Geisterfänger Band 4
Höhle der weißen Ungeheuer von William Perry In der Kathedrale der Finsternis regiert tödlicher ...
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Geisterfänger Band 4
Höhle der weißen Ungeheuer von William Perry In der Kathedrale der Finsternis regiert tödlicher Hass.
Richard Jork hatte die Arbeit längst erledigt und der Boss war schon nach Hause gefahren. Eigentlich hätte er den Laden dichtmachen kön nen, aber Richard saß immer noch in der Tankstelle und büffelte Straf recht. Zum Teufel mit der ganzen Juristerei, schimpfte er. Lieber hätte er Medizin studieren sollen, als sich auf das Jurastudium einzulassen, das nichts einbrachte. Richard blickte auf die Uhr. Um elf wollte er seine Freundin Jenny treffen. Er musste sich beeilen, wenn er es noch schaffen wollte. Er warf die Bücher in die Ecke, schloss die Benzinbude und ging zu Fuß querfeldein nach Blackburn, wo Jenny an den Wochenenden im Kino aushalf. Der Film war noch nicht zu Ende und Richard blieb auf einem schmalen Weg, der von der Straße abzweigte, stehen. Es war der ver einbarte Treffpunkt. Zwar hatte er nicht vor, eine Vogelscheuche zu spielen, aber im Moment blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten. Richard Jork setzte sich auf einen Holzzaun, ließ die Füße im ho hen Gras baumeln und dachte wieder an die Studiererei. Lieber wäre er ja überhaupt nach Australien, oder auf eine Südseeinsel ausgewan dert. Er konnte seine Gedanken nicht zu Ende bringen, denn plötzlich stand Jenny vor ihm und sagte: »Willst du den ganzen Abend hier sit zen bleiben und Löcher in die Luft starren?« »Hm - tja - ich habe dich gar nicht kommen hören«, sagte Richard noch immer gedankenverloren. »Kein Wunder, wenn du schon wieder träumst.« Jenny war ein hübsches Mädchen. Sie hatte das gewisse Etwas, von dem immer in den Romanen geschrieben wird. »Prinzessin«, erwiderte Richard salbungsvoll. »Träume kosten nichts. Sie sind jetzt ganz groß in Mode. Weißt du das noch nicht?« Jenny lächelte und schlang beide Arme um ihren Freund. »Du hast immer eine Ausrede«, sagte sie und zog ihn von seinem Sitz herunter. »Komm, ich will nach Hause.« »Doch nicht jetzt schon«, sagte Richard ungläubig. »So eine fan tastische Nacht gibt's nicht wieder. Die sollten wir uns nicht entgehen 4
lassen. Ich habe ein schönes Plätzchen entdeckt, Jenny, da findet uns niemand.« »Wo denn?« »Im Friedhof von Bridge-Hill.« »Bist du verrückt geworden?«, rief sie erbost. »Ich gehe nachts nicht auf einen Friedhof. Das kommt überhaupt nicht in Frage.« »Sei doch nicht albern«, erwiderte Richard leicht gekränkt. »Was soll uns denn dort passieren? Du hast doch nicht etwa Angst vor Geis ter und so?« Jenny wollte schon weitergehen, blieb dann aber stehen und sag te: »Erinnerst du dich nicht an Pat Kim, der mit grässlich verzerrtem Gesicht und vor Entsetzen geweiteten Augen tot im Friedhof gefunden wurde? Die Leute sagen, dass nachts die armen Seelen aus ihren Grä bern steigen und umherirren.« »So ein Blödsinn!« Richard Jork lachte. »Du glaubst das doch nicht im Ernst? Die Geister möchte ich kennen lernen! Wenn du mit kommst, beweise ich dir, dass alles bloß Gerede ist.« Kurz vor Mitternacht standen sie vor dem Friedhofstor. Jenny starrte eine Weile auf die Grabsteine, die im Schein des Mondes un echt und kulissenhaft wirkten. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen oder zu hören. »Gut«, flüsterte sie endlich, »gehen wir hinein.« »Jetzt kannst du dich gleich selbst davon überzeugen, dass alles nur Geschwätz ist, was die Leute da behaupten«, sagte Richard er leichtert. »Hoffentlich hast du Recht!« Richard nahm Jenny an der Hand und zog sie zu einer alten, halb verfallenen Gruft, die hinter Bäumen versteckt lag. Von dieser Stelle aus, konnte man den ganzen Friedhof überblicken, ohne selbst gese hen zu werden. Als Jenny in Richards Armen lag und ihr Kopf an seiner Brust ruh te, zogen ihr die merkwürdigsten Gedanken durch den Kopf. Plötzlich hatte sie wieder entsetzliche Furcht vor den Gespenstern, die hier um herirren konnten. Sie schalt sich eine Närrin, weil sie sich überhaupt auf so etwas eingelassen hatte. 5
»Stell dir vor«, begann Richard übermütig, als hätte er ihre Ge danken erraten, »wenn jetzt ein Vampir käme und sagen würde: He ihr beiden! Ihr sitzt auf meiner Eingangstür. Ich kann nicht in meinen Sarg zurück.« »Hör mit diesen blöden Witzen auf!«, rief Jenny verärgert. »Man soll den Teufel nicht an die Wand malen. Und schon gar nicht auf ei nem Friedhof.« »Weißt du eigentlich, dass die Druden Todfeinde der Vampire sind?«, redete er unbekümmert weiter und achtete nicht auf ihre Wor te. »Druden sind sehr selten, aber alle paar Jahrhunderte wird eine geboren.« »Woher weißt du das alles so genau?«, fragte Jenny, um seinen Wortschwall zu bremsen. »Lesen bildet eben«, erwiderte er großspurig. »Ein intelligenter Mensch muss sich mit allem beschäftigen.« »Willst du damit sagen, dass ich nicht intelligent bin?« »Anwesende Personen sind natürlich ausgenommen«, schäkerte Richard. »Übrigens ist eine Drude ein Vampir für Vampire.« »Bist du deswegen mit mir hergekommen, damit du mir diesen Quatsch erzählen kannst? Ich will nichts mehr davon hören.« »Schon gut«, sagte Richard. »Ich dachte, es würde dich interes sieren. Weißt du überhaupt, woran man eine Drude erkennt?« »Wie soll ich denn das wissen?«, fragte Jenny ärgerlich. »Ich bin doch kein Vampirforscher.« »Dann will ich es dir verraten.« Richard flüsterte und tat so ge heimnisvoll, als würde es sich um ein Staatsgeheimnis handeln. »Dru den haben keine Augenbrauen. So, jetzt weißt du es. Da staunst du nicht wahr?« Jenny wollte etwas erwidern, kam aber nicht mehr dazu. Sie stieß einen Schrei aus, sprang hoch und wagte sich nicht zu bewegen, kaum zu atmen. Eine Hand hatte ihre Schulter berührt. 6
Langsam, sehr langsam, drehten sich beide um. Vor ihnen lag die Mauer und der Eingang zur Gruft. Jenny hätte schwören können, dass die Tür sich bewegt hatte - aber niemand war zu sehen. Die beiden umrundeten das Grabgebäude, aber auch hier war niemand. Keine Bewegung, kein Laut. Nur ein leichter Wind wehte über den Gottesacker. Richard wandte sich wieder der Stelle zu, an der sie zuerst geses sen hatten. Da sah er den Zweig, der sich bei jedem Windhauch be wegte. Er lachte. »Das war es also, was dich erschreckte.« »Wieso haben wir ihn nicht zuvor bemerkt?«, sagte Jenny ängst lich. Richard zuckte die Schulter. »Wir haben ihn einfach übersehen.« »Das stimmt nicht«, erwiderte das Mädchen. »Da war kein Zweig und es ist auch jetzt keiner. Das Ding sieht eher wie eine Knochen hand aus. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Komm, lass uns von hier verschwinden.« Sie fühlte wie ihr Herz heftig pochte. »Sei nicht gleich hysterisch«, sagte Richard. »Es ist doch bloß ein Baumast.« »Da«, rief Jenny plötzlich. Verstört zeigte sie mit dem Finger auf die Wand. »Der Zweig ist weg.« Richard musste zugeben, dass Jenny recht hatte. »Vielleicht ha ben wir eben nur einen Schatten gesehen.« »Schatten berühren niemanden«, erwiderte Jenny aufgeregt. Im selben Moment schlug es Mittemacht. Dumpf dröhnten die Glocken schläge über den Friedhof. »Geisterstunde«, sagte Richard. Er machte gurgelnde Geräusche. »Nichts passiert - überhaupt nichts. Ist doch alles Quatsch mit den Geistern und so. Jetzt siehst du es ja selbst.« Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. »Komm«, sagte Jenny schließlich, »ich habe keine Lust, noch län ger zu bleiben. Es ist schon spät und...« Plötzlich brach sie ab und horchte. Auch Richard lauschte, obwohl er nicht wusste auf was. Beide fühlten die Veränderung, die vor sich gegangen war. Ein geheimnisvol les, unbekanntes Grauen ging umher. 7
»Mein Gott, Richard«, flüsterte Jenny. »Ich fühle es, etwas Schreckliches beobachtet uns.« Richard stand auf und blickte über die Gräber. Nichts war zu se hen. Schon im nächsten Augenblick waren Geräusche zu hören, die aus der Erde zu kommen schienen. Merkwürdige, seltsame Laute, als würden Pferde im Innern der Erde dahinjagen oder Grabplatten von den Gräbern geschoben werden. Dann war wieder Stille. Wortlos starr ten sich Jenny und Richard an. Dann setzte der Lärm wieder ein. Verrostete Türangeln schienen zu quietschen. Nur wenige Meter von den beiden entfernt bewegte sich ein Grabstein, ein anderer schaukelte, als wäre er betrunken. Ein frisch aufgeworfener Grabhügel stürzte in sich zusammen. Für Sekun den erschien eine weiße, riesige Hand und verschwand wieder. »Um Himmels willen«, schrie Jenny auf, »was ist denn los?« »Schnell - weg von hier. Die Toten steigen aus ihren Gräbern...« Plötzlich waren die beiden von unheimlich aussehenden Gestalten umringt. Entsetzen schnürte Jenny die Kehle zusammen. Wolken be deckten den Mond und breiteten über den Friedhof einen Mantel der Finsternis. Und durch die Dunkelheit leuchteten die Augen der unheim lichen Gestalten wie zwei gelbe Scheiben, in deren Mitte ein rotes Feu er glüht. Ein Schauder lief Jenny über den Rücken. Dieses Leuchten hatte etwas Unnatürliches, Böses. Die Dämonen, Gespenster, Untoten, oder was sie auch immer sein mochten, schienen direkt aus der Hölle zu steigen. Entgeistert starrte Richard auf die Schreckensgestalten. Dann nahm er Jenny an der Hand und riss sie mit sich. Sie rannten quer über den Friedhof, stolperten über Gräber und starrten. angestrengt in die Dunkelheit. Noch immer war der Mond von Wolken verdeckt: Ein eigentümli cher scharfer Geruch hing in der Luft und stach in ihre Lungen. Jennys Kleid verfing sich in einem Kreuz und brachte sie zu Fall. Richard zog sie hoch und sie liefen weiter. 8
Plötzlich trat hinter einem Baum ein Scheusal hervor. Das halb verweste Gesicht sah unbeschreiblich grauenerregend aus. Die teufli sche Gestalt griff nach den beiden jungen Menschen. Fast wäre Jenny erwischt worden, aber Richard war schneller. Er stieß mit dem Fuß nach dem unheimlichen Wesen, so dass es nach rückwärts taumelte. Endlich erreichten sie die Friedhofsmauer. Aber auch dann liefen sie noch weiter und blieben erst stehen, als sie völlig außer Atem wa ren. Jenny und Richard schworen sich, niemandem etwas zu erzählen. Sie ahnten nicht, dass Tage später auch der Totengräber ein unheimli ches Erlebnis haben würde. * Der Totengräber von Bridge-Hill verließ sein Haus, das am äußersten Rand des Friedhofs stand. Seine Gestalt warf groteske Schatten auf den Kiesweg, der hell im Mondlicht leuchtete. Rick Henderson war ein dürrer mittelgroßer Mann und wirkte alterslos. Er konnte fünfzig oder mehr sein. Auf seiner rechten Schulter trug er eine Spitzhacke und einen Spaten. Bedächtig schritt Henderson dahin. Er dachte daran, dass er in längstens fünfundzwanzig Jahren auch zu den Bewohnern dieses Friedhofs zählen würde. Ringsum war Stille. Drohend, fast unheimlich wirkten die Grab kreuze. Die Laterne, die Henderson in seiner Linken hielt, quietschte bei jedem Schritt. Er hatte bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, als plötzlich der Mond hinter einer schwarzen Wolke verschwand. Aber Henderson brauchte die Lampe nicht anzuzünden, mit traum-wandlerischer Si cherheit fand er sich auf dem Friedhof zurecht. Ohne auf einen Grab hügel zu treten, schritt er voran. Sein Ziel war ein frisches Grab, in dem Tom Lohmann heute Nachmittag beerdigt worden war. Er hatte das Grab nur zur Hälfte zugeschaufelt, weil er wusste, dass ein Kumpel von ihm heute Geburtstag feierte. Da blieb keine Zeit, 9
um die Arbeit zu beenden. Die Kneipe hatte den Vorrang. Da durfte er nicht zu spät kommen. Als Henderson die Geburtstagsfeier angesäuselt verließ, war es später Abend geworden. Er war jedoch auf dem Friedhof wie zu Hause und hatte vor den Toten keine Angst. Er wusste, dass sie ihm nichts anhaben konnten. Nur die Lebenden waren gefährlich. Vor denen nahm er sich in acht. Der dürre Totengräber bog rechts ab und blieb abrupt stehen. Ein merkwürdiger rötlicher Lichtschein drang aus Tom Lohmanns Grab. Was hatte das zu bedeuten? Er horchte und suchte krampfhaft nach einer natürlichen Erklärung, fand aber keine. Der Totengräber fluchte und spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Er nahm den Spaten in beide Hände, trat auf den Rand des Grabes zu und blickte hinunter. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Eine Gestalt hockte neben Lohmanns Sarg und versuchte ihn zu öffnen. Es war ein behaartes Wesen, von der Größe eines Schimpan sen. Henderson war unfähig, etwas zu unternehmen. So etwas hatte er noch nie gesehen. Reglos stand er mit erhobenem Spaten da und starrte auf die Gestalt. Plötzlich kam der Mond hinter den Wolken hervor und leuchtete voll auf das Wesen. Es hatte ein weißes Fell und klauenartige Finger wie ein Bär. Die langen Krallen schienen messerscharf zu sein. Ein Erdklumpen, der ins Grab fiel, schreckte das Wesen auf. Langsam, fast mechanisch beweg te es seinen Kopf, der die Form einer Wespe hatte. Aber das Entsetzlichste von allem waren die Augen. Das Unge heuer hatte drei im Kopf, die rot leuchteten und wie Blinklichter wirk ten. Eine ganze Weile waren sie auf Henderson gerichtet. Jedes ein zelne Auge schien ihn anzustarren und zu mustern. Es war ein ab stoßendes Bild: Das grässliche Monster öffnete das Maul und die Zäh ne, die zum Vorschein kamen, waren hakenähnlich wie bei einer Schlange. Das unheimliche Wesen gab seltsame Töne von sich. 10
Rick Henderson konnte sich keinen Reim daraus machen, aber die Laute schienen Wut und Verachtung auszudrücken. Der Totengräber war so bleich wie eine Leiche im Sarg. Der grässliche Geruch des un heimlichen Wesens schlug ihm wie eine Giftwolke entgegen und nahm ihm den Atem. Das furchtbare Geschöpf ließ vom Sarg ab und richtete sich auf. Es hatte eine beachtliche Größe. Beinahe wäre der Totengräber ins Grab gefallen. Er keuchte heftig und griff mit beiden Händen nach dem Spaten, um sich daran festzuhalten. Gefährlich wankte er hin und her, aber dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Ein wilder Zorn loderte in ihm auf, ein Hass gegen dieses hässliche Wesen, das Tote ausgrub. Es war eine unheimlich grauenhafte Szene, als sich der Totengräber und das Wesen gegenüberstanden. Hender son wollte endgültig damit Schluss machen. Ein unwiderstehlicher Zwang zog ihn auf das Scheusal zu. Seine einzige Waffe war die Spitzhacke, mit der er jetzt zuschlagen würde. Henderson war fest entschlossen, diese fürchterliche Erscheinung zu zertrümmern. Doch die leuchtenden feuerroten Augen des Wesens starrten in die seinen. Er holte aus und schlug mit aller Kraft zu. Für Sekunden stand die grauenharte, unheimliche Gestalt still, ehe sie mit einem dumpfen Geräusch zurück ins Grab fiel. Das wespenarti ge Gesicht war vor panischem Schrecken verzerrt und glänzend wie der Bauch eines toten Fisches. Dann begann es zu keuchen, brüllen und jaulen. Es klang so furchtbar, wie Henderson es in seinem Leben noch nie gehört hatte. Erst jetzt sah er die stollenartige Öffnung, die vom Grab wegführte und in die das Wesen flüchten wollte. Doch es gelang nicht. Die Spitzhacke, die noch immer in der Schulter des Un geheuers steckte, hinderte es daran. Hendersons Handflächen waren schweißnass und es lief ihm heiß und kalt über den Rücken. Mit einem wilden Aufschrei verschwand das Wesen schließlich im Grab. Noch lange sah Henderson einen rötlichen Schein in der Grube. 11
Nicht für alle Reichtümer der Welt wäre der Totengräber ins Grab gestiegen. Dass schaurige Jaulen des Untiers dröhnte noch immer in seinen Ohren fort. Hastig, so schnell er konnte, warf er das Grab zu, bis es ungefähr so aussah, wie es sein sollte. Dann schlich er in sein Haus zurück, schüttete Wasser in die Schüssel und begann die Erde von Gesicht und Händen zu waschen. Als er damit fertig war, warf er einen Blick in den kleinen, viereckigen Wandspiegel und stieß einen entsetzten Schrei aus. Sein Haar war weiß wie Schnee geworden. * Der Grundstücksmakler John Garner war von dem Friedhof, in dem Henderson das schreckliche Erlebnis hatte, gar nicht weit entfernt, doch er schien ständig im Kreis zu fahren. Schließlich gab er auf und sah sich um. Das helle Licht des Mondes gestattete ihm einen weiten Blick. Nirgendwo war ein Haus zu sehen. Aber noch merkwürdiger schien es ihm, dass kein einziges Auto ihm begegnete oder überholte. Nirgends gab es einen Wegweiser. Er schien der einzige Mensch in dieser Gegend zu sein. Ringsum gab es nichts als Nebel, der wie he runtergefallene Wolken wirkte. Garner zündete sich eine Zigarette an und begann zu fluchen. »Verdammter Mist«, schimpfte er. »Diese Landkarte soll der Teufel holen!« Er verfluchte ihren Herausgeber, den Drucker und den Laden, wo er sie gekauft hatte. Er schimpfte vor sich hin. »Irgendwo muss doch dieses Bridge-Hill sein.« Fünf Meilen standen auf dem letzten Wegweiser. Seitdem hatte er schon das Doppelte zurückgelegt und noch immer war von einer Ort schaft nichts zu sehen. Der Grundstücksmakler überdachte noch einmal die hinter ihm lie gende Strecke und der Gedanke, den gleichen Weg vielleicht wieder zurückfahren zu müssen, ließ ihn verzweifeln. Gerade als er wieder in seinen Wagen steigen wollte, sah er rechts vor sich ein schwaches Licht flackern. 12
Er kletterte die Böschung am Straßenrand empor und blickte in die Richtung, von wo das Licht kam. Er hoffte, dass das Licht aus einem Haus fiel. Er glaubte sogar einen Fahrweg zu erkennen, der dorthin führte. Garner ging zu seinem Auto zurück, ließ den Motor an und fuhr weiter. Vor einem alten Tor blieb er stehen. Die Fahrspur dahinter sah aufgewühlt aus. Er öffnete die Pforte und fuhr auf einem schlammigen Pfad, bis er das Licht direkt vor sich hatte. Garner fuhr durch einen verwahrlosten Garten, in dem sich nur abgestorbene Sträucher und Büsche befanden und hielt vor einem halbverfallenen Zaun. Er über querte einen grasüberwucherten Weg und kam schließlich an die Tür des ehemals wohl recht ansehnlichen Bauernhauses. Garner klopfte an. Das Licht fiel durch die blinden Fensterschei ben. Dann kamen Schritte und die Tür wurde geöffnet. Eine Frau stand vor Garner. Sie hielt eine Kerze so hoch, dass das Licht ihre Gesichtszüge halb beleuchtete, halb beschattete. Ihre Ges talt war dürr wie ein Gerippe. »Was wollen Sie?«, herrschte sie ihn an. »Ich habe mich verirrt«, erklärte der Grundstücksmakler. »Seit Stunden versuche ich, eine Ortschaft oder einen Gasthof zu finden. Ich war froh, als ich Ihr Licht sah. Kann ich hier vielleicht übernachten?« »Sind Sie allein?«, fragte die Frau und blickte nach draußen. Ihr Kopf mit den spärlichen Haaren glich einem Totenschädel. »Ja«, bestätigte Garner. Die dürre Alte überlegte eine Weile, dann sagte sie: »Stellen Sie das Auto in den Schuppen und kommen Sie herein!« Im Schuppen standen zwei uralte verrottete Bauernwagen, einer schlechter wie der andere. Garner stellte sein Auto daneben und ging dann ins Haus. Das Knistern und Knacken eines offenen Feuers wies ihm den Weg in eine großräumige, vorsintflutliche Küche. In einem großen Sessel vor dem Feuer saß eine andere Frau, e benfalls dürr und mager. Sie starrte mit dunklen, scharfen Augen zur Tür, als erwarte sie jemanden. Die Frau, die Garner eingelassen hatte, stand über das Feuer gebeugt. 13
Verblüfft sah der Makler von einer zur anderen. Die beiden Frauen sahen sich erschreckend ähnlich. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass ich hier übernachten kann«, sagte er, um irgend etwas zu sagen. Ein mächtiger schwarzer Kater lag ausgestreckt vor dem Feuer und schien ein Nickerchen zu halten. Dann schlug der Kater die Augen auf, musterte Garner eine ganze Weile und schloss sie dann wieder. Inzwischen hatte die Frau eine Tasse und einen Teller gebracht, beide waren aus Holz, dazu einen riesigen Laib Brot und ein Stück Räucherfleisch, von dem sie eine dicke Scheibe abschnitt. »Sicher sind Sie hungrig«, stellte sie fest. »Ich werde Ihnen etwas zu essen ma chen...« »Sehr liebenswürdig von Ihnen«, sagte Garner dankbar und setzte sich der Frau gegenüber, die bisher kein Wort gesagt hatte. Noch im mer starrte sie auf die Tür, aber gelegentlich auch auf Garner. Die Ähnlichkeit der beiden war erstaunlich. Sie waren fast gleich angezogen. Schwerer grober Stoff umhüllte ihren Körper und ihre schütteren grauen Haare waren nach der gleichen Art frisiert. Ihre Kleider schienen aus einer anderen Welt zu sein, ebenso ihr Benehmen und die Art wie sie sprachen. »Verzeihen Sie bitte«, unterbrach Garner die Stille, »wie weit ist es von hier nach Bridge-Hill?« »Nicht weit«, antwortete die Frau, die ihm bewegungslos gegenü bersaß. »Wenn man den Weg kennt, ist es ein Katzensprung. Nur Un wissende vertrauen sich der Straße an. Viele verirren sich dabei.« »Sie wohnen recht einsam hier draußen«, bemerkte Garner, um im Gespräch zu bleiben. »Wir wurden hier geboren«, antwortete die Frau. »Weder meine Schwester noch ich haben jemals dieses Haus hier verlassen.« Das Fleisch in der Pfanne fing an zu brutzeln. Der Kater öffnete ein Auge, leckte die Pfote und setzte sich auf. In wenigen Minuten war das Essen fertig. Ein alter wackliger roh gezimmerter Stuhl wurde an den Tisch ge stellt. John Garner setzte sich und begann zu essen. Das schlichte 14
Mahl schmeckte ihm. Als er fast schon fertig war, warf er einen Blick auf seine Gastgeberinnen. Sie hatten ihre Sessel ein wenig vom Feuer weggerückt und beo bachteten ihn - ohne Neugierde, aber mit großer Aufmerksamkeit. Garner fiel dabei auf, dass sie zwar beide abwechselnd mit ihm ge sprochen, jedoch kein einziges Wort untereinander gewechselt hatten. »Reisen Sie zum Vergnügen?«, wurde er gefragt. »Nein, ich habe geschäftlich in Bridge-Hill zu tun. Ich bin das erste Mal in dieser Gegend«, erwiderte der Makler wahrheitsgemäß. »Ich heiße Ann Fraser«, erklärte die eine Frau. »Und ich bin Mell Fraser«, echote die andere. Auch Garner nannte seinen Namen. »Und Sie wohnen hier ganz allein?«, fragte er. »Es ist schön, allein zu sein. Wir sind daran gewöhnt«, erwiderte Ann gelassen. Für den Makler wurden die beiden dürren alten Frauen immer un heimlicher. Sie sprachen in einer Art Dialekt, der vielleicht früher ein mal gebräuchlich war. Garner konnte sich nicht erinnern, jemals so eine Aussprache gehört zu haben. Es kam ihm merkwürdig vor, dass die beiden so ganz allein hier lebten. »Treiben Sie Landwirtschaft?«, fragte er vorsichtig. »Sie müssen doch einige Leute haben, die Ihnen zur Hand gehen?« Ann schüttelte den Kopf. »Personal können wir uns nicht leisten. Wir haben ein paar Schafe und ein wenig Geflügel.« »Ein ziemlich einsames Leben«, bohrte Garner weiter. »Das ist es nicht«, erwiderte Mell ziemlich schroff. Der Grundstücksmakler wandte sich ihr zu und drehte seinen Stuhl. »Und wo kaufen Sie ein?«, wollte er wissen. »Aus Jorgtown kommt jeden Freitag ein Lieferwagen«, erklärte Ann. »Unsere Bedürfnisse sind klein.« Erst jetzt bemerkte Garner, dass der große Raum ziemlich leer war. Die Schatten in den Winkeln und Ecken wurden durch das trübe schwache Licht der einzigen Petroleumlampe noch vertieft. Auch die Frauen waren mehr oder weniger nur in ihren Umrissen sichtbar. Aber hin und wieder, wenn das Feuer im Kamin aufflackerte, erhaschte er 15
einen besseren Blick auf die beiden. Sie glichen immer mehr einem Totengerippe. John Garner machte sich Gedanken über die beiden Frauen und je mehr er sie anstarrte, um so durchsichtiger wurden sie. »Wenn Sie hier übernachten wollen, dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer«, sagte Ann plötzlich. Nahm eine Kerze vom Kaminsims und zündete sie an. »Sehr freundlich von Ihnen«, bedankte sich Garner, stand auf und folgte der Frau. Als er zufällig einen Blick auf Mell warf, jagte ein kalter Schauer seinen Rücken hinunter. Der Ausdruck auf dem Gesicht der Frau war bösartig und grauenhaft. Er hatte noch nie einen solchen Blick gese hen. »Kommen Sie schon«, forderte Ann ihn ungeduldig auf. »Worauf warten Sie noch?« Garner folgte der Frau über eine alte Treppe, die bei jedem Schritt seufzte und stöhnte, nach oben. Vor einem Zimmer blieb Ann einen Moment lang stehen. Es musste der Raum sein, von wo er von der Straße her das Licht gesehen hatte. »Haben Sie noch einen Gast?«, erkundigte sich Garner. »Mell hat ihren Freund hier«, antwortete sie. »Sie sind nun mei ner. Kommen Sie!« Ann ging in ein Schlafzimmer, in dem ein mächtiges uraltes Him melbett stand. Die Frau stellte die Kerze auf den Tisch und schlug die schwere, eigenartig verzierte Tagesdecke zurück. Das Bettzeug war vergilbt und hatte an mehreren Stellen dunkelbraune Flecken, die wie getrocknetes Blut aussahen. Erst jetzt bemerkte Garner die Vertiefung im Bett, die aussah, als habe vor kurzem noch jemand darin geschlafen. Er glaubte noch die Wärme darin zu spüren. »Sie werden herrlich schlafen«, versicherte die Frau und verließ das Zimmer, ohne ihm gute Nacht zu wünschen. Garner hörte, wie sie die Treppe hinunterging. Dann war wieder Stille. Stille über ihm, ne ben ihm, unter ihm - wie in einem Grab. Eine Weile später öffnete er 16
ein Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Ein merkwürdiges Haus, dachte er. Draußen war nichts zu sehen und zu hören. Der Nebel lag noch immer wie dicke Watte am Boden und der Mond begann mit einer Rei he von Wolken zu kämpfen. Er verlor den Kampf, die Landschaft wur de dunkel. Plötzlich erinnerte sich Garner an seine Reisetasche. Er ließ die Tür zu seinem Zimmer offen und stieg die Treppe hinunter. In der riesigen Küche saßen die beiden Frauen noch genauso wie bei seiner Ankunft und während des Essens. Sie starrten ihn an, aber keine sprach. »Entschuldigen Sie«, sagte Garner, »ich will nur schnell meine Ta sche aus dem Wagen holen.« Ann, die Frau, die ihn eingelassen hatte, nickte zustimmend. Der Makler ging in die Dunkelheit hinaus, stolperte zum Schuppen und nahm die Tasche aus dem Wagen. Dann griff er noch ins Hand schuhfach, holte eine Taschenlampe heraus und ließ sie in der Tasche verschwinden. Als der Grundstücksmakler zurück ins Haus kam, saßen die beiden Frauen noch immer im Sessel und sagten kein Wort. »Es sieht nach Regen aus«, bemerkte er, »ich bin froh, dass ich hier übernachten kann.« Beide Frauen starrten ihn an, keine antwortete. Als Garner wieder in seinem Zimmer war, zog er die Tür fest hin ter sich zu. Abschließen konnte er nicht, denn die Tür hatte kein Schloss. Ist doch alles lächerlich, dachte er. Man darf sich doch nicht von
zwei alten komischen Weibern nervös machen lassen. Ich muss etwas für meine Nerven tun. Ein paar Wochen Urlaub könnten nicht schaden.
