Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi (
[email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
Flüche bis zum Überdruss
Prolog
Prolog ES WAR EINMAL - auch wenn es noch gar nicht sehr lange her ist - ein Baby, das in einem Schloss geboren wurde. Seine Familie hatte das Schloss seit Jahrhunderten als Herrenhaus bezeichnet, aber jeder, der es heutzutage sah, würde aufgrund seines Alters, der Türmchen aus Stein, des von Drachen bewohnten Burggrabens und der magischen Zugbrücke darin übereinstimmen, dass es sich dabei um ein Schloss handelte. Dreißig Tage nach der Geburt des Babys verlangte es der sechshundert Jahre alte Brauch in seiner Familie, dass seine Eltern zu Ehren seiner Geburt ein Fest veranstalteten, bei dem es seinen Namen erhalten würde. Am 14. Februar erschienen also drei Dutzend Hexen und Zauberer aus dem ganzen Land in dem Schloss im Moor und versammelten sich im Ballsaal. Nur einer der geladenen Zauberer kam nicht, weil er Wichtigeres in London zu erledigen hatte, aber seine potentiellen Gastgeber hatten Verständnis dafür, dass seine Pflichten vorgingen. Nur einer von denen, die kamen, war nicht eingeladen. Um halb drei Uhr nachmittags wurde das Baby von seiner Mutter und von seinem Vater in den Ballsaal gebracht und in eine grün und silbern ausgekleidete Korbwiege gelegt, die in der Mitte des Raumes stand. Obwohl es noch relativ früh am Nachmittag war, schien die Wintersonne nur schwach herein, und der Raum wurde von Kerzen erhellt, die über den Köpfen der Gäste unter der Decke schwebten. Die Gastgeber hießen die Gäste kurz willkommen, dann wurden die Geschenke überreicht. Alle materiellen Gaben waren bereits in der Woche vor der Zeremonie übersandt worden. Heute wurden nur die ätherischen Gaben überreicht, und jeder Gast näherte sich dem Baby in der Korbwiege jeweils mit einer Blume als Symbol dafür. Ein gedrungener Zauberer näherte sich, stellte eine dunkelrote Rose voller Dornen in die Vase, die neben der Wiege schwebte, und sagte: "Ich überreiche dir die Gabe des Fluchs der Schlagfertigkeit." Der Nächste hatte dunkles Haar und eine lange Nase. Er hatte eine stachelige, rötlichgelbe Blume mitgebracht und sagte: "Ich überreiche dir die Gabe des Fluchs der Autorität." Eine sehr kleine Hexe mit dichtem Lockenhaar trat vor und sagte: "Ich überreiche dir die Gabe des Fluchs des guten Essers", dann stellte sie eine schwarze Pusteblume in die Vase. Nacheinander überreichten die Gäste dem Baby alle möglichen dunkel gefärbten Blumen, die Flüche wie "Macht", "Schnelligkeit", "Weitblick", "Attraktivität", "Gerissenheit", "Beobachtungsgabe", "Bauernschläue", "Scharfsinnigkeit" und "Bereitschaft zur Lüge" symbolisierten. Als die letzten Gäste ihre Blumen überreicht hatten, schwebte neben der Vase plötzlich eine silbriggrüne Tulpe. Der Vater des Babys entrollte ein Pergament und verkündete den Versammelten: "Von dem, der uns die Möglichkeit gegeben hat, heute hier zu feiern und der mich heute vor einem Jahr meiner wundervollen Frau vorgestellt hat, hat mein Sohn die Gabe jenes Fluchs erhalten, der es ihm erlauben wird, andere Menschen zu beherrschen. Mir obliegt es dafür zu sorgen, dass er lernt, wie man eine so großzügige und bedeutende Gabe richtig nutzt. Bitte folgen Sie mir nun in den Salon, wo der Tee serviert werden wird und wo wir die Namensgebung zelebrieren werden." Er führte seine Frau von dem Baby fort zur Tür auf der anderen Seite des Raumes. "Wartet", sagte die Hexe, die allein am Rande der Versammelten stand. "Ich habe meine Gabe noch nicht überreicht." Ein Raunen ging durch die Gäste - sie waren der Meinung gewesen, dass jeder seine Gabe bereits überreicht hatte. War das ein neues Mitglied ihrer Gruppe, das unbemerkt hereingekommen war? Und warum trug sie immer noch ihren Umhang? Sie ging auf das Baby zu, und ihr gewölbter Leib zeigte deutlich, dass sie ebenfalls mehrere Monate schwanger war. Als sie sich die Kapuze vom Gesicht zog und eine Flut dunkelroten Haars sich über ihre Schultern ergoss, schnappten die Mutter und der Vater nach Luft und liefen 2
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Prolog
zur Wiege ihres Sohnes. Sie ging jedoch so zielstrebig darauf zu, dass sie neben der Wiege stand, bevor die Eltern sie erreichten. Aus den Falten ihres Umhangs zog sie eine große weiße Blume, die nur ein Blütenblatt hatte, das sich zu einem Kreis wand. "Hiermit überreiche ich dir", sagte sie, wobei ein grünes Leuchten von ihren Augen ausging, "die Gabe eines Gewissens." Der Vater des Babys rief: "Nein!" Seine Mutter schlug die Hand vor den Mund. Die anwesenden Hexen und Zauberer rangen entsetzt nach Luft. Selbst die Tulpe schien von den Worten der Hexe entsetzt zu sein und ließ in der Vase plötzlich den Kopf hängen. Die rothaarige Hexe beugte sich hinunter, flüsterte dem Baby ein paar Worte zu, die niemand sonst in der Versammlung hören konnte und küsste es mitten auf die Stirn. Als der Vater des Babys nach ihr griff, um sie von ihm fortzuziehen, verschwand sie, aber das runde Mal auf seiner Stirn, wo sie es geküsst hatte, blieb erhalten.
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Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi (
[email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
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2. Kapitel: Ferien zu Hause
2. Kapitel Ferien zu Hause "Ennervate", sagte eine leise Stimme. "Finite Incantatem. Ennervate." Draco Malfoy blinzelte. Normalerweise fühlt sich das Bett nicht so uneben an, und so hell ist es dort eigentlich auch nicht. Und was zerrt da an meinem Arm? "Setz dich hin." Das klang unfreundlich. Warum ist alles so verschwommen? Draco blinzelte wieder, verwirrt bemühte er sich, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren. Ich fühle mich, als hätte ich gerade eine ganze Flasche von Odgens Old Firewhisky getrunken, aber irgendwie zerschlagener, dachte er und schloss für einen Moment die Augen. Bevor er sie wieder öffnete, fühlte er eine Hand auf seinem Arm, die ihn auf die Knie zog, aber der Boden war immer noch sehr uneben. Während er versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, öffnete er die Augen einen Spaltbreit, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie sein eigener Zauberstab auf ihn zuflog. Er traf ihn an der Stirn, und er dachte: Wieso fliegt er durch die Gegend? Ach so. Sie ist das. Aber warum ...? Sein Zauberstab landete auf dem Boden und schoss einen Funkenregen auf seine Knöchel. Draco riss die Augen weit auf, schwankte leicht und landete mit einem weiteren dumpfen Aufprall auf dem Boden. Sein Kopf und sein Körper fühlten sich noch immer so an, als ob er sechsmal von einem Paar Verteidigern und einem oder zwei Bludgern gefoult worden wäre. Er war erstaunt darüber, wie leise seine Stimme klang. Viel ruhiger, als ich seit Monaten gewesen bin. "Guten Tag, Mutter. Wo sind wir?" Mir schwimmt noch immer alles vor den Augen - ein kleiner Wagen. Ich glaube, das ist ein Wagen. Warum sehe ich Flügel? Ich kann anscheinend immer noch nicht klar denken. Konzentrier dich aufs Atmen. Ein Kinderspiel. Er kniff die Augen wieder zusammen, öffnete sie dann weit und sah seine Mutter mit schief gelegtem Kopf in dem Versuch an, sie klar zu erkennen. Faszinierend, dachte er. Draco hatte lange geglaubt, dass seine Mutter viel älter aussah als ihre vierunddreißig Jahre, wenn sie wütend war, während bei seinem Vater das Gegenteil der Fall war - wenn er wütend war, sah er viel jünger aus als fünfundfünfzig. "Wie kannst du es wagen, deine Familie derart in Verlegenheit zu bringen? Ich musste mir anhören, wie dieser Arthur Weasley mir vor allen Leuten erklärt hat, dass seine ungehobelten Söhne, dieser geistesgestörte Potterjunge und dieses schreckliche ... Schlammblut-Mädchen meinen Sohn behext hätten und dass er bewusstlos in irgendeinem Zugabteil läge. Ich konnte dich noch nicht mal dort aufwecken, sondern musste dich aus diesem Scheißzug rausschleifen. Setz das auf deine Liste für den heutigen Tag. Hast du nicht genug Verstand, um dich zu verteidigen oder um Situationen zu erkennen, wo du im Hintertreffen bist? Du siehst einfach lächerlich aus, in deinen Haaren ist ein schmutziger Fußabdruck, und an den Armen und im Gesicht hast du überall Male von den Flüchen, wie kommst du nur auf die Idee, dass du imstande bist ..." Draco hörte längst nicht mehr zu und ließ Narcissa Malfoys Tirade an sich vorbeirauschen; er raffte sich vom Boden eines der Familienautos auf den Klappsitz hoch, beugte sich vor und hob seinen Zauberstab auf. In den seltenen Fällen, wenn sie diesen Wagen benutzten und sein Vater nicht dabei war, saß Draco normalerweise mit seiner Mutter auf dem Rücksitz, aber im Moment hielt er sich lieber außer Reichweite. Der Klappsitz war für einen Fünfzehnjährigen furchtbar unbequem, obwohl er nur durchschnittlich groß war, aber es war derzeit der beste Platz. Er konzentrierte sich auf ihren Hut, weshalb es so aussah, als würde er ihr in die Augen sehen, und sein Mund verzog sich zu einem leichten Schmollen; Draco verstand es meisterhaft, 4
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2. Kapitel: Ferien zu Hause
richtig beschämt auszusehen. In der Schule mochte er gesprächig, sarkastisch und geistreich sein, und in Gegenwart seines Vaters fielen ihm immer gute Erklärungen für alles ein. Aber wenn er allein mit seiner Mutter war, fand er es einfacher, den Mund zu halten und ihr Gebrüll weitgehend zu ignorieren. Eine kleine, vertraute Stimme in seinem Hinterkopf krakeelte mit Narcissa im Duett: Du bist selbst schuld dran, dass du behext worden bist. Es ist einzig und allein deine Schuld. Warum hast du so schreckliche Dinge über Cedric gesagt? Er ist kaum ein paar Tage tot, und schon verfluchst du sein Andenken. Hast du überhaupt keine Selbstbeherrschung? Klasse, dachte Draco bei sich. Das nächste Mal erzähl mir das bitte, bevor ich eine Dummheit mache. Die Stimme fuhr fort: Wo ist die ganze Disziplin geblieben, die man dich gelehrt hat? Wie kommst du nur auf die Idee, dass du es wert bist, beachtet zu werden? Warum glaubst du alles, was dir dein Vater erzählt? Du verdienst es nicht, dieselbe Luft zu atmen wie deine Klassenkameraden, du bist zu widerwärtig, um mit normalen Hexen und Zauberern zu verkehren, böse ... böse ... schwarz ... böse ... "Bin ich nicht!", sagte Draco laut. "Oh doch, das bist du", antwortete Narcissa. Worauf bezog sich meine Antwort?, fragte Draco sich. "Sobald wir zu Hause sind, gehst du in dein Zimmer, bis dein Vater sagt, was weiter geschehen soll." Oh. Das. Damit komm ich klar. "Ist er immer noch in der Redaktion?" "Natürlich. Die ganze Woche war die Hölle los, weil irgend so eine dämliche Reporterin verschwunden ist. Nach all den Geschichten wegen dieser verschwundenen Hexe beim Ministerium für Magie im letzten Jahr können wir es nicht einfach ignorieren, wenn eine unserer Mitarbeiterinnen sich in Luft auflöst." Narcissa fuhr fort und wechselte das Thema: "Ich habe deine Eule schon mit einer Nachricht an die Hauselfen nach Hause geschickt, in der stand, dass sie dein Klavier und deine Bücherregale wegräumen, den Schreibtisch aber stehen lassen sollen." "Aber ... Mutter", versuchte Draco einzulenken. Ich tue lieber so, als ob es mir was ausmachen würde, dass sie mir wieder das Klavier wegnimmt. Vielleicht kann ich mit Lucius einen Deal machen - ich könnte ihm im Austausch dafür die Information über Rita zukommen lassen. Es wäre ein fairer Tausch, aber es ist ihm normalerweise egal, ob er fair ist oder nicht. Trotzdem, es ist meine einzige Chance. Narcissa fuhr fort: "Bis dein Vater etwas anderes sagt, sind in diesem Sommer alle Vergnügungen außer deinen Hausaufgaben gestrichen, die kannst du in den nächsten zwei Wochen erledigen, außerdem hat er auch ein paar Aufgaben für dich." "Warum muss ich meine ganze Arbeit jetzt gleich erledigen? Und was für Aufgaben?" "Ich hab' keine Ahnung, was für Aufgaben das sind", keifte sie ihn an. "Ich weiß nur, dass dein Vater uns für den größten Teil des Sommers außer Landes haben will. Im Juli besuchen wir meinen Bruder und seine Familie in den Pyrenäen, und ich will nicht, dass du da irgendwelche Schularbeiten mitnimmst. Wir haben zu viel anderes vor." Draco wunderte sich einen Moment. Warum will er uns außer Landes haben? - Dann konzentrierte er sich jedoch auf die andere Aussage seiner Mutter. Reisen, na gut, das sollte ein unverfängliches Thema sein. Narcissa sprach liebend gern über ihren Bruder, ihre Schwägerin und ihre zahlreichen Cousins - vielleicht weil sie keine Malfoys waren. Ich muss nur dafür sorgen, dass sie weiter von den Partys erzählt, die sie geplant haben und eventuell versuchen, sie zu überreden, für die Mädels einkaufen zu gehen, oder Reiseproviant zu besorgen, oder ... Es funktionierte nicht. Schon nach ein paar Minuten, in denen er ihr Fragen über das Pegasus-Poloturnier der Pyrenäen und über die Zauberberghaus-Partys, zu denen sie gehen würden, gestellt hatte, kamen sie in Malfoy Manor an. An einem so hellen, sonnigen Tag wirkten die Steinmauern fast golden und einladend. Auf dem Feld westlich vom Haus bemerkte Draco sechs
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Flüche bis zum Überdruss
2. Kapitel: Ferien zu Hause
riesige Stangen mit Schlaufen am oberen Ende. "Will Vater dieses Jahr ein paar QuidditchPartys geben?" Narcissa verneinte. "Die sind für dich, zum Trainieren. Dein Vater ist total aufgebracht, weil du seit dem letzten Herbst kaum geflogen bist, und alles nur wegen dieses dämlichen Trimagischen Turniers und weil du dieses Jahr in den Ferien in der Schule geblieben bist. Er will, dass du diesen Sommer umso mehr Quidditch spielst. Er erwartet, dass du nächstes Jahr jedes Spiel gewinnst, vor allem das Spiel gegen Gryffindor. Er hat ein ganzes Trainingsprogramm für dich aufgestellt, sowohl für hier als auch für die Zeit bei Onkel Charles, aber ich habe den Namen des Herrn vergessen, den er als Trainer für dich angeheuert hat, jemanden namens Vox oder Fawkes." "Dylan Vacchs? Er hat gerade als Sucher für das Team von Luxemburg aufgehört. Ich glaube ..." Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden. Sie waren vor dem Säulenvorbau angekommen, und die Wagentür öffnete sich. Draco stieg aus und streckte die Hand aus, um Narcissa beim Aussteigen zu helfen. Sie streckte ihm die Hand entgegen, aber bevor sie ihren Fuß auf den Kies setzte, hielt sie inne und berührte sein Gesicht. "Ich schicke jemanden mit deinem Abendessen zu dir rauf. Wenn es geht, auch mit etwas, um die Spuren von den Flüchen und den Zauberstäben zu beseitigen. Lucius wird sich auch so noch genug über diese Flüche im Zug aufregen, es ist besser, wenn er nicht gleich dran erinnert wird, wenn er dich sieht." Sie stieg aus. "Warum gehst du nicht rauf und fängst mit deinen Hausaufgaben an? Ich glaube, du bist ihm auch noch die Liste über die letzte Woche schuldig, besonders über das, was heute passiert ist." Scheißlisten. Ich habe dies falsch gemacht und jenes falsch gemacht, ich habe diesen Fehler begangen und irgendjemandem zu viel über irgendwas erzählt, und ich habe eine winzige Nichtigkeit richtig gemacht, nicht, dass ich dächte, dass dir das irgendwie auffallen würde. "Er glaubt immer noch, dass das eine gute Übung für meinen Schreibstil ist", murmelte Draco. "Das glaubt er ganz offensichtlich. Du kannst vielleicht in weniger als drei Jahren beim Tagespropheten anfangen, aber nur, wenn dein Stil und deine Berichterstattung besser werden. In deinem Alter hatte dein Vater bereits zwei Reportagen veröffentlicht und schrieb von der Schule aus für eine wöchentliche Kolumne." Sie drehte sich um, stieg die Stufen zur Haustür hinauf und gab ihren Hut dem Dienstmädchen, das drinnen wartete. "Du arbeitest ganz eindeutig immer noch nicht hart genug. Das ist ausgesprochen enttäuschend." Draco blieb einen Augenblick neben dem Auto stehen. Ich bin also immer noch eine Enttäuschung. Immer noch nicht gut genug - aber wie hätte ich das in diesem Jahr auch sein können, ohne Quidditch und zu jung für das Trimagische Turnier (was diesen verdammten Potter aber nicht aufgehalten hat). Ich hoffe, dass er es mich diesmal erklären lässt. Er blickte sich zum Auto um und überlegte, ob er es mit seinem Zauberstab starten und nach London zurückfahren sollte, um in der Diagonallee zu verschwinden. Tolle Idee, Draco. Und mit welchem Geld? Du hast in Hogsmeade alles ausgegeben! Du kannst diesen Sommer überstehen. Es sind nur drei Wochen, bis wir zu Onkel Charles fahren. Nur drei Wochen ohne Musik, dafür haufenweise Quidditch und Hausaufgaben und niemanden, mit dem ich reden kann. "Besser als letzten Sommer", murmelte er und warf dann schnell einen Blick nach hinten um sicherzugehen, dass keiner der Wasserspeier neben dem Eingang ihn gehört hatte. Es war definitiv das Haus seines Vaters, und die Kreaturen und Gemälde hatten den Hang, Lucius jeden von Dracos Kommentaren weiterzusagen. Es würde aber besser werden. Wenn er bei seinen Cousins war, wenn sein Vater nicht anwesend und seine Mutter damit beschäftigt sein würde, andere zu unterhalten und sich unterhalten zu lassen, wäre alles wesentlich entspannender. Er ging auf das Haus zu und sah in die hell lodernden Flammen im Kamin gleich hinter der Tür. Immer wenn er andere Zaubererhäuser besucht hatte, war Draco beeindruckt gewesen, wie leicht man von einem Zimmer ins andere kam. Als er im letzten Sommer bei Vincent Crabbe zu Besuch gewesen war, hatten sie Kaminpulver benutzt, um von einer Etage in die andere zu ge6
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2. Kapitel: Ferien zu Hause
langen, weil es keine Treppen gab. Vor Jahrhunderten, als die ersten Malfoys in England die erste Version von Malfoy Manor entworfen hatten, hatten sie jedoch Schutzzauber installiert, die es weitgehend verhinderten, innerhalb des Hauses Reisezauber zu benutzen. Seine Eltern konnten mittels Kaminpulver von einem Raum mit Kamin in den nächsten gelangen, aber alle, die das sonst versuchten, landeten immer im Kamin der Eingangshalle, was auch für Draco galt. Unmittelbar bevor er das Foyer betrat, zog Draco seinen Zauberstab hervor und holte mit einem Apportierzauber eines der Bücher, die er in Hogsmeade gekauft hatte, aus seinem Koffer. Eigentlich durften Hogwartsschüler in den Ferien offiziell nicht zaubern, aber Malfoy Manor war vor über zwanzig Jahren nicht umsonst vom Ministerium mit Störzaubern bestückt worden. Draco wusste genau, dass die Zauber verhängt worden waren, um es seinem Vater zu erlauben, heimlich schwarze Magie zu praktizieren, aber dadurch konnte er den ganzen Sommer lang zaubern, ohne sich Sorgen machen zu müssen, dass er wie andere Schüler eine Verwarnung wegen unerlaubten Zauberns von Minderjährigen bekam. Als er die Treppe hinaufstieg, überflog er das erste Kapitel des Buches. Es war ein historischer Roman mit dem Titel Vaterland, der davon handelte, wie England aussähe, wenn DuWeißt-Schon-Wer seine Macht nicht verloren hätte. Lucius kann es nicht ausstehen, wenn ich solche trivialen Bücher lese, aber mit dem Schrumpfzauber sollte ich wenigstens eins davon in meinem Zimmer verstecken können. Zeit raufzugehen und die Suppe auszulöffeln. Ohne Musikbegleitung - jedenfalls im Augenblick.
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[email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser. Anmerkung der Autorin zu Kapitel 3: Die Passage aus Dracos Buch wurde von Robert Harris' Roman "Vaterland" inspiriert.
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3. Kapitel: Wider den Strom
3. Kapitel Wider den Strom "You surely are a truly gifted kid, But you're only good as The last great thing you did, And where've you been since then? Did the schedule get you down?" You must know me, Father it's your son And I know that you are proud of everything I've done But it's the wonders I perform, Pulling rabbits out of hats When sometimes I'd prefer Simply to wear them If it's uphill all the way you should be used to it and say My back is broad enough sir to take the strain and it's Hello mother, it's your son and aren't you proud, of all I've done But it's "stay right there son, baby do" While I'm just itchin' for something new So watch me hawkeye Understand the force of will, the sleight of hand Movin' the river, bucket by spoon, and do you think that they'll like me when they learn what I do? (1)
March stand ein paar Minuten lang einfach nur da, ohne das Licht anzumachen und blickte auf den Besenverkehr über der Stadt hinaus. Dann ging er in die Küche und beorderte ein großes Glas von Odgens Old Firewhisky zu sich. Der Tagesprophet vom Montag lag neben der Spüle. Er nahm ihn mit ins Wohnzimmer. March las die Zeitung nach einer bestimmten Routine. Er fing auf der Rückseite an, auf der nur Wahres stand. Wenn es hieß, dass die Cannons die Falcons 140:60 beim Quidditch geschlagen hatten, dann stimmte das vermutlich: Selbst die Partei musste sich erst noch ein Mittel ausdenken, wie man die Sportresultate fälschen konnte. Die Sportnachrichten waren eine andere Sache. Countdown zu den Olympischen Spielen von Hogsmeade - Australia May spielt zum ersten Mal seit 28 Jahren - Britische Magische Fotografie hat Weltrang. Und dann die Anzeigen: Familien lieben Ferien in Stonehenge, der Riviera des Magischen Großbritannien. Geburten, Hochzeiten, Todesanzeigen... Ein Leitartikel über die Pro-Muggel-Demonstrationen der Studenten in Godric's Corner, wo sich noch immer eine Widerstandszelle hielt. Mit Verrätern sollte man kurzen Prozess machen! Der Prophet äußerte sich immer kategorisch.. Todesanzeigen: Ein paar alte Leute vom Ministerium für Magie. "Lebenslange Diener Dessen-Dem-Man-Gehorchen-Muss. Ministeriumsnachrichten: Die Frühjahrsschmelze brachte neue Bewegungen an der Sibirischen Front! Britische Truppen überrollen die Terrorgruppen des Ivan! In der Normandie wurden fünf Terroristenführer hingerichtet, weil sie versucht hatten, einen Portal-Schlüssel zu
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3. Kapitel: Wider den Strom
benutzen, um ein Schlammblut und seine Familie zu ihrem Versteck in den Pyrenäen zu bringen ... Draco hatte es nicht geschafft, in seinem Buch weiter als bis zum fünften Kapitel zu kommen. Das Erste, was Lucius getan hatte, als er Draco gesehen hatte, war ihm zu befehlen, den "Muggel-inspirierten Trivialroman aus einem unbedeutenden Verlag" zu vernichten, also hatte Draco seinen Zauberstab auf das Buch gerichtet, Conflagrio gemurmelt und dann die Augen geschlossen, damit er nicht mit ansehen musste, wie die Seiten in Flammen aufgingen. Am frühen Nachmittag hatte Draco fast eine Stunde vor dem Spiegel verbracht, um die Spuren der Flüche in seinem Gesicht und auf seinen Armen zu beseitigen; diejenigen, die nicht zu sehen waren, hatten bis nach dem Abendessen Zeit. Er war so sehr damit beschäftigt gewesen, dass er es geschafft hatte, die beiden verbleibenden Hauselfen der Familie zu ignorieren, die seinen Koffer auspackten und die letzten Bretter seiner zum Bersten vollen Bücherregale leerten. Seit er alt genug war, um die Seiten umzublättern, hatte sein Vater fast jeden Abend Bücher aus dem familieneigenen Verlagshaus mitgebracht, und seit Draco in Hogwarts angefangen hatte, steckte in seinem täglichen Päckchen von zu Hause mehrmals pro Woche ein winziges Buch - oder auch zwei - zwischen den Süßigkeiten, das er erst wieder vergrößerte, wenn er den Blicken seiner Klassenkameraden entronnen war. Das waren aber alles Bücher, die sein Vater ihm zu lesen gegeben hatte: Militärgeschichte, wissenschaftliche Abhandlungen über die Überlegenheit Reinen Magischen Blutes (sein Vater hatte zu einem davon das Vorwort verfasst) und manchmal Neuauflagen von Muggelromanen, die die Verderbtheit der Muggelkultur zum Thema hatten. Während er zusah, wie die Elfen all seine Bücher wegräumten, dachte er an eins, das er während seines zweiten Schuljahrs gelesen hatte. Es handelte von Tieren auf einem Bauernhof, die zu Muggeln wurden, und ein anderes darüber, wie die Muggel in Amerika normale Frauen behandelten, die sie der Hexerei verdächtigten. Draco war völlig entsetzt über diese seltsamen Auffassungen gewesen und hatte in seinem zweiten Schuljahr in den Weihnachtsferien fast jede Nacht im leeren Slytherin-Gemeinschaftsraum verbracht - aus Angst vor Alpträumen über Erhängungen und Hexenverbrennungen. Natürlich las er immer alles, was Lucius ihm schickte. Eulen flogen von Malfoy Manor nach Hogwarts mit Fragen über die Bücher, die Draco zu beantworten hatte, und er schickte seine Antworten pflichtschuldig zurück und erklärte, wie Grindelwald mit einer bestimmten Zauberformel einen Wald in Sibirien zerstören konnte oder warum die Tatsache, dass Muggel nichtmagische Kreaturen halten, es notwendig machte, Transfigurations-Zauber entsprechend zu kontrollieren. Aber seit seinem dritten Schuljahr und seinem ersten Ausflug nach Hogsmeade, bei dem er außerdem zum ersten Mal einen richtigen Buchladen betreten hatte, hatte er zumindest ab und zu ein Wörtchen bei dem, , was er lesen wollte, mitgeredet. Die militaristischen Romane, die Lucius ihm gegeben hatte, hatten sein Interesse an Büchern über alternative Geschichte geweckt, aber er hatte den größten Teil seiner Sammlung unter einem losen Stein im Fußboden seines Schlafsaals gelassen, sorgfältig in einen Anti-Schimmel-Zauber verpackt, und hatte nur zwei Bücher mit nach Hause genommen. Und nun hatte er nur noch eins davon und sah sich unangenehmen Konsequenzen ausgesetzt wegen desjenigen, das Lucius gerade konfisziert hatte. Er empfand die Sitzungen in Lucius Malfoys Arbeitszimmer nie als Strafe. Sie waren einfach Bestandteil seines Lebens. Seit fast zwölf Jahren und seit er in der Lage war, komplette Sätze zu bilden, führten Lucius und Draco ihr GESPRÄCH, wenn er und sein Vater zu Hause waren, bevor Draco die Erlaubnis bekam, zu Abend zu essen. Bevor er zur Schule gegangen war, und jetzt immer noch in den Ferien, lief dieses GESPRÄCH immer nach demselben Schema ab. Draco wurde in Lucius' Arbeitszimmer gerufen und musste normalerweise auf dem Teppich vor dem großen Mahagonischreibtisch stehen bleiben und warten, bis sein Vater kam, während die Köpfe von diversen magischen 9
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3. Kapitel: Wider den Strom
Kreaturen, die an den Wänden hingen, ihn mit gebleckten Zähnen anknurrten. Neben dem Vampirkopf auf seinem Sockel war noch immer eine Lücke, wo eigentlich der HippogryphSchädel hängen sollte, auf den sein Vater im Jahr zuvor gehofft hatte. Wenn Lucius dann schließlich kam, hatte er normalerweise eine Kanne mit einer dunklen, zähflüssigen Flüssigkeit dabei, die er immer in dieselbe Ecke desselben niedrigen Tisches stellte. Ohne ein Wort zu sagen ging er jedes Mal durch den Raum zu einer Nische, wo er sich in einen harten, dunklen Ledersessel setzte; auf ein Zeichen von ihm setzte Draco sich auf den dazu passenden Polsterschemel. Dann beugte Draco sich vor, und Lucius näherte seine Stirn dem Kopf seines Sohnes, bis sie mit einem dumpfen Schlag zusammenprallten. Dann begann Lucius immer damit, seine Fragen zu stellen und kritische Kommentare abzugeben. Zuerst bissige Fragen über Dracos Tagesablauf, die sich entweder aus den Berichten ableiteten, die Narcissa ihm geliefert hatte, wenn er nach Hause kam, oder aber aus Dracos schriftlicher Schilderung dessen, was er gemacht hatte, seit er morgens aufgewacht war. Danach kamen aufgebrachte Fragen in Bezug auf sein Quidditchtraining und ob er irgendeins von den Büchern gelesen hätte, die Lucius ihm auf den Nachttisch gelegt hatte. Dann kamen Quizfragen zu den Details in den Artikeln, die er beim Frühstück in der Zeitung angestrichen hatte, zum Beispiel darüber, ob ein bestimmter Erlass des Ministeriums für Magie stur oder einfach nur ignorant war, oder über den politischen und historischen Hintergrund einer bestimmten Ankündigung bei der letzten Versammlung des Zauberer-Konvents. Wenn Draco nicht schnell genug oder falsch - oder noch schlimmer, unpassend - antwortete, stieß Lucius seinen Kopf gegen Dracos Stirn, immer und immer wieder, manchmal sanft, doch manchmal so hart, dass Draco Sterne sah, wenn er die Augen schloss. Die Stöße schienen Lucius aber nie etwas auszumachen. Und an diesen gewöhnlichen Tagen, wenn er der Meinung war, dass er jede Frage gestellt hatte, auf die er von Draco eine Antwort wollte, stand Lucius manchmal schon nach zwanzig Minuten oder auch erst nach zwei Stunden auf und sagte irgendwas in der Art von: "Wieder ein vergeudeter Tag. Ich hoffe, du wirst die Kraft aufbringen, es morgen besser zu machen." Dann drehte er sich für gewöhnlich um und ging ins Esszimmer, gefolgt von Draco, der ein paar Schritte hinter ihm blieb. In gewisser Weise war das GESPRÄCH so etwas Ähnliches, wie wenn man von einem Skript ablas. Andererseits war es reine Improvisation. Es verlangte Draco höchste Konzentration ab, jeder Frage genau zuzuhören und sich eine rasche Antwort zu überlegen, vor allem eine Antwort, die dem entsprach, was Lucius von ihm hören wollte. Während der letzten zehn Jahre hatte Draco die Fähigkeit entwickelt, seine Antwort mitten im Satz plötzlich zu ändern, wenn der Ausdruck in Lucius' Gesicht oder in seinen Augen oder der Ton seiner Stimme darauf hinwiesen, dass das, was Draco sagte, falsch, dumm oder eines Malfoy nicht würdig war. Manchmal funktionierte es. An den ungewöhnlichen Tagen, wenn Lucius frustriert von der Unfähigkeit eines seiner Untergebenen nach Hause kam oder sich über eine von Narcissas Einkaufsorgien ärgerte oder sonst wie aufgewühlt von irgendwelchen Machenschaften in der Welt draußen war, waren seine Fragen und seine Kritik noch erbarmungsloser als gewöhnlich. An den seltenen Tagen, an denen er mit dünn gekräuselten Lippen lächelnd ins Arbeitszimmer kam, waren der Tonfall des GESPRÄCHS angenehmer und die Kopfnüsse seltener. Aber jedes GESPRÄCH, das an einem ersten Ferientag stattfand, war lang, weil Lucius immer tausend Fragen über das Schuljahr und Hogwarts stellte und sich die Fragen über die Welt draußen für das Abendessen (und manchmal fürs Frühstück) aufhob. Obwohl Dracos tägliche Briefe voll waren von seinen Aufgabenlisten, Anmerkungen zu Büchern, Berichten vom Quidditchtraining und fast wortwörtlichen Wiedergaben von allem, was Dumbledore seinen Schülern verkündet hatte, oder auch von Kommentaren, die Snape im Klassenzimmer oder bei seinen seltenen Besuchen im Slytherin-Gemeinschaftsraum von sich gegeben hatte 10
Flüche bis zum Überdruss
3. Kapitel: Wider den Strom
(und die nichts mit Zaubertränken zu tun hatten), schien Lucius diese Berichte gern noch einmal zu hören. Und wenn Draco während des GESPRÄCHS einen Satz oder eine Geste erwähnte, die in keinem seiner Pergamentrollen-langen Briefe nach Hause aufgetaucht war, schwang Lucius jedes Mal seinen Zauberstab und machte eine weitere schwarze Markierung auf der Tafel auf seinem Schreibtisch. Und am Abend des ersten Ferientags nach seinem vierten Schuljahr, als Lucius von der unerfreulichen Aufmerksamkeit abgelenkt wurde, die das Konkurrenzblatt Zauberpresse dem Verschwinden seiner Starreporterin Rita Skeeter schenkte, würde das GESPRÄCH mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit unerfreulich werden. Draco hatte sich bereits vorgenommen, sich seine einzige Triumphkarte aufzuheben, bis er sie wirklich brauchen würde. Es war keine Überraschung, dass Lucius zuerst nur nach dem Regen von Flüchen fragte, die ihn im Zug k.o. geschlagen hatten. Wie konnte Draco in Anwesenheit eines Schlammbluts alle Vorsicht vergessen, vor allem, wenn sie in Gesellschaft dieses Potterjungen und dieses Weasley war? "Warum habe ich Stunden damit vergeudet dir beizubringen, wie man Flüche schleudert und blockiert? Warum warst du im Auto so unhöflich zu deiner Mutter?" Wälz ein bisschen von deiner Schuld auf Crabbe und Goyle ab, das ist nur plausibel. Sag ihm, dass es fünf gegen einen waren, plus zwei nutzlose Idioten. Keiner kann gewinnen, wenn die Kräfte so ungleichmäßig verteilt sind ... Bitte ihn um extra Trainingsstunden nächste Woche, extra Lektüre, irgendwas, das ihm zeigen wird, dass du nicht willst, dass das noch einmal passiert, das ihm beweist, dass du stark sein und seine Erwartungen erfüllen willst ... Erklär ihm, dass du wegen der Nachwirkungen der Flüche auf der Heimfahrt eine Mattscheibe hattest ... Biete ihm an, alles zu tun, um deine Worte ihr gegenüber und seine Verlegenheit wieder gutzumachen. Und irgendwie, wie auch immer er diese Gedanken in Worte gefasst hatte, akzeptierte Lucius sie. Er würde jeden Abend nach dem Essen zwei Stunden trainieren und daran arbeiten, Flüche zu sprechen und zu blockieren, und nicht nur Mann gegen Mann, sondern drei, vier oder fünf gegen einen. Draco wusste, dass es schmerzhaft sein würde, sich mit so vielen Flüchen herumzuquälen, aber er würde versuchen Lucius zu zeigen, dass er stark genug dazu war und die Kraft aufbringen würde, seinen Erwartungen gerecht zu werden. Lucius fing an, in schneller Abfolge Fragen über die letzten Schultage und Dracos Noten zu stellen, dann fragte er: "Und was hat der alte Mann über diesen Schüler gesagt?" Stell dich dumm, so, als ob du nicht genau wüsstest, was er meint, so, als ob du nicht seit Tagen Getuschel darüber gehört hättest, dass er dort war, dass er alles gesehen hat und dass er weiß, was Du-Weißt-Schon-Wer vorhat. Liefere ihm keine Informationen, die er dazu benutzen könnte, jemandem wehzutun oder jemanden umzubringen ... "Er hat uns gesagt, der Finstere Lord hätte ihn umgebracht. Er sagte ..." - Draco strengte sich an, um sich an Dumbledores genaue Worte zu erinnern - "... er sagte, dass das Ministerium ihm erboten hätte uns zu erzählen, dass der Finstere Lord etwas damit zu tun hatte." "Sagte er 'der Finstere Lord', oder hat er den richtigen Namen unseres Gebieters benutzt?" Er ist nicht mein Gebieter. Und ich will auch nicht, dass er es je wird ... "Dumbledore hat seinen Namen benutzt. Er hat keine Angst davor ihn auszusprechen, so wie die anderen Lehrer. Dumbledore hat auch gesagt, dass einige Eltern entsetzt darüber sein würden, dass er es uns erzählt hat. Er hat wortwörtlich gesagt: 'Weil sie es entweder nicht glauben werden, dass Lord Voldemort zurückgekehrt ist oder weil sie der Meinung sind, dass ich es euch nicht hätte sagen dürfen.'" Draco hielt inne und hob seinen Blick vom Teppich, um seinem Vater ins Gesicht zu sehen, ohne dabei seinen Kopf zu bewegen. Sein Hals fing langsam an, vom Runtersehen wehzutun. Lucius sagte nur: "Fahr fort." "Dumbledore hat weiter gesagt, er glaube, dass die Wahrheit im Allgemeinen der Lüge vorzuziehen sei und dass jeder Versuch zu behaupten, Cedric sei bei einem Unfall oder durch seine eigene Ungeschicklichkeit ums Leben gekommen, einer Beleidigung seines Andenkens 11
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3. Kapitel: Wider den Strom
gleichkomme. Dann mussten wir auf Cedrics Andenken trinken, und dann ..." Draco stockte wieder. Lucius' Reaktionen auf jegliche Erwähnung Harry Potters waren normalerweise etwas, das ihn sich weit weg wünschen ließ. Beim letzten Mal hatten ihm die Ohren noch stundenlang danach geklungen. "Er hat uns gebeten aufzustehen und auf Harry Potter anzustoßen, weil er, äh glaube, dass Potter ... äh ... eine Tapferkeit bewiesen hätte, die nur wenige Zauberer im Angesicht des Finsteren Lords zeigen." Draco fühlte, wie er versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, keinen Muskel zu bewegen und sich gegen Lucius' zu erwartenden Wutausbruch zu wappnen. Er kam nicht. Lucius lehnte sich in seinem Sessel zurück und schlug mit dem Zauberstab gegen sein Knie. Grüne und blaue Funken stoben auf die Wassergläser zu, die auf einem Tisch in der Nähe standen, so dass sie umkippten und ihr Inhalt sich über den Teppich ergoss. Draco sprang von seinem Polsterschemel auf und ließ sich auf den Boden fallen, um die Gläser wieder hinzustellen, aber bevor er sie erreichen konnte, richtete Lucius seinen Zauberstab auf ihn und sagte: "Setz dich. Habe ich gesagt, dass du aufstehen darfst?" Nein Sir, natürlich hast du nicht gesagt, dass ich darf, aber ich bin fünfzehn, und wenn ich die Gläser wieder hinstellen will, die du gerade auf den Boden geworfen hast, dann werde ich ..." "Nein Sir. Ich entschuldige mich für das, was ich getan habe. Ich dachte nur ...", hob Draco an, als er sich setzte. "Nein, du hast nicht gedacht", unterbrach ihn Lucius. "Du hast einfach gehandelt, und zwar wie ein Diener. Dummer Junge. Achte auf mich, konzentrier dich auf mich. Hast du auf den Potterjungen angestoßen?" "Natürlich nicht!" Draco versuchte, bei dieser Unterstellung empört zu klingen. Du hättest es aber tun sollen. Den Gerüchten zufolge, die in der Schule kursierten, hat er an dem Abend mehr Courage bewiesen, als zu erwarten war. Warum bringst du nicht den Mut auf, Lucius einen Augenblick lang entgegenzutreten und etwas Ehrliches zu sagen? "Ich bin aber aufgestanden, um auf Cedric anzustoßen." "Warum in aller Welt hast du so was Dämliches getan?" Lucius beugte sich so schnell vor, dass Draco keine Zeit hatte, seine Nackenmuskeln anzuspannen, so dass der Stoß ihn fast hintenüber von seinem Polsterschemel warf. "Du hast diesen Hufflepuff-Jungen zweimal im Quidditch geschlagen! Er war ein Nichts im Vergleich zu dem, was du sein könntest, was du sein müsstest, wenn du mir nur irgendwann mal zuhören würdest! Und er hat noch nicht mal versucht, sich zu verteidigen, als der Finstere Lord ihm das Licht ausgeblasen hat!" Lucius griff nach Dracos Handgelenken und hielt sie fest, wobei er seine Worte mit einem Dutzend Kopfnüssen unterstrich. Draco schloss die Augen und hielt still; er zwang sich, keine Reaktion auf Lucius' Worte zu zeigen oder auf die Kopfschmerzen, die hinter seinen Augen zu pochen begannen. Draco machte eine Anstrengung, Lucius' Tirade zu unterbrechen und sich Gehör zu verschaffen. "Ich wollte nicht, dass die Leute darüber reden, warum ich nicht aufgestanden bin. Ich hatte Angst, das würde zu viel Aufmerksamkeit auf Sie lenken, Sir." Damit hatte Lucius ganz offensichtlich nicht gerechnet. Er unterbrach sich, ließ Dracos Handgelenke los und sah seinem Sohn in die grauen Augen. "Warum dachtest du, es würde die Aufmerksamkeit auf mich lenken? Was hat man dir erzählt?" "Gar nichts. Niemand würde es wagen, mir irgendwas ins Gesicht zu sagen, aber die Leute haben miteinander getuschelt und gesagt, dass Potter behauptet hätte, du wärst an dem Abend mit dem Finsteren Lord dort gewesen." Lucius stand auf und begann, im Zimmer hin und her zu laufen. "Potter hat also Behauptungen aufgestellt? Keiner hat etwas über irgendjemand anderen gesagt? Außer über Potter und diesen Hufflepuff-Jungen?" "Ja. Ich meine, nein. Nichts über irgendjemand anderen." Warum? Warum macht ihn das nervös? Ich kann ihn schlecht danach fragen. Es interessiert mich, aber ich kenne die Regeln. 12
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3. Kapitel: Wider den Strom
Keine Fragen stellen. Wenn die Zeit reif ist, werde ich es erfahren, und wenn es der falsche Zeitpunkt war, dann werde ich mir lediglich wünschen, nicht gefragt zu haben. "Falls du meinst, ob andere Schüler über irgendwelche Leute geredet haben, nein, niemand hat über andere geredet, jedenfalls habe ich nichts davon gehört. Und alles, was Dumbledore gesagt hat, war, dass das Turnier inszeniert worden sei, um die Schulen miteinander zu verbinden und dass jeder aus Beauxbatons und vor allem aus Durmstrang jederzeit in Hogwarts willkommen wäre." Lucius blieb stehen. "Er hat 'vor allem aus Durmstrang' gesagt?" "Nicht genau, aber er hat es definitiv gemeint", fügte Draco langsam hinzu, während er das Gesicht seines Vaters beobachtete und sich darauf vorbereitete, die Beschreibung von Dumbledores Tonfall zu ändern, falls es nötig sein sollte. Lucius' Ausdruck veränderte sich nicht, er schien sich auf ein Bücherregal an der Wand hinter Draco zu konzentrieren. Dann breitete sich ein Ausdruck der Überraschung auf Dracos Gesicht aus. Lucius tat etwas, das er nur selten während eines GESPRÄCHS tat - er stellte Draco eine Frage, die es weder erforderte, sie zu wiederholen, noch ein pflichtschuldiges oder reuevolles Gesicht zu machen. "Hast du eine Ahnung, warum er 'vor allem Durmstrang' gemeint haben könnte?" Draco antwortete, dass er nicht genau wisse, warum. Er hätte einen Verdacht gehabt, dass es etwas damit zu tun hatte, dass Karkaroff nicht beim Abschlussfest gewesen war, und ein paar der Schüler aus Durmstrang hätten verlauten lassen, dass er seit der Nacht der dritten Aufgabe verschwunden sei, aber Einzelheiten seien ihm nicht bekannt. "Ich sollte dir das eigentlich nicht sagen - unser Gebieter
