Hidden Moon von Adrian Doyle / Timothy Stahl
OSCEOLA steht auf dem Schild vor der kleinen Stadt. »Hier ist es«, sagt d...
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Hidden Moon von Adrian Doyle / Timothy Stahl
OSCEOLA steht auf dem Schild vor der kleinen Stadt. »Hier ist es«, sagt der Mann, der den Wagen fährt. »Wie geht es dir?« Der Mann ist groß. Er ist attraktiv – und ein Vampir … … den ich töten müßte, denkt Lilith. Sie antwortet nicht. Sie kauert auf dem Beifahrersitz. Ihr schwammig pochendes Herz treibt steifes Blut und unsägliche Gedanken durch ihr Gehirn. Wirre Schatten von Gedanken, die noch einmal dorthin zurückdriften, wo es begonnen hat. Das Chaos der Gefühle …
Was bisher geschah Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer schrecklichen Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Gleichzeitig wird in einem Kloster in Maine, USA, ein Knabe geboren, der sich der Kraft und Erfahrung der todgeweihten Vampire bedient, um schnell heranzuwachsen. Die Epidemie macht auch vor dem Häuptling eines Stammes von Vampir-Indianern nicht halt, die sich vom Bösen abgewandt haben, indem sie geistigen Kontakt zu ihren Totemtieren, der Adlern, halten. Makootemane kämpft mit dem Traumbild der Seuche – einem Purpurdrachen – und drängt sie zurück. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Kindes erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Rund um den Erdball reagieren para-sensible Menschen, träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Rafael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie aus einer Traumwelt, in der die Vampire die Erde beherrschen, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind mysteriös, scheinen aber eng an ein Tor gebunden, das er in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom bewacht. Lilith hört zum ersten Mal von jenem Tor, als sie auf einen Vampir in der Kutte eines Mönchs trifft, der vor gut 500 Jahren dem Illuminati-Orden angehörte. Eines Tages wurde er von jenseits des Tores in Bann geschlagen. Zwar konnte er die Pforte nicht öffnen, lebte fortan aber als Vampir weiter. Und noch jemand wird auf das Tor – und die Mächte dahinter –
aufmerksam: Gabriel, das Kind, dessen Kraft mit jeder Seele wächst, die es sich einverleibt. Mittlerweile zum Neunjährigen herangewachsen, sucht Gabriel das Kloster auf und erkundet die Lage. Gleichzeitig ruft er Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet … In der Zwischenzeit führt die Seuche einen zweiten Schlag gegen den Stamm der Vampir-Indianer. Hidden Moon, Makootemanes Schüler, macht sich auf, um die ebenfalls gute Halbvampirin Lilith Eden um Hilfe zu bitten – und rettet sie mit indianischer Magie aus den Klauen eines Dämons. Zum Dank steht sie dem Stamm der Arapaho gegen die Seuche bei, die jedoch alle Adler tötet. So zerstreut sich der Stamm auf der Suche nach neuen Totemtieren, und Hidden Moon (dessen indianischer Name Wyando lautet) schließt sich Lilith an …
Vergangenheit, 26. März 1997 Oberer Missourilauf, South Dakota Im Licht des schwindenden Tages wirkte das Dorf der Unsterblichen fast unwirklicher als während der Schlacht, die gegen den göttlichen Drachen geführt worden war. Gegen das, dachte Lilith tief erschüttert, was ich von »drüben« mitgebracht habe. Drüben. Vom Anfang der Zeit. Vom Anfang der Schöpfung … Ihr schauderte. Zum ersten Mal wurde ihr bewußt, welche Lawine sie ins Rollen gebracht hatte. Welches gigantische Sterben. Die Folgen ihres Aufbruchs in die Vergangenheit waren zu groß, zu gewaltig. Selbst in der verschwommenen Erinnerung mutierten die Erlebnisse im und am Ende des Zeitkorridors bei Uruk zu etwas, das im Rückblick völlig unbegreiflich war. Ihre Begegnung mit dem Geschöpf, auf das nicht nur die Vampire, sondern auch sie selbst zurückgingen … Flammen knisterten. Brandgeruch stieg ihr in die Nase. Suchend sah sie sich nach Wyando um. Der Arapaho-Vampir hatte ihr zweimal das Leben gerettet – und damit bewiesen, daß er ihr Feind nicht sein konnte. Trotz der Farbe seines Blutes. Trotz des unheiligen Durstes, der ihn nicht von den Begierden anderer Kelchkinder unterschied. Lilith wußte immer noch wenig von ihm. Und selbst dieses Wenige war voller Widersprüche. Vorhin hatte er sie töten wollen – nachdem sie seinen gefiederten Begleiter getötet hatte. Creeaa! Sie erinnerte sich genau an den Namen, den sie in der Seele des Adlers gelesen hatte, während sie ihn auf die domenartigen Klauen ihrer Bestiengestalt gespießt hatte. Bestiengestalt? Sie schüttelte sich.
Was war das für ein Leben, das sie führte? Sie jagte Ungeheuer und war selbst eines! Das Erbe ihrer biologischen Mutter war immer noch bestimmend. Die Vampirin Creanna hatte sie einst im Auftrag der Ur-Lilith gezeugt. Ohne Lilienkelch. Creanna war eine verbotene Verbindung mit dem sterblichen Menschen Sean Lancaster eingegangen – und hatte das Unmögliche wahrgemacht: ein lebendes Kind geboren. Lilith … »O Gott …«, rann es über ihre Lippen. Früher wäre bereits dies ein Unding gewesen. Früher hätte sie nicht im Traum daran gedacht, Gott anzurufen! Und heute? Langsam wanderte sie über den Platz zwischen den verbrannten Holzgerüsten, um die sich ein paar Stunden zuvor noch Büffelhäute gespannt und in denen Vampire gehaust hatten. Seit drei Jahrhunderten. Indianer vom Stamm der Arapaho, die Ende des 17. Jahrhunderts vom damaligen Kelchhüter Landru besucht und dazu auserkoren wurden, die Kelchtaufe zu erhalten, Vierzehn von ihnen. Makootemane, damals noch ein neunjähriger Knabe, hatte den Stamm in Sterbliche und Unsterbliche geteilt. Die erwachsenen Arapaho waren ungetauft geblieben, und die Stärksten von ihnen durften am Leben bleiben, um die heranwachsenden, anfangs noch kindlichen Vampire mit ihrem Blut zu nähren. Später hatten diese Menschgebliebenen Arapaho die Stadt New Jericho innerhalb der Grenzen ihrer traditionellen Jagdgründe erbaut. Und die Kelchkinder … … hatten den ungewöhnlichsten Weg überhaupt beschriften, von dem Lilith bis zu diesem Tage gehört hatte. Sie hatten sich – nicht von heute auf morgen, aber doch beständig – dem Zwang, böse zu sein und Böses zu tun, entsagt! Sie hatten der »Programmierung«, die der Lilienkelch als etwas Absolutes in sie gepflanzt hatte, widersprochen.
Geholfen hatten ihnen dabei ihre Adler. Die Totemtiere der Hitanivo’iv, der »Wolkenmänner«, wie die Arapaho von den befreundeten Cheyenne seit jeher genannt wurden. Über die reinen Tierseelen der gefiederten Partner hatten die Arapaho wieder zu sich selbst zurückgefunden … So jedenfalls hatte Wyando es ihr damals im Beisein Nonas erklärt. Beide waren Lilith nach Bangor, Maine, gefolgt, um sie für das Sterben der Vampir-Sippen zur Verantwortung zu ziehen. Doch bei dieser Konfrontation hatte Wyando sich als schlechter Verbündeter der Werwölfin erwiesen* – zu Liliths Glück … Sie wußte nicht, wie es gekommen war, daß Wyando und sie zueinander gefunden hatten. Aber vor einer Stunde, kurz bevor er und seine überlebenden Geschwister selbst ihre Tipis in Brand gesetzt hatten, waren ihre Lippen miteinander verschmolzen und hatten sich einander zugehörig gefühlt. Sie beide – Lilith war überzeugt gewesen, daß dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber Wyando war ohne ein erklärendes Wort verschwunden. Sie hatte gesehen, wie er sich an die Fersen seiner Brüder und Schwestern geheftet hatte, die dem brennenden Dorf den Rücken kehrten. Wie schon einmal, beim ersten Auftauchen des Drachen, wollten sie sich in alle Winde zerstreuen. Wollten versuchen, Frieden mit sich selbst und der Welt zu machen, die nur Legenden von ihnen und ihresgleichen kannte … Aber bisher war Wyando nicht zurückgekehrt. Hidden Moon. Im Moment einer totalen Mond-Eklipse mit Makootemanes Blut getauft, schien er schon immer eine Außenseiterstellung innerhalb des Stammes innegehabt zu haben. Makootemane, der Häuptling, war sein Freund und Förderer gewesen. Gewesen. *siehe VAMPIRA T06: »Der Atem Manitous«
Makootemane war tot. Nicht als einziger. Unsterbliche waren gestorben … Lilith wußte, daß es die Unsterblichkeit des Körpers nicht gab, höchstens die menschlicher Seelen. Und vampirischer Seelen? Hatten Vampire überhaupt noch eine Seele? War sie bei ihrer unheiligen Taufe nicht im Bodensatz des Lilienkelchs zurückgeblieben? So hatte es immer ausgesehen. Und so hätte es auch bei den »unsterblichen« Arapaho sein müssen. Besaß Wyando demnach keine Seele mehr? War er des wertvollsten Guts beraubt, das man sich überhaupt vorstellen konnte? Lilith schüttelte den Kopf. Sie wollte es nicht glauben, nicht wahrhaben. Ein entseeltes Wesen konnte nicht … küssen, wie Hidden Moon es getan hatte. Er konnte sie nicht mit diesem Ausdruck in den nachtschwarzen Augen ansehen … Fröstelnd befahl sie ihrem Mimikrykleid, mehr Fläche ihrer Haut zu bedecken. Der Symbiont gehorchte, aber als Lohn seines Gehorsams nahm er sich ein wenig von ihrem Blut. Lilith wehrte sich nicht dagegen, denn es war rechtens. Sie hatten einen Pakt geschlossen. So wie das Blut, das sie nährte, die Farbe gewechselt hatte, verhielt es sich auch bei dem Fragment des Symbionten, den sie einst von Creanna erhalten hatte. Dieses lebendige und beliebig wandelbare Kleidungsstück brauchte von Zeit zu Zeit menschliches Blut, um den Funken, der in ihm wohnte, am Glimmen zu halten. Und Liliths Körpersäfte waren rot – dunkelrot. Offenbar genügte dem Symbionten die darin enthaltene menschliche Komponente … Sie lief ein Stück weit in die Richtung, in der Wyando verschwunden war, ohne eine Spur von ihm oder anderen Arapaho zu finden. Komm zurück, dachte sie. So darfst du nicht gehen. Zweifel erwachten. Von Minute zu Minute versuchten sie sich lauter Gehör in ihr zu verschaffen.
Du kannst keine Beziehung zu einem Vampir eingehen! Du weißt nicht, was du tust! Aber vielleicht weiß er es – und hat die Konsequenz daraus gezogen, ist deshalb fortgegangen. Du hast den Mann getötet, der ihm wie ein Vater war! Und auch seinen Adler hast du umgebracht! Warum sollte er zu dieser Mörderin zurückkehren? Außer … um sie zu bestrafen …? Lilith ballte die Hände zu Fäusten. Weil es in Notwehr geschah, dachte sie. Und weil er das weiß, denn er war schließlich dabei! Aber wer wußte schon sicher, was in einem anderen vorging? Welche Motive ihn lenkten? Das Hochgefühl, das Wyandos Zärtlichkeit vorübergehend in ihr ausgelöst hatte, war verschwunden. Liliths Augen forschten erfolglos in den Schatten unter den Zederbäumen nach seinem Verbleib. Wyando blieb verschwunden. Stundenlang harrte Lilith zwischen den erkaltenden Resten des Dorfes aus. Stundenlang … aber nicht ewig.
* 27. März, New Jericho Motel LAKE SUPERIOR Im ersten Morgengrauen hatte es begonnen. Mit Schweißausbrüchen und Fieber. Eine zehrende, widernatürliche Hitze nahm Besitz von Lilith, und mittlerweile ahnte sie, worum es sich handelte. Um ihre verdiente Strafe. ER – oder das Programm, das SEIN WILLE in ihren Genen, in den unauslotbaren Tiefen ihres Bewußtseins verankert hatte – reagierte schnell. Sie litt wie ein Hund. Wimmernd lag sie auf dem Boden des Zimmers, krümmte und wand sich. Einmal hatte ihr jemand von einem Superhelden erzählt, der kläg-
lich zugrunde ging und seine Macht verlor, sobald er einem Erz namens Kryptonit zu nahe kam. Dieses Kryptonit – oder Schlimmeres – steckte wie ein Splitter in ihrem Herzen und strahlte Entsetzliches in die fernsten Winkel ihres Körpers aus! Gütiger Himmel, sie kam sich vor wie ein Junkie! Und sie wußte genau, welche»Droge« ihr fehlte … Plötzlich erstarrte sie. Ein Gefühl, als würde all die peinigende Hitze schlagartig ins Gegenteil umschlagen, lähmte sie sekundenlang. Aus ihrem Mund troff zäher Speichel, und der Mund selbst hatte sich verändert. Alles veränderte sich. Nicht nur ihr Körper, auch ihre Gesinnung … Katzenhaft kam Lilith auf die Beine. Tief in ihr brannten die frostigen Feuer noch immer, aber jetzt war es, als würden Mauern sie abschirmen. Stählerne hohe Wände. Es war noch da – aber es war fern und eingedämmt und deshalb erträglich … Sie huschte zur Tür. Jemand hatte ihr berichtet, daß Nona in diesem Haus gewohnt – und gemordet hatte. Nona hatte ihrem Fluch nachgegeben – und ihren Drang befriedigt. Den Wolf von der geistigen Kette gelassen, der zu jedem vollen Mond in ihr wütete und sein Recht forderte … Im Grunde war Landrus Geliebte nichts anderes als eine Kannibalin. Weniger als nach dem Blut ihrer Opfer verlangte es ihr nach deren Fleisch. Wie damals Konrad, dachte Lilith. (Konrad?) Vergessenes und Verschüttetes schraubte sich an die Oberfläche ihres Verstands, der mehr denn je einem stürmischen Ozean glich. Die Erde war eine Scheibe, keine Kugel! Wer hätte sich je etwas so Absurdes wie eine Kugel ausdenken können? Lilith spürte, wie sie auf den Rand der Scheibe zugetragen wurde. Eine Strömung, stärker als sie, hatte sie erfaßt und gab die Richtung vor …
Sie erreichte die Tür. Öffnete sie. Stille. Lüge! Ohrenbetäubender Lärm begleitete jeden ihrer Schritte. Lärm, der in ihr tobte. Und den keine noch so dicke Mauer dämpfen konnte (wie das eisige Feuer). Sie huschte über den Gang. Vielleicht war sie nackt. Vielleicht weigerte sich das Ding an ihrem Körper, dem Ding, in das sie sich verwandelt hatte, zu gehorchen – und zu dienen. Es war bedeutungslos. Das Ding konnte ihr nicht geben, wonach ihr verlangte. Vielleicht vermochten andere es. Andere, deren Blut warm und beseelt – aber VERBOTEN war …! Ein Geräusch ließ Lilith erstarren. Es war der Atem eines Menschen. Eines anderen Gastes in diesem durch Nonas Morde in Verruf geratenen Haus. Wirklich? Hatte nicht der Sheriff von New Jericho alles getan, um die Vergehen der Werwölfin unter den Teppich zu kehren? Was das anging, hatte Hidden Moon keine erschöpfende Auskunft gegeben. Hidden Moon – Nona … Wie hatte sie glauben können, er fühlte etwas für sie? Von den Vampiren wurde sie nur als Wechselbalg, Hurenkind und Bastard beschimpft. Nona hingegen … Was hatte Hidden Moon mit Landrus Geliebter verbunden? Lilith konnte sich nicht vorstellen, daß es gar nichts gewesen war. Von dem fremden Atem ging eine unbeschreibliche Verlockung aus. Die Halbvampirin glitt zu der Tür, aus der dieser Atem strömte. Davor blieb sie stehen. Kein Spiegel konnte ihr zeigen, wie sehr sie sich verändert hatte. Spiegel waren etwas für die Schwachen! (Bist du verrückt? Natürlich besitzt du ein Spiegelbild, wenn auch nur –) Es knirschte häßlich, als sie die Tür aufriß. Die lächerlichen Riegel
hielten der Gewalt, die Liliths Muskeln entfesselten, nicht stand. Sie tauchte ins Dunkel des Zimmers. Dunkel, das vor ihr floh – ihren Blicken so wenig entgegenzusetzen hatte wie die Tür ihrer Kraft! Der Schemen, der sich schwerfällig im Bett aufrichtete, explodierte zu detailscharfer Klarheit. Ein Mann von fünfzig Jahren. Typ Handelsreisender. Wächsern die Farbe seines Teints, nicht einfach nur schwelgerisch bleich, wie es den Zauber von Liliths Zügen ausmachte … wenn sie sich als Mensch gab. Jetzt war sie DIE ANDERE. Das zweite Gesicht schob sich fratzenhaft vor die Anmut. Das Jadegrün ihrer Augen wurde überblendet von giftiger Röte. »Wer …?« Mehr gestattete sie ihm nicht zu sagen. Ein einziger Sprung ließ sie die Distanz zu seinem Schlaflager überwinden. Seine Feistigkeit, seine panische Feigheit schreckten sie nicht ab. Nur der Magnetismus dessen, was unter dem aufgedunsenen Fleisch strömte, zählte. Lilith landete kontrolliert auf dem Schwächling und schleuderte seinen Oberkörper zurück auf die Matratze. Ein Hieb gegen seine Schläfe brach seinen Widerstand. Betäubt, wenn auch nicht wirklich bewußtlos erschlaffte er unter ihr. Selbst in dieser Verfassung wirkte er jämmerlich. (Du bist jämmerlich! Hör auf! Hör sofort –) Ihre Finger glitten über den selbst im Liegen faltigen Hals und verharrten dort, wo es einladend pochte. Sie zögerte. Etwas stimmte nicht. (Mir dir, du Närrin! Du verspielst die Chance, die dir –) Sie beugte sich vor. Mit Macht erstickte sie das, was sie von ihrem Vorhaben abhalten wollte. Das, was ihr den Schatz nicht gönnte, der sich selbst in einer unattraktiven Hülle wie dieser versteckte … Ihre Hände waren Klauen, ihre Fingernägel zentimeterlange, rasiermesserscharfe Waffen. Spitz und leicht geschwungen wie zwei
elfenbeinfarbene Dolche ragten die oberen Augzähne aus ihrem weit geöffneten Mund. Die Anziehungskraft dunkler, verborgener Flüsse aus Blut brach den letzten Damm in Lilith. Erstickte alle Skrupel. Ihr Kopf neigte sich zum Hals des Benommenen. Ihre Zähne erkundeten die ideale Stelle und – »Nein! Hör auf!« Diesmal war es keine Stimme, die aus ihr selbst kam. Und es waren andere Hände als ihre eigenen, die sie energisch – fast brutal – zurückrissen, um zu verhindern, daß sie sich dem Wahn ihrer blutdürstigen Dämonen ergab …
* Es war Hidden Moon. Er stand im Zimmer, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Was Lilith aber wirklich aus ihrem blindwütigen Rausch erwachen ließ, war das blutige Muster auf seinem Körper. Auf dem Gesicht, den Händen und der spärlichen Kleidung … »Wo warst du?« Sie erkannte ihre Stimme kaum wieder. Und er schien sie nicht wiederzuerkennen. »Wenn ich geahnt hätte, womit du dir die Zeit vertreibst, wäre ich nie gegangen …« Der Mann auf dem Bett regte sich. Stöhnend versuchte er sich aufzurichten. Hidden Moon kümmerte sich um ihn. Sah ihm tief in die Augen. »Du wirst jetzt weiterschlafen, als wäre nichts geschehen. Und später wirst du aufstehen, ohne dich an etwas Außergewöhnliches zu erinnern. Hast du mich verstanden?« Der Mann sah ihn aus glasigen Augen an. »Ja«, sagte er. Dann sank er zurück und schloß die Augen. Seine
Atemzüge wurden ruhiger. Wyando deckte ihn zu. Dann packte er Lilith am Handgelenk und zog sie vom Boden hoch. Sie ließ es geschehen. Draußen dämmerte nicht nur der neue Morgen – auch ihr dämmerte, was sie um ein Haar getan hätte. Aber am meisten schockierte sie, daß er immer noch da war: der unstillbare Durst – der verbotene und der erlaubte …
* Erst als sich die Tür von Liliths Zimmers im LAKE SUPERIOR hinter ihnen schloß, begannen sie wirklich miteinander zu reden. Lilith überlegte, wie sie Hidden Moon klarmachen konnte, warum sie ihre eigene Grenze überschritten hatte. »Ich jage Vampire nicht uneigennützig«, setzte sie an. »Ich weiß nicht, was Nona dir über mich erzählte …« »Ist das wichtig?« Sie saßen auf dem Rand ihres Bettes, und das bereits getrocknete Blut auf seinem Körper störte die Nähe nicht, die sich sofort wieder zwischen ihnen einstellte. Hidden Moon schlang die Arme um ihre Taille, als müßte er ihr Halt geben. »Eben glaubte ich es noch.« »Nona war nie wichtig.« »Ihr wart euch verdammt nah, als ihr mich in Bangor zur Rede gestellt habt …« »Räumlich – vielleicht.« »Und sonst?« »Sonst?« »Hast du mit ihr geschlafen?« Hidden Moons Gesicht blieb unbewegt. »Ja.« »Warum?« »Ich müßte weit ausholen, um dir das zu erklären.«
Sie hob die Brauen. »Nona ist sehr anziehend. Es reicht, wenn du zugibst, daß du sie begehrt hast – als Frau.« »So hätte es sein können. Aber das war nicht der vorrangige Grund, weshalb ich es wollte.« »Was dann?« Er zögerte. »Sie hat mich vor langer Zeit gedemütigt«, sagte er dann. »Im Grunde war sie es, die mich zum Vampir verkommen ließ – gegen meinen Willen. Ich war bereits vor Makootemane und Landru geflohen. Aber Nona suchte und fand mich. Sie schleppte mich zurück zu denen, die bereits getauft waren. Und dann ertrank auch ich im Blut meines Vaters, das mir aus dem Kelch eingeflößt wurde … Seit damals habe ich darauf gewartet, die Rechnung zu begleichen.« Lilith suchte mehr Wahrheit, als die wenigen Worte ihr boten. »Du hast mir noch immer nicht gesagt, wie es weiterging, als du und Nona mich in Bangor zurückgelassen habt. Nona war voller Haß. Sie hat mir nicht geglaubt, daß ich die Seuche, die alle Sippenoberhäupter und auch ihren Geliebten Landru befallen hat, nicht zurücknehmen kann – weil ich sie nie in Gang gesetzt habe.« »Nein, das hat sie nicht geglaubt. Sie wäre sicher gern noch einmal zu dir zurückgekehrt, und dieses Mal allein. Aber …« »Aber?« »Ich habe dir geglaubt. Deshalb konnte ich es nicht gestatten.« Lilith schüttelte den Anflug von Mißtrauen ab. »Was hast du getan, um sicher zu sein, daß sie nicht zu mir zurückkehren kann? Hast du sie …?« »Getötet?« Hidden Moon machte eine verneinende Geste mit beiden Händen. Vielleicht weiß er, was Kopfschütteln bedeutet, dachte Lilith abstrakt. Aber wäre es nicht schön, wenn er es nie angenommen hätte? Wenn er sich seine eigene Gestik in all der Zeit bewahrt hätte …? Sie hätte nicht zu sagen vermocht, was ihr daran so wertvoll er-
schien. »Um sie zu töten, hätte ich wenigstens einen Grund haben müssen …« Er stockte, und Lilith glaubte zu erkennen, daß er sich selbst bei einer Unwahrheit ertappt hatte. »Was ist?« Er wich aus. »Ich ließ Nona ziehen und riet ihr, sich an meine Warnung zu halten …« Er lächelte – bizarrer als Lilith einen Vampir je hatte lächeln sehen. »Du kannst riet auch durch drohte ersetzen. – Aber wie auch immer, sie hat es offenbar so verstanden, wie es gemeint war.« »Bedauerlich, eigentlich …« Ihr Kommentar verwirrte ihn nur einen kurzen Augenblick. Dann begriff er den Hintersinn. Natürlich wäre sie nicht wehrlos gewesen, in jenem Zimmer in Bangor – jedenfalls nicht nachdem Hidden Moon und Nona sie gefesselt auf einem Stuhl sich selbst überlassen hatten. Lilith hatte sich jederzeit in eine Fledermaus verwandeln und der Stricke entledigen können. Keine Waffe hatte sie mehr daran gehindert … Hidden Moon streichelte mit einem Finger durch das Tal zwischen ihren Brüsten. Der Symbiont umschmiegte Lilith wie eine zweite Haut – auch ihre Rundungen. Dennoch war er durchlässig für Hidden Moons Zärtlichkeit. Sie kam an. »Du weißt nicht, wovor du mich bewahrt hast«, flüsterte sie, während sie seine Hand ergriff und drückte. »Ich wunderte mich nur, daß du so wenig wählerisch bist«, erwiderte er, und es fiel ihr schwer zu erkennen, ob dies Ironie oder seine ehrliche Meinung war. »Du weißt längst nicht alles über mich – so wenig wie ich von dir«, sagte sie. »Ich schätze, auch Nona konnte nicht wissen, daß sich mein Geschmack in Sachen fremder Leute Blut … nun, geändert hat.« »Was meinst du damit?« Sie forschte in seinen Augen. Augen wie die dunkle Seite des