Noch einmal öffnete er seine Tür und lauschte. Grabesstille. Nicht einmal das Ticken einer Uhr war zu hören. Er sah nur den schmalen gelben Lichtstreifen unter der Tür im Korridor. Garner ging den Flur entlang und horchte eine Sekunde an der Zimmertür. Drinnen herrsch te absolute Stille. Nicht einmal das Atmen eines Menschen war zu hö 17
ren. Er ging wieder in sein Zimmer zurück, zog die Tagesdecke über das Bettlaken und legte sich angezogen darauf. Bevor er die Kerze ausblies, ging er noch einmal zum Fenster. Draußen hatte sich nichts verändert. Der Himmel war noch immer be wölkt und ohne Sterne. Garner hatte keine Ahnung, wie spät es war. Die Dunkelheit vor dem Fenster war noch immer undurchdringlich, als er plötzlich durch ein schlurfendes Geräusch geweckt wurde. Er blieb still liegen und lauschte. Sein Instinkt sagte ihm, dass sich jemand im Zimmer befand. Langsam fuhr seine Hand zur Taschenlam pe, die auf dem Nachttisch lag. Er knipste sie an. Kaum einen Meter von ihm entfernt stand eine Gestalt in einem schwarzen Umhang. Langsam drehte sie sich ihm zu. Und als der Lichtkegel der Taschenlampe voll auf die Erscheinung fiel, schrie Gar ner auf. Vor ihm stand Ann. Aber es war nicht Ann, wie er sie zuletzt gese hen hatte. Sie war jetzt eine grauenvolle Leiche. Ihre Augenhöhlen waren schwarz und leer. In der Knochenhand hielt sie ein langes spitzes Messer, das dro hend auf ihn gerichtet war. Garner rang nach Luft und sprang aus dem Bett. Sein Herz drohte stillzustehen. Sein Körper zitterte und war mit Schweiß bedeckt. Alle seine Muskeln verkrampften sich und er hielt die Taschenlampe so fest, dass ihm die Hand weh tat. Zuerst war Garner entschlossen, nicht davonzulaufen. Dann aber lief er doch. Mit Entsetzen musste er feststellen, dass er den Ausgang nicht fand. Er taumelte durch die Räume. Keuchend schleppte er sich von Zimmer zu Zimmer. Das ganze Haus schien plötzlich ein einziger böser Geist zu sein, der nur darauf aus war, ihn zu vernichten. Immer wieder stolperte er und zweimal schlug er der Länge nach auf den Boden. Von grauenhafter Angst getrieben, raffte er sich immer wieder hoch und taumelte weiter. Plötzlich stand Garner vor der Tür, hinter der das Licht brannte. Er öffnete sie. In der Hand hielt er einen schweren Spazierstock, den er irgendwo aus einem Zimmer mitgenommen hatte. 18
Im Raum stand ebenfalls ein großes Himmelbett und darin lag ein Mann. Sein Gesicht war so fahl wie das Laken. Dann sah er unheimli che Monster bei der Leiche. Was für ein grauenvoller Alptraum war das? Aufwachen! Wach auf! Wach auf!, schrie Garner, ohne dass ein Laut über seine Lippen kam. Doch der Alptraum verschwand nicht. Diese Wesen konnten nur Ausgeburten der Hölle sein. Ihre drei großen Augen schimmerten in einem rötlichen Licht und strahlten eine geradezu hypnotische Kraft aus. Gleichzeitig erinnerten sie Garner an die Glut eines Vulkans. Ihr Gesichtsausdruck, der einer Hornisse ähnelte, war absolut bö se, gnadenlos und Abscheu erregend. Er war so eiskalt wie die Weiten des Universums jenseits der Sterne. John Garner stand wie versteinert vor Grauen. Langsam kamen die Monster auf ihn zu. Klauenartige Hände griffen nach ihm. Er wich ihnen aus und begann zu laufen. Der Makler lief durch das ganze Haus. Doch schon bald waren seine Kräfte völlig verbraucht. Das Haus war plötzlich anders geworden. Er kam immer wieder in Räume, die er noch nie gesehen hatte. In einem Zimmer wurde die dunkle Decke von einer Doppelreihe schwarzer Säulen getragen. In den Wänden befanden sich viele Nischen, in denen sargähnliche Tru hen standen. Das ganze Haus war plötzlich zu einem seltsamen, unheimlichen Ort geworden - zu einer Art Kathedrale der Finsternis, zwischen deren Wänden ein geheimnisvolles Grauen wohnte. Die einzige Tür, die Garner schließlich fand, wurde von Anns Leichnam bewacht. Noch immer hielt sie das lange spitze Messer in ihrer Knochenhand. Garner schwankte und konnte sich kaum noch auf den Beinen hal ten. Rote Nebel, in denen weiße Funken tanzten, wehten vor seinen entsetzten Augen. Der Fußboden begann sich zu drehen. Keuchend schleppte sich Garner weiter. Nirgends fand er eine Möglichkeit, das Haus zu verlassen. Jeder Schritt schien die letzten Reserven seiner Wil lenskraft aufzuzehren. Das Haus war ein Gefängnis, das ihn umklam mert hielt. 19
Das seltsame grauenerregende Geheul der unheimlichen Wesen kam immer näher. Bald war es so laut, dass es wie Trommelschläge in Garners Gehirn dröhnte. Eine Sekunde lang blieb er stehen und blickte zurück. Das unheimliche nervenzerreißende Geheul kam näher und näher - und dann erblickte er sie. Es war ein Bild des Grauens. In eigenartigen hohen Sprüngen setzten die Gestalten über den Boden. Ihre Augen funkelten, ihre Finger waren zu Krallen gekrümmt. Es war eine höllische Horde, die da heranstürmte. Das Grauen über wältigte John Garner. Finsternis hüllte ihn plötzlich ein - er war ohn mächtig geworden. * Im Casino herrschte Totenstille. Der Croupier schob Edward Thomsen einen Berg von 1000-Pfund-Jetons über das grüne Spielfeld zu. Thom sen setzte alles auf Zero. Die Kugel wurde geworfen, begann zu rollen - und fiel. Die Null hatte gewonnen. Die Bank war gesprengt. Aber es war nicht Wirklichkeit. Thomsen hatte nur träumend vor sich hin gestarrt und der Phantasie freien Lauf gelassen. In Wahrheit saß er in seiner Stammkneipe und spielte Karten für ein paar Pfund. Der große Gewinn existierte nur in seinen Gedanken. Edward Thomsen war während des Zweiten Weltkriegs Arzt gewe sen. Hatte dann wegen einer Erbschaft seinen Beruf an den Nagel ge hängt und sich nur mehr für Dinge interessiert, die sich außerhalb des gewohnten Lebens ereigneten. Sein Interesse galt allen außer gewöhnlichen Erscheinungen, die zwar vorhanden, aber auch von ihm nicht bewiesen werden konnten. Thomsen war ein beleibter Mann. Wenn er stand, sah er mit der Kugel seines Kopfes und dem drallen rundlichen Körper wie ein abson derlich geformtes Stundenglas aus, dessen untere Hälfte übermäßig aufgeblasen war. Jeden Morgen begann Thomsen den Tag mit einem Lächeln. Aber nach und nach verrann seine aufgeräumte Stimmung wie Sand. Man spöttelte allgemein, dass seine fünfundzwanzigjährige Tochter Kelly 20
Ross ihn nachtsüber auf den Kopf stelle, damit der Sand wieder zu rückrieseln könne, denn am Morgen war das Lächeln wieder da. Jetzt, um zwei Uhr früh, saß Thomsen mit saurem Gesicht am Tisch und ärgerte sich, dass er bereits fünf Pfund verspielt hatte. »Hallo, Thomsen, Sie geben«, sagte der Apotheker. »Ich bin zu müde«, erwiderte Thomsen, »können wir nicht Schluss machen?« Die drei anderen waren einverstanden, packten die Karten weg und bestellten noch ein letztes Glas Bier. Plötzlich kam der Doktor des Ortes auf Rick Henderson, den To tengräber, zu sprechen. Das war ein Thema, bei dem sich Thomsens Gesicht ein wenig aufhellte. Die Müdigkeit verflog schlagartig. Es dau erte nicht lange und die Männer waren mitten in einer handfesten Dis kussion über das Geheimnisvolle und Unbegreifliche. Nichts war erre gender, gespenstischer und augenscheinlich ohne jede Beziehung zu einem rationalen Denken als die Begegnung des unheimlichen We sens, die Henderson widerfahren war. Hier war eine Sache passiert, die allem menschlichen Wissen zu widersprechen schien, so dass alle Vermutungen in einem düsteren Wirbel von Folklore und Dämonologie zu versanden drohten. Geschich ten um legendäre Schrecken verschleierten immer wieder die bereits mühsam gefundenen Tatsachen. »In allen primitiven Religionen und Kulturen spielen unheimliche Wesen eine sehr bedeutende Rolle«, sagte der Zahnarzt, der ebenfalls zur Spielrunde gehörte. »Sie sind die Träger jeden Aberglaubens. Und nun geschieht hier, im Atomzeitalter, ein solcher Fall, der eigentlich in längst vergangene Zeiten passen würde, wo die abergläubischen Kin der der Mutter Erde noch an Monstern glaubten, die alle nur erdenkba ren Schrecken über die Menschheit brachten.« »Und gerade diese Schrecken sollen sich ausgerechnet hier wie derholen?«, warf der Apotheker ein. »Hier im Hochland«, warf der Doktor ein, »gibt es seltsame, gro teske Geschichten. Altweibergewäsch und Aberglaube. Das ist alles schon ein paar hundert Jahre alt. Besonders um die Weiße-WespenHöhle, die am Friedhof angrenzt, sind viele Legenden im Umlauf. Nach 21
alten Überlieferungen sollen sich dort die weißen Fresser befinden, die nachts herauskommen und ihr Unwesen treiben.« Der Apotheker überging diese Bemerkung, da sie seiner Meinung nach völlig aus der Luft gegriffen war und fragte: »War dieser Hender son vielleicht besoffen?« »Ich habe noch nie gehört, dass bei einem Betrunkenen die Haare plötzlich schlohweiß werden«, entgegnete der Zahnarzt. »Und der Wind sauste durch die Bäume, ein Uhu uhute irgendwo, am Dachboden ratterte etwas, eine Tür knarrte und quietschte, je mand kam auf leisen Sohlen und... oder so ähnlich, was Leute?« Der Doktor lachte belustigt auf. Edward Thomsen hörte in seiner Stimme eine ungewöhnliche Spannung, aus der er erkennen konnte, dass es dem Mann viel ernster war, als es den Anschein hatte. »Wenn Henderson sagt, dass er etwas gesehen hat, dann stimmt das auch«, setzte der Zahnarzt hinzu und zündete sich eine Zigarre an. »Irgend etwas war auf dem Friedhof und wenn ich mir hundertmal versuche das Gegenteil einzureden, kommt mir die Sache doch ko misch vor. Schon mal was von dem Dreiauge gehört?« »Dreiauge? Welches Auge?« »Es soll ein seltsames Untier mit drei Augen im Kopf sein«, fuhr der Mann fort. »So ein halbfertiges Monster. Nach Hendersons Be schreibung könnte es so ein Wesen gewesen sein...« »Vielleicht wollte jemand dem Totengräber bloß einen Streich spielen und ihm einen gehörigen Schrecken einjagen«, bemerkte der Apotheker. »So zum Spaß geht keiner Nachts im Friedhof.« »Und was ist mit dem Fräser-Haus? Das soll ja auch von Zeit zu Zeit aus dem Moor auftauchen.« »Auch so ein Aberglaube«, wehrte der Apotheker spöttisch ab. Edward Thomsen, der bisher der Unterhaltung nur zugehört hatte und sein Bier trank, drückte die Zigarette aus und sagte: »Warum se hen wir uns nicht selbst den Schauplatz dieses Mysteriums an? Heute ist eine herrliche Nacht, kein Wölkchen am Himmel - wie geschaffen für dieses Unternehmen.« 22
»Warum in aller Welt wollen Sie zum Friedhof?« »In erster Linie, um das Monster zu sehen«, erklärte Thomsen gähnend. Die anderen musterten ihn nachdenklich. Sie wussten genau, dass sein Interesse an dem Wesen kein Scherz war, aber sie kannten ihn doch nicht gut genug, um zu wissen, was er damit bezwecken wollte. Thomsen sah auf die Uhr. »Fast zwei«, stellte er fest. »Genau die richtige Zeit für eine Friedhofsbesichtigung. Kommt, wir fahren hin!« Sie tranken ihr Bier aus und folgten Thomsen. * Das grelle Licht der Nachtlampe fiel auf die weißen Blumen - sie waren schlaff und steckten in einer Vase unter dem Frisierspiegel. Der schwache Duft toter Blumen erfüllte das Zimmer. Wie bei einer Lei chenfeier, dachte Kelly-Ross. Dann blickte sie auf die Uhr und sagte laut: »Schon wieder so spät und Vater ist noch immer nicht zu Hau se.« Die fünfundzwanzigjährige Kelly-Ross Thomsen hatte ein wenig gelesen und einen Brief an ihre Freundin geschrieben. Jetzt ging sie ins Badezimmer und kleidete sich langsam aus. Von dem langen Sitzen waren ihr die Beine eingeschlafen. Sie ging auf und ab, um den Schmerz zu vertreiben, was schließlich auch gelang. Dann zog sie sich vollends aus, trat vor den Spiegel und betrachtete ihren Körper. Kelly-Ross rümpfte die Nase. Sie gefiel sich nicht besonders. Dann ging sie in ihr Zimmer und stieg ins Bett. Doch sie konnte nicht schla fen. Nach fünf Minuten stand sie wieder auf und trat auf die Terrasse hinaus. Kelly-Ross dachte an nichts, hörte auf die Stimmen der Nachtvögel und die Geräusche der kleinen Tiere ringsum. Sie fand es schön, allein im Freien zu sein, wenn es finster war und alles im Schlaf lag. Sie kam sich dann wie das einzige lebende Wesen auf der Welt vor. Der eigene Atem schien ihr fast überlaut. Sie hielt die Luft an, um zu spüren, wie es ist, wenn nichts, gar nichts mehr lebt. 23
Sie hatte so einen Heimlichtuereifimmel, deswegen hatte sie schon öfters mit Vater Auseinandersetzungen. Auch hier im Haus woll te sie aus und ein gehen, ohne dass jemand es wusste. Am liebsten wäre sie wie ein Gespenst durch die Mauern geschlüpft. Eine ihrer Lieblingsvorstellungen war, sie sei ein Geist und könne ungesehen in die Häuser schlüpfen, um zu beobachten, was dort geschah. Kelly-Ross hatte die Gewohnheit angenommen, das Haus über die Hintertreppe zu verlassen. Einer schmalen, halsbrecherischen Stiege, die sogar von der gelegentlichen Zugehfrau nicht benutzt wurde. Die einzige Glühbirne, die von der Decke herabhing, war längst ausge brannt und niemand hatte sich bisher die Mühe gemacht, eine neue einzuschrauben. Sie musste vorsichtig ihren Weg ertasten, indem sie die Arme ausstreckte und mit den Handflächen rechts und links an der Wand entlangfuhr. Vater hatte von dieser Treppenbenutzung keine Ahnung und sie war froh darüber. Dabei hätte sie nicht sagen können, warum ihr so viel an ihrer Heimlichkeit lag. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Es war eben so und damit hatte sich das. Kelly-Ross hatte es nicht nötig zu arbeiten, aber es war ihr zu Hause auf die Dauer zu langweilig. So hatte sie eine Stelle in der Stadtbibliothek angenommen. Sie fuhr jeden Tag fast zwanzig Ki lometer mit dem Bus. Die Arbeit gefiel ihr. Sie hatte sich für den Spätdienst, den ohnehin niemand haben wollte, einteilen lassen. Sie liebte diese stille, ruhige Leere, in der jeder Schritt, auch wenn man noch so behutsam auftrat, durch das ganze Gebäude hallte. Sie fand es herrlich, wenn abends - zum Zeichen, dass die Biblio thek geschlossen wurde - die Lichter ausgingen. Zuerst ganz oben im Magazin, dann in den beiden Lesesälen und zum Schluss in den Korri doren. Und Kelly-Ross hatte entdeckt, dass sie vor dieser sich ausbrei tenden Dunkelheit hergehen konnte, wie vor einer aufkommenden Flut. Sie stand immer schon an der Tür des Magazins, wenn darinnen die Lichter erloschen. Dann lief sie zum Eingang des einen Lesesaals und wartete dort auf das Dunkelwerden. Danach ging sie langsam zum 24
Haupteingang und erreichte ihn genau in dem Augenblick, in dem auch die Vorhalle dunkel wurde. Dann trat sie in die Nacht hinaus, schritt gemächlich zwischen den dunklen Gebäuden hindurch und folgte schmalen Wegen, die nur hier und da von einer Laterne beleuchtet waren. Kelly-Ross Thomsen dehnte diesen Gang so lange wie möglich aus, denn sie liebte die Dunkelheit, den leichten Nachtwind, den Erd geruch, den Modergeruch, der den welken Blättern nach der Tageshit ze entströmte. Und sie liebte das Alleinsein. Dieses Alleinsein war für Kelly-Ross wichtig. Es gab ihr ein scharf ausgeprägtes Gefühl ihrer selbst. Das bin ich, sagte sie sich in der Finsternis. Sie fühlte sich dann ungebunden und völlig frei. Wenn sie im Dunkeln an den Bänken der Parkanlage vorbeiging, konnte sie manchmal hören, wie die Pärchen auseinander fuhren. Oft blieb sie auch im Schatten eines Baumes stehen und lauschte, als wäre sie auf der Jagd. Das alte Haus, in dem sie wohnten, gehörte ihnen nicht. Vater hatte es nur gemietet. Doch Kelly-Ross spürte den Eigengeruch des Hauses. Sie mochte ihn und freute sich, dass alles Säubern und Putzen der Welt ihn nicht vertreiben konnte. Es war kein Schmutzgeruch, auch kein Küchengeruch oder ein an derer definierbarer Geruch. Es war der Geruch alles dessen, was hier in den letzten hundertfünfzig Jahren vor sich gegangen war. Der Ge ruch der Menschen und Dinge. Der Geruch des Lebens, das sich zwi schen diesen Mauern abgespielt hatte. Der Geruch der Generationen, die hier geboren wurden und hier gestorben waren. Und in dem gro ßen Wohnzimmer aufgebahrt wurden, mit einem Kreuz in den gefalte ten Händen. Menschen hinterlassen ihren Geruch. Es ist wie bei Ausschneide bögen. Die Figuren sind längst herausgeschnitten, aber man kann noch immer die Umrisse erkennen. Manchmal kam es Kelly-Ross vor, als höre sie die Menschen frühe rer Zeiten. Als wären leise Geräusche zurückgeblieben, die noch immer in den Zimmern zischelten. Ein schwaches Knistern, wie von Mäusen. Ihr war, als könnte sie den Hauch all der vielen Atemzüge vernehmen, 25
der so zart wie Blätterrascheln war. Sie saß da und lauschte auf die Geräusche vergangener Zeiten. Auf die leisen Schritte der einstigen Bewohner, die mittlerweile in den Friedhöfen zu Staub zerfielen. Kelly-Ross wusste nicht, wie lange sie draußen auf der Terrasse im Dunkeln gesessen hatte. Schließlich begann sie zu frieren, stand auf und ging in ihr Zimmer zurück. * Als John Garner erwachte, herrschte Grabesstille. Es war heller Tag. Eine ganze Weile lag er mit geschlossenen Augen da. Ihm schauderte, als er sich an die entsetzlichen Vorgänge der letzten Nacht erinnerte. Das überwältigende Entsetzen wurde ihm wieder bewusst. Die Gestalten mit den grausigen, teuflischen Augen, die beiden Frauen, die sich zu gefährlichen Leichen verwandelten - das alles drang auf ihn ein. Er wagte es nicht, die Augen aufzuschlagen. Dann tat er es und sah sich zu seiner Überraschung im Freien. Kein Haus war zu sehen - nichts. Er lag unter einem Baum und nicht weit ent fernt stand sein Auto. John Garner kam aus dem Staunen nicht her aus. Als er seine Geschichte im nächsten Dorf einem Wirt erzählte, hör te dieser ihm ruhig zu. Nur seine Augen nahmen einen sonderbaren Ausdruck an. Als Garner von den unheimlichen Wesen berichtete, wollte der Wirt nähere Einzelheiten wissen, aber mehr konnte Garner ihm nicht erzählen. »Ja, ja - das ist ein alter Aberglaube hier im Hochland«, sagte ein Geschäftsmann in Bridge-Hill später zu John Garner. »Schon in alten Berichten wird von dem Spukhaus im Teufelsmoor berichtet, das einst die Fraser-Hexen besaßen. Das Haus soll zu bestimmten Zeiten plötz lich aus dem Moor auftauchen und ebenso plötzlich wieder verschwin den. Wer das Haus finden will, darf es niemals suchen. Ein regelrechtes Geisterhaus also. Die Leute von früher haben fest an seine Existenz geglaubt. Auf ganz alten Landkarten ist das Haus im Moor als Fraser 26
Haus eingezeichnet. Die beiden Frauen, die dort wohnten, waren als Hexen verschrien und sollen Kontakt zu schrecklichen Wesen gehabt haben, die im Volksmund allgemein als die Weißen Gorgen bezeichnet werden. Noch heute können Sie gelegentlich alte Leute treffen, die schwö ren, sie hätten das Haus gesehen. Vielleicht sieht man es auch dop pelt, wenn man einen in der Krone hat...« Der alte Mann lachte. »Wie ich schon sagte, purer Aberglaube!« Der Grundstücksmakler hielt noch immer den schweren Spazier stock in der Hand, den er im Haus der Hexen an sich genommen hat te. Ein Beweis, dass es kein Traum gewesen war. Es hätte ihm aber sicher nicht viel eingebracht, wenn er dem Mann gesagt hätte, er sei heute Nacht in diesem Haus gewesen und habe den Höllenspuk mit eigenen Augen gesehen. Heute Nacht?, hätte der Mann wohl geantwortet. Dass ich nicht
lache! Das alles hat sich vor mehr als hundert Jahren zugetragen. Heu te gibt es so etwas doch nicht mehr.