wünscht nicht, dass ich dir irgendwas über unsere Vorbereitungen dessen, was uns seiner Meinung nach erwartet, erzähle, aber Dumbledore hat das gesagt, weil er weiß, dass Durmstrang nächstes Jahr keine Schule sein wird. Es wird diesen Sommer in einen Stützpunkt für unseren Gebieter umgebaut. Karkaroff - wie soll ich es sagen - braucht es nicht mehr." Lucius hielt inne und drehte sich wieder zu Draco um, er hatte die Arme über der Brust verschränkt, und um seine Lippen spielte ein kleines Lächeln. "Und das ist auch der Hauptgrund, warum du und deine Mutter diesen Sommer ins Ausland verreisen werdet, wo ihr entspannende Ferien verbringen und viel PegasusPolo spielen werdet, und die Chance besteht, dass du etwas Farbe im Gesicht bekommst." Der plötzliche Themawechsel überrumpelte Draco völlig. Er hatte gedacht, nichts von dem, was sein Vater während eines ihrer GESPRÄCHE sagte, könne ihn überraschen, aber dass Lucius so plötzlich von den furchtbaren Dingen, von denen Draco annahm, dass sie Karkaroff zugestoßen seien, auf einen Sommer in den Pyrenäen mit der Familie seiner Mutter kommen konnte, war völlig unerwartet. Alles, was ihm dazu einfiel, war: "Ach." Es machte Lucius offensichtlich nervös, Draco noch mehr über irgendwelche TodbringerKomplotte zu erzählen. Er sagte: "Du hast doch genug Grips um zu wissen, dass nach den Ereignissen der letzten Woche keine Chance besteht, dass du in diesem Sommer irgendwen in England besuchst, oder? Ich habe auf jeden Fall zu viel zu tun, um mich um dich zu kümmern, und die Privatlehrer, die du sonst im Sommer hattest, sind alle sehr beschäftigt, und keiner will sich einen selbstsüchtigen Jugendlichen aufhalsen." Draco biss sich auf die Lippen und versagte es sich, laut zu schreien: "Das bin ich nicht! Ich könnte dir helfen!" Warum um alles in der Welt sollte ich ihm helfen wollen? Und wobei sollte ich ihm helfen? Dabei, Muggel zum Schweben zu bringen? Oder Gefangene im Auftrag von Du-Weißt-Schon-Wem zu verhören? Oder Folterinstrumente zu polieren? Er fragte seinen Vater nur: "Bist du der Einzige, der so von mir denkt?" "Niemand außer mir verschwendet Zeit damit, über dich nachzudenken, doch aus irgendeinem Grund hat der Finstere Lord sich herabgelassen, dich und ein paar andere Teenager zu erwähnen. Die Instruktionen, die er mir und ein paar anderen gegeben hat, hießen, dich möglichst aus allem herauszuhalten, bis du sechzehn bist. Für die nächsten sieben Monate", sagte Lucius hohnlächelnd, "beschäftigst du dich gefälligst mit Kinderkram wie Schularbeiten und 13
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3. Kapitel: Wider den Strom
Quidditch spielen, und wenn du alt genug bist, wirst du erfahren, warum. Ich weiß nicht mal selbst warum - wenn es nach mir ginge, würdest du nie in diese Schule zurückfahren, zu diesem alten Affen, der deinen Verstand mit Vorstellungen von Brüderlichkeit und der Irrelevanz von reinem Blut und irgend so einem Begriff namens 'Kooperation' verdirbt." Draco entging nicht, dass Lucius sich in eine seiner Tiraden über die Gefahren des Einflusses von Muggeln auf Zauberer hineinsteigerte. Er konzentrierte sich auf seinen Atemrhythmus und ließ die Worte über sich hinwegbranden, nickte ab und zu, dachte dabei aber eigentlich darüber nach, was er in den nächsten Monaten unternehmen konnte, um den Tag hinauszuzögern, an dem er sich dem Mann unterwerfen musste, den sein Vater seinen 'Gebieter' nannte. Es war nicht so, dass Draco mit Dumbledore und seinen Anhängern einer Meinung war. In der magischen Welt gab es einen Platz für Leute, die nicht aus Zaubererfamilien stammten, und dieser Platz bestand darin, den alten Zaubererfamilien mindestens fünf oder sechs Generationen lang zu dienen, bis sie in der magischen Welt verwurzelt waren. Die Dienerschaft von Malfoy Manor setzte sich fast ausschließlich aus Muggel-geborenen Hexen und Zauberern zusammen, die täglich Zaubertränke einnahmen, um sie Lucius' und Narcissas Wünschen gefügiger zu machen. Ihre Zauberstäbe benutzten sie, um zu kochen und das Haus in Ordnung zu halten, sie bewegten sich schweigend durch die Räume und Flure, überwachten die Hauselfen, schliefen auf dem Dachboden und blieben einige Jahre im Dienst, bis die Wirkung des Zaubertranks nachließ. Dann wurden sie ohne Umschweife mit einer Tasche voller Galleonen weitergeschickt und konnten zusehen, wie sie in der magischen Welt wieder Fuß fassten, was ziemlich schwierig war, da ihnen das Stigma anhaftete, für die Malfoys gearbeitet zu haben, oder sie konnten versuchen, in eine Muggelwelt zurückkehren, die sie vor einem Jahrzehnt verlassen hatten. Ein Funkenregen auf seinem Arm beendete abrupt Dracos Träumereien, und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Lucius zu, der mit schneidender Stimme sagte: "Diese Schule scheint dich um deine Konzentrationsfähigkeit gebracht zu haben! Da du es darauf anlegst, mir nicht zuzuhören, wirst du nach dem Abendessen ein paar Stunden mit Konzentrationsübungen verbringen." Draco schluckte seinen Seufzer hinunter, indem er die Zähne zusammenbiss. "Ich hoffe jedenfalls, dass dir das dabei helfen wird, dich daran zu erinnern, dass es erhebliche Konsequenzen hat, wenn du mir nicht zuhörst." Dummer, nichtsnutziger Verstand, der einfach so abschweift, das verdient Bestrafung, Angst, Leiden ... Lucius durchquerte den Raum, ließ sich in seinem Sessel nieder und starrte Dracos Augen an, die ohne zu blinzeln ins Leere blickten. Er atmete tief aus und sagte: "Es ist notwendig. Wenn du älter bist, wirst du es verstehen." "Das hast du schon mal gesagt." Lucius fuhr fort, so als ob Draco diesen herausfordernden Satz nicht gesagt hätte. "Ich werde jetzt zu Abend essen. Es war ein verdammt langer Tag, an dem eine Krise die andere gejagt hat, diese Scheißreporterin ist immer noch verschwunden, und so eine missionarische Freiberuflerin behauptet, das zweite Gesicht zu haben und will eine Reportage über den Finsteren Lord machen, die sich auf ihre ..." Irgendetwas von dem, was Lucius gesagt hatte, brachte Draco dazu, sich an etwas zu erinnern. Die Reporterin. Er konnte ohne das Klavier leben, das er im Austausch gegen diese Information zurückzubekommen gehofft hatte, da er ein verzaubertes unechtes Buch mit verzauberten Tasten hatte, auf denen er spielen konnte, um sein Bedürfnis zu lindern, seine Finger über echte Elfenbeintasten gleiten zu lassen. Es war immer noch besser, kein Klavier zu haben, als Stunden mit Konzentrationsübungen zu verbringen. "Ich weiß, wo sie ist, Vater." Lucius hielt inne. "Wo wer ist?" "Rita Skeeter." Draco sprudelte seine Worte nur so hervor, weil er genau wusste, dass Lucius ihm niemals zuhören würde, wenn er nicht schnell genug redete. "Hermione Granger, 14
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3. Kapitel: Wider den Strom
du weißt schon, das Schlammblut, hat sie in einem Glas, sie hat herausgefunden, dass sie ein Animagus ist und ihr gedroht, dass sie sie bloßstellen würde. Sie hat ihr gesagt, sie würde sie freilassen, wenn Rita verspricht, dass sie nichts mehr über Potter schreibt." In Lucius' Augen schien ein Licht angegangen zu sein. "Sie ist in einem Glas? In einem Muggel-Haus?" Er lachte unfreundlich. "Ich habe meinen Leuten gesagt, dass sie nach einem Käfer Ausschau halten sollen, aber sie haben gesagt, so was wäre unmöglich zu finden, und jetzt hat mein eigener Sohn, ein völlig unwissender Junge, herausgefunden, wozu alle meine Ermittler nicht in der Lage waren. Wie wunderbar!" Lucius stand auf, zog Draco vom Polsterschemel hoch und umarmte ihn für den Bruchteil einer Sekunde. Draco versteifte sich, völlig schockiert von der plötzlichen Berührung, und schauderte, als Lucius ihn losließ. "Draco, ich habe einen sehr wichtigen Auftrag für dich - schauen wir mal, ob du zu irgendwas nutze bist. Ich möchte, dass du das Schlammblut morgen besuchst und meine Starreporterin zurückbringst." Draco schluckte und presste seine Hand gegen einen Spieltisch. Jetzt oder nie. "Was wirst du tun, wenn ich Erfolg habe?" Lucius sah ihn scharf an, und in seinen Augen nahm eine Frage Gestalt an. "Ich meine", die Worte sprudelten fast flehend hervor, "wenn ich morgen in die Muggelwelt gehen soll, dann sollte ich gut ausgeruht sein, damit ich mich auf meine Aufgabe konzentrieren kann, und das wird schwierig werden, wenn ich heute die ganze Nacht in deiner Wahrnehmungsentzugs-Kammer schweben und mich auf irgendwas konzentrieren oder irgendwas lernen muss, das du mir ..." "Stimmt. Du solltest heute Nacht gut schlafen, und du solltest in ungefähr drei Minuten damit anfangen." Draco blinzelte. Lucius findet immer einen Weg, den Erlass einer Strafe fast genauso schlimm zu gestalten wie die Strafe selbst, oder? Du bist vom Abendessen und von den Konzentrationsübungen heute Nacht entbunden, aber wenn du morgen Mist baust, dann wirst du die Konsequenzen bis zu dem Tag zu spüren bekommen, an dem du dieses Haus verlässt, und vielleicht werden sie dich sogar bis zu deinem Onkel verfolgen." "Verstanden, Sir. Bitte entschuldigen Sie mich heute Abend bei meiner Mutter dafür, dass ich nicht am Abendessen teilnehmen kann." Vielleicht hat keiner die Keksreste von heute Nachmittag aus meinem Zimmer weggeräumt ... oder vielleicht finde ich in irgendeiner vergessenen Robe ein Kesseltörtchen. Draco nickte leicht und drehte sich um, um das Zimmer zu verlassen, als er seinen Vater flüstern hörte: "Stasis." Dracos Füße erstarrten auf dem Fußboden, und all seine Muskeln verkrampften sich. Er konnte keinen Muskel unterhalb seines Halses mehr bewegen und hörte Lucius' Stimme ganz dicht an seinem Ohr. "Deine Technik gefällt mir, Junge." Lucius flüsterte fast. "Ganz schön ausgebufft, diesen kleinen Joker zurückzuhalten und dazu benutzen, dich aus der Affäre zu ziehen. Geh heute ja nicht ins Bett und bilde dir ein, dass ich dich nicht durchschaut hätte. Du kommst davon, weil ich dich davonkommen lassen will. Ohne mich bist du ein Nichts - vergiss das nicht." Draco zwang sich zu lächeln und murmelte: "Ich hoffe, dir ist klar, dass ich weiß, dass ich bei einem Experten in die Schule gegangen bin." Lucius schnaubte und machte einen Schritt vorwärts, so dass zwei identisch graue Augenpaare sich ganz nah waren, Lucius' mit seinem harten Blick und Dracos mit einem Anflug von Unbehagen. "Nach all der Zeit, die ich damit verbracht habe, mit dir zu arbeiten, würde ich dich einfach fallen lassen und eine neue Familie gründen, wenn ich nicht dächte, dass du etwas gelernt hättest. Bilde dir nur nie ein, dass du mir zu viel wert bist, um das nicht auch irgendwann zu tun, wenn du zu sehr über die Stränge schlägst." Das hatte Draco schon zigmal gehört. Als er jünger war, hatte er furchtbare Angst davor gehabt, dass Lucius seine Drohung wahrmachen und ihn eines Tages aus seinem Leben und seiner Familie verbannen würde, von allem, was ihm vertraut war, vor allem in all jenen Nächten, wenn Lucius ihn auf den kalten Balkon vor dem großen Schlafzimmer gesperrt hatte, um die Nacht dort zu verbringen, während im Haus warme Lichter brannten. Es war schlimmer als sein erstes Jahr in Hogwarts. Jedes Mal, wenn der Hogwarts-Express auf Gleis 9 ¾einfuhr, war Draco völlig verängstigt 15
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3. Kapitel: Wider den Strom
gewesen, weil er dachte, dass vielleicht niemand dort sein würde, um ihn abzuholen, dass sein Vater eine neue Familie hatte, dass er genau das war, was Lucius gesagt hatte, nämlich nutzlos, wertlos und nicht wert, beachtet zu werden. Irgendwie hatte diese Drohung etwas von ihrer Macht verloren. Lucius liebte ihn, oder nicht? Er verbrachte so viel Zeit mit ihm, lehrte ihn die schwarze Magie, spielte Quidditch mit ihm und versuchte, ihn in die Form zu pressen, die ein so mächtiger, starker, intelligenter und beherrschter Mann wie Lucius Malfoy als Sohn verdiente. Warum würde er das alles tun, wenn Draco ihm nichts bedeutete? Nicht jeder Schüler in Hogwarts hatte einen Vater, der ihm jeden Tag eine Eule schickte und mehrmals pro Woche Geschenke von zu Hause, oder der für eine ganze Quidditch-Hausmannschaft tolle Besen kaufte. Warum sollte Lucius die Arbeit von Jahren in den Wind schreiben, dachte Draco. Draco bemerkte, dass der Erstarrungsfluch aufgehoben worden war und dass er nach oben in sein fast leeres Schlafzimmer gehen konnte. Lucius beendete seine geflüsterte Drohung und sagte: "Verschwinde. Geh mir aus den Augen. Ich will, dass du mir morgen eine Eule schickst, sobald du etwas Neues weißt, und ich erwarte, dass es gute Neuigkeiten sein werden. Wir mögen bei der Zeitung nun mal nur gute Nachrichten, stimmt's?"
(1) Anmerkung der Übersetzerin: Du bist sicherlich ein wahrhaft begabtes Kind, Aber nur so gut Wie die letzte große Tat, die du begingst Und wo bist du seither gewesen? Hat das Programm dich geschafft? Du solltest mich kennen, Vater, ich bin dein Sohn Und ich weiß, dass du stolz bist auf all meine Taten Aber es sind die Wunder, die ich vollbringe Kaninchen aus dem Hute zieh'n Wenn ich ihn manchmal Einfach nur gern aufsetzen würde. Wenn es ständig nur bergauf geht, solltest du daran gewöhnt sein und sagen: Mein Rücken ist breit genug, Sir, um die Anstrengung auszuhalten, und dann: Hallo Mutter, ich bin dein Sohn, bist du nicht stolz auf all meine Taten? Aber dann heißt's "bleib da, Sohn, mein Baby" Wo ich doch einfach gern etwas Neues täte Gib also mit Adleraugen auf mich Acht Begreif die Willenskraft, die Fingerfertigkeit, So schwimme ich mühsam wider den Strom, Und meinst du, sie werden mich mögen, wenn sie erfahren, was ich da tu?
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Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi ([email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
4. Kapitel Die Regeln der Projektion Nachdem Draco wieder in seinem Zimmer war und das halbe Dutzend Kesseltörtchen verschlungen hatte, die er mit einem Conservatore-Zauber versehen im doppelten Boden einer Schreibtischschublade versteckt hatte - er hatte lange vermutet, dass sein Vater wusste, dass er für den Fall, dass er Stubenarrest hatte, in dieser Schublade Essen versteckte, da der Schreibtisch vor langer Zeit einmal Lucius gehört hatte, aber er war nie dafür zur Rede gestellt worden -, war er zu aufgekratzt, um einschlafen zu können. Die warme Milch, die ein Diener jeden Abend in einem behexten Glas in sein Zimmer stellte, damit sie warm blieb, half ein bisschen, aber so richtig schläfrig fühlte er sich noch nicht. Er würde gut daran tun, zumindest vorzugeben, sich fürs Bett fertig zu machen, und bald würde er so tun, als ob er schliefe, nur für den Fall, dass Lucius oder einer seiner Trabanten nachsehen kam, ob er die Anweisungen seines Vaters auch wirklich befolgte. Natürlich gab es sowieso nicht mehr allzu viele Zerstreuungen in seinem Zimmer, da das Klavier und die meisten Bücher heute weggeräumt worden waren, und er hatte keine Lust, jetzt schon Schularbeiten zu machen. Zuerst musste er jedoch noch etwas Wichtigeres erledigen. Draco hatte am nächsten Tag zwei Dinge vor - erstens musste er Rita vor Hermione Granger retten, und zweitens musste er das mit so wenig Zauberei wie nur möglich bewerkstelligen, da Hogwarts auf dieser lächerlichen Regelung bestand, dass während der Ferien nicht gezaubert werden durfte. Da er Malfoy Manor, wo das Ministerium nicht feststellen konnte, ob er gezaubert hatte, verlassen musste, konnte er nicht einfach bei Hermione hereinplatzen und sie mit einem Schockzauber außer Gefecht setzen, sich dann Rita schnappen und zum Büro seines Vaters beim Tagespropheten fliegen. Er konnte aber mit seinem Besen zu Hermiones Haus fliegen, und er konnte auch zaubern, solange er es nicht außerhalb von Malfoy Manor tat. Zuerst einmal musste er aber beim Abonnentenservice des Tagespropheten herausfinden, wo Hermione wohnte. Hermione hatte die Zeitung abonniert. Draco wusste das, weil er gesehen hatte, wie die offiziellen Liefereulen des Propheten - Der Fliegende NachrichtendienstTM - während des Schuljahrs die Zeitung am Gryffindortisch abgeliefert hatten, und er nahm an, dass sie die Sommerferien immer in der Muggelwelt verbrachte. Wegen der Bestimmungen des Ministeriums für Magie wurde ihr die Zeitung während der Ferien jeweils einen Tag später mit der Muggelpost zugestellt, die alle magischen Postsendungen der Geschäfte in der Diagonallee aus einem Postkasten im Tropfenden Kessel holte, und das hieß, dass ihre Adresse in einer der Akten seines Vaters im Abonnentenservice stand, die er an diesem Morgen durchsehen konnte. Nachdem er sich diese Information verschafft hatte, konnte er zu Teil eins seines Plans übergehen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und arbeitete einen Zeitplan für den nächsten Tag aus, als die Tür aufging. Ein unbekanntes Gesicht schaute herein, jung, mit dunklen Augen und Haaren, stark sonnengebräunter Haut und sehr zartem Knochenbau und fragte: "Draco? Hast du eine Minute Zeit? Dein Vater hat gesagt, du schläfst vielleicht schon - ich bin froh, dass ich dich nicht geweckt habe." Draco legte seine Feder auf den Löschpapierblock und blickte verwirrt auf. Hatte Lucius Logiergäste? Waren irgendwelche Verwandten zu Besuch, von denen sein Vater ihm nichts erzählt hatte? "Wer sind Sie? Und was machen Sie in meinem Zimmer?", fragte Draco misstrauisch.
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
"Darf ich reinkommen?" Draco nickte und schwang seinen Zauberstab in Richtung Tür, so dass sie weit aufging. Er stand nicht auf, drehte sich aber ungeduldig zu dem Fremden um, der etwas verlegen neben seinem Schreibtisch stand. "Ich bin Dylan Vacchs, dein Vater hat mich für die nächsten paar Wochen als Quidditch-Lehrer für dich engagiert. Ich wäre schon früher gekommen, aber -", er grinste entschuldigend, "ich hatte ein paar Probleme mit meinem Besen und hab den ganzen Nachmittag in der Diagonallee darauf gewartet, dass er repariert wird." Draco fühlte, wie er Kopfweh bekam. Dieser Vacchs war zwar ein guter Sucher und stand auch im Ruf, ein guter Trainer zu sein, aber obwohl Draco in der Schule gern Quidditch spielte, sowohl in der Hausmannschaft als bei Gelegenheitsspielen, normalerweise in gemischten Mannschaften mit ein paar Ravenclaws, war Quidditchtraining während der Sommerferien etwas ganz anderes. Lucius stellte mit den Trainern umfassende Trainingspläne auf und zögerte nie, den Stundenplan zu ändern, wenn er meinte, dass Draco nicht genug Fortschritte machte oder nicht genug schwitzte oder die falschen Dinge aß oder gelegentlich auch zu viel Spaß dabei hatte. Er stützte den Kopf in die Hände und sagte: "Meine Mutter hat gesagt, Sie würden diesen Sommer mit mir trainieren." Er seufzte ohne aufzublicken. "Soll ich mich umziehen, damit wir gleich anfangen können? Ich weiß, wie man das ganze Spielfeld mit einem Lumos-Zauber beleuchten kann, falls ich achtzehn Stunden brauchen sollte, um den Snitch zu finden. Oder wollen Sie lieber warten, bis Lucius Ihnen eine drei Meter lange Liste aller Fehler gibt, die sie mir diesen Sommer austreiben sollen?" Dylans verwirrter Ausdruck passte zu dem, was er sagte. "Auf keinen Fall - ich muss ein bisschen auspacken, und dann soll deine Mutter mich durchs Haus führen." Er hörte nicht, wie Draco bei dieser Vorstellung erstickt lachte. "Ich bin im Prinzip vorbeigekommen um dir zu sagen, dass dein Vater das Training für morgen abgesagt hat - er meinte, du müsstest erst etwas anderes fertig machen. Unsere Stunde morgen um sechs Uhr früh fällt also aus." Faszinierend. Das ist eine Premiere - Rita zu finden muss ihm wichtig genug sein, um eine Trainingsstunde ausfallen zu lassen. "War diese Wecknotiz dafür gedacht?" Draco hatte das Stück tickendes Pergament von seiner Kommode genommen, als er nach dem GESPRÄCH wieder nach oben gekommen war. Sie war auf eine seiner Meinung nach verdammt unchristliche Zeit eingestellt, die Lucius aber wie er wusste für die beste Tageszeit hielt, um Sport zu treiben. Dylan nickte. "Ich stelle sie also neu", endete Draco und richtete seinen Zauberstab auf das Pergament, wobei er mit einem flüchtigen Lächeln Septemus sagte. "Viel besser so." "Ich bin selber kein Frühaufsteher", fügte Dylan hinzu, "aber bei dem, was dein Vater mir bezahlt ..." Er verstummte. Natürlich. Warum würde ein Spitzenflieger-Spieler auch sonst den Sommer bei diesem Job verbringen, wenn nicht wegen der Galleonen, des Swimmingpools, des Zugangs zu den Besenprototypen aus der Redaktion des Quidditchmagazins und der Chance, ach so viel Zeit mit meiner Wenigkeit zu verbringen? Noch so ein geldgieriger Lackaffe, nicht besser als der vom letzten Sommer oder vom Sommer davor ... "Wie auch immer, willst du ein bisschen mit runterkommen? Du könntest mir von den Spielen und von deinem Training im letzten Jahr erzählen", schlug Dylan vor, "und vielleicht ein bisschen darüber, wie es ist, gegen Harry Potter zu spielen." "Oh", sagte Draco kalt. "Der." Warum wollte nur jeder Quidditchtrainer über Potter reden? Es war schlimm genug, dass er ihn nie in einem richtigen Spiel geschlagen hatte, musste er da wirklich den ganzen Sommer in dem ewig vergeblichen Versuch verbringen, seine Spieltechnik zu analysieren, um Löcher in seinem Stil zu finden? Draco dachte, der wahre Grund dafür, dass er jeden Sommer einen neuen Quidditchtrainer hatte, sei der, dass keiner ihm wirklich etwas gezeigt hatte, was ihn in die Lage versetzte, Potter zu schlagen, obwohl er andererseits in jedem Jahr einen beneidenswerten Spielstand von 3:1 für sich erreichte. Und vielleicht war Vacchs' Vorschlag, sein Zimmer zu verlassen, nur eine Falle, die Lucius ihm gestellt hatte, um zu prüfen, ob Draco seine Anweisung, in seinem Zimmer zu bleiben, missachten würde. "Tut mir Leid, aber ich glaube, heute Abend ist keine gute Zeit", sagte er ohne den herzlichen Ton, den er Vacchs 18
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
gegenüber vorher angeschlagen hatte. "Mein Vater möchte, dass ich früh schlafen gehe, was er Ihnen sicher gesagt hat." "Du bist der Boss. Oder eher dein Vater", korrigierte Dylan sich, "und wenn er gesagt hat, er möchte, dass du ..." "Das hat er, und das werde ich." Draco drehte dem Trainer den Rücken zu, nahm seine Feder und wandte sich wieder seinem Pergament zu. Er hörte, wie Vacchs' Schritte sich in Richtung Tür entfernten und sagte ohne sich umzudrehen: "Ich nehme an, ich soll Ihnen Bescheid sagen, wenn ich morgen zurück bin?" "Dein Vater hat mir gesagt, dass er dich morgen Abend um halb sechs bei der Umkleidekabine erwartet", sagte Dylan schnell, so als wollte er möglichst schnell den Raum verlassen. "Also bis dann." Draco schloss die Tür mit seinem Zauberstab und konzentrierte sich auf seinen Stundenplan. Wenn Lucius wollte, dass er morgen Abend trainierte, dann hatte er weniger Zeit als angenommen, um die Sache zu Ende zu bringen, die er inzwischen "das Käferprojekt" nannte. Er tippte die Wecknotiz wieder an, murmelte Sextimus Media und stand vom Schreibtisch auf, um sich fürs Bett fertig zu machen. Draco merkte, dass er sich darauf freute, schlafen zu gehen. Es war ein sehr langer Tag gewesen, und die Nachwirkungen der Flüche, der Erschöpfung und der Kesseltörtchen brachen langsam über ihn herein. Nachdem er geduscht, einen dunkelgrauen Flanellschlafanzug angezogen und den letzten Keks gegessen hatte, der vom Nachmittag übrig geblieben war, waren seine Augenlider und seine Gliedmaßen so schwer, dass er nichts weiter wollte als sich ins Bett fallen zu lassen. Er hatte jedoch noch etwas zu erledigen, bevor er sich dem Schlaf hingeben konnte. Er warf sich auf den Fußboden, rollte sich unter das massive Bettgestell und suchte mit den Händen nach etwas. Da! Zwischen den Lamellen des Lattenrosts steckte ein Besitz, den er nie mit zur Schule zu bringen gewagt hatte und den sein Vater ihm mit Sicherheit zu verbrennen befehlen würde, sollte er ihn jemals finden. "Peppy", seufzte er und zog den ausgestopften Koalabären hervor, als er sich unter dem Bett hervorrollte. Während seiner ersten Weihnachtsferien zu Hause hatte er Peppy behext, so dass es unmöglich war, das Stofftier durch Magie ausfindig zu machen, und jeden Morgen versteckte er ihn als Erstes wieder und holte ihn nur an den Abenden hervor, an denen er bereits ein GESPRÄCH mit Lucius gehabt hatte. Wenn sein Vater erst spät von der Arbeit kam und die Möglichkeit bestand, dass Draco heruntergerufen wurde, nachdem er ins Bett gegangen war, blieb Peppy in seinem Versteck. Draco kletterte völlig erschöpft ins Bett, schlang die Arme um das Plüschtier, musste vom Staub niesen und schlief ein, bevor er den Gedanken daran zu Ende denken konnte, wie unfähig die übrig gebliebenen Hauselfen waren, wenn sie es nicht schafften, seinen Raum so staubfrei zu halten wie ... Eine rothaarige Frau stand über ihn gebeugt und flüsterte ... Was sagte sie? Dann küsste sie ihn. Sie beugte sich noch einmal über ihn, flüsterte irgendwas, und er fühlte einen Kuss auf seiner Stirn. Was sagte sie? Er konnte nur wenige Worte ausmachen, "kümmern", "Mittelpunkt", "Liebe", "fliegen", "summen". Summen? Was summte hier? Er fühlte sich so wohlig warm, das Gesicht in das kitzelnde Fell seines Bären gedrückt [Anm. d. Autorin: Ja, ich weiß, dass es ein Beuteltier ist, aber jeder würde im Halbschlaf denken, es sei ein Bär, oder?], und es war so einfach, das Summen seiner Wecknotiz zu ignorieren. Das Mistding war jedoch so eingestellt, dass das Summen alle dreißig Sekunden lauter wurde, und nach einer Minute war es so laut, dass er aus dem Bett stürzte und es mit seinem Zauberstab antippte, um es abzustellen. Er stopfte Peppy schnell wieder unters Bett, zog schnell eine Robe an, die fast genauso aussah wie die, die die rangniedrigeren Reporter beim Propheten trugen und die zusätzliche Taschen für Federn, Pergamentnotizbücher mit dem Siegel und dem Motto der Zeitung hatte, dann war er bereit hinunterzugehen. Er steckte seinen Stundenplan in eine der Taschen und beschloss, ein paar unauffällige Muggelsachen anzuziehen, bevor er zu Hermiones Haus ging. 19
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Draco ging in der Hoffnung hinunter, dass sein Vater schon weg war und dass seine Mutter lange schlief, und als er feststellte, dass seine Wünsche in Erfüllung gegangen waren, dachte er, dass es vielleicht gar kein so schlechter Tag werden würde. Auf dem Tisch im Frühstückszimmer stand ein Krug mit frischgepresstem Orangensaft - die Orangen wurden jeden Tag im Morgengrauen aus einem magischen Obstgarten in Spanien direkt nach Malfoy Manor geschickt. Draco goss sich also ein großes Glas davon ein, trank es in einem Zug leer und füllte es erneut, um es auf dem Weg nach London zu trinken. Ein paar Stücke Gebäck in seiner Tasche würden ihm als Flugproviant dienen. Als er auf seinen Besen stieg und den vertrauten Weg zur Redaktion des Propheten in London antrat, ging die goldene Sonnenscheibe über dem Horizont auf. Solange er auf der vertrauten Route blieb, die sein Großvater ein Jahrhundert zuvor zwischen Malfoy Manor und der Zeitung festgelegt hatte, konnte er nicht von Muggeln gesehen werden, obwohl er gelegentlich auf dem Weg andere Zauberer sah, vor allem, wenn er zwischen den Mooren auf kleine Städte stieß und schließlich auf die Außenbezirke von Englands größter Stadt. Sein Weg führte ihn über Flüsse und Brücken, die in Flammen zu stehen schienen, weil sie den Schein der aufgehenden Sonne reflektierten, und er war froh, dass er eine von seinem Dutzend Sonnenbrillen aufgesetzt hatte, denn das grelle Licht von oben und unten hätte seine hellen Augen sonst blind gemacht. Im Westen spannte ein kleiner Sturm einen Regenbogen über ein paar Felder, und er wünschte sich, vom Weg abkommen zu dürfen - es gab nichts Schöneres, als einem Regenbogen nachzujagen, auch wenn das Gold an seinem Ende nur Feengold war, das innerhalb von ein paar Stunden verschwinden würde. Neunzig Minuten nachdem er Malfoy Manor verlassen hatte, flog Draco über Londons Häuser, wobei er gelegentlich auf die kleinen roten Busse und die umherstolpernden Muggel auf den Straßen hinuntersah, die manchmal ohne erkennbaren Grund im Untergrund verschwanden, auf die weiten, grünen Parks, in denen man wunderbar Pegasus-Polo würde spielen können und auf die grässlichen Tauben, die ihm ab und zu in den Weg flogen. "Scheiß fliegende Ratten!", schrie er, in seinen Gedanken gestört, als er mit seinem Besen eine davon in ihre fette graue Brust traf. "Aus dem Weg - ich befinde mich auf einer Mission!" Während des Flugs hatte er verzweifelt versucht, sich an den Traum zu erinnern, den er letzte Nacht gehabt hatte. Alles, woran er sich erinnern konnte, waren die roten Haare einer Frau und dass sie ihm etwas zugeflüstert hatte - aber er erinnerte sich an keines ihrer Worte. Er hatte das Gefühl, dass er denselben Traum schon früher gehabt hatte und dass das, was sie sagte, irgendwie wichtig war, aber warum? Und er hatte keine Zeit mehr, länger darüber nachzudenken, da das große gelbe Gebäude des Tagespropheten, das am Ufer des Flusses stand, der sich durch die Allee schlängelte, in Sicht kam. Durch die offenen Fenster flogen Eulen ein und aus, manche lieferten Zeitungen aus, andere brachten Artikel von Reportern in der Nähe herein (die Auslandskorrespondenten schickten ihre Artikel durch das Kaminnetzwerk oder, wenn sie zu weit entfernt von einem Kamin waren, mit farbenfrohen exotischen Vögeln), und Dutzende Eulen brachten Anzeigen von den Anzeigenpartnern der Zeitung. Als er jünger war, hatte Draco sich mit Begeisterung in diesen Redaktionen aufgehalten und zugesehen, wie die Anzeigen aufgesetzt wurden, die die Aufmerksamkeit der Leser erregen sollten. Manche sangen, andere blinkten grell und bunt, aber die Krönung war gewesen, als an einem Oktobertag überall in Großbritannien die Küchen in Garben von Filibuster-Feuerwerkskörpern explodiert waren, die durch die Nässe gezündet wurden, die entstand, wenn die Leser ihre Teetasse auf die Titelseite stellten. Die Versicherungsgesellschaft von Filibuster hatte allen Hexen und Zauberern, die sich einer Sammelklage gegen Filibuster und die Malfoys angeschlossen hatten, Tausende von Galleonen Schadenersatz leisten müssen, aber die Zeitung konnte in keiner Weise zur Verantwortung gezogen werden, und Lucius hatte es geschafft, die Firma Filibuster für einen geringeren Betrag seinem wachsenden Besitz einzuverleiben, als die Schadenersatzforderungen ausgemacht hatten. Draco hatte an diesem Tag aber keine Zeit, um in den interessanten Redaktionen herumzutrödeln. Sein erstes Ziel war Lucius' persönliches Büro, da es immer sicherer war, seinen Vater 20
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
wissen zu lassen, dass er wegen persönlicher Angelegenheiten in die Redaktion kam, also flog er geradewegs auf den Eingangsbalkon im achten Stock zu, stieg ab, stellte seinen Besen in einen Ständer und ging hinein, um die Sekretärin seines Vaters zu begrüßen. "Draco! Hast du schon Sommerferien?" Mrs. Timoner kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, auf dem sich ein Gestell für Eulen, sorgfältig gestapelte Pergamente und das anderthalb Meter lange, in Leder gebundene Buch befanden, in dem Lucius Malfoys Termine und Sitzungen verzeichnet waren, um den Sohn ihres Chefs mit einer Umarmung zu begrüßen. Sie war eine kleine Frau mit dunkelgrauen Haaren, die schon seit über siebzig Jahren für die Zeitung arbeitete und einen Artikel vermutlich schneller editieren konnte als die Redaktionsteams unten, und die über jedes berichtenswerte Ereignis im 20. Jahrhundert Bescheid zu wissen schien. Außerdem hatte sie in einem niemals leer werdenden Glas auf ihrem Schreibtisch einen Vorrat an Zitronenbrausebonbons. Draco nickte, grinste sie an und langte um ihre Umarmung herum nach einem Bonbon, genau wie er es immer tat, seit er zum ersten Mal ins Büro gekommen war, als Lucius ihn als Dreijährigen mitgenommen und ihm vorher beigebracht hatte, zu den Leuten zu gehen und zu fragen: "Wer? Was? Wo? Wann? Wie? Warum?" "Vier Jahre hinter mir, drei noch vor mir", antwortete er, immer noch grinsend, "und dann denke ich, dass ich wesentlich öfter hier sein, aber nicht so viel Zeit haben werde vorbeizukommen, um mir Bonbons zu holen." Mrs. Timoner bedeutete ihm sich herunterzubeugen, so dass sie ihm etwas ins Ohr flüstern konnte: "Ich weiß, dass er dir das nicht sagt, aber er ist sehr zufrieden damit, wie du dich in der Schule machst." Draco versteifte sich. Lucius mochte so was in der Öffentlichkeit sagen, aber Draco wusste, dass das nur dazu diente, die Familienehre zu wahren. Wenn du nicht Nummer eins bist, dann ist das nur eine Zahl und zählt nicht. Er versuchte, das Lächeln in sein Gesicht zurückzuzwingen; es hatte keinen Zweck, Mrs. Timoner Fragen zu stellen, vor allem weil er nicht genau wusste, was Lucius zu ihr gesagt hatte, und wenn seine Antworten irgendwie von dem abwichen, was Lucius ihr gesagt hatte ... Er richtete sich auf und fragte, ob sein Vater irgendwann demnächst ein paar Minuten für ihn würde erübrigen können. Der Terminkalender flog am richtigen Tag auf, und der Kalender fing an, in vielen unterschiedlichen Farben, die verschiedenen Abteilungen oder Projekten entsprachen, von allein seine Termine aufzuzählen. Die Sekretärin sah sich den Tag an und sagte: "Er hat in ungefähr einer Viertelstunde zwischen zwei Redaktionssitzungen ein paar Minuten Zeit. Setz dich hin und trink einen Kürbissaft", woraufhin ein volles Glas auf den niedrigen Tisch vor der Couch im Empfangsbereich heruntersegelte, "und dann kannst du reingehen." Draco überlegte, welche Alternativen er hatte. Er konnte versuchen, gleich jetzt zum Abonnentenservice zu gehen und Lucius alles später zu erklären, oder er konnte ein paar Minuten warten, bis er die offizielle Erlaubnis bekam, die Akten durchzusehen. Oder er konnte zum Mittelpunkt des Stockwerks gehen und auf die Nachrichtenredaktion im Atrium fünf Etagen tiefer hinabsehen, was bedeuten würde, dass er sich mit niemandem unterhalten müsste. "Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehe ich jetzt, um mir anzusehen, was unten los ist. Sagen Sie mir Bescheid, wenn seine Tür sich öffnet?" "Natürlich, Schätzchen. Hier, nimm das mit." Mrs. Timoner gab ihm eine winzige Eule aus Glas. "Sie gibt einen leisen Eulenruf von sich, mit dem ich dich benachrichtigen kann. Dein Vater meint, dass das besser wäre als zu schreien - du weißt ja, wie sehr er es hasst, seine Stimme zu heben." Nein, das weiß ich nicht. Ich dachte immer, dass mit mir zusammen zu sein seine bevorzugte Übung für die Stimmbänder wäre. Draco zuckte nur die Achseln, nahm seinen Saft und ging, um auf das Atrium herabzuschauen. Trotz all seiner Anti-Muggel-Beteuerungen hatte sein Vater aus irgendeinem merkwürdigen Grund ein Faible für Muggel-Architektur und hatte in den siebziger Jahren ein Team von magischen Designern nach New York geschickt, um sich das Guggenheim Museum genau anzusehen 21
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
und für den Sitz des Tagespropheten eine magische Version davon zu schaffen. Das merkwürdige runde Gebäude, das innen und außen weiß glänzte, hatte Büros entlang der äußeren Mauern, von denen aus die Journalisten, Redakteure und Verwaltungsangestellten nach Belieben in die Hauptnachrichtenredaktion blicken konnten. Das hieß außerdem, dass es keine Treppen gab. Lucius Malfoys Büro befand sich ganz oben, Mrs. Timoner saß direkt vor seiner Tür, und der Flur schlängelte sich in Serpentinen nach unten mit den anderen Büros zur Rechten. Riesige abstrakte Mobiles schwebten in der Luft; sie waren weder durch Fäden noch Drähte an der Decke oder den Innenwänden befestigt, und winzige Eichelhäher flogen zwischen den Stockwerken hin und her, die Notizen, Artikel und anderes Verlagsmaterial von einer Etage in die andere trugen. Eulen waren eindeutig zu groß für diese Aufgabe. Er sah, wie die Angestellten gut dreißig Meter unter ihm hin und her flitzten, wie Pergamente fast durch die Schreibmaschinen flogen, die behext waren, damit sie das Diktat der Hexen und Zauberer aufnehmen konnten, die daneben saßen und ihre Geschichten anhand der winzigen Pergamentnotizbücher zusammenstellten, die jeder von ihnen dabei hatte und die genauso aussahen wie das, das Draco selbst in der Tasche hatte. Jedes Mal, wenn ein Reporter einen Artikel fertig hatte, schickte er ihn mit seinem Zauberstab in den Eingangskorb des zuständigen Redakteurs, der ihn mit hellvioletter Tinte editieren würde. Der Rhythmus ihrer Bewegungen war Draco vertraut, und es war irgendwie tröstlich ihnen zuzusehen. In der Schule waren in den letzten Wochen so seltsame Dinge passiert, und der gestrige Tag, den er mit seinen Eltern verbracht hatte, war genauso nervenaufreibend gewesen wie immer, wenn er versuchte, sich von dem kontaktfreudigen, sarkastischen Flegel, der er nach Wunsch seiner Eltern in Hogwarts sein musste, in den pflichtbewussten, ordentlichen, ruhigen Bücherwurm zu verwandeln, der er in Malfoy Manor sein musste. Aber bei der täglichen Aufgabe zuzusehen, wie eine Zeitung entstand, die eine Million Zauberer lesen würden, war zugleich belebend und beruhigend. Aus der Etage unter ihm winkte ihm eine rothaarige Hexe zu. Er winkte zurück, erkannte sie aber nicht wirklich, und aus irgendeinem Grund schrie sie zu ihm hinauf: "Du bist doch Draco Malfoy, oder?" Er schrie zurück: "Natürlich, warum wollen Sie das wissen?" Sie machte ihm ein Zeichen, sich einen Augenblick zu gedulden, verschwand in einem Büro und kam mit einem Stapel Zeitungen im Arm wieder heraus, dann stürmte sie die Schräge hinauf zu ihm. "Hallo. Ich heiße Cassandra", sagte sie mit amerikanischem Akzent. "Ich bin diesen Sommer hier als Redaktionsassistentin, und mein Redakteur meint, du seist der Richtige, um mir bei einer Geschichte zu helfen." Draco biss sich auf die Lippen und dachte über ihre Frage nach. Normalerweise mochte Lucius es nicht, wenn etwas über ihn in der Zeitung stand, und er hatte ihm im letzten Jahr nur deshalb erlaubt, Rita bei dem Zwischenfall mit dem Hippogryph Hintergrundinformationen zu liefern und zugestimmt, dass er zitiert wurde, weil er direkt daran beteiligt gewesen war und eine Menge Leute bereits davon wussten. "Haben Sie das zuvor mit dem Verleger besprochen?" "Wie bitte? Ach so, du meinst mit deinem Vater. Äh, nein, es ist ein ziemlich neuer Auftrag über die nächste Generation in verschiedenen prominenten Zaubererfamilien, und ich soll auch eigentlich erst damit anfangen, wenn ich meinen Artikel über die neuen Lederroben fertig habe, die Cuoio del Wizard in der Herbstkollektion hat, also was meinst du dazu?" Dazu fiel ihm nur ein "Äh" ein. Soll ich es diesem Mädchen erlauben, mich in ihrem Artikel zu erwähnen? Kann ich ihr vertrauen, dass sie mir nicht das Wort im Munde umdrehen wird, so wie Rita? "Falls Sie die Zustimmung meines Vaters bekommen, kann ich kaum nein sagen, oder?" Und wenn du seinen Segen nicht bekommst, dann werde ich mich tot im Burggraben wiederfinden, falls ich es wagen sollte, mit dir zu reden, ohne darauf zu bestehen, dass es inoffiziell ist, also ... "Solange Sie es nicht mit ihm besprochen haben, kann ich Ihnen nichts erzählen, was womöglich schriftlich festgehalten wird."
