Hinter den Spiegeln Version: v1.0
Die gespenstische Szene wiederholte sich immer und immer wieder vor Liliths geistige...
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Hinter den Spiegeln Version: v1.0
Die gespenstische Szene wiederholte sich immer und immer wieder vor Liliths geistigem Auge: Sie trat vor den Spiegel der Dorfpfarrei und sah sich selbst in ge stochener Schärfe! Das bleiche, anmutige Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Die leicht schrägstehen den, grünen Augen. Die volle schwarze Haarmähne … Doch dann verwischte das Bild unvermittelt und wurde von der Darstellung des Lilienkelchs abgelöst. Des Un heiligtums der Vampir-Rasse, dem Liliths Suche galt! In einem Reflex hatte sie danach gegriffen – und war in den Spiegel getaucht. Zunächst nur mit den Händen und Armen, dann aber … mit Haut und Haar und gan zer Seele!
Was bisher geschah Jeff Warner, der kein Mensch mehr zu sein scheint, eröffnet Lilith, daß das Haus ihr frühes Erwachen akzeptiert hätte und nun Helfer für sie rekrutiert – ehemalige Dienerkreaturen, denen durch Äpfel aus dem Garten des Hau ses ihr Mensensein zurückgegeben wird. Auch Virgil Codd macht Bekannt schaft mit einer dieser Früchte. Außerdem teilt Warner ihr mit, wo die Spur des Lilienkelches, dem Landru seit 267 Jahren nachjagt, damals endete: in Llandrinwyth, einem Dorf im Südwesten Englands. Dort angekommen, finden Lilith und Beth je doch keine Spur des Dorfes, nicht einmal Ruinen. Dann entdeckt Lilith einen graslosen Flecken Erde, der jedes Lebewesen magisch ablenkt – man kann nur unter größter Mühe darauf zugehen. Lilith – und später auch Beth – überwinden den Zauber und finden sich in dem verschwundenen Dorf wieder, nicht ahnend, daß sie nicht die ers ten sind: Tom, Mitglied einer Freak-Show, ist ebenfalls in das Dorf geraten. Hier ist alles tot – sogar die Zeit selbst scheint nicht mehr zu existieren. Das Zentrum von Llandrinwyth ist gut erhalten, zu den Rändern hin herrscht zunehmender Verfall. Das zeigen auch die Verwesungsstadien der Leichen. Trotzdem sind die Toten nicht so tot, wie sie sein sollten: Sie erheben sich und attackieren die beiden Frauen, die sich in eine Kirche im Zentrum ret ten, von der jedoch keinerlei christliche Ausstrahlung ausgeht. Es ist das Gotteshaus des Pfarrers Owain Glyndwr, der vor zweieinhalb Jahrhunderten hier gegen eine Hexe kämpfte, die eines Tages ins Dorf kam und ein Neugeborenes stahl. Der Pfarrer und der Schmied holten es zurück und töteten die Hexe – jedenfalls dachte Glyndwr das. Doch die Teufelin hatte die Gestalt des Schmieds angenommen und suchte ihn in der darauf folgenden Nacht mit einem lilienförmigen Kelch in seiner Kirche heim. Da mals geschah etwas, das zum Untergang von Llandrinwyth führte. Und das sich anscheinend in einem Spiegel in den Privaträumen des Priesters manifestiert hat. Denn Lilith erkennt plötzlich den Kelch hinter dem Glas – und wird, als sie danach greift, in den Spiegel hineingezogen!
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin, dazu gezeugt, eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen. Für 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist zu früh erwacht – die Zeit ist noch nicht reif. Sie muß gegen die Vampire kämpfen, die in ihr einen Bastard sehen, bis sich ihre Bestimmung erfüllt. Dabei hilft ihr ein Kleid, das seine Form beliebig ändern kann – ein Symbiont. Jeff Warner – der Police Detective war einer jahrhundertealten Serie von Ge nickbruch-Morden auf der Spur. Als er Polizeichef Virgil Codd darüber infor mierte, wurde er von diesem – einer Dienerkreatur der Vampire – in den Garten des Hauses geschickt, wo Lilith erwachte und wo seither etliche Menschen spurlos verschwanden. Doch Warner kehrte zurück – verändert. Nun dient er offenbar dem Haus. Beth MacKinsey – Journalistin bei einer Sydneyer Zeitung. Bei ihr fanden Li lith und ihr erster Mitstreiter Duncan Luther Unterschlupf. Mittlerweile kennt Beth Liliths wahre Identität – und hat sich, gleichgeschlechtlich veranlagt, in die Halbvampirin verliebt. Landru – Mächtigster der alten Vampire und der Mörder von Liliths Vater. Seit 267 Jahren jagt er dem verlorenen Lilienkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, ohne den es keinen Nachwuchs geben kann. Landru scheint irgendei ne Schuld auf sich geladen zu haben – welche, ist noch unklar. Tom Grimaldi – ein 16jähriger Junge, der mit einer Freak-Show durch Eng land zieht. Er ist durch eine seltene Krankheit vergreist, hat nur noch wenige Jahre zu leben. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser kein vollwertiger Blutsauger, sondern eine Kreatur, die dem Vampir be dingungslos gehorcht. Seinerseits kann eine Dienerkreatur den Vampirkeim nicht weitergeben, benötigt aber Blut zum (ewigen) Leben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zunehmendem Alter immer lichtempfindlicher.
Der nicht mit einem Zeitmaß auszulotende Moment der »Spiegel passage« war mit nichts vergleichbar, was Lilith jemals zuvor erlebt oder auch nur erträumt hatte. Sie stürzte auf der anderen Seite hart zu Boden, richtete sich aber so fort wieder auf. Dabei erkannte sie beiläufig, daß der Symbiont an ihrem Körper seine Form geändert hatte, unmittelbar vor oder wäh rend des Sturzes durch das vermeintlich feste Glas. Er ähnelte jetzt einem sehr freizügig dekolletierten »Schnürbody« mit Handschu hen, die über die gesamte Armlänge daran anschlossen. Die Kammer, in der sie sich befand, sah auf den ersten Blick wie jene aus, die sie gerade auf diesem ungewöhnlichen Weg verlassen hatte. Die Details machten den Unterschied. Beth war verschwunden! Elisabeth »Macbeth« MacKinsey, die rührige Reporterin des Syd ney Morning Herald, hatte Lilith als Freundin nach Wales begleitet. Auf den Spuren jenes magischen Kleinods, das Lilith vorhin inner halb der Spiegelfläche erkannt und zu greifen versucht hatte. Der Lilienkelch war seit 267 Jahren verschollen. Der Vampir Landru suchte ihn seit dieser Zeit mit an Besessenheit grenzendem Eifer. Aus gutem Grund. Der Kelch war unabdingbar mit dem Fortpflan zungsritual echter Vampire verknüpft. Seit rund zweieinhalb Jahr hunderten gab es keinen neuen »echten« Nachwuchs mehr für die Alte Rasse, die die nichtsahnende Menschheit seit vielen Jahrtausen den in ihrer Evolution begleitete. Wie Schatten, die zu werfen sie nicht imstande waren. Auch keine Spiegelbilder – und doch hatte Lilith sich, anders als gewohnt, in dem Spiegel der Pfarrei von Llandrinwyth gestochen scharf sehen können.
Obwohl auch ihre Gene denen der Alten Rasse näherstanden als denen der Menschen! Nervös wandte sie sich dem Spiegel zu und fragte sich, ob sie nicht Opfer einer Halluzination geworden war. Dafür, daß Beth den Raum verlassen hatte, konnte es eine normale, harmlose Erklärung geben – wenngleich Lilith sich nicht vorstellen konnte, daß Beth hin ausgegangen wäre, ohne ihr Bescheid zu sagen. Eine weitere Erkenntnis brannte sich förmlich in Liliths Verstand. Noch etwas außer Beth’ Abwesenheit hatte sich – und dies radikal – verändert: Das allgegenwärtige, purpurne Zwielicht war verschwunden! Lilith hatte zunächst nicht darauf geachtet, weil ihre Sehweise im Finsteren zwar problemlos, aber auch wie mit einem schwach rötli chen Schleier funktionierte. Und es war dunkel! Stockdunkle Nacht, wie ein Blick aus dem klei nen, vergitterten Fenster der Kammer endgültig bewies … Zwei Möglichkeiten, dachte die Halbvampirin. Entweder der Purpur ist erloschen – oder ich befinde mich wirklich woanders … jenseits des Spiegels … Sollte ihr ursprüngliches Gefühl, auf die andere Seite gerutscht zu sein, tatsächlich stimmen? Die andere Seite wovon? Eines Spiegels …? Der Gedanke erschien absurd. Es handelte sich um nichts anderes als speziell geschliffenes, reflektierendes Glas. Es gab nur eine Seite. »Hinter« einem Spiegel war die Wand – oder woran immer man ihn befestigte! Lilith stellte sich dicht vor den prunkvollen Spiegel, der ihr immer noch seltsam unpassend für diese sonst so schlicht gehaltene Pfarr
kirche erschien. Davon abgesehen hatte er offenbar seine Spiegel kraft eingebüßt. Ein Netz unzähliger, unendlich feiner Risse schien das blind gewordene Glas zu durchziehen. Er reflektierte nichts mehr. Hatte Lilith ihn zerstört, als sie durch ihn hindurch ging? Es wurde immer unbegreiflicher. Dann sah sie, daß er doch nicht völlig stumpf geworden war. Et was zeichnete sich in Umrissen immer noch darin ab, wenn auch bei weitem nicht mehr in der täuschend realen Pracht, die Lilith dazu animiert hatte, danach zu greifen. Der Lilienkelch war als Kontur hinter den Rissen immer noch er kennbar! Liliths fuhr mit den Fingern über den Spiegel und stellte zu ihrer weiteren Verblüffung fest, daß auch die Risse zurückversetzt hinter der Oberfläche zu liegen schienen. Das Glas selbst war völlig glatt und eben. Ohne den geringsten Makel! Auf jeden Fall aber war es fest. Niemand konnte darin eintauchen! Sie mußte geträumt haben! Lilith beschloß, sich letzte Klarheit zu verschaffen, indem sie Beth ausfindig machte. Sofort nach Verlassen des Priestergemachs fühlte Lilith einen Druck auf der Brust, der ihr zuvor nicht bewußt gewesen war. Gleichzeitig spürte sie die veränderte Atmosphäre innerhalb der Kirche. Lilith hatte keine der üblichen Schwierigkeiten gehabt, in Beth’ Be gleitung das Gotteshaus zu betreten. Die christlichen Symbole der Kirche, die sich inmitten des Dorfes der Toten erhob, hatten in kei ner Weise auf sie reagiert – und Lilith nicht auf sie. Lilith hatte sich über die Neutralität gewundert, sie aber dankbar hingenommen.
Auch jetzt empfand sie nicht die Pein und Bedrohlichkeit, die von christlichen Monumenten auf sie ausging. Dafür spürte sie etwas ab gründig Negatives, das sich plötzlich in den hohen Mauern manifes tiert zu haben schien. Leider entzog es sich zunächst näherer Be trachtung, so daß Lilith sich vorerst auf ihre Suche nach Beth kon zentrierte. Nachdem sie im privaten Bereich der Pfarrei nicht fündig gewor den war, strebte sie durch den Korridor nach vorn ins Kirchenschiff. Mit jedem Schritt wuchs das Gefühl unsichtbarer Bedrohung, und als Lilith aus dem Zwischengang treten wollte, der, wie sie wußte, in den Altarbereich mündete, sah sie, was sie bereits auf Distanz und durch dicke Mauern gespürt hatte. Die gesamte Altarzone hatte sich verändert. Nein, sie war verschwunden! Lilith atmete unbewußt schneller, als sie aus dem Korridor trat und ihren Fuß unter das Kirchengewölbe setzte. Mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen blieb sie ste hen und starrte gebannt auf das »rotierende Nichts«, das den Altar verschlungen hatte. Das Phänomen ähnelte einer Windhose, die sich mit Titanengewalt über Landstriche hinwegbewegt und dabei uner meßliche Zerstörung anrichtet. Nur daß dieser Wirbel sich scheinbar stabil zwischen Decke und Boden »spannte« und nicht erkennen ließ, was sich in seinem schlauchartigen Innern verbarg. Falls überhaupt irgend etwas diesen Gewalten hatte standhalten können! Als Lilith genauer hinschaute, glaubte sie einen Hauch von Purpur zu erkennen, der diesem unheimlichen Gebilde anhaftete. Aber sie konnte sich täuschen, weil sie schon die ganze Zeit nach einem Überbleibsel der vermißten Röte suchte. Vorsichtig stahl sie sich an dem Phänomen vorbei. Sie konnte nicht sagen, warum, aber sie stufte es als Ursache für alle Veränderungen ein, die sie bislang erkannt hatte. In ihrem Bauch formte sich ein
Klumpen, als sie sich vorstellte, daß sie Beth vielleicht nur deshalb nirgends fand, weil die Freundin vor ihr auf diese unerklärliche Struktur aufmerksam geworden – und von ihr verschlungen wor den war! Wie ich von dem Spiegel … Sie erreichte ungefährdet das schwere Kirchenportal, das sie selbst verschlossen hatte, ehe sie mit Beth in die private Kammer der Pfar rei gewechselt war. Kurz nach ihrer Flucht vor den lebenden Toten, die sich unten im Dorf aufhielten, aber nicht zur Kirche heraufzu kommen schienen. Nun war das Tor entriegelt. Ein neuer Hoffnungsschimmer, daß Beth doch kein Opfer dessen, was sich in der Altarzone aufgebaut hatte, geworden sein mußte. Lilith trat ins Freie unter einen sternklaren Himmel. Und sah sich mit der bislang größten Überraschung konfrontiert: Nicht nur Kirche, Luft und Himmel – ganz Llandrinwyth hatte eine unübersehbare Verwandlung durchgemacht! Lilith blickte von der Erhebung aus über einen Ort, der keinerlei Spuren des Zerfalls mehr aufwies und wo hinter einigen Fenstern der geduckten Häuser sogar Licht brannte! Diese Entdeckung löste etwas aus, was Lilith durch Beth’ Blutop fer fürs erste überwunden zu haben glaubte. Gier! Gier in einer Form, daß binnen weniger Sekunden kaum noch an dere Gedanken möglich waren als solche, die sich mit dem Stillen ihres brennenden Durstes beschäftigten …
*
Der Tote bleckte die Zähne, und dem sechzehnjährigen Tom Grimal di rutschte das Herz in die Hose. Hätte er richtige Haare – nicht nur diesen abscheulichen Flaum – besessen, sie hätten ihm spätestens jetzt zu Berge gestanden! Der Junge, der an »Progeria infantilis« litt, was zur frühen Vergrei sung seines Körpers geführt hatte, riß abwehrend die Arme nach oben. Er stand immer noch am Fenster, von wo aus er die beiden Frauen zur Kirche hatte hinaufhetzen sehen. Diese beiden und er waren bis dahin das einzig Lebendige gewesen, was Tom hier (wo immer »hier« liegen mochte) zu Gesicht bekommen hatte. Zunächst hatte er geglaubt, schlichtweg gestorben zu sein. Solche wie er starben meist an Herzversagen. Das ging, so sagte man, schnell und relativ schmerzlos. Schmerzen hatte er an diesem Tag nach Fees überraschendem nächtlichen Besuch überhaupt nicht gespürt. Zum erstenmal, seit er denken konnte, war der Altersschmerz weg gewesen. Wie fortgebla sen! Auch die Schwäche hatte ihn verlassen, so daß er seinen Vater überreden konnte, in Begleitung der Langen Paula einen Spazier gang zu unternehmen. In der Umgebung von Mallwyd, wo die wan dernde Monströsitäten-Schau gerade gastierte. Tom erinnerte sich nur noch, in strahlendem Sonnenschein über mütig durch das Heidekraut gerannt zu sein – und dann war von ei nem Lidschlag zum nächsten alles anders gewesen. So anders, daß er im Purpurlicht zwischen den plötzlich entstan denen Gebäuden zunächst geglaubt hatte, gestorben und in eine Art Zwischenreich gewechselt zu sein. Vielleicht ins Jenseits selbst. Spätestens der Fund des ersten Toten hatte diese These zum Ein
sturz gebracht. Aber diese Tote – eine Bäuerin hinter einer Mistkuhle – war we nigstens tot geblieben, so daß das erste Entsetzen irgendwann ab klang. Der Tote, der jetzt vor Tom stand, war hingegen etwas, das er nie für möglich gehalten hatte. Obwohl Fäulnis das Fleisch stellenweise bereits weggefressen hatte, war die Leiche aus eigener Kraft aus ih rem Bett gekrochen und hatte sich an Tom herangeschlichen! Der Junge starrte sekundenlang wie hypnotisiert in die leeren Au genhöhlen der Gestalt, die zwar langsam, aber beharrlich auf ihn zutappte und sein Zögern nutzte, um noch näher zu kommen. Erst als die Finger, deren Spitzen ebenfalls längst abgefault waren und den blanken Knochen erkennen ließen, nach ihm griffen, rea gierte Tom. Mit einem Schrei stieß er sich von der Wand ab und wollte an der nicht sehr behend wirkenden Gruselgestalt vorbei zur Tür flüchten. Er war auch fast vorbei, als sich eine der Totenhände in seine Jacke und tiefer bis in seinen Rücken grub. Diesen Schmerz kannte Tom noch nicht. Es war, als würden sich die Knochenfinger in sein Fleisch bohren und versuchen, sein Rückgrat zu umschließen, damit sie es mit Bra chialgewalt brechen konnten …! Er wußte sich in seiner Not nicht anders zu helfen, als auszukeilen wie ein störrischer Gaul. Sein linker Schuh traf den Toten in Hüfthö he. Hart genug, um die morschen Knochen wie ein Springmesser zusammenklappen zu lassen. Sofort löste sich auch der Griff in Toms Rücken. Der Junge taumelte nach vorn, ohne zu einem Gefühl der Erleich terung fähig zu sein. Er wollte nur hinaus.
Und dann klemmte die Tür, während der Tote sich erneut hinter ihm aufzurichten versuchte, es nicht ganz schaffte, sondern weg knickte, dann aber auf allen vieren die Verfolgung aufnahm. Tom blickte kreidebleich hinter sich und sah, wie das Verhängnis näher kam. Die Tür gab nicht nach. Er riß und zerrte mit aller Kraft daran. Erfolglos. Voller Ekel sah Tom eine Art Schleim aus dem Mund des Toten triefen. Seltsamerweise strömte keinerlei Gestank davon aus. Tom gab die Tür auf, als der Tote ihn fast erreicht hatte. Er hetzte nach links, wo ein kleines Fenster lag, das er fahrig öffnete und des sen geschlossenen Holzladen er nach draußen stieß. Das Scharren auf den Holzdielen verriet ihm, daß der Verfolger dicht hinter ihm war. Tom zog sich mit aller Kraft seiner dürren Arme nach oben ins of fene Fensterkreuz, blieb aber an irgend etwas hängen. Einem Nagel, den vermutlich der Tote selbst noch zu Lebzeiten hier hineingehäm mert hatte! Zur Hälfte drinnen, zur Hälfte draußen, steckte Tom fest. Seine Beine strampelten frei in der Luft. Seine Arme ruderten. Hinter ihm versuchte der Tote sich an der glatten Wand hochzu ziehen. Knochen schabten über den Stein. Tom schlug das Herz bis in die Kehle. Er schrie um Hilfe. Aber er wußte, daß keine Hilfe kommen wür de. Er war allein. Die Mauern der Pfarrkirche waren dick wie bei ei ner Festung. Dort würde ihn niemand hören. Und hier unten waren nur … Tote! In jedem Haus! Ein ganzes Dorf voller Tote! Ein Dorf aber auch, das vorher in diesem Tal nicht gewesen war
…! Tom fühlte etwas an seinem Oberschenkel. Eine der klauenartigen Hände des Toten kratzte darüber hinweg, riß eine blutige Schram me. Und plötzlich war dem Jungen alles egal. Egal, ob er sich den Nagel, an dem er festhing, tief ins eigene Fleisch trieb oder nicht. Es konnte nicht schlimmer sein als ein er neutes Zupacken dieser Hände, die sein sicheres Todesurteil bedeu tet hätten! Er stützte sich mit angewinkelten Armen draußen an der Fenster bank ab – und stieß sich mit aller Kraft ab. Der Nagel, Haken, oder was immer es war, gab nach! Kaltes Eisen ritzte quer über Rücken und Gesäß – und dann prallte Tom draußen auf das harte Kopfsteinpflaster. Er gönnte sich keine Verschnaufpause. Schneller und entschlossener als alles, was er in seinem verdammten, trübsinnigen Leben je unternommen hatte, floh er in dieselbe Richtung wie die beiden Frauen. Hinauf zur Kirche. Wenn überhaupt, dann konnte er nur dort Schutz erwarten …! Erst als er den Hügel erklommen hatte und fast vor dem Portal an gelangt war, sah er zurück. Von einem Verfolger fand er keine Spur. Das Haus, aus dem er geflohen war, sah leblos wie alle anderen aus. Als ob er mein warmes Blut gerochen hätte, durchzuckte es Tom. In diesem Moment tat sich vor ihm das Tor auf. Und Tom lernte eine neue, subtilere Dimension der Angst kennen …
* Dichte Wolken ballten sich über dem Tal. Der Nachthimmel brodel te nicht nur, er schien zu kochen. Es sah aus, als würde sich ein Ge witter zusammenbrauen. Gewitter im Winter … »Hier war es«, sagte die Lange Paula. »Bist du sicher?« fragte Joey Grimaldi. »Es ist stockfinstere Nacht. Wie kannst du da sicher sein …?« »Ich bin keine Idiotin«, erläuterte die Vier-Zentner-Frau, die den Direktor der in Mallwyd gastierenden Monstrositäten-Schau zudem um einen halben Meter überragte, obwohl Grimaldi selbst nicht zu den Kleinen zählte. »Es war hier!« »Ich glaube ihr«, sagte Fee. »So?« zweifelte Grimaldi gereizt und beunruhigt zugleich. »Und weshalb? Hier sieht ein Tal wie das andere aus!« »Du magst Wales nicht besonders?« »Ich mag die Welt nicht besonders«, knurrte Grimaldi. Fee lachte, als hätte sie dafür – ganz besonders dafür – Verständ nis. »Bleibt hier«, sagte sie. »Laßt es mich allein versuchen.« »Was versuchen?« fragte die Lange Paula mißtrauisch. Sie hatte Tom, Joey Grimaldis greisenhaften Sohn, hier irgendwo aus den Au gen verloren. »Okay«, nickte der Direktor der Freak-Show. »Versuch es. Was kann es schaden …« Fee wartete keine weitere Erwiderung ab. Im Fortgehen hörte sie die Lange Paula noch zischen: »Warum zieht sie diese blöde Maske rade nicht wenigstens aus, wenn wir unter uns sind?« Joeys Antwort konnte sie nicht verstehen.
