Charmed 26
Zauberhafte Schwestern
Hexen in Hollywood
Roman von Marc Hillefeld
Klappentext: San Francisco stöhnt un...
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Charmed 26
Zauberhafte Schwestern
Hexen in Hollywood
Roman von Marc Hillefeld
Klappentext: San Francisco stöhnt unter der gewaltigsten Hitzewelle seit Menschengedenken. Auch bei Phoebe Halliwell geht es heiß her – in jeder Beziehung. Als sie mitten in der Stadt gegen eine lebende Mumie kämpft, stellt sie fest, dass sie plötzlich auf den Set eines Horrorfilms geraten ist. Schon bald darauf fängt sie mit ihrer Schwester Paige beim Film an: als Beraterin für okkulte Fragen. Ein Traum wird wahr – und dann ist da auch noch Andy, der junge, gut aussehende Regisseur, auf den ganz besonders Paige ein Auge geworfen hat … Zur gleichen Zeit hält eine geheimnisvolle Mordserie die Stadt in Atem. Offensichtlich steckt ein verrückter Serienkiller hinter den bizarren Taten. Aber dann kommt den drei Zauberhaften ein schrecklicher Verdacht: Könnten die Dreharbeiten von Sream XTreme etwas mit der Mordserie zu tun haben? Piper, Phoebe und Paige nehmen die Spur auf – und entdecken zu ihrem Entsetzen, dass die Wirklichkeit unheimlicher sein kann als der furchtbarste Horrorfilm …
Dieses eBook ist nicht zum Verkauf bestimmt.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern. Hexen in Hollywood« von Marc Hillefeld entstand nach einer Idee von Torsten Dewi und auf der Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Spelling Television, ausgestrahlt bei ProSieben. © des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Television GmbH ® & © 2003 Spelling Television Inc. All Rights Reserved. 1. Auflage 2003 © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Ilke Vehling Produktion: Wolfgang Arntz Umschlaggestaltung: Sens, Köln Titelfoto: © Spelling Television Inc. 2003 Satz: Kalle Giese, Overath Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 5-8025-5214-7 Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: www.vgs.de
Prolog PHOEBE HALLIWELL WISCHTE SICH eine Haarsträhne aus der Stirn und nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche. Obwohl die Sonne schon bald hinter den Wolkenkratzern versinken würde, war die Luft immer noch stickig und heiß. »Der kälteste Winter, den ich je erlebt habe, war der Sommer in San Francisco«, hatte Mark Twain einst gesagt. Aber der hatte wohl noch nichts vom Treibhauseffekt geahnt, dachte Phoebe. Es stimmte schon, normalerweise wehte immer ein kühler Seewind durch die Stadt, aber von dieser erfrischenden Brise war im Augenblick nichts zu spüren. Seit Tagen schon schien sich die Luft über der Stadt nicht mehr zu bewegen, und die andauernde Hitze machte allen zu schaffen. Die sonst eher gelassenen Bürger von San Francisco litten sehr unter diesen Temperaturen. Die Kriminalitätsrate, so hatte Phoebe gehört, war wie immer bei einer Hitzewelle gestiegen und die allgemeine Stimmung war gereizt. Das hatte sie auch heute in der Redaktion zu spüren bekommen. Nicht nur die Interviewpartner, auch ihre Kollegen waren den ganzen Tag schlecht gelaunt gewesen, und dass die Klimaanlage des Redaktionsgebäudes unter dem Ansturm der Hitze zusammengebrochen war, hatte auch nicht gerade zu einer Verbesserung beigetragen. Der Arbeitstag in einem Büro, das sich von Stunde zu Stunde immer mehr aufheizte, forderte seinen Tribut. Phoebe war fix und fertig. Um sich etwas zu entspannen und vielleicht eine kühle Abendbrise genießen zu können, hatte sie sich entschlossen, heute einmal zu Fuß nach Hause zu gehen. Das alte Halliwell-Haus lag zwar einen ordentlichen Fußmarsch von ihrem Arbeitsplatz entfernt, aber etwas frische Luft würde ihr gut tun. Zumindest hatte Phoebe das gedacht. Nun bereute sie ihren Entschluss gleich doppelt: Die Luft war schwül und alles andere als frisch. Und die Route, die sie sich ausgesucht hatte, führte sie immer weiter fort von den glitzernden Wolkenkratzern in die Altstadt San Franciscos. Eigentlich eine malerische Gegend, die noch viel vom Flair der alten Küstenstadt bewahrt hatte. Doch es gab auch einen Grund, warum die meisten Stadtführer ihren Lesern rieten, diesen Teil der Stadt bei Dunkelheit besser zu meiden.
Die romantischen, zum Teil Jahrhunderte alten Fassaden der Häuser ringsum ließen einen leicht vergessen, dass man sich hier in den Außenbezirken einer amerikanischen Großstadt befand. Und das war immer ein gefährliches Pflaster, egal an welcher Küste des Kontinents man sich aufhielt. Während die Sonne immer tiefer sank, blickte Phoebe sich um. Dies war zwar nicht Los Angeles, aber die Gegend wurde ihr zunehmend unheimlicher. Aus einem der heruntergekommenen Häuser dröhnte harte Hip-Hop-Musik herüber, und von irgendwo drangen zwei Stimmen zu ihr, die einem sich streitenden Ehepaar gehörten. Die stickige Hitze schürte die Aggressionen, machte reizbar und gewalttätig. Nun beruhige dich mal, ermahnte sich Phoebe. Immerhin war sie eine der drei Zauberhaften und hatte als solche schon gegen Dämonen gekämpft, die jenseits der Vorstellungskraft anderer Menschen lagen. Neben ihren Hexenkräften verfügte sie außerdem über eine jahrelange, intensive Ausbildung in allen Kampfsportarten – wenigstens dafür hatte Cole, ihr ehemaliger, dämonischer Liebhaber gesorgt. Trotzdem fühlte Phoebe sich nicht wohl in ihrer Haut. Ihre Kräfte gegen Dämonen einzusetzen, war einfach. Dabei konnte sie alles geben, ohne Rücksicht auf Verluste was die Gegner betraf. Gegen Menschen zu kämpfen, war etwas ganz anderes. Als Zauberhafte war es ihre Aufgabe, Menschen zu schützen, also durfte sie, wenn möglich, auch keine verletzten. In einem direkten Kampf war sie deshalb immer ein wenig im Nachteil, weil sie ihre Kräfte zurückhalten musste, um ihren Gegner nicht ernsthaft zu gefährden. Phoebe erschrak, als eine dunkle Gestalt aus einem Hauseingang trat. »Haben Sie sich verlaufen, Miss?« Ein hagerer, aber sehnig-muskulöser Typ in einem durchgeschwitzten Feinripp-Unterhemd trat ins Licht der Abendsonne. Er blickte Phoebe grinsend an. Seine Frage klang dabei alles andere als hilfsbereit, eher wie eine Herausforderung. Im Mundwinkel des Mannes glomm eine Zigarettenkippe, in einer Hand hielt er eine Flasche Bier.
Alkohol und Hitze – das war keine besonders gute Mischung, dachte Phoebe. Ihr fiel auf, wie deplatziert sie in dieser Umgebung wirken musste. Im Gegensatz zu vielen Kolleginnen aus der Redaktion war sie zwar nicht aufgebrezelt, aber für diese heruntergekommene Gegend war sie eindeutig overdressed. Ihr einfaches Kostüm mit dem aufgestickten Blumenmuster musste für die Einwohner dieses Viertels wie eine Provokation wirken. »Ich komme schon zurecht, vielen Dank!«, rief Phoebe dem Mann zu. Sie versuchte, so viel Selbstvertrauen wie möglich in ihre Stimme zu legen und blickte den Mann dabei direkt in die Augen. Die Zigarette im Mundwinkel des Fremden hob sich in die Luft, als er ein breites Grinsen aufsetzte. »Sie sollten auf sich aufpassen, Miss. Das hier ist eine gefährliche Gegend.« Eine berechtigte Warnung, ausgesprochen mit dem Tonfall einer Drohung. Phoebe nickte nur flüchtig mit dem Kopf, als der Mann im Unterhemd wieder im Schatten des Hauseinganges verschwand. Es war wirklich keine besonders gute Idee gewesen, diese Gegend zu Fuß durchqueren zu wollen. Die junge Hexe wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Es war nicht mehr allein die Hitze, die sie zum Schwitzen brachte. Die Gegend wurde immer finsterer und im wahrsten Sinne des Wortes dunkler. Die Sonne war mittlerweile noch tiefer gesunken, und die aus Holz gebauten Häuser warfen lange Schatten, in deren Schutz sich alles Mögliche verbergen konnte. Ein paar Mülltonnen, die offenbar seit Tagen nicht mehr geleert worden waren, verbreiteten einen süßlichen Gestank. Und da, zwischen einem Haufen achtlos auf den Bürgersteig geworfener Müllsäcke, wühlte tatsächlich eine fette Ratte nach ihrem Abendessen. Das reicht jetzt, dachte Phoebe und griff nach ihrem Handy. Auch wenn es ihrem schmalen Geldbeutel bestimmt nicht gut tat, würde sie sich jetzt ein Taxi rufen. Zum Glück war die Nummer der Taxizentrale eingespeichert. Sie hatte gerade das elektronische Telefonbuch ihres Handys aktiviert, als sie den Schrei hörte.
Innerhalb einer Sekunde war die Sorge um ihre eigene Sicherheit vergessen. Phoebe blickte sich um. Irgendwo hier in der Nähe war ein Mensch in Gefahr – der Tonlage zufolge eine Frau. Über Phoebes Kopf wurde ein Fenster zugeschlagen. Die Anwohner dieser Gegend ahnten offenbar, dass dies nur Ärger bedeutete und beschlossen deshalb, sich rauszuhalten. Ein Verhalten, das nicht nur für diese Umgebung typisch war. Obwohl sie sich darüber ärgerte, verdrängte Phoebe diese Gedanken. Irgendwo hier in der Nähe schrie eine Frau in Todesangst. Sie musste helfen. Wenn sie sich nicht getäuscht hatte, war der Schrei aus einer schmalen, dunklen Gasse gekommen, die links von ihr abzweigte. Ausgerechnet. In dieser düsteren Gegend konnte sie bestimmt nicht mit hilfreichen Passanten rechnen. Aber das durfte sie nicht abhalten. Phoebe stürmte los und setzte zu einem beeindruckenden Sprung über eine umgestürzte Mülltonne an. Ein paar Ratten, die sich bei ihrem Abendessen gestört fühlten, protestierten quietschend, aber Phoebe war schon verschwunden. Die junge Hexe blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Der Gestank von Tage altem Müll war auf der Hauptstraße schon unangenehm gewesen, hier war er beinahe unerträglich. Phoebe wusste nicht, ob sie auf der richtigen Spur war. Doch eine Sekunde später bestand kein Zweifel mehr daran. Ein neuer Schrei, diesmal in höchster Todesangst, hallte durch die Gasse. Phoebe stürmte vorwärts. Innerlich bereitete sie sich darauf vor, hinter der nächsten Biegung auf eine Straßengang zu stoßen, die eine Passantin bedrängte. Bestenfalls auf ein paar Betrunkene, die immerhin leichte Gegner sein würden. Doch als die junge Hexe um die Kurve rannte, verschlug es ihr den Atem. Es war einfach zu bizarr. Etwa zehn Meter vor ihr lag eine junge, blonde Frau auf dem schmutzigen Asphalt. Offensichtlich war sie bei der Flucht gestürzt und hatte sich dabei verletzt, denn sie hatte das linke Bein angezogen und hielt sich den Fußknöchel. Noch hatte die Frau Phoebe nicht
bemerkt. Ihr Gesicht war vor Schmerz und Angst verzerrt, und sie blickte auf ihren Angreifer. Mit schwankenden, aber zielstrebigen Schritten näherte sich die Gestalt ihrem Opfer. Von ihren Armen, die nach vorne gestreckt waren, hingen schmutzige Stofffetzen herab. Auch der Rest des Körpers war von Kopf bis Fuß mit Bandagen bedeckt. Dort, wo normalerweise die Augen hätten sein sollen, klafften nur zwei dunkle Löcher, von denen ein rötliches Schimmern ausging. So unfassbares war – die hilflose Frau wurde von einer ägyptischen Mumie bedrängt. Aber der Angreifer war gerade mal dreißig Zentimeter groß! Phoebe traute ihren Augen nicht. Obwohl die Frau am Boden einen weiteren Schrei in höchster Todesangst ausstieß, blieb sie unwillkürlich stehen. Ihr Verstand brauchte einfach ein paar Sekunden, um dieses absurde Bild zu verarbeiten. Phoebe hatte schon viel gesehen und gegen die ungewöhnlichsten Kreaturen gekämpft – aber ein ägyptischer Mumien-Zombie in Puppengröße mitten in San Francisco? »Immer, wenn du glaubst, du hättest schon alles gesehen …«, murmelte sie kopfschüttelnd. Dann hatte sie ihre Überraschung überwunden. Egal, wie ungewöhnlich die Gefahr auch sein mochte – sie war real. Und die Mini-Mumie hatte ihr hilfloses Opfer fast erreicht. »Hey, dich haben sie wohl zu eng gewickelt!«, rief Phoebe der Mumie zu. »Lass die Frau in Ruhe!« Die Mumie reagierte gar nicht und wankte weiter auf ihr Opfer zu. Nur die Frau am Boden blickte erstaunt auf. Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie über Phoebes Auftauchen irritierter als über ihren eigentlichen Angreifer. Seltsam, dachte Phoebe noch, aber zum Nachdenken blieb jetzt keine Zeit mehr. Die junge Hexe machte einen Satz über das am Boden liegende Opfer und setzte noch im Sprung zu einem PowerKick an. Bei diesem winzigen Gegner würde es wahrscheinlich gar nicht nötig sein, ihre Hexenkräfte einzusetzen. Ein einfacher KarateTritt sollte genügen. Umso besser, das ersparte ihr nachher umständliche Erklärungen.
Wie ein Racheengel sauste Phoebe durch die Luft. Der Absatz ihres vorgestreckten rechten Fußes traf die Mini-Mumie mit voller Wucht am Brustkorb. Es gab ein seltsam metallisches Geräusch, als der eingewickelte Zombie in hohem Bogen durch die Luft geschleudert wurde und mit lautem Scheppern gegen eine Mülltonne prallte. Dann schlug er auf dem Asphalt auf und blieb bewegungslos liegen. Der ist bedient, dachte Phoebe und wendete sich dem Opfer zu. Die junge Frau lag immer noch am Boden und blickte Phoebe an. Aber der erstaunte Blick in ihren Augen war einem bösen Funkeln gewichen. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, rief eine Stimme aus dem Schatten. »CUT! CUT! Die Szene ist im Eimer!« Phoebe schluckte. Was zum Teufel wurde hier gespielt?
1 NICHT MAL EIN KLEINES BISSCHEN?«
»
»Nein!« »Einen winzigen Zauber?« »Keine Chance!« »Eine ganz kurze Mini-Beschwörung? Bitte!« »Nein, Paige, vergiss es! Es ist gegen die Regeln, die Magie aus dem Buch der Schatten zum eigenen Vorteil zu nutzen. Basta!« Paige verdrehte die Augen. Seit einer halben Stunde quengelte sie nun schon herum, aber Piper blieb unerbittlich. Dabei war die Hitze im alten Halliwell-Haus nicht mehr auszuhalten. Die beiden Schwestern hatten bereits sämtliche Fenster aufgerissen, selbst die Haustür stand sperrangelweit offen. Trotzdem wehte nicht einmal die Andeutung eines erfrischenden Lufthauches durch das Haus. Paige würde bei dieser Hitze heute Nacht kein Auge schließen können, so viel war klar. »Piper, was kann denn daran so schlimm sein?« Paige startete einen letzten Versuch. »Ich bin sicher, im Buch der Schatten gibt es irgendeinen Spruch, der … ich weiß nicht, die Windgeister beschwört und ein bisschen auf Trab bringt. Ich gehe ein bei der Hitze!« Piper Halliwell schüttelte noch einmal den Kopf und öffnete die Kühlschranktür. »Wenn du eine Erfrischung willst, nimm dir eine Limonade. Wie alle anderen Menschen auch.« »Alle anderen Menschen haben aber auch eine Klimaanlage«, jammerte Paige und nahm trotzdem dankbar die Cola-Dose entgegen, die Piper ihr hinhielt. Anstatt sie zu öffnen, drückte sie sich die Dose an die Stirn und genoss die kühlende Wirkung – wenn diese auch nur Sekunden anhielt. Piper konnte ihre Schwester ja verstehen. So schön es auch war, in einem alten Familienanwesen zu leben – im Sommer glich es einem Treibhaus. Als es im vorletzten Jahrhundert erbaut wurde, hatten die Menschen von einer Klimaanlage bestimmt noch nichts gehört. Natürlich wäre es leicht gewesen, im Buch der Schatten nach einem
Zauber zu suchen, der sie mit etwas Kühlung versorgt hätte, aber das verstieß gegen die Regeln. »Die Gefahr ist einfach zu groß«, erklärte Piper ihrer jüngeren Halbschwester. »Erst beginnt man damit, sich kleine Annehmlichkeiten herbeizuzaubern, und dann kommt man auf den Geschmack und will immer mehr. Und irgendwann …« Paige winkte ab. »Und irgendwann verfällt man der dunklen Seite der Macht«, sagte sie mit einem theatralisch überzogenen Keuchen. »Ich habe auch ›Star Wars‹ gesehen, ich weiß Bescheid. Trotzdem ist es unfair. Wir nehmen so viel auf uns, um die Welt vor irgendwelchen dämonischen Finsterlingen zu schützen und dürfen uns dafür nicht mal die kleinsten Freiheiten herausnehmen.« Eingeschnappt öffnete Paige ihre Cola-Dose und saugte geräuschvoll den bräunlichen Schaum ab, der ihr entgegenströmte. Sie konnte Pipers Argumente ja verstehen, aber fair war es trotzdem nicht. »Sag mal, wo bleibt eigentlich Phoebe?«, fragte Piper, um das Thema zu wechseln. »Es ist schon nach sechs, sie müsste doch längst hier sein.« »Vielleicht macht sie ja Überstunden. In ihrem schönen, modernen, vollklimatisierten Büro. Langsam bereue ich es, meinen Job beim Sozialbüro gekündigt zu haben. Die hatten wenigstens eine Klimaanlage.« »Ich rufe sie besser mal auf ihrem Handy an«, entschied Piper und ignorierte den vorwurfsvollen Ton ihrer Halbschwester. Sie ging zum Telefon an der Küchenwand und tippte Phoebes Nummer ein. »Hoffentlich steckt sie nicht in Schwierigkeiten«, sagte sie mit sorgenvollem Gesicht. Phoebe blickte auf die wütenden Gestalten, die sie in der engen Gasse umringten. »Piper, das ist jetzt gerade ein ungünstiger Moment«, sprach Phoebe in ihr Handy und steckte es wieder ein. Sie hatte keine Ahnung, in was sie da geraten war, aber diese fünf jungen Männer und Frauen, die plötzlich aus dem Dunkel eines Hauseingangs aufgetaucht waren, sahen nicht besonders freundlich aus.
»Du dämliche Schlampe«, rief die Frau, die von Phoebe gerade vor der Mini-Mumie gerettet worden war. »Du hast meine ganze Szene vermasselt!« Phoebe schluckte. Sie hatte nicht erwartet, dass die Frau ihr vor Dankbarkeit um den Hals fallen würde, aber ein paar nette Worte wären schon angebracht gewesen. Dann erst begriff Phoebe. Szene? Natürlich. Die junge Hexe blickte sich um. Die Gruppe, die aus dem Hauseingang herausgestürmt war, musste ein Filmteam sein. In ihrer Verwirrung bemerkte Phoebe erst jetzt, dass einer der Männer – ein untersetzter Typ mit Vollbart -eine professionelle Videokamera unter dem Arm trug. Ein anderer, offensichtlich sein Kollege, hielt etwas in der Hand, das wie eine Angel aussah, an dem ein pelziges Mikrofon baumelte. Die bunt gemischte Filmcrew blickte Phoebe böse an. Abwehrend hob sie die Hände. »Okay, Leute«, begann sie, »könnte mir netterweise jemand erklären, was hier eigentlich los ist?« »Was los ist?!«, keifte das blonde ›Opfer‹ neben ihr. »Das kann ich dir sagen! Du hast die ganze Szene ruiniert! Meinst du etwa, es macht mir Spaß, den halben Tag auf dieser schmuddeligen Straße herumzuliegen?« Erst jetzt hatte Phoebe Zeit, die blonde Frau etwas näher zu betrachten. Die Schrammen und Kratzer, die ihr ansonsten makelloses Gesicht verunstalteten, waren nur das Werk eines geschickten Makeup-Künstlers. Auch bei den zerzausten, goldblonden Haaren hatte jemand mit einer kräftigen Dosis Haarspray nachgeholfen. Unter dieser Aufmachung verbarg sich, das musste Phoebe eingestehen, eine sehr attraktive Frau – auch wenn ihr Gesicht jetzt durch einen hasserfüllten Blick verzerrt war. Und der war echt. Phoebe hatte schon Angst, die Schauspielerin würde auf sie losgehen, als eine ruhige Stimme ertönte. »Beruhige dich, Virginia. Wir drehen die Szene einfach noch einmal. Ist doch kein Beinbruch.«
Phoebe blickte an der Schauspielerin – Virginia – vorbei auf den jungen Mann, der lächelnd hinter ihr stand. Er konnte nicht älter sein als Ende zwanzig. Das modische Grunge-Bärtchen, das sein Kinn umgab, sollte ihn wohl etwas älter aussehen lassen, doch die blitzenden, braunen Augen machten diese Wirkung mit Leichtigkeit wieder zunichte. Etwas verlegen, fast so als ob er etwas falsch gemacht hätte, strich er sich eine braune Haarlocke aus der Stirn und lächelte Phoebe an. »Es tut mir Leid, wenn wir Sie erschreckt haben, Miss. Mein Name ist Andy Stewart. Wir drehen hier gerade eine Szene für meinen neuen Film. ›Scream X-Treme‹. Na ja, streng genommen ist es auch unser erster Film.« »Dein erster Film vielleicht, Andy«, knurrte Virginia. »Ich habe schon in einigen Produktionen mitgewirkt, vergiss das nicht immer.« Im Hintergrund lachte der Kameramann auf. »Ja, in einer Werbung für Hundefutter, in der der Pudel dich dann auch noch an die Wand gespielt hat.« Prustend stieß der Mann mit der Mikrofon-Angel seinem Kollegen mit der Kamera den Ellbogen in die Rippen. »Der war nicht schlecht, Pete.« »Ihr könnt mich mal!«, rief die blonde Schauspielerin. »Ich habe die Nase voll! Ich will nach Hause! SOFORT!« Wütend stapfte Virginia davon. Andy Stewart, der Regisseur, seufzte. »Für heute können wir den Dreh wohl abschreiben.« Dann blickte er nach oben. Die Sonne war bereits untergegangen, und die Schatten in der engen Gasse wurden immer länger. »Was soll's. Es ist sowieso zu dunkel.« Phoebe blickte den jungen Filmemacher an. Obwohl er sich betont ruhig gab, schien ihm der geplatzte Dreh alles andere als gleichgültig zu sein. »Es tut mir wirklich Leid, wenn ich Ihre Aufnahmen durcheinander gebracht habe. Aber ich hörte diesen Schrei und dachte, es wäre irgendetwas passiert. Ich konnte ja nicht ahnen, dass alles nur eine Filmszene ist. Wird denn so ein Filmset normalerweise nicht abgesperrt?«
Andy räusperte sich verlegen. »Nun ja, sagen wir mal, ›Scream XTreme‹ ist eine extreme Independent-Produktion. Wir drehen mit einem minimalen Budget, für ein winziges Hinterhof-Studio. Wir haben überhaupt nicht das Geld, um bei der Stadt Genehmigungen einzuholen und eine Straße absperren zu lassen. Was wir hier machen, ist sozusagen ›Guerilla-Filmen‹.« Der junge Regisseur grinste verschmitzt. »›Guerilla-Filmen‹?« »Tja, wir suchen uns eine passende Location – also einen Drehort – filmen die Szene, die wir brauchen und verschwinden wieder. Im besten Fall, bevor jemand überhaupt etwas mitbekommt oder Fragen stellt. Nicht ganz legal, aber unser minimales Budget reicht für alles andere nicht aus. Das Geld, das wir für unseren gesamten Film zur Verfügung haben, ist weniger als das, was ein Kabelträger bei einer großen Hollywood-Produktion verdient«, seufzte Andy. So war das also. Denn als Einwohnerin von San Francisco war Phoebe schon des Öfteren an Dreharbeiten vorbeigekommen und wusste, dass normalerweise ganze Straßenzüge unter Polizeibewachung abgesperrt wurden. Die Filmleute brachten eine ganze Armee von Technikern, Assistenten und anderen Hilfskräften mit. Aber dies hier – dieses ›Guerilla-Filmen‹ – hatte einen ganz anderen Flair, fand sie. Es klang fast nach einem Abenteuer. Und sie hatte die Arbeit eines ganzen Tages ruiniert. Trotzdem atmete Phoebe innerlich auf. Nur gut, dass sie ihre Kräfte nicht eingesetzt hatte. »Es tut mir echt Leid«, wiederholte sie, »dass ich euren Dreh ruiniert habe. Aber ich dachte wirklich, jemand wäre in Todesgefahr.« »Und du hast sicher nicht schlecht gestaunt, als du unsere MiniMumie gesehen hast, was?«, fragte Andy, indem er zwanglos zum Du überging. Wenn du wüsstest, dachte Phoebe, was ich schon für Kreaturen gesehen habe. Sie musste sich ein Lächeln verkneifen. »Ah, ja, das war schon ein ganz schöner Schock«, antwortet sie. »Ich dachte schon, ich hätte einen Hitzschlag, oder so etwas.« »Das kann ich mir vorstellen. Tut mir Leid, wenn wir dich geschockt haben. Unsere Mumie sieht ganz schön echt aus, was?«
»Allerdings«, sagte Phoebe und blickte sich um. Was war eigentlich mit diesem komischen Mini-Monster geschehen? Sie und Andy blickten zu der Stelle, wo die Mumie gelandet war. Ein hagerer junger Mann in einem schwarzen T-Shirt kniete kopfschüttelnd vor der kleinen Monster-Puppe, die mit weit von sich gestreckten Gliedern im Staub der Straße lag. Der Mann drehte Phoebe den Rücken zu, aber seine Schultern zuckten, als kämpfe er mit den Tränen. Dann drehte er sich um. Langes, leicht fettiges schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn. Er war blass im Gesicht, was bei dem augenblicklichen Sommerwetter nur bedeuten konnte, dass er nicht viel Zeit an der frischen Luft verbrachte. Aus dunklen, fast schwarzen Augen blickte er Phoebe an. Sie schluckte, als sie erkannte, dass der junge Mann nicht aus Verzweiflung zitterte. Sondern aus Wut. »Meine Mumie!«, rief er vorwurfsvoll und nahm die Figur in die Arme wie ein krankes Kind. »Du hast sie kaputtgemacht, verdammt!« »Oh, nein«, flüsterte Phoebe. »Das … das wollte ich nicht. Ich wollte doch nur helfen, wirklich!« Andy, der Regisseur, legte Phoebe aufmunternd eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er und ging dann zu dem Mann im schwarzen T-Shirt. »Es war nicht ihre Schuld, Tim. Sie hat es nur gut gemeint. Kriegst du das wieder hin? Bis morgen?« Der junge Mann warf noch einen letzten bösen Blick auf Phoebe, dann lachte er bitter auf. »Bis morgen? Verdammt, Andy, das hier ist eine komplizierte ›Animatronic‹-Figur! Ein ferngesteuertes, kleines Kunstwerk. Und kein Spielzeugroboter aus dem Kaufhaus!« »Ich weiß, Tim. Aber du hast sie doch auch konstruiert. Wenn einer das wieder hinkriegt, dann du.« Phoebe beobachtete schuldbewusst und gleichzeitig fasziniert, wie dieser Tim sich langsam wieder beruhigte. Zu den Fähigkeiten eines Regisseurs, dachte sie anerkennend, gehörte wohl mehr, als nur die Vision eines Films zu entwickeln. Es war scheinbar ebenso wichtig, das Team zusammenzuhalten, das diesen Film drehte. Und Andy
verströmte eine gewisse freundliche Autorität, die ihre Wirkung nicht verfehlte. Sie mochte den jungen Filmemacher schon jetzt. »Na schön, ich versuche es«, knurrte Tim. Dann hob er die Puppe vorsichtig auf und ging damit an Phoebe vorbei, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Die anderen Mitglieder des Teams waren bereits dabei, ihre Ausrüstungsgegenstände zu verpacken, als ein paar Blocks weiter das Echo einer Polizeisirene durch die Straßen hallte. »Mist!«, rief Andy und scheuchte sein Team auf. »Die Cops. Packt euren Kram zusammen und dann nichts wie weg. Ich will nicht schon wieder den Abend auf dem Revier verbringen. Und noch ein Bußgeld können wir uns nicht leisten, sonst müssen wir den Rest des Films mit Handpuppen drehen!« Wie von der Tarantel gestochen stopfte die Crew ihre Ausrüstung zusammen. In Sekundenschnelle verschwanden Kamera, TonAusrüstung und Mini-Generatoren in bereitgestellten Sporttaschen. »Tut mir Leid«, sagte Andy bedauernd zu Phoebe. »Aber wir müssen sehen, dass wir Land gewinnen. Filmarbeiten ohne Drehgenehmigung sind eine Ordnungswidrigkeit.« Der junge Regisseur blickte sich hektisch um. Nichts deutete mehr darauf hin, dass hier vor wenigen Minuten noch ein Filmteam an der Arbeit gewesen war. »Unser Kleintransporter steht an der nächsten Straßenecke. Sollen wir dich ein Stück mitnehmen?«, fragte er. Phoebe lächelte und schüttelte dabei den Kopf. »Nein, danke. Ich bin zu müde, um heute noch Bullitt nachzuspielen.« Andy lächelte die junge Hexe staunend an. Bullitt war ein alter, berühmter Action-Film mit Steve McQueen, der in einer schon klassischen Auto-Verfolgungsjagd durch San Francisco gipfelte. Und es war einer von Phoebes Lieblingsfilmen. »Du kennst dich ja wirklich aus«, stellte der Regisseur voller Bewunderung fest. Die Polizeisirene wurde lauter. »Hey, Andy!«, rief Pete, der Kameramann. »Was ist jetzt? Die Cops sind gleich hier – und du hast die Wagenschlüssel!«
»Ich komme!«, antwortete Andy und drehte sich noch einmal zu Phoebe um. »Sag mal, wir drehen morgen Abend wieder. Unten am Pier 17. Möchtest du nicht vorbeikommen? Ich meine nur, wenn es dich interessiert?« Phoebe brauchte gar nicht lange nachzudenken. »Aber gern. Ich komme vorbei. Aber du solltest jetzt besser verschwinden.« Andy nickte und spurtete seinen Kollegen hinterher. »Übrigens, ich heiße Phoebe!«, rief Phoebe ihm noch hinterher. »Bis morgen!« Andy verschwand als Letzter hinter der Straßenecke. Mit schnellen Schritten ging auch Phoebe aus der Gasse hinaus zurück auf die Hauptstraße. Sie war gerade ein paar Meter weit gekommen, als ein Polizeiwagen mit Blaulicht neben ihr hielt. Der Polizist auf der Fahrerseite schob seine Sonnenbrille auf die Nasenspitze und blickte Phoebe an. Er sah nicht gerade aus wie Steve McQueen. »Wir suchen nach einem illegalen Filmteam, Miss. Haben Sie hier irgendetwas Ungewöhnliches gesehen?« Aber sicher, dachte Phoebe. Eine elektronische Mini-Mumie, eine zickige Möchtegern-Diva und einen süßen Nachwuchsregisseur. Dann kreuzte sie die Finger hinter dem Rücken. »Etwas Ungewöhnliches? Nein, tut mir Leid, Officer.« Der Polizist blickte Phoebe misstrauisch an, dann fuhr der Wagen wieder an. »Sie sollten sich nicht allein in dieser Gegend herumtreiben«, sagte der Polizist noch durchs offene Fenster. »Man kann nie wissen, was einem hier alles passiert!« »Da haben Sie allerdings Recht«, murmelte Phoebe und lächelte.
2 DIE SONNE WAR SCHON UNTERGEGANGEN, als Piper eine Hand voll Kräuter in den Topf warf. Ein kurzes Zischen, dann stieg eine aromatische Wolke auf und erfüllte die Küche des HalliwellHauses mit ihrem Duft. Ausnahmsweise war es kein Zauberelixier, das Piper da zusammenmixte. Sie probierte nur ein paar neue Rezepte für das P3. Piper war ständig bemüht, die Gäste ihres Lokals bei Laune zu halten – nicht nur mit guter Musik und Live-Auftritten kleinerer, aufstrebender Bands, sondern auch mit immer neuen, kulinarischen Kreationen. Normalerweise machte es ihr einen großen Spaß, neue Rezepte auszuprobieren, und ihre beiden Schwestern als Testesser einzuspannen. Paige beschwerte sich bereits, dass sie mindestens zwei Kilo zugenommen hätte, seit sie zu ihren Schwestern gezogen war. Aber heute war Piper eher lustlos. Es war einfach zu heiß. Vergeblich hatten sie und Paige – wie der Rest der Stadt – auf einen kühlen Abendhauch gewartet. Immer noch waren alle Fenster des Hauses weit aufgerissen, aber kein Lüftchen regte sich. Stattdessen gaben die alten Holzfassaden die Hitze, die sie tagsüber gespeichert hatten, nun wieder ab. Piper seufzte und schaltete die Gasflamme des Herdes aus, als sie ein Geräusch an der Haustür hörte. Es war Phoebe. »Hey, Leute!«, rief sie erschöpft, aber fröhlich. »Ich bin wieder da! Ihr ratet nie, was mir passiert ist!« »Hast du dich mal wieder in einen Dämon verliebt?« Paiges Stimme kam aus dem Wohnzimmer. Sie saß schon seit Stunden auf dem Sofa und schaute sich irgendwelche alten Filme auf dem Kabelkanal an. »Sehr witzig«, antwortete Phoebe nur und warf ihre Schlüssel auf die Kommode neben der Tür. Piper wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und trat in den Flur. »Phoebe, wo kommst du denn jetzt her? Und warum warst du vorhin am Telefon so komisch?«
»Das wollte ich euch ja gerade erzählen. Aber erst brauche ich etwas zu trinken. Ich komme um vor Durst.« »Bring mir eine Diät-Cola mit!«, rief Paige vom Wohnzimmer aus. Ein wölfisches Knurren ertönte aus den Lautsprechern des Fernsehers. »Geht klar, Miss Couch-Potatoe.« Phoebe öffnete die Kühlschranktür und nahm zwei Dosen Cola heraus. »Möchtest du auch eine, Piper?« Piper schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Bei dieser Hitze ist es besser, etwas Warmes zu trinken. Das erfrischt mehr.« »Das möchte ich bezweifeln.« Es gab ein lautes Zischen, als Phoebe die Dose öffnete und sie mit ein paar hastigen Zügen fast bis zur Hälfte leerte. »Ich auch!«, rief Paige vom Wohnzimmer aus. »Zu spät! Piper kocht dir gerade eine heiße Milch mit Honig!«, rief Phoebe fröhlich. Ein gespieltes Würgegeräusch aus dem Wohnzimmer ließ die beiden Schwestern auflachen. »Paige, also bitte!«, rief Piper, dann gingen die beiden Schwestern ins angrenzende Wohnzimmer hinüber. Paige saß in Pyjama-Shorts und einem schlabberigen T-Shirt auf dem Sofa. Sie blickte kaum auf, als Phoebe ihr die Cola-Dose zuwarf. Gebannt starrte Paige auf den Bildschirm, auf dem eine Frau gerade von einem Werwolf durch eine Landschaft gejagt wurde – in schwarzweiß. »Nanu, sind uns die Farben ausgegangen?«, fragte Phoebe grinsend. Ohne aufzuschauen, öffnete Paige die Dose. Die braune Brause spritzte heraus. »Paige, mach mir ja keine Cola-Flecken auf den Sofa-Bezug. Die kriege ich nie wieder raus!«, ermahnte sie Piper. Die beiden jüngeren Schwestern verdrehten die Augen. Paige wandte sogar ihren Blick kurz vom Fernseher ab. Seit Piper die älteste der Halliwell-Schwestern war, übertrieb sie es mit ihrer AufpasserRolle manchmal ein wenig. Dabei meinte sie es eigentlich nur gut.
»Könntet ihr jetzt mal etwas ruhig sein?«, fragte Paige genervt. »Ich möchte diesen Film zu Ende schauen. Das ist einer meiner Lieblings-Horrorfilme, ein echter Klassiker, falls es euch interessiert!« »Ich hasse Horrorfilme«, stöhnte Piper. »Klar, du prügelst dich ja auch lieber mit echten Monstern, stimmt's?«, fragte Phoebe schnippisch. »Aber das wollte ich euch ja gerade erzählen …« »Was, du hast gegen ein Monster kämpfen müssen?« Sofort klang echte Besorgnis aus Pipers Stimme. Phoebe winkte lächelnd ab. »Ach, Quatsch. Ich bin zu Fuß nach Hause gegangen und bin dabei prompt auf einem Filmset gelandet. Das Set eines Horrorfilms, genauer gesagt.« Sofort hatte Paige den Film vergessen. »Was denn? Echt? Und, hast du einen berühmten Star getroffen? George Clooney? Brad Pitt?« Phoebe lachte auf. »Nein, leider nicht. Obwohl der Regisseur auch ganz süß war …« Phoebe ignorierte Paiges bedeutungsvolles Grinsen und berichtete von ihrem kleinen Abenteuer mit der Mini-Mumie. Paige war sofort fasziniert, nur Piper runzelte die Stirn. »Gut, dass du deine Kräfte nicht eingesetzt hast. Es wäre schwer gewesen, das jemandem zu erklären – besonders, wenn auf einem Video zu sehen wäre, wie du durch die Gegend schwebst und Monster vermöbelst.« Paige griff nach der Fernbedienung. Auf dem Bildschirm wurde der Werwolf gerade vom Helden der Geschichte mit einer silbernen Kugel getötet. Sein tödlich verwundetes Aufheulen verstummte abrupt, als Paige die ›Stumm‹-Taste drückte. »Aber jetzt erzähl doch mal von den Film, Phoebe. Und von der Filmcrew. Der Regisseur war süß, sagtest du?« Phoebe zuckte mit den Schultern. »Ja, ziemlich. Dafür war der Star des Films eine ziemliche Zicke. Virginia Soundso … ehrlich gesagt habe ich von der Frau noch nie etwas gehört. Und viel Zeit, um die Leute kennen zu lernen, hatte ich auch nicht. Denn plötzlich kam die Polizei, und sie mussten vom Set flüchten.« »Die Polizei?« Piper schüttelte missbilligend den Kopf. »Phoebe, auf was hast du dich da wieder eingelassen? Ich habe echt keine Lust,
dich gegen Kaution aus dem Gefängnis zu holen, nur weil du dich mit irgendwelchen Filmleuten herumtreibst.« »Hör mal, ich treibe mich nicht mit denen herum. Ich kenne die Typen doch gar nicht. Andererseits …« »Was?«, fragte Paige. »Andererseits hat mich Andy, der Regisseur, dazu eingeladen, morgen Abend am Drehort vorbeizukommen. Unten, am Pier.« »Wirklich?« Paige klatschte begeistert in die Hände. »Nimmst du mich mit? Bittebittebitte! Ich möchte so gern mal bei richtigen Dreharbeiten dabei sein!« »Also, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, gab Piper mit einem Stirnrunzeln zu bedenken. »Dich hat ja auch keiner gefragt«, knurrte Paige. Allmählich ging ihr Pipers ablehnende Haltung auf die Nerven. Wann hatte man schon mal die Chance, ein paar echte Leute vom Film kennen zu lernen? Phoebe zögerte. Die Einladung hatte eigentlich nur ihr gegolten, aber sie konnte Paiges Begeisterung verstehen. Sie selber war schon ganz aufgeregt, wenn sie daran dachte. Und sie fragte sich insgeheim, ob dieser junge Regisseur etwas damit zu tun haben könnte. »Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich und blickte auf Piper, »ist es für dich okay, wenn wir hingehen? Ist doch keine große Sache.« Piper winkte ab. »Geht nur, wenn ihr wollt. Ich finde es ehrlich gesagt nur etwas überflüssig, mit Leuten herumzuhängen, die Filme über Monster und Dämonen drehen. Wir haben doch jeden Tag mit so etwas zu tun. Also, mir reicht das eigentlich.« »Schon klar«, nickte Phoebe. »Das verstehe ich. Aber so ein Filmset ist schon etwas Aufregendes. Auch wenn es nur so eine kleine Low-Budget-Produktion ist. Andererseits: Denkt mal an Blair Witch Project. Das hat auch nur ein paar tausend Dollar gekostet und war überall auf der Welt ein Kassenschlager.« »Ein tolles Beispiel«, lachte Piper trocken, obwohl sie nicht besonders amüsiert klang. »Ein Film über eine böse Hexe, die ein paar
Jugendliche um die Ecke bringt. Nicht gerade eine gute Werbung für unsere Zunft, wenn ihr mich fragt.« »Also was ist jetzt?«, fragte Paige ungeduldig und ignorierte ihre älteste Schwester. »Nimmst du mich mit, Phoebe?« Phoebe zuckte mit den Achseln. »Klar, warum nicht. Zwei Hexen in Hollywood – das wird bestimmt ein Riesenspaß.«
3 DER
NÄCHSTE TAG VERGING quälend langsam. San Francisco stöhnte noch immer unter der Hitzewelle. Die Radionachrichten warnten wegen der hohen Ozonkonzentration in der Luft vor zu großer körperlicher Anstrengung im Freien, und die Stadtverwaltung dachte darüber nach, die Benutzung von Rasensprinklern einzuschränken, um Trinkwasser zu sparen. Offensichtlich rechnete niemand damit, dass die Hitzewelle schnell wieder vorüber sein würde. Aber nicht nur die Temperaturen, auch die Vorfreude auf den aufregenden Abend ließ die Stunden für Phoebe und Paige endlos werden. Als es endlich fünf Uhr nachmittags war – wieder einmal brachte der Abend keine nennenswerte Kühlung mit sich – räumte Phoebe eilig ihren Arbeitsplatz und raste mit ihrem Wagen nach Hause. Zum Glück hatte die Stadtverwaltung die Benutzung von Privatwagen noch nicht eingeschränkt, dennoch hielt der übliche Feierabendverkehr sich diesmal in Grenzen. Als Phoebe ihren Pick-up in die Einfahrt des Halliwell-Hauses steuerte, wartete Paige schon ungeduldig an der Tür. »Da bist du ja endlich«, rief sie Phoebe entgegen, noch bevor diese ausgestiegen war. »Können wir gleich los?« Phoebe winkte ab. »Lass mich erst einmal schnell unter die Dusche springen, okay? Ich bin völlig durchgeschwitzt.« »Wenn's sein muss«, murrte Paige und ließ ihre Halbschwester durch die Tür. »Aber beeil dich!« Phoebe steuerte als erstes den Kühlschrank an, um sich eine kalte Cola zu gönnen. Piper stand wieder in der Küche und schnippelte einen Salat zusammen. »Hey, Phoebe«, begrüßte sie ihre Schwester. »Ihr wollt heute dieses Filmset besuchen, oder?« Phoebe öffnete eine Dose, nahm einen tiefen Zug und nickte. »Ja, und?«
Piper zuckte mit den Schultern. »Es wäre mir lieb, wenn ihr trotzdem eure Handys eingeschaltet lasst.« Phoebe runzelte die Stirn. »Wieso? Ist irgendetwas?« »Nein, nichts Konkretes. Ich habe nur den ganzen Tag bei der Arbeit Radio gehört. Irgendein Polizeisprecher meinte, dass die Verbrechensrate seit Beginn der Hitzewelle um fast zwanzig Prozent gestiegen ist.« Phoebe nickte. Immerhin hatte sie ein paar Semester Psychologie studiert und war deshalb mit dieser Theorie vertraut. Menschen tendierten dazu, bei großer Hitze aggressiv und gereizt zu reagieren. Besonders Gewaltverbrechen nahmen bei einer Hitzewelle überproportional zu. Und es gab nicht viel, was man dagegen unternehmen konnte. Außer vielleicht um Regen beten. »Und du meinst, diese Hitze könnte sich auch auf Dämonen auswirken?« Piper legte das Salatmesser zur Seite und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber Dämonen fühlen sich von menschlicher Aggression angezogen. Sie genießen das irgendwie.« »Stimmt, das ist wie bei ›Predator‹ …« »Predator?« Piper zog fragend die Augenbrauen zusammen. »Na ja, dieser Action-Film mit Arnold Schwarzenegger. Darin gibt es auch ein Monster, das sich von Hitze und Aggression angezogen fühlt. Du solltest dir mehr Filme ansehen, Piper. Das bildet.« Phoebe nahm sich ein Salatblatt aus der Schüssel und biss geräuschvoll hinein. Dann verließ sie gut gelaunt die Küche. Piper blickte ihr nach und schüttelte den Kopf. Was zum Teufel fanden die beiden nur an Horrorfilmen so interessant? Der Fahrtwind wehte durch die geöffneten Fenster von Phoebes Pick-up und brachte ein wenig Abkühlung. Die Fahrt zum Hafengebiet war problemlos verlaufen, aber jetzt steuerte Phoebe ihren Wagen etwas hilflos hin und her. Das Gebiet war riesig, und eine Lagerhalle sah aus wie die andere.
Auf dem Beifahrersitz hielt Paige angestrengt Ausschau nach einem Schild oder einem Wegweiser. »Wo ist denn nun dieser verflixte Pier 17?«, fragte sie. »Keine Ahnung, aber irgendwo hier muss er ja sein.« Die Dämmerung war bereits hereingebrochen und kein Mensch in der Nähe, den sie hätten fragen können. »Man sollte doch meinen, dass diese Typen bei einer Filmproduktion mal ein paar Schilder aufstellen, oder?« Phoebe schüttelte den Kopf und steuerte den Wagen vorsichtig um ein Schlagloch herum. »Ich habe dir doch gesagt, dass Andy und sein Team den Film heimlich drehen, weil sie kein Geld für Drehgenehmigungen haben. Also werden sie wohl kaum Schilder aufstellen, um auch noch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.« »Auch wieder wahr«, nickte Paige. Dann schrie sie auf und deutete wie wild auf eine Wand, auf der eine große schwarze Zahl zu lesen war. »Da! Pier 17! Das muss es sein.« Phoebe steuerte den Pick-up durch eine Toreinfahrt, direkt auf eine große, heruntergekommene Lagerhalle zu. Sie schaltete den Motor aus und stieg aus. Paige ging um den Wagen herum und blickte skeptisch auf die Halle. »Etwas glamouröser hatte ich mir das schon vorgestellt.« »Warte erst einmal ab, wie es im Innern aussieht.« Die beiden Hexen gingen vorsichtig auf die alte Halle zu. Die große Schiebetür an der Frontseite stand einen Spalt breit offen. Phoebe wollte gerade den Griff packen, um sie weiter aufzuziehen, als ein grimmiges Augenpaar durch den Spalt blickte. Unwillkürlich zuckten die beiden Schwestern zurück. Im selben Augenblick wurde die Tür von innen aufgezogen. Ein Mann mit Vollbart funkelte Phoebe und Paige an. »Was wollt ihr hier?«, fragte er barsch. Phoebe brauchte eine Sekunde, bis sie das Gesicht des Mannes einordnen konnte. Es war der Kameramann des Teams. Soweit sie sich daran erinnern konnte, war sein Name Pete.
»Ich bin Phoebe Halliwell. Ich, äh … bin die Frau, die gestern eure Mumie vermöbelt hat. Andy hat mich eingeladen, heute bei den Dreharbeiten zuzuschauen.« Dann deutete sie auf Paige. »Und das ist übrigens Paige, meine Schwester.« Pete ließ seine Blicke über die beiden Frauen gleiten. Dann zeichnete sich unter seinem buschigen Vollbart ein Lächeln ab. »Verstehe. Du hast also Verstärkung mitgebracht, damit ihr euch heute den Rest unserer Monster vorknöpfen könnt, was? Tim wird sich freuen.« Tim … Phoebe musste kurz nachdenken. Richtig, der unsympathische Typ, der die Monster-Puppen baute. Nach Möglichkeit wollte sie diesem schrägen Vogel heute aus dem Weg gehen. Pete, der Kameramann, schob die Tür weiter auf und deutete eine Verbeugung an. »Dann mal hereinspaziert. Andy ist schon am Set. Wir haben noch ein paar Minuten, bis zum ersten Take. Ich wollte mir gerade draußen eine Zigarette anzünden.« Phoebe und Paige traten ins Innere der Halle. Durch die dicken Wände des alten Gemäuers war es hier erfrischend kühl. Die beiden Hexen brauchten ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Eine hagere Gestalt tauchte aus dem Halbdunkel auf. Soweit Phoebe sich erinnerte, war das der Typ mit der Tonangel gewesen. Er nickte den beiden Schwestern kurz zu – nicht, ohne vorher einen Blick auf ihre Shorts zu werfen – und wandte sich dann an den Kameramann. »Du willst eine rauchen gehen? Hast du eine Kippe für mich übrig, Kumpel?« »Du hast dir doch erst vor einer halben Stunde eine geschnorrt. Kauf dir deine eigenen, Mann.« »Komm schon, Rauchen ist schlecht für die Gesundheit. Ich tue dir ja nur einen Gefallen, wenn ich einen Sargnagel vernichte.« Streitend wie ein altes Ehepaar verließen der Kameramann und sein Ton-Assistent die Lagerhalle. Paige blickte ihnen kopfschüttelnd hinterher. »Ich wiederhole mich ja nur ungern, aber sehr
beeindruckend ist das hier alles nicht. Da war mein Job beim Sozialamt ja noch glamouröser.« »Paige, das hier ist eine kleine Independent-Produktion. Diese Leute sind Film-Freaks, die aus Liebe zum Kino hier arbeiten. Nicht für Geld und Ruhm.« Phoebe zog ihre Halbschwester an der Schulter hinter sich her. Ein Stapel alter Kisten versperrte die Sicht zum Mittelteil der Halle, und die beiden umrundeten sie. Staunend blieben sie stehen. »Wow«, sagte Paige. »Das trifft es schon eher.« Vor ihnen herrschte ein aufgeregtes Treiben. Ein halbes Dutzend Mitarbeiter waren damit beschäftigt, Lampen auszurichten, Requisiten zurechtzurücken und mit kleinen, seltsamen Geräten irgendwelche Messungen vorzunehmen. Auf den ersten Blick wirkten diese Aktivitäten planlos, aber je länger man die Filmcrew beobachtete, desto größer wurde der Eindruck, dass diese Leute genau wussten, was sie taten. Und sie taten es mit solcher Routine, dass sie dabei kaum redeten oder andere Geräusche verursachten. »Schon faszinierend, was?« Phoebe und Paige wirbelten herum. Ohne dass sie es bemerkt hatten, war Andy, der junge Regisseur, an ihre Seite getreten. Er rieb sich amüsiert das kleine Kinnbärtchen und lächelte die beiden Schwestern an. »Kaum zu glauben, dass aus diesem Durcheinander irgendwann mal ein fertiger Film wird. Na, zumindest hoffe ich das.« »Andy«, strahlte Phoebe und blickte den Filmemacher an. »Ich hoffe, es ist okay, dass ich meine Schwester mitgebracht habe. Paige, das ist Andy Stewart, der Regisseur des Films. Andy, das ist meine Schwester Paige.« »Freut mich, dich kennen zu lernen, Paige.« »Ganz meinerseits, Andy. Ich war noch nie auf einem Filmset und finde das hier ziemlich aufregend.« »Oh, das geht mir auch so. Jedes Mal«, lächelte der Regisseur und blickte Paige tief in die Augen.
Hey, dachte Phoebe, ich bin auch noch da, als Andy ihre Halbschwester vorsichtig am Ellbogen nahm und mit ihr auf das Set zuging. »Wir haben noch ein paar Minuten Zeit bis zum ersten Take des Abends. Ich führe dich ein bisschen herum. Phoebe, kommst du mit?« »Klar«, murmelte Phoebe und schlurfte hinter den beiden her. Mit stolzen, weit ausholenden Gesten deutete Andy auf das Set – die eigentliche Bühne, auf der die Dreharbeiten stattfanden. Soweit Phoebe das beurteilen konnte, hatten sie hier in der Lagerhalle das Bühnenbild einer Lagerhalle aufgebaut. Ein paar schwere Scheinwerfer beleuchteten alte Kisten und rostige Metallfässer, die dekorativ im Hintergrund aufgebaut waren. Auf dem Boden war außerdem noch künstlicher Staub verteilt worden. Alles in allem sah die künstliche Lagerhalle echter aus, als die reale um sie herum. Phoebe stutzte, als sie das große Hexen-Pentagramm bemerkte, das mit Kreide auf den Hallenboden aufgemalt worden war. Bevor sie danach fragen konnte, fuhr Andy mit seinen Erklärungen fort. »Wir konnten diese Lagerhalle billig mieten und haben deshalb ein richtiges kleines Set aufbauen können – ohne zu befürchten, jeden Augenblick vor der Polizei fliehen zu müssen.« Phoebe nickte. »Verstehe. Aber um was genau geht es in eurem Film überhaupt? Und wozu dieses Pentagramm?« »Oh, ›Scream X-Treme‹ ist ein Horrorfilm über, na ja, die Figuren aus diversen, klassischen Horrorfilmen, die durch einen Fluch plötzlich lebendig werden. In der Szene, die wir heute drehen, hat sich unsere Heldin in eine alte Lagerhalle geflüchtet und versucht, den Fluch mit einer Geisterbeschwörung rückgängig zu machen.« »Na, so wird das aber nichts.« Andy und Phoebe blickten Paige erstaunt an. Paige kniete auf dem Boden und deutete auf eine der sechs Spitzen des Pentagramms. »Hier, die Spitze ist nicht ganz geschlossen.« Tatsächlich klaffte eine kleine, daumenbreite Lücke zwischen den spitz aufeinander zulaufenden Kreidestrichen. »Ja, und?«, fragte Andy erstaunt.
»So würde die Beschwörung niemals funktionieren. Wenn das Pentagramm nicht richtig geschlossen ist, bietet es keinen ausreichenden Schutz vor den herbeigerufenen Geistern. Eure Heldin wäre den Geistern hilflos ausgeliefert.« Phoebe, die hinter Andy stand, blickte ihre Schwester mit gerunzelter Stirn an und schüttelte den Kopf. Es war sicherlich keine gute Idee, wenn Paige hier ihr Hexenwissen preisgab. Aber Paige bemerkte das stille Zeichen ihrer Schwester gar nicht. Sie hatte nur Augen für Andy, der offensichtlich beeindruckt war. »Wow, das hatte ich gar nicht gewusst.« Er nahm ein Stück Kreide vom Boden auf und kniete sich neben Paige. Paige nahm seine Hand und führte sie über den Boden, um das Pentagramm zu schließen. »So, das wäre erledigt«, sagte sie. »Woher kennst du dich mit solchen Dingen aus?«, fragte der Regisseur. Paige strahlte ihn an. »Oh, ich bin, äh …« »Sie studiert Volkskunde und hat ein Seminar über traditionellen Aberglauben belegt. Stimmt's, Paige?!« »Äh, ja, sicher. Ein unglaublich … vielschichtiges Thema.« »Ich bin beeindruckt«, sagte Andy. Dann schnippte er mit den Fingern. »Weißt du was, Paige? Wenn du magst, bist du engagiert. Als Beraterin für okkulte Fragen. Ich kann dir zwar nur ein MiniHonorar zahlen, aber dafür wird dein Name im Abspann genannt.« Paige strahlte. »Wirklich? Oh, das wäre ja großartig! Und ich kann bei den ganzen Dreharbeiten dabei sein?« »Na, ich bitte darum«, lächelte Andy. Unbemerkt verdrehte Phoebe die Augen. Die beiden schienen sich ja glänzend zu verstehen. Na, was soll's, dachte sie. Schließlich war sie ja nicht hier, um mit dem Regisseur zu flirten, sondern um etwas über das Filmemachen zu erfahren. Zumindest in erster Linie. Phoebe seufzte und blickte sich um. Die Crew schien mit ihren Vorbereitungen fast fertig zu sein. Auch Pete, der Kameramann und sein Ton-Assistent waren wieder an ihren Plätzen. Eine blonde Frau
kam aus einem Nebenraum herangestapft. Phoebe blickte überrascht auf. Das ohnehin schon sommerliche Kleid der Frau war am Dekollete und an den Oberschenkeln aufgerissen und bot noch tiefere Einblicke auf die perfekte, sonnengebräunte Haut. Offensichtlich hatte hier jemand mit Nadel und Faden dafür gesorgt, dass ihr Kleid genau an den richtigen Stellen in Fetzen hing, ohne allzu viel zu zeigen. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, rief die Blondine und blickte Phoebe mit funkelnden Augen an. »Was macht die denn schon wieder hier?«
4 VIRGINIA FONTAINE, DER BLONDE STAR des Films baute sich vor Phoebe und Paige auf. Der Rest des Filmteams warf nervöse Seitenblicke auf die Szene und ging dann angestrengt seiner Arbeit nach. Offensichtlich waren sie es schon gewohnt, dass der Star ihres Films solche Allüren machte. Virginia liebte dramatische Auftritte, auch wenn die Kamera nicht lief. Das Starlet warf den beiden Schwestern missbilligende Blicke zu. Wegen der Hitzewelle trugen die beiden Hexen kurze Shorts und luftige Tops, was ihre durchtrainierten Körper gut zur Geltung brachte. Sie konnten es durchaus mit dem Starlet aufnehmen, was Virginia überhaupt nicht zu gefallen schien. »Willst du schon wieder meine Szene ruinieren?«, fragte sie bissig und funkelte Phoebe an. »Und wer ist die Kleine?« »Virginia, es tut mir Leid, wenn wir gestern einen schlechten Start hatten. Aber ich dachte, Sie wären in Gefahr und …« »Sieh es doch mal so«, mischte sich Andy ein und trat zwischen Virginia und die beiden Hexen. »Du hast deine Rolle gestern so überzeugend gespielt, dass Phoebe gar nicht anders konnte, als die Mumie für echt zu halten.« Aber Virginia ließ sich nicht so leicht besänftigen. Im Gegenteil. »Natürlich habe ich meine Rolle überzeugend gespielt. Meinst du, ich wäre schauspielerisch schon damit überfordert, die Hauptrolle in so einem kleinen, billigen Horrorstreifen auszufüllen?« »Nein, so habe ich das natürlich nicht gemeint, Virginia. Wir sind alle froh, dass wir dich dabei haben, und –« »Das will ich hoffen«, schnappte Virginia. »Können wir langsam mal anfangen? Ich habe heute Abend noch eine Verabredung und will nicht die halbe Nacht in dieser schmutzigen Lagerhalle verbringen.« Phoebe und Paige zogen die Augenbrauen hoch und tauschten einen viel sagenden Blick. Was für eine eingebildete Ziege. Phoebe stellte zu ihrer Überraschung fest, dass Andys natürliche Autorität als Regisseur an Virginias Star-Gehabe abzuperlen schien.