Dann sah er Garners Spazierstock. »Nanu«, staunte er. »Das ist aber ein Prachtstück. Woher haben Sie ihn? So etwas sieht man nicht alle Tage.« Erst jetzt bemerkte der Grundstücksmakler, dass der Stock mit Ornamenten und Geheimzeichen, die wie Formeln aussahen, geziert war. »Sie haben da ein ganz seltenes Exemplar in der Hand«, sagte der Mann erneut. »Diese Zeichen wurden im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert von Hexen angefertigt, habe ich mal gelesen. Auf so ei nem Stock sollen sich alle Formeln einer schwarzen Messe und die Anrufung der Mächte der Finsternis befinden.« John Garner war über diese Feststellung erstaunt, aber er ließ sich nichts anmerken. Er wollte den Alten mit seinen eigenen Worten schlagen. »Das ist ja alles schon viel zu lange her«, erwiderte er. »Heute gibt es solche Sachen doch nicht mehr. Alles nur Aberglaube, nicht wahr?« 27
»Eingebildeter Kerl«, murmelte der Mann, als Garner das Geschäft verließ und auf die Straße trat. »Keinen Mumm in den Knochen, diese jungen Leute von heute«, schimpfte er vor sich hin. * Am Friedhof war natürlich nichts zu finden. Edward Thomsen ver schwieg seiner Tochter, dass er dort gewesen war. Aber er hatte vom Doktor einen Tipp bekommen, doch mal bei Mora Dunn vor beizuschauen. Mrs. Dunn war eine alte vermögende Frau, die nicht richtig im Kopf war. Auf dem Weg zu ihr traf er den alten Brown, der handwerk liche Arbeiten bei den Leuten verrichtete. Er schien dankbar zu sein, mit jemandem sprechen zu können. »Wie ist eigentlich diese Mora Dunn?«, wollte Thomsen wissen. Der alte Brown nickte, stopfte sich erst eine Pfeife und machte dann eine bezeichnende Geste zur Stirn. »Nicht gefährlich«, sagte er schließlich. »Verstehen Sie? Gelegent lich leidet sie unter Halluzinationen. Manchmal hat sie auch merkwür dige Anfälle und dann redet sie ungereimtes Zeug.« »Eine ungefährliche Verrückte also«, bemerkte Thomsen. »Viel leicht hat sie vor irgend etwas Angst.« »Das glaube ich manchmal auch«, pflichtete ihm Brown bei. »Was man so hört, hätte die alte Dunn schon vor Jahren in ein Sanatorium eingeliefert werden sollen. Aber damals lebte ihr Mann noch und der wollte davon nichts wissen. Er richtete den ganzen zweiten Stock der Villa für sie her und hat auch eine Pflegerin engagiert. Körperlich ist sie recht gesund und meistens ist sie auch vernünftig. Sie geht nie aus. Sie hat einen großen Balkon und ein Glashaus zur Verfügung, in dem sie Orchideen zieht.« »Wie oft treten diese Anfälle auf?« »Das weiß ich nicht«, erwiderte Brown. »Nicht sehr oft, glaube ich. Sie hat natürlich die verrücktesten Ansichten über Menschen und Dinge. Doch das ist nichts, worüber man sich Sorgen machen müss te.« 28
»Was für Anfälle sind das?« »Was man so hört, redet und streitet sie mit imaginären Leuten. Manchmal wird sie auch nur hysterisch und plappert aus ihrer Kinder zeit. Dann hasst sie plötzlich grundlos bestimmte Menschen, beleidigt und bedroht sie.« Thomsen nickte. »Auf welcher Hausseite ist der Balkon und das Glashaus von Mrs. Dunn?« »An der Nordseite«, antwortete Brown. »Und von dort kann man auch den Friedhof überschauen?« Brown bejahte es. »Der Friedhof beschäftigt ihre Phantasie über alle Maßen. Er ist die Ursache vieler ihrer Halluzinationen. Stundenlang starrt sie geistesabwesend hinunter und ihre Pflegerin Miss Hintz, eine stämmige Holländerin, hat mir erzählt, sie gehe nie zu Bett, ohne nicht ein Viertelstündchen wie gebannt zum Friedhof zu starren.« »Interessant. Wissen Sie eigentlich, woher der seltsame Name des Berges stammt?« Brown zuckte die Achseln. »Das weiß der Himmel. Wahrscheinlich stammt der Name aus einer Sage. Der Berg und die Höhle hängen ja zusammen. Weiße Ungeheuer sollen dort drinnen hausen. Diesen Na men benutzte schon meine Mutter. Um den Berg und die Höhle gibt es viele Geschichten und eine Menge Aberglauben. Mit dem Weißen Gor gen erschreckte man schon vor hundert Jahren kleine unfolgsame Kin der...« »Ich habe gehört«, sagte Thomsen, »dass Mrs. Dunn während ih rer Anfälle entsetzliche Schreie von sich gibt. Stimmt das?« »Ja, gelegentlich«, erwiderte Brown. »Und haben diese Schreie immer mit dem Friedhof zu tun?« »Das weiß wahrscheinlich niemand. Ich war einmal dabei, als Miss Hintz ihr eine Erklärung zu entlocken versuchte, aber sie scheint sich selbst darüber nicht klar zu sein. Sie scheint etwas in der Zukunft zu fürchten, was ihr Geist noch nicht erfasst hat.« Edward Thomsen blickte auf die Uhr. »Wie die Zeit vergeht! Hof fentlich habe ich Sie nicht zu sehr von der Arbeit abgehalten.« 29
Thomsen verließ Brown und schlenderte an Mrs. Mora Dunns Haus vorbei. Er hatte Glück: Mora Dunn saß auf dem Balkon und blickte auf ihn hinunter. Kurze Zeit später trat eine grauhaarige, zuverlässig dreinschauen de Person aus dem Haus. Es war die holländische Pflegerin, Miss Hintz. »Mrs. Dunn besteht darauf, Sie zu sprechen«, sagte die Pflegerin. »Sie hat wieder einen ihrer periodischen Anfälle. Ich versichere Ihnen aber, sie sind nicht gefährlich. Sie scheint jedoch sehr erregt zu sein und weigert sich, ein Beruhigungsmittel einzunehmen. Glauben Sie ihr nichts, was sie sagt.« Thomsen versprach es und war überrascht, so schnell mit der alten Dame in Kontakt zu kommen. Im zweiten Stock führte ein breiter Korridor zur Rückseite des Hauses. Durch eine offene Tür gelangte man auf den Balkon. Mora Dunn lächelte Thomsen eigenartig an, als wisse sie etwas, von dem sonst niemand eine Ahnung habe. Dann erlosch ihr Lächeln und machte einer erschreckenden Härte Platz. Das glitzernde Funkeln in ihren Augen wurde intensiver. »Der Weiße Gorge ist es gewesen«, waren ihre ersten Worte. »Ich sage Ihnen, diese Bestie mit den drei Augen war es! Niemand kann etwas dagegen tun!« »Welche Bestie, Mrs. Dunn?«, fragte Thomsen ruhig. Mora Dunn lachte. Aber ihr Lachen klang zornig. »Dieses Untier, das da unten in der Höhle lebt. Nachts kommt es hervor und läuft auf dem Friedhof umher.« »Und Sie sind sicher, dass so ein Wesen existiert?« »Ich weiß es!«, rief Mrs. Dunn. »Jahrein, jahraus sitze ich hier und ich weiß alles, was in den letzten Tagen geschehen ist. Jetzt wird er vermehrt wiederkommen und Rache an den Lebenden nehmen.« »Aber Henderson ist doch kein Feind«, wandte Thomsen ein. »Er hat doch nur seine Arbeit getan.« »Das ist nicht wahr«, erklärte Mora Dunn bestimmt. »Er hat auch meine Tochter verzaubert und wollte sie heiraten. Aber er war ihrer nicht würdig. Er log sie immer an und kaum drehte sie ihm den Rü 30
cken zu, da hat er auch schon Affären mit anderen Frauen gehabt. Oh, in den letzten Tagen habe ich viel gesehen!« »Ich verstehe, was Sie meinen«, schwindelte ihr Thomsen vor. »Aber ist diese Bestie nicht vielleicht doch nur eine Erfindung?« »Eine Erfindung?« Mrs. Dunn sprach mit der Sicherheit der Über zeugung. »Nein, ich habe es oft gesehen. Ich sprach mit vielen Men schen, die das Wesen gesehen haben. Als Kind saß ich oft auf dem Felsen und sah zu, wie es aus der Höhle herauskam und die frischen Gräber im Friedhof betrachtete. Und in den Nächten konnte ich dann jedes mal nicht schlafen. Ich wollte sehen, wann es wieder zurück kehrte. Nun, ich schlief immer früher ein.« Ihre Stimme war von einer unglaublichen poetischen Intensität. Ihre Augen hatten sich verschlei ert und sahen weit über den Friedhof hinaus. »Das ist sehr interessant«, murmelte Thomsen höflich. Er hatte bemerkt, dass die Pflegerin ihn die ganze Zeit beobachtet hatte. »Könnte das alles nicht der romantischen Phantasie eines Kindes, oder eines Buches entsprungen sein? Monster und Untiere passen eigentlich nicht in die Konzeption unserer modernen Wissenschaft.« »Moderne Wissenschaft... Pah!« Mrs. Dunn lachte auf. »Wissenschaft ist nur ein Wort, um Unwissenheit zu verschleiern. Was weiß man schon von dem, was unter der Erde vorgeht? Die riesi gen unterirdischen Gänge, die sich durch die ganze Erde ziehen. Man liest hin und wieder von einigen Dingen, die dort in den Tiefen vor sich gehen. Reden Sie mir nicht von Wissenschaft. Ich weiß, was diese alten Augen gesehen haben. Der Mensch bildet sich nur ein, er habe mehr Wissen und einen größeren Verstand als die anderen Kreaturen. Doch das ist nicht wahr.« »Sie mögen die Menschen nicht«, entgegnete Thomsen lächelnd. »Ich hasse die Menschen! Ohne sie wäre die Welt ein Paradies.« »Ja, da bin ich auch Ihrer Meinung. Aber warum wollten Sie mich sprechen?« Mora Dunn sagte eine ganze Weile nichts. Schließlich wandte sie den Kopf und blickte Thomsen an. 31
»Sie beschäftigen sich doch mit Geheimnissen, habe ich gehört. Und Sie versuchen etwas herauszukriegen. Nicht wahr? Ich wollte nun erzählen, wie die alte Miss Millburn verschwand. Der Weiße Gorge hat sie mitgenommen. Sie war im Friedhof aufgebahrt und dann war ihre Leiche spurlos verschwunden. Das liegt schon Jahre zurück. Ich sah Miss Millburn in den Armen des Ungeheuers. Es trug sie quer durch den Friedhof in die Höhle. Da wusste ich, dass er die Toten entführt. Darum hat auch schon ein Vorfahre meines Mannes eine Gruft aus Eisenplatten erbauen lassen, da kommt der Weiße Gorge nicht durch. Versuchen Sie einen zu finden, dann werden Sie sehen, dass ich recht habe.« »Sind noch andere Leichen verschwunden?« »Eine ganze Menge«, erwiderte Mrs. Dunn sofort. »Man hat sie nie wieder gefunden. Wenn Sie einen Weißen Gorgen erwischen, dann lassen Sie mich ihn sehen!« Edward Thomsen musterte die Frau einen Augenblick lang schweigend, dann verbeugte er sich. »Vielen Dank Mrs. Dunn für Ihre freundlichen Informationen.« Dann ging er zur Tür und die Pflegerin folgte ihm. Unten in der Halle blieb Thomsen stehen und Miss Hintz sagte: »Nehmen Sie um Himmels willen nichts von dem ernst, was sie sagte! Sie hat oft solche Halluzinationen. Darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen.« »Selbstverständlich, das verstehe ich«, erwiderte Thomsen und schlüpfte nach draußen. * Später stand Edward Thomsen wieder in seinem Haus und starrte dem Rauch einer Zigarette nach. Mrs. Mora Dunns hysterisches Gefasel hatte ihn nachdenklich gestimmt. »Was meinte Mrs. Dunn damit, als sie auch von anderen Leichen sprach, die verschwunden sein sollen?«, fragte Edward Thomsen seine Tochter Kelly-Ross. Sie hatte für ihn in der Bibliothek in alten Zei tungsberichten gestöbert und sich einige Notizen gemacht. 32
»Diese Bemerkungen haben einen bestimmten Wahrheitsgehalt«, bestätigte seine Tochter. »Ich fand drei Todesfälle, bei denen jedes mal die Leiche verschwunden ist. Mrs. Dunn knüpfte vielleicht auch an die recht wilden Geschichten an, die manche Leute über das geheim nisvolle Versehwinden von Leichen im Friedhof erzählen. Von den drei authentischen Fällen ereignete sich einer vor ungefähr vier Jahren. Zwei verdächtige Burschen, die wahrscheinlich nach Einbruchsmög lichkeiten Ausschau hielten, trieben sich in der Nähe der Höhle herum. Einer fiel dabei vom Felsen und blieb tot liegen. Drei Schulkinder sahen den Mann stürzen. Der Ortspolizist griff dann seinen Kumpel auf, der das Herabstürzen des Mannes und dessen Tod bestätigte.« »Wieso bestätigte?« »Weil die Leiche nie gefunden wurde«, antwortete Kelly-Ross. »Und wie erklärst du dir das?«, fragte Edward Thomsen skeptisch. »Die einzige vernünftige Erklärung die ich mir vorstellen könnte, ist, dass der Bach unter dem Felsen, der bei einem plötzlichen Gewit terschauer stark anschwillt, die Leiche fortgeschwemmt hat.« »War damals ein Gewitter?«, wollte Thomsen wissen. »Keine Ahnung«, erwiderte Kelly-Ross. »Aber das wäre die einzige plausible Erklärung.« »Und die anderen Fälle?« »Ein paar Buben spielten Indianer. Als ein Kind in die Höhle hi neinging, kam es nicht mehr heraus. Man suchte die ganze Höhle ab, aber von dem Kind fand man keine Spur.« »Hm, das klingt aber nicht sehr glaubwürdig«, murmelte Thomsen nachdenklich. »Und du meinst, diese beiden Fälle haben sich in Mrs. Dunns geschwächten Geist so tief eingegraben?« »Warum nicht?«, pflichtete Kelly-Ross ihm bei. Dann schwiegen sie eine ganze Weile. Kelly-Ross hatte von der Bibliothek noch etwas mitgebracht. Es war eine alte Zeichnung, die sie jetzt auf dem Tisch ausbreitete. Eine Art Wanderkarte. Die Eintragungen waren sehr genau und bezeichne ten jeden Weg und Steg. Eine rote Markierung war genau im Höhlen eingang angebracht worden, die sich dann in einer sackähnlichen Form bis unter den Friedhof weiter zog. 33
Edward Thomsen nahm eine Zigarette und ging im Zimmer auf und ab. Die Karte hatte in ihm einen ganzen Gedankenzug in Bewe gung gesetzt. Er studierte nochmals die alte Zeichnung und bemerkte, dass sie gegenüber der amtlichen Karte nicht sehr genau war. Es schien, dass seit dem Zeichnen der Karte einige Erdrutsche und Regenfälle die Topographie verändert hatten. Einige charakteristische Merkmale waren verschwunden. Eine rote Markierung die von der Höhle aus in die Tiefe führte, hatte sich viel weiter nach rechts ver schoben, so dass der Einstieg jetzt außerhalb der Höhle liegen musste. Trotzdem blieb die Tatsache bestehen, dass unter dem Friedhof ein Hohlraum war, in dem sich bestimmt Dinge befanden, von denen niemand eine Ahnung hatte. Edward Thomsen war für eine derartige Expedition nicht ausge rüstet. Ein tüchtiger Höhlenforscher könnte natürlich bis dorthin vor dringen. Kelly-Ross war über die Zeichnung anderer Meinung als ihr Vater. Sie glaubte, dass hier jemand einen Schatz vergraben hatte und des halb die Zeichnung angelegt wurde. »Ich glaube nicht«, sagte sie leicht gereizt, »dass da unten solche Wesen existieren, die der Totengräber gesehen hat. Bis jetzt wurde noch kein Beweis ans Licht gebracht, der diese These unterstützen würde.« Doch Edward Thomsen war damit nicht einverstanden. »Kelly-Ross«, erwiderte er, »ich bin nicht überzeugt, dass die Din ge hier normal sind. Lohmanns Grab soll wieder geöffnet werden. Bin neugierig, was dabei herauskommt.« Als Edward Thomsen spät nachmittags durch Bridge-Hill ging, be gegnete er Reverend Benmore. Er war ein großer breitschultriger Mann mit einem Bulldoggengesicht, weit gesetzten Augen, einer kur zen dicken Nase, wulstigen Lippen und einem viereckigen, wuchtigen Kinn. »Hier scheint es von Ungeheuern nur so zu wimmeln«, begann Thomsen das Gespräch. »Ungeheuer?« Reverend Benmore kniff die Augen zusammen. »Aha, darauf wollen Sie hinaus! Nun, jetzt wo Sie mich fragen, möchte 34
ich ja nicht sagen, dass nichts Besonderes an der Sache wäre, aber ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was es ist!« »Das scheint der allgemeine Eindruck zu sein«, erwiderte Thom sen. »Vielleicht können Sie mir ein wenig mehr berichten als die ande ren.« »Mehr berichten?«, echote Benmore. »Ich meine, da gibt es nicht viel zu berichten. Da ist alles ziemlich klar. Wenn ein Bursche wie Hen derson zu faul ist, seine Arbeit am Tag zu machen, dann bekommt er einmal das, was er schon längst hätte bekommen sollen. Wenn das dann passiert und ausgerechnet zur richtigen Zeit, dann sehen wir gleich etwas Besonderes dahinter.« »Da haben Sie wohl recht, Reverend«, pflichtete Thomsen ihm bei. »Aber ist an der Sache vielleicht doch mehr dran, als zugegeben wird?« Reverend Benmore zuckte die Schulter und breitete die Hände aus. »Ich habe da keine Ahnung«, antwortete er. »Möglichkeiten gibt es natürlich eine Menge. Wissen Sie, im Grunde ist das gar nicht so wichtig.« Plötzlich verschloss sich sein Gesicht zu einer undurchdringlichen Maske. »Lassen Sie sich darüber keine grauen Haare wachsen«, sagte er kalt. »Ich rate Ihnen, die Sache zu vergessen. Henderson hat das bekommen, was er verdiente und die Sache passt irgendwie ins Kon zept. Ihre Ideen können Sie bis zum Sankt Nimmerleinstag auswalzen, es kommt nichts dabei heraus. Der Totengräber hat eben etwas gese hen, was es nicht gibt.« »Ach nein«, verwunderte Thomsen. »Sie wollen damit ausdrü cken, Henderson habe etwas gesehen, das für immer ein Geheimnis bleiben sollte?« »Mein Freund, ich sage gar nichts mehr!«, erwiderte der Reverend grimmig. »Das war lediglich meine Meinung.« * Die Männer brauchten etliche Minuten, bis sie sich von der Verblüffung erholten. Sergeant Kelston und Constabler Dudley standen wie ver 35
steinert da. Reverend Benmore, der sonst das Ungewöhnlichste mit äußerster Ruhe in sich aufnahm, war sprachlos. Seine Hände beweg ten sich unaufhörlich, als wollte er sich von seinen normalen Reflexen überzeugen. Thomsen selbst versuchte sich von dieser Irrealität zu distanzie ren, die ihn wie ein überdimensionales Spinnennetz einzuschnüren drohte. Am meisten beeindruckt war Pat Clair, der Bruder von Mora Dunn. Jetzt, als er mit eigenen Augen sah, dass das Grab leer war und Tom Lohmanns Leiche nicht im Sarg lag, schien er vor Entsetzen einem Zusammenbruch nahe zu sein. Pat Clair warf ruckartig den Kopf zurück, als hätte eine unsichtba re Hand ihm einen Schlag versetzt. Sein an sich schon blasses Gesicht war zu einem aschigen Gelbgrau geworden. Er holte tief Luft, dann schoss ihm plötzlich das Blut ins Gesicht, dass es eine violette Farbe bekam. Dr. Leemings kühle unbewegte Stimme brachte alle Anwesenden aus der Horrortrance in die Wirklichkeit zurück. »Dieser Tatbestand ist äußerst faszinierend. Er schließt allerhand Möglichkeiten ein.« Das Grab wurde nicht wieder zugeschaufelt, sondern bloß einige Bretter darüber gelegt, damit niemand hineinfallen konnte. »Was leiten Sie daraus ab?«, fragte Bürgermeister Collins, der bis jetzt wortlos dem Geschehen beigewohnt hatte. »Wie kann eine Leiche im Sarg verschwinden, können Sie mir das erklären?« Dr. Leeming runzelte die Brauen, musterte den Bürgermeister und sah dann alle der Reihe nach an, sagte aber kein Wort. »Wo ist eigentlich dieser Henderson?«, wollte Sergeant Kelston wissen. Niemand wusste etwas über ihn. »Der scheint keine Lust zu haben, bei dem Rätselspiel mitzuwirken«, gab Thomsen schließlich zur Antwort. »Sehen Sie doch mal nach«, sagte Kelston zu Constabler Dudley, »ob sich der Totengräber in seiner Wohnung befindet.« »Wissen Sie«, erwiderte Pat Clair, »in unserer Familie kursiert schon seit Jahrhunderten der Aberglaube von einem weißen Ungeheu 36
er, das angeblich die Leichen entführt. Auch meine Schwester hat so verrückte Ideen. Ich glaube aber nicht daran.« Er sprach ziemlich nervös, so als wolle er sich für seine Worte ent schuldigen. »Ja, ja«, erwiderte Sergeant Kelston. Doch er war mit seinen Ge danken ganz woanders. Der Bürgermeister hatte keine Lust mehr, am Friedhof herumzu stehen. Er wurde immer ungeduldiger und gereizter und beobachtete den Sergeanten, der sich mit belanglosen Kleinigkeiten befasste. »Ich glaube, wir können jetzt Schluss machen«, sagte Bürger meister Collins. »Irgendwie kam der tote Lohmann aus dem Sarg her aus, aber das Wie lässt sich nach meiner Meinung erst dann erklären, wenn er gefunden wird. Ich betrachte die Angelegenheit für den Au genblick als beendet.« Thomsen hatte das deutliche Gefühl, dass der Bürgermeister ge gen seine innerste Überzeugung sprach. Es lag klar auf der Hand, dass er unzufrieden war, aber seine Haltung schien nicht nur Thomsen, sondern auch den anderen unverständlich. Sergeant Kelston kümmerte sich nicht um Collins Worte. Erst nach einer geraumen Zeit sagte er: »Ich gebe zu, dass Ihre Schlussfolge rung logisch ist, aber Lohmanns Verschwinden ist etwas Unlogisches, Irrationales. Sie können ruhig gehen, aber ich werde noch ein bisschen herumsuchen.« Thomsen nahm eine Leiter vom Boden auf und ließ sie ins Grab hinunter. Der Sergeant begann es sorgfältig abzusuchen. Bürgermeis ter Collins setzte seine Pfeife in Brand und sah eine Weile wortlos zu. »Schon was gefunden?«, fragte er dann. »Ich rechne gar nicht damit, etwas zu finden«, antwortete der Sergeant. »Jedes Grab ist interessant, solange man nicht selbst darin nen liegt«, fügte er hinzu und grinste verschmitzt. »Ich dachte schon«, brummte Collins, »Sie suchen vielleicht ir gendein Fabelwesen!« »Nein, nein, keine Sorge«, erwiderte Sergeant Kelston. »Der Wei ße Gorge, oder wie das Wesen hier genannt wird, hat der alten Tradi tion entsprechend nie die Fähigkeit besessen, sich unsichtbar zu ma 37
chen. Es gibt jedoch etliche Drachen in der orientalischen Mythologie, die sich nach Belieben in schöne Frauen verwandeln konnten. Wussten Sie das?« »Sie kennen also auch die Altweibergeschichten, was? Guter Gott! Sie überzeugen mich noch, dass es in den Höhlen wirklich diese Unge heuer gibt. Früher nannte man die Höhle die drei Augen, manchmal auch die Wespe.« »Beides bedeutet dasselbe - die Weißen Gorgen«, erwiderte der Sergeant und konzentrierte sich auf das freigelegte Grab. »Es sind nur Sprachunterschiede, wissen Sie. Die einen nannten es so, die anderen so. Aber zu Ihrer Beruhigung möchte ich hinzufügen, ich glaube ge nauso wenig daran wie Sie!« »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, meine Herren«, sagte Pat Clair plötzlich, »wenn Sie von diesem verdammten Gorgen nichts mehr er wähnten. Ich kann das Wort schon gar nicht mehr hören.« »Entschuldigen Sie bitte«, rief Kelston aus dem Grabe. »Ich wollte Sie nicht ärgern.« »Selbst, wenn an dieser Geschichte etwas wahr sein sollte«, sagte plötzlich der Bürgermeister, »so dürfen die Leute von den Vorgängen hier auf dem Friedhof unter keinen Umständen etwas erfahren. Wenn die Leute wüssten, dass sich hier auf dem Friedhof unheimliche Mons ter herumtreiben, würden sie bestimmt in Panik geraten. Das muss unbedingt vermieden werden.« Alle Anwesenden verpflichteten sich zu schweigen. Der Sergeant setzte seine Augengläser auf und musterte etwas. »Haben Sie etwas gefunden, Sergeant?«, fragte Thomsen unge duldig. »Ja!« Kelston erhob sich und zeigte auf ein Büschel grauweißer Haare, die am Holz des Sarges hingen. Sie waren einige Zentimeter lang. Er suchte weiter und die Männer folgten von oben seinen Bli cken. Als der Sergeant den leeren Sarg aufstellte, konnte man eine Spur erkennen. Sie zeichnete sich deutlich in der Erde ab. Es war der Ab druck eines großen Hufes. 38
Doch noch schrecklicher erschienen die zahlreichen Abdrücke ne ben dem Huf, die von den dreikralligen Klauen eines Fabelungeheuers zu stammen schienen. Verblüfft und sprachlos starrten die Männer darauf. »Mein Gott - was soll denn das sein?«, stotterte Pat Clair. Niemand antwortete. Erst nach einer Weile sagte der Sergeant: »Ich werde von dieser Spur einen Gipsabdruck und eine Zeichnung anfertigen. Vielleicht gibt es irgendwelche Vergleiche in einem Museum.« »Was halten Sie davon?«, wollte Dr. Leeming wissen. »Diese Frage ist im Moment schwer zu beantworten«, erwiderte der Sergeant. »Es sieht tatsächlich wie der Abdruck eines Fabeltiers aus.« »Das weiße Ungeheuer!«, rief Pat Clair unwillkürlich. »Sie, Sie sind wohl verrückt?«, fuhr Bürgermeister Collins dazwi schen. »Sie können doch nicht glauben, dass Lohmanns Verschwinden mit irgendeiner Legende zu tun hat! Das ist doch völlig ausgeschlos sen!« »Der Meinung bin ich auch«, pflichtete Reverend Benmore dem Bürgermeister bei. »Früher oder später wird sich dieses Rätsel von selbst lösen, davon bin ich überzeugt.« »Aber immerhin lassen sich die Spuren im Grab nicht verleugnen«, meinte Edward Thomsen. »Das ist richtig«, sagte Pat Clair wieder. »Diese Tatsache muss in Betracht gezogen werden.« »Wenn hier in der Gegend nicht diese Geschichte von dem Wei ßen Gorge, oder wie sonst noch dieses Ungeheuer heißen mag, kur sierte«, rief Sergeant Kelston, »und wenn nicht Henderson selbst, ei nes dieser Wesen gesehen hätte, hätten wir diese Abdrücke sicher als harmlose Spur deklariert, die durch irgend etwas entstanden ist.« »Vielleicht«, räumte Thomsen ein. »Aber selbst dann, wenn Ihre Vermutung, die Spur hätte sich von selbst gebildet, stimmen sollte wie erklären wir uns die krallenähnlichen Spuren?« 39
»Wir werden den Totengräber noch einmal genau fragen, wie das Wesen aussah, das er gesehen haben will. Vielleicht ergibt sich dann ein besseres Bild.« »Henderson ist seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen wor den«, berichtete Constabler Dudley. Diese Tatsache war für Sergeant Kelston ein schwerer Schlag. Immerhin war Henderson der einzige, der mit dem Wesen konfrontiert gewesen war. Kelston inspizierte Hendersons Behausung, die aus zwei mittelgro ßen Räumen bestand und recht notdürftig eingerichtet war. Auf einem niedrigen Tisch, der neben einer Kommode stand, befand sich ein ural ter Seehundkoffer, dessen Deckel aufgeschlagen war und nur Toilet tenartikel enthielt. Nachdem Constabler Dudley den Koffer systematisch durchsucht hatte, wandte er sich der Kommode zu. Sergeant Kelston trat zum Fenster und sah auf den Friedhof hinaus. Der Constabler fand in der Kommode eine Menge Dinge, die er zu kleinen Häufchen auf dem Tisch ordnete. »Nanu?«, staunte Kelston, als er sich vom Fenster abwandte und auf die glitzernden Häufchen blickte. »Das ist ja interessant!« Auf merksam musterte er die Gegenstände - einige Gold- und Silberringe, Goldkettchen mit Anhänger, Krawattennadeln, drei wertvolle Ta schenuhren mit Initialen, einige Zigarettenetuis, zwei goldene Armrei fen, etliche Kugelschreiber und Füllfederhalter aus Alpaka und einige Silbermünzen. »Woher stammen diese Dinge«, fragte Constabler Dudley. »Was meinen Sie wohl? Dreimal dürfen Sie raten, woher Rick Henderson diese Sachen hat. Er scheint ein Dieb zu sein und das wahrscheinlich nicht erst seit ein paar Monaten, sondern schon seit Jahren.« Als Kelston noch immer die Gegenstände betrachtete, öffnete der Constabler einen Spind und begann in den Taschen der Anzüge und Mäntel zu suchen. Aus einem Ledermantel entnahm er ein Stück blassblaues Papier. Es war ein kurzer Brief mit Maschine getippt. Er 40
war ohne Adresse, trug aber das Datum vom 16., das war ein Tag zuvor, ehe das Grab Lohmanns wieder geöffnet wurde. Der Inhalt lautete: Lieber Rick, natürlich würde mich der goldene
Ring mit den Diamanten interessieren. Aber der Preis ist zu hoch. Ich erwarte Dich heute, Punkt zehn Uhr vor dem Friedhofstor. Deine Hilda
»Das verstehe ich nicht«, murmelte Dudley und gab den Brief an den Sergeanten weiter. »Das ist doch ziemlich einfach«, erwiderte Kelston, während er auf die Unterschrift starrte, die ebenfalls mit Maschine getippt war. »Damit kann nur dieser Ring hier gemeint sein.« »Na klar«, bestätigte Dudley. »Diese Frau ist eine Hehlerin. Sie veräußert die Dingerchen für ihn, deswegen ist er auch verschwunden. Das andere war nur ein Ablenkungsmanöver. Dieser Kerl hat uns alle übertölpelt.« »Im Moment sieht es danach aus«, gab der Sergeant nachdenk lich zu. »Aber einige Punkte passen trotzdem nicht zusammen. Ich denke, wir sollten uns einmal mit Hilda unterhalten.« Es gab nur eine Hilda in der Ortschaft. Sie hieß Lahn und besaß eine kleine Schneider werkstätte. Hilda Lahn wirkte trotz ihrer sechzig Jahre sehr jugendlich und war von liebenswürdiger Freundlichkeit. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, erwiderte sie, als Ser geant Kelston auf Hendersons Erlebnis zu sprechen kam. »Ich war natürlich sehr aufgeregt, aber das waren doch schließlich alle.« »Haben Sie Rick Henderson näher gekannt?« »Nicht mehr oder weniger, wie man andere Leute auch kennt«, antwortete Hilda. »Halten Sie das ganze Gerede für Ernst?« »Oh...!« Ihre Augen leuchteten. »Ich weiß nicht, was man dazu sagen soll. Ich habe genug dummes Geschwätz darüber gehört.« »Von dem weißen Ungeheuer halten sie also nichts?«, stellte Kelston fest. »Ich glaube doch nicht an Märchen!«, erwiderte sie lachend. »Sie vielleicht?« »Manchmal wären sie ganz brauchbar«, erwiderte der Sergeant. 41
»Ich verstehe nicht, was Sie damit meinen«, entgegnete Hilda Lahn. »Ist ja auch egal. Enttäuschend ist allerdings, dass wir die Leiche Tom Lohmanns in seinem Grab nicht gefunden haben. Ja, sie ist spur los verschwunden. Und auch Rick Henderson scheint der Erdboden verschluckt zu haben. Im Fall Lohmann fanden wir übrigens ganz phantastische Fußabdrücke.« Hildas Augen wurden vor Staunen riesengroß. »Welche Fußabdrücke?«, fragte sie heiser und schluckte dabei. »So etwas habe ich vorher noch nie gesehen«, antwortete der Sergeant. »Wenn ich an Fabelwesen glaubte, dann würde ich behaup ten, solch ein Wesen hat sie hinterlassen.« Hilda Lahn hielt sich einen Augenblick lang am Tisch fest, fand a ber bald ihre Haltung wieder. Sie lächelte, ging zu einem Schrank und lehnte sich dagegen. »Ich fürchte, ich bin zu nüchtern, um mich von Beweisen für das Vorhandensein von Fabelwesen erschrecken zu lassen«, sagte sie. »Sicher, Mrs. Lahn. Und weil Sie so nüchtern sind, wird Sie viel leicht das hier interessieren.« Kelston reichte ihr den Brief, der aus Hendersons Ledermantel stammte. Sie las den Brief ohne eine Miene zu verziehen. Doch sie seufzte, als sie ihn Kelston zurückgab, so als habe sie nun ihren Seelenfrieden wieder gefunden. »Dieses Schreiben ist wesentlich vernünftiger als die Fußspuren, von denen Sie sprachen«, bemerkte Hilda Lahn. »Der Brief ist sehr vernünftig«, gab Kelston zu. »Doch da gibt es eine sich darauf beziehende Tatsache, die ihn wiederum unvernünftig erscheinen lässt. Zum Beispiel, wie kommt Mr. Henderson zu den vie len Schmuckstücken? Jeder weiß, dass Lohmann vor zwei Jahren ein Diamantring gestohlen wurde. Zwischen dem Verschwinden seiner Leiche, Hendersons Verschwinden und diesem Brief besteht ein Zu sammenhang. Weshalb haben Sie diesen Brief geschrieben?« »Ich kenne das Schreiben nicht«, erwiderte Hilda gelassen. »Ich habe es auch nie geschrieben. Hildas gibt es dutzendweise.« 42