Es war egal. Es war absolut gleichgültig, was die Riesin dachte oder äußerte. Wichtig war nur, daß sich Joeys Einstellung und seine Gefühle ihr, Fee, gegenüber nicht änderten … Fee lief langsam durch die Heidelandschaft. Die Dunkelheit war kein Problem. Eine Lampe benötigte der gegenwärtige Star der Fre ak-Show nicht. Mit traumwandlerischer Sicherheit durchkämmte sie das Tal und fand die Stelle, die dem Jungen zum Verhängnis gewor den war. Ein leiser Schrei stahl sich aus ihrer Kehle. Vermutlich hörten ihn die anderen nicht einmal. Aber Fee wurde plötzlich vom Echo einer Qual durchzogen, die sie vor langer Zeit durchlitten hatte. »Nein!« preßte sie hervor. »Wie ist das – möglich …?« Sie versuchte sich der Stelle, von der das Unmögliche ausströmte, weiter zu nähern. Es ging nicht. Es war, als hätte sie den Vorsatz getroffen, ein Bad in einem Kessel mit kochendem Öl zu nehmen. Allein das Wissen um die damit ver bundene Qual schloß die tatsächliche Ausführung aus. Sie konnte keinen Schritt weiter darauf zu tun, obwohl sie den »Quell« von Toms Verschwinden eindeutig lokalisiert zu haben glaubte. Es konnte kein Zufall sein, daß das Ungeheuerliche ausgerechnet hier existierte, wo die Lange Paula den Jungen aus den Augen verlo ren hatte. Beides hing zusammen. Aber es bedeutete auch, daß Tom vermutlich nicht mehr am Leben war … Als sie zu seinem Vater zurückkehrte, sog dieser scharf den Atem ein. »Etwas – gefunden?« fragte er tonlos.
Sie wußte, was er glaubte. »Nicht direkt«, antwortete sie auswei chend. In gänzlich anderem Ton wandte sie sich an die Lange Paula: »Geh schon mal vor. Wir kommen gleich nach. Das hier interessiert dich nicht.« Für Joey Grimaldi war es immer wieder erstaunlich zu sehen, wie Fee über andere regierte. »Nun?« fragte er, ohne sich mit der Frage aufzuhalten, ob dieses Regiment auch ihn einschloß. Das sanfte Mondlicht zeichnete Fees ungewöhnlichen Körper nach. »Er ist nicht mehr hier«, sagte sie bestimmt. »Nicht mehr hier?« Grimaldi schien nicht zu begreifen. »Er war also hier?« »Paula sagt ja.« »Paula sagt das, was sie für richtig hält. Sie kann sich irren. Sie ist auch nur ein Mensch.« »Aber ich nicht.« Sie lachte schmerzlich. »Und ich irre mich nicht! Er war hier. Aber das, was ihn verschlang, wird ihn nie wieder her geben! Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes versprechen. Aber es wäre nur Lüge.« »Ich wäre dir verbunden –« »Genug!« unterbrach sie ihn und nahm seine Hand. »Es war ein hübscher Spaziergang. Gehen wir jetzt zurück. Hier hält uns nichts länger. Du hattest nie einen Sohn. Aber du hast mich. Keine Trauer mehr!« Sie gingen. Fee warf keinen Blick zurück. Aber noch als sie Mallwyd längst erreicht hatten, zitterte sie in Er innerung an den Schlund, den sie entdeckt und der Tom vermutlich
gefressen hatte. Der Schlund, der ihr in Erinnerung gerufen hatte, wer sie war, wo her sie kam und daß sie davor nie würde fortlaufen können. Sie lenkte sich ab, indem sie von Wagen zu Wagen wanderte und jeden von dem überzeugte, was sie Joey Grimaldi und der Langen Paula bereits beigebracht hatte: Es hatte nie eine »Attraktion« namens Tom in ihren Reihen gegeben! Der Direktor der Freak-Show hatte nie einen Sohn besessen! Natürlich mußte auch das Programm umgeschrieben werden …
* Hinter den Spiegeln »Aaaah …!« Der Seufzer rann über volle Lippen, die sich unter vertrauter Be gierde geteilt hatten, und der Mund wirkte nicht nur zufällig wie eine klaffende Wunde. Markante obere Eckzähne, die selbst in der Lage waren, blutige Wunden zu schlagen, glänzten im Mondlicht wie kostbares Elfen bein. Sonst grüne Augen glommen intensiv rot, als würden sie von innen her leuchten. Lilith schabte mit den Fingernägeln über die kalte Hauswand, ge gen die sie ihren fiebrigen Körper preßte. Das kaum noch beherrsch bare Verlangen ließ sie daran auf und nieder rutschen. Hinter festem Stein und Mörtel pochte – für sie fühlbar – ein lebendiges Herz und floß warmes Blut, das sie hierher gelockt hatte …! Das Dorf lag in kalter Düsternis. Die Mondsichel ergoß ihr fahles
Licht über die zumeist einstöckigen Bauten und ließ die volle Kraft, zu der sie erst in Tagen – bei Vollmond – fähig sein würde, bereits erahnen. Gezeitenströme wirkten auch jetzt unsichtbar. Alles war anders als bei Liliths Ankunft in Llandrinwyth! Über ihre Lippen floh der nächste Seufzer. Hitze durchströmte das Zentrum ihrer Lenden, Hunger ihre Eingeweide. Blut … Sie brauchte es zum Leben! Sie brauchte es zum Erhalt ihrer Jugend, ihrer Schönheit, ihrer Kraft! Sie war die Tochter einer Vampirin und eines Menschen, aber das Vampirische überwog in mancherlei Hinsicht. Besonders, wenn es um die Aufstellung der Speisefolge ging. »Aaaah …!« Ihr Auge am Spalt zwischen den Fensterläden schmälte sich, als sie sah, wie der kräftige Mann im Innern der Hütte den Docht der Petroleumlampe langsam zurückdrehte und die Flamme hinter dem rußigen Glas auf niedrigste Stufe regelte. Dies genügte Lilith, auch weiterhin wie bei Tageslicht wahrzunehmen, was sich in dem Haus abspielte. Der unbekannte Dorfbewohner setzte sich auf sein Bett und mas sierte das müde Gesicht. Seine Hände waren von harter Arbeit ge zeichnet. Er trug ein knielanges Hemd, das um den hageren, aber keineswegs schwächlichen Körper flatterte. Sein Gesicht war nicht im herkömmlichen Sinn hübsch, doch interessant anzuschauen. Es wurde von einem muskulösen Hals getragen, der Liliths Blick anzog wie ein Magnet. Immer unruhiger wurde sie auf ihrem geheimen Beobachtungs posten. Die besondere Besessenheit, gegen die es kein Mittel gab, trübte allmählich jede andere Sinneswahrnehmung. Lange durfte sie
nicht mehr warten. Der Hunger war zu einem Mißton angeschwol len, der alle anderen Saiten ihres »Körperinstruments« zu übertönen begann. Sie glitt zur Tür. Der Symbiont hatte sich erneut verändert. Er um gab ihren Körper jetzt wie eine hauchdünne Latexhaut. Seine Schwärze verschmolz mit der Dunkelheit. Lilith klopfte entschlossen gegen die massive Tür. Von drinnen kam eine rauhe, auch überraschte Stimme: »Wer da?« »Helfen Sie mir, bitte!« Der Mann fluchte. Schritte kamen auf die Tür zu. »Wer da?« »Öffnen Sie, bitte! Ich bin in Not! In großer Not!« Das war ungelo gen. Das Gefluche wiederholte sich. Aber es dauerte lange, bis die Tür wirklich aufschwang. Lilith bemerkte sofort, daß die Lampe wieder zu voller Stärke auf gedreht war. Ihr Opfer selbst hatte die Zeit offenbar genutzt, um sich in aller Hast anzukleiden. Was für eine Zeitvergeudung. »Danke!« seufzte Lilith. Der Mann schien fast erleichtert, sie zu sehen und niemand ande ren. Dennoch schnarrte er abweisend: »Verschwinde! Ich will mit deinesgleichen so wenig zu tun haben wie mit –« Seine Hände ruck ten vor das Gesicht. Die Zeigefinger preßten sich überkreuzt gegen einander. »Verschwinde, du –« Doch dann, unvermittelt, ließ er die Arme wieder sinken. Seine Blicke hingen wie gebannt an Liliths verheißungsvollem Mund, wanderten tiefer, über ihre Brüste, die sich fest und üppig unter dem hautengen Stoff abzeichneten, und noch tiefer, bis hinab zu ih ren wohlgerundeten Hüften. Aus seinem Mund drängte die Zunge
und netzte seine Lippen. Sein Atem ging schwerer, und die Finger spreizten und ballten sich abwechselnd. Sein »Verschwinde, du –« kam bereits recht lahm und brach auch ab, bevor er es vollendete. Lilith studierte abwartend seine Reaktion. Sie begriff schnell, daß sie keinerlei Zwang auszuüben brauchte, um zur Erfüllung ihrer Be gierden zu gelangen. Mit verführerischem Augenaufschlag trat sie an ihm vorbei ins Haus. Er drückte die Tür sacht hinter ihr ins Schloß. Auch Liliths Atem hatte sich beschleunigt. Nur kurz sah sie sich in dem Raum um, der als Schlaflager, Küche und Wohnzimmer diente. Ihr Interesse galt vornehmlich dem Bett. Sie führte ihn wortlos zu dem Lager, das er bereits vorgewärmt hatte. Die Hose fiel wie von selbst. Auch Lilith hatte es eilig. Sehr, sehr eilig. Ihre Hände fuhren über seine nackte Brust. Rücklings lag er vor ihr auf dem Bett. Sie befreite ihn von den letzten Resten Kleidung. Daß es empfindlich kühl war, störte weder sie noch ihn. Er war ein Naturbursche. Abgehärtet. Auch an den richtigen Stellen … Lilith schob sich über ihn. Ihr heißer Atem streichelte sein Gesicht. Ihre Finger krallten sich in sein Haar, und mit Behagen spürte sie seine Hände, die ohne jede Hemmung auf Erkundungsreise gingen. Lilith interessierte sich nicht für seinen Namen. Sie gierte nur nach dem, was er ihr zu geben vermochte. Geben mußte! Ungestüm liebkoste sie ihn. Sein Glied wuchs in Sekundenschnel le. Sie küßte und streichelte es, während ihre immer noch leicht ge röteten Pupillen seine Augen suchten und dort die Reaktion ihres lustvollen Treibens lasen.
Sein Atem kam stoßweise. Er wand sich unter ihren Lippen und begann laut zu stöhnen. Als das baldige Ende seiner Beherrschung abzusehen war, lachte Lilith gurrend. Sie rutschte an ihm höher und half mit einer Hand nach, damit sein hochgerecktes Glied das Ziel fand, das sie selbst ersehnte. Ihre »zweite Haut« öffnete sich bereit willig. Ebenso bereitwillig wie Liliths Schoß, der schon Augenblicke später unter den ersten heftigen Stößen erzitterte. »Aaaaaaah …!« Wie hatte sie sich danach verzehrt! Sie genoß den feurigen Ritt und hoffte in dieser Phase, er möge nie aufhören. Natürlich war hier der Wunsch Vater des Gedankens. Aber Lilith verlor jedes Zeitgefühl, und als der Orgasmus sie in schwindelnden Höhen ereilte, kostete sie die Intensität dieses Ge fühls bis zur völligen Neige aus. Sie spürte, daß auch der Mann unter ihr nach einem letzten hefti gen Aufbäumen erlahmte und still wurde. Seine Züge waren gelöst, sein Blick klar. Lilith jedoch fühlte die andere Spannung zurückkehren. Die Verlo ckung seines warmen, in Wallung geratenen Blutes … Wie zu einem zärtlichen Kuß näherte sich ihr Mund dem Hals, auf dem der Schweiß, wie überall auf seinem sehnigen Körper, in winzi gen Tröpfchen perlte. Dieser Anblick war das i-Tüpfelchen, das ihre Teilmetamorphose endgültig auf Touren brachte. Schließlich aß das Auge mit … Bevor sie die nadelfeinen Spitzen ihrer Zähne auf seine lockende Schlagader setzte, leckte sie noch einmal mit rauher Zunge die salzi ge Nässe von seiner Haut. Sie kasteite sich noch so lange selbst, bis sie wußte, sich nicht länger Einhalt gebieten zu können. Das Dunkle übernahm die Regie. Der Vampir in ihr. Sie setzte die Zähne auf seine gebräunte Haut und wollte sie seuf
zend hineintreiben … Wollte! Fassungslos hielt sie inne. Setzte neu an … Es – ging nicht! Ruckartig richtete sie sich auf. Ihr Opfer blickte zu ihr empor. Lammfromm. Ahnungslos, da ihre Zähne bereits wieder hinter den Lippen verschwunden waren. Sie konnte es nicht! Sie konnte es nicht? Die Erschütterung über das Versagen hatte ihre Zähne auf norma le Größe schrumpfen lassen. Und dann geschah das, was Lilith endgültig klarmachte, daß sie in der Patsche saß …
* Tom wollte auf die Frau mit der blonden Kurzhaarfrisur zueilen, als sie aus der Kirche trat. Er tat es auch ein paar Schritte weit, prallte dann aber zurück. Ihre Augen …! Blind und doch sehend stolperte sie an Tom vorbei. Ihre Bewegun gen kamen seltsam verzögert. Sie nahm keinerlei Notiz von dem Jungen. Aber das Schlimmste waren die Augen! Tom hatte noch nie Pupillen gesehen, die nur weiß und ganz ohne erkennbare Iris waren und dabei doch ihren Dienst verrichteten. Aber so war es. Wie sonst hätte sich die gutaussehende Frau (kein Vergleich mit
Fee, natürlich!) mit dieser traumwandlerischen Sicherheit voranbe wegen können? Nach dem Toten, der ihm ans Leben wollte, war dies etwas, das Tom – wenn auch auf andere Weise – ebenso tief schockierte. Er war wie gelähmt und brachte es nicht fertig, der Frau zu folgen oder sich ihr auch nur durch einen Zuruf zu erkennen zu geben. Der Drang, das Dorf zu verlassen und zu den nahen Bergen zu flüchten, um herauszufinden, ob es dort Rettung gab, wurde schier über mächtig. Er zögerte, weil es noch die andere, die dunkelhaarige Frau gab. Sie mußte sich noch in der Kirche befinden, und möglicherweise wa ren ihre Augen noch normal … Vorsichtig trat er durch das offene Tor in das Gotteshaus. Tom gehörte keiner Konfession an. Und normalerweise haßte er die Verlogenheit derer, die Predigten über Nächstenliebe konsu mierten, ohne die Inhalte im Alltag auch nur andeutungsweise um zusetzen. Er hatte es oft genug am eigenen Leib verspürt, was »praktizierte Nächstenliebe« im Alltag bedeutete … Daß das Purpurlicht auch vor der Kirchenpforte nicht halt machte, bestärkte ihn in seinem Vorbehalt. Die Kirche war leer. Völlig verlassen. Von der anderen Frau fand sich keine Spur. Weder im Kirchen schiff noch in den angrenzenden Bereichen. Das einzige, was Tom fand und wo er kurz stehenblieb, war ein zerstörter Spiegel in einem Schlafgemach. Als er eine kleine Speisekammer entdeckte, fand er nur Verdorbe nes darin. Es erinnerte ihn daran, daß er eigentlich auch noch immer keinen Hunger verspürte.
Da es weder Nacht noch Tag zu geben schien, war es schwer zu er mitteln, wieviel Zeit seit seinem Erwachen in dieser alptraumhaften Umgebung verstrichen war. Vielleicht war er erst Stunden hier, ob wohl es ihm wie eine Ewigkeit vorkam. Zwecklos, dachte er. Ich muß versuchen, das Ende der Purpurfarbe zu erreichen! Außerhalb des Dorfes – bei den Bergen! Es war nur eine vage Hoffnung, daß es dort eine Rückkehrmög lichkeit in die ihm vertraute Welt gab. Und um die Berge zu errei chen, mußte er zunächst das Dorf überwinden. Mit seinen auf alles Lebendige lauernden Toten …
* Vergangenheit, Januarius 1728 Owain Glyndwr blickte in das betörende Antlitz des Todes. Der Pfarrer von Llandrinwyth war immer noch halb betäubt vom Auf prall seines Hinterkopfes gegen das Bettgerüst. Aber vielleicht war es genau diese Erschütterung, die ihn rechtzeitig ernüchterte und von jener anderen Benommenheit – dem Bann der Hexe – befreite. In dem Moment nämlich, als der hemmungslose, üppige und da bei fast nackte Frauenkörper sich auf ihn herablassen wollte, handel te Owain Glyndwr wie ein instinktgeleitetes Tier. Neben dem Bett, in greifbarer Nähe, erhob sich ein schwerer, höl zerner Kerzenständer, auf welchem aufgespießt eine Kerze, dick wie ein Unterarm, brannte. Nach diesem Halter schnappte seine rechte Hand. Die Linke schlug die Kerze zu Boden, daß sie erlosch. An der purpurnen Helle, die das Gemach erfüllte, änderte sich dadurch jedoch nichts.
Die Bewegung der schwefeläugigen Hexe kam ins Stocken. Alles war eine Sache von zwei, höchstens drei Sekunden. Owain Glyndwr hielt nicht ein, sondern rammte den mächtigen, hölzernen Dorn, der die Kerze gehalten hatte, mit aller ihm verblie benen Kraft nach oben in den Leib der Namenlosen, die Llandrin wyth seit dem ersten Tag der »Zwölften« heimsuchte. Er hatte auf das Tal zwischen ihren Brüsten gezielt, aber ihr Ab wehrreflex lenkte den Dorn tief in ihren Bauch. »Weiche, Satanas!« wiederholte er die vielbemühte Formel, die bis lang keinerlei Wirkung gezeigt hatte. Auch jetzt blieb zweifelhaft, ob dieser hingeschleuderte Satz oder nicht vielmehr der Dorn es war, der die Wende im ungleichen Kampf einleitete. Eine erschütternde Szene spielte sich unmittelbar vor Owain Glyndwrs Augen ab. Die Hexe bäumte sich auf und umschloß den Schaft des Dorns mit beiden Händen, ohne ihn jedoch aus ihrem Leib ziehen zu können. Ein Zucken durchlief sie, und Owain konnte fühlen, wie sie in Sekundenschnelle erkaltete. »Ich … verfluche dich!« spie sie zwischen verzerrten Lippen aus. »Deine Eingeweide sollen … verfaulen! Die Haare sollen dir gänz lich ausfallen! Deine Haut soll schorfig und trocken werden wie tausendjähriger Papyrus!« Ein schwarzer Blutfaden quoll aus ihrem Mund und rann das Kinn herab, doch immer noch war ihr Fluch nicht beendet. »Die Augen sollen sich nach innen drehen, auf daß du erblindest … Dei ne Knochen mögen erkalten und fortan wie Eis das feiste Fleisch stützen … Bete, daß ich nie zurückkehre, Verfluchter. BETE …!« Sie taumelte zurück. Der spitze Holzdorn verließ schmatzend ihren Leib, weil Owain Glyndwr ihn nicht loszulassen wagte. Wie erstarrt hatte er die Haß
tirade über sich ergehen lassen. Wie erstarrt verfolgte er nun die schwankende Flucht des Wesens, von dem er immer weniger wußte, ob es sich um Mensch, Hexe oder irgend etwas noch viel Unvorstell bareres handelte. Das »Ledergeschirr«, das ihren sündigen Leib um schlang, war dort, wo der Dorn eingedrungen war, naß von dunklem Blut. Im torkelnden Lauf nahm sie den unheimlichen Kelch von der Wandkommode, wo sie ihn zuvor abgestellt hatte, preßte das Gefäß mit qualvollem Stöhnen gegen die Wunde und strebte damit weiter zur Tür hinaus. Sekundenlang lag Owain Glyndwr weiter wie gelähmt auf seinem Bett. Dann dämmerte ihm, daß er die erneute Flucht der Namenlo sen nicht zulassen durfte. Diesmal mußte er es zu Ende bringen! Die Angst würde nie aufhören, wenn er jetzt zauderte. Die hölzerne »Waffe« in der Hand, kämpfte er sich hoch und jagte der Schwefeläugigen hinterher. Im selben Moment, als er die Tür seiner Kammer durchschritt, erlosch das düsterrote Licht und ließ die Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über ihm zusammenschla gen. Owain Glyndwr rannte dessen ungeachtet weiter den kurzen Kor ridor entlang nach vorn ins Kirchenschiff. Er kannte jeden Quadrat zoll dieser Räumlichkeiten; hier konnte er sich auch ohne Licht ori entieren. Vom Altar aus hatte er ansehen müssen, wie sich die Truggestalt Guy Fenian in jenes Weib verwandelt hatte, das vor mehr als einer Woche das neugeborene Mädchen Eiddyd geraubt hatte. Zusammen mit Fenian, dem Schmied, hatte Owain Glyndwr es geschafft, das Kind, äußerlich unversehrt, aus einer Höhle in der Nähe des Dorfes zurückzuholen. Während Owain es nach Llandrinwyth zurück brachte, war Guy Fenian zurückgeblieben, um der Entführerin mit seinem Schwert den Garaus zu machen. Als er schließlich verspätet, aber wohlbehalten ins Dorf zurückgekehrt war, hatte sich niemand
mehr darüber gefreut als der Pfarrer des Ortes. Doch dann war die Nacht gekommen. Und das, was Owain Glyndwr für Guy Fenian gehalten hatte …* Der katholische Geistliche atmete wie ein löchriger Blasebalg ein und aus. Kein Laut drang mehr aus der Finsternis zu ihm, aber der Fluch der Hexe dröhnte in ihm fort. Er tastete sich zum Altar vor, fand das Kästchen mit Schwefelhölzern und entzündete damit meh rere Kerzen, die auf dem Altarstein standen. Seine Hände zitterten. Als er eine der Kerzen ergriff und mit ihr durch den Mittelgang zum Portal lief, fürchtete er, sie könnte jeden Moment verlöschen. Er be schirmte sie mit der freien, hohlen Hand, um es zu verhindern. Das zweiflügelige Tor war noch immer verriegelt, wie Owain Glyndwr es verlassen hatte, um sich zur Nacht zu betten. Sein dickliches Gesicht troff vor Schweiß, als er aufschloß und in die sternklare Nacht hinaustappte. Verwundert stellte er fest, daß es heftig geschneit hatte. Bis zu den Knöcheln sank er im Weiß ein, das sich wie ein Leichentuch über Llandrinwyth’ niedrige, windschiefe Häuser gesenkt hatte. Der erste Windstoß blies tatsächlich die Kerzenflamme aus. Aber Owain Glyndwr ließ sich nicht mehr aufhalten. Im fahlen Schein der Gestirne hastete er den Weg hinab ins Dorf und riß die ahnungslo sen »Schäfchen« seiner Gemeinde aus dem Schlaf …
* Sie durchsuchten jeden Winkel der Pfarrkirche. Von der schamlosen Hexe, deren Augen wie flüssiger Sulphur leuchteten, und ihrem un heimlichen Zauberkelch fanden sie nur eine einzige Spur:
*siehe Vampira 10: »Das Dorf der Toten«
Ein Rinnsal tintenschwarzen Blutes führte aus Owain Glyndwrs Gemach hinaus und endete kurz vor der Altarerhöhung, als hätte sich die Verwundete dort in Luft aufgelöst! Der Schrecken unter den Bewohnern des Dorfes war groß. Aber sie glaubten ihrem Pfarrer wieder bereitwillig jedes Wort, zumal man eilends Guy Fenians Haus aufsuchte und ihn dort nicht fand. Zum grausigen Höhepunkt dieser Nacht wurde der Fund jener Magd, die man dem »verletzten Fenian« als Hilfe zugewiesen hatte. Sie lag blutüberströmt und verstümmelt in seinem Bett. Alles Leben war aus ihr gewichen und das Gesicht nach hinten auf den Rücken gedreht! Einer der Dorfbewohner entdeckte im grauenden Morgen frische Hufspuren im Schnee vor der Schmiede. Sie führten dorfauswärts, und nicht einer, der dabei nicht an die schwarze Stute der Hexe erin nert wurde! Der echte Guy Fenian, um diese Einschätzung kam niemand mehr herum, war offenbar in Rhymneys Einsiedelei zurückgeblieben und der Teufelsbraut zum Opfer gefallen. Obwohl man angesichts der Schwarzen Magie der Hexe und ihrer Durchtriebenheit schockiert war, gab es dennoch kein Sträuben, als Owain Glyndwr einen bewaffneten Trupp zusammenstellte, um an dessen Spitze zu Rhymneys Höhle aufzubrechen. Dort war Fenian zurückgeblieben, um sich zum Kampf zu stellen und Owain Glyndwr mit dem entführten Kind den Rückzug zu er möglichen. Er hatte der bereits schwerverletzten Hexe nur noch den Todesstreich versetzen wollen. Statt ihres Kadavers mußte dort nun sein Leichnam liegen … Owain Glyndwr wagte erst gar nicht zu hoffen, daß er die Hexe diesmal besiegt hatte. Die Satansbuhlerin schien mehr Leben als eine Katze zu besitzen.
