DIE GROSSE »CLUSTER«-TRILOGIE Flint von Außenwelt (06/3784) Melodie von Mintaka (06/3828) Herald der Heiler (06/3898) D...
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DIE GROSSE »CLUSTER«-TRILOGIE Flint von Außenwelt (06/3784) Melodie von Mintaka (06/3828) Herald der Heiler (06/3898) Der zweite Energiekrieg gehört der Vergangenheit an. Für viele ist er nur noch eine böse Erinnerung, die man am besten schnell vergißt. Da beobachtet ein berühmter Astronom eine seltsame Erscheinung: Ein nebelartiges Gebilde nähert sich unaufhaltsam. Bald schon wird der Fleck als das erkannt, was er ist: eine Kriegsflotte von einigen Millionen Raumschiffen! Herkunft: die feindliche Galaxis Amöbe. Mehr kann der Astronom nicht feststellen, denn er erleidet einen Schock, der ihn in totenähnliche Starre fallen läßt. Nur einer kann ihn aus diesem Zustand befreien: HERALD DER HEILER, ein Wesen mit der stärksten Kirlian-Aura der Galaxis. Er ist weitgereist, findet er seine Patienten doch auf allen möglichen Welten. So fremdartig die Rassen auch sein mögen, bei denen er sich zeitweise aufhält, ihm sind sie durchaus vertraut, weil zu seiner Therapie nicht selten auch der Transfer seines Bewußtseins in einen Vertreter der jeweiligen Rasse gehört. Schließlich muß er sie eingehend kennenlernen, um seine Heilkräfte richtig einzuschätzen. Mit der Erscheinung der herannahenden Raumflotte konfrontiert, läßt Herald sich drängen, die Verteidigung zu organisieren. So verläßt er seine über alles geliebte Frau Psyche, die er eben erst dem Tod entrissen hat, und sucht die marsianischen Ruinen der Ahnen auf. Deren Rätsel gilt es zu lösen, denn mit der Lösung erhält er gleichzeitig das Wissen um die letzten Geheimnisse des Kosmos, womit die Gefahr durch die Kriegsflotte der Amöber gebannt wäre. Ein Wettrennen beginnt, denn auch die Amöber wissen um das Vermächtnis der Ahnen.
Von Piers Anthony erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Chthon oder der Planet der Verdammten · (06/3383) Makroskop · (06/3452) Steppe · (06/3756) CLUSTER-ZYKLUS Flint von Außenwelt · (06/3784) Melodie von Mintaka · (06/3828) Herald der Heiler · (06/3898)
PIERS ANTHONY
HERALD DER HEILER Science Fiction-Roman Band 3 des »Cluster«-Zyklus Deutsche Erstveröffentlichung
E-Book by »Menolly«
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH Nr. 06/3898 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe KIRLIAN QUEST Deutsche Übersetzung von Michael Kubiak Das Umschlagbild schuf Roy Virgo Die Innenillustrationen sind von Mark van Oppen
Redaktion: Friedel Wahren Copyright © 1978 by Piers Anthony Copyright © 1983 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1983 Umschlaggestaltung: Atelier Heinrichs & Schütz, München Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3-453-30821-2
INHALT
Prolog ....................................................................
9
Teil I: KIRLIAN ....................................................
19
1. Verlust der Ehre .......................................
20
2. Kind des Kummers ..................................
35
3. Burg von Kade .........................................
65
4. Kind der Freude .......................................
124
5. Herzog von Qaval ....................................
195
6. Belagerung der Psyche ............................
252
Teil II: SUCHE ......................................................
305
7. Fundstätte vom Mars ...............................
306
8. Gott von Tarot ..........................................
372
9. Geographie der Aura ...............................
421
10. Geschichte der Ahnen .............................
484
11. Cluster der Fundstätten ...........................
518
12. Amöbe des Weltraums ............................
554
Epilog ....................................................................
582
DIE SOL-SPHÄRE von Polaris (Polarstern) aus gesehen TEMPORALE REGRESSION 30 60 90 120
Lichtjahre von Sol: Maschinenzeitalter Lichtjahre von Sol: Renaissance Lichtjahre von Sol: Dunkles Zeitalter Lichtjahre von Sol: Steinzeit
BENACHBARTE STERNSPHÄREN Die wichtigsten Sphären in diesem Teil der Galaxis
Prolog Er blickte nie durch ein Teleskop. Vermutlich war er der führende wissenschaftlich forschende Astronom der Milchstraße: erfahren, fähig, intelligent und im Besitz einer hochintensiven Kirlian-Aura. Er bildete ein Hörhorn, um Lauten zu lauschen, und einen Sehstiel, um Bilder zu betrachten, und während er arbeitete, badete er vergnügt in seinem Bassin. Er genoß hohes Ansehen, war jedoch in keiner Weise ein Held; er hatte wenig an sich, was darauf hingedeutet hätte, daß er einmal in die Geschehnisse und Abenteuer im Cluster würde eingreifen können. In Wirklichkeit gingen Wesen von seiner Art in den Schock, wenn ihnen extreme Gefahr drohte. Spezialisiert war er auf Rand-Cluster-Erscheinungen. Die größeren Galaxien Andromeda und Milchstraße interessierten ihn so gut wie gar nicht, und die kleineren Strukturen wie Stiftrad und die unregelmäßigen galaktischen Satelliten waren kaum interessanter. Es waren die unendlich fernen Fragmente, Zwergellipsen und kugelförmigen Sterncluster, die seine Aufmerksamkeit fesselten. Er wußte über ›wilde‹ Kugelhaufen und nicht galaktische Sterne mehr als jede andere Kreatur im Cluster. Zur Zeit beschäftigte er sich mit der Amöbe, einem winzigen Pseudonebel, kaum hundert Lichtjahre im Durchmesser. Es war ein nichtleuchtendes, diffuses und unregelmäßig geformtes Gebilde, verborgen hinter dem Zwergellipsoiden namens Esse, welchen man durchaus als das Missing link zwischen den winzigen kugelförmigen Clustern und den kleinen
elliptischen Galaxien ansehen konnte. Zumindest wirkte Esse mit ihren fünfzehntausend Lichtjahren Durchmesser monströs im Vergleich mit dem kaum wahrnehmbaren Fleck der Amöbe. Und tatsächlich war die Amöbe erst im vergangenen Jahrhundert entdeckt worden, da sie für sämtliche konventionellen Beobachtungsgeräte praktisch unsichtbar war. Der Astronom bildete ein zweites Auge und betrachtete eine holographische Darstellung der Amöbe. Sie schien über eine Anzahl von Pseudopodien zu verfügen, die leicht gekrümmt waren; daher hatte sie auch ihren Namen. Insgesamt erschien das Gebilde erstaunlich regelmäßig geformt; die Pseudopodien wirkten irgendwie eigenständig und gleich groß. Ihre Entdeckung war eingehender Forschung zu verdanken, Ergebnis des Cluster-Forschungsprogramms, das nach dem Zweiten großen Energiekrieg ins Leben gerufen worden war. Nachdem sie zweimal nur knapp der Vernichtung ihrer Galaxis entrinnen konnte, legte die Koalition der Spezies der Milchstraße besonderen Wert darauf, über sämtliche zukünftigen Entwicklungen im Cluster informiert zu sein. Die mächtigsten Segmente – Qaval, Etamin, Knyfh, Lodo und Weew – hatten sich zusammengeschlossen und die größte Raumschiff-Flotte zusammengestellt, die es je gegeben hatte: insgesamt 125 Milliarden Einheiten. Es waren allerdings sehr kleine Schiffe, jedes gerade so groß, daß ein durchschnittlich großer Intelligenter es mit einer seiner Extremitäten ohne weiteres hochheben konnte. Jedes Schiff war mit einem Beobachtungsgerät ausgestattet, vorwiegend optischer Natur, und einem kleinen molekularen Materietransmitter. Sie waren gleichmäßig um den Cluster grup-
piert, beschleunigten mit etwa einem Zehntel der Lichtgeschwindigkeit vom Zentrum nach außen und entfernten sich so weit, bis sie von der Gravitation des Clusters eingefangen und gestoppt wurden. Alle zehn Jahre transmittierten die kleinen Schiffe alles, was sie an Informationen über ihren Beobachtungssektor im Raum gesammelt hatten. Jedes Schiff war rund zehn Lichtjahre von seinem nächsten Nachbarn entfernt und kontrollierte so eine Clusteroberfläche von hundert Lichtjahren im Quadrat; die Meldungen waren nicht mehr als sieben Zeitjahre alt. Auf diese Weise blieb kein Eindringling und kein ernster Vorfall in den Außenbezirken des Clusters unbemerkt; das Beobachtungsnetz gab die Meldung lange vor dem Zeitpunkt ab, ehe das Licht die nächste Galaxis erreichte. Das Netz arbeitete seit etwa tausend Jahren. Als die Furcht vor fremder Invasion abnahm, blieben als Gewinn des Forschungsprogramms die Astronomen und stellaren Kartographen übrig. Der gesamte Cluster war mit erstaunlicher Genauigkeit vermessen und aufgezeichnet worden – zumindest rückwirkend aktuell. Das Netz meldete, was es sah – und es sah den Cluster, wie er vor einer Million Jahre ausgesehen hatte, denn soviel Zeit hatte das Licht der fernen Sterne benötigt, um aufgenommen zu werden. Die Sektion des Netzes, die von Esse aus gestartet worden war, konnte rund hundert Lichtjahre weit in den Raum vordringen – und hatte die Amöbe entdeckt. Nur zwei ernstzunehmende Berichte über diese Erscheinung existierten, und keiner von beiden brachte Klarheit über Charakter und Beschaffenheit, denn die Amöbe befand sich am Rand des Beobach-
tungsraums, der vom Netz bestrichen wurde. Nur eigens darauf spezialisierte Astronomen wie dieser waren in der Lage, genauere Daten zu liefern. Für das unerfahrene Auge war die Amöbe nicht mehr als ein schwacher Lichtschleier vor dem Nichts des endlosen Raums. Eher eine Unregelmäßigkeit im gleichförmigen Bild des Vakuums oder ein Fehler in der Beobachtungsoptik. Er wandte sich dem zweiten Hologramm zu, das von denselben Einheiten erstellt worden war, jedoch zehn Jahre später oder ein Lichtjahr näher. Das Bild glich dem ersten, nur war es etwas schärfer, doch ein winziger Unterschied fesselte die Aufmerksamkeit des Astronomen. Er reaktivierte das erste Hologramm, projizierte es unter anders gefärbtem Licht und schob es über das zweite Hologramm. Er bildete ein drittes Auge, so daß er diese Hologrammontage von drei Seiten gleichzeitig betrachten konnte. Die beiden Darstellungen waren unterschiedlich, selbst als sie entsprechend der veränderten Entfernungen korrigiert waren. Das Objekt schien eine leichte Rotationsbewegung auszuführen. Der Astronom glich auch diesen Effekt aus, manipulierte die Pseudopodien genau übereinander, vergrößerte das kleinere Bild, bis die Maßstäbe gleich waren. Es gab keinen Zweifel. Die Amöbe hatte sich ausgedehnt! Die Arme waren um etwa fünf Lichtjahre länger als beim kleineren Bild. Woraus setzte sich diese kleine, sonderbare Formation zusammen? Aus Gas bestimmt nicht. Die Brechungsindices des schwachen Lichts der fernen Galaxien im Hintergrund waren falsch. Kein Staub, dieser hätte das Licht vollkommen geschluckt.
Die Angaben waren ungenau, kaum differenzierbar; es gab wohl keine Möglichkeit, die dunkle Erscheinung genau zu analysieren, außer man begab sich selbst dorthin, und es würde nahezu ein ganzes Jahrhundert dauern, ehe die dort stationierten Einheiten des Netzes die Amöbe erreichten und hindurchmarschierten. Materietransmission in die Amöbe war so gut wie unmöglich, bis man dort den ersten Empfänger installiert hatte, und für den Transfer brauchte man einen dort bereits vorhandenen lebenden Wirt. Man hatte einige Male versucht, diese Formation im Transfer zu erreichen, jedoch stets ohne Erfolg. In der Amöbe schien kein intelligentes Leben zu existieren. Und wie sollte es auch? Leben war nur möglich im Licht einer nahen Sonne. In der Finsternis des intergalaktischen Raums konnte es nicht entstehen. Die Hologramme lösten keine Körper von planetarischen Dimensionen auf. Untersuchungen hatten ergeben, daß die Amöbe aus sicherlich mehr als einer Million Gesteinsfragmente bestand keines größer als ein Planetoid. Eine Ansammlung von Meteoriten, ähnlich einem gigantischen Kometen, weit draußen am Clusterrand. Eine astronomische Unmöglichkeit! Und das machte die Erscheinung ja gerade so interessant. Vielleicht waren es die Überreste einer Planetenexplosion, wobei die Ausdehnung lediglich auf die stattgefundene Katastrophe hinwies. Trotzdem gab es noch eine Menge Fragen. Der Planet konnte nicht irgendwo im Raum entstanden sein, er mußte aus irgendeiner Konstellation stammen, von irgendwoher kommen. Diese Trümmerwolke bewegte sich nicht,
denn eine solche Bewegung hätte der Vergleich der Hologramme ergeben müssen. Statt dessen behielt die Amöbe ihre Position in Beziehung zu Esse konstant bei. Sie hatte sich auch nicht gesammelt; Hologramme dieses Sektors, die man vor etwa tausend Jahren aufgenommen hatte, zeigten an dieser Stelle keine stellare Staubwolke. Eine Staub- oder Gaswolke war weitaus besser zu lokalisieren als ein planetoider Körper, da sie sich gewöhnlich über einen größeren Raum erstreckte und weitaus mehr Licht absorbierte, ganz gleich wie dünn die Wolke auch sein mochte. Instrumente konnten sie ohne Schwierigkeiten analysieren, auch wenn das nackte Auge überhaupt nichts erkannte. Damit sollte nicht behauptet werden, daß eine solche Gas- oder Staubwolke sich nicht in so kurzer Zeit bilden konnte. Nein, der Planet mußte schon vorher dagewesen sein, nahezu unsichtbar, und war wahrscheinlich vor zweihundert Jahren explodiert, nachdem er sich mindestens hundert Jahre nicht gerührt hatte. Jedoch ließ sich eine Explosion von diesen Ausmaßen nicht nachweisen. Die Sensoren des Netzes hätten die dabei freiwerdende Strahlung innerhalb von wenigen Jahrzehnten aufgezeichnet, anstatt mit der Meldung zu warten, bis sie sich in Sichtweite des Objekts befanden. Tatsächlich hätten die Teleskope der Sphäre Esse die Erscheinung innerhalb eines Jahrhunderts aufgenommen – und das war nicht geschehen. Demnach hatte eine solche Explosion also auch nicht stattgefunden – zumindest keine mit einer Wucht, welche Teile des Planeten auf einen beachtli-
chen Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit beschleunigt in den Raum schleuderte. Und doch war die Amöbe da, und sie wuchs. Sie konnte sowieso nicht aus einer Explosion hervorgegangen sein; sie bestand nicht aus einer sich ausdehnenden Trümmerwolke, sondern entsprach eher einer im Wachstum begriffenen semimateriellen Struktur. Die Arme verlängerten sich oder ragten aus dem Zentrum des Dings heraus wie bei einer lebendigen Kreatur. Dabei war es nur Geröll – oder etwa doch nicht? Ein rätselhaftes Wunder, in der Tat! Es mußte eine Erklärung dafür geben, denn das Ding existierte wirklich. Der Astronom dachte gar nicht daran, weitere Jahrzehnte zu warten und sich neue Informationen aus dem Netz zu beschaffen. Er war schließlich der führende Astronom der Galaxis und verfügte wie seine Kollegen über alle erreichbaren Daten. Dies war eine Herausforderung von der Art, die er liebte und die seinem Leben den Sinn gab! Tagelang beschäftigte er sich mit seinen Aufzeichnungen, berechnete und überprüfte aufs neue die bisherigen Erkenntnisse. Er betrieb weitere Untersuchungen und forschte nach neuen Aspekten und Einsichten. Er meditierte und betrachtete die Hologramme mit sechs Augen gleichzeitig, ließ sie in sonische Symbole übersetzen und lauschte diesen mit mehreren Ohren. Seine umsichtige, dienstbare Magd brachte ihm sein Essen und entfernte seine Ausscheidungen; kein einziges Mal verließ er sein Bassin. Er würde erst das Rätsel der Amöbe lösen, ehe er sich von hier fortbewegte! Nachrichten zirkulierten, denn nichts von dem,
was die wichtigen Experten taten, blieb vollkommen geheim. Ein bedeutender Durchbruch mußte unmittelbar bevorstehen! Andere Astronomen studierten die Amöbe in der Hoffnung, den Meister überflügeln zu können, denn auf diesem Gebiet herrschte ein erbitterter Wettstreit. Sie konnten jedoch das Rätsel nicht lösen; die Daten waren zu ungenau, und außerdem gab es weitaus wichtigere Dinge zu tun. Schließlich konnte man unmöglich behaupten, daß dieses ferne System toter Steine von besonderer Bedeutung war. Plötzlich, in der Abgeschiedenheit seines Arbeitsraumes, versteifte sich der Forscher. @ Die RaumAmöbe ist – @, rief er in seiner Muttersprache. Dann versank er im Schock. Seine treue Magd alarmierte die leitenden Persönlichkeiten und man brachte ihn schnellstens ins medizinische Zentrum. Doch der Astronom lag leblos in seinem Bassin. Sie konnten ihn nicht wiederbeleben. Sie wußten, daß die Wucht der Erkenntnis über die Identität der Amöbe diesen Zustand bewirkt hatte. Seine Spezies reagierte stets mit einem solchen Schockzustand, wenn sie von tödlicher Gefahr bedroht wurde. Es war eine Art Verteidigungsmechanismus, der schon oft Individuen dieser Art beschützt hatte, indem diese das Bewußtsein und jegliches Schmerzempfinden verloren und so die schlimmsten Mißhandlungen lebendig überstehen konnten. In diesem Fall hatte es allerdings keine sichtbare physische Attacke gegeben. Man wußte, daß die Angelegenheit überaus wichtig war, denn eine unbedeutendere Erkenntnis hätte auf einen solchen Experten wohl kaum eine solche Wirkung gehabt. Daher war es notwen-
dig, die Art und Weise dieses intellektuellen Schocks festzustellen, da es immerhin möglich war, daß die anderen Angehörigen dieser Kultur einer ähnlichen Gefahr ausgesetzt waren. Kein Arzt im Segment konnte den Astronomen aus seinem derzeitigen Zustand wecken. Sie konnten sich nicht vorstellen, daß die Amöbe in einer solchen Entfernung eine Gefahr für sie darstellen konnte, jedoch wagten sie es auch nicht, aus Unkenntnis ein unbekanntes Risiko einzugehen. Daher wendeten sie sich an den führenden Schock-Techniker des Clusters: eine Super-Kirlian-Entität der Sphäre Slash, Andromeda, namens Herald der Heiler.
TEIL I
KIRLIAN
1
Verlust der Ehre & Vorbeidrift aller Einheiten zum Zweck geographischer Übersicht. & o Aktionseinheiten 1 bis 9 unterwegs. o X Forschungseinheiten A bis Z unterwegs. X & Zielcluster nun in Reichweite. Geographische Daten. & G Zwei vollständige Galaxien, eine kleine Galaxis, alle spiralförmig, sechs Ellipsen, sieben unregelmäßige, verschiedene kleinere Fragmente. Insgesamt typischer kleiner Cluster. Nomenklatur vorhandener Intelligenzen: Milchstraße, Andromeda, Feuerrad, Esse, Sculp, Wolke 9, Wolke 6. G & Aufteilung zum Zweck detaillierter Datenaufnahme; Identifikatoren örtlicher Spezies sind in Kürze überholt. & Sein Wirtskörper war eine seltsame Ansammlung von Schlingen. Er konnte nicht genau feststellen, ob die Schlingen aus einem einzigen Strang bestanden oder ob dieser Strang sich verzweigte und verknotete. Der Körper hatte keine Scheiben, keine Füße oder andere definierte Fortbewegungsorgane; auf einer glatten Oberfläche wäre er wohl hilflos. * Hier gibt es keine ebenen Flächen *, informierte sein Wirtsbewußtsein. * Keine glatten Flächen. Mach dir keine Sorgen. Ich werde dich sicher hinbringen, wohin du gelangen willst. * / Dankbarkeit /, erwiderte Herald und bediente
sich seiner eigenen Art der Intonation, wobei er sich natürlich in der Sprache der Sphäre Ast mitteilte. / Ich bin gekommen, um Quirl von Klippe zu treffen. / Sofort setzte der Körper sich in Bewegung. Er verformte sich, schob sich über ein steinernes Gatter, wickelte sich um eine Keramiksäule und verknotete sich in einem korbähnlichen Rahmen aus Metall. Nun ruckte dieser an und folgte einer biegsamen Leine durch ein beachtliches Gewirr von verschiedenen Formen. Ein öffentliches Transportsystem natürlich, jedoch weit entfernt von der geradlinigen Geometrie in Heralds Heimatsphäre. Sie gelangten in eine Höhle voller Stalaktiten. Der Wirt hielt augenblicklich an und zog seine Persönlichkeit zurück, um dem Transferer die volle Kontrolle über den Körper zu überlassen. Herald begriff, daß sie am Ziel angelangt waren. Eine Entität näherte sich ihm, die oberflächlich betrachtet genauso aussah wie sein Wirt. Eine Schlinge ihres Körpers berührte Heralds Gestalt und übermittelte ihm Informationen in der Sinnensprache dieser Spezies. Das fremde Wesen verfügte über eine Aura von der Intensität fünfzig. * Willkommen, Experte von Slash *, pulsierte er. * Ich bin Quirl von Klippe. * Heralds normale Art des Ausdrucks, modulierte Laserimpulse, war für die zwischenentitätische Kommunikation noch schlechter geeignet als für den Gedankenaustausch zwischen Wirt und Gast. Ein seltsam perverser Stolz auf seine Herkunft ließ ihn trotzdem in dieser Weise antworten. Die Folge war ein taktiler Reiz, der auf Verletztheit schließen ließ. / Ich bin Herald der Heiler. / * Ihre unglaubliche Aura bedarf keiner Vorstellung!
Wie stark, wenn ich das einmal fragen darf, ist sie genau? * / Zweihundertsechsunddreißig. / Herald war an derartige Fragen gewöhnt und empfand sie nicht als Eindringen in seine Persönlichkeit. Er besaß die stärkste Kirlian-Aura, die jemals gemessen wurde, stärker noch als jene der berühmten historischen Persönlichkeiten Flint von Außenwelt und Melodie von Mintaka, von denen er, wie es hieß, in direkter Linie abstammte. Deren Auren waren während der Energiekriege zu großer Bedeutung gelangt; nun jedoch gab es keinen Krieg, daher hatte er seine Aura zu einem Teil seines Gewerbes gemacht. * Zweihundertsechsunddreißigmal so stark wie normal! * rief Quirl heftig vibrierend aus. / Sie haben eine Einheit meiner Zeit gekauft /, erinnerte Herald ihn. / Sie begann, als wir uns begegneten. Sie werden sie sicherlich nicht vergeuden wollen. / * Ihr Preis ist hoch, aber ich glaube, daß Sie allein mir helfen können. * / Das kann ich nicht garantieren. Gewisse Leiden sind mit meiner Kunst nicht zu heilen. / * Dieses aber bestimmt. Ich möchte eine Antwort nur auf eine einzige Frage – und Sie als bester lebender Wappenkundler können mir sicherlich die Information geben. * / Sicherlich /, meinte Herald. / Ich werde Ihnen natürlich ein Wappen entwerfen. Das ist ebenfalls Teil meines Gewerbes. / * Nicht notwendig. Ich habe meinen Wappenschild. Ich möchte lediglich... eine Interpretation. * / Sie haben Ihr Entgelt vergeudet! Jeder Heraldiker
aus Ihrer eigenen Sphäre kann Ihnen zu einem Bruchteil dessen, was Sie mir bezahlt haben, eine Erklärung liefern, und diese wäre mindestens genauso zutreffend und genau. Die Heraldik ist eine exakte Kunst, eine Wissenschaft mit strengen Regeln; sie bietet nur sehr wenig Raum für Interpretation und Auslegung. Wahrscheinlich kann sogar ein einfacher Text Ihnen die Erklärung geben, die Sie wünschen. Sicherlich gibt es in eurer Planetarischen Bibliothek... / * Ich habe bereits die Bibliothek aufgesucht. Nicht schon wieder! * Herald nahm hektische Strömungen in der Aura der anderen Entität wahr. Die ganze Angelegenheit schien auch noch emotional aufgeladen zu sein. Dann handelte es sich also nicht um eine Routinefrage, was bei seinen meisten Fällen auch nicht der Fall war. Heralds Gebühren waren sehr hoch, weil er ganz besondere Fähigkeiten mitbrachte. Trotzdem befleißigte er sich einer gewissen Bescheidenheit. / Wenn Sie der Meinung sind, daß meine Erklärung ihre Bezahlung wert ist, dann sollen Sie sie haben. Allerdings wird sie nicht viel anders ausfallen, als wenn Sie... / * Lassen Sie mich erklären. Die Familie von Klippe ist erst vor kurzem entstanden. Ich mußte einige schwierige Manöver vornehmen, um... Kennen Sie sich mit den Vererbungsmechanismen unserer Sphäre aus? * / Mein Gewerbe macht es notwendig, daß ich mit den Ursprüngen vieler Wappen in den verschiedenen Sphären vertraut bin. Das betrifft jedoch vorwiegend die offiziell anerkannten Prozeduren. Was die Einzelheiten betrifft, so habe ich da nur nebulöse Vorstellungen, außer ich muß mich in einem bestimmten Fall
genauer informieren. Zum Beispiel weiß ich nicht genau, wie Ihre fünfgeschlechtliche Reproduktionsmethode funktioniert; ich habe es bisher nicht für nötig gehalten, in derart intime Bereiche vorzudringen. Ist diese Information notwendig, um Ihre Frage angemessen beantworten zu können? / * Wahrscheinlich nicht. Deshalb streife ich dieses Thema nur. Entgegen dem weitverbreiteten Glauben in anderen Sphären verfügen wir nicht über fünf Geschlechter. Unsere Quintupletts bestehen statt dessen aus vier komplementären Männlichen und einer Weiblichen. Unsere Prozeduren zur Auswahl des jeweiligen Männlichen-Tpys zur Fortführung einer Generationslinie hängen davon ab, welche interfamiliäre Verbindung gewünscht wird. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß diese Angelegenheit sehr komplexe Probleme aufwirft und daß manchmal bestimmte Generationslinien laut gesetzlicher Forderung unterbrochen und andere neu begonnen werden. Die Gründung einer neuen Familie macht daher einen neuen Waffenschild erforderlich, auf dem die Vereinigung wesentlicher Merkmale und Eigenschaften der Vorfahren erscheint. * / Das gehört zum Grundwissen, Quirl, wobei ich jedoch bemerken muß, daß Ihre Verwendung des Begriffs ›Vereinigung‹ ungenau ist. Vereinigung heißt, Wappensymbole nebeneinander auf dem Schild darzustellen; dies kann nur paarweise vollzogen werden. Somit ist ein Schild in Wirklichkeit... / * Bitte – ich bin nicht mit jedem technischen Detail vertraut. In einem solchen Fall hätte ich nämlich nicht die Hilfe eines Experten in Anspruch nehmen müssen. *
/ Natürlich. Meine Entschuldigung, Quirl. Aber in diesem Fall gehe ich davon aus, daß Sie einen kompetenten heraldischen Künstler engagiert haben, um sich ein neues Wappen entwerfen und fertigstellen zu lassen. / * Ich bestand auf dem allerbesten. Es kostete mich eine große Menge an Werten, denn es gab einigen Widerstand, doch am Ende brachte ich genügend Schlingen und Druck in die Diskussion ein, und mein Auftrag wurde vom Wappenkönig für die Sphäre Ast persönlich ausgeführt. * Herald erlaubte sich innerlich einen hellen Ausrufblitz. Quirl mußte tatsächlich enormen politischen und ökonomischen Druck ausgeübt haben, um eine derart bedeutende Persönlichkeit engagieren zu können. Die oberen Ränge der gesetzlichen Heraldik waren normalerweise dafür bekannt, recht eifersüchtig über ihre Privilegien zu wachen und sich dem Bitten von Fremden stets verschlossen zu zeigen. / Ich hatte einige Male mit der Wappenschule zu tun und war von deren Sachkenntnis beeindruckt. Ich bin sicher, daß Ihr Auftrag zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt wurde. Seien Sie sicher, daß Sie die Arbeit ohne Hemmungen offen herzeigen können. / * Aber ich bin nicht sicher. Da gibt es welche, die... die gekichert haben. * Ein Kichern war in der Begriffswelt von Ast ein überdeutliches und nahezu obszönes Wallen der Außenhülle, dem eine üble Bedeutung innewohnte und das der höchste Gipfel des schlechten Geschmacks war. / Über ein Wappen, das vom Wappenkönig entworfen wurde, kichert man nicht /, versicherte Herald ihm. / Entitäten, die solches tun, beweisen damit
nur ihre Dummheit und Ignoranz. / * Es sind keine Ignoranten. Sie sind... * Quirl brach ab. * Deshalb erbat ich doch Ihre Unterstützung. Irgend etwas stimmt da nicht. * / Wir scheinen in einer Sackgasse zu stecken, Quirl. Ich kann nur beteuern, daß ich nicht der Richtige bin, um irgendwelche thematischen oder formellen Fehler in Ihrem Wappenschild aufzuspüren. Da ist einmal die Sphärische Wappenschule, die Gesetzlichkeit in Wappenangelegenheiten festlegt. Deren Archive sind öffentlich zugänglich, und deren Angaben haben im gesamten Galaktischen Cluster Gewicht. Das Universum, zumindest was wir bisher davon kennen, erkennt die Autorität Ihres FamilienSchildes an. Bis hin zur Milchstraße und zu Stiftrad beschäftigen sich die Bewunderer mit ihren Wappen und würdigen seine Vorzüge. Wenn Sie jedoch mit dem Entwurf und dem fertigen Produkt unzufrieden sind... / * Nein, beides ist wunderbar. Ich war begeistert. * Herald dachte einen Moment nach. / Vielleicht habe ich einen Begriff, der von Ast stammt, nicht richtig interpretiert. Ich sehe keinen Dienst, den ich anbieten könnte. / * Ich bitte Sie nur, daß Sie meinen Schild betrachten und mir Ihre Meinung darüber unverblümt mitteilen. * / Es wird mir eine Ehre sein. Ich äußere immer meine ehrliche und offene Meinung. / Quirl wallte und schlang sich in einen anderen Bereich seiner Behausung, und Herald folgte ihm. Dort, im lebendigen Fels einer korkenzieherförmigen Kammer befand sich der als Relief herausgearbeitete
Wappenschild in Lebensgröße. Er war wunderschön. Der äußere Schild hatte die Form einer Ellipse und versinnbildlichte die Galaxis Andromeda und war im Innern mit einem Knäuel miteinander verknoteter Schlangen verziert, die auf die Sphäre Ast hinwiesen. Darin befanden sich die Familienwaffen von Klippe, die einem überhängenden Klippenfelsen nachempfunden waren. Herald glitt mit seinen Schlingen und Knoten darüber und nahm das Bild von allen Seiten in sich auf. Es hatte eine beherrschende Form, Substanz und Farbe und war auf seine Art ein vollkommenes Kunstwerk. Der Wappenkönig von Ast war wirklich ein echter Meister! * Was sehen Sie? * Die Frage klang beschwörend. / Ich sehe eine exzellente und makellose Darstellung. / * Haben Sie nicht vorher von einer Blasonierung gesprochen? * Es war immer das gleiche mit diesen Amateuren und ihren Fragen. Doch Herald unterdrückte seinen Unwillen, denn Höflichkeit war in seinem Gewerbe oberstes Gebot. / Das tat ich, Quirl. Die Blasonierung eines Wappenschildes ist die genaue sprachliche Spezifikation seiner Elemente. Mit Darstellung bezeichnet man die Umsetzung dieser Beschreibung in die physische Realität. / * Das begreife ich. Das eine ist also die Beschreibung, während das andere die tatsächliche Anfertigung bezeichnet. Für einen Moment dachte ich schon, irgend etwas stimmte nicht. * / Nein, Ihr durch eine Ruhmestat erworbenes
Wappenbild ist schon in Ordnung. Azurblau, eine Klippe aus siebenunddreißig Felsen und zweiundvierzig Furchen, abwechselnd dreizehn, zwölf, dreizehn, sieben, elf, dreiundzwanzig, aufgereiht wie Perlen und außerdem eingefaßt von einem Randfries aus aufgerichteten Schlangen. / Herald schüttelte sich innerlich, als er seine Beschreibung lieferte, denn der altertümliche heraldische Begriff ›aufgerichtet‹ war bestimmten vierbeinigen Raubtieren vorbehalten, die auf dem linken Fuß standen, den rechten Fuß im Schritt erhoben, dabei das Gleichgewicht mit dem linken Vorderfuß ausbalancierend und mit dem rechten zum Schlag ausholend. Es war einer gliedlosen Schlange technisch unmöglich, sich aufzurichten und auf den Hinterbeinen zu stehen. Doch die Ausweitung des Systems, um verschiedene Cluster-Kulturen miteinander zu vereinen, hatte die Umdeutung einiger Begriffe notwendig gemacht. Wie er Quirl bereits informiert hatte, legte das örtliche Institut der Wappen fest, was rechtmäßig war und was nicht. Daher mußte er es akzeptieren, so absurd es auch sein mochte. Ungeachtet dessen blieb es ein in Konzept und Fertigstellung perfekter Wappenschild. Doch während sich diese Gedankenfolge an der Oberfläche abwickelte, bildete sich darunter etwas Unheimliches, Heimtückisches. Plötzlich brach es durch. Herald unterdrückte einen Schauder des Unglaubens. * Machen Sie weiter, Herald *, vibrierte Quirl unruhig. Aber Herald konnte nicht fortfahren. Er war zu sehr damit beschäftigt, ein Gefühl zu unterdrücken,
das ihn zu überwältigen drohte. * Sie haben es erkannt! * schauderte Quirl. * Sie sehen es ebenfalls! * Herald behielt nur mühsam die Kontrolle über sich. / Ich bedauere, Ihnen wohl doch nicht helfen zu können. Ich werde die Gebühr zurückzahlen. / * Nein! Jede angesehene Entität, der ich dieses Wappenbild voller Stolz gezeigt habe, lachte lauthals! Niemand will mir verraten, warum! Es ist fast so, als wäre an mir irgend etwas Witziges, von dem ich keine Ahnung habe. Man macht sich über mich lustig, lacht auf meine Kosten. Alle versichern mir, das Wappenbild sei einfach perfekt, doch gleichzeitig platzen sie in unbändigem Vergnügen laut heraus. Und Sie tun nun dasselbe. Ich habe bezahlt – ich bestehe darauf, alles zu erfahren – Sie müssen der Pflicht nachkommen, mir bei der Ehre Ihres Gewerbes zu Diensten sein. Was stimmt nicht mit meinem Schild? * Herald wich zurück. / Nichts ist daran falsch. In der Ausführung ist er wirklich vollkommen. / * Da, da ist es wieder! Das kann nicht sein. Ich fordere eine Aufklärung! * Herald bebte verhalten. / Es gibt eine Einschränkung. Aber sie ist sehr ungewöhnlich und technisch ohne Belang. Es wird Ihnen sicher lieber sein, wenn Sie es nicht erfahren. Ich gebe Ihnen die Gebühr zurück und verschwinde. / Quirl verwickelte sich zu einem ängstlichen Knoten. * Nehmen Sie die Bezahlung an oder lehnen Sie ab – das ist mir gleich! Ich flehe Sie beim Lot von Asteriks an – sagen Sie mir die Wahrheit! * Herald hielt inne. Die Ast hatten eine bedeutende
Konvention geschaffen, die aufrichtigen Austausch von Informationen forderte. Es gab jedoch gewisse Einschränkungen. / Beim Lot von Asterisk darf ich Ihnen nicht antworten, denn ich begreife jetzt, daß die Antwort Sie betrüben würde. / * Ich spreche Sie von jeder Schuld frei, mir Leid zugefügt zu haben, Herald! Sagen Sie es, sonst werde ich noch verrückt! * Herald war nicht sicher, welchen Weg er einschlagen sollte. Würde er mehr Schaden anrichten, wenn er redete, als durch sein Schweigen? Quirl schien dicht vor einem nervlichen Zusammenbruch zu stehen, aber die Wahrheit... Es war ein ethisches Problem, wie es ihm noch nie zuvor begegnet war. / Ich weiß nicht, was jetzt ratsam ist. Deshalb akzeptiere ich Ihre pauschale Vergebung jeglicher Schuld und erfülle Ihre Bitte. / * Danke! Ich danke Ihnen. * / Ich fürchte, diesen Dank habe ich nicht verdient. Ihr Wappenbild ist perfekt in jeder Hinsicht außer einer: Es zeigt ein unehrenhaftes Wappenzeichen. Es ist dies die an sich hübsche Farbe tenne oder Braun. / * Ja, auf diesen Farbfleck bin ich besonders stolz, und ich habe schon jeden wichtigen Besucher darauf hingewiesen. * / Unglücklicherweise weist diese Farbe nach heraldischem Verständnis auf eine fragwürdige Ehrenhaftigkeit hin. / * Ich verstehe nicht... * / Ich fürchte, die Farbe bezieht sich auf irgendeinen Skandal in der Geschichte Ihrer Familie, vielleicht hat jemand eine ihm nicht gebührende Ehre ange-
nommen. Eine Ehre, die technisch betrachtet durchaus legitim war, die jedoch moralisch hätte abgelehnt werden müssen. / Der Ast war geschockt. * Der Wappenkönig hat mich verdammt! Und ich dachte, niemand wüßte über diese Affäre Bescheid! * Wenn alle von Quirls Freunden gekichert hatten, dann mußten eine ganze Menge Leute darüber Bescheid wissen. / Es scheint so, als benutze der König einen sehr einfühlsamen Weg, Ihnen von seinen Nachforschungen und seiner Auffassung Kenntnis zu geben. / * Schande! Schande! Ich bin entlarvt! Nun wissen alle davon! Meine Freunde, meine Geschäftspartner, denen ich jede Einzelheit des Schildes erklärt habe! Meine potentiellen Familienangehörigen! Denkende überall im Galaktischen Cluster! Wo ich auch hingehe – überall bin ich jetzt der Clown! * Herald versuchte, die Sorgen der Kreatur zu zerstreuen. / Im Gegenteil. Nur wenige wissen Bescheid. Einfache Entitäten suchen weder, noch begreifen sie die Bedeutung heraldischer Elemente und Regeln. Die können doch einen Schild nicht von einem Helm unterscheiden. Hätte es berechtigte Gründe gegeben, von Anfang an gegen Sie vorzugehen, wäre Ihr Wappenbild abgelehnt worden. Offenbar ist die Ehre Ihrer Familie unangetastet. Das vermindert natürlich nur die Wirkung. Tatsächlich halte ich die Berücksichtigung ererbter Mängel und Fehler für recht zweifelhaft; ich habe so etwas bisher noch nie bei einem anerkannten Wappen erlebt. Ich glaube, Sie könnten auf dieser Basis eine offizielle Anklage aussprechen und diesen Mangel
vielleicht beseitigen lassen. / * Und damit meine Schande am ganzen ClusterHof bekanntmachen, so daß auch die nicht heraldischen Intelligenten es ebenfalls bemerken? Ich will verdammt sein, wenn ich das wirklich tue! * Und Herald erkannte, daß der Ast sich nicht in leerem Gerede erging; er meinte wortwörtlich, daß seine Ehre nun der Verdammung anheimfallen müßte. Familienstolz war etwas, was sich durch Gesetze nicht beeinflussen ließ. / Ich werde in Ihrem Namen einen Protest vorbringen /, machte Herald das Angebot. * Nein, jetzt ist es bereits passiert, der Schade ist mein. Meine einzige Hoffnung liegt jenseits der heraldischen Auspizien. * Ja, es war ihm ernst! Hätte er nicht doch lieber schweigen sollen? Was wollte Quirl jetzt unternehmen – den Wappenkönig umbringen? Welches Leid hatte dieses Wappenbild hervorgebracht! Doch Herald konnte es sich nicht leisten, noch weiter in die Sache hineingezogen zu werden; sie ging ihn nichts mehr an. / Wie tragisch! Ich bedauere zutiefst, daß ich Ihnen diese traurigen Neuigkeiten überbringen mußte. / Der Ast sammelte sich. * Ich danke Ihnen, Herald. Bitte behalten Sie die Bezahlung; Sie haben sie verdient. Es wird keine Beschwerde geben. Ich trenne mich. * Weitere Worte waren sinnlos; der Edle von Klippe hatte endlich einen Entschluß gefaßt. / Ich trenne mich /, sagte Herald und glitt zum Transporter hinüber. Er schien sich nicht sonderlich wohl zu fühlen. Als er das Domizil verließ, glaubte er im Fels einen
fernen Puls zu hören, das Echo eines taktilen Schreis. * Der ganze Cluster! Welch eine Schande! * Der Schmerz war fürchterlich. Bereits ehe Herald heraustransferen konnte, verbreitete sich die Neuigkeit vom Selbstmord des Quirl von Klippe und der Auflösung seiner wachsenden Familie in der gesamten Sphäre Ast. Der Grund für diesen Akt blieb ein Geheimnis, doch Herald kannte die Wahrheit. Er schüttelte sich vor Wut und Ekel. Er hatte sich stets bemüht, seinem Gewerbe alle Ehre zu machen und für das an ihn gezahlte Honorar beste Arbeit zu liefern, nun jedoch hatte man ihn dazu gezwungen, bei einer Exekution praktisch den Henkersknecht zu spielen. Wenn er jetzt lauthals Protest einlegte, würde sein Anteil am Gelingen dieses Plans offenbar, und es wäre durchaus möglich, daß er sich dafür vor dem Cluster-Gericht würde verantworten müssen. Daher mußte er strengstes Stillschweigen wahren, denn es gab keine Möglichkeit, Quirl noch zu helfen. Der Wappenkönig der Sphäre Ast hatte einen Mord auf dem Gewissen. Eines Tages würde er sich für dieses Verbrechen verantworten müssen.
2
Kind des Kummers & Vorbeidrift der Forschungs-Einheiten auf ihrem Weg zum Einsatzort. & X Vorbeidrift. X & Forschungskommando verteilt Aufträge. & X Aufträge wie folgt: eine Einheit pro örtlicher kultureller Aufteilung. Einheiten sind mit Buchstaben kenntlich gemacht, Kulturen durch Symbole. X Milchstraße: B Ç E" F É K % L Ö N ∋ Q δ T Ä W @ Z i Andromeda: A * C °o D-P :: S/ Feuerrad: R Å U Θ Andere: G$ J= M¢ V # Y Ñ & Einsatz-Einheiten beginnen Anmarsch zu vorgesehenen Einsatzorten. & o Vorbeidrift. o & Zu entnehmen sind Proben von Lebensformen, die alsdann auf Aura und Intelligenz zu überprüfen sind. & Heralds nächster Wirt war eine Kreatur aus Zertrümmerungsorganen und kraftvollen Meißeln, bestens ausgerüstet für ein Leben in der soliden Felsschicht zwischen dem gefrorenen Ammoniak an der Oberfläche und der superheißen Lava in der Tiefe des Planeten. Diese Kreatur bewegte sich vorwärts, indem sie sich ins Gestein hineinbohrte, und sich ernährte, indem sie den Felstrümmern Nährstoffe entzog. Es war ein angenehmes Leben, wenn die Zone,
in der man herumgrub, ertragreich war. Dies war ein Planet der Sphäre Quadpunkt, etwa in der Mitte der Galaxis. Herald ging stets dorthin, wohin seine Aufträge ihn führten. Er beschrieb seinem Wirt die Mission, die ihn hergeführt hatte, und wurde mit erstaunlicher Geschwindigkeit durch den Fels bewegt. Das Material, das vorne gelöst und zerkleinert wurde, wurde nach hinten geschoben und versperrte den entstandenen Gang; es wurde als schlechter Stil angesehen, einen offenen Tunnel zu hinterlassen. Ein Raubtier könnte vom ungeschützten hinteren Ende angreifen, oder es würde der Bohrrhythmus eines Denkenden gestört, wenn er unerwartet auf eine solche Kaverne träfe. Natürlich würde schon bald eine der Planetenbewegungen das Labyrinth aus gegrabenen und zugeschütteten Gängen zum Einsturz bringen und einen neuen Lebenszyklus in Gang setzen, zur Zeit jedoch bahnte jede selbständige Kreatur sich ihren Weg selbst und verschüttete ihn auch wieder. Nach kurzer Zeit erreichte Herald das Territorium seines Klienten Bohr von Metamorph. Wie die meisten von Heralds Klienten war auch dieser ein reicher und mächtiger Repräsentant seiner Sphäre. Herald hatte sich nicht ausschließlich auf Reiche verlegt, jedoch konnte er es sich nicht leisten, galaxisweite Reisen für ein Taschengeld zu unternehmen. Er suchte immer nach Gelegenheiten, den Bedürftigsten zu helfen, momentan gab er allerdings den reichsten unter ihnen den Vorzug. Hätte er sich erst einmal ein sicheres Polster geschaffen, um sich zur Ruhe setzen zu können, wollte er alles in seinen Kräften Stehende tun, um die unterdrückten Massen
der Sphäre Slash moralisch wieder aufzurichten, die zur Zeit noch unter dem stöhnten, was ironisch ›Fluch von Llume‹ genannt wurde. Oder war er wie die meisten, mit denen er zu tun hatte, nicht mehr als ein Heuchler? Er dachte, er würde Reichtum mit dem Ziel anhäufen, Gutes damit zu tun; dabei hatte er selbst oft genug erfahren, wie schnell man letzteres vergessen konnte, wenn man ersteres erreicht hatte. Er hoffte, daß sein Leben insgesamt seiner Sphäre und seinem Cluster zum Vorteil gereichen würde, noch konnte er in dieser Richtung keine sichere Prognose aufstellen. Bohr kam sofort zum Grund seines Anliegens, wie es für die Vertreter seiner Art typisch war. :: Mein Abkömmling wird sterben. Sie leidet unter der Krankheit einer mineralen Mangelerscheinung. Sie ist unheilbar. Für die an Sie gezahlte Gebühr sollen Sie ihr behilflich sein, in Ehren und ohne Schmerzen hinzuscheiden. Wir haben gehört, daß Sie ähnliches schon früher bei unreifen Entitäten gemacht haben. :: / Habe ich, und auch bei reifen Entitäten. Jedoch liegt jeder Fall anders. / Die Lady Bohr wurde da schon deutlicher. :: Es heißt, daß Sie mit einem kleinen sterbenden Vogel der Sphäre Dash gesprochen haben. Ehe Sie kamen, befand sich das Küken in einer solchen Depression, daß es nicht einmal flattern wollte, doch nach Ihrem Gespräch lebte es auf, schlug zur Freude seiner Eltern mit allen drei Flügeln und starb dann, ohne zu leiden und in Frieden. Und als es gefragt wurde, was der Heiler mit ihm getan hätte, erwiderte es nur: Er hat mich berührt!, und so wurde es niemals richtig geklärt, doch die Eltern waren zufrieden und fanden
sich mit den Gegebenheiten ab. :: / Stimmt /, gab Herald zu. :: Wenn Sie nicht ähnliches auch für uns tun, werden wir Ihr enormes Honorar zurückfordern ::, sagte Bohr grimmig. :: Ich gestatte Ihr Eindringen in dieser Stunde unseres schmerzlichen Verlustes nur auf Bitten der betrübten Lady. Für solche von Ihrer Art haben wir hier keine Verwendung. :: :: Bohr! :: protestierte die Lady. :: Wir hegen gegen die Slash keinerlei Vorurteile, auch wenn sie die Galaxis verraten haben. Wir sind schließlich aufgeklärte Intelligenzen. :: Vorurteile? Eigentlich nicht so sehr! dachte Herald. Llumes Fluch war ein unauslöschlicher Makel der Vertreter seiner Art, und das schon seit mindestens tausend Jahren. / Sind Sie sich ihres Zustands ganz sicher? / :: Ganz sicher, Heiler. Walten Sie Ihres Amtes. :: Wie roh und gleichgültig im Angesicht des Hinscheidens eines so jungen Wesens! Doch Herald gab seinem ersten Impuls nicht nach und reagierte nicht auf das geradezu erschreckende Verhalten seiner Auftraggeber; sein Gewerbe lebte auch von Verständnis und Toleranz. Er wußte, daß oft ein besonders barsches Auftreten lediglich als Schutz einer tiefen Sensibilität vorgeschoben wurde. Kreaturen, die daran gewöhnt waren, ihr ganzes Leben lang hartes Felsgestein zu bearbeiten und sich dort eine halbwegs angenehme Umgebung zu schaffen, sollte man eigentlich ihre seltsamen Verhaltensweisen nachsehen. / Bringen Sie mich zum Kleinbohr. / Die noch unreifen Vertreter der Rasse der Quadpunkts trugen als Namen ausschließlich die Diminutive der Namen ih-
rer Eltern. / Und dann lassen Sie uns bitte allein. / Die beiden erwachsenen Quadpunkts reagierten beide etwas beleidigt bei dem freundlich hervorgebrachten ›bitte‹, doch sie kamen der Aufforderung nach. Das Kind lag in einer eigenen kleinen Höhle, war es doch schon zu schwach, um sich eigene Wege zu graben. / Hallo, Kleinbohr /, grüßte Herald. Das Kind reagierte nicht. / Ich bin hier, um dir den Frieden zu schenken. / :: Dann bist du der Tod oder der Teufel ::, meinte die Kleine und belebte damit ein Bild aus dem Gedächtnis ihres Wirts. Der Tod war der bloße Untergang, während der Teufel jedoch als Steinmonster erschien, das voll sadistischer Freude Felsmassen auf festhängende Entitäten ausschüttete oder Spalten aufriß, so daß der Ammoniakschnee die Unschuldigen quälte. Kleinbohr redete fast wie ihr Vater. / Vielleicht. Hast du Lust, mit mir ein Spiel zu spielen? / :: Mir ist nicht danach, ›Raumschiff‹ zu spielen, und wenn ich wirklich dazu Lust hätte, dann würde ich es auf keinen Fall mit einem Slash spielen! :: Herald holte einen Stapel dünner Steinplättchen hervor. Vor seinem Transfer hatte er darauf gedrungen, daß sein Quadpunkt-Wirt diese in seinem Gepäck bei sich trug. / Dann ein kleines Ratespiel, Kleinbohr. / Fast gegen seinen Willen zeigte das Kind plötzlich Interesse. :: Ein Ratespiel? :: / Ich lege dir eine Karte vor, und du sollst raten, was sie bedeutet. Wenn du richtig rätst, dann darfst du die Karte behalten. /
:: Was zum Geröll soll ich denn mit einer bröckeligen Karte? Ich sterbe doch! :: Herald überging den Fluch. Er näherte sich dem Wesen, und der energiereiche Saum seiner starken Aura berührte die Kleine. / Zu sterben ist ein Unglück, Kleinbohr. Ohne Sinn zu sterben, ist eine Tragödie. / Sie gab einen sandigen Seufzer von sich. :: Na, schön, dann deck die Karte eben auf. :: Er mischte das Kartenpack mit seinen vorderen Gliedmaßen und zog wahllos eine Karte. Das dünne Steinblatt landete bildoben auf dem Boden zwischen ihnen. Kleinbohr betrachtete die Darstellung. :: Das Bild von drei Entitäten, die unterhalb einer Darstellung der Galaxis Andromeda aus einem tiefen Schacht aufsteigen ::, meinte die kleine Kreatur dann. :: Oh, ich weiß, was das bedeutet! Das ist der Andromedische Rat der Sphären, der die Slash zur Urteilsverkündung vor seine Schranken ruft! Sieh doch, die Kreaturen wollen nicht erscheinen! :: In ihrer Stimme schwang eine kaum verhohlene Bosheit mit. Herald reagierte jedoch nicht auf derartige Sticheleien gegen seine Sphäre, denn in solchen Dingen hatte er bereits genügend Erfahrungen sammeln können. Diese Karten waren mit Bildern versehen, sicher, aber die Bilder dienten nur dazu, unterdrückte Reaktionen zu wecken, Interpretationen herauszulocken, die die tiefsten Wünsche und Sehnsüchte derer enthüllen, die sich damit auseinandersetzten. Die Abneigung gegen die Sphäre Slash war in der Sphäre Quadpunkt sehr stark ausgeprägt, was letztlich ganz natürlich war. Die Bohrs von Metamorph hatten sich
schon fast einen Akt der Schändlichkeit erlaubt, als sie einen Slash herbeiriefen, der ihr Kind heilen sollte. / Du hast es erraten, Kleinbohr. Die Karte gehört dir. Aber weißt du auch, warum die Slash überall so schlecht angesehen sind? / :: Sie haben ein Verbrechen gegen unsere Galaxis begangen. Sie haben uns an den Feind verraten. :: / Ja. Diese Tat kennt man unter der Bezeichnung ›Llumes Fluch‹. Darf ich dir mal unseren Standpunkt in dieser Sache schildern. / :: Slash hat einen eigenen Standpunkt? :: fragte die Kleine ungläubig. / So seltsam das auch erscheinen mag – ja. / :: Na schön, gut ::, sagte sie und genoß den Triumph, eine Karte gewonnen zu haben, die sie eigentlich gar nicht gewollt hatte. :: Schließlich sind wir von Quadpunkt trotz allem aufgeschlossene Entitäten. :: Aha, wie man's nimmt. / Zur Zeit des Zweiten Energiekriegs, vor etwa tausend Jahren, gab es eine Agentin aus der Sphäre Slash, die, dicht vor dem erfolgreichen Abschluß ihrer Mission stehend, diese abbrach und zur feindlichen Galaxis Milchstraße überlief. Dadurch gab sie Melodie von Mintaka die Möglichkeit, den Verlauf des Kriegs nachhaltig zu beeinflussen und ihm eine Wende zu geben. Die Situation wurde im letzten Moment vom hervorragenden General Hammer von Quadpunkt gerettet. / :: Hammer! :: rief die Kleine aus, erkannte sie den Helden doch sofort: :: Admiral Hammer! :: / Diese Agentin von Slash hieß ›Llume‹, weil dies die örtliche Identifikation des Milchstraßen-Wirts war, den sie als ersten im Transfer übernahm. Es war eine spicanische Undulante aus dem Segment Etamin.
Llume verliebte sich in Melodie von Mintaka, deren Aura der ihren sehr ähnlich, jedoch fast so stark wie meine war. So wurde sie zum Erzverräter der Sphäre Slash, ebenso wie eine andere weibliche Slash es im Ersten Energiekrieg tausend Jahre vorher gewesen war, nur daß die Geschichte deren Namen nirgendwo verzeichnet hat. Die Sphäre als solche hatte den Verrat keiner der beiden Weiblichen gewünscht oder gar unterstützt, jedoch hatte sie trotzdem in den folgenden Jahren ständig darunter zu leiden, und es setzte sich überall die Vorstellung fest, daß die Wesen von Slash irgendwie von Natur aus verräterisch veranlagt seien. Seitdem müssen wir mit diesem Makel leben und damit fertig werden. Ironischerweise waren beide Weiblich der Überzeugung, richtig zu handeln, indem sie die Milchstraße stärkten, damit sie nicht vernichtet würde. Llume betete zum Gott der Wirte, daß die Sphäre Slash eines Jahres die verlorene Ehre wiedergewinnen möge. / :: Hat denn Andromeda keine Anstrengungen unternommen, Milchstraße zu vernichten? :: Kleinbohr schien sich gar nicht bewußt zu sein, daß die Art ihrer Fragestellung sich völlig gewandelt hatte. / Andromeda war ausschließlich daran interessiert, die Energie der feindlichen Galaxis zu sammeln, um sie später für eigene Zwecke zu benutzen. Diese Energie war nötig, um die jeweilige Zivilisationsstufe zu halten und vielleicht sogar zu steigern. / :: Um den Preis des Intelligenzenmordes? Ich sehe keinen Grund, Llume als Verbrecherin zu betrachten und die Sphäre, die sie repräsentiert, glattweg zu verdammen. Schließlich hatte sie doch die besten Absichten! ::
/ Danke, Kleinbohr. / Verblüfft sabberte sie einige Sandkörnchen. :: Du – ich – du kommst aus der Sphäre Slash? :: / Ja. / :: Ist deine Aura der von Llume denn ähnlich? :: / Du bist ganz schön scharfsichtig, daß du danach fragst! Wahrscheinlich muß ich dir auch noch meine Aura abgeben wie die Karte! Ja, sie gleicht der Llumes und ist der von Melodie von Mintaka ähnlich und vielleicht sogar der von Flint von Außenwelt, zumindest in der Intensität. / :: Dann mußt du derjenige sein, der den KirlianFluch hinwegfegt! :: / Es ist alles möglich, wenn auch kaum wahrscheinlich. Möchtest du mit mir tauschen? / :: Niemals! :: Herald mischte erneut den Kartenpack und schickte sich an eine neue Karte aufzudecken. Mit der ersten war es ganz gut gelaufen. Doch Kleinbohr stoppte ihn. :: Was ist das für ein Satz Bilder, den du benutzt? :: Herald hatte eigentlich noch nicht vorgehabt, sich jetzt schon damit zu beschäftigen, jedoch beschloß er, in aller Offenheit zu antworten. / Man nennt dies das Cluster-Tarot. Es stammt aus einer Zeit, etwa dreitausend Sol-Jahre in der Vergangenheit – sicher weißt du, daß wir diese fremde Zeiteinteilung benutzen, weil die Eroberer sie mit anderen ihrer seltsamen Meßsysteme der gesamten Galaxis verordnet haben – wo sie als für den Lehrbetrieb vorgesehene Demonstrationstafeln von einem ziemlich obskuren Kult geschaffen worden sind. Bruder Paul von Sol hat das Spiel überarbeitet, neu geordnet
und es unter den galaktischen Spezies populär gemacht. Die Karten wurden oftmals in Form und Bedeutung verändert, haben sich jedoch bis heute erhalten können, was letztlich dem ständigen Einfluß der Tempel vom Tarot zu verdanken ist, die während einiger Perioden doch recht weit verbreitet waren. Normalerweise benutzt man einen Tarotwürfel, dessen sechs Seiten als Bildflächen dienen, jedoch wurden in vielen Kulturen auch spezielle Karten genommen. Raumschiffe werden noch immer nach diesen Vorlagen gebaut, wobei sie die fünf verschiedenen Kartenfarben repräsentieren, nämlich Stäbe, Kirche, Schwerter, Scheiben und Atome. Die Gemeinschaft der Wirte der Milchstraße wählte die Karte Enthaltsamkeit, eine Entität, die Flüssigkeit von einem Gefäß in ein anderes transferiert... / :: Transfer! :: / Ja. Sie pflegten sich mit Dingen zu beschäftigen, die damit in Verbindung standen, und sorgten sich um die Wirte und um die zeitweise verlassenen Körper der Transferer. Weil sie gewöhnlich nur kirlianfreie Körper als Wirte einsetzten, klar? / :: Zombies! Pfui! :: / Natürlich mutet einem das heute sehr primitiv an. Doch die Kirlian-Wissenschaft mußte sich wie alle anderen Wissenschaften von recht simplen Anfängen erst allmählich weiterentwickeln. Nachdem die Kontrolle über den Körper dem Wirt überantwortet wurde, ungeachtet der Intensität der fremden Aura, ließ die Macht der Gemeinschaft nach. Mittlerweile gibt es keine unfreiwillige Wirtsübernahme mehr, daher braucht keine Kreatur sich mehr Sorgen zu machen. Mein derzeitiger Quadpunkt-Wirt könnte jederzeit
die Kontrolle übernehmen, doch da er sich seinen Lebensunterhalt als Wirt verdient, wird er es nicht tun, außer die Umstände lassen ihm keine andere Wahl. Doch damit ist kaum zu rechnen. Weitere Tarotbilder tauchen ebenfalls auf. Die Königin der Energie – die Stab-Dreizehn – bleibt weiterhin das Symbol der Galaxis Andromeda. Es ist die gefesselte Dame, die von einem Monstrum aus dem Meer gefressen werden soll. Da sie auch noch der Kartenfarbe Feuer entstammt, erleidet sie ein schreckliches Schicksal. / :: Das hab' ich schon mal gesehen! Ich wußte aber nicht, daß es vom Tarot herkommt! :: / Genaugenommen stammt dieses Bild aus der vortarotschen solarischen Mythologie. Es... / :: Zeig mir eine andere Karte. :: Sie war noch ein Kind; ihr Interesse erlahmte schnell. Dieses Mal blätterte Herald den Kartenpack durch und zog eine ganz bestimmte Karte. Manchmal konnte man mit dem Tarot die besten Ergebnisse erzielen, wenn man sich scheinbar zufällig gezogener Beispiele bediente. Wenn es jedoch um kritische Fälle ging, zog Herald es vor, die Symbole gezielt auszuwählen. Er legte die Karte auf. Das Bild zeigte einen Quadpunkt, der mit ein paar farbigen Steinen einen interessanten Trick vorführte. :: Ein Zauberer! :: Eine Darstellung also, die jedes Kind im Cluster auf Anhieb erkannte, ganz gleich, welche Spezies auf dem Bild zu sehen war. / Du hast schon wieder richtig getroffen, Splitter von Metamorph! / :: Ich bin zwar noch jung, aber dumm bin ich ganz bestimmt nicht. Ich weiß, daß ich ansonsten von diesem Bild kaum Ahnung habe. Wer ist dieser Zaube-
rer? Bist du es? Wirst du mir auch einen solchen Trick vorführen? :: Ein sehr intelligentes Kind! Wie schade, daß die Kleine nicht leben konnte. / Im Augenblick bin ich der Zauberer, und ich werde dir mein Kunststück zeigen. Auf diese Weise verdiene ich mir meinen Lohn. / Herald streckte seine Zunge aus und berührte damit ihr Stampforgan. Das Kind reagierte sofort. :: Was ist das? Ich fühle mich plötzlich so wohl! :: / Ich habe dir meine Aura geliehen, Kleinbohr. Ich bin Herald der Heiler, und dies ist die Art und Weise, in der ich heile. / :: Oh, ich... ich hab' doch nie geahnt, daß... daß dies... was ist das für eine Aura? Ich spüre sie, aber ich begreife sie nicht. :: / Die Natur dieser Aura zu erklären, Kleinbohr, wäre recht mühsam. / :: Nicht mühsamer, als in totaler Unkenntnis und Dummheit herumzuhämmern, Heiler! :: Wie wach auf einmal der junge Geist wurde, hatte er erst einmal von Gesundheit und Wissen gekostet! / Vielleicht nicht. Die Aura ist laut Zlqx von ¢, der als Autor der ersten bekannten Studie dieses Phänomens in Erscheinung trat, ein dichter, paraelektronischer Komplex, der... / :: Du bringst mich schon durcheinander! :: Das hatte er befürchtet. Sie war ein aufgewecktes Kind, sehr klug sogar, doch immer noch ein Kind, das mit technischen Erklärungen nichts anzufangen wußte, weil Technik nicht zu seinem gewohnten Lebensraum und Erfahrungsschatz gehörte. / Na schön, dann eben mit meinen eigenen Blitzen: Die Aura ist
ein Gebilde aus biologischer, pseudoluminiszenter Energie, die bei jedem lebenden Wesen vorhanden ist... / :: Ich bin doch nur eine kleine Quad, Herald. :: Herald formte einen Leuchtstrahl freundlicher Resignation, der sich schließlich als Rattern der Stampforgane seines Wirts ausdrückte. / Ich habe Hemmungen, unter deinem Niveau zu blitzen. / :: Oh, bitte verletz mich doch, Heiler! :: Ihre Stimmung hatte sich dank seiner Aura grundlegend gebessert, doch diese Besserung würde nicht anhalten, wenn er die Kleine nicht überzeugen konnte und ihren Glauben weckte. Aura, kombiniert mit Intelligenz, das war der Schlüssel. / In diesem Fall werde ich dir schildern, wie die simpelste und jüngste der großen Cluster-Spezies die Aura entdeckte und benannte. Das waren die... / :: Ich weiß! Die Solarier! :: Herald hatte eigentlich das Segment Tausendstern im Sinn gehabt, das zur benachbarten Galaxis Milchstraße gehörte. Er war jedoch auch mit den ähnlich dreisten Solariern aus dem Segment Etamin vertraut, daher machte er ihr die Freude, sich mit denen zu beschäftigen. / Ja, die berüchtigten Solarier, die den restlichen Cluster irgendwie dazu bewegen konnten, ihr an sich unlogisches System der Maßeinheiten zu übernehmen. Zweieinhalb ihrer Jahrtausende – das entspricht etwa fünfunddreißig Perioden bei den Quadpunktern –, bevor sie sich von ihrem kleinen, engen Heimatplaneten lösten, gab es einen Mann namens Kilner aus London. Er war eine ganz spezielle Art von Heiler. ›Doktor‹ genannt, der mit einer primitiven
Strahlung arbeitete, sogenannten Röntgenstrahlen. Sein Interesse wurde von Berichten geweckt, in denen von einem Nimbus oder einer Aura die Rede war, die jede lebende Kreatur umgab. Er nahm an, daß diese Erscheinungen den jeweiligen Gesundheitszustand der betreffenden Person widerspiegelten./ Herald schwieg, dann: /Ist das nicht geradezu beleidigend einfach? / :: Irgendwie schon. Aber ich mag Geschichten von primitiven Kulturen. :: / Ich auch, Kleinbohr! Kilner ordnete farbige Linsen so an, daß er diese Aura betrachten konnte. Er stellte fest, daß sie aus drei oder vier Schichten bestand, einem sehr schmalen, dünnen Band, das sich genau den Konturen des Körpers anschmiegte, welches er das ›ätherische Doppel‹ nannte, und einer dickeren Schicht darüber, die er als ›innere Aura‹ bezeichnete, sowie einer etwas diffuseren, unregelmäßigeren Schicht, der ›äußeren Aura‹, und manchmal einem extrem dünnen Band, das nicht scharf abgegrenzt war, sondern mit der umgebenden Luft verschmolz und darin verging. Diese Schichten waren bei gesunden Individuen dicker und heller und verzerrten sich und zerflossen ineinander, wenn es sich um ein ungesundes Individuum handelte. Er katalogisierte und beschrieb alle Variationen und veröffentlichte einen Text zu diesem Thema, doch andere Doktoren glaubten ihm nicht, und er starb, ohne daß jemand den Wert seiner Grundlagenforschung anerkannt hätte. / :: Ich wußte längst, daß die Solarier dumm sind, aber nicht so dumm! Kein Wunder, daß es bei denen so lange dauerte, bis sie den Transfer beherrschten! ::
/ Sie wußten es nicht besser, Kleinbohr, dumm waren sie bestimmt nicht. Es fiel ihnen schwer, ihre Denkweisen zu ändern, was auch der Grund dafür ist, daß sie erst sehr spät den Raum eroberten. Grundsätzlich hast du natürlich recht. Dreißig Jahre nach Kilners Beobachtungen gelang es einem anderen Mann, Kirlian von Krasnodar, die Aura zu fotografieren, das heißt eine Art zweidimensionales und sehr grobes Hologramm anzufertigen. Dann erst begannen die Solarier an die Existenz dieser Erscheinung zu glauben. Bei ihnen hieß es nämlich: ›Sehen ist glauben.‹ Sie nannten die Erscheinung ›Kirlian-Aura‹ und schafften es, ihren Irrtum zu verheimlichen, daß sie Kilners Arbeit nicht entsprechend gewürdigt hatten, und nun ist der Begriff ›Kirlian-Aura‹ im gesamten Cluster bekannt. / :: Reichlich komisch, daß die Begriffe der Primitiven die Bezeichnungen so hochentwickelter Kulturen wie die von Quadpunkt verdrängen. :: / Das ist eine der Ungereimtheiten in der Nomenklatur. Wahrscheinlich läßt sich dies mit einem solarischen Spruch am besten erklären: ›Schlechtes Geld ist besser als gutes.‹ / Ihre Heiterkeit brachte ihre Extremitäten zum Zittern. :: Eine schlechte Terminologie verdrängt die gute! Schlechte Maximen verdrängen die guten! Schlechte Kulturen überlagern die guten! Schlechtes Leben... :: Sie verstummte. Herald beeilte sich fortzufahren, um diesen Gedanken zu unterbrechen, ehe er verdarb, was er bisher erreicht hatte. / Die Solarier entwickelten in der Folgezeit bessere und genauere Methoden der Analyse und erfuhren auf diesem Weg sehr bald, was die
anderen Bewohner des Clusters längst wußten: daß die Aura nicht nur eine Energieglocke, eine Art Kraftfeld ist, das lebende Kreaturen durchsetzt und umgibt, sondern daß in ihr das eigentliche Sein jener Kreaturen gebunden ist. Wenn die Aura in einen anderen Wirt verlegt wird, dann prägt sie mit ihrem typischen Muster diesen Wirt, ähnlich wie ein magnetisches Feld seine Spannung auf die Spule eines Transformators überträgt. Der Wirt wird in Geist, Erinnerung und Gefühlen zur originalen Entität. Dadurch wird die unmittelbare Reise durch die Galaxis ermöglicht, denn der Transfer einer Aura kostet weitaus weniger Energie als die Materietransmission des gesamten Wirts. Da die Aura jedoch in einem fremden Wirt stetig abnimmt, können nur Entitäten mit intensiveren Auren als normalerweise üblich auf diese Weise von Punkt zu Punkt springen. Eine normal starke Aura würde sehr bald vergehen und schließlich sterben. Daher ist die hohe Intensität einer Aura immer von besonderem Vorteil... / :: Und du hast die stärkste Aura von allen! :: / Ja. Die stärkeren Auren dehnen sich aus und entwickeln sich bei Erreichung meines Intensitätsgrades zu perfekten Kugeln, vor allem dann, wenn sie gezielt eingesetzt werden. Jedoch kommt es mehr auf Intensität und Typ an als auf Umfang oder Gestalt. Es gibt bei den Auren viele Familien, die sich speziesweise unterscheiden, und enge aurale Verwandtschaft wird als bedeutsamer angesehen als genetische Gleichheit. Daher kann ich auf eine enge Beziehung zu Melodie von Mintaka und zu Flint von Außenwelt verweisen, obwohl keine dieser Entitäten meiner Spezies angehörten. Die sehr starken Auren können
auch die schwächeren Auren kräftigen, und eine kräftigere Aura steigert die Gesundheit und das Aussehen. Auf diese Weise werden wir zu Heilern. Jeder kann irgend etwas heilen; diejenigen mit den stärkeren Auren heilen natürlich viel dramatischer. Und diese Fähigkeit habe ich, Kleinbohr. Dein Leben kann ich nicht verlängern, denn deine Krankheit ist auf deinen physischen Körper beschränkt und hat nicht die Aura ergriffen. Nicht einmal der intensivste Glaube, die größte Hoffnung können dich wieder gesund werden lassen. Jedoch kann ich dir zu der Fähigkeit verhelfen, dein Schicksal mit Würde zu tragen. / :: Das ist dir gelungen, Heiler! Der Tod hat für mich keinen Schrecken mehr. :: / Unglücklicherweise gibt es noch sehr viel, was wir über die Aura nicht wissen. Wir können sie nach Farbe, Typ, Intensität einordnen – man entwickelte eine komplexe Aura-Wissenschaft –, jedoch hat sie niemals den Stand der Ahnen erreicht. Sie allein kannten die letzten Geheimnisse der Aura. / :: Die Ahnen! Von denen habe ich schon gehört! Sie starben vor drei Millionen Sol-Jahren! :: / Und das ist schon alles, was wir von ihnen wissen, Kleinbohr. Die nächste Frage, die du stellen wirst, kann ich nicht beantworten. Ich weiß nicht, wie es kam, daß die größten Heiler aller Zeiten sich selbst nicht vor der Auslöschung bewahren konnten. / Die Kleine gab ein klapperndes Lachen von sich. :: Nein, ich wollte dich eigentlich nach dem anderen Teil deines Namens fragen. Warum nennt man dich Herald, wenn du doch ein Heiler bist? :: / Ich werde Herald genannt, weil ich auch die
Kunst und Wissenschaft der Heraldik praktiziere. Dies ist eine neue Konvention im Cluster, die zunehmend an Beliebtheit gewinnt, wenn verschiedenartige denkende Rassen zusammenkommen. Es gibt so viele Arten von Denken und Wissen in so vielen Formen und so vielen verschiedenen Transfer-Wirten, daß es immer schwieriger wird, gemeinsame Bezugspunkte zu finden. Die Heraldik wird in bestimmten Bereichen dieser Forderung gerecht. / :: Aber ist das denn nichts anderes, als kleine Bilder zu malen, wie man sie zum Beispiel auf den TarotKarten sehen kann? :: / Na ja, aber es sind ganz besondere Bilder, meine Liebe! Es sind dies Symbole, die die besonders spezifischen Identifikationsmerkmale enthalten und die Einigung im Cluster ermöglichen. / :: Herald, das verstehe ich nicht. :: / Willst du es denn wirklich, Kleinbohr? / :: Ja! Ich hab' so wenig Zeit. Ich möchte so viel wie möglich wissen, ehe ich überhaupt nichts mehr wissen werde. Ich meine... :: / Schon gut, ich verstehe. Wir müssen im Leben handeln, im Leben lernen und im Leben fühlen, denn mit dem Tod ist alles vorbei. / :: Ja, Herald! Du verstehst mich so gut! :: Dann kam sie sofort wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. :: Wie hat es mit der Heraldik angefangen? :: / Viele Spezies benutzten in ihrer prätechnischen Phase spezielle Kleidung, um sich vor Attacken physischer Waffen zu schützen. Diese Kleidung nannten sie ›Rüstung‹, und diese war so dicht, so umschließend und einhüllend, daß es unmöglich war, die En-
tität, die darin steckte, zu erkennen. Es war dies der ›Ritter‹, der auch im Tarot-Spiel erscheint. Daher wurde es notwendig, seinen Schild mit charakteristischen Zeichen zu schmücken, die für seine Herkunft und seine Zugehörigkeit typisch waren, so daß Freund von Feind unterschieden werden konnte. Damit wurde verhindert, daß sich ein Ritter hinter den Reihen seiner Feinde aufstellte in dem Glauben, er befände sich unter Freunden. Oder daß man seine Freunde für Feinde hielt und angriff. Die Markierungen auf dem Schild ließen keinen Zweifel offen, selbst wenn die Ritter sich gar nicht persönlich kannten. In diese Zeit fiel die Entstehung der Heraldik. Heute haben alle großen Familien aller Spezies im Cluster ihren eingetragenen Wappenschild, auch wenn sie sich niemals mehr bekämpfen werden. / :: Meine Familie hat so einen Schild! Ich hab' nie erfahren, was er zu bedeuten hat. :: / Dann paß auf, ich werde dir alles erklären. / Herald befolgte die Anweisungen der Kleinen und fand den Schild der Metamorphs und stellte ihn an einer Wand auf, wo sie beide ihn betrachten konnten. / Achte darauf, daß die Form des Schildes elliptisch ist, eine Art gewinkeltes Oval, welches die Galaxis Andromeda bedeuten soll. / :: Aber Andromeda ist doch eine Spirale! :: / Das stimmt. Doch von der Milchstraße aus erscheint sie als Ellipse. (Seit Andromeda die Energiekriege zu ihren Gunsten entscheiden konnte, leiden wir unter der zusätzlichen Erniedrigung der Ellipse. Der Milchstraßen-Schild ist von urtümlicher Form, flach am oberen Rand und nach unten zu rund oder stellenweise spitz. Andere Galaxien haben Schilde in
anderen Formen.) Darin befindet sich ein Streifen von Einbuchtungen, die kleinen Vier-Punkt-Muster, die auf die Sphäre Quadpunkt hinweisen. Bei der Milchstraße sind es zwei Bänder, da die Galaxis in Segmente und Sphären aufgeteilt ist, jedoch liegt dem die gleiche Idee zugrunde. Dann das wichtigste Element, das Symbol der Familie Metamorph: ein Brocken eßbaren Felses, der auf der geologischen Schicht seiner Herkunft ruht. Ein charakteristisches Wappen – so nennt man das ganze Arrangement –, das überall im Cluster identifiziert wird. / :: Kannst du denn jeden Wappenschild des Clusters genau identifizieren? :: fragte sie ein bißchen ungläubig. / Innerhalb gewisser, weitgefaßter Grenzen ja. Das ist mein Gewerbe. Und im Grunde stimmt das auch. Zwei vollkommen fremde Denkende könnten doch auf einem öden Planetoiden aufeinandertreffen, vielleicht Schiffbrüchige aus verschiedenen Schiffen, ohne gemeinsame Sprache, Gestalt oder Status, und dennoch würden sie sich an den Wappenschilden sofort erkennen. Damit wäre ihr Verhalten festgelegt. Jeder würde erkennen, daß sein Gegenüber intelligent und zivilisiert ist und wo er herkäme und daß er sich nach den Vorschriften verhält, die im Cluster gelten. / :: Wie wunderbar! Beide wären wie moderne Ritter in ihrer Rüstung, nur könnte einer von Quadpunkt stammen und der andere vielleicht von Tausendstern. Gibt es eigentlich heute noch Ritter in Rüstung? :: / Und ob es die gibt! Zufälligerweise residiert mein nächster Kunde in einer echten mittelalterlichsolarischen Rekonstruktions-Gesellschaft. Keine mo-
dernen Waffen, nur Schwerter und Bögen. Kein motorisiertes Transportsystem. Er braucht mich, damit ich einen Dämon exorziere, der in seiner Burg haust. / :: Oh, ich wünschte, ich könnte mit dir kommen! Gibt es denn so etwas wie Geister? Ich meine echte? :: / Wahrscheinlich. Ich würde meinen Laden zumachen müssen, wenn es keine gäbe. Es scheint sich um einen regelmäßig erscheinenden Kirlian-Geist zu handeln, also um eine Aura von hoher Intensität. Auf jeden Fall werde ich bald mehr wissen. / Kleinbohr schwieg und konzentrierte sich: :: Oh, sei vorsichtig, Herald! Ich hab' bei dem Geist ein so komisches Gefühl. Ich sehe schreckliche Schmerzen für dich, schlimmer als die des Todes. Mein Leben kannst du nicht retten, aber du kannst immer noch... :: Sie verstummte, nicht in der Lage, ihre Gedanken auszudrücken. :: Drei Millionen Jahre ::, endete sie. :: Ergibt das überhaupt einen Sinn, Herald? :: / Das klingt ganz nach den Ahnen /, erwiderte er, selbst nicht ganz schlüssig, wie er das verstehen sollte. Hatte sie da eine Vision von ihrer oder von seiner Zukunft gehabt? / Natürlich, ich suche tatsächlich nach dem legendären ›Kirlian-Helm‹ oder dem Wappenschild der Ahnen – es gibt zwischen Schild und Helm gewisse Unterschiede, die jedoch in diesem Zusammenhang kaum von Gewicht sind –, welche Aufschluß über ihre wahre Natur geben werden. Jedoch ist das alles noch reichlich nebulös. / :: Nein, nicht ausgerechnet das! Oh, es ist mir entglitten! Da ist etwas an dem Geist-Wirt, er ist so uralt, er wird dich vernichten – Herald, mein Geist wischt es fort, es ist zu grauenvoll. Geh nicht – aber nein, du
mußt ja – oh, ich kann es gar nicht ertragen! :: Was konnte es denn geben, das so fürchterlich war, daß es ein Mädchen so sehr ängstigen konnte, wenn selbst der Tod jeglichen Schrecken für sie verloren hatte? Herald hatte eine Ahnung, daß dies keine leere Warnung war, doch er wußte nicht, wie er sie einzuschätzen hatte. Kleinbohr wechselte das Thema. :: Darf ich jetzt eine Karte ziehen? :: Herald reichte ihr die Karten. Da war er zu ihr gekommen, um sie zu heilen, und nun versuchte sie, ihn zu heilen! Jedoch waren derartige Wechselwirkungen gelegentlich durchaus üblich. Es war eines der Geheimnisse des Aura-Phänomens. Es gab Entitäten, die mit religiösen Interpretationen arbeiteten; dies tat Herald nicht, jedoch hatte er immer noch keine angemessene Erklärung dafür. Kleinbohr mischte die Karten unbeholfen und deckte eine auf. :: Was ist das? :: / Das Universum. / :: Verstehe ich nicht. :: / Aber natürlich verstehst du, Kleinbohr. Jenseits dieser Tunnel existiert im Raum eine vollständige Geographie von Sternen und Galaxien und Clustern. Das ist das Universum. Alles. Mehr, als wir uns jemals vorstellen können. / :: Soll das heißen, daß die Milchstraße nicht nur ein anderer Tunnel ist? :: fragte sie scherzhaft. :: Hast du schon mal das Universum bereist, Herald? :: / Das Universum – nein. Den Cluster – ja, jedoch ist der Cluster lediglich ein grobes Ellipsoid im Raum, eine Art abgeflachter Kugel mit Andromeda am einen und der Milchstraße am anderen Ende, jede
mit ihren Satelliten oder zugehörigen kleineren Galaxien. Andromeda hat zwei kleine hübsche Spiralgalaxien in ihrem Verband, und die Milchstraße besitzt zwei unregelmäßige Haufen. / Kleinbohrs Lachen ließ wieder ihre Treter rasseln. :: Das hast du dir doch nur ausgedacht! :: / Nein, das stimmt wirklich. Der Durchmesser des größeren Haufens beträgt zehn Parsec. Und das sind etwa dreiunddreißig Lichtjahre – halt, dieser Wert muß mit tausend multipliziert werden; ich versuche hier, aus Riesen Zwerge zu machen – also über dreißigtausend Lichtjahre, und dieser Haufen heißt Wolke Neun. Dort leben die Denkenden der Sphäre $. Der kleinere Haufen trägt den Namen Wolke Sechs und enthält die Sphäre ¢. Beide Kulturen sind sehr empfindlich, wenn es um ihren Status geht. Sie weisen darauf hin, daß eine oberflächliche Gleichmäßigkeit nichts mit kulturellen Verdiensten zu tun hat und daß es innerhalb ihrer Wolken viele bemerkenswerte Konstellationen gibt, von denen einige sogar richtig schön sind. Sie meinen, wenn die Milchstraße während der letzten Milliarden Jahre nicht so unruhig gewesen wäre und die Satelliten so nachhaltig abgelenkt hätte, würden sie sich längst zu perfekt geformten elliptischen Galaxien entwickelt haben, und dabei wären sie noch nicht mal die kleinsten. Ich denke, da haben sie nicht unrecht. / :: Das tut mir leid. Wenn ich von hier scheide, werde ich dorthin transferen und die beiden unregelmäßigen Haufen um Verzeihung bitten. :: / Das wäre nett /, erklärte Herald ernst. / Es ist lediglich eine Folge der Rotation. Alle Galaxien sind zu Beginn nichts als Haufen. Diejenigen, deren Rotation
stark genug ist, bilden sich im Lauf der Zeit zu etwas geordneteren Scheiben um. Andromeda ist eine der beeindruckendsten Galaxien im Universum, jedoch haben auch wir unser Los zu tragen. / :: Ich weiß. Wir haben die Energiekriege verloren. :: / Unsere Schande liegt nicht in unserer Niederlage, sondern darin, daß wir die Kriege initiiert haben. Wir wollten unsere Schwestergalaxis Milchstraße vernichten. / Nun ergriff sie für die andere Seite Partei, was er auch erwartet hatte. Dies war eine gute, positive, jugendliche Reaktion. :: Aber wir brauchten doch ihre Energie, um unsere Zivilisation zu unterstützen! :: / Eine Zivilisation, die durch solche Methoden gestützt wird, ist im Grunde wertlos. Niemals wieder dürfen wir das Grauen des Galaktermordes überhaupt in Erwägung ziehen. / :: Aber überleg doch mal, hätten wir uns mit einer kleineren Galaxis angelegt, hätten wir durchaus siegen können. Und es hätte immer noch genug Energie zur Verfügung gestanden. :: / Welche Galaxis? Stiftrad? Sie hat zwei bedeutende intelligente Spezies, und zwar in der Sphäre Stift und in der Sphäre Rad. / :: Stift und Rad! :: rief das Mädchen begeistert. :: Nein, diese Galaxis dürfen wir nicht vernichten, sie ist zu süß. :: / Na schön, wie wäre es dann mit einem der Zwergellipsoiden oder den unregelmäßigen Systemen, die ebenfalls zum Cluster gehören? Da wäre Sculp mit seiner Sphäre Ñ oder Esse mit der Sphäre #... / Er verstummte. :: Warum schweigst du, Herald? Bist du schon
einmal dort gewesen? Was weißt du über sie? :: / Oh, Sculp und Esse sind auf ihre Art etwas Besonderes. Sie sind wie Kugelcluster geformt. Bei diesen handelt es sich um kleine Sterntrauben, deren Durchmesser rund achtzig Parsec betragen und die mit mindestens hunderttausend alten Roten Riesen vollgestopft sind. Doch Sculp hat einen Durchmesser von zweitausend Parsec und Esse einen von vieroder fünftausend. Für herkömmliche Kugelhaufen sind sie zu groß, doch als Galaxien sind sie zu klein. Tatsächlich stellen sie das sogenannte Missing link dar, das Zwischenstadium zwischen... / :: Du weichst meiner Frage aus, Herald. Ich fühle es in deiner wunderbaren heilenden Aura. Kannst du wirklich ein sterbendes Kind belügen? :: Herald hielt erschüttert inne. / Ja, Kind, ich weiche tatsächlich aus. Ich hatte in Sculp einmal geschäftlich zu tun. Jedoch wirst du mich niemals in Esse sehen. / :: Warum nicht? :: Sie ahnte, daß dort ein Geheimnis verborgen war, und reagierte mit Neugier. / Ich glaube, das würdest du sowieso nicht verstehen. / :: Und genau solche Dinge interessieren mich am meisten! Bitte, Herald; ich werde dein Geheimnis nicht verraten. Erzähl mir, warum du nie nach Esse reisen wirst. Ist es dort vielleicht zu heiß? :: / Die Bewohner von # sind heiß, jedoch würde das mich nicht von einem Besuch abhalten, da ich schließlich im Transfer dorthin gehen würde. / :: Na los, verrat mir's – oder ich bestimme, daß Esse aufgrund seiner Energievorräte vernichtet werden soll! :: / Du bist ein gnadenloser Geschäftspartner! Des-
halb muß ich es gestehen: Meine Verlobte weilt dort. / Er zog eine Karte: den Teufel. :: Oh, das tut mir leid, Herald. Ich hätte Esse niemals wirklich vernichtet! Aber – wie kannst du sie lieben, wenn du noch niemals dort warst? Hast du sie in Andromeda kennengelernt? :: / Nein, wir haben uns nie gesehen. Es war eine Geburts-Verlobung, die vom Cluster-Rat verfügt wurde. Wir sind die beiden stärksten Kirlians im Cluster, daher müssen wir laut Gesetz zusammenkommen, ehe jeder von uns sich einen anderen Partner sucht. / Kleinbohr schenkte endlich der Karte ihre Aufmerksamkeit. :: Der Teufel? Das verstehe ich wirklich nicht, Herald. Warum ist dies ein Gesetz? Wo ist der Teufel? Gehörst du etwa noch nicht einmal ihrer Rasse an, ja? :: / Ich begreife mich selbst kaum, Kleinbohr. Es gibt da eine Reihe von Experten, die glauben, daß die Paarung zweier Hoch-Kirlians mit großer Wahrscheinlichkeit weitere Hoch-Kirlians als Nachkommen ergibt. Viele andere Fachleute bezweifeln das. Die bisher vorliegenden Tatsachen lassen beide Möglichkeiten offen. Jedoch war dieses Gesetz während der vergangenen paar Jahrhunderte in Kraft; es gilt für alle Auren von einhundertfünfzig und darüber. Daher bin ich mit dieser teuflischen Weiblichen verlobt. / :: Dann mußt du also diesen Hitzebolzen heiraten! Warum wäre das denn so schlimm? :: / Wie alt bist du, Kind? / :: Alt genug, um meine Eltern ab und an zu belauschen. Ich weiß, was die Worte bedeuten. :: Herald seufzte und hoffte, daß er mit den alten
Metamorphs keinen Ärger bekam. Einige Kulturen verteidigten noch recht strenge Prinzipien darin, was Kinder wissen durften und was nicht. / Ich muß mich mit Flamme von Esse paaren. Wenn sie von mir schwanger ist, kann ich mich paaren und heiraten mit wem und wen ich will. Aber ich weise die Ehre eines solchen Zwangs zurück, daher werde ich niemals nach Esse transferen oder es zulassen, daß Flamme zu mir transfert. / :: Vielleicht ist sie aber ein sehr hübsches Mädchen! :: / Das ist nebensächlich. Es ist eine Frage des Prinzips. Der Cluster-Rat hat kein Recht, mir mein Leben vorzuschreiben. / :: Bekommst du denn dadurch keine Schwierigkeiten mit dem Cluster-Rat? :: / Nicht, solange ich niemand anderen heirate. Ich werde wohl immer ledig bleiben. / Kleinbohr ließ sich das durch den Kopf gehen. :: Aber du könntest doch ein Kind bekommen, wie ich eins bin. Würdest du mir mein kurzes Leben verweigern? :: Herald war wie vom Donner gerührt, als er sich die in der Frage angedeuteten Folgen vorstellte. Ein Kind wie sie? :: Oh, ich hab' dich verletzt! :: rief Kleinbohr betroffen. :: Es tut mir so leid, Herald. Vergib mir! :: / Dich trifft keine Schuld /, entgegnete Herald schnell. / Du hast mich dazu gebracht, daß ich meine Motive überdenke, und ich muß feststellen, sie sind irgendwie unwürdig. Niemals würde ich dir das Leben vorenthalten. / Kleinbohr blätterte den Kartenpack durch, fand ei-
ne bestimmte Karte und deckte sie auf: der Tod. Sie betrachtete sie lange, ehe sie etwas sagte. :: Seltsam, Herald. Ich weiß genau, was dies bedeutet, doch ich sehe nichts Schreckliches darin. Wie ist das möglich? :: / Im Leben gibt es viele Dinge, die schlimmer sind als der Tod. Vor nicht allzu langer Zeit analysierte ich das Wappen eines edlen Ast, und er flehte mich beim Lot von Asterisk an, ihm seine Schuld zu erklären. Als ich es tat, starb er. Für ihn war der Verlust der Ehre schlimmer als der Tod, obwohl in diesem Fall die Schuld allein auf seiten des ränkevollen Wappenkönigs von Ast lag. / :: Oh, die arme Entität! Ich muß ihn trösten, wenn ich in das Reich eingehe. :: / Das wäre sicher ratsam /, gab Herald zu. :: Und danach werde ich den Wappenkönig von Ast verfolgen und ihm erscheinen wie ein Geist! :: sagte sie mit einem Ausdruck kindlicher Bosheit. / Wahrscheinlich wäre auch das nicht falsch /, sagte Herald. Falls es wirklich ein Leben nach dem Tod gab... Als Bohr zurückkam, war Herald bereits gegangen. Kleinbohr war zu krank zum Bohren, kam dem Tod immer näher, jedoch zeigte ihr Äußeres eine ganz besondere Helligkeit, eine Art metallischen Glanz, und sie war mit sich selbst im Frieden. :: Ich werde schon bald sterben ::, verkündete sie. :: Ist das nicht wunderbar? :: Bohr war mißtrauisch. Hatte der Fremdling sie unter Drogen gesetzt? :: Erzähl mir, was zwischen dir und dem Heiler besprochen wurde. ::
:: Er hat mich berührt und mir Bilder gezeigt, und dann hat er mir Geschichten erzählt ::, antwortete sie wie selbstverständlich. :: Es war eine wundervolle Unterhaltung! Papi, ich hab' dich lieb! :: :: Hat er dir etwa irgendeinen komischen Felsen zu essen gegeben? Hat er dir verwirrende Muster auf deine Rezeptoren geblitzt? Hat er dich hinterlistig bedroht? :: Sie lachte, wobei ihr gesamter Körper vibrierte. :: Überhaupt nicht, Papi! Kein Gift, keine Hypnose, keine Drohungen. Er hat nur dafür gesorgt, daß ich mich ganz wunderbar fühle! :: Nun tauchte ein noch schlimmerer Verdacht auf. Sie war trotz allem bereits alt genug, um ihre Eltern zu belauschen und zu wissen, was bestimmte Begriffe bedeuten. :: Hat er dich angefaßt... auf eine ganz bestimmte Weise? :: :: Papi! :: rief das Kind in gespieltem Entsetzen aus. :: Ich bin doch noch viel zu jung, um zu wissen, was du damit meinst, geschweige denn das auch noch zu tun. Und außerdem, glaubst du wirklich, ich würde mich mit einem Slash einlassen? :: Beschämt von der Scharfsicht und dem Humor seiner Tochter versuchte Bohr, seine Frage zu rechtfertigen. :: Es kommt doch nur daher, daß du so traurig warst und nun so glücklich und zufrieden bist, obwohl sich überhaupt nichts geändert hat. Wenn der Heiler nichts anderes gemacht hat, als mit dir zu reden, dann war meine Bezahlung wohl doch – eh... :: :: Ich weiß, daß du ihm eine Menge Mineral gegeben hast, Papibohr. Er ist ein sehr teurer Heiler und sehr gut. Doch es tut mir leid, wenn es dir die Sache nicht wert war. :: Und sie begann zu verblassen.
:: Es war mir soviel wert ::, vibrierte Bohr hastig. :: Den ganzen durchlöcherten Planeten hätte ich hergegeben! Ich begreife das nur nicht! :: Ihre Stampfer klirrten fröhlich. :: Er sagte schon, daß du nichts verstehen würdest, Papi. Er erklärte, wie traurig du nach meinem Tod sein würdest, denn du hast keine Ahnung davon, dich bei unregelmäßigen Haufen zu entschuldigen oder dem Wappenkönig als Geist zu erscheinen oder von Teufeln, die kleine Kinder wie mich haben. :: :: Ganz bestimmt habe ich keine Ahnung davon. :: :: Er hat mir aber verraten, wie ich dich in der wenigen Zeit, die ich noch zur Verfügung habe, wieder glücklich machen kann. Darf ich? :: Verblüfft vibrierte Bohr seine Zustimmung. Und für die wenigen Tage, die Kleinbohr noch am Leben war, machte sie ihre Eltern glücklich, weil sie glücklich war. Nachdem sie verschieden war, wurde im Haus der Metamorphs für Herald den Heiler eine Gedenktafel angebracht, und es wurde keine Beleidigung der Sphäre Slash mehr geduldet. Natürlich gab es keinerlei Verbindung, jedoch wurde der Wappenkönig von Ast kurz darauf unpäßlich. Gezwungen, sein Amt niederzulegen, hörte man ihn murmeln: * Dieses verdammte Kind! *
3
Burg von Kade o Proben entnommen und untersucht. Ausnahmslos aurale Nicht-Denker. o & Wie immer. Irgendwelche Verbindung zu den Denkern? & o Ja. Die Denker kontrollieren sie, züchten sie, verwenden ihre Produkte und schlachten sie zu ihrer Ernährung. o & Sie halten aurale Entitäten – als Vieh? & o Ich habe bei all meinen Einheiten nachgefragt. Das steht zweifelsfrei fest. Bei diesen Proben handelt es sich um Tiere, auf Gehorsam, Produktivität und Fleischreichtum gezüchtet. Und nicht auf Intelligenz. o & Auf jeden Fall muß diese Kultur aus dem Universum entfernt werden. Wir werden diesen Cluster den Tieren überlassen und den Schwachen das Leben schenken. So wie wir es schon immer getan haben. & o Wie wir es immer getan haben. o & Forschungseinheiten bitte Berichte in Reihenfolge, Routinemeldungen sind zu streichen. & D Unser Zielgebiet, die Sphäre Dash in Andromeda, enthält einige betriebsfähige Fundorte mit Artefakten der Ahnen. In einen, und zwar den auf dem Planeten £ wurde vor etwa elf Zyklen eingedrungen, doch kein Hinweis auf Plünderung, daher wurde der Ort wieder geschlossen. D & Planet £? Das klingt irgendwie vertraut. & D Seine Bezeichnung stammt von der früher dort
herrschenden Rasse, den Dreifüßern. Aufgrund ihrer enormen Körpermaße waren sie zwar Denker, aber keine Raumfahrer. D & Hat diese Rasse den Fundort geöffnet. & D Genau. Zwei Entitäten kamen dort um. Wahrscheinlich aufgrund einer Fehlfunktion bei der Prozedur des Betretens, die jedoch vom Computer dieses Ortes korrigiert wurde, nachdem er die Eindringlinge analysieren konnte. D & Aktions-Einheit ist einzuweisen. & o Aktions-Einheit 1, steuern Sie den Ort an. o / Ziel aufgefaßt. / & Eingreifen nur, wenn Ort von Cluster-Entitäten reaktiviert wird. Um jeden Preis muß verhindert werden, daß die Technologie der Ahnen denen in die Hände fällt und sie damit arbeiten können, andererseits wäre die Vernichtung eines sicheren Fundortes reine Verschwendung, und Verschwendung ist zu verabscheuen. Dieser Ort hat historische Bedeutung, und sein Entwicklungsstand entspricht der gegenwärtigen Technologie. & / Abgrenzung des Auftrags: Sollte der Ort von lokalen Entitäten reaktiviert werden... / & Das würde in jedem Fall und notgedrungen entsprechende Gegenmaßnahmen nach sich ziehen. Zerstören Sie ihn und jegliches Leben auf dem Planeten. & Der nächste Punkt auf Heralds Terminplan lautete ›Exorzismus‹. Dahinter war als weiterer Hinweis ein Wappen abgebildet. Ein Blick auf die Darstellung verriet ihm die genaue Adresse, denn es handelte sich um die Form der Galaxis Milchstraße, darin der Dra-
chen des Segments Etamin, welcher wiederum in der Scheibe der Sphäre Sador hockte, einer der sogenannten zirkularen Kulturen. Das besondere Element des Wappens stammte vom Planeten Keep, arrangiert mit dem Zeichen des Herzogs von Kade. Darüber hinaus müßte Herald seine eigenen Nachforschungen anstellen; er war nicht mit sämtlichen Charakteristika sämtlicher Planeten im Cluster vertraut. Schließlich gab es an die eine Million mit Denkern bewohnte Planeten, denen immer wieder neue hinzuzufügen waren und von denen andere von ihren Bewohnern verlassen wurden und starben. Herald war daran interessiert, den Auftrag schnellstens auszuführen, damit er heimkehren und sich wenigstens einen Tag lang in seinem eigenen Körper ausruhen konnte. Seine Aura verlor während seiner Exkursionen zwar nur unbedeutende Mengen an Energie, jedoch war er darauf bedacht, stets im Vollbesitz seiner Kräfte und Fähigkeiten zu sein, und diesen Zustand konnte er nur zu Hause herbeiführen und aufrechterhalten. Das Gespräch mit Kleinbohr von Metamorph hatte ihn tief erschüttert, folgte es doch so dicht auf den Selbstmord Quirls von Klippe. War ihre Warnung vor den Gefahren dieser Mission tatsächlich dem Wirken paranormaler Kräfte zu verdanken? Mächtige, aber unbegreifliche Kräfte schienen ihn zu umschwärmen und schickten sich an, Rache zu üben für – er wußte nicht was. Er war schon immer ein Wesen ohne offensichtliche Bestimmung gewesen; sollte sich das jetzt etwa ändern? Man denke nur an die Art, wie Kleinbohr ihn dazu brachte, erneut über seine Verlobte Flamme von Esse nachzudenken... sollte es etwa besser sein, seinen tö-
richten Stolz beiseite zu schieben, sich mit ihr zu vereinigen und vielleicht sogar ein Kind wie Kleinbohr zu zeugen? Ihm wäre es im Grunde egal, wenn das Kind keine besondere Aura hätte; dafür wäre die Kleine bestimmt ein rundherum reizendes Geschöpf. Aber es wäre schwer, sehr schwer zuzugeben, daß sein vorheriger Standpunkt falsch gewesen war. Er konnte sich vorstellen, wie Flamme von Esse ihm ein Flackern der Abscheu entgegenwarf, sollte er wirklich zu ihr kommen. Am besten brachte er diesen Exorzismus schnellstens hinter sich, so daß er sich entspannen und seinen persönlichen Gedanken nachhängen konnte. Er machte sich ohne weiteren Aufenthalt zum Planeten Keep in der Milchstraße auf den Weg und hielt sich gar nicht mit einer informativen Betrachtung seines Zielgebiets auf, wie er es sonst immer zu tun pflegte und wonach er seine weiteren Schritte plante. Was er wissen mußte, würde er schon am Einsatzort erfahren; abgesehen davon ging es in diesem Fall sowieso nicht um ein heraldisches Problem. Er kam in einem solarischen Wirt an, einer aufrechten vierfüßigen Kreatur aus Knochen, Knorpel, Sehnen und Fleisch, die auf zwei Gliedmaßen wandelte und die beiden anderen zur Manipulation einsetzte. Ihre am besten entwickelten Sinne waren der optische, akustische und taktile. Herald hatte schon einmal einen humanoiden Wirt besetzt, daher hatte er keine Schwierigkeiten, sich an dessen Eigenarten zu gewöhnen. Dieser Körper war zwar nicht so praktisch und vielseitig wie sein eigener, jedoch würde er den Anforderungen sicherlich gerecht. Er saß – das heißt, sein Körper wurde stellenweise
in einer gefalteten Haltung gestützt – auf einem weich gepolsterten Stuhl in einem Raum, dessen Wände mit eleganten Wandteppichen geschmückt waren, die heraldische Motive zeigten. Gekleidet war er in ein loses Gewand mit Löchern für die Gliedmaßen zum Zeigen, das mit dem Wappen von Kade verziert war. / Ich bin da, Wirt /, meldete er. / Bring mich bitte zu meiner Verabredung. / Augenblicklich verlagerte der Körper sein Gewicht, schob den soliden Kopf nach vorn und erhob sich mit Hilfe der kräftigen Schenkelmuskeln, die den Körper auf den Beinen im Gleichgewicht hielten. Er beugte sich vor und schob abwechselnd ein Bein nach vorn, um dem durch das Ungleichgewicht drohenden Sturz vorzubeugen; eine umständliche, aber auch effektvolle Art der Fortbewegung. Ein Arm wurde ausgestreckt, schob eine faserige Platte beiseite und schuf den Zugang zu einer weiteren Kammer. Ein echter Solarier unterbrach erschrocken seine Betrachtung einer Fensteröffnung. Für seine Rasse war er recht massig und schien einiges an überflüssigem Gewicht mit sich herumzuschleppen, jedoch wirkte er nichtsdestoweniger stark und mächtig. »Ich bin Herald der Heiler«, sagte Herald und stellte dabei mit Interesse fest, daß seine Kommunikation nicht in seinen üblichen Blitzen erfolgte. Normalerweise blieb er aus einem gewissen Stolz auf seine Herkunft bei seiner heimischen Art der Intonation, jedoch waren in einigen Wirten die gesetzten Sprachmuster zu übermächtig. Eigentlich war das auch gar nicht schlimm, denn dies war ein guter Wirt, der in keiner Weise lästig fiel und sich einmischte.
An die Verblüffung, die seine hochentwickelte Anpassungsfähigkeit hervorrief, war er mittlerweile schon gewöhnt. Die meisten Entitäten transferten nur sehr selten, und das traf sogar auf diejenigen mit einer hochintensiven Aura zu, so daß sie einige Zeit brauchten, um sich auf ihre wechselnden Wirte einzustellen. Heralds Gewerbe machte den Transfer regelmäßig notwendig, daher dauerte bei ihm die Anpassung nur wenige Minuten, für die andere vielleicht Stunden gebraucht hätten. »Zeigen Sie mir bitte das für den Exorzismus vorgesehene Objekt«, sagte Herald und war immer noch leicht belustigt, in welcher Form seine Worte entstanden. Zweifellos würde er sich daran gewöhnen, ebenso wie er sich mit anderen Eigentümlichkeiten seiner derzeitigen Situation abfinden würde. Aber es sollte wohl doch nicht so einfach werden. »Ich bin der Herzog von Kade«, sagte der Mann und streckte seine rechte Hand aus. Herald nahm die Hand mit seiner eigenen Rechten und folgte damit der Sitte des Gliedmaßenkontakts, der unter vielen Rassen üblich war und nicht zuletzt dazu diente, die Aura seines Gegenübers oberflächlich zu testen. Die Aura des Herzogs war recht stark und bewegte sich etwa bei fünfundsiebzig. Der Mann war von mittlerem menschlichem Alter, hatte blasse blaugrüne Haut und orangefarbene Scheiben um die schwarzen Pupillen seiner beiden Augen. Da die solarische Urrasse schwarz, weiß, gelb mitsamt allen Schattierungen dazwischen gewesen war, erkannte Herald sofort, daß sein Gegenüber ein galaktischer Abkömmling war, dessen Ahnen-Generationen durch das Leben auf anderen Planeten entsprechend modi-
fiziert worden waren. Die meisten Denker mußten solche Veränderungen erdulden, wenn sie sich auf fremden Welten ansiedelten; die örtlichen Umweltbedingungen übten stets nachhaltig ihre Wirkung aus. »Es gibt da noch einiges, was Sie wissen müssen, ehe Sie zur Tat schreiten«, erklärte der Herzog. »Ihre Anwesenheit wurde diesem Haus aufgezwungen. Ich werde Ihnen Ihre Rechte im Rahmen des Gastrechts gewähren, jedoch ist es mein aufrichtiger Wunsch, Sie so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Lassen Sie sich von meiner Höflichkeit in Anwesenheit Dritter nicht über meine wahre Einstellung Ihnen gegenüber hinwegtäuschen. Haben wir uns verstanden?« Nun spürte Herald auch die Feindseligkeit, die durch die Aura des Mannes übermittelt wurde und die noch schlimmer war als bei Bohr von Metamorph. Zugleich war er sich auch der vollkommenen Integrität und Willenskraft bewußt, die er einfach bewundern mußte. »Ich bin nicht immer willkommen, jedoch leiste ich für meine Bezahlung stets optimale Dienste«, sagte Herald. Die Animosität dieser Entität wurzelte nicht in einem Vorurteil gegen die Slash, sondern hatte ihren Ursprung in einer Art lokalen Prinzips. Ähnelte dies vielleicht sogar Heralds eigener Weigerung, sich mit Flamme von Esse zu paaren? »Ich wünsche Ihre Dienste nicht«, gestand Kade offen. »Ich halte Sie für einen Scharlatan. Aber ich habe mit meinen Feinden eine Übereinkunft getroffen, durch die Ihre Anwesenheit erforderlich wurde. Ich werde jetzt den Repräsentanten der Feinde herbeiholen, der als Zeuge Ihre Anwesenheit vermerken soll.
Sobald er eingetroffen ist, sollen Sie mit Ihrem Ritual beginnen. Ich würde mich freuen, wenn es recht kurz ausfiele.« »Ich nehme Ihre Offenheit mit Befriedigung zur Kenntnis und werde mich so kurz wie möglich fassen.« Das paßte ja genau in Heralds Absichten; diese Mission wäre sicherlich schon bald beendet. Kade schnippte mit den Fingern. Ein DienerSolarier erschien, bekleidet mit einem schlichten Gewand: ein scharfer Kontrast zu der reichverzierten Robe seines Herrn. In dieser Kultur schien die Kleidung die Entität zu machen. »Bring den Zeugen«, befahl der Herzog. Der Diener verschwand. Kade wandte sich mit widerstrebender Höflichkeit an Herald. »Und nun werde ich, wie es sich für einen guten Gastgeber gehört, Ihnen die Räumlichkeiten zeigen«, erklärte er. Herald war kurzfristig verblüfft vom Gebrauch des Begriffs Gastgeber, der auch gerne anstelle von Transfer-Wirt verwendet wurde, und dann wurde ihm schnell klar, daß er in diesem Zusammenhang nicht die tiefergehende Bedeutung hatte. Für diejenigen, die nicht transferten, bedeutete ›Gastgeber‹ nichts anderes als den Besitz eines Domizils. »Das ist nicht nötig«, wehrte er ab. »Einem Agenten von üblem Einfluß ist es nicht gestattet, sich hier unbefugt aufzuhalten und ungehindert zu bewegen.« Die Antipathie schien immer größer zu werden! Jedoch lag keine Überheblichkeit darin. Dieser Mann haßte ihn, zugleich wußte Herald aber, daß er im Hause dieses Mannes vor jeglicher Mißhandlung sicher war. Das war heraldische Ehre im alten Stil.
Herald zuckte die Achseln und hoffte nur, daß der Feind-Zeuge sich etwas beeilte und bald auftauchte. »Darf ich Ihnen sagen, Sir, daß ich mich in der Nähe eines Feindes von Ihrer Integrität wohler fühle als bei einem freundlich tuenden Heuchler?« Kade schenkte ihm einen verblüfft bewundernden Blick. »Ich danke Ihnen.« Burg Kade war eine beeindruckende Festung. Sie war im großen und ganzen rund, wie es sich für einen Artefakt einer Scheiben-Kultur gehörte (obwohl es in diesem Falle sonderbar erschien, da es sich ganz offensichtlich um eine Schwert-Kultur-Enklave in einer Scheiben-Kultur-Sphäre handelte), mit äußeren Mauern, die etwa achtzig Fuß hoch waren. Diese wurden von einem auf einem Dreieck beruhenden Muster aus Türmen um mindestens weitere zwanzig Fuß überragt. Innerhalb dieser Absperrung befand sich ein Bergfried: eine massive Festung, die wesentlich höher war als die Hauptkammer und den gesamten See überschaute – denn die Burg war in Wirklichkeit eine Insel in einem See, der durch die Eindämmung und Aufstauung des Flusses Donnybrook entstanden war. Jenseits der stillen Gewässer ragten die Berge in den Himmel, und ihre Spitzen schimmerten schneebedeckt. Nach Osten stieg das Land nahezu lotrecht an, und dort stürzten Klippen so hoch wie das Schloß steil ins Wasser. Nur im Süden, wo sich der Damm befand, und im Norden, wo der schmale Fluß entsprang, gab es Raum genug für eine normale Straße. »Die Ställe«, erklärte Kade. Er führte durch eine Passage, die mit Kammern gesäumt war, in denen die verschiedensten mit Rädern versehenen Kreaturen
standen. »Planet Keep befindet sich in der alten Sphäre Sador, wie aus dem Wappen hervorgeht. Die Sadorer sind Entitäten mit Rädern, und zwar von den Denkern bis hinunter zu den Fühlern. Diese sind jedoch gute Nutztiere, so stark und gehorsam wie die Pferde auf der alten Erde.« Sein unterdrückter Zorn konnte den Stolz auf seine Herde nicht dämpfen. Herald war unfähig, sich vorzustellen, wie man auf solchen Kreaturen reiten konnte, da ihre Räder in sechs verschiedene Richtungen wiesen. Aber er nickte zustimmend. Was er danach noch von dem Anwesen zu sehen bekam, war nicht weniger interessant, jedoch dachte er dabei nur an seine Mission, die er schnellstens zu Ende führen wollte. Endlich erschien der Zeuge des Feindes. Es war ein denkender Roller, der oberflächlich betrachtet den mit Rädern versehenen Pferden ähnlich sah, jedoch kleiner war. Außerdem unterschieden seine Räder sich, indem sie glatter und feiner waren. Das oberste Rad drehte sich schnell und versetzte die Luft in Schwingung, als die Speichen sich nach einem festgelegten Muster anordneten. »Ich bin Wirbel von Sador, Graf von Dollar«, stellte er sich vor und schob ein Seitenrad nach vorne. Ein ›Dollar‹ erinnerte Herald sich, war einmal eine runde Währungseinheit aus Metall gewesen. Dann stammte diese Bezeichnung also aus der Kultur. Er berührte den Rand des Rades mit einer Hand. Auch dies war eine starke Kirlian-Entität mit einer Aura-Intensität von etwa fünfzig. Hochaurale Individuen hatten gewöhnlich Positionen mit bedeutenden Machtbefugnissen oder hoher Verantwortung inne. »Herald der Heiler aus der Sphäre Slash, Andromeda.«
Im stillen berauschte er sich geradezu an der Ähnlichkeit der Namensgebungen; vor nicht allzu langer Zeit hatte er sich mit einer Entität namens Quirl unterhalten. Nun jedoch befand er sich auf einem anderen Planeten, hatte es mit einer anderen Spezies zu tun und bediente sich einer anderen Sprache. Lediglich die zufällig stattgefundenen Erlebnisse in der anderen Galaxis hatten ihm die Analogie bewußt gemacht. Herald neigte naturgemäß dazu, unterschiedliche Faktoren zu integrieren; das gehörte zu seinem Geschick als Heiler und Entwerfer von Wappenschildern. Er mußte jedoch außerdem erkennen, wenn eine Ähnlichkeit im Grunde bedeutungslos war, wie in diesem Fall. Wirbel... Quirl... vielleicht konnte man daraus ein multilinguales intellektuelles Rätsel entwickeln! »Und nun werden wir den Kandidaten für den Exorzismus kennenlernen«, erklärte Kade steif. Wieder schnippte er mit den Fingern. »Unterrichte die Lady von unserem Besuch«, wies er den Diener an, der im Raum erschien. Sie suchten einen der oberen Räume auf. Kade hob einen schweren gefaserten Balken aus seinem groben Haken, welcher die Tür aufschwingen ließ. Dann wurde die Dame also gefangengehalten! Im Innern des Raumes dahinter stand eine schmale Gestalt an einem schmalen Fenster. Sie wandte sich nicht um und reagierte auch sonst nicht, als sie eintraten. Für Herald trug sie einen Ausdruck entrückter Gleichgültigkeit anstatt Wut oder Furcht. Sie trug ein schimmerndes Gewand, das reizvoll weiblich geschnitten war, und leichte Pantoffeln an ihren zierlichen Füßen. Ein weibliches Kind, das an Kleinbohr
von Metamorph erinnerte, jedoch wahrscheinlich etwas älter. Bestimmt kein Dämon! »Meine Tochter, die Lady Kade«, sagte der Herzog. Die Gestalt wandte sich um, und Herald erkannte, daß sie wirklich eine Lady war, wenn auch eine junge, nach den Maßstäben dieser Spezies fast schon im heiratsfähigen Alter. »Herald der Heiler, der Exorzist«, sagte Kade gepreßt. »Wirbel von Dollar, der Zeuge des Feindes.« Seine Ironie grenzte schon an Unhöflichkeit, jedoch schien niemand offen daran Anstoß zu nehmen. »Wenn ich mich jetzt für die Dauer der Prozedur empfehlen darf...« Jetzt erst reagierte die Lady, wenn auch zaghaft. »Vater...« Ihre Stimme war zart und süß, bebte vor Furcht. Die Vorderfront ihres Gewandes pulsierte sanft im Rhythmus ihres menschlichen Herzens darunter, ein weiterer Hinweis auf die innere Anspannung, die sie erfüllte. »Herald ist ein im ganzen Cluster berühmter Heiler«, verriet der Herzog ihr, wobei seine Stimme plötzlich einen weichen Klang annahm. »Er wird seinen Ruf sicherlich nicht dadurch verderben, indem er dir einen Schaden zufügt. Der Graf ist eine Ehrenkreatur; er soll ein wachsames Auge auf die Prozedur haben und nicht auf dich. Wenn diese beiden Entitäten zweifelsfrei versichern können, daß du unschuldig bist, dann werden sie ihre Berichte anfertigen und abreisen, und alles wird wieder gut sein.« »Es war noch niemals gut«, widersprach sie. Aber sie schien nun etwas sicherer zu werden. Kade bedachte Herald und den Zeugen mit einem rätselhaften Blick, dann drehte er sich auf dem Absatz
um und entfernte sich. Wirbel ließ sich auf seine Seitenräder nieder. »Ich fungiere lediglich als Zeuge«, erklärte er. »Ich werde mich nicht einmischen.« Herald begriff nun, daß es eine ganze Menge gab, wovon man ihm nichts erzählt hatte. Jedoch zog er es vor, sich die Informationen auf seine Weise zu besorgen. »Lady, darf ich Sie berühren?« fragte er, ohne sein Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen. Ein Lächeln war das Spannen des menschlichen Mundes, um Zufriedenheit oder gute Absichten zu signalisieren, jedoch wäre eine solche Geste zu diesem Zeitpunkt reine Heuchelei gewesen. Er war als Agent des Feindes vorgestellt worden, der nur aufgrund der herrschenden Situation hier geduldet wurde. Er wußte bereits, daß zum wesentlichen Teil die sozialen und politischen Verhältnisse an dem Problem schuld waren. Durchaus möglich, daß das Mädchen völlig unschuldig war und nur als Werkzeug benutzt wurde, da sie dem Herzog lieb und teuer war. Sie streckte eine zierliche Hand aus, als rechne sie mit ihrer Amputation, wobei sie den Blick abwendete. Herald streckte nun seine eigene Hand betont langsam aus, um sie nicht zu erschrecken und in die Flucht zu treiben, und berührte die Spitzen ihrer kleinen Finger. Sie hatte eine recht ansehnliche, wenn auch nicht sonderlich bemerkenswerte Aura von der Intensität fünfundzwanzig, deren Typ zwar selten war, aber doch zu einer bekannten auralen Familie gehörte. Sie vermittelte einen Eindruck von Streß, war jedoch im Grunde normal und gesund. Von einer fremden Aura war das Mädchen schon mal nicht besetzt.