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Cassandra schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und bedankte sich, bevor sie sich umdrehte, um die Rampe hinunterzugehen. Bevor sie ging, wirbelte sie jedoch herum und sagte: "Irgendwas an dir bringt mich auf den Gedanken, dass jemand dich mal ordentlich knuddeln sollte. Vielleicht das nächste Mal, wenn wir uns treffen!" Draco blickte bei dieser Bemerkung überrascht auf, dachte aber, dass er kaum Gelegenheit haben würde, sich noch einmal ausführlich mit ihr zu unterhalten, da die Chance, dass sein Vater ihm erlauben würde, an so was teilzunehmen, relativ gering war. Da es jedoch nichts brachte, zu einem der Journalisten unhöflich zu sein, sagte er nur: "Gut, dann bis später." Sie ging weiter und murmelte vor sich hin: "Draco Malfoy, Spross einer der ältesten Zauberfamilien Großbritanniens, erscheint zum Interview in eine lässige Kenneth Troll-Zaubererrobe in Marineblau und Kaki gekleidet ..." Er konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als sie davonlief und Draco wieder sich selbst überließ, der sich fragte, wie lange sein Vater wohl noch brauchen würde. Wenn ich nicht bald anfange, werde ich unmöglich alles erledigen können! Er hatte ein paar Papiere und eine Feder aus einer seiner Taschen gezogen, lehnte sich gegen das Sims und korrigierte seinen sorgfältig ausgearbeiteten Zeitplan, dann fuhr er plötzlich zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter fühlte. "Was für eine ungewöhnliche Überraschung, Draco", sagte Lucius Malfoy gedehnt. Er war in Begleitung zweier seiner Chefredakteure, die beide sehr ernst und sehr nervös wirkten. "Du erinnerst dich doch an Mr. McKenna, den Leitartikelredakteur, und an Mr. Beck aus der Wirtschaftsabteilung? Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, hätte ich dich gebeten, an unserer kleinen Sitzung teilzunehmen." Draco hatte sich umgedreht und sah sich seinem Vater gegenüber, der an die steinerne Wand gelehnt dastand, die den Flur vom Atrium trennte. Er zögerte, bevor er antwortete: "Ich wollte dich nicht stören. Mrs. Timoner hat gemeint, ich solle warten." "Mach nicht andere für deine eigenen Entscheidungen verantwortlich", blaffte Lucius ihn an. Er hatte Dracos Schulter nach wie vor umklammert. "Das ist eine Haltung, die dich eines Tages wieder in Schwierigkeiten bringen wird. Was habe ich dir darüber gesagt, hierher zu kommen?" Es war furchtbar, vor allen Leuten so abgekanzelt zu werden. Die Art, wie die Redakteure einfach dastanden und ihrem Arbeitgeber zusahen, erinnerte Draco daran, wie Crabbe und Goyle in der Schule einfach nur zusahen, wenn er andere Schüler und Lehrer kritisierte oder über sie redete oder sich über sie beschwerte, vor allem wenn es - jedenfalls in aller Öffentlichkeit - um Professor Dumbledore oder Harry Potter und seine Kumpane ging, aber Crabbe und Goyle waren nur Schüler. Diese beiden waren erwachsene Männer, intelligente, gute Journalisten und mächtige Zauberer, und trotzdem wirkten sie neben Lucius Malfoy wie stumme Lakaien, die unfähig waren, ohne seine Zustimmung auch nur ein Wort zu sagen. Draco wusste, dass Lucius zu Hause der Schlossherr war und dass alles - inklusive Draco - nur von Lucius' Gnaden dort war. Die Ausübung dieser Macht in aller Öffentlichkeit zu sehen war eine weitere Erinnerung daran, dass Lucius eine der vielen Drohungen wahr machen konnte, die er in den vergangenen Jahren gegen Draco ausgesprochen hatte, wenn er etwas tat, das Lucius mehr oder weniger missfiel. Und es bestärkte jedes Mal Dracos Entschlossenheit, Lucius keine Chance zu geben, irgendeine dieser Drohungen wahr zu machen. Lucius hatte die Arme über der Brust verschränkt und wartete immer noch auf Dracos Antwort, wobei seine Augen fast funkelten, aber in einer Art, die den meisten Beobachtern nicht auffallen würde. Draco hatte diesen Blick jedoch schon Hunderte Male gesehen und wusste, dass seine Antwort auch bei einer so unbedeutenden Frage richtig sein musste. Er versuchte, leichtfertig zu klingen und sagte: "Dass ich dir immer Bescheid sagen muss, bevor ich komme, und dass ich die Ressourcen der Zeitung nicht in Anspruch nehmen soll, es sei denn, es gäbe in der magischen Welt - oder zumindest in England - keine andere Möglichkeit."
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Doch auch diese wortwörtliche Wiedergabe einer von Lucius' Regeln brachte seinen Vater nicht dazu, sich zu entspannen. Er fragte lediglich: "Also, mein Sohn, warum bist du hier, anstatt deine Schulferien zu genießen?" Draco wusste nicht, wie viel er vor den Redakteuren sagen konnte, die immer noch neben Lucius standen und dem Gespräch der Malfoys schweigend zuhörten und versuchte, seinem Vater ohne Worte oder zu eindeutige Gesten zu verstehen zu geben, dass sein Hier sein einen Grund hatte, den sie lieber unter vier Augen besprechen sollten. Mr. Beck rührte sich und sagte: "Mr. Malfoy, ich sollte wirklich besser runtergehen, Sir. Die landwirtschaftliche Abteilung des Ministeriums für Magie gibt Termine für Lieferungen von gefriergezaubertem konzentrierten Orangensaft bekannt, und ich muss ein paar Zuteilungen machen. Könnte ich ..." Mit einer abschätzigen Handbewegung sagte Lucius: "Wir können das später beenden. McKenna, ich möchte Ihren Vorschlag für das Schaubild für den Leitartikel und ihr Konzept bis spätestens heute Nachmittag zwei Uhr auf dem Schreibtisch haben, und Ihren Entwurf für den Leitartikel für Montag bis vier Uhr. Sie können jetzt beide gehen. Draco, in mein Büro." Lucius hatte eine Art die Tür zuzumachen, ohne sie zuzuknallen, die aber trotzdem so viel Wut ausdrückte, dass eine normale Tür aus ihren Angeln gehoben worden wäre. "Stehen bleiben", sagte er mit leiser Stimme zu Draco, als er an seinem Sohn vorbei zu dem Sessel ging, der vor dem drei Meter hohen Flachglasfenster stand, durch das man Blick auf das magische London hatte. "Erklär mir doch bitte, warum du es auf dich genommen hast, mich hier inmitten der Ereignisse zu besuchen, nachdem ich dir gestern gesagt hatte, dass ich dich nach Frankreich schicke, um dich aus allem herauszuhalten, was diesen Sommer hier passieren wird? Ich habe Wichtigeres zu tun, als mich damit abzugeben auf dich aufzupassen. Und hast du dein Quidditchtraining ausfallen lassen, um hierher zu kommen? Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht?" Draco machte große Augen. "Ich dachte nicht ..." "Und das ist der zweite Tag hintereinander, an dem wir eine so brillante Demonstration der Art erhalten, wie der junge Mr. Malfoy seine Entscheidungen trifft. Bravo", fügte er hinzu und applaudierte sarkastisch. "Du bist ein dummer kleiner Junge und hast keine Ahnung, was für Schwierigkeiten du mit deinem Verhalten verursachst. Geh nach Hause, Draco." Er klang total entnervt. "Ich hab jetzt keine Zeit für dich, und es ist mir auch egal ..." "Aber Vater, du hast mir doch selbst gesagt, dass ich heute nach Rita Skeeter suchen soll. Deshalb bin ich hergekommen. Ich muss mir Hermione Grangers Muggel-Adresse beim Abonnentenservice besorgen, weil ich keine Ahnung habe, wo sie wohnt, und ohne Adresse kann ich ihr Haus nicht finden, und dann kann ich Rita nicht retten, wie ich es gestern Abend versprochen habe." Hör auf zu jammern, sagte er sich. Tu so, als ob du einen Plan hättest. "Ich habe einen Zeitplan gemacht, siehst du?" Er öffnete sein Notizbuch und beugte sich zu Lucius. "Adresse besorgen, zum Haus gehen, mit Reporterin zur Zeitung zurückkehren, inklusive Notizen darüber, wie lange das ungefähr dauern wird, Flugplänen und allem Drum und Dran." Ein anerkennender Ausdruck erschien auf Lucius' Gesicht. "Ich hatte vergessen, dass du das heute tun wolltest." Er entschuldigte sich jedoch nicht, das tat er niemals. "Gut, geh runter zum Abonnentenservice, hol dir die Information, die du brauchst, und dann mach dich auf den Weg. Wenn du Rita hast, mach dir nicht die Mühe, selbst hierher zurückzukommen, lass sie einfach bei Mrs. Timoner, damit ich sie befragen kann, und überleg dir, welche Handhabe wir gegen dieses Schlammblut haben." Er wandte sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch zu, und Draco floh aus dem Büro, bevor sein Vater es sich anders überlegen konnte und rannte vier Stockwerke hinunter. Der Abonnentenservice des Tagespropheten war ein Raum, in dem ein wildes Durcheinander herrschte, angefüllt mit Aktenschränken, deren Schubladen halb offen standen, kleinen weißen und grünen Pergamentkarten, die jeden Zentimeter freier Fläche bedeckten, und Tintenfässern, die behext worden waren, damit sie keine Tinte verspritzten. Inmitten des Chaos saß eine Hexe, die die vielen Karteikarten verwaltete.
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Die Abonnentenverwalterin schlief jedoch mit dem Kopf auf dem Tisch, und Draco dachte, dass es besser sei, leise zu sein, sie nicht zu wecken und selbst nach der benötigten Information zu suchen. Genau wie Mrs. Timoner war die Verwalterin, deren richtigen Namen niemand kannte, schon seit der Zeit hier, als sein Großvater noch in dem Büro gesessen hatte, das sein Vater nun innehatte, und statt der Leitartikel, die die Politik von Herrn Minister Fudge unterstützten, hatte es solche gegeben, die sich für Variationen von Gesetzen zur Muggel-Kooperation eingesetzt hatten, die sich gar nicht so sehr von denen unterschieden, die Ron Weasleys Vater vorlegte und versuchte durchzusetzen, und für die Dracos Vater ihn immer kritisiert hatte. Die Verwalterin hatte seinen Großvater und viele andere Mitglieder seiner Familie noch gekannt, und seine Großmutter hatte ihm einmal gesagt, er solle sie bitten, ihm ein paar Geschichten darüber erzählen, wie es damals bei der Zeitung war, aber er hatte es nie getan, vielleicht weil sie sich in seiner Gesellschaft immer unwohl zu fühlen schien, so als sei er ihr ständig im Weg. Obwohl es unwahrscheinlich war, dass das Ministerium feststellen konnte, ob er gezaubert hatte oder nicht, wollte Draco seinen Zauberstab nicht benutzen. Als er vor ein paar Jahren mit seiner Mutter die Akten durchgegangen war, um ihr dabei zu helfen, eine Liste all derer zu machen, denen sie Weihnachtskarten schicken wollten (mehr als 1700 Zauberer bekamen ein Foto von Draco, Narcissa und Lucius auf einem fliegenden Teppich über Marokko, auf dem Draco immer wieder über den Rand gucken wollte und Lucius ihn immer wieder in die Mitte der Aufnahme zurückzog), hatte er erfahren, dass es dort Schutzzauber gab, die Unbefugte daran hindern sollten, die Karteikarten mit den Adressen der Abonnenten zu durchsuchen und die Abonnentenliste des Tagespropheten zu stehlen, aber ein Zauberer konnte die Karten von Hand durchsehen, wenn er wusste, wo er suchen musste. Mit etwas Glück wären die Buchstaben noch genauso geordnet wie beim letzten Mal, nämlich jeder Buchstabe als sein Pendant. Das würde heißen, dass "G" unter "T" abgelegt wäre, in der Schublade hier drüben, zwischen den "C"- und "H"-Karteien .... Beim Höllenhund! In der Kartei "G" waren mindestens achthundert Karten, aber wenn man der Logik folgte, dass die Karten von hinten nach vorn sortiert waren, sollten diejenigen, deren Namen mit "Ga" anfingen, hinten stehen. Nachdem er fast sieben Minuten lang gesucht hatte, fand Draco eine Karte (grün für Muggel-Abonnent) mit Hermiones Namen und Adresse. Er zog sie heraus, übertrug die darauf enthaltenen Informationen in sein griffbereites Notizbuch und steckte die Karte zurück, bevor er die Schublade zuschob und sich davonmachte, alles, ohne die Bürovorsteherin zu wecken. Die Dinge liefen gut. Wie es aussah, war Hermiones Abonnentenadresse für den Sommer in einer Stadt, die nur zwanzig Minuten Besenritt von Malfoy Manor entfernt war. Draco schaffte es, seinen Besen vom Empfangsbalkon seines Vaters zu holen und abzuheben, ohne von irgendwelchen Reporterlehrlingen, eifrigen Sekretärinnen oder besorgten Verlegern abgefangen zu werden und genoss den Heimflug, obwohl er in dem Versuch, die Zeit wettzumachen, die er im Büro des Propheten verloren hatte, um einiges schneller flog als am Morgen. Einer der Dienstboten teilte ihm mit, seine Mutter sei schon zu einem Imbiss weggegangen und würde nicht zum Abendessen zurückkommen, was er erleichtert zur Kenntnis nahm. Sie hatte als Jäger in der Hausmannschaft von Slytherin selbst Quidditch gespielt, als sie in Hogwarts gewesen war, als eins der wenigen Mädchen, die es je in die Mannschaft geschafft hatten, und war immer noch ziemlich gut darin. Wenn sie zu Hause war und er mit einem Trainer arbeitete, stieg sie manchmal auf ihren Besen und spielte mit. Dadurch hatte sie nicht nur einen einmaligen Einblick in die Schwächen seines Trainings, sondern auch in seine allgemeinen Fähigkeiten, und natürlich teilte sie immer alles ihrem Gatten mit. Draco rannte in sein Zimmer um sich umzuziehen, dann ging er hinunter in den Flur, um schnell noch etwas zu erledigen, bevor er sich auf den Weg zum Haus der Grangers machte. Der Plan, den er am vorigen Abend ausgearbeitet hatte, sah nicht vor, dass er sich lange damit aufhalten würde, in einem Muggel-Haus herumzulaufen - er hatte in seinem Leben nur wenige betreten, aber er hatte ein paar Muggelartefakte in einem der Malfoyschen Museen für Entartete 25
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Muggelkultur gesehen, als er einmal in Kanada Ferien gemacht hatte, und er war leicht nervös wegen all der verwirrenden Apparate, die die Muggel anscheinend überall in ihren Häusern hatten. Stattdessen würde er die Grangers auf andere Weise ausspionieren um herauszufinden, wo Rita war. Und um das zu tun, musste er zum Balkon im Schlafzimmer seiner Eltern. Dies war der Ort, den er im ganzen Hause am meisten verabscheute, aber es war auch der nützlichste Ort für ihn. Als er durchs Schlafzimmer seiner Eltern zum Balkon ging, versuchte er, die unterdrückten Erinnerungen daran abzuschütteln, wie er mit fünf und sechs Jahren vom Abendbrottisch die Treppe hinauf durch die Flure und dann durch sein Zimmer auf den Balkon getragen worden war, wobei er fast immer hysterisch geschrien hatte. Der Balkon war ungefähr fünf Meter lang und erstreckte sich über die ganze Länge eines der Panoramafenster. Seine Steinbrüstungen waren eineinhalb Meter hoch, mit dekorativen Ornamenten verziert und hatten ein paar Öffnungen, die selbst für einen kleinen Jungen zu eng waren, um hindurchzufallen; sie schützten etwas vor dem Wind, das darüber hinausragende Stockwerk des Herrenhauses schützte sogar noch weniger vor Regen oder Schnee. Im Sommer speicherte der Stein die Sonnenwärme so stark, dass er sich am Fußboden verbrennen würde, sollte er sich draufsetzen. Ein paar Stühle und ein paar winzige Tische standen darauf. Es war ihm nicht erlaubt, sich draufzusetzen, aber niemand hatte ihn daran gehindert, sie zu einem Schutzwall zusammenzustellen, in dessen Mitte er sich verstecken konnte, wenn Lucius ihn auf den Balkon trug und stundenlang dort ließ, wobei er ihn aus seinem warmen Schlafzimmer heraus beobachtete. Wenn er schrie oder weinte oder bettelte hineingelassen zu werden, saß Lucius nur auf einem Stuhl und starrte ihn ausdruckslos an. Draco konnte ihn vor sich sehen, wie er Tee trank und ihn dabei beobachtete, wie er ans Fenster hämmerte, manchmal auch, wie er fror oder völlig durchnässt wurde, und einmal wie er unter einer Schneelawine begraben wurde, die vom Dach rutschte. Und wenn Draco sich dann schließlich beruhigte, entweder weil er erschöpft war oder weil er die Gefühle, die Lucius so verachtete, unter Kontrolle bekommen hatte, zauberte Lucius eine Uhr herbei, die Draco vom Balkon aus sehen konnte, auf der wie ein Countdown die Minuten verrannen, bis er wieder hereinkommen konnte, wobei Lucius immer dieselbe Formel benutzte - eine Minute für jeden Monat, den er gelebt hatte. Jener stürmische Oktoberabend, als er fünfeinhalb war, der Abend, der alles verändert hatte, war eine seiner ältesten klaren Erinnerungen. "Ich mag aber keine Rüben, und ich will sie nicht essen", sagte der winzige Junge, dessen Gesicht die runde Babyform noch nicht verloren hatte, vom Ende der langen Tafel. "Kann ich bitte mehr Pomfritz haben?" "Sie werden nicht Pomfritz ausgesprochen, sondern es sind Pommes frites", antwortete sein Vater. "Wenn du es richtig aussprichst, kannst du welche haben." "Pommes frites", zirpte Draco richtig. Lucius schwenkte seinen Zauberstab in Richtung der Platte auf dem Sideboard, und Dracos Teller füllte sich mit Fritten. Er grinste und fing an, sie mit der Gabel aufzuspießen. Lucius fuhr fort: "Hat Mademoiselle Corday nicht mit dir an deiner Aussprache gearbeitet? Narcissa, wozu haben wir eigentlich diese blöden Privatlehrer, wenn sie meinem Sohn sowieso nichts beibringen?" Narcissa, die eingeschnappt wirkte, sagte: "Ich weiß, warum du sie nicht rauswirfst, und es hat nichts mit Dracos Unterricht zu tun." Lucius starrte sie finster an, dann zog er einen Finger quer über seine Kehle und wies auf den Dienstboten, der neben der Küche stand für den Fall, dass die Familie irgendetwas brauchte. "Wie dem auch sei, du weißt, dass ich nicht all meine Zeit damit verbringen kann, seine Privatlehrer zu kontrollieren - ich habe mehr als genug mit meinem eigenen Leben zu tun. In drei Wochen ist der Wohltätigkeitsgalaabend zugunsten von St. Mungo, und ich muss mich um die Blumen kümmern und Schleifen kaufen." "Du kannst nicht erwarten, dass ich herumsitze und all seine Hausaufgaben nachgucke, dafür sind Mütter schließlich da", sagte Lucius knallhart. "Ich habe meine eigenen Verpflichtun26
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
gen, und wenn ich ihnen nicht nachkomme, werden Bücher nicht erscheinen, und die Menschen werden nicht erfahren, wie die Welt eigentlich sein sollte, und was haben wir dann, bevor du auch nur die klitzekleinste Zauberformel sprechen kannst?" "Ich weiß, Daddy!", sagte Draco grinsend. "Friede zwischen allen magischen und nichtmagischen Völkern und Riesenflaschen von Ogden's Old Firewhisky! Hurra!" "Was zum Teufel hast du da gerade gesagt?" Lucius hatte seinen finsteren Blick von seiner Frau abgewandt und schenkte ihn jetzt seinem Sohn. "Wer hat dir diesen Blödsinn erzählt?" Dracos Gabel fiel scheppernd auf den Boden, und das Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er schluckte hörbar. Draco zögerte mit der Antwort. Er kannte diesen Blick, der normalerweise bedeutete, dass er gut daran tat, sich irgendwo unter dem Tisch zu verstecken, wo er schwer erreichbar war, bis sein Vater damit fertig wäre, auf dem Tisch die Wassergläser zu zerschlagen. Er glaubte nicht, dass er genug Vorsprung haben würde, um zu entkommen, also sagte er leise: "Master Nim hat das am Montag zu mir gesagt. Darum geht es in einem Gedicht in dem Buch Lockharts lehrreiche Limericks, das du mitgebracht hast." Lucius stand auf und pflanzte sich vor Draco auf, der immer noch auf seinem Stuhl saß. Draco blickte auf und wich so weit er konnte vor Lucius' dröhnender Stimme zurück. "Wag es nicht mich anzulügen, Junge. Ich habe alle deine Bücher inklusive diesem gelesen, und dieser spatzenhirnige Autor und seine Ghostwriter hätten es nie geschafft, so eine radikale Idee an mir vorbeizuschmuggeln." Er langte nach unten und zog Draco an seiner Jacke hoch, so dass er auf den Zehenspitzen stand und unsicher auf dem Stuhl balancierte. Niemand hörte, wie Narcissa die Weinflasche aus dem Eiskübel nahm, in dem sie zur Kühlung stand, und aus dem Esszimmer in die Bar nebenan stürmte. "Aber Vater, er hat es mir vorgelesen." Draco versuchte nicht zu zittern, aber es war schwierig, die Balance zu halten. "Ich musste es auswendig lernen. Soll ich es noch einmal für dich wiederholen?" Die beiden hatten ein Gesellschaftsspielchen, wenn Draco auf Partys vorgeführt wurde - sein Vater nahm dann ein Buch, das Draco meistens mehr als einmal gelesen hatte, von einem der Regale in der Bibliothek, fing einen Satz an und beobachtete die überraschten Gesichter der Gäste, wenn der kleine Junge ihn aus dem Gedächtnis vervollständigte, manchmal auch einen ganzen Absatz oder eine Seite, immer praktisch Wort für Wort. Gedichte waren dabei immer leichter zu merken gewesen. Lucius hob Draco ganz vom Stuhl, ließ ihn praktisch auf den Boden fallen, und als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, verschränkte er die Arme vor der Brust und sagte verächtlich: "Überrasch mich." Jemand sagte: "Reichen wir uns alle die Hände", Also fasste Lee Jean an der Hand. Und Jean fasste Helen an der Hand, Während sie nach Deans Hand griff. Deans andere Hand hielt Sharma Joys Und sie hielt Lee an der Hand. Jetzt sag mir, wie ich es geschafft habe, Mich selbst an der Hand zu halten? Lucius seufzte und ließ sich auf die Knie fallen, so dass er Draco direkt in die silbrigen Augen blickte. Er hatte Dracos Handgelenke so fest umklammert, dass Draco am liebsten geschrien hätte, es aber nicht tat. Lucius' Stimme war spöttisch, und um seinen Mund spielte ein ausgesprochen höhnisches Lächeln. "Er hat dir gesagt, dieses Gedicht bedeute, dass Zauberer wie du und ich in Eintracht mit Muggeln und Schlammblütern leben sollen?" Draco nickte zaghaft. "Und was denkst du so, Kleiner? Sollten wir uns auf so vulgäre Art vermischen?"
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Draco wusste nicht, was "vulgär" bedeutete. Es klang wie eine Fangfrage. Mit großen Augen nickte er wieder. Im Handumdrehen hatte Lucius ihn an den Handgelenken aufgehoben, seinen Zauberstab vom Tisch ergriffen und sich mit seinem Sohn über der Schulter auf den Weg zu seinem Schlafzimmer gemacht, wobei er die Litanei von Kritikpunkten brüllte, die Draco schon so oft gehört hatte. Er sah den vertrauten Schein der Lampen im Schlafzimmer seiner Eltern und versuchte, sich Lucius' Griff zu entwinden, aber seine kindlichen Stöße konnten gegen die Stärke seines Vaters nichts ausrichten. Als sie darauf zugingen, öffnete sich die Schiebetür zum Balkon, und Lucius tat etwas Ungewöhnliches. Er trat auf den Balkon hinaus, wobei er den zappelnden Draco noch immer in den Armen hielt, und drehte ihn so herum, dass er ihn an den Beinen über der Balkonbrüstung hochhielt, mehr als zehn Meter über dem Kies darunter. Draco hatte es die Sprache verschlagen, er griff hysterisch nach der Wand und versuchte, sich an einer der kleinen dekorativen Öffnungen festzuhalten, aber seine Finger glitten immer wieder ab. "Vielleicht sollte ich dich fallen lassen. Vielleicht brauchst du das, damit ein paar richtige Gedanken in deinem Hohlkopf haften bleiben. Vielleicht", Lucius hielt inne, "würdest du wie ein Ball in den Garten hinunterspringen, aber vielleicht würdest du ja auch einfach auf die Steine krachen. Wenn du willst, ziehe ich dich aber vielleicht auch wieder rauf und lass' dich ein paar Stunden hier draußen. Du kannst ein hübsches kleines Gedicht für mich schreiben, um dir in Erinnerung zu rufen, dass du dich von dreckigen Unter-Zauberern fernhalten solltest - die sind nicht besser als Tiere. Willst du, dass ich das tue?" Lucius sah auf seinen Sohn herab und schüttelte ihn. Draco verlor den Halt an der Wand und schrie. "Antworte mir!" "Ja, bitte, bitte zieh mich hoch! Bitte, Daddy!" Noch bevor er den Satz beendet hatte, fühlte Draco bereits, dass er wieder soliden Boden unter den Füßen hatte. Er fiel hin, rang nach Atem und rieb sich die Knöchel, wobei er dem kalten Blick seines Vaters auswich. "Du hast fünfundfünfzig Minuten, um dir etwas einfallen zu lassen, damit ich dir verzeihen kann." Er ging zum Eingang und rief ins Haus: "Charlotte! Kommen Sie her!" Sofort erschien eine Frau mit cremefarbenem Teint und haselnussbraunem Haar im Schlafzimmer der Malfoys und sah Lucius durch schwere Augenlider an. "Lucius, Liebster, ich bin es nicht gewohnt, dass du so laut nach mir schreist, wenn ich ..." Sie zögerte, da sie erst jetzt Draco bemerkte, der fast zusammengesunken auf dem Balkonfußboden saß und fuhr in hartem Ton fort: "Was für ein Spiel soll das sein, Lucius?" "Das hat mit unserem kleinen Spielchen nichts zu tun, meine Liebe. Das ist Teil deines anderen Jobs - der, bei dem du meinen dummen Sohn unterrichtest." Er stieß Draco mit dem Stiefel an. "Setz dich, mach es dir bequem und stell die Zeit ein. Du kennst die Regeln, Charlotte. In fünfundfünfzig Minuten kann er wieder reinkommen. Bis dahin soll er hier draußen eine kleine Aufgabe für mich erledigen - nichts, worüber du dir Gedanken machen musst. Ich selbst werde nach oben gehen und einen gewissen Englischlehrer wegen Gehorsamsverweigerung feuern, und damit meine ich, ihm Feuer unter dem Arsch machen." Lucius verpasste den entsetzten Ausdruck auf Charlotte Cordays Gesicht, als er durch sein Zimmer zur Flurtür ging. "Und da Narcissa sich heute Abend unten amüsiert, wirst du vielleicht nicht allein raufgehen wollen, nachdem wir mit Draco fertig sind. Es könnte hier oben etwas verqualmt sein. Ach, und mach die Balkontür zu. Ich möchte nicht, dass du heute Abend zu kalt bist." Mit einem bösen Lächeln in ihre Richtung ging er davon. Charlotte drehte sich wieder zum Balkon um und sprach kurz mit Draco. "Tut mir Leid, mein Süßer, aber du könntest mich meine Stelle kosten." Sie hob ihren Zauberstab, wie um die Tür zu schließen, dann hielt sie inne. "Hmmm. Vielleicht nicht." Sie schwang kurz ihren Zauberstab und beschwor eine kleine leuchtende Kugel, die auf Draco zuflog. Er fing sie. Die Kugel war nicht größer als der Goldene Snitch, den er beim Quidditchtraining mit seinem Vater benutzte, aber sie war weich und warm. "Zerquetsch sie zwischen den Fingern, falls dein Vater zurückkommen sollte. Ich werde seinen Namen rufen, um dich zu warnen."
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Der kleine Junge lächelte, nahm die Kugel in beide Hände und starrte sie an, als Charlotte die Tür zumachte. Er sah, wie sie ein Exemplar von "Die Hexe im Spiegel" vom Nachttisch seiner Mutter nahm und sich in ihren Sessel setzte. Er zitterte vor Kälte und hob die Kugel ans Gesicht. Sie fühlte sich so angenehm an und war ein so viel schönerer Anblick als die Stein- und Glaswände seines derzeitigen Gefängnisses. Als Draco die Kugel betrachtete, sah er, dass sie aus Tausenden winziger Lichter bestand, die in zufälligen Mustern hin und her sprangen. Aus irgendeinem Grund folgten seine Augen den blauen, wie sie sich von der Oberfläche in die Kugel hinein und wieder zurück bewegten. Es war, wie in Trance zu sein. Draco war schon früher in Trance gewesen. Während der letzten Monate, wenn er - üblicherweise einmal pro Woche - mit seinem Vater sprach, ließ Lucius Draco auf die Spitze seines Zauberstabs starren und sich auf ein winziges Licht dort konzentrieren. Wenn er das tat, hörte Draco ausschließlich die Stimme seines Vaters, sah nichts als das winzige Licht des Zauberstabs und nahm alles, was Lucius sagte, in sich auf, und irgendwie konnte er sich an alles noch lange danach erinnern. Diese kleine Kugel schien jedoch eine andere Wirkung auf ihn zu haben. Während er auf dem Boden saß und die blauen Lichter betrachtete, fühlte er, wie sein Körper anfing sich zu drehen, aber er wusste, dass er sich nicht wirklich bewegte. Es fühlte sich an wie auf der Gartenparty im Sommer, als sein Vater ihn in die Arme genommen und wieder und wieder herumgeschwenkt hatte, bis sie sich schwindlig und kichernd auf dem Rasen herumgerollt hatten. Draco schloss die Augen, aber er konnte immer noch das Leuchten der Kugel sehen, und die blauen Lichter tanzten hinter seinen geschlossenen Augenlidern. Es fühlte sich jetzt an, als ob er sich von einer Seite zur anderen wiegte, wobei die Wärme der Kugel durch seine Glieder floss, und plötzlich konnte er sehen, obwohl er die Augen nicht geöffnet hatte! Aber diesmal sah er nicht einfach nur die Kugel - er sah sich selbst mit geschlossenen Augen, vornüber gebeugt im Schneidersitz, wie er die leuchtende Kugel hielt, die sich wie eine Ranke blauen Lichts um seinen Körper gewickelt hatte und dann wieder in die Kugel floss. Er konnte nichts weiter fühlen als den Eindruck, sich zu drehen und zu wiegen, aber diese Empfindungen waren leiser, wie ein Hintergrundgeräusch. Draco betrachtete sich selbst einen Augenblick, dann fuhr er zusammen, weil es so merkwürdig war, sich selbst zu beobachten, und fühlte plötzlich einen Sog, als alles einen Augenblick lang dunkel wurde. Er öffnete die Augen und fühlte seine Glieder kalt und schwer auf dem Boden. Die Kugel leuchtete noch immer in seinen Händen. Er schüttelte den Kopf in dem Versuch, das merkwürdige Gefühl loszuwerden und fragte sich: "Kann ich es noch einmal versuchen?" Dies war ganz offensichtlich irgendeine Art von Magie, aber keine, die er seinen Vater jemals hatte praktizieren sehen oder über die er in irgendeinem der Bücher in seinem Zimmer am Ende des Flurs oder selbst in der Bibliothek seines Vaters gelesen hatte. Natürlich hatte er bisher auch nicht einen Bruchteil der Bücher im Haus gelesen, und er wusste, dass es unzählige Arten von Magie gab, die er noch nicht ausprobiert hatte. Er war zu jung, um einen Zauberstab in der Hand gehalten zu haben, und die alltäglichen Zauberformeln, die die Dienstboten benutzten, hatten seine Aufmerksamkeit kaum erregt, und dieses Gefühl war so verschieden von dem, welches er gehabt hatte, wenn er zusah, wie andere Apportierzauber und Bannzauber ausführten oder magische Federn benutzten oder dem, das Schabernacks auf Geburtstagsfeiern so vergnüglich machte. Draco konzentrierte sich wieder auf die blauen Lichter und schloss die goldenen und silbernen Strahlen von seiner Wahrnehmung aus. Wieder hatte er das Gefühl sich zu drehen und zu wiegen, schloss die Augen, und plötzlich fühlte er seinen Körper nicht mehr. Er beobachtete sich wieder selbst und versuchte aufzustehen, was ein seltsames Unterfangen war, wenn man nicht fühlen konnte, wie der eigene Körper aufstand. Da sein Gesichtsfeld sich veränderte, wusste er, dass er aufrecht stehen musste. Er sah hinunter und erblickte sich selbst, seine Kleider, seine Arme, seinen Körper und seine Beine, aber ohne die kleine Kugel. Er war identisch mit dem
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Draco, der auf dem Boden saß, aber in diesem Zustand schwebte er irgendwie ganz dicht über dem Boden. Wie wunderbar das war! Er schaute ins Haus. Mademoiselle Corday las ihre Zeitschrift und achtete nicht auf den Jungen draußen. Er konnte nach seinem Vater und seiner Mutter suchen oder die Hauselfen ausspionieren oder sogar - und dabei hielt er fast den Atem an, bis ihm auffiel, dass er gar nicht zu atmen schien - das Herrenhaus verlassen und sich die Welt ansehen. Welch aufregende, furchterregende, seltsame Vorstellung! Er schwebte hinauf und guckte über das Sims. Es war jedoch so weit bis nach unten. Vielleicht sollte er bleiben, wo er war und es genießen, dass es zur Abwechslung nicht kalt hier war, und an der Aufgabe arbeiten, die sein Vater ihm aufgegeben hatte. Das würde sicherer sein. So würde er nicht in Schwierigkeiten kommen. Aus weiter Ferne klang es wie Schreie zu ihm herüber, jemand brüllte den Namen seines Vaters, aber er sah immer noch zu den Sternen auf, die langsam am tintenschwarzen Himmel erschienen und achtete nicht darauf. Dann hörte er, wie die Tür aufgerissen wurde und sein Vater schrie: "Draco! Was machst du da? Wie bist du da raufgekommen?" Der schwebende Knabe drehte sich zu seinem Vater um und versuchte zu sprechen, aber es gelang ihm nicht, sich Gehör zu verschaffen. Dann bemerkte Lucius den Draco, der immer noch auf dem Boden saß, und sah mit verwirrtem, entsetztem Gesicht von einem zum anderen. Charlotte stand mit weit offenem Mund und aufgerissenen Augen hinter ihm, die Hand vor dem Mund. Lucius drehte sich zu ihr um und schrie: "Was hast du mit ihm gemacht?" Er griff nach seinem Sohn, der völlig reglos auf dem Boden saß, bis auf das Licht, das auf seinem Gesicht tanzte, und Draco fühlte wieder den merkwürdigen Sog. Das Gefühl zu schweben verflüchtigte sich, und mit einem Ruck war er wieder in seinem Körper und blickte in das verblüffte Gesicht seines Vaters. Lucius kniete sich vor Draco hin und zog ihn in seine Arme, wobei er ihm die Kugel aus den kleinen Händen stieß. Er wiegte sich mit ihm vor und zurück und rang nach Atem: "Was? Was? Was?" Draco konnte nun wieder sprechen. "Ich hab' meinen Körper verlassen, Daddy. Charlotte hat mir eine Kugel gegeben, und ich hab' sie angeschaut, und dann habe ich mich hier sitzen gesehen, aber ich saß gar nicht mehr da. Es war wundervoll!" Es schien, als ob Lucius die Worte fehlten. Während das Wiegen sich verlangsamte, konnte Draco seinen flachen Atem hören. Lucius sah über die Schulter seines Sohnes hinweg Charlotte an, die sich umdrehte und aus dem Zimmer floh. Schließlich fing Lucius an zu reden und erklärte Draco langsam, was er da getan hatte. "Ich habe nicht geglaubt, dass es so bald geschehen würde, aber ich bin eigentlich nicht überrascht. Deine Großmutter hat die Macht, sich magisch an einen anderen Ort zu versetzen, genau wie du es gerade getan hast. Es erfordert aber eine Unmenge an Konzentration und Ausdauer, um es gefahrlos zu tun. Was du heute Abend getan hast, war sehr gefährlich, Draco. Versprich mir, dass du es nicht wieder tun wirst, bis ich es dir erlauben werde." "Ich will aber. Ich könnte es gleich jetzt wieder tun, sieh mir dabei zu, Daddy, bitte! Ich kann es, wenn du mir ..." "Ich habe nein gesagt, Draco, und das ist mein letztes Wort!" Lucius ließ die Arme sinken, und Draco glitt seitlich zu Boden. "Ich erlasse dir für heute Abend den Rest deiner Strafe, weil du dich nach dem, was du getan hast, ausruhen musst. Und ich werde dein Zimmer versiegeln keine Hexe und kein Zauberer wird dort irgendwelche Magie praktizieren können, bis ich dir trauen kann, dass du dieses Zauberkunststückchen nicht wieder versuchst." Lucius seufzte. "Und bis ich einen neuen Englischlehrer für dich gefunden habe und jemanden, der dir die Regeln der Projektion beibringt ..." "Warum kann Großmutter das nicht tun?" jammerte Draco. "Weil sie für die nächsten sechs Monate auf Kreuzfahrt ist und erst im Frühjahr zurückkommt, und ich glaube nicht, dass du so lange warten willst, oder?" "Nein, Vater, ich glaube nicht." Ein winziges Lächeln erschien auf Dracos Gesicht. 30
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4. Kapitel: Die Regeln der Projektion
Und Lucius lächelte zurück, zerzauste seinem Sohn das helle Haar und sagte: "Und jetzt steh auf und geh ins Bett. Versprich mir, dass du gleich schlafen wirst." "Gut, Daddy. Ich liebe dich. Nacht." "Und wenn du Charlotte im Flur siehst", endete sein Vater, " sag ihr, dass sie wieder reinkommen soll." Draco saß auf den vertrauten warmen Steinen und hatte den Rücken an die Schiebetür gelehnt. Fast zehn Jahre Übung hatten ihn dazu befähigt, sich an einen beliebigen Ort zu versetzen, egal wo er sich gerade befand, selbst in Hogwarts, wo er diese Fähigkeit dazu benutzte, um andere Schüler und Lehrer auszuspionieren. Er kam in der Schule fast überall hin - im Allgemeinen waren nur Dumbledores Büro, die Räume, in denen die Lehrer die Klassenarbeiten aufbewahrten und aus irgendeinem Grund Harry Potters Schlafsaal durch Zauberformeln abgeschirmt, die nicht einmal seine Projektion brechen konnte. Aber es kostete jedes Mal viel Energie und Anstrengung, so dass er es nicht sehr oft tat. Wenn er jedoch in Malfoy Manor war, war es sehr viel leichter, zu Projizieren, wenn er auf dem Balkon saß, und wenn er einen triftigen Grund hatte, erlaubte ihm Lucius und sogar Narcissa im Allgemeinen, dort hinaus zu gehen. Draco hegte seit langem den Verdacht, dass sein Vater einen besonderen Grund dafür hatte, sein Talent zu Projizieren zu fördern, was erklärte, warum Narcissa in dieser Hinsicht so nachsichtig war. Er schloss die Augen, und sofort begannen winzige blaue Lichter hinter seinen Augenlidern zu tanzen, die denen glichen, die er am Abend seiner ersten Projektion gesehen hatte. Er konzentrierte sich auf die Funken und ließ die Welt um sich herum versinken, wobei er nichts anderes mehr sah. Langsam fühlte er die Steine nicht länger unter seinem Körper, roch das Gras nicht mehr, das der Gärtner unter ihm mähte. Im Zustand der Projektion veränderte sein Gehör sich normalerweise nicht, und wenn er die Endphase erreicht hatte, konnte er genauso gut sehen wie unter normalen Umständen. Es passierte immer sehr abrupt - plötzlich stand er auf dem Balkon, und weil er jetzt größer war als das Sims, musste er sich nicht vorstellen hinaufzuschweben, um drübergucken zu können. Alles war bereit. Er konzentrierte sich auf die Adresse, die er sich unterwegs nach Hause eingeprägt hatte, und einen Augenblick später stand er vor einem quadratischen, solide gebauten Backsteinhaus mit einem Vorgarten voller Rosen. Ein vertraut wirkendes Mädchen saß auf einem Liegestuhl auf dem Rasen, sie hatte ein dickes Buch auf dem Schoß und einen MuggelKugelschreiber in der Hand. Als sie Draco vor dem Gartentor stehen sah, stand Hermione mit einem zugleich erstaunten und entsetzten Ausdruck im Gesicht auf. Einen Augenblick später schien sie ihre Stimme wiedergefunden zu haben und schrie ihn an: "Erst mal, was um alles in der Welt machst du hier, und zweitens, warum in aller Welt bist du hier? Du weißt doch, dass du hier nicht reinkommen kannst, wenn ich dich nicht darum bitte!"
