlich ältere Fundamente gestoßen sein. Keine Ahnung, was vorher dort drüben gestanden hat. Jedenfalls geriet gleich der erste Besitzer in den Ruf, ein Magier zu sein und seine Seele dem Teufel verschrieben zu haben. Er soll im obersten Geschoss Selbstmord begangen haben. Angeblich spukt es seitdem im Haus.« Schröder stand auf und goss sich und Arthur Whisky nach. Er setzte sich nicht wieder, sondern ging im Zimmer auf und ab und sprach wie zu sich selbst. »Daraufhin stand das Haus lange leer. Erst im frühen neunzehnten Jahrhundert kam es zu einem neuen Besitzer. Er lief einige Monate später des Nachts durch Fangenburg und schrie, in seinem Haus habe sich die Hölle geöffnet. Man hat ihn zu seinen Verwandten nach Köln gebracht; keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Immer wieder wurde das Haus danach für einige Monate
bewohnt, und immer wieder kam es zu seltsamen Vorkommnissen. Dann stand es viele Jahre lang leer. Soweit ich weiß, sind die letzten Mieter in den späten Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts ausgezogen, und seitdem hat niemand mehr darin gewohnt. Aber der alte Lentzen hat sich standhaft geweigert, es zu verkaufen.« »Warum hat er es sich denn schließlich anders überlegt?«, fragte Arthur, dem bei Schröders Geschichte immer unwohler geworden war. »Er hat es nicht verkauft. Er ist gestorben, und das Haus ist an seinen Neffen gefallen, an Siegbert Lentzen. Da der arme Siegbert immer Geld braucht, hat er es zum Verkauf angeboten. Das war vor fünf Jahren.« »So lange hat es keinen Käufer gefunden?«, wunderte sich Arthur. »Es war halt zu teuer, vor allem, wenn man seinen Ruf bedenkt«, meinte Schröder, stellte sich hinter Arthurs Sessel und legte seinem Gast die freie Hand auf die Schulter. »Aber jetzt hat ein mutiger Städter es gewagt, den Mächten der Finsternis den Kampf anzusagen. Sie kommen doch aus der Stadt, oder?« Arthur schluckte und nickte. Er trank den Rest seines Whiskys, der ihm ein angenehm warmes Gefühl in der Magengegend verschaffte, und stellte das Glas auf den niedrigen Tisch. Dabei entwand er sich sanft dem Griff seines Gastgebers. »Sie haben vor dem Kauf doch bestimmt Erkundigungen über das Haus eingezogen, oder?«, fragte Benzedron. Arthur schüttelte den Kopf. Daran hatte er gar nicht gedacht. Es war so seltsam gewesen. Er erinnerte sich genau an den Tag, als er in seinem kleinen Nissan losgefahren war, um der mütterlichen Wohnung und den quälenden Erinnerungen zu entkommen. Ziellos hatte er die Eifel durchstreift, und bei
einem Halt in Manderscheid und einem Blick auf das Immobilienangebot der Volksbank war ihm der Gedanke gekommen, in diese Gegend zu ziehen. Hier wäre er weit genug von Köln entfernt, um ein neues Leben zu beginnen, aber der Stadt noch nahe genug, um seine Wurzeln nicht vollständig auszureißen. Doch die in Manderscheid zum Verkauf stehenden Häuser hatten ihn nicht besonders gereizt, und so war er weitergefahren. Er war froh gewesen, endlich einen Plan zu haben. Als er in das enge, annähernd kreisrunde Tal mit dem bewaldeten Kraterrand, dem Dorf an der Bergflanke und der über sie herrschenden Burg eingefahren war, hatte ihn ein unbeschreibliches Gefühl der Geborgenheit, ja sogar des Triumphes befallen. Und als er in der Burgstraße an einem Haus das Schild Zu verkaufen entdeckt hatte, war ihm klar gewesen, dass er vor seinem neuen Zuhause stand. Das Gebäude hatte sogleich einen anheimelnden Eindruck auf ihn gemacht. Er hatte gespürt, dass er hier sein neues Leben beginnen und vielleicht sogar glücklich werden konnte. Es war ihm gewesen, als ob das Haus ihn angelächelt und ihm zugeblinzelt hätte. »Erkundigungen?«, fragte Arthur wie aus dem Traum seiner Vergangenheit heraus. »Nein.« »Das hätten Sie aber tun sollen. Jedermann hier im Ort hätte Sie warnen können. Aber vielleicht glauben Sie gar nicht an Gespenster und an die Mächte der Hölle. Schließlich kommen Sie ja aus der Stadt.« »Glauben Sie denn daran?« Schröder setzte sich wieder in den Sessel gegenüber seinem Gast, schaute einige Zeit den Avatar 33 an und zuckte dann die Achseln. »Ich sollte es, wenn man bedenkt, womit ich mein Geld verdiene.«
»Kann man damit wirklich Geld verdienen?«, platzte Arthur heraus. »Mehr, als Sie sich vorstellen können. Ich bin bei der Kölner Galerie Westendiek unter Vertrag. Die meisten meiner Käufer kommen aus Japan und Russland. Alles Kranke, wenn Sie mich fragen. Wie ich selbst. Und wovon leben Sie?« »Von… ich… bin sozusagen Privatier. Ich habe geerbt.« »Sie Glücklicher! Und da hatten Sie nichts Besseres zu tun, als in ein Spukhaus zu investieren?« »Haben Sie denn schon einmal… gewisse… Phänomene beobachtet?«, fragte Arthur und faltete die inzwischen schweißnassen Hände. »Lange Zeit hindurch war alles ruhig«, antwortete Schröder. »Aber dann kamen die Arbeiter. Sie haben sie hergeschickt, nicht wahr? Ich dachte mir sofort, dass das Spukhaus endlich einen neuen Besitzer bekommen hat. Und kurz darauf war das Schild des Maklers weg. Jetzt kann der arme Siegbert wieder ein paarmal nach Bad Neuenahr zur Spielbank fahren, bis er auch dieses Geld durchgebracht hat. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ja, ich habe Dinge gesehen. Ich arbeite oft nachts, und zwar nicht hier im Haus.« Schröder machte eine Pause und fuhr sich mit der Hand über die seltsame rote Haarbürste. »Lichter«, fuhr er fort. »Ich habe manchmal zur Mitternacht Lichter in Ihrem Haus gesehen. Zuerst dachte ich, die Arbeiter hätten irgendwo eine Lampe brennen lassen, aber dann haben die Lichter getanzt, als ob sie sich freuten.« »Das war alles? Nur Lichter?«, fragte Arthur. Er wollte sich die Freude an seinem Haus auf keinen Fall nehmen lassen. »Für mich waren es die Seelen der Verstorbenen«, sagte Benzedron mit einem spöttischen Unterton. »Sind denn außer dem Teufelsanbeter aus dem achtzehnten Jahrhundert noch weitere Menschen in meinem Haus zu Schaden gekommen?«
Schröder nickte. »Zum Beispiel der Mann aus Sankt Thomas, der ein Verhältnis mit der letzten Mieterin hatte. Er ist durch das Fenster im zweiten Stock gesprungen – durch das Fenster des Teufelszimmers. Ich hoffe, Sie lassen wenigstens dieses Zimmer leer stehen.« »Ich schlafe darin.« »Na, dann gute Nacht«, meinte Schröder mit einem schiefen Lächeln. »Es ist Ihr Haus; Sie müssen wissen, was Sie tun. Aber Sie müssen mich unbedingt einmal zu sich einladen. Ich bin noch nie drüben gewesen.« »Sobald ich alles eingeräumt habe«, versprach Arthur ausweichend. »Es eilt nicht. In der Zwischenzeit wünsche ich Ihnen viel Spaß mit Ihren Gespenstern. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, aber ich muss mich jetzt wieder an die Arbeit machen. Es warten noch viele Avatare auf ihr ewiges Leid.« Er stand auf und reichte Arthur die Hand. »Auf gute Nachbarschaft.« »Auf gute Nachbarschaft.« Als Arthur wieder auf der Straße stand, verspürte er keine Lust, nach Hause zu gehen. So schritt er die Burgstraße hinauf. Der Whisky hatte ihn leicht beschwingt, und er wollte dieses seltene Hochgefühl nicht dadurch zerstören, dass er in seinem Haus auf Gespenstersuche ging. Bald stand er vor dem gewaltigen verschlossenen Burgtor, das zwischen zwei zinnenbewehrten Türmen steckte und nicht den geringsten Ausblick auf das alte Gemäuer dahinter freigab. Nur die hexenhutartigen Schieferdächer einiger Rundtürme ragten hinter den zerbröckelnden Mauern so hoch in den Himmel, dass sie auch vom Tor aus zu sehen waren. Hier konnte sich Arthur Geister und andere finstere Mächte vorstellen, nicht aber in seinem eigenen Haus. Bestimmt hatte ihn dieser seltsame Künstler nur zum Narren halten wollen. Arthur nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit die Inhaberin
des Lebensmittelladens nach den Gespenstergeschichten zu fragen. Sie wirkte bodenständiger, weniger spöttisch und zuverlässiger. Die Straße endete nicht vor dem Burgtor, sondern verengte sich zu einem unasphaltierten Weg, der den steilen Burghügel über einen schmalen Grat mit dem bewaldeten Kraterrand verband. Arthur betrat den Weg über den Grat, von dem aus man zu beiden Seiten einen schwindelerregenden Blick an einigen Fichten vorbei auf den Talgrund hatte. Der Abend nahte, die Schatten krochen in das Tal. Der Weg tauchte in den Waldhang ein, führte an einer Höhle im Berg vorbei, einem wie in Überraschung aufstehenden Mund, und nach einigen dunklen Minuten kam Arthur zu einer Lichtung, auf der eine Bank stand. Er setzte sich und schaute über das Dorf. Wie still es hier war! Welch ein Unterschied zu der quirligen Dürener Straße in Köln, wo die Eigentumswohnung seiner Mutter gelegen hatte. Sie hatten immer nur bei geschlossenem Fenster schlafen können, denn der Lärm von draußen war zu stark gewesen, Tag und Nacht. Doch Mutter hatte nicht fortziehen wollen. »Hier haben wir nach dem Tod deines Vaters Wurzeln geschlagen, mein Junge, und hier bleiben wir bis zum Ende.« Für ihren Fall hatten sich ihre Worte bewahrheitet. Arthur hatte sie eines Morgens leblos in ihrem Bett gefunden, mit einem Lächeln auf den Lippen. Er sog die kühle Stille des Abends ein und versuchte, nicht mehr an den Anblick seiner toten Mutter zu denken. Nicht mehr an ihre dünnen Lippen, die eigentlich eher gegrinst als gelächelt hatten, nicht an ihre klauenartigen Hände, an die pergamentene Haut, die weit offenen, starrenden Augen, die keineswegs erloschen gewirkt hatten, sodass er zuerst gar nicht begriffen hatte, dass seine Mutter gestorben war. Alles danach – die schrecklichen Formalitäten, die Gespräche mit dem
Bestattungsunternehmer, die Beerdigung – verschwamm in seiner Erinnerung, die erst wieder klarer wurde, als er mit der Sterbeurkunde an die Kontoauszüge und Sparbücher seiner Mutter gelangt war. Obwohl sie ihm beständig vorgejammert hatte, wie arm sie wären, hatte sie ihm so viel hinterlassen, dass er seinen verhassten Beruf aufgeben und sich weit von Köln entfernt niederlassen konnte. Wenn er vorsichtig war, würde das Geld bis zum Ende seiner Tage reichen. Die Erinnerungen erschreckten ihn, und er fuhr auf der Bank zusammen. Er hatte soeben nicht angemessen von ihr gedacht, klagte er sich stumm an. Sie war immer so gut zu ihm gewesen, und wenn sie einmal hart und befehlend war, dann nur zu seinem Besten. Ja, sie hat immer nur sein Bestes gewollt. Und er war ein undankbarer Sohn, ich war weggelaufen. Er sah, wie die Schatten des Abends auf sein Haus zukrochen – als sei es ihr Ziel, ihr einziges Ziel. Es wurde kalt. Zeit, nach Hause zu gehen. In das Spukhaus. Hinter ihm raschelte etwas im Wald. Arthur sprang auf und lief zurück zur Burgstraße. Als er die Tür aufschloss, war ihm, als hörte er von drinnen ein klackendes Geräusch. Die Straßenlaternen brannten bereits; der schmale Korridor vor ihm lag in gelblichem Schimmer. Seine Hand tastete nach dem Lichtschalter an der Wand, fand ihn nach längerer Suche und betätigte ihn. Helligkeit durchströmte den kleinen Flur und vertrieb alle Gespenster. Arthur machte sich zur Nacht bereit und stieg danach in sein hoch gelegenes Schlafzimmer. In das Teufelszimmer, wie der Maler es genannt hatte. Bevor er es betrat, warf er einen raschen Blick in das Gästezimmer, dessen Tür immer noch offenstand.
Arthur stutzte. Er konnte sich nicht daran erinnern, bereits die Bettwäsche seiner Mutter aufgelegt zu haben. Es war die Wäsche aus seinem Traum der vergangenen Nacht.
3. Kapitel
Den nächsten Vormittag verbrachte Arthur damit, weitere Umzugskartons auszupacken. Dabei dachte er immer wieder über seinen seltsamen Künstler-Nachbarn und dessen Spukhausgeschichten nach. Es erstaunte Arthur, dass Teile der Landbevölkerung offenbar noch so abergläubisch wie vor zweihundert Jahren waren. Selbst Benzedron, wie er sich nannte, wollte Lichter gesehen haben. Arthur richtete das Gästezimmer genauso ein, wie das Schlafzimmer seiner Mutter ausgesehen hatte. Darüber, dass die Bettwäsche bereits aufgezogen war, wunderte er sich inzwischen nicht mehr. Er glaubte sich nämlich daran zu erinnern, dass er sie gestern in der Hand gehabt hatte. Allmählich wurde er vergesslich. Nun, er war schließlich auch nicht mehr jung. Als er im Zimmer seiner Mutter fertig war, betrachtete er zufrieden sein Werk und fuhr sich dabei mit der Hand durch den angegrauten Haarschopf. Wenn seine Mutter noch leben und herkommen würde, könnte sie sich sogleich wie zu Hause fühlen. Er spürte, wie ihm bei diesem Gedanken wieder die Tränen in die Augen schossen. Rasch verließ er das Gästezimmer und machte sich an die Kisten im ersten Stock. Er arbeitete bis zum Nachmittag, als er plötzlich bemerkte, dass er heute noch nichts gegessen hatte. Aus den Resten des vergangenen Tages stellte er sich ein karges Mahl zusammen, trank Wasser dazu und arbeitete anschließend weiter. Am frühen Abend hatte er etliche Kartons leer geräumt. Er faltete sie zusammen und wollte sie im Keller Zwischenlagern, denn in der nächsten Woche würden sie vom Umzugsunternehmen
abgeholt werden. Der Keller war nur von außen zugänglich. Arthur nahm den sperrigen, alten Schlüssel, der zu der niedrigen Tür rechts neben dem Podest vor dem Eingang gehörte, und ging nach draußen. Auf der Straße vor seinem Haus standen der Nachbar zur Linken, der sich Arthur noch immer nicht mit Namen vorgestellt hatte, und die ältere Frau, die er gleich am ersten Abend unabsichtlich mit der Schlangenmaske erschreckt hatte. Sie hatten angeregt über etwas geredet und verstummten sofort, als Arthur in der Tür erschien. »Guten Abend«, sagte er und lächelte schwach. Die beiden sahen ihn feindselig an. Die Frau kniff die Augen zusammen, der Mann brummte etwas Unverständliches, sie gingen auseinander, jeder in sein eigenes Haus. Sie hatten nicht einmal Arthurs Gruß erwidert. Er hatte das deutliche Gefühl, dass sie über ihn geredet hatten. Als er die niedrige Tür zum Keller aufschloss, spürte er die Blicke der Frau aus dem gegenüberliegenden Haus. Gebückt schlüpfte er unter dem schweren Sandsteinsturz hindurch und warf die Tür sofort wieder zu. Finsternis schluckte ihn. Der Keller besaß kein Fenster. Hier war es empfindlich kalt, obwohl draußen allmählich der Sommer begann. Arthur erinnerte sich daran, dass irgendwo rechts neben der Tür ein Lichtschalter war. Der Makler hatte ihm bei der Besichtigung auch den geräumigen Keller gezeigt und dabei dessen Trockenheit und stets gleichbleibende Temperatur gerühmt, die eigentlich einen Kühlschrank überflüssig machte. Während Arthur nach dem Schalter suchte, stellte er sich vor, wie seine Nachbarin von gegenüber jeden Tag beobachten würde, welche Vorräte er ins Haus holte, wenn er wirklich auf einen Kühlschrank verzichtet hätte. Bei diesem Gedanken
seufzte er schwer. In Köln hatte sich niemand darum gekümmert, was er und seine Mutter taten und ließen. Das Licht flammte auf. Die Schatten sprangen in die Ritzen zurück und enthüllten ein auf zwei gemauerten Pfeilern ruhendes Kreuzrippengewölbe, das die gesamte Grundfläche des Hauses einnahm. Der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Von den früheren Besitzern fand sich hier unten nichts mehr; der Keller war bis auf zwei gegen die Wand lehnende Holzbohlen vollkommen leer. Arthur gefiel dieser Raum, der beinahe wie die Geborgenheit einer uralten Erinnerung auf ihn wirkte. Er ließ das Licht eingeschaltet und trat wieder nach draußen, um die Kartons zu holen. Die warme Luft traf ihn wie ein Hammerschlag. Er blinzelte in das grelle Licht und sah, wie sich drüben die Gardinen bewegten. Dann machte er sich an die Arbeit. Er war fertig, als bereits die Sonne sank und die Schatten auf sein Haus zukrochen. Alles war in die Schränke geräumt, die Väschen und Schälchen standen genau dort auf den Möbeln, den Fensterbänken und Tischen, wo sie auch in Köln gestanden hatten, und erst jetzt fühlte sich Arthur wirklich zu Hause. Es fehlte nur seine Mutter. Er dachte an die beiden Nachbarn von vorhin. Wie gern würde er seiner Mutter von ihnen erzählen und sie um Rat fragen. Mutter hatte immer gewusst, was zu tun war. Sollte er zu der Frau von gegenüber gehen und sich bei ihr dafür entschuldigen, dass er sie erschreckt hatte? Sie hatte ihn vorhin nicht einmal gegrüßt, sondern nur böse angeschaut. Bestimmt würde sie ihm einfach die Tür vor der Nase zuschlagen. »Du musst mit allen in Frieden leben«, hatte seine Mutter immer gesagt – auch damals, als ihm einige Kollegen im Museum üble Streiche gespielt hatten. Zusammen mit seiner Mutter hatte er bei der Museumsleitung erreicht, dass einige
seiner Peiniger entlassen wurden, aber von da an war für ihn das Klima auf der Arbeit erst recht vergiftet gewesen. Nach einigem Zögern wagte Arthur es. Er ging nach drüben und klingelte. Da er gesehen hatte, wie die Gardinen an dem Fenster rechts neben der Tür rasch vorgeschoben worden waren, war er sich sicher, dass die Nachbarin daheim war. Beiläufig warf er einen Blick auf das Schild über der Klingel. Gärtner stand dort. Die Tür wurde aufgerissen. Arthur hatte seine Nachbarin erwartet, doch vor ihm stand ein stämmiger Mann, doppelt so breit wie Arthur und mindestens einen Kopf größer. Er trug einen dunklen Vollbart, der beinahe bis unter die dunklen, stechenden Augen reichte. »Was wollen Sie?«, fragte er mit mächtiger Bassstimme. »Ich… ich…«, stotterte Arthur. »Ich bin Ihr neuer Nachbar. Von da drüben.« Er zeigte auf sein Haus und zog instinktiv den Kopf ein. »Das weiß ich schon. Sie sind der Kerl, der vorgestern meine Frau fast zu Tode erschreckt hätte. Was wollen Sie denn jetzt schon wieder von uns?« Arthur schluckte. »Mich… mich entschuldigen.« Der Mann sah auf ihn herab, als betrachtete er ein ekliges Insekt, das er gleich zertreten würde. Er öffnete den Mund, sagte aber zunächst nichts. Schließlich brummte er: »Machen Sie das nie wieder«, und warf Arthur die Tür vor der Nase zu. Arthur trat zurück in die Mitte der Straße und schüttelte ungläubig den Kopf. Bei diesen Leuten schien er seinen Ruf bereits vollständig ruiniert zu haben. Er zuckte die Achseln und ging hinunter in den Dorfkern. Vor der Kirche standen zwei Frauen bei einem Schwätzchen zusammen. Sie schienen nicht zu bemerken, dass Arthur sich ihnen näherte, denn er hörte, wie die eine sagte: »… und dann hat er Elfi zu Tode erschreckt, hat Waltraut gesagt. Er ist wohl
irgendwie verwachsen oder hat so eine schreckliche Missbildung im Gesicht.« »Das passt ja gut«, sagte die andere. »Welcher normale Mensch würde schließlich ins Spukhaus ziehen?« »Guten Abend«, grüßte Arthur die beiden Frauen, die unter seinen Worten zusammenzuckten und ihn mit großen Augen anstarrten. Er hielt ihren Blicken stand, denn sie amüsierten ihn. Es war, als versuchten die beiden Damen herauszufinden, ob sie gerade der Monstrosität aus dem Spukhaus gegenüberstanden, doch offenbar entsprach Arthur nicht den Beschreibungen und wurde deshalb nach kurzer Begutachtung als harmlos abgetan. Sie grüßten recht freundlich zurück und setzten ihr Gespräch fort. Während Arthur hinüber zum Kirchvorplatz ging, hörte er hinter sich, wie die eine sagte: »Und dann ist er wie ein Verrückter in den Keller gerannt. Du weißt ja, dass der bei seinem Haus nur von außen begehbar ist, und da ist er nicht mehr herausgekommen. Wer weiß, was er da treibt…« Arthur überlegte kurz, ob er im Roten Ochsen neben der Kirche zu Abend essen sollte, doch er musste feststellen, dass ihm der Appetit vergangen war. Stattdessen schlenderte er weiter durch das Dorf. Er begegnete niemandem mehr, worüber er angesichts des soeben belauschten Gesprächs sehr froh war. Er kam zum Ortsrand, wo die Straße in einiger Entfernung vor ihm den Talkessel verließ. Arthur nahm sich vor, bis dorthin zu gehen, einen Blick hinauszuwerfen und dann nach Hause zurückzukehren. Neben der Straße verlief ein kiesbestreuter Fußweg, doch er hätte auch mitten auf dem Asphalt flanieren können, denn weit und breit war kein Auto zu sehen. Niemand besuchte Fangenburg, niemand verließ den Ort.
Arthur kam an einem Haus vorbei, das sogleich seine Aufmerksamkeit fesselte. Es war das letzte Gebäude des Dorfes – oder das erste, wenn man es von der Welt draußen betrachtete – und stand abgesondert von den übrigen in einem riesigen Garten, in dem der Wildwuchs regierte. Trotzdem machte das Anwesen keinen vernachlässigten Eindruck. Das Haus selbst war weiß getüncht und hatte die typischen Fenstereinfassungen aus rotem Sandstein, doch es war mit keinem anderen im Ort vergleichbar. Auf dem Dach thronte eine riesige Wetterhexe, und an der Fassade hingen bis ins obere Geschoss hinauf Windspiele, die seltsame Zufallsmelodien von sich gaben, sowie Traumfänger in allen Größen und Farben. Mitten in den Gräsern und Büschen des nicht eingezäunten Gartens standen blaue, gelbe und rote Kugeln auf hohen Pfählen. Arthur lächelte, als er an dem Grundstück vorbeiging. Zumindest gab es in diesem Dorf – abgesehen von dem merkwürdigen und undurchsichtigen Künstler – noch jemanden, der sich nicht den allgemeinen Normen anpasste. Arthur atmete auf, als er an den Kraterrand gelangte. Die Hänge rechts und links neben der leicht ansteigenden Straße ragten wie mächtige Bollwerke auf und gossen Abendschatten in das runde Tal. Der Fußweg endete, und die letzten Meter in die Außenwelt musste Arthur auf der Fahrbahn zurücklegen. Dann hatte er die bewaldeten Hänge hinter sich gelassen, und sein Blick glitt über Wiesen, Felder und Weiden, die in der Ferne von einem schwarzen Wald begrenzt wurden, hinter dem, wie er wusste, Malberg und Kyllburg lagen. Noch war es hier heller als im Fangenburger Tal; hier war Luft, Licht, Freiheit. Wieso hatte sich Arthur bloß dazu hinreißen lassen, in einen so düsteren Ort am Ende der Straße zu ziehen? War es wirklich nur der Preis des – allerdings unverschämt günstigen – Hauses gewesen? Es hatte ein Neuanfang werden sollen,
doch stattdessen beschlich ihn schon nach wenigen Tagen der Eindruck, als steckte er in einer Sackgasse. Er hatte es bereits geschafft, sich bei einigen Dorfbewohnern unbeliebt zu machen, und es würde schwierig werden, den unangenehmen Ruf wieder loszuwerden. Und dann all das Gerede über sein Haus. Ein Spukhaus – pah! Er hatte nichts Unerklärliches an dem alten Gemäuer festgestellt. Er war weder abergläubisch, noch hatte er Angst vor Gespenstern. Arthur musste sich dazu zwingen, nach Fangenburg zurückzukehren. Er schritt zwischen den Felswänden hindurch und schaute hoch zur Burg, die von der Abenddämmerung umwoben wurde. Wer dort oben wohl leben mochte? War die Burg überhaupt noch bewohnt? Er wusste so erschreckend wenig über seine neue Heimat. »Hallo!« Arthur zuckte zusammen. Er befand sich bereits wieder in Höhe des Hauses mit dem wilden Garten. Nun schaute eine junge Frau wie eine Blüte über das Grün hinaus und winkte ihm zu. Sie hatte lange schwarze Haare, braune Augen, eine Stupsnase und einen Schmollmund – fast wie die Bardot. Sie grinste breit. Arthur blieb stehen, und die Frau kam quer durch die Wildnis auf ihn zu. Sie war kaum älter als fünfundzwanzig. In ihren Augen wetterleuchtete es. Sie streckte ihm die Hand entgegen, und er ergriff sie. »Willkommen am Ende der Welt«, sagte sie. »Ich bin Daphne.« »Sehr erfreut. Arthur Dreyer.« »Und Sie wollen jetzt für immer hier wohnen?« »Woher wissen Sie das?«, fragte Arthur verblüfft. »Neuigkeiten sprechen sich im Dorf schnell herum, auch wenn man nicht gern mit mir redet.« Dabei wurde ihr Grinsen noch breiter, als freute sie sich diebisch darüber. »Warum denn nicht?«, fragte Arthur.
»Weil ich eine Hexe bin.« Sie sagte das so, als ob sie über das Wetter redete. »Eine Hexe?« Sie lachte glockenhell. »Nun ja, ich braue Kräutertränke gegen körperliche und seelische Leiden sowie zur Erreichung bestimmter Ziele. Die meisten Zutaten ziehe ich hier selber. Außerdem erstelle ich Horoskope, biete manchmal EsoterikSeminare an, pendele, treibe böse Einflüsse aus und so weiter. Die ganze Palette halt. Man mag mich im Dorf nicht sehr, aber man respektiert mich, denn schließlich will ja niemand von mir verhext werden.« Arthur wusste nicht, was er dazu sagen sollte. »Würden… können Sie wirklich…« Bei seinem Gestammel kam er sich unsagbar lächerlich vor. »Aber natürlich! Ich kann alles, was ich will. Und ich tue, was ich will, das ist das einzige Gesetz – frei nach dem Erzmagier Aleister Crowley.« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Falls Sie einmal Ärger mit Ihrem Haus haben sollten: Ich habe auch Räucherungen, Geisteraustreibungen und Schwingungsmessungen im Programm.« »Warum sollte ich…?« Weiter kam er nicht. In Daphnes Haus läutete das Telefon. Ohne sich von ihm zu verabschieden, lief sie durch die Gartenwildnis und stürmte durch die offenstehende Tür. Arthur sah ihr erstaunt nach. Welch eine Paradiesblüte! Schmunzelnd ging er weiter. Vielleicht war es doch nicht so schlecht, hier zu leben. Die Straßenlaternen flammten auf und gossen ihr gelbliches Licht über den Ort. Niemand war mehr auf der Straße. Es war genauso still wie gestern Abend, als er hoch über dem Dorf auf der Bank gesessen hatte. Es war, als hätte das ganze Tal den Atem angehalten und lauere auf ihn.
Er war froh, als er die Burgstraße erreicht hatte, und verschwand in seinem Haus, ohne nach rechts oder links zu schauen. Das dunkle, schweigende Dorf hatte etwas Beklemmendes an sich gehabt, etwas Verstohlenes, Rätselhaftes. Etwas Hinterhältiges, Bedrohendes. Er schüttelte sich, als er in dem kleinen Korridor stand. Sofort begab er sich in das Maskenzimmer, zog zuerst die Vorhänge zu und holte dann den Kôla-Sanniya hervor, die grandiose Dämonenmaske mit der aufgeblähten Kobra als Kopfschmuck und den gelb und rot ornamentierten Augenbrauen. Die Nase hatte ausgestülpte Flügel und nach vorn gerichtete Löcher, und in dem regelmäßigen, weißen Gebiss steckten gewaltige Reißzähne. Er setzte die Maske auf, die leicht säuerlich roch, und fühlte sich gleich besser. Wie sehnlich er sich wünschte, immer und überall eine Maske tragen zu können! Was würde wohl diese Daphne von ihm halten, wenn sie ihn jetzt sähe? Er ließ sich schwer in den Ledersessel fallen und lauschte seinem eigenen dumpfen Atem. Unter dem Holz der Maske wichen die unangenehmen Erlebnisse des Tages zurück. Sie waren plötzlich nicht mehr wirklich. Wirklichkeit gab es nur hinter der Maske. »Das ist kindisch«, hatte seine Mutter dazu gesagt, »und es ist abscheulich.« Er hatte nicht auf sie gehört, wo er doch sonst immer ihrer Meinung folgte. Selbst damals, als sie ihm Inge ausgeredet hatte – »dieses Flittchen, die wird dich noch verderben, mein Junge« – und viel später Renate. Was war ihm da außer seinen Masken noch geblieben? Und was war ihm jetzt noch geblieben, da auch seine Mutter nicht mehr da war? Er dachte an Daphne. Bestimmt war sie keine Einheimische. Was mochte sie hierher verschlagen haben? Ob sie an den Hokuspokus glaubte, den sie anbot? Sie war so freundlich gewesen. Sie könnte seine Tochter sein. Ob er wohl ein guter
Vater gewesen wäre, wenn es damals mit Inge geklappt hätte? Es war müßig, an so etwas zu denken. Sie war die Falsche gewesen, da hatte Mutter am Ende recht gehabt. Nur mit ihr war er glücklich gewesen, und nun musste er allein glücklich werden. Die Masken halfen ihm dabei. Später am Abend schlenderte er durch das ganze Haus. Allmählich erfüllte ihn Besitzerstolz. Ihm gefiel jedes einzelne Zimmer, doch sein Paradies war der Raum im Erdgeschoss, der Raum der Masken. Alles andere war wie eine etwas durcheinandergewürfelte Version der Kölner Wohnung. Wenn er sich unter den Dämonen befand, war ihm wohl. Kaum ein Schimmer fiel von den Straßenlaternen durch die blickdichten Vorhänge überall. Arthur fühlte sich versucht, in der Maske, die er immer noch vor dem Gesicht trug, an eines der Fenster zu treten und die Vorhänge zurückzureißen, nachdem er zuvor die Zimmerbeleuchtung eingeschaltet hatte. Doch stattdessen setzte er sich ins Dunkel des Zimmers im Erdgeschoss und lauschte. Er hielt den Atem an. War da nicht ein Geräusch gewesen? Von ganz oben, aus dem zweiten Stock? Angespannt saß er da und horchte. Die Geschichten über das Teufelszimmer kamen ihm in den Sinn. Hatte der Künstler von nebenan nicht behauptet, der letzte Besitzer – oder war es der Mieter oder ein Freund des Mieters gewesen? – sei von diesem Zimmer aus in den Tod gesprungen? Oder gestoßen worden? Blödsinn! Das alles war ausgemachter Blödsinn. Er sollte sich keine Gedanken mehr darüber machen. Da war das Geräusch wieder! Arthur stand langsam auf und trat hinaus in den kleinen Korridor. Zum ersten Mal bemerkte er, dass die Bohlen knackten, die er hier wie überall im Haus hatte freilegen
lassen. Zögerlich stieg er die Treppe hinauf. Du glaubst doch wohl nicht, dass dort oben etwas herumgeistert, oder? Die Geräusche hatten noch immer nicht aufgehört, als er bereits in der kleinen Diele des zweiten Obergeschosses stand. Beide Türen waren geschlossen. Arthur holte einige Male tief Luft, was unter seiner Maske recht eigenartig klang. Dann hielt er den Atem an. Eindeutig. Das Geräusch drang aus seinem Schlafzimmer. Es wurde immer lauter. Brach unvermittelt ab. Kam wieder. Es erinnerte Arthur entfernt an ein Flattern, Schwirren. Dumpfe Schläge wechselten damit ab. Wieder Ruhe. Was ging in diesem Zimmer vor sich? Arthur rang mit sich, ob er wirklich die Tür öffnen sollte. Flattern. Knacken. Poltern. Er nahm all seinen Mut zusammen. Riss die Tür auf. Da schoss es ihm entgegen.
4. Kapitel
Ein dumpfer Schlag traf ihn am Kopf. Warf ihn nach hinten. Arthur geriet ins Taumeln und torkelte in die kleine Diele zurück. Dicht vor seinem Gesicht, getrennt nur durch das Holz der Maske, flatterte und schrie es. Auch er schrie. Wedelte mit den Armen. Etwas riss an der Dämonenmaske. Zerrte dabei gleichzeitig seinen Kopf vor und zurück. Steckte im Holz fest. Arthur stolperte und fiel auf den Rücken. Der Aufruhr über ihm wollte nicht enden. Sein Herz raste. Angstschweiß drang ihm aus allen Poren. Seine Gedanken überschlugen sich. Und über allem hörte er die Stimme seiner Mutter: »Du musst immer glauben, was man dir sagt. Woran sonst solltest du dich im Leben festhalten?« Gespenster. Das Spukhaus. In seiner Brust donnerte es, als wollte eine ganze dämonische Legion von innen durch die Rippen brechen. Etwas zog mit irrer Kraft an der Maske. Arthur wälzte sich am Boden herum, bis er auf dem Bauch lag. Er warf den Kopf hin und her und hörte plötzlich ein furchtbares, krachendes Geräusch. Schlagartig hörte das Flattern und Kreischen auf. Zuerst wagte es Arthur nicht, sich zu bewegen. Eine Weile keuchte er noch schwer, dann zwang er sich, den Atem anzuhalten. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Sonst hörte er nichts mehr. Es dauerte einige Zeit, bis er den Mut fand, sich wieder auf den Rücken zu drehen. Er hob den Kopf leicht an und knotete mit fahrigen Fingern das Band auf, das das Dämonengesicht vor seinem eigenen Gesicht hielt. Die Maske fiel schwer von ihm ab; sie war viel schwerer, als sie eigentlich hätte sein
dürfen. Arthur hob sie auf. Etwas Großes, Graues steckte in ihr. Als er endlich begriff, was es war, musste er kichern. Es wurde zu einem hysterischen Lachen. Schließlich zog er den spitzen Schnabel der Taube aus dem Holz, in dem eine hässliche Scharte zurückblieb. Arthur hob den toten Vogel auf und warf ihn durch das weit offenstehende Schlafzimmerfenster. Offenbar hatte er es vorhin nicht richtig geschlossen, und ein Windstoß hatte es aufgedrückt. Vermutlich hatte die arme Taube dies als Einladung zu einem Erkundungsflug angesehen. Ihre Neugier war ihr zum Verhängnis geworden. Nach dieser Aufregung war an Schlafen nicht mehr zu denken. Arthur brachte die Maske zurück in das Zimmer im Erdgeschoss und strich dabei mit seinen feingliedrigen Fingern immer wieder über die Wunde in der hölzernen Wange. Diese Verletzung tat ihm so weh, als hätte er sie selbst empfangen. Er stellte die Maske in die Vitrine, setzte sich in seinen Lieblingssessel und ließ den Blick über seine Schätze schweifen. Die Scharte in der Kôla-Sanniya war von hier aus kaum mehr als ein Schatten, aber er erzählte von Leben und Tod. Nicht auszudenken, wenn Arthur nicht zufällig die Maske getragen hätte. Er musste sich unbedingt angewöhnen, vor dem Verlassen des Hauses alle Fenster zu schließen, damit ihm der Wind nicht noch einmal einen solchen Streich spielen konnte. Der Wind… Erst jetzt erkannte er, dass es eigentlich den ganzen Tag über windstill gewesen war. Vielleicht gab es hier kurze, heftige Fallwinde von der Burg oder den steilen Hängen herunter. Möglicherweise war auch das Fenster ein wenig schräg eingehängt und schwang von selbst auf, wenn man es nicht richtig verriegelte. Ja, das war eine gute Erklärung.
Hatte er es vorhin wieder offenstehen lassen, nachdem er den Vogel hinausgeworfen hatte? Er rang mit sich, ob er nach oben gehen und es überprüfen sollte. Schließlich entschied er sich dafür. Diesmal wählte er eine einfache Maske mit gespaltener Nase, einer hasenschartigen Oberlippe und halb geöffnetem Mund. Es war Kora-Sanniya, der Dämon der Lahmheit. Arthur stieg nach oben. Das Geräusch seines Atems hinter der Maske schenkte ihm wieder Kraft und Vertrauen. In seinem Schlafzimmer brannte noch Licht, und das Fenster war weit geöffnet. Arthur schaute hinaus. Dort unten, mitten auf der Straße, lag die Taube, ein grauer Fleck auf dem schwarzen Asphalt hinter dem gelblichen Schleier der Straßenlaterne. Er drückte das Fenster zu und wartete, ob es wieder aufschwingen würde. Doch es blieb fest gegen den Rahmen geschmiegt, fast als sehnte es sich nach dem Schloss. Kopfschüttelnd drehte er den Riegel um. Setzte sich auf sein Bett, nahm die Maske ab und lachte über seine Dummheit und Gespensterfurcht. Auf dem Bett sitzend, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, schlief er ein. Der späte Morgen weckte ihn mit Donnergrollen. Zuerst glaubte er, in der Höhle, durch die er im Traum schritt, näherte sich mit gewaltigem Getöse der Bewohner der unterirdischen Welt, doch gerade als er um eine Biegung des Tunnels gehen und sich für den Kampf rüsten wollte, riss ihn das Gewitter vollends aus dem Schlaf. Er saß noch so auf dem Bett, wie er in der Nacht eingenickt war. Sein Rücken schmerzte höllisch, als er sich zu bewegen versuchte. Von draußen drang graues Licht in das Zimmer, der Donner erschütterte immer wieder den Talkessel, und Regentücher schlugen mit prasselndem Geräusch gegen das Fenster. Der Kirchturm, dessen Spitze Arthur durch das Fenster sehen konnte, war wie ein erloschener Leuchtturm inmitten einer versinkenden,
ertrinkenden Welt. Arthur rutschte an die Bettkante heran. Schmerzblitze durchzuckten ihn. Feuerkugeln explodierten in seinem Kopf. Er keuchte auf. Der Kora-Sanniya neben ihm auf dem Bett grinste ihn an. Mühsam stand er auf. Der Regen hämmerte gegen die Scheibe, und das Dorf verschwand immer wieder im nassen Grau. Arthur reckte und streckte sich und stieg mit ungelenken Schritten hinunter in die Küche. Er hatte Hunger. Der Kühlschrank war leer. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als einkaufen zu gehen. Der Gedanke, hinaus in die Regenwelt zu treten, war ihm zuwider. Unschlüssig lief er in der Küche hin und her und schaute immer wieder nach draußen in den kleinen Garten, der sich den steilen Hang hoch bis zur Burgmauer erstreckte, in die ein kleines, braun gestrichenes Tor eingelassen war. Ein Serpentinenweg nahm bei der rückwärtigen Glastür neben dem Küchenfenster seinen Anfang und endete in einem kleinen, aufgeschütteten Platz dicht unterhalb der Mauer, wo ein bemooster Steintisch langsam vor sich hinrottete. Irgendwann würde er dort oben einen Liegestuhl aufstellen, dazu einen Sonnenschirm, und er würde sich entspannen können, ohne dass ihn jemand von der Straße aus sah. Der Regen rann in breiten Schlieren an den Scheiben herunter. Aus immer größerer Ferne rumpelte der Donner herbei und verkündete den langsamen Abzug des Gewitters. Arthur ging die Wendeltreppe hinunter, nahm seinen alten Stockschirm aus dem Garderobenständer und verließ unwillig das Haus; der Hunger trieb ihn hinaus. Mit langen Schritten lief er zum Kirchplatz, überquerte ihn, ohne nach rechts und links zu schauen, während der allmählich nachlassende Regen auf seinen Schirm trommelte, und bald stand er vor dem Lebensmittelladen. Arthur schüttelte den Schirm aus, faltete ihn zusammen und betrat das Geschäft.
Annemarie Bauer schien ihn kommen gesehen zu haben. Sie saß starr auf ihrem Stuhl hinter der Kasse und sah ihn an. Kein Lächeln zog sich um ihre Lippen. Ihr Gesicht verströmte Dunkelheit. Als Arthur sie erblickte, wäre er am liebsten aus dem Laden geflohen. Gestern war Frau Bauer noch so freundlich gewesen, doch heute wirkte sie wie aus Stein. »Guten Morgen«, grüßte er sie. »Guten Morgen.« »Schreckliches Wetter heute, nicht wahr?«, meinte er. »Ja, schrecklich.« »Ich brauche ein wenig… ich werde… ich will…« Hilflos deutete er auf die Kühltheke im hinteren Teil des Ladens. Da Frau Bauer weder etwas sagte noch sonst auf irgendeine Weise erkennen ließ, dass sie sich mit ihm unterhalten wollte, hastete er mit dem tropfenden Schirm am Arm an ihr vorbei und holte rasch etwas Aufschnitt, Butter und Käse, dazu ein Körnerbrot. Beinahe fürchtete er sich davor, seinen Einkauf zur Kasse zu bringen. »Ist eine schreckliche Nacht gewesen«, meinte Frau Bauer und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Wie meinen Sie das?«, fragte Arthur. »Elfi… Frau Gärtner war vorhin hier«, sagte sie, als ob das alles erklären würde. Sie tippte die Preise in ihre altertümliche Kasse ein und warf Arthur einen fragenden Blick zu. »Frau Gärtner?«, meinte er verwundert. Dann erinnerte er sich. So hieß seine Nachbarin von gegenüber. Und plötzlich war ihm alles klar. Es gab nur eine einzige mögliche Erklärung. Die Taube… der erneute Anblick seiner Maske… das Schreien… das Lachen… die ganze Nacht über Licht im Haus… Er lächelte gequält. Frau Gärtner musste wieder einmal auf ihrem Beobachtungsposten gewesen sein. »Es tut mir leid, wenn ich jemandem die Nachtruhe geraubt habe«, versicherte er, während er bezahlte. »Ich hatte ein seltsames
Erlebnis.« Und er erzählte Frau Bauer von seiner erschreckenden Begegnung mit der Taube. Allmählich hellte sich die Miene der Ladenbesitzerin auf, und als er zum Ende gekommen war, lachte sie sogar gemeinsam mit ihm. »Ach so«, meinte sie schließlich. »Das ist ja eine verrückte Geschichte – zu verrückt, um nicht wahr zu sein. Elfi hatte schon befürchtet, sie wohnt gegenüber einem Wahnsinnigen. Oder sie hätte gar den Leibhaftigen in der Straße. Aber eines müssen Sie mir verraten: Warum tragen Sie diese Masken?« Wenn er ihr das so einfach hätte erklären können! Arthur schluckte. Plötzlich schien ihn der Kragen seines Hemdes zu kneifen. »Ja… also«, begann er, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Dass es ihm ein Gefühl der Sicherheit verschaffte? Dass er besonders seit dem Tod seiner Mutter nach Geborgenheit suchte? Dass er durch die Masken jemand – etwas – anderes wurde? Es klang so wenig nachvollziehbar – so absurd. Frau Bauers Gesicht war immer noch eine einzige Frage. »Also, nun…«, stammelte er weiter, »diese… Masken sind sehr alt, mindestens hundert Jahre. Das ist für ceylonesische Masken ein sehr hohes Alter. Die älteren sind meist schon verrottet, was am heißen und feuchten Klima Ceylons liegt. Es handelt sich um Kultmasken, mit denen Krankheiten ausgetrieben wurden.« »Sehr interessant. Und welche Krankheiten wollen Sie damit austreiben?« Arthur lächelte schief. »Keine.« Keine? Oder war genau das der Grund, warum er sie so gern trug?, fragte er sich. »Aber stellen Sie sich vor, was passiert wäre, wenn mir die Taube den Schnabel mitten ins Gesicht gerammt hätte!« »Dann sähen Sie jetzt wohl so aus, wie Elfi mir Ihre Masken beschrieben hat«, kicherte Frau Bauer. »Aber Sie sollten etwas
vorsichtiger sein. Elfi erzählt gern, und ich wette, das halbe Dorf ist schon der Meinung, dass Sie ein Teufelsanbeter sind.« »Ein Teufelsanbeter?« »Sie wissen doch, wie so etwas geht. Aus einer Mücke wird ein Elefant. Ich meine es ja nur gut mit Ihnen; schließlich sollen Sie sich hier wohlfühlen.« Sie schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Falls das in Ihrem Haus überhaupt möglich ist.« Er wollte ihren Offenbarungen zuvorkommen und entgegnete: »Bisher habe ich in meinem Haus noch nichts Seltsames bemerkt, und die Sache mit der Taube hat eine natürliche Erklärung.« »Also wissen Sie es schon?« »Benzedron hat es mir gesagt.« »Na, da haben Sie ja mit dem Richtigen gesprochen. Der kleine Franz war schon als Kind etwas komisch. Aber wenn Sie mich fragen, spielt er den Abgedrehten nur. Ich habe einmal im Rathaus von Kyllburg eine Ausstellung seiner Bilder gesehen. Schrecklich. Dass so etwas gekauft wird! Aber Lisbeth sagt, bei ihm zu Hause ist alles stinknormal.« Zur Erklärung für Arthur fügte sie hinzu: »Lisbeth ist seine Haushälterin. Sie sagt, dass er sich immer sehr aufregt, wenn nicht alles am richtigen Platz steht. Sie sagt auch, dass er morgens immer eine halbe Stunde braucht, bis er seine verrückte Frisur in Form gebracht hat.« Woher diese Lisbeth das wohl wissen mochte? Aber das ging Arthur nichts an. Einerseits war er froh zu hören, dass sein Nachbar nicht halb so durchgedreht war, wie es auf den ersten Blick schien, andererseits hatte Arthur das Gefühl, soeben einen möglichen Verbündeten in diesem Dorf verloren zu haben. Doch da war ja noch diese Daphne… Er fragte Frau Bauer nach ihr. »Warum wollen Sie denn etwas über die wissen?«
»Ich bin ihr gestern Abend begegnet, und sie war sehr freundlich zu mir.« »Von der halten Sie sich besser fern«, riet ihm Frau Bauer. »Warum?« »Ich muss jetzt schließen und meinem Mann das Mittagessen kochen. Wenn es nicht pünktlich auf dem Tisch steht, wird er sehr unleidlich. Bis bald.« Sie trieb Arthur mit seinem Einkauf vor sich her, hielt ihm die Tür auf, schloss hinter ihm ab und verschwand zwischen den Regalen. Wenigstens hatte es zu regnen aufgehört. Arthur ging durch den mittäglich stillen Ort. Er ging mit eingezogenem Kopf. Und hoffte, dass ihm niemand begegnete. Frau Bauers Worte hatten ihn mehr erschüttert, als er zunächst vor sich selbst hatte zugeben wollen. Auch sie hatte ihn erst einmal seltsam angesehen, als er den Laden betreten hatte, doch er schien ihre Zweifel an ihm fürs Erste beseitigt zu haben. Was ihn allerdings zugleich ärgerte und verblüffte, war ihre schroffe Reaktion gewesen, als er Daphne erwähnt hatte. Was mochte sie gegen das Mädchen haben? Arthur erinnerte sich daran, dass die junge Frau zugegeben hatte, sie sei im Dorf wegen ihrer Künste als Hexe verschrien. Doch er konnte sich nicht vorstellen, dass eine mit beiden Beinen in der Realität stehende Frau wie Annemarie Bauer so etwas glaubte. Je länger er an Daphne dachte, desto stärker spürte er das Verlangen, zu ihr hinüberzuspazieren, doch sein Einkauf, der nagende Hunger und der rasch wieder dunkler werdende Himmel sprachen dagegen. Während er die steile Burgstraße hinaufkeuchte, kam er zu dem Schluss, dass die Frauen im Ort Daphne bestimmt nicht nur wegen ihrer Beschäftigung mit dem Okkulten hassten. Es waren wohl vielmehr die Vitalität und Jugend dieser Frau sowie ihre knisternde Körperlichkeit, die auch Arthur nicht verborgen geblieben war. Ihr Kleid war recht eng gewesen und
hatte sich fest um ihre Rundungen geschmiegt. Sie schien sich nicht unterkriegen zu lassen. Vielleicht sollte er sie sich zum Beispiel nehmen. Arthur stand vor seinem Haus und schaute an der Fassade hoch. Alle Fenster waren geschlossen. Ein Sonnenstrahl fiel durch die schwarzen Wolken genau auf das kleine Sandsteinrelief im Giebel. Arthur kniff die Augen zusammen, doch er konnte immer noch nicht erkennen, was es darstellte. Da erinnerte er sich an das Opernglas, das seiner Mutter gehört und das er gestern in ihren Nachtschrank geräumt hatte. Arthur lief ins Haus, versorgte den Einkauf, kramte nach dem kleinen Fernglas, fand es bald und hastete wieder hinunter. Das Licht war immer noch günstig. Er schaute durch das Glas und drehte an der Einstellung, bis er ein scharfes Bild hatte. Er sah ein erhabenes Pentagramm und eine verwitterte und bemooste, aber immer noch zweifelsfrei erkennbare Teufelsfratze. »Sie brauchen es sich nicht von außen anzusehen. Der Besitzer lässt Sie bestimmt herein. Auch wenn man inzwischen gar garstige Dinge von ihm munkelt…« Arthur drehte sich um und setzte das Opernglas ab. Benzedron, der Künstler, stand hinter ihm und grinste so breit, dass Lippen und halbkreisförmiger Haarring beinahe ein vollkommenes Rund ergaben. Arthur versuchte das Lächeln zu erwidern. »Ich kann Ihnen sagen, was da oben ist«, meinte Benzedron. »Hab es mir selbst schon durch das Fernglas angeschaut. Es ist ein Porträt des ersten Besitzers. Er scheint einen Ziegenbock in seiner Ahnentafel gehabt zu haben. Aus den Geräuschen, die ich in der letzten Nacht bei Ihnen gehört habe, schließe ich, dass Sie ihm entweder in wachem oder in schlafendem Zustand begegnet sind.«
Arthur fühlte sich zu einer Erklärung und Rechtfertigung gedrängt und erzählte dem Künstler die Geschichte von der Taube. »Das ist wirklich eine bizarre Sache«, sagte Benzedron, nachdem er schweigend zugehört hatte, und fuhr sich über den Haarkranz. Beinahe glaubte Arthur es knistern zu hören. »Sogar noch bizarrer als die Gerüchte im Dorf, nach denen der Teufelsanbeter wieder auferstanden ist und der Leibhaftige sich am Fenster Ihres Hauses gezeigt hat. Ich hatte es von Anfang an nicht ganz geglaubt. Obwohl ich gestehen muss, dass ich den Teufel gern gemalt hätte – als Avatar 34. Schönen Tag noch.« Der Künstler ließ Arthur stehen und verschwand in seinem Haus. Die ersten Regentropfen fielen, und Arthur flüchtete nach drinnen. Er legte das Opernglas zurück in das Nachtschränkchen und ließ sich im Wohnzimmer schwer auf die Couch fallen. So, so, im Dorf liefen Gerüchte über ihn um. Frau Bauer hatte es ja bereits angedeutet. Er hatte es in Windeseile geschafft, zum Tagesgespräch zu werden und sich einen schlechten Ruf einzuhandeln. Wenn er fortan in Frieden hier leben wollte, musste er diesen Ruf wieder loswerden, so schnell wie möglich. Aber wie konnte er das erreichen? Arthur wünschte sich sehnlichst, seine Mutter wäre hier und stünde ihm mit Rat und Tat beiseite. Es war ja nicht das erste Mal, dass er als gehasster und verspotteter Außenseiter dastand, doch früher hatte das seine Mutter für ihn geregelt. Sie hatte immer die richtigen Worte gefunden und gewusst, wann man den anderen gegenüber drohen und wann man schmeicheln musste, wann man offen und wann man hinterhältig sein musste. Arthur wusste das alles nicht. Er kam sich schrecklich hilflos vor. Von Anfang an hatte er in Fangenburg Pech gehabt und irgendwie alles falsch gemacht. Ob Daphne ihm einen Rat geben konnte?
Zwar goss und schüttete es wieder wie aus Eimern, doch Arthur wagte sich trotzdem auf die Straße hinaus. Wegen des schlechten Wetters nahm er seinen kleinen Wagen. Er hatte sich plötzlich entschlossen, für den Nachmittag dem Talkessel zu entfliehen. Falls er auf dem Weg Daphne sehen sollte, würde er anhalten und ihr einen guten Tag wünschen. Langsam fuhr er an ihrem Haus vorbei. Natürlich war sie bei diesem Regen nicht im Garten. Die Traumfänger wirkten schlaff, aber selbst durch die hochgekurbelten Wagenfenster hörte er, wie die Böen wütende Melodien aus den Windspielen herauspeitschten. Dann gab er Gas. Vielleicht hatte er bei seiner Rückkehr mehr Glück. Er fuhr durch Malberg und Kyllburg. Die Orte waren hinter Regenschleiern verborgen; die wenigen Passanten trieben wie Herbstlaub über die Bürgersteige. Arthur quälte sein kleines Auto die steile Straße zur B 257 hoch, überquerte sie in Richtung Wittlich und ließ sich einfach von dem nass glänzenden Asphaltband leiten. Er kam durch Orte, von denen er nie zuvor gehört hatte: Oberkail, Schwarzenborn, Eisenschmitt, Eichelhütte, und bald dahinter tauchte der Dachreiter einer Kirche auf. Arthur lenkte den Wagen von der Hauptstraße herunter und auf das Gotteshaus zu, das ein Hinweisschild als die Zisterzienserabtei Himmerod auswies. Er stellte den Micra neben einem Gasthaus vor dem Torgebäude ab, stieg aus, öffnete den Schirm und ging auf die gewaltige Kirche zu, deren Westwerk vollständig von einer Plane verdeckt wurde. Rechts und links hingen hoch oben zwei Schilder von Baufirmen. Wie die Augen einer Maske, dachte Arthur. Er betrat die Kirche. Arthur war nicht sonderlich religiös, doch die Stille und Ruhe des riesigen, auf rechteckigen Pfeilern ruhenden Raumes beeindruckten ihn. Ob die Mönche miteinander in Frieden
lebten? Wenn ja, dann wäre er gern einer von ihnen gewesen. Er sah keinen der Patres und verließ die Abteikirche wieder. Auf dem Weg zu seinem Wagen bemerkte er in einem Nebengebäude einen kleinen Laden. Ein handgeschriebenes Schild verkündete, man könne ab sofort wieder Äpfel und Viez kaufen. Das machte Arthur Appetit auf beides, und er ging hinein. Freundlich wurde er begrüßt. Bücher, Heiligenfiguren, Postkarten, Keramik bedrängten ihn, fast wäre es ihm zu viel geworden. Er atmete tief durch, stellte seinen Stockschirm vorsichtig in den Ständer und schritt an den Bücherregalen entlang. Die Verkäuferin beobachtete ihn eine Weile, dann ließ sie ihn allein. Darüber freute er sich, denn es bedeutete, dass sie ihn nicht für verdächtig oder seltsam hielt. Er betrachtete die Buchrücken, nahm einen Band heraus: Die Hölle, ein theologischer Exkurs von einem gewissen Arved Winter. Was konnte schon darin stehen, das Arthur noch nicht kannte? Er stellte den Band wieder weg. Dann aber entdeckte er ein Werk, dessen Titel vielversprechend war: Unheimliche Orte und Spukhäuser in der Eifel. Arthur war kein ausgesprochener Bücherfreund, und wenn er überhaupt las, dann waren es die Werke der Weltliteratur, die seine Mutter in preiswerten Gesamtausgaben für sie beide angeschafft hatte. Er blätterte das Buch durch und suchte nach Fangenburg und nach seinem eigenen Haus. Und er fand tatsächlich, was er gesucht hatte. Er klappte den Band zu, der einen hübschen Schutzumschlag mit einem im Halbdunkel auf einer Bergkuppe thronenden Schloss darauf besaß, und trug ihn zur Kasse. Sofort kam die Verkäuferin aus ihrem Hinterzimmer hervor. Arthur nahm noch zwei Flaschen Viez und einen Beutel Äpfel mit und kämpfte sich wieder durch den Regen, wobei er peinlich genau darauf achtete, dass sein neues Buch keinen Schaden nahm.
Die Lektüre des Werkes reizte ihn so sehr, dass er sich sofort auf den Rückweg nach Fangenburg machte, statt weiter ziellos die Eifel zu durchstreifen. Er fuhr zwischen den Kraterwänden hindurch und vorbei an Daphnes Haus. Der Regen hatte zwar inzwischen aufgehört, aber von der jungen Frau war nichts zu sehen. Arthur parkte auf dem Bürgersteig vor seinem Haus, lief hinein und vertiefte sich sofort in sein Buch, wobei er sich ein Glas angenehm herben Viez schmecken ließ. Mit gemischten Gefühlen las er den Abschnitt über sein eigenes Haus, in dem sowohl von dem Teufelsbündner die Rede war, der die Fundamente angeblich auf den Ruinen eines keltischen Heiligtums erbaut hatte, als auch von der Reihe der späteren Besitzer, die von furchtbaren Erscheinungen und Phänomenen berichtet hatten. Zwischendurch hatte das Haus jeweils für lange Zeit leer gestanden, wie es ihm bereits von Benzedron berichtet worden war. Die geschilderten Phänomene glichen einander: Entweder hatten die Bewohner unheimliche Spukgestalten gesehen oder gehört oder Gegenstände hatten sich scheinbar von selbst in die Luft erhoben und aus eigener Kraft einen Höllentanz veranstaltet. Fast immer war es zuvor unerklärlich kalt im Raum geworden. Der letzte Fall hatte sich angeblich im Jahr 1968 zugetragen. Der in Sankt Thomas wohnende Freund der damaligen Mieterin war mitten in der Nacht zu dem Haus gefahren, nachdem seine Geliebte daraus geflüchtet war. Was er dort vorgefunden hatte, war unbekannt, doch es musste so schrecklich gewesen sein, dass er sich aus dem als Teufelszimmer bezeichneten Raum im zweiten Stockwerk in den Tod gestürzt hatte. Die Polizei hatte später weder in dem berüchtigten Zimmer noch sonst wo in dem Haus etwas Verdächtiges gefunden. Seitdem stehe das Gebäude leer. Arthur klappte das Buch zu und legte es auf den Glastisch vor dem Sofa. In dem kurzen Bericht stand nichts über plötzlich
auftauchende Tauben, nichts über eigenmächtig sich öffnende Fenster, lediglich Klopfgeräusche waren mehrfach erwähnt, aber sicherlich waren diese in allen alten Häusern anzutreffen. Nichts passte auf das, was er bisher in seinem Haus erlebt hatte. Also war alles, was man ihm erzählt hatte, nur Gerücht und Gewäsch – kein Wunder bei dem haarsträubenden Aberglauben der Fangenburger. Er wollte keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Bis zur Tagesschau las Arthur in der Eisernen Maske von Dumas, dann sah er fern. Das tat er seit dem Tod seiner Mutter selten, aber heute lenkte es ihn gut ab. Dabei trank er noch drei Gläser Viez, der ihm immer besser schmeckte. Der Fernseher lief bis tief in die Nacht. Zwölf Uhr war schon vorbei. Arthur hatte das Gerät leise gestellt, denn sonst würde sich morgen vielleicht jemand beschweren, obwohl er die Fenster geschlossen hatte. Gerade lief ein Thriller. Da knallte es. War das im Film gewesen? Oder in der Wirklichkeit, im Haus? Arthur drehte den Ton ab und lauschte mit angehaltenem Atem. Sein Puls raste. Er hätte dieses Buch nicht kaufen sollen. Schon den ganzen Abend hatte er sich deswegen unbehaglich gefühlt, auch wenn er es sich nicht hatte eingestehen wollen. Da! Es war eindeutig im Haus. Ein heftiges Donnern. Dreimal. Es kam von unten. Es hörte sich an, als begehrten die Geister an der Haustür Einlass.