Sie spürte die unerhörte heilende Kraft seiner eigenen Aura, wie man sie im Cluster schon seit dreitausend Jahren nicht mehr angetroffen hatte – und schmolz dahin. Ihr Gesicht wendete sich ihm zu, die großen Augen umfingen sein Gesicht und schauten. Sie waren orangefarben wie die ihres Vaters. Ein Schimmer der Hoffnung schien wie die Sonne in ihnen aufzugehen und ihr goldenes Haar mit strahlendem Glanz zu umhüllen. In diesem kurzen Augenblick wurde sie von einem verschüchterten Kind zu einer reizenden jungen Frau, einer wahrhaft königlichen Lady. Der Graf sprang auf die Räder. »Superrund!« rief er aus. »Mit nur einer Berührung habt Ihr sie verwandelt! Sogar ich, der ich völlig fremd bin und mich mit eurer Gestalt kaum auskenne, kann dieses Wunder erkennen!« Dann verstummte er, stoppte sein Kommunikationsrad. Und versetzte es gleich wieder in Drehung. »Vergebung. Ich versprach, mich nicht einzumischen.« Die Lady wandte sich an den Sadorer, behielt Herald dabei jedoch im Auge. »Wie kommt es, daß Sie, Zeuge des Feindes, daß Sie solchen Anteil an meinem Wohlergehen nehmen? Wollen Sie mich nicht verbrennen?« »Nein, Lady, nein!« rief der Graf. »Ich möchte Sie geheilt sehen, auf daß dieser ungesunde Druck nicht mehr auf Keep lastet. Burg Kade war seit jeher das Bollwerk gegen Verrat und Unterdrückung, das stärkste und aufrichtigste Rad des Königs. Allein dieses Unglück verhindert, daß es auch weiterhin so ist. Ich stehe nicht Ihnen oder Ihrem Vater als Feind gegenüber, sondern allein dem Dämon, der Ihre wun-
derschöne Mutter mitnahm und Sie nun bedroht. Bleiben Sie so, wie Sie im Augenblick sind, und wir können wieder Freunde werden.« An der Aufrichtigkeit des Grafen konnte es keinen Zweifel geben. Dennoch war es schon reichlich sonderbar, denn wenn die verfeindeten Parteien wirklich so sehr daran interessiert waren, ihre Zwistigkeiten zu begraben, hätte der Heiler überhaupt nicht herbeigeholt werden müssen. »Dieses Mädchen leidet unter keiner Besessenheit«, sagte Herald. »Ihre Aura ist leicht gestört, aber im Grund normal.« Doch nun hatte der Sadorer einen Einwand. »Jetzt ist sie normal, Heiler. Und vielleicht wird sie mit Ihrer Hilfe auch in Zukunft normal sein. Jedoch war sie wirklich besessen, und das machte uns allen Sorgen und beunruhigt uns immer noch.« »Ich glaube, wir verwechseln da einige Begriffe«, meinte Herald. »Unter Besessenheit verstehe ich die Übernahme eines Wirtes durch eine feindselige, übelwollende Aura, was man früher als Geiselnahme bezeichnete.« »Genau.« »Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Da eine Aura von einem vorhandenen Wirt nur im Transfer abgezogen werden kann, kann die Dame nicht besessen gewesen sein – es sei denn, in dieser Burg befände sich eine Transfer-Einheit. In diesem Fall hätte die Aura sie natürlich zu dem Gerät hinführen und sich dort zurückziehen können. Doch normalerweise wird ein guter Wirt nicht so schnell aufgegeben. Und außerdem kann eine fremde Aura den Wirt nicht lenken, solange der Wirt sich nicht lenken läßt...«
»Ein Dämon kann das wohl«, widersprach Wirbel. »Wir von Keep haben solche Fälle bereits gehabt.« Örtlicher Aberglaube, da war sich Herald sicher. »Auf jeden Fall bleibt die andere Einschränkung bestehen. Ohne eine Transfer-Einheit...« »Hier gibt es keine Transfer-Einheit«, erklärte der Graf. »Als Zeuge habe ich entsprechende Geräte mitgebracht, um das eindeutig festzustellen.« »Und das ist der Beweis für meine Auffassung, mein Herr. Da sich keine fremde Aura entfernt haben kann und da sich zur Zeit auch keine hier aufhält, kann es sich unmöglich um einen Fall von Besessenheit gehandelt haben.« Immer noch beharrte der Sadorer auf seiner Meinung. »Es war aber so. Ich versuche gar nicht erst, das genauer zu erklären, sondern bestätige lediglich, daß es so war.« Herald wandte sich wieder an das Mädchen, dessen Hand er immer noch festhielt. »Wissen Sie, wovon er redet, Lady?« »Nein, Herr«, sagte sie. »Ich wurde niemals von einer feindseligen Aura übernommen, obwohl so etwas hier auf Keep vorkommen kann. Mein Vater glaubt, daß seine Feinde ihm durch mich schaden wollen; sie wollen die Erblinie beenden, um Zugang zu den Beutestücken zu bekommen. Deshalb wurde auch dieser Vorwurf ausgesprochen.« Herald nickte; einen ähnlichen Verdacht hatte er bereits gehabt. Heraldische Ereignisse unterlagen den Gesetzen heraldischer Politik und stellten die Kehrseite der Medaille dar. »Falsch!« rief der Graf, wobei sein Kommunikationsrad sich vor Vehemenz beinahe ablöste. »Derarti-
ge Dinge haben wir niemals im Sinn. Wir denken ausschließlich an den Ruf und das Wohlergehen unseres eigenen Planeten!« Herald löste seine Hand von der Lady und trat auf Wirbel zu. »Darf ich Sie noch einmal berühren, Dollar?« »Ich bestehe darauf!« Und der Sadorer streckte sein Vorderrad aus. Der Kontakt ergab einen beträchtlichen Erregungszustand der Aura, ließ jedoch nicht auf irgendeine Hinterlist schließen. Der Graf war vollkommen ehrlich und vertrauenswürdig. »Dies ist ein Problem«, stellte Herald fest. »Ihre Position erscheint unverständlich, dennoch halten Sie daran fest. Ist das typisch für die Mächte, die Sie repräsentieren?« »Ja, es ist sogar sehr typisch, Heiler. Und es ist auch nicht unverständlich. Wir haben unsere Erfahrungen gemacht. Unter uns bewegt sich ein Dämon, und die Lady Kade ist im Augenblick sein bevorzugtes Ziel. Wir versuchen gar nicht erst, sein Wirken zu ergründen; deshalb haben wir Sie ja hergerufen.« Es könnte wirklich ein Dämon sein Unwesen treiben, dachte Herald, jedoch schien er den Feind besessen zu haben und nicht die Lady! Herald schaute sie an. »Ich kann nicht heilen, was geheilt werden muß. Aber der Dämon offenbart sich mir...« »Das wird er«, versicherte der Sadorer. »Sie brauchen nur solange hierzubleiben, bis es geschieht.« »Eigentlich wollte ich schon in ein paar Stunden in meine Galaxis zurückkehren.« »Wenn Sie das tun und der Dämon erscheint kurz danach, werden wir die Lady wohl verbrennen müs-
sen«, sagte der Sadorer. »Zwingen Sie uns bitte nicht, so zu handeln; es wäre schrecklich, wenn wir das tun müßten.« »Sie verbrennen! Und das wagt der Zeuge des Feindes in Gegenwart der Lady auszusprechen!« brauste Herald entrüstet auf. »Mit dem Feuer bestraft man Dämonen und keine Ladys!« »Der Zeuge des Feindes ist eine Kreatur von Ehre«, ergriff das Mädchen kühl das Wort. Ihr Glanz hatte nachgelassen, als Herald den Kontakt mit ihr gelöst hatte, jedoch war sie immer noch von frischem Lebensmut beseelt und betrachtete ihn als einen Verbündeten und nicht als fremden Techniker. »Sie haben meine Mutter verbrannt.« »Nicht wir!« wehrte der Graf sich. »Das war ein unwürdiger Akt. Wir haben die Täter bestraft. Und nun versuchen wir dieses Problem positiv, freundschaftlich zu lösen.« Herald hob seine beiden Hände. »Das ist für mich zuviel als daß ich mir aus den Bruchstücken, die ich weiß, ein vollständiges Bild zusammensetzen kann. Gestatten Sie mir, mich mit der Lady etwas eingehender zu unterhalten.« »Ja! Ja!« rief der Sadorer. »Ich bin ja nur hier, weil ich es muß. Ich werde schweigen, wie man es von mir erwartet.« »Reden Sie mit mir, solange Sie wollen«, sagte die Lady zu Herald. »Nur halten Sie dabei meine Hand. Die Berührung vertreibt die Angst.« Herald erfüllte ihr die Bitte und berührte sie wieder. »Das kommt daher, daß ich ein Heiler bin.« Er führte sie zum Diwan, und sie setzten sich nebeneinander. »Wie lautet denn Ihr richtiger Name?«
»Psyche.« Sie lächelte, ihr Gesicht leuchtete auf, wobei das helle Blau ihrer Haut zu dem Goldton ihrer Haare einen reizvollen Kontrast bildete. »Oh, ich weiß, daß Sie dies nur für Geld tun, Herald, dennoch wünschte ich, Sie könnten für immer bei mir bleiben. Dann wäre ich nämlich vor allen Schrecken sicher.« Dem Schrecken des Verbrennens – oder dem der Besessenheit? Irgend etwas stimmte hier nicht, und er fühlte sich zu seinem Unbehagen an Kleinbohrs eindringliche Warnung erinnert. Welcher Bedrohung stand er hier gegenüber? Er überspielte jedoch seine Unsicherheit. »Wenn Sie geheilt sind, dann brauchen Sie diese Unterstützung nicht mehr«, beruhigte er sie. »Schildern Sie mir bitte mit Ihren eigenen Worten, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Ich bin sozusagen ein Außenseiter, ein Fremder, und es gibt eine Menge, was ich noch nicht weiß.« Ohne zu zögern, begann die Lady ihren Bericht. »Ich war zwölf nach Sol-Standard, als der Dämon sich auf Burg Kade einnistete. Er besetzte den Körper meiner Mutter, der Herzogin von Kade. Sie war eine bezaubernde Frau mit blonden Locken, die ihr auf den Rücken herabfielen, und einem offenen orangefarbenen Blick, und ihre Haut war von derselben lieblichen Farbe wie die Welt unserer Herkunft, der Planet Kade. Die Männer meinten, sie sei die schönste menschliche Weibliche auf Keep und daß ich eines Tages so würde wie sie. Als der Dämon jedoch von ihr Besitz ergriff, versprühte sie Feuer. Sie nahm ein Laser-Schwert und metzelte unseren Verwalter nieder und beschuldigte ihn, ihr unsittliche Anträge gemacht zu haben. Mein Vater glaubte ihr, denn anderenfalls hätte er über sie
zu Gericht sitzen müssen. Ich wußte jedoch, daß der Verwalter unschuldig war; er hatte selbst eine Geliebte, und die hätte ihn sicherlich umgebracht, wenn er sich mit einer anderen Frau eingelassen hätte. Ich denke eher, es war meine Mutter, die ihm Andeutungen gemacht hat – und ich weiß, daß sie so etwas niemals getan hätte, wenn sie nicht besessen gewesen wäre. Aus welchem Grund auch immer hatte der Dämon die Absicht, den Mann zu kompromittieren. Besessenheit ist hier auf dem Planeten Keep eine durchaus ernstzunehmende Bedrohung, denn wir haben viele starke und kranke Auren. Wir sind eine Art Gefängnis-Planet. Politische Verbrecher und die unverbesserlichen Partisanen gefährlicher Sekten werden hierher transfert und auf tierische Wirte verteilt. Früher galt es als unmöglich, daß ein denkender einen nichtdenkenden Wirt besetzt, jedoch hat die moderne Technik sogar das ermöglicht. Wenn der Urteilsspruch auf Todesstrafe lautet, dann bleiben die Gefangenen so lange in ihren Tier-Wirten, bis ihre Aura vollkommen verblaßt ist. Wenn sie lediglich in die Verbannung geschickt wurden, dann werden sie erlöst, kurz bevor die Aura verschwindet, vorausgesetzt, ihre Wirte wurden nicht von anderen Tieren getötet. Manchmal wird ein Sträfling auch wiederhergestellt, wenn die politische Lage auf seinem Heimatplaneten sich zu seinen Gunsten verändert. Es kann Jahre dauern, ehe ein hochkirlianisches Bewußtsein vergeht. Beweise gibt es dafür nicht, aber die Umstände legen den Schluß nahe, daß einige der Gefangenen es im Lauf der Zeit lernen, ihre tierischen Wirte zu lenken, indem sie die primitiveren Gehirne so konditio-
nieren, daß sie Anweisungen ausführen, die den Tieren das Leben sicherer und einfacher machen. Gerüchteweise und in unseren Sagen heißt es, daß einige dieser hochauralen Entitäten im Transfer von ihren tierischen Wirten zu menschlichen überwechseln können und dann die Geister der Denkenden in ähnlicher Weise abrichten, wie sie es bei den Tieren getan haben. Da diese Entitäten meistens Revolutionäre, oft sogar Kriminelle sind, kann eine solche Besessenheit ein großes Unglück sein und Schlimmes nach sich ziehen. Das würde auch erklären, was mit meiner Mutter geschah. Mein Vater wollte davon jedoch nichts hören. Er hat schon immer in blinder Treue zu den Seinen gestanden. Er behandelte sie sogar noch liebevoller und zuvorkommender; tatsächlich schien sie ihm so noch besser zu gefallen, denn sie hatte plötzlich eine viel weiter entwickelte Persönlichkeit und einen ausgeprägteren Willen. Zwei Jahre lang hielt dieser Zustand meiner Mutter an. Ich hatte ihr mal sehr nahegestanden, mußte jedoch nun auf sie verzichten. Es konnte keinen Zweifel geben, daß ihr Charakter sich verändert hatte. Sie konspirierte völlig offen gegen den Hof und meldete einige Ansprüche auf die Krone an. Mein Vater versuchte, sie von ihrem verräterischen Tun abzubringen, jedoch hatte sie bereits ein so dichtes Netz aus Verrat und Lüge gewoben, daß er wenig Erfolg hatte. Vielleicht verging auch der Geist, der sie besetzte, denn es gab kurze Augenblicke, in denen ihre frühere Persönlichkeit wieder hervorbrach und ich mich wieder zu ihr hingezogen fühlen konnte. In seiner Verzweiflung griff der dämonische Geist zu noch drastischeren Methoden, um sein Ziel zu erreichen, ehe die
Zeit ihn ausschaltete und sein fremder Wirt ihn davonjagte. Allein die Rückkehr in seinen natürlichen Körper konnte ihn wieder aufbauen, und falls dieser Körper, vor den Menschen verborgen, irgendwo fern dem Tageslicht gefangen war, wäre eine Rückkehr dorthin sinnlos, bis irgendeine politische Wende dem Körper die Freiheit schenkte. Und dazu wäre die ungeteilte Macht des Thrones von Keep notwendig gewesen. Dann wurde mein Vater zu einer Konferenz mit dem König gerufen. Ein Grund wurde nicht angegeben, jedoch wußten alle, daß es um den Vorwurf des Verrats ging, zu dem er sich in geheimer Sitzung äußern sollte. Mein Vater hatte dem König immer die Treue gehalten, deshalb wurde die ganze Angelegenheit sehr zurückhaltend behandelt. Wenn er seine Frau auslieferte und vor Gericht stellen ließ, würde nichts an ihm hängenbleiben. Meine Mutter – ich nenne sie immer noch so, obwohl ich weiß, daß sie es schon lange nicht mehr war – erkannte die Gefahr, in der sie schwebte. Sie wartete nur ab, bis mein Vater wieder die Rückreise angetreten hatte, dann verschwand sie zu einer anderen Burg, um von dort aus ihr übles Werk fortzusetzen. Ich wünschte, es hätte etwas gegeben, womit ich sie hätte aufhalten und ihn schützen können, jedoch durfte ich die Burg nicht verlassen. Sie hatte unsere Diener bestochen, und in seiner Abwesenheit gehorchten sie ihr aufs Wort, wenn auch nur mit Widerwillen. Dann wurde ihre Reisegesellschaft in einen Hinterhalt gelockt, und sie wurde von einer Bande gesetzloser Ritter mit verdeckten Schilden gefangengenom-
men. Diese nahmen sie mit und verbrannten sie an Ort und Stelle. Als mein Vater zurückkehrte und erfuhr, was geschehen war, sammelte er seine Kräfte für einen Rachefeldzug. Kade ist immerhin das mächtigste Herzogtum auf dem Planeten. Nur der Herzog von Qaval kann eine ähnliche Streitmacht auf die Beine stellen, und Qaval ist weit entfernt. Niemand in dieser Gegend kann sich gegen Kade behaupten. Kurz vor seinem Aufbruch jedoch erwischte der Marquis von Maryland die Gesetzlosen und machte sie bis zur letzten Kreatur nieder. Ihre Köpfe wurden auf Lanzen gespießt und als Geste der Entschuldigung vor der Burg Kade aufgestellt. Man machte mich zur Lady dieses Anwesens, und es herrschte wieder Frieden. Es wurde davon geredet, daß mein Vater, der vom Verrat seiner Frau wußte, sich hatte abrufen lassen, so daß die Hinrichtung ohne sein offenes Eingeständnis erfolgen konnte, und daß der Marquis von Maryland nur deshalb eingegriffen hätte, um einem Verhör vorzubeugen, bei dem jemand hätte Rede und Antwort stehen müssen, der für den König eine Reihe von Aufträgen ausgeführt hatte. Ich glaube nicht, daß mein Vater sich zu einem derartig falschen Spiel hergegeben hätte, jedoch kann ich das nicht mit letzter Sicherheit entscheiden. Vielleicht wurde alles ohne sein Wissen geplant, und er hatte nur keine Möglichkeit, seinen Verdacht zu untermauern, weshalb er am Ende auch den Mund hielt. Jedoch weiß ich genau, daß er es nicht zulassen wird, ein zweites Mal manipuliert zu werden. Nur wenige Monate später fing das Gerede wieder an.
Nun hieß es, daß der Dämon nicht gestorben sei, sondern sich einen neuen Wirt gesucht habe – mich. Vielleicht ist das der Ablauf einer Besessenheit: daß nämlich eine fremde Aura nur dann wechseln kann, wenn ihr alter Wirt stirbt. Mein Vater spricht nicht mehr von meiner Mutter; ich glaube, der König zeigte meinem Vater genügend Beweise für ihren Verrat, und daß mein Vater bereit war, sie verurteilen zu lassen, als sie vorher getötet wurde. Nun ist er jedoch von jeglichem Makel, es selbst getan zu haben, befreit und wird niemals eingestehen, daß jemals ein Schatten auf dem Ruf des Hauses von Kade gelegen hat. Er weiß, daß es in mir keinen Dämon gibt, und er beschützt mich noch sorgfältiger als meine Mutter. Er schließt mich zur Nacht in meinem Zimmer ein, damit niemand mir vorwerfen kann, etwas Übles im Schilde zu führen, dies alles tut er jedoch nur aus Liebe zu mir. Vielleicht hatte der Feind gegen meine Mutter berechtigte Vorwürfe, gegen mich liegt jedoch nicht das geringste vor. Dennoch verstummten die Vorwürfe nicht, und als mein Vater es ablehnte, mich von den Experten der Gegenseite befragen zu lassen, machten sie gegen ihn Front und bildeten unter der Leitung des Prinzen Ring von Krone eine Koalition. Tatsächlich hat der König sich zurückgehalten und für niemanden Partei ergriffen. Ehe es jedoch zur Schlacht kam, wurde ein Kompromiß geschlossen. Der führende Heiler des Clusters, einer, dessen Fähigkeiten und Urteilskraft von keiner der gegnerischen Seiten in Frage gestellt werden könnte, sollte in der Burg einen Exorzismus vornehmen und den Dämon vertreiben. Hätte er Erfolg, dann wäre alles wieder gut. Wenn nicht, sollte
ich dem König zum Verhör und für weitere Maßnahmen übergeben werden. Sollte sich dabei herausstellen, daß ich ein Opfer dämonischer Besessenheit bin, sollte ich hingerichtet werden, denn derartige Wirte können in unserer Gemeinschaft nicht geduldet werden.« Sie wandte sich um und sah den Grafen von Dollar an. »Zeuge, habe ich etwas ausgelassen?« Wirbel ließ sein Rad in einem Ausdruck momentaner Verwirrung rotieren, da die direkte Frage ihn überrumpelt hatte. »Nein, Herrin«, erwiderte er verlegen. »Sie haben mehr berichtet, als Sie nach meinem Dafürhalten hätten wissen dürfen.« Herald überdachte diesen bemerkenswerten Bericht, der trotz der augenscheinlichen Unschuld der Erzählerin so wohlgeordnet und farbig gegeben worden war. Die junge Lady von Kade war weder dumm noch oberflächlich. »Aber ich bin doch der Heiler – und Sie sind nicht besessen«, bekräftigte er. Sie lächelte. »Ich glaube hingegen, daß ich besessen bin – von Ihnen.« Nun gelangte er allmählich wieder auf vertrauteren Boden. »Es kommt in den Auren von Transfer-Wirten manchmal zu Verschiebungen«, erklärte Herald. »Ich habe solche Falle schon oft untersucht. Dies ist für den Wirt nicht schädlich. Es handelt sich lediglich um eine Art Abdruck, ein Zeichen, das die Transfer-Aura in der Eigenaura des Wirts hinterlassen hat. Derartige Spuren erscheinen unabhängig von der Intensität der beiden Auren oder davon, wer den Körper kontrolliert. Ihre eigene Aura hat eine solche Spur nicht. Ich stelle das als Fachmann auf diesem Gebiet fest: Sie
waren noch nie Wirt für eine fremde Aura.« Psyche sah den Sadorer an. »Was sagen Sie jetzt, Zeuge?« »Ich bedaure, festzustellen zu müssen, daß der Experte sich irrt«, entgegnete Wirbel. Herald produzierte ein menschliches Achselzukken. »Es steht Ihnen frei, einen anderen Exorzisten beizuziehen. Ich bezweifle, daß dessen Urteil anders ausfallen wird.« »Es steht uns eben nicht frei«, sagte Wirbel. »Laut Abmachung gibt Ihr Urteil den Ausschlag. Trotzdem irren Sie sich. Schande über Ihre Räder.« »In meiner Heimatsphäre Slash hätte eine derartige Bemerkung die Herausforderung zum Zweikampf mit Laser-Waffen zur Folge«, sagte Herald. »Jedoch ist mir klar, daß Sie mich nicht beleidigen wollen. Welchen Beweis kann ich Ihnen für die Richtigkeit meines Urteils liefern?« »Bleiben Sie nur lange genug hier, um selbst zu sehen, wie Sie sich geirrt haben. Wahrscheinlich reichen ein paar Tage.« »Ein paar Tage! Ich will schon in wenigen Stunden wieder in Andromeda sein!« Der Sadorer blieb ungerührt. »Lassen Sie sich von Ihrem Gutdünken oder von der Wahrheit leiten?« Herald seufzte innerlich. Diese runde, räderdrehende Kreatur hatte eine empfindlich erdrückende Persönlichkeit! »Ich werde den Herzog aufsuchen.« »Bestimmt hält er sich im Trophäensaal auf«, sagte Psyche, griff, wie es einer Lady geziemte, nach seinem Arm und führte ihn. Der Sadorer rollte unaufdringlich hinter ihnen her. Herald bemerkte, daß die Kreatur mit den Rädern keine Probleme hatte, die
Stufen zu bewältigen, obwohl die Burgtreppen nicht mit Rampen versehen waren. Der Sadorer war in der Lage, seine Hinter- und Vorderräder als Stopper einzusetzen, während er sich mit den Seitenrädern vorwärtsbewegte. Ein Rad, das quer zur Bewegungsrichtung aufgesetzt wurde, erwies sich als mindestens ebenso wirkungsvoll wie eine richtige Bremse, und Dollar war so konstruiert, daß immer zwei Räder an der Seite standen und benutzt werden konnten. Der Trophäensaal war voll. Pokale, Helme, Schwerter, Lanzen und andere Waffen lagen auf Tischen und unter Glas, und Wappenschilder bedeckten die Wände. Die Wappen von Familien aus weit entfernten Sphären konnten betrachtet werden. Bereits auf einen ersten oberflächlichen Blick konnte Herald viele von ihnen identifizieren, und er wußte, daß sie echt waren. Dies bewies mehr als alles andere die Macht und den galaktischen Einfluß des Herzogs von Kade. Der Herzog erwartete sie und zeigte dabei eine ähnliche Gestik wie seine Tochter. »Ihr Urteil?« fragte er kühl. »Die Lady Kade ist im Augenblick frei und wurde auch bisher noch nie von einer fremden Aura besessen«, erklärte Herald. »Ich verkünde dies als Fachmann für aurale Angelegenheiten und werde darüber einen offiziellen Bericht anfertigen. Ich empfehle Ihnen, sich das bestätigen zu lassen, indem sie einen Aura-Ausdruck für eine Computer-Analyse erstellen zu lassen. Mein Besuch bedeutet für Sie eine unnötige Ausgabe.« Wenn der Herzog durch diesen Bericht wirklich erleichtert war, dann zeigte er das nicht im minde-
sten. Er wandte sich an den Sadorer. »Zeuge?« »Protest«, antwortete der Graf. »Ich ziehe weder die Aufrichtigkeit noch die Kompetenz des Experten in Zweifel; tatsächlich bin ich von der enormen Intensität seiner Aura wirklich beeindruckt. Allerdings hat er die zu Prüfende in einer Phase der Ruhe untersucht und keine Nachforschungen über die Natur der Besessenheit angestellt. Und dies kann auch nicht von einer Maschine per Ausdruck festgestellt werden. Wäre dies einer der gewöhnlichen Fälle, dann hätten wir schon längst eindeutige Beweise haben müssen.« Kade schob seine fünffingerigen Hände hinter sich, verschränkte sie und wanderte in zwei kleinen Kreisen umher. Er folgte dabei dem Muster einer Acht, dem Zeichen, das in der Mathematik und im Tarot für den Begriff Unendlich benutzt wurde. Mit Sicherheit war ihm dieser Symbolismus nicht bewußt. »Zeuge, Ihnen ist klar, daß der Experte auf Ihr Geheiß und nicht auf meines hin geholt wurde und daß er von ihnen und nicht von mir ausgewählt wurde. Ich habe die Untersuchung von Anfang an abgelehnt. Nun hat er ihnen mit seinem Urteil widersprochen.« »Das weiß ich selbst. Doch in Wahrnehmung meiner Pflicht als Zeuge muß ich darauf bestehen, daß der Experte hierbleibt, bis die Besessenheit sich zeigt.« »Es gibt keine Besessenheit!« explodierte Kade voller Zorn. »Er müßte wahrscheinlich hierbleiben, bis meine Tochter in hohem Alter stirbt.« Doch dann beruhigte er sich sofort wieder und bewies die Disziplin, die seiner Stellung in dieser Gesellschaft entsprach. »Vergebung. Mir liegt viel daran, den Zeugen vollkommen zufriedenzustellen. Nennen Sie uns eine
Zeitspanne, die Herald von Slash hier verweilen soll. Wenn er danach immer noch bei seinem Urteil bleibt, werden Sie notgedrungen zufrieden sein müssen.« »Das kommt darauf an, wieviel Zeit vergeht«, meinte Wirbel skeptisch. »Ich bin sicher, daß die Besessenheit sich offenbaren wird, jedoch weiß ich nicht, wann. Es kann schon innerhalb der nächsten Stunde geschehen, es kann aber ebensogut auch einen ganzen Keep-Monat dauern.« Heralds Wirt meldete sich, als er die Verwirrung seines Gastes spürte. »Ein Keep-Monat bezeichnet die Umlaufzeit unseres größten Mondes und entspricht etwa zehn Sol-Tagen oder einskommavier andromedischen Einheiten.« / Danke /, meinte Herald. »Dann werden wir ihn für einen Monat hierbehalten!« entschied Kade. »Soweit ich es beurteilen kann, wird sich die Besessenheit nicht zeigen. Aber gut, ein Monat soll es sein – zu Ihrer Beruhigung.« »So lange kann ich nicht bleiben!« protestierte Herald. »Ich habe auch noch andere Verabredungen...« »Ich werde Sie für die entgangenen Honorare entschädigen«, unterbrach Kade ihn knapp. »Ich denke, ich verfüge über genügend Werte, um auch einer solchen Vereinbarung gerecht werden zu können.« »Wir werden ihn entschädigen«, versprach Wirbel. »Schließlich bleibt er auf unser Geheiß. Allerdings muß er die Lady dauernd begleiten, so daß er die Manifestation auf keinen Fall versäumt.« »Aber doch nicht auch nachts!« wandte der Herzog ein. »Gerade die Nacht ist der wichtigste Zeitabschnitt. Er muß stets zur Stelle sein.«
Herald schüttelte den Kopf, als er sich die Komplikationen vorstellte, die ein solches Arrangement nach sich ziehen konnte. »Hier geht es nicht nur um die Frage meines Honorars oder menschlichen Anstands«, sagte er. »Ich habe Verpflichtungen. Andere Kreaturen brauchen meine Hilfe. Einige sterben vielleicht. Ich kann an einen einzigen Fall nicht soviel Zeit verschwenden.« »Ich werde Ihren Klienten die Reise hierher bezahlen!« rief der Herzog. Dann, zu Wirbel gewandt: »Meine Tochter ist im mannbaren Alter. Die Anwesenheit eines Mannes in ihren Räumen während der Nacht wäre ein klarer Affront gegen ihre Ehre.« »Ich muß dabeisein«, bestand Wirbel auf seiner Forderung. »Ich bin der Zeuge. Ich versichere Ihnen, ich habe keinerlei unehrenhaften Interessen an...« Herald unterdrückte ein Lächeln. »Zeuge, er meint mich. Ich bin zwar eine fremde Kreatur, befinde mich jedoch zur Zeit in einem menschlichen Körper. Ich glaube, Solarier verschiedenen Geschlechts dürfen nicht eher die Nacht gemeinsam verbringen, bis sie verheiratet sind.« »Das entspricht den Tatsachen«, bestätigte Kade. »Der Ruf meiner Tochter darf nicht angetastet werden, da sie irgendwann heiraten wird. Die Anwesenheit eines Mannes in ihren Räumen bei Nacht würde einen Schatten auf ihre Tugend werfen.« »Wen würde sie heiraten können, wenn sie nicht von dem Dämon befreit ist?« fragte Wirbel. Dann fügte er hastig an: »Vom Verdacht der Besessenheit?« »Wenn einer von Ihren Gefährten als Bräutigam in Frage käme – wäre sie dann vom Verdacht befreit?«
wollte Kade wissen. »Wir haben menschliche Verbündete«, meinte der Sadorer. »Zum Beispiel der Sproß von Skot. Historisch betrachtet waren die Klans von Skot und Kade früher vereint und dienten gemeinsam und ehrenvoll im Zweiten Energiekrieg. Der junge Skot hat sicher nichts einzuwenden. Ihre Tochter gilt nach den Maßstäben Ihrer Spezies als durchaus hübsch, und eine Allianz zwischen dem Klan Skot und dem Herzogtum von Kade würde politisch...« »Genug, Graf! Sie haben Ihren Standpunkt dargelegt.« Der Herzog wandte sich wieder an Herald. »Sie werden einen Monat hierbleiben, und meine Tochter wird sich nicht von Ihnen entfernen. Der Zeuge des Feindes wird als Anstandskreatur bei Ihnen bleiben. Ihre anderen Klienten werden Ihnen hier präsentiert oder an andere Heiler weitergeleitet. Die Kosten trägt der Planet Keep. In Ordnung?« Herald spreizte seine menschlichen Hände. »Wenn es Ihnen so wichtig ist...« »Es ist eine unglaubliche Verschwendung meiner Zeit und meines Geldes«, unterbrach Kade ihn. »Aber immer noch weniger, als ein Krieg mich kosten würde. Ich lasse mich auf diesen Unsinn nur ein, damit der Zeuge des Feindes zufriedengestellt wird, damit in unserer Welt Frieden herrscht und die Lady Kade von jedem Verdacht befreit wird.« »Das geht in Ordnung«, meinte Wirbel zögernd. »Bitte melden Sie diese Abmachung dem König.« »Sofort.« Und der Herzog entfernte sich. Herald sah Psyche an. »Wir haben Sie nicht nach Ihrem Einverständnis gefragt«, sagte er. »Ist Ihnen klar, was alles dazu gehört?«
»Ich wünschte ja, Sie könnten länger bleiben«, meinte sie mit einem Lächeln von nicht ganz kindlicher Unschuld. Sie nahmen eine üppige Mahlzeit aus sadorischem Steak in pseudoterranischer Sauce, grünem Würzbrot und Radwindenwein zu sich. Herald stellte fest, daß sein menschlicher Gastgeber erstaunlicherweise einen hochentwickelten Sinn für Kultur hatte, und er vergnügte sich mehr, als er erwartet hatte. Anschließend mußte er sich jedoch in die private Kammer zurückziehen, um die solarische Funktion zur Erleichterung zu vollziehen, die notwendigerweise auf die Verdauung folgte. Es war dies normalerweise eine ziemlich unsaubere Angelegenheit, jedoch war sein Wirt in dieser Hinsicht schon recht erfahren. »Ein Klient ist eingetroffen«, informierte der Herzog Herald, als dieser wieder zurückkehrte. »Hweeh von Weew erwartet Sie in der Bibliothek.« Er lächelte freudlos. Herald erinnerte sich an den Eintrag in seinem Terminkalender. Schockbehandlung und das Wappen einer Familie im Segment Weew, Milchstraße. Eine Routineangelegenheit. Seltsam, daß man die Entität so schnell hergebracht hatte. Er bot Psyche in höfischer Manier seinen Arm an, da sie ihn begleiten mußte, und zusammen mit Wirbel suchten sie die Bibliothek auf. An den Wänden dieses Raums standen Regale mit einer großen Anzahl verblichener altmodischer solarischer gedruckter Bücher. Herald war überzeugt, daß nur wenige solarische Zeitgenossen die archaischen Symbole dieser Texte entziffern konnten, ahnte
aber gleichzeitig, daß der Herzog von Kade zu den wenigen gehörte, die dies vermochten. Die Erziehung ging oft seltsame Wege. Ein Häufchen grauen Protoplasmas hockte auf dem Boden. Herald starrte es erschrocken an. »Sie haben ihn per Materietransmitter geschickt!« »Er muß sehr bedeutend sein«, sagte Psyche. »Oder sehr reich.« Er sah sie an. »Verfügt Burg Kade über einen Empfänger für Materietransmission?« »Nein. Er muß wohl in der Burg des Königs gelandet sein. Während wir aßen, hat man ihn dann mit der Postkutsche hergebracht.« Herald überdachte die Situation. »Ein Weew im Schock sollte nicht auf dem kalten Boden liegen. Wir müssen ihm eine angenehmere Umgebung schaffen. Psyche – ich meine Lady Kade...« »Psyche«, sagte sie lächelnd. »Psyche, setzen Sie sich bitte still auf diesen Stuhl. Wirbel, machen Sie es sich bequem, aber bleiben sie unsichtbar. Ich habe gegen Publikum nichts einzuwenden, jedoch könnte mein Klient etwas dagegen haben. Ist jemand von Ihnen schon mal einem Weew begegnet?« Psyche schüttelte den Kopf. »Nur im Transfer«, sagte Wirbel. »Dann erschrecken Sie nicht bei dem, was geschehen wird. Die Weew sind ganz besondere Kreaturen.« Die beiden machten sich so unauffällig wie möglich. Herald kniete neben dem Häufchen nieder. Langsam streckte er eine Hand aus und berührte die matte Oberfläche. Seine Aura sammelte sich und richtete sich auf die Kreatur, deren Aura ebenfalls
recht beachtlich war: zwischen 120 und 125, wobei der Unsicherheitsfaktor sich aus der durch den Schock bedingten Verzerrung ergab. Das steigerte nur noch das Rätsel, warum der Weew nicht im Transfer erschienen war. Da die Aura in einem fremden Wirt unaufhaltsam schwächer wurde, wenn auch nur sehr langsam, konnten nur Hoch-Kirlians ihre Körper über einen ausgedehnten Zeitraum hinweg verlassen. Jedoch lag die Intensität der Aura dieses Weew deutlich über der kritischen Grenze. Materietransmission von physischen Körpern über galaktische Entfernungen hinweg war so enorm teuer, daß sie überaus selten vorkam; einige Millionen molekülgroßer Nachrichtenkapseln konnten zum selben Preis auf die Reise geschickt werden. Hweeh hätte lieber einen anderen Heiler aufsuchen oder wenigstens warten sollen, bis Herald das Segment Weew hätte selbst besuchen können. Oder der Weew hätte auch in einen Wirt auf dem Planeten Keep transferen können, wie Herald es auch getan hatte. Der Transfer war eben doch die beste Art zu reisen. Sicher, der Wirt wäre sofort in Hweehs Schockzustand versunken, doch Herald hätte dies in einem örtlichen Wirt ebenso gut heilen können wie im Weew-Körper. Der Schock war für einen Weew nicht sonderlich gefährlich; er diente als natürlicher Verteidigungsmechanismus. Die Behandlung war nach einem längeren Zeitraum mindestens ebenso erfolgreich wie gleich nach dem Unfall, und oft erholten sich die Betroffenen blitzartig. Demnach mußte es im Segment Weew eine Entität geben, der außerordentlich viel daran gelegen war, daß diese Kreatur schnellstens wieder funktionierte – und das war eine
zusätzliche Warnung für ihn, vorsichtig zu Werke zu gehen. Herald nahm sein Honorar nicht für blind geleistete Dienste; er setzte sich zum Wohle seines jeweiligen Klienten ein. Wenn eine sofortige Genesung nicht in Hweehs Interesse lag, dann würde Herald diese Sache erst mal zurückschieben. Als Heralds überstarke Aura ihn einschloß und durchsetzte, verfärbte sich der Klumpen und wurde braun, dann rot, wobei er leicht zu leuchten begann. »Hörsinn«, murmelte Herald auf Clustrisch, der gemeinsamen Sprache der Zivilisationen im Cluster. Alle Denkenden mußten sie beherrschen, ehe sie sich in den interstellaren Handel stürzen oder sich um weitere Ausbildung bemühen konnten. »Klang. Klang. Klang. Klang.« Der Klumpen erbebte. Eine Projektion entwickelte sich, bildete sich zu einem Horn aus. »Klang«, antwortete es in derselben Sprache. Gut. Dies war also eine gebildete Kreatur, wie er vermutet hatte. Diener-Entitäten waren nur selten eine Materietransmission wert! »Dank«, sagte Herald. »Und jetzt visuell. Sicht. Sicht.« Der Weew-Körper bildete eine weitere Projektion. Ein Augapfel formte sich in einer Höhlung am Ende eines Arms. Er drehte sich, zwinkerte. »Sehr schön«, lobte Herald. »Ich bin Herald der Heiler und will Ihnen helfen. Fühlen Sie sich wohl, wo Sie sind, wohl?« »Ich bin Hweeh von Weew. Ich finde den Boden hart und starr und arm an Kalorien, außerdem mit Rissen durchsetzt.« »Es ist bearbeiteter Stein, ein schlechter Wärmeleiter. Wenn Sie Arme ausbilden, können Sie diesen Di-
wan ersteigen.« Hweeh streckte drei Glieder aus, hob seinen Körper hoch und ließ ihn auf die Couch sinken. »Viel besser«, stellte er fest und ließ die Gliedmaßen wieder in seinem Körper verschwinden. »Ich habe gehört, Sie seien im Schock«, sagte Herald. »Können Sie mir die Gelegenheit schildern, bei der sie dazu gebracht wurden, sich in sich selbst zurückzuziehen?« Der Augenstab schüttelte sich. »Ich kann mich nicht erinnern. Ist das denn wichtig?« »Das würde ich doch behaupten, da Ihre Sphäre ziemliche Bemühungen unternommen hat, Sie zu mir zu bringen.« »Vielleicht steht das in dem Schriftstück.« Hweeh wand sich, und aus seiner Masse tauchte ein Kügelchen auf. »Ja, hier ist eins. Wollen Sie es absorbieren?« »In diesem Wirt? Bitte verdauen Sie es für mich.« Die kleine Kugel versank wieder in der Körpermasse Hweehs. Herald wußte, daß die Kreatur es jetzt mit Hilfe von bestimmten Säuren auflöste und dabei die Bestandteile in sich aufnahm, die es enthielt. Die chemische Zusammensetzung dieser Mischung ergab einen raffinierten Weew-Code. Eine Botschaft konnte sehr kurz oder auch einen Tag lang sein. Einige andere Kreaturen im Cluster hatten es gelernt, diese CodeLösungen zu ›lesen‹, allerdings besaßen nur wenige Solarier diese besondere Fähigkeit. @ @ @ @, sagte Hweeh. »Ich kann die Weew-Sprache in diesem Wirt nicht verstehen«, sagte Herald. »Können Sie mir vielleicht eine Übersetzung ins Clustrische liefern? Sie braucht
nicht allzu genau zu sein.« »Verzeiht. Ich kann Ihnen ebensogut mit einer Stimmband-Übersetzung dienen, wenn Sie wünschen. Sie scheinen sich in einem Stimmbandwirt aufzuhalten.« Dann kannte der Weew also die Solarier! Er war wirklich gebildet! »Das wäre hervorragend, Hweeh.« »Ich verkünde die Nachricht«, intonierte Hweeh in annehmbarer solarischer Kommunikationsform. »Der Überbringer ist Hweeh vom Planeten Swees, Sphäre Rweer, Segment Weew, Milchstraße. Hweeh ist im Bereich der Forschungs-Astronomie tätig und auf Rand-Cluster-Erscheinungen spezialisiert. Er ist in dieser Disziplin der beste Könner des Segments. Er wurde im Schock inmitten seiner Geräte aufgefunden. Die letzten Worte in seinem ForschungsComputer lauteten: @ Die Raum-Amöbe ist... @« Hweehs Aura wallte aufgeregt, als er seine Lesung beendet hatte. Herald streckte eine Hand aus, um das pulsierende Fleisch des Weew zu berühren, doch es war zu spät; die Kreatur war soeben im zweiten Schock versunken. »Verdammt!« fluchte Herald auf Solarisch. »Das habe ich kommen sehen.« Das Horn und der Augapfel versanken wieder in der ergrauenden Masse. »Tut mir leid«, sagte Herald, obwohl er wußte, daß die Kreatur ihn nicht hören konnte. Aber was zählte, war die Heilkraft seiner Aura, die die Wunden linderte und das Fleisch entspannte. »Ruhe dich aus, schlafe, erhole dich, komme zu Kräften. Ich werde auf dich aufpassen.« Erst als Herald sicher sein konnte, daß Hweeh seine Ruhe gefunden hatte, nahm er seine Hand fort.
»Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte bedenken müssen, daß die Nachricht nicht für ihn bestimmt war.« Er schaute sich um. »Sie können jetzt wieder reden. Der Weew hat sein Ohr aufgelöst; er kann Sie nicht hören.« »Was ist eine Raum-Amöbe?« wollte Psyche sofort wissen. »Das muß ich erst feststellen. Ich denke doch, daß ich ihn vor Schlimmerem bewahrt habe. Ehe ich ihn jedoch wieder wecke, muß ich mir erst noch ein paar weitere Informationen besorgen. Gibt es in dieser Bibliothek auch Werke über Astronomie?« »Aber ja«, sagte Psyche eifrig. »Burg Kade verfügt über die beste und größte Bibliothek auf dem Planeten, ausgenommen natürlich die Archive des Königs.« Sie ging durch den Raum zur gegenüberliegenden Wand und berührte ein Buch. Sofort entstand in einer Lesekugel in einer Ecke des Raums ein Hologramm. Herald hatte es vorher gar nicht bemerkt oder auch begriffen, daß diese Bücher hologeschrieben waren; dann war diese örtliche Kultur doch nicht so rückständig, wie er anfangs angenommen hatte. Das Bild zeigte die Milchstraße in ihrer ganzen Pracht. Schnell dehnte sich das dreidimensionale Bild aus, wobei die äußeren Ränder der Galaxis aus dem Blickfeld wanderten. Die Sterne des Segments Etamin erschienen – der hellblaue Rigel, der rote Beteigeuze, die drei Juwelen des Orion-Gürtels, wo die berühmte Melodie von Mintaka gelebt hatte. Und natürlich Sador und Etamin selbst, der Kern des Segments. Sol war kaum zu erkennen, da es sich um einen verhältnismäßig schwachen Stern handelte, der jedoch ge-
schichtlich eine wichtige Rolle gespielt hatte. Sol glich eher einer erlöschenden Supernova. Flint von Außenwelt war Solarier gewesen, hatte die Namenlose überwältigt, die Slash ausgesandt hatte, um ihn auszuschalten, und hatte sie schließlich geheiratet, nachdem beide in den Hyaden gestorben waren. Flint hatte Etamin in den Cluster geholt und seiner Spezies zu einem Ruhm verholfen, der im großen und ganzen unverdient war. Retter der Milchstraße – als ob das zufällige Auftauchen technologischer Schätze der Ahnen überhaupt nichts bewirkt hätte! Danach hatten die Solarier und Polarier die Regierungen der Milchstraße infiltriert, und das vor allem nach dem Zweiten Energiekrieg. Es waren die nimmermüden Unterdrückungsmaßnahmen der Solarier, die von den unterworfenen Sphären der Galaxis Andromeda am empfindlichsten gespürt wurden. Das war der eine Grund, warum die Solarier zur Zielscheibe des bitteren andromedischen Humors geworden waren, der in der Feststellung gipfelte, daß alle Kreaturen von Sol grundsätzlich Barbaren waren, auch wenn diese Vorstellung seit ein- oder zweitausend Jahren überholt war. Aber dies sollte im Moment nicht seine Sorge sein. »Schauen Sie mal unter dem Begriff Raum-Amöbe nach«, bat Herald. Sie nahm an der Hauptkontrolle eine entsprechende Einstellung vor, und ein neues Bild formte sich in der Kugel. Die Stimme des Kommentators sagte: »Raum-Amöbe: eine Formation aus Rand-ClusterMaterie, über deren Natur und Eigenschaften nur Vermutungen angestellt werden können. Ausgehend von einem angenommenen Ursprungspunkt, hat sich
Staub im Laufe einiger Jahrzehnte ausgedehnt, um schließlich eine stellenweise undurchsichtige Wolke von etwa einhundert Lichtjahren – dreißig Parsec – Durchmesser zu bilden. Ungenauigkeiten in den Messungen haben die Vermutung proteinähnlicher Beschaffenheit nahegelegt, woher sich der Name ableitet; selbst die stattfindende Ausdehnung wird von einigen Fachleuten angezweifelt, da die Form nicht typisch ist für die Schalenbewegung einer Supernova. Lückenhafte radiospektographische Untersuchungen über ihre Zusammensetzung ergaben solide Teilchen sowie diffuse Gase. Die Formation ist einfach und erscheint nur in den jüngsten und gezielten Untersuchungen. Kein Nachweis über Nova-Aktivitäten in dieser Region. Weitere Daten müssen erst durch zusätzliche Forschungsunternehmungen gesammelt werden.« »Genau die Erscheinung, auf die ein guter Forschungs-Astronom sich stützen könnte«, bemerkte Psyche. »Rätselhaft genug ist das Ding ja.« Herald betrachtete das vage Abbild in der Kugel. Es war kaum mehr als ein Schmierfleck, scheinbar ein Schimmer nahezu unsichtbarer Galaxien im Hintergrund. Viel war nicht damit los, doch die Verstärkung seiner Substanz, die von einem Künstler vorgenommen worden war, indem er das Hologramm entsprechend retuschiert hatte, erweckte den Eindruck sich bewegender Linien, die vom Kern ausgingen und an das Pulsieren einer lebenden Zelle erinnerten. Also hatte man sie Raum-Amöbe genannt und ihr damit eine geheimnisvolle Aura geschaffen, die kaum von den Tatsachen gerechtfertigt wurde. »Wo ist sie?« fragte er.
Psyche schaute nach. »Nicht weit von Esse«, meldete sie. Esse! Doch er fing sich sofort. Seine ihm aufgezwungene Verlobte konnte unmöglich mit im Spiel sein. Er durfte es sich überdies auf keinen Fall leisten, persönliche Belange in seine Tätigkeit einfließen zu lassen. Er mußte die Gesetze der Astronomie begreifen, mußte sich mit ihren Forschungsmethoden auseinandersetzen. Was gab es in der Amöbe, das den Spezialisten hatte im Schock versinken lassen? Warum hielt Segment Weew es für so wichtig, daß Hweeh schnellstens geheilt wurde? Offensichtlich nahm man die ganze Angelegenheit dort sehr ernst. »Halten sich irgendwelche Entitäten von Weew zur Zeit hier auf Keep auf?« erkundigte Herald sich laut. »Ganz sicher, und zwar im Transfer«, entgegnete Wirbel. »Ich würde gerne mit einem Wissenschaftler von Weew oder mit irgendeinem anderen gelehrten Vertreter sprechen, wenn das arrangiert werden kann.« »Das kann arrangiert werden«, verkündete Psyche strahlend. Sie machte sich nützlich, und das gefiel ihr. Sie durchquerte den Raum, wobei ihre Lockenpracht wallte, als sie dahinschritt. An der menschlichen Gestalt war etwas Besonderes, vor allem wenn man die weiblichen Vertreter betrachtete, das einen ganz eigenen Reiz ausübte. Sie sprach in einen dekorativen Kommunikator, der aussah wie ein zweitausend Jahre altes solarisches Vidophon. »Anfrage an erfahrenen Wissenschaftler von Weew, von Herald dem Heiler, Burg Kade.« Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Dann
erschien die Gestalt eines sadorischen Denkenden auf dem Schirm. Sein Rad drehte sich. »Swees von Weew, im Transfer, Tätigkeit logistischer Mathematiker pensioniert. Spezialgebiet BhyoLiteratur präsphärischer Jahrhunderte. SegmentDoktorate in jedem Fach. Ist der Heiler bereit, mit mir zu reden?« Herald gab einen leisen menschlichen Pfiff von sich. Er hatte nach einem gebildeten und kundigen Weew gefragt, und dieser da war genau das, was er brauchte. »Ich bin dankbar, daß eine Entität von Ihrer Qualifikation den Ruf beantwortet hat. Gestatten Sie mir zu erklären, daß ich...« »Es ist allgemein bekannt, daß der berühmteste Heiler des Clusters unseren Planeten besucht, um eine angenommene Besessenheit der Herrin von Kade zu heilen, und daß er auch in heraldischen Definitionen Bescheid weiß.« Für einen Moment flackerte der Wappenschild der Familie Swees von Weew über den Schirm. »Es ist mir eine Ehre, Ihnen behilflich sein zu können ohne daß Sie es nötig haben, mir noch ausführliche Erklärungen für Ihre Unternehmungen geben zu müssen.« »Das ist sehr großzügig«, sagte Herald und schluckte den Ärger darüber herunter, daß die gesamte Öffentlichkeit von seinem Hiersein wußte. Niemals hätte er sich für eine solche Berühmtheit gehalten. »Dies hier betrifft nicht die Herrin von Kade, sondern einen Klienten aus Ihrem eigenen Segment. Könnten Sie mir vielleicht verraten, warum einer Ihrer Astronomen einfach in den Schock gehen kann, nur weil er während seiner Forschungen etwas Be-
stimmtes gesehen hat?« »Ach, dann ist Hweeh also schon dort.« »Auch darüber wissen Sie Bescheid?« fragte Herald verblüfft. »Er stammt von dem Planeten, nach dem ich benannt wurde, Swees, daher ist es nur natürlich, daß mich die Sache interessiert. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Nein, eine solche Entität würde kaum in dieser Weise geschockt. Hweeh ist unser bester Forschungs-Astronom, und man schreibt ihm eine Menge revolutionärer Erkenntnisse und richtungweisender Durchbrüche zu. Ich hatte Gelegenheit, einige seiner mathematischen Arbeiten der letzten Jahre einzusehen, und ich halte ihn für einen der fähigsten Gelehrten. Soweit ich weiß, ist er ein HochKirlian; vielleicht erklärt das seine Fähigkeiten.« »Wäre das der Fall, dann müßte ich ein Genius sein«, sagte Herald. »Aber leider bin ich es nicht. Ist es wahrscheinlich, daß Hweeh einfach nur durch den Begriff @ Raum-Amöbe @ so nachdrücklich geschockt wurde?« »Aha, Sie benutzen die Weew-Modulation! Dieser Begriff ist mir nicht vertraut – aber ich glaube kaum. Das einzige, was einen Forschungs-Astronomen derart schocken kann, wäre eine Entdeckung, die völlig abwegig wäre und eine Bedrohung für die gesamte Galaxis darstellte. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, daß es in diesem Bereich etwas Derartiges geben soll.« Eine galaktische Bedrohung... »Und wenn trotzdem eine solche Gefahr existiert, muß man sich doch fragen, warum er nicht sofort seine Segment-Regierung oder gar den Galaktischen Rat benachrichtigte, nicht
wahr?« Swees schwieg, und sein Rad drehte sich nachdenklich. »Das weiß ich wirklich nicht. Ich vermute, daß die Bedrohung derart akut und übermächtig war, daß sie nicht zu beseitigen war und es nichts gab, womit man sie hätte mildern können. Eine solche Erkenntnis würde wenigstens mich in den Schock treiben. Allerdings ist kaum davon auszugehen, daß er eine Gefahr entdeckt hat, die erst neu ist und nicht schon seit einigen Jahrhunderten existiert. Nein, viel eher glaube ich, daß sein Zustand irgendwelche persönlichen Gründe hat. Falls er monetäre oder romantische Probleme hatte...« »Warum setzte man im Segment alle Hebel in Bewegung, ihn schnellstens wieder einsatzfähig zu machen, indem man sogar die Kosten für eine Materietransmission aufbrachte?« Swees dachte wieder nach. »Ein interessantes Rätsel, auf das ich spontan keine Antwort weiß. Vielleicht existiert wirklich eine Gefahr, über deren Charakter nur er selbst uns Auskunft geben kann. Ist die Raum-Amöbe nicht zufällig ein lebendes Wesen? Vielleicht eine durch einen Virus hervorgerufene Mutation...« »Das bezweifle ich«, widersprach Herald. »Es handelt sich um eine diffuse Trümmer-und-GasFormation im Raum jenseits von Esse, die vor einigen Dekaden fotografiert wurde. Diese untersuchte er, als er in den Schock stürzte, und die reine Erwähnung dieser Erscheinung läßt ihn gleich wieder wegtreten.« »Dann halte ich es für geraten, schnellstens herauszufinden, was er weiß«, riet Swees. »Vielleicht ist es nur ein falscher Alarm, jedoch sollte ein Astronom
von seinem hervorragenden Ruf einschätzen können, was er sieht! Ich kann mir nicht vorstellen, welcher Art die Gefahr ist, die er entdeckt haben könnte, andererseits bin ich natürlich auch kein Spezialist auf diesem Gebiet. Vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig. Es wäre doch möglich, daß ich trotz meiner begrenzten Kenntnisse ebenso reagieren und in den Schock gehen würde. Soll ich mich wieder bei Ihnen melden, wenn ich zu wichtigen Schlüssen gelangt bin?« »Seien Sie bitte so nett«, bat Herald. »Ich lege sehr viel Wert auf Ihre Meinung. Ich werde übrigens für die Dauer eines hiesigen Monats hierbleiben.« »Es war mir ein Vergnügen.« Swees verblaßte. Herald sah Wirbel und Psyche an. »Bedingt durch die Umstände sind Sie Zeuge geworden, wie ich einen anderen Klienten behandelte. Ich möchte Sie bitten, mit niemandem darüber zu reden. Einstweilen braucht Hweeh strengste Ruhe, jedoch wird es in Kürze eine weitere Sitzung geben.« »Es ist faszinierend!« sagte Psyche. »Und zwar beides – das Geheimnis und auch die Art und Weise Ihrer Behandlung. Sie legen nicht einfach nur die Hände auf, sondern studieren Ihren Fall, wie ein Arzt es tun würde. Sie sind eine wahrhaft kompetente Entität. Ich denke, daß ich Ihrer Aufmerksamkeit gar nicht wert bin.« »Vielleicht weisen die beiden Fälle gewisse Parallelen auf«, meinte der Sadorer. »Oh, Sie denken, daß auch der Weew besessen ist?« fragte Psyche voller Interesse. »Soll der jetzt auch auf der Stelle verbrannt werden?« »Ihre Ironie tut mir weh, Lady, wie Sie es sicher be-
absichtigt haben«, sagte Wirbel ernst. »Nichtsdestoweniger entgegne ich: In den meisten Fällen ist eine Besessenheit für diesen Zustand verantwortlich.« »Er ist aber nicht besessen«, widersprach Herald. »Er hat einen ernsten Schock erlitten, und ich bin wirklich dankbar, daß sein Fall ausgerechnet bei mir gelandet ist. Die beiden Fälle weisen Parallelen auf, und zwar hinsichtlich des Geheimnisses, das beide umgibt, und in bezug auf die Vermutung Dritter, daß eine Bedrohung existiert, die sich in diesen Entitäten manifestiert.« »Ich habe Ihnen unrecht getan, Graf«, entschuldigte Psyche sich. »Ich bitte um Vergebung. Es gibt wirklich Ähnlichkeiten.« »Gewährt, verehrte Lady«, antwortete Wirbel. »Immerhin befinden wir alle uns in einer ziemlich unerfreulichen Lage.« Als er die Entschuldigung der Lady hörte, spürte Herald eine kurze, aber heftige Gefühlswallung. Er versuchte sie zu analysieren, doch sie verschwand schnell. Das Opfer einer möglichen Exekution hatte den Zeugen des Feindes für eine kurze Zeitspanne mit ausgesuchter Höflichkeit bedacht; das war ein makelloses Beispiel guter Manieren und hatte keine tiefere Bedeutung. »Sollen wir zum Herzog zurückkehren?« erkundigte er sich. Am Abend wurde Herald gemeinsam mit Wirbel in Psyches Gemächer gebracht. »Ich war so frei, ein zusätzliches Bett aufzustellen und das Bett meiner Tochter mit einem Vorhang abzusperren«, erklärte der Herzog seine neuesten Maßnahmen. »Der Zeuge, welcher nichtmenschlich ist,
mag sich einen Platz an der Tür suchen. Auf diese Weise ist gewährleistet, daß niemand unbemerkt hier eindringt oder von hier verschwindet, ohne Unruhe zu verursachen. Er mag auch meine Tochter so lange beobachten, wie er es wünscht, um sich zu vergewissern, daß es zu keiner Besessenheit kommt. Ist dieses Arrangement zufriedenstellend?« »Jawohl«, entgegnete Wirbel. »Sie wechseln sich in der Benutzung der sanitären Einrichtungen ab«, fuhr der Herzog fort. »Sie wurden modifiziert, so daß sie sowohl der Gestalt der Sadorer als auch den Solariern in ihrer eigenen Gestalt gerecht wurden. Die Diener werden sofort auf ein Signal hin – und nur dann! – erscheinen.« »Ich habe dagegen keinen Einwand«, sagte Herald. Kade marschierte nach draußen, wobei sein kaum gebändigter Zorn sich in seiner Gangart ausdrückte. »Ich bin wirklich froh, daß Sie hier sind«, gestand Psyche. »Es ist manchmal so einsam. Mutter redete wenigstens ab und zu mit mir – als sie noch meine Mutter war.« Herald fand die Schließenreihe an seinem Gewand und riß es auf. Psyche stieß einen spitzen Schrei aus und wandte schnell ihren Blick ab. »Oh, ich vergaß die Bekleidungsgewohnheiten der Solarier«, sagte Herald. »Vergebung. Die meisten Denkenden im Cluster, meine eigene Spezies eingeschlossen, besitzen keine dekorativen Gewänder.« »Solarier ändern ihr äußeres Erscheinungsbild für den Schlaf«, erklärte Wirbel. »Jedoch tun sie das normalerweise unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Dazu kann man auch die Sanitär-Kammer benutzen.« »Ich danke Ihnen«, erklärte Herald. »Ich bedaure
meine Ignoranz der nächtlichen Sitten und Gebräuche. Normalerweise halte ich mich niemals so lange in einem einzigen Wirt auf, und dann habe ich es unterlassen, in meinem Wirts-Gehirn nach den entsprechenden Informationen zu suchen. Darf ich jetzt den Raum benutzen?« »Es steht Ihnen frei«, erklärte Psyche und verbarg sich hinter dem Wandvorhang, obwohl sie völlig bekleidet blieb. Herald war entschlossen, die Angelegenheit auf eigene Faust zu regeln, anstatt sich aus dem Wissen seines Wirts zu bedienen. Er mußte sich sämtliche früheren Erfahrungen im Zusammenhang mit menschlichen Funktionen ins Gedächtnis rufen, um sich darüber klarzuwerden, wie er sich der sanitären Vorrichtungen bedienen sollte, doch recht schnell hatte er dabei Erfolg und tauchte im Pyjama und mit neuer Zuversicht wieder auf. Nach diesem Abenteuer wäre er noch besser, als Heiler noch begehrter. Psyche suchte scheu den Raum auf, und Herald verharrte, um dem Sadorer einige Frage zu stellen. »Die meisten Spezies entwickeln sich dank bestimmter Übungen weiter. Trifft das auch auf die Solarier zu?« »Es stimmt«, meldete sich der Zeuge. »Wenn menschliche Kreaturen sich auf eine Schlacht vorbereiten, machen sie bestimmte Übungen, und schon bald nimmt ihre Muskelkraft zu, und sie werden fähig, noch schlimmere Entbehrungen zu ertragen und sich weiter zu entwickeln.« »Und welche Fähigkeiten bedeuten für sie die wertvollsten.« »Die Fähigkeit, schnell zu laufen, zu Fuß große
Strecken zurückzulegen. Außerdem schwere Lasten zu tragen und fähig zu sein, mit den Händen hart und genau zuzuschlagen oder wenigstens mit Waffen, die von Händen gehalten und gelenkt werden.« »Sollte ich also in diesem Zimmer herumlaufen und schwere Gewichte schleppen, wird mein körperlicher Zustand sich erheblich verbessern«, folgerte Herald. »So habe ich es verstanden.« »Danke, Zeuge.« Herald hob einen massiven Sessel hoch und wanderte in einem Kreis durch den Raum. Schon bald schien der Sessel immer schwerer zu werden, und seine Füße stampften härter auf den Boden. Er pumpte mühevoll Luft in seine Lungen, ein Nebeneffekt, den er nicht erwartet hatte. Er setzte jedoch seine Übung fort. »Was hast du vor?« wollte sein Wirt von ihm wissen. / Ich steigere die Leistungsfähigkeit dieses Körpers /, entgegnete Herald. / Wenn ich schon zehn Tage drin bleiben muß, dann muß er wenigstens fit sein. / »O Bruder!« rief der Wirt aus. »Ein FitneßFanatiker!« / Hast du etwas dagegen? / »Eigentlich nicht. Irgendwie hatte ich mir immer mal wieder vorgenommen, ein wenig zu trainieren. Allerdings ist das nicht besonders angenehm, und wenn es dir nichts ausmacht, ziehe ich mich solange zurück.« Hieß: Der Wirt würde sein Bewußtsein von den Aktivitäten des Körpers trennen und nicht eher zurückkehren, als bis er eigens gerufen würde. Auf diese Weise brauchte er die Empfindungen nicht über
sich ergehen zu lassen, die Herald durch seine Aktivitäten schuf. Das war eine gute Idee. / Na schön, Wirt. Dann hau ab. Träum was Hübsches. / Und die Präsenz verblaßte. Das Wirts-Bewußtsein konnte sich nirgendwo anders zurückziehen als in den Schlaf, jedoch war der Effekt ähnlich dem einer Trennung. Nun begann Herald zu stolpern, als die Muskeln nicht mehr richtig arbeiten wollten. Dies war nicht die Schuld des ausgeschalteten Wirtsbewußtseins, sondern allein eine Folge der Erschöpfung. Seine Arme schickten Signale des Unbehagens, die an Schmerz grenzten, an sein menschliches Gehirn. Er geriet in Gefahr, gegen eine Wand zu laufen, und sein Atem rasselte vernehmlich durch Mund und Nase. Er wünschte, er könnte auch so einfach aussteigen. Allerdings hatte er schon damit gerechnet, daß solche Übungen nicht besonders leicht wären. Psyche erschien aus der Sanitär-Kammer, frisch und duftend und mit einem Nachthemd bekleidet. Es ähnelte ihrem Tagesgewand, war allerdings noch feiner, ließ sie irgendwie schlanker erscheinen, obwohl sie über sämtliche weiblichen Attribute verfügte, die sie, wie ihr Vater angedeutet hatte, durchaus mannbar machten. Ihr menschlicher Mund öffnete sich erschrocken, und der kleine Busen wogte heftig. »Herald! Was ist los?« Herald, der wieder eine Runde beendet hatte, bemühte sich zu antworten. Doch er verlor sein Gleichgewicht und krachte gegen eine Wand, wobei er den Sessel losließ. Psyche eilte ihm zu Hilfe. »Oh, Sie sind verletzt!« rief sie. Doch ihre Kraft reichte nicht aus, ihn zu stützen. Herald rutschte auf den Boden, atmete immer noch
zu heftig, um verständlich zu antworten, und sie wurde ebenfalls von ihm nach unten gezogen. Sie versuchte, ihren Arm zu befreien, riß ihm jedoch nur das Pyjamahemd auf. Sie beugte sich über ihn, wobei ihr Nachthemd nach vorne glitt und aufklaffte. »Wo tut es weh? Was kann ich tun?« rief sie besorgt. Die Schlafraumtür wurde aufgesprengt. Der Herzog von Kade stand mit gezücktem Schwert auf der Schwelle. Plötzlich begriff Herald, daß er in argen Schwierigkeiten war. »Und ich hatte schon angenommen, der Feind hätte wieder einmal einen Überfall versucht«, sagte Kade mit einem Ausdruck tiefster Abscheu. »Steh auf, Mistbock, damit ich dich durchbohren kann!« Doch der Sadorer schob sich dazwischen, wobei eines seiner Räder so schnell rotierte, daß es zu summen begann. Er war zwar nur halb so groß wie ein Mensch, jedoch war das Rad auf den Herzog gerichtet und sah richtig gefährlich aus. »Halt, Kade, wenn Sie nicht grundlos gegen die Konventionen verstoßen wollen!« Der Herzog hielt inne, doch sein Schwert sank nicht herab. »Graf, ich habe bisher noch nicht erlebt, daß Sie sich an einem Verrat beteiligen.« »Dann hören Sie die Wahrheit«, sagte Wirbel. »Herald trainierte seinen Wirtskörper und stürzte. Die Lady wollte ihn hochheben, konnte es aber nicht. Beide hatten nichts Übles und Unanständiges im Sinn.« »Und das soll ich glauben?« fragte Kade wütend. »Soll ich Ihren Körper dem Schänder hinterherschikken?« Schänder! Herald erkannte, daß es dem Herzog
ernst war, nachdem er seine Schlußfolgerungen gezogen hatte und er sich durch nichts umstimmen lassen würde. Was sollte er sagen, ehe er von dem Schwert durchbohrt würde? War das vielleicht der Schrecken, den Kleinbohr ihm prophezeit hatte? »Vater!« schrie Psyche und richtete sich endlich auf. »Würde der Zeuge lügen, dann hätte er sich nur zurückhalten und sich dir nicht entgegenzustellen brauchen. Dann würde ich verbrannt, und du hättest keine Hoffnung mehr.« Kades Augen weiteten sich und starrten sie an. »Du, mein Kind – du verbürgst dich für das Wort des Zeugen?« »Dafür braucht man sich nicht zu verbürgen«, meinte sie und bemühte sich um eine bemitleidenswerte, jedoch zugleich wirkungsvolle Unterwürfigkeit gegenüber ihrem Vater. »Dennoch bekräftige ich sie. Ich kann nicht zulassen, daß drei ehrenhafte Kreaturen meinetwegen bestraft werden. Niemand hat mich geschändet, niemand hat mir etwas angetan, niemand hat dich hintergangen, kein Verrat wurde geplant, geschweige denn vollzogen. Der Zeuge waltete ausschließlich seines Amtes und sagte die Wahrheit.« Immer noch stand Kade schweigend da, wobei die Spitze seines Schwertes Herald unerschütterlich bedrohte. »Sollte der Edle, der nicht an das Böse in seiner Frau glauben wollte, sich nun auch weigern, auf das Gute in seiner Tochter zu bauen?« wollte Wirbel wissen. Die Muskeln des Herzogs verkrampften sich, arbeiteten und begannen zu zittern. Sein Schwert vi-
brierte, als die finstere Wut plötzlich sein Gesicht verdüsterte. In diesem Augenblick war er wie ein Tier, den Körper angespannt zum Sprung, die Zähne gefletscht. Dann begriff er endlich, was der Sadorer gesagt hatte: Es war keine Beleidigung, sondern lediglich die Bitte um Vernunft. Herald wußte in diesem Moment: Was immer die Auflösung der einst so bedeutenden Sphäre Sador bewirkt hatte, es war ganz sicher nicht der Mangel an Mut oder Klugheit gewesen. Wirbel hatte mit Worten getroffen, und zwar viel genauer und tiefer, als es mit einer physischen Waffe möglich gewesen wäre. Abrupt stieß Kade sein Schwert in die Scheide. »Ich muß meiner Tochter glauben. Ich entschuldige mich bei Ihnen, Zeuge, und auch bei Ihnen, Heiler.« »Angenommen«, sagte der Graf von Dollar sofort, und sein Kampfrad blieb stehen. »Angenommen!« keuchte Herald. Nun konzentrierte der Herzog sich auf Herald. »Wenn Sie unbedingt trainieren wollen, dann werde ich Ihnen am Morgen entsprechende Übungen zeigen und Sie anleiten.« »Danke«, brachte Herald mühsam hervor und rappelte sich hoch. Doch der Herzog zog sich bereits wieder zurück. Er ließ sich nie zu ausführlichen Rechtfertigungen oder Erklärungen herab. Ohne weitere Vorkommnisse legten sie sich zur Ruhe, und alles war still. Ehe er jedoch einschlief, wälzte Herald einen Gedanken in seinem Bewußtsein herum. Warum hatte Wirbel, der Zeuge des Feindes, nicht einfach geschwiegen und zugelassen, daß der Herzog in seinem rasenden Zorn die Konventionen
der Gastfreundschaft brach und Herald tötete? Hätte das dem Feind nicht erheblich genutzt? Er konnte auf diese Frage nur eine einzige Antwort finden: Wirbel war eine grundauf ehrliche Entität, die an das glaubte, was sie sich ausgedacht hatte, nämlich, daß die Lady Kade tatsächlich besessen war und daß dies sich im Lauf der Zeit eindeutig erweisen würde. Wirbel wollte, daß die Wahrheit bekannt würde, ebenso wie der Herzog den Feind zufriedenstellen wollte. Beide waren ehrsame Entitäten. Keiner von beiden würde sich zu einem Betrug hinreißen lassen. Und das verschlimmerte das Dilemma, denn beide konnten unmöglich gleichzeitig recht haben.
4
Kind der Freude & Alles beendet? & X Forschungs-Einheiten melden keinerlei politischen Widerstand. Berechnungen ergaben, daß unsere Aktions-Einheiten sämtliche Denker-Kulturen innerhalb von drei Zeit-Zyklen vernichten können, ohne die Umwelt nachhaltig zu schädigen. X o Aktions-Einheiten halten sich bereit, um diese Frist einzuhalten. o & Vorher sollte der Zweck dieser Maßnahme überdacht werden. & X Warum? Dadurch würde unsere Mission nur unnötig verzögert. X o Wahrscheinlich würde sogar die gesamte Mission gefährdet. Je mehr Zeit wir dem Feind lassen, desto mehr Gelegenheit bekommt er, einen gezielten Widerstand zu organisieren. Immerhin gibt es im Cluster noch eine ganze Anzahl von Fundorten mit technologischen Artefakten der Ahnen, die wieder in Betrieb genommen werden können. Sollte dem Feind dies gelingen und er diese Technologie gegen uns zum Einsatz bringen können... o & Irrtum. Ihr habt die Bedingungen geschaffen, die ein sicheres Ende gewährleisten. Dort lauert eine potentielle Katastrophe. Begreift ihr nicht, warum? & X Gibt es etwa noch eine Falle, einen Haken, den wir nicht ausführlich genug überprüft haben und der den Ausgang unserer Aktion in Frage stellen könnte? X
o Wir haben verschiedentlich das militärische Potential des Feindes unterschätzt? Eine geheime Waffe vielleicht? o & Achtung! Es gibt einen solchen Haken, und es gibt auch einen Feind – beide befinden sich innerhalb unserer Formation. Ihr habt offensichtlich das eigentliche Ziel unserer Mission aus den Augen verloren. Es besteht nicht darin, fremde Spezies zu überwältigen oder sich neue Feinde zu machen oder die Technologie auf einen höheren Stand zu bringen; jene ClusterSpezies sind uns sehr ähnlich. Lediglich unser wissenschaftlicher Stand macht uns überlegen, allein unsere Macht. Wir werden uns im Cluster ausbreiten und es kontrollieren, weil wir eine Mission haben, die unsere persönlichen Belange und die anderer Spezies völlig außer acht läßt; wir erreichen unser Ziel, weil wir uns durch eine innere Stabilität und Zielrichtung auszeichnen, denen andere nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen haben. Diese Macht darf jedoch nicht mißbraucht werden, sonst vernichten wir das, um dessen Weiterentwicklung wir uns so angestrengt bemühen. Erinnert ihr euch noch, was das ist. & Xo Ja. Xo & Dann teilt es mit. & Xo Seelen-Weisheit. Xo & Deshalb müssen wir sämtliche seelenführenden Spezies identifizieren und beschützen. Da es sich hier um eine sehr subtile Eigenschaft handelt, die sich noch in einem empfindlichen Anfangsstadium befindet, müssen wir mit äußerster Vorsicht zu Werke gehen. Stellt euch nur vor, wir müßten erkennen, daß es sich bei einer der Myriaden von Spezies, die wir ausgelöscht haben, um die gesuchten Seelen-Weisen
handelt? & Xo Schrecken! Xo & Genau. Betrachtet noch einmal eure Daten und Funde und bestimmt jede Kultur nach ihren Möglichkeiten und ihrem Entwicklungspotential. Schenkt vor allen den Sub-Spezies wie den £ von der Sphäre Dash, Andromeda, besondere Beachtung; ihre enorme Körpermasse steht anderen Regierungsformen im Wege und leistet der Seelen-Weisheit Vorschub. Durchaus möglich, daß dieses Potential die Fehlfunktion am Fundort ausgelöst hat. Wenn ihr euch entschieden und hinreichend informiert habt, werden wir unsere Aktivitäten fortsetzen. & X Es wäre sicherlich besser, wir würden einige weitere Proben zwecks einer eingehenderen physikalischen Untersuchung aufnehmen. X & Nein. Allzu bereitwillige Materietransmission der Proben würde zuviel Energie verbrauchen und unser Sterilisations-Potential zu sehr schwächen. Nur wenn die Anzeichen auf einen Erfolg schließen lassen, werden wir physikalische Proben aufnehmen. & Am Morgen stellte Herald fest, daß seine Muskeln schmerzten. Er hatte sie überanstrengt und sich einige Blessuren zugezogen. Doch der Herzog bestand darauf, das Training fortzusetzen, und unterwies ihn in Übungen wie Hocksprüngen, Liegestützen, Klimmzügen und Auf-der-Stelle-laufen. »Dieses Übungsprogramm stärkt den ganzen Körper«, versicherte Kade ihm. Stärken? Am Ende fühlte Herald sich noch mieser als vorher. Allerdings wußte er jetzt, wie er üben konnte, ohne gegen eine Wand zu rennen oder das
Mädchen zu Fall zu bringen. Nach dem Frühstück – einer mindestens ebenso üppigen Mahlzeit wie am Abend mit gekochten Radvogeleiern, Scheibenkuchen aus Bodengetreide und süßem Sirup aus den Verdauungsorganen von bestimmten Insektenarten – versammelten Herald, Psyche und Wirbel sich in dem Raum, der Hweeh von Weew zugeteilt worden war. Dieser wurde mittlerweile ebenfalls wie ein Hausgast behandelt. Herald legte eine Hand auf die graue Masse. »Klang. Klang. Klang. Klang«, murmelte er und konzentrierte sich dabei. Dann, als das Ohr/Sprechhorn erschien: »Sicht. Sicht.« Als Hweeh wieder aufnahmebereit war, fuhr Herald fort: »Ich bin Herald der Heiler. Ich habe Ihnen bereits gestern einige Fragen gestellt. Wir wurden unterbrochen. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl.« Hweeh zitterte und untersuchte seine Umgebung. Er befand sich nun in einer großen hölzernen Schüssel, die der hilfsbereite Haushalt des Herzogs zur Verfügung gestellt hatte. »Ja, Heiler. Mir geht es gut.« »Ich bin hier, um Sie wegen eines Schocks zu behandeln. Sie sind der wichtigste ForschungsAstronom, und Ihr Segment möchte, daß Sie so bald wie möglich wieder Ihre Arbeit aufnehmen. Ich fürchte, man forderte zuviel von Ihnen, was schließlich zu einem Zusammenbruch geführt hat.« »Überhaupt nicht!« widersprach der Weew vehement. »Ich gehe in meiner Arbeit auf.« »Obwohl sie Sie von der Familie fernhält?« »Ich habe keine Familie. Nur meine Arbeit. Ohne meine Tabellen und Aufzeichnungen wäre mein Leben nichts mehr wert. Ich bin ganz wild darauf,
schnellstens wieder zurückzukehren.« Dann war diese Kreatur ihrer Arbeit also ebenso verschrieben wie Herald der seinen. Herald stellte fest, daß ihm der Weew immer sympathischer wurde. »Ich möchte ebenso, daß Sie schnellsten wieder die Heimreise antreten, Hweeh. Es reicht jedoch nicht aus, Sie lediglich aus dem Schock herauszuholen; wir müssen auch die Ursache finden und beseitigen, die dazu geführt hat. Es scheint so, als hätte irgendeines Ihrer Untersuchungsergebnisse Sie in den Schock gestürzt, und genau dies müssen wir ausmerzen, ehe Sie sich wieder Ihrer Arbeit widmen können.« »Nichts von den Ergebnissen meiner Forschungen könnte mich in den Schock stürzen! Was kann schon an Schrecken in Daten stecken, die bereits seit Dekaden, wenn nicht sogar Jahrhunderten aufgezeichnet und für jeden zugänglich sind?« »Ich war so frei, mich mit einer Entität aus Ihrem Segment, nämlich Swees von Weew, zu beraten. Es handelt sich um einen logistischen Mathematiker, der sich zur Ruhe gesetzt hat. Er war im großen und ganzen derselben Meinung wie ich.« »Ach ja, dieser Gelehrte wurde nach meinem Heimatplaneten benannt. Ich habe ihn einmal einige meiner Berechnungen überprüfen lassen. Ein hervorragender Geist! Ich müßte mit ihm mal wieder ein Schwätzchen halten.« »Dann sieht es also ganz danach aus, als stünden wir vor einem Rätsel, daß weder Ihre Art noch die meine lösen kann. Vielleicht haben Sie durch Ihr Teleskop etwas Unerwartetes beobachtet...« Hweeh schüttelte sich voller Abscheu. »Mein Herr, ich benutze kein Teleskop! Ich bin ein Forschungs-
Astronom. Ich wüßte noch nicht einmal, wie ich mit einem richtigen Teleskop umgehen sollte, um damit auf das Objekt meiner Neugier zu zielen. Und wie sollte ich mit diesem Ding schon etwas Neues entdecken? Die Bilder, die ich mir mit diesem Skop anschauen könnte, haben wahrscheinlich Millionen von Jahren gebraucht, um auf meine Sehorgane zu treffen. Meine Forschungs-Hologramme, die von Beobachtungs-Teams im gesamten Cluster regelmäßig angefertigt werden und eine ständige Aktualisierung durch Informationen aus dem Netz erfahren, erreichen mich in meiner Bibliothek per Materietransmission. Sie sind weitaus neuer und moderner als die, die man mit bloßem Auge sehen kann.« »Dann sind Sie also überzeugt, daß nichts, was Ihnen im Verlauf Ihrer Untersuchungen begegnet, Sie ernsthaft schocken könnte?« Hweeh wechselte kurz die Farbe. »Oh, so bindend würde ich das nicht behaupten! Würde ich zum Beispiel ein clustergroßes schwarzes Loch entdecken, dessen Ränder kaum ein Lichtjahr von der Milchstraße entfernt sind...« »In einem solchen Fall würden wir alle in den Schock gehen, ganz zu schweigen von einer schnell einsetzenden Auflösung jeglicher Ordnung und einem haltlosen Sturz ins Nichts!« sagte Herald. »Aber gibt es denn nicht etwas Geringeres als das...?« »Nun, sogar schon ein galaxisgroßes schwarzes Loch, oder auch noch ein segmentgroßes, wenn es nahe genug wäre...« »Ja, ich behaupte sogar, es wäre schon schlimm, wenn man sich in der Nähe des winzigsten, hübschesten schwarzen Lochs befände! In dieser Hinsicht
unterscheiden sich Ihre Empfindungen in nichts von denen anderer intelligenter Spezies. Dennoch sanken Sie in den Schock. Ist es wahrscheinlich, daß Sie eine entsprechende Gefahr entdeckten?« »Kaum! Schwarze Löcher bilden sich nicht so mir nichts dir nichts. Nur wenige natürliche Erscheinungen sind plötzlich da. Sind Sie überhaupt sicher, daß ich im Schock war? Ebensogut hätte ich auch meditieren können.« »Ich bin mir sicher, mein Herr«, erklärte Herald ernst. »Sie gestatten mir den geringsten, niedlichsten Zweifel?« Herald lächelte. Ein lebendiger Geist und nicht ohne Humor. Auf jeden Fall nicht paranoid oder verwirrt. Wirbel von Dollar meldete sich mit einem leisen Summen. Herald sah ihn an. »Was ist los, Zeuge?« »Ich will mich nicht einmischen, da es nicht zu meinen Pflichten gehört. Aber ich fühle mich an meinen früheren Einwand erinnert, daß es vielleicht gewisse Parallelen gibt, die Sie bei Ihren Überlegungen weiterführen könnten. Ich meine nicht die Besessenheit, sondern...« »Wer ist das?« erkundigte Hweeh sich. »Ich behandle Sie unter ganz speziellen Umständen«, erklärte Herald. »Es ist unausweichlich, daß ich mich in Gesellschaft zweier anderer Entitäten aufhalte. Ich bedaure diese Verletzung Ihrer Privatsphäre.« »Kein Einwand. Unglücklicherweise habe ich keine Geheimnisse.« Herald mußte wieder lächeln. »Dies ist Wirbel von
Sador, der Graf von Dollar. Er hält sich hier auf, um meine Aktivitäten auf dem Planeten Keep genauestens zu verfolgen. Im anderen Sessel sitzt Lady Psyche von Kade, eine andere Klientin. Sie werden Ihr Vertrauen rechtfertigen und nicht über ihre Beobachtungen reden.« »Welche Parallelen glaubt der Sadorer zu sehen?« »Sie können ihm selbst die Antwort geben, Zeuge«, forderte Herald die Kreatur auf. »In beiden Fallen ist der Betreffende sich der Manifestation nicht bewußt, oder er glaubt einfach nicht daran. Lady Kade will nicht anerkennen, was wir gegen sie vorbringen, und der Astronom von Weew weiß nicht, daß er in den Schock geht, wenn man...« »Halt!« warnte Herald. »... einen bestimmten Satz ausspricht«, schloß Wirbel nach einer kurzen Pause. Psyche verschluckte eine spitze Bemerkung. »Tue ich das?« erkundigte Hweeh sich interessiert. »Wie lautet dieser Satz?« »Wenn er ihn aussprechen würde, dann wären Sie gleich wieder weggetreten«, erklärte Psyche ihm. »Ist das in Ihrer Gegenwart bereits geschehen?« »Gestern«, antwortete sie. »Ich erinnere mich an gestern. Ich dachte, es wäre nur einen kurzen Moment her, und wunderte mich schon, wie es zu der Unterbrechung hatte kommen können. Und Sie leiden also auch unter dieser Krankheit?« »Sie sagen, ich sei besessen«, sagte Psyche. »Daß mich in unregelmäßigen Abständen eine fremde Aura besetzt. Deshalb ist der Heiler hergekommen.« »Ja, ich erkenne die Parallelen«, sagte Hweeh. »Ich
kann Ihre Zweifel verstehen, da das, was Sie da beschrieben haben, nicht dem Vorgang der Geiselnahme entspricht. Es kann nicht andauern, außer es befindet sich ein Transfer-Apparat in der Nähe. Darf ich Sie berühren, Lady?« Sie warf Herald einen fragenden Blick zu. Aufmerksam verfolgte er die sich entwickelnde Interaktion bei seinen Klienten. Sie schien keine Gefahr in sich zu bergen. Er nickte. »Natürlich«, sagte Psyche. Sie erhob sich graziös, ging zu dem Weew hinüber, streckte eine Hand aus und legte sie leicht auf die graue Masse. »Lady, Sie sind nicht besessen«, versicherte Hweeh ihr. »Meine Aura ist nur halb so stark wie die des Heilers, jedoch ist sie immer noch fünfmal so stark wie Ihre. Ich bezweifle sogar, daß Sie jemals von einer fremden Aura besetzt waren.« Herald schwieg zu dieser Bestätigung seiner früheren Diagnose. Es brauchte eine Entität mit einer hochintensiven Aura, um eine solche Feststellung treffen zu können. Und in diesem Fall war ein Irrtum so gut wie unmöglich. Der Zeuge sollte sich das mal hinter seine Räder schreiben! Doch Wirbel ließ sich nicht beirren und rollte vor. »Darf ich Sie beide nacheinander berühren?« »Sicher doch. Ja.« Die Antworten Hweehs und Psyches kamen wie aus einem Mund. Der Sadorer streckte ein Rad aus, um den Weew zuerst zu testen. »Sie haben eine sehr starke Aura, weitaus intensiver als meine.« Dann berührte er Psyche. »Ihre ist jedoch schwächer als meine. Ich gebe zu, daß es im Augenblick kein Anzeichen für eine Besessenheit gibt, und bedaure zugleich, daß meine aura-
len Kenntnisse nicht ausreichen, etwas über frühere Zustände auszusagen. Meine Überzeugung und der Verdacht derer, deren Interessen ich vertrete, beruhen auf anderen Kriterien. Ich bleibe bei meiner Auffassung.« »Es ist schade, daß Besessenheit nicht genauso überprüft werden kann wie die Schock-Phase«, sagte Hweeh. »Es gibt noch sehr viel, was wir über beides herausfinden müssen. Darf ich mit der Lady beraten?« »Wenn die Lady einverstanden ist«, sagte Herald. »Ich gestehe, daß ich in beiden Fallen wieder von vorne anfangen muß. Wenn Sie beide nicht der Meinung sind, daß Ihre Privatsphäre unnötigerweise verletzt wird, können Sie reden, worüber Sie wollen. Es wird Ihnen sicher nicht schaden.« Psyche brachte ihren Stuhl herüber und setzte sich neben Hweeh, wobei sie wieder eine Hand auf seine graue Körpermasse legte. »Das ist sehr interessant«, meinte sie. »Ich hatte schon seit zwei Jahren nicht mehr soviel Abwechslung und habe mich auch so lange nicht mehr so wohl gefühlt wie jetzt. Außerdem habe ich noch nie einen Weew persönlich kennengelernt.« »Ich habe mich wohl zu sehr mit meiner Arbeit beschäftigt«, erwiderte Hweeh. »Ich hatte völlig vergessen, wie angenehm die Berührung einer unschuldigen jungen Entität sein kann. Erzählen Sie mir von sich, und wenn es Ihnen recht ist, dann fügen Sie auch einen eindeutigen Hinweis auf die Aussage hinzu, die mich schon ein zweites Mal hat in den Schock gehen lassen. Durchaus möglich, daß wir uns gegenseitig helfen.«
Herald blickte Wirbel an und bemerkte das Glitzern der Windflügel des Kommunikationsrades, die auf ihn gerichtet waren. Würde das Gespräch der beiden Patienten zu einem befriedigenden Ergebnis führen? »Viel ist da nicht zu erzählen«, erwiderte Psyche. »Ich habe den Planeten Keep bisher noch nie verlassen, und da meine Mutter auch schon sehr frühzeitig für mich unerreichbar geworden war, habe ich auch Burg Kade nur sehr selten von außen gesehen. Der größte Teil meiner Erfahrungen beruht auf Phantasie. Das beginnt schon bei meinem Namen, der soviel heißt wie ›Seele‹ – doch ich glaube, so etwas ist für einen Astronomen kaum von Interesse.« »Im Gegenteil, Lady. Ihr Name steht in einer sehr engen Verbindung zu meinem Gewerbe und verrät mir sehr viel über Sie.« Ihre Augen weiteren sich in gerissen-naiver Unschuld. »Wirklich? Wie das denn?« »Die moderne Astronomie beschäftigt sich mit dem Studium und der Theorie von der Gestalt des Weltraums«, sagte Hweeh. Erneut blickte Herald zu Wirbel und sah das zustimmende Funkeln des Kommunikationsrads. Der Weew hatte den Begriff ›Weltraum‹ benutzt, ohne daß dies eine unangenehme Wirkung auf ihn gehabt hatte. »Die ForschungsAstronomie steht jedoch auf einer breiteren Basis. Sie beschäftigt sich auch mit den Reaktionen denkender Entitäten auf die Vorstellungen vom Raum, wie sie im Lauf der Geschichte immer wieder neu formuliert wurden. Daher interessiert mich die Mythologie des Raums nicht weniger als zum Beispiel die Geologie.« »Die Geologie des Weltraums!« sagte Psyche. »Eine
hübsche Idee.« »Ja, stimmt; auch darin liegt ein Teil der Faszination meiner Arbeit«, bestätigte Hweeh. »Jedoch ist die Mythologie nicht weniger bedeutsam, denn sie gewährt einen Einblick in die Entstehung bestimmter Vorstellungen, also in die Begriffswelt vieler Kreaturen. Ihre Rasse zum Beispiel, die Solarier, arbeiten mit einem reichhaltigen astronomischen Symbolismus. So sah man in Ihrer prähistorischen Geschichte in den helleren Sternen Manifestationen göttlicher Entitäten, also von Göttern und Göttinnen, die als Helden lebten und als Helden starben. Einer Ihrer Planeten des Sol-Systems, die Venus, erschien den Primitiven Ihrer Rasse als heller Stern und wurde auch als Göttin der Schönheit verehrt. Eines ihrer Kinder war Cupido, der Gott der Liebe, und Cupido heiratete Psyche, ein sterbliches Mädchen, die Ihnen sehr ähnlich gewesen sein muß. Sie mögen daran erkennen, daß ich Sie aus meinen Studien bereits kenne.« »Ich soll Cupido heiraten?« fragte sie erstaunt. »Den Gott der Liebe?« »Ihre Namensvetterin hat es immerhin getan. Für Sie wird es wahrscheinlich ein besonders liebenswerter Mann sein. Allerdings war die Liebe zwischen Cupido und Psyche nicht ungetrübt.« »Oh, erzählen Sie!« rief sie aufgeregt und klatschte wie ein kleines Kind in die Hände. »Mit Vergnügen. Selten nur finde ich ein so geduldiges Auditorium für Besonderheiten meines Spezialgebiets. Psyche war die Tochter eines Königs und so bezaubernd und schön, daß sie sogar die Venus überstrahlte. Dies machte Venus eifersüchtig, denn die Gefühle der Götter waren denen ihrer Schöpfe nur zu
ähnlich. Sie sandte ihren Sohn Cupido aus, Psyche den Pfeil der Liebe in die Brust zu schießen und sie dazu zu bringen, die übelste und häßlichste Kreatur zu lieben, die man sich vorstellen konnte. Dies war die Strafe der Göttin für ein Mädchen, das sich nichts anderes hatte zuschulden kommen lassen, als überaus hübsch zu sein. Als Cupido jedoch sein Opfer sah, war es fast so, als wäre er selbst von einem seiner Pfeile getroffen worden, und er entbrannte in heftiger Liebe zu dem Mädchen. Psyches sterbliche Familie hatte von alldem überhaupt keine Ahnung. Doch aus einem unerfindlichen Grund kam kein junger Mann, um die Tochter zu umwerben und zur Frau zu nehmen. Als der König schließlich ein Orakel befragte und wissen wollte, wen seine Tochter denn heiraten sollte, erfuhr er...« »Den Sproß von Skot?« fragte Psyche mit einem listigen Augenzwinkern. Hweeh konzentrierte sich jedoch ausschließlich auf seinen Bericht und ließ sich durch nichts ablenken. »Er bekam den Befehl, ihr Trauerkleidung anzulegen und sie auf einen Berg zu bringen, wo eine geflügelte Schlange sie zur Braut nehmen würde. In tiefer Trauer befolgte der König den Befehl. Psyche wurde jedoch von dem Berg hinunter in ein wunderschönes Tal gebracht, in dem ein prächtiger Palast stand. Dort kümmerten sich unsichtbare Diener um all ihre Bedürfnisse. Als sie jedoch bei Anbruch der Nacht ihr Brautgemach aufsuchte, war es stockdunkel, und sie konnte ihren Ehemann überhaupt nicht sehen. Jedenfalls fühlte er sich nicht an wie eine geflügelte Schlange – auf keinen Fall –, doch als er gegen Morgen verschwand, hatte sie keinen Beweis und konnte
sich nicht vollkommen sicher sein.« »Aber es war Cupido!« sagte Psyche. »Kein Drachen, kein Monster, keine Amöbe, sondern der Gott der Liebe!« »Ja«, gab Hweeh ihr recht. »Es – sie – @ @ @ @ ...« Er wurde schlaff. Herald sprang wie von einem Katapult abgeschossen auf die Holzschüssel zu, um seine Aura ins Spiel zu bringen, ehe der Weew wegtrat, er kam jedoch zu spät. »Ich habe nur getan, worum ich gebeten wurde – und schon ging er wieder in den Schock«, sagte Psyche, wobei sie die Finger einer Hand auf ihren Mund legte. »Es tut mir leid.« »Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht«, versicherte Herald ihr. »Sie haben uns völlig überrascht. Ich habe gar nicht begriffen, was Sie sagten, bis er reagierte. Nun wissen wir wenigstens, daß das einzelne Wort ›Amöbe‹ der Auslöser ist. Das ist ja immerhin etwas.« »Aber wird er einen Schaden davontragen?« »Nein, sein jetziger Zustand bedeutet für uns nur eine Verzögerung. Ich denke, dies war unausweichlich. Und außerdem erfahren wir auf diese Weise eine ganze Menge. Sein Geist ist soweit in Ordnung; nur dieses eine Wort übt einen derart starken Einfluß auf ihn aus. Wenn er erwacht, dann hat er diesen Begriff verdrängt, aus seinem Bewußtsein entfernt, bis eine direkte Erwähnung ihn wieder in den Schock stürzen läßt. Ein hochspezialisiertes Handicap.« »Was bedeutet das?« wollte Psyche wissen. »Ich wünschte, ich wüßte es.« Herald gestand seine Ratlosigkeit ein. »Es fällt schwer, sich von der Ah-
nung freizumachen, daß uns allen eine tödliche Gefahr in Gestalt der Raum-Amöbe droht. Dennoch klingt das einfach zu phantastisch, als daß man so etwas ernsthaft glauben könnte.« »Ich liebe solche Geheimnisse!« sagte Psyche. »Ich wünschte, in Burg Kade gäbe es ein Gespenst oder so etwas.« »Die Burg hat eins«, warf Wirbel ein. Achselzuckend ging sie darüber hinweg. »Ich hoffe, ich bekomme irgendwann das Ende dieser Geschichte über meinen Namen zu hören.« »Sie können Sie auch in einem Ihrer Archive nachschlagen«, machte Herald sie aufmerksam. »Eine exzellente Bibliothek wie diese bietet doch sicherlich die verschiedensten Möglichkeiten, sich...« »Nein, das wäre nicht fair. Schließlich ist es seine Geschichte.« Herald akzeptierte achselzuckend diesen mädchenhaften Trotz. Sie verließen den Raum. Am Nachmittag nahm der Herzog sie auf eine Jagd mit. »Eines der Tiere spielt verrückt«, erklärte er. »Es hat die Ländereien meines Vasallen, des Barons von Magnet, verwüstet und einige seiner Bediensteten getötet. Es obliegt mir, mein Einflußgebiet von dieser Bedrohung zu befreien. Ich warne Sie, sich nicht an den Kampfhandlungen zu beteiligen, denn die Bestie verfügt über eine Transfer-Aura und ist äußerst gefährlich.« Einer der Gefangenen von Keep, begriff Herald, und daher ein Tier mit intelligenter Raffinesse und verbrecherischen Absichten. Genau die richtige Abwechslung, die ihm in dieser Langeweile ein richtiges
Abenteuer bescherte! Wahrscheinlich reizte eine solche Beute alle Edlen des Planeten, da sie sich dadurch in ihren Positionen bestätigt sahen. Wenn es nämlich irgendwann keine derartigen Krisen mehr gab, dann brauchte auch niemand mehr das Feudalsystem mit seiner Kriegerklasse. Sie bestiegen ihre Reittiere. Die oberen Räder der Sadorpferde waren zu Spitzen mit Löchern für die menschlichen Beine geformt, während der äußere Ring dazu diente, den Oberkörper aufrecht zu halten, und Platz für Handgriffe bot. Psyche sah in ihrer Reitkleidung sehr edel aus. Sie trug eine rote Jacke und weiße enge Hosen. Ihre Beine zeigten sich schlank und wohlgeformt unter dem Sattelrad. Herald begann zu begreifen, wie viel ein einfaches Gewand in Wirklichkeit verbergen konnte. Die Haare hatte sie sich zu etwas zurückgebunden, das man Pferdeschwanz nannte und die Linien ihres Gesichts und ihres Kopfes unterstrich. Sie sah aus wie eine der mythischen Prinzessinnen: bezaubernd. Wirbel von Dollar wurde von seinen eigenen Richtungsrädern im runden Sattel gehalten und schien dabei recht sicher zu sitzen. Auf den ersten Blick wirkte der Anblick einer sechsrädrigen Kreatur, die ihrerseits auf einer anderen sechsrädrigen Kreatur hockte, recht seltsam, aber Herald gewöhnte sich schnell daran. Es war letztlich auch nicht komischer als ein Vierfüßer auf einem anderen Vierfüßer, wie er es auf dem Planeten Erde oft hatte sehen können. Der Herzog und seine Leute trugen Lanzen – lange Stangen mit Schutzhauben am hinteren Ende, um die Hände vor Verletzungen zu bewahren, und scharfen Spitzen am vorderen Ende. Überdies hatten sie Schil-
de und trugen leichte Rüstungen und Helme. Es war eine wahrhaft mittelalterliche Prozession mitsamt adliger Pracht und lautem Fanfarengetöse. Es gab sogar einen Diener, der in regelmäßigen Zeitabständen auf einem Horn tutete. Jeder Schild trug natürlich seine heraldische Darstellung, und dies ermöglichte Herald, die Teilnehmer an dieser Expedition auf Anhieb zu erkennen, und zwar weitaus besser und genauer als an ihren Gesichtern oder Gestalten. Die Vielzahl der galaktischen Kontakte hatte dafür gesorgt, daß eine Vielzahl von heraldischen Zeichen offiziell anerkannt wurde, so daß selbst die niedersten Diener der Burg Kade voller Stolz die Wappenbilder fernster Planeten trugen. Sie bestiegen eine Fähre und überquerten den See. Das Boot war unförmig und schwerfällig, dafür trug es jedoch die gesamte Gesellschaft von zwanzig berittenen Reitern. Wasserreptilien schwammen heran, begleiteten die Fähre: mächtige, lange, mit scharfen Zähnen bewehrte unheimliche Wesen. Der Herzog bemerkte Heralds Interesse. »Wir halten im Donny-See die schönsten und kräftigsten solarischen Alligatoren, damit der See nicht durchwatet oder durchschwommen werden kann.« »Sie haben Reptilien aus der Sphäre Sol importiert?« Welch ein Aufwand! Allein die Kosten... »Ein paar Reptilieneier wurden von unseren Vorfahren vor tausend Jahren mit einem Gefrierschiff hergebracht. Wir haben auf die Eier aufgepaßt und etwas daraus gemacht.« Der Herzog blickte über das Wasser und zählte die auf- und zuklappenden Mäuler. »Sind sie nicht schön?«
»Hmm«, meinte Herald schwach. Jetzt wußte er auch, warum niemand in dem herrlichen See schwamm. Das Antriebssystem der Fähre war ziemlich kompliziert und anfällig, gleichzeitig aber auch praktisch. Ein Dutzend großer sadorischer Tiere saß in Geschirren auf Bänken an den Rumpfseiten und hatte Paddel an ihren Rädern befestigt. Sie glichen darin einer Vielzahl von Rotationsmotoren und trieben das Schiff kräftig an. Die Paddel waren so konstruiert, daß die Raubreptilien nicht an die rudernden Tiere heranreichen konnten. Die Gesellschaft stieg an der nördlichen Landestelle aus, wo die Nordstraße sich durch den tiefen Wald nach Westen zu den anderen Burgen von Keep schlängelte. Eine Nebenstraße wand sich jedoch nach Süden, folgte dem westlichen Ufer des Sees und hielt auf den Damm zu. Sie benutzten diese Abzweigung und rollten auf dem mit gestampftem Lehm befestigten Weg dahin. Die Räder der Pferde transportierten sie mit höherem Tempo und größerer Ausdauer, als Denkerkörper entwickeln konnten, und Herald klammerte sich krampfhaft an sein Sattelrad. Der Reisewind peitschte seine menschlichen Haare und brachte sie in Unordnung; Psyches Pferdeschwanz behielt jedoch sein glattes, ordentliches Aussehen. Die Szenerie bot nach dem einen Tag in der Burg einen erfrischenden Anblick. Die Bäume von Keep waren sadorisch. Man hatte sie wahrscheinlich vor einigen tausend Jahren ausgesät, als die Sphäre Sador diesen Planeten zum erstenmal kolonisierte. Es waren monströse Fässer, deren Räder ohne System in alle
Richtungen ragten und deren flache Speichen so angeordnet waren, daß sie das Sonnenlicht einfingen. Im gleichen Maße, wie die Schatten wanderten, drehten die Räder sich mit, um immer die optimale Position zur Sonne zu behalten. Die niedere Vegetation war jedoch sehr unterschiedlich. Da waren Felder voller solähnlichen Grases, welches wahrscheinlich importiert worden war, um der Bodenerosion vorzubeugen und das Getreide hervorzubringen, das die Solarier so gerne mochten. Es war dies in vieler Hinsicht ein Planet der Kompromisse: Sador und Sol. Wenn er einmal genügend Zeit hätte, würde Herald sich die Aufzeichnungen über die örtliche Geschichte anschauen und herauszufinden versuchen, wie es zu dieser Konstellation gekommen war. Es muß mindestens zwei terraformende Operationen gegeben haben, die auf verschiedene sadorformende Stadien folgten, da fremde Vegetationsarten normalerweise nicht wie selbstverständlich in fremder Erde bei fremden Mikroben und unter fremdem Licht gediehen, welches insgesamt die örtliche Umwelt darstellten. Es gab auch Tiere. Kleine, mit Rädern ausgestattete Dinger huschten von der Straße und versteckten sich im Gras, und in der Ferne grasten Viehherden, schnitten mit ihren Bodenrädern tiefe Furchen durch das Gras und saugten lose Halme auf. Ihre oberen Räder benutzten sie dazu, Fliegen zu verscheuchen. Natürlich begleiteten die Fliegen das Vieh, wohin es gerade wanderte, und es gab mindestens ebenso viele verschiedene Fliegenarten, wie es andere Tierarten gab. Einige Fliegen bewegten sich mit Flügeln vorwärts, andere hatten Düsen, und wieder andere hal-
fen sich mit dem Magnetismus – auf jeden Fall waren sie alle schrecklich störend. Herald erinnerte sich nicht gerade mit einem Gefühl des Heimwehs an die Laserfliegen seiner Heimatwelt in der Sphäre Slash. Und dann waren da auch noch Vögel, die mit Hilfe ihrer Heli-Räder durch die Luft flogen und sich an den Fliegen gütlich taten. Ganz gleich, wie vermischt und artenreich, die Ökologie befand sich ständig im Gleichgewicht. Nachdem sie den Donnysee fast ganz umrundet hatten, verließen sie die Straße und stiegen über einen steilen Geröllhang zur westlichen Bergkette empor. Herald klammerte sich mit beiden Händen an den Sattelring, als sein Körper vor und zurück geschleudert wurde; die Neigung des Hangs war so stark, daß er jeden Moment damit rechnete, mitsamt seinem Reittier rücklings abzustürzen. Die anderen Mitglieder der Gesellschaft schienen sich deshalb jedoch keine Sorgen zu machen. Außerdem wußte er, daß die Radwesen einen überaus hochentwickelten Gleichgewichtssinn hatten, was ihn davon abhielt, einen Warnruf auszustoßen. Immer höher hinauf führte sie ihre Wanderung. Endlich ließ die Neigung nach, der Pfad senkte sich, und Herald blickte zurück. Dort unten in der Mitte des Sees stand Burg Kade, ein malerischer Anblick mit ihren Türmen und Erkern und Brustwehren und mit der Fahne von Kade, die auf dem höchsten Turm an ihrem Mast flatterte. Mit Schaudern blickte er jedoch auf den schmalen steilen Pfad, der sich zum Ufer hinunterschlängelte. Sie folgten dem Grat. Es war kalt hier oben, und eine scharfe Brise umwehte Herald und ließ ihn aus
mehr als einem Grund frösteln. Er hatte in seinem bisherigen Leben eigentlich nie besonders viel Zeit in hochgelegenen Gebieten verbracht; Vertreter seiner Rasse, der Slash, bewegten sich auf Scheiben abwärts, und ein Abhang konnte sich da als tödlich erweisen. Hier fiel der Pfad zu beiden Seiten steil ab, und die Faßbäume standen dicht gedrängt. Eigentlich bestand an dieser Stelle überhaupt nicht die Gefahr eines langen Sturzes, da jede Kreatur, die den Halt verlor, schon nach einem kurzen Stück zwischen den Bäumen gebremst würde, was jedoch die Situation nicht weniger beängstigend erscheinen ließ. Psyche drängte sich an ihm vorbei. Auf dem Pfad hatten nicht mehr als zwei Pferde nebeneinander Platz. »Das ist der Gratweg«, erklärte sie, wobei ihr heller Haarschwanz erst nach links, dann nach rechts wippte, als wollte er sich losreißen. »Unser Vieh benutzt ihn oft auf dem Weg zur Hochweide.« »Oh«, sagte Herald im menschlichen Idiom und beließ es dabei. Er bemerkte, wie der Wind ihr die Jacke gegen den Körper preßte und sich ihre beiden jungen Brüste darunter reizvoll abzeichneten. In seinem natürlichen Körper wäre Herald eine solche Einzelheit niemals aufgefallen. Im Transfer wurden die Standards des Wirts im großen und ganzen zu Standards des Transferers, wobei dies sich im Lauf der Zeit noch verstärkte. Als ein Slash hätte er bei einer Weiblichen vorwiegend auf besonders genaue Laser und saubere Scheiben geachtet, als Mensch jedoch, nun, Psyche war etwas ganz Besonderes, trotz ihrer Jugend. Oder vielleicht auch gerade deshalb. Die Blüte solarischer Weiblicher schien über eine gewisse Grenze hinaus nicht anzudauern, so daß sie bei Errei-
chen des mittleren Alters sehr viel von ihrem sexuellen Reiz verloren. Die älteren Weiblichen in der Burg Kade lieferten dafür eindeutig den Beweis; sie hatten wenig an sich, was einen Mann hätte in irgendeiner Weise reizen können. Ein Mädchen wie Psyche jedoch... Nach einiger Zeit erweiterte sich der Pfad zur Hochweide, einem freien Hang, auf dem ein breiter Streifen hochhalmigen solarischen Grases und vielfarbiger Blumen wuchs. Jenseits davon stand eine kleine Burg: die Residenz des Barons von Magnet. Die Gesellschaft näherte sich diesem Bauwerk und wurde vor seinen Mauern von einer mittelgroßen Jagdgruppe erwartet. Ein Pferd löste sich aus der Gruppe und rollte hinauf. In seinem Sattel hockte eine Kreatur, die dafür wie geschaffen schien: eine metallische Kugel, deren Wappen direkt auf ihre Oberfläche aufgemalt war. Eine Entität aus der Sphäre Magnet, deren denkfähige Vertreter im Zweiten Energiekrieg zu Ruhm und Ehre gelangt waren. Sie bewegte sich und agierte unter Anwendung magnetischer Anziehungs- und Abstoßungskräfte. Da Keep kein besonders metallbezogener Planet war, wäre der Baron praktisch hilflos gewesen, falls er aus dem Sattel stürzte. Jedoch waren die Vertreter seiner Art gewöhnlich sehr zäh und kampferprobt und ließen sich nicht so leicht aus der Fassung bringen. Überdies hatte er seine Helfer, die ihm zur Seite standen. »Seien Sie gegrüßt, mein Lehensherr«, sagte der Baron mittels einer Sprechanlage in seinem Sattel. Natürlich waren seine magnetischen Kommunikationsfelder und -schwingungen für das menschliche Ohr nicht hörbar.
»Seien Sie gegrüßt, Baron«, erwiderte der Herzog. »Lernen Sie meine Begleitung kennen: die Lady Kade, meine Tochter«, – Psyche nickte höflich –, »Herald der Heiler von Andromeda« –, auch Herald produzierte ein Nicken –, »der Graf von Dollar.« Der Baron hob sich für einen Augenblick aus dem Sattel. Eine Metallkugel schlüpfte aus einer Tasche im Sattel und begann einen bedrohlichen Orbit um den Magneten. »Ist Dollar etwa Ihr neuer Verbündeter?« Wirbel versetzte sein Kommunikationsrad in Drehung. »Erschrecken Sie nicht, Magnet! Desaktivieren Sie Ihre Waffe. Ich bin der Zeuge des Feindes und soll nur die Lady beobachten.« Magnet setzte sich wieder. Die kleine Kugel verschwand wieder in ihrem Futteral. »Ach ja, natürlich.« Er schien darüber erleichtert zu sein, daß Dollar weiterhin auf der feindlichen Seite stand. »Wenn Sie uns zu dem Punkt bringen, wo das Monster zuletzt gesehen wurde, werden wir es schnell vernichtet haben«, versprach der Herzog. »Bitte folgen Sie mir, Lehensherr«, bat der Baron und ritt los. Sehr bald schon verließen sie den gepflasterten Weg und durchquerten die Landschaft. Die hohen Gräser peitschten die Räder der Pferde. Herald empfand das sirrende Geräusch in seinen menschlichen Ohren als angenehm, obwohl ab und zu dichte Pollenwolken hochwirbelten, ihn in der Nase kitzelten und seine Kleidung mit Farbklecksen verunzierten. Nun bewegten sie sich wieder bergauf, und die Pferde hatten große Mühe beim Steigen. Wenn ein Satz Räder müde wurde, drehten die Pferde sich um eine Vierteldrehung ihrer Position und bewegten dabei
das obere Sattelrad nur soweit, daß der Reiter weiterhin in Reitrichtung blickte. Die Pferde bewegten sich auf ihren Rädern erstaunlich sicher, stießen nirgendwo an und gerieten auch nicht ins Rutschen, obwohl diese Kletterpartie in freier Natur notwendigerweise langsamer und mühevoller vonstatten ging als der Aufstieg auf der breiten Rollstraße. Abrupt blieben sie stehen. »Hier hat die Bestie mein Vieh angefallen und eine Kuh verschlungen«, erklärte der Baron. »Da sind noch die Achsen und Räder der Beute, und dort ist die Spur des Angreifers.« Sie umgingen die Stelle in einem weiten Bogen. Das hohe Gras war niedergetreten bis auf den Boden, und sie sahen einen Haufen Tierräder mit dunklen Flekken darauf, das an eingetrocknetes Blut erinnerte. Sadorische Eingeweidefetzen waren zwischen den Speichen der Räder zu erkennen. Weitere Beweise brauchte die Grausamkeit des Todes wirklich nicht. Breite, tiefe Radspuren führten in die Berge und verschwanden im Wald. Deutlichere Hinweise konnte es gar nicht geben! »Kette bilden! Flanken sichern!« befahl Kade, und die menschlichen und die sadorischen Reiter wichen auseinander und bildeten eine lange Kette. »Lanzen bereithalten!« Und die langen Stangen, die bisher zum Himmel gezeigt hatten, sanken nach unten und wiesen nun parallel zum Untergrund nach vorn. »Schwerter bereithalten!« Und die Solarier lockerten die Klingen in den Scheiden, während die Sadorer ihre Vorderräder kurz rotieren ließen, um zu zeigen, daß ihre scharfen Speichen einsatzbereit waren. »Bis zum Anbruch der Nacht sollten wir es ge-
schafft haben«, sagte Kade. »Und jetzt los!« Die Gesellschaft setzte sich in Bewegung und folgte der deutlichen Spur. Vögel erhoben sich, aufgeschreckt durch die Unruhe, in die Luft. Sie schillerten in allen Farben. Es gab sogar Arten, deren Räder sich farblich voneinander unterschieden, und sie flatterten hektisch hin und her. Mit ihren sechs Rädern bewiesen sie eine hervorragende Körperbeherrschung. Copterkäfer näherten sich, wurden jedoch durch scharfe Luftstöße aus den Ruherädern der Pferde wieder verscheucht. Diese Tiere waren wirklich überaus vielseitig. Kaum hatte der anfängliche Reiz dieser Jagd nachgelassen, da empfand Herald die ganze Affäre als langweilig. Umgeben von dreißig bewaffneten Bediensteten, schien es für sie keine echte Gefahr zu geben, und als Zerstreuung wurde dieses Abenteuer doch mehr und mehr belanglos und fade. An dieser Jagd war nichts Sportliches, trotz der Unwägbarkeiten; das flüchtige Raubtier würde wohl mit ziemlicher Sicherheit zur Strecke gebracht und niedergemetzelt. Herald gestattete seinem Reittier zurückzufallen, und Psyche und Wirbel machten es genauso, während der Herzog und der Baron mit ihrer Truppe weiterhin eilig vordrangen. Sie schienen an der Jagd wirklich ihren Spaß zu haben. Nach einiger Zeit waren sie nicht mehr zu sehen. Es war überhaupt nicht schlimm, denn inmitten der überdeutlichen Radspuren der Jagdgesellschaft bestand nicht die geringste Gefahr, sich zu verirren, und überdies würden die Jäger auf diesem Weg wieder zurückkehren. »Empfinden Sie so etwas wirklich als spannend?«
wollte Herald von Psyche wissen. »Es ist langweilig«, gestand sie. »Es gehört jedoch zu den Pflichten der Edlen, derart gefährliche Tiere auszuschalten. Wir werden von angeschlossenen Welten dafür bezahlt, daß wir hier die Ordnung aufrechterhalten. Und dann müssen wir außerdem diejenigen zusammentreiben, deren Strafe beendet ist und die sich nicht zum Re-Transfer einfinden. Jedoch bin ich keine Jägerin; viel lieber wäre ich zurückgeblieben und hätte mich mit Hweeh unterhalten. Ich überlege die ganze Zeit, was es mit dieser Amöbe auf sich haben mag.« »Ich hoffe, das bald herauszufinden«, sagte Herald. »Vielleicht wenn wir rechtzeitig in die Burg zurückkommen...« Dicht hinter ihnen brach plötzlich ein ohrenbetäubendes Gebrüll los. Die Pferde bäumten sich erschrocken auf – und alle drei Reiter wurden von dem Lärm wie vom Blitz getroffen und nahezu gleichzeitig aus den Sätteln geschleudert. Herald vollführte in der Luft eine Drehung und landete ziemlich hart auf seinem Hinterteil. Glücklicherweise war der Untergrund an dieser Stelle ziemlich weich, fast wie ein Schwamm, und er tat sich nicht sehr weh. Psyche landete elegant auf den Füßen neben ihm, als wäre dies ihre übliche Art, von ihrem Pferd zu steigen; Wirbel drehte sich zweimal um die eigene Achse, ehe er sich fing und das Gleichgewicht wiederfand. Die drei Pferde waren verschwunden und rasten mit höchstem Tempo in wilder Panik den Hang hinauf. Von dort war keine Hilfe mehr zu erwarten. Der Untergrund explodierte geradezu. Eine Dreckwolke flog hoch, und es erschien – ein Monster.