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Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi ([email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
5. Kapitel Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen? Es war Sommer, und Hermione rechnete damit, diesen Sommer genau wie die drei vorherigen seit sie in Hogwarts angefangen hatte, in der Muggelwelt zu verbringen, wo sie ein ganz normales Leben führen, sich auf ihre sommerliche Lektüre konzentrieren, mit ihren Eltern auf Reisen gehen und sich in Bezug auf Kino, Musik und Fernsehserien, zu denen sie in der Schule keinen Zugang hatte - was ihr aber im Prinzip nichts ausmachte - auf den neuesten Stand bringen würde. Ihre Familie und die wenigen Freunde aus der Grundschule, zu denen sie noch Kontakt hatte, wussten, dass sie ein Internat im Norden des Landes besuchte, eine Schule für "außergewöhnlich begabte" Schüler. Es war wirklich einfach zu erklären gewesen, dass der Bücherwurm Granger, der in der Grundschule immer die besten Noten gehabt hatte, obwohl sie die Jüngste in der Klasse gewesen war, nicht auf die örtliche Gesamtschule und auch nicht auf eines der größeren Internate gehen würde, die bei den Freunden ihrer Eltern hoch im Kurs standen. Niemand brauchte zu wissen, dass "außergewöhnlich begabt" in Hermiones Fall nicht einfach "brillant" bedeutete, obwohl sie das auch war. Es bedeutete "magisch". Hermione ging gern zur Schule, da ihr Geist dort täglich gefordert wurde. Nichts war schöner als seine Zeit damit zu verbringen, sich den Kopf über die Theorie zu zerbrechen, die sich hinter einer eben gelernten Zauberformel verbarg, oder die Grundlagen der Übersetzung von Runen zu verstehen, die sie kürzlich durchgenommen hatten, oder eine Arithmantikaufgabe zu lösen. Na gut, höchstens vielleicht, all diese Theorien auch praktisch anzuwenden, obwohl diese praktischen Anwendungen allzu oft etwas damit zu tun hatten, auf irgendeine Art das Leben von Harry Potter zu retten. Am Ende des Schuljahrs war sie extrem frustriert gewesen und hatte in den letzten drei Wochen viel zu viel Zeit damit verbracht, mit Ron zusammenzusitzen und sich Sorgen um Harry zu machen. Hermione wusste, dass Harrys Sommerferien bei seinen Verwandten normalerweise die Hölle waren, und wie viel schlimmer würde es diesmal sein, nach Cedrics Tod und Harrys Begegnung mit Voldemort, die beinahe tödlich geendet hätte und die ihm sicher noch frisch im Gedächtnis war? Der Frust, ihm nicht direkt helfen zu können, war auch der Grund, warum sie hier im Garten ihrer Eltern saß und ihm einen Brief schrieb; sie hatte vor, ihm jeden Tag zwei identische, weitschweifige Briefchen zu schicken, eins per Eulenpost und eins mit der normalen Britischen Post, in der Hoffnung, dass er wenigstens eins davon erhalten würde, falls sein Onkel oder seine Tante das andere abfingen. Obwohl ihr Geplauder über Schulbücher und ihre Besuche diverser magischer Attraktionen in Südengland ziemlich banal war, würde Harry wenigstens wissen, dass jemand an ihn dachte. Und wenn Ron mit seinem Versprechen Erfolg hätte, Harry aus Surrey in den Fuchsbau zu holen, dann würde der Sommer für ihn nicht zu schlimm werden. Hermione wusste, dass das Gefühl, Harry nicht helfen zu können, einer der Gründe dafür gewesen war, dass sie Anfang der Woche im Zug nach London so rabiat zu Draco Malfoy und seinen Kumpanen gewesen war. Sie dachte, dass er für einen so intelligenten Jungen ziemlich oft dummes Zeug redete. Er war manchmal wirklich seltsam. Und während sie mit Sonnenbrille, um ihre Augen vor der Nachmittagssonne zu schützen, friedlich im Garten saß, in ganz normalen Muggelsachen, mit ihrem pfirsichfarbenen Pullover über den Schultern und, da es langsam wärmer wurde, mit leicht hochgekrempelten Khakihosen, glaubte sie, eine Fata Morgana zu sehen, als sie die Augen von ihrem Brief hob. Wenn man den Teufel beim Namen nennt, dann kommt er auch gleich angerennt.
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
Der Anblick von Draco in ihrer kleinen Muggelstraße vor dem absolut normalen Haus ihrer Eltern war ein derart absurdes Bild, dass es ihr vor Staunen und Schreck kalt über den Rücken lief. Ihr Mund öffnete sich und schloss sich dann wieder; sie brachte keinen Ton heraus. Einen Augenblick später hatte sie ihre Stimme aber anscheinend wiedergefunden, und sie schrie ihn an: "Erstens: Was in aller Welt machst du hier, und zweitens: Warum bist du hergekommen?" Habe ich tatsächlich gerade zweimal dasselbe gesagt?, dachte sie, stand auf und versuchte eilig, einen klaren Gedanken zu fassen. Alles, was ihr einfiel, war: "Du weißt ja, dass du nur reinkommen kannst, wenn ich dich dazu auffordere!" Er lachte, und zwar das kalte Lachen, das er immer lachte, wenn er etwas wusste, was sie noch nicht gelernt hatte. "Und du weißt genauso gut wie ich, dass diese Regel nur für Vampire gilt." Er verschränkte die Arme vor der Brust, was ihres Wissens andeutete, dass er im Begriff war, ihr einen Vortrag über irgendeine Wahrheit der magischen Welt zu halten. "Deshalb funktioniert sie am helllichten Tag nicht. Und auch wenn es Nacht wäre, würde sie bei mir trotzdem nicht funktionieren." "Weil du kein Vampir bist. Das weiß ich," unterbrach ihn Hermione, die sich um einen kalten, sarkastischen Tonfall bemühte, da das die einzige Art war, mit Draco fertig zu werden, wenn er seine Überlegenheit demonstrierte. Draco ließ die Arme sinken und verschränkte sie dann wieder, wobei sein Gesicht zu seinem üblichen höhnischen Lächeln verzogen war. "Nein, du dumme Gans, weil ich nicht wirklich hier bin." "Wenn das so ist, solltest du lieber nicht auf dem Bürgersteig stehen bleiben. Es wäre ganz schön schwierig, das dem nächsten Kind, das mit dem Fahrrad durch dich durchfährt, zu erklären." "Ich darf also durch deine kleine Gartentür reinkommen?" Warum musste er selbst bei solchen Nichtigkeiten boshaft klingen? "Nur, wenn du mir sagst, warum du hier bist." Im Bruchteil einer Sekunde schien Draco nur noch ein paar Zentimeter von ihrem Stuhl entfernt zu sein. Hermione hielt ihr Pergament, ihren Stift und ihre Schreibunterlage wie einen Schutzwall vor sich, obwohl sie wusste, dass feste Materie in Dracos derzeitigem Zustand kein Hindernis für ihn darstellte. Er machte den Mund auf, als ob er ihr die verlangte Erklärung liefern wollte, aber es brannte ihr noch eine Frage auf der Zunge, auf die sie unbedingt eine Antwort wollte. "Ich dachte, du könntest nur nachts Projizieren - wie machst du das also?" "In Hogwarts ist es tagsüber immer noch zu anstrengend", antwortete er, jetzt wieder ganz professionell. "Weil all die Magie dort meinen Energiefluss und meine Konzentration stört, aber in Malfoy Manor liegt sehr viel weniger Magie in der Luft, dort habe ich es gelernt und geübt, so dass es einfacher für mich ist, wenn ich hier bin. Ich kann es jederzeit tun, auch für einen längeren Zeitraum, ohne irgendwelche bleibende Nachwirkungen. So, jetzt hab' ich deine Neugier befriedigt, wann befriedigst du meine?" Hermione lächelte ein bisschen. "Das kommt ganz drauf an. Bist du nur deshalb hier?" *** Draco dachte, dass sie sich absichtlich dumm stellte. Das sollte eigentlich nicht schwer sein. Er musste sie lediglich fragen, wo Rita war, und ihr sagen, dass er, wenn sie den Käfer nicht frei ließ, in einer Stunde mit ein paar Vollstreckungsbeamten vom Ministerium zurückkäme; dann müsste er nur noch warten, bis sie in Panik geriet, Rita befreien und sich darauf einrichten, Lucius' Lob und Dankbarkeit entgegenzunehmen. Sie brachte ihn jedes Mal auf die Palme, wenn sie sich so benahm. "Ach, red keinen Stuss, Hermione. Denk mal nach. Wen hast du in der Schule gekidnappt?" Er legte den Kopf auf die Seite und sah sie an, als ob er nicht glauben konnte, wie einfältig sie war. "Welchen Grund könnte Draco Malfoy von der Verlagsgruppe Tagesprophet 33
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
schon haben, um zu einem Muggel-Haus zu kommen, in dem unsere Starreporterin gegen ihren Willen festgehalten wird? Wo ist sie?" Hermiones Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen, das den Blick auf ihre jetzt viel besser aussehenden Zähne freigab. "Ach, Rita! Die hatte ich fast vergessen!" "Wenn du sie ohne Futter und Wasser in diesem Glas vergessen hast, dann werde ich dir das Leben zur Hölle machen." Gleich nachdem mein Vater damit fertig ist, mir das Leben zur Hölle zu machen. Jetzt lachte Hermione ihn aus. Er war so wütend auf sie, dass es ihm schwer fiel, seine Projektion aufrechtzuerhalten. Auch wenn er Hermione etwas anderes erzählt hatte, war es viel schwieriger, tagsüber zu Projizieren, auch wenn er von Malfoy Manor kam; seine Großmutter hatte irgendwann einmal gesagt, es hätte etwas mit den Sonnenflecken zu tun. Vielleicht war da etwas dran, aber er hatte festgestellt, dass es viel schwieriger war, die Projektion aufrechtzuerhalten, wenn er sich zu sehr aufregte. Egal, ob es Wut, Enttäuschung oder manchmal auch Überraschung war, wenn es zu plötzlich kam, konnte ihn das unvermittelt in seinen Körper zurückversetzen, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte. "Nein, das habe ich mit vergessen nicht gemeint. Ich meinte, ich hatte fast vergessen, dass ich sie mal hatte." Hermione schüttelte den Kopf, wobei ihr dichtes Haar hinter ihrem Kopf hin und her flog. Sie lachte noch immer. "Rita ist nicht hier, Draco. Ich hab' sie gestern in London freigelassen, gleich nachdem wir durch die Sperre gegangen sind. Sie hat gesagt, sie wollte zu Branfords Internationalem Badecenter in der Seezon Alley, um sich ein bisschen auszuruhen, zu entspannen und ein paar Mai Tais zu trinken. Ich glaube, sie mochte die Ausstattung in ihrem kleinen Glas nicht besonders." Hermione lächelte und fügte hinzu: "Ich vermute, dass du da noch im Zug warst?" Ihre Stimme klang plötzlich hart. "Da musst du die Nachwirkungen unserer Fluchübungsstunde ausgeschlafen haben. Was in aller Welt war nur in dich gefahren?" Seine Gedanken wirbelten durcheinander, und er hörte ihre Frage kaum. Rita war schon wieder in London? Er konnte sich denken, dass sie bereits wieder in der Redaktion war, was hieße, dass Lucius schon wusste, dass seine Mission gescheitert war. Zu blöd. Und bei einem Projekt zu scheitern, das er selbst vorgeschlagen hatte, würde bei Lucius eine gefährliche Reaktion auslösen. Total unfähig. Du warst so verdammt sicher, dass sie hier sein würde. Chaot. Nicht mal gedacht hast du an die Möglichkeit zu scheitern. Idiot. Armleuchter. Und du kannst Lucius noch nicht mal erklären, warum du gedacht hast, es würde genügen, Hermione einfach zu fragen, ob sie dir Rita übergibt - sie ist ein Schlammblut! Verrückt und schludrig war das. Wenn Lucius wüsste ... Wenn Rita auch nur irgendwas von dem gehört hat, was Hermione gesagt hat über ... Draco war nicht in der Lage, den Gedanken zu Ende zu denken, er war zu nervenaufreibend. Er hätte gestern Abend herkommen sollen, er hätte Hermione im Zug auffordern sollen, ihm Rita zu übergeben, er hätte ihre Adresse herausfinden sollen, ohne den ganzen Morgen bei der Zeitung zu vergeuden, er hätte so viel anderes tun sollen. Und jetzt sollte er diese Projektion lieber abbrechen und sich wieder nach London begeben um nachzusehen, ob Rita noch immer in Simon Branfords luxuriösem Erholungszentrum war, das sich im magischen Londoner Hafenviertel befand. Er kannte es gut, Narcissa hatte letzten Sommer jede Menge Zeit dort verbracht, und er hatte mehr als nur ein paar Stunden im öffentlichen Warteraum auf sie gewartet. Wenn Rita noch immer dort war, konnte er sein Projekt vielleicht noch retten. *** "Hermione, ich kann jetzt nicht reden. Ich hab' meinem Vater versprochen, dass ich Rita finden würde, und ..." "Schon gut, ich weiß. Aber wart mal!" Sie machte eine Bewegung, als wollte sie ihn an der Schulter packen, griff jedoch durch ihn hindurch, und ihr Pergament und ihre Schreibunterlage 34
Flüche bis zum Überdruss
5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
fielen auf den Boden. Sie richtete sich mit einer Ungeduld auf, die seinen eigenen Drang wegzurennen widerspiegelte, ließ ihre Sachen aber auf dem Boden liegen. "Ich will nicht, dass jemand sieht, wie du verschwindest. Komm rein, du musst dich nicht unnötig auffälliger verhalten, als du es sowieso schon tust." Obwohl Draco Muggel-Khakishorts, Mokassins und einen dunkelgrünen Pullover mit engem, rundem Halsausschnitt trug [Meine Beta-Leserin Cassie hat dazu geschrieben: Bitte geduldig warten, bis die Leserinnen mit dem Sabbern fertig sind ... na gut], sah er trotzdem nicht gerade wie die Jungs im Teenageralter aus, die in der Lakeview Lane wohnten und die normalerweise gammelige Flanellhemden anhatten; außerdem legte Hermione keinen Wert darauf, dass die Wichtigtuer in der Nachbarschaft sich den Mund über den süßen blonden Jungen zerrissen, den sie im Haus der Grangers gesehen hatten, während ihre Eltern bei der Arbeit waren. Sie drehte sich um und führte ihn ins Haus, wobei sie ihm die Tür aufmachte, obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre, und sagte: "Hier ist es sicher. Ich wünsche dir eine kurze Reise." Sie lächelte jetzt wieder, aber als sie wieder in den Garten ging, hielt sie sich die Hand vor den Kopf, so als ob sie Kopfschmerzen hätte. Kurz bevor Draco seine Projektion beendete, ergriff sie aber noch einmal fast zögernd das Wort. "Draco, ich weiß, dass ich dir diesmal nicht helfen konnte, aber ich hatte gehofft, diesen Sommer noch einmal ins Archiv des Malfoy-Flügels im Museum zu kommen, du weißt schon, in die Abteilung mit den privaten Artefakten und Miniaturen, aber ..." "Du kannst da ohne mich noch nicht rein. Alles klar." Er klang irgendwie verärgert, anscheinend wegen der Sache mit Rita. "Dabei reiße ich mir natürlich kein Bein aus, aber du hast mir im Hinblick auf Rita ja auch keinen Gefallen getan, oder?" "Warum sollte ich auch? Du hast es zugelassen, nein, ihr sogar dabei geholfen, im Frühjahr all diese grässlichen Dinge über mich zu schreiben, obwohl du wusstest, dass es nicht wahr war!" "Hermione, ich hab' schon gesagt, dass ich im Moment keine Zeit für diese Diskussion habe, und ich glaube nicht, dass ich mit dir zum mindestens zwanzigsten Mal über dasselbe Thema streiten möchte. Ich erwarte keine Entschuldigung dafür, dass du mich gestern behext hast, und ich habe nicht vor, mich für das zu entschuldigen, was der Prophet schreibt." Draco hielt inne, so als ob er erwartete, dass sie irgendetwas sagte, aber sie wollte nicht aussprechen, was er ihrer Meinung nach gern hören wollte. Er konnte nicht im Ernst erwarten, dass sie ihm verzieh, immerhin hatte er gestern angefangen, und es hörte sich so an, als ob ihm das klar wäre. Wollte er, dass Hermione zugab, wie sehr sie ein paar der Annehmlichkeiten brauchte, die er im Leben hatte, zum Beispiel Zugang zu bestimmten Archiven in der Bibliothek und den Museen in der Diagonallee, wo sie nach Herzenslust mit Büchern, Unterlagen und Artefakten herumspielen konnte? Diese Art der Befriedigung wollte sie seinem Ego nicht so ohne weiteres gönnen. Als sie schwieg, fuhr er fort: "Ich habe bis jetzt keinerlei Einfluss auf das, was sie schreiben, und das, was wir beide in der Öffentlichkeit miteinander tun oder worüber wir reden ist etwas, das ich nach wie vor von unseren Privatgesprächen trennen werde." Sein Mund verzog sich zu so etwas Ähnlichem wie einem Lächeln. "Wenn du es nicht so eilig hättest, würde ich gern noch mal darüber reden, weil ich immer noch denke, dass du die Dinge im falschen Licht siehst, aber da du mit deinem Vater klarkommen musst, kann das warten." Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und fügte hinzu: "Ich habe allerdings auch ein paar Druckmittel parat. Wenn du mich nicht ins Archiv lässt, dann hast du dich geschnitten, wenn du glaubst, dass unsere Arbeitsgruppe auch im nächsten Halbjahr noch existiert." Inzwischen war Draco ganz eindeutig ungeduldig. "Hermione, glaub mir im Moment einfach – es gibt da immer noch eine Menge Dinge, die du nicht verstehst." Hermione versuchte ihn zu unterbrechen, aber Draco fuhr fort: "Hör zu, ich schick' dir eine Eule mit einem Schreiben, in dem steht, dass du befugt bist, da reinzugehen. Ich bin für den größten Teil des Sommers in 35
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
Frankreich, also könnte ich dich sowieso nicht selbst reinlassen, aber ich bin irgendwann nächste Woche im Atrium, weil ich meine Hausaufgaben fertig machen muss, bevor wir wegfahren." "Und was willst du diesmal als Gegenleistung?", fragte Hermione und hoffte, dass es nichts Aufwändiges wäre. Sie hatte keine Lust, ihre kostbare Studienzeit noch einmal mit einer Arbeit für Professor Snape zu verbringen, vor allem, wenn Snape nie erfahren würde, dass sie und nicht Draco die fünf Pergamentrollen lange Zusammenfassung von einem von Newtons Traktaten geschrieben hatte. "Nur eine Liste, auf der alle Bücher stehen, die du für das Runen-Projekt benutzt hast. Schick sie mir einmal pro Woche in die Pyrenäen. Ich schicke dir meine Kontaktadresse mit dem Erlaubnisbrief, wenn du willst." Hermione fand, dass das nicht weiter schwierig war und ein "ziemlich gutes Geschäft", dann sah sie auf die Uhr. "Sieht so aus, als solltest du jetzt wirklich lieber gehen." Als Draco Hermione diesmal mit seiner körperlosen Hand zuwinkte, sagte er noch nicht einmal auf Wiedersehen und verschwand, ohne das schimmernde Nachleuchten einer Disapparition zu hinterlassen. *** "Also, das war zwar total unerwartet, aber trotzdem nicht unbedingt total unangenehm", sagte Hermione sich, als sie in den Garten zurückging und unterwegs ihre Sachen einsammelte. "Und nicht unbedingt etwas, was ich Harry schreiben kann, stimmt's?", fragte sie Crookshanks, der sich auf ihrem Stuhl niedergelassen hatte, während sie im Haus gewesen war. Er sah sie mit seinen scheinwerferartigen Augen an, und Hermione glaubte zu sehen, wie die Katze den Kopf schüttelte. Sie hob ihn hoch und setzte sich wieder auf ihren Stuhl, wobei sie ihr Pergament und ihren Stift in der einen Hand hielt, während sie ihre Schreibunterlage an die Stuhlbeine gelehnt hatte. Draco Malfoy. Sie wunderte sich immer noch darüber, dass sie sich mit ihm zwar kaum jemals über etwas unterhalten konnte, was nichts mit der Schule zu tun hatte, ohne dass daraus ein handfester Streit wurde, dass er aber in ihrer Klasse der beste Partner für Schulaufgaben und insbesondere für interessante Projekte war. Obwohl sie sich bemühte, ihre Beziehung auf die Schularbeiten zu beschränken, und trotz ihrer Übereinkunft, zu der sie in den beiden letzten Jahren gekommen waren, dass Privatunterhaltungen Privatkram waren und nichts mit dem zu tun hatten, was er in der Öffentlichkeit sagte oder tat, war er zu einem jener Menschen geworden, um die sie sich eine Menge Gedanken machte. Im ersten Jahr hatte sie ihn nur selten in der Bibliothek gesehen, selbst in den zwei Monaten vor Halloween, als sie all ihre Freizeit dort verbracht hatte, bevor sie sich mit Ron und Harry angefreundet hatte. Später war ihr dann aufgefallen, dass er in jenem Jahr nicht sehr intensiv gearbeitet hatte und nicht an ihre Art des Lernens gewöhnt war, weil er nie zuvor zur Schule gegangen und gemeinsam mit anderen Kindern unterrichtet worden war, da er immer Hauslehrer gehabt hatte. Draco hatte ihr irgendwann gestanden, dass er im ersten Jahr nur deshalb so gut abgeschnitten hatte, weil er sich viele der Zaubersprüche, Zauberformeln und Zaubertrankzutaten im Sommer zuvor eingeprägt hatte; vieles davon hatte er auch mit seinen Hauslehrern in dem Jahr gelernt, bevor sie nach Hogwarts gekommen waren. Zusammen mit seinen soliden Grundlagen in Geschichte der Magie hatte er damit rechnen können, Klassenbester zu sein, oder zumindest nur knapp hinter einigen der ehrgeizigeren Ravenclaws. Am Ende des zweiten Jahrs, als sie erfahren hatte, dass Lucius Malfoy etwas mit der Öffnung der Kammer des Schreckens zu tun gehabt hatte, war ihr der Verdacht gekommen, dass der Angriff auf sie vielleicht etwas damit zu haben könnte, dass Mr. Malfoy wollte, dass Draco Klassenbester war, und zwar in allen Fächern. Und das wäre viel einfacher zu bewerkstelligen, wenn Hermione nicht in der Nähe war. Und im zweiten Jahr hatte Draco gebüffelt. Hermione hatte von diesem Schuljahr eine Menge verpasst, erst, weil sie wegen ihres haarigen Gesichts auf 36
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
der Krankenstation gewesen war und dann wegen der Zeit, die sie versteinert gewesen war; im Oktober war ihr jedoch aufgefallen, dass Draco an jedem Abend, den sie in der Bibliothek verbrachte, ebenfalls dort war, manchmal derart hinter Bücherbergen verborgen, dass die anderen Schüler ihn kaum bemerkten. Trotzdem hatte sie in dem Jahr die meiste Zeit versucht ihn zu meiden. Das ging so weit, dass sie lieber andere Schüler, die aus Zaubererfamilien stammten, bat, sich für sie bei ihm ein Buch auszuleihen, das sie benötigte, als zu ihm zu gehen und ihn selbst danach zu fragen. Hermione konnte nicht verstehen, wie jemand, der so belesen war, so viele Vorurteile haben konnte. Sie war Klassenbeste, obwohl sie Muggel-geboren war – ganz offensichtlich war "Zaubererblut" keine Garantie für Überlegenheit in solchen Dingen wie hartes Arbeiten, Organisationstalent und Konzentrationsvermögen. Warum war er nur so stur und sah das nicht ein? Zu Beginn des dritten Schuljahrs, als Draco am ersten Tag in Hagrids Unterricht seinen Unfall hatte, war Hermione von Professor Falesprach angewiesen worden, ihre Notizen in Antiker Runenkunde mit einem Zauberspruch zu duplizieren und Draco die Kopie zu geben, bis er sich dazu herabgelassen hatte zuzugeben, dass er seinen Arm wieder gebrauchen konnte. So hatte alles angefangen. Eugene Reilly, einer ihrer Mitschüler, hatte sowohl Hermione als auch Draco gebeten, sich zu einer Arbeitsgruppe zu gesellen, die ansonsten nur aus Ravenclaws bestand. Offiziell hatten sie sich nur darauf geeinigt, ihre Notizen und Skizzen aus Antiker Runenkunde auszutauschen, aber als es Halloween wurde, arbeiteten sie jede Woche mehrere Abende lang zusammen und büffelten für Zaubertränke, Astronomie, Arithmantik und manchmal sogar für Verteidigung gegen die Schwarze Magie. Für Magische Kreaturen brauchten sie nie etwas zu wiederholen, und Hermione war die einzige in der Gruppe, die Wahrsagen und Muggelkunde belegt hatte. In jenem Herbst genoss Hermione die AG. Tief drinnen wusste sie, dass Ron und Harry ihre besten Freunde waren, und es hatte ihr in den letzten zwei Jahren nichts ausgemacht, mit ihnen zusammen zu lernen – oft genug tat sie das noch immer -, aber das akademische Niveau dieser kleinen Gruppe war irgendwie befriedigend für sie. Sie genoss es, mit ihren Klassenkameraden über besonders schwierige Aufgaben zu diskutieren, mit ihnen zusammen nach Anhaltspunkten zu suchen, wie man einen Runentext übersetzen konnte oder hinter die Theorie zu kommen, die sich hinter einer Zauberformel verbarg, oder aber mit den anderen um die Wette an einer Transfigurationsaufgabe zu tüfteln. Und die meiste Zeit hatte Draco es in dieser Gruppe fertig gebracht, sich wie ein einigermaßen normaler Zauberer zu benehmen. Er war immer noch etwas streitsüchtig und gab nie zu, dass eine seiner Antworten auf eine Frage falsch sein könnte, auch wenn es für die anderen glasklar war, dass er Unrecht hatte, aber seine Sprachbegabung war ein Segen für alle, so dass sie seine gelegentlichen Anfälle von Bockigkeit tolerierten, genauso wie sie Hermiones Schmollen tolerierten, wenn die Sprache auf Dinge kam, die Leute aus Zaubererfamilien automatisch wussten, wohingegen sie sie nur aus Büchern kannte. In jenem Herbst hatte sie auch etwas mehr über Draco erfahren. Eines Novemberabends fand sie zwischen seinen Pergamentrollen mit Notizen, die sie für sich selbst dupliziert hatte, einen Brief an seinen Vater, den sie nicht bemerkt hatte, bis sie an dem Abend wieder in ihrem Schlafsaal war. Als Hermione merkte, worum es sich dabei handelte, wollte sie ihn gleich vernichten, aber irgendetwas brachte sie dazu, jedes Wort zu lesen, und aus Gründen, die sie selbst nie begreifen konnte, hatte sie ihn bis heute hinten in ihrem Schrank aufbewahrt. Lieber Vater, wenn heute Dienstag ist, dann hatten wir Antike Runenkunde, Verteidigung gegen die Schwarze Magie und Herbologie. In Runenkunde haben wir noch immer an der keltischen Übersetzung gearbeitet. Danke für das Buch – es ist am Samstag angekommen, und wie du es verlangt hast, lege ich eine Rolle mit der Zusammenfassung der Theorien des Autors über Spiegelschriftübersetzungen bei. Außerdem findest du anbei eine Rolle mit den Antworten auf die Fragen des Nachrichtenquiz von diesem Wochenende und die Lösung des Kreuzworträtsels, das 37
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
nächste Woche im Propheten erscheint. Ich pflichte dir in allem bei, was du im Editorial gesagt hast, es gibt viel zu viele Zauberer, die bereit sind, Muggelapparate zu benutzen oder zu verändern, und dabei ist das völlig unnötig, weil die Magie allen Muggeldingen überlegen ist. Professor Lupin will nicht, dass wir die Aufsätze über Werwölfe bei ihm abgeben, die Professor Snape uns aufgegeben hat, aber vielen Dank, dass du meinen korrigiert hast, den ich dir geschickt hatte. In Herbologie haben wir uns wieder die ganze Stunde lang mit Nachtschatten beschäftigt. Ich habe einen großen Teil des Nachmittags mit Quidditchtraining verbracht. Meine beste Zeit, den Snitch zu fangen, waren drei Minuten und achtzehn Sekunden, und die schlechteste sechsundfünfzig Minuten. Der Mannschaftskapitän hat mich gebeten dir zu sagen, dass er deinen Brief bekommen hat; er hat deine Bitte erfüllt, meine Geschwindigkeit auf dem Nimbus zu verbessern, indem er meinen Teller behext, so dass ich keine stärkehaltigen Sachen oder Süßigkeiten drauf tun kann. Er meint, dass ich bis zum nächsten Spiel ungefähr drei Kilo abgenommen haben könnte und hofft, dass das hilft. Er findet auch, dass es mir helfen würde, den Snitch besser zu fangen, wenn ich meine Arme trainiere, vor allem jetzt, wo die Verbände ab sind. Er hat mich nach dem Training an den Quidditchtoren Klimmzüge machen lassen, bevor ich wieder zum Lernen ins Schloss gegangen bin. Ich muss dir allerdings mitteilen, dass meine Schlafsaalgenossen die Kuchen von Mrs. Quimbly vermissen werden – wenn ich mich an deine Vorgaben halte, darf sie ihnen dann nächste Woche ein paar davon schicken? Ich verspreche auch, dass ich nichts davon essen werde. Was ich seit meinem letzten Brief gestern sonst noch alles verbrochen habe: 1. Ich habe Crabbe angebrüllt, als er mich gefragt hat, ob ich ihm bei den Hausaufgaben in Zauberformeln helfen könnte (mach dir keine Gedanken über meine Bestrafung dafür, er hat mich schon auf die Nase gehauen); 2. Ich habe nicht aufgepasst, was der Lehrer heute im Unterricht zu Weasley gesagt hat, weil ich zu sehr in meine eigene Aufgabe vertieft war, so dass ich dir keinen ordentlichen Bericht darüber erstatten kann; 3. Pansy hat mich zwei- von dreimal beim Explodierenden Mau Mau geschlagen – es tut mir so Leid, Vater, dass ich verloren habe. Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist und dass ich Schande über die Familie gebracht habe, weil ich sie nicht besiegt habe. Nächstes Mal werde ich es besser machen. Ich habe abends Projizieren geübt und berichte dir alles, was ich gelernt habe, wenn wir uns das nächste Mal sehen. Letzte Nacht habe ich fast sechs Stunden geschlafen, ich probiere aber das Experiment aus, das du vorgeschlagen hast und reduziere meinen Schlaf alle zwei Tage um drei Minuten, bis ich dein erstaunliches tägliches Minimum erreicht habe. Die Treffen unserer Arbeitsgruppe sind sehr ergiebig. Die Ravenclaws und ich profitieren gut voneinander, aber ich befolge deine Anweisungen und werde versuchen, mehr Nutzen daraus zu schlagen als sie, obwohl ich nicht sicher bin, dass das einfach werden wird, weil ich beim Übersetzen besser bin als die anderen. Wie du sagst, manchmal ist es nicht leicht, sich zu beherrschen. Ich lege dir die Entwürfe der drei Aufsätze für nächste Woche bei und warte auf deine Verbesserungsvorschläge. Es ist bekannt gegeben worden, dass wir an Halloween die Erlaubnis haben werden, Hogsmeade zu besuchen. Wie du wünschst, plane ich ein, den Nachmittag mit dir zu verbringen und treffe dich im Gasthof, sobald ich mich absetzen kann. Ich erwarte nicht, dass du mir sagst, auf welchen Test oder welche Bestrafung ich mich vorbereiten sollte, aber ich weiß, dass du fair sein wirst. Das bist du immer, ich bin derjenige, der alles verkehrt macht, und das tut mir Leid. Ich werde härter arbeiten, um besser in der Schule und beim Quidditch zu werden und meine Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen. Natürlich werde ich dir morgen wieder schreiben. Irgendetwas an diesem Brief hatte Hermione mit großer Traurigkeit erfüllt. Seit Harry ihr von dem Gespräch zwischen Draco und seinem Vater erzählt hatte, das er im Sommer vor dem zweiten Schuljahr belauscht hatte, wusste sie, dass er unter großem Druck stand, in der Schule gut abzuschneiden, aber dieser Brief ließ durchblicken, dass Lucius Malfoy jedes noch so kleine 38
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
Detail in Dracos Leben kannte, selbst wenn er in der Schule und sein Vater Hunderte von Meilen entfernt war; anscheinend kontrollierte er alles, was Draco tat, einschließlich seiner Schulaufgaben und selbst dessen, was er aß. Draco, der in die Luft ging, wenn jemand aus einer der AGs eine Bemerkung über seinen Stundenplan oder seine Aufsätze machte, war seinem Vater entweder hörig oder lebte in ständiger Angst vor ihm. Natürlich konnte sie Draco das nicht sagen. Das wollte sie eigentlich auch gar nicht. In ihrem Leben gab es schon genug emotional vernachlässigte Jungen, mit denen sie wirklich gern zusammen war – warum sollte sie sich also auch noch Gedanken um jemanden machen, der sich ganz eindeutig keinen Knut um sie scherte? Es war ganz einfach, ihre Sorgen um Draco ganz hinten in ihren Gedanken zu vergraben. Wegen ihres Zeit-Umkehrers war ihr Stundenplan so voll, dass sie sich nicht mal Zeit nehmen konnte, sich über sich selbst Gedanken zu machen! Ungefähr zu der Zeit, als alle aus den Weihnachtsferien zurückkehrten, fühlte sie, wie ihre Freundschaft mit Ron und Harry in die Brüche ging, hauptsächlich wegen ihrer Besorgnis um Harrys neuen Feuerblitz, und als die Zeit verging, merkte sie, wie ihr das langsam aufs Gemüt schlug. Der Schulstress, das Geheimnis um den Zeit-Umkehrer und ihre Nervosität wegen Sirius Black, die sie nicht zugeben wollte, ließen sie die meiste Zeit des Tages gereizt erscheinen. Obwohl sie an den meisten Abenden mit Hilfe ihres Zeit-Umkehrers noch immer im Gemeinschaftsraum lernte, verbrachte sie mehr und mehr Stunden in der Bibliothek, und sie bemerkte kaum, dass sie jede Woche mehr als ein Dutzend davon Schulter an Schulter mit Draco Malfoy verbrachte, in denen sie Zauberbücher durchackerten, ihre Notizen miteinander verglichen und überprüften und sogar gegenseitig ihre Aufsätze korrigierten. Irgendwann fingen sie schließlich an, sich wirklich unterhalten. Trotz ihres übervollen Stundenplans gab Hermione sich Mühe Zeit zu finden, zum Vergnügen zu lesen, und Draco, der fast täglich Bücher aus dem Verlag seiner Familie erhielt, war sowohl eine fantastische Quelle für magische Versionen von Muggelbüchern, die sie früher gelesen hatte, als auch für Romane und Sachbücher von bekannten Hexen und Zauberern. Hermione war verblüfft, wie leicht es ihm fiel, sich ganze Absätze aus den Büchern zu merken, die sein Vater ihm schickte, und das erste Mal, als sie sich privat unterhalten hatten, hatte er ihr von den Buchreportagen erzählt, die er jede Woche für seinen Vater schrieb. "Er möchte, dass ich im Hinblick auf aktuelle Geschehnisse auf dem Laufenden bin, also lese ich ein Buch über politische und soziale Kommentare und mindestens einen unserer Bestseller. Er sagt, dass ich dadurch ein Gefühl dafür entwickle, was normale Zauberer und Hexen gerne lesen", hatte Draco gesagt. "Und wenn ich ihn treffe, stellt er mir Fragen über das, was ich seit unserem letzten Treffen gelesen habe." "Was passiert, wenn du dich nicht an alles erinnern kannst?", hatte sie gefragt. Er hatte ihre Frage nicht beantwortet, sondern nur vorgeschlagen, sich wieder um den theoretischen Aufsatz in Transfiguration zu kümmern, den sie in der nächsten Woche würden abgeben müssen. Im Januar hatte Professor Falesprach die Klasse in Gruppen aufgeteilt, von denen jede einen anderen Teil eines Runentextes bearbeiten, übersetzen und moderne Quellen ausfindig machen sollte, die mit den antiken Passagen übereinstimmten, und hatte ihr Draco als Partner zugewiesen. Selbst mit ihren voll gepackten Stundenplänen mussten sie oft kurze Pausen machen, aber da das Wetter draußen zu schlecht war und sie sich in gegenseitigem Einverständnis geeinigt hatten, dass es zu zeitaufwändig wäre, die Bibliothek zu verlassen und sich im Großen Saal etwas zu essen zu holen, gab es in diesen Pausen immer nur Sachen aus Dracos Carepaketen, normalerweise Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen (von denen einer der Küchenchefs der Malfoys diejenigen mit schlechtem Geschmack bereits aussortiert hatte) oder Zippys Energiehappen mit brandneuen Fröhlichkeits-Zaubern, und Mitte des Monats eine singende Geburtstagstorte von seiner Großmutter, auf der ein Jäger war, der die Schokofrösche jagte, die Hermione ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Rons und Harrys Gesellschaft beraubt, fand Hermione sich dabei wieder, wie sie sich bei Draco über die Art beklagte, in der die beiden sie für die Konfiszierung des Feuerblitzes verant39
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
wortlich machten, und darüber, dass sie nicht verstanden, wie wichtig ihr Stundenplan und ihre Arbeit waren, und während sie an einem Aufsatz für Professor Lupins Stunde arbeitete, murmelte sie in den Bart, wie liebend gern sie eine Horde Boggarts auf Ron und Harry hetzen würde, damit sie eine Weile mit Spinnen und Dementoren verbringen konnten. Draco war nie besonders verständnisvoll und hatte natürlich nie irgendwelche guten Ideen, was sie tun konnte, um mit ihren Freunden wieder auf gutem Fuß zu stehen, aber zu jener Zeit war es einfach wohltuend gewesen, jemanden zu haben, der ihr zuhörte. Nach dem Match zwischen Gryffindor und Ravenclaw im Februar hatte Hermione jedoch keine Lust mehr, mit Draco zusammen zu lernen, und schon gar nicht, ihm irgendwelche persönlichen Dinge anzuvertrauen. *** Am Sonntag nach dem Quidditch-Spiel, als sie ihn zum ersten Mal in der Bibliothek wiedersah, wäre sie am liebsten zu ihm gegangen um ihn anzuschreien, aber unter den Argusaugen von Madam Pinch konnte sie ihm lediglich eiskalt etwas ins Ohr flüstern, als sie in ihrer üblichen Ecke neben ihm stand. "Was zum Teufel hast du dir bei diesem Stunt während des Spiels gedacht? Du hättest Harry umbringen können! Oder dich selber, um es mal deutlich zu sagen!" Sie hielt inne, und dann sagte sie ihm das, was ihrer Meinung nach vermutlich das Letzte sein würde, was sie je zu ihm sagte: "Wir sind durch. Am Dienstag werde ich in Runenkunde nach einem neuen Partner für die Übersetzungen fragen. Ich hab' dich einfach zu satt, um noch weiter mit dir zusammenzuarbeiten." Draco war total platt. "Ich dachte, du wärst sauer auf ihn. Wochenlang hast du immer nur gesagt ..." - wobei er von seiner üblichen gedehnten Sprechweise zu einer unheimlichen Imitation von Hermiones weinerlichem Ton wechselte, den sie an sich gehabt hatte, wenn sie über ihre Freunde geredet hatte – "Harry ist ein Blödmann und Ron ist total unfair, ich hab' gar nichts getan, und trotzdem sind sie so furchtbar gemein zu mir. Du wolltest doch die Dementoren auf ihn hetzen, jedenfalls hast du das gesagt, oder?" "Ja, schon, aber ich wollte doch nicht ...", begann Hermione. "Das war deine Idee, zumindest ursprünglich", fuhr Draco fort. "Wir hatten unsere Zauberstäbe dabei, und wenn er runtergefallen wäre, dann hätte ich ihn mit einem Wingardium Leviosa aufgefangen, genau wie Dumbledore es beim Match gegen Hufflepuff gemacht hat. Ich wollte ihm nur eine Lektion erteilen." "Eine Lektion?" Hermione fühlte sich nicht in der Lage, mehr als zwei Worte auf einmal zu denken. Ihre Schuld? Ihre Idee? Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass Draco ihr Gemecker ernst nehmen würde, und als sie ihn auf dem Quidditch-Feld im Dementor-Outfit gesehen hatte, war sie vom Schlimmsten ausgegangen, das war schließlich die offensichtlichste Erklärung. "Klar, ihm beibringen, dass er nicht voraussetzen kann, dass alle immer nur das Schlechteste im Sinn haben bei dem, was sie tun. Du bist doch zu McGonagall gegangen, weil du dir wegen dem Besen Sorgen gemacht hast, oder?" Hermione nickte. "Und du hattest einen guten Grund zu befürchten, dass der Besen von Sirius Black kam – mein Vater glaubt, dass es ganz einfach für einen schwarzen Magier wie ihn wäre, an einen Feuerblitz zu kommen, ohne höchstpersönlich bei Qualitätszubehör für Quidditchspieler zu erscheinen und ihn zu bezahlen." "Du hast deinem Vater erzählt, was ich gesagt habe?" "Ich erzähle ihm fast alles", sagte Draco und blinzelte. "Ich hab' ihm aber nicht gesagt, um wen es dabei ging. Er weiß nämlich nicht, dass wir ... äh ... zusammen lernen." Jetzt blinzelte Hermione verwirrt. "Warum nicht?" Dieses Gespräch schweifte zu weit vom Thema ab. "Er kann dich irgendwie nicht leiden." "Weil ich Muggel-geboren bin, stimmt's? Ich geh' jetzt." 40
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
"Nein, wenn es irgendjemand anders wäre, dann könnte ich es erklären – von wegen Unterrichtsprojekte und die Vorteile von Gruppenarbeit und so weiter –, er würde das verstehen und nichts dagegen haben, dass ich mit einem Schlammblut arbeite, sofern ich daraus irgendwie Profit schlagen kann." Hermione zuckte bei dem verhassten Schimpfwort zusammen. "Nein, er hat was gegen dich persönlich." Dracos Stimme wurde ganz leise, und er legte den Kopf in die Hände. "Weil du immer besser bist als ich, ganz egal, wie viel ich büffele oder wie oft wir meine Aufsätze korrigieren, auch wenn ich weniger schlafe, damit ich ein Kapitel noch einmal lesen kann, immer bin ich nur Zweiter nach dir, außer in Zaubertränke, aber wir wissen beide, dass der einzige Grund dafür darin besteht, dass Snape niemals einen Gryffindor Klassenbesten sein lassen würde. Das macht ihn fuchsteufelswild. Und ich vermute, das ist einer der Gründe dafür, warum ich das gestern gemacht habe." Hermione ließ sich neben Draco auf den Stuhl mit der geraden Lehne nieder und legte ihm die Hand auf die Schulter. Ein Stimmchen in ihrem Hinterkopf schrie ihr zu: "Er sollte sich bei Harry entschuldigen, er hat versucht ihn zu verletzen, er will sich nur rausreden, er versucht, dir die Schuld in die Schuhe zu schieben, er hat Unrecht, er sollte dir nicht Leid tun ..." Doch sie ignorierte es und sagte: "Hör mal Draco, ich werde bei Prüfungen keine falschen Antworten geben oder absichtlich Fehler in meinen Aufsätzen machen, um deinen Vater glücklich zu machen. Wieso genügt es nicht, dass du intelligent bist, ein guter Quidditchspieler und dass in Slytherin alle zu dir aufsehen ..." "Das machen die nur, weil ich reich und mächtig bin. Nicht, weil ich so ein toller, geistreicher Typ bin", fügte er fast schon sarkastisch hinzu. "Aber das ist mir egal. Ich tue, was ich tun muss, um den Erwartungen meiner Familie gerecht zu werden, vor allem denen meines Vaters. Er ist so klug, alle bewundern ihn, und er weiß, was für mich am besten ist. Das sagt er mir die ganze Zeit, ich schulde es ihm und meiner Familie einfach, das zu erreichen, was sie sich für mich vorstellen, selbst wenn ich das dadurch tun muss, dass ich dir sage, dass ich Potter und allen anderen erzähle, dass wir die Dementor-Nummer deinetwegen abgezogen haben, wenn du mich in diesem Halbjahr nicht bei ein paar Projekten Erster sein lässt. Ich hab' nämlich keine Wahl, ich muss dich fragen, ob du das tust." Seine grauen Augen waren eiskalt, als er sie ansah, und in seiner Stimme schwang ein Anflug von Verzweiflung mit. Er bedrohte sie tatsächlich und versuchte sie dahingehend zu erpressen, dass sie bei ihren Aufgaben Fehler machte. "Als ob du das jemals tun würdest!", rief sie total entsetzt. "Das nennt man schummeln, das ist dasselbe, wie Prüfungsaufgaben zu klauen! Machst du das jetzt etwa auch?" "Das ist weder das eine noch das andere, sondern lediglich ein Tausch. Ein fairer noch dazu, von dem wir beide profitieren. Du kannst weiter dein Geheimnis hüten, und ich habe die Möglichkeit, in ein oder zwei Fächern Klassenbester zu werden. Bist du sicher, dass du es nicht tun willst?" "Natürlich bin ich sicher! Ich hab' gesagt, dass ich gehe, und das tue ich jetzt." Ihre Stimme war lauter, als es in der Bibliothek erlaubt war, aber sie sah Madam Pinces strafenden Blick nicht einmal, als sie aufstand und sich anschickte zu gehen. Als sie durch die Regale ging, hörte sie, wie Draco Selbstgespräche führte und blieb außer Sichtweite stehen, um zu lauschen. "Scheiße. Ich wusste, was sie sagen würde, aber Lucius hat gesagt, 'nein, frag sie, das bist du der Familienehre schuldig'." Hermione hätte fast einen Seufzer losgelassen. Sie drehte sich um und ging zu seinem Tisch zurück, wo er sich bereits wieder der Arbeit an einem Schaubild für einen Grübel-Trank zugewandt hatte. Warum litten nur alle Jungen, die sie kannte, unter so einem geisteskranken Urteilsvermögen? Ron und Harry waren immer bereit, alles zu ignorieren, was Erwachsene zu wichtigen Dingen zu sagen hatten, zum Beispiel über Dinge, die für Harry lebensbedrohlich waren; Draco hingegen war das ganze Gegenteil davon, er folgte blind den Anweisungen und Schlussfolgerungen seines Vaters, so als sei er unfähig, selbst zu denken. Seine Absichten waren jedoch nicht