Bevor sie das Dorf verließen, marschierten sie am Haus von Bart Drefach, Eiddyds Vater, vorbei. Er hatte sich nicht an der allgemei nen Zusammenrottung und den Suchaktivitäten beteiligt. Aber das sah ihm jeder nach. Er hatte eigene Sorgen. Ein wiedererwachtes dumpfes Unbehagen drängte Owain Glynd wr jedoch, sicherzugehen, daß Eiddyd nicht neuerlich von der flüch tigen Hexe geraubt worden war. Dies war, wie sich herausstellte, nicht der Fall. Als Bart Drefach die Tür öffnete, tollte hinter ihm eine Kinderhorde, sechs an der Zahl, und in der Wiege neben dem Küchenherd schien das siebte, jüngste, zu schlafen. Owain Glyndwr wollte es sich näher besehen, doch Drefach wiegelte ab. Er nahm Owain Glyndwr kurz zur Seite und erkundigte sich müde: »Es bleibt doch bei heute abend?« »Die Taufe?« Das Nicken kam mutlos und angespannt. »Was bedrückt dich? Vertraue dich mir an!« forderte Owain Glyndwr ihn auf. Bart Drefach nagte an seiner Lippe. Sein Blick strich nervös über die Dorfbewohner, die draußen unruhig darauf warteten, endlich zu Rhymneys Höhle aufzubrechen. »Ich glaube«, sagte er leise, »es wird bald sterben.« »Sterben?« »Es ist ganz bleich und kränklich. Die Nahrung, welche die Amme oder wir ihm geben wollen, verweigert es. Keinen Tropfen der guten Milch nimmt es an …!« Owain Glyndwr erinnerte sich der Szene, deren Zeuge er selbst ge worden war. Das Neugeborene hatte die Brust der Amme blutig ge bissen – wie, wußte niemand so genau. Aber es hatte sich offenbar geweigert, auch nur einen Tropfen der Muttermilch anzunehmen. Die Amme hatte selbst ein gerade einjähriges Kind, das weniger ver
wöhnt war. Es wurde immer noch gesäugt. »So hat die Hexe ihm also doch schon Leid zugefügt …«, murmel te Owain Glyndwr nachdenklich und betroffen zugleich. »Wo ist Horrygs Frau, die sich um das Neugeborene kümmern wollte, bis die größte Not überwunden ist?« »Sie – kommt nicht mehr, seit sie … Nun, Ihr wißt schon.« »Seit sie gebissen wurde?« Bart Drefach nickte. »Ich werde mit ihr reden, damit sie weiterhin bei euch nach dem Rechten sieht. Laß mich jetzt das Mädchen anschauen!« »Versteht mich recht«, jammerte Bart Drefach, ohne auf Owain Glyndwr eigentliches Verlangen näher einzugehen, »ich will nur nicht, daß es irgendwo verscharrt werden muß! Wenn es wirklich stirbt, dann nach Gottes Willen und getauft!« Zuletzt war die Faust des Mannes dem Eifer seiner Zunge gefolgt und hatte sich um Owain Glyndwrs Mantelkragen gewickelt. Der Pfarrer befreite sich vom harschen Griff. Er hatte Verständnis für diesen Mann, dem das Schicksal übel mitspielte. Aber es gab Grenzen. »Beruhige dich! Ich werde tun, was ich versprach! Aber si cher nicht schon heute kann ich das Mädchen auf den Namen tau fen, den deine Frau sich auf ihrem Sterbebett wünschte. Habe etwas Geduld; du siehst, daß es überall brennt. Sobald wieder etwas Ruhe eingekehrt ist – oder falls es der Kleinen noch schlechter geht –, wer den wir zur Taufe schreiten. Du hast mein Wort. Rufe mich Tag oder Nacht, wenn du meinst, es eilt!« Das schien Bart Drefach schon jetzt zu meinen. Dennoch nahm er sich zurück und sagte: »Danke, Herr Pfarrer – und verzeiht!« Owain Glyndwr winkte ab. Noch einmal drängte es ihn näher an die Wiege des Kindes heran. Doch die Ungeduld der wartenden Menge rief ihn ins Freie.
»Und – Herr Pfarrer …« Drefachs Stimme holte ihn noch einmal ein. »Was noch?« »Paßt … gut auf euch auf!« Owain Glyndwr fror plötzlich, weil er die »Anteilnahme« von Eid dyds Vater als das einschätzte, was sie in Wirklichkeit war: Bart Drefach sorgte sich weniger um seinen Pfarrer als darum, daß die Taufe ohne einen Geistlichen nicht vollzogen werden konnte. Und spätestens hier hörte Owain Glyndwrs Verständnisbereit schaft auf …
* Hinter den Spiegeln Lilith kauerte immer noch auf dem Schoß des Mannes, aber das Grauen hielt sie unentrinnbar im Würgegriff. Grauen darüber, was der Symbiont, noch während sie selbst zau derte, vor ihren Augen anrichtete! Plötzlich waren sie da: zwei dünne, tentakelartige Ausläufer des selben Stoffes, den sie am Leib trug. Ehe Lilith reagieren konnte, schnellten sie auf die Stelle am Hals des Mannes zu, die auch Lilith fasziniert hatte, und bohrten sich mit leisem Schmatzen durch die Haut des Überraschten. Augenblicklich konnte Lilith rotes Blut wie durch transparente medizinische Schläuche laufen sehen. Der Symbiont zapfte dem Mann, der keinerlei Anstalten zur Ge genwehr machte, das Blut ab! Ungeheuerlich! Aber er lebt von schwarzem Vampirblut! wisperte es in ihren Schläfen.
Nicht von Menschenblut, wie ich. In den Augen des Opfers irrlichterte blankes Entsetzen. Warum es sich nicht zur Wehr setzte, blieb ihr ein Rätsel. Lilith setzte sich über alle Vernunft hinweg und umschloß selbst die feinen Ausleger des Symbionten mit beiden Händen. Mit einem warnungslosen Ruck versuchte sie die Fäden aus dem Hals des Mannes herauszureißen. Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was in diesem Moment in ihr vorging, aber sie wußte, daß sie das, was vor ihren Augen geschah, nicht zulassen durfte! Es kam, wie es kommen mußte. Die Schmerzen, mit denen sich der Symbiont für ihre Aktion »re vanchierte«, raubten ihr schier das Bewußtsein. Ihr wurde schwarz vor Augen, während Säure durch jede Faser ihres Nervengeflechts zu fließen schien. Ihr Leib stand in schwarzen Flammen, und der schreckliche Schrei, den sie plötzlich hörte, kam nicht aus dem Mund des Mannes unter ihr, sondern aus ihrem eigenen. Als sich ihre Sicht endlich klärte, hielt sie immer noch die Fäden in der Hand. Aber immer noch steckten die Enden in der Halsschlag ader des Opfers. Als Lilith sah, daß wenigstens das Rot daraus ver schwunden war, atmete sie zunächst auf. In dem Irrglauben, der Symbiont habe aufgehört, Blut zu zapfen. Wie konntest du das tun? wies sie ihn erzürnt zurecht. Wie – Der Ge danke brach ab. Der Körper, auf dem sie saß, war bretthart gewor den. Liliths Blick suchte die Augen des Mannes, die jetzt gläsern starr ten, und sie begriff, daß er tot war. Im nächsten Moment fielen die Tentakel von ihm ab und hinterlie ßen zwei dunkle Male, wie vom Biß eines Vampirs. Du hast – getötet!? Der Symbiont reagierte nicht. Es war sogar so, als wurde sich das,
was sie auf ihrer Haut trug, kurz in Wonne schütteln. Lilith kam auf dem Boden neben dem Bett zum Stehen. Eine schnelle Untersuchung des Mannes bestätigte, daß er tatsächlich tot, unwiederbringlich tot war. Bleich, ausgesaugt bis auf den letzten Blutstropfen … Der Symbiont war zum Mörder geworden! Sie versuchte ihre Erschütterung in den Griff zu bekommen. Sie versuchte das eigenwillige Wesen an ihrem Körper zu einer Ant wort zu zwingen. Es schlug fehl. Er war und blieb sein eigener Herr. Alles, was sie verband, war ein Zweckbündnis, das Lilith immer noch nicht in vol lem Umfang durchschaute. Klar schien mittlerweile jedoch, daß Creanna, ihre Mutter, ihr mit dieser »Hinterlassenschaft« einen schlechten Dienst erwiesen hatte! Lilith hatte akzeptiert, daß er das Blut ihrer Feinde trank. Aber die Menschen waren nicht ihre Feinde! Wie hatte er sich so vergessen können …? Wieder hätte sie sich das lebende Kleid am liebsten vom Leib gerissen. Aber sie hätte ebenso gut versuchen können, ihre ech te Haut abzuschälen. »Verdammt!« keuchte sie. Tränen standen in ihren Augen. »Ver dammt, verdammt, verdammt!« Ihre Hand berührte das Mörderkleid. Warum konnte sie mit einemmal kein Blut mehr trinken, obwohl der Hunger stärker als je zuvor in ihr rumorte? Sie selbst konnte nicht ohne diesen Saft leben! Aber sie tötete ihre »Spender« nicht. Sie machte nicht einmal »Gefangene«, indem sie den gefürchteten Vampirkeim übertrug! Andere Nahrung sättigte sie nicht. Nicht nur in dieser Hinsicht überwog das Vampirische in ihr eindeutig das Menschliche. Von draußen klangen laute und aufgebrachte Stimmen. Und als
Lilith die Tür einen Spalt weit öffnete, sah sie mehrere Personen zielstrebig auf das Haus zukommen, offenbar angelockt durch die Schreie …
* Vergangenheit Zu Fuß zog Owain Glyndwr mit einem Dutzend Begleiter durch das in Kälte und Schnee erstarrte Tal zu den schroffen Hängen, die das Dorf von allen Seiten umschanzten. Dorthin führte die Spur der Hu fe. Eine weit höhere Zahl Männer war im Dorf zurückgeblieben, um die Bewohner zu schützen, falls sich die Hexe wider Erwarten doch noch irgendwo verbarg und nur das Pferd davongejagt hatte. Wie genau dieser Schutz aussehen sollte, schien indes niemand zu wissen – oder wissen zu wollen. Owain Glyndwr hatte ihnen kleine Fläschchen mit Weihwasser überlassen. Die Leute selbst hatten sich mit Kruzifixen, Knoblauch und Bibeln umgeben und hofften sich auf diese Weise vor Attacken des Bösen gefeit. Wie zweifelhaft solche Hoffnung war, hätte Owain Glyndwr ihnen sagen können. Doch er hütete sich, noch mehr Skepsis und Angst zu säen. Wie selbstverständlich übernahm er die Spitze der Gruppe. Am Kreuzweg führten die Hufspuren, wie erwartet, durch die Hohlgasse zwischen den Felssprüngen hinauf zu Rhymneys Ein siedlerei. Die Erinnerung an die Unternehmung, die Owain Glynd wr vor erst einem Tag gemeinsam mit Guy Fenian gewagt hatte, pei nigte den Pfarrer von Llandrinwyth über die Maßen. Aber er ließ
sich seinen Begleitern gegenüber nicht anmerken, wie sehr ihn das Schicksal des Schmieds mitnahm. Dabei gab es noch keinen unum stößlichen Beweis, daß Fenian tot war. Vielleicht hatte die Schwefel äugige ihn nur verletzt oder auf sonstige Weise außer Gefecht ge setzt zurückgelassen … Owain Glyndwr erkannte, daß er an diese Möglichkeit schon des halb nicht zu denken wagte, weil er fürchtete, sie dadurch zunichte zu machen. Gegen ein Quentchen Aberglaube war auch ein gottes fürchtiger Mann wie er nicht gefeit. Sie stapften durch den nicht sehr hohen Schnee weiter zum Höh leneingang. Hier war der Schnee wie von einem heftigen Kampf plattgedrückt und mit rotem Blut eingefärbt. Unmengen roten Blutes! (Aber kein schwarzes, raunte es in Owain Glyndwrs Schläfen.) Wie die anderen blieb auch er stehen. Seine Sorge wuchs. Von wem stammte das Blut? Wer hatte hier gekämpft? War es am Ende gar Guy Fenians Blut …? Owain Glyndwr kannte die Verhältnisse innerhalb des Stollens gut genug, um zu wissen, daß mit viel Glück vielleicht ein Pony hin durchgepaßt hätte – ein Pferd von Größe und Format der schwarzen Stute hatte dies unmöglich schaffen können. Daß es sich bei der ver folgten Fährte aber nicht um die eines Ponys handelte, war klar am Abstand der Eindrücke zu erkennen gewesen! Owain Glyndwr schüttelte den Kopf, um die Gedanken wieder klar zu bekommen. Es half nicht sehr, aber er war nach wie vor ent schlossen, der Bedrohung – wie immer sie inzwischen aussehen mochte – die Stirn zu bieten. Er hatte die Hexe verletzt! Wie schwer, das wußte er nicht. Aber, sprach er sich selbst Mut zu, sie wäre nicht vor ihm geflohen, wenn die geschlagene Wunde von allzu harmlosem Charakter gewesen
wäre … Aus dieser Hoffnung zog er neue Kraft. »Wie geht es weiter, Herr Pfarrer?« rief einer seiner Begleiter. »Wollen wir hier draußen Wurzeln treiben oder der Schlange end lich den Kopf abhacken?« Owain Glyndwr sah zu dem Mann hinüber. Es wunderte ihn ein wenig, welche Reden diese früher so braven Leute inzwischen führ ten. Aber er sah auch an sich selbst, wie die Tage seit Beginn der »Zwölften« sein Wesen verändert hatten. Nicht umsonst verbarg er seinen kahlen Schädel unter der Mantel kapuze. Er schämte sich des Makels, den das gefräßige Pupurlicht ihm zugefügt hatte. Niemand brauchte zu sehen, wie es ihm ergan gen war. Doch war der Verlust des Haares allein dem Licht zuzurechnen? Noch immer klang der Fluch der Hexe in seinen Ohren … … deine Eingeweide sollen verfaulen! Die Haare sollen dir gänzlich aus fallen! Deine Haut soll schorfig und trocken werden wie tausendjähriger Papyrus! Die Augen sollen sich nach innen drehen, auf daß du erblindest … Owain Glyndwr erschauderte und rief: »Seid vorsichtig, Leute! Unterschätzt sie nicht, wenn sie sich wirklich hier verkrochen hat! Sie darf uns nicht ein weiteres Mal täuschen – es wäre unser aller si cheres Verhängnis!« Stumm entzündeten sie die mitgebrachten Fackeln und setzten sich in Bewegung. Der Priester ging immer noch ganz zuvorderst. Seine Begleiter trugen Schlag- und Stichwaffen, die er in aller Eile mit Weihwasser und einem Gebet gesegnet hatte – etwas, das er vor Tagen noch rundweg abgelehnt hätte. Aber der Fortlauf der Ereig nisse zwang in vielerlei Hinsicht zum Umdenken und zu neuen, schrecklichen Erkenntnissen. Niemand von den anderen schien sich den Kopf über das Pferd zu
zerbrechen, dessen Spuren sie gefolgt waren. Auch als sie sich selbst von der Enge des Stollens überzeugen konnten, keimte in nieman dem ein Verdacht. Die Gesichter im Fackelschein spiegelten nichts als kalte Entschlos senheit wider. Owain Glyndwr empfand fast etwas wie Stolz über diesen verwegenen Haufen. Kurz bevor sie schließlich die eigentliche Höhle am Stollenende er reichten, verlangsamte Owain Glyndwr das Tempo. Sie alle hörten das schmatzende Geräusch – und ihnen allen ge rann das Blut in den Adern. Owain Glyndwr brach den Bann, bevor er zu stark werden konnte. Der Geistliche hob die geballte Faust, mit der er ein Kruzifix um schlossen hielt, zur blakenden Fackel empor. »Einer steht für den anderen ein, ihr Männer!« appellierte er im Flüsterton an das, was jeder von ihnen zur Genüge besaß: an ihren Stolz. »Wenn wir zu sammenhalten, können wir sie besiegen! Und wenn wir Glück ha ben, ist sie bereits so gut wie besiegt!« Er wußte, daß dieser Punkt seiner Rede keiner näheren Hinterfra gung standhalten würde. Noch wußte niemand, was die Geräusche bedeuteten. Vielleicht wollte die Hexe sie damit nur anlocken! Bevor dieser Gedanke auch in anderen Hirnen aufblitzte, setzte Owain Glyndwr sich in Bewegung. Mit erhöbenen Armen stürmte er in die Höhle, Kreuz und Fackel emporgereckt. Unendlich erleichtert hörte er, daß die anderen ihm tatsächlich folgten. Und unendlich erschüttert fand er anstatt der Hexe Horrygs Weib, wie es nackend inmitten der Höhlenbehausung über dem in Stücke gerissenen Kadaver der schwarzen Stute kauerte. Das Gesicht der Amme war entstellt und blutbesudelt. Als sie den Ankömmlingen mit schiefem Grinsen entgegenblickte, hielt sie
einen Fetzen rohen Fleisches mit beiden Händen an den Mund ge drückt und saugte genußvoll daran …
* Hinter den Spiegeln Die Tür, die Lilith vorsichtig zurück ins Schloß gedrückt und verrie gelt hatte, wurde mit kompromißloser Gewalt aufgebrochen. Düstere Gestalten quollen in das Cottage. Gestalten, von denen solch unversöhnlicher Haß ausströmte, wie Lilith ihn noch nie bei irgend jemandem bemerkt hatte. Die Eindringlinge waren buchstäb lich von Auren des Bösen umhüllt! Gerade noch rechtzeitig hatte Lilith sich in einer schweren Truhe verborgen, als ersichtlich wurde, daß man von draußen mit brutaler Gewalt gegen die Tür vorging. Der winzige Spalt, den sie offenhielt, um die Vorgänge in der Hütte zu verfolgen, genügte auch, jedes ge sprochene Wort zu verstehen. Ein besonders robuster Kerl mit rötlich verfilztem Haar schien der Wortführer zu sein. Kaum hielt er mit seinen Leuten das Haus be setzt, brüllte er: »Schafft den Uneinsichtigen aus den Federn, damit Rerraf Reh Resnu Gericht über ihn halten kann!« Die Erkenntnis, daß es gar nicht um sie ging, lockerte Liliths An spannung ein wenig. Zugleich wußte sie, daß dieses Gefühl nicht lange andauern konnte. Schon Sekunden später rief einer derer, die auf das Bett zustapf ten: »Er ist tot! Sieh selbst! Was sollen wir jetzt tun?« Der Anführer verlor nur kurz seine Fassung. Er trat ebenfalls ans Bett und besah sich das Opfer des Symbionten ausführlich. Danach
richtete er sich auf und gab den Befehl, den Lilith am meisten ge fürchtet hatte: »Durchsucht das Haus! Er ist keines natürlichen To des gestorben. Da die Tür verschlossen war, muß sich sein Mörder noch hier aufhalten!« Niemand hielt sich mit Fragen auf, und schon Sekunden später war Lilith entdeckt. Der Truhendeckel wurde über ihr zurückgeris sen. Augenpaare weiteten sich bei ihrem Anblick. Aber die Verblüffung währte nur kurz. Etwas fuhr brutal auf Li lith herab. Ihre Wahrnehmung erlosch in grellem Schmerz.