Das Ding war riesig und erschien wie ein Klotz mit dornigen Greifern und hervorragenden Zähnen an den Seitenrädern. Zweifellos würde diese Bestie innerhalb kürzester Zeit eine Menge Vernichtung um sich verbreiten. Herald besaß weder Schwert noch Schild; diese hingen am Sattel seines mittlerweile verschwundenen Pferdes. Psyche hatte beides, allerdings war sie ein hilfloses, schwaches Mädchen. Wirbel... »Hinter den Baum dort drüben!« rief Wirbel und schob sich zwischen sie und das Ungeheuer. »Ich lenke die Bestie ab!« »Nein, tu's nicht!« kreischte Psyche. »Nur ein berittener Krieger mit einer Lanze kann es damit aufnehmen!« Sie rannte auf den Baum zu, und Herald folgte ihr. Der Graf jedoch hielt seine Stellung, wobei sein Kampfrad sich rasend schnell drehte. Herald erinnerte sich daran, wie diese Kreatur sich gegen den wütenden Herzog hatte behaupten können, und wußte in diesem Moment, daß der Sadorer nicht weichen würde. Den mächtigen Rädern des Monsters entgegenzutreten, war jedoch reiner Selbstmord. Herald drehte um und eilte Wirbel zu Hilfe, obwohl er keine Waffe hatte. »Narr! Auf den Baum mit Ihnen!« brüllte Wirbel. »Lange kann ich die Bestie nicht aufhalten!« »Deshalb bin ich ja hier!« erwiderte Herald. »Sie verschwinden jetzt; ich werde schon irgendwie mit dem Monstrum fertig.« Doch in diesem Moment tauchte Psyche neben ihnen auf. »Ihr beide seid genauso wie mein Vater!« schrie sie. »Ihr weicht vor nichts zurück, selbst wenn
ihr dabei draufgeht! Muß ich denn euer Leben mit meinem beschützen, ebenso wie ich eure Ehre mit der meinen bewahrt habe?« »Da hat sie nicht unrecht«, sagte Herald. »Keiner von uns kann den Kampf aufnehmen – und zwar nicht allein und auch nicht gemeinsam mit den anderen. Aber wenn wir uns trennen und fliehen...« »Das Ungeheuer wird sich einen von uns aussuchen und ihn umbringen«, meinte Wirbel. »Ich hab' keine Ahnung, warum es im Augenblick zögert.« Völlig unerwartet antwortete das Monstrum selbst auf die Frage, und zwar in Clustrisch. »Wer von euch hat die Aura?« fragte es, wobei die Radstimme kaum zu verstehen war. »Derjenige gehört mir!« Da begriff Herald. »Dies war offensichtlich ein Denkender mit starker Aura. Diese hat im Lauf der Zeit abgenommen und nahezu Tierstärke erreicht, daher denkt die Bestie, sie könnte die Aura wiederherstellen, indem sie mich verschlingt! Meine Aura hat das Tier aus dem Versteck gelockt!« »Es hätte sich in Sicherheit bringen und der Jagd entgehen können, wenn es in seinem Versteck geblieben wäre«, sagte Psyche. »Die Jagdgesellschaft ist einfach darüber hinweggezogen, und desgleichen auch wir, ohne die geringste Ahnung zu haben! Wirklich ein raffiniertes Tier!« »Deshalb muß es vernichtet werden!« forderte Wirbel. »Wenn das Monstrum hinter meiner Aura her ist, dann verläßt es diese Gegend erst, wenn ich mich entferne«, sagte Herald. »Und ich laufe auf den Baum zu. Ihr beide wendet euch in die andere Richtung, Euch wird die Bestie nicht folgen.«
»Genau«, bestätigte das Monster und kroch auf Herald zu. Psyche trat vor, ihr leichtes Schwert in der Rechten, den Schmuckschild mit der Linken stolz erhoben. »Sie wird das Ungeheuer niemals bekommen!« schrie Psyche, holte mit dem Schwert aus und stach zu. Das Monster duckte sich, schob sich näher, wobei das todbringende Rad sich immer schneller drehte. Eine Speiche prallte gegen Psyches Schwert und riß dem Mädchen die Klinge aus der Hand. Das verbogene Schwert flog in hohem Bogen durch die Luft, während das Mädchen ihre geprellte Hand mit einem erstickten Schmerzenslaut schüttelte und massierte. Herald stürzte vor, schlang beide Arme um ihre schlanke Taille und schleuderte sie halb hinter sich. »Verschwindet von hier!« dröhnte seine Stimme. Das Monstrum griff an, als Herald noch um sein Gleichgewicht rang. Und plötzlich wurde ihm ein weiterer Punkt der Verwandtschaft bewußt: Das Monster war wie ein Slash, also ein Angehöriger seiner eigenen Rasse! Ein Slash war eine röhrenförmige Kreatur mit Scheiben in der Gürtelebene, mit denen sie Pfade schnitt, Nahrung zerkleinerte und Feinde verstümmelte. Sie verfügte sogar für den Fernbereich über Laserlinsen. In seinem natürlichen Körper hätte Herald es mit dieser Kreatur in jeder Hinsicht aufnehmen können, wahrscheinlich sogar mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg. Ein Slash war kleiner, jedoch konnten die Laser mit ihrer verheerenden Wirkung ihr Ziel finden, ehe die Scheiben zuschlugen. Allerdings war der solarische Wirt als Kampfkreatur ein schlechter Witz. Diese Gedanken schossen ihm etwa mit der glei-
chen Geschwindigkeit durch den Kopf, wie seine menschlichen Beine die Richtung fanden und ihn verzweifelt von dem Monstrum forttrugen. Eine Lükke klaffte zwischen ihm und seinem Verfolger. Dies geschah jedoch nur vorübergehend; das Monster war stärker, und seine Räder verliehen ihm einen weitaus vehementeren Vorwärtstrieb. Viel zu schnell schloß sich die Lücke wieder. Wirbel kam quer herübergeschossen, um der Bestie den Weg zu versperren. Seine kleinen Seitenräder wirbelten Grasbüschel und Erdreich auf. »Weg von hier!« brüllte Herald im gleichen Ton, mit dem er auch Psyche verscheucht hatte. »Passen Sie auf die Lady auf! Ich komme schon allein zurecht!« Er brauchte keinen weiteren Beweis für die Tapferkeit des kleinen Grafen. Wenn er auch ein Feind war, so nahm er die ihm gestellte Aufgabe doch sehr ernst und war sogar bereit, sein Leben für die hinzugeben, die man seiner Obhut anvertraut hatte. Es war dies ein weiteres Beispiel für die Art von Ehrenhaftigkeit, aus der die Heraldik entstanden war, die Herald jedoch nur sehr selten so direkt angetroffen hatte. Sie gefiel ihm gut, jedoch hielt er es gleichzeitig für sehr töricht, wenn in ihrem Namen unnötig getötet und gestorben wurde. »Ja, ich muß mich um die Lady kümmern«, stimmte Wirbel zu. »Vergeben Sie mir, fremder Exorzist, daß ich Sie Ihrem Schicksal überlassen muß.« In diesen Worten lag nicht ein Hauch von Ironie. Herald mußte sich jedoch voll und ganz auf die Bestie konzentrieren. Er wußte, wie er dem Ungeheuer beikommen konnte, indem er sich nämlich auf seine Slash-Reflexe verließ, dennoch war es keine leichte
Aufgabe. Das sadorische Monster war mindestens so groß wie er selbst und um einiges massiger; sein mit einer Klinge versehenes Vorderrad war beinahe so breit, wie der Körper lang war. Allerdings verhinderten diese Ausmaße auch ein schnelles Manövrieren, und hinzu kam, daß man Räder viel einfacher und schneller austricksen konnte als Beine. Bei einem Wettrennen geradeaus würde er dem Monstrum sicherlich nicht entkommen können, also blieb ihm als einzige Möglichkeit die Nahdistanz und seine Wendigkeit – vielleicht. Er spürte den scharfen Luftzug des Vorderrades seines Feindes, das einen Sog verursachte, als wollte er ihn damit bremsen. Eine raffinierte Art, seine Beute einzufangen, mußte er zugeben: Das Rad riß den Verfolger vorwärts, während es gleichzeitig das fliehende Tier behinderte. Wenn der Sog die Beute auch nicht von den Füßen riß, so konnte es wenigstens seine Flucht verlangsamen. Derartige, scheinbar geringfügige Eigenschaften konnten letztendlich zwischen Erfolg oder Mißerfolg entscheiden. Wie nahe würde er das Ungeheuer wohl an sich herankommen lassen können? Herald ließ alle Berechnungen fahren, als er spürte, wie die Haare seines Wirtskörpers vom Luftzug durcheinandergewirbelt wurden. Er streckte das rechte Bein aus, täuschte einen Sprung nach vorne vor und schnellte sich nach links ab. Er drehte sich, als er stürzte, und das Monster rollte genau über die Stelle, wo er sich soeben noch befunden hatte. Das massige Seitenrad wühlte dicht neben seinen Füßen knirschend durchs Erdreich. Die angewinkelten Klingenspeichen waren mit
Lichtrezeptoren versehen, die sofort seinen neuen Standort aufspürten. Das Ungeheuer drehte sich nicht; ähnlich wie die Pferde senkte es die Vorderund Hinterräder ab und hob gleichzeitig die Seitenräder. Nun konnte die Bestie Heralds Verfolgung wieder aufnehmen; die Richtungsänderung war die Sache eines winzigen Augenblicks gewesen. Für diesen kurzen Moment jedoch hatte das Monster stehenbleiben müssen; es konnte die Räder nicht in voller Fahrt wechseln. Es mußte erst ganz abbremsen, dann seine ungeheure Masse wieder in Bewegung setzen und auf Geschwindigkeit bringen. Heralds Körper hingegen startete schneller aus dem Stand. Während Herald über seine Taktik nachdachte, rollte er sich weiter. Anders als der Slash-Körper mußte der solarische Körper erst eine vertikale Position einnehmen, ehe er beschleunigen konnte. Herald brachte die Füße unter sich und schnellte im rechten Winkel zur neuen Fahrtrichtung des Ungeheuers auf einen Baum zu. »Clever!« brüllte die Bestie, als sie erneut die Richtung änderte. Mochte die Transfer-Aura auch in ihrer Intensität abgenommen haben, so war doch immerhin noch ihre Intelligenz übriggeblieben. Noch einmal würde das Ungeheuer auf diesen Trick nicht hereinfallen! Herald konnte nur hoffen, daß er den Baum noch rechtzeitig erreichte. Er sah, daß Psyche bereits dort war und sich in die oberen Räder hinaufhangelte. Wirbel hatte es auch beinahe geschafft. Heralds schwächlicher Wirtskörper ermüdete jedoch schnell, wie er es bereits während der Übungsstunden bemerkt hatte. Wäre doch der Wirt nur fit
genug gewesen, sich selbst ein Trainingsprogramm zusammenzustellen! Ein kräftiger menschlicher Körper hätte leicht eine entsprechende Geschwindigkeit entwickeln können, während dieser jetzt schon zu keuchen und ächzen begann. Einige weitere Tage Training hätten dem wahrscheinlich vorbeugen können. Nun jedoch holte das Ungeheuer wieder auf. Herald war sich darüber klar, daß er sich jetzt auf sein Gehirn verlassen mußte, allerdings fiel ihm das in dieser prekären Situation überaus schwer. Wenn es ihm gelänge, die Bestie noch einmal zum Anhalten und zur Richtungsänderung zu bringen, müßte es eigentlich reichen. Aber konnte man sich darauf verlassen? Er rannte gerade durch einen aufgewühlten Teil des Kampfplatzes, wo ein flacher Erdwall die Räder der Jagdgesellschaft auf die Glasfläche abgelenkt hatte. Heralds Füße rutschten aus und ließen ihn kurz in die Knie sinken. Wertvolle Zeit ging verloren! Vielleicht aber stolperte auch das Monstrum über dieses Hindernis! Herald kletterte auf den soliden Wall hinauf, wandte sich um und blickte seinem Verfolger entgegen. Nun bewies die Bestie ihre Raffinesse und Intelligenz. Sorgfältig rollte sie um die Erdgrube herum und näherte sich Herald von der Seite. Herald wollte wieder auf den Baum zusteuern – aber da stolperte sein erschöpfter Körper, und er stürzte, lang, wie er war, zu Boden. Damit war seine letzte Chance vertan, den Baum doch noch zu erreichen. Die Bestie hatte ihn regelrecht von seiner Zuflucht abgeschnitten und befand sich auf festem, sicherem Grund – und außerdem
stand sie nicht wegen Überanstrengung vor dem endgültigen Zusammenbruch. Herald nahm den einzigen Weg, der sich ihm anbot: Er rollte sich wieder ins Erdloch zurück. Das Monster, überzeugt, daß seine Beute immer noch den Baum als nächstes Ziel vor Augen hatte, mußte anhalten und sich neu orientieren. Allerdings saß die Beute jetzt in der Falle, und das wußte der Verfolger genau. Er hielt an, um seinen Sieg auszukosten. »Winde dich, Opfer!« summte das Ungeheuer. »Gleich fresse ich deine Aura!« Das war das einzige, wovor Herald keine Angst haben mußte. Mit der Kraft seiner Aura, seinem Können und seiner Erfahrung mit ihrem Gebrauch hätte er keine Schwierigkeiten, die schwächere Aura des Ungeheuers zu vernichten. Allerdings würde er unter den Rädern des Untiers den physischen Tod finden, ehe er seine Aura einsetzen konnte. Und es war eben diese physische Vernichtung, der er um jeden Preis entgegen mußte. »Renne, Wild, wehr dich!« dröhnte das Monster. »Ich werde dich fangen und auffressen und mich wieder verstecken, und dann habe ich wieder eine starke Aura, und niemand wird mich finden, bis ich auftauche und die Herrschaft an mich reiße!« »Da sind aber immer noch zwei Zeugen«, wandte Herald ein. »Dort drüben im Baum. Sie werden dein Versteck verraten, und die Jäger werden dir den Garaus machen.« Das Monster ließ das Vorderrad als Zeichen unbändiger Wut rotieren. »Die werde ich auch umbringen!« »Du kommst aber nicht an sie heran«, meinte He-
rald. Das Reden fiel ihm nun leichter, da sein Körper sich ausruhte und erholte. Das war bestens; je länger er die Bestie in eine Unterhaltung verwickelte, desto mehr stiegen seine Chancen. »Immer eins nach dem anderen«, sagte die Bestie. »Wenn es sein muß, suche ich mir eben ein anderes Versteck.« Und das war natürlich die einzige logische Antwort; niemand zwang das Ungeheuer, dort zu bleiben. Es schob sich um das Erdloch. Herald wich zurück und sorgte dafür, daß die aufgewühlte Erde zwischen ihnen blieb. »Wer bist du eigentlich, daß du Clustrisch sprichst?« »Ich bin König Cäsar aus dem System Capella, Sphäre Sol«, antwortete das Monstrum stolz. »Mein Thron wurde von meinem Günstling Antonius übernommen, und ich wurde nach hier ins Exil geschickt. Mit deiner Aura werde ich jedoch von den Toten auferstehen. Dann werden die Köpfe der Verräter rollen, und die Abwasserkanäle werden vom Blut derer überfließen, die die Usurpatoren unterstützt haben. Dann wird wieder das Recht des Stärkeren gelten!« Irgend etwas regte sich in Heralds SlashGedächtnis. »Du nennst dich Cäsar?« erkundigte er sich. »Sogar in der Galaxis Andromeda hat man schon vom Schlächter von Capella gehört, der wahllos mordete und Intelligente zu seinem Vergnügen folterte, bis selbst dieses rauhe und brutale System ihn ausspuckte...« Das Königs-Monster schnellte sich mit erstaunlichem Tempo vorwärts. Dreckklumpen flogen, und die dornigen Räder drehten kurzzeitig durch, als die Bestie das Erdloch übersprang. Von der Aktion seines Gegners vollkommen über-
rumpelt – wann wurde er endlich schlau und behielt die Augen offen? –, reagierte Heralds Wirtskörper augenblicklich. Er tauchte zur Seite weg, mit dem Kopf zuerst und die Füße hoch in der Luft. Er vollführte im weichen Erdreich eine Vorwärtsrolle, landete auf dem Rücken, während Cäsar dicht an ihm vorbeisprang. Weitere Gedanken schossen ihm durchs Hirn, während sein Körper sich sammelte. Es hatte auch mal in der Geschichte einen Cäsar gegeben, der vor zweitausend Jahren im prä-sphärischen Zeitalter auf der Erde regiert hatte. Eine gnadenlose, aber sehr intelligente und fähige Entität, die das mächtige neolithische oder Eisenzeit-Königreich von Rom geleitet hatte und von der es hieß, sie hätte sich mit jedem, männlich oder weiblich, bereitwillig gepaart – welch ein Vorbild! Herald setzte sich auf, nahm zwei Hände voll Dreck und schleuderte sie auf das Monster in der Hoffnung, ihm die Achsen zu verkleben. Es war eine eher hilflose Geste. Cäsars Wirt war eine Kreatur der Wildnis, kam mit den Beschränkungen und Gefahren seines Lebensraums bestens zurecht und konnte sich sogar ins Erdreich eingraben, wie sie ja bereits hatten feststellen können. Nur wenn der Untergrund des Rasenteppichs beraubt wurde, verringerte sich seine Fortbewegungsgeschwindigkeit etwas. Herald wartete nicht. Er kämpfte sich auf die Füße und rannte mit frischer Kraft auf den rettenden Baum zu. Cäsars Räder schleuderten wahre Dreckwolken hoch, als sie sich durch das Loch wühlten, doch das Ungeheuer schien es nicht mehr so eilig zu haben. Als die Bestie endlich wieder festen Boden unter den Rädern hatte, hatte Herald schon den halben Weg bis
zum Baum zurückgelegt. Als er ihn erreichte, keuchte er schon wieder, und Cäsar war ihm dicht auf den Fersen, dafür hatte Herald nun endlich etwas, das er als Barriere benutzen konnte. Er huschte um den dicken Stamm herum – und das sadorische Tier konnte keine so enge Kehrtwendung vollziehen oder ihm den Weg abschneiden. »Klettere!« kreischte Psyche. Herald sprang, reckte die Arme hoch und erwischte den Rand eines Astrades und kletterte mit den Beinen am Stamm hoch, bis er ein Bein um eine Speiche legen konnte. Das war wenigstens eine Disziplin, in der der menschliche Wirt seinem sadorischen Körper überlegen war! Er zog sich ganz hinauf, gelangte auf das Rad, während Cäsar unten hin und her rollte. Endlich in Sicherheit! Aber befand er sich wirklich in Sicherheit? Das Monster attackierte nun den Baum. Cäsar legte seinen mächtigen Wirtskörper zurück, senkte das hintere Rad und setzte seine Seitenräder ein, um das Vorderrad hochzurecken. Das untere Freß-Rad stützte sich ebenfalls auf den Boden, während das obere Vielzweck-Rad weggeklappt wurde. Das erhobene Vorderrad drehte sich nun weitaus schneller als vorher, als es mit dem Boden Kontakt hatte. Die scharfen Dornen funkelten. Das Rad stand mit seiner Achse nahezu senkrecht zum Untergrund. Allmählich senkten sich die rotierenden Dornen in den Baumstamm. Borkenstücke flogen davon, als der Kontakt erfolgte. Das Rad diente nun als runde Säge und schnitt ins Holz. Aufgeschreckt blickte Herald nach unten. Würde Cäsar es schaffen? Der Stamm war sehr dick; es wür-
de lange dauern, um ihn zu durchschneiden, wahrscheinlich einige Stunden. Bis dahin wäre längst die Jagdgesellschaft wieder da und würde sie befreien. War Cäsars Versuch dann nicht vergeblich? Das sägende Geräusch veränderte sich. Flüssigkeit spritzte aus dem Stamm und ergoß sich über das Monster. Und Herald begriff, daß der Stamm hohl war, mit Wasser gefüllt, und eine verhältnismäßig dünne Wandung hatte. Diese zu durchtrennen, würde wirklich nicht sehr lange dauern! »Ich fürchte, dies ist das Ende«, meinte Psyche und schien dabei eher traurig als ängstlich zu sein. Sie hatte ihren Wappenschild nicht mehr; sie mußte ihn wohl beiseite geworfen haben, um auf den Baum klettern zu können. »Ich hatte erwartet, daß wir im Feuer umkommen, jedoch scheint das hier nicht viel anders zu sein.« Herald näherte sich ihr so dicht wie möglich und legte einen Arm um ihre schmalen Schultern. »Bald kehren doch die Jäger zurück«, versuchte er sie zu trösten. »Die werden mit der Bestie schon fertig werden.« »Nein«, widersprach sie, und ihr elfengleiches Gesicht wendete sich ihm zu. Ihre Augen erschienen noch größer als vorher und strahlten in einem tiefen Orange. »Nein, Herald, ich spüre es, irgendwie weiß ich es sogar: Wir müssen uns selbst um unsere Rettung kümmern, sonst sind wir verloren.« Herald fühlte, wie sich die Kraft ihrer Überzeugung auf ihre Aura übertrug. Berechtigt oder unberechtigt – sie glaubte daran. Ebenso wie Kleinbohr von Metamorph an ihre Vision geglaubt hatte. Und auch er mußte nun glauben.
Psyches Gesicht war dem seinen nahe. Er neigte ihr seinen Kopf entgegen. Ihre Lippen berührten sich in einem flüchtigen Kuß. Er spürte das Zucken ihrer Aura und die Beschleunigung ihres Pulsschlags, als sie sich berührten, und wich sofort zurück. Dies entwickelte sich zu etwas anderem als nur zu einer Geste des Trostes, und er kannte sich in den fremden Sitten und Gebräuchen gut genug aus, um sofort den Kurs des Geschehens zu ändern. Bald schon würde er diesen Planeten und diese Galaxis hinter sich lassen, und es gab keinen ernstzunehmenden Grund für ihn, sich mit dieser jungen Weiblichen einzulassen – vorausgesetzt, sie alle überlebten die derzeitig drohende Gefahr. »Es muß doch noch andere Möglichkeiten geben«, sagte er. »Was würde das Monster denn aufhalten?« »Wir müssen sein Rad blockieren!« schlug Psyche vor, als sie nach unten sah. Ihr Gesicht war nun von einem sehr blassen Blau, und in den Mundwinkeln zeichneten sich Linien der inneren Anspannung ab. Herald kam es so vor, als würde der Baum schon jetzt zusammenschrumpfen, nachdem er seine Flüssigkeit nahezu vollständig verloren hatte. Herald konnte nur hoffen, daß er sich das lediglich einbildete. »Baumspeichen«, meldete Wirbel sich zu Wort. Wie der sadorische Intelligente auf den Baum gelangt war, blieb allen ein Rätsel; an sich war es mehr als selten, daß mit Rädern versehene Kreaturen in Bäumen herumkletterten! Möglicherweise hatte Psyche ihm dabei geholfen. Sollte der Graf an einer Leine hochgehievt worden sein? »Wenn Sie mich festhalten können, dann kann ich sie absägen.«
Herald sicherte sich auf der einen Seite und Psyche auf der anderen, indem sie ihre Füße hinter dem Rad eines Astrades verhakten und Wirbels Seitenräder umklammerten. Wirbel schob sich nach vorne, wobei sein Vorderrad knirschend einen dicken Ast streifte. Er verfügte zwar nicht über die Kampfwaffen des Monsters, dennoch war auch der Rand seines Rades in der Lage, langsam ins Holz einzudringen. Er trennte eine Astradspeiche durch, die jedoch an der Nabe hängenblieb. Dann veränderte Wirbel seine Stellung und durchschnitt eine zweite, dann eine dritte Speiche. Nun wechselten auch Herald und Psyche ihre Positionen, so daß Herald ebenfalls an die anderen Enden der Speichen gelangen konnte. Herald band schließlich die losen Speichen mit dem Band aus Psyches Pferdeschwanz zusammen, dann zielte er mit dem Bündel auf das Sägerad des Monsters. »Hoffentlich klappt das auch«, murmelte er. Trotz seiner unbändigen Kraft konnte auch das Monstrum die Säge nicht unbegrenzt lange in Betrieb halten. Die Dornen rissen eine breite Lücke, wodurch eine Menge Energie verbraucht wurde. Cäsar mußte ab und zu absetzen, um die Achse abkühlen zu lassen, sich den Baum anzuschauen und festzustellen, wieviel er noch zu schneiden hätte. Nichtsdestoweniger knirschte und ächzte der Baum und drohte jeden Moment umzukippen. Herald wartete ab, bis das Sägerad wieder stehenblieb, dann ließ er das Speichenbündel fallen. Sauber glitt es in das Sägerad und verkeilte sich zwischen den Speichen. Und Cäsar befand sich in Schwierigkeiten. Solange das Speichenbündel darin steckte, konnte er das Rad nicht frei bewegen und das
Hindernis herausschütteln. Er mußte das Rad auf den Boden setzen und damit hin und her fahren. »Lange wird es ihn nicht aufhalten«, meinte Wirbel besorgt. »Wir sollten gleich eine zweite Rad-Bremse vorbereiten.« »Nicht gut«, widersprach Herald. »Zweimal läßt er sich auf dieselbe Art sicher nicht austricksen.« Er schwang sich vom Ast nach unten. »Was haben Sie vor?« schrie Psyche entsetzt. »Bleiben Sie oben«, riet Herald ihr. »Wenn die Bremse lange genug hält...« Er landete neben Cäsar auf dem Boden und klammerte beide Hände um das festgeklemmte Rad. Verblüfft ob dieser Tollkühnheit, wuchtete das Monster herum. Doch nun hing Heralds menschliches Gewicht an dem Rad und lähmte es noch mehr. Seine Füße lösten sich vom Boden, doch er ließ nicht los. Psyche schrie, empfand sie diesen Angriff doch als reine Selbstmordaktion. Aber sie konnte überhaupt nichts tun. Die wahre Schlacht fand nämlich unsichtbar statt. Herald stemmte seine Aura gegen die Cäsars. Die Transfer-Aura des Monstrums war niedrig; zu Beginn seiner Verbannung auf Keep hatte sie wahrscheinlich siebzig gemessen, war jedoch nun bis auf zehn herabgesunken. Nahm die Intensität noch weiter ab und erreichte sie die Stärke der Aura des Tierwirts, dann müßte Cäsar wohl sterben, indem er zu dem Tier wurde, das er besetzt hatte. Sein Günstling im System Capella hatte dem früheren König eine grausame, zugleich aber auch angemessene und passende Strafe zugedacht. Cäsar selbst hatte viele Unschuldige ei-
genhändig in eine solche Lage verbannt. Herald erfuhr das aus der übriggebliebenen Aura; die Persönlichkeit war noch schrecklicher als ihr Wirt. Nun, da es ausschließlich um Cäsars oder Heralds Leben ging, nahm Herald einen Exorzismus vor. Er setzte die phantastische Kraft seiner Aura ein, um die fremde Aura aus ihrem Wirtskörper zu vertreiben. Zweihundertsechsunddreißig gegen zehn – ein krasses Mißverhältnis. Es war dennoch nicht einfach, die geschwächte Aura zu überwinden, und nur ein Spezialist im Exorzismus konnte dies bewerkstelligen. Gerne machte Herald das nicht. Es war die unangenehme Seite der an sich edlen Medaille, die da ›Heilung‹ hieß. Denn ein Exorzismus hatte immer den Tod des Behandelten zur Folge. Dem Wirt oder seiner natürlichen Aura konnte dieser Prozeß nicht gefährlich werden, sondern nur der fremden Aura. Cäsar erkannte plötzlich die Gefahr und setzte sich verzweifelt zur Wehr. Er konnte jedoch im AuraKampf nicht lange standhalten, ähnlich wie Herald bei einem physischen Kampf sehr schnell den kürzeren zog. Das Ungeheuer mußte wieder zu seiner alten, physischen Kampftechnik zurückkehren, ehe es im wahrsten Sinn des Wortes den Verstand verlor. Wenn es ihm nur gelänge, Heralds solarischen Körper zu zerquetschen oder zu zerschneiden, ihn also tötete, würde Heralds Aura ihre Basis verlieren und ihn weder verfolgen noch angreifen können. Und wenn Cäsar seinen Gegner abschüttelte, den körperlichen Kontakt unterbrach, würde er ebenfalls fliehen können. Dies bedeutete natürlich für Herald den Tod, denn ganz bestimmt würde der rasende König sofort angreifen und ihn töten. Während ein Mord nur we-
nige Augenblicke in Anspruch nahm, dauerte ein Exorzismus wenigstens einige Minuten. Daher mußte Herald sich um jeden Preis an dem Rad festklammern und die Bestie bis zur Manövrierunfähigkeit behindern; eine zweite Chance würde er niemals bekommen. Cäsar schleuderte ihn hin und her, rollte über den Boden, versuchte den zerbrechlichen solarischen Körper unter den mächtigen Rädern zu zerquetschen. Doch der sadorische Wirt war nicht in der Lage, Gefährten vom eigenen Rad zu überrollen; dieses Verhalten legten die Sadorer in nahezu jeder Situation an den Tag. Auch wenn Cäsar sein Vorderrad heben und senken konnte, so war er doch nicht in der Lage, es richtig auf den Boden aufzusetzen. Währenddessen drang Heralds unüberwindliche Aura in den Körper des Tiers ein und näherte sich der immer kleiner werdenden Region, die vom König beherrscht wurde. Cäsar hob das Rad und schoß vorwärts, um Herald gegen den Baumstamm zu drängen und zu zerquetschen. Es war eine glänzende Taktik, jedoch blieb das Bündel Astspeichen an seinem Platz, was dem Anprall viel von seiner Wucht nahm. Herald konnte seinen Körper, wenn auch knapp, so doch ohne Schwierigkeiten in Sicherheit bringen. Wenigstens war ihm dabei das Glück hold. Nun wendete Cäsar und raste über die Wiese, wobei er Herald mitschleifte. Aber die Schlacht näherte sich ihrem Finale. Heralds Aura umzingelte den vom König besetzten Kern. Ich schenke dir reiche Schätze! schrie der König mit seiner Aura, als ihm bewußt wurde, daß er verloren
war. Macht! Kostbarkeiten aus Fleisch und Blut! Er kam gar nicht auf die Idee, daß Herald an Kostbarkeiten aus Fleisch und Blut vielleicht überhaupt kein Interesse hatte oder daß er sich durch nichts und niemals bestechen lassen würde. Diese Fehleinschätzung der Einstellung und inneren Größe vieler Individuen hatte schon vor langer Zeit zu Cäsars Niedergang geführt, und es war offensichtlich, daß er aus dieser Erfahrung nicht das mindeste gelernt hatte. In dieser Hinsicht war er immer nur ein Tier gewesen. Herald machte sich gar nicht erst die Mühe, darauf zu antworten. Er schnappte den Kern und schleuderte ihn – hinaus. Cäsar war tot. Heralds zerschundenen solarischen Finger ließen schließlich los, als das Tier abrupt stoppte, und er stürzte der mächtigen Kreatur vor die Räder. Der König war verschwunden, zurück blieb die natürliche Aura des Sadorers – und die könnte durchaus noch immer darauf aus sein, ihn zu töten. Das Speichenbündel rutschte aus dem Rad. Aber in der Ferne ertönte ein Schrei. Das Tier prallte zurück, senkte seine übrigen Räder und jagte davon. Wildes Jagdgeschrei hallte herüber, doch Herald blieb einfach liegen. Gleich erschien Wirbel neben ihm. »Leben Sie noch, wertvoller Heiler?« erkundigte er sich besorgt. »Ich lebe. Das Monster ist tot«, stöhnte Herald schwach. Nun hatte auch Psyche ihn erreicht. »Sie haben uns gerettet«, erklärte sie. »Das war schrecklich tapfer, Herald, aber wie haben Sie so lange durchhalten können? Wären die Jäger nicht erschienen...«
»Ich habe das Tier exorziert«, erklärte Herald, während sie ihm beim Aufstehen half. Er spürte bewußt die Frische ihres Körpers, roch den süßen Duft, obwohl sie mit Erde und Sägemehl bedeckt war. Sie zog ihn hoch, wobei sie ihn mit beiden Armen umschlang und ihre Brüste sich gegen seinen Körper preßten, als sie sich anstrengte. Sie erstarrte, ihre Augen weiteren sich. »Oh!« Plötzlich begriff sie, was Herald tun konnte, denn er war ja gekommen, um den Dämon aus ihr auszutreiben. Hätte sie das vorher erkannt, hätte sie ihn wahrscheinlich nicht geküßt. »Oh, es ist mir gleich!« meinte sie und setzte ihre Bemühungen fort. Herald fand sein Gleichgewicht wieder und erhob sich. Er wollte nicht, daß sie sich überanstrengte oder daß ihr Vater sie in einer Situation erwischte, die er wieder falsch interpretieren könnte. Noch einige Kontakte dieser Art, und Kade würde handfeste Gründe haben, mißtrauisch zu sein. Immerhin verfügte die Lady über einige sehr reizvolle Attribute. »Nur die Transfer-Aura hat gelitten«, entgegnete er. »Die natürliche Aura kann nicht exorziert werden. Ihre eigene Aura ist natürlich. Sie gleicht in nichts der Aura Cäsars von Capella.« »He, danke!« meinte sie lachend. Der Herzog ritt heran, die Hand dicht am Schwertgriff. »Was ist passiert?« »Ich war Zeuge«, meldete Wirbel sich. »Ich werde alles berichten.« Herald wechselte mit Psyche einen verstohlenen Blick und wußte irgendwie, daß der Graf von Dollar den Tathergang genau schildern und keine Einzelheit
auslassen würde – bis auf den Kuß. Herald hatte eigentlich beabsichtigt, nach der Jagd mit Hweeh von Weew eine weitere Sitzung abzuhalten, jedoch war er zu müde, zu mitgenommen und zu aufgewühlt. Psyche und Wirbel waren in der gleichen Verfassung, weshalb man übereinkam, schon frühzeitig zu Bett zu gehen. Eilig nahmen sie ihre Abendtoilette vor und zogen sich dann in ihre getrennten Räumlichkeiten zurück. Herald war schon nach wenigen Augenblicken eingeschlafen. Geweckt wurde er durch die Berührung von Wirbels Rad an seiner Schulter. »Er ist da«, flüsterte der Graf, wobei sein Kommunikationsrad sich nur schleppend drehte. Herald war sofort hellwach. Jeder Teil seines Körpers war steif und schmerzte, doch das ignorierte er völlig. Im Raum war es dunkel bis auf einen einzigen fahlen Lichtstreifen von einem von Keeps Monden, der durch das Fenster hereinfiel, doch Herald konnte seine Umgebung gut erkennen. Er gab nicht vor, den Zeugen mißzuverstehen. Psyche war aufgestanden und stand am seitlichen Fenster. Über dem Erdboden waren die Mauern der Burg massig und überaus dick. Sie bildeten damit die massiven Verteidigungswälle der mittelalterlichen solarischen Originale, doch hier in den oberen Regionen des Bauwerks ließen die Maueröffnungen eine erstaunliche Menge Licht herein. Der Mondstrahl berührte ihren Kopf und umgab ihn mit einem ätherischen Glanz. Sie schien unnatürlich still zu sein, obwohl man sogar von hinten erkennen konnte, wie ihre Brust sich im Rhythmus ihres Atems hob und
senkte. Die langen Haare hingen ihr bis auf die Schultern, und ihre Füße waren nackt. Herald erhob sich und machte einen Schritt nach vorn. »Lady«, sagte er leise. Die Gestalt wandte sich um. »Habe ich Sie geweckt, Herald?« fragte sie und schien sich eher darüber zu freuen, als daß es ihr leid tat. »Wollen Sie nicht herkommen und mit mir hinausschauen? Der Donnysee ist so schön und friedlich.« In ihrer Stimme lag ein ganz besonderer, undefinierbarer Ausdruck, der an verhaltene Freude erinnerte. »Ja.« Er durchquerte den Raum und blieb neben ihr stehen. Dabei wurde er sich einer seltsamen auralen Ausstrahlung bewußt, die ihm allerdings nicht fremdartig erschien. Trotzdem war ihm diese Erfahrung vollkommen neu; es war nichts Bedrohliches, sondern eher seltsam. »Ich bin froh, daß Sie hier sind«, meinte das Mädchen. »Ich fühle mich so wohl. So wie beim erstenmal, als Sie mich berührten, doch nun kommt es allein aus mir heraus und nicht von Ihnen.« Herald legte eine Hand auf ihren nackten Ellbogen – und erstarrte. Herald besaß die Kirlian-Aura mit der höchsten Intensität, die je im Cluster gemessen worden war. Das war keine Angabe; oft genug war er überprüft worden und hatte die Berichte der über der Stärke 200 rangierenden K-Auren in der Geschichte nachgelesen. Er wußte, daß der legendäre Barbar Flint von Außenwelt ihm in dieser Hinsicht nachstand, und desgleichen Flints Geliebte von Slash, da beide über Auren verfügt hatten, die um dreißig Einheiten schwächer waren als seine. Er wußte außerdem, daß
Melodie von Mintaka, die wohl außergewöhnlichste und erstaunlichste Dame, die je gelebt hatte, noch mindestens zehn Einheiten unter ihm lag. Selbst die legendäre, geheimnisvolle und von allen verehrte Gestalt Geschwister Paul von Tarot hatte eine Aura gehabt, die wahrscheinlich ebenfalls schwächer war als die von Herald. Niemals und nirgendwo im bekannten Universum und allen bekannten Zeitaltern hatte es eine Entität gegeben, deren Aura mit der von Herald dem Heiler hätte verglichen werden können. Er wußte, daß dies nicht gleichzeitig hieß, daß er über eine höhere Moral oder Intelligenz verfügte oder für sich eher als andere das Recht auf Leben beanspruchen konnte; es war reiner Zufall, daß er so geworden war, wie er war. Hinsichtlich des Kirlian-Phänomens war er eine Besonderheit, ein echter Freak. Nun jedoch berührte er eine Aura, die deutlich stärker war als seine eigene. Und zwar keine fremde, nicht die eines Transferers. Es war Psyches eigene Aura, vollkommen typisch für sie, nur daß sie eine Intensität von 250 hatte. Damit war sie um fünfzehn Einheiten stärker als die stärkste bekannte KirlianAura. Dies war also die Aura, die er exorzieren sollte. Und das war natürlich völlig unmöglich. Keine Entität konnte eine Aura vertreiben, stärker als die eigene, und außerdem konnte man eine natürliche Aura aus ihrem eigenen Wirt sowieso niemals verdrängen. Damit erwies sich seine Mission im zweifachen Sinn als undurchführbar. Dreifach unmöglich. Denn wer sollte schon den Wunsch haben, die natürliche Aura einer Persönlichkeit anzugreifen, die so süß und unschuldig war wie Psyche?
Nur mit Mühe konnte Herald seine Hand von ihr lösen. »Habe ich Sie verletzt?« wollte sie wissen. »Nein, Lady, überhaupt nicht«, beruhigte er sie hastig. »Niemals! Ich muß sofort mit dem Zeugen reden.« »Nicht nötig«, machte Wirbel sich hinter ihm bemerkbar. »Jetzt begreifen Sie endlich. Sie haben es selbst gespürt.« »Ja, sie ist erschienen«, gab Herald voller Staunen zu. »Was ist denn los?« fragte Psyche. »Lady«, entgegnete Herald und war sich des Bebens in seiner Stimme bewußt. »Sie sind besessen.« Sie lachte unbeschwert. »Ich bin ich! Zeuge, berühren Sie mich, und Sie werden es erkennen. In meinem Körper befindet sich nichts Fremdes.« Sie sah Herald an. »Oder, Heiler?« »Es gibt nichts Fremdes – dennoch sind Sie besessen«, erklärte Herald. »Ich hatte mich geirrt; der Zeuge des Feindes hat recht. Ich kann nicht behaupten, daß ich das begreife.« Nun zeigte sich in ihren Augen ein Hauch von Angst. »Wie kann ich besessen sein? Ich bin so vollständig, so erfüllt; ich bin in diesem Moment voll und ganz ich selbst.« Herald gab darauf keine Antwort. Alles was sie sagte, entsprach den Tatsachen – doch genauso traf auch das zu, was der Zeuge behauptet hatte. So etwas war ihm noch nie begegnet. »Sie ist erschienen«, meinte Wirbel. »Und nun erfüllen Sie Ihren Auftrag, und alles ist wieder in Ordnung.«
»Das kann ich nicht«, gestand Herald. »Aber Sie müssen! Sie kennen die Alternative!« »Werden Sie jetzt dafür sorgen, daß ich verbrannt werde?« fragte Psyche, wobei sie diesmal Herald die Hand reichte. Und wieder spürte er ihre Aura, zehnmal so stark wie tagsüber, so fein, so intensiv und wunderbar, daß er von grenzenloser Freude erfüllt war. Er nannte sich selbst einen Heiler – und wieviel mehr war sie es in diesem Moment! »Nein, niemals«, sagte er leise. Dann zu Wirbel: »Ich bitte Sie, Zeuge, geben Sie mir Zeit zum Nachdenken. Ich weiß nicht, was ich tun soll.« »Bis zum Morgen«, willigte der Graf ein. »Danke.« Herald wandte sich wieder Psyche zu. Sie schien von einem inneren Licht zu erstrahlen, als sie zu ihm aufblickte. Ihr Gesicht hatte sich bis auf die goldenen Augen verdüstert. »Und was soll ich mit Ihnen anfangen?« »Muß darüber noch geredet werden?« fragte sie und sank ihm in die Arme. Er küßte sie. Diesmal war es kein flüchtiger, dem Zufall entspringender Versuch, sondern ein tiefer, inniger Akt. Er umarmte nicht nur ein Mädchen; er versenkte sich in ihre Aura. Nein, es brauchte nicht mehr geredet zu werden. Hand in Hand gingen sie zu ihrem Bett, und sie sanken in innigster Umarmung nieder, umfingen sich voller Zärtlichkeit und völlig natürlich, und ihre einzigartigen Auren verschmolzen ebenso wie ihre Körper miteinander. Es war das Schönste, was Herald je in einem Wirt oder in seinem eigenen Slash-Körper erlebt hatte. Niemals hätte er erwartet, daß es im ganzen Cluster etwas derart Überwältigendes, Wunder-
volles geben könnte. Als er am Morgen erwachte, wobei ihre langen Haare seine Schulter wie ein zarter Schleier bedeckten, wurde er sich dreier Dinge bewußt: Die Erschöpfung und die Schmerzen seines Körpers waren von der überlegenen Aura geheilt worden, mit der er in Kontakt getreten war; Psyches Aura war wieder auf ihren früheren Intensitätsgrad von fünfundzwanzig abgesunken... und er war in Schwierigkeiten. Er stand auf, zog sich an und ließ Psyche weiterschlafen. Ein Bild entstand in seinem Gedächtnis und erschien ihm als überdeutlicher Gedankenblitz: Cupido, wie er das Bett seiner Braut vor dem Morgengrauen verläßt, so daß sie ihn nicht sieht. Doch es war unumgänglich, denn er müßte jetzt einem zornigen Elter gegenübertreten. »Zeuge, ich bin bereit«, meldete er. Der Graf von Dollar geleitete ihn schweigend aus dem Raum. Im Erdgeschoß war der Herzog bereits aufgestanden und bereitete sich auf die morgendliche Mahlzeit vor. Der Duft von süßem Sirup aus Baumschößlingen und aus Köstlichkeiten, die aus den Rinden von Zitrusfrüchten bereitet worden waren, wehte durch die Burg. Auf Burg Kade tafelte man stets stilvoll! »Ich habe schwierige Neuigkeiten«, sagte Herald. Der Herzog schob das Kinn vor. »Ich höre.« »Ich habe die Manifestation gesehen, von der der Zeuge des Feindes sprach.« In Kades Gesicht stand der nackte Schrecken. »Sind Sie – sicher?« »Ich bin sicher, daß sie existiert. Aber ich bin eben-
so sicher, daß es sich nicht um einen Fall von Besessenheit handelt. Zumindest nicht von der Art, wie wir sie üblicherweise erleben. Im Grunde ist es nichts anderes als eine erstaunliche Fluktuation innerhalb einer Aura, wie man sie noch nie zuvor beobachtet hat. Bisher ging man davon aus, daß eine Aura in ihrer Intensität von der Geburt, ja sogar von der Empfängnis an festgelegt ist und nur während einer Krankheit oder im Transfer schwächer wird. Die Aura der Lady jedoch verändert sich in der anderen Richtung, sie wird stärker. Sie darf und kann nicht exorziert werden, und ich würde es niemals tun, selbst wenn ich es könnte. Aber das ist eine rein akademische Frage. Ich bin dazu unfähig, denn die Aura ist stärker als meine eigene.« Kade dachte einen Moment nach, und Herald wußte, daß er sich an die Hoffnung klammerte, die er die ganze Zeit genährt hatte, daß nämlich die Manifestation bei seiner Tochter eine natürliche Ursache hatte und nicht als Besessenheit anzusehen war. Der Herzog wandte sich an Wirbel. »Zeuge, sind Sie zufrieden?« »Nein«, erklärte Wirbel. »Ich kann die Auffassung dieses Experten nicht länger akzeptieren.« Herald hatte gehofft, daß es nicht dazu kommen würde, jedoch war ihm gleichzeitig klar gewesen, daß daran kein Weg vorbeiführte. Der Zeuge des Feindes war von Grund auf ehrlich und hatte gute Gründe zu zweifeln. »Und warum nicht?« wollte Kade wissen. »Immerhin haben Sie ihn ja ausgesucht.« »Das kann ich beantworten«, mischte Herald sich ein, denn er wollte den Grafen nicht zwingen, über
unangenehme Angelegenheiten zu sprechen. »In der vergangenen Nacht haben die Lady und ich uns geliebt.« Der Körper des Herzogs erstarrte. »Zeuge?« fragte er knapp, und es war augenblicklich klar, daß die Bezeichnung ›Feind‹ von Dollar auf den Heiler übergegangen war. »Es stimmt«, sagte der Graf. »Freiwillig von beiden Parteien. Es wurde weder Zwang ausgeübt noch Überredungskunst angewendet.« Der Herzog drehte sich um und starrte Herald an. »Und was schlagen Sie vor, das jetzt geschehen soll?« Herald spreizte die Hände. »Ich habe keine Ahnung. Ich fürchte, der Zeuge hat recht. Ich bin kein objektiver Beteiligter mehr und kann Ihre Tochter noch von dem Vorwurf befreien, der gegen sie erhoben wurde. Ich werde natürlich auf mein Honorar verzichten und abreisen...« Aber konnte er das überhaupt? Er hatte Psyche getroffen und sich in sie verliebt, ganz gleich, wie kompliziert die Umstände auch waren. »Dann nehmen Sie das«, sagte der Herzog von Kade, trat einen Schritt vor und schlug Herald mit seinem Handschuhpaar mitten ins Gesicht. Das Material war weich, jedoch war der Aufprall hart und schmerzhaft. Herald stolperte verwirrt zurück. Er war mit den Gebräuchen des Feudalismus vertraut, da die Heraldik daraus entstanden war, jedoch war ihm diese Reaktion ein Rätsel. »Sie fordern mich zu einem Duell, mein Herr?« »Bis zum Tod, mein Herr. Wählen Sie die Waffen.« »Ich weiß nicht, ob ich eine solche Herausforderung annehmen kann. Darf ich Ihren Grund erfah-
ren?« »Die Ehre meiner Tochter.« Oh. Herald hatte erwartet, daß der Herzog ihn so schnell wie möglich loswerden wollte, indem er ihn in den Transfer schickte. Damit ließen sich jedoch nicht die politischen Verwicklungen aus der Welt schaffen. Denn eine mögliche Verbindung zwischen der Lady von Kade und dem Sproß von Skot wäre nun problematisch; eine Kreatur aus einer anderen Galaxis hatte das Recht der ersten Nacht wahrgenommen. »Das verstehe ich. Aber ehe ich Ihre Herausforderung annehme, sollten Sie noch etwas erfahren...« »Wählen Sie!« Herald zuckte mit den Schultern. »Laserschwerter, natürlich.« »Kommen Sie mit«, forderte Kade ihn kurzangebunden auf und ging voraus. Herald ging nicht sofort hinterher, weil er dem Grafen noch etwas mitteilen wollte. »Es sieht so aus, als wären persönliche Belange jetzt wichtiger als die geschäftlichen. Für den Fall, daß ich nicht Auskunft geben kann, hoffe ich, daß Sie meine Feststellungen im Gedächtnis behalten und sie genauso Ihren Auftraggebern weitermelden werden. Die Lady Kade leidet nicht unter einer herkömmlichen Besessenheit, und es scheint keinerlei Verbindung zum damaligen Zustand ihrer Mutter zu geben. Ich bin überzeugt, daß jeder andere Experte meine Beobachtungen bestätigen wird. Die Lady verdient es, noch einmal untersucht zu werden.« »Ich werde darauf hinweisen«, versprach Wirbel. »Ich danke Ihnen.« Herald machte auf dem Absatz
kehrt und folgte dem Herzog nach draußen. Im Waffensaal öffnete der Herzog einen Kasten, in dem ein wunderschönes Paar Laserschwerter lag. Jedes war nicht mehr als nur ein Handgriff. »Wollen Sie sich vom ordnungsgemäßen Zustand der Waffen überzeugen?« »Das ist nicht nötig«, wehrte Herald ab. »Ich bin sicher, sie sind identisch.« Die Männer nahmen die Griffe und schritten zu einem angrenzenden offenen Hof. Dort drang sogar ein Sonnenstrahl herein, denn dieser Bereich gehörte zur äußeren Burg, wo die Mauern niedriger waren und man mehr Platz hatte. Herald aktivierte sein Gerät, und die Klinge erschien; ein doppeltes Laserband, dessen beide Strahlen sich etwa eine Armeslänge vom Griff entfernt vereinigten. Herald achtete sorgfältig darauf, daß die Spitze nicht auf die Möbel wies. Der Herzog machte es genauso. »Legen Sie Wert auf einen Sekundanten?« erkundigte Kade sich. Herald überlegte einen Moment. Ein Sekundant wäre sicher nützlich, jedoch sähe es reichlich dumm aus, wenn er jetzt darauf bestand. »Unter den gegebenen Umständen können wir, glaube ich, darauf verzichten. Überdies schauen uns Ihre Diener von den Brustwehren zu.« Der Herzog gab einen undefinierbaren Laut von sich. Die beiden Duellanten begaben sich in die Mitte des Hofs, wo Linien auf dem Boden den Kampfraum festlegten. »Achtung«, sagte Kade, stellte sich in Positur und hob das Schwert. »Fertig«, antwortete Herald und folgte dem Beispiel seines Gegners, wenn auch etwas nachlässiger.
Der Herzog attackierte sofort, und Herald parierte gekonnt, wobei seine Schwertspitze das andere Schwert dicht über dem Griff berührte, um die Laserstrahlen zu unterbrechen und zu löschen. Der Herzog prallte zurück und ging gleich wieder zum Angriff über – und Herald schaltete die Strahlen der gegnerischen Waffe mit derselben lässigen Handbewegung aus. »Sie sind sehr geübt«, murmelte Kade. »Ich habe versucht, Sie zu warnen, mein Herr. Ich stamme aus, der Sphäre Slash, Andromeda, einer Laser-Kultur.« »Sol ist ebenfalls eine Laser-Kultur!« »Sicher doch.« Herald stoppte auch die dritte Attacke und traf diesmal den Herzog leicht an der Hand, als er die Spitze seines Laser-Schwerts vorstieß. Seine Lässigkeit war nicht einmal Ergebnis langen Trainings. Er konnte einen Laserstrahl hinlenken, wohin er wollte, ganz gleich, in welchem Wirt er sich aufhielt. Diese Fähigkeit war angeboren. Der Schmerz dieses Treffers mußte schrecklich sein, denn die Laser dieser Duellschwerter verbrannten nicht, sondern reizten nur die Nerven an der Stelle, wo sie das Fleisch trafen, und überluden sie mit Energie, bis sie nicht mehr gehorchten. Eine kurze Berührung hatte einen dauernden Schmerz zufolge; eine längere Berührung betäubte die Nerven in einer Weise, daß es genauso war, als wäre das entsprechende Glied abgetrennt worden. Doch der Herzog ließ nicht locker. »Machen Sie sich über mich lustig?« rief er, wobei sein Gesicht rot anlief. Verblüfft über diese Reaktion auf den ersten richtigen Treffer, trat Herald zurück. »Ich wollte Ihnen nur
mein Können demonstrieren, falls Sie mich nicht einschätzen konnten. Auch wenn dieser Wirt reichlich plump und unbeholfen ist, so bleibt das LaserSchwert immer noch meine beste Waffe. Wollen Sie Ihre Herausforderung nicht zurücknehmen?« Dies war zwar eine Beleidigung, jedoch hatte Herald kein Interesse, den Herzog zu töten. Da es sich um ein Duell bis zum Tod handelte, konnte er den Herzog nur verschonen, wenn er ihn zu einem Gesinnungswandel überredete. Als Antwort schleuderte Kade sein Schwert auf Herald. Dieser wurde von der unorthodoxen Methode des Waffengebrauchs völlig überrascht. Er wollte ausweichen, jedoch drang ihm die Klinge in den Leib. Ein scharfer Schmerz raste durch seine Eingeweide, dann nichts mehr. Verblüfft stellte er fest, daß er unverwundet war. »Ihr Schwert ist defekt!« rief er. »Mein Schwert ist auf halbe Kraft gestellt – genau wie Ihres!« erwiderte der Herzog. »Sie verspotten mich mit einem Spiel-Duell!« »Davon hatte ich keine Ahnung«, protestierte Herald und schaltete seine Klinge ab. »Wie hätte ich an den Schwertern herummanipulieren sollen, wenn ich sie weder berührt noch untersucht habe?« »Ich habe es getan«, meldete Psyche sich aus dem Türrahmen. »Als Wirbel mich weckte und mir berichtete, was geschah, habe ich die Waffen verstellt, damit niemand verletzt wird.« »Du hast meine Verteidigung deiner Ehre vereitelt!« rief der Herzog entrüstet. »Meine Ehre!« stieß sie mit blitzenden Augen hervor und bewies damit den Laser-Charakter ihrer
Kultur. »Hast du etwa geglaubt, ich hätte diese Ehre in der vergangenen Nacht weggeworfen? Eine Lady braucht sich nicht zu verteidigen; sie weiß, was in der jeweiligen Situation das richtige ist. Ich liebe ihn!« »Und ich liebe sie«, schloß Herald sich an. »Wäre es anders, dann hätte ich sie niemals genommen.« »Warum haben Sie dann nicht um ihre Hand gebeten?« wollte Kade wissen. Verblüfft streckte Herald die Hände aus. »Es ist mir einfach nicht in den Sinn gekommen, daß so etwas möglich ist.« »Möglich? Sie, ein führender heraldischer Künstler, Experte in zeremoniellen Waffen und Manieren, Sie wollen die Bräuche nicht kennen?« »Ich bedaure, wenn ich Ihr Wissen um die Sitten und Gebräuche im Cluster unterschätzt habe«, sagte Herald. »Ich komme aus der Sphäre Slash, Andromeda, und bin die führende Kirlian-Entität.« »Das haben Sie bereits erzählt!« »Wir von Slash leiden unter einer Bürde, die Fluch von Llume heißt und Folge einer Episode während des Zweiten Energiekrieges ist. Daher stellen wir die niedrigste Kultur der zugehörigen Galaxis dar. Es ist keine Ehre, einen Slash zu heiraten, und das sogar auch dann, wenn meine normale Gestalt nicht der Schlange entspräche, die nach der Mythologie von Psyches Namen zu verabscheuen ist. Ich habe mich in der vergangenen Nacht im Angesicht der bemerkenswertesten Aura aller Zeiten und Welten ganz einfach vergessen. Aber am Morgen wußte ich, daß ich einen schönen Traum geträumt hatte und es nicht weitergehen konnte.« »Und warum nicht?« wollte Psyche wissen. Ihre
Augen leuchteten im gleichen Orangeton wie die ihres Vaters. »Hätte ich tatsächlich den Versuch unternommen, deinen Vater um deine Hand zu bitten, hätte er sicherlich abgelehnt.« Der Herzog von Kade nickte zustimmend. »Trotzdem hätten Sie den Antrag stellen müssen, um mir wenigstens die Möglichkeit zur Ablehnung zu geben.« »Formalitäten!« schimpfte Psyche leidenschaftlich. »Habe ich denn nichts zu sagen?« Sie hatte sich in eine wahre Kreatur des Feuers verwandelt und erschien überaus reizvoll. Herald sah sie an. »Würdest du wie deine Namensvetterin Trauerkleidung anziehen, um eine Schlange zu ehelichen?« fragte er sie sanft. »Obwohl ich im Moment in menschlicher Gestalt vor dir stehe, bin ich in Wirklichkeit mindestens so häßlich wie das Ungeheuer, das ich gestern ausschalten konnte. Ich habe scharfe schneidende Scheiben und tödliche Laser und trage auf meinen Schultern die Schande von tausend Jahren. Diese Gestalt ist für dich im Augenblick unsichtbar wie während der tiefen Nacht in der Sage. Überwältigt von deiner Entwicklung, dachte ich, dies machte nichts aus, jedoch...« »Ich würde niemals Trauerkleidung anziehen, um dich zu heiraten«, erklärte sie mit aufsässiger Miene. »Das ist mir heute auch klargeworden«, sagte er. »Daher...« »Ich würde mir Festkleider anziehen, das schönste Brautgewand von Keep, und ich würde frische Blumen tragen und in ewigem Sonnenschein an deiner Seite wandeln.«
»Deshalb hat der Herzog gegen mich gewisse Einwände, denn...« Herald verschluckte den Rest des Satzes. »Du würdest mich heiraten – einen Slash?« »Oh, mein Liebster«, hauchte sie leidenschaftlich. »Glaubst du denn, ich würde deinen Ursprung nicht kennen? Deine Herkunft war für mich nie ein Geheimnis! Welche Bedeutung hat wohl für uns der Fluch von Llume? Schließlich sind wir ja die Galaxis, die Llume gerettet hat. Sie hat keinen Fluch ausgesprochen, sondern sie hat entschieden, daß deiner Art jede Ehre gebührt! Wäre sie nicht gewesen, dann existierte ich gar nicht.« Herald war erstaunt und zutiefst dankbar für ihre kleine Ansprache. Doch nun erinnerte er sich an seine erzwungene Verlobung mit Flamme von Esse. Wie sollte er der anbetungswürdigen Psyche und ihrem mißtrauischen Vater klarmachen, daß er, um das Mädchen heiraten zu können, zuvor mit einer fremden Weiblichen Nachwuchs zeugen müßte. »Ich kann nicht...« »Entschuldigen Sie bitte die Einmischung«, sagte Wirbel. Herald hatte ihn nicht den Hof betreten sehen, dafür war er auch hinreichend abgelenkt gewesen. »Es geht mich zwar nichts an, trotzdem nehme ich inneren Anteil und mache mir Sorgen. Hat der Heiler die Lady wegen ihrer dämonengleichen Aura geliebt, und schenkt er dem Wirt nun keine Beachtung mehr, da die Aura in ihrer Intensität wieder nachgelassen hat? In diesem Fall bietet sich eine Lösung geradezu an...« »Die Lady hat keine dämonische Aura!« rief Herald entrüstet. »Es gab keine Besessenheit, wie Sie sie vielleicht verstehen. Doch wenn es so wäre, dann
würde ich sogar diesen Dämon lieben, denn er wäre ebenso Teil ihrer Persönlichkeit. Es ist meine eigene Eignung, die ich in Frage stelle, nicht die ihre.« Der Herzog schenkte ihm einen neuen, diesmal beinahe schon bewundernden Blick. »Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.« »Rätselt nicht länger herum«, meinte Psyche. »In der vergangenen Nacht erforschte ich deine Aura von einem Punkt aus, an den keine andere Entität gelangen kann. Selbst wenn wir uns nicht vorher geliebt hätten, hätte das Schicksal bestimmt, daß unsere Auren zusammentreffen und sich vereinigen. Was hat da schon der physische Vollzug groß zu bedeuten? Psyche wird die Schlange mit der Seele eines Gottes heiraten.« Zur Hölle mit Flamme von Esse! Herald schaute den Herzog an. »Gewisse Mißverständnisse wurden beseitigt. Jetzt bitte ich um Ihre Erlaubnis.« Nun war Kade an der Reihe, seine Hände in einer hilf- und ratlosen Geste zu spreizen. »Es ist zwar nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Sie hatten recht, als Sie meinten, ich hätte Ihre Bitte abgeschlagen, obwohl das notwendigerweise meine Forderung auf Sühne hinsichtlich der Ehre meiner Tochter gestrichen hätte. Nun jedoch begreife ich, daß meine Tochter ihren festen Willen hat, den sie auch durchsetzen wird. Sie ist schließlich von Kade. Sie läßt sich nicht abschrecken. Unter den gegebenen Umständen sehe ich nirgendwo eine bessere Alternative.« »Dann sollte das Aufgebot schnellstens bestellt werden«, sagte Wirbel. »Vielleicht wird das die zufriedenstellen, die ich hier vertrete.« Endlich lag Psyche in Heralds Armen, hob ihm die
Lippen zum Kuß entgegen und strahlte, als hätte sie die Sonne in den Augen. Doch selbst in diesem glücklichen Augenblick fragte Herald sich: Inwieweit traf Wirbels Frage nach der dämonischen Aura tatsächlich zu? Herald hatte sich davon angezogen gefühlt und, wenn er es rückblickend überdachte, sogar so etwas wie Sehnsucht nach der solarischen Weiblichen verspürt. Sie war physisch und von ihrer Persönlichkeit her ausnehmend schön. Liebe war jedoch nur beim Anwachsen ihrer Aura entstanden. Es war nicht in ihm angelegt, eine geringere Aura zu lieben, was letztlich auch der Grund dafür war, daß er sich bisher noch mit keiner Weiblichen zusammengetan hatte. Er hatte Flamme von Esse aus Prinzip abgelehnt, jedoch hatte er gleichzeitig keine andere Aura im Cluster gekannt, die der ihren vergleichbar gewesen wäre. So wenige verfügbare Weibliche hatten Auren über 150 Intensitäts-Grade, und die meisten von ihnen hatten andere Qualitäten, die ihre Einmaligkeit unterstrichen. Aber ein junges, schönes, süßes, reiches, liebendes Mädchen mit einer Aura von 250 – nein, da konnte man den Rest vergessen. Jede Weibliche mit einer Aura über 250 hätte seine Neugier geweckt, und er hätte sie wahrscheinlich sogar geheiratet, um sich in den Genuß ihrer außerordentlichen auralen Eigenschaften zu bringen. Andererseits wäre jede andere schöne, reiche, liebende Weibliche kaum von Interesse, wenn ihre Aura noch unter 25 läge. Wie war das mit Psyche? Liebte er sie, oder war sie für ihn lediglich eine Alternative zu der Liebe, der er zu empfinden fürchtete, falls er Flamme von Esse jemals physisch treffen sollte und sich von ihrer 190er-
Aura den Kopf verdrehen ließ. Hatte er das Recht, Psyche so einfach zu heiraten, da er sich seiner tiefsten Gefühle so unsicher war? Oh, im Augenblick machte sie ihm Spaß, es war ein Vergnügen, sie zu halten und zu küssen, aber ohne ihre Aura empfände er das vielleicht als eine Last, und wäre er erst einmal mit ihr verheiratet, dann fände er gar keinen Reiz mehr in dem Mädchen. Wäre das ihr gegenüber fair? Momentan wagte er es jedenfalls nicht, ihr von Flamme zu erzählen. Psyche wich ein Stück zurück, ihre orangefarbenen Augen musterten ihn für einen langen Moment ernst und eindringlich, und er befürchtete schon, sie hätte seine Gedanken erraten. »Wir haben den Weew vergessen«, sagte sie. »Was?« Herald brachte das mit seinen eigenen Gedanken auf Anhieb nicht in Einklang. »O ja, es wird Zeit für ein weiteres Gespräch mit Hweeh.« »Der Weew kann warten«, ergriff der Herzog wieder das Wort. »Wir haben das Frühstück vergessen.« Psyche lachte, und alles Feuer und jegliche innere Anspannung schienen von ihr abzufallen. »Das Leben geht weiter!« Schnell suchten sie die Quelle des würzigen Duftes nach Baumschößlingssuppe auf. Nach dem Frühstück begann der Herzog die Meldung von der bevorstehenden Hochzeit und die Hochzeitsfeier selbst vorzubereiten. Auf Burg Kade mußte einiges vorbereitet werden. Der Graf von Dollar verabschiedete sich und reiste ab, um dem Feind seinen Bericht zu übergeben. »Diese Verbindung verändert die Lage völlig«, gestand Wirbel halb inoffiziell. »Diese Verbindung könnte sich durchaus als
wertvoll erweisen.« Herald und Psyche unterhielten sich wieder mit dem Weew. Herald legte eine Hand auf die graue Masse der Kreatur und weckte das Horn und den Augenstiel. »Wir beschäftigten uns mit dem Mythos um Cupido und Psyche«, sagte Herald laut. »Ihr Ehemann der Nacht fühlte sich nicht wie eine geflügelte Schlange...« Oh, wie dicht dran er diesmal war. »Aber es war Cupido!« nahm Psyche sofort den Faden auf. So viel war seit dem letzten Interview passiert, daß es schwierig war, den genauen Punkt der Unterbrechung festzulegen. »Kein Drachen, kein Monster, noch nicht einmal ein gewöhnlicher Mensch, sondern der Gott der Liebe!« Und dabei blickte sie Herald tief in die Augen. »Ja«, stimmte Hweeh zu. »Er war es, und er konnte sich nicht zu erkennen geben, damit seine Mutter, Venus, nicht entdeckte, was er getan hatte, und ihren ganzen Zorn auf das Mädchen ablud, deren einziger Fehler darin bestand, daß sie so schön war.« Und Psyche lächelte Herald siegesgewiß an: Der Weew hatte die Unterbrechung bewußt überhaupt nicht mitbekommen. »Doch nach einiger Zeit wurde sie neugierig«, fuhr Hweeh fort, »und beschloß, das Gesicht anzuschauen. Wäre er wirklich ein Schlangenmonster, dann würde sie ihm den Kopf abschneiden und sich von seinem Fluch befreien.« Psyche wurde ganz aufgeregt. »So etwas hätte sie niemals getan! Sie liebte ihn doch bedingungslos!« »Vielleicht«, stimmte Hweeh ihr nach einer kurzen Pause zu. Es war zu erkennen, daß er allmählich be-
griff, was los war, denn zu den dummen Entitäten gehörte er ganz sicher nicht. »Jedenfalls war sie so neugierig, wie man es allen Weiblichen in allen Kulturen nachsagt, und zwar von Pandora bis heute. Sie versteckte ein scharfes Schwert aus Metall in ihrem Bett und nahm zusätzlich noch eine Öllampe mit. Und da war Cupido, ein attraktiver solarischer Solarier, wie sie ihn sich schöner kaum hätte vorstellen können. Als sie vor Freude und Erleichterung in die Knie sank, sich ihrer früheren Zweifel schämte, fielen einige Tropfen aus ihrer heißen Öllampe auf seine Schulter. Er wurde davon wach, und Cupido verschwand.« »Oh«, reagierte Psyche, und es war ihr, als spielte sie selbst in dieser Legende eine Rolle. »Dummes Mädchen! Warum konnte sie nicht mehr Vertrauen zu ihm haben?« Angenommen, dachte Herald düster, Psyche interessierte sich für sein bisheriges Leben und entdeckte Flamme von Esse? Eine Meldung an den Cluster-Rat, und er, Herald, würde einfach aus seinem Leben herausgerissen und gegen seinen Willen nach Esse transfert, um dort seiner Bestimmung nachzukommen. »Die Legenden spiegeln die Unzulänglichkeiten ihrer Erfinder wider«, gab Hweeh zu. »Moderne Entitäten würden sich wahrscheinlich ganz anders und besser verhalten.« »Wirklich?« fragte sie zweifelnd. »Wenn ich die Chance hätte, einen echten Gott der Liebe zu heiraten, glauben Sie, ich wäre dann bereit, ihn niemals in seiner wahren Gestalt sehen zu wollen? Mir niemals Klarheit darüber zu verschaffen, ob ich ihn nun gegen sein besseres Wissen und Wollen in die Ehe gelockt
oder ihn mit irgendeiner besonderen, vorübergehenden Eigenschaft dazu verleitet habe?« Sie traf das Problem im Kern. Herald begriff jetzt, daß es nicht allein weibliche Flatterhaftigkeit gewesen war, die sie von dem Gespräch mit Hweeh hatte reden lassen. Hatte sie vielleicht sogar einen Verdacht, in welcher Weise Flamme die im Cluster geltende Legitimität der bevorstehenden Verbindung anfechten konnte? Bot sie ihm vielleicht auf diese Weise eine letzte, ehrenvolle Möglichkeit zum Rücktritt an? Wie er es bei ihrem Vater während des Duells getan hatte? »Sicher würde Cupido sich auch seine Gedanken gemacht haben«, sagte Hweeh. »Götter lassen sich nicht so einfach austricksen oder in eine Falle lokken.« Außer sie wollen es, dachte Herald. »Angenommen, er fühlte sich zu ihr nur durch ihre Aura hingezogen«, blieb sie beharrlich bei ihrem Thema. »Und dann verliert sie sie. Könnte sie ihn immer noch heiraten?« Wollte sie auf diese Frage wirklich eine Antwort? »Wo ist der sadorische Zeuge?« wollte Hweeh plötzlich wissen. »Er hat die Burg verlassen«, informierte Herald ihn. »Sie waren wieder im Schock.« »Was ist das mit dieser Ehe?« »Das Aufgebot wird für die Lady Kade und für mich bestellt«, antwortete Herald. »Gestern abend hatte die Lady eine Aura von zweihundertfünfzig.« Das Horn pfiff leise. »Und nun ist die Aura verschwunden«, zog Hweeh seine Schlußfolgerung. »Jetzt verstehe ich auch. Wollen Sie meine Meinung hören?«
»Wahrscheinlich«, entgegnete Herald. »Ich hatte immer gemeint, daß Entitäten mit höchster Aura-Intensität...«, begann Hweeh, hielt jedoch inne und schien zu begreifen, daß diese Bemerkung wohl kaum diplomatisch wäre. »Natürlich ist eine Aura von zweihundertfünfzig die stärkste, so daß die Konvention...« Er verstummte wieder. Das stimmte! Herald war mit Flamme von Esse verlobt worden, weil sie die stärkste Kirlian-Aura hatte. Doch nun war Psyche da. Nun hatte sie die stärkste Aura. Er brauchte vor dem Cluster-Rat nichts anderes zu beweisen, und schon würde man seine Ehe mit Psyche legalisieren. Bis dahin brauchte man sie mit dieser Angelegenheit nicht zu behelligen. Welch eine hilfreiche Erkenntnis hatte Hweeh da geliefert – rein zufällig? »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Herald langsam, »ob es fair ist, unter solchen Umständen zu heiraten. Ich sollte einen Dämon bei ihr exorzieren, und ohne diese Besessenheit, wir wollen es einstweilen so nennen, hätte ich für sie wahrscheinlich gar nicht soviel Interesse entwickelt.« »Wenn das, was andere abstößt, Sie dazu bringt, sie heiraten zu wollen, dann frage ich mich, wer hier das größere Anrecht hat, sie zur Frau zu nehmen«, sagte Hweeh. »Andere legen vielleicht mehr Wert auf oberflächliche Dinge wie ihre physische Schönheit oder ihren Reichtum oder den Status ihrer Familie. Das ist jedoch bei Ihnen nicht der Fall.« Herald überdachte das, und es ergab für ihn einen Sinn. »Ich danke Ihnen für Ihre Meinung, Hweeh von Weew. Jetzt kann ich voller Selbstvertrauen meinen Weg fortsetzen.« Und sie auch.
»Es scheint mein ganz besonderes Talent zu sein – die ungewöhnliche Einsicht«, sagte Hweeh. »Ich wünschte, ich könnte meine eigenen astronomischen Erkenntnisse ähnlich rationalisieren, vor allem die, die mich in den Schock werfen.« Er schwieg, sein Augenstiel schwankte. »Wäre es möglich, daß eine Aura, stärker als die Ihre, mir Heilung verschaffen könnte?« Nun mußte Herald überlegen. »Wenn sich das nächste Mal der Dämon der Lady meldet, werden wir Sie aufsuchen«, versprach er. »Danke. Gut, wie ich mich kenne, glaube ich kaum, daß das, was in meinem Gedächtnis ruht, von Bedeutung ist. Es obliegt uns festzustellen, worum es sich handelt.« »Und nun erzählen Sie uns bitte den Rest der Geschichte von Psyche«, forderte das Mädchen ihn auf. »Was jetzt noch kommt, ist nicht mehr so wichtig. Psyche bat Venus um Hilfe, da sie nicht wußte, daß sie ihre Feindin war, und die erzürnte Göttin zwang sie, einige sehr schwere und gefährliche Aufgaben zu erfüllen. Doch irgendwann erholte Cupido sich und half Psyche bei der Ausführung. Am Ende schenkte man ihr die Unsterblichkeit und gestattete ihr, für immer mit Cupido zusammen zu sein. Sie gebar ihm ein Kind namens Freude. Soweit ich es weiß, sind die drei immer noch eine glückliche solarische Götterfamilie.« Hweeh schob seinen Augenstiel vor. »Jedenfalls sehen Sie jetzt, wieviel ich über Sie allein durch Ihren Namen erfahren habe.« »Ein Kind namens Freude...«, wiederholte Psyche und lächelte wissend.
5
Herzog von Qaval E Fundort aktiviert. E & Einzelheiten. & E Lage: Galaxis Milchstraße, Segment Etamin. Art: Erweckung alter Maschinen-Aura, vorübergehend. Genauer Ort ungewiß. E & Ist es sicher, daß es sich nicht um die Aura der Maschinengeneration einer derzeitig noch existierenden Kultur handelt? & E Das Muster entsprach nahezu vollkommen dem Code der Ahnen. Irrtum möglich, aber unwahrscheinlich. E & Dann braucht man nur die spezifischen Daten der Aktivierung mit denen des Fundortes zu kombinieren, und schon weiß man, auf welchen Planeten man sich umschauen muß. & E Nicht möglich. Es sind keine Aufzeichnungen über Ortsdaten für eventuelle Berechnungen verfügbar. Fundort muß direkt in Augenschein genommen werden. E & Keine Aufzeichnungen! & X Richtig. Alle Aufzeichnungen älter als 10000 Zyklen wurden aus wirtschaftlichen Gründen vernichtet. Unsere Flotten sollen mit möglichst wenig Ballast reisen. X & Eine Idiotie! Wir brauchen diese Aufzeichnungen. Na schön, dann sollte schnellstens eine AktionsEinheit losgeschickt werden. & o Aktions-Einheit 2, betreffendes Segment anvisie-
ren. o 2 Anvisiert. 2 Nun, da der Zeuge des Feindes abgereist war, war es nicht angebracht, daß Herald noch länger in den Räumlichkeiten der Lady schlief. Er zog in sein eigenes Zimmer um, wo er weiter trainieren konnte, ohne den Haushalt zu stören. Er transferte kurz in seinen eigenen Slash-Körper in der Galaxis Andromeda zurück, um seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, seine Terminliste zu streichen und Vorbereitungen zu treffen, damit der Cluster-Rat seine Ehe mit Psyche billigte und offiziell anerkannte. Allerdings orientierte er sich vorwiegend am Planeten Keep und der Burg Kade, denn in Zukunft würde dort sein Zuhause sein. Man kam überein, daß nach der Hochzeit sein ursprünglicher Slash-Körper dorthin transmittiert werden sollte. Psyche wollte es so und war überzeugt, daß sie von dem Anblick nicht abgestoßen würde. Sie war begierig, mit ihm in den Transfer zu gehen, jedoch war sie in ihrer Reichweite viel mehr eingeengt als er, und solange das Rätsel um ihre variable Aura nicht gelöst war, wäre es wohl am besten, wenn sie zu Hause blieb. Nachdem er alles erledigt und in die Wege geleitet hatte, kehrte er in seinen solarischen Wirt zurück und ritt auf einem schönen Radpferd vom Palast der Krone hinüber zur Burg Kade. Es war wie eine Heimkehr nach Hause. Zu schade, daß es dort keine TransferEinheit gab – doch Psyche war eigentlich schon genug. Eines Nachts erwachte er und fand sie in seinem Zimmer vor, wie sie schweigend in einem halb
durchsichtigen weißen Nachthemd neben seinem Bett stand. Sie wirkte ein wenig wie ein Gespenst, jedoch ein überaus weibliches, denn sie stand zwischen ihm und dem vom Mond beschienenen Fenster. Solarier, so hatte er schnell herausgefunden, wurden sehr leicht visuell stimuliert, und die nur angedeuteten Umrisse der weiblichen Gestalt übten einen starken Reiz aus. Er setzte sich hastig auf. »Psyche! Bist du...?« »Nein«, entgegnete sie traurig. »Ich bin nicht erstarkt. Ich bin nur mein bescheidenes Selbst, habe lediglich meine schwache Aura vorzuweisen.« Natürlich war ein Intensitätsgrad von 25 in keiner Weise niedrig, jedoch war er lächerlich im Vergleich mit den 250, die die Aura einmal gemessen hatte. »Ich dachte – ich wollte nur – oh, Herald, stell dir nur mal vor, ich werde niemals wieder so stark sein!« Er nahm sie in die Arme und dann mit in sein Bett. Es wäre das Äußerste an Grausamkeit gewesen, sie zurückzuweisen, und außerdem empfand er sie so, wie sie war, als überaus reizvoll, und das ohne ihre erstaunliche Aura. Die Adligen von Keep strömten anläßlich der Hochzeit aus allen Richtungen zusammen. Sie kamen in reichgeschmückten Pferdekutschen. Jeder trug seinen Zeremonienmantel, welcher nichts anderes war als eine Robe, auf die das Wappen aufgestickt war. Herald als Bräutigam mußte sich neben dem Herzog von Kade aufstellen und eine eingehende Musterung durch alle Gäste über sich ergehen lassen, was er als äußerst unangenehm empfand und was er nur ertragen konnte, weil er mit Interesse die verschiedenen
Lebensformen betrachten konnte, die ihm vorgestellt wurden. »Der Herzog von Qaval!« verkündete der Türsteher für Herald eigentlich überflüssigerweise, denn er war mit den allgemeinen Wappenfarben des Segments Qaval durchaus vertraut. Eine hochgewachsene, kräftige Gestalt kam herein. Sie war menschenähnlich mit kurzen, stämmigen Beinen, die grün unter dem Saum des Gewandes hervorlugten, kräftigen grünen Armen und einem dicken geschuppten Schwanz. Der Kopf glich dem eines Reptils mit einer ausgeprägten Nase und einem breiten Mund, der denen bei den Raubtieren aus dem Donnysee glich. Kurz, ein attraktives Exemplar einer bedeutenden Rasse jenes Segments. »Ich freue mich, daß Sie meiner Einladung gefolgt sind, Qaval«, begrüßte Kade den Gast grimmig. Herald wußte, daß dies der Führer der feindlichen Koalition war, der auch Wirbel von Dollar angehörte. Er war die treibende Kraft hinter der Forderung, Psyche zu verbrennen. »Ich konnte mir doch die Chance nicht entgehen lassen, Ihre Festungsanlagen zu besichtigen, Kade«, erwiderte Qaval mit dem Lächeln eines Krokodils. »Ich stelle Ihnen hier Herald von Slash vor, den hervorragenden Exorzisten, den Sie mir auf den Hals geschickt haben und der jetzt im Begriff ist, mein Schwiegersohn zu werden.« Was soviel hieß wie: Wir haben Ihren Agenten auf unsere Seite gezogen. Qavals kleine Augen starrten kalt auf Herald herab, als der feindliche Herzog seine Klaue zum Gruß ausstreckte. »Mein Kompliment für ein wahrlich raffiniertes Manöver«, meinte er und öffnete dabei seinen
Mund, so daß man die großen, dreieckigen Zähne kaum sehen konnte. Herald neigte unsicher den Kopf, wußte er doch nicht, wem diese ironische Schmeichelei in Wirklichkeit gelten sollte. Die Edlen des Planeten Keep fochten ernste politische Zwistigkeiten aus! Bei dieser Gelegenheit jedoch hatte man die Waffen zu Hause gelassen und erging sich dafür in einem heftigen Wortgefecht. »Der Marquis von Rundherum«, meldete der Türsteher, und ein Polarier trat ein. Die Kreatur sah aus wie ein riesiger Siruptropfen, besaß einen hin und her schwingenden Tentakel als obere Extremität sowie ein kugelförmiges Rad zur Fortbewegung an der Unterseite. Da die Polarier ihre Haut als Wahrnehmungsorgan nutzten und sogar damit kommunizierten, trug der Marquis Kleidung, die eher symbolischen Wert hatte, nämlich ein Band, in das sein Wappen eingestickt war: eine symbolische Darstellung des Schuld/Vergeltungs-Prinzips innerhalb des polarischen runden Kreises, dieser innerhalb des Drachens des Segments Etamin, welcher von der Umrißlinie der Milchstraßen-Scheibe umschlossen wurde. Der Polarier berührte Kades Hand mit der kleinen Kugel am Ende des Tentakels, dann berührte er Heralds Hand. »Möge dieses Fest endlich den Konflikt beilegen«, sagte die Kugel, indem sie Heralds Fleisch zum Vibrieren und somit zum Klingen brachte. »Es ist eine äußerst unrunde Angelegenheit.« Dann gab es also doch einen Edlen auf der Seite des Feindes, der es vorzog, Schwierigkeiten zu vermeiden! Vielleicht gab es noch mehr von seiner Sorte. Dennoch war es keine Frage, daß die Spannungen
fortbestanden. Vielleicht aufgrund der durch Psyches Mutter heraufbeschworenen Gefahr blickte der gesamte Planet aufmerksam auf Psyche. »Der Häuptling von Skot.« Dieser war Solarier, ein Mann etwa in Kades Alter und von ähnlicher Statur, der mit einem Tartan bekleidet war. Es mußte der Vater des Sprosses von Skion sein, von dem bereits als Psyches möglichem Gefährten die Rede gewesen war. Nun, die Situation hatte sich grundlegend geändert! »Der Viscount von Nummer.« Dieser war ein Sadorer genau wie der Graf von Dollar, allerdings von höherem Rang. Dann, sehr spät eintreffend, eine ganz besondere Entität: »Prinz Ring von Krone.« Ein sadorischer Prinz, der einzige Gast, der rangmäßig mit den Herzögen von Kade und Qaval auf gleicher Stufe stand und als treibende Kraft der Opposition betrachtet werden mußte. Damit waren die feindlichen Anführer in der Übermacht. »Der Prinz erweist der Burg hohe Ehre«, murmelte Kade und verbeugte sich formell. Er schien etwas verwirrt zu sein. »Dessen bin ich mir wohl bewußt«, schnappte Ring und rollte weiter. Der Adel der Sphäre Sador hatte sich noch immer nicht mit dem schwindenden Einfluß des einst so mächtigen Imperiums abfinden können. Die Hochzeit selbst war eine pompöse Formalität, welche Herald eher unangenehm war und ihn langweilte, denn er war bisher daran gewöhnt gewesen, seine Zeit sinnvoller zu nutzen. Heraldik war ein hübsches Überbleibsel aus mittelalterlicher Zeit; auf
diese übertriebene Zeremonie hätte man jedoch getrost verzichten können. Die Burgbediensteten kümmerten sich umsichtig um ihn und waren ihm bei der Durchführung der Zeremonie behilflich. Jedoch fühlte er sich erst besser, als er den Herzog von Kade entdeckte und sah, daß er mindestens ebenso trübsinnig aussah, wenn auch vielleicht aus anderen Gründen. Man mußte die alten Sitten und Bräuche befolgen, aber welche halbwegs normale Entität konnte Gefallen daran finden? Nichtsdestoweniger war Psyche wunderschön – sie war es wirklich – und strahlte inmitten der öden Durchschnittlichkeit wie ein Juwel. Es gab schließlich trotz allem auch noch andere Werte als nur eine hochintensive Aura, und sie vereinigte alle in sich. Und dann das eigentliche Fest: das Bankett. Der Ernst und die Gewichtigkeit verflüchtigten sich, und eine lockere, gesellige Stimmung machte sich breit. Geistvolle Getränke flossen in Strömen und ließen Unstimmigkeiten zeitweise versinken. Junge Braten von sadorischem Radrind rollten um den Tisch herum, bis nur noch die metallischen Knochen übrig waren. Herald beobachtete, wie die einzigartigen Zähne des Herzogs von Qaval lange Fetzen von halbrohem Fleisch abrissen: Dieser war ein echter Fleischfresser! Wie schrecklich mußten diese Zähne während einer Schlacht wüten! Doch selbst Prinz Ring schien sich zu amüsieren, indem er sein Steak auf eine sterile Matte auf dem Fußboden legte und es mit seinem Freßrad zerkleinerte und die Fasern aufsaugte. Als eine kleine sadorische Dienerin den Nachtisch brachte – Berge von zitternder Gelatine aus den Großknochen frisch geschlachteter Tiere, garniert mit Radkuh-Creme
kurz vor der Gärung, blockierte der Prinz ihr Rad aufdringlich und unter den Augen der Versammelten. Sie rotierte einen erstickten Aufschrei, als sein Rad ihre intime Achse berührte, und ließ beinahe das Tablett auf sein oberes Rad fallen. Selbst der großzügige und umgängliche Polarier leuchtete für einen Moment mißbilligend auf, und die lange Lippe des Herzogs von Qaval kräuselte sich reflexartig. Diese Entitäten ließen es nicht zu, daß vom Krieg geprägte Disharmonien die ursprünglichen Genüsse des Lebens störten. Auf das Bankett folgte der Ball. Musiker spielten Themen verschiedener Spezies, und Kreaturen ergingen sich im Gespräch, im Tanz und in harmlosem Wettstreit. Psyche war als Tanzpartnerin vielbegehrt, und das nicht nur von den Besuchern in solarischer Gestalt. Der polarische Marquis tanzte ein perfekt vorgetragenes Menuett mit ihr, und dann übernahm der Herzog von Qaval sie, legte sein Reptilienmaul an ihre blaßblaue Wange und benutzte seinen Schwanz, um bei den Drehungen nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schließlich erschien auch der Prinz von Krone selbst und leistete ihr bei ihrem tänzerischen Partner- und Gestaltenwechsel Gesellschaft. Dabei umrollte er sie eilig und in höchst anmutiger Weise auf seinem Rad, während sie sich als Antwort in Pirouetten drehte. Es wirkte sehr artistisch. Wenn die Klasse der Reichen eine Kunst bis zum Perfektionismus beherrschte, dann die des lustvollen Zeitvertreibs. Wirbel von Dollar, der in Begleitung seiner Mitstreiter wieder zurückgekommen war, schob sich neben Herald, als dieser das Treiben betrachtete. »Füh-
len Sie sich nicht verdrängt«, murmelte der kleine Sadorer. »Man überzeugt sich nur davon, daß sie nicht besessen ist. Mein Lord Qaval fand, daß mein Bericht reichlich übertrieben war, und möchte nicht aufgrund ungenauer Angaben einen Krieg vom Zaun brechen.« Aha! In diesem Fall sollten sie mit seiner Frau tanzen, sooft sie wollten. Es gab keine Dämonen-Aura. Die Edlen schenkten auch Herald gebührende Beachtung. Der Herzog von Qaval kam mit einem Gefäß voller Destillat in der einen Klaue auf ihn zu und beglückwünschte ihn herzlich. Dann, mit leiser Stimme, meinte er: »Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung?« Der reptilienhafte Edle verfügte über eine ziemlich starke Aura von etwa sechzig. Es fiel nicht schwer, sich vorzustellen, daß Qaval einer der führenden Duell-Ritter war. »Erlaubt«, antwortete Herald zurückhaltend. Er war wirklich begierig zu erfahren, welche Motive diese Feinde in Wirklichkeit hatten. Bestimmt gingen sie nicht davon aus, daß sie etwas Handfestes gegen Psyche vorbringen konnten. »Wir von Qaval haben den Tempel des Tarot und die Animation, die damit in Verbindung steht, stets verehrt. Fällt dies vielleicht in die Sphäre Ihrer Talente?« »Das tut es«, entgegnete Herald. »Als Heiler habe ich notwendigerweise einige verwandte Disziplinen erlernen müssen, wenngleich ich gestehen muß, daß ich kein glühender Verehrer des Tempels bin.« »Eine ehrliche Antwort! Mich interessiert nur, warum eine Entität wie Sie, von hoher Aura und großer Erfahrung, sich mit einem Klienten mit vergleichsweise schwacher Aura zusammentun will.«
Eine Falle? Herald marschierte genau hinein. »Sie hat nicht immer nur ihre schwache Aura, Herzog. Manchmal produziert sie ein intensiveres KirlianFeld als ich. Dies hat jedoch mit Besessenheit überhaupt nichts zu tun: Es ist nichts anderes als eine Steigerung ihrer natürlichen Aura. Vielleicht ist ihre schwächere Aura auch nichts anderes als Teil eines Zyklus einer überall wirkenden kirlianischen Kraft. In diesem Fall ist sie meine natürliche Partnerin.« »Wie können Sie so sicher sein, daß sie natürlich ist?« »Sie haben sie berührt. Haben Sie irgendeinen Hinweis gefunden, daß sie je besessen war?« »Keinen. Und das ist es, was mich irritiert. Unser Zeuge berichtet, daß sie übernatürliche Kräfte entwickelt habe, jedoch kann er sich ebensogut auch geirrt haben. Sie waren unser angeforderter und bezahlter Experte. Hätten Sie gemeldet, daß es eine solche Manifestation nicht gab und gibt, wären wir wahrscheinlich zufrieden gewesen. Statt dessen heiraten Sie sie – und zwar vorwiegend eben wegen jener Eigenschaft.« »Ja. Wenigstens war Ihr Verdacht zum Teil gerechtfertigt. Die Manifestation ist echt, jedoch beinhaltet sie keine Bedrohung, wie es bei der Mutter der Lady der Fall war.« »Ich gehe eher davon aus, daß Sie den Fall nicht mehr objektiv beurteilen können.« »Mein Herr?« fragte Herald steif. »Sie ließen sich mit der Lady ein und fanden Gefallen an ihrer Lebensart, die einer Entität aus einer heruntergekommenen Sphäre einer gemaßregelten Galaxis besonders reizvoll erscheinen muß. Daher
haben Sie Ihre Liaison gerechtfertigt, indem Sie in ihr eine weitaus intensivere Aura wahrzunehmen glaubten, als dort wirklich existiert. Dadurch hatten Sie auch Kade überlisten können, der sich unter anderen Umständen wohl niemals so schnell bereit erklärt hätte, seine Tochter eine solche Verbindung eingehen zu lassen. Anstatt sie zur Überprüfung Ihrer Beobachtungen in unsere Klauen zu geben, ließ er es zu, daß sie sich mit Ihnen zusammentut.« »Wenn Sie darauf bestehen, dann lassen sich hier jederzeit Duellschwerter beschaffen«, erklärte Herald mit verhaltener Wut. Qaval ignorierte diese Bemerkung. »Sicherlich würde eine Kreatur wie Sie niemals eine Entität heiraten, die eine potentielle Gefahr für Sie und Ihre Umgebung darstellte. Und eine Weibliche, die die Sicherheit ihres fremden Gatten nicht bedroht, kann kaum als Gefahr für eine ganze Welt angesehen werden. Daher scheinen wir gegen die Lady Kade im Grunde nichts in der Hand zu haben.« Plötzlich begriff Herald, wovon die Rede war. Der Herzog bot hier eine Begründung an, die trotz Wirbels Bericht Psyche für immer von jeglichem Verdacht befreien konnte! »Ihr Standpunkt hat eine ganze Menge für sich«, sagte Herald nun etwas freundlicher. »Wenn Sie jedoch auf einem Duell bestehen...« Der feindliche Herzog wollte unbedingt Fleisch zwischen die Zähne bekommen! »Ich wollte lediglich auf das Kaliber der Schmuckwaffen hinweisen. So etwas sieht man heutzutage doch recht selten.« Herald spielte den Ahnungslosen. Im Grunde war das eine ziemlich lahme Ausrede.
»Tatsächlich.« Qaval grinste und entblößte dabei seine Reißzähne. »Ich habe gute Gründe anzunehmen, daß der Prinz darin übereinstimmen wird. Wir sind schließlich ein friedlicher Planet, auf dem viele Rassen in vollkommener Harmonie miteinander leben, und außerdem sind Kades Festungsanlagen wirklich beeindruckend. Eigentlich haben wir den Krieg niemals gewollt. Wir wollten uns lediglich versichern, daß die Mutter nicht in der Tochter weiterlebte. Unsere Vorsichtsmaßnahmen mögen durchaus übertrieben erscheinen, jedoch...« »Ich begreife das vollkommen«, unterbrach Herald ihn. »Auf diesem Planeten gibt es viele starke und streitsüchtige Auren. Diese muß man unter Kontrolle halten. Meine eigene Existenz wurde beinahe durch ein solches blutrünstiges Ungeheuer abrupt beendet. Im Angesicht dessen kann keine Vorsichtsmaßnahme extrem genug sein.« Qaval nickte ernst und entfernte sich. Das Fest dauerte an, und es wurde gefeiert, als gelte es, eine Schlacht zu schlagen. Herald gelang es endlich, sich seine Braut für einen Tanz zu sichern. »Du machst mich eifersüchtig«, raunte er in ihr meerblaues Ohr. »Der ganze Adel sucht deine Gesellschaft.« »Dafür suche ich ganz allein dich«, sagte sie und drückte ihn an sich. »Obwohl ich mir bei dir nicht ganz sicher bin. Immerhin ist mir aufgefallen, wie du hinter dieser reizvollen Radpuppe hergestiegen bist...« »Oh? Welche meinst du?« fragte er und schaute sich neugierig um. »Wie viele hast du denn angestarrt?« wollte sie er-
bost wissen. Doch sie konnte sich nicht lange verstellen und küßte ihn dafür. Als Echo ertönten laute Rufe verschiedener Entitäten, als wären sie Zeuge einer Ungehörigkeit geworden. »Ach, schweigen Sie, Lustmolche!« rief Psyche ihnen lachend zu. Ring von Krone ließ sich nur ungern übertrumpfen. Momentan waren keine sadorischen Mädchen zugegen, die er hätte necken können. »Laßt uns das Spiel spielen«, schlug der Prinz vor und rollte von seiner Scheibe mit fermentiertem Kornmalz-Getränk herab. Er hatte offensichtlich einige Schüsseln zuviel aufgenommen. Niemand konnte es sich jedoch leisten, selbst die trunken ausgesprochenen Worte des Prinzen zu ignorieren oder ihnen zu widersprechen. »Verstecken und Suchen.« Dieses Spiel war so alt, daß es noch aus der Ära der Ahnen stammen mußte; jede Sphäre kannte es und hatte ihre eigenen Varianten. »Alle verstecken sich – und die Braut und der Bräutigam sind ES!« fuhr Prinz Ring fort. Und rollte schwankend davon. »Stoppt eure Räder für fünf Minuten!« rief er, ehe er den Raum verließ. »Laßt uns Zeit!« Kade schüttelte den Kopf. »Das hat mir noch gefehlt! Betrunkene Feinde überall in der Burg. Wenn einer von ihnen sich verletzt, gibt das schlimmste diplomatische Verwicklungen!« Doch nicht einmal er konnte dem Prinzen Einhalt gebieten. Er entfernte sich und suchte sich ein angemessenes Versteck. Plötzlich war Herald mit seiner Frau allein. »Fünf Minuten? Geben wir ihnen fünf Stunden«, schlug er vor und umarmte Psyche. Sie kam ihm willig entgegen und versank mit ihm
in einem tiefen Kuß von beträchtlicher Dauer. Von ferne mochte sie aussehen wie ein Kind, jedoch verfügte sie über den Instinkt einer reifen Frau! Dennoch war etwas nicht in Ordnung. Er konzentrierte sich und versuchte, sein Gefühl zu definieren. Es war keine innere Anspannung, wie sie für einen solchen wichtigen Tag vielleicht normal gewesen wäre, denn sie gab sich völlig entspannt und schien den Anlaß zu genießen. Kaum jemand hatte davon Notiz genommen, aber hier ging es um ein Aura-Problem, und dafür war er als KirlianFachmann schließlich zuständig. Aura – das war es! Ihre Aura wurde stärker. Sie maß jetzt schon fünfunddreißig, zehn Intensitätsgrade über ihrer Norm. Psyche wich zurück. »Was ist, Geliebter?« »Der Feind ist zufriedengestellt. Sie erheben gegen dich keine Vorwürfe mehr, da man davon ausgeht, daß ich niemals eine Dämonin heiraten würde. Man nimmt an, daß ich auf die Reichtümer Kades scharf bin.« »Wirklich?« meinte Psyche belustigt in ihrer Sicherheit, daß er ausschließlich an ihr interessiert war und nicht an irgendwelchen materiellen Dingen. Was nahezu vollständig der Wahrheit entsprach. Herald war noch nicht als reich zu bezeichnen, aber er hatte es bald geschafft. »Im Augenblick nimmt deine Aura zu«, erklärte er sorgenvoll. »Wenn man dies bemerkt...« »Ich werde mich nicht verstecken!« unterbrach sie ihn heftig. »Wir werden zum Prinzen gehen und es ihm zeigen! Ich stelle keine Gefahr dar.« »Der Prinz ist betrunken!«
»Dann soll er von mir aus annehmen, meine Aura sei das Produkt seines Rausches! Aber es muß alles ganz offenbleiben. Meine Aura hat dich für mich gewonnen; ich will, daß der ganze Planet Keep das erfährt!« Herald seufzte. Wenn sie tatsächlich gewillt und entschlossen war, ihre dämonische Aura öffentlich vorzuführen, dann wäre er kaum in der Lage, sie davon abzuhalten. »Wahrscheinlich ist es so am besten. Tatsächlich hast du eine variable Aura, die so etwas wie einen Zyklus durchläuft. So etwas hat man noch nie zuvor beobachtet, deshalb handelt es sich vielleicht um eine Mutation. Von seltsam oder gar gefährlich kann jedoch keine Rede sein. Wenn man erkennt, daß selbst im Zustand höchster Intensität keine Besessenheit festzustellen ist...« »Komm! Wir müssen die anderen sowieso suchen. Wir werden meine Aura jeder Kreatur in der Burg vorführen!« Und sie zog ihn entschlossen mit sich. Die Kreaturen hatten sich im gesamten Gebäude verteilt. Nacheinander stöberten sie sie auf, und Psyche berührte jede. »Sehen Sie? Meine Aura ist stärker, weil ich nun mit dem König der Aura verheiratet bin.« Und nacheinander, sowohl von ihrer verqueren Logik als auch von der Tatsache überzeugt, gaben die Entitäten mit stärkerer Aura ihr recht. Im Verlauf einer Stunde stieg Psyches Aura bis auf 135 an, dabei war es für alle klar ersichtlich, daß sie sich nicht verändert hatte. Herald jedoch wurde zunehmend nervöser. Er hätte es lieber gesehen, wenn der Anstieg nach Abreise der Gäste begonnen hätte. Es war eine ziemlich gefährliche Situation, ähnlich einem Feuer, das unter einem Haufen trockenen Rei-
sigs schwelt. Durchaus möglich, daß sich daraus kein Großbrand entwickelte, jedoch wäre es besser, es ganz zu löschen und auf Nummer Sicher zu gehen. Aber der Herzog von Qaval blieb in seinem Versteck, desgleichen Prinz Ring von Krone. »Sie müssen zusammensein«, vermutete Herald. »Wahrscheinlich hat der Prinz sich sein Versteck gesucht, und der Herzog ist nur bei ihm geblieben, damit er sich nicht verletzt. Aber wo können sie sein?« »Dies ist eine große Burg mit vielen Winkeln und Nischen«, erklärte Psyche. »Aber ich kenne sie alle. Die beiden werden uns nicht entgehen!« Und sie führte ihn und schien an dem Spiel großes Vergnügen zu haben. Ach ja, die Unbeschwertheit der Jugend! Sie durchsuchten sämtliche Kammern und stiegen hinauf in die höchsten Türme und Erker, während ihre Aura mit stieg und 100 erreichte. Nun hatte Herald gleich zwei Gründe, warum er die Gäste loswerden wollte: Erstens um eine allgemeine Beunruhigung über ihre zu intensive Aura zu vermeiden – und um die Gelegenheit zu nutzen und sich mit ihr in Liebe zu vereinigen. Schließlich war das ihre Hochzeitsnacht! Aber solange der Prinz noch in seinem Versteck hockte, war das Spiel nicht zu Ende, und solange durfte auch niemand das Fest verlassen. Jede geringere Entität hätte man auffordern können, herauszukommen – »HERBEI HERBEI ALLE SIND JETZT FREI!« –, aber nicht den Prinzen. Er mußte auf jeden Fall vom Suchenden gefunden werden, und dabei durfte keine andere Entität behilflich sein. »Dieser besoffene Roller«, schimpfte Herald. »Ich will, daß er von hier verschwindet, ehe du wieder
verblaßt!« Psyche lächelte wissend. »Ich auch, Herald. Ich wünschte, ich könnte immer so stark sein, allein für dich. Aber soweit ich dich verstanden habe, werde ich für die nächste Stunde nicht weiter steigen. Wenn wir ihn bis dahin nicht gefunden haben, suche ich mir mit dir ein leeres Zimmer und reiße dir die Kleider vom Leib.« »Bei unserem Glück finden wir ausgerechnet in diesem Zimmer dann den Prinzen«, murmelte Herald düster. »O nein!« wehrte Psyche ab. »Sich mit einer schrecklichen Monsterschlange von fremdem Slash zu paaren, lasse ich mir ja noch gefallen, jedoch habe ich ganz entschieden etwas gegen einen sadorischen Voyeur!« Herald gab ihr einen tadelnden Klaps auf ihr reizvoll gerundetes Hinterteil. »Keine Sorge! Er hat keine Kleider, die man herunterreißen könnte. Allenfalls beraubt er die Kleine, die ihm seine Drinks serviert, eines Rades.« Psyche blieb abrupt stehen. »Der Weinkeller! Das ist der einzige Ort, wo er sich jetzt noch aufhalten kann!« »Natürlich!« Herald schnippte mit seinen menschlichen Fingern. »Wo sollte ein Betrunkener sonst sein? Wir hätten dort zuerst nachschauen sollen.« Hand in Hand eilten sie die gewundene Treppe hinunter, während ihre Aura sich noch schneller intensivierte als jemals zuvor. »Es geht immer schneller!« rief Herald. »Jetzt mißt sie bereits einhundertneunzig!« Einhundertneunzig – so stark wie Flamme von Esse. Er wollte nicht, daß sie auf dieser Stufe
blieb. »Wir bekommen die Burg ganz bestimmt nicht rechtzeitig leer«, sagte sie. »Komm schon, die paar Minuten, die sie auf uns warten müssen, machen auch nichts mehr aus.« Sie zerrte ihn zu einer Schlafkammer. »Ein paar Minuten, zur Hölle!« schimpfte er. »Ich will die ganze Nacht!« »Du hast nach heute das ganze Jahrhundert Zeit! Gestohlene Augenblicke sind die wertvollsten.« Und sie zerrte ihn hinter sich her die Treppe hinauf. »Muß wohl so sein«, brummte er. Allein ihre Nähe mit ihrer Aura, die sich dem Intensitätsgrad zweihundert näherte, war für ihn ein Vergnügen. Zweihundert? »Jetzt sind es einhundertachtzig«, stellte er verblüfft fest. »Heißt das, daß ich bereits den Höhepunkt erreicht habe? Eigentlich hätte ich angenommen, ich käme wieder soweit wie vorher schon mal.« Sie schluckte ihre Enttäuschung hinunter. »Nun, wir müssen uns beeilen.« Und sie rannte zum nächsten Treppenabsatz hinauf, wobei ihre flatternden Röcke ihm ungehinderte Aussicht auf ihre schlanken Beine gewährten. Wer immer Hochzeitskleider entworfen hatte, mußte gewußt haben, wie man einen Mann am besten auf hundertachtzig bringen konnte! Im Schlafzimmer sank Psyches Aura auf einhundertfünfundsechzig. »Warte«, bat Herald. »Irgend etwas kommt mir reichlich seltsam vor. Erst geht es nach oben, und dann wieder runter. Komm, wir gehen noch mal nach unten.« Sie hielt damit inne, die diversen Verschlüsse ihres Kleides zu öffnen. »Ich dachte, du wolltest...«
»Ich bin nicht gerade sexbesessen«, meinte er. »Wenn ich liebe, würde ich auch mit einer Aura von Null vorliebnehmen, wenn es sein müßte; das ist ja nicht der einzige Reiz, den du für mich hast. Dann wären noch dein Geld und diese wundervolle Burg und...« »Oh, du sollst aber nicht leiden«, unterbrach sie ihn und zog einen Schmollmund. »Dann sei mir wieder gut. Gleich werde ich mein Versprechen einlösen.« Sie lächelte. »Das weiß ich doch. Ich werde für jedes gebrochene Versprechen eine Goldmünze und einen Ziegel aus der Burg abziehen.« »Dann bleibt ja am Ende nichts mehr übrig!« rief er verzweifelt. Sie gab ihm mit ihrem weichen Schuh einen sanften Tritt. »So schlimm wird es nun auch wieder nicht, Schlange!« Gemeinsam trotteten sie die beiden Treppenabsätze wieder hinab. Immerhin lernte er auf diese Art und Weise die Burg kennen! Und ihre Aura schnellte wieder hoch auf 190. »Die Intensität ist zur Höhe umgekehrt proportional!« stellte Herald verblüfft fest. »Aber sie ist doch während unseres Aufstiegs ebenfalls angestiegen, wenn auch nur langsam – und zwar bis jetzt«, wandte sie ein. »Es scheint hier zwei wichtige Faktoren zu geben. Da wäre einmal ein bestimmter Zyklus, heißt, sie steigt um hundert Intensitätsgrade pro Stunde an, bis sie einen Höchstwert erreicht hat und wieder abnimmt. Doch gleichzeitig hängt ihre Stärke auch von der jeweiligen Höhe ab; je weiter du dich vom Grund
entfernst, desto schwächer nimmt sie zu.« »Dann nehme ich für den Keller lieber ein Kissen mit«, schlug sie vor und hob dabei eine Augenbraue. »Da ich ja weiß, wie sehr eine starke Aura dich erregen kann...« »Aber nicht, wenn der Prinz hier herumschleicht!« Er zog sie an sich und küßte sie. »Komm, wir suchen ihn. Wir können uns doch heimlich zurückziehen, wenn dein Vater die Gäste nach draußen bringt und aufpaßt, daß niemand in den See stürzt. Obwohl der Herzog von Qaval wahrscheinlich den Alligatoren einen Schrecken einjagen würde, fiele er ins Wasser.« »Du interessierst dich für meine Aura mehr als für mich«, schmollte sie. So ganz unrecht hatte sie damit nicht, und das tat weh. »Wenn er nicht im Keller ist, dann bleiben wir gleich hier und tun es«, versprach er. »Wenn es sein muß, sogar im Stehen.« »Oh, wie schön«, kicherte sie. »Sehr viele Rassen vermehren sich im Stehen.« »Mintaker vermehren sich sogar mit den Füßen«, meinte sie. »Aber du darfst deine Füße ruhig aus meinem...« Er schnitt ihr mit einem hastigen Kuß das Wort ab. »Sei versichert, daß ich vorher meine Schuhe ausziehe.« Ihre Aura nahm wieder zu, als sie ihren Abstieg fortsetzten. Als sie den Keller erreichten, betrug die Intensität 215. Sie war in diesem Moment die zweitstärkste Kirlian-Aura im Cluster. »Wo ist das Licht?« fragte Herald und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen. »Kein Licht im Weinkeller. Vater sagt immer, Licht
verdirbt den Wein.« »Dann müssen wir eben nach dem Prinzen tasten«, sagte er. Er strich mit der Hand an der kalten Steinmauer entlang und hielt mit der anderen seine junge Frau fest. »Großer Kreis!« wurde vor ihnen eine Stimme laut und erschreckte sie. »Ein Gespenst!« »Gefunden, Prinz!« freute Herald sich. »Sehen Sie sich die Lady an!« sagte eine andere Stimme. Sie gehörte dem Herzog von Qaval. Herald drehte sich um. Psyche leuchtete in der Finsternis. Es war ihre Aura, die sich sichtbar manifestierte. Sie pulsierte leicht, wobei ihre Farben die Funktion der verschiedenen Organe anzeigten. Sie ging über in einen Nimbus, der sich an der Peripherie in winzigen Blitzen auflöste. Der Anblick war einfach wunderschön. Aber es war auch ein Unglück. »Besessen!« schrie der Prinz voller Entsetzen. »Dollar hatte recht!« »Nein«, widersprach Herald. »Ihre Aura ändert sich. In bestimmten Perioden ist sie so stark wie meine, dann vergeht sie wieder. Dabei ist die Lady immer sie selbst. Es gibt keinen fremden Einfluß.« »Warum leuchtet sie denn?« wollte Qaval wissen. »Diese Erscheinung kann man in bestimmten Magnetfeldern bei besonders starken Auren beobachten. Auf diese Weise wurde vor zweitausend Jahren im Sol-System die Aura entdeckt, als nämlich die Wissenschaftler, die sie fotografierten...« »Warum leuchten denn unsere nicht?« »Vielleicht haben wir einen anderen Typ. Ich versichere Ihnen, es handelt sich hier ganz bestimmt nicht
um eine übernatürliche Erscheinung. Kommen Sie, berühren Sie sie; überzeugen Sie sich, daß sie normal ist, dasselbe Mädchen, mit dem Sie gerade noch getanzt haben.« »Halten Sie sie mir vom Leib!« kreischte Ring. »Sie ist von einem Dämon besessen!« »In einem anderen Licht würden vielleicht unsere Auren leuchten und ihre nicht«, meinte Herald. »Sie hat einen sehr seltenen Typ...« »Töten Sie sie!« forderte der Prinz kalt. Heralds menschliche Hand zuckte zu seinem Schwert, doch er trug keines, weil es sich um einen festlichen Anlaß handelte. Aber auch der Herzog und der Prinz waren nicht bewaffnet. »Während des Waffenstillstands dürfen wir keinen Kampf vom Zaun brechen«, warnte Qaval seinen Lehensherrn. »Selbst wenn wir bewaffnet wären.« »Sie muß sterben«, beharrte der Prinz. Herald stellte sich vor Psyche. »Sie ist meine Frau!« »Kommen Sie... wir müssen gehen«, sagte Qaval. Seine Stimme klang traurig. Die beiden drängten sich an Herald vorbei, der wachsam blieb. Er brauchte jedoch keinen Überraschungsangriff abzuwehren. Der Prinz schlug um Psyche einen möglichst weiten Bogen, und der Herzog war darauf bedacht, ihn abzuschirmen. Es wäre eine taktische Dummheit gewesen, hätten sie tatsächlich angegriffen, denn die Ritter des Herzogs von Kade hatten die Kontrolle in der Burg, und kein Gast konnte die Burg ohne Kades Erlaubnis lebendig verlassen. Herald und Psyche folgten dem Prinzen und Qaval in den Hauptsaal. Das Fest ging ziemlich abrupt zu
Ende. Mit eiserner Miene stand der Herzog von Kade am Tor und murmelte hohle Höflichkeiten, während die Gäste aus dem Lager des Feindes auf die Fähre drängten. Psyches Aura war bis auf 240 angestiegen. Doch Herald hatte sein Interesse an seinem Schäferstündchen verloren. Er wußte, daß der Zufall ihr ein Todesurteil beschert hatte, als sie schon so gut wie in Sicherheit war. »Ich bedaure, die Therapie nicht zu Ende führen zu können«, sagte Herald. »Es ist nicht ratsam, daß Sie noch länger hierbleiben. Es wäre zu gefährlich.« »Aber wir machen doch Fortschritte«, protestierte Hweeh. »Ich weiß es. Nach jeder Sitzung komme ich dem schockauslösenden Thema näher. Es hat etwas mit dem Tiefraum zu tun, irgendeiner Erscheinung hinter dem Cluster, und die ganze Sache ist außerordentlich wichtig. Wenn ich das alles doch begreifen könnte, ohne daß meine mentale Sicherung durchbrennt. Vielleicht ist es ausgerechnet bei der nächsten Sitzung schon soweit, daß...« »Die anderen Edlen des Planeten Keep sind übereingekommen, daß meine Frau Psyche Opfer einer Besessenheit ist«, erklärte Herald. »Sie fordern ihre Hinrichtung. Da weder der Herzog von Kade noch ich damit einverstanden sind, wird es wohl Krieg geben. Es wäre nicht fair, Sie hier in der Burg bleiben zu lassen, da es durchaus zu einer Belagerung kommen könnte, an deren Ende vielleicht die völlige Vernichtung aller Insassen steht.« »Ich achte Ihre Überlegungen und bin darüber erfreut«, sagte Hweeh. »Doch hege ich die Überzeu-
gung, daß die Information, die ich mit mir trage, dieses Risiko wert ist und daß ganz allein Sie diese Information rechtzeitig herausbringen können. Wir stehen einer schrecklichen Bedrohung gegenüber, und diese wird sich nicht in Wohlgefallen auflösen, nur weil ich sie einfach ignoriere. Mein Intellekt weiß, was mein Gefühl nicht akzeptieren will; man kann der Realität nicht entfliehen, indem man sich vor ihr versteckt. Und... Außerdem empfinde ich für die Lady Kade eine tiefe Sympathie, und auch für Sie, Herald. Irgendwie käme ich mir seltsam vor, wenn ich Sie ausgerechnet in dieser Periode höchster Belastung verließe.« »Das ist sehr edel von Ihnen«, meinte Psyche. »Aber ich sehe keine Möglichkeit, wie Sie uns helfen sollten.« »Vielleicht fällt mir etwas ein«, bot Weew sich an. »Ich habe in meinem Segment gewisse einflußreiche Verbindungen. Wenn ein Protest formuliert und vorgebracht würde...« »Der Herzog von Kade ist der Auffassung, daß diese Angelegenheit intern geregelt werden muß«, erklärte Herald. »Wenn er die feindliche Macht nicht zurückdrängen und schlagen kann, dann nützt ihm ein zusätzlicher Segment-Protest überhaupt nichts mehr. Politik ist niemals so schnell wie ein gezielt abgeschossener Pfeil.« »Vielleicht dann auf einem anderen Weg. Auf jeden Fall werde ich hierbleiben – weil ich nämlich in Ihrer Nähe bleiben muß, sind Sie doch wahrscheinlich der einzige, der die in mir schlummernden Informationen rechtzeitig aktivieren und abrufen kann.«
Schon nach wenigen Tagen setzte der Feind seine Truppen in Bewegung. Kade ließ seine eigenen Kräfte bestens geordnet aufmarschieren. Zwar war Kade das mächtigste Herzogtum von Keep, jedoch war seine Streitmacht der des Prinzen zahlenmäßig unterlegen. »Das ist doch alles unnötig«, meinte Herald zu Kade. »Ich nehme Psyche mit nach Andromeda, wohin niemand uns folgen wird.« »Sie wird nicht mitgehen wollen«, war Kade überzeugt. »Sie ist eine Tochter von Keep und der Burg Kade. Sie von hier fortzubringen, hieße sie zu vernichten. Überdies hat allein der König die Kontrolle über die Transfer- und MaterietransmissionsAnlagen.« Natürlich gab es in diesem Fall nur die Materietransmission. Mit ihrer Aura von der Intensität fünfundzwanzig konnte Psyche sich nicht unbegrenzt lange im Transfer aufhalten. In weniger als einem Jahr wäre sie vollkommen vergangen. Und wenn ihr Körper auf Keep bliebe, würde er so gut wie sicher zerstört. »Können wir sie abwehren?« fragte Herald. »Wir müssen sie abwehren«, erwiderte Kade. »Wenn sie uns während des ersten Monats nicht besiegen, werden sie sich zurückziehen, da sie sich um ihre eigenen Haushalte kümmern und die Raubtiere unter Kontrolle halten müssen. Nachdem sie meine Tochter während der Hochzeitsfeier kennengelernt haben und sich von ihrer Unschuld überzeugen konnten, sind viele von ihnen sowieso nicht sonderlich an einem Krieg interessiert. Jedoch verlangt das Ansehen des Prinzen, daß sie sich mit allen Kräften einsetzen.«
Und dieser Einsatz erfolgte tatsächlich. Bald schon meldeten die Beobachter des Herzogs, daß die Standarten der Armee des Prinzen südlich des Donnysees hinter dem Damm gesichtet wurden. »Heute werden sie wohl nicht angreifen«, prophezeite der Herzog. »Zuerst werden sie ihre Streitmacht vereinigen und ein Lager aufschlagen. Voraussichtlich wird die Attacke morgen erfolgen.« Er irrte sich nicht. Der Feind rückte nicht weiter vor. Die Standarten waren gezeigt worden und mußten als Warnung ausreichen; das war Teil des Protokolls. Kurz darauf zog sich der sichtbare Teil der Armee nach Süden zurück und war von der Burg aus nicht mehr zu beobachten. »Es war nur nicht recht, daß Sie meine Tochter zur Frau nahmen«, gestand der Herzog seinem frischgebackenen Schwiegersohn. »Aber Sie haben einen guten Eindruck hinterlassen, und Psyche liebt Sie. Wären Sie bereit, mit mir eine Strategie auszuarbeiten?« »Was die Belagerungstaktik betrifft, bin ich nicht gerade der richtige Fachmann für Sie«, sagte Herald und fühlte sich durch das Interesse des Herzogs geschmeichelt. Wenn der Herzog sich auch nur langsam dazu durchrang, Herald die gebührende Achtung entgegenzubringen, so war es doch immerhin beruhigend, ihn auf seiner Seite zu wissen. »Eigentlich braucht man dazu vorwiegend seinen gesunden Menschenverstand. Sie werden dabei die Rolle des feindlichen Heerführers übernehmen.« »Wie Sie wünschen, mein Herr.« Kade trat an die wandgroße Landkarte. »Hier ist die Burg Kade«, sagte er und wies auf ein bauchiges Dreieck, »auf einer Insel im Donnysee, der wiederum
seine Existenz unserem Damm über den Donnybach verdankt.« Er zeigte nun auf ein Gebiet südlich der Burg. »Der Hauptangriff ist aus dem Tal von Süden her zu erwarten, da die nördliche Grenze für Verteidigungsmaßnahmen geradezu ideal ist. Jedoch könnten wir das Wasser aus unserem Stausee ablassen und das Tal damit überfluten. Natürlich ist diese Möglichkeit dem Feind bekannt. Dadurch würde zwar unser See ablaufen, jedoch wären wir immer noch durch einen hinreichend tiefen Sumpf geschützt, den der Feind unter dem Beschuß von unseren Festungsanlagen überqueren müßte. Wie würden Sie denn unter den gegebenen Umständen mit einer Belagerungsarmee angreifen?« Herald dachte nach. »Der Weg durch den Sumpf ist ziemlich unsicher und gefährlich, daher nicht ratsam – demnach würde ich mein Glück von der Gebirgsstraße im Westen aus versuchen. Ich würde erfahrene und umsichtige Ritter losschicken, um die Verteidigungsposten auszuschalten, dann würde ich die Truppen sammeln und Belagerungsmaschinen über die Bergketten schleppen und am Ufer des Burgsees aufbauen. Oben am Paß würde ich die Katapulte in Stellung bringen, um von dort aus Steine auf die Burg hinabzuschleudern.« »Und wenn ich eine Ritterschar aussenden würde, um Ihnen den Weg über die Felsstraße zur Hochweide abzuschneiden?« »Ich verfüge über – wie viele? – zweitausend Ritter? Sie haben kaum mehr als zweihundert. Ich würde Ihre gesamte Streitmacht hinwegfegen, wenn Sie so dumm wären, den Schutz von der Burg abzuziehen und mir in einer offenen Schlacht entgegenzu-
treten. Es stimmt zwar, daß ganz in der Nähe die Burg des Barons von Magnet steht, aber der hat auch nur wenige Ritter – und die befinden sich sowieso zur Verteidigung in der Burg Kade –, daher wird die Burg wahrscheinlich nur vom Hauspersonal geschützt. Ich würde dorthin eine kleinere Belagerungseinheit schicken, weniger um die Burg anzugreifen, sondern um sie völlig abzuriegeln, so daß mir von dort keine Gefahr droht.« Herald sah Kade an. »Ehrlich gesagt, wüßte ich nicht, wie Sie mich aufhalten wollen. Den Prinzen natürlich. Er wird seine Belagerungstruppen bis zur Burg führen, wogegen Sie nichts unternehmen können. Und den Gebirgskamm können Sie nicht überfluten, oder?« »Natürlich kann ich einen Gebirgskamm nicht überfluten. Ich könnte allenfalls mit meiner Truppe einen Hinterhalt legen...« »Meine Ritter können einige Verluste vertragen, von mir aus drei Gefallene auf jeden Ritter von Ihnen, doch irgendwann wäre von Ihrer Armee nichts mehr übrig. Und wo wollen sich Ihre Ritter überhaupt verstecken – auf dem Hang etwa?« »Dann sehen Sie also keine Möglichkeit für mich, mich gegen Sie zu behaupten?« fragte Kade. »Offen gesagt, nein, und das macht mir große Sorgen. Vielleicht sollten Sie einen Graben anlegen oder einen Wall aufwerfen und Wachen aufstellen...« »In zwei Tagen oder noch weniger? Und dazu noch im Angesicht ihrer Belagerungsgeräte?« »Herzog, Sie machen mir wirklich Angst! Dann ist Burg Kade also doch nicht unverwundbar!« »Das scheint die einzige logische Schlußfolgerung zu sein«, gab Kade zu.