5. Kapitel
Arthur wusste nicht, was er tun sollte. Es pochte noch einmal. Da klopfte bloß jemand gegen die Tür. Er stand auf und ging mit zitternden Beinen nach unten. »Wer ist da?«, rief er durch die geschlossene Tür. »Daphne«, drang eine dumpfe Stimme von draußen herein. Nun klopfte sein Herz noch stärker, aber die Angst war verschwunden. Er riss die Tür auf. Daphne hielt sich an einem der kannelierten Sandsteinpfosten fest und hatte das rechte Bein angewinkelt. Neben ihr stand auf dem Podest ein kleiner Weidenkorb mit Kräutern darin. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Was ist passiert?«, fragte Arthur besorgt. »Ich habe mir den Fuß umgeknickt«, keuchte sie. »Da oben im Wald.« Sie deutete die Burgstraße hoch. »Bis zu Ihrem Haus habe ich es noch geschafft, aber ich kann nicht mehr weitergehen. Da bei Ihnen noch Licht brannte, habe ich mir erlaubt, Sie zu belästigen. Übrigens scheint Ihre Klingel nicht zu funktionieren.« Zum Beweis drückte sie mit der freien Hand auf den Knopf. Nichts tat sich. »Kommen Sie erst einmal herein«, bot er ihr an und stellte sich neben sie, damit sie ihm einen Arm um die Schulter legen und sich auf ihm abstützen konnte. Zuvor aber hob sie mit einer raschen Bewegung, unter der sie eine Grimasse des Schmerzes zog, ihren kleinen Weidenkorb auf. Da es im Maskenzimmer keine Möglichkeit gab, den Fuß hochzulegen, führte Arthur sie ins Wohnzimmer. Die Ersteigung der Wendetreppe wurde zum mühsamen Unternehmen, und wegen der Enge auf den Stufen musste sich
Daphne fest an ihn drücken. Er spürte ihren Körper durch ihr dünnes T-Shirt hindurch und wunderte sich, dass ihr nicht kalt war. Zwar hatte der Regen aufgehört, und draußen schien sogar der Vollmond, aber der Abend war recht kühl gewesen. Er war erleichtert, als Daphne endlich auf dem Sofa lag. Er zog ihr den rechten Schuh aus und betrachtete sorgenvoll den stark angeschwollenen Knöchel. »Ich mache Ihnen einen Arnika-Umschlag«, sagte er und verschwand im Bad. Seine Mutter hatte immer Arnika im Haus gehabt, denn sie hatte sich oft den Knöchel verstaucht. Mit einer getränkten Binde kam Arthur zurück und umwickelte vorsichtig Daphnes Fuß, so wie er es früher bei Mutter gemacht hatte. »Das können Sie gut«, sagte sie und sah ihn dankbar an. »Sie haben offenbar Routine darin.« »Meine Mutter«, erklärte er. »Sie hat oft Probleme mit den Knöcheln.« »Sie wohnen hier mit Ihrer Mutter?«, fragte Daphne erstaunt und ließ die Blicke durch den Raum schweifen. Erst jetzt bemerkte er, dass er von ihr gesprochen hatte, als würde sie noch leben. »Meine Mutter ist vor Kurzem gestorben.« »Sie Ärmster.« In diesen einfachen Worten lag eine große Zärtlichkeit, die ihm ungeheuer gut tat. »Sie ist sehr alt geworden, und sie hatte ein schönes Leben – glaube ich. Trotzdem fehlt sie mir.« »Das kann ich gut verstehen. Meine Mutter ist gestorben, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sie hatte Krebs.« »Sie Ärmste!« Er hoffte, dass es genauso mitfühlend klang. Sie sah ihn mit ihren großen braunen Augen an, die plötzlich feucht geworden waren. »Und Sie leben ganz allein in diesem großen Haus?«, fragte sie, als er mit dem Verband fertig war und sich ihr gegenüber
in einen Sessel gesetzt hatte. Er nickte. »Schön haben Sie es hier. Bestimmt sind die Möbel noch von Ihrer Mutter? Haben Sie bis zum Schluss zusammengelebt?« Er nickte noch einmal. »Ich hätte auch gern bei meiner Mutter gewohnt«, sagte sie und seufzte. Ihre Augen schauten in eine unbestimmbare Ferne. Dann wechselte sie abrupt das Thema. »Haben Sie schon einen Spuk in Ihrem Haus bemerkt?« Diese Frage war für Arthur wie ein Peitschenhieb. Er sagte einige Zeit lang nichts, dann antwortete er: »Als es vorhin unten an der Tür klopfte, habe ich kurz befürchtet, es wäre ein Poltergeist am Werk.« »Dieser Poltergeist war nur ich«, sagte Daphne und lächelte ihn schelmisch an. Ihre niedliche Stupsnase schien vor Freude zu tanzen. »Was haben Sie eigentlich mitten in der Nacht da draußen gemacht?«, fragte er voller Neugier und warf dabei einen Blick auf den mit Kräutern gefüllten Weidenkorb, den sie neben dem Sofa abgestellt hatte. »Die meisten Kräuter ziehe ich zwar selbst, aber ein paar gedeihen nur an besonderen Orten, zum Beispiel auf dem Friedhof oder oben im Wald, dicht bei der Höhle. Und da heute Vollmond ist, war die Gelegenheit zum Ernten günstig.« »Für wen brauen Sie eigentlich Ihre Tränke?« »Hier im Ort habe ich natürlich nur wenige Kunden, umso mehr dafür aber in Köln, Bonn, Düsseldorf und im Ruhrgebiet.« »Kann man davon leben?« »Besser als Sie es für möglich halten würden.« Plötzlich erstarrte sie und riss die Augen auf. Arthur bemerkte, dass sich auf der nackten Haut ihrer Arme eine Gänsehaut bildete. »Was ist los?«, wollte er wissen.
»Spüren Sie das nicht?«, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Er schüttelte den Kopf. »Es ist so kalt geworden…« So kalt… Hatte in dem Buch über die unheimlichen Orte nicht auch gestanden, dass der Spuk im Allgemeinen mit einem deutlichen Abfall der Temperatur einherging? Arthur bemerkte davon allerdings nichts. »Und dieses Geräusch«, flüsterte Daphne. »Hören Sie das auch? Ich will hier weg.« Sie richtete sich auf, schwang die Beine von der Couch und verzog das Gesicht vor Schmerzen, als ihr verstauchter Fuß den Boden berührte. »Sie können auf keinen Fall gehen«, sagte Arthur. »Ich werde Sie fahren.« »Würden Sie das wirklich für mich tun?« Sie sah sich gehetzt um. »Wir sollten uns beeilen. Bevor es anfängt.« »Bevor was anfängt?« Daphne schluckte. »Ich habe noch nie…«, begann sie heiser. »Ich war noch nie in einem Spukhaus. Aber jetzt verstehe ich…« Arthur hingegen verstand gar nichts. Er bot ihr wieder die Schulter an, und gemeinsam kletterten sie die Wendeltreppe hinunter. Arthur half ihr beim Einsteigen in den kleinen Wagen und reichte ihr dann den Korb mit den Kräutern. Als er losfuhr, warf Daphne einen Blick zurück auf das Haus. Und unterdrückte mühsam einen Schrei. Ein gurgelndes Geräusch kam tief aus ihrer Kehle. Vor Schreck stieg Arthur auf die Bremse. Der Wagen blieb mit einem Ruck stehen, und der Motor wurde abgewürgt. Auch Arthur drehte den Kopf und beobachtete sein Haus, dessen Wände im silbernen Vollmondschein glänzten. »Es ist… weg«, sagte Daphne neben ihm und atmete auf. »Was haben Sie gesehen?«, fragte Arthur nervös. »Ach… nichts. Ich habe mich bestimmt nur getäuscht. Bringen Sie mich jetzt nach Hause?«
Er startete den Wagen wieder und fuhr in Richtung des Dorfendes. Der bewaldete Kraterrand badete im nächtlichen Licht, das die Bäume zu blassen Skulpturen machte und die Straße zu einem leuchtenden Band in die schlafende Welt hinein. Arthur hielt vor Daphnes Garten an und stützte sie, als sie sich aus dem Wagen mühte. Sie konnte schon wieder ein paar Schritte ohne Hilfe humpeln. Daphne schloss die Tür auf, ging vor Arthur hinein und machte Licht. Die Dielenwände waren mit dunkelrotem Samt bespannt, der in der kleinen Brise zitterte, die durch die offene Tür hereinwehte. Daphne hüpfte auf einem Bein ins Wohnzimmer, das mit seinen Rattanmöbeln, den Wandbehängen und vielen Pflanzen wie aus einem indischen Traum wirkte. In der Luft lag ein feiner Duft von Weihrauchstäbchen. Daphne warf sich auf das Rattansofa, legte den verletzten Knöchel hoch und sah Arthur auffordernd an. »Also, ich… gehe jetzt besser«, sagte er und bemühte sich, nicht in den Ausschnitt von Daphnes leicht verrutschtem TShirt zu starren. »Jetzt schon? Der Abend hat doch gerade erst begonnen«, sagte sie mit einem Lächeln. Arthur spürte, dass er rot wurde. »Es ist schon nach Mitternacht«, wandte er ein und trat vor Verlegenheit von einem Bein auf das andere. »Das ist doch ein guter Grund dafür, dass Sie jetzt nicht in Ihrem Haus sein sollten«, sagte sie ernst. »Glauben Sie wirklich, dass es dort spukt?« Daphne zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich habe da etwas gespürt und zum Schluss auch etwas zu sehen geglaubt. Aber ich sehe halt manchmal Dinge…« Sie lachte auf. »Ich bin eben eine Hexe!«
Er fiel ein in ihr Lachen, aber er wusste nicht einmal, worüber er gerade lachte. Eigentlich war ihm zum Heulen zumute. »Was haben Sie gesehen?«, fragte er. Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Wie wäre es, wenn Sie uns beiden einen Heidelbeertee machen? Die Küche ist da drüben.« Sie zeigte hinaus in die Diele und auf einen Perlenvorhang, hinter dem ein Herd und ein Kühlschrank mehr zu erahnen als zu sehen waren. Arthur gehorchte und ging. Neben der Spüle fand er einen Wasserkocher, und auf einem offenen Bord darüber stand der Tee. Er kochte Wasser, nahm große Tassen aus einem verglasten Hängeschrank und kehrte einige Minuten später ins Wohnzimmer zurück, nachdem der Tee lange genug gezogen hatte. Daphne nahm ihm dankbar die Tasse aus der Hand und nippte an dem heißen Getränk. »Wissen Sie, wir beide haben einiges gemeinsam«, sagte sie und schaute dabei in die Teetasse, als läge in ihr alle Weisheit der Welt. »Wir sind beide Außenseiter in diesem Dorf. Wir sind allein. Hier ist niemand sonst so wie wir.« Sie hob den Blick und sah ihn an. Ihre großen Augen waren wie braun getönte Spiegel einer unverständlichen Zukunft. »Und was ist mit Benzedron?«, fragte Arthur, der immer noch unschlüssig vor dem Sofa stand. »Er scheint ebenfalls ein Sonderling zu sein.« »Benzedron? Der besteht nur aus Schau, aus Fassade. Er ist hier geboren. Das sagt doch schon alles.« »Und woher kommen Sie?«, wollte Arthur wissen. Er wollte so viel über sie wissen, alles… »Aus Düsseldorf.« »Was hat Sie denn hierher verschlagen?« »Das ist eine lange Geschichte. Ich musste weg aus der Stadt, und da ich die Eifel sehr mag und sie nicht allzu weit weg von meinem Kundenstamm ist, bin ich halt hierher gezogen.
Eigentlich ist es ja auch ganz in Ordnung hier, nur manche Leute sind etwas engstirnig. Aber das haben Sie ja auch schon erlebt.« »Benzedron scheint hier ganz gut zurechtzukommen«, wandte Arthur ein. »Er ist akzeptiert.« »Weil er trotz seiner bekloppten Frisur genauso spießig ist wie alle anderen!«, brauste Daphne auf. »Ich muss es ja wissen, denn er hat sich einmal an mich herangemacht. Ich kann Ihnen sagen, dass er bloß ein unreifes Bürschchen ist. Mir sind reife, gestandene Männer viel lieber.« Sie sah ihn an, und er bekam weiche Knie. Sie lächelte ihn an, und er musste sich setzen. »So ist es doch viel gemütlicher«, sagte sie und nahm einen Schluck Tee. »Waren Sie schon mal bei diesem Schröder zu Hause?« Arthur erzählte ihr von seiner Begegnung mit dem Künstler. »Zumindest scheint er ein interessanter Mensch zu sein, wenn er solche Bilder malen kann.« »Es sind doch immer dieselben. Wenn Sie eines kennen, kennen Sie alle. Aber ich gebe zu, dass er angenehmer als Jürgen Meier ist.« »Wer ist denn das?« »Ihr Nachbar zur Linken. Der mit den Haaren, die so aussehen, als hätte er einen Stromstoß erhalten.« »Er hat sich mir nicht einmal vorgestellt, sondern mir nur viel Glück gewünscht.« »Das sieht ihm ähnlich. Er stammt übrigens auch nicht von hier, tut aber so, als wäre er die Eifel in Person. Er ist im Gesangverein, im Heimatverein und im Schützenverein. Früher war er Finanzbeamter in Mönchengladbach. Seine Frau ist im letzten Jahr gestorben, und seitdem ist er noch verbiesterter.« »Ein schlimmes Schicksal…«
»Vielleicht, aber er hat sowieso seine Katze mehr geliebt als seine Frau. Haben Sie sie schon gesehen? Ich meine die Katze, nicht die Frau. Die könnten Sie halt nur als Geist sehen.« Arthur schüttelte den Kopf und schaute in den dunkelroten Tee, um nicht andauernd die bezaubernden Formen der jungen Frau ansehen zu müssen. »Wissen Sie etwas über diese Geister – über die angeblichen Phänomene in meinem Haus? Waren sie auch da, als es leer stand?« Daphne zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht genau. Benzedron hat gesagt, er hätte ein paar Wochen vor Ihrem Einzug nachts seltsame Lichter gesehen. Und ich habe ein oder zwei Mal in der Dunkelheit Geräusche gehört, wenn ich aus dem Wald oberhalb des Dorfes gekommen bin.« »Was für Geräusche?« »Ein Jammern und Stöhnen, das mir durch Mark und Bein gegangen ist. Beim ersten Mal hätte es der Wind sein können, aber beim zweiten Mal war es völlig windstill; das weiß ich noch genau. Und es wehte eine Kälte aus dem Haus, die nicht von dieser Welt war. Brr!« Offenbar genügte schon die Erinnerung daran, bei Daphne eine Gänsehaut hervorzurufen. »Und manchmal habe ich zuckende Lichter gesehen. Wollen Sie meinen Rat hören? Ziehen Sie fort, solange es noch möglich ist.« »Aber ich bin doch gerade erst eingezogen! Außerdem haben die Renovierungsarbeiten sehr viel Geld verschlungen. Ich kann nicht so einfach wieder gehen.« Endlich wagte er es, ihr in die Augen zu sehen. »Übrigens glaube ich nicht an Gespenster. Ich habe noch keines gesehen.« »Manche Leute sind empfänglicher für die jenseitige Welt als andere«, gab Daphne zu bedenken. »Wenn ich diese jenseitige Welt nicht empfangen kann und daher nicht bemerke, dann kann sie mir genauso gut gestohlen bleiben«, folgerte Arthur.
»Grundsätzlich haben Sie recht«, stimmte die junge Frau ihm zu und drückte sich tiefer in die Kissen, wie um in ihnen Wärme und Geborgenheit zu suchen. »Aber jeder Spuk überspringt irgendwann die Schwelle, wenn er sich nur lange genug aufbauen konnte. Und dann bemerkt ihn auch die stumpfste Seele.« »Ist ein solcher Spuk Ihrer Meinung nach gefährlich?« »Denken Sie an den letzten Unglücklichen, den es getroffen hat, irgendwann in den Sechzigerjahren, soweit ich weiß. Er ist aus dem Fenster gestürzt. Offiziell war es ein Unglücksfall, aber wer weiß, ob er nicht hinuntergestoßen wurde?« »Wie dem auch sei, ich kann schon aus finanziellen Gründen nicht einfach von hier weggehen.« Die Renovierung und das neue Dach hatten beinahe alles verschlungen, was der Verkauf der Kölner Wohnung erbracht hatte. Da war zwar noch das Erbe seiner Mutter, aber das musste er der jungen Frau ja nicht gleich auf die Nase binden. »Zur Zeit der Renaissance und des Barock hatte man es da einfacher«, meinte Daphne mit einem Schmunzeln. »Drüben in meiner Bibliothek habe ich eine Dissertation aus dem Jahre 1745 mit dem schönen Titel De iure spectrorum, in der die These vertreten wird, dass ein Kaufvertrag über ein Haus rückgängig gemacht werden kann, wenn der Verkäufer dem Käufer einen Spuk verschwiegen hat.« Arthur war verblüfft – weniger über die Rechtsanschauung von vor fast dreihundert Jahren, sondern darüber, dass Daphne sich so tiefgehend mit ihrer Kunst auseinandersetzte und offenbar Ahnung in vielen Teilbereichen des Okkulten besaß. Sie schien seine Verwunderung bemerkt zu haben, denn sie sagte: »Erstaunt es Sie, dass ich nicht nur Hokuspokus treibe, sondern auch kulturgeschichtlich interessiert bin?« Als er rot wurde, lachte sie. »Keine Angst, Sie sind nicht der Erste, der mich unterschätzt hat. Aber ich meine es ernst mit meiner
Warnung. Sie mögen zwar den Kaufvertrag nicht rückgängig machen können, nur weil Siegbert Lentzen Ihnen verschwiegen hat, dass es in Ihrem Haus spukt, aber Sie sollten trotzdem von hier weggehen, solange noch nichts passiert ist. Denken Sie darüber nach.« Arthur stellte die Teetasse auf dem Tisch ab und stand auf. »Ich danke Ihnen dafür, dass Sie sich Sorgen um mich machen«, meinte er und fügte viel leiser hinzu: »Da sind Sie wohl die Einzige.« Er ging zur Tür, drehte sich im Rahmen um und sah sie an. Als sie sich erheben wollte, sagte er: »Ich finde schon allein hinaus. Bleiben Sie bitte liegen.« »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Kommen Sie einfach zu mir, wenn Ihnen danach ist. Wir beiden Außenseiter müssen doch zusammenhalten. Eigentlich wäre es sehr schade, wenn Sie Fangenburg wieder verlassen. Auch wenn es für Sie das Beste wäre.« »Ich werde nicht gehen. Weder Nachbarn noch Gespenster können mich von hier vertreiben.« Sie sah ihn mit unendlich traurigen Augen an, und er beeilte sich, nach draußen zu kommen. Als er wieder im Wagen saß, atmete er auf. Er war so verwirrt! Daphne hatte ihm Angst vor seinem Zuhause gemacht und es gleichzeitig geschafft, dass er sich hier allmählich heimisch fühlte. Seit Mutters Tod war sie der erste Mensch, der sich um ihn kümmerte und ihn zu verstehen schien. Wenn sie nur ihre Körperlichkeit nicht so unangenehm betonen würde! Er drehte den Schlüssel im Zündschloss herum. Mit wenigen Zügen wendete er den Wagen auf der schmalen Straße und fuhr zurück in den Ort. Außer den Laternen brannte nirgendwo ein Licht. Das Dorf wirkte wie ausgestorben. Der Mond war weitergewandert; sein Lichtteppich war zerrissen. Arthur
stellte den Wagen vor seinem Haus ab, stieg aus, schritt über die Stufen hoch zur Tür. Dabei fiel ihm auf, dass aus keinem seiner Fenster Licht drang. Er erinnerte sich nicht, es überall ausgeschaltet zu haben, bevor er Daphne hinausbegleitet hatte. Vermutlich hatte er es getan, ohne es zu bemerken – mechanisch. Er schloss die Tür auf. Kälte wehte ihn an. Doch hier unten war es immer kühl, wofür wahrscheinlich der Berghang verantwortlich war, gegen den das Haus gepresst lag. Arthur machte sich zur Nacht bereit und ging zu Bett, ohne etwas Ungewöhnliches zu bemerken. Kurz bevor er einschlief, hörte er Annemarie Bauers Stimme: »Von der halten Sie sich besser fern«, hatte sie über Daphne gesagt. Von der halten Sie sich besser fern…
6. Kapitel
Er wachte auf, als es draußen noch dunkel war, und fühlte sich so benommen und unwirklich wie in einem Traum. Eine Zeit lang wusste er nicht, wo er war. Durch einen Spalt in den zugezogenen Vorhängen kroch das gelbliche Licht der Straßenlaterne. Er erkannte den kleinen Kleiderschrank, das Nachttischchen, den Wecker mit den Leuchtziffern darauf – es war kurz nach vier Uhr in der Frühe – und den Stuhl, über den er jeden Abend seine Kleidung hängte, soweit sie noch nicht gewaschen werden musste. Seine Kleidung bewegte sich. Zunächst begriff er es nicht. Dann dachte er an einen Luftzug; vielleicht stand irgendwo im Haus ein Fenster auf. Er streckte die Hand aus dem Bett. Da war kein Luftzug. Trotzdem bewegte sich sein Hemd. Aber nicht so, als würde es vom Wind gezaust. Es zuckte regelrecht. Dann flog es auf. Stand in der Luft und sah plötzlich so aus, als habe es sich jemand übergestreift. Jemand, der unsichtbar war. Nein, er musste noch träumen. Er schloss die Augen, kniff sich, spürte aber nichts. Das Hemd schwebte auf die Tür zu, mit einem Ärmel gab es ihm ein Zeichen, er sollte ihm folgen. Wie ein Schlafwandler stand er auf, tappte hinter dem schwebenden Hemd her, hinaus in die kleine Diele, in der ein fast mannshoher Spiegel stand. Es war der Spiegel, vor dem seine Mutter immer ihre selbstgenähten Kleider anprobiert hatte. Als das Hemd an ihm vorbeiglitt, war in dem Glas nichts als die gegenüberliegende Wand zu sehen.
Er blieb vor dem Spiegel stehen. Sah nur einen Schemen, als wäre er selbst ein Geist. Jeder Spuk überspringt irgendwann die Schwelle. Wer hatte das gesagt? Er wusste es nicht mehr. Das Hemd blieb im Türrahmen des Gästezimmers stehen, erzitterte leicht und fiel in sich zusammen. In dem Bett lag jemand. Die Decke hob und senkte sich sanft. Er stieg über den Stoffhaufen seines Hemdes hinweg in das Zimmer. Hier behinderten keine zugezogenen Vorhänge das Eindringen des krank wirkenden Lichts. Es fiel wie ein Laken über die schlafende Gestalt. Er hatte sie sofort erkannt. Es war seine Mutter. Als er neben ihr Bett trat, wachte sie auf und lächelte ihn an. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst vorsichtig sein, mein Junge?« »Wie meinst du das, Mutter?« Die weißhaarige, verhutzelte Frau richtete sich im Bett auf; ihr Lächeln verschwand. Jetzt waren die kleinen Augen wie eine schwarze Drohung. »Ich habe es dir damals bei Inge und später bei Renate gesagt. Du weißt doch, dass ich mich nicht gern wiederhole.« »Was soll ich denn tun, Mutter?« »Es war falsch, hierher zu ziehen, mein Junge, und es war falsch, im Museum zu kündigen. Jetzt tust du den lieben langen Tag gar nichts mehr. Glaube nicht, dass ich dich nicht beobachte, mein Junge. Und mir gefällt nicht, was ich da sehen muss. Du läufst in dein Verderben.« »Du lebst nicht mehr, Mutter. Du bist ein Gespenst.« »Natürlich bin ich ein Gespenst. Das hier ist schließlich ein Spukhaus. Und auch du bist ein Gespenst, das sich hinter einer Maske versteckt.« Erst jetzt bemerkte er, dass er eine seiner Masken trug; er musste damit zu Bett gegangen sein. Er versuchte, ihre Umrisse zu ertasten und herauszufinden, um welche
Dämonendarstellung es sich handelte, doch es gelang ihm nicht. Er fühlte die verschiedenen Merkmale all seiner Masken; diese hier war die Quintessenz seiner ganzen Sammlung. Da endlich begriff er, dass er mitten in einem Traum steckte. »Das mag zwar sein, mein Junge, aber der Traum ist nur eine Maske, den sich das Leben überstülpt, um nicht im Wahnsinn zu enden.« Seine Mutter lachte. Ihr Mund lachte. Ihre Augen lachten. Ihre Hände lachten. Er erkannte kleine Münder in den Handflächen. Er schrie auf. Und lag in seinem Schlafzimmer; der Wecker zeigte kurz nach vier Uhr in der Frühe an, und das Hemd über der Stuhllehne bewegte sich. Mit einem Sprung hatte Arthur das Bett verlassen, riss das Hemd vom Stuhl und warf es zu Boden. Dabei spürte er den leichten Luftzug. Arthur ging hinaus in die Diele. Von dort aus sah er in dem großen Spiegel, dass das Fenster im Gästezimmer nur angelehnt war. Er atmete auf und schloss es. Als er zurück in sein Schlafzimmer gehen wollte, fiel sein Blick auf das Gästebett. Es sah aus, als hätte jemand darin gelegen. Arthur schüttelte den Kopf. Vermutlich hatte er sich selbst einmal hineingelegt und wusste es nicht mehr. War er wirklich so vergesslich geworden? Er ging endlich hinüber, war rasch wieder eingeschlafen und wachte erst auf, als die Sonnenstrahlen durch den Spalt zwischen den Vorhängen drangen und ihn kitzelten. Er fühlte sich keineswegs ausgeruht; es war ihm, als klebte Blei an seinen Gliedern. Der Traum von seiner Mutter war ihm unangenehm und verursachte bei ihm ein schlechtes Gewissen. Seit seinem Umzug war er nicht mehr an ihrem Grab gewesen. Während er sich ankleidete, nahm er sich vor, heute kurzerhand nach Köln zu fahren und das Versäumte nachzuholen. Dieser Plan freut, ihn über alle Maßen.
Heimatstadt! Heimat! Nach Hause! Ja, er würde nach Hause fahren. Er schloss hinter sich ab und war glücklich. Als er an Daphnes Anwesen vorbeikam, fuhr er langsamer. Kurz überlegte er, ob er anhalten und sich nach ihrem Befinden erkundigen sollte, doch er wollte nicht aufdringlich erscheinen. Sie könnte auf den Gedanken kommen, er wollte etwas von ihr. Was für ein absurder Gedanke! Er könnte ihr Vater sein, ja fast sogar schon ihr Großvater! Er gab Gas und verließ viel schneller als erlaubt den Talkessel. Er brauste durch Malberg, durch Kyllburg, bergan, bergab, wieder bergan zur B 257, und als er auf der Höhe angelangt war, fuhr er an Feldern und Wiesen vorbei nach Norden, auf Daun zu. Von Daun aus raste er in Richtung Hillesheim, bog kurz vor dem Ort beim Verteilerkreis nach Kerpen ab und folgte von nun an den blauen Hinweisschildern zur Autobahn. Erst als er sie bei Blankenheim erreicht hatte, bemerkte er, wie sehr er sich beim Fahren verkrampft hatte. Seine Hände waren schweißnass. Er ließ den kleinen Nissan von den Eifelhöhen herunterrollen und freute sich immer stärker auf Köln, je näher er der Stadt kam. Er nahm die Abfahrt Aachener Straße und quälte sich durch den dichten Verkehr in Richtung Zentrum. Doch anstatt am Gürtel nach rechts zu fahren, in Richtung Dürener Straße, in der ihre schöne Eigentumswohnung gelegen hatte, bog er nach links ab, und bald tauchte die rote Backsteinmauer des Melatenfriedhofs vor ihm auf. Er parkte auf der Gürtelstraße und bemühte sich, an gar nichts zu denken, als er durch den kleinen Nebeneingang schritt und die kühle Stille des Friedhofs ihn umfing. Dann brach der Damm in ihm. Er heulte los; die Grabsteine und Kreuze und Bäume und Bänke verschwammen vor seinem Blick. Auch wenn er früher oft hergekommen war, um zu vergessen, um Luft zu holen und
seinen dunklen Gefühlen freien Lauf zu lassen, so war da doch immer ein Ort gewesen, zu dem er heimkehren konnte. Jetzt aber gab es nur noch ein Grab. Es war ihm, als watete er durch eine klebrige Flüssigkeit. Kies knirschte unter seinen Schuhen. Amseln, Meisen, Rotkehlchen sangen; ihre Lieder perlten wie Regentropfen, wie Himmelstränen herab. Bald stand Arthur am Grab seiner Mutter. Er hatte es in Pflege gegeben. Kein ewiges Licht brannte darauf, denn er kannte kaum etwas Traurigeres als eine erloschene Grablaterne, und da er nun so weit entfernt wohnte, konnte er sie nicht andauernd neu anzünden. Buchsbaum, ein schöner, schlichter Stein, blaue Stiefmütterchen in einem Halbkreis darum – und der Gedanke, dass dort unten das Fleisch seiner Mutter verweste. Aus, alles aus. Und er, ungehorsamer Sohn, war aus der Stadt getürmt, hatte vor den Erinnerungen und der Einsamkeit, die hier am schlimmsten waren, Reißaus genommen. Er war aus seinem Leben geflohen und hatte es damit verworfen. »Mutter«, schluchzte er, »hier bin ich doch.« »Du kommst spät«, klang Mutters Stimme in seinem Kopf. »Verzeih mir«, sagte er leise und schaute durch den Tränenschleier auf das verzerrte Grab. »Ich habe versucht, ein neues Leben anzufangen. Anderswo, weit weg von hier.« »Was habe ich bloß bei dir falsch gemacht? Dir hat die lenkende Hand eines Vaters gefehlt. Alfons ist viel zu früh gestorben. Zu früh für dich und auch für mich.« »Du hast nichts falsch gemacht, Mutter. Ich vermisse dich so.« »Warum bist du dann fortgegangen? Wenn du hier geblieben wärest, hättest du mich jeden Tag besuchen können. Dann hättest du wenigstens ein Ziel gehabt. Ich habe dir offenbar zu
viel Geld vererbt. Das hat dich auf dumme Gedanken gebracht. Du bist einfach noch nicht reif dafür.« »Bitte schimpfe nicht wieder mit mir, Mutter. Ich habe nur versucht, mein Leben in Ordnung zu bringen.« »Und dazu musstest du unbedingt hundert Kilometer weit wegziehen und ein verrufenes Haus kaufen? Ich wusste schon, warum ich zu meinen Lebzeiten alle wichtigen Entscheidungen für dich getroffen habe, mein Junge. Was soll jetzt nur aus dir werden?« »Ich habe schon Bekanntschaften geschlossen, Mutter. Es geht mir gut.« »Ich weiß Bescheid über deine Bekanntschaften! Du machst alles falsch. Einfach alles!« »Dann sage mir doch, wie ich es richtig machen kann!« Er hatte sehr laut gesprochen und bemerkte erst jetzt, dass ihn ein Mann seines Alters vom Parallelweg aus durch die Büsche anstarrte. Arthur entfernte sich vom Grab seiner Mutter, bis er den Mann nicht mehr sehen konnte, und wischte sich die Tränen aus den Augen. Ohne einen Blick zurückzuwerfen, ging er auf den Hauptweg und von dort in Richtung des Nebeneingangs, bei dem er geparkt hatte. Als er dem Friedhof, für dessen stille Schönheit er heute keinen Blick hatte, endlich entronnen war, atmete er auf. Er musste sich unbedingt zusammenreißen. Die Stimme in seinem Kopf war so deutlich, so real gewesen, als ob seine Mutter wirklich mit ihm gesprochen hätte. Natürlich war ihm klar, dass er nur eine Geisterstimme gehört hatte, aber bedeutete das, dass sie deswegen unrecht hatte? Arthur fuhr mit der Straßenbahn in die Innenstadt und schlenderte über die Hohe Straße und die Schildergasse. Schon früher hatten große Menschenmengen ihm Angst gemacht, aber er hatte gewusst, dass er vor ihnen in einen sicheren Hafen fliehen konnte. Vorbei, alles vorbei. Jetzt war nur noch
er selbst da, und er war für sich ein weites, unbekanntes Land, das keinen Anhaltspunkt, keinen Fluchtpunkt, keinen Unterschlupf bot. Nicht, solange er ohne Maske zwischen den Menschen hindurchlief. Wie sie ihn ansahen! Dort, die beiden Jugendlichen mit den halb geschorenen Schädeln. Sie grinsten frech. Und diese Frau in dem teuren Kostüm und mit dem teuren Schoßhund an der Leine. Sie rümpfte die Nase über ihn. Dabei war alles an ihm sauber; vielleicht schlotterte sein Hemd ein wenig um den dürren Körper, vielleicht saß seine Hose nicht perfekt, vielleicht war er kein Abziehbild modischen Chics. Vielleicht lag es an seinem Blick oder an der scharfen Linie seiner zusammengepressten Lippen. Oder an seinem kurzen, leicht fettigen, grauen Haar. Er war alt, aber er fühlte sich so unsicher wie ein verängstigtes Kind, das allmählich die Größe und Haltlosigkeit der Welt erkennt, in die es gegen seinen Willen gestoßen wurde. Dort: ein dicklicher junger Mann mit Haarausfall und Plattfüßen. Wie er die Fußgängerzone entlangwatschelte! Er sah Arthur für eine Sekunde in die Augen. So etwas wie Erkennen lag in seinem verzweifelten Blick. Arthur erhielt einen Schlag gegen die Schulter. »Passen Sie doch auf, wo Sie hingehen, Sie…«, raunzte ihn ein Mann im dunklen Zweireiher und mit ledernem Aktenkoffer an. Arthur kniff die Augen zusammen und wünschte sich mehr denn je, er trüge eine seiner Masken. Er rannte fort und rempelte dabei unabsichtlich Passanten an, erntete böse Worte, und plötzlich verlor er das Gleichgewicht. Hatte ihm jemand ein Bein gestellt? Er stürzte und rutschte auf dem Bauch noch einige Meter weiter, bevor er mit dem Kopf gegen einen Blumenkübel aus Beton prallte. Der Schmerz durchschlug ihn
und machte all seine Empfindungen rot. Er schrie nicht auf, ertrug die Qualen. Jemand fasste ihn an. Er hatte keine Kraft mehr, sich zu wehren. Er wurde aufgerichtet. Öffnete die Augen. Ein langhaariger, junger Mann mit Dreitagebart, verwaschener Jeans und Holzfällerhemd hatte ihn bei den Schultern gepackt. »Alles in Ordnung mit dir, Opa?« Er schaute Arthur mit seinen großen, wasserblauen Augen fragend an. Arthur blinzelte, strich sich Hemd und Hose glatt und nickte. Der junge Mann nahm die Hände von Arthurs Schultern und schaute, ob er allein stehen konnte. »Wirklich alles in Ordnung?« »Ja, vielen Dank.« »Na gut. Viel Glück weiterhin. Und nimm beim nächsten Ausflug aus dem Heim besser deinen Stock mit.« Bevor Arthur eine scharfe Erwiderung geben konnte, war der junge Mann bereits verschwunden. Ein Mädchen, kaum dem Kinderwagen entwachsen, zeigte mit ausgestrecktem Finger auf ihn, und Arthur hörte, wie die junge, aber schon verbittert aussehende Mutter mit schriller, hektischer Stimme sagte: »Das kommt davon, Lisa, wenn man sich nicht im Griff hat. Der Opa da ist ein böser, schwacher Mensch. So wie dein eigener Opa. Komm weiter.« Sie zerrte das Kind hinter sich her, das Arthur immer noch mit großen Augen bestaunte. Er schüttelte den Kopf und ging vorsichtig an den Rand der Straße, als ob diese plötzlich in der Mitte aufbrechen könnte. Er schlich an den Schaufenstern vorbei und achtete peinlich genau darauf, dass er gebührenden Abstand zu den Menschen hielt. Am liebsten hätte er sich in eine Scheibe eingeschmolzen und wäre zur Schaufensterpuppe erstarrt. Während er vorsichtig auf den Neumarkt zuschlich, begannen die Schmerzen. Sie nahmen ihren Ausgang über dem rechten Auge und strahlten auf den ganzen Kopf aus. Arthur betastete
die Stelle über der Braue. Selbst die leichteste Berührung durch seine Fingerspitzen sandte regelrechte Schockwellen aus. Er erfühlte eine große Beule. Zum Glück war die Haut nicht geplatzt; es blutete nicht. Doch jeder Schritt tat ihm nun weh. Da er nicht mit den Menschenklumpen auf die Straßenbahn warten wollte, machte er sich trotz seiner Schmerzen zu Fuß auf den Weg nach Melaten. Er ging am Neumarkt vorbei, die Hahnenstraße hinunter bis zum Rudolfplatz, überquerte den Ring, setzte seinen Weg in der Aachener Straße fort. Hier waren nicht mehr so viele Menschenbestien unterwegs, doch die wenigen, denen er begegnete, bespähten ihn, als wäre er eine mögliche Beute für sie. Unter jedem Blick fuhr er zusammen. Er drückte sich an den Häuserfronten vorbei, trat mehr als einmal in Hundekot, rutschte, schlitterte, andauernd eingehüllt in das gelbe Tuch des Schmerzes. Immer wieder musste er sich an einer Hauswand oder einem Geländer festhalten, so schwindelig war ihm von dem Bluterguss über dem Auge. Wie gut, dass seine Mutter ihn nicht in diesem Zustand sah. Nicht auszudenken, wenn er so nach Hause gekommen wäre! Es dauerte lange, bis er endlich Melaten erreicht hatte. Die Friedhofsmauer wollte kein Ende nehmen. Arthur schreckte davor zurück, quer über den Friedhof zu gehen, denn er wusste, dass er sich dann nicht davon abhalten könnte, dem Grab seiner Mutter einen erneuten Besuch abzustatten. Nicht in diesem Zustand! Er würde wieder die Stimme seiner Mutter hören, und was sie ihm sagen würde, wäre vernichtend für ihn. Er schleppte sich zu seinem Wagen, ließ sich schwer auf den Fahrersitz fallen und versuchte sich zu beruhigen. Das dünne Blech um ihn herum gab ihm wenigstens ein schwaches Gefühl von Sicherheit. Er verriegelte die Türen von innen, damit niemand ihn aus dem Auto zerren konnte, und schloss
die Augen. Nie zuvor war ihm die Stadt so schrecklich erschienen; nie zuvor waren ihm hier so schlimme Dinge zugestoßen. Es machte ihm schmerzhaft deutlich, dass dies nicht mehr seine Heimat war. Er hatte keine Heimat mehr. Er machte sich auf den Rückweg in die Eifel. Der Verkehr war schrecklich. Autos schnitten ihn, jedenfalls hatte er diesen Eindruck, und es wurde gehupt, geschimpft. Erst auf der A 1 hinter dem Kreuz Bliesheim wurde es besser. Und als er bei Blankenheim an das Ende der Autobahn kam, kurbelte er sogar das Fenster herunter und ließ die kräftige und beruhigende Eifelluft herein. Kurz vor Daun bemerkte er, dass er heute noch nichts gegessen hatte. Die Schmerzen im Kopf hatten ein wenig nachgelassen, und er entschied, in dem kleinen Eifelstädtchen einen Imbiss zu nehmen. Zum Mittagessen war es bereits zu spät, also blieb nur ein Café übrig. Er parkte am Kinopalast Vulkaneifel und ging in das Städtchen hinein. Gegenüber dem modernen, architektonisch recht gewagten, aber höchst gelungenen Daun-Forum, das Veranstaltungssäle, die Tourist-Info und auch ein – nun leider geschlossenes – italienisches Restaurant beherbergte, entdeckte er ein herrlich altmodisches Café. Ohne lange zu überlegen, ließ er sich von den Düften verführen, die durch die geöffnete Tür herauswehten. Er setzte sich an einen der Tische im Nichtraucherbereich und blätterte die Speisekarte durch. Schließlich entschied er sich für Reibekuchen mit Schwarzbrot und Apfelmus und danach für einen großen Eisbecher. Die Bedienung kam, es war eine junge, blonde Frau mit verträumtem Blick und zartem Mund. Sie sah ihn an, ihre Augen weiteten sich, und schon befürchtete Arthur, wieder eine böse Bemerkung zu ernten. Er zog den Kopf ein wenig ein.
»Was ist denn mit Ihnen passiert?« In ihrer Stimme schwang echte Besorgnis mit. »Sind Sie gestürzt?« Arthur nickte, sagte aber nichts. Er traute ihr noch nicht. »Das muss man kühlen«, meinte sie. »Wenn es Sie nicht stört, bringe ich Ihnen etwas Kaltes. Es sind ja keine anderen Gäste da, die dumm gucken könnten.« Bevor Arthur seine Bestellung abgeben oder etwas erwidern konnte, war sie bereits verschwunden. Kurze Zeit später kam sie mit einer blauen Kühlpackung zurück, wie man sie für Schwellungen benutzt. »Hier.« Sie reichte Arthur das eisige, etwas wabbelige Ding, und er zuckte zusammen, als er es sich gegen die Beule drückte. Zuerst schmerzte die Kälte, doch bald tat sie unbeschreiblich wohl. »Was kann ich Ihnen denn sonst noch bringen?« Arthur bestellte endlich, und die junge Frau ging mit einem Lächeln fort. Er wähnte sich im Himmel. Hier war man nett zu ihm! Hier musste er sich nicht verstecken. Wie schön, dass er der einzige Gast war. Die Schwellung über dem rechten Auge klang schnell ab, und als die Reibekuchen kamen, legte er den warm gewordenen blauen Gelbeutel beiseite und aß mit einer Freude, die er lange nicht mehr verspürt hatte. Die Reibekuchen waren mindestens so gut wie die seiner Mutter. Als er an sie dachte, schossen ihm wieder die Tränen in die Augen. Die Bedienung bemerkte es, als sie den Teller abräumen wollte. »Ist es so schlimm?«, fragte sie mitfühlend. Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber meine Mutter…« Bevor er recht bemerkte, was er tat, hatte er ihr von seinem Verlust erzählt. »Das ist aber wirklich schrecklich«, meinte sie. »In einem solchen Fall ist es wichtig, nach vorn zu sehen. Glauben Sie mir: Ich fühle mit Ihnen.« Dann ging sie den Eisbecher holen.
Als sie zurückkam, steckte eine brennende Wunderkerze zwischen den Kugeln. Arthur musste lächeln. »So gefallen Sie mir schon viel besser.« Das Eis schmeckte vorzüglich. Als er eine halbe Stunde später wieder auf der Straße stand, entschied er sich, noch ein wenig durch Daun zu schlendern. Der Ort gefiel ihm. Die kleinen Häuser strahlten Behaglichkeit aus, die Passanten schauten ihn nicht an wie einen Verbrecher oder Wahnsinnigen, die Sonne schien, er atmete freier. Nein, es war doch kein Fehler gewesen, in die Eifel zu ziehen. Auch in Fangenburg würde er sich bald eingelebt und alle Missverständnisse aus dem Weg geräumt haben, dessen war er sich sicher. Er beeilte sich nicht, nach Haus zu kommen, doch schließlich war er zu seinem Wagen zurückgekehrt und machte sich auf den Heimweg. Als er jedoch in den Fangenburger Talkessel einfuhr, beschlich ihn erneut ein Gefühl von Einsamkeit und dunkler Vorahnung. Es wich kurz wieder, als er an Daphnes Haus vorbeikam, doch sie war nirgends zu sehen. Am liebsten hätte er ihr einen Besuch abgestattet, doch mit seiner zwar abgeschwollenen, aber noch nicht verschwundenen Beule bot er sicherlich keinen attraktiven Anblick. Außerdem wäre es bestimmt besser, nach den Erlebnissen des heutigen Tages allein zu sein. Nachdem er den Wagen vor seinem Haus abgestellt hatte, lief er die Burgstraße hoch und in den Wald hinein. Hier fühlte er sich wohl, hier war sonst niemand. Er setzte sich auf die Bank in der Lichtung und sah über das Dorf. Was er heute in Köln erlebt hatte, war viel schrecklicher und gefährlicher gewesen, als es sein angebliches Spukhaus für ihn je sein konnte. Er ärgerte sich, diesem dummen Dorfklatsch doch ein wenig Gewicht beigemessen zu haben. Nein, hier war seine neue
Heimat, hier fand sein neues Leben statt, und das schöne Erlebnis in Daun bestärkte ihn darin. Bald würde er zu einem geachteten Gemeindemitglied werden; schließlich war er freundlich zu jedermann und tat niemandem etwas zuleide. Nur hier würde er seine Trauer endgültig überwinden können. Mit einem Seufzer stand er auf und ging hinunter zu seinem Haus. Er begegnete niemandem. Als er die Tür aufschloss, hatte er zum ersten Mal das tiefe Gefühl, willkommen zu sein. Keine kalte Luft wehte ihn an, nichts Unheimliches verbarg sich in den Zimmern, die er nun mit ungetrübtem Besitzerstolz durchschritt. Den Abend verbrachte er vor dem Fernseher. Er ging spät zu Bett und schlief sofort ein. Mitten in der Nacht wurde er durch laute, widerhallende Klopfgeräusche geweckt. Zuerst war er sehr erschrocken, doch dann erinnerte er sich an die vergangene Nacht und an Daphnes nicht ganz freiwilligen Besuch. Das dort unten war bestimmt wieder sie. Jetzt klopfte es erneut – fordernd, heftig. Diese jungen Leute hatten ja so seltsame Tageszeiten. Arthur nahm sich vor, gleich am Montag früh wegen der defekten Klingel einen Handwerker zu bestellen, und ging in Vorfreude nach unten. Grinsend zog er die Tür auf und machte eine etwas übertriebene, einladende Geste. Vor der Tür stand niemand. Arthur schaute die Straße hinauf und hinunter. Sie war menschenleer.
7. Kapitel
Noch lange danach lag Arthur wach und lauschte auf jeden Laut. Das heftige Pochen ertönte nicht mehr; dafür hörte er nun all die vielen kleinen Geräusche seines alten Hauses: Knacken, leises Klopfen, Knistern, Wispern… Angestrengt dachte er darüber nach, was den Lärm an der Tür verursacht haben könnte. Vielleicht hatte nur das Holz besonders stark gearbeitet. Aber die Tür war genauso alt wie das Haus. Dieses Holz arbeitete nicht mehr. Oder war etwa ein Tier dagegengelaufen? Immer wieder? Unwahrscheinlich. Hatte er die Geräusche möglicherweise nur geträumt? Nein, zumindest beim letzten Klopfen war er eindeutig wach gewesen. Ob ihm jemand einen Streich gespielt hatte? Aber wer würde sich die Mühe machen, mitten in der Nacht aufzustehen und gegen seine Tür zu hämmern? Außerdem war weit und breit niemand zu sehen gewesen. Er wollte nicht an die Möglichkeit des Spuks denken. Arthurs Kopf schmerzte wieder. Er betastete die Beule und musste feststellen, dass sie stark angeschwollen war. Aber er war zu müde, um nach unten in die Küche zu gehen und sich Eiswürfel zu holen. Irgendwann schlief er über seinen wirren Gedanken ein. Die Glocken der Dorfkirche weckten ihn. Er rechnete nach und stellte fest, dass Sonntag war. Einen Augenblick war es wie zu Hause. Gleich würde seine Mutter hereinkommen und ihn fragen, ob er mit zur Messe ginge. Manchmal hatte er sie begleitet, doch nur um seiner Mutter willen. Er wusste nicht recht, ob er glauben sollte, und das, was er von den Priestern gehört hatte, war zu allgemein und unbestimmt gewesen, um
ihn zu einer Entscheidung zu bringen. Doch es könnte sich als vorteilhaft erweisen, heute in die Messe zu gehen. Vielleicht würde das sein Ansehen im Dorf etwas verbessern. Rasch kletterte er aus dem Bett, wusch sich, zog sich an und hastete hinaus, hinunter zur Kirche. Er zog das schwere Portal des neugotischen Gotteshauses auf und war erstaunt, wie voll es drinnen bereits war. Arthur setzte sich in eine der letzten Bänke. Schräg vor ihm saß Frau Bauer mit ihrem Mann. Sie drehte sich zu Arthur um, als hätte sie gewusst, dass er gekommen war, und lächelte ihm zu. Ihr Mann hingegen rührte sich nicht. Arthur erkannte weiter vorn Elfi Gärtner, seine Nachbarin von gegenüber. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schaute entweder in das Kreuzrippengewölbe oder unmittelbar in den Himmel. Sogar sein Nachbar zur Linken, Herr Meier, war hier. Er saß in der ersten Reihe und hielt den Kopf gesenkt, als starrte er angestrengt auf die Bodenplatten. Der Priester zog ein, begleitet von zwei Messdienern. Er war ein alter, gebeugter Mann, der die wenigen Stufen zum Altar nur unter sichtbaren Qualen überwand. Die Messe schleppte sich genauso mühsam dahin wie der Priester. Die Predigt war lang und langweilig, und als sie endlich vorüber war, wusste Arthur bereits nicht mehr, worüber der Geistliche gesprochen hatte. Die Kollekte führte sein Nachbar durch. Als er schließlich bis zu Arthur vorgedrungen war und ihm den Klingelbeutel vor die Nase hielt, legte Arthur einen Geldschein hinein. Der Nachbar zog eine Augenbraue hoch und wagte ein schwaches Lächeln, das Arthur wärmend in die Seele fuhr. Bei der Kommunion sah ihm der Priester nicht in die Augen, sondern hielt den Blick fest auf seine Beule gerichtet, die sicherlich immer noch beachtliche Ausmaße hatte.
Als die Messe endlich vorbei war, ging Arthur als einer der Ersten hinaus und hielt höflich einer alten Dame die Tür auf, wofür er ein Kopfnicken und ein dankbares Lächeln erhielt. Es war so einfach. Er hatte bereits den Kirchplatz überquert, als er hinter sich eine Stimme rufen hörte: »Herr Dreyer!« Er kannte diese helle und sanfte Stimme, die ihm sogleich eine Gänsehaut verursachte. Arthur blieb stehen und drehte sich langsam um. Daphne kam mit ihrem Weidenkorb auf ihn zu. Sie lief beinahe, was ihren Körper in einen erregenden Aufruhr versetzte. Dicht vor ihm blieb sie stehen, und in ihren braunen Augen wurde es dunkel. Sie kniff die Brauen zusammen. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte sie, während sie seine Beule betrachtete. »Ich bin hingefallen.« »Wo? Hier?« »Nein, ich war gestern in Köln…« Wie ein Schuljunge trat er von einem Fuß auf den anderen. Es war ihm so peinlich. »Sie müssen es kühlen. Sofort. Ich habe zu Hause ein paar Kühlbeutel und kann Ihnen auch eine Salbe geben. Was halten Sie davon, wenn Sie gleich zum Essen bleiben?« Sie hielt ihren Korb hoch. »Es gibt Pilzomelett.« Ihre Augen lachten ihn an, und ihre breiten Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. »Keine Angst, bei Pilzen kenne ich mich aus. Also, was ist? Einverstanden?« Frau Bauer ging mit ihrem Mann an Arthur vorbei und sah ihn missbilligend an. Sie machte den Mund auf, als wollte sie etwas sagen, doch sie gab keinen Ton von sich. Ihr Mann fraß Daphne mit den Augen auf. Die junge Frau schien die Blicke, die sie auf sich zog, nicht zu bemerken. Sie zupfte am Ärmel von Arthurs Cordjacke.
»Na los«, sagte sie, »weg von Weihrauch und Pfaffengewäsch.« Unsicher folgte er ihr, als sie sich plötzlich umdrehte und in die schmale Gasse vor der Kirche einbog. Sie schlenderten durch den mittäglich stillen Ort. Bratendüfte lagen in der Luft, und Arthur freute sich bereits auf das Pilzomelett. Und auf einen Nachmittag mit Daphne. Als sie an ihrem Hexengarten angelangt waren, aus dem das Haus wie eine rätselhafte Pflanze aufragte, stutzte Arthur. Da stand ein Wagen mit Düsseldorfer Kennzeichen. »Sie haben Besuch?«, fragte er vorsichtig und versuchte seine Enttäuschung zu verbergen. »Ja«, sagte Daphne, ohne ihn anzuschauen. Sie ging den Trampelpfad zum Eingang entlang, drückte die unverschlossene Tür auf und winkte den zögerlichen Arthur heran. Als er eintrat, kam aus der Tür neben der Küche, wohinter offenbar das Bad lag, ein nasser, nur mit einem um die Lenden geschlungenen Handtuch bekleideter Mann von etwa dreißig Jahren heraus. Er gab Daphne einen dicken Kuss auf die Wange und presste die junge Frau kurz an sich, was sie sichtlich gern geschehen ließ. Zu Arthur sagte sie: »Das ist Ingo.« Ingo beachtete ihn auch jetzt noch nicht, sondern ging aufreizend langsam die Treppe hoch. Als Daphne Arthurs fragenden Blick bemerkte, sagte sie: »Ingo ist ein alter Freund von mir. Kommen Sie ins Wohnzimmer und setzen Sie sich, während ich die Kühlpackung und die Salbe hole.« Er ließ sich auf dem Rattansofa nieder und sah sich um. Die Wandbehänge, die von der Decke hängende Ampel mit den roten Glasscheiben und die leichten Rohrmöbel wirkten auf ihn nun noch exotischer als bei seinem ersten Besuch. Erst jetzt bemerkte er die Kristallkugel auf einem runden Glastisch im
hinteren Teil des Zimmers. Er musste lächeln. Dies war so konventionell esoterisch. Wo blieb sie nur? Die Schwellung pochte und schmerzte. Arthur lauschte angestrengt. Aus der Küche drang nicht das leiseste Geräusch. Hatte nicht vorhin die Treppe geknarrt? War Daphne oben? Bei diesem Ingo? Wieder knarrte die Treppe, leise, verstohlen. Daphne betrat das Wohnzimmer. In der einen Hand hielt sie eine blaue Kühlpackung, in der anderen ein Töpfchen mit Salbe. »Ich habe nur kurz mit Ingo geredet«, sagte sie entschuldigend, während sie sich neben ihn kniete und zuerst die Salbe auftrug; danach legte sie ihm die eiskalte Packung auf die Stirn. »Er hat Stress mit seiner Freundin und wohnt deshalb ein paar Tage bei mir.« Arthur entspannte sich. Die Salbe und die Kühlung taten gut, doch noch besser taten Daphnes Hände an seinen Schläfen. »Sie brauchen den Beutel nicht die ganze Zeit über festzuhalten«, sagte er heiser und wünschte sich das genaue Gegenteil. »Aber das tue ich doch gern.« Sie kicherte. »All meine Freunde sagen, dass ich entsetzlich bemutternd bin.« All meine Freunde… Was wusste er schon von ihrem Leben? Er wollte gar nichts wissen. Ihre Hilfe tat so gut. Er fühlte sich wieder wie ein kleiner Junge, der von seiner Mutter verwöhnt wird. Arthur sah die immer noch kniende Daphne an. Dabei fiel sein Blick zwangsläufig in ihren Ausschnitt. Heute trug sie eine rüschenbesetzte Bluse mit tiefem Dekollete sowie einen dunkelblauen Rock. Darin wirkte sie noch weiblicher und reifer als in Jeans und T-Shirt. Seltsam, dass sie in diesem Aufzug im Wald Pilze gesammelt hatte. Als der Kühlbeutel warm geworden war, nahm sie ihn von Arthurs Stirn und legte ihn auf den Tisch. »Die Schwellung ist zurückgegangen«, stellte sie befriedigt fest. »Sie müssen
unbedingt vorsichtiger sein. Sie haben doch nichts dagegen, wenn Ingo uns beim Essen Gesellschaft leistet?« Er schüttelte den Kopf, und sie ließ ihn wieder allein. Arthur hatte sich so auf das Beisammensein mit Daphne gefreut, doch die Aussicht darauf, mit diesem Kerl am Tisch sitzen zu müssen, war nicht gerade verlockend. Am liebsten wäre er jetzt gegangen, doch dazu fehlte ihm der Mut. Es dauerte nicht lange, bis die Omeletts fertig waren. Daphne, Ingo und Arthur hatten sich an dem großen, alten Küchentisch niedergelassen, und Daphne plauderte während des Essens von diesem und jenem. Arthur hätte ihrer sanften Stimme stundenlang lauschen können, doch der Fremde am Tisch störte ihn. Ingo schien Daphne gar nicht zuzuhören, sondern verschlang auf unappetitliche Weise sein Essen. Es gefiel Arthur nicht, dass Daphne solche Freunde hatte. Als Ingo die letzten Bissen schmatzend vertilgt hatte, warf er das Besteck auf den Teller und grinste die junge Frau an. »Das war klasse«, sagte er, stützte den Kopf in die Hände und wandte sich an Arthur. »Sind Sie der mit dem Spukhaus?« Also hatte Daphne bereits von ihm erzählt. »Ja«, antwortete er nur. »Gut. Wie lebt sich’s denn so mit Gespenstern?« »Ich habe noch keines gesehen.« »Schade. Würd mir Ihre Bude gern mal anschauen.« Er grinste breit. »Ingo! So etwas sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen«, empörte sich Daphne. An Arthur gewandt sagte sie: »Es freut mich zu hören, dass Sie noch keine Phänomene bemerkt haben.« Sie verstummte kurz und fügte dann hinzu: »Oder verschweigen Sie mir etwas?« Arthur schnitt bedächtig ein Stück von seinem Omelett ab und betrachtete es, als wäre es lebendig. Sollte er ihr von den nächtlichen Klopfgeräuschen berichten? Bestimmt hatten sie
einen natürlichen Ursprung. Außerdem war den Rest der Nacht hindurch nichts mehr vorgefallen. Und es gefiel ihm gar nicht, vor diesem grobschlächtigen, flegelhaften Ingo zu reden. Bestimmt würde er Arthurs Bericht ins Lächerliche ziehen. »Ich sehe Ihnen an, dass Sie mir etwas verheimlichen«, beharrte Daphne. »Ich kann so etwas spüren.« Ihrem milden und zugleich zwingenden Blick, der in einem seltsamen Kontrast zu der lustigen Stupsnase und den vollen Lippen stand, konnte er sich nicht widersetzen. »Also gut, da war etwas.« »Was?« Er aß den letzten Bissen, legte vorsichtig das Besteck auf den Teller und betupfte sich den Mund mit der Papierserviette. Dann sagte er: »Klopfgeräusche.« »Poch, poch«, machte Ingo und griente über das ganze Gesicht. »Ingo!«, wies Daphne ihn zurecht. »Das ist überhaupt nicht lustig. Bitte erzählen Sie weiter.« Am liebsten wäre Arthur jetzt gegangen. Doch das wäre ungerecht gegenüber Daphne gewesen. »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Es war gegen Mitternacht, glaube ich…« »Geisterstunde…«, flüsterte Ingo mit dumpfer Stimme und riss die Augen auf; es sollte wohl gruselig aussehen. »Huhuhuhu…« Arthur sah ihn streng an, aber das machte wenig Eindruck auf den jungen Mann. Wenigstens schwieg er jetzt, auch wenn er noch belustigt den Kopf schüttelte. Daphnes fragender Blick drängte Arthur dazu, mit seinem Bericht fortzufahren. »Zuerst hatte ich geglaubt, Sie wären es. Sie wissen schon, wie am Abend davor oder so ähnlich«, brachte er unbeholfen hervor. »Also bin ich hinuntergegangen und habe die Tür geöffnet, aber da war niemand.«
»Das ist ja wirklich zum Gänsehautkriegen!«, rief Ingo. »Wahrscheinlich hat das Gespenst Reißaus genommen, als es Sie gesehen hat.« Er schüttelte sich vor Lachen. Arthur stand auf. »Das muss ich mir nicht bieten lassen«, sagte er mit mühsam unterdrückter Wut. »Nicht von Ihnen!« Daphne versuchte zu beschwichtigen: »Bitte setzen Sie sich doch wieder. Und du, Ingo, solltest dich schämen. Du weißt genau, dass du mit deinem ewigen Skeptizismus bei mir keinen Blumentopf gewinnen kannst.« Diese Worte hörte Arthur gern. Dann hatten die beiden vielleicht doch nicht miteinander… Ingo hob die Hände, als wollte er sich ergeben, und murmelte: »Entschuldigung.« Arthur stand noch immer vor dem Küchentisch und kam sich plötzlich recht lächerlich vor. Die ganze Situation war lächerlich. Er, der alte Mann, der gestern noch in Köln mit »Opa« angeredet worden war, versuchte dieser jungen Frau aus Gründen, die er selbst nicht verstand, schöne Augen zu machen, und den frechen Kerl sah er dabei irgendwie als Nebenbuhler an. Er durfte nicht noch einmal denselben Fehler machen wie damals bei Inge und bei Renate. Außerdem war er inzwischen viel zu alt dafür. Gewisse Dinge waren einfach vorbei. Mit einem Seufzer setzte er sich wieder. »Bitte erzählen Sie weiter«, ermunterte Daphne ihn. »Also gut. Wie gesagt, es war niemand auf der Straße zu sehen. Und so schnell kann sich bestimmt niemand irgendwo versteckt haben. Es lag nichts auf dem Podest, also hat auch niemand etwas gegen die Tür geworfen.« »So fängt es fast immer an«, sagte Daphne. »Zuerst ist es so, als würden die Geister – oder was immer es ist – um das Haus schleichen. Es klopft und pocht gegen Türen und Fenster, und manchmal hämmert es auch gegen die Wände. Aber früher oder später dringt der Poltergeist immer in das Haus ein.«
»Der Poltergeist?« »So wie Sie es beschrieben haben, kann es nur ein Poltergeist sein. Das legen übrigens die alten Berichte über Ihr Haus ebenfalls nahe.« Ingo warf ein: »Dann gibt es gar kein Bettlaken mit zwei Augen darin? Nur Herumgeklapper? Nicht mal ein Skelett? Wie langweilig.« »Normale Gespenster sind harmlos«, dozierte Daphne und sah ihren Freund dabei böse an. »Sie erscheinen einfach nur, und das war es dann auch schon. Poltergeister gehören in eine andere Kategorie. Sie werfen Dinge umher, können sprechen, auch wenn es eindeutig keine menschlichen Stimmen sind, die man da hört, und oft greifen sie die Bewohner an. In Ihrem Haus, Arthur, ist es zu merkwürdigen Todesfällen gekommen, wie Sie inzwischen wissen. Ich bitte Sie, ziehen Sie so schnell wie möglich aus. Sie sollten gar nicht mehr zurückgehen.« »Sonst frisst Sie der Poltergeist mit Haut und Haar«, kicherte Ingo. Jetzt reichte es! Mit einem Ruck erhob sich Arthur. »Mit Ihnen will ich nicht länger an einem Tisch sitzen, Sie Schnösel. Außerdem habe ich keine Angst vor Gespenstern oder Poltergeistern. Und Sie, Daphne, lade ich hiermit zu mir nach Hause ein, damit ich Ihnen beweisen kann, dass mein Haus kein Spukhaus ist. Wie wäre es mit morgen Abend?« Er sah sie fest an und hatte den seltsamen Eindruck, dass sie unter seinen Worten zusammenzuckte. »Aber Sie wissen doch, dass ich mich bei Ihnen schrecklich unwohl gefühlt habe«, wandte sie ein. »Dann werde ich diesmal dafür sorgen, dass Sie sich wohl fühlen«, erwiderte er und wunderte sich, woher er den Mut für seine Ankündigung nahm. »Die Einladung gilt natürlich nur für Sie, nicht für Ihren… Freund.« Er schenkte Ingo einen Blick, der das Grinsen des jungen Mannes einfror. »Wenn Sie
mich wieder sehen wollen, Daphne, dann müssen Sie zu mir kommen – jedenfalls solange Ihr Freund noch hier ist. Sagen wir morgen um acht Uhr? Guten Tag.« Er verließ die Küche, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Niemand hielt ihn auf. Als er draußen auf der Straße stand, hoffte er, die junge Frau mit seiner scharfen Rede nicht verletzt zu haben. Würde sie seiner Einladung wirklich folgen? Oder hatte er sie nun für immer verloren?