* Vergangenheit Das Gestöhn hallte vielstimmig von den Höhlenwänden wider. Ein Rundblick genügte, um zu erkennen, daß sich Horrygs Weib möglicherweise an den Leichen Guy Fenians und Rhymneys in ähn licher Weise vergangen hatte wie an dem Pferd. Die Reste der ver stümmelten Leiber lagen in der Höhle verstreut. Es würde schwer fallen, sie richtig zuzuordnen. Zugleich war es der grausigste An blick, den Owain Glyndwr in seiner gesamten Amtszeit erlebt hatte. Und das Grauen gewann noch dadurch, daß man die Amme, die hier ihrem abartigen Verlangen frönte, im Dorf als rechtschaffenes, gottesfürchtiges Weib kannte! Urplötzlich keimte ein Verdacht in Owain Glyndwr auf. Mit zit ternden Lippen befahl er: »Tötet sie – schnell! Schlag ihr den Kopf ab! Sie … sie ist gewiß auch nur wieder ein Trugbild, das uns die Hexe vorgaukelt!« Als hätten sie nur auf diesen Befehl gewartet, rückten zwei Män
ner – einer mit einer großen Axt, der andere mit einem Kurzschwert ähnlich jenem, das Fenian bei sich getragen hatte – auf die Frau zu. Aus der Kehle der Amme kollerten jetzt glucksende Laute. Ihre Augen starrten stumpf, als sie das Fleisch, das sie gerade im Mund hatte, ausspie und das sichtbar werden ließ, was die Bewohner des Dorfes wie ein weiterer Keulenhieb traf: Ihre Zähne, die oberen Eck zähne, waren fast fingerlang und wie schreckliche Wolfsfänge gebo gen! Owain Glyndwr rang um Fassung. Einer der Männer aber, die auf die vermeintliche Amme zugetre ten waren, hob kurzerhand seine Axt und ließ sie mit einem peit schenden Geräusch schräg niederfahren! Das vom Rumpf getrennte Haupt der Frau polterte zu Boden, ohne daß ein einziger Tropfen Blut hervorquoll. Statt dessen schie nen Kopf und Torso getrennt voneinander plötzlich von unwirkli chem Feuer umzüngelt zu werden. Dann fiel beides in sich zusammen, als entwiche die Luft daraus! Weder Owain Glyndwr noch einer der anderen Zeugen des Vor gangs hatte je einen dermaßen zerknitterten Menschenkörper gese hen …! Owain Glyndwr trat auf den Beherzten zu und legte tröstend die Hand auf seine Schulter. »Du hast gut getan, Cwyn!« Aber auch im Tod veränderten sich die Züge der Enthaupteten nicht mehr. Es blieben die von Horrygs Frau. Nur die bestienhaften Zähne wa ren, als man den mit dem Gesicht nach unten im Schmutz liegenden Kopf umdrehte, wieder völlig normal … »Wie … geht das zu, Herr Pfarrer? Sagt es uns! Sahen wir gerade einen … Vampir?«
Der Glaube an blutzehrende Geschöpfe war alt. Uralt. »Ich weiß es selbst nicht, ihr Leute, aber es ist wohl möglich! Gott hat uns eine schwere Prüfung auferlegt, mehr kann ich dazu nicht sagen!« Owain war vor dem Torso stehengeblieben, um sich die unblutige Wunde näher zu beschauen. Dabei entdeckte er etwas, auf dem die Amme gesessen hatte. Owain Glyndwr bückte sich wie unter Zwang. Zum Erstaunen aller zog er jenes Gefäß unter dem Körper hervor, dessen Licht ihn, wie er auch jetzt noch glaubte, die Behaarung ge kostet hatte. Der Kelch leuchtete nicht mehr. Aber er sah immer noch eindrucksvoller aus als alles, was Owain Glyndwr je in Hän den gehalten hatte. Auch jetzt noch, das war zu spüren, schlummer te unschätzbare Kraft darin! Sonderbarerweise empfand Owain Glyndwr keinerlei Angst da vor. Im Gegenteil. Von dem Moment an, da er den Kelch mit den Händen umschloß, fühlte er sich von einer Last befreit. »Diebesgut«, keuchte er. »Die Hexe brüstete sich mir gegenüber damit!« »Meint ihr, sie … lebt immer noch? Ich meine, die richtige Hexe …« »Alles ist möglich«, wiederholte er sich. »Aber ohne diesen Kelch ist sie nichts!« »Warum hat sie sich dann … von ihm getrennt?« zweifelte ein an derer. »Was, wenn sie uns nur aus dem Dorf locken wollte, um dort …« Er verstummte. Er fürchtete sich, auszusprechen, was plötzlich durch die Köpfe al ler spukte. Auch durch den von Owain Glyndwr. »Nehmt das Haupt der Frau«, versuchte er sie und sich selbst ab
zulenken. »Verbrennt es vor der Höhle. Den Torso schafft ebenfalls hinaus und nagelt ihn mit einem dicken Pflock durchs Herz in den Grund!« »Ihr denkt, das genügt, um sie nicht … wiederkommen zu lassen?« »Ich habe in alten Schriften studiert. Es muß genügen!« »Was geschieht mit den Resten Guys und des alten Rhymney?« »Wir kehren zurück, sobald der Boden nicht mehr so stark gefro ren ist. Dann holen wir sie ab und bestatten sie auf dem Dorffried hof.« Die Männer erklärten nickend ihr Einverständnis und gehorchten sodann mit blassen Gesichtern. Owain Glyndwr blieb noch eine Weile ohne sie in der Höhle. Als er allein war, führte er den Kelch an die Lippen und hob ihn schräg an, als würde er daraus trinken. Nach einer Weile setzte er ihn wieder ab. »Ja«, flüsterte er eifrig und legte den Kopf schief, als lauschte er ei nem fernen, süßen Ton. »Ja, das werde ich tun …!«
* Hinter den Spiegeln Lilith träumte. Sie war in Australien. In Sydney. Und beobachtete einen Vampir beim Selbstmord mit Hammer und Pflock. Einen VAMPIR! Beim SELBSTMORD …! Es war draußen am Meer, in der Wildnis des Nielsen Parks. Genau dort, wo eines der Traumzeit-Heiligtümer der Aborigines ins städtische Bild in
tegriert worden war – wie etwa zweitausend andere Kultstätten auch. Es geschah direkt vor Liliths Augen. Sie war mit einem Mann hierher ge kommen. Nach dem Selbstmord des Vampirs verließ sie den Ort der Tat je doch fluchtartig und kehrte in Beth’ Wohnung zurück, um … selbst einen Suizidversuch zu unternehmen! Sie hatte das Messer bereits erhoben, als – Sie erwachte. Jemand rüttelte an ihr. Sie schlug die Augen auf. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Und sie hatte ähnliche, vielleicht noch schlimmere Kopfschmerzen als da mals kurz nach ihrem Erwachen im Haus an der Paddington Street. Das Gesicht über ihr war grobschlächtig, aber nicht wirklich un sympathisch. Lilith wollte sich sofort aufrichten und bemerkte erst in diesem Moment, daß man sie in Eisen geschlagen hatte, die mit Gliederket ten im Mauerwerk einer Stallung verankert waren. Als sie wütend daran zerrte, schüttelte der ebenfalls Angekettete mitleidig den Kopf. »Aussichtslos.« »Wer sagt das?« So schnell wollte sie nicht resignieren. »Ich«, antwortete er lakonisch. Erst jetzt kam ihr zu Bewußtsein, daß sie mit jemandem redete, der dort, woher sie kam, höchstwahrscheinlich zu den überall über das Dorf verstreuten Toten zählte. Oder doch nicht? Lilith wußte allmählich überhaupt nicht mehr, was sie glauben sollte. »Bist du hier aus Llandrinwyth?« wandte sie sich an den Mann, dem man übel mitgespielt hatte. Seine Blutergüsse und Prellungen waren offensichtlich. Aber man schien ihn wenigstens nicht verhun gern zu lassen.
»Ja.« Er betrachtete sie unverhohlen. Das Begehren, das hinter sei nen Augen aufglomm, tat Lilith selbst in dieser Lage wohl. »Wie heißt du?« »Clough Corwen«, sagte er. Lilith lauschte dem Klang des Namens. Dann fragte sie: »Was wirft man dir vor, Clough Corwen?« Er lachte bitter. »Ich zähle nicht gerade zu Rerraf Reh Resnus An hängern …« Den Zungenbrecher, den er buchstäblich zwischen den Zähnen zerbiß, hörte Lilith nun schon zum zweiten Mal. »Wer ist dieser Unaussprechliche?« Clough Corwen lachte erneut und untermalte seine Bitterkeit mit Kettengerassel. »Du wirst es früh genug erfahren. Dir und mir, den ke ich, drohen ähnliche Schicksale!« »Welche?« »Darüber kann ich nichts sagen.« »Weil du nicht willst oder es tatsächlich nicht kannst?« »Ich kann nicht.« »Erzähle!« »Was willst du hören?« »Zu Abwechslung etwas Erfreuliches.« »Dann bist du am falschen Ort.« »Vielleicht auch nur zur falschen Zeit?« Er starrte sie ohne jedes Verständnis an. »Schon gut. Dann berichte mir wenigstens, was ich wissen sollte, bevor ich in diesen Ketten verfaule!« Er schüttelte den Kopf. »Das wirst du nicht! Ich weiß nicht viel mit Bestimmtheit, aber das kann ich dir versichern. Wir werden Rerraf
Reh Resnus ganzen Zorn zu spüren bekommen. Das heißt, wir wer den vor ihn geschleift. Lange wird es nicht dauern. Lange dauert es nie!« »Das klingt, als wären diese Aktionen an der Tagesordnung.« »Nicht ganz. Wenn man dem Bösen zum Schein huldigt und sich geschickt anstellt, kann man eine Weile davonkommen.« Obwohl das Unverständnis nun auf Liliths Seite war, ging sie nicht näher darauf ein, sondern fragte: »Hast du je von einem Gefäß gehört, das man den Lilienkelch nennt?« »Nein.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Dennoch fügte Lilith hinzu: »Ich sah sein Bild in einem Spiegel oben in der Kirche …« Sein Gesicht versteinerte. »Du warst schon – dort oben?« Sie bejahte. Die Antwort schien Ratlosigkeit bei ihm zu schüren. Plötzlich sah er sie mehr wie ein Gespenst denn wie eine Frau an. Dennoch ließ er sich entlocken: »Wenn du diesen Kelch meinst … Sein Abdruck ist in jedem Spiegel.« »In jedem? Wieso?« Er zuckte die Achseln. Im nächsten Moment zischte er: »Still jetzt! Sie kommen!« Lilith brauchte nicht nachzufragen, wen er meinte. Die Tür des Stalls schwang auf. Draußen war es immer noch dunkel. Zwei unbe kannte Männer mit verdrossenen Gesichtern traten ein. Sie schenk ten Lilith keinerlei Beachtung, sondern näherten sich schnurstracks Clough Corwen. In der Hand des einen klimperte ein praller Schlüs selbund. »Es ist Zeit, die Zeche zu zahlen«, sagte einer von ihnen gepreßt.
»Jetzt wirst du sehen, was du von deiner Uneinsichtigkeit hast …« »Stimmt!« Weder Lilith noch die beiden Kerle rechneten mit dem, was nun geschah. Clough Corwen war während seiner Gefangenschaft offenbar nicht untätig gewesen. In dem Moment, als sich einer von Rerraf Reh Resnus Anhängern vorbeugte, um die Spange an seinem rech ten Handgelenk aufzuschließen, ließ Corwen die Fesseln aus eigener Anstrengung von beiden Gelenken fallen, packte blitzschnell zu und stieß die Köpfe beider Männer hart zusammen. Das bekam ihnen offenbar nicht sonderlich gut. Mit dumpfem Stöhnen sackten sie zu Boden. Corwen hielt sich nicht mit ihnen auf, sondern angelte den Schlüs selbund vom Boden, suchte und fand das richtige Werkzeug zum Lösen auch seiner Fußangeln und rannte dann, ohne Lilith weiter zu beachten, auf den Ausgang der Stallung zu. Erst ihr Protestruf hielt ihn auf. »Heh! Du willst mich doch hier nicht verrotten lassen?« Er zögerte, kehrte dann aber zurück und befreite auch sie von ih ren Ketten. »Danke«, knirschte sie. Dann wich sie ein paar Schritte von ihm zurück und erteilte ihm den gutgemeinten Ratschlag: »Besser, du kommst mir nicht mehr zu nahe.« »Ich habe andere Sorgen, als über dich herzufallen«, versicherte er ihr, »auch wenn du eine Sünde wert wärest …« Er verstand nicht, weil er nicht verstehen konnte. Lilith hatte Angst um ihn. Sie hegte die Befürchtung, der Hunger könnte die Bestie in ihrem Symbionten erneut wecken …
* Vergangenheit Bei ihrer Rückkehr ins Dorf, gegen Mittag, saß noch allen der Schock in den Gliedern. Ihre schlimmste Befürchtung aber bewahrheitete sich nicht. Während ihrer Abwesenheit war in Llandrinwyth alles ruhig geblieben. Hinweise, daß die immer noch verschollene Hexe weitere Untaten plante, fanden sich nicht. Owain Glyndwr und die anderen Rückkehrer wanderten zunächst zu Horrygs Haus, wo ihnen der Korbflechter bestätigte, daß sein Weib am gestrigen Tag das Haus mit den Worten verlassen hatte, sich um Bart Drefachs Bälger kümmern zu wollen. Als sie die Nacht fortgeblieben war, habe er sich keine Sorgen gemacht. Das eigene Kind brauchte die Brust nur noch – wie er meinte – zum bloßen Zeitvertreib. Es konnte schon vom Tisch mitessen. Horrygs Sorglosigkeit währte genau so lange, bis er erfuhr, was sich in Rhymneys Höhle zugetragen hatte. Dann brach er zusammen. Es war zweifelhaft, daß er wirklich begriff, was seiner Frau vorge worfen wurde. Niemand begriff es. Am wenigsten die, vor deren Augen es geschehen war … Owain Glyndwr bat die Dorfbewohner, die inzwischen von über all herbeigeströmt waren, zu versuchen, wieder Normalität in den Alltag einkehren zu lassen. »So Gott will«, schloß er, »kehrt nun endlich Ruhe ein!« Und dann, als wollte er den von vielen Mienen angezweifelten Optimismus untermauern, fügte er mit fester Stim me hinzu: »Nun werde ich doch schon heute abend Bart Drefachs Töchterchen taufen! Kommt alle zur üblichen Stunde in die Kirche
und laßt uns den Herrn loben und preisen – gerade wenn es uns am schwersten fällt!« Er räusperte sich. »Denkt darüber nach, ihr Leute …« Mit diesen Worten wandte er sich ab und marschierte zum Kirch berg hinauf. Unter seinem ausgebeulten Mantel befand sich der He xenkelch, den er noch dringend benötigte und deshalb wie seinen Augapfel hütete. »… deine Augen sollen sich nach innen drehen …«
* Als Tom vor die Kirche trat, war die blonde Frau verschwunden. Sie haben sie auch geschnappt, war sein erster Gedanke. Die wieder aufflammende Erregung bohrte sich wie eine glühende Nadelspitze mitten durch sein Herz. Einen Moment wurde ihm schwindelig, elend und pechschwarz vor Augen. Mit größter Mühe konnte er das Gleichgewicht halten. Als es ihm wieder etwas besser ging, spähte er hinab ins Dorf und entdeckte immer noch keine Spur von der Blonden mit den scheuß lich verdrehten Augen. Allerdings auch nicht von denen, die sich in beinahe jedem Haus verbargen … Zaghaft setzte er einen Fuß vor den anderen. Sein Blick versuchte den Purpurschleier zu durchdringen, der das ganze Tal bis hin zu den Berghängen erfüllte. Wie mochte es dahinter aussehen? War auch die Welt jenseits des schroffen Gebirgskessels … purpur und von lebenden Toten bevölkert? Tom hatte immer noch keinen Anhaltspunkt, wohin es ihn eigent lich verschlagen hatte. Resignation machte sich in ihm breit. Der
Weg über die Felskuppen hinweg schien ihm plötzlich weiter, als er bewältigen konnte. Er rechnete insgeheim schon die ganze Zeit da mit, daß seine Kräfte wieder ebenso schlagartig versiegten, wie sie nach Fees Besuch in ihm erwacht waren. Dieses ganz private Wun der konnte einfach nicht ewig dauern. Als er an der Fassade des Hauses, aus dem er geflohen war, vor beischlich, hüllte sich sein dürrer Körper in eine Gänsehaut. Er war bereit, auf das geringste Geräusch hin loszurennen. Aber nichts geschah. Alles blieb ruhig. Wie auf einem Friedhof … Es war ein Friedhof! Einer, aus dem man Alpträume für ganze Generationen von Men schen hätte stricken können! Tom hastete weiter. Während er lief, meldeten sich bereits die ers ten Zweifel, ob es überhaupt einen Sinn machte, was er versuchte. Er bezweifelte es. Irgend etwas Schreckliches und Unerklärliches war mit ihm und dieser Umgebung geschehen. Wahrscheinlich konnte er noch ein bißchen herumzappeln wie ein Fisch im Cascher eines Anglers – aber das Ende würde ihn unausweichlich ereilen! Tom war Selbstzerfleischung gewöhnt. Sie war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er es kaum noch merkte, wenn er sich in Schwarzmalerei ertränkte. Schneller als erwartet erreichte er zunächst eine Art Marktflecken und kurz darauf die letzten Häuser. Ein paarmal stolperte er über das holprige Pflaster, aber er stürzte nicht. Bis er am Boden lag und sich mehr verblüfft als wegen des Schmerzes das Gesicht abtastete. Er hatte keine Erklärung dafür, daß er gegen ein Hindernis gerannt war, wo weit und breit nichts dergleichen zu sehen war …
Erst als er aufstand und weitergehen wollte, wurde ihm klar, daß ihm nicht einmal die vage Chance blieb, die andere Seite der Berge zu erreichen und dort vielleicht bis Mallwyd zu gelangen. Obwohl er Äcker und Wiesen zum Greifen nah durch den Purpur schleier zu sehen meinte, war dort, wo er jetzt stand, Schluß! Hier war die Straße zu Ende, obwohl sie rein optisch weiterführte. Hier erhob sich eine unsichtbare Grenze, die er mit den Händen nicht einmal ertasten, geschweige denn überwinden konnte! Das, was ihn gestoppt hatte, fühlte sich an wie ein magnetisches Feld, das seinen Körper abstieß, sobald er eine bestimmte Distanz unterschritt … Doch dem nicht genug, traten die lebenden Toten nun wieder auf den Plan. Unbemerkt hatte sich ein Halbkreis um Tom geschlossen. Von überall aus dem Dorf krochen und wankten plötzlich Tote in ihren unterschiedlichsten Zerfallstadien auf ihn zu! Als hätten sich tatsächlich Dutzende Gräber geöffnet … Toms Resignation verpuffte. Doch mehr als zitternde Angst kam darunter nicht zum Vorschein. Er sah sofort, daß es diesmal kein Entkommen gab. Es waren zu viele. Und jede einzelne Leiche, jedes Skelett genügte vermutlich, ihn niederzustrecken. Er war nicht gerade mit Muskelkraft gesegnet. Näher und näher rückte die Horde. Kein Ton rann über die aufge dunsenen, gesprungenen oder bereits abgefallenen Lippen. Nur Gei fer – von blaßdurchsichtig bis breiig grün – rann aus vielerlei Mün dern. Nur noch vier, fünf Schritte trennten den Kordon lebender Leichen von Tom. Drei.
Zwei. Irgendwo klirrte etwas. Er achtete nicht darauf. Knochenhände grabschten in haßfreiem Zerstörungswillen nach seinem zwergwüchsigen, greisen Körper. Grabschten und überwanden auch die letzte Kluft, die noch zwi schen ihnen lag und die für Tom über Leben oder Tod entschied …
* Vergangenheit Owain Glyndwr war nicht überrascht, als Bart Drefach am späten Nachmittag bei ihm vorsprach. Es lag auf der Hand, daß es um die bevorstehende Taufe ging. Owain Glyndwrs Gleichmut änderte sich erst, als der Witwer ihn mit Schweißperlen auf der Oberlippe fragte: »Herr Pfarrer, könnt ihr mir zusichern, daß die Hexe mit meiner Tochter nicht Böses im Schilde führte … beziehungsweise es bereits ausführte?« Owain Glyndwr hob die Brauen. Er stand vor dem Spiegel seines Gemachs und stutzte sich mit einer Schere einige aus den Nasenöff nungen wuchernde lästige Härchen. Dies war der einzige Ort, an dem überhaupt noch etwas gedieh. Selbst das zu seiner Robe gehöri ge Barett bedeckte sein kahles Haupt nur unzulänglich. »Was treibt dich zu dieser Frage?« Drefach druckste herum und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß, Ihr steckt mitten in den Vorbereitungen, aber … könntet Ihr mich kurz nach Hause begleiten?«
»Wenn du mir sagst, wozu.« »Eiddyd …« »Ja?« »Sie ist … gewachsen!« Damit sagte er Owain Glyndwr nichts Neues. Dem Priester war schon längst aufgefallen, daß der Säugling eine gar wunderliche Entwicklung an den Tag legte. »Du bist von gutem Schlag – und deine selige Frau war es eben falls, sonst hätte sie dir nicht zuvor sechs gesunde Kinder geboren. Bei diesem Erbe entwickelt sich deine Tochter also doch besser als von dir befürchtet! Als ich heute früh –« »Ihr versteht mich nicht recht«, wurde er von Bart Drefach unter brochen. »Sie wächst! Sie paßt fast nicht mehr in ihre Wiege und hat bereits die Länge meiner zweitjüngsten Tochter erreicht, die diesen Monat eineinhalb Jahre alt wurde! Und es ist nicht nur das allein. Ihre kränkelnde Art ist immer noch sichtbar. Doch eigentlich müßte sie längst tot sein!« Owain Glyndwr packte ihn an beiden Armen und wies ihn scharf zurecht: »Was redest du da? Du vergißt dich, Bart Drefach!« Der Witwer und Vater von – Eiddyd eingeschlossen – sieben Kin dern ließ sich nicht beirren. »Begleitet mich, bitte! Dann werdet Ihr wissen, was ich meine! Es ist schwerlich in Worte zu fassen …« Eine steile Furche erschien auf Owain Glyndwrs Stirn. »Du willst ihr doch nicht – die Taufe verweigern? Heute früh verlangtest du noch, daß ich …« »Kommt mit!« Drefach unterbrach und drängte erneut. »Seht selbst, dann beratschlagen wir gemeinsam, was zu tun ist. Ich will jedenfalls nicht, daß Gerüchte in Umlauf kommen …« »Gerüchte?«
»Ihr wißt schon. Es ist leicht etwas gesprochen, das sich nicht mehr zurücknehmen läßt. Wenn man erst allgemein weiß, daß Eiddyd bei der Hexe Schaden genommen hat, fällt der Ruch leicht auch auf den Rest der Familie …« Owain Glyndwr verstand Drefachs Beweggründe. Er legte die Schere zurück in ihre Schublade der Kommode. Kurz darauf brach er eiligen Schrittes gemeinsam mit dem Witwer auf. Natürlich blieb dies nicht unbemerkt. Aber Drefach mußte selbst wissen, was er tat. Es gab viele Wege, einen Kessel zum Hochkochen von Gerüchten anzuheizen … Als sie Drefachs Bauern-Cottage erreichten, scheuchte der Witwer zuallererst die anderen Kinder zum Spielen nach hinten in den Hof. »Recht so!« Owain Glyndwr nickte lobend. Seite an Seite traten sie an die Wiege. Der Geistliche konnte nur mit Mühe einen Laut unterdrücken, als er Eiddyd erblickte. Drefach bemerkte seine Erstarrung mit Genug tuung und Schaudern zugleich, bestärkte Owain Glyndwrs Reaktion ihn doch in seiner Einschätzung. Der Pfarrer von Llandrinwyth überwand sich und beugte sich leicht über die offene Wiege, in der das bleiche, blonde und bei aller Hagerkeit immens gediehene Mädchen ganz still ruhte. Es sah zu Owain Glyndwr hoch und – lächelte. Engelsgleich. Nur die Zähne paßten nicht zu einem Engel. Die Zähne paßten auch zu keinem Neugeborenen, und gewiß nicht solche Zähne … Owain Glyndwr wandte sich abrupt an Bart Drefach: »Du hattest recht! Es ist nicht mehr Gottes Kind – die Satansbuhlerin hat ihre Saat darein gesät. Wir müssen …«
Drefachs Finger krallten sich in seinen Arm. »Ja?« In seinen Augen flackerte es. »Zu keinem ein Wort!« flüsterte Owain Glyndwr. »Hole ein Beil und spitze einen kurzen Pfahl zu. Schnell! Wenn du fertig bist, schaffe mir beides herbei!« Bart Drefachs Augen flackerten noch stärker. »Ihr seid sicher, ihr wißt – was Ihr tut?« »Sie ist verderbt!« nickte Owain Glyndwr. »Du siehst es doch selbst! Dieses Haus – vielleicht das ganze Dorf – ist auf ewig ver flucht, wenn wir nicht unverzüglich handeln!« Drefach taumelte benommen, aber gehorsam nach draußen. Durch die angelehnte Tür hörte Owain Glyndwr ihn um das Haus herum stapfen, wo die Geschwister des Wiegenkindes spielten. Es lächelte immer noch zutraulich zu Owain Glyndwr empor. Er zeigte keine Regung. Als Drefach mit dem Dingen zurückkehrte, die Owain Glyndwr verlangt hatte, nahm der Geistliche das Beil und drehte es, bis er den stumpfen Teil wie einen Hammer führen konnte. Dann hob er auch den spitzen Pflock und machte ein Ende.
* Mit geschlossenen Lidern wartete er auf die vernichtende Kraft toter Hände. Toms Rücken und Hinterkopf waren gegen eine unsichtbare Bar riere gepreßt, die keinem noch so heftigen Druck nachgab. Als das Sterben weiter auf sich warten ließ, öffnete der Junge wie der zaghaft die Augen.