»Wir brauchen den Feind nur an der Mauer aufzuhalten. Außer sie entschließen sich zu der reichlich törichten Taktik und marschieren durch das Tal im Süden.« »So dumm sind die nicht. Wahrscheinlich werden sie einen kleinen Teil ihrer Streitmacht ins südliche Tal schicken. Sollten wir diese Leute wirklich mit unserer Wasserflut überraschen, bleibt immer noch die Hauptstreitmacht – und außerdem wären wir in unserer Verteidigung stärker geschwächt als die andere Seite in ihrer Angriffsaktion.« »Dann kann die andere Seite ihre Truppen demnach Einheit für Einheit über den Damm bringen, ohne daß wir etwas dagegen unternehmen können.« »Ja. Wir werden unsere Krieger für die Verteidigung der Burg aufsparen.« »Verdammt!« explodierte Herald. »Wie konnte man eine solche Schwachstelle ausgerechnet vor den Toren der Burg zulassen?« »Eigentlich wird der Damm ja durch Bogenschützen gesichert, so daß eine kleinere Feindestruppe Schwierigkeiten haben wird, sich von dort aus anzuschleichen...« »Ich denke an den Gratweg.« »Der Gratweg mußte angelegt werden, damit wir mit unserem Vieh zur Hochweide und wieder hinunter gelangen«, erklärte Kade geduldig. »Es handelt sich um eine sehr gute Weide, die beste in dieser Gegend, und in unseren Viehherden findet man die kräftigsten und fettesten Roller weit und breit. Sie haben ja selbst beobachten können, wie unsere Gäste sich auf das Rollerfleisch gestürzt haben! Ein wesentlicher Teil des Wohlstands dieses Herzogtums kommt
aus dieser Herde.« »Und niemand hat je damit gerechnet, daß es zu einem Krieg kommen könnte«, meinte Herald düster. »Wer hätte sich auch gedacht, daß die Lady von Kade eines Tages Opfer einer Besessenheit würde?« Er griff nach dem Schwert, das er mittlerweile trug. »Die ganze Affäre ist so lächerlich, so sinnlos! Dieser verdammte Aberglaube, der davon ausgeht, daß alles, was neu und ungewöhnlich ist, zugleich auch verdächtig ist! Jeder, der Psyche auch nur flüchtig kennengelernt hat...« Kade lächelte und zeigte damit eine der wenigen Gesten herzlicher Wärme, die Herald bisher bei ihm erlebt hatte. »Sie fangen an, meine Worte zu benutzen.« »Und warum nicht? Die Wahrheit kann nicht laut und oft genug verkündet werden.« Kade wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Landkarte zu. »Auch ich wies auf die Gefahren hin, die der Gratweg mit sich bringt. Über solche Warnungen geht man gerne hinweg, wenn man der Überzeugung ist, daß die angedeutete Gefahr niemals wirklich eintreten wird. Am Ende verzichtete ich darauf, den Felsgrat irgendwie zu sichern und zu befestigen. Können Sie sich denken, warum?« Herald studierte erneut die Landkarte. »Das ist mir ein Rätsel. Ich nehme an, aufgrund einer Überlegung bezüglich des Nutzens. Ihre Herden waren Ihnen wichtiger als die Gefahr eines für Sie unwahrscheinlich anmutenden Kriegsfalls. Weshalb sollten Sie sich allein wegen einer so theoretischen Möglichkeit in hohe Kosten stürzen?« »Wirklich, warum?« gab Kade ihm recht. »Daher
bin ich sicher, daß die Strategen des Prinzen sich ebenfalls mit dieser Karte beschäftigt haben und zu gleichen Schlußfolgerungen gelangt sind.« »Ja.« »Und darin liegt wahrscheinlich der Untergang des Prinzen begründet – vielleicht.« Herald blickte erstaunt hoch. »Wie das?« »Angenommen, unser Vieh beginnt auf der Hochweide eine Stampede und stürmt talwärts...« Herald betrachtete eingehend die Landkarte, ein drittes Mal jetzt, und sah die Hochweide und die Stelle, an der sie in den dem Vieh so vertrauten Gratweg überging. Ein Lächeln machte sich auf dem Gesicht seines menschlichen Wirts breit. Psyche fand ihn, als er sich für die Schlacht bereit machte und seine Waffen überprüfte. »Herald! Du willst doch nicht etwa mit in den Kampf ziehen? Dein Wirt hat weder die notwendige Ausbildung noch ist er dazu kräftig genug.« »Was immer im Transfer mit einem Wirt geschieht, erfolgt auf freiwilliger Basis«, erinnerte Herald seine junge Frau. »Ich könnte meinen Wirt niemals in Gefahr bringen, ohne daß er dazu bereit wäre und sich willig zur Verfügung stellte.« »Ich weiß nicht«, meinte sie zweifelnd. »Wir haben hier auf Keep schon sehr seltsame Dinge erlebt, und du mit deiner Aura...« »Ich lasse ihn direkt mit dir sprechen«, schlug Herald vor und gab seinem Wirt die Stimme frei. »Es stimmt, gnä' Frau«, bestätigte der Wirt. »Ich selbst bin ein Nichts. Als ich mich entscheiden mußte, wußte ich, daß ich nur zwei Möglichkeiten hatte,
nämlich zu dienen oder das Wirtsdasein, und ich wußte auch, daß ich als Wirt völlig zurücktreten und meinem Transfer die Entscheidungen überlassen mußte. Meister Herald hat mich trainiert und mich kräftiger und zäher gemacht, als ich es je zuvor war, und seine Aura stärkt mich die ganze Zeit, und ich fühle mich richtig gut, wissen Sie...« »Ich weiß«, unterbrach Psyche ihn. »Und dann habe ich es gerne, wenn die Leute das bewundern, was meinen Körper lenkt. Auch wenn eigentlich nicht ich es bin. Und überdies – das soll keine Beleidigung sein, gnä' Frau – wäre ich selbst wohl niemals so nahe an eine süße Puppe von einer Frau herangekommen, wie Sie es sind. Ich bin nichts, und Sie sind die Lady Kade. Also nehme ich meine Chancen wahr und genieße es. Vielleicht werde ich mit Meister Herald sterben, dennoch empfinde ich ein solches Schicksal als angenehmer und aufregender als mein eigenes.« Sie fühlte sich durch diese Offenbarung in keiner Weise brüskiert. »Ja. Ich habe mit zwei Männern geschlafen, nicht wahr? Aber so ist es im Transfer eben üblich. Herald weiß, daß ich niemals einen anderen außer ihn lieben werde, ganz gleich, in welcher Gestalt er bei mir ist.« »Er weiß es«, versicherte der Wirt. »Danke für Ihre freundlichen Worte, verehrte Dame, und ich ziehe mich jetzt wieder zurück, in Ordnung? Irgendwie komme ich mir komisch vor, wenn ich so mit Ihnen rede.« »Leb wohl, Wirt«, verabschiedete sie sich und winkte ihm dabei mit der Hand auf die netteste Art und Weise zu. Dann zu Herald: »Ich will dich immer
noch an meiner Seite, Mann. Wir sind noch nicht lange verheiratet, und ich möchte Freude empfangen. Sollte dir irgend etwas zustoßen...« »Du bist es, hinter der man her ist«, erinnerte Herald sie. »Wir müssen die Burg verteidigen, und deren wesentlicher Schwachpunkt ist der Damm. Wenn der Feind den Damm anbohrt, wird der Wasserspiegel des Sees sinken, und der Feind wird bis an die Mauern der Burg gelangen. Der Schlamm wird ein Vordringen stark erschweren, doch am Ende...« »Nein, nichts wird geschehen«, unterbrach sie. »Der See ist in der Nähe der Burg tiefer als im Uferbereich, um einen tieferen Schlammring zu erzeugen. Und so tief wird das Wasser niemals sinken. Sämtliche Alligatoren werden sich dorthin zurückziehen und...« »Dennoch wären sie in der Lage, ihre Belagerungsmaschinerie noch näher an die Mauer zu bringen. Deshalb nehme ich einen Bogen und Pfeile mit, um bei der Verteidigung des Damms mitzuhelfen.« »Kannst du denn mit deinem Bogen von der Burg aus nichts ausrichten?« »Wenn der Damm fallen sollte, bin ich rechtzeitig wieder hier in der Burg.« Aber er konnte den Zweifel in ihren Augen nicht ertragen, deshalb zog er sie zu sich heran und flüsterte in ihr süßes Ohr: »Der Bogen ist nur Teil der Uniform. Ich nehme bei den Verteidigern Kirlian-Checks vor, um mich davon zu überzeugen, daß sich kein Transferer darunter befindet, der vielleicht in einer Sabotage-Aktion den Damm beschädigen oder deinen Vater hinterrücks erschießen will. Ich gehe nicht hinaus, um zu kämpfen, und die Fähre wird mich schnellstens wieder zurückbringen.«
Er biß ihr zärtlich ins Ohrläppchen. Sie schüttelte den Kopf, ob als Reaktion auf seine Erklärung oder als Ausdruck ihrer Ablehnung, war ihm nicht ganz klar. »Ich glaube, ich wußte, daß es so sein würde. Du versuchst, meinem Vater etwas zu beweisen.« Herald lächelte. »Ich glaube, das stimmt.« Er küßte sie und ging. Tatsächlich war er begierig darauf mitzuwirken; es gab ihm das Gefühl, sich bei der Abwehr einer Gefahr nützlich zu erweisen, die er zum Teil mit geschaffen hatte. Der Feind ritt mit martialischem Trompetengeschmetter und flatternden Standarten durch das Tal auf den Damm zu; eine Reihe von Rittern rückte auf ihren rollenden Reittieren vor. Herald erkannte die Wappen von Krone, Qaval und Skot neben anderen, die er zum erstenmal sah. Aber wo waren Rundherum, Nummer und Dollar? Hatten sie sich aus diesem Feldzug zurückgezogen oder hielten sie sich woanders auf? Aber wo außer am Grat, bereit, die Lawine auszulösen? Wenn sie es richtig anfingen, würde der Erdrutsch einen Teil des Sees füllen und den ersten Teil einer Rampe schaffen, über die die Burg erobert werden konnte. Vor allem dann, wenn durch die Vernichtung des Damms der Wasserspiegel gesenkt würde. Sollte tatsächlich Verrat mit im Spiel sein, dann wäre genau jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Sabotage-Aktion! Herald löste seine Blicke von den heranrückenden Standarten und eilte an den Befestigungen des Damms entlang und passierte die Bogenschützen nahe genug, um ihre Auren zu fühlen, ohne sie kör-
perlich berühren zu müssen. Natürlich hatten die Bogenschützen keine Ahnung, was er im Sinn hatte. Er trug sogar selbst einen Bogen, als wollte er einspringen, falls er gebraucht würde. Ihre Augen waren echt. Es gab unter ihnen keine verräterischen Transferer – wenigstens nicht in diesem Bereich. Wahrscheinlich war sein Mißtrauen völlig unbegründet. Der Herzog von Kade war bereit. Er war mit ausgesuchten Kämpfern neben dem Damm gelandet, nicht um ihn zu verteidigen, sondern um sich im rituellen Zweikampf zu messen. Es war ein Brauch, den Herald nicht vollständig begriff. Dabei erwartete man vom Schloßherrn, daß er sich von seiner Truppe löste und sich auf dem Feld der Ehre zum Kampf stellte. Nun flatterten also die Standarten von Kade und Magnet und den anderen Verbündeten. Es waren etwa fünfzig Ritter auf beiden Seiten, die Hälfte von Kades Streitmacht und sicherlich nur ein Bruchteil der Gesamtmacht des Feindes. Damit wurde dem Prinzip des symbolischen Kräftemessens Genüge getan, eine Tradition, die seit Jahrtausenden im Cluster gepflegt wurde. Es gab für Herald nichts anderes zu tun, als abzuwarten und zuzuschauen. Die Fähre würde die überlebenden Ritter zur Burg zurückbringen, und Herald würde sie begleiten. Dann würde der wahre Kampf beginnen, wenn auch weniger dramatisch als diese symbolische Schlacht im kleinen. Die beiden Rittertrupps stürmten aufeinander zu. Lanzen krachten auf Schilde – oh, welch eine Schändung dieser wunderbaren Wappenbilder! –, und ei-
nige der Ritter wurden aus den Sätteln geschleudert. Dann kam es zu einem wilden Durcheinander von blitzenden Schwertern und Keulen und Streitäxten. Es handelte sich vorwiegend um physische Waffen statt um Laser, vernichtend und blutig für die Rüstungen aus Interferenzschirmen, welche die Laserwaffen neutralisierten. Die Standarten fielen, und das nackte Chaos herrschte; nur das Blitzen der Schilde und Helme ermöglichte eine Identifikation der Kämpfenden. Bald wurde jedoch das Signal zum Unterbrechen gegeben, denn lange ließ sich eine derartige Aktion nicht durchhalten. Allmählich wichen die Vertreter der feindlichen Heere auseinander, während Helfer zu Fuß auf das Schlachtfeld eilten, um die Toten einzusammeln. Leicht verkleinerte Rittertrupps sammelten sich unter den wiederaufgerichteten Standarten. Der Waffengang hatte nicht allzu hohe Verluste gekostet. Vorbei? Erneut erklang das Signal, und die blessierten Ritter nahmen den Kampf wieder auf. Herald begriff, daß dies erst der erste Zusammenstoß von vielen gewesen war, das erste Abtasten der Kräfte. Die Pause hatte man eingelegt, um die Kampfunfähigen und die Trümmer zu entfernen, um das Schlachtfeld sauber zu halten. Es hätte keinen Sinn, sich von den Toten oder Sterbenden behindern zu lassen; das war nicht anständig und edel. Und so ging es weiter: heftiger Kampf, dann eine Unterbrechung; erneuter Kampf zwischen geschrumpften Gruppen; wiederum eine Pause. Es war eine Art Ausscheidungskampf, bei dem das Glück eine ebenso wichtige Rolle spielte wie das individuelle Geschick. Aber sehr bald zeichneten sich für die
Truppe des Herzogs von Kade deutliche Vorteile ab. Nach jeder Kampfunterbrechung verringerte sich die Anzahl der feindlichen Kämpfer, bis das Zahlenverhältnis zwischen den beiden Truppen zwei zu eins betrug. Schließlich hatte der Gegner genug; die Ritter waren zu müde, um sich wieder zum Kampf zu stellen. Sie gaben das Signal zum Rückzug und entfernten sich durch das Tal auf dem gleichen Weg, den sie heraufgekommen waren. Kade machte natürlich keine Anstalten, seinen Widersachern zu folgen; die Gefahr eines Überraschungsangriffs der noch frischen Reiter am Ende des Tals war zu groß, und außerdem könnte er das Tal dann nicht fluten lassen, ohne selbst von den Wassermassen bedroht zu werden. Kade behielt fünfundzwanzig Ritter übrig, während die gegnerische Mannschaft nur noch fünfzehn Kämpfer zählte. Unter den Gefallenen befanden sich der Herzog von Qaval und der Sproß von Skot. War die Schlacht auch lediglich ein formelles Ritual gewesen, so war der Tod dennoch eine bittere Realität. Herald bedauerte das Hinscheiden Qavals, der bisher klarsichtige Intelligenz und große Aufrichtigkeit bewiesen hatte; unter anderen Umständen hätte Herald ihn durchaus als Freund zu gewinnen versucht. Die siegreiche Mannschaft ritt zum Damm zurück und führte eine Anzahl reiterloser Pferde mit sich. Sie rollten von der Straße herab und hielten auf die Stelle zu, wo sich das Tor in der Barriere öffnete, um sie durchzulassen. »Die Narren waren überhaupt nicht in Form!« rief Kade triumphierend. »Sie waren erstaunlich schwerfällig. Ein überaus günstiges Omen!« Qaval schwerfällig? Herald hätte dies niemals für möglich gehalten, wenn er den zerhauenen Wappen-
schild nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Der gegnerische Herzog hatte auf ihn den Eindruck einer Entität gemacht, die niemals unvorbereitet in einen Kampf ziehen würde. Hatte er vielleicht mit sich einen Loyalitätskonflikt ausgefochten? Die Fähre legte an, und die Ritter brachten ihre Rösser an Bord. Kade rollte an Herald vorüber und bedeutete ihm, er möge sich auf das seitliche Trittbrett des Sattels stellen, damit er ihn mitnehmen könne. »Alles klar?« fragte er durch sein geschlossenes Visier, als Herald der Aufforderung Folge leistete. »Alles klar«, informierte Herald ihn. Einige von den Pferden scheuten, wechselten dauernd die Räder, und es kostete die Reiter einige Mühe, sie geradeaus rollen zu lassen. »Die sollten doch mehr Disziplin zeigen«, murmelte Kade, jedoch war die Freude über seinen Sieg so groß, daß er davon abließ, seinem Unwillen Luft zu machen. Die Fähre legte ab. Die Paddeltiere nahmen ihre Arbeit auf, und das Boot nahm im glasklaren Wasser Kurs auf die Burg. Eine Eskorte aus Alligatoren umringte die Fähre. Plötzlich entstand ein Durcheinander. Sechs Ritter fielen schreiend ins Wasser. In ihren schweren Rüstungen konnten sie nicht schwimmen oder wenigstens im Wasser treiben; sie mußten sich an die Reling klammern, wo sie vom Paddelwasser überspült wurden. Die Alligatoren jagten heran, zerrten sie vom Boot weg und hinab in die Tiefe, wo sie das Problem, leckeres Fleisch aus der eisernen Umhüllung herauszuholen, auf ihre eigene Art und Weise lösen würden. Die Ritter an Deck beugten sich weit aus den Sätteln ihrer Reittiere, um ihren verzweifelten Kame-
raden zu helfen, und fünf weitere Ritter verloren den Halt und stürzten in die Fluten. »Verrat!« schrie Kade und hob seine Streitaxt hoch. »Zeigt eure Gesichter, ihr Schurken, oder ich gebe den Bogenschützen auf dem Damm das Zeichen, euch auszulöschen!« Der Baron, der den Befehl über die Schützen führte, wies seine Leute bereits an, ihre Ziele auf der Fähre ins Visier zu nehmen und die Entfernung zu berechnen. Noch befand sich das Boot in Reichweite der Pfeile. Zögernd hob jeder der Ritter sein Visier. Und das erste Gesicht, das Herald erkannte, war die lange, grüne Schnauze des Herzogs von Qaval. »Kein Verrat, Kade«, meinte er. »Taktik.« »Die Toten!« rief Kade aus. »Sie haben ihre eigenen Ritter in die Rüstungen unserer Gefallenen gesteckt!« »Hatten Sie wirklich angenommen, daß Ihre Ritter soviel besser seien als unsere?« fragte Qaval mit einem bösartigen Grinsen, das nahezu zwei Drittel seines Kopfumfangs einnahm. »Hätten wir unser wahres Können eingesetzt, dann hätten Sie sicherlich die Schleusen geöffnet.« Das war sicher richtig, dachte Herald. Der Feind hatte einen raffinierten Weg gefunden, die Schleusen und die Bogenschützen auf dem Damm zu überlisten – indem er den Anschein erweckte, im Kampf den kürzeren zu ziehen. Welch erstaunliche List, auf dem Schlachtfeld die Rüstungen zu wechseln, ohne Kades Ritter mißtrauisch zu machen! Wahrscheinlich war jeder Ritter, der etwas bemerkt hatte, schnellstens getötet worden, und man hatte die Körper der toten Ritter Kades in die Rüstungen gestopft und während der Unterbrechungen fortgeschleift. Herald selbst
hatte die Schlacht aufmerksam verfolgt und nicht das geringste bemerkt; diese Operation war ein wahres Wunder an Genialität und Präzision. Und es ergaben sich daraus für den ganzen Krieg ernste Folgen. Der Feind war nicht unterlegen, sondern stellte Kades Truppen in bezug auf Ideenreichtum, Mut und Strategie in den Schatten. Herald wußte, daß dieselben Gedanken durch Kades Kopf gingen. Sie steckten wirklich tief in der Tinte! Aber vielleicht war dies auch nur der einzige ernsthafte Versuch der gegnerischen Seite, in die Burg einzudringen und den nachrückenden Kampftruppen den Weg zu ebnen. Man konnte ihn als fehlgeschlagen betrachten, weil Kade die List zu früh durchschaut hatte und sich auf die Unterstützung seiner Bogenschützen am Damm verlassen konnte. Vielleicht. Acht der noch an Deck verbliebenen Ritter waren Vertreter des Feindes. Nur sechs standen auf der richtigen Seite, wobei Kade mitzuzählen war. Die anderen Kade-Treuen lagen im Wasser, wohin Qavals raffinierte Kriegslist sie mitsamt ihren Reittieren befördert hatte. »Dann lassen Sie mal Ihre Bogenschützen auf uns schießen«, fuhr Qaval mit einem abfälligen, zähneblitzenden Grinsen fort. »Auf diese Entfernung werden sie uns alle töten, Sie selbst eingeschlossen, denn wir alle tragen Schilde und Rüstungen des Herzogtums Kade. Dabei können die Schützen unsere Gesichter nicht sehen und Freund und Feind nicht auseinanderhalten.« Danach verhüllte das Visier sein spöttisches Grinsen. »Aufs Pferd!« rief Kade seinem Schwiegersohn
rauh zu. Dann klappte er sein eigenes Visier herunter und griff Qaval mit seiner Streitaxt an. Wieder entbrannte ein heftiger Kampf, nur war es diesmal kein Schauspiel, das man aus sicherer Entfernung betrachtete, sondern man erlebte das Schlachtgetümmel aus nächster Nähe. Herald hatte sich die drei gegnerischen Reiter genau gemerkt. Er hatte dies keinem Talent zu verdanken, über das er von Natur aus verfügte, sondern der Schock der Entfernung und seine Vertrautheit mit den Wappen und den Helmen der Ritterrüstungen befähigten ihn, die Identitäten der betreffenden Ritter augenblicklich in seinem Gedächtnis zu fixieren. Er sprang in den Sattel des nächststehenden freien Reittiers und begriff plötzlich, warum die Pferde vor kurzem noch gescheut hatten. Sie waren von fremden Reitern geritten worden! Normalerweise wurde jedes Pferd nur von einem Reiter benutzt, ganz gleich, bei welcher Gelegenheit, so daß Denkender und Tier sich so gut wie eben möglich kennenlernten. Es war für die Kontrolle einfacher. Die Pferde gehorchten zwar jedem Reiter, dennoch fühlten sie sich nicht sonderlich wohl, wenn sie einen Fremden auf dem Rücken trugen. Eine mit Dornen gespickte Keule hing an seinem Sattel. Seine menschliche Hand griff wie von selbst danach. Vielleicht war sein Wirt für diese Geste verantwortlich. Die Keule war keine leichte Laserwaffe; es war ein echtes, solides, knochenbrechendes Instrument. Er gab seinem Pferd mit einem Fußtritt ein Zeichen und trieb es vorwärts. Herald holte aus und schwang die Keule gegen den Kopf des ihm nächsten Feindes. Der Ritter konterte
diesen Angriff geschickt mit seiner eigenen Keule. Herald war in dieser Kampfart völlig unerfahren, wohingegen die feindlichen Ritter besonders sorgfältig ausgebildete Profis zu sein schienen. Herald hatte gegen sie keine echte Chance. Nun befand man sich jedoch auf einem schwankenden Boot, das für den berittenen Kampf zu sehr überfüllt war, und außerdem hatte der gegnerische Ritter ein anderes Ziel ins Auge gefaßt und überhaupt nicht mit einem Angriff von Herald gerechnet. Er stand auf dem Fleck, während Heralds Reittier vorwärtsrollte. Als Folge kippte der andere Ritter durch die Wucht des Angriffs mitsamt seinem Reittier ins Wasser. Herald blieb Sieger. Er schaute sich um. Zwei feindliche Ritter drangen auf Kade ein, der offensichtlich von seinem ursprünglichen Angriffsziel abgelassen hatte. Qaval war ausgewichen und kämpfte mit einem von Kades Rittern, der noch vor Kade in seiner Reichweite aufgetaucht war. Herald erhob sich halb aus dem Sattel, um mit der Keule den nächsten Gegner anzugreifen. Er traf den Oberkörper der feindlichen Kreatur, jedoch mangelte es dem Treffer an Wucht und Genauigkeit, um viel Schaden anzurichten. Der Ritter holte mit dem Schwert aus: einer LaserKlinge. Herald packte die Keule mit beiden Händen und ließ sie auf den Helm des Ritters krachen. Die Schwertklinge aus Licht konnte diesen Schlag nicht abblocken. Herald spürte einen rasenden Schmerz in seinem rechten Ellenbogen, wo ein Scharnier der Rüstung eine Lücke entstehen ließ, durch die der Laserstrahl eindringen konnte, jedoch drückte sein eigener Hieb den Helm des Gegners ein, und das war genug.
»Narr!« brüllte Kade ihn an. »Hinter Ihnen sind sie her! Gehen Sie hinter mir in Deckung!« Herald gehorchte voller Hast und lenkte sein Reittier über das Bootsdeck. Ein weiterer Ritter versuchte, an ihn heranzukommen, wurde jedoch von Kade abgedrängt. Es war Qaval, der sich eine neue Axt besorgt hatte und damit bestens umgehen konnte. Funken stoben hoch, als die beiden Waffen aufeinanderprallten. An anderen Stellen auf dem Boot wurden Kades Ritter, die von dem vorhergehenden Kampf noch geschwächt waren, niedergemacht oder ins Wasser gestoßen. Der Sproß von Skot, ein athletischer junger Solarier, wütete so schrecklich, daß er schon bald inmitten von Leichen stand. Dies war also der Mann, den Psyche vielleicht geheiratet hätte, wenn sie nicht angeblich von einem Dämon heimgesucht worden wäre. Wenn Skots Kampfeifer nur eine Art Kostprobe seiner anderen Fähigkeiten war, dann wäre dies eine aufregende Verbindung gewesen! Skot wandte nun sein Interesse Herald zu, und es konnte keinen Zweifel geben, daß dieser Ritter eine ganz besondere Bedrohung darstellte. Er wollte im wahrsten Sinne des Wortes Heralds Kopf und hatte die Absicht, ihn sich zu verschaffen, ehe jemand anderer ihm diese Ehre streitig machte. Herald zögerte noch, wohl wissend, daß der Kampf mit Skot wahrscheinlich die für ihn tödliche Entscheidung bringen würde, wobei es ihn jedoch zugleich reizte, dem jungen Solarier die Stirn zu bieten. Da tauchte der Baron von Magnet auf. Magnet brauchte keine Rüstung; er arbeitete mit einer faustgroßen Kugel aus dichtem Metall, die ihn in einem magnetischen Orbit umkrei-
ste. Diese schleuderte er mit fürchterlicher Gewalt und Genauigkeit gegen Skots Kopf. Der Feind wehrte die Kugel mit einem Schlag seiner Keule ab und demonstrierte damit Reflexe, wie Herald sie nicht annähernd hätte zeigen können; dann packte er eine hölzerne Lanze und stieß sie Magnet entgegen. Magnetismus hatte auf Holz keinerlei Wirkung. Die Spitze traf ihr Ziel und rammte den Baron mit derartiger Wucht aus dem Sattel, daß er durch die Luft flog und ins Wasser platschte. Seine Kugel folgte ihm und versank ebenfalls im Burgteich. Ein einziger Ritter blieb übrig – ein weiterer Feind. Die drei kamen auf Kade und Herald zu, die beiden einzigen Vertreter ihrer Seite, die noch kämpfen konnten. Auch Kade wurde allmählich müde. Er schwankte im Sattel, und sein Reittier stolperte und brachte für einen Moment seine Räder durcheinander. Kade hatte eine tapfere Schlacht geschlagen, zweimal sogar, doch er war nicht mehr der jüngste, und Blut breitete sich auf seiner Rüstung aus, wo er verletzt war. Die Fähre, die von den Paddlern unermüdlich weitergeschoben wurde, befand sich mittlerweile außer Schußweite vom Damm. Dennoch näherte der Feind sich dem Herzog von Kade mit äußerster Vorsicht, denn es war möglich, daß er bei weitem nicht so erschöpft war, wie es den Anschein hatte. Selbst in diesem Zustand war er gefährlich und als Gegner ernst zu nehmen. Qaval und Skot näherten sich behutsam, während der dritte Ritter, ein Polarier, sein Reittier in Heralds Richtung lenkte. Herald, der krampfhaft keuchte, selbst wenn seine eigenen Kampfaktionen im Vergleich mit seinen Ge-
fährten wenig Wirkung gezeitigt hatten, wußte, daß er eine weitere physische Auseinandersetzung nicht überstehen würde. Es gab für ihn nur eine einzige Chance: Wenn es ihm gelänge, eine Hand auf die Haut des Polariers zu legen, und wenn... Der Tentakel stieß eine Lanze auf ihn zu. Herald warf sich zur Seite, machte Anstalten, aus dem Sattel zu kippen, ungeübt, wie er war, und griff in seiner Verzweiflung nach dem Sattel des anderen Pferdes. Seine Fingerrücken berührten das schwammige Fleisch des Polariers dort, wo es auf dem metallenen Sattelring ruhte. Herald konzentrierte sich – und hatte tatsächlich Glück. Dies war ein Transferer! Er war davon ausgegangen, daß für eine solche Schlacht und derartige Aufgaben ganz hervorragend ausgebildete Ritter benutzt würden und daß einige von ihnen per Transfer aus anderen Burgen und Schlössern auf den Planeten geholt worden waren. Herald trug dicke Handschuhe, die seine Hände schützten, doch nun erwiesen sie sich als störend. Er zog seine Hand zurück, sorgte auf diese Weise dafür, daß sein Handschuh zwischen Sattel und Haut eingeklemmt wurde und hängenblieb, und dann preßte er seine nackten Finger gegen die Haut des Polariers. Er formte seine Aura in dasselbe Muster um, das er gegen das Monster Cäsar eingesetzt hatte: Exorzismus. In derart kurzer Zeit konnte er unmöglich hoffen, die Aura des Transferers aus dem Wirt zu vertreiben – dafür konnte er ihr aber wenigstens einen heillosen Schrecken einjagen. Feind – WEICHE! ließ er seinen Willen rufen. Es ging besser, als er erwartet hatte. Der Ritter prallte zurück, unterbrach den direkten Kontakt und
preßte seine Kommunikationskugel gegen Heralds Pferd. »Feind – Weiche!« summte die Kugel. Das Reittier bäumte sich auf, sprang zurück – und krachte gegen Skot. So hart erfolgte der Zusammenstoß, daß beide in den See stürzten. Das war der Sieg, plötzlich und unerwartet! Dennoch war Herald darüber nicht glücklich, denn er wußte nur zu gut, daß er seinen Erfolg allein seinem außergewöhnlichen Talent zu verdanken hatte. Sonderlich viel Ehre hatte er damit nicht eingeheimst. Nun waren da nur noch Kade und Qaval, Axt gegen Axt. Beide Ritter waren müde, aber zu allem entschlossen. Herald wollte helfen, wußte jedoch gleichzeitig, daß er seinen Schwiegervater dabei nur behindert hätte. Er hatte bereits getan, was in seiner Macht stand. Die beiden Pferde rollten aufeinander zu und umkreisten sich, dabei dem Schenkeldruck ihrer Reiter gehorchend. Die Äxte klirrten immer wieder funkensprühend gegeneinander. Dann bereitete Qaval ein raffiniertes Manöver vor, verhakte seine Axt in Kades Waffe und wand sie ihm mit einem kurzen Ruck aus der Faust. Qavals Pferd drängte den Gegner gleichzeitig gegen die Reling, so daß er nicht weiter zurückweichen konnte, wenn er nicht ebenfalls ins Wasser stürzen wollte. »Das war ein guter Kampf«, stellte Qaval fest. »Und Sie haben ihn in allen Ehren verloren. Liefern Sie Ihre Tochter aus, damit mit Hilfe der MaschinenEinheit des Prinzen ein Exorzismus vorgenommen werden kann, und sofort wird die Belagerung aufgehoben. Außerdem wird Ihnen gestattet, unbehelligt in
Ihr Besitztum zurückzukehren. Ich wäre wirklich nicht glücklich, wenn ich Ihr edles Blut vergießen müßte.« »Selbst wenn ich darüber entscheiden könnte, würde ich ihnen das Mädchen nicht ausliefern«, entgegnete Kade. »Sie ist jetzt verheiratet, und ich kann ihr keine Vorschriften mehr machen.« »Dann halten Sie sich gefälligst zurück«, meinte Qaval ungerührt, »solange ich mit dem Heiler verhandle.« »Ich werde nicht...« »Doch. Tun Sie's!« unterbrach ihn Heralds Ruf. »Ich bin dafür allein verantwortlich!« »Das bedeutet den Tod für Sie – und Psyche!« widersprach Kade. Er sprang Qaval mit leeren Händen an, doch der feindliche Ritter, in unzähligen Schlachten erprobt, lehnte sich lässig in seinem Sattel zurück, wich damit Kades zupackenden Händen aus und ließ nahezu spielerisch die flache Seite seiner Streitaxt gegen Kades Helm krachen. Bewußtlos sackte Kade in seinem Sattel zusammen. Nun lenkte Qaval sein Pferd herum, um sich Herald zuzuwenden. »Ergeben Sie sich jetzt?« erkundigte er sich und lüftete für einen Moment das Visier, um seine grüne Schnauze zu zeigen. Herald konnte nicht anders, als den feindlichen Ritter zu bewundern, der im Kampf so fürchterlich und zugleich so höflich war. Qaval war während der Hochzeitsfeier durchaus bereit gewesen, die Anschuldigung gegen Psyche fallenzulassen, bis er ihre in der Dunkelheit leuchtende Aura gewahrte. Wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal in diesem Moment an eine mögliche Gefahr gedacht, bis Prinz Ring
seinen Vorwurf gegen die junge Frau wiederholte und Qaval ihm seine Loyalität bewies, indem er seine Klugheit und seine Erfahrung unter den Befehl des Prinzen stellte. Nun, als Sieger, war er immer noch kompromißbereit und stellte nur die Forderung, das Mädchen auszuliefern. Offensichtlich hatte Qaval kein Interesse an den Reichtümern des Herzogtums Kade; er hätte seinen Gegner durchaus töten können, hatte ihn jedoch ganz bewußt verschont. Im Grunde ging es hier lediglich ums Prinzip: Dem Prinzen mußte gehorcht werden, und außerdem mußte auf dem Planeten Keep jedem Verdacht einer Besessenheit nachgegangen werden. Etwas Derartiges durfte nicht geduldet werden. Es war eine durch und durch verständliche Position, die er einnahm und der man nur zustimmen konnte. Qaval hatte in einem fairen Kampf gewonnen und damit nicht nur seine überlegene Schlauheit bewiesen, sondern auch seinen Mut und seine hohe Ehre als Ritter. Dennoch durfte seine Forderung nicht erfüllt werden. »Ich kann ebensowenig über ihre Aura verfügen und ihr die Kapitulation befehlen«, erklärte Herald. »Die Aura gehört ihr ganz allein. Sie mit einer Maschine zu exorzieren, hieße, sie umzubringen und per Transfer ins Nichts zu schleudern. Ich werde meine Frau nicht aufgeben – und Sie können sie niemals mitnehmen, selbst wenn Sie mich töteten. Die Burgbesatzung wird sie ebenfalls nicht ausliefern. Mehr noch – wenn Sie versuchen, dieses Floß dorthin zu lenken, werden Sie getötet oder gefangengenommen.« »Dann besorgen Sie sich schnellsten eine entspre-
chende Waffe«, sagte Qaval gleichmütig, »denn nun müssen wir uns im Zweikampf messen.« Er war unbeugsam! »Sie können dabei gar nicht Sieger werden!« warnte Herald. »Es gibt keine Möglichkeit, Burg Kade einzunehmen, außer in einem wilden Sturmangriff.« »Ich habe Kade nicht getötet, und ich werde Sie nicht töten. Sie beide sind meine Geiseln für das Mädchen. Ich denke, Ihre Burg wird mir einen annehmbaren Vorschlag machen. Wird das Herzogtum in Ihrer Abwesenheit nicht von Lady Kade regiert?« Raffiniert! Und abgefeimt. Wenn Psyche die Herrschaft übernahm, würde sie sich sofort ergeben, um ihren Vater und Herald vor Schlimmem zu bewahren. Gab es auf diesem Planeten eine Kreatur, die kaltblütiger und raffinierter war als Qaval? Ohne die Unterstützung eines solchen Ritters wären die Throne von Prinz Ring und seinem Vater ein lächerlicher Witz und kaum mehr als eine hohle Zier. Herald dirigierte sein Reittier über den Kampfplatz zu einem anderen Tier, während der Herzog auf seinem Platz verharrte. Herald entdeckte am Sattel des anderen Pferdes ein Laserschwert und zog es aus dem Futteral. Er schaltete es ein, und die Klinge begann zu leuchten. Gespeist von der Burg-Energie, war es tödlich. »Selbst bei der Durchführung Ihrer Kriegslist haben Sie perfekte Ritterlichkeit bewiesen.« Herald mußte seinem Gegner hohes Lob zollen. »Ich wünschte, ich könnte Edelleute wie Sie, meinem Feind, zu meinen Freunden zählen. Sie haben mir sogar gestattet, daß ich mir eine Waffe suche. Daher ist es ein Gebot der Fairneß, Sie zu warnen, daß ich sehr
gut mit dieser Waffe umzugehen weiß, denn ich stamme von Slash, Andromeda.« »Darüber bin ich mir durchaus im klaren, Heiler«, erwiderte Qaval. »Sie sind ein besserer Schwertkämpfer als Kade, dessen guter Ruf weit verbreitet ist. Aber das gilt ebenso für mich.« Und er hängte seine Streitaxt an den Sattel seines Pferdes und zog sein eigenes Laser-Schwert. Oh-oh. Im Sattel sitzend wäre Herald auf jeden Fall benachteiligt, da Qaval in der Beherrschung der Radpferde ein wahrer Meister war. Deshalb sprang Herald aus dem Sattel und baute sich auf dem Deck der Fähre auf. Damit ging er zwar das Risiko ein, niedergeritten zu werden, dennoch verschaffte diese Position ihm auch gewisse Vorteile. Und Qaval, der nobel bis zum letzten war, tat dasselbe. Der edle Kavaliersgeist war auf dem Planeten Keep noch längst nicht gestorben, sondern stand in vollster Blüte! Sie glitten aufeinander zu und kreuzten die Klingen. Herald konnte sich sehr schnell davon überzeugen, daß der gegnerische Ritter nicht geprahlt hatte. Zwar wirkten Qavals Arme kurz und dick, jedoch erwies der Ritter sich in keiner Weise als träge oder unbeholfen. Er wußte Schwert und Schild so raffiniert und sicher zu führen, daß Herald es gar nicht erst riskierte, ihn mit irgendwelchen Tricks überlisten zu wollen. Der Gegner benutzte seinen Schwanz, um seinen Körper auszubalancieren, wodurch seine Bewegungen sicherer und kraftvoller wurden. Qaval steckte voller Energie; allein sein Schwanz und nicht sein Körper fing seine schnellen Bewegungen auf.
Der feindliche Ritter stand jedoch unter Zeitdruck, denn die Fähre näherte sich stetig der Burg. Befände sich das Boot erst einmal in Schußweite der Bogenschützen auf den Zinnen, dann geriete Qaval in ernste Schwierigkeiten. Daher mußte er bei seinem Angriff sein ganzes Können in die Waagschale werfen, anstatt auf eine günstige Gelegenheit zur Attacke zu warten. Herald konnte hingegen auf Nummer Sicher gehen, sich zurückhalten und allein auf die Verteidigung beschränken. Und welch ein Angriff das war! Qaval mußte eigentlich todmüde sein, doch zuckte seine Klinge auf Herald zu, als würde sie von einem eigenen Bewußtsein gelenkt. Herald konnte die Attacken abwehren, mußte jedoch Boden preisgeben. Qaval drängte ihn immer näher zum Wasser hin. Nicht mehr lange, und er säße ebenso in der Falle wie Kade kurz vorher. Trotzdem mußte er zurückweichen; Qaval war einfach zu stark. Seine Fersen berührten die Reling. Herald war verzweifelt bemüht, Qaval zurückzudrängen, wobei er zum erstenmal Zuflucht in einer Angriffsaktion suchte. Sie erfolgte jedoch recht ungezielt und schwach, er konnte damit den Ritter nicht bezwingen, so daß er weder vom Kampf abließ noch zurückwich. Herald machte sich durch sein Bemühen lediglich noch verwundbarer. Nicht mehr lange, und Qaval würde mit voller Wucht kontern, so daß Herald nichts anderes übrigblieb, als ins Wasser zu springen. Nur noch eine Chance blieb. Herald blockierte links Qavals Klinge, brachte auf diese Weise den Feind dazu, seine Waffe über die Außenbahn zu führen, so daß der Energiekreis nicht unterbrochen wurde, dann
warf er sich nach rechts und rollte blitzschnell ein Stück auf den Decksplanken vor. Doch bereits in dem Moment, als er sich derart aus seiner Deckung wagte, mußte er erkennen, daß sein Plan nicht funktioniert hatte. Qaval hatte sich nicht zum Narren halten lassen und stand schon vor ihm, bereit, ihn endgültig niederzustechen, ehe er wieder auf die Füße kam. Es war ein aus der Verzweiflung geborener Plan gewesen, sich aus der Ecke zu befreien, und der unbezwingbare Ritter hatte ihn durchschaut und war darauf vorbereitet gewesen. »Nun müssen Sie sich doch geschlagen geben«, meinte Qaval ruhig. Aber in diesem Augenblick des Unglücks flog etwas über das Deck und prallte gegen den Helm des Siegers. Bewußtlos kippte der Ritter rücklings auf seinen Schwanz. Verblüfft kämpfte Herald sich auf die Füße. Eine metallene Kugel rollte über das Deck. Dann erkannte Herald das Zeichen darauf: das Wappen von Magnet! Es war die Wurfkeule des Barons von Magnet! Herald blickte in die Richtung über das Wasser, aus der die Kugel herangeflogen war – und da sah er den Baron im Wasser treiben. Herald beugte sich über die Reling und streckte die Hände aus, doch sein Retter in der Not war noch zu weit entfernt. Deshalb rannte er zu einem der Pferde, riß dort eine Keule aus dem Sattel und streckte die metallene Spitze dem Baron entgegen. Dankbar zog der Magnet sich mit dieser Hilfskonstruktion heran, und Herald konnte ihn ganz dicht ans Boot heranholen, wo Magnet aus dem Wasser gehoben werden konnte. »Sie sind gerade noch rechtzeitig erschienen!« rief
Herald. Als der Baron erst einmal wieder im Sattel saß, konnte er reden, wobei er seinen Translator benutzte. »Wasser kann Vertretern meiner Art nichts anhaben, und die Zähne der Reptilien sind für mich keine Gefahr. Jedoch war ich nicht in der Lage, richtig zu manövrieren. Es dauerte einige Zeit, ehe ich soviel Gas gesammelt hatte, damit ich oben trieb, denn wir sind beträchtlich dichter als Wasser, und mittlerweile hatte das Boot mich weit hinter sich gelassen. Ich brauchte einige Zeit, um wieder zurückzupaddeln.« »Zurückzupaddeln?« fragte Herald entgeistert. »Sie haben doch keine Gliedmaßen, keine Düsen!« »Ich habe mir mit meiner Keule geholfen«, erklärte Magnet und ließ die Kugel in einem kurzen, heftigen Orbit um sich kreisen. Und in diesem Moment begriff Herald den Sinn dieser Aktion: Die Kugel verdrängte das Wasser, drückte dagegen, wobei sie den Gegendruck schuf, mit dessen Hilfe der Baron sich wieder hatte der Fähre nähern können. Offenbar störte das Wasser den Magnetismus nicht im geringsten. Es war eine wundervoll vielseitige Spezies, die im Vakuum des Raums ebenso überleben konnte wie am Grund eines von Raubtieren wimmelnden Sees! »Aber ich habe auch – meinen Treibstoff aufgebraucht.« Und der Baron sackte tiefer in den Sattel, wobei seine Keule herabsank. Der stämmige kleine Krieger hatte sich völlig verausgabt. Nun war Herald für die Fähre mit ihrer Last von drei bewußtlosen Rittern verantwortlich. Er hatte praktisch keine Ahnung, was er tun sollte, jedoch war das nicht schlimm, denn die Paddler brachten ihn
sowieso zur Burg zurück. Er sah viel mehr nach einem Helden aus, als er es wirklich gewesen war. Er glaubte Psyche auf einer Zinne stehen zu sehen, von wo aus sie ihm mit einem Taschentuch zuwinkte.
6
Belagerung der Psyche E Zweite Animation der Fundstätte. Genaue Lage: Segment Etamin, Ursprung Sphäre Sador, Planet Keep. Keine Manifestation technischer Mittel bei Eindringen in die Stätte. Animation verblaßte, ohne in Aktion getreten zu sein. E & Irrtum? Animation der Stätte ohne Eindringen oder Aktion? & E So ist es. E &Dann steht die Gänsefüßchen-Spezies des Segments Etamin dicht vor einer kompletten StättenAktivierung durch Fernbedienung. Aktions-Einheit umdirigieren.& o Einheit 2, orientieren und Einsatz beginnen. o 2 Unterwegs. Auftrag? 2 & Weitere Animation der Stätte abwarten, genaue Lage feststellen, auslöschen. & »Du bist ein Held«, lobte Psyche ihn nach ihrem Kuß und einer innigen Umarmung. »Dein Vater und Baron Magnet sind die Helden«, widersprach Herald. Und Herzog Qaval, denn schließlich hatte der reptilienhafte Ritter die erste Schlacht des Tages gewonnen. Sie standen auf dem Turm, während andere sich um die Ritter kümmerten. »Qaval hätte sicher gewonnen, wenn er sich nicht so edel verhalten hätte«, fügte Herald nach einem Moment hinzu, spürte er doch die innere Verpflichtung, sowohl in Gedanken
wie auch in Worten fair zu sein. »Nach seiner schlimmsten List, mit den Toten sein Spiel zu treiben«, meinte Psyche bissig. »Schön, dafür ist er jetzt unser Gefangener.« Die Gefahr, daß der Herzog von Kade und Herald als Geiseln genommen wurden, war gebannt; das Blatt hatte sich gegen die Eindringlinge gewendet. Dennoch stand die Belagerung immer noch bevor, und sie würde ganz sicher stattfinden. Er blickte zum Gratweg hinauf. »Benutz doch das Skop!« riet Psyche. Daher ging er zu dem auf einem Stativ stehenden Teleskop hinüber und suchte den sichtbaren Teil des Gratwegs ab. »Ich sehe sie«, meldete er. »Sie haben unsere Leute während der Schlacht am Damm ausgeschaltet und rollen jetzt Räumer heran.« Die massigen Zugtiere waren stark genug, größere Felsbrocken zu bewegen und eine Lawine in Gang zu bringen. Im Verlauf der nächsten Stunde konnten sie verfolgen, wie der Feind seine Vorbereitungen traf. Es erschien tatsächlich sehr seltsam und bedrohlich. Dann, als die Räumer sich gerade für ihre Überraschungsaktion in Formation aufgestellt hatten, setzte auf der Hochweide die Stampede ein. Hunderte von fetten, gesunden Tieren donnerten über den Grat und drängten alles beiseite, was sich in ihrem Weg befand. Krieger und Räumer purzelten über die Felskante und landeten in den Bäumen darunter. Dort oben hielten sich viele Ritter auf, um gegen einen möglichen Konterangriff sofort etwas unternehmen zu können und um den Aufbau der Rampe nach Niedergang der Lawine zu beaufsichtigen, jedoch waren sie angesichts der in kopfloser Panik dahin-
stürmenden Tiere völlig hilflos. Die Tiere bremsten ihren Lauf und drängten sich durcheinander, als sie auf den schmalen Pfad trafen und dann den steilen Abhang hinunterrasten. Ihre Räder gerieten ins Rutschen. Sie rollten hin und her, polterten den Hang hinunter und schoben die Körper ihrer Artgenossen vor sich her. Aber ihre Wut war gebrochen. Als die Herde endlich unten anlangte, blieben die Kühe stehen und begannen im grünen Gras des Seeufers zu grasen. Nun, sie hatten das Ihre geleistet! Der Feind war in eine Falle gelockt worden, und die Gefolgsleute des Barons von Magnet hatten die Viehherde genau nach Plan aufgescheucht. Die Gefahr einer Lawine wäre damit wohl gebannt. Herald küßte Psyche erneut – und spürte, wie ihre Aura zunahm. »Komm mit«, raunte er. »Diesmal werde ich herausfinden, wodurch dieser Wechsel hervorgerufen wird. Und dabei wünsche ich Qaval als Zeugen der Gegenseite. Dieses Rätsel bedarf noch der Lösung. Vielleicht gelingt es uns.« »Warum akzeptierst du mich nicht so, wie ich bin?« erkundigte sie sich und schmollte. »Es hat Ärger gegeben, wann immer du...« »Laß uns auch den Weew herholen«, meinte Herald. »Er hat eine starke Aura und kann sich an der genauen Beobachtung beteiligen. Wir beginnen im Keller. Ich möchte wirklich wissen, warum Tiefe ein Ansteigen der Aura bewirkt.« »Das erscheint wirklich sonderbar«, gab sie zu. Dann wurde sie wieder praktisch. »Diesmal nehmen wir aber ein paar Kissen mit. Ich habe keine Lust,
schon wieder auf kaltem, nassem Stein zu liegen.« »Du hast noch nie darauf liegen müssen!« protestierte er. »Ich habe ja auch nicht behauptet, daß ich schon mal darauf liegen mußte, sondern ich betonte nur, daß ich es früher niemals gewollt habe und daß ich es auch heute nicht will. Ich habe es auch noch nie in einer der oberen Etagen getrieben. Wenn es dann also im Keller sein muß, dann können wir es uns wenigstens etwas gemütlich machen.« Er tätschelte ihr Gesäß, dann kniff er zärtlich hinein. »Wenn du mich fragst, dann ist das für mich gemütlich genug. Das Problem mit euch Weiblichen ist immer, daß ihr meint, ihr wäret nur für das eine gut! Und das meine ich durchaus ernst.« »Du hast mich doch nur wegen meiner Aura geheiratet«, beschwerte sie sich. Dieses Spiels wurde sie niemals überdrüssig! Er allerdings auch nicht. Daher machte er wie üblich weiter, um das altbekannte Ritual durchzuspielen. »Nein, du bist auch eine Erbin und hast ein hübsches... Gesicht. Diese Vorzüge reichten mir für eine Blitzhochheit völlig aus.« »Heirate niemals eine Schlange«, murmelte Psyche. »Mein altes Kindermädchen hat mich immer gewarnt.« Er griff nach ihr, wirbelte sie herum, vergrub sein Gesicht in ihren weichfließenden Haaren und küßte ihren zarten Nacken. Augenblicklich spürte er, wie seine Erregung wuchs. »Das ist total verrückt«, sagte er, wobei seine Lippen über ihre Haut glitten, als spräche er nach Art der Polarier. »Ich kann das in keiner Weise dulden und rechtfertigen. Dennoch
schwebe ich in der ernsten Gefahr, mich ganz fürchterlich in dich zu verlieben, du süße Kindbraut.« Er knabberte an der blauen Haut dort, wo der Hals in die Schultern überging. »Nun, niemand ist vollkommen«, meinte sie. Und drehte sich abrupt um und küßte ihn mit wilder Inbrunst auf den Mund. »Oh, Herald, mit dir für immer und ewig zusammensein zu dürfen – das ist alles, was ich mir wünsche! Ist das denn so unverschämt von mir?« »Ab in den Keller, Mädchen!« befahl Herald und wies dramatisch nach unten. »Wenn wir nicht schnellstens mit der Suche beginnen, könnte es passieren, daß deine Hauptattraktion sich auflöst, ehe ich deine zweite Attraktion auf die Steine legen kann.« »Ein Schicksal, schlimmer als der Tod«, gab sie ihm recht. »Ich nehme an, dir ist es noch nie in den Sinn gekommen zu sagen: erst das Vergnügen, dann die Arbeit, nicht wahr?« »Was denkst du denn, was ich hier tue?« fragte er heftig. »Rechne mal mit der Ewigkeit minus ein Tag«, sagte sie. »Noch weitere Bemerkungen dieser Art, und ich werde einen zweiten und dritten Tag abziehen.« »Mir wird jetzt schon die Zeit knapp. Ich verliere momentan mindestens einen Tag pro Minute.« Sie nahmen Qaval mit, der von seiner Niederlage nichts zurückbehalten hatte, außer einem etwas dunkleren grünen Fleck auf der Stirn, fanden Hweeh und stiegen zum Keller hinab. Herald ließ Psyche auf dem Weg von jeder Entität berühren. »Wir untersuchen das sogenannte Besessenheits-Phänomen«, er-
klärte er. »Überzeugen Sie sich selbst, daß ihre Aura nun bis auf fünfzig angestiegen ist.« Und am Fuß der Treppe: »Nun hat sie die Stärke sechzig erreicht. So etwas ist einmalig. Bei anderen Entitäten stellt die Aura das zuverlässigste und stabilste Charaktermerkmal dar. Dabei ist Psyches Aura in keiner Weise übernatürlich. Sie variiert abhängig von der Zeit und von der Höhe des jeweiligen Aufenthaltsorts. Es ist meine Absicht, herauszufinden, von welchen Faktoren dieser Zyklus abhängig ist, und ich möchte beweisen, daß die Behauptung von der Besessenheit völlig aus der Luft gegriffen ist. Ist der Herzog von Qaval erst einmal umgestimmt, dann wird sicherlich auch die Belagerung der Burg abgebrochen.« »Und wenn sich herausstellen sollte, daß sie wirklich besessen ist?« wollte Qaval wisse und schürzte dabei seine grünen Lippen. »Meine Frau wird nicht verbrannt«, erklärte Herald mit Nachdruck. »Wenn wir sie nicht von dem Verdacht befreien können, dann dauert die Belagerung eben an.« Er verdrängte diese unangenehme Vorstellung. »Na schön. Wir wissen, daß ihre Aura im Lauf der nächsten zwei Stunden bis auf mindestens zweihundert ansteigen wird. Sie wird zu leuchten beginnen. Wir müssen dabei herausbekommen, warum – und was es in diesem Keller geben mag, wodurch sie geweckt und beeinflußt wird.« »Kurz gesagt, werden wir den Dämon finden und in die Enge treiben«, faßte Qaval zusammen. »Und werden ihn für immer zur ewigen Ruhe betten! Wir werden dieses Labyrinth kreuz und quer durchwandern und die Veränderungen der Aura ir-
gendwie aufzeichnen. Vielleicht gelangen wir auf diese Weise zum Ursprung des Phänomens.« Sie begannen nun hin und her zu wandern. Psyches Aura erreichte ihren höchsten Intensitätswert an einem bestimmten Punkt auf dem Boden in der Nähe des Weinkellers und nahm gleichmäßig ab, je weiter man sich von dem Punkt entfernte. Qaval, der seinen neuen Status als Zeuge des Feindes mit Würde trug, bekam zunehmend Interesse an den Vorgängen. Er besaß eine angeborene wissenschaftliche Neugierde. Auf seinen Vorschlag hin näherte Psyche sich diesem Bereich steigender Intensität ein Stockwerk höher, und man stellte fest, daß der Effekt dort nahezu derselbe war wie bei dem Versuch im Keller, wenn auch nicht so ausgeprägt. »Es könnte sich um die Ausläufer einer Sphäre handeln«, äußerte Hweeh seine Vermutung. »Das Zentrum liegt noch ein gutes Stück tiefer als der Burgkeller. Wir müssen wohl zu graben anfangen, um die Stelle des Ursprungs genau zu lokalisieren.« »Damit würden die Fundamente der Burg ausgehöhlt, und es könnte passieren, daß Wasser in den Keller eindringt«, warnte Qaval. »Während einer Belagerung wäre ein solcher Schritt höchst unklug.« »Möglicherweise können wir eine Probebohrung vornehmen«, schlug Herald vor. »Bis dahin ist ihre Aura längst wieder auf den ursprünglichen Wert abgesunken«, sagte Hweeh. »Ein solcher Bohrvorgang braucht seine Zeit, wenn er sorgfältig durchgeführt werden und die Probe ein brauchbares Ergebnis liefern soll. Und schon jetzt hat sie meinen Intensitätsgrad erreicht.« »Sie liegt sogar schon darüber«, warf Herald ein.
»Hier an dieser Stelle beträgt die Feldstärke einhundertsiebzig.« »Welche Beschaffenheit hatte der Bauplatz, auf dem die Burg errichtet wurde?« erkundigte Qaval sich. »Diese Frage kann ich beantworten«, ergriff Psyche das Wort. Sie war froh, daß sie zur Lösung des Problems etwas mehr beitragen konnte als ihre bloße Anwesenheit. »Dem ersten Kade wurde dieses Gelände vor achthundert Jahren übergeben. Mit der Wünschelrute suchte er nach dem besten Bauplatz und fand ihn genau hier.« »Wünschelrute?« fragte Herald ratlos. »Ja. Wünschelrute. Er schnitt ein Stück von einem Radast ab und hielt es dann auf eine ganz bestimmte Art in der Hand. Dort wo das Stück nach unten zuckte, begann er zu bauen.« »Bisher war ich davon ausgegangen, daß man diese Methode normalerweise bei der Suche nach Wasser oder wertvollem Metall anwendet«, bemerkte Hweeh. »In diesem Fall benutzte er die Wünschelrute bei seiner Suche nach bestimmten günstigen Gegebenheiten«, erklärte Psyche. »Er war ein sehr religiöser Mann und erklärte, daß er nur dort bauen würde, wo die spirituellen Schwingungen korrekt wären.« »Also fand er eine Stelle, an der ein unsterblicher Dämon begraben war«, zog Qaval seinen Schluß, »und errichtete das Bauwerk dort.« »Halten Sie so etwas wirklich für ein Zeichen von Besessenheit?« fragte Herald. »Möglich wäre das schon. Jedoch könnte man durch Entfernung der Knochen oder des ganzen Gra-
bes des Dämons Herr werden.« »Wird Prinz Ring uns die Zeit einräumen, um nachzugraben?« Qaval schüttelte seine Schnauze. »Er denkt im Augenblick ausschließlich an die Belagerung. Allein eine erfolgreiche Verteidigung würde ihn überzeugen und umdenken lassen.« »Sie sollten wissen, daß mir irgend etwas an Psyches Zyklus vertraut ist«, sagte Hweeh. »Ich kann es nicht genau bestimmen – jedoch...« »Hat das etwas mit Ihrem Spezialgebiet zu tun?« fragte Herald. »Ja. Höchstwahrscheinlich... möglicherweise sogar mit der Ursache für meinen Schockzustand. Ich frage mich nur...« Sofort wuchs Heralds Interesse. Eine innere Verbindung zwischen Psyches Aura und Hweehs Schockzustand? »Wirkt sich ihr Zustand nachteilig oder vorteilig auf Ihr Wohlbefinden aus?« »Ich habe keine Ahnung. Aber ich bin durchaus gewillt, einen Test zu machen und mir Gewißheit zu verschaffen.« »Dann los! Ein Versuch kann nicht schaden«, meinte Herald entschlossen. Und zu Qaval sagte er: »Zeuge des Feindes, diese Entität hat mit der Besessenheits-Affäre nicht das mindeste zu tun. Sollte die Belagerung der Burg Kade für unsere Feinde erfolgreich enden, dann sorgen Sie bitte dafür, daß man ihn ungehindert die Burg verlassen und seiner Wege ziehen läßt.« »Einverstanden«, versprach Qaval. Herald legte eine Hand auf Hweeh, der nun ein Klumpen mit einem Augenstiel, einem Hörhorn und
drei Füßen war. »Raum-Amöbe«, sagte er. Augenblicklich erschlaffte der Weew. Aber Herald unterbrach den Kontakt nicht. »Erwache, Hweeh! Licht. Laut. Genesung.« Allmählich tauchte der Weew wieder auf. »Ich bin leicht verwirrt, weiß nicht, was geschah. Habe ich...« »Ich habe Sie mit dem Schlüsselwort in den Schock getrieben«, gestand Herald, »und habe Sie sofort wieder zurückgeholt, ohne Ihnen Zeit zu lassen, sich wieder zu orientieren. Wollen Sie weitermachen?« »Ja. Das ist sehr wichtig. Ihre Behandlung hat mir sehr geholfen, denn sonst wäre ich nicht so schnell wieder aufgetaucht.« »Psyche, jetzt bist du an der Reihe«, sagte Herald. Psyche legte Hweeh eine Hand auf. Ihre Aura maß nun 180. »Amöbe«, sagte sie sanft. Wieder sackte Hweeh zusammen. »Erwache«, drängte Psyche. »Erwache, Hweeh!« Langsam kam der Weew zu sich. »Ihre Aura ist schwächer als meine«, sagte Herald. »Trotzdem arbeitet sie mindestens genausogut. Das legt die Vermutung einer Ähnlichkeit nahe. Vielleicht, wenn sie den Höhepunkt erreicht...« »Welche Art von Problem hat der Weew überhaupt?« erkundigte Qaval sich. »Verzeihen Sie, ich vergaß, daß Sie ja nicht derselbe Zeuge des Feindes sind, der vorher bei uns war. Hweeh ist Forschungs-Astronom, der etwas von galaktischer Bedeutung entdeckt haben will, und zwar etwas derart Ernstes, daß er allein bei Erwähnung dieser Entdeckung bereits in den Schock versinkt. In seinem Segment war man der Meinung, daß ich mich um diese Angelegenheit kümmern müßte, und ich
glaube, man hat sich genau richtig entschieden. Bis jetzt habe ich ihm jedoch noch nicht entscheidend helfen können.« »Es dürfte doch nicht zu schwer sein, das Übel zu erkennen, zu benennen und etwas dagegen zu finden«, meinte Qaval. Er wandte sich an Hweeh. »Beschäftigen Sie sich vorwiegend mit dem inneren oder dem äußeren galaktischen Raum?« »Mein Spezialgebiet ist der Raum des RandClusters, daher...« »Dann haben Sie demnach ein außerhalb des Clusters gelegenes Phänomen entdeckt«, meinte Qaval in einem Ton, als hätte er lediglich die Bestätigung für etwas gefunden, das er längst gewußt hatte. »TransMilchstraße oder Trans-Andromeda oder TransStiftrad?« Hweeh zögerte. »Nichts davon scheint richtig und ausschließlich zuzutreffen. Ich glaube kaum, daß die Erscheinung sich in der Nähe einer größeren Galaxis befindet.« »Aber nicht so weit entfernt wie ein anderer Cluster?« »Nein, so weit nicht, nicht genau...« »Nun gibt es aber nur wenige jenseits unserer drei Galaxien und außerhalb des Clusters gelegene Erscheinungen, die man auf den Karten eines Forschungs-Astronomen finden kann. Ich wage zu behaupten, daß Sie diese Erscheinungen aus dem Gedächtnis aufzählen können.« »Ja, natürlich«, gab Hweeh ihm recht. »Aber...« »Und lediglich die Aufzählung beziehungsweise Erwähnung solcher an sich bekannten Konstellationen ist doch wohl kaum etwas, das eine Kreatur in
den Schock stürzen läßt.« »Nein, aber...« »Ich weiß, was es ist, denn ich habe es schon gehört, zweimal. Sie wissen, was es ist. Sollten Sie etwa so dumm sein zu glauben, daß Sie einen Feind abhalten können, indem sie einfach Ihren Blick abwenden?« »Nein, natürlich nicht. Dennoch...« »Nennen Sie den Feind, erkennen Sie ihn! Dann sind Sie in der Lage, ihn auch zu beherrschen, zu bezwingen.« Hweeh konzentrierte sich. »Nicht Sculp, nicht Wolke Sechs. Nicht Es – Es – Esse, sondern sehr...« Er konnte nicht fortfahren. »Sind Sie nun Astronom oder ein lallendes Kind?« wollte Qaval wissen und fletschte die Zähne. »Wollen Sie mir etwa weismachen, daß eine Identifikation durch Elimination weniger umständlich ist, als die Erscheinung direkt zu benennen? Wo ist Ihre Berufsehre abgeblieben?« Hweehs Farbe wechselte in einer Aufwallung von heftiger Wut. Sein Fleisch erzitterte von seinem krampfhaften Bemühen. »Die – Raum – Amöbe!« rief er. Und sackte in den Schock. Herald überlegte. »Mein Herr«, sagte er zu Qaval, »ich denke, Sie haben uns den richtigen Weg gewiesen. Nach entsprechender Vorbereitung ist er durchaus in der Lage, sich der Erscheinung zu stellen und sie zu identifizieren.« »Ich habe in der Befragung von Gefangenen einige Erfahrung«, sagte Qaval. »Dies hier gleicht im wesentlichen einer Vielzahl von Situationen, die ich von früher kenne. Es kommt lediglich darauf an, die inne-
ren Kräfte zu aktivieren und Begriffe und Ausdrücke zeitlich so zu verteilen, als befände man sich in einem Zweikampf, bei dem man nicht alle Tricks gleich zu Anfang verrät.« »Ja, Sie sind wirklich durch und durch Krieger«, sagte Psyche. In der Art seines eigenen Ausdrucks gab es etwas, das Herald nun doch auffiel. Es waren die Technik der Intonierung und die Wortwahl, die ihm plötzlich seltsam erschienen, denn er hatte sich niemals bewußt gemacht, daß sein Wirt besonders gebildet und des Lesens kundig war. Irgendwann, wenn er einmal etwas Zeit und Muße hatte, würde er diese Feststellung eingehender überprüfen. »Wir sollten ihn sich jetzt ein wenig ausruhen lassen«, rief Herald. »Drei Schocks sind etwa die Grenze des Erträglichen, wenn wir ihm nicht nachhaltig schaden und das Risiko eingehen wollen, alle bisher gemachten Erfolge wieder zu zerstören.« Er griff nach Psyches Arm. »Du näherst dich jetzt der zweihundert. Ich werde bei zweihundertfünfzig mit dir hierher zurückkehren. Qaval kann ja auf Hweeh aufpassen.« »Warum schickst du sie nicht nach oben, so daß uns die kalten Steine zur Verfügung stehen?« fragte sie bissig. Zu Heralds Erleichterung tat Qaval so, als hätte er diese Bemerkung nicht verstanden. Er zog sie mit sich nach oben. Es war ein sehr schneller, sehr gründlicher und sehr schöner Liebesakt. »Nenn ihn doch einfach Silberner Meteor«, murmelte Psyche unter seinem glühenden Kuß. Und als ihre Aura den Intensitätsgrad 250 erreicht hatte, kehrte er mit ihr in den Keller
zurück. »Wir versuchen es noch einmal«, sagte Herald. »Noch einmal?« fragte Psyche voller Interesse und mit frischem Eifer. Selbst Qaval konnte sich diesmal eines Stirnrunzelns nicht enthalten. »Ja, die Befragung!« schnappte Herald und wechselte nun selbst die Farbe. Er legte eine Hand auf den Weew, um ihn aus dem Schock zu holen. »Hweeh, Sie tragen in Ihrem Bewußtsein einige Erkenntnisse über das außerhalb des Clusters lauernde Phänomen, die Sie in den Schock stürzen lassen«, sagte Herald. Dabei ließ er seine Hand auf dem Körper des Weew liegen und hoffte, daß seine Worte sowohl im Unterbewußtsein als auch im Bewußtsein des Angesprochenen einen Eindruck hinterließen. »Sicher ist Ihnen klar, daß es sinnvoller ist, die Gefahr offen zu benennen und sich ihr zu stellen. Wir brauchen uns nur davon zu überzeugen, wie diese Gefahr beschaffen ist, und nicht, wo sie sich befindet. Was wissen Sie von der Raum-Amöbe zu berichten, das – Psyche, hol ihn aus seinem Zustand heraus!« Psyche legte dem Weew eine Hand auf und durchdrang ihn mit ihrer hochintensiven Aura. »Erwache, Hweeh, erwache...« Und er kehrte wirklich in die Gegenwart zurück. »Diese Aura... einfach wunderbar!« rief er. Dann: »Die Raum-Amöbe! Ich kann mich mit ihr beschäftigen! Ich weiß, was sie ist.« »Sie haben die Fessel gesprengt!« jubelte Herald. »Welcher Art ist die Gefahr?« »Es betrifft die wahre Natur der Amöbe, die wir von Anfang an falsch beurteilt haben! Es handelt sich überhaupt nicht um eine richtige Amöbe, nicht um
eine Staubexplosion, keine Überreste aus einer Supernova, sondern um – erstaunlich! Absolut unglaublich! Lassen Sie mich jetzt auf keinen Fall los, Kindbraut, sonst gehe ich unweigerlich wieder in den Schock! Oh, wir müssen die Neuigkeit sofort weitergeben!« »Aber was ist es denn?« drängte Herald. »Um zu begreifen, müssen Sie erst einmal etwas über die Natur – ich muß ein wenig Hintergrundmaterial liefern – so als würde ich einem Blinden etwas über Farben erzählen – die Umstände, Eigenarten...« »Versuchen Sie es, und zwar der Reihe nach«, schlug Qaval gelassen vor. »Eines sind wir jedenfalls nicht – blinde Entitäten.« »Es handelt sich – es handelt sich um eine Invasion aus dem Raum jenseits des Clusters!« rief Hweeh. »Eine Struktur von lebendigen Kreaturen, die per Materietransmission durch das All reisen...« »Eine Invasion!« unterbrach Qaval. »Wie sollte es eine Invasion aus dem Raum jenseits des Clusters geben können? Wir haben doch bisher niemals Kontakt mit einem größeren Universum aufgenommen. Allein die Energie, die dazu notwendig wäre...« »Ich weiß nicht, wie oder warum«, sagte Hweeh. »Mein Schock legte mich lahm, ehe ich dieser Frage nachgehen konnte. Ich weiß jedoch genau, daß es so ist. Eine mächtige Flotte, die per Materietransmission zu einem Punkt im Raum springt, sich dort sammelt und dann nach allen Seiten ausbreitet. In dieser Größenordnung dauert es schon ein ganzes Jahrhundert, die Formation zu ordnen! Tausende und Abertausende von Schiffen – eine Million – die riesigste Flotte vollwertiger Schlachtschiffe, die sich je zusammenge-
funden hat. Sie kann den gesamten Cluster innerhalb eines Jahrhunderts besetzen, wahrscheinlich sogar in einer noch kürzeren Zeitspanne, wenn es...« Er verstummte, total überwältigt von der Vorstellung. Qaval blickte zu Herald. »Ist diese Entität denn überhaupt ernst zu nehmen? Leidet sie nicht unter irgendwelchen Halluzinationen? Weiß er überhaupt, wovon er redet?« »Er weiß es. Ich glaube, uns steht eine Belagerung bevor, die schlimmer ist, als wir es bei der Burg Kade erlebt haben.« »Dann sollten wir tatsächlich alle Welten warnen«, meinte Qaval. »Ich werde dafür sorgen...« Er wurde von einem mächtigen Dröhnen unterbrochen, das irgendwie entfernt an Donner und ein Erdbeben erinnerte. Von oben ertönte ein Schrei. »LAWINE!« »Zu spät!« sagte Qaval. »Sie haben mit dem Hauptangriff begonnen.« »Aber diese Kriegslist haben wir doch durchkreuzt!« protestierte Herald. »Wir hatten unsere ViehStampede...« »Dann blicken Sie mal über die Mauem nach draußen«, forderte Qaval die Versammelten grimmig auf. Sie hasteten aus dem Keller nach oben und blinzelten in den Tag, da ihre Augen sich mittlerweile an das Dämmerlicht des Kellers gewöhnt hatten. Qaval hatte sich nicht geirrt. Die Felsmassen der östlichen Kette waren abgerutscht und füllten nun ein Viertel des Sees. Die verdrängten Wassermassen spülten über den Damm und vertrieben die Verteidiger. Der Herzog von Kade verfolgte das traurige Schauspiel mit düsterer Miene. »Sprengstoff! Sie haben Spreng-
stoff benutzt!« »Überhaupt nicht«, widersprach Qaval. »Wir verstoßen nicht gegen die Regeln des Mittelalters. Kein Sprengstoff auf dem Planeten Keep! Unsere Tiere haben die Felstürme nachts unterhöhlt, nämlich in den vielen Nächten, in denen Sie sich auf die Belagerung vorbereiteten. Radbohrer, die sich wie kleine andromedische Quadpunkts in den Fels hineinwühlten und die Fundamente entscheidend und unbemerkt schwächten. Danach brauchte man nur an einigen bestimmten Stellen mit einem Hammer nachzuhelfen, und schon rauschte der ganze Segen nach unten!« »Von einer Explosion kann keine Rede sein, Herr«, versicherte ein Bogenschütze dem Herzog von Kade. »Wir haben ein Klopfen gehört, konnten uns aber keinen Reim darauf machen...« Mittlerweile glitten die Räumer den neu geschaffenen Hang hinab und schoben die Felstrümmer weiter auf die Burg zu. Einige Tiere rollten ins Wasser, räumten die Ränder des Erdrutschs ab und schufen eine schmalere, zugleich aber auch längere Rampe. Der Damm schob sich stetig auf die Burg Kade zu, und die Verteidiger konnten nichts dagegen unternehmen. Selbst die Alligatoren, die bei dem Erdrutsch nicht zerquetscht worden waren, hatten sich verschreckt zurückgezogen. Kade wandte sich an Qaval. »Sie ziehen wirklich alle Register, Herr. Ich hätte es viel lieber gesehen, wenn Entschlossenheit und Ideenreichtum zu einem anderen, besseren Zweck gedient hätten.« »Eine durchaus gerechtfertigte Kritik«, gab Qaval zu. Kade setzte gleich nach. »Jede andere Kreatur hätte
ihre Ansichten und ihre Überzeugung der jeweils herrschenden Situation angepaßt, um am Ende nicht auf der falschen Seite zu stehen, doch Sie sind sich immer treu geblieben, Qaval. Haben Sie jetzt irgendwelche Zweifel?« »Ich glaube lediglich, daß Ihre Tochter ebensogut eine Mutation wie auch besessen sein kann«, erwiderte Qaval. »Diese Burg scheint über dem Grab irgendeiner dämonischen Kreatur errichtet worden zu sein, deren überdauernde Aura den ersten Herzog von Kade hier festgehalten hat und nun Kades späte Nachkommen beeinflußt. Eine Ausgrabung dieser Ruhestätte müßte den Einfluß eigentlich beenden. Doch sollte das nicht eintreten, besteht immer noch die Möglichkeit, daß Psyche so etwas ist wie ein Heiler. Der Intensitätswechsel ihrer Aura folgt einem Rhythmus und Muster, wie ich es bisher bei keinem einzigen Fall von Besessenheit beobachtet habe, mit dem ich konfrontiert wurde. Ich habe ihre Aura im schwachen und im stärksten Zustand gespürt, und obwohl ich nur über einen Bruchteil der KirlianSensibilität Heralds verfüge, stimmen meine Schlußfolgerungen mit den seinen überein. Gehörte ich Ihrer Rasse an, wäre ich wahrscheinlich ebenso daran interessiert gewesen, sie zu heiraten. Das Gut, das sie besitzt, ist viel zu wertvoll, um sinnlos verschleudert zu werden.« Herald und Psyche starrten den feindlichen Herzog in stummer Verwunderung an. Selbst Kade schien verblüfft zu sein. »Das würden Sie auch dem Prinzen gegenüber erklären?« »Nein.« Wieder reagierte Kade mit einer Gefühlsäußerung,
diesmal mit zorniger Verwirrtheit. »Wie kommt es, daß ein Edler von Ihrem Mut und Ihrer Integrität bei einer Frage so schwankend erscheint?« Qaval lächelte, wobei die langen Winkel seiner Lippen sich in einem Ausdruck widerstreitender Gefühle kräuselten. »Ich will es mal ganz vorsichtig ausdrücken. In meinem Kopf geht folgendes vor: Zuerst einmal wird mein Denken von gewissen Zweifeln bestimmt, wobei ich gefühlsmäßig auf seiten des Mädchens stehe. Sie scheint in fast allen Bereichen eine völlig normale Vertreterin ihrer Art zu sein, zudem sehr weiblich. Ich würde sie am liebsten in Ruhe lassen. Aber im Bewußtsein des Prinzen gibt es diese Zweifel nicht. Für sie vor Ring von Krone Partei zu ergreifen, hieße, den Tod auf dem Scheiterhaufen auch für mich heraufzubeschwören. Ich habe diesen Verstoß schon früher unternommen und dabei fast meine Position bei seinen Ratsversammlungen eingebüßt; seitdem findet man mich mehr auf dem Schlachtfeld als im Kommandantenzelt. Er hat sich diesem Feldzug verschrieben und kann sich jetzt nicht so einfach aus der Affäre ziehen, ohne etwas Entscheidendes geleistet zu haben. Außerdem muß ich meinem Herrn dienen, dem Prinzen.« Kade wandte sich ab und starrte auf den sich nähernden Damm, der wie eine sich vorwärtsschiebende Lanze genau auf das Herz der Burg zielte. »Ich kann Ihren Überlegungen nichts entgegenhalten, Herr, obwohl ich mich damit selbst der Vernichtung preisgebe. Vielleicht können wir trotzdem noch etwas wie einen Handel abschließen. Wenn ich Ihnen meine Tochter auslieferte und sie ungehindert meine Besitztümer verlassen ließe, könnten Sie mir dann für
sie eine faire Verhandlung versprechen? Bei der alle Beweise berücksichtigt werden und die Wahrheit gefunden wird?« »Nein.« »Was hätten Sie ihr dann zu bieten?« »Vielleicht zehn Prozent Wahrscheinlichkeit, alles zu überstehen. Wie sollte denn der Prinz seine Unternehmung rechtfertigen, ohne daß bei seiner Mission reich geplündert und anschließend eine Hexe verbrannt wird? Eine faire Verhandlung könnte sie für unschuldig erklären und damit seine Ehre untergraben. Es wäre politisch nicht ratsam, daher wird es auch nicht dazu kommen.« »Ist der Stolz des einstmals so fairen Planeten Keep bereits so tief gesunken?« fragte Kade mit einer Miene des Widerwillens. »Scheint so.« »Was soll ich dann jetzt tun?« »Nehmen Sie mich als Geisel für ihre Sicherheit. Im Moment stehe ich bei meinem Prinzen nicht sonderlich hoch im Kurs sollte jedoch dieses Angebot abgewiesen werden, könnte es zur Folge haben, daß meine eigenen Streitkräfte gegen ihn rebellieren. Mein Kontingent ist das bei weitem stärkste der gesamten Streitmacht. Eine derartige Revolte würde den Prinzen wahrscheinlich derart schwächen, daß er die Belagerung unmöglich mit einem Erfolg beenden kann.« »Sie reden hier praktische Politik«, lobte Kade. »Aber das ist nicht meine Art. Ich würde meine Interessen niemals mit Hinterlist oder mit dem Mittel des Betrugs verfolgen und würde auf der anderen Seite auch niemals meine Ehre aufs Spiel setzen.« »Darin liegt Ihre sprichwörtliche Zuverlässigkeit«,
sagte Qaval. Dann streckte er zögernd seine Klaue aus. Kade schüttelte sie kräftig und nahm diese stumme Geste des Respekts gerne an. »Ist das nicht schön?« murmelte Psyche Herald zu, wobei ihre Augen einen feuchten Schimmer bekamen. »Sie sind sich so ähnlich.« Herald spürte sogar in seinen eigenen menschlichen Augen dicke Tränen. Solarier und Qaval, beide waren daran interessiert Psyche zu retten, während jeder dem Ruf seiner Ehre folgen und sie töten müßte – und dabei bewunderte sie die Positionen der anderen! Das waren Fluch und Segen einer wahrhaft heraldischen Kultur. Er hatte mit ihren Symbolen herumgespielt, ohne jemals ihre inneren Qualitäten zu erkennen und zu würdigen. Sollten sie alle dank eines Wunders diese Krise überleben, dann würde er den Rest seines Lebens hier verbringen, und das nicht allein wegen Psyche. Dies war eine Gesellschaft, auf die eine Entität sich blind verlassen konnte. Kade widmete sich nun wieder den akuten Problemen. »Sie glauben also nicht, daß wir der Belagerung standhalten können?« »Ich bin überzeugt, daß Sie es nicht können. Burg Kade wird schon im Lauf dieses Tages fallen.« »Dann muß ich zu letzten verzweifelten Mitteln greifen. Sie werden an meine Tochter gefesselt, und Sie beide und Herald der Heiler werden von dieser Burg in unserem Krauler weggebracht. Sie werden nicht der Verhandlung über meine Tochter beiwohnen, sondern sich in ein Versteck begeben. Die Burg mag ruhig fallen, die Lady Kade jedoch wird am Leben bleiben.« »Das würde ich nicht empfehlen«, meinte Qaval.
Kade gab ein Zeichen. Menschliche Wächter traten vor. »Ich bin leider nicht in einer Lage, in der ich Ihren Empfehlungen Folge leisten kann«, sagte Kade. Die Wächter schlossen Handschellen an die Handgelenke von Qaval und Psyche und stellten sie so ein, daß sie perfekt paßten. Qaval wehrte sich nicht. Die beiden wurden dann zu dem Hof zwischen äußerer und innerer Mauer gebracht. Kade und Herald folgten ihnen. »Meine Tochter weiß, wer über die Schlüssel zu diesen Schlössern verfügt«, erklärte Kade. »Entweder kommt ihr alle lebend an – oder keiner. Dann erst werden die Handschellen abgenommen.« »Das kann nicht gelingen«, äußerte Qaval seinen Zweifel. Die Wächter geleiteten sie in einen anderen Teil des Kellers und ließen den Herzog von Kade zurück, der sich weiterhin um die Verteidigung seiner Burg kümmerte. Psyche leuchtete wieder, als sie durch die finsteren Korridore wanderten; ihre erstaunliche Aura nahm immer noch an Intensität zu. Hinter einer verriegelten Tür fanden sie ein Gerät, das an einen riesigen Alligator erinnerte, der über seitlich herausragende Paddel anstelle von Beinen verfügte. Offensichtlich war das Ding so konstruiert, daß es nur mit wenig Gewicht auf dem Untergrund ruhte und dabei von den Paddeln angetrieben wurde, die von innen bedient wurden. Ein mittelalterliches Unterseeboot. Herald bückte sich, betrat den Krauler und ließ sich auf dem Vordersitz nieder. Zwei Rudergriffe ragten herein, je einer von beiden Seiten, und eine transparente Scheibe ließ das Gelände vor ihnen erkennen. Es wäre zwar nur ein langsames und schwerfälliges
Vorwärtskommen, aber es war anzunehmen, daß sie auf diesem Weg die Burg unbehelligt verlassen könnten. Am Nordende des Donnysees, wo niemand sie beobachten würde könnten sie auftauchen und ihre Flucht an Land durch den dichten Wald fortsetzen. Qaval hatte jedoch noch Einwände. »Auf uns alle wartet nur ein sinnloser Tod«, warnte er. »Es wäre besser, wir blieben weiterhin in der Burg.« Psyche legte ihre freie Hand auf Qavals gefesseltes Handgelenk. Selbst bei diesem ungewissen Dämmerlicht erkannte Herald den Kontrast zwischen blauen Fingern und grünem Handgelenk. »Warum, Zeuge des Feindes?« wollte sie mit sanfter Stimme wissen. Ihre Aura hatte zum Zeitpunkt des Niedergehens der Lawine den Intensitätsgrad 250 erreicht, doch Herald begriff nun, daß damit der höchste Wert noch nicht überschritten war. So stark war ihre Aura schon einmal gewesen, und das sogar im oberen Teil des Gebäudes; am idealen Punkt im Weinkeller wäre sie noch stärker gewesen. Wie hoch der Intensitätsgrad am Ende stieg, konnte Herald nur raten. Vielleicht 275. Der Herzog von Qaval war einer Aura-Intensität ausgesetzt, wie Herald selbst sie niemals aktivieren könnte. »Lady, ich kann vor Ihnen kein Geheimnis haben«, meinte Qaval mit einem weiteren ausdrucksvollen Lächeln. »Der Prinz weiß über den Krauler Bescheid; seine Speer-Entitäten warten schon auf das Fahrzeug. Wir würden ertrinken.« Herald zwängte sich aus dem Krauler. »Wir kehren am besten nach oben zurück«, riet er und griff nach Psyches Ellbogen. Er hielt inne, spürte ihre Aura überdeutlich. Er
hatte recht gehabt: Sie war nahezu körperlich spürbar. Das Leuchten in der Finsternis hatte zugenommen. Sie gingen durch den Hauptkeller zurück – und dort, durch den unerwarteten Schock der Steinlawine völlig vergessen, fanden sie Hweeh von Weew. Er war im Schock versunken, als Psyche so abrupt den Kontakt unterbrochen hatte, und war als kleine Pfütze auf dem Boden zurückgeblieben. »Oh, das arme Ding!« rief Psyche und rannte zu ihm hin. Qaval mußte ihr folgen und war gezwungen, den Schwanz als Stütze auf den Boden zu setzen, als er durch den abrupten Richtungswechsel beinahe das Gleichgewicht verlor. »Erwache! Erwache!« sagte Psyche beschwörend und berührte den Weew. »Hey!« stieß Hweeh hervor, als er wieder aus dem Nichts auftauchte. »Lady, Sie sind ein Teufelswesen!« »Ich stehe kurz vor dem Höhepunkt«, sagte sie. »Hweeh, wir wurden von einer Gesteinslawine unterbrochen und haben Sie völlig vergessen. Das tut mir leid; ich weiß, wie kalt diese Steine sind, und hätte Sie niemals hier zurücklassen dürfen. Aber ich halte es für besser, die durch die Amöbe drohende Gefahr endlich genau zu beschreiben, so daß wir den Cluster warnen können.« Die Intensität ihrer Aura war nun so groß, daß Hweeh bei der Nennung des gefürchteten Wortes nicht einmal zuckte. »Sie haben uns von einer riesigen Flotte aus dem fremden Raum berichtet. Einer Flotte, die den gesamten Cluster innerhalb eines Jahrhunderts beherrschen könne.« »Ja, Lady. Jetzt erkenne ich es noch deutlicher. Die Flotte hat sich uns per Materietransmission und
Halblichtbrechung im Verlauf von Jahrhunderten stetig genähert. Nun versammelt sie sich zu einer allgemeinen Attacke. Hinsichtlich des Bestimmungsortes gibt es nicht den geringsten Zweifel, und was die Absichten und die Motive des Gegners angeht, sind diese wohl weitestgehend klar, das Ziel des Angriffs sind ganz sicher wir.« »Aber wie ist es möglich, daß eine Flotte von mehr als einer Million Schiffe per Materietransmission die ungeheuren Räume zwischen den Clustern überwinden kann?« fragte Herald. »Die dazu notwendige Energie muß doch unermeßlich sein. Die Flotte müßte dazu wohl einen Großteil ihrer eigenen Masse in die notwendige Transmission-Energie umwandeln. Sind Sie ganz sicher, daß es sich bei dieser Erscheinung nicht nur um ein örtlich begrenztes Phänomen handelt?« »Da bin ich absolut sicher«, bekräftigte Hweeh. »Welche in der Nähe gelegene Sphäre verfügt schon über eine Million großer Raumschiffe? Mindestens eine Milliarde Intelligenter wäre notwendig, eine derartige Flotte zu lenken. Die Formation muß demnach aus einem fremden Cluster stammen.« »Aber bedenken Sie doch die Entfernung... unscharfe Fotografien... woher die Sicherheit, daß es Raumschiffe sind? Möglich wären auch Meteoritenwolken oder Fehler in der Wiedergabe der Aufnahmen, optische Fehler...« »Ich hoffe doch, Sie trauen mir einige Kenntnisse in meinem Spezialgebiet zu!« Hweeh schnitt ihm das Wort ab. »Die Informationen und Erkenntnisse stammen nicht aus den Hologrammen – die übrigens weitaus genauer und schärfer sind als einfache Foto-
grafien, da sie nicht denselben Mängeln und Einflüssen unterworfen sind –, sondern ich habe die verschiedenen Quellen untersucht und daraus meine Schlußfolgerungen gezogen. Ich habe holographische Spektroskopien vorgenommen und Erscheinungen aufgezeichnet, welche man für Energiespuren eines Halblicht-Antriebs halten kann. Die Amöbe ist mit Sicherheit eine künstliche Struktur. Ich ging in den Schock, als mein phantastischer Verdacht sich bestätigte. Wir stehen dicht vor einer Invasion – und wir haben nicht mehr viel Zeit. Unsere Aufzeichnungen in den Archiven reichen etwa viertausend Jahre zurück; es hat bisher keine andere Amöbe gegeben, und zur Zeit ist auch nirgendwo eine weitere Amöbe zu beobachten. Das bedeutet daß das Ding keines natürlichen Ursprungs ist. Ich vermute, daß es sich um eine Flotte handelt, die aus einem fremden Cluster hierher transmittiert ist – über eine Entfernung von vielleicht einer Million oder sogar zehn Millionen Parsec hinweg. Vielleicht haben sie ihren eigenen Cluster vernichtet, um die für den Sprung notwendige Energie zu gewinnen, und vielleicht werden sie unseren Cluster vernichten wollen – wie Andromeda es mit der Milchstraße vorgehabt hatte –, um den nächsten Sprung durchführen zu können. Was soll eine Spezies schon tun, nachdem sie im Verlauf eines Eroberungskriegs ihren eigenen Cluster zur Hälfte zerstört hat? Sie sucht sich einen neuen, noch unberührten Cluster, genauso wie die Andromeder es irgendwann getan hätten, wäre ihr Plan aufgegangen. Die Amöber sind nicht mit ihrer Kriegsflotte unterwegs, um sich das Universum anzuschauen.« »Aber das ist einfach unglaublich!« protestierte He-
rald, der sich durch den Hinweis auf seine eigene Galaxis zutiefst verletzt fühlte. Dank sei Llume von Slash, die diese Katastrophe verhindert hatte! »Genau. Da niemand das ernsthaft für möglich hält. Und doch stimmt es. Daher durchaus eine Erkenntnis, die eine Kreatur in den Schock versetzen kann.« »Es muß sich um eine Invasionsmacht handeln«, gab Qaval ihm recht. »Und es gibt wahrscheinlich nur ein einziges Motiv, das ein solches Unternehmen überhaupt erst entstehen läßt.« »Macht!« sagten Herald und Hweeh gleichzeitig. »Macht – in universalen Dimensionen«, bestätigte Qaval. »Eine neue Tür wurde aufgestoßen, eine, die unsere Erfahrungen und unsere Vorstellungskraft total übersteigt.« Dann schlugen seine Zähne aufeinander, was bei ihm ein Ausdruck der Überraschung war. »Warum ist mir das denn nicht schon früher eingefallen? Die Neuigkeiten müssen schnellsten verbreitet werden, und dann muß der Weew umgehend in sein Segment zurückkehren, wo andere Experten mit ihm beraten und seine Beobachtungen überprüfen können. Allein die Lady kann dafür sorgen, daß er sich weiter mit dem Thema beschäftigen kann, ohne durch einen Schock ausgeschaltet zu werden. Deshalb sollte sie für diese Aufgabe sofort freigestellt werden, denn dies hier ist vorrangig. Hier geht es um Sicherheitsfragen für den Cluster, und diese sind wichtiger als planetare Belange.« »Ja!« pflichtete Herald ihm bei. »Laßt uns hinaufgehen in die Bibliothek, damit ich den Mathematiker Sweews von Weew rufen kann. Er müßte die notwendigen Kontakte herstellen.«
Sie eilten in die oberen Stockwerke und ließen diesmal Hweeh nicht zurück. Psyche berührte ihn die ganze Zeit mit der Hand, obwohl dies nicht gerade einfach war, da Qaval sich stets dicht bei ihr aufhalten mußte, denn die beiden waren immer noch aneinander gefesselt. »Welche Verbindung besteht denn zwischen mir und der Amöbe?« fragte sie, als sie durch die Burg liefen. »Die ist – sie ist – genau kann ich das auch nicht feststellen, Lady«, gestand Hweeh. »Nicht, daß Sie die Information erst geweckt, also ermöglicht haben. Es gibt da etwas noch Grundlegenderes, Fundamentaleres, und zwar das Drum und Dran betreffend – Ihre Aura...« Er verstummte. »Es bleibt im verborgenen«, stellte er bedauernd fest. »Vielleicht finden wir das noch heraus, wenn wir erst mal unter dem Keller nachgraben«, tröstete Psyche sich. »Irgendwie bin ich gebunden – oh!« »Was ist los?« erkundigte Herald sich besorgt. »Ich kann nicht nach Weew mitgehen«, sagte sie. »Meine Aura steigt nur hier in der Nähe des Kellers an. An einem anderen Ort wäre ich völlig nutzlos.« »Aber natürlich bist du auch anderswo von hohem Nutzen!« entgegnete Herald. »Ohne meine Aura-Steigerung?« fragte sie und bedachte ihn mit einem direkten Blick, der ihn nahezu in den Boden versinken ließ. »Dann werden wir die Experten von Weew eben herholen«, entschied Qaval. »Ein Grund mehr, die Belagerung der Burg zu beenden, ehe das Bauwerk unbewohnbar wird.« Sie gelangten in die Bibliothek. Herald schickte den Ruf nach draußen, wobei er insgeheim befürchtete,
daß die Belagerungsarmee die Kommunikationskanäle überwachte und blockierte; aber er kam mit seinem Ruf ungehindert durch. »Swees von Weew«, meldete sich der sadorische Wirt sofort. »Es ist schön, wieder mal mit Ihnen zu reden, Heiler. Ich vermute, Sie haben beträchtliche Probleme.« »Swees, es hat sich für uns eine überaus kritische Situation ergeben«, begann Herald. »Unsere Burg wird belagert und muß in Kürze fallen. Wir sitzen in der Falle. Jedoch besitzen wir Informationen von intergalaktischer Bedeutung. Wären Sie vielleicht in der Lage, sich im Segment Weew zu melden und gewisse Vorkehrungen für eine vom Segment ausgehende Intervention und für die Überführung Hweehs und seiner Begleitung dorthin in die Wege zu leiten?« »Aber...«, wollte Psyche widersprechen. »Erst müssen wir Ihr Leben retten, und dann erst können wir uns um die Rettung des Clusters kümmern«, erklärte ihr Hweeh. »Lassen Sie ihn nur machen.« »Eine Segment-Intervention!« rief Swees aus. »Sie wissen genau, daß ich für so etwas nicht genügend Einfluß besitze! Ich kann Ihre Information weitergeben und alles bestätigen, aber ich brauche doch etwas mehr, als Sie mir bisher verraten haben. Man würde mich auslachen, wenn ich...« »Bei folgendem wird ihnen das Lachen schon vergehen«, meinte Herald. »Hweeh hat eine Flotte von mindestens einer Million Raumschiffen entdeckt, die sich aus dem Tiefraum auf unseren Cluster zubewegt und offensichtlich die Absicht hat, uns sämtliche Energie abzuzapfen. Diese Flotte stellt wahrscheinlich
eine noch größere Gefahr für unser aller Leben dar als die beiden intergalaktischen Energiekriege, und wir müssen dafür sorgen...« Er verstummte, als Qaval ihm auf die Schulter tippte. »Swees von Weew hat einen Schock bekommen«, meinte der Herzog lakonisch. Und tatsächlich, das Kommunikationsrad von Swees sadorischem Wirt war stehengeblieben. »Daran hätte ich denken müssen!« schimpfte Herald. »Allein schon die Vorstellung vom Untergang des Clusters läßt die Weews wegtreten! Wie sollen wir denen nur klarmachen, worum es geht?« »Vielleicht versuchen wir es mit einem anderen Segment«, schlug Psyche vor. »Schließlich sind ja sämtliche Segmente bedroht.« Qaval schlug zornig mit dem Schwanz auf den Boden. »Eine Kreatur hat nur in ihrem Heimatsegment Einfluß und kann dort gehört werden. Hweeh ist im Augenblick unser einziger Experte; er ist es, der seine Beobachtungen schildern und beschwören muß. Und dann ist er auch der einzige, der die Hilfe der Lady braucht.« »Bringt den Cluster nicht wegen mir unnötig in Gefahr!« warnte Psyche. Es war jedoch um einiges komplizierter. Psyche konnte allein durch das Segment Weew gerettet werden, und außerdem konnte der Cluster ausschließlich vom Segment Weew aus gewarnt werden, weil die Beurteilungen der Nichtfachleute niemals rechtzeitig beigebracht werden könnten. Sie hatten jedoch keine einzige Möglichkeit, Weew auf das anstehende Problem aufmerksam zu machen! Jegliche Information würde jeden Weew sofort im Schock untergehen las-
sen. Dagegen war es eine zwingende Notwendigkeit, die Nachricht über die Amöbe eilends zu verbreiten, ganz gleich, welches Schicksal ihrer harrte. Eine tatsächliche Invasion des Clusters... »Vielleicht hört man in einem anderen Segment auf uns«, hoffte Herald. »Haben wir erst einmal Alarm geschlagen, dann wird sich wahrscheinlich der Rat des Clusters sofort persönlich mit der Affäre befassen. Und genaugenommen ist dies ja eine Sache für den Cluster-Rat. Warum versuchen wir nicht, einen Minister einzuspannen?« Psyche schüttelte den Kopf. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie schwierig es ist, an einen ClusterMinister heranzukommen? Man ist gezwungen, bestimmte Kanäle zu benutzen...« »Und der Dienstweg führt auf dem Planeten Keep über König Rundling von Krone«, unterbrach Qaval das Mädchen. »Dessen Ei, Prinz Ring von Krone, belagert diese Burg.« Er hielt kurz inne. »Nichtsdestoweniger schaffe ich es vielleicht, auf diesem Weg zum Ziel zu gelangen, denn ich kenne die Entitäten dort am Hof, und sie kennen mich.« »Würde man so etwas denn nicht als eine Art Verrat betrachten?« fragte Herald. »Schon möglich. Jedoch ist mir die Sicherheit des gesamten Clusters wichtiger, und ich kann mir nicht vorstellen, daß man mich hart dafür bestrafen wird, daß ich meine Galaxis oder mein Segment oder meine Sphäre vor einer Invasion durch Fremde bewahrt habe. Sollte eine solche Invasion dadurch ermöglicht werden, daß Prinz Ring die einzige Entität verbrannt hat, die über die bevorstehende Gefahr Bescheid
weiß, dann würde der Prinz selbst auf dem Scheiterhaufen enden.« Das klang überzeugend! »Am besten sorgen wir jetzt dafür, daß Sie und Psyche wieder von den Fesseln befreit werden«, entschied Herald. »Das ist nicht nötig. Ich werde mich direkt auf ministerieller Ebene einschalten«, sagte Qaval. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.« »Na schön«, meinte Herald. »Ich sehe zu, daß ich den Herzog von Kade finde. Sie versuchen, die richtigen Entitäten zu erreichen. Wenn Sie es geschafft haben, dann lassen Sie Hweeh die Lage schildern.« Und er entfernte sich. Die Aktivitäten an der äußeren Mauer hatten zugenommen. Soldaten brachten Nachschub in ihre Kampfstationen, und zwar vorwiegend auf die Befestigungen in der Nähe der immer näher kommenden Rampe. Da gab es nicht nur Waffen und Pfeile und Steine für die Katapulte, sondern auch hohe Holzhaufen, Eimer voll Öl und sogar Wasser aus den tiefen Faulsümpfen. Nichts wurde im Krieg sinnlos vergeudet – außer Leben und wertvoller Besitz. Es war nicht leicht, den Herzog von Kade zu finden. Wohin Herald auch kam, Kade hatte den betreffenden Ort soeben erst verlassen und kümmerte sich wieder an anderer Stelle um die bevorstehenden Verteidigungsmaßnahmen. Der Belagerungskampf war ein überaus schwieriges Gewerbe! Der Damm war noch nicht ganz bis zur Mauer vorgetrieben worden; der zunehmende treffsichere Beschuß durch die Bogen der Schloßbesatzung verhinderte seinen zügigen Ausbau. Allerdings setzte der Feind jetzt schwere Schilde ein, die die Krieger
über die Köpfe hielten und mit denen sie ein Dach bildeten, in dessen Schutz sie weiter arbeiteten. Der Katapult auf dieser Seite schleuderte stetig Steine auf die Phalanx vor der Mauer, jedoch war es schwierig, eines der sich bewegenden Ziele zu treffen. Herald empfand diese kampfbetonten Vorgänge als überaus faszinierend. Das war Kriegsspiel in seiner ursprünglichsten Form, und daraus war vor Tausenden von Jahren die Heraldik entstanden. Mochten andere Dinge auch vergänglich sein, das Prinzip des Kriegs war ewig. Dann steigerten sich die Bemühungen. Räumer rollten die Straße hinab, die man auf dem Felsgeröll aus der Lawine angelegt hatte, und jedes Tier schob einen Berg Gestein und Erde vor sich her. Sie schienen eine endlose Reihe zu bilden. Am Ende der Rampe rollten sie seitlich herab und kletterten auf dem Rückweg wieder auf den Fahrweg zurück. Dieses Manöver verlief etwas anders als das vorhergehende. Die zu jenem Zeitpunkt eingesetzten Räumer hatten die Rampe aus dem direkt anfallenden Felsschutt der abgestürzten Felsmassen geschaffen, indem sie die Brocken aus dem Wasser hochholten und einen ebenen Fahrweg anlegten. Diese neuen Räumer brachten Erdmassen von jenseits der Hügel und nutzten die Unterlage weitaus effizienter als ihre Vorgänger. Als Folge wuchs die Rampe in beträchtlichem Tempo. Aber warum wurde es überhaupt so gemacht? Die Lawine hatte den See über die Ufer treten lassen, und die Wassermassen hatten die Verteidiger vom Uferdamm gespült. Nun hatte der Feind jedoch die Kontrolle über den Damm und konnte ohne Schwierigkeiten das Wasser aus dem See ablaufen lassen. Sie
brauchten eigentlich gar keine hohe Rampe zu bauen, die sich weit über den Wasserspiegel erhob. Hatte man sich miteinander verständigt – oder verfolgte der Feind damit eine ganz bestimmte Absicht? Die Bögen schnellten eine Pfeilsalve nach der anderen ab, jedoch wurden die feisten Tiere davon kaum behelligt. Ihre Körperfunktionen verteilten sich über ihren ganzen Organismus, und die lebenswichtigen Organe wurden von den harten Rädern geschützt. Zwar verursachten die Pfeile ihnen manchmal heftige Schmerzen, jedoch wurden sie davon nicht getötet oder bei ihren Bemühungen aufgehalten. Und außerdem gab es so viele von ihnen! Sie brauchten nichts anderes als festen Untergrund für ihre Räder – und den fanden Sie jetzt vor! »Feuer einstellen!« befahl der Ritter, der in diesem Bereich der Mauer das Kommando führte. Es war der Baron von Magnet, der in seinem Sattel vorbeirollte. »Die haben ja mehr Räumer, als wir Pfeile abschießen können. Spart eure Munition für die intelligenten Entitäten auf!« Herald eilte zu Magnet hinüber. »Ich suche den Herzog«, meinte er keuchend. »Wissen Sie, wo ich ihn...« Der Baron hüpfte beinahe aus dem Sattel. »Was haben Sie hier zu suchen? Sie sollten doch längst unterwegs sein!« »Der Feind weiß über unseren Schleichweg Bescheid und hat Speerwerfer abkommandiert, die auf unseren Krauler warten. Damit kämen wir nicht weit.« Ihm kam der Gedanke, daß dies vielleicht ein Grund war, warum man das Wasser nicht aus dem See abließ: Der Feind wollte, daß Kade in dem Glau-
ben gewiegt wurde, der Krauler sei einsatzfähig und lenkbar, so daß man jederzeit das Boot festhalten und die wichtigen Leute darin gefangennehmen konnte. Wäre das Wasser erst einmal abgelaufen, dann gäbe es keinen Zweifel mehr, daß der Krauler nutzlos geworden wäre. »Ich muß Kade mitteilen, daß wir nicht fliehen können.« »Den erwischen Sie nie. Bleiben Sie hier und beaufsichtigen Sie die Leute auf der Mauer. Ich werde ihn zu Ihnen schicken.« »Ich habe aber keine Ahnung vom Belagerungskampf!« Doch der Baron hatte sich längst entfernt und war in dem Durcheinander nirgendwo mehr zu sehen. Herald beobachtete den schnell wachsenden Belagerungsdamm und hoffte inständig, daß der Baron bald wieder zurückkäme. Einige Räumer luden ihre Last schon zu früh ab und bewirkten, daß die Behelfsstraße eher aufwärts als weiter zur Mauer verlief. Die Angst vor den Pfeilen mußte auf sie doch ihre Wirkung haben, obwohl nun keine Pfeile mehr abgeschossen wurden. Dann begriff er: Dieser Anstieg war kein Zufall – er war Absicht, sie wollten, daß die Straße anstieg! Dies war nun kein Damm mehr, sondern eine Rampe, über die die Feinde bis zur Mauerkrone vordringen wollten! Die Ritter wären dann in der Lage, über die Mauer zu gelangen und in die Burg einzudringen. Der Wasserspiegel des Sees spielte dabei nur eine untergeordnete Rolle. Die Räumer konnten die ganze Nacht hindurch arbeiten, und wenn die Morgendämmerung anbrach... Gab es gegen diese Taktik eine wirkungsvolle Ver-
teidigung? Der Katapult, daß siedende Öl und die Pfeile sollten eigentlich die Truppen abhalten, die sich der Mauer an ihrem Fuß näherten und sie übersteigen wollten. Aber eine Attacke über diese Rampe... Kein Wunder, daß Qaval so sicher war, daß die Burg Kade schon bald fallen würde! Zu seiner großen Erleichterung entdeckte er Kade, der auf ihn zukam. »Wo ist meine Tochter?« wollte der Herzog wissen. »Sie ist an Qaval gefesselt«, informierte Herald ihn. »Wir können nicht fliehen, deshalb...« »Nun, dann bringen Sie sie her!« schnappte Kade. »Ich kann die Mauer nicht verlassen, solange an der Rampe gearbeitet wird. Ich organisiere soeben einen Gegenangriff. Sechs kampferprobte Ritter, die auf der Rampe Position beziehen, könnten die gesamte Streitmacht des Prinzen abwehren, wenn sie in dieser Kampfart ausgebildet sind. Dann können wir an einer anderen Stelle in der Mauer eine Lücke schaffen, so daß...« »Herr, die Lady und Qaval versuchen, den Palast des Königs per Telefon zu erreichen, und...« »Wie bitte?« Herald hustete. »Psyche hat ihr Aura-Maximum erreicht. Sie...« »Oh, jetzt reden Sie nicht schon wieder von diesem lächerlichen Aberglauben! Mit ihrer Aura ist alles in bester Ordnung.« Wußte der Herzog denn nicht, daß die Aura seiner Tochter gewissen Intensitätsschwankungen unterworfen war? Aber darüber zu diskutieren, das war jetzt wohl nicht der geeignete Zeitpunkt. »Sie hat den Weew zum Reden gebracht. Er meint, uns drohe eine
Cluster-Invasion. Wir müssen den Cluster-Rat erreichen!« »Eine Cluster-Invasion!« rief Kade ungläubig aus. »Das muß ein Ablenkungsmanöver sein, um unsere...« »Nein, Herr. Der Weew ist kein Spion und Saboteur. Er ist von dem geplanten Angriff überzeugt – und ich bin sicher, daß er sich nicht täuscht. Wir müssen Fachleute an dieses Problem setzen.« »Na, schön«, gab Kade sich geschlagen. »Melden Sie sich im Palast. Vielleicht gewährt man dem Weew freien Abzug; er hätte ohnehin nicht hierbleiben sollen. Aber beeilen Sie sich. In ein paar Stunden wird die Lage hier ziemlich schwierig.« Kade hatte keine Ahnung von der Gefahr durch die Amöbe. Und im Moment war auch nicht die Zeit, ihn darüber umfassend zu unterrichten. Herald mußte sich auf die wichtigsten Fakten beschränken. »Herzog, Sie scheinen die Sachlage nicht zu begreifen«, sagte der Heiler. »Psyche ist die einzige, die Hweeh dazu bringen kann, sein Wissen weiterzugeben. Sie muß ihn begleiten.« Außer daß sie ab und zu nach Keep zurückkehren mußte, um ihre Aura wiederherzustellen – doch auch dies zu erklären, wäre im Moment wirklich zu kompliziert. Hweeh hatte ganz recht: Zuerst einmal galt es, ihr Leben zu schützen, und dann konnte man sich Sorgen um alles andere machen. Kade starrte ihn entgeistert an. »Nein, das gelingt niemals. Der Prinz ist zwar ein sturer Idiot, aber kein Narr.« »Herzog Qaval verwendet sich für die Lady. Allerdings müssen wir den gesamten Cluster alarmieren,
damit man gegen den drohenden Überfall Maßnahmen in die Wege leitet, während wir uns eingehender mit der seltsamen Erscheinung beschäftigen...« »Und Qaval unterstützt dies alles?« wollte Kade wissen. Er schien immer noch mißtrauisch zu sein. »Ja, Herr.« Kade wandte sich um und eilte auf die innerhalb der Mauern liegende Rampe zu, die nach unten auf den Hof führte. »Kommen Sie, Herald! Einfach wird es nicht, aber vielleicht klappt es doch. Wir müssen mit dem Telefon durchkommen!« Sie gelangten in die Bibliothek, wo Qaval gerade sprach. »... und wenn Sie mich nicht schleunigst zum Sphären-Hauptquartier durchstellen, dann nagele ich Ihnen die Räder am Boden fest und lasse meine Sandhunde auf Sie los!« schimpfte er gerade in die Sprechmuschel. »Wir haben hier einen ClusterAlarm, Code dreiunddreißig, und das hat nichts mit der Belagerung von Kade zu tun. Und jetzt rollen Sie endlich los!« Kade holte den Schlüssel der Handschellen hervor. »Wäre es jemand anderer, dann hätte ich längst das Schwert gezogen«, gestand er. »Aber Sie, Qaval... wenn Sie lügen, dann fliegt unser ganzer Planet auseinander. Wie kommt es, daß Sie sich derart engagieren?« »Die Lady hat eine sehr überzeugende Aura«, meinte Qaval, als die Handschelle sich von seinem Gelenk löste. Nun ergriff Kade auch nach dem Handgelenk seiner Tochter, um ihr die Fessel abzunehmen. Er versteifte sich augenblicklich. »Die Aura!« rief er. »Sie ist noch stärker als die des Heilers!«
Psyche lächelte. »Zweihundertsechzig und immer noch steigend, Vater. Im Keller müßten es schon zweihundertsiebzig sein. Hab keine Angst!« Kade wich zurück, das Gesicht eine Maske des Schreckens. »Dann bist du ja wirklich besessen! Nie habe ich daran geglaubt, nicht für einen Moment, niemals hätte ich zugelassen...« Und da war endlich der Schlüssel zu allem, erkannte Herald. Die Erscheinung war da, jedoch hatte der Mann sich einfach dagegen gewehrt, der Sache auf den Grund zu gehen. Nun, da er von der Erscheinung überrascht wurde, zog er die völlig falschen Schlüsse. »Kade, sie ist nicht besessen«, schimpfte Qaval. »Wenn Sie nicht einmal zu Ihrer Tochter Vertrauen haben, dann begeben Sie sich gefälligst wieder auf Ihren Posten und lassen Sie uns die Verteidigung des Clusters allein organisieren!« Doch Kade war zu tief erschüttert, um den Sinn dieser Worte zu begreifen. Schon seit vielen Stunden war er auf den Beinen, hatte unzählige Kämpfe ausgefochten und war sogar auf der Fähre niedergeschlagen worden. Die Spannung hatte ihn zermürbt, und er war in einer Verfassung, in der man ihn am besten nicht ansprechen sollte. »Es gibt keine natürliche Aura von derartiger Intensität! Nur eine dämonische Besessenheit kann...« »Sphäre Sador, Hauptquartier«, drang eine Stimme aus dem Telefon. »Welchen Notfall haben Sie zu melden?« »Neuigkeiten über eine Cluster-Invasion«, antwortete Qaval. »Hier spricht der Herzog Qaval vom Planeten Keep. Ich...«
»Wo ist Ihr Wappen?« wollte der Sadorer in der Zentrale wissen. »Was weiß ich, Idiot! Ich bin Gefangener auf der Burg Kade. Mein Gesicht befindet sich im Archiv. Überprüfen Sie meine Angaben und stellen Sie mich zur Segment-Leitung durch.« Eine Pause trat ein, als seine Schnauze vom Computer überprüft wurde. »Angaben bestätigt. Einzelheiten?« »Forschungs-Astronom Hweeh von Weew, der sich zur Schock-Behandlung hier aufhält, hat eine Invasionsflotte entdeckt, die sich uns...« »Besessen!« schrie Kade, als er schließlich unter der enormen psychischen Belastung die Nerven verlor. »Erst meine Frau, jetzt meine Tochter. Warum lastet auf Kade dieser Fluch?« Er wischte mit der Hand über den Sichtschirm des Telefons und unterbrach die Verbindung. Herald stürzte sich auf Kade und versuchte, ihn vom Telefon wegzuzerren, doch der Mann stieß ihn mit der Kraft des Wahnsinnigen zurück. »Helfen Sie mir, Qaval!« rief Herald. »Wir müssen unsere Meldung machen!« Qaval schüttelte seinen grünen Kopf. »Ich darf meine Hand nicht gegen meinen Sieger erheben, denn die Regeln...« Psyche streckte eine Hand aus und legte sie ihrem Vater auf den Arm. Die Kette der Handschelle klirrte noch immer an ihrem anderen Handgelenk. »Ruhig, Vater!« sagte sie. Unter der Wirkung der hochintensiven Aura lehnte Kade sich gegen die Wand. »Dämon! Dämon!« murmelte er tonlos. »Wir müssen wieder von vorne anfangen«, meinte
Qaval. »Die Verbindung läßt sich von der Zentrale aus nicht wiederherstellen. Hoffentlich kann ich die davon überzeugen, daß wir hier eine technische Panne hatten.« Doch ein neues Ereignis unterbrach sie bei ihren Bemühungen. Schreie und heftiges Waffengeklirr drangen von unten herauf. In den Hallen der Burg wurde bereits gekämpft! Qaval schüttelte den Kopf. »Das habe ich befürchtet. Wir kommen zu spät.« »Was geht da unten vor?« wollte Herald wissen. Die Ereignisse folgten so schnell aufeinander, daß er sich wie benebelt fühlte. »Die Burg wurde gestürmt«, erklärte Qaval. »Ein Geheimtrupp hat sich unter der Wasseroberfläche unter der Mauer hindurchgegraben, und zwar auf der der Rampe gegenüberliegenden Seite. Die durch den Erdrutsch und durch die Errichtung der Rampe hervorgerufene Ablenkung machte es ihnen möglich...« Kade zog sein Schwert. Doch plötzlich drängten sich Soldaten in den Raum, die das Wappen des Prinzen trugen. Es waren zu viele, als daß man es mit ihnen aufnehmen konnte. Kade griff an. Herald, der sein ungestümes Vorgehen voller Mißbilligung verfolgte, schickte sich an, ihm zu folgen, doch es war bereits zu spät. Zwei sadorische Schlachtroller fingen ihn ab, und sein Schwertarm wurde zerfetzt. Kade sackte zu Boden, Blut sprudelte aus dem Armstumpf. »Vater!« schrie Psyche voller Entsetzen und wollte sich auf ihn werfen. Die Kette der Handschelle sauste wie eine Waffe durch die Luft.
Aber Qaval kam ihr zuvor. »Halt, Soldaten!« hallte seine Stimme. »Dies ist der Herzog von Kade! Erkennt ihr sein Wappen nicht?« Sie verharrten. Ein sadorischer Kommandant rollte vor; es war der Graf von Dollar. »Halt!« rief auch er, und die Soldaten gehorchten ihm. Herald und Psyche sanken neben Kade in die Knie. »Wir können ihn heilen!« rief Herald. »Psyche, leg deine Hand auf seinen Arm. Bring die Blutung zum Stillstand. Konzentriere deine Aura...« Sie legten ihm die Hände auf. Psyche war blutbesudelt, und auch Herald wurde damit vollgespritzt, doch sie achteten nicht darauf. Ihre beiden Auren wirkten gemeinsam und durchsetzten den Körper des Patienten. Der Blutfluß ließ nach – aber nicht weil ihre Heilkraft zu wirken begann, sondern weil Kades Herz zu schlagen aufgehört hatte. Psyches geweitete Augen richteten sich auf Herald, waren voller Trauer. »Ich habe es deutlich gefühlt«, sagte sie. »Er – er wollte nicht leben.« Der Herzog von Qaval und der Graf von Dollar standen ergriffen vor der Leiche. »Er unterlag einem Irrtum«, sagte Qaval. »Dennoch war er ein großer Mann. Der Herzog von Kade sei gesegnet.« »Er sei gesegnet«, pflichtete Wirbel ihm bei. Die Soldaten brachten einen Vorhang herbei, der das Wappen von Kade als Stickerei trug, und Qaval deckte ihn über den Körper. Nun machten die Soldaten Platz. Ein adliger Sadorer rollte vor. Es war Prinz Ring von Krone persönlich. »Dann hätten wir die Besessene also endlich geschnappt!« rief er triumphierend.
Qaval machte sich noch nicht einmal die Mühe, den Prinzen anzuschauen. »Sie ist nicht besessen«, sagte er beiläufig. »Sie ist eine Heilerin.« »Die gerade ihren Vater umgebracht hat. Hat sie etwa ihren Dämon auf Sie einwirken lassen, Herzog?« erkundigte sich der Prinz. »Wollen Sie ihr im Feuer Gesellschaft leisten?« Qavals Körper zitterte im Ansturm einer Empfindung, von der Herald mit Sicherheit wußte, daß es nicht Angst war. »Ich bitte den Prinzen um Nachsicht«, sagte er unterwürfig. »Als Gefangener von Kade wurde ich an sie gefesselt. Ich bin davon überzeugt, daß ihre Aura völlig natürlich ist; sie hat mir nicht geschadet. Doch was noch wichtiger ist – der Cluster ist einer Bedrohung ausgesetzt, die sämtliche örtlich begrenzten Unstimmigkeiten zweitrangig werden läßt, und das Mädchen muß beschützt werden, um...« »Entfernt den Verräter aus meinen Augen!« befahl Ring barsch. »Wir werden uns mit ihm später beschäftigen. Bringt die Besessene auf den Hof. Erst werden wir ihr zu ihrem Schicksal verhelfen, ehe die Burg zur Plünderung freigegeben wird.« Der Herzog von Qaval wandte sich langsam um und blickte den Prinzen an. Qaval war unbewaffnet, doch neben ihm ließ der Graf von Dollar sein Kampfrad rotieren, und einige Soldaten, die das Wappen von Qaval trugen, befanden sich im Raum. Alle beobachteten aufmerksam den Herzog. Ein Zeichen von ihm, und sie würden sich gegen den Prinzen stellen, denn im Grunde waren sie nur ihrem Herrn treu ergeben. Herald konnte den inneren Kampf sehen, der in
Qaval tobte. Auf der einen Seite war da die Gefolgstreue zu seinem Prinzen, und auf der anderen Seite gab es die Loyalität zu seinem Cluster. Herald wußte genau, wie die Entscheidung aussehen mußte. Qaval war letztendlich mit Leib und Seele Krieger; er gierte nicht nach Macht oder schmiedete irgendwelche Intrigen, sondern er tat nur das, was er für richtig hielt. Doch um dieses Recht durchzusetzen, scheute er keine Mühe und wählte auch den beschwerlichsten Weg. Dem Prinzen zu gehorchen, würde wahrscheinlich bedeuten, den gesamten Cluster mitsamt der auf dem Planeten Keep lebenden Gesellschaft zu verlieren. Psyche legte Qaval eine Hand auf den angespannten Arm. »Friede, Herzog!« bat sie. »Meinetwegen soll es keinen Streit geben.« Er blickte sie an. »Lady, es geht nicht nur um...« »Bringen Sie meinetwegen Ihre Position nicht in Gefahr, guter Herr von Qaval«, beharrte sie. »Ich weiß, daß der Cluster gerettet werden wird, wenn wir dem Schicksal seinen Lauf lassen.« Und Qaval, wenn auch gegen seinen Willen und sein besseres Wissen, beugte sich dem Wunsch der Lady und ihrer Aura. Menschliche Soldaten des Prinzen erschienen, legten ihm erneut Handschellen an und führten ihn fort, und der Graf von Dollar rührte sich nicht. Herald hockte bei Kades Leiche, als man Psyche nach draußen brachte. Er war von dem unerwarteten und plötzlichen Zusammenbruch dieser stolzen Burg wie betäubt und schien noch immer nicht vollständig zu begreifen, was überhaupt geschah. Solarische Krieger kamen herein, ergriffen ihn und folgten mit
ihm dem Prinzen. Schicksalsergeben ging er mit ihnen. Hinter sich hörte er das melodische Signal des Telefons. Ein Bediensteter der Burg ging hin und nahm den Hörer auf. Herald achtete kaum darauf. Soldaten zerstörten die wertvollen antiken Möbel der Burg Kade und warfen die Trümmer auf einen riesigen Haufen auf dem Haupthof der Burg. Ein mächtiger metallener Rahmen wurde über dem Haufen errichtet, dessen Stützvorrichtungen in den Holzstapel gesenkt wurden. Vom oberen Querbalken hingen Fesseln herab. Plötzlich begriff Herald, wozu diese Konstruktion dienen sollte. »Nein!« schrie er auf und wollte sich von den beiden Soldaten losreißen, die ihn festhielten. Sie zogen ihre Schwerter. Doch Herald war frei und stürmte los. Er griff Prinz Ring an. Qaval hatte seiner inneren Stimme nicht gehorcht. Herald hingegen kannte derartige Beschränkungen nicht. Als seine Hand das Rad des Prinzen berührte, attackierte er ihn mit der exorzistischen Energie seiner Aura. Eigentlich hätte dieser Angriff keine Wirkung haben dürfen, jedoch konzentrierte er sich so stark und war derart von blinder Wut erfüllt, daß Rings schwächere Aura nahezu zerschmettert wurde und sein Leben beinahe erlosch. Der Prinz schrie in Todesqualen auf, dann sackte er auf seinen Fortbewegungsrädern zusammen, sein Stimmrad verlangsamte die Rotation und blieb schließlich stehen. Die Soldaten und Ritter standen verwirrt da und wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. An dem Prinzen war keine sichtbare Verletzung zu erkennen; sie begriffen nicht, was Herald
getan hatte. Doch Psyche erkannte es sofort. »Nein, das ist nicht recht«, protestierte sie. »Wie kannst du nur...« Und sie entzog ihre zarten Arme dem Griff ihrer Häscher, als wären es Kinder, dann ging sie hinüber zu Prinz Ring und legte ihm eine Hand auf. »Kehr zurück und sei wieder gesund«, sagte sie – und Heralds tödliche Attacke wurde von einer Macht neutralisiert, die größer war als seine eigene. Der Prinz erholte sich. Dann kam sie zu Herald, blickte ihm ins Gesicht, als sie ihn berührte. Sie erschien ihm geradezu quälend liebenswert, und ihre Aura umhüllte ihn mit ihrer unendlichen Liebe, hatte eine Intensität von mindestens 275, und das trotz ihrer Entfernung zum Keller. Selbst bei Tageslicht leuchtete sie. »Niemand soll meinetwegen leiden. Ich liebe dich, Herald.« Und sie ließ ihn wieder los und begab sich in die Mitte des Hofs. Die Soldaten des Prinzen waren weniger zart besaitet. Sie rissen ihr brutal die Kleider vom Leib, bis sie vollkommen nackt war. Sie fesselten ihre Hände an den Rahmen, so daß sie über dem Holzstoß hing. Herald, der aufgrund Psyches Berührung, die so viel zarter und betäubender war als ein einfacher Kuß, nicht reagieren konnte, beobachtete die Szene voller Staunen und Entsetzen. Wie konnte er hier stehenbleiben und zulassen, daß das Furchtbare seinen Lauf nahm? Und doch rührte er sich nicht. Plötzlich sah er ein Bild wie beim Cluster-Tarot – die Königin der Energie. Eine nackte Frau, die für ein Monster in Ketten gelegt war. Das Bild symbolisierte Andromeda, und zwar beides – Galaxis und mythische Gestalt – und zugleich Melodie von Mintaka.
Nun jedoch war es Psyche, gefesselt, um ins Feuer geworfen zu werden. »Zünden!« brüllte Prinz Ring. Der Zorn des Sadorers war durch Psyches Berührung nicht gemildert worden. Vielleicht hatte sie auch gar nicht gewollt, daß es anders war, sollte sie doch der gleichen Ehre zuteil werden wir ihr Vater und der Herzog von Qaval. Die Soldaten tränkten das Holz mit Lampenöl und näherten sich mit brennenden Fackeln. Sie wurden jedoch von einem aus ihrer Mitte aufgehalten, einem sadorischen Edlen. Es war der Graf von Dollar! »Das dürft ihr nicht tun!« hallte seine Stimme über den Platz. Aber die Soldaten waren zu sechst, und er war allein. Sie stürzten sich auf ihn, Solarier und Sadorer, und überwältigten ihn allein schon durch ihre Überzahl. »Heiler!« schrie Wirbel, als er verwundet wurde. »Wie können Sie gleichgültig dastehen, während Ihre Lady verbrannt werden soll?« Dann zuckten Äxte herab und vernichteten Wirbel. Seine Räder wurden abgerissen. Er war tot. Und Herald... stand immer noch unbeweglich da, gelähmt durch die Stasis, in die Psyche ihn versetzt hatte. Nun wurden die Fackeln auf den Holzstoß geschleudert. Die Flammen zuckten gierig hoch und leckten an Psyches nackten Füßen. Sie zog sie mit einem Schmerzwimmern hastig zurück, stieß dabei einen schwachen Schrei aus, der durch Heralds Eingeweide schnitt. Dann ließ sie die Füße wieder sinken, als hätte sie es aufgegeben, sich gegen ihr Schicksal aufzulehnen. »Herald, vergib ihnen!« flehte sie. »Sie wissen nicht, was sie tun!«
Die Flammen schossen brüllend hoch und hüllten ihren blauen Körper in ein grell leuchtendes Inferno ein. Ihre goldenen Haare gerieten in Brand und verkohlten zu einer schwarzen Masse. Der Anblick und das Schreien ihrer Qual brachen schließlich Heralds Lähmungszustand. Er rannte auf das Feuer zu, riß brennende Scheite mit seinen bloßen menschlichen Händen heraus. Plötzlich war auch er von Flammen umgeben. Flamme von Esse! dachte er plötzlich. Er kämpfte sich zur Mitte vor, bis seine Hand etwas Weiches berührte – eines ihrer nackten schlanken Beine –, und er griff zu und zerrte daran. Doch nur eine Handvoll knisternder Haut löste sich. Sie war in Ketten, er konnte sie nicht befreien, irgendwie mußte er erst die Handschellen aufbrechen. Dann wurde er von anderen Händen gepackt, die ihn aus dem Feuer zogen. Keine Hände; grüne Klauen, stark, dem Feuer widerstehend. Es war Qaval, der nicht gefesselt war. »Sie ist tot, Herald! Aber Sie müssen leben. Unsere Botschaft ist durchgekommen. Das Segment-Kommando hat zurückgerufen!« Das Telefon! Hätte er Psyche retten können, wenn er dem Ruf gefolgt wäre und ihn beantwortet hätte? »Sie sind mit Hweeh von Weew ins ClusterHauptquartier bestellt worden, um Ihren Bericht über die Amöbe abzuliefern. Und ich ebenfalls. Und – die Lady.« Der Herzog machte eine ironische Grimasse. »Es dauerte zu lange, bis der Ruf mich erreichte, da die Leute des Prinzen sich nicht überzeugen lassen wollten. Ich kam zu spät hierher. Doch nun darf der Prinz sich nicht mehr einmischen, und zweifellos wird er vor Gericht erscheinen müssen, weil er eine wichtige Informationsquelle zerstört hat.«
Als ob das noch eine Bedeutung hatte! Herald hatte sich aus der Glut zerren lassen, während Qaval seinen Bericht abgab. Seine tränenden Augen erkannten Prinz Ring, der kraftlos auf seinen Rädern hockte. Zur Hölle mit Ring! Er blickte auf seine Hände und sah Fetzen von etwas Verbranntem darin. Lag über der Asche nicht doch ein leichter blauer Schimmer? Er kehrte dem Feuer den Rücken zu, dachte dabei an die Warnung Kleinbohrs von Metamorph, die ihm unermeßliche Qualen vorausgesagt hatte. Über Zeit und Raum hinweg hatte die Katastrophe Eingang in ihr Bewußtsein gefunden, und er hatte die Kleine nicht richtig verstanden – wenigstens bis jetzt nicht. Er steckte viel zu tief in seinem physischen und emotionalen Leid, um bei dem Gedanken Wut empfinden zu können, daß die befreiende Nachricht nur wenige Minuten zu spät gekommen war, um seine Geliebte noch vor der Vernichtung zu bewahren. Psyche hatte es auf ihre Art so gewollt. Nahezu bereitwillig war sie auf den Scheiterhaufen gestiegen und hatte jeden Versuch, ihr Schicksal abzuwenden, zunichte gemacht, als hätte sie am Ende des Weges ein erstrebenswertes Ziel gesehen. Doch Herald konnte dies nicht erkennen! Er ließ sich vom Herzog von Qaval wegführen. Die Plünderung war in vollem Gang, als sie die Burg auf frischen Pferden verließen. Die weiblichen Insassen der Burg wurden in verschiedene Kammern eingesperrt, um den siegreichen Soldaten zu Willen zu sein. Herald fragte sich kurz, wie sadorische Jungfrauen wohl vergewaltigt wurden, jedoch führte er diese Überlegung nicht zu Ende. Es interessierte ihn
im Grunde gar nicht. Der vorwiegende Teil des Personals der Burg war menschlich, und wie die vergewaltigt wurden, wußte er selbst. Sie gelangten mit der Fähre zum nördlichen Ufer und rollten eilig durch den Wald nach Westen. Sie würden den Palast des Königs von Krone aufsuchen, um von dort im Transfer zum Cluster-Hauptquartier zu springen. Hweeh würde per Materietransmission dorthin befördert werden. Herald, vergib ihnen – sie wissen nicht, was sie tun. Denen vergeben? Am liebsten würde er die Kerle allesamt in den Flammen umkommen sehen, die sie für Psyche angefacht hatten. Er konnte die Tiefe seines Verlusts nicht ermessen. Weiter rollten sie, während die Sonne zwischen den Faßbäumen vor ihnen mit einem wunderschönen Leuchten unterging. Als ob es noch etwas gab, das in seiner Schönheit neben Psyche hätte bestehen können. Noch hatte ihn der Schock nicht voll getroffen; weder Slash noch solarischer Wirt reagierten so simpel und gründlich wie ein Weew! Doch irgendwann, wenn ihm das ganze Ausmaß des Schreckens bewußt würde... Als sie den Wald hinter sich ließen und auf die Ebene hinausritten, ertönte hinter ihnen ein Geräusch. Die Bäume schüttelten sich, der Boden erbebte, und ein heftiger Wind fegte über sie hinweg, so daß sie sich ducken und an ihre Sättel klammern mußten. Die Pferde scheuten, begannen loszustürmen und verdoppelten ihr Tempo. Als es ihnen endlich gelungen war, die Tiere wieder in die Gewalt zu bekommen, wandten die drei sich um und schauten zurück.