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nur schlecht, und sie würde es nicht ertragen können, wenn Ron oder Harry sie für Dracos Streich verantwortlich machten, vielleicht wäre es also besser, wenn ... "Wie viele Punkte hat die Nummer auf dem Quidditch-Feld dich gekostet?" Draco blickte auf, als er ihre Stimme hörte. "Fünfzig, wieso?" "Und was hast du als Strafarbeit aufgebrummt gekriegt?" "Wir jäten heute von zwei Uhr nachmittags bis zum Abendessen auf dem Spielfeld Unkraut, zaubern ist dabei nicht erlaubt." "Ich denke, das genügt. Ich verzeih dir, was du mit Harry gemacht hast. Er ist nicht verletzt, du bist in Schwierigkeiten, und außerdem reden er und Ron sowieso nicht mit mir." Draco machte große Augen und murmelte: "Und die AG?" "Ich bleibe vorerst, aber wenn du je versuchst, jemandem noch mal so wehzutun, ganz egal, ob es nur ein Streich sein soll und ob du dir einen tollen Plan zu seiner Rettung ausgedacht hast, dann seid ihr mich los." "Ich wusste, dass du mich brauchst", antwortete er und grinste selbstgefällig. "Und tu nicht immer alles, was dein Vater sagt, nur weil er es gesagt hat – das ist blöd und unreif." Das selbstgefällige Grinsen verschwand aus seinem Gesicht, und er sah wieder todernst aus. "Davon hast du nicht die geringste Ahnung, und wir haben jetzt keine Zeit, um darüber zu reden. Wir haben heute morgen viel zu viel Zeit verschwendet, und wir haben eine Menge zu tun. "Hast du schon irgendwas an dem Alpha Centauri-Schaubild gemacht?", fragte er und legte eine Pergamentrolle zwischen sie, als ob das Thema damit beendet wäre. *** Und das war es auch. Seit jenem Nachmittag lenkte Draco das Gespräch sofort wieder auf Schularbeiten, Lehrer oder Schulnoten, wenn Hermione auf Familie, Eltern im Allgemeinen oder Lucius Malfoy im Besonderen zu sprechen kam. Er bat sie nie wieder, einen Test zu vermasseln, aber er zitierte seinen Vater nach wie vor ostentativ als Autorität auf fast jedem Gebiet, was sie ausgesprochen unangenehm und lästig fand, ganz zu schweigen davon, dass vieles davon gar nicht stimmte. Sie machte nur einmal den Versuch, Draco darauf aufmerksam zu machen und zeigte ihm ein dickes Buch über einen maurischen Zauberspruch, in dem ein Schachbrett vorkam, aber er behauptete steif und fest, dass sie das, was in dem Buch stand, aus dem Zusammenhang riss und stopfte seine Bücher, Pergamentrollen und Federn in seine Tasche und stürmte davon, um ins Bett zu gehen; als er das nächste Mal bei der AG erschien, erwähnte niemand seine kleine Szene. Als sie sich im Frühjahr die Zeit nahm, statt zu lernen Rechtsfälle zu recherchieren, in denen ein Hippogryph unter Anklage gestanden hatte, und nach Texten suchte, die Hagrid für Buckbeaks Verteidigung verwenden konnte, ignorierte er sie ostentativ. An dem Dienstag bevor Hagrid sich nach London zur Verhandlung begab, unterhielt er sich so laut mit Reilly, dass sie es nicht überhören konnte: "Es ist mir egal, was sie behauptet, er ist gefährlich. Ich habe ehrlich nichts Besonderes gemacht, er hat mich einfach angegriffen. Es gibt wirklich keinen Grund dafür, warum Schüler sich mit solchen Biestern abgeben sollen, und schon gar nicht am ersten Schultag." Der Ravenclaw-Junge nickte, als Draco fortfuhr: "Es war ein Zeichen für mangelhaftes Urteilsvermögen, nur deshalb haben sie dran gedacht, Hagrid rauszuschmeißen. Und was diesen Hippogryph angeht, ist die Verhandlung und Hinrichtung nichts anderes als das, was wir tun, wenn eins unserer Pegasus-Ponys verrückt spielt. Zur Sicherheit aller – Zauberer, Hexe, Tier und sogar Muggel – werden sie eingeschläfert. Es ist blöd, zu sehr an einem Tier zu hängen, man weiß ja nie, was sie als Nächstes tun werden oder was ihnen passieren wird." Sie hatte nichts dazu gesagt, obwohl er sie ganz klar auf die Palme bringen und von ihrer Aufgabe ablenken wollte, es stärkte lediglich ihren Entschluss, irgendetwas zu finden, um Buckbeak zu retten und Draco zu zeigen, dass Strafe nicht unbedingt so extrem ausfallen musste. 42
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Allerdings war sie durchaus abgelenkt, als Draco sich zu ihr umdrehte und fragte: "Hermione, willst du am Samstagmorgen mit mir nach Hogsmeade gehen?" Hermione blickte total erschrocken von Linsenmayers Strafrecht & Magische Kreaturen, Band 2 (H bis O) auf. "Ich treffe mich um eins mit Crabbe und Goyle, aber morgens habe ich noch nichts vor, und ich nehme an, dass du in Anbetracht dessen, wie Potter und Weasley dich letzte Woche in Zaubertränke ignoriert haben, nicht mit ihnen hingehst." "Hm." "Du musst nicht ja sagen, ich bin sicher, du hast eine Menge anderer Dinge zu tun." Hermione bemerkte, dass Eugene, Miranda und Viola in ihrer Arbeit innehielten, um sie zu beobachten, wobei ihre Köpfe sich drehten, so als ob sie ein Tennismatch verfolgten. "Hm", sagte sie wieder. "Na gut, vergiss, dass ich gefragt habe, es ist nur ..." "Äh, nein ..." "Alles klar, das hatte ich erwartet." "Nein, ich meine nicht, dass ich nicht hingehe. Ich meine, nein, vergiss es nicht. Ich gehe ganz bestimmt mit dir, wenn du versprichst, dass wir nicht über Hagrids Verhandlung reden müssen." "Kein Problem. Wir nehmen ein paar Bücher mit – nichts, was mit der Schule zu tun hat – sitzen in den Drei Besen und hören den ganzen Vormittag dem KASTEN zu." Der KASTEN war, wie Draco beschrieb, ein magisches Gerät, das wie ein altmodisches Muggelradio aussah; er war groß und bestand aus Holz, und man konnte sich von ihm jedes Lied wünschen, das je von einer Hexe, einem Zauberer oder sonst einer magischen Kreatur gesungen oder gespielt worden war. Hermione konnte sich von ihrem vorigen Besuch im Pub nicht daran erinnern, aber das lag wahrscheinlich daran, dass sie so beschäftigt damit gewesen war, Herrn Minister Fudge, Hagrid, Professor McGonagall und Professor Flitwick zu belauschen, als sie sich über Sirius Black unterhielten. Als der Plan gefasst war, legte Hermione das Buch von Linsenmayer weg, und sie wandten sich alle fünf wieder den Arithmantikaufgaben jener Woche zu. Obwohl sie sich auf ihre Schularbeit konzentrierte, warf sie Draco, der sich auf die andere Seite des Tisches gesetzt hatte, um sich ein schweres Buch mit Miranda zu teilen, immer wieder kurze Blicke zu. Sie glaubte nicht, dass er bemerkte, wie sie ihn beobachtete und über seine Einladung nachdachte. Warum hatte er sie gefragt? Warum hatte er es vor allen anderen getan? Und was würden die Leute sagen, wenn sie Draco Malfoy und Hermione Granger zusammen durch Hogsmeade gehen oder stundenlang im Pub sitzen sahen? Ihre Verwirrung über seine Einladung hielt den ganzen Abend in der AG und noch die ganze Woche danach an. Ein Besuch bei Hagrid lenkte sie von ihren Plänen für das kommende Wochenende ab, als sie mehrere Stunden damit verbrachten, die Notizen durchzugehen, die sie für seine Verhandlung vorbereitet hatte. Hermione hatte irgendwie Schuldgefühle, weil sie den Vormittag von Buckbeaks Verhandlung in der Gesellschaft des Jungen verbrachte, der die ganzen Schwierigkeiten verursacht hatte, und versuchte sich einzureden, dass es nicht Dracos Schuld sei, wenn die Verhandlung stattfand, sondern Lucius Malfoys. Am Freitag schob Draco ihr in Zaubertränke einen Zettel zu, auf dem nur stand: "Triff mich um halb zehn bei der Steinbank links neben der Eingangstür, es sei denn, es regnet. Dann treffen wir uns in der Eingangshalle." Als sie am Samstagmorgen mit allen anderen zum Frühstück ging, erhaschte sie über Harrys Kopf hinweg seinen Blick und lächelte ihm kurz zu, und er lächelte augenzwinkernd zurück. Als sie scherzhaft finster zurückstarrte, traf ihr Blick sich mit Harrys, und sie sah, wie sein dunkler Kopf sich Ron zuwandte. Von dort, wo sie stand, konnte sie sein Flüstern kaum verstehen, aber sie glaubte die Worte "Streich" und "bucklige Hexe" gehört zu haben. Trotz allem, was sie ihnen tags zuvor gesagt hatte, wollte sich Harry anscheinend immer noch nach Hogsmeade schleichen. Na gut, falls die beiden sie brauchen sollten, war sie in der Nähe, aber sie hatte nicht vor, ihnen das zu sagen. Während sie mit Neville am anderen Ende des Gryffindor-Tisches saß, sah sie 43
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
immer wieder an Harry vorbei zu Draco, der am Slytherin-Tisch Scones 1mit Erdbeermarmelade herumreichte, und bemerkte, dass Harry stur in eine andere Richtung blickte. Als sie sah, dass Draco vom Tisch aufstand, verließ sie den Speisesaal ebenfalls und lief in der Eingangshalle an Ron und Harry vorbei, als Harry zur Marmortreppe ging und sich von Ron verabschiedete. Als sie zu einer der Bänke ging, sah sie unten an der Treppe vor dem Eingang durch die Tür hindurch Dracos blonden Kopf und seinen dunkelblauen Umhang – einen Fleck aus scharf voneinander abgegrenztem Hell und Dunkel. Als sie näher kam, stand er auf und ließ nicht zu, dass sie stehen blieb, sondern lief neben ihr auf dem Pfad nach Hogsmeade entlang. Ungefähr 150 Meter vor sich konnte sie Ron erkennen, er drehte sich jedoch nie nach ihr um und bemerkte sie nicht. Sie gingen durchs Tor und rannten an den Dementoren vorbei, genau wie Hermione es im letzten Halbjahr gemacht hatte, als sie mit Ron in Hogsmeade gewesen war. Draco rannte mit zugekniffenen Augen, und als sie weit genug weg waren, um wieder ein normales Tempo anzuschlagen, war er bleicher als sonst. "Was fühlst du, wenn sie in deiner Nähe sind?", fragte Hermione, der einfiel, was Fred und George über Dracos Reaktion auf die Dementoren im Zug gesagt hatten. "Meine Eltern", antwortete er in demselben heiseren Ton, den Harry an sich hatte, wenn er über die Dementoren sprach. Das war allerdings merkwürdig – Harry hatte einen guten Grund so zu klingen, aber was konnte Draco schon so Schreckliches sehen? Hermione lenkte das Gespräch auf angenehmere Themen. Auf dem Weg unterhielten sie sich über das schöne, windige Wetter, über das, was sie in den Osterferien vorhatten (Hermione würde in der Schule bleiben um zu lernen, und Draco fuhr für ein paar Tage nach Hause, würde aber Mitte der Woche zum Quidditchtraining zurücksein), und über Hermiones unerbittlichen Entschluss, nicht Slytherin, sondern Gryffindor zu unterstützen, obwohl Harry offensichtlich sauer auf sie war. "Es ist mein Haus, und ich fühle mich nicht wohl dabei, wenn ich hoffe, dass du den Snitch vor Harry fängst. Seinem Haus treu zu sein ist doch wichtig, oder?" "Sicher, aber gönn meinem Ego doch auch mal was. Wenn's sein muss, hoff einfach, dass ich den Snitch fange, wenn Gryffindor mit 60 Punkten in Führung liegt. Ich wäre mit dem Ergebnis zwar nicht ganz zufrieden, aber mein Vater, oder wenigstens wäre er nicht nur auf mich sauer." "Das kann ich nicht!", lachte Hermione, als sie den Pub erreichten und Draco die Tür öffnete. Der Wind fegte sie förmlich hinein, und es sah drinnen ganz anders aus beim letzten Mal. Wo vorher Weihnachtsbäume und eine Menora gestanden hatten, die während des acht Tage währenden jüdischen Chanukkafestes gebrannt hatte, sowie acht winzige Plüschrentiere, die unter der Decke herumgeflogen waren, war nun ein fast leerer Raum mit gemütlich aussehenden Sofas, Sesseln und Ottomanen, auf denen sich Brettspiele stapelten, und mit einem Couchtisch hier und da, der in der Mitte eine Vertiefung hatte, aus der Flammen schlugen. "Wozu ist das?", fragte Hermione. "Um Marshmallows zu rösten. Du kannst dir eine Schüssel voll bringen lassen und sie mit deinem Zauberstab über die Flammen halten, bis sie rundherum braun sind, oder, wenn du sie lieber so magst wie ich, darauf warten, bis sie außen ganz schwarz und verschrumpelt und innen klebrig und zäh sind." Draco machte ihr die Zauberstabbewegungen vor, mit denen man den Leckerbissen herstellte, und fügte hinzu: "Du musst sie nicht mal anfassen, wenn sie gar sind, du kannst sie direkt in deinen Mund dirigieren." Bei diesen Worten streckte er die Hand aus, um Hermiones Unterlippe zu berühren. Die unerwartete Berührung ließ sie zusammenzucken, und als sie die Lippen öffnete, um etwas zu sagen (allerdings wusste sie nicht genau, was), zog er die Hand weg, als ob er von irgendetwas gestochen worden wäre. Er drehte sich schnell um und ließ sich auf eins der Sofas fallen, dann zog er ein dickes Buch aus seiner Tasche und bedeutete ihr, dass sie sich auf die Couch setzen sollte, die Rücken an Rücken mit seiner stand. 1
englisches Teegebäck (Anm. d. Ü.) 44
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
Hermione setzte sich, wo er vorgeschlagen hatte, so dass ihre Hinterköpfe ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren und sie in die entgegengesetzte Richtung guckten. Als Mr. Beiber, der Kellner, kam, bestellten sie beide Butterbier, und Draco bat ihn, einen der Flammenden Couchtische zu ihnen zu bringen, außerdem orderte er eine große Schüssel Marshmallows, obwohl Hermione protestierte, dass es viel zu früh sei, um so etwas Süßes zu essen, und dass ihre Eltern einen Anfall bekämen, wenn sie sahen, dass sie so was Klebriges wie Marshmallows aß. "Die sind eben Zahnärzte, weißt du." "Du meinst Muggel-Zahndoktoren? Und was halten sie von deinem Doktor Zahn und von der Entflammenden Wunderzahnpasta aus dem Pharmagolischen Laden?" Draco wartete nicht auf eine Antwort auf seine Frage, sondern stand auf, ging zu dem unauffällig aussehenden Kasten neben der Bar, beugte sich darüber und sagte: "Runter zur Erde, Neugier tötete die Katz." Sternschnuppen auf mitternächtlichen Wiesen An Wolken hängend unter dem Mond ... Das acht Jahre alte Lied erfüllte die Bar mit seinen sanften, tragenden Klängen, als Draco zum Sofa zurückging und im Takt mit den Fingern schnalzte. "Woher kennst du dieses Lied?", fragte Hermione. "Woher kennst ausgerechnet du eine Muggelmelodie?" Er lächelte selbstgefällig. "Das ist nicht von einer Muggelband. Wusstest du das nicht, Hermione? Die meisten Hitwunder, die nur einen oder zwei Erfolge haben, sind in Wirklichkeit Hexen und Zauberer, die in einer Art Trotzphase eine oder zwei Platten machen und ein Jahr oder so das Leben als Muggelberühmtheit genießen – all die Flugzeuge, Tefelone und Mattgläser ..." "Meinst du Mattscheiben?" "Wie auch immer. Und dann werden sie wieder clean und tauchen irgendwann in der Diagonallee auf, wo sie dem Propheten dasselbe erzählen wie alle anderen auch – all dieses Zeug, wie merkwürdig Muggel sind -, einen Haufen Muggelgeld bei Gringotts umtauschen und versuchen, ein normales Leben zu leben. Du kennst doch den Angestellten bei Flourish & Blotts?" Hermione nickte. "Der war sehr viel länger bei den Muggeln als die meisten anderen Zauberer – er hatte in den 50ern und 60ern eine Menge Hits, in den 70ern hat er dann seinen Tod vorgetäuscht und in der Buchhandlung angefangen." "Du meinst den dunkelhaarigen Typen, der von jedem verlangt, dass er ihn King nennt? In dem Frittenladen in der Nähe von meinen Eltern arbeitet auch so ein Typ, der schwört, dass er Elvis ist, aber er ist ein Lügner, und bei dir bin ich mir da auch nicht sicher." "Das ist die reine Wahrheit. Ich schwöre bei meinem, äh ..." "Deinem Nimbus." "Ich schwöre bei meinem Nimbus. Ich glaube, der Einzige, der als Musiker bei den Muggeln geblieben ist, ist ein Typ namens Reggie Dwight. Ein Hufflepuff, aus der Abschlussklasse von 1970. Ich glaube, er hat irgend so ein Lied über Krokodile gemacht." Sie unterhielten sich fast eine Stunde lang über die Schule und Hausaufgaben, als er mit einem Knacken, bei dem Hermione eine Gänsehaut bekam, den Rücken seines Buches zerbrach. Man hatte ihr beigebracht, dass es so wäre, als breche man einem Freund die Knochen, wenn man einen Buchrücken durchbrach, und die Tatsache, dass Draco das so lässig tat, brachte sie aus der Fassung. Er versuchte, einen Blick in ihre Büchertasche zu erhaschen und fragte: "Und, was hast du zu Lesen mitgebracht?" Sie zog ein Exemplar von Die größte Generation hervor – ein neu erschienenes Geschichtsbuch, das von einem der Moderatoren beim Magischen Rundfunk geschrieben worden war. Es war eine Sammlung von Briefen, Tagebüchern und Interviews all jener, die im Krieg gegen den Schwarzen Magier Grindelwald gekämpft hatten. "Eine Menge davon ist erfunden", sagte Draco kategorisch, als er den Titel sah.
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
"Wovon redest du eigentlich? Natürlich ist das nicht erfunden! Dumbledore hat das Vorwort geschrieben, das würde er schließlich nicht bei jedem x-beliebigen Buch tun!", antwortete sie hitzig. "Mein Vater hat mir erzählt, die meisten Zauberer hätten nicht eingesehen, warum sie sich in etwas einmischen sollten, das nichts mit der magischen Welt zu tun hatte. Grindelwald hat vielleicht Schwarze Magie benutzt, um diesem Muggel auf dem Kontinent zu helfen, aber sie haben die Zauberer in Ruhe gelassen, und wenn die Muggel sich gegenseitig umbringen wollen, dann tun sie das auch ohne die Hilfe von Hexen und Zauberern." "Draco, kann es sein, dass du nicht viel über Muggel-Geschichte weißt?" "Natürlich weiß ich eine Menge darüber!" Er klang gekränkt. "Ich weiß alles darüber, wie die Muggel die besten Arbeiten des Arithmantikers Newton missbraucht haben und wie die Muggel zu Bachs Lebzeiten nicht mal in der Lage waren zu sehen, wie brillant er den Goldenen Schnitt in seinen Kompositionen verwendet hat. Sie haben gewartet, bis er sowohl für die Muggelwelt als auch für die magische Welt tot war, bevor sie gemerkt haben, was für ein Genie er gewesen ist, und ich weiß auch, dass meine Ururururur-Großtante Anne Boylen dumm genug war, ihrem eigenen Mann zu gestatten, ihr den Kopf abzuschlagen, weil sie keinen Sohn bekommen konnte; dabei können alle Frauen mit Malfoyblut nur dann einen Sohn bekommen, wenn ihr Mann ein Zauberer ist, und das hat er gewusst, bevor er sie geheiratet hat, und ihre Tochter war so entsetzt über ihre eigenen magischen Fähigkeiten, dass sie sich fast all ihrer Magie entledigt und alles magische Volk vom Hofe vertrieben hat; und meine Familie hat nur deshalb überlebt, weil sie den Propheten hatte und für ein paar Jahre freiwillig ins Exil gegangen ist. Natürlich ist mir die Geschichte der Muggel bekannt – ich weiß genug darüber um zu wissen, dass das etwas ist, worüber Hexen und Zauberer sich im Allgemeinen keine Gedanken machen sollten." Am Ende seiner Tirade hatte sich Draco vor Hermione aufgepflanzt, und der Saum seines Umhangs befand sich gefährlich nahe am Flammenden Couchtisch. Sie sprang auf und zog den Saum vom Tisch weg, dann stieß sie Draco wieder aufs Sofa und sagte leise: "Seit ich erfahren habe, dass ich eine Hexe bin, habe ich tonnenweise magische Geschichtsbücher gelesen, weil ich zwei Dinge verstehen wollte. Erstens, weil ich die globale Geschichte dieser Welt, der ich angehöre, egal –" sie sah ihn giftig an – "ob das gewissen Zauberern gefällt oder nicht, verstehen wollte, und zweitens –" sie sah ihn wieder mit demselben Blick an –, "warum ein paar Zauberer so ungemein daran interessiert sind, die magische von der Muggelwelt getrennt zu halten. Ich glaube verstanden zu haben, dass zu unterschiedlichen Zeiten ein paar Hexen und Zauberer sich problemlos zwischen den Welten bewegt haben, während es anderen, wie zum Beispiel Oscar Wilde, wesentlich schwerer gefallen ist. Und ich weiß, dass Zauberer wie dein Vater es nicht mögen, wenn Leute aus Muggelfamilien in die magische Welt kommen, aber wie wollen sie das unterbinden? Es wird immer Leute geben, die mit magischen Fähigkeiten in Muggelhaushalten geboren werden, oder?" Draco schüttelte verneinend den Kopf. "Mein Vater sagt, das muss nicht so sein, und wenn doch, dann sollte man sie der Person, die sie geboren hat, sofort nach der Geburt wegnehmen, damit sie in einer Zaubererfamilie aufwachsen und unsere Art zu leben lernen können. Du hast selbst gesagt, dass es eine Menge Dinge gibt, die du über Magie nicht weißt, die du aber wissen würdest, wenn du damit aufgewachsen wärst. Wäre das nicht besser für dich gewesen?" "Nein! Ich würde meine Eltern mit nichts und niemandem tauschen wollen, ich liebe sie. Du deine nicht?" Als Draco nach einem Augenblick immer noch nicht geantwortet hatte, merkte Hermione, wie dumm sie klang. "Hmm. Das war wohl die falsche Frage?" "Ich sollte eigentlich ja sagen, stimmt's?", fragte Draco, und Hermione nickte. "Wie wär's, wenn wir stattdessen abrupt das Thema wechseln würden? Wir können uns weiter über Geschichte unterhalten. Ganz allgemein, über nichts Spezielles." "Beantworte mir nur erst eine Frage." Draco nickte zustimmend. "Glaubst du alles, was dein Vater dir erzählt?" 46
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
"Ich dachte, wir hätten das Thema Eltern beendet." Hermione warf ihm einen finsteren Blick zu, also beantwortete er ihre Frage. "Ich glaube schon. Er ist sehr belesen, sehr intelligent, er kennt jeden und hat über so viele Dinge geschrieben, dass ich glaube, er weiß schon, wovon er redet." "Wie kannst du dann mit mir befreundet sein?" "Wer sagt, dass ich mit dir befreundet bin? Vielleicht nutze ich dich nur aus, um im Unterricht bessere Noten zu bekommen." Oh, diese Bemerkung hatte gesessen! Sein Gesicht war maskenhaft undurchdringlich, und es war ihr unmöglich zu entscheiden, ob er es ernst meinte oder nur sarkastisch war. "Warum solltest du so was tun?" "Vielleicht habe ich meine Gründe", sagte Draco steif und schroff. "Willst du mich auf den Arm nehmen?" Sie wurde langsam hysterisch. Warum trieb er nur solche Spielchen mit ihr? Draco machte große Augen und setzte eine gekränkte Unschuldsmiene auf. "Warum wirfst du mir so was vor? Wir unterhalten uns doch nur nett, oder?" Er war absolut frustrierend, und sie hatte Lust, mit den Füßen aufzustampfen und zu schreien, aber das würde eine Szene vom Zaun brechen. Sie stand auf, griff nach der Schüssel mit den Marshmallows und kippte sie über seinem Kopf aus. Er hielt die Hände hoch, als ein Regen von kleinen weißen Kissen auf ihn niederprasselte; Hermione schüttelte die letzten Süßigkeiten aus der Schüssel und sagte: "Draco Malfoy, ich kann einfach nicht glauben, dass ich mich darauf eingelassen habe, mit dir hierher zu kommen. Ich hätte mir denken können, dass du dich wie ein Blödmann und wie ein verzogenes Gör benehmen würdest, dabei wollte ich nur einen entspannenden Vormittag mit Büchern und Unterhaltungen verbringen, aber du ... !" Sie hielt einen Augenblick inne. "Du hast alles versaut, du Schwachkopf!" Sie drehte sich auf dem Absatz um, stiefelte aus dem Pub und ließ ihn mit der Rechnung sitzen. "Na gut, er kann es sich leisten. Blöder Affe!", dachte sie, als sie den Pfad hinauf zum Schloss zurückging. Als sie halb oben war, landete eine Eule auf einem Zaunpfahl und stieß einen leisen Ruf aus. Sie nahm die Nachricht, die an sie adressiert war, und noch bevor sie sie geöffnet hatte, erkannte sie an den nassen, verschmierten Flecken darauf, von wem sie war und warum. Bis sie zurück in Hogwarts und an den Dementoren vorbei war, die keine besondere Wirkung auf sie hatten, da ihre Gedanken bereits von Hagrids extremem Kummer wegen Buckbeak erfüllt waren, war sie so aufgeregt, dass sie, in der Hoffnung Harry zu finden, ziellos durch den Gemeinschaftsraum und durch die Bibliothek wanderte, obwohl sie überzeugt war, dass er unter Missachtung der Schulordnung nach Hogsmeade gegangen war. Am späten Nachmittag saß sie schließlich vor dem Porträtloch und wartete auf Ron und Harry, wobei sie versuchte, die anzüglichen Blicke der Sicherheitstrolle zu ignorieren. Obwohl sie viel kleiner waren als der, der sie im ersten Schuljahr auf der Mädchentoilette angegriffen hatte, war ihr Anblick immer noch eine unangenehme Erinnerung an diesen furchterregenden Abend. Als Ron und Harry zurückkamen und sie Hagrids Brief mit ihnen geteilt hatte, woraufhin Ron ihren Kopf gestreichelt hatte, war es, als ob all die Streitigkeiten und Reibereien, die zwischen ihnen seit Weihnachten geherrscht hatten, wie weggeblasen waren. "Dies hier ist mein Platz, mit diesen beiden sollte ich meine Zeit verbringen, nicht mit sarkastischen Marionetten des Bösen", dachte sie und verbannte Dracos Bild, wie er sie mit Marshmallows bedeckt mit offenem Mund angestarrt hatte, aus ihren Gedanken. Sie unterhielt sich den ganzen Abend mit Ron und Harry, erzählte ihnen von der Verteidigungsrede, die sie für Hagrid vorbereitet hatte, und sie fragten sich, ob er am nächsten Tag wohl imstande wäre zu unterrichten. Vielleicht wäre er einfach zu durcheinander dafür? Hermione erzählte ihnen nichts von ihrem Vormittag mit Draco. Sie hatte ihnen nicht einmal erzählt, dass sie gemeinsam lernten, und Ron und Harry waren abends so selten in der Bibliothek, dass sie die AG nie bemerkt hatten. Sie nahm an, dass sie wussten, dass Draco auch im Kurs Antike Runenkunde war, aber sie hatte sich nie die Mühe gemacht, das extra zu erwähnen. 47
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
Es wäre einfach zu langwierig zu erklären, und dass sie mit ihm zusammen lernte, tat ihrer Freundschaft mit Ron und Harry schließlich keinen Abbruch, oder? Am Sonntag verbrachte Hermione nur ein paar Minuten mit ihrer AG und war einfach nicht in der Lage, Draco auch nur anzusehen, da ihr einerseits sein Getue in den Drei Besen tags zuvor peinlich war, und weil sie andererseits wegen Hagrids traurigem Zustand schon etwas sauer auf ihn war. Hermione entschuldigte sich bei der Gruppe und sprach Draco nicht einmal direkt an. Als sie wegging, hörte sie, wie er zu den anderen sagte: "Blöde Ziege, die versteht einfach nicht, wie sehr ich ..." Aber dann war sie zu weit weg, um den Rest des Satzes zu hören. Im Gemeinschaftsraum fand sie Ron und Harry. Im Moment war es vorrangig, mit ihnen zusammen zu sein und ihre Freundschaft neu zu beleben, viel wichtiger als Lernen, jedenfalls heute. Sie erzählten ihr, wie sie Malfoy in Hogsmeade mit Dreck beworfen hatten, wie Malfoy bei Snape gepetzt und wie Professor Lupin auf die Sache reagiert hatte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund machte sie das noch wütender auf Malfoy. Was fiel ihm eigentlich ein, einen Hippogryph zu misshandeln, Hagrid wehzutun und zu versuchen, ihre Freunde in Schwierigkeiten zu bringen? Warum hatte er sie so geärgert? Sie hatte Ron und Harry wieder, sie brauchte ihn nicht, und sie hatte vor, ihm das auch zu sagen, und zwar gleich am nächsten Tag. Stattdessen war sie jedoch so wütend über das, was er über Hagrid sagte, dass sie ihm eine runterhaute. Er sagte kein Wort. Sie sah sein schockiertes Gesicht und seine weit aufgerissenen Augen, als er sich auf dem Absatz umdrehte und förmlich in die Kellergewölbe hinunterstampfte, wobei er sich übertrieben vorsichtig die Hand an die Wange hielt. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken über Draco durcheinander – gute, schlechte und wütende -, als sie Ron und Harry zur Treppe folgte, die zum Zauberformeln-Klassenzimmer führte; sie war unfähig, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Ich kann jetzt unmöglich dem Unterricht folgen. Vielleicht wird eine Stunde Wiederholen oder so meine Laune heben. Sie drehte den Zeit-Umkehrer zweimal um, fühlte die wirbelnde Bewegung, an die sie inzwischen so sehr gewöhnt war, und rannte zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum und ihren Büchern zurück. "Konzentrier dich, mach irgendwas!", sagte sie sich und sah den Stapel ihrer Aufgaben durch. Der Stress des Vormittags lastete so schwer auf ihr, dass die Anspannung, die sie verspürte, fast schmerzhaft war, und sie legte den Kopf auf den Bücherstapel. "Ich kann ein bisschen so lesen", war ihr letzter Gedanke, bevor sie in einen traumlosen Erschöpfungsschlaf fiel. Fast zwei Stunden später rüttelten Ron und Harry sie wach, und sie merkte, dass sie Zauberformeln verpasst hatte und auch nicht nachholen konnte, weil der Zeit-Umkehrer für ein bestimmtes Zeitintervall jeweils nur ein einziges Mal funktionierte. Es war klar, dass dieser Tag höchstens schlimmer werden konnte. Dracos verletzter Gesichtsausdruck ging ihr nicht aus dem benebelten Sinn, und ihre ganze Frustration in Bezug auf den Unterricht und Draco wurde von Minute zu Minute größer. Wahrsagen, das ihr nie besonders viel Spaß machte, war der Tropfen, der den Zaubertrankkessel zum Überlaufen brachte; sie stürmte aus diesem scheußlichen, stinkenden, pinkfarbenen Raum in die Bibliothek, wo sie sich mit einem Exemplar von MuggelFührer und ihre Verbindungen zur Magischen Welt in einen Sessel warf. Sie las Seite 667 wieder und wieder, bis es vor dem Fenster zu dämmern begann; irgendwie schienen die Worte sich vor ihren Augen zu verändern, und es war furchtbar schwierig, sich zu konzentrieren. "Ich hab' alles vermasselt", murmelte sie. "Das ist die Untertreibung des Tages", sagte eine sanfte Stimme gedehnt. Hermione fiel fast vom Sessel. Draco saß an dem niedrigen Tisch neben ihrem Sessel, aber sie hatte ihn weder gesehen noch kommen gehört. "Redest du mit mir?" "Das hatte ich eigentlich nicht vor, aber da ich dieses Gespräch irgendwie nicht schriftlich führen kann, nehme ich an, dass ich das wohl muss." Seine Augen waren so kalt, dass sie das Gefühl hatte, dass er durch sie hindurchsah. Dann fiel ihr jedoch auf, dass sie durch ihn durchsah!
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
Sie fuhr so abrupt hoch, dass sie eigentlich voll gegen ihn hätte knallen müssen, aber sie tat es nicht. Das konnte nicht wirklich Draco sein – welche Art von Streich versuchte er ihr da zu spielen? Sie lernten Holographische Zauberformeln eigentlich erst im siebten Schuljahr, und sie war zu weit von einem Kamin entfernt, so dass er keine Kopf-Projektion sein konnte. Sie schnappte hörbar nach Luft und wich hastig vor ihm zurück. "Beruhig dich, Mädchen!" Sie hyperventilierte fast. "Hermione, ganz ruhig. Ich kann dich nicht ohrfeigen, um dich zu beruhigen, so gerne ich das auch täte", fügte er hinzu, als sie sich bemühte, ihren Puls zu beruhigen und ihre Atmung zu kontrollieren. "Wir müssen miteinander reden, und irgendwie bin ich heute Abend in meinem Schlafsaal aufgehalten worden. Okay? Ich wollte dich nicht erschrecken, und ich hatte gehofft, dass ich das hier erklären könnte –" er wies auf seine durchsichtige Gestalt, "oder dass wenigstens in einem deiner Bücher eine Erklärung für diesen ungewöhnlichen kleinen magischen Trick stünde, die ich ..." Sie unterbrach ihn, so aufgeregt, hinter dieses Geheimnis zu kommen, dass sie nicht mehr daran dachte, wie wütend sie eigentlich immer noch auf ihn war. "Du kannst Projizieren? Das ist ja unglaublich! Warum hast du mir das nie gesagt? Weiß jemand davon?" "Willst du meine Antworten der Reihe nach, oder reicht auch eine Kurzfassung? Setz dich hin, dann erklär ich es dir in Kurzform. Ich bin heute Abend nicht hierher gekommen, um mich über meine tollen Fähigkeiten zu unterhalten." Hermione ging wieder zu ihrem Sessel zurück und setzte sich hin, während Draco erzählte, wie er als Kind entdeckt hatte, dass er Projizieren konnte, wie er diese Fähigkeit mit den Hauslehrern, die sein Vater ins Herrenhaus geholt hatte, geübt hatte, und davon, wie erschöpfend es vor allem in Hogwarts war, weswegen er es nicht sehr oft tat. "Ich glaube nicht, dass es sonst noch jemand weiß, außer Professor Snape, weil er mich mal im Gemeinschaftsraum der siebten Klasse erwischt hat; normalerweise mache ich mich ganz klein, wenn ich Projiziere, das erspart einem eine Menge merkwürdiger Fragen." "Dumbledore weiß nichts davon?" "Ich hab's ihm jedenfalls nie gesagt, und Snape wird einen Teufel tun und dem Direktor alles Mögliche über Lucius Malfoys Sohn erzählen." "Und warum erzählst du es dann mir?" "Weil ich weiß, dass wir vielleicht nie wieder miteinander geredet hätten, wenn wir es heute nicht tun, und ich will auf keinen Fall, dass das passiert, und der einzige Weg, heute Abend mit dir zu reden, war, auf diese Art hierher zu kommen. Hör mir einfach nur zu, weil wir das hier, wenn wir es jetzt nicht tun, sonst nie aus der Welt schaffen." "Und was müssen wir aus der Welt schaffen? Du bist lästig, sarkastisch und ekelhaft, und du förderst meine schlechtesten Seiten zutage, du bist ein schrecklicher Scherzkeks, und das meine ich nicht im positiven Sinn, und ich will mit dir ausschließlich über die Schule, unsere Hausaufgaben und Prüfungspläne reden. Falls du gekommen bist, damit ich mich für die Ohrfeige von gestern entschuldige, dann tue ich das, aber ..." "Und du glaubst, dass wir auf die Art weiter zusammenarbeiten können? Das wird nicht funktionieren, aber um unserer Noten willen müssen wir es wohl. Wenn wir zusammen lernen, stacheln wir uns gegenseitig an, besser zu werden und mehr Durchblick zu bekommen, und dadurch werde ich weiter bessere Noten bekommen als die Ravenclaws, und das muss ich auch." "Weil dein Vater das sagt?" "Das ist Grund genug für mich. Ich habe keine Lust, die Konsequenzen zu tragen, wenn ich es nicht tue. In Anbetracht der äußerst wertvollen Vorteile, die ich habe, wenn ich weiter mit dir zusammen lerne und deines hübschen Vorteils, viele Bücher von mir zu bekommen, solltest du auch Wert drauf legen, dass wir weiter zusammenarbeiten. Aber da ist noch mehr. Ich unterhalte mich gerne mit dir, vor allem über Bücher. Die Ravenclaws nehmen alles viel zu bierernst, und ich glaube nicht, dass einer von denen in der Lage wäre zu erkennen, was es heißt, zum eigenen Vergnügen zu lesen, auch dann nicht, wenn das Lesevergnügen sie aufs Sofa schubsen, auf ihren Schoß hüpfen und dort gehörig rumzappeln würde." Bei dieser Vorstellung lachte Hermione laut heraus und vergaß, dass sie eigentlich ein strenges und ernstes Gesicht machen wollte. 49
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5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
Draco fuhr fort: "Wir werden aber nicht in allen Dingen einer Meinung sein. Im Prinzip werden wir nur in ganz wenigen Dingen einer Meinung sein. Wir kommen aus total verschiedenen Welten ..." "Total anderer Lebensstil, anderer Hintergrund, überhaupt alles anders", fügte Hermione hinzu und nickte. "Können wir das total ignorieren?" "Ich bitte dich nicht darum, es zu ignorieren. Ich bitte dich darum, es zu erkennen und einen Weg zu finden, es zu umschiffen. Wir sind uns einig, dass wir uns uneinig sind, und wir machen aus, dass wir einander nichts von dem, was wir uns in der Öffentlichkeit an den Kopf geworfen haben, vorhalten werden, wenn wir unter uns sind, und wir werden weiter zusammenarbeiten. Wir können sowieso keinen anderen Partner in Runenkunde bekommen", sagte er, "ich hab' schon gefragt." "Weil du mich loswerden wolltest?" "Weil ich genau das nicht will, und weil ich eine Antwort parat haben wollte für den Fall, dass du damit drohst." Hermione dachte einen Moment nach. Was verlangte er? Dass sie Freunde waren? Oder Rivalen? Oder dass sie nebeneinander arbeiteten und sich zu ihrer beider Vorteil auf die unmittelbaren Aufgaben konzentrierten? Er log nicht, ihre Teamarbeit hatte durchaus Vorteile. Sie hatte das Jahr bisher überstanden, hatte seine Kommentare über ihren Muggel-Hintergrund aus ihren Gedanken verbannt, hatte ihm die fiese Dementor-Nummer mit Harry verziehen, hatte ihren Drang unterdrückt, beim Anblick seiner grauen Augen und seines hellen Haars davonzurennen, und warum? Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass du nur lieb und nett und hilfsbereit sein musst, damit er eines Morgens aufwacht und sagt: 'Ich bin ein anderer Mensch geworden und will fortan nett und gut und lieb zu allen sein und kleine alte Damen auf meinem Besen über den Fluss fliegen!', sagte ihr ihr logisches Denkvermögen. "Es gibt eine Menge, das mir an dir nicht passt, Draco", sagte sie zu ihm. "Aber wir müssen dieses Runenprojekt zu Ende bringen, außerdem sind schon in neun Wochen Prüfungen, und ich habe keine Lust, mein Lernschema ausgerechnet jetzt über den Haufen zu werfen." "Gut, wenn du es auf die Art rechtfertigen willst, damit kann ich leben." Er schien einen Augenblick zu flackern, oder waren es einfach ihre müden Augen, die blinzelten? "Ich muss jetzt gehen – länger als jetzt kann ich es nicht aufrechterhalten, also dann bis mor..." Mit einem Flackern verschwand er. *** Nachdem sie am Dienstagmorgen bei Professor McGonagall gewesen war, wo sie Wahrsagen aufgegeben und den Vorschlag der Lehrerin ausgeschlagen hatte, entweder Muggelkunde oder Pflege magischer Kreaturen ebenfalls aufzugeben, delegierte Hermione den Großteil der Recherchen für Buckbeaks Berufung an Ron und gesellte sich zu Draco und ihren RavenclawKollegen, um sich in der Bibliothek in die Liste einzutragen, auf der man sich feste Arbeitsplätze reservieren konnte, damit sie weiterhin in ihrer üblichen Ecke arbeiten konnten. Als sie eines Tages im Mai zu früh zu einer Wiederholungsstunde kam, erblickte sie Draco, der langsam mit seinem Zauberstab durch ihren Bereich ging und wie zu sich selbst vor sich hinmurmelte. Er bemerkte sie erst, als sie ihn fragte: "Was in aller Welt machst du da?" Als er zu ihr herumwirbelte, hielt er seinen Zauberstab in Duellstellung; Draco war total erschrocken, fand seine Sprache jedoch schnell wieder. "Ich spreche nur einen Nicht-Ablenkungs-Zauber, so dass uns keiner stört, während wir so viel zu tun haben." "Tolle Idee", antwortete sie. "Danke, dass du dran gedacht hast." "Das habe ich schon das ganze Jahr über gemacht", fügte er hinzu. "Den kleinen Trick habe ich letztes Jahr gelernt, weil Pansy dauernd rübergekommen ist und mich gestört hat, wenn ich
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Flüche bis zum Überdruss
5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
versucht habe zu arbeiten. Der Zauber hält ungefähr drei Stunden an, und in der Zeit merkt niemand, dass wir hier sind." Plötzlich fiel Hermione etwas ein. "Du hast keinem deiner Mitbewohner gesagt, dass wir zusammen lernen, oder?" "Natürlich nicht, aber das kannst du mir wohl kaum vorwerfen, oder? Du hast ja auch niemandem etwas davon erzählt!" Draco hatte sich auf die letzte Seite des Zaubers konzentriert, und Hermiones Einwurf brachte ein paar Stühle dazu, einen Augenblick auf zwei Beinen herumzuhüpfen, so dass er sich auf sie stürzte, um sie festzuhalten, bevor Madam Pince den Lärm bemerkte. "Ich hab's meiner Mum erzählt!", flüsterte Hermione laut. "Ach, und das soll wohl zählen." Draco machte Hermione ein Zeichen, dass sie einen Moment still sein sollte, während er den Zauberspruch beendete, dann fuhr er fort: "Du weißt, dass ich damit meine, dass du keinem deiner Freunde oder Mitbewohner oder sonst jemandem in Gryffindor davon erzählt hast. Und ich glaube, dass die Ravenclaws so viel Schiss vor mir haben, dass sie auch keinem was davon gesagt haben, aber ich bin sicher, dass sie hinter unserem Rücken über uns reden. Persönlich bin ich der Meinung, dass es vernünftig ist, wenn wir nicht darüber sprechen. Wenn die Leute unsere Zeit damit verschwenden würden, uns damit auf die Nerven zu gehen, kämen wir nie auf einen grünen Zweig, oder?", sagte er grinsend. Hermione konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, sie nickte, ging zu ihrem üblichen Platz und zog ihre Notizen in Verteidigung gegen die Schwarze Magie heraus, um Draco zu fragen, ob Zauberer jemals eine sinnvolle Verwendung für Hinkypunks gefunden hätten. An den meisten Tagen lächelte sie jedoch nicht oft. Sie hatte mehr Fächer belegt als irgendjemand sonst und war normalerweise abends die Letzte, die den Gemeinschaftsraum verließ und morgens eine der Ersten in der Bibliothek, wo sie Draco meistens um halb sieben traf und dann noch einmal abends für ein paar Stunden nach seinem Quidditchtraining; danach trennte sie sich am Eingang zu den Kellergewölben der Slytherins von ihm und benutzte ihren Zeit-Umkehrer, um "dieselben" Stunden noch einmal im Gemeinschaftsraum zu lernen. Alle in ihrer AG hatten dunkle Ringe unter den Augen, und sowohl Hermione als auch Viola waren ständig kurz davor, vor lauter Stress in Tränen auszubrechen. Weil sie so kurz vor Schuljahrsende ihre AG-Sitzungen nicht gefährden wollte, sprach sie Draco nie darauf an, dass er beim letzten Quidditch-Spiel versucht hatte, Harry daran zu hindern, den Snitch zu fangen, aber an dem Montag, nachdem Gryffindor den Pokal gewonnen hatte, trug sie stolz die Plakette, die die Weasley-Zwillinge und Lee Jordan allen Gryffindors nach dem Match gegeben hatten, auf der abwechselnd ein Löwe und ein glänzender Pokal aufleuchteten. Draco würdigte sie an diesem Tag demonstrativ keines Blickes, und wenn er sie irgendwas fragen musste, ließ er es ihr durch einen der Ravenclaws ausrichten. Am Dienstagmorgen hatte er dieses Gebaren jedoch offensichtlich als Zeitverschwendung und Ablenkung aufgegeben, was die zwei Dinge waren, die er zu dieser Jahreszeit seiner Ansicht nach am meisten verabscheute, und sie borgte ihm die Numerologie und die Gramatica, dann verbrachten sie an dem Abend alle fünf mit besonderer Erlaubnis von Professor Sinistra, der Hausvorsteherin von Ravenclaw, drei Stunden auf dem Astronomie-Turm. Sie versuchten vorherzusagen, wo bestimmte Konstellationen sich am Abend ihrer Astronomieprüfung befinden würden, und als sie gerade mit verschleiertem Blick und total erschöpft von der Anstrengung ins Schloss zurückgehen wollten, blieb Hermione kurz stehen, als sie am Himmel zwei Lichtstreifen sah. Draco beobachtete vom Treppenhaus aus, wie sie die Augen schloss, die Finger kreuzte und stumm die Lippen bewegte. "Das nützt nichts, Hermione. Das sind keine Sternschnuppen heute Nacht, dabei kannst du dir nichts wünschen – das sind bloß Satelliten. Man kann sich bei Weltraumtechnik nichts wünschen."