Mondes. Und plötzlich spürte sie, wie sehr sie ihn begehrte … … aber gleichzeitig war DAS ANDERE noch nicht in ihr erloschen! Wie auch? Sie war auf einer Ebene unbefriedigt, die jetzt, nach einer kurzen Phase der Entspannung, wieder einen zerstörerischen Taifun in ihr entstehen lassen wollte. Unruhig wand sie sich in seinen Armen. »Was ist?« Sie richtete ihren Blick auf einen imaginären Punkt jenseits seiner Augen. »Du hast keine Ahnung«, seufzte sie, »womit ich gestraft bin …« Das folgende Schweigen zwischen ihnen schien nicht mehr enden zu wollen, und seltsamerweise war diese Stille es, die Lilith bewußt machte, daß sie nicht die einzige mit einem Problem war. Abrupt drehte sie den Kopf. Der Ausdruck in Hidden Moons Zügen bestätigte ihre Ahnung. Und die teerschwarze Träne, die aus seinem linken Auge quoll …
* Zur gleichen Zeit, dreihundert Meilen entfernt Morgengrauen Es knackte, als Trevor Oyster den zwischen seinen Zähnen steckenden Kopf eines ölig schwarzen Käfers abbiß. Sofort hörte das Kitzeln der zappelnden Beinchen hinter seinen Lippen auf, und mit geübtem Zungenschlag beförderte Oyster auch den Torso in seinen Mund. Der Proteingehalt war dürftig, das Käferblut aber erinnerte den Toten an größtes Glück. Momente wohliger Sättigung … Er stellte die Schachtel mit den Skarabäen zurück auf den Serviertisch neben dem zerschlissenen Sessel. Sein Blick schweifte kurz durch den bieder eingerichteten Raum, der nichts von den extremen
Bedürfnissen seines Bewohners verriet, und heftete sich schließlich erwartungsvoll, beinahe beschwörend an das antiquierte Wählscheibentelefon. Sekunden später schrillte der Apparat, als hätte er sein Sehnen erhört. Oyster wischte sich den Mund ab und stand auf. Er hatte sich daran gewöhnt, daß seine Gedanken dem Gehorsam seines Körpers immer ein wenig vorauseilten. Aber er war froh, daß ihm die Hülle, die Atmung und Herzschlag eingestellt hatte, überhaupt noch folgte. Froh … Das Lachen, das an den Resten des Chitinpanzers vorbei aus seinem Mund brach, hallte hohl durch seinen Schädel, aber ein zufälliger Gast hätte daran vermutlich nicht einmal etwas Außergewöhnliches festgestellt. Mit ausgreifenden Schritten überbrückte Oyster die Entfernung zum Telefon. Er hob den Hörer ans Ohr. »Ja?« »Möchtest du dir ein feines Trinkgeld verdienen?« fragte eine sanfte, zärtliche Stimme. Trevor Oysters Herz ruhte weiter tot in seiner Brust, aber sein Verstand spielte ihm einen Streich, und sekundenlang glaubte er wirklich, es wie rasend schlagen zu fühlen. Der Phantompuls erstarb erst, als die Stimme am anderen Ende der Leitung hörbar unwillig fragte: »Was ist? Muß ich betteln?« Oysters Denken gerann. Hinter seiner Stirn ereignete sich ein Knall, den nur er wahrnahm. Er räusperte sich. (Nie würde er begreifen, was ihn noch dazu befähigte – nach welchen Gesetzen dieses absonderliche Pseudoleben ablief …) »Nein … Nein! Ich komme! Ich komme sofort …!« »Das will ich hoffen. Du weißt, wie unappetitlich es danach ist. Du weißt, wie ich diesen Müll verabscheue. Er gehört nicht in meine Nähe. Ich und meine alten Augen brauchen Harmonie.«
»Wie viele sind es? Wie viele Särge werde ich brauchen?« »Eine Urne dürfte genügen.« »Soll ich sie – verbrennen?« »Das ist sie bereits. Bring die Urne gleich mit. Und laß mich nicht warten!« Das Knacken in der Verbindung erinnerte Trevor Oyster nicht nur an den vorherigen kleinen Snack, sondern auch an das, was von ihm erwartet wurde. Und je schneller er den Auftrag zur Zufriedenheit erledigte, desto rascher würde er seine Belohnung erhalten. Sein Trinkgeld. Hastig pflanzte Oyster den Hörer zurück auf die Gabel. In Gedanken eilte er seinem Körper voraus aus der Tür …
* Fünf Uhr früh. Es regnete. Der Gehweg zur Garage schimmerte wie mit quecksilbrigem Lack überzogen. Am Himmel jagten Wolken. Mond und Sterne blieben dahinter verborgen. Das schlechte Wetter würde das Erwachen des neuen Tages hinauszögern. Oyster hatte nichts dagegen. Bis er das Garagentor geöffnete hatte, war er bereits naß bis auf die Haut. Sein Befinden wurde dadurch nicht in Mitleidenschaft gezogen. Er hätte ebensogut nackt durch die Antarktis laufen können, und es wäre auch kein Unterschied gewesen. Die Sensibilität eines Toten lag bei Null. Die einzigen Momente, in denen Erinnerungen an Gefühle wach wurden, waren dann, wenn sich Oysters Zähne in die Ader eines Opfers gruben und lebendige Wärme in ihn strömte. Die Garage stand wie eingeklemmt zwischen Oysters Wohnhaus und dem Anbau der Sargtischlerei. Das Schild, ERSTKLASSIGE BESTATTUNGEN – TAG UND NACHT ERREICHBAR, war unbeleuchtet. Durch die Garage betrat Oyster zunächst den Anbau und nahm eines der schmucklosen Urnengefäße aus der Verkaufsvitrine. Damit
bestieg er seinen dunkelgrauen Pick-up, an dem ebenfalls Hinweise auf seine Profession prangten, und drehte den Schlüssel, der im Zündschloß steckte. Nach ein paar Fehlversuchen und asthmatischem Wummern des Anlassers kam der Diesel endlich stotternd in Gang. Der Tote am Steuer legte den Rückwärtsgang ein und lenkte den Wagen, ohne den Kopf zu drehen oder in einen der Spiegel zu schauen, nach draußen. Der Druck aufs Gaspedal und jeder Handgriff waren Hunderte Male einstudiert. Gegenverkehr erwartete Oyster um diese Zeit noch nicht. Osceolas Bürger schliefen gern etwas länger hinter gut verschlossenen Türen und Fenstern – und wer es nicht tat, war selber schuld. Oyster fuhr ohne Scheinwerferlicht. Die Wischerblätter schabten wie die morschen Finger eines Skeletts über die Windschutzscheibe. Nach kurzer Fahrt hatte er sein Ziel erreicht. God’s Garden war ein stilvolles Anwesen am Rande der Stadt. Ortsfremde hätten den Besitzer womöglich als erzkonservativ eingeschätzt, aber Trevor Oysters Kenntnisse waren intim genug, um es besser zu wissen. Hier wurden Orgien abseits des kleinbürgerlichen Vorstellungsvermögens gefeiert. Feste, nach deren Ausklang das Telefon im Hause des Bestatters mit steter Regelmäßigkeit zu läuten begann. (Möchtest du dir ein feines Trinkgeld verdienen, Trevor?) Oyster fuhr mit dem Pick-up bis dicht vor die steinernen Stufen der Eingangstreppe. Rechts und links säumten nackte, geschlechtslose Statuen aus alabasterfarbenem Marmor den Aufgang. Ihre Züge erinnerten an blutjunge Männer, waren sehr maskulin – dennoch gab es keine wirklich verläßlichen Merkmale. Oyster erinnerte sich an seine Empfindungen, als er die stummen Wächter zum ersten Mal – damals noch am Leben und am Leben hängend – zu Gesicht bekommen hatte; bei seinem allerersten Auftrag. Sie hatten ihn zutiefst beunruhigt. Ihre steinernen Blicke hatten auf den Grund seines damals noch schlagenden Herzens geblickt
und zutage gefördert, was Oyster vor dieser Stunde nicht einmal sich selbst gegenüber eingestanden hatte – geschweige denn seiner Umwelt: Dunkle Triebe und perfides Verlangen, in seiner abartigen Exzentrik nicht einmal unähnlich dem, was der Herr dieses Hauses in unerreichbarer Perfektion zelebrierte … Das Gebäude ruhte wie ein kalter, stiller Klotz in der Nacht. Seine Fenster waren dunkel, finster wie die darin wohnenden Seelen. Oyster klopfte mit der Faust gegen die Türfüllung des Portals. Das entstehende Geräusch war lächerlich gering, als würde das Holz alles schlucken. Doch dann schwang einer der Torflügel auf, und eine sphärische, aus der Luft kommende Stimme bat Oyster herein. Niemand wartete hinter der Schwelle. Oyster trat in eine leere Halle. »Sie liegt im Roten Salon …« Die Wände waren kahl, der Boden abgetreten. Überall herrschte peinliche Sauberkeit – aber sie verstärkte nur die Trostlosigkeit. Bei seinem jungfräulichen ersten Besuch hatte Oyster die Pracht der Einrichtung auch gesehen, wie sie die Partygäste noch heute erlebten. All den Prunk, auf den der Herr des Hauses für sich selbst verzichtete und den er nur seinen geladenen Gästen vorgaukelte. Oysters Sinne waren dafür nicht mehr empfänglich. Er durchschritt die leeren Korridore, bis er die Tür des Salons erreichte, hinter der … »Wie lange dienst du mir eigentlich schon, Trevor?« Oyster blieb stehen. Er blickte auf seine Hand, die den Türknauf umklammert hatte. Im ersten Moment sah es aus, als würde der Knauf sich verändern … aber es war seine Hand, die wuchernd entartete …! Ohne Panik, aber zutiefst verwirrt sagte Oyster: »Fast auf den Tag zehn Jahre.« Erst als er die Frage beantwortet hatte, brach es aus ihm hervor: »Was …? – Ich …« »Du riechst«, sagte der sanfte Schwall von Tönen, der von überall zugleich auf ihn einzustürzen schien. »Du bist auffällig geworden in
den Jahren, Trevor, wie schade. Aber was sage ich? Du weißt selbst, wie weh dir die Sonne tut. Wie schlimm die Schmerzen sind, wenn du am Tag von jemandem gerufen wirst. Sie beginnen sich zu wundern, die braven Leute dieser Stadt. Wie oft haben Sie dir in den letzten Monaten gesagt, daß du krank aussiehst, Trevor? Ungesund. Sie glauben, daß du bald sterben wirst, innerlich zerfressen von einer der Krankheiten, die ihnen selbst so große Angst macht … Wenn sie wüßten, daß dein Problem von außen kommt. Von etwas, was sie mögen, wonach sie sich nach jedem langen Winter sehnen: warmes Licht. Heller Sonnenschein. Wenn sie es nicht übertreiben, weckt die Sonne ihre Lebensgeister … Bei dir geschieht das Gegenteil. Ich habe lange darüber hinweggesehen – in Anbetracht deiner Verdienste. Aber nun ist es Zeit …« »Zeit?« echote Oyster. »Stell die Urne auf den Boden.« Er konnte gar nicht anders, er mußte gehorchen. Nachdem er es getan hatte, verwandelte sich auch seine andere Hand. Und tat, was sie wollte. In einer Mischung aus Faszination und lähmendem Schrecken beobachtete Oyster, wie sich die Spitze des Pflocks auf seine Brust setzte – genau über dem toten Herzen. Währenddessen holte die andere Hand, die die Form eines Hammers angenommen hatte, auch schon aus. »Nein!« rief der Inhaber von Oyster Funerals. »Neeeeiii …!« Der Schrei brach ab. Oysters Körper wurde von blauen Blitzen umtanzt. Sein Fleisch brach auseinander wie eine trockene Ackerscholle unter einem Stiefeltritt. Der Hammerarm schwang durch die Luft und trieb die Pflockhand noch tiefer in die Brust, obwohl dies schon nicht mehr nötig gewesen wäre. Fassungslos starrte Oyster auf das, was er sich antat. Dann zerfielen seine Augen in den Höhlen. Staub rieselte. Sein
Haar kräuselte sich und fiel aus. Die Zähne lösten sich aus dem Zahnfleisch … und wurden auch zu Staub. Wie Oysters Knochen. Wie sein Fleisch … seine langen Fingernägel … Das einzige, was zunächst blieb, waren seine Kleider und Schuhe. Aber dann schoß von irgendwoher ein Blitz in das hingesunkene Bündel. Es fing Feuer und verwandelte sich in Ascheflocken. Asche und Staub, die wie von selbst den Weg in die von Oyster mitgebrachte, schlichte Urne fanden … Kurz darauf öffnete sich die Tür, und eine Gestalt trat aus dem Roten Salon. Sie war jung und unverbraucht, aber ihre Dynamik täuschte ein wenig über die beiden noch frischen, dunklen Wundmale hinweg, die daumenbreit auseinanderstehend am Hals von Oysters Nachfolger glommen – aber bereits zu verblassen begannen. Bis zur völligen Unsichtbarkeit …
* New Jericho Hidden Moon hatte kurz das Zimmer verlassen, durch dessen Fenster fahles Frühlicht einfiel, und Lilith stand immer noch ganz im Bann der schwarzen Träne. Sie hatte sich aus den Armen des Arapaho gelöst und ihn aufgefordert, endlich über sich zu sprechen. Über das, was ihn bedrückte. Woher kam das Blut, mit dem er am ganzen Körper besudelt war? Wortlos war Hidden Moon aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen. Die Tür zum Gang stand offen, und Lilith konnte hören, wie sich seine Schritte ein Stück weit entfernten, dann innehielten und zurückkehrten. Als er wiederkam, hatte er einen prallen Jutesack dabei, den er mit zwei Händen festhielt. »Was ist das?« fragte sie.
Hidden Moon schloß die Tür und deponierte den Sack neben ihr auf dem Bett. An der Unterseite bemerkte Lilith dunkle Nässe und wußte sofort, was es war. Blut, wem auch immer gehörig, konnte sie wittern. »Was ist das?« wiederholte sie ihre Frage. Hidden Moon öffnete den Sack. Lilith wußte nicht, was sie davon halten sollte, als er den Kadaver des toten Adlers herausschälte. Hatte Hidden Moon sich von ihr getrennt, um seinen Gefährten über viele Jahre zu bergen? Und wenn ja, was hatte er damit vor? Er erriet ihre Gedanken und sagte: »Für dich mag ein Adler wie der andere aussehen, aber das ist nicht mein Seelenvogel, den du in der Höhle getötet hast. Dieser hier sollte sein Nachfolger werden …« Lilith stand auf und trat hinter Hidden Moon. Diesmal nahm sie ihn in die Arme. »Erkläre es mir«, sagte sie. Ihre Lippen berührten seinen Nacken und glitten höher. Sie spürte instinktiv, wie allein und verlassen er sich in diesem Moment fühlte. Doch dann stutzte sie. Irritiert. Ihre Nasenspitze berührte etwas – Seltsames … … unter seinem glatt herabfallenden, rabenschwarzen Haar. Hidden Moon drehte sich ruckartig zu ihr um. »Wir haben einander einiges zu erklären. Zu viele Fragen stehen zwischen uns, und wenn wir nicht aufpassen, ist es zu Ende, bevor es überhaupt beginnt!« Lilith lauschte nicht nur seinen Worten, sondern auch der kaum noch im Zaum zu haltenden Stimme ihres unstillbaren Verlangens, das von Hidden Moons Nähe zur schieren Raserei gebracht wurde. Er hatte recht: Sie mußten sich aussprechen. Und danach mußte sie es tun – irgendwie. Kein Weg führte an ihm und seinem Blut vorbei …
*
»Der Grund, weshalb wir uns in meinem niedergebrannten Heimatdorf aus den Augen verloren«, sagte Hidden Moon, »ist simpel: Ich habe mich um einen Ersatz für meinen Seelenvogel bemüht. Ich suchte einen jungen Adler, der den verwaisten Platz an meiner Seite einnehmen sollte … Dir kann nicht klar sein, wie abhängig ich von einem Seelenvogel bin – wie solltest du es auch wissen? Die Zeit war zu kurz, um die Absonderlichkeiten, die unsere beider Existenzen umgeben, im Detail zu lüften. Das Einzige, was du in groben Zügen von mir erfahren hast, ist, daß es den Vampiren meines Stammes dank unseres Ur-Adlers vor langer Zeit gelungen ist, den Idealen, die der Lilienkelch uns vorgab, abzuschwören und eine eigene Ideologie zu entwickeln. Die Arapaho lebten vor ihrer Begegnung mit Landru in harmonischer Symbiose mit Land, Luft und Wasser ihrer Heimat. Die Kelchtaufe zerstörte diese Harmonie zunächst. Aber der Adler, der von Makootemane heimlich mit getauft wurde, erwies sich als resistent gegen das Gift des Kelchs. Über die spirituelle Verbindung mit ihm wurde zunächst Makootemanes Geist – und später der eines jeden Kelchkindes des Stammes gereinigt. Es war kein Akt, der sich von heute auf morgen durchsetzte. Es dauerte Jahre, ehe es der Unschuld unseres ersten gemeinschaftlichen Seelenvogels gelang, die verderbte Saat zu unterdrücken. Und wiederum Jahre gingen ins Land, bis wir begriffen, daß das Böse in uns nicht erloschen oder für alle Zeit besiegt war, sondern unsere Wege immer begleiten würde. Nur hielt der spirituelle Austausch zwischen dem Adler und uns es im Zaum. Wir lernten damit umzugehen und es in weniger schlimme Taten zu kanalisieren. Natürlich brauchten wir das Blut unserer Menschgebliebenen Stammesangehörigen – oder später das Blut der weißen Siedler –, aber wir hörten auf, deren Leben nur um des Erhalts unserer Existenz willen zu zerstören. Wo immer wir den Keim übertrugen, blieb das Opfer unter Beobachtung. Und wir spürten, wenn es eines Tages an Alter, Krankheit oder einem Unfall starb. Dann besuchten wir es und voll-
zogen das Unumgängliche, das die Entstehung von Kreaturen verhinderte, wie Landru sie uns einst als Diener empfohlen hatte.« Hidden Moon schwieg kurz. Lilith hatte das Gefühl, daß er das, was er preisgab, im Zeitraffertempo nacherlebte. Mit rauchiger Stimme fuhr er fort: »Eines Tages bemerkten wir – beziehungsweise Makootemane, der den innigsten Kontakt zu unserem gefiederten Totem pflegte –, daß der Adler den Ansturm so vieler mit dunkler Energie überladener Ströme auf Dauer nicht schadlos bewältigen konnte. Der Ur-Adler begann zu verkümmern. Es ging soweit, daß er die Nahrung verweigerte, die bei ihm – es mag dich verwundern oder nicht – aus dem Blut seiner Artgenossen bestand. Spätestens dieser Moment öffnete uns die Augen, wie zweifelhaft unser Sieg über das Böse war. Wie leicht zu erschüttern. Aber wiederum war es Makootemane, der uns einen Ausweg wies. Vielleicht inspirierte ihn auch der Ur-Adler; niemand weiß es mehr so genau. Jedenfalls begannen wir unverzüglich damit, sterbliche Adler aus der Umgebung des Dorfes einzufangen und für unsere Bedürfnisse heranzuziehen … Was für Bedürfnisse das waren, kannst du dir denken. Zunächst überwogen die Zweifel, ob ›normale‹ Adler uns geben konnten, was der Ur-Adler uns gab. Aber es bedurfte nur eines innigen Umgangs und der wirklichen Bereitschaft, um auch mit deren Seelen zu verschmelzen. Die Katharsis, in der wir von da an das Dunkle in uns auf unsere Seelenvögel abluden, unterschied sich nur unwesentlich von der Art und Weise, wie wir es zuvor in Verbindung mit dem Ur-Adler getan hatten. Aber während der Übergangszeit gab es Vorfälle, die uns die Augen öffneten, wie abhängig wir von dieser intakten Verbindung sind …« »Vorfälle?« fragte Lilith. Sie hatte das Gefühl, daß Hidden Moon nach einer langen Einführung erst jetzt auf das Eigentliche zu sprechen kam, was ihn bedrückte. »Ja«, sagte er. »Einige von uns fielen in alte Denk- und Jagdmuster zurück. Viele unschuldige Menschen starben grausame Tode, ehe wir uns selbst wieder genügend im Griff hatten.«
»Du auch?« fragte Lilith. »Ich auch«, sagte Hidden Moon. »Ich verstehe – verstehe, was ich dir wirklich angetan habe. Hätte ich geahnt, welche Bedeutung der Adler tatsächlich für dich hat …« »Du wurdest angegriffen. Du hast getan, was ich an deiner Stelle auch getan hätte.« »Das entschuldigt es nicht.« »Das zu entscheiden mußt du schon mir überlassen.« Der Klang seiner Stimme versicherte ihr, daß er meinte, was er sagte. Dennoch fühlte sich Lilith dadurch nicht im mindestens rehabilitiert. Außerdem konnte sie sehr gut zwischen den Zeilen lesen. »Wie lange wird es dauern, bis dir Nachteile aus dem Verlust des Adlers erwachsen?« »Es wird sehr bald sein, aber wenn es geschieht, werde ich es nicht mehr als Nachteil empfinden«, erwiderte er. »Nur deine Umwelt?« Als er schwieg, zeigte sie auf das tote Bündel im Sack. »Kommen wir darauf zurück. Wenn es nicht dein Adler ist, welcher dann? Und warum sollte ich ihn sehen?« Das Schwarz seiner Augen schien sich noch mehr zu verdichten. »Über die Jahrhunderte hatte ich über ein Dutzend Adler. Sie waren sterblich – ich nicht. Mit der Zeit lernte ich – wie auch meine Brüder und Schwestern – mich schneller in ihre Psyche hineinzuversetzen, um den Kontakt aufzubauen. Diesmal jedoch …« »Diesmal?« »Als ich es heute versuchte«, sagte Hidden Moon, »geschah, was noch nie geschehen ist.« »Was?« drängte Lilith, und als Hidden Moon antwortete, hörte sie die Verzweiflung darin wie einen ins Grau des Tages geschrienen Hilferuf. »Mein Ansinnen brachte ihn um …!«
* »Er sieht nicht aus, als wäre er an einem Herzschlag gestorben …« Während Lilith den Kadaver im Jutesack zur Sprache brachte, teilte ihre Hand, von Hidden Moon unbemerkt, das Haar im Nacken des Arapaho. Der dortige Flaum bestätigte eine Verwandtschaft zwischen Indianer und Adler, die weit über das rein Geistige hinausging. Gefieder … Gefiederflaum sproß aus der Haut! Lilith unterdrückte ihre Überraschung, zumal die Entdeckung nichts Monströses an sich hatte. »Nein«, hörte sie Hidden Moon flüstern. »Gewalt war im Spiel … Und ich wünschte, ich könnte sagen, wie es dazu kam. Ich habe keine Erinnerung und keine Erklärung …« Seine Fassungslosigkeit sprang auf Lilith über. »Dann stammt das Blut, das an dir klebt, von ihm?« »Natürlich.« »Aber …« »Ich kann es doch selbst nicht erklären!« brach es aus Hidden Moon hervor. Er bückte sich. Seine Hand tauchte hinab und hob den Leichnam des Vogels hoch, damit sie die Verstümmelungen noch deutlicher sehen konnte. Die Wunden klafften, als wären im Leib des Vogels kleine Sprengsätze detoniert. »Frag nicht, welche Kraft das verschuldet hat. Ich wollte es bestimmt nicht!« Aus Hidden Moon sprach nur noch Seelenqual. Lilith erkannte, daß er völlig am Ende war – auch am Ende seiner Weisheit. Alles an ihm, nicht nur die Stimme, auch seine leicht geduckte Körperhaltung, seine Blicke waren ein einziger Schrei um Hilfe, und sie hätte sich gewünscht, sich ganz darauf einlassen zu können und ihm beizustehen. Aber daran hinderte sie das eigene Dilemma, der Dämon Durst, der in ihr erwacht war und seinen Tribut forderte. Wie der Schöpfer es gewollt hatte.