Ein riesiger, leuchtender Pilz entstand am dämmerigen Himmel. Er blähte sich auf und fiel wieder in sich zusammen, eine Erscheinung von fürchterlicher Gewalt und Bedrohung. »Das ist eine Atomexplosion!« rief Hweeh mit zitterndem Augenstiel aus. »Und was ist nun mit den mittelalterlichen Regeln? Keine Sprengstoffe...« »Das ist die Burg Kade«, sagte Qaval. »Es gibt auf dem Planeten keine atomare Technologie, und am wenigsten dort! Und selbst wenn – warum sollten die Sieger sie denn entfesseln und sich damit selbst vernichten?« Heralds menschliches Kinn sackte herab. »Ich habe Feuer auf ihre Häupter gewünscht!« gestand er. »Und nun ist es wirklich eingetreten – und trotzdem ist das noch nicht genug!« »Das kann keine Ursache Ihres Wunsches gewesen sein«, widersprach Hweeh. »Es muß irgendeine Einrichtung einer früheren Kultur gegeben haben, die ausgelöst wurde.« »Die Ahnen!« rief Qaval. »Die Quelle, aus der die Aura des Mädchens ihre Kraft gewann! Wenn wir das doch nur erkannt hätten! Kein Dämon, sondern eine Fundstätte der Ahnen unter der Burg, und zwar eine durchaus funktionsfähige! Sie war besessen – von der Aura der Ahnen!« »Es gibt aber doch eine Verbindung«, ergriff Hweeh wieder das Wort. »Um die Amöbe wirkungsvoll bekämpfen zu können, brauchen wir die Macht und Energie der Ahnen – und diese Macht war sie, nämlich durch ihre innere Verbindung zu der Fundstätte. Durch sie hätten wir über alles verfügen können!«
»Das Geheimnis lag unter unseren Füßen«, meinte auch Qaval und starrte die monströse Wolke des Todes an. »Und als sie starb... bei höchster Aura-Intensität«, schloß Hweeh, »hat sie in der Fundstätte die nukleare Vernichtung ausgelöst.« »Gut für sie«, murmelte Herald mit einem Gefühl der Bitterkeit. Langsam versank Hweeh im Schock, als er sich ihre verzweifelte Lage klarmachte. Aber der Vorgang der totalen Vernichtung begann auch auf Herald zu wirken.
TEIL II
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Fundstätte vom Mars 2 Fundstätte vernichtet. 2 E Frage, ob die Stimmbandsprecher sich vor Vernichtung Erkenntnisse über Ahnen-Wissenschaft verschaffen konnten. In nächster Nähe hielt sich aurale Erscheinung von Fundstätten aktivierender Kapazität auf und entfernte sich kurz vor 2s Ankunft. E & Wohin machte sich die aurale Erscheinung auf den Weg? & E Zur Hauptstadt des Reichs der Stimmbandsprecher, zum Planeten Außenwelt. E & Sicherlich mit einem ganzen Paket von Informationen aus der Zeit der Ahnen im Gepäck.& E Die Cluster-Konferenz versammelt sich soeben. Ich werde sie von der auf den Planeten Außenwelt gerichteten Beobachtungsstation aus verfolgen und mich melden, wenn ich etwas Auffälliges bemerke. E »Hiermit ist die Sitzung der Alarm-Konferenz des Cluster-Rats eröffnet. Thema: Weitergabe von Informationen, welche die Sicherheit des Cluster betreffen.« % Mußte man unbedingt eine offizielle ClusterKonferenz einberufen? Wenn es hier nur um einen anderen Aspekt des Energie-Problems geht, mit dem wir uns nun schon seit dreitausend Jahren herumschlagen... % »Nein, Minister von Knyfh. Es geht um die potentielle Bedrohung in Form einer Invasion aus dem
Raum außerhalb des Clusters.« δ Invasion? Lächerlich! Keiner unserer benachbarten Cluster würde einen derartigen Vorstoß unternehmen. Bestimmt hat man dort eigene Probleme, und außerdem wäre die Energiemenge unerschwinglich, die allein für die Kommunikation notwendig ist! δ »Minister von Qaval, immerhin ist es ein Angehöriger Ihrer Nation, der diesen Bericht überbringt.« δ Einer von uns! Holen Sie ihn her! δ »Ich bin Qaval, ein Herzog vom Planeten Keep, Sphäre Sador, Segment Etamin. Ich nahm teil an...« δ Kein echter Qaval spricht in solarischen Anführungszeichen! Ist das vielleicht ein schlechter Witz? δ »Nehmen Sie sich in acht, Flatterschwanz, sonst bekommen Sie es mit dem Schwert zu tun! Ich benutze ein solarisches Kommunikationssystem, das die Mitteilungen in Anführungszeichen darstellt, ganz gleich, welche Art der Intonation gewählt wurde, wie jedes Kind weiß.« δ Tatsächlich! Er kommt von Qaval! Fahren Sie fort! δ »Ich nahm teil an einer Befragung eines Angehörigen des Segments Weew, der sich im Schock befand. Er hat eindeutige Beweise für...« Ö Halt! Wenn die Behandlung dieser Angelegenheit die Weews in den Schock stürzen läßt, dann sollte man den Minister von Weew warnen. Ö @ Ich bin mit der Situation vertraut, Minister von Lodo. Wir haben Hweeh von Swees per Materietransmission ins Segment Etamin geschickt, damit er sich dort einer Schockbehandlung unterzieht. Wir glaubten nämlich, daß seine Informationen für die Si-
cherheit des Clusters von lebenswichtiger Bedeutung sind. Als eine Nachricht von ihm bei uns einging, verfolgten wir die ganze Sache mit mehr Nachdruck und sorgten für seine Entfernung von seinem derzeitigen Aufenthaltsort, da sich die allgemeine Lage dort aufgrund lokaler politischer Unruhen entscheidend verschlechterte. Ich habe mich vorher mit SchockDämpfern versorgt und bin auf alles vorbereitet. @ »Wenn die Segment-Minister mir dann gestatten würden, fortzufahren.« :: Berichten Sie weiter, Qaval vom Anführungszeichen. :: »Meine Wertschätzung, Quadpunkt von Andromeda. Der Weew hatte Neuigkeiten über die Annäherung einer unermeßlichen Raumflotte mittels Materietransmission. Die Flotte formiert sich zur Zeit in nächster Nähe des Clusters.« É Ä * # Wo?! # * Ä É ∞ Wie prompt die Rand-Segmente reagieren! Seien Sie nicht zu besorgt, Minister von Freng, Tausendstern, Ast und Esse! Bei einer Invasion des Clusters wären wir alle ohne Ausnahme betroffen. ∞ »Danke für die Unterstützung, Novaglanz! Wir kennen die feindliche Flotte als eine rätselhafte außerhalb des Clusters gelegene Konfiguration, die wir Raum-Amöbe nennen. Sie wird nicht von Meteoritenschutt gebildet, sondern besteht aus hochentwickelten Raumschiffen, deren jeweiliger Zustand der Rematerialisierung aus der Transmission für die Ordnung der Formation verantwortlich ist.« – Sie behaupten also, daß eine extraclustrische Formation in Wirklichkeit eine Raumflotte ist? Es fällt schwer, das zu glauben. –
»Das behaupte ich aber, Dash von Andromeda. Ein Angehöriger Ihrer Galaxis holte die fachmännische Beurteilung des Phänomens aus dem Astronomen von Weew heraus.« – Machen Sie keine Witze, Q von A! Aus welcher Sphäre kam er? – »Aus der Sphäre Slash.« ∞ Sphäre Slash, der von Llume verdammten? ∞ »Novaglanz, wir alle gehören zu diesem Cluster! Wenn wir die alten Streitigkeiten wieder hochspielen...« – Der Verfluchte soll vortreten! – »Ich bin Herald der Heiler aus der Sphäre Slash, Andromeda. Herzog Qavals Erklärung entspricht den Tatsachen. Jedoch bin ich nicht in der Verfassung, eine Aussage zu machen, da...« – Ich habe Sie nicht richtig verstanden, Slash. Warum können Sie nicht aussagen? – »Dazu kann ich, Qaval, etwas sagen. Herald der Heiler befindet sich selbst zum Teil in einem Schock.« »Er befindet sich in einem solarischen Wirt. Er...« – Solarier gehen ebenfalls nicht in den Schock. – »Nicht in der Art, wie wir es von den Weews kennen. Allerdings gibt es bei ihnen einen psychischen Zustand, der...« – Dieser Slash ist offensichtlich in der Lage, sich mitzuteilen. Deshalb... – »Lassen alle Dash einen nie ausreden oder nur die Ignoranten?« – (Schweigen) – »Herald von Slash heiratete eine Weibliche von Sol, die vor kurzem im Zustand höchster Blüte vernichtet wurde. Er leidet deshalb unter einem Trauer-Schock.«
$ Dieser persönliche Aspekt ist irrelevant. Wir akzeptieren die Tatsache, daß er zur Zeit kein idealer Zeuge ist. Wichtiger wären jetzt Einzelheiten über die fremde Flotte. $ »Einverstanden, Wolke 9. Trotzdem ist der Hinweis von Bedeutung. Es war Heralds Sol-Frau, die den Weew zu seiner Aussage brachte, und nur sie hätte weitere Informationen aus ihm herausholen können. Deshalb sind unsere Kenntnisse nur unvollständig.« – Ist das etwa ein Bericht aus zweiter Hand? Und das bei einer Cluster-Konferenz? – * Warum wurde eine derart wichtige Entität denn überhaupt vernichtet? * »Lokale Politik. Sie war eine Super-Kirlian-Entität mit einer Aura-Intensität von zweihundertfünfundsiebzig.« Ç Ñ ¢ / Ö Zweihundertfünfundsiebzig!? Ö / ¢ Ñ Ç »Überprüft und bestätigt, Minister von Bhyo, Sculp, Wolke 6, Slash und Lodo. Herald von Slash ist der stärkste bekannte Kirlian mit zweihundertsechsunddreißig, doch Psyche von Keep war zum Zeitpunkt ihres Hinscheidens deutlich stärker. Tatsächlich war dies auch der Grund ihrer Vernichtung. Man hielt sie für besessen.« δ Wo waren Sie, Exilierter von Qaval, als es zur Vernichtung eines potentiellen Zeugen kam? δ »Ich befand mich in fremder Gewalt und war nicht in der Lage, sie zu beschützen. Dafür sind die Mörder ebenfalls vernichtet worden.« % Zu einem solchen Unrecht hätten Sie sich nicht
hergeben dürfen. Warum keine Gerichtsverhandlung? % »Die ganze Region explodierte. Offenbar hat sie mit der Ahnen-Fundstätte zusammengewirkt und...« – Eine Fundstätte der Ahnen? Von der Art, die sich selbst zerstört? – »Anzunehmen. Ich gehe davon aus, daß sie auf die Kirlian-Lady abgestimmt war und deren Aura in periodischen Abständen verstärkte.« – Dann hätten wir also sowohl eine unersetzliche Fundstätte als auch wahrscheinlich wertvolle Informationen über eine Cluster-Invasion verloren – dank Ihrer Einmischung und Ihres Versagens. – δ Vorsicht, Dash! Es ist eine Ungehörigkeit für eine Sphäre Ihres zweifelhaften Rufs, einen Qaval zu beschuldigen... δ ¢ Müßt ihr beiden Galaxien denn immer einen Streit vom Zaun brechen? Die Energie-Kriege sind schon seit über tausend Jahren vorbei. ¢ δ Deshalb steht uns vielleicht schon bald der nächste bevor! δ % Zur Sache. Fiel die Vernichtung der Fundstätte mit dem Tod der weiblichen Kirlian zusammen? % »Nein, Knyfh. Das Mädchen starb etwa eine halbe Stunde vor der Explosion.« % Dann hatten die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun, es sei denn, es handelte sich um eine Reaktion mit Verzögerung. % Ö Das ist für die Ahnen-Fundstätten nicht typisch. Ö % Meine Meinung, Lodo. Unsere Experten haben die Aufzeichnungen über Transferer in der Sphäre Sador überprüft und sich auf den in Frage kommen-
den Zeitraum konzentriert. Das brachte kein Ergebnis. Jedoch stießen wir auf Anzeichen umfangreicher Materietransmission, über die in den Archiven des Segments keine Eintragungen zu finden sind. Ich schließe daraus, daß eine bisher noch unbekannte Macht per Materietransmission eine Bombe zur Fundstätte gebracht hat. Die Frage ist: welche Macht und warum? % (E Bisher war die Diskussion ziemlich verworren und ziellos, doch nun scheint man sich endlich dem wesentlichen Kern zu nähern. E) (& Das ist gleichgültig. Es ermangelt ihnen der Technologie, sich gegen uns zu behaupten. Überwachung fortsetzen. &) ∞ Sie gehen also davon aus, daß es zwischen der vorgeblichen Amöben-Flotte und der vorgeblichen Vernichtung der Fundstätte eine Verbindung gibt? ∞ % Das wäre durchaus möglich, Novaglanz. Wenn die Amöbe tatsächlich eine feindliche Macht darstellt, die aus dem fernen Raum hierher transmittierte – über eine Million oder mehr Parsec hinweg –, dann verfügt sie über eine Technologie, die unsere derzeitigen Möglichkeiten übersteigt, abgesehen von dem ungeheuren Energieaufwand. Sicherlich könnte diese Macht eine nukleare Bombe per Materietransmission an jeden gewünschten Ort bringen, wenn dort ein Materie-Empfänger steht – und es scheint so, als verfügte eine Reihe von Ahnen-Fundstätten über Materietransmissions-Einrichtungen. In diesem Fall gäbe es nur einen Weg, auf dem wir schnell genug zu gleichen Voraussetzungen gelangen können, um unseren Cluster vor einem Überfall und voraussichtlicher Vernichtung zu bewahren: indem wir nämlich die
Technik der Ahnen so schnell wie möglich, am liebsten sofort, beherrschen. Die Amöbe weiß das bestimmt. Deshalb fürchtet sie die noch funktionierenden Ahnen-Fundstätten und vernichtet jede, die sie auf ihrer Reise entdeckt. % – Warum haben die Amöber dann nicht auch die Fundstätten der Sphäre Dash zerstört? – % Ich nehme an, weil sie entweder nichts von ihnen wissen oder weil sie sie erhalten wollen, um dort nach Eroberung des Clusters einige Studien zu betreiben und sich ihrer zu bedienen. Keine Zivilisation kann sich erlauben, technologisches Wissen der Ahnen zu verschleudern! Als jedoch zu erwarten war, daß die sadorische Fundstätte aktiviert werden könnte, haben sie zugeschlagen und sie kurzerhand vernichtet. % Ö Das ist aber eine gewagte Vermutung. Ö – Das ist einfach phantastisch! Das hieße ja, daß die Amöbe tatsächlich eine fremde Flotte darstellt, daß sie Eroberungsabsichten hat und daß sie über unsere Aktivitäten derart genau informiert ist, daß sie innerhalb kürzester Zeit auf jedem Planeten zuschlagen kann. – Å Und daß sie wahrscheinlich jetzt im Moment unsere Diskussion verfolgt. Å % Ganz gewiß, Minister von Stift. Eine logische Schlußfolgerung. Wir brauchen weitere Informationen. Ich schlage vor, wir leiten sofort entsprechende Maßnahmen ein, um sie uns zu verschaffen. Außerdem müssen wir dafür sorgen, daß unsere Beratungen geheim bleiben. Wir müssen uns von der Amöbe fernhalten, sonst verraten wir unsere Absichten, zugleich jedoch jegliche Möglichkeit ausschöpfen, um
die Geheimnisse der Ahnen zu entschlüsseln. Sollte es sich bei der Amöbe um einen falschen Alarm handeln, dann gewinnen wir durch diesen Vorfall wenigstens an Erfahrung; wenn nicht, dann brauchen wir die Kenntnisse der Ahnen. Und jetzt schnell! % (E Fast wissen sie schon von unserer Existenz und suchen jetzt Hilfe bei den wissenschaftlichen Artefakten der Ahnen-Fundstätten. E) (& Sämtliche interstellaren Kommunikationsaktivitäten, die sich daraus ergeben könnten, sind genauestens zu überwachen. Sollte es sich abzeichnen, daß man Ahnen-Technologie findet und sie entschlüsseln kann, müssen sämtliche Spezialisten, die sich damit befassen, sofort ausgeschaltet werden. &) Ö Wie sollen wir denn unsere Pläne und Beratungen geheimhalten, wenn die Fremden sogar in der Lage sind, unser Kommunikationsnetz anzuzapfen? Ö % Indem wir die ganze Angelegenheit einer Kommission anvertrauen. % (E Sie wollen sich unserer Überwachung entziehen, indem sie über eine Kommission operieren. E) (& Dann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Noch nie hat eine solche Kommission etwas so rechtzeitig hervorgebracht, daß man es sinnvoll einsetzen konnte. Es wird wohl keinen ernstzunehmenden Widerstand geben. &) Herald schoß über die staubige Lavawüste. Seine bauchige Gaskelle schaufelte die dünne Atmosphäre ein, komprimierte sie, ionisierte sie, zog die lebenswichtigen Elemente zur Erhaltung der Organfunktionen heraus und stieß die Überreste mit hohem Druck
wieder ab. Sein Wirt war ein Eingeborener der Sphäre Jet, einer kleinen Kultur in einem Kugel-Cluster, einer jener dichten Ansammlungen von Sternen, die die größeren Galaxien umkreisen. Die hohe Konzentration alter Sonnen in diesen Kugelhaufen machte Planeten zu einer Seltenheit, und die wenigen, die dort existierten, waren vorwiegend wüstengleiche Kugeln. Doch der Kugelcluster Jet enthielt ein kleines Schwarzes Loch – eine Region kollabierter Materie, so dicht, daß sie das nebelhafte Gewebe des Raums selbst durchstoßen hatte und nun ein ›Loch‹ bildete, aus dem nichts, nicht einmal Licht entweichen konnte. Dieses Loch hatte die Ausmaße eines großen Planeten, verfügte aber zugleich über die Masse eines großen Sterns. Umgeben war es von einer Gashülle, deren gelegentliche Turbulenzen hochintensive Strahlungsschübe herausdringen ließen. Diese unkontrollierte Strahlung hatte vor Tausenden von Jahren den galaktischen Astronomen die Lage des Lochs verraten und zu einer schon frühzeitig erfolgten Untersuchung dieser Region geführt. So waren völlig überraschend die intelligenten Jets entdeckt worden. Die Jets waren eine seltsame Spezies, wie man es von Kreaturen nicht anders erwarten konnte, die sich wie sie in nächster Nähe eines rätselhaften Phänomens wie einem Schwarzen Loch innerhalb eines Kugelclusters aufhielten. Das Loch sog sämtliche Materie in seiner Umgebung ein und schuf einen nahezu unwiderstehlichen Wirbel, dessen Kompression im Zentrum eine starke Strahlung erzeugte, die normalerweise von der Gashülle gebrochen und gemildert wurde. In unregelmäßigen Abständen wurde sogar Materie ausgeworfen, was die Geographie und Geo-
logie des Kugelclusters noch komplizierter erscheinen ließ. Diese Gesteinsbrocken hatten eine Reihe von Planeten gebildet deren Oberflächenbedingungen sich laufend veränderten. In periodischen Abständen vernichtete die Strahlung den größten Teil lebender Materie auf diesen Welten, und umhertreibende Gaswolken verschmolzen miteinander, schlossen sie ein und veränderten die allgemeinen Bedingungen, unter denen neues Leben heranreifen und gedeihen konnte. Dank diesem Wechsel war die Spezies, die überlebte und sich bis zur Intelligenz hin entwickelte, daran gewöhnt, sich ihre lebensnotwendigen Stoffe aus den mageren Quellen, die über weite Flächen verstreut lagen, zusammenzusuchen, im höchsten Maße an die Extreme der Atmosphäre und des Klimas anpassungsfähig und gegen Strahlungsschäden völlig immun. Obwohl vorwiegend zu Land unterwegs, konnte der Jetkörper eine Geschwindigkeit erreichen, die etwa vierhundert Meilen pro Stunde betrug. Außerdem stellten die Jets die besten Wirte für archäologische Ausgrabungen, die man im Cluster finden konnte. Herald schwang hin und her, glitt auf seinen federnden Borsten dahin und hinterließ eine feine und deutliche Spur im Staub. Derselbe Jet-Antrieb, der dem Körper eine derartige Geschwindigkeit verlieh, diente als sanfter und zugleich hochleistungsfähiger Ausgrabungsmechanismus oder Reinigungsapparat für verschüttete Artefakte. Die einfachste Methode, Staub zu entfernen, war, ihn wegzublasen! Hweeh, der in einem Anzug mit eigener Energieversorgung und eigenem Antrieb steckte, erwartete ihn. »Wahrscheinlich wäre ich auch besser in den
Transfer gegangen.« »Nein. In Ihrem Weew-Gehirn befinden sich immer noch Daten und Hinweise, die wir dringend brauchen. Ich darf die ganze Sache nicht noch dadurch verkomplizieren, indem ich Ihr Bewußtsein in ein fremdes Gehirn einziehen lasse. Außerdem haben Sie einen sehr anpassungsfähigen Körper, so daß sich für Sie kaum Nachteile ergeben.« Er sprach, indem er die Gassäule, die er ausstieß, auf eine bestimmte Art und Weise vibrieren ließ. »Bei entsprechender Würdigung Ihrer eigenen tiefen Trauer muß ich zugeben, daß auch ich unter dem Verlust der Kirlian-Lady sehr leide«, gestand Hweeh. »Sie allein konnte den Zugang zu meinen Geheimnissen öffnen; ohne sie bin ich überhaupt nichts wert und vergeude nur Ihre Zeit.« »Ohne sie ist auch mit mir nicht viel los«, sagte Herald. »Ich liebte sie mehr, als ich je wahrhaben wollte. Wäre da nicht die Bedrohung unseres gesamten Clusters, würde ich mich voll und ganz meiner Trauer hingeben.« »Ihr Slash habt wirklich eine bemerkenswerte Selbstkontrolle.« »Wir sind ein Volk von Kriegern und haben etwa tausend Jahre lang unter dem Fluch von Llume gelitten. Wir tun, was getan werden muß. Wir brauchen es allerdings nicht auch noch gerne zu tun.« »In meiner Kultur würde man darin ein Zeichen von Gleichgültigkeit sehen. Ich hätte den Schock, den Sie ertragen mußten, gewiß nicht überlebt.« »Darin unterscheiden sich unsere Rassen. Ihr ortet die Gefahr, während ich ihr die Stirn biete und sie abzuwenden versuche.«
Sie blickten über den Schild aus erstarrter Lava. Dies war der Planet Mars im System Sol, und er befand sich in direkter Nähe der Welt, von der aus Psyches menschliche Vorfahren sich in alle Richtungen ausgebreitet hatten. Da diese Umgebung in einer Beziehung zu ihr stand, empfand er seinen Aufenthalt an diesem Ort doppelt schmerzlich. Natürlich hatte ihre Gestalt ihm wenig bedeutet, sondern es war ihre Aura, die ihn verzaubert hatte. Jene Aura, die er in jedem anderen Wirt als mindestens ebenso beglückend und überwältigend empfunden hätte. Schön, nein, nicht ganz; als er sich in seinem solarischen Wirt befand, war er natürlich auch von ihrer menschlichen Gestalt gereizt worden. Er hatte sie geliebt – liebte sie immer noch! –, und zwar alles, was sie war und für ihn darstellte. Wie angenehm wäre es doch, einfach im Schock zu versinken, sich gehenzulassen, wie die Weews es vermochten! Dann brauchte er kein Leben zu führen, das für ihn so plötzlich und unerwartet jeglichen Inhalt verloren hatte. Es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Er war ein Slash, rief er sich selbst in Erinnerung, und daher fähig, optimal zu funktionieren, ohne sich von seinen Zielen ablenken zu lassen. »Wir sind hergekommen, um ein archäologisches Problem zu lösen«, erklärte Herald. »Und natürlich, damit ich mich ausruhen kann und Zeit gewinne, Ihre Heilung voranzutreiben, und zwar an einem Ort, der vor dem Zugriff des Feindes sicher ist.« »Während die Kommission darüber berät, ob sie unsere Warnung ernst nehmen soll, und am Ende doch nichts unternimmt«, sagte Hweeh. »Meine
Rasse reagiert mit dem Schock, und das ist wenigstens ein klares und ehrliches Zeichen.« Herald spendete ihm Beifall. »Ihre hervorragende Fähigkeit, verschiedenartige Faktoren miteinander zu verknüpfen und die ihnen gemeinsame Grundlage zu finden, beweist sich schon wieder einmal, Freund von Weew. Die Minister des Cluster-Rates erschienen zwar hochintelligent, jedoch haben sie in ihrer Gesamtheit als Gruppe so gut wie nichts bewirkt. Meinen Sie, die hätten uns nur in Ruhe und Sicherheit wiegen wollen, da sie letztendlich gar nicht daran denken, sich der Gefahr zu stellen und sich dagegen zu wappnen?« »Deshalb brachten sie doch den Vorschlag, eine Kommission zu gründen. Wir können nur hoffen, daß der Herzog von Qaval in seiner Funktion als Berater dieser Kommission seinen Einfluß stark genug geltend macht und sie auch gegen ihre Absicht zu irgendwelchen Maßnahmen drängt.« »Genaugenommen haben wir nicht einen einzigen schlüssigen Beweis für unsere Theorie«, gestand Herald ein. »Daher kann man ihnen wegen ihrer Skepsis keinen Vorwurf machen. Wenn doch nur die Lady noch...« Er verstummte. »Heilen Sie mich, Herald, und wir werden den Beweis erbringen. Nichts anderes können wir im Moment tun.« Sicher, es war die einzige Möglichkeit, die sie hatten. Das Überleben des Clusters lag in ihren Händen. Aber würden sie es wirklich schaffen? »Angeblich ist dies hier der wohl wichtigste und umfangreichste Ahnen-Fundort, den man im vergangenen Jahrhundert entdeckt hat«, sagte Herald.
»Vielleicht stoßen wir hier auf einen Hinweis, der uns zu einer noch funktionierenden Fundstätte leitet, mit deren Hilfe wir dem Feind ebenbürtig werden und ihm die Stirn bieten können.« »Amöbe«, verbesserte Hweeh. »Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt. Ich glaube nicht, daß ich deshalb wieder einen Schock bekomme. Wir müssen versuchen, das an Informationen zu wecken, was noch in meinem Bewußtsein verborgen ist.« »Einverstanden. Ich vermute, der Rat hat uns unter dem Vorwand hierher abgeschoben, uns Gelegenheit zur weiteren Informationsbeschaffung zu geben, damit wir ihm nicht mit unseren Forderungen nach ernsthafteren Aktionen auf die Nerven fallen. In Wahrheit rechnet von denen doch niemand damit, daß wir wirklich mit handfesten Ergebnissen zurückkommen. Viele von ihnen, wie zum Beispiel der Minister von Dash, sind überzeugt, daß es überhaupt nichts gibt, was man als eindeutigen Beweis ansehen kann. Nichtsdestoweniger werden wir unser Bestes tun. Bestimmt gibt es an diesem Ort etwas, das bei Ihnen die Erinnerung weckt. Sollte das geschehen, dann kann ich meine Aura einsetzen und der Sache auf den Grund gehen.« Er schaute sich um und benutzte dabei seine jet-typischen Faserlinsen. »Dies ist das Elysium, der Planet Mars...« »Mars war in der Mythologie Sols der Kriegsgott, und Elysium hieß die Zuflucht der Seligen.« Herald setzte seine Betrachtung der wüstenhaften Ebene fort und versuchte, sich solarische Götter vorzustellen. »Ich kann nichts Seliges feststellen. Dafür ist der Hinweis auf den Krieg gewiß zutreffend.« Dann schien etwas seine Aufmerksamkeit zu fesseln,
und er konzentrierte sein Faserlinse auf ein Staubwölkchen in der Ferne. Das Bild vergrößerte sich, als spezielle haarfeine Fasern ihre Lage veränderten, und er machte einen weiteren Jet aus. »Dort kommt unser Führer.« Kurz darauf eilte der Besucher heran. Es war eine Weibliche dieser seltsamen Rasse, die sich vom männlichen Typ durch die Anordnung der sensorischen Fasern an der vorderen Einlaßöffnung unterschied. Jung und nach den Maßstäben dieser Art durchaus hübsch zu nennen, schimmerte ihr metallischer Körper reizvoll, und ihr Antriebsstrahl zeigte ein angenehmes Farbenspiel. Aber sie schien nicht ganz gesund zu sein; ihr Gleiten wirkte hektisch und nervös, und sie hinterließ im Staub eine unregelmäßige Zickzackspur, wenn sie beschleunigte. »Ich komme, um zu helfen und damit mir geholfen wird«, sagte sie, während sie heranglitt, und schloß ihre Ansaugöffnung. »Wer von Ihnen ist der Heiler?« »Ich bin es«, gab Herald sich zu erkennen. Diese Lebensform war derart perfekt für die Fortbewegung geschaffen, daß die kurze Bemerkung ihn vorwärtsschießen ließ, aber sein Wirt wandelte diese Bewegung elegant in einen kleinen Schlenker um. Ein vollkommen stillstehender Jet war stets auch ein schweigender; Bewegung gehörte einfach zu jeder Art von Konversation. »Ich leide«, klagte sie und vollführte dabei ihren eigenen, wenn auch etwas ruckhaften Gesprächsschlenker. »Wenn Sie mich heilen können, dann werde ich während Ihres Aufenthaltes für Sie arbeiten und Ihnen eine willige Geliebte sein.« Herald überlegte. Er war im Cluster vielfältigen,
zum Teil einander widersprüchlichen Kulturformen begegnet und konnte sich sehr gut auf neue und ungewohnte Verhältnisse einstellen. In einigen Kulturen waren sexuelle Aktivitäten Formen einer höflichen Begrüßung; in anderen Kulturen unterlag die Sexualität strengen Regeln. Die Solarier gehörten dem letzteren Typ an, auch wenn einzelne Vertreter wie sein Vorfahr Flint von Außenwelt in dieser Hinsicht eher dem ersteren Typ zuzuordnen war. Die Jets schienen irgendwo dazwischen zu liegen, indem sie den Sex als lebensnotwendig erachteten und ihm in einer eher lässigen Weise frönten. Eine sinnvolle Einstellung. Jedoch stand ihm während der Zeit seiner Trauer der Sinn nicht nach Sex. »Ich brauche keine Geliebte, habe jedoch Verwendung für eine Führerin. Ich werde Sie heilen, wenn ich Ihr Problem in den Griff bekomme.« Er näherte sich ihr und berührte sie mit seinen Greiffasern, so daß seine Aura sich mit der ihren verband. Er reagierte mit Verwunderung – denn sie hatte keine Aura! Nein, er hatte sich geirrt. Natürlich verfügte sie über eine Aura, jedoch war diese so schwach, so unbedeutend, daß sie kaum zu spüren war. Die Intensität betrug höchstens ein Zweihundertstel von der allgemein üblichen Norm bei Denkfähigen. Das genaue Gegenteil seiner eigenen. Und dieser niedrige Intensitätsgrad war keine Folge eines Verblassens oder gar einer Krankheit; er war durchaus natürlich. Er erkannte gleichzeitig, daß sein eigener Wirt eine ähnliche Aura besaß, die kaum als solche zu bezeichnen war. Da er sich auf andere Dinge konzentriert hatte, war ihm dies völlig entgangen, und er hatte sich auch nicht die Mühe gemacht, eine routinemäßi-
ge Überprüfung durchzuführen. Offensichtlich war die schwache Aura eine Überlebensgarantie in jener Heimatsphäre der Jets in der Nähe des Lochs in der Clusterkugel. Seine Aura umschloß sie und drang bis in die tiefsten Winkel ihres Seins vor. Sie war eine sehr hübsche Kreatur, wie bereits aus den schwachen Spuren ihrer Aura zu erkennen war. »Wie lautet Ihre Nomenklatur?« erkundigte er sich behutsam, wobei die Druckstrahlen seiner Frage sie nahezu einen Reigentanz aufführen ließen. »Wir kennen bei uns keine Namen, sondern nur Zahlen«, entgegnete sie. Während sie redete, spürte er, wie die auralen Interaktionen der Nervensignale ihre Bewegungen steuerten, und lokalisierte dadurch den Defekt, der Ursache für ihr Unwohlsein war. Es war ein Fall für seine Art des Heilens. »Ich bin Arbeiterin Sechzehn.« Sechzehn – annähernd das in Sol-Jahren ausgedrückte Alter seiner ehemaligen Frau. Eine bedeutsame Zahl! »Entspanne dich, Sechzehn, gesunde«, sagte er. »Meine Aura ist in Ihnen.« »Ich spüre nichts«, stellte sie fest. So schwach war die Kirlian-Aura, daß sie selbst in dieser intimen Verbindung, die in gewisser Hinsicht noch enger war als die erotische, die sie angeboten hatte, seine alles durchsetzende Kraft nicht spürte! Herald hatte bisher keine Ahnung gehabt, daß im Cluster eine solche Spezies existierte. Es dauerte jedoch nicht lange, und er wurde sich über etwas anderes klar. Sie konnte den Prozeß des Heilens nicht spüren – weil er gar nicht stattfand! Seine Aura war vorhanden, jedoch wirkte sie nicht.
Herald unterbrach den Kontakt. »Auf meine Art bin ich jetzt im Schock!« rief er entsetzt aus. »Ich kann nicht heilen!« »Unmöglich«, widersprach Hweeh. »Ihre Aura ist doch vorhanden!« »Dann überzeugen Sie sich doch selbst vom Zustand der Weiblichen«, forderte Herald ihn auf, während er zurückwich. »Ich habe überhaupt nicht auf sie eingewirkt.« Hweeh glitt in seinem Anzug hinüber und legte einen sensorischen Taster an Sechzehns schimmerndes Chassis. Er verharrte in dieser Haltung und konzentrierte sich. »Sie irren sich. Sie haben sie geheilt.« »Das habe ich nicht! Ich mache mir im Falle des Versagens nichts vor.« »Dann ist Ihnen Ihr Erfolg wahrscheinlich entgangen.« Nun unterbrach Hweeh den Kontakt. »Es geht ihr wieder gut – falls ich mir jetzt nichts vormache. Sechzehn, bitte führen Sie uns einmal Ihr Tempo vor.« »Aber ich kann doch nicht...«, protestierte sie. »Los! Starten Sie!« unterbrach Hweeh sie grimmig. Sie startete, wobei sie den Staub explosionsartig hochwirbelte. Sie beschleunigte schnell auf einem schnurgeraden Kurs, schwenkte dann in einen weiten Bogen ein und hinterließ in der Luft eine schwebende Staubspur. Sie bremste abrupt, indem sie die Ausströmöffnung nach vorn brachte, produzierte eine hübsche Wolke, dann jagte sie wieder geradeaus davon. Ihre Spur wies keine Unregelmäßigkeiten auf. »Sie haben mich geheilt!« rief sie und schoß zwischen ihnen hindurch. Dabei vollführte sie eine dreifache Pirouette, als sie sich anschickte, wieder zu be-
schleunigen. Herald blickte Hweeh zweifelnd an. »Ich bin doch kein Idiot«, meinte er leise, so daß sein Körper sich kaum vom Fleck rührte. »Sie haben sie geheilt, Weew!« Hweeh ließ eines seiner Gliedmaßen verneinend zittern. »Vielleicht hat auch nur ihr Glaube die Besserung bewirkt. Es handelte sich nämlich nur um eine harmlose Fehlfunktion ihres Kontrollsystems.« »Natürlich hat ihr Glaube ihr zur Heilung verholfen. Das ist es doch, was den Heilungsprozeß erst ermöglicht. Jedoch war es Ihre Aura, die dieses Vertrauen geweckt hat, und nicht die meine.« »Ich habe diese Kunst von Ihnen gelernt, und zwar bei den vielen Gelegenheiten, bei denen Sie mich Ihre Kraft haben spüren lassen und meinen Glauben an die heilende Kraft der Aura gefestigt haben. Meine Aura ist weitaus intensiver als ihre, und Ihre Aura, Herald, ist um vieles stärker als meine, daher scheint sich die Wirkung meiner Aura auch zu erklären, jedoch ist es allein Ihrer Erfahrung und Ihrem Können zu verdanken, daß sich ein Erfolg eingestellt hat. Also ist es im Grunde Ihr Werk. Ich habe mich lediglich bemüht, Ihre Reputation gegenüber denen zu bewahren, die die wahren Ursachen Ihres derzeitigen Zustands sowieso nicht verstehen würden.« »Aber wie kann ich Sie heilen, wenn jetzt Sie die Fähigkeit besitzen, die mir fehlt?« »Sie werden sich erholen«, meinte Hweeh zuversichtlich. »Ihr derzeitiger Zustand der Schwäche ist nur vorübergehend. Dann werden Sie mich heilen.« Eine geradezu rührende Zuversicht! Doch dabei erinnerte Herald sich an Psyche, sah, wie sie von den
Flammen ergriffen wurde, wie sie sich verzweifelt anstrengte, ihre blaßblauen Beine zu schützen, aus dem Feuer zu reißen, und ihm wurde klar, daß seine Seele gleichzeitig mit ihrer vernichtet worden war. Ohne sie war er nicht mehr als eine leere Hülle. Die Ausgrabungsstätte war beeindruckend. Die Überreste waren unter einer dicken marsianischen Staubschicht begraben gewesen, die sich im Lauf von drei Millionen von Staubstürmen durchtosten Jahren abgelagert hatte. Zahlreiche Arbeitertrupps von Jets hatten Jahre damit zugebracht, die Staubmassen fortzublasen und die Konstruktion und Artefakte mit äußerster Vorsicht freizulegen und dabei unbeschädigt zu erhalten. »Entdeckt haben wir die Stätte durch Zufall«, erzählte Sechzehn dem Heiler. »Oder genauer, die Lodoformer haben den Ort entdeckt.« »Das Segment Lodo verändert diesen Planeten, um ihn nutzen zu können?« erkundigte Hweeh sich. »Es sind unsere Nachbarn, dennoch befindet sich ihre Welt fünftausend Parsec von hier entfernt. Eines ihrer Schiffe brauchte mindestens dreißigtausend Jahre, um diese Entfernung zurückzulegen. Und warum sollte außerdem das Segment Etamin einen Planeten aufgeben, der so nahe bei der Heimat ihrer Gründerrasse liegt? Dies ist schließlich der Mars, Nachbarplanet der Erde, von der die menschlichen Solarier abstammen.« »Der Mars wurde vor zweitausend Jahren völlig ausgebeutet, wie es auch mit allen kleinen Monden und Planeten des Sol-Systems geschah«, sagte Sechzehn. »Die Solarier räumten sämtliche kommerziell nutzbaren Ressourcen aus und ließen ihn leer und tot
zurück. Infolgedessen hat er für sie und auch für alle anderen Spezies im Segment Etamin keinen Nutzen mehr. Mittlerweile hat der Planet Erde viel von seinem politischen Einfluß verloren. Die von Sol und Polaris gebildete Regierung des Planeten Außenwelt kontrolliert diese Region. Da Mars im Umkreis von dreihundert Parsec die einzige für Lodo annehmbare Welt ist, hat der Cluster-Rat sie zur Verfügung gestellt.« »Aber der Zeitfaktor!« protestierte Herald. »Segment Lodo existierte doch vor dreißigtausend Jahren noch gar nicht. Genaugenommen hatte der Stern Lo noch nicht einmal ein Radiosignal des Sterns Do aufgefangen. Wie können die dann jemanden losgeschickt haben, der...« »Sie bedienten sich der Materietransmission«, erklärte die weibliche Jet. »Sie nutzten die Energie eines in der Nähe gelegenen Neutronensterns, um ihr Gefrierschiff über eine Entfernung von sechstausend Parsec ins All zu katapultieren. Dies geschah während der ›Narren-Periode‹ vor dreitausend Jahren. Die Schiffe suchten sich dann die aussichtsreichsten Systeme und näherten sich ihnen mit halber Lichtgeschwindigkeit. Die meisten sind bereits gelandet, doch einige Schiffe befinden sich noch immer im Raum.« »Aber für eine gezielte Materietransmission ist stets ein Empfänger Voraussetzung«, wandte Herald ein. »Die konnten doch nicht einfach ins Blaue springen.« »Empfänger sind überall im Raum zu finden«, sagte Hweeh. »Ich selbst habe schon eine ganze Reihe von diesen Dingern gefunden, als ich meine Forschungen betrieb. Oft übersieht man sie, da sie ausse-
hen wie Ruinen, doch einige von ihnen sind noch in Betrieb. Die meisten stammen von jüngst versunkenen Kulturen, doch einige lassen sich durchaus den Ahnen zuordnen.« »Leben und lernen!« sagte Herald. »Wie viele Schönheiten des Universums gleiten in Sichtweite vorbei, und wir erkennen sie nicht, weil wir blind sind für das Nächstliegende. Sind wir gegenüber den existierenden Lösungen auf unsere Fragen blind?« »Das scheint nur so«, sagte Hweeh. »Die notwendig zu schließenden Kompromisse der Zivilisation neigen dazu, unser Denken in bestimmte Kanäle zu lenken, bis Notwendigkeit und Zufall diese Kanäle zuschütten und neue anlegen. Nur mit Hilfe einer scharf selektiven Blindheit können wir das Unwesentliche herausfiltern, und natürlich kommt es vor, daß einiges davon sich doch als wichtiger und bedeutender erweist, als man auf den ersten Blick hätte vermuten können. Ich behaupte, daß der Entwicklungsstand der Zivilisation um so höher ist, je größer die Blindheit gegenüber den irrelevanten Dingen ist und die geänderten Bedürfnisse und Notwendigkeiten dafür sorgen, daß der schmale Blickwinkel auch die wichtigen Dinge ignoriert. In diesem Augenblick beginnt die Zivilisation zu zerfallen. Möglicherweise ist so etwas mit den Ahnen passiert.« »Eine reizvolle Hypothese«, mußte Herald zugeben. »Aber ich bin doch sehr skeptisch. Wenn ich mir vorstelle, über welches Wissen die Ahnen verfügten...« Ihm fiel etwas anderes ein. »Meinen Sie, die Amöbe hätte...« »Davon bin ich überzeugt. Ein raumschiffgroßer Empfänger, den die Ahnen im Tiefraum zurückgelas-
sen haben. Die Amöber haben ihn wahrscheinlich mit Hilfe ihrer empfindlichen Massetaster entdeckt (da sie wissenschaftlich nahezu auf dem gleichen Stand stehen wie die Ahnen während ihrer Blüte, verfügen sie sicherlich über entsprechende Geräte) und ihn benutzt, um die Flotte weiterzubefördern. Außerdem konnten sie Material und Techniker auf den Weg schicken, um Hunderte oder Tausende solcher Empfänger zu bauen. Danach haben sie ihre Schiffe so schnell hindurch geschickt, wie sie mit halber Lichtgeschwindigkeit am Zielort Platz machen konnten. Daraus ergibt sich auch die Ausdehnungsgeschwindigkeit der Amöbe. Wahrscheinlich dauert es auch noch mit dieser Methode Jahrzehnte, um eine derart mächtige Flotte zu transmittieren, jedoch muß man feststellen, daß es tatsächlich geschehen ist.« Er hielt verblüfft inne. »Sie haben meine verschütteten Informationen hervorgeholt, ohne dabei Ihre Aura einzusetzen!« »Sie heilen sich eben selbst«, sagte Herald. »Wir erfahren immer mehr über die Amöbe – außer wie wir sie aufhalten können.« »Deshalb untersuchen wir ja diese Fundstätte«, erinnerte Hweeh ihn. »Wenn wir hier den Schlüssel zum Denken der Ahnen finden sollten...« In einem verschütteten, nicht mehr funktionsfähigen Ruinenfeld der Ahnen? Unwahrscheinlich! Allerdings machten ihm ihre Überlegungen zur Blindheit der Spezialisierung Mut. Vielleicht gab es hier wirklich etwas, das die anderen vor ihnen übersehen hatten. Denn ihre Vorgänger hatten wohl eher nach Dingen Ausschau gehalten und nicht nach Erkenntnissen.
»Dann landet also das Gefrierschiff von Lodo auf dem Mars«, meinte Herald. »Und danach wird der rote Planet zur Kolonie umgelodoformt.« »Stimmt«, bestätigte Sechzehn. »Während der letzten fünfzig Jahre haben die Solarier dort Arbeit gefunden. In zwanzig weiteren Jahren wird das Schiff von Lodo dort eintreffen. Es hätte sicherlich keine Komplikationen gegeben, hätte nicht der Trupp der Lodoformer im Zuge ihrer Vorbereitungsmaßnahmen – wie zum Beispiel beim Auffüllen der von den Solariern ausgehobenen Grubenschächte – Überreste der Ahnen gefunden. So wurden wir von Jet hierher gebracht, um die Fundstätte freizulegen, da die Solarier es mit ihren Mitteln niemals so schnell und vor allem vorsichtig hätten tun können. Und nun haben Komplikationen in unserem Zeitplan Sie hierher geführt.« Herald erinnerte sich: Auf seinem Reiseplan hatte etwas über das System Sol gestanden, ehe die Ereignisse auf dem Planeten Keep und das Auftauchen der Amöbe seinen Terminplan so hoffnungslos durcheinandergebracht hatten. Irgendein heller Kopf im Cluster-Kommando mußte entschieden haben, daß man ihn am besten an einen Ort schickte, den er normalerweise ohnehin aufgesucht hätte. Auf diese Weise würde auch jeglicher Verdacht neugieriger Beobachter zerstreut; dem Augenschein nach änderte er seine Gewohnheiten nicht. »Es gibt immer noch einige Verwirrung«, sagte Hweeh. »Lodo ist ein hochentwickeltes Segment mit einer ausgeprägten sozialen Ordnung und Technologie. In dieser Hinsicht ist es mit Weew gleichrangig.« Er schien sich nicht bewußt zu sein, daß er damit die anderen Kreaturen der Milchstraße mißachtete. Diese
Form von Arroganz war sowohl hier wie auch in Andromeda typisch für die zentralgalaktischen Kulturen. »Ich habe bereits mit Spezialisten von Lodo bei meinen Forschungen zu tun gehabt, indem ich meine Entdeckungen und Berechnungen mit den ihren verglich, und habe sie als durchaus kompetent kennengelernt. Gewiß hätte man in der Kolonie von Lodo die Überreste der Ahnen fachkundig ausgegraben und sichergestellt.« Sechzehn stieß pfeifend einen Gasschwall aus. »Die Solarier bestanden darauf, daß die Ausgrabung unter ihrer Aufsicht vorgenommen wurde, ehe die Vertreter Lodos eintreffen.« »Typischer Segmentstolz«, meinte Herald. »Den trifft man in vielen Kulturen an.« »Stolz ist etwas sehr Wichtiges«, bemerkte Hweeh. »Jedes Segment muß – nach eigener Einschätzung – das beste sein.« Herald war nicht in der Lage festzustellen, ob in dieser Bemerkung ein Hauch von Ironie lag, jedoch vermutete er, daß dies der Fall war. »Ich habe auch schon mit Lodo Kontakt gehabt«, meinte Herald nun. »Allerdings kenne ich das Segment lediglich durch seine Heraldik. Es ist eine Zepter-Kultur, deren Emblem ein Wurm im Erdreich ist. Ich finde es seltsam, daß ausgerechnet eine solche Spezies in den Raum vordringt.« »Überhaupt nicht seltsam«, widersprach Hweeh. »Der Bevölkerungsdruck kann dazu führen, daß bestimmte Standpunkte eine drastische Änderung erfahren. Nur im Raum konnten die Würmer von Lo und Do genügend Erdreich finden.« In der bereits freigelegten Sektion der Fundstätte gab es weder kantige und rechteckige solarische
Strukturen noch runde im Stiel der Polarier. Statt dessen war dort ein Netzwerk von Tunnelbauten zu erkennen. An einigen Stellen erschienen die Tunnelwände hauchdünn und zu schwach, um die Masse anderer Tunnel und Staubschichten zu tragen. Der zur Befestigung verwendete Zement schien jedoch sehr stabil und dauerhaft zu sein, und natürlich konnten die Tunnel dank ihrem runden Querschnitt schwere Lasten stützen. »Ist Ihnen klar«, fragte Hweeh, »daß diese Anordnung den Metropolen von Lodo sehr ähnlich ist? Waren die Ahnen etwa Wurm-Entitäten?« »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen«, meinte Herald. »Ich habe jedoch schon andere Ahnen-Fundstätten gesehen, und die waren nicht von diesem Typ. Ich glaube eher, daß die Ahnen eine Gemeinschaft verschiedener Arten waren, so wie es auch in unserem Cluster heute der Fall ist. In jeder Raumregion wurde die Gemeinschaft der Ahnen von der jeweils dort lebenden Spezies repräsentiert. Hier auf dem Mars waren es vielleicht WurmIntelligenzen.« »Es fällt schwer, zu begreifen, wie eine derart bunte Mischung von verschiedenen Rassen die Uniformität von Kultur und Technologie erreichen konnte, die wir bisher im gesamten Cluster angetroffen haben«, überlegte Hweeh laut. »Die Ahnen scheinen eine sphärische Regression, mit der wir uns heute herumschlagen müssen, nicht gekannt zu haben.« »Wieviel schlimmer wäre eine sphärische Regression für eine einzige Spezies, die über einen ganzen Cluster verteilt ist«, gab Herald zu bedenken. »Das ungelöste Rätsel der Ahnen betrifft nicht ihre Spezies,
sondern ihre Technologie. Wären wir heute schon auf deren Stand...« »Dann könnten wir uns gegen die Amöbe behaupten«, beendete Hweeh den Satz. »Wir kommen jetzt darauf zurück!« »Auf die Amöbe?« erkundigte Sechzehn sich. »Ich nehme an, es ist kein Geheimnis mehr«, sagte Herald. »Unser Cluster wird von einer gigantischen Flotte aus dem Tiefraum bedroht, die wir Amöbe getauft haben. Wir befürchten, daß sie uns überfallen wollen, um die Materie unseres Clusters zu der Energie umzuformen, die sie brauchen, um die Stufe ihrer Zivilisation zu erhalten, und daß sie in der Lage sind, dies zu bewerkstelligen – falls wir nicht die Kenntnisse der Ahnen übernehmen und sie gegen den Feind einsetzen.« »Wie kann eine einzige Flotte einen riesigen Cluster beherrschen?« fragte Sechzehn. »Sie brauchte doch mindestens zwei Millionen Jahre, um den Cluster zu durchqueren, und in diesem Zeitraum würde die sphärische Regression ihren Untergang herbeiführen.« Herald erkannte, daß er sich zu allzu sorglosem Denken hatte verleiten lassen. Sechzehn verfügte zwar über eine außerordentliche schwache Aura, was aber nicht hieß, daß es mit ihrer Intelligenz ähnlich schlecht bestellt war. Zum Wesen einer Entität gehörte weit mehr als nur eine starke Aura, wie er bei Psyche hatte erfahren dürfen. »Es scheint so, als hätten sie die Materietransmission benutzt«, entgegnete er. »Die Tatsache, daß sie auf diese Weise operieren, während es nirgendwo eine offensichtliche Energiequelle gibt – wie zum Beispiel Lodos Neutronenstern
–, legt den Schluß nahe, daß ihre Technologie es mit der der Ahnen durchaus aufnehmen kann. Wir können kaum davon ausgehen, daß wir gegen sie bestehen können – wenn wir uns nicht der Unterstützung durch die Ahnen versichern.« Sechzehn sandte einen blauen Blitz der Zustimmung aus. »Materietransmission verbraucht enorm viel Energie«, gab sie zu bedenken. »Ich fange an, mir Sorgen zu machen. Unternimmt denn der Cluster-Rat nichts in dieser Angelegenheit?« »Ja und nein«, sagte Herald. »Sie haben eine Kommission eingesetzt.« »Dann sind wir verloren«, sagte sie ernst. »Wie immer die Spezies oder Gemeinschaft der Ahnen ausgesehen haben mag«, sagte Hweeh, »diese Fundstätte auf dem Mars scheint Überreste ihrer Kultur zu bergen und damit vielleicht sogar einen Hinweis auf die Antwort auf all unsere Fragen, wenn nicht sogar die Lösung unseres Problems. Das Alter der Fundstätte wurde doch möglichst genau bestimmt?« »Die Altersbestimmung wurde für die gesamte Fundstätte vorgenommen. Zweifellos stammt sie aus der Zeit der Ahnen«, berichtete sie. »Außerdem wurde jede Schicht für sich untersucht. Dabei stellten wir fest, daß sich die ältesten Behausungen dicht unter der Oberfläche befinden, während die jüngeren in zunehmender Tiefe anzutreffen sind.« »Ist es nicht in Wirklichkeit umgekehrt?« fragte Herald. »Ich bin zwar kein Archäologe, aber ich dachte immer, daß die alten Überreste von den neueren bedeckt werden.« »Es ist schon richtig«, bekräftigte Hweeh. »Bei den
Wurmwesen sieht es anders aus. Normalerweise leben die Würmer in Tunneln, und sie brauchen einige Zeit, um in die Tiefe vorzudringen. Sie sind nicht wie die Quadpunkts aus Ihrer Galaxis, die die von ihnen gegrabenen Gänge hinter sich wieder auffüllen. Bei den Würmern bleiben die Gänge offen, und der Abraum muß auf andere Art und Weise beseitigt werden. Daher läuft dieser Prozeß ziemlich langsam ab. Die alten Gänge sind für ihre Toten bestimmt. Sie verschließen sie hermetisch und wühlen sich dann tiefer ins Erdreich. Die über ihnen verbleibenden Luftkammern dienen als Isolation gegen die Unbilden der Witterung und bewirken, daß die in größerer Tiefe gelegenen Lebensräume zunehmend angenehmere Lebensbedingungen bieten. Dämpfe und Gase, soweit vorhanden, steigen gewöhnlich nach oben, weg aus den Wohnzonen. Eine Wurmstadt ist gewöhnlich ein Ort mit den angenehmsten Umweltbedingungen.« »Ich glaube, Sie haben Ihren Beruf verfehlt«, meinte Herald. »Eigentlich gehören Sie in die Archäologie anstatt in die Astronomie.« »Irgendwie sind beide Bereiche sich sehr ähnlich«, sagte Hweeh. »Im Bereich der Forschungs-Archäologie habe ich eine Reihe von Kollegen, und nicht selten führen wir zu bestimmten Fragen identische Untersuchungen durch. Ich forsche in der Tiefe alter Hologramme und untersuche die verschiedenen Schichten versunkener Galaxien oder deren Überreste.« Sie glitten immer noch durch die freigelegte Fundstätte, glitten über Rampen und passierten Tunnelschicht für Tunnelschicht. »Dies ist eine außergewöhnliche Fundstätte«, bemerkte Sechzehn. »Sie lie-
fert Hinweise aus einer Periode von tausend Jahren, und man kann sogar Hinweise über die Herkunft der Technologie finden.« Sowohl Herald wie auch Hweeh wurden aufmerksam. »Sie haben Daten über die Entwicklungsgeschichte der Wissenschaft der Ahnen?« fragte der Weew. »Bis zu einem gewissen Grad«, entgegnete sie. »In diesem Fall handelt es sich nicht um Kirlian-Technologie; dies war nämlich eine Wohnzone. Sämtliche hochentwickelten Einrichtungen wurden entfernt, als die Stadt aufgegeben wurde. Eigentlich wurde alles abmontiert.« »Wie messen Sie denn dann das Entwicklungstempo ihrer Technologie?« wollte Herald wissen. »Nach der Feinheit der Tunnelwände?« »Nein, diese Gänge sind organischen Ursprungs«, erklärte sie. »Vielleicht verfügten sie über Maschinen, die ihnen die Arbeit erleichterten, jedoch scheint der bindende Klebstoff oder Zement ihrer eigenen Körperchemie zu entstammen. Die Artefakte befinden sich in Bestattungstunneln. Es handelt sich offensichtlich um Grabbeigaben. Vorwiegend Ringe mit schmückenden Schlangenmustern...« »Helme!« rief Herald. »Kirlian-Helme!« Sie überhörte die Bemerkung. »Die Ahnen haben sie anscheinend um ihre Körper geschlungen. Wahrscheinlich hat das Metall ihre Kirlian-Kräfte verstärkt.« »Das auch«, meinte Herald. »Ich dachte jedoch an die Muster. Es hätten Identifikationssymbole sein können, verschlüsselt – kurz gesagt, Ahnen-Heraldik.«
»Heraldik?« Sie war auf eine überaus reizende Weise verwirrt und erinnerte ihn für einen Moment an Psyche. Natürlich gab es in Körper und Aura nicht die geringste Ähnlichkeit, und sofort stieß ihn der Vergleich ab. Oh, Psyche! »Es gibt da ein eigentümliches System der Nomenklatur im Cluster«, erklärte Hweeh ihr. »Bilder, welche bestimmte Orte und Familien symbolisch darstellen, werden auf Schilde oder Kleidungsstücke aufgebracht, damit die betreffende Person sowohl von ihrem Stand, ihrer Herkunft und ihrer historischen Bedeutung sofort eindeutig identifiziert werden kann. Letztendlich entspricht dies nur einer zusätzlichen visuellen Sprache, die viele Anhänger hat und den Bildern des Tarot ähnlich ist. Diese Entität ist der bedeutendste Exponent der modernen Kunst im Cluster.« Uns selbst so zu sehen, wie andere uns erleben..., dachte Herald. »Wie hübsch«, sagte Sechzehn. »Möglicherweise kann er die Muster interpretieren. Ich hatte angenommen, er wäre lediglich ein Kirlian-Fachmann.« »Achten Sie nicht auf das, was man über mich erzählt«, bat Herald sie. »In diesem Fall kann ich wahrscheinlich in beiden Bereichen tätig werden. Ich werde tatsächlich die Verzierungen genau untersuchen und das gleiche auch mit den Kirlian-Eigenschaften der Ringe tun. Jedoch hatte ich es so verstanden – durchaus möglich, daß meine Erinnerung mich trügt, da mein Reiseplan schon vor mehreren Wirten festgelegt wurde –, daß Sie einige echte Kirlian-Objekte ausgruben, und zwar von dem Typ, wie man ihn an anderen Ahnen-Fundstätten bereits mehrfach gefun-
den hat.« »Ja, die Würfel«, fiel es ihr ein. »Sie wurden in der ältesten Schicht gefunden, und wir halten sie für Kirlian-aktiv. Anscheinend wurden sie irrtümlich zurückgelassen. Vielleicht fielen sie auch unbemerkt aus einer der Schiffsladungen. Deshalb war diese Stätte ja auch Ihrer Aufmerksamkeit würdig. Wahrscheinlich sind diese Würfel die höchstentwickelten Artefakte dieses Fundortes, vielleicht sind sie sogar Teil des Geheimnisses, das sie aufdecken wollen.« Wie unbedeutend und unnütz die Kirlian-Suche nun erschien! Wenn er doch nur die Chance bekäme, in ähnlicher Weise nach Psyche zu suchen – aber diesen Drang mußte er unterdrücken. »Vielleicht«, stimmte er zu. »Wollen wir es hoffen. Diese KirlianWürfel schienen bei den Ahnen die Funktion von Büchern erfüllt zu haben, wobei ihre Aufnahmen die aktuellen Ereignisse darstellten. Allerdings bezweifle ich, daß wir die Wissenschaft der Ahnen mit Hilfe einiger weniger Würfel meistern können; wir brauchen eine vollständige und vollwertige Bibliothek.« In der Bibliothek der Burg Kade hatte ihre Aura mehr und mehr zugenommen und war ihr und ihm zum Verhängnis geworden. »Etwas erstaunt mich«, meldete Hweeh sich wieder zu Wort. Sein Raumanzug saß ihm wie angegossen, da er reden konnte, ohne vorzurucken. Er hatte ihn zu einer Gestalt geformt, die weitgehend der von Heralds Wirt entsprach, wahrscheinlich um nicht zu sehr aufzufallen. »Sie meinen, in den Artefakten könnte man einen Fortschritt, eine Entwicklung ablesen?« »Ja. Die ältesten sind sowohl hinsichtlich der
künstlerischen Ausführung wie auch der verwendeten Metallegierungen gröber gestaltet. Der Unterschied ist gering, aber durchaus vorhanden und, wie wir glauben, bedeutsam. Es ist zu erkennen, daß im Lauf der Jahrhunderte in Konzeption und Technik der Ausführung gewisse Verfeinerungen vorgenommen wurden.« »Aber dann weist dies auf zwei Dinge hin, die beide von besonderer Signifikanz sind«, meinte Hweeh. »Entweder ist dies hier der Ursprungsort der Entwicklung der eigentlichen Ahnen-Spezies...« »Wohl kaum«, unterbrach Sechzehn ihn mit einem belustigten Gasstoß. »Zu sehen ist hier lediglich eine winzige Periode ihrer Geschichte, etwa tausend Jahre, die mit ihrer Ankunft aus dem Raum und der sich daran anschließenden Kolonisierung beginnen und mit ihrem Aufbruch von diesem Planeten aufhören. Entstanden sind sie an einem ganz anderen Ort.« »Oder wir haben hier den Beweis«, fuhr Hweeh in einem Ton fort, aus dem Herald eine Art professoraler Schlußfolgerung heraushörte, »daß auch die Ahnen ein Opfer der sphärischen Regression wurden.« Herald und Sechzehn versanken nach dieser laut geäußerten Überlegung abrupt im Schock. Sie sackten zusammen und wälzten sich im Staub, wobei sie ausspuckten und husteten, um Antrieb und Stimme wiederzugewinnen. »Unmöglich«, keuchte Sechzehn. »Jedermann weiß, daß die Ahnen nicht...« »Es muß eine Fehlinterpretation sein«, sagte Herald, als er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte war. »Die Artefakte könnten doch irrtümlich in verkehrter Reihenfolge bezeichnet worden sein...« »Auch das würde noch auf eine Regression schlie-
ßen lassen.« Hweeh blieb bei seiner Auffassung. »Entweder gründeten sie die Kolonie bereits nach erfolgtem Rückfall und erholten sich allmählich davon, oder der Rückschritt setzte nach der Gründung ein, bis ihre immer mangelhaftere Technologie einen weiteren Verbleib auf diesem Planeten unmöglich machte.« Dies erschien auf schreckliche Weise einleuchtend. Die sphärische Regression war eine Folge verminderter Bevölkerungsdichte, wie man sie in den Randzonen der einzelnen interstellaren Imperien antreffen konnte. Ursache war das durch die Begrenzung auf halbe Lichtgeschwindigkeit erreichbare Reisetempo und die Unfähigkeit kleiner und weitverstreuter Bevölkerungsgruppen, eine hochentwickelte Technologie zu erhalten. So kam es auch, daß auf dem Planeten Keep, der in der Nähe der Randzone der sadorischen Sphäre und nicht weit von den Sphären Sol und Polaris lag, die mittelalterlichen Repräsentanten dreier Kulturen lebten. Ausschließlich hinreichende Energiemengen, um die Materietransmission einzusetzen, konnten diesen Effekt aufhalten, da auf diese Weise die Technologie des Heimatplaneten in kürzesten Zeiträumen exportiert werden konnte. Man war immer davon ausgegangen, daß die Ahnen über eine derart ergiebige Energiequelle verfügten, da sie anscheinend niemals gegen die Regression hatten kämpfen müssen. Ihre Artefakte wiesen stets auf einen hohen technischen Entwicklungsstand hin, wo immer man auf sie stieß. »Aber wenn die Ahnen...«, begann Herald und verstummte verblüfft. »Das würde doch den Schluß nahelegen, daß sie – nein, sie konnten sich gar nicht im
gesamten Cluster verbreitet haben, wenn auch sie unter der Regression gelitten hätten! Es muß für die Unterschiede der Artefakte eine andere Erklärung geben.« »Es muß eine geben«, wiederholte Sechzehn wie ein Echo. »Wir graben lediglich und katalogisieren die Funde, und darüber hinaus stellen wir keine Theorien auf. Unsere Funde werden ordnungsgemäß verzeichnet und eingeordnet, jedoch verhält es sich mit der Herkunft...« »Ich sehe nicht unbedingt die Notwendigkeit, die Echtheit der Funde oder die möglichen Erklärungen in Frage zu stellen«, meinte Hweeh nach einer kurzen Pause. »Gewiß ist es keine Schande, Opfer der sphärischen Regression zu werden. Das passiert den hervorragendsten Kulturen. Tatsächlich kann nur eine hoffnungslos rückständige Kultur wie die der – ich glaube, ich kenne die richtige solarische Bezeichnung nicht – Termiten-Ameisen?... also der in Herden lebenden Insektoiden sich davor schützen, und das auch nur um den Preis weiteren Fortschritts. Fortschritt ohne irgendwelche Veränderungen ist unmöglich, und Veränderungen leisten der Regression auf jeden Fall Vorschub. Daher kann dies sogar eine durchaus normale und gesunde Erscheinung sein. Hervorzuheben ist, daß die Ahnen fähig waren, sich dagegen durchzusetzen, obwohl sie die Auswirkungen spürten, so wie wir es sogar heutzutage noch tun. Die an dieser Fundstätte ausgegrabenen Indizien sind minimal, vor allem wenn man bedenkt, daß die Heimatwelt der Ahnen durchaus in einer anderen Galaxis liegen kann. Wir müssen uns vergewissern, wie sie die Regression einschränken konnten, da sie ganz si-
cher nicht über unerschöpfliche Energievorräte verfügten.« »Es ist tröstlich, zu wissen, daß an dieser Mission wenigstens ein klarer Denker beteiligt ist«, äußerte Herald seine Erleichterung. »Natürlich haben Sie recht.« »Sie sind ganz schön intelligent«, fügte Sechzehn hinzu. »Nun übertreiben Sie nicht«, wehrte Hweeh bescheiden ab. »Ich habe mich schon vor längerem darauf spezialisiert, Informationen und Daten auf ihren Gehalt hin zu analysieren.« Sie betraten nun einen etwas geräumigeren Tunnel im Ausgrabungsfeld. »Ein Zusammenbrechen der angeschnittenen Sektion nahmen wir in Kauf«, erklärte Sechzehn. »Unsere Ausgrabungen schwächen die Konstruktion, welche bereits unter der Versteinerung der drei Millionen Jahre ihres Alters stark gelitten hat. Ohne zusätzliche Belastung ist die Konstruktion durchaus standhaft und fest, jedoch fängt sie an zu bröckeln, wenn man sie starken Erschütterungen aussetzt. Daher versuchen wir zu den Tiefenschichten vorzudringen. Momentan haben wir den tiefsten Punkt erreicht. Wir brauchen nur noch die vom Schutt befreiten Artefakte zu klassifizieren, ehe wir sie der Lodoformer-Crew überlassen.« Sie beschrieb einen engen Halbkreis und wies auf die Tunnel in nächster Umgebung. »Es ist sicherlich ein unglücklicher Umstand, daß dies alles zerstört werden muß, jedoch bestehen die Bürokraten darauf, daß der Planet ein einheitliches Bild bietet und die Gäste in einem möglichst ursprünglichen Zustand empfängt.« »Die würden diese Ahnen-Fundstätte am liebsten
selbst einer eingehenden Untersuchung unterziehen«, meinte Hweeh. »Es ist einfach idiotisch, einen solchen Ort auszuradieren.« »Diese Schicht scheint anders zu sein«, meldete Herald sich zu Wort und betrachtete die angeschnittenen Passagen. »Diese Tunnel sind mit Maschinen angelegt worden.« »Ja«, gab Sechzehn ihm recht. »Wir gehen davon aus, daß sie sich auf ihre Abreise vorbereiteten und dabei wußten, daß es keine weiteren Bestattungen mehr geben würde, daher mußten sie die Gänge möglichst geräumig gestalten, um sie leichter begehen zu können. Diese Tunnels sind weitaus uniformer und besitzen weitaus weniger Wohneinheiten.« Schließlich gelangten sie in eine Kammer in der Tiefe, die verhältnismäßig großzügig angelegt war. »Dies ist deren Kammer und nicht die Ihre, nicht wahr?« erkundigte Herald sich. »Stimmt. Soweit machbar, haben wir von den originalen Räumlichkeiten so wenig wie möglich zerstört und beschädigt. Wir nehmen an, daß dieser Raum eine Materietransmissions-Einheit beherbergte, die die Individuen direkt zu ihrem im Orbit befindlichen Schiff brachte und sich am Ende selbst vernichtete oder ebenfalls zum Schiff transmittierte.« »Sich selbst transmittierte?« wiederholte Hweeh. »Wir haben bisher so gut wie keine Ahnung von den wahren Fähigkeiten der Ahnen«, erinnerte Sechzehn ihn. »Durchaus möglich, daß ihre Maschinen tatsächlich dazu in der Lage waren. Jedenfalls war diese Kammer leer. Möglicherweise wurde sie von einer Aufräum-Mannschaft vollkommen geleert und Stück für Stück an die Oberfläche geschleppt, um
zum Schiff transportiert zu werden. Zweifellos fand die Evakuierung in geordneter Form statt. Es bleibt allein das Rätsel um ihr plötzliches Verschwinden, obwohl nirgendwo eine direkte Gefahr festgestellt werden kann.« »Diese Rätsel finden wir überall, wo wir auf Spuren der Ahnen stoßen«, sagte Hweeh. »Fand der Aufbruch vom Mars zur gleichen Zeit statt wie das Verschwinden der Ahnen an anderen Stellen?« wollte Hweeh wissen und schien die Antwort schon im voraus zu kennen. »Ja. Sie verschwanden im gesamten Cluster – und zwar gleichzeitig, soweit wir es feststellen können.« »Dann haben sie den Mars also nicht verlassen, um einen anderen Planeten aufzusuchen«, meinte Herald. »Als sie von hier verschwanden, verließen sie auch den Cluster.« »Fast sieht es danach aus, als hätte eine clusterweite Gefahr sie vertrieben«, dachte Hweeh laut nach. »Wie eine Amöbe?« fragte Herald. »Dann sind wir so gut wie sicher verloren, denn in einem solchen Fall kann uns nicht einmal die Wissenschaft der Ahnen retten. Allerdings gibt es keinerlei Hinweise auf eine Invasion. Gewiß hätten die Ahnen sich zum Kampf gestellt.« »Hier sind die Würfel«, verkündete Sechzehn nun und beendete ziemlich abrupt einen Dialog, der niemals einen befriedigenden Abschluß gefunden hätte. Herald glitt zum Podest und betrachtete die Ausstellungsstücke. Es waren nur zwei Würfel. Verziert waren sie an den Seitenflächen mit Reliefmustern, wie sie für Ahnen-Artefakte dieser Art typisch waren.
»Das sind die am besten erhaltenen Würfel, die ich je gesehen habe«, mußte Herald eingestehen. »Es ist nur seltsam, daß sie in einem Ruinenfeld gefunden wurden statt in einer noch funktionsfähigen Fundstätte.« »Dies ist kein Ruinenfeld«, widersprach Sechzehn. »Hier handelt es sich allenfalls um verlassene Behausungen.« Doch dann zischte sie verneinend. »Der Unterschied ist eigentlich unwesentlich; Sie wollen damit nur andeuten, daß es sich nicht um einen technologischen Fundort handelt. Die Entdeckung dieser Würfel hat die Grabungsstätte völlig verändert; bis zu diesem Fund bestand die Mission ausschließlich darin, die Funde aufzulisten und zu ordnen. Wenn es sich hier um bedeutende und aktuelle sowie funktionierende Texte der Ahnen handeln sollte...« Ja, natürlich! Früher gefundene Würfel der Ahnen waren nur mit Hilfe einer hochintensiven Aura aktiviert worden. Herald hatte sich mit einigen beschäftigt, jedoch hatte es sich vorwiegend um Musikaufnahmen ohne tiefere Bedeutung gehandelt. Mintakische Experten hatten die Geräusche und Klänge analysiert und waren verblüfft. Was man brauchte, war eine richtige Sprache, die entziffert werden konnte. Bisher hatte man nur vage Hinweise darauf, daß die Ahnen überhaupt eine Sprache hatten. Vielleicht war es das! Herald streckte seine vorderen Fühler aus, um den ihm nächsten Würfel zu berühren, und schmeckte die Luft, die ihn umströmte. Normalerweise wurden die Artefakte der Ahnen durch eine Aura von der Intensität 180 oder mehr angeregt, deshalb rechnete er nicht mit irgendwelchen Schwierigkeiten. Ihn erfüllte nur eine gewisse innere Gespanntheit, welcher Art
die Aufzeichnungen der Ahnen waren, die dieser Würfel enthielt. Er konnte ebensogut leer sein wie auch ausgerechnet die Geheimnisse enthalten, die ihnen Zugang zur Wissenschaft und zum Wissen der Ahnen verschafften. Plötzlich wurde er sich der Anwesenheit weiterer Jets bewußt. Sie hatten die ganze Zeit an anderen Stellen des Ausgrabungsfelds gearbeitet, so daß er sie kaum bemerkt hatte. Nun jedoch näherten sie sich und bildeten einen dichten Kreis, um die Erweckung der Würfel mitzuerleben. Nun, er konnte ihnen ihre Neugier und ihr Interesse kaum übelnehmen. Immerhin waren sie es, die diese bedeutsamen Überreste gefunden hatten! Er konzentrierte seine Aura auf den Würfel. Er spürte, wie er zu reagieren begann – doch dann brach der Vorgang ab. Hweeh beobachtete ihn besorgt und wußte, daß etwas nicht stimmte. Er konnte den Würfel nicht aktivieren! Ebenso wie seine Heilkraft hatte ihn auch die Kraft zur Erwekkung verlassen! Und diesmal konnte Hweeh von Weew nicht sein Ansehen retten, indem er für ihn einsprang; seine Aura hatte nur den Intensitätsgrad 125 und war für diese Art Aura zu schwach. »Tote Würfel?« fragte Sechzehn ängstlich. Herald zögerte. Sie erwarteten so viel von ihm... durfte er sie enttäuschen? Wenn er aber nicht mehr über seine Kirlian-Kräfte verfügte... Er müßte es noch einmal versuchen, stärker diesmal. Vielleicht konnte er seine eigene Stasis durchbrechen. »ALARM! ALARM!« meldete sich das Lautsprechersystem der Fundstätte mit schepperndem Klang.
»Seltsame Erscheinung materialisierte soeben im Orbit dieses Planeten. Art und Herkunft unbekannt.« »Seltsame Erscheinung?« fragte die Chefin der Jets, die die Nummer 1 trug. »Erklärung.« Der Beobachter klang verwirrt. »Unseren Sensoren erscheint das Ding wie ein Meteoritenregen – dabei befindet es sich im Orbit. Außerdem verfügt es über eine Art Energiehülle. Möglich, daß unsere Geräte verrückt spielen, aber ich glaube, es handelt sich um ein Schiff.« Die Jets rutschten auf ihren Borsten hin und her. Sie machten aus ihrem Staunen kein Hehl. »Das Schiff materiatisierte?« fragte Hweeh nach. »Ist es möglich, daß das Gefrierschiff von Lodo wieder aufgetaucht ist?« »Ohne einen Transmissions-Empfänger?« warf Herald ein. Sechzehn lauschte den Informationen, die über Lautsprecher gemeldet wurden. »Es ist kein Wurmschiff«, meldete sie dann. »Selbst wenn unsere Sensoren nicht richtig funktionieren sollten, stimmt auf jeden Fall die Form nicht. Es ist eine Sphäre und kein Wurm.« »Ein Atom-Schiff vielleicht«, äußerte Herald seine Vermutung. »Wahrscheinlich ist es auf eine alte umlaufende Empfangsstation gestoßen. Aber eine Frage bleibt dennoch: Warum würde jemand die Unmenge an Energie verschwenden, um hierher zu transmittieren? Sie hätten uns doch im Transfer-Kontakt anrufen können.« »Es ist ein fremdes Schiff«, verkündete der Ausguck aufgeregt über den Lautsprecher. »Dieser Typ ist im Cluster nicht bekannt. Nun verharrt das Ding
über der Grabungsstätte.« »Kein Schiff im Cluster kann ohne einen genau identifizierten Empfänger in die Materietransmission gehen«, sagte Herald. »Wenn es sich um einen Empfänger der Ahnen handelt, den man bisher noch nicht entdeckt hat, kann dieses Schiff nur...« Hweehs Gestalt schien sich innerlich des Schutzanzugs allmählich zu verformen. Tapfer riß er sich zusammen und bemühte sich, gegen den Prozeß der Auflösung anzugehen. »Es ist...« Er erschlaffte, dann mühte er sich, sein Sprechhorn neu zu formen. »Es ist die Amöbe!« Und er sackte in den Schock. »Die Amöbe!« schrie Sechzehn. »Hier?« »Was ist diese Amöbe?« fragte Eins. »Eine feindliche Flotte«, erwiderte Sechzehn knapp. »Oder zumindest ein Schiff davon«, schränkte Herald ein. »Wenn Hweeh recht hat – und ich glaube durchaus, daß er sich nicht irrt –, dann stecken wir in der Tinte. Nichts wie in Deckung, und zwar schnellstens!« Aufgeregt sausten die Jets umher. Natürlich konnte von Deckung keine Rede sein. Sie hatten sich bereits tief in den Boden gewühlt, und sie konnten höchstens nach oben verschwinden. »Dies hier ist keine Schlachtbasis«, gab Eins zu bedenken. »Sondern eine archäologische Fundstätte. Niemand würde einen Angriff...« Sie wurde von einem Rollen unterbrochen, das an Donner erinnerte. Der Tunnel erbebte, und Staub rieselte herab. Herald packte sich den bewußtlosen Hweeh mit seinen Greifern und eilte auf die Ausstiegsrampe zu.
»Verschwindet von hier, ehe die freigelegten Wände einstürzen!« Er versuchte, die verwirrten Jets zur Eile anzutreiben. Sechzehn tauchte neben ihm auf und half ihm, den reglosen Weew zu transportieren. Herald hoffte, daß der Anzug die Lebensfunktion automatisch unterstützte. »Woher soll hier der Donner kommen?« fragte sie und schien nicht begriffen zu haben, worum es ging. »Auf dem Mars gibt es keine Wasserstürme.« Wieder erzitterte der Untergrund, und der Donner erstickte jedes weitere Wort. Dabei brach auch die Decke über ihnen ein, und man konnte, als eine dichte Staubwolke sich verzogen hatte, den roten Marshimmel erkennen. »Das ist kein Sturm, kein Unwetter!« rief Harald. »Das ist eine Laser-Attacke!« »Aber der Lärm...« Herald begriff erst allmählich, daß diese Erklärung verständlicherweise einer mit dem Laser-Phänomen nicht vertraute Spezies wenig sagte. Daher meinte er weiter, als sie sich durch die aufgescheuchten Jets auf den Rampen hindurchdrängten: »Der Laser erhitzt die Luft, die auf seinem Weg liegt, und bewirkt, daß sie sich explosionsartig ausdehnt. Das ist der Donner. Der Mars hat nur eine sehr dünne Atmosphäre, doch da es sich offenbar um einen ungewöhnlich starken Laser handelt, zeigt sich auch hier der Effekt des Donners. Grundsätzlich dienen Laser ausschließlich als Waffen für den Raum, wo es keine Atmosphäre gibt, die den Laserstrahl behindern könnte. Hier jedoch...« »Aber warum?« »Warum wir angegriffen werden, weiß ich wirklich nicht. Allerdings habe ich den Verdacht, daß die
Amöbe diese Fundstätte als Bedrohung empfindet. Das bedeutet, daß die Amöber über die wissenschaftlichen Fortschritte der Ahnen durchaus Bescheid wissen und sie irgendwie fürchten. Das ist ein gutes Zeichen.« »Ein gutes Zeichen? Wenn sie uns zerstrahlen wollen?« »Weil dies darauf hindeutet, daß wir kurz davor sind, das in unseren Besitz zu bringen, was wir brauchen, um sie abzuwehren. Ein Angriff wie dieser muß als Verzweiflungstat gewertet werden, da sie damit ihre Anwesenheit und ihre Absichten vorzeitig verraten.« Ein dritter Schlag erfolgte. Diesmal stürzte die Höhle hinter ihnen vollkommen ein. Dem Donnergrollen folgte das Krachen des Zusammenbruchs. »Oh, oh!« jammerte Sechzehn voller Entsetzen. »Die Arbeiten sind doch noch gar nicht abgeschlossen! Die ganze Mühe des Ausgrabens und des Katalogisierens...« »Beeilt euch!« riet Herald. »Sonst bleiben noch mehr als nur die Früchte einer Arbeit auf der Strecke. Dies hier bedeutet Krieg.« Er wurde sich seiner eigenen Ruhe und Gleichmütigkeit voller Erstaunen bewußt. Wahrscheinlich konnte er dies seiner Herkunft als Slash verdanken und zum Teil sicher auch dem soeben erst erlittenen Verlust seiner jungen Ehefrau Psyche. In seinem derzeitigen Zustand namenloser Trauer schien der Tod ihn nicht mehr schrecken zu können. »Der Weew ist zu schwer!« klagte Sechzehn. »Viel länger kann ich ihn nicht mehr tragen.« Herald mußte ihr recht geben. Sein Jet-Wirt war
zwar gesund und im Vollbesitz seiner Kräfte, dennoch war er nicht dazu geschaffen, schwere Lasten zu tragen. »Wir müssen ihn irgendwo verstecken und versuchen, ihn wieder zu sich zu bringen«, entschied Herald. »Er allein kann seinen Anzug bedienen.« »Dort«, schlug Sechzehn vor. »Diese Gänge sind lang und führen tief ins Erdreich hinein; dort müßten wir weitgehend sicher sein.« Sie führte ihn in das Labyrinth aus Tunneln und Höhlen. Die Korridore waren zu schmal, als daß sie zu dritt nebeneinander hätten weitereilen können, außer an den Stellen, wo die Archäologen sie erweitert hatten, um leichter Zugang zu den Forschungsstätten zu finden. Dabei handelte es sich bei ihrem Gang um einen von den Jets geschaffenen Weg, der weit in die Tiefe vordrang und nahezu die tiefste Sohle der Stadt erreichte. Dabei war jede neue Schicht genau eingezeichnet und mit groben Daten versehen worden. Als sie sich in relativer Sicherheit glaubten, legten sie Hweeh in einer Nische ab, die von einer Abzweigung gebildet wurde, und versuchten ihn wiederzubeleben. Herald berührte den Anzug des Weew mit seiner Aura. »Erwacht, Freund!« befahl er. Er bekam keine Antwort. Eine neuerliche Explosion pflanzte sich rasend schnell durch den Tunnel fort und verursachte bei Herald einen Anfall von Klaustrophobie. Diese Anlage hatte immerhin drei Millionen Jahre überdauert, aber sie war zu morsch. Sie zitterte an allen Ecken und Enden... »Warum wacht er nicht auf?« erkundigte Sechzehn sich ängstlich. »Ist er tot?«
»Er befindet sich im Schock. Ich bin ein Heiler – jedoch stecke auch ich in einer Art Schock. Ich habe Sie nicht heilen können, denn ich habe meine Kraft verloren. Hweeh hat Sie geheilt. Jetzt kann ich ihm nicht mehr helfen. Es tut mir aufrichtig leid.« »Vielleicht schaffe ich es«, schlug sie vor. Herald, erschöpft vom Tragen der schweren Last und vom Lärm der Vernichtung rings um ihn abgelenkt, schenkte ihr kaum Beachtung. Jegliche physische Annehmlichkeit, die sie dem Weew bieten konnte, würde helfen, jedoch konnte nur eine Aura mit einem Intensitätsgrad höher als 125 Hweeh aus dem Schock befreien. »Er ist nur noch eine graue Masse!« stellte Sechzehn fest. Herald konnte sich nicht vorstellen, wie es ihr gelingen konnte, in dieser finsteren Nische eine Farbe zu identifizieren; vielleicht benutzte sie auch nur eine Analogie. »Das ist für den Schockzustand eines Weew ganz normal«, versicherte er ihr. »Sein Anzug schützt ihn. Im Grunde ist er völlig gesund. Er hat lediglich das Bewußtsein verloren.« Seine Gedanken drehten sich wieder um die Amöbe. Angenommen, dort draußen lauerte wirklich ein Schiff der Amöber, dann ergab sich die Frage, wie es von allen Orten auf allen Planeten des Clusters diese Fundstätte hatte treffen können und warum es ausgerechnet jetzt zugeschlagen hatte. Das konnte einfach kein Zufall sein. Wenn die Amöbe wirklich darüber informiert war, wo sich die Fundstätten der Ahnen und ihre Transmissions-Empfänger befanden, und sie tatsächlich beabsichtigte, sie zu vernichten, ehe die
Cluster-Spezies sie benutzen konnten, dann war das eine erschreckende Demonstration der Fähigkeiten des Feindes. Trotzdem war es wohl als Zufall zu werten, daß der Angriff ausgerechnet in dem Augenblick erfolgte, als er versuchte, den Ahnen-Würfel zu aktivieren... Das war es! Dieser Würfel war kein Text – er war ein Transmitter! Er hatte auf seine Aura reagiert, indem er ein Kirlian-Signal abgegeben hatte. Es war eine Maschine, die durch eine Aura von der Intensität ihrer Schöpfer, der Ahnen, in Gang gesetzt wurde, und sie gehorchte bereitwillig und ohne Einschränkungen, wenn sie aktiviert wurde. Der Würfel wußte nicht und interessierte sich auch nicht dafür, daß die Ahnen bereits seit drei Millionen Jahren verschwunden waren. Daher hatte er auftragsgemäß seine Botschaft gesendet – vielleicht nicht viel mehr als ein leerer Trägerimpuls, da Herald nicht versucht hatte, etwas Bestimmtes zu senden –, und die Amöbe hatte ihn aufgenommen, dann geglaubt, daß diese Aktivität Indiz für das Wirken der von den Ahnen stammenden Wissenschaft war, und sofort reagiert, um die Fundstätte zu vernichten. Nein, das war bestimmt kein Zufall. Er hatte den Angriff selbst auf sich gezogen! Und die Vernichtung der Fundstätte auf dem Planeten Keep war ebenso ein Werk der Amöbe gewesen. Psyche hatte die Fundstätte mit Leben erfüllt, ähnlich wie sie den Würfel aktiviert, ihn ahnungslos eingestimmt hatte, und der Angriff war erfolgt. Nun reagierte der Feind noch schneller. Oder vielleicht war das Signal bei dieser Gelegenheit auch spezifischer gewesen (Hier befindet sich eine Aura von 236,
fähig, Ahnen-Fundstätten zu öffnen!), während sie vorher eine eher allgemein verwunderliche Erscheinung gewesen war, die sowohl den Feind wie auch die Edlen von Keep vor ein unlösbares Rätsel gestellt hatte. So oder so, es war offensichtlich, daß die Amöbe sich mit alarmierendem Tempo näherte. Sie war keine ferne, im höchsten Maße theoretische Gefahr mehr; sie war nahe und greifbar! Ihre Strategie war eindeutig: Sie wollte jede Aura ausschalten, welche Überreste der Ahnen aktivieren konnte, und damit auch jeglichem Gebrauch dieser Artefakte durch Entitäten aus dem Cluster vorbeugen. Wenn der Cluster nicht bald über das Wissen der Ahnen verfügte, dann wäre es ohnehin viel zu spät. Jeder Feind, der so schnell, so genau zuschlagen konnte, während seine Basis über eine Million Lichtjahre entfernt war... Auf diesem Weg kam er nicht weiter! Wenn doch nur Psyche noch am Leben wäre! Nicht nur aus persönlichen Gründen, so verlockend sie auch erscheinen mochten – selbst jetzt, da er sich in einem Jet-Wirt befand, sehnte er sich nach ihr! –, sondern wegen ihrer offensichtlichen Fähigkeit, sich aus der Fundstätte der Ahnen neue Kraft zu holen. Sie hätte in der Lage sein können... »Bin ich wieder in den Schock gesunken?« erkundigte Hweeh sich. »Vielen Dank, daß Sie mich wiederbelebt haben, Psyche.« »Wer?« fragte Sechzehn. Hweeh ließ seinen Augenstiel in seinem Anzug rotieren. »Verzeihung, Lady, ich habe mich geirrt. Für einen Moment habe ich Sie für eine andere Entität gehalten.« Herald spürte, wie sich Verwunderung in ihm
breitmachte. Er hatte an Psyche gedacht, und Hweeh hatte ihren Namen genannt. Zufall? Wie war dann der Weew aus dem Schock geholt worden? Dafür konnte unmöglich Sechzehns schwache Aura verantwortlich gewesen sein. Hweeh mußte aus eigener Kraft aufgetaucht sein. Vielleicht war sein Schock von dem Wissen abgefangen worden, daß er weiterhin einwandfrei funktionieren mußte, wenn er wirklich überleben wollte. Wieder schlug eine Laser-Salve ein, diesmal etwas näher. »Sie jagen uns!« stellte Sechzehn ängstlich fest. »Eher glaube ich, daß sie die gesamte Fundstätte zerstören wollen«, widersprach Herald. »Dabei sind wir ihnen nur zufällig im Weg.« »Dann laßt uns doch schnellstens verschwinden!« riet sie. Sie jagten durch den Korridor und wollten zur Oberfläche vordringen. Sechzehn kannte den Weg und führte sie durch ein Labyrinth, daß sie anderenfalls vor unlösbare Rätsel gestellt hätte. Bald schon standen sie im marsianischen Tag – und sahen das feindliche Schiff. Es war eine schimmernde Kugel, die so dicht über der Oberfläche schwebte, daß sie an einen Ballon erinnerte. Herald hatte noch nie ein solches Schiff gesehen. Dies war also die Amöbe, endlich nahe genug, so daß man sie praktisch anfassen konnte! Abrupt wechselte das Schiff seine Position, sprang über den Himmel und stand plötzlich über den drei Flüchtlingen. »Das ist Materietransmission!« schrie Sechzehn. »Es hat nicht beschleunigt, sondern es sprang einfach!« »Unwahrscheinlich«, widersprach Hweeh. »Kein
Transmitter, kein Empfänger, keine Implosion oder Explosion von Luft.« »Seht nur zu, daß ihr aus den Höhlen verschwindet!« rief Herald und entfernte sich eilig. Aber auch er war erstaunt. Bis zu diesem Ereignis war es unvorstellbar gewesen, daß irgend etwas per Materietransmission von Ort zu Ort springen konnte, ohne einen Transmitter zu betreten und in einem Empfänger anzukommen. Der Feind verfügte wirklich über eine atemberaubende Technik...! Hweeh und Sechzehn folgten eifrig seinem Beispiel – und ein Laserstrahl zischte dort in den Boden, wo sie gerade noch gelegen hatten. Die Luft explodierte, der Donner rollte weiter. »Die sind wirklich hinter uns her!« rief Sechzehn. »Aber warum?« Herald hatte keine Lust, darauf zu antworten. Er hatte im Moment den Ahnen-Würfel nicht bei sich und konnte daher kein Kirlian-Signal setzen. Verblüfft war er nicht nur vom Warum – obwohl seine Hypothese darüber Aufschluß gab –, sondern auch vom Wie. Unmögliche Dinge geschahen! »Am besten trennen wir uns, so daß wir nicht alle drei gleichzeitig von einem Schuß erwischt werden«, schlug er vor und verspürte ein Gefühl des déjà vu. Als er und Psyche und Wirbel von Dollar vor Cäsar geflohen waren, dem Monster von Keep – aber um wieviel komplexer und perfekter war doch dieses Monster! Irgendwie spürte er keine Angst. Hätte er sich in seinem eigenen Slash-Körper befunden, hätte er wahrscheinlich zurückgeschossen, auch wenn er kaum die Hoffnung gehegt hätte, ein Raumschiff vom Himmel holen zu können! Tod durch Ersticken in ei-
nem zusammenbrechenden Tunnel barg für ihn ein nicht faßbares Grauen in sich, oder auch der Tod durch Gift oder Erfrieren oder das Abstürzen von einem hochgelegenen Ort wie zum Beispiel vom Felsgrat oberhalb der Burg Kade; ein Laser war jedoch ein faßliches Ding, eine durch und durch natürliche Waffe, die schnell und sauber wirkte. Sechzehn wich schnellstens zur einen Seite aus, und Hweehs Anzug entfernte sich in entgegengesetzter Richtung. Wie gut, daß der Weew nicht in den Schock zurückgefallen war! Nun würde man ja sehen, wen der Fremde verfolgte. Plötzlich schwebte das Schiff genau über Herald. Er schlug einen Haken und wich im rechten Winkel von seinem ursprünglichen Kurs zur Seite aus. Dieser Körper verfügte zwar nicht über Laser-Organe, dafür war er aber weitaus wendiger als ein Slash! In seiner derzeitigen Lage fühlte Herald sich als Jet entschieden sicherer. Wieder zuckte der Laser auf den Punkt herab, an dem er sich soeben noch befunden hatte. Die Schüsse gingen immer um Haaresbreite daneben, jedoch verspürte er immer noch keine Angst. Was konnten sie ihm schon nehmen, was Psyche mit ihrem Tod ihm nicht längst genommen hätte. Das Amöben-Schiff konnte nur direkt nach unten feuern, daher mußte es vor jeder Attacke genau über Herald stehen. Es war offensichtlich nicht auf Jagd und Vernichtung konstruiert. Im Raum mußte es sich mit äußerster Genauigkeit auf fernste Ziele ausrichten, daher war der fixierte Strahl durchaus sinnvoll. Das Schiff würde immer dann einen Treffer landen, wenn es sich in der richtigen Position befand. Jedoch
gab dieser kleine Vorteil letztendlich für ihn den Ausschlag. Er war seinem Gegner so nahe, daß eine winzige Ortsänderung seinerseits bezogen auf die Weite des Raums ein gigantisches Manöver erforderlich machte, welches das Schiff nicht ausführen konnte. Er konnte Haken schlagen und ihm ausweichen, bis es seine gesamte Energie verbraucht hatte, was sicher schon bald geschehen würde; diese Laser-Salven waren von enormer Durchschlagskraft! Sie würden ihn zwar nur knapp verfehlen – aber daß sie ihn verfehlten, war gewiß! Unterdessen erfuhr er eine Menge über den Feind und seine Eigenarten. Offenbar war man ausschließlich hinter ihm her – und das einzige, das ihn von anderen unterschied, war seine Aura. Daher mußten sie sich logischerweise nur auf diese Aura konzentrieren. Auf diese Entfernung konnten sie sie auch ohne Hilfe des Würfels aufspüren. Vielleicht war seine Aura mit ihrem Intensitätsgrad der Aura der Ahnen ähnlich, so daß die Fremden sie grundsätzlich fürchteten, ohne ihren besonderen Fähigkeiten Beachtung zu schenken. Allerdings wagten sie es nicht, zu landen und ihn lebend zu fangen. Also mußten sie sich einer Kanone bedienen, die ein Loch durch ein meilendickes Schiff brennen konnte, nun, mindestens durch die Rumpfhülle, um ihn zur Strecke zu bringen. Eine völlig unbegreifliche Energieverschwendung. Erneut sprang das Schiff. Diesmal bremste Herald, kreiselte herum und jagte den Weg zurück, den er bis zu diesem Punkt zurückgelegt hatte. Der Lichtstrahl verfehlte ihn und schlug auf der Seite ein, wo er sich befunden hätte, hätte er sich für eine Wiederholung seines ersten Ausweichsmanövers entschieden. Die
Feinde begannen aus ihren Mißerfolgen zu lernen. Von fünf Möglichkeiten konnte er stets vier wahrnehmen, sich in Sicherheit zu bringen, da er in vier Richtungen fliehen oder ganz still stehen konnte. Zweimal hatten sie ihn verfehlt; bekämen sie noch drei weitere Möglichkeiten, auf ihn zu schießen, dann war die Wahrscheinlichkeit groß, daß sie ihn am Ende doch erwischen würden, falls es ihm nicht gelang, sich völlig aus ihrer Reichweite zu entfernen. Vorausgesetzt, sie konnten sich eine derartige Energieverschwendung leisten. Unterdessen blieb er jedoch in Bewegung und wartete ab, daß das Schiff sich für eine neue Taktik entschied. Die Amöbe hatte ihn als Ahnen oder mindestens gleichwertig identifiziert und war verzweifelt bemüht, ihn zu vernichten. Wenn die Amöber das Wissen der Ahnen derart fürchten, mußte die Amöbe auf einem weitaus niedrigeren Entwicklungsstand stehen als die Ahnen. Nun war dies keine sensationelle Erkenntnis. Warum waren sie aber so scharf darauf, ihn auszuschalten? Konnte es sein, daß er für die Amöber keine echte Bedrohung darstellte, außer er befand sich in direkter Nähe von Artefakten der Ahnen? Solange er sich an anderen Orten im Cluster aufgehalten hatte, war das Interesse der Amöber an ihm gleich Null gewesen; es war Psyche, die sie verbrannt hatten, obwohl sie bereits tot war, denn sie hatte die Ahnen-Fundstätte auf Keep ausgelöst. Offensichtlich konnte er keinen Fundort aktivieren, außer er hielt sich in nächster Nähe eines solchen auf. Dabei zählte eine nicht technologisch ausgerichtete Wohnzone kaum. Es mußte also irgendwo auf dem Mars eine noch
funktionsfähige Fundstätte geben! Blieb nur zu hoffen, daß er sie rechtzeitig fand. Natürlich erst, wenn er vor diesem Schiff geflohen wäre. Das Schiff führte einen weiteren Sprung aus. Diesmal raste Herald geradeaus los und entwickelte dabei seine Höchstgeschwindigkeit. Hoffentlich täuschte er sich nicht. Der Strahl schlug hinter ihm ein. Man hatte also damit gerechnet, daß er wieder umkehrte! Plötzlich tauchte vor ihm der Krater einer der vorhergehenden Fehlschüsse auf. Eine dichte Staubwolke lag darüber, und die darunterliegende Lava war geschmolzen. Ja, das waren schwere Laser-Kanonen, zum Kampf Schiff gegen Schiff bestimmt, und keine Kleinwaffen, die gegen lebende Ziele eingesetzt wurden! Mit letzteren hätten sie ihn sicherlich längst erwischt. Daraus ließ sich schließen, daß die Amöber mit einer solchen Jagd auf eine einzelne Entität überhaupt nicht gerechnet hatten. Demnach war die Amöbe doch nicht allwissend und allgegenwärtig; auch ihr unterliefen Fehler, und sie konnte sich irren. Diese Informationen, die Herald da erhielt, empfand er als überaus ermutigend, dabei gehörte er noch nicht einmal zu der eigens gegründeten Kommission! Dennoch schienen die Chancen ungleich verteilt zu sein und vorwiegend auf der gegnerischen Seite zu liegen. Er schoß über den Kraterrand und hinab in die Grube, wobei seine Fortbewegungsborsten ihm glühende Hitze signalisierten. Glücklicherweise verfügte der Jetkörper über einen wirkungsvollen Kühlmechanismus mittels Wind; Hitze, die sich im Körper staute, wurde sofort ausgestoßen. Daher konnte er
die vom Untergrund abstrahlende Hitze einige Zeit ertragen, solange er in Bewegung blieb und den Boden so wenig wie möglich berührte. Deshalb hatten die Insassen des Schiffs sich auch verrechnet. Sie waren gewiß davon ausgegangen, daß er diesen heißen Fleck meiden würde und sie ihn deshalb in die Enge getrieben hätten. Wahrscheinlich wäre ihre List geglückt, wenn er vorher gewußt hätte, welches Hindernis sich auf seinem Weg befand. Denn diese Grube war nicht nur ein bißchen heiß, sondern sie war sehr heiß. Die Seitenwände der Grube waren nahezu senkrecht und erinnerten an den inneren Krater eines Vulkans, kurz bevor er sich abflacht zum Vulkanboden. Hier war die Lavamasse verdampft worden. Als die Wissenschaftler mit dem Laser-Phänomen zu experimentieren begannen, hatte niemand damit gerechnet, daß ein derartiger Lichtstrahl allzuviel physische Energie freisetzen konnte. Man hatte jedoch dabei nur an die Laser der Slash gedacht, deren Leistung von den Lebensfunktionen der Entitäten bestimmt wurde; seit jener Zeit hatte es auf dem Gebiet der Laser-Wissenschaft revolutionäre Fortschritte gegeben. Moderne Laser hatten zwar noch immer nicht die physische Aufprallwucht einer Rakete, jedoch bewirkten sie durch ihre enorme Hitze am Auftreffpunkt eine explosionsartige Massenausdehnung. Bei der Kanone des Amöben-Schiffs handelte es sich augenscheinlich um einen Hochenergiestrahl für den Raumkampf, der innenliegende Sektionen verdampfte und den Dampf sein verheerendes Werk verrichten ließ, während das Einschußloch wie sauber ausgestanzt erschien und nicht durch Trümmer
verstopft wurde. Es war eine richtig hübsche LaserSkulptur, die ihm sogar so etwas wie Bewunderung abrang. Mochten die Kriegsschiffe der Slash rein energiemäßig den Amöben-Schiffen ebenbürtig sein, wenn es jedoch um Zielgenauigkeit und Wirkung der Geschütze ging, stellten die Amöber sie mit ihrer Perfektion in den Schatten. Ein Schiff, das von einem solchen Strahl getroffen wurde, würde sauber durchbohrt werden, anstatt unkontrolliert zu zerschmelzen und einen Großteil der Schußenergie zu vergeuden. All dies zuckte in dem kurzen Moment durch sein Bewußtsein, als er in das Loch stürzte. Er bemerkte dabei einen von den Ahnen angelegten Tunnel, der von dem Laserschuß geöffnet worden war. Es mußte in dieser Gegend unter der Sandschicht noch eine Unmenge von solchen Gängen geben! Diese Fundstätte war viel ausgedehnter und bedeutender, als die Archäologen anfangs angenommen hatten. Aus einem Impuls heraus ging er das Risiko einer unbekannten Gefahr ein und verschwand in dem Tunnel. Die Tiefe flößte ihm Angst ein, jedoch hatten seine Überlebenschancen sich an der Oberfläche drastisch verringert. Wenn dieser Gang tief genug ins Erdreich vordrang und vielleicht sogar einen zweiten Ausgang hatte, dann könnte er durchaus dem Amöben-Schiff entschlüpfen. Danach würde er es sich mindestens dreimal überlegen, ob er noch einmal einen Ahnen-Würfel aktivierte! Aber wenn dieser Tunnel doch nicht... Bisher war ihm das Glück hold gewesen. Der Gang bohrte sich unter dem Lavaschild tief in die Erde. Herald überprüfte den Verlauf durch sonische Echos und glitt so schnell vorwärts, wie seine Wahrneh-
mungsorgane es ihm gestatteten. Letztlich empfand er eine zerbeulte Einsaugöffnung als nicht so schlimm wie ein von einem Laser versengtes Hinterteil. War er der Amöbe entkommen? Seine Aura war hochintensiv, jedoch durch den Verlust des geliebten Wesens stark angegriffen, und außerdem dämpfte der marsianische Staub ihre Strahlung noch zusätzlich. Das Schiff hatte ihn anscheinend nicht lokalisieren können, als er sich vorher in der Tiefe aufgehalten und von dem Würfel entfernt hatte. Wenn die Amöbe also nicht genau wußte, wo sie ihn suchen müßte, dann dürfte sie seine Spur wohl verlieren; es konnte schließlich nicht die Kruste des gesamten Planeten in Dampf aufgehen lassen! Er bremste seine Fahrt und hielt an. Zum ersten Mal befand er sich allein in einem noch unerforschten Sektor der Fundstätte. Der Staub von Millionen von Jahren trieb durch den Korridor, obwohl dieser Bereich wahrscheinlich hermetisch abgeschlossen worden war. Herald hatte Glück gehabt, daß er durch einen Verbindungs- und nicht durch einen Bestattungstunnel eingedrungen war. In letzterem Fall hätte er nämlich schon nach einem kurzen Stück vor einer soliden Wand gestanden. Dennoch hatte er keine Lust, schon wieder auszusteigen, ehe er nicht sicher sein konnte, daß der Feind sich entfernt hatte. Die Vorstellung, nach einem genau gezielten Laserschuß von den Geröllmassen begraben zu werden, behagte ihm überhaupt nicht, jedoch war ihm gleichzeitig klar, daß seine Überlebenschancen am größten waren, wenn er vorerst einmal hier unten blieb. Er dachte wieder an Psyche, sah sie im Feuer,
spürte ihr verkohltes Fleisch an seiner menschlichen Hand, obwohl er im Augenblick überhaupt keine Hand hatte. Es war zu schlimm, und er mußte diese Vorstellung unbedingt verdrängen, auslöschen. Niemals mehr würde er seine gesamte Kraft und Energie wiedergewinnen, solange diese Vision durch sein Bewußtsein geisterte. Allerdings konnte er diese Vision nur verdrängen, wenn er Psyche zu vergessen versuchte, und dazu war er überhaupt nicht in der Lage. Er wünschte, er wäre kein harter, zäher Slash, eine Kreatur also, der der Selbstmord als Lösung eines unlösbaren Problems völlig fremd war. Warum stieg er nicht einfach nach oben und ließ sich von der Amöbe verbrennen? Llumes Fluch würde ihn mit einem einzigen Schuß ereilen! Verzweifelt suchte er nach einer intellektuellen oder physischen Ablenkung. Er durfte nicht zulassen, daß seine Phantasie in ihrem eigenen Horror erstickte. Er folgte dem Gang bis zu einer versperrten Abzweigung. Früher einmal war dies der Eingang zu einer Bestattungskammer gewesen. Er bearbeitete die Tür mit seinen Vorderfühlern, und sie gab nach und brach auf. Er erweiterte die Öffnung und stieg vorwärts ein, um das Innere nicht mit seinem Druckstrahl durcheinanderzuwirbeln. Er fand nichts außer weiteren Staubmengen und einem einzelnen Körper-Ring. Er untersuchte ihn, so gut es bei der herrschenden Dunkelheit ging. Er wies dieselben reliefartigen Verzierungen auf wie die Ringe, die er bereits gesehen hatte. Warum gab es hier keine Körper? Wenn dies hier wirklich Bestattungskammern mit persönlichem Zierat waren, ergab sich die Frage: Warum gab es keine
Särge, keine Sarkophage oder dehydrierten Überreste? Das Klima des Mars mußte für eine Mumifizierung und Erhaltung der Leichen geradezu ideal sein. Die Frage enthielt zugleich die Antwort: Wer hätte schon Lust unter den verwesenden Leichen seiner Elter-Entität zu leben? Die Dämpfe mochten durchaus nach oben steigen, jedoch gab ein verwesender Körper in verhältnismäßig kurzer Zeit eine große Gasmenge ab, und einige Anteile an diesen Gaswolken suchten sich gewiß den Weg des geringsten Widerstands: den darunter liegenden Tunnel. Jeder Atemzug würde den Abkömmling überdeutlich an den Verschiedenen erinnern. Offensichtlich verbrannten sie die Überreste und lagerten nur den sterilen Staub in der versiegelten Kammer. Schließlich kam es ja nur auf die Aura an und nicht auf den Körper. In diesem Fall mußte man sich jedoch fragen, warum die Kammern überhaupt verschlossen worden waren. Warum hatte man die runden Erinnerungsstücke nicht an irgendeinem geheiligten Ort gesammelt und die Kammer als Wohnbehausung genutzt? Man hätte sich eine Menge Arbeit sparen und sich anderen Aufgaben zuwenden können. Die Ahnen waren mit ziemlicher Sicherheit die klügsten und umsichtigsten und leistungsfähigsten Kreaturen gewesen, die je den Cluster bevölkert hatten. Es paßte einfach nicht zu ihnen, daß sie mit Energie und Baumaterial derart verschwenderisch umgingen. Die Erkenntnis überfiel ihn wie ein Laserschuß: Dies waren gar nicht die Ahnen! Es hatte hier zwei Kulturen gegeben: die Kolonie der wurmartigen PräAhnen, die zwar in der Lage waren, fremde Planeten
zu besiedeln, jedoch an weiteren Fortschritten durch närrische Vorstellungen von Reichtum und Tod gehindert wurden, und die weiter entwickelten fremden Ahnen, die als Eroberer erschienen waren. Nun paßte auch alles zusammen. Die Überreste unterschieden sich in Ring und Würfel, die Tunnels unterschieden sich in Durchmesser und Typ, und die Bestattungssitten unterschieden sich ebenfalls. Und was am wesentlichsten war: auch die heraldischen Elemente wiesen starke Abweichungen voneinander auf. Die Symbole auf diesem Ring hatten keinerlei Ähnlichkeit mit denen auf den Würfeln; sie repräsentierten zwei völlig verschiedene Kulturen. Warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen? Rückblickend mußte er feststellen, daß es einem ins Auge springen mußte. Wer von Heraldik keine Ahnung hatte, hätte sicherlich diese Unterschiede nicht feststellen können. Die Symbolik der verschiedenen Elemente wäre ihm völlig entgangen, doch er, Herald, hätte es auf Anhieb erkennen müssen! Es war völlig gleichgültig, wie man diese Kunst nannte oder welche Bedeutung die Symbole hatten. Es war eine Kunst mit ihren ureigenen Regeln und Gesetzen, und sie mußte dem aufs beste gerecht werden, was sie zu beschreiben und darzustellen beabsichtigte. Es war die Wurzel der Heraldik. Wäre dem nicht so, dann hätte diese Disziplin keine tieferliegende Bedeutung, keinen Sinn, und wäre zur Identifikation von Lebenden und Toten nutzlos. Der Gang der Evolution mußte sich auch in der Kunst ausdrücken wie auch in den Körpern der lebenden Kreaturen. Wenn dies nicht der Fall war, dann gab es als einzige Alternative das Chaos.
Nun konnte er auch die wesentliche Gedankensequenz nachvollziehen: Die Würmer hatten sich in den benachbarten Raum vorgewagt und die Welten besiedelt, die ihnen am geeignetsten erschienen. In diesem System hatte sich der Mars als einladend erwiesen, während die warme, feuchte Erde keinen geeigneten Lebensraum bot. Die höhere Gravitation, die ständigen Wasserstürme und Gezeiten und Wechsel des Wetters hätten die sorgfältig angelegten Gänge und Tunnels gefährden können. Venus und Merkur waren wohl zu heiß und Jupiter zu kalt. Der Mars war ideal. Für Würmer. Im Verlauf von tausend Sol-Jahren – vielleicht sogar noch länger, da er das Alter dieser bisher noch ›unentdeckten‹ Korridore nicht kannte – war die Kolonie aufgeblüht. Dann waren die Ahnen gekommen – als Eroberer. Sie hatten die Würmer verdrängt und ihre eigene Basis gegründet, die sich noch unterhalb der nunmehr nutzlosen Behausungen der Würmer befand. Dann, genauso plötzlich, wie sie gekommen waren, verschwanden die Ahnen, um nie mehr zurückzukehren – und hinterließen den Mars als tote Welt. Ähnlich wie sie überall im Cluster zahlreiche andere tote Welten zurückgelassen hatten. Die Würmer hatten unter dem Effekt der sphärischen Regression gelitten, nicht die Ahnen. Womit ein Rätsel gelöst war! Aber warum war die benachbarte Erde verschont geblieben? Die Solarier konnten damals kaum zu den Denkenden gezählt werden, standen sie doch entwicklungsmäßig noch weit unter den Würmern. Falls die Solarier sich der Existenz der Würmer überhaupt bewußt waren, dann lediglich in Gestalt ›mythischer‹
Drachen oder schrecklicher Schlangen, die unschuldige Weibliche lockten und ihnen verbotenes Wissen vermittelten. Sie verfügten auch nicht andeutungsweise über die ökonomischen und kriegerischen Kenntnisse und Fähigkeiten der Würmer. Die Ahnen hätten auf der Erde sämtliches Leben mit Leichtigkeit auslöschen können. Ihre Basis schien für die Dauer eines Jahrhunderts unterhalten worden zu sein, falls die Altersberechnungen der Archäologen stimmten, als wäre sie eigens für ein derartiges Projekt eingerichtet worden. Die Zeit reichte völlig aus, es erfolgreich abzuschließen, wenn man sich ihre Fähigkeiten vor Augen hielt. Statt dessen hatten sie ihre Kolonie geschlossen und sich nicht um die Erde gekümmert. Vielleicht lag die Antwort in den beiden AhnenWürfeln, die nun von der Amöbe zerstört oder vergraben worden waren. Oder diese Würfel waren völlig bedeutungslose Relikte, die man aufgrund ihrer Nutzlosigkeit vergessen hatte: »Dieser WürfelGalakto Lava-Reiniger ist das beste Putzmittel diesseits von Beteigeuze!« Er würde es wohl nie erfahren. Trotzdem hatte er für die überlebenden Angehörigen der archäologischen Expedition der Jets wichtige Neuigkeiten. Wenn dieses Zwei-Kulturen-System, dieses Eroberungs- und Aufbruch-Prinzip für alle Fundstätten im Cluster typisch war, dann gewann man auf diese Weise einen tiefen Einblick in die Natur und die Handlungsmotive der Ahnen. Hatten sie im Grunde nur potientielle Rivalen vernichtet und die primitiveren Welten in Ruhe gelassen? Warum waren sie dann nach ihrem jeweiligen Sieg stets so unerwartet schnell aufgebrochen und verschwunden? Vielleicht wurde die Antwort auf diese Frage schon
bald gefunden. Er kehrte in den Verbindungsgang zurück und näherte sich der Oberfläche. Es waren keine weiteren Laserschüsse mehr gefallen; die Amöbe mußte sich entfernt haben in dem Glauben, daß es nichts mehr zu jagen gab und das Ziel erreicht war. Er tauchte in der allmählich abkühlenden Grube auf. Und sah das Kugelschiff, daß unbeweglich über ihm stand. Herald prallte zurück und zog sich hastig in den Schutz des Tunnels zurück. Aber diesmal erwischte der Laser ihn.