Kelston musste diese Tatsache akzeptieren. Der Brief war ohne Unterschrift. * »Hat die verrückte Alte jemals etwas von einer Familiengruft er wähnt?«, wollte Kelly-Ross wissen. »Welche verrückte Alte?«, fragte Edward Thomsen seine Tochter. »Ich meine natürlich Mrs. Dunn«, erwiderte sie ein wenig gereizt. Thomsen dachte einen Augenblick nach, dann nickte er. »Ja, sie hat mir erzählt, dass schon ein Vorfahre ihres Mannes eine Gruft erbauen ließ, damit der Weiße Gorge nicht hinein konnte.« »Das Wort Gruft klingt recht romantisch«, bemerkte Kelly-Ross, nachdem sie kurz nachgedacht hatte. »Findest du nicht auch? Ich würde gerne einmal einen Blick in die Dunnische Gruft werfen. Ich war gestern auf dem Friedhof und habe einen kleinen Einstieg entdeckt.« »Warum nicht?«, erwiderte Thomsen. »Wenn es dir Spaß macht. Hoffentlich erwischt uns keiner dabei!« Die beiden machten sich auf den Weg zum Friedhof. Die äußere Mauer der Gruft war völlig mit Efeu überwuchert. An der Vorderseite befand sich eine Tür aus gehämmertem Eisen, die zwar stellenweise rostig war, aber immer noch den Eindruck von Stär ke vermittelte. Vier moosbewachsene Steinstufen führten zur Tür hin unter. An der Rückseite der Gruft, von Büschen halb verdeckt, lag ein Bretterstapel. Die Bretter sahen ziemlich verwittert aus. Für welchen Zweck sie einst bestimmt waren, konnte wohl niemand mehr sagen. Kelly-Ross schob einige beiseite. Ein fast viereckiges Loch wurde in der Mauer sichtbar. Vater und Tochter zwängten sich hindurch und standen in dem Mausoleum. Aus der Finsternis des Raumes schlug ihnen dumpfe, muffige Luft entgegen. Thomsen knipste eine Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl über Wände, Decke und Boden gleiten. Die Innenmauer des ganzen Gewölbes war mit dunklem Mörtel bewerten. Auf der Westseite stand eine ganze Reihe hölzerner Särge. 43
»Das interessiert mich«, sagte Thomsen und trat näher heran. Er leuchtete einen nach dem anderen ab und wischte mit der freien Hand über die gravierten Silberschilder mit dem Namen. Vor einem beson ders alten Eichensarg blieb Thomsen stehen und bückte sich. »Charles Atkinson Dunn, 1780-1855«, las Thomsen laut und be rührte den Sarg an verschiedenen Stellen. »Es ist der älteste hier«, stellte er fest. »Da ist nichts mehr vorhanden, höchstens noch ein paar Knochen. Es wäre interessant, mal hineinzuschauen.« »Das kannst du doch nicht tun, Vater!«, protestierte Kelly-Ross. »Du kannst keinen Sarg aufbrechen. Wenn das herauskommt, kann man dich dafür gerichtlich belangen.« »Das weiß ich selbst«, erwiderte Thomsen lauter als beabsichtigt. »Aber ich suche nach etwas ganz Bestimmtem.« Thomsen wandte sich wieder den anderen Särgen zu. Überrascht stellte er fest, dass bei allen Särgen die Schrauben abgeschraubt wa ren und die Sargdeckel nur lose darauf lagen. »Lieber Himmel, sieh dir das einmal an!«, rief er aus. Es kostete kaum eine Anstrengung, den Sargdeckel weg zu schie ben. Kelly-Ross richtete den Strahl der Lampe auf das Sarginnere. Ent setzt fuhr sie zurück und hielt den Atem an. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, eine unirdische Kreatur mit einem riesigen Kopf und einem schmalen Körper zu sehen. Ungefähr so, wie man sich We sen von einem anderen Stern vorstellt. Aber es war nur eine Täu schung gewesen. Der Sarg war leer. Ebenso alle anderen. Nur der von John Philip Dunn, 1900-1974, schien unberührt. Er war auch nicht aus Holz, sondern aus einem ein zigen Stein gehauen. »War das nicht der Mann von Mora Dunn?«, fragte Kelly-Ross. »Ja«, erwiderte Thomsen. »Und anscheinend wusste er ganz ge nau, warum er sich in einen Steinsarg einschließen ließ. Die Sache mit dem Weißen Gorge scheint doch mehr als bloß eine Legende zu sein.« Edward Thomsen trat wieder an den ältesten Sarg heran und stell te überrascht fest, dass auch hier sich der Deckel ohne besondere Mü he wegschieben ließ. 44
Als das Licht der Taschenlampe voll das Sarginnere traf, konnte Thomsen einen Aufschrei nicht unterdrücken. Von dem Sarg aus führte ein Schacht in die Tiefe. Es war ein richtiger Einstieg, der senkrecht in die Erde führte. »Das werden wir uns natürlich ansehen«, sagte Thomsen zu sei ner Tochter, »aber dazu brauchen wir eine bessere Ausrüstung. Lam pe, Seil, Farbe, damit wir eventuell Markierungen vornehmen können und so weiter.« Kelly-Ross war mit diesem Vorschlag einverstanden. Am Nachmit tag fuhren beide in die nächste größere Ortschaft und kauften die Din ge, die sie für ihre Expedition brauchten. Abends während des Essens hing eine oberflächliche Heiterkeit über dem Tisch. Kelly-Ross' Lachen kam Thomsen albern und geküns telt vor. Sie begann über allerlei triviale Dinge zu reden und Thomsen wusste, dass sie furchtbar nervös wegen der morgigen Expedition war. Kelly-Ross wiederholte einige Anekdoten, die in der Zeitung über die Macbeth-Inzenierung geschrieben wurden. »Manche Schauspieler«, sagte sie dann, »interpretieren diese Ges talt als eine durch und durch böse Kreatur, ohne gute Eigenschaften irgendwelcher Art. Solche Interpretationen werden oft - und ich glaube zu Recht - mit der Begründung kritisiert, dass kein menschliches We sen ausschließlich üble Eigenschaften in sich vereinigt. Stimmst du mir da bei?« Thomsen blickte eine ganze Weile auf seine Tochter, dann erwi derte er: »Nein, ich glaube, es ist durchaus möglich, dass ein Mensch keine einzige Tugend besitzt, dass er eine Art Teufel in Menschenge stalt ist. Beweise gibt es ja genug dafür. Selbst die Kirche glaubt an das Böse. Ein Mensch wird nicht schlecht, weil er irgendwelchen Ein flüssen ausgesetzt ist, sondern ich glaube, dass er schon von Grund auf schlecht war. Es ist wie eine Krankheit, die irgendwo innen liegt, dann zum Ausbruch kommt und ein ganzes Volk anstecken kann. Aber lassen wir dieses Thema. Gib mir bitte die beiden Bücher, die du aus der Bibliothek mitgebracht hast!« 45
»Das Wort Gorge ist eines jener Worte, die im englischen Sprach gebrauch gern Verwendung finden«, sagte Kelly-Ross, »ohne, dass man sich über seine eigentliche Bedeutung Gedanken macht.« »Ja«, erwiderte Thomsen. »Aber meiner Ansicht nach ist es ein Wort, das nicht leichtfertig gebraucht werden sollte.« »Warum?«, fragte Kelly-Ross. »Ich weiß auch nicht. Vielleicht findet sich in diesem Buch eine präzise Definition des Wortes.« Thomsen nahm das große Wörterbuch zur Hand und begann darin zu blättern. »Sehen wir mal nach«, murmelte er, halb zu sich selbst. »G... Go.... Gor... Da haben wir es schon: Gorge... In orientalischen Ländern ein imaginäres Wesen, das besonders Vorliebe für Friedhöfe zeigt. So imaginär scheinen sie aber keineswegs zu sein«, überlegte er dann, »wie das Buch uns glauben machen möchte. Und ich glaube auch nicht, dass sie sich nur auf orientalische Länder beschränken. Sie wer den sich auch bestimmt nicht nur auf Friedhöfen aufhalten.« »Viel ist das ja nicht«, bemerkte Kelly-Ross. Thomsen fuhr mit seinem Zeigefinger über die Buchseite und stoppte plötzlich. »Da gibt es noch etwas. Ein Gorgo zum Beispiel ist ein weibliches Ungeheuer in der griechischen Sage. Ein Schreckge sicht!« Als Thomsen das Buch wieder zusammenklappte, sagte KellyRoss: »Ich bin wirklich gespannt auf morgen. Ob wir da etwas entde cken?« »Keine Ahnung«, erwiderte Thomsen. »Aber interessant wird es auf alle Fälle werden.« * Punkt zwei Uhr am nächsten Nachmittag stand Edward Thomsen mit seiner Tochter wieder in der Gruft. Sie hatten sich für die Reise ins Ungewisse sehr gut vorbereitet. In einem prallgefüllten Rucksack be fand sich alles, was sie für diesen Ausflug unter der Erde brauchten: 46
Markierungsbojen, Fackeln, Ersatzbatterien, eine Blitzlichtkamera, Pro viant und verschiedene andere Dinge mehr. »Na, dann wollen wir mal«, sagte Thomsen und stieg als erster ein. In der rechten Hand hielt er eine starke Lampe, in der linken das Seil, mit dem sie verbunden waren. Als Thomsen in der Öffnung verschwunden war, folgte Kelly-Ross. Auch sie hatte eine starke Lampe in der Hand. Kalte, muffige Luft um fing die beiden. Schon nach wenigen Metern war vom Einstieg nichts mehr zu sehen. »Der Gang ist breiter und höher, als ich vermutete«, sagte Thom sen zu seiner Tochter. »Hoffentlich bleibt es auch so«, erwiderte Kelly-Ross. Trotzdem war es nicht zu vermeiden, dass sie mit Kopf und Schul ter immer wieder an herabhängende Baumwurzeln und dergleichen stießen. Nach etwa hundert Metern sagte Thomsen: »Jetzt kommen meh rere Abzweigungen. Ich werde mit der Markierung beginnen.« Kelly-Ross ging einige Meter nach rechts und blieb mit einem Auf schrei stehen. Der Strahl ihrer Lampe erfasste eine sehr gut erhaltene, mumifizierte Leiche. Der Schlund führte nicht weiter und Kelly-Ross trat in den Haupt gang zurück. »Wenn diese Wesen existieren und meine Vermutung richtig ist, wer hätte sonst diese Gänge hier angelegt?«, sagte Thomsen, »dann werden wir auf weitere solche Funde stoßen.« Er hatte recht. Kurze Zeit später führte der Weg an zig unheimlich anmutenden Gräbern vorbei, deren Särge leer waren. Vermutlich hatten die Gorgen die Toten entführt. Diese Wesen hatten offenbar den ganzen Friedhof unterminiert. Überall, wohin auch die beiden mit ihren Lampen leuchteten, sahen sie frei gewühlte Sargbretter. Die Luft wurde plötzlich so beklemmend, dass sie kaum noch zu atmen wagten. 47
Wieder gabelte sich der unterirdische Gang. Thomsen entschloss sich für den linken. Kelly-Ross blieb stehen und beobachtete, wie ihr Vater in dem Gang verschwand. Direkt neben ihr zweigte ebenfalls links ein Gang in eine Grabstät te ab. Ein aufgerissener Sargdeckel war zu sehen und darin lag der erst kürzlich verstorbene Lohmann. Als Kelly-Ross die Leiche sah, zuckte sie erschrocken zusammen und knipste die Lampe aus. Sie stand wie versteinert und atmete flach. Kalter Schweiß rann ihr den Rücken hinunter. Die Feuchtigkeit der nach Fäulnis und Moder riechenden Erde legte sich auf ihre Haut. Von oben fielen Erdbrocken und kleine Steinchen, die kalt wie Eiswürfel waren. Ihr schauderte. Die Zeit schien stillzustehen. Dann endlich war wieder die Stimme ihres Vaters zu hören: »Hier geht es nicht weiter. Am Gangende befindet sich ein Grab. Wir müssen den anderen Weg nehmen.« Ehe Kelly-Ross ihrem Vater von der gefundenen Leiche berichten konnte, polterten plötzlich vor ihr große Erdbrocken und Steine herab und versperrten den Weg nach vorn. Nun saß sie fest. »Hilfe!«, rief sie heiser. »Ich bin eingesperrt!« »Um Himmels willen!«, erwiderte Thomsen erschrocken. »Bleib, wo du bist! Ich komme!« Kelly-Ross hörte die Worte ihres Vaters wie durch Watte. Plötzlich überfiel sie eine schreckliche Platzangst. Sie hatte das Gefühl, für alle Zeiten bei lebendigem Leib eingemauert zu sein. Nur mit großer Mühe gelang es ihr, sich zu beherrschen und nicht drauflos zu schreien. Sie knipste ihre Lampe an und sah, dass das Erdreich zum Glück nur locker zusammengefallen war. Auf der anderen Seite begann Thomsen mit einem kleinen Spaten ein Loch zu graben. Er war bald durch und sie konnten sich wieder sehen. »Bist du verletzt?«, fragte er besorgt. »Nein, ich glaube nicht.« Inzwischen war die Öffnung so groß, dass Kelly-Ross unbehindert durchkriechen konnte. 48
»Das ging ja noch mal glimpflich ab«, sagte Thomsen aufatmend. »Ich glaube, dass wir den Friedhof nun hinter uns haben. Das bedeu tet, dass der Schlupfwinkel der Gorgen sich irgendwo außerhalb befin det.« Beide gingen weiter und kamen jetzt auch schneller voran. Die Luft war besser geworden und nicht mehr so sauerstoffarm wie zuvor. Thomsen brachte hin und wieder eine Markierung an, aber eigentlich war es gar nicht mehr nötig. Es gab nur diesen einen Stollen. Da konn te überhaupt nichts schief gehen, wenn sie später den Rückweg an traten. Rückweg? Würde es überhaupt zu einer Rückkehr auf diesem Weg kommen? Was dann, wenn ihnen der Weg abgeschnitten wurde? Viel leicht hatten sich diese dreiäugigem unheimlichen Wesen nur versteckt und waren inzwischen längst dabei, die unterirdischen Gänge hinter ihnen zuzuscharren. In diesem Fall waren sie beide - er und seine Tochter - verloren. Doch Edward Thomsen wischte diese Gedanken beiseite. Im Au genblick war in seinem Kopf kein Platz für solche Phantasiegebilde. Der unterirdische Gang führte weiter und weiter. Und ihnen blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Nach weiteren zehn Minuten erweiterte sich der Gang derart, dass man darin bequem mit einem Miniauto hätte spazieren fahren können. »Das wird ja immer phantastischer«, sage Thomsen. »Knips deine Lampe aus! Ein Licht genügt jetzt vollkommen. Besser, wir sparen die Batterien.« Thomsen sah auf die Uhr. »Wir sind jetzt seit einer Stunde und zehn Minuten hier unten.« »Was?«, rief Kelly-Ross erstaunt. »Erst eine Stunde? Mir kommt es vor, als wären wir schon Stunden unterwegs.« »Man verliert hier unten jeden Zeitbegriff«, erwiderte ihr Vater und leuchtete die Wände des vor ihnen liegenden Stollens ab. »Sieh dir das an, gewachsener Fels! Es ist ein natürlicher Gang. Vor Jahrmil lionen von der Natur erschaffen. Ausgeschwemmt von einem unter irdischen Fluss.« 49
»Bin neugierig, wo der hinführt. Hoffentlich nicht irgendwo ins Freie«, bemerkte Kelly-Ross. »Dann wäre die ganze Mühe umsonst gewesen.« Thomsen holte aus seiner Rocktasche einen Kompass und beo bachtete die zitternde Nadel. »Sie zeigt auf Norden«, sagte er. »Das ist genau die Richtung der Berge, die man hinter Bridge-Hill sehen kann.« Kelly-Ross nickte kommentarlos, dann gingen sie weiter. Der Stollen, der jetzt völlig aus gewachsenem Fels bestand, führte in fast gleich bleibender Höhe von annähernd zweieinhalb Meter nach Norden. Er beschrieb einige Kurven und weit ausgeholte Krümmungen. Thomsen löste das Seil, das sie miteinander verbunden hatte. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Tochter einen runden mittelgro ßen Spiegel, der an einem Kettenseil befestigt war, um ihren Hals trug. »Nanu«, staunte er, »was hat denn das zu bedeuten? Seit wann trägst du einen Spiegel spazieren?« »Das war völlig unbeabsichtigt«, gab Kelly-Ross zu. »Ich vergaß, ihn nach dem Frisieren abzunehmen.« Sie gingen weiter und plötzlich gab es genügend Beweise für die Existenz der Wesen. Auf Schritt und Tritt: stießen die beiden auf Fuß spuren. Die Felswände glitzerten feucht vor Nässe. Die Luft war dumpf und kalt und die Schritte der beiden klangen hohl und laut. Seit Thom sen das letzte Mal auf seine Uhr sah, waren mehr als zwei Stunden vergangen. Sie mussten fast zehn Kilometer hier unten zurückgelegt haben, als sich vor ihnen eine riesige Grotte auftat. Eine Höhle von gi gantischem Ausmaß. Thomsen und Kelly-Ross blieben staunend stehen und blickten sich um. Durch die ganze Länge des riesigen Gewölbes standen eine Reihe gigantische Pfeiler, die wie riesige Eiszapfen aussahen, in Wirklichkeit riesige Stalaktiten waren. Kelly-Ross war begeistert von der überwältigenden Schönheit und den Formen, die diese Säulen aus weißem Spat zeigten. Einige maßen nicht weniger als fünfzehn Meter im Durchmesser am Sockel und rag ten senkrecht nach oben. Andere befanden sich noch im Stadium des 50
Wachstums. Diese erinnerten Thomsen an gebrochene Säulen in ei nem alten griechischen Tempel. Von einem riesigen Eiszapfen, der von der Decke hing, fiel in re gelmäßigen Abständen ein Wassertropfen auf die Säule darunter. »Mein Gott«, murmelte Thomas und blickte auf den eben herab gefallenen Tropfen. »Wie lange braucht die Säule, bis sie annähernd fünfzehn Meter erreicht - da vergehen ja Millionen von Jahren.« »Und wenn jetzt der Wassertropfen unregelmäßig fällt«, sagte seine Tochter nachdenklich. »Ich meine, statt jede Minute - alle zwei oder drei, dann wird das ja eine astronomische Zahl. Völlig unfassbar für uns Menschen.« »Da hast du recht«, erwiderte Thomsen. »Das ergibt eine Zeit spanne, die kaum mehr vorstellbar ist.« Seitlich befand sich ein ungeheurer Block, der leicht seine hundert Tonnen wog. Das Ding hatte die Form einer Kanzel und war an der Außenseite mit einem Muster überzogen, das Spitzen ähnelte. Andere Stalagmiten glichen merkwürdigen Tieren und hatten phantastische Formen. An den Wänden befanden sich fächerähnliche Zeichnungen, so wie sie der Frost auf Fensterscheiben zurücklässt. Von einer riesigen Kanzel aus, die einen Teil des Raumes ein nahm, öffneten sich seitlich da und dort kleinere Höhlen. »Diese kleinen Höhlen«, sagte Thomsen, »wirken wie Kapellen in einer großen Kathedrale. Einfach phantastisch!« Einige dieser Höhlen waren wuchtig, andere wiederum winzig. Ein kleiner Winkel, auf den Kelly-Ross ihre Lampe richtete, war nicht grö ßer als ein ungewöhnlich großes Puppenhaus. Und doch hätte dieses kleine Ding das Modell des ganzen Platzes sein können. Auch hier tropfte das Wasser von winzigen Eiszapfen herab und die Spatsäulchen wurden genau auf die gleiche Weise gebildet. »Das ist das großartige Beispiel der Natur«, sagte Thomsen, »dass sie völlig unabhängig von der Größe ihrer Werke, sie nach den glei chen Gesetzen ausführt.« Die beiden hatten keine Zeit, dieses phantastische Stalaktitenge wölbe näher zu bewundern. Sie schritten durch die riesige Tropfstein 51
höhle und kamen in eine kleine Höhle, die ebenfalls von mächtigen Eissäulen geziert war. Plötzlich stockte Kelly-Ross der Atem. Hier schien die Vorratskam mer der Monster zu sein. Der Strahl ihrer Taschenlampe beleuchtete eine Felsnische, in der verschiedene tote Tiere lagen. »Das ist wohl die Vorratskammer«, sagte Thomsen zu seiner Tochter. »Da können die Gorgen auch nicht mehr weit sein.« Für Kelly-Ross war diese Tropfsteinhöhle ein seltsamer, unheimli cher Ort. Nach einer Weile blieb Thomsen wieder stehen und horchte. Von irgendwoher drangen Geräusche. Auch Kelly-Ross hörte sie jetzt ganz deutlich. Sie gingen weiter und plötzlich sahen sie weiße große Gestalten, die in einer Felsnische dicht aneinander gedrängt schliefen und dabei merkwürdige Töne ausstießen. Obwohl beide auf eine Begegnung mit den Ungeheuern vorberei tet waren, stockte ihnen jetzt der Atem. Minutenlang standen sie da und starrten auf das unfassbare Bild, das ihnen der Schein der Taschenlampe bot. Kelly-Ross' Herz klopfte so laut, dass sie glaubte, die Ungeheuer könnten davon erwachen. Fassungslos starrte sie zu der Pelsnische hinüber. Und dann geschah etwas Unvorhergesehenes. Plötzlich war ein scharfer, dumpfer Knall zu hören, der in der Stille der Höhle wie ein Pistolenschuss wirkte. Edward Thomsen war die Taschenlampe aus der Hand gefallen. Gleichzeitig erwachten die Gorgen zum Leben. Die weißen riesigen Gestalten begannen sich zu bewegen und stießen unheimliche Töne aus. Zuerst waren es quarrende Laute, die sich aber bald in ein tiefes, drohendes Knurren verwandelten. Kelly-Ross zitterte am ganzen Körper und spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Plötzlich flammten rote Lichter auf. Die Ungeheuer öffneten ihre wie Scheinwerfer wirkenden Augen und tasteten damit suchend die Höhle ab. 52
Es dauerte keine Minute, dann hatten sie die beiden Eindringlinge in ihrem Reich entdeckt. Langsam und in geduckter Haltung schoben sich die Bestien heran. Sie brüllten, fauchten und knurrten, als wäre das Grauen über die Welt hereingebrochen. Wie gelähmt standen Thomsen und seine Tochter da. Das grau enerregende Geheul kam immer näher. Bald war es so laut, dass es wie Trommelschläge in ihren Köpfen dröhnte. Kelly-Ross rang nach Luft. Am liebsten wäre sie davongelaufen, aber ihr Vater hielt sie zurück. »Ich glaube nicht, dass sie uns angreifen werden«, sagte er. »Wir müssen zusammenbleiben.« »Und wenn sie uns angreifen?«, schrie Kelly-Ross zurück. »Dann versuchen wir ihre Augen zu blenden«, konterte Thomsen lautstark. »Die Taschenlampen müssten grell genug dafür sein.« Nur mehr sechs, sieben Meter waren die Scheusale von den bei den entfernt. Sie hatten ein grässliches wespenähnliches Gesicht und ihre drei Augen übten eine fast hypnotische Wirkung aus. Ihre langen, behaarten weißen Finger waren zu Krallen gekrümmt. Sie fletschten die Zähne wie tollwütige Hunde. Bevor Edward Thomsen den starken Strahl seiner Taschenlampe auf die Augen der Gorgen richtete, nahm er die Kamera zur Hand und schoss ein paar Aufnahmen. Das plötzliche Aufflammen des Blitzlichtes brachte die Bestien se kundenlang zum Stehen, aber dann kamen sie wieder in Bewegung. Kelly-Ross folgte mit ihrer Taschenlampe dem Beispiel ihres Vaters und blendete die näher kommenden Monster. Die schrecklichen Gestalten hoben wie schützend ihre Pranken vor die Augen und torkelten weiter. »Das scheint nicht viel Erfolg zu haben«, rief Kelly-Ross ihrem Va ter zu. »Ihre Augen sind gar nicht so empfindlich wie du dachtest. Sie versuchen uns einzukreisen. Was sollen wir jetzt tun?« Während die vier Ungeheuer mit knurrenden, wütenden Lauten näher kamen, zog sich Thomsen mit seiner Tochter zurück. 53
Plötzlich sprang ein Monster auf Kelly-Ross zu und packte sie mit beiden Pranken um die Hüfte. Sie wehrte sich verzweifelt, war aber den übernatürlichen Kräften des Ungeheuers nicht gewachsen. Edward Thomsen griff nach einem Knochen, der vor ihm auf dem Boden lag und zog der Bestie eines damit über den Schädel. Aber die erwartete Wirkung blieb aus. Noch immer hielt das Ungeheuer KellyRoss umklammert. Aber noch bevor Thomsen einen weiteren Schlag ausführen konn te, torkelte das Monster plötzlich unter einem furchtbaren Gebrüll zu rück und stieß das Mädchen zur Seite. »Bist du verletzt?«, fragte Thomsen seine Tochter besorgt. »Nein.« »Was hat es plötzlich so erschreckt?«, wollte Thomsen wissen. Doch Kelly-Ross konnte diese Frage auch nicht beantworten. Die Weißen Gorgen hatten sich ein paar Meter zurückgezogen und schienen unschlüssig zu sein. »Vielleicht hat ihn der Spiegel so erschreckt«, sagte Kelly-Ross plötzlich und zeigte mit den Finger auf ihren Frisierspiegel, den sie vergessen hatte abzunehmen. »Schnell, gib her!«, schrie ihr Vater. »Das werden wir gleich se hen.« Er nahm den Spiegel, hielt ihn vor sich her und näherte sich lang sam den Monstern. Als eines der Ungeheuersein Spiegelbild erblickte, wich es entsetzt und knurrend zurück. Edward Thomsen wagte sich jetzt dichter an die schrecklichen Un geheuer heran. Als sie sich im Spiegel sahen, taumelten sie mit einem Aufschrei zurück und ergriffen schließlich die Flucht. »Der Spiegel ist die beste Waffe gegen sie«, sagte Thomsen lä chelnd. »Ich weiß nicht, warum es so ist, aber immerhin haben wir etwas, mit dem wir sie zum Teufel jagen können. Ein schönes Gefühl, nicht wahr?« Kelly-Ross zitterte noch immer am ganzen Körper. Es verging eine volle Minute, ehe sie sagte: »Hoffentlich kommen sie nicht wieder zu rück!« 54
»Keine Angst, die kommen nicht wieder«, tröstete Thomsen seine Tochter. »Wir können uns jetzt ruhig hier noch ein wenig umsehen.« Er leuchtete mit der Taschenlampe in alle Nischen und Winkel, konnte aber nirgends einen Einstieg entdecken. Erst viel später sahen sie einen abschüssigen Gang, der hinter einer riesigen Tropfsteinsäule weiter in die Tiefe führte. Thomsen markierte die Stelle und dann traten sie den Rückweg an. Er dachte darüber nach, ob er den Leuten überhaupt etwas von der Existenz der Gorgen erzählen sollte. Ihm war plötzlich eine Idee gekommen, die ihn zu einem wohlhabenden Mann machen konnte. * Das ganze Dorf wusste, dass der Totengräber verschwunden war. Man erzählte sich die merkwürdigsten Dinge darüber. Sergeant Kelston konnte sich noch immer keinen Reim auf den Brief machen, den eine Hilda an Rick Henderson geschrieben hatte. »Sie glauben, dass Henderson gar nicht verschwunden ist, son dern sich einfach aus dem Staub gemacht hat?«, wollte Constabler Dudley wissen. »Möglich wäre es schon«, antwortete der Sergeant. »Der Brief kann auch nur ein Ablenkungsmanöver sein. Aber ich bin ziemlich si cher, dass Hilda Lahn den Brief geschrieben hat und sie eine Mittlerrol le in Hendersons dunklen Geschäften spielt. Sie weiß bestimmt et was.« Constabler Dudley nickte und stopfte seine Pfeife. Ein wenig später betrat ein alter Mann das Polizeirevier. »Ich weiß etwas, was Sie vielleicht interessieren könnte«, begann er. »Dieses Pferd, wissen Sie! Seit der Totengräber verschwunden ist, denke ich darüber nach, ob das vielleicht von Bedeutung ist...« Der Mann glaubte sich zu erinnern, dass er Rick Henderson am Tage seines Verschwindens auf einem Pferd hatte reiten sehen. Der ganze Bericht war ziemlich umständlich und schwerfällig. Sergeant Kelston konnte damit nicht viel anfangen, da der Mann nicht einmal 55
sicher war, ob es überhaupt der Totengräber war, den er auf dem Pferd gesehen hatte. Anschließend kamen noch mehrere Leute, die etwas im Zusam menhang mit Rick Hendersons Verschwinden gesehen haben wollten. Aber im Grunde konnte keiner etwas Konkretes berichten. Auch Mrs. Mora Dunn wollte den Sergeanten sprechen. Er konnte sich nicht erklären, was ausgerechnet sie ihm zu berichten hatte. War die Frau wirklich so verrückt, wie die Leute behaupteten, oder war das Ganze nur Theater? Jedenfalls war er neugierig, was sie über den To tengräber wusste. »Die weißen Ungeheuer aus der Höhle haben ihn geholt«, sagte Mora Dunn anstatt einer Begrüßung. »Halten Sie das ja nicht für ein dummes Geschwätz einer alten Frau, die nicht ganz richtig im Kopfe ist. Ich weiß, was ich sage. Den Totengräber haben die Gorgen geholt und getötet.« Sie kicherte und dieses Kichern erinnerte den Sergeanten an die Hexen im Märchen. Noch ehe er etwas erwidern konnte, sagte die Frau wieder: »Ich habe Ihnen zugesehen, wie Sie am Friedhof das Grab von Lohmann untersuchten und nichts gefunden haben. Sie können gar nichts fin den, denn die Gorgen erheben sich von der Erde und fliegen mit ihren Opfern davon. Das habe ich schon oft gesehen! Und Sie wollen etwas finden, was nicht mehr da sein kann.« »Aber ich fand doch etwas, Mrs. Dunn«, erklärte Sergeant Kelston sanft. »Es war ein Abdruck in der Erde.« Mora Dunn lächelte verträumt, als wüsste sie das schon längst. »Das war die Spur eines Weißen Gorgen.« Kelston ging auf diese Bemerkung nicht weiter ein, sondern frag te: »Wohin brachten diese Ungeheuer dann die Leiche des Totengrä bers, wenn sie ihn getötet haben?« »Das kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist ein Geheimnis. Das Ge heimnis der Gorgen - und meines«, flüsterte Mora Dunn. »Sind diese Wesen außer in den Höhlen auch noch anderswo zu Hause?« 56
»Aber natürlich«, bestätigte die Frau. »Die Höhle ist ihre richtige Wohnung. Deshalb heißt sie ja auch ›Die Höhle der weißen Ungeheu er‹. Manchmal aber verlassen sie diese, fliegen in die Berge und ver stecken sich dort in den Wäldern, oder sie sind in den Sandsteinhügeln von Torridon. Oft sind sie auch bei den Teufelsfelsen und manchmal verstecken sie dort ihre Opfer. Der Teufelsfelsen ist der Eingang zu einer uralten Höhle, die bereits entstand, als noch kein Mensch auf der Erde war.« »Das ist ja ungemein interessant«, bemerkte Sergeant Kelston. »Aber im Moment ist mir damit nicht viel geholfen. Wollen Sie mir wirklich nicht verraten, wo diese Ungeheuer die Leiche von Rick Hen derson versteckt haben?« Die Frau schüttelte den Kopf. Sie sagte keinen Ton mehr. »Das sind doch alles nur Phantastereien«, wehrte Mora Dunns Bruder Pat Clair ab. »An ihrem Geschwätz ist nichts dran.« »Eine Sache kommt mir merkwürdig vor«, sagte der Sergeant. »Sie erwähnte etwas von einem Teufelsfelsen. Er sei der Eingang zu einer uralten Höhle, die bereits da war, als es noch keine Menschen auf der Erde gab. Haben Sie eine Ahnung, was sie damit meinen könn te?« Pat Clair überlegte eine Weile, dann erhellte sich seine Miene. »Die Vulkanlöcher natürlich!«, rief er aus. »Die Teufelslöcher, wie sie auch genannt werden. Sie passen genau auf die Beschreibung. Sie befinden sich in Torridon.« Sergeant Kelston machte sich mit Constabler Dudley auf den Weg, um diese Teufelslöcher zu besichtigen. Bis auf die letzten paar hundert Meter konnten sie die Strecke mit dem Wagen zurücklegen. * Edward Thomsen und seine Tochter Kelly-Ross waren sich darüber einig, über das Reich der dreiäugigen Monster zu schweigen. Niemand sollte von ihrer Existenz erfahren. 57
Thomsen beabsichtigte ein oder zwei dieser Untiere zu fangen, um dann mit ihnen als Weltsensation herumzureisen. »Na, haben Sie schon etwas entdeckt?«, fragte Reverend Benmo re, als er Thomsen begegnete. »Nicht das Geringste!« »Ich wusste es doch«, sagte der Reverend erleichtert. »Hier in unserer Gegend gibt es keine Ungeheuer. Wir sind eine anständige Gemeinde.« Edward Thomsen nickte. »Ja, Reverend, das wissen wir.« Was hätte er wohl gesagt, wenn er gewusst hätte, dass diese Monster tatsächlich existierten und den ganzen Friedhof unterminiert hatten. Er hätte wahrscheinlich ›Mein Gott‹ gerufen, sich bekreuzigt und das Ganze für einen schlechten Scherz gehalten. Es ist schon besser, dachte Thomsen, dass von diesen Teufelsge
schöpfen niemand etwas weiß. Man würde Jagd auf diese Gorgen ma chen, sie umbringen und sein schöner Plan fiele damit ins Wasser.