8. Kapitel
Am nächsten Tag hatte Arthur viel zu tun. Er hatte mit dem Umzugsunternehmen vereinbart, dass an diesem Montagmorgen die Kartons abgeholt wurden. Da Arthur deshalb zu Hause bleiben musste, suchte er sich aus den Gelben Seiten einen Elektriker, der seine Klingel reparieren sollte. Dieser kam gegen zehn Uhr, und als er um elf Uhr ging, funktionierte die Schelle wieder. Sie machte ein rasselndes Geräusch, das im ganzen Haus gut zu hören war. Kurz darauf wurden die Kartons abgeholt. Es war schon gegen Mittag, und Arthur dachte mit beständig banger werdenden Gefühlen an den Abend. Ob Daphne kommen würde? Er war gestern recht unfreundlich zu ihr und ihrem ekelhaften Bekannten gewesen; es wäre kein Wunder, wenn sie wütend auf ihn war. Den Rest des Sonntags hatten deswegen Gewissensbisse an ihm genagt, und erst als MaruSanniya hatte er sich besser gefühlt. Am liebsten wäre er sogar mit dieser rundköpfigen, glasäugigen Maske ohne Ohren und mit weit heraushängender Zunge durch das Dorf gelaufen. Maru-Sanniya brachte den Irrsinn. Doch natürlich war er inmitten seiner Sammlung sitzen geblieben – in dem alten, abgeschabten Ledersessel – und hatte die anderen Dämonen angestarrt. Nur hier hatte er wahren Frieden, nur hier unten in seinem Haus. Oben, in seinem Schlafzimmer, war so viel Licht, dass er inzwischen meist die Vorhänge zuzog, obwohl der Blick über das Dorf bis hin zu den bewaldeten Hängen sehr schön war. Aber er wollte das Dorf nicht mehr sehen, wollte auch sich selbst nicht sehen, wenn er zufällig an dem Spiegel in der kleinen Diele im zweiten Stock vorbeikam, und deshalb
hatte er die Maske anbehalten und war sogar mit ihr schlafen gegangen. Sie hatte ihm ruhige Träume beschert, sie hatte alle Gespenster vertrieben: die der Vergangenheit, des Geistes und der Hoffnung. Sein dumpfes Atmen hatte ihm eine hallende Höhle vorgegaukelt, in der er sich geborgen gefühlt hatte. Er war durch ein Tor im Fels eingetreten, hatte es sorgsam hinter sich geschlossen und war einige Schritte in die vollkommen schwarze Höhle hineingegangen. Obwohl er zunächst nichts hatte sehen können, hatte er keine Angst verspürt. Wie still es dort gewesen war! Dann war das Licht gekommen, und er hatte die fernen, festen, schützenden Felswände und die leicht eingewölbte Decke sehen können. Die Höhle war riesig, aber nicht endlos gewesen. Sie hatte keine Lichtquelle gehabt. Er hatte durch die Schlitze seiner Maske an sich heruntergeblickt und festgestellt, dass er aus sich selbst heraus leuchtete – als trüge er einen Überzug aus Phosphor. Er war bis zur rückwärtigen Wand gegangen und hatte sie untersucht. Sie war angenehm warm gewesen, wie er erwartet hatte. Er hatte sich umgedreht und vor ihm in der Ferne das verschlossene Tor gesehen. Er war glücklich gewesen. Mit diesem Gefühl des Glücks war er erwacht. Nun war das Band zerrissen. Zerrissen wie das Band, das den Maru-Sanniya vor Arthur Gesicht gehalten hatte. Nachdem die Umzugskartons abgeholt worden waren, befestigte er es wieder an der Maske. Er arbeitete am Küchentisch und schaute dabei oft hinaus auf den steilen, verwilderten Berggarten. Vor allem glitt sein Blick immer wieder zu dem kleinen, braun gestrichenen Tor in der Burgmauer. Er hatte noch nicht überprüft, ob es verriegelt war. Als er das Band endlich wieder an der Maske befestigt hatte, trat er durch die Glastür der Küche auf die kleine, mit Betonplatten ausgelegte Terrasse und ging den beinahe zugewucherten, kiesbestreuten Serpentinenweg hoch zu dem
Steintisch und von dort aus weiter bis zur Burgmauer. Er atmete schwer, als er endlich vor dem Tor in der Bruchsteinwand stand. Nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, drehte er den rostigen Knauf des Tores und rüttelte an ihm. Zufrieden stellte er fest, dass es verschlossen war. Von hier drohte keine Gefahr. Etwas raschelte hinter ihm. Erschrocken ruckte er herum. Es war nur eine Katze: ein schlankes, beinahe dürres schwarzes Tier mit einem weißen Fleck am Hals. Vermutlich gehörte sie Herrn Meier, seinem Nachbarn, und war auf der Suche nach einer Maus. Sie sah niedlich aus mit ihren großen grünen Augen, den langen Schnurrhaaren, von denen eines weiß war, und den steil aufgerichteten spitzen Ohren. Arthur bückte sich und streckte ihr die Hand entgegen. Die Katze beschnüffelte sie vorsichtig und rieb dann ihr Köpfchen daran. Arthur kraulte sie; sie schnurrte. Dann sah sie ihn an. In ihrem Blick lagen Vertrauen und Sanftheit – so anders als bei den Menschen. »Ah, Sie haben sich mit Marga angefreundet.« Arthur zuckte hoch, und die Katze machte vor Schreck über diese unerwartete Bewegung einen Satz nach hinten. Herr Meier stand am Maschendrahtzaun, der die beiden Grundstücke hinter den Häusern voneinander trennte. Meier hatte die Hände in die Hosentaschen gerammt und den Oberkörper leicht zurückgebogen. Seine Stimme klang unentschlossen; als stimmte das, was er da sah, nicht mit dem überein, was er glaubte. »Ein freundliches Tier«, rief Arthur hinüber. »Mögen Sie Katzen?« »Eigentlich mag ich alle Tiere, aber Katzen sind mir wegen ihrer leisen, freundlichen Art besonders lieb.« »Dann werden Sie Marga mögen.« Meier nahm die Hände aus den Hosentaschen und legte sie auf den brusthohen Zaun,
sodass es aussah, als wollte er gleich mit einem gewaltigen Satz darüber springen. »Schon eingelebt?« »Ich bin dabei«, antwortete Arthur ausweichend und bückte sich wieder, um die Katze zu streicheln. Sofort kam sie mit hoch erhobenem Schwanz auf ihn zu. Das gefiel ihm. Er vergrub die Finger in ihrem seidigen Fell. »Schön, dass wieder jemand in dem Haus wohnt«, fuhr Meier fort. Seine Finger schlossen sich um die Kante des Drahtes; die Knöchel stachen weiß hervor. »Und schön, dass dieser Jemand Katzen mag.« Dann wich er mit fließenden Bewegungen zurück, bis ihn sein Haus aufgesaugt hatte. Die Katze wand sich zwischen Arthurs kraulenden Fingern und schlüpfte durch ein kleines Loch im Zaun auf das Grundstück des Künstlers. Arthur sah in den Himmel. Wolken schoben sich übereinander: grau, schmutzigweiß, schwarz. Nein, er würde für das Abendessen nicht hier draußen decken; es könnte regnen. Er ging zurück zur Terrasse, betrachtete dabei die Rückwand seines Hauses und glaubte im oberen Stock einen Schleier aus Schatten zu sehen. Das kleine Fenster dort war fast blind, es gehörte zu einem Speicher hinter den beiden Schlafzimmern, den Arthur seit der ersten Besichtigung mit dem Makler nicht mehr betreten hatte. War es nur eine Einbildung, dass es dort oben umso dunkler wurde, je näher er dem Haus kam? Bestimmt war das nur dem Schatten zuzuschreiben, den das Haus warf. Schatten? An einem wolkenverhangenen Tag? Er trat durch die Terrassentür in die Küche, nahm die Maske vom Tisch und trug sie wie ein Heiligtum hinunter in das Vitrinenzimmer. Dort machte er es sich im Sessel bequem, nachdem er den Dämon des Irrsinns hinter Glas gestellt hatte. Er ließ den Blick schweifen. Und dachte daran, wie eintönig sein Leben innerhalb dieser alten Mauern verlief. Schlafen, anziehen, herumsitzen, hier und dort Dinge erledigen,
ausziehen, schlafen. Jede unbedeutende Handlung wurde plötzlich wichtig. Manchmal war ihm, als hallten die Wände vor Schweigen wider. Heute Abend jedoch würde sich das ändern. Hoffentlich. Am Nachmittag kaufte er im Lebensmittelladen ein. Er hatte sich entschlossen, heiße Sandwiches zu machen, wie er sie bei seiner Mutter so gern gegessen hatte, mit Toastbrot, Käse, Salami, Ketchup, Gurken und Pizzagewürz. Dazu wählte er einen halbtrockenen Moselwein, und zusätzlich kaufte er den teuersten Sekt, den er in dem Laden bekommen konnte. Als er die Sachen vor die Kasse legte, sah Frau Bauer ihn mit großen Augen an. »Gut, dass Sie sich mal was gönnen«, sagte sie, als sie den Preis für den Sekt eintippte. »Ich fand es übrigens schön, dass Sie gestern in der Messe waren. Das ist auch anderen positiv aufgefallen. Ich glaube jetzt doch, dass Sie sich gut hier einleben werden.« Arthur packte den Einkauf in einen mitgebrachten Leinenbeutel und wollte bereits gehen, da sagte Frau Bauer noch: »Sie scheinen sich mit Daphne angefreundet zu haben.« Fragend sah sie ihn an. »Ich bin ihr zufällig begegnet, das ist alles«, antwortete er. Frau Bauer warf einen Blick auf den Hals der Sektflasche, die aus dem Beutel hervorlugte, und zog plötzlich die Brauen hoch. Sie schien begriffen zu haben. »Ich habe Sie schon einmal vor dieser Person gewarnt. Sie sollten auf mich hören.« Arthur zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Na, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Abend mit Ihrem teuren Sekt.« Auf dem Weg nach Hause dachte Arthur über ihre Worte nach. Er verstand Frau Bauers Reaktion nicht. Offenbar war Daphne im Dorf noch schlechter angesehen als er selbst. Wie
engstirnig! Hier war eben nicht die Großstadt. Zum Glück nicht. Arthur erinnerte sich an seinen entsetzlichen Besuch in Köln vor zwei Tagen. Es war besser hier, auch wenn man ungleich stärker unter Beobachtung stand. Zu Hause machte er sich daran, den Tisch zu decken; er stellte sogar die beiden silbernen Kerzenleuchter auf, die seine Mutter von ihrem Onkel Ludwig geerbt hatte. Teller, Kristallgläser für den Wein, Kelche für den Sekt, geblümte Servietten, von denen seine Mutter einmal Hunderte gekauft hatte, weil sie so schön und so billig gewesen waren, Gabeln und Messer von dem silbernen Besteck, das Vater und Mutter zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten – ein ungeheurer Reichtum damals, kurz nach dem Krieg. Als der Tisch bereitet war, erinnerte er Arthur an die vielen gemeinsamen Essen mit seiner Mutter. Dieser Gedanke legte sich wie ein erstickendes Laken über ihn. Was gäbe er darum, wenn er diesen Tisch für seine Mutter hätte decken können! Tränen rannen ihm über die Wangen, tropften auf sein weißes Hemd. Allein. Für immer und ewig. Der Gedanke an Daphne drang wie ein winziger Lichtstrahl durch das Regengrau seiner Trauer. Doch was war, wenn sie nicht kam? Dann würde er halt mit seiner Mutter feiern. Feiern? Was? Die gelungene Flucht aus Köln? Die Flucht vor seiner Mutter? Er zündete die beiden weißen Kerzen in den silbernen Leuchtern an, damit sie benutzt aussahen. Ob sie wirklich kommen würde? Er schaute auf seine Armbanduhr. Noch drei Stunden. Viel zu früh, um schon die Sandwiches vorzubreiten. Sekt und Wein standen kalt, und er war zur Tatenlosigkeit, zum Warten verdammt. Und dazu, sich alle zehn Minuten zu fragen, ob sie tatsächlich kommen würde oder ob er durch sein harsches Benehmen gestern ihre Freundschaft verloren hatte. Er hielt es kaum mehr aus. Die Zeiger seiner Uhr schienen
eingefroren zu sein. Er musste unbedingt etwas unternehmen, um sich abzulenken. Da fiel ihm der Speicher ein. Arthur lief nach oben, zur Tür gleich links neben der Treppe. Sie besaß kein Schloss. Und sie klemmte. Es dauerte eine Weile, bis er sie geöffnet hatte; das Holz war verzogen. Neugierig betrat er den Speicher. Durch das mit Staub und Spinnweben verklebte Zimmer fiel fahles Licht – trist wie alte, traurige Gedanken – und schmiegte sich um die Schatten im Dachstuhl und an den unverputzten Wänden. Er betrachtete das Gebälk, altersschwarz, die neuen Schindeln darüber, die rohen, rauen Mauern. Sonst gab es hier nichts. Er erinnerte sich, dass er enttäuscht gewesen war, als er den Dachboden zum ersten Mal betreten hatte. Bei der flüchtigen Musterung damals hatte er keine Geheimnisse bemerkt, keinen alten Hausrat, keine rätselhaften Truhen und Koffer. Es war einfach nur ein leerer, langweiliger Dachboden. Langsam ging er umher, spähte in Ecken und Ritzen, entdeckte aber nur ein paar Spinnen. Als er schon wieder gehen wollte, enttäuscht darüber, dass er auch hier die Zeit nicht vergessen konnte, erregte ein winziger Farbklecks in einer Ecke des Bodens seine Aufmerksamkeit. Er bückte sich und kniff die Augen zusammen. Da lag etwas. Etwas Rotes, dessen Umrisse er im Zwielicht nicht sofort erfasste. Er streckte die Hand danach aus, ganz vorsichtig, obwohl es sich nicht bewegte. Er war bereit, jederzeit die Finger blitzschnell zurückzuziehen. War angespannt. Berührte es. Kalt. Unnachgiebig. Wie aus Metall. Dann schloss er die Finger darum und hob es auf. Es passte in seine Handfläche. Als er es vor seine Augen hielt und sah, was es war, musste er lachen. Es handelte sich um ein Spielzeugauto: ein roter VW Käfer mit echten Gummireifen, vielleicht aus den Sechzigerjahren.
Arthur bückte sich wieder und betrachtete die Ecke genauer. Dort waren noch mehr Autos: ein silberner Mercedes, ein roter Ferrari, ein alter Rolls-Royce, ein Ford Taunus, blau mit weißem Dach, ein schwarzer Lincoln. Allesamt wiesen sie starke Abnutzungsspuren auf: Kratzer, abgeblätterter Lack, hier und da fehlte ein geschliffener Glasstein, der eine Lampe dargestellt hatte. Arthur stellte den Käfer zurück zu den anderen Autos. Als er die Tür mit Mühen hinter sich ins Schloss zog, lächelte er. Er hatte gar nicht gewusst, dass die letzte Mieterin ein Kind – offenbar einen Sohn – gehabt hatte. Zwischen diesen Wänden war gelacht, bestimmt auch geweint worden, es war gelebt worden, den Blick auf die Zukunft gerichtet. Und alles war in einem schrecklichen Finale zum Ende gekommen. Der Liebhaber der Frau war gestorben. Er hat seine gerechte Strafe erhalten, hätte seine Mutter dazu gesagt. Wenn man so etwas tut und nicht verheiratet ist… Arthur ging hinunter ins Wohnzimmer, überprüfte abermals den Tisch und setzte sich auf das Sofa. Immer noch zwei Stunden. Doch jetzt schweiften seine Gedanken oft zu den Spielzeugautos ab. Seltsam; gerade sie machten die Tragödie, die sich vor vierzig Jahren hier abgespielt hatte, für ihn wirklicher. Ausgerechnet die Person, von der bisher niemand gesprochen hatte – der Sohn –, hatte etwas zurückgelassen, das ihm bestimmt sehr wertvoll gewesen war. Arthur dachte an seine eigene Kindheit in Köln, an den Tod seines Vaters, den Mutter eines Tages allein ins Krankenhaus gebracht hatte, als Arthur noch in der Schule gewesen war. Arthur hatte ihn nie wieder gesehen; er hatte an einer geheimnisvollen Krankheit gelitten und war schon wenige Tage später gestorben. Darauf war seine Mutter mit ihm umgezogen, weil sie die Erinnerungen nicht mehr hatte ertragen können, so wie er selbst aus der Wohnung seiner toten Mutter geflohen war.
Und er erinnerte sich ganz schwach an seine eigene Krankheit, wegen der er lange Zeit in Hospitälern verbracht hatte und schließlich nicht mehr mit der Schule zurechtgekommen war. Er hätte damals gern solche Spielzeugautos gehabt. Er hatte sie nicht bekommen, weil es für ihn etwas Wichtigeres gegeben hatte: überleben. Als endlich die Kirchturmuhr laut und singend die achte Abendstunde schlug, zündete Arthur die Kerzen an und belegte die Sandwiches, damit er sie nur noch in das Eisen stecken musste, wenn Daphne kam. Um viertel nach acht war er damit fertig. Von Daphne keine Spur. Nun, die jungen Leute waren nicht mehr sehr pünktlich. Um halb neun probierte er seine reparierte Klingel aus. Sie funktionierte. Er schaute die Burgstraße hinauf und hinunter. Von Daphne war nichts zu sehen. Um neun Uhr blies er die Kerzen wieder aus und legte die vorbereiteten Sandwiches in den Kühlschrank. Um halb zehn schlich er wie ein alter Mann – wie der Mann, der er eigentlich war – hinunter ins Vitrinenzimmer und setzte sich die Maske des Maru-Sanniya auf. Er spürte, wie ihm die Tränen der Einsamkeit über die Wangen rollten und sich zwischen Haut und Holz hindurchzwängten. Er war so dumm gewesen. Die Tränen versiegten, und Wut überkam ihn. Wut auf sich selbst. Was hatte er sich da bloß eingebildet? Was hatte er in dieser jungen Frau gesehen? Falsches. Es war seine eigene Schuld. Um viertel vor zehn rasselte die Türglocke.
9. Kapitel
Arthur flog aus dem Zimmer und war mit zwei Schritten bei der Tür. Er ärgerte sich, dass in ihr kein Guckloch steckte. Was war, wenn da draußen wieder niemand stand? Vielleicht klopften und pochten die Gespenster, aber sie würden doch wohl kaum klingeln. Er riss die Tür auf. Da stand Daphne mit ihrem Weidenkorb. Als sie Arthur sah, zuckte sie zusammen, dann lachte sie auf. Arthur verstand nicht. Bis er bemerkte, dass er noch immer die Maske des Maru-Sanniya trug. Peinlich berührt nahm er sie ab und bat Daphne herein. »Ist das eine der berüchtigten Masken, mit denen Sie brave, unbescholtene Bürgerinnen zu erschrecken pflegen?«, meinte sie. »Kein Wunder, dass Frau Gärtner geglaubt hat, sie sähe den Leibhaftigen. Was ist denn das für eine Maske?« Während Arthur sie in das Vitrinenzimmer geleitete, erklärte er ihr die Funktion des Maru-Sanniya und der übrigen ceylonesischen Dämonenmasken, durch die dem Volksglauben nach mittels komplizierter Tänze und Riten Krankheiten ausgetrieben wurden. Daphne schritt an den Vitrinen entlang. Arthur bemerkte, wie sie immer mehr den Kopf einzog. Schließlich sagte sie: »Wie können Sie nur inmitten von etwas so Schrecklichem leben?« Behutsam legte er die Maske des Maru-Sanniya wieder an ihren Platz und sagte: »Sie sind nicht schrecklich. Sie sind Teil einer alten Kultur.« »Ja, genau: Teil einer alten, untergegangenen Kultur. Warum tragen Sie diese Masken noch?«
Arthur gefiel die Wendung nicht, die dieses Gespräch zu nehmen drohte. »Ich halte diese Kultur hoch, damit sie eben nicht ganz untergeht.« »Ach, Sie stammen aus Ceylon?«, fragte sie und grinste. »Nein, eigentlich nicht direkt… das heißt, natürlich… gar nicht, aber…« »Aber Sie lieben es, eine Maske zu tragen, und da sind diese hier genauso gut wie andere. Warum?« »Das stimmt nicht. Ich lege die Masken nur manchmal an, um… Was meinen Sie mit ›warum‹?« »Warum wollen Sie sich verstecken? Und vor wem?« »Ich will mich nicht verstecken!«, erwiderte Arthur barscher, als es seine Absicht gewesen war. »Gehen wir doch nach oben. Ich habe schon alles vorbereitet. Obwohl ich eigentlich dachte, Sie kommen nicht mehr.« Er führte sie in das Esszimmer und schob für sie einen Stuhl zurück. Als sie sich setzte, rückte er ihr den Stuhl an den Tisch. »Oh, ein echter Gentleman. Wie schön. Die jungen Kerle haben einfach keinen Anstand mehr. Ich muss mich für meine Verspätung entschuldigen, aber ich bin von einer Kundin aufgehalten worden, der ich die Karten legen musste.« »Hat sie wenigstens einen angenehmen Ausblick auf ihre Zukunft erhalten?«, fragte Arthur, während er die Sandwiches aus dem Kühlschrank nahm und das Eisen vorheizte. »Ganz und gar nicht. Krankheit und Tod haben ihr die Karten gezeigt.« »Wie schrecklich«, meinte Arthur nicht ganz aufrichtig und entkorkte den Sekt so gekonnt, dass es nur ein leises »Plopp« machte. Seine Mutter und er hatten jeden Freitagabend eine Flasche Sekt aufgemacht. Und dazu oft Sandwiches gegessen. Schade, dass heute nicht Freitag war. Er goss Daphnes Kelch
voll mit schäumendem Gold, füllte sein eigenes Glas und stieß mit ihr an. Sie holte eine Flasche aus ihrem Weidenkorb und stellte sie auf den Glastisch. »Für Sie.« »Was ist das?« »Holunderblütensirup, selbst gemacht. So etwas bekommen Sie nirgendwo zu kaufen. Jeden Abend ein Gläschen, mit Wasser verdünnt, und Sie schlafen wohl und ruhig.« Dankbar trug Arthur die Flasche in die Küche. Wann hatte er zuletzt etwas geschenkt bekommen? Das Essen war wie ein Festmahl für ihn, und auch Daphne schien es zu schmecken. Er musste sogar noch weitere Sandwiches belegen und toasten. Der Wein, den er nach dem Sekt geöffnet hatte, passte hervorragend dazu. Daphne schien es sehr gut zu gehen; sie machte keine Bemerkung mehr über die angeblich düstere Atmosphäre des Hauses. Nach dem Essen setzte sie sich auf das Sofa. Gern hätte Arthur neben ihr Platz genommen. Schwach roch er ihr Lavendelparfüm, und in ihrer weißen Rüschenbluse und dem schwarzen Rock wirkte sie gar nicht wie eine Frau der Gegenwart. Arthur ließ sich schwer in einen der Sessel fallen, nachdem er die noch halb vollen Gläser auf den niedrigen Tisch gestellt hatte. »Was arbeiten Sie eigentlich?«, fragte Daphne unvermittelt. Diese Frage war ihm unangenehm. Mit knappen Worten erklärte er ihr, dass er nach dem Tod seiner Mutter seinen Beruf aufgegeben hatte. »Welchen Beruf?«, wollte sie wissen. Er erzählte ihr von seiner Tätigkeit als Aufseher im Kölner Museum für Völkerkunde. »Das stelle ich mir spannend vor«, sagte sie. »Daher stammt wohl Ihre Begeisterung für ceylonesische Masken?«
Er nickte und erzählte angeregt von der großen Ausstellung, die sein Interesse an diesem exotischen Thema geweckt hatte. Als er damit zum Ende gekommen war, sah Daphne ihn lange an. Schließlich sagte sie: »Bitte verzeihen Sie mir meine Neugier, aber ich wundere mich schon die ganze Zeit über eine bestimmte Sache.« Sie verstummte und nippte an ihrem Wein. Dann fuhr sie fort, ohne ihn anzuschauen: »Sie sind ein überaus kluger und kultivierter Mann. Verstehen Sie mich um Himmels willen nicht falsch, aber Sie hätten doch viel mehr werden können als nur ein kleiner Aufseher in einem Museum.« Sie wurde rot, als schämte sie sich wegen ihrer direkten Frage. »Ich…« Wie viel sollte er ihr erzählen? »Ich hatte nie besonders großen Ehrgeiz«, antwortete er ausweichend. Die Grübchen in ihren Wangen waren so schön, wenn sie lächelte. »Ich mag keine vom Ehrgeiz zerfressenen und von ihrer eigenen Wichtigkeit durchdrungenen Männer«, bekannte sie. »Es ist schön, wenn jemand seinen Platz im Leben gefunden hat. Aber Sie arbeiten nicht mehr im Museum, oder fahren Sie jeden Tag nach Köln? Sie sind doch noch jung, bestimmt erst Anfang oder Mitte vierzig…« Die letzten Worte schwebten mit Fragezeichen behangen in der Luft zwischen den beiden. »Ich bin zweiundfünfzig.« »Das hätte ich nie gedacht«, staunte Daphne und spielte mit den Fingern um den Stil ihres Weinglases. »Sie wirken so… jugendlich.« Arthur räusperte sich und sagte: »Vielen Dank.« Mit holprigen Worten erklärte er ihr, dass seine Mutter ihm ein wenig Geld hinterlassen hatte und er deshalb unabhängig war. »Sie Glücklicher«, meinte Daphne. Ihre großen braunen Augen waren wie Inseln im Meer der Haltlosigkeit. »Hätte Ihnen denn ein anderer Beruf mehr Spaß gemacht?«
Er rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her. Seltsam, dass er gerade heute dies gefragt wurde, nachdem er durch die Spielzeugautos an seine eigene, verworrene Kindheit erinnert worden war. Doch warum sollte er ein Geheimnis darum machen? Außerdem wollte er dieser Frau beweisen, dass er kein Dummkopf war. »Ich habe das Gymnasium besucht, aber dann bin ich schwer erkrankt und weiß deshalb nicht mehr viel über diesen Teil meiner Kindheit. Meine Mutter hat mir einiges erzählt. Ohne sie wäre diese Zeit für mich ein hübsch eingebundenes Buch mit leeren Seiten.« Er verstummte, trank einen Schluck Wein und sah über den Rand des Glases seine erwartungsvolle Besucherin an. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass es so etwas wie ein Hirntumor war. Aber keine Angst, mit mir ist schon lange wieder alles in Ordnung.« Er lächelte sie an. »Wegen des langen Krankenhausaufenthalts war ich nicht mehr in der Lage, auf dem Gymnasium zu bleiben, auch wenn man mich vorsorglich bereits eine Klasse zurückgesetzt hatte. Ich hatte extreme Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten, und es dauerte einige Jahre, bis ich ganz wiederhergestellt war. Aber da war es schon zu spät für Abitur und Studium. Das ist eben mein Schicksal; so bin ich Museumswächter geworden.« »Aber womit verbringen Sie jetzt Ihre Zeit – außer mit Ihren Masken?« »Ich habe mich… ich muss mich erst hier eingewöhnen… ich weiß noch nicht…« »Wie herrlich: einfach in den Tag hineinleben und darauf warten, was er einem bringt!« Arthur hatte mit einer anderen, kritischeren Antwort gerechnet. Dankbar nahm er noch einen Schluck Wein und spürte, wie sich eine angenehme Wärme in seinem ganzen Körper ausbreitete. Es freute ihn, dass Daphne ihn so ernst nahm.
Sie hatte den Arm auf die Rückenlehne des Sofas gelegt, wodurch ihr aufregendes Dekollete etwas verrutscht war und beunruhigende Einblicke freigab. Nein, nicht beunruhigende, sondern angenehme. Sie schien es nicht zu bemerken. Daphne saß da, als gehörte sie auf dieses Sofa, in dieses Zimmer, in dem immer noch der Geist seiner Mutter herumzog. Er wünschte sich, dass sie öfter käme. Wer? Daphne? Oder seine Mutter? Oder beide? Gehörten sie nicht zusammen? Er schüttelte den Kopf. »Ich wünschte, ich müsste mir keine Sorgen mehr über die Zukunft machen. Ich bin oft so allein…« Sie strich sich mit der freien Hand über den Rock und zupfte ein unsichtbares Fädchen ab. »Im Augenblick haben Sie doch Ihren Ingo…« »Er ist nicht mein Ingo«, wies sie ihn zurecht. »Er ist inzwischen unerträglich geworden. Aber ich habe Mitleid mit ihm, um der alten Zeiten willen. Er ist ein kleiner Junge geblieben, ganz im Gegensatz zu Ihnen.« Arthur seufzte auf. Das konnte sie nicht ernst meinen. Nichts suchte er verzweifelter als Geborgenheit. »Ich glaube, Sie irren sich. Wir alle sind kleine Jungen.« »Die ihre Mütter suchen?« Ja! Ja! Ja! Nein. Er zuckte die Achseln. Einige Zeit saßen sie sich schweigend gegenüber, lächelten sich manchmal an, und Arthurs Sehnsucht wurde immer stärker. Schließlich sagte Daphne: »Sie haben doch ein kleines Auto. Was halten Sie von einem gemeinsamen Ausflug? Vielleicht bekommen Sie dann den nötigen Abstand, um gewisse Entscheidungen zu treffen.« Der letzte Satz drang kaum in sein Bewusstsein, so begeistert war er von ihrem unerwarteten Vorschlag. »Sie und ich?
Wann? Wohin?« Sein Herz raste, und er spürte, wie seine Hände schweißnass wurden. »Vielleicht schon morgen«, sagte sie. Unbedingt morgen! »Ich kenne da eine interessante Gegend.« Nur du und ich, niemand wird zwischen uns sein, du wirst das Glück von meinen Lippen trinken. »Haben Sie eine Straßenkarte?« Er holte sie aus seinem Wagen und gab sie ihr. »Hier. Nicht weit von Bad Münstereifel entfernt. Das ist von Fangenburg aus zwar eine lange Fahrt, aber dafür kann ich Ihnen etwas ganz Besonderes versprechen. Mögen Sie Burgruinen?« Ich mag alles, was du magst. »Vor allem, wenn sie romantisch gelegen sind.« Was für dumme, platte Worte. Romantisch! So ein Quark. Daphne warf ihm einen Blick zu, der alles bedeuten konnte: Freude, Überraschung, Zustimmung oder Belustigung. »Dann ist die Wensburg genau das Richtige für uns zwei Romantiker«, sagte sie und zwinkerte ihm zu. »Setzen Sie sich zu mir, dann kann ich Ihnen genau zeigen, wo sie liegt.« Er hatte so sehr auf diese Aufforderung gewartet, doch jetzt wäre er am liebsten in seinem Sessel geblieben, hätte sich im Stoff verkrallt. Doch er konnte sich ihrer Bitte nicht verweigern und nahm vorsichtig neben ihr Platz. »Kommen Sie etwas näher, dann müssen Sie sich nicht den Hals verrenken. Ich beiße nicht.« Behutsam schob er sich näher an sie heran. Ihr Lavendelduft wurde stärker. Gleichzeitig rutschte sie ihm entgegen, bis er ihr Bein an dem seinen spürte. Sie zeigte ihm die Stelle, wo angeblich die Wensburg lag. Er sah hin und sah nichts. Dachte nur an den kommenden Tag mit ihr. Als sie sich leicht vorbeugte, spürte er durch den Stoff der Bluse ihre Brust. Sie
trug keinen BH. Hitze schlug über ihm zusammen. Und Angst. Er sprang auf. »Noch ein Glas Wein?« Ohne auf eine Antwort zu warten, hastete er los und holte die Flasche. Als er zurückkam, hatte sie den Atlas bereits wieder geschlossen und neben sich gelegt – dorthin, wo Arthur kurz zuvor noch gesessen hatte. Erleichtert und enttäuscht zugleich schenkte er ihr nach. »Sie sollten damit aufhören«, sagte Daphne. »Aufhören? Womit?«, fragte Arthur verdutzt. »Mit dem Maskentragen. Das haben Sie nicht nötig.« »Aber… ich trage nicht… das Gefühl…« »Sie können ruhig hinter der Maske hervorkommen. Ich glaube, ich weiß, wie Ihnen zumute ist. Sie haben Ihr ganzes Leben mit Ihrer Mutter verbracht. Waren nie verheiratet. Nie verliebt.« »Das stimmt nicht!« Inge, Renate… »Ich weiß, was Liebe ist.« Nicht dieses Thema, bitte, bitte nicht! »Umso besser. Aber Sie leben allein, Sie sind einsam. Und die Welt um Sie herum ist erschreckend für Sie. Sie leben in einem Spukhaus. Sie sind vor dem Dunkel geflohen und in die Finsternis eingezogen. Es gibt einen Weg für Sie. Sie sollten lediglich…« »Was sollte ich?« »Ausziehen.« Wieder heimatlos, das wäre er, wenn er Daphnes Rat befolgte. Und er wäre getrennt von ihr. »Es sollte Ihnen nicht das zustoßen, was schon so vielen Menschen in diesem Haus zugestoßen ist. Ich meine es nur gut mit Ihnen. Denken Sie darüber nach. Holen Sie mich morgen gegen zehn Uhr ab. Ich möchte jetzt gehen. Darf ich vorher noch kurz Ihr Bad benutzen?« Er zeigte ihr den Weg. Gerade als er wieder in tiefen Gedanken versunken das Wohnzimmer betreten hatte, gellte
aus dem Bad ein Schrei. Noch einer. Es hörte gar nicht mehr auf. Kurz darauf rannte die aufgelöste Daphne hinaus, hastete die Treppe hinunter, ohne Arthur anzusehen, der entgeistert und erstarrt in der Wohnzimmertür stand, und bevor er seine Sinne wieder beisammen hatte, hörte er unten die Haustür schlagen. Daphnes Schreie gellten durch die mitternächtliche Burgstraße. Er flog hinter dem Mädchen her, hinaus in die Nacht, rief ihren Namen; Lichter in den angrenzenden Häusern flammten auf wie kleine, gefallene Sterne. Daphne schrie immer noch. Endlich hatte er sie eingeholt. Er packte sie bei den Schultern. Brachte sie zum Stehen. Wirbelte sie herum. In ihren Augen spiegelte sich abgrundtiefes, schwarzes Grauen. »Was… was ist… los?«, keuchte er. »Im Bad! Blut! Überall Blut! Und mein Gesicht im Spiegel… die Maden… das verwesende Fleisch!« Sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte hemmungslos. »Ruhe!«, rief es aus einem geöffneten, schwarzen Fenster, ohne dass dort jemand zu sehen war. »Kommen Sie, ich bringe Sie nach Hause«, sagte Arthur leise. Er war erschüttert, begriff nicht, was ihr in seinem Badezimmer zugestoßen war. Sie sah ihn mit tränenverklebten Augen an und nickte. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Der Wagen aus Düsseldorf parkte immer noch bei ihrem Haus. Arthur stellte sich vor Daphne. »Bleibt es trotzdem bei morgen früh?«, fragte er bang. »Ja«, hauchte sie kaum hörbar und fügte etwas lauter und gefasster hinzu: »Aber ich werde nie wieder Ihr Haus betreten.« Er drückte ihr die Hand und kämpfte gegen den Impuls an, sie auf die Wange zu küssen.
Daphne ging mit schnellen Schritten auf ihr Haus zu. Bevor sie darin verschwand, warf sie noch einmal einen Blick zurück und winkte kurz. Dann nahm das hell erleuchtete Innere sie auf. Mit zitternden Knien ging Arthur heim. Zum Glück hatte er die Tür nicht hinter sich zugezogen, denn er hatte vorhin in der Eile keinen Schlüssel mitgenommen. Auch das Innere seines Hauses war hell erleuchtet, aber es wirkte keineswegs einladend. Die Tür klaffte auf wie ein Maul. Arthur blieb nichts anderes übrig, als sich verschlingen zu lassen. Obwohl er große Angst hatte, begab er sich zuerst zum Bad. Er lauschte an der geschlossenen Tür. Dahinter war alles still. Dann trat er ein. Sein Herz zerpresste sich beinahe an den Rippen. Er bekam kaum mehr Luft. Das Licht im Bad brannte noch. Sein erster Blick fiel in den Spiegel. Er sah das Gespenst eines alten Mannes. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er selbst das war. Ansonsten wirkte das Bad wie immer. Das Waschbecken allerdings war bis obenhin gefüllt, wie er feststellte, als er einen Schritt in den Raum hineinmachte. Bis zum Rand war es voll. Mit Blut.
10. Kapitel
Nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, krempelte er den Ärmel seines Hemdes hoch, griff in die rote Brühe und zog den Stöpsel aus dem Becken. Danach schrubbte er es, bis alles wieder porzellanweiß war. Es dauerte lange, und die ganze Zeit über zitterten ihm die Beine. Er versuchte, nicht zu denken. Nicht daran, was hier vorgefallen sein mochte. Nicht daran, was es bedeutete. Danach sah er fern, das ganze Nachtprogramm. Der Gedanke, schlafen zu gehen, war ihm unerträglich. Immer öfter drückte Arthur den Ton weg und lauschte, doch kaum etwas war in dem alten Haus zu hören außer einem gelegentlichen Knistern und Knacken, woran er sich bereits gewöhnt hatte. Die Ruhe liebkoste ihn und log ihm Frieden vor. Irgendwann schlief er auf dem Sofa ein. Laute Schüsse weckten ihn. Er fuhr hoch, riss die Augen auf. Der Glatzkopf Kojak raste in wilder Verfolgungsjagd durch New York. Arthur schaltete den Fernseher aus, reckte und streckte sich und stand auf. Seltsam. Hatte er nicht den Ton abgestellt, bevor er eingeschlafen war? Jeder einzelne Knochen schien zu schmerzen. Nachdem er mehrfach tief durchgeatmet hatte, ging er ins Bad. Argwöhnisch warf er einen Blick in das Waschbecken. Es war blitzsauber. Nur ein Traum. Alles nur ein Traum. Er zog sich an und ging hinunter ins Maskenzimmer. Heute vermochte ihm der Anblick der Dämonengesichter keinen Trost zu schenken. Sie alle erschienen ihm zum ersten Mal falsch, verlogen, wie Vampire, die sich an ihm festsaugten.
Ihm kam ein schmerzhafter und zugleich schöner Gedanke. Er schloss das Zimmer ab und steckte den Schlüssel ein. Es war Zeit für den Ausflug. Mit klopfendem Herzen fuhr er zu Daphnes Haus. Nun parkten schon zwei Autos auf dem verwilderten Rasen: das von Ingo und ein teurer BMW mit Bonner Kennzeichen. Vielleicht der nächste Kunde. Die Tür flog auf, noch bevor Arthur sie erreicht hatte. Da stand Daphne, in Jeans und frischer, bauschiger, wie immer tief ausgeschnittener Bluse. Im Zwielicht hinter ihr sah Arthur einen Mann, größer und breiter als Ingo. Langsam wich er in die Dunkelheit neben der Treppe zurück, bis er eins mit den Schatten geworden war. »Ein neuer Kunde, der nicht gesehen werden will?«, raunte Arthur der jungen Frau verschwörerisch zu. Sie runzelte die Stirn. »Wen meinen Sie?« »Na, den Mann da hinten neben der Treppe.« Daphne drehte sich um. »Da ist niemand.« »Und wem gehört der BMW?« »Ich freue mich so sehr auf unseren gemeinsamen Ausflug.« Er half ihr in den kleinen Nissan, und bald hatten sie das Fangenburger Tal hinter sich gelassen. Die Reise ging über Daun, die Struth hoch, durch Kelberg, und kurz vor Altenahr dirigierte Daphne ihn auf eine kleine Straße in Richtung Bad Münstereifel. Bisher hatten sie kaum miteinander geredet; jeder hatte seine Gedanken wie einen Schutzwall um sich herum aufgeschichtet. Die Straße wand sich schmal wie ein grauer Bach durch das Tal, nichts als Wald, Fels und schmaler Wiesenstreif war zu sehen. Es war gut, weit entfernt von Fangenburg zu sein. Weit entfernt von seinem Haus. Vom Spukhaus. Das Blut im Waschbecken drängte sich wieder in seine Gedanken, und er überwand sich, Daphne danach zu fragen, während er den Blick starr auf die enge Straße gerichtet hielt. Aus den
Augenwinkeln sah er, wie Daphne sich zu ihm wandte, und er spürte ihre plötzliche Anspannung. »Das Blut?«, fragte sie. »Es war halt einfach da. Aber es war bei weitem nicht das Schlimmste. Was ich in Ihrem Spiegel gesehen habe… Ich habe Ihnen geraten, auszuziehen, und ich bitte Sie jetzt noch eindringlicher darum. Darum habe ich diesen Ausflug vorgeschlagen; damit Sie Abstand von Fangenburg bekommen und Ihnen die Entscheidung leichter fällt. Es wird nicht bei diesen relativ harmlosen Phänomenen bleiben. Das Blut war nur ein Vorzeichen.« Sie lehnte sich wieder in das Polster und schwieg. Arthur wollte nicht an diese rätselhaften Dinge denken. Das gewundene, dunkle Tal beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Es war so dunkel wie seine Gedanken und Befürchtungen, so dunkel wie seine Trauer und Einsamkeit, die ihm unüberwindlicher denn je erschienen, obwohl diese bezaubernde junge Frau neben ihm saß. Er hatte sich diesen Ausflug anders vorgestellt. Endlich schlängelte sich die Straße aus dem Tal hoch. Die Waldwände wichen zurück und machten Wiesen und Weiden Platz. Daphne leitete Arthur von einer schmalen Straße auf die nächste, bis sie ihn plötzlich bat, an der Einmündung eines Feldweges kurz vor einem Bachlauf anzuhalten. »Den Rest müssen wir zu Fuß gehen«, sagte sie und lächelte ihn matt an. »Ich hoffe, Sie haben nichts gegen eine kleine Bergbesteigung einzuwenden?« Sie deutete auf die bewaldete Erhebung vor ihnen. Weit und breit war keine Burgruine zu sehen. »Ich gehe gern zu Fuß«, beeilte sich Arthur zu sagen und suchte gleichzeitig in seinen Hosentaschen herum. Er zog den Schlüssel zu seinem Allerheiligsten hervor und hielt ihn Daphne entgegen. »Aber vorher möchte ich Ihnen das hier schenken.«
Daphne betrachtete den Schlüssel aus sicherer Entfernung, als wäre er eine giftige Spinne. »Was ist das?« »Der Schlüssel zum Maskenzimmer.« »Was soll ich damit?« Es klang gereizt. »Ich habe den Raum abgeschlossen, weil ich mir vorgenommen habe, die Masken nicht mehr zu tragen. Sie haben recht, ich darf mich nicht verstecken.« Arthur stieg die Hitze in den Kopf. Die ganze Situation wirkte so – falsch. Er hatte gehofft, sie würde ihn für diese Entscheidung loben, ihn vielleicht sogar vor Freude umarmen, doch stattdessen saß sie nur da, runzelte die Stirn und starrte auf den Schlüssel. »Deshalb gehört er jetzt Ihnen. Damit mache ich Sie zur Herrin über meine Masken.« Es hatte heiter klingen sollen, aber es klang nur pathetisch und dumm. Daphne schüttelte den Kopf. »Damit müssen Sie selbst zurechtkommen.« »Bitte nehmen Sie ihn. Dann weiß ich, dass ich stark sein kann.« Guter Gott, wer gab ihm diese dämlichen Worte ein? Endlich streckte sie die Hand aus. »Also gut.« Daphne ergriff den Schlüssel und steckte ihn beiläufig in eine Tasche ihrer Jeans. Ihre Finger hatten sich berührt. Es war so – kalt gewesen. Reaktionslos. Daphne stieg mit seltsam schwerfälligen Bewegungen aus dem Wagen. Sie ging los, ohne auf ihren Begleiter zu warten. Arthur stapfte hinter ihr her, einen schmalen, überwucherten Pfad entlang, der bald steil bergan führte. Die Bäume wölbten sich über den Weg und machten ihn zu einem grünen Schacht; Farne und Ranken hatten sich in ihn verkrallt, und bald war er kaum mehr zu sehen. Daphne blieb stehen, drehte sich um und wartete auf Arthur, dem dieser Aufstieg heftiger zusetzte, als er sich eingestehen wollte.
»Es kommen nicht viele Leute hierher«, sagte sie, während sie seinen Bemühungen mit einem leichten Lächeln zusah. »Nur gelegentlich ein paar Grufties, die hier ihre dunklen Partys feiern.« Wie vom Schlag gerührt blieb Arthur stehen. »Grufties? Etwa auch zu dieser Tageszeit?« »Natürlich nicht. Wir werden allein sein. Nur wir beide. Die schwarz gewandeten Bleichlinge kommen meist am Samstagabend. Und nur bei schönem Wetter, denn sonst könnte ihr Make-up verlaufen.« Bis vorhin hatte noch die Sonne geschienen, doch jetzt zogen Wolken herbei, und auf dem grünen Hohlweg wurde es immer finsterer. Daphne ging weiter. Arthur folgte ihrer weißen Bluse, die wie ein Fleck aus Unwirklichkeit im Zwielicht vor ihm hin und her schwankte. Sie traten aus dem Wald heraus, und vor ihnen schwamm eine gewölbte Toröffnung grau in der Umfassungsmauer. Nach ein paar weiteren anstrengenden Schritten standen sie vor dem gewaltigen Wohnturm der Wensburg. Seltsamerweise sah es so aus, als wäre sie noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten bewohnt gewesen, obwohl keine Straße hier hoch führte. Durch die herausgebrochenen Fenster waren die durchlöcherten Decken und Böden zu erkennen, hier und da von Feuer geschwärzt. Bis unter das Dach konnte man schauen; der graue Himmel lugte durch die zum Teil abgedeckten Schindeln hindurch. Noch nie hatte Arthur eine so merkwürdige, beinahe bewohnt wirkende Ruine gesehen. Der Eingang war zugemauert; ein Eindringen wäre nur durch die hoch gelegenen Fensteröffnungen möglich. »Habe ich Ihnen zu viel versprochen?«, fragte Daphne und stemmte die Hände in die Hüften.
Arthur wusste nicht, was er über diesen Ort sagen sollte. Aufgegebenes, erstarrtes und doch im Geheimen weiterglimmendes Leben – das war sein Eindruck. Gemeinsam stromerten sie um die Burg herum, untersuchten die zerbröckelnden Mauern, fanden mit Ruß aufgemalte Drudenfüße, die Arthur an die Geschichte des Teufelsbündners in seinem eigenen Haus erinnerten. Unter einem knorrigen, absterbenden Apfelbaum blieb Daphne stehen und zog einen Zettel aus der Hosentasche. »Über diesen Ort gibt es ein wunderbares Gedicht mit dem Titel Wensburg; der Autor ist Jochen Arlt. Haben Sie schon einmal etwas von ihm gelesen?« Arthur schüttelte den Kopf. »Das sollten Sie aber. Ich lese es immer, wenn ich hier bin, ich kann nicht anders. Es fängt den Reiz dieses Ortes auf vollkommene Weise ein. Hören Sie zu.« Und sie las: »Gegenüber das reglose Lierstal. Oktobereinsamkeit wie im Frühjahr und Sommer, wie zwischen den Wochen 48 und 52. Drunten, im Bachlauf, zuckt eine Forelle mit Alptraum an dem purpurnen Flusskrebskadaver vorbei. Droben, im Wälderdunkel, die Burg. Nur heilige Touristen finden über zwei penetrant zuwuchernde Trampelpfade den Ort der Versehrten Gemäuer. Höchst selten Begegnungen mit ungeratenen Reitern oder andächtigen Gothic-Pilgern. Adelnde Niederlagen die vormaligen Spitzbögen der Zugangstore. Ein nie baureif erschlossener Ruinengrund rundum. Der innere Bering eine konstant havarierte Galeere. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Waidwund geschlagene Basaltquadern mit ausgekugelten
Geschichten. Mörtelschaben. Jeder Bimsstein ein eigenes Drama. Gewalktes Erdreich. Gestrüpp. Apfelbaumtorso. Gestrüpp. Kirschbaumtorso. Brennesselghetto. Falsch geliebt, richtig gehasst, ist inkognito von den schweigsamer werdenden Talschaften zu vernehmen. Auf Asche wachsen Hühnerknochen mit Grünspankronen. Daneben ein stocksteifes Papiertaschentuch. Karges Gelb dämmert aus Mauerbrüchen. Überall. Der Wohnturm innen eine niedergebrannte Geisterkammer. Voll von süßen Qualen der Erinnerung. Wo blieb das Burgfried-Wappen? Als Nachruf ebenfalls hier Schmauchspuren. Herausforderungen auch die abgepulverten Fensterhöhlen zur Hofseite und Richtung Wehrschlucht hin. Unentwegt nach Heil flehend wie Schießscharten und Pechnasen. Ohne Mucks. Ohne Regung.« Daphne faltete das ausgefranste, zerknitterte Blatt wieder zusammen. »Es ist so wahr«, flüsterte sie. Die Worte hatten ihn verzaubert. Da hatte jemand die Quintessenz dieses Ortes eingefangen. Geisterkammer. Ja, hier waren die Geister zu Hause, nicht bei ihm selbst in Fangenburg. Süße Qualen der Erinnerung. Er bezog es auf sich; es passte. Nach Heil fliehend. Eine ausgekugelte Geschichte. Alles verfolgte ihn. Auch hierher. Unentwegt nach Heil flehend. Keine Flucht zum Heil. Auch dieses Gedicht. Verfolgung. Orte, Worte. »Wollen wir hineingehen?«, riss Daphne ihn aus seinen Gedanken. »Das kann ich nicht«, wehrte Arthur ab. »Die Fenster sind zu hoch für mich.«
»Es gibt einen anderen Weg«, sagte sie und grinste ihn an. In ihrem Blick lag nun etwas, das Arthur schweißnasse Handflächen verursachte. Falsch geliebt. »Kommen Sie.« Daphne führte ihn an die Rückseite der Burg, wo ein Schutthaufen bis fast unter das tiefste Fenster reichte. Flink und geschmeidig wie eine Katze huschte Daphne hinauf und sah auf Arthur herunter. Ihre Brüste hoben und senkten sich unter ihrem heftigen Atem. Er machte sich ebenfalls an den Aufstieg, unbeholfen, keuchend. Sie beugte sich vor und reichte ihm die Hand. Sie trug wieder keinen BH. Er ergriff ihre Finger, die nicht mehr kalt waren. Sie zog ihn hoch und half ihm über die Brüstung. Nun standen sie in einem gewaltigen Raum, dessen Bodendielen zwar unversehrt, aber mit magischen Zeichen und Kreisen übersät waren. Nach oben ging der Blick durch etliche Löcher bis in den Himmel. »Willkommen im Reich der Zauberer und Hexen«, lachte Daphne, als sie seine verwunderten Blicke sah. Schwarze Kerzenstümpfe standen auf einigen Fenstersimsen, und an einem kleinen Galgen hing ein toter schwarzer Hahn, der noch nicht verwest war. »Anscheinend hat hier vor Kurzem eine Beschwörung stattgefunden«, sagte sie. »Es wäre bestimmt spannend für Sie gewesen. Oft spielt auch Sexualmagie eine wichtige Rolle dabei.« Sie trat in die Mitte eines mit Kohle auf den Boden gezeichneten schwarzen Kreises und drehte sich mit ausgebreiteten Armen einmal um sich selbst. Waidwund geschlagene Basaltquadern. Ein Donnerschlag erschütterte die Ruine. Zugleich drangen heftige Windstöße durch die Fensteröffnungen und zerrten an Daphnes Bluse. Noch immer hatte die junge Frau die Arme ausgestreckt. Ein weiterer Donnerschlag. Schwärze braute sich draußen zusammen, leckte herein, dazwischen zuckten Blitze
über das Land. Regen setzte ein. Fiel auf Daphne, die unter dem Donnern, dem Blitzen, dem milden Frühsommerregen auflachte. In ihren braunen Augen blitzte es genauso hell wie hoch oben über der Ruine. »Komm.« Sie streckte die Arme nach ihm aus. Der Regen hatte bereits ihre Bluse durchnässt; der Stoff schmiegte sich um ihren wunderbaren Busen; die aufgerichteten Brustwarzen zeichneten sich deutlich ab. »Komm!« Er trat in den Regen, der unter einem grellen Blitz wie ein Wasserfall aus Diamanten glitzerte. Daphne schloss die Arme um ihn und drehte sich langsam mit ihm, wie in einem Zeitlupentanz. Das Wasser lief ihm an Haaren und Stirn herunter, tropfte ihm über die Wangen, sammelte sich im Kragen seines Hemdes und strich mit zärtlichen Fingern über seinen Rücken. Nein, das war nicht der Regen. Das waren wirkliche Finger. Daphnes Finger. Er hatte kaum bemerkt, wie sie ihm das Hemd aus dem Bund gezogen hatten und feuchten Schmetterlingen gleich auf seiner Haut tanzten. Er blickte tief in Daphnes Augen, in die braun umrandeten Abgründe, in die seine Seele stürzte. Die schwarzen Haare klebten ihr im Gesicht. Ihre Hände fuhren hoch zu seinen Schultern. Mit erstaunlicher Kraft drückte sie ihn an sich. Und küsste ihn. Er schloss die Augen. Lauschte dem Donner des Unwetters, dem Donner im Innern seines aufgewühlten Geistes, dem Rauschen des Regens und des Blutes. Er schlang die Arme um sie. Ertastete ihre Haut durch den nassen Stoff. Drückte plötzlich und fordernd ihren Kopf gegen seine Lippen. Ihre Zunge wirbelte in seinem Mund herum. Und sie drehten sich, drehten sich…
Unvermittelt drückte sie ihn von sich fort. Er war noch ganz benommen. Bemerkte kaum den heftiger gewordenen Regen, den abziehenden Donner, das Pfeifen des Windes. Er rang nach Luft. Gewitter in seinem Kopf. Schmauchspuren. Daphne stand keuchend vor ihm, sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung, Erregung, Gier an. Dann schloss sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und trank den Regen. Ein Blitz hüllte sie in gleißendes Licht und glimmende Tropfen. Arthur konnte sich nicht beherrschen. Er stürzte auf sie zu, küsste sie erneut, sie ließ es geschehen, presste sich in seine Umarmung. Er legte die Hände auf ihren Po, und sie stöhnte leicht und leise. Seine Hände umfingen ihre Brüste. Ihr Schnurren wurde wilder. Sie biss ihm in die Lippe. Zerrte am Gürtel seiner Hose. Stieß ihn rasch von sich, riss sich die Bluse vom Leib und kniete sich vor Arthur. Der Blick auf ihren nackten Oberkörper brachte ihn beinahe um den Verstand. Seine Hose rutschte ihm über die Hüfte und sammelte sich als Stoffbündel um die Knöchel. Die Unterhose folgte. Und dann geschah das, was Arthur befürchtet hatte. Nichts. Er trat einen halben Schritt von ihr zurück, wäre beinahe über die Hosen um seine Knöchel gestolpert, und das zerriss den Zauber endgültig. Traurig sah er auf Daphne hinunter, zärtlich sah sie zu ihm hinauf. Und erhob sich. Sie machte keine Anstalten, ihren Oberkörper zu bedecken. Regentropfen perlten auf ihrer straffen Haut, rannen über Brüste und Bauch. Arthur keuchte bei diesem Anblick auf. Verzweifelt versuchte er seinem Glück nachzuhelfen, doch es brachte nichts. Daphne trat auf ihn zu, schob sanft seine Hand fort und küsste ihn, ganz anders diesmal.
»Nicht«, flüsterte sie, küsste ihn noch einmal, knabberte an seinem Ohrläppchen. Jetzt war ihre Umarmung nicht mehr fordernd, sondern zärtlich. Er wollte sich die Hosen wieder hochziehen, aber sie hielt ihn davon ab. »Steig aus ihnen raus«, sagte sie leise. Jedes einzelne Wort war wie eine Liebkosung. Er gehorchte. Sie schmiegte sich eng an ihn. Ihr Lavendelparfüm hüllte ihn ein. »Nicht schlimm. Gar nicht schlimm«, flüsterte sie durch den prasselnden Regen. »Das ist ganz normal so. Und gut.« Sie machte sich kurz von ihm los und stieg aus ihrer Hose und ihrem rosafarbenen Schlüpfer. Sie war wunderschön. Arthur hätte heulen mögen, dass er zu alt war für sie. Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, flüsterte sie ihm ins Ohr, während ihr Körper den seinen berührte: »Das passiert auch Jüngeren. Die, die beim ersten Mal sogleich bereit sind, sind laute, egoistische, schlechte Liebhaber. Und ich weiß, dass du ein guter Liebhaber bist.« »Wieso?«, hauchte er. »Das lese ich in deinen Augen. Und auf deinen Lippen. Entspann dich. Wenn es nicht geht, macht das nichts. Es ist schon mehr als schön so.« Sie war überall an ihm. Küsste ihn wieder. Er musste nicht. Musste nicht. Hier war er der Empfangende. Durfte empfangen. Durfte genießen. Er streichelte ihren festen Körper, streichelte ihre Brüste, streichelte sie zwischen den Beinen. Nun war auch sie eine Empfangende. Ihrer beider Hände gingen auf Entdeckungsreise, Blitze schossen um sie herum und tobten in ihnen. Sie legten sich auf den Boden mit den magischen Zeichen, spürten nicht die Härte der Dielen, machten nun mit den Mündern die gleichen Entdeckungsreisen wie vorhin mit den Händen, und irgendwann bemerkte Arthur, wie sich seine Männlichkeit regte.