8
Gott von Tarot 2 Fundstätte vernichtet. 2 E Bericht: teilweise aktivierte Ahnen-Fundstätte vernichtet. Aurale Aktivität an diesem Ort beendet. E & Einzelheiten? & X Verwirrung. Forschungs-Einheit E meldet: Vernichtung der Fundstätte durch Aktions-Einheit 2 erfolgte wie befohlen. X & Genau. Der Auftrag lautete auf Aufhebung und nicht Vernichtung der Fundstätte. Wünsche genaue Schilderung der Vorgänge von Aktions-Einheit 2. & o Antwort, 2. o 2 Aurale Aktivierung erfolgte unterhalb Planetenoberfläche, unerreichbar für das Schiff. Daher wurde Laser-Beschuß eingeleitet. 2 & Laser! Ein offener Angriff? & o Wie bei vorheriger Fundstätte im Segment der Anführungszeichen durchgeführt. StandardOperation, wenn Ziel nicht direkt zugänglich. o & Beide Fundstätten in der Zone der Anführungszeichen wurden gelasert? & o Ja. Der erste Angriff löste das Potential der Ahnen-Fundstätte aus und bewirkte eine SpaltungsExplosion. Der zweite Angriff eliminierte lediglich die aurale Einheit. o & Demnach kennen die Eingeborenen nun unsere Stärke und wissen über unsere Absichten Bescheid! Sie wissen, daß wir gekommen sind, um sie auszulöschen. Sie werden sich mit organisierter Verzweiflung
zur Wehr setzen. Unser Programm stützte sich auf die Annahme, daß die Eingeborenen von unserem Vorhaben keine Ahnung hätten und sich ihrer beratenden Kommission anvertrauen, bis es für Gegenmaßnahmen zu spät ist. & X Sie scheinen sich der wahren Natur der Bedrohung nicht bewußt zu sein, und ihre vorige Beratung der Kommission bewies Verwirrung und Desorganisation. An dieser Situation hat sich nichts geändert. X & Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Unsere Mission wird weitaus effizienter ablaufen, wenn sie völlig unvorbereitet überfallen werden. Jeglicher direkter Angriff ist zu unterlassen, bis der Hauptangriff erfolgt. Einheit 2 ist sofort zurückzuziehen. Von nun an wird der Begriff ›Aufheben‹ den Vorgang des Funktionsunfähigmachens bezeichnen, ohne daß es zur Vernichtung kommt. & X Die Einheit sollte jedoch nachprüfen, ob der aurale Generator vollkommen vernichtet wurde. X & In dieser Situation überwiegen allgemeine Gründe die spezifischen. Jeglicher Hinweis auf unsere Anwesenheit in lokalen Systemen muß getilgt werden. Ohne meine ausdrückliche Genehmigung darf keine weitere offene Aktion erfolgen. & Xo Verstanden. Xo Herald erwachte im Chaos. / Ich dachte, ich sei tot /, blitzte er, wobei es ihm eigentlich gar nicht gefallen wollte, daß er noch lebte. Dann schaute er sich erstaunt um und bemerkte das Durcheinander in seiner Umgebung. / Oder bin ich doch tot? / Er erhielt keine Antwort. Farbwolken umtanzten ihn und ließen weder eine Decke über ihm noch einen
soliden Halt unter ihm erkennen. Dennoch fühlte er sich gestützt, denn sein Körper hatte Gewicht. / Ich bin ein Narr /, blitzte er, als er begriff, wo er sich befand. Er war ein Narr – der Narr im Tarot. Er befand sich wieder in seinem natürlichen Wirtskörper eines Slash, rollte umher, wobei seine Linsenperzeptoren auf Angelegenheiten von clusterweiter Bedeutung gerichtet waren, während dicht vor ihm ein Loch voll klebrigen Schlamms auftauchte, der seine Scheiben bremsen würde. Der Tarot-Narr war edel, idealistisch, voll der besten Absichten und attraktiv, die Verkörperung der höchsten Erwartungen der Zivilisation... Und der Narrheit, fiel ihm ein, als er über den Rand stolperte und in den Sumpf stürzte. In einigen Versionen dieses Bildes, die sich auf bekleidete Spezies bezogen, riß ein Tier ein intimes Stück aus der Kleidung des Narren; andere Versionen zeigten ähnliche Geschmacklosigkeiten. Seine Scheiben rotierten hektisch, aber er fand keinen Halt. Der Matsch stieg höher und höher, bedeckte seinen Körper, klebte, stank, lähmte und schaltete zum Teil seine Sinne aus, erstickte ihn geradezu mit seiner Substanzlosigkeit. Schwärze – die Strafe für Narrheit, für allzu kühne Träume, für Hoffnungen ohne Grundlage. Er schrie: desorganisierte Blitze, eine Verschwendung von Energie. Seine weichrandigen Scheiben verwarfen und bogen sich. Er war ein neu geformter, kindlicher Slash und hilflos. Dann konzentrierte eine Kreatur von Kompetenz einen Strahl der Aufmerksamkeit auf ihn. Sie war groß, mit Scheiben aus wundervoll glänzendem Metall, kräftigen Tentakeln und unerhört wissenden La-
serlinsen. / Der Abkömmling erwacht /, signalisierte der Erzeuger. Sofort rollte die Mutter hinüber zu seiner Grube. / Komm her, Kleinstrahl, essen /, blitzte sie voller Zuneigung. Herald wurde von tiefen Gefühlen überwältigt. Oh, wie gut er sich an sie erinnerte, den sicheren Hort seiner Kindheit! Nun steigerte sich seine Vorstellungskraft, um die Slash-Gesellschaft von Andromeda zu begreifen. Deren Zivilisation entwickelte sich mit Hilfe der Laser ihrer Myriaden Intelligenter und Arbeiter der ihnen dienenden Spezies weiter, die nach und nach überwältigt wurden, während die Sphäre von Slash sich ausdehnte. Das war Macht, welche im Tarot als eine Karte mit dem Symbol des galaktischen Reichs erschien. Herald zwinkerte mit seinen Lasern. Er brauchte keine Lektion in Geschichte! Er mußte nur herausfinden, warum er hergekommen war und wohin er strebte. / Ich brauche einen Führer /, blinkte er seine Bitte. »Ich werde dein Führer sein«, meldete sich die fremde Kreatur zu Wort. Es war ein Männlicher, zweibeinig, der sich mittels Geräuschen anstelle von Licht mitteilte. Na schön: Herald ließ sich durch solche Dinge nicht ablenken und täuschen. Er war in fabrikmäßig gefertigte Materialien gehüllt, so daß der größte Teil seines Körpers verborgen blieb. Einige Kreaturen waren sehr empfindlich, wenn sie ihren Ansaug- und Entleerungs-Apparat oder gar ihren Reproduktionsapparat herzeigen mußten. Daraus erklärte sich auch dieses Tier, das auf dem Kartenbild ein Stück aus der Kleidung des Narren herausriß. Als ob man eine Kreatur abwerten konnte, indem man of-
fen auf ihre natürliche Funktion hinwies. Hinter der Entität ragte eine mechanische Struktur mit großen rotierenden Segeln empor, bei der es sich wahrscheinlich um ein Foltergerät handelte. / Welche Art von Kreatur bist du überhaupt? / fragte Herald voller Mißtrauen. »Ich bin keine Kreatur, obwohl ich einmal eine Kreatur war, wenn ich mein Wissen aus der Literatur beziehen darf«, sagte das Ding. »Ich lebte vor etwa dem Zweitausendfachen von Narrenjahren auf der Erde. Sieh doch, dort ist die Windmühle, die wir zum Pumpen unseres Wassers brauchen.« Plötzlich erkannte Herald ihn. / Geschwister Paul von Tarot! / blitzte er. / Der Patriarch des Tempels! / »Nein, ich bin nur Bruder Paul, eine bescheidene menschliche Kreatur«, wehrte der Solarier ab. »Kein Patriarch, kein Tempel; der Heilige Orden der Vision ist nicht von dieser Art. Aber ich werde dir helfen, wo immer ich kann, da du dich in einer Notlage zu befinden scheinst und mich gerufen hast. Zu helfen ist der einzige Sinn meines Lebens – und anscheinend auch meines Todes. Aus welcher Gegend und welcher Zeit stammst du, daß du mich so angerufen hast?« Herald erinnerte sich, daß der legendäre Gründer noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, sein Wirken und seinen Einfluß auf die nachfolgenden Jahrtausende zu überprüfen. / Dir mag die Rolle, die du spielst, gering erscheinen /, erwiderte Herald. / Aber für mich, einen Slash aus Andromeda, zweitausendfünfhundert Jahre nach deiner Zeit, gibt es keinen größeren Namen als Geschw... Bruder Paul. Du bist der Schöpfer des Clu-
ster-Tarot, einer der wichtigsten Kräfte bei der Gestaltung der Gegenwart. / »Wahrscheinlich solltest besser du mich führen als ich dich«, meinte der Solarier, wobei er seine humanoiden Zähne entblößte, was Herald als Lächeln interpretierte. Erschrocken machte Herald einen Rückzieher. / Ich wollte dich nicht beleidigen, großer Bruder! Ich verfüge nicht einmal über einen ernstzunehmenden Bruchteil deiner Kenntnisse. / Der Patriarch kam näher und berührte dann für einen kurzen Moment eine von Heralds Scheiben. »Du hast eine erstaunliche Aura«, murmelte er halblaut. Dann erhob er die Stimme und meinte in formellem Tonfall: »Ich fühle mich überhaupt nicht beleidigt, Kreatur aus der Zukunft. Komm, laß uns gemeinsam forschen, was wir sind und worin unsere Aufgabe besteht.« / Wir halten uns offenbar in einem Tarot-Tempel auf, und dies ist eine Animations-Folge /, erklärte Herald flackernd. /I ch habe einen schweren Verlust und anschließend einen ernsten Schock erlitten, und ich halte mich hier auf, um geheilt zu werden. Dies ist die Standard-Therapie für Entitäten mit besonders starker Aura. / »Ich verstehe. Für einen kurzen Moment befürchtete ich schon, ich wäre es, der in den Schock gegangen war. Ich nehme an, du bist vor nicht allzu langer Zeit dem Tode nahe gewesen?« / Ich geriet in den Laser-Angriff eines feindlichen Raumschiffs. Ich muß wohl aus einem Trümmerhaufen ausgegraben und in meinen eigenen Körper transfert worden sein, erlitt dabei jedoch einen derartigen
Schock, daß ich zur Wiederherstellung meines Bewußtseins in ein Segment-Hospital eingeliefert wurde. / »Ah, ja. Dein Körper wurde zwecks geeigneter Therapie in eine entsprechende Einrichtung transfert, aber dein Bewußtsein leidet noch unter dem Erlebnis. Ich denke, ich begreife nun, was du meinst. Deshalb hast du mich auch aus deiner Vergangenheit gerufen, um dir bei deiner Reorientierung behilflich zu sein.« Bruder Paul brachte zwar einige Details durcheinander, dafür stammte er aber auch aus einer Zeit, ehe der Transfer Eingang in seine Welt gefunden hatte und ehe die Segmente entstanden waren. In dieser Situation war das unwichtig. / Ich nehme stark an, daß es sich so verhält /, gab Herald zu. / Es geschah wohl deshalb, weil ich dich und deine Arbeit aufrichtig verehre. Ich habe meine Heilkunst unter der Anleitung des Tempels vervollkommnen können, obwohl ich selbst kein Tarotist bin. Ich habe dir wirklich eine Menge zu verdanken. / »Ich befinde mich in großer Konfusion«, gestand Bruder Paul, wobei seine Gestalt kurz zu flackern begann, als wollte sie jeden Moment verblassen. Herald konzentrierte sich eilig, und der Solarier fing sich wieder. Die Windmaschine hinter ihm verschwand jedoch. »Danke«, murmelte er. »Das war ein heikler Augenblick. Eigentlich bin ich an eine substantiellere Inkarnation gewöhnt. Und nun erzähl mir bitte von dir und deinen Problemen.« / Über mich? / flackerte Herald fragend. / Ich bin völlig bedeutungslos. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich überhaupt am Leben bleiben will. /
»Das müssen wir erst entscheiden, nicht wahr? Gewiß hat man sich nicht die Mühe gemacht, dich ohne triftigen Grund in eine Animations-Kammer zu stecken. Wenn du nicht mit mir zusammen arbeitest, um diesen einen Punkt zu klären, vergeuden wir beide unsere Zeit. Ganz zu schweigen von der Zeit des – wie nennt ihr den Tempel?« / Ich bitte um Vergebung. Was möchtest du wissen, Geschwister Patriarch? / »Bitte nenn mich Bruder, wenn es dir nichts ausmacht. Gerade eben bist du damit doch recht gut zurechtgekommen.« / Bruder! / signalisierte Herald. »Dann laß uns mit folgendem anfangen: Warum hast du eine menschliche Gestalt zur Frau genommen anstatt eine Kreatur deiner eigenen Rasse?« / Ich liebte einmal eine Weibliche aus eurer Spezies /, gestand Herald. »Aha, ich verstehe. Mir ging es ebenso. Und ich liebe sie immer noch. Es gibt nichts, was mit einem süßen hübschen Mädchen zu vergleichen wäre, oder etwa doch?« Herald war verblüfft und zugleich erfreut, feststellen zu können, daß man sich offensichtlich bestens verstand. Er hatte Bruder Paul nicht unbedingt als eine Entität mit kreatürlichen Bedürfnissen und Wünschen betrachtet, allerdings hatte er den Mann auch nie zu Lebzeiten kennengelernt. / Nichts im ganzen Cluster /, gab er ihm recht. / Ich befand mich in einem solarischen Wirt, und sie... / »Laß uns doch noch etwas weiter zurückgehen«, schlug Bruder Paul diplomatisch vor. »Was ist das... ein solarischer Wirt?«
/ Den gab es nach deiner Zeit /, sagte Herald. / Na schön. Heutzutage wechseln wir von Körper zu Körper, da unsere Identitäten in unseren Auren verankert sind. Daher bin ich in der Lage, mich der Gestalt eines Solariers oder jedes anderen Körpers jeder Kreatur im Cluster zu bedienen. Wenn ich mich in einer fremden Gestalt zeige, dann reagiere und handle ich in vielem genauso wie mein Wirt. / »Aha. Dann kannst du also als menschliches Wesen durchaus an einem menschlichen Mädchen Gefallen finden. Sicherlich würde ich in einem Slashkörper die weiblichen Slash ebenfalls sehr reizvoll finden. Dennoch legt dies doch den Schluß nahe, daß es keine dauerhaften Gefühle gibt...« / Im Gegenteil. Die Liebe ist etwas Absolutes. Bereits in meinem Jet-Wirt erlitt ich aus Trauer über den Verlust meiner Braut einen schweren Schock. / »Das freut mich zu hören. Nicht daß du einen Schock erlitten hast, sondern daß es auch immer noch das Prinzip der Dauerhaftigkeit, der Treue gibt ungeachtet der verschiedenen Körperwechsel. Das läßt doch erwarten, daß deine Therapie an diesem Ort sich auf alle weiteren Wirte auswirken wird.« / Ja. Ich ging die Trümpfe des Cluster-Tarots in der Folge des üblichen Neuorientierungs-Programms für die mit Mühsal Beladenen durch und... / »Cluster-Tarot? Ich kenne eine ganze Reihe verschiedener Versionen des Tarotspiels, aber nicht diese. Ist es vielleicht mit dem Waite, dem Toth oder dem Licht verwandt oder...« / Diese Namen habe ich noch nie gehört. Es ist das Spiel, das du auf dem Planeten Tarot geschaffen hast /, erklärte Herald. / Erinnerst du dich nicht mehr? /
»Oh, ich habe ein Spiel mit hundert Karten für meine eigenen Analysen entwickelt. Zugrunde lagen dieser Auswahl meine damaligen Erfahrungen und mein Wissen um die Eigenschaften der Karten. Dieses Spiel wurde jedoch niemals offiziell veröffentlicht; vielmehr war es eine Art Übung für mich.« Er machte eine Pause und starrte Herald geradezu beschwörend an. »Meinst du dieses Spiel?« / Dreißig Trümpfe, fünf Farben? Das ist das Cluster-Tarot. Natürlich wurde es lange nach deiner Zeit entwickelt, und die Trümpfe haben mittlerweile auch ihre ursprüngliche Bedeutung geändert. Es gibt bereits eine ganze Menge anderer Versionen. Tatsächlich bin ich der Überzeugung, daß jede Sphäre ihre eigene Spielvariante hat. Die meisten populären Illustrationen der Grundkonzepte sind weitaus moderner; es ist ein ewiger, dynamischer Wechsel. Aber der tiefere Sinn stammt von dir – das Grundmuster, die Deutungen, die Einbeziehung der individuellen Lebensgeschichte. Ich glaube nicht, daß seitdem viele Karten hinzugefügt worden sind. Außer vielleicht die des Phantoms. Es hat unter den Gelehrten heftige Dispute gegeben, ob du dieses Bild wirklich hinzugefügt hast. / »Ich hatte einen Phantom-Trumpf«, sagte Bruder Paul. »Die Karte repräsentierte das Unbekannte, die geheimen Wunder, die Angst, die Hoffnung hinsichtlich der Umstände, welche aus einem anscheinend willkürlichen Akt Gottes entstanden sind...« / Der Gott von Tarot. Ja, viele Kreaturen verehren ihn. Er... / »Der natürlich der Gott aller Lebewesen ist, ganz gleich, unter welchem Namen er bekannt ist«, warf
Bruder Paul ein. / Ja, alle Götter sind für sich wertvoll und wichtig. Das ist eines der Grundprinzipien des Kultes des Tarotismus. Sie... / »Das war es eigentlich nicht, was ich meinte.« Bruder Paul spreizte seine braunen Hände in einer typischen solarischen Geste. »Aber wir schweifen ab. Ich vermute, dein Vater war ein Magier und deine Mutter eine Priesterin deiner Rasse, die dich von deinem anfänglichen Status der Hilflosigkeit und Unschuld an, im Tarot dargestellt durch das Zeichen Null oder den Narren, aufgezogen haben, und ich nehme an, daß Gesellschaft und Regierung deines Volkes dem Symbol des Kaisers und der Kaiserin huldigen. Demnach bin ich jetzt dein Hierophant oder Lehrer. Allerdings kann ich dir nicht helfen, solange ich dich noch nicht richtig kenne. Wie lautet dein sechstes Bild?« / Wir benutzen keine feststehenden Bilder mehr. Jede Kultur arrangiert die Symbole nach eigenen Gesichtspunkten. Es gibt keine festen Vorschriften für die Darstellungen und ihre Symbolik. Einige Spezies interpretieren sie nach Begriffen der Zweigeschlechtlichkeit, jedoch müssen diese Begriffe geändert werden, wenn eine Rasse ein- oder gar mehrgeschlechtlich ist. Ähnliche Unterschiede gibt es bei einer Reihe von grundsätzlichen Prinzipien. Wenn vom Prinzip der Liebe die Rede ist, möchte ich wissen, ob du damit den romantischen, gefühlsbetonten Aspekt meinst oder dich lediglich auf das Prinzip der Auswahl nach äußerlichen Kriterien beziehst. Ich glaube, beide Aspekte waren einmal untrennbar miteinander verbunden. / »Es gibt also durchaus eine Doppeldeutigkeit der
Begriffe, nicht wahr? Ich möchte nur deshalb mehr über dich wissen, um deine Lage richtig beurteilen zu können. Ich nehme an, in eurem Denk- und Gefühlssystem gibt es sowohl den romantischen wie auch den wahlbezogenen Aspekt, wahrscheinlich sogar eine Kombination aus beiden. Welches ist für dich besonders von Bedeutung?« / Dafür, daß du nur eine Animation bist, kannst du aber ganz schön unbequeme Fragen stellen! / blitzte Herald durch eine getrübte Linse. »Ich hab's gehört, Slash. Ich meine, ich hab's gesehen. Wenn du keine Lust hast, mit mir zu arbeiten, dann kannst du ja jemand anderen beschwören und um Hilfe bitten.« / Nein, nein, niemand anderen! / beteuerte Herald hastig. / Du wolltest wissen, was mir besonders viel bedeutet. Meine Frau, meine solarische Kindbraut, die ohne eine gründliche Untersuchung wegen angeblicher Besessenheit verbrannt wurde, als sie nur... / Unfähig, fortzufahren, projizierte Herald statt dessen das Bild Psyches, wie sie sich im Innenhof der Burg von Kade in den Flammen wand. »War das etwa echt?« erkundigte Bruder Paul sich ungläubig. »Sollte in so ferner Zukunft, in einem Zeitalter intergalaktischer Reiche und, dank dem Wunder des Aura-Transfers, des friedlichen Zusammenlebens von Myriaden intelligenter Rassen auch der Aberglaube noch nicht ausgestorben sein?« / Die gefesselte Lady /, signalisierte Herald, wobei er feststellen mußte, daß er nahezu vollständig zusammengebrochen war. Ein Slash ging eigentlich niemals in den Schock, jedoch war genau das mit ihm geschehen! Kein Wunder, daß er sich in Animations-
Therapie befand. / O hilf mir, Patriarch! Ohne sie kann ich nicht funktionieren, dabei habe ich im Augenblick eine wichtige Mission zu erfüllen! / Bruder Paul spreizte wieder seine Hand in einer universellen Geste. »Im Angesicht eines solchen Verlusts, eines solchen Leids, kann ich dir kaum helfen. Es ist offensichtlich, daß die Barbarei in deinem Volk immer noch eine Rolle spielt. Es sei denn, ihr verfügt über irgendeinen futuristischen Mechanismus, um die Zeit selbst zurückzudrehen oder die Toten aufzuerwecken...« / Sieht so die Interpretation dieses Symbols aus? / fragte Herald mit einem deutlichen Ausdruck von Ironie. / Daß ich nur lieben kann, wenn ich die Zeit zurücklaufen lasse oder Tote mit neuem Leben erfülle? / »Nein, so doch nicht!« protestierte Bruder Paul. »Es gibt immer einen gangbaren Weg, um Trost zu finden.« / Dann zeig ihn mir. Nun braucht der Heiler selbst die Heilung! / »Vielleicht hilft ein Tarot-Orakel. Mir hat das Tarot jedenfalls geholfen.« / Schön, dies ist nun mal der Tempel des Tarot! Eine simple Animation kann mich jedoch nicht zufriedenstellen. Ich dürste nach Realität und kann auf Illusionen verzichten. / »Die Bilder mögen Illusionen sein; die Dinge jedoch, die sie enthüllen und darstellen, sind aus der Wirklichkeit, wenn auch verschleiert und für unser Verständnis meistens nicht faßbar. Welche Art der Präsentation bevorzugst du?« / Den im Cluster üblichen fünffachen Satelliten-
Fächer. / »Ich glaube, davon habe ich noch nie gehört. Fünf Karten?« / Es ist eine alte Methode, die Karten auszulegen /, erklärte Herald. / Wahrscheinlich zweihundert Jahre alt. / »Mir scheint, da bin ich um einiges älter.« Herald blitzte eine Entschuldigung. / Verzeihung, Bruder Paul, ich habe nicht mehr daran gedacht. Aber ich kann es dir erklären Zuerst teilst du den Pack in fünf Häufchen auf... / »Komm, wir machen es gleich so, wie du es schilderst«, schlug Bruder Paul vor. In seiner Hand erschien ein Gegenstand, den er Herald einladend hinhielt. Ratlos betrachtete Herald das fremdartige Ding. / Was ist das? / »Nun, der Cluster-Tarotpack, wie ich ihn kenne. Habe ich deine Absichten etwa mißverstanden?« Auf einmal begriff Herald. / Ach so, ein archaisches Spiel, das man anfaßt. Solche Altertümer benutzen wir schon lange nicht mehr. / Gleichzeitig fiel ihm jedoch ein, daß derartige Spiele bei ganz bestimmten Gelegenheiten doch noch in Gebrauch waren. So hatte zum Beispiel er selbst sich eines Spiels mit Karten aus Stein bedient, als er das Ast-Kind Kleinbohr von Metamorph behandelte. »Was benutzt ihr denn statt dessen?« erkundigte sich Bruder Paul, während der Kartenpack sich in seiner Hand aufzulösen schien und verschwand. / Wir verwenden den Cluster-Würfel. / Herald hob einen Tentakel, und ein Würfel erschien in der Windung. Sofort fragte er sich, ob die Würfel der Ah-
nen vielleicht damit verglichen werden konnten. Nein, das war zu phantastisch. Falls die Ahnen wirklich das Tarotspiel kannten, dann wäre es ein völlig fremdartiges Tarot, das mittlerweile niemand mehr als solches erkennen würde. / Ein Bild pro Fläche, wobei die Standfläche nicht mitgezählt wird und unberücksichtigt bleibt. Für ein richtiges Orakel wird der Signifikator auf die Standfläche projiziert, und die fünf anderen sind... / Bruder Paul hob einen Arm in einer Geste des Protests, die eher einem Segen glich. »Ich bitte dich, diese moderne Technologie verwirrt mich. Ist es nicht möglich, daß du einen animierten Anachronismus akzeptierst und ihm zuliebe die alten Karten benutzt?« / Eigentlich ist die ganze Situation eine reine Animation /, erklärte Herald dem Solarier. / Ich kann noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob ich in meinem eigenen Körper bin; auch der könnte durchaus eine Animation sein. Deshalb brauchen wir uns noch nicht einmal eines Kartenpacks zu bedienen. / Bruder Paul ließ wieder die Karten erscheinen. »Bitte, Freund, tu mir den Gefallen!« Herald signalisierte seine Zustimmung. / Du mußt aber für mich mischen, Bruder. Mit solchen Artefakten komme ich nämlich nicht zurecht. / Artefakt... welche Bezeichnung würde eine Kultur in drei Millionen Jahren wohl für einen Tarot-Würfel finden? Möglich, daß man dieses Gebilde für etwas Eßbares hielt. »Nein, du mußt selbst mischen, sonst ist es nicht dein Orakel. Du selbst mußt die Karten berühren, um die für dich bedeutsame Reihenfolge herzustellen.«
/ Da du meine Animation bist, ist dein Mischen letztendlich auch mein Mischen. / Der Solarier zeigte seine Zähne. »Du hast einen scharfsinnigen, fremden Geist, Slash! Bist du ganz sicher, daß du noch eine Therapie brauchst?« / Ich brauche meine Frau! / blitzte Herald, als ihn der Schmerz über den Verlust plötzlich übermannte. »Es ist auch möglich, einen Partner zu heiraten, der nicht aus Fleisch und Blut ist. An die Stelle deiner Braut könnte durchaus ein Heiliger Orden treten. Du könntest dein Leben ausschließlich Gott widmen.« / Misch endlich, Mann Gottes! / Bruder Paul zuckte die Achseln und mischte. Mit erstaunlicher Gewandtheit ließ er die Karten zwischen seinen Händen hin und her huschen. »Und nun... fünf Stapel?« / Ja. Sie symbolisieren TUN, DENKEN, FÜHLEN, HABEN und SEIN. / Bruder Paul begann mit dem Austeilen, indem er fünf Karten in einer Reihe auf den Tisch legte, die wie herbeigezaubert vor ihm erschien. Dann legte er fünf weitere Karten auf die bereits ausgelegten und schichtete so die Häufchen auf. »Ich habe an deinen Interpretationen grundsätzlich nichts auszusetzen, dennoch erscheinen sie mir reichlich abstrakt. Könnten die fünf Häufchen nicht simpler gedeutet werden, nämlich als Symbole für die konventionelleren Prinzipien wie ARBEIT, SORGE, LIEBE GELD und – darf das letzte der GEIST sein?« / Natürlich, AURA. Beides ist miteinander verwandt. Man braucht nur dem Geist seine religiösen Wurzeln zu nehmen, und schon gelangt man zur Aura. Aber das weißt du bestimmt – immerhin hast du ja
die Cluster-Version dieses Spiels erfunden –, und im Grunde sind die eben genannten Bedeutungen lediglich andere Aspekte der Grundbedeutungen der Kartenbilder. / »Ich fürchte, mein Blickwinkel ist da etwas anders, und wahrscheinlich auch meine Motive.« Bruder Paul betrachtete die fertigen Kartenhäufchen. »Ich nehme an, der nächste Schritt besteht darin, deinen Signifikator zu lokalisieren, nicht wahr?« / Der Aura-König /, sagte Herald. / Aura ist die Farbe der Kunst, und ich bin ein heraldischer Künstler. Außerdem bin ich zur Zeit die Kreatur mit der intensivsten Aura, insofern qualifiziere ich mich auch in diesem Bereich. / »Soweit ich weiß, sogar die intensivste Aura aller Zeiten.« / Ich brauche keine Animationsgestalt, die dem schmeichelt, was die Natur mir bescherte /, signalisierte Herald verärgert. / Und außerdem stimmt das gar nicht. Meine Braut Psyche hatte im Zustand höchster Bereitschaft die intensivste Aura. Und dann gehen wir auch davon aus, daß sogar deine Aura höher war als die meine, was nur nicht bekannt ist, weil du in einer Epoche lebtest, in der die Solarier noch nicht einmal daran dachten, eine Aura zu Identifikationszwecken anzumessen. Die Historiker ordneten dir eine Aura von der Intensität zweihundert zu, jedoch könnte auch das noch zu niedrig gegriffen sein. / »Oder zu hoch. Auf jeden Fall ist das kaum von Bedeutung, da ich schon längst diese Zeit hinter mir habe. Sollte ich nach historischen Gestalten suchen, um ihnen ausgeprägte Auren zuzuordnen, würde ich wohl eher an DAS Wesen denken, den größten und
letzten Heiler von allen.« / Und wer ist das? / fragte Herald neugierig und gespannt. Er hatte niemals in Erwägung gezogen, daß es eine Entität geben könnte, zu der sogar der Patriarch aufschaute. »Jesus Christus, der Sohn Gottes.« Für einen Moment war Herald ratlos. Dann spürte er eine halbverschüttete Erinnerung auf. / Ach ja, du meinst sicher den Propheten einer archaischen solaren Religion. In der Forschungsabteilung des Tempels gibt es einen Hinweis auf ihn, und ich glaube sogar, daß einige Tarot-Symbole sich in irgendeiner Weise auf ihn beziehen oder von ihm ableiten lassen. / Bruder Paul lächelte und schüttelte den Kopf mit einem Ausdruck unverhohlenen Staunens. »Die Standpunkte und Betrachtungsweisen unterscheiden sich sogar mit Sicherheit! Wußtest du, daß Er die Kranken und zum Tode Geweihten oft dadurch heilte, daß Er ihnen nur die Hände auflegte?« / Das war mir bekannt /, erwiderte Herald. / Genauso wird auch eine Kirlian-Heilung vorgenommen. / »Könntest du einen Toten wiederaufwecken?« / Nein. Und ich bezweifle, ob das viel Sinn hätte, nachdem das Gehirn seine Funktion eingestellt hat. Außerdem kann ich nicht alle Kranken heilen, da einige Leiden rein physischen Ursprungs sind. Wenn jedoch dein Christus diese Dinge zu vollbringen vermochte, dann kann das nur bedeuten, daß er über eine stärkere Aura als die meine verfügte. Rein qualitativ dürfte es allerdings so gut wie keine Unterschiede geben. / »Keinen qualitativen Unterschied!« rief der Solarier
entsetzt aus. Doch er beruhigte sich wieder. »Ich denke, wir sollten lieber dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Hier wäre der Aura-König, und zwar im Stapel zwei, der Schwierigkeiten symbolisiert.« / Oder im Stapel DENKEN nach meiner Version. Das wäre allerdings ein schlechtes Omen für das Orakel; mein Problem liegt nämlich im Bereich FÜHLEN. / »Vielleicht will das Tarot dir auf diese Art mitteilen, daß die Lösung deines Problems eher durch Denken als durch deine Gefühle gelöst werden kann.« / Das alles ist doch ein wahnwitziger Aberglaube /, schimpfte Herald halblaut. / Langes Nachdenken wird mir Psyche nicht wieder zurückbringen, und ich geruhe nicht, sie zu vergessen. / »Wir können wenigstens die Möglichkeiten durchspielen.« / Wenn es unbedingt sein muß. Der Signifikator erscheint auf der Bodenfläche des Würfels, während die obere Fläche das Problem definiert. Inwiefern dies der früheren Kartenversion entspricht... / Er hielt inne. / Ich wüßte nicht, wie man ohne Würfel... / »Oh, wir können es entsprechend umformen«, beruhigte Bruder Paul ihn. »Ich werde die SignifikatorKarte dort auflegen und sie mit der Definition kreuzen. Anschließend legen wir die Karten nach dem Bild des Aura-Königs doch genauso auf, wie sie im Stapel aufeinander folgen, oder?« / Ich nehme es an. Es ist nicht gerade einfach, das Prinzip zu übertragen. Normalerweise stellt der Tarot-Würfel die gesamte Kartenfolge dar. / »Mir kommt es so vor, als hätte euch Modernisten
eure eigene Technik regelrecht verdorben. Das Tarot ist keine Sache, die man so einfach von einer Tafel ablesen und in sich aufnehmen kann. Man muß damit in Verbindung treten, muß die Karten berühren, um die Persönlichkeit darauf einwirken zu lassen. Erst dann kann das Tarot seine volle Wirkung entfalten und einem weitgehend zutreffende und ernstzunehmende Informationen liefern anstatt eine eher willkürliche Karten- und Bildfolge.« Er studierte den Tisch und den Würfel, welche Herald hatte erscheinen lassen. »Wir können die übrigen vier Karten im Uhrzeigersinn auslegen – Süden, Westen, Norden, Osten –, so daß sie stellvertretend für vier Seitenflächen deines Würfels zu betrachten sind. Die Topologie wird dabei dieselbe sein.« / Ich begreife nicht ganz, wie... / »Etwa so.« Und Bruder Paul legte die Karten mit der Bildfläche nach unten entsprechend seiner Beschreibung aus. »Du kannst die Anordnung als Kreuz ansehen oder als die vier Richtungen des Kompasses...« Er verstummte und sah Herald an. »Aber diese Methode gehört zu denen, die euch völlig fremd sind, nicht wahr?« / Wie das denn? / fragte Herald mürrisch. / Was immer du an Methoden und Techniken erwähnst, stammt aus meinem eigenen Geist. / »Vielleicht. Dennoch ist das Unterbewußtsein wie eine unendliche unerforschte Wildnis. Und eben dorthin dringt das Tarot vor. Dieser ungeordnete Überfluß an Wissen und Vermutungen, der in jeder Person begründet liegt, wird vom Tarot angezapft. Das Tarot ist demnach das Mittel, mit welchem man die Wahrheit ans Tageslicht bringt, die meistens vom Bewußt-
sein unterdrückt, verdrängt wird, weil sie vielleicht unangenehm ist.« Er machte eine nachdenkliche Pause. »Sehr unangenehm«, murmelte er. Herald spürte einen kalten Schauer, der ihn an seine Reaktion erinnerte, nachdem Kleinbohr von Metamorph ihm einen kurzen Blick in seine Zukunft gewährt hatte. / Was ist dir auf dem Animationsplaneten zugestoßen? / Wie die meisten denkenden Wesen der vergangenen beiden Jahrtausende war auch Herald überaus neugierig und wißbegierig, was die Schaffung des berühmten Cluster-Tarot betraf. Doch Bruder Paul lächelte nur ausweichend. Welche Antwort sollte er darauf geben? Schließlich war er lediglich ein lebendig gewordenes Abbild aus Heralds Geist, und dort lag die Lösung des Rätsels um die Entstehung des Tarot ganz sicher nicht. Herald betrachtete die ausgelegten Karten und erkannte schlagartig, daß sie durchaus den vier Seitenflächen des Würfels entsprachen. Fast hätte man meinen können, daß die vier Seitenflächen des Würfels nach unten geklappt waren, wobei die untere Karte in der Mitte, also die Standfläche des Würfels, von der Definitionskarte halb bedeckt wurde. Ja, so konnte man das durchaus ansehen, und es leuchtete ein!
»Ich nehme an, die vier äußeren Karten stehen für Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Schicksal«, sagte Bruder Paul. »Damit gleicht die Anordnung der vereinfachten Keltischen Form oder auch einem modifizierten Elemental-Kreuz...« / Keltisch? Elemental? / »Der Keltische Fächer war zu meiner Zeit eine allgemein beliebte Form der Kartenanordnung, die vorwiegend für die Wahrsagerei benutzt wurde. Daß diese Methode auf die alten Kelten zurückzuführen ist, halte ich für unwahrscheinlich, da diese längst untergegangen waren, ehe das Tarotspiel im vierzehnten Jahrhundert erfunden wurde. Besonders fanatische Anhänger dieses Kults bestreiten das natürlich. Es gibt eine Vielzahl von Legenden, in denen immer wieder behauptet wird, daß Tarotspiel sei noch viel älteren Ursprungs, jedoch entbehren diese Behauptungen jeglicher Grundlage. Mit ›elemental‹ meine ich die klassischen solarischen Elemente FEUER, LUFT WASSER und ERDE. Natürlich sind dies keine reinen Elemente im wissenschaftlichen Sinn, dennoch dienen sie durchaus als Analogie zu deinen Prinzipien TUN, DENKEN, FÜHLEN und HABEN. Dabei benutzt ihr natürlich fünf und nicht vier Elemente. Darin gleicht ihr den Ahnen.« / Den Ahnen! / »Ich habe den Verdacht, wir reden von völlig verschiedenen Dingen. Ich meinte, daß dein System des Auslegens sich an der Fünf orientiert – fünf Häufchen, fünf aufgelegte Karten, fünf Trümpfe –, und auf diese Weise ist dein System eine Art Konzentrat aus den weniger genauen Methoden aus meiner Zeit. Das Tarot hat tatsächlich eine bemerkenswerte Entwick-
lung hinter sich.« Herald überlegte. Er hatte das Tarot bisher als eine Art Werkzeug, ein Hilfsmittel angesehen und nicht als Repräsentanten fundamentaler Wahrheiten. Er begriff allerdings, daß er einer Entität gegenüberstand, die das Tarot überaus ernst nahm. Dabei schien es völlig gleichgültig zu sein, daß es sich bei der Entität um nichts anderes als eine TarotAnimation handelte; Persönlichkeit und Erhabenheit Bruder Pauls sprengten die Grenzen der Animationstechnik und machten sich nachhaltig bemerkbar. Insofern war der Solarier eine reale Erscheinung und mußte auch als solche behandelt werden. / Wir sollten mit unserem Orakel fortfahren /, signalisierte Herald mit seinen leuchtenden Kommunikationsorganen. / Trotz allem könnte ja sogar für mich eine neue Erkenntnis herauskommen. / Bruder Paul teilte die Karten aus und legte die Definition auf den Signifikator und schließlich die anderen Karten im Uhrzeigersinn drumherum, wobei er am unteren Rand begann. Nun erschienen die ersten Bilder, und die Anordnung der Karten enthielt erste Informationen. »Der Aura-König wird durch die Aura-Drei definiert, was in den Bereich der Vorhersage einzuordnen ist. Erstaunlich, wie die einzelnen Bedeutungen sich seit meiner Zeit gewandelt haben! Jedoch ist diese Karte so eindeutig und prägnant, daß sie nicht aus purem Zufall erschienen sein kann.« / Nichts ist hier vom Zufall bestimmt! / Bruder Paul lächelte zustimmend. »Nichts im gesamten Universum entspringt einer Laune des Zufalls. Lediglich unsere Ignoranz gaukelt uns das Gegenteil vor. Wenn wir jedoch die Wege Gottes erken-
nen würden...« / Willst du mich etwa bekehren? / »O nein, ich rede nur im Interesse von Weisheit und Harmonie... Aber ich kann deinen Widerspruch durchaus verstehen. Du möchtest nicht mit meinen archaischen Religionsvorstellungen belastet werden, und ich habe ganz bestimmt nicht den Wunsch und die Absicht, sie dir aufzuzwingen. Wir setzen unsere Kartenlesung fort.« Er blickte auf den Tisch. »Hier unten wird die Vergangenheit dargestellt, und dort sehen wir eine Karte mit der Bedeutung Vision.« Er hielt inne. »Aha, die Vergänglichkeit des Fleisches! Dies ist die Karte, die ich entwickelt habe und die meiner leidenschaftlichen Liebe zur Literatur entspricht, welche sich im Spiel der Phantasie ausdrückt. Ein heller Platz voller Menschen.« / Was? / fragte Herald blitzend. »Sieh selbst.« Bruder Paul vollführte mit einem Arm eine umfassende Geste, und um sie herum entstand eine Vision, die sich aus einem traumgleichen Chaos löste. »Dort am östlichen Himmel steht die Sonne«, sagte er und wies nach oben. Und tatsächlich entstand dort die leuchtende Kugel und zeigte die gelbe Farbe Sols, die man sieht, wenn man sie von der Erde aus betrachtet. Herald wurde durch die Farbe noch an etwas anderes, mehr Persönliches erinnert. Er sah im gelben Schein der Sonne den Schimmer von Psyches wundervollem Haar. »Und sich ihr entgegenreckend steht auf einem Hügel der Turm der Wahrheit.« Ein imposantes Bauwerk entstand, das dem mittleren Turm der Burg Kade glich – welche Erkenntnis, welche Wahrheit hatte unter diesem Bauwerk geschlummert, und hätte er sie nur eher
entdeckt! – und dessen höchste Mauern von einem Lichtstrahl erhellt wurden. »Darunter, in einem tiefen Tal, befindet sich das Verlies der Frevler, der Falschheit und Lüge.« Bruder Pauls linke Hand zeigte nun nach unten und wies auf die Schlucht, deren Schrekken von düsteren Schatten verhüllt wurden. »Idealisierte Symbole für den Himmel und die Hölle, natürlich. Und zwischen diesen Extremen das weite Feld der Volksgemeinschaften, oder nenn es ruhig die Menschengemeinschaft der Welt, die dem Geld nachjagt und für alles andere blind ist. Nur wenige schauen auf und suchen nach der Wahrheit, oder sie richten die Blicke nach unten, um einen vagen Eindruck von den Schrecken zu gewinnen, denen sie entgegentreiben.« Und die wogende Schar der Solarier verschmolz ineinander. »Das ist die Kulisse für ›Die Vision des Piers Pflugmann‹, ein episches Gedicht aus der Zeit, in der das Tarot entstand. Geschrieben wurde es in verschiedenen Fassungen in den Jahren 1362 bis 1395 von William Langland von England.« Voller Bewunderung betrachtete Herald die Animation. / Genauso sieht es auch im Cluster aus. Die Myriaden von Spezies in den vielen Sphären geben ihren Begierden und Wünschen nach, ohne sich der Drohung vollständiger Auslöschung bewußt zu sein, die ganz in ihrer Nähe lauert wie ein hungriges Raubtier. / »Drohung der Auslöschung?« / Ich denke an die Amöbe. Ohne die Wissenschaft der Ahnen brauchen wir noch nicht einmal zu hoffen, gegen sie bestehen zu können. Die fremde Flotte wird den Cluster erobern, und es wird – die reinste Hölle
werden! / »Das ist also der Grund, warum du hergekommen bist! Sorge um das Schicksal deiner Gesellschaft. Du beweist damit wahrlich eine edle Haltung.« / Nein. Ich will nur meine solarische Braut zurückhaben /, flackerten Heralds Lampen. Dann dachte er nach und erlebte einen ganz andersgearteten Schock. / Ich... Ich gehöre ebenfalls zu den ichbezogenen Leuten in der Volksgemeinschaft. Ich sehe mein persönliches Wohlergehen als wichtiger an als das Wohl meines Clusters! / »Dir ist tatsächlich eine Vision zuteil geworden«, stellte Bruder Paul fest. Herald ließ seine Scheiben rotieren und verdrehte und wand seinen schlangengleichen Körper nachdenklich. / Meine persönlichen Hoffnungen sind null und nichtig, jedoch ist für den Cluster noch nicht alles verloren. Mir obliegt es, zu tun, was immer in meiner Macht steht, um unsere Zivilisation vor der Amöbe zu schützen. / »Und genau darin findest du möglicherweise deine Erfüllung und deine Glückseligkeit«, murmelte Bruder Paul. / Das bezweifle ich. Ich denke, sogar dein Jesus Christus hätte Schwierigkeiten, meine Lady von Kade zum Leben zu erwecken. / »Und doch könnte er das bewirken, wenn ein solcher Schritt zum Plan Gottes gehörte. Ich bedaure zugeben zu müssen, daß ich diesen Plan nicht kenne.« Bruder Paul wendete seine Aufmerksamkeit wieder der aufgedeckten Kartenfolge zu. »Dort hätten wir die Gegenwart – die Einflüsse, die für deine derzeitige Situation verantwortlich sind. Die Aura-Zwei,
welche...« Er verstummte und starrte die Karte an. / Die Aura-Zwei ist das Zeichen für Aura /, blitzte Herald. / Zwei Atom-Schiffe, eine magnetische Formation, eine kleinere Raumflotte. / Der Turm und das Tal wichen zurück, der große Platz mit den Menschen sank herab, überließ dem Himmel das Feld, wo die Raumflotte zu erkennen war. / Ich bin Aura, und genauso war auch meine Geliebte, und zum gleichen Zeichen gehörten auch die Ahnen. Ich bin an kein anderes Zeichen gebunden als an Aura. / Der Solarier nickte mit seinem humanoiden Kopf. »Wie klar du alles begreifst. Und dort wäre die Karte der Zukunft, die Schwert-Zehn.« Zehn kleine Klingen lösten sich aus dem Bild, stiegen hinauf in den Himmel und gesellten sich zu den Atom-Schiffen. »Die Bedeutung dieses Symbols ist Überleben.« / Mit Hilfe der Naturwissenschaften können wir wirklich überleben /, gab Herald zu. / Ohne diese Kenntnisse gibt es für uns keine Zukunft. / »Und hier die letzte Karte, Schicksal – und es ist das Phantom.« Und aus der Karte entstand dessen Ebenbild, dehnte sich holographisch aus und füllte die Szenerie: das unermeßliche Wunder des tiefen Raums, der Sterne und der Staubwolken, eine Anordnung, die dem vorzeitlichen Chaos ähnelte. / Das Große Unbekannte /, blitzte Herald. / Die Kartenfolge des Tarot hat das Problem recht hübsch dargestellt, allerdings liefert es keine Lösung. / »Was ist dieses vielarmige Gebilde in der Ferne?« fragte Bruder Paul. Er streckte den Arm aus und wies in die entsprechende Richtung, und eine Sektion der Animation dehnte sich aus, so daß es ihnen vorkam, als rasten sie mit einem Vielfachen der Lichtge-
schwindigkeit darauf zu. / Lediglich ein außergalaktischer Nebel /, erwiderte Herald. / Derartige Gebilde sind nicht ungewöhnlich, und sie treten in den verschiedensten Formen auf. Es gibt bei uns Spezialisten, die sich eingehend damit befassen, wie zum Beispiel mein Freund aus dem Segment Weew... / Er erstarrte, und Entsetzen schüttelte ihn, als er auf die wachsende Gestalt blickte, die sich aus dem Hintergrund der TarotAnimation auf sie zuschob. Die Pseudopodien streckten sich ihnen dreidimensional entgegen, als wollten sie die beiden Betrachter direkt ergreifen. / Die Amöbe! / »Die Bedrohung des Clusters?« / Die Flotte des Feindes, die von ihrem materietransmittierenden Kern jenseits von Esse auf uns zustrebt, um unsere Zivilisation zu vernichten. Sie haben ein Schiff zum Mars geschickt, um mich auszuschalten, und jetzt sind sie mir wieder auf den Fersen, sogar in meinen Animationen – Halt! / Bruder Paul deckte eine Hand über die Karte, und das bedrohliche Bild verschwand. »Sicherlich endete das Orakel nicht an dieser Stelle ohne irgendeine Vorhersage, eine Lösung«, protestierte er. »Wahrscheinlich haben wir die Frage nicht richtig gestellt. Vielleicht brauchen wir auch ein weiteres KartenOrakel. Dieses hier stammt aus dem Kartenhaufen Denke, und zum Nachdenken hat die Kartenfolge uns auf jeden Fall gebracht; aber wenn wir...« / Man kann die Kartenfolge auch auf andere Art und Weise erklären /, blitzte Herald einen Hinweis. / Deshalb ist diese Form des Orakels ja so vielseitig. Jeglicher unklare Gesichtspunkt kann durch eine zu-
sätzliche Kartenfolge näher erklärt werden. / »Oh, das ist ja günstig. Natürlich hatte ich das nicht gewußt. Welche Karte möchtest du denn unter diesem Aspekt näher erläutert bekommen?« / Das Phantom natürlich. Die Amöbe ist eindeutig unser Hauptproblem. Nur wenn wir dies in seiner ganzen Tragweite begreifen und die Amöbe in allen Nuancen kennen, erfahren wir etwas über ihre Verwundbarkeit, ihre Schwächen... / Er verstummte kurz. Dann: / Aber das kommt erst am Ende. Jegliche Kartenfolge muß in der richtigen Reihenfolge angelegt werden. Erst muß man die Grundlagen, den Hintergrund des Ganzen verstehen, ehe man eine Lösung suchen kann. / »Ja, das leuchtet ein. Ich denke, ich mag diese Methode; sie liefert dem Suchenden Informationen. Die Grundanordnung liefert die zugrundeliegende Bedeutung; diese wird verfeinert, wie die Bedürfnisse des Fragenden es diktieren. Für dich, welche Karte?« / Die Vergangenheit. Vision. Deine bevölkerte Spielwiese ist eine hübsche Analogie, und sie kommt meiner Perspektive entgegen, aber ich bin nicht sicher, ob wir sie richtig verstehen und deuten. Leg doch eine zusätzliche Definitionskarte auf. / Bruder Paul kreuzte die Vision mit der nächsten Karte vom Stapel. »Enthaltsamkeit«, sagte er. Und die hübsche, nacktbrüstige solarische Weibliche erschien vor dem sternenübersäten Hintergrund und schüttete Flüssigkeit von einem Gefäß in das andere. »Das Verteilen des Wassers des Lebens von einem Gefäß auf das andere – oder der Übergang der Seele nach dem Tod in die strahlenden Gefilde.« / Oder der Transfer der Aura von einem Körper
zum anderen, und zwar lebendig /, fügte Herald hinzu und war von den historischen Analogien gefesselt. / Das ist es, was der gegenwärtigen ClusterZivilisation die Existenz ermöglicht. Ohne den Transfer wäre ein intersphärischer Austausch sowie eine Verwaltung nicht durchführbar. Bescheidenheit und Zurückhaltung waren das Motto der alten Gemeinschaft der Wirte, ehe man das unfreiwillige Besetzen eines Körpers abschaffte. / »Und wieder die Aura. Sie scheint sehr eng mit deiner Herkunft und deiner Existenz verquickt zu sein.« / Ja. Ohne die Wissenschaft und die Kunst der Aura wäre ich so gut wie nichts. Das Tarot hat mich ganz richtig charakterisiert. Vision in Verbindung mit der Aura – Herald der Heiler. / »Dennoch kann ich die genaue Bedeutung nicht ergründen. Ist es gestattet, noch weiter einzugrenzen und nach weiteren Definitionen zu suchen?« / Natürlich. Normalerweise wird das stets so gemacht. Leg nur drei weitere Karten hin, und zwar im Uhrzeigersinn ähnlich wie die ersten Karten. Diese definieren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Unterbedeutung und vervollständigen das zweite System. Ein solches zweites System hat natürlich keine eigene Aussage, sondern ist lediglich eine Definition eines bestimmten Bildes im ersten Orakel. / Bruder Paul nickte verstehend und deckte die drei Karten auf. »Der Kelch-König, der Schwert-König und die Aura-Königin«, sagte er. »Doch auf zwei Karten sind fremdartige Kreaturen dargestellt.« / Ja, dies ist die solarische Ausgabe und daher vorwiegend mit humanoiden Symbolen versehen/,
blitzte Herald. / Die Bildseiten der Karten sind im wesentlichen den Darstellungen von Fremdintelligenzen vorbehalten. In den Tarotversionen anderer Sphären findet man auf den Bildkarten oft Darstellungen von Solariern, im Grunde ein Akt der Höflichkeit gegenüber dieser Spezies. Man kann jedoch auf alles mögliche stoßen, und zwar bei jeder Version des Tarot – und alle Spiele sind wichtige Elemente des kompletten Cluster-Tarot. / »Das leuchtet mir ein. Allerdings habe ich deshalb größere Schwierigkeiten, die Karten zu deuten.« Herald betrachtete die erste Karte der zweiten Untergruppe, und die dargestellte Figur erwachte zum Leben. Sie schwebte zwischen ihnen in der Luft, als könnte sie fliegen – oder schwimmen. Sie hatte einen halbtransparenten, blasenartigen Körper mit Antriebsflossen und Augenstielen. / Die ist ein spicanischer Impaktus /, erklärte Herald. / Eine Kreatur von einer Wasserwelt in einer Sphäre, die der Sphäre Sol in der Milchstraße benachbart ist. So wie das ClusterTarot auch von anderen Spezies übernommen wurde, identifizierten sie sich damit so, wie es ihnen am besten gerecht wurde. Die Spicanen sind denkende Wasserwesen, daher... / »Aha, ich verstehe schon. Der Kelch-König – ein männlicher Wasser-Weiser. Sehr passend.« / In Wirklichkeit sind die Spicanen dreigeschlechtlich, wenngleich ihre sexuelle Rollenverteilung sich je nach Kombination der Beteiligten ändern kann. Das im allgemeinen kraftvollere Auftreten und Wirken des Impaktusgeschlechts führte dazu, daß man ihm die männliche Rolle zuordnete. / »Aber was haben die Spicanen, ungeachtet des Ge-
schlechts und der Begleitumstände, mit deiner Situation zu tun?« Herald ließ seine Lichter amüsiert flackern. / Ich hatte erwartet, daß du die Karte verstehst, Bruder. Sie ist nämlich deine Karte. / Bruder Paul schüttelte sich. »Meine? Das soll ich sein? Dabei gleiche ich in nichts dieser im Wasser lebenden Intelligenz mit ihren Augenstielen.« / Du bist doch der Kelch-König. Deshalb ist diese Karte im Cluster-Spiel dein Signifikator. Das Bild soll lediglich dazu beisteuern, diese spezielle Karte leichter zu identifizieren; die ihr innenwohnende Bedeutung hat damit nichts zu tun. Du als Gründer des Cluster-Tarot, als Entdecker des Animationsphänomens, als erste der in der Clustergeschichte auftretenden starken Auren stehst sehr wohl mit mir und meiner derzeitigen Situation in Beziehung, wie deine Anwesenheit deutlich macht. Es gibt keine andere Gestalt, die die Karte in diesem Zusammenhang darstellen könnte. / Bruder Paul schüttelte den Kopf. »So muß es wohl sein, wenn du es von dieser Seite her betrachtest. Doch irgendwie ist das für mich wie ein Schock. Ich hätte mich niemals als Unterwasser-Intelligenz gesehen.« / Ach, ich finde, das Bild paßt hervorragend. / Bruder Paul nahm die Stichelei mit einmaligem Gleichmut hin. »Unter diesem Aspekt gehe ich davon aus, daß ich in deinem Unterbewußtsein auftauchte und mich nur jetzt manifestierte, in deiner Stunde großer Not, und am Ende wieder in der Wasserwüste verschwinde, sobald dein Problem gelöst ist...« / Du machst dich über mich lustig, Patriarch! /
»Nun, man sollte nicht alles zu ernst nehmen, wenn wir den Überblick behalten wollen.« Er betrachtete erneut die Kartengruppe. »Eher hätte ich schon mit der nächsten Karte gerechnet, dem Schwert-König. Dies ist wenigstens eine menschliche Gestalt. Außer daß der Mann nackt, athletisch und grün ist, während ich bekleidet, ein wenig rundlich und braun bin.« Der hünenhafte Wilde trat aus dem Bild, um in der Animation seine volle Gestalt anzunehmen, und sah sie argwöhnisch an. / Die Schwerter sind die Farbe der Solarier, dieser gewalttätigen, unbequemen und dennoch intelligenten Spezies. Dies ist Flint von Außenwelt, dessen Aura die Intensität von nahezu zweihundert hatte. In jenen Jahren waren ihre Meßmethoden denkbar ungenau. Er gründete die Keimzelle des Segments Etamin, dem großen Cluster von Sphären, der nun Sol umschließt. / »Du scheinst über mich ja bestens informiert zu sein«, meinte die Flintgestalt. Während er sprach, erfuhren Bruder Paul und Herald mehr über den Lebensraum des Wilden: riesige Schlingpflanzen, beerentragende Blumen, primitive Hütten, Saurierwesen, deren Gesichter denen der dominierenden Intelligenzen des Segments Qaval ähnelten. »Aber ich kenne dich nicht, ich weiß nichts über dich. Ich sehe lediglich einen braunen Solarier und ein Slash-Monster. Rede schnell.« Und er erhob einen mit herrlichen Muskeln versehenen grünen Arm, dessen Hand nun einen gefährlich aussehenden, mit Steinen gespickten Speer hielt. »Es ist mir eine Freude, einmal einen echten Steinzeit-Wilden kennenzulernen«, sagte Bruder Paul.
»Die meisten von uns sind innerlich ebenfalls Wilde, weshalb uns die Tünche der Zivilisiertheit zu Heuchlern machte. Ich bin Bruder Paul vom Heiligen Orden der Vision. Ich kann dir versichern, daß ich völlig harmlos bin.« »Du arbeitest für den Tarot-Tempel?« wollte der Wilde wissen. »Diese Kreatur, Herald der Heiler von A. D. 4500, behauptet, ich hätte ihn gegründet«, erklärte Bruder Paul mit einem verständnisvollen Lächeln. »Jedoch lag das überhaupt nicht in meiner Absicht und geht über meine bescheidenen Fähigkeiten hinaus. Ich stehe treu zu meinem eigenen bescheidenen Orden und habe kein Bedürfnis, mich in Politik oder Religion intensiver zu betätigen. Ich bin nichts als ein bescheidener Sucher.« »Jetzt erkenne ich dich«, sagte Flint. »Harmlos? Wie ein Carnosaurier! Du bist ein Kriegskünstler, nicht wahr?« »Ich... versuch's ab und zu.« Flint stieß einen belustigten Grunzton aus. »Du bist ein Heuchler, genau wie du es behauptet hast! Ich würde gern deine Kraft testen, jedoch bin ich überzeugt, daß ich gegen dich verlieren würde. Du hast den Tempel tatsächlich gegründet; das ist bereits Teil der Geschichte. Und so übel war das nicht. Der Tempel hat mir in der Sphäre Polaris geholfen. Das Tarot hat mir gezeigt, was ich alles wußte, ohne es selbst zu wissen, bevor ich in eine komplette Katastrophe schlitterte.« Er wandte sich an Herald, wobei sein Lächeln erstarb. »Nun zu dir, Slash – hat Andromeda trotz meiner Bemühungen den Krieg gewonnen?« / Andromeda hat verloren – zweimal /, blitzte He-
rald. / Nun sind wir Teil der Cluster-Kultur – Andromeda, Milchstraße, Stiftrad und noch einige kleinere Formationen – ohne Krieg, abgesehen von der gegenwärtigen Bedrohung einer fremden Invasion durch die Amöbe. Das Tarot hat dich geweckt – meinen fernen Vorfahr, wenn man die Aurale Familie betrachtet –, um einige Aspekte dieses Problems aufzuhellen. Hast du einen Rat für mich? / »Grabt die Wissenschaft der Alten aus«, erwiderte Flint wie selbstverständlich. / Ja, das zu tun versuchen wir gerade. Aber wir wissen noch nicht, wie, und haben nur noch wenig Zeit. / »Dann ist also auch er für deine Situation mit verantwortlich«, meinte Bruder Paul zu Herald. »Und die dritte Gestalt?« Mit Hilfe der Animation tauchte die Karte auf: eine dreiteilige Konstruktion aus Saiten und Membranen und Röhren. Sie hatte neun kleine Klapperfüße, drei in jedem Teil. »Ich bin Melodie von Mintaka«, spielte die Konstruktion und vermittelte diese Information auf musikalischem Weg. Herald wußte, daß er diese Sprache nie verstanden hätte, wenn dies nicht seine eigene Animationsszene gewesen wäre. »Ich rettete im Zweiten Energiekrieg die Milchstraße vor Andromeda. Aber du hast mich mit all meinen Füßen erscheinen lassen.« / Mintaker paaren sich auf Kosten ihrer Füße /, blitzte Herald den anderen verstohlen zu. / Ihr Geschlecht ändert sich mit abnehmender Anzahl an Füßen. Diese Karte stellte sie in ihrem Stadium der Frau dar. / »Reicht es denn nicht, daß ich mein Leben abge-
schlossen habe«, spielte Melodie drängend, »ohne daß ich zurückgeholt werde – falsch, nachdem alles vorbei ist?« »Nun...«, begann Bruder Paul. »So etwas könnte man von einem Andromeder erwarten«, fuhr sie fort. »Oder sogar von meinem barbarischen, märchenriesenhaften grünen solarischen Vorfahr. Aber du, Paul vom Tarot, wie ist es möglich, daß du dich an einer derartigen Unverschämtheit beteiligst?« »Du bist eine von meinen Nachkommen?« wollte Flint wissen und war nicht einmal entsetzt, höchstens überrascht. »Praktisch die gesamte intelligente Galaxis ist aus deiner allgegenwärtigen Saat entstanden«, klärte sie ihn auf. »Es ist ein Wunder, daß du überhaupt die Zeit gefunden hast, die Milchstraße vor Andromeda zu retten.« »Jetzt ist es schon wieder soweit, daß man sie beschützen muß«, meinte Flint geschmeichelt. »Habt ihr deshalb das Tarot aktiviert? Zufälligerweise kenne ich mich auf diesem Gebiet ein wenig aus, und da ich schon mal hier bin, denke ich, ich sollte euch behilflich sein. Mir fällt auf, daß ihr die neumodische Art des Kartenlegens gewählt habt, die unter den gegebenen Umständen wirklich nicht anwendbar ist. Jedoch...« / Es ist allein das Geheimnis der Ahnen, das wir ergründen wollen, Herrin vom Tarot /, blinkten Heralds Lichtorgane. / Nur wenn wir über deren hochentwickelte Technologie verfügen, haben wir eine Chance, unseren Cluster zu retten. / Melodie produzierte mit ihren Instrumenten einen
verneinenden Akkord. »Slash, es wäre besser, das Wissen um das Geheimnis der Ahnen bliebe dir versagt.« Die drei Männlichen starrten die Weibliche wißbegierig an. »Du kennst das Geheimnis?« fragte Flint mit scharfer Stimme. »Jedenfalls genug davon.« / Dann verrat es uns /, blitzte Herald in wilder Hoffnung. Sie gab einen letzten, durchdringenden Ton von sich. »Nein!« Bruder Paul schüttelte den Kopf. »Sicherlich hast du einen plausiblen Grund für deine Weigerung.« »Den habe ich. Wenn ihr das Geheimnis kennen würdet, könnte euch niemand daran hindern, genauso zu handeln wie sie. Deshalb werde ich nichts verraten.« / Wir würden... aussterben? / »Oder tatenlos zusehen, wie ihr wieder in harmloser Barbarei versinkt.« Sie warf Flint einen vielsagenden Blick zu. »Die Fähigkeit dazu habt ihr. Nein – es ist besser für euch, wenn ihr euch der Herausforderung durch die Amöbe stellt und aus eigener Kraft versucht, damit fertig zu werden. Vergeßt die Ahnen.« / Das kann ich nicht. Allein können wir gegen die Amöbe nichts ausrichten. / »Ich denke, da hat er recht«, ergriff Flint das Wort. »Ein mit einer Feuersteinspitze versehener Speer kann es mit einem Laser nicht aufnehmen, außer es herrschen außergewöhnliche Bedingungen. Wenn die Technologie der Amöbe weiterentwickelt ist als die des Clusters...«
/ Das ist sie. / »Ich schließe mich der Meinung Heralds an«, sagte Bruder Paul zögernd. »Ich gebe zu, daß eine bessere Kenntnis der Natur der Amöbe durchaus zu einem Friedensschluß führen könnte, jedoch muß ich gleichzeitig einräumen, daß es sicherlich gewisse dämonische Kräfte gibt, die einem Frieden im Weg stehen. Gewalt lehne ich grundsätzlich ab, allerdings will ich nicht ausschließen, daß es auch Umstände gibt, unter denen gewisse Maßnahmen zur Selbstverteidigung angeraten sind. Wenn die Technologie der Ahnen den Cluster derart stärken würde, daß er die Invasion zum Stillstand bringen kann, würde die Flotte der Amöbe sich wahrscheinlich zurückziehen und unnötiges Blutvergießen vermeiden.« Doch Melodie ließ sich nicht überzeugen. »Ein Sieg, der errungen wurde, weil man seine früher als wertvoll erachteten Ideale verraten hat, ist nichts wert. Mit dem Tarot will ich gerne helfen; über die Ahnen will ich jedoch kein Wort mehr verlieren.« Und Herald wußte sehr wohl, daß sie sich niemals würde umstimmen lassen. Dennoch verehrte er sie, obwohl ihm klar war, daß sie in diesem Stadium nicht mehr war als ein Produkt seiner Phantasie. / Was bist du nur für eine Kreatur! / funkelten seine Lichter. / Wenn ich zu deiner Zeit gelebt hätte oder du zu meiner... / Doch wieder erinnerte er sich an Psyche, und tiefes Leid erfüllte ihn. »Nun, so glaube ich, weiß ich, worum es geht«, sagte Bruder Paul. »Diese drei Darstellungen der Aura, zu denen auch ich gehöre, werden vom Enthaltsamkeits-Prinzip des Transfers gelenkt und sind wesentliche Teile deiner Vergangenheit. Um dich zu be-
greifen, muß man erst das Prinzip der Aura verstehen.« / Stimmt. / »Dennoch scheint dein Schicksal nicht eindeutig klar zu sein. Das Phantom bleibt irgendwie unklar.« / Es gibt da etwas /, blitzte Herald. Doch als er sich darauf konzentrierte, verschwand der kurze Eindruck. / Nein, noch kann ich es nicht genau erkennen /, endete er voller Enttäuschung. »Sollen wir vielleicht eine andere Karte näher erklären?« schlug Bruder Paul vor. / Wir dürfen es nicht übertreiben /, warnte Herald. / Mit dem Tarot spielt man nicht herum. / Melodie spielte einen Akkord der Zustimmung. Bruder Paul lächelte. »Wie gut ich das weiß! Doch da es nur zwanzig Karten in dem Stapel gibt, ist die Anzahl der Versuche ohnehin begrenzt, es sei denn, jemand spielte verrückt. Eine Lösung, die sich nicht mit zwanzig Karten finden läßt, ist wahrscheinlich schlecht; zu groß wären die Schwierigkeiten, sie zu begreifen.« / Überprüfen wir doch mal die Aura-Zwei bei den Einflüssen der Gegenwart /, hatte Herald eine Idee. / Wir wissen, daß Aura sich eindeutig auf mich bezieht; das braucht nicht mehr besonders betont zu werden. Vielleicht steckt aber noch mehr dahinter. / Flint und Melodie und der spicanische Impaktus begannen zu verblassen. / Nein, bleibt bei mir! / flehte Herald mit einem wahren Feuerwerk. / Ihr seid meine Vergangenheit; ich brauche euch in der Gegenwart, wenn ich meine Zukunft gestalten will! Ich brauche euren Rat und eure Mitwirkung, oder ich mache erneut Fehler, vor denen ihr mich hättet recht-
zeitig warnen können. / »Diese Bitte ist sehr überzeugend vorgetragen worden«, spielte Melodie. »Der Grüne Riese und Klapperfuß werden bleiben.« »Aber laß bitte meine schwimmende Inkarnation wegtauchen«, sagte Bruder Paul. »Ich ziehe meine Rolle als Mentor der als lebendige Erinnerung vor.« Und der Spicane verschwand wie ein flüchtiger Gedanke. Bruder Paul zog eine weitere Karte und kreuzte sie mit der Neun. »Die Schwert-Prinzessin«, verkündete er. »Wieder eine menschliche Gestalt.« »Alle Schwerter sind menschlich«, spielte Melodie. / Die Schwert-Prinzessin /, blitzte Herald wie elektrisiert. / Das ist... / »Deine Frau!« rief Bruder Paul aus, als er den Gedanken zu Ende dachte. »Außer – wäre sie dann nicht die Schwert-Königin? Eine verheiratete Frau...« / Sie war kaum erwachsen. In meinen Gedanken ist sie stets nur meine Kind-Braut. Sie ist die Aura, die mich hergebracht hat! / Die Gestalt wuchs aus der Bildfläche der Karte und dehnte sich aus. Sie war nackt und reizvoll, ein bezaubernd junges, blauhäutiges menschliches Mädchen mit orangefarbenen Augen. »Oh, sie ist reizend!« rief Bruder Paul. »Viel hübscher noch als die andere Vision, die du mir gezeigt hast. Behalte sie stets so im Gedächtnis!« »In ihren Adern fließt Blut von Außenwelt«, sagte Flint. »Und von Capella. Eine gute Mischung.« Doch die Zustimmung seiner Helfer weckte in Herald ein bitteres Gefühl. / Und wollt ihr auch noch sehen, was man mit ihr gemacht hat? / wollte Herald
wissen. Ein glühender Knoten aus Liebe und Schmerz bildete sich in seinem Bewußtsein. Psyche! Psyche! Er konzentrierte sich, und orangefarbene Flammen umtanzten sie. Psyche wand sich in stummer Qual, versuchte ihre schlanken Beine aus dem Inferno zu ziehen, gab jedoch schnell auf. »Nein – das verbiete ich!« rief Bruder Paul. »Ich habe die Feuer der Hölle selbst gespürt; quäle sie nicht schon wieder!« »Das zarte Kind!« spielte Melodie und fügte als Untermalung einen Mißklang des Schocks hinzu. »Verschone sie! Begib dich zum Ahnen-Fundort auf dem Planten £ der Sphäre Dash, verbinde dich mit einer Kreatur mit intensiver Aura, dringe ein und erfahre das Geheimnis der Ahnen persönlich. Auf jeden Fall lösche dieses Feuer!« Es gab nur eine einzige Kreatur, die er herbeirufen und bei einer solchen Mission schnell einsetzen konnte: seine Pseudo-Verlobte Flamme von Esse. Wenn er das tat, würde Psyche bestimmt in einer ganz anderen Hölle große Qualen leiden! / Man kann die Vergangenheit nicht löschen /, blitzte Herald. / Seht, wie ich leide. Sie brennt, sie brennt! / Sich selbst peinigte er und nicht dieses Produkt seiner Phantasie. Ähnlich wie am Ende der Herzog von Kade wollte auch er nicht mehr leben. Jedoch bewiesen die Phantasiegebilde eine unerwartete Beständigkeit. »Ich versuche es mit einer Unterdefinition!« rief Bruder Paul und warf eine Zusatzkarte auf den Tisch. »Die Aura-Acht – Gewissen!« Doch Psyche verging nicht. Ihr verzerrter Mund schrie: »Herald, vergib ihnen – sie wissen nicht, was sie tun!«
/ Das kann ich nicht /, blitzte Herald seine Antwort. Und ihr goldenes Haar wurde entflammt und verglühte mit grauenvoller Geschwindigkeit zu einer schwarzen Masse. Herald stürzte sich in die Flammen, wurde dabei jedoch von seinem Slash-Körper behindert. Plötzlich tauchte Flint von Außenwelt neben ihm auf und schwang ein blitzendes, wundervoll geschmiedetes tödliches Schwert. In der Tat, der Schwert-König! Stücke lebenden Gewebes flogen bei jedem Streich umher: Arme, Köpfe, Schwänze, Räder, Tentakel. Es war wunderbar, denn es war eine Art Katharsis! Bruder Paul warf eine nächste Karte auf den Tisch und versuchte die stattfindende Qual und Gewalt etwas zu mildern. »Turm!« Eine Explosion erfolgte und verwandelte sich in eine Pilzwolke, einen rasenden Feuerball, der alles auseinandersprengte und erneut das Chaos produzierte. / Wo sind wir? / blitzte Herald eine ratlose Frage. / In der Feuerkugel? / »Mitten in der Offenbarung«, erklärte Bruder Paul, der körperlos neben ihn glitt. »Die Grenzen der gegenwärtigen Situation sind gesprengt worden und machen uns frei, zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Das ist die Aussage des vom Blitz getroffenen Turms im Tarot...« / Ja. Die Amöbe hat die Burg von Kade bombardiert. / »... auf einer physischen Ebene. Aber diese Karte kennt man auch unter der Bezeichnung Haus Gottes oder Haus des Teufels. Das ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, denn Psyche, von einem Feuer ähnlich gepeinigt wie durch die Hölle, zitierte
den Sohn Gottes. Als Jesus Christus gekreuzigt und von seinen Peinigern gequält wurde, rief er: ›Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹ Das stammt aus der Bibel, Lukas dreiundzwanzig, Vers vierunddreißig. In jenem Moment vergab Christus seinen Feinden und nahm den Tod in seine Lebensphilosophie auf.« / Mag sein, daß sie ihnen verzeihen konnte; ich kann es nicht! / »Aber du mußt es! Sie hat dich darum gebeten. Sie sagte: ›Herald, vergib ihnen‹, und du mußt ihren letzten Wunsch respektieren, wenn du ihrer Liebe wert sein willst.« / Ich bin froh, daß die Burg zerstört wurde. Das ist der einzige Gefallen, den die Amöbe mir getan hat. Ring von Krone und alle seine Spießgesellen wurden ausgelöscht! / »Begreifst du denn nicht? Jesus betete zu Gott, ihnen zu vergeben – und sie sind wir – und zwar wir alle – Psyche muß gewußt haben...« Herald überlegte. Ihrer Liebe wert sein – das traf ihn tief! Wie konnte er ihr nur das versagen, was sie sich als letztes gewünscht hatte? / Sie sind ja sowieso tot. Ich verzeihe ihnen /, blitzte er mit erzwungener Großmut. Und sonderbarerweise fühlte er sich erleichtert und erkannte, daß sein eigener Haß seine Heilkraft gelähmt hatte. Deshalb war er auch nicht in der Lage gewesen, der Jet-Weiblichen, Sechzehn, zu helfen. Hatte Psyche etwa gewußt, daß es dazu kommen würde? »Das freut mich, Herald. Denn du sollst weiter erfahren, daß Jesus nach diesem Akt des Verzeihens – ich drücke das sehr ungenau und ungeschickt aus,
aber es fällt in diesem Chaos schwer, sich zu konzentrieren – wieder zum Leben erweckt wurde. Für eine Weile. Er...« / Er starb – und lebte wieder? Seine Aura muß einen anderen Wirt animiert haben. Hast du nicht erwähnt, daß er eine intensive Aura hatte? / »Die stärkste. Mit einigen deiner Deutungen bin ich nicht einverstanden, in dieser Hinsicht stimmen wir jedoch überein. Für das, was er vollbrachte, ist sicherlich eine besonders starke Aura notwendig. Wichtig ist...« / Aber wie konnte Psyche wieder leben? Ihr Körper ist doch nicht mehr als eine Ansammlung von Partikeln in einer radioaktiven Wolke. / »Sie konnte jedoch mit ihrer Aura einen anderen Körper animieren, wenn...« / Dennoch würde sie sterben. Alle Körper in der Burg wurden vaporisiert. Selbst wenn jemand der Katastrophe hat entfliehen können, vergeht die Aura, wenn sie von ihrem natürlichen Wirt getrennt ist. Selbst im Zustand höchster Erregung, mit einer Aura mit der Intensität zweihundertsiebzig, hätte... / Er brach ab, als ihm die Erleuchtung kam. / Erregung, Verstärkung. Das war ihre Aura – verstärkt. Kein Zyklus, sondern eine Verbindung mit dem Ahnenfundort, durch den sie aufgebaut worden war. Wenn das noch einmal... / »Ihre Aura brauchte sich nicht aus ihrem natürlichen Wirt zu entfernen, solange die Geräte arbeiten.« / Geräte der Ahnen arbeiten ewig! Dieser Fundort ist verschüttet, aber es gibt andere... / Wieder verstummte Herald. Dann: / Unsterblichkeit. Die Ahnen schenken uns die Unsterblichkeit! /
»Das auch, wenn man sie will. Aber ich dachte...« / Psyche! Sie könnte wieder leben! Ihre Aura würde nicht vergehen! / »Ja. Daran hatte ich gedacht.« / Der Ahnen-Fundort hat sie erregt. Als sie starb, bestand eine Verbindung. Das geschah auch mit Flint von Außenwelt. Er überwand den Tod, indem er per Transfer von einem Wirt in den nächsten wanderte. Vielleicht wurde durch Wirken des Fundortes ihre Aura in einen anderen Wirt übertragen. Vielleicht sogar an einen anderen Fundort... / »Durchaus möglich, daß sie genau das dir hatte mitteilen wollen. Daß ihre Aura leben würde, obwohl ihr Körper starb. Nun, da deine Kraft durch den Akt des Vergebens wieder vollständig hergestellt ist, brauchst du Psyche nur noch zu finden.« / Sie könnte sich in einem neuen Wirt überall im Cluster aufhalten. Jedoch müßte sie mit einem Ahnen-Fundort in ständiger Verbindung stehen, denn ihre Aura müßte ständig gestützt werden. / »Würde sie – im großen und ganzen habe ich keine Ahnung von der Technik des Transfers – würde sie in der Lage sein, im Erregungszustand an der Fundstelle zu bleiben?« / Ich... / Heralds Phantasie erlahmte. / Wenn die Orte verstärken und danach den Transfer durchführen können, warum sollen sie dann nicht festhalten können... / Es war beinahe zuviel, um es begreifen zu können. / Sie muß sich bei... den Ahnen aufhalten. Dies ist meine Offenbarung aus dem Turmbild. Ich hätte das schon längst erkennen müssen, aber der Gedankensprung war einfach zu reizvoll groß. Jetzt will ich das alles mal kritisch durchgehen: Flint von
Außenwelt starb in den Hyaden, doch vom alten Fundort wurde seine Aura im Transfer nach Mintaka geschickt, und er lebte wieder, um Melodies Linie zu aktivieren. Melodie von Mintaka aktivierte den £Fundort in Andromeda und schaffte die Geiselnahme ab. Ihre Aura öffnete den Weg zum Geheimnis der Ahnen, und sie ging im Transfer sofort ins System Etamin in der Milchstraße. Ich wußte längst, daß in den Fundorten derartige Kräfte schlummern, und die Anwesenheit Flints und Melodies, die vom Tarot gerufen worden waren, hätte mich warnen sollen – wäre ich doch nur so schlau gewesen, das alles zu begreifen. / »Genau. Deshalb bist du ja hergekommen, und das ist auch der Grund, warum das Tarot deinen Signifikator in den DENKE-Stapel und nicht in den FÜHLEStapel plaziert hat. Nun weißt du wenigstens, was du suchst.« / Das Tarot – ich habe es schon bei anderen eingesetzt, habe jedoch nie für möglich gehalten, daß es einmal in meinem Leben eine wichtige Rolle spielen wird. / Er verwarf diesen Gedanken, um ihn bei einer besseren Gelegenheit wieder hervorzuholen und gemütlich darüber nachzudenken. / Wir sollten das Orakel beenden. / Eine Karte erschien, die Stern-Vier mit der Bezeichnung HOFFNUNG/ANGST. Bruder Paul hatte sie ausgeteilt, doch es war kein Platz mehr, um sie abzulegen. Psyches Gesicht erschien darin. Die flache Darstellung redete: »Herald, ich lebe! Ich liebe dich. Ich habe versucht, dich durch Hweeh zu erreichen, doch als ich ihn aufweckte, verwirrte sich sein Geist. Ich brau-
che einen Wirt in meiner nächsten Nähe, aber ich muß mich verstecken. Ich kann nicht zu dir kommen. Um zu mir zu gelangen, mußt du dich mit der Amöbe auseinandersetzen...« / Ich werde dich finden /, flackerten seine Lichter. Das Bild löste sich auf. Dann löste sich auch das Chaos auf. / Lebe wohl, Patriarch Bruder Paul /, blitzte Herald. / Leb du wohl und auch dein Jesus von Christus. / »Lebe wohl, Heiler«, erklang die schwache Antwort. Oder war das nur Einbildung? Natürlich war es das. Jegliche Animation entsprang der Phantasie. Dennoch hatte auch dies sein Gewicht wie Bruder Paul betont hatte: die Bedeutung hinter dem Bild. Der längst verstorbene Solarier, ob lebendig oder nur eine Illusion, hatte ihm geholfen. Er erlangte sein Bewußtsein wieder. Gefangen war er im Stein, kaum in der Lage zu atmen, sein Körper ein Inferno von Verletzungen und Schmerzen. Es war der Jet-Körper, der atmen konnte, ohne seine Größe zu verändern, und lediglich Luft durch seine Hauptröhre streichen ließ. Der Energiestrahl der Amöbe hatte ihn verfehlt, hatte jedoch den Tunnel zum Einsturz gebracht, ihn betäubt und in eine persönliche Vision verschlagen. Die Animation selbst war eine Illusion! Er starb. Nur die zeitweise wiederhergestellte Kraft seiner Aura erhielt sein Leben in dem lädierten Wirt, und schon bald würde diese Methode versagen. Kein Gott vom Tarot konnte dieses Schicksal abwenden! Selbst wenn der Körper nicht seinen Verletzungen erlag, so hockte er doch tief im Geröll geradezu in der Falle. Heil würde man ihn nie herausholen können.
»Herald?« / Hier bin ich, Geliebte /, blitzte er. Doch er erkannte sofort daß dies nicht Psyche sein konnte, denn sie war tot außer in seinen Träumen, in seinen verzweifelten Wunschgedanken. Dies war ein akustisches Signal gewesen. »Herald!« Es war nähergekommen. Er sammelte alle physische Kraft, die er noch besaß. Dort gab es noch ein wenig Luft, die er zirkulieren lassen konnte. »Hier!« War das laut genug? Seine Verkleidung beengte und lähmte ihn. »Du lebst, Heiler!« rief die Stimme aus. »Hier, Weew! Ich habe ihn gefunden! Hier, genau unter mir!« Nun testete eine starke Aura den Untergrund und überschritt die Grenze von Heralds Empfindungsbereich. »Ja, ich spüre ihn!« rief Hweeh. »Seine Aura ist stark gestört, und ich bezweifle, ob wir den Wirt retten können, doch wir können das Transfergerät hierher bringen...« Ihn in seinen eigenen Slash-Körper stecken und ihn zu einem Tarot-Tempel schicken, damit er sich erholen und wiederherstellen kann... Oder hatte er das schon einmal gemacht? »Wird er sterben?« fragte Sechzehn voller Sorge. »Machen Sie sich nicht verrückt, Miß. Er wird schon bald wieder aufstehen.« Er wird auferstehen... Es war Kirlian-Technologie, hatte also mit Wundern nichts zu tun, doch irgendwie klang es wie Bruder Pauls Gott vom Tarot.
9
Geographie der Aura X Überprüfung wie angeordnet abgeschlossen. Alle Denkerrassen im Cluster sind identifiziert und katalogisiert. X & Lebensvernichtende Einheiten sind in der Nähe jedes von Denkern besetzten Planeten in Position zu bringen. Kontakt mit Sub-Denkerrassen ist vorerst zu vermeiden, außer sie bewohnen Denker-Planeten. Eng umgrenzte vereinzelte Ansammlungen von Denkern auf Nicht-Denker-Planeten werden gesondert ausgeschaltet, nachdem jeglicher organisierte Widerstand neutralisiert wurde. & o Verteilung der Vernichtungseinheiten findet bereits unter Tarnung statt. o & Einheiten sind nicht eher zu aktivieren, als nicht alle in Position gebracht sind, so daß ein vorzeitiger Alarm unmöglich. Wenn alles bereit ist, werden wir die abschließende rituelle Überprüfung auf Fehlen jeglicher Seelentätigkeit einleiten. & Heralds persönliche Suche zeigte den ersten Erfolg; es gab eine vage Möglichkeit, daß Psyche noch existierte. Allerdings hinderten einige plötzlich auftauchende Hindernisse ihn, der Stimme seiner Sehnsucht zu folgen. Die Transfer-Einheit des Fundorts war beim Beschuß durch die Laserkanone der Amöbe beschädigt worden. Desgleichen der Fracht-Materietransmitter. Man konnte nichts anderes tun, als auf das mit Un-
terlichtgeschwindigkeit fliegende Schiff zu warten, das Ersatzteile vom benachbarten Planeten Erde herbrachte. Die Reparatur hätte normalerweise nur Stunden gedauert; so sollte sie sich jedoch über Tage hinziehen. Die Erde, einst das Herz der Sphäre Sol, verging. Sie war mittlerweile zu einem überbevölkerten, von der Bürokratie beherrschten Hinterwäldler-Planeten herabgesunken. Der größte Teil der Bevölkerung reagierte mit Fremdenhaß und zog es vor, noch nicht einmal einen Gedanken an die Entwicklungen im weiten Universum zu vergeuden. Die Erde würde sicherlich helfen, denn es blieb ihr nichts anderes übrig. Der Imperialplanet Außenwelt würde auf Geheiß des Cluster-Rates die notwendigen Schritte einleiten. Dann war da auch noch der solarische Stolz – jedoch war der so beschaffen, daß die Erde sich nicht sonderlich beeilen würde. Heralds Wirt lag im Sterben. Der Körper war gequetscht und angeknackst, jedoch nicht vollends zerdrückt worden; an den inneren Systemen war es zu verschiedenen Lecks und Beschädigungen gekommen, die die Funktion dieser Systeme empfindlich störten. Normalerweise würde dieser Jet noch einige Tage am Leben bleiben, bis die unausweichlich eintretende Konzentration schädlicher Chemikalien ihn tödlich vergiften würde. Das verfügbare Grabungsteam der Jets strahlte innerhalb kürzester Zeit einen geräumigen Tunnel aus dem Fels und sorgte für mehr Raum, wo er sich freier bewegen konnte. Herald hatte ihre Umsicht stark unterschätzt; sie hatten überhaupt keine Schwierigkeiten, seinen Körper herauszuholen. Wie einen
überaus empfindlichen, aber auch wertvollen Artefakten entfernten sie ihn aus seiner direkten Umgebung und brachten ihn zu ihrem vorübergehenden Lager am Rande des Lavaschilds, das in sicherer Entfernung von den Überresten der mit einem Laserangriff vernichteten Fundstelle lag. Das Amöbenschiff war verschwunden, und man konnte nicht sagen, wann es wieder auftauchen würde. Auch der Ausgrabungsort lag nunmehr in Trümmern. Verhärtete Schlacke, die von den Lasertreffern zeugte, bedeckte stellenweise das Ausgrabungsgelände, und glasähnliche Schmelzreste hatten einige der Tunnelöffnungen hermetisch verschlossen. Der gesamte mittlere Teil war eingebrochen. Die überlebenden Jets arbeiteten mit voller Kraft und Konzentration, um an mehreren Stellen den Schutt aus den bereits vorangetriebenen Gräben und Tunneln zu räumen, jedoch nicht um Artefakte der Ahnen freizulegen, sondern sie suchten nach den Körpern ihrer Gefährten. Einige gestorbene Jets lagen aufgereiht im fahlen Sonnenlicht wie Metallröhren, und ihre Bohrund Fortbewegungsorgane, winzige bürstenähnliche Fasern, waren schlaff und zerzaust. Andere bewegten sich mit langsamem Tempo über das Gelände und halfen, wo sie konnten. Es war ein Bild des Jammers. Dies waren keine Krieger, sondern es war eine hochspezialisierte Rasse; sie hatten überhaupt keine Ahnung, wie sie mit den Schrecken des Krieges fertig werden sollten. Dennoch hatten sie sich tapfer gehalten. Schon nach kurzer Zeit entstanden geeignete Rettungstunnel, und viele, die tief im Boden eingegangen wären, wurden ebenso wie Herald rechtzeitig aus ihren Ge-
fängnissen befreit und herausgezogen. Der Medizinertrupp arbeitete schnell und zielsicher, indem er die Opfer des Laserangriffs nach dem Grad ihrer Verletzungen und nach dem Umfang der vorzunehmenden Behandlung einteilte. Dabei konzentrierten die Ärzte ihre Bemühungen vorwiegend auf die kritischen Fälle, denen man besonders schnell helfen mußte, um eine bestmögliche Wirkung zu erzielen, ohne wiederum die leichteren Blessuren zu vernachlässigen. Niemand hielt sich damit auf, zu jammern und seinem Schmerz Luft zu machen. Alle arbeiteten, so gut sie es vermochten. Herald beobachtete alles dies und fühlte sich angespornt, auch seinen Teil beizutragen, ganz gleich, wie schwer ihm das fallen mochte. Er dachte daran, sich freiwillig zu melden und die Verletzten zu heilen, doch dann begriff er, daß er das ja gar nicht konnte. Physische Leiden und Verletzungen waren nur ansatzweise durch Auraeinfluß heilbar, und in dem Moment, da er aufhörte, sich auf seinen eigenen Wirt zu konzentrieren und in ihm alle Energien zu wekken, würde dieser aufgeben und am Ende wahrscheinlich sterben. Am besten sollte er lieber seinen Auftrag ausführen, eine Mission, die nicht nur einen einzigen, eng umgrenzten Ort betraf, sondern den gesamten Cluster, und den anderen nicht im Weg sein. Wenn auch seine Möglichkeiten gegen physische Probleme stark begrenzt waren, würde eine stetige Behandlung wichtiger innerer Organe die Wirkung steigern. Der schreckliche Verlust Psyches hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Und nun war es den Archäologen der Jets ähnlich ergangen. Er konnte ihre
Situation nur allzugut nachvollziehen. »Wir können Leben in diesem Körper erhalten, aber nicht mehr lange«, informierte ihn einer der emsigen Jets. »Und vor allem ist das nicht sonderlich angenehm.« Herald war sich darüber längst klar. Seine Innereien brannten und schmerzten, als er sich vorwärts bewegte. Dabei zuckte er unkontrolliert hin und her und litt unter einer leichten Desorientierung. »Dauert das etwa, bis per Transfer die Reparatureinheit eintrifft?« »Sollte es eigentlich. Jedoch sollten Sie vorsichtig sein und nicht Ihre letzten Reserven verbrauchen. Wahrscheinlich sollten wir Sie solange wirklich unter Drogen setzen.« »Nein. Ich muß wichtige Forschung betreiben. Ich werde diese kurze Zwangspause zu meinem Vorteil nutzen. Gebt mir eine Droge, die meine geistigen Aktivitäten steigert.« »Dies würde Ihre Überlebenschance stark senken. Schon jetzt gibt es chemische Störungen, die...« »Die Zeit, die ich jetzt vergeude, könnte das Überleben des gesamten Clusters in Frage stellen«, sagte Herald. »Ich nehme das Risiko auf mich.« Er wußte, was der Mediziner nicht ahnte: daß nämlich seine Aura den Wirt viel schneller und besser heilen konnte als jegliche Medizin, jedoch nur dann, wenn sein Bewußtsein wach war und sich auf die kritischen Stellen des Körpers konzentrieren konnte. »Dann werden wir Ihnen wenigstens eine Krankenpflegerin zuweisen, denn die Nebenwirkungen der Droge sind sehr stark.« Es war offensichtlich, daß der Mediziner gegen seine Überzeugung handelte
und auch nur auf Grund des besonderen Status, den Herald genoß. Jeder andere Patient wäre betäubt worden, bis das Rettungsteam von der Erde eintraf, wodurch man die Pflegerin an anderer, wichtigerer Stelle hätte einsetzen können. Heralds schlechtes Gewissen rührte sich, doch er wußte gleichzeitig, daß er keinen Grund für eine solche Gefühlsregung hatte. Was machte es schon aus, wenn er den Medizinern der Jets in ihr Handwerk pfuschte, wo doch jede Verzögerung die Auslöschung allen Lebens im Cluster bedeuten konnte? Der Mediziner verabreichte ihm die Droge, ein farbloses Gas, das durch seine Hauptdüse eingeleitet wurde. Es war sehr stark. Schon bald fühlte er sich besser und war in der Lage, seine Aura weitaus wirkungsvoller zu konzentrieren und einzusetzen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sein Wirt völlig wiederhergestellt wäre. Die Pflegerin entpuppte sich als Sechzehn. »Ich habe um diesen Auftrag gebeten«, gestand sie. »Sie haben mich geheilt, jetzt helfe ich Ihnen.« »Ich habe Sie nicht geheilt«, sagte Herald. »Meine Fähigkeiten waren stark eingeschränkt. Hweeh von Weew hat Sie geheilt.« »Er meinte, Sie hätten...« »Er wollte mir eine Peinlichkeit ersparen. Er ist eine sehr intelligente und edelmütige Entität. Nun bin auch ich wieder im Vollbesitz meiner Kräfte, jedoch muß ich sie erst einmal einsetzen, um meinen Wirt zu heilen, da er sonst eingeht.« »Das können Sie? Ihr eigenes Leben verlängern?« »Mein Leben steckt in meiner Aura. Ich kümmere mich im Augenblick um das Wohl meines Wirts.«
»Aber der Wirt stirbt!« Dumm war sie nicht, sagte er sich. Sie hatte lediglich Schwierigkeiten, die Natur der Aura zu erfassen, da sie selbst nur über eine schwache Aura verfügte. Was für ihn Selbstverständlichkeit war, konnte ihr durchaus völlig fremd sein. »Ohne meine Aura würde der Wirt wohl sterben, und das, obwohl sein JetKörper doch recht zäh und widerstandsfähig ist. Noch zäher ist einzig und allein der Magnet, der wohl nur durch eine Nuklearexplosion vernichtet werden kann.« Der arme Baron von Magnet, weit weg in den Trümmern der Burg von Kade! »Aber ich werde diesen Körper wieder gesunden lassen. Ich will nicht, daß es einem meiner Wirte nach der Trennung von mir schlechter geht als zum Zeitpunkt der Besetzung durch mich.« »Nun, ich werde Sie auf jeden Fall pflegen«, beschloß sie. »Das wird sicher helfen«, stimmte er zu. Solange sie für ihn Ausschau nach möglichen Feinden hielt, brauchte er sich um seine Sicherheit nicht zu sorgen, was ihn wiederum in die Lage versetzen würde, den Wirt noch schneller zu heilen, während er mit seinen Nachforschungen fortfahren könnte. Hweeh erschien. »Ich bin so froh, daß Sie am Leben sind, Herald. Im Namen des Clusters und, wenn ich mir das anmaßen darf, im Namen der Freundschaft.« »Das ist keine Anmaßung«, wehrte Herald höflich ab und freute sich insgeheim über die Geste des Weew. Aufrichtige Freundschaft zwischen einander fremden Kreaturen wurde nicht allzuleicht beschworen, vor allem dann nicht, wenn sie sich in Wirten aufhielten, die beiden gleich fremd waren. »Wir hän-
gen hier für einige Zeit fest, und es ist von größter Bedeutung, daß wir unsere Erkenntnisse analysieren und die logischen Schlußfolgerungen daraus ziehen. Die Amöbe wird uns bestimmt nicht den Gefallen tun und abwarten.« »Erkenntnisse?« fragte Hweeh verblüfft. »Daß an den Ausgrabungsstätten Überreste nicht nur von einer Ahnenspezies, sondern von vielen ans Licht befördert wurden. Die Ahnen landeten als Eroberer und trugen ihr Kirlian-Wappen. Suchen wir nach diesem Wappen, diesem spezifischen Zeichen jener speziellen Rasse, und wir können die ganz speziellen Wirkungsstätten der wenigen speziellen Ahnenrassen überall im Cluster lokalisieren und die unzähligen Fundorte der ›falschen‹ Ahnen links liegenlassen. Auf diese Weise werden wir das wichtige Geheimnis um so schneller ergründen.« Hweeh hielt inne. »Und wann kam Ihnen die Erkenntnis?« »Ich fand in dem Tunnel, in dem ich mich beim Angriff der Amöbe flüchtete, ganz eigenartige Bestattungszeichen. Wenn das medizinische Problem erst einmal gelöst ist, können die Jets ihre Sammlung von Artefakten erheblich vervollständigen, wenn sie sich jenen Passagen zuwenden und dort weitergraben.« Herald erklärte seine Behauptungen näher. »Sie sind Forschungs-Astronom; diese Art der Vorgangsweise müßte Ihnen eigentlich vertraut sein. Ich nehme an, die Jets verfügen über eine archäologische Bibliothek.« »Tun sie auch, und noch dazu über eine überaus gut bestückte. Sie ist Teil ihrer professionellen Ausrüstung. Einige Bände wurden von den Laserstrahlen
beschädigt, doch die meisten sind unversehrt.« »Dann sollten wir uns schnellstens dorthin begeben, in die Bibliothek nämlich.« »Darf ich feststellen, Freund, daß Ihre Stimmung sich gebessert zu haben scheint«, meinte Hweeh. »Haben Sie den Zustand der Trauer überwunden?« »Mehr als meine Stimmung hat sich gebessert«, erwiderte Herald voller Freude über seine Entdekkung. Psyche lebte – sie mußte leben! Jedoch zögerte er, diese Vermutung laut zu äußern, ehe er sie überdacht und auf mögliche Denkfehler abgeklopft hatte. »Drücken wir es so aus: Ich leide unter neuer Hoffnung.« Hweeh drang nicht weiter in ihn, und sie suchten die Bibliothek auf. Dabei handelte es sich um einen unter Druck stehenden Tank mit computergesteuerten Röhren, der speziell auf die Eigenarten dieser Spezies abgestimmt war. Hweeh konnte das Gerät nicht benutzen, da er einerseits einen Schutzanzug trug und andererseits keinen röhrenförmigen Körper hatte, dafür konnte Herald sich der Einrichtung problemlos bedienen. Also stimmten sie ihre Vorgangsweise aufeinander ab. »Wie sollen wir jetzt das für uns wichtige Gebiet einkreisen?« fragte Herald. »Sicherlich gibt es zusätzliche Informationen, die für unseren speziellen Fall unwesentlich sind.« »Die Sache richtig anzufangen und zu bewältigen, würde Jahre dauern. Jedoch«, fuhr Hweeh fort und kam Heralds Einschränkung zuvor, »einen kurzen Überblick mit achtzigprozentiger Genauigkeit über den Inhalt dieser Bibliothek kann man sich in wenigen Stunden verschaffen. Vielleicht reicht das schon.«
»Auf jeden Fall können wir es versuchen. Erst einmal brauche ich eine geographische Darstellung der speziellen Daten bisher bekannter Fundorte von Relikten der Ahnen. Sie sind allesamt um die drei Millionen Jahre alt, jedoch müßte es Unterschiede in der Größenordnung von Jahrhunderten geben. Wir müssen nun den ältesten echten Ahnen-Fundort feststellen, der durch Symbole und Muster gekennzeichnet wird, wie man sie auf dem Würfel findet und nicht auf den Wurm-Armbändern. Dieser Ort könnte dann ihre Heimatwelt sein, mit verschiedenen Bodenschichten, unter denen das Geheimnis ihrer Evolution verborgen liegt. Vielleicht können wir ihre Technologie erschließen, indem wir nach deren Ursprüngen suchen.« »Ja, das scheint dank unserer neugewonnenen Kenntnis über die Symbole ein gangbarer Weg zu sein«, stimmte Hweeh zu. »Dafür kann ich ein Programm zusammenstellen.« Er ging an die Arbeit, ordnete Programmschritte, tippte bestimmte Bedingungen ein und engte den in der Bibliothek abzufragenden Teil immer weiter ein. Herald überprüfte bestimmte Neben- und Unterbegriffe. Hweehs Zielsicherheit war atemberaubend. Fast schien es, als sei Herald ein vom Weew genau gezielter Laserstrahl, der jedes Mal entweder dicht daneben oder mitten ins Ziel traf. Diese Überprüfung hätte Herald mindestens zehnmal mehr Zeit gekostet, da er sich in sinnlosen und ergebnislosen Seitenwegen und Umleitungen zu verlieren pflegte. Jedes Jet-Buch war durch einen charakteristischen Duft gekennzeichnet. Sein erfahrener Wirt nahm die Informationen auf, als einzelne Moleküle durch seinen Körper jagten. Hier wurde im
wahrsten Sinne des Wortes Geistesnahrung vertilgt. Die Jets hatten ihren Geruchssinn soweit entwickelt, daß daneben die meisten anderen intelligenten Spezies wie Krüppel erschienen. Ein spezielles Molekül in einer Million war eine starke Informationseinheit, und einige tausend Bits waren für die gasförmige Sprache der Informationsspeicherung codiert. Auf seine Art war es fast genauso gut wie die Animation – allerdings weitaus langweiliger. Animation – welche Erlebnisse während seines Besuchs in den Gefilden des Gottes des Tarot konnte er der Wirklichkeit zurechnen? Hatte er Psyche wirklich gesehen, ihre Botschaft empfangen, oder hatte seine grenzenlose Sehnsucht ihm Trugbilder vorgegaukelt? Nein! Beim Licht des Marsianischen Tages betrachtet, war die Logik durchaus schlüssig. Eine kräftige Aura konnte durchaus die Vernichtung ihres Körpers überstehen und wenigstens für einige Zeit weiterleben. Eine in ihrer Intensität gesteigerte Aura dürfte demnach praktisch ewig leben, indem sie sich aus den Energiespeichern der Ahnen bediente. Das war die Lösung! Durchaus möglich, daß er von Psyche überhaupt keine direkte Botschaft erhalten hatte, auf jeden Fall existierte sie und hielt sich an irgendeinem fremden Ort auf – wenn es ihm doch nur gelänge, sie zu finden! Vielleicht in der Festung am Ahnen-Fundort. Warum hatte sie ihm denn dann geraten, sich an die Amöbe zu halten, wenn er sie finden wollte? Hatte sie damit etwa sagen wollen, daß es sinnlos wäre, den Ahnen-Fundort zu suchen, an dem sie sich aufhielt, wenn nicht vorher die Amöbe neutralisiert würde? Weil jeder Fundort, den er zu aktivieren versuchen würde, sofort von der Amöbe zerstört würde
und damit auch Psyche dem Tod geweiht wäre? Mußte sie sich deshalb verstecken und die Aktivierung des Fundorts verschleiern, die durch ihre Anwesenheit ausgelöst worden war? Das war durchaus wahrscheinlich, stellte ihn aber vor nahezu unlösbare Probleme. Der Cluster konnte die Amöbe nicht besiegen, ohne sich zuvor das Wissen und die Technologie der Ahnen angeeignet zu haben, und wenn es nun notwendig wäre, die Amöbe zu besiegen, ehe irgendwelche Fundorte aural aktiviert würden – paradox. Sechzehn, die stets in seiner Nähe blieb, bot ihre Hilfe an. »Sie können schon mal die Daten unter dem Stichwort Mythologien überprüfen«, meinte Hweeh. »Die frühesten Hinweise auf die Kirlian-Wissenschaft finden sich verschlüsselt in den Sagen und Legenden der verschiedenen Spezies. Ich werde Ihnen ein Programm besorgen, diese Hinweise herauszufiltern. Wenn Ihre Liste der Orte, an denen auf die KirlianWissenschaft Bezug genommen wird, mit der unseren übereinstimmt, wissen wir, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Würden Sie das tun?« »Ich bin eine Jet«, entgegnete sie. Wie sich herausstellte, hieß das, daß sie eine kompetente Mitarbeiterin war und richtig klassifizierte und analysierte. Sie war schließlich Angehörige einer auf die Archäologie spezialisierten Rasse und machte dem hervorragenden Ruf ihres Volkes Ehre. Ihr Bericht lag bereits vor, als Herald den seinen gerade abschloß. Diese Beschäftigung mit der Mythologie erinnerte Herald erneut an Psyche. Nun fragte er sich, was er nicht laut auszusprechen wagte, ob Sechzehn auch
auf die Legende von Psyche und Cupido gestoßen war und ob die Unsterblichkeit, die dem sterblichen Mädchen nach der Rückkehr aus der Hölle geschenkt wurde, als Symbol für die aurale Aufwertung angesehen werden konnte. Er durfte die Realität nicht aus den Augen verlieren, so verlockend Abschweifungen dieser Art auch erscheinen mochten. Sie berieten sich über die beiden Überblicke, die Geographien von Wappen und Legende. Beide Bereiche schienen rein zufällig zueinander in Bezug zu stehen, und die Gebiete, wo sie sich überschnitten, waren völlig unregelmäßig und über einen weiten Raum verteilt. Einer dieser vielversprechenden Orte lag in Novaglanz in der Milchstraße; ein anderer befand sich in Duocirc in Andromeda; ein dritter war in einer FragmentGalaxis des Clusters zu suchen. Alle drei lagen so weit auseinander, wie es weiter gar nicht mehr möglich war. »Auch in der Sphäre Jet gibt es eine Überschneidung«, meldete Sechzehn erfreut. Herald erwiderte nichts darauf. Was den Punkt der Überschneidung betraf, hatte sie recht, doch die Wahrscheinlichkeit, daß die Ahnen aus einem derart isolierten und kleinen Kugelcluster stammen sollten, der zudem noch in nächster Nähe eines Schwarzen Lochs lag, war überaus gering. Und überdies ließ die durchschnittlich niedrige Aura-Intensität der Jets nicht unbedingt darauf schließen, daß sie Nachfahren der Ahnen waren, die schließlich als Begründer der KirlianWissenschaft angesehen wurden. »Es ist offensichtlich, daß die Ahnen als Eroberer aufgetreten sind«, sagte Hweeh. »Überall im Cluster tauchten sie nahezu gleichzeitig auf. Die abweichen-
den Werte bewegen sich innerhalb der Grenzen der zulässigen Fehlerquote des Prozesses zur Altersbestimmung, und selbst wenn diese Grenzen nicht eingehalten würden, gibt es dennoch nichts, was auf eine schrittweise Eroberung des Clusters schließen läßt. Ihre Ankunft konnte durchaus gleichzeitig erfolgt sein, und dies trifft auch auf ihr Verschwinden zu. Was die Mythologien betrifft... Ich hatte wirklich nicht erwartet, dort irgendwelche Hinweise und Anspielungen zu finden, denn nirgendwo ist von dem Zeitpunkt die Rede, zu dem die Ahnen auftauchten, sondern sie beschäftigten sich allenfalls mit den Geschehnissen um die Entdeckung diverser Fundstätten. Insofern sind sie für die Lokalisierung der vorwärtsstrebenden Ahnen-Spezies bedeutungslos. In dieser Hinsicht hat unser Vergleich einen Erfolg gezeitigt. Hätte es einen engen Zusammenhang gegeben, wären unsere Untersuchungsmethoden nicht ganz astrein gewesen. Wir brauchen einen anderen Bezugspunkt.« Und wieder war Herald über die Scharfsichtigkeit des Weew verblüfft. Er hatte angenommen, das Fehlen der Bezüge bedeutete einen Fehlschlag und auf keinen Fall Erfolg! Dabei war es ganz eindeutig eine Versicherung gegen die Fehlinterpretation bestimmter Daten, wie man sie bei allzu eifrigen Forschern nicht selten antreffen konnte. Sie hatten sich vergewissert, daß die Erwartungen nicht zu falschen Schlüssen führten. Sollte er nun seinen Glauben an Psyches Überleben der kritischen Haltung Weews opfern? Nein... das konnte er nicht. »Die Ahnen waren so mächtig; sie mußten hochintensive Auren gehabt haben, genau wie Sie«, sagte
Sechzehn. »Fähig, allein durch Berührung zu heilen, Krankheiten zu überstehen, die niedere Spezies hingerafft hätten. Und außerdem kann man an den Fundstätten mit Überresten ihrer Kultur stets starke Kirlian-Felder messen. Ich frage mich...« »Im großen und ganzen geht man davon aus, daß dies der Fall ist«, gab Hweeh zu. »Die Ahnen kannten die Kirlian-Kräfte. Praktisch sämtliche auralen Manipulationen, die heute vorgenommen werden, gehen auf die Erkenntnisse zurück, die man an den AhnenFundstätten gemacht hat. Unsere Techniker begreifen kaum die Grundprinzipien; vorwiegend haben sie sich an die Anweisung der Ahnen gehalten. Jedoch haben wir keine Vorstellung von der Intensität der persönlichen Auren der Ahnen oder ihrer familiären Gruppen.« »Wenn wir darüber Bescheid wüßten«, verfolgte sie ihren Gedankengang beharrlich weiter, »wären wir dann nicht in der Lage, ihre auralen Familien genau zu lokalisieren?« »Untergegangene Kreaturen besitzen keine Auren mehr«, sagte Herald. »Wir könnten ihre Auren mittels typischer Merkmale an ihren Artefakten identifizieren – wahrscheinlich würde ich das schaffen –, jedoch würde uns das auch nicht weiterbringen als unsere Suche nach dem Kirlian-Wappen. Ahnen haben tatsächlich die Fundstätte bewohnt. Soviel kann man ohne zusätzliche Untersuchungen jetzt schon sagen.« »Ich dachte eher an heute existierende Rassen«, sagte sie. »Welchen Sinn hätte das? Ohne Zweifel ähneln einige unserer auralen Familien einigen AhnenFamilien, aber...«
»Moment, Herald«, schaltete Hweeh sich ein. »Ich glaube, ich weiß, worauf sie hinauswill. Wir sind davon überzeugt, daß die Ahnen verschwunden, untergegangen sind, aber angenommen, einige von ihnen konnten überleben? Der Cluster ist ein riesiges Gebilde; es gibt noch sehr viel, was wir erst entdecken müssen. Könnten diese überlebenden Ahnen nicht in der Versenkung verschwunden sein, ihre Technologie verloren und ihre Herkunft vergessen haben? Geologisch und astronomisch betrachtet sind drei Millionen Jahre ein kurzer Zeitraum, jedoch für zivilisierte Denker ist das eine unglaublich lange Zeit...« »Sie könnten also immer noch unter uns weilen!« sagte Herald aufgeregt. »Das wiederum führt zu dem Schluß, daß völlig isolierte Ahnen-Gruppen unter sphärischer Regression litten. Wie aber können wir das Gegenteil behaupten, wo doch ihre Hauptkultur zusammengebrochen ist? Ihr Geheimnis der Zivilisation könnte ausgesprochen technologischer Art gewesen sein, so daß sie ohne dieses Wissen sehr schnell degenerierten. Die Existenz solcher Überlebender wäre sehr leicht nachzuweisen, wenn wir nur die auralen Familien kennen würden, nach denen wir Ausschau halten. Falls es davon nicht zu viele gibt. Einen Versuch wäre es ganz bestimmt wert.« »Die Super-Auren«, sagte Sechzehn. »So wie Ihre. Sie sind etwas ganz Besonderes und scheinen nicht durch Vererbung weitergegeben zu werden. Könnte es sich bei ihnen nicht um echte Ahnen-Auren handeln, die auf Grund ihres rezessiven Charakters stets nur in langen Zeitabständen auftauchen? Angenommen, die Ahnen waren körperlose Entitäten, die nur in Aura-Form existierten und eine Reihe von Wirten
animierten?« »Darüber hat man schon früher nachgedacht«, sagte Herald. »Die Super-Auren sind nicht so verschieden und typisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen; sie stellen lediglich die Spitzen einer Art Häufungskurve dar. Für jede Aura höher als zweihundert gibt es einige im Bereich zwischen hundertachtzig und hundertneunzig, und sehr viel mehr im Bereich zwischen hundertfünfzig und hundertfünfundsiebzig. Prozentual nur ein winziger Anteil von der Bevölkerung des Clusters, doch zahlenmäßig durchaus beachtlich. Wenn es in der Verteilung starke Schwankungen gäbe... Aber in dieser Richtung ist nichts Ungewöhnliches beobachtet worden. Computeranalysen besagen, daß das Vorkommen hochintensiver Auren genau einer normalen Wahrscheinlichkeitskurve entspricht und daß die zunehmende Anzahl hochintensiver Auren lediglich eine Folge des Bevölkerungswachstums im Cluster ist. So sind beispielsweise zwei Trillionen Entitäten eher in der Lage, eine Super-Aura hervorzubringen als nur eine Trillion Entitäten. Unter diesem Aspekt bin ich lediglich durch Zufall und dank der Bevölkerungsdichte im Cluster zu meiner Super-Aura gekommen.« »Wir brauchen weitere Artefakte«, sagte Hweeh. »Wir suchen nicht nach heute lebenden Ahnen, sondern nach gewissen Ahnen-Eigenschaften in einer derzeit lebenden Spezies. Die Intensität ihrer Auren mag abgenommen haben, jedoch sollten ihre auralen Familien sich erhalten haben. Wenn man also die noch vorhandenen Aura-Reste in unbeschädigten Artefakten analysieren kann, dann dürfte eine geographische Suche nach Ansammlungen höchster
Konzentration bestimmter Eigenschaften zu diesen Aura-Familien führen. Irgendwo auf diesem Planeten muß es noch derartige Überreste geben...« »Genau!« pflichtete Herald ihm bei. »Kommt, wir müssen danach suchen!« »Sie sind verletzt und stehen unter Drogen«, protestierte Sechzehn. »Die Chancen, derartige Artefakte zu finden, sind gleich Null, und außerdem ist das nur eine Theorie, die sich als völlig falsch erweisen kann. Ich kann es nicht zulassen, daß Sie nur auf Grund einer Spekulation auf dem Planeten herumirren...« »Verabreichen Sie mir mehr Drogen«, forderte Herald. »Meine Aura wird sie ausgleichen, so daß mein Wirt nicht eingeht, ehe die Rettungseinheit von der Erde hier ankommt... Ich denke, daß der mögliche Erfolg ein solches Risiko rechtfertigt.« »Nun, vielleicht eine gemütliche Rundreise durch diese Fundstätte«, räumte sie ein. »Wenn es nicht um die Sicherheit des gesamten Clusters ginge – Sie müssen sich aber Zeit lassen und oft ausruhen...« »Keine Einschränkungen!« widersprach Herald. »Das hier ist äußerst wichtig. Offensichtlich wußte die Amöbe von dieser Fundstätte und vernichtete sämtliche zusammengetragenen Artefakte. Hingegen muß es auf diesem Planeten noch andere Fundstätten oder wenigstens Reste von Lagern oder Behausungen geben, deren Herkunft und Bedeutung nicht auf Anhieb erkennbar sind. Teile persönlicher Gegenstände, eingeschweißt in gasdichte Behälter, irgend etwas, das mit hinreichend deutlichen Spuren persönlicher Ahnen-Aura behaftet ist, wäre von Wert. Irgendwo auf dem Mars, wahrscheinlich so weit entfernt, daß die Stelle nicht mehr im Bereich der auralen Detekto-
ren des Amöben-Schiffs liegt. Diese Reste sind es, die wir finden müssen. Wenn sie uns Daten zu einer bestimmten Aura-Familie der Ahnen liefern und wir diese vielleicht irgendwo im Cluster orten können...« »Trotzdem, mir erscheint das ziemlich weit hergeholt«, murmelte sie. Herald wollte ihr gegenüber nicht zugeben, daß er gleicher Meinung war. Egal, was sich ereignen mochte, er hing noch einige Tage auf diesem Planeten fest und hatte keine Lust, untätig herumzusitzen. Selbst die geringste Chance erschien unter diesen Umständen lohnend. »Geben Sie diesem Wirt Ihre stärkste Droge.« »Wir haben durchaus stärkere Drogen, aber Ihre Lebenskraft wäre schon nach wenigen Stunden erschöpft, wenn Sie...« Da, schon wieder! »Ihr Jets habt schwache Auren. Ihr begreift überhaupt nicht, welche Kräfte in einer Aura schlummern können.« »Ich verstehe das schon, wenn auch nicht ohne einen gewissen Neid«, gab Sechzehn zu. »Jedoch unterscheidet sich das Körpersystem der Jets von dem anderer Denker im Cluster. Sie sind damit nicht vertraut. Wenn Sie Ihren Wirt auf Grund einer Fehleinschätzung ruinieren und ihn am Ende per Transfer verlassen müssen...« »Herald würde so etwas niemals tun, wenn er es irgendwie vermeiden kann«, sagte Hweeh. »Er ist ein Heiler. Jedoch werde ich alles in meinen Kräften Stehende tun, um den Wirt zu erhalten und zu schützen, falls es zu einer gefährlichen Situation kommen sollte.« Sie dachte nach und schwächte ihren Kommunika-
tionsstrom, bis er überhaupt nicht mehr zu lesen war. »Ich glaube, Ihr Männlichen seid mehr daran interessiert, auf einem Planeten herumzurennen, anstatt euch an einer zerstörten Fundstätte aufzuhalten«, sagte sie schließlich leidlich verständlich. »Aber ich verlasse mich auf Ihr Versprechen, Hweeh von Weew. Ich habe Ihre Kraft spüren können und weiß um Ihren Edelmut.« Wieder meldeten sie sich bei dem Arzt. Der Jet sträubte sich anfangs, verabreichte Herald dann aber doch eine Droge, allerdings unter der Bedingung, daß die Pflegerin in seiner Nähe blieb, bis die Wirkung sich normalisiert hatte. »Seit dem Laser-Angriff sind wir knapp an Personal«, erklärte er. »Wir können nicht auf Entitäten aufpassen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, besonders gefährlich zu leben. Sie werden schon auf sich selbst aufpassen müssen.« Sie teilten sich die Gebiete auf und begannen ihre Suche. Hweeh sollte sich in südlicher Richtung halten und sich in der von Kratern übersäten Ebene unterhalb des vulkanischen Schilds von Elysium umschauen. Herald und Sechzehn bewegten sich nach Osten, um die weitaus größere Lavawüste um den Mons Olympus in Augenschein zu nehmen. »Seien Sie vorsichtig, Freund!« rief Sechzehn, als sie sich trennten. »Verstanden«, erwiderte Hweeh. Herald beschleunigte auf zwölf Meridiane pro Stunde und genoß den Rausch der Geschwindigkeit. Die Jets, die an den Ausgrabungs-Stätten auf verschiedenen Planeten arbeiteten, orientierten sich nach der Geometrie des jeweiligen Planeten. MarsMeridiane reichten von sechsunddreißig Meilen am
Äquator bis zu null Meilen an den Polen; in dieser Breite betrug der Meridian etwa vierundzwanzig Meilen. Herald hätte sich lieber der Meileneinteilung bedient, jedoch neigte das Wirtsgehirn dazu, sein eigenes System zu benutzen, und Herald hatte keine Lust, seinen eigenen Willen durchzusetzen. Ganz abgesehen davon bewegte er sich mit einem hübschen Tempo vorwärts. Dieser Wirt fühlte sich am besten, wenn er sich schnell bewegte. Sechzehn schoß hinter ihm her und holte ihn ein. »Nicht so schnell, Heiler! Sie sind ja noch gar nicht gesund!« »Je schneller wir die Suche hinter uns bringen, desto eher kann ich mich ausruhen«, erklärte Herald. »Aber Sie werden die Suche gar nicht erst abschließen, wenn Sie sich in dieser Weise überanstrengen!« Sie war die Pflegerin, klar. Ihre Aufgabe bestand vordringlich darin, für das leibliche Wohl ihres Patienten zu sorgen. »Ich muß das Risiko auf mich nehmen. Wir wissen nicht, wann die Amöbe wieder zuschlagen wird, wir können nur davon ausgehen, daß es bald geschieht. So zweifelhaft der Kurs ist, den wir jetzt verfolgen, und so sinnlos die Suche auch sein mag – im Moment ist das der einzige gangbare Weg, und wir müssen unser Glück versuchen.« Noch während er redete, war ihm bewußt, daß dies nicht sein wesentliches Motiv war. Es war Psyche, die er suchte, und die Entdeckung der Ahnen war lediglich ein kleiner Schritt in Richtung auf sein persönliches Ziel. Keine Möglichkeit, so gering sie auch sein mochte, durfte außer acht gelassen werden, wenn sie ihn näher zu ihr brachte.
»Sie sind ein großer Idealist«, stellte Sechzehn fest, und Herald schämte sich der Selbstsüchtigkeit, mit der er seine Mission ausführte. »Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann.« Wenn sie die Wahrheit wüßte, wäre sie bestimmt nicht so hilfsbereit! Aber das ging sie natürlich nichts an. Was wußte sie schon von Liebe und Leid? Sie schien von dem Unglück, das über die Fundstätte hereingebrochen war, nicht im mindesten berührt zu werden. Seite an Seite glitten sie über die Ebene. Es war eine ziemlich unwirtliche Landschaft mit Sanddünen, staubgefüllten Gräben, Höhlen und verstreut liegenden Felsbrocken. Als sie sich von dem Lavaschild entfernten, wurde die Landschaft noch unwegsamer, so daß sie ihren Kurs ständig verändern mußten, um Hindernissen aus dem Weg zu gehen. Schon bald wurde die Wanderung langweilig und monoton. Sie bewegten sich mit der normalen Geschwindigkeit gesunder Jets vorwärts, und es kostete sie keine zusätzliche Mühe, sich dabei zu unterhalten. »Woher kommen Sie eigentlich, Heiler?« erkundigte Sechzehn sich. Jetzt versuchte sie also, auch sein geistiges Wohlbefinden zu bessern, indem sie ihn in ein Gespräch verwickelte! »Aus der Sphäre Slash, Andromeda«, antwortete er kurz angebunden. »Der Feind-Galaxis.« »Aber nicht für uns in der Kugel Jet«, widersprach sie. »Wir waren nicht in die Energiekriege verwickelt. Tatsächlich wußten wir überhaupt nichts von den Kriegen, bis wir Jahrhunderte später davon erfuhren. Wir waren damals ziemlich isoliert.« »Wie konntet ihr in jenen Tagen des Transfers denn
so abgeschnitten sein?« fragte Herald. »Ich hatte angenommen, daß zwischen den Kriegen praktisch der gesamte Cluster erforscht und erfaßt wurde.« »Es gab einige rückständige Gegenden ohne intelligentes Leben, die zu erforschen sich wirklich nicht lohnte«, meinte sie traurig. »Es scheint so, als hätten die großen Detektoren der Sphäre in unserer Kugel keine starken Auren aufgespürt, so daß man annahm, hier gäbe es nur Wüste. Erst als per Materietransmission die geographische Aufzeichnung aller KugelCluster in die Wege geleitet wurde, entdeckte man uns. Das liegt jetzt sechshundert Jahre zurück. Dann...« »Moment!« unterbrach er sie. »Ihr wurdet vor zweitausend Jahren entdeckt, und zwar gleichzeitig mit dem Schwarzen Loch, das seine Strahlung durch den gesamten Cluster schickte.« »Nun, wir wurden entdeckt, wurden es aber auch wieder nicht«, schränkte sie ein. »Die Spezialisten für die Analyse des Schwarzen Lochs bemerkten uns durchaus, jedoch waren sie an uns so gut wie überhaupt nicht interessiert. Wir waren eben nur eine unwichtige, lokal begrenzte Spezies. Wir halfen mit Lebensmitteln und sonstigen Versorgungsgütern sowie mit Sternkarten aus, hingegen verwehrte man uns den Zugang zu wichtigeren Projekten und Aufgaben. Wir verschwanden in den geographischen Datenspeichern und wurden für über tausend Jahre ignoriert. Jüngere Untersuchungen hatten zum Ziel, Auren zu katalogisieren, und da gab es eine ziemlich große Aufregung, denn man stellte fest, daß wir die schwächsten Auren im ganzen Cluster haben – noch schwächer als ein halbes Prozent von der Norm bei
Denkern. Das war ein Kuriosum der Natur. Einige tausend von uns wurden per Materietransmission in die Milchstraße befördert, um dort untersucht zu werden. Als man schließlich zu dem Schluß kam, daß in der Gegend um das Schwarze Loch durchaus denkfähiges Leben existieren konnte, ja sogar Leben mit extrem schwacher Aura, veröffentlichten sie ihre Studien und vergaßen uns Versuchskaninchen. Es war zu teuer, uns per Materietransmission wieder nach Hause zu schicken, daher mußten wir uns in der Milchstraße niederlassen und für unseren Lebensunterhalt sorgen. Offiziell gehören wir zur Sphäre Jet und dürfen als Gleichberechtigte auftreten. Doch in Wirklichkeit haben wir überhaupt keine Verbindung mehr zu unserer Heimatkugel; für uns ist sie lediglich ein historischer Begriff. Deshalb...« »Sag etwas als Jet!« forderte Herald sie auf. = Etwas =, sagte sie. / Danke /, erwiderte er. Sie lachten und bliesen Gaswölkchen der Belustigung in die dünne Marsluft. Sechzehn war wirklich eine angenehme Gesellschafterin. »Auf diese Weise entwickelten wir uns zur archäologischen Einsatztruppe«, schloß sie und kehrte zur alten Sprechweise zurück. »Wir sind sehr gut für eine solche Aufgabe ausgestattet, und außerdem hat unsere Spezies auf diesem Gebiet seit Millionen von Jahren Erfahrung sammeln können, da sie auf den Planeten, die zur Kugel gehören, nach unserer Herkunft forschten. Es ist ein krisenfestes Gewerbe, und wir werden gut bezahlt.« Außer als sie den Laserangriff eines feindlichen Schiffs über sich ergehen lassen mußte, dachte er.