Andy atmete tief durch und klatschte in die Hände. »Okay, Leute, wir fangen an. Virginia, du kniest dich bitte in die Mitte des Pentagramms.« Dann blickte er fragend auf Paige. »Paige, ist das so okay? Man würde sich bei so einer Beschwörung doch hinknien oder?« Bevor Paige antworten konnte, keifte Virginia von der Mitte der Bühne aus los. »Was hat die Kleine denn damit zu tun, wenn ich fragen darf?« Andy schluckte. »Paige ist unsere neue Beraterin für okkulte Fragen. Sie achtet darauf, dass alles authentisch wirkt.« Virginia verdrehte die Augen. »Das wird ja immer schöner! Jetzt darf mir schon jedes hergelaufene Schulmädchen sagen, wie ich meine Rolle zu spielen habe? Darüber reden wir noch, Andy!« Virginia funkelte den Regisseur an, ohne Paige auch nur eines Blickes zu würdigen. Andy seufzte leise. Paige und Piper beobachteten, wie ein Assistent sechs schwarze Kerzen an die Spitzen des Pentagramms stellte und anzündete. »Schwarze Kerzen?«, flüsterte Paige ihrer Schwester ins Ohr, »das wäre aber im wirklichen Leben keine gute Idee, oder?« Phoebe schüttelte den Kopf und flüsterte zurück. »Auf keinen Fall. Schwarze Kerzen und ein Pentagramm würden böse Geister anlocken, von denen man sich besser fern hält.« »Soll ich es ihnen sagen?« Phoebe schüttelte erneut den Kopf. »Besser nicht. Du solltest nicht zu viel von deinem Wissen offenbaren. Sonst kommt noch jemand auf die Idee, dass du mehr sein könntest als nur eine Studentin der Volkskunde.« Paige wollte etwas erwidern, aber ein lauter Ruf von Andy kam ihr zuvor. »Ton ab!« »Ton läuft!«, antwortete der Tonassistent. Er hielt sein Mikrofon an einer langen Angel direkt über Virginias Kopf. »Kamera ab!«
»Kamera läuft!«, antwortete Pete, der Kameramann. »Uuuund … ACTION!« Phoebe bekam eine Gänsehaut. Wie oft hatte sie diesen letzten Satz schon gehört. Aber sie war noch nie dabei gewesen, wenn er tatsächlich einmal auf einem Filmset ausgerufen wurde. Im Hintergrund begann eine kleine Nebelmaschine leise zu zischen. Kleine Nebelwolken aus Trockeneis waberten über die Bühne. Ein paar gedämpfte Scheinwerfer sorgten für stimmungsvolles Licht. In der Mitte des Pentagramms senkte Virginia den Kopf und begann, eine Beschwörung zu murmeln. »Ihr Geister, Euch will ich beschwören, ich bitte Euch, mein Flehen zu erhören.« Phoebe und Paige mussten ein Kichern unterdrücken. Diese Geisterbeschwörung hatte rein gar nichts mit der Realität einer Hexe zu tun. Aber woher sollte das Filmteam auch wissen, wie eine echte Beschwörung aussah? Schließlich gab es keine Hollywood-Fassung vom Buch der Schatten. Die beiden Schwestern folgten gebannt der Handlung auf der kleinen Bühne, obwohl es dort eigentlich nicht viel zu sehen gab. Andy, der dicht neben ihnen stand, schien ihre Gedanken zu erraten. »Enttäuscht?«, flüsterte er, ohne dabei die Augen von der Bühne zu nehmen. »Ihr müsst euch das natürlich aus der Perspektive der Kamera vorstellen. Pete ist ein Meister seines Faches. Und im fertigen Film läuft dazu natürlich noch eine gruselige Musik. Und wir bauen mit dem Computer noch ein paar Spezialeffekte ein. Ihr werdet euch wundern, wie –« »Stopp!«, rief eine Stimme. Es war Pete, der Kameramann. Das gesamte Team blickte ihn an. »Das Mikrofon war im Bild«, sagte Pete nur und spuckte ein Kaugummi aus. »Lou, ich habe dir schon tausend Mal gesagt, du sollst mit deinem verdammten Mikrofon nicht so nah dran gehen. Es sind nicht alle so taub wie du!«
»Mein Mikrofon war genau an der richtigen Stelle!«, schnauzte Lou, der Tonmann, unbeeindruckt zurück. »Was kann ich dafür, wenn du mit deinen zittrigen Fingern die Kamera nicht ruhig halten kannst?« »Ich werde hier noch wahnsinnig!«, rief Virginia aus der Mitte des Pentagramms. »Bin ich denn nur von Idioten umgeben?!« Andy trat vor und hob beschwichtigend die Arme. »Schon gut Leute, ist doch keine große Sache. Bleibt auf euren Plätzen, wir drehen gleich noch mal. Pete, lass die Kamera laufen.« »Kamera läuft«, antwortete Pete. Lou, der Ton-Assistent, richtete sein Mikrofon wieder auf Virginia. Ihr Streit war genauso schnell wieder vergessen, wie er begonnen hatte. Virginia kniete sich erneut hin, um ihren Text zu sprechen. Ein plötzlicher Knall ließ Phoebe und Paige zusammenzucken. Dem Rest des Teams erging es nicht anders. Die Nebelmaschine pustete noch eine letzte Trockeneis-Wolke aus, dann verstummte sie. »Was ist denn jetzt schon wieder?«, rief Andy. Allmählich schien auch er genervt zu sein. Ein Assistent kniete neben der altersschwachen Maschine und schraubte das Gehäuse auf. Der Gestank von verschmorten Kabeln hing in der Luft. »Ein Kurzschluss, wie es aussieht. Das alte Schätzchen hier ist einfach ein bisschen überlastet.« Liebevoll klopfte er auf das Blechgehäuse der Nebelmaschine. »Brauchst du lange, um das Ding zu reparieren?« Andys Stimme klang besorgt, aber der Assistent munterte ihn auf. »Nö, gib mir ein Viertelstündchen, dann sollte sie wieder funktionieren.« »Das hast du auch gesagt, als du damals den Kamerakran repariert hast«, lachte Pete hinter seiner Kamera. »Ich humple heute noch, seit das Ding unter mir zusammengebrochen ist.« Das Team lachte auf. Auch Paige und Phoebe konnten sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Geht das an einem Filmset immer so chaotisch zu?«, wollte Paige wissen.
Andy lächelte sie an. »Könnte man sagen. Ich glaube, Murphys Gesetz wurde eigens für Filmproduktionen geschrieben. Du weißt ja: ›Wenn etwas schief gehen kann …‹« »›… dann geht es auch schief‹«, beendete Paige den Satz. Die beiden grinsten sich an. Phoebe kam sich etwas überflüssig vor. Ihre Schwester und der Regisseur schienen sich glänzend zu verstehen. Na ja, dachte Phoebe, es sei ihnen gegönnt. Andy war zwar süß, aber sie war eigentlich nicht hier, um Männer kennen zu lernen, sondern um etwas über die Filmbranche zu erfahren. Ihr Job bei der Redaktion machte ihr zwar Spaß, aber sie hatte nicht das Gefühl, ihre Berufung gefunden zu haben – mal abgesehen von ihrem zweiten ›Job‹ als Hexe, natürlich. Vielleicht bot sich ihr hier ja eine Zukunftsperspektive. »Andy«, fragte Phoebe, »hast du etwas dagegen, wenn ich mich ein bisschen umsehe? Ich würde gern etwas mehr über so ein Filmset erfahren.« Paige lächelte ihre Halbschwester dankbar an. Wahrscheinlich glaubte sie, Phoebe wolle sich verdrücken, um ihr und Andy die Möglichkeit zu geben, etwas Zeit miteinander zu verbringen. »Nein, absolut nicht«, antwortete der Regisseur. »Schau dich nur um. Für unsere Verhältnisse haben wir hier ein ziemlich aufwändiges Set aufgebaut. Und vor einer Viertelstunde läuft hier sowieso nichts.« Phoebe nickte und ließ Andy und Paige stehen. Mit neugierigen Blicken umrundete Phoebe das Set und schaute sich um. Sie merkte nicht, dass sie dabei selber von einem dunklen Augenpaar beobachtet wurde. Piper Halliwell öffnete die Kühlschranktür und nahm die Karaffe mit dem Eistee heraus. Es war trotz der fortgeschrittenen Abendstunde immer noch so warm, dass das Glas der Kanne augenblicklich beschlug. Kleine Kondenstropfen rannen wie Schweißperlen herunter. Piper blickte auf die Gardinen, die nebenan schlaff vor dem geöffneten Wohnzimmerfenster hingen.
Kein Lufthauch bewegte sie. Die junge Hexe konnte sich nicht daran erinnern, wann es jemals eine solche Hitzewelle gegeben hatte. Piper nahm einen Schluck eiskalten Tee. Warme Getränke mochten bei dieser Hitze vielleicht gesünder sein, aber das Gefühl, das die kalte Flüssigkeit hinterließ, als sie ihre Kehle hinunterrann, war einfach unbeschreiblich. Leider hielt es nur ein paar Sekunden an. Piper überlegte, ob sie noch eine kalte Dusche nehmen sollte, aber das wäre dann schon die dritte an diesem Tag. Wenn sie so weitermachte, würden ihr noch Schwimmhäute wachsen. Leo, der Wächter des Lichts und ihr Ehemann, wäre davon bestimmt nicht begeistert gewesen. Seufzend schaltete Piper den Fernseher ein. Dann ließ sie sich auf das Sofa plumpsen und zappte sich durch die Kanäle. Wie in jedem Sommer wurden auf allen Kanälen fast nur Wiederholungen gezeigt. Lustlos schaltete Piper von einem Programm zum nächsten. Auf dem lokalen Nachrichtensender hielt sie kurz inne. Eine Sprecherin der Polizei bat die Bevölkerung von San Francisco, die Polizei und die Feuerwehr nicht zu unnötigen Einsätzen zu rufen. »Die augenblickliche Hitzewelle über der Stadt«, erklärte die uniformierte Frau, »hat eine saisonbedingte Steigerung der Kriminalitätsrate zufolge, die im Augenblick unsere gesamten Kräfte erfordert.« Mit gerunzelter Stirn schaltete Piper den Fernseher aus. Sie hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Natürlich waren die drei Zauberhaften nicht für die Verbrechensbekämpfung zuständig. Dafür gab es Experten, wie etwa Detective Darryl Morris, den Freund der drei Schwestern, der bei der Polizei von San Francisco arbeitete. Und trotzdem … Piper konnte sich nicht vorstellen, dass so viel Gewalt und Aggression die Dämonenwelt kalt ließen. Nachdenklich stand Piper wieder auf, holte die große Karte von San Francisco aus dem Bücherregal und breitete sie auf dem Wohnzimmertisch aus. Dann zog sie ein kleines, silbernes Pendel aus der Schublade einer alten Holzkommode und nahm das Ende der Kette vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie führte das Pendel mit einer langsamen Bewegung quer über die ausgebreitete Karte. Nichts. Das Pendel blieb absolut ruhig.
»Komm schon«, murmelte Piper zu sich selbst, »ich kann mir nicht vorstellen, dass die Dämonen sich hitzefrei genommen haben …« Konzentriert führte sie das Pendel weiter über die Karte. Nach ein paar Minuten begannen die Muskeln in ihrem Unterarm zu schmerzen. Seufzend ließ Piper ihre Hand auf die Karte fallen, ohne das Silberkettchen des Pendels loszulassen. Die junge Hexe blickte sich um. Wo hatte sie nur das Glas mit dem Eistee hingestellt? Ah, es stand noch auf der Kommode, aus der sie das Pendel geholt hatte. Piper wollte gerade aufstehen, um sich das Glas zu holen, als sie einen starken Ruck an ihrer rechten Hand spürte. Die Silberkette des Pendels war plötzlich straff gespannt, und der Anhänger zitterte. Piper runzelte die Stirn. Bevor sie reagieren konnte, gab es einen weiteren Ruck. Diesmal war er so stark, dass er ihren ganzen Oberkörper mitriss und schmerzhaft gegen die Tischkante drückte. Aber Piper achtete gar nicht darauf. Wie ein Hund an der Leine zog das Pendel ihre Hand weiter über die Stadtkarte, bis es schließlich vibrierend zum Stehen kam. Über einem großen Industriegebiet in der Hafengegend. Phoebe und Paige müssen ganz in der Nähe sein, dachte Piper noch, dann erstarrte sie. Direkt unter dem Pendel bildete sich plötzlich wie von selbst ein Brandloch in der Karte. Als hätte jemand eine Zigarette darauf ausgedrückt. Eine kleine, schwarze Rauchwolke stieg auf. »Ach, du meine Güte«, murmelte Piper. Dann sprang sie auf und rannte zum Telefon.
5 IM
HINTERGRUND HÄMMERTE der technische Assistent immer noch an der Nebelmaschine herum. Ab und zu wurde das Dröhnen von einem saftigen Fluch unterbrochen. Die anderen Mitglieder des Filmteams schienen solche Unterbrechungen gewohnt zu sein. Entweder standen sie plaudernd in kleinen Grüppchen zusammen oder waren nach draußen gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Phoebe hatte nichts dagegen. Auf diese Weise konnte sie sich in Ruhe umsehen. Das Filmset war diesmal wirklich beeindruckender als der improvisierte Dreh gestern auf der Straße. Phoebe, die mit großen Augen alles in sich aufnahm, wäre fast über eine Metallschiene gestolpert, die an der Bühne entlang lief. »Hey, fall langsam!« Phoebe wäre Pete, dem Kameramann, beinahe in die Arme gestürzt. Er sah nicht aus, als hätte er etwas dagegen gehabt, aber Phoebe konnte einen Zusammenprall gerade noch verhindern. »Ups, Entschuldigung«, sagte sie Metallschienen. »Wozu ist das denn gut?«
und
deutete
auf
die
»Das sind die Schienen für Dolly«, antwortete Pete lächelnd. »›Dolly‹? Wer ist das denn schon wieder?« »Nicht wer, sondern was. Dolly – so nennt man eine Vorrichtung, mit der die Kamera durch die Gegend bewegt wird. Du weißt schon, Schienen für Kamerafahrten und so. Diese Schienen lassen sich wie bei einer Modelleisenbahn in jeder beliebigen Form zusammenstecken, je nachdem welche Kamerafahrten um ein Objekt oder einen Schauspieler herum gebraucht werden. Wenn es sein muss, kann man diese Schienen zu einer Strecke von hundert Metern oder mehr zusammenstecken.« Phoebe hörte den Stolz in Petes Stimme heraus. »Aber ist so etwas nicht ziemlich teuer?« Pete lachte auf. »Allerdings. Normalerweise könnten wir uns für ›Scream X-Treme‹ gar keine Dolly leisten. Aber weißt du …«, Pete
sah sich verschwörerisch um, »ich arbeite tagsüber bei einer ziemlich großen Produktionsfirma. Und ich habe einen Schlüssel zum Geräteraum. Solange ich die Ausrüstung rechtzeitig wieder zurückbringe, merkt das niemand, dass sie während der Nacht von jemand anderem benutzt wird. Deshalb hoffe ich auch, dass unser Schraubendreher da vorn die Nebelmaschine wieder hinkriegt. Sonst habe ich ein echtes Problem.« »Wenn sie dich feuern, kannst du ja wieder Werbespots für Hundefutter drehen. Zusammen mit Virginia Superstar«, lachte Lou. Der Ton-Assistent hielt eine unangezündete Zigarette in der Hand, die er wohl gerade bei irgendjemand geschnorrt hatte. »Nur das nicht«, stöhnte Pete. »Kommst du mit, eine rauchen?« Phoebe lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich rauche nicht. Ich sehe mich hier lieber noch etwas um.« »Okay«, nickte Pete. Zusammen mit seinem Ton-Assistenten schlurfte er auf den Ausgang zu. Sie waren kaum fünf Meter weit gekommen, als sie sich schon wieder über irgendetwas stritten. Phoebe nutzte die Zeit und spazierte noch etwas zwischen den aufgebauten Gerätschaften herum. Unglaublich, was für ein Aufwand damit verbunden war, so eine einfache Szene zu drehen. Dabei war ›Scream X-Treme‹ ja noch ein kleiner Independent-Film. Mit Grausen dachte Phoebe, an die Monumentalfilme, die sie schon im Kino gesehen hatte. Es musste ein wahrer Alptraum sein, ein Filmset mit hunderten von Statisten zu koordinieren. Eine kleine Tür an der gegenüberliegenden Seite der Halle weckte Phoebes Aufmerksamkeit. Die Tür stand einen Spalt breit offen, dahinter brannte ein trübes Licht. Neugierig trat sie darauf zu. Ein dunkles Augenpaar, versteckt hinter ein paar Kisten, funkelte böse auf, als Phoebe die Tür vorsichtig öffnete. Die junge Hexe trat in einen Raum, der früher einmal als Putzraum gedient haben musste. In der Ecke standen noch ein paar Eimer und Putzlappen, die seit Jahren keinen Tropfen Wasser mehr gesehen hatten. Aber viel interessanter waren fünf längliche, kleine Holzkisten, die in der Mitte des Raumes auf dem Boden lagen. Phoebe konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Die geöffneten Kisten wirkten wie kleine Särge.
Sie musste schlucken, als sie näher herantrat. Tatsächlich lag in jeder der fünf mit Holzwolle ausgefüllten Kisten eine kleine, leblose Gestalt. Und was für welche! Phoebe hatte genug Filme gesehen, um sie alle wieder zu erkennen: Die erste Puppe war ein leichenblasser Mann mit eleganter, aber altmodischer Kleidung und Umhang. Winzige, aber nadelspitze Zähne ragten aus seinen grinsenden Mundwinkeln heraus. Kein Zweifel, das war Dracula. Obwohl er die Hände vor seiner Brust gefaltet hatte, blickte er Phoebe aus kleinen, schwarz funkelnden Augen an. In der Kiste neben dem Fürsten der Nacht lag eine scheußliche Kreatur, halb Mensch, halb Reptil. Schwimmhäute spannten sich zwischen ihren Krallen, und die schuppige Haut glänzte, als ob es gerade erst einem Sumpf entstiegen wäre. Das Monster aus der versunkenen Lagune. Phoebe erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich als Kind immer gegruselt hatte, wenn im Fernsehen eine Wiederholung dieses alten Schwarz-Weiß-Klassikers lief. Phoebe brauchte ein paar Sekunden, um die Puppe in der nächsten Kiste zu erkennen. Auch diese Gestalt war in altmodische Kleidung gehüllt und trug einen dunklen Hut mit breiter Krempe. Ein etwa fünf Zentimeter langes, sehr scharf aussehendes Messer in der Hand der Gestalt gab Phoebe schließlich den entscheidenden Anhaltspunkt. Das musste Jack the Ripper sein, der verrückte Mörder, der im London des späten 19. Jahrhunderts sein Unwesen getrieben hatte. »Da hat sich aber jemand Mühe gegeben«, murmelte Phoebe. Die Figur sah absolut lebensecht aus, selbst die Klinge in ihrer Hand bestand scheinbar aus scharfem, chirurgischem Stahl. Die Puppe in der nächsten Kiste zu identifizieren, war nicht besonders schwer. Ein Mensch mit dem Kopf eines Wolfes, dessen ganzer Körper mit dichtem, dunkelbraunem Fell überzogen war. Ein Werwolf. Phoebe schluckte. An Kreaturen wie diese verbanden sie einige unangenehme Erinnerungen. Mit der Figur in Kiste Nummer fünf hatte Phoebe bereits Bekanntschaft gemacht. Es war die halb verweste und in Bandagen gewickelte Mumie, die sie am Vorabend durch die Gasse gekickt hatte. Tim, der Konstrukteur dieser Puppen, hatte sie scheinbar in Rekordzeit wieder repariert.
»Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«, zischte eine Stimme hinter Phoebe. Die junge Hexe wirbelte erschrocken herum. Wenn man vom Teufel sprich t… In der Tür stand Tim Sorvino, der Special-Effects-Experte des kleinen Filmteams. Er trug wieder ein schwarzes T-Shirt und funkelte Phoebe böse an. »Willst du noch ein paar meiner Puppen zerstören?« Phoebe hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Nein, natürlich nicht. Sorry, wenn ich hier einfach so reingeplatzt bin. Aber die Tür stand auf, und ich war einfach neugierig.« Sie deutete auf die Puppen in ihren kleinen Holzsärgen. »Die Figuren sind wirklich klasse. So unglaublich … lebensecht.« Phoebe wollte Tim damit beruhigen, aber so leicht ließ sich der junge Mann nicht um den Finger wickeln. »Natürlich sind sie lebensecht. Ich habe monatelang daran gearbeitet. Sie sind kleine Kunstwerke. Meine … Schöpfungen!« Wie ein wildes Tier, das seine Jungen schützen will, strich Sorvino um Phoebe herum und stellte sich zwischen sie und seine Puppen. »Sie sind kleine Meisterwerke. Wenn dieser Film erst einmal abgedreht ist, werden sich die großen Studios um meine AnimationsTechnik reißen. Das heißt, wenn nicht vorher wieder jemand kommt und sie in den Mülleimer tritt!« Phoebe schluckte. Es war wohl besser, das Feld zu räumen. Sie hatte sich mittlerweile nun wahrlich oft genug bei Sorvino entschuldigt. »Okay«, sagte sie, »vergiss einfach, dass ich hier gewesen bin. Ich habe auch nichts angerührt.« Mit schnellen Schritten verließ Phoebe den kleinen Raum und trat zurück in die Halle. Auf der Türschwelle drehte sie sich noch einmal um. Sorvino hatte sich über die Holzkisten gebeugt und hielt die Mumie im Arm. Wie ein kleines Baby. Eigentlich ein ziemlich lächerlicher Anblick, aber Phoebe bekam trotzdem eine Gänsehaut. Sorvino schien seine ferngesteuerten Geschöpfe wirklich zu lieben. Und Phoebe konnte nicht vergessen,
wie die kleinen Monster sie aus ihren toten Knopfaugen angestarrt hatten. Phoebes Gänsehaut ließ sie so sehr erzittern, dass sie das Vibrieren ihres Handys in der Tasche ihrer Shorts im ersten Augenblick gar nicht bemerkte. Dann zog sie es erstaunt heraus und blickte auf das Display. Es war der Festanschluss des Halliwell-Hauses. Das musste Piper sein. »Piper, was gibt's denn?«, fragte Phoebe in den Hörer. Sie war froh, dass sie ihr Handy auf stummen Alarm gestellt hatte. Ein piependes Handy auf einem Filmset hätte ihr garantiert eine Menge böser Blicke eingebrockt. »Hi, Phoebe«, tönte es aus dem Hörer. Es war tatsächlich Pipers Stimme. Und sie klang aufgeregt. »Ich fürchte, euer Ausflug zum Film ist für heute beendet. Wenn ich dem Pendel glauben darf, treibt sich ganz in eurer Nähe ein Dämon herum. Ein sehr seltsamer anscheinend.« »Wie meinst du das?«, fragte Phoebe erstaunt. Sie war bereits in einen leichten Laufschritt verfallen, um so schnell wie möglich Paige zu informieren. Dieses Filmset – und sein Regisseur – mochten noch so interessant sein, aber ihre Pflichten als Hexen gingen vor. »Na ja, als ich den Erscheinungsort des Dämons ausgependelt habe«, fuhr Piper am anderen Ende fort, »ist erst die Karte verbrannt und dann hat das Pendel angefangen zu glühen. Ich habe so etwas noch nie erlebt.« »Sehr seltsam«, sagte Phoebe. Sie konnte Paige bereits sehen. Sie stand immer noch am Rand der Bühne und redete mit Andy. »Wo genau ist der Dämon denn aufgetaucht?« »Der Karte nach ganz in eurer Nähe. Im Industriegebiet im Hafenviertel. Irgendwo auf dem Gelände einer alten Fabrik. Ich konnte den Namen auf der angeschmorten Karte nicht genau lesen. Aber es ist nur ein paar Straßen vom Pier 17 entfernt. Da treibt ihr euch doch herum, oder? Ich steige jetzt ins Auto und wir treffen uns da. Bis gleich!«, rief Piper in den Hörer. »Bis gleich!«, antwortete Phoebe, aber Piper hatte bereits aufgelegt.
Auf dem Set hatten die Dreharbeiten wieder begonnen. Die Nebelmaschine sprühte ein paar Rauchschwaden auf die Bühne. Die Kamera surrte, während Virginia in dem Pentagramm kniete und ihre alberne Beschwörung sprach. Aber Phoebe achtete jetzt gar nicht darauf. »Paige«, flüsterte sie ihrer Schwester ins Ohr, um die Aufnahme nicht zu stören. »Wir müssen gehen. Piper hat einen Dämon geortet. Ganz in der Nähe.« »Oh, nein!«, Paige verdrehte die Augen. Dann zögerte sie einen Augenblick und tippte Andy auf die Schulter. »Tut mir Leid, Andy. Wir müssen los. Ein, äh, Notfall in der Familie.« Andy wandte seinen Blick nur kurz von der Bühne ab. Aber in seiner Stimme schwang echtes Bedauern mit. »Wirklich? Wir sehen uns doch morgen wieder, oder?« »Klar!« Paige lächelte den Regisseur an, während Phoebe sie bereits am Arm zog. »Ich habe ja schließlich einen Job, oder?« Bevor Andy antworten konnte, hatte Phoebe ihre jüngere Halbschwester bereits durch die halbe Halle geschleift. »Was soll denn die Eile?«, protestierte Paige. »Was genau ist denn eigentlich los?« »Piper hat irgendeinen Dämon entdeckt. Ganz in der Nähe. Hab ich doch gesagt!« »Ja, aber wo genau treibt sich diese höllische Nervensäge denn nun rum?« Phoebe zog die große Tür der Lagerhalle auf. Draußen war es bereits dunkel. Ein Schwall warmer Luft quoll den beiden Hexen entgegen. »Sie konnte es leider nicht mehr genau feststellen«, antwortete Phoebe. »Na, toll. Dann können wir ja ewig suchen, oder?« Phoebe riss die Augen auf. »Das glaube ich weniger.« Sie deutete über den Vorplatz der Halle hinweg. Ein paar Meter entfernt erhellte ein rötliches Glühen die Nacht. »Ach, du liebes bisschen«, murmelte Paige.
6 PIPER RASTE MIT EINEM mörderischen Tempo durch das Industriegebiet. Zum Glück waren die Straßen und Zufahrtswege um diese späte Stunde menschenleer. Die Federung des Wagens quietschte protestierend, als das Fahrzeug über ein Schlagloch raste, ein paar Zentimeter durch die Luft segelte und krachend wieder auf dem Asphalt aufschlug. Pipers Hände krampften sich so fest um das Lenkrad, dass ihre Knöchel weiß heraustraten. Schon aus einiger Entfernung hatte sie das rote Glühen am Horizont bemerkt. Es sah bedrohlich aus, so als hätte jemand vergessen, eine überdimensionale Herdplatte auszuschalten. Immerhin ersparte ihr dieses Phänomen die Suche nach dem Aufenthaltsort des Dämons. Natürlich hätte sich Piper diese Rallye durch das verlassene Industriegebiet sparen können, wenn sie sich mit Leo einfach an den Ort des Geschehens georbt hätte. Aber da sie keine Ahnung hatte, was sie dort erwartete, hielt sie es für besser, den traditionellen Weg zu wählen. Schließlich hatte sie keine Lust, in einem Mini-Vulkan zu materialisieren oder eine ähnlich tödliche Überraschung zu erleben. Mit quietschenden Reifen steuerte sie den Wagen um eine Kurve. Noch verdeckte eine große Halle die Sicht auf die Ursache des Glühens. Piper hatte das unangenehme Gefühl, dass die Hitze zunahm. Oder war das nur Einbildung? Ihre Frage beantwortete sich von selbst. Die junge Hexe riss die Augen auf, als sie an der Halle vorbeifuhr und auf ein weiteres Industriegebäude zujagte. Es stand in hellen Flammen. Feuerzungen loderten aus den zerborstenen Fenstern des Gebäudes. Rauch quoll ins Freie, und der Flammenschein verwandelte die Dunkelheit der Nacht in rötliches Licht. Piper steuerte den Wagen auf den großen Parkplatz vor dem Gebäude. Von hier aus konnte sie ein Schild über dem Haupteingang erkennen: »AmSteel Stahlgießerei«. Den Namen hatte Piper schon einmal irgendwo gehört, soweit sie sich erinnerte, wurden hier Stahlplatten für den Schiffsbau gegossen.
Etwa zwanzig Meter vor dem Industriegebäude stoppte Piper den Wagen und sprang heraus. Eine Welle aus heißer Luft schlug ihr entgegen und raubte ihr im ersten Augenblick den Atem. Ihr erster Impuls war es, zum Handy zu greifen und die Feuerwehr zu informieren. Doch dann besann sie sich eines Besseren. Wenn dieses Feuer tatsächlich magische Ursachen hatte – und davon musste sie ausgehen – dann war es sinnvoller, die Lage erst einmal allein zu erkunden. Die Feuerwehrmänner von San Francisco wussten wahrscheinlich am besten, was bei einem Industriefeuer zu tun war, aber gegen einen Dämon würden ihre Wasserschläuche wahrscheinlich wenig ausrichten können. Piper fuhr herum, als sie hinter sich ein Hupen hörte. Ein alter Pick-up näherte sich. Am Steuer saß Phoebe. Paige klammerte sich auf dem Beifahrersitz an ihren Sicherheitsgurt. Offensichtlich hatte Phoebe auf ihrer Fahrt hierher auch ein paar Verkehrsregeln übertreten. Der Pick-up stoppte neben Piper. Phoebe und Paige sprangen heraus. Fasziniert blickten sie auf die Flammen, die immer wütender aus den Fenstern hochschlugen. »Ach, du liebe Güte!«, rief Paige und blickte hinauf. »Diese trockene Hitze ist gar nicht gut für meine Haut. Hast du schon die Feuerwehr gerufen, Piper?« Piper schüttelte den Kopf. Die Schwestern mussten schreien, um das Prasseln der Flammen zu übertönen. »Nein, aber es kann nicht mehr lange dauern, bis sie hier eintrifft. Wahrscheinlich werden auch andere die Flammen bemerken. Wir sollten die Zeit nutzen und uns erst einmal umsehen. Wenn hinter diesem Feuer ein Dämon steckt, dann müssen wir ihn vernichten, bevor die Feuerwehr hier eintrifft.« Die drei Schwestern blickten sich an. Es war ihnen anzusehen, dass sie sich nicht wohl fühlten in ihrer Haut. Schließlich war mit so einem Feuer nicht zu spaßen. Selbst ohne eine dämonische Bedrohung würde es lebensgefährlich sein, das Gebäude zu betreten. »Na schön«, sagte Phoebe schließlich. »Gehen wir rein!«
Vorsichtig näherten sich die drei Hexen dem Haupteingang. Die Flammen loderten aus dem hinteren Teil des Gebäudes, also schien es – zumindest vorläufig – relativ sicher zu sein, es von vorn zu betreten. Die Glastür mit dem Logo der Stahlgießerei war unverschlossen. Vorsichtig drückte Piper sie auf. Die drei Hexen zuckten zusammen, als ein Luftzug an ihnen vorbeizischte und wie eine plötzliche Sturmböe von außen ins Innere der Eingangshalle fegte. »Was war das denn?«, rief Paige erschrocken auf. Phoebe hustete und schnappte dann nach Luft. »Die Hitze im hinteren Teil muss einen großen Teil des Sauerstoffs aus dem Rest des Gebäudes angesaugt haben. Und da die Tür zu war, konnte kein neuer Sauerstoff von außen nachströmen. Bis jetzt.« »Wow.« Piper nickte anerkennend. »Woher weißt du so etwas, Phoebe?« Phoebe zuckte mit den Schultern. »Aus einem Feuerwehr-Film. Backdraft, mit Robert DeNiro.« Vielleicht sollte ich doch öfter mal ins Kino gehen, dachte Piper. Dann sah sie die zusammengesunkene Gestalt am hinteren Ende der Einganshalle, die leblos hinter dem Empfangspult lag. »Da ist jemand!«, rief sie, und die drei Hexen stürmten los. Sekunden später hatten sie die Gestalt erreicht. Es war ein alter Mann in Nachtwächteruniform. Sein Gesicht war aschfahl. Piper konnte nicht erkennen, ob er noch atmete. Seine Hand ruhte auf einem kleinen Schaltpult, auf dem auch ein Knopf für den Feueralarm angebracht war. Offensichtlich musste der Nachtwächter ohnmächtig zusammengebrochen sein, bevor er den Alarm auslösen konnte. »Sieht aus, als hätte der Sauerstoffmangel ihn ohnmächtig werden lassen«, sagte Phoebe wie zur Bestätigung. Dann fühlte die mittlere Halliwell-Schwester den Puls des alten Mannes. »Aber er lebt noch. Paige, kannst du ihn bitte raus an die frische Luft tragen? Wir sehen uns mal an, was dieses Feuer ausgelöst hat.« »Geht klar.« Paige nickte und sprang mit einem Satz über das Empfangspult, um den alten Nachtwächter hinauszuziehen. »Wie finde ich euch denn wieder?«
Piper deutete auf eine Durchgangstür, die offensichtlich vom repräsentativen Eingangsbereich der Fabrik zu den eigentlichen Produktionshallen führte. »Immer der Hitze nach.« Während Paige den alten Mann schnaufend mit einem Rettungsgriff Richtung Ausgang schleppte, rannten Piper und Phoebe auf die Tür der Produktionshallen zu. Piper war etwas schneller und griff nach der Klinke. Im selben Augenblick zuckte ihre Hand zurück. »Autsch, die Tür ist ganz heiß!« Dann zog sie den Stoff ihrer Bluse lang, um ihn wie einen improvisierten Topflappen um die Klinke zu wickeln. »So geht's«, rief sie zufrieden und drückte die Klinke herunter. Phoebe stand neben ihrer Schwester und stutzte. Die Tür war heiß? Sie musste wieder an Backdraft denken, den Film, den sie gerade erwähnt hatte. Irgendetwas war da doch … Dann fiel es ihr wieder ein! »Nicht öffnen!«, schrie Phoebe, aber es war zu spät. Piper hatte die Klinke bereits heruntergedrückt.
7 PIPER SAH AUS DEN AUGENWINKELN ETWAS auf sich zustürmen. Es war Phoebe. Bevor Piper reagieren konnte, spürte sie einen harten Stoß an der Schulter. Ihre Schwester hatte sie mit enormer Wucht zu Boden gerissen. »Hey!«, rief Piper erstaunt auf. Es gab einen schmerzhaften Aufprall, diesmal mit der anderen Schulter. Im selben Augenblick fegte etwas unglaublich Heißes über die Köpfe der beiden Schwestern hinweg. Eine orange-rote Flammenzunge. Sie loderte ein paar Augenblicke lang in den Eingangssaal hinein, dann zog sie sich zischend – fast wie ein lebendes Wesen – in die Werkshalle zurück. »W-Was war denn das?«, fragte Piper erstaunt. Die beiden Halliwell-Schwestern lagen jetzt einen knappen Meter neben der geöffneten Tür und rappelten sich wieder auf. Phoebe reichte ihrer Schwester die Hand und half ihr beim Aufstehen. »Ein so genannter ›Backdraft‹«, keuchte Phoebe, noch etwas außer Atem. »Durch das Offnen der Tür erhält das Feuer dahinter neuen Sauerstoff und lodert mit einer Stichflamme auf.« »Ich bin echt froh, dass du so oft ins Kino gehst, Phoebe«, seufzte Piper und klopfte ihrer Schwester anerkennend auf die Schulter. »Sonst hätte es jetzt eine ›Heiße Hexe‹ gegeben.« Gleichzeitig ärgerte sich Piper über sich selbst. Irgendwo hatte sie mal gelesen, dass man bei einem Feuer niemals eine Tür öffnen durfte, die sich heiß anfühlte. Daran hätte sie sich auch ein paar Sekunden eher erinnern können. Zum Glück war das Ganze noch einmal gut gegangen. Vorsichtig blickten die beiden Schwestern in die Halle. Der Raum war tatsächlich riesig, überall standen gewaltige Maschinen, die zum Schmelzen und Verarbeiten des Stahls gebraucht wurden.
Einige davon standen in Flammen. Dicker, schwarzer Rauch quoll aus ihnen hervor, wahrscheinlich von den Stromkabeln, die im Innern der Maschinen verschmorten. Vorsichtig gingen Piper und Phoebe ein paar Schritte hinein. Die Hitze war unerträglich. »Bist du sicher, dass dies das Werk eines Dämons ist, Piper?«, fragte Phoebe. Piper blickte sich um. Irgendetwas in dem Flammenmeer vor ihnen erweckte ihre Aufmerksamkeit. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen in den lodernden Flammen einen Umriss erkennen konnten. »Ganz sicher, Phoebe«, sagte Piper und schluckte. »Schau mal da vorn!« Phoebe blickte auf die von ihrer Schwester bezeichnete Stelle. Und sie traute ihren Augen nicht. Inmitten der Flammen stand eine menschenähnliche Gestalt. Das Feuer schien ihr nichts auszumachen. Im Gegenteil, wer – oder was – das auch war, genoss die lodernden Flamenzungen. Kein Wunder. Die Gestalt – daran, dass es ein Dämon war, bestand nun kein Zweifel mehr – bestand selbst aus Flammen. »Das gibt's doch nicht!«, keuchte Phoebe. Im selben Augenblick entdeckte der Flammen-Mann die beiden Hexen. Ohne zu zögern trat er auf sie zu. Das Wesen besaß tatsächlich eine menschenähnliche Gestalt, schien aber aus reinem Feuer zu bestehen. »Wow, das wäre ein großartiger Spezialeffekt für einen Film«, sagte Phoebe. Fassungslos beobachtete Piper, wie ihre jüngere Schwester die Finger ihrer beiden Hände zu einer improvisierten Kameralinse formte und die Feuer-Kreatur dadurch betrachtete. »Oscarreif, würde ich sagen.« »Ähm, Phoebe, könntest du dein Spielfilm-Debüt vielleicht später planen? Dieses Ding sieht mir nicht danach aus, als würde es deinen Regieanweisungen folgen.«
Wie zur Bestätigung stieß der Flammen-Mann ein zischendes Fauchen aus und hob den Arm wie ein Baseballspieler, der einen Ball werfen will. Doch die Kreatur schleuderte keinen Ball, sondern eine lodernde Feuerkugel. »Achtung!«, rief Phoebe. Beide Hexen sprangen nach links und rechts in Deckung. Die Feuerkugel zischte über sie hinweg und prallte mit einem Auflodern gegen die Wand hinter ihnen. »Das wäre eine tolle Szene für den Werbetrailer gewesen«, keuchte Phoebe, als sie wieder auf die Beine sprang. »Phoebe, verflixt noch mal!« Piper verlor allmählich die Geduld. »Das hier ist kein Film. Dieser Feuer-Dämon ist verdammt real. Wir müssen ihn vernichten.« Phoebe nickte. »Ja, du hast ja Recht. Frier ihn doch einfach ein, dann können wir uns in Ruhe überlegen, wie wir ihn kaltstellen.« Piper nickte, hob die Hände und konzentrierte sich kurz. Nichts passierte. Abgesehen davon, dass der Flammen-Dämon mit einem Grollen auf sie zupreschte. »Du meine Güte! Zur Seite!«, rief Phoebe. Das Flammen-Monster raste auf die beiden Schwestern zu, die gerade noch ausweichen konnten. Piper hatte so etwas fast befürchtet. Dieses Wesen bestand tatsächlich nur aus Flammen – einer Substanz, die sie nicht mit einem Erstarrungszauber belegen konnte. Wütend, dass es seine Opfer schon wieder verfehlt hatte, blieb der Flammen-Dämon stehen. Erneut hob er seine Hand, um einen neuen Flammenball auf die hilflosen Hexen zu schleudern. »Ich glaube, über das Drehbuch müssen wir noch einmal reden«, schluckte Phoebe. Nach dem letzten Hechtsprung waren Piper und sie in einer Ecke der Halle gelandet. Viel Raum, um den tödlichen Flammenkugeln auszuweichen, hatten sie nicht mehr. Hinter ihnen war nur noch die Wand, vor ihnen stand der Dämon und der einzige Fluchtweg führte weiter in das Innere der Halle hinein. Doch die brannte bereits
lichterloh. Der Flammen-Mann gab ein triumphierendes Fauchen von sich. In seiner Hand bildete sich eine neue Flammenkugel. »Und nun?«, keuchte Phoebe. »Und nun wird es Zeit für eine Abkühlung!« Überrascht blickten Piper und Phoebe an dem Flammen-Monster vorbei. Auch der Dämon schaute sich überrascht um. Hinter ihm stand Paige, die Dritte im Bunde. Sie hatte den alten Nachtwächter sicher auf dem Hof vor der Fabrik abgesetzt und war dann zurück in das Gebäude gelaufen. Und in ihrer Hand hielt sie einen Feuerlöscher. Bevor der Dämon reagieren konnte, presste Paige den Hebel herunter. Ein Strahl aus weißem Schaum schoss auf den Dämon zu. Als der Schaum seinen Körper berührte, gab es ein lautes Zischen. Die Kreatur bäumte sich auf. Der Löschschaum schien ihr Schmerzen zu bereiten, aber reichte nicht aus, um sie zu vernichten. Immerhin gelang es Paige, die Kreatur von ihren Schwestern wegzuscheuchen, indem sie sie mit gezielten Löschstrahlen durch die Halle trieb. »Sehr gut, Paige!«, rief Phoebe. »Du hast die Hauptrolle!« Aber Paiges siegesbewusstes Grinsen dauerte nicht lange an. Der herausspritzende Schaumstrahl wurde von mal zu mal kleiner und schwächer. Der Feuerlöscher war fast leer. »Äh, Schwestern?«, rief Paige, »wie geht es jetzt weiter?« Das Gesicht des Flammen-Dämons verzerrte sich zu einem Grinsen. Noch ein paar letzte Schaumspritzer, dann würden die drei Schwestern wieder so hilflos sein wie zuvor. Aber Piper hatte eine Idee. Sie sah vielleicht nicht so viele Filme wie Phoebe, dafür war sie aber ein großer Fan von FernsehDokumentationen. Und erst letzte Woche hatte sie einen Bericht über die Löscharbeiten an Großfeuern gelesen. Wenn gar nichts mehr ging, griffen professionelle Feuerwehrleute zum letzten Mittel: Dynamit. Die Druckwelle einer Explosion war so gewaltig, dass sie selbst einen lodernden Großbrand ausblasen konnte.
Und Explosionen waren nun auch zufällig ihr zweites Fachgebiet. »Paige, Phoebe! Runter!« Die beiden Schwestern kannten Pipers Kräfte und ahnten, was jetzt kam. Ohne es ihnen zweimal sagen zu müssen, warfen sie sich zu Boden. Paige hielt sich sogar die Ohren zu. »Hey, Feuerkopf!«, rief Piper. »Es ist schon ohne dich heiß genug. Zeit, dass du dahin zurückgehst, wo du hergekommen bist. Zur Hölle!« Der Flammen-Dämon starrte Piper hasserfüllt an. Doch bevor er etwas unternehmen konnte, riss Piper die Arme hoch. Sie musste sich nur vorstellen, dass dieses Monster explodierte und – im selben Augenblick erschütterte eine Explosion die Fabrikhalle. Der Dämon brüllte auf. Wie ein Feuerwerkskörper zerbarst er. Hunderte von kleinen Feuerballen, einige so groß wie eine Faust, einige so klein wie Streichholzflammen, zischten durch die Luft. Dort, wo sie auf die Wände und Maschinen trafen, entstanden sofort neue, kleine Feuerherde. Aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Die Fabrikhalle war sowieso nicht mehr zu retten. Dichter Rauch erfüllte jetzt die gesamte Halle. »Großartig gemacht, Schwesterherz«, hustete Paige. »Danke für die Blumen. Du warst auch nicht schlecht. Aber wir sollten jetzt erst einmal sehen, dass wir Land gewinnen. Ich fürchte, hier wird gleich alles zusammenkrachen.« Piper scheuchte ihre beiden jüngeren Schwestern zur Tür hinaus. Durch die Eingangshalle hindurch gelangten sie rasch ins Freie. Die Nachtluft war zwar noch immer schwül und stickig, aber verglichen mit der verqualmten Hitze in der Fabrik war sie die reinste Frühlingsbrise. Gierig sogen die drei Hexen die Luft in ihre Lungen. Ein paar Straßen weiter ertönten Feuerwehrsirenen. Sekunden später war auch das Aufblitzen der ersten Signallichter zu sehen. Piper wischte sich über die mit Ruß verschmierte Stirn.
»Wir sollten jetzt besser verschwinden und die Feuerwehr ihren Job machen lassen. Ich habe heute Nacht keine Lust mehr, Fragen zu beantworten. Paige, wie geht es dem Nachtwächter?« Die jüngste der drei Schwestern kniete neben dem alten Mann, der auf dem Asphalt des Parkplatzes lag, in sicherer Entfernung von dem Flammenmeer. Er atmete wieder tief und ruhig durch. Seine Augen blinzelten bereits wieder. »Der ist okay, Piper. Sieht aus, als würde er in ein paar Minuten wieder zu sich kommen.« »Okay. Dann nichts wie weg. Ich glaube, ich habe noch nie im Leben so dringend eine Dusche gebraucht, wie jetzt.« Phoebe und Paige liefen zum Pick-up, Piper rannte zu ihrem eigenen Wagen. Bevor sie einstiegen, blieben sie noch einmal stehen und grinsten sich an. Dann hoben sie ihre Hände und ließen die Handflächen zusammenklatschen. »Auf die Hexen-Feuerwehr!«
8 MUSS DAS SEIN?«, fragte Piper etwas genervt.
»
Die drei Schwestern hatten das Fabrikgelände verlassen, kurz bevor die Feuerwehr eingetroffen war. Auf dem Heimweg hatte Phoebe ihrer Schwester vom Pick-up aus ein Handzeichen gegeben. Sie wollte noch einmal am Pier 17 vorbei und Andy besuchen. Eigentlich war es Paige gewesen, die auf dem Beifahrersitz so lange gequengelt hatte, bis Phoebe endlich nachgab. Piper folgte den beiden in ihrem eigenen Wagen. Nun standen beide Autos direkt vor dem Tor der alten Lagerhalle. »Ich möchte mich nur kurz verabschieden«, sagte Paige mit einem entschuldigenden Schulterzucken. »Immerhin bin ich jetzt ein festes Mitglied der Filmcrew.« »Ach ja?« Piper runzelte die Stirn. »Wie kommt das? Jetzt sag nicht, du spielst auch eine Rolle in diesem Streifen.« »Nur hinter der Kamera«, grinste Paige. »Ich bin jetzt die technische Beraterin für Hexenfragen.« Mit diesen Worten zog Paige die große Schiebetür auf und schlüpfte hindurch. Piper blieb fassungslos zurück. »Könnte mir das bitte mal jemand erklären?« Phoebe seufzte. Da sonst niemand da war, war mit ›jemand‹ wohl sie gemeint. Piper würde nicht gerade begeistert sein zu erfahren, dass Paige ihr Hexenwissen jetzt einer Filmproduktion zur Verfügung stellte. Unterdessen durchquerte Paige die Halle mit schnellen Schritten. Auf der kleinen Bühne herrschte noch buntes Treiben, aber es sah fast so aus, als würde die Crew ihre Ausrüstung schon wieder zusammenpacken. Andy stand mit Pete, dem Kameramann in einer Ecke und diskutierte. Der junge Regisseur lächelte, als er Paige sah. Dann stutzte er. »Paige! Wie siehst du denn aus?«
»Hm? Was meinst du …?« Im ersten Augenblick wusste Paige nicht, worauf Andy anspielte. Dann fiel ihr ein, dass ihr Gesicht von dem Kampf mit dem FlammenDämon noch ganz mit Ruß verschmiert sein musste. »Oh, äh, das …«, lachte sie verlegen und wischte sich über die Stirn. »Unser, äh, Wagen ist unterwegs liegen geblieben und ich musste ein bisschen am Motor rumschrauben.« Andy und Pete nickten anerkennend. »Jetzt sag nicht, du verstehst neben dem Okkultismus auch noch etwas von Technik«, grinste Andy. »Dann kannst du ja demnächst die Nebelmaschine reparieren.« Bloß nicht, dachte Paige. Ich verstehe von Technik etwa so viel wie du von Magie. »Ja, äh, mal sehen. Aber sag mal, seid ihr etwa schon fertig?« »Für heute schon. Wir hatten nur diese eine Szene auf dem Drehplan. Und ehrlich gesagt, sind wir etwas nervös geworden, als wir ganz in der Nähe die Sirenen gehört haben. Wir sind zwar heute völlig legal hier, aber es ist uns wohl schon in Fleisch und Blut übergegangen, wegzulaufen, wenn wir Polizeisirenen hören.« Das war doch nur die Feuerwehr, wollte Paige gerade sagen, biss sich aber dann auf die Lippen. Andy war kein Dummkopf, und er würde in Anbetracht ihres verschmierten Gesichts vielleicht erraten können, dass sie irgendetwas mit dem Feuer zu tun hatte. »Dreht ihr denn morgen wieder?«, fragte Paige stattdessen. »Klar. Die nächsten zwei Wochen noch. Wir haben ja gerade erst angefangen. Bist du dabei? Wir sind morgen wieder hier. Um die gleiche Zeit.« Paige strahlte übers ganze Gesicht. »Klar bin ich wieder mit dabei. Bis Morgen, Andy. Ciao, Pete.« Die beiden jungen Männer nickten Paige zu und steckten dann wieder die Köpfe in den Drehplan, den Andy in der Hand hielt. Erschöpft, aber gut gelaunt, durchquerte Paige die Halle und schritt durch das Tor ins Freie. Ihre beiden Schwestern warteten schon. Piper blickte sie streng an. Dann fiel ihr Blick, nicht weniger streng, auf Phoebe.
»Paige, Phoebe, ich glaube, wenn wir zu Hause sind, müssen wir mal über euren neuen Film-Tick reden.« Ja, Mami, dachte Paige und stieg seufzend zu Phoebe ins Auto. Kaum waren die drei Hexen vom Parkplatz der Halle verschwunden, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten. In der Dunkelheit war er mit seinem schwarzen T-Shirt fast unsichtbar gewesen. Tim Sorvino, der Puppenbauer, blickte den davonfahrenden Autos finster hinterher. »Können Sie mir schon etwas sagen?« Darryl Morris, Detective des Police Department von San Francisco, blickte den Gerichtsmediziner erwartungsvoll an. Die Nachtluft hier im Golden Gate Park war noch schwüler als in der Stadt. Darryl wischte sich mit einem Taschentuch über die schweißnasse Stirn. Die Hitzewelle hatte ihn den ganzen Tag lang auf Trab gehalten. Und jetzt auch noch das. Doktor Nyang, der Gerichtsmediziner, blickte von der Leiche auf, die abseits des Hauptweges hinter einem Busch lag. »Nun ja, die Frau ist tot. So viel kann ich mit Sicherheit schon einmal sagen.« • »Sehr witzig«, murmelte Darryl. »Darauf wäre ich auch selbst gekommen, Doc. Todesursache und Zeit des Todes?« »Ich kann auch nicht hexen, Detective. Genaueres kann ich Ihnen erst nach einer Laboruntersuchung sagen.« Natürlich, dachte der Polizist. Das war der Standard-Satz jedes Gerichtsmediziners. Wenn es nach den Ärzten ging, würden sie am liebsten erst dann irgendwelche Aussagen treffen, wenn sie wochenlange Untersuchungen an den Opfern durchgeführt hatten. Aber er als Ermittler hatte ganz andere Prioritäten. Der Statistik – und seiner Erfahrung – zufolge, wurden die meisten Gewaltverbrechen innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden aufgeklärt. Danach sanken die Chancen, den Täter zu fassen, beinahe stündlich. Die Zeit drängte also, wie üblich.
»Kommen Sie, Doc. Geben Sie mir irgendetwas, womit ich arbeiten kann.« Doktor Nyang seufzte. Das aufblitzende Licht der umstehenden Polizeiwagen spiegelte sich in den Gläsern seiner Brille wider. »Also schön«, antwortete er fast widerwillig und wandte sich der Leiche zu. »Das Mordopfer ist weiblich, etwa vierzig Jahre alt, weiß. Ich würde vermuten, dass der Tod vor etwa, na ja, sagen wir zwanzig Stunden eingetreten ist. Also irgendwann letzte Nacht. Die große Hitze der letzten Tage macht eine genauere Bestimmung natürlich schwierig. Ich muss mich da zunächst mal auf die Hinweise meiner kleinen Helfer verlassen.« »Kleine Helfer?«, fragte Darryl erstaunt. Von was zum Teufel redete der Mann? »Nun ja, bereits wenige Minuten nach dem Tod eines Menschen werden eine Vielzahl kleinerer Insekten von der Leiche angelockt. Besonders im Freien. Einige davon benutzen unsere sterblichen Überreste, um ihre Eier darin abzulegen. An der Art des Insektenbefalls lässt sich der Todeszeitpunkt relativ präzise ablesen. Diese kleinen Racker sind wahre Präzisionsarbeiter. Schauen Sie hier – da haben sich bereits ein paar Larven der –« Detective Morris winkte ab. Mehr wollte er gar nicht wissen. »Doc, bitte ersparen Sie mir diese Details. Die Frau ist also etwa seit zwanzig Stunden tot?« »So sieht's aus.« Darryl machte sich ein paar Notizen in einen Block. Na großartig. Damit war die Vierundzwanzig-Stunden-Frist beinahe abgelaufen. »Und was ist mit Todesursache und Tatwaffe?« Doktor Nyang zögerte. Und das machte Darryl stutzig. Der Detective ahnte nichts Gutes. »Tja, das ist ein wenig seltsam, Detective«, antwortete der Leichenbeschauer schließlich und deutete auf die Füße der toten Frau, die mit dem Bauch auf dem Boden lag. »Sehen Sie diese kleinen Einstiche im Bereich der Füße und Unterschenkel?« Darryl blickte genauer hin. Der Tatort wurde von den Scheinwerfern der umstehenden Polizeiwagen beleuchtet. Das flach
einfallende Licht warf lange Schatten auf den Boden und das Mordopfer. Der Detective hatte diese seltsamen, kleinen Verletzungen tatsächlich noch nicht bemerkt. »Ja, jetzt, wo Sie's sagen. Was ist denn das?« Doktor Nyang kratzte sich am Hinterkopf. »Ich würde meinen, es handelt sich dabei um kleine Einstiche, die mit einem sehr scharfen Präzisionswerkzeug verursacht wurden. Möglicherweise einem Skalpell oder so etwas.« Darryl schüttelte den Kopf. »Und warum an den Füßen?« »Wie es aussieht, hat der Angreifer gezielt auf die Beine eingestochen, um ein paar Sehnen und Muskeln zu verletzen. So lange, bis das Opfer nicht mehr in der Lage war, wegzulaufen.« »Mein Gott«, murmelte Darryl. Wie grausam. Nyang fuhr fort und deutete auf den Rücken der toten Frau. »Und nachdem sie erst einmal bewegungsunfähig war, hat der Mörder ihr mit demselben, kleinen Instrument den Rest gegeben. Ich zähle hier mindestens zwanzig bis dreißig kleine Einstiche, durch die diverse innere Organe verletzt wurden. Und das ziemlich gezielt. Der Mörder kannte sich mit der menschlichen Anatomie scheinbar gut aus und wusste, was er tat.« Die arme Frau, dachte Darryl. In seiner Karriere als Polizist hatte er schon einige Mordopfer gesehen, aber der Fund einer Leiche ging ihm jedes Mal unter die Haut. Besonders, wenn das Opfer unter so grausamen Umständen ums Leben gekommen war wie in diesem Fall. »Aber warum so viele kleine Einstiche, Doc?«, fragte Darryl schließlich. »Wäre ein großes, normales Messer nicht viel einfacher gewesen?« Nyang zuckte mit den Schultern. Dann stand er wieder auf und nickte einem seiner Assistenten zu. Der junge Mann warf ein weißes Tuch über die Leiche. »Natürlich, Detective. Aber vielleicht hatte der Täter kein anderes Mordwerkzeug zur Hand. Obwohl ich es für unwahrscheinlich halte, dass jemand mit einem Skalpell in der Tasche durch den nächtlichen Park läuft. Es sei denn, er hat auch vor, es zu benutzen. Wenn Sie mich fragen … ein Ritualmord.«
Darryl Morris stöhnte innerlich auf. Auch das noch. Der Alptraum jedes Polizisten. Ritualmörderwaren schwer zu fassen, da ihnen ein normales Motiv wie Eifersucht oder Habgier fehlte. Und außerdem war so etwas ein gefundenes Fressen für die Presse. Gerade in der sommerlichen Saure-Gurken-Zeit, in der sonst nichts passierte. Der Polizeichef würde ihm die Hölle heiß machen, wenn das hier tatsächlich das Werk eines verrückten Ritualmörders war. Sein verlängertes Wochenende und den geplanten Segeltörn würde er wohl vergessen können. Mit einem schnappenden Geräusch zog sich Doktor Nyang die Gummihandschuhe aus. Dann reichte er Darryl die Hand. »Viel Glück, Detective. Sie werden es brauchen können. Sobald ich weitere Ergebnisse habe, lasse ich es Sie wissen. Gute Nacht.« »Gute Nacht, Doktor Nyang«, erwiderte Darryl. Vor allem würde es eine lange Nacht werden. Piper saß todmüde hinter dem Steuer und passierte gerade den Golden Gate Park, als ihr das blaue Aufblitzen auffiel. Ein paar Polizeiwagen rollten gerade mit Schrittgeschwindigkeit aus dem Park und folgten dem großen Wagen des städtischen Leichenbeschauers. »Oh-Oh«, murmelte Piper zu sich selbst. »Sieht aus, als hätte es hier ein Verbrechen gegeben.« Als sie eine Gestalt sah, die müde und mit hängenden Schultern über den Bürgersteig schlurfte, verringerte sie ihr Tempo. Das war Darryl Morris, ihr Freund vom Polizeipräsidium. Er war wohl gerade auf dem Weg zu seinem Privatwagen, der am Rande des Parks abgestellt war. Piper setzte den Blinker und fuhr an den Straßenrand. Im Rückspiegel konnte sie sehen, dass der Pick-up mit Phoebe und Paige ihr folgte. Dann kurbelte sie das Seitenfenster herunter. »Darryl, hallo!«, rief sie und schaltete den Motor aus. »Was machst du denn noch hier?« Darryl blickte überrascht auf. Als er Piper erkannte, huschte der Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. »Hallo Piper!« Dann fiel
sein Blick auf den Pick-up, aus dem Phoebe und Paige gerade ausstiegen. »Ist ja wirklich zauberhaft, euch zu treffen. Aber eigentlich sollte ich euch verhaften. Drei Personen in zwei Autos – wir haben SmogAlarm der Stufe zwei, falls ihr es noch nicht bemerkt habt«, sagte er zum Scherz. Dann stutzte er, als er die immer noch rußverschmierten Gesichter der drei Hexen bemerkte. »Aber dass der Smog schon so schlimm ist, war selbst mir nicht klar …« »Oh, das«, grinste Piper und wischte sich etwas Ruß aus dem Gesicht. »Das ist nur ein kleines Andenken an eine kleine Fabrikbesichtigung. War eine heiße Nacht.« Darryl nickte nur. Er wusste vom geheimen Hexen-Job der drei jungen Frauen, auch wenn er es manchmal gar nicht so recht glauben konnte. Es war besser, nicht nachzufragen, gegen welche Kreaturen die drei Zauberhaften jetzt schon wieder gekämpft hatten. Aber dann kam ihm eine Idee. »Hört mal, ich habe es gerade offensichtlich mit einem verrückten Ritualmörder zu tun. Er hat gestern Nacht eine Frau mit ein paar Dutzend winzigen Messerstichen getötet, direkt hier im Park.« Darryl deutete mit einer Handbewegung über seine Schulter. »Oh, Gott, wie entsetzlich«, sagte Paige. »Die Arme!« Darryl nickte. »Allerdings. Ich frage mich, ob ihr mir vielleicht helfen könntet. Wenn es ein Ritualmord war, dann gibt es vielleicht auch okkulte Hintergründe. Und das fällt ja in euer Fachgebiet.« »Verstehe«, nickte Piper ernst. »Du möchtest, dass wir mal im Buch der Schatten nachsehen. Können wir gerne machen, Darryl.« »Danke, das ist nett von euch. Obwohl das Ganze wahrscheinlich nur das Werk eines Irren ist. Aber ich will alle Möglichkeiten ausschöpfen, um diesen Fall zu klären. So schnell wie möglich.« »Meinst du, der Kerl schlägt noch mal zu?«, fragte Phoebe. »Der Kerl oder die Frau«, nickte der Detective. »Ich will es nicht hoffen, aber möglich ist es. Diese Hitze macht die Leute verrückt. Offensichtlich im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Wir befragen das Buch der Schatten gleich morgen früh und lassen dich wissen, wenn wir etwas herausgefunden haben, Darryl.« Piper reichte dem Detective die Hand. Die anderen beiden verabschiedeten sich mit einem Winken und stiegen wieder in den Pick-up. »Danke, ich weiß das zu schätzen«, rief Darryl den Hexen hinterher. »Und denkt dran – teilt euch demnächst ein Auto, wenn es geht.« Kaum zwanzig Minuten später erreichten die drei Hexen das Halliwell-Haus. Nach einer kleinen Auseinandersetzung darüber, wer zuerst die Dusche benutzen durfte, fielen sie kurz darauf in ihre Betten. Trotz der schwülen Nachtluft schliefen Piper, Phoebe und Paige fast augenblicklich ein.