Was er sah, ließ ihn zunächst an seinem Verstand zweifeln! Die junge blonde Frau, die er aus den Augen verloren hatte, war aus einem der letzten Häuser des Dorfes getreten und überquerte nun ungeachtet der hohen Zahl tödlicher Horrorgestalten die Straße, um zu einem Cottage auf der gegenüberliegenden Seite zu gelan gen. Ihr Weg führte dabei mitten durch den »Belagerungshalbkreis« um Tom! Das wahrhaft Verrückte dabei war aber, daß die Toten und Skelet te erst innehielten – und dann bereitwillig eine Gasse freimachten! Die Frau wandelte unbehelligt dahin. Ihre Augen waren immer noch weiß wie die einer Blinden, doch Tom war sicher, daß dies nicht der Grund dafür war, daß sie die Toten nicht fürchtete. Sie mußte sehr wohl sehen können, sonst hätte sie sich nicht so zielsi cher bewegen können. Er nutzte das vorübergehende Innehalten der Leichen und heftete sich an die Fersen der Frau. Sie war aus einem der Häuser gekom men und betrat nun das nächste. Toms Erleichterung kannte keine Grenzen, als er merkte, daß seine Rechnung aufging. Einen knappen Meter hinter der Frau war er für die Toten offenbar »unantastbar« – wie die Frau selbst. Niemand folgte ihnen in das Cottage, so daß sich Tom zum ersten mal fast entspannte. Reichlich fassungslos wurde er dann aber Zeu ge dessen, was seine Lebensretterin hier tat. Sie ging schnurgerade auf den Wandspiegel zu – und zertrümmer te ihn mit dem erstbesten Gegenstand, dessen sie habhaft wurde! Splitter und Scherben regneten zu Boden. Die blinde Sehende aber wandte sich ab und strebte ohne weiteren Aufenthalt dem Ausgang zu.
* Hinter den Spiegeln Sie verließen den zum Kerker umfunktionierten Stall, nachdem Clough Corwen das Kommando, das ihn abholen wollte, nach allen Regeln der Kunst »versorgt« hatte. Die persönliche Genugtuung, als er den Schergen des geheimnisvollen Rerraf Reh Resnu Fetzen ihrer eigenen Kleider als Knebel zwischen die Zähne geschoben hatte, war unübersehbar gewesen. Rerraf Reh Resnu … Lilith hatte noch keine Zeit gefunden, nähere Erkundigungen über die Person einzuziehen, die sich hinter diesem merkwürdigen Na men verbarg. Der Morgen graute, und sie mußten sich sputen, den Ort ihrer Ge fangenschaft unentdeckt zu verlassen. Lilith vertraute – gezwunge nermaßen – darauf, daß Clough Corwen auf seine Flucht hingear beitet und sich auch Gedanken über das »Danach« gemacht hatte. Auf ihre Frage, wie lange er bereits unter Verschluß gehalten wor den war, hatte er zwei Tage angegeben. Das Dorf lag still. Nur oben bei der Kirche meinte Lilith seltsame Klänge und hinter den Bleiglasfenstern entlanggeisternden Licht schein zu bemerken. Als Clough Corwen sah, wohin sich ihr Blick gewandt hatte, fluchte er mit gesenkter Stimme, aber ansonsten völ lig ungeniert. Der Stall war Bestandteil eines von der Straße etwas zurückver setzten Anwesens. Aus Vorsichtsgründen brachten sie noch ein wei teres Stück Distanz zwischen sich und die Häuser und flohen über
feuchten Wiesengrund und Gärten, die sich hinter jedem Anwesen erstreckten. Zwischenzeitlich glaubte Lilith von irgendwoher das Murmeln eines Bachlaufs zu hören. Llandrinwyth selbst sah aus dieser Entfernung und im zögernd grauenden Morgen geradezu unwirklich friedlich aus. Unwirklich war überhaupt eine treffende Vokabel. Für alles. Letztlich auch für die Tatsache, daß es Llandrinwyth in der Wirk lichkeit, aus der Lilith kam, nicht einmal mehr in Ruinen gab! Der Kelch, rief sie sich ins Gedächtnis. Ich kam wegen des Kelchs! Unwillkürlich stoppte sie ihren stummen Marsch im Mondschat ten der Häuser. Clough Corwen jedoch stapfte unbeeindruckt weiter, bis ihr Fau chen ihn einholte: »Wohin geht eigentlich unsere ›Reise‹…?« Er wandte sich zu ihr um. Wie er im Sternenlicht dastand, wäre er das geborene Opfer für ih ren immer heftiger auf seine Rechte pochenden Hunger (oder den des Symbionten!) gewesen. Ware. Das Fatale war, daß Lilith immer mehr fürchtete, auch künftig zu versagen, wenn sie ihren Hunger stillen wollte. Es ging allmählich um ihre nackte Existenz, und irgendwann – in nicht allzuferner Zu kunft – würde sie ihre Rücksicht ablegen und einfach riskieren müs sen, daß der Symbiont sich vielleicht erneut als Killer entpuppte! Sie hatte keinerlei verläßliche Erfahrungswerte, wie lange sie ohne eine Blutmahlzeit auskommen konnte. Aber sie bekam allmählich ein Gefühl für den Durst, der sie quälte. Er steigerte sich von Minute zu Minute. Der Moment, wenn sie wie von Sinnen alles tun würde, um die Qual zu beenden, war absehbar.
Clough Corwen ahnte von alldem nichts. Als er jetzt langsam zu ihr zurücklief, wirkte er eher verärgert. »Wir sollten eines klarstellen«, sagte er. »Ich bin nicht scharf auf Gesellschaft! Du wolltest dich mir anschließen – dann aber nach mei nen Spielregeln!« Sie verkniff sich eine geharnischte Erwiderung. Sie hatte längst er kannt, was ihre Suggestivkräfte hier wert waren: nichts. Wenn sie bei Corwen etwas erreichen wollte, dann ging es nur über Charme. Und auch nur dann, wenn dieser Prototyp eines Holzfällers für sol cherart Feinsinn überhaupt eine Antenne besaß! Lilith bezweifelte es. »Egoist!« murmelte sie. »Was?« Komm! lockte ein böses, kleines Teufelchen in ihrem Kopf. Komm noch ein kleines Stückchen näher … Mein ›Kleid‹ würde sich freuen …! Sie meinte es nicht ernst. Aber es war ihr ein Bedürfnis, sich einzu reden, es doch so zu meinen! »Ich wollte lediglich wissen, ob es ein Ziel gibt«, knirschte sie. »Ist das zuviel verlangt?« »Mir ist alles zuviel«, knirschte er zurück. »Ich weiß nicht, ob das in deinen hübschen Schädel geht, aber ich bin so gut wie tot! Rerraf Reh Resnus Anhänger werden zur Jagd auf mich blasen und nicht eher Ruhe geben, bis sie mich dorthin gebracht haben, wo er über mich richten wird!« Er war wirklich ein Egoist. Aber immerhin hatte er auch ihre Ket ten entfernt. »Und wo haust dieser mysteriöse Richter, vor dem sich alle ›Gu ten‹ fürchten?« fragte sie abfällig. »Du bist doch gut …?« Clough Corwen stemmte die Fäuste in die Hüften. Kopfschüttelnd
versetzte er: »Er ›haust‹ oben in der Kirche! Dort, von wo du angeb lich kamst …« »Nicht angeblich.« »Dann müßtest du ihm begegnet sein!« Ehe Lilith etwas erwidern konnte, drehte er sich wieder um und setzte seinen unterbrochenen Marsch fort. »Wir sollten uns beeilen. Es wird gleich hell. Ich hoffe, Morddred verwechselt uns nicht mit irgendwelchem Ungeziefer, das er ausmerzen muß, dieser verrückte Hund …!« Lilith folgte mit zweispaltigen Gefühlen. Den Namen Morddred hörte sie zum ersten Mal. Im ersten Morgenlicht näherten sie sich schließlich wieder dem Dorf, das entlang einer einzigen Straße errichtet war. Der Kirchberg erhob sich darüber. Clough Corwen marschierte geradewegs auf das letzte Haus am Dorfeingang zu. »Hier warten wir den Tag ab«, weihte er Lilith in eine von ihm längst entschiedene Sache ein. Und fügte ungewöhnlich einschmei chelnd hinzu: »Vielleicht wurdest du mir ja als eine Art Fingerzeig des Schicksals gesandt – vielleicht bist du doch zu etwas nütze. Nun ja, wir werden sehen …« Lilith zügelte mühsam Zunge und Temperament. Sie hatte gute Lust, Clough Corwen ein modernes Frauenbild einzutrichtern, muß te sich aber eingestehen, daß dies in dieser Umgebung – in dieser Zeit – vielleicht doch nicht ganz angebracht gewesen wäre. Sie fiel etwas zurück und beobachtete, wie Corwen sich dem Haus von hinten näherte und leise gegen eines der Fenster klopfte. Eine Weile geschah gar nichts. Alles – erfreulicherweise auch in der Nachbarschaft – blieb dunkel. Dann entzündete sich hinter dem Fenster, das Corwen mit seinem breiten Rücken fast verdeckte, matter Lichtschein. Ein Schatten er schien im Fensterkreuz.
Corwens Gesicht wurde von innen angeleuchtet. Lilith erwartete jede erdenkliche Reaktion. Auch daß der Bewoh ner dieses Hauses bei Corwens Anblick Zeter und Mordio schreien würde. Statt dessen wurde die rückseitige Tür kurze Zeit später aufge sperrt, und eine gebeugte Gestalt winkte Corwen wortlos herein. Corwen wiederum winkte Lilith. Sie zögerte, weil sie den buckligen, in einen schäbigen Mantel gehüllten Alten nicht zu Tode erschrecken wollte. Doch als sie end lich folgte, schien Corwen Morddred bereits über sie unterrichtet zu haben. Auch, daß sie niemanden in ihre Nähe ließ. Beide erwarteten Lilith fernab der Tür, und der Alte setzte gerade mit krächzender Stimme zu dem Zuruf an, sie solle die Tür hinter sich verriegeln, als er jäh innehielt und sie aus blassen Augen anstarrte wie ein leibhaftiges Gespenst! Dann krümmte er sich, senkte den Blick zu Boden und brabbelte unverständliches Zeug. Zudem zitterte er am ganzen Leib. Selbst Corwen schien von diesem Verhalten überrascht, obwohl er sich beeilte, Lilith zu erklären: »Daraus darfst du dir nichts machen, Hübsche. Es ist kein Geheimnis, daß Morddred nicht mehr alle Tas sen im Oberstübchen hat. Ständig faselt er von einer ›Katastrophe‹, an die sich außer ihm niemand erinnert. Aber er ist ein lieber Kerl, und ich ziehe ihn jederzeit jedem anderen in Llandrinwyth vor. Viel leicht gerade wegen seines Dachschadens. Und keine Angst: Er krümmt keinem Menschen auch nur ein Härchen – die einzigen, die sich vor ihm in acht nehmen müssen, sind Ratten. Die stöbert er überall auf, im ganzen Ort, und richtet sie dann regelrecht hin. Kein Mensch weiß, woher er diese Abneigung hat. Aber man läßt ihn ge währen, weil er einen größeren Erfolg vorweisen kann als jede Katze
… Jetzt komm endlich ganz herein und mach die Tür zu!« Der seltsame Kauz mied ihren Blick immer noch, als Lilith ihm und Corwen in die Wohnstube gefolgt war. Das Haus war groß. Außer diesem besaß es sicher noch vier, fünf weitere Räume. In einem Kamin schwelte noch etwas Glut, die Morddred sofort zu schüren und mit trockenen Scheiten zu belegen begann. Selbst diese Tätigkeit aber wirkte, als würde er sie nur ver richten, um sich mit einem plausiblen Grund von Lilith abwenden zu können. »Setz dich!« Corwen wies auf einen langen, klobigen Tisch mit mehreren Stühlen. Als Lilith Platz genommen hatte, setzte er sich ungeniert unmittel bar neben sie. Sie öffnete den Mund zur Erneuerung ihrer Warnung, aber er wehrte barsch ab. »Willst du enden wie er?« Sein Nikken deutete zu Morddred, der den Anschein erweckte, als wollte er die ganze Nacht vor dem Feuer verbringen und nichts anderes sehen und hö ren als die Flammen und das Knistern, mit dem sie das Holz ver schlangen. »Hör auf, die Unnahbare zu spielen! Ich tu’ dir schon nichts!« »Darum geht es nicht«, sagte sie. Der Symbiont verhielt sich ma nierlich. Noch. »Nicht?« Sein Blick glitt über Schränke und Regale. Offenbar wur de er fündig, denn er sprang noch einmal auf und fischte sich einen Krug und zwei Tassen von einer Anrichte. »Worum dann?« Lilith maß ihn mit kühlem Blick. Er war gerade wieder im Hinset zen begriffen, als sie sagte: »Ich will nicht, daß du sterben mußt.« Seine Sprachlosigkeit währte nur kurz. »Oha! Hast du das gehört, Morddred?« Und wieder an Lilith gerichtet, erkundigte er sich süffi
sant: »Sollte das gerade eine Drohung sein? Nur, damit ich weiß, ob ich mich jetzt fürchten muß …« »Du bist ein Narr, Clough Corwen! Du nimmst nur dich selbst ernst – das ist dein Problem.« »So? Findest du?« Mit den Zähnen zog er den Korken aus dem Krug und füllte beide Tassen bis zum Rand. In diesem Moment zischte der bucklige alte Morddred, immer noch vor dem Kamin kauernd: »Hexe!« Obwohl er den Blick nicht von den Flammen wandte, war nicht mißzuverstehen, wen er meinte. Lilith hielt den Atem an. Selbst Corwen schien perplex. Er nahm es zum Anlaß, sich erneut zu erheben und vor den Kamin zu treten, wo er sich bückte und Morddred den Arm um die Schultern legte. Er drückte ihn gutmütig und alberte: »He, Alter! Was ist denn in dich gefahren? So kenne ich dich gar nicht …« Der Besitzer des Hauses ging nicht auf die anbiedernde Freund lichkeit ein. Spätestens jetzt kamen Lilith ernsthafte Zweifel, den von Corwen angekündigten Schwachsinnigen vor sich zu haben. Die Gänsehaut, die sein Ausruf erzeugt hatte, wich nur zögernd. Als Corwen an den Tisch zurückkehrte, zog er ein fast beleidigtes Gesicht. Offenbar machte er Morddred und Lilith dafür verantwort lich, daß ihm seine im Aufwind befindliche Laune wieder verdorben worden war. Wortlos suchte er Zuflucht im Alkohol. Nacheinander kippte er die Inhalte beider Tassen, von denen eine wohl ursprünglich für Li lith gedacht gewesen war, die Kehle hinunter. Die Hemmungslosig keit, mit der er seinen Durst stillte, führte ihr drastisch ihre Situation vor Augen.
Unruhig rutschte sie auf dem Stuhl hin und her. Um sich abzulen ken (auch von Morddred), sagte sie: »Ich weiß immer noch nicht, was du vorhast. Wie sehen deine Pläne aus?« Als er schwieg und sich statt dessen neu einschenkte, wiederholte sie ihre Frage. Er leerte die Tassen und lachte nur vielsagend. In diesem Moment begriff Lilith, daß er überhaupt keine Pläne hatte. Und die »Erklärung«, die er sich wenig später abrang, bestätigte dies: »Meine Pläne sehen so aus, daß ich mich hier so volllaufen las se, bis ich von dem, was Rerraf Reh Resnu oder seine Anhänger mit mir anstellen werden, nichts mehr merke! – Genügt dir das?« Er wollte erneut nach dem Krug greifen. Aber Lilith war schneller. Sie nahm das Gefäß und schleuderte es gegen die nächste Wand. Es verfehlte knapp einen Spiegel. Einen Spiegel. Lilith fühlte sich magisch davon angezogen. Sie vergaß ihre ge samte restliche Umgebung. Ein Spiegel hatte sie hierher entführt – in eine Wirklichkeit, die sich, was das kalendarische Datum anging, um gut zweieinhalb Jahrhunderte von ihrer Realität unterschied. Aber obwohl Lilith immer noch nicht glauben mochte, daß sie »durch die Zeit gereist« war, keimte Hoffnung in ihr auf, daß ein an derer Spiegel als der zerstörte in der Pfarrei sie vielleicht wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückbringen könnte. »Der Abdruck des Kelchs ist in jedem Spiegel«, erinnerte sie sich an Corwens Worte. Danach suchte sie zuerst, als sie vor den schlicht gerahmten Wandspiegel trat. »Tatsächlich …!«
Sie hatte das alles schon einmal erlebt. Sie war jetzt ganz sicher. Dieser Spiegel zeigte – anders als die Spiegel, die Lilith vor dem Be treten von Llandrinwyth kennengelernt hatte – ihre gestochen schar fe, nur eben spiegelverkehrte Wiedergabe. Aber nicht nur das … »Probleme?« Corwens Stimme ernüchterte sie. Wenn der Alkohol seine Zunge betäubte, so hörte man es nicht. »Wären Sie genauso auskunfts- wie trinkfreudig«, stichelte sie, während sie vorsichtig die Hand nach dem Glas ausstreckte, »wür den wir uns vermutlich besser verstehen. Sie scheinen einiges zu vertragen …« »Das muß ich auch. Ich habe mein Brot damit verdient, ehe Rerraf Reh Resnus Leute sich meiner annahmen …« »Mit Trinken?« »Mit dem Ausschank von Getränken. Ich habe … hatte ein Wirts haus. Und als Wirt wird es einem übelgenommen, wenn man seine Gäste allein trinken läßt …« Lilith hörte kaum noch zu. Der Kelch schwebte vor ihr wie oben in der Pfarrei. So täuschend echt, daß sie wiederum meinte, nur da nach greifen zu müssen, um … Sie griff danach. Sollte es so einfach sein? Ein heiler Spiegel, und sie konnte dorthin zurück, von wo sie nicht ganz freiwillig gekommen war? Das Dorf der Toten war nichts Erstrebenswertes, aber es erschien ihr in vielerlei Hinsicht realer als die Umgebung, in der sie sich jetzt aufhielt. Und wenn sich hier bestätigte, daß sie tatsächlich auf die andere Seite der Spiegel gelangt war, befand sich dort noch immer Beth.
Allein. Allein unter einem Heer von Toten, die durch die Straßen schli chen und auf Dauer gewiß auch vor der Kirche nicht haltmachen würden …! Liliths Fingerspitzen erreichten das Glas. Als sie es berührten, ge riet es in Unruhe wie eine Wasserfläche, in die ein Stein gefallen war. Sie war fest überzeugt, bereits ein Stück weit eingedrungen zu sein, als etwas geschah, das sie wie ein Elektroschock durchfuhr und ih ren Instinkten riet, die Hand unverzüglich zurückzuziehen! Sie tat es. Gerade noch rechtzeitig. Im nächsten Augenblick zerbarst der Spiegel vor ihr lautlos in Stücke, ohne daß eine einzige Scherbe aus dem Rahmen fiel! Es war der haargenau gleiche Vorgang wie in der Kirche: Auch hier schien das Netzwerk der Zerstörung irgendwo hinter dem Glas zu liegen. Als ob … »Was, zur Hölle, hast du getan?« Clough Corwens Stimme und der alkoholgetränkte Atem waren genau neben ihrem linken Ohr. Aber die Gefährdung des Mannes durch den Symbionten trat völ lig in den Hintergrund, weil Lilith plötzlich schwante, was gerade vor ihren Augen passiert war. Es war nur eine Spekulation. Wenn sie aber zutraf, bedeutete es, daß jemand auf der »anderen Seite« ihre Rückkehr dorthin mit allen Mitteln verhindern wollte! Wenn zutraf, was sie glaubte, dann hatte dort gerade jemand das Gegenstück zu diesem Spiegel … zertrümmert! »Bei allen Geistern. Wie – hast du das gemacht?« Corwens Stimme
schwankte nun doch. Aber der Alkohol war dabei nicht im Spiel. »Ich habe gar nichts gemacht!« »Ich sah doch –« »Hexe!« keuchte Morddred abgehackt im Hintergrund. »Hexe! Hexe! Hexe!« Lilith wartete kurz, dann berührte sie den Spiegel erneut. Er war nun völlig undurchlässig. Auch der Lilienkelch war verblaßt und nur noch in Umrissen erkennbar. Dennoch wollte Lilith dieses Erlebnis nicht als Niederlage verbu chen. Es hatte ihr immerhin aufgezeigt, daß es mit etwas Glück auch einen Weg dorthin zurück gab, wo Beth geblieben war: in die Pur purwelt. Ins Dorf der Toten. Irgendwo in diesen Häusern, wo dem Mysterium namens Rerraf Reh Resnu gehuldigt wurde, mußte doch wenigstens ein einziger noch intakter Spiegel zu finden sein …!
* Obwohl draußen längst der helle Tag angebrochen war, blieben die Fensterläden von Morddreds Haus geschlossen. Zumindest in dem Raum, wohin Lilith und Clough Corwen sich zurückgezogen hatten. Lilith hörte Corwens Atem im Dunkel. Obwohl der Symbiont sich bislang fügte, lag Lilith am einen Ende des Zimmers auf einem pro visorischen Lager und der Wirt am anderen. Ohne Wissen um die Hintergründe mußte er immer noch glauben, Lilith fürchte sich vor Zudringlichkeiten. Das Gegenteil war der Fall! Sie sehnte sich nach Zudringlichkeit!