Daphne drehte sich unter ihn, und er drang mühelos in sie ein. Erinnerungen bestürmten ihn. Das erste Mal seit zwanzig Jahren, doch viel schöner als damals, viel verzehrender. Er stieß die Erinnerungen weg. Daphne schrie unter jedem seiner Stöße auf. Arthur stützte sich auf den Händen ab. Sah, wie sie unter ihm ihre Brüste knetete. Wie sie zitterte vor Verlangen. Wie ihr Kopf hin und her ruckte. Wie sie den Höhepunkt erreichte. Er stieß immer wilder, immer härter. Dann konnte auch er sich nicht mehr zurückhalten. Der Regen kühlte sie ab, als sie nebeneinander lagen. Arthur und Daphne waren völlig durchnässt, vom Regen und vom Schweiß. Sie streichelten sich. Sagten nichts. Jedes Wort hätte den Zauber zerrissen. Der Regen hörte auf. Erst sehr viel später, als ihre Kleidung schon beinahe wieder trocken war, erhob sich Daphne und sagte leise: »Du wirst nie wieder eine Maske brauchen, Arthur Dreyer.« Sie zogen sich an. Erst jetzt fiel Arthurs Blick wieder auf den toten Hahn. Was für ein Ort! Er wollte etwas sagen, schluckte es aber herunter. Arm in Arm stiegen sie ins Lierstal hinunter. Vor dem Auto küssten sie sich so heftig, dass ein vorbeifahrender Wagen laut hupte. »Ich will noch nicht zurück nach Fangenburg«, sagte Daphne. Es war später Mittag, und so fuhren sie nach Bad Münstereifel und aßen dort. Immer wieder sahen sie sich an, lächelten sich an, fassten sich unter dem Tisch verstohlen an. Nach dem Essen fuhren sie zurück, über Kelberg und Daun. Dort machten sie einen kleinen Bummel, und im Café Schuler lud Arthur sie zum Eis ein. Die Bedienung – dieselbe, die ihm letzte Woche nach seinem Kölner Abenteuer den Kühlbeutel
gebracht hatte – lächelte das frische Paar an und servierte ihnen zwei besonders üppige Eisbecher. Doch nicht jedermann war so freundlich zu ihnen. Ein altes, verbiestert aussehendes Paar an einem der Nachbartische steckte die Köpfe zusammen, warf giftige Blicke herüber und tuschelte. »Die sind doch nur neidisch«, kicherte Daphne gerade so laut, dass die beiden es gehört haben mussten. Empört verlangten sie die Rechnung und verließen das Café, nicht ohne noch einmal den Kopf über das ungleiche Paar zu schütteln. Auch als sie später noch ein wenig durch Daun bummelten, die steile Hauptstraße hinunter, vorbei an den Geschäften und Restaurants, bemerkte Arthur immer wieder böse Blicke. Später, auf der Rückfahrt, hielten sie irgendwo hinter Seinsfeld an, legten sich an den Waldrand, schmiegten sich eng aneinander, krochen in die Schatten der Bäume, bis sie von der Straße aus nicht mehr zu sehen waren. Arthur spürte, wie er wieder erregt wurde, doch Daphne verlangte es nur nach Zärtlichkeit. Allmählich brach die Dämmerung herein. »Mit gefällt der Gedanke nicht, dass du gleich in dieses Haus zurückgehst«, sagte Daphne in seinen Armen und sah ihn flehend an. »Mir passiert schon nichts«, versicherte Arthur ihr. Er fühlte sich unverwundbar. »Schließlich ist noch gar nichts vorgefallen, obwohl jedermann andauernd über mein armes, kleines Haus redet.« »Und was ist mit gestern Abend? War das etwa nichts?« »Das Blut? Dafür gibt es bestimmt eine natürliche Erklärung. Vielleicht haben die Wasserwerke…« »Du weißt, dass du gerade Unsinn redest«, schnitt sie ihm das Wort ab und beugte sich über ihn. Am liebsten wäre er in die
Seen ihrer Augen getaucht. Sie fuhr fort: »Ich will nicht, dass du die Nacht allein in diesem Haus verbringst.« »Das können wir ändern.« Er küsste sie. »Bleib einfach bei mir.« Sie machte sich von ihm los. »Ich habe dir schon gesagt, dass ich dieses Haus nie mehr betreten werde.« »Aber vorhin bist du in die Wensburg eingedrungen, obwohl da ein toter schwarzer Hahn gehangen hat und magische Zeichen auf dem Boden gewesen sind.« »Um den Hahn tut es mir leid, aber grundsätzlich war das alles Kinderkram. Bei deinem Haus ist es anders. Das Böse tritt meist nicht spektakulär auf. Oft will man gar nicht glauben, dass es überhaupt da ist.« »Dann verbringe ich die Nacht halt bei dir.« Daphne drehte sich von ihm fort. »Das geht nicht. Ingo ist noch da. Ich weiß nicht, wann er endlich wieder auszieht, und ich kann ihn nicht einfach auf die Straße setzen. Ich befürchte, ihr beiden passt nicht gut zusammen.« »Ist… war er dein Freund?« Statt einer Antwort rollte sie wieder zu ihm herüber und küsste ihn so heftig, dass ihm die Luft wegblieb. »Reicht das als Antwort?« Arthur nickte hilflos. »Komm, lass uns nach Fangenburg fahren. Ich habe heute Abend noch eine Kundin, eine Frau aus Trier, die unbedingt mit ihrem verstorbenen Kater sprechen will.« Sie kicherte und stand auf. »Du glaubst doch nicht wirklich an so etwas?«, fragte Arthur misstrauisch, während sie zum Wagen gingen. »An jenseitige, geschwätzige Kater? Wohl kaum. Aber sie wird für ihr Geld eine gute Show geboten bekommen und glücklich von dannen ziehen.« Plötzlich blieb sie stehen. Als Arthur sich nach ihr umdrehte, sah sie ihn ernst an. »Aber das
heißt nicht, dass ich überhaupt nicht an das Übersinnliche glaube. Und dass ich es nicht spüren kann.« Schweigend fuhren sie nach Fangenburg zurück. Arthur hielt vor Daphnes Haus und stellte verärgert fest, dass der BMW mit dem Bonner Kennzeichen noch immer da war. Er schluckte die Frage nach dem schattenhaften Mann, den Daphne heute Morgen verleugnet hatte, herunter und küsste sie zum Abschied. »Sehen wir uns wieder?«, fragte er. »Das will ich hoffen«, antwortete sie, während sie ausstieg. »Du solltest dir für heute Nacht ein Hotelzimmer nehmen. Morgen sehen wir weiter. Geh nicht in dein Haus zurück.« Geisterkammer.
11. Kapitel
Natürlich hatte er nicht auf Daphne gehört. Er hatte sich so stark gefühlt, dass er es mit einer ganzen Legion von Gespenstern und Poltergeistern aufnehmen konnte. Soeben hatte er den glücklichsten Tag seines Lebens genossen. Und daher war er nach Hause gegangen, eingehüllt in Wolken, getragen von schmeichelnden Wogen, liebkost von kühlem Staub der Straße und von nie mehr erlöschendem Feuer versengt. Mitten in der Nacht stand er auf. Er schwitzte, und ihm war eiskalt. Irgendwo im Haus hatte er etwas gehört. Er hatte wirr geträumt, von Liebe, mit Daphne, und plötzlich war sie zwei Frauen gewesen. Der Donner des Gewitters hatte ihn geweckt, doch als er mit feuchten, zitternden Fingern die Vorhänge im Schlafzimmer einen Spaltbreit auseinanderschob, sah er im gelben Laternenschein, dass es draußen vollkommen trocken war. Es war kein Donner gewesen, sondern etwas anderes. Da war es wieder. Es kam von unten. Noch benommen vom Schlaf stieg Arthur die Treppe hinunter, hielt sich dabei wie ein alter Mann am Geländer fest, betrat das Wohnzimmer. Ein Pochen ließ ihn zusammenzucken. Er vermochte nicht zu sagen, woher es kam; es schien ihm fast, als sei es überall und nirgends, wie in einer anderen Dimension. Er sackte auf das Sofa und versuchte seine bebenden Glieder zu beruhigen. Vor seinen Augen waberte etwas Weißliches wie Nebel. Zuerst bemerkte er es kaum, doch je länger er es anstarrte, desto fester wurde es. Bald glaubte er ein Gesicht darin zu erkennen.
»Mutter?«, flüsterte er gebannt. Er stützte den Kopf in die Hände, spürte das Fieber. Nur ein Fiebertraum. »Was hast du getan?« Die Stimme kam nicht aus dem Zimmer, sondern war in ihm selbst. »Wie konntest du nur etwas so Schmutziges, Schreckliches tun?« »Ich verstehe dich nicht«, keuchte Arthur. »Du hast mich nie verstanden, auch damals nicht, bei der Sache mit Inge. Und mit Renate. Ich wollte immer nur dein Bestes.« »Das weiß ich, Mutter.« »Nein, das weißt du nicht, denn sonst hättest du dich nicht mit dieser Hure abgegeben.« »Sag nicht so etwas! Daphne ist die wunderbarste Frau, die ich je getroffen habe.« Ein Kichern war zu hören. In seinem Fieberwahn konnte Arthur nicht sagen, ob es in ihm war, ob es von seiner Mutter oder sogar von ihm selbst kam. Plötzlich war der wabernde Nebel verschwunden. Er hatte sich nicht allmählich aufgelöst, sondern es war, als hätte ihn jemand einfach ausgeschaltet. In Arthurs Kopf hallte die Stimme seiner Mutter nach: Hure… Hure… Hure… Er legte sich auf das Sofa und schlief ein. Am nächsten Morgen wusste Arthur nicht mehr, was Traum, was Fieberfantasie und was Wirklichkeit gewesen war. Er wusste nur, dass er sich vom Liebesspiel im Regen eine handfeste Grippe geholt hatte. Er war zu alt für solche Sachen. Zu alt für Daphne. Nein! Niemals! Er war nicht zu alt. Das hatte er ihr – und sich selbst – gestern bewiesen. Er erinnerte sich an Daphnes Holundersirup. Vielleicht wirkte er auch gegen Erkältungen. Arthur mischte sich ein Glas mit Wasser an und trank es. Dann legte er sich auf das Sofa. Schwitzte. Ließ die Vorhänge zugezogen. Trieb in einen
unruhigen Schlummer, kam wieder daraus hervor, hinein, hinaus… Einmal hörte er draußen auf dem Treppenabsatz das Telefon schellen, er sah einen kleinen Poltergeist oder Kobold den Hörer abnehmen und hörte ihn in die Muschel kichern. Auch er selbst kicherte. Und träumte, er risse sich die Maske vom Gesicht. Tanzte im Schlaf durch den Regen. Schlief tanzend zwischen Blitzen im Donnerhaus. Sprach im mittäglichen Dunkel mit dem Geist seiner Mutter. Träumte von Dämonenmasken, die sich ihm gegen das Gesicht pressten, so eng, dass sie in die Haut schnitten, dass sie sich in die Haut fraßen, dass sie schließlich sein Gesicht ersetzten. Irgendwann rollte er vom Sofa auf den Boden, blieb dort liegen, und etwas blitzte ihn an. Aus dem Schrank im Esszimmer. Unter Mühen und mit Schmerzen robbte er sich dorthin. Es war nur ein Widerschein; oben auf der Burg tanzte ein grelles Irrlicht. Arthur mühte sich auf die Beine und tanzte mit ihm. Stieß gegen einen der Stühle, die um den Esstisch hockten wie lauernde Seelenfänger. Traumfänger. Dunkelheit. Tag und Nacht? Hinter dem Küchenfenster und der Terrassentür lag die Spiegelwelt. Arthur rieb sich das schmerzende Bein, humpelte auf die Spiegelwelt zu. Dahinter, in einer anderen Dimension, ahnte er einen schwarzen Berg, eine schwarze Burg. Er legte die Hände gegen das Fensterglas. Sah sein Gesicht. Sein zerkratztes Gesicht. Sein Maskengesicht. Brach vor der Scheibe zusammen. Heulte auf dem Boden. Zitterbeben. »Das geschieht dir recht, du Hurenbock!« Wer hatte da gesprochen? Draußen, vor dem Fenster, auf der Terrasse, stand jemand. Er lächelte. Sie lächelte. War das seine Mutter? Die Person hob die Hand. Sie hielt etwas darin. Es war ein Stab. Sie zerbrach ihn. Dann zog sie eine schreckliche Grimasse. Arthur hielt sich
die Augen zu und wimmerte. Als er wieder nach draußen blinzelte, war sie weg. Kirchenglocken. Unendlich tief, Haus, Gedanken und Seele erschütternd. Dann kleinere Glocken, schriller, am Körper abperlend, noch schriller, kreischend… Arthur rieb sich die Augen. Durch Fenster und Glastür der Küche drang fahles Regenwetterlicht. Er rollte sich auf den Rücken. Bei jeder Bewegung durchzuckten ihn Schmerzen. Er fror und schwitzte immer noch. Das Geräusch war nicht verschwunden. Erst allmählich begriff er, dass es keine Kirchenglocke, sondern die Klingel war. Es kostete ihn ungeheure Anstrengung. Wieder rasselte die Klingel. Er fühlte sich mehr tot als lebendig. Taumelte die Treppe hinunter, rang auf jeder Stufe nach Luft. Endlich hatte er die Haustür erreicht. Draußen stand Daphne, regendurchnässt, wie gestern – gestern? Wann? »O Gott, was ist mit dir los, Arthur?«, stöhnte sie, als sie ihn sah. Er hielt sich zuerst am Türrahmen fest, dann stützte er sich schwer auf Daphne. Sie brachte ihn nach oben, ins Wohnzimmer. »Ich dachte, du… wolltest nicht mehr… herkommen«, ächzte er, während sie ihn auf das Sofa legte und die Vorhänge beiseitezog. Dann kniete sie sich neben ihn und streichelte ihm über die nasse Stirn. »Ich habe immer wieder versucht, bei dir anzurufen«, sagte sie. »Ja, ja, nur der Poltergeist ist drangegangen«, kicherte Arthur wirr. Sie sah ihn verständnislos an. »Was hast du nur mit deinem Gesicht gemacht?« Er zuckte die Achseln; er wusste es nicht. »Du hast hohes Fieber. Hast du irgendwas dagegen im Haus?«
Er schüttelte den Kopf und ergriff ihre Hand. »Ich liebe dich.« Daphne lächelte; es wirkte beinahe gequält. Sie stand auf. »Zu Hause habe ich ein paar Arzneimittel. Ich hole sie schnell.« Er sah ihr nach, wie sie das Zimmer verließ, und hörte ihre Schritte auf der Treppe. Das Zuschlagen der Haustür hörte er nicht mehr, da war er schon wieder eingeschlafen. Die Klingel weckte ihn. Es wiederholte sich der Ablauf von vorhin so genau, dass Arthur ein regelrechtes Déjà-vu-Erlebnis hatte. Natürlich war es Daphne, die draußen vor der Tür stand. Sie schwenkte ein Päckchen Tabletten. »Die Rettung ist da«, sagte sie. In diesem Augenblick ging jemand an Arthurs Haus vorbei; er sah nur den roten Heiligenschein und den kahlen Kopf – und die weit aufgerissenen Augen. »Mein Gott!«, rief Benzedron aus und blieb stehen. Daphne drehte sich zu ihm um. »Hallo, Schröder«, sagte sie mit ätzendem Spott in der Stimme. »Geh zu deinen Avataren oder zum Teufel, aber lass uns allein.« Mit Erstaunen bemerkte Arthur, dass der Künstler ihr gehorchte. Als er weg war, wandte sich Daphne wieder ihrem Geliebten zu. »Leg dich hin. Das hier wird dir guttun.« Er kletterte mit Mühe die Wendeltreppe ganz hinauf und kroch in sein Bett. Daphne holte ihm ein Glas Wasser und gab ihm gleich zwei Tabletten. Widerspruchslos schluckte er sie und dämmerte hinweg in eine seltsame Welt des Zwielichts. Arthur wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Sein Leben schien nur noch aus Schlafen, aus wirren Gedanken und seltsamen Visionen zu bestehen. Und aus Daphne. Sie hatte sich einen Stuhl aus dem Esszimmer geholt und saß neben seinem Bett, den Kopf auf der Brust. Sie atmete tief und
schlief fest. Arthur fühlte sich inzwischen viel besser. Es rührte ihn, dass sie bei ihm geblieben war, obwohl sie sich vor diesem Spukhaus fürchtete. Es packte ihn eine solche Liebe zu ihr, dass er aus dem Bett sprang und sie in die Arme nahm. Sie schrie auf, starrte ihn entsetzt an. Drückte ihn von sich. »Was ist los?«, fragte er verdutzt. Sie schüttelte den Kopf und atmete auf. »Entschuldige. Ich… ich hatte geträumt. Im Traum habe ich gesehen, wie du dir das Gesicht abgerissen hast. Es war schrecklich. Und dann sind überall Dinge herumgeflogen. Jemand hat geschrien, als litte er Höllenqualen.« Sie war blass geworden. »Arthur, du solltest mit mir kommen. Hier kannst du nicht gesund werden.« »Wohnt dieser Ingo noch bei dir?« »Ja, aber das hier ist ein Notfall. Ich glaube, ich habe genug Platz für euch beide.« »Nein, das kommt nicht in Frage. Ich habe mir nur eine schlimme Erkältung eingefangen, das ist alles. Es geht mir gut hier. Ich bin bald wieder auf dem Damm.« »Du darfst hier nicht bleiben. Dieser Ort hat nicht nur eine schlechte Aura, er ist auch gefährlich für dich. Sehr gefährlich.« Arthur kniete sich vor sie und legte den Kopf in ihren Schoß. »Es ist rührend von dir, dass du dir solche Sorgen um mich machst«, sagte er in den Stoff ihrer Jeans hinein, »aber ich glaube nicht an deinen Spuk. Das hier ist ein ganz normales Haus.« »Hast du das Blut im Waschbecken schon vergessen? Woher kommen die Kratzer in deinem Gesicht?« »Und ich habe eine ganz normale Erkältung. Sobald ich wieder gesund bin, machen wir da weiter, wo wir aufgehört haben.« Er hob den Kopf und sah sie an. Sie beugte sich zu ihm vor, schloss die Augen, erwartete seinen Kuss. »Du darfst dich nicht anstecken«, wandte er ein.
»Ich komme morgen wieder«, versprach sie. Und sie kam. Sie hatte sogar für ihn gekocht – Hühnersuppe – und wärmte in seiner Küche eine Portion für ihn. Er war so dankbar für ihre Fürsorge, und die Suppe schmeckte ihm ausgezeichnet. Nach dem Essen saßen sie eine Weile zusammen, eng aneinandergeschmiegt, sein Kopf lag an ihrer Schulter. Er spürte, wie allmählich die Kräfte zurückkehrten. Doch es würde noch ein paar Tage dauern, bis sie ihre Liebe wieder richtig feiern konnten. Daphne hatte Salbe dabei, mit der sie Arthurs dünne Kratzer im Gesicht behandelte. Sie drückte ihm Schmetterlingsküsse auf die Lider, war verschwunden. Er blinzelte, erhob sich von der Couch, auf der er offenbar eingeschlafen war, und suchte Daphne. Ihren Lavendelduft roch er noch überall im Haus. Er wollte auch im Maskenzimmer nachsehen, doch die Tür war verschlossen. Verschwommen erinnerte er sich daran, dass er Daphne den Schlüssel zu diesem Raum gegeben hatte. Warum bloß? Er begriff sich selbst nicht mehr. Langsam sank er am Rahmen hinunter, kauerte sich auf den Boden – und spürte, wie ein kalter Luftzug unter der Zimmertür hindurch in den Flur wehte. Die Kälte durchschlug ihn wie Gewehrfeuer. Hatte er etwa vergessen, das Fenster im Maskenraum zu schließen? Er war so erschöpft, dass er nicht die Kraft hatte, draußen nachzuschauen. Aber er musste es unbedingt tun. Er schleppte sich zur Haustür, zog sich an ihr hoch, öffnete sie mit unsicheren, schlaffen Fingern und trat nach draußen. Wenigstens regnete es nicht. Er tastete sich an der Hauswand entlang bis zum Beginn der Treppe und sah mit großer Erleichterung, dass das Fenster des Maskenzimmers geschlossen war. Es waren sogar die Vorhänge zugezogen. Dann hörte er, wie neben ihm die Haustür ins Schloss fiel. Er
machte eine hastige Bewegung nach links, doch es war zu spät. Und er hatte keinen Schlüssel dabei. Verzweiflung schüttelte ihn durch. Er wollte unbedingt wieder ins Bett, war todmüde, und ihm war heiß. Das Fieber war noch immer nicht abgeklungen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ausgesperrt! Er rutschte die wenigen Stufen zur Straße auf dem Hosenboden hinunter; es war ihm egal, ob ihn jemand dabei beobachtete. Dann richtete er sich auf, schwankte wie eine Flamme im Luftzug. Daphne! Er musste es irgendwie bis zu ihr schaffen. Sie würde wissen, was zu tun war. So wie es auch seine Mutter immer gewusst hatte. Er torkelte die Burgstraße hinunter, und am Kirchplatz verlor er das Gleichgewicht. Er fiel hin, schlug mit dem Kopf irgendwo an. »Abscheulich! Sieh dir das nur an, Lisbeth!« Er kannte die Stimme irgendwoher. »Am helllichten Tag sturzbesoffen. Und so verwahrlost. So dreckig und unrasiert. Bestimmt schläft er in seinen Kleidern. Komm, schnell weg hier!« Trippelnde Schritte entfernten sich. Wie in Köln. Überall gleich. Keine alte Heimat, keine neue Heimat. Etwas Feuchtes rann ihm über die Wangen zum Mund. Es schmeckte nach Eisen. Weiter! Er rappelte sich auf und taumelte durch die menschenleeren Straßen, die sich wie müde, satte Schlangen wanden, und die Häuser beugten sich zu ihm herunter. Die Fensteraugen starrten ihn böse an, und die Türmünder tuschelten: »Seht nur, das ist der Verrückte, der in dem Spukhaus lebt… er ist verliebt, obwohl es ihm verboten ist… er wird es nicht mehr lange machen… es hat schon angefangen…« Arthur spürte, wie die wenige Kraft, die er wieder gesammelt hatte, aus ihm abfloss. Der Weg zu Daphne wurde weiter und weiter. Immer wenn er sich an einer Wand festhalten wollte, wich diese zurück. Und wenn er einen Schritt nach vorn getan
hatte, führte ihn der nächste nach hinten. Es war, als liefe er in einer Schleife, wie ein Hamster im Rad. Ihm ging die Luft aus. Die Wunde am Kopf schien nicht mehr zu bluten, aber sie pochte gewaltig. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die Straße machte einen Sprung, und plötzlich hatte er den Ort hinter sich gelassen. Ihm war so schwindlig. Dort hinten, inmitten der Wildnis, kauerte Daphnes Haus. Lag auf der Seite wie eine Katze, die sich den Bauch kraulen lassen will. Steil bergan schritt er auf der Straße. Stieß die Luft in kleinen Schreien aus. Stolperte durch den Wildwuchs, glaubte im hohen Gras groteske Wesen forthuschen zu sehen. Wesen mit Köpfen dort, wo sie keine Köpfe haben sollten. Und die bunten Kugeln auf den Pfählen hatten Gesichter, und ihre grässlich verzerrten Münder lachten ihn aus. Das Haus richtete sich auf, wölbte sich ihm entgegen und schluckte ihn mit einer raschen Bewegung. Er hörte, wie die Traumfänger heulten. Das Geheul tropfte an den Außenwänden herab und strömte ins Haus, in dem es sich zu klebrigen Netzen verdichtete, spinnwebengleich. Er schlingerte in das erste Zimmer zur Rechten, in dem die Farben der Wandbehänge, der Pflanzen, des Teppichs ein schrilles Lied sangen. Dort auf dem Rattansofa, das nicht mehr aus Rohr, sondern aus gelblichen Knochen bestand, lagen ein Mann und eine Frau. Der Mann hielt die Frau umfasst, hatte eine Hand auf ihre Brust gelegt, und ihre Münder stülpten sich übereinander. Den Mann kannte er nicht, wohl aber die Frau. Es war seine Mutter. Mit einem kurzen Röcheln brach er zusammen.
12. Kapitel
Wie er in das Bett gekommen war, wusste Arthur nicht mehr. Er wusste nur, dass es nicht sein eigenes Bett war. Obwohl etwas Warmes auf seinem Bauch lag, fror er. Er tastete danach. Es war eine Wärmflasche. Jemand kümmerte sich um ihn. Er verlor wieder das Bewusstsein. Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, sah er Daphne neben seinem Bett sitzen. Sie bemerkte, dass er erwacht war, und schob ihm ein Thermometer in den Mund. Es dauerte lange, bis das Gerät ein elektronisches Piepsen ausstieß. »Neununddreißig Grad. Das ist zwar schon etwas besser als gestern, aber noch lange nicht gut. Arthur, du machst mir Sorgen. Der Arzt ist der Meinung, dass es sich nicht nur um eine Grippe, sondern auch um die Auswirkungen eines Nervenzusammenbruchs handelt.« »Der Arzt?« »Ich habe ihn gestern geholt, als ich nicht mehr weiterwusste. Er hat freundlicherweise einige Mittelchen dagelassen.« Sie drehte sich zu einem kleinen Tisch neben dem Bett, löste eine Brausetablette in einem Glas Wasser auf und reichte es ihm. Er hatte schrecklichen Durst und trank es mit einem Zug leer. »Du hast ausgesehen wie der wandelnde Tod, als du vorgestern Abend hergekommen bist«, fuhr sie fort, nachdem sie ihm das Glas aus der Hand genommen und es zurück auf den Tisch gestellt hatte. »Als du mich und Alexander auf der Couch sitzen gesehen hast, bist du zusammengebrochen und hast immer wieder nach deiner Mutter gerufen. Da haben wir dich in dieses Bett hier gelegt.«
Wir? Der fremde Kerl hatte ihn angefasst? War dieser Alexander der Mann, mit dem er seine Mutter… mit dem er Daphne…? »Ihr habt euch geküsst«, flüsterte er. »Nein, das haben wir nicht. Du warst im Fieberwahn. Du hast mich mit deiner Mutter verwechselt.« Sie schenkte ihm ein Lächeln, das sein Fieber sofort wieder nach oben trieb. »Du hast Gespenster gesehen.« »Ich will zurück nach Hause.« »Das hat der Arzt strikt verboten. Du musst erst einmal hierbleiben.« »Und Ingo? Und dieser Alexander?« »Was ist mit ihnen?« »Ich will nicht bleiben, solange sie in deinem Haus leben.« »Tagsüber sind sie nicht da, und ich verspreche dir, dass du von ihnen weder gestört noch belästigt werden wirst.« »Aber ich will nicht…« »Unter meinem Dach hast du das zu wollen, was ich will«, sagte sie streng. »Und ich will, dass du bald wieder gesund bist. Dazu musst du dich ausruhen. Und zwar hier.« Sie ließ ihn allein. Das alles konnte nur ein verrückter Traum sein. Mit diesem Gedanken dämmerte er wieder fort. Und schlief traumlos und erwachte erfrischt. Noch war es hell draußen; durch das Fenster sah er in der Ferne den bewaldeten Bergwall, aus dem bereits die Abendschatten krochen, und darüber den samtblauen Himmel. Wie weit der Blick hier ging! So anders als in seinem eigenen Haus, wo er den Berghang als drückend und bedrängend empfand und wo die Dächer des Dorfes wie brütende, steingewordene Gedanken vor dem Fenster hockten. Er wünschte sich, immer hier wohnen zu können, kein anderes Haus sehen zu müssen, nur Wiesen, Wälder, Himmel. Keine Menschen. Außer Daphne. Seine Lider wurden wieder schwerer…
Beim nächsten Erwachen war alles still, alles dunkel. Zuerst wusste Arthur nicht, was ihn geweckt hatte. Er fühlte sich noch immer leicht fiebrig, aber schon viel kräftiger. Umrisse schälten sich aus der Schwärze – als seien es bloß Gedanken von Gegenständen. Einer dieser Schemen bewegte sich. Es raschelte, als er wuchs und wieder schrumpfte. Der Umriss kam auf Arthur zu. Er roch Daphnes Lavendelduft. Sein Bettlaken wurde zurückgezogen, und am leichten Luftzug, der über seine Haut leckte, erkannte er, dass er nackt war. Der Schatten hockte sich rittlings auf seine Lenden. Hatte Erfolg. Mit einem Seufzer ließ sich der Schatten auf seinem erregten Geschlecht nieder und ritt ihn. Arthur trieb auf ein schwarzes Meer der Wollust hinaus. Nachdem er zum Höhepunkt gekommen war, rutschte der Schatten von ihm herunter, breitete die Decke über ihn und verließ das Zimmer. Arthur war so erschöpft und entspannt, dass er sofort wieder einschlief. Am nächsten Morgen küsste Daphne ihn wach. Er lächelte sie dankbar an, als ihr Gesicht über ihm schwebte – fürsorglich, bemutternd, liebevoll. Er reckte sich wohlig, umarmte sie. Lange blieben sie umeinander geschlungen, dann machte sich Daphne sanft von ihm los, holte einen kleinen Schlüsselbund aus der Tasche ihrer Jeans und legte ihn auf Arthurs nackten Bauch. Unter der Berührung mit dem kalten Metall zuckte er zusammen. »Ich habe den Schlüsseldienst kommen lassen. Dein Bund lag neben dem Telefon«, erklärte Daphne. »Jetzt kannst du jederzeit nach Hause gehen, wenn du willst. Ich glaube, du bist wieder stark genug dazu.« Nach dem Erlebnis der letzten Nacht? Plötzlich waren Arthur die beiden anderen Männer egal. So sehr er sich gestern noch nach seinem Haus gesehnt hatte, so wenig reizte es ihn nun. Er wollte in Daphnes Nähe sein. »Ich habe Hunger«, sagte er nur.
»Komm in einer Stunde zum Mittagessen herunter.« Sie gab ihm noch einen Kuss und ging. Er schaute ihren wiegenden Hüften nach und fühlte sich lebendig. Das Fieber war abgeklungen, und der seltsame Nebel in seinem Kopf hatte sich vollständig gelichtet. Wie wäre es wohl, wenn er bei Daphne einzöge? Ein Zimmer würde ihm vollauf genügen. All die alten Möbel würde er weggeben, nur seine Masken wollte er behalten. Arthur seufzte, als er an seine prachtvolle Sammlung dachte. Daphne mochte die Masken nicht. Nun ja, vielleicht würde er sie ihr zuliebe ebenfalls verkaufen. Vielleicht brauchte er sie ja gar nicht mehr. Nach einer Stunde stand er auf, zog sich an und ging nach unten. Der Duft von Gebratenem durchzog das Haus und ließ Arthur das Wasser im Munde zusammenlaufen. Den Gürtel seiner Hose hatte er ein Loch enger schnallen müssen, und sein Hemd hing ihm locker um die Schultern. Er kratzte sich am Kinn und bemerkte die Bartstoppeln. Bestimmt bot er ein schreckliches Bild. Auf seinem Hemd bemerkte er ein paar Blutflecken und erinnerte sich dunkel daran, dass er auf dem Weg hierher gestürzt war. Doch nun hatte der Albtraum ein Ende. Als er in die Küche kam, waren die anderen schon da. Ingo sah ihn mit einem schmierigen Grinsen an, und der andere – derjenige, den er mit Daphne… mit seiner Mutter… Arthur rieb sich die Schläfe. Jedenfalls sah ihn der andere erst gar nicht an; er war bereits mit seinem Steak beschäftigt. Hatte Daphne nicht gesagt, er wäre ein Kunde? Das wirkte aber gar nicht so. Während er hastig aß, schaute Arthur immer wieder zu Daphne hinüber. Sie aber beachtete ihn nicht. »Na, gut geschlafen?«, meinte Ingo und griente ihn an. »Mutter Daphne scheint dich ja wieder nett aufgepäppelt zu haben. Willkommen im Club.«
Arthur sah ihn verständnislos an und kaute mechanisch weiter. »Du bleibst doch jetzt auch hier, wo die Buhlteufelin Daphne dich in ihre Fänge bekommen hat, oder?« »Ingo, halt den Mund!« Daphnes Stimme klang so scharf wie ein Steinschneider. Ingo stach daraufhin in sein Steak, als müsste er es noch töten. Der andere Mann – Alexander – aß schweigend und unbeteiligt. Als er fertig war, legte er Messer und Gabel vorsichtig, ja beinahe zärtlich auf den Teller und faltete die Hände vor dem leicht gewölbten Bauch. Er mochte etwa zehn Jahre jünger als Arthur sein, hatte schwarze, glatte Haare, eine fein geschwungene Nase und blassgraue Augen. Nicht alt, nicht jung, nicht hässlich, nicht schön – er war jemand, den man auf der Straße beinahe übersehen hätte, wenn da nicht etwas Bewusstes, Sicheres und Überlegenes in seiner Haltung und seinen Gebärden gewesen wäre, das auf verborgene Kräfte schließen ließ. Und auf verborgene Abgründe. Er richtete den Blick auf Arthur und sagte: »Daphne hat mir von dem Spuk erzählt. Wann gehen Sie in Ihr Haus zurück?« Er hustete, als hätte er sich verschluckt. Es wurde immer schlimmer. Er schüttelte den Kopf, der plötzlich rot anlief. Daphne sprang auf, hielt Alexanders Haupt mit beiden Händen fest und presste ihre Lippen auf seinen Mund. Alexander riss die Augen auf, schloss sie wieder, seine Zuckungen ließen nach. Daphne löste ihre Lippen von seinen und fuhr sich kurz mit der Zunge darüber, als hätte sie etwas außerordentlich Schmackhaftes gekostet. Alexander hing nun wie ausgesaugt auf seinem Stuhl, seine Arme baumelten herab. »Es wird ihm gleich besser gehen«, sagte Daphne zu Arthur. »Er ist… krank.«
»Mutter Daphne schart die Kranken und Besessenen um sich«, höhnte Ingo. »Und du, alter Mann, bist der Bemitleidenswerteste von uns allen.« »Wenn du nicht gleich still bist…«, zischte Daphne. »Was dann? Willst du mir dann deine Liebe entziehen? Du brauchst mich doch mehr als ich dich.« »Täusche dich da mal nicht«, gab Daphne zurück. Sie stand auf, stellte sich vor Arthur und küsste ihn so heftig, dass hinter seinen geschlossenen Augen eine ganze Milchstraße explodierte. Doch vor den anderen beiden Männern war es ihm peinlich. Er machte sich von ihr frei, floh aus der Küche, lief nach oben, holte seinen Schlüsselbund und hastete zur Tür. Daphne wollte ihn aufhalten. »Lass mich!«, rief er, und sie gehorchte ihm. Er stürmte durch den verwilderten Vorgarten, der ihm nun wie ein Paradies der Verwesung erschien. Erst als er vor seinem Haus stand, atmete er auf. Nichts wünschte er sich sehnlicher als ein heißes Bad und frische Kleidung. Aber dazu sollte es nicht kommen. »Das ist ja unglaublich!«, hörte er eine Stimme rufen. Benzedron alias Franz Schröder stand etwas weiter oben auf der Straße und starrte ihn an. »Das muss ich malen! Das ist Avatar Nummer vierunddreißig. Mann, Sie werden berühmt! Sie sind der aus der Hölle Erstandene. Kommen Sie! So kommen Sie doch endlich!« Er winkte Arthur heran. »Ich bin müde. Ich will mich waschen.« »Kommt gar nicht in Frage! Sie dürfen sich das nicht alles abwaschen. Das wäre Verrat an der Kunst.« Er lief auf Arthur zu, als wollte er ihn sich zur Beute machen. Benzedron zerrte ihn nach nebenan. »Das ist eine großartige Gelegenheit, Ihnen mein Atelier zu zeigen.« Arthur war erstaunt, dass Benzedron ihn am Haus vorbei zu einem zweiflügeligen Tor drängte, das im rückwärtigen Teil
des Grundstücks in die steile Bergflanke eingelassen war. Benzedron zog den rechten Flügel auf. »Ich schließe nie ab, denn die Leute im Dorf haben so viel Angst und Abscheu vor meiner Arbeit, dass sie nie auf den Gedanken kämen, etwas zu stehlen«, schmunzelte er. Schon stand Arthur im Dunklen. Ein Klacken ertönte, und eine trübe, vergitterte Deckenlampe sprang an. Sie befanden sich in einer Höhle, deren hinteres Ende in Finsternis verdämmerte. Vorn, unter der Lampe, wartete eine Staffelei mit einem verhangenen Bild darauf; ein Stuhl leistete ihr Gesellschaft. »Ich male immer nur nach dem Leben«, sagte Benzedron und deutete auf den Stuhl. »Bitte setzen Sie sich.« Es war kühl hier, aber nicht feucht. Arthur ließ sich schwer auf den Stuhl fallen. »Ich war bisher der Meinung, dass ein Maler gutes Licht für seine Arbeit braucht«, sagte er müde. »Mir ist die Stimmung wichtiger. Hier im Berg habe ich immer den Eindruck, aus der Tiefe der Schwärze da hinten könnte etwas Namenloses auf mich zukriechen. Und diese Erregung brauche ich für meine Arbeit. Tageslicht würde das alles nur zerstören.« Er hob das verhüllte Bild von der Staffelei, stellte eine andere, bereits grundierte Leinwand darauf und begann sofort, mit einem Kohlestift Skizzen zu zeichnen. »Grandios«, murmelte er dabei. »Optimal. Berserkerhaft.« »Wohin führt der Stollen?«, fragte Arthur, nachdem er eine Weile reglos in die Dunkelheit geschaut hatte. »Das weiß ich nicht.« »Wie bitte? Sie wissen nicht, wie es auf Ihrem eigenen Grund und Boden aussieht?« »Das hier ist eigentlich nicht mehr mein Grund und Boden. Irgendwo da hinten in der Schwärze fängt das Gebiet der Burg an. Vielleicht führt der Gang ja in deren Kellergewölbe.«
»Sind Sie denn gar nicht neugierig darauf, wo die Höhle endet?« Arthur wurde immer müder, und allmählich schmerzte ihn die Kälte. Sein dünnes Hemd bot kaum Schutz dagegen. »Wenn ich es wüsste«, erklärte Benzedron, während er schnelle, schwungvolle Striche mit dem Stift ausführte, »dann wäre diese Höhle für mich entzaubert. Dann hätte meine Fantasie hier keinen Halt mehr. Man darf der sogenannten Wirklichkeit nicht zu viel Raum schenken, sonst frisst sie all unsere Energie. Wenn Sie das Geheimnis nicht hüten, dann vertrocknet die Welt. Gerade Sie müssten das doch gut wissen, denn da drüben leben Sie ja im Geheimnis.« Er zeigte mit dem Stift in das Zwielicht – dorthin, wo Arthurs Haus stand. »Doch so, wie Sie aussehen, ist das Geheimnis dabei, Sie aufzufressen.« Arthur hatte weder Kraft noch Lust, seinen Zustand zu erläutern. Mit dem Haus hatte es jedenfalls nichts zu tun. Obwohl er nicht leugnen konnte, dass es ihm beständig schlechter gegangen war, seit er dort lebte. Aber das alles war natürlichen Ursachen zuzuschreiben. »Sind Sie bald fertig?« »Nein. Ich muss zuerst die Umrisse zeichnen und dann die ersten Pinselstriche malen, damit ich Ihr Entsetzen einfangen kann. Und damit beginne ich – jetzt!« Er warf den Stift hinter sich und holte eine Palette mit fertig angemischten Farben sowie einen sehr feinen Pinsel herbei. Sein roter, aufgerichteter Haarkranz tanzte hin und her, während er mit dem Pinsel die ersten schwungvollen Bahnen zog. »Hab übrigens gehört, dass Sie jetzt mit Daphne zusammen sind«, sagte er. »Ich gebe Ihnen einen gut gemeinten Rat: Lassen Sie die Finger von ihr.« »Warum?« »Sie ist ein süßes kleines Ding, aber sie hat es faustdick hinter den Ohren.«
Arthur lehnte sich unwillig zurück und sah ihn verständnislos an. »Bitte bewegen Sie sich nicht! Ich will damit sagen, dass ich einmal mit ihr zusammen war. In gewisser Hinsicht ist sie wirklich ganz erstaunlich. Aber ich musste schnell feststellen, dass ich nicht ihr einziger Liebhaber war. Ich will Sie nur vor Enttäuschungen bewahren.« »Ich bin nicht ihr Liebhaber«, sagte Arthur entrüstet. »Ich könnte doch ihr Vater sein. Ich bin ein alter Mann, der an so etwas kein Interesse mehr hat.« Es war wie eine Verteidigungslüge in eigener Sache. »Wir mögen uns, das stimmt. Wir sind schließlich beides Ausgestoßene.« »Sie können gehen.« Arthur begriff nicht sofort. »Sie können gehen«, wiederholte Benzedron. »Ich habe den ersten Ausdruck Ihres Schmerzes und Ihrer Höllenvisionen so wunderbar herausgeschält, dass ich Sie jetzt nicht mehr brauche. Sie sind zu Kunst geronnen; für mein Bild interessiert mich Ihre Wirklichkeit nicht mehr.« Arthur stand unsicher auf. Benzedron beachtete ihn nicht, sondern arbeitete wie besessen an dem neuen Avatar. Er machte eine unwirsche Handbewegung zum Tor hin und zog die Mundwinkel in einem wölfischen Grinsen hoch. »Wenn’s fertig ist, dürfen Sie es sehen«, rief er hinter Arthur her. Wie ein Schlafwandler taumelte Arthur ins Freie. Die nachmittägliche Helligkeit schmerzte in seinen Augen. Blinzelnd stolperte er durch den Garten, über die Straße hinunter, zu seinem Haus. Trotz seiner Müdigkeit ließ er sich zuerst ein Bad ein. Als er in der warmen Wanne lag, trieben seine Gedanken träge zu Daphne. Faustdick hinter den Ohren… nicht ihr einziger Liebhaber… Ingo… Alexander… was war das für ein Anfall gewesen?
Hatte sie ihm vielleicht ebenfalls nur geholfen, als Arthur die beiden auf dem Sofa überrascht hatte? Schwer kroch sein Blick durch das kleine Badezimmer, wie auf der Suche nach Antworten. Da bemerkte er, dass beide Waschlappen, die sonst neben dem Becken hingen, auf dem Boden lagen. Vorhin, als er das Wasser hatte einlaufen lassen, war ihm das gar nicht aufgefallen. Eine beunruhigende Veränderung inmitten der starren Sicherheit. Bestimmt hatte er sie selbst irgendwie heruntergerissen. Aber was war das hinter der weit offenstehenden Badezimmertür? Er sah nur einen Stoffzipfel, der hinter dem braunen Holz wie ein Vogelschnabel hervor lugte. Zuerst erschrak er, doch dann musste er über sich selbst lachen. Das Badehandtuch befand sich nicht mehr über dem verchromten Halter neben dem Waschbecken. Sicherlich war es irgendwie hinter die Tür gerutscht. Er wuchtete sich aus dem schon kühl gewordenen Wasser und schloss die Tür. Es war in der Tat das große, blaue Badetuch. Aber es lag nicht einfach auf dem gekachelten Boden. Es war kunstvoll zu einem vogelähnlichen Wesen gefaltet. Verdutzt hob Arthur es auf. Sofort fiel es auseinander und war nichts anderes mehr als ein gewöhnliches Badetuch. Er hängte auch die beiden Waschlappen wieder an ihren Platz. Willkommen daheim, dachte er. Am frühen Abend hatte er Besuch. Es tappte gegen die Terrassentür. Arthur hatte auf dem Sofa gesessen und sich ganz in unwirklichen Gedanken verloren. Er sprang auf, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen, und lief voller düsterer Vorahnung in die Küche. Als er sah, wer das Geräusch verursacht hatte, lachte er nervös auf. Es war Marga, die schwarze Katze seines Nachbarn Meier, die sich auf die Hinterbeine gestellt hatte und mit den Vorderpfoten nachdrücklich um Einlass bat.
Arthur öffnete die Tür. Die Katze überlegte sich, ob sie, da sie nun ihren Willen bekommen hatte, wirklich das Haus betreten sollte, und schließlich schlüpfte sie hinein. Im selben Augenblick begann es. Gerade als Arthur die Katze streicheln wollte, sträubte sich ihr Fell. Sie schrie in einem seltsamen, hohen Ton auf und huschte durch die noch offene Terrassentür nach draußen. Auch Arthur spürte es. Es war ein Unbehagen, das über seinen ganzen Körper kroch, ohne dass er den Grund für dieses Gefühl benennen konnte. Er hielt die Luft an, lauschte, sah sich gehetzt um. Nichts hatte sich verändert. Er floh nach draußen, auf die Terrasse. Hier war es viel besser. Die Katze war ein Stück weit den Hang hinaufgelaufen, saß auf den Hinterpfoten und schaute ihn an, als wollte sie fragen, was denn bloß in Arthurs Haus los sei. Er atmete durch; das Gefühl fiel von ihm ab. Erleichtert kehrte er nach drinnen zurück. Und sofort war ihm wieder, als legte sich ihm ein eisernes Band um den Brustkorb. Es schnürte ihm die Luft ab. Er lief durch die Küche, das Esszimmer, das Wohnzimmer, hinaus auf den Treppenabsatz. Hier fühlte er sich etwas leichter. Er rannte nach oben, in das Gästezimmer. Alles war wie gewöhnlich. In seinem eigenen Schlafzimmer hingegen traf es ihn mit großer Wucht. Er floh, hastete in den Speicherraum, hier war alles ruhig. Wurde er etwa verrückt? Er erinnerte sich an die Reaktion der Katze. Auch sie hatte es gespürt. »Nein«, sagte Arthur laut. »Nein, ich bin nicht verrückt. Nein, es gibt keine Geister.« Er wollte den Speicher schon wieder verlassen, als sein Blick auf den Boden fiel – dorthin, wo er die Spielzeugautos entdeckt hatte. Sie waren immer noch da, allerdings hatte jemand sie durcheinandergeworfen.
Arthur hob eines der Autos auf. Es war der Käfer. Das Plastik der Sitze und Scheiben war geschmolzen, die Farbe abgeplatzt. Er bückte sich und untersuchte den Boden. Es waren nicht die geringsten Spuren eines Feuers zu erkennen. Doch jedes einzelne Auto war ausgebrannt.
13. Kapitel
Er wünschte sich nichts sehnlicher, als eine seiner Masken aufsetzen zu können, aber das Zimmer im Erdgeschoss war abgeschlossen, und den Schlüssel besaß Daphne. Arthur hockte gegen die Tür gelehnt im Korridor und zitterte in der kühlen Luft, die unter der Haustür hindurchdrang. Hier spürte er das Gefühl des Unbehagens und der Angst genauso wenig wie auf dem Speicher. Er dachte an die zerstörten Spielzeuge. Konnten Poltergeister Brände legen? Hör auf damit. Zurück ins Bett. Ins Teufelszimmer. Kein Gefühl des Entsetzens mehr, keine Anspannung in der Luft – als hätte die bösartige Präsenz das Haus verlassen. Der Morgen war pure Verheißung. Der Himmel war unwirklich blau wie auf einem Gemälde von Magritte, die Vögel sangen, die Katze des Nachbarn saß wieder auf der Terrasse, und Arthur lockte sie mit einem Stück Wurst in die Küche. Gespannt beobachtete er das Tier. Nichts deutete an, dass es etwas Ungewöhnliches wahrnahm. Nach der genüsslich verspeisten Mahlzeit stromerte die Katze durch die Küche, durch das Ess- und Wohnzimmer und stolzierte nach diesem Inspektionsgang wieder nach draußen. Was immer gestern in diesem Haus gewesen war, nun war es weg. Arthur wollte den sonnigen Tag draußen genießen, wollte zwischen Vogelgesang und Blattgeflüster sein, wollte keinen Menschen sehen, vorerst. Er ging in den Wald oberhalb der Burgstraße. Bald hatte er die Bank erreicht, wo er kurz nach seiner Ankunft in Fangenburg zum ersten Mal gesessen und
über das Dorf geschaut hatte. Wo er an seine arme, tote Mutter gedacht hatte. Arthur schaute wieder über das Dorf. Es war nicht mehr derselbe Anblick. Er konnte den Lebensmittelladen der netten Frau Bauer ausmachen und ganz hinten, von den anderen abgesondert, Daphnes Haus. Koordinaten eines neuen Lebens. Eines verwirrenden Lebens. Er hatte so gehofft, dass er hier Halt finden würde. Aber sein Haus war kein sicherer Hafen, und Daphne… Er dachte lange über sie und seine seltsame Beziehung zu ihr nach. Je mehr Gedanken er sich darüber machte, desto unverständlicher wurde ihm diese Liebe. Er wusste nur, dass er Daphne brauchte – dringender als jeden anderen Menschen, sogar dringender als die Waldeinsamkeit. Von Verlangen getrieben, machte er sich auf den Rückweg ins Dorf, und bald stand er vor dem Haus der jungen Frau, von der andere im Dorf sagten, sie sei eine Hexe. Die bunten Kugeln waren keine Köpfe mehr, und nichts raschelte im Gras und im knietiefen Unkraut. Ein Windspiel zitterte und hauchte zarte Töne über das Grün. Ansonsten war alles still. Der Wagen mit dem Düsseldorfer Kennzeichen war verschwunden, aber der BMW stand noch da. Ob Ingo endgültig weg war? Arthur drückte auf die Klingel, aber niemand kam zur Tür. Er versuchte es immer wieder, jedes Mal ohne Erfolg. Dann schlich er ums Haus und spähte durch die Fenster von Küche und Wohnzimmer. Alles sah so aus wie immer. Fast. Einer der Stühle vor dem Esstisch war umgestürzt. Arthur ging zurück zur Tür und drückte die Klinke herunter. Die Tür schwang nach innen auf. Unschlüssig stand Arthur auf der Schwelle. »Daphne?«, rief er. Keine Antwort. »Daphne!«
Er betrat die Diele, deren Samtbehänge leise im Luftzug wisperten; er ging ins Wohnzimmer, in die Küche, nach oben. Schaute in jeden Raum. In diesem Haus war niemand mehr. Unten in der Küche entdeckte er auf dem Boden neben dem umgestürzten Stuhl einen rostroten Fleck. Voller Angst verließ Arthur das Haus. Eine Weile lief er ziellos umher und machte sich schreckliche Sorgen um Daphne. War der rostrote Fleck etwa ihr Blut? Was war ihr zugestoßen? Wo waren die beiden Männer? Auf keine seiner Fragen gab es eine Antwort. Er war zum Warten verdammt. Um sich abzulenken, stattete er Frau Bauers Lebensmittelladen einen Besuch ab. Sie begrüßte ihn freundlich, doch sie sah ihn an, als suchte sie etwas an ihm. Arthur wurde dieser forschende Blick zu viel. »Was ist los mit mir?«, fragte er barscher, als er eigentlich gewollt hatte. »Wie ich sehe, geht es Ihnen wieder gut.« »Warum sollte es mir nicht gut gehen?« »Elfi… ich habe gehört, dass Sie ziemlich schlimm ausgesehen haben, als Sie zu… zu ihr gelaufen sind. Und Sie waren gestern nicht in der Messe.« »Ich… mir… ich war krank«, stammelte er und lief zur Kühltheke. Als er Wurst, Käse und Brot vor die Kasse legte, betrachtete Frau Bauer prüfend seinen Einkauf. »Sie sollten etwas Abwechslung in Ihren Speiseplan bringen«, meinte sie. »Das wäre gesünder für Sie. Vor allem, da Sie krank waren.« »Ich… ich hatte nur eine Grippe.« »Dann ist es besonders wichtig, dass Sie Vitamine bekommen. Holen Sie sich etwas Salat und Obst.« Auch seine Mutter hatte immer darauf gedrungen, dass er Äpfel und Bananen aß, die er gar nicht mochte, und er hatte gehorcht. Wie jetzt.
»Das ist gut«, sagte Frau Bauer, nachdem er einen Salatkopf und einige Äpfel und Birnen geholt hatte. »Schade, dass Sie gestern nicht in der Kirche waren. Herr Meier scheint Sie inzwischen ganz gern zu haben, weil Sie seine Katze so mögen. Aber diejenigen, die Sie in… krankem Zustand gesehen haben, sind immer noch entsetzt. Auch deswegen, weil Sie auf dem Weg zu dieser Hexe waren.« Frau Bauer richtete sich auf und reichte ihm seinen Einkauf, in einer Plastiktüte verstaut, entgegen. »Ich persönlich glaube ja nicht an diese Wahrsagerei und den ganzen anderen Hokuspokus, den sie so treibt, aber einige im Dorf sehen das anders.« Arthur nahm die Tüte mit einem dankbaren Nicken an. »Sie ist keine Hexe, das kann ich Ihnen versichern.« Er wollte schon gehen, doch Frau Bauer fügte hinzu: »Da ist noch etwas, das ich Ihnen schon immer sagen wollte. Es geht mich ja nichts an, was die Leute in ihren eigenen vier Wänden treiben. Von mir aus kann man sich auch maskieren, nicht nur zu Karneval, aber man sollte es nicht andauernd die ganze Straße sehen lassen.« Arthur erstarrte. »Ich habe mich förmlich bei Frau Gärtner entschuldigt«, verteidigte er sich. »Außerdem ist das schon etwa zwei Wochen her.« »Zwei Wochen? Elfi hat mir gesagt, dass Sie sie gestern Abend wieder aus dem Zimmer im Erdgeschoss angestarrt haben. Sie haben angeblich auf der Lauer gelegen und die Vorhänge in dem Augenblick auseinandergezogen, als Elfi auf dem Weg von ihrer Freundin in der Kirchhofstraße an Ihrem Haus vorbeigekommen ist. Sie hat es kaum noch bis zu Ihrer eigenen Tür geschafft, so fertig war sie.« »Gestern Abend?«, fragte Arthur verdutzt. »Aber da war ich doch gar nicht in meinem… ich habe nicht… das kann nicht sein.« Deutlich erinnerte er sich an das unbestimmte Gefühl des Grauens, das ihn und die Katze am vergangenen Abend
plötzlich überfallen hatte. »Ich war es nicht«, beharrte er mit festerer Stimme. »Ich kann Ihnen versichern, dass ich das Zimmer im Erdgeschoss schon lange nicht mehr betreten habe.« »Dann war es vielleicht doch der Spuk. Nichts für ungut. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Und vergessen Sie nicht, Ihre Vitamine zu essen.« Zutiefst beunruhigt verließ Arthur den Laden. Diese Frau Gärtner wollte ihn wohl fertig machen, indem sie Lügen über ihn verbreitete. Was fiel dieser Hexe bloß ein! Am liebsten hätte Arthur bei ihr geschellt und ihr laut und deutlich die Meinung gesagt. Als er vor seinem Haus stand, sah er sich das Fenster im Erdgeschoss eingehend an. Die Vorhänge waren zugezogen – genauso wie er den Raum verlassen hatte. Er betrat das Haus und rüttelte an der Klinke zum Maskenzimmer. Es war noch immer abgeschlossen, natürlich. Während er über Frau Gärtners Unverschämtheit nachdachte, schellte das Telefon. Vielleicht war es Daphne! Über den Unterstellungen seiner Nachbarin hatte er sie ganz vergessen. Er eilte die Stufen hoch. Tatsächlich war es seine Geliebte. »Alles ist so schrecklich!«, schluchzte Daphnes Stimme am anderen Ende. Arthur blieb beinahe das Herz stehen. »Was… was ist los?«, fragte er. »Alexander…« Der Name reichte aus, um Arthur zu beruhigen. Alles, was mit diesem unheimlichen Gesellen zu tun hatte, war ihm herzlich egal. »Was ist mit Alexander?«, fragte er und hoffte, dass er sich wenigstens ein bisschen mitfühlend anhörte. »Du weißt doch, dass er krank ist. Du hast es gestern mitangesehen.« Sie schluchzte wieder. Wie gern hätte Arthur sie jetzt in den Arm genommen und getröstet. »Heute Morgen hat er noch einen Anfall gehabt. Wir haben den Notarzt
gerufen, und der hat Alexander in die Clemens-August-Klinik nach Bitburg gebracht. Und hier… hier…« »Was ist passiert?«, fragte Arthur. »Er ist gestorben. Die Ärzte haben alles versucht. Eine Hirnblutung…« »Wo bist du jetzt?« »Im Krankenhaus.« »Bist du allein?« »Ingo ist bei mir und versucht mich zu trösten.« Ingo! Arthur wurde wütend, als er an diesen Flegel dachte. »Ich komme sofort zu dir.« »Nein!« Sie klang verzweifelt. »Nein, tu das nicht, Arthur. Damit muss ich allein fertig werden.« Allein? Und was war mit Ingo? »Ich würde dir so gern beistehen – um unserer Liebe willen.« Am anderen Ende der Leitung setzte Schweigen ein, dann wurde aufgelegt. Hatte er die falschen Worte gesagt? Oder bedeutete er Daphne doch nicht so viel? Warum durfte er ihr nicht helfen? Er hielt es nicht mehr im Hause aus. Arthur nahm den Wagen und fuhr aus dem Tal, das ihm nun bedrückender denn je erschien. Er musste unbedingt Daphne sehen. Daher fuhr er nach Bitburg, ließ sich von den Hinweisschildern zum Krankenhaus leiten und suchte einen Parkplatz. Er suchte lange. Als er endlich einen gefunden hatte, rannte er auf die Klinik zu und fragte an der Rezeption nach einem Eingelieferten namens Alexander; den Nachnamen kannte er nicht. »Alexander?«, fragte die streng blickende ältere Dame hinter der Theke. »Und wie weiter?« »Hirnblutung«, keuchte Arthur, der noch ziemlich außer Atem war. »Heute Morgen.«
»Heute Morgen? Da sind nur ein Beinbruch, ein Herzinfarkt und ein Verkehrsunfall hereingekommen.« »Vielleicht war es zunächst ein Verdacht auf Herzinfarkt.« Die Frau blätterte umständlich in einer langen Computerliste. Schließlich sagte sie: »Nein, Alexander heißt der nicht.« »Gibt es denn hier in Bitburg noch ein anderes Krankenhaus?« »Reicht Ihnen eines nicht?« »Kann es denn sein, dass nicht alle Notaufnahmen bei Ihnen gemeldet werden?« »Kann es denn sein, dass der Papst morgen heiratet?«, gab die Frau bissig zurück und wandte sich von ihm ab. Arthur lief tiefer in das Krankenhaus hinein. Er fragte jeden Arzt und jede Schwester nach Alexander und Daphne, doch niemand schien sie gesehen zu haben, und in die Notaufnahme wurde er nicht hineingelassen. Nach einer ganzen Stunde erfolglosen Herumsuchens ging er zurück zu seinem Wagen. Während der Rückfahrt versuchte er sich einen Reim auf die Ereignisse zu machen. Hatte Daphne ihm in ihrer Trauer und Verzweiflung doch ein falsches Krankenhaus genannt? War der Kerl unter einem anderen Namen eingeliefert worden? Oder hatte die Frau an der Rezeption gelogen? Aber warum? Vielleicht war Daphne inzwischen wieder zu Hause. Doch als er in das Fangenburger Tal einfuhr, sah er sofort, dass der Düsseldorfer Wagen noch nicht zurückgekehrt war. Arthur klemmte Daphne eine Notiz an die Haustür, sie solle ihn sofort anrufen. Er blieb noch einige Zeit vor ihrem Haus stehen und lauschte dem Klang der Windspiele, dann machte er sich bedrückt und nervös auf den Heimweg. Gerade als er aus dem Auto stieg, kam Frau Gärtner die Burgstraße herunter. Verdattert blieb sie stehen, als hätte sie soeben den Leibhaftigen gesehen. Arthur ging auf sie zu; sie rührte sich nicht, riss die Augen immer weiter auf.
»Sie!«, sagte er wütend. Die Angst um Daphne hatte ihm alle Hemmungen genommen. »Was haben Sie da über mich erzählt?« »Die Wahrheit!«, krähte Frau Gärtner und zupfte am obersten Knopf ihres hellen Sommerkleides. Ihr verhärmtes, zerfurchtes Gesicht, das vorspringende Kinn und die spitze Nase wirkten wie die Karikatur einer Hexe. »Ich habe Sie gestern Abend nicht mit einer Maske erschreckt. Ich war gar nicht im Erdgeschoss.« »Ich weiß, was ich gesehen habe. Sie haben mir absichtlich Angst machen wollen. Sie sind verrückt!« Sie packte ihre Handtasche und drückte sie sich gegen die Brust. »Warum wollen Sie mich fertig machen?«, brüllte Arthur sie an. »Ist das für Sie gute Nachbarschaft? Ich habe mich für mein ungeschicktes Verhalten von vor zwei Wochen entschuldigt! Reicht Ihnen das nicht?« »Günther! Günther! Der Mann will mir was antun! Er ist verrückt!« Arthur hörte Schritte und Schnaufen hinter sich und wirbelte herum. Herr Gärtner prustete auf ihn zu. Mit seinem dunklen Vollbart und seiner stämmigen Gestalt wirkte er wie ein viel zu groß geratener Troll. Wie ein höchst gefährlicher Troll. Arthur nahm Reißaus. Er hörte, wie Frau Gärtner hinter ihm herrief: »Fang ihn, Günther! Mach ihn fertig! Dreh ihm den Hals um!« Aus einigen Fenstern schauten Leute – wie beim Rosenmontagszug. Arthur keuchte den Berg hinauf. Irgendwann ließen das Trappeln und Prusten hinter ihm nach. Er wagte noch nicht, sich umzudrehen, sondern rannte immer weiter, über den Grat, in den Wald hinein. Er kam zu der Höhle, die er schon bei seinem ersten Erkundungsgang bemerkt hatte, und huschte in die schützende Finsternis.
Dort kauerte er sich auf den Boden und wagte kaum zu atmen. Wie still es hier drinnen war. Er konnte das Ende der Höhle nicht erkennen und fühlte sich an Benzedrons »Atelier« erinnert. Die Dunkelheit schmiegte sich wie eine Haut an ihn. Er fühlte sich in Sicherheit. Eine Weile atmete er noch flach und lauschte. Dann brach es aus ihm hervor. Er schluchzte, jammerte, flennte. »Mutter!«, rief er dazwischen, immer wieder. Wenn sie noch leben würde, wenn er noch in Köln wohnen und im Museum arbeiten würde… Alles war zerstört. Er hatte den Neuanfang gewagt und war gescheitert. Nun hatte ihm einer seiner Nachbarn sogar etwas antun wollen. Zum ersten Mal regte sich in ihm der Gedanke, Daphnes dringenden Rat anzunehmen und fortzuziehen. Wenn er das Haus verkaufte… Doch wer würde es haben wollen, das Spukhaus? Er hatte so viel Geld in die Renovierung gesteckt, dass er sich kein neues Haus mehr leisten konnte. Und wenn er wieder arbeiten ginge? Mit zweiundfünfzig? Im Museum gab es für ihn keinen Platz mehr; durch seine Kündigung hatte er sich auch die letzten Sympathien verscherzt. Und auf dem Arbeitsmarkt hatte er keine Chance. Fangenburg war für ihn die Endstation. Gefangen in Fangenburg. Er lachte hysterisch über dieses schwache Wortspiel, weinte wieder, lachte. Es dauerte lange, bis er sich beruhigt hatte. Arthur schlich aus der Höhle, sah sich vorsichtig um. Niemand hatte ihm aufgelauert. Inzwischen lag schon die Abenddämmerung über dem Krater. Auf der Bank, die seine Lieblingsbank zu werden schien, wartete er, bis es noch dunkler geworden war. Er schaute hinüber zu Daphnes Haus, ganz hinten, undeutlich kauerte es da. Kein Licht war dort zu sehen. Er vermochte nicht zu erkennen, ob der zweite Wagen inzwischen zurückgekehrt war. Endlich war es so düster, dass er den Rückweg wagen konnte. Die Straßenlaternen brannten bereits. Er hielt sich im
Schatten und trat nur ganz leise auf. Unbehelligt erreichte er sein Haus und schlüpfte hinein. Sofort rief er Daphne an. Sie war noch nicht zurückgekehrt. Wo sie wohl die Nacht verbrachte? Als er an diesen Ingo dachte, wuchs seine Wut wieder. Zur Beruhigung trank er von Daphnes Holunderblütensirup und ging in sein Schlafzimmer. Angezogen setzte er sich auf das Bett. Was war, wenn Daphne doch bald seine Hilfe brauchen würde? Er wagte nicht, sich auszuziehen; er wollte sofort zur Stelle sein. Da sprang ihn wieder dieses Gefühl der Angst und des Grauens an, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Arthur flog aus dem Bett. Schweiß rann ihm über die Stirn. Er machte Licht im Schlafzimmer. Die Wände schienen weich zu sein, zu verschwimmen, zu tanzen. Von unten hörte er Geräusche. Am liebsten wäre er sofort wieder in die Höhle oben im Wald gelaufen und hätte sich dort verkrochen. Für immer. Was waren das für Geräusche? Das war doch eine Stimme. Zuerst glaubte er, es wäre seine Mutter. Nein, die Stimme klang jünger. Es war Daphne! »Arthur… Arthur…« Es war ein gerauntes Liebesversprechen. Er lief hinunter. Das Esszimmer war voller Nebel. Er streckte die Hand aus. Der Nebel war kalt. Er drang bis in Arthurs Denken. Inmitten des Nebels bewegte sich jemand. Die Stimme wurde tiefer. Männlicher. Er hatte sie schon einmal gehört. Die Gestalt wurde deutlicher. Sie sah Arthur mit blutunterlaufenen Augen an. War blass wie der Tod. Und die Augen waren nichts als schwarze Schlünde. Dennoch erkannte Arthur dieses Schreckgespenst aus den Tiefen der Hölle. Es war Alexander.