ER hatte ihr diese Falle gestellt, indem ER ihren Körper so veränderte, daß sie das schwarze Blut von Vampiren trinken mußte, um eigenes Siechtum und Qualen zu vermeiden, die einem Fegefeuer gleichkamen! Offenbar hatte Gott damit sicherstellen wollen, daß sie unermüdlich denen nachjagte, die der Seuche aus dem Lilienkelchs entkommen waren. Die Ereignisse der letzten Wochen hatten es jedoch mit sich gebracht, daß sie lange nicht mehr den Geschmack vampirischen Blutes auf der Zunge hatte spüren dürfen. Obwohl sie Vampire und deren Dienerkreaturen bekämpfte, hatte sie es einfach verpaßt, sich das zu holen, was sie zur Aufrechterhaltung der eigenen Existenz brauchte. Vielleicht habe ich mich auch einfach zu sicher gefühlt und die Gefahr, die im Verzicht steckt, unterschätzt … Das rächte sich nun zunehmend. Dabei wäre es so einfach gewesen, das Martyrium zu beenden. Nun, da er zu ihr zurückgekehrt war. Denn ob gut oder nicht – Hidden Moon war ein Vampir. »Das glaube ich dir«, antwortete sie. »Und ich wollte, ich könnte mehr für dich tun.« Sie erzitterte. Auf fast magische Weise entging ihm ausgerechnet dieses kurze Schaudern nicht. Sein in undefinierbare Fernen gerichteter Blick begnügte sich plötzlich wieder mit dem Unmittelbaren. Und mit ihr. »Ich habe das, was mich bedrückt, nun angesprochen«, sagte er. »Hab du nun auch Vertrauen zu mir …«
* Die Helligkeit des Tages schien vor den beiden äußerlich so unterschiedlichen Gestalten, die sich in dem schäbigen kleinen Motelzim-
mer aufhielten, zurückzuprallen. In der Verfassung, in der sie beide waren, verströmten sie eine Art von Düsternis, gegen die natürliches Licht kaum ankam. Hidden Moon war sich dessen gerade schmerzlich bewußt geworden. Und den Anblick des Adlerkadavers ertrug er keine Minute länger. Mit überhastet wirkenden Bewegungen schloß er den Sack und stellte ihn vor die Tür, hinaus auf den Korridor. Eine Entdeckung fürchtete er nicht – weil er augenblicklich nur das fürchtete, was in ihm vorging. Er gab sich die Schuld am Tod des Adlers, das hatte er auch Lilith zu vermitteln versucht. Schon das Reden darüber hatte ihm geholfen, die in Aufruhr geratenen Gefühle wieder leidlich zu bändigen. Aber was wirklich dort draußen in den Wäldern des Cedar Buttes geschehen war und warum die versuchte Annäherung an einen neuen Seelenvogel im Tod des Adlers geendet hatte, wußte er immer noch nicht. Seine Augen hatten sich Liliths Gesicht als Fixpunkt gewählt. Als Halt. Sie ist wunderschön, dachte er. Aber auf einer nicht in Worte zu fassenden Ebene gab es noch etwas anderes, was sie für ihn so anziehend machte – und dieses Etwas dünkte Hidden Moon neu. Er war überzeugt, es damals in Bangor nicht an ihr bemerkt zu haben, wenngleich sie ihn schon dort fasziniert hatte. Und auch das Eingeständnis, das jetzt über ihre Lippen rann – das Eingeständnis, sich von Vampirblut ernähren zu müssen, so wie er das warme Blut von Menschen brauchte –, erschütterte ihn nicht wirklich und schon gar nicht nachhaltig. Er begriff nur nicht, was sie veranlaßt hatte, den Mann im Nachbarzimmer zu überfallen, der ein Mensch war (und noch weniger konnte er in ihrer Nähe verstehen, was ihn zu ihr zurück getrieben hatte – mit welcher eigentlichen Absicht er sie aufgesucht hatte …). Auf seine Frage schürzte sie die Lippen. »Mit Logik hatte es nichts zu tun«, gestand sie ein. »Als du mich fandest, war ich nur noch von
meinem Trieb gesteuert. Und ich merke seit langem, wie sehr ich den Zeiten nachtrauere, als auch ich noch rotes Blut trank. Es unterscheidet sich völlig von dem Saft, der einen Vampir durchströmt – schwarzes Blut, dessen Natürlichkeit im Lilienkelchs hängenblieb …« »Vorsicht«, warnte Hidden Moon, ohne es wirklich ernst zu meinen, »du redest gerade auch über mich.« Sie nickte. »Das ist mein gegenwärtiges Problem. Mit dem Geschmack habe ich mich inzwischen abgefunden – gezwungenermaßen –, aber nicht mit dem Verzicht.« »Wenn ich dich richtig verstehe«, sagte er, »wäre dir vorhin alles recht gewesen, um dich wenigstens zu sättigen.« »So könnte man es ausdrücken.« »Wenn du nicht hin und wieder in den Genuß von Vampirblut kommst, ist es so, als wenn ich über einen längeren Zeitraum auf Menschenblut verzichten müßte …« Nur die Schweißtropfen auf ihrer Stirn und das Flackern in ihren Augen verrieten, wie es in Lilith in diesem Moment aussah, und daß es mit jeder verstreichenden Minute schlimmer wurde. Sie steht vor einem gedeckten Tisch, dachte Hidden Moon, und verbietet sich selbst, sich daran zu bedienen. »Komm her«, sagte er und streckte die Hände aus. Sie stand ohnehin ganz nah bei ihm, und als sie jetzt einen Schritt nach vorn machte, brauchte er nur noch die Arme um sie zu schlingen und sie an sich zu pressen. »Wie kannst du glauben, daß ich es dir unter diesen Umständen nicht gestatten würde?« Sie blickte fragend – aber auch hoffnungsvoll. Was in diesem Moment hinter seiner Stirn vorging, hätte sie wie ein Schock getroffen und vermutlich jede noch vorhandene Hemmung, ihn wie einen x-beliebigen Vampir zu behandeln, erstickt. Denn Hidden Moon dachte: Wie schafft sie es nur? Wie schafft sie es, daß mir der eigentliche Grund, ihr hierher zu folgen, plötzlich völlig nich-
tig erscheint? Ich kam doch – um sie zu töten …
* Vertrauen, dachte Lilith zur gleichen Zeit. Kann ich einem vom Kelch getauften Geschöpf tatsächliches Vertrauen entgegenbringen? Warum nicht? Sein eben gemachtes Angebot bestätigte doch, daß er es verdiente. Und deshalb mußte sie ihn warnen. Er wußte längst nicht alles von ihr – und ihren Eigenheiten. »Ich kenne deine regenerativen Kräfte – und ich weiß, daß ein wenig Schmerz dir nichts bedeutet. Vielleicht …«, sie zwinkerte ihm in einem Anflug von Übermut zu, der aber sofort wieder erlosch, »… hättest du sogar deinen Spaß daran, wenn ich meine Zähne in dich bohre … Aber das hätte unabsehbare Folgen.« »Folgen? Welche?« Er hatte wirklich keine Ahnung. Wie sollte er auch? »Auch ich gebe einen Keim weiter«, klärte sie ihn auf. »Zunächst war er dazu gedacht, Diener zu zeugen …« Hidden Moon nickte, weil er mit dieser Möglichkeit vertraut war, und Lilith ersparte es sich, ihm die feinen Unterschiede zwischen ihren damaligen Helfern und einer Dienerkreatur zu erläutern. »Inzwischen«, sagte sie, »hat sich die Wirkung dieses Keims jedoch grundlegend gewandelt. Er zielt nun ganz auf Vampire, und jeder Schwarzblütige, der damit in Berührung kommt, verliert die Freiheit seines Willens, verfällt mir bedingungslos … Ich kann mir nicht vorstellen, daß dir daran liegen könnte, mir in solcher Weise hörig zu sein – und mir wäre dieser Gedanke auch mehr als zuwider. Deshalb sollten wir es – wenn du einwilligst – indirekt durchführen.« Sie brauchte ihm nicht zu erklären, wie das vonstatten gehen sollte. Hidden Moon besaß ein genügend Maß an Phantasie, um es sich auszumalen.
»Einverstanden«, sagte er, »und danach –« »Danach wirst du gehen und nach einem anderen Adler Ausschau halten«, fiel sie ihm resolut ins Wort. »Was immer deinen ersten Versuch vereitelte, es wird sich nicht wiederholen – da bin ich sicher!« Er schloß die Augen und drängte die dunklen Nebel, die erneut aus bodenlosen Tiefen aufstiegen, zurück. Die Anstrengung blieb von Lilith unbemerkt, und als er sie das nächste Mal ansah, hielt sie schon einen leeren Becher in der Hand, der darauf wartete, gefüllt zu werden …
* Zwei Tage später, 29. März Lilith irrte wie ein Gespenst durch die Stadt. Dies war immer noch New Jericho, und in einigen der männlichen indianischen Gesichter, die ihren Weg kreuzten, sah sie einen hoffnungsvollen Moment lang Hidden Moon. Es blieb eine unerfüllte Hoffnung. Seit dem Morgen, an dem er ihr sein Blut zu trinken gegeben hatte, war er verschwunden. Und sie hatte ihn fortgeschickt! Sie hatte ihn mit Nachdruck aufgefordert, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen … … ohne allerdings zu ahnen, daß es so lange dauern würde. Und noch weniger hatte sie geahnt, daß die Erleichterung, die vorübergehende Erlösung, die sie sich von seinem Blut versprochen hatte, nicht eintreten würde. Schon wenige Stunden nach ihrer erneuten Trennung hatte sie gespürt, daß nichts wie sonst war. Daß sie sich, was die Wirkung des Trunks anging, etwas vorgemacht hatte! Es ging ihr nicht wirklich besser, und dafür gab es nur zwei mögli-
che Erklärungen: Entweder enthielt Hidden Moons Blut, nachdem er in gewisser Weise einen Sonderstatus unter Vampiren errungen hatte, nicht mehr jene Komponente, auf die Lilith angewiesen war. Oder Gott duldete keine Ausnahme, bestand darauf, daß keiner der Nachkommen jener Geheimen Kinder, auf die die Alte Rasse zurückging, verschont wurde. Dann gehörte es vielleicht einfach dazu, daß sie den Keim in ihr Opfer übertrug, es knechtete und vernichtete … Lilith hatte Zeit gehabt, sich über die Folgen klarzuwerden. Die Konsequenzen, die sie selbst bereit war daraus zu ziehen. Und sie war zu der Überzeugung gelangt, daß Hidden Moons Tod ein zu hoher Preis nur dafür war, wieder Ruhe und vorübergehende Sättigung zu finden. Eines Tages, wenn sie bis auf die unsterblichen Arapaho alle anderen Vampire gefunden und getötet haben würde (auch Hidden Moons Volk!), mußte sie ihre diesbezüglichen Skrupel neu überdenken – weil sie sonst den Lohn aufs Spiel setzte, den Gott ihr versprochen hatte. Ihr Menschsein. Aber bis dahin würde noch viel Zeit vergehen. Jahre … Sie blieb stehen und kreuzte den entsetzten Blick einer alten Frau, die mit ihrer Enkelin auf einer Parkbank am Straßenrand saß. Als Lilith hörte, daß das Mädchen lautstark einen Taschenspiegel von seiner Großmutter zurückforderte, weil sie ihr Haar ordnen wollte, wußte sie Bescheid. Lilith lächelte der Indianerin mit dem streng gescheitelten und hinten gebundenen Haar beruhigend zu – aber sie bewirkte das Gegenteil. Die Frau sprang regelrecht von der Bank auf und riß ihre Enkelin am Arm mit sich. Dabei fiel der Spiegel aufs Pflaster und zerbrach. Das Mädchen weinte, aber seine Granny ließ sich nicht beirren. So schnell sie konnte, zog sie das Kind hinter sich her – weg von der Bank und weg von Lilith. Ein paarmal schaute sie gehetzt über die Schulter, als fürchtete sie nichts anderes, als daß Lilith ihnen folgen
könnte … Als die beiden in ein Kaufhaus verschwanden, ertappte sich Lilith dabei, daß sie die kurze Ablenkung regelrecht genossen hatte. Sie sah auch keine Veranlassung, der alten Frau mit Hypnose die Erinnerung an das zu nehmen, was sie offenbar durch Zufall im Spiegel gesehen – oder vermißt – hatte … Lilith setzte sich wieder in Bewegung. Sie wußte, daß jede weitere Stunde in New Jericho nicht nur sie selbst, sondern auch andere in akute Gefahr brachte. Schon einmal war ihr Blick für die Farbe des Blutes, dem sie nachjagte, getrübt gewesen, und hätte nicht Hidden Moon … Genug! Sie würde dieser Stadt den Rücken kehren. Noch heute. Und dann mußte sie einen Ort finden, an dem Vampire überlebt hatten – wenigstens einer. Sie hätte es nie für möglich gehalten, sich einmal so sehr nach ihren erbittertsten Feinden zu verzehren …
* Die Sonne stand im Zenit, als die Echos ultrahoher Schreie von den verbrannten Gerippen hölzerner Tragkonstruktionen zurückgeworfen wurden – von den Überbleibseln einer Siedlung, deren Bewohner vor langer Zeit einen unheilvollen Pakt geschlossen hatten. Mit einem Unheilsbringer namens Landru. Sie hatten keine Wahl gehabt, damals. Und jetzt waren sie fort – weil sie begriffen hatten, daß die alten Zeiten für immer vorbei waren. Wie hier würden sie nirgends auf der Welt mehr leben können. Aber vielleicht anderswo in anderer Weise, nicht mehr als Gemeinschaft und trotzdem respektvoll im Umgang mit den Menschen, die ihnen haushoch unterlegen waren … Lilith, die sich am Rand des Dorfes aus ihrer Fledermausgestalt
zurückverwandelte, hoffte beim Anblick der verbrannten Zelte nicht nur das. Sie erhoffte sich auch, hier eine Spur von Hidden Moon zu finden – ehe sie ihren Flug mit noch unbestimmtem Ziel fortsetzte. In ihrem Kopf wisperte der gespenstische Wahn. Unablässig. Nicht einmal im Zustand der Transformation hatte er sie verschont. Liliths nackte Füße schritten durch Asche und Staub. Ansonsten war sie in ein grauschwarzes Catsuit gekleidet, das ihre Weiblichkeit eher unterstrich als kaschierte. Aber daran dachte sie nicht. Daran dachte sie nie … »Hidden Moon?« Sie rief seinen Namen, so laut sie konnte. »Wyando?« Sie sog die Luft ein. Sie wußte, daß keine Antwort kommen würde. Sie wußte es instinktiv. Dennoch wiederholte sie ihre Rufe viele Male. Zwecklos. Sinnlos. Närrin, wisperte das Teil von ihr, das sie nicht sein wollte und doch war: Creannas Erbgut. Das mütterliche Erbe einer Vampirin, der Lilith nie Auge in Auge begegnet war – und an deren Leben sie doch auf absurdeste Weise hatte teilnehmen dürfen, damals, im Strudel entartender Traumzeitmagie …* Dann verdrängten frischere Erinnerungen ihre Gedanken an das Leben vor Uruk. Vor dem Wendepunkt, den ihr Dasein genommen hatte. Pacahee, Metseeh, Chelana … Das waren Namen, die mit dem Hier verbunden waren … »Hidden -?« Schreie aus anderen Kehlen ließen Lilith mitten in ihrem Ruf verstummen. Sofort spähte sie zum Himmel über dem lichten Hain. Bei ihrer Ankunft hatte sie auf verdächtige Dinge geachtet und nichts bemerkt. Nun sah sie mehrere Adler in einiger Entfernung aus den Bäumen steigen. Sie flatterten hoch, als wären sie von etwas
*siehe VAMPIRA H15: »Ich, Creanna«
aufgeschreckt worden. Ohne Zögern erhob auch Lilith sich wieder in die Luft. Ihre Schwingen trugen sie steil nach oben – und dann nach Norden, wo die kleine, aufgebrachte Adlerschar wie eine Horde Geier kreiste. Köpfe und Schnäbel waren zum Boden geneigt. Und wenig später sah Lilith die Gestalt, die auch sie beobachteten. Es war Hidden Moon. Und doch wieder nicht … Noch während sie auf ihn zuschritt, erkannte sie die Mauer, die sich zwischen ihnen errichtet hatte. »Komm mir nicht zu nahe!« fauchte er. Leidenschaftlicher, extremer Haß ließ seine Stimme schwanken. Und noch mehr schwang darin mit … Niedertracht! Lilith verstand die Welt nicht mehr. Sie wollte sich nicht eingestehen, sich in ihm so sehr getäuscht zu haben. Aber die Bilder, das Szenario, das er um sich herum geschaffen hatte, sprachen für sich. Unbewußt blieb sie stehen. Fünf Schritte von einem personifizierten Alptraum entfernt. Hidden Moon thronte wie ein schrecklicher Götze auf dem Stumpf eines Baumes, den irgend jemand irgendwann einmal gefällt haben mußte – wahrscheinlich die Arapaho selbst. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt, die sich mit der Schwärze seines Blutes vollgesogen zu haben schien. Düster glühten auch die beiden Augen darin, und das Blut, das nicht seinem Körper entsprang, sondern den Leibern der toten Vögel ihm zu Füßen, hatte – ob zufällig oder in obskurer Absicht – kryptische Symbole von furchtbarer Ausdruckskraft darauf gezeichnet. Manches von diesem Blut war geronnen, jenes in Hidden Moons Mundwinkeln mit Sicherheit aber noch ganz frisch … Er hatte Lilith schon früh bemerkt, nicht erst, als sie unmittelbar bei ihm ankam. »Besser, du wärst nicht gekommen …«
»Stimmt«, gab sie zu. »Aber das wußte ich vorher nicht. Ist es nicht verrückt, daß ich mir Sorgen um dich machte?« Sie hatte Mühe, zurückzuhalten, was sich hinter ihrer Kehle staute. »Ich konnte nicht dagegen an«, sagte er, ohne wirklich den Eindruck zu erwecken, sich rechtfertigen zu wollen. Dennoch schien Liliths Ankunft etwas in ihm zu bewegen – und zu verändern. Bewegung kam in die wie in Stein gemeißelte Mimik. Auch die Pupillen verloren ein wenig von ihrem gläsernen Frost. »Hast du es denn versucht?« Er schwieg. »Warum hast du mich belogen?« »Belogen?« Sie zeigte auf die Kadaver, insgesamt drei. »Das sind nicht deine ersten Opfer. Der Adler, den du mir in der Stadt gezeigt hast, war auch von dir getötet, oder?« Er richtete den Blick nach innen, zögerte kurz, dann nickte er. »Warum?« fragte sie. »Ich dachte, die Adler seien euch heilig. Haben nicht Chelana, Pacahee und Metseeh dasselbe getan wie du – weil sie besessen waren von einer abgründigen Kraft?« »Das kannst du nicht vergleichen.« »Nein?« Sein Blick ging ins Leere. Seine Lippen zuckten. Lilith wußte nicht, was er gerade in sich selbst erkannt hatte, aber es schien ihn zu entsetzen. Plötzlich streckte er die Hände aus. Die Maske fiel – aber darunter kam auch nur etwas zum Vorschein, was die Frage aufwarf, ob dies nicht eine erneute Verstellung war. »Hilf mir …«, stammelte der Arapaho, ohnmächtig wie das Kind, das vor kaum noch vorstellbar langer Zeit durch diesen Wald gerannt war – auf der Flucht vor einer Werwölfin, die ihn schließlich im Unterholz aufgespürt und sein Schicksal besiegelt hatte. »Wenn du kannst … dann hilf mir! Ich weiß nicht mehr weiter …« Seine Stimme versagte. Fast angeekelt starrte er auf seine Hände –
auf das Blut daran, das nur von den bestialisch verstümmelten Vögeln um ihn herum stammen konnte. »Ich wollte es nicht … Ich wollte es nicht! Ich rief nach ihnen. Ich wollte einen neuen … Seelenvogel erwählen! Aber jedesmal, wenn ich den Kontakt vertiefen wollte – reagierten sie mit … Verweigerung, und aus Wut darüber …« »Aus Wut?« Hidden Moon nickte. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich konnte meine Emotionen einfach nicht mehr zügeln. Sie gingen mit mir durch … und du hast recht, es war nicht das erste Mal …« Lilith wußte nicht, was sie antworten sollte. Der Mann vor ihr auf dem Baumstumpf war nicht mehr derjenige, zu dem sie sich intuitiv und überaus stark hingezogen gefühlt hatte … … warum akzeptierte sie es dann aber nicht einfach, ihn verloren zu haben? Warum dachte sie nicht endlich an sich und ihre Not? Auch wenn sie nach außen hin die Fassade aufrechterhielt, innerlich ähnelte sie längst dem Zerrbild, in das sich Hidden Moon verwandelt hatte. »Du wirkst auf mich bedauernswert, krank, ja geradezu … schizophren«, sagte sie. Er widersprach nicht einmal, im Gegenteil. »Das bin ich wohl auch. Ich mißtraue mir selbst. Bei allem, was ich tue oder sage, beobachte ich mich wie jemanden, den ich nicht kenne und nie kennenlernen möchte! Als ich dir den Leichnam des ersten Adlers brachte, wollte ich dich schon …« »Wolltest du mich …?« Er mied das Wort. Aber Lilith las es in seinen Augen. »Töten?« fragte sie. Da entflammte in seinen Augen ein Licht. Hidden Moon schrie qualvoll auf – so laut, so tollwütig, daß die Adler am Himmel auseinanderstoben, während sich der auf dem Baumstumpf kauernde Arapaho ein Gefieder überstreifte und Lilith
zu seiner Beute erkor. Mit rauschendem Flügelschlag und irrlichternden Gedanken schoß Hidden Moon auf sie zu. Erneut durfte er sich dabei begleiten, wie er Dinge tat, für die er sich bei klarem Verstand gehaßt hätte …
* Es kam von ganz innen und war ein verzweifeltes Aufbäumen von Hidden Moons finsterer Seite. Die es nicht duldete, wie er sich einer Fremden gegenüber zur Rechtfertigung verpflichtet fühlte. Die nicht wahrhaben wollte, daß diese Fremde alles andere als fremd war … Wyando wurde zum Berserker. Zum Vernichter. Diese Frau – dieses Mischwesen – trug selbst die Schuld für das, was nun geschah. Sie hatte ihm seinen Anker auf dieser Seite des Lebens geraubt, seinen einzigen Halt, den Adler … Ein kreischender Schrei brach aus seinem Schnabel. Anklage und Urteil in einem. Und … Vollzug! Er erreichte Lilith, die ihn wie ein Fels in der Brandung erwartete und sich nicht in jene Gestalt floh, in der sie ihm hätte unterliegen müssen. Adler gegen Fledermaus … Der Sieger wäre vorprogrammiert gewesen. Aber sie entschied sich für etwas, was ihm – wie sie glauben mochte – Paroli bieten konnte. Noch während er die Distanz in rasendem Flug überbrückte, bemerkte er, wie sie wuchs. Es mochten alles in allem nur Zentimeter sein, aber Fakt blieb, daß sich ihre Konturen verschoben. So war es immer, wenn ein Vampir die menschliche Tarnung abwarf – wenn er in die Metamorphose ging und seine Hülle zum Spiegelbild tiefster Begierden verkommen ließ … Auch sie hat ihre Abgründe, dachte er noch. Dann bohrten sich seine Krallen auch schon in ihre Schultern und hieben seine knochigen Flügel auf ihren Kopf ein, während seine hornigen Klauen sich um ihr Schlüsselbein klammerten.
Aber dann … … bekam der Adler, der Wyando war, ihre Wehrhaftigkeit zu spüren. Sie war nicht das Lamm, das er sich wünschte. Sie hatte ebenfalls Klauen und Zähne – und einen Dämon im Leib, dem seinen mindestens ebenbürtig. Liliths Fäuste schlossen sich um die Beine des Adlers, unmittelbar über dem Klauenansatz. Sie versuchte die gekrümmten Krallen aus ihrem Fleisch zu reißen – und als sie scheiterte, besann sie sich auf andere Möglichkeiten. Ungeachtet der Schläge, die ihr die Flügel zufügten, und der heimtückischen Dolchstöße des niederhackenden Schnabels biß sie zu! In die weiche, ungeschützte Bauchseite des Adlers. In den Flaum, der sie … (Nein, in dieser Situation erinnerte er sie an nichts!) Die peitschenden Flügel, deren Spannweite aus der Nähe noch unglaublicher wirkte, hielten einen Sekundenbruchteil inne, als Lilith Zähne zuschnappen wollten. Im nächsten Moment wurde Lilith vom Gewicht eines veränderten Feindes zu Boden geworfen. Hidden Moon hatte gedankenschnell auf ihren Versuch reagiert, ihm den Keim in die Blutbahn zu säen. Den Keim, der Vampire zu devoten Schlachtopfern degradierte …! So änderte Hidden Moon seine Strategie bereits, kaum daß der Kampf richtig begonnen hatte! Lilith kümmerte sich nicht um ihre klaffende Schulterwunde. Ihr Körper half sich selbst; er brauchte dafür keine besondere Beachtung. Über ihr klafften Wyandos Kiefer. Seine Hände hatten sich in ihrer wilden Haarmähne verfangen und bemühten sich, sie daran zu hindern, ihre Zähne in seine glatte Haut zu bohren. Lilith verfuhr mit ihm genauso. Fauchend wälzten sie sich über den Boden, über Laub und Gehölz und manchen Tierkadaver. »Du kannst nicht gewinnen!« fauchte Wyando. »Du glaubst, ein
Vampir zu sein, doch es mangelt es dir an der letzten Bereitschaft, dich der Kraft ganz hinzugeben! Aber nur so könntest du mich besiegen …« Sie lachte bitter, während sie ihr Ringen fortsetzten. Hidden Moon schaffte es irgendwie, einen Fuß auf ihre Brust zu setzen, als sie über ihm lag – und dann katapultierte er sie aufbrüllend von sich. Es war ein solcher Ausbruch von Kraft, daß Lilith eine kleine Ewigkeit haltlos durch die Luft zu rudern glaubte, ehe sie mit dem Kopf gegen den Stamm eines nahen Baumes krachte. So unglücklich, daß sie sekundenlang benommen liegenblieb. Seiner Willkür ausgeliefert. Unfähig, auch nur zu begreifen, daß er bereits wieder auf sie zuflog. Daß seine Hände einen herumliegenden Ast ergriffen, in der Mitte entzweibrachen und die spitzere Hälfte auf ihr Herz setzten. »Fahr zur Hölle!« keuchte das Indianerkind, das vor dreihundert Jahren verwandelt aus dem Totenreich zurückgekehrt war. Aber dann verhinderte ausgerechnet jenes damals gestorbene Kind, daß der Pfahl Liliths Leben zerstörte!