Inzwischen war sie schier außer sich vor Hunger und Durst – oder dem, was Hunger und Durst bei einem Menschen gleichkam. Zwei Seelen stritten in ihrer Brust. Die eine verlangte vehement die Aufgabe aller Rücksichtnahme und zumindest den Versuch, sich von Corwen oder einem anderen Menschen aus Fleisch und Blut zu holen, was sie zum Überleben brauchte. Die andere wehrte sich dagegen, weil die Gefahr, daß der Symbi ont erneut zuschlug, nicht von der Hand zu weisen war. Es war zum Verrücktwerden! An Schlaf jedenfalls war nicht zu denken. Zumal ein nicht geringer Teil von Liliths Verstand sich mit ihrem anderen Problem beschäftig te: der Rückkehr zu Beth in die Purpurwelt – und von dort aus wei ter in die Zeit und Wirklichkeit, der sie entstammten. Bei alledem versuchte Lilith, nicht völlig aus den Augen zu verlie ren, daß sie Llandrinwyth wegen des Lilienkelchs aufgesucht hatten – sie und Beth. »Schläfst du?« Corwens Stimme durchschnitt ihre Gedanken. »Ja.« Sie hörte, wie er die Decke, mit der er sich eingehüllt hatte, zu rückschlug. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß er näherkroch, ohne sich aufzurichten. Die scharfe Zurechtweisung, die auf Liliths Zunge lag, verließ nicht ihren Mund. Irgend etwas in ihr hoffte regelrecht, daß er ihr die Entscheidung erleichterte. Clough Corwen tastete sich an ihrem Bein hoch und lehnte sich wenige Zentimeter von ihr entfernt in der Dunkelheit gegen die Wand. Er war voll bekleidet. Dennoch spürte Lilith, was ihn zu ihr
trieb. Sie konnte sein angespanntes Gesicht sehen. Den Glanz seiner Augen. Er war ihr nie näher gewesen. Seine Augen. Seine Hand berührte ihren Arm. Lilith erstarrte. Nicht wegen der Berührung. Es lag an seinen Augen … »Schon gut …« Corwen mißverstand erneut ihre Beweggründe. Ein Wunder war es nicht. »Ich hoffe, nicht schon der Versuch ist strafbar …« »Blödmann!« raunzte sie. »Bleib!« Er hatte bereits Anstalten gemacht, zu seinem Lager zurückzukrie chen. Nun sank er wieder zurück. »Was denn jetzt? Hüh oder hott?« »Deine Augen«, sagte sie. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, daß er nicht wissen konnte (und auch nicht wissen sollte), daß sie im Dunkeln sehen konnte. Sie räusperte sich. »Vorhin fiel mir etwas darin auf …« »So?« Corwens Miene lockerte sich. »So tief hast du hineinge schaut?« »Es – ist dasselbe wie bei den Spiegeln«, sagte sie. »Du meinst, genauso … kaputt?« Sie konnte ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. »Nein. Ich meine den Kelch! Ich konnte ihn darin sehen – in deiner Iris!« Er zuckte die Achseln und schien nichts Besonderes daran zu fin den. Er sagte: »Ich gestehe, ich habe bei dir nicht darauf geachtet. Aber eigentlich ist es … normal.« Mit plötzlichem Eifer packte er Li lith am Arm und zog sie hoch. Ohne jede Rücksichtnahme ging er mit ihr in einen hellen Nebenraum und stellte sich vor sie. Noch deutlicher als zuvor sah Lilith den Abdruck des Kelchs auf
seiner Netzhaut. Ebenso deutlich sah Corwen nichts dergleichen in ihren Augen! »Es ist logisch«, sagte er und klatschte sich den Handballen gegen die Stirn. »Ich muß ein Narr gewesen sein, das die ganze Zeit zu übersehen! Du bist nicht aus dem Dorf, ich sah dich niemals zuvor. Du kommst von jenseits des Tals … Also gibt es doch eine Möglich keit, zu fliehen. Was man sich erzählt, stimmt nicht!« »Was man sich erzählt?« fragte Lilith. »Daß es eine Grenze gibt. Etwas … Unsichtbares, das uns hier fest hält in Rerraf Reh Resnus Einflußbereich!« Der Griff seiner Hand an ihrem Arm wurde noch härter, als er hervorstieß: »Oder sollte stim men, was der Alte brabbelt? Bist du eine Hexe? Woher kommst du?« »Ich bin keine Hexe!« Sie streifte seine Hand, die ihr Schmerz be reitete, ab. Ihr Tonfall schien ihn zu überzeugen. »Und obwohl ich, wie du richtig bemerkst, nicht aus Llandrinwyth stamme, bin ich nicht den Weg gekommen, den du meinst!« »Welchen sonst?« Sie wußte, daß es zwecklos war, ihm die Sache mit den Spiegeln erklären zu wollen. »Das spielt keine Rolle.« »Oh, für mich und einige andere, die unter Rerraf Reh Resnus Fuch tel stehen, schon!« »Die ›Guten‹…«, sagte Lilith. »Die Guten!« bestätigte er ernsthaft. »Wir wären längst von hier geflohen, wenn es nicht die tödliche Barriere gäbe, von der man sich überall erzählt …« »Das glaubt ihr, ohne es überprüft zu haben?« »Es gab solche, die es nicht glauben wollten … Sie verschwanden aus dem Dorf, aber spätestens einige Tage später sahen wir sie wie
der. Bestraft. Von ihm!« »In welcher Weise … bestraft?« Corwens nächste Worte führten Lilith auf eine unerwartete Spur: »Tot. Ihre Hälse wiesen Bißmale auf, und ihre Körper waren völlig ausgeblutet …«
* Rerraf Reh Resnu … ein Vampir? Es hörte sich sehr danach an! Ein Vampir, der den Kelch einst raubte und vielleicht immer noch in seinem Besitz verwahrte …? Es war logisch. Darum also hatte Landru das Kleinod nirgendwo auf der Erde finden können. Weil es nicht mehr im Diesseits war, sondern hier, in einer Welt hinter den Spiegeln. Aber warum hätte ausgerechnet ein Vampir ein solches Verbre chen gegen sein Volk begehen sollen? »Was hast du? Schockiert es dich so sehr?« Ihr Nicken log. Sie fragte sich vielmehr, warum Rerraf Reh Resnus Schergen – oder er selbst – sich ihr gegenüber nicht anders verhalten hatten, nachdem sie den Toten mit den Vampirmalen des Symbion ten entdeckt hatten. Es hätte sie mißtrauisch machen müssen, wenn sie Blutsauger kannten oder selbst welche waren … »Wie wäre es«, fragte Lilith und lenkte Corwen wieder in das dunkle Zimmer zurück, weil sie nicht den Wunsch verspürte, Mord dred zu begegnen, »wenn wir einen Pakt schlossen?« »Einen Pakt?« Corwen folgte ihr. Als sich die Tür schloß und nur Lilith ihn weiterhin sehen konnte, wirkte er äußerst verunsichert. »Kennst du das Sprichwort: Eine Hand wäscht die andere?«
Er nickte. »Ja.« »Du hilfst mir, ich helfe dir.« »Wobei?« »Ich erkunde für dich, ob es diese ›Barriere‹ gibt, und du – oder Morddred – besorgst mir einen intakten Spiegel!« »Bist du so eitel?« versuchte er zu scherzen. Aber seine Stimme klang belegt. Ihr Angebot schien ihm offenbar reizvoll genug. »Und wie!« »Wann?« »Nicht vor Einbruch der Dunkelheit. Ich kenne deinen Rerraf Reh Resnu nicht, aber ihn zu unterschätzen ist sicherlich nicht ratsam.« »Ich werde mit Morddred reden. Das Problem ist, ihm begreiflich zu machen, was man von ihm will. Wenn er erst einmal kapiert hat, kann man sich auf ihn verlassen.« Lilith teilte diese positive Einschätzung nicht. Aber sie schwieg. »Ich danke dir«, sagte sie und ging noch einen Schritt weiter. Von Dunkelheit verborgen, näherten sich ihre Lippen seinem Mund. Die sanfte Berührung – diese Zärtlichkeit überhaupt – überraschte ihn. Aber nur einen Moment. Dann ließ er es sich gefallen und um schlang sogar vorsichtig ihren Rücken. Vorsichtig. Wieder wurde Lilith an ihren Symbionten erinnert. Aber es war schon zu spät. Zu spät diesmal, sich selbst zurückzunehmen! Daß Clough Corwen sie auch als Mann erregte und im Normalfall ein passendes hors d’oevre für den späteren echten Appetit gewesen wäre, verdrängte sie angesichts des Ausmaßes, den ihr Blutdurst in zwischen erreicht hatte.
Natürlich ließ sie sich gefallen, daß seine Hände und Lippen for scher wurden. Natürlich erwiderte sie seine Küsse. Aber ihre Lippen glitten zielstrebig tiefer. Sie dachte nicht darüber nach, wie sie ihm den Diebstahl, den sie in Angriff nahm, erklären sollte. Sie dachte überhaupt nicht mehr. Seine Wärme und das Pochen seines Herzens ließen sie alles ver gessen. Ohne Widerstand ließ sie sich zu Boden ziehen. Ließ es ge schehen, daß seine rauhen Hände über ihre Brüste glitten und sein Atem heftiger und heißer wurde. Sie wand sich und stöhnte und steigerte sich in die bekannte Ek stase, während ihr Mund an seinem Hals zu saugen begann und ihr Hirn den Impuls aussandte, der ihre Eckzähne zum Wachsen brach te. Corwen bemerkte von alldem nichts. Er hatte sich auf den Rücken gewälzt und begann nun, sich Hemd und Hose vom Körper zu zer ren. Dabei nutzte er jede Pause, um die Finger erneut über Liliths Körper wandern zu lassen. Lilith erwiderte weiterhin seine Leidenschaft. Als er sich dort ent blößt hatte, wo es am wichtigsten war, streichelte sie sein Glied zu voller Größe, was ihn schon halb um den Verstand zu bringen schi en. Als sie dann über ihn glitt, drang er mit solcher Rasanz und Ge schicklichkeit in sie ein, daß sie einen kurzen Schmerz empfand, der sofort von purer Lust hinweggespült wurde. Mit ihrer Beherrschung aber war es endgültig vorbei. Sie küßte sich zu seinem Hals empor. Die beiden über die Lippen drängenden Eckzähne schienen ihm nicht bewußt zu werden. Wahr
scheinlich fühlte er in diesem Moment nur die feuchte Wärme ihres Schoßes, in den er unkontrolliert zu stoßen begann. Lilith aber löste die Kußlippen von seiner Haut und befahl sich mit aller Macht, ihre Zähne in Clough Corwens pralle Ader zu senken … Vergebens! Wie schon einmal verweigerte sich etwas, das stärker als ihr Selbs terhaltungstrieb war! Und wieder genügte der bloße Schock, Liliths Vampirzähne schwinden zu lassen. Während Clough Corwen nichts von ihrem inneren Kampf merkte und wenigstens ein Verlangen in ihr befriedigte, begriff Lilith, daß diese Seite der Spiegel ihr Verderben werden würde. Auch ohne Ge fahren von außen. Sie war sich selbst zum ärgsten Feind geworden …!
* Als sie erwachte, stand Morddred über ihr. Er hatte mit beiden Hän den und haßerfülltem Gesicht den Lilienkelch umklammert und woll te ihn auf Liliths Kopf niederfahren lassen. Sie konnte sich gerade noch zur Seite rollen. Das dumpfe Geräusch, mit dem das Mordwerkzeug auf den Bo den schlug – und das nicht nach Metall klang, sondern nach Holz –, weckte auch Clough Corwen, der wie von der Tarantel gestochen hochfuhr. Aber seine Augen mußten sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Durch den Türspalt fiel nur spärliches Licht. Genügend offenbar
für Morddred. Und noch ausreichender für Lilith, die als einzige ganz unmißverständlich einschätzen konnte, was geschah. Es fiel ihr dennoch schwer, mit der gewohnten Leichtigkeit zu rea gieren. Allmählich machte sich der Mangel, den sie litt, auch kräfte mäßig bemerkbar. Morddreds erstickter Schrei bewies, daß der verrückte Alte seinen Fehler korrigieren wollte. Wutentbrannt hob er die hölzerne Kelchnachbildung, um wieder zuzuschlagen. Es kam nicht dazu. Corwen stoppte ihn. Unkonventionell, noch im Liegen, mit einem Fußtritt in den Magen. Morddred klappte röchelnd zusammen. Aber das genügte dem Ex-Wirt nicht. Er schnellte hoch, kam zum Stehen und packte den betäubten Alten mit seinen Pranken im Genick und am Hosenbo den. In diesem »Karnickelgriff« trug er ihn nach nebenan ins Licht. Lilith, die im Grunde froh über Corwens Einschreiten war, folgte und sah, daß Corwen flexibler als erwartet war. Er schien bereit, alte Freundschaftsbande bedenkenlos zu kappen. Möglich auch, daß er nach dem, was Lilith ihm »geschenkt« hatte, geradezu die morali sche Verpflichtung sah, ihr beizustehen. Jedenfalls hatte er Morddred in der Mangel. »Bist du jetzt völlig verkalkt und des Wahnsinns?« giftete er den Buckligen an. Morddred starrte an ihm vorbei auf Lilith. Seine Augen loderten. »Sie ist zurückgekehrt! Sie wird uns alle töten …!« Corwen holte mit der flachen Hand aus und wollte ihm ganz of fenkundig eine schmieren. Lilith trat dazwischen. »Nein!« »Hörst du nicht, was er sagt? Hätte ich geahnt, daß er mittlerweile gemeingefährlich geworden ist …«
»Laß ihn! Laß ihn reden!« »Ratten …«, brabbelte Morddred und ballte die Fäuste, ohne ge gen einen Mann wie Corwen auch nur den Hauch einer Chance zu besitzen. »Die Verderbte brachte … Ratten!« »Glaubst du jetzt, daß er gar nicht weiß, was er faselt?« Lilith kehrte in das dunkle Zimmer zurück und hob die aus Holz geschnitzte Nachbildung des Lilienkelchs auf. Als sie damit vor Morddred trat, drehte er mit vorquellenden Augen den Kopf zur Seite. »Hast du das gemacht?« fragte sie. Er bäumte sich unter Corwen auf. Dieser nahm es zum Anlaß, das Gesicht des Mannes mit Nachdruck gegen den Boden zu drücken. »Sie hat dich etwas gefragt!« »Hör auf!« wies Lilith ihn zum zweiten Mal zurecht. Mürrisch lockerte er den Griff, und Morddred drehte sich zögernd wieder ihr zu. Lilith las namenloses Entsetzen in den Augen des Mannes. »Warum hast du diesen … Kelch geschnitzt?« »Weiß nicht …« »Es ist zwecklos«, mischte Corwen sich erneut ein. »Am liebsten würde ich ihm den dürren Hals umdrehen!« »Ich dachte, du seist ein Guter…?« »Ich könnte es kurz vergessen.« »Dann kannst du es auch lang vergessen und gleich zu diesem Rerraf Reh Resnu überlaufen!« Er kniff die Lippen zusammen. Dann ließ er Morddred unvermit telt los und trat zur Seite. »Wenn alles falsch ist, was ich anfasse, kannst du dich ja auch darum kümmern und es besser machen …« Das war offenbar nicht mehr nötig.
Der bucklige Alte kroch zur nächsten Wand, zog die Knie an und umschlang sie mit seinen Armen, als würde er frieren. Mit aufge stütztem Kopf blickte er zu Lilith. Das Feuer in seinen Augen war ein wenig kleiner geworden. Lilith näherte sich ihm angstfrei, während Corwen sich gegen die Stirn tippte. Unmittelbar vor Morddred ging Lilith in die Hocke, bis sie in Au genhöhe des Alten war. »Warum nennst du mich Hexe, und warum wolltest du mich um bringen?« Ihr furchtloses Verhalten schien seine Wirkung auch auf ihn nicht zu verfehlen. Risse bildeten sich im Panzer, mit dem er sich abschot tete. »Weil du – aussiehst wie sie!« Morddred stieß seine Antwort durch die fast geschlossenen Lippen. Sein Atem ging pfeifend über die Bronchien. »Wie wer?« hakte Lilith sofort nach. Zugleich schwindelte ihr vor dem unerhörten Verdacht, der plötz lich in ihr hochspülte. Jemand, der ihr sehr ähnlich sehen mußte, war in Llandrinwyth gewesen. Lilith kannte nur eine Person, auf die dies zutraf. Zugleich war es völlig absurd, denn sie konnte nicht glauben, daß ihre Mutter mit dem Dieb des Kelchs identisch … »Wie die Hexe!« Plötzlich verfiel der Alte in ein Kichern, das wirk lich nur als völlig irre bezeichnet werden konnte. Nach Atem rin gend plapperte er schließlich weiter: »Wir sind alle tot! Das Weib hat uns – umgebracht! Aber wir tun, als würden wir immer noch le ben …!« »Glaubst du mir jetzt?« Clough Corwen stampfte mit dem Fuß auf. »Wir verschwenden nur unsere Zeit!«
»Nein!« widersprach Lilith. »Das tun wir nicht. Solange es hell ist, können wir uns nicht hinauswagen – weder du noch ich!« Er schwieg. »Weiter!« wandte sich Lilith an Morddred. »Erzähl weiter! Alles, was du weißt!« Corwen fluchte abfällig. Für den buckligen Alten schien es ein Ansporn zu sein. »Es – ist nicht wahr, was wir sehen! Was gut war, ist böse – und umgekehrt! Der Fluch der Hexe ist schuld! Erst stahl sie das Kind, und dann …« »Das Kind?« Lilith wurde immer hellhöriger. Es war ihr egal, was Corwen über den Alten dachte. In diesem Moment war sie über zeugt, daß er tausendmal mehr über den Grund wußte, warum Llandrinwyth von den Landkarten verschwunden war, als alle an deren, die sie hier befragen konnte. »Sie … kehrte zurück, als man sie überwunden glaubte! Und mit ihr – kamen die Ratten! Überall Ratten …« »Hatte sie den Kelch bei sich, mit dem du mich erschlagen woll test?« »Der Kelch brachte das Verderben! Sein Licht war es! Sein … Licht …! Er und die Hexe sind schuld, daß wir alle – tot sind …!« Lilith spürte einen Kloß im Hals. Mochte Corwen denken, was er wollte. Sie wußte es besser, daß hinter den Worten des alten Mannes mehr als ein Funken Wahrheit steckte. Und als sie zufällig ihr Kleid streifte, wurde ihr bewußt, daß der Symbiont mit einer Unbedacht heit alles zerstören konnte. Wenn er sich Morddred als nächstes Opfer aussuchte, würde sie nie erfahren, was der Alte noch zu berichten hatte! Sie unterdrückte diese Gedanken. Aus der Ferne konnte sie nicht auf Morddred einwirken. Sie hielt ihn auch ohne Hypnose mit ihren
Augen fest – einfach durch Überzeugungskraft. Sie mußte bei ihm bleiben und es riskieren! »Sah sie wirklich aus – wie ich?« fragte sie gepreßt. Morddreds Kopf wackelte beim Nicken, als würde er gleich von den Schultern purzeln. »Schön wie du!« Lilith sah einen Ansatz. »Also gab es Unterschiede?« »Ihr Haar war anders.« Ihr Herz stolperte kurz. »Blond …?« fragte sie immer ahnungsvol ler. Er verneinte. »Rot wie die Sünde! Und das war sie auch: die Sün de!« Lilith sank vor Erleichterung ein wenig in sich zusammen. Ihre Mutter, Creanna, war blond gewesen. Sie konnte es nicht gewesen sein, zumal Morddred seine Aussage über die Ähnlichkeit auch ganz allgemein relativiert hatte. »Schön« war für ihn offenbar gleichbedeutend mit »identisch« gewesen. Er hatte Lilith angegrif fen, weil er nicht in der Lage gewesen war, vorhandene Unterschie de zu bewerten. »Was genau tat sie?« bohrte Lilith weiter. »Hatte sie einen Namen?« »Nein! – Doch. Die Schwefeläugige… Ist das ein Name?« Lilith nickte eilig, um seinen Redefluß nicht ins Stocken zu brin gen. »Es war … schrecklich!« Er schlug die Hände vor die Augen und begann zu schluchzen. »Sterben ist schrecklich! Ich werde es nie ver gessen …« »Was?« drängte sie. »Was wirst du nie vergessen? Was geschah in Llandrinwyth? Welche Katastrophe, von der du glaubst, sie habe alle getötet …?«
»Die Sonne verfinsterte sich. Aber es wurde nicht – dunkel. Die Ratten … überall waren Ratten …« Lilith versuchte es immer und immer wieder. Aber Morddred schien auch nur über begrenztes Wissen (begrenzte Erinnerung?) zu verfügen. Seine Stimme versiegte. Er schluchzte immer heftiger und ver schanzte sich wieder völlig hinter Schranken, die niemand durch dringen konnte. »Bist du jetzt zufrieden?« fragte Clough Corwen, als sie sich auf richtete, immer noch mürrisch. »Nein«, erwiderte sie. »Nein, das wäre zuviel gesagt.«
* Die Zeit bis zum Einbruch der Nacht füllte Lilith damit, sich von Corwen ein ausführliches Szenario seiner Sicht der Lage in Llandrin wyth entwerfen zu lassen. Berechtigte Fragen seinerseits nach ihrer Herkunft blockte sie ab. Es war nicht fair, aber sie wollte nicht noch größere Komplikationen heraufbeschwören. Was sie erfuhr, war vielfach nicht nachvollziehbar für sie. Corwen, der sich absolut lebendig anfühlte, verwarf Morddreds Andeutun gen ins Reich der Phantasie – und tischte ihr im nächsten Atemzug eine Version auf, die vor Unlogik nur so strotzte. Demnach erinnerte sich niemand in Llandrinwyth an eine etwas fernere Vergangenheit, sondern lebte mehr oder weniger vor sich hin. Die einen in Angst vor dem mysteriösen Rerraf Reh Resnu. Die anderen im Fahrwasser dieses Bösewichts, den Clough Corwen zwar nicht beschreiben konnte, aber sicher zu wissen glaubte, daß er oben in der Kirche hauste. Deshalb war Corwen auch so erstaunt ge
wesen, von ihr zu hören, daß sie schon dort oben gewesen sei. Nach seiner Ansicht gab es für »Gute wie ihn« von dort keine Wiederkehr. Dort richtete Rerraf Reh Resnu! Lilith hatte bei ihrer Ankunft in der Spiegelwelt eine Kirche vorge funden, die völlig verlassen gewesen war – bis auf ein Phänomen, das sie nur schwerlich mit etwas in Verbindung bringen konnte, das sich Rerraf Reh Resnu nannte. Diesen beängstigenden »Wirbel«, der sie aber hatte ziehen lassen. Auch auf Liliths Frage, was denn aus dem Priester der Gemeinde geworden sei, wußte Corwen keine Antwort. Ein solcher Mann kam in seinem Lebensentwurf nicht vor. Es war wirklich verrückt und andererseits schon wieder fast be wunderswert, daß ein Mensch mit solch eingeengter Weltsicht über haupt an eine Flucht über die Talgrenze hinweg nachdachte … Als sich die Dunkelheit über Llandrinwyth und Umgebung senk te, verließ Lilith das Haus. Corwen hatte sie eingeschärft, ihr ja nicht zu folgen. Sie hatte ihre Gründe. Einer davon war, daß er ihr, wenn alles glatt ging, auch nicht hätte folgen können. Sie versuchte eine vampirische Fähigkeit zu entfalten. Da sie sich jedoch kaum noch konzentrieren konnte und schon in anderer Hin sicht versagt hatte, rechnete sie insgeheim auch hier mit Problemen. Wider Erwarten transformierte sie völlig problemlos zu einer Fle dermaus. Augenblicke später erhob sie sich auf ledrigen Schwingen in die Nacht und strebte den fernen Felshängen entgegen. Irgendwo dort vermutete Corwen eine unüberwindliche oder sogar tödliche Barrie re. Über ihre Beschaffenheit hatte er jedoch nichts sagen können. Entsprechend vorsichtig näherte sich Lilith dieser ringförmig um das Dorf liegenden Zone. Die Fledermausgestalt hatte sie nur ge
wählt, um sich einen Fußmarsch zu ersparen. Ansonsten hoffte sie, daß Corwen auch seinen Anteil am Pakt erfüllte und einen verwend baren Spiegel auftrieb. Der Flug verlief ohne Zwischenfälle, bis sie den Hügelkranz er reichte. Zunächst veranlaßte sie ein starker Impuls ihres Instinkts, am Rand der Anhöhe zu landen. Noch ehe es aber dazu kam, erfaßte das körpereigene »Sonarsystem« tatsächlich eine Barriere, wo keine zu sehen war! Lilith flog den Bereich ab, ohne ihm allzu nahe zu kommen. Sie fand heraus, daß sich etwas wie eine »Glocke« über das Tal stülpte. Etwas Festes, das mit bloßem Auge dennoch nicht zu erfassen war! Kurz darauf landete sie tatsächlich an der gerade noch erreichba ren höchsten Stelle des Bergkranzes und verwandelte sich in ihre humanoide Gestalt zurück. Unten im Tal wirkte Llandrinwyth klein und unbedeutend. Nur die aus der Mitte aufragende Kirche verlieh der Häuseransammlung ein wenig Imposanz. Lilith ging mit ausgestreckten Armen durch das feuchte Gras auf die unsichtbare Grenze zu, die sie mit den Echos ihrer Fledermaus stimme ausfindig gemacht hatte. Nun mußte sie sich wieder anders behelfen. Sie hatte alle Mensch-Vampir-Sinne geöffnet und war sich des Risikos bewußt, das sie einging. Zweifel, warum sie sich für an dere in diese Gefahr begab, unterdrückte sie. Auch wenn jenseits der Barriere nichts lag, was sie persönlich weiterbrachte – vielleicht half es den Unterdrückten im Dorf … In diesem Moment stießen ihre Fingerspitzen ohne Vorwarnung gegen das Hindernis. Ein Blitz fuhr in ihren Körper und drohte ihr Gehirn zu zerschmel zen.