9 ALS
PAIGE AM NÄCHSTEN MORGEN die Küche des Halliwell-Hauses betrat, durchzog bereits der Duft von frischem Kaffee das Haus. Obwohl die Sonne noch tief am Morgenhimmel stand, musste die Temperatur bereits wieder niemals fünfundzwanzig Grad betragen. »Guten Morgen, Paige«, sagte Phoebe und kaute weiter an ihrem Obstsalat. Paige blickte mit großen Augen auf die Schüssel und setzte sich neben ihre Halbschwester an den Küchentisch. Sekunden später schaufelte sie sich bereits ein paar Löffel von dem Obstsalat in eine Dessertschale. »Bei diesem Wetter geht doch nichts über frisches Obst.« »Stimmt«, schmatzte Phoebe. »Piper hat ihn gemacht. Wir haben echt Glück, dass unsere Schwester so eine Frühaufsteherin ist.« Paige nickte und probierte einen Löffel von dem Salat. Er war – wie zu erwarten – köstlich. »Wo steckt Piper eigentlich?«, fragte sie zwischen zwei Bissen. Phoebe deutete mit einer Handbewegung Richtung Flur. »Oben, auf dem Dachboden. Sie schaut im Buch der Schatten nach, ob sie irgendetwas über diesen seltsamen Mord herausfinden kann. Wie sie es Darryl versprochen hat.« »Scheußliche Sache«, murmelte Paige, ohne dass die Erinnerung an Darryls Bericht ihr den Appetit zu rauben schien. »Hoffentlich findet sie eine Spur und …« Phoebe hob eine Hand. »Sei mal kurz ruhig, bitte«, sagte sie und blickte auf das kleine Küchenradio über der Spüle. »Da laufen gerade Nachrichten.« Tatsächlich verlas der Nachrichtensprecher eines lokalen Senders gerade die neuesten Meldungen aus der Bay Area. »… handelt es sich bei der ermordeten Frau um Cynthia Rosswell, eine Bürgerin von San Francisco. Die Polizei hat offenbar noch keine heiße Spur, was Tatmotiv oder Täter angeht. Ebenfalls ungeklärt ist
auch die Ursache eines Großbrandes in einer Stahlgießerei am Hafenviertel. Das Gebäude brannte fast völlig nieder. Ein Nachtwächter, der bei dem Feuer leicht verletzt wurde, ist heute Morgen bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden …« »Gott sei Dank«, murmelte Paige zufrieden. »… und heiß hergeht es auch am Wochenende, Leute!« Der Radiosprecher hatte seinen seriösen Tonfall wieder abgelegt und schwatzte nun wieder mit professioneller guter Laune ins Mikrofon. »Unsere Wetterfrösche melden, dass die Hitze an diesem Wochenende voraussichtlich ein neues Rekordhoch erreichen wird. Eine Abkühlung ist vorerst nicht in Sicht. Deshalb wenigsten von unserer Seite eine kleine Abkühlung von ›Cool and the Gang‹ mit …« Phoebe stand auf und drehte das Radio leiser. Auf dem Rückweg zum Küchentisch griff sie nach der Kaffeekanne und schenkte Paige dann eine Tasse voll ein. »Meinst du, dass Piper da oben etwas über diesen Mord herausfindet?«, fragte Paige. »Keine Ahnung«, antwortete Phoebe mit einem Schulterzucken. »Warten wir es ab.« Piper Halliwell schnaufte. Hier oben auf dem Dachboden hatte sich die Hitze der vergangenen Tage aufgestaut wie in einer Sauna. Und genauso kam sie sich auch vor. Seit einer halben Stunde blätterte sie nun schon im Buch der Schatten – bislang ohne Ergebnis. Natürlich gab es eine Menge Eintragungen über okkulte Ritualmorde. Piper bekam trotz der Hitze eine Gänsehaut, wenn sie las, was Menschen ihren Mitmenschen alles antaten, um die Mächte des Bösen zu beschwören. Dabei ging dieser Schuss in den allermeisten Fällen nach hinten los. Trotzdem hatte sie nichts über einen Ritualmord gefunden, der zu dem Tathergang des Mordes im Park passte. Wahrscheinlich hatte Darryl mit seiner Vermutung Recht: Das Ganze war nur das Werk eines Irren gewesen.
Obwohl das natürlich schlimm genug war, spürte Piper doch eine gewisse Erleichterung. Zumindest lief da draußen wahrscheinlich kein verblendeter Wahnsinniger umher, der andere Menschen tötete, um einen Dämon zu beschwören. Piper wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und klappte das Buch der Schatten zu. Sie konnte hören, wie ihre beiden Schwestern sich in der Küche unterhielten. Wenn sie sich nicht beeilte, würden die beiden den Fruchtsalat alleine vertilgen. Mit einem Grinsen im Gesicht schloss sie die Dachbodentür hinter sich zu und ging die Treppe hinunter. Mit jeder Stufe wurde es ein wenig kühler. Unten im Flur war die Temperatur auszuhalten, aber das würde sich ändern, wenn erst einmal die Mittagssonne auf das Haus knallte. Piper hatte sich vorgenommen, an diesem Samstag das Haus ein wenig herauszuputzen. Also sollte sie möglichst bald damit anfangen, bevor die Hitze wieder unerträglich wurde. Mit der Hilfe ihrer Schwestern würde sie wahrscheinlich nicht rechnen können. Aber es gab ja da noch einen gewissen Wächter des Lichts, der praktischerweise auch noch ihr Ehemann war. Zum Glück ahnte er noch nicht, dass Piper ihn heute als Putzmann eingeteilt hatte. »Guten Morgen, Mädels«, grüßte Piper, als sie die Küche betrat. Phoebe und Paige blickten kauend auf. »Hi, Piper«, riefen sie wie aus einem Mund. Piper blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue auf die Schüssel mit dem Obstsalat. Viel war tatsächlich nicht mehr darin. Die älteste der Halliwell-Schwestern nahm sich eine Dessertschale und schaufelte sich den Rest des Obstsalates hinein. Wie immer hatten ihre beiden Schwestern die delikatesten Obststückchen – die Kiwi-, Mango- und Pfirsich-Scheiben – gezielt herausgefischt. »Hast du im Buch der Schatten etwas herausgefunden?«, fragte Phoebe interessiert. »Nein, leider nicht.« Piper schüttelte den Kopf. »Ich werde gleich Darryl anrufen und ihm Bescheid geben. Aber sagt mal, ihr habt nicht zufällig Lust, mir beim Hausputz zu helfen, oder?« Paige verschluckte sich vor Schreck an ihrem Obstsalat. »Um Gottes willen … äh, ich meine, tut mir Leid, Piper. Ich muss dringend
noch ein paar Sachen im Internet recherchieren. Wegen meinem neuen Job als Beraterin für ›Scream X-Treme‹, weißt du?« »Und ich wollte gleich in die Stadtbibliothek. Ich möchte mir ein bisschen Literatur über das Filmemachen besorgen. Ich finde das Ganze wahnsinnig interessant.« Piper kaute auf ihrem Obstsalat und blickte ihre Schwestern dann streng an. »Darüber wollte ich sowieso noch mit euch reden. Es ist ja schön, dass ihr ein neues Hobby entdeckt habt, aber ich glaube, die ganze Filmerei ist euch ein wenig zu Kopf gestiegen.« »Besonders ein gewisser, süßer Regisseur, stimmt's, Paige?«, fragte Phoebe dazwischen und grinste ihre jüngere Halbschwester schnippisch an. »Nur kein Neid«, gab Paige zurück. Sie benutzte ihren Dessertlöffel als Katapult und schoss einen Kirschkern in Phoebes Richtung. Bevor Phoebe darauf angemessen reagieren konnte, hob Piper die Hände. »Im Ernst, ihr Zwei. Denkt daran, dass unsere Aufgaben als Hexen in jedem Fall wichtiger sind. Ich möchte nicht, dass der nächste Dämon die halbe Stadt in Schutt und Asche legt, nur weil ihr euch gerade auf einem Filmset herumtreibt und nicht erreichbar seid, okay?« »Alles klar«, erwiderte Phoebe. »Die Dreharbeiten zu ›Scream XTreme‹ dauern ja nur noch zwei Wochen. Und wenn wir auf dem Set sind, lassen wir unsere Handys auf jeden Fall eingeschaltet.« »Versprochen«, stimmte Paige zu. Piper leerte erleichtert ihre Dessertschale. »Okay. Aber vergesst es bitte nicht. Und jetzt verschwindet ihr besser. Es wird Zeit für meinen Hausputz!« Lachend sprangen Paige und Phoebe auf und verließen fluchtartig die Küche. »Lauft! Lauft!«, rief Paige übertrieben theatralisch. »Die Staubhexe ist hinter uns her.« »Hoffentlich hat sie ihren Zauberbesen dabei«, lachte Phoebe.
Piper blickte ihren beiden Schwestern grinsend hinterher. Zauberbesen?, dachte sie. Da habe ich etwas viel Besseres … »Leo!«
10 DIE
KLIMAANLAGE DER STADTBIBLIOTHEK in der Larkin Street arbeitete auf Hochtouren. Trotzdem konnte sie nicht viel mehr tun, als die warme Luft im Inneren der ehrwürdigen Hallen umzuwälzen. Besonders hier, im Computerraum der Bibliothek, war die Luft stickig und trocken. Die Wärme der Rechner und ihrer Bildschirme heizte sie zusätzlich auf. Paige und Phoebe waren gemeinsam zur Bibliothek gefahren. Während Phoebe irgendwo nebenan die Kataloge nach Büchern über das Filmemachen durchwühlte, stellte Paige über das Internet ihre eigenen Recherchen an. Dank dem Netz der Netze war es heute zum Glück kein Problem mehr, etwas über Filme und Filmschaffende zu erfahren. Ein einfacher Suchbefehl bei www.imdb.com, der »Internet Movie Database« hatte Paige zu einer kompletten Film-Biografie von Andy Stewart geführt. Der süße Regisseur von ›Scream X-Treme‹ hatte noch nicht allzu viel gedreht, dieser Film war wohl tatsächlich seine erste, größere Produktion. Zuvor hatte er nur bei ein paar Studentenfilmen und Werbespots Regie geführt. Pikanterweise war einer dieser Spots eine Werbung für »Smootchie-Hundekuchen« gewesen. Und neben einem Königspudel war der menschliche ›Star‹ dieser kleinen Produktion eine gewisse ›Maggie Pilfinger‹ gewesen, die sich kurz darauf in ›Virginia Fontaine‹ umbenannt hatte. Die Hauptdarstellerin von ›Scream XTreme‹. Paige musste schmunzeln. Wenn diese aufgeblasene Pute das nächste Mal wieder mit ihren Star-Allüren nervte, würde sie Miss Pilfinger an ihre wenig ruhmreiche Vergangenheit erinnern. Aber noch erstaunlicher war, dass irgendein fleißiger Film-Freak schon ein paar Informationen über ›Scream X-Treme‹ in der InternetDatenbank gepostet hatte. Die Namen der meisten Schauspieler neben Virginia alias Maggie sagten Paige gar nichts, nur der Name Gustav Landreau ließ irgendwelche Glöckchen in ihrem Kopf läuten. Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört. Die Tastatur klackerte, als Paige diesen Namen in das Suchfenster des Internet-Browsers eingab. Sekunden später wurden ihr gleich ein
paar Dutzend Webseiten angezeigt, die sich mit Mister Landreau beschäftigten. Kein Wunder – nachdem Paige das erste Bild dieses Mannes sah, wusste sie auch warum. Das digitalisierte Foto zeigte einen gut aussehenden, dunkelhaarigen Mann mit einem typischen 40er-JahreGesicht, der neben einer altmodischen Kamera stand und einem Schauspieler im Werwolf-Kostüm irgendwelche Anweisungen gab. Natürlich! Gustav Landreau war einer der berühmtesten GruselRegisseure des alten Hollywood gewesen. Erst neulich hatte Paige einen seiner Werwolf-Filme im Fernsehen gesehen. Mit der Computermaus ließ Paige die Seite über den Bildschirm gleiten. Im unteren Teil waren alle Filme von Landreau aufgeführt. Es mussten Dutzende sein. Und den Titeln nach waren alle gängigen Filmmonster vertreten: Dracula, Werwölfe, Frankenstein, die Mumie und noch einige andere. Der abgedruckten Biografie zufolge war Landreau Mitte der 30er Jahre – wie viele andere Regisseure auch – vor den Nazis aus Europa geflohen und hatte seine Karriere in Hollywood fortgesetzt. Bis in die 60er Jahre hinein hatte er scheinbar jedes Jahr zwei oder mehr Filme gedreht. Danach wurde die Liste der Filme kürzer. Wahrscheinlich, so dachte Paige, war Landreau wie viele seiner Kollegen ein Opfer des Fernsehens geworden. Und nun spielte er eine Gastrolle in Andy Stewards ›Scream XTreme‹. Was für eine schöne Idee: Eine Legende des Gruselfilms trat im Erstlingswerk eines hoffnungsvollen Jungregisseurs auf – der dazu noch von den lebendig gewordenen Horror-Kreaturen des Altmeisters handelte. Paige klickte auf das ›Drucken‹-Symbol des Web-Browsers. Sie musste Phoebe unbedingt zeigen, was sie herausgefunden hatte. Im selben Augenblick streckte Phoebe im Freihandmagazin der Bibliothek die Hand nach einem Buch aus, das ganz oben im Regal einsortiert worden war. Vergeblich. Es stand einfach zu hoch. Vorsichtig blickte sie sich um. Konnte sie es wagen, ihre Kräfte einzusetzen, um einen kleinen Luftsprung zu machen? In diesem Augenblick bog ein junger Mann um das Regal, vor dem sie stand. Er lächelte Phoebe an.
»Warte, ich helfe dir.« Der junge Mann war mindestens zwei Köpfe größer als Phoebe und zog das Buch mit Leichtigkeit aus dem Regal. Er musste sich dazu nicht mal auf die Zehenspitzen stellen. Dann warf er einen Blick auf den Titel, bevor er es an Phoebe weiterreichte. »Oh, ›100 Wege zum perfekten Hollywood-Script‹. Bist du Drehbuch-Autorin?« Phoebe errötete ein wenig. »Ah, nein. Aber ich interessiere mich sehr dafür. Und ich habe selbst eine Menge Dinge erlebt, aus denen man bestimmt einen guten Film machen könnte.« Der junge Mann lächelte Phoebe immer noch an. Seine dunklen Haare waren kurz geschnitten, und er trug ein gut sitzendes KaroHemd, unter dem sich ein muskulöser Oberkörper abzeichnete. »Das ist gut. Man sollte immer über Dinge schreiben, die man kennt«, erwiderte er. Na toll, dachte Phoebe. Dann ist mir ja eine Karriere als Autorin von Horrorfilmen sicher. Der nette junge Mann hielt Phoebe lächelnd die Hand hin. »Ich heiße übrigens Thomas. Ich bin selber Filmstudent.« »Ach, wirklich?«, fragte Phoebe ehrlich interessiert. »Vielleicht kannst du mir bei Gelegenheit ja mal ein paar Tipps geben.« »Nur zu gern«, erwiderte Thomas. Phoebe wollte ihn gerade fragen, ob er schon an irgendwelchen Produktionen mitgewirkt hatte, als Paige um die Ecke bog. In ihrer Hand hielt sie einen Computerausdruck. »Hey, Phoebe«, rief sie. Dass sie sich in einer öffentlichen Bibliothek befand, schien sie nicht weiter zu stören. »Sieh mal, was ich hier gefunden habe …« Paige stutzte einen Augenblick, als sie Thomas an Phoebes Seite sah. »Oh, hallo. Ich bin Paige, Phoebes Schwester. Äh, ich störe doch nicht, oder?« Phoebe und Thomas schüttelten hastig den Kopf. »Nein, gar nicht.«
»Na, dann ist ja gut.« Paige hielt ihrer Schwester den Computerausdruck hin. »Was ist denn das?«, fragte Phoebe und blickte auf das Blatt. »Ein paar Informationen, die ich über Andys Film gefunden habe. Er hat als Gaststar einen alten Regisseur angeheuert, Gustav Landreau.« Phoebe sagte der Name gar nichts, aber Thomas blickte erstaunt auf. »Landreau? Meine Güte, ich wusste gar nicht, dass der Mann noch lebt. Der muss ja mittlerweile steinalt sein.« Der junge Filmstudent schüttelte amüsiert den Kopf. Dann stutzte er, als er auf den Zettel blickte, den inzwischen Phoebe in der Hand hielt. »Ach, ist das der Film von Andy Stewart? Dann hat er ja tatsächlich genug Geld zusammengeschnorrt, um endlich sein Projekt zu realisieren.« Phoebe blickte den Studenten erstaunt an. »Du kennst Andy?« »Na ja, ›kennen‹ ist zu viel gesagt. Wir haben früher an der Filmhochschule ein paar Regiekurse zusammen besucht. Und uns eine Zeit lang in denselben Kneipen herumgetrieben und über Filme diskutiert. Aber irgendwann hat er angefangen, sich komisch zu benehmen und dann habe ich ihn aus den Augen verloren.« Paige blickte Thomas enttäuscht an. Sie hatte schon gehofft, durch ihn vielleicht ein bisschen mehr über Andy zu erfahren. Aber was meinte er mit ›er hat angefangen, sich komisch zu benehmen‹? Bevor sie nachfragen konnte, blickte Phoebe auf ihre Armbanduhr. »Mensch, Paige, wir müssen langsam los. Ich würde mich auf dem Set von ›Scream X-Treme‹ gerne noch etwas umsehen, bevor die Dreharbeiten beginnen.« »Na, dann grüßt Andy mal schön von mir«, sagte Thomas. Dann schrieb er etwas auf einen Zettel und reichte ihn Phoebe. »Hier, meine Telefonnummer. Wenn du magst, kannst du mich ja mal anrufen, wenn du Fragen zum Thema Filmemachen hast.« Thomas lächelte Phoebe noch einmal an und verabschiedete sich dann. Ein paar Sekunden später war er schon wieder irgendwo zwischen den Reihen der Bücherregale verschwunden.
»Netter Junge«, sagte Paige und knuffte ihrer Schwester den Ellbogen in die Rippen. »An deiner Stelle würde ich ihn gleich nächste Woche mal anrufen.« Phoebe grinste und machte ein paar Schritte zu einem Tisch, auf dem ein großer Stapel Bücher lag. Ihre Ausbeute. Sie nahm ein paar davon und drückte sie Paige in die Arme. »An deiner Stelle würde ich erst mal ein paar hiervon zur Ausgabestelle tragen, Schwesterherz.« Leo seufzte und stellte den Wischmob in die Ecke. »Wie wäre es mit einer Pause, Piper?«, fragte er erschöpft. Piper Halliwell grinste. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ein Wächter des Lichts so schwitzen konnte. Na gut, zugegeben, sie waren jetzt auch schon seit Stunden dabei, das Haus zu putzen und die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel. Sie selbst konnte langsam eine Pause gebrauchen. »Aber erst noch den Flur wischen, Leo«, sagte sie und lächelte ihren Ehemann mit Unschuldsmiene an. »Du wirst doch nicht schon schlapp machen, du großer starker Wächter des Lichts?« Dann deutete sie auf den Wischeimer, der schon im Flur bereitstand. Leo seufzte. »›Oh, du Ausgeburt der Hölle!‹«, zitierte er aus Goethes ›Zauberlehrling‹.« »›Soll das ganze Haus ersaufen? Seh ich über jede Schwelle doch schon Wasserströme laufen.‹« »Sehr witzig«, grinste Piper und reichte ihrem erschöpften Ehemann ein Glas Eistee. »Ich mache dir einen Vorschlag, du Putzteufel – du schrubbst noch den Flur hier unten, ich staube auf dem Dachboden ab und dann treffen wir uns auf halbem Weg in meinem Zimmer und …« Piper flüsterte ihrem Ehemann etwas ins Ohr. Leo riss die Augen auf. Dann schnappte er sich den Wischmob und begann, wie besessen damit, das Parkett zu schrubben. »Worauf wartest du noch?«, fragte er augenzwinkernd. »Ab an die Arbeit, damit wir fertig sind, bevor deine Schwestern wieder zurück sind.« Piper blickte vom Treppenabsatz noch einmal zurück. »Keine Sorge, Leo. Die beiden fahren nachher noch auf das Set von diesem albernen Film und sind vor heute Abend nicht zurück.«
Sie lächelte Leo verführerisch an. »Wir haben also den ganzen Tag für uns.« Paige steckte den Kopf aus dem Fenster des Pick-ups, um sich durch den Fahrtwind etwas Abkühlung zu verschaffen. Der Radiomoderator hatte heute Morgen Recht gehabt. Es war tatsächlich noch heißer geworden. Phoebe kannte mittlerweile den Weg zum Pier 17 und steuerte den Wagen auf den Platz der alten Lagerhalle. Ein paar andere Autos standen bereits auf dem Parkplatz. Es waren ausschließlich ältere Modelle mit diversen Kratzern und Rostbeulen. HollywoodLimousinen wie man sie vom Fernsehen her kannte, suchte man am Set von ›Scream X-Treme‹ vergeblich. Bis auf eine Ausnahme. »Schau mal da«, sagte Phoebe verwundert und deutete auf einen schwarzen Mercedes, der zwischen den ausgebeulten Klapperkisten stand. Der Luxuswagen war so auf Hochglanz poliert, dass sein makelloser, schwarzer Lack die Sonnenstrahlen reflektierte. »Du meine Güte«, staunte nun auch Paige. »Hat da jemand im Lotto gewonnen? Die Kiste hat ja bestimmt mehr gekostet als die ganzen Dreharbeiten. Wem der wohl gehört?« »Keine Ahnung«, antwortete Phoebe, als die beiden Schwestern ausstiegen. Die wenigen Parkplätze im Schatten des Gebäudes waren leider alle schon belegt gewesen. Der Pick-up stand in der prallen Sonne und würde in ein paar Stunden der reinste Backofen sein. »Aber wir werden es sicher herausfinden.« Phoebe und Paige schritten auf die Lagerhalle zu. Im Inneren würde es hoffentlich wieder etwas kühler sein. Mit einem Ruck zog Phoebe das Schiebetor auf. Im nächsten Augenblick erschrocken zusammen.
zuckten
die
beiden
Schwestern
Eine hagere, runzlige Gestalt stand auf der anderen Seite der Tür und blickte sie aus schwarzen Augen an. Mit seinen grauen Haaren und dem strengen, schwarzen Anzug sah der Mann aus wie ein Totengräber. »Kann ich Ihnen helfen, Ladies?«, fragte der Fremde und grinste.
11 PHOEBE
UND PAIGE BLICKTEN die seltsame Gestalt erschrocken an. Eine Sekunde lang wussten sie nicht, was sie sagen sollten. Dann erkannte Paige den Mann wieder. Sie hatte gerade erst sein Bild in der Hand gehabt. Das war … »Mister Landreau!«, rief eine Stimme aus dem Inneren der Halle. »Da sind Sie ja. Und Sie haben Paige und Phoebe bereits kennen gelernt.« Es war Andy Stewart, der da angelaufen kam. Überschwänglich stellte er die beiden Hexen und den alten Mann einander vor. »Mister Landreau ist der Gaststar der heutigen Szene. Ich weiß nicht, ob ihr ihn kennt. Er ist ein berühmter …« »… Regisseur von Horrorfilmen, ich weiß«, antwortete Paige und schüttelte die Hand des alten Mannes. Seine Haut fühlte sich rau und trocken an, wie uraltes Pergament. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mister Landreau.« Auch Phoebe schüttelte die Hand des alten Mannes. »Wie geht es Ihnen, Sir?« Landreau winkte ab. »Ach, die Hitze macht mir natürlich zu schaffen. Und wenn es nicht die Hitze ist, dann ist es die Kälte. Oder der Regen. Aber solange wir alten Leute etwas zu klagen haben, können wir nicht klagen.« Die Mundwinkel des alten Mannes verzogen sich zu einem Grinsen. Einen Augenblick lang fürchtete Paige, dass seine Pergamenthaut dabei reißen könnte. »Kommt mit, Leute, wir wollen anfangen. Wir haben heute eine Menge vor.« Überschwänglich ging Andy zurück zum Set und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. »Dein Andy ist ja ganz aufgedreht«, flüsterte Phoebe ihrer Schwester zu und grinste. »Er ist nicht ›mein‹ Andy. Na ja, zumindest noch nicht. Aber du hast Recht, er ist wirklich ganz aufgekratzt. Warum auch nicht?
Schließlich hat man auch nicht jeden Tag eine lebende Legende zu Gast.« Die beiden Schwestern folgten Andy und Landreau, die schon ein Stück vorgegangen waren. »Obwohl ich zugeben muss, dass mir dieser alte Knacker irgendwie unheimlich ist«, flüsterte Paige im Gehen. Phoebe nickte stumm. Ihr ging es ganz ähnlich. Und etwas war seltsam gewesen. Neben ihrer Hexenkraft, die es ihr ermöglichte, zu schweben, verfügte sie auch über die Gabe, Visionen zu empfangen. Normalerweise konnte sie damit einen kurzen Blick auf eine mögliche Zukunft werfen. Aber es gab noch einen anderen Effekt, über den sie nie groß geredet hatte. Wann immer sie einen Menschen zum ersten Mal berührte, spürte sie so etwas wie die Vibration seiner Seele. Es war wie ein winziger, nicht unangenehmer Stromstoß, ein sanftes Kribbeln, das bei jedem anders und unverwechselbar war. Bei Landreau hatte sie gar nichts gespürt. Mmh, murmelte sie vor sich hin. Wahrscheinlich hatte das gar nichts zu bedeuten. Trotzdem spürte Phoebe ein leichtes Frösteln, das nicht nur von der kühlen Luft hier in der Lagerhalle herrührte. Am Rand der kleinen Bühne war bereits alles für den Dreh vorbereitet. Gustav Landreau stand mit einem Drehbuch in der Hand neben Andy und nickte. Wahrscheinlich erklärte der Regisseur ihm gerade noch einmal seine Rolle. »… und Sie treten dann auf diesen Altar zu und erwecken die Werwolf-Puppe mit einem Zauber zum Leben. Alles klar, Mister Landreau?«, hörten die beiden Schwestern, als sie näher traten. Der alte Mann nickte. Dann fiel sein Blick auf eine winzige Gestalt, die sich von der Seite der Bühne näherte. Es war ein Miniatur-Werwolf. »Ah, da kommt ja auch der eigentliche Star dieser Szene!«, rief Landreau begeistert. Sekunden spätertauchte ein junger, blasser Mann in einem schwarzen T-Shirt auf. Tim Sorvino. Er hielt eine kleine Fernbedienung in der Hand, mit der er die Figur des Werwolfs steuerte.
Paige schluckte. »Meine Güte, Phoebe – kein Wunder, dass du diese Mumie neulich für echt gehalten hast. Schau dir nur an, wie sich der Kleine bewegt. Das sieht absolut realistisch aus.« Wie auf Kommando blieb der kleine Werwolf stehen, drehte den Kopf und knurrte Phoebe mit einer Grimasse an. Es klang wie das Knurren eines Hundes. Eines sehr bösartigen, kleinen Hundes. Instinktiv machten die beiden Schwestern einen Satz zurück. Tim Sorvino, der diese Aktion des Werwolfs mit seiner Fernbedienung gesteuert hatte, lächelte zufrieden. Er hatte offensichtlich gehofft, dass die beiden jungen Frauen so reagierten. »Sehr witzig«, knurrte Phoebe. Im selben Augenblick kniete sich Landreau mit knirschenden Knochen vor der Werwolf-Figur hin und strich ihr bewundernd über das Fell. »Wirklich ganz großartig«, lobte er Sorvino. »Wenn ich mir vorstelle, was wir damals für Filme hätten drehen können, wenn wir schon so eine Technik zur Verfügung gehabt hätten! Meinen Glückwunsch, junger Mann, zu dieser einzigartigen Schöpfung.« Sorvino errötete. Es war das erste Mal, dass Phoebe überhaupt einen Anflug von Farbe im blassen Gesicht des jungen Mannes sah. »Ach, das ist doch nichts gegen das, was Sie früher mit Ihren Mitteln geleistet haben«, gab Sorvino zurück und blickte fast schüchtern zu Boden. Was für ein Schleimer, dachte Phoebe nur. Sie wollte Paige etwas zuflüstern, aber ihre Halbschwester war schon nicht mehr an ihrer Seite. Paige stand bereits neben Andy und deutete auf die Bühne, wo ein großer, von Rotlicht angestrahlter Holzaltar stand. Die Vorderseite war mit einer Teufelsfratze verziert. »Andy, entschuldige bitte«, begann Paige und nahm den Regisseur zur Seite, »aber soll das etwa ein Voodoo-Altar sein?« Andy zuckte mit den Schultern. »Etwa nicht?« »Na ja,«, antwortete Paige. »In der Voodoo- oder MacumbaReligion würde man wohl kaum den christlichen Teufel auf einem Altar abbilden. Eher schon Ogun, den Kriegsgott. Zumindest, wenn der Zauber der Schwarzen Magie dient …«
Phoebe staunte. Ihre Schwester hatte in Pipers privatem Hexenunterricht doch etwas gelernt. Gib bloß nicht zu viel Wissen preis, dachte sie. Mit Voodoo war nicht zu spaßen. Aber Paige war noch nicht fertig. Sie schien ganz in ihrer Rolle als magische Beraterin aufzugehen. Aufgeregt sprang sie auf die kleine Bühne in der Mitte der Lagerhalle. Ein Halbkreis aus Kerzen war um den Altar herum aufgebaut worden. Paige zählte die Kerzen durch. »Und was haben wir hier … vier … fünf … sieben … acht Kerzen. Bei einem Voodoo-Fluch würde man auf jeden Fall eine ungerade Zahl verwenden. Eine gerade Zahl nimmt man nur bei einem Liebeszauber. Ihr müsst also noch eine dazu stellen oder eine wegnehmen.« Paige stutzte, als sie merkte, wie die Blicke des Teams auf sie gerichtet waren. Alle waren beeindruckt von Paiges Fachwissen. Nur Phoebe stand mit verschränkten Armen im Hintergrund und runzelte missbilligend die Stirn. »Erstaunlich, junge Dame. Ganz erstaunlich. Ihr Wissen um die schwarzen Mächte ist absolut beeindruckend.« Gustav Landreau deutete eine Verbeugung an. »Jemanden wie Sie hätte ich zu meiner Zeit auch gebrauchen können.« Paige spürte ein inneres Erschaudern, als sie in das lächelnde Gesicht des alten Regisseurs blickte. Nach außen hin hatte er ihr ein nettes Kompliment erteilt, aber sein Lächeln schien oberhalb der Mundwinkel Halt zu machen. Landreaus Augen blickten die junge Hexe prüfend an. Paige hatte den Eindruck, dass der alte Mann bis auf den Grund ihrer Seele blicken konnte. »Ich hoffe, ihr haltet mich jetzt nicht alle für eine Besserwisserin«, sagte sie kleinlaut. Andy klatschte in die Hände. »Aber im Gegenteil, Paige. Dafür bist du ja hier. Tim, kannst du diesen albernen Teufelskopf irgendwie tarnen?« Tim Sorvino, der Mann für die Spezialeffekte, schien nicht gerade begeistert zu sein. »Ich habe eine halbe Nacht an dem Teufelskopf geschnitzt. Aber wenn du meinst … ich kann ihn einfach wieder abnehmen.«
Mit einem Seufzen legte er die Fernbedienung des Werwolfs zur Seite und trat auf die Bühne. Dann zog er an der Teufelsfratze des Altars. Offensichtlich bestand sie nur aus Styropor, denn sie ließ sich ohne weiteres abnehmen. Oh-Oh, dachte Phoebe. Wenn Paige so weitermacht, wird sie mich noch von Platz eins auf Sorvinos Hass-Liste verdrängen. Mit einem leisen Knurren warf Sorvino den Teufelskopf in eine Ecke. Gleichzeitig nahm sich Gustav Landreau eine neue Kerze aus einer Requisitenkiste und stieg damit auf die Bühne. Er stellte sie zu den übrigen acht, die schon um den Altar herum aufgestellt worden waren. »Fügen wir doch noch eine weitere Kerze dazu«, sagte er, »dann kommen wir auf neun – eine ungerade Zahl. Und wenn ich mich nicht irre, war die Neun schon für Pythagoras eine heilige Zahl. Sie stand für die neun kosmischen Wände, durch die das Universum in acht heilige Sphären geteilt wird. Und außerdem ist die Neun die Potenz der Drei … eine ganz besondere Zahl, wie ihr vielleicht wisst.« Paige schluckte. War es ein Zufall, dass Landreau sie bei dieser Bemerkung aus seinen milchig-blauen Augen so durchdringend ansah? Wusste er etwa etwas über die Macht der Drei? Nein, das war völlig unmöglich. Und wenn doch, dann ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Wunderbar!«, rief Andy. »Können wir dann anfangen? Wir haben heute noch eine Menge Arbeit vor uns. Und Mister Landreau hat sicherlich auch noch andere Dinge zu tun.« »Ach, was«, winkte der alte Regisseur ab und wischte sich eine graue Haarsträhne aus der faltigen Stirn. »Ich bin ein alter Mann. Ich habe alle Zeit der Welt. Auf mich wartet nur der Tod.« Paige und Phoebe blickten sich an. Dieser Typ war wirklich unheimlich.
12 K
» AMERA LÄUFT!«, RIEF PETE. Das leise Summen einer Filmkamera erfüllte die Lagerhalle. Dann wurde es vom Zischen des Trockeneisnebels übertönt. Gebannt beobachteten Paige und Phoebe, wie der alte Gustav Landreau hinter dem Altar stand und beschwörend die knochigen Arme hob. Von unten einfallendes Scheinwerferlicht ließ seine Wangenknochen dunkel hervortreten. Seine Augen wirkten wie zwei schwarze Höhlen. Vor Landreau auf dem Altar lag die Werwolf-Figur. Der alte Regisseur murmelte ein paar Beschwörungsformeln in einer fremdartigen Sprache. Soweit Paige das beurteilen konnte, waren diese seltsamen Worte nur ein Fantasieprodukt des Drehbuchautors, aber die Szene war trotzdem unheimlich. Wie würde sie wohl erst im fertigen Film wirken? Auch Phoebe lief ein Schaudern über den Rücken. Sie musste daran denken, wie unecht und gestellt dagegen die Beschwörungsszene mit Virginia Fontaine gewirkt hatte, die gestern hier gedreht wurde. Dieser Landreau war ein echtes Naturtalent, nicht nur als GruselRegisseur, sondern auch als Horror-Darsteller. Die Puppe des Werwolfs zuckte auf. Landreaus Beschwörungsformeln erweckten sie zum Leben. Phoebe warf einen vorsichtigen Seitenblick auf Tim Sorvino, der mit seiner Fernbedienung neben der Kamera stand und die Figur von dort aus steuerte. Paige dagegen schlich zu Andy und flüsterte ihm ins Ohr. »Mann, das sieht wirklich verdammt echt aus – im wahrsten Sinne des Wortes, Andy.« Doch der junge Regisseur reagierte kaum. Sein Blick war starr auf die Geschehnisse auf der kleinen Bühne gerichtet. Obwohl es in der Lagerhalle relativ kühl war, bildeten sich winzige Schweißtropfen auf seiner Stirn. »Nicht jetzt, Paige«, hauchte er nur. Seine Stimme schien dabei regelrecht zu zittern.
Paige hob die Augenbrauen und machte einen Schritt zurück. Klar, dass Andy als Regisseur ganz auf die Szene konzentriert war. Schließlich war das sein Job. Allerdings hatte er gestern bei den Dreharbeiten auch die Zeit gefunden, ein paar Worte mit Paige zu wechseln. Was soll's, dachte die junge Hexe, wahrscheinlich war Andy nur so abweisend, weil da vorne auf der Bühne sein großes Regie-Vorbild agierte. Und das verdammt überzeugend. Paige trat wieder an die Seite ihrer Schwester. Gebannt beobachteten die beiden, wie der kleine Werwolf sich langsam erhob, den Kopf drehte, um sich umzuschauen, und dann vom Altar sprang. Landreau lachte laut und dämonisch auf. »Schnitt!«, rief Andy. Im selben Augenblick flammten die Hauptscheinwerfer wieder auf, und die Nebelmaschine stellte ihre Arbeit ein. Landreau räusperte sich und trat von der Bühne herunter. »Na, wie war ich? Sind Sie zufrieden, Maestro?«, fragte er den jungen Regisseur lächelnd. »Sie waren großartig. Vielen Dank, Mister Landreau. Diese Szene wird ein absoluter Höhepunkt meines Films. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie …« Aber Landreau hatte Andy bereits wieder den Rücken zugekehrt. Aus seinen milchig-blauen Augen blickte er Paige an. »Und wie hat es Ihnen gefallen, junge Dame? War ich für Sie überzeugend genug?« Paige schluckte. Sie hatte das Gefühl, als könnte Landreau mit seinen unheimlichen Augen bis auf den Grund ihrer Seele schauen. »Mehr als überzeugend«, sagte sie schließlich und musste dazu mit einem Kloß im Hals kämpfen. Landreau grinste. »Tja, das macht wohl meine Erfahrung. Ich meine, immerhin habe ich mich sechzig Jahre lang mit Schwarzer Magie befasst – hinter der Kamera. ›Semper aliquid haeret‹, wie der Lateiner sagt. ›Etwas bleibt immer hängen‹.« Gustav Landreau lachte heiser auf. Paige und Phoebe waren nicht die Einzigen, denen dabei ein Schauer über den Rücken lief.
Landreau selber blieben die Reaktionen auf seinen Auftritt nicht verborgen – und er genoss es sichtlich. Der alte Regisseur wandte sich wieder an Andy. Es schien den jungen Mann nicht zu stören, dass Landreau ihm vorher einfach den Rücken zugekehrt hatte. »Wenn Sie mich dann entschuldigen, Mister Stewart«, sagte Landreau zu ihm, »ich denke, meine Aufgabe hier ist beendet. Für heute. Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Guten Abend.« »Guten Abend, Sir«, erwiderte Andy hastig. »Und vielen Dank. Für alles.« Meine Güte, dachte Phoebe. Dass er vor dem alten Sack nicht auf die Knie geht, ist aber auch alles. Dann wandte sich Landreau wieder den beiden Schwestern zu und deutete eine Verbeugung an. »Es war wirklich zauberhaft, Sie beide kennen zu lernen. Meine besten Empfehlungen an Ihre Schwester.« Mit einem Grinsen reichte Landreau Paige und Phoebe die Hand. Dann schritt er durch die Halle auf den Ausgang zu. Phoebe konnte sich täuschen, aber sie hatte das Gefühl, dass ein allgemeines Aufatmen durch die Filmcrew ging, als Landreau das Tor aufzog und die Halle schließlich verließ. »Was für ein gruseliger Kerl«, sagte Paige halblaut. »Allerdings.« Phoebe nickte zustimmend. »Wahrscheinlich hat er Recht – es färbt wohl irgendwann ab, wenn man sich sein ganzes Leben lang nur mit Monstern und Ungeheuern beschäftigt.« »Na, das sind ja tolle Aussichten«, grinste Paige. Eine Sekunde später trat Andy auf die beiden zu. Er wirkte jetzt wieder freundlich und entspannt, die Schweißtropfen auf seiner Stirn waren verschwunden. »Na, wie hat euch Mister Landreau gefallen? Ein einzigartiger Mann, was?« »Einzigartig. So könnte man das wohl nennen«, nickte Paige. »Ja, ich bin wirklich froh, dass ich ihn für eine Gastrolle in ›Scream X-Treme‹ gewinnen konnte.« Andy schien den Unterton in Paiges Stimme gar nicht bemerkt zu haben.
In diesem Moment tauchte Tim Sorvino hinter Andy auf. In seinen Armen hielt er die nun wieder leblose Werwolf-Puppe. »Wenn du mich und meine Figuren nicht mehr brauchst, packe ich sie wieder in ihre Kisten und verschwinde für heute, okay?«, fragte er. Er tat, als ob Phoebe und Paige gar nicht da wären. »Alles klar, Tim«, antwortete Andy. »Du hast auch wirklich großartige Arbeit geleistet. Vielen Dank.« Tim Sorvino blickte seinen Regisseur einen Augenblick lang schweigend an. »Ja, danke«, sagte er dann nur und verschwand mit seiner pelzigen Puppe. »Wisst ihr was?«, fragte Phoebe und blickte sich demonstrativ in der Halle umher. »Ich schaue mich noch ein wenig um. Vielleicht kann ich hier noch etwas lernen.« »Ja, mach das, Phoebe«, sagte Paige dankbar. Die Filmcrew packte ihre Ausrüstung bereits wieder zusammen, und viel zu sehen würde es heute sicherlich nicht mehr geben. Phoebe tat das nur, damit sie und Andy noch ein paar Minuten allein sein konnten. Dafür schulde ich ihr etwas, dachte Paige. Dann lächelte sie Andy an. »Wie bist du eigentlich an diese gruselige alte Vogelscheuche gekommen?«, fragte sie den jungen Regisseur. »An Mister Landreau? Oh, ich war schon immer ein Fan seiner Filme. Ich bin mit den Wiederholungen der alten Streifen im Kabelfernsehen aufgewachsen. Streng genommen ist Landreau der Grund, warum ich damals mein Jura-Studium geschmissen habe.« Paige blickte Andy erstaunt an. »Du hast mal Jura studiert?« Andy nickte und blickte zu Boden, als ob ihm das peinlich wäre. »Na ja, das war der Wunsch meiner Eltern. Mein Vater besitzt eine gut laufende Kanzlei in L.A., und die sollte ich eines Tages übernehmen. Aber meine Liebe galt schon immer dem Film. Also habe ich nach zwei Semestern Jura aufgegeben und mich an der Filmhochschule eingeschrieben. Du hättest mal erleben müssen, wie meine Eltern getobt haben.« Paige runzelte die Stirn. »Aber als Regisseur kann man doch auch eine Menge Geld verdienen?«
»Das schon. Na ja, wenn man Glück hat. Aber meine Eltern sind da sehr altmodisch. Für sie sind Filmemacher immer noch fahrendes Volk, das durch die Provinz tingelt und in Spelunken billige Filme vorführt. Zumindest haben sie sich für ihren einzigen Sohn eine andere Karriere vorgestellt. Und mich kurzerhand enterbt.« »Das gibt's doch nicht«, sagte Paige fassungslos. »Ich dachte, so etwas gibt es nur noch, na ja, im Film.« »Leider nicht.« Andy lachte freudlos auf. »Man könnte sagen, ich habe eine Menge aufgegeben, um meinen Traum zu verwirklichen. Eine ganze Menge. Aber ›Scream X-Treme‹ wird mein großer Durchbruch. Gruselfilme stehen gerade wieder hoch im Kurs. Auch bei einem breiteren Publikum. Nur eins macht mir noch Sorgen …« »Wirklich?«, fragte Paige. »Was denn?« »Die große Schlussszene des Films soll in einer Disko spielen. Die Heldin – gespielt von Virginia – tritt dann gegen die zum Leben erwachten Monster-Figuren an und vernichtet sie.« »Und wo ist das Problem?« »Tja, ein paar einfache Locations können wir hier in der Halle nachbauen. Und die verbleibenden Straßenszenen drehen wir einfach wieder ohne Genehmigung irgendwo in San Francisco. Aber wo kriege ich das Set für eine Disko her? Ich könnte es mir niemals leisten, ein Lokal anzumieten. Unser Budget ist jetzt schon am Ende.« Paige grinste den Jungregisseur schelmisch an. »Mach dir darüber mal keine Sorgen«, erwiderte sie nur. »Du hast was?«, fragte Phoebe entgeistert, als sie neben ihrer Schwester die Einfahrt des Halliwell-Hauses hinaufging. »Ich habe Andy gesagt, dass er das Finale des Films im P3 drehen kann«, erwiderte Paige und versuchte, dabei so unschuldig wie möglich zu wirken. »Was ist denn schon dabei?« »Oh, nichts weiter«, antwortete Phoebe. Deshalb also war Paige die ganze Fahrt über so seltsam ruhig gewesen. »Piper wird dir den Kopf abreißen. Du weißt doch, was sie von Filmleuten hält!«
»Ach, so schlimm wird es schon nicht werden. Es ist doch nur für einen Abend.« »Tja, ich weiß nur, dass ich nicht in der Nähe sein werde, wenn du sie fragst.« Mit diesen Worten steckte Phoebe den Schlüssel in die Tür und drückte sie auf. Obwohl die Sonne schon fast hinter dem Horizont verschwunden war, blitzte der Flur noch im letzten Licht ihrer Strahlen auf. Ein frühlingsfrischer, wenn auch leicht synthetischer Duft schlug den beiden Schwestern entgegen. Jemand hatte sich mächtig Mühe gegeben. »Wow«, rief Paige in das Haus hinein. »Hat hierein Putzteufel gewütet?« »Eher ein Putzdämon«, antwortete eine erschöpfte Stimme. Es war Leo, der mit ein paar Schweißtropfen auf der Stirn gerade dabei war, die letzten Flaschen mit Bohnerwachs im Putzschrank zu verstauen. »Lieber kämpfe ich gegen ein ganzes Rudel Höllenhunde, als noch einmal eurer Schwester beim Hausputz zu helfen. Die Frau ist wirklich gnadenlos.« »Redet da jemand schlecht über mich?« Piper steckte ihren Kopf durch die Küchentür und grinste breit. Sie wirkte frisch wie der junge Morgen. »Putzt euch die Schuhe ab, bevor ihr reinkommt«, sagte sie dann streng. Phoebe machte einen schuldbewussten Satz in die Luft und schwebte dann ein paar Zentimeter zurück auf die Fußmatte vor der Haustür. »Phoebe«, tadelte Leo sie, »wenn dich jemand sieht.« »Lieber erkläre ich öffentlich, dass ich eine Hexe bin, als dass ich Pipers Zorn auf mich ziehe. Ach, übrigens …«, Phoebe warf einen Seitenblick auf ihre jüngere Schwester, die hinter ihr stand, »wolltest du Piper nicht etwas fragen, Paige?« »Ach, das hat Zeit bis später«, wich Paige ihr aus. Die beiden Schwestern zogen vorsichtshalber die Schuhe aus, bevor sie den auf Hochglanz polierten Flur betraten und die Tür hinter sich zuzogen.
»So ist's brav«, sagte Piper zufrieden. »Ihr kommt gerade rechtzeitig. Ich habe uns eine Fruchtkaltschale gemacht. Statt eines Abendessens. Das ist auch eine Stärkung für abgekämpfte Wächter des Lichts, die fast zusammenbrechen, wenn sie mal ein wenig Hausarbeit erledigen müssen.« Piper grinste Leo an, der nur die Augen verdrehte. »Ein wenig? Piper, wir haben den ganzen Tag damit verbracht, das Haus zu schrubben. Und so ein Sommertag ist verdammt lang.« Paige und Phoebe kicherten, als sie sich an Leo vorbei in die Küche drängten. Piper war gerade dabei, die Fruchtkaltschale in kleine Schüsseln zu füllen. »Und, wie war euer Tag beim Film?«, fragte sie. »Oh, ganz großartig«, antwortete Phoebe. »Wir haben eine Legende des Gruselfilms kennen gelernt. Gustav Landreau.« Leo strich sich ein paar verschwitzte Haarsträhnen zurück, als er die Küche betrat. »Wirklich? Den Regisseur von Jagd auf den Wolfsmann und Das Ding aus der Lagune des Todes?« Piper blickte erstaunt auf. »Was denn, Leo, du kennst solche Filme?« Leo setzte sich an den Küchentisch und nahm eine Schüssel mit der Kaltschale entgegen. »Aber klar. Das sind doch echte Klassiker. Selbst Wächter des Lichts gruseln sich ab und an ganz gern. Zumindest vor dem Fernseher.« Piper schüttelte irritiert den Kopf. »Ich scheine ja langsam die Einzige zu sein, der der Horror, den wir haben, völlig ausreicht. Ist irgendwas, Paige?«, fragte sie dann. »Du isst ja gar nichts.« Tatsächlich hatte Paige ihre Schüssel mit der köstlichen Obstcreme noch nicht angerührt. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen. »Äh, ja, ich wollte dich etwas fragen, Piper …«, druckste sie herum. »Ach ja? Was denn?« Phoebe griff nach ihrer Schüssel und stand von ihrem Stuhl auf. »Ich, äh, würde mir gern die Nachrichten ansehen, wenn ihr nichts dagegen habt. Ich esse drüben im Wohnzimmer weiter.«
Mit eiligen Schritten verließ Phoebe die Küche. Wie sie schon gesagt hatte – sie wollte nicht in der Nähe sein, wenn Paige ihre Frage stellte. Vorsichtig setzte Phoebe die Dessertschale auf dem Wohnzimmertisch ab. Wenn ich etwas verschütte, bringt Piper mich als Nächste um, dachte sie. Dann schaltete sie den Fernseher ein. »DU HAST WAS?!«, tönte es Sekunden später aus der Küche. »Paige, wie konntest du das tun?!« Phoebe grinste. Das sollte ihre Halbschwester allein ausbaden. Die junge Hexe zappte durch die Kanäle, bis sie bei einem lokalen Nachrichtenkanal angelangt war. Dann verging ihr das Grinsen. Ein etwas hilflos wirkender Darryl Morris blickte in die Kamera und gab ein Statement ab. Im Hintergrund blitzten die Signallampen einiger Polizeiwagen auf. »Nein, es tut mir Leid, wir haben noch keine Hinweise auf den Mörder«, sprach Darryl in die Kamera. »Und bis jetzt können wir auch noch nicht sagen, ob es zwischen den beiden Verbrechen einen Zusammenhang gibt.« Phoebe schluckte. »Piper? Leo? Paige? Kommt mal rüber – das solltet ihr euch ansehen.«
13 WÜRDEN SIE JETZT BITTE den Tatort räumen?«, sagte Darryl und hielt seine Hand vor das Objektiv. Die Reporterin neben dem Kameramann protestierte. »Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Informationen, Detective!« »Die Öffentlichkeit hat auch ein Recht darauf, dass die Polizei ihre Arbeit erledigen kann, um weitere Morde zu verhindern, Miss. Würden Sie jetzt bitte den Tatort räumen?« Der gereizte Tonfall in Darryls Stimme war trotz seiner freundlichen Worte nicht zu überhören. Die Reporterin tippte ihrem Kameramann auf die Schulter. »Los komm, hier kriegen wir heute nichts mehr raus.« Frustriert ging das Team zurück zu dem Kleintransporter mit dem Logo eines lokalen TV-Senders von San Francisco auf der Seitenfläche. Darryl Morris blickte ihnen einen Augenblick nach, wie um sicher zu gehen, dass sie auch tatsächlich einstiegen. Der Bürgermeister saß ihm wegen dieses zweiten Mordes innerhalb von zwei Tagen ohnehin schon im Nacken. Das Letzte, was er jetzt brauchte, war, vorlaufenden Kameras zuzugeben, dass er als leitender Ermittler völlig im Dunkeln tappte. Die beiden Gewaltverbrechen standen, soweit das bisher festzustellen war, in keinerlei Zusammenhang. Das Mordopfer vom Vortag war eine allein stehende Frau gewesen, der Tote der heutigen Nacht ein Geschäftsmann aus San Francisco. Nun ja, ›Geschäftsmann‹ war etwas übertrieben – der Ermordete, ein gewisser Tom Haber, war der Besitzer eines Comic-Shops gewesen. So viel wenigstens hatten sie anhand seiner Personalien schon feststellen können. Aber wenigstens eine Gemeinsamkeit hatten beide Mordopfer doch, dachte Darryl seufzend und schlurfte auf den Parkplatz zurück. Die Todesumstände waren ebenso bizarr wie rätselhaft. Auf dem Parkplatz am Rande der Stadt stand nur ein einziges, zerbeultes Auto, ein uralter VW Käfer – abgesehen von den
Einsatzwagen der Polizei. Und dem umgebauten Krankenwagen des Leichenbeschauers, Doktor Nyang. Darryl wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Können Sie mir schon etwas sagen, Doc?«, fragte er. »Ich meine, mal abgesehen davon, dass der Mann tot ist?« Darryl war heute Nacht wirklich nicht nach Scherzen zu Mute. Auch die Stimmung des Leichenbeschauers ließ zu wünschen übrig. Bei dieser Hitze machte niemand gerne Überstunden. Außer dem Mörder. Doktor Nyang hatte gerade den Kopf durch das Seitenfenster des Käfers gesteckt und zog ihn nun heraus, um den Detective anzusehen und mit den Schultern zu zucken. Ein schlechtes Zeichen. »Unser Freund hier ist noch nicht lange tot. Höchstens ein paar Stunden. Aber Sie wissen …« »… Sie können mir das erst nach der Laboruntersuchung sagen, schon klar. Und ansonsten? Die Mordwaffe? Wieder ein Skalpell?« Der Doktor schüttelte den Kopf. »Nein, diesmal nicht. Aber das macht die Sache nicht weniger ungewöhnlich. Schauen Sie mal hier!« Doktor Nyang trat zur Seite. Widerwillig beugte sich Darryl zum Autofenster hinunter. Die Spurensicherung stand noch ganz am Anfang, also durften der Gerichtsmediziner und seine Assistenten die Leiche noch nicht aus dem Wagen herausholen. Der Tote war ein untersetzter Mann um die vierzig. Die Kinnpartie war mit einem fransigen Bart bedeckt. Eine dicke Hornbrille war ihm auf die Nasenspitze gerutscht. Darryl schauderte, als er sah, wie die dicken Gläser den Blick der vor Todesangst aufgerissenen Augen noch verstärkten. Wie immer der Mann ums Leben gekommen war, es war kein schöner Tod. »Sehen Sie sich seinen Hals an«, sagte der Leichenbeschauer aus dem Hintergrund. Darryl beugte sich noch etwas tiefer durch das Fenster. Tatsächlich – jetzt sah der Detective, was Doktor Nyang meinte. Eine feine rot-
blaue Linie zog sich einmal um den Hals des Mannes. Irgendetwas hatte sich tief in die Haut eingeschnürt. Das Opfer wurde erwürgt, daran bestand wohl kaum ein Zweifel. Darryl zog seinen Kopf wieder aus dem Wagen. »So viel zur Todesursache«, sagte er. Aber der Leichenbeschauer blickte den Detective herausfordernd an. »Natürlich, der Mann ist erwürgt worden. Den Würgemalen nach zu urteilen mit einer Art Band oder einer Kordel, die etwa einen Zentimeter breit gewesen sein muss. Das allein wäre schon ungewöhnlich genug.« Darryl atmete geräuschvoll aus. Er war heute Abend nicht in der Stimmung für Ratespielchen. »Also raus mit der Sprache, Doc. Was meinen Sie?« Doktor Nyang deutete auf den Rücksitz des Wagens. Der Innenraum des kleinen VW Käfers war bis oben hin gefüllt mit Kisten und Pappkartons. Soweit Darryl das durch die Seitenfenster sehen konnte, waren diese Kisten gefüllt mit Comic-Heften und Magazinen. Ein paar Action-Figuren lagen lose herum. »Na schön, Mister Haber hat seinen VW Käfer also auch als Lieferwagen benutzt. Na und? Das entspricht zwar nicht den Sicherheitsvorschriften, und der Wagen ist hoffnungslos überladen, aber …« Doktor Nyang schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht, Detective. Schauen Sie, den Würgemalen zufolge ist der Mann ganz eindeutig von hinten erwürgt worden. Wahrscheinlich hat sich jemand auf dem Rücksitz versteckt und auf einen günstigen Moment gewartet. Aber …« Darryl nickte. Es war gar nicht nötig, dass der Leichenbeschauer weitersprach. Der Rücksitz des Wagens war mit Kartons voll gestellt. Wie hätte sich da noch jemand zwischen Kisten und Rückenlehne des Vordersitzes verstecken sollen? »Das gibt's doch nicht«, murmelte Darryl. Er spürte, wie sein Kopf zu schmerzen begann. »Und das ist noch nicht alles«, lächelte Doktor Nyang. Der Detective bekam langsam den Eindruck, dass der Leichenbeschauer
ein perverses Vergnügen daran fand, den Fall noch komplizierter zu machen, als er ohnehin schon war. Kunststück – als Leichenbeschauer musste er ja auch nicht dem Mörder hinterherlaufen. Und dem Doktor saß auch nicht der Bürgermeister im Nacken. Nyang zog einen kleinen, durchsichtigen Plastikbeutel aus seinem Kittel hervor. Er hielt ihm dem Detective vor die Nase. In dem Beutel konnte Darryl mit Mühe und Not etwas feinen, weißen Staub erkennen. »Das hier habe ich auf den Schultern des Mordopfers gefunden.« Darryl runzelte die Stirn. »Der Mann hatte also Schuppen – na und? Oder stammt das etwa von dem Mörder?« Jetzt war es an Doktor Nyang, mit den Schultern zu zucken. »Das herauszufinden, ist wohl eher ihre Aufgabe, Detective. Das hier ist Staub. Und wenn mich meine erste Einschätzung nicht täuscht, sehr, sehr alter Staub.« Darryl Morris stöhnte auf und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Was zum Teufel hatte das alles zu bedeuten? »Ist Ihnen nicht gut, Detective?«, fragte Doktor Nyang scheinheilig. »Soll ich Ihnen ein paar Kopfschmerztabletten geben?« Detective Darryl Morris schüttelte den Kopf. »Was ich jetzt Wundermittel.«
brauche,
ist
kein
Aspirin,
sondern
ein
Dann ging er zurück zu seinem Wagen und zog dabei sein Handy aus der Tasche. »Ich kann das immer noch nicht glauben«, sagte Piper und ging aufgeregt in der Küche auf und ab. Phoebe hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen, und Paige saß kleinlaut vor dem Fernseher im Wohnzimmer. »Nun beruhige dich doch erst mal«, sagte Leo. Es machte ihn ganz nervös, wenn seine Ehefrau so auf und ab ging. »Ich will mich aber nicht beruhigen«, knurrte Piper. »Wie konnte Paige einfach so über das P3 bestimmen und es für diese Filmcrew freigeben? Ich gehe doch auch nicht hin und vermiete ihr Zimmer an eine Catering-Agentur, oder?«
»So schlimm wird es schon nicht werden, Piper«, sagte Leo beschwichtigend. »Das sagst du so! Ich habe schon wahre Horror-Storys über Filmteams gehört, die wie ein Heuschreckenschwarm über ihren Drehort eingefallen sind. Und ich glaube nicht, dass diese BilligFilmer, die Paige da angeschleppt hat, das Wort ›Haftpflichtversicherung‹ überhaupt schon einmal gehört haben.« Leo musste grinsen. »Ach, komm schon, Piper. So schlimm wird es schon nicht werden. Nach dem, was Paige und Phoebe so erzählt haben, sind die Jungs ganz in Ordnung. Und außerdem hast du etwas ganz Entscheidendes vergessen.« Piper blieb stehen und blickte ihren Ehemann fragend an. »Ach ja? Und das wäre?« »Wenn der Film in die Kinos kommt, werden im wahrsten Sinne des Wortes Hunderttausende von Menschen das P3 auf der Leinwand sehen.« Leo grinste wie ein Staubsaugervertreter. »Kannst du dir eine bessere Werbung vorstellen? Dazu noch völlig umsonst?« Piper runzelte nachdenklich die Stirn. »Du meinst vielleicht zum Preis eines verwüsteten Lokals? Aber du hast Recht – daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Leo nickte. »Siehst du?« »Ich hätte nicht geglaubt, dass mein Ehemann ein MarketingExperte ist«, sagte Piper und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Leo einen Kuss zu geben. Leo hatte nichts dagegen. »Ach was, als Wächter des Lichts ist es nur meine Aufgabe, für Frieden zu sorgen. Auch unter euch Schwestern.« »Was hältst du davon«, gurrte Piper, »wenn wir zwei diesen Abend ganz friedlich beenden? Oben, in meinem Zimmer?« Leo wollte gerade etwas antworten, als das Telefon schrillte. Piper seufzte. Ein Anruf so spät am Abend konnte nur Ärger bedeuten.