* Wyando weinte wieder schwarze Tränen, die auf Lilith herabfielen, durch die Poren ihrer Haut sickerten … … und sie erwachen ließen! Sie schlug das Holz beiseite – es flog in hohem Bogen davon. Aber schon während ihr Arm dem inneren Überlebensreflex Folge leistete, wußte ihr Verstand, daß sie ihr Leben nur einem einzigen Umstand verdankte: Wyandos Gnade. Es war nicht mehr Wyando, der über ihr kauerte und den Pflock ohne Bedenken durch ihre Rippen hindurch getrieben hätte. Hidden Moon war Wyandos zweites Gesicht … War es so? Hatte sie sich mit einem Januskopf eingelassen?
Erschüttert nahm Lilith seine Betroffenheit zur Kenntnis. Wie er zitternd über sie gebeugt neben ihr hockte, ganz offenbar unfähig zu begreifen, welche Motive ihn gerade noch bewegt hatten. Liliths Züge nahmen eine friedvollere Struktur an als auf dem Höhepunkt der ebenso kurzen wie heftigen Konfrontation. Sie wollte etwas sagen. Aber ihr fiel kein einziger passender Satz ein. Und dann war da noch … die Unfähigkeit, sich selbst begreiflich zu machen, warum sie erneut auf ihn hereinfiel. Schon wieder so tat, als könnte sie ihm alles verzeihen …! Sie brauchte doch sein Blut! Und wenn sie es richtig anstellte, wenn sie ihn tötete, würde es auch seine Wirkung entfalten … »Worauf wartest du?« fragte er, ihr stummes Ringen als das deutend, was es auch war. »Mach ein Ende, bevor es das nächste Mal über mich kommt und sich nicht mehr ins Gewissen reden läßt …« Liliths Finger gruben sich in die lockere Erde des Waldes. Die Kühle dort half ihr, das, was sie erlebte, als Realität anzunehmen. Am liebsten hätte sie in diesem Boden Wurzeln geschlagen, hätte sich darin versteckt. Und wenn sie den Blick auf Hidden Moon richtete, wurde ihr klar, daß ihn ganz ähnliche Wünsche bewegten. Vielleicht ahnte er, was mit ihm geschah, und war nur noch nicht bereit, es sich in voller Tragweite einzugestehen. Aber ebensogut war es möglich, daß er an seiner eigenen Unwissenheit – und Ohnmacht – zerbrach … Minuten zuvor wäre es noch undenkbar erschienen, aber nun streckte Lilith die Hand aus und berührte sein Gesicht. Die Wange, auf der etwas Unerklärliches seine Spur hinterlassen hatte. »Diese Tränen«, sagte sie. »Zuerst hielt ich sie für eine Halluzination. Aber ich kann sie fühlen. Mir kommt es vor, als wären sie …« »Aussatz«, sagte Hidden Moon. »Was das angeht, bin ich mir fast sicher. Ich habe diese Tränen schon einmal geweint – nur unterschätzt. Als ich mit Nona fortging, war mein Adler in den Weiten des Landes unterwegs, und der Dringlichkeit wegen wartete ich seine Rückkehr nicht ab. Ich war überzeugt, nicht lange weg zu sein.
Aber dann wurden es doch viele Tage, und bei meiner Rückkehr tötete ich eine Frau, der ich nie etwas zuleide tun wollte. Sie hätte mir ihr Blut auch ohne Gewalt überlassen. Ich weiß nicht, warum ich nicht schon da durchschaute, was mit mir vorging. Vielleicht war das, was in mir allmählich die Oberhand gewann, schuld daran. Ich war schon dort zu lange von meinem Seelenvogel getrennt. Und trennte mich wieder, um nach New Orleans zu reisen und dich zu befreien – statt ihn zu suchen. Als ich dann mit dir ins Dorf zurückkehrte, war mein Seelenvogel bereits dort – und vielleicht hatte er auf mich genauso sehnsüchtig gewartet, wie ich auf ihn. Aber die Ereignisse überschlugen sich, und schließlich starb er, ehe der Austausch, ehe die Katharsis hatte stattfinden können. Und seither …« »… beherrscht dich das, was Landru einst erweckte«, murmelte Lilith. Hidden Moon schlug die Augen nieder. Lilith hatte das Gefühl, als versuchte er, ihre Hand mit seinen Gedanken festzuhalten wie mit einem Magneten. Trotzdem zog sie sie zurück. In ihrer Brust war ein Knoten, der sich mit jeder verstreichenden Stunde enger zusammenzog. Ein einziges Mal hatte sie sich ähnlich verloren gefühlt. Damals hatte sie ihren Durst noch mit Blut löschen können, wie es an jeder Straßenecke zu finden war, und ihre Beweggründe, sich diesem Verlangen zu widersetzen, waren völlig anderer Natur gewesen. Aber die Qual war dieselbe. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du in deinen lichten Momenten nicht einen neuen Seelenvogel herangezogen hast. Ist dein Rückfall schon so weit gediehen, daß das Böse dich jedesmal zwingt, die Vögel zu töten, statt auf ihre heilende Aura zu vertrauen?« Hidden Moons Lider hoben sich. Die darunter zum Vorschein kommenden Augen schwammen in Traurigkeit und Scham. »Mir fehlt jede Erklärung dafür – und das ist die Wahrheit! Ich habe es mehrmals versucht, mein Innerstes zu reinigen und mich auf
die Seelen der Adler einzulassen. Jedesmal war ich voller Hoffnung, das Band geknüpft zu haben – bis es zerriß. Und wenn es entzwei ging, ließ ich es die Vögel büßen. Inzwischen weiß ich, daß es keine Rückkehr zu den Idealen Makootemanes mehr gibt – jedenfalls nicht für mich. Ich bin verloren. Ich schwimme in einem Sog, dem ich nichts mehr entgegensetzen kann, und wohin er mich reißt, darüber gibt es keine Zweifel …!« »Du gibst auf?« »Mit jedem Adler, den ich rief, der mir vertraute und dies mit dem Leben bezahlte, habe ich es klarer begriffen: Ich bin nicht mehr der, der ich war. Ich habe meine Fähigkeit, spirituell mit den Adlern zu verschmelzen, verloren! Das ist eine Tatsache, die kein anderer klarer einschätzen kann als ich – also versuche erst gar nicht, mir etwas anderes einreden zu wollen!« »Du irrst dich«, gab Lilith ungerührt zurück. »Wenn alles so liefe, wie du glaubst, wärst du nicht davor zurückgeschreckt, mich zu pfählen!« »Gut und Böse streiten noch in mir …« »Genau! Und nur wenn du aufgibst, hat das Böse endgültig gewonnen!« Er verzog das Gesicht. »Du mußt verrückt sein, das riskieren zu wollen. Du wirst die erste sein, die für ihren Irrtum bezahlen muß! Warum tust du das?« Ja, dachte Lilith, warum? »Du bist genauso gefährdet wie ich«, sagte sie laut. »Wenn ich nicht bald einen deines Blutes finde und meinen Auftrag an ihm vollziehe – ihn töte und aus ihm trinke –, werde ich wohl noch vor dir in die Ewigen Jagdgründe eingehen …!« »Ich wiederhole: Du bist verrückt!« Nach dir, dachte sie. Gott, ich will es nicht – es ist einfach stärker als ich … Ich muß meinen Verstand irgendwo vergraben haben! Aber war es nicht immer so, sobald diese Narrheit namens Liebe
ins Spiel kam …?
* 3. April, unterwegs Hidden Moon hatte einen Traum. In diesem Traum war er wieder mit seinem Seelenvogel vereint – eine Begegnung mit der Frau, die das Tier getötet hatte, schien es nie gegeben zu haben. Gemeinsam zogen der Adler und er durch das Land seiner Väter. An den Stamm, in dessen Gemeinschaft er so lange gelebt hatte, erinnerte er sich wie an ein entferntes Kindheitserlebnis. Jetzt gab es nur sie beide, und niemand schrieb ihnen vor, wohin sie zu gehen hatten. Hidden Moon war glücklich – vielleicht glücklicher als je zuvor in seinem Leben … Eine Hand weckte ihn. Sie tastete über seine Brust, und Liliths Stimme flüsterte: »Schläfst du?« Seltsamerweise zerstörte ihre Frage die Harmonie des Traumes nicht. Es gab keinerlei Bruch zwischen dem, was er sich nur im Geheimen gewünscht hatte, und dem, was war. »Nein«, sagte er. »Ich wollte dir etwas sagen.« Sie rückte näher an Hidden Moon heran. Viel näher waren sie sich noch nicht gekommen. »Und was?« »Daß ich es nicht bereut habe.« Er wußte sofort, wovon sie sprach. Dennoch wiegelte er ab: »Fühl dich nur nicht zu sicher!« Ihre Hand glitt ein wenig tiefer. Zu seinem Nabel. »Wir sind jetzt den fünften Tag unterwegs«, sagte sie, »und ich habe keine negative Veränderung mehr an dir bemerkt. Ganz im Gegensatz zu mir.« Erst als sie kurz schwieg, spürte er ihre Hitze. Ihre Glut, die ihn an den Tag erinnerte, als er ihr sein Blut aus einem
Becher zu trinken gegeben hatte. »Wir können es noch einmal versuchen«, sagte er. »Ich halte meinen Arm über deinen Mund, und du versuchst zu vergessen, wer ich bin …« »Nein!« »Nein?« »Ich könnte für nichts mehr garantieren – und so kurz vor dem Ziel wäre es ein unnötiges Risiko, den Bogen zu überspannen. Morgen, gegen Abend, werden wir Osceola erreichen.« »So kurz vor dem Ziel …«, echote er. »Ich habe es dir von Anfang an gesagt: Ich kann dir nicht die Garantie geben, daß er noch da ist. Es war ein Gerücht, das uns vor einigen Jahren zugetragen wurde. Und da dreihundert Meilen ziemlich nahe sind, interessierte uns die Legende kurze Zeit – aber nie so sehr, als daß einer von uns aufgebrochen wäre, ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.« »Ich weiß.« Er spürte ihre Lippen auf seinem Arm. Sie waren weich und warm und saugten spielerisch an ihm. »Das hast du mir gesagt …« In ihrer Stimme knisterte alles, was ein Mann sich von einer Frau nur wünschen konnte. Und neben allem anderen waren sie nicht zuletzt schließlich auch das: Mann und Frau …
* Sie fielen übereinander her – völlig ausgehungert, was Zärtlichkeit anging. Sie hatten es beide schon lange gewollt, aber irgendwie immer den richtigen Zeitpunkt verpaßt. Jetzt aber, in einem namenlosen Motel an einer namenlosen Straße, stimmte die Konstellation, paßte alles zusammen, um sämtliche Hemmungen, Bedenken und Sorgen abzustreifen! Hidden Moons Küsse schmeckten herb wie Tabakrauch. Lilith ließ
sich völlig fallen, kaum daß ihre Lippen miteinander verschmolzen und ihre Zungen temperamentvoll miteinander zu ringen begannen. »Ja«, hauchte sie ihren warmen Atem in seine Mundhöhle. »O ja …« Für einen Indianer küßte er verdammt gut. Lilith wußte nicht, warum ihr dies überhaupt auffiel – sie hatte vor Hidden Moon noch nie einen Indianer geküßt. Und selten einen Vampir. Hidden Moon war beides – und vielleicht war es deshalb der Rede wert. Ihm so nahe, fühlte sich Lilith urplötzlich an Landru erinnert. Landru, mit dem sie einst in die Tempel des Himalaya eingedrungen war, um das Geheimnis der EWIGEN CHRONIK zu entschlüsseln – und der für sie immer mehr gewesen war als nur der Inbegriff von Feindschaft. Nicht umsonst war einst auch Creanna seiner Anziehungskraft erlegen – und auch Nona. Hidden Moon besaß das rare Gut, das auch Landru auszeichnete: Charisma. Sie ragten beide aus der Masse heraus, und wenn man berücksichtigte, daß Landru einen mehr als tausendjährigen Erfahrungsvorsprung besaß, schnitt Hidden Moon um so besser ab. Der Arapaho war schon jetzt eine Persönlichkeit ersten Ranges, und er zog seine Faszination nicht zuletzt aus der ewigen Schlacht, die sein Ego mit sich selbst focht … Stöhnend honorierte Lilith die Liebkosungen seiner Hände, die sie nicht nur rücksichtsvoll, sondern mitunter auch in genau bemessener, etwas härter Gangart anregten. Der Symbiont spielte dieses Spiel mit. Wo immer Hidden Moons Lippen oder Hände Terrain eroberten, wich er bereitwillig zurück – wie perlendes Quecksilber. »Diese Stunde dürfte nie enden«, seufzte Hidden Moon an Liliths Ohr. Dann tauchte er hinab und umfaßte ihre Taille. Sein Mund teilte sich wie ihr kaum behaarter Schoß. Und seine Zunge fand die Quelle ihres herben Geschmacks …
Doch schon nach kurzer Weile bremste sie sein Ungestüm und zog seinen Kopf wieder zu sich empor. »Nein. Ich will dich richtig. Wer weiß, wann wir je wieder dazu kommen …« Sie sah, wie ihn ihre Worte erschreckten. Ein wenig jedoch nur. Dann drängte er seine kühlen Lenden zwischen ihre Beine, und schlafwandlerisch sicher fand auch das seinen Weg, was Lilith am meisten ersehnte. Hidden Moon drang in sie ein und füllte sie aus, wie sie es noch nie bei einem Mann erlebt hatte. Dabei war sie sicher, daß nicht seine Größe dies bewirkte, sondern die Bereitschaft von ihnen beiden, sich dem anderen während dieser Zusammenkunft ohne Einschränkung, ohne ein Tabu zu schenken. Lilith hatte mit vielen Männern – auch Frauen – geschlafen. Bei Hidden Moon hatte sie trotzdem das Gefühl, etwas völlig Neues zu erleben. Sie hoffte, daß es ihm ähnlich erging. Auch sie wollte, daß diese Augenblicke lustvoller Harmonie ewig dauerten. Aber sie wußte, daß alles irgendwann endete. Solches Wissen machte einsam. Selbst in Momenten wie diesen …
* Von der Schwermut, die sich wie ein heimtückisches Gift in Liliths Sinnesrausch mischte, ahnte Hidden Moon nicht das mindeste. Er hatte seine Ratio ausgeblendet. Glücksgefühle fluteten sein Gehirn und verdrängten jeden Schatten. Beinahe jedenfalls. Er hatte wieder Hoffnung geschöpft, dem Bösen auch ohne einen geflügelten Partner die Stirn bieten zu können. Er tat es ja bereits seit Tagen; Lilith hatte völlig recht. Nur verstand er nicht, wieso es ihm plötzlich gelang, dem Täufling in sich zu widerstehen. Half ihm Liliths Nähe?
Seit er ständig bei ihr war, schien sich jedenfalls alles, was in ihm ins Ungleichgewicht geraten war, zögerlich wieder einzupendeln. Seit Tagen hatte sich keine magische Träne mehr aus seinem Auge gestohlen, und auch der eiserne Ring um seine Brust schien sich allmählich zu lockern … Hidden Moon ergab sich den Mechanismen, die nicht nach Erklärungen verlangten. Noch nie hatte er bei einer Frau das Empfinden gehabt, so zu deren Körper zu passen, sich mit ihm zu ergänzen, wie er es hier und jetzt erlebte. Er wußte nicht, ob es Liebe war. Liebe war den Menschen bestimmt. Aber etwas Vergleichbares fand auf jeden Fall zwischen Lilith und ihm statt. Eine Art … Austausch. Geben und Nehmen … Das sonderbare Kleidungsstück, das ihre Haut umfloß, mehrte den Reiz der Begegnung noch. Und es war ein unübersehbares Indiz dafür, daß er erst am Fuß eines hohen Berges spannender Geheimnisse stand, die sich in dieser einzigartigen Frau manifestierten. Sie war die Inkarnation seiner Träume. Seiner hellen Träume. Und sie … Etwas stimmte nicht! Vielleicht trennte ihn nur noch ein einziger Atemzug von einem grandiosen Orgasmus. Aber in diesem Moment, da er ihr – auch mental – näher war als je zuvor, überwältigte ihn die Erkenntnis ihrer wahren Bedeutung … ihres größten Geheimnisses … jedenfalls aus seiner Sicht! Sie spürte den Wandel. Sie mußte ihn spüren, aber sie sagte nichts. Sie lag nur da, unter ihm, und blickte ihn an. Hidden Moon hatte das Gefühl, in ihren Augen zu ertrinken. Es war unbeschreiblich. Sein Körper verkrampfte endgültig. Aber das war ohne Bedeutung. Endlich fragte sie: »Was hast du? Sag nicht, daß du es bereust!« Makootemane hatte einmal gesagt, die Augen der Menschen seien die Türen zu ihren Seelen. Über die Augen war den Arapaho nach der Kelchtaufe der Zugang zu ihren gefiederten Erlösern gelungen.
Und nun … Hidden Moon richtete sich, auf seine Arme gestützt, über ihr auf. »Bestimmt nicht«, sagte er rauh. »Was hast du dann? Du warst so nahe davor …« »Das ist nicht wichtig.« »Nicht wichtig?« »Es läßt sich nachholen«, sagte er langsam, als müßte er jedes Wort bedenken. Und noch sanfter, regelrecht ergriffen fügte er hinzu: »Ich weiß jetzt, warum das Böse seit Tagen keine Macht mehr über mich hat!« Sie verstand nicht. Wie sollte sie auch? »Erkläre es mir.« Er lächelte auf eine Weise, als erwartete ein unwissendes Kind die Erklärung für etwas Selbstverständliches. »Ich weiß nicht, wie es geschehen konnte, aber es geschah. Und es erklärt auch, warum ich außerstande bin, einen neuen Seelenvogel zu finden …« »Warum?« Er löste den Blick von ihren Augen, sank nach unten und bettete seinen Kopf zwischen ihre aufregenden Brüste. »Weil mein Adler immer noch lebt. Weiterlebt …« Möglicherweise fürchtete sie, sein Verstand habe ärger gelitten als befürchtet – obwohl ihre Stimme neutral blieb: »Wo?« Seine Hand glitt über ihren Bauch voller Schmetterlinge bis hinauf zu ihrem Herzen. Dort hielt sie inne. »Das werde ich dir sagen, sobald ich mir selbst sicher bin …«
* Gegenwart Osceola, South Dakota
Er trug eine Krone aus Asche. Und wenn er in Asche badete – was er mit allergrößtem Verzücken tat, weil er sich ihnen dadurch am nächsten fühlte – lauschte er den Stimmen aus dem Gestern. Den Stimmen, die ihn geleiteten und begleiteten, seit die hohe Blüte seiner Macht hinter ihm lag und er dem Drang, sich selbst zu töten, widerstanden hatte. Manchmal glaubte er, das mißlungene Experiment wäre die Ursache, daß er hatte widerstehen können. (Experiment?) Und ein andermal wußte er nicht, ob sich all das, was er erlebt zu haben glaubte, auch wirklich zugetragen hatte – oder ob die »Erinnerungen« daran nicht doch nur dem krankhaften Wahn eines Wesens entsprangen, das nichts anderes als eine monströse Laune der Natur sein mochte. Genau dafür hielten ihn jedenfalls die anderen, in deren Mitte er sich eingenistet hatte. Weil er sie brauchte. Täglich. Und täglich – so war sein Eindruck – mehr … Elende Träume plagten ihn, und die einzige Möglichkeit, ihnen wenigstens für eine Weile zu entfliehen, waren Gäste. Deshalb feierte er die Feste, wie sie fielen – und erfand eigene Anlässe dazu, um all den Prunk, all die Orgien aufleben zu lassen. Natürlich hatte er einen Namen besessen, früher, doch heute verband er damit nur noch den Niedergang seiner ehrgeizigen Pläne – den Verlust eines einzigartigen Statussymbols –, und deshalb hatte er ihn unter Asche begraben. Asche … Seufzend erhob er sich von seinem Thron. Er war müde. Seit Jahrhunderten war er müde, schon seit er mit den ersten Siedlern ins Land des roten Mannes gekommen war. In eine jungfräuliche Welt, in der er sich einen eigenen Neuanfang erhofft hatte. Vergeblich, wie er heute wußte. Er hätte ebensogut in der Alten
Welt ausharren können … Während er die Korridore durchschritt, hatte er das Gefühl, von der Leere des Hauses verschlungen zu werden. Er genoß es. Was geladene Gäste als Bedrohung empfunden hätten, war Labsal für seine millionenfach verletzte, gedemütigte und gebrandmarkte schwarze Seele. Einst wurde ich verehrt wie ein Gott … bis ich mir anmaßte, das INSTRUMENT für ein aberwitziges Experiment zu mißbrauchen … Danach war nichts mehr, wie es sein sollte, und das einzige Glück, das mir widerfuhr, war, daß ich selbst totgeredet wurde, obwohl das, was dem INSTRUMENT entschlüpfte, mich schonte. Bis heute weiß ich nicht, warum. Ich hätte mich ihm gern geweiht – näher war mir kein Geschöpf zuvor – aber es verschmähte mich und jagte mich davon … Er blieb stehen. Die Tür wich vor ihm zurück. Dieses Haus gehorchte den verbliebenen Spuren einstiger Macht. Ich bin dieses Haus, dachte der wahnsinnige Prinz. In einer von ihm selbst isolierten und versiegelten Ganglie seine Hirns schmachtete das Wissen, warum der vampirfressende Moloch ihn damals verschont hatte – wegen der Sprünge und Klüfte, die sich im Moment der Konfrontation in seinem Verstand aufgetan hatten. Gräben, die nichts je wieder hatte zuschütten können … Er wankte kurz wie ein Halm im Wind. Dann setzte er seine Schritte entschlossen über die Schwelle. Dorthin, wo er die Schätze seiner Erinnerung aufbewahrte – die Erinnerungen, die ihm noch immer willkommen waren. Sie erzählten von der Blüte seines Lebens. Er ging zu der Truhe mit dem äschernen Inhalt und hob ihren Deckel. Sie war groß genug, daß er sich hineinsetzen konnte, und das tat er manchmal auch. Tat es und schloß den Deckel über sich, um sich den flüsternden, staubigen Überresten seiner immer noch treuen Diener zu ergeben. Er hatte ihnen Unsterblichkeit versprochen und geschenkt – letzt-
lich auf andere Weise, als sie sich erhofften. Aber an seinem Schicksal hatten sie erkannt, daß, was ewig war, auch ewig litt. Deshalb hatten sie ihm verziehen. Und auch weil sie der einzige Schatz waren, den er sich nie hatte entreißen lassen. Sie waren seine ersten Diener gewesen – und die einzig wahren –, und wann immer sie zu Asche geworden waren, hatte er diese Asche mit Respekt behandelt. In kleinen, tönernen Gefäßen erst. Später – viel später – in dieser Truhe … Seine Hand tauchte in die graue, amorphe Masse ein, die ihn sofort begrüßte. Nur er hörte ihre Stimme. Niemand sonst. Es tat gut, und nie wäre er auf den Gedanken gekommen, Asche hinzuzufügen. Die Kreaturen, die er heute zu seiner Kurzweil erschuf, waren minderwertigste Qualität. Unwürdig, die geadelte Asche des Damals zu berühren … Der Hand wollte er den ganzen Körper folgen lassen. Die Illusion seines Gewandes war bereits gefallen, und in seinem Geist erstanden Prunk und Aura einer im Realen unwiederbringlich verlorengegangenen Zeit. Aber dann wurde ihm die Freude verdorben. ER SPÜRTE ES! Spürte, wie etwas die Grenzen seines kleinen kalten Reiches überschritt … Etwas beinahe so Abnormes wie er selbst … Und er reagierte.