Lilith wurde mit solch grauenhafter Wucht durch die Luft ge schleudert, daß sie den Aufschlag schon nicht mehr spürte.
* Als sie zu sich kam, dämmerte bereits der Morgen. Fast mehr erschrocken als über den Energieschlag, der sie bewußt los zu Boden geschmettert hatte, war Lilith über den enormen Zeit verlust. Zugleich wurde ihr klar, daß Clough Corwen nicht übertrieben hatte: Das Tal, in dem Llandrinwyth lag, war hermetisch gegen die Außenwelt versiegelt! Aber welche Außenwelt? Die Vergangenheit vor rund zweieinhalb Jahrhunderten – oder doch auf unerklärliche Weise die Gegenwart, aus der Lilith stamm te? Sicher schien, daß weder ein Mensch noch ein Mischwesen wie Li lith in der Lage waren, die auch im Luftraum gezogene Grenze zu durchstoßen … Corwen würde von dieser Nachricht nicht angetan sein. Aber sie konnte nicht schönreden, was ihn geradewegs ins Verderben ge lenkt hätte! In den letzten Schatten transformierte Lilith erneut zur Fleder maus – und in dieser Gestalt kam ihr ein jäher Gedanke, der sich noch während des Rückflugs durch die nachtklare Luft zu einem Hoffnungsschimmer ausweitete. Statt direkt zu Morddreds Haus zurückzufliegen, suchte sie einen der vielen Ställe der Bauern auf, drang durch eine Lücke ein und ließ sich auf einem von insgesamt drei in einem engen Pferch ste
henden Rindern nieder. In der Fledermausgestalt. Um ersten Halt zu bekommen, verbiß sie sich im Fell des Tieres, grub zugleich die beiden spitzen Fußkrallen in den Körper und überstand mit ausgebreiteten Schwingen auch die nicht sehr ein fallsreichen Abwehrversuche des Rindes. Als sie wenig später die Zähne aus dem Fell löste, quoll sofort ein Blutrinnsal hervor, das Lilith mit Heißhunger – und ohne die bei ih ren menschlichen Opfern erlebten Schwierigkeiten – aufleckte. Geschmack und Energiegehalt waren nicht vergleichbar mit menschlichem Blut. Aber das war ihr in diesen Momenten gleich gültig, weil sie es brauchte und weil es half. Zumindest über die drin gendste Durststrecke hinweg! Die zunehmende Unruhe der anderen Tiere im Stall zwang sie nach einer Weile jedoch zu einem Ortswechsel. Nach drei weiteren Besuchen in anderen Ställen fühlte sie sich wie von einem Trauma befreit und wenigstens wieder in der Lage, Gedanken zu fassen, die nicht unweigerlich bei ihrem Hunger endeten. Beinahe guter Dinge kehrte sie zu Morddreds Haus zurück, wo sie sich in ihre flügellose und um einiges vertrautere Gestalt zurückver wandelte. Sie klopfte leise gegen die hintere Tür, und es war der bucklige Alte, der ihr so schnell öffnete, als habe er direkt dahinter gelauert. Seine Miene ließ nichts Gutes ahnen. Aber wenigstens erwartete er Lilith nicht wieder mit dem Knüppel. »Was ist?« fragte sie. »Wo ist Clough Corwen?« Morddred winkte sie hektisch herein. Er zitterte am ganzen Leib. Überall im Haus brannten Petroleumlampen bei verrammelten Fensterläden.
Überall waren Spuren von Verwüstung. Lilith begriff schneller, als der Alte antwortete. »Hat man ihn – abgeholt?« »Abgeholt!« bestätigte Morddred mit Grabesstimme. Er führte Li lith bis in den Raum, wo Feuer im Kamin brannte. »Und dich haben sie nicht bestraft, weil du ihm Unterschlupf ge währt hast?« fragte Lilith in plötzlich erwachendem Mißtrauen. »Nicht bestraft«, echote Morddred. »Haben … Angst vor mir!« Er kicherte beinahe verlegen und fügte in traurigem Klang hinzu: »Hat aber nicht gereicht, ihn zu schützen!« Daß er Corwen meinte, war klar. »Verdammt! Wann war das? Wann genau?« »Zwei, drei Stunden …« Da hatte sie noch bewußtlos oben auf dem Bergkranz gelegen und hätte ohnehin nichts ausrichten können. Dennoch machte sie sich Vorwürfe. »Wohin haben sie ihn verschleppt? Zur – Kirche?« »Kirche!« Morddred verzog das Gesicht. »Dieser verfluchte Rerraf Reh Resnu …! Du weißt nicht zufällig, wer euch alle tyrannisiert …?« Die Frage war nicht ernthaft gestellt. Und Morddred schien es auch nicht weiter zu beachten. »Habe Spiegel besorgt!« eröffnete er ihr eine andere Großtat. Sofort war Lilith elektrisiert. »Wo?« Er ging zu einer kleinen Kommode und öffnete die obere Schubla de. Als er einen nur etwa handtellergroßen Taschenspiegel und ein Stück Kreide hervorholte, sank Liliths Erwartung auf den Null punkt.
»Das hast du wohl ein klein wenig mißverstanden«, murmelte sie. Morddred jedoch schüttelte heftig den Kopf. Zweifel an seiner Leistung wollte er nicht gelten lassen. Er kehrte zu Lilith zurück und hielt ihr den Spiegel entgegen. Sie nahm ihn und fragte: »Was hast du mit der Kreide vor?« Er setzte sich auf den Dielenboden und begann mit dem, was er wohl für »Schönschrift« hielt, Buchstaben hinzumalen. Indes erkannte Lilith, daß der Spiegel intakt war. Sie konnte sich darin sehen. Und als sie vorsichtig mit dem Finger auf sein Glas drücken wollte, fühlte sie, daß die unerklärliche Durchlässigkeit auch hier vorhanden, nur nicht nutzbar war. Mehr als drei, vier Fin ger paßten keinesfalls durch dieses in Holz eingefaßte »Tor«! Als sie den Blick zu Morddred zurückschweifen ließ, blickte er tri umphierend zu ihr hoch. RERRAF REH RESNU hatte er mit Kreide geschrieben. Lilith zuckte zunächst die Achseln. »So schlau bin ich auch schon«, sagte sie. »Wenn du mir nicht mehr dazu verraten kannst …« Er winkte sie fast herrisch zu sich herunter. Lilith gehorchte mehr aus Mitleid für den Verwirrten. Er aber ent riß ihr den Spiegel und legte ihn vertikal aufgestellt mit der Kante direkt an den Beginn seiner Schreibkünste. Lilith verstand immer noch nicht, bis er aufgeregt rief: »Schau! Schau!« Sie bückte sich tiefer. Und dann sah sie es. Statt RERRAF REH RESNU, wie auf dem Boden, stand in dem kleinen Spiegel zu lesen: UNSER HER FARRER Und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Unter Morddreds Begeisterungsgeheul las sie laut: »Unser – Herr – Pfarrer …!?«
* Sie konnte nicht anders. Sie mußte das Geheimnis – das volle Ge heimnis – um jene Gestalt lösen, die womöglich nicht nur Llandrin wyth unter ihrer Knute hielt, sondern auch für Liliths Sturz in die »Spiegelwelt« verantwortlich war. Unser Herr Pfarrer… »Was gut war, ist böse«, hatte Morddred bei anderer Gelegenheit kluggeredet. War dies der Schlüssel zu allem? Auch dazu, warum der Symbiont plötzlich aus der Rolle fiel? Oder sie nicht mehr in der Lage war, Menschenblut zu trinken? Bislang hatte es immer ausgesehen, als gäbe es eine Art Balance zwischen menschlichem und vampirischem Erbgut in ihr. Aber im mer wieder hatte es Hinweise gegeben, daß der »Vampir in ihr« vielleicht doch ein Übergewicht besaß. Sonst hätte sie sich nicht aus schließlich von Blut ernähren müssen. Sonst hätte sie vielleicht auch andere, vampirtypische Kräfte nie in diesem Maße entfalten können. Hypnose zum Beispiel. Falls aber hier alles umgedreht war, mochte erstmals ihr menschli cher Teil die Oberhand gewonnen und sich hartnäckig gegen die Un terwerfung anderer Menschen gewehrt haben …! Bei Tierblut schien diese moralische Schranke nicht zu bestehen. Schließlich ernährt sich der Mensch vom Tier. Aber Tierblut, das spürte Lilith, obwohl es ihr seither deutlich besser ging, war auf Dauer kein adäquater Ersatz. Sie wollte Tieren nicht absprechen,
ebenfalls eine Seele zu haben. Aber jemand wie sie brauchte die Kraft menschlich beseelten Blutes … Im letzten Dunkel dieser Nacht zog sie durch das stille Dorf hinauf zum Kirchberg. Sie suchte die Konfrontation mit »Rerraf Reh Resnu«. Es schien ihr offensichtlicher denn je, daß der Lilienkelch gerade hier verschollen war! Und sie wollte sehen, was sie für Clough Corwen tun konnte. Wie wenig das war, erkannte sie schon unmittelbar nach Erreichen ihres Ziels. Kaum stand sie vor dem Portal, wurden die Torflügel von innen für sie geöffnet. Eine Gestalt, bei der es sich unzweifelhaft um einen von Rerraf Reh Resnus Anhänger handelte, trat heraus und sagte tonlos: »Willkommen! Tritt ein – du wirst erwartet!«
* Es war keine sakrale Atmosphäre, die sie empfing. Dies war auch keine Kirche mehr! So wenig wie der Pfarrer, der hier wirkte, noch ein Verfechter je ner göttlichen Grundsätze war, die Liliths vampirisches Erbe unter normalen Umständen fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Im Diesseits war der Priester die Verkörperung des Guten gewesen. Hier mußte er das Böse schlechthin sein. Kerzen brannten. Ihr Licht zitterte und verstärkte den Eindruck, daß hier Mächte am Werk waren, die sich der dunklen Seite zurech neten. Niemand bedrängte Lilith gewaltsam, aber sie sah etliche Gestal ten regungslos in den Schatten der Pfeiler stehen, die das Dach tru gen.
Derjenige, der sie eingelassen hatte, war hinter ihr zurückgeblie ben. Es bestand keine Gefahr, daß sie einen falschen Weg einschlagen konnte. Am Ende des Mittelgangs erhob sich das »rotierende Nichts« – jene wirbelnde Leere, der ein Hauch von Purpur anhaftete und die Lilith inzwischen als Quell allen Übels erkannt zu haben glaubte. Unmittelbar davor war eine Gestalt aufgebahrt wie zu einer bevor stehenden Beerdigung. Lilith erkannte ihn im Näherkommen. Es war Clough Corwen. Er war tot! Um Liliths Mund prägte sich ein bitterer Zug. Aber noch schwieg sie. Man hatte Corwen entkleidet. Seine Haut war fahl, das Fleisch ein gesunken. Am Hals waren unmißverständliche Male zu erkennen. Lilith stellte sich neben den Leichnam und streichelte das derbe Gesicht. Die rauhe Schale, die den guten Kern umschlossen hatte. Dabei wurde ihr bewußt, daß – wenn ihre Schlußfolgerungen stimmten – Clough auf der anderen Seite wohl kein so guter Mensch gewesen sein konnte … Die Stimme schwoll so unvermittelt an, daß Lilith zusammenzuck te. »Du wirst es verzeihen! Du kennst den Durst …« Langsam hob sie die Augen zu dem wirbelnden Vakuum (war es das wirklich?), das sich drehte und drehte und dabei nicht den lei sesten Windhauch erzeugte. »Mörder!« sagte sie laut und vernehmlich. »So siehst du es, weil du umgedreht wurdest!« »So sah ich es immer!«
»Du bist eine Vampirin …« Lilith sah keinen Grund, ihn zu belehren. »Und du? Was bist du?« »Eine arme Seele …« Lilith lachte verächtlich. Ihr Blick streifte erneut Clough Corwen. »Ich halte dir zugute, daß du nicht immer so warst. Und daß du viel leicht wirklich auch nur ein Opfer bist.« »Danke. Es erfreut mein kaltes Herz, dein Verständnis zu finden.« Lilith spürte, wie ihre Beherrschung zu bröckeln begann. »Warum bin ich hier?« »Du warst neugierig …« »Wenn du meine Suche nach dem Lilienkelch meinst …« In diesem Moment schien sich der »Schlauch« zwischen Boden und Decke zu krümmen. Es wirkte wie das Aufbrechen einer fast vernarbten Wunde und damit verbundener Qual. »Der Kelch …«, seufzte die Stimme. »Die Wurzel allen Übels …« »Sag mir, was geschehen ist!« »Du willst es wissen? Wirklich wissen?« Der Ton der männlichen Stimme nahm etwas Lauerndes an. »Um es zu erfahren, müßtest du zu mir kommen …« Das klang, als könnte er sie gar nicht zwingen. Aber Lilith gab sich keinen Illusionen hin. Sie wußte nichts über die Stärke dieses Geg ners. Absolut nichts. »Wohin? Steckst du in diesem … Ding?« »Ich bin das Ding«, erhielt sie zur Antwort. Gelächter dröhnte. »Und der Kelch? Wo ist der Kelch?« »Auch hier in mir. Komm und hol ihn dir!« »Welche Garantien gibst du mir?« »Garantien? Du willst etwas von mir. Warum sollte ich Garantien
geben? – Aber würde es dich nicht reizen«, säuselte er, »etwas über deine Herkunft zu erfahren …?« »Was solltest du darüber wissen?« »Alles! Nichts … Vergiß es!« »Das sind billige Versuche, mich locken zu wollen.« Das Gelächter brandete erneut auf. Diesmal war es jedoch unver blümt gehässig. »Darauf bin ich nicht angewiesen«, behauptete Rer raf Reh Resnu. »Du wirst diese Welt – meine Welt – ohnehin nie mehr verlassen. Ich habe Vorsorge getroffen. Es ist meine Rache!« »Rache?« wiederholte Lilith. Das Verwirrende war, daß Rerraf Reh Resnu das, was er äußerte, auch zu glauben schien. Leichter wurde die Auseinandersetzung dadurch nicht. »Ich bin nicht dafür verant wortlich, was dir widerfuhr! Weshalb sollte ich Ziel deiner Rache werden?« »Du bist schuld an meinem Schicksal – zumindest indirekt! Finde dich damit ab, daß es in ganz Llandrinwyth kein offenes Tor mehr gibt, um auf die andere Seite zu gelangen! Es gibt keinen Grund, sich dagegen zu sträuben, zu mir zu kommen. Wir werden eine lange Zeit zusammenbleiben, und wie sich diese Zeit gestaltet, liegt ganz allein an dir …« Wie zur Bekräftigung der Worte erschienen innerhalb des »rotie renden Nichts« plötzlich bewegte Bilder, die Lilith die Kehle zu schnürten. Sie konnte Beth in Begleitung eines gnomenhaften Greises sehen. Die Augen der Freundin schienen erblindet. Sie stand in einem der üblichen Cottages und schlug gerade mit einer gebogenen Eisenstange einen Wand spiegel ein. Danach erlosch die Szene. Rerraf Reh Resnu aber kommentierte: »Das war der letzte. Der letzte heile Spiegel auf der anderen Seite! Du bist für immer gefan
gen in meinem ›Reich‹…!« Lilith schauderte. Sie schauderte wegen Beth’ Anblick, und sie schauderte wegen ih res eigenen Schicksals, das Rerraf Reh Resnu gerade höhnisch skiz ziert hatte. »Du lügst!« sagte sie. Doch sie ahnte, daß er die Wahrheit gespro chen hatte. Er hätte vermutlich gar nichts gesagt, wenn die Aktion »drüben« noch nicht erfolgreich abgeschlossen gewesen wäre und sie noch eine Chance gehabt hätte, diese Welt zu verlassen. Die Konsequenz, für den Rest ihres Lebens hier in diesem Schat tenreich gefangen zu sein, drohte Lilith zu ersticken. Aber vielleicht gab es doch noch einen Fluchtweg. Sie hatte nichts zu verlieren. »In Ordnung«, sagte sie rauh. »Ich werde zu dir kommen. Aber ich verlange Aufklärung darüber, wie es zu dieser … Umkehrung der Realitäten kommen konnte. Wieso ›drüben‹ nur die Toten hausen – und in der Wirklichkeit rein gar nichts mehr von Llandrinwyth ge blieben ist! Kannst du mir das sagen?« »Ich kann«, behauptete die Stimme. Lilith erklomm die wenigen Stufen zum ehemaligen Kirchenaltar. Als sie in das »Nichts« einging, wußte sie sofort, daß sie betrogen worden war. Dies war nicht Rerraf Reh Resnu! Und dennoch erstand die Vergangenheit vor ihr …
* Mit dem Zerschlagen des letzten Spiegels erwachte Beth aus ihrem
Traum. Dann hörte sie einen leisen Schrei und blickte dorthin, wo ein kindgroßer Greis gebannt zu ihr herüberstarrte. Mit einem Schlag fiel ihr ein, wo sie war. Überall herrschte rötliches Zwielicht – auch in diesem Gebäude, in dem sie vor einem leeren Spiegelrahmen stand. Unter ihren Schuhen knirschten Glasscherben, als sie mechanisch auf das merkwürdige Wesen zuging, das bei ihr war. »Wer – bist du?« Sie konnte sich nur an Tote erinnern, die sie vorgefunden hatten. Sie und Lilith. Lilith war nicht hier. Dies war auch nicht die Kirche, in der sich Beth erschöpft niedergelegt hatte …! »Tom«, krächzte das Kind mit der verschrumpelten Haut eines ur alten Mannes. Sie spürte, daß ihr von ihm keine Gefahr drohte – genauso wie sie spürte, daß sie irgend etwas Schreckliches getan hatte … »Weißt du, wie ich hierher gekommen bin, Tom?« Sie lief auf die Tür zu und spähte ins Freie. Sie befand sich ganz nahe der Kirche, in die sie mit Lilith geflüchtet war. Aber sie war nicht mehr darin. Als sie hinter sich blickte, nickte der seltsame Junge verängstigt. »Deine Augen …«, sagte er. »Ja?« »Sie sind wieder in Ordnung – ganz plötzlich.« Beth erinnerte sich an nichts. Fragend blickte sie Tom an. In diesem Moment stieß eine knöcherne Hand von links aus dem Schatten der Hauswand auf sie zu. Sie konnte gerade noch zurück
zucken. Beth schrie auf. Noch während sie zauderte, tauchte der greise Junge neben ihr auf und zog sie durch die Tür ins Freie. Die Berührung seiner kleinen, runzligen Hand war befremdlich. Aber Beth wehrte sich nicht. Und als sie ins Freie stolperten, sah sie, daß das Cottage von verwesten Toten und Skeletten umzingelt war, als hätten sie schon lange hier draußen gewartet. »Es wirkt nicht mehr!« keuchte Tom. »So eine Scheiße …!« »Was wirkt nicht mehr?« verlangte Beth Auskunft, während Tom sie nicht sehr zielstrebig die Straße hinunter drängte. Weg von der Kirche. »Halt!« sträubte sie sich, während die Toten sich neu orientierten und die Verfolgung aufnahmen. »Dort oben –«, sie wies zu dem gottverlassenen Gotteshaus, »– ist jemand, der uns helfen kann!« »Dort oben ist niemand!« widersprach der junge Greis. »Ich habe nachgesehen. Nur du warst dort, obwohl ich dich mit der schwarz haarigen Frau hineingehen sah …!« Konnte sie ihm glauben? Wo aber steckte dann Lilith? »Was wirkt nicht mehr?« wiederholte sie ihre Frage von vorhin, während die Toten von Llandrinwyth kriechend oder wankend auf sie zukamen. Stumpfsinnig, aber unaufhaltsam. Wie für die Jagd auf alles Lebendige dressiert …
*
Vergangenheit Nacht. Kerzen brannten und warfen düstere Schatten. Die Kirche war bre chend voll. Alle waren gekommen. Ohne Ausnahme. Selbst die Bettlägrigen, die Gebrechlichen und die Jüngsten. Sogar den Schwachsinningen Morddred entdeckte Owain etwas abseits im Seitengang. Die barm herzige alte Frau, die es übernommen hatte, für ihn zu sorgen, stand bei ihm und hielt seine Hand. Ja, Eiddyds Taufe hatte sie alle herbewegt. Owain Glyndwr stand vor dem Altar und überschaute die gefüll ten Bänke, die nicht genug Platz für alle Gemeindemitglieder boten. Viele mußten stehen. Er mußte nicht durchzählen. Er wußte, daß sie alle da waren. Nie mand hatte sich gedrückt … Vor ihm auf dem Altar stand der Kelch, den er aus Rhymneys Höhle mitgebracht hatte. Er war randvoll. In vorderster Bank, zur Linken, saßen Bart Drefachs Kinder, denen dieser Ehrenplatz gebührte. Die Älteste hielt den in Tücher geschla genen Täufling. Der Chor aus vielen hundert Stimmen sang. Und Owain Glyndwr, der die satanische Taufe vollziehen sollte, drehten sich die Einge weide beim schrägen Klang der besudelten Psalmen um. Nur sein Blick gehorchte ihm noch. Sein Blick suchte SIE, die rechts in vorderster Reihe saß, allein, und über den Gang der Zere monie wachte. Wie strahlend schön sie aussah. Als hätte nie ein roher Holzdorn ihr zartes Fleisch durchstoßen …
Ihre Blicke trafen sich kurz. Sie lächelte zutraulich und netzte die Lippen mit ihrer feucht-flinken Zunge. Owain Glyndwr wartete darauf, daß sich der Boden unter seinen Füßen auftun und ihn verschlingen würde. Gottes Strafe für das, was er tat, konnte nicht ausbleiben! Ihr Blick ließ ihn los und glitt dorthin, wo sich das greifbare Zeug nis von Owain Glyndwrs ewiger Schande befand: das Kruzifix, von dem die Herrgottsfigur entfernt worden war und statt dessen … Owain Glyndwr würgte … Bart Drefachs Leichnam festgenagelt hing. In diesem Moment verstummte der Chor, und etwas Fremdes in Owain Glyndwr zwang ihn zum Erheben der Stimme. »Ebeil Edniemeg«, begann er, und seine Zunge mahlte vergewaltigt im Mund. »Riw nebah snu tlemmasrev, mu …« Er fror. Er hatte Eis in den Adern. Der Kelch auf dem Altarstein begann langsam, aber rhythmisch zu pulsieren. Die verdrehten Worte sprudelten so über seine Lippen, wie SIE es ihn gelehrt hatte. Mit Einbruch der Dämmerung war sie gekommen – über Owain Glyndwr gekommen. Wie schon einmal hatte sie ihn verhöhnt, ge demütigt und zuletzt an den Fluch erinnert, mit dem sie ihn beladen hatte! »… eid egiliehnu efuat uz neheizllov …« Owain Glyndwr wäre am liebsten auf der Stelle gestorben, aber so einfach machte sie es ihm nicht. Er war ihr Werkzeug, mit dem sie – so hatte sie es ausgedrückt – etwas ganz Besonderes schmieden wollte! Die Bewohner von Llandrinwyth sahen zu ihm empor, und er fragte sich, wie es ihnen erging. Ob sie auch offenen Auges tun
mußten, was ihnen im Innersten widerstrebte. Oder ob sie einfach betäubt waren von der Hexenkunst der Schwefeläugigen … Das Ergebnis jedenfalls würde dasselbe sein. Hilfe durfte er nicht erwarten. Diesmal würde die Rettung ausbleiben, und auch all die wunder samen Wendungen der letzten Tage waren aus jetziger Sicht nicht mehr als falsche Hoffnungen, mit denen SIE das Dorf – und vor al lem ihn – in Sicherheit gewiegt hatte. Für sie war immer alles nach Plan verlaufen. Und Owain Glyndwr zweifelte inzwischen, ob nicht auch die Verletzung, mit der er sie in die Flucht geschlagen glaubte, nur Bestandteil ihres krankhaften Katz-und-Maus-Spiels gewesen war. Zu spät. Alles zu spät. Das, was sie von Anfang an bezweckt hatte, war in vollem Gang und ließ sich so wenig aufhalten wie eine einmal losgetretene Lawi ne … Als Owain Glyndwr verstummte, erhob sich Bart Drefachs älteste Tochter von der Bank und kam unter satanischem Begleitchor zu ihm auf das Altarpodest. Owain Glyndwr übernahm das Bündel. Ein noch größerer Schau der als bei der Schwefeläugigen überlief ihn, als er in die Augen des Täuflings blickte. Dieser war längst nicht mehr bleich und kränklich. Er hatte das Blut seines Vaters eingeflößt bekommen. Danach war das Kind zu geradezu unirdischer Schönheit erblüht und hatte nun Größe und Aussehen einer knapp Einjährigen. Wenn es, wie jetzt, die Lippen zum Lächeln öffnete, konnte Owain Glyndwr seine Vampirzähne sehen.