»Wir müssen uns beeilen«, spornte Thomsen später sich und sei ne Tochter an. »Wenn wir so ein Monster fangen wollen, dann muss es bald sein, sonst kommt uns womöglich noch jemand in die Quere.« »Das sagt sich so einfach«, erwiderte Kelly-Ross. »Wie willst du das denn überhaupt machen? Diese Ungeheuer kannst du nicht wie einen Ochsen an die Leine nehmen und nach Hause führen.« »Das ist auch nicht meine Absicht«, wehrte sich Thomsen und schüttelte den Kopf. »Du weißt doch selbst, dass fast der ganze Fried hof unterminiert ist. Überall gibt es Gänge und Wege. Wir brauchen nur die Lage eines solchen Ganges feststellen. An der Stelle heben wir dann einen Schacht aus und schnappen uns die Bestien, wenn sie durchkommen. Wir werden sie betäuben, auf den Landrover laden und nach Hause fahren.« »Klingt ziemlich einfach«, sagte Kelly-Ross. »Aber wie willst du die unterirdischen Gänge von hier oben finden?« »Das ist kein Problem«, antwortete ihr Vater. »Eine Wünschelrute ist genau das richtige Instrument dafür. Man kann damit Hohlräume, 58
Wasser, Gräber und verborgene Schätze in der Erde aufspüren. Das ist kinderleicht. Die einzigen Schwierigkeiten dabei sind: Was ist, wenn die unter irdischen Gänge zu tief unter der Oberfläche liegen? Und wie kann man den ausgehobenen Schacht vor neugierigen Blicken verbergen?« »Dann ist es also doch nicht durchführbar?«, fragte Kelly-Ross hoffnungsvoll. Sie hatte Angst vor dem Plan ihres Vaters. »Es muss eben eine andere Möglichkeit geben, ihrer habhaft zu werden«, sagte Thomsen verärgert. »Jedenfalls darf kein Mensch et was davon erfahren, was diese Ungeheuer betrifft.« »Wie willst du denn das verheimlichen? Mora Dunn erzählt doch jedem von den Ungeheuern, die in den Höhlen leben.« »Das glaubt doch kein Mensch. Die Frau wird für verrückt gehal ten. Von dieser Seite ist nichts zu befürchten.« Edward Thomsens Gedanken beschäftigten sich ausschließlich mit den Kreaturen. Er musste ihrer habhaft werden. Im Augenblick wusste er noch nicht, dass sich bald eine phantastische Gelegenheit dazu bie ten würde. * »Gehen wir auf eine geologische Forschungstour, Sergeant?«, fragte Constabler Dudley schmunzelnd, als sie sich den Teufelslöchern näher ten. »Ist doch mal etwas anderes, als immer hinter dem Schreibtisch zu sitzen«, entgegnete Kelston. »So ein Ausflug kann eine interessante Sache werden.« Hastig eilte er voran. Der nimmt doch tatsächlich das Gewäsch von Mrs. Dunn ernst, dachte der Constabler. Soll er ruhig. Jeder rennt mal gegen eine Mau
er. Warum soll er da eine Ausnahme sein?
Die Teufelsfelsen waren unregelmäßige, etwa vier bis fünf Meter hohe Steine, die auf einem leichten Berghang standen. Knapp neben ihnen gingen trichterförmige Löcher in die Erde. Es sah so aus, als hätten hier ein Dutzend kleine Meteore einge schlagen und die Tunnels senkrecht in die Erde getrieben. Es war nur 59
der eine Bergrücken, der diese Merkwürdigkeiten aufwies, nirgends sonst gab es diese Einschüsse. Sergeant Kelston blickte in mehrere Löcher. Sie waren so tief, dass der Strahl der Taschenlampe den Grund nicht erreichte. »Kommen Sie her, Dudley«, rief er plötzlich, ohne seinen Blick von dem Loch zu wenden, vor dem er gerade stand. Der Constabler war noch etliche Meter von Kelston entfernt und beeilte sich jetzt, der Aufforderung nachzukommen. Er spurtete wie ein Hundert-Meter-Läufer in der Ziellinie und starrte dann mit offenem Mund in das Loch. Sie sahen den Körper eines Mannes in einem verwaschenen Over all. An der rechten Seite des Kopfes war eine große Wunde. Über der Brust war der Overall eingerissen. Zwei lange Reißwunden waren deut lich erkennbar. »Das ist doch Rick Henderson, der Totengräber«, stellte Constabler Dudley nüchtern fest. »Wie kommt denn der hierher?« »Das ist eine berechtigte Frage«, erwiderte Kelston. »Es ist schon merkwürdig, dass wir den Kerl hier finden.« Eine verteufelte Situation, dachte er. Wie um alles in der Welt
kommt der ausgerechnet in dieses Loch? Und wieso wusste Mrs. Dunn davon? War das bloßer Zufall?
»Jedenfalls haben wir das gefunden, was wir suchten«, sagte der Sergeant nach einer Weile. »Es hat den Anschein, als befände sich im Dorf ein Mörder. Und jetzt holen Sie mir Dr. Leeming her. Und verges sen Sie nicht, einen Sarg mitzunehmen. Wenn Sie sich beeilen, schaf fen Sie es noch vor Anbruch der Dunkelheit.« * Dr. Leeming blickte erstaunt auf Kelston, als er mit Constabler Dudley bei dem Teufelsfelsen angekommen war. »So, dann hat sich also der Ausreißer gefunden«, scherzte er. »Sehen wir ihn gleich an, bevor er wieder verschwindet.« Kelston nickte und der Arzt stieg zusammen mit Dudley die Anhö he hinauf. 60
Der Sergeant deutete auf das Loch, in dem Henderson lag. »Da drinnen ist er«, bemerkte er. Dr. Leeming verzog das Gesicht. »Ein Seil wäre ganz nützlich gewesen«, brummte er, kniete nieder und besichtigte vorerst einmal oberflächlich die Leiche. »Tot ist er auf alle Fälle«, sagte der Doktor. »Holen wir ihn erst einmal heraus und legen wir ihn hier auf den Boden.« Das war gar nicht so einfach. Kelston, Dudley und der Arzt muss ten tüchtig zugreifen. Zuerst untersuchte Dr. Leeming die Kopfwunde des Toten und dann die Wunden auf der Brust. Nach einer Weile stand der Doktor auf, schob seine Mütze zurück und schüttelte missbilligend den Kopf. »Das ist ja interessant«, stellte er fest. »Jemand hat ihn mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Das ist wahrscheinlich auch die Todesursache gewesen. Andererseits wurde er aber auch erwürgt«, setzte Dr. Leeming seinen Bericht fort. »Sehen Sie sich mal die Verfärbungen an den beiden Seiten des Halsknorpels an, Ser geant.« »Die Abdrücke sehen aber nicht nach einer menschlichen Hand aus«, erwiderte Kelston. »Aber nach einer Schnur oder etwas Ähnlichem sieht es auch nicht aus«, sagte der Doktor. »Alles deutet auf Erwürgen hin.« »Vielleicht ist er ertränkt worden?«, fragte Dudley. »Ertränkt?« Dr. Leeming warf einen mitleidigen Blick auf den Constabler. »Menschenskind, was reden Sie denn da? Wenn er nicht mal Luft in die Lungen kriegte, wie soll dann erst Wasser hineinkom men?« »Der Constabler wollte sagen, Doktor«, warf Kelston ein, »ob es vielleicht möglich sei, dass Henderson ertrank, ehe ihm die Wunden zugefügt wurden.« Wieder schüttelte der Arzt den Kopf. »Dann sähe alles anders aus. Es gäbe keine Blutungen in den umgebenden Geweben und die Quet schungen am Hals wären oberflächlicher, nicht so genau abgegrenzt.« »Wäre es nicht möglich, dass die Brüche erst entstanden, als man ihn in das Loch warf?«, wollte Kelston wissen. 61
»Möglich wäre es«, antwortete der Doktor. »Aber da sind auch noch etliche Abschürfungen.« »Das wird ja immer interessanter«, bemerkte Constabler Dudley. »Wie meinen Sie das?«, wollte Kelston wissen. »Na ja, alles rundherum«, erwiderte Dudley, »der ganze Fall scheint geheimnisvoll zu sein. Die Monsterlegende ist wieder näher gerückt.« Anstelle einer Antwort fragte Kelston. »Wie glauben Sie, sind die Kratzer auf die Brust gekommen, Doktor?« »Woher soll ich das wissen, Sergeant«, brummte Leeming. »Ich bin doch kein Hellseher.« »Sie wissen ja, dass hier das Gerücht umgeht, Henderson sei von einem dieser Ungeheuer, die hier in den Höhlen leben sollen, getötet worden.« Der Doktor begann zu lachen. »So kann man einen Mordfall natür lich auch lösen.« »Sie halten also nichts davon?«, fragte Kelston. »Und was ist mit dem merkwürdigen Abdruck in Lohmanns Grab?« Dr. Leeming zuckte die Schulter. »Das ist ein verdammtes Prob lem«, antwortete er nach einiger Überlegung. »Vielleicht wollte der Täter damit eine falsche Spur legen. Aber ich kann nicht in den Bericht schreiben: Tod durch Monstereinwirkung - oder so etwas Ähnliches.« Für eine Weile trat Schweigen ein. »Meinetwegen«, brummte Leeming schließlich, »kann es auch ein Höhlenmonster gewesen sein. Aber Tatsache ist, zuerst hat man ihm über den Kopf gehauen, dann seine Brust aufgerissen, anschließend gewürgt und hier in dieses Loch versenkt. Sollte sich bei der Autopsie etwas anderes herausstellen, kriegen Sie sofort den Bericht, Ser geant.« Rick Henderson wurde in die Leichenkammer des Friedhofs ge bracht. Genau wie bei Lohmanns Grab stand Sergeant Kelston wieder vor einer Wand, durch die es keine Tür zu geben schien. * 62
Am nächsten Morgen ging Sergeant Kelston nochmals zu Mora Dunn. Die Frau saß im gleichen Sessel wie bei seinem ersten Besuch. Es schien, als hätte sie den Sergeanten erwartet. »Ich möchte sie gern fragen, Mrs. Dunn«, begann Kelston das Ge spräch, »ob Sie in den letzten Tagen von diesem Fenster aus irgend etwas Verdächtiges auf der Straße sahen. Ein Auto, ein Pferd, eine Kutsche?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen.« »Schade«, antwortete Sergeant Kelston und ging zum Fenster. »Man kann von hier aus den Weg in die Berge kilometerlang verfolgen und mit einem Fernglas ist es noch leichter, Einzelheiten zu erken nen.« Sie erwiderte nichts darauf, sondern lächelte nur still vor sich hin. Kelston wandte sich vom Fenster ab und ging wieder auf die Frau zu. »Mrs. Dunn, ich glaube, ich habe den Platz entdeckt, wo diese Un geheuer ihre Opfer verstecken.« »Jetzt wissen Sie, dass ich recht habe«, sagte sie erstaunlich ru hig. Kelston nickte. »Dachten Sie an diese Teufelslöcher, als Sie von dem Teufelsfelsen sprachen?« Mora Dunn lächelte immer noch rätselhaft. »Warum fragen Sie jetzt noch, wenn Sie es schon entdeckt ha ben?« »Weil«, erwiderte Kelston leise, »ich nicht sicher bin, ob es wirk lich die gleichen Teufelsfelsen sind, von denen Sie sprachen. Vielleicht gibt es noch andere.« »Es gibt keine anderen. Ich wusste schon als Kind von ihnen. Es gibt hier in der ganzen Gegend nichts, was ich nicht wüsste. Und ich weiß auch Dinge, von denen Sie niemals eine Ahnung haben werden.« Bei diesen Worten sah sie dem Sergeanten ins Gesicht und die elektri sche Beleuchtung erzeugte einen seltsamen Glanz in ihren Augen. »Haben Sie die Leiche des Totengräbers gefunden?« Kelston nickte. »Trägt er das Gorgenzeichen?« 63
»Es sind gewisse Verletzungen an der Leiche«, erwiderte Kelston. »Sie steckte in einem der Teufelslöcher.« Plötzlich, als müsste sie eine starke Erregung unterdrücken, ging ihr Atem schneller. Ihr Gesicht nahm einen wilden, harten Ausdruck an. »Ich habe es die ganze Zeit über gewusst«, rief sie mit schriller Stimme. »Er war ein Feind. Er hat meine Tochter verzaubert und die Gorgen haben ihn dafür getötet und versteckt.« »Aber sehr geschickt haben sich diese Monster beim Verstecken nicht angestellt«, bemerkte der Sergeant. »Sie haben ihn nur deshalb gefunden, weil es die Gorgen so woll ten«, beharrte sie. »Wir haben alles abgesucht, von einem Gorgen war keine Spur zu sehen.« »Ich habe ihn gesehen, wie er in der Morgendämmerung davon flog«, antwortete Mora Dunn. »Ich sah ihn, als er sich in die Luft er hob. Sie verlassen die Höhlen immer, wenn sie jemand getötet ha ben.« »Sind Sie jetzt wieder in den Höhlen?« Mrs. Dunn schüttelte den Kopf. »Sie bleiben immer eine Weile fort«, sagte sie in einem hohl klingenden Ton. »Aber sie kommen im mer wieder zurück.« Dem Sergeant erschien Mora Dunn wie eine antike Priesterin, die eine unheilvolle Prophezeiung ausspricht. Ist sie wirklich so verrückt, oder spielt sie nur Theater? Kelston wusste nicht, was er davon halten sollte. Doch eines war sicher, von ihr konnte er keine Hilfe erwarten. Er stellte keine weiteren Fragen. Die Unterhaltung war für ihn völlig ergebnislos verlaufen. »Das Geplapper der armen, irren Frau über diese Ungeheuer nützt auch nichts«, stellte der Constabler später fest. »Ist es nicht so?« »Mein lieber Dudley«, erwiderte Sergeant Kelston leicht gereizt, »so sicher bin ich da nicht.« Kelston ließ sich in einen Sessel fallen, streckte die Beine aus und starrte eine Weile zur Decke hinauf. 64
»Ich habe so ein Gefühl, dass sie mehr weiß, als sie sagen will. Von ihrem Fenster aus hat sie einen herrlichen Blick in die Berge hin ein. Sie war gar nicht überrascht, als ich ihr berichtete, dass wir Hen dersons Leiche gefunden haben. Natürlich hat sie verrückte Ansichten, was diese Ungeheuer betrifft.« »Aber sie scheint doch fest an diese Wesen zu glauben«, warf der Constabler ein. »Das ist richtig«, antwortete Kelston. »Doch ich glaube, dass sich in ihre Gorgenlegende ein menschliches Element eingeschlichen hat. Möglich, dass sie etwas zu verschleiern versucht, was tatsächlich exis tiert.« Wann immer Kelston einen solchen Ton anschlug, fühlte sich Constabler Dudley ziemlich unbehaglich. Es bedeutete, dass sich der Sergeant in Gedanken auf einer streng rationalen Ebene bewegte und in der Finsternis der aussichtslos erscheinenden Lage einen Lichtstrahl entdeckt hatte, aber noch nicht davon sprechen wollte. »Und jetzt?«, fragte Dudley. »Wie soll es weitergehen?« »Ich werde Hilda Lahn noch ein paar Fragen stellen«, antwortete der Sergeant. »Dann werde ich mit den Angehörigen des verstorbenen Mr. Lohmann sprechen. Ferner möchte ich mir den Kaufmann mal vor nehmen. Mora Dunns Bruder Pat Clair hat behauptet, dass er den To tengräber oft bei ihm gesehen habe. Sieht ganz nach einer Ge schäftsverbindung aus.« Der Constabler nickte eifrig und trommelte nervös mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Er sah eine Menge Arbeit auf sich zukom men und das hatte er gar nicht gern. Von Hilda Lahn war nichts Neues zu erfahren. Der Kaufmann und Kelston gerieten aneinander und die Angehörigen des verstorbenen Lohmann beschuldigten sich gegenseitig. Sie alle waren der Auffas sung, Lohmann sei nur deswegen verschwunden, weil er mit seinen Goldzähnen beerdigt worden war. Für den Mord an dem Totengräber Rick Henderson gab es nichts Greifbares. Nichts deutete in eine bestimmte Richtung. Der Mord und das Verschwinden Lohmanns aus dem Grab war von einem Geheimnis 65
umgeben. Und über der ganzen Angelegenheit lag der mythische Ne bel der weißen Ungeheuer. * Edward Thomsen erfuhr als erster von Rick Hendersons Tod. Er ent deckte den Totengräber in der Leichenkammer des Friedhofs. Schon die ganze Zeit über zerbrach sich Thomsen den Kopf, wo er am besten die Monster fangen könnte. Zwar hatte er mit der Wünschelrute eine ganze Menge Hohlräume unter der Erdoberfläche entdeckt, aber bis jetzt keine geeignete Stelle gefunden, wo er unbeobachtet einen Schacht hätte freilegen können. In seinen Gedanken war alles schon fix und fertig. Er sah die gro ße Grube vor sich, die mit einer Holzverschalung und mit Beton ausge gossen war und sah bereits die Ungeheuer, die sich in dem starken Netz verstrickten. Aber bis dahin war noch ein weiter Weg. Vor allem wollte er eine Weile die Fressgewohnheiten dieser Kreaturen studieren. Wenn er sie erst mal in der Gefangenschaft hatte, konnte er sich auf keine Experi mente mehr einlassen. Er hatte bereits im Keller seines Hauses einen Käfig gebaut, wo er die Gorgen gefangen halten wollte. Es war für alles gesorgt. Das Schwierigste an dem Unternehmen war jetzt nur, wo konnte er ungestört eine Grube ausheben, ohne dass jemand davon erfuhr? Während Edward Thomsen mit derlei Gedanken den Dorfweg ent langging, lief er direkt Mr. Brown in die Arme. »Hallo, Mr. Thomsen, wie geht es?«, fragte der Mann und fügte gleich hinzu: »Was man so hört, befassen Sie sich ja mit allen mögli chen merkwürdigen Dingen. Vielleicht interessiert es Sie. In dem Häu schen, in dem der Totengräber wohnte, soll es spuken. Jede Nacht sol len dort unheimliche Geräusche zu hören sein. Die alte Kräutersamm lerin Hatchs behauptet, nachts gingen im Haus die Toten spazieren.« Edward Thomsen spitzte die Ohren. 66
Das mit den Gespenstern war natürlich Quatsch. Aber es war nicht von der Hand zu weisen, dass sich unter dem Haus ein Tunnel befand, in dem die Gorgen hindurchgingen. Für Thomsen gab es gar keine andere Möglichkeit. Endlich hatte er das gefunden, was er schon so lange gesucht hatte. Wenn das stimmte, war dies der ideale Platz für die Verwirklichung seiner Idee. Er versuchte sich seine Überraschung nicht anmerken zu lassen und blickte völlig desinteressiert drein. »Vielleicht sind es diese unheimlichen Kreaturen, von denen jetzt soviel geredet wird«, sagte Mr. Brown. Thomsen machte eine wegwerfende Geste. »Das ist nichts als dummes Gerede«, log er gekonnt. »Vielleicht fließt unterirdisch ein Fluss hindurch, oder sonst etwas Ähnliches. Ich bin in meinem Leben noch keinem Gespenst begegnet. Die, die mir untergekommen sind, waren ziemlich lebendig und menschlich. Wenn ein Haus ein gewisses Alter hat, heißt es immer, da spukt es. Ist es nicht so?« »Da haben Sie schon recht«, pflichtete Mr. Brown ihm bei. »Ich habe auch noch kein Gespenst gesehen.« Dann verabschiedete er sich von Thomsen und ging in eine ande re Richtung davon. Er würde sich noch heute Nacht davon überzeu gen, ob an der Sache etwas dran ist. Thomsen warf einen Blick auf seine Uhr. Es war noch reichlich Zeit vorhanden, ein paar Vorkeh rungen zu treffen. Er ging nach Hause und erzählte seiner Tochter Kelly-Ross von der Sache. Er brauchte ihre Hilfe. Gegen zehn Uhr abends verließ Thomsen wieder sein Haus und steuerte in Richtung Friedhof. Er begegnete keiner Menschenseele und das war ihm auch recht. Die Mauer, die den Friedhof umgab, war ziemlich hoch und er hat te zu tun, bis er darüber gestiegen war. Der volle Mond schien vom Himmel, aber schwarze Wolkenfetzen verdeckten in so rascher Folge die Mondscheibe, dass von dem Licht nicht viel übrig blieb. Langsam tastete sich Thomsen vorwärts. Am Ende des Friedhofs stand das Häuschen, in dem Rick Henderson gewohnt hatte. Vorsichtig 67
bewegte sich Edward Thomsen zwischen den schlanken Grabsteinen und den grasbewachsenen Hügeln hindurch, unter denen die Toten ruhten. Plötzlich kam er nicht mehr weiter. Seine Füße stießen gegen ein Hindernis. Für einen kurzen Moment spaltete der gelbe Strahl seiner Taschenlampe die Dunkelheit und enthüllte eine Steinvase mit Blumen, die vor einem frischen Grabhügel stand. Thomsen wich dem Grab aus und setzte seinen Weg fort. Er brauchte noch eine geraume Weile, ehe er vor dem Häuschen stand. Trotz Dietrich konnte Thomsen die Eingangstür nicht aufbekommen. Aber ein rückwärtiges Fenster bot einen idealen Einstieg. Plötzlich kam der Vollmond hinter den Wolken hervor und tauchte die Umgebung in ein gespenstisches Licht. Das Fenster war nur mit einem Haken gesichert. Thomsen öffnete die Klappläden mit einem Messer und stieg ein. »Guten Abend«, sagte eine heisere Stimme. »Ich habe Sie erwar tet!« Edward Thomsen hatte sich in seinem Leben schon einige Male er schreckt, aber auf so etwas war er nicht vorbereitet gewesen. Der Schrecken war ihm tüchtig in die Glieder gefahren. Ganz rückwärts in der Zimmerecke stand eine Gestalt mit einer brennenden Kerze in der Hand. Es war, als stünde ein Geist vor ihm. Er brauchte eine Weile, ehe er sich erholt hatte und seine Lampe auf die Erscheinung richten konnte. Im gleichen Augenblick, als das Licht ihr Gesicht traf, lachte sie auf und Thomsen erkannte sie. »Mein Gott, hast du mich aber erschreckt«, sagte er zu seiner Tochter. »Was machst du eigentlich hier?« »Dumme Frage«, erwiderte sie. »Ich habe dich durch den Friedhof kommen sehen. Die Mauer hättest du dir ersparen können. Gegenüber dem Haus ist ein schmaler Durchgang. Da kommt man bequem herein und braucht nicht den Friedhof zu überqueren.« »Das ist ja sehr interessant«, murmelte Thomsen leicht verärgert. »Warum hast du denn das nicht schon vorher gesagt, wenn du alles weißt?« »Ich dachte, du wüsstest selbst von diesem Eingang.« 68
»Hast du schon etwas gehört oder entdeckt?«, wollte Thomsen wissen. »Nein«, erwiderte seine Tochter. »Absolut nichts...« »Na, dann wollen wir mal«, sagte er und begann gründlich das Häuschen abzuklappern. »Vier Augen sehen mehr als zwei.« Aber überall lag nur unbrauchbares Zeug und Gerumpel herum. Das ganze Haus bestand aus vier Räumen, die ziemlich verwahrlost waren. In keinem der Räume gab es eine Tür oder eine Öffnung, die in einen Keller führte. Im Haus waren fast keine Möbelstücke vorhanden. In einem Raum stand ein Tisch und darauf lag ein Totenkopf. Als der Schein der Lampe auf ihn fiel, grinste er die beiden höhnisch an. Er war vom Alter schon ganz gelb geworden. Thomsen nahm den Schädel in die Hand. Oben war ein Loch ein gebohrt und eine altmodische Gänsefeder steckte darin. Der Totenkopf wurde einst als Tintenfass benutzt. Thomsen stellte ihn wieder zurück und schüttelte den Kopf. »Auf was die Leute alles kommen.« »Bis jetzt habe ich noch immer nichts gehört«, sagte Kelly-Ross nach einer Weile enttäuscht. »Ich auch nicht«, erwiderte Thomsen. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten.« Bleischwer verrann die Zeit. Nichts rührte sich. Der Mond hatte sich wieder hinter den Wolken versteckt. Über dem Friedhof hing eine drückende Stille. Die Zeit war stehen geblieben und schien zu warten. Zwei Stunden später glaubte Thomsen ein Geräusch zu hören. Er legte sich flach auf den Fußboden und drückte sein Ohr gegen einen alten schmutzigen Teppich. Aber der Fußbodenbelag störte. Thomsen rollte ihn beiseite und da entdeckte er die Falltür. Er griff nach dem eingelassenen Eisenring und zog die Luke auf. Modergeruch schlug ih nen entgegen. Eine steinerne Treppe führte nach unten. »Das ist ja zum Ersticken«, bemerkte Thomsen und presste sein Taschentuch vor den Mund. Vorsichtig stiegen sie die Stufen hinab. Große Käfer und fette Tausendfüßler flohen vor Thomsens Lichtschein. Überall hingen dicke Spinnweben. 69