* Darren Tewes wußte nicht, ob die Nacht auch anderswo in der Weise einfiel, wie sie es in Osceola tat. Weil er nie anderswo gewesen war – nicht bei Tag, und schon gar nicht bei Nacht. Kaum jemand, der das Pech hatte, in Osceola geboren zu werden, und somit dazu verdammt war, hier zu leben, war je anderswo gewesen. Weil etwas sie alle Beweggründe vergessen ließ, im gleichen Mo-
ment, da sie die Grenzen ihrer kleinen Stadt hinter sich lassen wollten … Darren Tewes wunderte sich einen Augenblick lang darüber, daß es ihm gelang, diesen verbotenen Gedanken festzuhalten. Dann wurde er ihm auch schon entzogen, entglitt ihm wie etwas Schmieriges, das einem durch die Hände schlüpfte, kaum daß man den Griff darum verstärkte, und versank in Vergessen – oder in jenem Abgrund, in dem alle Gedanken verschwanden, die zu denken Osceola nicht der rechte Ort war … Darren Tewes stand im Dunkeln am Fenster und sah hinaus. Wie er es so oft getan hatte in den sechsunddreißig Jahren seines Lebens. So oft? Ein freudloses Lächeln, nicht mehr als ein flüchtiges Verziehen der Lippen, huschte über sein kantiges Gesicht. In jeder verdammten Nacht, dachte er, in der Hoffnung, daß sie verstreichen möge, ohne daß etwas geschah … Wie immer hatte Darren Tewes beobachtet, wie der Tag im Kampf mit der Nacht unterlegen war. Und wenngleich ihm die Vergleiche fehlten, so ahnte er doch auf eine Art, die an Gewißheit grenzte, daß es anderswo nicht so war. Daß anderswo das Licht der Dunkelheit freiwillig das Terrain überließ, sich der Tag friedlich zurückzog, um der Nacht Platz zu machen. In Osceola indes schien in der Zeit der Dämmerung ein fürchterlicher Krieg zu toben; kurz, aber mit brutaler Allgewalt geführt. Die Finsternis schlich nicht unmerklich heran, sondern stürzte sich auf die kleine Stadt, aus der das Licht nicht weichen wollte. Doch die Nacht vernichtete den Tag, riß Bastionen nieder, die er gegen den Ansturm der dunklen Schwester errichtet hatte. Und wenn dies geschehen war, senkte Dunkelheit sich nicht einfach über Osceola, sondern ergriff Besitz von allem, fraß, was der Tag eben noch besessen hatte, verschlang alles, was zuvor noch Leben gewesen war – um es am Morgen auszuspeien als etwas, das ein bißchen weniger lebenswert schien als am Tag zuvor: das Leben in Osceola …
So war es immer gewesen. Immer. In dieser Nacht jedoch war etwas anders. »Mami wird sterben, nicht wahr?« Die Stimme kam flüsternd aus dem trüben Zwielicht, mit dem eine einzelne Lampe das Zimmer hinter Darren Tewes füllte. Er hatte sie kaum gehört über den leidvollen Schreien, die durch das Haus wehten wie körperlose Gespenster, deren einziger Zweck es war, eben diese Schreie bis in den letzten Winkel zu tragen. Doch selbst die Schreie hatte Tewes aus seinem Kopf ausgesperrt gehabt, solange er in seine allabendlichen Gedanken versunken gewesen war. Jetzt wandte er sich um. Sah hin zu der kleinen Gestalt, die wie verloren auf dem Sofa saß, tapfer versuchend, des Zitterns Herr zu werden, das den schmalen Körper durchlief. »Nein, Geordi«, sagte er dann, so beruhigend er konnte, »Mami wird nicht sterben. Es ist – wie damals …« »Wie damals?« fragte der kleine Junge. »Als sie … dich zur Welt brachte«, antwortete er seinem Sohn. »Als sie dir das Leben schenkte«, hatte er eigentlich sagen wollen. Doch ein Leben in Osceola war kein Geschenk. »Können wir ihr denn nicht helfen?« fuhr Geordi fort. Sein Gesicht wirkte weinerlich, als würden ihm die Schreie seiner Mutter nicht nur in den Ohren wehtun, sondern auch an anderer Stelle seines kleinen Körpers schmerzen, viel tiefer in ihm. Darren Tewes sah wieder zum Fenster hinaus. »Wir müssen auf Doc Manners warten«, sagte er. »Er kann ihr helfen. Es wird alles gut, mach dir keine Sorgen, Geordi.« »Ja, Dad.« Seine Worte entsprangen hörbar nicht echter Überzeugung, sondern allein kindlichem Gehorsam. Draußen fraß etwas einen Tunnel aus schmutzigweißer Helligkeit in die Dunkelheit. Darren Tewes schloß geblendet die Augen, als der Wagen in die Auffahrt zum Haus einbog und das Licht der
Scheinwerfer für den Bruchteil einer Sekunde auf der Scheibe vor ihm explodierte. »Er ist da«, sagte er über die Schulter zu Geordi und ging zur Tür. Er hatte sie kaum geöffnet, da drängte sich auch schon eine hagere Gestalt in einem fast bodenlangen Mantel an ihm vorbei. Doc Manners blieb stehen und sah ihn aus Augen an, deren Müdigkeit durch die stets auf Halbmast gehißten Lider noch offensichtlicher Ausdruck fand. »Wo ist -?« setzte er an. Unter der Bewegung der unsichtbaren Lippen zuckte sein Schnauzbart wie etwas Lebendiges. Ein neuerlicher Schrei, der wie ein Heulen des Windes durchs Haus fuhr, unterbrach ihn. »Ah, oben«, sagte der Arzt. »Natürlich. Kommen Sie mit, Darren? Sie können mir zur Hand gehen.« »Selbstverständlich«, erwiderte Tewes. »Kommen Sie.« Er ging voran zur Treppe. »Kann ich mit?« fragte Geordi leise. »Nein, bleib hier unten, Junge«, sagte sein Vater. »Wir holen dich, wenn dein Geschwisterchen da ist, okay?« »Ja, Sir.« Tewes stieg die schmalen Stufen ins Obergeschoß hinaus, der Doktor folgte ihm. »Hier ist sie.« Darren Tewes öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Augenblicklich gewannen die Schreie seiner Frau an Kraft. Mit schweißglänzendem Gesicht lag sie auf dem Ehebett inmitten des schlicht eingerichteten Raumes. Ihr gewölbter Bauch zeichnete sich unter der Zudecke ab wie ein riesiger Ball. Der Anblick schmerzte Darren Tewes in der Seele. Zum einen, weil er teilte, was Kristin unter dem Ansturm ungeborenen Lebens fühlte – zumindest soweit es ihm als Mann möglich war –; zum anderen, weil sie beide dieses Ungeborene zu einem Leben in Osceola verurteilt hatten, in dem Moment, da sie es ungewollt gezeugt hat-
ten … Der Blick, den Tewes von Doc Manners auffing, bewies ihm, daß auch der Arzt ihn dafür … nun, nicht haßte; aber irgend etwas war in seinem Blick, das mehr war als Tadel und sich irgendwo auf der Emotionsskala ein Stück unterhalb der Grenze zur Verachtung verlor. In jedem Fall war es etwas, das Darren Tewes tief traf – und etwas wie Haß gegen sich selbst auszulösen drohte. Und als er zu Kristin hinsah, entdeckte er jenseits des flackernden Glanzes ihres Blickes etwas sehr Ähnliches … »Nun denn«, sagte Doc Manners. Er zog einen Stuhl heran und ließ sich neben dem Bett darauf nieder. Seine bauchige Arzttasche stellte er auf dem Nachttisch ab und öffnete sie. In dieser leicht zur Seite gebeugten Haltung erstarrte er. Wie auch Darren Tewes plötzlich gelähmt schien. Nur für einen Moment, allerhöchstens für die Dauer einer Sekunde. So lange sie es empfingen. Etwas, das aus dem Nichts kommend den Raum erreichte und ausfüllte und etwas tief in ihnen berührte, initialisierte. Etwas wie ein – Ruf … Als er verhallt war, regten sich die beiden Männer wieder, führten die Bewegung des Momentes zu Ende. Und taten dann doch etwas ganz anderes. »Kommen Sie«, sagte Manners und gab Tewes einen Wink. Er ging zur Tür. Darren Tewes folgte ihm, blieb aber noch einmal stehen, als ihn Kristins Stimme einholte, schwach, aber verzweifelt und schmerzerfüllt. »Nein, Darren, bitte nicht. Bleib bei mir. Hilf mir …« Tränen verschleierten seinen Blick. Kristins Gestalt verschwamm zu einer Ansammlung grotesker Schlieren. Doch seine Stimme klang hart, kalt, als er erwiderte: »Ich kann nicht. Wir müssen gehen. Wir werden gebraucht.«
Dann verließ er das Schlafzimmer, ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder auch nur einen Blick zurückzuwerfen, und ging Manners nach. Unten schloß Geordi sich ihnen an. Auch ihn interessierte das Schicksal seiner Mutter nicht länger. Denn in Osceola gab es Bande, die stärker waren als jene, die eine Familie zusammenhielten.
* OSCEOLA … Das Schild verschwand hinter ihnen, als der Wagen die imaginäre Linie zwischen der kleinen Stadt und dem Rest der Welt überquerte. Aber es schien im gleichen Moment viel mehr zu geschehen; sehr viel mehr. Lilith spürte es, obwohl der brennende Durst alles bestimmend in ihr war und dunkle Blitze jeden ihrer Gedanken zu zertrümmern trachteten. So, dachte sie auf einer tieferen Ebene ihres Bewußtseins, die noch nicht vom tobenden Chaos erobert worden war, muß der Wahnsinn beginnen … Und mit eben jenem letzten Rest von Klarheit nahm sie auch wahr, was in dem Moment passierte, da Hidden Moon den Wagen am Ortsschild vorüberlenkte. Der Rest der Welt schien nicht einfach hinter ihnen zurückzubleiben – sondern zu verschwinden. Als wäre er Teil einer anderen Wirklichkeit, die sie eben verlassen hatten – mit einer einzigen Drehung der Räder ihres Fahrzeugs, das der Arapaho in New Jericho besorgt hatte. Letztlich zerstob der Gedanke in Lilith wie jeder andere vor ihm. Aber er ging nicht völlig unter in Vergessen, weil etwas ihre Erinnerung daran wachhielt: Hidden Moon zuckte neben ihr auf dem Fahrersitz zusammen, als hätte er etwas ganz Ähnliches verspürt –
nur ungleich machtvoller, weil seine Sinne zum einen nicht von mörderischer Begierde getrübt und zum anderen die eines wirklichen Vampirs waren und ganz und gar der Prägung seines schwarzen Blutes unterlagen. Seines – – schwarzen Blutes … Lilith stöhnte auf. Der bloße Gedanke an das dunkle Elixier in seinen Adern steigerte ihre Gier danach. NEIN! Ihre Stimme erhob sich aus ihrem Innersten über den Sturm, der ihr Denken und ihre Emotionen verwüstete. Lautlos und doch mit dem donnernden Tenor eines Dämons gebot sie dem Toben Einhalt, zwang ungebändigte Triebe zur Räson. Und brachte sich damit gleichsam an den Rand völliger Erschöpfung. Ihre mentale Energie verging unter dem geistigen Kraftakt wie Wasser in glühender Wüstenhitze. Zwar begann das Reservoir fast augenblicklich, sich von neuem zu füllen, doch es geschah langsam, und Lilith wußte, daß die Kraft kein zweites Mal für die Mobilisierung aller Selbstbeherrschung genügen würde. Wieder wehte ein erbärmlicher Laut über ihre Lippen, der doch nicht mehr war als ein schwaches Echo ihrer momentanen Verfassung. »Das scheint mir Antwort genug auf meine Frage.« Lilith hob den Blick, sah auf zu Hidden Moon. »Deine Frage?« flüsterte sie matt. »Wie es dir geht, hatte ich gefragt«, antwortete er. »Blendend«, preßte sie hervor. Mit zusammengebissenen Zähnen die schmerzhaften Verkrampfungen ihres Leibes ignorierend, richtete sie sich ein wenig höher auf, so daß sie ungehindert durch Front- und Seitenscheiben aus dem Wagen sehen konnte. Osceola unterschied sich auf den allerersten Blick in nichts von
Tausenden anderer amerikanischer Kleinstädte dieser Größenordnung. Einfamilienhäuser reihten sich zu beiden Seiten der Straße aneinander, durch Gärten voneinander getrennt. Erst ein Stück weiter die Straße hinab standen die Gebäude dann dichter beieinander; vereinzelte Leuchttafeln wiesen darauf hin, daß einige davon geschäftlich genutzt wurden. Die Unterschiede offenbarten sich erst beim zweiten, längerem Hinsehen. Als müßten die Augen eine dünne Schicht durchstoßen, mit der Osceola sich tarnte, als wäre darauf das Allerweltsgesicht der kleinen Stadt gemalt. Wenn man diese Membran aber erst einmal »durchschaut« hatte, sah man andere Dinge – nichts wirklich Offensichtliches zwar, aber Dinge, die anders waren als anderswo. Die Häuser und Gärten waren weniger gepflegt als andernorts, und sie sahen auf eigenartige Weise älter aus, als sie es an Jahren tatsächlich sein mochten. Gleiches galt für die Fahrzeuge, die am Straßenrand oder in Garagenzufahrten parkten. Und es kam noch ein Dutzend weiterer Dinge dazu, für die Lilith die Worte fehlten, sie zu benennen. Aber sie waren da, und in ihrer Gesamtheit schienen sie eines zu zeigen: Daß das Leben in Osceola eine Spur weniger lebendig war, als es auf den ersten Blick schien und als es anderswo war. Selbst die Dunkelheit schien hier von anderer Qualität zu sein: dunkler, seltsam fester und irgendwie mehr als die bloße Abwesenheit von Licht*. In Liliths vampirischer Sichtweise gerann sie stellenweise zu blutiger Röte, die so dicht war, daß sie kaum zu durchdringen war. »Spürst du das auch?« fragte Lilith. Nachdem es ihr gelungen war, Gedanken und Gefühle halbwegs zu beruhigen (wenn auch nicht richtig zu ordnen), erinnerte sie sich dessen, was ihr schon bei ihrer unmittelbaren Ankunft in der Stadt aufgefallen war. Und daran, daß auch Hidden Moon merklich auf die Veränderung ihrer Umgebung reagiert hatte.
*© by Wolfgang Hohlbein
Der Arapaho nickte. Er hatte den Fuß fast vom Gas genommen. Der Wagen rollte im Schrittempo die im Nieselregen wie gelackt aussehende Straße hinab. »Beschreibe es«, verlangte Lilith, weil sie hoffte, er könnte die wahren Hintergründe erkennen. »Es war nicht nur ein Gerücht«, erwiderte Hidden Moon. »Du meinst …?« Wieder nickte er, anders diesmal. Unübersehbar von Unbehagen befallen. »Der, von dem unser Stamm einst erfuhr, ist mehr als nur eine Legende«, erklärte der Arapaho. Sein Blick glitt wie suchend in jede Richtung. »Es gibt ihn. Er ist hier.« »Wo ist er? Kannst du ihn … orten?« fragte die Halbvampirin, spürend, daß der rasende Durst in ihr sich erneut Bahn brechen wollte, alles verzehrend, womit sie ihn noch mühsam beherrschte. »Er ist …« Hidden Moons Blick flackerte, irritiert und beunruhigt in einem. »… überall!«
* Lilith folgte der ständig wechselnden Blickrichtung des Arapaho, ohne eine Erklärung für seine seltsame Aussage zu finden. »Was bedeutet das: überall?« fragte sie verwirrt. »Ich spüre seine Präsenz, als wäre er an jedem Ort in dieser Stadt zugleich.« »Das ist nicht möglich«, behauptete Lilith. »Du mußt dich irren. Es sei denn, es wären mehrere, und selbst dann müßten sie ganz in der Nähe sein. Und auch ich müßte sie zumindest sehen können.« Hidden Moon schüttelte bestimmt den Kopf. »Es ist ein einzelner. Ich spüre nur … eine einzige Aura. Aber sie ist allgegenwärtig. Sie fließt um uns her wie die Strömung eines ge-
waltigen Flusses, der voller Strudel ist. Es ist …« Lilith bemerkte den Unterton in Hidden Moons Stimme. Er klang mit einemmal gehetzt, gequält, als würde ihn das, was er empfing, zutiefst verwirren – und gegen seinen Willen locken … Rasch streckte sie die Hand aus, berührte ihn an der Schulter. Der Kontakt kostete sie Überwindung, denn augenblicklich spürte sie das zähe Fließen unter seiner Haut, das die Begierde in ihr von neuem weckte. Dennoch ließ sie ihn nicht los, weil sie sah, wie sein Blick sich unter ihrer Berührung klärte, das unruhige Beben seines Körpers verebbte. Und noch etwas geschah – etwas schien von ihm auf sie überzugehen. Etwas Dunkles, Unangenehmes … »Es ist vorbei«, sagte er. »Was?« fragte sie. »Ich spüre nichts mehr. Die Präsenz ist verschwunden. Er scheint sich zurückgezogen zu haben«, erklärte der Arapaho, und in seiner Stimme schwang verhalten Erleichterung mit. Er entspannte sich, ein wenig zumindest. Der Wagen war währenddessen weiter die Main Street entlanggerollt. Und etwas hatte sich verändert – oder sich vielmehr jenen Dingen hinzugesellt, die auch Lilith schon zuvor wahrgenommen hatte. Etwas, das zu spüren es keiner vampirischen, nicht einmal halbvampirischen Sinne bedurfte. Jeder Mensch, der auch nur über ein Quentchen Sensibilität verfügte, hätte es bemerkt. Blicke. Wie die Berührungen kalter Hände auf der Haut. Lilith fröstelte unwillkürlich und sah sich noch im gleichen Moment um. Sie standen da draußen im Dunkeln, überall, reglos und nur schwer auszumachen, wie Schatten, die sich in Schatten hüllten. Und doch waren sie da. Lilith hätte es auch dann gewußt, wären die
Konturen der Männer und Frauen dort nicht zu erahnen gewesen. Sie spürte ihre starrenden, bohrenden Blicke, und sie spürte vor allem, was in diesen Blicken zu ihr getragen wurde. Ablehnung, die sie in Gedanken nur deshalb nicht als Haß bezeichnete, weil sie nicht wußte, weshalb diese Menschen sie hätten hassen sollen. Weil sie spüren, wer du bist … Was du bist … Daß du keine von ihnen bist … Bastard …! Ihre eigenen Gedanken schienen Lilith vor Hohn triefend. Einmal mehr wurde ihr die ewige Einsamkeit, in der sie gefangen war, schmerzlich bewußt. Trotzdem sie nicht allein war, zum ersten Mal seit langer, sehr langer Zeit jemanden an ihrer Seite wußte, der ihr nicht nur körperlich nahe war. Was ihm – wie anderen vorher – zum Verhängnis werden konnte. Wenn auch auf andere Weise. Selbst über die räumliche Distanz, die zwischen ihr und Hidden Moon bestand, glaubte sie den trägen Rhythmus seines dunklen Blutes zu hören, zu fühlen … Blut, Blut, BLUT! Im gleichen Takt pochte dieses eine Wort lautlos, aber ungeheuer mächtig in ihren Ohren, zwischen ihren Schläfen – überall! Lilith ballte die Fäuste. Ihre Nägel wuchsen, bohrten sich in die eigenen Handballen. Der selbst zugefügte Schmerz brachte sie zur Besinnung. Aber für wie lange? Sie zermalmte den Gedanken und alles, was in seinem Gefolge war. Für wie lange …? »Siehst du sie?« Es war nichts anderes als der Versuch, sich mit dem Klang der eigenen Stimme abzulenken. Denn sie hatte längst bemerkt, daß auch Hidden Moons Blick die reglosen Beobachter in Winkeln und Ecken
beiderseits der Straße entdeckt hatte. »Ja«, sagte er langsam. »Und sieh dorthin.« Er deutete durch die Windschutzscheibe und über die Motorhaube des Wagens nach vorne. Lilith folgte seinem Fingerzeig. So bar aller Bewegung, fast allen Lebens Osceola hinter ihnen gewirkt hatte, so belebt zeigte es sich vor ihnen. Die Straße war – nun, nicht voller Menschen, aber es waren in Anbetracht der bisherigen Leere doch auffallend viele, die aus allen Richtung kamen und ein gemeinsames Ziel hatten. Sie verschwanden samt und sonders in einem Ziegelgebäude, über dessen Eingang eine Leuchtreklame flackerte. Hidden Moon nahm den Fuß etwas vom Gaspedal. »Was hast du vor?« fragte Lilith. Der Arapaho stoppte den Wagen schließlich am Straßenrand. »Wir sollten ein paar Fragen stellen«, sagte er. »Hier?« »Wo sonst?« meinte er. »Hier scheint ja zumindest etwas los zu sein. Und in einer Kneipe erfährt man immer am meisten.« Er lächelte matt und wies auf das Gebäude, in dem die Leute verschwunden waren, nachdem sie sich wie Motten, die vom Licht angezogen wurden, darauf zubewegt hatten. Als sie aus dem Wagen stiegen, spürte Lilith die Blicke aus den Schatten noch intensiver. Fast unbewußt befahl sie dem Symbionten, sich »hochzuschließen«. Dann folgte sie Hidden Moon in die Kneipe, deren Name über dem Eingang in blutigem Neonlicht glomm: Stoker’s.
* Er spürte etwas wie vage Verwandtschaft. Und für kurze Zeit kroch sein kaltes Blut ein weniger schneller durch die uralten Adern. Die Aussicht auf Gesellschaft, die seinem
Stande würdig war (wenn freilich auch nicht ebenbürtig – schwarzes Blut allein erhob niemanden in den Stand, den er einst innegehabt hatte), beseelte ihn mit einem Hochgefühl, das er seit wahren Ewigkeiten nicht mehr empfunden hatte: Seit er alles verloren hatte, was seine Existenz einst rechtfertigte … Doch das Gefühl verging – viel zu rasch, als daß sein müdes Sein sich daran hätte berauschen können. Denn je länger er sie »erforschte«, desto offenbarer wurde die Andersartigkeit derer, die sein kleines Reich so unvermittelt betreten hatten. Sie waren nicht wirklich von seiner Art, und selbst zwischen den beiden fremden Wesen bestanden Unterschiede. Nein, sie taugten nicht dazu, sein Dasein dauerhaft zu versüßen. Allenfalls zur Zerstreuung konnten sie ihm dienen. Ein paar Nächte lang vielleicht würde er sich an dem weiden können, was er ihnen antun konnte – wenn er ihrer habhaft geworden war. Ein paar Nächte lang … Sein freudloses Lachen wehte durch die Leere des Hauses. Wie lächerlich gering war diese Zeitspanne doch im Vergleich zu der, die sein Leben schon währte. Sie war weniger als ein Tropfen im Meer dieser – Jahrtausende … Als er bemerkte, daß auch sie seine Präsenz bemerkten, zog er sich zurück, beschränkte den Kontakt auf bloße Beobachtung, während er das Ganze als reizvolle Möglichkeit betrachtete, seinen gräßlichen Träumen für eine Weile zu entkommen. Nachdem er seine Spielfiguren in Position gebracht hatte, mahnte er sie zur Vorsicht und Zurückhaltung. Sie sollten nicht zu früh verraten, wes Geistes Diener sie waren. Und vielleicht würde er den anderen ja sogar eine Chance einräumen, dieses Spiel zu gewinnen – oder wenigstens doch mit heiler Haut zu überstehen … Dann ergötzte er sich an dem, was sie unter seiner Führung taten. Sein hyänenartiges Lachen hallte durch God’s Garden. Dazu klatschte er fortwährend in die Hände. Freudig wie ein Kind zunächst.