14. Kapitel
Der Höllengeist kam auf Arthur zu. Er schien im Nebel zu schweben. »Arthur«, sagte er, und er sagte es nicht. Die Stimme kam sowohl von der Gestalt als auch von überall im Raum her; so schien es, dass es mindestens zwei Stimmen waren. Arthur war gelähmt. Keines klaren Gedankens mehr fähig. Das Gefühl des Schreckens nahm ihm die Luft. Es steigerte sich noch, je näher der Spuk auf ihn zuglitt. Ein seltsamer Geruch durchwebte die Luft – wie nach Rosen und Verwesung zugleich. »Komm zu mir«, sagte die vieltönige Stimme. Endlich konnte Arthur sich wieder bewegen. Er wirbelte herum, lief in die Küche, riss die Terrassentür auf und floh den Hang hinauf. Mit einem raschen Blick über die Schulter sah er, dass das Höllenwesen ihm folgte. Schon floss der Nebel über die Terrasse. Arthur rannte immer höher hinauf. Erst als er vor der Burgmauer stand, begriff er, dass er in eine Falle gelaufen war. Er hastete zu dem braunen Tor in der Mauer, erwartete, es verschlossen vorzufinden, doch es war offen. Verdutzt stürzte er hindurch und warf es hinter sich zu. Vor ihm erhob sich im Licht des Mondes die Burg mit ihren Türmen und dem wuchtigen Bergfried. Er stand im Hof, rechts von ihm lag der Torbau, zur Linken und vor ihm die verwirrende Masse der Hauptgebäude, die so angeordnet waren, dass sie ein ungelenkes U bildeten. Arthur lauschte in die Nacht. Die Burgmauer war so hoch, dass er vom Dorf unter ihm nichts sehen konnte, und kein
Geräusch drang herauf. Er starrte das Tor an, durch das er gekommen war. Es blieb geschlossen. Wie lange noch? Er lief auf den links von ihm liegenden Flügel der Burg zu. In den Spitzbogenfenstern brach sich das Licht des Mondes, der wie eine Pupille in den Scheiben hing. Aus unzähligen Augen schaute das Gemäuer auf Arthur herunter. Die hohe Tür in der Mitte des Westflügels stand halb offen. Nun mischte sich Neugier in seine Angst. Arthur huschte in das Innere. Hier drang nur wenig Mondlicht durch dunkle, kaum durchsichtige Fenster. Schwach war an der gegenüberliegenden Wand ein gewaltiger Kamin zu erkennen, neben dem rechts und links eine Treppe hoch in die Schatten führte. Die Decke der Eingangshalle war wie ein sternloser Himmel: unendlich fern, nur erahnbar. Arthur rieb sich die Schläfen. Das hier war sein eigenes Haus, ins Ungeheuerliche vergrößert, und gleichzeitig war es Benzedrons Höhle, nein, es war ein Keller irgendwo in der Stadt, ein Keller voller Masken, die Arthur sich aufsetzen konnte. Die Höhle pulsierte, wurde größer, kleiner, atmete, lebte. Verrückt. Ich bin verrückt. Ich bin vor dem Spuk in meinem Haus geflohen und in einem Spukschloss gelandet, dachte Arthur. Bei diesem Gedanken musste er kichern. Ich habe doch gar nichts getrunken! Hatte er das laut gesagt? Zumindest hörte er jetzt etwas. Er war sich nicht sicher, ob es der Nachhall seiner eigenen Stimme oder etwas anderes war. Rasch lief er durch einen Korridor, der von der Halle abzweigte, und versteckte sich vor den Geräuschen. Er rannte über Teppiche aus Mondlicht, kam vorbei an silbernen Wänden aus Sternenschein, durchquerte leere Zimmer, die auf ihn den Eindruck erstarrter Erinnerungen machten. Irgendwann blieb er keuchend stehen. Er hörte nichts mehr als das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und das Hämmern seines
Herzens. In einer Ecke des Zimmers legte er sich erschöpft nieder, bettete sich auf eine Mondmatratze und zog ein kaltes Lichtlaken über sich. Am Morgen schmerzten seine Glieder, als wäre er von einem Berg heruntergefallen. Mühsam stand er auf und sah sich um: hohe Wände mit Resten von uralter Prägetapete, gewölbte Bohlen auf dem Boden, ein staubiges Fenster, durch welches das Morgenlicht hereinfiel. In den Strahlen kreisten winzige Staubplaneten. Erst allmählich erinnerte er sich, wo er war. Und was er in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Oder zu sehen geglaubt hatte. Seine Nerven waren überreizt, das war alles. Natürlich war da kein Geist gewesen. Nicht Alexanders Geist. Aber das Gefühl der schrecklichen Angst war noch in ihm gegenwärtig. Ihm war kalt. Er verließ das leere Zimmer, geriet auf einen Korridor, der ebenfalls leer war. Helle, rechteckige Flecken an den Wänden deuteten abgenommene Gemälde an. Er warf kurze Blicke in das eine oder andere Zimmer, alle boten das gleiche Bild. Die Möbel waren bis auf wenige Ausnahmen entfernt worden, genau wie die Bilder und Teppiche. Eines der Zimmer war verschlossen, doch ansonsten bot sich das Innere der Burg offen und schutzlos dar. Der einzige moderne Gegenstand, den Arthur bemerkte, war eine große Taschenlampe, die auf einem Tisch in der Halle lag. Arthur nahm sich kaum die Zeit, die bleiverglasten Fenster dieses Raumes zu bewundern. Nach einem kurzen Blick in die Runde lief er hinaus in den Burghof und ging über den Kiesboden zu dem kleinen Tor in der Mauer. Es war verschlossen. Arthur rüttelte und zerrte daran, aber es gab nicht nach. Er wusste genau, dass es dieses Tor gewesen war, durch das er letzte Nacht in den Burghof gelangt war.
Er gab auf. Die Mauer war so hoch, dass er nicht über sie klettern konnte. Er musste einen anderen Weg hinausfinden. Zuerst versuchte er es am Haupttor, doch auch dieses war fest verschlossen, genau wie die Eingänge zu den Türmchen rechts und links daneben. Dann suchte Arthur systematisch die Mauer ab, fand aber keinen weiteren Durchgang. Er war eingesperrt. Er überlegte sich, ob er auf die Mauerkrone klettern und um Hilfe rufen sollte. Doch damit würde er sich im Dorf nur noch lächerlicher machen. Nein, zuerst musste er alle anderen Möglichkeiten ausschöpfen. Er ging zurück in den Teil der Burg, in dem er die Nacht verbracht hatte, und schaute aus allen Fenstern, doch sie lagen so hoch, dass er nicht einfach hinausspringen konnte. Auch fand er nicht den geringsten Stofffetzen, mit dem er sich hätte abseilen können. Dann versuchte er es in dem Gebäudeflügel, der sich rechts an den Bergfried anschloss und der der älteste Teil der Anlage zu sein schien. Die Fenster waren so schmal wie Schießscharten, und im Gegensatz zu der reich verzierten Renaissancefassade des Westflügels bestand das Mauerwerk hier aus dunklen, groben Quadern, die jedem Gefängnis zur Ehre gereicht hätten. Arthur versuchte das niedrige Tor zu öffnen, doch es widersetzte sich seinen Anstrengungen. Verzweifelt drehte er sich im Burghof mehrmals um die eigene Achse. Ob er auf die Mauer klettern und Benzedron um Hilfe rufen sollte, der so nahe und doch so fern wohnte? Möglicherweise steckte der Künstler bereits in seinem Atelier tief im Berg und würde ihn gar nicht hören. Tief im Berg… Da kam Arthur eine Idee. Benzedron hatte gesagt, er wüsste nicht, wie weit seine Höhle in den Berg hineinreichte. Was wäre, wenn sie tatsächlich bis unter die Burg führte? Wenn es sich bei ihr um einen uralten Fluchtweg handelte, wie fast jede Burg einen hatte? Falls es so war, würde dann dieser Verbindungsgang überhaupt noch frei
und zugänglich sein? Und wo begann er? In den Kellergewölben vermutlich. Es war einen Versuch wert. Als er erneut die Halle betrat, fiel sein Blick wieder auf die Taschenlampe. Wer mochte sie hier liegen gelassen haben? Sie wirkte in ihrer Alltäglichkeit so seltsam unwirklich. Arthur ergriff sie und schaltete sie ein. Ihr Licht war schwach, doch für eine Weile würde es reichen, falls es diesen Gang tatsächlich geben und Arthur ihn finden sollte. Er machte sich auf die Suche nach einer in die Tiefe führenden Treppe. In einer Wand der Küche, die durch ein kleines, von der Halle abzweigendes Zimmer zu erreichen war, entdeckte er schließlich Stufen, die den Weg hinab in die Finsternis wiesen. Arthur ließ die Tür hinter sich geöffnet, damit wenigstens ein bisschen Licht in den fensterlosen Schacht fiel. Bald jedoch musste er die Taschenlampe einschalten. Als er sich einmal umdrehte, sah er mit Verwunderung, wie weit er schon hinabgestiegen war. Die offene Tür war nur noch ein kleines Quadrat aus Licht, das hoch oben in einem Universum der Schwärze hing. Endlich hatte Arthur das erste Kellergewölbe erreicht. Es wurde von mächtigen Pfeilern getragen; an den Wänden standen leere Regale, deren Staubschichten Jahrhunderte alt zu sein schienen; zerbrochene Truhen hockten auf dem Steinfußboden, und der schwache Schein der Lampe legte salpetrige, spinnwebverklebte Wände frei. Arthur eilte von einem Gewölbe in das nächste. Schließlich kam er zu einer weiteren Treppe, die sich tiefer in die Erde schraubte. Er stieg hinab. Hier unten war es noch feuchter; irgendwo tropfte es, und auf dem Boden standen brackige Pfützen. Als er eine ganze Flucht gleichartiger Verließe entdeckte, begriff er allmählich die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen. Der ganze Berg schien durchlöchert von all den Zellen,
Gewölben und Schächten. Wie sollte er da den Zugang zu Benzedrons Höhle finden – falls es überhaupt einen gab? Der Strahl der Taschenlampe wurde immer zitteriger. Arthur betete, sie möge nicht verlöschen, nicht jetzt, nicht hier. Doch seine Gebete wurden nicht erhört. Das Licht flackerte und ging aus, und er stand in völliger Finsternis. Er fühlte sich bei lebendigem Leibe begraben. Entsetzen presste ihm den Brustkorb zusammen. Es war ein völlig anderes, weitaus bestimmteres Gefühl als die unerklärliche Angst, die er in seinem eigenen Haus empfunden hatte. Es war die berechtigte, konkrete Furcht, nicht mehr aus diesem Reich der Dunkelheit herauszufinden. Wäre er doch bloß nicht hierhergekommen! Es war die falsche Entscheidung gewesen. »Du machst immer alles falsch.« Das war die Stimme seiner Mutter. Sie rief Bilder in ihm hervor, die ihn umspülten wie tosendes Wasser ein Riff. Das Krankenhaus. Die Schläuche. Die Farbe Weiß. Die Schwestern, immer lächelnd. Eine ganz junge mit großen Haselnussaugen und schwarzen Haaren strich ihm über die Stirn. Seine Mutter. Gramzerfurcht. Tränen in den Augen. Es waren Bilder, die ihm mit dieser Deutlichkeit noch nie in den Sinn gekommen waren. Bilder von damals, von seiner Krankheit. Der Verband, den er aus den Augenwinkeln zu einem kleinen Teil sehen konnte und der ihm um den ganzen Kopf lief und das Sprechen schwer machte. Der Arzt, der ihn mit einer Mischung aus Freude und Besorgnis ansah. Keiner sagte ihm, was geschehen war. Dann die lange Zeit in der Kurklinik, wo Ärzte ohne Kittel und mit unerträglich starrem Blick ihm Fragen stellten, die er nicht beantworten konnte – Fragen nach der Vergangenheit. Er war nach Hause entlassen worden, ohne dass sein Erinnerungsvermögen Fortschritte gemacht hatte. Seine Mutter hatte ihm später, als er immer drängender nach dem Grund für seinen Krankenhaus- und
Kuraufenthalt gefragt hatte, nur unbestimmt gesagt, er hätte einen Tumor im Kopf gehabt, und wegen der schwierigen Operation hätte er das Gedächtnis verloren. In der ersten Zeit hatte er manchmal noch Kopfschmerzen gehabt, doch sie waren bald verschwunden, wie die Ärzte vorausgesagt hatten. Nur die Erinnerung war nicht zurückgekehrt, und mit der Zeit hatte er sogar die Einzelheiten des Krankenhausaufenthaltes vergessen. Bis heute. Hier, in der vollkommenen Finsternis, kehrten die Bilder zurück, als hätten sie nur auf Arthurs Blindheit gewartet. Die großen, grünen Erbsen auf dem Plastikteller, der Kakao, der immer entweder zu heiß oder zu kalt gewesen war, die alte Schwester Margaretha, die ihm abends oft vorgelesen hatte, der große Kastanienbaum vor dem Fenster, der im Sommer die gegenüberliegenden Gebäude verdeckte. Er konnte sich auch an den Baum in seiner winterlichen Kahlheit erinnern, was bedeutete, dass er sehr lange im Krankenhaus gewesen sein musste. Auch nachdem es ihm wieder relativ gut gegangen war, hatte er an Konzentrationsstörungen gelitten. Immer wieder hatte er versucht, die weiße, leere Vergangenheit zurückzuholen; immer wieder war er gescheitert. Aber hier in der feuchten, kalten Finsternis, ohne Halt und Hoffnung, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, als gäbe es einen Weg zurück zu seinen Erinnerungen. Diese Empfindung verbannte sogar seine Verzweiflung. Doch je mehr er sich anstrengte, Licht in seine Vergangenheit zu bringen, desto stärker plagten ihn die gleichen Kopfschmerzen wie damals. Sie wurden unerträglich. Er warf die nutzlos gewordene Taschenlampe weg und hielt sich mit beiden Händen den Kopf fest. Er ging ein paar Schritte, tappte in eine Pfütze. Wasser schwappte in seine Schuhe. Er marschierte einfach weiter; die Bewegung linderte die Kopfschmerzen ein wenig. Dann stieß er gegen eine Wand.
Er konnte gerade noch einen Sturz verhindern, streckte die Hände aus und tastete sich an der Wand entlang, bis er zu einem Durchgang kam. Inzwischen waren die Kopfschmerzen verschwunden – und mit ihnen das Gefühl, er könnte einen Zipfel des Schleiers lichten, der über der Zeit vor seiner Krankheit lag. Die Verzweiflung über seine augenblickliche Lage verdrängte wieder alles andere. Mit weit vorgestreckten Armen bewegte er sich voran. Immer wenn er an eine Wand kam, schlich er an ihr entlang, bis er eine Öffnung spürte. Er hoffte nur, dass er nicht im Kreis lief. Arthur hatte keine Ahnung, wie lange er schon in diesen nachtschwarzen Kavernen steckte. Nicht der geringste Lichtschein drang herein. Bis auf gelegentliches Tropfen war kein Laut zu hören. Arthur kämpfte sich verbissen weiter. Er hatte geglaubt zu wissen, wie es ist, wenn man in seinem Leben völlig die Orientierung verliert, doch da hatte er sich gewaltig geirrt. Er hätte schreien mögen, aber wer sollte ihn hier unten hören? Kein Mensch, kein Geist. Kein Geist… Seine Finger berührten Holz. Eine Tür! Es durchzuckte ihn wie ein Stromschlag. Er erfühlte die Klinke, drückte sie herunter. Die Tür war versperrt. Er hätte vor Enttäuschung heulen können. Nachdem er sich wieder ein wenig beruhigt hatte, fuhr er mit den Fingern über Holz und Rahmen. Scharniere entdeckte er dabei nicht. Also ging die Tür nach außen auf – wo immer dieses Außen sein mochte. Wenn er sich nur heftig genug dagegenwarf… Arthur stieß mit der Schulter gegen das Holz. Es knirschte und gab sogar ein wenig nach, doch die Tür blieb zu. Er nahm größeren Anlauf. Diesmal erzitterte die Tür, und Schmerzen durchbohrten seine Schulter. Er hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz, setzte auch die Knie ein und kämpfte mit der Kraft eines Verzweifelten. Dann schwang die Tür mit einem klappernden, quietschenden Geräusch auf. Hinter ihr war
nichts zu erkennen. Schwärze führte in Schwärze. Erschöpft sackte Arthur neben dem Durchgang zusammen und lehnte sich gegen die kalte Wand. Er hatte bloß eine weitere Tür ins Nichts aufgestoßen. Mit der Hand fuhr er gedankenverloren auf dem glatten Boden entlang, der wie die Wand aus behauenem Fels zu bestehen schien. Er hatte den Eindruck, dass er die gemauerten Kellergewölbe schon lange verlassen hatte. Da fasste seine Hand plötzlich ins Leere. Verdutzt tastete er umher. Offensichtlich fiel der Boden kurz hinter der Tür steil ab. Vorsichtig kroch Arthur an den Abgrund heran und streckte die Hand nach unten aus. Bald spürte er wieder ein Stück festen Boden. Er schien auf eine weitere Treppe gestoßen zu sein. Arthur zog sich an der Wand hoch und trat behutsam auf die erste Stufe. Dann suchte er mit dem schwebenden rechten Fuß die nächste. Fand sie. Schritt eine weitere Stufe hinunter. Und noch eine. Er kam nur langsam voran, denn er wollte keinen Sturz riskieren. Daher dauerte es lange, bis er endlich wieder festen Boden unter den Schuhen spürte. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte in die Finsternis. In einiger Entfernung vor ihm erhob sich etwas aus dem Boden, das noch schwärzer als seine Umgebung war. Wie war das möglich? Wieso konnte Arthur diesen Schemen sehen? Aufgeregt schritt er darauf zu. Es war ein Felsblock, der geradezu aus dem Untergrund zu wachsen schien. Arthur betastete ihn. Er war vollkommen regelmäßig, und als sich Arthur tief genug zu ihm herunterbeugte, erkannte er sogar die Oberfläche. Das Ding erinnerte ihn an einen heidnischen Altar. War das hier etwa in vorchristlicher Zeit eine Kultstätte gewesen? In seinen Fingerspitzen prickelte es, als er die Platte des Altars berührte. Es war wie ein schwacher elektrischer Strom. Angenehm. Beruhigend. Er beugte sich noch tiefer hinab und legte die
Wange an den kühlen Stein. Ganz fern, ganz tief, eingeschlossen in dem Altar, glaubte er ein unendlich leises, klagendes Geräusch zu hören. Er richtete sich wieder auf. Sah nach vorn. Sah die Höhlenwand. Dafür gab es nur eine einzige Erklärung. Von irgendwoher musste ein Lichtschimmer eindringen. Er umrundete den rätselhaften Steinklotz und lief auf die Wand zu. Die Höhle machte eine Biegung nach rechts. Und da, ganz weit hinten, war tatsächlich ein hauchdünner Lichtspalt zu sehen. Arthur vergaß jede Vorsicht und rannte darauf zu. Beinahe wäre er gegen die Staffelei geprallt. Als er sie erkannte, schluchzte er vor Erleichterung. Es war der richtige Weg gewesen. Er riss einen Flügel der Ateliertür auf und stand im Freien. Arthur taumelte durch den Garten, der unter nachmittäglichem Sonnenschein lag, und eilte auf sein Haus zu. Als er die geschlossene Tür sah und hektisch und vergeblich in seinen Hosentaschen nach dem Schlüsselbund suchte, begriff er, dass er sich wieder einmal ausgesperrt hatte.
15. Kapitel
Er glaubte schon die Blicke hinter den Fensterscheiben zu spüren, doch als er sich verstohlen umdrehte, regte sich keine einzige Gardine in der Burgstraße. Arthur klingelte bei Benzedron. Leider war der Künstler nicht zu Hause. Das Dorf wirkte heute noch lebloser als sonst. Sollte er zu Daphne hinausgehen? Aber was sollte er tun, wenn sie noch immer nicht heimgekehrt war? Mit schlurfenden Schritten schlich er hinüber zu Herrn Meier und versuchte dort sein Glück. Doch auf sein Klingeln geschah auch hier nichts. War er etwa allein in diesem verdammten Dorf? Beklemmung umschmiegte ihn. Endlich hörte er Geräusche hinter der Tür. Sie wurde aufgezogen, und Meier starrte den unerwarteten Besucher an. Arthur entschuldigte sich für die Störung. »Ich habe mich ausgesperrt«, sagte er. »Aber ich glaube, meine Terrassentür steht noch offen. Haben Sie eine Leiter? Könnten Sie mir helfen, über den Zaun hinter dem Haus zu klettern?« Meier sah ihn von Kopf bis Fuß an und fuhr sich mit den Fingern durch die nach allen Seiten abstehenden Haare. Seine Blicke waren wie Dolche. Er schüttelte den Kopf. »Sie haben sich mit meiner Katze angefreundet.« Arthur nickte. »Marga mag nur gute Menschen. Ich verstehe nicht, wieso sie sich mit Ihnen eingelassen hat«, brummte er. »Zumindest können Sie nicht so schlecht sein, wie man im Dorf behauptet. Ja, ich habe eine Leiter.«
Während Meier die Klappleiter zum Zaun trug und sie darüberstellte, sodass sie auf beiden Grundstücken ruhte, meinte Arthur: »Es ist heute so still hier.« »Der Eifelverein, Ortsgruppe Fangenburg, macht seine jährliche Wanderung, und fast alle aus dem Dorf gehen mit«, erklärte Meier und prüfte die Standfestigkeit der Leiter. »Wenn ich etwas hasse, dann sind das Rudelspaziergänge. Da lobe ich mir doch mein Gewehr und meine Stimme. Würden Sie jetzt endlich rübersteigen? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Arthur kletterte auf sein Grundstück und sah sofort, dass die Terrassentür in der Tat nur angelehnt war. Er war gerettet. Meier zog die Leiter zurück und verschwand, bevor Arthur sich bedanken konnte. Als er auf die offene Tür zuging, hörte er, wie drinnen das Telefon schellte. Er rannte durch die Küche, zum Treppenabsatz, riss den Hörer von der Gabel. »Ich brauche dich so sehr, mein Liebster«, schluchzte Daphne am anderen Ende. »Du musst sofort herkommen.« »Ich bin… Ich habe…« »Bitte, bitte. Ich brauche dich jetzt mehr denn je. Wo warst du bloß? Ich versuche schon den ganzen Tag, dich zu erreichen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, welche Sorgen ich mir um dich gemacht habe. Nimm mich in den Arm. Ich werde mit dem Gedanken, dass Alexander tot ist, einfach nicht fertig.« »Ich…« »Beweise mir, dass du mich wirklich liebst!« Sie hängte auf. Arthur duschte kurz und fuhr zu ihr. Sie kam nicht einmal zur Tür. Er betrat das Haus, nachdem er mehrmals geklopft und geschellt hatte, und fand sie auf dem Rattansofa. Er kniete sich vor sie, nahm sie in den Arm, fuhr ihr über das Haar. Sie weinte an seiner Schulter. So blieb es, bis er die unbequeme Stellung nicht mehr aushielt. Er setzte sich neben sie. Daphne
wurde allmählich ruhiger und wischte sich die Tränen aus den Augen. Es glimmerte in ihnen, als sie Arthur ansah. In ihrem Blick lag so vieles: Hilfsbedürftigkeit, Sehnsucht, Zärtlichkeit – und ein verwirrender Anteil Verlangen. »Alexander…«, begann sie und schluchzte wieder heftig. Arthur legte den Arm um ihre Schulter. Er fühlte die Haut unter dem dünnen Stoff der Sommerbluse. Und er fühlte nirgendwo den Träger eines BH. Daphne schmiegte sich an ihn. »Er war so krank«, seufzte sie, »aber ich hätte es nie für möglich gehalten, dass er so früh stirbt.« »Was hatte er denn?« Darauf gab Daphne keine Antwort. Sie schien plötzlich mit den Gedanken weit fort zu sein. Arthur überlegte, ob er ihr von der Erscheinung Alexanders berichten sollte. Würde es sie beruhigen? Doch was sollte er ihr überhaupt sagen? Glaubte er etwa an das, was er gesehen hatte? Arthur erinnerte sich an das Gefühl der lodernden Angst, die dem Spuk vorangegangen war. Sollte er sich das alles nur eingebildet haben? Er beschloss, nichts zu sagen. So saßen sie da, aneinandergelehnt, hielten sich fest, vergewisserten sich der Körperlichkeit, der Wirklichkeit des anderen, und nichts weiter existierte mehr auf der Welt. Arthur hoffte, dass Daphne dasselbe fühlte wie er. Er hätte für den Rest seines Lebens so dasitzen können, in Frieden, in Liebe. Er war so müde. »Wo ist eigentlich Ingo?«, fragte er nach einer Weile, denn erst jetzt fiel ihm auf, dass neben dem Haus kein Wagen mehr gestanden hatte. »Weg.« »Für immer?« »Warum willst du das wissen?«
»Weil… weil ich der einzige Mann in deinem Leben sein will.« »Aber das bist du doch sowieso.« Sie küsste ihn. Er spürte ihre Zunge in seinem Mund, an seiner Zunge, und er umarmte sie fester. Ihre Hände tasteten sich unter sein Hemd, und auch er wurde kühner, umspielte durch den Stoff ihren Busen. Die Brustwarzen reckten sich auf und stachen durch die Bluse. Die Küsse wurden fordernder; Daphne stöhnte in Arthurs Mund. Dann stieß sie ihn von sich. »Nein!«, keuchte sie. »Nicht hier. Hier erinnert mich alles an Alexander.« Das Bild des Geistes stand Arthur wieder in aller Furchtbarkeit vor Augen. Er durfte es nicht vor ihr verheimlichen. »Ich muss dir etwas sagen«, begann er. Sie schaute ihn erwartungsvoll an, hatte sich zur anderen Seite des Sofas zurückgezogen. »Ich habe Alexander gesehen.« »Was?« Es war keine Frage, sondern ein Schrei. »Er ist mir erschienen. Gestern Nacht in meinem Haus.« »Wie sah er aus?«, fragte sie atemlos. Sie schien seine Wahrnehmung nicht in Frage zu stellen. »Schrecklich«, antwortete er. »Als käme er geradewegs aus der Hölle.« »O Gott! Er leidet! Der Ärmste!« »Du glaubst daran?«, fragte er vorsichtig. »Du etwa nicht? Du hast ihn doch selbst gesehen, sagst du!« »Ja… nein… ich weiß nicht mehr, was ich gesehen habe.« »Ich muss über all das nachdenken. Ich muss raus hier. Kommst du mit? Bitte.« Sie stand auf und ging zur Tür. Er folgte ihr wie ein Hündchen. Sie schlug den Weg zum Dorf ein. »Muss das sein?«, fragte er. »Hier sieht uns doch jeder. Können wir nicht in den Wald gehen?«
»Genau das habe ich vor. Gegenüber dem Burgtor beginnt ein Wanderweg.« »Ich weiß…« Schweigend gingen sie nebeneinander nach Fangenburg hinein, stiegen die Burgstraße hoch, und als sie an Arthurs Haus vorbeikamen, stahl sich Daphnes Hand in die seine und drückte sie fest und liebevoll. Sie nahmen denselben Weg, den er schon einige Male allein gegangen war, kamen an der Höhle und der Bank vorbei, und dahinter begann für Arthur das unbekannte Land. Der Pfad wurde breiter, bog sich vom Dorf weg und führte über eine spärlich bewaldete Hochfläche. An einer ausgedehnten Lichtung blieb Daphne stehen. »Ist es nicht wunderbar hier?«, fragte sie und sah Arthur zärtlich an. Alte, knorrige Eichen und mächtige Buchen bildeten ein Halbrund um eine Wiese, die mit dem kräftigsten Grün prunkte, das Arthur je gesehen hatte. Der Wanderweg durchschnitt diese Wiese und führte dahinter in einen dunklen Fichtenwald. »Komm, wir setzen uns unter die große Eiche da hinten. Da sitze ich oft, wenn ich nachdenken will.« Sie zog ihn zu dem Baum, dessen mannsdicke Äste wie erstarrte Wellen in den Himmel wogten. »Ich vermisse diesen armen, verrückten Alexander so sehr«, sagte sie leise, als sie sich vor der Eiche ins weiche Gras gesetzt hatten und mit dem Rücken gegen den Stamm lehnten. »Er ist oft zu mir gekommen, wenn er… okkulte Schwierigkeiten hatte. Ich konnte ihm immer helfen, aber jetzt…« Sie begann wieder zu weinen, und Arthur nahm sie in den Arm. Er hätte gern gewusst, was »okkulte Schwierigkeiten« waren, aber er wagte nicht zu fragen. Nicht jetzt. Nicht hier. »Ich darf nicht immer nur nach hinten sehen«, ermahnte sie sich. »Das Leben geht weiter.« Sie klammerte sich an ihn.
Nicht nach hinten sehen… einfach seine Mutter vergessen, seine Missgeschicke vergessen… er hatte schon einmal alles vergessen… nicht schon wieder… Seine Gedanken ertranken in einer Welle der Lust, als Daphne ihre Lippen auf die seinen presste. Ihre Hände waren überall an seinem Körper, und er tat es ihr gleich. In ihrer Wollust lag atemlose Verzweiflung. Sie riss ihm das Hemd vom Körper, einige Knöpfe platzten ab, er zerrte ihr die Bluse aus der Jeans, fuhr ihr mit den Fingerspitzen über den nackten Rücken. Sie unterbrach den Kuss, lehnte den Kopf in den Nacken und stöhnte laut auf. Rasch schlüpfte sie aus ihrer Hose, entkleidete auch Arthur ganz, und kurz darauf lagen sie nackt im Gras. »Der Weg… zu nah…«, murmelte Arthur, doch Daphne drehte ihn einfach auf den Rücken und bestieg ihn. Wie in jener Fiebernacht. Es war, als wollte sie alle Trauer, alle Erinnerung aus sich herausstoßen. Sie hatte die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet, und ihr Stöhnen ging Arthur durch Mark und Bein. Alle Düsterkeit löste sich auf, er trank das Bild der gewaltigen Eiche über sich, das Bild des Himmels, der Wolken, der nackten, vor Ekstase schwitzenden Daphne, und es gab keine Geister mehr, keine Mutter, keine Angst. Danach spürte er kurze Zeit noch, wie Daphne sich neben ihm bewegte; er fühlte ihre nackte Haut und hörte ihr glückliches Seufzen. Dann forderten die Aufregungen und Anstrengungen des Tages und der vergangenen Nacht ihren Tribut. Arthur schlief ein, so zufrieden und ruhig wie lange nicht mehr. Fröhliches Singen und Schwatzen durchdrangen seinen Traum; die Vögel beobachteten die beiden Liebenden im Gras, und auch Arthur schaute hinunter auf Daphne und sich selbst und stieß einen lebhaften Triller aus. Er pries Daphnes
Vorzüge seinen gefiederten Freunden gegenüber, und alle plapperten freudig durcheinander. Einer aber schrie auf. Dann kreischte ein anderer. Einige lachten, dunkel, böse. Arthur fiel von dem Ast, auf dem er gesessen und gezwitschert hatte, herunter, fiel geradewegs in den Kopf des Schlafenden. Er schlug die Augen auf. Um ihn herum stand eine große Gruppe von Wanderern. Einige kannte er: die Gärtners, Herrn Bauer, ein paar Männer und Frauen, die er schon öfter im Dorf gesehen hatte. Sogar der Pastor war dabei. Arthur erinnerte sich, dass Herr Meier gesagt hatte, der Eifelverein, Ortsgruppe Fangenburg, mache heute seine Jahreswanderung. Und dieser Eifelverein hatte sich nun um den nackten Arthur versammelt. Gehetzt schaute er sich nach Daphne um. Sie war verschwunden. Genau wie seine Kleidung.
16. Kapitel
Verdutzt sprang er auf und rannte davon. Er hatte nicht einmal etwas, womit er seine Blöße bedecken konnte. Einige Männer johlten hinter ihm her; Frau Gärtner keifte: »Günther, schnapp dir das Schwein«, andere Frauen kreischten oder kicherten. Arthur hastete den Weg zurück, auf dem er mit Daphne hierhergekommen war. Jedes Steinchen drückte ihm in die nackten Sohlen, jeder Zweig schlug ihm schmerzhaft gegen die Haut, aber schlimmer noch waren die hämischen Kommentare seiner Verfolger. Einmal schaute er sich kurz um. Herr Gärtner, der Riesentroll, führte das Feld an. Während die übrigen Wanderfreunde grinsten und lachten, eilte Gärtner verbissen und mit irrer Wut in den Augen hinter Arthur her, als hätte dieser ihm persönlich etwas angetan. Bald ging Arthur die Luft aus. Blitze zuckten hinter seinen Augen. In seiner Lunge brannte Feuer. Er hörte, wie das Rufen hinter ihm leiser wurde. Doch er hielt nicht an. Im Laufen warf er noch einmal einen Blick hinter sich. Gärtner wurde soeben von zwei Männern in großkarierten Hemden am Arm gepackt; es war, als wollten sie ihm klarmachen, dass das alles doch nur ein Spaß sei. Endlich gab auch er die Verfolgung auf. Arthur lief weiter, bis er zu dem Grat und dem Torbau der Fangenburg kam. Hier erlaubte er sich, kurz Luft zu holen. Seine Füße schmerzten höllisch; es war, als ginge er über glühende Kohlen. Weit hinten im Wald hörte er schallendes Lachen und lauten Protest. Er lief die Burgstraße hinunter und war bald bei seinem Haus angekommen. Bei seinem verschlossenen Haus.
Fast hatte er den Eindruck, dass sich auch sein Zuhause gegen ihn verschworen hatte und ihn nicht mehr einlassen wollte. Panisch schaute er die Straße hinauf und hinunter. Noch war niemand zu sehen. Zum Glück. Doch er konnte es nicht wagen, nackt durch das ganze Dorf bis zu Daphne zu laufen. Falls sie überhaupt daheim war. Wo war sie abgeblieben? Hatte sie etwa seine Kleidung mitgenommen? Es war ihm nicht aufgefallen, dass einer der Wanderer sie in der Hand gehabt hatte. Er musste von der Straße wegkommen. Zu Meier? Nein, ihm durfte Arthur sich nicht in diesem Zustand zeigen. Benzedron? Er war schließlich Künstler und hatte offenbar Gefallen an Bizarrerien. Er war Arthurs einzige Chance. Also hastete er die wenigen Stufen zu Benzedrons Tür hoch. Zum Glück war der Künstler zu Hause. Er öffnete und starrte Arthur mit einer Mischung aus Neugier, Verwunderung und Belustigung an. »Darf ich Sie hereinbitten?«, fragte er Arthur, der sich verschämt mit den Händen zu bedecken suchte. »Bitte!« Arthur betrat den Flur und stand da wie ein Fragezeichen. Am liebsten hätte er sich in sich selbst hineingekrümmt, hätte sich aufgefressen und wäre verschwunden. »Darf ich Ihnen meinen Bademantel leihen?«, fragte Benzedron beiläufig. »Ja, bitte.« Benzedron holte das versprochene Kleidungsstück. Es bestand aus hellem Frotteestoff und reichte Arthur bis zu den Füßen. Darin sah er beinahe wie ein Zisterziensermönch aus. Er zog sich den Gürtel fest um die Taille. Jetzt fühlte er sich etwas besser. Benzedron geleitete ihn in das Wohnzimmer unter Avatar 33 und meinte: »Sie haben bemerkenswerte Angewohnheiten.
Nacktbaden am Straßenrand gehört offenbar auch dazu. Darf ich fragen, woher Sie Ihre kleinen Exzentrizitäten beziehen?« »Darf ich den Schlüsseldienst anrufen?« »Schon wieder?« Da Arthur ihn völlig verständnislos ansah, erläuterte der Künstler: »Ihr Haus hat Sie jetzt schon zum dritten Mal hinausgeworfen, wenn ich richtig mitgezählt habe. Sie sollten überlegen, ob das wirklich eine Beziehung fürs Leben sein kann.« Arthur hatte den Eindruck, dass der letzte Satz nicht nur auf sein Haus, sondern auch auf sein Verhältnis mit Daphne anspielte. Er gab keine Antwort. Beim Schlüsseldienst bestellte er gleich ein neues Schloss, da er nicht mehr die Hoffnung hatte, seinen Schlüsselbund, der in der Hosentasche gesteckt hatte, je wiederzusehen. Danach hätte er am liebsten Daphne angerufen, aber er traute sich nicht, unter Benzedrons Ohren mit ihr zu reden. Hoffentlich war ihr nichts zugestoßen. Er sehnte sich nach ihr, und eine Hitzewelle durchlief ihn, als er an ihr gemeinsames Liebesspiel dachte. Erstaunt stellte er fest, dass offenbar ungeahnte, lange verborgene Kräfte in ihm schlummerten. Nachdem er Benzedron widerwillig die unglaubliche Geschichte seiner Flucht vor den Wanderern erzählt hatte, lachte dieser herzlich und lange. »Ja, ja, Daphne kann einem wirklich den Kopf verdrehen«, meinte er. »Aber sie ist ein falsches Biest.« »Wie können Sie nur so etwas sagen?« Es war klar, dass aus Benzedron der reine Neid sprach. Der Künstler wechselte rasch das Thema. »Hat es bei Ihnen drüben neue Spukerscheinungen gegeben?« Arthur zögerte, bevor er antwortete: »Nein.« Benzedron nickte wissend und grinste, aber er sagte nichts mehr.
Als die Stille im Raum zu unangenehm wurde, fragte Arthur: »Wie kommen Sie mit dem neuen Avatar voran?« »Sehr gut; er ist fast fertig. Ich werde ihn Ihnen zeigen, sobald ich damit zufrieden bin. Es ist mein bisher intensivstes Werk. Sie werden begeistert sein. Ich habe in das Schreckenswesen, das Sie sind, all Ihre Gespenster gelegt, und das Ergebnis ist umwerfend. Freuen Sie sich auf die bisher für Sie versperrt gewesenen Tiefen Ihrer Seele.« Der Schlüsseldienst kam, und Arthur erteilte seine Instruktionen im geliehenen Bademantel. Nach einer Stunde war das neue Schloss eingebaut. Endlich konnte sich Arthur anziehen und Benzedron den Bademantel zurückgeben. Er rief Daphne an – das heißt, er versuchte es, denn sie war nicht da. Arthur begann sich schreckliche Sorgen um sie zu machen. Was war auf der Lichtung geschehen, während er geschlafen hatte? Immer wieder wählte er Daphnes Nummer. Verrückt vor Angst lief er von einem Zimmer ins andere, biss sich dabei auf die Knöchel, bis sich seine Zähne im Fleisch abzeichneten, und nagte an der Unterlippe, die bald blutig war. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fuhr zu ihr. Sie war nicht da. Die Haustür war abgeschlossen. Arthur fuhr auf der Suche nach ihr ziellos durch das Dorf und die Umgebung, doch sie blieb verschwunden. Erst als die Dunkelheit nahte, gab er auf. Die Zimmer seines Hauses schwiegen ihn an. Er hatte das seltsam deutliche Gefühl, dass er Daphne verloren hatte. Verloren für immer. Verloren wie seine Mutter. Wieder war er ohne Halt, ohne Schutz, ohne Liebe – seinen Gespenstern ausgeliefert. Die Finsternis glitt in den Talkessel, glitt in Arthur hinein, schwärzte die Freude, die er in den letzten Tagen allen Widrigkeiten zum Trotz hatte erleben dürfen. Er war wieder allein. Und würde es immer sein.
»Verrate deine Mutter nicht an eine andere Frau«, sagte eine Stimme. Die Stimme seiner Mutter in ihm – oder irgendwo im Raum. Er fuhr zusammen. Noch hatte er das Licht nicht eingeschaltet, und in allen Ecken klebten Schattennester. Ein Brummen erfüllte seine Ohren. Er glaubte, von unten ein verstohlenes Geräusch zu hören. Daphne? Warum klingelte sie nicht? Er rannte hinunter. Die Geräusche erstarben, als er die Haustür aufriss. Niemand war da. Müde und erschöpft trottete er wieder nach oben. Er wünschte sich so sehr, er könnte eine seiner Masken aufsetzen und ein anderer werden. Kein Mensch, sondern ein Dämon – ein Wesen, vor dem man sich fürchtete. Er lächelte, als er an Frau Gärtners entsetzten Gesichtsausdruck dachte. Er sollte unbedingt von Daphne den Schlüssel zurückverlangen. Es war noch zu früh gewesen. Das Telefon zerriss seine Maskenträume. Es war Daphne. Sie klang völlig erschöpft. »Ich bin erst jetzt nach Hause gekommen«, sagte sie. »Es war alles so furchtbar.« Mit zitternder Stimme berichtete sie, sie sei kurz vor Arthur aufgewacht und habe sofort bemerkt, dass ihre Kleidung weg war. Dann hatte sie die Stimmen gehört und sogleich gewusst, dass es die Wandergruppe war. Vergeblich hatte sie versucht, Arthur zu wecken, und war in den Wald geflohen, als die Wanderer die Lichtung schon beinahe erreicht hatten. Dort hatte sie verzweifelt Arthurs Martyrium zugesehen und sich wegen ihrer Feigheit schrecklich geschämt. »Das hast du richtig gemacht«, beruhigte Arthur sie. Es war eine furchtbare Vorstellung, wie die geifernden alten Böcke die nackte Daphne anstarrten und sie mit ihren schmutzigen Blicken vergewaltigten. »Mein Schlüssel war in meiner Jeans. Zum Glück hatte ich einen Nachschlüssel im Garten versteckt. Stell dir vor, Arthur, vorhin habe ich ein komisches Geräusch an der Tür gehört,
und da lagen meine Kleider sorgsam gefaltet auf der Schwelle und der Schlüsselbund obendrauf. Hast du deine Sachen auch wiederbekommen?« »Nein. Diese verdammten Kerle!« »Arthur, ich glaube nicht, dass der Kleiderdieb ein Mensch war.« »Wie bitte?« »Ich habe an meinen Sachen Alexanders After Shave gerochen. Es war ganz deutlich. Ich glaube, er ist eifersüchtig auf dich.« Arthur traute seinen Ohren nicht. »Ich muss dir etwas gestehen«, fuhr Daphne fort. »Zwischen dem armen Alexander und mir war mal etwas. Das ist schon lange her, und in der letzten Zeit war er für mich nur noch mein Kunde und Freund. Aber er scheint das etwas anders gesehen zu haben.« Sie seufzte schwer. »Ich glaube, er hat mich immer noch geliebt, und sogar als Geist verübelt er mir und besonders dir unsere Liebe. Und deshalb müssen wir dem Spuk ein Ende bereiten. Noch heute. Ich will gleich zu dir kommen und mit dir Alexanders Geist beschwören.« Arthur blieb die Luft weg. »Eine Seance?«, murmelte er nach langem Schweigen. »Genau. Du hast gestern Alexanders Astralkörper in deinem Haus gesehen. Das heißt, dass er herumirrt, weil er noch voller Zorn ist. Ich weiß nicht, ob wir die anderen Phänomene in deinem Haus damit auch beenden können, aber irgendwo müssen wir einen Anfang machen. Bis gleich.« Eine Viertelstunde später war sie da. Arthur führte sie in das Esszimmer, wo sie auf dem großen Tisch ihre mitgebrachten Utensilien ausbreitete. »Zuerst muss ich vor deiner Haustür ein Pentagramm zeichnen, damit er nicht fliehen kann. Warte hier.« Sie nahm
ein Stück gewöhnliche Schulkreide und lief damit nach unten. Zehn Minuten später kehrte sie zurück. »Zieh die Vorhänge zu«, befahl sie. Er gehorchte; es war fast so wie früher, vor dem Fernsehabend. Dann setzten sie sich gegenüber. Daphne legte die Hände auf den Tisch und spreizte die Finger. »Mach es genauso. Unsere Fingerspitzen müssen sich berühren. Ja, gut so. Und jetzt werden wir Alexanders Geist rufen.« »Brauchen wir sonst nichts dazu?«, wunderte sich Arthur. »Kein Zauberbrett, keine magische Kugel oder so etwas?« Daphne lächelte ihn an. »Das benutzen nur Scharlatane. Ich bin ein Medium, Arthur. Ich kann kraft meines Geistes Kontakt mit der Welt des Jenseitigen herstellen.« Sie schloss die Augen und murmelte etwas, das er nicht verstand. Sollte er das wirklich glauben? Hatte sie sich nicht in seiner Gegenwart über solche Dinge lustig gemacht? Er wollte diesen Humbug nicht als Preis für seine Liebe zahlen. »Konzentrier dich«, sagte Daphne und öffnete die Augen. Jetzt wirkten sie nicht mehr rehbraun, sondern schwarz. Arthur prallte zurück, und seine Fingerspitzen verloren den Kontakt zu ihr. »Du musst daran glauben – um unserer Liebe willen. Hilf mir!« Ihre Stimme klang so verändert. So dunkel und hart. »Versuch es noch einmal.« Er legte die Fingerspitzen wieder an ihre Hände, und diesmal durchfuhr ihn etwas wie ein leichter Stromschlag. Es war ähnlich wie bei dem Altar unten im Berg. Er keuchte auf. »Schon besser«, sagte Daphne. Sie hielt die Augen geschlossen und grinste. Es wirkte wölfisch. Wieder begann sie zu murmeln. Arthur spürte, dass sich etwas in der Atmosphäre des Zimmers änderte. Er wollte es nicht sehen und schloss ebenfalls die Augen. Daphnes Murmeln wurde lauter, bestimmender, aber immer noch verstand er kein einziges
Wort. Redete sie in einer fremden Sprache? Der gutturale Klang der Worte gefiel ihm nicht. Es wurde empfindlich kalt im Raum. Arthur schlug die Augen auf. Sein Atem trieb in kleinen Fäden vor ihm her. Nebelschwaden zogen durch die Luft und umkreisten Daphne. Plötzlich hörte er ein lautes Poltern. Auch Daphne riss die Augen auf. Ihre Hände zuckten zurück. Sofort endete das Poltern. In ihrem Blick lag blankes Entsetzen. Dann schlug sie die Hände vor das Gesicht. »O Gott!«, schluchzte sie. »Das ist unfassbar.« »Was hast du gesehen?«, fragte Arthur heiser. »Alexander ist… er ist… er ist zugleich hier und in der Hölle. So etwas habe ich noch nie erlebt. Und der Schmerz, das ewige Leid! Wir müssen ihn retten, Arthur. Wir müssen ihn beschwören und ihm Frieden geben, damit er uns nicht mehr zürnt. Komm, wir versuchen es noch einmal.« Erneut legte sie die Hände auf den Tisch, und er berührte sie. Daphne murmelte ihre seltsamen Worte, und es wurde noch kälter im Raum. Ein merkwürdiger Ton durchwebte die Luft; er schien von überall und nirgends zu kommen. Es klang beinahe wie Gesang. So stellte sich Arthur den Chor der Engel vor. Daphne legte den Kopf in den Nacken und schrie die verrückten Worte heraus. Dann sprang sie auf. Sie schien in Trance zu sein. Während sie vor dem Tisch stand, bildete sich Schaum vor ihrem Mund. Sie rollte mit den Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Dann kam der andere Ton. Es mochte der Ton sein, den Satan angestimmt hatte, als er aus dem Himmel gefallen war. Oder den der Schöpfer ausstieß, bevor er ein Universum erschuf. Es war ein Laut uranfänglicher Macht. Arthurs Nackenhaare sträubten sich, er spürte den Ton auf der Brust, im Herzen, in der Seele.
Daphne schrie auf, hämmerte sich mit den Fäusten gegen die Schläfen, fiel zu Boden und wälzte sich herum, bis sie vor dem Schrank leblos liegen blieb. Arthur sprang zu ihr, kniete sich neben sie und hob ihren Kopf sanft an. Sie war bewusstlos. Der Ton erstarb, und es wurde wieder wärmer im Zimmer. Arthur klopfte ihr auf die Wangen, rief ihren Namen, öffnete ihr die Bluse und horchte auf ihren Herzschlag. Er war zwar schwach, aber fest und regelmäßig. Daphne erwachte. Versuchte ihn anzulächeln. Doch in ihren Augen lag unaussprechliches Grauen. Mühsam, wie eine alte Frau, stand sie auf; er half ihr dabei. »Ich habe die Lage unterschätzt«, sagte sie, als sie sich auf einen der Stühle fallen gelassen hatte. »Alexander ist schon fast hier, aber da ist eine mächtige Kraft, die nicht will, dass wir Kontakt zu ihm aufnehmen. Ich muss räuchern. Bring mir eine Porzellanschüssel.« Arthur holte eine Schüssel mit Blumendekor heraus, die seiner Mutter gehört hatte, und stellte sie auf den Tisch. Daphne schüttete einen der Beutel, die sie mitgebracht hatte, hinein und entzündete ein besonders langes Streichholz, das ebenfalls zu ihrer Ausrüstung gehörte. Bald glommen und schmokelten die Kräuter vor sich hin und verbreiteten einen süßlichen und zugleich stechenden Geruch. »Asa foetida, Stechapfelblätter, Mandragora, Beifuß, Teufelskralle und noch ein paar Sachen, die ich lieber nicht verrate«, erklärte Daphne. »Es riecht etwas streng, aber es wird den Dämon in Schach halten.« »Den Dämon?« »Alexander befindet sich in den Fängen eines schrecklichen Teufels.«
»Ist das derselbe, der angeblich in meinem Haus spukt?«, wollte Arthur wissen und wunderte sich darüber, dass er überhaupt eine solche Frage stellte. »Das ist schwer zu sagen«, meinte Daphne ernst. »Dein Haus ist ein Brennpunkt der jenseitigen Welt. Hier kreuzen sich Kraftfelder. Vielleicht sind wir nach der Seance klüger.« Der Raum füllte sich mit dem Gestank der Räucherungen. Die Luft durchzogen dichte Schwaden, die zäher waren als der Nebel vorhin. Daphne machte einen neuen Beschwörungsversuch. Diesmal fiel sie wieder in Trance, aber sie bekam keinen Anfall. Nachdem sie ihre unverständlichen Worte gemurmelt hatte, fragte sie: »Bist du hier, Alexander?« Ein Pochen antwortete ihr. Es kam nicht aus dem Esszimmer, sondern von unten. »Zeige dich, Alexander.« Das Pochen wurde lauter. Gleichzeitig setzte bei Arthur wieder dieses Gefühl des Grauens ein, das er in seinem Haus schon öfter empfunden hatte. Auch Daphne schien es zu verspüren, denn sie zitterte. Arthur sah, wie sie eine Gänsehaut bekam. »Alexander… wo… bist… du?« Nun brach unten die Hölle los. Zu dem Pochen gesellten sich Rumpeln, Krachen, Splittern, Knacken, Schleifen und Hämmern. Das ganze Haus wurde erschüttert. »Er ist da«, keuchte Daphne. »Wo ist er?« Erst jetzt schien sie den Lärm zu bemerken. »Unten«, sagte sie erstaunt. »Er ist nicht hier bei uns, sondern unten.« Sie lief ins Erdgeschoss. Arthur folgte ihr. Sie betrat das Maskenzimmer. Es war nicht mehr abgeschlossen. Die Vitrinen waren umgestoßen, das Glas zersplittert, und die wertvollen Masken lagen zerbrochen am Boden. Inmitten dieses Chaos stand Alexander. Er steckte in einem Umhang,
wie Mönche sie zu tragen pflegen, und hatte die Kapuze aufgesetzt. Trotzdem war genug von seinem Gesicht zu erkennen. Es war weiß; die Augen waren pupillenlose Höhlen, in denen es glimmerte, die Wangen waren eingefallen. Das Gespenst öffnete den Mund zu einer Travestie des Lachens. Seine Zähne waren schwarz, und tief im Schlund regte sich etwas wie eine Schlange. »Alexander, wir sind hier, um dich…« Weiter kam Daphne nicht. Die Gestalt breitete die Arme aus. Die unzähligen Glassplitter am Boden erhoben sich, umtanzten Alexander, bildeten Ringe, schlossen ihn darin ein. Dann stiegen die Holzstücke der zerstörten Masken in die Luft. Eines nach dem anderen zerplatzte und wurde zu feinem Holzstaub pulverisiert. Auch dieser braune Staub bildete Wirbel um die mönchsartige Gestalt. Nun schwebte sie wie schwerelos im Raum. Sie ruderte mit den Armen, als wollte sie ihren Aufstieg verhindern. Dann taten sich Holzstaub und Glassplitter zusammen, bildeten ein undurchdringliches Gemisch und stoben auf die schwebende Gestalt zu. Sie schrie gequält auf, als die feinen Partikel in sie eindrangen. Das war das Letzte, was Arthur wahrnahm. Das und Daphnes furchtbaren Schrei. Dann verlor er das Bewusstsein.
17. Kapitel
Benommen sah Arthur sich um. Er lag auf dem Boden eines Raumes, den er nur wegen des Ohrensessels als das Maskenzimmer identifizieren konnte. Die Deckenlampe brannte; die Vorhänge waren zugezogen. Kein Licht fiel durch sie; vermutlich war es Nacht. Arthur regte sich; sein Körper schmerzte, als wäre jedes einzelne Glied auseinandergenommen und falsch wieder zusammengesetzt worden. Es gelang ihm, sich in eine sitzende Position zu bringen. Er konnte einfach nicht glauben, was er in diesem Raum sah. Nichts. Nichts außer dem Ohrensessel, der Deckenlampe, den Vorhängen. Alle Vitrinen waren verschwunden, ebenso die Masken. Nichts war zurückgeblieben, nicht die kleinste Glasscherbe, kein einziger Holzspan. Arthur kniete sich und suchte den Boden ab. Er wirkte, als wäre er soeben neu gelegt worden. Kein Faden, keine Fluse, kein Splitter hingen zwischen den flauschigen Schlingen. Was war bloß in der vergangenen Nacht geschehen? Hatte er geträumt? Dafür sprach, dass Daphne nirgends zu sehen war. Aber wo befanden sich seine Vitrinen, seine Masken? Arthur erhob sich mühsam und stieg nach oben. Im Esszimmer standen noch die Schüssel mit dem Räucherwerk sowie Daphnes Korb mit einigen Beuteln und Tüten darin. Also doch kein Traum. Oder beides: Traum und Wirklichkeit? Wo war die Grenze? Wo war Daphne?
Arthur war vollkommen erschöpft. Er sah auf die Wanduhr in der Küche. Es war schon weit nach Mitternacht. Das Gefühl der schrecklichen Angst war verschwunden. Müde setzte er sich auf die Couch und schlief ein, erwachte früh am Morgen beim ersten Gesang der Vögel. Seine Knochen schmerzten schlimmer denn je. Er rappelte sich auf, schleppte sich nach oben, wollte nur noch in seinem Bett liegen, schlafen, vergessen, warf einen beiläufigen Blick in das Gästezimmer. Seine Mutter lag im Bett und schlief fest. Gut. Aber die schwarzen Haare hatte sie doch schon lange nicht mehr… Mit zwei Schritten war Arthur neben dem Bett. Es war Daphne. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht. Im Schlaf schien sie zu bemerken, dass jemand bei ihr war. Sie murmelte etwas und drehte sich um. Dabei glitt das Laken von ihren Schultern. Sie war nackt. Ihre schweren, festen Brüste schaukelten leicht, die geschwungene Linie ihres Körpers verlor sich in Hüfthöhe unter der Decke. Gott, war sie schön! Was immer in der letzten Nacht geschehen sein mochte, durch den Anblick dieser Frau wurde es zu nichts degradiert. Arthur zog die Luft durch die zusammengepressten Zähne ein. Vielleicht war es dieses Geräusch, das sie weckte, vielleicht war es auch nur das Gefühl seiner Gegenwart. Zärtlich sah er auf sie hinunter. Als sie ihn erkannte, schrie sie auf, zerrte sich das Laken vor den Busen und rutschte so weit weg von ihm wie möglich. Verdutzt starrte er sie an. »Was ist los, Daphne?«, fragte er. Erst langsam beruhigte sie sich wieder, dann schluchzte sie: »Was hast du mit Alexander gemacht?« Er schüttelte den Kopf, begriff nicht. »Was ist passiert?«, fragte er. »Wo sind meine Masken?« »Du und deine verdammten Masken!«, fuhr sie ihn an. Entsetzen stand in ihren braunen Augen. Sie zitterte, schien sich geradewegs in die Wand drücken zu wollen.
»Der Geist… ist das wirklich so gewesen?«, stammelte er unbeholfen. »All die Glassplitter… wo ist das alles geblieben? Das Zimmer ist völlig leer.« »Geh hinaus, damit ich mich anziehen kann.« »Aber… wieso bist du plötzlich so prüde? Wir sind doch ein Paar. Warum…?« »Hinaus!« Er gehorchte, verließ das Zimmer mit hängenden Schultern, zog die Tür zu und wartete. Es dauerte kaum zwei Minuten, bis Daphne herauskam. »Du hast ein schreckliches Problem, Arthur Dreyer«, sagte sie und sah ihn ernst und traurig zugleich an. »Ich werde mich bemühen, es für dich zu lösen. Heute Mittag werde ich zurückkommen. Warte auf mich.« Sie ließ ihn stehen und ging nach unten. Er war zu verblüfft, um ihr zu folgen. Kurze Zeit später hörte er, wie die Haustür ins Schloss fiel. Er war wieder allein. Allein mit den Rätseln. Und eines davon war nun auch Daphne. Etwas war in der vergangenen Nacht zwischen ihnen zerbrochen. Mit schwerem Herzen suchte er das Maskenzimmer auf – das ehemalige Maskenzimmer. Erst allmählich dämmerte ihm, dass er seine unersetzliche Sammlung für immer verloren hatte. Er barg den Kopf in den Händen und weinte laut und hemmungslos. Nachdem er durch Erschöpfung wieder stiller geworden war, starrte er die leeren Wände an. Das Tageslicht wurde durch die zugezogenen Vorhänge gefiltert, grau und trüb gemacht, und Schatten in den Ecken und an den Wänden gaukelten die Rückkehr der Vergangenheit vor. Gefangen in diesen Schatten waren nun die Masken. Arthur sprang auf, streckte die Hände nach ihnen aus und berührte nichts als die kalte Wand. Es war vorbei. Er konnte sich nicht mehr hinter den Dämonen verstecken. Ein Geist hatte sie ihm genommen.