Eine Viertelstunde später standen Piper, Phoebe, Paige und Leo auf dem Dachboden des Halliwell-Hauses. Draußen war die Sonne längst untergegangen, aber die Hitze auf dem Dachboden war noch immer unerträglich. Dass Piper um das Buch der Schatten herum Kerzen angezündet hatte, sorgte auch nicht gerade für eine Abkühlung. »Piper, ich finde es echt großartig, dass du Andy und seinem Team das P3 zur Verfügung stellst. Du wirst es bestimmt nicht bereuen«, sagte Paige. Aber Piper schüttelte nur den Kopf. »Das will ich hoffen. Aber darüber können wir später noch reden.« Die Älteste der drei Hexenschwestern blätterte weiter im Buch der Schatten. Paiges alberner Film musste warten. Vorhin hatte Darryl Morris angerufen und ihr von dem zweiten Mord erzählt, mit all seinen mysteriösen Begleitumständen. Piper hatte dem ratlosen Detective versprochen, noch einmal im Buch der Schatten nach irgendwelchen möglichen magischen Hintergründen zu suchen. Natürlich hatte sie das schon nach dem ersten Mord getan, aber vielleicht sahen acht Augen ja mehr als zwei. »Meinst du wirklich, wir finden im Buch der Schatten einen Hinweis auf die Morde?«, fragte Phoebe stirnrunzelnd. Für sie waren diese beiden Gewaltverbrechen das Werk eines möglicherweise gestörten Serienmörders. Schlimm genug, aber das fiel ganz sicher nicht in den Zuständigkeitsbereich der drei Zauberhaften. »Keine Ahnung«, antwortete Piper schulterzuckend. »Aber es kann nicht schaden, noch einmal nachzusehen.« Die nächsten Minuten verbrachten die drei Schwestern – unterstützt durch den Wächter des Lichts – beinahe schweigend. Wie immer schien das Buch der Schatten zu spüren, was die drei Zauberhaften suchten. Piper brauchte nur eine Seite nach der anderen umzublättern, um neue Informationen über die verschiedensten Arten von Ritualverbrechen zu erhalten. Nichts, was sie lasen, passte auch nur im Entferntesten auf das Profil der beiden Morde. Es fehlte einfach das magische Motiv. Wenn ein Dämon oder auch ein Besessener hinter den beiden Gewaltverbrechen stecken würde, dann hätte er etwas bezwecken wollen – eine Bedrohung ausschalten vielleicht oder seine Macht vergrößern.
Aber die beiden Todesopfer hatten ganz sicherlich nichts mit schwarzer Magie zu tun. Eine Hausfrau und ein Comic-Händler waren in keinster Weise mit den Mächten der Magie verbunden. Piper klappte das Buch schließlich zu. »Ich fürchte, das ist sinnlos. Das Buch der Schatten bringt uns hier auch nicht weiter. Diesen Fall wird Darryl wohl ohne unsere Hilfe lösen müssen.« Paige seufzte erleichtert auf. Sie war nur froh, diesen stickigen Dachboden endlich verlassen zu können. »Gott sei Dank. Ah, ich meine, so ein Pech für Darryl. Können wir jetzt vielleicht noch einmal über die Dreharbeiten sprechen, Piper? Andy würde sich sicher freuen, wenn ich ihm schon einen Termin für die Dreharbeiten nennen könnte.« Piper stöhnte auf. Sie hatte den Gedanken, dass ein Filmteam wie ein Heuschreckenschwarm über ihr Lokal einfallen würde, schon wieder ganz verdrängt. »Das besprechen wir besser unten«, erwiderte sie. »Und sag mal, hat dein Star-Regisseur überhaupt eine Haftpflichtversicherung?« »Wir werden nichts unversucht lassen, um diesen Mörder festzunehmen und seiner gerechten Strafe zuzuführen«, sprach der Bürgermeister in die Fernsehkamera. »Seine Ergreifung ist nur noch eine Frage der Zeit!« Das glaube ich weniger, dachte Gustav Landreau und griff nach der Fernbedienung, um seinen Breitwand-Fernseher auszuschalten. Dann erhob er sich schwerfällig aus seinem Ledersessel. Mit einen breiten Grinsen hatte er die Berichterstattung über den zweiten Mord auf dem Lokalsender verfolgt. Der Junge verlor wirklich keine Zeit, Kompliment. Mit langsamen, schlurfenden Schritten durchquerte der alte Regisseur sein Penthouse über den Dächern der Stadt. Man hätte vermuten können, dass jemand wie er in einem finsteren Landhaus irgendwo am Stadtrand lebte, aber Landreau liebte den Luxus. Und er liebte es, auf seine Mitmenschen herabsehen zu können. Sein
Penthouse war sicherlich eines der teuersten und modernsten der ganzen Stadt, aber er konnte es sich leisten. Sechzig Jahre lang hatte er Filme gedreht, und selbst als das Fernsehen seinen Siegeszug angetreten hatte und eine schwere Zeit für das Kino anbrach, hatte er profitiert. Als einer der wenigen Hollywood-Leute hatte er damals, in den späten fünfziger Jahren, die Bedeutung des Fernsehens erkannt und spezielle Verträge ausgehandelt. Seitdem bekam er jedes Mal, wenn einer seiner alten Filme auf irgendeinem Kabelkanal ausgestrahlt wurde, einen kleinen, aber nicht zu verachtenden Betrag an Tantiemen. Und irgendwo auf der Welt lief fast täglich eines seiner alten Werke im Fernsehen. Im Laufe der Jahrzehnte hatte er allein dadurch ein beachtliches Vermögen angehäuft. Andererseits hatte er für seinen Erfolg auch einen hohen Preis bezahlt und etwas sehr Wertvolles dafür aufgegeben. Aber so, wie es aussah, würde er sich dieses kostbare Gut am Ende seines Lebens doch noch zurückholen können. Gerade rechtzeitig, bevor der letzte Vorhang fiel. Landreau lachte auf und drehte an einem kleinen Regler für die Klimaanlage, der in die Marmorwand vor ihm eingelassen war. Die in der Wohnung versteckten Luftumwälzer summten noch etwas lauter auf und stießen einen neuen Schwall kalter Luft in das Apartment. Schon jetzt war es hier drinnen so kalt wie in einer Gruft, aber Landreau fühlte sich dabei wohl. Die Hitze da draußen war Gift für sein altes Herz. Landreau trat an eines der großen Panoramafenster und blickte hinab auf die Stadt. Seine hagere Gestalt warf ein durchscheinendes Spiegelbild auf das Glas. Es sah fast aus, als sei Landreau selbst ein gigantisches Monster, das über die Straßen einer winzigen Stadt blickte. So gefiel es ihm. Landreau lachte auf, bis er einen stechenden Schmerz in der Brust spürte. Schlurfend durchschritt der alte Regisseur sein Penthouse und öffnete schließlich ein verspiegeltes Kabinett. Eine gut sortierte Hausbar kam dahinter zum Vorschein. Landreau zog ein silbernes Kästchen aus der Innentasche seines schwarzen Sakkos. Er klappte es auf und nahm eine kleine, weiße Tablette heraus, die er sich in den Mund steckte.
Dann zögerte er einen Augenblick, bevor er sich ein Glas goldbraunen und sehr alten Whisky eingoss. Die Herztabletten mit Alkohol herunterzuspülen war zwar nicht gerade das, was der Arzt ihm verordnet hatte, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Diese Tabletten zögerten nur das Unvermeidliche hinaus. Aber das war in Ordnung. Gustav Landreau hatte sein Leben gelebt, und es war ein gutes Leben gewesen. Für ihn zumindest. Das wohlige Brennen des Alkohols in seiner Kehle war kaum verklungen, als die Türglocke lautete. Landreau stellte sein Glas ab und schlurfte zur Tür seines Penthouses. Obwohl er dazu lange brauchte, klingelte der Besucher kein zweites Mal. Wer immer da vor der Tür stand, er wusste, dass Landreau nicht mehr so gut zu Fuß war. Oder sein Respekt verbot es ihm, noch einmal zu läuten. Endlich erreichte Landreau die Tür und zog sie auf. Anders als die meisten Apartments der Stadt war die Tür nicht durch zusätzliche Riegel gesichert. Wer in diesem Apartmenthaus wohnte, brauchte keine Angst vor ungebetenen Besuchern zu haben. Dafür sorgte ein teuer bezahlter Wachdienst rund um die Uhr. Und selbst, wenn es jemand schaffen würde, sich an den Wachleuten im Erdgeschoss vorbeizuschmuggeln, würde er später sein blaues Wunder erleben. Dafür hatte der alte Mann schon gesorgt. Vor der Tür stand ein junger Mann in einem schwarzen T-Shirt. »Guten Abend, Mister Landreau«, sagte der Besucher respektvoll. »Ich hoffe, Sie haben nichts gegen diese späte Störung, Sir.« Landreau erlaubte sich ein charmantes Lächeln und schüttelte väterlich den Kopf. »Aber ganz und gar nicht. Nur herein mit Ihnen, mein junger Freund. Wir haben eine Menge zu besprechen.«
14 NACH DEM STRESS DER VERGANGENEN TAGE hatten sich die drei Halliwell-Schwestern auf ein ruhiges Wochenende gefreut. Aber es wurde die Hölle. Die Hitze über der Stadt schien von Stunde zu Stunde zuzunehmen, als wollten die Temperaturen ihre eigenen Rekordwerte übertreffen. Die Sprecherin! Radio und Fernsehen redeten bereits von einer Jahrhundert-Hitzewelle, und die weiteren Aussichten versprachen keine Besserung. Liebend gern hätten Piper, Phoebe und Paige das Wochenende am Strand oder zumindest im Schwimmbad verbracht, aber das Schicksal hatte andere Pläne. Die Verbrechensrate in der Stadt erreichte parallel zur Hitze einen neuen Wochenendrekord. Glaubte man den Meldungen in den Massenmedien, dann war die Polizei von San Francisco rund um die Uhr damit beschäftigt, Familienstreitigkeiten zu schlichten, Kneipenschlägereien zu beenden oder ein Eskalieren von Bandenkriegen auf offener Straße zu verhindern. Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, schwitzte Detective Darryl Morris noch immer über den spärlichen Spuren der beiden Mordfälle. Doch die Halliwell-Schwestern hatten ihre eigenen Probleme. Es begann früh am Sonntagmorgen. Die ersten Sonnenstrahlen drangen gerade durchs Fenster und kitzelten Phoebes Nase. Die mittlere Halliwell-Schwester drehte sich noch einmal um und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen. Sie hatte in der Nacht nicht besonders gut geschlafen, dafür hatte die schwüle Hitze und die Polizeisirenen gesorgt. Die halbe Nacht lang waren Polizeiwagen auf dem Weg zu ihrem Einsatz am alten Anwesen vorbeigejagt. Phoebe gab ein leises Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus Schnurren und Grunzen klang. Sie war gerade wieder eingenickt, als eine Stimme an ihr Ohr drang. »Phoebe, steh auf! Wir müssen los!«
Phoebe brauchte ein paar Sekunden, bis sie merkte, dass sie nicht träumte. Die Stimme gehörte Piper. Mühsam schlug Phoebe die Augen auf. Ihre Schwester stand – straßenfertig angezogen – auf der Schwelle zu ihrem Schlafzimmer. Piper war dafür bekannt, eine Frühaufsteherin zu sein, aber das ging nun wirklich zu weit, dachte Phoebe, noch im Halbschlaf. Es konnte höchstens fünf Uhr morgens sein. »Für mich nur einen Kaffee, bitte«, murmelte Phoebe. »Später.« Sie wollte sich schon wieder herumdrehen, als Piper ein paar rasche Schritte nach vorn machte und ihre Schwester an der Schulter rüttelte. »Phoebe, raus aus den Federn«, sagte sie. Ihre Stimme klang sanft, aber bestimmt. »Ich habe einen Dämon geortet. Im Stadtpark. Wir müssen ihn vernichten, bevor er die ersten Jogger zum Frühstück verspeist!« Phoebe blinzelte ihre Schwester an. »Jogger? Dämon? Frühstück?« »Ja, genau.« Piper schien schon gar nicht mehr hinzuhören, was ihre kleine Schwester da vor sich hin murmelte. »Zieh dich an. Ich wecke Paige. Wir treffen uns unten.« Bevor Phoebe etwas erwidern konnte, war Piper schon wieder aus dem Zimmer gelaufen. Sekunden später hörte Phoebe, wie Piper an Paiges Zimmertür Sturm klopfte. Knapp zehn Minuten später saßen die drei Schwestern bereits in Pipers Wagen. Es war tatsächlich erst kurz nach fünf am Sonntagmorgen, und die Straßen waren noch menschenleer. Ein Glück, denn so konnte Piper im Spitzentempo einige Verkehrsregeln brechen, ohne dass jemand dabei gefährdet wurde. Außer den drei Schwestern, versteht sich. Paige schrie auf, als Piper ohne sich groß umzublicken über eine Kreuzung raste. »Piper, du hast gerade eine rote Ampel überfahren.« »Tut mir Leid. Ich hoffe, sie wird es überleben.« Piper hielt das Steuer fest umklammert und blickte stur geradeaus. »Sehr witzig, Schwesterherz«, meldete sich nun Phoebe vom Rücksitz zu Wort. »Aber könntest du uns mal langsam verraten, was
eigentlich los ist? Ich würde schon gern wissen, warum ich gleich in die Unfallstatistik eingehen werde. Und pass auf, da vorne ist rechts vor links!« Piper warf nur einen kurzen Blick nach rechts. Zum Glück kam gerade kein anderes Auto. Bei diesem Tempo wäre es für Piper ohnehin zu spät gewesen, noch zu reagieren. »Ich habe es euch doch gesagt. Ich habe routinemäßig die Stadtkarte von San Francisco ausgependelt und dabei einen neuen Dämon entdeckt.« Paige zog eine Augenbraue auf. »Moment mal …›routinemäßig‹? Willst du uns ernsthaft erzählen, dass du am Sonntag im Morgengrauen aufstehst, um mit dem Pendel herumzuspielen?«, fragte sie fassungslos. »Das ist kein Spiel, Paige. Außerdem konnte ich nicht schlafen. Ihr wisst doch, ich hatte immer befürchtet, dass die Hitzewelle und die gestiegene Kriminalität auch Dämonen anlocken könnten.« »Du meinst also wirklich, diese hässlichen Vögel nutzen die Hitzewelle aus, um hier auf der Erde, ich weiß nicht, die Sommerfrische zu genießen?«, fragte Paige und kniff dann die Augen zusammen, als Piper ein weiteres Stopp-Schild ignorierte. »Mehr oder weniger«, antwortete Piper. »Dämonen sind immer darauf aus, ihre Macht zu vergrößern, indem sie mit Menschen einen Pakt schließen. Die Stadt gleicht unter dieser Hitzewelle langsam einem Hexenkessel und …« »Hey! Vorsicht mit solchen Vergleichen!«, rief Phoebe vom Rücksitz aus. »Und vielleicht hoffen sie, dass die hohe Aggressivität in der Stadt die Menschen hier empfänglicher für dämonische Deals macht. Wundern würde es mich wenigstens nicht.« Paige nickte. Piper war schon viel länger im magischen Geschäft als sie selbst, und wenn ihre Halbschwester so eine Theorie vertrat, dann konnte das durchaus sein. »Hat dir dein schlaues Pendel denn auch verraten, mit was für einem Dämon wir es zu tun haben werden?«, fragte Paige, nachdem sie eine Sekunde lang nachgedacht hatte.
Piper zuckte, ohne das Steuer loszulassen mit den Schultern. »Keine Ahnung. Lassen wir uns überraschen.« »Das wird eine Überraschung für das dumme Spießerpack«, murmelte Andre Brightson und schüttelte grinsend die Farbspraydose in seiner Hand. Er liebte dieses klackende Geräusch, das das Sprühventil im oberen Ende der Dose verursachte. Für ihn war das die reinste Sphärenmusik. Andre war – ganz gegen seine eigentliche Natur – extra früh aufgestanden, um das anhaltend gute Wetter zu nutzen. Auch ein Graffiti-Sprayer war auf trockenes Wetter angewiesen. Mit einem gekonnten Bogen sprühte Andre die Grundform seiner Figur auf die kahle Betonmauer. Um diese Zeit war noch kein Mensch unterwegs, und die frühen Jogger würden die Ersten sein, die sein neuestes Kunstwerk bestaunen durften. Doch wenn sie, frühestens in einer Stunde, schätzte er, den Parkweg entlang gehechelt kamen, würde er schon längst wieder zu Hause sein. Natürlich nicht, ohne sein neuestes Meisterwerk mit seiner Digitalkamera vorher abgelichtet zu haben. Für einen Graffiti-Sprayer war es immer ein Risiko, seine eigenen Werke auch noch zu fotografieren. Sollte man von der Polizei geschnappt werden, dann lieferte man ihnen damit schließlich das Beweismittel für die eigene Schuld noch frei Haus. Aber der Sprayer machte sich heute keine großen Sorgen wegen der Polizei. Auch er hatte die Berichterstattungen in den Medien mitbekommen. Bei der derzeitigen Verbrechenswelle würden die uniformierten Jungs etwas anderes zu tun haben, als einem harmlosen Sprayer nachzujagen. Nein, heute war er ganz sicher und ungestört. Andre hatte mit der silbernen Sprühdose die Umrisse einer üppigen Frau auf die Mauer gesprüht und griff nach der Dose mit dem schwarzen Sprühlack, um einige erste Schattierungen aufzuzeichnen, als er hinter sich ein raschelndes Geräusch hörte.
Der junge Graffiti-Sprüher wirbelte herum. Hatten sich etwa irgendwelche Zivilfahnder im Busch versteckt? Zuzutrauen war den Cops alles. Andererseits würden die ihren Beamtenhintern doch nie so früh am Sonntagmorgen aus dem Bett bekommen. Misstrauisch tastete er das dichte Buschwerk hinter ihm mit den Augen ab. Da war nichts. Schulterzuckend widmete sich Andre wieder seiner Arbeit. Die Spraydose klackerte, und Sekunden später zischte ein feiner Strahl schwarzer Farbe auf die Mauer. Die Schöpfung des jungen Freilichtkünstlers nahm langsam Gestalt an. Ein erneutes Rascheln ließ ihn innehalten. Diesmal war es lauter. Und näher. Andre stellte die Sprühdose ab und blickte sich noch einmal um. Er konnte zwar niemanden erkennen, aber er konnte deutlich sehen, wie sich das grüne Buschwerk auf der anderen Seite des Weges bewegte. Aber irgendetwas stimmte nicht. Es sah nicht aus so, als würden sich die einzelnen Aste bewegen – sondern eher so, als ob sich ein Teil des Busches selber bewegte. Als hätte jemand ein extrem lebensechtes Dia von einem Busch dorthin projiziert. Ein faszinierender Effekt – aber gleichzeitig das Unheimlichste, was Andre je gesehen hatte. Jedenfalls bis zur nächsten Sekunde. Andre riss die Augen auf, als ein Teil des Buschs plötzlich menschliche Formen annahm und sich auf ihn zubewegte ! Es gab eine Art saugendes Geräusch. Die frischen Grün- und Brauntöne lösten sich auf und gaben den Blick auf eine schuppige, ockerfarbene Haut frei. Eine Gestalt von der Form eines Menschen, aber mit dem Kopf einer hässlichen Riesenechse kam Andy entgegen. Der Rücken der Gestalt endete in einem reptilienartigen Schwanz, der zuckend über den Boden schleifte. Das Echsen-Monster blickte den Sprayer aus kalten, gelben Augen an. Zwei senkrechte, schwarze Schlitze prangten auf den Augäpfeln der Kreatur.
»Du … Menschzz!«, zischelte die Kreatur. Das Sprechen schien ihr schwer zu fallen. Eine schmale Zunge wie bei einer Schlange bewegte sich bei jeder Silbe zwischen den Reißzähnen des Monsters hin und her. »Willzzt du Macht … jenseitzzz deiner Vorztellungzzkraft? Ich kann sie dir geben … für einen kleinen Preiszzz!« Die Kreatur blickte Andre erwartungsvoll an. Doch der GraffitiKünstler brachte nicht einmal ein Japsen hervor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er das bizarre Wesen an. Verzweifelt versuchte der Verstand des jungen Mannes, diese Szene zu verarbeiten. Die Dämpfe der Sprühfarbe! Das musste es sein! Er hatte in der heißen Sommerluft einfach zu viele Lackdämpfe eingeatmet. Berufsrisiko. Und jetzt hatte er Halluzinationen. Wie bei einem schlechten Drogentrip, das war alles. Ein Teil von Andre wusste, dass dies nur der verzweifelte Versuch einer Erklärung war, aber für seinen Fluchtinstinkt reichte es aus. Halluzination oder nicht – er musste versuchen, Land zu gewinnen und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und dieses Monster zu bringen. Später, wenn er erst einmal in Sicherheit war, würde er noch genug Zeit haben, um sich über die Natur dieser Begegnung Gedanken zu machen. Einen Augenblick lang versuchte Andre vergeblich, Kontrolle über seine zitternden Beine zu bekommen. Doch als die Echsen-Kreatur noch einen Schritt auf ihn zu machte, rannte er los, ohne weiter darüber nachzudenken. »Halt!«, rief die Kreatur und hob eine Pranke. »Ich will dir doch nur ein Geschzäft vorschzzlagenn« Aber Andre hörte schon gar nicht mehr hin. Für ihn wirkten die unbeholfen ausgestoßenen Worte der Kreatur nur wie ein bedrohliches Zischen. Wie von Furien gehetzt, rannte er den Parkweg entlang. Er wollte nur weg. Der Sprayer bog um eine Ecke und machte nicht einmal Halt, als ihm drei junge Frauen entgegenkamen.
Ohne es zu wollen, aber auch ohne es überhaupt zu merken, rempelte er die mittlere, eine dunkelhaarige Schönheit, an der Schulter an. »Hey!«, rief Piper Halliwell. »Pass doch auf, wohin du rennst!« Diese Jogger wurden auch immer unverschämter. »Lauft weg!«, rief der junge Mann nur. »Ein Monster!« Piper, Phoebe und Paige blickten dem Mann ein paar Augenblicke lang hinterher. Hatte er gerade ›Monster‹ gesagt? Piper klatschte in die Hände. »Dann wollen wir mal, Mädels!« Die drei Hexen liefen in die Richtung, aus der ihnen der junge Mann entgegengekommen war.
15 ALS DIE DREI Zauberhaften um die Ecke bogen, sahen sie zunächst einmal gar nichts. Zumindest nichts Außergewöhnliches. Eine etwa zwei Meter hohe Betonmauer trennte den Rand des Parks von der Straße, die jenseits der Bäume verlief. Der Park selbst lag ruhig vor ihnen. Die frühe Morgensonne strahlte durch die Zweige und verwandelte den ganzen Park in eine Naturidylle. Piper, Phoebe und Paige hatten schon lange nichts so Friedliches mehr gesehen. Wenn es nicht viel zu früh am Morgen gewesen wäre, dann hätten sie diesen Ausflug in den Stadtpark sogar genossen. Phoebe war die Erste, die etwas bemerkte. »Schön hier«, sagte sie und blickte sich wachsam um. »Und schön ruhig.« Sie blickte ihre Schwestern an. Selbst Piper, die eher selten ins Kino ging, kannte den Satz, der in so einer Situation immer folgte: »Zu ruhig«, ergänzten die beiden Schwestern wie aus einem Mund. Und tatsächlich: Trotz des wunderbaren Wetters und der strahlenden Sonne fehlte etwas. Das Zwitschern der Vögel. Der ganze Park war in Totenstille getaucht. Offensichtlich hatten alle Vögel das Gebiet fluchtartig verlassen. Ohne darüber nachzudenken, stellten die drei Zauberhaften sich Rücken an Rücken auf. Sie hatten schon genug Kämpfe hinter sich, um instinktiv diese Verteidigungsposition einzunehmen. So hatten sie alle Richtungen im Blick, und niemand konnte sich von hinten anschleichen. Es sei denn, es war ein Dämon mit ungewöhnlichen Kräften. »Das gibt's ja nicht«, keuchte Paige, als ihr Blick auf die Mauer fiel. Ein Teil der Betonfläche war mit einer unvollendeten Figur besprüht worden. Die Sprühdosen selbst lagen noch auf dem Waldboden. Wahrscheinlich war dies das Werk des jungen Mannes, der ihnen vorhin entgegengerannt gekommen war. Aber was Paige irritierte, war nicht die eher mittelmäßige GraffitiKunst, sondern der noch unbesprühte Teil der Wand. Die junge Hexe traute ihren Sinnen nicht, als sich das Grau des Betons plötzlich
bewegte. Ihre Augen brauchten ein paar Sekunden, um in dieser Bewegung die Umrisse einer menschenähnlichen Gestalt zu erkennen. Ihre Schwestern drehten sich überrascht zu ihr um. »Was ist denn, Paige?«, fragte Piper. Dann weiteten sich ihre Augen, als auch sie das Unglaubliche sah. Ein Teil der Mauer schien sich zu bewegen. Dann änderte sich das Bild. Als ob jemand einen Wasserschlauch daraufgerichtet hätte, verschwand die graue Farbe. Übrig blieb ein ockerfarbenes Echsen-Monster, das die drei Schwestern böse anzischte. »Ein Dämon!«, rief Piper. Dann war es auch schon zu spät. Mit einem Aufschrei stürzte sich der Echsen-Mann auf die Schwestern. »Die drei ZzZauberhaftenn Wasszz für eine günszztige Gelegenheit, euch zu töten!« Im letzten Augenblick konnte Phoebe der heruntersausenden Krallenpranke des Dämons ausweichen. Auch ihre beiden Schwestern stoben zur Seite. Phoebe stellte sich dem Angreifer als Erste. »Eine günstige Gelegenheit für dich wäre es eher, mal beim Zahnarzt vorbeizuschauen, Schuppengesicht! Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du lispelst?« Aus dem Stand heraus machte Phoebe einen gewaltigen Satz und ließ ihr linkes Bein vorschnellen – genau in Richtung Dämonenkopf. Doch bevor sie ihr Ziel traf, war der Echsen-Mann schon verschwunden. Jedenfalls schien es so. Mit ihrem eigenen Schwung wirbelte Phoebe durch die Luft und schlug schließlich unsanft auf dem Boden auf. Nur mit einer geschickten Rolle konnte sie verhindern, sich bei ihrer eigenen, missglückten Attacke zu verletzen. »Phoebe, sei vorsichtig!«, rief Piper. »Ich habe von diesen Dämonen im Buch der Schatten gelesen! Das ist ein Grru'Ar – eine Art menschliches Chamäleon!«
»Gut aufgepasszzt!«, zischte es in diesem Augenblick hinter Piper auf. Die älteste der drei Halliwell-Schwestern wirbelte herum. Einen Sekundenbruchteil lang konnte sie den schemenhaften Umriss des Dämons erkennen, der die Farben des Strauches angenommen hatte, vor dem er jetzt stand. Dann traf sie die Pranke des Monsters. Der Echsen-Mann hatte Piper einen Kinnhaken verpasst, der sie benommen zu Boden sacken ließ. Piper spürte den Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Und sie spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Sie hob die Hände, um den Dämon mit einer magischen Explosion in Stücke zu reißen. Im gleichen Augenblick änderte das Echsen-Monster erneut seine Farbe. Vor den Augen der erstaunten Schwestern nahmen seine Schuppen jetzt die Farbe der grünen Wiese an, die sich hinter seinem Rücken erstreckte. Eine Sekunde lang waren seine Umrisse noch zu erkennen, dann war der Dämon verschwunden. Piper stieß einen nicht besonders damenhaften Fluch aus. Sie konnte ihren Gegner weder explodieren lassen noch in der Zeit einfrieren – wenn sie ihn nicht sah! Während die drei Zauberhaften sich noch verzweifelt nach ihm umsahen, bereitete das Monster bereits seinen nächsten Angriff vor. Phoebe hörte hinter sich ein scharfes Zischen – so, als ob etwas Scharfes die Luft durchschneiden würde. Instinktiv duckte sie sich. Fast im gleichen Augenblick fegten die Krallen des Dämons über ihren Kopf hinweg. Hätte sie sich nicht geduckt, wäre sie jetzt einen Kopf kürzer. Phoebe rollte sich auf dem Boden ab und brachte sich damit in Sicherheit. Vorerst. »So wird das nichts!«, rief Piper, während sie sich wachsam nach allen Seiten umblickte. »Solange wir diesen hässlichen Vogel nicht sehen, können wir nichts gegen ihn ausrichten!« Ein zischendes Lachen ertönte. Es schien von überall zu kommen. Zu sehen war nichts. Phoebe rappelte sich auf. Jeden Moment konnte der Dämon eine neue Attacke starten. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte zurück, bis ihr Rücken fast gegen die Steinmauer stieß. Auf diese Weise
konnte sie wenigstens sicher sein, dass das Echsen-Monster nicht von hinten angriff. Plötzlich spürte Phoebe, wie etwas gegen die Ferse ihres Turnschuhes stieß. Sie blickte hinunter. Zu ihren Füßen lagen die Farbdosen des Graffiti-Sprühers, die dieser in seiner Panik zurückgelassen hatte. Die junge Hexe hatte eine Idee … Paige Halliwell, die Schwester mit der geringsten Kampferfahrung, blickte sich währenddessen ängstlich um. Es war einfach verrückt – da stand sie nun, mitten in einem idyllischen, geradezu paradiesischen Park … und musste damit rechnen, jeden Augenblick von einem unsichtbaren Echsen-Dämon in Stücke gerissen zu werden. Und für diesen Job als Hexe hatte sie ihre Stelle beim Sozialamt aufgegeben? »Paige, pass auf!«, rief Piper erschrocken. Die jüngste Hexenschwester wirbelte herum. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ein Teil der Landschaft auf sie zujagte. Zumindest sah es so aus. In Wirklichkeit war es das Echsen-Monster, das mit seinen messerscharfen Krallen zu einem Todesstoß ausholte. Ohne groß darüber nachzudenken, setzte Paige ihre Teleportationskräfte ein. Sie schimmerte kurz auf und war dann verschwunden. Sekundenbruchteile später materialisierte sie wieder, ein paar Meter entfernt. Sie sah gerade noch, wie der Schlag des EchsenWesens ins Leere ging und die Kreatur wütend aufzischte. Für seinen verpatzten Todesstoß hatte der Dämon seine Position verändern und dafür seine Tarnung aufgeben müssen. Seine Haut trug jetzt immer noch die Färbung des Strauchwerks, obwohl er auf dem ockerfarbenen Gehweg stand. Eine Sekunde lang wirkte es so, als hätte jemand ein Stück der Landschaft herausgeschnitten und an einer falschen Stelle wieder eingefügt. Doch schon begann das Echsen-Monster wieder, seine Hautfärbung der Umgebung anzupassen. Einen Moment noch, und es würde wieder unsichtbar sein. Das reichte Phoebe.
Mit einem Kampfschrei auf den Lippen wirbelte sie durch die Luft und landete direkt vor dem Dämon. Bevor die Bestie reagieren konnte, richtete Phoebe eine der Farbsprühdosen auf ihn. Es gab ein zischendes Geräusch und ein scharfer Strahl aus knallroter Lackfarbe schoss dem Dämon gegen die schuppige Brust. Der Echsen-Mann fauchte wütend auf. Dann versuchte er, seine Verwandlung zu vollenden und wieder mit der Umgebung zu verschmelzen. Vergeblich. Obwohl seine Konturen im nächsten Augenblick wieder verschwammen und nicht mehr vom Hintergrund zu unterscheiden waren, prangte immer noch ein knallroter Farbfleck in der Luft. »Sehr gut, Phoebe!«, rief Piper, die ein Stück weit entfernt stand. Der Dämon gab ein erneutes, wütendes Fauchen von sich. »Verdammte Hexxze!«, zischte und versuchte ebenso verzweifelt wie vergeblich, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Der rote Punkt blieb. Piper blickte sich kurz um und hob dann einen spitzen, etwa unterarmlangen Ast auf, der unter einem der Bäume lag. Es wurde Zeit, diesen Kampf zu beenden, bevor die ersten Jogger und Spaziergänger eintrafen. »Paige, würdest du bitte …?«, fragte die älteste HalliwellSchwester und warf den Ast senkrecht in die Höhe. Paige blickte ihre Schwester einen Sekundenbruchteil fragend an, dann verstand sie, was Piper wollte. Der Ast fiel bereits zurück zu Boden, als Paige mit ihrer telekinetischen Kraft nach ihm griff. Gegen alle Gesetze der Schwerkraft änderte er plötzlich seine Richtung und sauste nun horizontal weiter. Genau auf den roten Punkt zu, der mitten in der Luft zu schweben schien. Phoebes Zielmarkierung. Der Echsen-Dämon schrie auf. »NEINNNN!«
Doch es war zu spät. Mit einem dumpfen Geräusch bohrte sich die spitze Seite des Astes genau in die Brust des Monsters. Der Dämon bäumte sich auf und nahm im Augenblick seines Todes wieder seine normale, ockerfarbene Hautfärbung an. Einen Moment lang konnten die drei Hexen ihren Gegner noch einmal in seiner vollen Hässlichkeit bewundern. Dann zerplatzte er mit einem Ekel erregenden Geräusch. Zurück blieb nur eine schwarze, schleimige Substanz auf dem Gehweg. »Argh!«, sagte Paige mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. »Hoffentlich passen die Jogger heute auf, wo sie hintreten.«
16 D
» AS IST DER SAUBERSTE TATORT, den ich je gesehen habe«, sagte Doktor Nyang und zog sich seine Gummihandschuhe aus, »und ich meine das nicht als Kompliment für die Putzfrau.« Darryl Morris verdrehte die Augen. Dann blickte er in den großen Spiegel, der über dem Waschbecken angebracht war. Das Gesicht, das ihm entgegenblickte, sah müde und erschöpft aus. Kein Wunder. Es war zehn Uhr am Sonntagmorgen, und der Anruf der Einsatzzentrale hatte ihn bereits vor einer Stunde aus dem Bett geklingelt. Bis weit in die letzte Nacht hinein hatte er am Schreibtisch gesessen und die spärlichen Spuren der beiden vorangegangenen Morde wieder und wieder analysiert. Vergeblich. Es gab keine Gemeinsamkeit zwischen den Opfern, keine Hinweise auf den Täter – nicht einmal ein Indiz dafür, wie die beiden Morde überhaupt begangen worden waren. Und nun das. Ein dritter Mord. Der dritte in ebenso vielen Tagen. Darryl stand hinter Doktor Nyang in der weiß gekachelten Damentoilette eines großen Kinopalastes der Stadt. Vor dem Waschbecken lag die Leiche einer jungen Frau. Darryl war auch gerade erst gekommen und wusste noch nicht allzu viel über das, was geschehen war. Die junge Dame, eine gewisse Elisabeth Bergson, hatte gestern Abend mit ein paar Freundinnen das Kino für eine Spätvorstellung besucht. Nach dem Ende des Films war Elisabeth noch schnell auf die Toilette gegangen und hatte mit ihren Freundinnen ausgemacht, sich mit ihnen auf dem Parkplatz zu treffen. Als sie nach einer halben Stunde noch nicht zurück war, waren ihre Begleiterinnen davon ausgegangen, sie verpasst zu haben und fuhren ohne sie nach Hause. Zu diesem Zeitpunkt war Elisabeth Bergson wahrscheinlich schon tot. Irgendjemand hatte ihr in der Toilette aufgelauert und sie ermordet. »Was meinen Sie mit ›sauberer Tatort‹, Doc?«, fragte Darryl gereizt.
Der Leichenbeschauer grinste den Detective an. Die frühe Morgenstunde schien ihm nicht das Geringste auszumachen. »Nun ja, Detective, der Mörder – oder die Mörderin, ich möchte keine voreiligen Schlussfolgerungen treffen – hat das Opfer mit äußerster Präzision getötet. Sie werden feststellen, dass Sie hier auch nicht den kleinsten Blutstropfen finden werden.« Darryl zuckte mit den Schultern. »Na und? Die gesamte Toilette ist gekachelt. Es sollte für den Mörder doch kein Problem sein, eventuelle Blutstropfen wegzuwischen, bevor er sich aus dem Staub macht.« Nyang schüttelte nur lächelnd den Kopf. »Ganz so einfach ist das nicht, Detective«, entgegnete er. Seine Stimme klang fast nachsichtig, als müsste er einem kleinen Kind die Welt erklären. Darryl überlegte kurz, ob er wohl mildernde Umstände zugesprochen bekäme, wenn er dem Gerichtsmediziner jetzt den Hals umdrehen würde. Mit einem triumphierenden Grinsen griff Doktor Nyang in seine Arzttasche und zog ein seltsames Gerät hervor, das an ein aufschnallbares Nachtsichtgerät erinnerte. Nyang reichte es an den Detective weiter. »Hier setzen Sie das mal auf und aktivieren Sie es. Der Schalter ist an der linken Seite.« Zögernd zog sich Darryl das Gerät über den Kopf und befestigte es mit einem Riemen am Hinterkopf. Die zwei Linsen ließen sich wie eine Brille über die Augen ziehen. Noch waren sie undurchsichtig. Darryl ertastete den Einschaltknopf, und eine Sekunde später summten die elektronischen Linsen auf, und Darryl konnte wieder etwas sehen Der ganze Toilettenraum erschien durch das Gerät in grünes Licht getaucht. Als sein Blick auf seine Reflexion im Spiegel fiel, kam sich Darryl eine Sekunde lang vor wie ein Marsmensch. Beeindruckend, aber was sollte das Ganze? Das fragte Darryl auch Doktor Nyang. Der Gerichtsmediziner lachte mit grasgrünen Zähnen auf und machte eine ausholende Geste. »Ich habe den Raum mit einem speziellern Enzym eingesprüht.« Nyang schwenkte eine kleine Spraydose, auf deren Etikett eine rätselhafte chemische Bezeichnung geschrieben stand. »Es reagiert
mit menschlichem Blut und löst damit eine chemische Reaktion aus. Die elektronischen Sicht linsen, die Sie da tragen, Detective, enthalten ein Spektrometer, das diese Reaktion sichtbar macht. Wenn es hie irgendwo Blutspuren gibt – auch nur die geringsten Mengen – dann müssten sie durch die Linsen knallgrün aufglühen. Und wie Sie sehen – Sie sehen nichts!« Darryl nickte. Der ganze Toilettenraum leuchtete in einem matten Grün, aber nirgendwo hoben sich hellere Flecken ab. Darryl probierte etwas aus. Er nahm Doktor Nyang das kleine Fläschchen aus der Hand und sprühte damit vorsichtig auf den Zeigefinger seiner linken Hand Gestern hatte er sich dort beim Durchwälzen der Akten an einer Papierseite geschnitten. Tatsächlich. Der winzig kleine, schon fast verheilte Schnitt leuchtete durch die Sichtgläser strahlend grün auf Dieses seltsame Gerat funktionierte also. »Ich sehe schon«, grinste Nyang, als Darryl das Hightech Gerät wieder von seinem Kopf zog, »Sie trauen meiner Ausrüstung nicht. Aber seien Sie versichert: Im gesamten Toilettenraum befindet sich kein einziger Blutstropfen.« Darryl nickte. »Das mag ja sein, Doc – aber warum ist das so ungewöhnlich? Es gibt leider Gottes viele Arten, einen Menschen zu töten – und eine Menge davon kommen ganz ohne Blutvergießen aus.« »Das schon, Detective, und glauben Sie mir, ich habe sie alle schon gesehen. Aber was mich ehrlich gesagt vor ein Rätsel stellt: Wie hinterlässt man eine fast blutleere Leiche, ohne dass am Tatort auch nur ein einziger Blutstropfen zurückbleibt. Können Sie mir das erklären?« Der Detective traute seinen Ohren nicht. »Wollen Sie damit sagen, dass …« »… unsere arme Miss Bergson keinen Tropfen Blut mehr im Leib hat.« Doktor Nyang deutete auf die Leiche der jungen Frau. Erst jetzt fiel Darryl auf, dass ihr Gesicht tatsächlich wachsbleich aussah. Leichen waren ja nicht gerade für rosige Bäckchen bekannt, aber diese fast schon bläuliche Einfärbung der Haut war in der Tat ungewöhnlich.
Darryl spürte, wie sein Kopf wieder zu schmerzen begann. Er stöhnte gequält auf. Wie sollte er das dem Bürgermeister erklären? »Sie sehen aber auch etwas blass aus, Detective«, sagte Nyang kopfschüttelnd. »Dabei wissen Sie ja noch nicht einmal alles …« Oh, nein, dachte Darryl entsetzt. Nicht noch mehr Rätsel. Aber Nyang war gnadenlos. Wie bei einer chinesischen Wasserfolter ließ er eine bruchstückhafte Information nach der anderen auf den Detective niedertropfen. Wahrscheinlich genoss er dieses Spielchen. »Schauen Sie hier«, fuhr Nyang fort und kniete sich wieder neben die Leiche. Er deutete auf den Hals der Toten. »Zwei winzige Einstiche im Bereich der Halsschlagader. Ich vermute, dass sie vom Täter stammen, der seinem Opfer auf diese Weise das Blut ausgesaugt hat. Wahrscheinlich mit einer Art Unterdruck-Mechanismus. Sehr raffiniert.« »Aber warum?«, fragte Darryl entsetzt. Er war froh, dass er noch nicht die Zeit gefunden hatte, um etwas zu frühstücken. Nyang zuckte nur mit den Schultern. »Aber da ist noch etwas, das mir Rätsel aufgibt, Detective …« Na großartig, dachte Darryl. Was denn jetzt noch? Doktor Nyang deutete mit einem viel sagenden Lächeln auf den großen Spiegel über dem Waschbecken. »Anhand der Einstichstellen lässt sich schon jetzt mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass das Opfer von hinten angegriffen wurde, als es gerade vor dem Waschbecken stand …« »Ja, und?« »Sagen Sie mir, Detective, warum Sie den Mörder dann nicht im Spiegel gesehen hat und weggelaufen ist!« Darryl runzelte die Stirn und betrachtete sein eigenes Spiegelbild. Der Doktor hatte Recht – es war einfach unmöglich, sich unbemerkt von hinten anzuschleichen, ohne dass das Opfer etwas merkte. Dafür gab es nur eine Erklärung – der Täter hatte kein Spiegelbild. Darryl seufzte. Waren etwa doch übernatürliche Mächte am Werk? Er würde seine informellen Mitarbeiterinnen – die drei HalliwellSchwestern – noch einmal zurate ziehen müssen.
Aber das würde er dem Doktor ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. »Vielen Dank, Doktor Nyang«, sagte er stattdessen. Darryl wollte dem Gerichtsmediziner noch einen schönen Sonntag wünschen, als etwas in seiner Brusttasche vibrierte. Sein Handy. Erstaunt drückte Darryl auf eine Taste und hielt sich das winzige Mobiltelefon ans Ohr. Kurz darauf wurde seine Gesichtsfarbe noch ungesunder. »Oh, guten Morgen Herr Bürgermeister …«
17 ALS PIPER, PHOEBE UND PAIGE zu Hause ankamen, waren sie alle in Schweiß gebadet. »Ich gehe als Erste duschen«, rief Paige und stürmte durch die Haustür hinauf in den ersten Stock, wo sich das Badezimmer befand. Phoebe und Piper waren zu erschöpft, um sich mit Paige um dieses Privileg noch streiten zu können. Obwohl die alte Standuhr im Wohnzimmer in genau diesem Augenblick erst zehn Uhr morgens schlug, war es bereits wieder unerträglich heiß. Die Hitzewelle schwoll wieder einmal an. »Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Piper erschöpft. Phoebe überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. Einen kleinen Wachmacher hätte sie schon gut gebrauchen können, aber für ein heißes Getränk war ihr viel zu warm. »Lieber einen O-Saft«, antwortete sie. »Lass nur, ich hole ihn mir schon selber.« Erschöpft schlurfte Phoebe in die Küche und öffnete die Kühlschranktür. Ein paar Sekunden lang genoss sie die eisige Kälte, die ihr entgegenschlug. »Du hast es gut«, sagte sie zu dem lächelnden Orangen-Männchen, das auf der Saftpackung abgebildet war. Piper hatte inzwischen zwei Gläser geholt und auf den Küchentisch gestellt. Oben, im ersten Stock, begann die Dusche zu rauschen. »Wenn Paige fertig ist, springe ich auch unter die Dusche und lege mich noch eine Runde aufs Ohr«, sagte Phoebe, während sie den Saft eingoss. »Vielleicht blase ich sogar unsere alte Luftmatratze auf und ziehe in den Keller.« »Keine schlechte Idee«, erwiderte Piper, bevor sie ihr Glas mit ein paar hastigen Schlucken fast leerte. Es war ihr mittlerweile egal, wie ungesund das angeblich war. Sie genoss es einfach, wie die kalte Flüssigkeit ihre Kehle hinunterlief. »Lass uns mal den Fernseher einschalten«, sagte Phoebe und nahm ihr Glas in die Hand. »Vielleicht erwischen wir ja eine
Wettervorhersage. Diese Hitzewelle kann doch nicht ewig so weitergehen.« Piper nickte und folgte ihrer jüngeren Schwester ins Wohnzimmer. »Ich hoffe, du hast Recht. Denn wenn die Dämonen in dieser Häufigkeit weiter von der Hitze angezogen werden, mache ich bald schlapp.« Phoebe hatte bereits das Wohnzimmer erreicht und nickte. »Ja, von hitzefrei haben die in der Hölle wohl noch nie etwas gehört …« Piper blickte sich um. Wo hatte Paige denn schon wieder die Fernbedienung hingelegt? Erst nach einer intensiven Suche fanden die beiden Halliwell-Schwestern sie unter einem der Sofakissen. »Das ist mal wieder typisch für Paige«, knurrte Piper. Phoebe grinste nur. »Sei nicht so streng mit ihr. Immerhin hat sie sich heute Morgen gut geschlagen.« »Das stimmt allerdings«, musste Piper anerkennen. »So langsam hat sie wirklich den Bogen raus. Ich bin froh, dass wir sie haben.« »Auch wenn sie bald mal mit dem Duschen fertig werden könnte«, murmelte Phoebe. Das Wasser im ersten Stock rauschte immer noch. Piper schaltete den Fernseher ein. »Das gibt's ja nicht!«, rief Phoebe erstaunt auf, als das Bild aufflammte. »Da ist ja Darryl!« Phoebe hatte Recht. Zufällig hatte Piper auf einen der Lokalsender geschaltet, auf dem offensichtlich gerade eine Pressekonferenz abgehalten wurde. Piper erkannte den Bürgermeister von San Francisco, der auf einer Rednerbühne stand und gerade aufgeregt mit Darryl diskutierte. Der Bürgermeister redete mit zornesrotem Gesicht auf den Detective ein, der immer kleiner zu werden schien. Und offensichtlich hatte der Bürgermeister noch nicht bemerkt, dass die Kameras bereits liefen. Der Tadel, den er seinem Untergebenen da verpasste, war bestimmt nicht für die Öffentlichkeit gedacht. »… von Inkompetenz umgeben. Das sage ich Ihnen, Morris, wenn Sie diesen Verrückten nicht innerhalb der nächsten drei Tage
geschnappt haben, können Sie wieder den Verkehr regeln, ist das klar?!« Bevor der arme Darryl etwas entgegnen konnte, bemerkte der Bürgermeister seinen Fehler. Sofort schaltete er sein Kamera-Gesicht ein und lächelte in die auf ihn gerichteten Objektive. »Sehr verehrte Damen und Herren von der Presse, wie Sie ja bereits wissen, hat es bedauerlicherweise in der letzten Nacht einen neuen Mordfall gegeben. Die Ermittlungen laufen bereits auf Hochtouren. Einer meiner besten Männer, Detective Darryl Morris, leitet das Untersuchungsteam, das bereits eine heiße Spur verfolgt …« Phoebe und Piper konnten am Bildschirm sehen, wie Darryl im Hintergrund verlegen lächelte und dabei Blut und Wasser schwitzte. Er machte nicht den Eindruck, als würde er irgendeine Spur verfolgen. »Der Ärmste«, sagte Piper mitleidig. »Wenn er nicht bald ein paar Ergebnisse vorweisen kann, wird der Bürgermeister ihn grillen. Von der Presse ganz zu schweigen …« Phoebe wollte gerade etwas erwidern, als ein markerschütternder Schrei durch das Haus hallte. Das war Paige. Ohne eine Sekunde zu zögern sprangen die beiden anderen Halliwell-Schwestern auf. Ein paar Sekunden später hatten sie schon den Treppenabsatz des ersten Stockwerkes erreicht. In diesem Augenblick wurde die Tür des Badezimmers aufgestoßen. Paige kam herausgestürzt. Sie hatte sich nur notdürftig ein Badehandtuch umgeschlungen und deutete auf die offene Badezimmertür. »Wie lange wurde eigentlich der Ausguss vom Waschbecken nicht mehr gereinigt?«, rief sie aufgeregt. »Wieso, was ist denn?«, fragte Piper. Wenn das ein Scherz sein sollte, dann … Aber Paige deutete nur mit einer Kopfbewegung in das Badezimmer. »Sieh selbst!« Vorsichtig steckten Piper und Phoebe ihre Köpfe durch die Tür. Sie trauten ihren Augen nicht.
Mit einem gurgelnden Geräusch schoss eine Fontäne aus bräunlichem Schlamm aus dem Waschbecken heraus. Aber anstatt sich in alle Richtungen zu verteilen, spritzte der Schlamm auf eine bestimmte Stelle auf dem Boden und schien sich dort aufzutürmen. Die Fontäne nahm kein Ende mehr. Der Schlammhügel war jetzt schon fast zwei Meter hoch und nahm langsam Gestalt an. Die Gestalt eines Dämons. Und er stank abscheulich. »Igitt!«, rief Phoebe und hielt sich die Nase zu. »Das ist ja entsetzlich!« Tatsächlich stank das Badezimmer, als hätte es jemand in ein Sumpfgebiet verwandelt. Die Fontäne endete abrupt und das Schlamm-Monster bäumte sich noch einmal auf, bevor es endgültig eine menschenähnliche Gestalt annahm. Sein Gesicht wirkte wie eine zerschmolzene Maske, die entfernt an die eines Menschen erinnerte. Dann öffnete das Wesen sein Maul und brüllte die drei Zauberhaften an. Phoebe, Piper und Paige wichen zurück. Es war weniger das Brüllen, das sie die Flucht ergreifen ließ, als der bestialische Gestank aus dem Maul der Schlamm-Bestie. Entsetzt liefen sie die Treppe hinunter, wobei Paige Mühe hatte, ihr Badetuch festzuhalten. »Das darf doch wohl nicht wahr sein«, rief Piper. »Andere Leute haben im Sommer ein Mückenproblem – und wir eine Dämonenplage. Ich habe langsam keine Lust mehr.« Im Flur angekommen, machten die drei Schwestern Halt und blickten zurück. Der Schlamm-Dämon war ihnen dicht auf den Fersen. Anstatt die Treppe hinunterzulaufen, floss er einfach von Stufe zu Stufe. Allerdings nicht, ohne eine breite Schlammschicht auf dem Parkett zu hinterlassen. Piper heulte wütend auf. »Spinnst du?!«, schrie sie den Dämon an, »ich habe hier frisch geputzt, verdammt noch mal!« Der Dämon zögerte. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass man ihn anschrie.
»Grrööörgggl?!«, grunzte er blubbernd. »Ich gebe dir gleich ›Grööggll‹!«, rief Piper nur und hob die Hände. »Ah, Piper, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, rief Phoebe noch dazwischen, aber es war schon zu spät. Die älteste Halliwell-Schwester schloss kurz die Augen und konzentrierte sich. Einen Sekundenbruchteil später explodierte der Dämon mit einem lauten Knall. Das nächste Geräusch, das die drei Schwestern hörten, war ein platschendes Geräusch. Eine wahre Flutwelle aus feuchtem Schlamm traf sie von oben bis unten. Fassungslos blickten Piper, Phoebe und Paige sich an. »Na, großartig«, knurrte Phoebe und wischte sich eine Ladung Dreck aus dem Gesicht. »Danke für die Schlammpackung, Piper. Es soll ja nichts Besseres für die Hautgeben.« »Ich gehe zuerst duschen!«, rief Paige und rannte die Stufen zum Badezimmer hinauf. Sekunden später war erneut das Rauschen der Dusche zu hören. Piper blickte sich um. Der schöne, frisch geputzte Hausflur – von oben bis unten mit stinkendem, dämonischem Schlamm bedeckt. Sie würde Stunden brauchen, um das alles wieder sauber zu bekommen. Aber sie würde nicht allein schrubben, so viel war sicher. »Leo!«, rief sie. Gustav Landreau rieb sich die schmerzende Brust. Die Stiche in seinem Herzen waren jetzt heftiger und kamen in immer kürzeren Abständen. Stöhnend griff der alte Mann nach der Pillendose auf dem Kaffeetisch und nahm zwei der Tabletten heraus. Diesmal spülte er sie nicht mit Alkohol, sondern mit Wasser hinunter. Er hatte zwar keine Angst vor dem Tod, aber er wollte den Lauf der Dinge auch nicht unnötig beschleunigen. Immerhin gab es noch etwas zu regeln.