Der quadratische Raum war eine Gruft. In der Mitte stand ein Sar kophag. Thomsen leuchtete mit der Taschenlampe auf die eingemei ßelte Schrift: Earl of Hathaway zu Radcliff Schottland Gestorben am 27.11.1807 Und darunter war in großen Buchstaben der Satz eingraviert: TOD DEN WEISSEN UNGEHEUERN Während Thomsen noch immer verblüfft auf die Worte starrte, entdeckte Kelly-Ross etwas Helles, Glitzerndes auf dem Steinsarg. Als sie den zentimeterdicken Staub mit dem Ellbogen beiseite wischte, kam ein Spiegel zum Vorschein. »Das ist ja phantastisch«, rief Kelly-Ross aus, die mit der Hand immer mehr Staub beseitigte. Der ganze Sarkophag war mit Spiegeln verziert. »Schon damals wusste man von der Existenz der Gorgen«, sagte Edward Thomsen. »Und dieser Earl wusste sich auch zu schützen.« »Weiß denn niemand, dass sich hier eine Gruft befindet?« »Wahrscheinlich handelt es sich um ein verarmtes Adelsgeschlecht ohne Nachkommen«, erwiderte Thomsen. »Ich bin sicher, dass diese Gruft in den letzten fünfzig Jahren einfach vergessen wurde. Vielleicht hat man auch absichtlich das Haus darüber gebaut, weil sie zerfiel und niemand dafür aufkam.« An der linken Seite befand sich eine mit schweren Eisenbändern beschlagene Tür. Thomsen griff nach den beiden Ringen, die als Klinke dienten und zog kräftig daran. Nach mehreren Versuchen schaffte er es, die beiden Türflügel un ter nervenzersägendem Quietschen aufzuziehen. Entsetzt fuhr Thom sen zurück, als das grelle Licht der Taschenlampen auf den Inhalt des nächsten Raumes fiel. Ein paar hundert gelbe bleiche Totenschädel grinsten sie an. Die Gruft war einst auch Aufbewahrungsstätte menschlicher Gebeine ge wesen. »Ich mag diese Art nicht«, sagte Kelly-Ross. »Ich finde es wider lich, wenn die traurigen Überreste der Hingeschiedenen, wie zum Spott, in symmetrischer Anordnung nach allen möglichen Mustern ausgelegt und ausgehängt sind.« 70
»Da hast du recht«, erwiderte Thomsen. »Aber diese Methode ist schon Jahrtausende alt. Bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein hat man, um Platz zu sparen, die Toten aus den Gräbern geholt und sie in so genannten Gebeinhäusern aufbewahrt. Besonders in Norditalien gibt es noch heute viele von diesen Totenkapellen.« Thomsen schloss wieder die Tür und ging eine Weile suchend auf und ab. »Hier muss irgendwo der Tunnel vorbeigehen«, sagte er. »Jetzt müssen wir warten, bis die Gorgen vorbeikommen.« Kelly-Ross nickte. Thomsen und seine Tochter setzten sich auf die Steinstufen und harrten der kommenden Dinge. Nach längerer Zeit hörten sie gedämpfte kratzende Geräusche. Schwere Schritte stampften durch die Erde. Die weißen Ungeheuer befanden sich in dem Tunnel, der ganz dicht an der Gruft vorbeiführen musste. Ein paar Minuten später war es wieder ruhig. »Phantastisch«, stellte Edward Thomsen fest. »Das sind sie gewe sen. Sie kommen also bei ihren nächtlichen Wanderungen hier vorbei. Ich glaube, da braucht man keinen Meter zu graben, um auf den Hohl raum zu stoßen. Diese Gruft ist wie geschaffen für meinen Plan. Wir werden gleich morgen mit der Arbeit beginnen. Je schneller, desto besser.« »Glaubst du, dass diese Ungeheuer immer hier vorbeikommen?«, fragte Kelly-Ross. »Ich glaube schon«, erwiderte Thomsen. »Wenn man den Spuk geschichten glauben kann, dann sind die Monster schon immer hier durchgekommen.« In der Nacht schlief Edward Thomsen schlecht. Er träumte, dass die Dorfbewohner hinter seinen Plan gekommen waren. Sie versuch ten, alle dreiäugigen Ungeheuer zu ermorden. Es war ein außergewöhnlich phantastischer, farbiger Traum, den Thomsen erlebte. Irgend jemand im Ort versicherte den Leuten, er habe eines der Ungeheuer mit eigenen Augen gesehen. 71
Kurz darauf war das ganze Dorf auf den Beinen. Die Männer wa ren mit Flinten und Messern bewaffnet. Die Frauen trugen glühende Eisen und Fackeln. Die Kinder schleppten Steine und Stöcke mit sich. Unter Geschrei und Verwünschungen der Gorgen versammelten sich die Leute auf dem Friedhof. Wahllos begannen sie dann die Erde aufzugraben. Plötzlich stieß jemand einen furchtbar grellen Schrei aus, so dass Thomsen die Haare zu Berge stiegen. »Da - ein Monster! Schnell, tötet es, bevor sich die Bestie wieder verkriecht.« Alle schrieen durcheinander und Augenblicke später fielen die ers ten Schüsse und zertrümmerten den Kopf des Ungeheuers. Andere stachen mit dem Messer auf das Untier ein. Die Frauen verbrannten mit ihren brennenden Fackeln das Fell des Monsters und die Kinder warfen Steine auf die Kreatur. Ein paar Männer zogen den toten Gorgen aus der Grube. Obwohl er zerschossen und zerstochen war, banden sie ihn vorsichtshalber noch an einen starken Baumstamm. Dann schichtete man Holzscheite, Stroh und Reisigbündel um das Monster und zündete sie an. Unter unaufhörlichem Geschrei tanzten die Leute um die Flammen und schürten das Feuer. Thomsen wurde es immer heißer. Plötzlich fuhr er aus dem Schlaf hoch und starrte um sich. Er war froh, dass alles nur ein Traum gewe sen war. Er wusste aber auch, dass er keine Zeit verlieren durfte, sonst würde dieser Alptraum noch Wahrheit werden. * Eine Woche später verschwand John Garner, der das Erlebnis mit den Moorhexen hatte und in Bridge-Hill Grundstücke kaufen wollte, plötz lich spurlos. Sergeant Kelston, der im Mordfall Rick Hendersons noch immer keinen Schritt weitergekommen war, wurde nun durch Garners Ver schwinden zu fieberhafter Aktivität angetrieben. 72
Allan Gray, der Wirt zur ›Schwarzen Katze‹, bei dem John Garner ein Zimmer hatte, berichtete Constabler Dudley von der Sache. Mit säuerlicher Miene empfing der Wirt kurz darauf die beiden Po lizisten. »Verdammter Mist«, schimpfte er. »Verschwindet, ohne zu bezahlen.« »Traurig, traurig«, gab Kelston zu. »Aber fassen Sie sich. Bei Ih ren Preisen holen Sie diesen Verlust schon wieder auf. Wann haben Sie die Abwesenheit von Mr. Garner entdeckt, Mr. Gray?« »Als er heute morgen nicht zum Frühstück erschien«, begann der Wirt, »schickte ich Marc, meinen Schankburschen, hinauf, um ihn zu holen.« »Um welche Zeit war das?« »Das war so um halb neun, Sergeant.« »Waren die anderen Gäste um diese Zeit schon unten?« »Alle, Sergeant. Alle sechs Personen, nur Garner kam nicht.« »Wann gingen die Leute gestern Abend auf ihre Zimmer und wer war der letzte?« »Ich löschte gestern gegen zwölf die Lichter hier unten«, erwider te der Wirt. »Mr. Garner war der letzte, der sich zurückzog. Er hatte wieder sehr viel getrunken und sagte, dass seine Geschäfte schlechter gingen, als er erwartet habe. Irgend jemand wollte plötzlich nicht mehr verkaufen. Ich glaube, es handelt sich um Grundstücke. Sie woll ten das wissen, Sergeant, oder?« »Jede Kleinigkeit kann wichtig sein«, antwortete Kelston, »und ich bin überzeugt, bei einigem Nachdenken wissen Sie auch, von wem Garner die Grundstücke kaufen wollte. Aber berichten Sie vorerst ein mal, was sich heute früh ereignete.« Der Wirt nickte. »Als Marc wieder herunterkam«, setzte er fort, »ging ich selbst hinauf. Sein Zimmer liegt im gleichen Gang wie die der anderen Gäste auch. Ich klopfte ein paar mal und machte mir richtige Sorgen, als sich nichts rührte. Weil er doch gestern Abend soviel ge trunken hatte. Dann machte ich die Tür auf - sie war nicht abgesperrt - und sah, dass das Bett gar nicht benützt war. Ich hatte gleich ein merkwürdiges Gefühl...« 73
»Ihre Gefühle sind jetzt unwichtig«, unterbrach ihn Kelston unge duldig. »Was machten Sie dann?« »Als ich mich davon überzeugt hatte, dass Garner nicht in seinem Zimmer war, ging ich hinunter und bat Miss Anne Cerol, mit ihr allein reden zu dürfen. Sie schien die einzige zu sein, die näheren Kontakt zu Garner hatte. Ich berichtete ihr von seinem Verschwinden.« »Und was sagte Miss Cerol?« »Gar nichts. Sie schaute nur ganz merkwürdig. Nach ein paar Se kunden stieß sie mich zur Seite und rannte hinauf. Ich ging in das Speisezimmer und servierte das Frühstück.« »Ich kam gerade aus der Gaststube, als Miss Cerol hinauflief«, schaltete sich Louisa, die Frau des Wirts, ein. »Sie sah wirklich merk würdig drein.« »Ich horchte dann die übrigen Gäste ein wenig aus«, fuhr der Wirt fort, »aber niemand hatte Garner gesehen. Dann habe ich Constabler Dudley angerufen.« »Wann ging Miss Anne Cerol vergangene Nacht nach oben?« »Genau weiß ich es nicht, Sergeant«, antwortete Allen Gray. »A ber sie zog sich ziemlich früh zurück.« »Wann gingen Sie selbst zu Bett?« »Kurz nach ein Uhr. Ich schloss das Haus ab, als John Garner sich auf sein Zimmer zurückgezogen hatte. Dann zog ich mich in mein Schlafzimmer zurück. Es liegt hier im Erdgeschoß neben der Küche, an der Rückseite des Hauses.« »Vernahmen Sie in der Nacht ein Geräusch?« Der Wirt zog hörbar den Atem durch die Nase, verschränkte die Arme und nickte. »Da war ein Geräusch. Jemand hat an der Seitentür den Riegel zurückgeschoben.« »Hörten Sie sonst noch etwas? Schritte oder dergleichen?« »Nein, sonst nichts.« Der Wirt schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Erst eine Stunde oder später hörte ich wieder den Riegel, der nun vorgeschoben wurde.« »Und was dann?« Kelston starrte Gray ins Gesicht. Er war ge spannt wie die Katze vor dem Mauseloch. »Dann hörte ich jemanden ganz leise nach oben tappen.« 74
»Zu welchem Zimmer?« »Das konnte ich nicht feststellen.« »Und wer, glauben Sie, könnte es gewesen sein?« »Ich dachte mir, vielleicht ist Mr. Garner zu einem kleinen Spa ziergang aufgebrochen. Natürlich konnte es auch jemand anderer ge wesen sein.« Kelston hatte an den Wirt keine weiteren Fragen und erkundigte sich nach Miss Arme Cerol. Constabler Dudley rauchte seelenruhig seine Pfeife und schien sich nur als Zuschauer zu fühlen. Anne Cerol ließ sich bedrückt auf einen Sessel fallen. »Sie wissen, dass Mr. Garner heute Nacht verschwunden ist. Ha ben Sie eine Erklärung dafür?«, fragte der Sergeant. »Nein. Ich könnte mir auch keinen Grund vorstellen. Es ist absolut nicht seine Art, vor irgend etwas zu kneifen.« Kelston nickte. »Haben Sie mit den anderen Gästen darüber gesprochen?« »Erst später fiel den Leuten John Garners Abwesenheit auf, weil der Wagen im Hof stand und er nicht erschien. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen.« »Hörten Sie nachts Geräusche oder etwas, was darauf schließen ließe, dass Mr. Garner das Haus verlassen hat?« »Ja«, antwortete Miss Anne Cerol. »Aber das, was ich hörte, muss nicht unbedingt mit Garner zu tun haben.« »Sie meinen, dass der Riegel wieder vorgeschoben wurde, der ei ne Stunde vorher zurückgeschoben worden war?« Miss Anne Cerol war erstaunt, dass der Sergeant dies wusste. »Ja, genau so war es. Um zwei Uhr morgens ging jemand durch diese Tür ins Freie und später kam wieder jemand zurück. Ich habe nicht geschlafen, aber es war zu dunkel, um etwas zu erkennen.« »Auch der Wirt hörte jemanden gehen und wieder zurückkom men«, berichtete Kelston. »Er konnte auch nicht feststellen, in welches Zimmer dieser nächtliche Spaziergänger ging. Wissen Sie etwas dar über?« 75
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich sagte schon, dass es zu dunkel war, um etwas zu erkennen. Mein Zimmer befindet sich am Ende des Korridors. Fest steht nur, derjenige, der ins Haus kam, ver mied mit äußerster Sorgfalt jedes unnötige Geräusch.« »Hörten Sie jemanden, nachdem die Tür unten geöffnet worden war?«, fragte der Sergeant. »Ich hörte Stimmen, so als unterhielten sich zwei Leute leise mit einander«, antwortete Anne Cerol. »Aber es war kaum mehr als ein Murmeln und ich konnte kein Wort von dem verstehen, was gespro chen wurde.« »Waren es Männer- oder Frauenstimmen?« »Ich weiß es nicht. Dieses Murmeln dauerte nur ein oder zwei Mi nuten.« »Ungefähr so, als entfernte sich jemand vom Haus?«, wollte Kelston wissen. »Richtig, Sergeant, so war es.« »Und was hörten Sie sonst noch in der vergangenen Nacht, Miss Cerol?« Eine ganze Weile sagte sie nichts. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, murmelte sie schließlich, »aber mir war, als hörte ich zum Wald hin so etwas wie ein kratzendes Ge räusch.« »Na, Sie scheinen ja diese Nacht überhaupt nicht geschlafen zu haben«, wunderte sich der Sergeant. »Was hörten Sie?« Anne Cerol zündete sich eine Zigarette an und machte ein paar tiefe Züge. Dann sagte sie: »Erst hörte ich dumpfe, schwere Schritte, dann keuchenden Atem. Jedenfalls glaubte ich es zu hören. Dann rühr te sich ein paar Minuten lang nichts. Etwas später wiederholte sich dieses Geräusch und noch später vernahm ich einen gedämpften an dauernden Lärm, als würde etwas über den Boden geschleift. Dieses Geräusch wurde allmählich schwächer, bis es schließlich ganz aufhörte. Dann vernahm ich erst eine halbe Stunde später, dass jemand das Haus betrat und den Riegel vorschob.« »Kamen Ihnen diese Geräusche irgendwie seltsam vor?«, fragte Sergeant Kelston. 76
»Nein, eigentlich nicht«, entgegnete das Mädchen. »Erst als ich heute früh von Mr. Garners Verschwinden hörte, maß ich dem, was ich während der Nacht gehört hatte, einige Bedeutung bei.« »Miss Cerol«, fragte Kelston, »können Sie jetzt, nachdem Sie wis sen, dass Garner verschwunden ist, die Geräusche besser definieren?« »Nein, das kann ich nicht.« »Hat Mr. Garner etwas erwähnt, was im Zusammenhang mit sei nem Verschwinden steht?« »Nein. Er war auch nicht schlechter Laune. Vielleicht trank er eine Kleinigkeit mehr als sonst, aber nach dem Abendessen hat er sich mit Mr. Pat Dunn unterhalten.« »Vielen Dank, Miss Cerol«, sagte Sergeant Kelston. »Das wäre im Augenblick alles.« »Wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann, Sergeant«, sagte das Mädchen, zog heftig an ihrer Zigarette und ging. »Was halten Sie von der Sache, Sergeant?«, fragte Constabler Dudley, als sie allein waren. »Mir gefällt es ganz und gar nicht. Hier passieren mir zu viele merkwürdige Dinge. Weshalb sollte sich Garner in der Nacht abset zen?« In der Wirtsstube telefonierte Clara Hintz, die Pflegerin von Mora Dunn. Als sie aufgelegt hatte, ging Kelston zu ihr hinaus. »Wie geht es Mrs. Dunn?«, erkundigte sich der Sergeant. »Wieder dasselbe«, antwortete die Pflegerin. »Irgendwie ist sie dahinter gekommen, dass dieser Grundstücksmakler verschwunden ist und jetzt hat sie wieder ihre Lieblingshalluzinationen. Sie sagt, das weiße Ungeheuer habe ihn geholt. Sie habe vergangene Nacht eines dieser Monster aus der Höhle kommen und zum Gasthaus gehen se hen.« »Das ist ja interessant«, sagte Kelston. »Haben Sie auch eine Er klärung für John Garners Verschwinden?« »Nein, ich kenne den Mann nicht und habe ihn auch nie gese hen.« Als Clara Hintz gegangen war, sagte Kelston: »Kommen Sie Dud ley, jetzt wissen wir ja, wohin wir uns wenden müssen.« 77
»Wohin wollen Sie denn gehen, Sergeant?«, fragte der Constabler neugierig. »Zu den Teufelslöchern«, antwortete er. Die Erwähnung der Teufelslöcher jagte Dudley einen Schauer über den Rücken. * Eineinhalb Stunden später beugte sich Kelston über eine der Öffnun gen, in der Rick Hendersons Leiche gefunden wurde. Der Sergeant drehte sich um und sah sehr ernst aus. Er sagte nichts, sondern deute te nur auf das Loch. Der Constabler schaute hinein und war vor Entsetzen wie verstei nert. In dem Teufelsloch lag zusammengekrümmt John Garner, der Grundstücksmakler. Sein Körper schien ebenso wie der des Totengrä bers aus größerer Höhe hineingeworfen worden zu sein. An der linken Kopfseite klaffte eine tiefe Wunde und am Hals hatte er schwarze Quetschstellen. Das Vorderteil seines Hemdes war ebenso herunterge rissen wie der Overall von Henderson. Auf der Brust waren drei lange Risse. Kelston fielen sämtliche Sagen ein, die er in der letzten Zeit über diese Monster hier gehört hatte. »Wieso wussten Sie, dass er hier ist?«, fragte Constabler Dudley nach geraumer Weile. »Ich wusste es nicht«, antwortete Kelston. »Aber nachdem Mrs. Hintz mir von der Bemerkung Mora Dunns erzählt hatte, dachte ich mir, es wäre wohl am besten, gleich hier nachzuschauen.« »Dann glauben Sie doch die Geschichte von den weißen Ungeheu ern?«, wollte Dudley wissen. »Mrs. Dunns Vorhersagen sind zwar bisher alle eingetroffen«, er widerte der Sergeant, »aber von diesen Gorgen-Legenden halte ich nichts. Es ist alles mehr oder weniger Zufall. Wir sollten lieber prak tisch denken.« 78
»Wer immer diesen Mann getötet hat«, begann der Constabler, »der war ziemlich praktisch. Und dabei wird eines immer klarer. All mählich nimmt ein Muster Gestalt an, das Gorgen-Muster...« »Das ist doch Unsinn!«, wandte Kelston ein. »So unsinnig ist das gar nicht, Sergeant«, antwortete Dudley und machte sich an seiner Pfeife zu schaffen. »Bei beiden Toten die glei chen Krallenwunden und für beide die merkwürdigen Prophezeiungen von Mora Dunn. Das sollten wir alles einschließen, ehe wir die Mons teridee verwerfen.« Sergeant Kelston saß eine ganze Weile in sich versunken da. Spä ter sagte er: »Wir werden jetzt eine Antimonsterlinie verfolgen.« Dudley nickte und die beiden fuhren nach Bridge-Hill zurück. Kelston rief sofort Dr. Leeming an und unterrichtete ihn von dem zwei ten Leichenfund. Als er aufgelegt hatte, sagte er: »Mit den üblichen Methoden scheinen wir nicht weiterzukommen.« »Die üblichen Methoden müssen wirkungslos bleiben«, pflichtete ihm Constabler Dudley bei. »Es sind ja auch keine normalen Morde, sie haben etwas Mystisches, Unheimliches an sich und wurzeln wahr scheinlich viel tiefer, als wir glauben. Es sind teuflische Morde in mehr als einem Sinn und sie gehören, ob Sie wollen oder nicht, doch irgendwie mit den Monstern zusammen.« Als die beiden später wieder das Gasthaus ›Zur Schwarzen Katze‹ betraten, kam eine neue Aussage hinzu. »Wir haben John Garner gefunden«, berichtete Kelston dem Wirt. »Er ist tot und liegt in einem der Teufelslöcher, wo wir auch Hender son gefunden haben.« Allan Gray war blass um die Nase geworden. »Ermordet?«, fragte er. Aber es war mehr eine Feststellung als ei ne Frage. »Natürlich ermordet«, wiederholte der Sergeant. »Scheußlich«, bemerkte Constabler Dudley, »die gleichen Wunden wie bei Henderson. Die Mordtechnik hat sich hier perfekt wiederholt.« »Oh, mein Gott«, murmelte Miss Anne Cerol, als sie die Sache hörte. »Wir müssen nochmals in Garners Zimmer«, sagte der Sergeant. 79
Der Wirt nickte bloß und zeigte mit der Hand nach oben. John Garners Zimmer war etwas größer als das der übrigen Gäste. Das Bett war unbenutzt und an den Fenstern waren die Rollladen noch zu. Auf dem Nachttisch lagen einige Toilettenartikel, ein Schlafrock und ein Pyjama waren über das Fußende des Bettes geworfen. Auf dem Tisch stand die Reisetasche. Im Schrank hingen zwei Anzüge. In den Ta schen wurde nichts entdeckt, was irgendwie wichtig gewesen wäre. Die wenigen Toilettenartikel, die paar Sachen in der Reisetasche und was sonst noch vorhanden war, ließen keine Schlüsse auf den Mord zu und waren bedeutungslos. Auch Ausweispapiere und Geld waren vor handen. Kelston hatte, solange sie suchten, kein Wort gesagt, aber er war von einer fieberhaften Tätigkeit. Als sie fertig waren, schien er enttäuscht. »Was wollten Sie eigentlich finden, Sergeant?«, fragte der Constabler. »Ich weiß es selbst nicht. Aber irgendetwas, das uns weiterbringt, müsste da sein«, sagte er und ging aus dem Zimmer. »Jetzt, wo Sie John Garners Leiche gefunden haben«, machte sich einer der Gäste des Gasthofs bemerkbar, »fällt mir etwas ein, das ich Ihnen nicht verschweigen sollte.« Sergeant Kelston sah verblüfft auf den alten Mann. »Ja?« »Es war vor zwei Tagen«, begann der Mann, »als ich in mein Zimmer gehen wollte. Ich begegnete Mr. Garner und der erzählte mir, dass es Schwierigkeiten wegen einer alten Gruft gebe, die sich auf dem Dunnschen Besitz befindet. Wegen dieser Gruft sei auch der Grundstückskauf gescheitert.« »Warum haben Sie das nicht schon heute früh erwähnt?«, fragte Kelston. »Ich maß der Sache nicht so viel Bedeutung bei«, antwortete der Mann. »Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch etwas erwähnen, was vielleicht für Sie von Interesse sein könnte. Mr. Garner trug an seinem rechten Handgelenk ein kupfernes Armband. Ich weiß es deshalb so genau, weil ich ihn fragte, ob es wirklich etwas gegen rheumatische Beschwerden hilft.« 80
Das war ein neuer Tatbestand, den Kelston bisher nicht wusste. Das Kupferarmband war weder bei der Leiche noch im Zimmer gefun den worden. Auch Miss Anne Cerol wusste nichts über dessen Verbleib. Kelston und Dudley machten sich auf den Weg zu Mora Dunn. * Nach einigen Fehlschlägen war es Edward Thomsen tatsächlich gelun gen, ein weißes Monster zu fangen, das sich jetzt im Keller seines Hauses befand. Dieser Gorge war fast zwei Meter groß, hatte ein weißes Fell wie ein Eisbär und ähnelte dem sagenhaften Yeti aus dem Himalaja. Das merkwürdigste aber waren die drei tellergroßen roten leuchtenden Augen, die nur nachts und in der Dunkelheit zur vollen Geltung kamen. Auch die Nahrungsschwierigkeiten, die anfangs geherrscht hatten, waren überwunden. Mehrmals am Tage starrte Thomsen durch das Gitter und jedes mal war er aufs Neue von der schmeichlerisch teufli schen Schönheit der Bestie beeindruckt. Schritte klangen durch den Keller. Das Ungeheuer sprang auf die Füße und schlich in dem Käfig hin und her. Seine drei Augen leuchte ten und seine scharlachrote Zunge fuhr bebend über die Reihe seiner weißen, gezackten Zähne. Edward Thomsens Tochter kam mit einem großen Stück Fleisch und warf es durch das Gitter. Das Monster stürzte sich auf die Nahrung und trug sie in eine E cke. Es war ein böses und zugleich faszinierendes Schauspiel. »Dieses Ding da ist bares Gold wert«, sagte Thomsen. »Ich höre schon die Kasse klingeln.« »Glaubst du wirklich, dass man damit Geld verdienen kann?« »Jetzt hör mal zu«, sagte Thomsen. »Wir sind im Besitz des einzi gen in Gefangenschaft lebenden Gorgen auf der ganzen Welt, ein ech tes, richtiges Monstrum aus Fleisch und Blut!« 81