Je später es wurde, desto mehr sehnte er Daphnes Rückkehr herbei. Warum hatte sie sich ihm gegenüber bloß so seltsam verhalten? Sie war es doch gewesen, die diese Seance vorgeschlagen hatte. Es war ihr Wunsch gewesen, mit den Mächten des Jenseits Kontakt aufzunehmen. Arthur konnte noch immer nicht glauben, was dann geschehen war. Daphnes Angst, der angebliche Dämon, den die Räucherung besänftigen sollte, die Erscheinung des in der Luft schwebenden Alexander, die Pulverisierung der Masken, der Tanz der Glassplitter, das vollkommen leere Zimmer, das nicht die geringsten Anzeichen von Verwüstung zeigte – es war zu viel, um noch immer den Ausweg des Zweifels nehmen zu können. Wenn dieses Haus tatsächlich das Tor zu einer anderen Welt war, dann brauchte Arthur nun mehr denn je Halt und Hilfe. Daphne kam erst am frühen Nachmittag zurück. Sie hatte zwei Koffer dabei, die nicht sonderlich schwer zu sein schienen. »Ich hoffe, dass ich Erfolg haben werde«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Arthur, nachdem sie ihr Gepäck im Wohnzimmer abgestellt hatte. Er bat sie, Platz zu nehmen, aber sie blieb stehen. Als er sie küssen wollte, wich sie vor ihm zurück. Ihr Blick stach ihm ins Herz. Er sah sie fragend an und ergriff ihre Arme. Sie schüttelte sich frei. »Es ist schrecklich«, sagte sie. »Jetzt glaube ich die uralten Legenden über dein Haus, genauer gesagt über den Berg, an dem es steht. Offenbar gab es früher hier ein keltisches Heiligtum und einen großen Tempel, aber die Quellen sind sehr ungenau, wenn es um die Frage geht, welcher Gottheit er geweiht war. Es werden allerdings Menschenopfer erwähnt.« Arthur dachte an den Altarstein, den er auf seiner Wanderung durch die Eingeweide des Berges entdeckt hatte. Ihn fröstelte. Daphne fuhr fort: »Auch später, nach der Christianisierung dieser Gegend, kam es auf dem Berg und in seiner unmittelbaren Umgebung immer wieder zu merkwürdigen
Phänomenen. Die Spukgeschichten sind zahllos, auch wenn die meisten davon irgendwo in staubigen alten Büchern begraben sind. Aber die Phänomene aus neuerer Zeit reichen aus, um die Gefahr zu verdeutlichen, die von diesem Ort ausgeht.« »Und wie hängt das alles mit den angeblichen Poltergeistern zusammen?«, fragte Arthur. »Ich glaube, dass die Burg und auch einige angrenzende Häuser auf einem Gebiet errichtet wurden, das gleichsam mit okkulten Kräften aufgeladen ist. Möglicherweise ist gerade dein Haus der Brennpunkt verschiedener Feldströmungslinien und daher ein Tor zur jenseitigen Welt. Ich will jetzt versuchen, dieses Tor zu schließen.« »Braucht man für so etwas nicht einen Priester?«, fragte Arthur und kam sich bei diesen Worten sogleich ungeheuer lächerlich vor. Er konnte immer noch nicht an all das glauben. Es musste doch eine andere, natürliche Erklärung geben! »Wir haben es mit Kräften zu tun, die viel älter als das Christentum sind«, erklärte Daphne. »Selbst wenn es nur um die Poltergeistphänomene ginge, wäre ein Priester machtlos. In dem Werk über die Poltergeister von Herbert Thurston finden sich viele Beispiele dafür. Thurston musste es wissen, denn er war schließlich selbst Geistlicher. Nein, ich werde es allein versuchen. Ich kann dir nicht versprechen, dass ich Erfolg haben werde, aber ich habe Hoffnung.« »Was hast du denn vor?«, fragte Arthur und deutete auf die beiden Koffer. »Das sage ich dir nicht. Du würdest es sowieso nicht verstehen. Und jetzt solltest du gehen.« »Wie bitte?« »Ich kann dich bei meinen Beschwörungen nicht gebrauchen. Du würdest nur stören. Komm frühestens in drei Stunden zurück.«
»Aber…« »Geh!« Ein Blick in ihre Augen überzeugte Arthur davon, dass sie es ernst meinte. Er zuckte die Schultern und verließ das Haus. Zuerst wusste er nicht, wo er die Wartezeit verbringen sollte, doch dann beschloss er, noch einmal zur Wensburg zu fahren, wo er mit Daphne zum ersten Mal geschlafen hatte. Er fand den Weg, ohne sich ein einziges Mal zu verfahren, stellte den Wagen genau dort ab, wo er auch damals geparkt hatte – damals? Es war erst eine Woche her! – und machte sich an den Aufstieg. Nun war alles anders. Die Sonne schien, der steile Hohlweg hoch zur Ruine war von Licht durchstochen, trotzdem glaubte Arthur plötzlich vor sich Daphnes weiße Bluse zu sehen, wie beim ersten Mal. Doch es war nur ein Schleier aus grün gefilterter Helligkeit. Verbissen stieg er weiter bergauf; ja, er lief beinahe. Als er oben angekommen war, sah er eine frisch verkohlte Stelle im Rasen; Knochen leuchteten daraus hervor. Tieropfer. Auf Asche wachsen Knochen mit Grünspankronen, hatte es in jenem beeindruckenden Gedicht geheißen, das Daphne ihm hier vorgelesen hatte. »Nur heilige Touristen…«, murmelte er. Das Sonnenlicht wirkte obszön an diesem Ort der Schatten und Dunkelheit. Er erinnerte sich an das Gewitter, das Daphnes Lustschreie begleitet hatte, und ihm wurde schwindlig. So viel war seit diesem wunderbaren Tag geschehen, so viel Schönes, Unverständliches, Peinliches, Schreckliches. Er umrundete die Ruine, bis er an den Schutthaufen kam, über den sie in das Innere geklettert waren. Arthur ging den Weg nach; er ging die Vergangenheit nach. Als er im Innern der Ruine stand, bemerkte er den Gestank. Er rümpfte die Nase und sah sich verdutzt um. Der Gestank hatte eine quälende,
bedrängende Intensität; er sprang Arthur regelrecht an. Dann erkannte er den Ursprung. In einer fernen Ecke lagen zwei Kadaver. Genau dort, wo Daphne und er sich geliebt hatten. Es waren zwei Katzen. Arthur hielt sich die Nase zu und näherte sich den verwesenden Körpern. So wie sie aussahen, mussten sie schon lange hier liegen, doch sie waren noch nicht da gewesen, als er und Daphne… Er erkannte sogar den schwarzen magischen Kreis, der die Tiere umgab. Das eine hatte ein schwarzes Fell, das andere ein graues. Sie badeten im Sonnenlicht, das sie zu verhöhnen schien. Anders. Alles anders. Das wahre Gesicht der Dinge. Was mochte Daphne in dieser Minute in seinem Haus tun? Er vermochte einfach nicht an diese Geisteraustreibung zu glauben. Aber wie wollte er das erklären, was gestern Abend geschehen war? Er trat von den Kadavern zurück und schaute hoch durch die aufgerissenen Böden der oberen Stockwerke und das teilweise abgedeckte Dach. Der blaue Himmel erschien ihm wie eine riesige Pupille. Wissend. Zwinkernd. Bestimmt gehörte diese Pupille zu einem Clownsgesicht. Er vernahm Daphnes Stöhnen und floh von dem Ort der Erinnerungen. Der Abstieg war schwierig. Irgendwo schien er einen falschen Weg genommen zu haben. Er kam zu einem Flüsschen; der Pfad endete, und er musste durch feuchtes, kniehohes Gras stapfen und wäre mehrfach beinahe in Schlammlöchern stecken geblieben. Er kämpfte sich voran, wurde immer langsamer, bis er sich kaum mehr bewegen konnte. Dieser Ausflug in die Vergangenheit war ein Desaster. Er zerrte an seinen Beinen, und erst nach wiederholten Anstrengungen bekam er sie frei. Er lief den Bach entlang, an dem purpurnen Flusskrebskadaver vorbei, als würde er von Teufeln gehetzt. Endlich gelangte er auf den Weg zurück,
erreichte seinen Wagen, stieg ein, holte tief Luft. Alles hatte sich gegen ihn verschworen. Und als er an Daphnes harten Blick dachte, wurde er noch entmutigter. Keine Liebe hatte darin gelegen. Was war wirklich in der letzten Nacht geschehen? Wenn er jetzt zurückfuhr, würde er pünktlich sein. Er sehnte sich so nach ihr. Nach der Erledigung ihrer seltsamen Arbeit würde sie bestimmt wieder für ihn da sein. Er wollte ihre Umarmung spüren, ihre Lippen, ihre Haut. Er wollte sie riechen, sie berühren, in sie eindringen, sich in ihr verkriechen. Arthur startete den Wagen und fuhr los. Der Weg durch die Hügelspalte in den Talkessel von Fangenburg war zwar wie das Vordringen in mütterlichen Schutz, doch trotz seiner Lage hatte ihm dieser Ort nicht die geringste Geborgenheit geschenkt. Nein, es war eher wie das Einfahren in die Hoffnungslosigkeit, in die Begrenztheit eines ausweglosen Lebens. Er parkte vor seinem Haus, das mit den sandsteinumrahmten Fenstern und der weiß getünchten Fassade so freundlich aussah. Zögerlich stieg er aus dem Wagen, schloss die Tür auf und rief: »Daphne?« Schweigen antwortete ihm. Zumindest verspürte er kein Gefühl der Angst und des Entsetzens. »Daphne?« Immer noch keine Reaktion. Er ging nach oben. Je höher er auf der Wendeltreppe kam, desto deutlicher roch er die Räucherungen. Daphne schlief auf dem Sofa. Als er sie sah, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Ihr Gesichtsausdruck war völlig entspannt, und ein leichtes, zartes Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie lag auf der Seite, hatte den einen Arm angewinkelt und unter den Kopf gelegt, der andere schmiegte sich an ihre Seite; die Hand ruhte auf ihrer Hüfte. Sie wirkte fast wie eine Statue, wie der
Ursprung und das Ideal alles Weiblichen. Ein Bild zeitenferner Schönheit. Sie zerstörte das Bild, als sie die Augen aufschlug. Angst, Vorwurf, Abscheu, Mitleid – all das spiegelte sich in ihren braunen Augen wider. Sie kniff die Lippen zusammen, bis sie einen harten Strich bildeten. »Du hast mich erschreckt.« »Entschuldige, das wollte ich nicht. Ich war genau drei Stunden weg, wie du verlangt hast. Bist du fertig?« Sie richtete sich auf. »Ich habe getan, was ich konnte.« Er schaute sich um. »Wo sind deine Koffer?« »Ich habe sie schon nach Hause gebracht.« »Ich danke dir.« Sie schwang sich vom Sofa. »Ich gehe jetzt.« »Noch nicht. Komm, wir wollen deinen Erfolg feiern.« »Ich weiß nicht, ob es etwas zu feiern gibt.« Sie wollte an ihm vorbeigehen. Er hielt sie fest und umarmte sie. Dabei spürte er, wie sie sich versteifte. »Lass mich los. Ich will gehen«, sagte sie. Arthur nahm die Hände von ihr. »Ich verstehe nicht…« Daphne machte zwei Schritte zur Tür und drehte sich um. »Arthur, es ist aus zwischen uns.« Es war nicht so, dass er diese Worte nicht erwartet hätte. Trotzdem stürzten sie wie Felsblöcke auf ihn nieder. »Warum?«, fragte er nur. »Es hätte nie eine Zukunft gehabt, Arthur. Ich mag dich. Du bist ein netter Kerl und ein wirklich guter Liebhaber. Aber du bist ein alter Mann.« »Ich bin zweiundfünfzig!«, protestierte er. »Eben. Ich könnte deine Tochter sein.« »Na und? Die Welt ist voller Liebespaare mit erheblichem Altersunterschied. Was macht das schon, wenn du mich liebst?« Daphne schwieg.
»Du liebst mich doch?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.« »Aber… aber… warum hast du dann…?« »Es hat sich halt so ergeben. Glaub mir, es war eine schöne Erfahrung für mich.« »Heißt das, du hast nur mit mir gespielt?«, fragte Arthur fassungslos. »Nein. Aber du musst selbst zugeben, dass wir nicht zueinander passen.« »Das gebe ich nicht zu! Daphne, ich liebe dich! Ich brauche dich!« »Nein, du brauchst mich nicht.« »Ich kann nicht ohne dich leben!« »Werd nicht theatralisch. Du kommst sehr gut ohne mich zurecht.« Arthur ließ die Schultern hängen. »Nach dem Tod meiner Mutter…«, begann er, aber er wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte. »Du bist allein hierhergezogen, du hast dieses Haus renovieren lassen und aus eigener Kraft ein neues Leben angefangen. Du kommst besser zurecht, als du selber weißt, Arthur Dreyer. Du brauchst weder deine Mutter noch mich.« Sie drehte sich um und verließ das Zimmer. Arthur erwachte erst aus seiner Erstarrung, als er hörte, wie die Haustür zuschlug. Er rannte hinter Daphne her. Sie war schon auf dem Kirchvorplatz. »Daphne!«, schrie er. Sie warf einen Blick über die Schulter und lief los. »Daphne!« Einige Leute sahen die beiden, starrten sie an. Arthur glaubte Frau Bauer unter ihnen gesehen zu haben. Es war ihm gleichgültig. Da vorn rannte sein Leben vor ihm davon. Ohne Daphne war er verloren! Sie war viel schneller als er. »Warte!«, brüllte er ihr nach, als er erschöpft stehen bleiben musste. Er schnappte nach Luft und
sah, wie Daphne immer kleiner wurde. Dann trottete er zurück und versuchte die Blicke der Menschen auf der Straße zu ignorieren. Es war ihm, als hieße ihn sein Haus diesmal willkommen. Tatsächlich herrschte eine andere Atmosphäre, als er eintrat. Doch das nahm er nur am Rande wahr. Er setzte sich in den Ohrensessel und gab sich ganz seiner Verzweiflung hin. Er heulte, tobte, schimpfte, biss sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte, sprang auf, lief in dem kleinen, kahlen Zimmer im Erdgeschoss auf und ab, redete mit sich selbst, suchte nach Worten für seine Lage, suchte nach Worten, mit denen er Daphne überreden könnte, zu ihm zurückzukehren, wobei er gar nicht genau wusste, warum sie ihn eigentlich verlassen hatte, weinte wieder, ließ sich in den Sessel fallen, raufte sich die Haare, schrie und raste, brüllte die Wände an, trampelte mit den Füßen wie ein ungezogenes Kind, verstummte schließlich, brütete stundenlang über seinem Schicksal. Als er sich endlich beruhigt hatte, schlurfte er nach oben in die Küche, ging auf die Terrasse, stieg den Serpentinenweg hoch zu dem Steintisch, setzte sich darauf und ließ sich von der Abendsonne bescheinen. Die schwarze Katze kam wie aus dem Nichts und strich ihm um die Beine. Er kraulte sie, und sie sprang ihm auf den Schoß. »Du bist treuer als jeder Mensch, Marga«, sagte er müde zu ihr. Sie sah ihn mit ihren längs geschlitzten Augen verstehend an und schnurrte. Als die Sonne hinter den Rand des Talkessels sank und es kühl wurde, sprang die Katze von seinem Schoß und verschwand im hohen Gras. Arthur stand auf und ging nach drinnen. Auf dem Weg kam er an etwas Glitzerndem vorbei. Er bückte sich. Es war ein säuberlich aufgeschichteter Haufen aus Glassplittern und Holzspänen – eine kleine Pyramide, die wie zusammengeklebt wirkte. Arthur stieß mit dem Fuß
dagegen. Sie sackte in sich zusammen, als hätte sie in diesem Augenblick ihren innersten Halt verloren. Den Abend verbrachte er auf dem Sofa und dachte an Daphne. An ihr Lachen, an ihr spitzbübisches Lächeln. An ihre Zärtlichkeit und Wildheit. An ihren Körper. Alles aus, alles vorbei. Ein weiterer blinder Weg im Labyrinth. Ein weiteres unverständliches Ereignis in seinem Leben. Erneutes Ausgeliefertsein. In der Küche tropfte es. Es dauerte eine Weile, bis sich das Geräusch einen Weg durch Arthurs Kummer gefressen hatte. Er hatte wohl den Wasserhahn nicht richtig zugedreht. Mit einem Seufzer stand er auf. Er fühlte sich, als wäre er Jahrhunderte alt. Langsam ging er in die Küche. Drehte geistesabwesend am Wasserhahn über der Spüle. Und bemerkte erst jetzt, dass dieser gar nicht getropft hatte. Das Spülbecken war vollkommen trocken. Das Geräusch indes war immer noch zu hören. Verwirrt sah er sich um. Es kam nicht aus der Küche. Ein neuer Laut gesellte sich dazu. Ein Schaben und Kratzen. Als würde etwas Schweres bewegt. Hinter ihm. Er drehte sich um. Der Wohnzimmerschrank stand mitten im Raum. Und an der Wand dahinter stürzte Wasser wie ein dichter Vorhang herab.
18. Kapitel
Arthur rieb sich die Augen. Sein erster Gedanke war: ein Rohrbruch. Doch abgesehen davon, dass an dieser Wand keine Rohre verliefen, würde das Wasser niemals in solcher Gleichmäßigkeit heruntergeflossen sein. Außerdem wäre es nicht wenige Zentimeter über dem Boden einfach verschwunden. Und wer hatte den schweren Schrank in die Mitte des Zimmers gerückt? Arthurs Verstand weigerte sich, darauf eine Antwort zu geben. Er trat näher an den Vorhang aus Wasser heran. Streckte die Hand aus. Es war ganz gewöhnliches Wasser. Doch kurz nachdem er seine Finger darin eingetaucht hatte, veränderte sich etwas. Der feuchte Vorhang erzitterte, änderte die Fließrichtung, wurde an manchen Stellen noch durchsichtiger und ballte sich an anderen dichter zusammen. Erhebungen und Vertiefungen entstanden, wie auf einer Reliefkarte. Noch war die Metamorphose nicht abgeschlossen; sie schien seltsam zielgerichtet zu sein. Arthur sah verblüfft zu. Er konnte kein Glied regen, war wie hypnotisiert. In der Mitte wurde eine der Ausstülpungen immer stärker, bildete ihrerseits Berge und Täler. Endlich wurde Arthur klar, was dort geschah. Aus dem Wasservorhang wuchs ein Wassergesicht heraus. Ein Gesicht, das immer deutlicher, immer erkennbarer wurde. Es war sein eigenes Gesicht. Und gleichzeitig war es ungeheuer fremdartig. Das Wasser färbte sich: rot, blau, gelb. Die Farben flossen ineinander und verliehen dem Gesicht ein erschreckendes Leben. Die Farben waren übertrieben, wie in einem Comic,
und wirkten daher umso schrecklicher. Das Gesicht verzerrte sich, der Mundspalt wuchs, klaffte auf, die Augen weiteten sich, und es wurde zum grotesken Abbild eines Schreis. Jetzt hatte es kaum mehr etwas Menschliches an sich. Es war die Fratze eines in der Hölle leidenden Dämons. Und dann kam der Schrei. Er war ohrenbetäubend. Seelenzerreißend. Arthur keuchte auf. Das Gesicht des Dämons – sein eigenes Gesicht – schoss aus der Wasserwand auf ihn zu. Nun schrie er ebenso laut wie diese Ausgeburt der Unterwelt. Er stürzte aus dem Zimmer, aus dem Haus, suchte panisch nach einem Versteck, der Gedanke an die Höhle hoch oben im Wald schoss ihm durch den Kopf. Zu weit. Eine andere Höhle. Benzedrons Atelier. Arthur hastete nach nebenan, taumelte durch den Garten, sah sein Haus links vor sich, wo es tobte und schrie, er stürmte durch die unverschlossene Tür, machte ein paar Schritte in die Höhle hinein, lauschte… Stille rauschte in seinen Ohren. Sein Blut kreiste brausend in den Adern. Das alles konnte nicht wirklich passiert sein. Er hatte Halluzinationen gehabt, hatte das Wasser und das Gesicht darin nur geträumt. Und der Schrank? Hatte er wirklich mitten im Zimmer gestanden? Was hatte Daphne bloß getan? Hatte sie mit ihren Beschwörungen alles nur noch schlimmer gemacht? Absichtlich? Arthur beruhigte sich allmählich. Seine Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit. Er erkannte die Staffelei mit dem verhangenen Bild darauf. Und den Tisch mit den Malutensilien. Und den Stuhl, auf dem er Modell gesessen hatte. Er traute sich nicht, zur Tür zurückzugehen. Es war noch zu früh. Allerdings spürte er, wie die Dunkelheit ihm Kraft gab. Wie gern hätte er jetzt eine seiner Masken aufgesetzt. Verloren, alles verloren.
Zerstört, alles zerstört. Er wollte die Welt nicht mehr sehen. Wäre er bloß in seiner Kölner Wohnung geblieben und hätte weiter im Museum gearbeitet. Zu spät, alles zu spät. Er wäre so gern bei seiner Mutter gewesen. Im Grab. Nichts mehr sehen, nichts mehr fühlen, nicht mehr leiden. Sich auf ewig hinter der Maske der Dunkelheit verstecken. Auch nichts mehr hören: nicht den eigenen Atem, nicht das Rauschen des Blutes, das hämmernde Herz, das langsame Tropfen… das Tropfen… es war hier! Arthur zuckte zusammen. Er hielt den Atem an. Eindeutig. Kaum eine Armeslänge von ihm entfernt tropfte etwas. Er wich zurück. Das Tropfen wurde ein wenig leiser. War es auch schon da gewesen, als er die Höhle betreten hatte? Er konnte sich nicht daran erinnern, hatte es aber vielleicht in seiner Aufregung überhört. Er lächelte in sich hinein. Was war er doch für ein Kindskopf. In einer Höhle war es völlig normal, dass es tropfte. Das war etwas ganz anderes als in seinem Haus. Es klang auch anders. Er trat darauf zu und streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, dass es nur ein normales Phänomen war. Ein Tropfen traf seine Hand. Noch einer. Arthur erstarrte. Sie trafen mitten auf die Handfläche. Sie kamen von unten! Entsetzt zog Arthur die Hand fort und schlich rückwärts in die Höhle hinein. Jetzt verfolgte ihn das hartnäckige Geräusch. Es wurde mächtiger. Es waren keine einzelnen Tropfen mehr; es war zu einem dumpfen Platschen geworden, das wie Tritte klang. Arthur wirbelte herum und lief in die Finsternis hinein. Sein einziger Gedanke war: weg von hier. Die nassen Tritte verfolgten ihn. Bald war es so dunkel, dass er nicht mehr die Hand vor Augen erkennen konnte. Er warf einen Blick zurück zur Tür, die von schmalen Lichtstrichen
eingerahmt wurde. Und vor ihnen schwankte etwas, durchbrach sie, schien mit jedem Schritt größer zu werden. Arthur hastete weiter, streckte die Arme aus. Irgendwann musste die Biegung nach links kommen. Tatsächlich stieß er bald gegen den Fels, schüttelte benommen den Kopf, taumelte nach links, tiefer in den Berg hinein, auf jenen rätselhaften Altarblock zu, der vor ihm wie ein schwarzer Pilz aus dem Boden wuchs. Das Platschen verfolgte ihn immer noch; es wurde weder langsamer noch schneller, sondern war von einer unerbittlichen Gleichmäßigkeit. Arthurs Atem ging stoßweise. Jeden Augenblick erwartete er, gegen den Altar zu prallen. Dann endlich hatte er den Steinklotz erreicht. Er traf mit den ausgestreckten Händen auf ihn. Funken sprühten. Es waren in der Tat kleine, aber deutlich sichtbare Lichterscheinungen. Sie wurden größer, das Licht breitete sich von Arthurs Fingern über den ganzen Altar aus und hüllte ihn wie eine Decke ein. Im Schein dieses Lichts sah er die unförmige, gewaltige Gestalt, die ihn verfolgte. Ihr Kopf war viel zu groß, der Oberkörper gedehnt, die Arme waren dick wie Baumstämme und die Beine grotesk kurz und dünn. Arthur wich hinter den Altar zurück. Die Gestalt machte noch einen Schritt, dann hielt sie inne. Sie schien ganz aus Wasser zu bestehen. Aus fließendem, gurgelndem Wasser. Einzelne Tropfen fielen von ihr ab, stiegen auf zur Decke; sie verursachten das Geräusch, das er zuvor in der Dunkelheit gehört hatte. Das Glimmen erfüllte bald den ganzen Schacht. Arthur warf einen Blick über die Schulter. Dort hinten, noch in der Finsternis verborgen, lag der Zugang zu den Gewölben der Burg. Er überlegte nicht lange. Rannte in die Düsternis hinein. Das Licht folgte ihm, in Blitzen, in Feuerkugeln, die wie Wurfgeschosse durch die Luft flogen. Sie prallten von den Wänden ab, zerplatzten an Decke und Boden, gebaren neues
Licht: gleißendes, flackerndes, pulsierendes. Gedankenblitze. So mussten sie aussehen. Blitze eines kranken Gehirns. Die Wassergestalt folgte Arthur unerbittlich. Er fand die Treppe, die Keller, die Gänge wieder; hier war alles in ein kaltes, blaues Glimmen getaucht. Je höher er kam, desto weniger blitzte es. Schließlich stand er im Innern der Burg. Bis hierher reichte das Licht nicht mehr. Doch durch die hohen, staubigen Fenster schien der Mond und tauchte die kalten, großen Räume in silbrigen Glanz. Teppiche aus Mondlicht lagen auf den Böden, Gobelins aus Schatten und Nachtschein zitterten an den Wänden; es war die Widerspiegelung des Verborgenen. Das Tropfen und Platschen verfolgte ihn immer noch. Der Mond enthüllte Arthur zwar kein unförmiges Wesen, doch auf dem Silberboden bildeten sich kleine Pfützen. In einer geraden Reihe kamen sie Arthur beständig näher. Er floh aus dem Raum, sah hinter sich: Immer neue Pfützen glitzerten auf dem blassen Parkett. Die nächste Tür, durch die Arthur lief, schlug er hinter sich zu. Etwas Nasses patschte von außen dagegen. Dann wurden die Geräusche irgendwie fester. Etwas Hartes hämmerte gegen das Holz. Die Tür erzitterte, und Arthur hörte ein Splittern. Die beschnitzten Bretter bogen sich nach innen. Arthur wich in die hinterste Ecke des Zimmers zurück, das keinen zweiten Ausgang hatte. Er kauerte sich gegen die Wand, zog die Beine an den Körper und starrte auf die Tür, die unter jedem neuen Schlag stärker nachgab. Er hielt den Atem an und wagte nicht einmal, die Augen zu schließen. Das Ding vor der Tür wurde immer wütender; die Schläge prasselten nun in kürzeren Abständen gegen das Holz. Und plötzlich war alles still. Arthur befürchtete, dass nach kurzer Pause ein noch heftigerer Angriff erfolgen würde, doch auch nachdem er tief Luft geholt hatte, regte sich vor der Tür nichts mehr. Lange
Zeit über wagte Arthur nicht, sich zu erheben. Doch als der Mond schon aus dem Bereich des Spitzbogenfensters verschwunden war und immer noch Stille herrschte, fasste er den Mut, langsam und leise aufzustehen. Er stützte sich an der Wand ab und schloss die Augen. Er hatte das seltsame Gefühl, in einer Kammer innerhalb seines Selbst zu stehen. Alles, was er nun hörte, war wieder das Rauschen des Blutes in seinen Ohren und in seinen Gedanken. Er schlug die Augen auf, ging hinüber zum Fenster und schaute hinaus auf das nächtliche Dorf. Hinter der Burgmauer halb verborgen sah er sein eigenes Haus in völliger Finsternis. Der gelbliche Schein der Straßenlaternen nistete wie ein unruhiger Traum zwischen den Dächern. Irgendwo schrie eine Katze. Arthur schlich zur Zimmertür und legte das Ohr ans Holz. Ganz schwach glaubte er ein Tröpfeln zu hören. Wartete es da draußen auf ihn? Er zog sich wieder in seine Ecke zurück. Obwohl er in einer äußerst unbequemen Stellung verharrte, schlief er irgendwann vor Erschöpfung ein. Er erwachte erst, als die Sonne hoch am Himmel stand. Zunächst wusste er nicht, wo er sich befand. Dann kam ihm die Erinnerung an den von der Wand abgerückten Schrank, an das herabfließende Wasser, an die Gestalt, die ihn bis hierher verfolgt hatte, und an die seltsamen Lichterscheinungen im Bauch der Erde. Das alles konnte nicht wirklich geschehen sein. Wirklich war nur, dass Daphne ihn verlassen hatte. Dieser Gedanke zerschmetterte ihn. Er hatte das Gefühl, als würde sich das kahle Burggemach plötzlich weiten. Er ruderte mit den Armen. Nichts bot ihm mehr Halt. Er taumelte, ihm war schwindlig. Er schwankte zur Tür. Traum. Alles nur ein böser Traum. Alles. Er öffnete die Tür. Das Holz auf der anderen Seite war abgesplittert, als hätte jemand mit einem Hammer darauf eingeschlagen. Nein. Nicht
wahr. Alles nicht wahr. Bestimmt war die Tür schon seit langer Zeit beschädigt, und er hatte es in der vergangenen Nacht auf seiner Flucht natürlich nicht bemerkt. Es war Zeit, endlich nach Hause zu gehen. Die Tür in der Burgmauer war wieder verschlossen – hatte sie je offengestanden? –, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als den Rückweg durch die Gewölbe und Schächte anzutreten. Nun half ihm kein Licht – auch in der Nacht hatte es dort unten selbstverständlich kein Licht gegeben, höchstens einen Widerschein des grellen Mondes –, doch er fand seinen Weg mit der Sicherheit eines Schlafwandlers, als wäre er schon ungezählte Male hier unten gewesen. Seine Schritte und sein Atem hallten in den Kellern wider, und manchmal hatte er den beklemmenden Eindruck, beobachtet zu werden. Doch er erreichte den Altar ohne Zwischenfälle. Spürte nichts Außergewöhnliches. Keine Lichtphänomene traten auf, kein Tröpfeln war zu hören. Dafür nahm er andere, weit entfernte Geräusche wahr: Kratzen, Rascheln, Stöhnen. Dann: ein Schrei. Arthur fuhr zusammen. Ließ den Opferstein los. Noch ein Schrei. Er klang nicht nach Angst, nicht nach Wut. Eher nach Triumph. Er floss durch die Dunkelheit wie ein Strom aus Ekstase. Vorsichtig ging Arthur bis zur Biegung. Dann kam das Licht. Es überschwemmte die Höhle so unvermittelt, dass Arthur die Augen schließen musste. Es war nicht das zitternde, unwirkliche Licht aus der vergangenen Nacht. Arthur lugte um die Ecke. Und hätte beinahe laut und schallend gelacht. Dort hinten, kurz vor der zweiflügeligen Tür, stand Benzedron vor der Staffelei und bewunderte sein neues Bild. Das Rascheln, das Arthur vorhin gehört hatte, war das Wegziehen des Tuchs von der Leinwand gewesen.
Arthur hüstelte. Benzedron erstarrte und schaute angestrengt in die Dunkelheit. »Ist da jemand?«, fragte er leise mit zitternder Stimme. »Ihr Nachbar«, antwortete Arthur. Zuerst schwieg der Künstler, dann rief er: »Zeigen Sie sich!« Arthur trat aus dem Dunkel und stand bald vor dem verblüfften Benzedron. »Wo kommen Sie denn her?«, fragte der Maler. Kurz überlegte Arthur, was er ihm sagen sollte, und entschied sich dann für die halbe Wahrheit. Er erzählte von der Verbindung zu den Kellergewölben der Burg, erwähnte aber nicht den Altar, die unerklärlichen Erscheinungen und die merkwürdigen Wahrnehmungen, die er in dessen Nähe gehabt hatte. Benzedron staunte und runzelte die Stirn. »Damit haben Sie mir meine Illusionen geraubt«, sagte er wütend. »Ich wollte nie wissen, wohin die Höhle führt. Jedes Wissen ist Entzauberung, und vom Zauber leben wir Künstler.« Dann klopfte er Arthur auf die Schulter. »Ich darf Ihnen aber nicht böse sein, schließlich habe ich Sie selbst danach gefragt. Ein Rätsel wurde durch ein anderes ersetzt. Vielleicht werde ich zu einer neuen Phase in meiner Kunst aufsteigen. Jetzt zeige ich Ihnen erst einmal den frischen Avatar.« Er winkte Arthur vor die Leinwand. Als er das Gemälde sah, konnte er es nicht glauben. Wie immer bei Benzedron war der Hintergrund – jene unirdische Architektur – hyperrealistisch dargestellt. In den Ketten aber hing ein unförmiges Geschöpf, von dem nur der schrecklich verzerrte, übergroße Kopf deutlich zu erkennen war. Der gedehnte Körper und die grotesk kurzen Beine waren bloß angedeutet. Arthur heulte auf. Mund, Nase, Wangen waren entsetzlich deformiert, waren eine Orgie aus Blau, Rot und Gelb.
Es war eine genaue Kopie des Gesichts, das aus dem Wasservorhang in seinem Haus gekommen war. Es war das Porträt des Dämons, der ihn in die Burg getrieben hatte.
19. Kapitel
»Das… bin ich… nicht.« Die Worte fielen ihm wie Tropfen aus dem Mund. »Natürlich sind Sie das«, erwiderte Benzedron. »Das ist sozusagen Ihre Quintessenz. Ihre dunkle Seite. Das, was Sie nicht sehen können, was aber jeder andere an Ihnen wahrnimmt.« Die beiden standen nebeneinander. Arthur schloss die Augen; er konnte das Bild nicht ertragen. Am liebsten hätte er sich hinter ihm verkrochen, in die Farbe und Leinwand hineingeschlängelt und die Welt aus der Sicherheit der Zweidimensionalität heraus betrachtet. Doch auch in diesem Bild gab es letztlich keine Sicherheit; es war das Bild eines Dämons. »Ich muss jetzt nach Hause gehen«, sagte er unvermittelt und drehte sich in die Richtung, in der er die Tür vermutete. Doch als er die Augen wieder öffnete, starrte er in die Dunkelheit der Höhle. »Wo ist denn Ihr Zuhause?«, fragte der Künstler spöttisch. Arthur schaute sich verloren um, erkannte endlich die Tür und verließ das Atelier, ohne einen weiteren Blick auf das Gemälde zu werfen. Dazu kniff er die Augen zu Schlitzen zusammen und blickte wie durch ein Visier, sah nicht nach rechts, nicht nach links. Mit großer Erleichterung stellte er fest, dass er den Schlüsselbund noch in der Hosentasche hatte. Arthur schien willkommen zu sein. Aber erst als er wieder in seinem Haus stand und die Tür mit einem heftigen Knall hinter sich zugeschlagen hatte, fühlte er sich besser. Er stieg die Treppe
hinauf, sah den Schrank in der Mitte des Wohnzimmers, und die Bilder des vergangenen Abends kehrten mit der Macht einer Gerölllawine zurück. Er untersuchte die Wand, an der das Wasser herabgeflossen war, und den Teppichboden darunter, fand aber nicht die kleinste feuchte Stelle. Arthur versuchte, den verschobenen Schrank an die Wand zu rücken, und mühte sich ab, bis ihm der Schweiß über das Gesicht lief, aber er konnte das Möbel keinen Millimeter bewegen. Erschöpft gab er es auf. Als er sich auf dem Sofa ein wenig erholt hatte und wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, bestürmte ihn abermals die Erinnerung an seine verlorene Liebe. Verloren? War sie das wirklich? Warum sollte er einfach hinnehmen, dass Daphne ihn verlassen hatte? Er musste um sie kämpfen. Das lag ihm fern; das hatte er damals nicht getan, nicht bei Inge, nicht bei Renate, weil Mutter es so gewollt hatte. Doch jetzt war es anders. Er griff zum Telefon. »Was willst du?«, fragte es am anderen Ende, als er seinen Namen genannt hatte. »Ich will, dass du zu mir zurückkommst.« »Mach dich nicht lächerlich.« »Aber ich…« Sie hatte aufgelegt. Wütend warf Arthur den Hörer auf die Gabel. Was bildete die sich überhaupt ein? Wie ging sie mit ihm um? »Nimm dich vor den Frauen in Acht«, hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt. Recht hatte sie gehabt. Zumindest bei Inge und bei Renate. Aber er hatte sie beide nicht so geliebt wie Daphne. Sie hatte ihm eine Jugend geschenkt, die er nie gehabt hatte, und er wusste nicht, wie er ohne ihre Zärtlichkeit weiterleben sollte. Er musste sie zurückerobern. Der erste Versuch war gescheitert, also würde er den zweiten Versuch in Angriff
nehmen. Das Problem bestand allerdings darin, dass er keine Erfahrung mit so etwas hatte. Blumen! Liebte sie Blumen? Er wusste es nicht einmal. Aber alle Frauen liebten Blumen. Jedoch gab es am Ort keinen Blumenladen. Da erinnerte sich Arthur daran, dass Frau Bauer fertig gebundene Sträuße verkaufte. Er ging durch das Dorf, an der Kirche vorbei, die Leute sahen ihn stumm an wie eine Kuriosität, wie ein aus dem Zoo entlaufenes Tier. Er zog den Kopf immer weiter ein; am liebsten hätte er sich hinter einer Maske versteckt. Er floh geradezu in das kleine Lebensmittelgeschäft. Nachdem er – wie immer – etwas Wurst und Käse zusammengesucht hatte, legte er alle Sträuße dazu, die neben Frau Bauers Kasse in einem Wassereimer gestanden hatten. Sie hockte auf ihrem Stuhl und sah ihn an, tippte schweigend die Ware ein und reichte sie ihm hinüber. Sie schien keine Lust zu haben, mit ihm zu reden. Erst als er alles in seinem Beutel verstaut hatte, sagte sie: »Das ist nicht gut.« »Wie bitte?« Sie deutete auf die aus dem Beutel hervorlugenden Sträuße. »Lassen Sie die kleine Hexe in Ruhe. Seien Sie froh, dass Sie sie los sind.« In diesem Dorf sprach sich wirklich alles in Windeseile herum. »Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf«, fuhr Frau Bauer fort, »dann sollten Sie sich überlegen, ob Sie hier wohnen bleiben wollen. Ich habe gehört, was während der Vereinswanderung passiert ist. Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, nackt in der Öffentlichkeit ein Sonnenbad zu nehmen?« »Ich habe kein…« Arthur verstummte. Die Wahrheit würde Frau Bauer sicherlich noch weniger gefallen. Als er an sein
wildes Liebesspiel mit Daphne dachte, wurde er rot. »Es war eine unglückliche Verkettung von Umständen«, sagte er und bemerkte plötzlich, wie er die Köpfe der Blumen streichelte. Rasch zog er die Hand weg. »Und sich dann noch unbekleidet auf die Flucht zu machen! Mein Mann hat gesagt, da wäre nirgendwo Kleidung gewesen, nicht einmal eine Hose. Sind Sie etwa einer von denen, die nackt durch die Gegend laufen?« »Natürlich hatte ich etwas an, als ich zu der Lichtung gegangen bin«, protestierte Arthur. »Wenn dem nicht so gewesen wäre, wüssten Sie das sicherlich schon. Man hat mir alles weggenommen – sogar die Hausschlüssel. Ich verlange, dass man mir die Sachen zurückbringt!« Er war lauter geworden, als er beabsichtigt hatte. Frau Bauer wich ein wenig vor ihm zurück. »Niemand hat Ihnen etwas weggenommen«, sagte sie leise. »Sie gehen jetzt besser.« »Behandelt man so einen guten Kunden?«, brauste Arthur auf. Seine Wut spülte die letzten Hemmungen hinweg. Was hatte er schon noch zu verlieren? Von Anfang an hatte man in diesem verdammten Dorf schlecht über ihn geredet. »Was habe ich den Leuten denn getan? Das sind doch alles nur Missverständnisse gewesen. Was kann ich dafür, dass diese alte Vettel von gegenüber so schreckhaft ist? Und dass ein paar Prüde den Anblick eines nackten Körpers nicht ertragen können? Am besten lässt man sich hier überhaupt nicht auf der Straße blicken, denn ansonsten wird man sofort zur Zielscheibe, egal was man tut oder wie freundlich man ist!« »Vielleicht wären Sie besser in der Stadt geblieben.« Frau Bauer verschränkte die Arme vor der Brust. »Manchen Leuten fällt es halt nicht leicht, sich in einer Gemeinschaft wie der unseren zurechtzufinden.«
»Kein Wunder!«, höhnte Arthur. »Es ist ja auch nicht leicht, als normaler Mensch mit lauter Verrückten auszukommen!« Frau Bauer sah ihn böse an. »Ich glaube, Sie verwechseln da etwas«, sagte sie kalt. Wutschnaubend verließ Arthur den Laden und zog die Tür so heftig hinter sich zu, dass das kleine Glöckchen darüber abriss. Er hörte, wie das erbärmliche Ding scheppernd zu Boden fiel, und freute sich darüber. Mit schnellen Schritten strebte er dem Dorfeingang zu. Sein Ziel war Daphne. Dieser Frau Bauer hatte er es aber gezeigt! Dabei hatte er geglaubt, sie wäre seine Verbündete. Nein, er hatte nur eine einzige Verbündete: Daphne. Er wollte ihr vorschlagen, zusammen von hier wegzugehen, sobald sie wieder ein Paar waren. Als er vor ihrem Haus stand, kamen ihm Zweifel. War das wirklich der richtige Weg? Er drückte auf den Klingelknopf. Eine Minute später stand sie vor ihm. Sie schüttelte die schwarzen Haare in den Nacken, ihre entzückende Stupsnase tanzte, die vollen Lippen wirkten, als hätten sie soeben vom Garten Eden gekostet, ihre großen Brüste zitterten unter der weißen Bluse. Doch in ihren Augen herrschte Winter. »Was willst du hier?« Er zerrte die Blumensträuße aus seinem Einkaufsbeutel und hielt sie ihr entgegen. Erst jetzt bemerkte er, dass die Blumen nicht mehr frisch waren. Doch es gab kein Zurück mehr. »Für dich. Ich liebe dich.« Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und ließ ihn mit seinem verwelkenden Grünzeug wie einen Idioten dastehen. »Begreifst du denn nicht, dass es vorbei ist?« »Nein.« »Dann tust du mir leid.« Sie wollte ihm schon die Tür vor der Nase zuschlagen, doch er stellte rasch einen Fuß zwischen sie und den Rahmen. »Geh weg, oder ich rufe…«
»Wen?« Darauf antwortete sie nicht. Er hielt ihr erneut die Blumen hin. Endlich nahm Daphne sie entgegen. Sie packte die Sträuße allerdings so, als wollte sie sie erwürgen. »Lass mich endlich in Ruhe.« »Warum? Was habe ich dir denn getan? Es war doch so schön…« »Das verstehst du nicht.« »Dann versuch wenigstens, es mir zu erklären.« »Wir passen nicht zusammen.« »Als du unter, über und vor mir gestöhnt hast, schienst du aber anderer Meinung zu sein.« »Du Schwein!«, schrie sie. Arthur befürchtete schon, sie würde ihm eine Ohrfeige geben, doch nicht einmal das schien er ihr noch wert zu sein. »Warum?«, fragte er noch einmal. »Für mich war es von Anfang an nur ein Abenteuer. Es tut mir leid, wenn du es anders gesehen hast.« Verrückt: Er glaubte, in ihrem Augenwinkel eine Träne zu sehen. »Du lügst.« »Lüge, Wahrheit… das ändert nichts an den Tatsachen.« »Ich verstehe es immer noch nicht.« »Wer kann denn je den anderen verstehen? Letztlich bleiben wir immer allein, egal wie eng wir zusammen sind.« Ihre Stimme war sanfter geworden. Plötzlich sah sie ihn unendlich traurig an. Er ließ seinen Beutel fallen und nahm sie in die Arme. Es geschah so unvermutet, dass sie keine Zeit zur Gegenwehr hatte. Sie schmiegte sich geradezu in seine Umarmung, doch dann versteifte sie sich und stieß ihn von sich. Er drehte sich um, hob seinen Beutel auf und sagte: »Übrigens, der Spuk in meinem Haus ist noch nicht vorbei.«
»Ich hatte es befürchtet. Arthur Dreyer, du lebst in der Hölle. Du darfst nicht bleiben.« »Dann lass uns zusammen weggehen!« »Ich kann nicht.« Schnell schloss sie die Tür. Arthur starrte eine Weile das gemaserte Holz an, dann machte er sich auf den Heimweg. Er hatte einen Plan. Zu Hause nahm er eines jener Laken aus dem Wäscheschrank, die zur Aussteuer seiner Mutter gehört hatten, und pinselte mit roter Farbe Ich liebe dich darauf. Er wartete, bis die Farbe getrocknet war, rollte das Laken zusammen und steckte mehrere lange Bindfäden ein. Als er das Haus verließ, trat drüben gerade Frau Gärtner auf die Straße. Als er ihr verhärmtes Gesicht und den gehässigen Ausdruck darin sah, kam ihm die Galle hoch. Er hatte keine Angst mehr vor ihr. Er befand sich schließlich auf einem Eroberungszug. Also streckte er ihr die Zunge raus und machte: »Buh, buh!« Sofort floh Frau Gärtner in ihre Höhle zurück, und Arthur lachte so laut, dass es bestimmt in der ganzen Straße zu hören war. Jetzt hatte er ihr es aber gezeigt. Tat das gut! Mit erhobenem Haupt und weit ausholenden Schritten ging er zu seiner Geliebten. Er zog zwei der Stäbe mit den bunten Kugeln darauf aus Daphnes verwildertem Garten, rammte sie rechts und links von der Haustür in den Boden und spannte das Bettlaken mit seiner Liebesbotschaft dazwischen auf. Dann ging er wieder nach Hause und wartete auf ihren Anruf. Er kam früher als erwartet. Es war ein klares Zeichen dafür, dass sie ihn noch liebte. Sie hatte nur auf seine Huldigung gewartet. Lächelnd ging er zum Telefon. »Was hast du dir denn dabei gedacht?« Er freute sich, ihre Stimme zu hören, doch Tonfall und Wortwahl waren nicht unbedingt das, was er erwartet hatte. »Freust du dich?«, fragte er.
»Man sollte nicht meinen, dass du zweiundfünfzig Jahre alt bist, Arthur Dreyer.« »Ich bin halt jung geblieben«, kicherte er. »Du benimmst dich wie ein Kind.« »Was?« »Wie ein kleines, verzogenes Kind, das noch nicht gelernt hat, die Realität anzuerkennen.« Das konnte sie nicht ernst meinen. »Ich… ich habe das doch für dich getan, Daphne. Du hast gesagt, ich sei der beste Liebhaber, den du je gehabt hast. Ich brauche dich, Daphne. Ich liebe dich. Ich kann nicht mehr ohne dich leben.« »Du brauchst mich nicht.« »Kannst du nicht noch einmal herkommen? Hier spukt es immer noch.« Daphne schwieg am anderen Ende, und Arthur fuhr fort: »Ein Schrank ist in die Mitte des Zimmers gerückt worden, und Wasser ist an der Wand heruntergelaufen.« Es dauerte lange, bis Daphne endlich etwas sagte. »Ich kann dir nicht mehr helfen. Es ist zu spät. Hör endlich auf meinen Rat und zieh aus.« »Komm mit mir.« »Das kann ich nicht, und ich will es nicht. Wann begreifst du endlich, dass es aus ist?« »Dann ziehe ich nicht fort. Ich will immer in deiner Nähe sein. Bedeutet dir unsere gemeinsame Zeit denn gar nichts?« »Es waren doch nur ein paar Tage. Und wenn du die Wahrheit hören willst: Nein, sie bedeuten mir nichts. Sie waren für mich nur… ein Zeitvertreib. Ich habe dich verführt, du hast mich befriedigt, Ende des Spiels, alter Mann.« Arthur blieb hartnäckig. »Ich habe das Glück in deinen Augen gesehen. Du lügst mich an. Warum?« Sie hatte aufgelegt. Sofort wählte er ihre Nummer. Sie nahm nicht ab. Er ließ es läuten, bis das Besetztzeichen ertönte. Dann
lief er rastlos im Haus umher, wie schon so oft. Nur musste er diesmal immer einen Bogen um den Schrank in der Mitte des Wohnzimmers machen. Fieberhaft überlegte er, was er tun konnte. Er hatte es mit einem Geschenk versucht, mit einem Zeichen, und beides hatte keinen Erfolg gehabt. Er musste ihr imponieren. Da er nicht stark war, kam nur eine intellektuelle Großtat in Frage. Vielleicht war sie für Poesie empfänglich? Sie hatte ihm dieses wunderbare Gedicht über die Wensburg vorgelesen, also hatte sie eine Ader für Lyrik. Ja, das war es! Ein Liebesgedicht aus seiner Feder, geschrieben auf ihre Haustür. Mit seinem eigenen Blut. Das war etwas, das sie nicht übersehen konnte. Er machte sich sofort an die Arbeit, vergaß darüber sogar zu essen, und am Abend war er fertig. Mit einem Taschenmesser bewaffnet ging er wieder zu Daphne. Hinter den Fenstern ihres einsamen Hauses brannte bereits Licht. Arthur hoffte, dass sie ihn nicht bemerkte, bevor er fertig war. Er schnitt sich mit dem Messer in die Kuppe des linken Mittelfingers, benetzte die Spitze des rechten Zeigefingers mit seinem Blut und begann, an die Holztür zu schreiben: Meine Liebe ist wie ein Wald, Bald licht und dunkel bald… Weiter kam er nicht. Die Tür wurde aufgerissen, und er stand Ingo gegenüber. Der junge Mann starrte zuerst die Worte auf der Tür und dann Arthurs blutige Hände an. »Was ist denn hier los?«, stieß er ungläubig hervor. »Ich schreibe meiner Geliebten ein Gedicht«, verteidigte sich Arthur. »Davon verstehen Sie nichts, Sie prosaisches Element.«
»Entweder du haust jetzt ab, oder du hast nicht mehr genug Blut im Körper, um deinen eigenen Namen zu schreiben, wenn ich mit dir fertig bin!« Er streckte die Arme nach Arthur aus, der sofort zurückwich und floh. Das Blut tropfte aus seinem Finger und hinterließ Flecken auf dem Weg und im Gras. Rot wie kranker Tau glitzerte es an den hohen Halmen. Das hatte er sich anders vorgestellt! Als Arthur wieder auf dem heimischen Sofa saß, wirbelten seine Gedanken durcheinander. Wieso war dieser Ingo noch da? Sein Wagen hatte nicht neben dem Haus gestanden. Was konnte sie nur an diesem unreifen Kerl finden? Er wartete, wartete, wartete, aber sie rief nicht an. War sie vielleicht gar nicht daheim gewesen, und dieser Flegel von Ingo hatte die ersten beiden Zeilen des Gedichts sofort abgewischt? Es war eine so schöne und romantische Idee gewesen. Vertan. Die Katze seiner Nachbarn lenkte ihn ab. Sie klopfte an die Terrassentür, und er ließ sie ein und gab ihr etwas Wurst. Dann kraulte er sie, sie schnurrte und ging zufrieden wieder. Arthur kehrte ins Wohnzimmer zurück. Der Schrank stand mitten im Raum wie ein Mahnmal. Verrückt. Alles war verrückt. Es durfte nicht so bleiben. Er lief hinüber zu Benzedron und bat ihn um Hilfe. Der Künstler staunte, als er die Geschichte des wandernden Schrankes hörte, und er staunte noch mehr, als er den schweren Schrank sah, den auch die beiden Männer mit gemeinsamer Anstrengung nicht zu bewegen vermochten. Arthur musste ihn erst leer räumen, und auch dann hatten sie noch große Schwierigkeiten, ihn über den widerspenstigen Teppichboden zurück an die Wand zu schieben. Als es vollbracht war, dankte Arthur dem Künstler überschwänglich und begleitete ihn zur Tür, obwohl Benzedron deutlich anzumerken war, dass er gern noch ein
Weilchen geblieben wäre und, wenn möglich, mit eigenen Augen die Phänomene gesehen hätte, deren Auswirkungen zu beseitigen er soeben mühsam mitgeholfen hatte. Aber Arthur wollte allein sein, er wollte seinen Gedanken und Träumereien über Daphne nachhängen, er wollte seine verlorene Liebe beweinen und sich auf seine neue Liebe freuen. Auf seine Liebe mit Daphne. Sie würde ihm eine zweite Chance geben, wenn er es richtig anstellte. Als er zurück ins Wohnzimmer kam, stand der Schrank schon wieder mitten im Raum, und jedes einzelne Stück, das Arthur aus ihm herausgeholt und auf dem Boden abgestellt hatte, schwebte nun langsam und majestätisch durch die Luft.
20. Kapitel
»Nein!«, schrie Arthur. Wie auf seinen Befehl hin fiel alles zu Boden. Etliche Porzellanteile zerbrachen, darunter auch das gute Service seiner Mutter. Vergeblich versuchte Arthur, einige besonders wertvolle Stücke aufzufangen. Es machte den Eindruck, als wären die Teller, Tassen und Terrinen von eigenem Leben beseelt und würden ihm ausweichen, sobald er sie ergreifen wollte. Am Ende stand er in einem riesigen Scherbenhaufen. Ein kalter Luftzug drang von irgendwoher in das Zimmer. Es war eine Kühle, wie er sie noch nie verspürt hatte. Sie hatte eine seltsame Qualität, war zugleich feucht, moderig wie aus Grabestiefen, dann wieder trocken und schneidend. Über die Scherben trat er einen Schritt zurück. Und verließ die Kälte. Streckte die Hand aus, fuhr in den Frost hinein. Dann stieg die Temperatur über dem zerbrochenen Porzellan wieder. Die Wärme kehrte zurück. Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Arthur eilte in den Keller und holte zwei Wannen, die er mit den Scherben füllte. Seine Mutter hatte so an diesem Service gehangen. Während er die Wannen in seinem kleinen Wagen unterzubringen versuchte, kam Benzedron aus dem Haus und winkte Arthur verhalten zu. »Schon Polterabend gefeiert?«, fragte er. »War deutlich zu hören.« »Nein, das war der Poltergeist«, sagte Arthur. »Schade, dass ich das nicht mitbekommen habe.« »Ich kann Ihnen trotzdem etwas Interessantes zeigen«, meinte Arthur und bat Benzedron zu sich herein, nachdem es
ihm gelungen war, die beiden Wannen im Auto zu verstauen. Morgen würde er sie entsorgen. Der Künstler folgte Arthur ins Wohnzimmer, in dem immer noch etliche Vasen, Tischdecken, Blechdosen und andere Gegenstände herumlagen. Und in dessen Mitte wieder der wuchtige Schrank stand. Benzedron wurde blass. »Das… das können Sie nicht allein gemacht haben«, sagte er verblüfft. »Haben Sie etwa geglaubt, dass ich hier den Poltergeist spiele?«, fragte Arthur entgeistert. »Nein, nein«, beeilte sich Benzedron zu versichern. »Es ist eine Sache, in einem Haus seltsame Lichter zu sehen und sich vorzustellen, sie hätten einen übernatürlichen Ursprung, aber es ist eine ganz andere Sache, plötzlich vor etwas zu stehen, das man nicht mehr begreifen kann. Vergessen Sie den Quatsch mit den Seelen der Verstorbenen, den ich Ihnen damals erzählt habe. Ich male Unbegreifliches, aber ich habe bisher eigentlich nicht daran geglaubt. Warum sollte schließlich der Schöpfer an das glauben, was er erschafft? Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen beim Aufräumen helfe? Vielleicht zeigen sich die Phänomene währenddessen ja noch einmal.« Arthur willigte gern ein. Gemeinsam schoben sie den Schrank ein zweites Mal gegen die Wand, danach räumten sie die wenigen unzerbrochenen Dinge ein. Das dauerte etwa eine Stunde, doch zu Benzedrons großer Enttäuschung ereignete sich in dieser Zeit gar nichts. Arthur lud ihn zum Dank noch zu einer Flasche Moselwein ein. Während Benzedron an seinem Trittenheimer Altärchen nippte, sah er sich andauernd im Raum um, und einmal sprang er auf und lief in die Küche. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, sagte er entschuldigend. Nach einer Weile räusperte er sich und meinte: »Ich weiß, dass es unschicklich ist, aber ich
habe eine Bitte: Darf ich mir einmal das berüchtigte Teufelszimmer im zweiten Stock ansehen?« Es war zwar Arthurs Schlafzimmer, aber er sah keinen Grund, Benzedrons Wunsch auszuschlagen, und führte ihn nach oben. Erstaunt bemerkte er, wie sich der Haarkranz des Malers noch steiler aufrichtete, während er über die Schwelle schritt. »Ich spüre es«, flüsterte er verblüfft. »So etwas habe ich noch nie empfunden. Um Himmels willen, wie können Sie bloß hier schlafen?« »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Mir ist, als würde dieser böse alte Mann neben mir stehen«, flüsterte Benzedron und schüttelte sich. »Ich will wieder nach unten gehen.« Auch auf dem Sofa im Wohnzimmer schien sich der Künstler nicht mehr richtig wohlzufühlen. Arthur schenkte ihm noch ein Glas Wein ein, und Benzedron kippte es diesmal in einem Zug hinunter. Mit dem nächsten Glas machte er es genauso. Allmählich entspannte er sich ein wenig. Arthur wusste nicht, ob er sich wünschen sollte, dass nun wieder etwas Unerklärliches geschah. Es würde den Maler überzeugen, obwohl er seit seinem Besuch im Teufelszimmer nicht mehr so begierig zu sein schien, mit der jenseitigen Welt in Kontakt zu treten. Was mochte er dort oben gespürt haben? Arthur jedenfalls war es entgangen. »Wissen Sie Genaueres über diesen alten Teufelsanbeter, der das Haus erbaut hat?«, fragte er. »Nicht viel«, antwortete Benzedron ausweichend. »Sein Name war Joseph Curwin, wenn ich mich recht erinnere. Es heißt, er habe mit den Geistern der Verstorbenen gesprochen, und sie hätten ihm viele Geheimnisse über das Jenseits verraten. Es wird auch von Beschwörungen uralter, heidnischer Gottheiten berichtet und von Pakten mit dem
Teufel. Dort oben soll er die Tore der Hölle geöffnet und sich umgebracht haben. Sind Sie ihm vielleicht schon begegnet?« Es hatte wohl witzig klingen sollen, aber in Benzedrons Frage schwangen Angst und Unsicherheit mit. »Nein…« Das Gespenst, das er gesehen hatte, war ein anderes gewesen. Alexander… Daphne… Die Gedanken an sie kamen mit erschreckender Macht zurück. Fort, fort mit euch. Er machte eine Handbewegung, als würde er eine Fliege verscheuchen. »Aber da ist noch etwas anderes.« Nun erzählte er dem Künstler von dem Opferstein und den seltsamen Erscheinungen in der Höhle unter der Burg. »Das ist bemerkenswert«, sagte Benzedron und faltete die Hände zu einem Dach. »Ich habe jahrelang in der Nähe eines solchen Altars gearbeitet! Manchmal übertrifft die Wahrheit die wildesten Fantasien. Wenn ich mich recht erinnere, war im Florilegium magicorum des Jesuitenpaters Jacob Hartmanus, aus dem ich meine Informationen habe, von einem der düsteren Unterweltgöttin Garundia geweihten Altar die Rede. Angeblich hatte Curwin eine kleine Statuette der Göttin ausgegraben und in seinem Haus aufgestellt, um sie anzubeten. Natürlich sah die Obrigkeit das als Teufelsdienerei an, als es ruchbar wurde.« »Was ist denn aus dieser Statuette geworden?« »Keine Ahnung. Das Florilegium berichtet lediglich, dass alle Götzenbilder und Teufelsdinge im Haus vernichtet wurden. Allerdings erwähnt Homburgh in seinen Paralipomena Kiliburgiensis, die Statuette der Garundia sei bereits vor der Säuberung nicht mehr in Curwins Haus gewesen. Aber wer kann schon sagen, was damals wirklich passiert ist?« Benzedron verstummte und drehte den Stiel des Weinglases zwischen seinen Fingern hin und her. »Jedenfalls sind seit der Zeit Curwins die Gerüchte um dieses Haus nicht mehr verstummt.«
»Dafür, dass Sie gern im Geheimnis leben, wissen Sie eine Menge über mein Haus«, meinte Arthur. »Bei meinem Eigentum ziehe ich es vor, wenn Rätsel mich umgeben, was meine Arbeit erst ermöglicht, aber das heißt nicht, dass ich die ganze Welt im Rätsel belassen will«, erklärte Benzedron. »Haben Sie eigentlich das letzte Opfer gekannt?«, fragte Arthur. Nun war er doch sehr froh, dass er an diesem verwirrenden Abend nicht allein war. »Das letzte Opfer? Der Mann hieß Friedhelm Weber. Die ganze Sache liegt schon knapp vierzig Jahre zurück, da war ich gerade erst auf der Welt. Aber meine Eltern haben ihn gekannt. Sie hatten sogar ein Foto von ihm.« »Ach ja? Das würde ich gern einmal sehen.« »Warum?« »Weil mich die Geschichte meines Hauses inzwischen sehr interessiert – vor allem nach den heutigen Ereignissen.« »Das verstehe ich. Umso mehr bedauere ich, dass ich Ihnen das Foto nicht zeigen kann. Ein paar Wochen nach dem Todesfall kam ein Reporter, der ein Buch über Spukphänomene schreiben wollte, und meine Eltern haben ihm das Foto gegeben. Leider haben sie es nie zurückbekommen.« »Und nach diesem letzten… Unglück stand das Haus leer?« »Ja, bis Sie es gekauft haben. Wenn Sie mich fragen, sollte man es abreißen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein so intensives Gefühl der Angst und Hoffnungslosigkeit verspürt wie oben in Ihrem Schlafzimmer. Ich wundere mich, dass Sie dort Ruhe finden können. Haben Sie denn keine Albträume?« »Selten. Ich muss gestehen, dass ich dort nichts Besonderes spüre. Ich hatte zwar in der letzten Zeit einige regelrechte Angstattacken, aber wenn ich es mir genau überlege, sind sie seit ein paar Tagen verschwunden.«
Benzedron stand auf. »Ich muss jetzt gehen. Morgen früh fahre ich nach Köln und bringe Ihren Avatar zur Galerie. Glauben Sie mir: Es wird keine zwei Wochen dauern, bis ein russischer oder japanischer Sammler es gekauft hat. Und dann lade ich Sie ganz groß zum Essen ein, denn ohne Ihr dämonisch verzerrtes Gesicht wäre das Bild niemals so gut geworden. Sie waren mein bisher bestes Modell.« »Das ist nicht mein Bild!« Arthur spürte, wie sich Wut in ihm aufstaute. Es war eine Frechheit von Benzedron, zu behaupten, Avatar 34 sei sein Porträt. Am liebsten hätte er dem Künstler verboten, das Gemälde auszustellen und zu verkaufen. Benzedron schaute auf Arthur herunter. Mitleid und Zweifel lagen in seinem Blick. »Wie dem auch sei, es ist ein großartiges Bild geworden. Betrachten Sie sich als meine Muse. Oder als Katalysator, wenn Sie wollen.« Er verstummte und schien in sich selbst hineinzuschauen. Dann sagte er: »Ich habe noch einen guten Rat für Sie. Sie sind dabei, sich ganz Fangenburg zum Feind zu machen. Selbst Frau Bauer, diese Seele von Mensch, steht nicht mehr ganz auf Ihrer Seite. Zum Teil rührt die Ablehnung von Ihrer merkwürdigen Beziehung zu Daphne her…« »Ich habe keine merkwürdige Beziehung!«, schrie Artuhr und sprang auf. Die beiden Männer standen sich gegenüber, starrten sich an. »Ich war auch einmal mit Daphne zusammen und weiß, wovon ich rede«, sagte Benzedron leise und kalt. »Halten Sie sich von ihr fern.« Diese Worte hatte Arthur schon zu oft gehört. »Was verstehen Sie denn von wahrer Liebe, Sie aufgeblasener Farbkleckser?«, brüllte er Benzedron an. »Sehen Sie sich doch mal im Spiegel an – Sie mit Ihrem Mondgesicht und Ihrem lächerlichen verrutschten Heiligenschein! Sie werden nie erfahren, was Liebe ist.«
Plötzlich wirkte Benzedron wie ein gescholtenes Kind. Er hob die Schultern und zog den Kopf ein, als wollte er ihn ganz im Oberkörper verstecken. »Es war nur ein gut gemeinter Rat«, erwiderte er leise. Arthur hatte sich wieder ein wenig beruhigt. »Ich glaube, Sie gehen jetzt besser«, sagte er. »Ich bringe Sie zur Tür.« »Damit Sie sicher sind, dass ich wirklich weg bin, ja?«, fragte Benzedron und wagte ein Grinsen. Merkwürdig: Für einen Augenblick hatte Arthur den Eindruck gehabt, als sähe er durch den verrückten Künstler auf den wahren Menschen Franz Schröder. Als hätte sich in ihm ein Tor geöffnet – und sofort wieder geschlossen. Ob Arthur auch ein solches Tor besaß? Ob andere Menschen ebenfalls hindurchsehen konnten? Er geleitete Benzedron nach draußen und verriegelte die Tür hinter ihm. Fast hatte er erwartet, bei seiner Rückkehr ins Wohnzimmer den Schrank wieder in der Mitte des Raumes vorzufinden, doch es war alles normal. Er schenkte sich den Rest des Weines ein, trank ihn schnell, es reichte nicht. Also entkorkte er ein weiteres Trittenheimer Altärchen; die Flaschen waren noch von seiner Mutter. Er machte sich nicht mehr die Mühe, das Glas zu füllen, sondern trank aus der Flasche. Mit jedem tiefen Schluck wurde ihm angenehmer zumute. »Auf dein Wohl, Daphne!«, prostete er den nächtlichen Schatten zu. »Und darauf, dass du zu mir zurückkommst.« Den nächsten Toast brachte er auf seine Mutter aus. »Mögest du ruhen in Frieden und niemals zu mir zurückkehren.« Sein leeres Glas sprang vom Tisch und fiel auf den Teppichboden. Arthur hob es mit der freien Hand auf und hielt es prüfend gegen die Deckenlampe. Zum Glück war es heil geblieben. »Willst du damit andeuten, dass ich nicht aus der Flasche trinken soll, Mutter?«, kicherte er. »Ich bin ein ungehorsamer Sohn geworden.« Er stellte das Glas zurück auf
den Tisch und trank die Flasche leer. Das Glas rutschte erneut von der Tischplatte, aber diesmal fiel es nicht zu Boden. Im Gegenteil. Es hob sich in die Luft, schwebte in Augenhöhe vor Arthur. Er war nicht entsetzt darüber. Er war inzwischen Schlimmeres gewöhnt. »Mm… Mutter«, lallte er. »Biss du das? Komms nachsehn, ob sich dein Jungchen benimmt? Geht ihm… aussezeichnet! Hatt’n Haus, in dem’s spukt, unn fickt ‘n Mädchen, das ne Hex’ ist!« Er prustete vor Lachen »Könn’ ihm gar nich besser gehen.« Dann kam die Stimme, die ihn schlagartig wieder nüchtern machte. »Wurm!« Es war nicht die Stimme seiner Mutter. Es war nicht die Stimme eines Menschen. Sie klang, als würde sie durch Organe gebildet, die ursprünglich eine ganz andere Aufgabe als die Hervorbringung von Sprache gehabt hatten. »Wer bist du?«, fragte Arthur leise. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Jetzt hatte sich das Ding zum ersten Mal offenbart. Er konnte nicht genau sagen, woher die Stimme gekommen war, aber er hatte den Eindruck, dass ihr Ursprung irgendwo über ihm lag. Er schlich hinauf. Die Tür zu seinem Schlafzimmer war geschlossen; er erinnerte sich aber genau daran, dass er sie aufgelassen hatte, nachdem er mit Benzedron hier oben gewesen war. Arthur drückte die Klinke herunter. Sie war beißend kalt. Trotzdem stieß er die Tür auf. Und hielt den Atem an. Auf dem Boden war ein magischer Kreis gezeichnet, den nur die Spitzen eines Pentagramms in seinem Inneren durchbrachen. Im Zimmer war es schrecklich kalt. Die Kälte war wie ein Block, in den Arthur eindrang, als er über die
Schwelle trat. Etwas durchschwirrte diesen Blick, sengend heiß, sirrend. Hinter ihm. Er wirbelte herum und sah einen etwa faustgroßen Stein, der auf ihn zuschoss. Der Stein strahlte eine unglaubliche Hitze aus, und die Luft in seiner unmittelbaren Umgebung zischte und dampfte. Kurz bevor er Arthur erreichte, bremste er ab und fiel zu Boden – genau auf eine der Spitzen des Pentagramms. Und schon kam ein zweiter Stein herbeigeflogen, diesmal aus der Richtung des Fensters. Wieder hielt er plötzlich an und stürzte dampfend und zischend zu Boden, auf eine andere Spitze des Pentagramms. Inzwischen fror Arthur so sehr, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Ihm war, als hätte sich jedes einzelne Haar an seinem Körper aufgerichtet. Der nächste Stein brauste heran, noch einer, dann der letzte. Nun waren alle fünf Spitzen des Sterns besetzt. Und Arthur stand genau in der Mitte. Er spürte, wie sich um ihn herum etwas bewegte, doch er konnte nichts sehen. Eine Präsenz schien ihre Ankunft vorzubereiten. Eine ungeheuer bösartige Präsenz. Arthur kämpfte darum, sich bewegen zu können, doch er vermochte nicht einmal die Hand auszustrecken. Es wurde noch kälter, und die Steine am Boden zischten heftiger. Dampf stieg von ihnen auf, umwirbelte den erstarrten Arthur, verdichtete sich, umschmiegte ihn wie eine zweite Haut, drang in seine Poren ein. Arthur war ihm schutzlos ausgeliefert. Schutz! Eine Maske! Schutz! Seine Verzweiflung brach den Bann. Er konnte eine Hand bewegen. Die andere auch. Er ruderte mit den Armen. Verlor das Gleichgewicht. Fiel zwischen die Steine. Spürte ihre Hitze an seinen Hüften. Kroch aus dem magischen Kreis. Kämpfte sich auf die Beine und starrte in das Innere des Kreises, in dem sich der Nebel allmählich zu einer Gestalt verdichtete, die reine, grenzenlose Bosheit ausstrahlte.