Wie immer dauerte es eine Minute, bis die Herztabletten ihre Wirkung entfalteten. Das Stechen in der Brust klang langsam ab, dann war es verschwunden. Aber Landreau wusste, dass seine Medikamente die Schmerzen nur kurzzeitig vertreiben konnten. Sie lauerten noch immer in seiner Brust, bereit, wieder zuzuschlagen … und ihm irgendwann den Rest zu geben. Die Zeit drängte langsam, aber die Dinge standen gut. Voller Befriedigung hatte Landreau die Pressekonferenz im Fernsehen verfolgt. In der letzten Nacht hatte es einen dritten Mord gegeben und die Polizei tappte offensichtlich noch immer im Dunkeln. Und das würde so bleiben – auch nach dem vierten Mord, der sicher sehr bald folgen würde. Gustav Landreau lachte auf. Er hatte sich seinen jungen Schüler sehr gut ausgesucht. Für kurze Zeit war er etwas beunruhigt gewesen, als plötzlich diese beiden Hexen am Set von ›Scream X-Treme‹ aufgetaucht waren. Landreau hatte in den vergangenen vierzig Jahren Erfahrungen mit den übersinnlichen Mächten sammeln können – nicht nur als Regisseur von Horrorfilmen, wohlgemerkt. Es war für ihn nicht schwer gewesen zu durchschauen, dass die beiden Schwestern zu den Zauberhaften gehörten. Aber diese jungen Dinger waren ahnungslos und konnten ihm und seinen Plänen nicht gefährlich werden. Im Gegenteil – sie brachten vielleicht etwas frischen Wind und eine zusätzliche Herausforderung in das Spiel. Landreau lachte triumphierend auf. Diesmal verursachte das Gelächter keine Schmerzen in seiner Brust. Im Gegenteil, er fühlte sich dadurch verjüngt. Allem besseren Wissen zum Trotz schenkte er sich nun doch ein Glas Whisky ein. Dann trat Gustav Landreau vor einen großen Wandspiegel und prostete sich zu. In diesem Moment begann der große Breitwand-Fernseher zu rauschen. Landreau blickte sich um. Ohne Überraschung nahm er wahr, wie sich das Fernsehbild langsam verzerrte. Aus einem weißen Rauschen bildete sich ein Gewirr, das aus tausend schwarz-weißen Ameisen zu bestehen schien, und schließlich den Umriss einer Gestalt zum Vorschein brachte. Es war nicht mehr als ein schemenhaftes, dunkles Bild, aber Landreau erkannte seinen unheimlichen Besucher sofort. Dass er über den Fernseher Kontakt zu ihm aufnahm, war zwar
neu – aber warum sollten nicht auch Dämonen allmählich mit der Zeit gehen? »Gustav, du siehst blass aus«, dröhnte es aus den Lautsprechern des Fernsehers. »Deine Zeit läuft ab. Ich hoffe, du vergisst unsere kleine Abmachung nicht?« Landreau lächelte und schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich das. Ich habe alles in die Wege geleitet. Das Spiel hat längst begonnen. Mach dir keine Sorgen.« Die Gestalt auf dem Fernsehbildschirm lachte auf. »Oh, ich mache mir keine Sorgen. Warum auch. Ich gewinne immer.« Es gab ein letztes statisches Knistern, dann verschwand die Gestalt wieder. Einzig das weiße Rauschen des Fernsehers blieb zurück. Gustav Landreau nahm noch einen Schluck Whisky und schaltete dann den Fernseher ab.
18 HAST DU DEIN HANDY AUCH AN?«, fragte Phoebe.
»
»Klar, keine Sorge, es steht auf Vibrations-Alarm«, beruhigte Paige ihre Halbschwester. »Falls wieder irgendwelche Dämonen auftauchen, kann Piper uns einfach anrufen. Aber ich hoffe, wir bleiben heute davon verschont. Das Wochenende hat mir gereicht.« Phoebe nickte. Sie erinnerte sich mit Schaudern an den gestrigen Tag. Nach dem Angriff des Schlamm-Dämons hatten sie gerade mal ein paar Stunden Ruhe gehabt. Denn schon kurz nach Einbruch der Dämmerung – Piper und Leo waren gerade erst mit der Beseitigung der Schlammspuren fertig geworden – waren die drei Schwestern durch ein flatterndes Geräusch aufgeschreckt worden. Die drei Zauberhaften und Leo waren nach draußen gestürmt, wo schon ein mannsgroßer Fledermaus-Dämon auf sie gelauert hatte. Die drei Schwestern und Leo konnten den scharfen Krallen des Dämons nur entgehen, indem sie sich auf den Boden warfen. Während das Fledermaus-Monster wie ein Jagdbomber zu einem zweiten Luftangriff ansetzte, hatte Piper zum Glück schon die Arme gehoben und fror den Angreifer kurzerhand mitten in der Luft ein. Phoebe erinnerte sich noch gut daran, wie die ledernen Flügel des Dämons plötzlich erstarrten – und die Schwerkraft ihren Tribut forderte. Krachend war der Fledermaus-Dämon in einem Gebüsch im Garten des Hauses gelandet. Im selben Augenblick, indem er sich das Genick gebrochen hatte, war der Angreifer auch schon zu Staub zerfallen. Zum Glück – darüber waren sich die drei Zauberhaften und Leo einig gewesen – lockte diese Hitzewelle nicht gerade die intelligentesten Dämonen an. Trotzdem war es kein Vergnügen, fast das ganze Wochenende gegen eine Dämonenplage kämpfen zu müssen. Aber fürs Erste war der Stress der letzten Tage vergessen. Phoebe und Paige spazierten durch das Tenderloin-Viertel, die etwas schmuddlige Amüsiermeile der Stadt. Normalerweise wimmelte es hier von Touristen, die die etwas verruchtere Seite San Franciscos kennen lernen wollten. Aber die Hitzewelle legte selbst den Touristenstrom lahm. Die Straßen waren zwar nicht gerade ausgestorben, aber erheblich leerer als sonst.
Umso besser. Andy, der Regisseur von ›Scream X-Treme‹ hatte gestern, am Sonntagabend, noch einmal angerufen und den beiden Schwestern den Drehort für die nächsten Aufnahmen mitgeteilt. Diesmal war wieder ein Außendreh an der Reihe, und wie immer in solchen Fällen würde er ohne Genehmigung auf offener Straße stattfinden. Guerilla-Filmen eben! Phoebe erinnerte sich grinsend an ihre erste Begegnung mit dem Filmteam, als sie bei einer ähnlichen Aktion die ferngesteuerte Mumie zertrümmert hatte. Die Mumie … Phoebe stutzte. Etwas in ihrem Unterbewusstsein machte Klick. Aber die junge Hexe kam nicht darauf, was es war. Irgendetwas hatte mit der unheimlichen Mordserie zu tun, mit der ihr Freund Darryl Morris betreut war. Aber was? Paige riss ihre Halbschwester aus den Gedanken. »Hey, da vorne ist Andy!« Phoebe blickte auf. Tatsächlich. In einem dunklen Hauseingang stand der Regisseur von › Scream X-Treme‹, blickte sich misstrauisch nach allen Seiten um und winkte die beiden Schwestern dann heran. Er trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem der Schriftzug ›Scream XTreme‹ in blutigen Lettern aufgedruckt war. »Paige, Phoebe, da seid ihr ja«, begrüßte er sie und grinste. »Wir legen gleich los.« Paige deutete auf das T-Shirt. »Cooles Teil, Andy.« »Was? Oh, das T-Shirt. Ja, wir haben einen Sponsor gefunden, der uns die Dinger bezahlt. Solche T-Shirts für die Crew sind normal bei Filmproduktionen. Ich habe für euch auch noch welche. Ich gebe sie euch nachher – und hebt sie gut auf. Die Dinger können einen ziemlich hohen Sammlerwert unter den Fans erzielen.« »Oh, ich werde mich von meinem niemals trennen«, gurrte Paige. »Vorausgesetzt, der Regisseur des Films verewigt sich darauf mit einem Autogramm.« »Darüber lässt sich reden«, grinste Andy. Phoebe verdrehte die Augen. War sie auch so peinlich beim Flirten?
»Wolltet ihr nicht mit dem Dreh anfangen, Andy?«, fragte sie schließlich. Der Jungregisseur räusperte sich. »Oh, sicher. Wir warten nur noch ein paar Minuten auf das richtige Licht der Abendsonne. Kommt mit, wir drehen wieder in einer Seitengasse.« Andy bedeutete den beiden Schwestern, ihm zu folgen. Die drei bogen in eine kleine Nebenstraße ein, in der der Rest des Teams schon versammelt war. Tatsächlich trugen sie alle stolz die schwarzen TShirts mit dem ›Scream X-Treme‹- Aufdruck. Pete, der etwas füllige Kameramann, sah darin ein wenig wie eine Presswurst aus. »Hey, XXL gab es leider nicht«, grinste Pete, als er die amüsierten Blicke der beiden Schwestern bemerkte. »Aber mir ist es lieber, das Shirt spannt sich ein bisschen über meinem Astralkörper, als das es so herumschlottert wie an dieser Bohnenstange hier.« Mit einem breiten Grinsen deutete er auf seinen hageren TonAssistenten, dem sein persönliches T-Shirt tatsächlich ein paar Nummern zu weit war. Eine scharfe Stimme durchschnitt plötzlich die Luft. »Ist das hier eine Modenschau, oder können wir endlich mal anfangen? Im Gegensatz zu euch habe ich nämlich auch noch ein Privatleben.« Phoebe und Paige blickten sich um. Hinter ihnen stand Virginia Fontaine, geborene Pilfinger, und blickte sich abschätzig um. »Schon wieder eine schmutzige Gasse. Gott, bin ich froh, wenn ich diesen Alptraum-Job hinter mir habe.« »Virginia. Schön, dass du auch noch kommst«, grüßte Andy und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. Die Schauspielerin gab ein missbilligendes ›Pfft‹ von sich. »Wieso? Hättest du meine Rolle sonst an eine dieser beiden … Schulmädchen vergeben?«, fragte sie und blickte die beiden Halliwell-Schwestern dabei an. Ihr Blick war genauso abfällig wie ihr Tonfall. »Rede keinen Unsinn, Virginia«, antwortete Andy nur. »Du bist unser Star, keine Frage.«
»Allerdings«, zischte die Schauspielerin. »Und vergiss nicht, dass mein Verlobter auch der Hauptsponsor für deinen kleinen Film ist, Andy«, fügte sie hinzu. Die Drohung in diesem Satz war nicht zu überhören. Andy ging nicht darauf ein, sondern blickte nur nach oben. »Das Licht ist jetzt genau richtig, würde ich sagen. Pete, was meinst du?« Der Kameramann antwortete nur mit einer Geste: Perfekt. »Schön, dann lasst uns anfangen, bevor die Anwohner wieder die Polizei informieren. Virginia, du weißt, was du zu tun hast. Tim, bist du auch so weit?« Tim Sorvino, der Mann für die Spezialeffekte, trat aus dem Schatten einer Hauswand. Phoebe und Paige hatten ihn bis zu diesem Moment gar nicht bemerkt. In seinen Armen hielt er die Puppe des kleinen Werwolfs. »Von mir aus kann es losgehen«, erwiderte Tim. Dann warf er noch einen bösen Blick auf Phoebe. »Und denk daran«, sagte er zu ihr, »das hier ist eine Puppe. Eine sehr teure Puppe, in der eine Menge Arbeit steckt. Es wäre nett, wenn du sie diesmal nicht zertrümmern würdest.« »Keine Sorge«, antwortete Phoebe mit einem gespielten Lächeln. »Diesmal weiß ich ja Bescheid.« »Okay, Leute, dann mal los.« Andy stellte sich auf einen kleinen Treppenaufsatz, von dem aus er einen besseren Überblick über die ganze Szene hatte. »Virginia, du läufst einfach die Gasse hinunter und wirst dabei von dem kleinen Werwolf verfolgt. Tim, deine Puppe läuft hinter Virginia her, und wenn sie etwa da drüben an den Mülltonnen angekommen ist, lässt du deinen kleinen Liebling sie anspringen, okay?« »Kein Problem«, antwortete Sorvino. »Gut. Und Virginia – denk bitte daran, dass du in dieser Szene am Fuß verletzt bist und nicht mehr schnell laufen kannst. Sonst hat die Puppe überhaupt keine Chance, dich einzuholen.« »Andy, rede nicht mit mir, als wäre ich eine Idiotin«, zischte Virginia. »Ich bin ein Profi, okay?«
Pete, der Kameramann, grunzte auf. »Eine Professionelle vielleicht …« Bevor sich die Schauspielerin und der Kameramann wieder in die Haare bekommen konnten, gab Andy das Signal zum Start. »Ton ab!« »Ton läuft!« »Kamera ab!« »Kamera läuft!« »Uuuund … Action!« Gebannt beobachteten Phoebe und Paige, wie Virginia humpelnd losrannte, direkt auf die Mülltonnen am Ende der Gasse zu. Hinter ihr flitzte die Werwolf-Puppe mit erstaunlich schnellen Schritten über den Asphalt. Irgendetwas an dieser Szene ließ es in Phoebes Hirn wieder Klick machen. Wenn sie nur darauf käme, an was sie das Ganze erinnerte. Paige blickte in diesem Augenblick auf Tim Sorvino. Der blasse junge Mann stand ein paar Schritte neben Andy und steuerte die Puppe mit einer umgehängten Fernbedienung. Der Regisseur selber stand auf dem Treppenabsatz und beobachtete die Szene. Sein Blick spiegelte Konzentration wider, doch gleichzeitig schien er auch weggetreten zu sein. Paige fand es faszinierend, wie sehr Andy offensichtlich in seiner Aufgabe aufging. Der junge Mann wirkte, als habe er die ganze Welt um sich herum vergessen. Wahrscheinlich machte gerade diese Hingabe einen guten Regisseur aus. Paige fuhr erschrocken herum, als aus dem Ende der Gasse ein Schrei ertönte. Sie sah gerade noch, wie Virginia Fontaine zu Boden ging. Der Sturz sah echt aus. Zu echt für Paiges Geschmack – und für Virginias Schauspielkunst. Die beiden Schwestern rannten los. Andy erwachte aus seiner Erstarrung. Paige konnte hören, wie seine Schritte direkt hinter ihr über den Asphalt hallten.
»Virginia, alles in Ordnung bei Ihnen?«, rief Phoebe, noch bevor sie die Schauspielerin erreicht hatte. »Gar nichts ist in Ordnung«, zischte Virginia Fontaine und presste die Hand auf die linke Wade. »Was ist denn passiert?«, fragte Andy besorgt und hielt der Schauspielerin die Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Virginia schlug seine Hand nur barsch weg. »Lass mich in Ruhe, verdammt. Diese blöde Puppe hat mich gekratzt!« »Was? Lass doch mal sehen«, erwiderte Andy kopfschüttelnd. Einen halben Meter hinter Virginia stand immer noch die Werwolf-Puppe und ließ ihre Klauen in einer monotonen, mechanischen Bewegung durch die Luft sausen. Offenbar hatte sie einen Kurzschluss. Seltsam, dachte Phoebe, vor ein paar Sekunden hatte sich diese Puppe doch noch so lebensecht bewegt. Widerstrebend nahm Virginia ihre Hand vom Wadenbein. Ein kleiner, kaum blutender Kratzer kam darunter zum Vorschein. Selbst ein Schulkind würde diese Mini-Verletzung mit einem Schulterzucken wegstecken, aber Virginia stellte sich an, als hätte ihr die Puppe das halbe Bein weggesäbelt. »Wenn auch nur die kleinste Narbe zurückbleibt, werde ich euch verklagen, darauf könnt ihr Gift nehmen!«, keifte die Schauspielerin. Mühsam stand sie auf und verzog das Gesicht wie jemand, der große Schmerzen hat. Es gelang ihr nicht besonders gut. Ihr größtes Talent trägt sie eben in der Bluse, dachte Paige. In diesem Augenblick kam Tim Sorvino angelaufen. Er hielt noch immer die Fernbedienung in der Hand. »Was war denn los?«, fragte er. »Das fragst du noch, du Idiot?« Virginia war außer sich. »Deine dämliche Puppe hat mich verletzt! Das war los! Wenn sich das herumspricht, kannst du dir einen neuen Job suchen und PappmachéMonster für eine Geisterbahn zusammenklatschen!«
Sorvino schüttelte den Kopf. »Ich … ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte«, stotterte er. Der junge Mann schien noch blasser zu sein als sonst. »Jetzt schalte erst mal diese dämliche Puppe ab!«, rief Andy. Auch er schien mittlerweile kurz vor dem Explodieren zu sein. Sorvino schluckte und legte einen Hebel auf der Fernsteuerung um. Im nächsten Augenblick erstarrte die Puppe mitten in der Bewegung. Wie zum Schutz, griff Sorvino nach der Puppe und nahm sie in den Arm. »Verdammt, tut das weh«, jammerte Virginia nicht sehr überzeugend. »Ruft mir sofort ein Taxi! Ich will nach Hause! Und eins sage ich dir, Andy: Mein Verlobter wird nicht sehr erfreut darüber sein, dass er Dreharbeiten finanziert, bei denen ich wegen eurer Unfähigkeit verunstaltet werde! Passt nur auf, dass er euch den Geldhahn nicht zudreht!« »Soll das eine Drohung zusammengekniffenen Augen.
sein?«,
fragte
Andy
mit
»Nein, ein Versprechen!«, knurrte Virginia. Dann humpelte sie übertrieben theatralisch Richtung Hauptstraße. »Und ruft mir endlich das verdammte Taxi!« Andy seufzte auf. »Das hätte nicht passieren dürfen«, murmelte er. »Halb so wild«, schniefte Pete, der Kameramann, als Virginia außer Hörweite war. »Ich habe alles auf Film und ich kann dir versichern, dass Virginia noch nie so gut gespielt hat wie in diesem Augenblick. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als Tims kleines Monster sie tatsächlich angefallen hat. Man hätte meinen können, sie wäre eine echte Schauspielerin. Außerdem haben wir doch eh fast alles abgedreht. Und für die große Kampfszene in der Disko brauchen wir im Grunde nur das Stunt-Double.« Andy nickte. »Stimmt, da hast du Recht. Zum Glück drehen wir nicht chronologisch.« »Chronologisch?«, fragte Paige interessiert nach. Pete antwortete an Andys Stelle. Der Kameramann schien der Einzige zu sein, an dem Virginias Launen einfach so abperlten. »Na ja, kaum ein Film wird in der Reihenfolge gedreht, in der man in
nachher auf der Leinwand sieht. Meistens dreht man den Mittelteil sogar zuerst, weil da die Aufmerksamkeit des Publikums erfahrungsgemäß am geringsten ist.« »Das verstehe ich nicht«, erwiderte Paige. »Warum das?« »Weil auch die Schauspieler immer ein paar Tage brauchen, um in ihre Rollen hineinzufinden. Und das Team braucht auch etwas Zeit, bis das Zusammenspiel aller Beteiligten stimmt. Und wenn das Ganze zunächst noch etwas holprig ist …« »… fällt es dem Publikum im Mittelteil des Films am wenigsten auf, weil dann sowieso keiner mehr so genau hinsieht.« »Exakt.« Pete nickte zufrieden und grinste Paige an, wie ein Lehrer seine Musterschülerin. »Du hast es erfasst.« Dann fuhr er mit seiner Erklärung fort und blickte dabei auch auf Andy. »Selbst wenn Virginia-Superstar ihre Rolle schmeißt, können wir die Kampfszene im Nachtclub auch mit dem Stand-Double drehen. Zur Not kopieren wir ihr Gesicht digital hinein.« Andy nickte. »Wirklich? Das geht?« Pete zuckte mit den Schultern. »Klar, das ist heutzutage kein Problem mehr. »Bei Gladiator haben sie das auch so gemacht, als Oliver Reed während der Dreharbeiten gestorben ist. Oder schon Jahre früher, bei The Crow – ihr wisst schon, als Brandon Lee, der Hauptdarsteller, während einer Kampfszene versehentlich mit einer echten Pistole erschossen wurde?« »Ja, solche Dinge passieren«, murmelte Andy und nickte. »Wow, hast du das gehört?«, fragte Paige und blickte sich nach ihrer Schwester um. Phoebe stand ein paar Schritte weiter entfernt und rieb sich nachdenklich das Kinn. Paige kannte ihre Halbschwester lange genug, um zu erkennen, dass Phoebe irgendetwas ausbrütete. »Entschuldigt mich einen Moment«, sagte sie zu Andy und Pete und ging zu ihrer Schwester herüber. »Phoebe, alles in Ordnung bei dir? Was ist denn los?«, flüsterte Paige.
Phoebe blickte ihre Schwester an. »Mir spukte die ganze Zeit schon irgendetwas im Kopf herum«, erwiderte Phoebe leise. »Und nach Virginias kleinem Auftritt gerade bin ich endlich dahinter gekommen, was es ist.« »Ach, ja? Was denn?« »Ich glaube, Paige«, sagte Phoebe mit einem unauffälligen Seitenblick auf Tim Sorvino, »ich weiß jetzt, wie die drei Morde der letzten Tage begangen wurden.«
19 PIPER
HALLIWELL STAND AUF der Bühne des P3 und seufzte. Von hier oben hatte man den besten Blick auf das Lokal. Montag war Ruhetag im P3 und der große Raum deshalb menschenleer – ein ungewöhnlicher Anblick, denn normalerweise war der Club immer gut gefüllt. »Auf was habe ich mich da nur eingelassen?«, murmelte sie und schüttelte den Kopf. Leo stand neben ihr und unterdrückte mühsam sein Grinsen. »Denk immer an die Promotion, Piper. Und du tust deiner kleinen Schwester damit einen riesigen Gefallen. Sie war ja ganz wild darauf, ein paar Pluspunkte bei diesem Jungregisseur zu sammeln.« »Das mag ja sein, aber bei mir wird sie Minuspunkte sammeln, wenn sich dieses Filmteam hier nicht anständig benimmt.« Piper machte eine weit ausholende Geste. »Leo, du glaubst ja gar nicht, wie viel Arbeit es mich gekostet hat, mit diesem Club Erfolg zu haben. Den Gästen sitzt das Geld nicht so locker in der Tasche. Man muss sich schon etwas einfallen lassen, um sie regelmäßig hierher zu locken. Gutes Essen, coole Drinks, gute Live-Bands … und ein stimmungsvolles Ambiente. Schau dich nur um – die neue Einrichtung ist noch längst nicht abbezahlt. Ich habe einfach Angst, dass dieses Filmteam hier ein Chaos zurücklässt. Was nützt es mir, wenn das P3 durch den Kinofilm weltbekannt wird – und davon nur noch ein Trümmerhaufen übrig bleibt?« Leo trat noch einen Schritt näher an seine Frau heran und legte ihr einen Arm um die Schulter. Trotz aller Sorgen war nicht zu überhören, wie stolz sie auf das P3 war. Und das zu recht. Trotz der angespannten Wirtschaftslage florierte der Club wie kaum ein anderer in der Stadt. Und das, obwohl Piper als inoffizielles neues Oberhaupt der drei Zauberhaften sich auch noch um andere Dinge kümmern musste. Manchmal fragte Leo sich, wie Piper diese Doppelbelastung überhaupt bewältigte. Dann merkte er, wie stolz auch er auf seine Frau war.
»Was meinst du, Leo«, fragte Piper, »sollte ich die Aschenbecher vielleicht auf den Tischen festkleben, bevor die Dreharbeiten beginnen? Vorsichtshalber?« Leo lachte auf. »Na, ich glaube, jetzt übertreibst du aber, Piper. So schlimm wird es schon nicht werden.« »Na, das sagst du. Ich habe einfach Angst, dass das Ganze in einer Katastrophe endet. Erinnerst du dich noch an diese Boy-Band, die Phoebe damals angeschleppt hat?« Leo erschauerte. »Die ›Nature Sons‹? Wie könnte ich die vergessen!« Piper hatte nicht Unrecht. Erst vor ein paar Wochen war eine dämonische Pop-Band im P3 aufgetreten und hatte die Zuschauer erst hypnotisiert und ihnen dann die Lebensenergie ausgesogen. Eine gruselige Geschichte, das musste Leo zugeben. »Ich will nur nicht, dass mir jetzt auch noch Paige irgendwelche Dämonen ins Haus holt.« Leo zuckte mit den Schultern. »Na ja, gleiches Recht für alle …« Piper gab ihrem Ehemann einen sanften Stoß in die Rippen. »Sehr witzig. Aber mach dir eins klar, mein Lieber: Wenn hier irgendjemand im P3 randaliert, dann weißt du ja, wen ich für die Aufräumungsarbeiten in die Pflicht nehmen werde.« »Nicht schon wieder!«, stöhnte Leo. »Machen Sie bald mal Feierabend, Detective«, sagte Rita, die Schreibkraft des Morddezernates, und lächelte Darryl Morris von der Türschwelle aus an. Darryl zwang sich, von seinen Aktenunterlagen aufzuschauen und Rita ebenfalls ein Lächeln zu schenken. »Das mache ich, Rita. Schönen Abend!« Die beiden wussten, dass dies eine glatte Lüge war. Darryl würde noch bis spät in die Nacht über den Berichten der drei Morde schwitzen.
»Danke, Detective«, erwiderte die junge Frau trotzdem und verließ das Büro. Vom wachhabenden Officer der Nachtschicht einmal abgesehen, war Darryl jetzt der letzte Mann im Polizeipräsidium. Trotz der schwülen Abendhitze goss er sich noch eine Tasse Kaffee ein. In den letzten drei Nächten hatte er kaum geschlafen. Und selbst wenn er einmal die Zeit und die Ruhe gefunden hatte, kurz die Augen zu schließen, hatte er von den Morden geträumt. Und von Doktor Nyang, der ihm immer wieder neue Rätsel aufgab. In seinen Alpträumen nahm Nyang die Gestalt eines dämonischen Dr. FuManchus an, der am Ende nur noch in Rätseln sprach. Darryl schreckte aus seinen Gedanken hoch, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Ein Anruf zu dieser Stunde – das konnte nur zweierlei bedeuten: Einen neuen Mord oder eine neue Drohung des Bürgermeisters. Darryl wusste nicht, was schlimmer war. Er räusperte sich, holte tief Luft und hob dann den Hörer ab. »Detective Morris, Mordkommission?« Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Darryl die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte. Es war Phoebe Halliwell. »Phoebe!«, sagte der Detective erleichtert. Er war froh, dass seine Befürchtungen nicht bestätigt wurden. Und dann keimte neue Hoffnung in ihm auf. Vielleicht hatten die drei Zauberhaften in ihrem mysteriösen Buch der Schatten ja doch einen Hinweis auf den Mörder gefunden. »Was gibt's denn?«, fragte Darryl. »Habt ihr etwas herausgefunden? Sagt mir nicht, dass irgendein Dämon hinter den Morden steckt …« Am anderen Ende der Leitung druckste Phoebe herum. »Na ja, nicht direkt ein Dämon – eher ein Monster. Oder genauer gesagt, drei Monster. Aber auch keine richtigen, sondern …« Obwohl Phoebe es durch das Telefon natürlich nicht sehen konnte, hob Darryl abwehrend die freie Hand. »Phoebe, nun mal langsam. Ich verstehe gar nichts mehr. Wie war's, wenn du mal von Anfang an beginnen würdest?«
Darryl hörte geduldig zu, wie Phoebe ihm von ihrer Begegnung mit dem Filmteam erzählte. Hier und da meldete sich Paige mit Zwischenrufen aus dem Hintergrund zu Wort. Zwei Minuten später war Darryl im Bilde – zumindest, was die Geschichte mit dem Filmteam betraf. »Okay, Phoebe«, sagte er in den Hörer, »über die Sache mit dem Drehen ohne Genehmigung solltest du mir vielleicht nicht zu viel erzählen. Aber was hat das Ganze mit den Morden zu tun?« »Na, zähl doch mal eins und eins zusammen, Darryl«, erwiderte Phoebe. »Das erste Mordopfer wurde doch erstochen, oder? Mit einem Skalpell, wie ihr vermutet.« Darryl nickte. »Mmh«, bestätigte er. »Und das zweite wurde in seinem Wagen erwürgt. Und ihr wisst nicht, wie der Täter sich im Auto verstecken konnte, oder?« »Auch richtig«, murmelte Darryl. Er hatte noch nicht ganz herausgefunden, auf was Phoebe hinauswollte, aber er konnte fast spüren, wie die Rädchen in seinem Gehirn zu rotieren begannen. Irgendetwas fing an, sich zusammenzufügen … »Und die ermordete Frau von gestern – du hast uns am Telefon davon erzählt … sie wurde völlig blutleer aufgefunden. Direkt vor diesem Spiegel, in dem sie den Täter eigentlich hätte sehen müssen …« »Wieder richtig«, nickte Darryl. Dann traf es ihn wie ein Hammerschlag. Natürlich kannte auch er die Geschichten und Legenden von Vampiren, die kein Spiegelbild warfen. Aber in diesem Fall ging es nicht um einen echten Vampir. Der Täter hatte sich bei seinem dritten Mord nicht deshalb unbemerkt an sein Opfer heranschleichen können, weil er kein Spiegelbild besaß – sondern weil er zu klein war! Wie eine Vampir-Puppe! »Warte mal, Phoebe, du meinst … diese Morde wurden mit den Puppen der Filmmonster begangen? Das ist nicht dein Ernst, oder?!« »Warum denn nicht, Darryl? Das sind keine einfachen Puppen, sondern … wie war der Name doch gleich? ›Animatronics‹, eine Art
ferngesteuerte Roboter. Wir haben diese Dinger bei den Dreharbeiten in Aktion gesehen. Du würdest nicht glauben, wie lebensecht sich diese kleinen Ungeheuer bewegen. Und alles passt perfekt, überleg doch mal … der erste Mord im Park wurde nicht mit einem Skalpell begangen, sondern mit den kleinen Messern der Ripper-Figur …« »… und der Mord an dem Comic-Händler mit der Mumien-Figur. Deshalb konnte sich der Täter auch in dem voll bepackten Auto verstecken. Wahrscheinlich hat die Mumie den armen Kerl mit einer ihrer eigenen Bandagen erwürgt. Das erklärt auch den Staub, der in dem Auto gefunden wurde. Laut Laborbericht besteht er aus einer künstlichen Substanz, wie sie im Theater verwendet wird. Oder beim Film.« »Genau. Und der jüngste Mord wurde mit der Dracula-Figur begangen. Ich vermute, Sorvino hat eine Art kleines Pumpsystem in die Zähne des Vampirs eingebaut.« »Wer zum Teufel ist Sorvino?«, fragte Darryl in den Hörer. »Tim Sorvino. Der Konstrukteur der Figuren. Und unser Hauptverdächtiger, würde ich sagen.« »Wie kommst du darauf?« »Na ja, er hat diese kleinen Monster gebaut. Und ich vermute mal, dass keiner sie so gut steuern kann, wie er.« Darryl dachte kurz nach. »Das ist aber nur ein Verdacht, Phoebe«, antwortete er dann. »Selbst wenn diese Puppen tatsächlich als Mordwerkzeuge benutzt wurden, dürfte es schwer sein, diesem Sorvino etwas nachzuweisen. Ohne Motiv.« »Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Phoebe etwas enttäuscht. »Ich sage euch was«, erwiderte Darryl. »Ich versuche herauszufinden, ob Sorvino in irgendeiner Beziehung zu den Mordopfern steht, und dann sehen wir weite r. Und tut mir einen Gefallen – behaltet eure Theorie bitte vorerst für euch. Ich fürchte, der Bürgermeister reißt mir den Kopf ab, wenn ich behaupte, dass der Ripper, die Mumie und Klein-Dracula die Morde begangen haben. Das glaubt mir doch kein Mensch.« »Schon klar, Darryl«, lachte Phoebe auf. »Ich würde es auch nicht glauben, wenn ich es nicht gesehen hätte, wie die durchgedrehte
Werwolf-Puppe sich heute auf Virginia Fontaine gestürzt hat. Dadurch bin ich ja überhaupt erst auf die ganze Sache gekommen.« »Sehr schön«, sagte Darryl, »vielen Dank für deine Hilfe, Phoebe. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß. Und noch etwas …« »Was denn, Darryl?« »Unternehmt bitte nichts auf eigene Faust, bis ich etwas über diesen Sorvino herausgefunden habe, okay?« Phoebe grinste. »Aber Darryl, das würden wir doch niemals tun«, sprach sie in den Hörer. Dann drückte sie den ›Aus‹-Schalter ihres Handys. »Und nun?«, fragte Paige und blickte ihre Schwester mit großen Augen an. »Was machen wir jetzt?« »Jetzt nehmen wir Tim Sorvino unter die Lupe!«
20 GLAUBST DU, DASS DAS WIRKLICH eine gute Idee ist?«, fragte Paige etwas ängstlich. Das alte Lagerhaus am Pier 17 leuchtete im bleichen Licht des Vollmondes. »Klar, – was soll schon passieren?«, erwiderte Phoebe und steuerte ihren Pick-up um die Lagerhalle herum. Das gesamte Gelände war zwar um diese Uhrzeit menschenleer, aber es wäre vielleicht doch etwas zu auffällig gewesen, den Wagen direkt vor dem Eingang zu parken. »Wir gehen einfach kurz rein, sehen uns Sorvinos Bastelstube an und versuchen, etwas herauszubekommen.« Paige nickte, aber ganz so überzeugt wirkte sie noch nicht. Phoebe dagegen war zuversichtlich: Sie wusste, dass Sorvino seine Puppen im Abstellraum des Lagerhauses aufbewahrte. Schließlich hatte sie die fünf kleinen Monster erst neulich in ihren kleinen Holzsärgen dort liegen sehen. Damals war sie von Sorvino überrascht worden, aber heute würde das ganz sicher nicht passieren. »Ich glaube nicht, dass Darryl mit dem einverstanden ist, was wir hier machen«, startete Paige einen letzten Versuch. »Was der Detective nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, antwortete Phoebe nur und stoppte den Wagen. Hier im Industriegebiet war es totenstill. Irgendwo, draußen auf dem Meer, ertönte das Klagen einer Schiffsirene, das war alles. Paige blickte nervös auf die alte Lagerhalle. Das silberne Mondlicht hatte sie in ein Licht getaucht, das Paige aus den alten Schwarzweißfilmen kannte. Wäre das Gebäude vor ihr ein altes Schloss gewesen – hätte es nicht unheimlicher wirken können. Und die Vorstellung, dass da drinnen ein paar puppengroße Filmmonster in ihren Holzkisten lagen, machte die ganze Sache auch nicht einfacher. Immerhin waren diese Figuren wahrscheinlich als Mordwaffe benutzt worden!
Phoebe spürte, dass ihrer Schwester nicht wohl zu Mute war. »Nun mach dir mal nicht ins Hemd, Paige, würde Bart Simpson jetzt sagen. Wir orben nur kurz rein, sehen uns etwas um und verschwinden wieder. Im Handumdrehen ist die Sache erledigt.« »Ich weiß nicht, Phoebe«, antwortete Paige und sah sich nervös um. »Das sind genau die Sätze, die exakt von denen im Horrorfilm gesagt werden, die kurz danach sterben.« Phoebe lachte auf. Aber sie musste zugeben, dass ihre Schwester sie langsam nervös machte. Am besten, sie brachten die ganze Geschichte hinter sich, bevor sie selbst der Mut verließ. Gemeinsam traten die beiden Schwestern an die Lagerhalle heran. Phoebe griff nach Paiges Hand – nicht nur, um ihr Mut zu machen, sondern auch, damit Paige sie gemeinsam in das Gebäude teleportieren konnte. »Bist du so weit?«, fragte Phoebe. »Von mir aus kann's losgehen – wenn's unbedingt sein muss.« Paige schloss kurz die Augen und konzentrierte sich. Eine Sekunde später schimmerten die beiden Hexen kurz auf – dann waren sie verschwunden. Danach tauchten sie im Inneren der Halle wieder auf. Für ein oder zwei Sekunden waren Phoebe und Paige orientierungslos. Draußen war es durch das Mondlicht relativ hell gewesen, jetzt brauchten ihre Augen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Zum Glück brannten über Haupteingang und Notausgang zwei Glühbirnen als Notbeleuchtung. Sie tauchten das Innere der Halle in ein fahles, blutrotes Licht. Auf der kleinen Bühne in der Mitte der Halle stand noch immer der Voodoo-Altar vom Vortag. Für einen kurzen Moment kamen sich Phoebe und Paige vor, als wären sie in eine dem Bösen geweihte Kirche eingedrungen. Unabhängig voneinander mussten sich beide innerlich daran erinnern, dass dies hier nur ein Filmset war. »Gruselig«, hauchte Paige schließlich. »So verlassen, wie es jetzt ist, wirkt das Set noch viel echter als gestern.«
»Das liegt nur daran, dass wir jetzt allein hier sind«, flüsterte Phoebe. Eigentlich gab es keinen Grund, so leise zu sprechen, aber hier drinnen ergab sich das von selbst. Die beiden jungen Hexen mussten sich an dem falschen Altar vorbeischleichen, um zu dem Lagerraum zu gelangen, in dem hoffentlich die Puppen aufbewahrt wurden. Schaudernd erinnerte sich Phoebe daran, wie dieser alte Filmregisseur – Gustav Landreau – gestern hinter dem Altar gestanden und ein paar Beschwörungsformeln gemurmelt hatte. Sogar die halb abgebrannten Kerzen standen noch auf der Bühne. Neun Stück – sie wunderte sich noch jetzt darüber, warum Landreau sich so gut mit der Magie der Zahlen auskannte. Die meisten Leute hatten so etwas wie eine ganz persönliche Glückszahl, aber kaum ein Normalsterblicher ahnte, welche magische Macht den Zahlen tatsächlich innewohnte. Nicht umsonst waren sie und ihre Schwestern mit der Macht der Drei ausgestattet. Aber Landreau wusste anscheinend sehr genau über diese spezielle Art der Magie Bescheid. Phoebe fragte sich, welche Geheimnisse dem alten Mann noch bekannt waren. Paiges Stimme riss Phoebe aus ihren Gedanken. »Wo ist denn nun dieser Abstellraum?«, fragte sie leise. Phoebe deutete auf eine kleine Tür am hinteren Ende der Halle. »Da vorn.« Nach ein paar Schritten hatten die beiden Schwestern die Tür erreicht. Zum Glück war sie nicht abgeschlossen. Vorsichtig trat Phoebe ein. Paige folgte ihr zögernd. Das Licht der Notbeleuchtung aus der Haupthalle drang nur schwach in diesen Raum. Trotzdem konnte Phoebe in der Mitte des Abstellraumes fünf kleine, rechteckige Kisten erkennen. Die Holzkisten mit den Monster-Puppen. Im dämmrigen Rotlicht sahen die kleinen Holzboxen noch unheimlicher aus als beim ersten Mal. Phoebe hörte, wie auch Paige hinter ihr aufkeuchte. »Das ist ja echt makaber«, flüsterte sie. »Die Dinger sehen ja aus wie kleine Särge.«
Phoebe nickte nur. Genau dasselbe hatte sie auch gedacht, als sie die Kisten zum ersten Mal gesehen hatte. Doch diesmal waren die Boxen verschlossen. An den Seiten war jeweils ein kleines Vorhängeschloss angebracht. Natürlich wäre es leicht gewesen, die Schlösser zu knacken, Paiges telekinetische Kräfte hätten dafür sicher ausgereicht. Doch Sorvino musste ja nicht unbedingt wissen, dass man ihm auf der Spur war. Also nahm Phoebe die erste Kiste hoch und rüttelte vorsichtig daran. »Was machst du denn da?«, fragte Paige erstaunt. »Ich will nur wissen, ob alle Puppen in ihren Kisten sind«, antwortete Phoebe. »Bis jetzt hat es in jeder Nacht einen Mord gegeben, an dem jeweils eine der Puppen beteiligt war.« Paige schluckte. »Du meinst, dieser Verrückte steuert heute wieder eine seiner Kreaturen durch die Nacht und sucht nach einem neuen Opfer?« »Ich will es nicht hoffen, Paige. Aber das lässt sich relativ leicht herausbekommen. Wenn die Püppchen alle in ihrem kleinen Zuhause sind, kann heute Nacht nicht viel passieren. Wenn eine fehlt …« »Verstehe«, murmelte Paige. »Warte, ich helfe dir.« Einen Augenblick später knieten beide Hexen auf dem Boden und rüttelten an den Kisten wie an überdimensionalen Überraschungseiern. Ein leichtes Klackern verriet ihnen, ob eine Figur in ihrer Kiste war oder nicht. Bis jetzt schien keine Figur zu fehlen. »Oh-Oh«, sagte Phoebe, als sie an der vorletzten Box angekommen waren. Sie rüttelte vorsichtig an der Box, aber es war nichts zu hören. »Bingo!«, flüsterte sie dann. »Die hier ist leer!« »Oh, je«, sagte Paige. Sie wusste, was das bedeutete. »Wenn wir nur wüssten, welche das ist …« Phoebe zuckte mit den Schultern. Leider war das nicht so einfach herauszubekommen. Die Kisten waren allesamt verschlossen, auch die leere, die Phoebe noch immer in der Hand hielt. »Das lässt sich wohl nicht herausfinden, ohne die Kisten zu öffnen – und uns damit zu verraten.«
»Aber wir müssen doch irgendetwas …« Paige kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Ein rostiges Quietschen hallte durch das alte Lagerhaus. Jemand zog die Schiebetür des Haupteinganges auf. »Was jetzt? Soll ich uns hinausteleportieren?«, flüsterte Paige. Phoebe dachte fieberhaft nach. Wenn Paige ihre Teleportationskräfte einsetzte, brachte sie die Luft um sich herum zum Glühen, bevor sie sich vollständig auflöste. In dem dämmrigen Licht der Notbeleuchtung würde der Neuankömmling diesen Lichtblitz sicherlich bemerken – auch wenn er nur aus dem Nebenraum kam. Eine Teleportation würde die beiden zwar in Sicherheit bringen, aber den Fremden gleichzeitig warnen. Sie blickte sich um. In der Ecke des Raumes standen zwei Metallspinde, in der früher sicherlich einmal die Privatsachen der Lagerarbeiter aufbewahrt wurden. »Ich bin dafür, es erst einmal auf die altmodische Art zu versuchen«, flüsterte Phoebe und deutete auf die beiden Schränke. »Los, beeil dich!« Paige nickte. Wohl war ihr nicht in ihrer Haut, aber wenn es brenzlig wurde, konnte sie sich und Phoebe ja immer noch in Sicherheit teleportieren. Wie zwei Schatten huschten Phoebe und Paige in die Spinde. Die beiden Stahlschränke waren zwar sehr eng, aber zum Glück hoch genug. Und noch immer gut geölt. Die beiden Hexen schafften es, die Türen vorsichtig zuzuziehen, ohne dass die Scharniere quietschten. Keine Sekunde zu früh. Kaum hatte Phoebe die Metalltür geschlossen, hörte sie, wie jemand den Raum betrat und dann stehen blieb. Ein Nachteil hatte dieses Versteck – sie konnte nicht sehen, was um sie herum passierte. Phoebe wagte es nicht, die Tür auch nur einen Spalt breit zu öffnen. In dem kleinen Raum war die Gefahr, entdeckt zu werden, einfach zu groß. Also musste sie sich auf ihre anderen Sinne verlassen.
Phoebe hörte, wie der Fremde stehen blieb. Wahrscheinlich brauchte auch er ein paar Sekunden, um sich an die Dunkelheit in dem kleinen Raum zu gewöhnen. Dann hörte Phoebe ein metallisches, helles Geräusch. Ein Schlüsselbund. Sekunden später ertönte ein leises Knirschen und dann das Geräusch eines aufschnappenden Schlosses. Wer immer der Fremde im Raum war, er hatte offensichtlich einen Schlüssel für die Holzkisten, in denen die Monster-Puppen lagen. War es Sorvino? Phoebe schluckte leise. Das Geräusch der sich öffnenden Schlösser wiederholte sich. Zweimal … dreimal … viermal … dann keuchte der Fremde auf. Er musste an der leeren Box angelangt sein. Scheinbar war er über irgendetwas erstaunt. »Das geht zu weit«, zischte der Unbekannte zu sich selbst. »Dieser verdammte Idiot … er hat keine Ahnung, was er da tut!« Phoebe zuckte zusammen, als der Fremde den Deckel der leeren Holzkiste wieder zuschlug. Das Geräusch hallte wie ein Pistolenschuss durch das alte Lagerhaus. Dann gab es ein wiederholtes Knirschen. Der Fremde verschloss die Kisten wieder. Ein paar Sekunden später entfernten sich seine Schritte. Phoebe wartete, bis sie das Quietschen des Haupttores hörte. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür des Metallspindes und lugte hinaus. Die Luft war wieder rein. Vor ihr lagen die fünf Holzkisten auf dem Boden, als wenn nichts geschehen wäre. »Ist alles okay?«, flüsterte Paige und öffnete die Tür des Spindes, in dem sie sich versteckt hatte. Phoebe nickte. »Ja, er ist weg. Du kannst rauskommen. Sag mal, hast du gesehen, wer der Typ war?«
Paige zuckte nur mit den Schultern. »Leider nicht. Ich habe auch seine Stimme nicht erkannt. Meinst du, das war Sorvino?« Nun war es an Phoebe, mit den Schultern zu zucken. Auch sie hatte das Flüstern des Fremden nicht erkennen können. Dazu war es einfach zu leise gewesen und war durch die Metallwände des Spindes noch zusätzlich gedämpft worden. »Ich habe keine Ahnung«, gestand sie. »Es hätte jeder sein können. Aber wer immer es auch war – er schien nicht begeistert darüber zu sein, dass eine der Puppen fehlte.« »Ja, den Eindruck hatte ich auch. Und was machen wir jetzt?« Phoebe dachte kurz nach. Eine der Puppen fehlte. Das war ein schlechtes Zeichen. »Ich würde vorschlagen, wir fahren erst einmal zurück nach Hause und beraten uns mit Piper«, entschied sie. »Es kann nichts schaden, die Macht der Drei zu sammeln. Ich habe so das Gefühl, dass wir heute Nacht noch gebraucht werden!«
21 DARRYL MORRIS BEDANKTE SICH bei der Frau von der Auskunft und legte auf. Manchmal waren die einfachsten Tricks noch die besten. Seit Phoebe Halliwells Anruf war der Detective damit beschäftigt gewesen, Informationen über diesen Tim Sorvino zusammenzutragen. Zumindest zu einem der Mordopfer, dem erwürgten Comic-ShopBesitzer, gab es eine lockere Verbindung. Bei der Suche nach einem möglichen Tatmotiv hatten die Beamten der Mordkommission auch die Geschäftsbücher des Comic-Händlers beschlagnahmt. Ein gewisser ›T. Sorvino‹ war offenbar seit ein paar Jahren Stammkunde im Laden des Ermordeten gewesen. Den – sehr schlampig geführten – Geschäftsbüchern zufolge hatte Sorvino jeden Monat für eine beträchtliche Summe Comics, Magazine und irgendwelche ActionFiguren gekauft. An sich nichts Ungewöhnliches, aber in den letzten Monaten hatte es Sorvino mit der Bezahlung der Ware offensichtlich nicht mehr so genau genommen. Sein Name war in den Auflistungen des Händlers immer häufiger mit Rotstift eingekringelt worden – offenbar hatte Sorvino nur noch auf Pump gekauft und seine Schulden nicht bezahlt. Gut, die Beträge waren vergleichsweise gering – alles in allem kam Darryl auf etwa vierhundert Dollar- aber es sind schon Menschen für weitaus weniger Geld ermordet worden. Als Detective der Mordkommission wusste Darryl das besser als die meisten anderen. Vor allem die Art und Weise, wie Tom Haber, der Besitzer des Ladens, Sorvinos Namen auf der Liste eingekringelt hatte, sprach Bände. Von Monat zu Monat war der rote Kringel kräftiger und mit mehr Schwung ausgeführt worden. Hinter der Eintragung des letzten Monats standen sogar drei fette Ausrufungszeichen. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass Haber auf seinen Stammkunden wütend war. Hatten die beiden sich gestritten – und hatte das Zerwürfnis schließlich zu dem Mord geführt? Darryl seufzte. Das war zwar ein Anhaltspunkt, aber noch längst kein Beweis.
Also weiter im Text. Der Detective blickte auf den Zettel mit Sorvinos Adresse, die ihm gerade die Dame von der Telefonauskunft durchgegeben hatte. Darryl kannte die Gegend, ein einfaches, aber solides Viertel von San Francisco. Dort gab es eine Menge Mietshäuser mit halbwegs günstigen Wohnungen. Cynthia Rosswell, das erste Mordopfer aus dem Park, hatte eine dieser Wohnungen besessen und vermietet. Anhand von Darryls Unterlagen war es nicht besonders schwer herauszubekommen, wer dieser Mieter war: Tim Sorvino! »Zwei von drei«, murmelte Darryl mit einem Anflug von Zuversicht. Was er sich hier zusammenreimte, war zwar immer noch ein Ausflug auf dünnem Eis, aber es war die erste Spur überhaupt. Blieb noch das dritte Opfer – die ermordete junge Frau aus dem Kino. Darryl schauderte immer noch, wenn er an das Bild der ausgesaugten Leiche vor dem Toilettenspiegel dachte. Ob zwischen diesem dritten Opfer und Sorvino ebenfalls eine Verbindung bestand, war nicht ganz so leicht herauszubekommen, aber Darryl hatte schon eine Idee. Auf seinem Schreibtisch herrschte zwar mittlerweile ein ziemliches Chaos aus Aktenordnern, Zeugenaussagen und anderen Unterlagen, aber nachdem er etwas Papier umgeschichtet hatte, fand der Detective das, was ersuchte. Die Zeugenaussagen der beiden Freundinnen, mit denen das ermordete Mädchen zusammen die Vorstellung besucht hatte. Darryl blickte auf seine Armbanduhr. Der Abend war zwar schon fortgeschritten, aber bei dieser Hitze ging bestimmt niemand früh schlafen. Außerdem drängte die Zeit. Der Detective warf noch einmal einen Blick auf die Unterlagen und wählte dann die Nummer von einer der Freundinnen. Kaum fünf Minuten später hatte er die letzte Information, die er brauchte. »Sieh mal einer an, die verlorenen Schwestern kehren heim«, sagte Piper, als Phoebe und Paige das Wohnzimmer des alten HalliwellHauses betraten. Die Älteste der drei Schwestern hatte es sich mit ihrem Ehemann auf dem Sofa bequem gemacht. Aus dem
Lautsprecher des Fernsehers hallte das Konserven-Gelächter einer Sitcom. »Wo habt ihr zwei euch denn herumgetrieben?«, fragte Leo. »Wir hatten schon angefangen, uns Sorgen zu machen. Immerhin haben wir es mit einer Dämonenplage zu tun.« »Und mit einer Mordserie«, erwiderte Phoebe. »Hübsche Shorts, übrigens«, stellte sie fest und grinste Leo an. »Die stehen dir.« Tatsächlich war ein Wächter des Lichts in kurzen Hosen ein ungewöhnlicher Anblick. Aber diese Hitzewelle trieb eben seltsame Blüten. »Meiner!«, sagte Piper nur und zog Leo grinsend an sich heran. »Aber jetzt sagt schon«, wollte sie wissen, »wo habt ihr den ganzen Abend gesteckt? Haben die Filmarbeiten so lange gedauert?« Schnaufend ließen sich Phoebe und Paige auf das Sofa fallen. Dann berichtete Phoebe von ihrem Verdacht gegenüber Tim Sorvino und dem kleinen Ausflug in das alte Lagerhaus. Als sie mit ihrer Erzählung fertig war, schüttelte Leo tadelnd den Kopf. »Ihr hättet auf Darryl hören sollen. Das war ziemlich gefährlich, in das Lagerhaus zu schleichen. Was, wenn dieser Unbekannte euch entdeckt hätte?« Phoebe winkte ab. »Ach, wir können uns schon ganz gut wehren. Aber die Frage ist – was sollen wir jetzt tun? Wir haben keine Ahnung, ob es tatsächlich Sorvino war, der nach uns ins Lagerhaus gekommen ist. Und außerdem fehlte eine der Puppen. Vielleicht wird sie heute Nacht wieder als Mordwerkzeug benutzt?« Leo runzelte die Stirn und nickte. Als Wächter des Lichts machte ihm die Vorstellung, dass in diesem Augenblick irgendjemand in Lebensgefahr schwebte, sichtlich zu schaffen. Seine Aufgabe war es, Leben zu schützen – und jetzt saß er hilflos auf einem Sofa des Halliwell-Hauses. »Solange wir nicht wissen, wer das nächste Mordopfer ist, können wir herzlich wenig unternehmen, fürchte ich. San Francisco hat fast 800 000 Einwohner – wir können schlecht auf jeden Einzelnen aufpassen. Vielleicht sollten wir einfach Darryl Morris anrufen. Dann könnt ihr –«
In diesem Augenblick klingelte das Telefon. Piper sprang auf. »Ich gehe schon.« Ein paar Sekunden später kam sie mit dem schnurlosen Telefon zurück ins Wohnzimmer. »Für dich, Phoebe. Es ist Darryl.« Phoebe lachte auf und nahm den Hörer entgegen. »In einem Film würde uns das jetzt kein Mensch glauben. Darryl? Wir haben gerade über dich gesprochen!« »Hoffentlich nur Gutes«, sagte Darryl. »Sicher. Warte, ich schalte den Lautsprecher ein«, antwortete Phoebe und drückte eine Taste auf der Vorderseite des Telefons. Im selben Augenblick schnarrte Darryls Stimme blechern aus dem Apparat. Leo machte den Fernseher aus, um die dünne Lautsprecherstimme besser verstehen zu können. »Phoebe, an eurem Verdacht gegen diesen Sorvino scheint etwas dran zu sein. Er war ein Mieter der ersten ermordeten Frau. Ich weiß noch nichts Genaues, aber möglicherweise gab es irgendwelche Streitereien zwischen den beiden. Ich werde meine Leute morgen darauf ansetzen. Doch das ist noch nicht alles: Sorvino war auch ein Stammkunde des ermordeten Comic-Laden-Besitzers. Offenbar hat er ein paar Monate lang seine Schulden nicht bezahlt.« »Wow«, sprach Phoebe in den Hörer. »Das alles spricht ja nicht gerade für Sorvino, was?« »Kann man wohl sagen. Und es geht noch weiter: Ich habe gerade mit einer Freundin des Mädchens telefoniert, das gestern in dem Kino ermordet wurde. Haltet euch fest – die Tote war die Exfreundin von Sorvino. Nach dem, was ich erfahren habe, muss es zwischen den beiden einen heftigen Krach gegeben haben.« Phoebe nickte. »Was mich fast noch mehr erstaunt, ist, dass so ein seltsamer Kauz wie Sorvino überhaupt eine Freundin hatte. Aber sag mal – das macht ihn doch zu einem Haupttatverdächtigen, oder? Kannst du ihn nicht festnehmen lassen?« Am anderen Ende der Leitung lachte Darryl bitter auf. »Oh, das würde ich gerne. Aber selbst wenn einige Indizien gegen Sorvino sprechen – das reicht für den Staatsanwalt noch nicht aus, um Anklage gegen ihn zu erheben. Und außerdem … der Bürgermeister würde
mich in der Luft zerreißen, wenn ich ihm verklickern würde, dass die drei Mordopfer durch Mini-Monster getötet wurden. Wenn ich ihm damit komme, schickt er mich nicht nur zurück auf Streife, sondern gleich in die geschlossene Abteilung vom Arkham-Irrenhaus. Nein, ich brauche einfach noch mehr Beweise.« Phoebe nickte. »Verstehe. Aber die können wir dir leider auch nicht liefern.« Dann druckste sie ein wenig herum. »Äh, wir haben uns vorhin einmal in dem Lagerhaus umgesehen, in dem ein Teil der Dreharbeiten stattfindet und in dem auch die Monsterpuppen aufbewahrt werden …« »Was? Phoebe, ich hatte euch doch gebeten, nichts auf eigene Faust zu unternehmen!« »Ja, ich weiß. Tut uns Leid. Aber auf jeden Fall haben wir festgestellt, dass eine der Puppen fehlte – ich weiß nur nicht welche.« Am anderen Ende stöhnte Darryl laut auf. »Oh, nein. Ihr meint, der verrückte Puppen-Killer ist wieder unterwegs?« »Könnte sein«, gab Phoebe kleinlaut zurück. »Okay, danke für die Warnung. Ich werde die Jungs und Mädels vom Streifendienst anweisen, die Augen aufzuhalten, nach … ungewöhnlichen Vorfällen. Denn wenn ich denen sage, dass sie nach Mini-Monstern Ausschau halten sollen, nehmen die mich nicht mehr ernst.« Phoebe lachte auf. »Das glaube ich allerdings auch. Wir bleiben auf jeden Fall am Ball.« »Aber geht kein unnötiges Risiko ein, okay?«, mahnte der Detective noch einmal. »Aber Darryl, du kennst uns doch.« »Ja, genau deswegen. Gute Nacht, Phoebe.« Phoebe verabschiedete sich von Darryl und drückte dann die ›Auflegen‹-Taste. Die anderen hatten das Gespräch aufmerksam verfolgt. »Und was nun?«, fragte Piper.
Phoebe wollte gerade mit den Schultern zucken, als Paige mit den Fingern schnipste. »Wartet mal, ich habe eine Idee!«, rief sie. Phoebe, Piper und Leo blickten sie erwartungsvoll an. »Was denn, Paige?«, fragte Leo. »Ich glaube, ich weiß, wer das nächste Opfer sein wird!«
22 VIRGINIA
FONTAINE SASS auf einem Hocker in ihrem Badezimmer und betrachtete die kleine Schnittwunde an ihrem Unterschenkel. »Dieser kleine Mistkerl«, murmelte sie und war sich selbst nicht ganz sicher, ob sie damit die Werwolf-Puppe oder Tim Sorvino meinte. Eigentlich war das ja auch egal, sie war auf jeden Fall das Opfer von Inkompetenz geworden. Glücklicherweise war die Verletzung wirklich nur ein Kratzer und würde in ein paar Tagen nicht mehr zu sehen sein. Gott sei Dank. Sie wusste genau, was die anderen Mitglieder der Filmcrew von ihr hielten, besonders Pete, der Kameramann. Aber sie selbst wusste, dass sie eine talentierte Schauspielerin war, egal, was dieser fette Typ hinter ihrem Rücken tuschelte. Und zu einem Teil ihres Talentes gehörte es eben auch, makellos auszusehen. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, mit aufgekratzten Beinen in der Gegend herumzurennen, wie irgendein Mädchen von der Straße. Hatten diese Idioten überhaupt eine Ahnung, wie viel Zeit und Mühe es kostete, so auszusehen, wie sie es tat? Nun ja, von den kleinen chirurgischen Korrekturen einmal abgesehen. Aber die zahlte ja zum Glück ihr Verlobter, ein Geschäftsmann aus San Francisco. Ebenso wie dieses teure Apartment – und das wollen wir mal nicht vergessen – auch einen Großteil der Produktionskosten von ›Scream X-Treme‹. So sah es nämlich aus: Ohne sie, Virginia Fontaine, konnten diese Idioten sich ihren Film in die Haare schmieren. Sie hatte also alles Recht der Welt, sich darüber aufzuregen, wenn sie auf dem Filmset verletzt wurde. Von einer besseren Stoffpuppe, das musste man sich mal vorstellen! Virginia schüttelte den Kopf und betrachtete noch einmal ihr Gesicht im Schminkspiegel. Es war einer dieser Spiegel, wie man sie aus Hollywood-Filmen kannte, mit einer Reihe Glühbirnen, die rund um den Rahmen verteilt waren. So wurde das Gesicht von allen Seiten gleichmäßig ausgeleuchtet.