Zähne, wie auch SIE welche besaß. Er wußte jetzt von IHR, daß sie keine Hexe, sondern eine Vampi rin war. Aber mehr auch nicht! Owain Glyndwr trug das stille Bündel in der Armbeuge. Mit der freien Hand griff er nach dem Kelch, um das Ritual fortzuführen, von dem er wußte, daß es schlecht und böse und das Ende aller Ideale war, an die er einmal geglaubt hatte. Aber er konnte sich nicht sträuben. Er war nicht mehr frei. Spätestens seit der Kelch kurz an seinen Lippen geklebt hatte, war er sein treuer Vasall und Diener. Als er dem Täufling statt Wasser geschwärztes Blut über das blon de Haupt goß, hatte er das Gefühl, ein Knistern wahrzunehmen, das die Grundfesten der Pfarrkirche erschütterte. »Timreih«, seufzte er, »efuat hci hcid fua ned Neman…« SIE erhob sich von ihrem Platz. Geschmeidig wie eine Katze erklomm sie den Altarraum. SIE sprach den Namen, auf den das Kind getauft wurde. Owain Glyndwr und die anderen hörten diesen Namen in vertrau tem Klang, denn er war als einziger Bestandteil der ganzen barbari schen Taufe nicht verdreht. Nicht … Eiddyd …? Owain Glyndwr blieb keine Zeit, sich zu wun dern. Die Rothaarige entwand ihm das Kind und trug es hinaus aus der Kirche. Alles erstarrte. Als sie kurz darauf (kurz? Owain Glyndwr kam es wie Tage vor) ohne den Täufling zurückkehrte, nahm sie den Kelch und trank selbst die Reste der verbliebenen Flüssigkeit. Dabei lachte sie, daß
abermals ein Knirschen durch die Fundamente zu laufen schien. »Und jetzt zu uns, Priesterchen«, sagte sie, während Owain Glynd wr die Augen übergingen, weil sich durch das offene Portal eine rie sige Flut von Ratten in die Kirche ergoß. Die anderen aus der Gemeinde taten, als bemerkten sie es nicht. Niemand rührte sich. Nur der schwachsinnige Morddred schien auf die graue Flut zu reagieren, denn er blickte gehetzt um sich. Ein Kribbeln in seiner Zunge lenkte Owain Glyndwr darauf, daß er wieder zu reden vermochte, was er wollte. »Ich habe keine Angst«, sagte er fest. Alles an ihr drückte Heiterkeit aus. Nur ihre kochenden Augen nicht. »Das kommt«, versprach sie. »Verlaß dich darauf, das kommt …!« »Weshalb?« Immer noch schien die Zunge dem anderen Drall fol gen zu wollen. »Weshalb dieser Haß gegen mich?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht gegen dich. Gegen das, was du verkörperst!« »Und du? Was verkörperst du?« »Das wirst du nie erfahren. Und jetzt komm her!« Sie lockte mit gekrümmtem Zeigefinger. Er setzte sich in Bewegung. »Noch näher!« Er spürte ihren Blutatem. Sie befahl dem Rest der Gemeinde, nach Hause zu gehen und zu tun, als sei nichts geschehen. Jeder sollte seinem gewohnten Tag werk nachgehen, und wenn es Nacht würde, sollten sie sich zum Schlaf betten. Sie gab ihnen immer noch die Hoffnung, davonkommen zu kön nen.
Als sie gingen, sah Owain Glyndwr, daß das Heer der Ratten ih nen folgte. Danach wollte SIE genüßlich das vollenden, was sie ihm schon früher anzutun geschworen hatte. Aber hier verrechnete sie sich. Die Qualen, die sie ihm zufügte, waren gewaltiger, als ein Mensch ertragen konnte. Als ihre feuchte Zunge seine Wange berührte, brach ein Damm aus Schmerz und Wut und Verzweiflung und spül te sein rationales Denken davon. Noch einmal wurde er – für kurze Zeit – ihrem Bann entrissen. Owain brüllte auf. In seiner Stimme lag nichts Menschliches mehr. Mit einem wilden Schlag stieß er SIE zur Seite und stürzte an ihr vorbei zum Altar. Dort stand noch immer der Kelch, den er nun an sich riß. Ehe sie reagieren konnte, schmetterte er ihn mit verachtender In brunst nach unten auf den Steinboden, wo er zerbersten sollte. Das einzige, was Owain Glyndwr damit aber erreichte, war der endgültige Untergang. Der Untergang des ganzen Dorfes – und sein ganz persönlicher. Eine magische Entladung radierte Llandrinwyth aus dem Tal, in dem es einst erbaut worden war, und von allen künftigen Landkar ten. Die Bewohner hatten der Gewalt des magischen Sturms nichts ent gegenzusetzen; sie starben in derselben Sekunde, wo sie gingen oder standen. Das Dorf wurde in eine magische Sphäre eingeschlossen, die die Sekunde des Todes auf ewig konservierte. Selbst die Zeit wurde mißhandelt, gekrümmt und gebogen. Wo die Explosion stattgefunden hatte – im Zentrum des Dorfes –, stand sie beinahe still, während sie zu den Rändern hin schneller verging.
So verfielen und verwesten die Menschen, die weiter von der Explo sion entfernt gewesen waren, schneller als die, die ihr am nächsten standen. Ein »Echo« des Lebendigen aber brannte sich hinter die Spiegel des Ortes ein. Wo das Gute böse und das Böse gut war. Eine Person allein hatte die Macht, dem Inferno zu entkommen, auch wenn es beinahe all ihre Kraft kostete und tiefe Wunden in ihre schwarze Seele riß. Sie nahm den Kelch mit sich – und das Kind …
* »Wo das Gute böse und das Böse gut ist … und wo du für immer mit mir gefangen sein wirst!« sagte eine Stimme, die Lilith wieder ein Gefühl für ihre eigene Existenz gab. Sie bebte. Sie hatte begriffen, warum Rerraf Reh Resnu ihr eine Mitschuld an seinem grausamen Schicksal gab. Warum er sie haßte … Sie versuchte auch zu verstehen, wo sie war. Was dieser Wirbel war, in den sie sich begeben hatte! Sie schwebte tatsächlich wie in völliger Leere. Nur sie selbst blieb fühlbar, sichtbar … »Wo versteckst du dich?« Ihre Stimme endete, wo der Mund ende te. Und doch konnte sie atmen. »Du hast gesehen, was SIE mir antat!« Liliths Augen suchten das, was aus Owain Glyndwr, dem Pfarrer von Llandrinwyth, geworden war. »Zeige dich! Du sagtest, ich solle zu dir kommen … Wie soll ich das, wenn du dich versteckst?«
»Du würdest meinen Anblick nicht ertragen!« »Wenn das der wahre Grund wäre, würdest du dich mir zeigen. Bedenkenlos. Du haßt mich!« »Ich hasse dich!« Plötzlich glaubte Lilith vor sich verwaschene Konturen wahrzu nehmen. »Was ich nicht verstehe«, hielt sie das Gespräch in Gang, obwohl es ihr nach dem, was sie erfahren hatte, schwerfiel, »wie kann ich die Menschen hier als real empfinden, wenn sie doch nur ein Spuk sind?« »Sie sind kein Spuk!« verwahrte sich Rerraf Reh Resnu empört. »Ich hatte viel Zeit, mir eine eigene Meinung darüber zu bilden.« »Und zu welchem Schluß bist du gelangt?« »Sie sind«, sagte er zögernd, wie jemand, der nicht erwartet, ver standen zu werden, »eine Wahrscheinlichkeit. Damals, als die Kata strophe alle fraß, die nicht unter dem Schutz des Kelchs standen, wurde unser aller Lebensenergie hinter die Spiegel verbannt. Dort existierten unsere körperlosen Bewußtseine weiter und schufen eine Welt aus unseren Erinnerungen …« »Dann wärst du auch nur eine ›Wahrscheinlichkeit‹?« »Ja.« »Das glaube, wer will! Warum endet dann die Welt oben am Berg, der das Tal umschließt?« »Sie endet nicht. Die Barriere ist meine Schöpfung. Ich bin stark hier, mußt du wissen. Ich beobachtete dich, seit du ankamst. Auch dein Entkommen war von mir geduldet …« Er klang wie ein überdrehtes, zur Bösartigkeit neigendes Kind, dem jemand ein zu mächtiges Spielzeug in die Hand gedrückt hatte. »Und du kannst Dinge auch jenseits der Spiegel bewegen?« fragte
Lilith. »Nur die Toten – oder Lebendiges über dessen Träume.« »Warum hast du dann nicht die Toten veranlaßt, mir den Rück weg abzuschneiden? Warum Beth?« »Nur jemand von außerhalb konnte es tun.« Die Konturen, während Lilith Rerraf Reh Resnu ins Gespräch ver wickelt hatte, waren immer deutlicher geworden. Lilith sagte: »Ich sehe dich!« »Du lügst!« Seine Stimme überschlug sich in plötzlicher Panik. Gleichzeitig wurden die Umrisse schwächer, so als versuchten sie, ihr zu entfliehen. Lilith warf sich entschlossen nach vorn. Ihre Hände bekamen et was zu packen. Und dann zerriß der Schleier.
* Sie waren eingekesselt. Wie in einer Treibjagd hatten die Toten sie durch das Dorf gejagt. Hier am Brunnen auf dem großen Platz, wo Beth ursprünglich zu sich gekommen war, gab es kein Weiterkommen mehr! »Ich habe Angst«, sagte Tom. Es fiel ihm leicht, es zuzugeben. Beth, die ihn zwischenzeitlich für einen Feind gehalten hatte, weil er das Stigma der Feinde trug, wußte inzwischen, daß er genauso ein Opfer war wie sie selbst. Und ein lebendiger Mensch. Sie hatte seinen Puls gefühlt. »Ich auch«, sagte sie. »Höllische Angst!« Es sah übel aus. Die Toten waren nur noch wenige Schritte ent
fernt und von einer Übermacht, der sie nichts entgegenzusetzen hat ten. Beth hatte die ganze Zeit auf ein Zeichen von Lilith gewartet. Vergeblich. Sie schien wirklich verschwunden zu sein … Bis zu dem gemauerten Brunnen wichen sie zurück. Hier war end gültig Schluß. Tom lehnte sich über die steinerne Einfassung. Der Brunnen war nicht sehr tief. »Schade«, sagte er und streckte die Hand ins Wasser. »Ich hätte mich lieber ertränkt, als –« Er blickte zu Beth. Oder an ihr vorbei. Seine Miene erstarrte in et was, das Entsetzen, maßloses Erstaunen oder einfach nur Vorboten verständlichen Wahnsinns sein konnte. Beth achtete nicht darauf. Denn die Toten waren da. Jetzt!
* Die Haut des fetten Mannes war haarlos und schorfig. Er kauerte mitten auf dem Altar, der sichtbar geworden war wie die feiste, voll kommen nackte Gestalt. Eine selten erlebte Kälte strömte von ihr aus, und die Augen wirkten gräßlich verdreht, als wäre das Hinters te nach vorn gekehrt worden … Lilith sah ihn und wußte, daß sie Rerraf Reh Resnu, der einst der Pfarrer dieser Kirche gewesen war, vor sich hatte. Und sie wußte, daß seine »Unpäßlichkeit« nicht lange anhalten würde.
Sie hatte sich entschieden, kein Pardon walten zu lassen. Nicht bei diesem Gestalt gewordenen Abschaum, den sie töten mußte – schnell töten –, wenn sie noch eine winzige Chance haben wollte, von hier zu entkommen! Sie warf sich auf ihn. Seine Lippen öffneten sich. Er bleckte die Reißzähne, die Lilith be stätigten, was sie nach den Bildern der Vergangenheit bereits geahnt hatte: Er nahm in dieser Spiegelwelt eine Sonderstellung ein. Die Vampirin hatte ihn zu einer Kreatur gemacht, und eine Kreatur war er auch hinter den Spiegeln geblieben! Er war nicht mehr Owain Glyndwr. Nicht einmal mehr ein Funke dessen … Keiner seiner Anhänger kam ihm zu Hilfe, als sie ihn vom Altar warf und mit ihm ringend die Stufen hinunterrollte. Er wehrte sich verzweifelt, und während er sich wehrte, keuchte er: »Ich habe dich unterschätzt! Aber selbst wenn du mich tötest, wirst du nicht mehr von hier entkommen! Ich halte diese Wahr scheinlichkeit stabil! Es ist IHR Fluch, aber MEINE Rache. Töte mich! Ich nehme die Genugtuung mit, daß die Brut, die sie mir da mals schon ankündigte, mit mir untergeht!« Lilith mußte erkennen, daß er ihr fast gleichwertig war. Normaler weise hatte sie mit Dienerkreaturen wenig Mühe. Aber sie war we sentlich schwächer als sonst. Dennoch zwang sie ihn auf den Rücken, so daß sie sich auf ihn setzen und seine Handgelenke fassen konnte. Er versuchte seine Zähne zum Einsatz zu bringen, so daß sie ständig auf der Hut sein und Gegenbewegungen ausführen mußte. »Du behauptest, sie habe schon damals gewußt«, stieß sie hervor, »daß ich eines Tages hierher käme? Du lügst! Wie hätte sie das wis sen sollen?« »Sie wußte es! Töte mich – und wir gehen gemeinsam unter!«
Vielleicht rechnete er nicht wirklich damit. Aber sie tat es. Sie wußte, wo sie ansetzen mußte. Blitzschnell ließ sie seine Arme fahren, packte seinen kahlen Schädel – und brach ihm das Genick!
* Rerraf Reh Resnu starb spektakulär. Kaltes Licht züngelte aus den Rissen, die seinen Körper plötzlich teilten. Unheilige Energie dräng te nach draußen und verzehrte ihn zugleich. Lilith hatte sich von ihm geworfen und richtete sich auf. Zeit, dem Schauspiel bis zum Ende beizuwohnen, ließ man ihr nicht. Offenbar blieben ihm seine Anhänger noch im Tode treu. Sie rückten auf Li lith zu. Doch auf halbem Weg gerieten sie plötzlich ins Stocken, stürzten zunächst um wie gefällte Bäume und begannen dann wie unter elek trischem Strom zu zappeln! Selbst der tote Clough Corwen bäumte sich auf seiner Bahre auf … Die Beklemmung ließ Lilith auch nicht los, als sie sich zum Aus gang wandte. Sie erreichte das Portal keine Sekunde zu früh. Hinter ihr stürzte – vollkommen lautlos! – das Dach der Kirche nach innen und begrub Rerraf Reh Resnus Diener unter Bergen von Schutt. Als sie weiter ins Dorf floh, sah sie überall hilflos am Boden zu ckende Gestalten. Das Gefühl, daß sie für diese Grausamkeiten ver antwortlich war, schnürte ihr die Kehle immer enger. Aber was hätte sie tun sollen? Was?
Sie rannte zum Ende des Dorfes. Zu Morddreds Haus. Aber sie erreichte es nicht. Sie erkannte, daß Rerraf Reh Resnu nicht gelogen hatte, als er behauptete, das stabilisierende Element dieser »Wahrscheinlichkeit« zu sein. Alles löste sich auf. Teile des Dorfes verschwanden einfach. Und dort, wo gar nichts hätte sein dürfen, kamen Mauern auf Lilith zu. Von allen Seiten! Llandrinwyth schrumpfte wie von einer Implosion erfaßt! »Töte mich – und wir gehen gemeinsam unter!« Rerraf Reh Resnus Orakel bewahrheitete sich. Lilith stolperte nur noch ziellos zwischen einstürzenden Häusern über bebendes Pflaster. Es gab keinen intakten Spiegel mehr im gan zen Dorf – und selbst wenn, wäre er spätestens jetzt zerbrochen! Es war, als befände sie sich in einem Ballon, aus dem die Luft ent wich. Die Zerstörung näherte sich von überall! Vor ihr tauchte der Marktflecken mit seinem Brunnen auf. Er schi en als einziger noch heil und wie ein Ruhepol inmitten des Chaos. Lilith taumelte darauf zu. Um sie herum ging Llandrinwyth in einer lautlosen Katastrophe unter. Gespenstische Lichtentladungen zuckten aus den zerbrechen den Mauern, und zwischen den Rissen im Boden gloste es wie glü hendes Magma. Und dann zweifelte Lilith an ihrem Verstand. Aus dem Brunnen vor ihr ragte mit einemmal eine Hand! Eine Hand? Kein Zweifel: Dort, aus dem Wasser des Brunnens, reckte sich eine kleine, faltige Hand empor, die sich bewegte …
Jemand, der hineingestürzt war? Lilith taumelte darauf zu. Ihr Denken war ausgeschaltet. Sie tat, was ihr Gefühl verlangte. Dann stand sie vor dem Brunnen und entdeckte die nächste Un möglichkeit: Der welke Arm existierte ohne sichtbaren Körper …! Das klare Wasser war vollkommen leer. Bis auf … … ihr eigenes, klar gezeichnetes Spiegelbild! Als sie kurz aufblickte, sah sie das Ende dieser Welt auf sich zu springen – mit zermalmender Wucht und Geschwindigkeit. Es war ein Akt der Verzweiflung – weniger einer echten Hoffnung –, als sie die Hand, die aus dem Brunnen ragte, packte, sich wie an einem Rettungsstrohhalm daran festhielt und sich dann kopfüber in das spiegelnde, kaum kniehohe Wasser stürzte. Dennoch tauchte sie vollständig in etwas ein, das weder kalt noch naß wie Wasser war. Eine Sekunde, bevor die Welt hinter ihr die Größe einer Mikrobe erreichte …
* Als Lilith erwachte und begriff, daß sie immer noch lebte, fand sie sich in verblüffender Umgebung wieder. Beth kniete neben ihr. Und ein seltsamer Junge, der sie nicht nur wegen seines greisen haften Körpers beunruhigte. »Endlich!« hörte sie Beth’ vertraute Stimme. Aber das Mindeste, was sie erwartet hätte – auf dieser Seite der Spiegel –, wäre Purpurlicht gewesen.
Statt dessen herrschte – heller Tag. Eine freundliche Sonne schien auf sie herab, umrahmt von ein paar unfreundlichen, regenträchtigen Wolken. »Endlich ist gut«, sagte sie belegt. »Wie kommen wir hierher?« »Das wüßten wir auch gern …« Beth lächelte dem seltsamen Jun gen, der eingeschüchtert in einiger Entfernung stand, aufmunternd zu. »Nicht wahr, Tom?« Er nickte scheu. »Du bist einfach aus dem Brunnen aufgestiegen wie … wie eine Rakete! Du hieltest Toms Hand umklammert und bist direkt neben uns zusammengebrochen. Wir steckten selbst in der Bredouille – ob wohl ich mittlerweile zweifle, ob wir das nicht alles nur geträumt haben. Die Toten, die auf uns zukamen … Dieses Dorf im roten Zwielicht … Alles erlosch von einem Wimpernschlag auf den nächs ten …« »Da hatten wir Glück.« »Glück?« Lilith winkte ab. »Ich werde versuchen, es zu erklären – soweit ich kann. Offenbar war die Spiegelwelt, in der ich mich befand, mit die sem Dorf hier eng verknüpft. Als sie unterging, müssen die beiden Wirklichkeiten sich gegenseitig ausgelöscht haben.« »Ich verstehe zwar nur die Hälfte, aber du siehst sehr mitgenom men aus«, sagte Beth. »Geht es dir gut? Ich meine, den Umständen entsprechend?« »Das weiß ich erst, wenn wir uns wie Blutsschwestern unter vier Augen begegnen«, erwiderte Lilith rätselhaft. »Aber sag mir, wer der Junge ist!« »Tom.« Lilith verzog das Gesicht. »Er hat … Vampirmale.«
»Ich weiß. Aber er ist nur ein bedauernswerter Junge, keine Die nerkreatur.« »Sicher?« »Ganz sicher.« Beth blickte sie forschend an. »Du kannst dich selbst überzeugen. Später. Jetzt sag mir, was dich bedrückt.« »Bedrückt?« »Du kannst mir nichts vormachen!« »Ich könnte, aber ich will es nicht.« »Also?« »Der Lilienkelch war nicht im Dorf – weder in dieser Wirklichkeit, noch in der Spiegelwelt …« »Dann hat dieser Warner ganz umsonst die Pferde scheu gemacht und uns in Todesgefahr gebracht?« »Nein«, sagte Lilith. »Ganz umsonst nicht. Ich vermute, er – oder vielmehr sein Auftraggeber – wollte, daß ich es erfahre.« »Daß du was erfährst?« »Ich wohnte einer satanischen Taufe bei.« »Einer satanischen … was?« Lilith schilderte knapp, was sie in Rerraf Reh Resnus Bann erlebt hatte. Am Ende hatte Beth offenbar immer noch Schwierigkeiten, Li liths Erschütterung nachzuvollziehen. »Kennst du diese Eiddyd? Sagt dir der Name etwas?« Lilith schüttelte den Kopf. »Sie wurde nicht auf Eiddyd getauft.« »Sondern?« »Auf Creanna…« ENDE
Freaks von Adrian Doyle Aus dem Dorf zwischen den Zeiten entkommen, stellt sich Lilith und Beth ein neues Rätsel: Wer hat Tom Grimaldi, dem greisen Jungen, die Vampirmale zugefügt? Ist ein Blutsauger in der Nähe, der Liliths Fährte gefunden hat – oder eigene, schreckliche Ziele verfolgt? Sie begleiten Tom zu dem Festplatz, wo die Freak-Show, mit der er durch die Lande reist, gastiert. Doch die Schau ist verschwunden. Und mit ihr der Vampir? Als die drei sich zur Verfolgung aufmachen, können sie nicht ah nen, wie groß das Rätsel wirklich ist, dem sie auf der Spur sind. Ein Geheimnis, das vor Jahrzehnten schon begann und seitdem eine blu tige Spur über die britischen Inseln gezogen hat …