Und schließlich wie – wahnsinnig …
* Lilith wußte nicht genau, was sie im Innern der Kneipe erwartet hatte. Sicher, irgend etwas Ungewöhnliches nach all den Merkwürdigkeiten, die ihnen draußen schon aufgefallen waren – die seltsame Atmosphäre, die wie drückend über Osceola hing; die Gestalten, die ihre Ankunft aus Winkeln und Ecken heraus beobachtet hatten, und schließlich die Leute, die wie von einem Magneten gezogen auf das Stoker’s zugesteuert und hineingegangen waren. Nach all dem hatte sie nicht geglaubt, daß die Situation in dem Lokal sie würde überraschen können. Doch sie hatte sich geirrt. Denn in dem Laden war alles – »normal«. Zumindest aber nicht außergewöhnlich. So oder ähnlich reagierten die Stammgäste eines jeden Pubs, wenn Fremde ihn betraten. Zumal, wenn die Neuankömmlinge einen derart sonderbaren Anblick boten, wie Lilith und Hidden Moon es taten: sie von atemberaubender Schönheit und gekleidet in etwas, das ihre Formen wie schwarzer Lack umfloß; er groß, kräftig, mit schulterlangem Haar – ein Indianer par excellence. Als sie durch die hüfthohen Schwingtüren traten, verstummten die halblauten Gespräche an Theke und Tischen in dem schummrig ausgeleuchteten Raum, in dem Bier, Tabaksqualm und menschliche Ausdünstungen zu jenem muffigen Aroma verschmolzen, das den allermeisten Kneipen dieser Art und Größenordnung zu eigen war. Die Köpfe der Anwesenden wandten sich in einer synchronen Bewegung den beiden Fremden zu, und mit den Blicken rollte ihnen Ablehnung, die an Feindseligkeit grenzte, wie eine beinahe spürbare Woge entgegen. Aber auch daran konnte Lilith nichts wirklich Überraschendes finden. Und Hidden Moon schien ähnlich zu empfinden. Seine An-
spannung ließ sichtlich ein wenig nach, seine gestrafften Schultern sanken um eine Winzigkeit herab. Seite an Seite, auf das Verhalten der anderen weder mit Blicken noch sonst irgendeiner Regung eingehend, schritten sie auf die Theke zu, wo – zufällig oder beabsichtigt – eine Lücke in der Reihe der daran lehnenden Männer klaffte. Lilith fragte sich, wie Hidden Moon weiter vorgehen wollte. Sie wünschte sich, sie hätte telepathischen Kontakt zu ihm aufnehmen können. Aber sie wußte nicht einmal, ob sie dazu überhaupt in der Lage war. Und dies war gewiß nicht die Situation und Zeit für solcherlei Experimente. Neben dem Arapaho stellte sie sich an die mit feuchten und längst angetrockneten Kringeln übersäte Theke. Wie er stützte sie die Unterarme darauf und gab sich ganz den Anschein, als wäre sie nichts anderes als ein zufällig des Weges gekommener Gast, der so tat, als merkte er nicht, daß er hier alles andere denn willkommen war. Aller scheinbarer »Normalität« zum Trotz – Lilith empfand das Ganze in zunehmendem Maße als grotesk, bizarr. Verdammt, was taten sie hier nur? Sie waren aus keinem anderen Grund nach Osceola gekommen, als daß sie endlich an schwarzes Blut kam, das sie so dringend, so lebensnotwendig brauchte. Und nun standen sie hier, inmitten einer Horde von Menschen, mit denen irgend etwas nicht stimmte, und erweckten den Eindruck, als wären sie nur auf ein oder zwei Bier hereingekommen! Und genau dieses Spiel trieb Hidden Moon weiter! Sein Blick fing den des glatzköpfigen Keepers ein, der allein seiner Galgenvogelvisage wegen anderswo längst zur Fahndung ausgeschrieben worden wäre. Stumm deutete er auf die halbleere Bierflasche seines Nebenmannes, wies dann auf sich und Lilith und bedeutete dem Glatzkopf mit hochgehaltenen Fingern zwei. Der Keeper kam zwar zwei Schritte näher, so daß er Hidden Moon direkt und nur noch durch den Tresen von ihm getrennt gegenüberstand, machte ansonsten jedoch keinerlei Anstalten, den Wunsch
des Arapaho zu erfüllen. Statt dessen polierte er seelenruhig an einem Glas herum und legte mit seinem Grinsen zwei Reihen schiefstehend er vergilbter Zähne frei. Hidden Moons Faust schoß vor, drehte sich in den Kragen des Glatzkopfes und zerrte ihn über die Theke. Die Augen des Vampirs flammten in schwarzem Feuer. »Du bist Stoker?« fragte er im besten Plauderton. Der Glatzköpfige nickte, unverändert grinsend. »Dann bring uns zwei Bier«, sagte Hidden Moon, ganz ruhig und gelassen. Sein Stoß trieb den Wirt fast bis in das Gläserregal, dessen Inhalt bedrohlich zu klirren begann. »Solche wie ihr werden hier nicht bedient«, erklärte Stoker, und hielt dabei weder im Grinsen noch im Polieren inne. »Was heißt das – ›solche wie wir‹?« fragte Hidden Moon mit geschmälten Augen. Lilith rechnete damit, daß der andere irgendeine beleidigende Bemerkung über die amerikanischen Ureinwohner fallen lassen würde. Aber das tat er nicht. Statt dessen stellte er gemächlich das Glas beiseite, legte das Poliertuch daneben und hob dann seine zu Klauen gekrümmten Hände an den Mund – so, daß die gebogenen Zeigefinger unter seiner Oberlippe hervorzuwachsen schienen. »Kapiert?« fragte er dann, wieder grinsend. »Ihr wißt …?« entfuhr es Lilith beinahe erschrocken. Die Situation war um ein Vielfaches bizarrer, als sie es eben auch nur vermutet hatte. Hidden Moon schnappte sich den Glatzkopf ein zweites Mal. Diesmal zog er ihn noch näher zu sich heran, so nahe, daß ihre Gesichter allenfalls noch eine Handbreite voneinander entfernt waren. »Na gut, dann anders«, zischte der Arapaho. »Du wirst mir jetzt
ein paar Fragen beantworten …« Und damit griff etwas aus seinen nachtfarbenen Augen heraus und drang, unsichtbaren haarfeinen Tentakeln gleich, in die des Glatzkopfes. Tastete sich jenseits des glasigen Schimmers blitzartig tiefer – nicht im räumlichen Sinne, sondern auf unvorstellbaren Wegen. Hidden Moon fand, was er suchte, stürzte sich darauf – und merkte viel zu spät, daß seiner Kraft etwas wie eine Barriere entgegenstand, errichtet von einer fremden Macht. Doch sie ging unter dem Ansturm des Arapaho in die Brüche – und mit ihr Geist und Verstand des Glatzköpfigen! Stoker würde nie mehr auch nur eine einzige Frage beantworten. Im Moment des Aufeinanderprallens der beiden fremden Kräfte hatte er bereits vergessen, wie er hieß. Und einen Lidschlag später alles andere. Schreiend und wimmernd in einem brach Stoker in die Knie, die Hände gegen die Schläfen gepreßt, als müßte er einem inneren Druck, der ihm den Schädel sprengen wollte, entgegenwirken. »Was …?« Lilith faßte Hidden Moon entsetzt an der Schulter. »Er stand bereits im Bann eines Vampirs«, stieß Hidden Moon atemlos hervor. »Ich konnte es nicht verhindern …« Lilith wußte, was geschah, wenn ein Vampir versuchte, den Hypnosebann eines anderen zu lösen oder zu brechen. Es war nahezu unmöglich. Und Opfer einer solchen Versuchs blieb stets der Mensch, der unter fremdem Willen stand. Sein Geist wurde zermalmt unter der Gewalt zweier Machtpotentiale, die schon jedes für sich menschliches Fassungsvermögen schier sprengten. Nun war sie zum erstenmal Zeuge eines solchen Vorfalls geworden. Und sie hoffte, daß es auch das letzte Mal bleiben würde. Denn es war – grauenhaft. Stoker wand sich hinter der Theke wie ein Wurm, unverständliche Laute ausstoßend, weil ihm selbst die Möglichkeit genommen war,
seiner Hilflosigkeit und seinem Schmerz Ausdruck zu geben. »Können wir denn gar nichts für ihn tun?« fragte sie verzweifelt. Sie kannte die Antwort selbst. Was dermaßen zertrümmert worden war, konnte nichts mehr heilen. Ihr Blick hing wie gebannt an der Stelle, an welcher der Glatzköpfige zu Boden gesunken war. Als Hidden Moon sie an der Schulter berührte, fühlte sie sich wie aus tiefer Trance gerissen. Zwei-, dreimal hastig blinzelnd hob sie den Kopf, sah den Arapaho an – und folgte schließlich seinen Blicken, die einen Halbkreis beschrieben. Entlang der Front, zu der die anderen Gäste sich formiert hatten. Schweigend zwar, aber in ihren stumpfen Augen las Lilith kalte Entschlossenheit – und eine Abart von Haß, von der sie sich nicht vorstellen konnte, daß ein Mensch ihn zu empfinden vermochte. Obwohl der wahnsinnig gewordene Wirt noch immer hinter dem Tresen wimmerte, hatte sich eine seltsame Stille über den Raum gesenkt. Die Laute des Irrsinnigen schienen einer anderen Szenerie zugehörig, auf nicht zu beschreibende Weise ausgeschlossen aus der Wirklichkeit. Ein metallisches Klicken fügte dem, was wie eine Glocke über ihnen lag, Risse bei. Ein Donnern ließ sie zerspringen! Hidden Moon stöhnte schmerzvoll auf. Dunkles Blut spritzte aus der Schußwunde in seiner Schulter, sprühte wie feiner Nieselregen in Liliths Gesicht. Gerade noch widerstand sie dem Reflex, die Zunge über die Lippen fahren zu lassen, um wenigstens ein Tröpfchen zu erhaschen. Der Wunsch, es doch zu tun, verging noch in derselben Sekunde. Andere Dinge gewannen sprunghaft an Bedeutung. Dinge, wie beispielsweise das eigene Leben zu verteidigen. Denn die anderen stürzten sich geschlossen auf sie!
*
Zuerst war Lilith versucht, die dunkle Bestie aus den Kerkern ihres Innersten zu entlassen. Es geschah im Angesicht der drohenden Gefahr, der geifernden Angreifer fast wie von selbst. Im allerletzten Moment verhinderte sie, daß die imaginären Kletten vollends rissen. Zum einen, weil sie nicht wußte, ob sie jenes Monstrum, das ihr Tun und Denken erobern wollte, je wieder hätte bezähmen können bei dem mörderischen Blutdurst, den sie litt. Und zum anderen, weil es Menschen waren, die sich ihnen da entgegenwarfen. Menschen, die zwar unter fremdem Einfluß standen und die den Wert des eigenen Lebens in dieser Situation regelrecht verachten mochten. Aber sie, Lilith, hatte nicht das Recht, sie für etwas zu strafen, das nicht eigenem Antrieb entsproß. Was sie indes nicht hinderte, sich zu verteidigen. Unter allem Einsatz jener Kraft, die ihrem Körper auch im »Normalzustand« innewohnte und die eines Normalsterblichen bei weitem überwog. Daß sie dennoch zwei, drei schmerzhafte Hiebe einstecken mußte, die sie hart gegen die Theke prallen ließen, lag daran, daß sie aus den Augenwinkeln zu Hidden Moon hinschielte. Weil sie nicht wußte, ob er ähnliche Skrupel hegte. Offenbar war es so. Noch … Im nächsten Moment füllte eine schwielige Faust ihr Blickfeld zur Gänze aus. Der Schlag ließ Liliths Lippen aufplatzen und sie ihr eigenes Blut schmecken, bevor die Wunde sich wie im Zeitraffer schloß. Davon ließ sich jedoch keiner der anderen irritieren. Sie wußten, gegen Wesen welcher Art sie angingen, standen sie doch selbst im Bann eines solchen. Dem nächsten Angreifer, der sich mit wirbelnden Fäusten auf sie stürzen wollte, setzte Lilith den hochgerissenen Fuß auf die Brust, nutzte den Ansturm des anderen noch, um ihn in Schwung umzuwandeln, und stieß ihn dann kraftvoll zurück. Dabei riß der Kerl
noch zwei seiner Kumpane mit sich zu Boden und verschaffte Lilith für eine halbe Sekunde Luft. In dieser winzigen Zeitspanne registrierte sie einen von der anderen Seite heranfliegenden Schatten. Ein Mann, der hinter der haßverzerrten Maske aussah wie ein biederer Familienvater, war gesprungen und wollte sich regelrecht auf die Halbvampirin werfen. Lilith fing seinen Sprung mit beiden Händen ab und verlängerte ihn in derselben Bewegung, indem sie den Gegner hinter die Theke warf. Dort schlug er wie eine Granate ein, ehe er in einem Splitterregen schreiend zu Boden stürzte. Einem weiteren Angreifer drückte Lilith die Nase mit ihrem Ellbogen eine Spur tiefer ins Gesicht, während sie dem nächsten in der Rückbewegung des Armes die Faust unters Kinn setzte. Ein wölfisches Knurren zwang sie, sich herumzudrehen. Eine Ahnung keimte in ihr, und sie fand sie bestätigt, als sie Hidden Moon sah. Er kämpfte noch immer mit den Mitteln, die seine menschliche Gestalt ihm bot. Aber er fand im Eifer des Gefechtes kaum mehr genügend Konzentration, um das andere in sich zu unterdrücken. Seine Augen funkelten schwarzen Sternen gleich in seinem vor Anstrengung verzerrten Gesicht. Das unter der Angriffslust brodelnde Blut derer, die ihn angingen, mußte ihn regelrecht an den Rand der Selbstbeherrschung peitschen. Wenn er auch nur einen von ihnen so verletzte, daß dieses Blut nicht mehr nur unsichtbar floß … »Hidden Moon!« Lilith schrie seinen Namen, während sie sich fast mechanisch weiter zur Wehr setzte. Sie fing seinen gehetzten Blick auf. »Du darfst sie nicht verletzen!« rief sie. Etwas Warmes näßte ihr Gesicht, nur in Form einiger feiner Tröpfchen. Sie mußte nicht mit den Fingern darüber fahren, um sich zu vergewissern. Denn sie sah das Blut aus der schiefen Nase eines der Angreifer quellen.
Hidden Moon brüllte auf, und seiner Stimme haftete kaum mehr Menschliches an. »Wyando!« schrie Lilith. »Nein!« Sie wußte nicht, weshalb sie es tat, nicht einmal recht, was sie tat. Sie sprang. Setzte mit einem wahren Panthersatz über die Köpfe jener hinweg, die sich zwischen ihr und dem Arapaho befanden. Noch im Sprung streckte sie die Hände vor, berührte Hidden Moon. Ihre Hände fuhren, als sie zu Boden fiel, an seinem Körper entlang, als wollte sie etwas von ihm streifen. Etwas, das auf sie überging – und seinen Weg tiefer in sie fand. Hidden Moons Brüllen verlor an ungezügelter Macht. Während Lilith voller Entsetzen spürte, wie sämtliche Dämme in ihr rissen – und schließlich brachen. Die anderen, die im Bann des fremden Vampirs stehenden Menschen, sie begannen rasend schnell an Bedeutung zu verlieren. Nur einer zählte noch. Hidden Moon. Oder vielmehr das, was sein Herz einer Quelle gleich unentwegt fließen ließ. Lilith erhob sich, fauchend und wimmernd in einem. Sie würde ihre Zähne nicht einfach in seinen Hals schlagen! Sie würde die Quelle selbst öffnen und direkt aus seinem Herzen trinken! Saufen! »NEIN!« Lilith zog sich die Fingernägel durch das Gesicht. Schmerz löste das andere in ihrem Schrei ab. Für einen endlosen Augenblick schien die Zeit stillzustehen, kam sie sich vor wie auf einer winzigen Insel, die aus der Wirklichkeit herausgeschält war und auf der nur Platz für sie beide war – für Lilith und Hidden Moon. Ihr Blick tauchte in den seinen. »Verzeih mir«, flüsterte sie.
Erschrecken flackerte in seinen Augen. Und verging, als Lilith sich verwandelte. Ein flatternder Schatten jagte noch in derselben Sekunde dicht unter der Decke durch die Tabakschwaden, die wie Wolken darunterhingen – fort, hinaus, nur weg! Hidden Moons Schrei, der von einem Moment zum nächsten erstarb, vernahm Lilith schon nicht mehr.
* Ein Schrei wahnsinniger Wut hallte durch God’s Garden. Von der Leere des Hauses tausendfach gebrochen, schwoll er an zu einem Chor, den allein der Irrsinn dirigierte. Und diese Stimmen schrien selbst dann noch, als er längst verstummt war. Irgendwann kehrte die Grabesstille schließlich zurück. Zur Ruhe indes kam er nicht. Denn Verwirrung füllte die Klüfte zwischen den Teilen seines vor Urzeiten zerbrochenen Geistes. Er verstand nicht, was dort draußen geschehen war. Zu seltsam waren jene beiden Wesen, mit denen er sich zum Zeitvertreib hatte beschäftigen wollen. Und nicht nur das – sie waren ihm weit weniger ähnlich, als er es zuvor noch angenommen hatte. Ein Grund mehr, sie kennenzulernen. Sie einzuladen. Vielleicht stand ihnen der Sinn ja nach einer kleinen Feier? Nun, und wenn nicht, würde er ihnen den Sinn eben danach richten … Begeistert klatschte er in die Hände. Weithin schallte das Geräusch und erreichte auf mystischen Wegen jene, für die es bestimmt war: die Gäste der Kneipe in Osceola. Sie wußten, was sie zu tun hatten. Sie hoben den Indianer auf, der wie tot zwischen ihnen am Boden lag, und trugen ihn hinaus. Wie tot …, echote es in dem Labyrinth, zu dem sein Verstand sich einst verzweigt hatte. Hoffentlich nicht wirklich tot, dachte er auf einer jener Scherben, in die sein Geist damals zersprungen war. Dieser in-
dianische Vampir unterschied sich in solch einem Maße von ihm und seiner Art, daß es durchaus möglich sein mochte, daß er tatsächlich … Er winkte kichernd ab. Wenn schon; ihm blieb ja noch die andere. Im Augenblick jedoch verschwendete er nur einen flüchtigen Gedanken an sie. Um sie konnte er sich später noch kümmern. Sie würde seinem kleinen Reich nicht entkommen. Jetzt galt es, sich anderer Dinge anzunehmen. Das Haus vorzubereiten auf diesen besonderen Gast. Schließlich sollte er sich wohlfühlen in God’s Garden. Zumindest so lange, bis er seiner überdrüssig wurde … Lachend eilte er durch die kahlen Gänge und Räume des Hauses – die hinter ihm weder leer noch kahl zurückblieben.
* Lilith floh. Vor den Verblendeten. Vor Hidden Moon. Vor sich selbst … Sie wußte nicht, wie lange und wie weit sie auf den Lederschwingen ihrer Fledermausgestalt durch die Nacht gerast war. Irgendwann ging sie einfach nieder, verwandelte sich zurück und ließ sich in taufeuchtes Gras sinken. Eine Stimme in ihr, die nicht wirklich ihr gehörte, wollte sie zur Umkehr zwingen. Zurück zu Hidden Moon treiben – aber nicht, um ihm beizustehen … Mit der krächzenden Stimme einer Verdurstenden antwortete sie der anderen: »Nein, das tue ich nicht. Ich kann es nicht. Ich will es nicht!« Dann stirb, du dümmstes Geschöpf, das je auf Erden wandelte, keifte
die andere Stimme, lautlos, aber mit jeder Silbe wie mit einer Klinge über Liliths Nerven fahrend. »Ja, lieber sterbe ich«, flüsterte sie, »als daß ich Hidden Moon etwas zuleide täte.« Die andere Stimme verstummte. Aber sie blieb in ihr. Selbst ihr Schweigen bedeutete Lilith Schmerz. Sie schloß die Augen und zwang sich, ruhig zu atmen, versuchte nachzuahmen, was Menschen Meditation nannten. Der Versuch glückte leidlich. Zumindest aber gut genug, daß sie ihre wirbelnden Gedanken halbwegs in Ordnung bringen konnte. Die Antwort auf jene Frage, die sie über allem beschäftigte, fand Lilith jedoch nicht darin. »Was ist nur geschehen?« Sie merkte kaum, daß sie sie laut stellte. So laut eben, wie ihre trockenen Stimmbänder es noch zuließen … Etwas hatte zwischen ihr und dem Arapaho bestanden, war geflossen, wie in einer Art von Austausch. Dieses Etwas mochte daran »schuld« sein, daß sie ihm sein Blut nicht nehmen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte … Wollte sie es denn nicht? Hatte sie überhaupt die willentliche Möglichkeit, es nicht zu wollen? Nach allem, was sie über sich, über ihre Aufgabe und ihre Bestimmung wußte, mußte sie diese Frage verneinen. Sie war schlicht und ergreifend dazu gezwungen, es zu wollen. Und doch widerstand sie. Was nur einen Schluß zuließ: Etwas war schiefgelaufen in SEINEM Plan. Etwas Unvorhergesehenes war eingetreten. Nur – konnte es etwas geben, daß der Schöpfer übersehen würde? Wieder eine dieser Fragen, die Lilith nur mit Nein beantworten konnte. Und doch – Sie spürte, daß die Antwort zum Greifen nahe lag. Sie war in ihr. Schon längst. Seit sie in die Augen des sterbenden …
Sie kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, nachdem sie sein Ende fast erreicht, die Antwort beinahe schon gefunden hatte. Etwas riß sie aus ihrem Grübeln. Ein Schrei. Der Schrei eines Kindes – eines Neugeborenen? Ein anderer kam hinzu, lauter und anders. Der Schrei einer Frau – der Mutter? Vermutlich. Aber es klang keine Freude über das Neugeborene darin. Sondern nur panische Angst um dieses gerade entstandene Leben!
* Ace Merrill hatte den Ruf ebenso vernommen wie die allermeisten Bewohner Osceolas. Wahrscheinlich sogar lauter und deutlicher als alle anderen. Aber er hatte sich ihm verweigert, war ihm nicht mit der hündischen Ergebenheit gefolgt, wie diese anderen Kreaturen es getan hatten. Kreaturen … Kreaturen waren die anderen schon immer für ihn gewesen – auch vorher, ehe er wirklich über sie gestellt worden war, weil er ihr Leben nicht länger teilen mußte. Armselige Geschöpfe in einer armseligen Stadt, in der es nur einen Grund zu leben gab – für ihn jedenfalls war das so gewesen, weil er als einer der wenigen begriffen hatte, was in Osceola Sache war. Und jetzt hatte er dieses hehre Ziel endlich erreicht, war ihm die Ehre schließlich zuteil geworden. Er, Ace Merrill, hatte an seine Seite treten dürfen. War zu seinem Diener geworden. Ace lachte – und sein Lachen klang so häßlich, wie sein narbiges Gesicht dabei aussah: eine wahnverzerrte Maske. Seiner wahrhaft würdig … Aus einer Gasse zwischen zwei schmutzigen Backsteinbauten her-
aus beobachtete er die anderen, die treu und brav dem Ruf folgten. Wie Ratten, die Abfall witterten, strömten sie zu Stoker’s hinüber. Sollten sie ruhig. Er hatte keine Lust dazu. Und der Herr war hundertprozentig vollauf damit beschäftigt, diese Horde anzuleiten, so daß er, Ace, sich anderen Dingen widmen und einen kleinen Alleingang erlauben konnte. Ein Schlückchen in Ehren … Ace Merrill grinste, ein bißchen gequält, als hätte der Gedanke genügt, den Brand in ihm stärker anzufachen. Der Durst schien sein Gedärm zu entflammen. Es wurde verdammt Zeit, etwas dagegen zu tun. Er wartete, bis auch der letzte der Gerufenen – und auch die beiden Fremden – im Stoker’s verschwunden waren. Dann startete er die Harley, auf der er saß. Aufröhrend wie ein wütender Büffel schoß die Maschine aus der Gasse hinaus. Dennoch ließ Ace Merrill das Motorrad eher gemächlich durch die Stadt rollen. Er suchte, witterte. Es sollte ein ganz besonderes Tröpfchen sein in dieser Nacht … Und Ace Merrill wurde fündig.