Und ihr Gesicht war makellos, daran bestand kein Zweifel. Virginia nickte ihrem Spiegelbild zufrieden zu und ging dann hinüber zur Badewanne. Sie hatte sich bereits ein kühles Schaumbad einlaufen lassen und prüfte mit dem Finger noch einmal die Temperatur. Perfekt. Dann öffnete sie ein Badezimmerschränkchen. Mit dem Zeigefinger strich sie an den kleinen Fläschchen entlang, die dort fein säuberlich aufgereiht standen. Schließlich entschied sich Virginia für einen entspannenden Lavendel-Zusatz und öffnete den Drehverschluss. Ein paar Sekunden lang genoss sie das blumige Aroma, dann goss sie einen Teil von dem Inhalt in die Badewanne. Das Wasser nahm einen bläulichen Schimmer an. Mit einer gekonnten Handbewegung öffnete Virginia den Gürtel ihres Bademantels und ließ den Seidenstoff über ihre nackten Schultern gleiten. Dann stieg sie langsam in die Badewanne. Ein paar Sekunden später hatte Virginia Fontaine die Aufregung des Tages vergessen. Wohlig rekelte sie sich in dem lauwarmen Wasser und schloss entspannt die Augen. Sie bemerkte das andere, schwarze Augenpaar nicht, das sie die ganze Zeit über angestarrt hatte. »Bist du sicher, dass diese Virginia das nächste Opfer ist?«, fragte Phoebe. Die drei Schwestern saßen in Pipers Wagen. Obwohl sie es wieder so eilig hatten wie am Sonntagmorgen, kamen sie diesmal nicht so schnell voran. Trotz der späten Stunde herrschte noch relativ viel Verkehr auf den Straßen. Das lag wohl daran, dass die Einwohner von San Francisco ihre Aktivitäten auf die Abendstunden verlegt hatten. Denn um diese Zeit war die Hitze wenigstens einigermaßen erträglich. »Na, sicher bin ich mir nicht«, antwortete Paige. »Aber die ersten drei Opfer waren doch alles Leute, mit denen Sorvino offensichtlich Stress gehabt hatte. Was sie dann auch mit ihrem Leben bezahlt haben.«
Phoebe nickte nachdenklich. Sie wusste, worauf Paige hinauswollte. »Das stimmt. Und unsere liebe Miss Fontaine hat sich heute am Set übel mit Sorvino gefetzt. Und ihm sogar gedroht.« Jetzt warf Piper einen kurzen Seitenblick auf ihre Schwester auf dem Beifahrersitz. »Aber wartet mal, ich war zwar nicht dabei, aber – wäre es nicht verkehrt, die Hauptdarstellerin des Films umzubringen, bevor der Film abgedreht ist? Ich meine, damit würde er sich doch ins eigene Fleisch schneiden, oder?« »Nicht unbedingt. Pete, der Kameramann hat uns erklärt, wie leicht es heutzutage ist, das Gesicht eines Schauspielers digital zu kopieren. Und der größte Teil von ›Scream X-Treme‹ ist ohnehin schon abgedreht.« »Dann hoffen wir mal, dass wir nicht zu spät kommen. Oder dass ihr euch täuscht. Da vorne, das rote Backsteinhaus – das müsste es sein.« Phoebe blickte auf die Hausnummer, während Piper den Wagen am Straßenrand stoppte. Dass sie dabei im Parkverbot stand, spielte jetzt keine Rolle. Zum Glück war Virginia noch nicht der Filmstar, der sie gerne wäre, und so war es für die drei Schwestern kein besonders großes Problem gewesen, ihre Adresse herauszubekommen. Unter ihrem bürgerlichen Namen, Pilfinger, war sie noch immer im Telefonbuch von San Francisco registriert. Die drei Schwestern hetzten über den Bürgersteig zum Hauseingang. Ein paar Passanten blickten sie erstaunt an. Phoebe, Piper und Paige waren sicher die Einzigen, die sich bei dieser Hitze im Laufschritt fortbewegten. Paige blickte auf das Klingelschild und ließ ihren Finger über die Namenschildchen gleiten. »Hier ist es. V. Fontaine. Vierter Stock!« Phoebe drückte gegen die Haustür. Sie war unverschlossen. In den Hausflur zu gelangen, war schon mal kein Problem. Die drei Schwestern stürmten hinein. »Was jetzt?«, fragte Paige aufgeregt. »Soll ich uns in ihr Apartment teleportieren?«
Piper winkte ab. »Bloß nicht. Wir wissen ja nicht mal, ob sie wirklich in Gefahr ist. Wie sollten wir es erklären, wenn wir uns plötzlich auf ihren Wohnzimmertisch materialisieren? Ich bin dafür, wir versuchen es erst mal auf die konventionelle Art.« Phoebe und Paige nickten. »Also zu Fuß.« »Jeder Gang macht schlank«, rief Paige und stürmte ins Treppenhaus. Mit großen Schritten nahmen die drei Hexen mehrere Stufen auf einmal. Eigentlich war es für die durchtrainierten jungen Frauen kein Problem, ein paar Treppen hinaufzurennen, aber als Piper, Phoebe und Paige im vierten Stock ankamen, waren sie in Schweiß gebadet. »Hier ist es«, keuchte Phoebe und deutete auf eine Tür mit einem Namensschild darauf. »Virginia Fontaine.« »Mädels, schaut mal«, schluckte Paige. »So wie es aussieht, sind wir nicht die ersten Besucher heute Abend.« Piper und Phoebe ahnten nichts Gutes, als sie dem Blick ihrer Schwester folgten. Vor der Tür zu Virginias Apartment glänzte eine Wasserlache. »Das sieht aus wie Salzwasser, vermischt mit irgendeinem Schleim«, flüsterte Piper. Phoebe dachte kurz nach. »Ich fürchte, wir sind auf der richtigen Spur – Salzwasser und Schleim … das klingt für mich nach dem ›Monster aus der Schwarzen Lagune‹!« »Die fünfte Monster-Puppe!«, rief Paige. »Keine Ahnung, wer dieses Viech aus der Schwarzen Lagune ist, aber wir sollten es uns vornehmen. Seht mal, die Tür ist nur angelehnt!« Piper drückte vorsichtig gegen die massive Tür des Apartments. In einer amerikanischen Großstadt wie San Francisco ließ man seine Türen nicht einfach aufstehen. Das war kein gutes Zeichen. Die drei Schwestern schlüpften hinein. Der Flur war mit einem edel aussehenden Teppich ausgelegt. Auf seinem orientalischen Muster prangte jetzt eine Spur feuchter Krallenabdrücke. »Virginia?«, rief Phoebe durch den Flur. »Sind Sie hier?«
Aus dem Badezimmer am Ende des Flurs ertönte ein platschendes Geräusch. Dann schrie eine Frauenstimme markerschütternd auf. Virginia Fontaine seufzte wohlig auf. Sie spürte, wie das lauwarme Wasser ihre angespannten Glieder langsam beruhigte. Die Schauspielerin rutschte noch etwas tiefer in die Badewanne hinein, bis ihr das Wasser bis zum Kinn reichte. Sie konnte jetzt hören, wie tausende von kleinen Schaumblasen leise zerplatzten. Gab es etwas Beruhigenderes, als ein Schaumbad am Abend? Virginia schloss die Augen. Sie hatte gelesen, dass Cleopatra in Eselsmilch gebadet hatte, um ihre Haut noch zarter und geschmeidiger zu machen. Vielleicht sollte sie das auch mal ausprobieren. Andererseits hatte sie, Virginia Fontaine, das nun wirklich nicht nötig. Ihre Haut war perfekt, so wie sie war. Bis auf diesen kleinen Kratzer, den dieser Idiot Sorvino ihr mit seiner albernen Puppe zugefügt hatte. Aber auch der würde bald verschwunden sein, und dann … Sie kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Irgendetwas platschte ins Wasser. Im ersten Augenblick dachte Virginia, eine Flasche Schaumbad wäre vom Wannenrand ins Wasser geplumpst. Doch im nächsten Augenblick spürte sie, wie etwas nach ihren Fußknöcheln griff. Etwas Glitschiges! Virginia schrie erschrocken auf. Dann zerrte etwas an ihren nackten Beinen und zog ihren Kopf unter Wasser. Der Schrei wurde von einem Blubbern erstickt. Ohne noch einen klaren Gedanken fassen zu können, zappelte Virginia panisch mit Armen und Beinen umher. Dass sie sich dabei schmerzhaft den Ellbogen am Wannenrand stieß, nahm sie gar nicht richtig wahr. Irgendetwas schloss sich um ihre Knöchel und zog sie unter Wasser. Das Trommeln ihrer Arme gegen den Wannenrand drang unter Wasser dumpf an ihre Ohren. Immerhin gelang es ihr, das Etwas an ihren Füßen für einen Moment abzuschütteln. Wie von Sinnen zappelte sie mit ihren Beinen umher. Etwas Aalglattes streifte dabei ihr Knie. Voller Panik gelang es Virginia, den Kopf aus dem Wasser zu heben. Gierig schnappte sie
nach Luft. Die Seife brannte in ihren Augen und sie konnte nur die dunkle Silhouette eines vielleicht unterarmgroßen Wesens erkennen, das unter Wasser erneut nach ihrem Bein greifen wollte. In diesem Augenblick wurde die Badezimmertür aufgestoßen. Virginia fuhr herum. Ihre Augen tränten, aber soweit sie sehen konnte, stürmten drei Frauen in ihr Badezimmer hinein. Sie wusste nicht, wer die drei waren, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. »Hilfe!«, schrie Virginia. Wie auf Kommando sprang irgendetwas zu ihren Füßen aus dem Badewasser. Wenn sie doch nur was erkennen könnte. Die drei Frauen schienen genauso erschrocken zu sein, wie sie selbst. »Das gibt's ja nicht!«, rief eine der Frauen. »Schnapp es dir, Paige!« Virginias Unterbewusstsein arbeitete fieberhaft. Paige – war das nicht diese kleine dumme Kuh, die Andy schöne Augen machte? Virginia sah durch den Tränenschleier vor ihren Augen, wie die Frau – Paige – einen Satz nach vorn machte und nach dem Wesen griff, das da aus ihrer Wanne gesprungen war. Doch das Ding war schneller. »Verflixt! Es ist mir entwischt!« »Warte, ich versuche, es einzufrieren!«, rief eine der anderen Frauen. Ihre Stimme klang fremd in Virginias Ohren. Und was sollte das bedeuten … ›einfrieren‹? »Ich schaffe es nicht! Es ist zu schnell! Phoebe! Es rennt auf die Toilette zu! Schneide ihm den Weg ab!« Die dritte Frau, offensichtlich war es diese Phoebe, machte einen erstaunlichen Satz quer durch das Badezimmer. Dann keuchte sie. »Zu spät! Es ist weg! Das gibt's doch nicht! Es ist einfach in die Toilette gesprungen!« Ein paar Sekunden lang gaben die drei Frauen in Virginias Badezimmer frustrierte Laute von sich. Währenddessen wischte sich Virginia das Schaumwasser aus dem Gesicht. Ihre Augen brannten
noch immer von der Seife, aber allmählich konnte sie wieder etwas erkennen. »Könnte mir mal jemand verraten, was hier los ist?«, fragte sie mit noch immer zitternder Stimme.
23 DIE DREI HALLIWELL-SCHWESTERN blickten sich etwas verlegen an. Das war eine gute Frage, die Virginia Fontaine da stellte. Phoebe druckste herum. »Ja, äh, hallo, Virginia. Also, da war …« »Eine Ratte!«, rief Paige dazwischen. »Wir standen gerade vor deiner Wohnungstür, als wir dich schreien hörten. Wir sind sofort hereingerannt und dann sahen wir …« »… wie diese fiese, fette Ratte gerade aus der Badewanne sprang!« »Genau«, pflichtete Piper jetzt bei. »Wir wollten sie uns schnappen, doch das Mistvieh ist durch die Toilette entwischt. Wahrscheinlich ist sie auch von dort gekommen!« Virginia Fontaine schlug sich angewidert die Hände vor den Mund. »Eine Ratte?!«, stotterte sie. »Bei mir im Badewasser? Das ist ja … Ekel erregend!« »Na ja, vielleicht war es eine … Wasserratte!«, sagte Phoebe. Paige musste grinsen. Voller Entsetzen sprang die junge Schauspielerin aus der Wanne. Dann griff sie nach einem Handtuch und schwang es sich um den Körper. »Ich werde den Hausbesitzer verklagen. So etwas Widerliches ist mir ja noch nie passiert!«, keifte Virginia. Dann stutzte sie. Allmählich schien sie sich wieder zu beruhigen. »Apropos: Was zum Teufel habt ihr eigentlich hier zu suchen? Wie seid ihr reingekommen?« Noch so ein paar gute Fragen. Diesmal hatte Phoebe den rettenden Einfall. »Nun ja, die Wohnungstür stand auf – wahrscheinlich hast du sie nicht richtig zugezogen. Und wir sind hier, weil wir uns, äh, bei dir entschuldigen wollten …« Paige blickte ihre Schwester fassungslos an. Sie schien mit dieser Erklärung ganz und gar nicht einverstanden zu sein. Virginia stemmte die Arme in die Hüften. »Entschuldigen? Wofür?«, fragte sie misstrauisch.
»Na ja, wir, äh, hatten das Gefühl, dass wir durch unsere Anwesenheit auf dem Set ein wenig Unruhe gestiftet haben. Ich meine, Dreharbeiten sind für eine Künstlerin schon anstrengend genug. Und wenn dann noch zwei Laien in der Nähe sind, die dumme Fragen stellen …« Virginia nickte zustimmend mit dem Kopf. Der Schock ihres ekligen Erlebnisses schien bereits wieder abgeklungen zu sein. »Da hast du allerdings Recht. Na gut, Entschuldigung akzeptiert. Wenn ihr zwei euch für den Rest der Dreharbeiten etwas zurückhaltet!« »Versprochen …«, nickte Phoebe kleinlaut. Paige biss nur die Zähne zusammen und sagte gar nichts mehr. »Schön, wenn das geklärt ist, können wir jetzt ja endlich verschwinden, oder?«, fragte Piper ungeduldig. »Wer zum Teufel bist du eigentlich?«, zischte Virginia und blickte die älteste der drei Schwestern misstrauisch an. »Oh, äh, das ist unsere Schwester Piper«, stotterte Phoebe. »Sie … wollte auch mal einen echten Filmstar kennen lernen, deshalb konnten wir es ihr nicht ausreden, mitzukommen. Stimmt's, Piper?« »Ja, ganz genau, Phoebe.« Piper reichte Virginia die Hand. »Hallo, Miss, äh …« »Fontaine«, flüsterte Phoebe. »Hallo, Miss Fontaine. Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Paige verdrehte die Augen. Virginia Fontaine gab Piper ihre schaumnasse Hand. »Ja, ja, schön. Aber ich gebe keine Autogramme. Und jetzt raus! Ich brauche etwas Ruhe nach diesem Schock!« »Das können wir uns gut vorstellen, Virginia«, nickte Piper eifrig. Dann scheuchte sie ihre Schwestern hinaus, die sich das nicht zweimal sagen ließen. »So, Mädels, wir sollten jetzt gehen!« Ein paar Sekunden später standen die drei Schwestern wieder im Flur des Apartmenthauses und zogen die Tür hinter sich zu. »Musste dieses Geschleime sein?«, fragte Paige mit einem ärgerlichen Blick auf Phoebe.
»Was hätte ich denn sonst sagen sollen?«, entgegnete Phoebe mit einem Schulterzucken. »Ich musste ihr ja irgendeinen Grund für unser plötzliches Auftauchen nennen. Das mit der Ratte war übrigens eine gute Idee, Paige.« Piper stimmte ihrer Schwester zu. »Ja, finde ich auch. Gut reagiert, Schwesterherz. Wir konnten ihr ja schlecht sagen, dass sie von einem ihrer Filmmonster angegriffen wurde. Die hätte uns ja gleich für verrückt erklärt.« Phoebe, Piper und Paige machten sich wieder daran, die Treppen hinunterzusteigen. »Und, was hältst du von unserem Superstar?«, fragte Phoebe. Piper zog ein grimmiges Gesicht. »Ich weiß schon, warum ich Filmleute nicht mag«, knurrte sie. Die dunkle Gestalt blickte vom gegenüberliegenden Dach herunter und sah, wie die drei jungen Frauen das rote Backsteinhaus verließen. In ihren Armen hielt der junge Mann die feuchtnasse Figur des Lagunen-Monsters. Mittlerweile hatte er seine Kreaturen so gut unter Kontrolle, dass er ihnen einen eigenen Willen verleihen konnte. Die fünf Monster waren jetzt in der Lage, selbstständig zu handeln, ohne dass er jeden ihrer Schritte mit seiner eigenen Willenskraft kontrollieren musste. Er hatte das zum ersten Mal gemerkt, als die Werwolf-Puppe am Set diese dumme Schnepfe Virginia angesprungen hatte. Allerdings brachte diese neue Form der Macht auch einen Nachteil mit sich – die Kreaturen handelten zwar selbstständig, aber er konnte jetzt nicht mehr durch ihre Augen sehen. Deshalb wusste der junge Mann in dem schwarzen T-Shirt auch nicht, was in dem Apartment geschehen \var. Eigentlich hätte das Lagunen-Monster Virginia Fontaine töten sollen, aber wie er von seiner Position aus erkennen konnte, stand die Schauspielerin in diesem Augenblick am Fenster und zog mit einem Ruck die Vorhänge zu. Irgendetwas war also schief gelaufen. Und es war offensichtlich, dass die drei jungen Frauen damit zu tun hatten. Waren sie ihm etwa auf die Spur gekommen?
Der junge Mann grinste und streichelte sanft über den Kopf seiner Monster-Puppe. Umso besser. Um seinen Teil der Abmachung zu erfüllen, brauchte er ohnehin noch drei Opfer. Drei offene Morde – drei Schwestern. Eine einfache Rechnung. Das Lachen des jungen Mannes hallte über das Hausdach durch die Nacht. Wie um ihren Meister zu bestätigen, stieß die kleine MonsterPuppe in seinem Arm ein bösartiges Zischen aus. Ein paar Tauben flatterten – aus ihrem Schlaf gerissen – erschrocken auf und stoben in den Nachthimmel hinein. Dann wurde es wieder still. Wie ein Schatten verschwand der junge Mann. Zurück blieb nur eine kleine, schleimige Pfütze, die in der schwülen Nachthitze schnell verdunstete.
24 PIPER
HATTE MÜHE, SICH NOCH auf die Straße zu konzentrieren. Die Anstrengungen der letzten Tage forderten ihren Tribut. Die älteste der drei Schwestern kurbelte das Fenster ihres Wagens hoch. Der Fahrtwind brachte ein wenig Abkühlung, und die frische Luft wirkte belebend auf ihre Sinne. »Meine Güte, bin ich müde«, gähnte sie. Wie immer war Gähnen ansteckend, und Sekunden später gähnten auch ihre Schwestern, während sie dabei nickten. »Und ich erst«, sagte Paige. »Ich könnte, so wie ich bin, ins Bett fallen. Wie weit ist es denn noch?« Piper verdrehte die Augen. Manchmal benahm sich Paige wirklich wie ein kleines Kind. »Wir sind ja gleich da«, grummelte sie. »Und diesmal gehe ich zuerst duschen, klar?« »Wenn's sein muss«, murmelte Paige. »Hauptsache, ich kann bald in mein Bettchen fallen. Ich glaube, ich kann heute Nacht trotz der Hitze prima schlafen.« Piper wollte gerade etwas antworten, als sie den Mann auf der Straße bemerkte. Zumindest hielt sie die Gestalt im ersten Augenblick für einen Mann. Erschrocken trat sie auf die Bremse. Die Reifen quietschten auf dem Asphalt, dann kam der Wagen zum Stehen. Nur wenige Zentimeter vor der Gestalt, die wie angewurzelt auf der Straße stand. Es schien ihr nicht viel auszumachen, dass sie um Haaresbreite überfahren worden wäre. Im Gegenteil. Sie grinste im Licht der Scheinwerfer. Und dabei wurden die nackten Wangenknochen sichtbar. Eine Sekunde lang starrten die drei Schwestern die unheimliche Gestalt an. Sie trug ein zerlumptes Hawaii-Hemd mit einem wirklich grausamen Muster. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Gesicht des Mannes. Unter den filzigen Rasta-Locken hingen ein paar Hautfetzen herab. Die Augen lagen tief eingesunken in den
Schädelhöhlen und sahen aus, als könnten sie jeden Augenblick herausfallen. »Ein Dämon!«, rief Piper, die ihren Schreck als Erste überwand. Das war das Kommando. Blitzschnell rissen die drei HalliwellSchwestern die Autotüren auf und sprangen hinaus. »Die drei Zauberhaften«, grollte der Angreifer. Sein Grinsen wurde noch breiter. Angeekelt beobachtete Phoebe, wie die Pergamenthaut über seinen Wangenknochen dabei noch weiter einriss. »Vorwärts, meine Freunde des Grabes«, lachte der Dämon, »schnappt sie euch und nehmt sie in eure Reihen auf!« »Mit wem redet der Kerl?«, fragte Paige verwundert. Im nächsten Augenblick wurde ihre Frage beantwortet. Ein paar Mülltonnen am Straßenrand schepperten auf, als sie mit brachialer Gewalt umgestoßen wurden. »Was sind das denn für Typen?«, schluckte Phoebe. Ein halbes Dutzend zerlumpter Gestalten wankte auf die Schwestern zu. Sie trugen zerschlissene Anzüge in dunkel gehaltenen Farben. Leichenkleider. »Zombies«, keuchte Piper. »Und unser Freund im geschmackvollen Hawaii-Hemd muss so eine Art Zombie-Dämon sein.« »Diese Hitzewelle lockt wirklich die bescheuertsten Dämonen an«, stellte Phoebe fest und schüttelte den Kopf. »Du hättest den Typen über den Haufen fahren sollen, Piper.« »Nachher ist man immer schlauer«, antwortete Piper nur. Die Zombies waren inzwischen auf die drei Schwestern zugewankt und versuchten sie einzukreisen. Zum Glück schlurften sie nur sehr langsam auf sie zu. »Was haben die vor?«, fragte Phoebe. »Warten, bis wir selbst an Altersschwäche gestorben sind?« Dann wirbelte sie einmal um die eigene Achse und versetzte dem Untoten, der ihr am nächsten stand, einen Tritt in die Magengegend.
Grunzend wurde der Zombie nach hinten katapultiert. Dann schlug er mit einem ziemlich ekligen Geräusch auf dem Asphalt auf, blieb eine Sekunde lang liegen und rappelte sich dann wieder hoch. »Die sind scheinbar zu blöd, um einfach liegen zu bleiben«, sagte Phoebe kopfschüttelnd. Aber so kamen sie nicht weiter. Einen Angreifer, der bereits tot war, konnte man nicht mehr verletzen. Diese untoten Kreaturen würden wieder und wieder angreifen. »Versteht ihr jetzt, warum ich keine Horrorfilme mag?«, fragte Piper. »Mir reicht es, dass ich mich im wirklichen Leben mit so einem Unsinn herumprügeln muss.« Eine weitere lebende Leiche streckte ihre verwesten Finger nach Paige aus. »Igitt!«, schrie die jüngste der Schwestern nur. »Nimm deine Finger weg!« Im nächsten Augenblick löste Paige sich mit einem Lichtblitz auf und materialisierte sich drei Meter neben ihrem Angreifer. Der Zombie blickte sich verwirrt um. Piper überlegte kurz. Diese Kreaturen einzufrieren, würde nicht viel Sinn machen. Und irgendwie brachte sie es nicht fertig, die Untoten einfach explodieren zu lassen. Es waren schließlich nur seelenlose Hüllen, denen der Dämon die Ruhe des Grabes gestohlen hatte. Am besten würde es sein, das Problem an der Wurzel zu packen. »Phoebe! Schnapp dir diesen Rasta-Mann!«, rief Piper. Diese nickte nur kurz. Dann machte sie einen gewaltigen Luftsprung über einen der angreifenden Zombies hinweg und landete direkt hinter dem grinsenden Voodoo-Dämon. Im nächsten Augenblick verging ihm das Grinsen. Phoebe griff zu, drehte dem Dämon mit einer Hand den Arm auf den Rücken und legte ihren anderen Arm um seinen Hals. Der Dämon krächzte auf. »Uuurk! Hey, Baby, nicht so grob. Können wir nicht noch mal darüber reden? Bei einem guten Joint vielleicht?« »Zunächst mal rufst du deine Freunde zurück«, knurrte Piper und blickte dem Dämon in die Augen. Dann richtete sie ihre Hand auf ihn. »Oder ich sprenge dich in tausend Stücke!«
»Igitt! Tu, was sie sagt«, keuchte Phoebe angewidert. »Ich habe keine Lust, dass mir deine Einzelteile um die Ohren fliegen.« »Okay, okay«, antwortete der Dämon hektisch. Dann stieß er ein paar Laute in einer fremdartigen Sprache aus. Augenblicklich blieben die Zombie stehen. »Gut so«, nickte Piper. »Und jetzt wirst du ihnen befehlen, schnurstracks in ihre Gräber zurückzukehren!« Zum Glück war der Friedhof, aus dessen Ruhe der Dämon seine Gehilfen gerissen hatte, nur einen Block weit entfernt. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass zu dieser Zeit noch eine lebende Seele auf der Straße unterwegs war, der sie hätten begegnen können. Und selbst wenn, dann waren diese Kreaturen jetzt harmlos. Sie wollten nur noch in ihre Gräber zurück. »Oh, Mann«, seufzte der Dämon. »Na schon, Schwester, du bist der Boss!« Widerwillig murmelte er noch eine weitere Formel, diesmal eine etwas längere. Augenblicklich setzten sich die Untoten in Bewegung und schlurften Richtung Friedhof. »Bitte sehr«, grummelte der Dämon. »Sonst noch was? Könnte deine Schwester mich vielleicht mal loslassen? Meine Knochen sind schon etwas morsch, wisst ihr?« »Ja, bitte«, stimmte Phoebe ein. »Der Typ stinkt wie eine tote Ratte!« Piper nickte. »Na schön, aber keine dummen Tricks, Dämon. Oder ich puste dich zurück in die Hölle!« Von Phoebes Griff befreit, hob der Dämon abwehrend die Hände. »Okay, Baby, nichts für ungut. Nehmt's nicht persönlich, okay? Aber ich dachte, ich könnte mich auch mal an den Zauberhaften versuchen. Punkte sammeln in der Unterwelt, versteht ihr?« »Schon klar«, nickte Piper grimmig. »Gut, ich mache dir einen Vorschlag. Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen, und du wirst sie mir beantworten! Dann lasse ich dich gehen, wenn du schwörst, dich hier nie wieder blicken zu lassen. Alles klar?« Der Dämon nickte so heftig, dass seine Rasta-Locken wild durcheinander flogen.
»Alles klar, Schwester. Schieß los. Habe ich auch einen TelefonJoker?« Phoebe und Paige blickten sich ratlos an. Was hatte ihre Schwester vor? Das Telefon klingelte mitten in der Nacht. Die meisten anderen Menschen wären über das plötzliche Klingeln zu dieser Stunde erschrocken oder zumindest verärgert gewesen. Nicht so Gustav Landreau. Er hatte keine Verwandten oder Freunde mehr – welche Hiobsbotschaften konnte der Anrufer am anderen Ende der Leitung also schon verkünden? Und schlafen konnte Landreau ohnehin kaum noch. Wie in den meisten anderen Nächten hatte er vor dem Breitwand-Fernseher gesessen und sich ein paar seiner alten Filme auf DVD angesehen. Diese Silberscheiben waren schon eine großartige Erfindung. Die Bildqualität war unglaublich. Er hatte zuvor noch nie so gute Kopien seiner alten Werke sehen können. Und das Beste war, dass er an diesen Veröffentlichungen auf DVD noch einmal einen ordentlichen Batzen Geld dazu verdiente. Nicht, dass er es nötig gehabt hätte, aber Geld konnte man nie genug haben. Auch wenn man es – wie es hieß – nicht mit ins Grab nehmen konnte. Diese Gedanken gingen Landreau durch den Kopf, während er sich langsam und ohne Eile zum Telefon bewegte. Wenn jemand mitten in der Nacht anrief, dann war es ihm schließlich wichtig genug , dass er es auch länger klingeln ließ. Außerdem ahnte er ohnehin schon, wer am anderen Ende der Leitung war. Landreau nahm den Hörer ab und lauschte, ohne sich zu melden. »Mister Landreau?«, meldete sich eine fast schüchterne Stimme am anderen Ende. »Mein lieber junger Freund«, antwortet der alte Regisseur. »War Ihr kleiner nächtlicher Ausflug von Erfolg gekrönt?« Die Stimme druckste etwas herum. »Nun ja, leider nicht. Mir sind diese drei Schwestern in die Quere gekommen, vor denen Sie mich schon gewarnt hatten.«
Landreau nickte vor sich hin. Das war beinahe zu erwarten gewesen. Die drei Zauberhaften stellten zwar keine wirkliche Bedrohung für ihn dar, aber zu unterschätzen waren sie auch nicht. Landreau hatte durch seine ›Kontakte‹ zur dämonischen Unterwelt schon viel über diese drei Hexen gehört. »Das ist bedauerlich«, entgegnete er nach einem kurzen Schweigen, »aber nicht wirklich eine Katastrophe. Vergessen Sie nur nicht, dass die Zeit langsam drängt, mein Freund. Noch fehlen drei Opfer – ich schlage vor, für dieses Ziel die drei Schwestern ins Auge zu fassen.« »Ja, genau das habe ich mir auch gedacht, Sir«, antwortete die Stimme eiligst. »Ich werde mich darum kümmern.« »Oh, deshalb mache ich mir keine Sorgen, junger Freund. Ich habe vollstes Vertrauen.« Dann legte Landreau den Hörer auf und grinste. Er hatte tatsächlich volles Vertrauen darin, dass sein junger Schüler die ihm gestellte Aufgabe erfüllte. Schließlich war auf die Dummheit der Menschen immer Verlass.
25 SELBST DIE STIMME DES ANSONSTEN immer überdrehten Radiomoderators wirkte matt und erschöpft. Seit über einer Woche hielt die Hitzewelle nun schon an, und die ganze Stadt war langsam am Ende ihrer Kräfte angelangt. Als Paige die Küche des Halliwell-Hauses betrat, blickten ihre beiden Schwestern erstaunt auf. »Wenn du noch weniger anziehst«, erklärte Piper mit einem Stirnrunzeln, »werden sie dich wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses noch verhaften, Paige.« Die jüngste der Zauberhaften zuckte nur mit der nackten Schulter. Sie trug ein trägerloses, knallrotes Top und dazu passende Shorts. Das bedeutete, dass sie extrem viel Haut zeigte. »Ach, was. Es ist schließlich unerträglich heiß draußen. Meinst du, ich will auf dem Set einen Hitzschlag kriegen?« Phoebe schmunzelte. »Könnte es sein, dass auch ein gewisser Jungregisseur mit dieser Art der Kleiderwahl zu tun hat?« Paige zog ihrer Schwester eine Grimasse und öffnete den Kühlschrank, um eine Dose Cola herauszunehmen. »Können wir dann bald mal los, Phoebe?«, fragte sie. »Es ist schon gleich vier.« Andy Stewart hatte heute Morgen angerufen und Paige und Phoebe zu ein paar ›Establishing-Shots‹ eingeladen – was immer das auch bedeuten mochte. Ausnahmsweise fanden die Dreharbeiten heute schon am Nachmittag statt. Phoebe hatte sich extra ein paar Stunden freigenommen, um den Dreh nicht zu verpassen. In der Redaktion arbeitete bei der Hitze im Augenblick ohnehin niemand so richtig, und deshalb hatte es beim Abmelden auch keine Schwierigkeiten gegeben. »Seid bloß vorsichtig«, ermahnte Piper ihre beiden kleinen Schwestern noch einmal. »Wir wissen jetzt, dass es auf dem Set nicht mit rechten Dingen zugeht.«
Phoebe kratzte sich am Hinterkopf. »Meinst du wirklich, dass diese mörderischen Puppen mit schwarzer Magie zum Leben erweckt worden sind?« Piper nickte ernst. »Ich fürchte schon. Ich hatte gleich den Verdacht, als ich gesehen habe, wie schnell sich dieses SumpfMonster durch das Badezimmer dieser eingebildeten Pute bewegt hat. So geschickt würde sich kein ferngesteuerter Roboter bewegen können. Und das, was ich aus diesem albernen Voodoo-Priester herausgequetscht habe, hat meinen Verdacht bestätigt.« Phoebe nickte zustimmend. Sie und Paige waren mit den MonsterPuppen schon so vertraut gewesen, dass ihnen gar nicht mehr aufgefallen war, wie menschlich sich diese Kreaturen mittlerweile bewegten. Durch den Voodoo-Priester hatten sie alles über das ›Beseelen‹ von leblosen Figuren erfahren. Für jemanden, der die schwarze Magie beherrschte, war es offensichtlich kein großes Problem, einen Teil seiner eigenen Seele in den Gastkörper einer Puppe zu übertragen und ihr so eigenes Leben einzuhauchen. Was für eine gruselige Vorstellung. Trotz der Hitze lief der jungen Hexe ein kurzer Schauer über den Rücken. Auch Paige machte ein ernstes Gesicht, als sie an die Begegnung von letzter Nacht denken musste. »Glaubst du, dieser Rasta-Dämon hält sein Versprechen und schadet nie wieder einem menschlichen Wesen?« Piper grinste. »Natürlich. Sonst hätte ich ihn doch nie gehen lassen. Außerdem bleibt ihm nach unserem Zauberbann gar nichts anderes übrig, als Wort zu halten.« Mit einem Lächeln erinnerte sich Piper an den kleinen Spruch, den die drei Schwestern dem Dämon noch mit auf den Weg gegeben hatten, bevor sie ihm erlaubten, sich in seine Dimension zurückzuziehen: »Solltest du jemals wieder einem Menschen schaden, musst in dämonischer Höllenglut du baden!«
»Nein, der wird sich hüten. Ich wünschte nur, es gäbe einen so einfachen Trick, um diese Monster-Puppen unschädlich zu machen. Wir können sie leider nicht einfach zerstören, bevor wir nicht wissen, wer ihr Meister ist. Sonst wird er früher oder später erneut zuschlagen.« »Stimmt«, nickte Phoebe. »Und bis jetzt können wir die Monster wenigstens im Auge behalten.« »Ich tippe ja immer noch auf Sorvino«, sagte Paige. »Es spricht doch alles gegen ihn, oder?« »Sicher«, antwortete Piper, »aber beweisen können wir ihm noch gar nichts. Und wir können ja schlecht hingehen und ihn ganz beiläufig fragen, ob er sich zufällig mit den Mächten des Bösen eingelassen hat.« »Nein«, murmelte Paige, »wenigstens nicht so direkt.« »Mmh? Was hast du gesagt?«, fragte Phoebe und packte noch ein paar Äpfel als Proviant in die Tasche. »Nichts. Jetzt lass uns endlich gehen.« Die beiden Schwestern verabschiedeten sich von Piper und traten durch die Haustür. »Haltet die Augen auf!«, rief Piper ihnen hinterher. »Tut nichts Unüberlegtes! Und strengt euch nicht so an bei der Hitze!« »Nein, Mami!«, rief Paige, bevor sie mit Phoebe zusammen in ihren VW New Beetle stieg. Piper blickte ihren beiden jüngeren Schwestern noch hinterher, bis der schwarze Wagen um die Ecke gebogen war. Ein paar Sekunden später materialisierte sich Leo im Flur des Halliwell-Hauses. »Ich dachte schon, die gehen gar nicht mehr«, sagte er und gab Piper einen Kuss. Doch seine Ehefrau schien nicht ganz bei der Sache zu sein. »Machst du dir Sorgen um die beiden?«, fragte Leo. »Solltest du nicht. Phoebe und Paige können ganz gut auf sich allein aufpassen. Und am helllichten Tag werden diese Mord-Puppen bestimmt nicht zuschlagen.«
Piper schüttelte den Kopf. »Nein, ich musste gerade an etwas ganz anderes denken. Morgen soll doch im P3 diese große Kampfszene gedreht – werden. Und jetzt erfahre ich, dass ich mir neben einem chaotischen Filmteam auch noch ein paar randalierende MonsterPuppen ins Haus geholt habe. Ich hoffe mal, das geht gut.« Leo schluckte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, seine Ehefrau zu diesem Dreh zu überreden. Paige und Phoebe schafften es, gerade noch vor der Welle des Feierabendverkehrs ihr Ziel zu erreichen. Allmählich füllten sich die Straßen, und am Horizont färbte eine graue Smog-Glocke den Himmel. Die wenigsten Einwohner waren offensichtlich dem Appell der Stadtverwaltung, möglichst öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, solange sich die Wetterlage nicht besserte, nachgekommen. Auch Paige kämpfte mit einem schlechten Gewissen, das aber schnell verflog, als sie Pete und Lou am Straßenrand sah. Wie immer schleppte Pete eine große Kamera mit sich herum. Sie befanden sich jetzt mitten im Financial District, dem BankenViertel der Stadt. Ein paar Bankangestellte, die trotz der großen Hitze überaus korrekt gekleidet waren, blickten den beiden Filmleuten erstaunt hinterher. Pete und Lou trugen die Crew-T-Shirts mit dem ›Scream X-Treme‹-Logo und passten überhaupt nicht in diese elegante Gegend. »Hi, Paige! Hi, Phoebe!«, rief Pete. Dem fülligen Kameramann lief der Schweiß von der Stirn, was seiner Laune aber nicht abträglich zu sein schien. »Da vorne habe ich noch ein paar freie Parkplätze gesehen. Wir sind gleich da drüben, auf dem Platz vor der Transamerica Pyramid!« Der Kameramann deutete erst in die eine, dann in die andere Richtung, um Paige den Weg zu zeigen. Die junge Hexe winkte dankend zurück und steuerte den Wagen kurz darauf in eine Parklücke. Zum Glück machten auch die Banker bei dieser Hitze früher Feierabend, und die Parkplatzsituation war heute nicht ganz so dramatisch wie sonst. »Ganz schön feine Gegend«, murmelte Phoebe, als die beiden Schwestern ausstiegen. Der Banken-Bezirk, auch ›Wallstreet des
Westens‹ genannt, befand sich östlich vom bekannten Market Square und war tatsächlich eine der teuersten und elegantesten Gegenden der Stadt. Erst in den 70er Jahren hatte die Stadtverwaltung von San Francisco den Bau von Hochhäusern erlaubt. Man wollte das historische Stadtbild nicht zerstören. Zudem erinnerte sich die Bevölkerung noch sehr gut an das große Erdbeben von 1906, das einen großen Teil der Stadt zerstört hatte. Wenn wieder einmal die Erde bebte, wollte sich sicherlich niemand im obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers befinden. Allerdings galten moderne Hochhäuser mittlerweile als erdbebensicher, und die Architekten hatten sich wirklich Mühe gegeben, ihre Kolosse dem eleganten Stadtbild von San Francisco anzupassen. »Ich bin immer wieder fasziniert von diesem Teil«, sagte Paige und deutete auf die Transamerica Pyramid, einen eleganten Wolkenkratzer, der sich nach oben hin immer mehr verjüngte, sodass er wie eine extrem lang gezogene Pyramide wirkte. Phoebe nickte. »Ich frage mich nur, weshalb Andy dieses Gebäude für seinen Film braucht.« Paige deutete mit einer Kopfbewegung auf ein paar Gestalten in schwarzen T-Shirts, die auf dem Vorplatz des Wolkenkratzers damit beschäftigt waren, ein paar Ausrüstungsgegenstände aufzubauen. »Du kannst ihn ja selbst fragen. Da drüben steht die ganze Bande.« Ein wenig abseits von der Crew entdeckte Phoebe zwei junge Männer, die offensichtlich in ein hitziges Gespräch vertieft waren. Zumindest fuchtelten sie heftig mit den Armen in der Luft herum. Es waren Andy und Tim Sorvino. »Na, die scheinen sich heute ja gar nicht gut zu verstehen«, bemerkte Paige. »Vielleicht kriegen wir ja mit, um was es geht«, erwiderte Phoebe und beschleunigte ihre Schritte. Obwohl die beiden Schwestern sich beeilten, hörten sie nur noch ein paar Fetzen der Unterhaltung. »… es sind deine Puppen, das ist dir jawohl klar«, sagte Andy und blickte seinen Special-Effects-Experten böse an. Dann entdeckte er Paige und Phoebe. Sofort machte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht breit. »Hallo, Paige. Hi, Phoebe! Da seid ihr ja!«
Tim Sorvino wandte sich ab, ohne die beiden Schwestern zu begrüßen. Er stemmte die Hände in die Taschen seiner schwarzen Jeans und schlenderte missmutig auf den Rest des Teams zu. »Was war denn hier los?«, fragte Phoebe scheinheilig mit einem Seitenblick auf Sorvino. Andy winkte ab. »Ach, nur ein paar künstlerische Differenzen. Das gibt sich wieder. Schön, dass ihr noch kommen konntet. Und ein tolles Outfit, Paige!« »Findest du?«, fragte Paige errötend zurück. »Oh, danke …« Gut abgelenkt, dachte Phoebe. Der junge Regisseur hatte ihre Schwester schon wieder um den Finger gewickelt. Sie konnte die beiden jetzt ebenso gut allein lassen. »Ich gehe mal zu den anderen rüber«, sagte Phoebe und deutete auf Pete, der ein paar Meter weiter gerade seine Kamera auf ein Stativ schraubte. »Ist gut. Bis gleich«, rief Paige über ihre Schulter. Phoebe schlurfte auf den Kameramann zu. »Hi, Phoebe«, sagte Pete und blickte dann durch sein Objektiv. »Habt ihr einen Parkplatz gefunden?« »Ja, ja, war kein Problem. Sag mal, was war denn gerade zwischen Andy und Tim Sorvino los? Als wir ankamen, sah es aus, als würden die beiden sich streiten.« »Mmh, schon möglich. Ich höre schon gar nicht mehr hin. Früher waren die beiden unzertrennlich, aber seit ein paar Tagen fetzen sie sich fast täglich. Apropos fetzen – wo steckt denn mein unfähiger Ton-Assi? Lou?!« Pete blickte sich um und rief den Namen seines Tonmannes. Vergeblich. »Sie streiten sich öfter? Hast du eine Ahnung, warum?«, hakte Phoebe nach. »Nö, keine Ahnung. Ich vermute mal, das kommt vom Stress während der Dreharbeiten. Für die beiden steht viel auf dem Spiel, weißt du? Ich meine, wenn ›Scream X-Treme‹ ein Flop wird, ist Andy als Regisseur unten durch. Die Medien erwarten doch heute schon,
dass sich jeder Jungregisseur mit seinem Erstlingswerk als Wunderkind entpuppt. Ich nenne das den ›Spielberg-Effekt‹. Heutzutage hast du als Regieanfänger kaum noch die Chance, aus deinen Fehlern zu lernen – weil du nie mehr einen zweiten Job bekommst. Ah, da ist ja die Knalltüte!« Pete blickte auf und winkte Lou zu sich heran, der seelenruhig aus dem Haupteingang des Hochhauses geschlendert kam. »Mann, Junge, ich habe dich schon gerufen! Warum muss ich gerade mit dem einzigen tauben Tonmann der Filmgeschichte geschlagen sein?« »Reg dich ab, Mann. Ich war da drin nur mal kurz auf dem Klo. Der blöde Portier wollte mich erst nicht reinlassen.« »Ja, ja.« Pete winkte ab, ohne zuzuhören. »Könntest du jetzt mal ein bisschen Atmo ziehen, wenn's recht ist? Ich möchte nicht den halben Tag für ein paar blöde Establishing-Shots vertrödeln.« Während Lou wenig beeindruckt seine Ton-Ausrüstung zusammensteckte, stellte Phoebe ein paar interessierte Fragen. Immerhin war sie überhaupt nur deshalb auf das Set von ›Scream XTreme‹ gekommen, weil sie etwas über das Filmemachen lernen wollte. »Was ist denn eigentlich ein ›Establishing-Shot‹«, fragte sie, »und was meinst du mit ›Atmo ziehen‹?« »Eine Sekunde bitte«, entgegnete Pete nur. Dann blickte er durch das Objektiv seiner Kamera und schwenkte sie einmal von unten nach oben über den Wolkenkratzer vor ihnen. »Das war's eigentlich schon, Phoebe«, sagte er dann und lachte, als er Phoebes fragendes Gesicht sah. »Bei einem Establishing-Shot etabliert man – wie der Name schon sagt – einen bestimmten Handlungsort. In unserem Fall spielt ein Teil von ›Scream X-Treme‹ in diesem Hochhaus. Der Charakter, den Virginia spielt, arbeitet dort als Sekretärin, bevor sie durch Zufall mit den Monster-Puppen in Berührung kommt. Natürlich haben wir die Szenen, die in dem Büro spielen, ganz woanders gedreht. Aber wenn man im fertigen Film kurz den gedachten Handlungsort im Bild sieht, glaubt man automatisch, die folgenden Szenen würden auch dort spielen.«
»Verstehe«, nickte Phoebe. Wenn sie darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie solche kurzen Bilder von Außengebäuden in fast jedem Spielfilm zu sehen bekam. »Und was ist dieses ›Atmo ziehen‹?« Jetzt meldete sich Lou mit einer Erklärung zu Wort. »›Atmo‹ steht für Atmosphäre. Gemeint ist einfach die natürliche Geräuschkulisse eines Ortes. Ohne die würde so eine Aufnahme von einem Gebäude ziemlich nackt wirken.« »Natürlich ist das Bild trotzdem wichtiger als der Ton«, warf Pete sofort ein. »Für den Zuschauer ist das, was er sieht, natürlich am wichtigsten. Deshalb sagt der liebe Gott in der Bibel ja auch zuerst ›Es werde Licht‹!« »Ja, aber er musste es eben erst sagen!«, entgegnete Lou sofort. Phoebe lachte auf. Die beiden waren wirklich unbezahlbar. »Habe ich was verpasst?«, fragte Paige. »Worüber lacht ihr?« Phoebe hatte gar nicht gemerkt, dass ihre Schwester an sie herangetreten war. »Ach, Pete und Lou weihen mich nur in die Geheimnisse der Filmkunst ein. Verbunden mit einer kleinen Bibelstunde.« Paige blickte Phoebe nur verständnislos an und zog sie dann ein Stück zur Seite. »Hör mal, Phoebe, Andy meint, der Dreh hier dauert nur noch ein paar Minuten – dann will er mit den Jungs vom Team noch in ein Gartencafé gehen.« »Und?«, fragte Phoebe. »Du willst natürlich mit, oder?« »Im Prinzip schon«, antwortete die jüngste Halliwell-Schwester mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber ich dachte, wir nutzen die Gelegenheit und sehen uns einmal in Sorvinos Wohnung um.« Phoebe schluckte. »Ich weiß nicht, Paige. Hältst du das für eine gute Idee? Sollten wir nicht erst Piper fragen? Oder das Darryl überlassen?« »Ach was, da kann doch nicht viel passieren. Und Darryl würde doch nie einen Hausdurchsuchungsbefehl für Sorvinos Wohnung bekommen, solange die Beweise so dürftig sind. So eine Chance bekommen wir nicht wieder.«
Phoebe dachte kurz nach, dann klopfte sie ihrer Schwester auf die Schulter. »Also los. Worauf warten wir?«
26 UNTER EINEM VORWAND HATTEN Phoebe und Piper sich vom Filmteam getrennt und saßen wieder in Paiges Beetle. Phoebe hatte ganz beiläufig und unter einem Vorwand nach der Adresse von Tim Sorvino gefragt. Der Kameramann war zu gutmütig, um bei dieser Frage Verdacht zu schöpfen. Als die beiden Schwestern das Wohngebiet erreichten, in dem auch Sorvinos Apartment lag, war die Sonne schon ein riesiger, orange glühender Ball, der dicht über der Skyline San Franciscos schwebte. Doch wie schon in den vergangenen Tagen brachte der Sonnenuntergang kaum Abkühlung. Am Abend wälzte sich die schwülwarme Luft vom Meer durch die Straßen der Stadt, und Phoebe wusste nicht, was schlimmer war – die stechende Hitze des Tages oder die feuchte Umklammerung der Nachtluft. Selbst die Klimaanlage von Paiges Beetle kam kaum gegen die Hitze an und pustete nur lauwarme Luft ins Wageninnere. Phoebe ließ gerade das Autofenster heruntergleiten, als Paige auf ein Mietshaus am Straßenrand deutete. »Nummer dreiundzwanzig. Das müsste es sein.« Phoebe ließ ihren Blick von unten nach oben über das alte Gebäude gleiten. Sie musste grinsen. Ganz unbewusst hatte sie damit einen Establishing-Shot nachvollzogen. »Habe ich etwas verpasst?«, fragte Paige, die das Lächeln ihrer Schwester bemerkte. »Establishing Shot: Altes Mietshaus. Schnitt auf: Paige schaltet den Motor aus. Schnitt: Die beiden Schwestern verlassen den Wagen.« Paige schüttelte lachend den Kopf. »Das Filmfieber hat dich ja noch schlimmer erwischt als mich. Ich meine – ich habe immer noch einen hübschen Jungregisseur als Ausrede. Und du?« »Tja, vielleicht werde ich ja selber mal eine hübsche Jungregisseurin«, erwiderte Phoebe. Dann stiegen die beiden Schwestern endlich aus dem Wagen.
Paige erreichte das Klingelbrett als Erste. Anders als bei dem edlen Backsteingebäude, in dem Virginia Fontaine wohnte, war das Klingelbrett hier ein Chaos aus aufgeklebten, überklebten und dann wieder durchgestrichenen Namen. In diesem Haus schien eine rege Fluktuation von Mietern zu herrschen. Paige glitt mit dem Zeigefinger über die Namen. Sie atmete tief aus, als sie endlich auf ›T. Sorvino‹ stieß. Im obersten Stock. Hoffentlich gab es hier wenigstens einen Aufzug. Phoebe öffnete die Tür. Ein typischer Mietshaus-Geruch schlug ihr entgegen, nicht unangenehm, aber sehr intensiv. Mehrere Mieter schienen gerade das Abendessen vorzubereiten. Phoebe schätzte, dass vom klassischen Hamburger bis hin zu Hühnchen-Curry alles dabei war. Paige zog ihre Nase kraus. »Mmhh, ich weiß nicht, ob ich Hunger kriegen oder ob mir schlecht werden soll«, sagte sie skeptisch. Phoebe deutete auf eine Fahrstuhltür. »Ich finde, es riecht interessant«, antwortete sie. »Lass uns den Fahrstuhl nehmen.« Paige nickte und wollte gerade den Knopf drücken, als sich die Fahrstuhltür öffnete. Eine lateinamerikanisch aussehende Dame drückte sich aus dem Aufzug heraus. In den Armen hielt sie jeweils eine Tüte mit Papiermüll. »Halte mal bitte die Tür auf, Schätzchen«, sagte sie ganz selbstverständlich. Phoebe griff nach der Fahrstuhltür, damit die Dame heraustreten konnte. »Danke, mein Kind.« Dann blieb sie kurz stehen und musterte die beiden Schwestern. »Ihr wohnt hier aber nicht, oder?« »Ah, nein«, antwortete Phoebe schnell. »Wir wollen einen, äh, Freund von uns besuchen. Tim Sorvino.« »Na, da schau an«, sagte die Frau. »Da wird er sich aber freuen. Ich glaube unser junger Mister Sorvino bekommt nicht oft Besuch. Schon gar nicht von so hübschen jungen Damen. Dann versucht mal euer Glück. Aber ich glaube, er ist nicht zu Hause.« »Wirklich?«, fragte Paige und tat enttäuscht. »Was soll's, wir versuchen es trotzdem mal. Schönen Abend noch.« »Bei der Hitze? Na, ich weiß nicht. Trotzdem danke, Schätzchen.«
Die Dame watschelte mit ihren Müllsäcken davon. An den Füßen trug sie Badelatschen. Dann drehte sie sich noch einmal um und blickte über ihre Schulter. »Und schickt mir den Aufzug wieder herunter, wenn ihr oben angekommen seid, ja? Das alte Ding braucht ewig, bis es wieder unten ist.« »Machen wir!«, rief Phoebe zurück und schlüpfte mit ihrer Schwester zusammen in die Kabine. Die Tür glitt zu, und die beiden Hexen mussten feststellen, dass die alte Dame Recht gehabt hatte. Es schien tatsächlich eine Ewigkeit zu dauern, bis der Fahrstuhl mit einem ›Fing‹ den obersten Stock erreichte. Ruckelnd öffnete sich die Tür. Die Hitze des Tages hatte sich im obersten Stockwerk aufgestaut und schlug Phoebe und Paige wie ein Hammerschlag entgegen. Paige versuchte vergeblich, sich mit der Hand frische Luft zuzufächeln. »Irgendwann kriege ich noch mal einen Hitzschlag«, stöhnte sie. Dann deutete sie auf eine Tür, auf deren Namensschild mit krakeliger Schrift ›T. Sorvino‹ geschrieben stand. »Hier. Die Höhle des Löwen.« Phoebe blickte sich um. Außer ihnen war niemand in dem Gang. »Scotty, wir sind bereit zum Beamen«, grinste sie dann. Paige nickte nur und nahm die Hand ihrer Schwester. Im nächsten Augenblick schimmerten die beiden Hexen auf und verschwanden … … um kurz darauf im Apartment von Sorvino wieder zu materialisieren. Obwohl die beiden Hexen das magische Teleportieren gewohnt waren, stellte es immer wieder eine Herausforderung dar. Phoebe und Paige waren schließlich auch nur Menschen, und der menschliche Verstand hatte einfach Probleme damit, sich plötzlich an einem anderen Ort wieder zu finden, ohne sich körperlich von der Stelle bewegt zu haben. Bei ihren ersten Versuchen war Paige jedes Mal regelrecht schlecht geworden. Zum Glück hatte sich inzwischen etwas Gewohnheit eingestellt. Phoebe schaute sich um und schnalzte mit der Zunge. »Der Mann ist ein Freak, so viel ist klar.« Paige nickte nur und blickte sich um. Sorvinos Apartment war klein und schäbig. Die Vorhänge waren zugezogen worden, um die
Sonnenstrahlen ein bisschen abzuhalten. Genutzt hatte es nicht viel, die Bude war heiß und stickig. Und überladen mit Comic-Heften, die sich nicht nur in den Regalen und auf dem kleinen Schreibtisch, sondern auch auf dem Fußboden türmten. Spider-Man, Superman, Captain America – Sorvino schien keine Heftserie auszulassen – und das seit Jahren. »Du meine Güte«, murmelte Paige. »Die müssen ein Vermögen wert sein. Hey, ›Batman gegen Frankenstein‹ – das kenne ich noch gar nicht.« Paige stürzte sich auf das Comic-Heft und blätterte es begeistert durch. Phoebe trat vor einen Schrank, in dem sich eine umfassende Sammlung von Superhelden- und Monster-Figuren befand. Kleine, detailgetreu nachmodellierte Statuen aus Plastik. Paige hatte Recht: Phoebe erinnerte sich daran, dass sie in der Redaktion einmal Geld zusammengelegt hatten, um dem Büroboten – auch einem großen Comic-Fan – eine dieser Figuren zum Geburtstag zu schenken. Die Dinger sahen zwar cool aus, waren aber auch unverschämt teuer. Sorvino musste wirklich ein Vermögen für seine Sammlung ausgegeben haben. Und sein Comic-Händler hatte ein Vermögen an ihm verdient – vorausgesetzt Sorvino hätte seine Rechnungen bezahlt. Während Paige noch immer begeistert in dem Comic blätterte, sah sich Phoebe weiter um. Sorvinos Apartment war eine typische Junggesellenbude und ganz sicher nicht dafür eingerichtet, Besuch zu empfangen. Die Fläche der kleinen Wohnung, die nicht von Comics und Magazinen in Beschlag genommen wurde, war mit Feinwerkzeugen, Plastilin-Fläschchen und elektronischen Kleinteilen bedeckt. Wie es aussah, baute Sorvino hier auch seine MonsterPuppen. Phoebe erschauderte, als sie auf dem Schreibtisch die Gestalt eines vielleicht fünfzig Zentimeter großen Gorillas entdeckte. Das war King Kong, keine Frage. Ein weiteres, berühmtes Monster der Filmgeschichte. Der Riesenaffe war erst halb fertig, was ihn noch unheimlicher machte. Drähte und kleine Seilzüge schauten aus seinem Kunstfell hervor. Das Gesicht des Monsters war erst zur Hälfte ausmoduliert. In der linken Hälfte des Gesichtes lag der PlastikAugapfel noch in seinem Sockel aus blankem Metall. Das Monster wirkte, als wäre es bereits halb verwest und starrte Phoebe aus seinen toten Augen an.