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Flüche bis zum Überdruss
5. Kapitel: Womit beschäftigen sich hübsche Mädchen?
"Ich wünsche, ich wünsche, ich wünsche ...", sagte Hermione, so als ob Draco nichts gesagt hätte. Schließlich öffnete sie die Augen und sah ihn an. "Was kümmert es dich, ob ich einen oder zwei Wünsche verschwende?" "Magisches Volk verfügt nur über eine begrenzte Anzahl von Wünschen für sich selbst und über eine etwas größere Zahl von Wünschen, die man für andere Leute aussprechen kann. Wenn du sehr stark und mächtig bist, hast du ein paar mehr, aber die Zahl ist immer noch begrenzt. Deshalb sind Wunschzeremonien für Babys so wichtig." Das war etwas, das sie noch nie in einem ihrer Schulbücher oder Geschichtsbücher gelesen hatte. Er fuhr fort: "Wenn in einer magischen Familie ein Kind geboren wird, laden die Eltern all ihre engsten Freunde und die Familie ein, damit sie dem Baby etwas wünschen können, und normalerweise erfüllt sich jeder dieser Wünsche. Das sind ganz besondere Geschenke, und es ist eine Ehre, wenn man gebeten wird, einen Wunsch auszusprechen. Aber wenn du deine Wünsche schon alle verbraucht hast, kannst du sie nicht wiederbekommen, und es ist total peinlich, wenn man zu so einem Fest eingeladen wird und dem Baby nichts wünschen kann. Manche Leute veranstalten auch bei Hochzeiten Wunschzeremonien." Er starrte mit entrücktem Blick zu den Sternen hinauf. "Das ist ziemlich cool." Hermione war zur Tür gegangen, die zur Treppe führte und stupste ihn leicht an, um ihn dazu zu bewegen hinunterzugehen, da es zu eng war, um an ihm vorbeizukommen. "Ich werde dran denken, wenn ich das nächste Mal sterngucke." Draco begann, die dunkle Treppe hinunterzusteigen, und sie folgte ihm, wobei ihre Hände nach wie vor auf seinen Schultern ruhten, weil die Treppe nur in Abständen von Kerzen- und Zauberstablicht erhellt wurde, und weil sie hoffte, dass sie nicht fallen würde, wenn sie sich an Draco festhielt.
************************************************************************** Anmerkung der Autorin: Der Titel und einige Zeilen dieses Kapitels wurden von der Sängerin und Komponistin Kristy MacColl inspiriert, die im Dezember 2000 in Mexiko ums Leben gekommen ist. Seit ich von ihrem tragischen Tod erfahren habe, habe ich Galore, eine Zusammenstellung ihrer größten Erfolge, gehört.
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Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi ([email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
6. Kapitel Heute fröhlich, morgen traurig Evil turns to statues, masses form in line, But I know which way I'd run to if the choice was mine. The past is unacknowledged, The present our mistake, And the future we always leave too late. I wish we'd come to our senses and see there is no truth In those who promote the confusion for these Ever changing moods. Paul Weller
Nur einen Moment, nachdem er Hermione versprochen hatte, sie in die nur für Mitglieder zugänglichen Archive des Denalo-Museums zu lassen, war Draco Malfoy plötzlich wieder in Malfoy Manor und rannte so schnell über den Marmorfußboden, dass er in seinen Mokassins um die Ecken schlitterte. Noch im Rennen zog er sich auf dem Weg zu seinem Schlafzimmer den Pullover über den Kopf, damit er wieder in seine übliche Robe schlüpfen konnte. In die magischen Stadtteile Londons durfte er nicht in Muggelsachen, und genau dort wollte er als Nächstes hin. Seit Hermione ihm gesagt hatte, dass sie Rita tags zuvor freigelassen hatte, brannte er darauf, wieder nach London zu kommen, um die Reporterin zu finden, bevor sie zum Propheten zurückkehrte. Sein Magen war so verkrampft, dass er ihn sogar beim Projizieren gespürt hatte. Dasselbe Wort hallte permanent in seinen Gedanken wider – vermasselt, vermasselt, vermasselt , er hatte mit Lucius einen Deal gemacht und sich einen komplizierten Plan zurechtgelegt, von dem er sicher war, dass er funktionieren würde, aber wenn er Rita in Simon Branfords Bad nicht fand, würde Lucius auch den allerletzten Rest Selbstvertrauen aus ihm herausprügeln. Sobald er sich umgezogen hatte, rannte er durch die Küche nach draußen, wobei er sich ein paar Energiehappen schnappte, die ihm helfen würden, den Nachmittag zu überstehen. Draco fiel auf, dass die letzte richtige Mahlzeit, die er zu sich genommen hatte, das Frühstück gestern in Hogwarts gewesen war, und jetzt hatte er keine Zeit für Vernunftanwandlungen. Im Besenschrank erspähte er den Nimbus Limited seiner Mutter. Wenn er den nahm, würde er mehr als zehn Minuten früher in der Seezon Alley sein, aber er hatte keine Lust, sich von seiner Mutter damit erwischen zu lassen. Sein Blick schweifte zur Seite, und er bemerkte Kira, den familieneigenen Uhu, der auf seiner Stange schlief. Sie würde viel schneller nach London fliegen können als er, selbst wenn er den 2001 nahm, und zum ersten Mal seit Stunden blieb er stehen und nahm vom Schreibtisch neben Kiras Sitzstange einen Stift. Sehr geehrter Mr. Branford, (schrieb er) ich glaube zu verstehen, dass Rita Skeeter, die unserer familieneigenen Zeitung angehört, derzeit Gast in ihrem berühmten Etablissement ist. Ich möchte darum bitten, dass – falls sie ihre Behandlung in Ihrem Bad vor vier Uhr heute Nachmittag beendet hat – Sie ein paar weitere Entspannungsübungen für sie ansetzen, so dass sie es nicht vor diesem Zeitpunkt verlässt. Bitte schicken Sie die Rechnung nach Malfoy Manor in Yorkshire, wo ich wohne, und sagen Sie ihr nicht, warum sie länger in Ihrem Bad bleiben sollte. 53
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Draco unterzeichnete den Brief mit D. Malfoy, wobei das "D" so verschlungen war, dass es genauso gut ein "N" hätte sein können, und hoffte, dass der Empfangschef des Bades es als solches ansehen würde. Er würde niemals wirklich Narcissas oder Lucius' Unterschrift fälschen, aber falls sie später danach fragen sollten, könnte er es mit einer einfachen Verwechslung erklären. Ein wohlplatziertes, von einer Galleone begleitetes Wort zu einem der Dienstboten würde es ihm erlauben die Post abzufangen, und er hatte genug in seinem Tresorgewölbe bei Gringotts, um Ritas Ausgaben an diesem Nachmittag zu bestreiten, ganz egal, wie hoch sie waren. Falls sie immer noch in der Seezon Alley wäre, wenn Kira dort mit dem Brief ankam, dann wäre sie auch noch dort, wenn Draco auf seinem Besen eintraf. Unmittelbar nachdem Kira sich in die Lüfte erhoben hatte, stieg Draco auf seinen Besen und folgte ihr hinauf in die Wolken. Normalerweise flog er gerne und holte auf langen Strecken das Äußerste aus seinem Besen heraus, aber am selben Tag dieselbe Strecke wieder und wieder zu fliegen war ein bisschen langweilig, und er bemerkte, wie seine Gedanken zu so unterschiedlichen Themen abschweiften, wie dem, was er sich zum Abendessen wünschte (er hoffte, es würde Flügeltangrollen geben, aber da Narcissa derzeit auf dem Protein-Trip war, würde es wohl eher Molchfleisch geben) und wie er Lucius seine Noten erklären sollte, vor allem die in Verteidigung gegen die Schwarze Magie. Er hatte sich fast das ganze Jahr lang auf diese Rede vorbereitet, genauer gesagt, seit er Professor Moody zum ersten Mal begegnet war ... *** An jenem Morgen hatte ein Artikel über Weasleys Vater im Propheten gestanden; alle paar Monate pflegte Lucius sich in der Zeitung über Arthur Weasley auszulassen, und obwohl jeder, der mit den beiden zusammen zur Schule gegangen war, wusste, dass es sich dabei lediglich um Lucius' nie enden wollenden Groll gegen Arthur handelte, der seinen Ursprung fast vierzig Jahre vorher auf dem Quidditch-Feld hatte, merkten die meisten Hexen und Zauberer nicht, dass diese Artikel nie in der Zeitung erscheinen würden, wenn Lucius nicht höchstpersönlich dafür sorgen würde. Dieser erste Schultag in Hogwarts war daher ein absolut angenehmer Morgen; es gab noch keine Hausaufgaben und wegen dieses dämlichen Trimagischen Turniers (das natürlich nur deshalb dämlich war, weil es diese blöde Altersbegrenzung gab) auch kein richtiges Quidditchtraining, und dann war da noch dieser Zwischenfall, der eigentlich wie ein unterhaltsamer, kleiner Streit mit Potter und Weasley begann. Doch dann musste Potter Narcissa ins Spiel bringen. Und obwohl Draco normalerweise nicht immer sehr nett über sie dachte, hatte es noch nie jemand, der nicht zur Familie gehörte, gewagt, ihm gegenüber ein Elternteil zu beleidigen, und schon gar nicht in aller Öffentlichkeit. Draco tat das einzig Vernünftige – er stellte Potter für seine hässliche Bemerkung zur Rede. Aber statt zu dem zu stehen, was er gesagt hatte, hatte Potter die Stirn gehabt, zu versuchen sich zu verdrücken – Feigling, dachte Draco. Er hatte eigentlich gar nicht vorgehabt, Potter mit einem Fluch zu treffen, während er ihm den Rücken zugekehrt hatte – er hatte diesen blöden Sparktacular-Fluch über seine Schulter geschleudert, um ihn dazu zu bringen sich umzudrehen, damit er das Spiel zu Ende spielte – als die Welt plötzlich auf dem Kopf stand. Es war nicht das erste Mal, dass Draco die Welt aus der Perspektive von ein paar Zentimetern über dem Boden gesehen hatte, und erst als Professor McGonagall alles wieder rückgängig gemacht hatte, war ihm aufgefallen, was Moody da eigentlich mit ihm gemacht hatte. Als es geschah, fühlte er sich lediglich sehr klein und sehr verängstigt. Er erinnerte sich, dass er versucht hatte zu fliehen, aber er hatte nicht mehr Glück dabei vor Moody wegzurennen, als er jemals dabei gehabt hatte, vor Lucius wegzurennen und sich vor ihm zu verstecken. Draco wusste, wie man Schläge einsteckt, er konnte es stundenlang aushalten, sich auf das kleinste Detail zu konzentrieren, das Lucius nur finden konnte, und er hatte seine Erfahrungen 54
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
mit Schlaflosigkeit und totaler körperlicher Erschöpfung gemacht, während er die Lektionen gelernt hatte, die sein Vater ihm beizubringen versuchte. Aber es war fast noch schlimmer, von der Decke auf den Boden geknallt zu werden, wenn man nicht größer als dreißig Zentimeter war, als zehn Meter hinunterzuspringen wie damals, als Lucius ihn auf ihrem Quidditchtor sitzen gelassen hatte, wobei er sich beide Knöchel gebrochen hatte. Doch auch nachdem Professor McGonagall den Fluch aufgehoben hatte, ließen sein Schmerz und seine Demütigung nicht nach. Nachdem Moody mit ihm außer ihrer Sichtweite war, schleuderte er Draco gegen die Wand, woraufhin eine neue Welle des Schmerzes und der Furcht seinen Körper durchfuhr. Ein paar Schüler, die auf dem Weg in ihre Klasse waren, warfen ihnen Blicke zu, als sie vorbeieilten. Er machte sich Sorgen, dass irgendjemand Lucius eine Eule schicken könnte, bevor er die Möglichkeit hätte, unter vier Augen mit Professor Snape zu sprechen. "Ich mache mir nur deshalb die Mühe, Sie zu Snape zu bringen, weil Dumbledores rechte Hand gesagt hat, das müsste ich", begann Moody. "Wenn es nach mir ginge, mein Junge, dann würden Sie den Rest des Tages damit verbringen, auf dem Fußboden des Großen Saals zu kauern, während sämtliche Mitschüler Sie angaffen." Er fasste Draco am Kinn und zwang ihn, zu ihm aufzusehen, und Draco probierte den Trick, der bei seinen Eltern normalerweise funktionierte: Statt seinem Ankläger in die Augen zu sehen, blickte er über Moodys Schulter hinweg. "Sehen Sie mich gefälligst an!", verlangte Moody. "Den Trick kenne ich, ich habe ihn selbst bei meinem Vater angewandt, als ich in Ihrem Alter war. Das läuft bei mir nicht. Wie ich schon gesagt habe, ich kenne Ihren Vater aus alten Zeiten, und ich kenne Severus Snape. Ich wette, dass Sie bei den beiden mit so ziemlich allem durchgekommen sind, was Sie je probiert haben. Ich weiß alles über Sie, Malfoy, auch wie Sie sich ins Quidditchteam eingekauft haben, und wie Sie sich in Ihrem Haus großtun, und ich bin sicher, all die hübschen Prüfungsnoten sind ebenfalls nicht allein auf Ihrem Mist gewachsen. Von wem schreiben Sie ab?" Draco versuchte zu protestieren, aber Moody packte ihn wieder vorn an seiner Robe und stieß ihn jetzt fast gegen die Wand. "Lupin hat mir Notizen über alle Schüler hinterlassen, er hatte ein paar nette Dinge über Sie zu sagen, aber wie kann ich jemandem seine Bemerkungen über einen Malfoy glauben, der ein Busenfreund von Sie-Wissen-Schon-Wessen treuestem Offizier war?" Draco hatte keine Ahnung, wovon Moody eigentlich redete. Professor Lupin war ein ziemlich guter Lehrer gewesen, aber es war verdammt gruselig gewesen, am Ende des letzten Schuljahrs zu erfahren, dass er ein Werwolf war – ein guter Beweis dafür, dass der Schein trügen kann, dachte Draco. Moody redete immer noch. "Wie steht's mit Ihren Studien der Schwarzen Magie? Üben Sie derzeit auch fleißig? Ihre ganze stinkende Verwandtschaft war doch dort beim Finsteren Lord, stimmt's? Aber der mächtige Malfoy-Clan kommt immer noch ungestraft davon, selbst bei Mord, und nichts kann seiner Macht oder seinem Geld etwas anhaben, während andere Zauberer alles verloren haben, was sie sich in vielen Jahren aufgebaut haben, nur weil sie zufällig direkt neben denen standen, die beschuldigt wurden, Todbringer zu sein. Was halten Sie davon?" War das eine rhetorische Frage? Draco fing an zu antworten: "Ich war nicht ... ich meine, ich war erst ein Jahr ..." "Harry Potter war ein Jahr alt, als er den Finsteren Lord besiegt hat, jedenfalls behaupten das alle, oder? In meinen Augen sind Sie lediglich ein Todbringer mehr, Malfoy, der die letzten dreizehn Jahre damit verbracht hat, die Macht des Finsteren Lords zu leugnen, und wenn ich etwas hasse, dann sind das Todbringer, die frei herumlaufen." Draco wollte sagen: "Das bin ich nicht! Ich habe nichts getan!", aber Moody gab ihm keine Gelegenheit dazu. Mit diesen Worten ließ er Draco los und stieß ihn den Flur hinunter in Richtung von Snapes Büro. Als sie vor der Tür ankamen, richtete Moody seinen Zauberstab auf ihn, murmelte Alohomora und schob Draco ins Zimmer, das bis auf Professor Snape leer war. "Was soll das, Moody?", schrie Snape ihn fast an und betrachtete Dracos knallrotes Gesicht und Moodys finstere Miene. "Warum behandeln Sie meinen Schüler so grob?"
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
"Ihren Schüler?", fragte Moody etwas höhnisch. "Wohl eher ihr Schoßhündchen, wenn ich das richtig verstehe." Snape sah so aus, als wollte er ihn unterbrechen, aber Moody ließ ihn nicht zu Wort kommen. "Malfoy hier hat gedacht, es wäre lustig, im Korridor einen Fluch loszulassen, was – wie Sie wissen – eine Verletzung der Schulordnung darstellt, und können Sie erraten, wen er behexen wollte? Ich warte, Snape ..." Professor Snapes Stimme war eiskalt. "Aufgrund meiner Kenntnis, welche Schüler Mr. Malfoy angegriffen und es auf ihn abgesehen haben ..." "Es auf ihn abgesehen haben? Wer würde das schon wagen?" Moodys Stimme war jetzt genauso kalt wie Snapes. "Dieser Bengel hat ohne jeden Grund einen Fluch auf Harry Potter geschleudert." Als er das hörte, versuchte Draco ihn zu unterbrechen. "Nicht ohne Grund, er hat meine Mutter ..." Beide Lehrer drehten sich gleichzeitig nach Draco um und schrien: "Halten Sie den Mund!" Er ließ sich auf einen der Stühle fallen, verschränkte die Arme vor der Brust und beschloss, einfach zuzusehen, was passierte und sich zu überlegen, ob er irgendeine Chance hatte davonzukommen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich in einem Zimmer befand, in dem so viel Gereiztheit und Wut in der Luft lag, aber normalerweise war das nur der Fall gewesen, wenn er in Malfoy Manor mit seinen Eltern beim Abendessen gesessen hatte, und er hatte definitiv noch nie erlebt, dass Professor Snape einen anderen Erwachsenen anschrie. "Also gut, Moody", sagte Snape barsch. "Erklären Sie mir, was Sie hier wollen." "Ich wäre nicht hier, wenn Professor McGonagall nicht verlangt hätte, dass ich Malfoy zu Ihnen bringe. Sie hat darauf bestanden, dass es Ihnen als Hausvorsteher obliegt, ihn dafür zu bestrafen, dass er die Schulordnung missachtet hat. Persönlich bin ich der Meinung, dass ich ihn angemessen bestraft habe, aber wir müssen uns an die Vorschriften halten, stimmt's? Ein Lehrer darf sich nicht darüber hinwegsetzen, oder?" Plötzlich tat Professor Snape etwas sehr Merkwürdiges. Er fasste sich mit der rechten Hand krampfartig an den linken Unterarm, so als ob er dort Schmerzen hätte. "Wenn das alles ist", begann der Zaubertränkelehrer, "dann können Sie Mr. Malfoy mir überlassen. Sie brauchen sich keine Sorgen um die Auswirkungen seines Fehlverhaltens machen, er wird eine angemessene Strafarbeit dafür aufgebrummt bekommen." Ohne nachzudenken stieß Draco einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus – der nicht allzu schrecklich klang -, als Moodys seltsames Auge sich in seine Richtung drehte und ihn anfunkelte. Das erstickte Dracos Erleichterung schlagartig. "Na gut, Snape. Und Sie haben doch sicher nichts dagegen, wenn er bei mir nachsitzt?" Professor Snape antwortete: "Von wegen! Bei dieser Art von Fehlverhalten muss ein Schüler beim Vorsteher des Hauses, aus dem der Schüler kommt, der angegriffen wurde, nachsitzen. Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, dann wird Mr. Malfoy bei Professor McGonagall nachsitzen, oder, falls sie es gestattet, bei mir." Moody antwortete nicht sofort darauf, sondern drehte sich um und ging zur Tür. Nachdem er sich abgewandt hatte, machte Professor Snape Draco ein Zeichen, noch einen Augenblick auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Moody musste das beobachtet haben, da er sich auf seinem Holzbein umdrehte, mit dem Finger auf Draco zeigte und sagte: "Ich nehme an, Sie werden seinen Vater wissen lassen, was er getan hat? Für den Fall, dass ich dem noch etwas hinzuzufügen habe, hätte ich gern eine Kopie von dem Brief, bevor Sie ihn abschicken, ganz egal, was drinsteht." Noch bevor Draco oder Professor Snape etwas auf diese versteckte Drohung erwidern konnten, war er zur Tür hinaus. Einen Augenblick rührten sie sich beide nicht, für den Fall, dass Moody noch einmal hereinplatzen würde, dann drehte Professor Snape sich zu Draco um, der immer noch auf dem harten Holzstuhl saß. Seine Arme und Beine schmerzten noch mehr, und er war sicher, dass man ihm sein Unbehagen ansah. "Es ist der erste Schultag – wie in aller Welt ist es Ihnen gelungen, so schnell etwas so Dummes zu tun? Wieso in Merlins Namen haben Sie vor Alastor Moody einen Fluch auf diese Gryffindors geschleudert? Was haben Sie dazu zu sagen?" 56
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Draco holte tief Luft und begann sich zu verteidigen – er hatte in all den Jahren genug Erfahrung damit gesammelt, Lucius gegenüber Erklärungen abzugeben, und der Lehrer hatte ihn anscheinend immer ziemlich gut leiden können, er würde also hoffentlich glauben, was Draco ihm erzählte. "Erstens habe ich Potter nicht behext, ich habe nur einen Fluch in seine Richtung geschleudert. Ich habe ihn absichtlich verfehlt – ich wollte nur, dass er ... na gut, das kommt später. Potter hat vor der halben Schule meine Mutter beleidigt, und das konnte ich nicht ungestraft durchgehen lassen. Ich hatte nicht vor, ihn tatsächlich zu verfluchen, aber wenn er einfach weggeht, kann ich ihn schließlich auch nicht zum Duell herausfordern – jedenfalls auf keinen Fall, wie es sich gehört –, und die Regeln besagen, dass ich nicht mehr das Recht habe ihn herauszufordern, wenn ich es nicht an Ort und Stelle tue, oder?" Professor Snape, der immer noch sehr ernst aussah, nickte, und Draco fuhr fort: "Ich werde jede Strafe auf mich nehmen, die Sie für angemessen halten – schließlich habe ich wirklich gegen die Schuldordnung verstoßen -, aber bitte sagen Sie Lucius, ich meine, meinem Vater, nichts davon. Ich will nicht, dass er denkt, Potter hätte mich aufs Kreuz gelegt, das stimmt nämlich nicht." "Dieser blauschwarze Fleck auf Ihrer Wange stammt also nicht von Potter? Hat Weasley diesmal auch einen Schlag anbringen können?" Draco fasste sich mit der Hand ans Gesicht, fühlte den blauen Fleck und sagte: "Äh, nein, ich glaube, das war Professor Moody. Er hat mich transfiguriert." Es war ihm fast zu peinlich, dem Lehrer zu sagen, in was Moody ihn verwandelt hatte, aber Snape fragte danach; Draco flüsterte die Antwort fast. "Ich weiß nicht genau. Ich glaube, er hat irgendwas von einem Nagetier oder so gesagt. Ich kam mir aber größer vor als eine Maus oder ein Hamster. Ich kann mich nicht richtig erinnern." "Von einer Transfiguration bekommt man keine blauen Flecken, Draco. Was ist sonst noch passiert?" "Er hat mich, äh, ein paar Mal auf den Boden geknallt." Snape stieß ein paar Verwünschungen aus, wie Draco sie nie zuvor von einem Erwachsenen vernommen hatte und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. "Was ist das nur für ein verrückter Irrer mit seinen Zwangsneurosen. Dem ist jeder ein Dorn im Auge, der irgendwann für SieWissen-Schon-Wen gearbeitet hat." Er blieb schließlich vor Dracos Stuhl stehen und sprach ihn direkt an. "Ich habe befürchtet, dass Moody irgendwas in der Art mit Ihnen veranstalten würde, aber ich hätte nicht gedacht, dass es so bald passieren würde. Sie müssen wissen, dass er Ihren Vater abgrundtief hasst." Professor Snape zögerte, als ob er Angst hätte, zu viel zu verraten. "Wie viel wissen Sie über die Aktivitäten Ihres Vaters in den 70ern? Und darüber, was er seither in punkto schwarze Magie getan hat?" Nun war es an Draco, in Schweigen zu verfallen. Wie viel wusste Professor Snape bereits? Wusste er, dass Lucius und Narcissa sich unter jenen befunden hatten, die bei der Weltmeisterschaft die Muggel levitiert hatten? Sollte er ihm erzählen, dass er gerade den Sommer damit verbracht hatte, die umfangreiche Sammlung von Artefakten der schwarzen Magie seines Vaters zu katalogisieren – Amulette, Siegel, Zaubertränke und Folterinstrumente, von denen einige mehrere hundert Jahre alt waren, wohingegen andere nicht weiter zurückreichten als Du-WeißtSchon-Wessen letzte Monate der Macht? Draco erinnerte sich an das Abendessen sechs Wochen zuvor, als Lucius sich über Ministeriumszauberer ausgelassen hatte, die ihre Nasen in anderer Leute Privatbesitz steckten, sogar dann, wenn die Sachen gar nicht benutzt wurden, aber schließlich waren sie sehr wertvoll, und man konnte sie nicht einfach in den Mülleimer werfen; er wollte sie auch gar nicht loswerden, konnte sie aber auch nicht aus dem Haus schaffen, wenn sie in der Familie bleiben sollten, woraufhin Draco vorgeschlagen hatte, sie dem Museum für Toleranz in Stonehenge als Leihgabe zu überlassen, so dass sie zwar aus dem Herrenhaus heraus wären, aber nach wie vor unter Lucius' Kontrolle. Diese kleine Bemerkung hatte ihm ein paar wundervolle Wochen in der Zweigstelle der Boolean Library in der Diagonallee beschert, wo er die Geschichte verschiedener Zauber57
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
tränke recherchiert und über dreißig Talismane nachgeschlagen hatte, die von den magischen Fähigkeiten ihres Besitzers oder Trägers verstärkte Kräfte erzeugten, die ihm helfen sollten, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und ein Dutzend Amulette, denen die Macht innewohnte, ihren Träger zu beschützen, indem sie die Energie weißer Magie absorbierten; außerdem hatte er gelernt, welche schwarzen Magier sie benutzt hatten und welche Kräfte sie oder ihre Träger besitzen konnten – insgesamt war es ein wunderbares, lehrreiches Projekt. In der schwarzen Magie gab es Amulette, die ihren Träger vor unerwünschter weißer Magie schützten, indem sie sie absorbierten, und Talismane, die ihrem Besitzer halfen, seine Ziele zu verwirklichen, indem sie Kräfte entfalteten, die durch seine magischen Fähigkeiten vervielfacht wurden. Der neu eröffnete Malfoy-Flügel im Museum hatte bereits mit der Ausstellung von Lucius' Artefakten begonnen, wobei Dracos Karteikarten als Hauptquelle für die Beschriftungen dienten, die der Kurator anbrachte. Zu diesem Zeitpunkt war die Malfoy-Sammlung öffentlich bekannt, es hatte in der Woche vor der Weltmeisterschaft ein Artikel darüber in der Zeitung gestanden. "Ich wusste, dass Lucius eine Menge Zeug hatte, was schwarze Magie war, aber wir haben in diesem Sommer alles weggegeben, und er war lediglich ein Sammler; es war nicht so, als ob er all das Zeug auch benutzt hätte." Draco wusste sehr wohl, dass sein Vater einiges davon tatsächlich benutzt hatte, vor allem die Amulette, die es ihm erlaubten, andere Hexen und Zauberer auszuspionieren, aber er war ebenfalls überzeugt, dass die seltsamsten und furchterregendsten Gegenstände, die Draco nur anfassen konnte, wenn er sich vorher in Sprüche hüllte, die ihn vor schwarzer Magie schützten, nicht Teil von Lucius' persönlichem Arsenal gewesen waren. Professor Snape sah ihn nur an und sagte: "Fahren Sie fort." "Ich weiß, dass die Zeitung Sie-Wissen-Schon-Wem sehr positiv gegenüberstand, als er an die Macht gekommen ist, aber daran war der Imperius-Fluch schuld, und ich weiß, dass mein Vater immer der Meinung war, dass reinblütige Zauberer weder gesellschaftlich noch in der Schule mit Schlammblütern verkehren sollten, aber was ist schon dabei?" Jetzt stieß der Lehrer einen Seufzer aus. "Ich wusste nicht, dass Ihr Vater so offen zu Ihnen gewesen ist." "War er auch nicht!", warf Draco ein. "Ich hab' in der Zeitung und in Büchern davon gelesen, er hat nie mit mir darüber gesprochen. Abgesehen von den Sachen in diesem Sommer, aber das war was anderes. Ich brauchte etwas zu tun, und ein Praktikum im Museum schien ein interessantes Projekt zu sein. Und all das Zeug, das die Leute bei der Weltmeisterschaft gemacht haben, war eigentlich eher ein Scherz – immerhin sind ja keine Muggel verletzt worden, beziehungsweise kein Zauberer hat ernsthaft versucht, jemanden zu verletzen. Es war so was wie ein Sport, oder?" Der Lehrer beantwortete die Frage nicht direkt, sondern sagte nur: "Da Sie das alles wissen, ist Ihnen möglicherweise inzwischen klar, warum Moody vorhin so grob zu uns beiden war. Moody hält jeden, der mit Sie-Wissen-Schon-Wem unter einer Decke gesteckt hat, für einen Todbringer, auch wenn er unter dem Imperius-Fluch gestanden hat. Wenn es nach ihm ginge, würden sie samt und sonders nach Azkaban geschickt. Er hat Todbringer dafür umgebracht, egal, ob sie Sie-Wissen-Schon-Wem aus freien Stücken gedient oder unter diversen Flüchen und Zaubertränken gestanden haben." Draco bemerkte, dass Professor Snape sich wieder genau wie vorhin den Arm rieb. "Und deshalb sieht es auf jeden Fall so aus, als ob er Sie auf dem Kieker hätte. Draco, bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn er Sie anders behandelt als die anderen Slytherins. Ich bin sicher, dass Moody ein paar meiner Schüler – Sie auch - besonders im Auge behalten wird, gehen Sie also in diesem Jahr auch Potter und Weasley aus dem Weg. Wenn Sie sehen, dass sie ihre üblichen Mätzchen machen, halten Sie sich raus und sagen Sie mir nur Bescheid." "Was ist mit dem Brief an meinen Vater?" "Ich muss ihm irgendwas schreiben, aber ich werde klarstellen, dass Moody Sie sich ganz offensichtlich aus persönlichen Rachegründen herausgegriffen hat." "Moody hat gesagt, ich sei ein Todbringer", sagte Draco leise. 58
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Professor Snape schloss die Augen und kniff sich in den Nasenrücken, so als ob er Kopfschmerzen hätte. "Ich werde mit Dumbledore darüber reden – das war völlig aus der Luft gegriffen. Sie sind ein paar Jahre zu jung dafür, und selbst wenn Sie es wollten, könnten Sie gar keiner werden. Sie-Wissen-Schon-Wer hat nie jemanden unter sechzehn genommen, jedenfalls ist mir keiner bekannt. Aber da es Moody ist, und da Sie es sind, mit dem er das veranstaltet, kann ich lediglich vorschlagen, dass Sie sich damit abfinden. Wenn die Art, wie er Sie behandelt, unerträglich werden sollte, werden Dumbledore oder ich eingreifen, aber für den Moment bitte ich Sie zu versuchen, sich damit abzufinden. Der Gedanke, dass ein Lehrer einen Schüler triezt, gefällt mir zwar nicht, aber in diesem Fall können wir wirklich nichts dagegen tun. Als Auror war Moody so was wie eine Institution, und ich bin überzeugt, dass er das hier auch sein wird." Der Lehrer öffnete die Augen wieder und wies Draco an, zum Unterricht zu gehen, obwohl er für Arithmantik bereits zu spät dran war. Als Draco aufstand und vorsichtig seine schmerzenden Glieder streckte, dachte Professor Snape noch einmal über seine Anweisungen nach. "Wenn ich drüber nachdenke, sollten Sie lieber zu Madam Pomfrey gehen, damit sie sich diese Blutergüsse ansieht. Ich werde Professor Vector noch vor Ende des Unterrichts Bescheid geben." Ohne ein weiteres Wort befolgte Draco Professor Snapes Anweisungen und verbrachte letztendlich den Nachmittag in einem gemütlichen Sessel in der Krankenstation, wo er einen sprudelnden Heiltrank schlürfte und sich dafür verfluchte, dass er einen ganzen Nachmittag Unterricht versäumte. Ich muss mir von Hermione die Notizen in Arithmantik geben lassen, ich hoffe doch sehr, dass die AG auch in diesem Trimester weiter bestehen wird, dachte er, als er das erste Kapitel des Lehrbuchs in diesem Fach überflog: Codeknacker: Eine verständliche Geschichte der geheimen Nachrichtenübermittlung von der Antike bis zur behexten Eulenpost. Als die AG vor fast einem Jahr gegründet worden war, hätte Draco sich fast geweigert mitzumachen. Es war eine Sache, zusammen mit Schlammblütern unterrichtet zu werden – wenn ein Lehrer eine Aufgabe stellte, dann musste man sie eben ausführen. Mit einem Schlammblut zusammen zu lernen war eine ganz andere Sache. Dass er sich mit der AG abgab, hatte zwei Gründe: Erstens würde es natürlich dazu führen, dass sie überall die Besten waren, wenn Hermione sich mit drei Ravenclaws zusammentat, und er würde weit abgeschlagen sein, eventuell sogar in Zaubertränke; wenn er jedoch mit ihnen zusammenarbeitete, hätte er eine Chance, die besten Noten zu bekommen oder zumindest Zweiter zu werden, was Lucius zwar nicht gerade gutheißen würde, was aber auf jeden Fall besser war, als Fünfter zu sein. Zweitens war Quidditch eine zeitraubende Aktivität, vor allem in den Wochen vor den Spielen, und das ganze zweite Schuljahr über hatte er sich einfach übernommen, indem er tagsüber im Unterricht haufenweise mitschrieb, vor und nach der Schule stundenlang auf dem Quidditch-Feld trainierte (nur um zu beweisen, dass er sich nicht ins Team eingekauft hatte) und abends Hausaufgaben gemacht und Konzepte geschrieben hatte. In einer AG könnte er die Notizen von jemandem abschreiben, wenn er etwas verpasst hatte, und sie könnten sich die Arbeit, Konzepte zu schreiben, teilen, so dass er nicht mehr alles allein machen müsste. Natürlich würde er nie etwas von einem anderen Slytherin abschreiben, und obwohl es ihm nichts ausmachte, seine Notizen Vin und Gregory zu geben, würde er sich hüten, irgendwas von ihnen übernehmen. Als er in der Krankenstation saß und las, schweiften Dracos Gedanken wieder zu seiner morgendlichen Auseinandersetzung in Pflege magischer Kreaturen mit Hermione zurück. Diese Kröter sahen einfach grässlich aus, und er war der Meinung, dass selbst sie nicht glaubte, dass sie zu irgendwas nutze seien, höchstens vielleicht um sie jemandem, den man nicht leiden kann, unters Bett zu stecken. Sie stand mit Hagrid auf ziemlich gutem Fuß – vielleicht würde sie ihm dabei helfen, einen Kröter bei ihm "auszuleihen", so dass er ihn unter Moodys Bett verstecken könnte ... Aber es wäre vielleicht sicherer, Professor Snapes Rat zu befolgen und ihn wenn irgend möglich zu meiden. *** 59
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Die nächsten zwei Tage verliefen ohne Zwischenfall, wenn man nicht mitzählte, dass Longbottom in Zaubertränke seinen sechsten Kessel zum Schmelzen brachte. Professor Snape war verständlicherweise über Longbottoms dauernde Unbeholfenheit aufgebracht und ließ ihn nachsitzen, wie er es verdiente, zufällig genau wie Draco am Mittwochabend. Da Professor Snape schon dabei war, Longbottom beim Nachsitzen zu beaufsichtigen, gestattete Professor McGonagall, dass Draco ebenfalls im Zaubertränke-Labor nachsaß. Beide Jungen erhielten den Auftrag, die Ingredienzien für den Unterricht der siebten Klasse am nächsten Tag vorzubereiten, die eine Irritierende Salbe herstellen sollten. Draco fand, dass Longbottom noch gut dabei wegkam – er musste lediglich ein Fass voller Texaskrötenechsen ausweiden, während Draco vier Stunden lang einem riesigen Haufen Kakerlaken die Flügel ausriss. Am ersten Mittwochnachmittag im September traf sich Dracos AG zum ersten Mal wieder, aber Viola war nicht mehr dabei. Seit dem Sommer ging sie mit irgend so einem reichen Schlammblut aus Hufflepuff, und Reilly sagte, dass sie ihre gesamte Zeit mit ihm verbringen wollte. Die restlichen vier schlossen Wetten darüber ab, wie weit ihr Notendurchschnitt bis Weihnachten wohl absinken würde. Da sie noch nicht viele Hausaufgaben hatten, entwarfen sie Stundenpläne und setzten sich feste Fristen für Konzepte, Aufsätze für den Unterricht von Professor Binns und Termine, bis wann sie alle verlangten Runenbücher auf ihrer Liste gelesen haben müssten. Reilly fragte die anderen, ob sie bei der Weltmeisterschaft gewesen waren, und Draco sah Hermione daraufhin zum ersten Mal direkt an. Seit sie sich hingesetzt hatten, war er ihrem Blick ausgewichen, und es war das erste Mal seit jenem Abend, dass sie sich nahe genug für eine Unterhaltung gewesen waren. *** Sie hatten sich den Sommer über ziemlich regelmäßig gesehen, weil Hermione im Juli fast jeden Tag in der Bibliothek gewesen war, während Draco dabei war, stapelweise Bücher über Amulette und Siegel für sein Museumsprojekt über Artekfakte der Schwarzen Magie anzuhäufen. Ein paar Mal war es ihr sogar gelungen, Draco in Florean Fortescues Eisdiele zu schleppen. Hermione war ihm eine große Hilfe gewesen, als er die Geschichte eines speziellen SanduhrTalismans recherchiert hatte. Als er sie bei der Weltmeisterschaft gesehen hatte, war es ihm jedoch unmöglich gewesen, während des Spiels mit ihr zu sprechen, weil er mit seinen Eltern dort gewesen war und sie mit diesen schrecklichen Weasleys und dem Jungen-der-sich-benahmwie-ein-selbstgerechter-Arsch; allerdings hatte er es durchaus zu schätzen gewusst, als sie ihn während des Tanzes der Vila weise mit dem Ellbogen auf seinen Platz zurückgeschubst hatte. Als seine Familie nach dem Spiel das Stadion verließ, hatte er erfahren, dass Narcissas scharfen Augen nichts davon entgangen war, aber er konnte sich nicht entscheiden, was ihn mehr ärgerte: Ihr Kommentar über das Schlammblut, dem offensichtlich mehr an ihm als an ihrem rothaarigen Freund lag, oder die Tatsache, dass Narcissa eindeutig nicht selbst versucht hatte ihn zurückzuhalten. Da Lucius sich gerade mit irgend so einem Ministeriumsheini unterhalten hatte, hatte er nicht gehört, was Narcissa gesagt hatte, und Draco hatte nie die Gelegenheit, Narcissas Anspielungen in Bezug auf Hermione zu dementieren. Nachdem Lucius sein Gespräch beendet hatte, passte er sich Narcissas und Dracos Gangart an, die ein paar Schritte zurückgeblieben waren, und sagte zu Narcissa: "Macnair hat was von einer kleinen Party in einem der Ministeriumszelte gesagt – das dritte von links, wenn wir aus dem Stadion kommen. Wir sollten uns kurz dort blicken lassen." Narcissa warf ihm einen düsteren Blick zu und antwortete: "Sagst du das, weil dort ein paar Vila sein werden, oder weil ein paar deiner Kumpane auch hingehen?" 60
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Lucius' Augen funkelten, als er erwiderte: "Ich sage das, weil sie zwischen der Bar und dem Tropfenden Kessel ein Portal-Loch geöffnet haben – hört sich doch so an, als wär' das was für dich, oder?" Jetzt grinste Narcissa. "Heißt das, dass Rina Stewart dort bedient? Nach dem langweiligen Spiel könnte ich durchaus einen Tjenan Tunix oder auch drei davon gebrauchen." "Wie ich höre, hat sie sich diesen Sommer auf Bootsdrinks spezialisiert", antwortete Lucius. "Alles nur Mögliche mit sprudelndem Eis, und sie hat außerdem dieses merkwürdige Gebräu namens Dreisatz entwickelt, ich glaube, das könnte dir gefallen ..." Draco fragte sich, ob es ihm wohl gestattet sein würde, an der Party teilzunehmen. Wenn seine Eltern daheim eine Dinnerparty gaben, war er meistens so lange anwesend, wie die Cocktails serviert wurden, aber er hatte bisher nur zu drei Erwachsenenpartys mitgedurft – zwei im Londoner Stadthaus der Goyles und eine, als er zwölf gewesen war, im Landhaus von Pansy Parkinsons Eltern. An jenem Abend hatte er ihrem Vater zwanzig Minuten lang zugehört, wie er davon geschwärmt hatte, wie wunderbar seine liebe Tochter sei, von der goldenen Gans, die er ihr in der Woche zuvor geschenkt hatte und wie gut sein Nuss-Schäl-Geschäft lief. Draco war der Meinung, dass die ganze Familie in der Tat nicht mehr alle Nüsse auf dem Baum hatte, aber das hatte ihn nicht davon abgehalten, sich bei einem Spaziergang über die Ländereien mit Pansy zu unterhalten, nachdem die Erwachsenen sie entlassen hatten. Lucius hatte dann Dracos unausgesprochene Frage beantwortet und ihn angewiesen, ins Zelt zurückzukehren (ein Springbrunnen, zwei Stockwerke, drei Schlafzimmer, vier Kamine und fünf Bedienstete), und ihn außerdem ermahnt, sich in die Büsche zu schlagen, "falls die Schlammblüter und die Idioten vom Ministerium wegen unserer kleinen Feier ausflippen sollten". Draco hatte erst über eine Stunde später verstanden, was sie damit gemeint hatten. Zu diesem Zeitpunkt hatte er es sich bereits in seinem Baumwollpyjama mit den Feuerwehrautos drauf bequem gemacht und las in seiner neuen Ausgabe von "Quidditch im Wandel der Zeiten", die gerade vom gesamten bulgarischen und irischen Team und außerdem von Mr. Bagman signiert worden war. Er hörte die Schreie von draußen, und kurz darauf stand der Butler in seiner Tür und sagte: "Ihre Eltern haben gerade eine Nachricht geschickt, dass Sie sich anziehen und in den Wald gehen sollen." Er kam durch den Raum zu Dracos Bett und gab ihm eine kleine blaue Murmel. "Wenn sie anfängt zu blinken, dann können Sie zurückkommen", fuhr er fort und zog sich ohne ein weiteres Wort zurück. Draco zog die Robe, die er beim Spiel angehabt hatte, wieder an, griff nach seinem Zauberstab, dem Besen und dem Buch und raste die Treppe hinunter, dann aus dem Zelt heraus und über ein kleines Feld in den Wald. Ihm fiel auf, dass nur noch wenige Feuer brannten und dass auch andere Leute in den Wald rannten. Irgendetwas bewegte sich über das Feld, er sah merkwürdige Lichtblitze und hörte Explosionen wie von Zaubersprüchen. Es war eine Schar Zauberer, die sich mit nach oben gerichteten Zauberstäben, aus denen grünes und violettes Licht schoss, in einer dichten Traube über das Feld bewegten. Aus der Menge erhoben sich Gelächter, höhnische Bemerkungen und das Geschrei einer betrunkenen Frau, das extrem vertraut klang. Er konnte in der Menge keine Gesichter ausmachen, weil alle Masken trugen, die genauso aussahen wie die, die er über zehn Jahre zuvor in Lucius' Schrank gefunden hatte, und von der Lucius irgendwie wusste, dass er sie angefasst hatte. Draco lief es kalt über den Rücken, als er sich an die Folgen dieser Entdeckung erinnerte. Ein Schrei brachte ihn in die Gegenwart zurück. Hoch über der Menge auf dem Feld schwebten vier Gestalten in der Luft, eine große, eine sehr große und zwei kleine. Das mussten die Muggel sein, die den Campingplatz verwalteten, und von denen Lucius beim Tee gesprochen hatte. Wie merkwürdig sie aussahen! Der Größte schlug auf Kommando eines der Zauberer unter ihm Purzelbäume in der Luft, wobei seine Unterwäsche immer wieder kurz zu sehen war. Draco lehnte sich an einen Baum und überlegte, dass betrunkene Hexen und Zauberer dazu neigten, einfach so aus Spaß die seltsamsten Dinge zu 61
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