Arthur floh aus dem Zimmer. Auf der Schwelle traf ihn die gewöhnliche Luft wie ein warmes Handtuch, in das er sich begierig einwickelte. Darin geborgen rannte er die Treppe hinunter, aus dem Haus, stand würgend und keuchend auf der nächtlichen Straße. Ihm war schrecklich übel von den infernalischen Dünsten. Er sah an der Fassade hoch. Hinter dem Schlafzimmerfenster zuckten Lichter wie von einem Gewitter. Eine schwarze Gestalt richtete sich hinter der Scheibe auf. Arthur drehte sich um und übergab sich vor Frau Gärtners Haustür. Er krümmte sich, und ihm war, als würde er Stück für Stück seine Seele ausspucken. In dem Erbrochenen auf dem Pflaster regte sich etwas. Ein Wurm. »Wurm!« Arthur prallte zurück auf die Straße. Wollte fortlaufen. Wusste nicht wohin. Bei Benzedron war alles still, alles dunkel. In Frau Gärtners Haus ging das Licht an. Arthur lief zum Grundstück des Künstlers. Nur weg, weg von allem. Er duckte sich in die Schatten. Frau Gärtner erschien im hellgelben Lichtgeviert des Eingangs. Arthur sah, wie sie sich bückte. Sie schrie auf. Schrie wie ein Mensch, der den Geist hinter der Welt gesehen hat. Arthur rannte zum Atelier des Künstlers, verkroch sich in der Finsternis der Höhle. Draußen schrie Frau Gärtner noch immer. Arthur hielt sich die Ohren zu. Die Schreie gellten in seinem Kopf weiter. Als er endlich die Hände fallen ließ, war alles still. Nur ein stetiges Tropfen drang aus den Tiefen der Höhle. Arthur tastete neben der Tür nach dem Lichtschalter. Fand ihn. Zögerndes, ängstliches Licht fiel aus der vergitterten Deckenlampe. Das Tropfen verstummte. Nach zwei Schritten war Arthur bei seinem Bild. Er suchte in seiner Hosentasche herum und fand das Messer, mit dem er sich die Fingerkuppe aufgeritzt hatte, sowie Reste der Bindfäden, die das Laken vor Daphnes Haus gehalten hatten.
Mit raschen, abgehackten Bewegungen schnitt er sein Antlitz aus Benzedrons Bild und band es sich mit den zusammengeknoteten Fäden vor das Gesicht. Dann setzte er sich gegen die Höhlenwand und atmete tief durch. Der Avatar beschützte ihn.
21. Kapitel
»Mein Gott, Sie sind krank!«, schrie Benzedron ihn an, als er Arthur die schöne Maske vom Gesicht riss. Schmerzhafte Helligkeit drang in seine weit geöffneten, schutzlosen Pupillen. Der Künstler stand wie ein Bild der Bedrohung über ihm. Arthur musste eingeschlafen sein; durch die offene Ateliertür drang Sonnenlicht herein. »Was haben Sie da getan! Sie haben mein bestes Gemälde zerstört, Sie Wahnsinniger! Dafür werde ich Sie…« Benzedron holte mit der Hand aus, und Arthur kauerte sich in Erwartung des Schlags noch mehr zusammen. »Nicht… nicht…«, wimmerte er. Benzedron erstarrte mitten in der Bewegung. Es war, als hätte Arthur erst jetzt die Maske abgenommen, und Benzedron sähe nun sein wahres Gesicht. Was er da sah, schien ihn gleichermaßen zu beängstigen und anzuekeln. Er ließ die Hand wieder sinken. »Verschwinden Sie, bevor ich es mir anders überlege und Ihnen den Hals umdrehe!« Arthur rappelte sich auf, nahm die zerknitterte Maske an sich und eilte aus der Höhle. Draußen setzte er das Stück Leinwand wieder auf. Es hatte keine Löcher für die Augen, aber das war ihm egal. Das starre Gewebe liebkoste Arthurs Haut und flüsterte ihm Beruhigendes zu. Eine Frau kreischte. Ein Mann rief: »Warte, Bürschchen, jetzt reicht’s!« Eine andere Frauenstimme sagte: »Nein, Günther, nicht.« Arthur setzte verdutzt die Maske ab. Vor ihm standen Herr und Frau Gärtner sowie Frau Bauer. Sie war es wohl, die ihn beschützt hatte. Offenbar hatte sie sich doch noch nicht ganz
gegen ihn gestellt. Sie hatte etwas so wunderbar Mütterliches an sich. »Willst du etwa Partei für diesen Irren ergreifen, Annemarie?«, giftete Frau Gärtner, und ihr Mann baute sich drohend vor der Geschäftsfrau auf. Sie schienen Arthur vergessen zu haben. »Seht ihr denn nicht, dass das ein ganz armer Kerl ist?«, verteidigte Frau Bauer ihn und sich selbst. Arthur wich bis zu seinem Auto zurück, tastete sich daran vorbei – er hatte die Maske wieder aufgesetzt – und die Stimmen wurden leiser. »Das ist kein armer Kerl«, hörte er Frau Gärtner einwenden. »Der ist gemeingefährlich.« »Ist er nicht.« »Woher willst du das wissen?«, brummte dunkel die männliche Stimme. »Seht ihn euch doch an.« Frau Gärtner kreischte wieder auf. Ihr Mann brüllte: »Jetzt schlag ich den Kerl windelweich! Meine arme Elfi immer wieder so zu erschrecken!« Schritte, Bewegungen. Etwas klatschte. Gleichzeitig: »Nein!« Arthur hatte keine Ahnung, wer da aufgeschrien hatte. Er wollte es auch gar nicht wissen. »Günther!« Das war Frau Bauer. Erstaunen lag in ihrer Stimme, aber auch Schmerz, Wut, Bitterkeit. Wie viele Empfindungen ein einzelner Name doch zu tragen vermochte… »Schnapp ihn dir! Hör nicht auf diese Schachtel!« Das war eindeutig Frau Gärtners Stimme. »Wem gehorchst du? Ihr oder mir?« »Keiner von beiden!«, polterte Herr Gärtner. Arthur hörte wieder Schritte, irgendwo schlug eine Tür. Abgang Herr Gärtner, dachte Arthur und musste kichern. Die beiden Frauen schienen sich plötzlich der Tatsache bewusst zu
werden, dass sie nun mit der Bestie allein auf der Straße waren. Trippelnde Schritte entfernten sich in Richtung Kirche. »Geht weg, geht weg, hinfort mit euch«, sagte er zu niemand Bestimmtem mehr, denn es war niemand mehr da. Er hörte seine schrille Stimme und schlug sich mit der Hand vor den gemalten Mund. Er durfte bloß keine Selbstgespräche führen! Da könnten die Leute ja auf den Gedanken kommen, er wäre nicht ganz richtig im Oberstübchen. Er schob die Maske so hoch, dass er etwas sehen konnte, und schlüpfte in sein Haus. Zuerst sah er ganz oben nach, wo gestern Nacht die Manifestation gewesen war. Der Kreis auf dem Boden und das Pentagramm waren noch deutlich sichtbar, und in den Spitzen lagen die fünf faustgroßen Steine. Arthur bückte sich und berührte den, der ihm am nächsten lag. Sofort zuckte seine Hand zurück. Der Stein war so heiß, als käme er direkt aus der Hölle. Dennoch schien er den Holzboden nicht zu versengen. Arthur hatte keine Ahnung, wie er die glühenden Steine loswerden sollte, und ließ sie einfach liegen. Von der Präsenz, die er gestern hier bemerkt hatte, war indes nichts mehr zu spüren. Im Wohnzimmer perfektionierte Arthur die Maske. Er glättete sie und schnitt vorsichtig mit einer Nagelschere Löcher für die Augen aus. Sie waren wie dafür geschaffen, denn Benzedron hatte sie weit aufgerissen gemalt. Dann befestigte er den Bindfaden an den Seiten und verknotete ihn. Als er schließlich in den Badezimmerspiegel schaute, war er zufrieden. Seine Augen hinter der Maske fielen nicht auf; sie passten sich dem Bild perfekt an. Das war er, und er war es doch nicht. Das war er in Erstarrung, und hinter dieser Erstarrung lebte er. Nun konnte er wieder atmen, nun konnte er seinen Atem wieder hören. Beruhigt ging er hinaus zu seinem Wagen. Die Scherben mussten entsorgt werden. Er wusste keinen anderen Rat, als sie irgendwo in den Wald zu werfen.
Aber nicht in der unmittelbaren Umgebung Fangenburgs. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als den Talkessel zu verlassen. Als er an Daphnes Haus vorbeifuhr, trieb es ihm Nadelspitzen ins Herz. Aber er wusste, dass sie zu ihm zurückkehren würde. Heute noch! Hinter Kyllburg bog er auf die Straße nach Sankt Thomas ein. Sie führte durch dichten Wald, war wie eine Schlange, die verstohlen zwischen den Bäumen herglitt. Beim ersten abzweigenden Waldweg hielt er an und warf die Scherben weg. Dann fuhr er weiter. Er entschloss sich, Sankt Thomas zu besuchen. Von dort war das letzte Opfer seines Hauses gekommen – Friedhelm Weber. Sein Grab würde er suchen. Arthur hatte zwar keine Ahnung, welche Erkenntnisse ihm das bringen sollte, aber vielleicht würde sich ja irgendetwas ergeben. Zumindest wäre dann das eine Opfer dem anderen Opfer nahe. Arthur fuhr auf der abschüssigen Straße nach Sankt Thomas hinein, überquerte die Trasse der Eifelbahn und rollte ein kurzes Stück an der Kyll entlang, bis er zum ausgeschilderten Friedhof abbog. Arthur parkte den Wagen und stieg aus. Das Kreischen einer jungen Frau drang an seine Ohren. In seine Ohren. Hinter seine Maske. Erschüttert band Arthur das Stück Leinwand ab und sah die Frau an, die vorhin aufgeschrien hatte. Sie war in ihren Wagen gesprungen, starrte Arthur wie ein Ungeheuer an und raste mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Er warf die Maske in seinen Wagen. Er musste vorsichtiger sein. Auch wenn er sich jetzt wieder ungeschützt und ausgesetzt fühlte – ohne die Maske. Er schritt die Gräberreihen des kleinen Friedhofs ab, und es dauerte nicht lange, bis er Friedhelm Weber gefunden hatte. Geboren 1933, gestorben 1968. Vor diesem Grab wurden alle Gefahren seines Hauses plötzlich real. Es hatte schon vor
einiger Zeit begonnen: verrückte Gegenstände, Klopfen, Geistererscheinungen, fliegende Steine, eine nicht-menschliche Stimme. Hier sah er, wie es enden würde. Er blickte herab auf seine Zukunft. »Nichtsnutz!« Die Stimme war so nah, fast in seinem Ohr. Eine brüchige, weibliche Stimme. »Ich komme jeden Tag her, und immer denke ich: Wenn er sich nicht mit diesem Flittchen eingelassen hätte, könnte er jetzt noch leben.« Arthur drehte sich um. Hinter ihm stand eine weißhaarige Frau, deren Gesicht wie ein alter, rissiger Lederbezug wirkte. Sie deutete mit einem steckenartigen Finger auf das Grab. »Er war mein Bruder«, sagte sie. »Jeden Tag bringe ich ihm Blumen oder Kerzen und ein Gebet. Seit fast vierzig Jahren. Seit er diesen… Unfall hatte. Warum stehen Sie vor seinem Grab? Haben Sie ihn etwa gekannt? Das kann aber nicht sein, denn dann wüsste ich, wer Sie sind.« »Ich lebe seit Kurzem in dem Haus, in dem Ihr Bruder gestorben ist.« Die Schwester trat einen Schritt von ihm zurück. »Ziehen Sie aus«, zischte sie. »Das Haus ist verflucht. Es hat zu viele Sünden gesehen. Mein Bruder hätte sich niemals mit dieser Frau einlassen dürfen. Sie hatte sogar schon ein Kind. Er hätte doch nie dessen Vater sein können. Es war Sünde von Anfang an.« Arthur dachte an die Spielzeugautos. An die verbrannten Spielzeugautos. Verbrannt… Aus ihrer sackartigen Handtasche holte die alte Frau einen kleinen Rechen und harkte damit auf dem Grab ihres Bruders herum, als wollte sie ihn ausbuddeln. Arthur schien für sie nicht mehr zu existieren. Sie summte und nuschelte vor sich hin.
Arthur wich leise von ihr zurück, drehte sich um und ging zu seinem Wagen. Die Maske auf dem Beifahrersitz schrie ihn an. Der Tod hatte eine Geschichte, eine Wirklichkeit bekommen. Aber noch kein Gesicht. Was mochte Friedhelm Weber als Letztes gesehen haben, als er aus dem Fenster des Teufelszimmers gestürzt war? Dasselbe, was auch Arthur schon gesehen hatte? Oder war das erst der Anfang? Er fuhr zurück in den Wahnsinn. Kurz vor dem Durchstich des Talkessels lenkte Arthur den Wagen auf einen Feldweg. Er stellte den Motor ab und kurbelte das Fenster herunter. Warme Luft, Vogelzwitschern, Rascheln von Blättern und das Gurgeln der Kyll drangen herein und streichelten Arthur wie freundliche Wesenheiten aus einer anderen – aus einer anders gewordenen – Welt. Dort hinten, dort drinnen, wartete das Verrückte, das verrückt Gewordene. Dort wartete sein Haus, dort warteten die Poltergeister und Menschendämonen. Und Daphne. Er atmete tief durch, als er an sie dachte. Ihr Bild war die Maske, die vor sein neues Leben gebunden war. Er musste sie zurückholen, heute noch. Mit seinem Gedicht? Er hatte es vergessen. Es musste etwas Tieferes, Ernsteres sein. Sie sollte erfahren, dass er nur sie allein liebte. Dass er alles für sie tat. Dass er ihr das größte Opfer brachte. Er hatte eine Idee… Langsam ließ er den Wagen an ihrem Haus vorbeirollen. Alles dort war ruhig. Ingo war nirgendwo zu sehen; sein Wagen ebenfalls nicht. Mit einer Hand setzte er die Leinwandmaske auf. Er freute sich auf das, was er tun würde. Er freute sich auf die Schmerzen. Zu Hause suchte er nach geeigneten Hölzern. Er erinnerte sich an die beiden Bohlen im Keller, die genau auf diesen Augenblick gewartet zu haben schienen. In seiner Werkzeugkiste fand er die passenden Nägel – riesig, genau richtig. Er sägte, hämmerte, und dann verließ er das Haus.
Wie einst Jesus schleppte er das mannshohe Kreuz über der Schulter mit sich. Und wie einst Jesus würde er sich für die Liebe opfern. Gardinen bewegten sich in Häuseraugen, es starrte ihn von überallher an. Mitleidig. Vor Daphnes Haus rammte er das unten angespitzte Kreuz in den Boden. Er stieg auf das kleine Podest, auf dem seine nackten Füße guten Halt fanden. Er richtete den nackten Oberkörper auf und breitete die nackten Arme aus, bis er die Spitzen der Nägel an den Handrücken spürte. Er bewegte beide Arme gleichzeitig nach vorn, schlug sie dann mit aller Gewalt nach hinten. Die Nägel drangen in die Handrücken ein. Sie hatten das Fleisch nicht ganz durchstochen, aber der Schmerz war so unerwartet gewaltig, so bar jeder Lust und Freude, so bestialisch, dass Arthur keinen zweiten Versuch machte. Tränen rannen ihm hinter der Maske die Wangen herunter. Die Hände wurden feucht; bestimmt war es das Blut. Sie waren zwar nicht ganz durchbohrt, aber die Nägel steckten fest in ihnen. Er schrie: »Daphne!« Sie kam nicht heraus. Sie musste doch zu Hause sein! Sie würde gleich aus der Tür treten, das Opfer sehen, das Schild lesen, das er über seinem Kopf angebracht hatte: »Ich Nichtswürdiger Rufe Immerzu: Daphne.« Sie zeigte sich nicht. Die Füße schliefen ihm ein; größeres Gewicht hing nun an den Händen, das Blut floss, die Nägel fühlten sich wie Schwerter an, die ein unbarmherziger Gott in seinen Handflächen hin und her drehte. Ihm wurde übel. Blitze zuckten vor und hinter seiner Maske. Es donnerte. Wie damals auf der Wensburg. Nein, kein Donnern. Nicht im Himmel. Sondern hinter ihm. Tür. Autotür. Schritte. »Nein!« Angst, zur Stimme geworden. Geronnenes Gefühl. Daphne. Vor ihm. Schlug sich die Fäuste gegen die Schläfen. »Nein!«
Seine Füße gaben nach. Die Nägel vermochten seinen Körper nicht mehr zu halten. Er sackte vom Kreuz und fiel in Daphnes Arme. Wie er auf das Sofa in ihrem Wohnzimmer gekommen war, wusste er nicht mehr. Sie kniete neben ihm und verband ihm gerade die linke Hand. Erstaunt stellte er fest, dass die rechte bereits bandagiert war. Als Daphne bemerkte, dass er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, sagte sie mit zitternder Stimme: »Was hast du dir bloß dabei gedacht?« »Wo ist meine Maske?« Er spürte die beruhigende Leinwand nicht mehr vor dem Gesicht. »Hinten, auf dem Tisch. Was soll das alles?« »Ich liebe dich«, sagte er kraftlos. »Ich… brauche… dich.« Das Sprechen fiel ihm so schwer. »Du bist verrückt.« »Nach dir.« »So kann das nicht weitergehen.« »Nein. Bleib… bei mir. Lebe… mit… mir.« Schwärze schwappte von den Rändern seines Blickfeldes heran. Sie war mit der zweiten Hand fertig. »Ich habe dir Salbe auf die Wunden gestrichen, damit sie sich nicht entzünden. Zum Glück waren die Nägel nicht sehr tief eingedrungen. Ruh dich hier ein wenig aus.« »Und… dann?« »Dann gehst du fort und kommst nie wieder.« »Das… kann… nicht… dein… Ernst… sein.« Jedes Wort war wie ein Berg. Sie beugte sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf die Wange. Er lächelte und tauchte ein in schwarzes Vergessen. Schon nistete die Nacht vor den Fenstern. Das Deckenlicht brannte. In seinen Händen klopfte es, doch die Schmerzen waren erträglich. Daphne, die Hexe, hatte ihn geheilt. Sie kam
herein, umstrahlt von Licht, wie ein Engel des Lichts, ihr schwarzes Haar umschmeichelte den lichtweißen, zarten Hals, die Lippen waren wie zum Kuss gespitzt. Doch die Augen waren wie Platten aus Stahl. »Du bist aufgewacht? Gut.« Sie trat an das Sofa, beugte den Oberkörper vor, und ihre langen Haare streichelten seine Wangen. »Du solltest jetzt gehen. Zieh das da an.« Sie zeigte auf einen kleinen Kleiderstapel neben dem Couchtisch. Ächzend richtete er sich auf. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er völlig nackt war. Plötzlich schämte er sich. Daphnes Blicke waren ihm peinlich. Sie wirkte in ihrer Unnahbarkeit wie eine Fremde auf ihn. Rasch zog er die Unterwäsche an, dann das karierte Baumwollhemd, die Jeanshose. Zuletzt schlüpfte er in die Sandalen. Das alles war ihm etwas zu weit. Daphne holte einen Gürtel. Wem mochte diese Kleidung gehören? »Dein Gang nach Golgatha ist im Dorf natürlich nicht unbemerkt geblieben«, sagte Daphne, als er endlich vollständig angezogen auf dem Sofa saß und angestrengt nach Luft schnappte. »Ganz Fangenburg ist in Aufruhr. Man hat aus der Ferne zugesehen, wie du dich ans Kreuz zu nageln versucht hast. Einige waren dafür, die Polizei zu rufen, die anderen wollten die Darbietung genießen. Du kannst nicht mehr hierbleiben.« »Ich will nur da sein, wo du bist.« Daphne sah ihn mitleidig an. »Das geht nicht. Was immer zwischen uns war, es ist vorbei. Es war eine Verrücktheit ohne jede Chance. Trotzdem war es schön.« »Warum können wir es nicht für immer schön haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Zerstöre nicht auch noch das, was wir hatten, indem du es zu wiederholen versuchst.« »Hast du einen anderen? Diesen Ingo?« »Nein.«
»Dann verstehe ich dich nicht.« »Du solltest die Nacht nicht in deinem Haus verbringen.« »Darf ich hierbleiben?« »Nein.« »Dann gehe ich nach Hause.« »Das ist keine gute Idee.« »Begreifst du nicht, wie ernst ich es meine?« »Du meinst es viel zu ernst.« »Noch viel ernster.« Er stand auf und griff nach seiner Maske. In Daphnes Gesicht las er Besorgnis. Das gefiel ihm. Sie hatte ihn missverstanden. Jetzt befürchtete sie bestimmt, dass er sich etwas antun würde. Damit hatte er vielleicht ein Mittel in der Hand, sie zu sich zu rufen und auf seinem eigenen Grund und Boden mit ihr zu reden. Dort würde es ihm leichter fallen, sie zu überzeugen. Hier war er in jeder Hinsicht nicht bei sich selbst. Leider hielt sie ihn nicht auf, als er ging. Mit der Maske in der Hand schlenderte er durch das schlafende Dorf. Der Mond zwinkerte ihm zu. Die Häuser starrten aus leblosen Fensteraugen; ihre Seelen, die Bewohner, träumten in dieser Nacht sicherlich seltsame Träume. Die Straßen waren gemalte Erstarrung, ein erfrorener Traum vom Leben. Schon aus der Ferne sah er den weißen Fleck auf seiner Haustür. Arthur ging schneller, keuchte die wenigen Stufen zu seinem Portal hinauf und las den Zettel, den ihm jemand mit Reißzwecken an das altersdunkle Holz geheftet hatte. HAU AB VON HIER, stand da in unbeholfenen, gemalten Großbuchstaben. DU BIST DER TEUFEL. DU MACHST UNS ALLE KRANK. WIR WISSEN, WAS WIR TUN MÜSSEN, WENN DU NICHT FREIWILLIG GEHST.
22. Kapitel
Vorsichtig löste Arthur die Reißzwecke und heftete das Blatt an die Tür der Gärtners, die seiner Vermutung nach die Urheber dieses Drohbriefes waren. Danach versteckte er sich rasch in seinem Haus. Er setzte sich in das tote Zimmer im Erdgeschoss. Er würde Daphne herlocken. Aber sie würde nicht aus Liebe, sondern aus Furcht kommen. Aus Furcht, er könnte sich etwas antun. Arthur streichelte die Maske vor seinem Gesicht – die beste, die er je gehabt hatte. Er hatte den Eindruck von Hitze. Verblüfft nahm er die Finger von der Leinwand. Er schnappte nach Luft. Dann fiel wieder einmal die Temperatur im Raum. Arthur bekam eine Gänsehaut; auf seinem Kopf prickelten Schweißperlen. Etwas rauschte an der gegenüberliegenden Wand. Es war kein Wasser. Es war ein Vorhang aus Blut, der wenige Zentimeter über dem Boden einfach verschwand, wie das Wasser vor ein paar Tagen. Etwas versuchte sich in dem herabstürzenden Blut zu manifestieren. Etwas Verwachsenes, Verzerrtes, Ungeheuerliches. Arthur schien Eisklumpen zu atmen. Immer wieder löste sich die Gestalt im Blutvorhang auf. Ein Stöhnen und Jammern erfüllte den Raum. Arthur hielt sich die Maskenohren zu. Es half nichts. Plötzlich saß er in dichtem Schneetreiben. Unzählige Hocken sanken auf ihn, auf den Sessel und den Boden herab. Sie schmolzen nicht, blieben einfach liegen. Arthur spürte sie auf der Haut seiner Finger, die wie Fühler aus den verbundenen Händen hervorlugten. Die Wunden schmerzten, als würden sie
von glühenden Eisen durchbohrt. Auch die Schneeflocken auf seinen Fingern waren heiß. Es war kein Schnee. Es war Asche. Benommen stand er auf. Und durchbrach das obere Ende des Ascheregens. Ein atemberaubendes Bild bot sich ihm. Die weißen und grauen Teilchen materialisierten sich in einer Höhe von etwa eineinhalb Metern, darüber war die Luft rein und klar. Arthur schaute herunter auf etwas, das einem Schneegestöber glich – als würde er auf einem Berggipfel einem Unwetter zusehen. Er schüttelte den Kopf. Es war so… schön. Es war die Ästhetik des Unwirklichen. Im Gegensatz zu dem noch immer herabfließenden Blut verschwanden die seltsamen Partikel nicht, sondern bildeten auf dem Boden eine rasch wachsende Schicht. Mit größter Mühe gelang es Arthur, einige Schritte zu gehen. Seine Glieder waren schwer und unbeweglich. Er stapfte durch die Asche, die unter jedem Tritt so stark aufwirbelte, dass es den Anschein hatte, als wollte sie wieder nach oben steigen und in den Himmel hineinregnen. Endlich hatte Arthur die Tür erreicht. Es war mühsam, sie zu öffnen, da die Asche wie mit eigenem Willen gegen sie drückte. Es dauerte lange, bis er sie wenigstens einen Spaltbreit aufgezogen hatte und hindurchschlüpfen konnte. Die Tür fiel hinter ihm mit einem beinahe wütenden Geräusch zu. Fliehen? Keine Kraft. Warum auch? Fliehen vor der unverständlichen Schönheit? Warum? Sein Kopf war leer, ihm war, als hätte der Ascheregen alle Gefühle aus ihm herausgewaschen. Im Wohnzimmer erwartete ihn ein langsam um die eigene Achse rotierender Sessel. Saß darin nur ein Schatten, oder war es tatsächlich eine Gestalt? Arthur lächelte unter dem Schutz des Avatars. Egal, alles egal. Was bedeutete es schon? Poltergeister. Schönheit des Schreckens. Auch er selbst war schön, wenn er seine Schreckensmaske trug.
Etwas versetzte ihm einen Schlag in den Rücken. Arthur fiel bäuchlings zu Boden. »Wurm!« Wieder diese grauenhafte Stimme! Etwas trat ihm in die Seite. Doch da war nichts. Arthur rollte auf dem Boden herum und wimmerte vor Schmerzen. Ein Knall wie von einer in unmittelbarer Nähe abgefeuerten Kanone erschütterte das Haus. Die Fensterscheiben klirrten. »Du entkommst mir nicht!« Die Stimme klang, als dränge sie aus einem uralten Grammophon. Kein menschlicher Kehlkopf konnte so etwas hervorbringen. »Wer… bist du?«, stöhnte Arthur und kauerte sich gegen den Wohnzimmerschrank. »Ich bin dein Dämon«, donnerte die Stimme; dann lachte sie. So mochte sich Satans Lachen in der Hölle anhören: unendlich bösartig und zugleich unendlich verloren. Etwas zerrte an seiner Maske. Arthur spürte, wie sich die Bänder lösten. Die Maske wurde ihm vom Gesicht genommen, schwebte im Raum, drehte sich und kam auf ihn zu, bis sie fast seine Nasenspitze berührte. Arthur sah ihr in die Augen. Es waren keine Löcher mehr. Er starrte in zwei Pupillen, die ihn aufmerksam betrachteten. Der geronnene Schrei des gemalten Antlitzes löste sich auf und wurde zu einer Grimasse des Spotts und Hohns. Der Mund bewegte sich. »Was bist du nur für ein armseliger Mensch!« »Mutter?«, fragte Arthur leise. Die Stimme klang immer noch abscheulich fremdartig, aber nun war sie eindeutig weiblich. »Du hast nichts Besseres verdient.« Arthur spürte einen stechenden Schmerz auf der linken Wange. Feuchtes, Klebriges bildete sich auf ihr. Er betastete die Stelle knapp unterhalb des Auges. Als er seine Finger
zurückzog, waren sie blutrot. »Hör auf!«, schrie er und kämpfte sich auf die Beine. Abwehrend streckte er die Arme aus. Die Maske, die bis jetzt dicht vor seinem Gesicht geschwebt hatte, fiel zu Boden; die Augen waren erloschen. Schallendes Lachen stieg wie Rauch aus ihrem Mund. Arthur schoss auf die Tür zu, stand unschlüssig auf dem Treppenabsatz. Als hinter ihm etwas wisperte und raschelte, rannte er hinunter und zur Haustür. Sie war abgeschlossen. Das war unmöglich. Er hatte die Tür nicht verriegelt; das wusste er genau. Er rüttelte an ihr, doch sie gab nicht nach. Die Kratzwunde an seiner Wange brannte, die Nagelmale unter den Verbänden schmerzten. Sie schmerzten noch mehr, als er gegen die Tür hämmerte. »Hilfe! Ich will hier raus!« Natürlich half ihm niemand. Er sah Frau Gärtner vor sich, wie sie dort draußen stand und grinste. Von oben hörte er ein Kreischen. Es kam näher, stieg herab wie Nebel. Arthur floh in das Maskenzimmer. Das Kreischen raste draußen den Korridor entlang, es gab wieder einen markerschütternden Knall, doch die darauffolgende Ruhe war fast noch schlimmer. Sie dauerte nicht lange. »Hören Sie auf damit, sonst rufen wir die Polizei!« Arthur war beinahe dankbar für Frau Gärtners Drohung. Er trat an das Fenster, öffnete es und rief hinaus: »Sie haben es auch gehört? Ich war das nicht. Ich danke Ihnen.« Er lachte befreit. Er war nicht verrückt. Hatte sich das alles nicht eingebildet. Frau Gärtners Hexengesicht war eine Fratze des Hasses. Arthur schloss das Fenster rasch wieder und zog die Vorhänge zu. Und drehte sich um. Blickte in ein Antlitz, nur wenige Zentimeter von ihm entfernt. Es schwebte nicht in der Luft. Es war mit der gegenüberliegenden Wand verbunden.
Wuchs an einem grotesk langen Hals aus ihr hervor, wurde gebildet von abplatzender Tapete und bröckelndem Mauerwerk. Es war das Gesicht eines Mannes, verzerrt in unendlicher Pein. Wie Benzedrons Avatar. Er kannte das Gesicht nicht. Es war schmal, hatte die Andeutung eines struppigen Bartes, in dem der Mund wie ein Loch klaffte. In diesem Loch sah Arthur die Sterne. Erstarrt stand er vor dem leicht bebenden Kopf mit dem weit aufgerissenen Mund und den erloschenen Augen. Kein Laut drang zwischen den Sternen hervor. Zwischen den Sternen… Es waren Galaxien, gleichzeitig war es die Schwärze zwischen den Universen, es war blitzartiges Werden und Vergehen, das in unendlicher Verkleinerung und zugleich unendlicher Deutlichkeit in jenem Quell des weltenzerschmetternden, stummen Schreis zu sehen war. Allmählich zog sich der Kopf wieder in die Wand zurück, war eine Weile noch als Relief zu sehen, bis schließlich nur gerissenes Mauerwerk und in Fetzen hängende Tapete übrig blieben. Arthur konnte sich wieder bewegen. Er trat an die beschädigte Stelle heran und legte die Hand darauf. In den Nagelwunden begann es zu prickeln. Er taumelte nach draußen, in den Korridor. Versuchte erneut, die Haustür zu öffnen. Vergebens. Zuerst hat das Haus versucht, mich auszusperren, und jetzt sperrt es mich ein, dachte er. Ich bin hineingekommen, und ich werde auch wieder hinauskommen. Er ging zurück ins Maskenzimmer und wollte durch das Fenster klettern, doch der Rahmen klemmte. Seltsam, dachte er, ich habe es doch vorhin noch geöffnet. Irgendetwas da draußen hinter der Scheibe war ungewöhnlich. Er sah die Burgstraße, die unter gelbem Licht lag, und er sah wie auf einer Doppelbelichtung die Spiegelung des Maskenzimmers.
Jetzt war es nicht mehr leer. Dort im Fenster erkannte Arthur wimmelnde Schatten an Wänden, Decke und Boden. Die Gestalten, die diese Schatten warfen, waren unbeschreiblich. Dieses huschende, hastende, sich windende Chaos war Arthurs alltägliche Umgebung, auf die er nun zum ersten Mal einen deutlichen Blick werfen konnte! Sie waren das wahre Gesicht seines Hauses. Ganz langsam drehte er sich um. Da war nichts außer den Wänden, der schadhaften Stelle dort, wo der Kopf herausgewachsen war, und auch an Decke und Boden war nichts Absonderliches mehr zu sehen. Doch als er abermals in den Spiegel der Fensterscheibe starrte, war alles wieder da. Es stand inmitten einer Hölle unfassbarer Bedrohung. Hinaus! Nur hinaus! Er stürmte aus dem Raum, rannte nach oben in die Küche. Hier war alles normal; auch der Sessel rotierte nicht länger. Aber Arthur ließ sich nicht mehr täuschen. Er hatte es gesehen. Es war dasselbe: Die Scheiben in Terrassentür und Küchenfenster zeigten ihm die wahre Welt, in der er gefangen war. Er zerrte an der Tür, am Fenster, sie widersetzten sich all seinen Versuchen. Und die Schatten und Schemen aus der Tiefe des Raumes krochen auf ihn zu. Verzweifelt packte Arthur einen der Esszimmerstühle und schmetterte ihn gegen das Glas der Terrassentür. Das Möbel wurde zurückgeworfen, als wäre es auf Gummi getroffen. Die Wucht des Rückschlags riss Arthur den Stuhl aus der Hand. Hoch! In den zweiten Stock! Arthur keuchte die Stufen hinauf. Überall dasselbe. Die Fenster ließen sich nicht öffnen, die Scheiben nicht zerbrechen. Selbst die fast blinde Luke im Dachboden war wie zugenagelt. Arthur schlug die Hände vor das Gesicht. Es konnte nur ein Albtraum sein. Inzwischen glaubte er schon das Wispern und Zischeln der Geschöpfe zu
hören. Und er roch Rauch. Zuerst begriff er nicht, doch als der Gestank intensiver wurde, riss er Arthur aus seiner Apathie. Es kam aus dem Schlafzimmer. Aus dem Teufelszimmer. Es brannte dort. Er musste löschen! Arthur rannte hinüber. Die Steine lagen noch immer auf dem Boden. Sie glühten. Versengten die Dielen. Erste Flämmchen züngelten hoch. Entsetzt stürmte Arthur hinunter ins Badezimmer, füllte einen Eimer mit Wasser, schleppte ihn nach oben und kippte ihn über die Steine. Zischend erloschen die kleinen Feuer. Schwarzer, rußiger Rauch stand über immer noch glimmenden Steinen. Arthur holte einen zweiten Eimer, einen dritten. Endlich hatte er es geschafft. Er wischte den Boden auf, damit das Wasser nicht bis ins untere Stockwerk drang, und fasste einen der Steine an. Er war kalt, war nichts anderes als ein gewöhnlicher Stein. Arthur hob ihn auf und schleuderte ihn gegen die Fensterscheibe. Er prallte ab und polterte zurück auf den Boden, rollte ein wenig und lag nun wieder genau dort, wo Arthur ihn aufgehoben hatte… Verzweifelt rüttelte er noch einmal an allen Türen und Fenstern des Hauses und bemühte sich dabei krampfhaft, nicht in das wimmelnde Chaos zu blicken, das sich in den dunklen Scheiben spiegelte. Schließlich gab er auf. Er saß in der Falle. Er konnte nicht hinaus, aber vielleicht konnte jemand von draußen hineingelangen. Sein erster Gedanke war: Daphne. Sie sorgte sich um ihn. Es gab einen Weg, sie herzulocken. Wenigstens funktionierte das Telefon. »Daphne? Hier ist Arthur…« Sie hatte schon aufgelegt, noch bevor er mehr sagen konnte. Hektisch wählte er erneut. Er ließ es schellen, schellen, schellen… Endlich: »Arthur, bitte hör auf damit.«
Er wusste, dass er gewonnen hatte. »Genau das habe ich vor. Ich wollte es dir persönlich sagen. Du hast nichts mehr von mir zu befürchten.« »Ziehst du endlich aus?« »Gewissermaßen.« »Was soll das heißen?« »Ich gehe.« »Wohin?« »Das ist die falsche Frage.« »Ich verstehe dich nicht.« Jetzt! Er holte tief Luft, wartete und warf dann den Hörer auf die Gabel. Hoffentlich hatte er mit seiner versteckten Andeutung nicht zu hoch gepokert. Er blieb in der Diele stehen, wagte sich kaum zu regen, denn er hörte das Zischeln und Wispern immer deutlicher. Bang wartete er auf Daphne. Er löste sich erst aus seiner beinahe kataleptischen Starre, als er die Türklingel hörte. Sie war da! Arthur rannte hinunter, zerrte an der Tür. Sie gab immer noch nicht nach. »Arthur, mach auf!«, hörte er Daphnes Stimme durch das Holz dringen. »Das versuche ich ja! Die Tür klemmt. Drück von außen dagegen!« Er zerrte wieder, spürte den Druck von der anderen Seite, und die Tür flog auf. Daphne sah ihn mit großen Augen an, in denen sich Angst und Sorgen spiegelten. Und etwas anderes. Bevor Arthur nach draußen fliehen konnte, taumelte Daphne ihm plötzlich entgegen, drückte ihn in den Korridor, und hinter ihnen schlug die Tür mit einem lauten Knall zu. Daphne drehte sich ruckartig um. Trat zögernd an die Tür. Versuchte sie zu öffnen. Sie hatte genauso wenig Erfolg damit wie Arthur vorhin. »Was soll das?«, fragte sie und starrte die Tür an. »Ich weiß es nicht.«
»Ich habe eben einen Schlag in den Rücken bekommen. Warst du das – irgendwie?« Arthur schüttelte den Kopf. »Das war das Haus«, flüsterte er. »Komm, ich will dir etwas zeigen.« Er führte sie hoch zur Terrassentür und bat sie, in die Scheibe zu sehen. Es war deutlich zu erkennen, dass sie dort dasselbe wahrnahm wie er. Etwas flog dicht an seinem linken Ohr vorbei. Fuhr sirrend in die Scheibe. Es war eines der Messer aus dem Block auf der Küchenzeile. Die Klinge steckte im Glas, als wäre es Holz. Arthur und Daphne sahen das noch leicht schwingende Messer an. Dann kamen die anderen. Sie schwirrten auf die beiden zu. Arthur wich der nächsten Klinge aus, und Daphne duckte sich und kroch auf Händen und Füßen aus der Küche. Bald steckten alle Messer in der Scheibe des Fensters. Arthur wollte hinter Daphne hereilen. Da schoss die Brotschneidemaschine auf ihn zu. Er ging gerade noch rechtzeitig in Deckung. Daphne kam wieder zu ihm. »Wir sind gefangen!«, rief sie. »Was geht hier vor?« »Das müsstest du von uns beiden doch am besten wissen. Du bist schließlich die Hexe!« »Arthur! Pass auf!« Er hörte das Schwirren. Dann traf etwas Festes, Heißes seinen Hinterkopf. Er stürzte zu Boden. Sein letzter Blick fiel auf einen etwa faustgroßen, glimmenden Stein.
23. Kapitel
»Wie geht es dir?« Noch nie hatte er eine wunderbarere Stimme gehört, noch nie hatte er ein Wesen gesehen, das ihn stärker an einen Engel erinnerte. Nein, das war nicht Daphne. Nicht nur Daphne. Er roch Rauch. Verbranntes. Arthur schreckte hoch. Daphne drückte ihn sanft auf den Boden zurück. Er blinzelte. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich habe den Brand gelöscht. Der Stein war unglaublich heiß – wo immer er hergekommen sein mag. Jetzt hast du zwar eine angekokelte Stelle im Teppich, aber sonst ist nichts passiert.« Er atmete auf. Erinnerte sich an die Messer. Von dort, wo er lag, konnte er das Küchenfenster sehen. Fahles Tageslicht tropfte herein. Die Scheibe war geborsten; Splitter steckten im Rahmen, Splitter lagen auf dem Boden davor. Die Messer ruhten auf dem glitzernden Glas wie Opfergaben. Also war es kein Traum gewesen. »Bist du die ganze Nacht bei mir geblieben?«, fragte er. »Ja.« »Ich liebe dich.« Sie lächelte ihn an, erwiderte aber nichts. Er sah sich um. Das Haus hatte sich wieder beruhigt. »Ich möchte gehen. Gleich kommt ein Kunde von mir«, sagte Daphne. Arthur nickte, erhob sich und ging mit ihr zur Haustür. Sie ließ sich mühelos öffnen. Daphne trat auf die Schwelle und drehte sich um. »Du darfst auf keinen Fall länger in diesem Haus bleiben, Arthur.« Sie zögerte, fügte schließlich hinzu:
»Wenn du willst, kannst du erst einmal bei mir wohnen, bis du etwas Neues gefunden hast.« Er streckte die Arme nach ihr aus. »Mach dir keine zu großen Hoffnungen, was uns beide angeht«, warnte sie. »Ich packe nur ein paar Sachen, dann komme ich sofort mit.« »Nein. Lass dir bitte zwei Stunden Zeit, dann ist mein Kunde weg.« »Was will er von dir?« »Seine Zukunft.« Sie ging, und Arthur sah ihr lange nach. Dann warf er einige Kleidungsstücke in den Koffer. Viel brauchte er nicht. Er zog ja nur eine Straße weiter. Ins Paradies. Er pfiff eine unsinnige Melodie. So hatte sich alles Schreckliche doch noch zum Guten gewandelt. In einer Ecke des Wohnzimmers fand er den Avatar. Er brauchte die Maske nicht mehr. Deshalb zerriss er sie zu kleinen Schnipseln und warf diese in den Mülleimer. Nun tat es ihm leid, dass er Benzedrons Werk zerstört hatte. Arthur schleppte den Koffer hinunter. Jetzt begann sein neues Leben. Sein Leben in Glück und Liebe. Die Vorfreude durchrauschte ihn. Gerade als er die Haustür öffnen wollte, hörte er den Schrei. Er kam von der Straße und war so schrill, dass Arthur vor Schreck den Koffer fallen ließ. Nun hörte er weitere Stimmen, männliche und weibliche, es wurden immer mehr. Sie alle näherten sich seinem Haus. Arthur öffnete vorsichtig die Tür. Auf dem Podest, ganz nahe am Abgrund, stand ein grobes, mannshohes Kreuz. Mein eigenes Kreuz, schoss es Arthur durch den Kopf. Er sah nur die Rückseite. Aber es war deutlich zu erkennen, dass etwas an dem Querbalken hing. Es war kein Mensch. Es war schwarz. Er sah die Menge, die sich vor dem Kreuz versammelt hatte. Niemand sagte mehr etwas. Niemand
regte sich. Arthur trat neben das Kreuz, warf einen Blick darauf und wäre beinahe die Stufen heruntergefallen. An dem Kreuz hing Marga, die schwarze Katze seines Nachbarn. Schrecklich große Nägel waren durch ihre Pfoten getrieben worden, und das Holz war rot von Blut. Von frischem und von getrocknetem Blut. Von Arthurs Blut und von dem der Katze. Die Tür des Nachbarhauses wurde geöffnet. Der struppige Haarschopf von Herrn Meier lugte hervor. Seine Augen weiteten sich, schienen das ganze Gesicht einzunehmen. Er stürzte hinaus, vor das Kreuz. Fiel auf die Knie, als würde er beten. Zuerst war er ganz still, dann traf sein Blick den von Arthur. Meier brüllte auf. In seinem Schrei lagen die Wut und Trauer eines ganzen Lebens. Der Bann, unter dem die Menge gestanden hatte, brach. Sie bewegte sich wie eine Brandung aus Leibern auf Arthur zu. Er floh die Burgstraße hoch. Wenn er in sein verfluchtes Haus zurückgewichen wäre, hätte er in der Falle gesessen. Die Dorfbewohner verfolgten ihn zuerst langsam, doch dann lösten sich einige Personen aus der Menge und rannten hinter ihm her. Die Angst verlieh ihm ungeahnte Kräfte. Er wollte sich nicht vorstellen, was sie mit ihm machen würden, wenn sie ihn erwischten. Arthur rannte am Burgtor vorbei in den Wald. Er hörte das Trappeln vieler Schritte hinter sich. Schneller, schneller! Links von ihm tauchte die Höhle auf, in der er sich schon einmal versteckt hatte. Ohne lange nachzudenken, schlüpfte er hinein. Die Dunkelheit hieß ihn willkommen und streichelte ihn besänftigend. Er drang noch ein wenig tiefer ein, lehnte sich gegen den kühlen Fels und versuchte, ruhiger zu atmen. Draußen huschten Schatten vorbei, einer, zwei, mehr waren es nicht. Hatten die anderen aufgegeben? Er rührte sich nicht und hatte bald den Eindruck, eins mit der Dunkelheit zu sein.
Seine Gedanken schlichen zu der gekreuzigten Katze zurück. Sie hatte an denselben Balken gehangen, die er für seine Liebesbezeugung benutzt hatte. Liebe… Heiß durchfuhr es Arthur. Daphne wartete ja auf ihn! Er musste unbedingt zu ihr zurückkehren. Eine weitere Chance würde er nicht erhalten. So schlich er zum Höhleneingang. Streckte vorsichtig den Kopf hinaus. Erhielt einen Schlag gegen die Schläfe, dass er Sterne sah. Kaum war er wieder halbwegs zu sich gekommen, packten ihn von beiden Seiten Hände wie Schraubstöcke und schoben ihn in die Finsternis zurück. Alles war so schnell gegangen, dass er seine Gegner nicht hatte erkennen können. Sie hatten keine Schwierigkeiten, den Weg im Finstern zu finden. Auch diese Höhle führte tief in den Hang hinein. Arthur wand sich im Griff der Gestalten und versuchte nach ihnen zu treten, doch er traf sie nicht. Unbarmherzig schleppten sie ihn weiter. Hinter einer Biegung sah Arthur warmen, sanften Fackelschein in weiter Ferne. Er schaute seine Feinde an, konnte sie seltsamerweise immer noch nicht erkennen. Sie wirkten wie bloße Schatten, doch ihr Griff war schmerzhaft fest. Jetzt hatten sie die Fackeln erreicht, die von zwei Gestalten gehalten wurden, deren verzerrte Schattenhaftigkeit Arthur stärker als alles andere beängstigte. Die Fackelträger setzten sich in Bewegung, sobald sich die beiden anderen Schatten mit dem Gefangenen ihnen genähert hatten. Schweigend durchschritten sie feuchte Gänge, niedrige Schächte, wo von den Decken Stalaktiten herabhingen, und schmale Korridore, an deren Wänden Spuren von Meißeln zu erkennen waren. Arthur hatte jede Gegenwehr aufgegeben; er fühlte sich schwerelos wie in einem Traum. Irgendwann gelangten sie in einen Gang, der Arthur nicht ganz fremd zu sein schien. Tatsächlich standen sie bald in
einer geräumigen, von vielen Fackeln erhellten Höhle, die Arthur mit Schrecken wiedererkannte. In der Mitte erhob sich der grobe Altar. Und um ihn herum hatte sich fast das ganze Dorf versammelt. Niemand sprach ein Wort. Er erkannte die Gärtners, Herrn Meier, Benzedron, den Priester, Herrn und Frau Bauer sowie viele, denen er schon öfter auf der Straße begegnet war; andere waren ihm völlig fremd. Er wunderte sich, dass diese Höhle so viele Leute fassen konnte. Die Schatten zwangen ihn, sich auf den Altar zu legen, und banden ihn so fest, dass er nicht einmal mehr den Kopf bewegen konnte. Arthur hörte, wie die Menge sich regte, als jemand aus ihr hervortrat. »Arthur Dreyer hat sich schuldig gemacht«, sagte eine weibliche Stimme. Frau Gärtners Stimme. »Er hat furchtbare Dinge getan und Mensch und Tier Schaden zugefügt.« »Was genau sind seine Verbrechen?«, fragte eine dumpfe, männliche Stimme. Sie klang, als würde sie durch eine Maske ohne Mundöffnung gepresst. »Er hat eine Katze auf bestialische Weise umgebracht«, sagte Frau Gärtner. »Das war ich nicht«, verteidigte sich Arthur. Etwas Schwarzes kam wie aus dem Nichts auf ihn herab. Eine Maske erstickte seinen Einwand und machte ihn blind und stumm. Er versuchte die Maske abzuschütteln, doch es gelang ihm nicht. Das war keine seiner eigenen Masken. Die Stimme von Frau Gärtner fuhr fort: »Er hat Einwohner des Ortes mit seinen Masken absichtlich erschreckt. Er hat ein Gemälde mutwillig zerstört. Er hat sich mehrfach unschicklich in der Öffentlichkeit benommen. Er hat Drohungen ausgestoßen und einen Drohbrief an eine Tür des Ortes genagelt. Er hat sich vor einer Haustür übergeben, und in dem
Erbrochenen hat es gewimmelt vor… nun ja, das ist dem Gericht bekannt.« »Gibt es etwas, das für ihn spricht?«, fragte die dumpfe Stimme. Arthur hatte den Eindruck, dass er sie kannte. »Ja, Herr.« Das war Frau Bauer. Arthurs Herz schlug schneller. Er war noch nicht verloren. »Er ist ein verwirrter Mann, der die Verluste in seinem Leben nicht verarbeitet hat. Man sollte ihn deswegen nicht verurteilen, sondern bemitleiden.« War das alles? Brachte sie sonst nichts zu seinen Gunsten vor? Arthurs Hoffnung sank wieder. »Das ist bedenkenswert«, sagte die männliche Stimme. »Doch es reichen weder seine Verbrechen zur endgültigen Verurteilung noch seine guten Seiten zum Freispruch.« »Herr«, donnerte eine andere Stimme, die ihm ebenfalls nicht unbekannt war. »Dieser Mann trägt eine Maske. Dieser Mann ist eine Maske.« Es war jene unirdische Stimme, die er bereits mehrfach in seinem Haus vernommen hatte. »Er braucht keine Bestrafung, sondern Erlösung. Erlaubt mir, Herr, dass ich ihn von seinen Leiden erlöse. Sein Leiden ist das Leben.« Schon fühlte Arthur die drohenden Schmerzen. Lichtblitze zeigten ihm den blauen Himmel der Außenwelt hinter der Maske. Schreie, Zetern, Schläge, Tritte. Er hörte und spürte es, doch gleichzeitig war er völlig unbeteiligt. Dann wurde wieder alles dunkel unter seiner Maske. »Er hat furchtbar gesündigt in Gedanken, Worten und Werken«, sagte die schreckliche, dumpfe Stimme. »Tragt ihn hinaus und vergnügt euch an ihm, aber lasst ihn leben, damit sein Leid ihm den Weg zeigt.« Jetzt wusste Arthur, wessen Stimme das war. Es war seine eigene. Die Hölle brach los. Jubelgeheul wie von Dämonen, die eine frische Seele vorgeworfen bekommen. Jedes einzelne
Kreischen, jedes Grölen und Schreien, Schnalzen, Klacken und Pfeifen durchdrang ihn bis ins Innerste. Er spürte, wie er unsanft losgebunden wurde. Man zerrte ihn vom Altar und stellte ihn auf die Beine. Niemand nahm ihm die Maske ab. Alles blieb dunkel für ihn; nicht einmal an den Rändern drang der geringste Lichtschein herein. Er wurde gezwickt und gekniffen. Ein Flattern wie von riesigen Schwingen war plötzlich über ihm. Arthur wurde in die Luft gehoben, und ein Gestank von Blut und Erbrochenem traf ihn, schien geradewegs durch die Poren der Maske zu dringen. Arthur wurde losgelassen. Er fiel auf harten Untergrund; sein geschundener Körper brüllte auf. Ganz dicht an seinem Ohr hörte er Frau Bauers Stimme: »Es tut mir so leid.« Die Maske wurde von seinem Gesicht genommen. Er war allein. Die Häuser der Burgstraße neigten sich zu ihm herunter, und sein eigenes, vor dem er lag, grinste ihn an. Er ging unter in einem See der Schatten, tauchte wieder daraus hervor. Blut klebte auf dem Asphalt. Arthur versuchte aufzustehen, doch etwas in seinem Kopf explodierte; die Schockwellen setzten sich durch den ganzen Körper fort. Er wollte aufschreien, aus Leibeskräften brüllen, vor Qual und Wut, doch er hatte keine Leibeskräfte mehr. Er trieb durch Höhlen des Schmerzes, flog unter den kalten Sternen der Verzweiflung dahin, kletterte auf Berge des Zorns, und sein misshandelter und gequälter Körper blutete sich auf der Straße leer. Über ihm schien es zu donnern, und Blitz nach Blitz fuhr durch seinen Leib. Traf seinen Geist. Aufblitzten von Bildern, von denen er geglaubt hatte, sie wären schon lange verwest. Bilder von seinem Vater, auf dessen Schultern er wie ein Eroberer geritten war, Bilder aus gemeinsamen, glücklichen Tagen, Bilder von seiner trauernden Mutter, vom Fortzug aus der Wohnung, die zum Mausoleum ihrer
gestorbenen Liebe geworden war, Bilder von seltsamen Erscheinungen, von luftgeborenen Engeln, die ihn mit ihren Schwingen bedeckten und vor der Welt schützten, Bilder von weißen Räumen mit weißen Betten und weißer Wäsche, von weißen Menschen und weißer Erinnerung…
24. Kapitel
… die in weißen Tiefen verdämmerte, als die weißen Menschen ihn mit weißen Laken bedeckten. Er war wieder im Krankenhaus, war endlich zurückgekehrt in seine Kindheit, in den Schutz der Krankheit und Unmündigkeit. Er war wieder glücklich, es war vollbracht, die Gefahr war vorüber. Die Gefahr, an deren Natur er sich nicht mehr erinnerte. Es war gut. Die Krankenschwester ging, nachdem sie ihn zugedeckt hatte, und überließ ihn der Nacht, die nichts Schreckliches mehr für ihn bereithielt. Es klopfte leise, und seine Mutter betrat das Zimmer. Wie er sie liebte! Nach Vaters Tod war sie alles, was ihn mit der Welt verband. Sie setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett und strich ihm sanft über die Stirn. Wie er ihr Lächeln liebte! Dieses Lächeln, das nur die Menschen besitzen, die in die Hölle geblickt haben. Es wachte über ihm. Beruhigt schlief er wieder ein. Die Schmerzen stachen ihn wach. Arthur stöhnte auf. Seine Mutter streichelte ihn. Wie jung sie doch war. Sie hatte Daphnes Augen. Sie war Daphne. Ruckartig wollte Arthur sich aufsetzen, doch seine Wunden schrien aus tausend Mündern auf. »Nicht«, sagte Daphne leise. »Du darfst dich nicht anstrengen. Die Ärzte sagen, dass alles wieder gut wird. Du brauchst viel Ruhe, und es wird ein wenig dauern, bis die Wunden verheilt sind. Du hast keine schlimmen inneren Verletzungen.«
»Was ist passiert, Mutter?«, fragte er mit einer Stimme, die ihm selbst fremd war. Die junge Frau runzelte die Stirn, und gerade als sie etwas sagen wollte, legten sich wieder die weißen Engelsflügel über Arthur. Als er das nächste Mal erwachte, war er allein. Sein Leib fühlte sich immer noch an, als wäre er von einer Dämonenhorde zerrissen worden, doch nun war sein Kopf klarer. Eine Schwester kam herein, sagte ein paar belanglose Worte zu ihm, gab ihm einige Pillen und ging wieder. Kurz darauf erhielt er Besuch von einem Arzt, der ihn über die Art und Schwere seiner Verletzungen aufklärte. Arthur hörte kaum zu. Er freute sich bereits auf den Besuch jenes Wesens, das für ihn Engel, Mutter und Geliebte war. »Wir müssen die Polizei benachrichtigen, es sei denn, Sie geben uns eine nachvollziehbare Erklärung für Ihren Zustand.« Bei diesen Worten horchte Arthur auf. Polizei! Was hatte er mit der Polizei zu schaffen? Er wollte nur seine Ruhe und seinen Engel haben; alles andere war unwichtig geworden. »Keine Polizei«, keuchte er. Dann, endlich, kamen die Erinnerungen. Die Höhle. Die Hölle. Die Gerichtsverhandlung. Der Flug durch die Luft. Er schüttelte den Kopf. Das konnte er der Polizei ohnehin nicht erzählen; er glaubte es ja selbst nicht recht. Aber wie war er derart übel zugerichtet worden? Er hörte wieder Frau Bauers Stimme: »Es tut mir leid.« Und er hörte die dumpfe Stimme des Richters hinter der Maske. Die Stimme, die seine eigene gewesen war. Und die Stimme des Anklägers. Des Geistes. Arthur sah den Arzt an, der auf eine Antwort wartete. »Ich hatte einen Unfall.« »Das müssen Sie mir genauer erklären.« »Ich… ich bin in meinem Haus gefallen, bin dann aus der Tür getaumelt und von dem Podest heruntergestürzt. Mir…
mir ist alles Schlimme und Dumme zugestoßen, was einem nur zustoßen kann.« »Ich glaube Ihnen nicht. Man hat Ihnen Nägel in die Handflächen getrieben.« »Ich habe nichts zur Anzeige zu bringen«, sagte er fest. Der Arzt zuckte die Schultern und ging. Am Nachmittag erhielt Arthur Besuch von seinem Engel. Auch sie wollte ihn überreden, etwas gegen die Dorfbewohner zu unternehmen. »Du hast fast zwei Tage bewusstlos auf der Intensivstation gelegen«, sagte sie. »Wer ist dafür verantwortlich?« »Ich selbst«, antwortete er. Zwei Tage! Seine Erinnerung war ein weißes Land, wie damals. Er wollte einen Schlussstrich ziehen, wie damals. Noch zwei weitere Tage blieb er in seinem Einzelzimmer, dann wurde er gegen seinen Willen in ein Dreibettzimmer verlegt. Inzwischen hatte er herausgefunden, dass er sich im Bitburger Clemens-August-Krankenhaus befand. Wie damals Alexander… In seinem Zimmer lagen ein Blinddarm und ein Beinbruch. Die beiden Männer waren in Arthurs Alter. Der eine – der Beinbruch – sah andauernd fern. Zum Glück gab es für jedes Bett einen Kopfhörer. Der andere versuchte immer wieder, mit Arthur ins Gespräch zu kommen. Er war ein Witwer aus Spangdahlem, der sich darüber zu freuen schien, endlich einmal unter Menschen zu sein. Er erzählte Arthur vom Krebstod seiner Frau vor neun Jahren, von dem einsamen Leben, zu dem er verdammt war, denn sein einziger Sohn lebte auf einer winzigen Insel im Pazifik von Vancouver und kam höchstens einmal im Jahr zu Besuch. Arthur hörte geduldig zu. Als abends Daphne kam, flüsterte er: »Ich muss hier raus.«
»Nichts da. Du willst doch wieder ganz gesund werden, oder? Der Arzt hat gesagt, dass du noch mindestens zwei Wochen hierbleiben und danach in eine Reha musst.« Arthur kniff die Augen zusammen. Noch zwei Wochen? Reha? Niemals. Da berichtete er ihr davon, wie ihn die Dorfbewohner zusammengeschlagen hatten. Er erzählte auch von der Höhle und der Gerichtsverhandlung, aber je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er, ob es dieses Tribunal wirklich gegeben oder ob es nur in ihm selbst existiert hatte. Er wusste nur, dass er unbedingt von hier wegwollte. »Aber«, flüsterte es in seinem Kopf, »wo willst du denn so schnell hin? Du hast kein Zuhause mehr. In Fangenburg kannst du dich nicht mehr blicken lassen.« »Nein«, sagte er matt. »Ich hätte mich früher auf den Weg zu dir machen sollen«, sagte Daphne traurig. »Ich hatte mich schon gefragt, warum du nicht kommst. Wenn ich eher nach dir gesucht hätte, hätte ich die ganze Bande auf frischer Tat ertappt, und es wäre nie so weit gekommen.« Er war so müde. Es war doch alles gleichgültig. Daphne ging. Beständig: nur das Hineintreiben in dunkle Träume. Und das Aufwachen in Qualen. Wegdämmern. Aufwachen und ein Blick auf einen Dämon. Auf eine Dämonin. Eine Hexe. Auf Frau Gärtner. Sie saß neben dem Bett des Beinbruchs und tuschelte mit ihm, wobei sie immer wieder zu Arthur hinüberschielte. Ihr schmales, verhärmtes Gesicht war eine Maske aus Abscheu und Angst. Arthur spürte, wie Wut in ihm hochkochte. Er wollte mit dem Blinddarm reden, um sich abzulenken, doch das Bett war weg. Vermutlich war er zum Röntgen geschoben worden. Oder entlassen. Oder gestorben. Frau Gärtners Tuscheln wurde immer lauter, doch Arthur verstand kein einziges Wort. Der Beinbruch schaute
abwechselnd sie und den laufenden, stummen Fernseher an. Das Flüstern erzeugte einen Hall wie in einer riesigen Höhle. Arthur sah wieder die Fackeln vor sich, und jetzt hörte er Frau Gärtner sagen: »Arthur Dreyer hat sich schuldig gemacht.« Der Fernseher implodierte. Ein Funkenregen stieg aus ihm auf, Rauch wirbelte hoch, und ein paar Glassplitter fielen wie gefrorene Tropfen auf den Boden. Frau Gärtner, ihr Bekannter und Arthur waren zusammengezuckt. Sie hielten den Atem an. Die Krankenschwester stürzte herein, sah ungläubig den zerstörten Fernseher an und ging wieder. Nach einer Stunde war die Ruine abgebaut. Kurz vorher hatte Frau Gärtner das Krankenzimmer verlassen und Arthur dabei einen Blick zugeworfen, der den gesamten Hass der Hölle bündelte. »Tolle Show«, meinte der Beinbruch. »Wie haben Sie das hingekriegt?« Arthur sah ihn verständnislos an. »Das mit dem Fernseher. Hoffentlich kommt bald ein neuer.« Er kam nach zwei Stunden. »Nicht wieder kaputtmachen«, bat ihn der Beinbruch. Am Abend verkündete Arthur seiner Daphne: »Spätestens morgen früh gehe ich.« »Das kannst du nicht.« Statt einer Erwiderung hob Arthur die Beine aus dem Bett und stand auf. Er fühlte sich schrecklich, sein ganzer Körper schien eine flammende Wunde zu sein, doch nach ein paar Schritten ging es schon besser. Er nahm Daphne in die Arme und küsste sie. Sie ließ es geschehen. »Morgen früh gegen sechs Uhr, wenn noch die Nachtschicht da ist«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Und dann fahren wir weg. Nur wir beide, ja?« Er stützte sich auf ihr ab und zwinkerte ihr zu. Ihre Augen waren feucht. Sie nickte. Er war glücklich.