* Leichenblaß und schweißglänzend lag Kristin Tewes auf dem, was vor kurzem noch ihr Ehebett gewesen war. Jetzt tränkten Blut und rotschlierige Flüssigkeit Matratze und Laken. Und zwischen ihren Schenkeln spürte Kristin Tewes, ihren Blicken entzogen, ein noch warmes – Etwas. Wie lange würde es dauern, bis es kalt wurde, bis der Tod seinen Tribut forderte? Denn daß ihr Baby tot zur Welt gekommen war, daran zweifelte Kristin nicht, obwohl sie das Kleine noch nicht einmal gesehen hatte,
nachdem sie es aus ihrem Leib herausgepreßt hatte, unter den schlimmsten Schmerzen, die sie je hatte durchleiden müssen. Es hatte sich nicht bewegt, und es rührte sich auch jetzt noch nicht, da bereits etliche Minuten, die sich zu Ewigkeiten aneinandergereiht hatten, vergangen waren. »Vielleicht«, kam es müde und tonlos über Kristin Tewes’ Lippen, »ist es gut so. Dir ist ein Leben in Osceola erspart geblieben, mein Baby …« Ein Leben in Osceola … Das war es, wozu sie und Darren ihr Kind verdammt hätten im Leichtsinn ihrer Liebe. Es war schlimm genug, daß sie Geordi dieses Schicksal aufgebürdet hatten. Aber sie hatten damals wenigstens ein Kind haben wollen, sich die Illusion schaffen wollen, das Glück einer Familie zu erleben. Obwohl es wirkliches Glück nicht für sie geben konnte, nicht in dieser Stadt … Darren … Er war fortgegangen. Wohin? Warum? Der Gedanke verkümmerte in Kristins Denken … Niemand wußte wirklich, was es war, das das Leben in Osceola zum Fluch machte. Aber ebenso konnte sich ihm niemand entziehen. Etwas umgab die Stadt wie ein unsichtbarer Zaun, trennte sie vom Rest der Welt, ohne den Kontakt wirklich zu unterbinden. Es war … »… Wahnsinn«, flüsterte Kristin. Und je länger sie darüber nachsann, desto näher fühlte sie sich diesem Wahnsinn. Als wäre es die Strafe dafür, ihn erforschen zu wollen – Die Gedanken drehten sich unweigerlich im Kreis, wenn man darüber nachdachte. Und wenn sie sich einmal zum Kreis schlossen, würde es kein Entkommen mehr daraus geben. Die Aussicht darauf erschien Kristin Tewes nicht wirklich erschreckend. Nicht jetzt, da die Frucht ihres Leibes leblos zwischen ihren Beinen lag …
Leblos? Es – bewegte sich. Kaum merklich noch. Aber es rührte sich! Ein undefinierbarer Laut entrang sich Kristins Kehle. Unter unsäglichen Schmerzen und mit einer Kraft, von der sie nicht wußte, woher sie sie noch nahm, richtete sich die Frau in eine halbwegs sitzende Position auf – und sah … … ihr Kind. Ein Mädchen. Schlierenverkrustet lag es da, noch mit der Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden – und es bewegte sich. Schwach, zuckend. Kristin griff danach, rasch und doch so behutsam, als könnte sie das kleine Wesen zerbrechen. Verflogen war die Erleichterung über das vermeintlich ersparte Schicksal eines Lebens in Osceola. Sie war letztlich nicht mehr gewesen als der schwache Versuch, sich über den Tod des eigenen Kindes hinwegzutrösten. Kristin nahm das winzige Dingchen auf. Und erstarrte. Sie hatte etwas gehört. Schritte auf der Treppe, die lauter wurden, näher kamen. »Darren?« rief Kristin fragend. Sie wußte, daß es nicht Darren war, der da kam. Sie kannte das Geräusch seiner Schritte, seine Art, die Treppe heraufzusteigen. Etwas Kaltes kroch in ihr hoch, schleimige Spuren ziehend, unter denen alles gefror. Die Tür wurde aufgestoßen. Eine Gestalt trat ein, in altes Leder gekleidet, stinkend, als hätte sie etliche Tage und Nächte in der Tiefe eines Grabes zugebracht. Ace Merrill, der widerlichste Typ, der in Osceola je gelebt hatte. Sein Terror war beinahe noch grausamer als jener Namenlose aus dem Verborgenen. Und jetzt, in diesem Moment, erschien er Kristin Tewes noch um
ein Vielfaches schlimmer als zuvor. Seine Augen klebten zwei kalten Steinen gleich in seiner häßlichen Visage, die bleich und eingefallen war – wie die eines Toten … Doch das war noch nicht das schlimmste aller Übel. Die beiden fast fingerlangen Zähne, die sich hörbar knirschend unter seiner Oberlippe hervorschoben, steigerten das Entsetzen der jungen Mutter ins Uferlose. Als wäre der Schrecken einem Funken gleich durch die Nabelschnur gefahren, begann das Bündelchen Mensch in ihren Armen zu schreien und der Welt sein eben geschenktes Leben zu verkünden. Kristins Schrei übertönte den des Babys noch. Als Ace Merrill geifernd und mit gefletschten Zähnen danach packte, um es ihr zu entreißen!
* Wie eine pelzige Kanonenkugel mit grotesk schwirrenden Auswüchsen raste etwas durchs Fenster und inmitten eines Regens aus glitzernden Splittern in das Zimmer. Es änderte die Richtung so schnell, daß es mit bloßen Augen kaum zu verfolgen war, und hing im nächsten Moment flatternd in Ace Merrills Nacken, klatschte ihm ledrige Flügel um die Ohren. Aufschreiend ließ er von dem Kind ab, griff mit beiden Händen über seine Schultern – wo plötzlich nichts mehr war. Dafür packte ihn eine Hand am Ärmel, wirbelte ihn herum, und noch in derselben Sekunde explodierte eine Faust unter seinem Kinn und riß ihm den Kopf in den Nacken. Sein Körper folgte der Kraft des Hiebes und taumelte zurück. Lilith setzte nach – und blieb wie eingefroren stehen, als etwas Silbernes in der Hand des anderen aufblitzte. Mit einer blitzartigen Bewegung hatte er das Schnappmesser aus den Tiefen seiner Lederkluft zutage gefördert und schnitt nun mit
der Klinge die Luft vor Liliths Gesicht in Streifen. Langsam bewegte sie sich zur Seite, brachte sich wie ein lebendes Schutzschild zwischen den Ledertypen und Mutter und Kind. »Was willst du damit?« fragte sie kalt, mit einer vagen Handbewegung auf das Messer deutend. »Zum Beispiel dir das Herz aus dem Leib schneiden«, erwiderte der andere, fast ohne die Lippen zu bewegen. »Und dann?« »Sauge ich es aus!« brüllte der Lederkerl und riß den Mund so weit auf, daß er wie eine Höhle in seiner Visage gähnte. Eine Höhle, in die zwei elfenbeinfarbene »Stalagmiten« hineinragten! Im allerersten Moment verspürte Lilith die sprunghaft anschwellende Gier in ihren Eingeweiden kaum. Die Überraschung überwog alles andere! Der Vampir, dessentwegen sie sich auf den Weg nach Osceola gemacht hatten – – sie hatte ihn gefunden, ohne ihn wirklich suchen zu müssen! Als hätte eine geheimnisvolle Macht dafür gesorgt, daß sie seinen Weg kreuzte. Einen flüchtigen Augenblick nahm Lilith sich Zeit, einen dankbaren Blick himmelwärts zu schicken, in der vagen Hoffnung, daß er sein eigentliches Ziel erreichen mochte. Dann löste sie mit einem einzigen Gedanken sämtliche Fesseln und alles, was das Dunkle in ihr noch mühsam im Zaum hielt. Brüllend vor rasender Begierde stürzte sie vor, spürte noch in der Bewegung, wie ihr Körper sich veränderte, zu etwas Monströsem mutierte, von dem sie hoffte, es nie zur Gänze wirklich sehen zu müssen. Obwohl es diesmal anders war – erleichternd, befreiend. Das Messer des Vampirs schnitt durch ihre Haut, durchtrennte Sehnen und Muskeln. Doch sie spürte keinen Schmerz. Nicht jetzt, nicht in dieser Situation – nicht so nah vor dem Ziel!
Dunkelrotes Blut pulste aus ihren Wunden, die sich zwar wieder schlossen, doch der kurze Anblick genügte dem anderen, selbst zur Bestie zu werden. Aber das, wozu er imstande war, war nichts im Vergleich zu dem, was aus Lilith hervorbrach. Mit animalischer Macht rang sie ihn nieder, wich jedem Hieb, den er mit Händen und Zähnen führte, instinktiv aus. Ihre Kraft und das Gewicht ihres verwandelten Leibes drückten ihn nieder, verdammten ihn für eine Sekunde zur Bewegungslosigkeit. Eine Sekunde, die Lilith genügte. Mit dem Kopf stieß sie den seinen zur Seite, so daß sein Hals freilag. Tief rammte sie ihre Zähne durch die bleiche Haut. Schmeckte Eiseskälte. Überwand den schwachen Anflug von Ekel. Saugte. Trank! Und erbrach sich.
* Die Erinnerung kam, noch bevor Hidden Moon die Augen aufgeschlagen hatte. Eine Sekunde der Ablenkung hatte genügt, um ihn unterliegen zu lassen. Lilith hatte sich verwandelt, war geflohen. Er hatte ihr nachgesehen, vermutlich sogar weniger als eine Sekunde lang – dann war auch schon der dunkle Schatten auf ihn zugerast. Etwas Hartes, Kantiges, vielleicht ein Stuhlbein oder etwas in der Art, hatte ihn seitlich am Kopf getroffen, war förmlich explodiert. Und die Gewalt dieser Explosion hatte genügt, selbst sein vampirisches Bewußtsein auszulöschen. Vielleicht hatte auch die merkwürdige Atmosphäre dieses Ortes dazu beigetragen, daß er so leicht auszuschalten gewesen war. Müßig, darüber nachzusinnen. Es war geschehen. Und er lebte
noch. Davon ging er jedenfalls aus, denn das Gefühl für seinen Körper war noch dasselbe wie zuvor. Etwas wie Nachwehen eines solchen Hiebes, wie er ihn niedergestreckt hatte, kannte er nicht. Schließlich öffnete der Arapaho die Augen. Und schlagartig wuchsen in ihm Zweifel, ob der endgültige Tod ihn tatsächlich verschont hatte. Denn seine Blicke erkundeten eine Umgebung, die ihm völlig fremd war – und die eines Königs würdig gewesen wäre! Der Prunk des riesigen Raumes, in dem er sich wiederfand, war von solcher Fülle, daß sie ihm fast erdrückend schien. Nie zuvor hatte er auch nur etwas Vergleichbares gesehen. Gold, Marmor und edelste Stoffe waren um ihn her, Möbel, die von den Kundigsten dieser Kunst gefertigt worden sein mußten, bis ins kleinste Detail verziert, und alles in das Licht eines güldenen Kerzenmeeres getaucht. Hidden Moon stemmte sich in eine sitzende Position, spürte Seide unter seinen Händen. Erst jetzt bemerkte er, daß er inmitten eines Bettes lag, über das sich ein schwarzer Baldachin spannte und das allein schon größer war als das Tipi, das ihm jahrhundertelang ein Zuhause gewesen war. Verblüffung und Staunen vergingen. Nicht jedoch, weil er sich so rasch an den Anblick seiner Umgebung gewöhnt hätte. Sondern weil etwas sie verdrängte. Durst. Durst von jener Art, die er fürchtete – unbändig und maßlos, eine Begierde, die durch nichts mehr gezügelt, gereinigt wurde … »Lilith«, entwich es wispernd seinen Lippen, ohne bewußtes Zutun. Geisterstimmen flüsterten ihren Namen echohaft nach. Und verstummten abrupt, als eine andere sich über sie erhob. »Nun, ich hoffe, es ist alles zu deiner Zufriedenheit?«
Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen, aus der scheinbaren Endlosigkeit des Raumes. Hidden Moon ließ seine Blicke über die formlosen Wogen des Kerzenlichtes gleiten, versuchte zu ergründen, was dahinterlag, doch die Dunkelheit dort war von einer Art, die auch vampirische Sinne nicht zu durchdringen vermochten. »Wer bist du?« fragte er, sich selbst über das Zögern seiner Worte wundernd. Es war, als würde seine Stimme gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfen müssen. »Dein Gastgeber«, kam die Antwort aus dem Dunkel, und sie klang – amüsiert? »Zeige dich«, verlangte Hidden Moon, sich zu einem festem Tonfall regelrecht zwingend. »Gemach, mein Freund«, erwiderte der Unsichtbare. Nein, er ist nicht unsichtbar, berichtigte sich Hidden Moon. Ich kann ihn spüren, er ist da … mehr als nur da. Er ist – überall! »Gestatte mir zunächst die Frage nach deiner Person«, fuhr der andere fort. »Wer bist du, und was führt dich in mein kleines Reich?« »Mein Name ist Wyando. Und wer ich bin, dürfte dir nicht verborgen geblieben sein …« Der Arapaho zögerte erneut. Die Beweggründe, derentwegen er hierher gekommen war, erschienen ihm mit einemmal – falsch … Er hatte Lilith in diese Stadt geführt, damit sie endlich ihren Durst löschen konnte. Das hätte er nicht tun dürfen! Er hätte sie längst töten müssen, sich an ihrem Blut laben sollen – zum Wohle all derer, die von der Alten Rasse noch übrig waren! »Du bist von meiner Art«, sagte der andere, »aber du bist nicht wie ich.« »Doch«, flüsterte Hidden Moon, »ich bin es. Ich werde es. Ich muß, ich will …« Seine Stimme klang heiser, rauh vor Durst. Nicht allein seine Keh-
le schien ausgedörrt; sein Innerstes drohte zu vertrocknen, wenn er nicht endlich trinken konnte. »Du scheinst mir verwirrt, mein Freund.« Hidden Moon starrte flammenden Blickes in die Dunkelheit. »Zeige dich mir endlich«, knurrte er. »Nun, wenn dir soviel daran liegt …« Das Licht der Kerzen gewann von einem Moment zum nächsten an Kraft, wogte hinaus über die Grenzen des Bereichs, den es bisher erfüllt hatte, und ließ endlich den sichtbar werden, der sich in Schatten gehüllt hatte. Wie von flüssigem Gold umflossen erschien dem Arapaho die Gestalt. Bleich und nackt war der andere, von fast kalkiger Farbe seine Haut. Sein haarloser Schädel schien ihm wie aus Gips gefertigt; scheinbar augenlose Höhlen klafften in seinem hageren Gesicht. Nur tief in diesen Löchern glomm ein düsterer Funke und vermittelte den Eindruck von Leben. Lippen und Mund des anderen waren so welk, daß er ihn kaum mehr richtig zu schließen vermochte. Weit ragten die gewaltigen Eckzähne aus seinen Kiefern … »Verzeih, kein schöner Anblick«, sagte er in tatsächlich entschuldigendem Tonfall. Eine Schattenwelle floß über seine Gestalt – – die zu einer anderen geworden war, in dem Moment, da die Bewegung aus Dunkelheit verebbte. Einzig die Färbung seiner Haut war gleich geblieben. Ansonsten jedoch erweckte er den Anschein eines Mannes im besten Alter, stattlich und von kräftiger Statur, mit dunklem, vollen Haar und in kostbarste Gewänder gekleidet. Der Arapaho sah stumm und starr zu ihm hin, erschauernd unter der Macht, deren Hauch ihn eben gestreift hatte – und zugleich tiefer in ihn gedrungen war. Um aufzurütteln, was längst zu erwachen begonnen hatte … »Komm zu mir«, bat der andere mit einladender Geste. Hidden Moon erhob sich von dem Bett und ging zwischen den
Kerzen hindurch zu der Gestalt hin. »Folge mir«, sagte der Vampir und ging voran. Der Arapaho tat, wie ihm geheißen, folgte dem anderen durch Korridore und Säle, deren Glanz und Prunk den des Raumes, in dem er erwacht war, noch übertraf. In einem Saal von fast domähnlichen Ausmaßen blieben sie schließlich stehen. Der andere bedeutete Hidden Moon, Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich ihm in der Diwan-Landschaft gegenüber. »Nun«, sagte der Herr des Hauses, »erzähle mir, wer du bist.« Hidden Moon tat es. Er erzählte die Geschichte seines Stammes, ihres Lebens und wie sie ihr Wesen geändert hatten in der Zeit nach der Kelchtaufe. Doch in seinen Worten schwang kein Stolz mit über ihre Besonderheit mit, darüber, daß sie dem dunklen Keim in sich widerstanden und ihn bezwungen hatten. Er hatte nur noch Verachtung übrig für sich und seinesgleichen. Und als er schließlich auf jene zu sprechen kam, die sich Lilith Eden nannte, war nur noch Haß in seiner Stimme. »So seid ihr also gekommen, mich zu töten?« fragte der Vampir belustigt. »Ja«, antwortete der Arapaho, »aber dieses Ansinnen liegt mir inzwischen unendlich fern.« Er knirschte vernehmlich mit den Zähnen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, so fest, daß schwarzes Blut zwischen seinen Fingern hervorsickerte. »Ich habe jetzt nur eines im Sinn«, erklärte er weiter. »Und das wäre?« »Ich will Lilith Eden töten, sie bestrafen für all das, was sie unserer Rasse angetan hat.« Der andere klatschte lahm in die Hände. »Köstlich, köstlich«, kicherte er. »Ich denke, deinem Wunsch kann entsprochen werden.« »Ich bin bereit, alles dafür zu tun«, sagte Hidden Moon kalt. »Ich denke, ich sollte ein Fest geben aus diesem Anlaß«, sinnierte
der Vampir. »Schon lange bot sich mir kein solch würdiger Anlaß mehr zum Feiern.« Er erhob sich. »Doch zunächst solltest du dich stärken. Gedulde dich einen Moment.« Er verschwand im Hintergrund des Raumes, und als er wiederkam, hielt er einen Kelch in Händen, den er dem Arapaho reichte. Der zögerte einen Moment lang, danach zu greifen. Die Form des Gefäßes erinnerte ihn an … »Erstaunlich, nicht?« meinte der andere. »Ein wahrer Künstler schuf ihn nach meiner Erinnerung an den Gral unseres Volkes.« »Ja, in der Tat«, sagte Hidden Moon. »Die Nacht meiner Taufe liegt zwar lange zurück, aber ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen. Dieser Kelch ist das perfekte Ebenbild. Und ich wünschte, ich dürfte noch einmal aus dem wahren Gral trinken, um alles auszulöschen, was mein wahres dunkles Sein seither vergiftet hat.« »Möge dir auch dieser Trunk munden«, sagte der Vampir. Der Arapaho sah in den Kelch hinein. Einen Moment lang war er fast sicher, daß die Flüssigkeit darin nicht rot war, sondern … Doch der Eindruck verging, als hätte ihn eine unsichtbare Hand einfach fortgewischt. Er führte den Becher an die Lippen und trank. Als er schmeckte, daß das Blut darin in der Tat keine rote Färbung besaß, war es zu spät, um den Kelch noch abzusetzen. Der andere griff danach und schüttete ihm, was darin war, förmlich in die Kehle. Dabei sah Hidden Moon die verblassende Narbe am bleichen Handgelenk des Vampirs. Die Schwärze brannte sich kalt durch seinen Leib, entließ die Dinge, die sie unsichtbar in sich barg. Hidden Moon sah auf zu dem anderen. Entdeckte das unstete Glitzern in dessen Blick. Und spürte das gleiche Flackern in seinen eigenen Augen. Sogar ihr Lachen glich sich, als es durch die Leere von God’s Garden hallte, begleitet von wahnsinnweckenden Echos.
* Lilith würgte und spie noch immer, obwohl sie längst den letzten Tropfen des kalten Blutes erbrochen hatte. Erschöpft kauerte sie am Fußende des Bettes auf dem Boden, den glasigen Blick auf die nunmehr vollends entseelte Dienerkreatur gerichtet, der sie das Gesicht in einem Akt von Wut und Enttäuschung auf den Rücken gedreht hatte. Die Gier nach dem schwarzen Elixier mußte sie blind und taub in jeder Hinsicht gemacht haben. Sonst wäre ihr aufgefallen, daß tot und kalt gewesen war, was unter der Haut des anderen gelegen hatte. Kein noch so träger Rhythmus, in dem Blut durch das Aderwerk kroch … »Närrin«, flüsterte sie. »Blutgeile Idiotin …« Doch alle Selbstvorwürfe halfen ihr nicht weiter. Und schon gar nicht vermochten sie zu bezwingen, was nunmehr noch schlimmer in ihr brannte, nachdem es einmal angefacht und ungelöscht geblieben war. Ein leises Krähen drang wie von weither an ihr Ohr. Sie erhob sich, schwerfällig und langsam wie die Hundertjährige, die sie an Lebensjahren tatsächlich längst war. Die Frau saß auf dem Bett, ihr Kind unversehrt im Arm haltend. Doch ihr Blick ging in unauslotbare Fernen. Nur das Neugeborene selbst quäkte leise vor sich hin, als wäre nichts geschehen, alles seinen normalen Gang gegangen. Lilith seufzte schwer. Nun, wenigstens etwas konnte sie hier noch ausrichten. Sie faßte nach dem Kinn der Frau. Widerstandslos ließ die es geschehen, daß die Fremde ihr Gesicht anhob. Sie nahm Lilith nicht einmal wahr. Das Entsetzliche, dessen Zeugin sie geworden war, hatte jede normale Wahrnehmung ausgelöscht.
Lilith hielt den stieren Blick der anderen mit dem ihren fest und tauchte hinein. Ein Gefühl, als würde sie durch eine frostrauhe Eisröhre gleiten … Als sie daraus zurückkehrte, verspürte sie zumindest einen Hauch von Wärme, den das Vergessen brachte. Mehr konnte sie nicht tun. Den Rest mußte die Zeit erledigen. Lilith hoffte, daß es so geschehen würde. Schon wegen des kleinen Wesens, das sich im Arm seiner Mutter räkelte – und Lilith wie zum Abschied zuzublinzeln schien, als sie sich unter der Tür des Schlafzimmers im Hinausgehen noch einmal umwandte. Noch einmal fing sie den Blick der Mutter fest. »Lilith ist ein hübscher Name«, flüsterte sie. »Ja, das ist er«, sagte Kristin Tewes leise, den Blick senkend und still lächelnd. Lilith verließ das Haus. Auf der leeren Straße davor blieb sie stehen. Ihr blieb nur eines zu tun: zu suchen. Nach der Quelle, aus der sie ihren Durst löschen konnte. Dann erst würde sie weitersuchen. Nach Hidden Moon. Vorher durfte sie sich nicht in seine Nähe wagen. Die nächste Sekunde jedoch brachte ihren Entschluß nicht nur ins Wanken, sondern zertrümmerte ihn regelrecht! »Lilith, hilf mir …« Der Ruf war kaum ein solcher, und er drang nicht wirklich an ihr Ohr. Er war um sie her, als trüge der Wind ihn mit sich, und er schien von überall her zugleich zu kommen. Dennoch erkannte Lilith die Stimme. »Hidden Moon!« Dem Ruf zu folgen, bereitete ihr keine Mühe. Er leitete sie in einer Weise, als berührte sie ein unsichtbares Band, dem sie nur nachzugehen brauchte. Und so erreichte Lilith God’s Garden. Ein prachtvolles und verschwenderisch illuminiertes Anwesen, in dem ein wahrhaft rauschendes Fest stattfand.
* Liliths Vorsicht hielt, bis sie den Fuß der steinernen Treppe erreicht hatte, die zum Eingangsportal hochführte. Wohlwollend schienen ihr die leeren Blicke der marmornen Jünglinge links und rechts des Aufgangs. Wie durch ein Spalier schritt sie zwischen ihren Reihen hindurch. Die Flügel der riesigen Tür oben schwangen wie von Geisterhand bewegt vor ihr auf. Augenblicklich gewann die Musik, die sie bisher nur gedämpft vernommen hatte, an Lautstärke. Walzerklänge wehten durch das Haus, dessen Eingangshalle allein schon jede europäische Adelsfamilie vor Neid hätte erblassen lassen. Ein solches Anwesen in Nebraska vorzufinden … Lilith vergaß den Gedanken und trat ein, staunend, fast ehrfürchtig. Mit einem eher beiläufigen Befehl wies sie den Symbionten an, sie anders, angemessener zu kleiden. Das schwarze Material zerfloß zu einem enganliegenden ärmellosen Gewand, das die Spitzen ihrer Brüste hinter den Rändern hervorlugen ließ. Ein hauchfeiner Schleier umwehte ihre Hüften. Sehr schön, befand sie lächelnd und strich mit feuchten Fingern über ihre Brustwarzen, um sie richtig zur Blüte zu bringen. Langsam ging sie weiter, sich immer wieder umsehend und sich am Prunk dieses Hauses berauschend. Wer auch hier lebte, er mußte der Reichste dieser Stadt sein, der Herr Osceolas. Und daß er ausgerechnet sie zu einem solchen Fest einlud … Welch eine Ehre! War es das? Eine Ehre? Lilith verhielt für einen Moment. Ein Wort geisterte durch ihren Sinn. Hidden Moon … Ein Name? »Hidden Moon«, flüsterte sie nach.
Stimmen mischten sich in die Musik, von der sie sich regelrecht umweht glaubte. Keine von ihnen war verständlich; Worte versanken in gedämpftem Murmeln, über das sich nur hin und wieder ein helles Lachen erhob. Lilith tat den nächsten Schritt. Wohin gehe ich überhaupt? fragte sie sich. Und vor allem – warum? Hidden Moon … Eine einzelne Stimme drang durch das Rauschen der anderen. »Lilith … hilf mir …« Ein Gesicht erschien aus dem Nichts vor ihr, nebulös, durchscheinend – und vielleicht deshalb von der Schönheit eines Gottes. Ebenmäßig, edel – vertraut … »Hidden Moon.« Als wüßte sie plötzlich, wohin sie zu gehen hatte, rannte sie los, einen Korridor hinunter. An dessen Ende öffnete sich eine doppelflügelige Tür, gab den Weg frei in einen Saal – – in dem ungeheuerliche Dinge vorgingen! Die majestätischen Walzerklänge ließen die Szenerie nur noch grotesker wirken. Nackte Leiber wälzten sich miteinander am Boden, zuckend in samtenen Polsterlandschaften. Schwacher Schweißgeruch hing in der Luft, mengte sich mit dem Gestank von Uraltem, von Moder und Unrat, Tod … Stöhnen aus zwei Dutzend oder mehr Kehlen. Und inmitten dieser Orgie, starr wie eine steinerne Statue, wie im Leben zur Reglosigkeit verdammt, stand eine hochgewachsene Gestalt mit rotbrauner Haut und langem Haar, das von einer Brise bewegt wurde, die aus dem Nichts zu kommen schien. »Hidden Moon!« Lilith schrie seinen Namen, doch sie war nicht fähig, sich zu rühren. Die Erkenntnis des Tatsächlichen um sie her lähmte sie. Der Prunk verging.