Doch dann weckte noch etwas anderes seine Neugier. »Ihr gehört schon seit Millionen von Jahren zu den Denkern und Wissenden?« erkundigte Herald sich und umrundete ein kantiges Felsstück, das ihm im Weg lag. Das Gelände wurde immer unwegsamer, und das konnte bei dieser Geschwindigkeit ziemlich gefährlich werden. »Ja, ja. Das läßt sich bis in die Zeit der Ahnen zurückverfolgen.« Herald war wie elektrisiert. »Ihre Rasse kannte die Ahnen?« »Nun, ja und nein«, erwiderte sie. »Damals hatten wir bereits Intelligenz – unsere historischen Berichte beweisen das eindeutig –, jedoch ist von diesen Berichten keiner mehr übriggeblieben. Wir wissen, daß sie uns isolierten, indem sie uns all unser Werkzeug und sämtliche Einrichtungen für Materietransmission und den Transfer wegnahmen, so daß wir nirgendwo mehr hin konnten. Als Folge entwickelten wir uns zurück, brachten rund eine Million Jahre in gemäßigter Barbarei zu und kämpften uns dann wieder hoch bis auf Atomtechnik-Niveau. Immer noch hatten wir keine Möglichkeit, uns der Materiemission zu bedienen, da die Ahnen wichtige Teile dieser Technologie mitgenommen hatten, und wir versanken wieder in Dumpfheit und Unwissenheit. Für lange Zeit war es einfacher, zu vergessen, daß dort draußen ein Cluster existierte, als sich bewußt zu machen, daß wir praktisch in einem Gefängnis hockten. Diejenigen von uns, die mit diesen Einschränkungen nicht fertig wurden, entfernten sich und gingen in einen Orbit um das Loch.« »Um das Loch!« rief er aus. »Es gibt keine Mög-
lichkeit, aus einem solchen Gravitationsschacht freizukommen, und selbst bei einem stabilen Orbit wirken so hohe Kräfte, daß jedes Objekt sofort auseinandergerissen würde...« »Stimmt genau«, sagte sie. »Ihr nennt so etwas Selbstmord. Wir können uns nicht so leicht töten, wie andere Kreaturen das vermögen, und oft genug ist schon der Versuch nicht sonderlich angenehm, so daß wir ganz spezielle Praktiken entwickelt haben. Wir zogen es vor, es uns als den Übergang in andere Gefilde vorzustellen. Wer kann schon Mutmaßungen anstellen, was sich drüben befindet?« Auf keinen Fall Psyche! schrie in ihm die verzweifelte Hoffnung, doch er unterdrückte diese Gefühlsaufwallung. »Wer schon?« gab er zu. »Wenn ihr so etwas wie ein Tarotspiel habt, dann habt ihr sicherlich auch eine Karte mit einem schwarzen Punkt in der Mitte. Und zwar anstelle der Karte, die wir Tod oder Transformation nennen.« »So etwas haben wir«, bestätigte sie. »Das ist die Grundlage unserer Philosophie. Alles was wir sind und was wir nicht sind, wird von diesem Prinzip bestimmt. Das Loch in der Kugel. Die letzte Flucht aus dem perfektesten Gefängnis.« »Vielleicht werde ich eines Tages ein Schiff genau in dieses Loch hineinsteuern«, meinte er. »Die Vorstellung ist sehr reizvoll.« »Sie wollen Selbstmord begehen? Sie können gar nicht direkt in das Loch eindringen; der Wirbel zwingt Sie in einen spiralförmigen Orbit. Beim Loch gelten ganz eigene Regeln, nach denen man es benutzen kann.« Selbstmord? Wenn Psyche nicht mehr am Leben ist.
»Sie würden es sowieso nicht verstehen«, sagte er sanft. »Fahren Sie mit Ihrem Bericht fort.« Sie protestierte nicht. »Wir entwickelten uns zurück – aber wir wollten die Ursache für diese Ignoranz sogar vergessen und uns wieder weiterentwickeln, um am Ende jeglichen Kontakt zu meiden. Oh, wir haben mit den Ahnen, die uns das angetan haben, noch eine Rechnung zu begleichen.« »Aber die Ahnen sind doch schon seit drei Millionen Jahren tot«, sagte Herald. »Dann haben wir keine Ansprüche mehr geltend zu machen«, erkannte sie. »Es ist seltsam, daß sie das mit euch gemacht haben«, sagte Herald. »Viele andere Spezies, wie zum Beispiel die Wurm-Kolonisten vom Mars, haben sie sofort und vollständig ausgelöscht.« »Während sie andere, wie die Solarier, völlig unbehelligt ließen«, erinnerte sie. »Welchen Grund hatten sie für ein solches Verhalten?« »Wenn wir das wüßten. Es muß einen tieferen Grund dafür geben. Eine törichte, unbeständige Spezies hätte niemals den Cluster beherrschen können. Wenn wir ihre Eigenarten und ihre Absichten ergründen könnten, dann stünde uns auch ihr Wissen zur Verfügung. Und eben darum geht es uns ja.« Sie vollführte ein sonisches Achselzucken. »Da reden wir nun über die Jets und die Ahnen, wo ich doch eigentlich nur etwas über Sie wissen wollte. Wie sind Sie in diese Galaxis gelangt?« »Ich bin ein Heiler. Ich gehe im Transfer dorthin, wo ich gebraucht werde. Ich mußte einen Exorzismus...« Er verstummte. »Das habe ich nicht mitbekommen«, sagte Sech-
zehn. »Wie lautete Ihre Mission?« »Es war ein Fehlschlag«, entgegnete er knapp. Sie deutete diese Reaktion richtig und verhielt sich still. In solchen Dingen war sie sehr gut. Sie düsten weiter auf den mächtigen Vulkan zu. Nach vier Stunden hatten sie ihn erreicht. Nun bremsten sie auch ihre Reisegeschwindigkeit und wichen von ihrem geraden Kurs ab, um den Anblick des phänomenalen, sechzig Meridiane breiten Lavaschilds in sich aufzunehmen, die Überbleibsel früherer mächtiger Ausbrüche des Bergs. Dicht an der westlichen Grenze erhob sich der Mons Olympus, einer der klassischen Vulkane dieses Systems. Um ihn zu erreichen, mußten sie die unwegsame Bergkette überwinden, die ihn umgab und bis auf Paßhöhe aufragte. Dann weiter zum Vulkan selbst, durch einen Kanal, der durch die Seitenwand führte, die Teil des Kegels war und sich bis auf die Höhe eines halben Meridians aufschwang. Die Steigung war nicht allzu steil, jedoch raubte der stetige Anstieg und die damit verbundene Anstrengung Heralds Wirt die letzten Kraftreserven. Endlich überblickten sie das Kraterfeld, das mit größeren und kleineren Löchern im Erdreich übersät war, wo immer die Lava hervorgetreten war. Es war ein eindrucksvoller, aber zugleich trostloser Anblick. »Warum schauen wir uns ausgerechnet hier um?« wollte Sechzehn wissen. »Normalerweise schlagen Denker ihr Lager niemals in der Nähe eines Vulkans auf.« »Ich wüßte aber schon einen Grund«, erklärte Herald. »Die Ahnen versuchten offensichtlich, ihre Anwesenheit auf dem Mars geheimzuhalten, solange sie
ihn besetzt hielten. Die Überreste in einer Stätte innerhalb eines vulkanischen Gebiets werden wohl als erste verschlungen, wenn die Lava wieder in Fluß gerät. Doch solange der Ort genutzt wird – welche bessere Tarnung für den stetigen Fluß von Kreaturen und Ausrüstungsgegenständen kann es schon geben? Die schweren Konstruktionen, für die die Ahnen bekannt waren, wären jedem denkenden Beobachter sofort aufgefallen. Daher brauchten sie eine natürliche Tarnung, die so sicher war wie irgend möglich.« »Warum?« fragte Sechzehn. »Hatten sie denn die Kolonie nicht schon vernichtet?« »Die Kolonie der Würmer auf dem Mars, vielleicht. Doch Beobachter auf der Erde ganz in der Nähe...« »Damals gehörten sie noch nicht zu den Denkern, standen kurz davor. Die humanoiden Solarier hatten vor drei Millionen Jahren noch keine Zivilisation gegründet. Und selbst wenn sie eine gehabt hätten, hätten die Ahnen sie sofort besiegen können. Warum wollten sie sich verstecken, um schließlich zu verschwinden, ohne die Erde angegriffen zu haben?« »Keine Ahnung«, mußte Herald gestehen. »Falls ich hier irgendwelche wichtigen Artefakte finden sollte, könnten wir dieses Rätsel vielleicht lösen.« Sie schauten sich um, während sie vorsichtig weiterwanderten. Herald suchte die Umgebung nach Auraspuren ab. Engster Kontakt war vonnöten, wenn man eine lebendige Entität heilen oder eine fremde Aura analysieren wollte, jedoch konnte er die schwächsten Ausläufer einer Aura in einer nahezu aurafreien Umgebung schon auf große Entfernung ausmachen. Sein Vorhaben erschien mittlerweile noch sinnloser, nachdem er mit Sechzehn darüber ge-
sprochen hatte; dennoch wollte er die Hoffnung nicht aufgeben... Warum, fragte er sich, hatte Hweeh so schnell eingewilligt? Die Wahrscheinlichkeit, an diesem Ort Artefakte der Ahnen aufzustöbern, war nicht nur gering, sie war so gut wie gar nicht vorhanden. Hier gab es nichts. Er bemühte sich, seine Enttäuschung nicht zu zeigen. Er brauchte eine positive Bewußtseinshaltung, sonst wären seine Versuche erfolglos, seinen Wirt zu heilen. Er wollte nicht noch einmal zur Untätigkeit verdammt sein, weil sein Wirt nicht mitspielte! Immerhin wartete noch ein ganzer Planet auf ihn. Wenn er nur nicht so überzeugt wäre, daß der Cluster-Rat nichts unternehmen würde! Bereits in diesem Moment brachte die Amöbe ihre Schlachtschiffe in Position, und es war niemand da, der einen Alarm auslöste oder versuchte, eine Gegenwehr zu organisieren, als Herald der Heiler. Und dies war eine ganz andere Form der Impotenz: die Bedrohung zu kennen und unfähig zu sein, zu handeln oder andere zum Handeln zu bewegen. Das war nicht viel anders, als in der Hölle zu schmoren. Sie machten sich auf den Rückweg und kletterten an den steilen Kraterwänden hinauf. Der Abstieg in den Krater war ihnen leichtgefallen, und sie hatten ihn nach ihrer langen Wanderung als eine wahre Erholung empfunden, doch nun ergab sich für sie ein Problem. Zum oberen Rand hin ragte die Kraterwand nahezu senkrecht auf, und Herald wurde schlagartig müde, und zwar sowohl körperlich wie auch geistig. Ein extremer Erschöpfungszustand lähmte ihn. Er düste entschlossen nach oben – und erschlaffte.
Als sein Antriebsstrahl erstarb, rollte er hilflos den Steilhang hinab. = Herald! = schrie Sechzehn und bediente sich in diesem Moment großer Not automatisch ihrer eigenen Sprache. Sie jagte hinter ihm her. Sie fing ihn auf und preßte ihn gegen ihren schlanken Körper. »Die Droge – Sie haben zuviel davon erwartet – und jetzt ist die Wirkung verflogen!« Kein Wunder, daß er innerlich ziemlich durcheinandergeraten war! Die Warnung war schon richtig gewesen; er hatte einfach nicht die Nachteile einer solchen Medizin wahrhaben wollen. Dadurch wurde aber sein Problem nicht gelöst. Er mußte seine Mission zu Ende führen. »Geben Sie mir eine weitere Dosis«, bat Herald. »Es ist noch viel zu tun.« »Nein. Sie müssen sich ausruhen. Es dauert eine Weile, bis Sie eine weitere Dosis Medizin aufnehmen und verarbeiten können.« Er wußte, daß sie recht hatte. Wenn er sich jetzt nicht den besseren Argumenten beugte, dann wäre er ein kompletter Narr. Daher gab er nach und entspannte sich. »So viele Rätsel«, sagte er. »Warum nimmt die Amöbe derartige Mühen und Beschwernisse auf sich, um in unseren Cluster einzudringen und uns zu unterwerfen? Gab es denn in ihrer näheren Umgebung keine geeignete Energiequelle? Warum haben die Ahnen den Cluster unterworfen und schließlich wieder verlassen? Sie haben ganz offensichtlich keine Energie nötig gehabt. Bisher haben wir keine Hinweise darauf gefunden, daß sie irgendwelche Zerstörungen angerichtet haben, und ich bin sicher, daß es Methoden gibt, das genau nachzuweisen. Die Entnahme eines Teils einer Galaxis würde zu ei-
nem gestörten Gleichgewicht führen, das sich am Ende aus verschiedenen anderen geänderten Daten hinsichtlich magnetischer und dynamischer Verhältnisse ablesen lassen würde.« Er dachte dabei an die unregelmäßigen Haufen Wolke 9 und Wolke 6. Nein, die waren ganz sicher keine Spiralgalaxien! »Kehren wir wieder zu ihrem auf den ersten Blick irrationalen Verhalten zurück. Die Absichten der Amöbe kann ich nachvollziehen und begreifen; ihr geht es ganz einfach um Macht. Aber die Ahnen...« Er hielt inne. »Vielleicht ist es das, was Melodie meinte!« »Wer?« »Melodie von Mintaka, diejenige, die den zweiten Versuch der Andromeder vereitelte, den Cluster zu vereinen. Sie spielte...« »Die Droge«, unterbrach Sechzehn ihn besorgt. »Sie muß Nebenwirkungen haben, von denen ich bisher nichts wußte.« Herald gab einen traurigen Düsenseufzer von sich. »Ich begegnete ihr in einer Animation des TarotTempels. Sie meinte, ich sollte lieber nicht nach dem Geheimnis der Ahnen suchen. Es sei besser, ich wüßte nichts darüber.« »Ach nein. Das ist doch typisch, so etwas bekommt man von nahezu jeder Animation zu hören, nicht wahr?« »Ja, unglücklicherweise. Aber sie schien sich so sicher zu sein. Ich glaube, sie kannte das Geheimnis, zumindest einen Teil, aus ihrem realen Leben. Auch damals muß sie sich geweigert haben, es weiter zu verbreiten.« »Es muß sehr schön sein, einer Animation zu begegnen.«
Psyche, die sich in den gierigen Flammen wand... »Nicht unbedingt. Haben Sie so etwas noch nie erlebt? Die Tempel stehen jedem offen; man sucht immer Konvertiten.« »Ich war dort. Die Gestalten erwachten für mich nicht zum Leben, genausowenig für andere Angehörige meiner Spezies. Unsere Auren sind nun mal zu schwach.« Herald begann allmählich, die Tragik dieser Jets zu begreifen. Sie konnten nichts animieren, konnten sich nicht des Transfers bedienen und konnten noch nicht einmal in ihren heimatlichen kugelförmigen Cluster zurückkehren. »Sie brauchen mit uns kein Mitleid zu haben«, blies Sechzehn ihm zu. »Ohne Aura kommen wir ganz gut zurecht. Wären wir nicht von den Ahnen beiseite gedrängt worden, dann hätten wir wahrscheinlich schon zwei Millionen Jahre, bevor Ihre Spezies zu denken begann, den Cluster selbst beherrscht.« Das stimmte sogar, dachte er. Jede der derzeitig existierenden Spezies hätte den Cluster unterwerfen können, falls es wirklich in den Galaxien keine Intelligenzen gegeben hätte. Seltsam, daß die Intelligenz und Denkfähigkeit sich praktisch gleichzeitig und schlagartig überall im Cluster gezeigt hatten. Auf seine Art war dies ein glücklicher Zufall gewesen, denn er hatte zu der derzeitigen Vielfalt der Spezies geführt und sie eine vielschichtige Kultur schaffen lassen, welche den Cluster weitaus fester und beständiger zusammenschloß als jedes künstlich geschaffene Bündnis. Hätten die Jets vorzeitig einen Entwicklungssprung vollzogen, wäre dies alles nicht eingetreten. Und dennoch hätten sie nicht das bekommen,
wonach sie sich sehnten, ohne es offen zuzugeben: die Aura. Herald berührte sie mit seiner Aura und dämpfte ihren Zorn. »Wenn die Jets die Herrschaft errungen hätten, dann hätten wir beide uns niemals kennengelernt.« »Ihre Logik ist ziemlich verdreht, aber Sie durchschauen mich, und ich schmelze in Ihrer Aura regelrecht hin«, entgegnete sie. »Niemals zuvor bin ich einer solchen seltsamen und wunderbaren Kraft begegnet. Selbst Hweeh kann damit nicht konkurrieren.« »In anderen Bereichen ist er mir dafür überlegen«, sagte Herald. »Er ist weitaus intelligenter als ich, hat eine bessere Ausbildung genossen, und in jeder anderen Gemeinschaft würde man ihn auch als führende Aura anerkennen. Kreaturen mit schwacher Aura können eine Aura nicht als eigenständige Kraft begreifen. Ich bin ein Heiler mit einer überaus starken und hochtrainierten Aura; deshalb spüren und erleben Sie sie unter den derzeitigen Umständen so klar und deutlich. Aber ich entschuldige mich bei Ihnen, daß ich ihre Haltung mißverstanden habe; Sie haben offensichtlich hervorragende Fähigkeiten und haben mich während meines geschwächten Allgemeinzustands in bewundernswerter Weise umhegt und umpflegt.« »Angenommen«, sagte sie, und das Beben ihrer kaum wahrnehmbaren Aura verriet ihm, daß sie ehrlich und aufrichtig war und er sie wirklich nicht falsch eingeschätzt hatte und daß ihr das bewußt war. Sie war zwar einerseits ziemlich reizbar und empfindlich, jedoch konnte sie auch verzeihen. »Tatsache
ist, daß wir noch nicht einmal die Rasse mit der niedrigsten Aura im Cluster sind. Wir haben uns in unseren wissenschaftlichen Studien vor allem den Wesenheiten mit besonders niedriger Aura-Intensität zugewandt und tatsächlich aurafreie Spezies gefunden.« Herald konnte nur staunen. »Aurafreie Lebensformen? Ich hätte gedacht, so etwas sei unmöglich! Die Impulse des Nervensystems und des Gehirns erzeugen semielektrische Felder, welche wir Aura nennen; ein Fehlen der Aura bedeutet gleichzeitig ein Fehlen der Denkfähigkeit und des Empfindens. In vielen Kulturen ist das Fehlen der Aura die gesetzliche Definition des Todes. Spezies ohne Aura müssen schrecklich primitiv sein!« »Im allgemeinen trifft das auch zu. Wir sind jedoch auf eine Spezies gestoßen, bei der ein Sprung zu Intelligenz und Denkfähigkeit im Bereich des Möglichen liegt. Sie scheint sich ziemlich rasant weiterzuentwickeln, und in weiteren zwei Millionen Jahren oder so...« »Wo?« »In einem anderen Kugel-Cluster, der die Galaxis Stiftrad in extremer Entfernung umkreist. Wir gehen von der Vermutung aus, daß dieser Cluster erst vor kurzem von der Galaxis eingefangen wurde, wahrscheinlich innerhalb der letzten drei Millionen Jahre. Durchaus möglich, daß diese Kugel zwischen den Clustern herumwanderte. In isolierten Kugelformationen kann es die seltsamsten Lebensformen geben!« »Sie sind überhaupt nicht mehr seltsam, wenn man sie erst einmal kennengelernt hat«, widersprach Herald. »Diese Spezies nennen wir die Blanks. Sie benutzen
keine elektrischen Impulse; ihre Körpersysteme sind vollständig mechanisch. Kontroll- und Steuersignale werden durch Knochenverbindungen übertragen und weitergeleitet, ähnlich wie die Lautschwingungen durch die Knochen der Ohren bei den Kreaturen dieses solarischen Systems eilen, deren Sprache wir sprechen. Das Gehirn dieser Entitäten ist ein mechanisch-chemisches Gebilde von bemerkenswerter Komplexität. Es funktioniert in einer Weise, die wir noch nicht ganz verstehen; wir scheinen die Möglichkeiten nichtelektrischer Impulse total unterschätzt zu haben. Zumindest arbeitet dieses System bei diesen Wesen, die kurz vor dem Übergang zur intelligenten Rasse stehen, durchaus zufriedenstellend. Anders definiert kann man sagen, daß die Blanks leben. Und daß sie in Kürze zu denken anfangen.« »Faszinierend«, gab Herald zu. »Dies ist ein Teilgebiet auraler Forschung, das ich bisher gänzlich übersehen habe, dem ich mich aber widmen werde, sobald ich dazu Gelegenheit habe. Dieses mechanische Denksystem – kann so etwas vielleicht auch für die schwache Aura der Jets als Erklärung herangezogen werden? Damit will ich meinen Wirt nicht verletzen, der mich bisher nicht im Stich gelassen hat. Aber ich muß sagen, daß er mir doch ziemlich eng ist. Es scheint kaum etwas zu geben, das meine Aura übernehmen und lenken kann.« »Ja. In den Details bestehen erhebliche Unterschiede, das Grundprinzip scheint jedoch zuzutreffen. Wir verfügen über ein kombiniertes System: eine höher entwickelte mechanische und chemische Verbindung, die mit einem relativ schwach ausgeprägten elektrischen System gekoppelt ist. Insofern sind wir sozusa-
gen zu drei Vierteln Maschinen. Unsere geschichtlichen Daten beweisen, daß unsere Aura-Entwicklung erst vor kurzem begonnen hat und immer noch fortdauert; zur Zeit der Ahnen verfügten wir nur über einen Aura-Anteil von einem Prozent unserer heutigen Aura.« »Das ist wirklich erstaunlich«, sagte Herald. »Und dennoch wart ihr intelligent und dachtet bereits.« »Ja. Unser letzter Evolutionssprung hat uns nicht vom Nichtdenken zum Denken geführt, sondern vom Prinzip der Mechanik hin zum Prinzip der Elektrizität. Wahrscheinlich hätten wir irgendwann im Lauf der Zeit auch das Kirlian-Prinzip entwickelt und uns mit dessen Hilfe aus unserer Isolation befreit.« »Keine der momentan existierenden Spezies besaß in der Zeit der Ahnen Intelligenz und Denkfähigkeit außer den Jets«, sagte Herald nachdenklich und begann zu ahnen, daß er einer fundamentalen Erkenntnis auf der Spur war. »Es gab Myriaden von Intelligenzen im Cluster, doch die Ahnen vernichteten sie alle – außer den Jets.« »Vielleicht waren sie der Meinung, sie hätten auch uns ausgelöscht«, sagte Sechzehn. »Sie isolierten uns, vergaßen uns dann und vollzogen den letzten Schritt einzig und allein aus Unachtsamkeit nicht mehr. Wahrscheinlich hat unsere Isolation uns gerettet.« Doch Herald verfolgte einen anderen Gedanken. »Sie vernichteten alle Intelligenzen, die neben ihnen existierten, und verschonten die Nichtdenker. Ein eindeutiger, selbstsüchtiger Akt der Machterhaltung. Die Marsianer stellten vielleicht eine Bedrohung dar, während die primitiven Erdlinge harmlos erschienen. Und meine nichtdenkenden Slash-Vorfahren wurden
vielleicht aus denselben Gründen verschont. Und alle die anderen Rassen des Imperiums. So ist es nicht verwunderlich, daß die Denkfähigkeit überall im Cluster zum selben Zeitpunkt ausbrach; es war eine Folge der Auswahl, die die Ahnen getroffen hatten. Nur die Rassen, die entwicklungsmäßig unter einer bestimmten Grenze lagen, durften überleben und sich weiterentwickeln. Das muß das Geheimnis sein, das zu verraten Melodie sich weigerte! Weil es das Ansehen trübt, das die Ahnen bisher bei uns genießen; so erscheinen auch sie selbstsüchtig und kurzsichtig.« Doch irgendwie konnte er sich nicht vorstellen, daß eine Kreatur wie Melodie von Mintaka in einem solchen Punkt die Wahrheit verschwieg; ihr müßte es doch besonderes Vergnügen bereiten, das Image der Ahnen anzukratzen. »Dann ist praktisch jede noch lebende Spezies den Ahnen zu Dank verpflichtet«, sagte Sechzehn. »Aber... ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt.« Heralds Achtung vor ihrer analytischen Intelligenz wuchs ständig. Sechzehn wußte weitaus mehr über die Beziehungen unter den Rassen und ihre Charakteristika, als er erwartet hatte. Zweifellos verfügte sein Wirt über dieselben Informationen, jedoch war der Wirt während des Heilungsprozesses praktisch bewußtlos. »Wie das?« »Wir wissen lediglich, daß die Ahnen die intelligenten Würmer vom Mars vernichteten und die Humanoiden der Erde verschonten. Wir nehmen an, daß dies auch für andere Welten zutrifft – und ich will diese Möglichkeit auch gar nicht bezweifeln –, jedoch kann diese Entscheidung nicht nach dem Entwicklungsstand der jeweiligen Intelligenz beziehungswei-
se Denkfähigkeit erfolgt sein.« »Warum nicht?« Herald wurde wirklich neugierig. Dieses Gespräch brachte sie dem Verständnis der Eigenarten der Ahnen viel näher als seine bisherigen Untersuchungen. Er nahm bewußt wahr, wie das schwache Sonnenlicht sich in der glatten Haut ihres schlanken Röhrenkörpers widerspiegelte und ihn reizvoll funkeln ließ. »Die Würmer vom Mars waren Kolonisten. Sie kamen von einer anderen Welt. Welcher Welt? Nicht von der Erde; dort gab es keine intelligenten Würmer, und wenn es dort eine solche Spezies gegeben hätte, stellt sich die Frage, warum nicht die Erde vernichtet und sterilisiert wurde. Das muß ein anderes System gewesen sein. Doch unsere Untersuchungen haben ergeben, daß es in nächster Nähe keine einzige Welt gibt, von der solche Denker hätten kommen können. Entweder findet auf einer Welt eine ununterbrochene Entwicklung von Spezies zu Spezies statt, die sich über Milliarden Jahren hinzieht, oder eine Welt ist tot. Wenn also in dieser Raumregion irgendeine Wurmkultur existiert hätte, hätte das Lodo-Schiff dorthin gelenkt werden können, so daß wir den Mars nicht für die Besiedlung durch die Kreaturen von Lodo hätten vorbereiten müssen.« »Das klingt durchaus logisch«, sagte Herald. »Es ist viel einfacher, eine bewohnte Welt zu sterilisieren oder sie in Ruhe zu lassen. Auf einer Welt eine Auswahl durchzuführen, wäre viel zu schwierig und ungenau.« »Ja. Daher kann man wahrscheinlich davon ausgehen, daß die Ahnen die Mars-Kolonie und die Welt, von der die Wurm-Kolonie stammte, ebenfalls ver-
nichteten. Also vernichteten sie gleichzeitig sämtliche Nichtdenker dieser Welt.« »Stimmt!« rief Herald. »Hätten sie die Nichtdenker ausgespart, dann hätten sie tatsächlich die Mühe auf sich genommen, zwischen den Welten eine Auswahl zu treffen. Deshalb kümmerten sie sich nicht um uns. Sie hatten nur das Ziel, sämtliche Denker auszulöschen, ganz gleich, wie groß der Schaden für die Nichtdenker sein mochte. Hätten auf der Erde oder auf Slash oder sonst einem anderen Planeten irgendwelche denkenden Kreaturen gelebt, wären auch diese Welten vernichtet worden. Infolgedessen können wir unser Überleben einem reinen Zufall verdanken.« »Ja. Aber warum verschwanden sie und überließen uns Unkrautrassen all das, was sie für sich selbst geschaffen hatten?« Unkrautrasse – ein reizvolles Bild! »Das Rätsel bleibt. Vielleicht wußte Melodie von Mintaka die Antwort. Vielleicht bereute sie etwas.« »Vielleicht«, pflichtete Sechzehn ihm bei. Doch sie zweifelten beide daran. Jets schliefen eigentlich nicht richtig, jedoch brauchten sie Perioden verminderter Aktivität, um ihre Gesundheit zu erhalten. Der marsianische Tag-NachtZyklus entsprach etwa dem der Erde, der in dieser Raumregion als maßgeblich angesehen wurde, daher bot es sich an, die Ruheperiode in die kühlen Nachtstunden zu verlegen. Am Morgen verabreichte Sechzehn ihrem Patienten Herald eine weitere Dosis der Heildroge, und sie konsumierten Wolken nahrhaften Gases, die Sechzehn in Blasen gefüllt mitgenommen hatte. Waren sie erst einmal erwachsen, brauchten die
Jets nur sehr wenig solide Nahrung. Nun war sein Wirt physisch nahezu vollkommen wiederhergestellt. Völlig erfrischt und ausgeruht schoß er an der Kraterwand empor, ohne daß ihn das spürbar angestrengt hätte. »Am besten setzen wir unsere Suche in der großen Schlucht fort«, verkündete er. »Aber da müssen wir ja fast ein Viertel des Planeten umrunden!« rauschte Sechzehn entgeistert. »Richtig. Deshalb müssen wir uns beeilen.« Und er beschleunigte auf fünfzehn Meridiane pro Stunde, nahezu Höchstgeschwindigkeit, und entfernte sich den Abhang des Vulkankegels hinab über die schier grenzenlose Lavafläche nach Südosten. »Ich bin mir nicht sicher, ob die Angehörigen der Sphäre Slash tatsächlich so etwas wie Intelligenz besitzen«, murmelte sie, während auch sie beschleunigte. Aber sie ließ ihn gewähren. Das westliche Ende der Schlucht in Höhe des neunzigsten Meridians war vom Vulkan nicht viel weiter entfernt als der Vulkan vom Ahnen-Fundort. Nach drei Stunden suchten sie sich auf der von Kratern übersäten Ebene unterhalb des Lavaschildes einen Weg zur Senke. Die Schlucht war außerordentlich lang, breit und tief; sie hätten Stunden gebraucht, um sie in ihrer vollen Länge abzuwandern. Ihre Ränder waren nicht glatt, sondern stark zerklüftet. Springfluten hatten in der Frühgeschichte des Planeten an einigen Stellen tiefe Erosionsspuren hinterlassen. Jedoch gab es nunmehr auf dem Mars nur sehr wenig freies Wasser, und das meiste davon war gefroren, da die Oberflächentemperatur nur selten über den Schmelzpunkt
von Wasser anstieg; lediglich extreme auf eng umgrenzte Orte beschränkte metereologische Besonderheiten führten zu regenähnlichen Niederschlägen. Irgendwo an diesem gigantischen Riß in der Planetenoberfläche befand sich eine Ahnen-Fundstätte. Sie mußte dort sein. Denn ohne einen solchen Ort wäre die derzeitige Zivilisation verloren. Oder steigerte die Droge sein Gefühl der Besorgnis, wie es vorher schon vorgekommen war? Er suchte am nördlichen Rand, wurde sehr stark durch die tiefen Einschnitte behindert, und Sechzehn versuchte ihr Glück an der südlichen Steilwand. Sie konnte zwar keine Ahnen-Aura aufspüren, dafür würde ihr aber keine künstliche Veränderung in der Schlucht entgehen. Stunden vergingen, ohne daß die beiden etwas fanden. Die Schlucht schien kein Ende zu nehmen, verzweigte sich in Seitenarme, die ebenfalls überprüft werden mußten und seine nachlassende Energie aufzehrten. Herald setzte seine Suche fort, wehrte sich dagegen, die Hoffnung fahren zu lassen, und minderte seine Geschwindigkeit, um seinen Wirt nicht zu sehr zu schwächen. Wieder ließ die Wirkung der Droge nach; aber vielleicht entdeckte er hinter der nächsten Kante schon die Fundstätte, oder hinter der übernächsten, oder der überübernächsten... Plötzlich öffnete sich auf dem Grund der Hauptschlucht ein Nebencañon. Schon vorher hatte er derartige Unregelmäßigkeiten beobachten können; der Grund war überhaupt nicht flach und glatt. Doch nun, müde, abgelenkt, enttäuscht und unaufmerksam, wie er war, schoß er über die Kante hinaus und stürzte in den schroffen Einschnitt, ehe er ihn ent-
deckte und abbremsen konnte. Für einen Moment fühlte er sich an seinen Sturz in das heiße Inferno des Laserangriffs der Amöbe erinnert, nur landete er diesmal auf kaltem hartem Fels. Er hatte den Seitenwänden der Schlucht mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als aufzupassen, ob der Weg vor ihm frei war. Er kam ohne Schaden zum Stehen, jedoch hatte er sämtliche Kraft aufgebraucht. Er war kaum in der Lage, nach einem Ausweg zu suchen, geschweige denn aus der Schlucht herauszuklettern. Sofort war Sechzehn zur Stelle. »Jetzt ist es schon wieder passiert«, schimpfte sie. »Ich habe mich derart auf die Suche konzentriert, daß ich Sie nahezu vergessen habe.« »Geben Sie mir die Droge«, bat Herald sie schwach. »Nein! Sie haben bereits eine Dosis und einen Aufputscher bekommen. Ein zweiter Aufputscher unter diesen Bedingungen würde Ihren Wirt umbringen.« »Wenn Sie sich weigern, können wir noch nicht einmal nach Hause zurückkehren«, erklärte er ihr. »Hier wird man uns nie finden, und außerdem sind die anderen viel zu beschäftigt, um nach uns zu suchen. Wir sind genauso verloren wie der AhnenFundort.« »Ich könnte Hilfe holen«, meinte Sechzehn. »Aber Sie brauchen meine Pflege. Sie haben keine Ahnung von den Eigenarten Ihres Wirts. Sie glauben, daß er völlig fit ist, weil er sich schnell vorwärts bewegen kann. Ein Jet kann immer ein hohes Tempo vorlegen. Wenn sein Antrieb versagt, dann ist er dem Tod nahe. Oh, hätte ich doch niemals...« »Sie begreifen meine Mission nicht«, unterbrach
Herald sie und versuchte krampfhaft, bei Bewußtsein zu bleiben. »Der Tod hat im Angesicht der Bedrohung des gesamten Clusters nicht den geringsten Schrecken für mich.« Und der Bedrohung Psyches! »Wir alle werden sterben, wenn ich nicht finde, was ich suche.« Dabei wußte er, daß er stark übertrieb. Er brauchte sich nur ein paar Stunden auszuruhen, so daß sein Wirt sich soweit erholte, daß er eine weitere Dosis der Droge schadlos überstehen konnte. Wenn er einsichtig war... Aber er war nicht einsichtig! »Wir verstehen uns nicht«, sagte sie. »Ich muß meine vordringliche Aufgabe erfüllen: Ihr Leben und Ihre Gesundheit erhalten. Ich kenne nur noch einen anderen Weg, doch der wäre unmoralisch.« »Was kann daran unmoralisch sein, seinen Auftrag auszuführen?« wollte Herald wissen. »Das ist eine Frage der Vorgehensweise. Es gibt einen Interessenskonflikt.« »Ein Interessenskonflikt«, wiederholte er nachdenklich. »Könnte das auch auf das seltsame Verhalten der Ahnen zutreffen? Sie hatten eine ganz spezielle Mission, die wir nicht begreifen, deren Methoden und Ergebnisse irgendwie widersprüchlich waren. Kann es sein, daß wir – indem wir diese Widersprüche im Auge haben und nicht die dahinterliegende Absicht – die Ahnen völlig falsch beurteilen?« »Durchaus möglich«, gab sie zu und war erleichtert, daß sie ihn zu einem Gespräch hatte ermuntern können und daß er nicht wieder stur seine Droge forderte. »Sie könnten doch bestimmte Gründe gehabt haben, gewisse Typen von Denkern auszulöschen und andere am Leben zu lassen. Wir gehen lediglich von dem Unterschied Denker/Nichtdenker aus, aber
wenn diese Unterscheidung rein zufällig ist?« »Wir kennen lediglich die Eigenschaften der Spezies, die sie vernichteten«, fuhr Herald fort. »Die Würmer sind nur ein Beispiel; und das reicht nicht aus, um daraus ein Muster abzuleiten. Ich wehre mich dagegen, mir vorzustellen, daß sie ganze Planeten nur verschonten, um sie als Nahrungsmittelquellen zu benutzen, doch wir können nicht einmal darüber etwas Hieb- und Stichfestes sagen. Um die Vernichteten mit den Verschonten zu vergleichen...« »Die Aura!« rief Sechzehn. »Jetzt wissen wir, daß kirlianloses Leben möglich ist. Selbst kirlianlose Intelligenz! Könnten die vernichteten Rassen nicht...?« Ihm ging ein Licht auf, hell wie eine Nova. »Kirlianlose Intelligenz! Wenn die sich schneller entwikkelte als die Kirlian-Arten, ungeachtet der Tatsache, daß ein Transfer unmöglich war, hätte diese Intelligenz den Cluster beherrschen können, ähnlich wie die Reptilien aus der irdischen Saurierära die Mammalien beherrschten oder wie die Dash-Vögel meiner eigenen Galaxis noch jetzt die Dreifüßer kontrollieren.« »Jene Arten müßten ausgemerzt werden, um den Arten mit größeren Möglichkeiten Platz zu machen«, endete sie. »Genauso wie man einen Garten von Unkraut befreit, um empfindlichere, aber produktivere Pflanzen zu züchten...« Schon wieder dieses Bild von der Unkraut-Spezies, nur diesmal noch klarer und überzeugender. »Dann wurden die derzeitig existierenden Denker-Rassen nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt«, dachte Herald laut weiter. »Ihre Auren bestimmten die Auswahl. Sie erhielten die Chance, sich weiterzuentwik-
keln, als die Kirlianlosen sie zu erdrücken drohten.« »Die Ahnen müssen die erste Spezies mit hochintensiven Auren gewesen sein«, sagte Sechzehn. »Sie entwickelten sich in irgendeiner abgelegenen Gegend, ähnlich wie wir, wo es keine Kirlianlosen gab, so daß sie nicht ausgelöscht wurden, ehe sie ihre vollen Fähigkeiten erlangten. Als sie dann in den Hauptcluster vordrangen, entdeckten sie, daß er von einer Lebensform beherrscht wurde, die bei Anwendung der Materietransmission Energie verbrauchte, denn sie beherrschte den Transfer nicht. Und diese Spezies unterdrückte die Kirlians. In einem umgrenzten System, wo die Planeten nicht weiter als nur Lichtminuten voneinander entfernt sind, wäre die Materietransmission eine durchaus günstige und anwendbare Methode des Transports; lediglich beim Überwinden stellarer Entfernungen hat der Transfer große Vorteile. Demnach waren die Kirlians in der Lage, ganze Galaxien zu kontrollieren, und als die Kirlianlosen das erkannten, kam es zu seinem leidenschaftlichen Krieg. Nur eine Seite konnte siegen und bestehen bleiben; sie dachten, sie könnten nicht nebeneinander existieren. Also unterstützten die Ahnen die fortschreitende Zivilisation, indem sie alle Kirlianlosen eliminierten. Vielleicht war das der einzige Weg. Sie waren also die Gründer unserer heutigen modernen Kultur.« »Aber warum sind sie verschwunden?« fragte Herald und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem uralten Rätsel zu. »Die Ahnen siegten; sie hätten bleiben sollen, um den Angehörigen ihrer Art weiterzuhelfen.« »Vielleicht sind sie geblieben«, meinte Sechzehn.
»Wir finden ihre Ruinen, ihre verlassenen Stationen, doch vielleicht sind die nur zu Kriegszwecken erbaut worden, und als es vorüber war, ließen sie diese Geräte einfach im Stich und ließen sich in irgendwelchen idyllischen Systemen nieder und hielten sich von den anderen nichtdenkenden Kirlians fern. Sie sagen, es gäbe keine Gesetzmäßigkeiten beim Vorkommen hochintensiver Auren, doch wenn es eine Anzahl Kreaturen mit typischen Auren gäbe, die den Kern der Ahnen-Rasse bilden, ich denke an verschiedene Aura-Familien, und diese Auren manifestierten sich alle paar Generationen, so daß es immer eine Möglichkeit gäbe, im Notfall die zurückgelassenen Einrichtungen der Ahnen aural zu aktivieren...« Herald hatte einen weiteren Geistesblitz. »Psyche!« rief er aus. »Sie ist auf eine Fundstätte abgestimmt!« »Wie bitte?« »Ich kenne eine solche Kreatur! Eine Solarierin, die mit den Ahnen im Einklang war. Vielleicht war sie sogar eine Ahnin!« »Dann haben wir ja eine hervorragende Spur«, meinte Sechzehn aufgeregt. »Wir müssen zurück und uns mit Hweeh beraten und dann mit dieser Solarierin Verbindung aufnehmen.« Herald kam wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. »Sie haben doch gesagt, ich sei noch zu geschwächt für die Droge.« »Es gibt für den Notfall eine Möglichkeit, Sie schnell dafür vorzubereiten, indem Sie eine bisher noch unberührte Reserve in Ihrem Wirt anzapfen. Das ist nicht sonderlich anständig und moralisch, aber unter den gegebenen Umständen...« »Wahrscheinlich könnten wir jetzt das Geheimnis
der Ahnen lüften«, erklärte Herald. »Jedoch macht mich das Geheimnis um Ihre Moral im Augenblick doch neugieriger! Wo liegt das Problem?« Sechzehn stieß als Entschuldigung eine kleine Gaswolke aus. »Es handelt sich um eine selten angewandte Methode, deshalb selten angewandt, weil gewisse soziale Bedeutungen dabei eine Rolle spielen.« »Vergessen Sie die soziale Seite! Ich gehöre nicht zu Ihrer Kultur.« »Es geht darum, die Energiequelle anzuzapfen, die normalerweise für den Reproduktionsvorgang reserviert ist. Unter normalen Umständen bleibt diese Quelle unberührt. Jedoch reicht die Energiemenge meistens aus, die Funktionsfähigkeit –« »Reden Sie von Paarung?« erkundigte er sich. »Eines sollten Sie wissen. Ich kann nicht...« »Ja, das haben Sie mir schon mal erklärt. Sie gehören zu einer anderen Spezies, haben sich diesen Wirt nur geliehen und wollen keine Geliebte. Es gehört sich nicht, daß ich ein zweites Mal dieses Thema anspreche. Deshalb habe ich auch gezögert.« Herald hatte schon über seine Beziehung zu Psyche sprechen wollen, überlegte es sich jedoch anders. Diese Jet-Maid machte ihm im Sinne ihrer Aufgabe, wie sie sie interpretierte, ein bemerkenswertes Angebot – zu seinem Nutzen und zum Nutzen des Clusters. Offensichtlich hatte seine anfängliche Weigerung, sie zu seiner Geliebten zu machen, die Beziehung in völlig asexuelle Bahnen gelenkt, daher war es für sie außerordentlich schwierig, einen anderen Weg einzuschlagen. Ähnlichen Konventionen war er auch schon an anderen Orten begegnet. Der Vorgang der Repro-
duktion reichte in viele kreatürliche Belange hinein und war mit anderen Bedürfnissen des Denkers gleichzusetzen. Es wäre nicht recht, sie noch mehr in Verlegenheit zu bringen, indem er sie auf seine Unfähigkeit hinwies, eine andere Weibliche als seine Frau zu lieben. »Soweit brauche ich Ihre Hilfe gar nicht in Anspruch zu nehmen. In einer kleinen Weile habe ich mich soweit erholt, daß ich die Droge wieder vertragen kann.« »Nein, das werden Sie nicht«, widersprach sie. »Das sieht man ganz deutlich. Ich bin schließlich die Krankenpflegerin; ich weiß genau, daß die Droge Sie diesmal töten wird. Außer sie bedienen sich aus der erwähnten Energiequelle.« Herald suchte in seinem Wirtsgedächtnis nach weiteren Informationen. Die im Cluster üblichen Spielarten der Sexualität waren mannigfaltig; nahezu alles, was man sich an Methoden und Techniken vorstellen konnte, war dort anzutreffen. Allerdings stellten sich die Praktiken der Jets als eher konventionell heraus. Normalerweise waren Verbindungen zwischen den Partnern einer Beziehung zeitlich begrenzt und reichten gerade hin, einen Wurf zu produzieren und ihm innerhalb der Gesellschaft zu einer unabhängigen Existenz zu verhelfen. Jedoch gab es auch Verbindungen, die für die gesamte Lebensdauer geschlossen wurden, während andere eher zufällig zustande kamen und nicht sonderlich ernst genommen wurden. Sex wurde als ein physisches Bedürfnis betrachtet, und man hielt es für selbstverständlich, daß man sich, ob nun mit oder ohne einen formellen Vertrag, nach gegenseitiger Übereinkunft diesen Ge-
nuß verschaffte. Solche Verbindungen wurden stets auf freiwilliger Basis hergestellt. Jemanden gegen seinen Willen zu einer solchen Verbindung zu zwingen, wie es bei den solarischen Weiblichen und den Spicanen jeden Geschlechts möglich war, war bei den Jets völlig unbekannt. Ohne die aktive Mitwirkung beider Beteiligter konnte der Akt nicht vollzogen werden. Sechzehns Zögern basierte nicht auf sexuellen Konventionen, sondern auf der Forderung, daß eine Beziehung, wenn sie erst einmal zustande gekommen war und sich gefestigt hatte, nicht gestört werden durfte. In diesem Zustand wäre es wie eine Affäre unter Geschwistern: realisierbar, aber sozial ziemlich peinlich. Er konnte diesen Aspekt etwas mildern, indem er sich damit entschuldigte, aus einer fremden Kultur zu kommen und einiges mißverstanden zu haben. Zum Teil stimmte das sogar: Bisher hatte er noch keine Zeit gehabt, sich mit den Denkweisen und Gebräuchen der Jets eingehender zu beschäftigen. Kurzum: Er könnte Sechzehn lieben – genauer, mit ihr Sex treiben –, wenn sie dafür zugänglich wäre. Doch würde sie wirklich einwilligen, wenn sie von seiner verzweifelten Suche nach Psyche erfuhr? Das bezweifelte er. Jedoch mußte er am Leben bleiben, um seine Suche fortzusetzen. Was war nun moralisch zu vertreten? Herald überdachte sämtliche Alternativen und kam zu dem Schluß, daß er sich, gerechtfertigt durch seine besondere Situation, wenigstens eine Teillüge erlauben durfte. »Ich war verheiratet«, sagte er. »Es sollte eine lebenslange Verbindung sein – doch sie wurde hingerichtet.« Wieder spürte er das leichte Zittern ihrer schwa-
chen Aura. »Wer? Wann?« »Die Solarierin stimmte sich auf die Ahnen ein. Das geschah kurz bevor ich hierher kam. Die Amöbe griff die Fundstätte mit Bomben an, und nur Hweeh, ein Qaval und ich konnten uns retten.« »Dann befinden Sie sich ja im Zustand der Trauer«, sagte Sechzehn. »Ich bitte um Verzeihung, daß ich nicht sofort erkannt habe, daß...« »Ich muß... vergessen«, sagte er. Doch in seinem Bewußtsein gestand er sich die einzige Wahrheit ein: Niemals werde ich vergessen – oder sie für tot erklären! »Und die Amöbe ist Ihnen hierher gefolgt«, sagte sie. »Oh, Herald, wir müssen Sie beschützen!« »Deshalb erklärte ich Ihnen, daß ich keine Geliebte gebrauchen könne. Ich habe Sie nicht zurückweisen wollen, jedoch bewirkte die Erinnerung an...« »Ich verstehe!« rief sie verzweifelt. »Das hatte ich nicht gewußt.« »Deshalb ist Sex für mich wirklich bedeutungslos. Es wäre kaum mehr als ein rein physischer Vorgang. Ich möchte nicht, daß Sie annehmen...« »Verstanden.« Sie schwieg einen Moment, dann: »Auch ich habe eine unerfüllte Sehnsucht.« »Sie lieben jemand, der gestorben ist?« Eine echte Überraschung. Er hatte, wahrscheinlich zu Unrecht, angenommen, daß sie von ernsthafter Liebe keine Ahnung hatte. »Ähnlich. Ich liebe... einen Fremdling.« Herald war sprachlos. Sie benutzte bei ihrer Erklärung die Gegenwart, dabei waren die einzigen NichtJets, die den Mars in letzter Zeit aufgesucht hatten, er selbst und sein Freund. »Doch nicht... Hweeh von Weew?«
»Er hat mich geheilt«, erklärte sie mit entwaffnender Schlichtheit. Hweeh hatte sie geheilt – als Herald selbst versagte. Daher war es die Aura des Weew gewesen, welche ihr Herz erobert hatte, und nicht die Slash-Aura. »Hweeh ist eine feine Kreatur und ein seinem Fach leidenschaftlich ergebener Gelehrter. Ich bezweifle, daß er Beziehungen zu einer Weiblichen von seiner Art unterhält. Er erzählte mir, er habe keine Familie und ginge vollkommen in seinem Beruf auf. Er ist nur deshalb nicht im Transfer in einen Jet-Wirt übergewechselt, weil in seinem Weew-Gehirn Informationen gespeichert sind, die ihm nicht mehr zur Verfügung stehen dürften, wenn man ihn per Transfer von seinem Gehirn trennte. Wir wissen noch nicht, welche verschiedenen Möglichkeiten sich daraus ergeben, und durften kein Risiko eingehen. Sobald wir diese Informationen zur Verfügung haben, ist er frei und kann sich ungehindert bewegen. Er könnte einen JetWirt animieren, um mit Ihnen zusammen zu sein, wenn er das wünscht. Wahrscheinlich hat er keine Ahnung von Ihrem Interesse, daher...« »Nein. Er hat andere Aufgaben. Er muß Ihnen helfen. Verraten Sie ihm nichts von meiner Zuneigung.« Herald kapitulierte. Er log ihr etwas über die Natur seiner eigenen Liebe vor und wiegte sie in dem Glauben, daß sie sich keine Hoffnungen zu machen brauchte. Nun mußte er ihre Unaufrichtigkeit gegenüber Hweeh unterstützen. »Ich werde ihm nichts sagen... bis der Cluster völlig gerettet ist. Allerdings ist er keine dumme Kreatur; sicherlich wird er beizeiten merken...« »Außer ich verschleiere meine Gefühle, wie ich es
bis jetzt getan habe«, sagte sie. »Jetzt und hier werde ich gerne Ihre Geliebte und fordere von Ihnen nichts anderes, als daß wir irgendwann wohlbehalten wieder zur Fundstätte zurückkehren.« Was konnte er mehr erwarten? Sechzehn war wirklich eine sehr attraktive junge Jet mit einer wie poliert schimmernden Oberfläche, fein geschwungenen weiblichen Linien und einer scharfsichtigen Intelligenz. Es war nicht nötig, sie darüber aufzuklären, daß er – wenn man einmal seine unsterbliche Liebe zu Psyche außer acht ließ, die irgendwo irgendwie noch am Leben war, ja sein mußte – niemals in der Lage wäre, eine Kreatur mit niedrigerer Aura zu lieben. Nun, da er erkannte, daß Sechzehn ihrerseits keinerlei romantisches Interesse an ihm hatte, wurde die ganze Sache zu einer rein zweckdienlichen Transaktion reduziert, die durch die Umstände vollauf gerechtfertigt wurde. »Dann sehe ich kein Hindernis, das uns davon abhalten könnte, die nächsten Schritte zu tun.« Im Grunde hätte er sich die Lüge schenken können, so wie die Dinge lagen. »Ja, dann laß uns beginnen«, stimmte sie ihm zu. Es war genauso, als tauschte man die Begleitpapiere einer Raumschifffracht untereinander aus. Welcher Unterschied zu den Gepflogenheiten, die er auf dem Planeten Keep kennengelernt hatte! Sechzehn setzte sich in Bewegung, fand eine Ausbuchtung in der Nebenschlucht und begann, in einer Kreisbahn zu beschleunigen. Dabei stieß sie in unregelmäßiger Folge Gaswolken aus. Diese codeähnliche Folge wurde schnell von den dafür vorgesehenen Perzeptionsorganen von Heralds Wirt aufgenommen. Es war ein Sex-Rhythmus, ein Signal, das auf seine
spezielle Art genauso direkt und effektvoll erschien wie ein Laserschuß der Amöbe. Sein Körper reagierte und setzte reflexartig die Reserveenergie frei. Sie hatte also zumindest in dieser Hinsicht recht gehabt. Herald hatte nicht einmal geahnt, daß sein Wirt noch über eine solche Menge versteckter Energie verfügte und daß er in dieser Weise angezapft werden konnte. Wie immer hatte die Natur einen Weg entwickelt, der das Überleben einer Spezies sicherte. Er schoß vor, um sich an dem Tanz zu beteiligen. Er hatte nur eine vage Vorstellung davon, wie die Angehörigen dieser Spezies sich paarten, jedoch war das überhaupt nicht schlimm. Wie bei seinen Erlebnissen mit anderen Spezies würde der Instinkt schon im richtigen Moment eingreifen und alle weiteren Aktionen lenken. Er schwenkte in denselben Kreis ein, jedoch nicht genau auf die bereits gelegte Spur. Sein Kreis war seitlich etwas verschoben, so daß die beiden Kreise sich an zwei Stellen schnitten.
Sie befanden sich auf gegenüberliegenden Seiten: Während Sechzehn in südlicher Richtung rotierte, beschrieb er eine Kurve nach Norden. Wandte er sich nach Osten, wich sie nach Westen aus, wobei sich ihre Spuren im Staub immer häufiger kreuzten. Doch Herald bewegte sich jetzt schneller und verfolgte die Jet; mit jedem vollendeten Kreis legte er einen weiteren Weg zurück als sie. Bald schon eilten sie nebeneinander her, gemeinsam nach Norden, gemeinsam nach
Süden. An den beiden Schnittpunkten stießen sie beinahe zusammen, als der eine nach innen, der andere nach außen kreuzte. Am nördlichen Schnittpunkt hatte sie wieder einen kleinen Vorsprung herausgeholt, und er atmete erfreut die wohlriechenden Gase aus ihrer Düse ein; am südlichen Schnittpunkt übernahm er wieder die Führung und ließ sie an seinem eigenen Auspuff schnuppern. Beides stimulierte sie äußerst effektvoll. Nun war sein Wirt wieder bei Kräften. Die Vernunft riet ihm, aus dem Kreis auszubrechen und schnellstens nach Hause zu düsen, anstatt seine wertvolle Energie beim Sex zu verschleudern. Doch wenn die Natur die Vermehrung der Spezies von der individuellen Vernunft lenken ließe, gäbe es im Cluster weitaus weniger Rassen! Er konnte sich nicht aus dem Verhaltensmuster lösen; hier ging es nicht mehr um intellektuelle oder moralische Erwägungen, sondern um rein physische Reaktionen. Die beiden Kreise rutschten näher aneinander heran und verschmolzen. Heralds Einlaßstutzen und Düse krümmten sich, um sich der Kreisform der Bahn nachzubilden; bei Sechzehn verhielt es sich ähnlich. Sie rotierten nun gemeinsam, zwei Planeten in einem engen Orbit um einen gemeinsamen Mittelpunkt, dabei das Rückstoßgas des Partners einatmend, es verarbeitend und die Reizstoffe herausfilternd. Ein wenig frische, dünne marsianische Luft drang ein, denn es war keine vollkommen dichte Verbindung hergestellt, und winzige Portionen Rückstoßgases entwichen, jedoch nahm die Menge wiederaufbereiteter Gasmoleküle ständig zu. Dies war eine Kommunikation nach den Prinzipien
des Feedback, frei von jeglicher intellektueller Steuerung. LIEBE sagten ihre Moleküle; LIEBE, LIEBE erwiderten seine. LIEBE, LIEBE, LIEBE, kam als Antwort, dabei leicht verstärkt, zurück. Dennoch war es kein einzelnes Molekül, kein eng umgrenztes Konzept, sondern eher eine Sinfonie der Reizsteigerung. Je stärker das physische Element das intellektuelle überwog, desto größer war die Steigerung und desto mehr verschmolzen die Impulse, so daß der Verursacher schließlich überhaupt nicht mehr zu identifizieren war. Dieses Erlebnis war im höchsten Maße anregend. Ziemlich abrupt erreichte die Konzentration den kritischen Punkt. Heralds Körperchemie reagierte und schickte eine Wolke reproduktiver Moleküle aus. Diese schossen durch Sechzehns Organsystem, kehrten zu ihm zurück und wechselten dann wieder zu ihr. Hin und her eilten sie, wobei bei jeder vollendeten Kreisbahn einige Moleküle in die Atmosphäre des Mars entwichen und andere sich mit Molekülen verbanden, die von ihrem Körper freigesetzt wurden. Aus den Milliarden wurden Millionen, dann waren es nur noch wenige tausend. Am Ende verschwanden sie, und es war vorbei. Wenn sich welche in ihrer Röhre angesiedelt hatten, so würden sie dort bleiben und heranwachsen, dabei von ihr ernährt werden, und sie würde einen Wurf haben. Wenn nicht, dann hätte die Aktion dennoch ihren Zweck erfüllt, denn Herald sprudelte nun vor Energie fast über. Ganz gleich, welche Spezies man betrachtete – es gab nichts Besseres als Sex, um einen Männlichen zu Höchstleistungen anzuspornen. Sie trafen Anstalten, den Rückweg anzutreten.
Sechzehn verabreichte ihm die Droge, und sie schien überhaupt keine Wirkung zu haben. Doch Herald wußte, daß es daran lag, daß er auch ohne das Medikament schon wieder die volle Kraft seiner Antriebsdüse zur Verfügung hatte: Die Droge würde lediglich dafür sorgen, daß er über einen längeren Zeitraum hinweg zur Höchstleistung fähig wäre. Sie düsten aus der Nebenschlucht heraus und in die Hauptschlucht und eilten in Richtung Osten. Sie hatten nun von der Ausgrabungsstätte aus gerechnet den Planeten zur Hälfte umrundet; es machte also nichts aus, ob sie ihren Weg fortsetzten oder zurückkehrten. Vielleicht entdeckten sie die gesuchten Ahnen-Artefakte auf dem Weg, doch selbst, wenn sie nichts fanden, hatten sie über die Ahnen eine ganze Menge erfahren. »Die Untersuchung der Gegend bestätigt Ihre Annahme«, sagte Hweeh, als Herald aus dem Zustand der Weggetretenheit aufwachte, in den er nach seinem unter Drogeneinfluß durchgeführten Ausflug gesunken war. »Es waren eindeutig Maßnahmen der Ahnen, durch die miteinander konkurrierende Spezies überall im Cluster ausgelöscht wurden. Analysen ergeben, daß es sich bei diesen ausgemerzten Spezies durchaus um kirlianlose Kreaturen gehandelt haben könnte. Offensichtlich erhielten die Ahnen ihre Macht nur lange genug, um sich davon zu überzeugen, daß praktisch keine Kirlianlosen in diesem Teil des Universums überlebt haben. Die Jets waren ein ganz spezieller Fall; sie waren Denker mit niedriger Aura. Wenigstens bestand bei ihnen die Möglichkeit, daß sie sich zu vollwertigen Kirlians entwickelten. Deshalb wurden sie isoliert und nicht zerstört. Hätten sie sich bereits zu vollwertigen Kirli-
an-Kreaturen entwickelt, hätten sie ausbrechen können. Genau das sollte durch die Art ihres Gefängnisses gefördert werden. Dann hätte ihre Eroberung des Clusters in der Absicht der Ahnen gelegen. In dieser Hinsicht haben sich die Jets nicht weit genug entwikkelt, so daß andere Kirlian-Denker die Herrschaft an sich rissen. Dabei führten sie den Cluster von einem Stadium der gemischten Intelligenzformen hin zur Kirlian-Intelligenz.« »Und starben aus, ehe das Projekt abgeschlossen war«, sagte Herald. »Sie hatten doch alles: einen Kirlian-Cluster und die Fähigkeit, ihre Kultur vor der sphärischen Regression zu bewahren.« »Offensichtlich gab es da einen Zusammenhang«, sagte Hweeh. »Kirlianlose kämen ohne die galaxisweite Verteilung von Energie nicht aus, weil sie sich nicht im Transfer bewegen können. Selbst mit dem Transfer bleibt ein gewisser Grad an Regression bestehen, und die Verlockung bleibt bestehen, sich aus dem Energiereservoir zu bedienen. Wie unklug das war, beweisen zwei Energiekriege! Dennoch muß es einen Weg geben, die Regression abzuwenden, da die Ahnen das geschafft hatten, ja es hatten tun müssen, um den Cluster zu beherrschen. Hätten sie uns nur ihr Geheimnis hinterlassen! Doch nun haben wir ein anderes Problem vor uns...« »Die Amöbe«, gab Herald ihr recht. »Auch die. Ich dachte eher an etwas Persönliches.« Herald überlegte. »Habe ich vielleicht herumgeschrien, als ich bewußtlos war?« »Das war gar nicht nötig. Es war nicht zu übersehen, wie Sechzehn es bewerkstelligt hat, Sie unver-
sehrt wieder zurückzubringen. Der Arzt wußte sofort Bescheid. Ihr Reproduktionssystem war völlig entleert.« »Sie hat es von sich aus vorgeschlagen!« verteidigte Herald sich. »Was hätte sie unter den gegebenen Umständen und in Gegenwart Ihrer beeindruckenden Aura anderes tun können?« »Sie wurde nicht von mir dazu animiert«, sagte Herald. »Ich habe sie in keiner Weise bedrängt. Mein Interesse lag lediglich...« Doch dann fiel ihm ein, was er Sechzehn versprochen hatte. »Ich bin nicht dumm«, meinte Hweeh nicht ganz unberechtigt. »Sie haben ihr von Psyche erzählt.« »Das mußte ich. Ich glaube nämlich, daß Psyche eine Nachfahrin unserer kirlianischen Ahnen ist.« »Die Idee hatte ich auch schon. Ich kann mir gut vorstellen, was Sechzehn dazu gemeint hat.« Herald schwieg und spürte, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Normalerweise war Hweeh nicht so unwirsch. »Sie erklärte, sie liebte einen anderen... der für sie unerreichbar ist«, fuhr der Weew unerbittlich fort. »Ein Ausdruck der Bewunderung für Ihre eigene Situation, von der sie gerade erst erfuhr. Kam Ihnen das nicht seltsam vor? Wurden Sie nicht mißtrauisch?« »Hweeh, Sie machen es mir wirklich schwer.« »Im Gegenteil, ich habe Ihnen den Weg geebnet, habe es Ihnen leicht gemacht in der Hoffnung, daß Sie etwas Ablenkung finden. Allerdings hatte ich nicht mit einer solchen Entwicklung gerechnet. Sie haben sie in eine unmögliche Lage gebracht. Sie
durfte nicht das Andenken an die kürzlich Verstorbene verdrängen; das ist ein wesentlicher Teil der JetKultur. Ebensowenig durfte sie Sie im Stich lassen, obwohl Sie selbst sich durch Ihre Unachtsamkeit in diese Lage gebracht hatten. Deshalb mußte sie auf die schnelle eine Geschichte erfinden, die Ihnen glaubwürdig vorkommen mußte und die Sie akzeptierten. Wahrscheinlich hat sie Ihnen weisgemacht, daß sie mich liebt. Oder nicht?« Herald gab klein bei. Kein Wunder, daß Hweeh so schnell eingewilligt hatte, die Gegend nach irgendwelchen Anzeichen auf eine frühere Anwesenheit der Ahnen abzusuchen! Er hatte lediglich Herald auf andere Gedanken bringen und vermeiden wollen, daß Psyche immer noch in seinem Bewußtsein herumgeisterte. Allerdings war dieser Plan fehlgeschlagen, und es hatten sich neue Probleme ergeben. »Ich habe versprochen, nichts zu verraten.« »Natürlich mußten Sie das versprechen, so daß sich nicht eine Gelegenheit ergibt, bei der Sie unter Umständen die Wahrheit erfahren könnten. Sie liebt mich nicht. Ich bin eine zu fremdartige Kreatur, und der Gedanke an eine Verbindung mit mir würde sie sicherlich mit Abscheu erfüllen. Sie dachte tatsächlich, Sie hätten sie geheilt und wollten nun aus Bescheidenheit ihren Dank nicht annehmen. Sie sind es, den sie liebt. Aber um Ihr Gewissen zu erleichtern – sie hat Sie angelogen und ihre eigenen Gefühle verleugnet.« Plötzlich erkannte Herald die Wahrheit. »Nicht Sie sind der Narr, ich bin es«, sagte er. »Ich hätte es doch sofort erkennen müssen! Ich dachte, ich hätte sie angelogen...«
»Haben Sie es getan?« »Ich habe ihr erzählt, meine Frau sei verbrannt worden.« »Das ist sie auch, Herald. Ich habe es selbst gesehen.« »Aber sie ist nicht gestorben! Ihre Aura lebt noch – und ich werde sie finden!« Hweeh schwieg und suchte nach einem Weg, wie er die schwierige Angelegenheit am besten klären sollte. »Herald, haben Sie Psyche gleich beim ersten Zusammentreffen geliebt?« »Nein. Es brauchte seine Zeit, damit ich sie richtig kennenlernte.« »Wann wurde es Ihnen bewußt, daß Sie sie wirklich liebten?« »Als ich mit ihr zusammentraf und ihre Aura an Intensivstärke zugenommen hatte.« Herald ließ diesen Moment noch einmal in der Erinnerung auf sich einwirken. »Sie hatte eine Aura mit der Intensität zweihundertfünfzig.« »War es vielleicht nicht eher die Aura, die Sie liebten, die verstärkte Aura der Ahnen?« »So könnte man es durchaus sehen. Aber es war nicht das, was sie darstellte oder sie besetzte, sondern sie selbst war in dieser Aura, lediglich zehnfach verstärkt. Sie hatte die einzige Aura, die stärker war als meine. Nie zuvor ist mir derartiges begegnet.« »Hätte eine solche Aura in jeder anderen Weiblichen ebenso Ihre Liebe wecken können?« Herald wurde unruhig. »Vielleicht.« »Tatsächlich können Sie sich nicht sicher sein, ob Sie nicht nur eine Art Vehikel, Beiwerk war. Sie liebten nicht das fremde Mädchen, sondern die Aura der
Ahnen.« Herald, von seinen Strapazen und den Nachwirkungen der Droge geschwächt, konnte das nur zugeben. »Die Ahnen-Aura macht sie zu dem, was sie ist.« »Und wenn eine solche Aura das Mädchen aus der Sphäre Jet begleitete, dann würden Sie sie ähnlich leidenschaftlich lieben.« Herald versuchte, seine Objektivität zu bewahren. Das war jedoch leichter gesagt als getan. »Vielleicht.« »Warum geben Sie sich nicht mit einer lebendigen Sechzehn anstatt mit einer verstorbenen Psyche ab? Wenn Sie die Ahnen-Aura finden, dann erleben Sie vielleicht wieder das Gefühl der Liebe – ohne daß Sie sich etwas vormachen.« Herald dachte lange darüber nach. »Nein«, sagte er schließlich. »Psyche lebt. Die echte Psyche, die ich liebe – ungeachtet ihrer Aura. Ich weiß es. Sie hat Sie aus dem Schock geholt, unten im Tunnel während des Laser-Angriffs, als ich völlig hilflos war. Sie sprach zu mir. Ich glaube an sie. Ich muß sie finden.« Hweeh schwieg. Herald wußte, daß sein Freund lediglich den unlogischen, sinnlosen Aspekt in dieser Sehnsucht nach einer toten Fremden durchdachte. Und er konnte sich nicht hundertprozentig sicher sein, daß Hweeh sich irrte. Endlich ergriff Hweeh wieder das Wort. »Das Hilfsschiff von der Erde traf ein, während Sie bewußtlos waren. Sie können jetzt im Transfer in jeden beliebigen Wirt im Cluster springen. In Anbetracht Ihrer persönlichen Situation und der durch die Amöbe drohenden Krise denke ich, sollten Sie das schnellsten tun. Sechzehn hat mir von Ihren neuen Theorien hinsichtlich der Ahnen berichtet, und ich habe sofort
den Cluster-Rat benachrichtigt. Dort wird man sofort eine Kommission einsetzen, die sich damit eingehend beschäftigt...« »Schon wieder eine Kommission!« brauste Herald auf. »Genau. Wenn also aus irgendeinem Grund schnell gehandelt werden muß, liegt es wohl wieder allein an uns, die richtigen Schritte einzuleiten. Wir müssen die Quelle der Ahnen suchen und finden. Es gelang mir, an Informationen über ein geheimes Projekt heranzukommen, das mit unserem Problem in einem Zusammenhang stehen könnte. Die Informationsquelle ist zwar nicht sonderlich vertrauenswürdig, jedoch werden wir durch die nervtötende Blindheit des Rates regelrecht gelähmt. Wenigstens können wir von hier verschwinden, und vielleicht...« Herald stieß eine Gaswolke belustigten Staunens auf. »Daß die Rettung des Clusters von derart lächerlichen Kleinigkeiten abhängen soll! Ich bin einverstanden; wir müssen jedem Hinweis nachgehen, der Erfolg verspricht. Wo befindet sich dieses geheime Projekt?« »In der Galaxis Stiftrad.« »Bei den Blanks? Der Null-Aura-Spezies mit potentieller Denkfähigkeit?« »Nein, was ich meine, ist eine Wiedergeburt oder Nachschöpfung der wahren Ahnen-Kultur. Man hoffte, daß man auf diesem Weg gewisse Einblicke gewinnen könnte, die...« »Ein guter Gedanke. Machen wir uns auf den Weg!«
10
Geschichte der Ahnen X Im Kugelcluster manifestierter auraler Generator umkreist dritte Galaxis. X & Ein weiterer Generator? Gibt es dort eine AhnenFundstätte? & X Nein. X & Dann muß es sich um ein spezielles Projekt zur Entwicklung defensiver auraler Technologie im Eiltempo handeln. Überprüfen und wenn nötig Gegenmaßnahmen ergreifen. Aber getarnt, ich wiederhole, getarnt. Nicht mehr lange, und wir können zu clusterweiten offenen Aktionen übergehen. Entsendung einer Forschungs- und einer Aktionseinheit. & o Einheit 9 unterwegs. o X Einheit S unterwegs. X Der Durchmesser von Stiftrad betrug etwa ein Viertel des Durchmessers der größeren Galaxien, so daß die Denker dort hinsichtlich ihres Status ziemlich empfindlich waren. Es handelte sich tatsächlich um eine vollwertige Spiralgalaxis, und ihre zwei größeren Sphären waren mittlerweile gleichberechtigte Mitglieder der Cluster-Koalition. Das Projekt befand sich tief in einem Kugelcluster, der einen Orbit um das Zentrum von Stiftrad beschrieb. Diese Kugel hatte einen Durchmesser von 250 Lichtjahren und enthielt rund 100 000 hellrote Sterne mit einer Bevölkerung II. Es gab nur wenige Staubwolken, die den ungehinderten Blick versperrten, wenige Planeten nur und
kein Schwarzes Loch – sehr zu Heralds Erleichterung. Es war ein völlig durchschnittlicher Cluster, und er war unbewohnt gewesen, bis das ominöse Projekt in Angriff genommen wurde. Herald drehte seinen Ring und schaute sich um. Er befand sich in einem Rad-Wirt, dessen runder Körper in alle Richtungen rollen konnte und dessen magnetisch fixierte Scheibe sämtliche verschiedenen sensorischen Organe dieser Spezies enthielt. Neben ihm bewegte sich Hweeh von Weew, der wieder einmal unter großem Kostenaufwand (und unter dem Protest des Kostenrechners des Cluster-Rates) die Reise per Materie-Transmission in seinem eigenen Körper gemacht hatte. Ein Stift näherte sich: eine längliche vierbeinige Kreatur, deren Sinnesorgane an den Enden vorragender Stacheln lagen. Å Willkommen, Besucher der Zwei Galaxien Å, klackte das Wesen. Å Ich bin Stich von Stift, Zweiter Leiter dieser Station und für die Dauer Ihres Aufenthaltes Ihr Führer. Ich hoffe, Sie fühlen sich scharf. Å Er streckte eine Rute aus. Hweeh bildete schnell Augenstiel, Hörhorn und einen länglichen Fortsatz, den er dazu benutzte, damit Stichs Rute zu berühren. @ Dankbarkeit, Huld @, sagte er förmlich in seiner eigenen Sprache und überließ es den Übersetzungsgeräten, die die Entitäten trugen, die Worte zu übertragen und verständlich zu machen. Å Sie verfügen über eine bemerkenswerte Aura! Å @ Warten Sie ab, bis Sie meinen Gefährten berühren! @ Stich richtete nun seine Rute auf Herald. Herald
kippte seine Scheibe an, um das längliche Organ kurz damit zu berühren. Nun spürte er auch die eigene Aura des Stifts: sie war recht kräftig und maß etwa einhundert. Allerdings war es völlig klar, daß dieses Projekt vor allem starke Auren anlockte. Θ Freude Θ, sagte er und bediente sich dabei der Kommunikationsweise seines Wirts und erzeugte die Laute, indem er seine Scheibe entsprechend vibrieren ließ. Freude, dachte er. Cupido und Psyche hatten ein Kind der Freude... Å Phänomenal! Vielleicht ist Ihre Aura eine Umkehrung zur Aura der Ahnen! Å Herald widersprach dieser Meinung sofort. Θ Es gibt keinen Beweis, daß die modernen Spezies einen direkten Bezug zu den Ahnen haben. Θ Und was ist mit Psyche? Å Vielleicht sollten wir jetzt für diesen Beweis sorgen. Å Und damit war es heraus, denn genau dies war das geheime Moderne-der-Ahnen-Programm, auf dem alle Hoffnungen des Clusters ruhten, endlich die Natur und die Absichten der Spezies zu verstehen, die den Cluster vor drei Millionen Jahren beherrscht hatte. Θ Vielleicht Θ, stimmte Herald höflich zu. Θ Sollen wir weitermachen? Θ Wir werden weitermachen – die Wortwahl Sechzehns, die damit ihre Teilnahme an einer Angelegenheit dokumentierte, die sie selbst und ihn auf engste einbezog. War er bereitwillig ebenso blind gewesen, wie der gesamte Cluster-Rat gegenüber der Bedrohung durch die Amöbe blind war, und das trotz schlagender Beweise? Mit welchem Preis
konnte er seine Suche rechtfertigen? Stich wies den Weg durch die Station zur Enklave. Alles befand sich unter entsprechender Überdachung, denn dies war ein luftloser Planet. Gelegentliche Dekkenfenster sorgten für den in der Kuppel üblichen Tag-Nacht-Rhythmus: eintausend helle Sterne, die die Oberfläche ständig erhellten und dafür sorgten, daß eigentlich nie so richtig die Nacht hereinbrechen wollte. Der durchschnittliche Abstand zwischen Sternen in dieser Region betrug ein Viertel Lichtjahr, und es waren große Sterne. Der Planet schien in eine leuchtende Kapsel eingeschlossen zu sein. Aus diesem Grund hatte man ja das Projekt auch an dieser Stelle begonnen. Keine außenstehende Spezies konnte ernsthaft hoffen, den speziellen Planeten des speziellen Clusters der speziellen Galaxis zu lokalisieren, der dieses Projekt unterhielt. Wer würde überhaupt wegen irgend etwas in einem Kugelcluster herumsuchen? Derartige Cluster gehörten zu den ältesten vereinigten Strukturen im Universum; in ihnen gab es nichts Neues zu entdecken. Zumindest nahm man das allgemein an... Die Halle erweiterte sich unerwartet zu einer unendlichen überkuppelten Landschaft von derart architektonischer Pracht, daß beide, Herald und Hweeh, staunend verharrten. Es war ein Ort der Ahnen, wie er vielleicht zur Zeit ihrer Blüte ausgesehen hatte. Gerundete Bauwerke ragten viele Stockwerke empor, und zwischen ihnen verliefen gewendelte Verbindungsgänge, über die man sie begehen konnte; andere Rampenkonstruktionen wandten sich hinab zu seeähnlichen Wasserbecken. Es gab keine geraden Linien, keine Kanten und scharfen Winkel; alles war
angenehm gekrümmt. Überall konnte man Laub sehen, was Herald nach seinen bisherigen Erlebnissen völlig fremd war, jedoch für seinen Wirt einen vertrauten Anblick darstellte: Bäume von Stiftrad, die die Parklandschaften mit ihren pastellfarbenen Rasenflächen und den früchteschweren Gärten vor dem grellen Licht der Myriaden von Sternen schützten. @ Ich würde mich liebend gern selbst hier niederlassen @, murmelte Hweeh. Θ Ich aber auch Θ, pflichtete Herald ihm bei. Å Das wünschen wir uns alle Å, meinte Stich. Å Und Ihre Bitte soll auch in Erfüllung gehen – für einen ganzen Tag. Wir glauben, daß es uns sehr gut gelungen ist, die Architektur der Ahnen nachzuschaffen, und auch ihr Aussehen und ihre Kultur, und wir hoffen, daß ein Leben in einer solchen Umgebung Sie in die Lage versetzt, wie die Ahnen zu fühlen und zu denken und vielleicht auf diesem Weg ihre Geheimnisse zu ergründen. Å Θ Ein vermessener Gedanke Θ, sagte Herald. Å Die Ahnen, die in der Enklave leben, sind Androiden Å, erklärte Stich, Å künstlich geschaffenes Pseudoleben, das genauen Befehlen gehorcht. Die meisten sind ferngesteuert, allerdings gibt es auch welche, die weitgehend entscheidungsfrei sind. Å Θ Wir werden sie übernehmen müssen Θ, sagte Herald und drehte seine Scheibe. Θ Wir sind nicht nur hier, um uns alles anzuschauen, sondern auch um bestimmte Erfahrungen zu sammeln. Θ Å Der Weew könnte dafür geeignet sein; er ist klein und kann sich anpassen. Dafür ist Ihr eigener RadWirt viel zu mächtig, zu voluminös. Å
Θ Dann muß ich eben in einen kleineren Wirt transferen. Wer ist für einen solchen Schritt im Augenblick verfügbar? Θ Å Es gibt einige Service-Entitäten von Sculp, welche die Androiden besetzen, um sie zu testen und gegebenenfalls zu reparieren. Å Θ Aha, die Sculps. Diese Spezies ist mir sehr gut bekannt. Einen solchen Wirt akzeptiere ich gern. Θ Å Wie Sie wünschen Å, meinte Stich zweifelnd. Der Transfer wurde vorbereitet, und sehr bald schon befand Herald sich in einem Sculp-Wirt. Es war dies ein knochenloser, vielstacheliger Denker, dessen Körper sich zwischen den geringelten Stengeln riesiger Röhrenbäume entwickelt hatte. Ñ Sehr gut Ñ, sagte Herald und machte sich verständlich, indem er einige Stacheln gegeneinanderrieb. Ñ Und jetzt sollten wir uns mal die Androiden anschauen. Ñ Die physischen Eigenschaften der Ahnen waren unbekannt, jedoch war man beim Studium der vielen gewundenen Weganlagen an ihren Fundstätten zu dem Schluß gekommen, daß sie mit Rädern versehen waren, sich jedoch auch in unwegsamerem Gelände bewegen konnten. Deshalb, so erklärte Stich, besäßen die Androiden sowohl Räder als auch Beine. Drei Beine, um genau zu sein, die für ein sicheres Gleichgewicht sorgten und am unteren Ende in Rollen endeten. Die Androiden besaßen außerdem drei obere Gliedmaßen mit Saugscheiben an der Innenseite und sechs Tentakel-Fingern an den Enden. Drei dieser Finger waren spitz und liefen in harten Klauen aus: Zangenorgane, um feste und harte Objekte zu greifen.
Die weicheren, beweglicheren Finger gestatteten es den Androiden, mit Werkzeug jeglicher Art besonders gekonnt umgehen zu können. Ein solider Kopf als Krönung war mit Optiken, Hörorganen, Strahlungssendern und Rezeptoren ausgerüstet. Es war, insgesamt betrachtet, ein überaus raffinierter Körper. Zu schade nur, daß er entworfen worden war, ehe Herald den Unterschied zwischen den Ahnen und Prä-Ahnen entdeckt hatte. Denn er war das Ergebnis einer Menge von Fehlinformationen. Hätte man erst einmal die verschiedenen Fundstätten einer genaueren Untersuchung unterzogen, käme man zu genaueren Vorstellungen von der äußeren Gestalt der Ahnen, womit sich ein nahezu naturgetreues Abbild herstellen lassen würde. Bis dahin war er erst einmal entschlossen herauszufinden, ob der Aufenthalt in einem solchen Androiden-Wirt einem ein echtes Ahnen-Gefühl vermittelte und ob er oder Hweeh auf diesem Wege zu wesentlichen Erkenntnissen gelangen konnten. Es schien ihm, als hätten sie auf dem Mars einen Weg gefunden, die Ahnen zu begreifen, und vielleicht würde ein kleiner Hinweis zu einem vollkommenen Verständnis führen. Dann, vielleicht, könnte auch in letzter Sekunde ein Wunder geschehen, das den Cluster rettete – genauso wie es geschehen war, als Flint von Außenwelt und Melodie von Mintaka die Milchstraße gerettet hatten. AhnenTechnologie hatte in beiden Fällen die entscheidende Rolle gespielt; wenn man sie nur wieder anwenden könnte... Hweeh schien sich ohne Schwierigkeiten an seinen eigenen Androiden angepaßt zu haben. Ñ Sind Sie bereit? Ñ fragte Herald.
@ Ja @, erwiderte Hweeh. »Dann sollten wir zuerst unsere Sprachgewohnheiten aneinander anpassen«, schlug Herald vor und drückte sich in Anführungszeichen aus. »Wir beide können uns in der Weise verständigen, wie es im Segment Etamin gebräuchlich ist, jedoch scheint man diese Sprache hier nicht zu verstehen. Sie sollte uns als benutzbarer, jedoch geheimer Code dienen.« »Einverstanden«, sagte Hweeh sofort. Å Mein Translator hat das nicht richtig mitbekommen Å, meldete Stich sich. Å Was für eine Sprache ist das? Å Ñ Das ist die Ausdrucksweise von Wolke Neun Ñ, entgegnete Herald. Ñ Die sogenannte Große Magellansche, die die Milchstraße umkreist. Ihr Symbol ist die Hochfinanz, das Zeichen $. Eine sehr glückliche, wenngleich seltsame Philosophie. Ñ Å Seltsam. Mein Translator kennt sich mit $ aus. Eigentlich hätte ich doch... Å Ñ Vielleicht war es auch Wolke Sechs, die Kleine Magellansche mit dem ¢-Symbol. Manchmal bringe ich das durcheinander. Jeder Wirt, den ich besetze, drängt sich für einige Zeit mit seiner Sprache und sehr vielen Elementen seiner Kultur in mein Bewußtsein. Habe ich mich dann von dem Wirt getrennt, vergehen diese Einflüsse nach und nach und verschwinden schließlich ganz. Können wir jetzt die Enklave betreten? Ñ Å Ja, natürlich. Aber ich muß Sie warnen, daß die... Wir bemühen uns in jeder Hinsicht, diese Enklave so realistisch wie möglich zu gestalten. Das Programm wurde stets entsprechend neuer Erkenntnisse verän-
dert, bis mittlerweile... Å Ñ Mittlerweile hat sich das Programm wohl verselbständigt und sucht sich eigene Wege, nicht wahr? Das ist doch ein Zeichen dafür, daß dieses Projekt erfolgreich verlaufen ist. Warum also diese Entschuldigung? Ñ Å Der Computer berücksichtigt die Veränderungen in seiner weiteren Programmgestaltung, und das wiederum hat positive Reaktionen zur Folge. Immer noch treten gewisse Veränderungen ein, so daß noch nicht einmal ich genau weiß, welche Entscheidung, welcher Befehl Vorrang hat, wenn ich die Programme nicht laufend überprüfe. Wir scheinen es mit einer beschleunigten sozialen Revolution zu tun zu haben, welche vom Computer befürwortet und unterstützt wird. Das heißt jedoch, daß ich nach Ihrem Eintritt in die Enklave mit Ihnen keine Verbindung aufrechterhalten kann. Wir arbeiten hier strikt nach dem Prinzip der Nichteinmischung. Es ist von größter Wichtigkeit, daß wir dem Streben der Ahnen nichts entgegensetzen und sie sich entfalten lassen. Allein auf diese Weise können wir... Å Ñ Das leuchtet mir ein Ñ, unterbrach Herald diese Kurzvorlesung. Ñ Es ist ein hervorragendes Programm. Wir werden uns ganz bestimmt nicht einmischen und statt dessen bemüht sein, uns nahtlos einzufügen und seinen Richtlinien zu folgen. Ñ Mit diesen Worten rollte er auf die Öffnung zu, durch die man die Enklave betreten konnte. Er und Hweeh hatten den Eingang schnell hinter sich gebracht. Sie rollten eine Rampe hinunter und steuerten auf den ersten Park zu. Heralds Sculp-Wirt
war mit den örtlichen Bedingungen bestens vertraut und kannte sich auch in der Bedienung des Androiden perfekt aus. Herald akklimatisierte sich in Sekundenschnelle, so daß es ihm vorkam, als besetzte er die Ahnen-Nachbildung direkt. Hweeh hatte dabei einige Schwierigkeiten, aber sein Dreifüßer sorgte für ein sicheres Gleichgewicht. Sie trafen auf einen Modernen, der in entgegengesetzter Richtung unterwegs war und mit beneidenswerter Gewandtheit seinem Ziel entgegenrollte. + Aura +, grüßte der Fremde. Er sprach Clustrisch mit der Plus-Flexion und war leidlich zu verstehen. Er hatte selbst eine Aura von der Intensität 120, jedoch handelte es sich um ein maschinell erzeugtes und deshalb starres Feld, wie man es benutzte, um entsprechend präparierte Energie über galaktische Entfernungen hinweg zu transferen. Natürlich! Das herausragende Charakteristikum der Ahnen war ihre Aura, deren Intensitätsdurchschnitt bei etwa 100 lag und die Extremwerte von 33 bis 300 erreichen konnte. Also zwischen einem Drittel des Durchschnittswerts bis zum dreifachen, wobei es Experten gab, die das für zu normal, für zu alltäglich hielten. Moderne Denker wiesen dabei weitaus größere Unterschiede auf, wie das Beispiel Sechzehns von den Jets und Heralds eigener Aura zeigte. Aber alles sprach dafür, daß die Ahnen weitaus uniformer waren als die derzeitige Generation. Vielleicht war das ein Teil des Geheimnisses ihrer Stärke. Außerdem wußte niemand, wie intensiv eine lebende Aura werden konnte, jedoch schien 300 tatsächlich die obere Grenze zu sein. + Aura +, erwiderte Hweeh und kaschierte damit
Heralds verblüfftes Schweigen. + Aura +, schloß Herald sich hastig an. Zu schade, daß man diese künstliche Aura nicht zum Heilen oder zum Transfer benutzen konnte, in einem solchen Fall hätten die Androiden tatsächlich eine Atmosphäre entstehen lassen können, wie sie zur Zeit der Ahnen geherrscht hatte! + Sie sind also Fremde, nicht wahr? Darf ich mich vorstellen: Ich bin Hierundjetzt. + Herald hatte nicht einmal geahnt, daß er sich einen Namen hätte geben müssen. Er hätte sich wirklich etwas mehr Zeit nehmen sollen, um sich auf dieses Abenteuer entsprechend vorzubereiten. Obwohl seine Umgebung lediglich eine künstliche Fassade war, versuchte er, ihre Ausstrahlung in sich aufzunehmen, auf sich wirken zu lassen und Hweeh auch in eine aufnahmefähige Stimmung zu versetzen und ihn an seinen Erlebnissen teilhaben zu lassen. Um seiner Anonymität willen zog er es vor, nicht seinen richtigen Namen zu nennen. Es war offensichtlich, daß die Lenker dieser Androiden ebenfalls mit falschen Namen arbeiteten. Und wieder erlöste Hweeh ihn aus der peinlichen Situation. +Ich bin Clusterblick+, sagte er. Übersetzung: Astronom. Herald konnte eine ähnliche Identifikation vorweisen. + Ich bin Sucher +, sagte er. + Werden Sie während Ihres Aufenthaltes an diesem Ort auch hier wohnen? + erkundigte Hierundjetzt sich. Wohnen? Die nahmen es mit ihrem Realismus aber schrecklich ernst! Als wäre dies eine von Millionen Siedlungsstätten der Ahnen-Gesellschaft der Vorzeit,
wo die Reisenden vor ihren clusterweiten Sprüngen Pausen einlegten. + Wahrscheinlich bleiben wir nicht allzulange hier +, sagte Herald. + Aber es wäre angenehm, wenn wir uns etwas ausruhen könnten, ehe wir weiterziehen. + + Dann lassen Sie mich Ihnen das Kirlian Inn vorschlagen. Die Verpflegung dort ist exzellent, und die Bedienung... Man hat ihr nicht ohne Grund den Namen Höllenblüte verpaßt! + Dann gab es in dieser Enklave also zwei Geschlechter, wenngleich die Ahnen über mindestens einhundert hätten verfügen können. Nun, zwei war durchaus angemessen. Und Lebensmittel. Und SexAppeal. Blieb nur die Frage, was Androiden zu sich nehmen und wie ein weiblicher Androide einen männlichen reizen mochte. Realismus hatte schließlich auch seine Grenzen! + Ganz bestimmt werden wir das Kirlian Inn in Erwägung ziehen +, versprach Herald. + Aura +, meinte Hierundjetzt und rollte ein Stück zurück. + Aura +, erwiderte Herald. Offenbar benutzte man dieses Wort sowohl bei der Begrüßung wie auch bei der Trennung. Wie nett von Hierundjetzt, ganz ›zufällig‹ vorbeigekommen zu sein, um ihnen in aller Kürze etwas über die Sitten und Gebräuche in der Enklave beizubringen! Sie rollten weiter. Die kleinen Rädchen an ihren Füßen wurden nicht angetrieben; allein die Bewegungen der Beine bestimmten das Tempo der Fortbewegung. Üblich war es, daß jeweils zwei Füße den Körper nach vorn stießen, während der dritte Fuß dazu diente, das Gleichgewicht zu halten, jedoch war
es durchaus möglich, daß alle drei Füße zusammenwirkten und so für zusätzlichen Schub sorgten. Da es möglich war, sich auszuruhen, während man im Leerlauf dahinrollte, war dies eine wirkungsvolle Art der Fortbewegung. Die Räder konnten abgebremst oder bei plötzlichen Stopps blitzschnell angehalten oder bei steilen Anstiegen gegen ein Abrollen gesperrt werden. Er fragte sich, ob es nur einem Zufall zu verdanken war, daß die Androidengestalten als eine Art Mischung zwischen den beiden wichtigsten Denkerrassen der Galaxis Stiftrad erschienen: stockgleiche Beine, wie in Stift angedeutet, und Räder, wie die zweite Hälfte des Namens verkündete. Die Namensgebung lieferte immer eine Beschreibung der äußeren Erscheinung! »Ich fühle mich schon fast wie ein Ahn«, bemerkte Hweeh. »Die haben hier bei ihrer Nachschöpfung hervorragende Arbeit geleistet«, pflichtete Herald ihm bei. Was immer sie auch nachzuschöpfen gedachten. »Sollen wir das Kirlian Inn suchen?« »Und die Reize Höllenblütes einer eingehenden Inspektion unterziehen?« Hweeh produzierte ein männlich kehliges Lachen und überraschte Herald damit. »Ich werde tatsächlich neugierig.« Als sie in den inneren Stadtbezirk gelangten, begegneten sie anderen Modernen, die ihren wie auch immer gearteten Geschäften nachgingen. Mit jedem tauschten sie ein höfliches + Aura + und erhielten weitere Informationen, wenn sie sich nach dem Weg erkundigten. Im Grunde war das völlig überflüssig, denn sie fanden sich wirklich recht gut zurecht, jedoch empfanden sie den engen Kontakt mit den Be-
wohnern der Enklave als reizvoll, da sie sich auf diese Weise viel eher als integrierte Bestandteile der Pseudo-Kultur empfanden. Mochten ihre Gesprächspartner auch nur Androiden sein, so schienen sie trotzdem aufrichtig Anteil am Schicksal ihres Nächsten zu nehmen. Das Kirlian Inn war ein imposantes Bauwerk. Die Wohnräume waren unterirdisch angelegt, während die Halle sich als Kuppelbau mit Planetarium-Decke entpuppte. Herald erkannte die Idee hinter dieser Konstruktion sofort: Flint von Außenwelt war an der Fundstätte in den Hyaden auf eine solche Kuppel gestoßen. Unglücklicherweise war sie vernichtet worden, so daß man nicht mehr in der Lage war, die Sternprojektion einem intensiven Studium zu unterziehen, um auf diesem Weg die genaue Lage des Ursprungsplaneten der Ahnen zu ergründen – einer der größten Unglücksfälle der Geschichte. Möglicherweise hätte Flint die Information direkt liefern können, denn er war schließlich ein erfahrener Astronom, jedoch war er damals völlig in seinen mintakischen Wirt übergegangen und wußte nichts mehr. Die gegenwärtige Projektion zeigte die Galaxis Stiftrad, die, wenn auch winzig im Vergleich mit der Milchstraße oder Andromeda, immerhin eine vollständige Galaxis war und aus dieser Perspektive einen beeindruckenden Anblick bot. Der Fußboden war glatt, poliert, spiegelnd und leicht geschwungen, als sollte er einen gläsernen Ozean mit erstarrten Wogen darstellen. Paare tanzten, indem sie über die Wellenberge und durch die Wellentäler glitten, wobei ihre Vorwärtsbewegungen in einer Art synkopiertem Rhythmus erfolgten. He-
rald war fasziniert und enttäuscht zugleich. Mit welchem Recht nahmen die Erbauer dieser Enklave an, daß die Ahnen Zeit mit Aktivitäten wie dem Tanzen vergeudeten? Tatsächlich war die ganze Szenerie irgendwie mittelalterlich angelegt. Doch wer sollte behaupten können, daß die Ahnen nicht getanzt hatten? Irgendeine Vergnügungsart mußten auch sie gehabt haben. Möglicherweise war das Tanzen bei ihnen eine Form der Kommunikation gewesen. Die weiblichen Modernen unterschieden sich von den männlichen durch die Beschaffenheit ihrer Oberfläche, ihre Farbe sowie die Zartheit ihrer Körper und Gliedmaßen. Sie trugen Teile eines Materials, unter dem sie die oberen Teile ihrer Beine verbargen und gleichzeitig die Stelle verhüllten, wo Beine und Körper miteinander verbunden waren. Dadurch machten sie zu einem Mysterium, was überhaupt kein Mysterium war. Einerseits lächerlich, andererseits dennoch reizvoll. Soweit es ihm bekannt war, besaßen Androiden keine Kopulationsorgane, jedoch konnte man sich leicht vorstellen, daß diese, wären sie vorhanden gewesen, im Schatten des Tuchs lauern müßten. Tatsächlich ging von den Weiblichen ein ganz eigener Reiz aus. Herald verspürte eine kaum unterdrückbare Sehnsucht, obwohl er einen Sculp-Wirt besetzte, der wiederum in einem Androidenkörper steckte. Die Gleitfüße erleichterten das Tanzen ungemein, und die runde Körpermitte machte das Rotieren zu einem Kinderspiel. Die tanzenden Gestalten glitten hin und her und drehten sich kreiselgleich auf der Stelle. Dabei zeichneten sie verschlungene Muster auf den Boden. Die Beleuchtung veränderte die Farbe, wurde allmählich immer schwächer, so daß der
nächtliche Himmel sich nach unten fortzusetzen schien, bis nur noch winzige Lichtpunkte die Tänzer verfolgten. O ja, das war überaus hübsch! Als der Tanz seinen Höhepunkt erreichte und die Dunkelheit im Saal nahezu vollkommen war, begannen die Sterne sich in der Kuppel zu bewegen. Zuerst nur ganz behutsam, so daß man kaum sicher sein konnte, daß sich überhaupt eine Position geändert hatte; dann beschleunigte sich die Bewegung. Die Sterne wichen auseinander, glitten an den Wänden hinab und breiteten sich auf dem Boden aus, der mittlerweile transparent geworden war. Der ganze Saal schien sich mitten in der Galaxis Stiftrad zu befinden und durch sie hindurchzuschweben, wobei die einzelnen Sterne sich wie in einem dreidimensionalen Raum zu nähern und hinter dem Saal wieder zu entfernen schienen. Herald war noch nie durch den Weltraum gereist. Stets hatte er seine Bestimmungsorte mittels des Transfers erreicht, wobei er praktisch von Planet zu Planet gesprungen war, ohne durch das Vakuum des Raums zu eilen. Er war sogar noch nie per Materietransmission von einem Ort zum anderen gelangt, obwohl diese Transportart dem Transfer weitaus verwandter war als die Raumfahrt. Daher war das Geschehen in dem Saal für ihn ein ganz besonderes Erlebnis, nämlich eine Galaxis zu betrachten, wie wahrscheinlich der Pilot eines Raumschiffs sie sah. Was nicht heißen sollte, daß Schiffe tatsächlich von Piloten gelenkt wurden; selbst bei halber Lichtgeschwindigkeit dauerte es mehrere Jahre, auch nur einen winzigen Teil einer Galaxis zu durchmessen. Sollte jedoch irgendwann einmal ein Raumschiff exi-
stieren, das sich mit einem Mehrfachen der Lichtgeschwindigkeit vorwärts bewegen konnte, so daß Piloten nötig waren, um das Schiff um Sterne und andere Hindernisse herumzusteuern, so würde sich den Piloten sicherlich ein derartiger Anblick bieten. Ah, berauschend! Hweeh kniff ihn mit einer seiner Zangen, und Herald ließ sich nur wiederstrebend aus der Betrachtung des Weltraums reißen – ein Anblick, der seiner Vision im Tarot-Tempel glich, als er die Phantom-Karte betrachtet hatte, um sich Gewißheit über die Amöbe zu verschaffen –, um dem Blick des vorderen Auges seines Gefährten zu folgen. Eine hellfarbige Gestalt rodelte auf sie zu. Ihr Körper schwang hin und her, als sie aus dem Schatten auftauchte, und ihr Gewand bauschte sich verführerisch. Höllenblüte! Androidin oder nicht, sie hatte das gewisse Etwas an sich. Sie verbreitete Sex-Appeal. Herald versuchte, diesen Reiz zu analysieren, konnte jedoch nicht genau festlegen, aus welchen Komponenten er sich zusammensetzte. Sie war schlicht eine überaus begehrenswerte weibliche Modernen-Ahnin. Sie drängte sich ganz nah heran, ihr Kleid kam zur Ruhe. + Aura +, murmelte sie, und in ihrer Stimme lag ein verheißungsvolles Vibrato. + Aura +, antworteten die beiden Gäste. Hweeh war von der Erscheinung mindestens ebenso gefesselt wie Herald. Was mochte es sein, das männliche Vertreter völlig verschiedener Spezies derart erregte, obwohl sie wußten, daß sie sich inmitten einer Imitation befanden, die von einer suchenden Rasse nach gewagten Theorien konstruiert worden war? + Was sei eure Freude? + erkundigte Höllenblüte
sich und vollführte eine zusätzliche schnelle Drehung. Es war sicher nicht ihre Schuld, daß sie den falschen Begriff benutzt hatte. Freude – das Kind, das Psyche von ihm hatte bekommen und gebären sollen. Was hatte er hier zu suchen? Was fiel ihm ein, dem Werben einer imitierten Weiblichen zu erliegen? Selbst wenn sie wirklich lebte, wäre sie nur eine blasse Kopie der echten Psyche! Dies alles war ein Spiel, die Imitation einer Gesellschaft, die nie existiert hatte, und die Quelle von Höllenblütes Sex-Appeal war eine Konstruktion aus Metall und Pseudofleisch. Die Illusion verflog, als Herald plötzlich die Ursache entdeckte: Klang. Am Rand des Hörbereichs liegende Schallwellen hüllten das Mädchen ein. Sie waren abgestimmt auf die Erregung kreatürlicher Leidenschaften der Denker. Gewisse Erscheinungen schienen allen Rassen vertraut zu sein, ganz gleich, von welcher Welt sie stammten, als wäre alles Leben vor Milliarden Jahren aus einer einzigen Quelle entsprungen. Das war ebenfalls ein bisher noch ungelöstes Rätsel: ob das Leben tatsächlich eine gemeinsame Wurzel hatte und sich über den Cluster ausgebreitete hatte, lange bevor sich Intelligenz und Denkfähigkeit entwickelten, oder ob sich vor drei Milliarden Jahren eine Rasse entwickelt und das Leben auf sämtliche bewohnbare Planeten verteilt hatte. Jene wären dann die wahren Ahnen, neben denen die Drei-MillionenJahre-Ahnen als nicht mehr erschienen als eine besonders aufsehenerregende Form organisierten Lebens. Dabei war es eine Tatsache, daß es unter den Rassen gewisse Gemeinsamkeiten, gleiche Verhaltensweisen gab, so daß viele Spezies sich untereinan-
der vermischen konnten, ohne daß sie sich durch die Produkte ihrer Stoffwechsel vergifteten, und eine dieser Gemeinsamkeiten lag eben im klanglichen Bereich. Höllenblüte hatte tatsächlich einen aphrodisiakischen Klang! + Du bist unsere Freude +, entgegnete Hweeh galant. Höllenblüte schwieg, als spürte sie Heralds Abneigung gegen ihre kunstvollen, künstlichen Reize, und drehte dann eine aufreizende Pirouette. + Was ist dir deine Freude wert? + Herald wollte seinen Gefährten vor dem Mechanismus warnen, der vor ihnen stand, so daß Hweeh nicht in eine peinliche Lage geriet, hingegen hatte er auch wenig Lust, in Anwesenheit des Mädchens in Anführungszeichen zu reden. Andererseits, warum sollte er sich einmischen? Schließlich war Hweeh kein unreifes Greenhorn mehr, und es bestand eigentlich keine Gefahr, daß der Anstand vielleicht nicht gewahrt wurde. An einer bestimmten Grenze war Schluß, da Androiden nicht über primäre Geschlechtsmerkmale verfügten. Aber gleichzeitig stellte sich ihm die Frage: Stimmte das überhaupt? + Ich habe keine Ahnung, was man heutzutage üblicherweise zahlt +, sagte Hweeh. + Doch wenn es für mich erschwinglich ist... + Autsch! Der Weew hatte nicht geschaltet! + Dann leiste mir Gesellschaft +, sagte sie mit einer weiteren aufregenden Drehung, die von dem anschwellenden Klang der Verführung begleitet wurde. Hweeh eilte ihr über den geschwungenen Boden nach. Er schien durch den Raum zu fliegen, wobei er
Sternformationen verdeckte, als er seinen Weg fortsetzte. Blödsinn! Doch Herald, der immer noch nichts sagen wollte, schwieg und folgte seinem Freund. Wohin gerieten sie da? Es war sicher eine ganz große Sache, das Leben und Denken der Ahnen wieder wach werden zu lassen, doch dies... Höllenblüte huschte aus dem Inn und weiter auf eine erhöhte Rampe zu, die sich zwischen zwei Gebäuden in die Höhe wand. Heralds Wirt wandte ohne Schwierigkeiten die Techniken des kontrollierten Gleitens an. Hweeh mußte sich dann, so gut es ging, an die Bewegungen Heralds angleichen. Sie blieben allmählich hinter dem Mädchen zurück. Nun machte Herald auch seinen Sorgen Luft. »Klang«, murmelte er. »Er weckt fundamentale Instinkte. Künstlich das alles.« Hweeh war richtig geschockt und wäre beinahe gestürzt. »Sie haben recht! Diesmal war ich der Blinde!« Das Mädchen bremste ab und blickte mit einem Auge zu ihnen zurück. Herald hielt es für notwendig, das Mädchen abzulenken. +Höllenblüte, wohin wollen wir?+ + Ich bin S-Anity +, entgegnete sie. + Nicht Höllenblüte? + fragte Hweeh gekränkt. + Ich glaube, hier liegt ein Irrtum hinsichtlich der Personen vor +, meinte Herald. + Verzeihung. + + Die sichere Identifikation richtet sich nach der Aura +, antwortete sie nach einer Weile. + Ich bin sicher, daß du derjenige bist, den ich will. + + Ich? + fragte Herald verblüfft. + Bestimmt sollte mein Kollege, der... + Wieder dieses seltsame Zögern. + Nein. Du bist au-
raler Herkunft. + Oh, schon wieder eine Eroberung mittels der Aura. S-Anitys eigene künstliche Aura betrug 150, und offensichtlich war der Lenker der Androidin in der Lage, Heralds stärkere Aura zu identifizieren. Nun, vielleicht war das genau die Art und Weise, in der die echten Ahnen in einer solchen Situation reagiert hätten. Nämlich nach einer stärkeren Aura zu suchen und sich mit ihr zu vereinigen. In Anbetracht seiner erzwungenen Verlobung mit Flamme von Esse und seiner Reaktion auf Psyche, als sie sich im Zustand der Erregung und Verstärkung befand, konnte er nicht behaupten, daß eine solche Reaktion außergewöhnlich war. Dann ging das Spiel also weiter – aber wie weit? Nun gesellte sich eine weitere Moderne zu ihnen, die aus einer Nebenrampe herangerollt kam. + Ich bin S-Elect +, stellte sie sich vor. + Darf ich euch begleiten? + + Da mein Gefährte meine Weibliche offenbar mit Beschlag belegt hat, bist du herzlich eingeladen +, entgegnete Hweeh. Ein doppeltes Rendezvous? Irgend etwas erschien an dieser Konstellation höchst seltsam. Was hatten diese Weiblichen mit ihren falschen Namen vor? Doch Herald äußerte sein Mißtrauen nicht, da er mittlerweile neugierig war, wie die Sache sich weiterentwickelte. Seltsam mußte nicht gleichzeitig auch gefährlich heißen. Vielleicht wollte das Personal der Enklave den Besuchern ihre Fähigkeiten vorführen, wenngleich es unwahrscheinlich erschien, daß ihre Fähigkeiten auch das mit einschlossen, was zu tun sie im Augenblick die Absicht hatten.
S-Anity führte sie durch einen oberen Eingang eines kleinen Gebäudes. Die Tür schloß sich hinter ihnen. Ein privates Liebesnest? Sie standen einer Gruppe von männlichen Androiden gegenüber, die sich im Halbkreis aufgebaut hatten. In der Haltung dieser Fremden lag nichts Frivoles oder Spaßiges. Herald begriff schlagartig, daß er und Hweeh sich in ernsten Schwierigkeiten befanden. + Lernt bei dieser Gelegenheit auch ein paar Mitglieder der Einheit neun kennen +, sagte S-Anity. + Be-Neun, Sta-Neun, Leo-Neun, Qui-Neun. + + Ich verstehe nicht +, sagte Hweeh. »Diese Kreaturen sind keine Modernen«, erklärte Herald ihm gepreßt. »Sie kommen von der Amöbe.« »Der Amöbe? Wie...?« »Jetzt geh nicht gleich in den Schock! Wir müssen irgendwie von hier verschwinden! Die Amöbe hat sich in die Lenkstrahlen der Androiden eingeschaltet, so daß der ganze Laden jetzt von einem Amöbenschiff aus gesteuert wird. Daher auch diese seltsamen Sprechpausen. Es dauert einige Zeit, bis die entsprechenden Signale hin und her gegangen sind, da sie sicherlich mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sind. Sie wollen uns vernichten.« »Aber warum?« »Weil sie glauben, daß wir uns umfassende Kenntnisse über die Technologie und Naturwissenschaft der Ahnen verschaffen können. Und da sie davon so gut wie überzeugt sind, haben sie jeden Grund, uns auszuschalten.« »Dann haben die also die Enklave nur deshalb besetzt, um uns verschwinden zu lassen?«
»Zumindest diesen Teil der Enklave. Sie scheinen so geheim wie möglich vorgehen zu wollen. Es muß wegen der offensichtlichen Laser-Attacke auf die Mars-Fundstätte ziemlichen Ärger gegeben haben. Wenn sie diese gesamte Pseudo-Stadt in einem Handstreich übernehmen würden, dürften die offiziellen Vertreter von Stift und Rad mißtrauisch werden. Daher hat die Amöbe nur einige Androiden manipuliert und uns in eine Falle gelockt und in ihre Gewalt gebracht.« »Das entspricht den Tatsachen«, bestätigte S-Anity. »Und jetzt haben sie auch unseren Sprachcode dechiffriert«, sagte Hweeh. »Deshalb haben sie auch untätig herumgestanden und uns drauflosreden lassen; sie studieren uns.« Herald schaute sich um und sondierte die Lage. Da waren sechs von der Amöbe kontrollierte Androiden, die beiden Weiblichen mitgezählt, denen sie gegenüberstanden. »Das Schiff muß sich in einem fernen Orbit befinden, damit es nicht entdeckt wird. Planetare Detektoren nehmen doch jede Unregelmäßigkeit im Umkreis einer Viertel-Lichtsekunde auf und melden sie weiter. Deshalb können die Androiden erst nach etwa einer halben Sekunde auf uns reagieren, außer sie beobachten uns und ahnen unsere Aktionen voraus. Sicherlich haben sie keine Waffen, weil es derartiges in der Enklave nicht gibt.« »Ich verstehe«, sagte Hweeh. »Wenn wir uns schnell bewegen und sofort losschlagen...« »Allerdings haben wir euch in diesem Raum eingeschlossen«, rief S-Anity ihnen ins Gedächtnis. »Ihr werdet länger als eine halbe Sekunde brauchen, um auszubrechen.«
Herald rollte zum Fenster. Es wäre ein Sturz über drei Stockwerke, und die Landung wäre, so wie es aussah, ziemlich hart. Nicht unbedingt tödlich, aber eine schwere Verletzung war so gut wie sicher. »Denkst du etwa daran, den Helden zu spielen und zu springen?« erkundigte Sta-Neun sich. »Wir haben auch unten ein paar von unseren Leuten. Die schalten dich aus, ehe du dich einschalten und verschwinden kannst.« Ausschalten? Irgend etwas kam Herald an dieser Formulierung seltsam vor. Glaubten die Amöber etwa, daß sich innerhalb der Androiden ein Mechanismus befand, der ausgeschaltet werden mußte, damit die Insassen einen derartigen Sturz unbeschadet überstanden? Eigentlich sollten sie es doch besser wissen! »Ihr von Amöbe gehört doch zu den denkenden Rassen«, sagte er. »Genau wie wir aus dem Cluster. Warum legen wir es darauf an, uns gegenseitig zu vernichten?« »Ihr seid Unkraut-Rassen, die die Entwicklung seelischer Intelligenz behindern«, erwiderte S-Anity. »Das Unkraut muß aus dem Garten entfernt werden.« Unkraut-Rassen? Seelische Intelligenz? Schon wieder dieses Bild! Doch wo die Ahnen kirlianlose Denker ausgerottet hatten, schien die Amöbe alle Kirlians auslöschen zu wollen. Und das ergab keinen Sinn. Die vier -9s rollten auf sie zu. Offenbar handelte es sich bei den -9s um Spezialisten für den harten Einsatz, während die S-s mehr für die intellektuelle Seite zuständig waren. Damit mochten sich die Chancen etwas verschieben; Intellektuelle waren oft schlechte Kämpfer. Das Problem war nur, daß auch Herald von Slash und Hweeh von Weew zu den Intellektuellen
zählten. Herald rollte eilig durch den Raum, um Hweeh zu berühren. Er sammelte seine Aura und konzentrierte seine heilende Kraft. »Was ist das Wesen der Amöbe?« schrie er. Was immer im schockgeschützten Unterbewußtsein des Weew an Informationen enthalten war, mußte jetzt herausgeholt werden. »Warum reden sie von ›abschalten‹?« Hweeh erschauerte in seinem Androiden-Vehikel. Herald konzentrierte sich und verdrängte mit seiner Willenskraft den drohenden Schock. Wenn es überhaupt einen Schlüssel zu einem möglichen Fluchtweg gab, dann hatte Hweeh ihn – und später ergäbe sich keine Gelegenheit mehr, ihm diesen Schlüssel herauszulocken. Hweeh hatte sich mehr und mehr in der Lage gezeigt, das Prinzip der Amöbe und die Katastrophe, die dadurch repräsentiert wurde, zu überdenken und zu begreifen, ohne in den Schock zu sinken. War er nun hinreichend geheilt? Die -9s kamen näher und streckten die Arme aus. Hätten sie ihre Opfer erst einmal im Griff, dann wäre der Halbsekunden-Vorsprung so gut wie nutzlos. Seltsam nur, daß sie nicht einfach vorstürmten, die beiden Androiden gegen die Wand schmetterten und die Fleischkörper in ihrem Inneren zerquetschten. Per Fernsteuerung gelenkte Androiden waren leicht zu verschmerzen und machten insofern die kürzere Reaktionsspanne der beiden Kirlians wieder wett. @ Ich erinnere mich! @ schrie Hweeh und bediente sich wieder seiner eigenen Sprachform. Herald konnte die Weew-Sprache nicht verstehen und hatte auch keinen Translator in die Enklave mitgenommen, dennoch verstand er allein mit Hilfe seiner sensiblen
Aura genau, was sein Gefährte meinte. Derartige Phänomene tauchten in Phasen besonderer emotionaler Angespanntheit auf und bildeten einen anderen, interessanten Aspekt des Kirlianismus, mit dem man sich noch eingehender beschäftigen mußte, um ihn völlig zu verstehen. @ Die Amöbe ist kirlianlos! @ Kirlianlos! Plötzlich lag alles klar auf der Hand. Die Ahnen hatten die kirlianlosen Denker aus dem Cluster eliminiert, jedoch mußte es irgendwo im Universum auch Cluster geben, wo die Kirlianlosen die Kirlians eliminiert hatten. Es war dies ein universeller Kampf zwischen diesen beiden Formen intelligenten Lebens! Nun kehrten die Denker ohne Auren wieder zurück und wollten eine fürchterliche Rechnung begleichen, die drei Millionen Jahre auf Bezahlung gewartet hatte, und man durfte in dieser Situation keine Gnade erwarten. Kein Wunder, daß Hweeh in den Schock gegangen war. Er hatte einen Eindruck vom Umfang dieses Streits bekommen und sofort erkannt, daß es kein Krieg zwischen Clustern war, sondern ein Krieg zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Kulturen – und daß die Gegenseite einen überwältigenden Vorteil hatte. Dann begriff Herald die sich daraus ergebende Tatsache: Die Amöber konnten nicht in den Transfer gehen! Sie waren dazu unfähig! Ausschließlich AuraKreaturen konnten ihre Persönlichkeiten per Transfer verlagern. Deshalb hatten sich die Ahnen ja auch so schnell ausbreiten und die Herrschaft im Cluster übernehmen können, ohne besonderen Schaden anzurichten; ihre kirlianlosen Feinde brauchten, um sich zwischen den Systemen hin und her zu bewegen, das Tausendfache an Energie und konnten sich nicht clu-
sterweit zur Wehr setzen. Das hieß aber auch, daß ihnen nunmehr ein Kampf bevorstand, wie er vor drei Millionen Jahren schon einmal stattgefunden hatte: Durchaus möglich, daß die Kirlians bereit und gewillt waren, in einer friedlichen Koexistenz zu leben, jedoch mußte die Amöbe jegliches Leben auf Kirlian-Basis auslöschen. AuraIntelligenz mit ihrer beispiellosen Mobilität stellte für alle Kirlianlosen die schlimmstmögliche Bedrohung dar. Dieser Krieg würde gnadenlos und bis zum letzten Blutstropfen geführt werden! Wäre Herald ein Weew, so wäre auch er ganz sicher in den Schock gegangen; selbst als Slash fühlte er sich leicht benommen. Schock? Natürlich, der Weew hatte sich trotz Heralds auraler Unterstützung wieder verabschiedet. Der Androidenkörper erschlaffte, als Hweeh das Bewußtsein verlor. Nun hieß es also einer gegen vier oder sechs – zur Rettung des Clusters und wahrscheinlich sogar allen Kirlianlebens! + Einer hat sich ausgeschaltet! + meldete S-Anity. + Sichert den anderen! + Ausgeschaltet: bewußtlos geworden. Für einen Kirlianlosen bedeutete das einen vollständigen Stopp aller Körperfunktionen wie bei einer Maschine, deren Energiezufuhr unterbrochen wird. Nicht unbedingt der Tod, sondern ein zeitlich begrenztes Ersterben. Und Herald kam in diesem Moment wieder eine Erleuchtung, diese ausgesprochen persönlicher Natur. Er stürzte auf das Fenster zu und wischte die Zangen der Androiden beiseite. Die Zeitverzögerung von einer halben Sekunde behinderte sie ausreichend.
Wären dies von der Amöbe konstruierte Androiden gewesen, dann hätte man ihnen wahrscheinlich kurzwegige Schaltkreise für Notfälle eingebaut, die sie zu reflexartigen Reaktionen befähigt hätten. In diesem Fall waren es aber geliehene Einheiten mit allen ihnen innewohnenden Nachteilen. Er hämmerte seine Zangen gegen die transparente Scheibe und zerschmetterte sie. Die Erbauer der Enklave hatten mit derartigen Aktionen nicht gerechnet, sonst hätten sie wahrscheinlich unzerbrechliches Material verwendet. Er wich zurück, als die Androiden angriffen, dann stürmte er wieder auf die Öffnung zu. Die Androiden sprangen hinterher, um ihn aufzuhalten. Soviel hatten sie mittlerweile begriffen, und ihre Reaktion erfolgte schnell und rechtzeitig. Doch Heralds vordere Räder stießen wie beabsichtigt gegen die Wand unterhalb des Fensters. Seine Beine bogen sich bei dem Anprall durch und federten dann wieder zurück. Dadurch wurde Herald in die entgegengesetzte Richtung geschleudert und schlug wie eine Bombe in die Androidengruppe ein. Diese Taktik traf sie völlig überraschend. Herald wirbelte sie im wahrsten Sinne des Wortes durcheinander. Die halbe Sekunde Zeitverzögerung verhinderte, daß die Gestalten, die umgekippt waren, schnell wieder auf die Beine kamen und ihr Gleichgewicht wiederfanden. Sie rutschten quer durch den Raum, stießen gegeneinander, behinderten sich, wobei ihre Rollen unkontrolliert in der Luft rotierten. Herald versuchte sein Glück an der Tür, doch das Schloß widerstand seinen Bemühungen. Er versuchte es mit Gewalt aufzubekommen, aber es war kräftiger
als seine Zangen. Klar, daß die Amöbe sich davon überzeugt hatte, daß es stabil und sicher war! Die beiden S-Weiblichen, Anity und Elect, kamen herübergeglitten, um ihn festzuhalten. Sie waren sich offenbar nicht ganz sicher, daß das Schloß halten würde. Er griff sie an, da er seine Bewegungsfreiheit behalten mußte. Die -9-Männlichen waren bereits damit beschäftigt, ihre Gliedmaßen aus dem Gewirr zu befreien und wieder auf die Rollen zu kommen. Was sollte Herald tun? Er schnappte sich S-Anity in zwei Gliedmaßen und stieß und zerrte sie hin und her, um sie umzuwerfen. Er erzielte nur einen Teilerfolg; eine ihrer Zangen verfing sich in ihrem Rock und fetzte ihn herunter. Er tat etwas, von dem er wußte, daß es überaus dumm war. Er starrte die Weibliche an. Und sah – nichts. Er hatte sich also nicht geirrt: Androiden verfügten nicht über primäre Geschlechtsmerkmale. S-Elect packte ihn von hinten. Er mußte durch seine Neugier mehr als eine halbe Sekunde verloren haben. Was war er doch für ein Idiot! Er wirbelte herum und hatte sie in seiner Gewalt, denn er konnte sein Gleichgewicht schneller verlagern als sie das ihre. Er schleuderte sie von sich mitten in die Gruppe aufstehender -9s hinein. Und wieder gingen seine Verfolger in einem unentwirrbaren Knäuel zu Boden. Bisher hatte er sich ganz gut gehalten. Doch solange sie ihn gefangenhalten konnten, befanden sie sich im Vorteil. Er konnte sie unschädlich machen, aber nicht töten; dafür war er sterblich. Er hämmerte gegen die Tür, daß es durch den Bau dröhnte. »Schaltet die Maschinen aus!« schrie er.
»Ausschalten! Ausschalten!« »Wenn jetzt ausgeschaltet wird, dann bist du noch lange nicht gerettet«, sagte Sta-9 und näherte sich. »Wir nehmen einfach deinen Generator auseinander und verschwinden damit.« Seinen Generator? Sie dachten doch wohl nicht, daß er lediglich ein anderer Androide war, oder etwa doch? Sein Aura-Generator war er selbst! Allerdings, wenn sie etwas begriffsstutzig waren und einiges durcheinanderwarfen, war es durchaus möglich, daß sie bei ihm ein Sondermodell von Generator vermuteten, mit dem sich eine intensivere Kirlian-Aura mit einer etwas natürlicheren Struktur erzeugen ließ. Gewöhnliche Maschinen-Auren konnten die Ahnen-Fundstätten nicht aktivieren, daher waren sie auf der Suche nach einer Maschine, die das bewerkstelligen konnte. Ja, das würden sie überprüfen wollen. S-Anity rollte auf ihn zu. Ihres Kleides entledigt, war sie lediglich eine Moderne, doch er konnte sich schlecht auf seine Flucht konzentrieren, solange er von einer Amöberin bedrängt wurde. Er konnte sie nicht dauernd umwerfen; nicht mehr lange, und sie würden ihm genauso übel mitspielen. Sie griff nach ihm. Er wirbelte sie herum und hoffte, sie als Schutzschild gegen die anderen benutzen zu können. Plötzlich begriff er, daß er schon wieder einen dummen Fehler gemacht hatte: Er hatte seinen Hilferuf in der falschen Sprache ausgestoßen, einer Sprache, die niemand in der Enklave verstand oder übersetzen konnte. Å Abschalten! Å schrie er auf Stiftisch. Θ Abschalten! Θ flehte er auf Radisch. δ Abschalten! δ auf Sculpisch. + Abschalten! + auf Plusisch. Um ganz sicher zu ge-
hen, auch noch einige Male auf Clustrisch. Nichts geschah. Wieder drangen sie auf ihn ein, und diesmal waren sie auf eine mögliche Attacke vorbereitet. Er schleuderte ihnen S-Anity entgegen, doch sie riß nur einen einzigen Androiden um. Herald wußte, daß es nun ums nackte Leben ging – und daß er keine vernünftige Chance hatte, diesen Kampf zu gewinnen. Wenn es nicht gerade zu einem Handgemenge kam, könnte er seinen Sculp-Wirt aus dem Androidenkörper befreien und über den Boden zum Fenster schleichen, während die Amöber den Androiden auseinandernahmen. Sie waren scharf auf das Gerät, daß ihrer Meinung nach seine Aura so perfekt verstärkte, und konnten es sich daher nicht erlauben, es zu beschädigen. Selbst wenn seine Reglosigkeit sie denken ließ, daß er sich abgeschaltet hatte, würden sie nichts überstürzen. Sculps hatten ungewöhnliche Kletterfähigkeiten; durchaus möglich, daß er die Außenwand schaffte. Es war ein großes Wagnis, aber... Er versuchte sein Glück und stellte fest, daß es überaus schwierig war, den Androiden von innen zu öffnen; normalerweise wurde er von außen gewartet. Und wie sollte er aus dieser Hülle schlüpfen, ohne daß jemand ihn entdeckte? Vielleicht gelang es ihm, noch einmal ein heilloses Durcheinander zu verursachen... Drei -9s packten ihn und umklammerten ihn. Diesmal konnte er sich nicht aus eigener Kraft befreien! Die halbe Sekunde Vorsprung wurde durch die Umklammerung zunichte gemacht. Nun näherte sich der vierte -9, um den Androiden zu öffnen, und er war nicht in der Lage, sich dagegen zu wehren...