Die ganze Nacht hindurch ging er auf und ab und trainierte seine Muskeln. Alles war gut. Alles würde noch besser werden. Kurz vor sechs Uhr zog er sich an. Ohne den Beinbruch zu wecken, verließ er das Zimmer. Der Blinddarm war nicht mehr zurückgekehrt, die leere Bettstelle wirkte beklemmend auf Arthur. Er huschte gespenstergleich durch die von hellem Neonlicht durchtränkten Korridore, wich jedermann aus, stand endlich vor dem Krankenhaus. Daphne kam auf ihn zu; sie hatte ihn erwartet. Er nahm sie in den Arm, doch sie wollte nicht geküsst werden. Ungeduldig führte sie ihn zu einem Auto, das ihm bekannt vorkam. Als er das Bonner Kennzeichen sah, erinnerte er sich. »Das ist doch Alexanders Auto?« Sie hielt ihm die Beifahrertür auf. »Im Kofferraum liegt eine Reisetasche mit Kleidung für dich«, teilte sie ihm mit, während sie hinter dem Lenkrad Platz nahm. »Sind das etwa Alexanders Sachen?« »Stört dich das? Ich dachte, das ist besser, als noch einmal nach Fangenburg zurückfahren zu müssen.« »Du hast recht.« Er lächelte sie dankbar an. »Wo soll es hingehen?«, fragte sie. »Nach Köln«, antwortete er mit einer Bestimmtheit, als gäbe es auf der ganzen Welt kein anderes mögliches Ziel. »Allerdings habe ich kein Geld dabei«, fügte er kleinlaut hinzu. »Ich aber«, beruhigte Daphne ihn. »Und für mich bist du kreditwürdig.« Sie fuhr los. Es herrschte wenig Verkehr auf der B 51 Richtung Norden, und Daphne fuhr viel schneller als erlaubt. Arthur tat das gut, er wollte nur weg, weg, weg. Zurück nach Köln, das ihm wie ein Hafen der Geborgenheit erschien. Es war die Geborgenheit der Erinnerungen, nach der er sich sehnte; es war nicht das
wirkliche Köln, sondern ein Köln seiner vagen Träume und nebelhaften Sehnsucht. Kein Ort auf der Landkarte, sondern ein Ort der Seele. Auf der Autobahn raste Daphne mit Höchstgeschwindigkeit, als ob auch sie auf der Flucht wäre. Unter der Morgensonne schlängelte sich die Bahn von den Eifelhöhen hinunter. Bald hatten sie die Ebene um Euskirchen erreicht. Der Verkehr nahm zu: Pendler. Und auf der A 1, kurz vor Köln, standen sie im Stau. »Wo sollen wir übernachten?«, fragte Daphne. In meiner Wohnung natürlich, hätte Arthur fast gesagt. Nein, sie war ja verkauft und verloren. Er kannte niemanden, wo sie hätten unterkriechen können. Ein Hotel? Als Fremder in der Heimat? Erst jetzt begriff er, wie sinnlos diese Reise war. »Vielleicht ist es besser, wenn wir zurückfahren«, sagte er nachdenklich. Daphne sah ihn von der Seite an. »Ist dir immer noch nicht klar, dass du nicht zurückgehen kannst?« »Aber wohin kann ich denn noch gehen?«, fragte er verzweifelt. »Das überlegst du dir, wenn wir in Köln angekommen sind. Ich schlage vor, wir nehmen erst einmal ein Hotelzimmer, vielleicht für eine Woche. Dann sehen wir weiter.« Der Stau löste sich auf. Daphne fuhr in Müngersdorf ab, geriet auf der Aachener Straße stadteinwärts wieder in einen Stau, und es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sie den Gürtel erreicht hatten. »Ich kenne hier in der Gegend ein kleines, gutes und nicht zu teures Hotel«, sagte Daphne und lenkte den BMW in eine ruhige Seitenstraße des geschäftigen Gürtels. Vor einem dreistöckigen Haus aus den Dreißigerjahren parkte sie.
Arthur gefiel ihre Wahl. Dieses Hotel war höchstens fünf Minuten von dem Friedhof entfernt, auf dem seine Mutter lag. Das war wenigstens ein bisschen Heimat für ihn. Der Portier kannte Daphne offenbar gut und gab ihr die Schlüssel ohne jede Formalität. »Manchmal mache ich in Köln und der näheren Umgebung Hausbesuche«, erklärte sie, »und dann steige ich immer hier ab.« Sie führte Arthur über eine schmale Treppe in den ersten Stock und bis zum Ende des Korridors, wo sie die letzte Tür mit der Nummer vierzehn aufschloss. Als Arthur hinter ihr das Zimmer betreten wollte, stellte sie sich ihm in den Weg. »Dein Zimmer liegt direkt nebenan. Nummer dreizehn«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Aber… ich dachte…« »Glaub mir, es ist besser so.« Schon hatte sie die Tür vor ihm geschlossen. Er fühlte sich, als hätte jemand den Stöpsel aus dem Tank seiner Lebenskraft gezogen. Mit hängenden Schultern trollte er sich in das Nachbarzimmer und warf die fremde Reisetasche auf das fremde Bett. Er packte sie aus und hängte die fremde Kleidung in den leeren Schrank. Kleidungsstücke eines Geistes. Für einen Geist. Er hatte auf Nächte mit Daphne gehofft, schließlich waren sie doch wieder ein Paar. Doch er hatte ja eine Woche Zeit, an deren Ende Daphne ihm wieder ganz gehören würde. Nachdem er die Reisetasche ebenfalls im Schrank verstaut hatte, ging er leise hinaus und stellte sich vor Daphnes Zimmertür. Er hörte ihre Stimme. Sprach sie mit jemandem? Ging es ihr vielleicht nicht gut? »Daphne!«, rief er und klopfte. Ihre Stimme verstummte, und kurz darauf öffnete sein Engel die Tür. »Bist du fertig?«, fragte er. »Ich möchte dich jemandem vorstellen.«
Er nahm sie mit zum Friedhof. Vor dem kleinen Tor am Melatengürtel zögerte sie, doch dann betrat sie das Labyrinth aus gestorbenen Träumen, gefrorenen Tränen und bitterer Trauer. Zielstrebig, beinahe freudig führte Arthur sie zum Grab seiner Mutter. Er wollte ihr Daphne mit Worten der Zuneigung und Leidenschaft vorstellen, biss sich aber rechtzeitig auf die Zunge. Stattdessen faltete er die Hände, hielt den Kopf schräg und betrachtete seinen Engel aus den Augenwinkeln. Sie wirkte zum ersten Mal gehemmt, als ob sie nicht wüsste, wie sie sich verhalten sollte. Eine Weile starrte sie auf das Grab, dann drehte sie sich um wie jemand, der eine verstohlene Bewegung hinter sich gespürt hat. »Mutter mag dich«, sagte er schließlich. »Woher willst du das wissen?«, erwiderte sie und wandte sich wieder dem Grab zu. Genau vor ihren Füßen lag eines der Stiefmütterchen, die einen blauen Halbkreis um den Stein bildeten. Arthur kicherte in sich hinein. Daphne hatte nicht gesehen, wie sich die kleine blaue Blume aus der Erde gehoben hatte und zu ihr hinübergeschwebt war. Nun würde alles gut werden. Sie hatten Mutters Segen. »Lass uns gehen«, sagte Daphne. »Es gefällt mir hier nicht.« Sie blickte hinunter auf die Blume und trat einen Schritt zurück. »Es ist doch so schön hier«, wandte Arthur ein. »Der schönste Ort der Welt.« Er schaute hoch in die Krone der mächtigen Platane, die dem Grab Schatten spendete und es vor den Gewalten des Wetters beschützte. Daphne zupfte an seinem Ärmel. »Komm endlich.« Seufzend gehorchte er. Während sie berührungslos nebeneinander zu der kleinen Pforte am Melatengürtel zurückgingen, bemerkte Arthur immer wieder einen Schatten, der ihnen in sicherem Abstand folgte. Zuerst hatte er geglaubt,
es wäre der Schatten seiner Mutter. Doch er teilte sich, und der neu entstandene Schatten war unförmig und grotesk – nur entfernt menschlich. Auch er teilte sich. Sie wurden immer zahlreicher. Sie waren das schleichende Chaos, das er in den Fensterscheiben seines Hauses gesehen hatte. Sie waren ihm gefolgt, und hier, am Ort der Schatten, zeigten sie sich. Arthur packte Daphne bei der Hand und zerrte sie mit sich. Verblüfft ließ sie es geschehen. Als sie wieder auf der belebten Straße standen, fragte Arthur: »Hast du sie nicht gesehen?« »Wen?« »Die Schatten«, flüsterte er und schaute sich um. Sie waren noch da. Lauerten am Eingang, schienen es nicht zu wagen, die Schwelle zu überschreiten. Noch nicht. Er zeigte auf sie. Daphne kniff die Augen zusammen. Ganz kurz hatte Arthur den Eindruck, dass sein Engel sie auch sah, denn ihre Hand wurde kalt. »Nein«, sagte sie, »da ist nichts.« Aber sie beeilte sich, vom Friedhof wegzukommen. Sie fuhren mit der Straßenbahn in die Stadt und bummelten über die Hohe Straße und die Schildergasse, Kölns Fußgängerzone. Arthur erinnerte sich an seinen letzten Ausflug hierher. Wie froh war er damals gewesen, wieder in sein neues Zuhause fahren zu können. Doch jetzt war alles anders. Jetzt hatte er eine Geliebte, und sein Zuhause hatte sich als Tor zur Hölle herausgestellt. Er sah sich um. Es war fast so wie früher. Er war nicht allein und konnte deshalb der Welt gegenübertreten. Er war stark, weil er beschützt wurde. Von seinem Schutzengel. Etwas zog ihm die Beine weg, und er fiel hin.
Die Überraschung und der Aufprall nahmen ihm den Atem. Sofort erhob er sich wieder. Schmerzen peitschten ihn durch, als wäre jede einzelne Wunde wieder aufgeplatzt. »Was ist mir dir?«, fragte Daphne besorgt und legte ihm die Hände auf die Schultern. Wie er diese Berührung genoss! Sie nahm ihm alle Schmerzen. »Ich bin… ausgerutscht«, sagte er und ging langsam weiter. Er war nicht ausgerutscht. Jemand hatte ihn zu Fall gebracht. Aber außer Daphne war niemand in seiner Nähe gewesen, und auch sein Engel hatte sich zu weit von ihm entfernt gehalten. »Du hättest halt doch den Stock mitnehmen sollen.« Erschrocken drehte Arthur sich um. Dicht hinter ihm ging ein junger Mann mit Dreitagebart; er trug eine verwaschene Jeans und ein Holzfällerhemd. Er war derselbe, der Arthur damals geholfen hatte – an beinahe derselben Stelle. Doch etwas war anders. Als Arthur es bemerkte, stieß er gegen Daphne und hielt sich an ihr fest. Der junge Mann schlenderte lächelnd vorbei und verschwand in der Menge. »Hast du das gesehen?«, raunte Arthur. »Was?« »Der junge Mann. Ich kenne ihn. Aber diesmal hat er… keine Augen gehabt.« Daphne sah ihn mitleidig an. »Was redest du denn da?« »Seine Pupillen – er hatte keine Pupillen!« »Natürlich hatte er welche. Ich habe sie genau gesehen. Sie waren allerdings ungewöhnlich dunkel. Du siehst Gespenster.« Arthur lachte auf. »Du doch auch! Denk nur an den armen Alexander.« Ihr Blick ängstigte ihn. Plötzlich sah er den Abgrund, der zwischen ihr und ihm klaffte – den Abgrund, der zwischen allen Menschen lag. Und er spürte die Einsamkeit. Fremder unter Fremden in einer fremden Welt.
Sie aßen in einem Steakhaus am Ring zu Abend. Der Kellner bewegte sich, als hätte er keine Knochen im Leib, als bestünde er nur aus Gummi – oder aus bemalten und in Hemd und Hose gesteckten Schatten. Er atmete Schatten aus, kleine, kriechende Dinger, die sich durch die Luft wie durch Wasser wanden und auf Arthurs Teller tropften. Angeekelt schob er das Essen von sich. Schweigend gingen sie zurück ins Hotel. Die Nacht verbrachten sie getrennt. Es gab nicht einmal einen Kuss, bevor jeder auf sein Zimmer ging. Irgendwann, mitten in der Zeitlosigkeit der Finsternis, wurde ihm die Bettdecke fortgezogen. Mit klopfendem Herzen lag Arthur da, während es neben ihm raschelte und wisperte. Es gab kein Entkommen, keine Sicherheit – nirgendwo. Es war ein falscher Gedanke gewesen, zurück nach Köln zu gehen. Sie waren überall. Ein Knall erschütterte das Zimmer. Arthur fiel vor Schreck aus dem Bett. Kämpfte sich auf die Beine. Schaltete das Licht ein. Etwas klopfte gegen seine Zimmertür. »Arthur! Was ist los bei dir?« Er riss die Tür auf, und gemeinsam starrten sie auf das, was sich mitten in seinem Zimmer befand. Es war eine kniende, betende Gestalt, von der sie nur den Rücken sahen. Sie war vollkommen reglos. Daphne löste sich aus ihrer Erstarrung und schlich auf die Gestalt zu. Jetzt erkannte Arthur, woraus das Wesen bestand. Aus seinem Betttuch. In der Tat war es nichts anderes als das ungeheuer kunstvoll gefaltete Laken, das einem knienden, ins Gebet versunkenen Menschen täuschend ähnlich sah. Daphne berührte das Gebilde. Es sackte in sich zusammen, als hätte es unter Spannung gestanden. »Wie hast du das gemacht?«, fragte Daphne. Ihre Stimme klang beinahe hysterisch. Zitternd hob sie das Laken auf und
untersuchte es. Keine Fäden, keine Bänder, keine Stangen. »Wie hast du das gemacht?«, wiederholte sie. »Das war ich nicht«, sagte Arthur matt. »Darf ich bei dir übernachten?« Daphne nickte, und sie verließen das Zimmer gebückt und zerdrückt wie Menschen, die hinter den Vorhang ihrer Existenz geblickt hatten. Arthur kroch zu Daphne unter das Laken und klammerte sich an sie wie ein kleines Kind. Zuerst lag sie steif da, war ganz Abwehr und Verneinung, doch als sie allmählich zu begreifen schien, dass er nichts von ihr wollte als Schutz, entspannte sie sich spürbar. Er kuschelte sich an sie und war bald eingeschlafen. Er erwachte allein. Arthur fuhr im Bett hoch und rieb sich die Augen. Daphne war fort. Das Gefühl der Verlorenheit drohte ihn zu ersticken. Er stand auf und schaute im angrenzenden Bad nach. Daphnes Kosmetika waren noch da. Erleichtert atmete er auf. Da hörte er die Zimmertür leise ins Schloss fallen. Sie war zurückgekommen. Er verließ das Bad und umarmte sie dankbar. Er hatte Angst, in die Nummer dreizehn zu gehen, doch er musste sich allmählich anziehen. Mit geschlossenen Augen übertrat er die Schwelle. Dann sah er sich um. Er bemerkte nichts Besonderes außer dem Laken auf dem Boden. Arthur hob es auf. Es war so heiß wie die Steine, die durch das Teufelszimmer geflogen waren. Beim Frühstück sagte Arthur: »Ich kann nicht mehr. So sehr hatte ich gehofft, dass hier alles vorbei wäre, aber ich stecke noch immer mittendrin. Es hat wohl keinen Sinn mehr, andauernd die Ereignisse zu leugnen. Ich muss wissen, was los ist, und dem Ganzen ein Ende setzen, irgendwie.«
»Das wird nicht einfach sein«, meinte Daphne, während sie eine Brötchenhälfte mit Butter bestrich. »Meine Säuberung hat offenbar keine Wirkung gehabt.« »Vielleicht hast du die Phänomene nicht richtig gedeutet«, wandte Arthur ein. »Das glaube ich nicht. Es gibt Bücher, in denen einige der Dinge beschrieben sind, die du erlebt hast.« »Ich will mir diese Bücher selbst anschauen. Bestimmt gibt es einschlägige Literatur in der Stadtbücherei. Komm!« Arthur sprang auf. Widerwillig ließ Daphne ihr gebuttertes Brötchen liegen und folgte ihm durch die Straßen. Bald saßen sie in einer Bahn, die sie zum Neumarkt brachte, an dem die Stadtbücherei lag. »Ich muss meinen Gegner akzeptieren, erst dann kann ich etwas gegen ihn unternehmen«, sagte Arthur mit einer Entschlossenheit, die ihn selbst verblüffte. »Also muss ich so viel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen. Bisher habe ich davor zurückgescheut und gehofft, es würde alles wieder von allein ins Lot kommen. Aber das war wohl ein Trugschluss. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als endlich an meinen Widersacher zu glauben.« In der Bibliothek hatte Daphne schnell die Abteilung Esoterik, Kulturgeschichte, Übersinnliches im vierten Stock gefunden, und bald trug Arthur einen ganzen Stapel bunter Bücher zu einem der Arbeitstische, von denen aus man einen hübschen Blick über den Neumarkt und das angrenzende Straßengewirr hatte. Als er mit der Lektüre begann, verabschiedete sich Daphne von ihm, weil sie in der Schildergasse noch ein paar Einkäufe machen wollte. Arthur nickte nur geistesabwesend; bereits der erste Text hatte ihn gefangen genommen. Es war das Werk eines Engländers namens Colin Wilson und hieß schlicht: Poltergeist! Hier fand er Beschreibungen der Klopfgeräusche, des herabstürzenden
Wassers, der auf seltsamen Flugbahnen sich bewegenden und scheinbar aus dem Nichts kommenden Steine. In einem anderen Buch entdeckte er Berichte über unirdische Stimmen und tanzende Bettlaken. Auch die bisweilen schlagartig sinkenden Temperaturen wurden mehrfach erwähnt. Fast immer seien Kinder auf der Schwelle zum Erwachsensein in die Ereignisse verstrickt, als ob die Pubertät rätselhafte, unheimliche Kräfte freisetzen würde. Überdies, so erklärten die Autoren übereinstimmend, sei der Spuk nicht an eine Örtlichkeit, sondern an Personen gebunden. Das würde erklären, warum ihm die Phänomene – wenn auch in abgeschwächter Form – nach Köln gefolgt waren. Doch eines begriff er nicht. All diese Bücher unterschieden streng zwischen Poltergeistern und Gespenstererscheinungen. Als Arthur über diese Unstimmigkeit aus dem Reich des Unmöglichen nachdachte und dabei ein weiteres Buch oberflächlich durchblätterte, blieb sein Blick plötzlich an einem Bild hängen. Es zeigte einen etwa fünfunddreißigjährigen Mann, eine etwas ältere Frau und ein Kind, das sich halb hinter der Frau versteckte. Unter dem Schwarzweißbild stand: Friedhelm Weber, das jüngste Opfer des Poltergeistes in F. mit seiner Freundin und ihrem Kind. Aufgenommen 1968. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Otto Schröder. Das war das Bild, von dem Benzedron alias Franz Schröder gesprochen hatte! Das Bild, das seine Eltern dem Journalisten zur Verfügung gestellt hatten. Arthur erkannte das Gesicht. Das Gesicht des toten Friedhelm Weber. Es war das Gesicht, das ihm aus der Wand seines Hauses entgegengekommen war. Doch das war nicht das Schlimmste an diesem Foto. Bei weitem nicht.
25. Kapitel
Nervös wartete Arthur auf Daphnes Rückkehr. Als er sie endlich auf sich zukommen sah, lief er ihr mit dem Buch in der Hand entgegen. Aufgeregt schwenkte er es vor ihrer Nase und rief: »Hier drin steht einiges über den Poltergeist von Fangenburg, auch wenn der Ort nicht ausdrücklich genannt ist. Ich muss sofort zurück.« »Warum?«, fragte Daphne unsicher. Er sah sich rasch um – niemand beobachtete sie –, schlug die Seite mit dem Foto auf und riss sie heraus. Er faltete das Blatt, steckte es ein und legte das misshandelte Buch achtlos neben sich auf ein Regal. »Ich erkläre dir alles auf dem Rückweg.« »Wir können nicht einfach so zurückfahren. Wir sind doch erst den zweiten Tag hier und haben für eine ganze Woche gebucht.« »Na und? Soll das ein Argument sein? Nenn es eben einen Ausflug in die Eifel.« »Du sollst dich hier erholen. Es ist gar nicht gut, wenn du dieses schreckliche Haus jetzt schon wiedersiehst. Du brauchst Abstand.« »Es ist egal, wo ich bin. Ich werde nirgendwo Abstand bekommen, wenn ich mich nicht der Wahrheit stelle. Ich muss es nachprüfen.« »Was?« »Im Keller… komm endlich.« Er zerrte Daphne aus der Bücherei. Im Hotel versuchte sie noch einmal, ihn von seinem Vorhaben abzubringen. Er befahl ihr, sich auf das Bett zu
setzen, nahm neben ihr Platz und holte das gefaltete Foto aus der Tasche. »Sieh es dir einmal genau an.« »Wenn die Bildunterschrift stimmt, dann ist das das letzte Opfer deines Hauses.« »Ja, aber darum geht es mir jetzt nicht. Wer sind die beiden anderen?« Daphne hielt sich das Bild dicht vor die Nase. Schließlich ließ sie es wieder sinken. »Keine Ahnung.« »Du kennst sie beide – gewissermaßen.« Daphne betrachtete noch einmal das Foto. »Das halb hinter der Frau versteckte Kind – das bin ich«, erklärte Arthur. Daphne starrte ihn ungläubig an. »Man kann doch nicht einmal erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist.« »Er trägt eine kurze Hose, die zwar wie ein Rock aussieht, aber keiner ist. Wie ich diese Hose gehasst habe! In der Schule haben mir alle ›Mädchen‹ nachgerufen. Und die Frau ist meine Mutter.« »Das ist unmöglich, Arthur. Das hätte im Dorf jemandem auffallen müssen.« »Nicht unbedingt. Du hast mich auf dem Foto ja auch nicht wiedererkannt. Es ist schließlich fast vierzig Jahre alt.« »Das ist unmöglich. Es würde ja bedeuten, dass du schon einmal in diesem Haus gewohnt hast, und zwar zusammen mit deiner Mutter. Daran müsstest du dich doch erinnern.« »Nicht unbedingt. Denk an meine Amnesie. Als ich das Haus auf meinem Ausflug in die Eifel scheinbar zum ersten Mal gesehen habe, war mir, als würde ich es schon seit Ewigkeiten kennen. Und die Spielzeugautos auf dem Speicher…« »Haben sie dir gehört? Weißt du es genau?« »Zuerst hatte ich sie nicht wiedererkannt, aber jetzt glaube ich, dass sie wirklich mir gehört haben. Und ich kann mich jetzt an manches verschwommen erinnern. Ich weiß zum
Beispiel wieder, dass das Haus, in dem ich mit meiner Mutter gelebt habe, sehr alt war und eine Wendeltreppe besaß, über die ich oft auf dem Hosenboden heruntergerutscht bin. Hinter dem Haus war ein steiler Garten.« Er stöhnte auf. Die Bilder kamen. Endlich. Zuerst waren sie undeutlich, doch als ob jemand an einer unsichtbaren Linse gedreht hätte, wurden sie allmählich etwas schärfer, blieben jedoch auf beunruhigende Weise verschwommen. »Und im Keller, der nur von außen zugänglich war, habe ich irgendetwas vergraben. Wenn ich es also in meinem Haus in Fangenburg finden würde, hätte ich Gewissheit. Damit wäre mir ein Stück meiner Vergangenheit zurückgegeben.« Er spürte, wie sein Gesicht vor Aufregung glühte. »Verstehst du, wie wichtig das für mich wäre?« »Jetzt ist mir endlich klar, was an dieser Geschichte nicht stimmt«, wandte Daphne ein. »Die Fangenburger haben dich vielleicht nach all den Jahren nicht wiedererkannt, aber einige der älteren hätten sich bestimmt an deinen Namen erinnert.« »Das ist richtig«, gab Arthur zu und massierte sich die Unterlippe. »Es sind nur ganz verwischte Bilder, die mir jetzt durch den Kopf ziehen. Wenn ich das Ding finde, das ich damals versteckt habe, weiß ich es mit Sicherheit.« »Was war es denn?«, fragte Daphne. Arthur zuckte die Achseln. »Es ist so undeutlich«, klagte er, »wie alles, was danach passiert ist. Vielleicht kehrt sogar die ganze Erinnerung zurück, wenn ich dieses Ding wiederfinde.« Obwohl Daphne ihm mit klaren Worten zu verstehen gab, dass sie von seinem Plan nicht überzeugt war, fuhren sie zurück nach Fangenburg. Arthur drückte sich in den Ledersitz des BMW. Sein Kopf war ein einziger Aufruhr. Er dachte an die bedrohlichen Schatten, die er auf dem Friedhof in Köln gesehen hatte. Andere Bilder tauchten wie Blasen in seinen Gedanken auf und zerplatzten sogleich, wenn er sie betrachten wollte. Bilder, die seinen Vater, seine Mutter, ihn selbst
zeigten, in glücklichen Tagen. Er versuchte sich an die Beerdigung seines Vaters zu erinnern. Vergebens. Stattdessen sah er seine weinende Mutter, wie sie Umzugskartons packte. Ein anderes Bild: seine schluchzende Mutter, die ihm sagte: »Vater kommt nicht wieder.« Rädchen klackten in seinem Kopf, griffen ineinander, drehten die Bilder vor und zurück. Etwas fehlte. Erregt begriff er, dass er sich geirrt hatte. Die ganze Zeit über. Ja, Mutter hatte nach seinem Krankenhausaufenthalt, als sie bemerkt hatte, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, beständig vom Tod seines Vaters geredet. Bis sie es irgendwann selbst geglaubt hatte. Nie waren sie an sein Grab gegangen. Weil es gar kein Grab gab. Sein Vater war nicht gestorben. Vater kommt nicht wieder. Das war richtig gewesen. Doch jetzt sah Arthur wie durch eine dicke Milchglasscheibe den Streit seiner Eltern. Geh! Ich will dich hier nie mehr sehen! Geh doch zu deinem Flittchen! Aber bilde dir nicht ein, dass du zurückkommen kannst! Eines Tages war Vater fort gewesen. Und nie mehr wiedergekommen. Vater kommt nicht wieder. »Das ist die Erklärung«, sagte er aufgeregt und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. »Meine Mutter war keine Witwe. Sie hat sich scheiden lassen. Und wieder ihren Mädchennamen angenommen: Dreyer. Vorher, als Familie, hießen wir anders; ich kann mich an den Namen noch nicht erinnern. Doch unter diesem Namen ist sie sicherlich in die Eifel gezogen und hat dieses Haus für uns gemietet; vermutlich wurde die Scheidung erst rechtskräftig, nachdem wir schon wieder in Köln waren; ich weiß es nicht. Da ich nach meiner Krankheit auch meinen Namen neu lernen musste, hat Dreyer
mich nicht sonderlich verwirrt – nicht mehr, als es jeder andere Name getan hätte.« »Das wäre eine Erklärung«, meinte Daphne vorsichtig. Arthur versank wieder in seinen Gedanken und Fragen an sich selbst. Fragen an seine Kinderzeit in der Eifel. Hatte er wirklich schon einmal in Fangenburg gelebt? Im Spukhaus? Was war damals geschehen? Wieso befanden er und seine Mutter sich auf demselben Foto wie Friedhelm Weber? War er wirklich der Liebhaber seiner Mutter gewesen, die er als so sittenstreng und puritanisch erfahren hatte? Er fühlte sich, als stünde er dicht am Abgrund einer gewaltigen Lebenslüge. Noch ein Schritt weiter, und die Schwärze der Wahrheit würde ihn fressen. Er griff hinüber zu Daphnes Arm. »Ich brauche dich mehr denn je.« Sie schüttelte sich. »Lenk mich nicht vom Fahren ab!«, wies sie ihn barsch zurück. »Ich liebe dich.« »Nein. Du liebst die Vorstellung von Geborgenheit. Aber die kann und will ich dir nicht geben. Dafür kannst nur du selbst sorgen. Werde endlich erwachsen, Arthur Dreyer!« Ganz leise sagte er: »Das kann ich nicht.« »Du musst.« »Dafür ist es zu spät. Viel zu spät.« »Es ist nie zu spät. Du kannst immer noch ein neues, eigenes Leben anfangen.« »Das habe ich doch getan! Ich bin von Köln weggezogen.« »Ja, und zwar genau in das Haus, in dem du deiner Meinung nach vor vierzig Jahren schon einmal mit deiner Mutter gelebt hast. Sieht so ein Neuanfang aus, Arthur?« Er barg den Kopf in den Händen. Es war für ihn wichtiger denn je, dieses Ding zu suchen, das er damals vergraben hatte und von dem er nicht mehr wusste, worum es sich handelte.
Wenn er es wirklich im Keller seines Hauses fand, hatte er sich mit dem Umzug in einem alten Teil seines Lebens eingerichtet, ohne es zu wissen. Je näher sie Fangenburg kamen, desto unruhiger wurde er. Als sie zwischen den hohen Felsen hindurch in den Talkessel einfuhren, schloss er die Augen. Die Berge, die dunklen Wälder, das Dorf – all das schnürte ihm die Luft ab. »Hast du eine Schaufel?«, fragte er Daphne. »Und ein stabiles Messer?« Sie holten beides aus Daphnes Haus, bevor sie die Fahrt fortsetzten. Sein Haus schien ihn heute willkommen zu heißen. Sowohl die Haupttür als auch die zum Keller standen einen Spaltbreit offen. Verwirrt sprang Arthur aus dem Wagen. Wohin zuerst? Der Keller war wichtiger; in ihm lag möglicherweise die Lösung aller Rätsel. Noch bevor Daphne aussteigen konnte, war er bereits in das Gewölbe geeilt und untersuchte im Schein der Deckenlampe zunächst die Basis des ersten und dann die des zweiten Pfeilers. Daphne folgte ihm. Sie trug den Spaten und ein Messer mit dicker, breiter Klinge. Arthur drehte sich zu ihr um und nahm ihr beides ab. »Ich glaube, es ist der hintere Pfeiler«, sagte er, während er zu graben anfing. Die Erde war nicht so fest, wie er erwartet hatte, und bald hatte er das Fundament des Pfeilers freigelegt. Mit dem Messer kratzte und schabte er an den kleinen Backsteinen herum, bis er ganz unten zuerst einen, dann einen zweiten gelöst hatte. Aufgeregt griff er in die Höhlung. Und zog einen Stein hervor. Nein, es war kein Stein. Es lebte. Es öffnete die Schleusen in seinem Kopf. Wie vom Blitz getroffen stürzte Arthur zu Boden, während er von seinen Erinnerungen überschwemmt wurde und sein Kopf vor Schmerzen zu platzen drohte. Daphne stürzte auf ihn zu. Nein, nicht auf ihn.
Auf den Stein. Sie nahm ihn in die Hand und keuchte auf. Mit den Fingern fuhr sie die verwitterten Umrisse nach. Wie eine Priesterin ging sie in die Knie und hob die Statuette hoch. »Garundia«, murmelte sie. »Göttin der Unterwelt.« »Ich weiß es wieder«, sagte Arthur mit zitternder Stimme und rieb sich die Schläfen. Die Schmerzen wichen ein wenig. »Ich hatte es hier unten gefunden, als ich im Spiel den Boden umgegraben und die beiden lockeren Steine entfernt hatte. Für mich war es eine Puppe gewesen – ein Freund, eine Freundin; etwas, das ich nie gehabt hatte. Sie hat mir viel beigebracht.« Er schluckte, als er sah, wie Daphne die Statuette streichelte und sie mit offenkundiger Ehrerbietung behandelte. »Ich erinnere mich jetzt, dass auch Benzedron von einer kleinen Statue gesprochen hat, die der Teufelsbündner aus dem achtzehnten Jahrhundert auf dem Altar im Berg gefunden haben soll.« Daphne stellte das kleine Götzenbild vorsichtig auf den Boden. »Also war es wirklich das Haus deiner Mutter«, sagte sie. »Und du hast als Kind mit Garundia gespielt. Was hat sie dir beigebracht?« »Wie ich meine Wut kanalisieren kann.« Es tat so weh. Er sah es. Er sah wieder die ersten Phänomene: die fliegenden Wäscheklammern, den auf der Seite stehenden Tisch, die von selbst fahrenden Spielzeugautos. Die rotierenden Gegenstände. Er dachte an die schrecklichen Klopfgeräusche. Und an seine Wut. Der ganze Zorn, den er damals empfunden hatte, quoll wieder in ihm hoch und machte ihn sprachlos. Der Zorn auf jenen Mann, mit dem sich seine Mutter so rasch angefreundet hatte. Der Zorn, den er empfunden hatte, als er die beiden beim Küssen erwischt hatte. Und der versengende Zorn, als er durch das Schlüsselloch gesehen hatte, wie der Mann immer wieder so hart in seine Mutter eingedrungen war, dass sie gurgelnde,
unterdrückte Schreie ausgestoßen hatte. Er war in das Schlafzimmer gestürzt und hatte versucht, den Mann von seiner Mutter herunterzuzerren. Der Mann… Friedhelm Weber. Das Gesicht an der Wand. Arthur schlug die Hände vor die Augen. »Ich war es«, schluchzte er. Er fühlte sich, als würde gleich sein Kopf platzen. Daphne kniete sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern. »Was warst du?«, fragte sie sanft wie eine Mutter. »Ich weiß es wieder. Mutter war mit mir vor dem Spuk in ein Gasthaus in Malberg geflohen und hatte ihren… hatte diesen Friedhelm Weber von dort aus angerufen. Ich hatte mitbekommen, dass Weber so schnell wie möglich in unserem Haus nach dem Rechten sehen wollte. Der Angeber! Von Malberg bis Fangenburg ist es ja nur etwas mehr als ein Kilometer, und ein Kind kann sehr ausdauernd und flink sein. Ich bin einfach meiner Mutter entwischt und nach Hause gelaufen.« Er sah Daphne verzweifelt an. »Mein Gott, wie habe ich diesen Kerl gehasst«, fuhr er fort und schaute an ihr und dem Gewölbepfeiler vorbei in die Vergangenheit. »Ich bin noch vor ihm hier eingetroffen, obwohl er von Sankt Thomas aus wie der Teufel hergerast sein muss. Ich hatte mich gerade im Schlafzimmerschrank meiner Mutter versteckt, als unten mit quietschenden Reifen ein Auto hielt. Und dann war in mir wieder dieser gewaltige Hass. Es hat beinahe sofort angefangen. Und als Weber endlich oben war, in dem Raum, in dem er das meiner Mutter angetan hatte, habe ich ihn mit dem Spuk durch das aufgesprungene Fenster getrieben. Ich habe hinausgeschaut und ihn dort unten liegen sehen. Er zuckte noch ein paarmal, dann ist er gestorben. Erst da habe ich begriffen, was ich getan hatte. Der Spuk legte sich nicht, sondern er wandte sich gegen mich. Genau wie der Hass, von dem ich so voll war. Ich weiß wieder, dass ich bei meiner
Flucht aus dem Haus von mehreren Gegenständen getroffen wurde. Und dann bin ich in einem Krankenhaus aufgewacht. Es war das Severinsklösterchen in Köln, und meine Mutter war bereits wieder in ihre Heimatstadt umgezogen. Ich hatte zwei Monate im Koma gelegen. Meine Mutter hat mir eine Geschichte über eine dringend notwendige Hirnoperation erzählt, und niemand hat mir verraten, was wirklich passiert war. Die Vergangenheit war ein weißes Buch für mich, das die Ärzte ›Amnesie‹ genannt haben. Angeblich sollte sie eines Tages verschwinden.« Arthur stöhnte auf und hielt sich die Hände an die schmerzenden Schläfen. »Und sie ist tatsächlich verschwunden – jetzt.« »Hat deine Mutter nie mit dir über die Vergangenheit geredet?«, fragte Daphne. »Sie war so glücklich, dass ich wieder aufgewacht bin, und ich wollte sie nicht mit Fragen quälen. Und irgendwann war es einfach kein Thema mehr für mich gewesen. Es war für mein Leben unwichtig geworden. Dachte ich.« Arthur Dreyer hat sich schuldig gemacht. Er hat furchtbare Dinge getan… Es waren die Worte der Frau Gärtner auf dieser unwirklichen Gerichtsverhandlung. Sie hatte recht gehabt, auch wenn sie diese Sätze vielleicht nur in seiner verwirrten Einbildung gesprochen hatte. Die Kopfschmerzen ließen nach. Daphne nahm den Arm von seiner Schulter und hob die Statuette auf. »Lass uns gehen«, sagte sie. Sie verließen den Keller, und Arthur betrachtete nachdenklich die einen Spaltbreit offenstehende Haustür. Aus dem Halbdunkel drangen klopfende Geräusche heraus. Es war noch immer nicht vorüber. Er musste sich den Mächten der Finsternis stellen, nachdem er sich endlich sich selbst gestellt hatte. Er rannte in das Haus. »Nein!«, rief Daphne hinter ihm her. »Komm zurück!«
Er hörte nicht auf sie. Als er im Korridor stand, traf ihn beinahe der Schlag. Der Spuk war mächtig wie nie zuvor. Löcher klafften in den Wänden, von der Decke war der Putz abgebröckelt, und viele Bodendielen waren wie durch Explosionen aufgebrochen. Selbst die Treppe war zerstört. Er balancierte über jene Teile der Stufen, die noch an ihrem Platz waren. Die Schwärze in den Löchern unter ihm war beinahe stofflich, und er glaubte, Sterne in ihnen glimmen zu sehen. Er musste höher hinauf! Denn die Klopfgeräusche drangen von oben herab. Er hörte, wie Daphne hinter ihm herhastete. Endlich stand er vor seinem Schlafzimmer. Vor dem Schlafzimmer seiner Mutter. Vor dem Teufelszimmer. Die Tür war geschlossen. Er drückte sie auf. Als Erstes sah er den Geist. Alexanders Geist. Neben ihm befand sich ein zweites Wesen, von grau-weißem Nebel aus Putz und Mörtel eingehüllt. Es drehte sich um. Es war Ingo. Er ist ebenfalls gestorben, schoss es Arthur durch den Kopf. Aber wozu brauchten Geister Hammer und Meißel? Warum stemmten sie damit die Wände auf? Daphne hatte ihn erreicht. Als die beiden Gespenster sie sahen, warfen sie die Werkzeuge weg und stießen Freudenrufe aus. Daphne hielt triumphierend die Statuette der Garundia hoch. Ingo packte Arthur, hielt ihn fest, und Alexander riss das Bettzeug zu dünnen Streifen. Damit fesselte er Arthur an Händen und Füßen und schleuderte ihn auf das Bett. Dann bewunderten die drei die kleine Statue und umarmten sich gegenseitig. Daphne warf Arthur einen traurigen Blick zu und machte sich von den beiden Männern los. »Was… was ist hier los?«, brachte Arthur mühsam hervor. Es war Alexander, der ihm antwortete. »Das ist hier los.« Er zeigte auf das Götzenbild. »Diese Garundia wird uns reich machen. Wir haben bereits ungeheure Summen für sie geboten bekommen. Durch ein altes Manuskript sind wir auf ihre Spur
gestoßen, kurz bevor du hier eingezogen bist, alter Mann. Wir wussten, dass sie sich im Haus befindet, aber wir hatten keine Ahnung, wo wir suchen mussten. Vor deinem Einzug haben wir den ganzen Keller umgegraben und die Wände abgesucht, aber nichts gefunden. Und dann hast du erst einmal unsere Pläne zunichte gemacht. Da hatte Daphne die Idee, dich einfach von hier fortzutreiben.« Arthur sah Daphne ungläubig an. »Das… nein…« Ihm war, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. »Das kann nicht sein.« Daphne setzte sich neben ihn auf das Bett und streichelte ihm über die Stirn. »Doch, es stimmt«, sagte sie leise und ohne jeden Triumph in der Stimme. »Da wir wussten, welchen Ruf das Haus hat, haben wir es zuerst mit Gespensterphänomenen versucht.« »Alexanders Tod…« »… war natürlich nur eine List«, bestätigte Daphne. »Seine Erscheinung war inszeniert, und natürlich ist er nie im Bitburger Krankenhaus gewesen. Außerdem haben wir während deiner Abwesenheit Mikrofon, Lautsprecher, winzige Nebelwerfer sowie einen Basstöner installiert, der dir mit extrem niedrigen Frequenzen gehörig Angst eingejagt hat. Oben auf der verlassenen Burg, zu der wir uns einen Schlüssel besorgt haben, hatten wir einen Projektor aufgebaut, der verschwommene Geisterbilder in deine Küche und das Esszimmer werfen konnte.« Arthur keuchte auf. Er schüttelte den Kopf. Das hier war der schlimmste Albtraum von allen. »Und das Blut in der Waschschüssel?« »Nur eine Chemikalie, die ich in das volle Becken geschüttet habe. In dem Holunderblütensirup waren übrigens etliche Pflanzenextrakte, die zum einen starke Halluzinationen auslösen können und zum anderen…« Sie verstummte.
Er sah sie auffordernd an. »Hast du schon einmal etwas von Liebestränken gehört?« Er drehte den Kopf zur Wand. »Wie seid ihr eigentlich in mein Haus gekommen?«, fragte er müde. »Daphne hat einen Nachschlüssel gemacht, während du bei ihr warst«, lachte Ingo. »Von da an konnten wir auch weitersuchen, als du nicht da warst, aber da die Statue leider aus Stein ist, hatte es keinen Zweck, einen Detektor einzusetzen. Und da du bisher nie lange weg warst, blieb uns nicht die Zeit, die Wände und Decken aufzustemmen. Bis jetzt! Leider bist du zu früh zurückgekommen. Daphne konnte uns nicht mehr warnen. Auch gut. Jetzt hat wenigstens die Heimlichtuerei ein Ende. Und wir sind am Ziel.« Ingo nahm die Statue in die Hand und küsste sie. »Bahamas, wir kommen!« »Dann hast du meine Kleidung mitgenommen, nachdem wir auf der Lichtung…?«, wollte Arthur von Daphne wissen. Sie nickte. »Nachdem uns klar geworden war, dass Geisterphänomene allein nicht reichten, um dich aus dem Haus zu treiben, haben wir versucht, dich im Dorf unmöglich zu machen. Und dabei hast du uns unwissentlich nach Kräften unterstützt.« »Wie konntet ihr bloß die arme Katze töten!« »Das waren Ingo und Alexander«, verteidigte sich Daphne und warf den beiden böse Blicke zu. Sie bemerkten es nicht, denn sie waren ganz in die Anbetung der Göttin vertieft. »Sie wollten die Fangenburger endgültig gegen dich aufwiegeln.« »Das ist euch gelungen«, stöhnte Arthur und blickte ihr tief in die Augen. »Und wie habt ihr das mit dem Wasserfall und dem Ascheregen hinbekommen?« Daphne sah ihn verständnislos an. »Das… waren wir nicht.« »Und der verrückte Schrank? Und die zerstörten Masken?« Sie schüttelte den Kopf. »Arthur, wir haben versucht, dir Angst
einzujagen. Aber es ist außer Kontrolle geraten. Du bist außer Kontrolle geraten. Was du Alexander angetan hast, war ziemlich schlimm. Er hat viele Schnitte von den herumfliegenden Glassplittern abbekommen, die glücklicherweise dank meiner Salben schon wieder gut verheilt sind.« »Also war es echt. Genau wie deine Liebe. Die ist auch echt, ja?« Er hatte Angst vor ihrer Antwort. »Nein.« Sie schwieg, setzte dann hinzu: »Zumindest nicht am Anfang, als ich dich noch kaum gekannt habe. Aber dann bist du mir sehr nahegekommen. Du bist ein seltsamer Mensch, Arthur Dreyer. Ich habe keine Ahnung, ob es wirklich mein Trank war, der dich zu mir getrieben hat. Eigentlich glaube ich es nicht mehr. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Umständen kennen gelernt.« Sie wollte ihm wieder über den Kopf streicheln, aber er wich ihrer Berührung aus. »Belogen und betrogen! Immer haben mich alle belogen und betrogen! Aber bei dir tut es mir besonders weh, Daphne. Ich hatte geglaubt, in dir die Frau für mein Leben zu finden.« »Such dir besser eine, die genauso alt ist wie du«, höhnte Alexander. »Die ist dann nicht so anstrengend.« »Los, weg hier«, meinte Ingo und wandte sich zur Tür. »Wir können ihn doch nicht einfach hier lassen«, sagte Daphne. »Sollen wir ihn etwa losbinden?«, polterte Alexander. »Damit er versucht, sich uns in den Weg zu stellen? Er wird sich schon allein befreien – wenn wir über alle Berge sind.« Seine Daphne – sein Engel – eine Dämonin. Eine wahre Hexe. Ihre Blicke begegneten sich. Du bist mir nicht gleichgültig, sagten ihre Augen. Ich empfinde etwas für dich, Arthur Dreyer. Ich liebe dich. Nein, sie war keine Dämonin. Sie war verführt worden, sie steckte in der falschen Haut. Sie trug eine Maske. Es war noch nicht zu spät!
Ingo wollte die Tür öffnen. Es gelang ihm nicht. Er schrie auf. Ließ die Statuette fallen. Dort, wo sie auf die zerbrochenen Dielenbretter traf, erhob sich Rauch. Erste Flammen schlugen hoch. Das Feuer griff rasend schnell um sich. Es hüllte die Göttin ein, fraß sich über den Boden. Ja, so war es richtig. Das war seine Wut, sein Werk, seine Macht. Alexander sprang zur Tür, rüttelte daran und warf sich verzweifelt dagegen, während Ingo verständnislos und offensichtlich unter Schock auf seine verbrannten Handflächen starrte. »Arthur, hör auf damit!«, schrie Daphne und schüttelte ihn durch. Dann band sie ihn los. Er rieb sich die Gelenke. »Lösch das Feuer!«, bedrängte sie ihn. Inzwischen stand auch der Kleiderschrank in Rammen. Die Hitze wurde unerträglich; die Luft war kaum mehr zu atmen, sie brannte in der Lunge. »Ich kann nicht!« »Du musst!« »Das bin nicht ich!«, brüllte er über das Schreien der Flammen hinweg. Das Feuer umschmeichelte Alexander. Er wurde zu einer lebenden Fackel. Sein Kreischen hatte nichts Menschliches mehr an sich. Ingo warf die versengten Hände hoch. Arthur sprang vom Bett. Der brennende Alexander stürzte auf Daphne zu. Arthur warf sich zwischen sie und den Sterbenden, damit sein Feuer sie nicht verzehrte. Sofort setzte es Arthur in Brand. Er taumelte zur Tür. Sah, wie die donnernden, brüllenden Flammen auch Ingo umhüllten. Er schrumpfte still zusammen, wurde schwarz. Unbeschreiblicher Gestank erfüllte das Zimmer. Arthur saugte jede einzelne Feuerzunge in sich auf, schützte Daphne auf diese Weise. Seine Lunge explodierte. Er war jenseits der Schmerzen. Etwas zerriss in seinem Kopf. Er sah nichts mehr. Warf sich dorthin, wo die Tür sein musste. Durchbrach sie mühelos. Trank die Rammen. Schob Daphne
hinaus. Nur sie zählte noch. Sein Engel. »Lauf!«, schrie er ihr zu. Er gab ihr einen Stoß. Blind drehte er sich um. Alexanders Schreie waren erstorben. Die Flammen brüllten nicht mehr, sie rauschten nun still und gleichmäßig. »Komm.« Er kannte die Stimme. Es war die eines Jungen kurz vor dem Stimmbruch. Obwohl seine Augäpfel im Feuer geplatzt waren, sah er den Jungen. Sah er seine eigene Vergangenheit. Er taumelte zurück in das Teufelszimmer, aus dem die Stimme gekommen war. Der Kopf des Jungen wuchs aus einem zerstörten Torso hervor. Die Lippen lächelten, stülpten sich aus, wurden zu einer Röhre, einer Schlange. Die Flammen griffen auch auf dieses Wesen über und zersetzten es. Inmitten des Infernos flog seine Asche davon wie Schneegestöber in einem Wintersturm. Dann drangen die Rammen mit neu entfachter Wut auf Arthur ein. Erleichtert streckte er die Arme aus. Es war vollbracht. Nie wieder würde er eine Maske brauchen.
Epilog
»Danke, dass du mitgekommen bist«, sagte sie, während sie sich wieder aufrichtete. Lara nickte kurz und sah ihre Freundin an. »Du hast mir noch nicht viel von ihm erzählt.« Daphne betrachtete nachdenklich die dunkle, fast schwarze Rose, die sie auf den Buchsbaum gelegt hatte, mit dem Arthur Dreyers Grab fast vollständig bedeckt war. »Es ist eine traurige Geschichte. Arthur war ein einsamer Kerl, und ich habe mich ihm gegenüber wie ein Schwein verhalten.« »Die Statue der Garundia«, sagte Lara; ihre Worte kamen wie aus tiefer, fremder Erinnerung an die Oberfläche. »Ich hätte mich nie mit Alexander und Ingo einlassen sollen. Aber die ungeheure Summe, die ein paar Spinner für diese angeblich wundertätige Göttin bezahlen wollten, war einfach zu reizvoll für uns alle. Wenn wir nur ein paar Monate früher auf ihre Spur gestoßen wären, hätte der arme Arthur zwar umfangreiche Reparaturen an seinem neu erworbenen Haus durchführen lassen müssen, aber unsere Wege hätten sich nicht gekreuzt.« Sie schob eine schwarze Haarsträhne zurück hinter das Ohr und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. »Du kannst mir gern immer wieder erzählen, dass du ihn nicht geliebt hast, aber ich glaube dir nicht«, meinte Lara. Daphne lächelte in sich hinein. »Er war so seltsam. Einerseits verklemmt und schüchtern, andererseits ein wunderbarer Liebhaber. Zu Anfang hat es mir Spaß gemacht, ihn an der Nase herumzuführen, doch als ich bemerkt habe, wie ernst es für uns beide geworden war, habe ich versucht, mich von ihm zu trennen. Doch dazu war es schon viel zu spät. Ich hätte nicht mit ihm leben können. Er war zu alt und gleichzeitig zu
kindlich für mich, aber ohne ihn ist es ebenfalls verdammt schwer.« Sie verstummte. »Er war zweiundfünfzig. So alt ist das nicht. Ob er verquer war, kann ich nicht entscheiden. Aber kindlich war er wohl kaum. Er hat sein Leben für dich geopfert.« Daphne wischte sich die Tränen weg. »Er war so schutzbedürftig. Ich habe dir ja von den Masken erzählt. Wenn das nicht verquer war… Aber du hast recht. Zum Schluss hat er keinen Schutz mehr gebraucht, sondern mir Schutz gegeben. Er hat die Flammen getrunken; anders kann ich es nicht bezeichnen. Das Letzte, was er in seinem Leben getan hat, war erwachsen zu werden. Er hat für einen anderen Menschen die größtmögliche Verantwortung übernommen und ist dafür in den Tod gegangen. So schwach er in seinem Leben war, in diesem Augenblick ist er für mich zum Helden geworden. Ja, er ist der größte Held gewesen, den ich je kennen lernen durfte.« »Wer kümmert sich eigentlich um sein Grab? Es sieht so ordentlich aus.« »Ich habe es in Pflege gegeben, bevor ich fortgegangen bin. Aber ich glaube, auch Frau Bauer kommt manchmal her und sieht nach dem Rechten. Außer dem Priester, dem Künstler und mir war nur noch sie bei der Beerdigung dabei. Arthur hätte verdient, dass man ihn in besserer Erinnerung behält.« Lara trat einen Schritt von dem Grab auf dem Fangenburger Friedhof zurück und schlug die Arme um sich. »Können wir jetzt gehen? Mir wird kalt.« Daphne sah sie an, als wäre sie aus einem tiefen Traum erwacht. »Kaum zu glauben, dass das Ganze schon ein Jahr zurückliegt.« Mit einem mühsamen Lächeln fügte sie hinzu: »Ich habe mir vorgenommen, jedes Jahr an seinem Todestag herzukommen. Wenigstens das kann ich noch für sein Angedenken tun.«
Sie verließen den Friedhof und schlenderten durch Fangenburg. Zum ersten Mal seit den schrecklichen Ereignissen betrat Daphne wieder die Burgstraße. Die Ruine stand noch; vermutlich fühlte sich niemand für sie verantwortlich. Das Haus war ausgebrannt, die Mauern waren geschwärzt, das Fensterglas geschmolzen, alles Holz ein Raub der Flammen. Nur ein paar Dachbalken ragten noch wie gebrochene Gelenke in den grauen Himmel. Eine niedergebrannte Geisterkammer. »Verbrannte Träume, verbrannte Ängste«, murmelte Daphne. Unsicher schaute Lara die Burgstraße hinauf und hinunter. »Sind die Menschen hier wirklich so?«, fragte sie leise. »Was meinst du damit?« »Du hast mir erzählt, wie dieser Arthur Dreyer von ihnen zusammengeschlagen wurde. Bilden sie tatsächlich so etwas wie einen Kult?« Daphne zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Bei den Untersuchungen nach dem Brand wurde natürlich die Geschichte von der gekreuzigten Katze und der Rache der Fangenburger wieder aufgerollt, vor allem weil ich der Polizei davon erzählt habe. Aber niemand wollte etwas von unterirdischen Zusammenkünften wissen. Ich habe diese Frau Bauer nach der Beerdigung ganz offen danach gefragt, und sie hat mich sehr seltsam angesehen und ist weggegangen. Ich selbst habe nie etwas von solchen kultischen Aktivitäten bemerkt, als ich hier gelebt habe, aber das heißt nicht viel, denn schließlich habe ich nicht wirklich zur Dorfgemeinschaft gehört. Wer kennt schon den anderen?« Lara schlang die Arme um sich; sie schien zu frösteln. Nachdenklich schaute sie an dem zerstörten Haus hoch. »Was ist eigentlich mit der Statue dieser keltischen Göttin passiert?«, fragte sie.
»Das weiß niemand«, antwortete Daphne. »Sie war einfach verschwunden. Als hätte das Feuer auch sie verzehrt.« »Also war alles umsonst gewesen.« »So würde ich es nicht ausdrücken«, sagte Daphne und zupfte am Ärmel ihrer Freundin. »Komm.« Langsam, beinahe zögerlich, gingen sie die Burgstraße hinunter.
Sie sahen nicht mehr, dass sich in der Fensterhöhle, hinter der früher einmal das Maskenzimmer gelegen hatte, etwas bewegte. Es war kaum mehr als ein Schatten, der sich in dem geschwärzten Geviert bildete und auf unbeholfene Weise eine menschliche Gestalt nachahmte. Ein Luftzug fuhr durch das niedergebrannte Gebäude, und ein leises Seufzen drang aus dem Schatten. Langsam, beinahe zögerlich, zog er sich wieder in die Tiefen der Ruine zurück.
– ENDE –