Gruselig. Phoebe stutzte, als sie die Zeitungsausschnitte bemerkte, die über den Schreibtisch an einer Pinnwand befestigt waren. Sorvino schien wirklich ein Freak zu sein, der seine Sammelleidenschaft nicht unter Kontrolle hatte. An der Pinnwand hingen mindestens drei Dutzend Ausrisse aus diversen Filmzeitschriften und Zeitungen. Als Phoebe genauer hinsah, bemerkte sie, dass viele davon nur Kopien waren – Kopien von Artikeln, die zum Teil Jahrzehnte alt waren. 1972, 1965, 1945 Und alle hatten eines gemeinsam. Sie handelten von Gustav Landreau. »Paige, komm doch mal bitte her«, flüsterte Phoebe, ohne ihren Blick von den körnigen alten Fotos abwenden zu können. »Moment, ich hab's gleich«, erwiderte Paige. »Ha, Batman gewinnt immer!« Sie schlug das Heft zu, legte es wieder auf den Stapel, von dem sie es genommen hatte, und trat dann neben ihre Schwester. »Was gibt's denn?« Phoebe deutete auf die Zeitungsschnipsel. »Sieh mal hier. Unser Freund Sorvino sammelt offensichtlich auch alte Artikel aus Filmzeitschriften. Allerdings nur, wenn sie von Mister Gustav Landreau handeln.« »Dem alten Gruselfilm-Regisseur? Zeig mal!« Paige machte noch einen Schritt auf die Pinnwand zu. Eigentlich brauchte sie eine Lesebrille, aber Paige war viel zu eitel dafür. »Tatsächlich«, sagte sie, nachdem sie einige der Artikel überflogen hatte. »Aber er ist dabei ziemlich wählerisch. Es geht darin nicht gerade um den üblichen Film-Tratsch.« Phoebe nickte. Sie hatte die Überschriften ebenfalls überflogen: »Rätselhafter Todesfall am Set von ›Der Werwolf kehrt zurück!‹ – Variety, 12.3.1947 »Hollywood trauert um Rita Haystack – Filmstar stirbt unter ungeklärten Umständen!« – Hollywood Reporter, 4.12.1954
»Gustav Landreau – Hollywoods Monstermacher mit Pechsträhne: geschiedene Frau des Regisseurs ermordet aufgefunden« – Los Angeles Times, 6.8.1959 »Grausamer Verdacht: Wurde Landreaus geschiedene Frau Opfer eines streunenden Hundes?« – Inside Hollywood, 12.8.1959 »Scheint, als würde es kein Glück bringen, für Landreau zu arbeiten«, sagte Paige. »Oder sich mit ihm anzulegen«, nickte Phoebe. Vorsichtig zog sie die Pinnnadel aus der Wand, mit der der letzte Artikel befestigt war. Dann las sie laut den kurzen Text vor. »Hollywood, eigener Bericht: Die Polizei verfolgt im rätselhaften Mordfall an Genoveve Landreau, Exfrau des ›Monstermachers‹ Gustav Landreau, eine neue Spur. In der Villa des Opfers wurden nahe der Leiche mehrere grau-braune Haare gefunden, die nach ersten Untersuchungen der Gerichtsmediziner von einem Hund oder einem ähnlichen Tier stammen könnten. Die Verletzungen, an denen Misses Landreau erlag, deuten ebenfalls auf das Werk eines wilden Tieres hin. Noch ungeklärt ist dagegen, wie die Bestie in die Villa der Schauspielerin gelangt sein könnte. Nach Angaben der Polizei waren zur Tatzeit alle Türen und Fenster verschlossen. Misses Landreau, die nach dem Scheidungskrieg mit ihrem Mann, dem bekannten Regisseur Gustav Landreau allein lebte, verbrachte die letzten Wochen ihres Lebens offenbar in großer Angst und geistiger Verwirrung. Freunde der Verstorbenen berichteten unserem Reporter von einem Alkoholproblem und dem Wahn, von den Kreaturen ihres Mannes verfolgt zu werden. Die Polizei hat alle Ermittlungen gegen Gustav Landreau inzwischen eingestellt.« »Meinst du, Landreau hatte etwas mit diesen ungeklärten Todesfällen zu tun?«, fragte Paige. »Schwer zu sagen. Aber es scheint mir kein Zufall zu sein, dass so viele Menschen in Landreaus Nähe unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind. Vielleicht war Landreaus Exfrau gar nicht so verrückt. Ich meine, diese angeblichen Hundehaare könnten doch auch von einem Werwolf stammen. Oder zumindest von dem Modell eines Werwolfs? Und heute, Jahrzehnte später, kommen drei Leute ums Leben, mit denen Tim Sorvino sich überworfen hat. Durch die Puppen seiner Filmmonster. Unter ebenso unheimlichen Umständen. Und
dann finden wir auch noch heraus, dass Sorvino fanatisch alte Zeitungsausschnitte sammelt, die alle etwas mit Landreau zu tun haben. Bisschen viel für einen bloßen Zufall, findest du nicht?« »Vielleicht ist er einfach ein nur Fan von Landreau«, erwiderte Paige achselzuckend. »Oder ein Fan von Landreaus Methode, ungeliebte Zeitgenossen zu beseitigen.« Paige runzelte die Stirn. »Stimmt. Da könnte was dran sein. Vielleicht sollten wir uns Landreau auch mal unter die Lupe nehmen. Es macht wahrscheinlich wenig Sinn, nur Sorvino auszuschalten, wenn der alte Mann der Drahtzieher hinter der Bühne ist.« »Gut mitgedacht, Schwesterherz. Ich weiß auch schon, wer für diesen kleinen Spionage-Auftrag optimal geeignet ist. Aber erst einmal sollten wir …« Phoebe unterbrach sich selbst mitten im Satz. Die Wände und die Tür des Apartments waren ziemlich dünn und so konnten die beiden Hexen hören, wie sich vom Flur aus Schritte näherten. »Oh, nein«, keuchte Paige leise. »Ist das etwa Sorvino?« »Hört sich ganz so an. Hätte mir denken können, dass so ein Eigenbrötler wie der nicht mit seinen Kollegen ausgeht.« Paige blickte sich hektisch um. »Was machen wir denn jetzt?« Anders als neulich in der Lagerhalle gab es in dem kleinen Apartment keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Der einzige Schrank, der dazu halbwegs groß genug gewesen wäre, war leider mit Comic-Heften zugestopft. Phoebe dachte fieberhaft nach. »Schnell, zur Tür!« flüsterte sie. Paige blickte ihre Schwester fassungslos an. »Warum denn ausgerechnet zur Tür?« »Frag nicht, komm endlich«, zischte Phoebe, packte ihre Schwester an der Schulter und zerrte sie unsanft in den Flur. »Du musst uns in dem Augenblick hinausteleportieren, in dem Sorvino die Tür öffnet. Dann haben wir eine Chance, dass er uns nicht beim Orben sieht. Schaffst du das?« Paige nickte etwas unsicher. »Klar. Hoffe ich!«
Die jüngste Halliwell-Schwester nahm Phoebe an der Hand und konzentrierte sich darauf, genau den richtigen Augenblick abzupassen. Mit einem leisen Knirschen schob sich – nur durch die dünne Tür getrennt und kaum einen Meter entfernt – ein Schlüssel ins Schloss. »Oh, nein«, keuchte Phoebe. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch immer den Zeitungsausschnitt in der Hand hielt. Sie wollte gerade zurücklaufen, um das Stück Papier wieder an die Pinnwand zu heften, als Paige sie zurückhielt. Mit einem ›Klack‹ sprang das Schloss der Apartmenttür auf. »Das schaffst du nicht mehr«, keuchte Paige. »Lass mich das machen!« Phoebe zuckte erschrocken auf, als ihr der Zeitungsartikel samt der Pinnadel von einer unsichtbaren Kraft aus der Hand gerissen wurde. Eine Sekunde lang schwebte beides in der Luft, dann sauste die Nadel mit dem Papier wie ein Mini-Dartpfeil davon. Die Klinke der Haustür wurde heruntergedrückt. Im selben Augenblick bohrte sich der Pinn in die Korkplatte über dem Schreibtisch. Die Tür öffnete sich. Paige griff nach der Hand ihrer Schwester und schloss die Augen. Tim Sorvino öffnete die Tür und trat ein. Er blickte erstaunt auf, als die Luft direkt vor ihm leise aufzischte. Der junge Mann zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich nur ein Luftzug. Vielleicht kam ja langsam etwas Bewegung in das Wetter da draußen. Ohne hinzusehen, zog Sorvino die Tür hinter sich zu. Im selben Augenblick – das Schnapp-Geräusch des Schlosses war kaum verklungen – materialisierten Paige und Phoebe im Flur, auf der anderen Seite der Tür. Phoebe atmete tief aus. Ihr war gleichzeitig heiß und kalt geworden. »Gut gemacht, Paige«, keuchte sie. »Ja, ich bin auch ganz zufrieden«, strahlte Paige. »Allmählich habe ich den Bogen raus, was?«
»Kann man wohl sagen, Schwesterherz.« Die beiden Hexen gingen leise hinüber zum Fahrstuhl, dessen Tür noch offen stand. Sie schlüpften hinein und drückten auf den Knopf fürs Erdgeschoss. Eine halbe Ewigkeit später öffneten sich die Türen wieder. Davor wartete schon die lateinamerikanische Frau von vorhin, diesmal ohne Mülltüten. »Ah, da seid ihr ja wieder«, lächelte sie. »Und, habt ihr Mister Sorvino getroffen?« »Leider nicht«, erwiderte Phoebe mit Unschuldsmiene. »Er war wohl tatsächlich nicht da.« Die nette Dame zuckte nur mit den Schultern. »Tja, vielleicht erwischt ihr ihn ja ein anderes Mal.« Darauf kannst du wetten, dachte Phoebe, als die beiden Schwestern das Mietshaus wieder verließen.
27 DER ANRUF KAM, ALS Phoebe und Paige gerade auf halbem Weg nach Hause waren. »Gehst du mal dran?«, fragte Paige und nahm kurz die Hände vom Steuer, um über die Schulter auf ihre Handtasche zu deuten, die auf dem Rücksitz lag. Das Handy darin dudelte den Refrain des letzten Michael-JacksonHits. »Uargh«, spottete Phoebe und verrenkte sich in ihrem Gurt, um an die Handtasche zu kommen. »Du solltest mal deinen Musikgeschmack überdenken, Paige.« Mit einiger Mühe gelang es ihr, das Handy herauszufischen. Ein kurzer Rück auf das Display sagte Phoebe, dass ihre Schwester Piper am anderen Ende der Leitung war. »Hallo, Piper, was gibt's denn?«, rief Phoebe in den Hörer, um das Fahrgeräusch zu übertönen. Ein seltsames Summen tönte aus dem kleinen Lautsprecher. Bestimmt eine statische Störung, dachte Phoebe. »Erkläre ich dir später«, rief Piper aufgeregt in den Hörer. »Kommt bitte sofort nach Hause. Aber haltet bitte vorher noch an einer Drogerie und bringt so viel Anti-Mücken-Spray mit, wie ihr tragen könnt!« »Was? Wozu das denn?«, fragte Phoebe erstaunt zurück. »Keine Zeit für Erklärungen! Beeilt euch einfach! Aua!« Das Summen am anderen Ende wurde lauter, dann unterbrach Piper die Verbindung. »Was war denn los?«, fragte Paige und warf einen kurzen Seitenblick auf ihre Schwester. »Keine Ahnung.« Phoebe deutete auf einen großen Drogerie-Markt auf der anderen Straßenseite. »Aber fahr mal da rüber. Wir müssen etwas einkaufen!«
Knapp zwanzig Minuten später steuerte Paige ihren New Beetle in die Einfahrt des Halliwell-Hauses. Die beiden Schwestern rissen die Türen auf und griffen nach einer Hand voll Sprühdosen, die auf dem Rücksitz lagen. Auf allen war eine große, rot durchgekreuzte Stechmücke abgebildet. »Warum zum Teufel braucht Piper so viel Insektenspray?«, fragte Paige, während die beiden zur Haustür liefen. Phoebe hätte gern mit den Schultern gezuckt, aber dafür war sie zu schwer beladen. »Ich fürchte, wir werden es gleich herausfinden.« Direkt vor der Haustür stutzte sie. »Was ist denn das für ein Summen?« Phoebe und Paige zuckten zurück, als Piper die Tür aufriss. Paige ließ vor Schreck ein paar Sprühdosen fallen. Piper bückte sich danach. »Da seid ihr ja endlich. Gott sei Dank!« Phoebe riss die Augen auf. »Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?«, fragte sie. Ein halbes Dutzend kleiner, roter Punkte prangten auf Pipers ansonsten makelloser Gesichtshaut. Wie kleine Pickel – oder Insektenstiche. »Kommt rein, dann werdet ihr es sehen!«, erwiderte Piper nur und zog die Haustür hinter ihren beiden Schwestern zu. Hier drinnen im Haus war das Summen allgegenwärtig. Es schien aus dem Wohnzimmer zu kommen. An der Tür zum Wohnzimmer stand Leo und blickte unsicher durch das Buntglasfenster in den Raum hinein. Phoebe bemerkte, dass die Türritzen und das Schlüsselloch mit Klebeband versiegelt worden waren. Offenbar in großer Eile. »Was zum Teufel ist denn hier los?«, wollte Phoebe wissen. Sie musste ihre Stimme erheben, um sich über das Summen hinweg verständlich zu machen. »Sieh selbst«, sagte Leo und deutete auf das Glasfenster. Phoebe stellte die Sprühdosen auf der Flurkommode ab und ging zur Wohnzimmertür hinüber. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um durch das Buntglasfenster der Tür blicken zu können.
Im selben Augenblick zuckte sie erschrocken zurück. Eine furchtbare, entfernt menschenähnliche Grimasse raste auf sie zu, prallte dann gegen die Scheibe und schien in tausend Richtungen gleichzeitig zu zerfließen. Kleine, herumsurrende Punkte kreisten ein paar Augenblicke lang in chaotischen Zirkeln in der Luft herum und setzten sich dann zu einem neuen Gesicht zusammen, das Phoebe böse anblickte. Phoebe spürte, wie ihr Herz klopfte. »Ist das … ein neuer Dämon?«, fragte sie keuchend. »Mann, habe ich mich erschrocken!« »Tja, das ging uns genauso«, sagte Piper und griff grimmig nach einer der Sprühdosen. Sie schüttelte sie, um den Inhalt sprühfertig zu machen. »Leo und ich wollten es uns gerade im Garten gemütlich machen, als plötzlich diese Stechmücken auftauchten. Erst waren es nur ein paar und wir haben uns nichts dabei gedacht. Aber dann kamen plötzlich immer mehr aus allen Richtungen herangeschwirrt und setzten sich zu diesem Dämon zusammen. Ich kann euch sagen, dieses Ding ist blutgieriger als Dracula persönlich.« Piper deutete mit dem Zeigefinger auf die kleinen Einstiche in ihrem Gesicht. »Zum Glück ist es uns gelungen, das Biest ins Wohnzimmer zu locken. Besonders helle ist es Gott sei Dank nicht. Auch eine Million Mückengehirne ergeben zusammengesetzt offensichtlich nur ein großes Mückengehirn.« Leo nickte. »Wir haben ihn im Wohnzimmer eingesperrt und alle Öffnungen mit Klebeband versiegelt. Aber eine Dauerlösung ist das auch nicht.« »Verstehe«, sagte Phoebe und warf Leo und Paige je eine der Sprühdosen zu. »Also hilft nur die chemische Keule.« »Ich fürchte schon«, nickte Piper. »Aber wenn wir die Tür jetzt öffnen, entwischt uns der Dämon. Wie gehen wir wohl am besten vor?« Leo überlegte kurz. Dann hatte er eine Idee. »Ich empfehle eine Guerilla-Taktik. Paige und ich könnten uns kurz und abwechselnd in das Wohnzimmer hineinorben, einen Sprühstoß auf den Dämon abgeben und wieder verschwinden, bevor er uns selbst angreifen kann.«
»Das müsste gehen«, murmelte Piper. »Immer ich«, seufzte Paige. Aber es half nichts. Die Vier besprachen noch kurz ihre Taktik, dann orbte sich Leo als Erster hinein. Durch das Glasfenster beobachtete Paige, wie der Wächter des Lichts im Inneren des Wohnzimmers wieder materialisierte. Mit einem wütenden Summen stürzte sich der Mücken-Dämon sofort auf ihn. Doch Leo war schneller. Er sprühte einen Strahl Insektenspray auf die Kreatur und Paige sah fasziniert zu, wie sich an der getroffenen Stelle sofort eine Lücke im Mücken-Leib des Dämons bildete. Hunderte von toten Insekten stürzten zu Boden. Der Dämon heulte wütend auf. Seine Pranken schienen sich in die Länge zu ziehen und wollten nach Leo greifen. Doch der Wächter des Lichts orbte sich im selben Augenblick wieder hinaus. Die Krallen des Dämons griffen ins Leere. Leo materialisierte hinter Paige im Hausflur. »Es funktioniert, Paige«, sagte Leo triumphierend. »Jetzt du!« Paige seufzte, schüttelte die Dose in ihrer Hand noch einmal gut durch und teleportierte sich ins Wohnzimmer. Sofort jagte der Dämon auf sie zu. Paige presste den Sprühknopf der Dose und teleportierte sich wieder in den Flur zurück, wo ihre Schwestern schon mit frisch geschüttelten Sprühdosen auf sie warteten … Dieses Spiel wiederholte sich innerhalb der nächsten halben Stunde noch ein paar Mal, und nach jeder Attacke wurde der Mücken-Dämon ein Stückchen kleiner. Schließlich waren nicht mehr genug lebende Mücken übrig, um noch einen menschlichen Umriss zu formen. Nun wagten es die drei Hexen und Leo, die Wohnzimmertür zu öffnen. Ein wütender, kleiner Schwarm aus Stechmücken surrte ihnen entgegen. Leo, Piper, Phoebe und Paige kassierten zwar ein paar Mückenstiche, aber gefährlich waren diese kleinen Quälgeister nicht mehr. Mit ein paar gezielten Sprühstößen gaben die drei Hexen und der Wächter des Lichts ihnen den Rest.
Die letzten paar Mücken flüchteten schließlich durch das Fenster, das Piper inzwischen wieder geöffnet hatte. Die Vier seufzten erleichtert auf. Besonders Paige war in Schweiß gebadet. Das Teleportieren war immer auch mit einer gehörigen, körperlichen Anstrengung verbunden. Sie hatte keine Ahnung, wie genau das funktionierte, aber auch magische Aktivitäten verbrauchten offensichtlich eine Menge Kalorien. Wenn sie allerdings auf den Teppich im Wohnzimmer blickte, verging ihr jeder Appetit. Tausende von toten Mücken lagen wie dicke, schwarze Staubkrümel auf dem Boden. »Igitt«, sagte Phoebe. »Wer macht diese Sauerei jetzt wieder weg?« Piper legte lächelnd einen Arm um Leo, dem ebenfalls der Schweiß auf der Stirn stand. »Oh, ich bin sicher, mein Herzallerliebster wird mir dabei zur Hand gehen, nicht wahr, Leo?« Der Wächter des Lichts verdrehte die Augen und stöhnte auf. »Nicht schon wieder!« Da meldete sich Phoebe zu Wort. »Ähm, vielleicht solltest du Leo nicht zu sehr beanspruchen, Piper!«, sagte sie. Leo nickte eifrig mit dem Kopf. »Ja, das finde ich auch!« »Denn wir brauchen ihn noch für einen ganz besonderen Einsatz«, fuhr Phoebe fort. Leo schwante nichts Gutes. »Was habt ihr denn jetzt wieder ausgeheckt?«, fragte er und ließ sich in einen mückenfreien Sessel fallen. »Trinken wir erst mal etwas«, stöhnte Paige und schlurfte hinüber in die Küche. Ein paar Minuten später saßen die drei Schwestern am Küchentisch und genossen den kühlen Orangensaft. Phoebe und Paige berichteten von ihrem kleinen Ausflug in Sorvinos Wohnung – und von den Zeitungsausschnitten, die sie dort gefunden hatten. »Mmh, dieser Sorvino scheint von dem alten Regisseur ja ganz besessen zu sein«, nickte Piper, als ihre beiden jüngeren Schwestern
ihren Bericht beendet hatten. »Irgendwie scheint dieser alte Mann in die Sache verwickelt zu sein«, murmelte sie. Leo nickte. »Stimmt. Die Parallelen zwischen den Morden in den 50er Jahren und den Verbrechen der letzten Tage sind einfach zu groß für einen Zufall.« »Ganz genau«, strahlte Phoebe. »Und deshalb dachten wir uns, du könntest diesem Landreau mal einen kleinen Besuch abstatten.« »Ja«, stimmte auch Paige ein. »Und er muss das ja nicht unbedingt mitkriegen.« Leo gab einen gequälten Laut von sich. Lieber hätte er den Rest des Abends tote Mücken vom Teppich gesaugt. »Also, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, antwortete er schließlich mit zögernder Stimme. »Ach, komm schon, die beiden haben Recht!« Piper klopfte ihrem Ehemann aufmunternd auf die Schulter. »Wenn Landreau etwas mit der Sache zu tun hat, dann müssen wir mehr über ihn herausfinden. Und außerdem – was soll schon groß passieren?«
28 N
» A, ES KANN EINE MENGE PASSIEREN«, Sagte Leo Und blickte an dem Apartment-Gebäude hoch, das sich vor ihn und den drei Hexen in den Nachthimmel streckte. »Zum Beispiel könnte mich Landreau da oben erwischen und mich wegen Hausfriedensbruch anzeigen. Dann werde ich der erste Wächter des Lichts sein, der im Gefängnis landet.« Piper verdrehte die Augen. Während der ganzen Fahrt hierher hatte Leo schon mit seinen Einwänden herumgequengelt. Dabei war er als Wächter des Lichts am besten dazu geeignet, einen kurzen Blick in Gustav Landreaus Apartment zu werfen. Auch die drei Hexen betrachteten die Fassade des Hochhauses, das sich schlank und elegant in die Höhe reckte. Gegen dieses Gebäude konnte selbst das edle Eckhaus nicht mithalten, in dem Virginia Fontaine wohnte. Dieses Haus war kein Wohnturm, sondern eine Residenz. Piper hatte ihren Wagen in gebührender Entfernung geparkt und blickte auf die Eingangshalle des Gebäudes. Große Panoramafenster gaben den Blick auf weiße Marmorwände frei. Hinter einem Pult, das so groß zu sein schien wie die Küche des Halliwell-Hauses, saß – nein, thronte – ein Nachtportier. Er würde die drei Schwestern nicht einmal bis zum Aufzug der Lobby kommen lassen. Jedenfalls nicht ohne ausdrückliche Einladung von einem der Mieter. Also musste Leo ran. Als Wächter des Lichts beherrschte er das Orben am besten. Für ihn sollte es kein Problem sein, ins Penthouse einzudringen, ohne gleich einen Großeinsatz der Polizei auszulösen. Und scheinbar hatten sie Glück, denn in der obersten Etage des Hochhauses brannte kein Licht. Gustav Landreau schien nicht daheim zu sein. Es war kein Problem gewesen, die Adresse des alten Mannes herauszubekommen. Gustav Landreau hatte viele Fans und Bewunderer, die ihm eine eigene Website gewidmet hatten. Auf einer der Internetseiten war Paige auch auf die Adresse des alten Regisseurs gestoßen.
Warum auch nicht – wer in einer solchen Festung wohnte, der brauchte daraus kein Geheimnis zu machen. Dort oben kam kein ungebetener Gast hinein. Es sei denn, er war zufällig ein Wächter des Lichts. Piper klopfte ihrem Mann noch einmal aufmunternd auf die Schulter. »Stell dich nicht so an, Leo. Du orbst einfach rein und schaust dich ein wenig um. Vielleicht findest du ja irgendwelche Hinweise darauf, dass Landreau in die Mordserie verwickelt ist.« »Oder mit Sorvino unter einer Decke steckt!«, sagte Paige dazwischen. Leo winkte ab. »Schon gut, ich habe schon verstanden, um was es geht. Mir ist zwar nicht wohl in meiner Haut, aber ihr gebt ja sonst keine Ruhe. Ist die Luft rein?« Die drei Schwestern blickten sich um. Es ging bereits auf Mitternacht zu, und die Straßen waren menschenleer. Niemand war in der Nähe, der sich darüber hätte wundern können, dass der männliche Begleiter der drei jungen Frauen plötzlich blau aufschimmerte und verschwand. Warme Luft strömte in das Vakuum, das Leo hinterlassen hatte. Dann deutete nichts mehr darauf hin, dass gerade noch eine vierte Person auf dem Bürgersteig gestanden hatte. »Viel Glück, Leo«, murmelte Piper. Sie ahnte nicht, wie sehr ihr Ehemann das gebrauchen konnte … Gustav Landreau saß in dem kleinen Schnittstudio und blickte gutmütig lächelnd auf den kleinen Monitor. Sein Lächeln machte kurz über den Mundwinkeln Halt. Die Augen des alten Regisseurs blickten kalt und unnahbar wie immer. Aber das schien den jungen Mann nicht zu stören. Voller Begeisterung kommentierte er die Szenen auf dem Monitor, einzelne Sequenzen von ›Scream X-Treme‹, die jetzt noch in einer völlig chaotischen Reihenfolge abliefen. »Und jetzt kommt Ihr Auftritt, Sir! Die Szene am Voodoo-Altar, die wir in der Lagerhalle gedreht haben.«
Der junge Mann hatte Landreau mitten in der Nacht angerufen, und ihn gefragt, ob ersieh nicht die fertigen Szenen des Films ansehen wolle. Landreau hatte zugestimmt. Warum auch nicht? Der Schlaf kam immer seltener, und viele Stunden auf Erden blieben ihm ohnehin nicht mehr. Warum sie also im Bett verbringen? Außerdem konnte er die Begeisterung des Jungen verstehen – als er, Gustav Landreau, seinen ersten Film gedreht hatte, war er ähnlich aufgeregt gewesen. Der junge Mann drückte die ›Play‹-Taste des Schnittgeräts. Der Monitor flammte auf, und ein paar Augenblicke später flimmerte die Altar-Szene über den Bildschirm. Landreau sah sich selbst hinter dem Altar aus Pappmache. Künstlicher Rauch wallte auf und brachte die Kerzen zum Flackern. »Nicht schlecht, mein Freund«, lobte Landreau. »Hervorragend inszeniert, das muss ich sagen.« »Finden Sie wirklich?« Der junge Mann errötete. »Oh, vielen Dank. Aus Ihrem Mund bedeutet mir das sehr viel, Sir.« Landreau lächelte in sich hinein, als er sah und hörte, wie sein Film-Ich eine alberne Beschwörungsformel murmelte. Er hatte in seinem Leben genug echte Beschwörungen dunkler Mächte durchgeführt, um zu wissen, wie so ein Ritual tatsächlich aussah. Er konnte sich nur zu gut an den kühlen Luftzug erinnern, der bei einer solchen Gelegenheit durch den Raum kroch. An das Knistern der Luft, das einem die Haare zu Berge stehen ließ. Und an das erschreckende und doch berauschende Gefühl, eine verbotene Grenze überschritten zu haben. Landreau war etwa im Alter des jungen Mannes neben ihm gewesen, als er zum ersten Mal Kontakt mit den Mächten der Unterwelt aufgenommen hatte. Damals war er vor diesen Barbaren aus Nazi-Deutschland nach Hollywood geflüchtet, um seine Karriere hier fortzusetzen. Doch anfangs hatte es nicht gut ausgesehen. Sein Englisch war schlecht, und er war bei weitem nicht der einzige Regisseur, der aus Europa nach Hollywood geflüchtet war. Verzweifelt hatte er nach Aufträgen gesucht und war von den Studiobossen immer wieder vertröstet worden. Doch als Regisseur von Gruselfilmen hatte er sich schon immer mit den okkulten Mächten beschäftigt, sodass er eines Tages auf die Idee gekommen war, diese tatsächlich einmal um Hilfe anzuflehen.
Es hatte nicht lange gedauert, bis ein mächtiger Dämon auf seine Rufe reagiert hatte. Der Namenlose. Der Sammler. Der Regisseur hatte ihm seine Seele versprochen, im Tausch dafür, dass Landreau die echtesten Filmmonster seiner Zeit erschaffen würde. Besiegelt hatte er den Pakt mit Blut – nicht mit seinem eigenen, natürlich. Nein, es kostete sechs Menschenopfer, um den Handel perfekt zu machen. Und in den folgenden Jahren – Landreau war inzwischen zu einer Berühmtheit geworden – hatte er diese Opfer geschickt ausgewählt. Warum sollte er auch nicht das Nötige mit dem Nützlichen verbinden? Sechs Feinde und Widersacher, darunter seine erste Frau, hatte er auf magische Weise – mit beseelten Filmmonstern – getötet. Landreau lächelte – und diesmal zog sich das Grinsen tatsächlich über sein ganzes Gesicht. Er erinnerte sich gern daran, wie er seine Feinde, einen nach dem anderen, ausgeschaltet hatte. »… finden Sie nicht auch, Mister Landreau?« Der alte Regisseur war so in seine Erinnerungen vertieft gewesen, dass er die Frage des jungen Mannes gar nicht mitbekommen hatte. »Ja, sicher«, antwortete er einfach. Es schien die Antwort zu sein, die sein junger Schüler erwartet hatte. Der Junge lächelte glücklich. Landreau spürte einen leisen Stich im Herzen und massierte seine Brust. Der junge Mann bemerkte es. »Geht es Ihnen nicht gut, Sir?«, fragte er besorgt. Landreau winkte ab. »Schon gut, es ist nichts weiter. Aber ich fürchte, meine Zeit läuft langsam ab. Sie wissen schon, junger Freund, dass noch drei Opfer fehlen, bis unser kleiner Handel abgeschlossen ist?« Der junge Mann nickte. »Aber natürlich, Sir. Morgen Abend drehen wir das Finale im P3. Danach werden die drei Schwestern auf mysteriöse Weise ums Leben kommen. Und der Vertrag ist erfüllt.« »Sehr schön, mein Freund«, lächelte Landreau und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
Die Zeit lief langsam aus. Kurz vor dem Ende seines Lebens hatte Landreau begonnen, sich Sorgen um seine unsterbliche Seele zu machen. Doch wie es sich erwiesen hatte, war diese Sorge unbegründet gewesen. Der Namenlose war nur allzu bereit, sich auf einen neuen Deal einzulassen. Wenn Landreau dem Dämon eine neue, frische Seele verschaffte, bekam er seine eigene zurück. Gerade rechtzeitig vor seinem Tod. Ja, alles lief genau nach Plan. Und der willfährige junge ›Seelenspender‹ saß genau neben ihm und faselte über seinen albernen Film. Landreau hörte schon gar nicht mehr hin, als er auf seiner Brust plötzlich etwas Warmes spürte. Diesmal war es nicht sein Herz. Ohne dass der junge Mann es überhaupt bemerkte, zog Landreau einen kleinen Anhänger hervor, der an einer Silberkette baumelte. Das kleine magische Amulett erinnerte an einen stilisierten Teufelskopf. Und es schimmerte grünlich auf. Landreaus kleine, magische Alarmanlage. Das Glühen bedeutete, dass in diesem Augenblick jemand, der selbst über magische Kräfte verfügte, in sein Penthouse eindrang. Aber der alte Regisseur war für solche Fälle gewappnet. Seit sechzig Jahren beschäftigte er sich jetzt mit schwarzer Magie und hatte dabei den einen oder anderen Trick gelernt. Landreau lehnte sich entspannt zurück. Nur zu, mein ungebetener Gast, dachte er. Du wirst dein blaues Wunder erleben.
29 LEO
MATERIALISIERTE IM PENTHOUSE VON Gustav Landreau. Die Luft schimmerte vor seinen Augen blau auf, dann konnte er wieder etwas sehen. Der Wächter des Lichts keuchte auf. Erblickte genau in das schuppige Gesicht eines Monsters. Weit aufgerissene Glubschaugen sahen ihn an, und im Maul des Monsters schimmerten spitze, gelblich gefärbte Zähne. Instinktiv ging Leo in Kampfstellung und bereitete sich darauf vor, wieder zu verschwinden. Doch im nächsten Augenblick atmete er wieder erleichtert auf. Was er im ersten Moment für ein Monster gehalten hatte, war nur das Modell einer Filmfigur gewesen. Sie stand in einem Regal und glotzte Leo teilnahmslos an. Der Wächter des Lichts war kein Film-Experte, aber das musste das Monster aus der Todeslagune sein, oder wie immer dieser Film auch hieß. Eines von Landreaus frühen Werken. Das Wasser-Monster stand nicht allein im Regal. Wie in einer Trophäensammlung waren daneben weitere Souvenirs aus anderen Filmen ausgestellt: Die Fellkralle eines Werwolfs, die sich wahrscheinlich wie ein Handschuh überstreifen ließ, das künstliche Gebiss eines Vampirs, die Strahlenwaffe eines Außerirdischen, ein mit Kunstblut beschmiertes Messer und vieles mehr. Diese Requisiten mussten für Sammler einen enormen Liebhaberwert haben, aber für Landreau waren sie wahrscheinlich noch kostbarer. Es waren die Andenken an ein langes Leben als Hollywood-Regisseur. Leo fragte sich, warum die sterblichen Menschen so gerne ins Kino gingen, um sich dort zu gruseln. Wahrscheinlich ahnten sie im Unterbewusstsein, dass es Mächte gab, die jenseits ihrer Vorstellungskraft wirkten. Und der künstliche Schrecken im Kino war vielleicht eine Methode, diese unbewusste, aber reale Furcht abzubauen. Leo atmete tief aus. Das war jetzt kaum der richtige Zeitpunkt für philosophische Betrachtungen. Der Wächter des Lichts fühlte sich unwohl in seiner Haut. Immerhin war er wie ein Dieb in der Nacht in eine fremde Wohnung eingedrungen. Und bis jetzt gab es noch keinen
Beweis dafür, dass Gustav Landreau tatsächlich in die Morde verwickelt war. Aber um das herauszufinden, war er ja hier. Leo blickte sich um. Der Mond schien durch die gewaltigen Panoramafenster und tauchte das Innere des Apartments in silbriges Licht. Die Einrichtung wirkte dadurch noch kühler und unnahbarer, als sie es bei Tageslicht wahrscheinlich schon war. Das Penthouse war sehr minimalistisch mit modernen Designermöbeln eingerichtet, von denen jedes einzelne Stück wahrscheinlich mehr kostete als die komplette Wohnzimmereinrichtung im Halliwell-Haus. Obwohl niemand zu Hause war, arbeitete die Klimaanlage auf Hochtouren. Eiskalte Luft strömte aus versteckten Düsen in die Wohnung und verstärkte noch Leos Eindruck, in eine luxuriös eingerichtete Eiskammer geraten zu sein. Wenn man aus der Wohnungseinrichtung eines Menschen tatsächlich auf seinen Charakter schließen konnte, dann musste dieser Landreau ein ziemlich kalter Hund sein. Aber das war ja noch kein Verbrechen. Leo brauchte Beweise – oder zumindest ein paar Hinweise auf magische Aktivitäten. Mit leisen Schritten ging der Wächter des Lichts zum Bücherregal. Fein säuberlich standen hier Dutzende von Büchern aufgereiht, hauptsächlich Bücher über die Geschichte des Films und das Filmemachen. Ein paar der Prachtbände standen ein Stück weit über die Kante der Einlegebretter hinaus. Anhand der Titel konnte Leo sehen, dass einige der Bücher sogar von Landreau und seinen Filmen selbst handelten. Sie sahen nicht aus, als wäre viel darin gelesen worden. Wie dem auch sei, Bücher über Magie konnte Leo nicht entdecken. Erließ seine Blicke weiter umherschweifen. Nichts deutete darauf hin, dass Landreau hier irgendwelche magischen Rituale abhielt. Leo atmete tief aus und bereitete sich darauf vor, wieder zurückzuorben. Der Wächter des Lichts ging zum Fenster und blickte hinunter. Am Ende des Blocks konnte er drei winzige Gestalten erkennen, die neben einem schwarz schimmernden Auto auf der Straße standen. Piper und ihre beiden Schwestern. Die drei Hexen würden enttäuscht sein, wenn er ohne irgendwelche Beweise oder auch nur Anhaltspunkte zurückkam.
Aber was sollte er machen? Leo blickte sich noch ein letztes Mal um. Irgendetwas irritierte ihn. Der Wächter des Lichts runzelte die Stirn. Was passte hier nicht? Der Breitwand-Fernseher, die Designermöbel, das tiefe Bücherregal, die Vitrine mit den Souvenirs … Sein Kopf fuhr zurück. Das Bücherregal. Das schwere Designer-Stück war mindestens einen halben Meter tief – trotzdem standen einige der größeren Bildbände über den Rand. Mit gerunzelter Stirn ging Leo noch einmal zu dem Regal und untersuchte es genauer. Der Wächter des Lichts zog einen der überstehenden Prachtbände heraus und hielt ihn dann von außen gegen die Seitenwand. Tatsächlich – das Regal war so tief, dass der Bildband eigentlich komplett hineinpassen müsste. Was er aber nicht tat. Das ließ eigentlich nur einen Schluss zu: Im Regal befand sich eine zweite Wand, die von außen nicht sichtbar war. Leo stellte das Buch zurück und drückte vorsichtig von der Seite gegen das Regal. Es bewegte sich keinen Millimeter. Auch irgendwelche Ritzen oder Scharniere waren nicht zu sehen. Trotzdem war sich Leo sicher, dass sich hinter dem Regal eine Art Geheimtür befinden musste. Fieberhaft suchte er nach irgendwelchen Spuren. Vergeblich. Doch so leicht gab der Wächter des Lichts nicht auf. Wenn sich hinter dem Regal tatsächlich eine Geheimtür verbarg, dann musste es doch irgendeinen versteckten Mechanismus geben, der sie öffnete. Noch einmal ließ Leo seinen Blick über die Bücher im Regal gleiten. Ein paar Dutzend Bände standen vor ihm, alle nagelneu, einige sogar noch in Folie verschweißt. Ein großer Leser schien Landreau ja nicht gerade zu sein. Dann entdeckte Leo etwas Seltsames: Mitten zwischen den druckfrischen Prachtbänden stand ein dickes Buch, dessen Rücken rau und abgegriffen wirkte. ›Edgar Allan Poe – Erzählungen‹.
Offensichtlich war dies das einzige Buch, das Mister Landreau öfter zur Hand nahm. Oder das einen anderen Zweck erfüllte. Leo griff nach dem Buch und zog es heraus, bis er einen Widerstand spürte. Das Buch klappte nach unten weg, als ob es mit einem Scharnier befestigt worden wäre. Tatsächlich hatte der Wächter des Lichts den Geheim-Mechanismus entdeckt. Erschrocken machte Leo einen Schritt zurück, als ein versteckter Elektromotor aufsummte und das Buchregal sanft zur Seite glitt. Dahinter kam eine Stahltür zum Vorschein, die in die Wand eingelassen worden war. Als der Elektromotor verstummte, machte Leo ein paar Schritte nach vorn Und drückte die Tür auf. Im selben Augenblick brach die Hölle los.
30 PIPER,
PHOEBE UND PAIGE standen auf der Straße und blickten auf das Gebäude. Piper trommelte nervös mit den Fingern auf das Wagendach. »Verflixt, wo bleibt er bloß?«, fragte sie. Phoebe blickte auf ihre Uhr. »Er ist schon fast eine Viertelstunde da oben«, murmelte sie. »Allmählich mache ich mir auch Sorgen. Er sollte doch nur mal kurz reinspringen und sich etwas umsehen. Das kann doch nicht so lange dauern …« »Ihm wird doch nichts passiert sein«, sagte Paige und sprach damit aus, was ihre Schwestern befürchteten. »Ach, Unsinn.« Phoebe winkte ab. Ihre Stimme klang dabei nicht so überzeugend, wie sie es sich gewünscht hätte. Phoebe konnte sich noch gut an die Begegnung mit Gustav Landreau erinnern, neulich in der Lagerhalle. Der alte Mann war ihr definitiv nicht geheuer. Und er schien genau gewusst zu haben, dass die drei Schwestern die Zauberhaften waren. Landreau war also kein unbeschriebenes Blatt, was Magie und Zauberei anging. Vielleicht hatte er in seiner Wohnung wirklich etwas zu verbergen … und hatte gewisse Vorsichtsmaßnahmen gegen unerwünschte Besucher getroffen. Phoebe biss sich auf die Lippen. Sie hätte mit Leo und Piper vorher über diesen Verdacht reden sollen. Sie würde es sich nie verzeihen, wenn Leo etwas zustoßen sollte. Und Piper würde ihr das noch viel weniger verzeihen. Phoebe wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn und legte ihrer älteren Schwester aufmunternd eine Hand auf die Schulter. »Keine Sorge, Piper. Leo kommt bestimmt gleich zurück. Vielleicht hat er da oben etwas Interessantes gefunden und geht jetzt den Spuren nach. Wir sollten –« Ein Aufschrei von Paige unterbrach Phoebe mitten im Satz. »Seht euch das an!«
Piper und Phoebe blickten erschrocken nach oben. Die Panoramafenster des Penthouses blitzten grünlich auf, wie bei einem unheimlichen Wetterleuchten. »Oh, nein«, keuchte Piper. Leo stieß die Tür zu dem geheimen Raum auf und erstarrte. Das versteckte Zimmer war größer, als er vermutet hatte. Auf dem Boden war mit schwarzer Kreide ein großes Pentagramm aufgezeichnet. An den sechs Spitzen standen schwarze, halb abgebrannte Kerzen. Der Geruch von Rauch lag noch in der Luft, also war hier vor gar nicht allzu langer Zeit ein magisches Ritual abgehalten worden. Fast noch erschreckender als das unheilige Pentagramm am Boden waren die Wände des Geheimzimmers, die über und über mit magischen Schriftzeichen und Runen bedeckt waren. Leo war kein Experte für schwarze Magie, aber auf den ersten Blick erkannte er gleich mehrere verbotene Schriftzeichen, die zur Beschwörung böser Geister und Dämonen dienten. Eins stand fest: Gustav Landreau hatte sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur hinter der Kamera mit Okkultismus beschäftigt. Die Studien der Verbotenen Schriftzeichen – so viel wusste Leo – waren überaus kompliziert, da die dahinter verborgene Sprache keiner menschlichen Sprache glich. Wer in der Lage war, ganze Wände mit diesen Runen zu beschriften, musste sich lange, sehr lange, damit beschäftigt haben. Leo spürte ein seltsames Kribbeln in seinem Bauch. Wahrscheinlich war das der Schock über seine Entdeckung. Vorsichtig näherte er sich einer der Wände. In einer Sprache, die Leo erkannte – in Latein – war dort eine weitere Beschwörungsformel aufgekritzelt worden. Die Buchstaben schimmerten schwarz-braun, und Leo musste nicht lange herumrätseln, um zu erkennen, dass sie vor langer Zeit mit Blut geschrieben worden waren. Mühsam entzifferte der Wächter des Lichts die uralte Formel. Er erkannte sie wieder: Dies war eine Beschwörung, um einen namenlosen Schatten-Dämon herbeizurufen, einen Seelensammler! Es gehörte nicht viel dazu, sich zusammenzureimen, dass Landreau tatsächlich seine Seele verkauft hatte!
Leo erschauderte und das Kribbeln in seinem Bauch wurde stärker. Unangenehm. Er blickte sich um. Dann wurde er schlagartig bleich. Die Wände um ihn herum waren so eng mit Runen und Schriftzeichen bekritzelt worden, dass er das Symbol am anderen Ende der Wand zunächst gar nicht bemerkt hatte. Drei ineinander geschobene Dreiecke bildeten das stilisierte Abbild einer Teufelsfratze, mit spitz zulaufendem Kinn und Hörnern zu beiden Seiten. Ein Dämonenbanner! Eine Art Todesfalle für Wesen der weißen Magie. Daher also das Kribbeln in seinem Bauch. Leo keuchte auf und wollte sich in Sicherheit orben. Doch plötzlich spürte er, wie sein ganzer Körper und damit auch seine Seele von dem Symbol an der Wand angezogen wurden. Das Dämonenbanner glomm grünlich auf und übte eine regelrechte Anziehungskraft auf den Wächter des Lichts aus. Als ob ihn eine gewaltige Pranke gepackt hätte, raste Leo durch den Raum und prallte mit der Brust auf das Abbild der Teufelsfratze. Grüne Blitze flammten auf, als der Aufprall die Luft aus Leos Lungen presste. Dem Wächter des Lichts wurde schwarz vor Augen. Der Aufprall gegen die Wand allein hatte ihm fast schon das Bewusstsein geraubt. Aber das war nicht das Schlimmste. Leo spürte, wie sich das magische Symbol in seine Brust brannte. Sein T-Shirt verschmorte, und die ineinander geschobenen Dreiecke auf der Wand versengten seine Haut. Gleichzeitig spürte Leo, wie das Teufelssymbol auch einen unheilvollen Einfluss auf seine Seele ausübte. Der Dämonenbanner bemächtigte sich der Seele eines Lichtwesens, um sie aus dieser Welt zu reißen. Für immer. Zurückbleiben würde von ihm nur eine seelenlose Hülle. Leo bäumte sich auf. Mit aller Gewalt stemmte er sich gegen die Wand und versuchte, von dem Symbol wegzukommen.
Vergeblich. Die Macht, die von der stilisierten Satansfratze ausging, war einfach zu stark. Leo spürte, wie ihn die Energie verließ. Um ihn herum blitzten grüne Funken auf. Er sah Sterne vor seinen Augen, und dahinter lauerte eine tiefe, alles verschlingende Dunkelheit. Der Wächter des Lichts spürte, wie sich sein Bewusstsein immer mehr von der Situation zu entfernen schien. Schon kam es ihm vor, als würde er sein eigenes Ende nur noch als unbeteiligter Beobachter betrachten. NEIN!, rief eine innere Stimme. Du darfst nicht aufgeben! Du hast eine Verantwortung! Als Wächter des Lichts! Und als Ehemann von Piper! Du darfst sie nicht im Stich lassen! Piper! Mehr als alles andere half der Gedanke an seine Frau dem Wächter des Lichts, sich ein letztes Mal aufzubäumen. Irgendwo da unten wartete Piper darauf, dass er wieder zu ihr zurückkehrte. Und auch er sehnte sich nach ihr! Piper … er musste zurück zu Piper! Leo sammelte ein letztes Mal alle Kräfte und konzentrierte sich. Dann wurde es schwarz um ihn herum. »LEO!«, rief Piper entsetzt auf. Die drei Schwestern waren erschrocken zusammengezuckt, als die Luft vor dem geparkten Wagen plötzlich blau aufgeleuchtet war. Einen Sekundenbruchteil später materialisierte Leo. Der Wächter des Lichts sah furchtbar aus. Sein Hemd war zerfetzt, und ein seltsames Symbol, das entfernt an eine Satansfratze erinnerte, hatte sich in seine Brust eingebrannt. Leo hatte nur kurz Pipers Namen gestöhnt und war dann ohnmächtig zusammengebrochen. Piper und Phoebe hatten ihn gerade noch auffangen können. »Leo, bist du in Ordnung? Was ist da oben passiert?!«, fragte Piper halb wahnsinnig vor Sorge. Aber der Wächter des Lichts antwortete nicht. Was immer da oben auch auf ihn gelauert hatte, er hatte sein letztes Quäntchen Energie gebraucht, um sich in Sicherheit zu bringen.
Piper presste ihre Hand auf Leos Brust. Die geschundene Haut schien zu glühen. »Sein Herz schlägt«, keuchte sie. »Er lebt! Gott sei Dank!« »Wir müssen ihn nach Hause bringen!«, rief Paige und riss die Fahrertür auf. »Los beeilt euch! Bringt ihn rein!« Sekunden später hatten Piper und Phoebe den bewusstlosen Wächter des Lichts auf den Rücksitz gezwängt. Leo ließ es willenlos mit sich geschehen, er war in eine tiefe Ohnmacht gefallen. Ein paar Sekunden später brauste Paige los. Mit quietschenden Reifen raste sie zurück zum Halliwell-Haus. Gut zwanzig Minuten später quietschten die Reifen des New Beetles erneut, als Paige ihren Wagen in der Einfahrt des Hauses abbremste. Leos Zustand hatte sich während der Fahrt nicht gebessert. Im Gegenteil, der Wächter des Lichts war noch immer bewusstlos, und seine Haut war von Minute zu Minute bleicher geworden. Es war, als hätte irgendetwas seine gesamte Energie abgesaugt. Piper und Phoebe zogen Leo aus dem Wagen. Um diese Zeit waren keine neugierigen Nachbarsblicke mehr zu befürchten, also packte Paige mit ihren telekinetischen Kräften mit an. Zu dritt schafften sie den Wächter des Lichts in Rekordzeit ins Haus. »Legt ihn auf die Couch im Wohnzimmer!«, rief Piper, kaum dass sie das Anwesen betreten hatten. »Was hast du vor?«, fragte Phoebe. Sie selbst hatte keine Ahnung, was sie jetzt tun sollten. Was immer dem Wächter des Lichts zugestoßen war – Kamillentee und kühle Wickel würden ganz sicher nicht helfen. Piper stürmte schon die Treppe zum Dachboden hinauf. »Ich hole das Buch der Schatten! Vielleicht gibt es irgendeinen Heilzauber, der ihm helfen kann!« »Okay! Gute Idee!«, rief Phoebe noch, aber Piper hörte sie schon gar nicht mehr. Atemlos hetzte sie die Stufen hinauf. Die Luft auf dem Dachboden war durch die Hitze der letzten Tage unerträglich geworden, aber Piper merkte das gar nicht. Sie riss das magische Ruch von seinem Podest und stürmte damit wieder hinunter. Normalerweise entfernte sie das Buch der Schatten nur ungern von
seinem angestammten Platz, aber das hier war ein Notfall. Sie würde wahnsinnig werden, wenn Leo irgendetwas zustieß. Sie hatte vor ein paar Monaten erst Prue, ihre älteste Schwester verloren, und wollte das nicht noch einmal durchmachen. Mit dem Buch unter dem Arm rannte Piper ins Wohnzimmer. Leo lag regungslos auf der Couch. Ihre beiden Schwestern standen hilflos daneben. »Ich fürchte, er wird immer schwächer«, flüsterte Paige. Piper warf das Buch der Schatten auf den Wohnzimmertisch und schlug es auf. Sie durften keine Zeit verlieren. Das Buch spürte stets auf eine geheimnisvolle Art, nach was die Schwestern suchten. Seine ganz spezielle Magie bestand darin, immer genau die Informationen bereitzustellen, die die drei Zauberhaften brauchten. Unser ›magisches Internet‹ hatte Paige das Buch einmal genannt, und wahrscheinlich lag sie mit diesem Vergleich gar nicht so falsch. Hoffentlich funktionierte es auch diesmal. »Komm schon, Buch«, zischte Piper und blätterte hektisch die vergilbten Seiten durch. Paige sah ihr dabei neugierig über die Schulter. Piper blätterte so schnell um, dass die jüngste HalliwellHexe zu erkennen glaubte, wie sich die Buchstaben immer erst in dem Augenblick bildeten, wenn eine Seite aufgeschlagen wurde. Piper murmelte die Überschriften laut mit. »Heidnische Riten, Heidekraut, Heilpflanzen, hier ist es … Heilschlaf! Los Mädels, beeilt euch!« Die beiden jüngeren Hexen traten näher an ihre Schwester heran und griffen nach ihren Händen. Gemeinsam zitierten sie die Zauberformel, die in großen Lettern auf der aufgeschlagenen Seite zu sehen war:
»Opfer, den der Bannstrahl traf, fall noch tiefer in den Schlaf! Das wird den Fluch bald niederringen, und zur Genesung dich schnell bringen!« Kaum hatten die drei Schwestern ihren magischen Singsang beendet, stöhnte Leo auf der Couch auf. Aber es war kein schmerzhaftes, sondern ein aufatmendes Stöhnen. Seine Gesichtszüge
entspannten sich. Fast augenblicklich kehrte ein wenig Farbe in das Gesicht zurück. Leos Brust hob und senkte sich in regelmäßigen Atemzügen. Sogar das eingebrannte Abbild des Dämonenbanners begann zu verblassen. Auch Piper und ihre Schwestern atmeten auf. »Ich glaube, das war ganz schön knapp«, flüsterte Phoebe. Piper nickte. »Allerdings. Was immer da oben passiert ist, es hat ihm übel mitgespielt. Aber du brauchst nicht zu flüstern, Phoebe. Hier im Buch der Schatten steht, dass Leo schlafen wird, bis er wieder ganz bei Kräften ist und bis dahin wird ihn nicht mal ein Kanonenschlag aufwecken.« Phoebe und Paige beobachteten lächelnd, wie sich ihre ältere Schwester schließlich neben Leo kniete und dem Wächter des Lichts durch die zerrauften Haare strich. »Nicht wahr, mein Schatz, du wirst schön schlafen, bis es dir wieder gut geht.« Leo, immer noch bewusstlos, antwortete mit einem herzhaften Schnarchen. Die drei Schwestern lachten auf. »Steht im Buch der Schatten vielleicht auch ein guter Anti-Schnarch-Zauber?«, fragte Paige grinsend. Die Zauberhaften zogen sich in die Küche zurück. Leo war über den Berg. Und was immer ihm zugestoßen war – sie konnten davon ausgehen, dass der alte Landreau irgendetwas zu verbergen hatte. Nur eine magische Falle konnte dem Wächter des Lichts so zugesetzt haben. Phoebe holte ein paar Gläser aus dem Regal und goss ihren Schwestern dann Orangensaft ein. »Was tun wir denn jetzt?«, fragte sie dabei. Piper überlegte kurz. Es hatte bereits drei Tote gegeben, und ihr Ehemann wäre beinahe das vierte Opfer geworden. Allmählich reichte es ihr. Sie nahm einen Schluck aus dem Saftglas und blickte ihre beiden Schwestern dann ernst an.
»Wenn ich das richtig sehe, findet doch morgen der Dreh im P3 statt, oder?« Paige nickte vorsichtig. »Ah, eigentlich schon. Möchtest du ihn etwa absagen, Piper?« Piper lächelte grimmig. »Aber ganz und gar nicht. Das ist eine gute Gelegenheit, um die ganzen Akteure dieses teuflischen Spiels noch einmal zu versammeln, bevor sie wieder verschwinden.« »Das stimmt«, nickte Phoebe. »Soweit ich weiß, sind bis auf die große Kampfszene im Nachtclub alle anderen Szenen bereits abgedreht.« »Sehr gut«, erwiderte Piper und stellte ihr Glas geräuschvoll ab. »Es wird Zeit, diesem Spuk ein Ende zu bereiten!« Im Wohnzimmer nebenan schnarchte Leo zustimmend.
31 DER GROSSE TAG DES Abschlussdrehs verlief ohne besondere Vorkommnisse. Leo lag noch immer im Tiefschlaf, aber seine Hautfarbe war schon wieder rosig und gesund. Auch das Teufelsmal auf seiner Brust war vollständig verschwunden. Piper schätzte, dass er innerhalb der nächsten paar Stunden aufwachen würde. Das Filmteam fand sich gegen acht Uhr abends vor dem P3 ein. Als die beiden kleinen Lieferwagen auf dem Parkplatz vorfuhren, stand die Abendsonne noch wie ein rot glühendes Auge am Himmel. Die Hitze hatte an diesem Tag wieder einen Rekord erreicht, und die Radiostationen meldeten Jahrhundertwerte. Aber es war ein Ende in Sicht. Die Meteorologen versprachen eine Wetteränderung, vielleicht noch für diese Nacht. Piper, Phoebe, Paige und Detective Morris standen am Hintereingang des P3 und winkten dem ankommenden Filmteam zu. Phoebe deutete auf eine winzige Wolke, die im Sonnenuntergang rot aufleuchtete. »Sieht nach Regen aus«, sagte sie optimistisch. »Für mich sieht das eher nach Ärger aus«, knurrte Piper und meinte damit das Filmteam, dass mit seiner Ausrüstung auf den Hintereingang zudrängte. »Ich hoffe immer noch, dass ich es nicht bereue, das P3 für diesen Unsinn zur Verfügung gestellt zu haben.« »Ach, was«, erwiderte Paige mit gespieltem Optimismus. »Da passiert schon nichts.« »Warum wolltet ihr mich eigentlich dabei haben?«, fragte Darryl Morris. Phoebe hatte ihn heute Morgen von der Redaktion aus angerufen und ihn gebeten, zu den Dreharbeiten zu kommen. › »Weil es sein könnte, dass wir heute den Puppenmörder stellen, Darryl. Möglicherweise hat der Fall ja auch eine nicht-magische Seite, für die wir einen, äh, konventionellen Ermittler brauchen können.« »Schön, zu wissen, dass ihr mich ab und zu überhaupt noch braucht, Piper«, erwiderte Darryl und lächelte gequält. Er mochte die drei Schwestern sehr gern, aber ihre magischen Einsätze waren nur schwer mit einem Dienstprotokoll in Einklang zu bringen.
»Ach, Darryl«, lächelte Piper, »du weißt doch, wie sehr wir deine Hilfe schätzen. Und denk dran – für das Filmteam bist du ein Reporter von ›Variety‹ und willst über den Abschluss der Dreharbeiten von ›Scream X-Treme‹ berichten.« »Alles klar«, nickte Darryl. Dann stand auch schon Andy Stewart, der Regisseur, vor ihnen. Er grinste aufgeregt wie ein Schuljunge und reichte Piper die Hand. »Piper, ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie uns Ihren Club als Drehort zur Verfügung stellen. Ich muss sagen, ich bin selbst schon etwas nervös. Man schließt nicht jeden Tag seine erste Regiearbeit ab!« »Kein Problem«, erwiderte Piper mit ihrem freundlichsten Grinsen. »Hauptsache, ihr zerlegt mir die Bude nicht.« »Das würden wir doch nie machen, Miss«, grinste Pete, der Kameramann, der direkt hinter Andy stand. »Wir wissen schließlich, was sich gehört.« Dann warf er einen Blick über die Schulter. »Also benimm dich diesmal, Lou«, mahnte er seinen Tonmann, »nicht, dass wieder so etwas passiert wie damals in Pasadena.« »Kommt nicht wieder vor«, murmelte Lou nur und trabte hinter Lou ins Innere des Clubs hinein. »Hey, Moment mal«, rief Piper den beiden hinterher. »Was war denn damals in Pasadena?!« »Ach nichts, Miss Halliwell«, rief Pete hinaus. »Sie haben doch eine Feuerversicherung, oder?« »Feuerversicherung?«, wiederholte Piper fassungslos. »Was zum Teufel meint er damit?« Paige grinste. »Ach, nichts. Der macht nur Spaß. Wie immer!« Hoffte sie jedenfalls. Die kleine Prozession, die an den drei Schwestern und Darryl vorbei ins Innere des P3 trabte, schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder trugen Assistenten diverse Ausrüstungsgegenstände an ihnen vorbei. »Ich hätte die Aschenbecher vielleicht doch festkleben sollen«, murmelte Piper.
Dann trat eine junge Frau mit langen blonden Haaren auf die Vier zu. Im ersten Augenblick dachten die drei Halliwell-Schwestern, es sei Virginia Fontaine, doch dann sahen sie die Muskeln, die sich unter dem T-Shirt der jungen Dame spannten. »Hallo«, sagte sie freundlich und lächelte die drei Schwestern an. »Ich bin Emma, das Stunt-Girl. Ich werde die Kampfszenen für Miss Fontaine drehen.« »Junge, Junge«, murmelte Darryl, als Emma im Inneren des Nachtclubs verschwunden war. »Mit der möchte ich mich aber auch nicht anlegen.« »Mit der da aber auch nicht«, murmelte Phoebe und deutete auf die echte Virginia Fontaine, die in diesem Augenblick aus einem Taxi stieg. Mit hoch erhobenem Kopf schritt Virginia auf die drei Schwestern zu. »Hi, Virginia«, sagte Paige freundlich. »Hast du dich wieder von deinem kleinen Schreck erholt?« »Natürlich. Ich bin schließlich ein Profi.« Die Schauspielerin blickte misstrauisch durch die Hintertür ins P3 hinein. »Na, dann bin ich ja mal gespannt auf die Location. Ich habe schon vom P3 gehört. Soll ja ganz nett sein, der Laden«, sagte sie dann und ließ die drei Schwestern stehen. »Eingebildete Pute«, grummelte Piper. Dann näherte sich noch eine Gestalt. Sie trug ein schwarzes T-Shirt und hielt zwei Holzkisten unter dem Arm. Tim Sorvino und seine Monster. »Das ist unser Hauptverdächtiger«, zischte Phoebe, bevor Sorvino in Hörweite war. »Hallo, Tim«, begrüßte Paige den jungen Mann freundlich. Sorvino blickte sie nur abschätzig an. »Das hier ist Mister Darryl Morris, von ›Variety‹. Er ist schon sehr gespannt auf deine Puppen.« »Das sind keine Puppen, das sind ›Animatronics‹«, erwiderte Sorvino kühl. Dann musterte er Darryl mit einem lauernden Blick und folgte dem Rest des Teams ins Innere des P3.