Plötzlich erstarrten alle Androiden mitten in der Bewegung. Herald schüttelte sich erleichtert. Seine Bitten waren erhört worden! Die Erbauer der Enklave hatten bemerkt, daß etwas nicht in Ordnung war, und hatten die Leitstrahlen der Androiden abgeschaltet. Mochten die Amöber durchaus die entsprechenden Geräte unter Kontrolle haben, so konnten sie jedoch ohne Energiezufuhr nichts damit anfangen. Durchaus möglich, daß das Amöben-Schiff eigene Energie nach unten strahlen konnte, jedoch wäre das ein zu großes Wagnis, denn örtliche Energie-Scanner würden die neue Energiequelle sehr schnell finden, lokalisieren und angreifen. Wahrscheinlich hätten Herald und Hweeh sich bis dahin längst aus dem Staub gemacht, und wahrscheinlich befänden sich die Androiden zu diesem Zeitpunkt im Gewahrsam der Verwalter der Enklave. Er hörte, wie sich Hilfe näherte: das Klacken von Stiften, das Sirren von Rädern. Er hatte sich selbst gerettet, jedoch wäre das völlig nutzlos, wenn er seine Informationen nicht weitergab, um den aus Naivität blinden Cluster auf die Schlacht gegen die Amöbe vorzubereiten. Der Feind war durch seine Fähigkeit zum Transfer gehandicapt – allerdings verfügte der Feind über eine Million schwerbewaffneter Schiffe und die Einrichtungen, um sie per Materietransmission quer durch den Cluster zu schicken. Allein das Wissen der Ahnen konnte eine solche Aktion vereiteln – und es gab nur eine Möglichkeit, sich dieses Wissen rechtzeitig anzueignen. Das war die dritte Erleuchtung, die ihm gekommen war: zu erkennen, daß er Melodie von Mintakas Rat-
schlag ernst nehmen und seine persönlichen Belange gegenüber den Nöten der Gesellschaft zurückstellen müßte. Er würde wohl eine noch funktionsfähige Fundstätte der Ahnen betreten müssen – dieselbe, in die Melodie vorgedrungen war – und konnte nur hoffen, das Geheimnis der Ahnen zu erfahren, ehe die Amöbe die Fundstätte vernichten konnte. Er hatte eine solche Möglichkeit bisher stets weit von sich gewiesen, denn sie schien einen doppelten Verrat notwendig zu machen: an seinem persönlichen Entschluß, Flamme von Esse fernzubleiben, und an seiner Liebe zu Psyche. Doch nun mußte er es tun. Eigentlich hätte er es schon längst tun sollen, anstatt hierher zu kommen.
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Cluster der Fundstätten X Kontakt von Einheiten S und 9 gelöst. Feind hat unsere Anwesenheit entdeckt. X & Dann müssen wir handeln. Großräumige Materietransmission zu den Zentralwelten aller ClusterIntelligenzen beschleunigen. Großangriff ist zu unterlassen, bis alle Positionen eingenommen, außer eines unserer Schiffe wird direkt attackiert. & o Mission läuft weiter und ist so gut wie abgeschlossen. Offene Aktion wird nach Plan erfolgen. Muß immer noch Zurückhaltung geübt werden, bis Überprüfung auf Existenz von Seelen-Weisheit abgeschlossen? o & Richtig. Es ist bedauerlich, daß überstürzte Aktion in Erwägung gezogen wird, jedoch steht das Resultat nicht in Frage. Wir werden Überprüfung vornehmen, solange die Ereignisse dies nicht vereiteln. & o Das ist ein logistisches Problem. Einheit 1, zur Zeit zur Beobachtung am Ahnen-Fundort auf Planet £, wird zum Hauptangriff benötigt. o & Der Hauptangriff hat Vorrang. Einheit 1 zurückbeordern. Der Feind hat bisher keine Anstalten gemacht, diese Fundstätte zu aktivieren, und selbst wenn dies jetzt geschehen sollte, hätten sie keine Zeit mehr, sich bis zu unserem Großeinsatz entscheidende Vorteile zu verschaffen. & Nacheinander hob Herald seine drei großen Füße, um ein Gefühl für seinen neuen massigen Wirt zu be-
kommen. Dies war ein £, vergleichbar mit den drei rollenden Modernen, jedoch geradezu übersprühend lebendig, intelligent und weitaus größer. Die £ waren die Riesen der Sphäre Dash, Andromeda, und gehörten zu den größten Denkern des gesamten Clusters. Lange Zeit waren sie von den mehr technologisch ausgerichteten, aber nicht gerade zivilisierten Vögeln von Dash wie Sklaven behandelt worden. Doch nun hatten sie sich auf eigene Füße gestellt, und obwohl die Arbeiten, die sie ausführten, im großen und ganzen dieselben waren, die sie vorher getan hatten, und viele von den Kreaturen Dash als Mahuts auf den Rücken trugen, war es keine Frage, wem diese Welt im Grunde gehörte. Immer noch bevorzugten die £ ein Leben voll härtester körperlicher Arbeit, das mit Perioden feinsinnigster mentaler Interaktionen abwechselte. Die Vögel wurden toleriert, soweit sie dies erleichterten, indem sie die ermüdende Aufgabe übernahmen, den physischen Teil des Daseins der £ zu betreuen, jedoch verstieß es nicht gegen das Gesetz oder die Sitten, wenn einzelne £ sich entschieden, ohne Mahuts herumzuwandern, wo ihre Neugier sie hintrieb. Hier auf dem Planeten £ befand sich die besterhaltene funktionsfähige Ahnen-Fundstätte, von der man wußte. Herald konnte nur hoffen, daß sie der Amöbe noch nicht bekannt war. Wenn dies der Fall sein sollte, dann würde er Selbstmord begehen. Und vielleicht wäre das genau die richtige Handlungsweise. Er drehte seinen Körper langsam, indem er die Füße nacheinander niedersetzte, und bewegte sich auf dem Pfad in Richtung des Gallertsumpfs. Melodie von Mintaka war vor tausend Jahren einen ähnlichen
Weg gegangen, als sie sich anschickte, diese Fundstätte zu öffnen und für ihre Galaxis den Sieg zu erringen. Würde Herald genauso erfolgreich sein? Nun stieg er in den Sumpf hinab. Die Atmosphäre verdickte sich bis zur Zähflüssigkeit, behinderte das Vorwärtskommen, doch Heralds Wirt kannte diese Schwierigkeiten. Herald bedauerte es, die prismatischen Federbäume hinter sich gelassen zu haben. Er wußte, daß sie das Sonnenlicht in seinen Farben zerlegten, so daß jede Spezies sich ihrer speziellen Wellenlänge bedienen konnte, jedoch war dies für ihn eine überaus artistische Angelegenheit, ein üppiges Landschaftsgemälde aus Licht. Der Sumpf dagegen verdunkelte sich zu Grau, dann zu Schwarz, da alles Licht ferngehalten wurde. Herald mußte andere Sinne als seinen Gesichtssinn einsetzen, um den niedrig hängenden Ästen des Geflechts auszuweichen, das den Sumpf in verschiedenen Ebenen durchzog, und dann mußte er sich von den aromatischen Duftholzstämmen fernhalten, die für den Gebäudebau so wichtig waren. Er war mit einer ganz anderen Absicht hergekommen. Was, fragte er sich, hatte Melodie in der tiefgelegenen Fundstätte entdeckt, das zu enthüllen sie sich strikt weigerte? Jedesmal, wenn er glaubte, er hätte es endlich herausbekommen, dachte er weiter darüber nach und kam zu dem Schluß, daß er noch immer keine Ahnung hatte. Es war im Prinzip ähnlich wie bei Hweeh von Weew mit seinem Schock-Reflex, der wichtige Informationen zum Schutz von Individuum oder Gemeinschaft abschirmte. Allerdings, hatte irgendein Individuum das Recht, eine derartige Entscheidung zu treffen?
Hweeh hatte eine ganze Menge Schwierigkeiten und Mühen auf sich genommen, um Herald diesen Ausflug zu ermöglichen. Der Weew war in sein eigenes Segment zurücktransfert, um, wie er es ausdrückte, die richtigen Faden zu ziehen. Die Folge war, daß der Minister von Weew sich mit dem Minister von Dash beriet, der wiederum Herald die Erlaubnis gab, in diese streng bewachte Region einzudringen. Vielleicht hatte allein die Neugier die Verantwortlichen zu dieser Entscheidung gedrängt und nicht die drohende Gefahr für den Cluster, die Herald abzuwenden hoffte. Also war er hier, und es würde noch eine andere Entität hier sein – und er hatte beschlossen, nicht nur den Cluster zu retten, sondern auch die Wahrheit zu sagen, wie immer sie aussehen mochte. Wissen war die Grundlage jeder Macht. Schließlich gelangte er zur tiefgelegenen Fundstätte: eine Senke im fast schwarzen Grund des Sumpfs. Und dort traf er auf den für die notwendige Zeremonie des Eintretens sorgfältig ausgewählten Partner: eine in einen £-Wirt transferte Weibliche mit hochintensiver Kirlian-Aura. Denn die Fundstätte öffnete sich nur, wenn in direkter Nähe eine Paarung zwischen Super-Kirlians stattfand. Und es gab nur eine einzige Weibliche dieses Kalibers, die der Cluster ihm gestattete. – Hallo, Herald von Slash –, vibrierte sie mittels ihrer Haut, deren Schwingungen sich in dem flüssigen Medium hinreichend gut fortsetzten. – Hallo, Flamme von Esse –, erwiderte er nicht ohne Schwierigkeiten. – Es tut mir leid, daß wir uns unter solchen Umständen treffen müssen. – – Entschuldigung registriert und angenommen –,
entgegnete sie gut gelaunt und mit einem leichten Lächeln, denn sie wußte sehr wohl, daß dies keine Entschuldigung gewesen war. – Ich weiß sehr wohl, daß ich nicht gerade dein Wunschpartner bin. Ginge es nicht um das Schicksal des Clusters, wäre ich gar nicht gekommen. – Herald berührte sie kurz mit der Spitze eines Tentakels, ertastete ihre Aura. Der Intensitätsgrad betrug 190. Damit war sie die stärkste natürliche Aura, auf die er je gestoßen war. Nach Psyche! Nur einmal in tausend Jahren durchbrach in einer größeren Galaxis eine Kreatur mit ihrer Aura die Intensitätsschallmauer von 200; Flamme war von der Art einer Einmal-ineinem-Jahrhundert-Variante, was immer noch recht beachtlich war. – Die Einzelheiten sind dir doch klar, oder? – fragte er. – Das Risiko? – Vielleicht machte sie einen Rückzieher. – Die Amöbe, die sich jenseits meiner Galaxis formiert hat (Esse war kaum als Galaxis anzusehen, allerdings schienen ihre Bewohner da ganz anderer Meinung zu sein!), wird uns alle vernichten, wenn wir uns nicht das Wissen der Ahnen aneignen können, um uns zur Wehr zu setzen. Schon möglich, daß die Amöbe die Fundstätte angreift und zerstört, sobald wir sie betreten und aktivieren. Jedoch ist dies wahrscheinlich unsere einzige Chance, denn die Amöbe wird in Kürze sowieso jegliches Leben in der Galaxis vernichten. – – Du bist intelligent und hast Mut –, sagte er und spürte, wie sich seine Einstellung zu ihr veränderte. Dies war die Weibliche, die seiner sozialen Freiheit im Weg gestanden hatte. Er war bereit gewesen, an
ihr seine Pflicht zu erfüllen, um seine Heirat mit Psyche zu legitimieren, außer daß er Psyches Reaktion auf einen solchen Schritt fürchtete. Daher hatte er Maßnahmen ergriffen, dieser Verpflichtung enthoben zu werden. Kurz danach war Psyche gestorben. Flamme hatte an Psyches Schicksal nicht die geringste Schuld, dennoch fiel es ihm jetzt schwer, sich mit ihr zusammenzutun. Er wollte sie nicht sympathisch finden! – So mutig bin ich auch nicht, Herald. Laß uns schnell weitermachen. Ich habe Angst vor dem nächsten Angriff der Amöbe. – Laß uns weitermachen. Schon wieder diese unselig quälende Formulierung, die ihn erneut in ein Chaos aus Schuldgefühlen und Rechtfertigung schleuderte. Weitermachen, wie er mit der Jet Sechzehn weitergemacht hatte, um eine rein situationsbedingte Verbindung herzustellen, die sich im nachhinein als gar nicht so situationsbedingt herausstellte. Für sie hatte weitaus mehr dahintergesteckt. Aus ähnlichen Gründen hatte er sich auch Höllenblüte von Modern versagt und sämtliche Emotionen unterdrückt, die er verspürt hatte. Warum mußte er immer wieder auf so schmerzliche Weise an seine Fehler erinnert werden? Aber es ging um das Schicksal des Clusters. – Dir ist doch klar, welcher Art die Zeremonie ist, die wir vollziehen müssen? – – Natürlich. Wir müssen uns vor der Fundstätte paaren. – – Ja. Es muß kein Akt der Liebe sein, und das ist er auch nicht. – Doch auch dies weckte in ihm unangenehme Erinnerungen, da er genau das ebenfalls zu Sechzehn gesagt hatte.
– Ich bin froh, daß du das verstehst, Herald. – Froh, daß er verstand? Aus Weiblichen soll man schlau werden! Sie fuhren mit ihrem Vorhaben fort, ohne ein überflüssiges Wort zu verlieren; eine zügige Paarung, die aus rein praktischen Erwägungen vollzogen wurde. Herald versuchte, aus seinem Geist das Bild Sechzehns zu verbannen, die vorgegeben hatte, ihn nicht zu lieben, so daß er in seiner Freiheit nicht eingeschränkt wurde. Jedoch wurde dieses Bild schnell durch den Anblick Psyches ersetzt, der ihn zwar nicht an eine traurige Vergangenheit erinnerte, jedoch nicht weniger unangenehm war, denn er war soeben im Begriff, sie zu betrügen. Sie lebte! Sie mußte am Leben sein! Was hätte er davon, wenn er den Cluster rettete, ohne daß sie sich dort noch aufhielt? Ein undefinierbares Gefühl sagte ihm jedoch, daß dies nicht Psyche war, sondern ihr totaler Gegensatz. Sein bohrfähiger Kopulationsmechanismus gab nach. Er war sexuell impotent. – Ich bin dazu doch nicht fähig –, gestand Herald. – Ich liebe eine andere. – – Ich muß zugeben, daß ich erleichtert bin –, vibrierte Flamme. – Auch ich liebe jemand anderen. – Genauso hatte auch Sechzehn sich ausgedrückt, oder logen alle Weiblichen auf Befehl? Ihm reichte es allmählich! – Das Weiterbestehen unserer Kultur fordert... – – Herald, ich habe mir hinsichtlich der Notwendigkeit einer solchen Aktion keinerlei Illusionen gemacht. Nun jedoch fange ich zu träumen an. Ich hatte in dir eine weitaus härtere Persönlichkeit vermutet, eine Persönlichkeit, die sich auf ihrem Weg weder
durch gute Worte noch durch Gefühle ablenken ließ. Du bist aber immer noch der Kirlian, und zwar einer, wie man ihn noch nie gekannt hat, und insofern kannst du dir deine Arroganz durchaus erlauben. Du bist eben jemand, der noch nie die Tragik unerfüllter Gefühle und Sehnsüchte erfahren hat. – – Das ist ein Irrtum! – – Vielleicht. Da ich eine zu Gefühlen etwas fähigere Entität spüre, womit ich nicht gerechnet hatte, wächst mein Interesse. Es ist durchaus denkbar, daß ich es nicht bedauern werde, mich mit dir gepaart zu haben, auch wenn dies sich als nutzlos erweist. Außerdem hatte ich den Reiz deiner wunderbaren Aura völlig unterschätzt. – – Dann bremse ich deine Phantasie und unterbreche das Auftauen deiner Gleichgültigkeit. Ich bin ein Heiler; meine Aura hilft Entitäten bei der Genesung. Wenn du irgendwelche Leiden hattest, dann trägt meine Aura dazu bei, daß diese Leiden gelindert werden und dein Körper sich selbst heilt. Dies ist jedoch nicht mein Verdienst. Während wir zusammen waren, dachte ich an Psyche, die im Feuer umkam, die ich jedoch immer noch liebe und wiedererwecken will. – – Ich dachte an Sprit, meinen Geliebten, den ich wegen dir nicht heiraten durfte und der in einem Eisloch einen schrecklichen Tod fand. – Also auch sie! Eis war für die heißen Intelligenzen von Esse der schlimmste aller Schrecken. – Das wußte ich nicht –, vibrierte Herald bedauernd, wobei er anfing, ihren Worten zu glauben. Warum sollte sie überhaupt den Wunsch haben, ihn hinters Licht zu führen? Ihre Beziehung war schon in früher Jugend
beschlossen worden, und was man voneinander dachte, war dabei nahezu bedeutungslos gewesen. – Ich habe dem Feuer die Schuld gegeben, während du doch eine Kreatur des Feuers bist. Ich habe dich verletzt, dir unrecht getan. – – Nicht mehr, als ich dir unrecht getan habe. Sprit kam ums Leben, als er nach einem heraldischen Artefakt suchte, der in Eis gemeißelt war. Ich habe dich damit irgendwie in Verbindung gebracht. – Ein heraldischer Artefakt! Sofort tat es ihm um Sprit von Esse aufrichtig leid, war er doch eine wesensverwandte Entität. – Hätten wir uns besser verstanden, dann hätten wir uns unserer Verpflichtung schon lange entledigen können und wären beide frei gewesen. Keiner von uns war fähig, sachlich nachzudenken. – – Es war mein Fehler –, vibrierte sie. – Ich weigerte mich, in die Sphäre Slash zu reisen. Wahrscheinlich habe ich dir widerstanden, weil meine Bindung an Sprit noch nicht gefestigt war. Ich habe dich als einen Vorwand benutzt. – – Sag nicht so was! – vibrierte Herald. – Du hast deine Liebe zu keinem Zeitpunkt verraten! Während ich... – Er verstummte, überwältigt von der Erinnerung an Sechzehn. Er hatte sich der weiblichen Jet in Liebe genähert! – Und du hast auch deine Liebe nicht verraten; dessen bin ich mir ganz sicher. – – Doch, ich habe es getan! Ich hatte eine Geliebte. – – Na schön, du hattest also eine Geliebte! Hast du sie wirklich geliebt? – – Nein. Sie hatte eine schwache Aura. – – Was macht es dann schon aus? Sie konnte deiner
Liebe gar nicht gefährlich werden. Auch ich könnte niemals eine schwache Kirlian-Aura lieben. Sprit hatte eine Aura von der Intensität einhundertvierzig. – Herald hielt inne, als er seine Empfindungen zu analysieren versuchte und sich schließlich von ihrer Logik überzeugen ließ. Es war kirlianische Logik! –Das stimmt! Ich akzeptierte sie als Geliebte, weil die Situation es erforderlich machte, und es ist einfach unvorstellbar, daß sie Psyche ersetzen kann.– – Dann hast du auch nichts falsch gemacht, Herald, ich mag dich jetzt noch mehr. Sollen wir es ein zweites Mal versuchen? – – Nein! – – Ist deine Loyalität zum Cluster derart schwach? – – Psyche habe ich nicht betrogen. Betrogen habe ich aber Sechzehn, die schwach-kirlianische Weibliche. Sie liebte mich, und ich habe sie nur ausgenutzt. Wie soll ich vor meinem Gewissen damit fertig werden? – – Du kannst eine intelligente und denkende Weibliche auf diese Art niemals täuschen, noch nicht einmal eine mit schwacher Kirlian-Aura. Ganz bestimmt wußte sie genau, was sie tat. Da sie sich darüber im klaren war, daß Liebe unmöglich war, nahm sie, was sich ihr anbot. Wenn das alles ist, was dich verwirrt und unsicher macht, so sei beruhigt. – Herald dachte wieder nach und freundete sich mehr und mehr mit ihrer Argumentation an. Dennoch hielt er sich zurück. – Du hast keine schwache Kirlian-Aura. Du bist im Cluster diejenige, der ich am ehesten meine Liebe schenken müßte. Ich wage es nicht einmal, dich anzurühren. – – Ich versichere dir, daß zwischen uns die Gefahr
der Liebe nicht eintreten kann. Ich habe Sprit von Esse nicht vergessen und werde dies auch niemals tun. Ich habe ihn nur erwähnt, um meine Situation besser erklären zu können. – – Du lügst, Flamme! Du liebtest Sprit, weil er die stärkste Aura hatte, die du je getroffen hast, genauso wie ich Psyche kennenlernte und zu lieben begann. Hätte seine Aura-Intensität zehn oder fünfzehn betragen, dann wäre er dir niemals aufgefallen, ganz gleich, welche anderen Werte er gehabt hätte. Ich stelle diese Werte nicht in Frage. Ich bin überzeugt, er war nicht weniger wertvoll als meine Psyche. Jedoch war es allein seine Aura, die dich ihn aus tausend anderen verdienstvollen Entitäten auswählen ließ. Nun beeinflußt meine Aura dich, ohne daß du es willentlich zuläßt, genauso wie deine Aura auf mich ihre Wirkung ausübt. Du und ich, wir sind KirlianEntitäten verschiedenen Typs. Wir können uns lieben und werden uns lieben, wenn wir uns nicht bald voneinander trennen. Dann nämlich würden wir treulos handeln. – – Gegenüber unseren verstorbenen Liebsten –, fügte sie voller Bitterkeit hinzu. – Herald, kann es denn so falsch sein? Am Ende müssen wir uns sowieso den Realitäten stellen. – – Meine Geliebte ist nicht tot! – rief er und erlebte einen Ansturm der Gefühle, der ihn zutiefst erschütterte. – Sie lebt, irgendwo in diesem Ahnen-Komplex, und ich muß sie retten und wiedererwecken! – – Na schön, dann lebt sie also. Und um sie zu befreien, mußt du dich mit mir paaren. Oder möchtest du, daß sie für alle Ewigkeiten in diesem Ahnengrab bleibt? –
Niemals! – Das ist ja völlig paradox! Um sie zu retten, muß ich sie offenbar betrügen! – – Dann betrachte es doch einmal folgendermaßen: Das Feuer hat sie dir genommen. Daher ist es nur logisch, daß Flamme sie wieder zurückbringt. Wenn ich auf ähnliche Weise meinen geliebten Sprit wieder zurückholen könnte, würde ich ganz bestimmt nicht zögern. – – Es wäre passender, wenn meine kirlian-schwache Geliebte mir diesen Dienst erweisen würde. – – Dann liebst du also auch deine Geliebte –, vibrierte Flamme wissend. – Nein! – Aber seine Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ließ ihn dies noch einmal überdenken. – Sie hat eine Aura, die so schwach ist, daß man sie kaum messen kann. Sie rangiert so weit unter dem Durchschnittswert, wie meine darüber liegt. Dennoch ist sie eine wertvolle Denkerin, intelligent, zu Gefühlen fähig und klug. Ich habe mich nicht an ihr vergangen, indem ich sie in der Stunde größter Not zur Geliebten nahm, sondern indem ich ihr gegenüber meine Liebe verleugnete. Ich glaube... – Er verstummte für einen Moment, weil ihm ein überraschender Gedanke gekommen war. – Ich nehme an, selbst Psyche hätte von mir erwartet, daß ich unter diesen Umständen aus meiner Liebe kein Hehl gemacht hätte. – – Daraus gibt es nur eine logische Folgerung. – Er kam nicht sofort darauf. –Wenn sie also diese Liebe zuließe, würde sie unter ähnlichen Umständen selbst diese Liebe geben.– – Unsere kirlianische Natur schenkt uns die Fähigkeit, Kompromisse zu schließen –, vibrierte Flamme. – Wenn wir diese Mission vollendet haben, wenn wir
beide überleben und wenn du deine wahre hochkirlianische Liebe nicht wiederbelebt hast, werde ich bei der nächsten Gelegenheit deine kirlian-schwache Geliebte animieren. Wir brauchen für eine solche Liaison keine Rechtfertigung zu suchen. – – Das wird nicht nötig sein –, traf Herald plötzlich eine Entscheidung. – Wir werden unsere Liaison jetzt und hier vollziehen. – Er war wieder im Vollbesitz seiner Potenz und vollzog den Akt. Danach standen sie beide auf der Ahnen-Scheibe und warteten darauf, daß die Fundstätte reagierte. – Es wäre eine Ironie des Schicksals, wenn jetzt nichts geschieht –, vibrierte Flamme sanft. – Oder wenn zuviel geschähe, wie zum Beispiel ein Angriff der Amöbe –, fügte er hinzu. – Trotzdem hat es sich gelohnt. Ich liebe andere Entitäten, könnte dich aber unter anderen Bedingungen ebenfalls lieben. – – Dasselbe gilt auch für mich –, pflichtete sie ihm bei. – Ich würde davon noch nicht einmal diese Situation ausnehmen. – – Du hast mir geholfen, mich selbst zu erkennen, wie mein Freund Hweeh es tat, und ermessen zu können, welche Wirkung ich auf andere ausübe. – – Dein Freund Hweeh? – – Hweeh von Swees aus dem Segment Weew. Er ist der bedeutendste Forschungsastronom des Clusters und eine Entität von höchster Intelligenz mit einer Aura von der Intensität einhundertfünfundzwanzig. Er hat es mir ermöglicht, hierher zu kommen, indem er in seinem Heimatsegment seinen Einfluß geltend machte. Immerhin war diese Örtlichkeit gesperrt. –
– Ich glaube, ich habe diesen Namen schon mal gehört. Der Minister von Esse erklärte, daß er aufgrund von Informationen eines Astronoms von Weew handelte. Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie Weew in diese Sache hineingeraten ist. – – Das ist eine lange Geschichte. Die Bedrohung durch die Amöbe wird von einem Cluster-Komitee untersucht und... – – Ein Komitee? Ist das ihr Ernst? – – Deshalb mußten wir doch... – Er wurde plötzlich unterbrochen. Die Scheibe, auf der sie standen, sank langsam nach unten; die Fundstätte öffnete sich! –Angenommen, wir werden jetzt für immer eingeschlossen, wie es Melodie von der Milchstraße und Dash von Andromeda widerfuhr?– fragte Flamme unruhig. – Dies würde ich dann als ›andere Umstände‹ interpretieren –, vibrierte er. – Dann sollten wir ewige Geliebte werden. – – Ohne dich verletzen zu wollen, ziehe ich es doch vor, die Mission erfolgreich zu beenden. – Die Öffnung über ihnen wurde kleiner, während sie immer tiefer sanken. Gas drückte das Wasser hinaus. Sie standen in einer kahlen zylindrischen Zelle. Die Wandung nahm erste Farbspuren an. Dies war eine Form der Animation: Reflexion der Gedanken der Besucher, die sich überlagerten, bis sie sie vollkommen unter Kontrolle hatten. Nun konnten sie sich nicht mehr mittels sonischer Signale untereinander verständigen, weil die £-Haut im Medium Luft nicht hinreichend vibrieren konnte. Doch Herald wußte, was zu tun war. Er erzeugte eine
gesteuerte Animation: eine visio-sonische Kommunikations-Einheit. Das Ding tauchte aus dem nebulösen Hintergrund auf und kam herangerollt. »Kommunizieren«, ließ Herald es auf Clustrisch sagen, während der Schirm der Maschine sein Bild, einen Slash, zeigte. »Wo sind die Knochen?« fragte Flamme in derselben Sprache. Sie wurde als sich windende Flammenzunge dargestellt. Ihr Körper war halbfest, wobei auf seiner Oberfläche brennendes Öl verteilt war, das die Wärmeenergie für die inneren Organfunktionen produzierte. Sie war wunderschön. »Knochen?« »Die Wirte von Melodie und Dash sind aus dieser Fundstätte nicht mehr herausgekommen. Nur ihre Auren kehrten zurück. Nach tausend Jahren würden die £-Körper...« Der Bildschirm zeigte einen Haufen £-Knochen mit winzigen brennenden Fliegen, Glühwürmchen, die sich von dem ausgedörrten Fleisch reichlich bedienten. Das war ihre Vorstellung vom Tod. Ein schrecklicher Gedanke! »Wahrscheinlich wurden die Überreste vollständig verbrannt oder vom Reinigungsmechanismus der Fundstätte beseitigt. Vielleicht wurden sie aber auch durch irgendein besonderes Gas intakt gehalten und auf derselben Plattform nach oben befördert, auf der wir bis hierher vordringen konnten. Was wirklich geschah, können wir sowieso nicht mit Sicherheit feststellen.« »Seltsam, daß eine Kreatur, so mitfühlend und um das Gemeinwohl bedacht wie Melodie von Mintaka, ihren unschuldigen Wirt an einem Ort wie diesem im Stich gelassen haben soll, wo die Arme dann verhun-
gern mußte.« Das war auch Herald ein Rätsel. »Was ist denn mit den beiden Wirten davor geschehen?« wollte er von der Bildmaschine wissen. Vielleicht lieferte sogar die Fundstätte selbst eine Antwort. Und das tat sie. In einer schnellen Bildfolge berichtete sie, wie genießbare Speisen, zubereitet von den Einrichtungen der Fundstätte, gereicht wurden und wie ihnen Visionen von den schönsten Dingen, die sie sich vorstellen konnten, zuteil wurden und sie praktisch in einem Paradies lebten. Das hatte zwar so gut wie nichts mit der Realität zu tun, jedoch war es befriedigender als eine ganze Reihe von anderen Realitäten. Sie hatten lange gelebt, ehe sie eines natürlichen Todes starben. »Das war eine überflüssige Frage«, sagte Flamme. »Trotzdem bin ich froh, daß ich darauf eine Antwort erhalten habe. Zumindest kann ich jetzt davon ausgehen, daß die Ahnen nicht grausam waren.« Sie schaute sich um und betrachtete die wechselnden Bilder um sie herum. »Wir sollten mit unserer Aufgabe fortfahren, ehe die Amöbe uns dazwischenkommt. Ich habe immer stärkere Vorahnungen eines drohenden Unheils.« »Es ist nicht nötig, daß du dich noch weiter in Gefahr begibst«, meinte Herald. »Nachdem du mir den Zutritt zu dieser Fundstätte ermöglicht hast, kannst du direkt wieder in deinen natürlichen Wirt auf Esse transferen, vorausgesetzt, dein £-Wirt erleidet dadurch keinen Schaden.« Ihr Bild loderte vor Zorn hoch auf. »Während die Amöbe diesen Ort mit Bomben zudeckt und alles unternimmt, um dich auszulöschen«, hielt sie ihm
entgegen. »Wenn der Feind mit seiner Taktik Erfolg hat, dann wird der gesamte Cluster getötet, Esse mit eingeschlossen. Ich habe keinen Gewinn davon, wenn ich nach Hause zurückkehre, ehe wir unsere Arbeit getan haben.« Herald mochte sie mehr und mehr. »Dann hilf mir suchen. Ich muß Informationen über die Technologie der Ahnen finden und über eine Möglichkeit nachdenken, diese Informationen schnellsten den Spezialisten des Clusters zugänglich zu machen. Du kannst dich dem Geheimnis widmen, das Melodie von Mintaka nicht verraten wollte. Es muß für diese spezielle Situation von ganz besonderer Bedeutung sein.« »Laß mich hierbleiben und diese Maschine ausfragen. Du mußt per Transfer irgendwohin verschwinden, wo die Amöbe dich nicht aufspüren kann.« Sie bot sich als Köder an, und er mußte dies annehmen. »Wenn die Fundstätte angegriffen wird, kehrst du sofort nach Hause zurück«, befahl er ihr. »Ich werde in meinen eigenen Körper auf Slash transferen oder in irgendeinen anderen geeigneten Wirt, ganz gleich, an welcher Fundstätte ich mich aufhalte.« »Du willst eine Fundstätte besetzen? Dort gibt es doch keinen Wirt!« Keinen lebenden Wirt. Seine Suche basierte auf seiner Annahme, daß eine Fundstätte von Auren besetzt werden konnte. Falls Psyche lebte, dann befand sie sich in einer Ahnen-Fundstätte, benutzte diese als Wirt und erhielt sich durch einen dauernden Erregungszustand ihrer Aura. Wenn sie das geschafft haben sollte, dann würde auch ihm das gelingen. Sollte sie jedoch keinen Erfolg gehabt haben, dann wollte er
nicht mehr weiterleben. Dies war ein gefährlicher Test. »Meine Aura wird die Geräte und Anlagen der Ahnen erfüllen. Ich werde ihre Geheimnisse erfahren... und zwar von innen.« »Mögest du Erfolg haben«, flüsterte das Bild Flammes. Dabei sagte sie nicht, was sie in Wirklichkeit dachte: unmöglich! Er konzentrierte sich. Ich suche eine Fundstätte mit intakten und einsatzfähigen Maschinen, dachte er, wobei er sich darüber im klaren war, daß sein nächster Schritt kein leichter sein würde. Er befand sich im tiefen Raum. Im tiefen, tiefen Raum! Im intergalaktischen Raum, vielleicht im interclustrischen Raum. Er rotierte, lenkte sich per Willenskraft, da er keinen Körper hatte. Nun entdeckte er eine Galaxis, so weit entfernt, daß sie wie ein diffuser Stern erschien. Es war Andromeda! Oder die Milchstraße oder irgendeine andere große Galaxis des Universums. Hatte er sich etwa in einem fernen Cluster verirrt? Mit so etwas hatte er nicht gerechnet! Wie kam es, daß er sehen konnte, obwohl er keinen Körper hatte? Das alles ergab keinen Sinn. Er überdachte seine Lage etwas eingehender. Nun richtete er seine Linse darauf. Sein Lebenssystem bestand aus einem Konglomerat aus Antennen, Schutzschirmen und Refraktionsfeldern. Eine funktionierende Ahnen-Maschine an einem sicheren Ort. Eine Million Lichtjahre von der nächsten Galaxis entfernt. Nun, er hatte es ja unbedingt so gewollt! Seine Aura hatte die Maschine animiert. Es war also möglich! Er war jetzt ein Roboter im Raum. Niemand
hatte geahnt, daß die Ahnen so weit draußen funktionsfähige Geräte zurückgelassen hatten. Nicht daß das einen großen Unterschied gemacht hätte, da kein Teleskop ein so kleines Objekt in einer derartigen Entfernung ausmachen konnte. Kein Raumschiff könnte bis hierher vordringen. Sie wären mindestens zwei Millionen Jahre unterwegs, um so weit vorzudringen, und die Schiffe, denen so etwas wirklich gelänge, müßten nicht nur Kälte-Typen sein, sondern sie müßten den gegenwärtigen Kulturen um zwei Millionen Jahre voraus sein und den Ahnen gegenüber um eine Million Jahre verspätet ankommen, was letztlich bedeutete, daß sie sowieso nicht existieren konnten. Noch nicht einmal das Netz der Beobachtungseinheiten konnte Daten aus derartiger Entfernung aufnehmen. Das Netz reichte nicht bis hierher, und die Sensoreinheiten waren nicht empfindlich genug. Nur ein außerordentlicher Glücksfall würde zur Entdeckung eines den Raum durchquerenden AhnenFundortes führen. Deshalb war dieser auch vor Entdeckung durch die Cluster-Entitäten oder die Amöbe sicher. Wenn es ihm gelänge, die genaue Position dieses Fundortes weiterzumelden, hätten die Spezialisten des Cluster-Rates die Möglichkeit, den Fundort anzumessen und einen Forschungstrupp per Materietransmission herzuschicken. Materietransmission? Ja, dies war eine Materietransmissions-Station. Er erkannte das sofort, weil er selbst ein Teil davon war. Außerdem war es eine Transfer-Station, die für den Energietransport vorgesehen war. Offenbar hatten die Ahnen eine intelligente Entität mit ihren Energie-
lieferungen mitgeschickt, damit jemand den Transport überwachte. Wenngleich nicht klar ersichtlich war, was sie so weit draußen zu suchen hatten. Möglich, daß dies die einzige überlebende Raumstation war. Vielleicht existierten aber noch Hunderte anderer, von denen einige vielleicht mit weitaus weniger Aufwand von den Cluster-Spezialisten untersucht werden konnten. Er würde sich darüber einen Überblick verschaffen müssen. Zumindest hatte er nun den Beweis, daß eine Kreatur mit intensiver Aura Geräte der Ahnen besetzen konnte; daher lag ein Sieg an der Cluster-Front wie auch in seinem persönlichen Bemühen in greifbarer Nähe. Der Cluster würde sich der Ahnen-Technik bedienen können, welche noch phantastischer war, als er zu hoffen gewagt hatte, und er würde Psyche regenerieren können. Vielleicht hatten sich die Ahnen selbst dorthin zurückgezogen: in ihre eigenen Artefakte! Unglücklicherweise waren sie nicht in der Lage gewesen, sich dort selbst zu reproduzieren. Nein, so dumm waren sie bestimmt nicht! Zu schnell wäre alles clusterweit bekannt. Doch bis er selbst endlich wußte, wo er sich befand, konnte Herald sowieso nichts unternehmen. Position: Wo genau befand er sich? Er brauchte Bezugspunkte, zuverlässige Koordinaten. Gab es auch Vorrichtungen zur Positionsangabe? Eigentlich müßte so etwas vorhanden sein... und da war es auch. Indem er daran dachte, wurde seine Untereinheit aktiviert. Er richtete seine Beobachtungsgeräte und die Antennen aus, nahm dabei voller Erstaunen zur Kenntnis, wie unglaublich genau sie arbeiteten, und bekam schon nach wenigen Augenblicken die gewünschte Auskunft. Er befand sich am Rand des Clu-
ster-Ellipsoiden, und die Galaxis, die er sah, war die Milchstraße. Er bestimmte seine Position so genau wie möglich, dann konzentrierte er sich erneut: zur nächstliegenden funktionsfähigen Einheit. Und fand sich im Orbit um Wolke 9 wieder. Praktisch in Nullzeit war er um Millionen Lichtjahre weitergesprungen. Eines wurde dabei klar: Ganz gleich, wie viele Ahnen-Stationen sich im Raum auch befunden haben mochten – es waren nur noch wenige übrig. Das ließ auf eine hohe Ausfallsrate schließen. Die Maschinen waren nicht perfekt. Nicht ganz. Wie viele solcher Stationen hatte es ursprünglich gegeben? Er hatte keine Ahnung; diese Information befand sich nicht in den Datenspeichern der Ahnen. Wahrscheinlich wäre eine Fundstätte auf einem Planeten, so wie die, welche Flamme und er betreten hatten, weitaus vollständiger und ergiebiger. Vielleicht erhielt sie längst die gewünschten Informationen, während er seine Zeit mit unnützen TransferSprüngen vergeudete. Dennoch mußte er die Stationen finden, die noch übrig waren. Nicht nur könnte eine genaue Analyse der dort vorhandenen Geräte den Cluster der Amöbe ebenbürtig – wenn nicht sogar überlegen – machen, sondern man könnte die eine oder andere Station sogar als perfekte Basis für einen Gegenangriff nutzen. Selbst die besten Werkstätten im Cluster würden recht lange brauchen, um neue Geräte nach den Bauplänen der Ahnen zu bauen, falls der Cluster-Rat es überhaupt zuließ, daß diese Baupläne in Umlauf gebracht wurden. In diesem Zeitraum könnte die Amöbe den letzten vernichtenden Schlag führen. Man
brauchte die Stationen, die sich bereits in Position befanden, um dem Druck des Feindes entgegenzuwirken, bis die neuen Waffen einsatzbereit waren. Dennoch, warum sollte man Techniker per Materietransmission zu einer Raumstation schicken, wenn es auf den Planeten ähnliche Stationen gab? Wenn er eine fände und deren Lage weitermelden könnte, ehe die Amöbe zuschlug, könnte man vielleicht sogar eine Kriegsflotte zu ihrem Schutz dorthin schicken. Die Amöben-Schiffe, kugelförmige Energiekonzentrationen, waren sehr effektiv, jedoch würden sie feststellen müssen, daß bewaffnete Schlachtschiffe des Clusters viel schwieriger zu bekämpfen waren als waffenlose archäologische Ausgrabungsstätten. Er vergegenwärtigte sich die Geographie des Clusters. Wo wäre eine planetengebundene Fundstätte für die Eingeborenen am einfachsten zugänglich und für die Amöbe nahezu unerreichbar? Ganz bestimmt nicht im tiefen Raum! Aber Amöben-Schiffe waren bis zum Planeten Keep und bis zum Planeten Mars in der Milchstraße vorgedrungen, also bot eine Galaxis auch keinen hinreichenden Schutz. Und dann hatte er mit den Amöbern im Kugelcluster, der Stiftrad umkreiste, fast auf Tuchfühlung gekämpft. Mochten sie auch kirlianlos sein, so kamen sie trotzdem recht weit herum. Wahrscheinlich konnte die Amöbe überall zuschlagen, und das auch noch innerhalb weniger Minuten. Außer vielleicht gegen einen größeren Militärstützpunkt des Clusters oder gegen eine Flotte von Schlachtschiffen... Ein Militärstützpunkt? Warum nicht? Allein die Technologie machte die Amöbe überlegen. Schaltete man diese aus, dann würde der Vorteil sich auf die
Seite des Kirlian-Clusters verlagern. Auf einem Militär-Stützpunkt gäbe es nur den direkten Zweikampf ohne irgendwelche Tricks. Der technologische Vorsprung der Amöbe würde durch die nackte Feuerkraft des Stützpunktes wettgemacht. Aber wie sollten die Geräte der Ahnen wissen, wo sich gegenwärtig derartige Stützpunkte befanden? Die Ahnen hatten ihr Imperium drei Millionen Jahre vor der Einrichtung solcher Stützpunkte gegründet. Sofern die Geräte der Ahnen derartige Entwicklungen nicht aufzeichneten... Es konnte jedenfalls nicht schaden, wenn er sich darüber Klarheit verschaffte. Bisher hatte er, ebenso wie andere Entitäten, die Möglichkeiten der Fundstätten ständig unterschätzt. Viel mehr würde er wahrscheinlich erfahren, wenn er die Kommandospeicher der Anlage anzapfte, jedoch glich das dem Eindringen in das Gedächtnis eines Wirts: Es war schwierig und zeitaufwendig. Einfacher wäre es, die Geräte unbehelligt operieren zu lassen. Er wollte seine Informationen jetzt, ehe die Amöbe angriff. Er setzte seinen Willen ein – und war da. In einem planetaren Fundort in der Nähe eines Militärstützpunktes. Er blickte durch seine Linse und sah... Einen Jet. Dann war er also in einer Fundstätte in der Sphäre Jet gelandet, Sechzehns Heimat-Cluster in der Nähe des Schwarzen Lochs. Natürlich waren die Ahnen auch hier gewesen, da sie sich die Mühe gemacht hatten, die nahezu auralosen Jets zu isolieren. Nun, die Jets waren jetzt Teil der Zivilisation, voll denkend und mit mehr Aura, als sie sie vor drei Millionen Jahren gehabt hatten. Zu schade, daß sie nichts von der
Ahnen-Fundstätte in ihrem Einflußbereich geahnt hatten. So schade für sie; vielleicht war dies für den restlichen Cluster ein großes Glück gewesen. Hätten sie diese Fundstätte vor einer Million Jahren entdeckt, wären wahrscheinlich die Jets die Erzfeinde des Clusters geworden! Nichts gewußt? Er schaute in einen Raum innerhalb der Fundstätte. Der Jet befand sich in der Fundstätte! Vielleicht erkannten die Jets ihre Bedeutung gar nicht. Möglich, daß sie das alles lediglich für einen interessanten Artefakt hielten. Er wollte mit ihnen Verbindung aufnehmen. Aber wie? Er befand sich im Leitungsnetz der Ahnen, in dem seine Aura sicher nicht mehr war als ein fließender Strom. Ähnlich erging es wahrscheinlich auch Psyches Aura, die irgendwo festsaß. Mit einer Kreatur außerhalb des Leitungsnetzes in Verbindung zu treten, stellte ein großes Problem dar. Er hatte keinen lebenden Wirt zur Verfügung, in den er hätte springen können, es sei denn, er entschied sich für den Jet, und da hatte er immer noch Hemmungen. Das könnte große Verwirrung stiften. Nun, er konnte auch die Anlage einsetzen, wie er es im Raum gemacht hatte, und sich mit seinen Perzeptoren bemerkbar machen. Könnte er diese Maschine unter Umständen zum Reden bringen? Er versuchte es. Achtung, dachte er. Schade, daß es keinen Sichtschirm oder gar eine Animationszelle gab. Dann könnte er wirklich mit einem von ihnen kommunizieren! Der Jet in seinem Sichtfeld reagierte. Er zischte et-
was in einer fremden Sprache. Offensichtlich nicht in der Sprache, derer Sechzehn sich bedient hatte, =, und keine Variante davon; die fundamentalen Merkmale waren völlig anders. Und dann verschmolzen Heralds Schaltkreise, und er begann zu verstehen. Und die Aktivierung jener speziellen Schaltkreise lieferte ihm noch eine weitere Information. Diese Sprache war mit der Sprache der Ahnen verwandt, denn die Anlage konnte sie direkt verarbeiten. Nein... es mußte eine vollständige Übersetzung in die Ahnensprache sein, die dieser erstaunlich gut ausgestattete Fundort lieferte. Natürlich mußte es ihm als dem empfangenden Partner wie die Ahnensprache erscheinen. Daß er die originale Jet-Sprache nicht verstanden hatte, lag daran, daß weder ihm noch den Ahnen-Maschinen die moderne Sprache bekannt war. Sie mußte erst einmal klassifiziert und in die Maschinensprache übertragen werden. Die Ahnen hatten schließlich die Jet-Sprache vor drei Millionen Jahren einmal verstanden, so daß die Übersetzungsanlage sie entwicklungsgeschichtlich zurückverfolgen konnte. Andere Jets erschienen. Sie bedienten die Eingaben. Natürlich waren sie neugierig, was die Aktivitäten der Fundstätte betraf. Und er war neugierig auf die Jets. Wenn sie sich mit den Geräten so gut auskannten, daß sie sogar die Kontrollen bedienen konnten, mußte man sich fragen, warum sie dann nicht so klug gewesen waren, um in die Zentren des Clusters zu transferen, anstatt sich mit einem Schicksal in der Isolation zufriedenzugeben? Ganz bestimmt hatten sie diesen Fundort nicht erst vor ein paar Tagen ent-
deckt; dafür bewegten sie sich zu sicher an diesem Ort. Natürlich. Sie waren mit schwachen Kirlian-Auren ausgestattet und konnten deshalb nicht in den Transfer gehen. Dennoch, warum hatten sie den ClusterRat nicht von dieser Fundstätte informiert, wo sie doch wußten, wie wichtig sie war? Wollten sie die Fundstätte allein für sich haben, was der ClusterPolitik entgegenlief? Herald beschloß, vorsichtig zu sein. Er kannte die Jets nur aus einer archäologischen Exkursion auf dem Mars und durch seine Beziehung zu Sechzehn. Diese gehörten zu einer besonderen Gruppe, die in der Galaxis aufgewachsen war. Ihre heimatliche Kultur in der Sphäre Glob konnte völlig anders strukturiert sein, mit Geheimnissen und Prinzipien, von denen andere Cluster-Bewohner sich keine Vorstellung machten. Diese Jets mußten nicht unbedingt so freundlich gesonnen sein, wie er es vorher angenommen hatte. Wenn er nun Angehöriger einer Kultur gewesen wäre, die für drei Millionen Jahre auf einen Kugel-Cluster in der Nähe eines Schwarzen Lochs verbannt gewesen wäre – wie würde er Fremdlingen gegenüber reagieren? Besonders dann, wenn die ersten Fremdlinge die Verbote aussprachen und die späteren Fremdlinge sogar noch weitergingen und Denker als Studienobjekte mitnahmen? Keine Frage: Was die Motive von Fremden anging, würde er ziemlich zynisch urteilen! Nun gelangte ihr Dialog auch in sein Bewußtsein. Ä Die Maschine spricht! Besteht etwa jetzt eine Kommunikation mit den Ahnen? Ä Nicht die = der Sphäre Jet, sondern die Ä der
Fundstätte. Eine vollständige Übersetzung. Allmählich begann er, die Eigenarten der Ahnen besser zu verstehen. Ä Nein. Schaut euch doch die Daten an. Irgend etwas in der Maschine läuft völlig falsch. Das Ding ist schließlich sehr alt; derartige Schwierigkeiten waren zu erwarten. Ä Es wurde Zeit, sich bemerkbar zu machen, da sie seine Anwesenheit längst bemerkt hatten. Da sie schwache Kirlian-Auren hatten, konnten sie sich ihm noch nicht einmal nähern, wenn sie feindliche Absichten hatten. Kein abnormes Verhalten, ließ er seinen Willen sprechen. Ich bin Herald der Heiler aus der Sphäre Slash, Andromeda. Ä Das muß eine Aufnahme sein Ä, äußerte ein Jet seine Vermutung. Ä Nein, die Messungen ergeben einen auralen Fluß, der weit über der Intensität liegt, mit der die Fundstätte sich aktivieren läßt. Ganz bestimmt eine Fehlfunktion. Ä Ä Sofort beheben. Es ist entscheidend, daß die Einheit fehlerfrei funktioniert, wenn die Stunde des Einsatzes kommt. Ä Ä Das wird schwierig, wenn man nicht das Risiko eingehen will, das Gerät zu beschädigen. Diese Relikte der Ahnen sind nicht besonders zuverlässig. Ä Sie glaubten ihm nicht! Idioten, ich bin Herald, eine Kirlian-Intelligenz. Diese Fundstätte muß den Experten aus dem Cluster unverzüglich zugänglich gemacht werden! Ä Ein unbeseeltes Bewußtsein? Ä rief ein Jet aus.
Ä Schnellstens X benachrichtigen! Ä Kein unbeseeltes Bewußtsein! brüllte Herald. Ich bin eine lebende Kreatur. Redet mit mir! Ä Die Fundstätte hat ein Eigenbewußtsein entwikkelt! Ä schrie ein Jet entsetzt. Ä Wir müssen sie vernichten! Ä O nein! Herald beschloß, den Ort zu wechseln; hier wurde er in seinen Bemühungen nur behindert. Eine andere Fundstätte in der Nähe einer militärischen Basis, äußerte er seinen Wunsch. Die Jets verschwanden. Wo befand sich diese Fundstätte? Er erweiterte seinen Wahrnehmungsbereich. Er fand sich in der Sphäre Duocirc in Andromeda wieder. %. Aber... In dieser Fundstätte befanden sich noch mehr Jets. Irgend etwas stimmte nicht. Jets konnten sich unmöglich in einer noch nicht entdeckten Fundstätte mitten im Herzen der Galaxis Andromeda aufhalten! Es sei denn... Wo befand sich die vorige Fundstätte? fragte er, als plötzlich in ihm ein Verdacht aufkeimte. Und erhielt die Antwort aus den Schaltkreisen der Ahnen-Maschine: in der Sphäre Slash, Andromeda. Keine Jet-Kugelkultur, sondern seine eigene Heimatregion! Als die Jets ihre Meßgeräte überprüften, wurden sie auf ihn aufmerksam. Ä Das ist eine Störung in der Anlage! Ä Herald sprang sofort zu einer anderen Fundstätte: in den Jet-Kugelcluster. Den richtigen. Er prallte ab. Dort gab es keine Fundstätte. Ä Nachricht von X: In funktionsfähigen Fundstätten auf Maschinenbewußtsein achten. Ä
Wenn es im Jet-Kugelcluster keine Fundstätte gab, ergab sich die Frage, wie die Jets hierher gekommen waren. Sie mußten in den Cluster eingedrungen sein und irgendwie Fundstätten aufgespürt haben, von denen andere Spezies keine Ahnung hatten. Doch die Jets konnten das nur bewerkstelligt haben, wenn sie selbst die Fundstätten benutzt hatten, wie Herald es gerade demonstrierte. Allerdings nicht per Transfer, sondern unter Benutzung der Materietransmission. Vielleicht hatte eine ihrer archäologischen Forschungsgruppen eine funktionierende Fundstätte aufgespürt und ihnen Zugang zum gesamten System verschafft? Und sie hatten diese Fundstätte für sich selbst genutzt, anstatt ihr unschätzbares Geheimnis an den Cluster weiterzugeben. Nun, im Angesicht der schrecklichen Bedrohung durch die Amöbe bewahrten die Jets das Geheimnis noch immer für sich, obwohl sie genau wußten, wie wichtig es für das Überleben kirlianischen Lebens war. Auf welcher Seite standen sie wirklich? Dann bemerkte Herald, was ihm vorher entgangen war: Diese Jets unterschieden sich von denen, die er vorher kennengelernt hatte. Sie besaßen andere Düsen an ihren Röhren, ein unterschiedliches Farbmuster und dickere Stützfasern. Sie stellten eine andere Form der Jets dar, vielleicht sogar eine eigene Unterrasse. Kein Wunder, daß ihre Sprache und ihr Verhalten so anders waren! Ä Diese Einheit verfügt über ein fremdes Bewußtsein! Ä Erneut wünschte Herald sich weg. Diesmal landete er in der Sphäre Magnet im Segment Etamin, Milchstraße, einer Station, die in einem umlaufenden Pla-
netoiden versteckt war. Glücklicherweise gab es hier keine Jets! Seltsam, daß diese feindlich gesonnenen Jets ihre Auren nicht hatten in die Fundstätten eindringen lassen, wie er es getan hatte, um direkt auf ihn Jagd zu machen. Das wäre eigentlich die gebotene Taktik gewesen, anstatt ihn mit Hilfe ihrer Instrumente aufzuspüren. Natürlich, die Jets waren kirlian-schwach und konnten sich nicht des Transfers bedienen, jedoch war dies keine normale Situation. Die Anlagen der Ahnen hatten auch eine verstärkende Wirkung, so daß sogar schwache Auren bis auf Transfer-Stärke gesteigert werden konnten. Mittlerweile war jede kirlianische Kreatur zum Transfer fähig. Sie mußten das auch längst herausbekommen haben. Wenn sie ihn also wirklich hatten fangen wollen... Ein Jet tauchte in der Öffnung des Materietransmitters auf. Das war noch so ein Rätsel: Warum bedienten sie sich so freizügig der Materietransmission? Diese Energieverschwendung bei der Überwindung clusterweiter Entfernungen war geradezu kriminell. Die Ahnen mußten ihre Anlagen mit enormen Energiereserven versehen haben, doch die Ahnen existierten nicht mehr und würden diese Reserven nicht mehr auffüllen, wenn sie sinnlos verschleudert wurden. Irgendwann wären diese wundervollen Fundstätten endgültig ausgebrannt und nicht mehr zu aktivieren. Wenn diese Jets raffiniert genug waren, sämtliche wahrscheinlich noch unentdeckten Fundstätten auszubeuten, wußten sie bestimmt auch um den Wert der Energie! Herald verschaffte sich darüber Klarheit. Er konzentrierte sich und begab sich in die Schaltkreise
dicht hinter der Kontrolltafel und dehnte seine Aura bis in den Bereich aus, den der Jet besetzte, wenn er sich an den Kontrollinstrumenten zu schaffen machte. Und der Jet tauchte wirklich auf. Herald richtete sich auf die typische schwache Aura ein, die er bei dem Jet vermutete – doch sie existierte nicht! Entweder hatte Herald jegliche Fähigkeit verloren, eine fremde Aura aufzuspüren – oder diese Entität hatte überhaupt keine Aura! Keine Aura? Er versuchte sein Glück ein zweites Mal. Er schöpfte aus den Vorräten der Maschine, verstärkte seine Aura auf nahezu dreihundert und spannte ein noch empfindlicheres Sinnesnetz auf. Ganz gleich, was in dieses Netz geriet, so klein es auch sein mochte, er würde es ganz sicher aufspüren. Nichts war da. Sein Feld dehnte sich durch rein mechanische Kanäle aus. Kein elektrisches oder semielektrisches Nervensystem. Keine Entität wäre in der Lage, per Transfer in einen solchen Wirt zu springen. Allmählich formte sich in seinem Bewußtsein die einzige mögliche Erkenntnis. Diese Jet-Rasse verfügte nicht nur nicht über eine kleine schwache Aura, sondern sie hatte Null-Auren! Kein Wunder, daß sie die Materietransmission benutzte; selbst wenn man die Möglichkeit einer Aura-Steigerung in Betracht zog, würde sie niemals im Transfer reisen können. Und so war es auch nicht verwunderlich, daß sie Herald nur mit Hilfe ihrer Instrumente verfolgte. Die AhnenAnlage konnte seinen kirlianischen Rahmen anmessen, hingegen war dieser Jet dort vor ihm zu so etwas überhaupt nicht in der Lage.
Eine kirlianlose Intelligenz! Völlig ohne Aura und trotzdem mit voll entwickelter Intelligenz und kompetent. Seine eigenen Erfahrungen lieferten ihm endlich den eindeutigen Beweis; eine solche Rasse existierte tatsächlich im Cluster. Wahrscheinlich wußten die Jets der Rasse, der auch Sechzehn angehörte, längst darüber Bescheid. Aus Angst, daß ihre Gefährten vernichtet werden könnten, wie es vor drei Millionen Jahren allen anderen kirlianlosen Denkern widerfahren war, hatten sie dieses Wissen wahrscheinlich für sich behalten. Nun jedoch, da die Amöbe sich zum letzten vernichtenden Schlag anschickte, konnten sie endlich aktiv werden. Ä Ein fremdes Bewußtsein manifestiert sich in dieser Einheit! Ä rief der Jet. Und die Maschine der Ahnen lieferte sofort die Antwort. Ä Gerät schnellstens zerstören! Ä Die überraschenden Verbündeten des Feindes spielten ihren Vorteil aus! Der Jet betätigte den Hauptenergieschalter – und Herald wünschte sich zurück in die Sphäre Slash, Andromeda. Nun wußte er, warum Psyche es nicht wagte, sich zu erkennen zu geben. Wenn die Energiezufuhr der Maschine unterbrochen wurde, mußte jede Aura vergehen, die sich darin aufhielt. Er erreichte sein Ziel unbehelligt. Sein £-Wirt stand neben Flammes Wirt in der Kommunikationskammer. Offensichtlich wußten die kirlianlosen Jets über seinen Ursprung noch nicht Bescheid. Schnell sprang er in seinen Wirt. Zweifellos ließen die Jets vom Überwachungsnetz der Fundstätte bereits nach ihm suchen. Wenn es ihm gelänge, zu verschwinden, ehe sie ihn entdeckten, müßten sie ihn ei-
gentlich völlig verlieren. Diese Fundstätte besaß keinen Materietransmitter, wahrscheinlich weil es für Kreaturen von dieser Größe nur sehr wenige Empfänger gab. Die Anlage arbeitete ausschließlich nach den Kirlian-Gesetzen. Das war eine große Hilfe. Weder die kirlianlosen Jets noch Amöbe konnten ihm an diesem Ort physischen Schaden zufügen. Kirlianlose Jets, kirlianlose Amöber – wie hatte ihm das nur entgehen können! Wieder einmal war er für die offen daliegenden Tatsachen blind gewesen. Diese seltsamen Jets waren die Amöber! Kirlianlose Intelligenzen aus einem anderen Cluster des Universums! Wohin war Flamme verschwunden? Ihr Wirt war zugegen, sollte jedoch ihre Aura ihm in die Anlage der Ahnen gefolgt sein... Das flackernde Bild Flammes erschien auf dem Schirm des holographischen Bildes. »Herald? Bist du das?« »Ja! Wir müssen schnellsten verschwinden. Die Amöbe hat die Kontrolle über die Ahnen-Fundstätten übernommen! Wir müssen raus, denn dies ist die einzige Fundstätte, in die die Amöber nicht eindringen können. Geh auf keinen Fall in die Schaltkreise, denn die lassen sich bestimmt per Fernbedienung ausschalten.« »Herald, ich weiß Bescheid! Aber ich muß dir etwas sagen...« »Beweg dich! Oder es bedeutet den Tod – für uns und den Cluster! Aktiviere den AuftauchMechanismus!« »Herald! Ich habe Psyche gefunden!« Sein £-Körper versteifte sich und wäre beinahe gegen die Wand gekippt. »Du glaubst mir? Andere mei-
nen, ich würde mir selbst etwas vormachen, was ihr Überleben betrifft...« »Ich weiß es! Ich hatte auch meine Zweifel, doch dann sah ich, wie du in die Maschine eindrangst, und folgte dir. Während du dich von der Amöbe kreuz und quer durch den Cluster jagen ließest, um sie abzulenken, suchte ich in aller Ruhe nach ihrer Aura, und das Überwachungsnetz der Ahnen lieferte mir den entscheidenden Hinweis. Sie hatte sich tatsächlich in den Fundstätten aufgehalten, und zwar nur in Gestalt ihrer Aura und zudem in verstärktem Zustand. Ihre Aura war die intensivste, die je...« Interferenzstreifen flackerten über den Sichtschirm. Das Bild eines Jets erschien. Ä Aktivierte Fundstätte identifiziert! Ä verkündete er. Ä Es ist die £Fundstätte! Ä »Die Amöbe hat uns entdeckt!« warnte Herald. »Dann spring sofort raus!« kreischte Flamme, und ihr Bild flackerte aufgeregt in grellem Gelb. »Der Cluster braucht dich. Wir können nicht mit unseren Körpern verschwinden; bestimmt überwachen sie diesen Mechanismus!« »Wir beide müssen in den Transfer und uns aus dem Staub machen! Du kehrst nach Esse zurück; ich gehe nach Slash!« »Ja!« nahm sie seinen Vorschlag auf. »Und dann erstatten wir dem Rat Bericht!« Er konzentrierte sich und spürte, wie die Energie der Fundstätte ihn erfaßte. Doch kaum hatte der Vorgang eingesetzt, da reagierte die Anlage erneut. Die Amöbe konnte die Kirlian-Einrichtungen nicht gezielt und direkt einsetzen, jedoch spürte sie mit Hilfe der Instrumente und Anzeigen die einsetzende Aktivität
sofort auf. Anschließend baute sie kirlianische Sperren auf, um die beiden Aura-Kreaturen in der Anlage festzusetzen. Sollte Herald es wirklich schaffen, bis zu seinem Slash-Körper zu gelangen, wäre seine Aura derart demoliert, daß er praktisch verrückt wäre. Flammes Aura stürzte sich in den Schaltkreis und verdrängte die Sperren, um für Herald den Weg freizumachen. »Geh, Herald, geh!« schrie sie dabei, wobei ihre Flamme als Zeichen ihres verzweifelten Bemühens noch einmal hoch aufloderte. Er mußte ihrer Aufforderung folgen und sich auf den Weg machen. Dabei war ihm durchaus klar, daß sie, um ihm den Transfer zu ermöglichen, praktisch sich selbst opferte. Er änderte sein Ziel und richtete sich auf seinen solarischen Wirt auf dem Planeten Keep aus, da die Amöbe mitgehört hatte, wie er seinen Slash-Körper und seinen geplanten Sprung dorthin erwähnt hatte, und nun auch in dieser Richtung Sperren errichtete. Er versuchte, Flamme mitzunehmen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. In dieser Gegend des Planeten hielt sich zu diesem Zeitpunkt kein geeigneter weiblicher Wirt auf. Alles, was er bekam, war nur ein Teil von ihr, eine letzte schwache Botschaft: Psyche... in der... Amöbe! Er hatte zu lange gezögert. Erneut hatten die Amöber ihn abgeschnitten. Sie bedienten die Schaltkreise, engten seine Entscheidungsmöglichkeiten ein und kämpften Flammes verzweifelten Widerstand nieder. Mochten sie auch kirlianlos sein, auf jeden Fall wußten sie mit diesen Kirlian-Geräten umzugehen! Eine letzte Chance... Erneut änderte er seinen Zielort. Und plötzlich, als
seine Identität aus den mißhandelten Schaltkreisen und von der wunderschönen Entität, die er hätte lieben können und die ihre eigene Chance zur Flucht für ihn geopfert hatte, fortgerissen wurde, kam ihm die erschütterndste Erkenntnis denn je. Der intellektuelle Schock betäubte sein Bewußtsein. Er hatte nun die Artefakte der Ahnen weitaus intensiver untersucht, als Melodie von Mintaka es getan hatte, und wußte jetzt, was sie entdeckt hatte. Er kannte das Geheimnis der Ahnen – und war von tiefer Traurigkeit erfüllt.
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Amöbe des Weltraums X Wir sind entdeckt! X & Das ist nicht schlimm. Die Unkraut-Spezies kann nicht zeitig genug mobilisieren, um wirkungsvoll Gegenwehr zu leisten. Wir werden unsere Aktivitäten genau nach Zeitplan fortsetzen.& X Und was ist mit der Überprüfung? X & Wenn möglich, müssen wir sie vornehmen. Sollte es angeraten erscheinen, zu einem derartigen Zweck Intelligente aufzunehmen, werden wir das tun. & X Aber deswegen werden wir den Großangriff nicht verschieben. X & Wir werden nichts verschieben. & Herald fand sich im Jet-Wirt auf dem Mars wieder. Natürlich war sein Wirt geschwächt. Noch hatte er sich nicht erholt, weder von den physischen Schäden noch von Heralds anstrengenden Reisen kreuz und quer über den Planeten. Er befand sich in permanenter ärztlicher Behandlung, war völlig inaktiv, während die Archäologen der Jets sich immer noch damit abmühten, Artefakte aus der teilweise zerbombten Fundstätte vor der endgültigen Zerstörung zu retten. Er erholte sich wirklich – und Herald hatte nicht die Absicht, seinen Gesundheitszustand erneut zu verschlechtern. »Holen Sie Sechzehn her«, sagte er. Der Arzt sträubte sich, wobei ihm nicht bewußt
wurde, wer aus dem Wirt sprach. »Sie darf auf keinen Fall gestört werden.« Herald zwang seinen leidenden Wirt, sich zu rühren. »Die Lage ist überkritisch. Lesen Sie den AuraIndikator ab und verschaffen Sie sich Gewißheit über meine wahre Identität. Meine Mission besteht darin, den Cluster vor einer Invasion zu schützen.« Und Psyche wieder zurückzuholen! fügte er in Gedanken hinzu. Er konnte tatsächlich nicht genau entscheiden, was ihm in diesem Moment wirklich wichtig war – oder ob tatsächlich die Chance bestand, beides zu tun. Kein Wunder, daß Melodie so beharrlich geschwiegen hatte. Er wußte nun viel mehr über die Ahnen als sie, dafür hatte sich die Situation geändert: Die Lage war nun viel aussichtsloser. Der Arzt gab sich geschlagen. Er beorderte Sechzehn zu sich. Sie kam, bewegte sich sehr langsam und konnte kaum ihren Kurs halten. »Herald«, sagte sie und machte aus ihrer Freude und Dankbarkeit kein Hehl. »Ich hatte schon angenommen, ich würde dich niemals wiedersehen.« Plötzlich empfand Herald tiefe Scham. »Sechzehn, bin ich etwa für deine Krankheit verantwortlich? Soll ich dich heilen?« »Keine Krankheit, Herald. Ich bin an meinem Zustand selbst...« »Ich habe dich falsch behandelt; und nun bin ich im Begriff, dir noch mehr Leid...« »Du mißverstehst mich. Ich wußte längst, daß...« »Meine gesetzliche Verlobte, Flamme von Esse, gab ihre Freiheit, wahrscheinlich sogar ihre gesamte Identität auf, um mich zu retten. Allein dank ihrer
Hilfe konnte ich vor der Raumamöbe fliehen und zurückkehren. Nun muß ich dich bitten, genauso zu handeln.« »Das werde ich, Herald, das werde ich. Dennoch...« »Dies solltest du noch wissen: Flamme fand... meine verstorbene Ehefrau. Psyche lebt.« »Sie – ist nicht tot?« »Psyches Aura lebt noch. Sie ist in den Geräten der Amöbe gefangen, welche sich mit den Artefakten in den Fundstätten der Ahnen verbunden haben, denn die Amöbe hat diese Fundstätten mittlerweile übernommen. Ich muß schnellstens an die Amöbe herankommen, um Psyches Aura herauszuholen. Schließlich ist sie meine einzige wahre Liebe.« »Kein Wunder, daß deine gesetzliche Verlobte starb!« stellte Sechzehn fest. Kein Wunder! Er versuchte noch nicht einmal, eine moralische Rechtfertigung zu finden, er mußte es ganz einfach tun. »Würdest du mir helfen?« »Herald, ich bin... ich kann nicht...« Sie verstummte. »Wie kann ich dir helfen?« »Ich brauche für Psyche einen Wirt. Um sie zurückzuholen. Weil sie nämlich keinen eigenen Körper mehr hat.« Sechzehn überlegte. Herald versuchte nachzuvollziehen, mit welchen Gedanken sie sich auseinandersetzte. »Um als Wirt zu fungieren... für deine tote Geliebte. Um sie wieder zum Leben zu erwecken.« »Darüber hinaus ist unsere Mission überaus gefährlich. Durchaus möglich, daß wir beide dabei ums Leben kommen. Wir stehen vor einer Situation, mit der wir möglicherweise gar nicht fertig werden. Wir müssen bis ins Herz der Amöbe vordringen.«
»Ja«, meinte sie zögernd. »Wenn ich einwillige, muß ich entweder sterben oder meinen Körper... einer anderen Weiblichen zur Verfügung stellen.« »Sechzehn, ich weiß, daß du mich liebst!« platzte Herald heraus. »Du hast mir zwar weiszumachen versucht, daß du für Hweeh von Weew entbrannt bist, aber du hast gelogen. Ich... ich liebe dich nicht. Es ist wirklich schlimm, was ich von dir erbitte. Aber ich bin so tief verzweifelt, daß ich dich dennoch frage. Die Amöber sehen aus wie Jets; vielleicht können wir als Jets mit ihnen verhandeln.« Noch war da Melodies Geheimnis das den möglichen Erfolg in Frage stellte, denn in Wirklichkeit sind die Amöber keine Jets! »Du hast nur wenig zu gewinnen, jedoch alles zu verlieren, genauso wie Flamme, als sie mir half. Aber es gibt da auch noch einen anderen Aspekt...« »Dieser Aspekt reicht mir«, unterbrach sie ihn. »Ich glaube, ich weiß, wie man die Amöbe aufhalten kann, wenn sie überhaupt aufzuhalten ist. Um vom Cluster endlich jegliche Gefahr abzuwenden. Vielleicht sogar um das Energieproblem zu lösen, falls es dafür überhaupt eine Lösung gibt.« »Das reicht als Grund sicherlich aus.« Er erkannte in ihrer Haltung, daß sie seine Argumente nicht akzeptierte. Und warum sollte sie es auch? »Eigentlich wollte ich dich um Hilfe bitten, weil...« Aber er mußte seinen Satz abbrechen. Wie sollte er ausdrücken: Weil ich meistens denen vertraue, mit denen ich mich schon einmal gepaart habe? Irgendwo gab es gewisse Grenzen. Oder etwa nicht? »Es wird nicht leicht sein, aber ich tue es«, entschied Sechzehn.
»Ich bin Herald der Heiler von Slash«, stellte Herald sich vor. Er hatte nun die Gestalt eines Solariers, und er befand sich auf dem Planeten Außenwelt, dem Zentrum des Segments Etamin. »Mein Begleiter ist Hweeh von Weew, der Astronom, der die in Gestalt der Amöbe drohende Gefahr als erster entdeckt hat.« Auch Hweeh hielt sich in einem solarischen Wirt auf. Der solarische Minister von Etamin nickte ernst. »Der politische Druck von Weew war ziemlich groß, von dem von seiten Qavals ganz zu schweigen. Dennoch kann ich nicht einsehen...« »Wir müssen sofort mit der Amöbe verhandeln«, unterbrach Herald ihn. »Deshalb müssen zwei von uns in Jet-Wirten per Materietransmission...« »Materietransmission zur Amöbe?« erkundigte der Minister sich ungläubig. »Der Energieaufwand, das Risiko...« »Agenten der Amöbe sind bereits im ganzen Cluster im Einsatz«, erklärte Herald. »Sie haben die Ahnen-Fundstätten besetzt. Ihre Vorbereitungen zum letzten vernichtenden Schlag sind bereits weit vorgeschritten. Wir haben keine Zeit mehr, unsere Verteidigung zu organisieren, und wir können es uns nicht leisten, zu warten, bis das Sonderkomitee aktiv wird. Wir müssen mit der Amöbe Kontakt aufnehmen, ehe sie den Großangriff startet.« »Ich werde die Angelegenheit dem Cluster-Rat vortragen müssen...« »Dazu haben wir keine Zeit mehr! Der Vernichtungsschlag kann schon in wenigen Stunden erfolgen, und sobald es erst einmal losgegangen ist, haben wir keine Chance mehr, den Feind aufzuhalten. Wir können uns gegen die Amöbe nicht behaupten! Die Amöbe ist
sich längst darüber im klaren, daß wir über sie Bescheid wissen. Schon jetzt bringt sie ihre Kriegsschiffe per Materietransmission in die richtigen Positionen.« »Aber aus eigener Initiative einen wichtigen Schritt zu tun, der wahrscheinlich die Existenz des Clusters beeinflußt, und dabei mit zwei Jets zu verhandeln, deren Heimatsphäre noch nicht einmal in diesem Segment liegt...« »Dieser Schritt muß aber getan werden«, beharrte Herald auf seiner Forderung. »Die Wirte müssen Jets sein. Wahrscheinlich bin ich die einzige Entität, die die Amöbe zur Kooperation überreden kann. Der Grund dafür ist meine Aura, mit der sie schon früher zusammengetroffen sind und die sie eigentlich wiedererkennen sollten.« »Aber Sie meinten doch, daß die Amöber auralos sind!« »Stimmt. Wir müssen sie mit einer ihnen bekannten Aura hoher Intensität konfrontieren. Allein mit Hilfe ihrer Maschinen können sie sie identifizieren, und es könnte sein, daß sie in Panik geraten, falls die Aura unvermittelt in ihren Geräten auftaucht, wenn sie diese nicht schon längst abgeschirmt haben.« »Ich komme da nicht ganz mit«, gestand der Minister. »Nur um die Sache durchzuspielen, nehmen wir mal an, Sie würden von uns losgeschickt. Dann braucht Ihr Gefährte von Weew doch nicht...« »Aber doch nicht Hweeh«, unterbrach Herald den Minister. »Der andere Jet ist eine Weibliche.« »Eine Weibliche! Und warum ausgerechnet die, wenn ich mal fragen darf?« Herald wußte, daß der Minister seine persönlichen Gründe wegen Psyche nicht akzeptieren würde und
sie für den Erfolg der Mission als nebensächlich erachtete. »Ich muß auf diesem sehr persönlichen Privileg bestehen. Die Jet Sechzehn hat sich bereiterklärt, mich zu begleiten, und ich brauche sie. Die Kosten für ihre Materietransmission sind lächerlich im Vergleich zu dem, was auf dem Spiel steht.« »Lächerlich! Ich muß das schließlich verantworten!« hielt ihm der Minister entgegen. »Natürlich müssen wir jede Möglichkeit ausnutzen, uns gegen die Amöbe zu wehren. Nicht nur würde die Materietransmission ungeheure Energiemengen verbrauchen, sie würde unserem Feind auch unseren Verteidigungsplan verraten, denn die Amöber könnten mit Hilfe ihrer Geräte sämtliche Informationen aus Ihrem Geist herausholen.« »Genau das will ich ja gerade!« erwiderte Herald. »Sie müssen alles, was Sechzehn und ich wissen, erfahren und den Wahrheitsgehalt dieser Daten überprüfen. Käme ich allein zu ihnen, würden sie mir nicht trauen und annehmen, ich sei eigens für einen solchen Besuch präpariert worden; sie haben meinen natürlichen Körper nicht zur Verfügung. Sechzehn müssen sie jedoch Glauben schenken, denn sie ist...« »Absolut nicht! Was hat sie Besonderes an sich, das einen derartigen Aufwand an Energie und Risiko rechtfertigen kann?« »Sie ist vom gleichen Typ wie der Feind, und zwar in physischer, geistiger und im wesentlichen auch in auramäßiger Hinsicht«, sagte Herald. »Kurz gesagt, eine moderne Ahnin!« »Jetzt weiß ich überhaupt nichts mehr! Sie wollen doch zur Amöbe und nicht zu einem Ahnen-Fundort. Unterdessen versuchen andere Experten des Clusters,
sich das Wissen der Ahnen anzuzeignen, so daß wir uns wirkungsvoll gegen die Amöbe verteidigen...« »Sie haben mich mißverstanden. Das Wissen der Ahnen ist unter den gegebenen Umständen für uns wertlos.« »Wertlos? Darin liegt unsere letzte große Hoffnung!« Hweeh ergriff nun das Wort. »Ich fürchte, mein Freund hat einen bestimmten Punkt nicht richtig klargemacht. Die Amöbe ist der moderne Ableger der Ahnen. Was wir als unsere letzte Rettung angesehen haben, erweist sich nun als unsere schlimmste Bedrohung. Gott und der Teufel sind eins.« Der Minister starrte seine Besucher mit offenem Mund an. »Die – aber die Amöbe ist doch kirlianlos!« »Genau«, pflichtete Herald ihm bei. »Und das ist ja unser Unglück. Wir dachten, die Ahnen wären SuperKirlians gewesen. Aber Melodie von Mintaka ist der Wahrheit auf die Spur gekommen. In Wirklichkeit waren die Ahnen kirlianlos. Im Krieg zwischen den Kirlians und den Kirlianlosen waren sie der Feind. Und nun sind sie nach drei Millionen Jahren zurückgekehrt, um das Werk zu beenden, das sie damals unterbrochen hatten. Es sei denn, es gelingt uns, ihnen ihren Plan irgendwie auszureden. Das ist unsere letzte Hoffnung. Als Kirlians können wir ihnen jedoch von großem Nutzen sein. Vielleicht verschonen sie uns, wenn wir ihnen zeigen, wie wir ihnen dienlich sein können...« »Nein!« sagte Hweeh zu Herald. »Die Ahnen waren nicht die feindliche Partei.« Und er erklärte, was er meinte. Und Herald war überaus verblüfft. Er war geradezu blind gewesen – schon wieder einmal.
Herald entfernte sich vom Materietransmitter. Es hatte geklappt. Er befand sich in einem Amöbenschiff! Es zeigte eine seltsame Konstruktion. So gab es kein richtiges Deck, lediglich ein Netzwerk aus Fasern, die die lebenswichtigen Anlagen an Ort und Stelle hielten. Die äußere Hülle war nicht aus Metall, ja, noch nicht einmal feste Materie. Eher glich sie einem Kraftfeld, das Atmosphäre, Licht und Wärme umschloß. Dahinter leuchtete die unendliche Masse von Esse, an deren Rand vereinzelte Sterne funkelten. Herald empfand plötzlich ein nostalgisches Gefühl der Sehnsucht nach Flamme; hatte sie am Ende doch in ihre Heimat zurückkehren können? Er war jedoch überzeugt, daß sie es nicht geschafft hatte. An diesem Ort schien es keine Schwerkraft zu geben, was jedoch für seinen Wirt so gut wie bedeutungslos war. Es hieß lediglich, daß die Stützborsten nicht gebraucht und insofern frei für andere Tätigkeiten waren. Der Hauptdüsenantrieb arbeitete so wirkungsvoll wie eh und je. Die Anordnung der Halteleinen schien das Schiff in Abteilungen zu zerlegen, was ihm die Orientierung erleichterte. Dies war ein Schiff, das ausschließlich für Reisen durch den Tiefraum konstruiert war. Kurz darauf gesellte Sechzehn sich zu ihm. »Oh, Herald – ich habe schreckliche Angst!« sagte sie, als sie unsicher bremsend neben ihm zitternd stoppte. »Ich fürchte, dadurch wird mein...« »Halt aus«, sagte er. »Ich weiß, daß du krank bist, jedoch ist dies hier kein Vakuum, wie man vielleicht auf den ersten Blick meint. Die Amöben-Schiffe reisen mittels Materietransmission. Daher müssen sie ihre
Masse auf ein Bruchteil dessen reduzieren, was bei uns als normal angesehen wird, um Energie zu sparen. Tatsächlich gibt es praktisch überhaupt keine Masse außer dem lebenserhaltenden System, der Bewaffnung und dem Personal, und dies alles wird auch noch so minimal wie möglich gehalten. Bis zu einem gewissen Grad sind diese Schiffe Energie, denn die kann per Transfer befördert werden. Die Amöber verbinden Transfer und Materietransmission und bewegen das ganze Schiff unter gleichzeitiger Anwendung beider Prinzipien. Daher hatten die Astronomen des Clusters so große Schwierigkeiten, den Charakter dieser Flotte genau zu bestimmen. Alles, was man erkennen konnte, waren Ansammlungen verschiedener Artefakte im Innern der Schiffe. Die Schiffe bewegen sich mittels der Materietransmission in kleinen Sprüngen. Sie schicken eine winzige Energiemenge voraus, welche die Empfangsstation des Materietransmitters bildet, so daß die festen Bestandteile des Schiffs nachfolgen können. Dies geschieht so schnell, daß man meinen könnte, das ganze Schiff wäre per Materietransmission unterwegs, ohne einen Empfänger anzusteuern. Für längere Sprünge benötigen sie natürlich bereits bestehende Empfangsstationen. Doch diese brauchen nicht unbedingt Schiffsgröße zu haben, sondern es reicht aus, wenn sie in der Lage sind, größere Empfänger zu bilden. Offensichtlich haben die Ahnen Millionen solcher Empfängervorstufen zurückgelassen, so daß sie den Raum zwischen den fest existierenden Empfängern auffüllen. Von diesen Empfängern sind noch genügend Exemplare funktionsfähig, so daß die Amöbe den gesamten Cluster bereisen kann. Dies ist nur ein
Beispiel für den hohen Stand der Technik unserer Feinde. Für die Überbrückung der Entfernungen zwischen den Clustern kommt eine Variante...« »Ich bin nicht krank«, protestierte Sechzehn. »Meine Schwäche rührt von...« Ein Amöben-Jet erschien. Er sprach die fremde Ahnensprache, die Herald dank seiner vorhergehenden Erlebnisse in den Maschinen der Ahnen verstehen konnte. Jedoch erklang die Stimme des Amöbers aus einem kleinen Energiefeld, in dem sich offenbar die Kontrollsektion des Schiffs befand. Sie formte die Sprache von Etamin, in der Herald sich mit Sechzehn verständigt hatte. Die Schlußfolgerungen aus diesem Phänomen waren phantastisch: Zuerst einmal waren noch nicht einmal die Übersetzungsgeräte solide und greifbar, und zweitens verstand die Amöbe nicht nur die Kommunikationsweisen des Clusters, sondern sie hatte sie bereits in ihre Anlagen übernommen. Nur wenige Worte hatten ausgereicht, damit die Maschine sich orientieren konnte. Dasselbe war auch während des Androiden-Spektakels bei den Modernen geschehen, so daß dies kein Zufall sein konnte. Wenn die Amöbe derart gut über die moderne Kultur Bescheid wußte, mußte man sich fragen, was dann im Cluster überhaupt noch geheim bleiben konnte. Ä Was hat dieses Eindringen zu bedeuten? Ä Jetzt kommt's. Herald schätzte ihre Chancen auf fifty-fifty ein daß sie auf der Stelle vernichtet würden. »Wir sind Gesandte des Clusters«, antwortete er. »Herald von Slash und Sechzehn von =.« Ä Politik gehört nicht zu meinem Kompetenzbereich. Melden Sie sich bei meinem Gruppen-Offizier, Drei. Ä
Ein niederer Dienstgrad! Nun, vielleicht war das gar nicht schlecht. Dieser Kreatur mangelte es an Autorität, Entscheidungen zu treffen, so durfte sie die Eindringlinge weder aufnehmen noch ausschalten. Dennoch verlieh dieser Akt des Weiterschickens der Gesandten der Mission ein gewisses Gewicht. »Dann schick uns hin«, forderte Herald. Sie kehrten zum Materietransmitter zurück. Und tauchten in einem größeren Netzschiff wieder auf. 3 Gesandte aus dem Cluster? 3 erkundigte sich der Gruppen-Offizier. 3 Überprüfung vorgenommen. Begeben Sie sich zur Kommandozentrale der Aktionseinheit, Null. 3 Überprüfung? Nun, wenn sie der Amöbe auf die eine oder andere Art vertraut waren, dann um so besser! Herald brauchte nur die Möglichkeit, mit einer Entität zu sprechen, die Befehle erteilen konnte. Da er es hier offensichtlich mit einer klassischen Hierarchie zu tun hatte, bei der alle Kanäle nach oben zur Spitze führten, entwickelten sich die Dinge vielversprechend. Das dritte Schiff war noch größer. o Gesandte der Unkraut-Spezies besitzen keine Aktions-Kompetenz o, erklärte der Kommandant. o Jedoch ist die Überprüfung diesmal in Ordnung. Melden Sie sich beim Koordinator, &. o Das klang hochrangig genug! Endlich landeten sie in einem mächtigen Kugelschiff. Der Koordinator sah aus wie jeder andere Amöber, jedoch sprach er mit einer Autorität, die sogar in der Übersetzung spürbar war. Er gab Herald keine Möglichkeit, etwas zu sagen. & Es gibt nichts zu verhandeln. Wir haben keine Verwendung für Ihre Dienste. Ihre Rasse wird aus-
gelöscht. Wir haben Ihnen den Zutritt nur gestattet, um unsere letzte Überprüfung vorzunehmen, was wir sofort tun werden. & »Auslöschen?« fragte Herald. »Aus welchem Grund?« & Um diesen Cluster für Seelen-Weisheit empfangsbereit zu machen. & Das war sein Stichwort! Herald reagierte schnell und gezielt und gab keinen Fußbreit Boden preis. »Seelen-Weisheit«, wiederholte er. »Wir nennen das Kirlian-Intelligenz. Sie haben jede andere kirlianlose Rasse in jedem Cluster vernichtet, in dem Sie gelandet sind. Intelligent oder nicht intelligent – alle sind Ihrer brutalen Eroberungstaktik zum Opfer gefallen. Sie haben lediglich die kirlianischen SubIntelligenzen verschont in der Hoffnung, daß einige von ihnen irgendwann Intelligenz entwickeln mögen. Denn Sie wußten genau, daß bei einigen durchaus die Möglichkeit vorhanden war – wenn man nur dafür sorgte, daß die Feindseligkeiten zwischen den kirlianlosen Rassen beendet wurden. Dann haben Sie selbst sich aus dem Staub gemacht, indem Sie Ihre mächtige Raumflotte sammelten und den Cluster verließen. Dann taten Sie in anderen Clustern dasselbe und förderten Kirlian-Leben auf Kosten des kirlianlosen Lebens, obwohl Sie damit alle anderen Intelligenzen vernichteten, auf die Sie stießen. Sie scheuten dabei keine Mühe und hatten sich eine gigantische Aufgabe gestellt, für deren Bewältigung Sie Energie, Zeit und Geduld aufwenden mußten, denn manchmal mußten Sie unendlich weite Raumsektoren durchqueren, in denen keine Möglichkeit der Materietransmission existierte. Aber das macht Ihnen
keine Schwierigkeiten, denn Sie können sich jahrhundertelang ›abschalten‹, wahrscheinlich sogar Jahrtausende, und sich wieder einschalten, wenn Sie im nächsten Ziel-Cluster ankommen. Sie sind dazu in der Lage, weil Sie kein organisches Nervensystem haben, wie wir es kennen, nichts, das durch Nichtgebrauch degenerieren könnte. Alles, was Sie hinterließen, war ihr Netz aus Stationen, welche sich nur durch hochintensive Kirlian-Auren aktivieren ließen, und natürlich durch Ihre speziellen Signalcodes. Nun, nach drei Millionen Jahren, befinden Sie sich in Ihrer zweiten Zeitschleife – oder ist es bereits die zehnte oder gar die hundertste? –, und es ist schon so lange her, und Sie haben es so oft gemacht, so daß Sie das wahre Ziel Ihrer Bemühungen längst aus den Augen verloren haben. Sie sprechen die Worte aus, ohne sie richtig zu verstehen: Seelen-Weisheit. Im Angesicht Ihres Drei-Millionen-Jahre-Objekts oder Dreißig-Millionen-Jahre-Objekts oder wie alt es auch sein mag, nahmen Sie automatisch an, daß die Myriaden hochintensiver Auren entweder zu Tieren gehörten oder künstlich erzeugt wurden. Da besonders raffiniert angelegte Maschinen-Auren vielleicht sogar fähig wären, Ihre Fundorte zu aktivieren, suchten Sie nach derartigen Auren und vernichteten sie automatisch. Jedoch bestand Ihr eigentliches Anliegen darin, sämtliche Intelligenzen auszumerzen, wie Sie es schon seit Ewigkeiten tun, so daß Sie aus dieser Zeit, als Sie selbst noch eine in der Entwicklung befindliche Rasse waren mit einer Zukunft, die sich von Ihrer Vergangenheit unterschied, noch nicht einmal genaue Aufzeichnungen über Ihre Aktivitäten besitzen. Denn Sie sind die modernen Repräsentanten der
Rasse, die wir Ahnen nennen, jene mächtige Spezies, die wir für die Kirlians aller Kirlians gehalten haben. Wir waren schon verzweifelt darum bemüht, Ihre kolossale Technologie zu beherrschen, Ihre Wissenschaft zu verstehen und Ihre Denkweisen nachzuvollziehen und Ihr rätselhaftes Schicksal zu erforschen, ohne jemals zu erkennen, daß diese Dinge nicht existierten, weil Sie überlegen, sondern weil Sie unterlegen waren. Sie haben die Kirlian-Technologie weit über den jetzigen Stand hinausgetragen, weil dies der einzige Weg war, wie Sie sie einsetzen konnten. Ihre Maschinen mußten praktisch perfekt sein. Sie haben keine eigenen Auren. Und deshalb haben sich unsere beiden Rassen schuldig gemacht. Wir hielten Ausschau nach SuperKirlians und erkannten Sie nicht, als Sie erschienen. Sie suchten nach Unkraut-Rassen und ignorierten die Früchte Ihrer früheren Bemühungen. Beide Rassen sahen Sie als Eroberer, als Mörder, deshalb waren Sie es auch. Doch nun können wir uns zusammentun und versuchen, das Problem zu lösen, dem wir beide gegenüberstehen: Energie.« Der Koordinator erwiderte nichts darauf. »Wir gingen von der Annahme aus, daß Ihre Kirlian-Wissenschaft die Sphärische Regression in den Griff bekommen hat«, fuhr Herald nun mit wachsender Selbstsicherheit fort. »Tatsächlich haben Sie sich niemals lange genug in einem Cluster aufgehalten, um dieses Phänomen am eigenen Leib zu erfahren. Sie benutzen Raumschiffe mit halber Lichtgeschwindigkeit für Ihre kleinräumigen Manöver, und eine spezielle Form der Materietransmission und des Energietransfers für die langen Strecken. Sie brau-
chen dafür sehr viel Zeit, aber die haben Sie ja. Was Sie jedoch nicht haben, ist die Aura – und das ist auch die Motivation für Ihre phantastische, die Ewigkeiten überdauernde Mission.« Der Koordinator betrachtete ihn unverwandt. Und Herald erkannte voller Enttäuschung, daß diese Kreatur, dieser Repräsentant einer Spezies, die viele Millionen Jahre in einem Zustand der Stasis verbracht hatte, ähnlich wie die solarische TermitenGesellschaft, ganz einfach nicht erfassen konnte, was Erfolg war. Die Amöbe litt nicht unter der Regression – jedoch hatte sie auch keine weiterführende Entwicklung mitgemacht. Seelen-Weisheit war in der Tat ein Ausdruck, dessen wahre Bedeutung verlorengegangen war. Er versuchte es erneut, verwirrt von den unerwarteten Schwierigkeiten, jedoch auch wissend, daß er irgendwo mit seiner Argumentation durchdringen mußte. Form und Fortbestand des Lebens im Universum hingen davon ab! »Koordinator, wir aus diesem Cluster sind Seelen-Weise. Ich schlage Ihnen vor, das gleich an mir nachzuprüfen. Ich bin von der Art Leben, die Sie suchen.« Der Koordinator gab ein Zeichen, und ein Kraftfeld legte sich um Herald und Sechzehn. Strahlen glitten über sie hinweg. Mochten die Amöber neuen Ideen auch sehr skeptisch gegenüberstehen, so reagierten sie doch erstaunlich schnell und umsichtig. Der Amöber, der sich im Hintergrund hielt, offenbar ein Techniker, las die Werte ab. Ä Die Entitäten gehören einer weiterentwickelten GeschwisterSpezies an, intelligent, mit unbedeutender Aura, nicht von der Art, die wir suchen. Normalerweise isolieren
wir solche Typen aus den Hauptgalaxien und überlassen sie ihrem Schicksal. Männlicher verstärkt seine Aura auf das Zweihundertfünfunddreißigfache der reinen Fühler-Norm, Mechanismus unklar. Muster in etwa dem der Störenergie gleich, die wir kürzlich in verschiedenen Fundstätten überall im Cluster angemessen haben. Weibliche ist für ihre Rasse normal, Aura-Intensität liegt weit unter geforderter Grenze. Sie ist schwanger. Niederkunft steht augenblicklich bevor. Ä Schwanger! Plötzlich erkannte Herald, was mit Sechzehn nicht stimmte. Sie war nicht krank; sie war im Begriff, das zu gebären, was sie empfangen hatte – von ihm. Der Zeitraum zwischen Paarung und Geburt variierte im Cluster, und zwar zwischen Sekunden und Jahrhunderten. Hätte er auch daran gedacht, dann wäre ihm aufgefallen, daß es bei ihr bald soweit war. Schon wieder seine halb bewußte Blindheit! Sie hatte sich in diese Gefahr begeben, weil er sie darum gebeten hatte, und er hatte sie auch noch gefragt, ob sie sich einer anderen Weiblichen als Wirt zur Verfügung stellen würde – der Weiblichen, die er wirklich liebte. Hatte sie ihre Entscheidung in vollem Bewußtsein der Gegebenheiten getroffen? Um ihre Rivalin bei der Geburt ihres Nachkommens Zeuge sein zu lassen? Was würde Psyche wohl davon halten? & Laßt die Weibliche gehen. Wir tun Unschuldigen nichts zuleide. & Sie ließen die Unschuldigen unversehrt! Offenbar war dem Koordinator die Ironie seines Ausspruchs gar nicht bewußt, während er sich anschickte, alles Leben im Cluster zu vernichten, das intelligent war!
Sechzehn, die offenbar aus der Fessel des Kraftfelds entlassen wurde, düste zur anderen Seite des Schiffes. Herald verharrte weiterhin in seiner Stasis, fähig zu reden, aber nicht, sich zu bewegen. & Dies ist also die Quelle unseres Unwillens! Jetzt behauptet er sogar, ein Seelen-Weiser zu sein, und glaubt wohl, uns mit seiner künstlich verstärkten Aura hinters Licht führen zu können. Er wird für diese Blasphemie bestraft werden. & Das Feld verstärkte sich. Es hatte ihn fest gehalten, jedoch ohne ihm Unbehagen zu verursachen. Nun erzeugte es Schmerz, der stetig zunahm. Der Koordinator war wieder von seinem alten Zweifel erfüllt, indem er es ablehnte, irgendeine von Heralds Erklärungen zu akzeptieren. Blindheit – was konnte man dagegen tun? »Hören Sie doch!« schrie Herald. »Es gibt keinen Aura-Generator oder -Verstärker. Ich befand mich in Ihrer Anlage; ich kann mich in jedem Wirt jeder Kirlian-Spezies aufhalten. Testen Sie mich! Lassen Sie mich beweisen, daß ich die Wahrheit sage.« & Wir haben keine passenden Wirte. Was Sie verlangen, ist unmöglich und ketzerisch. Wir werden damit keine Zeit vergeuden. & Herald suchte verzweifelt nach einem Mittel, diese undurchdringliche Wand der Ignoranz zu erschüttern, ehe der Schmerz sein Bewußtsein lähmte. Die Amöbe wußte, daß Kirlian-Intelligenz nicht existierte, daher konnte sie sie auch als solche nicht erkennen. Genauso wie die Intelligenten des Clusters gewußt hatten, daß die Ahnen Super-Kirlians waren und daß die Amöben-Erscheinung in der Nähe von Esse nur eine kleinere natürliche Ansammlung von Staub war,
so daß sie ihre wahre Natur nicht erkannten – und natürlich ihre Beziehung zueinander. Melodie von Mintaka war klug genug gewesen, wenigstens einen Teil der Wahrheit zu durchschauen, jedoch hatte sie es abgelehnt, darüber zu reden. Nein, weder Worte noch Bitten, noch Forderungen würden diesen geistig dem Tod geweihten Koordinator umstimmen! Es sei denn... »Flamme!« rief Herald. »Flamme von Esse. Sie befindet sich noch immer in der Fundstätte auf dem Planeten £.« Wenn sie noch am Leben wäre! »Sie halten sie für einen Funktionsfehler Ihrer Maschine, für eine Art Maschinenbewußtsein, aber fragen Sie sie, wer sie ist. Sie wird Ihnen zeigen, daß sie intelligentes Kirlian-Leben ist.« Der Koordinator überlegte, als sei er bereit, die zum Untergang verurteilte Entität in Hoffnung zu wiegen. & Ist der Fehler in der Fundstätte £ noch vorhanden? & X Er ist noch feststellbar X, antwortete ein Amöber auf dem Kommunikationsschirm. Diese Kreaturen schienen sich aus Holographie nicht allzuviel zu machen, vielleicht nahmen derartige Anlagen auch zuviel Raum ein. X Wir haben sie isoliert, konnten sie jedoch bisher nicht zerstören, ohne nicht auch die Fundstätte selbst in Mitleidenschaft zu ziehen. X Der Koordinator wandte sich wieder an Herald. & Sie behaupten, diese Kraft kann einen weiblichen Wirt dieses Clusters mit Intelligenz animieren? & »Ja! Wenn Sie einen Wirt besorgen...« & Dann wird sie diesen weiblichen Wirt übernehmen &, sagte er und wies auf Sechzehn. O nein! Dann wäre ja kein Wirt mehr für Psyche frei! Unter ganz besonderen Bedingungen konnten
verschiedene Auren einen einzigen Wirt besetzen, jedoch war das Nervensystem eines Jets zu primitiv, um zwei Auren von derartiger Intensität zu beherbergen. Sollte er Psyche aufgeben? Die Alternative war ein totaler Fehlschlag seiner Mission. Psyche, vergib mir! schrie Herald in Gedanken. Ein schrecklicher Gefühlssturm zerriß ihn fast und verstärkte die Qual, die er in dem fremden Kraftfeld erleiden mußte. Dann sammelte er sich und sagte: »Holen Sie Flammes Aura her, wenn Sie das vermögen. Eliminieren Sie das Störmuster, überlassen Sie ihr einen Kanal, so daß sie in den Transfer gehen kann. Sie wird diesen Wirt animieren.« Er empfand Hoffnung und Angst zugleich. & Wir liefern den Fehler der Anlage. Nun trifft sie ein. Lenken Sie sie. & So schnell! »Flamme!« rief Herald. »Flamme von Esse: Animiere den Jet-Wirt. Wir müssen beweisen, daß wir Kirlian-Intelligenzen sind, um den Cluster zu retten! Flamme!« Sechzehns Körper verharrte. Würde es gelingen? Konnte Flamme ihn hören? Würde sie es tun? Konnte sie es? Dann veränderte Sechzehn sich unmerklich. Selbst aus dieser Entfernung spürte Herald, wie die Aura wechselte. Zu welcher Familie sie gehörte, konnte er nicht identifizieren, doch wenn dies der Saum war, dann mußte die Intensität im Zentrum mindestens 200 betragen. Flamme. Ä Aurale Erscheinung! Ä meldete der Techniker. & Das ist ein technischer Trick &, protestierte der Koordinator. & Sie hat einen Generator. & »Also, ich bitte Sie!« wehrte Herald sich. »Sie haben
sie selbst ausgesucht! Haben Sie mehr Vertrauen in Ihre eigenen Beobachtungen! Welche Maschine sollte sie bei sich haben? Wie sollte sie sie ohne Ihr Wissen einschalten?« Ä Sie müssen über eine Technologie verfügen, die wir noch nicht analysiert haben Ä, meinte der Techniker. »Flamme, sag ihnen, wer du bist!« flehte Herald. »Unser Leben hängt davon ab!« »Ich bin...«, begann sie, brach jedoch ab. Sie erschauerte. »Ich muß...« Dann begriff Herald, was geschah. »Sie kommt nieder!« schrie er. Ausgerechnet in diesem Moment! Und es war seine Schuld – in mehr als einer Hinsicht. Sechzehn hatte versucht, es ihm mitzuteilen, und er, besessen von seiner eigenen Mission, hatte ihr nicht zugehört. Wie die Amöbe hatte er sich von seiner Absicht blenden lassen, so daß ihm schließlich der Erfolg versagt blieb. Dann ergriff Sechzehn das Wort. »Oh, Herald, ich habe versucht, es hinauszuzögern«, sagte sie. »Aber der Schock des Transfers...« Sie schüttelte sich. Aus ihrer Düse kam ein Objekt herausgeschossen, eines der Gebilde, die ihre Beweglichkeit eingeschränkt hatten. Es war ein winziger Jet, der sich an der Innenwand ihrer Röhre eingenistet hatte und von den Gasen ernährt worden war, die durch ihr System wanderten. Nun fand er sich zum erstenmal in frischer Luft wieder und nahm seinen ersten eigenen Atemzug. Ein dünner Gasstrom schoß heraus und stabilisierte ihn. Doch Sechzehn schüttelte sich erneut und gebar einen weiteren Nachkommen. Dann einen dritten.
Womit ihr Wurf komplett war. & Sie haben Seelen-Weisheit in dieser Weiblichen nachweisen wollen &, sagte der Koordinator. & Statt dessen wurde die Geburt demonstriert, ein Phänomen, das uns bereits bekannt ist. Das vergeudet Zeit. Wir werden Sie jetzt eliminieren und die Weibliche mitsamt Nachkommen in eine Reservation bringen in der Hoffnung, daß diese Unterspezies in einigen Millionen Jahren das Ziel erreichen wird. & Er gab dem Techniker ein Zeichen. Heralds Schmerzen wurden unerträglich. Er wußte, daß sie ihn töten würden. Es war alles umsonst gewesen! Der Koordinator wußte alles, was er wissen mußte, und machte der Angelegenheit ein sauberes und wirkungsvolles Ende. So wie Prinz Ring von Krone davon überzeugt gewesen war, daß Psyche besessen war, und sie verbrannt hatte. Sechzehn bewegte sich. Ä Haltet ein, &! Ä schrie sie. Ä Sie verstoßen gegen das Ahnengesetz auf Kosten Ihrer Mission! Ä Der Koordinator hielt inne, und Heralds Schmerzen ließen nach. & Sie reden ja ohne Übersetzung. & Das hatte sie tatsächlich! Herald verstand sie vorwiegend in der Übersetzung der Anführungszeichen. Ä Wie viele anderen Cluster sonstwo im Universum haben Kirlian-Intelligenz entwickelt, SeelenWeisheit – und sind von der Amöbe ausradiert worden? Ä fuhr sie fort. Ä Sie, &, die Sie Ihre Untergebenen auf die Gefahr aufmerksam gemacht haben, genau das zu übersehen, wonach Sie suchen – Sie tun es selbst! Sie sind blind, intellektuell ignorant! Wenn Sie Überprüfungen und Gegenüberprüfungen vornehmen und keine Seelen-Weisheit feststellen, dann nen-
nen Sie die Wesen Tiere, und das, obwohl sie intelligent sind. Damit werden Ihre Überprüfungen wertlos! Die Ahnen haben sich in eine Maschine verwandelt: verständnislos, brutal, stets nur auf ein Ziel gerichtet, ohne einen Deut vom Weg abzuweichen und sich von anderen Überlegungen beeinflussen zu lassen. Das ist ihre Tragödie – und die Ihre! Ä & Wie ist das möglich? & Fast schien es, als müßte der Koordinator einer Anklage in seiner eigenen Sprache lauschen und als könnte er sie nicht so leicht beiseite wischen wie eine Anklage in einer fremden Sprache. & Sie sind keine von uns! & Ä Ich bin keine von euch Ä, gab sie ihm recht. Ä Ich komme aus euren wunderschönen alten Maschinen, welche ihre Aufgabe weitaus besser erfüllen als Sie die ihre. Sogar in diesem Moment wendet die Maschine sich gegen ihre Absichten und stoppt die willkürliche Vernichtung dieses Clusters. Durch Ihre Dummheit sollen keine Kirlian-Intelligenzen mehr vernichtet werden. Ä & Löschen Sie sie aus! & befahl der Koordinator seinem Techniker. »Ist das eine Art, Unschuldige zu verschonen?« fragte Herald. Wie sehr doch diese Situation den letzten Minuten auf Schloß Kade glich, doch diesmal ließ sich die Tragödie nicht aufhalten. Flamme, Psyche, der Cluster und das Kirlian-Leben standen auf dem Spiel. Und er konnte nicht das geringste tun! Eine Pause trat ein. Ä Ich kann es nicht! Ä rief der Techniker völlig verwirrt. Ä Das Feld reagiert nicht! Ä Er irrte sich nicht. Plötzlich fühlte Herald sich wieder frei.
Kurz darauf hatte der Koordinator es überprüft. Die Kontrollen des Schiffs gehorchten nicht mehr seinen Befehlen. & Wir sind verraten worden. Sabotage! & Ä Nein Ä, entgegnete Flamme Sechzehn. Ä Sie sind vor sich selbst gerettet worden. Nun werden Sie einiges lernen müssen. Denken Sie an meine Nachkommenschaft, gezeugt von diesem hochkirlianischen Männlichen, während er sich im Transfer befand. Ä Irgendwie redete Sechzehn plötzlich Amöbisch. Aber was sollte das heißen, daß die eigene technische Anlage der Amöbe sich gegen die Invasion wendete? Unmöglich konnte Sechzehn das in die Wege geleitet haben! Hatte Flamme es etwa geschafft, die Einheit aufzuknacken und von innen her zu übernehmen? Aber sie hielt sich doch nicht mehr in den Schaltkreisen auf! Es gab da ein fehlendes Element, was ihn mindestens ebenso verwirrte wie den Koordinator. Niemand, der sich mit den Anlagen der Amöbe nicht genau auskannte, hätte einem Techniker die Kontrolle darüber entreißen können. Er hatte sich ja die Geräte der Ahnen genau angeschaut und kannte ihre Kompliziertheit! Das mußte irgendein Bluff sein! Der Techniker tastete mit seinem Analysestrahl die jungen Jets ab. Endlich reagierte der Strahl auf die Kontrollen! Ä Sie haben Auren im normalen KirlianTier-Bereich – dennoch sind sie intelligent Ä, verkündete der Techniker zitternd. »Normale Auren?« rief Herald. »Keine unbedeutenden?« »Sie sind normal«, sagte Sechzehn diesmal in Anführungszeichen. Also konnte es nicht Flamme sein, die niemals einen Etamin-Wirt besessen und in An-
führungszeichen gesprochen hatte. Nein, er brachte sich jetzt selbst durcheinander; Flamme würde sich doch der Sprache ihres Wirts bedienen. »Ich wußte, daß es so ist. Ich habe darauf vertraut.« & Vertrauen &, wiederholte der Koordinator schwach. »Begreifen Sie, was das bedeutet?« wollte Herald von dem Koordinator wissen. »Ein Männlicher von Slash kann mit einer Weiblichen von Glob Nachwuchs haben, wenn man nach der Aura vorgeht. Meine Aura von der Intensität von über zweihundert verschmolz mit ihrer Aura von einem Zweihundertstel, und die Nachkommen liegen mit ihrer Intensität in der Mitte, sie sind normal. Das kann kein Zufall sein; kein Jet hat jemals zuvor eine derart hohe Aura gehabt! Wenn ein Intelligenter mit hochintensiver Aura also in einen Amöben-Wirt transfert...« Der Koordinator, der sich mit dem Problem seiner Anlage und Sechzehns Behauptung herumschlug, schien nahezu bereit zu sein, die Theorie über die bereits existierende Kirlian-Intelligenz zu glauben. Im Augenblick erinnerte er ihn an den Herzog von Kade, wie er die schreckliche Wahrheit (zugleich Unwahrheit) über die Besessenheit erkannte. Die Ahnen waren den Entitäten des Clusters überaus ähnlich – wenn sie diese Erkenntnis doch nur akzeptieren würden. & Unmöglich. Wir haben überhaupt keine Auren. & »Aber ihr seid mit den Jets von Glob sehr eng verwandt«, blieb Herald hartnäckig. »Mit denen und mit Hilfe genetischer Manipulation könnt ihr vielleicht zusammenkommen und Nachwuchs haben, und eure
Nachkommenschaft würde die ersten Auraspuren haben. Dann könnten wenigstens vollentwickelte Kirlians in jene Wirte springen...« Der Köder war zu verlockend. Der innere Widerstand des Koordinators zerbrach. Er wollte alles glauben. & Unser Traum für diese fünfzigtausend Zyklen! Endlich Seelen-Weisheit! & Die Übersetzung verriet Herald, daß dies etwa viereinhalb Millionen Jahre waren, was den Schluß nahelegte, daß die Ahnen bereits seit anderthalb Millionen Jahren in dieser Richtung tätig waren, ehe sie zum erstenmal den Cluster betraten. Welche Beharrlichkeit! Der Sieg war dem Cluster sicher – und auch der Amöbe. »Ich weiß nicht, wie du das geschafft hast«, sagte Herald zu Flamme Sechzehn. »Ich weiß noch nicht einmal, wer von euch beiden das getan hat. Aber es war eine hervorragende Sache, und ich liebe euch beide.« Dann mußte er hinzufügen: »Aber Psyche ist die, nach der ich mich sehne. Ohne sie ist mein eigenes Leben leer, und ich habe keinen weiteren Wunsch, wenn ich sicher sein kann, daß dem Cluster nichts mehr zustoßen kann.« Sechzehn schaute ihn an und näherte sich ihm nicht. »Wie willst du deine Affären mit zwei anderen Weiblichen rechtfertigen?« »Ich glaube, das würde ich noch nicht einmal versuchen. Die Privilegien meiner Position waren ihr in ihrer Kultur unbekannt. Um jedoch ihr Interesse zu wecken, würde ich Affären mit tausend anderen Weiblichen haben, und jede davon wäre bedeutungslos. Hätte ich Psyche nicht kennengelernt, dann hätte ich dich wahrscheinlich lieben können, Flamme; ich weiß, daß es so hätte sein können. In meiner Igno-
ranz habe ich dir weh getan. Und obwohl ich emotional so gut wie gar nicht auf eine niedrige Aura reagiere, hätte ich wahrscheinlich auch dich lieben können, Sechzehn. Aber ich habe nun mal Psyche kennengelernt, und sie eroberte mich, und obwohl es ihre verstärkte Aura war, die zuerst meinen Widerstand brach, ist sie es, die ich für immer liebe, hat sie nun eine hochintensive Aura oder eine schwache, ganz gleich ob sie lebt oder welche Gestalt auch immer sie annimmt. Ich liebe euch Mädchen und weiß, daß ihr beide sehr wertvolle Persönlichkeiten seid, aber es ist kein Vergleich mit meiner Liebe zu ihr. Ich liebe dich zum Teil auch deshalb, weil du meine Suche nach ihr unterstützt hast. Ich bedauere es aufrichtig, dich doppelt zu benutzen, doch so soll es nun mal sein. Die Wahrheit muß ausgesprochen werden. Nun muß ich nach ihr suchen – für den Rest meines Lebens, wenn es nicht anders geht. Denn ohne sie habe ich keine Lust mehr am Leben.« Nun rückte Sechzehn näher heran, und er spürte mehr von ihrer Transfer-Aura. »Flamme versteht«, sagte sie. »Deshalb hat sie sich ja entschlossen, im Schaltkreis zu bleiben und die Übernahme der Anlage zu steuern. Hier an Bord des Schiffs befindet sich Station Eins. Alle anderen richten sich danach. Jetzt sitzt sie also an den Kontrollen der Amöbenflotte.« Herald hielt inne. »Flamme hat die Kontrolle? Aber sie...?« Fast war sie bei ihm, ihre Aura überschritt die Zweihundertermarke. Offenbar hatte die Anlage die Aura bis über Flammes Wert hinaus gesteigert. »Und Sechzehn braucht eine Aura, und ich brauche einen Wirt.« Nun war ihre Aura seiner eigenen ebenbürtig
und glitt darüber. »Ich verstehe auch, Herald. Ich habe schon immer verstanden. Mit anderen Kulturen kann ich mich nicht identifizieren, und ich kann sie nicht nach meinen Maßstäben messen. Du warst eine Kreatur von Slash, einer fremden Galaxis, mir in Gestalt und Kultur völlig fremd, dennoch hat die Liebe all diese Unterschiede unwichtig gemacht. Alles was mir während meines langen Exils in der Hölle geblieben ist, einer Zeit, in der ich mich ängstlich versteckte und meine wahre Natur vor den Teufeln verbergen mußte und ihre Sprache und ihre Sitten erlernte und mich auf ihr weitgehend automatisches System zu verlassen begann und dabei erfuhr, daß es trotz allem Intelligente mit den besten Absichten waren, die ihre Mission ebenso eifrig verfolgten wie ich die meine – also alles was mir blieb, war meine unendliche Liebe zu dir. Ich wußte, daß sie erwidert wurde. Jeden Dialog, den du in der Nähe irgendwelcher Artefakte der Ahnen führtest, konnte ich mithören, wenngleich ich nicht darauf antworten konnte, um mich nicht selbst zu verraten und alles zu verlieren. Nun...« »Psyche!« rief er, erkannte er doch endlich ihre Aura und verstand er gleichzeitig auch, was sie meinte. »Du bist in den Wirt gesprungen, nicht Flamme! Du hast mich vor dem Tod bewahrt!« »Wir alle haben dich gerettet – gerade rechtzeitig für die junge Familie«, stimmte sie ihm zu. Dann waren sie endlich vereint – für immer.
Epilog Es mußten noch eine ganze Reihe von Dingen geklärt werden. Das dauerte etwa zwei Jahrhunderte. Für die Kirlian-Intelligenzen des Clusters hatte die Wissenschaft der Ahnen das Ideal hinreichender Energie und die Abschaffung des Problems der Sphärischen Regression bedeutet. Für die Amöbe war die SeelenWeisheit das Sinnbild der ultimaten Zivilisation mit der Möglichkeit, die Ewigkeiten zu überdauern – und genügend Energie. Beide Kulturen wurden enttäuscht. Dennoch ließen sich durch die Kombination von Ahnenwissen und Kirlian-Intelligenz einige wichtige Erfolge erzielen. Viel mehr ließ sich erreichen, als man vorher für möglich gehalten hatte, allein schon durch die beiden verschiedenen Lebensarten, und weitere Forschungsprogramme wurden ins Leben gerufen. So untersuchte man die Herkunft hochintensiver Auren. Dann beschäftigte man sich mit der Klassifizierung von Informationen. Die Amöbe besaß keine Texte, denn das semimechanische Gedächtnissystem der Kirlianlosen arbeitete weitaus genauer als das Gedächtnis der Aura-Wesen. Man mußte Wege finden, das Wissen beider Typen zusammenzutragen und verfügbar zu machen. Diese Bestrebungen führten zu einer Reihe von großen Erfolgen und zu einer Anhebung des technologischen Niveaus wie auch des Komforts für jeden einzelnen. Das Programm der Amöbe wurde geändert. Es gab keine Vernichtung von intelligenten Spezies mehr, ganz gleich, von welchem Typ sie waren. Cluster-
Tiere wurden weitaus besser behandelt, seit die Amöbe jede Form von Kirlianismus zu würdigen begann. Suchexpeditionen gelangten zu KirlianIntelligenzen in anderen Clustern des Universums, informierten sie vom Kirlian-Cluster und lieferten ihnen die Technologien, um ihr Überleben in den Clustern zu gewährleisten, in denen die Mehrzahl der Intelligenten kirlianlos war. Diese Missionen demonstrierten den anderen Clustern, daß die Zukunft des intelligenten Lebens in der Integration der verschiedenen Typen begründet war. Nach und nach breitete sich die Super-Zivilisation im Universum aus, ein Kern umsichtigen Energiegebrauchs und der Erhaltung und einer unerreichbaren Technologie. Dieser Prozeß wurde nicht abgeschlossen und war auch nicht ohne Gefahren, denn das Universum war praktisch grenzenlos. Doch wo diese Woge vorbeispülte und den Reformgeist verteilte, wurden die Kriege und die Völkermorde unter den Intelligenten beendet. Nun gab es bessere Wege zum Zusammenleben. Die Rolle Herald des Heilers in der Lösung der Amöben-Cluster-Krise half mit, den Fluch von Llume von der Sphäre Slash zu nehmen. Er heiratete erneut Psyche von Kade. Es war zwar nicht das reine Glück, denn er ließ schon mal seine Blicke allzu neugierig herumwandern, und sie hatte ihre Launen, so daß sie ihre Schlachten auszufechten hatten, jedoch vertrugen sie sich stets, und ihre unendliche Liebe ließ niemals nach. Natürlich hatten sie ein Kind namens Freude. Doch sie hatte ihren Körper verloren und er seinen Beruf, denn die Amöben-Technologie brachte neue Heil- und Diagnosetechniken. Grundsätzlich unfähig, sich irgendwo niederzulassen, blieben sie als
Transferagenten aktiv. Dabei arbeiteten sie stets als Paar und bedienten sich vieler verschiedener Wirte, um den Prozeß der Verbreitung der neuen Ordnung zu beschleunigen. Beide waren praktisch unsterblich und mußten nur von Zeit zu Zeit ihre Auren aufladen. Tatsächlich war nunmehr die Unsterblichkeit allen denen zugänglich, die es danach verlangte, vorausgesetzt, sie widmeten ihr Leben dem Wohl der Zivilisation. Sechzehn von Jet war glücklich, als Psyches BasisWirt dienen zu können; sie hatte schon immer Sehnsucht nach einer hohen Aura gehabt. Doch je weiter die Integration von Cluster und Amöbe voranschritt und die Arbeit immer mehr wurde, desto länger blieb Psyche ihrem Wirt fern. Das war an Sechzehn unfair gehandelt, denn sie hatte am Ort keinen Erzeuger für eine kleine Kirlian-Familie, mit dem sie sich hätte verbinden können. Zwei Kirlian-Entitäten erfuhren davon und handelten. Flamme von Esse und Hweeh von Weew besuchten die Wirte, die Herald und Psyche benutzt hatten. Ihre natürlichen Auren waren nicht so stark, jedoch machte das in den Tagen der Verstärkung kaum einen Unterschied. Als Flamme mit Hweeh zusammentraf, ihre beiden Auren sich überlagerten und ihre beiden brillanten Geister sich gegenseitig maßen, geschah etwas. Und schon bald heirateten sie und zogen sich ins Privatleben zurück. Auf dem Planeten Keep in der Sphäre Sador im Segment Etamin entwickelte der Herzog von Qaval sich zum mächtigsten Adligen seiner Zeit. Er sorgte dafür, daß er zum Thronerben des Throns von Krone erklärt wurde, und erlangte politische Macht über den Planeten. Er machte den Baron von Magnet zum
neuen Herzog von Kade. Magnet war der einzige andere Überlebende der Vernichtung der Burg von Kade, da er unter strenger Bewachung zu seiner eigenen Burg zurückgebracht wurde, als die Kernexplosion stattfand, und er war zäh genug gewesen, sich rollend von seinen Wächtern zu entfernen, als der Pilz hinter ihnen aufblühte und die Wächter umfielen. Allerdings war er leicht radioaktiv. Er tat sein Bestes, all das zusammenzuhalten und zu vermehren, was von den reichen Herden und dem saftigen Ackerland in dieser Region noch übrig war, und den anderen Intelligenten Hilfe zu gewähren, die auch dem Untergang nahe gewesen waren. Prinz Qaval schaffte unterdessen hochempfindliche Kirlian-Geräte an, um dafür zu sorgen, daß niemals mehr jemand unter die falsche Anschuldigung der Besessenheit gestellt wird. So endete die Kirlian-Suche im Cluster und wurde auf das Universum ausgedehnt. Die Gestalt Herald des Heilers, Retters des Clusters, ging in die Geschichte ein und stand neben Melodie von Mintaka und Flint von Außenwelt. Nur eine Geschichte muß noch erzählt werden: die des letzten – genaugenommen ersten – Schöpfers und Gestalters. Es war der Gründer des Tempels vom Tarot, und seine erstaunlichen persönlichen Erlebnisse stellten die philosophischen Grundlagen all dessen dar, was folgen sollte. Es war Bruder Paul, ein obskurer Novize in einer obskuren Sekte auf der präsphärischen Erde während ihrer Narren-Epoche. Seine Suche galt dem Gott des Tarot.