»Na, dann musst du aber etwas unternehmen. Von allein kommen die Leute auch nicht her«, erwiderte seine Tochter. »Du solltest mit Zirkusbesitzern in Verbindung treten.« »Habe ich doch schon längst arrangiert. In etwa einer Stunde müsste er hier sein. Rice Quentin heißt der Mann. Er ist Spezialist für seltene Attraktionen.« Rice Quentin war pünktlich wie ein König. Er kam auf die Minute genau. Als er vor dem Gitter stand, schlug er die Hände zusammen und rannte dann um den Käfig herum. »Mensch, Mann, wissen Sie denn überhaupt, was Sie hier in der Hand haben?« »Ne gewaltige Bestie.« »Bestie? Quatsch! Sie haben eine Million in der Hand! Bloß 'ne Mil lion, weiter nichts.« »Bis jetzt habe ich nur enorme Auslagen«, erwiderte Thomsen. »Dieses Biest frisst Fleisch wie Feuer die Kohlen.« »Das fällt doch gar nicht ins Gewicht«, sagte Mr. Quentin wegwer fend. »Im Vergleich zu dem, was die dafür bekommen, ist das ein But terbrot.« Das Ungeheuer starrte auf Rice Quentin, als hätte es jedes Wort verstanden. »Süß!«, sagte der Mann wieder. »Er ist ja wie ein Kätzchen.« Und wirklich: Das Monster begann ganz sanft zu schnurren, so etwa, als würde einem ein lästiges Insekt um die Ohren sausen. »Ist der nicht reizend?«, rief Quentin. »Sehen Sie mal wie zutrau lich er ist! Ich kannte einmal einen Kerl in der Stadt, der hatte das gleiche schiefe Grinsen wie er...« Das ist vielleicht ein Spaßvogel, dachte Thomsen. »Und wie stellen Sie sich die geschäftliche Seite vor?«, fragte er. »Gut, dass Sie mich daran erinnern«, antwortete Rice Quentin. »Wir sind genau die richtige Agentur für ein Geschäft dieser Grö ßenordnung. Für fünfundzwanzig Prozent erledigen wir alles«, fügte er großzügig hinzu. »Wir stellen die Verbindungen mit allen wichtigen Zirkus- und Show-Unternehmen her und machen dann den bestmögli chen Abschluss. Ist das ein Vorschlag?« 82
Edward Thomsen nickte. »Und in der Zwischenzeit«, sagte er, »was soll ich da machen?« »Absolut nichts«, erwiderte Mr. Quentin. »Kümmern Sie sich in zwischen bloß um das Monster. Sehen Sie zu, dass es genug zu fres sen bekommt. Und noch eines ist wichtig: Was immer Sie tun, achten Sie darauf, dass niemand dieses Ungeheuer zu sehen bekommt! Kein Mensch darf ein Wort davon erfahren!« * »Ich werde Sie nicht lange aufhalten«, sagte Sergeant Kelston zu Clara Hintz, der Pflegerin von Mora Dunn. »Es geht um die alte Gruft, die sich hier auf dem Grundstück befindet.« »Kommen Sie nur mit«, forderte die Pflegerin den Sergeanten auf. »Ich glaube, sie hat Sie schon erwartet.« »Mrs. Dunn«, begann Kelston. »Hier haben sich wieder schreckli che Dinge ereignet und es wird noch mehr geschehen, wenn Sie uns nicht helfen. Auf Ihrem Besitz gibt es eine alte Gruft, die ich gern se hen möchte.« Ein merkwürdiger Glanz lag in ihren Augen und ihr Mund war grimmig zusammengekniffen. »Alle werden vernichtet, die Feinde des Hauses sind«, sagte sie endlich. »Die Gorgen holen jeden. Dafür kön nen sie nicht zur Verantwortung gezogen werden.« »Kann ich mir die Gruft ansehen?«, fragte Kelston wieder. »Ist das alles, Was Sie wissen wollen?« »Ja, das ist alles, Mrs. Dunn. Es ist ungeheuer wichtig für mich.« Sie sah den Sergeanten lange an, bevor sie mit einer entschlosse nen Geste in den Ausschnitt ihres schwarzen Spitzenkleides griff und ein Skapulier mit verblasstem Heiligenbild zum Vorschein brachte. Es war eine kleine Tasche, in der ein winziger Schlüssel lag. »Öffnen Sie diesen Schrank«, befahl sie ihrer Pflegerin, »und brin gen Sie mir die silberne Schmuckschatulle.« Clara Hintz reichte Mrs. Dunn eine alte sehr schön gearbeitete Schatulle von orientalischer Herkunft. Sie war mit golddurchwirktem malvenfarbenen Samt ausgelegt. Der Schlüssel der Gruft lag darinnen. 83
Nun stand nichts mehr im Wege, das alte Grabmal zu besuchen. Es lag ziemlich weit vom Haus entfernt und sah wie ein Venustempel aus. Sergeant Kelston war überrascht, wie leicht sich der Schlüssel im Schloss drehen ließ und wie weich die Türflügel zurück schwangen. Nur die Angeln waren rostig und knarrten etwas. Aus der Dunkelheit des Raumes schlug ihnen dumpfe, muffige Luft entgegen. Kelston ließ den Strahl seiner Taschenlampe über Wände, Decke und Boden gleiten. Es war fast kalt in dem Raum. Drei steinerne Särge nahmen die Südseite des Gewölbes ein. Nach der ersten oberflächlichen Besichtigung kniete der Sergeant nieder und musterte aufmerksam den Boden. »Hier ist erst vor kurzem jemand herumgegangen«, stellte er fest und leuchtete den Boden bis zur Mauer ab. Zwei dunkle kleine Flecke kamen in den Lichtkegel. Mit drei Schrit ten war Kelston bei ihnen. »Das ist Blut, Constabler«, bemerkte er. Jetzt suchte er noch sorgfältiger den ganzen Boden ab. Trat dann unvermittelt in eine Ecke, bückte sich und hob etwas auf. Constabler Dudley konnte nicht erkennen, was es war, obwohl er ihn genau beobachtet hatte. »Das ist eine Überraschung«, sagte Kelston plötzlich. Er streckte die Hand aus. Auf ihr lag John Garners Kupfer-Armband. Es wies ein paar bräunlich verfärbte Spuren auf, die von Blut stammten. »Wie kommt dieses Ding hierher?«, fragte Constabler Dudley ver blüfft. »Wenn wir das wüssten«, erwiderte Kelston, »dann wären wir schon weiter.« Beide waren froh, als sie die muffige kalte Gruft wieder verlassen konnten. »Garner ist also in der Gruft ermordet worden«, sagte der Constabler. »Dieser Umstand ist sehr verwirrend«, erwiderte der Sergeant. »Wir werden die Entdeckung vorläufig noch geheim halten.« 84
Später auf der Straße trafen sie Dr. Leeming. »Sagen Sie, Sergeant, können Sie Ihre Leichen nicht zusammen kommen lassen, das würde eine Menge Arbeit ersparen.« »In Zukunft werde ich darauf achten«, konterte Kelston. »Was sind das nur für Menschen, die Morde begehen«, stöhnte der Arzt. Der Sergeant nickte und wartete auf weitere Erklärungen. »Genau die gleichen Wunden wie bei Henderson«, sagte der Arzt. Schädelfraktur, drei Kratzer auf der Brust, die gleichen Verfärbungen an der Kehle... Nur so lange wie der andere ist er noch nicht tot. Er starb so gegen drei Uhr morgens. Das wollten Sie doch wissen, oder? Allmählich glaube ich auch an Ihre Monster, Constabler. Verdammt komisch... Das ist doch keine Art, einen Menschen umzubringen, ge schweige denn zwei.« Der Doktor löste die Handbremse und fuhr mit seinem Wagen davon. »Und was tun wir jetzt?«, fragte der Constabler und beschäftigte sich mit seiner Pfeife. »Wir fahren nach York zu Mr. Shelly und sehen uns mal seine merkwürdige Sammlung an«, sagte Kelston. »Er sammelt alles was irgendwie mit Monstern, Geistern und unerklärlichen Dingen zu tun hat. Vielleicht erfahren wir von ihm etwas über diese Ungeheuer. Ich habe seine Adresse als Geheimtipp bekommen.« »Mir soll's recht sein, Sergeant«, sagte Dudley. »Dann nichts wie hin!« »Übrigens soll er auch ein seltenes Aquarium besitzen und das ist immerhin etwas, nicht wahr?« * Mr. Shellys Haus sah wie ein Gewächshaus aus dem 18. Jahrhundert aus. Feenhaft schön und dennoch entsetzlich trostlos. Unwirklich er schien es auch Sergeant Kelston. Wie ein Märchenschloss, in dem ge heimnisvolle und rätselhafte Dinge aufbewahrt werden. Er war neugie rig, was es da alles zu sehen gab. 85
Constabler Dudley machte sich keine Hoffnungen. Ihm fehlte das Empfinden für derlei Dinge. Ward Shelly war ein hervorragender Kenner von geheimnisvollen Objekten. Er hatte dieses Thema in einem Buch veröffentlicht, nach dem er zwei Jahre lang in einer südamerikanischen Höhle gelebt hatte, wo er geheimnisvollen Spuren nachgegangen war. Beträchtliches Auf sehen hatte er mit der Entdeckung einer Mumie erregt, die angeblich von einem anderen Planeten stammte. Sechs Zimmer des Hauses waren voll von allen möglichen Dingen. In zwei weiteren Räumen standen Meeresaquarien mit seltenen Fi schen, die einen enormen Wert präsentierten. Mr. Shelly war ein großer, stiller, älterer Mann, mit glatt rasiertem Gesicht. Er wirkte teilnahmslos, aber seine braunen Augen funkelten und seine Gesichtszüge kamen zu sprühendem Leben, als er Sergeant Kelston auf einige kostbare und erlesene Stücke aufmerksam machte. Die beiden Polizisten sahen die seltsame Mumie und eine zwanzig tausend Jahre alte Landkarte, die von einer Stadt Moror berichtete. Shelly hatte sie in einem Kloster im Tibet entdeckt. Daneben gab es eine Reihe uralter Schrifttafeln, Dokumente und Papyri aus Indien, China, der Wüste Gobi und Mexiko. Auch seltene Skarabäen, die er arabischen Händlern abgekauft hatte, gab es in seiner Sammlung. Als die Männer sich einem Schaukasten näherten, blickte Mr. Shel ly geradezu ehrerbietig durch das Glas. »Das sind meine kostbarsten Stücke«, sagte er. »Ich habe sie von einem New Yorker Antiquitäten händler.« Durch ein großes ererbtes Vermögen konnte er sich diese Selt samkeiten leisten. Sergeant Kelston beugte sich über den Kasten und sah einund zwanzig würfelförmige Lapislazuli und Jadesteine. Eine Fläche jedes Steines war mit mystischen Schriftzeichen beschriftet. »Sie kennen doch König Salomo, Sergeant?« »Er war König der Israeli etwa tausend Jahre vor Christi Geburt.« »Ausgezeichnet«, lobte Mr. Shelly. »Diese einundzwanzig Steine waren ein Geschenk an die Königin von Saba.« 86
»Damals verstand man sich noch auf Geschenke«, bemerkte Kelston lachend. »Weiß man eigentlich, was diese Schriftzeichen be deuten?« »Es gibt zwar keine Beweise«, erwiderte Mr. Shelly, »doch ist es möglich, dass diese Schriftzeichen die Salomonischen Geheimnisse darstellen.« In einem anderen Raum standen alle möglichen Arten von Fabel wesen. Einige von Künstlern, andere von der Natur gefertigt. Es gab sie in allen Arten: aus Marmor, Stein, Holz, Wurzeln und Metall. Auch einige Arten von Mutanten waren zu sehen. Ein merkwürdiger Ge genstand, der vom Himmel gefallen sein sollte, sowie eine Kupferplat te, die mit seltsamen Zeichen beschrieben war. Mr. Shelly behauptete, dass sie aus einem interplanetarischem Raumschiff stammte. Auch merkwürdig geformte Alraune und Ginseng-Wurzeln stellten einen Teil der Sammlung dar. Das Fell eines Schneemenschen bedeck te eine Wand. Es hatte die Farbe von altem Elfenbein. Nur an den Händen, Füßen und Knien, zeichneten sich schwarze Haare ab. Das Wesen musste einmal eine Körpergröße von 2,30 bis 2,50 Meter be sessen haben. »Es gibt auf der ganzen Welt nur zwei Felle von einem Yeti«, be gann Mr. Shelly. »Es hat eine schöne Stange Geld gekostet. Ich habe es vom Londoner Aktionshaus.« »Sehr interessant«, bemerkte Sergeant Kelston und dachte dabei an die Fabelwesen von Bridge-Hill. »In der Dschukti-Schlucht muss es etwas geben, das die Schnee menschen anlockt«, sagte Ward Shelly. »Sie sind besonders im Früh jahr in den Steilpfaden der mit vielen Höhlen durchzogenen Wände des Singtod-Massivs im Hedin-Gebirge. Nach Meinung der Tibetaner treten die Schneemenschen jährlich von dort aus einmal eine Wan derung auf unbekannten Wegen nach Zentralasien an.« »Und dieser Abdruck, gehört der auch zu einem Schneemen schen?«, wollte Kelston wissen. Er starrte auf einen Lehmklumpen, der eine merkwürdige Vertie fung aufwies. 87
»Nein, keinesfalls. Sie werden staunen, dieser Abdruck stammt aus unserer Gegend. Diese klauenartige Hand oder Fußspur gab mir Mr. Clipton. Sein Vater hat diesen Abdruck bereits 1929 auf seinem Grundstück gefunden. Obwohl es um Bridge-Hill viele Legenden gibt, konnte nie geklärt werden, um welches Tier es sich handelte.« Schon auf den ersten Blick erkannte Kelston, dass es der gleiche Abdruck wie in Lohmanns Grab war. Dann gibt es also doch diese wei ßen Monster, dachte er. Kelston hoffte, mehr darüber zu erfahren, wurde aber enttäuscht. Mr. Shelly vermochte nichts Näheres über diese Spur zu sagen. Sie bekamen dann noch die Sammlung lebender Fische zu sehen, die wirklich einmalig und sehenswert war, aber natürlich in keinem Zusammenhang mit den weißen Ungeheuern stand. »Wir haben wieder mal unsere Zeit vertan«, knurrte Constabler Dudley beim Verlassen des Hauses. »Oh, das möchte ich nicht behaupten«, antwortete der Sergeant. »Wir haben eine Menge interessante Dinge gehört, wenn auch nicht das, was wir hören wollten, aber...« Kelston brach ab und Dudley glaubte, nach seinem Benehmen zu schließen, dass er etwas ahnte, was er jedoch noch nicht aussprechen wollte. »Ich glaube, ich habe eine plausible Erklärung für die Fälle gefun den«, fuhr Kelston nach einer Weile fort. »Die Sache ist ganz einfach teuflisch. Das Hauptproblem besteht darin, dass unsere Theorie auch zu den uns bekannten Tatsachen passt.« Constabler Dudley unterließ es, nach der Theorie zu fragen. Als sie im Auto saßen, sprach keiner ein Wort. Aber beide ahnten, dass die Ereignisse dem Höhepunkt zu trieben. * Kein Mensch darf etwas erfahren, hatte Rice Quentin gesagt. Aber das war gar nicht so leicht. Das Monster brüllte, schnaufte, stöhnte und tobte so laut, dass Edward Thomsen glaubte, die ganze Ortschaft müsste es hören.« 88
»Wenn das noch eine Weile so weitergeht«, sagte er zu seiner Tochter Kelly-Ross, »dann lasse ich dieses Ungeheuer wieder laufen.« »Das wirst du schön bleibenlassen«, antwortete sie. »Willst du ei ne Million zum Fenster hinauswerfen?« Gerade als Thomsen antworten wollte, ertönte vor dem Haus eine Autohupe. Er ging hinaus und sah den Fleischlieferanten vom Schlachthof. Es war der gleiche neugierige Fahrer, der schon einmal hier gewesen war. Der Mann war etwa fünfzig, hatte ein kurz geschnittenes Bärtchen und trug eine Hornbrille. In seinen Augen lag ein sonderbarer Ausdruck, für dessen Beschreibung Thomsen nicht das richtige Wort fand. Im Au genblick wusste er nur das eine, dass er ihn so schnell wie möglich wieder loswerden wollte. »Diesmal ging es aber schnell«, sagte Thomsen statt einer Begrü ßung. Der Fahrer nickte bloß, kletterte aus seinem Laster und meinte schließlich: »Fast Qualitätsware heute. Was ist denn eigentlich los? Planen Sie ein Volksfest?« »Nicht direkt.« »Wollen Sie mir vielleicht erzählen, dass Sie das alles selbst es sen?« »Nun, ich möchte Ihnen das mal erklären...« In diesem Augenblick hörte man vom Haus her ein gewaltiges Brüllen. »Was, zum Teufel, ist denn da los?«, fragte der Lastwagenfahrer und versuchte die Antwort von Thomsens Gesicht zu lesen. »Das sind bloß die neuen Hühner, die ich gekauft habe«, antwor tete Edward Thomsen schnell. Ihm fiel im Moment nichts Besseres ein. »Nanu?«, wunderte sich der Fahrer. »Ich habe noch nie von Hüh nern so ein Gebrüll gehört«, sagte er fast ärgerlich. »Ist das vielleicht eine neue Rasse?« »Ja, ja, das ist eine neue Hühnerart«, bestätigte Thomsen schnell. »Die geben ganz besondere Eier, wenn sie Fleisch bekommen. Deshalb habe ich ja das ganze Fleisch bestellt. Wissen Sie, das sind brasiliani sche Riesen-Fleisch-Trut-Vögel.« 89
»Diese Hühner möchte ich sehen!«, sagte der Mann und ging auf das Haus zu. Thomsen wehrte mit ausgestreckten Händen ab. »Die sind noch zu menschenscheu«, rief er entschuldigend. »Viel leicht das nächste Mal.« Wieder war ein Brüllen zu hören. Diesmal klang es etwas ge dämpfter. »Klingt mir immer noch nicht nach Huhn«, beharrte der Mann hartnäckig und blickte Thomsen durch seine funkelnden Horngläser an. »Stellen wir das Zeug hierher«, sagte er, um den Fahrer abzulen ken, »und dann nehmen wir einen Drink, ja?« Gleich darauf bereute Thomsen seine impulsive Einladung. Aber jetzt konnte er sie nicht mehr rückgängig machen. Der Mann nickte und machte sich an die Arbeit. Als sie dann später ins Haus gingen, erschien Kelly-Ross. Sie hatte das Gespräch mit angehört und versuchte nun, die Sache wieder in Ordnung zu bringen. »Glauben Sie nichts von alldem, was mein Vater Ihnen erzählt«, begann sie im leichten Unterhaltungston, während sie Sodawasser in die Whiskygläser goss. »Das mit den Hühnern ist natürlich gelogen...« »Dachte ich mir ja gleich, Miss«, unterbrach der Mann, »dass er mir einen Bären aufbinden wollte, aber so leichtgläubig bin ich nun wieder auch nicht.« »Wissen Sie«, fuhr Kelly-Ross lachend fort, »das kommt davon, dass mein Vater schon morgens die Kaffeetasse mit der Schnapsfla sche verwechselt.« Der Fahrer nickte eifrig. »Dann ist es kein Wunder, wenn ihm lau ter Hühner im Kopf herumflattern. Habe ich nicht recht, Mister?« Dabei schlug er Thomsen wie einem alten Kumpel auf die Schulter, dass es nur so staubte. Thomsen lächelte gequält und war gespannt, wie seine Tochter sich aus der Sache herausreden würde. »Das Fleisch ist natürlich für einen ganz anderen Zweck be stimmt«, setzte Kelly-Ross fort, als hätte sie die Gedanken ihres Vaters erraten. »Es ist für eine wissenschaftliche Arbeit. Genauer gesagt, es 90
handelt sich um ein neues Konservierungsmittel, das ich erfunden ha be. Und für diese Testversuche brauche ich das Fleisch.« Thomsen blinzelte seiner Tochter zu und war von der Geschichte, die sie so schnell erfand, überrascht. Das mit den Hühnern war natür lich Blödsinn, dachte er und wenn der Fahrer ihn jetzt für einen alten versoffenen Trottel hielt, ließ sich dies nicht mehr ändern. Hauptsache, Kelly-Ross' Erzählung klang überzeugend. Der Mann akzeptierte die Story und das war das wichtigste im Augenblick. »Dann sind Sie also Chemikerin oder so etwas?«, fragte er in der Hoffnung, auf diese Weise etwas Näheres von dem Mädchen zu erfah ren. »Oh - ich bin ein wenig von allem. Ein Hans-Dampf-in-allenGassen, gewissermaßen. Ich befasse mich mit allen möglichen Din gen.« »Ja, ja, die Jugend von heute - immer hoch hinaus, nicht wahr?«, erwiderte der Lastwagenfahrer und schien irgendeinem Gedanken nachzuhängen, an den er sich plötzlich erinnerte. »Aber das Gebrüll von vorhin, das habe ich doch deutlich gehört«, sagte er schließlich und warf einen prüfenden Blick auf Kelly-Ross. »Hörte sich wie ein Raubtier oder so was Ähnliches an.« »Da haben Sie richtig getippt«, bestätigte das Mädchen. »Das war nämlich ein Löwe.« Der Mann starrte sie an. »Keine Angst!«, wehrte Kelly-Ross ab. »Sehen Sie dieses Tonband hier? Da sind eine ganze Menge Urwaldstimmen drauf. Wollen Sie mal hören...?« Der Fahrer winkte ab. »Das glaube ich Ihnen schon, Miss«, ent gegnete er. »Das war doch klar zu erkennen.« Für kurze Zeit trat Schweigen ein und Kelly-Ross hielt den Atem an. Sie fühlte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Wenn jetzt das Monster losbrüllte, dann war die schöne Story beim Teufel. Mit einem Auge starrte sie auf die Wanduhr. Bleischwer vergingen die Sekunden. Rundherum lag tiefe Stille. Auf dem Band waren keine Tierstimmen, sondern Beethovens Neunte. 91
Noch immer schien sich der Fahrer über etwas Gedanken zu ma chen, aber dann überlegte er es sich doch anders, trank sein Glas leer und verabschiedete sich. Kelly-Ross war heilfroh, als er endlich draußen war. Der Mann war noch nicht ganz bei seinem Laster angelangt, als abermals ein lauter Lärm im Haus ertönte. »Mir scheint, eines Ihrer Hühner ruft nach Ihnen, Mister«, rief der Mann und zwinkerte Thomsen dabei zu. »Legen Sie ihm am besten einen Eisbeutel auf die Stirn, da vergeht das Kopfweh und der Katzen jammer noch am ehesten. Vergessen Sie das nicht, Mister!« Der Mann ließ den Motor an und brauste davon. Witzbold, dachte Thomsen. Er blieb stehen, bis der Wagen ver schwunden war, dann ging er ins Haus zurück. »Das ist gerade noch einmal gut gegangen«, begann Kelly-Ross. »Warum musstest du diesem Kerl ein so dummes Zeug aufschwatzen? Der war doch schon das erste Mal so neugierig«, rügte sie. »Das nächste Mal holst du selbst das Fleisch, dann brauchen wir keine Ausreden zu erfinden.« »Reg dich doch nicht auf, Kleines«, erwiderte Thomsen. »Es ist ja alles in Ordnung. Deine Geschichte war phantastisch und sie klang auch glaubwürdig.« Kelly-Ross lächelte nachsichtig, schnitt ein paar Grimassen und wollte sich gerade eine Zigarette anzünden, als das Telefon klingelte. Das Mädchen nahm den Hörer ab und gab ihn ihrem Vater. »Hallo - Mr. Thomsen«, sagte eine Stimme mit einem starken a merikanischen Akzent. »Hier spricht Quentin, Rice Quentin.« »Schön von Ihnen zu hören«, erwiderte Edward Thomsen, der so fort wusste, dass es der Show-Manager war. »Ich habe gute Nachrichten. William Monymemm persönlich inte ressiert sich für das Ungeheuer.« »Ja und?« »Ja, ja, ihm gehört die Hälfte des berühmtesten Zirkus- und Show-Unternehmens der Welt. Nach einer Woche bin ich endlich zu ihm vorgedrungen und er ist an der Sache so interessiert, dass er gleich selbst kommt. Ich sage Ihnen das bloß, damit Sie alles schön 92
arrangieren können und das Monster parat haben, um es William Mo nymemm vorführen zu können.« »Das geht in Ordnung«, erwiderte Thomsen. »Da können Sie sich darauf verlassen.« »Halten Sie den Füllhalter bereit«, meldete sich Rice Quentin wie der. »Sie werden einen Vertrag unterschreiben, bei dem es sich um eine runde Summe von einer Million handelt. Wissen Sie, Thomsen, es ist gar nicht so leicht, mit diesem Mann umzugehen. Monymemm scheint derzeit irgendwelche private Sorgen zu haben. Nun, immerhin ist er verhandlungsbereit. In zwei Tagen sind wir bei Ihnen.« Rice Quentin legte auf und Thomsen fühlte sich glücklich. Er um armte seine Tochter und hörte dabei ein knisterndes Geräusch. Wahr scheinlich die Million, dachte er. Aber es war ganz etwas anderes. Jemand trieb sich im Haus her um, doch davon hatte Thomsen keine Ahnung. Thomsen lehnte sich zurück und bevor er noch wusste, wie ihm geschah, hielt ihn ein farbenfrohes, dramatisches Bild der kommenden Ereignisse gefangen. Thomsen sah bereits sein Bild in der Zeitung. »Dieser Mann entdeckte ein sagenhaftes Monster!« So oder ähnlich würde die Überschrift lauten. Ganz Bridge-Hill würde sich in ein Toll haus verwandeln, wenn sich die Sache erst einmal herumgesprochen hatte. Alle möglichen Leute würden kommen, ihn mit Fragen überhäu fen und wie eine Zitrone ausquetschen. Die Blitzlichter der Fotografen würden aufflammen und dann würde auch das Fernsehen eintreffen. Und dann dachte er an die Million. Was konnte er mit diesem Geld alles anfangen! Vielleicht eine Weltreise, ein Häuschen, ein neues Au to, einen Nerzmantel für Kelly-Ross und noch vieles andere mehr. In diesem Augenblick wusste Edward Thomsen nicht, dass dieser Traum nie in Erfüllung gehen würde. * Auf der Rückfahrt nach Bridge-Hill kamen Sergeant Kelston und Constabler Dudley in ein Gewitter. Durch den starken Hagelschauer wurden sie aufgehalten und Kelston fuhr den Wagen in eine alte 93
Scheune. Eine halbe Stunde später schien wieder die Sonne und Dud leys saures Gesicht hellte sich ein wenig auf. Aber nicht das Gewitter war an der Zitronenmiene des Constablers schuld. Seit sie im Wagen saßen, grübelte er über eine Sache nach. Doch Dudley fand an dem Faden weder einen Anfang noch ein Ende, an dem er ihn aufrollen konnte. Das machte ihn zappelig. Er wusste nicht, ob Kelston bei Mr. Shellys Abnormitäten-Sammlung Hinweise auf die Monster und Morde gefunden hatte. Bis Bridge-Hill sind es noch zwei Meilen, dachte Dudley. Zeit ge
nug, um den Sergeanten auszuquetschen.