tun. Es war zu dunkel zum Lesen, da die bunten Laternen, die den Pfad zum Stadion beleuchtet hatten, gelöscht worden waren, und er wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er mit seinem Zauberstab Licht machte. Er hielt sich stark abseits der dunklen Gestalten, die zwischen den Bäumen herumstolperten – sie hatten offensichtlich Angst, dass die Zauberer auf dem Feld als Nächstes sie aufs Korn nehmen würden. Plötzlich hörte er trappelnde Schritte und gedämpfte Stimmen, die zu leise waren, als dass er die Sprecher eindeutig hätte identifizieren können, und sah einen jähen Lichtschein, der, wie sich herausstellte, aus Hermione Grangers Zauberstab kam. "Ron, wo bist du?", rief sie. "Himmel, ist das blöd – Lumos!" Als sie den Lichtstrahl des Zauberstabs auf den Pfad richtete, sah Draco, dass Weasley auf dem Boden lag. Sie sollte sich nicht hier aufhalten, dachte Draco plötzlich. Aber sie ist mit diesen zwei Idioten zusammen – ich kann ihr wohl nicht gut sagen, was hier los ist, oder? Sie will nicht, dass sie glauben, dass wir miteinander reden oder so. Aber sie hat mich noch nicht gesehen, ich sollte einfach warten, bis sie weg sind. In der Dunkelheit hörte er Ron antworten, dass er über eine Baumwurzel gestolpert sei und sah, wie er wieder auf die Füße kam. Der perfekte Auftakt, sagte Draco sich. Wenn ich ihnen sage, dass sie von hier verschwinden sollen ... Er rief zu den drei Gryffindors hinüber: "Tja, bei Füßen dieser Größe ist das kein Wunder." Harry, Ron und Hermione drehten sich abrupt um, und Ron schrie zurück: "Verpiss dich, Malfoy. Es hat uns heute Abend gerade noch gefehlt, dass du blöd daherquatschst." "Pass auf, was du sagst, Weasley", sagte Draco und sah Hermione direkt an. Seine Augen waren weit geöffnet, und er dachte in ihre Richtung: "Schenk mir Glauben, hör mir zu, verschwinde von hier. Lass dich nicht von ihnen erwischen, nicht, dass ich im nächsten Halbjahr ganz allein mit diesen Ravenclaw-Heinis dahocke ..." Natürlich hörte sie seine Gedanken nicht, also fasste er sie in Worte. "Solltet ihr jetzt nicht besser weitergehen? Ihr wollt doch nicht, dass man sie sieht, oder?" Vom Campingplatz war ein explosionsartiger Knall zu hören, und die Bäume um sie herum erstrahlten in einem grünen Lichtblitz. "Was soll das denn bedeuten?", sagte Hermione. "Hermione, die haben's auf Muggel abgesehen", sagte Draco. "Willst du in der Luft dein Höschen zeigen? Falls ja, dann bleib ruhig hier ... die kommen hier lang und fänden das sicher nur extrem komisch." Vor allem Narcissa, dachte er bei sich. Nichts wäre ihr lieber, als dich nach dem, was da oben in der Loge passiert ist, in Verlegenheit zu bringen, und ich bin überzeugt, dass du nicht die geringste Ahnung hast ... "Hermione ist eine Hexe", knurrte Potter. "Wie du willst, Potter", sagte Draco und hoffte, dass sein Grinsen beruhigend wirkte. "Wenn du glaubst, die könnten ein Schlammblut nicht erkennen, dann bleib, wo du bist." "Hüte deine Zunge!", rief Weasley. Was hab' ich denn gesagt, fragte sich Draco, als er nach seinem Zauberstab griff. Falls Weasley irgendwas vorhatte, dann musste er darauf vorbereitet sein, seinen Fluch zu erwidern. Aber Weasley verschwendete lediglich die Zeit, die sie besser damit verbracht hätten, Hermione außer Reichweite der maskierten Hexen und Zauberer zu bringen. "Beachte ihn gar nicht, Ron", sagte Hermione rasch und packte Weasley am Arm, um ihn zurückzuhalten, als er noch einen Schritt nach vorn machte. Es war nicht das erste Mal, dass sie Weasley davon abgehalten hatte, sich auf Draco zu stürzen und ihn zu schlagen, und obwohl er normalerweise nichts dagegen hatte, wenn Weasley einen Streit anfing, wollte er sie jetzt einfach nur von hier weghaben. Von der anderen Seite der Bäume war ein Knall zu hören, der lauter war als alles, was sie bisher gehört hatten. Mehrere Leute in der Nähe schrien. 62
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Draco atmete heftig aus. Warum war Weasley und Potter nicht klar, welches Risiko Hermione einging? Hatte er immer noch nicht genug gesagt, um sie loszuwerden? "Die haben ganz schnell die Hosen voll, was?", sagte er zu Weasley. "Dein Daddy hat vermutlich allen gesagt, sie sollen sich verstecken? Was hat er vor – will er versuchen, die Muggel zu retten?" "Wo sind deine Eltern?", sagte Potter wütend. "Wohl mit 'ner Maske da draußen, was?" Draco drehte sich lächelnd zu Potter um, seine Augen schossen Blitze. "Na ja ... wenn sie das wären, würde ich es dir wohl kaum sagen, oder, Potter?" "Ach, komm schon", sagte Hermione und sah Weasley, der zwischen ihr und Draco stand, voller Abscheu an. "Gehen wir und suchen die anderen." Draco seufzte. Endlich. Als sie den Pfad hinauf davongingen, rief Draco ihnen nach: "Sieh zu, dass du deinen großen Struwwelkopf unten hältst, Hermione." "Kommt schon", wiederholte Hermione und zog Potter und Weasley wieder den Pfad hinauf. *** Seither hatte er sie kaum gesehen. Unglücklicherweise war sie oft dabei, wenn er versuchte, mit Potter und Weasley Streit anzufangen, deshalb fielen sie beide in ihr gegenseitiges Abkommen zurück, in der Öffentlichkeit so zu tun, als seien sie lediglich gewöhnliche Bekannte, die einander nicht viel bedeuteten. Außerdem nagte immer noch die Demütigung an ihm, dass Moody ihn transfiguriert hatte, was es noch schwieriger machte, während eines AG-Treffens ein Gespräch mit ihr anzufangen. Hermione schien an jenem Abend dasselbe Problem zu haben, ein Gespräch zu beginnen, und erst, nachdem sie ihre Bücher wieder in ihre Taschen gepackt hatten, berührte sie ihn an der Schulter und sagte: "Danke, dass du mich bei der Weltmeisterschaft aus der Gefahrenzone gebracht hast, und es tut mir Leid, was Moody am Montag mit dir gemacht hat." Sie wartete nicht einmal auf seine Antwort, sondern drehte sich einfach um und verließ die Bibliothek. *** Am nächsten Morgen wachte Draco mit einem furchtbar schlechten Gefühl auf. Er brauchte nur einen Augenblick, um zu wissen, warum – in weniger als zwei Stunden würde er unter Moodys unheimlichen Blicken einen ganzen Vormittag lang Unterricht in Verteidigung gegen die Schwarze Magie über sich ergehen lassen müssen. Er brachte sein Frühstück kaum herunter und faltete den Brief von seinem Vater, den Kira in seinen Schoß hatte fallen lassen, ungelesen zusammen. Natürlich würde Lucius erfahren, dass Draco das Siegel nicht sofort erbrochen hatte, aber er war zu nervös, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Was würde Moody im Unterricht tun? Draco hatte gehört, wie andere Schüler sich über Moodys Stunden unterhalten hatten – sie verwendeten dabei Beschreibungen wie "brillant", "total irre" und: "Er weiß, wovon er redet!" – sogar Slytherins hoben ein Loblied auf Moody an. Eingedenk Professor Snapes Ermahnungen, Moody nicht gegen sich aufzubringen, war Draco zusammen mit Vin und Gregory zehn Minuten zu früh im Klassenzimmer. Sie waren die Ersten und setzten sich daher in die Mitte des Raums. Moody kam erst, nachdem der Rest der Klasse erschienen war und die Lehrbücher – Die dunklen Mächte: Anleitung zur Selbstverteidigung – auf den Tischen lagen. Kurz vor neun hörten sie Moodys unverwechselbare unregelmäßige Schritte auf dem Flur, und er betrat den Raum, wobei er so seltsam und furchterregend aussah wie immer. Sein klauenartiger, hölzerner Fuß guckte so gerade eben unter seiner Robe hervor. "Die können Sie wegpacken", knurrte er, stapfte zum Lehrerpult und setzte sich. "Die Bücher, meine ich. Die brauchen Sie heute nicht." 63
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Sie steckten die Bücher wieder in ihre Taschen, und ein paar Schüler sahen richtig aufgeregt aus. Moody zog eine Liste heraus, schüttelte sich seine langen, graumelierten Haare aus dem verzerrten, vernarbten Gesicht und fing an, Namen aufzurufen, wobei sein normales Auge permanent auf die Liste blickte, während das magische umherschweifte und jeden Schüler fixierte, wenn er oder sie sich meldete. Als er bei Dracos Namen ankam, befahl er ihm aufzustehen und mit Millicent Bullstrode, die direkt in der Mitte vor Moodys Pult saß, die Plätze zu tauschen. "Ich werde Sie scharf im Auge behalten, Malfoy – in beiden Augen, um genau zu sein!", sagte er mit einem leisen Lachen, als Draco seine Sachen zusammensuchte und die Plätze tauschte. Als der Letzte seine Anwesenheit kundgetan hatte, begann er. "Ich habe von Professor Lupin einen Brief über diese Klasse erhalten. Sieht so aus, als hätten Sie ziemlich gute Grundlagen darüber, wie man mit Dunklen Kreaturen umgeht – Sie haben Boggarts, Rotkappen, Hinkypunks, Grindylows, Kappas und Werwölfe durchgenommen, stimmt das?" Die Klasse murmelte einstimmig zur Bestätigung. "Es war ziemlich interessant zu erfahren, welche Form Ihre Boggarts während der Abschlussprüfung angenommen haben. Mr. Zabini, wie sind Sie bloß in Slytherin gelandet, wo Sie doch so große Angst vor Schlangen haben? Ms. Parkinson, Ihre Furcht vor Werwölfen muss Professor Lupin ziemlich getroffen haben. Und Sie, Mr. Malfoy –" Moody machte eine Pause, die Schlimmes erahnen ließ, wobei sein magisches Auge sich einem Bogen Papier zuwandte, den er in der Hand hielt, "– haben Angst vor Zombies, die Einhornblut trinken, stimmt's? Ziemlich peinlich und kindisch für jemanden Ihres Alters, finden Sie nicht?" "Nicht so peinlich wie das, was Sie am Montag getan haben", murmelte Draco. Moody hatte ihn gehört und wandte Draco sein schreckliches Auge zu. "Wenn Sie glauben, dass das peinlich war, dann frage ich mich, was Sie von dieser Stunde hier halten werden, Malfoy." Draco überlief es kalt, als Moody fortfuhr. "In Bezug auf die Handhabung von Flüchen sind Sie ziemlich weit zurück, wenn auch nicht so weit wie diese sechste Klasse, die vor zwei Jahren bei diesem Lockhart gar keine echten Flüche durchgenommen hat. Diese blöden Idioten glauben, dass sie nur ihren Zauberstab heben, damit rumwackeln und Peskipixi Pesternomi murmeln müssen, damit tatsächlich kornische Pixies rauskommen. Was für Hohlköpfe." Moody fügte hinzu: "Was ich damit sagen will, ist, dass ich hier bin, um Sie alle auf Zack zu bringen, damit Sie wissen, was Zauberer einander antun können. Ich hätte zwar nicht geglaubt, dass eine Klasse, die fast ausschließlich aus reinblütigen Slytherin-Kindern von Todbringern, ihren Schranzen und Anhang besteht, noch mehr Flüche lernen müsste, aber Professor Dumbledore hat gesagt, dass ich all meinen Klassen dasselbe beibringen muss, also fangen wir am besten gleich damit an." Draco hatte den Drang, sich im Raum umzusehen – er war sicher, dass ein paar seiner Klassenkameraden bei Moodys Rede das Lächeln vergangen war. Der Lehrer fuhr fort: "Flüche gibt es in vielen Stärken und Formen. Das Ministerium für Magie ist der Meinung, dass ich Ihnen die Gegensprüche beibringen soll, und damit hat sich's. Eigentlich sollen Sie erst im sechsten Schuljahr lernen, wie illegale schwarze Magie aussieht. Sie sind angeblich noch nicht alt genug, um damit umgehen zu können, obwohl ich das dumpfe Gefühl habe, dass einige unter Ihnen bereits einschlägige Erfahrungen darin und sie in ihren kleinen Verliesen zu Hause geübt haben. Habe ich Recht?" Er sah Draco wieder direkt an, der still dasaß und die Augen auf seine Notizen gerichtet hatte, während seine Feder über die Seite glitt und jedes Wort mitschrieb, das Moody sagte. "Wie Sie sicher wissen, wird ein Zauberer, der vorhat, Sie mit einem illegalen Fluch zu belegen, Ihnen das nicht vorher ankündigen. Er tut es nicht nett und höflich, indem er Ihnen dabei in die Augen sieht. Malfoy, haben Sie jemals erlebt, dass ein schwarzer Magier Ihnen vorher sagt, dass er Ihnen wehtun wird?" Er wartete nicht auf Dracos Antwort, also schloss Draco daraus, dass dies der Beginn von Moodys Fragen und spitzen Bemerkungen war, die darauf abziel64
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ten, die Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken. "Sie müssen vorbereitet sein", fügte Moody hinzu. "Sie müssen wachsam und auf der Hut sein. Also ... weiß jemand von Ihnen, welche Flüche in der magischen Gesetzgebung unter Höchststrafe stehen?" Mehrere Hände hoben sich zaghaft, darunter Pansys. Moody rief sie auf. Pansy zögerte, bevor sie sagte: "Ich habe von etwas gehört, das Imperius-Fluch genannt wird, stimmt das?" "Das ist korrekt", sagte Moody lobend. "Ich bin nicht überrascht, dass Sie davon gehört haben, Miss Parkinson, immerhin hat Ihr verrückter Vater behauptet, er hätte jahrelang darunter gestanden. Er und noch ein paar andere haben den Auroren jahrelang in Bezug auf den ImperiusFluch ziemlich zu schaffen gemacht." Moody beugte sich über das Pult, öffnete einen Schrank und nahm ein mit einem Deckel verschlossenes Glas heraus, in dem drei Taranteln hin und her flitzten. Draco lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hob die Füße vom Boden – wollte Moody die im Klassenzimmer laufen lassen? Moody griff ins Glas, bekam eine der Taranteln zu fassen und hielt sie ihnen in der hohlen Hand entgegen, so dass sie sie deutlich sehen konnten. Dann richtete er seinen Zauberstab darauf und murmelte: "Imperio!" Die Tarantel sprang von Moodys Hand und schlug einen Purzelbaum, dann landete sie auf Moodys Exemplar von Die dunklen Mächte und machte unmissverständlich einen Knicks. Alle lachten – alle außer Moody. "Das finden Sie wohl komisch, stimmt's?", knurrte er. "Es würde Ihnen wohl gefallen, wenn ich das mit Ihnen machen würde, oder? Meinen Sie, den Muggeln hat es gefallen, wenn die Todbringer so was mit ihnen gemacht haben?" Darauf erstarb das Gelächter. "Totale Kontrolle", sagte Moody leise, als die Tarantel sich zu einer Kugel zusammenrollte und über den Tisch kullerte. "Ich könnte sie dazu bringen, aus dem Fenster zu springen, sich zu ertränken oder Malfoy in die Haare zu springen ..." Draco hob die Hand und hielt sie sich vor die Stirn. Er traute Moody durchaus zu, dass er es wirklich tun würde! "Vor Jahren hatte das Ministerium den unmöglichen Auftrag zu versuchen festzustellen, wer unter Zwang gehandelt hat und wer aus eigenem Antrieb. Ein paar Leute glauben, dass sie dabei nicht immer zum richtigen Schluss gelangt sind." Als er das sagte, blickte jedes seiner Augen in eine andere Richtung, und Draco kam es vor, als ob er gleichzeitig Vin und Millicent ansähe. "Man kann den Imperius-Fluch abschütteln, und ich werde Ihnen beibringen, wie das geht, aber man braucht dazu einen wirklich starken Charakter, und den hat nicht jeder. Sie vermeiden also lieber, damit belegt zu werden. IMMER AUF DER HUT SEIN!", bellte er, und alle fuhren zusammen. Moody hob die Purzelbaum schlagende Tarantel auf und warf sie ins Glas zurück. "Kennt noch jemand einen? Noch einen verbotenen Fluch?" Keiner sagte etwas. "Es fällt mir schwer zu glauben, dass eine Klasse wie diese die beiden anderen verbotenen Flüche nicht kennt. Zabini!" Blaise zuckte auf seinem Stuhl zusammen. "Ja, Sir?" "Ihre Mutter ist verhaftet worden, weil sie bei einer Medo-Magierin vom Ministerium einen verbotenen Fluch benutzt hat, war das nicht so?" Blaise nickte fast unmerklich. Draco hatte gewusst, dass Mrs. Zabini vor Voldemorts Fall ein paar Monate in Azkaban verbracht hatte, aber Blaise sprach nie darüber, und Mrs. Zabini war immer völlig normal gewesen, wenn er sie in King's Cross getroffen hatte. "Welcher war das, Zabini?" "Der Cruciatus-Fluch", sagte Blaise leise, aber klar verständlich.
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Moody sah ihn sehr aufmerksam an, diesmal mit beiden Augen; mehr sagte er nicht dazu. Er wandte sein seltsames Auge wieder der Klasse zu, griff ins Glas nach der nächsten Tarantel und setzte sie auf den Tisch, wo sie sich völlig verängstigt zusammenzurollen schien. "Der Cruciatus-Fluch", sagte Moody, hob wieder seinen Zauberstab, richtete ihn auf die Tarantel und murmelte: "Crucio!" Sofort zog die Tarantel die Beine an, rollte sich auf den Rücken und fing fürchterlich an zu zucken, wobei sie wild herumzappelte. Es war kein Laut zu hören, aber Draco erkannte an ihren Bewegungen, dass sie vor Schmerzen schrie. Moody zog seinen Zauberstab nicht zurück, und die Tarantel fing an zu beben und noch heftiger zu zucken. Draco merkte gar nicht, dass er auf seinem Stuhl hin und her schaukelte, bis Gregory gegen die Sitzfläche trat und Moody zurief: "Hören Sie auf! Bitte! Die Leute fangen schon an auszurasten!" Moody hob seinen Zauberstab. Die Beine der Tarantel entspannten sich, aber sie zuckte immer noch. "Noch mal, Sie erstaunen mich. Wenn Sie es nicht ertragen können, ein seelenloses Insekt leiden zu sehen, wie wollen Sie dann jemals Menschen foltern? Lassen wir diesen Fluch aber erst mal beiseite – wir kommen später darauf zurück. Und zu guter Letzt, was wissen Sie über den Todesfluch?" Niemand hob die Hand, machte die leiseste Bewegung oder sagte ein Wort. Draco starrte auf sein Pergament, die Hand um die Feder gekrampft. Seit Moody mit dem Cruciatus-Fluch angefangen hatte, hatte er kein Wort mehr geschrieben. "Keiner kennt ihn?", fragte Moody. "Den letzten und schlimmsten verbotenen Fluch? Avada Kedavra ... der Todesfluch." Er langte mit der Hand ins Glas, und die dritte Tarantel hüpfte fast über den Boden und versuchte, Moodys Fingern zu entrinnen, so als wüsste sie, was sie erwartete, aber er packte sie und setzte sie auf die Tischplatte. Sie fing an, in Panik auf der Holzfläche hin und her zu flitzen. Moody hob seinen Zauberstab, und Draco befiel eine böse Vorahnung. Er hatte gesehen, wie sein Vater zwei Sommer zuvor diesen Fluch bei einem Fuchs angewandt hatte, nachdem ihre Hunde die kleine rote Kreatur am Fluss gestellt hatten. Ziel der Fuchsjagd war es, den Todesfluch perfekt anzubringen, so dass der Körper der Beute unversehrt blieb, und Lucius traf immer genau. Moodys donnernde Stimme riss ihn aus seiner Träumerei: "Avada Kedavra!" Es gab einen blendenden, grünen Lichtblitz und ein zischendes Geräusch, so als ob ein riesiger, unsichtbarer Dämon durch die Luft flog, und die Tarantel fiel sofort auf den Rücken, genauso unversehrt wie der Fuchs, aber unverkennbar tot. Moody fegte die tote Tarantel vom Tisch, so dass sie neben Dracos Füßen landete, die sich immer noch ein paar Zentimeter über dem Fußboden befanden. "Nicht nett", sagte er ruhig. "Nicht angenehm. Und es gibt keinen Gegenspruch. Man kann ihn nicht abwehren. Nur ein Mensch hat ihn unseres Wissens je überlebt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand unter Ihnen sich je mit Harry Potter darüber unterhalten hat, oder?" Moody fuhr fort, über die Flüche zu dozieren. "Avada Kedavra ist ein Fluch, der ziemlich viel magisches Können verlangt – Sie könnten jetzt alle Ihre Zauberstäbe herausziehen, sie auf mich richten und die Worte sprechen, ich glaube, dass ich nicht mal Nasenbluten davon bekäme. Und das gilt auch für alle, die den Fluch schon jahrelang geübt haben. Sie sind nicht alt genug für solch mächtige Magie, aber das ist auch egal. Ich werde ihn Ihnen trotzdem beibringen, und irgendwann werden Sie in der Lage sein ihn zu benutzen, wenn Sie es müssen, und wenn sie bereit sind, die Konsequenzen dafür zu tragen ... "Also ... diese drei Flüche – Avada Kedavra, Imperius und Cruciatus – sind als Verbotene Flüche bekannt. Wenn Sie einen davon bei einem Mitmenschen anwenden, dann kann das schon für einen lebenslangen Aufenthalt in Azkaban reichen. Das müssen Sie vermeiden. Das ist es, was ich Ihnen beibringen muss. Nehmen Sie Ihre Federn und schreiben Sie mit ..."
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Flüche bis zum Überdruss
6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Draco verbrachte den Rest der Stunde damit, sich Notizen über jeden einzelnen der Verbotenen Flüche zu machen. Keiner sagte etwas, bis es läutete – aber nachdem Moody sie entlassen hatte und sie das Klassenzimmer verlassen hatten, brach ein wahrer Tumult aus. Die meisten redeten ehrfürchtig über die Flüche – "Hast du gesehen, wie sie gezuckt hat?" – "... und als er sie getötet hat – einfach so!" *** Bevor er in Hogwarts angefangen hatte, zu der Zeit, als er sechs Tage in der Woche mit Hauslehrern in Schulzimmern oder auf dem Gelände des Herrenhauses verbracht hatte, hatte Draco außer Geschichte der Magie, Literatur, Sprachen und Mathematik auch einige Flüche gelernt; das war lediglich ein weiteres Fach gewesen, doch da er nie eine richtige Prüfung darin ablegen musste, hatte es sich dabei hauptsächlich um Theorie aus Büchern gehandelt, die, abgesehen von den Vorführungen, die er für Lucius gab, selten praktisch geübt wurde. Moodys Unterricht war etwas völlig anderes. In der zweiten Woche hielt er ihnen drei Viertel der Stunden Vorträge über Flüche, die die Körpertemperatur oder die Reaktion des Opfers auf Heiß und Kalt veränderten, dann verkündete er, dass Draco, weil er unter den Slytherin-Viertklässlern die besten Noten hatte, die Ehre haben würde, an diesem Tag bei der Vorführung des Tactus Frigidalus Moodys Partner zu sein. Moody sagte: "Ihnen macht es weniger aus als Ihren Klassenkameraden, wenn Sie nicht alles mitschreiben. Sie sind doch clever, oder?", fügte er höhnisch hinzu. Draco sah Moody geradewegs in die Augen und dachte: Ich versteh Sie, ich weiß, was Sie wollen, und ich werde nicht klein beigeben vor Ihnen; Sie glauben, Sie hätten Lehrers Liebling vor sich, der klüger ist, als gut für ihn ist und eine genauso finstere Seele hat wie sein Vater, nicht wahr? Ich werde stärker sein, als Sie glauben, und ich bin sicher, dass ich klüger sein kann als Sie. Draco sagte darauf kein Wort zu Moody, sondern nahm lediglich die traditionelle Duellposition ein, die er Jahre zuvor gelernt hatte. Und Moody zielte auf ihn und rief: "Frigorifico!" Der Fluch bewirkte, dass seine Hände und Füße sich anfühlten, als ob sie aus Eis wären. Es war sogar noch unangenehmer als an jenem Sommertag, an dem er sieben Stunden lang im Schneidersitz auf dem Fußboden von Lucius' Arbeitszimmer gesessen und einen Eiszapfen, der einen Meter über dem Boden schwebte, in hartgefrorenem Zustand gehalten hatte,. Das Gefühl ließ erst nach, als die Astronomiestunde an diesem Nachmittag halb vorbei war. Er versuchte, die mitleidigen Blicke, die ihm seine Mitschüler zuwarfen, zu ignorieren – er hatte dem Fluch widerstanden und sich weder bei Moody noch bei seinen Klassenkameraden beklagt – weshalb sahen sie ihn nur so an? An diesem Abend saß Draco vor dem Kamin auf dem Boden, wobei er endlich das Gefühl hatte, dass seine Körpertemperatur wieder fast normal war, und sah sich eines der Bücher an, die Lucius in dieser Woche geschickt hatte: Gewaltsame Justizausübung, ein historischer Roman über ein Team von Auroren, die 1944 die Anhänger des schwarzen Magiers Grindelwald festgenommen hatten, als Professor Snapes Kopf im Kamin erschien und den versammelten Slytherins ein paar Ankündigungen machte. Er redete kurz über das bevorstehende Trimagische Turnier und ermutigte ein paar der Jungen aus der siebten Klasse, sich zu bewerben. Dann fügte er hinzu: "Jeder Slytherin unter 17, der versucht sich zu bewerben, wird fünfmal bei mir nachsitzen." Nachdem er noch gesagt hatte, dass es in diesem Jahr Slytherin-eigene Quidditch-Spiele geben würde und den Zweitklässlern ein Buch empfohlen hatte, das er für sie in der Bibliothek reserviert hatte, endete er mit den Worten: "Draco Malfoy, bitte kommen Sie sofort in mein Labor." Ein Raunen ging durch den Gemeinschaftsraum. Draco war sicher, dass seine Klassenkameraden den anderen erzählen würden, was heute in Verteidigung gegen die Schwarze Magie passiert war, aber er klappte sein Buch zu, stand auf und ging mit erhobenem Kopf durch die Steintür in den Flur des Kellers und dann um die Ecke zum Slytherin-Hauslabor des Lehrers. Als er 67
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
durch die Tür trat, erwartete er fast, dass Professor Snape mit einem von dem halben Dutzend Kesseln beschäftigt sein würde, die auf dem Boden verteilt waren, aber stattdessen saß er hinter seinem Schreibtisch und trommelte mit den Fingern an ein Tintenfass. Draco war schon früher in Professor Snapes Labor gewesen – zu Beginn des zweiten Schuljahrs auf einen Brief von Lucius Malfoy hin, in dem er gefragt hatte, warum Draco nicht in der Lage war, ein Schlammblut wenigstens in einem Fach auszustechen, nicht mal in Zaubertränke, und dreimal im dritten Schuljahr: Nach dem Hippogryph-Angriff, nachdem er Potter in Hogsmeade gesehen hatte und am Ende des Jahres, als er sich zusammen mit anderen Schülern erboten hatte, beim Saubermachen zu helfen. Es ging das Gerücht, dass Professor Snape an dem Abend, als der Hippogryph und der Mörder entkommen waren, in einem Wutanfall sein eigenes Büro demoliert hatte, und Dracos Sympathie für jemanden, der ebenfalls wütend auf Buckbeak war, hatte ihn dazu gebracht, sich freiwillig zu melden. Die fünfzig Extrapunkte hatten sich ganz hübsch auf seine Noten ausgewirkt und hatten ihn in jenem Trimester in Zaubertränke besser abschneiden lassen als Hermione. Diesmal stand er vor dem Schreibtisch, wohl wissend, warum er dort war, und wartete darauf, dass Professor Snape das Wort ergriff. "Ich habe gehört, dass Sie heute in Verteidigung gegen die Schwarze Magie ein paar ziemlich unangenehme Augenblicke gehabt haben. Ist alles in Ordnung?" "So würde ich es eigentlich nicht nennen. Moody hat einen Fluch an mir demonstriert – mir geht's gut. Es ist nicht das erste Mal, dass ich behext worden bin." "Draco, ich habe das dumpfe Gefühl, dass Sie sich nicht mal dran erinnern können, wann Sie das erste Mal behext worden sind", antwortete Professor Snape. "Aber ganz egal, ich hab' Sie vor Moody gewarnt, und es überrascht mich eigentlich nicht, was er heute getan hat." Er sah sehr ernst aus und zögerte, bevor er fortfuhr. "Falls Sie keine unangenehmen Nachwirkungen verspüren, gehen Sie bitte zurück in den Gemeinschaftsraum – wir müssen nicht ewig darauf herumreiten. Aber lassen Sie mich bitte wissen, was in der nächsten Stunde passiert. Ich möchte es nicht wieder nur per Zufall erfahren." "Ich versprech's", sagte Draco. Der Lehrer wandte sich wieder den Papieren auf dem Schreibtisch zu, und Draco, der entlassen war, ging zum Schlafsaal der Slytherins zurück. Es war schön, jemanden zu haben, der sich um ihn kümmerte, der ihn nicht für seine Fehler kritisierte, oder höchstens, weil er dabei positive Absichten hatte. Solange Lucius nichts davon erfuhr ... und das würde Professor Snape nicht tun, nicht nach dem, was er Draco nach der ersten Auseinandersetzung mit Moody versprochen hatte. *** Am nächsten Donnerstagnachmittag erhielt Professor Snape Besuch von einer Schuleule, die ihm eine Nachricht brachte. Heute hat Moody uns im Unterricht einen Vortrag über den Druiden gehalten, der verschiedene Geruchs-Flüche entwickelt hat, darunter den Nubus Fetidus-Fluch, der den Behexten in eine stinkende Wolke hüllt, so dass niemand ihm mehr als zwölf Stunden lang nahe kommen will, bis der Fluch sich verflüchtigt hat. Dann hat Moody uns den Gegenspruch beigebracht, den wir ein paar Mal wiederholt haben. Ein paar Minuten vor dem Ende der Stunde hat er mich nach vorne gerufen und behext. Madam Pomfrey hat mich ins Adamantin-Zimmer gesperrt, aber ich kann diese Nachricht durch die Essensklappe schieben, und sie hat versprochen, sie Ihnen zukommen zu lassen. Glauben Sie mir, Sie legen mit Sicherheit keinen Wert darauf, mich vor morgen persönlich dazu zu befragen. Die Unterschrift lautete: "Gestankvoll, Draco." Professor Snape ging nichtsdestotrotz in die Krankenstation hinauf. Er unterhielt sich lautstark durch die Essensklappe mit Draco; im Wesentlichen wiederholte er seine Empfehlung, Draco solle den Unterricht so gut es ging auf sich nehmen und ihn wissen lassen, was Moody in jeder Stunde tat. "Moody wird sich freuen, wenn Sie sich dabei wie ein guter Verlierer verhalten, 68
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und ein selbstzufriedener Moody ist ein zufriedener Moody, der die ramponierten Überreste seiner Nase nicht in die Angelegenheiten anderer Leute steckt." Im weiteren Verlauf des Schulhalbjahrs wurde Draco fast in jeder Stunde Verteidigung gegen die Schwarze Magie nach vorn vor die Klasse gezerrt. Wenn er Professor Snapes praktische Gründe, Moody bei Laune zu halten, nicht für überzeugend genug gehalten hätte, hätte er sich wohl geweigert. Es gelang Draco, ein paar von Moodys Flüchen gleich beim ersten Versuch abzublocken, vor allem dann, wenn Lucius ihm den Gegenspruch bereits beigebracht hatte. Er wehrte Rictusempra ab, Tarantallegra, den er Jahre zuvor erfolgreich bei Potter benutzt hatte, Tripsichor, der das Opfer mit zwei linken Füßen ausstattete, und Curio, der die Haut des Betroffenen in Leder verwandelte [Anmerkung der Autorin: Das kommt in dieser Geschichte Draco-in-Lederhosen am nächsten, zumindest für den Augenblick. Es ist also zwecklos, mehr davon zu wollen!]. Wenn der Fluch ihn nicht traf, musste Draco seinen Zauberstab wieder weglegen, woraufhin Moody ihn noch einmal behexte, und beim zweiten Mal hatte er immer Erfolg, da Draco keine Möglichkeit hatte sich zu verteidigen. (Moody warnte die Klasse ständig davor, ihre Zauberstäbe wegzulegen, selbst wenn sie schliefen. "Immer auf der Hut sein!", rief er mindestens zweimal pro Stunde.) Doch Draco hatte nie wirklich die Chance, den Gegenspruch zu üben, bevor Moody ihn als Versuchskaninchen benutzte, und ein paar dieser Gegensprüche waren beim ersten Versuch ganz schön schwierig. Einmal verpasste er jede Mahlzeit, weil er mit einem Fluch belegt worden war, der aus den amerikanischen Kolonien stammte, genannt der Kopflose Reiter, der seinen Kopf zwölf Stunden lang unsichtbar machte, weswegen er seinen Mund nicht sehen konnte. Wenigstens tat dieser Fluch nicht weh, und die ganze Klasse amüsierte sich an diesem Tag königlich über Teile von Moodys Vortrag. "Der Kopflose Reiter kann auch auf andere Körperteile als den Kopf angewandt werden, deshalb benutzen ihn betrunkene Zauberer gern bei Junggesellenpartys gegen den Bräutigam." An dem Oktobertag, als sie den Fluch von Simon Branford lernten, brachte Moody ihnen keinen Gegenspruch bei. Er behexte Draco an diesem Tag nicht selbst, da der Fluch nur von einer Hexe ausgeführt werden konnte, deshalb brachte er ihn stattdessen Pansy Parkinson bei. Sie stellte sich vor die Klasse, richtete ihren Zauberstab auf Draco und rief: "Simonisiert!" Er schoss durch den Raum, stellte sich hinter sie und fing an, ihr Schultern, Arme und Rücken zu massieren, während sie seufzte und die Augen schloss. Moody hielt derweil seinen Unterricht ab und erklärte, dass der Fluch erst drei Jahre zuvor von einer Hexe kreiert worden war, die sich furchtbar darüber geärgert hatte, dass ihr Liebhaber Simon Branford ihr nichts Gescheites zum Geburtstag geschenkt hatte; bis sie den Fluch aufhob, musste er sie ohne Unterbrechung permanent massieren. Als die Hexe den Fluch drei Tage später aufhob, war er dabei so geschickt geworden, dass sie beschlossen, ein luxuriöses Bad zu eröffnen, das inzwischen zur berühmtesten Adresse in der Seezon Alley geworden war. Pansy hob den Fluch mit einem trägen Finite Incantatem erst zwanzig Minuten nach Ende der Stunde auf, doch die Slytherin-Mädchen brachten ihn (gegen eine geringe Gebühr) den jüngeren Hexen in ihrem Haus bei, und bis Draco endlich auf einen Tipp von Professor Snape in der Verbotenen Abteilung der Bibliothek das entsprechende Buch fand, war der Slytherin-Gemeinschaftsraum jeden Abend voller ausgesprochen entspannter Mädchen und extrem ärgerlicher Jungen. An jenem Tag war ihm nichts Schlimmeres passiert, als dass er einen Krampf in den Händen bekommen hatte. An anderen Tagen konzentrierte Draco sich nur halb auf die Worte des Lehrers, der das Maß an Verwirrung, Verunstaltung, Unbehagen oder Schmerz beschrieb, das von bestimmten Flüchen verursacht wurde, sich pflichtbewusst Notizen dazu machte, während sein Inneres sich in angstvoller Erwartung verkrampfte und die andere Hälfte seines Verstandes allerlei ausheckte, wie er es dem Lehrer heimzahlen konnte. Jeden Donnerstagmorgen ließ er die Rufe "Viel Glück!", "Er kann nicht schlimmer sein als letzte Woche!" und "Er kann nicht schon wieder einen Grund finden, auf dir rumzuhacken!" über 69
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sich ergehen. Das Frustrierende an all dieser Behexerei im Unterricht war, dass er präsent sein musste – er konnte seine Gedanken nicht einfach abschweifen lassen, in Trance verfallen oder Projizieren, sondern musste Moody zuhören, ihm antworten und versuchen, die Flüche und Sprüche abzuwehren. Als er erwartet hatte, Moody werde den Nasosanguinus-Fluch an ihm demonstrieren, hatte er versucht abzuschalten, als er vorne stand, aber Moody hatte gemerkt, dass irgendetwas merkwürdig war und hatte ihn stattdessen mit dem Unguen-Fluch belegt. Der Boden wurde ihm unter den Füßen weggezogen, und er landete mit gespreizten Beinen auf dem Hintern und konnte nicht wieder aufstehen, ohne hinzufallen. Moody entließ die Klasse etwas früher, ließ Draco aber auf dem Boden sitzen. Der Lehrer verbrachte fast eine halbe Stunde damit, sich lautstark über undankbare Schüler auszulassen, die weder die Bedeutung dessen, was sie lernten, verstanden, noch wie rühmlich und bedeutsam es war, dass der Lehrer sie als stark und klug genug betrachtete, die Flüche abzuwehren. Draco wusste, dass Moody log. Das sadistische Schwein genoss es einfach, anderen Schmerzen und Leid zuzufügen und sie in Verlegenheit zu bringen. Lernen war viel besser als die Stunden in Verteidigung gegen die Schwarze Magie. Die AG traf sich zweimal in der Woche, drei Stunden am Mittwochabend und zwei Stunden oder so jeden Sonntag, wobei sie hinter den Schutzzaubern, die Draco immer noch vor jeder Sitzung verhängte, in ihren üblichen Trott verfielen; sie recherchierten Gegengifte für Zaubertränke, korrigierten gegenseitig ihre Aufsätze über die Koboldaufstände für Professor Binns, erstellten dreidimensionale schematische Darstellungen für Arithmantik und übersetzten neu entdeckte Runen ins Lateinische, was sie dann ins Englische übersetzten. Die Ravenclaws und Hermione gaben ihm ihre Aufzeichnungen aus Verteidigung gegen die Schwarze Magie – denn obwohl Moody gesagt hatte, dass sie alle dasselbe lernten, unterschied der Unterricht der Gryffindors und Ravenclaws sich erheblich von dem der Slytherins. In den ersten paar Wochen des Halbjahrs hatte er nicht gedacht, dass er es einmal erwähnen würde, dass er Moody als Versuchskaninchen im Unterricht diente. Am Donnerstag vor Halloween belegte Moody ihn jedoch mit dem Obliviscor-Fluch, der bewirkte, dass er die Hausaufgaben für Zaubertränke am nächsten Tag vergaß; beim nächsten Sonntagstreffen der AG fragte ihn Hermione, warum er die Arbeit nie abgegeben hatte, obwohl er doch gesehen hätte, dass sie am Mittwochabend daran gearbeitet hatte. "Weil Moody mich behext hat, damit ich alles Mögliche vergesse, inklusive dieser Arbeit. Wen hat er sich in eurer Stunde am Donnerstagnachmittag geschnappt? Longbottom? Wenn ja, dann hätte das wohl nicht viel ausgemacht." Hermione sah ihn verständnislos an. "Er hat niemanden behext. Er hat uns einen Vortrag darüber gehalten, dann haben wir ein paar Bilder rumgehen lassen, die ein Auror von den Opfern des Fluchs gemacht hat, auf denen sie benommen aussahen, und das war's. Miranda, hat er einen von den Ravenclaws behext?" "Nein!", sagte sie total entsetzt. "Wenn er das versucht hätte, hätten wir ihn ebenfalls behext. Kannst du dir einen Lehrer vorstellen, der es wagt, sich mit dem Verstand eines Ravenclaw anzulegen?" Jetzt war es an Draco, sich verständnislos umzuschauen. "Er hat also nur mich behext? Er demonstriert die Flüche also tatsächlich nur im Unterricht der Slytherins?" "Die sechste Klasse der Ravenclaws hat Verteidigung zusammen mit den Slytherins, und keiner hat erwähnt, dass Moody irgendwen behexen würde, abgesehen natürlich vom ImperiusFluch, aber sie bereiten sich auch mehr auf ihre OWLs1 vor und beschäftigen sich weniger mit praktischen Flüchen, vielleicht ist das der Grund", sagte Reilly. "Ich bin sicher, dass er das nicht jede Woche machen wird", sagte Hermione beruhigend. "Wenn du ihn darum bätest, sie irgendwie anders zu demonstrieren, täte er das bestimmt." 1
"Ordinary Wizarding Levels", angelehnt an das britische Schulsystem, wo die Schüler im Alter von 16 Jahren das General Certificate of Secondary Education (GCSE) erwerben, so was Ähnliches wie die mittlere Reife. Außerdem ein hübsches Wortspiel, da "owl" im Englischen "Eule" heißt. Anm. d. Ü. 70
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"Das kann ich nicht. Erstens wäre das eine Demonstration von Schwäche, und Malfoys sind niemals schwach. Zweitens hieße das zuzugeben, dass er mich kleingekriegt hat. Ich hab mir schon gedacht, dass er genau das versucht, und ihr drei habt mich davon überzeugt", erwiderte Draco, und seine Augen glitzerten irgendwie boshaft. "Ich werde mir was ausdenken, um ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, oder um ihn zumindest dazu zu bringen, sich jemand anderen rauszupicken, und wenn es mich das ganze Jahr kosten sollte." Hermione und Reilly sahen sich an. Sie sagte: "Du musst vorsichtig sein. Wenn du zu weit gehst ... Draco, pass auf, dass du da nicht in irgendwas reingerätst, was du gar nicht willst." "Ich kann auf eure Ratschläge verzichten", antwortete er scharf. "Aber ich will Abschriften von all euren Notizen aus Verteidigung gegen die Schwarze Magie, und wenn ihr die Güte hättet, es mir zu erzählen, falls ihr irgendwas über Moodys Vergangenheit in Erfahrung bringt, wäre ich euch sehr verbunden." Draco wandte sich wieder seinen Büchern zu, vorerst hatte er genug über Moody geredet. Als Draco das nächste Mal Gelegenheit hatte, mit Professor Snape zu sprechen, erhielt er einen Erlaubnisschein für das Geschichtsregal im verbotenen Flügel der Bibliothek, ohne dass er ihm sagen musste, wozu er ihn brauchte. Draco wollte sich zwei Bücher beschaffen: Aus dem Leben gegriffen: Auroren im 20. Jahrhundert und Die Dunkle Bedrohung und jene, die sie bekämpft haben, die beide in dieser Abteilung standen, weil darin ein paar blutrünstige Bilder von Auroren in Ausübung ihrer Pflicht zu sehen waren. Er hatte bereits Der Torhüter war ein Spion und konnte Nicht nur der Besen zählt, Große Zauberer des 20. Jahrhunderts, Berühmte magische Namen unserer Zeit und Ungewöhnliche Zeiten in der normalen Abteilung finden – eigentlich sollte er darin eine Menge biografisches Material über Moody finden können, denn, wie Lucius immer sagte: "Ein Feind, über den man sich nicht informiert, ist wie ein Fass ohne Boden." Draco konnte erst dann effektiv gegen Moody vorgehen, wenn er mehr über ihn erfahren hatte und wusste, wo seine Fehler und Schwächen lagen. Natürlich hätte er Professor Snape eine Menge Fragen stellen können, aber er befürchtete, dass Fragen über Moody keine brauchbaren Antworten ergeben würden. *** Als ob es nicht Beweis genug wäre zuzusehen, wie ihr Lehrer einen ihrer Klassenkameraden systematisch behexte, konnten die Slytherins sich von Moodys sadistischen Tendenzen an dem Tag mit eigenen Augen überzeugen, als er alle mit dem Imperius-Fluch belegte. Millicent wirbelte wie eine anmutige Ballerina auf Zehenspitzen durch den Raum. Blaise legte sich auf den Bauch und rutschte vor der ganzen Klasse wie eine Schlange über den Boden. Violet Musgrave belegte sich selbst mit dem Azuro-Fluch und wurde leuchtend blau. Lavinia Pitkin sang die Schulhymne rückwärts, und Vin machte Greg jede Bewegung nach, was Greg so verrückt machte, dass er steif auf seinem Stuhl sitzen blieb, bis Moody den Fluch von Vin nahm und Greg dazu brachte, eine Katze zu imitieren. "Und zum guten Schluss", knurrte Moody schließlich, "sind Sie dran, Malfoy." Draco begab sich in die Mitte des Klassenzimmers, wo Moody die Bänke beiseite geschoben hatte. Moody hob seinen Zauberstab und richtete ihn auf Draco. Als er Imperio sagte, war seine Stimme eiskalt. Es war ein absolut erstaunliches Gefühl. Draco fühlte sich, als ob er schwebte, fast so, als glitte er in eine Projektions-Trance, aber er konnte seine Glieder weiterhin fühlen, die unendlich schwer wurden, als all seine Gedanken und Sorgen nach und nach wie weggeweht waren und lediglich ein vages, nicht recht einzuordnendes Glücksgefühl hinterließen. Er fühlte sich unsagbar entspannt, als er dort stand, und dachte verschwommen, dass es ihm bei diesem Fluch im Gegensatz zu all den anderen, mit denen Moody ihn belegt hatte, nichts ausmachte, dass alle ihm zusahen.