Was blieb, waren kahle Wände, unratübersäter Boden – und die Gäste dieses furchtbaren Festes, für die jene Illusion, die Lilith eben noch gesehen hatte, auch weiterhin Bestand haben mußte, denn sie hielten nicht inne in ihrem Treiben. Wer hatte das Trugbild geschaffen? Wer zwang es diesen bedauernswerten Verblendeten auf? Hidden Moons Blick ging an Lilith vorbei, in eine Ecke des gewaltigen Raumes. Dort stand, ebenso reglos wie der Arapaho, aber lächelnd, eine stattliche Erscheinung, gekleidet in kostbare Gewänder, das dunkle Haar streng zurückgekämmt, das Gesicht von dämonischer Faszination. Lilith vermochte die Angehörigen der Alten Rasse nicht mehr zu erspüren. Doch sie wußte, wen sie in dieser Gestalt dort vor sich hatte – was dieser andere war … »Willkommen«, sagte er. Seine Stimme klang volltönend, kultiviert – an der Oberfläche. Dicht darunter klang etwas anderes mit. Etwas, das Lilith nicht deuten mochte, das ihr jedoch einen eisigen Schauer über den Rücken sandte. Doch sie verbannte dieses Empfinden im Angesicht des Feindes und gab sich ganz den anderen Gefühlen hin, die ihre zweite, dunkle Natur darstellten. Der Vampir in ihr erwachte, mächtiger denn je zuvor. Brüllend und tobend. Die Gegenwart des schwarzen Blutes trieb ihn schier zum Wahnsinn. Und Lilith ergab sich ihm mit allen Sinnen. Wie eine Furie stürmte sie dem Vampir entgegen.
* Der Blutsauger setzte sich kaum zur Wehr.
Zunächst erweckte er den Anschein, als wollte er mit Lilith spielen. Er wich ihren Attacken geschmeidig wie eine Katze aus, ließ sie ins Leere taumeln und trieb sie mit Stößen, die wie neckend wirkten, von sich fort, um sie in der nächsten Sekunde erneut an sich herankommen zu lassen. Liliths Wut, die kaum noch ihre eigene war, steigerte sich ins Unermeßliche. Immer heftiger und ungestümer wurden ihre Angriffe. Sie begann zu rasen, als es ihr endlich gelang, den anderen mit einem Hieb ihrer Klauen zu verletzen. Schwarzes Blut quoll aus den parallel verlaufenden Striemen, die sich quer über sein Gesicht zogen. Offensichtlich hatte es dieses Treffers bedurft, um auch ihn aus der Reserve zu locken. Fortan ging er selbst in die Offensive, ließ selbst Merkmale des Monstrums in sich zum Vorschein kommen. Seine Krallen verwundeten Lilith, seine Hiebe gewannen an Kraft, trieben sie meterweit zurück, wenn sie trafen. Doch seine Gegenwehr stachelte auch sie zu noch stärkerem Eifer an. Der allerletzte Rest ihrer menschlichen Seite verging. Wie ein Dämon, den die Hölle ausgespien hatte, stürzte sie sich auf den Vampir und rang ihn nieder. Ihre Klauen tasteten blitzschnell nach seinem Kopf, bekamen ihn zu packen. Wühlten sich in sein Haar … … langes, seidiges Haar! Und sein Gesicht war nicht länger von dämonischer Ausstrahlung, sondern … … ebenmäßig, edel und – vertraut! »Hidden Moon!« Der Name kam kreischend und grollend in einem aus ihrer mutierten Kehle, die sich noch im selben Moment entspannte, ein kleines bißchen menschlicher wurde wie auch ihre ganze Gestalt. Einen flüchtigen Augenblick lang flackerte noch blanke Mordlust im Blick des Arapaho. Dann verlosch sie wie eine ersterbende Kerzenflamme, verging unter dem, was zwischen ihnen geschah – auf
diese unbeschreibliche Weise … Doch es waren noch immer nicht Hidden Moons Augen, in die Lilith sah. Etwas lag darin, wie ein schlieriges Wabern, funkelnd und von etwas kündend, das Lilith mehr entsetzte als alles andere. Wahnsinn … Der gleiche Wahnsinn, der in dem hyänenartigen Lachen mitschwang, das hinter ihr laut wurde. Die Halbvampirin sprang auf, wirbelte herum, zum Sprung geduckt. Wo vorhin Hidden Moon gestanden hatte, sah sie nun jenen, den sie eben noch angegriffen hatte. »Schade«, kicherte er, und das Geräusch stand in krassem Gegensatz zu seiner würdigen Erscheinung, »du hast unser Spiel allzu rasch durchschaut.« »Niemand treibt Spiele mit mir«, zischte Lilith. »Niemand!« Sie stürmte los, ohne ein weiteres Wort zu verlieren oder sich gar auf weitere »Spielchen« einzulassen. Für beides war die Zeit längst vorüber. Ihre eigene Zeit war fast vorüber! Lilith spürte, daß jene Kraft, mit der sie den Vampir, den wahren Herrn dieses Hauses angriff, die allerletzte Reserve war, über die sie noch verfügte. Wenn sie es nicht rasch zu Ende brachte … Lilith erkannte, daß der andere bislang in der Tat nur mit ihr gespielt hatte. Er hatte sie lediglich einen kleinen Teil seiner wahren Macht kosten lassen. Nun warf er auch den übrigen in die Waagschale. Sein Hieb fegte die Halbvampirin durch den Raum, über die nackten Leiber hinweg, die sich nicht stören ließen in ihrem Tun, weil sie noch immer in jener anderen Welt waren. Ein einziger Sprung brachte den Vampir zu seinem Opfer. Denn nichts anderes war Lilith mehr. Der Tritt, den er ihr gegen die Brust versetzte, ließ ihre Rippen splittern.
Der Hieb, mit dem er sie auftrieb, meterhoch in die Luft, zerfetzte ihren Brustkorb. Die Klauen, die er ihr in die Seiten schlug, brannten wie glühende Eisen. Ganz nah brachte er seine monströse Fratze an die ihre heran. »So«, grollte es aus seiner Kehle, »wie du wünschst. Keine Spielchen mehr.« Sein Maul wurde zum klaffenden Schlund. Die Hauer schienen sich Lilith noch entgegenzurecken. Lilith wußte, daß er ihr die Zähne nicht einfach in den Hals schlagen würde. Er würde ihn schier zerfleischen und in ihrem Blut baden. Sie spürte keine Panik, nicht einmal Angst. Im Gegenteil, sie fühlte sich fast klarer als je zuvor. Etwas stieg in ihr auf, quoll in ihrer Kehle empor und brach mit nichtmenschlicher Stimme über ihre Lippen. »Creeaa!«
* Etwas raste heran. Ein gewaltiger Schatten, mutiert wie Lilith und der Vampir. Tobend und brüllend wie sie. Doch er hatte das Überraschungsmoment auf seiner Seite. Er sprang den Vampir an, bekam ihn blitzartig in den Griff und bog ihm den Schädel weit zurück. Die Haut seines Halses spannte sich. »Tu es!« schrie Hidden Moon mit kaum erkennbarer Stimme. »Nimm ihn!« Lilith stieß den Kopf vor, den Mund weit aufgerissen, und schlug ihre Zähne durch kalkweiße Haut. Versenkte sie in einem schwarzen Strom. Saugte und trank gieriger denn je zuvor in ihrem Leben. Und versank – – in Wahnsinn.
* Jenseits des Wahns Der Schein schwarzer Flammen erfüllte den Felsendom, dessen Wände sich dennoch in Unendlichkeit verloren. Und wie verloren nahm sich auch die Handvoll Gestalten aus, die sich im Zentrum der gewaltigen Höhle, die im Nichts liegen mochte oder auch nicht, versammelt hatte. Obwohl sie den geheimen Herrschern der Welt angehörten, war in diesen Momenten nichts von ihrer Kraft und ihrer Überlegenheit zu verspüren. Denn sie waren hierher gekommen, um an Dingen zu rühren, die selbst die Macht der Alten Rasse in den Schatten stellten. Wenn es gelang, würden sie sich selbst zu Herrschern über ihresgleichen aufschwingen können. Denn sie waren auserwählt, an einem Ritus teilzuhaben, der neue, alles übertreffende Machtverhältnisse schaffen sollte. In dem Bereich, den selbst das Schattenlicht nicht erreichte, entstand Bewegung. Ein Teil der Schwärze dort schien zu Leben zu erwachen. Er kam heran und wurde in dem Moment, da er ins Licht trat, zu Gestalt. Schweigend machten ihm die anderen Platz, doch ihr Schweigen war mehr als nur Wortlosigkeit. Es war Ehrerbietung für jenen, der sie ausgesucht und um sich geschart hatte, damit sie dem beiwohnen konnten, womit er ein neues Zeitalter für ihr Volk begründen wollte. Und sie würden, so hatte er ihnen versprochen, an seiner Seite die Macht dieser neuen Zeit kosten dürfen. In ihrer Mitte blieb er stehen. Seine Hand glitt unter sein Gewand und kam wieder zum Vorschein, etwas festhaltend, das sie alle schon geschaut hatten. Weil sie daraus ihr neues Leben getrunken hatten, nach dem Ende ihres armseligen menschlichen Daseins.
Einem jeden von ihnen hielt er den Gral hin. »Der Lilienkelch ist das Unheiligtum unseres Volkes«, sagte er feierlich. »Doch er ist nicht allein dafür geschaffen, unsterbliches Leben zu spenden. Nein, wer bestimmt ist, ihn zu hüten, der vermag anderes mit ihm zu vollbringen. Dinge, die weit über die Möglichkeiten, die euch bekannt sind, hinausreichen. Und so soll es hier geschehen.« Er kniete nieder und stellte den Kelch auf den Boden. Mit seinem eigenen Blut zeichnete er sinnverwirrende Symbole um den Gral, deren bloßer Anblick einen Hauch der Macht vermittelte, die sich in ihnen verbarg. Dann hieß er die anderen, sich niederzusetzen, während er selbst sich neben den Kelch kniete. Für andere mochte es aussehen, als würde er nur seinen Blick in die Öffnung des Gefäßes richten. Doch wer fähig war zu spüren, der wußte, daß er mehr tat, viel mehr. Er ließ jene Kraft wirken und fließen, die nur seinem Stand zueigen war. Denn die Hüter unterschieden sich in einem wichtigen Punkt von denen, die der Kelch erst zu Blutsaugern gemacht hatten. Sie waren nicht aus Menschenkindern hervorgegangen, sondern als Vampire geboren worden, einst, in der Genesis des Planeten Erde … Ewigkeiten vergingen, die Zeit nicht messen konnte. Draußen mochte eine Generation geboren werden und sterben. An diesem Ort war dies nicht von Bedeutung. Die Wirklichkeit ergriff erst wieder Besitz von ihm, als etwas am Grund des Kelches geschah – oder weit jenseits davon. Und er spürte, daß es nicht richtig war, in dem Moment, da es begann! Nicht einmal er wußte, weshalb es mißglückt war – das Experiment, der Versuch, die Macht des Kelches für neue, nie erprobte Zwecke zu nutzen. Doch so endlos die Vorbereitung gewährt hatte, so zeitlos rasch geschah alles weitere. Zu schnell, um noch warnen zu können. Doch selbst dann wäre nichts mehr aufzuhalten oder auch nur abzuwen-
den gewesen. O ja, etwas entstieg dem Kelch. Wie geplant. Doch alles andere sprach diesem Plan hohn. Schwärze quoll aus dem Gral. Gestaltlos und allumfassend. Von einer Kälte, die selbst schwarzes Blut in den Adern gefrieren ließ. Er, dessen Genie den Plan ersonnen hatte, wich zurück – und wurde dann unter dem Ansturm materieller Finsternis fortgestoßen. Hart schlug er gegen den Fels und mußte tatenlos mitansehen, was in rasender Geschwindigkeit dort drüben geschah. Die Schwärze senkte sich wolkengleich über jene, deren Kraft er für das Experiment genutzt hatte, und verschlang sie. Nichts als Knochen blieben zurück. »Ich habe versagt«, wimmerte er, sich allein des Klanges seiner Stimme schämend. Er verurteilte sich selbst zur Strafe, die er allein verdient hatte. Mit ausgebreiteten Armen schritt er der wogenden, quellenden Schwärze entgegen. »So nimm auch mich!« rief er bebend. Der Moloch verharrte. »Vernichte mich!« schrie er, verzweifelt. »Ich flehe dich an, NEXIUS!« Und die Schwärze kam. Hüllte ihn ein für eine Ewigkeit. Um ihn dann wieder zu entlassen. Körperlich unversehrt. Aber nur körperlich … Er wußte nicht mehr, wer, noch was er einst gewesen war. Sein Wissen war zersplittert, verteilt auf die Scherben seines zertrümmerten Geistes. Nur eines wußte er: Daß es Millenien dauern mußte, um diese Scherben zusammenzufügen. Und daß es ihm doch nie gelingen würde.
*
Der Irrsinn des anderen, die Vision, derer sie teilhaftig wurde, zerrte an Liliths Geist, trachtete danach, ihn zu sich herabzuziehen die Einsamkeit und alle anderen Schrecken mit ihm zu teilen, auf ewig … Doch dann, als hätte er sich seinen Weg durch die Trümmer des fremden Geistes erst mühsam suchen müssen, wirkte Liliths Keim. Er brach den Willen des Vampirs, machte ihn dem ihren gefügig. Nachdem der letzte Tropfen seines Blutes in ihr Gedärm geflossen war, ließ sie von ihm ab. Seine Gestalt war nicht länger stattlich. Nackt hing er in ihrem Griff, eine Gestalt, wie nur jahrtausendewährender Wahnsinn sie schaffen konnte. Als sie ihm das Gesicht nach hinten drehte, glaubte sie einen winzigen Moment lang etwas in seinen leeren Augen blitzen zu sehen, das eine Abart von Dankbarkeit sein mochte. Aber vielleicht hatte sie sich auch geirrt … Es war auch nicht wichtig in diesen Augenblicken. Etwas anderes zählte mehr. Hidden Moon. Hinter dessen Wahnsinn, den er sich mit dem Blut des Vampirs einverleibt hatte, erkannte sie Verzweiflung. Und einen stummen Ruf nach Hilfe. Hilfe, die nur sie ihm gewähren konnte. Sie wußte nicht, wie und warum. Und doch tat sie es. Ließ einfach geschehen, wozu etwas tief in ihr sie anleitete, ohne daß sie sich dessen wirklich bewußt gewesen wäre. Dinge flossen, strömten. Und vergingen.
* Osceola verschwand hinter ihnen am Horizont, seinem Schicksal
überlassen. Ob die Menschen dort zu einem neuen Leben finden würden, wußten sie nicht. Es war auch nicht an ihnen, dafür Sorge zu tragen. Sie hatten den Terror beendet, unter dem die kleine Stadt vielleicht seit Anbeginn gelitten haben mochte. Und nicht einmal das hatten sie den geknechteten Menschen zuliebe getan … »Es ist vorbei«, sagte Lilith nach einer Weile, in der sie schweigend dahingefahren waren. Sie setzte eine Pause und fuhr erst dann fort: »Und ich verstehe kaum etwas von dem, was geschehen ist. Ich erinnere mich nicht einmal an alles.« Hidden Moon lächelte nur. Ein paar Minuten vergingen, ehe er erwiderte: »Verstehen … Nein, auch ich verstehe nicht alles. Aber manchmal genügt es, einfach nur zu wissen.« »Möchtest du es mit mir teilen, dein Wissen?« fragte Lilith. »Wenn ich mir selbst darüber im klaren bin.« »Wann wird das sein?« bohrte sie weiter. »Wenn die Zeit dafür gekommen ist«, antwortete er mit einem kleinen Lächeln. »Zeit …«, sagte Lilith. »Wer weiß, wieviel uns bleibt?« »Alle Zeit der Welt«, meinte der Arapaho. Er ahnte nicht, wie sehr er sich irrte. ENDE
Von der Einsamkeit eines Vampyrs von Viktor von Hagen geboren 1702, gestorben und auferstanden 1735 Welch Wesen vermag schon zu verstehen, was wahre Einsamkeit wirklich bedeutet? Der armselige Mensch vielleicht, der von ihr gekostet hat? Der sich in ihr weidet und suhlt, sie in Wirklichkeit aber als Zuflucht, ja als Schutz vor einer kranken Gesellschaft in einer kranken Welt mißbraucht? Als einen Ort, der Schutz bietet vor der eigenen Menschlichkeit? Den eigenen Gefühlen? Einst, vor sehr vielen Jahren, war ich selbst ein solcher armseliger Mensch. Einsamkeit bedeutete für mich schon, die Nacht nicht in einer stinkenden Taverne zu verbringen, dem Alkohol zu frönen, prahlerische Geschichten zum besten zu geben und mit einem Mädchen, betört von meinem Titel und Geld, zu meinem Anwesen zurückzukehren. Jetzt nenne ich dies ein glückselige Zeit, und solche Abende erscheinen mir jetzt wie eine Erlösung. Denn dies geschah damals: In einer jener trunkenen, glückgeschwängerten Nächte kehrte ich mit einem wahrlich jungen Ding zurück, das noch nichts ahnte von den Spielen und kleinen Grausamkeiten, mit denen Erwachsene sich die Zeit zu vertreiben pflegen. Es war mir gleich. Da war eine Unschuld in ihren Augen, die ich einfach besitzen mußte! Um jeden Preis. Ich Narr! Den wahren Preis konnte ich ja noch nicht einmal erahnen! Zuerst umgarnte ich sie mit schönen, wohlüberlegten Worten, sanften Gesten, allerlei Schmeichelei und dem Prunk, der hier allgegenwärtig war. Dann betäubte ich den Rest ihres Widerstandes mit einem schweren roten Wein, der die Farbe frischen Blutes hatte. Schließlich nahm ich mir, was ich begehrte. Ihren Widerstand, das
bißchen, das sie noch zu leisten vermochte, als sie erkannte, wohin meine Hände wanderten und was sie im Begriff zu tun waren, fegte ich einfach beiseite. Als es schließlich vorüber war, rannte sie hinaus in die Nacht. Ich ließ sie gewähren, denn es war mir egal. Ich hatte bekommen, wonach ich gierte: ihre Unschuld. Drei Tage später erfuhr ich, daß sie sich das Leben genommen, die Adern geöffnet und ihren kostbaren Lebenssaft hatte verströmen lassen. Es stimmte mich traurig, aber nur ein wenig und nur einen Moment lang. Sie hatte ihren Zweck für mich erfüllt, ihren Wert verloren. Am gleichen Abend noch erhielt ich Besuch von einer alten, gebrechlichen Frau. Sie war häßlich von Angesicht und Gestalt; unfaßbar, daß eine so schöne Tochter dem Leib dieser Kreatur entschlüpft sein sollte, denn dies war die Mutter meiner so früh verstorbenen Gespielin. Aber für ihre Häßlichkeit hatte ich nur wenige Momente lang Augen. Denn schon rammte sie mir einen Dolch ins Herz! Während ich starb, kniete die Alte über mir und malte mit meinem Herzblut ein Symbol auf meine Stirn. »Ich verfluche deine verrottete Seele! Von jetzt an bis in alle Ewigkeit sollst du keinen Frieden mehr finden. Selbst die Erde soll dich wieder ausspeien aus ihrem kalten, unbarmherzigen Schoß!« Das waren die letzten Worte, die ich hörte, dann starb ich. Drei Tage und drei Nächte lang lag ich begraben unter der Erde. Dann schlug ich die Augen auf und lebte! Kann jemand die Panik ermessen, die einem widerfährt, wenn das Bewußtsein begreift, das man lebendig begraben ist? Voller Angst hämmerte ich gegen das Holz meines Sarges. Es brach ohne Mühe. Nicht einmal Schmerzen verspürte ich in den Knöcheln meiner Hände. Dann begann ich zu graben. Hand um Hand wühlte ich mich durch die weiche Erde eines frischen Grabes, bis sie mich wieder ausspuckte. Ich hatte Durst, irrsinnigen Durst. Das war mein erster Gedanke,
den ich wirklich fassen und begreifen konnte. Mehr wankend als gehend machte ich mich auf den Weg zu der Taverne, die mir so vertraut war – nur in dieser Nacht nicht. Alle starrten mich mit bleichen Gesichtern und voller Furcht an, bis es einem von ihnen gelang, die Furcht in Worte zu kleiden: »Ein Vampyr! Das ist ein verfluchter Widergänger! Rammt dem Blutsäufer den Pfahl ins Herz!« Da begriff ich und rannte um mein zweites Leben. Ich entkam mit Mühe und Not und mit Hilfe einer der Burschen, der so unvorsichtig war, mir alleine zu folgen. An ihm stillte ich zum ersten Mal meinen Durst, rammte meine Zähne in sein weiches Fleisch und trank den roten, warmen Sanft in vollen Zügen. Ich haßte mich dabei, jede Sekunde lang, und doch tat es so unendlich gut. Seit jener Nacht kann ich begreifen, was wahre Einsamkeit ist, die Einsamkeit des Vampyrs. Verdammt bin ich, durch die Nacht zu wandeln und zu leben vom Blute der Menschen. Immer allein und immer auf der Flucht. Man schließt nur schwer Freundschaften, wenn man nach Grab riecht, Blut trinkt und in der Sonne verfault. Man kann nur schwer lieben, wenn man beim Anblick der Geliebten an die nächste Mahlzeit denkt, die man haßt, aber braucht, weil man zu feige für die Konsequenz ist. Das ist das Schlimmste an meinem Fluch. Die alte Hexe hat mir so viel genommen, aber nicht meine Gefühle. Jede Sekunde sehne ich mich nach einem Leben, das ich nicht mehr habe. Das ist wahre Einsamkeit in ewiger Nacht. © Lars Papritz, Jahnstr. 23, 89355 Grundremmingen
Glossar Kodex, Der – Aufgrund der geringen Population der Vampire ist es für sie wichtig, die eigene Art nicht selbst zu dezimieren. Daher gilt bei den Blutsaugern das eherne Gesetz, untereinander nicht zu töten. Lilith handelt ständig gegen den Kodex, aber auch Landru hat schon im Interesse eigener Ziele mehrfach dagegen verstoßen. Landers, Hector – Tarnname von Landru, mit dem er sich unter den Menschen bewegt. Unter dieser Bezeichnung unterhält er Kontakte zu höchsten Kreisen in Wirtschaft, Militär und Politik-Zeit, diese Beziehungen aufzubauen, hatte er in den über tausend Jahren seiner Existenz mehr als genug. Mimikrykleid – Eine der wenigen Eigenschaften, die dem Symbionten auf Liliths Haut geblieben sind, ist die der Formwandlung. So dient er der Halbvampirin als »Wechselkleid« – ob Wintermantel, Abendrobe oder Neglige, es bedarf nur eines Gedankens, um die passende Garderobe zu formen. Die bevorzugte Form des Symbionten ist ein hautenges, schwarzes, wie zerrissen aussehendes Catsuit; wahrscheinlich die am einfachsten zu gestaltende Form. Seelenname – Die Arapaho-Indianer können durch eine geistige Brücke zum Adler, dem Totemtier des Stammes, dem Bösen entsagen. Dabei verbinden sich die Seelen von Vampir und Adler, und die reine Tierseele läutert das Böse, das den Arapaho noch immer zueigen ist. Jedem der Vampir-Indianer steht ein Adler zur Seite, der so eng mit ihm verbunden ist, daß beide den Seelennamen des jeweils anderen erkennen. Hidden Moons Name lautet »Creeaa«. Lilith erkennt ihn, als sie sein Totemtier unter dem Einfluß der Vampirseuche tötet. Damit geht die Verantwortung des Adlers auf sie über …
Spiegel – Vampire hassen Spiegel, denn sie zeigen ihnen, daß sie im Grunde Schattenwesen sind – indem sie sie nicht zeigen. Die Gründe, warum weder ein Spiegel, noch eine andere reflektierende Fläche Vampire wiedergibt, ist ungeklärt; der Sage nach besteht der Grund darin, daß Widergänger keine unsterbliche Seele mehr besitzen, also ihre Gottlosigkeit offenbar wird. Dies gilt auch für das Fehlen eines Schattens. Lilith, die zur Hälfte Mensch ist, besitzt zwar ein Spiegelbild, das aber unscharf erscheint, wie durch fließendes Wasser betrachtet.
Die zweite Wirklichkeit von Timothy Stahl Es ist ein Morgen wie jeder andere. Als Lilith Eden im Haus an der Paddington Street erwacht, kitzelt Sonnenlicht ihr Gesicht, und Kaffeeduft zieht von der Küche herauf. Im Speiseraum warten bereits ihre Eltern mit dem Frühstück auf sie. Bald wird Marsha vorbeikommen, ihre beste Freundin … Paddington Street? Eltern? Marsha? All das erscheint Lilith seltsam unwirklich, ohne daß sie sagen könnte, was sie stört. Alles scheint in Ordnung; ihre heile Welt ist ungetrübt. Und doch … wurde das Haus nicht dem Erdboden gleichgemacht? Starb ihre Mutter nicht bei Liliths Geburt, und wurde ihr Vater nicht grausam von Vampiren getötet, Jahre bevor auch Marsha an Altersschwäche starb? Woher kommen diese bösen, falschen Träume …?