»Jetzt haben wir gute und wertvolle Stunden mit der blöden Sammlung vertan und dabei wächst uns die Arbeit über den Kopf«, murmelte der Constabler vor sich hin. »Wenn es wenigstens von Nut zen gewesen wäre! Aber so...?« »Ich habe ernstlich gearbeitet«, schnitt Kelston ihm das Wort ab. »Und während der letzten halben Stunde ungeheuer viel erfahren.« Dudley musterte den Sergeanten kritisch, sagte aber nichts. Die Antwort entsprach nicht seiner Erwartung, aber sie drückte aus, dass der Sergeant auf eine Spur gestoßen war. »Ich werde nochmals Mora Dunn aufsuchen«, verkündete Kelston. »Und für Sie, Constabler, habe ich Arbeit. Ich setze Sie hier ab. Nach Torredon ist es nicht mehr weit. Suchen Sie sämtliche Büsche in der Nähe der Teufelslöcher gründlich nach einem Schubkarren oder der gleichen ab.« Dudley, der noch immer recht unglücklich dreinschaute, kniff die Augen zusammen, dann erhellte sich seine Miene. »Ich habe verstanden, Sir«, antwortete er. Wusste aber genauso wenig wie zuvor. Als Sergeant Kelston das Dunnsche Haus betrat, stieß er mit Miss Hintz, der holländischen Pflegerin, zusammen. »Oh, ich wollte gerade mit Mrs. Dunn einiges besprechen...« »Heute scheint nicht der richtige Tag zu sein«, erwiderte die Pfle gerin. »Sie nimmt alle Dinge plötzlich tragisch. Sie ist in den letzten Tagen anders geworden. Wenn dies so weitergeht, ist ein Zusammen bruch unvermeidlich.« 94
»Hat sich heute etwas ereignet, was Mrs. Dunn besonders aufreg te?« »Nach dem Mittagessen wollte sie ihren Bruder sehen. Ich sollte Pat Clair ins Haus zurückholen. Sie sah ihn zum Friedhof und zur Höhle gehen, aber sie äußerte sich nicht darüber, weshalb sie ihn nicht dort haben wollte. Sie sagte nur etwas von einer lauernden Gefahr und bezog sich wieder auf die alten Monsterlegenden. Jetzt ist Dr. Leeming oben bei ihr.« »Ich warte hier unten in der Halle, bis der Doktor herunter kommt«, sagte Kelston. Eine ganze Weile marschierte er auf und ab. Dann entdeckte er im Ledersessel einen dicken Band über tibetanische Geschichte. Auf ei nem Kartentisch in der Ecke lag ein aufgelegtes Tarock, das für ihn keinen Sinn ergab. »Nanu, Sergeant! Sie haben doch nicht schon wieder eine Lei che?«, rief Dr. Leeming aus. »Keine Sorge, Doc«, erwiderte Kelston. »Diesmal komme ich mit leeren Händen. Wollte nur wissen, wie es Mrs. Dunn geht.« »Sie glaubt den Mörder zu kennen«, entgegnete der Doktor, »und davor hat sie Angst. Aber wahrscheinlich ist es nur eine von ihren Hal luzinationen, eine, die mit diesen weißen Ungeheuern zu tun hat. Nach längstens einer Woche hat sie es wieder vergessen.« »Der Fehler liegt wahrscheinlich darin«, bemerkte Kelston be kümmert, »dass wir diesen Monsteraberglauben von einer allzu ratio nalen und normalen Seite aus angingen. Wir alle versuchen, einen konventionellen Zapfen in ein bizarres Loch einzupassen. Und das bringt nichts.« »Nanu?«, rief der Doktor überrascht. »Haben Sie etwa das Rätsel gelöst?« »Noch nicht. Aber es ergeben sich gewisse Zusammenhänge, die langsam ein Bild ergeben.« »Auch Pat Clair scheint sich der Sache sehr anzunehmen«, fuhr Dr. Leeming fort. »Schon gestern sah ich, wie er aus der Dunnschen Gruft kam. Und heute beobachtete ich ihn wieder. Vielleicht hat er etwas entdeckt.« 95
Kelston wusste genau, was Pat in der Gruft suchte, aber zu Dr. Leeming sagte er: »Vielleicht wollte er bloß einmal die Särge zählen und sich vergewissern, dass keiner fehlt.« »Sie sind ein Spaßvogel, Sergeant«, meinte der Doktor. »Aber wenn Sie mit Mrs. Dunn sprechen wollen, können Sie ruhig hinaufge hen. Sie ist nicht so krank, wie es den Anschein hatte.« Dr. Leeming schloss seine Tasche, klopfte Kelston auf die Schulter und verließ die Halle. Der Sergeant suchte nicht Mora Dunn auf. Er hatte etwas Besse res vor und ging den gleichen Weg, den heute schon Pat Clair gegan gen war. Vor dem Eingang zur Höhle, an einer sumpfigen Stelle, sah Kelston zwei bekannte Abdrücke. Der eine war der eines schuppigen Hufes und der andere glich einer dreikralligen Klaue. »Du lieber Himmel«, flüsterte der Sergeant. »Was soll das sein? Das sind ja genau die Abdrücke wie in Lohmanns Grab.« Kelston kniete nieder und musterte sie genau. Dabei gingen ihm allerlei Gedanken durch den Kopf, aber er kam zu keinem greifbaren Ergebnis. Er verließ den Ort und ging zur kleinen Polizeistation nach Bridge-Hill zurück, um mit der damaligen Abdruckkopie Vergleiche an zustellen. Als er die Ortschaft erreichte, kam ihm Dudley entgegen. »Nanu!«, staunte Kelston. »Sie sind schon wieder zurück?« »Hatte Gelegenheit, mit einem Anhalter zu fahren.« Dann grinste er breit. »Ich habe einen Schubkarren gefunden.« »Tüchtig, tüchtig«, lobte der Sergeant. »Er war in einem Gebüsch, ungefähr fünfzehn Meter von den Teu felslöchern entfernt. Erst fand ich auf einem Maulwurfhügel eine Rad spur und einen Fußabdruck, der aber nicht mehr sehr deutlich war. Sie hatten also doch recht, Sergeant.« »Womit?«, fragte Kelston erstaunt. »Der Schubkarren hat bestimmt etwas mit den Morden zu tun«, antwortete Dudley. »Jetzt haben wir endlich etwas Handfestes gefun den.« 96
»Das ist richtig«, erwiderte der Sergeant. »Doch die Karre spielt nur eine kleine Rolle in diesem Drama. Das wichtigste Glied in der lan gen Kette der Beweise fehlt noch immer. Wir brauchen die Person, die sie hingefahren hat - und ich glaube, ich habe sie bereits gefunden.« »Donnerwetter!«, rief der Constabler anerkennend. »Wer ist es?« »Da sind einige Dinge, die noch einer Nachprüfung bedürfen. Mehr möchte ich jetzt noch nicht verraten. Ich habe vor dem Eingang zur Höhle auch eine Entdeckung gemacht«, sagte Kelston. »Kommen Sie, Constabler, bevor es dunkel wird!« Ehe sie sich auf den Weg machten, nahm Sergeant Kelston rasch den Gipsabdruck und eine Zeichnung aus der Schublade. Er war ge spannt, ob es sich tatsächlich um dieselben Spuren handelte. »Nun, was halten Sie davon?«, fragte Kelston den Constabler, als sie vor der Höhle standen und auf die Vertiefungen im Schlamm blick ten. »Guter Gott, das sind ja Monsterhufe!«, rief Dudley aus. Er schnappte hörbar nach Luft. Kelston erwiderte nichts, bückte sich und verglich lange Zeit die beiden Abdrücke. »Sie gleichen sich, sind aber trotzdem nicht die gleichen wie in Lohmanns Grab.« Jetzt kniete sich auch der Constabler nieder und begann ebenfalls die merkwürdigen Spuren zu untersuchen. Dann stand er langsam auf. »Die Schuppenform ist anders geordnet«, sagte Dudley. Er drehte die Zeichnung und den Gipsabdruck herum und deutete auf die tiefen Einschnitte, die ungefähr so konstruiert waren wie Rei fenspuren. Diese Erkenntnis ließ beide schweigen. Kelstons Gesicht war ver schlossen und Dudley starrte noch immer auf die Spuren. Der Constabler fasste sich als erster. »Dann gibt es zwei Arten von Ungeheuer!«, stöhnte er. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr.« Kelston nickte zwar, war aber mit Dudleys Worten nicht einver standen. 97
»Schieben wir die Legende einmal beiseite. Ich glaube, hier ver sucht uns jemand in die Irre zu führen. Es muss eine Monsterausrüs tung geben.« »Heiliges Kanonenrohr!«, stieß Dudley plötzlich hervor. »Allmäh lich beginne ich zu verstehen...« Aber er war nicht sicher, ob er wirklich begriff, was Kelston mein te. * Schon den ganzen Tag über hatte Kelly-Ross ein merkwürdiges Gefühl. Sie wusste nicht, was es war, aber irgendwie hing es mit dem Monster zusammen, das Rice Quentin morgen abholen würde. Manchmal kam es ihr auch vor, etwas Fremdes, Unheimliches befände sich im Haus. Kelly-Ross saß am Fenster und blickte nach draußen. Die letzten Strahlen der Sonne ließen die Landschaft plastisch hervortreten, färb ten die Schatten dunkelblau und purpurrot. Plötzlich mit einem lauten Knall, sprang die Zimmertür auf. Er schrocken blickte sich Kelly-Ross um. Aber niemand war zu sehen. Als sie die Tür wieder schloss, war es ihr, als legte sich etwas Schweres, Kaltes um ihr Herz. Eine unheimliche, unsichtbare Gestalt schien das Haus betreten zu haben. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Waren es die Gedanken des Ungeheuers, die sie da quälten? War es möglich, dass dieses Monster Fähigkeiten besaß, von denen nie mand eine Ahnung hatte? Sind es wirklich nur Kreaturen, kam es KellyRoss in den Sinn, oder sind es denkende Wesen? Sie hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gebracht, als sie draußen vor dem Fenster plötzlich eine Gestalt, die wie ein dreiäugiges Ungeheuer aussah, zu sehen glaubte. Als sie genauer hinblickte, war sie verschwunden. Kelly-Ross lief es kalt den Rücken hinunter. Eine Weile geschah nichts, dann stand abermals die Gestalt vor dem Fenster. Rasch knipste sie die Lampe an und im selben Moment war die Er scheinung verschwunden. 98
Im Haus breitete sich eine merkwürdige Stimmung aus. Kelly-Ross fühlte die Bedrohung. Mehr und mehr wurde ihr bewusst, dass es das Monster war, das im Keller gefangen gehalten wurde. Sie kam sich wie eine Schauspielerin in einem Hitchcock-Film vor. Alles schien plötzlich unwirklich, bedrohlich und fremd. Die Möbel im Raum verwandelten sich zu Fabeltieren. Die Bilder an den Wänden wurden zu glotzenden Fröschen und die Beleuch tungskörper sahen wie ungeheure Spinnen aus, die an der Decke hockten. Während Kelly-Ross voller Angst diese Gestalten betrachtete und zufällig zur Tür blickte, löste sich vom Hintergrund eine Figur, die in ein Leichentuch gewickelt war und schwebte durch das Zimmer. Als sie wieder zum Fenster blickte, saß plötzlich eine Frau neben ihr und lächelte sie an. Das Gesicht der Frau war so bleich wie aus Wachs modelliert. Es war eine Maske. »Warum tragen Sie diese Verkleidung?«, wollte Kelly-Ross wissen und griff nach der Hand der Frau. Mit Entsetzen fühlte sie, dass sie die knöchernen Finger eines Skeletts umspannte. Kelly-Ross schrie auf und versuchte aufzuspringen, aber es gelang ihr nicht. Die bleiche Maske hatte sich in einen Totenkopf verwandelt und grinste sie spöttisch an, ehe er im Nichts verschwand. Die Erscheinung war noch nicht ganz verschwunden, als der Lärm losbrach. Zuerst klang es wie ein wirres, kaum vernehmbares, aber unaufhörlich sich wiederholendes Gemurmel. Es war, als ob eine un zählige Menge von Menschen plötzlich anfingen zu reden. Und dann begann die Luft zu wogen. Das Zimmer wurde immer dunkler. Phantasiegebilde wirbelten um Kelly-Ross. Alle Arten von Formen, die man sich nur vorstellen konnte, waren enthalten. Grüne, blaue und violette Funken tanzten in der Woge. Die lärmende Menge kam näher und wurde immer gewaltiger. Dann gelang es Kelly-Ross in dieser Masse eine Gestalt klar zu erkennen. Es war ein dreiäugiges Ungeheuer. »Niemand darf unser Geheimnis erfahren. Wir werden die Gegend verlassen und wieder in unsere unterirdischen Städte zurückgehen«, verkündete das Monster mit menschlicher Stimme. »Wir werden die 99
Höhle einstürzen lassen und unsere Spuren verwischen. Nur die Le gende wird an uns erinnern. Wir fordern die sofortige Freilassung des Gorgen, oder wir werden Rache nehmen.« Noch einmal hörte sie ein donnerndes Geschrei. Dann ging die Tür auf. »Nanu?«, wunderte sich Edward Thomsen, als er ins Zimmer trat. »Du schläfst...?« Erst jetzt wurde Kelly-Ross bewusst, dass sie geträumt hatte. »Ich bin froh«, sagte sie später zu ihrem Vater, »dass morgen dieses Monster weggebracht wird. Irgendwie habe ich Angst davor. Ich hatte einen so merkwürdigen Traum.« Kelly-Ross berichtete ihr Traumerlebnis und als sie geendet hatte, fügte sie hinzu: »Ich glaube, diese Wesen sind Telepathen und können sich auf diese Weise mit uns Menschen verständigen.« »Quatsch!«, erwiderte Edward Thomsen. »Träume sind Schäume. Die Geschichte mit dem Lastwagenfahrer und Quentins Anruf haben diesen Alptraum ausgelöst. Wenn wir erst einmal das Geld haben, ge hen wir von hier weg und dann hört auch bestimmt diese Angstpsy chose auf. Mach dir also keine Gedanken darüber! Wir werden die letz ten hundert Meter auch noch schaffen. Da kann nichts mehr passie ren.« * Sergeant Kelston hatte es plötzlich sehr eilig. Der Constabler wusste nicht, was er vorhatte oder wohin er ging. Mit seiner Dynamik hatte er ihn angesteckt, so dass Dudley aufs äußerste gespannt war. Er hatte das absolut sichere Gefühl, dass die Lösung aller mit den weißen Un geheuern zusammenhängenden Rätsel unmittelbar bevorstand. »Erinnern Sie sich an das alte Grabmal, das auf Dunnschem Grundstück steht?«, fragte Kelston. »Dem werden wir jetzt einen Be such abstatten. Vermeiden Sie nach Möglichkeit jedes Geräusch!« Dudley nickte. Zwanzig Minuten später öffnete der Sergeant die Gruft mit einem Nachschlüssel. Als sie beide drinnen standen, schloss er wieder vor 100
sichtig die Tür. Der Strahl der Taschenlampe schnitt durch die Finster nis. Kelston nahm Dudley die Lampe ab. »Die brauche ich für einen Moment«, erklärte er und trat zu den Särgen. Einen nach dem anderen leuchtete Kelston ab und wischte mit der freien Hand über die Silberschilder mit den eingravierten Namen. Der Constabler stand im Hintergrund und wartete. Er hätte beim besten Willen nicht sagen können, was plötzlich verändert war. Dudley schrieb es der Stille - der unheimlichen Stille im Raum - zu. Es machte ihn kribbelig. Dann sah er plötzlich die Augen, die ihn anstarrten. Die Stimme des Sergeanten erleichterte ihn so gewaltig, dass sein Herz hart gegen seine Rippen zu klopfen begann. »Wir haben sie wohl in ihrer Nachtruhe gestört«, sagte Kelston. »Scheint eine Eule zu sein, den Augen nach zu urteilen.« Der Constabler zuckte zusammen, als der Vogel aufflog und über seinem Kopf hinwegschwebte und verschwand. Er murmelte etwas Unverständliches und trat näher an den Sergeanten heran. Inzwischen war Kelston vor einem besonders alten Sarg stehen geblieben und las leise: »Webley David Clair, 1780-1864.« Er berührte den Sarg an verschiedenen Stellen. »Das müsste der richtige sein. Es ist der älteste Sarg hier und von der Leiche dürften höchstens noch ein paar Knochenreste vorhanden sein. Constabler, helfen Sie mir bitte, diesen Sarg etwas nach vorn zu schieben. Ich möchte mal hineinschauen.« Es kostete ihn wenig Mühe, den Sargdeckel weg zu schieben. Als er abgenommen war, kam der innere Sarg zum Vorschein und auch dessen Deckel lag lose darauf. Kelston richtete den Strahl der Ta schenlampe in das Sarginnere. Constabler Dudley zuckte zurück. Er glaubte ein unheimliches We sen aus einer anderen Welt zu sehen. Unwillkürlich hielt er den Atem an. »Himmel, ein Monster«, murmelte er. »Seien Sie doch still!«, erwiderte Kelston ärgerlich. »Das ist die Ausrüstung, die ich suche.« 101
Als Ganzes stellte es ein Monster dar, aber als Kelston die einzel nen Teile dem Sarg entnahm, verwandelten sie sich in eine alte Gas maske, Schwimmflossen, Taucherhandschuhe, einen Kutscherumhang, ein paar unförmige Sandalen, die mit dicker Ledersohle und breiten Schnallenriemen versehen waren. Kelston wühlte alles durcheinander und griff nach den Schwimm flossen. »Mit denen wurden die Monsterspuren in der Höhle erzeugt. Und dann wurde alles in diesen Sarg versteckt. Hier ist der sicherste Ort. Von der einstigen Leiche ist kaum noch etwas übrig. Abgesehen davon ist dieser Webley David Clair Pats Urgroßvater. Sehen Sie jetzt klarer?« Der Constabler bejahte es. Als letzten Gegenstand brachte Kelston einen gefährlich ausse henden Greifer zum Vorschein. Dieses Instrument, von dem der Ser geant nicht wusste, welchem Zweck es diente, hatte einen Stiel, an dessen Ende sich drei scharfe Stahlhaken befanden. Als Kelston mit dem Finger über die Haken strich, hatte er getrocknetes Blut daran und jetzt wurde ihm die entsetzliche Wahrheit klar. »Das sind die Monsterklauen, die Hendersons und Garners Brust aufgerissen haben«, sagte der Sergeant. »Dieses Mordinstrument ist das Hauptstück in unserem Fall. Die Situation ist jetzt sonnenklar.« Kelston warf alles in den Sarg zurück und legte den Deckel auf. Sie schlossen auch den äußeren Sarg und schoben ihn wieder an sei nen alten Platz. Kelston verschloss die kleine Gruft und die beiden Männer machten sich auf den Weg zur Polizeistation. »Allmählich verstehe ich«, sagte Dudley nachdenklich. »Wir sollten gegen diese Person, die die Morde begangen hat, sofort etwas unter nehmen, Sergeant.« »Nicht so schnell, Constabler. Einiges bedarf noch der Aufklärung. Ein paar Details müssen überlegt werden. Mit blutigen Händen haben wir noch keinen erwischt. Also können wir im Moment auch keine Ver haftung vornehmen, sonst würde alles in sich zusammenfallen. Wir werden das Dunnsche Haus nicht aus den Augen lassen, vor allem die Bewohner. Sie bleiben hier in diesem Gebüsch und beobachten das Haus, Constabler!« 102
*
Die Beobachtung des Hauses während der Nacht verlief völlig ruhig und ergab keine Verdachtsmomente. Erst am späten Vormittag des nächsten Tages betraten Sergeant Kelston und Constabler Dudley das Dunnsche Haus. Der Bruder von Mrs. Mora Dunn saß in einem großen Korbsessel, rauchte und blickte zur Höhle hinüber. »Wir sind am Ziel«, sagte Kelston ernst. »Wir kennen die Wahr heit.« »Welche Wahrheit?«, fragte Pat Clair, ohne aufzublicken. »Die Wahrheit über den Mord an Henderson und Garner.« »Das dachte ich mir schon. Ich sah Sie in der Höhle. Sie waren auch in dem kleinen Grabmal?« »Richtig«, pflichtete Kelston ihm bei. »Dort haben wir den Sarg von Ihrem Urgroßvater inspiziert. Wir fanden die Monsterausrüstung und einen dreizackigen Greifer. Die beiden Verbrechen sind damit ge klärt.« »Irgendwie bin ich froh darüber«, sagte Pat Clair leise, »dass die ses Katz-und-Maus-Spiel vorüber ist.« Eine Weile starrte er dem Rauch seiner Zigarette nach, dann stand er auf. »Ich glaube, ich gehe jetzt zu meiner Schwester hinauf, wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sergeant. Es ist besser, wenn sie es von mir erfährt.« Kelston nickte. »Ja, tun Sie das.« Pat Clair stieg die Treppe nach oben und Dudley ließ die Tür nicht aus den Augen, durch die der Mörder gegangen war. Eine halbe Stunde später ging dem Sergeanten ein Licht auf. »Du lieber Himmel! Ich glaube der Kerl ist uns entwischt.« Kelston hastete die Treppe hinauf, der Constabler folgte ihm. Plötzlich blieb Dudley stehen und zeigte aufgeregt aus dem Fens ter. »Dort, Sergeant... Dort bei der Höhle! Sehen Sie ihn?« Kelston erhaschte gerade noch, wie Pat Clair in der Höhle ver schwand. 103
Die beiden Polizisten waren noch nicht aus dem Haus, als ein star kes Donnern die Erde erzittern ließ. Instinktiv schauten sie zur Höhle hinüber und sahen, dass der ganze Hang in Bewegung geraten war. Als die Erdmasse mit einem Sturzbach mittlerer und kleiner Steine polternd über den Eingang rutschte, blickte Pat Clair nach oben und versuchte den Gesteinsmassen zu entkommen. Er lief nicht weg, son dern blieb stehen und dann begrub ihn die Steinlawine. Noch eine Weile fielen Erde, Felsbrocken und Gesteinsmassen herunter, bevor der Berg zur Ruhe kam. Oben von der Terrasse ertönte ein grauenhafter Schrei. Da wuss ten sie, dass Mrs. Mora Dunn das Unglück mit angesehen hatte. »Um ihn brauchen wir uns nicht mehr zu kümmern - Pat Clair ist tot«, sagte Constabler Dudley leise. »Ja«, pflichtete ihm Kelston bei. »Ob der Erdrutsch von ihm selbst oder von dem gestrigen schweren Gewitter ausgelöst wurde, wird wohl nie mehr zu klären sein.« Während sie noch immer fassungslos auf die eingestürzte Höhle starrten, kam Dr. Leeming. »Ah, da sind Sie ja, Sergeant«, sagte er aufgeregt. Blickte kurz zur Höhle hinüber und platzte dann heraus: »Mr. Thomsens Haus steht in Flammen.« Als die Männer kurze Zeit später bei Edward Thomsen eintrafen, war das Holzhaus eine brennende Fackel und nicht mehr zu retten. »Plötzlich war das Feuer da«, sagte Thomsen. »Und dann ging al les so schnell. Ist mir ein Rätsel, wie das geschehen konnte.« Von dem Ungeheuer, das er im Keller gefangen gehalten hatte und das nun verbrannt war, sagte er kein Wort und auch Kelly-Ross schwieg eisern. Die Million war jetzt buchstäblich verbrannt. Und als Kelston die Sache mit Pat Clair und der Höhle erzählte, wusste Thomsen, dass er nie mehr ein weißes Ungeheuer zu Gesicht bekommen würde. Am späten Nachmittag gelang es, Clairs Leiche unter den Ge steinsmassen herauszuholen. * 104
»Meine Arbeit ist hier beendet«, sagte Kelston. »Jetzt übernehmen sie wieder die volle Verantwortung für Bridge-Hill, Constabler.« Dudley nickte. »Ja«, pflichtete er dem Sergeanten bei. »Aber bei den Morden sind mir noch einige Details unklar.« »Wenn man erst einmal das Schema begriffen hat, fallen die ein zelnen Steinchen des Puzzles von selbst an Ort und Stelle. Da der Mörder tot ist, wird wohl nie mehr geklärt werden können, warum Henderson sterben musste. Sicher ist, dass der Totengräber Pat Clair auf irgendeine Weise erpresste. Alle Schmuckstücke stammten aus dem Dunnschen Besitz. Die Geschichte mit den Ungeheuern kam ihm sehr gelegen. Er kaufte sich eine Monsterausrüstung und plante den Mord an Henderson. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde er in der kleinen Gruft ausgeführt. Clair lockte den Totengräber in das Grabmal und erschlug ihn. Das Mordwerkzeug ließ er in dem alten Sarg ver schwinden, fuhr die Leiche mit einem Schubkarren zu den Teufelslö chern und warf sie hinein. Die verschiedenen Brüche rühren von der groben Behandlung her. Dann ging er wieder nach Hause, als wäre nichts gewesen.« »Aber der Brief von dieser Hilda Lahn...« »Den hat Pat Clair erfunden, um Hendersons Verschwinden zu motivieren. Er hoffte, mit dieser Rätsel-Geschichte durchzukommen. Er hat den Brief selbst auf einer uralten Schreibmaschine getippt, die ich im Dunnschen Haus entdeckte. Aber das ist nicht der einzige Fehler, den er übersah.« »Das mit Henderson scheint klar«, sagte Constabler Dudley. »Aber wieso konnte Mora Dunn soviel über diese Ungeheuer und Prophezei ungen erzählen?« »Das waren keine hellseherischen Fähigkeiten, Constabler«, er klärte Kelston lächelnd. »Es waren die tragischen Versuche, ihren Bru der zu schützen. Was sie von ihrem Fenster aus nicht sah, musste sie vermutet haben und was sie erzählte, sollte uns von der Wahrheit ab lenken. Alles von ihren Monsterlegenden war zusammengefaselt. Ihr Glaube an die Ungeheuer war die Basis der Verteidigung ihres Bruders. 105
Niemand weiß, wie viel sie von ihrem Fenster aus sah, aber ich bin überzeugt, sie wusste instinktiv, dass Pat Clair den Mord an Henderson begangen hatte. Deshalb versteckte sie den Schlüssel zur Gruft so gut. Ihre Bemühungen, uns auf die falsche Spur zu führen, waren tra gisch. Sie wusste genau, dass Pat die Leiche aus dem Grabmal bringen und verstecken würde - daher ihre Prophezeiung. Aber sie war sich nicht ganz sicher, ob ihre Annahme auch zutreffen würde, deshalb unterstrich sie die Theorie, die weißen Ungeheuer fliegen manchmal davon. Auch wegen des Mordes an Garner verdächtigte sie ihren Bruder und sie benutzte diese Gelegenheit, ihre Monstertheorie zu untermau ern. Sie ist nicht so irre, wie sie tut. Denn als der Makler John Garner Dunnschen Grund kaufen wollte, war ihr Bruder strikt dagegen. Ich habe bei Garners Firma nachgefragt. Die Antwort war eindeutig. Es war Mora Dunn, die den Mann herkommen ließ, der Land für ein Frei zeitcenter kaufen sollte. Als Mrs. Dunn von Garners Verschwinden hör te, wischte sie wieder ihre Schreckgeschichten auf. Ich hatte immer schon den Verdacht, sie müsse mehr wissen, als sie gestand. Deshalb ging ich auch direkt zu den Vulkan- oder Teufelslöchern, wie sie ge nannt werden.« »Und was ist mit dem Abdruck in Lohmanns Grab?«, wollte Dudley wissen. »Der gibt nach wie vor Rätsel auf. Alte Bewohner dieser Ortschaft behaupten, Clair habe vor dreißig Jahren zwei kleine seltsame behaar te, weiße Wesen aus dem Himalaja mitgebracht und sie hier ausge setzt. Deshalb wurde auch der Totengräber bestochen, damit er nie mandem davon erzählen sollte. Der einzige Abdruck, der mit dem in Lohmanns Grab überein stimmt, ist der aus Mr. Shellys Sammlung. Merkwürdig dabei ist, dass auch diese Spur schon dreißig Jahre alt ist. Trotzdem haben wir für das Vorhandensein dieser Ungeheuer keine Beweise. Da der erste Mord an Henderson so glatt verlief, fasste Pat Clair den Entschluss, Garner auch gleich umzulegen. Denn diese Monster 106
geschichten lagen genau in seinem Sinn. Solange die Umstände von Hendersons Tod ungeklärt blieben, konnte er sich sicher fühlen.« »Deshalb wiederholte er auch die Technik so genau«, fügte Constabler Dudley hinzu. »Aber dabei machte er seinen größten Feh ler. Er übersah das Kupferarmband, das Garner getragen hatte.« »Richtig, Constabler«, erwiderte Sergeant Kelston. »Die Gelegen heit zu dem Mord konnte er leicht herbeiführen. Clair war nach der Auseinandersetzung des Vortages allzu gern zu einem Versöhnungsge spräch bereit. Vermutlich wurde auch über neue Verkaufspläne ge sprochen. Clair lud Garner zu einem Drink ein. Und hierher gehört wahrscheinlich auch der Riegel an der Seitentür, den die Gäste und der Wirt gehört hatten. Dadurch sollte der Eindruck erweckt werden, Garner wäre wieder zurückgekommen. Wie Clair den Grundstücksmak ler in die Gruft lockte, lässt sich nicht feststellen. Irgendeine Ausrede muss er erfunden haben. Tatsache ist, dass John Garner zusammen mit Pat Clair in der Gruft war.« »Das getrocknete Blut an dem Greifer und dann das Kupferband«, bemerkte Constabler Dudley. »Richtig. Und für den Transport von Garners Leiche zu dem Teu felsloch hatte er sich einen Schubkarren hergerichtet.« »Dann hat er ihn im Gebüsch versteckt und ist nach Hause zurück geschlichen«, warf Dudley ein. »Genau, Constabler. Die Geräusche, die einige Leute in der Nacht zu hören glaubten, waren die des Schubkarrens. Der größte Fehler jedoch waren die Spuren, die er vor dem Höh leneingang hinterließ. Damit wollte er der Monsterlegende mehr Glau ben verschaffen - und verriet sich selbst. Das vermutete auch Mora Dunn, deshalb bat sie ihre Pflegerin, ihren Bruder ins Haus zurückzu holen. Sie ahnte, ihn könnte am Schauplatz seines Verbrechens die gerechte Strafe treffen.« »Und das traf dann ja auch zu«, warf Dudley ein. »Völlig richtig«, bestätigte der Sergeant. »Aber ein perfekter Mord war weder der eine noch der andere.« 107
»Viel hätte daran nicht gefehlt«, sagte Dudley wieder. »Wieso kamen Sie überhaupt darauf, dass Clair der Mörder ist? Er schien doch ein einwandfreies Alibi zu haben.« »Das ist ein Irrtum, Constabler«, erwiderte Kelston. »Schon bei Lohmanns Graböffnung verhielt er sich äußerst merkwürdig. Wahr scheinlich hat er auch die Leiche gestohlen und sie irgendwo versteckt, damit die Monstergeschichte glaubwürdiger klang.« »Am Anfang haben Sie doch auch an die Ungeheuer geglaubt, o der etwa nicht?« »Eine vage Möglichkeit, dass irgendein Wesen für Hendersons Tod verantwortlich war, gab es ja. Mora Dunn hatte mit ihrer Bemerkung, mit der sie die Kenntnisse der Wissenschaftler über andersgeartete Wesen in Frage stellte, auch recht. Sie dürfen nicht übersehen, Constabler, dass es Dinge auf Erden gibt, die noch nicht restlos geklärt sind. Der Aberglaube an diese Ungeheuer hat also seine Berechtigung. Ob diese Wesen tatsächlich existieren, dazu fehlen uns die Beweise. Das ist jetzt ja auch völlig egal. Die Morde sind geklärt und somit der Fall abgeschlossen.« Sergeant Kelston blickte auf seine Armbanduhr, krauste die Stirn und stieß einen leisen Pfiff aus. »Spät«, sagte er. »Höchste Zeit zum Lunch. Kommen Sie, Constabler, ich lade Sie zum Essen ein!« Während sie zum Gasthaus gingen, machte sich Dudley eigene Gedanken über die Ausrüstung und die Monster. Aber davon würde der Sergeant wohl nie etwas erfahren. Wenn sich auch der Mantel des Schweigens über alles legte, dach te Kelly-Ross doch öfters an ihren merkwürdigen Traum und die Mons terstimme, die da sagte: »Wir werden Rache nehmen.« »Es gibt die tollsten Dinge im Leben«, sagte Edward Thomsen zu seiner Tochter. »Aber gegen das Bizarre und Übernatürliche sind wir Menschen machtlos...«
Ende
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