»Reizender Zeitgenosse«, murmelte Darryl. Die kleine Prozession schien beendet zu sein. Piper holte noch einmal tief Luft und betrat dann das Gebäude, gefolgt von Darryl und ihren beiden Schwestern. »Na dann – auf zum Finale!« Kaum eine halbe Stunde später hatte die Crew um Andy ihr Set komplett aufgebaut. Sie hatten das Innere des P3 zu Pipers Erleichterung nicht groß umgebaut. Ein paar der Tische und Stühle aus der Originalausstattung waren durch ›Props‹ ersetzt worden – nachgebaute Möbelstücke, die vor laufender Kamera zertrümmert werden sollten. Na, hoffentlich brachten die Leutchen da nichts durcheinander, dachte Piper. Doch alles in allem war sie angenehm überrascht, wie freundlich und professionell sich das Team benahm. Offensichtlich hatte die Crew Respekt vor dem Eigentum anderer. Und Piper musste zugeben, dass sie selbst schon ein wenig gespannt auf die eigentlichen Dreharbeiten war. Immerhin konnte man nicht jeden Tag einem echten Filmteam über die Schulter gucken. Trotzdem ließ die Älteste keine Sekunde lang den Hauptverdächtigen – Tim Sorvino – aus den Augen. Der junge Mann stand etwas abseits vom Geschehen und präparierte seine mechanischen Puppen für ihren großen Auftritt. Oder tat er nur so, um den Schein zu wahren? Die drei Schwestern wussten, dass die Monster-Figuren längst in der Lage waren, sich selbstständig zu bewegen. »Schaut mal, wie scheinheilig er an seinen kleinen Monstern herumschraubt«, zischte Phoebe ihren Schwestern zu. »Das wird ihm nicht viel nützen«, erwiderte Paige mit grimmigem Blick. »Sobald er irgendeinen Unsinn versucht, nehmen wir ihn hops!«
In diesem Augenblick trat Andy an die drei Schwestern heran. Er grinste aufgeregt über das ganze Gesicht. »Wir wären dann so weit«, sagte er. »Alles klar für den großen Schlusskampf!« Piper schluckte. Ganz wohl war ihr bei der Sache immer noch nicht. ›Schlusskampf‹ – das klang, als könnte dabei eine Menge kaputtgehen. »Was genau wird denn dabei passieren?«, fragte sie so beiläufig wie möglich. Aber Andy schien ihre Sorge zu spüren. »Keine Angst«, erwiderte er, »das ist alles genau choreografiert. Wir drehen am Anfang eine Szene, in der Virginia durch die Tür da vorn ins nächtliche P3 kommt. Dann geht sie etwa bis zur Mitte des Saales, wo sie von den ersten Monstern angegriffen wird.« Andy verdeutlichte seine Erklärungen, indem er auf die verschiedenen Stellen des Raumes zeigte. »Dann gibt es einen Schnitt, und Emma, unser Stunt-Girl, springt für Virginia ein. Sie ist eine perfekte Kung-Fu-Kämpferin und knöpft sich die Monster vor. Natürlich nur zum Schein, Tim würde mich sonst umbringen, wenn seinen kleinen Lieblingen etwas zustößt.« »Oh, ja, da ist er sensibel«, erwiderte Phoebe und erinnerte sich dabei an ihr erstes Zusammentreffen mit Sorvino und seiner MonsterMumie. »Aber sag mal, Andy, fällt es denn nicht auf, wenn mitten in der Szene ein Double für Virginia einspringt?« Andy lächelte verschmitzt. »Nicht, wenn man es geschickt filmt und nachher ebenso geschickt schneidet. Oder habt ihr bei ›Buffy‹ etwa irgendwann mal den Verdacht gehabt, dass Sarah Michelle ihre Kampfszenen nicht alle selber dreht?« Paige war verblüfft. »Ach, das tut sie nicht? So was, das ist mir tatsächlich nie aufgefallen.« Eine scharfe Stimme unterbrach das Gespräch zwischen Andy und den drei Schwestern. Es war Virginia Fontaine. »Können wir vielleicht mal bald anfangen?«, zischte sie. »Ich habe noch etwas anderes zu tun. Mein Verlobter gibt heute Abend noch einen Wohltätigkeitsball!« Andy verdrehte die Augen so, dass Virginia es nicht sehen konnte. »Mann, bin ich froh, wenn ich diese Hexe los bin«, flüsterte er. »Aber sie hat Recht, wir sollten langsam mal loslegen. Viel Spaß!«
Andy sagte ein paar Schmeicheleien zu Virginia und sprang dann auf die kleine Bühne, wo auch die Kamera aufgebaut worden war. »Diese Frau als Hexe zu bezeichnen ist wirklich eine Beleidigung«, flüsterte Piper. »Allerdings nur für uns!« Wie auf Kommando stellte sich in diesem Augenblick Darryl Morris zu ihnen. Seufzend deutete er auf Virginia Fontaine, die sich gerade in Positur begab. »Was für eine nervende Person«, seufzte er. »Kaum hat sie erfahren, dass ich angeblich von › Variety‹ bin, hat sie mir ein Interview aufgedrängt. Das nächste Mal gebt ihr mich einfach als Kabelträger aus, okay?« Die drei Hexen lachten leise auf. Darryl sah wirklich genervt aus. In diesem Moment gab Andy das Kommando. »Ton ab!« »Ton läuft!« »Kamera ab!« »Kamera läuft!« »Uuuund … Action!« Virginia Fontaine betrat den Hauptsaal des P3. Sie machte ein paar zögerliche Schritte, verfolgt vom Zyklopenauge der Kamera. Dann blieb sie in der Mitte des Raumes wieder stehen, riss erschrocken die Augen auf und – »CUT!«, rief Andy. »Wunderbar! Das nehmen wir!« »Was denn«, flüsterte Piper ihren Schwestern zu, »das war alles? Na, das hätte ich auch noch gekonnt.« »Okay, Pete, lass die Kamera gleich laufen, wir machen nahtlos weiter. Emma – dein Einsatz!« Andy gab dem Stunt-Double ein Zeichen. Die junge Frau trug jetzt dieselbe Bluse wie Virginia, sodass man ihre stattlichen Muskeln darunter kaum noch erkennen konnte. Beim ersten Hinsehen hätte man sie tatsächlich mit der Schauspielerin verwechseln können. Emma nahm genau Virginias Position ein. »Ich war dann so weit«, rief sie. »Und bitte!«, sagte Andy und blickte auf Tim Sorvino. Der junge Mann stand neben dem Regisseur und hatte sich seine Fernbedienung
umgehängt. Sekunden später stakste die Mini-Mumie unter einem Tisch hervor und griff das Stunt-Double an. Emma wich der Mörder-Puppe mit einem geschickten Sprung zur Seite aus und versetzte ihr einen Fußtritt. Anders als Phoebe damals bremste sie ihren Tritt jedoch kurz vor dem Kontakt ab, um die Puppe nicht zu beschädigen. »Hattet ihr nicht gesagt, diese Dinger würden sich absolut lebensecht bewegen?«, fragte Darryl leise. Der Detective klang etwas enttäuscht. Phoebe nickte. Für eine ferngesteuerte Puppe bewegte sich die Mini-Mumie zwar relativ flüssig, aber das war kein Vergleich zu der Geschicklichkeit, mit der sich zum Beispiel das Lagunen-Monster in Virginias Wohnung bewegt hatte. »Wahrscheinlich halt sich Sorvino absichtlich zurück, um keinen Verdacht zu erregen«, vermutete Phoebe. Darryl nickte. Sehr überzeugt sah er nicht aus. In der Mitte des Raumes tobte inzwischen ein wilder Kampf. Tapfer und mit genau choreografierten Bewegungen verteidigte sich Emma gegen immer neue Angriffe der Monster. Mittlerweile musste sie es mit allen fünf Kreaturen gleichzeitig aufnehmen. Phoebe nickte anerkennend. Sie selbst war die KampfsportExpertin der drei Hexen, aber von Emma konnte sie sich noch den einen oder anderen Trick abschauen. Schließlich war es so weit. Das Stunt-Girl beförderte die letzte der Figuren, den zotteligen Mini-Werwolf, mit einem gezielten Tritt ins Abseits. »CUT!« rief Andy. Und dann »GESTORBEN!« »Gestorben?«, fragte Piper erstaunt. »Was meint er damit?« Phoebe grinste. In den letzten Tagen hatte sie sich einiges Wissen über das Filmemachen angelesen. »Das heißt, dass die letzte Aufnahme im Kasten ist. Das war's!« Tatsächlich blickte das gesamte Team auf Andy und begann zu applaudieren. Ein paar ›Glückwunsch‹-Rufe hallten durch den Raum. Einige der Crew-Mitglieder umarmten sich freundschaftlich oder
klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich die angespannte Stimmung am Set in PartyLaune. Nur zwei Personen standen abseits und schienen sich von der allgemeinen Hochstimmung nicht anstecken zu lassen: Virginia Fontaine und Tim Sorvino. Virginia blickte nur genervt auf ihre Uhr und verschwand dann durch die Tür zum Vorraum. Wahrscheinlich wollte sie ihren Verlobten mit seinem Wohltätigkeitsball nicht länger warten lassen. Tim Sorvino dagegen ging durch den Raum und sammelte seine Monster-Puppen ein. Auch Phoebe und besonders Paige ließen es sich nicht nehmen, Andy zu gratulieren. Während Phoebe dem Jungregisseur nur die Hand schüttelte, wurde er von Paige überschwänglich umarmt und mit einem Kuss auf die Wange bedacht. »Meinen Glückwunsch, Andy!«, lachte sie. »Wie fühlst du dich, jetzt wo die Dreharbeiten beendet sind?« »Erleichtert«, strahlte Andy zurück. »Aber die Arbeit ist ja noch lange nicht fertig. Jetzt ist für die nächsten paar Wochen das Ackern im Schnittraum angesagt, damit aus den ganzen Einzelteilen auch ein richtiger Film wird.« »Oh, nein«, sagte eine Stimme neben dem Regisseur. Es war Pete, der Kameramann. Er klappte die Kamera auf und blickte totenbleich hinein. »Ich habe vergessen, einen Film einzulegen!« »Waaas?!« Andy riss die Augen auf und starrte Pete an. Der Kameramann hielt seine Pose noch einen Augenblick aufrecht, dann zog er eine Filmrolle hinter dem Rücken hervor. »Kleiner Scherz!« Lou, der Tonmann, lachte wiehernd auf. »Den macht er jedes Mal. Und es ist jedes Mal ein Volltreffer!« Andy schüttelte den Kopf. »Schämt euch, mich so zu erschrecken!« Dann stimmte auch er in das allgemeine Gelächter ein.
»Kommt ihr noch mit?«, fragte der Regisseur darin und wischte sich ein paar Lachtränen aus den Augen. »Wir gehen alle zusammen noch irgendwo einen trinken. Das muss schließlich gefeiert werden.« »Oh, sehr gern!«, strahlte Paige. Dann blickte sie sich um, als Piper ihr auf die Schulter tippte. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf Tim Sorvino, der sich – unbeachtet vom Rest der Crew – heimlich aus dem Hinterausgang schlich. Paige seufzte. »Ich fürchte, ich komme erst später nach, Andy. Meine Schwestern und ich, wir haben noch jemand … etwas zu erledigen.« Andy Stewart zuckte bedauernd mit den Schultern. »Schade, Paige. Da kann man nichts machen.« »Wir sehen uns«, fügte er dann noch hinzu.
32 S
» IEHT AUS, ALS WÜRDE ER nach Hause fahren«, sagte Phoebe. Sie saß auf dem Beifahrersitz von Darryls Wagen und ließ das Taxi vor sich nicht aus den Augen. Die drei Schwestern und der Detective hatten das P3 unauffällig verlassen und waren gerade noch rechtzeitig auf den Hof getreten, um zu sehen, wie Tim Sorvino ein Taxi heranwinkte. »Stimmt, hier waren wir schon mal«, sagte Paige vom Rücksitz aus. »Schon ziemlich komisch, dass unser junger Mister Sorvino nicht mit dem Rest der Crew feiern will, oder?« Darryl nickte und folgte dem Taxi, das in eine Straßenkreuzung einbog. »Komisch vielleicht, aber noch kein Verbrechen. Vielleicht ist er einfach nicht der gesellige Typ.« Piper saß neben Paige auf dem Rücksitz und runzelte nachdenklich die Stirn. »Wisst ihr, was ich vor allem komisch finde?«, fragte sie. »Dass Sorvino seine fiesen kleinen Puppen im P3 zurückgelassen hat. Wenn die Dreharbeiten jetzt vorüber sind, dann werden sie doch nicht mehr gebraucht, oder? Man sollte doch meinen, dass er sie dann mit nach Hause nimmt. Schließlich sind sie doch so etwas wie sein Lebenswerk, oder?« Phoebe nickte zustimmend. »Das ist allerdings seltsam, da hast du Recht.« Etwa zwanzig Meter vor ihnen hielt das Taxi vor dem Mietshaus, in dem Sorvino wohnte. »Du kannst hier schon parken, Darryl«, sagte Phoebe. »Wir wissen ja, wo er hin will. So fällt es nicht so auf, wenn wir ihn verfolgen.« Darryl stimmte zu und steuerte den Wagen an den Straßenrand. Auch wenn er in seinem eigenen Wagen unterwegs war, brauchte er keine Angst vor Knöllchen zu haben. Schließlich war dies ja ein dienstlicher Einsatz. Der Detective und die drei Hexen stiegen aus. Dichte Wolken hatten sich über dem abendlichen Himmel zusammengezogen. Zum ersten Mal seit Tagen wehte so etwas wie eine Brise durch die Straßen. Der Lufthauch war zwar immer noch warm, aber allein die
Tatsache, dass etwas Bewegung in die aufgeheizten Luftmassen kam, war eine Erleichterung. »Sieht aus, als hätten wir es bald überstanden«, sagte Piper und blickte hinauf in den Himmel. »Meinst du die Hitzewelle oder diesen Fall?«, fragte Phoebe mit einem grimmigen Lächeln. »Ich hoffe, beides«, erwiderte Darryl anstelle von Piper. »Wenn ich nicht bald irgendein Ergebnis vorweise, kann ich mir meine Pension wohl abschminken. Wenn mir der Bürgermeister nicht sowieso den Kopf abreißt.« Die vier betraten das Mietshaus. Wieder umfing sie eine bunte Geruchsmischung, aber jetzt, wo die Hitze nicht mehr ganz so drückend war, war das Duft-Chaos auszuhalten. Mit gewohnter Langsamkeit beförderte der Fahrstuhl die drei Hexen und den Ermittler in das oberste Stockwerk. Darryl stieg als Erster aus. In alter Gewohnheit warf er zuerst einen Blick nach links und rechts durch den Flur, um sich zu vergewissern, dass dort niemand auf ihn oder die drei Schwestern lauerte. Paige zeigte auf die Tür am Ende des Ganges. »Da drüben wohnt er. Seid ihr bereit?« Ihre beiden Schwestern nickten entschlossen. Detective Darryl Morris hob die Hände. »Woah, langsam, Mädels! Ich wäre euch dankbar, wenn ihr nicht gleich irgendwelche magischen Attacken startet. Immerhin wissen wir noch nicht hundertprozentig, dass dieser Sorvino etwas mit den Morden zu tun hat. Und ob er überhaupt mit irgendwelchen dunklen Mächten unter einer Decke steckt.« Paige gab nur ein skeptisches Knurren von sich. Die Morde mit den Mini-Monstern, die Zeitungsschnipsel über Gustav Landreau, der seinerseits mit Dämonen paktierte … das alles sprach ja nicht gerade für die Unschuld Sorvinos. Immerhin versprachen die drei Hexen dem Detective, nichts Unüberlegtes zu unternehmen. Erst dann trat Darryl vor die Apartmenttür und klopfte laut dagegen.
»Mister Sorvino?! Mein Name ist Darryl Morris. Detective Darryl Morris von der San Francisco Mordkommission. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Bitte öffnen Sie die Tür.« Darryl machte das offensichtlich nicht zum ersten Mal. Seine Stimme klang nicht so, als würde sie Widerstand dulden. Stille. »Der stellt sich tot!«, zischte Paige. Darryl klopfte noch einmal gegen die Tür, diesmal lauter. »Mister Sorvino! Wir wissen, dass Sie da drin sind!« »Das ist mir jetzt zu blöd«, sagte Paige und breitete kurzerhand ihre Arme aus, um sie über die Schultern von Darryl und ihren Schwestern zu legen. »Hey, was soll denn das …« »… jetzt?!«, fragte Darryl erstaunt, als ersieh im Inneren der Wohnung wieder materialisierte. Paige hatte ihn und ihre Schwestern einfach hineinteleportiert. Der Detective schüttelte verärgert den Kopf. »Paige, das ist Hausfriedensbruch. Ohne Durchsuchungsbefehl darf ich nicht einfach in eine fremde Wohnung eindringen. Außerdem wird mir von dieser Teleportiererei immer schlecht.« Tatsächlich sah der Detective etwas grün um die Nase aus. »Tut mir Leid«, sagte Paige kleinlaut. »Ich dachte, ich tue uns einen Gefallen damit.« »Ihr?!«, rief in diesem Augenblick eine entsetzte Stimme. »Wie … wie habt ihr das gemacht? Was wollt ihr von mir? Steckt ihr unter einer Decke … mit ihm?!« Vor ihnen stand Tim Sorvino, der in seinem Schreck noch blasser aussah als sonst. Der junge Mann stand inmitten halb gepackter Koffer. »Sieh mal an«, sagte Phoebe grimmig. »Wohin wolltest du denn so plötzlich verreisen, Timmy-Boy?« »Phoebe«, knurrte Darryl streng. »Überlass die Fragen bitte mir, okay?«
»Entschuldigung!«, murmelte Phoebe. »Also«, fuhr Darryl fort. »Die Frage bleibt: Wohin wollen Sie verreisen? Oder besser: Warum wollen Sie so plötzlich hier weg? Hat das zufällig etwas mit den Morden der letzten Tage zu tun?« Sorvino schüttelte hektisch den Kopf. Unwillkürlich wich er ein paar Schritte zurück. »N-Nein. Hat er Ihnen das erzählt? Er lügt! Bitte … Sie müssen mir glauben! Er ist völlig wahnsinnig! Er hat die Morde begangen!« »Nun mal schön der Reihe nach, mein Freund«, erwiderte Darryl mit ruhiger Stimme. »Wer ist wahnsinnig? Wer hat die Morde begangen?« »Na, wer schon«, fragte Tim Sorvino zurück und schluckte. »Er – Andy Stewart!«
33 PAIGE KONNTE ES IMMER noch nicht fassen. Während der ganzen Fahrt zurück zum P3 schüttelte sie nur den Kopf. »Ich glaube dem Kerl kein Wort«, sagte sie nur und funkelte Tim Sorvino böse an. Der arme Monsterbauer hatte das Pech, genau zwischen Paige und Phoebe auf dem Rücksitz eingeklemmt sitzen zu müssen. »Aber wenn ich es doch sage«, schluckte Sorvino. Piper saß auf dem Vordersitz und blickte Sorvino durch den Rückspiegel an. Ihr tat der Kerl fast Leid. Er schien wirklich Angst zu haben und war den Tränen nahe. »Andy und ich«, fuhr Sorvino stockend fort, »wir waren immer die besten Freunde. Die ganze Zeit, auf der Filmhochschule, haben wir uns unsere Zukunft ausgemalt. Er als ein zweiter Steven Spielberg und ich als sein Mann für die Spezialeffekte. Doch dann hatte er die Idee, in ›Scream X-Treme‹ einen Gastauftritt von Gustav Landreau einzubauen …« Jetzt, wo ihm keine Wahl mehr blieb, sprudelte es aus Tim Sorvino nur so heraus. Der sonst so zurückhaltende junge Mann schien froh zu sein, sich alles von der Seele reden zu können. »Zuerst war ich ja auch begeistert. Schließlich war Landreau auch mein Idol. Ich bin mit seinen alten Filmen im Fernsehen aufgewachsen. Aber als ich den alten Mann dann kennen lernte, war er mir sofort unheimlich. Irgendetwas … Kaltes ging von ihm aus. Er lobte mich zwar wegen meiner Monster-Puppen, aber ich versuchte immer, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber Andy … Andy war ganz hingerissen von Landreau. Er redete von nichts anderem mehr.« »Und dann?«, fragte Piper. »Ich fing an, Informationen über Landreau zusammenzutragen. Ich wollte Andy davon überzeugen, dass dieser Kerl keine gute Gesellschaft für ihn ist. Denn irgendwie fing Landreaus Art an, auf Andy abzufärben …«
»Deshalb auch die Zeitungsausschnitte über Ihrem Schreibtisch?«, fragte Darryl, ohne bei dem hohen Tempo die Augen von der Straße zu lassen. Tim nickte. »Genau. Ich habe sie auch Andy gezeigt, aber der hat mich nur ausgelacht. Ich glaube, er wusste zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Landreau vor Jahrzehnten in diese Mordfälle verwickelt gewesen war. Und ich glaube, er wusste noch mehr über ihn.« Zum Beispiel, dass Landreau einen Pakt mit irgendwelchen dunklen Mächten geschlossen hatte, dachte Piper. Aber sie schwieg, um den jungen Mann nicht noch mehr zu verängstigen. »Und dann begannen die Morde. Zuerst dachte ich mir nicht viel dabei, als meine Vermieterin tot aufgefunden wurde. Ich hatte mich zwar erst kurz vorher mit ihr wegen einer Mieterhöhung gestritten, aber das war nichts Dramatisches. Wir bekamen uns öfter in die Haare. Ich hielt das Ganze für einen Zufall. Bis dann Tom Haber ermordet wurde.« »Dein Comic-Händler«, ergänzte Paige. Mittlerweile war ihr Tonfall gegenüber Sorvino nicht mehr so ruppig. Sie begann, dem Jungen zu glauben. So sehr es ihr auch widerstrebte. »Genau. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja noch gehofft, dass auch das ein Zufall war. Aber dann sprach Andy mich darauf an. Ich solle doch besser das Schnüffeln in Gustav Landreaus Vergangenheit sein lassen, meinte er. Sonst könnte es ganz schnell passieren, dass die Polizei mich verdächtigt. Ich hielt das Ganze noch für eine leere Drohung, bis meine Exfreundin in diesem Kino ermordet wurde. Mit einer meiner Puppen – wie schon bei den beiden anderen Morden davor.« »Warum sind Sie nicht gleich zur Polizei gegangen?«, fragte Darryl von vorn. »Sie hätten wenigstens die beiden letzten Morde verhindern können, Mann!« Tim schluchzte fast auf. »Hätten Sie mir denn geglaubt, wenn ich Ihnen gesagt hätte, dass die Morde mit meinen Puppen begangen wurden? Und dass ich nichts damit zu tun habe, obwohl ich in allen Fällen ein Motiv gehabt hätte?« »Okay, ein Punkt für Sie«, musste Darryl eingestehen. Er erinnerte sich nur zu gut daran, dass er es selber nicht gewagt hatte, dem
Bürgermeister die Theorie von dem Puppenmord zu präsentieren. Das Ganze klang einfach zu fantastisch. Andererseits war Darryl es langsam gewöhnt, mit dem Außergewöhnlichen zu rechnen, wenn die drei Halliwell-Schwestern in einen Fall verwickelt waren. Phoebe dachte über das nach, was Tim Sorvino ihnen gebeichtet hatte. Wenn das alles stimmte – und der verängstigte junge Mann zwischen ihnen machte nicht den Eindruck, als ob er lügen würde – dann waren sie die ganze Zeit über auf der falschen Fährte gewesen. So unangenehm es auch war: Es sah aus, als wäre Andy Stewart für die Morde verantwortlich. Phoebe konnte es immer noch nicht fassen. Und wenn sie in Paiges enttäuschtes Gesicht blickte, dann konnte sie sehen, dass es ihrer jüngeren Schwester noch viel schwerer fiel, sich mit der Wahrheit anzufreunden. »Meinst du, Andy Stewart ist noch im P3?«, fragte Piper den Detective. »Keine Ahnung«, erwiderte Darryl. »Aber vielleicht sind er und das Team ja noch mit den Abbau-Arbeiten beschäftigt. Es wäre mir lieber, ihn direkt zu schnappen, als eine Fahndung herausgeben zu müssen. Die Beamten der Stadt sind wegen der Hitzewelle immer noch im Dauereinsatz – und außerdem … ich wäre froh, wenn ihr bei der Festnahme dabei seid. Ich würde nur ungern meine Leute auf einen Mörder ansetzen, der sich mit irgendwelchen dunklen Mächten verbündet hat.« »Das kann ich verstehen«, nickte Piper. Auch wenn das bedeutete, dass sie und ihre Schwestern wieder das Eisen aus dem Feuer holen mussten. »Das mit der Hitzewelle scheint sich aber langsam zu erledigen«, sagte Paige, als Darryl seinen Wagen in einem Mordstempo auf den Parkplatz des P3 steuerte. Tatsächlich – der blaue Himmel war einem Gebirge aus dunklen Wolken gewichen. Die Luft war immer noch stickig, aber als die drei Hexen die Autotüren aufstießen, wehte ihnen eine kühle Brise entgegen. Ein fahles, stummes Gewitterleuchten huschte über den Himmel. Es war, als wäre die ganze Welt in Ocker getaucht. Darryl beugte sich noch einmal über den Rücksitz und fesselte Sorvinos Hände mit Handschellen. »Das muss leider sein, bis wir Ihre Schuld oder Unschuld an diesen Morden endgültig geklärt haben,
Tim«, sagte er fast bedauernd. Auch er schien nicht mehr an die Schuld des jungen Mannes zu glauben, aber Vorschrift war Vorschrift. »Ich rate Ihnen, sich auf den Rücksitz zu legen und sich ruhig zu verhalten.« Tim schluckte und nickte dem Polizisten zu. »Ist gut, Detective. Falls Andy noch da drin ist … seien sie vorsichtig. Er ist nicht mehr der Andy, den ich mal kannte. Das ist alles nur noch Fassade!« Darryl nickte. Phoebe beobachtete, wie Paige, die diese Worte gehört hatte, die Fäuste ballte. Auch sie wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, in den Falschen verliebt zu sein. Sie war schließlich monatelang in Cole verliebt gewesen, bevor sie herausgefunden hatte, dass er ein Halb-Dämon war. Und auf gewisse Weise hatte es Paige noch schlimmer getroffen. Cole war schließlich als Halb-Dämon geboren worden, in ihm stritten sich ständig die menschliche und die dämonische Hälfte um die Vorherrschaft. Aber Andy war ein Mensch, der sich bewusst an die dunklen Mächte verkauft hatte. »Kopf hoch, Paige«, sagte Phoebe mitfühlend und legte ihrer Schwester eine Hand auf die Schulter. »Du hast nicht wissen können, auf was du dich da einlässt. Wir haben uns alle von Andy täuschen lassen.« Paige nickte traurig. »Stimmt, der Kerl hätte besser Schauspieler werden sollen, statt Regisseur. Gibt es eigentlich keine normalen Männer mehr?« »Nicht in diesem Job«, erwiderte Phoebe und lächelte traurig. Darryl Morris hatte sich inzwischen dem Vordereingang des P3 genähert. »Ich unterbreche eure Gesprächstherapie nur sehr ungern, aber seid ihr so weit? Wenn unser Mister Stewart noch da drin ist, möchte ich den Fall gern zu Ende bringen.« Die drei Hexen blickten sich entschlossen an. Dann nickten sie sich zu. »Okay, Darryl«, sagte Piper schließlich. »Von uns aus kann es losgehen.« »Okay. Ich gehe vor. Ihr bleibt hinter mir und unternehmt nichts Unüberlegtes. Wenn Sorvino nicht gelogen hat, dann hat Stewart bereits drei Menschen ermordet. Ich möchte nicht, dass es noch mehr werden!«
Piper, Paige und Phoebe nickten. Darryl Morris zog seine Dienstwaffe und stieß die Tür zum P3 auf. Vom Ozean her rollte ein grollender Donner über das Land.
34 DAS P3 WAR LEER. Nur ein paar verrückte Tische und einige wenige Reste von Verpackungsmaterial deuteten daraufhin, dass hier vor kurzem noch ein Filmteam gearbeitet hatte. Piper, die direkt hinter Darryl Morris ihr Lokal betrat, staunte nicht schlecht. »Wow. Die haben wirklich kein bisschen Unordnung gemacht«, sagte sie. »Hab ich doch gesagt«, lächelte Paige. »Du hast dir ganz umsonst Sorgen gemacht.« »Psst«, zischte Darryl. Er machte ein paar weitere, vorsichtige Schritte in das Lokal hinein und blickte sich misstrauisch nach allen Seiten um. »Die Luft scheint rein zu sein«, sagte er schließlich, nachdem er sich vergewissert hatte, dass hinter und unter den Tischen kein Mensch versteckt war. »Aber es sieht aus, als hätte sich unser feiner Mister Stewart ebenfalls verdrückt. Ich werde wohl doch eine Fahndung nach ihm herausgeben müssen.« Darryl griff nach seinem Handy und wollte eben die Zentrale informieren, als er seinen Fehler bemerkte. Er hatte sich zwar vergewissert, dass sich kein Mensch mehr hinter den Einrichtungsgegenständen des P3 versteckte, aber er hatte nicht mit Angreifern gerechnet, die klein genug waren, um sich in den Schatten der Möbel verkriechen zu können. Paige war die Erste, die diesen Fehler zu spüren bekam. Ein dunkler Schatten stürzte sich von der Decke auf sie hinunter. Etwas feucht-glitschiges landete auf ihrer Schulter und griff sofort nach ihrem Hals. Die jüngste der Zauberhaften schrie erschrocken auf. Im nächsten Augenblick schlossen sich zwei Pranken mit Schwimmhäuten um ihren Hals. Ihr Schrei verwandelte sich in ein ersticktes Gurgeln. »Paige!«, rief Piper und wirbelte herum. Die Mini-Ausgabe des Sumpf-Monsters klammerte sich um den Hals ihrer Halbschwester. Instinktiv wollte Piper die Killer-Puppe einfrieren, als sie einen
stechenden, feinen Schmerz in ihrem Wadenbein spürte. Eine hässliche Puppe, gekleidet im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts, hatte ein Miniaturmesser in ihr Bein gebohrt. Die Klinge war zu klein, um sie ernsthaft zu verletzen, aber die Kreatur holte bereits zu einem zweiten Hieb aus. Mit einem Aufschrei versuchte Piper, die RipperPuppe abzuschütteln. Vergeblich. Mit ihrer freien Puppenhand klammerte sich die Kreatur an Pipers Bein fest. »Au! Du verflixtes Mistvieh!«, rief Piper und ging in die Knie, um die Killer-Puppe am Hals zu packen und wegzuzerren. Ein böser Fehler. Kaum hockte die älteste Halliwell-Schwester vor der Puppe, fand der Ripper ein besseres Ziel, das jetzt in der Reichweite seiner Klinge war – Pipers Hals! »Pass auf, Piper!« Phoebe machte einen Satz querdurch den Raum und trat mit dem Absatz gegen den Kopf der Mörder-Puppe. Mit einem wütenden Zischen auf den toten Lippen wirbelte der Mini-Ripper durch den Raum, prallte gegen ein Stuhlbein … und rappelte sich im nächsten Augenblick wieder auf. Als ob nichts geschehen sei, trippelte der Mini-Messerstecher wieder auf sein Opfer zu. »Das gibt's doch nicht!«, keuchte Darryl, der das Ganze beobachtet hatte. In diesem Moment spürte auch er einen scharfen Schmerz an seinem Knie. Unbemerkt hatte sich der Mini-Werwolf an den Polizisten herangeschlichen und zerfetzte jetzt mit einem Krallenhieb das Hosenbein des Detectives. Darryl heulte auf, mehr vor Überraschung als vor Schmerz. Ohne darüber nachzudenken, richtete er seine Pistole auf den pelzigen Angreifer. Ein Schuss hallte durch das P3. Der Werwolf war zwar nur so lang wie der Unterarm eines Erwachsenen, aber auf diese kurze Entfernung war er trotzdem nicht zu verfehlen. Die Kugel traf die Werwolf-Puppe in der Schulter und zerfetzte sie. Versengte Pelzbüschel spritzten umher und die Kreatur heulte auf wie ein verwundetes Tier. Doch Sekundenbruchteile später geschah etwas Unfassbares. Der Mini-Werwolf bäumte sich auf – und seine zerfetzte Schulter begann, vor den Augen des fassungslosen
Polizisten wieder zu heilen. Es dauerte nicht mehr als ein paar Augenblicke, bis der Werwolf seine Attacke erneut fortsetzte. Auch Phoebe hatte dieses makabere Schauspiel atemlos beobachtet. Und es gab dafür nur eine Erklärung, die ihr jetzt durch den Kopf schoss: Die Kreaturen hatten die Eigenschaften ihrer magischen Vorbilder angenommen. Dies waren nicht mehr länger mechanische Puppen, die durch den Funken der schwarzen Magie angetrieben wurden – dies waren Duplikate der großen Vorbilder! Real existierende Monster, deren kleine Gehirne nur Raum für einen einzigen Gedanken hatten: Töten! Plötzlich spürte Phoebe, wie ihr die Füße unter dem Körperweggerissen wurden. Die mittlere Halliwell-Schwester hatte gerade noch Zeit, um die Ursache dafür zu erkennen, dann schlug sie unsanft auf dem Boden auf. Die Mini-Mumie, ein alter Bekannter von ihr, hatte eine seiner Bandagen um ihre Füße gewickelt und sie so zu Fall gebracht. Und als ob das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, sah Phoebe jetzt einen weiteren Schatten auf sie zurasen – es war die Puppe des MiniDraculas. Seine winzigen, nadelspitzen Zähne blitzten im Licht der Deckenbeleuchtung hell auf. Die Puppenversion des Fürsten der Nacht machte ein paar trippelnde Schritte auf Phoebe zu. Die mittlere Halliwell-Schwester versuchte aufzuspringen, aber die Füße der Hexe waren von der MiniMumie inzwischen geschickt zusammengeschnürt worden. »Lass mich in Ruhe, du hässlicher Blutsauger«, rief Phoebe. Sie versuchte, sich den Vampir mit ein paar gezielten Faustschlägen vom Leib zu halten. Aber die mörderische Kreatur hatte Blut gewittert. Sie steckte die Treffer von Phoebes Fäusten mit einem Fauchen ein und setzte ihren Angriff unbeirrt fort. Phoebe zappelte verzweifelt auf dem Boden herum und überlegte fieberhaft nach einem Ausweg. Die Kreatur wich ihrem erneuten Fausthieb aus und trippelte näher an sie heran. Der Blick des MiniMonsters war bereits gierig auf die pulsierende Halsschlagader der jungen Hexe gerichtet.
Aber was sollte Phoebe tun? Auf die Hilfe ihrer Schwestern konnte sie nicht hoffen – den Kampfgeräuschen zufolge waren die mit ihren eigenen, monströsen Angreifern beschäftigt. Darryl feuerte inzwischen einen weiteren Schuss auf den Werwolf ab. Den Flüchen des Polizisten nach zu urteilen vergeblich. Phoebe blickte sich um. Um sie herum standen nur ein paar Holztische und Stühle. Nichts, was sie als Waffe einsetzen konnte. Außer – natürlich! Als der Vampir nur noch ein paar Zentimeter entfernt war, zog Phoebe die Beine an und ließ sie dann wieder zurückschnellen. Die Mumie, die sich bislang an ihren Füßen festgeklammert hatte, wurde quer durch den Raum katapultiert. Sie überstand den Aufprall zwar unbeschadet, aber dieser Befreiungsstoß verschaffte Phoebe ein paar Sekunden Luft. Sie rollte sich einmal um die eigene Achse, bis sie mit der Schulter an einen Stuhl stieß. Die Dracula-Puppe folgte ihr fauchend. »Ja, komm nur!«, zischte Phoebe zurück. Sie griff nach einem der Holzstühle. Dann wartete sie, bis der Mini-Vampir nur noch eine Armeslänge entfernt war. Als Klein-Dracula sich gerade auf die Halsschlagader der Hexe stürzen wollte, griff Phoebe nach einem der Stuhlbeine, hob den Stuhl an und schmetterte ihn mit voller Wucht zurück auf den Boden. Es gab ein lautes Krachen, als das Holz zersplitterte. In ihrer Hand hielt Phoebe jetzt ein hölzernes Stuhlbein, dessen oberes Ende abgesplittert war. Die Dracula-Puppe machte einen letzten Satz auf Phoebes Hals zu. Im gleichen Augenblick erkannte sie, was die junge Hexe vorhatte. Zu spät. Es gab nur drei Dinge, die einen Vampir vernichten konnten: Sonnenlicht, ein Kreuz oder ein Holzpfahl! Letzteren hielt Phoebe jetzt in der Hand. Oder besser gesagt – rammte sie mit voller Wucht in die Brust des Vampirs. Mitten im Sprung bohrte sich das zersplitterte Ende des hölzernen Stuhlbeins tief in den Puppenkörper. Der Mini-Vampir schrie schrill auf und riss seine untoten Puppenaugen auf. Dann explodierte er.
Schaumstoff, elektrische Drähte und eine stinkende, schwarze Masse surrten durch die Luft – die natürlichen und übernatürlichen Bestandteile der Monster-Puppe. Phoebe hatte die Schwachpunkte der Monster-Figuren erkannt – sie hatten sich ihren großen Vorbildern bereits so sehr angepasst, dass sie auch deren Achillesfersen mit ihnen teilten. »Leute«, rief Phoebe in den Kampflärm hinein. »Ihr müsst die Puppen so bekämpfen wie die realen Filmmonster!« »Was zum Teufel meinst du damit?«, rief Darryl keuchend. Er befand sich immer noch im Clinch mit dem Werwolf. Eine frische Schramme verlief inzwischen quer über die Wange des Detectives. Dort hatte ihn die Puppe augenscheinlich schon mit ihren Krallen verletzt. Statt zu antworten zog Phoebe ihre Beine erneut an und sprang dann mühsam auf die Beine. Die Bandage, die ihr die Mumie um die Knöchel geknotet hatte, hielt, aber die Hexe konnte sich zumindest hüpfend fortbewegen. Und sie hatte es nicht weit. Nur wenige Meter entfernt befand sich eine kleine Anrichte. Phoebe hatte oft genug aushilfsweise im P3 gekellnert, um zu wissen, dass sich dort auch eine Schublade mit Besteck befand. Und ein paar Feuerzeuge für die Kerzen auf den Tischen. Sie hatte die Anrichte gerade erreicht, als ein stechender Schmerz ihre gefesselten Beine durchzuckte. »Au! Na warte, du kleines Biest«, zischte Phoebe, als sie sah, dass die Mumie sich in ihre Wade verbissen hatte. Hektisch durchwühlte sie die Schublade und fand schließlich, was sie suchte. Phoebe zog das Feuerzeug hervor und knipste es an. Bevor die Mumie reagieren konnte, bückte sich Phoebe zu ihr herunter und hielt die Flamme an die staubtrockenen Bandagen des Mini-Monsters. Sie fingen sofort Feuer. Sekunden später lief die lichterloh brennende Mini-Mumie durch das P3. Sie kam nur ein paar Meter weit, bevor sie zusammenbrach und verbrannte.
Phoebe hatte sich die Zeit genommen, um das Ende der Mumie genüsslich mit zu verfolgen. Dann griff sie wieder in die Schublade und zog ein Steakmesser hervor. Ein silbernes Steakmesser. Zunächst bückte sie sich erneut und durchtrennte vorsichtig die Bandagen, mit der ihre Füße noch immer zusammengebunden waren. Dann stürmte sie auf Darryl zu, der noch immer mit der WerwolfPuppe rang. Trotz ihrer überschaubaren Größe schien die MonsterFigur über beachtliche Kräfte zu verfügen, während Darryls Kräfte langsam nachzulassen schienen. »Vorsicht, Phoebe!«, keuchte der Polizist, als er aus den Augenwinkeln sah, wie Phoebe sich näherte. »Das Biest ist gefährlich!« »Das bin ich auch!«, erwiderte Phoebe und ließ das Messer durch die Luft sausen. Es bohrte sich tief in die Brust des Werwolfs. Die Puppe riss erstaunt die Augen auf. »Das ist Silber, du Zottel«, knurrte Phoebe. »Soweit ich weiß, seid ihr Werwölfe allergisch dagegen!« Wie auf Kommando heulte die Bestie auf. Ein Zittern durchlief ihren pelzigen Körper. Dann zerplatzte sie wie zuvor der Vampir. Darryl atmete erleichtert auf. »Danke, Phoebe!« Phoebe nickte nur und deutete auf ihre beiden Schwestern. Paige versuchte noch immer, das Sumpf-Monster von ihrem Hals wegzustoßen. Das Gesicht der jüngsten Halliwell-Schwester war bereits blau angelaufen. »Gern geschehen, Darryl. Aber wir müssen den beiden helfen. Schnapp du dir das Sumpf-Ding. Ich habe den Film damals gesehen – am Ende wird die Kreatur durch einen Polizisten erschossen …!« »Na, das passt ja«, rief Darryl und stürmte los. Ein paar Augenblicke später hatte er Paige erreicht. Mit vereinten Kräften schafften es der Polizist und Paige, das Monster wegzuzerren. Als genug Abstand zwischen der Sumpf-Kreatur und der jungen Frau bestand, setzte Darryl seine Dienstwaffe an den Kopf der zappelnden Kreatur und drückte ab.
Noch bevor das Echo des Schusses verhallt war, begann die nun kopflose Kreatur, sich in einen Haufen stinkenden Schleim aufzulösen. Paige und Darryl atmeten erleichtert auf. »Au!«, rief Piper. »Könnte mir bitte auch mal jemand helfen?!« Sie lag noch immer auf dem Boden und kämpfte mit der Figur des Rippers. Bis jetzt hatte sie die meisten Messerhiebe der Puppe abwehren können, aber ihre Kräfte ließen langsam nach. »Ich komme, Piper!«, antwortete Phoebe grimmig. »Halte durch!« Dann nahm sie die Bandage in die Hand, mit der die Mumie sie gefesselt hatte. Mit ein paar schnellen Bewegungen knotete sie ein Ende der Bandage zu einer Schlinge zusammen. Dann lief sie zu ihrer Schwester. »Weißt du, wie ›Scotland Yard jagt den Ripper‹ ausgeht, du mieser Messerstecher?«, rief sie. Die Ripper-Puppe fauchte sie nur böse an und wollte dann weiter auf Piper einstechen. »Ich verrate es dir, Freundchen«, fuhr Phoebe fort und warf die Schlinge um den Hals der Puppe. »Der Mistkerl wird aufgeknüpft!« Mit diesen Worten zog die junge Hexe am anderen Ende der Bandage. Die Schlinge schloss sich um den Hals der Puppe. Der Ripper krächzte überrascht auf, und Phoebe zog die Schlinge mit einem Ruck weiter zu. Verzweifelt versuchte die Puppe, sich die Bandage vom Hals zu zerren. Vergeblich. Ein letztes Zucken, dann hatte der Ripper sein Leben ausgehaucht. Phoebe atmete auf und reichte ihrer Schwester die Hand. Piper hatte ein paar hässliche kleine Fleischwunden abbekommen, aber die würden schnell verheilt sein. Die Monster-Puppen dagegen waren für immer vernichtet. »Phoebe, du hast uns allen den Hintern gerettet!«, sagte Darryl anerkennend und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Tja«, erwiderte die mittlere der drei Schwestern. »Es zahlt sich eben aus, öfter mal ins Kino zu gehen. Da lernt man was fürs Leben. Und zum Überleben …« Die Vier lachten erleichtert auf. Dann zog Piper die Stirn in Falten.
»Aber die Sache ist noch nicht erledigt«, sagte sie und blickte Phoebe, Paige und Darryl ernst an. »Die kleinen Monster sind vernichtet, aber ihr Drahtzieher ist noch immer auf freiem Fuß.« Phoebe nickte. »Stimmt. Andy kann sich jederzeit wieder ein neues Werkzeug suchen und weiter morden. Und wir wissen immer noch nicht, welche Rolle dieser Landreau dabei spielt.« »Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte Paige. Phoebe runzelte die Stirn. Dann machte sich ein grimmiges Lächeln auf ihrem Gesicht breit. »Ich vermute mal, dass Andy zurückkommen wird, um sich zu vergewissern, dass seine Puppen ganze Arbeit geleistet haben, oder?« Darryl zuckte mit den Schultern. »Es ist in der Tat nicht ungewöhnlich, dass es einen Mörder an den Ort seines Verbrechens zurückzieht. Besonders, wenn er nicht leibhaftig dabei war.« »Tja«, sagte Phoebe, »dann wollen wir ihn mal nicht enttäuschen!« Die anderen blickten sie fragend an.
35 ANDY STEWART ÖFFNETE VORSICHTIG die Tür des P3. Inzwischen war die Sonne untergegangen und die schweren Gewitterwolken hingen tief über der Stadt. Das Grollen des Donners wurde immer lauter. Ein Wetterleuchten erhellte die Wolken und tauchte ihre Konturen in ein bizarres Schattenspiel. Der junge Regisseur warf einen Blick ins Innere des P3. Es war ein Schlachtfeld. Der Hauptsaal war ein chaotisches Durcheinander aus zersplitterten Tischen und Stühlen. Und im Raum verteilt lagen dunkle Schatten, die im trüben Licht der Notbeleuchtung aussahen wie Lumpenbündel. Andy lächelte grausam und hielt seinem Begleiter die Tür auf. »Kommen Sie herein, Mister Landreau. Die Luft ist rein. Hier lebt keine Menschenseele mehr.« Ein erneutes Wetterleuchten erhellte den Himmel und erleuchtete einen Moment lang das faltige Gesicht von Gustav Landreau. Der alte Mann lächelte zufrieden. »Damit wären wir ja genau beim Thema, junger Freund.« Mit gemessenen Schritten betrat Landreau das P3 und blickte sich um. Vier Leichen lagen auf dem Boden, zum Teil entstellt mit furchtbaren Wunden. Eine der jungen Hexen lag mit dem Bauch in einer glänzenden Blutlache. Die Kehle des Detectives, den Landreau aus dem Fernsehen kannte, war zerfetzt. Der alte Regisseur empfand beim Anblick der Leichen kein Entsetzen, sondern nur tiefe Befriedigung. Sein junger Schüler hatte seine Aufgabe erfüllt. »Schade«, sagte Andy und stieß mit dem Fuß den leblosen Puppenkörper des Rippers zur Seite. »Sieht aus, als hatten sie es doch noch geschafft, die Puppen zu vernichten, bevor sie selbst daran glauben mussten.« Landreau lächelte. »Nur keine Sorge, Andy. Die Puppen sind ersetzbar. Du kannst jederzeit neue bauen lassen und sie mit der Macht beseelen, die ich dir verliehen habe. Wichtiger ist, dass du
deinen Teil der Aufgabe erfüllt hast. Wie ich sehe, hast du sogar mehr getan als das … drei Opfer hatten nur gefehlt – du hast vier erbracht.« »Lieber zu viel als zu wenig, was?«, erwiderte Andy kühl. Auch ihm schien der Anblick der vier Toten nichts auszumachen, obwohl er sie selbst auf dem Gewissen hatte. »Schade nur um das Mädchen!«, fügte er dann bedauernd hinzu. »Die hätte mir schon gefallen können.« Landreau winkte ab. »Ach was, auch da werden neue kommen. Und jetzt schweig, ich werde den Dämon beschwören, damit er deine Seele nimmt und ich meine wiederbekomme. Knie dich neben mich.« Andy zuckte mit den Schultern. »Klar. Was kümmert mich meine Seele, solange ich Ruhm und Geld dafür bekomme. Und wenn es so weit ist, dass ich den Löffel abgeben muss, finde ich bestimmt jemanden, der mit mir den gleichen Tausch macht wie ich mit Ihnen.« Aber Landreau antwortete nicht. Der alte Mann war auf die Knie gesunken und murmelte eine Beschwörungsformel. Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann plötzlich wehte ein eisiger Luftzug durch das P3. Es wurde so kalt, dass sogar kleine Atemwölkchen von Landreaus Mund aufstiegen. Ein schattenhaftes Wesen, dessen Umrisse entfernt an einen Menschen erinnerten, materialisierte auf der Tanzfläche. »Danke, dass du meinen Ruf erhört hast«, murmelte Landreau und lächelte den Schatten-Dämon an. »Ich möchte unseren Handel rückgängig machen und meine Seele wieder erlangen. Dieser junge Mann hier hat sieben Morde begangen, damit du seine Seele anstatt meiner zu dir nimmst!« Der Dämon blickte Landreau an. Dann hallte ein dröhnendes Gelächter durch das Lokal, das von überall herzukommen schien. Der Dämon schien sich köstlich zu amüsieren. »Gustav Landreau, du bist ein alter Narr. Ich werde eine Seele mit mir nehmen – aber es wird deine sein.« Landreau riss die Augen auf. »A-Aber … wir hatten eine Abmachung! Der junge Idiot hier hat sieben Menschen getötet, damit du seine Seele statt meiner nimmst! Das kannst du nicht machen! Geschäft ist Geschäft!«
Das Lachen des Dämons verstummte. »Stimmt, Gustav, mein alter Freund. Ich könnte nichts dagegen machen, wenn dein armseliger Schüler seinen Teil des Handels eingehalten hätte.« »W-Was meinst du damit?«, stotterte Andy. Er war bis zur gegenüberliegenden Wand zurückgewichen und starrte den Dämon voller Todesangst an. »Sieh selbst, du Narr!«, höhnte der Dämon und deutete mit einer schattenhaften Hand auf die Leiche von Paige – die jedoch keine Leiche mehr war. Paige Halliwell richtete sich auf und wischte sich etwas Blut aus dem Gesicht. »Ich hatte dich wirklich gemocht, Andy«, sagte sie traurig. »Und du hättest das Zeug gehabt, ein großer Regisseur zu werden. Auch ohne die beiden!« Sie deutete gleichzeitig auf Gustav Landreau und den Schatten-Dämon. Andy und Landreau rissen ungläubig die Augen auf. »Aber … ihr seid doch tot!«, rief Andy entsetzt. »Offensichtlich nicht«, knurrte Phoebe. Auch Piper und Darryl erhoben sich. »Du vergisst, dass wir mit Tim Sorvino einen erstklassigen Mann für Spezialeffekte bei uns hatten. Er hat wirklich großartige Arbeit geleistet – und das alles nur mit ein bisschen Ketchup und ein paar anderen Zutaten aus der Speisekammer«, sagte Piper und deutete auf die Küchentür. »Er ist übrigens im Nebenraum. Wir wollten ihm den Anblick des Dämons ersparen.« Darryl wischte sich etwas Ketchup aus dem Gesicht und zog dann das rohe Fleischstück von seinem Hals, mit dem Sorvino die tödliche Wunde modelliert hatte. »Und ich wünschte, ich wäre jetzt auch bei Tim«, schluckte er und warf einen ängstlichen Blick auf den Dämon. Er war als Freund der drei Hexen zwar einiges gewohnt, aber Begegnungen mit solchen Wesen gingen doch weit über seinen normalen Horizont hinaus. Der Schatten-Dämon lachte auf. Ihn schien dieses Spielchen zu amüsieren. Kein Wunder, er hatte ja auch nichts zu verlieren. »Nicht schlecht, ihr Zauberhaften. Ich sehe schon, ihr verdient euren Ruf zu Recht. Aber nun wird es Zeit, diese Farce zu beenden.«
Der Dämon huschte wie ein lebendiger Schatten auf Landreau zu. Der alte Regisseur riss die Augen auf, als der Schatten durch ihn hindurchglitt und dabei seine Seele mit sich fortriss. »Nein!«, röchelte der alte Regisseur noch. Dann sank er leblos zu Boden. Doktor Nyang, der Gerichtsmediziner, würde später nur noch ein Herzversagen feststellen können, hervorgerufen durch einen extremen Stresszustand. Landreau war bereits tot, bevor sein Körper den Boden berührte. Der schattenhafte Dämon glitt weiter durch den Baum. Kurz vor Andy machte er Halt. Der junge Mann war in die letzte Ecke des Baumes zurückgewichen und schlotterte vor Angst. »Lass ihn in Ruhe!«, rief Paige. Der Dämon schüttelte nur den Kopf. »Oh, es liegt nicht in meiner Macht, ihm etwas anzutun, Hexe. Ich habe nur Macht über Menschen, die freiwillig zu mir kommen. Aber dieser junge Welpe hier hat schon einen großen Teil des Weges zurückgelegt.« Der Seelensammler lachte auf. Dann wendete ersieh ein letztes Mal den drei Hexen zu. »Wir werden uns ganz sicher auch wieder sehen, Hexen. Und dann wird euer Tod keine Täuschung sein!« »Wenn das eine Drohung sein soll, du –«, rief Piper wütend, aber der Dämon lachte nur auf. Schließlich verblasste er wie ein Alptraum bei Tageslicht. Ein paar Augenblicke später war er verschwunden. Zurück blieb nur Andy Stewart, der mit leerem Blick ins Nichts starrte und zitterte. »Meine Seele«, stammelte der junge Mann nur, »meine Seele …« Darryl, Piper, Paige und Phoebe gingen auf Andy zu. Er schien sie nicht zu bemerken und starrte durch sie hindurch. »Ich fürchte, er hat den Verstand verloren«, murmelte Darryl fast mitleidig. »Und wenn dieser Dämon noch ein paar Minuten länger geblieben wäre, würde es mir – wahrscheinlich genauso ergehen. Wie haltet ihr es nur aus, ständig mit … so etwas konfrontiert zu werden?« »Alles Gewöhnungssache«, sagte Paige traurig und strich Andy über die Stirn. Sie fühlte sich heiß und fiebrig an. »Alles Gewöhnungssache …«
Eine Viertelstunde später gingen die drei Hexen über den Parkplatz des P3. Darryl hatte seine Kollegen gerufen, die bald hier eintreffen würden. Der Rest war Sache der Polizei, die Aufgabe der Zauberhaften war erledigt. Das Gewitter hatte die schwüle Luft der letzten Tage vertrieben. Die drei Hexen waren auf dem Weg zu ihrem Wagen, als vor ihnen plötzlich eine kleine Sandwolke aufwirbelte. Sie hielten dieses Phänomen zuerst für etwas Sand, der von der Küste hierher geweht worden war. Doch dann wirbelte immer mehr Sand auf und nahm schließlich eine menschliche Gestalt an. Ein Dämon. Eine Kreatur aus Sand. »Oh, nein!«, stöhnte Phoebe. »Hört das denn nie auf?« Piper, Paige und Phoebe gingen in Abwehrstellung. »Die drei Zauberhaften!«, grollte die Sand-Kreatur mit knirschender Stimme. »Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um euch zu vernichten. Ich werde euch …« Der Dämon kam nicht dazu, seine Drohung zu beenden. Ein erneuter Blitz zuckte über den Himmel. Mit dem Donner folgten auch die ersten Regentropfen. Als hätte der Himmel alle Schleusen auf einmal geöffnet, prasselte ein kühler Platzregen hinunter. Die drei Zauberhaften und der Dämon blickten hinauf. An den Stellen, an denen die Tropfen auf den Dämon trafen, schien er sich sofort aufzulösen. »Ach, verdammt«, rief die Sand-Kreatur enttäuscht auf. »Ich habe aber auch immer Pech!« Er hob noch einmal die Faust und hielt sie den drei Hexen entgegen. »Wir sehen uns nächsten Sommer wieder!«, drohte er und begann damit, sich in einem erneuten Sandwirbel aufzulösen. »Wie auch immer«, murmelte Piper. Die Hitzewelle war vorbei, und damit auch die Dämonenplage. Die drei Zauberhaften machten keine Anstalten, sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen. Die prasselnden Wassertropfen waren einfach zu erfrischend.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Paige lachend. »Einen kleinen Regentanz vielleicht?« Piper schmunzelte und strich sich eine regennasse Haarsträhne aus der Stirn. »Nicht so voreilig, Mädels. Ihr vergesst, dass meine Befürchtungen doch noch wahr geworden sind … im P3 sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Eigentlich sollte ich euch die Aufräumarbeiten allein überlassen, aber ich will mal nicht so sein. Ich weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird …« Phoebe, Paige und Piper lachten. Dann riefen sie gemeinsam einen Namen in den prasselnden Regen hinein. »Leo!«
Epilog AUS DEM SAN FRANCISCO CHRONICLE: Geheimnisvolle Mordserie aufgeklärt – geistesgestörter Regisseur war der »Puppenmörder« Eine der merkwürdigsten Mordserien der letzten Jahre fand gestern ihr Ende: Detective Darryl Morris verkündete in einer Pressekonferenz, dass der Jungregisseur Andrew S. für die drei Morde verantwortlich war, die während der Hitzewelle die Stadt in Atem hielten. Nach Angaben des Detectives verübte der junge Regisseur die Morde mit Hilfe ferngesteuerter Puppen. Über die Motive dieser Verbrechen ist bislang noch nichts bekannt. Nach Angaben der Polizei ist der mutmaßliche Täter nicht ansprechbar und befindet sich in psychiatrischer Behandlung. Detective Morris erhielt für die Aufklärung der ›Puppenmorde‹ eine Auszeichnung aus der Hand des Bürgermeisters [Fortsetzung S. 5] Aus ›Variety‹: Gustav Landreau, einst bekannt als ›Monstermacher von Hollywood‹ erlag gestern im Alter von sechsundachtzig Jahren einem Herzinfarkt. Gerüchte, wonach Landreau in die so genannten ›Puppenmorde‹ verwickelt sein soll, wurden bislang von der Polizei nicht bestätigt. Aus dem ›Hollywood Reporter‹.: Makabere Werbung für ›Scream X-Treme‹ Selten hat ein Film schon vor seiner Fertigstellung so für Furore gesorgt, wie ›Scream X-Treme‹, das erste Regiewerk des Nachwuchstalents Andrew Andy Stewart, der zurzeit als Hauptverdächtiger der ›Puppenmorde‹ in der geschlossenen Psychiatrie einsitzt. Eine bessere Werbung konnte sich dieser Independent-Film jedoch nicht wünschen, die großen Verleihfirmen überbieten sich bereits, um sich die Verleihrechte des Films zu sichern.
Peter Costello, der Kameramann von ›Scream X-Treme‹, hat die Fertigstellung des Films als neuer Regisseur übernommen. Besonders gespannt sein darf man auf die Monster-Effekte von Tim Sorvino, die an Realität alles bisher Gesehene in den Schatten stellen sollen …