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Und dann hörte er Mad Eye Moodys Stimme, die in einem fernen Teil seines leeren Hirns widerhallte: Legen Sie den Treueid ab. Erklären Sie, dass Sie dem Finsteren Lord dienen werden. Draco machte den Mund auf und drehte seinen Arm herum, wobei er aus irgendeinem Grund seine Robe vom rechten Handgelenk zog, als eine andere Stimme in seinem Hinterkopf sagte: "Und wieso?" Hiermit verschreibe ich meinen Geist ... Das waren Worte, die er nie zuvor gehört hatte, aber sein Verstand schien sie genau zu kennen. ... meinen Körper, meine Seele, meine Kräfte, meine Ziele ... Er versuchte, den Mund zuzumachen und seine linke Hand von seiner Robe wegzuziehen, aber dann ergriff ein vertrautes, niederschmetterndes Gefühl Besitz von seinen Körper, und er fühlte, wie er sich verkrampfte. "Wehr dich nicht gegen mich", sagte eine dritte Stimme. Sie hörte sich nicht wie Moody an – es war eine jüngere Stimme, die irgendwie spröde klang. ... der andauernden Vollkommenheit, Ruhm und Macht des Finsteren Lords und jener, die an die Überlegenheit von magischem Blut glauben ... Das zweifache Gefühl der Ekstase und des Drucks wich gleichzeitig von ihm, und er hielt sich mit der Hand an der Tischkante fest, um nicht hinzufallen. Er sah zu Moody auf, und ihre Blicke trafen sich. Der Scheißkerl stand einfach nur lächelnd da. "Sie können gehen", rief er. Draco rannte förmlich aus der Tür und zurück in den Gemeinschaftsraum, wobei er die Rufe hinter sich ignorierte. Er jagte durch die Kellergewölbe an ehemaligen Kaminen vorbei in sein Zimmer, wo er sich auf sein Bett warf und die Vorhänge zuzog. Er zitterte und war völlig sprachlos über das, was er gesagt und getan hatte. Er wollte einem besiegten Zauberer nicht die Treue schwören, und obwohl er durchaus der Meinung war, dass magisches Blut im Allgemeinen allem anderen überlegen war, hatte er nicht vor, einen Eid zu leisten, ohne mehr darüber zu wissen, woran er ihn band. Magische Eide waren wie Wünsche und Fluch-Gaben – sie banden denjenigen, der sie aussprach, an seine Worte. War ein Eid, der unter dem Imperius-Fluch geleistet wurde, wirklich so bindend? Er musste Professor Snape suchen, aber er wollte mit niemand anderem reden und keine Fragen darüber beantworten, was er in Verteidigung gegen die Schwarze Magie getan hatte. Es war ihm ja selbst nicht einmal klar, wie sollte er es dann anderen Leuten erklären? Aber Snape wusste, dass Draco Projizieren konnte! Wenn er bis zum Abend wartete, konnte er mit seinem Lehrer unter vier Augen sprechen, und seine Klassenkameraden würden annehmen, dass er schlief. Er musste lediglich den Rest des Tages damit verbringen, sich in seinem Bett zu verstecken ... Es war neun Uhr, bevor Draco meinte, dass es nun sicher genug sei, in Snapes Büro zu Projizieren. Im Laufe des Abends waren seine Schlafsaalgenossen ein und aus gegangen, aber er hatte es ignoriert, wenn sie seinen Namen gerufen hatten, und sie hatten wahrscheinlich angenommen, dass er schlief. Er benutzte seinen Zauberstab, um die Vorhänge fest zu versiegeln und eine Konzentrationskugel zu beschwören, dann setzte er sich im Schneidersitz mitten auf sein Bett und sah zu, wie die winzigen, hellen Funken um die sechs Zoll große Kugel flogen. Er schloss die Augen und merkte, wie die vertraute Leichtigkeit ihn einhüllte. Als er die Augen öffnete, befand er sich vor einer schweren Steintür, auf der "Professor S. Snape" stand. In diesem Zustand konnte er nicht anklopfen oder an dem schweren Klingelzug ziehen, der drinnen die winzige Glocke auf dem Schreibtisch des Lehrers erklingen ließ, also hockte er sich auf den Boden und steckte den Kopf einfach durch die Tür. Wie er gehofft hatte, war Professor Snape da, aber zu vertieft darin, Pergamente zu korrigieren, um Draco zu bemerken, der jetzt ganz hereinkam, aufstand und leise sagte: "Professor? Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?" 72
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Professor Snape wäre vor Schreck beinahe aufgesprungen, erholte sich jedoch rasch und sagte: "Draco, ich habe die Tür nicht gehört. Haben Sie geklopft?" Draco schüttelte den Kopf. "Ich bin im Zustand der Projektion. Ich wollte nicht durch den Gemeinschaftsraum gehen, und ich musste Sie heute Abend sprechen. Es ist was passiert heute in Verteidigung gegen die Schwarze Magie." "Kommen Sie, setzen Sie sich und erzählen Sie es mir", sagte der Lehrer. Draco lehnte den Stuhl ab, da es ihm irgendwie sinnlos erschien sich hinzusetzen, und blieb stattdessen vor dem Schreibtisch stehen und beschrieb einem ausgesprochen schockierten Severus Snape, was er unter dem Imperius-Fluch getan hatte. "Ich weiß nicht, was es heißt. Bin ich nun gebunden? Hat das, was ich gesagt habe, mich zu einem Todbringer gemacht? Ich habe keinen der Schritte vollzogen, die es zu einem echten Eid machen würden, weil ich nichts von mir selbst gegeben habe – kein Haar, kein Blut, nicht mal einen Fingernagel – und ich musste nichts trinken oder die Person berühren, die die Eideszeremonie geleitet hat, jedenfalls glaube ich das. Was meinen Sie?" Seine Stimme klang jetzt etwas schrill. "Darauf kann ich keine Antwort geben. Ich bin selbst kein Eidexperte, da bei den einzigen Eiden, die ich selbst geleistet habe, alle Verfahrensregeln eingehalten wurden, aber ich glaube, dass jemand nur an den Todbringer-Eid gebunden ist, wenn er vor Sie-Wissen-Schon-Wem persönlich abgelegt wurde, und das war bei Ihnen nicht der Fall." "Weil er fort ist, sich in Luft aufgelöst hat?", fragte Draco. "Er treibt sich sicher nicht in Großbritannien herum", antwortete Snape. "Sie könnten Ihren Vater fragen, aber ..." "Nein!", rief Draco. "Er würde mich umbringen, wenn er rausfände, dass ich mich dem Imperius-Fluch gebeugt habe, ganz egal, was ich dabei getan habe. Er hat seit acht Jahren versucht mir beizubringen, wie man ihn bekämpft." Snape hörte Draco mit großen Augen zu, als er weitersprach. "Das Beste, was mir gelingt, ist, die Wirkung ein paar Sekunden hinauszuzögern, und das auch nur bei ihm. Als Moody den Fluch gesprochen hat, habe ich mich einen Moment dagegen gewehrt, und es hat sich ganz anders angefühlt, als wenn Lucius es getan hat, aber wenn ich gewusst hätte, was Moody vorhatte ..." "Draco, ich kann deswegen nicht zu Dumbledore gehen. Die Vorschriften des Ministeriums verlangen, dass er jegliche schwarze Magie auf dem Schulgelände meldet, von der er Kenntnis erlangt, aber wir Lehrer haben diese Verpflichtung nicht, weil wir ab und zu kleinere dunkle Sprüche benutzen müssen, um Ihnen beizubringen, wie man sich dagegen verteidigt und wie man Gegenmittel herstellt. Darunter fällt zum Beispiel mein Veritaserum. Das Ministerium würde es als Schwarze Magie bezeichnen, aber die Siebtklässler müssen es als Ingredienz für einen Trank benutzen, mit dem sie Bauernhoftiere aufspüren können, was aus irgendeinem Grund seit dreihundert Jahren Bestandteil der N.E.W.T.s2 ist, deshalb muss ich es nicht melden, wenn ich welches gebraut habe." "Was soll ich jetzt machen?" "Draco, jeder in Ihrer Klasse weiß, dass Sie es getan haben, während Sie unter dem Imperius-Fluch standen." "Was ist, wenn sie denken, ich hätte ihn abgeschüttelt und es aus freien Stücken getan? Was, wenn Moody versucht, mich in Schwierigkeiten zu bringen, indem er es Dumbledore erzählt?" "Ich glaube nicht, dass er das tun wird, aber es gibt eine Möglichkeit, wenigstens Ihre Aussage zu protokollieren." Professor Snape stand auf, ging zu einem kleinen Schrank auf der anderen Seite des Zimmers und zog die Tür auf. Der Raum war plötzlich von einem seltsamen, blauen Leuchten erfüllt. "Das ist mein Gedankenbassin." Professor Snape zeigte auf ein flaches Steinbassin mit seltsamen Gravuren auf dem Rand, Runen und Symbole, die die Begriffe Erinnerung, Gedanken, Bewusstsein und das betrachtete 2
Entspricht dem Fachhochschulabschluss in englischen Schulen, ebenfalls ein hübsches Wortspiel mit "newt", "Molch". Anm. d. Ü. 73
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Leben beschrieben. Das silbrige Licht ging vom Inhalt des Bassins aus, einer Substanz, wie Draco sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er konnte nicht sagen, ob es sich dabei um eine Flüssigkeit oder um ein Gas handelte. Sie war von hellem, weißlichen Silber, fast genau von derselben Farbe wie sein Haar, und drehte sich ohne Unterlass. Er sah, wie Karkaroffs Gesicht sich auf der Oberfläche drehte, dann etwas, das aussah wie eine ältere Version von Harry Potter. Snape begann, die Vorrichtung zu beschreiben. "Ich kann meine Erinnerungen an das, was Sie mir erzählt haben, hier hineintun. Es ist nicht möglich, die Erinnerungen eines anderen Menschen in mein Gedankenbassin zu tun, aber ich kann Ihnen zeigen, wie Sie Ihr eigenes herstellen können. Das ist ausgesprochen fortgeschrittene Magie, also nichts, was jemand aus der vierten Klasse normalerweise tun würde, aber wenn Sie eins haben und es richtig benutzen, dann kann das, was darin ist, Sie eines Tages beschützen. Hier, sehen Sie mal." Er zog seinen Zauberstab aus seiner Robe und tippte sich damit neben der Schläfe ans Haar. Als er den Zauberstab wegzog, sah es so aus, als ob ein Haar dranhinge. Draco wunderte sich einen Augenblick, wie sein eigenes Haar an den Zauberstab des Lehrers gekommen war, aber dann merkte er, dass es in Wirklichkeit ein glänzender Faden derselben merkwürdigen, silbrigweißen Substanz war, die das Gedankenbassin füllte. Professor Snape fügte diesen leuchtenden Gedanken dem Inhalt des Bassins hinzu, und Draco war überrascht, als er Hermiones Gesicht auf der Oberfläche der Schale schwimmen sah. Dann machte er Draco ein Zeichen, dass er sich von der Schale entfernen sollte, verschloss die Schranktür wieder und ging zu seinem Schreibtisch zurück, wo er einen Blick auf seinen Löschpapier-Kalender warf. "Wenn Sie versuchen wollen, sich selbst eins zu machen, dann helfe ich Ihnen dabei. Ich fürchte aber, dass erst im nächsten Halbjahr was draus werden wird. Ich habe vor den Ferien eine Menge zu tun. Sollen wir im Januar damit anfangen?" Draco nickte, er war ganz aufgeregt, dass sein Lehrer einen Vorschlag hatte, der so aussah, als könnte er nützlich sein. Ein Gedankenbassin für seine Erinnerungen! Er könnte seine Schulaufgaben hineintun, und Dinge, von denen Lucius wollte, dass er sie sich merkte, und detaillierte Quidditchzüge, und alles, was Moody je getan hatte. Und wenn es an der Zeit war, dann wäre er in der Lage, ihn zu kriegen. *** Draco hatte außerdem die Bücher gelesen, die er sich dank Professor Snapes Bibliotheksausweis hatte ausleihen können. Wenn er noch ein paar Wochen warten musste, bevor er mit dem Gedankenbassin anfangen konnte, sollte er sich zumindest umsehen, ob er in der Zwischenzeit etwas tun konnte, um Moody entweder zu ärgern oder ihn dazu zu bringen, Draco aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Er hatte bereits herausgefunden, dass Moody über fünfzig Jahre als Auror verbracht hatte, wobei er nicht nur praktisch gearbeitet, sondern auch im Ministerium Verhörtechniken gelehrt und im Merlin College in Cambridge Seminare in Verbrechensbekämpfung abgehalten hatte. Darüber hinaus hatte Draco auch noch ein paar persönliche Informationen über ihn gefunden. Moody war in den 1930ern über ein Jahrzehnt lang verheiratet gewesen, aber seine Frau war von einem Lakaien Grindelwalds zu Tode gehext worden, und er hatte nie wieder geheiratet. Sie hatten keine Kinder, aber in einem der Bücher wurde behauptet, dass Moody in der Lage sei, während seiner Ermittlungen in geistigen Kontakt zu Kindern zu treten. Am interessantesten fand Draco, dass Moody im Ministerium berühmt dafür war, dass er Muggel-Schlager auf dem Klavier spielen konnte. In der Schule spielte Draco nie irgendwo, wo er gestört werden konnte; obwohl Lucius zuließ, dass er auch zu Hause spielte, stand das Klavier in seinem Zimmer, damit Besucher es im Salon nicht sahen, und man hatte ihm gesagt, er solle niemandem in der Schule von seinen musikalischen Interessen erzählen. Als er in Hogwarts angefangen hatte, hatte er gedacht, dass er nur in den Ferien Gelegenheit haben würde, ein richtiges Instrument zu spielen, aber eines Nachmit74
Flüche bis zum Überdruss
6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
tags war er in einem Raum auf dem Flur von Dumbledores Büro über eine Harfe gestolpert. Er hatte nur zwei Nachmittage lang darauf spielen können, bevor er von einem Viertklässler aus Hufflepuff namens Cedric Diggory dabei überrascht worden war. Diggory war zwar beeindruckt, aber Draco wusste, dass er im Falle eines Falles jedem erzählen würde, was er gesehen hatte. Draco wollte sich vor seinen Hausgenossen nicht demütigen lassen und bestand darauf, dass Diggory es geheim hielt; Diggory war einverstanden, aber Draco befürchtete ständig, dass er ihn verraten würde. Ungefähr in der Mitte des zweiten Schuljahrs erblickte er Diggory jedoch auf dem Rückweg vom Quidditchtraining (wobei er wie immer hinter den anderen herrannte, da er Lucius' Übungen fertig machen musste) mit der Sucherin der Ravenclaws. Jetzt hatte er ein Druckmittel, das ihn etwas sicherer machte, dass Diggory nicht über seine Musik plaudern würde. Im zweiten Jahr hatte Draco daran gedacht, sein eigenes Klavier in eine Miniatur zu verwandeln und es in die Schule zu schmuggeln, aber ein so großes Instrument täglich zu schrumpfen und wieder zu vergrößern würde es zu schnell verstimmen, das war also nicht praktikabel. Zauberer benutzten bereits seit Jahren selbstspielende Musik auf Pergamentrollen, aber die einzige Möglichkeit, ein Lied fachgerecht aufzuschreiben war, es auf Der Treffende Ton-Pergament zu übertragen, und das war lediglich eine brauchbare Alternative, wenn man Musik hören wollte. Im dritten Schuljahr war es Draco jedoch gelungen, das Pergament noch auf andere Art zu verzaubern, so dass er auf einer Pergamentrolle eine Klaviertastatur in Originalgröße bekam, und wenn er sie auf einen Tisch legte, konnte er damit zumindest spielen üben. Es klang dünn wie Papier und krächzend, aber es war besser als nichts. Und es war wunderbar, mit dem Pergament in ein verlassenes Zimmer oder mitten in der Nacht in den Gemeinschaftsraum zu gehen und einfach zu spielen und sich von der Musik tragen zu lassen, während er verzauberte Klänge erschuf. Er hatte gerade genug über Musiktheorie gelesen um zu wissen, dass die Zauberer der griechischen Antike die Musik als eine andere Form von Magie ansahen. Muggeln, oder wie immer sie damals genannt wurden, war es nur unter Aufsicht eines Zauberers gestattet Musik zu komponieren. Erst Jahrhunderte später hatte eine kleine Gruppe von arabischen Zauberern entdeckt, wie man die Magie in der Musik beherrschen konnte und die Welt mit ihren Zauberformeln überschüttet, um die Muggel daran zu hindern, aus Versehen zu zaubern, wenn sie sangen. Trotzdem hatte die Musik sich zumindest einen Rest der Fähigkeit bewahrt, die Gedanken der Menschen fast unmerklich zu verändern, auch wenn sie unterdrückt worden war, und selbst ausgebildete Zauberer waren nicht immun dagegen. In den letzten Jahrhunderten war die Musik mit jenen in Zusammenhang gebracht worden, die die schwarze Magie bekämpften, zum Beispiel mit Professor Dumbledore, der sich für Kammermusik interessierte, was für Draco eine ausreichende Erklärung dafür war, warum Lucius Lieder hasste und warum sein Sohn sie liebte. Es war ein Zeichen für Dracos fast verzweifeltes Bemühen, Moody daran zu hindern ihn weiterhin zu behexen, dass er tatsächlich in Erwägung zog, dem Lehrer zu sagen, wie musikalisch er war. Vielleicht wäre Moody netter zu ihm, wenn er eine Brücke zwischen ihnen schlug. Bei Professor Vector und Professor Snape funktionierte es immer, aber wie sollte er es bei Moody anstellen? Er würde jedenfalls nicht demonstrativ sein Pergament-Klavier im Unterricht auspacken. Moody würde ihn wahrscheinlich, wo er gerade saß, behexen! Und wie konnte er mit einem Lehrer, der ihn nur ansprach, um mit ihm zu streiten, ihn zu kritisieren oder ihn zu behexen, einfach so ein Gespräch anknüpfen? Es wurde Mitte November, bis Draco seinen Plan in die Tat umsetzte. Er hatte das MoodyProblem beiseite geschoben, als ein paar Siebtklässler die Viert- und Fünftklässler zu einem Wettbewerb herausforderten, ein Anti-Potter-Abzeichen für das Trimagische Turnier zu kreieren, wobei die Verlierer den Gewinnern fünfzig Galleonen bezahlen mussten. Doch nach einer Stunde, in der Moody ihn zweimal behexte – einmal mit einer Variante von Expelliarmus, die ihn dazu brachte, alles fallen zu lassen, was er in der Hand hatte, was zu dem Zeitpunkt der gesamte 75
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Inhalt der Schubladen seines Pults war, die Moody durchsucht hatte, und einmal mit einer etwas anderen Version von Wingardium Leviosa, die alles in die Luft fliegen und auf seinen Kopf fallen ließ -, war Draco direkt zum Lehrerpult gegangen und hatte so getan, als ob er stolperte. Zum dritten Mal an diesem Tag fiel ihm alles aus den Armen, und sein kleines Pergament mit dem Vier-Oktaven-Klavier und drei Rollen Ton-Pergament, die er von irgendeinem amerikanischen Stück namens Into the Woods adaptiert hatte, rollten über Moodys Pult und landeten in seinem Schoß. Draco stammelte eine Entschuldigung und versuchte so auszusehen, als sei es ihm unangenehm, als er Moody bat, ihm die Pergamentrollen zurückzugeben, die sich alle entrollt hatten. "Malfoy, wenn Sie sich im Unterricht nicht besser zusammennehmen, dann werde ich mit Snape darüber reden, Ihre Quidditch-Karriere zu beenden." Moody fing an die Rollen aufzusammeln, zerknitterte sie und fügte hinzu: "Es ist wahrscheinlich sehr gefährlich, jemanden, der so ungeschickt ist wie Sie, mit einem Besen hoch in der Luft rumfliegen zu lassen." "Laufen und Fliegen sind zwei völlig verschiedene Begabungen", antwortete Draco und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich ärgerte. "Kann ich bitte meine Musik zurückbekommen, Sir? Oder wollen Sie erst einen Blick drauf werfen?" "Seien Sie nicht gönnerhaft mit mir, Malfoy. Ich bin nicht sicher, ob Sie die zurückhaben sollten. Die sind doch nicht für irgendein Schulfach, oder? Eventuell für Muggelkunde?" Moody wartete nicht auf Dracos Antwort. "Nein, das dürften Sie doch gar nicht belegen, oder?" Woher wusste er das nur, fragte sich Draco, als Moody fortfuhr: "Musik ist ein frivoler Zeitvertreib, eigentlich eine Zeitverschwendung, und wenn Sie Zeit haben, sich diesen Muggel-Müll anzuhören, dann haben Sie auch Zeit nachzusitzen oder ein extra Referat zu schreiben. Was ist Ihnen lieber, Malfoy? Sie kriegen weder für das eine noch für das andere einen Extrabonus, aber wenn Sie es nicht machen, dann bekommen Sie für die Hälfte dessen, was Sie in diesem Halbjahr hier geleistet haben, eine Sechs." Draco schluckte. Das war absolut nicht, was er zu hören erwartet hatte. Er stotterte: "Aber ... Sir ... ich wollte mit Ihnen über ... ich dachte, Sie ..." "Ihre Antwort, Malfoy. Wenn Sie meine Frage in den nächsten zwei Sekunden nicht beantworten, werden Sie an diesem Wochenende beides tun." "Das Referat!", rief Draco. Wenigstens würde er es machen können, wann er wollte, nachdem er herausgefunden hatte, warum Moody sich so benahm. Es sah ihm zwar durchaus ähnlich, da er so kratzbürstig und kritisch war wie immer, aber es passte nicht zu dem, was er in dem Buch gelesen hatte. "Am Montagmorgen liegt es auf meinem Tisch. Sie sind entlassen!", sagte Moody kurz angebunden. Draco blieb einen Moment vor dem Pult stehen, weil er dachte, dass Moody ihm die Ton-Pergamente zurückgeben würde, aber der Lehrer knüllte sie zusammen und stopfte sie in seinen Flammenordner unter dem Tisch, wo Draco sie Feuer fangen hörte. Er konnte Moody nicht noch einmal ansehen, als er zur Tür hinausstapfte. Er atmete stoßweise und kochte vor Wut ob dessen, was Moody getan hatte. Er lehnte sich gleich neben der nun geschlossenen Tür an die Wand und schimpfte vor sich hin. "Scheiß-Schlammblutlehrer. Als ob es nicht reichen würde, dass Dumbledore Schlammblüter als Schüler aufnimmt, aber so einen Lehrer zu haben ist das Allerletzte! So scheißverantwortungslos." Er machte sich auf den Weg in den Großen Saal, wobei er immer noch murrte und nicht auf die Schüler achtete, an denen er vorbeikam und die ihn ansahen, als ob ihm gerade ein dritter Arm gewachsen wäre. "Voreingenommener Heini, hasst mich völlig grundlos, typisch Schlammblut. Kein Schimmer von magischem Stolz, nicht mal nach Jahrzehnten in der magischen Welt. Lucius hat Recht, die passen einfach nicht zu uns. Wenn er einer von uns wäre, wüsste er, dass er sich nicht mit einem Malfoy anlegen sollte ..." An jenem Wochenende erzählte Draco seinen AG-Genossen, was Moody gesagt hatte. (Auf Hermiones Bitte hin trug er sein Potter stinkt-Abzeichen nie während ihrer AG-Treffen – sie behauptete, dass sie von dem Blinken Kopfschmerzen bekäme, aber er hatte sich gefragt, ob nicht ein anderer, persönlicherer Grund dahinter steckte). Er zeigte ihnen in dem Buch den Ab76
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
satz über Moody und fragte: "Was meint ihr? Ist das nur ein weiterer Beweis dafür, dass ihm im Alter ein paar Murmeln abhanden gekommen sind?" "Möglich", sagte Miranda. Reilly nickte. Hermione sah nachdenklich aus. "Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Einmal mag Moody das Musical vielleicht nicht, aus dem die Lieder stammen, die du fallen gelassen hast. Oder Moody kann dich so wenig leiden, dass er sich einfach nicht mit dir unterhalten will, ganz egal worüber. Drittens ist das Buch über zwanzig Jahre alt. In Anbetracht dessen, was er seither erlebt hat, der Krieg gegen Voldemort und so weiter, mag er leichte, frivole Musik vielleicht nicht mehr." Draco zuckte die Achseln. "Kann schon sein. Ich weiß nur nicht, was ich machen soll. Der Unterricht schlägt mir ganz schön auf den Magen." "Dann weißt du ja jetzt, wie die Gryffindors sich in Zaubertränke fühlen", sagte Hermione. "Das hier ist schlimmer. Snape foltert nie jemanden von euch. Zumindest nicht regelmäßig jede Woche." "Und was gedenkst du jetzt zu tun, Malfoy?", fragte Reilly. "Zum Kuckuck, ich weiß nicht, was ich machen soll", stöhnte Draco und legte den Kopf auf die Arme. "Bis zu den Winterferien ist es nur noch ein Monat. Vielleicht werde ich einfach krank und verpasse eine Woche Unterricht. Was haltet ihr davon, wenn ich beim Quidditch vom Besen falle?" "Du kannst jetzt nicht Quidditch spielen, keiner darf aufs Spielfeld", sagte Hermione. "Und wenn du einfach nur rumfliegst und runterfällst, egal, ob vorsätzlich oder nicht, dann behauptet Moody vielleicht, dass du das Gleichgewicht nicht halten kannst und dass man dir das Fliegen ganz verbieten sollte. Kein besonders schlauer Plan." Er hob den Kopf etwas und starrte sie finster an. "Runterzufallen, meine ich, nicht die Idee, dich krank zu melden – das würde vielleicht funktionieren, allerdings nur einmal." "Was, wenn dein Vater dich an einem Donnerstag besuchen käme?", fragte Miranda. Draco ließ den Kopf wieder auf die Arme sinken. "Keine Chance. Er weiß ja gar nicht, was los ist, und wenn ich ihn bitten würde, mitten in der Woche herzukommen, würde das nur Verdacht erregen. Darauf habe ich keine Lust. Wie auch immer, ich soll dieses Wochenende in Hogsmeade mit ihm zusammen Mittag essen – das ist das erste Mal, dass ich ihn seit Schuljahrsbeginn sehe -, und ich will ihm das alles nicht erklären. Ich verstehe es ja selber kaum." Die anderen drei sahen ihn einen Augenblick mitfühlend an, dann blickten sie auf, als direkt hinter Dracos Stuhl eine große Gestalt erschien. Draco, der den Ausdruck in den Gesichtern der anderen nicht bemerkt hatte, seufzte, setzte sich auf und sagte: "Genug gejammert. Gehen wir wieder an die Arbeit." Er sah in die Runde der Gesichter, denen der Mund offen stand und sagte: "Was ist denn? Hab' ich plötzlich lila Haare?" Hermiones Blick war auf etwas über Dracos Kopf gerichtet, und er hob langsam das Gesicht zur Decke. Direkt hinter ihm stand Viktor Krum, und es sah so aus, als ob er lächelte. Vom ersten Tag an, seit die Schüler aus Durmstrang in Hogwarts angekommen waren, war Draco mehr oder weniger freundlich zu Viktor gewesen. Lucius hatte ihm sehr ans Herz gelegt, sich mit so vielen von Karkaroffs Schülern anzufreunden wie nur möglich. "Man weiß nie, wann man Freunde im Ausland brauchen wird", hatte er gesagt, bevor Draco wieder zur Schule gefahren war, und er hatte das Thema seither in vielen Briefen aufgegriffen. Sie waren einander beim Empfang am Morgen der Weltmeisterschaft kurz vorgestellt worden, und deshalb hatte Krum sich beim ersten Abendessen in Hogwarts und seither bei vielen anderen Mahlzeiten neben ihn gesetzt. Draco hatte ihn auch in der Bibliothek gesehen, wo Krum eine Menge Zeit verbrachte, um dem Übelkeit erregenden Schaukeln der SS Schwärzung, ihres Schiffs, zu entgehen, und wo er alles las, was ihm vielleicht bei der ersten Trimagischen Aufgabe nützlich sein könnte, ganz egal, worin sie auch immer bestand. Sie unterhielten sich viel über Quidditch, Bücher und Geschichte. 77
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
Draco quetschte ihn über den Unterricht in Durmstrang aus, zum Teil, weil Karkaroffs Schüler eine Menge Flüche und ihre Gegensprüche lernten, und weil er hoffte, dass diese Kenntnisse ihm bei den Sitzungen mit Moody helfen würden. "Was machst du denn hier, Viktor? Wie hast du meine Schutzzauber gebrochen?", fragte Draco, stand auf und wandte sich dem Bulgaren zu. "Ich habe keine Schutzzauber gesehen. Ich habe euch vier lernen sehen, also bin ich hergekommen, um hallo zu sagen." Hermione sah von einem Jungen zum anderen. "Draco, ich dachte, du hättest gesagt, die Schutzzauber würden uns hundertprozentig davor bewahren, von anderen Schülern gestört zu werden. Sie haben fünfzehn Monate lang funktioniert, warum diesmal nicht?" Draco zog seinen Zauberstab hervor und schwenkte ihn hinter den Stühlen. "Sie sind immer noch da, genau wie immer ... Mist! Ich hab' sie nicht angepasst, nachdem die Beauxbatons und Durmstrangs gekommen sind!" Reilly fragte: "Was meinst du damit? Warum solltest du sie anpassen?" "Der Zauberspruch ist Hogwarts-spezifisch. Er wehrt nur Leute ab, die in Slytherin, Ravenclaw, Gryffindor oder Hufflepuff gewesen sind. Das trifft auf alle Schüler zu und auch auf alle Lehrer, die entweder als Schüler oder Lehrer dort gewesen sind. Sogar Pomfrey, Hagrid und Pince sind hier zur Schule gegangen, und die Hauselfen und Geister haben alle zu einem der Häuser gehört, genau wie Filch. Aber wenn du nie eines der Häuser betreten hast, dann können die Schutzzauber dich nicht abwehren. Ich passe sie gleich jetzt an." Er machte sich mit seinem Zauberstab zu schaffen und veränderte den Schutzwall. Krum ließ sich auf dem leeren Stuhl am Tisch nieder, der einmal Viola gehört hatte und den sie für sie reserviert hatten, falls sie mit diesem Hufflepuff Schluss machen und wieder Vernunft annehmen sollte. "Kann ich mich hierhin setzen?", fragte er die vier. Alle außer Draco, der sich immer noch auf die Zauberformel konzentrierte, sagten sofort ja. Am Tisch herrschte peinliches Schweigen, bis Draco seinen Zauberstab wieder einsteckte und zu seinem Stuhl zurückging. Krum lächelte immer noch sein seltsames Lächeln. "Stellst du mich deinen Freunden vor, Draco?", fragte Viktor. Draco machte sich nicht die Mühe, Viktors Annahme, er sei mit den anderen in der AG befreundet, zu widersprechen. Es war okay, sich mit ihnen zu unterhalten, mit ihnen zu arbeiten, Informationen mit ihnen auszutauschen, Zugriff auf ihre Notizen zu haben und verschiedene Schulprojekte aus einer anderen Perspektive zu betrachten; er hatte außerdem zumindest einen Teil der Zeit genossen, die er mit Hermione im vergangenen Jahr und während des Sommers außerhalb des Klassenzimmers verbracht hatte, aber außerhalb der AG waren Reilly und Miranda zu sehr mit sich selbst beschäftigt, und Hermione verbrachte dieses Jahr die meiste Zeit mit Potter und hatte kein Interesse daran geäußert, mit Draco Hogsmeade zu besuchen, nicht einmal an einer gemeinsamen Stunde zu Studienzwecken im Astronomieturm. Aber schließlich war er selbst ziemlich mit Moody beschäftigt gewesen und außerdem mit den abschließenden Recherchen über ein paar der Amulette, über die er im Sommer Nachforschungen angestellt hatte, und hatte in diesem Jahr nicht viel an Mädchen gedacht, außer in der Zeit, in der Pansy ihn behext hatte, ihn zu massieren. Draco zeigte nacheinander auf alle, die um den Tisch saßen: "Gene Reilly aus Ravenclaw und seine Freundin Miranda, auch aus Ravenclaw, und Hermione Granger aus Gryffindor. Ihr habt euch bei der Weltmeisterschaft nicht kennen gelernt, oder?", fragte er Viktor, der verneinend den Kopf schüttelte. Viktor nickte Reilly und Miranda zu, dann wandte er sich an Hermione und streckte ihr die Hand hin, die sie auch nahm. Doch anstatt sie zu schütteln, wie jeder andere es getan hätte, hob er sie an seine Lippen und küsste sie sanft, so wie Draco es Besucher in Malfoy Manor bei Narcissa hatte tun sehen. "Miss Granger, ich freue mich, Sie kennen zu lernen." Was machte Viktor da nur, fragte Draco sich. Es sah so aus, als ob er mit Hermione flirtete! Draco räusperte sich und sah Viktor an. "Wir müssen wieder weiterlernen, wir haben Hausaufgaben zu erledigen, kann ich später zu dir kommen?" 78
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Krums Lächeln erstarb auf seinen Lippen, als er den Stuhl zurückschob. "Ich gehe wieder an meine Recherchen. Hat mich gefreut, euch alle kennen zu lernen, Sie auch, Miss Granger." Er machte eine Bewegung, die nur als kleine Verbeugung zu deuten war, und ging zu einem Tisch zurück, der anscheinend mit Büchern über Flüche und magische Kreaturen übersät war. Draco hörte von weitem Kichern, aber er schottete sich dagegen ab und konzentrierte sich wieder auf ihre Diskussion über eine zukünftige Aufgabe in Arithmantik. Bevor sie mit dem Schaubild begann, überlegte Hermione laut: "Ich frage mich, was er ständig hier macht. Jedes Mal, wenn ich in der Bibliothek bin, sehe ich ihn, wie er zwischen den Bücherregalen rumschleicht, ständig mit einer Horde Mädchen auf den Fersen. Draco, wusstest du, dass Pansy die ganze Woche versucht hat, um ihn rumzuscharwenzeln?" Draco schüttelte den Kopf und stellte fest, dass ihm das ziemlich egal war. Irgendwie beschäftigte Hermione ihn. Wenn er daran dachte, wie Viktor sie angesehen hatte ... irgendwie schien sie verändert zu sein, aber er bekam nicht heraus, wie oder warum. Vielleicht war es nur die Art, wie ihre Augen aufleuchteten, wenn sie dabei war, eine besonders schwierige Aufgabe zu lösen, oder die Art, wie sie ihr Haar über die Schulter auf eine Seite zog, wenn sie sich besonders stark auf irgendwas konzentrierte ... *** Drei Tage später lungerte Draco bis elf im Schloss herum, bevor er sich auf den Weg nach Hogsmeade machte, um sich mit Lucius zu treffen. Er wartete fast eine halbe Stunde im Eingang des Verschlagenen Lemur gegenüber von den Drei Besen. Natürlich hatte er ein Buch dabei, Der Fänger im Reis, eine fast fünfzig Jahre alte Geschichte über einen rebellischen Zauberer, der aus einer fiktiven Version von Hogwarts hinausgeflogen war. Das Buch hatte einmal Lucius gehört, bevor er es Draco zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Zusammen hatten sie es insgesamt über drei Dutzend Mal gelesen, und Draco kannte es mehr oder weniger auswendig. Er hockte auf einem Fensterplatz vorn im Lemur, so weit entfernt von allem geschäftigen Treiben, dass es nicht sehr angenehm war, als er plötzlich von Lucius' Ruf in die Wirklichkeit zurückgerissen wurde, als er den Pub betrat. Nichts fand Draco so schwierig, wie nicht die Beherrschung zu verlieren, wenn er plötzlich gestört wurde, während er in ein Buch vertieft war. Wer Bücher mag, kennt dieses ärgerliche Gefühl, das einen in so einem Augenblick überkommt. "Ich komme mir dann immer vor, als ob mich jemand geschlagen hätte", hatte er einmal gesagt. "Und als ob ich zurückschlagen wollte. Ich muss mich dann schnell dran erinnern, wo ich bin, um mich davon abzuhalten, irgendwas Übellauniges zu sagen." Die Versuchung, unvernünftig und bissig zu reagieren, war nicht leicht zu beherrschen, aber bei Lucius war es unumgänglich. Er kehrte so schnell, wie er es vermochte, in die Wirklichkeit zurück und holte ein paar Mal verstohlen, aber tief Luft, um sich zu beruhigen. Er wusste seit Tagen, dass Lucius ihn nicht einfach besuchte, weil er ihn wiedersehen wollte; dass er mitten im Schuljahr nach Hogsmeade kam hieß, dass entweder zu Hause etwas nicht stimmte oder dass er glaubte, mit Draco sei irgendwas nicht in Ordnung. Lucius hatte den Vorfall mit dem Frettchen in einem Brief während der zweiten Schulwoche ein einziges Mal erwähnt, und aus seinen Worten war klar hervorgegangen, dass Professor Snape ihm gesagt hatte, dass Moody überreagiert und Draco sich richtig verhalten habe, indem er die Familienehre verteidigt hatte. Draco machte sich jedoch Sorgen, dass sein Vater irgendwie herausgefunden hatte, was in Moodys Stunden vor sich ging, und ein paar Andeutungen von Lucius' Seite wiesen darauf hin, dass dies tatsächlich der Fall war. Lucius ließ Draco im eigenen Saft schmoren und fragte den Ober nach seiner Meinung über die derzeitige Streitfrage betreffs gewisser Ländereien in Dover, die seit Mittwoch die Titelseite des Propheten füllte, dann bestellte er für sie beide Löwenzahnsalat und Roastbeef, dazu Butterbier für Draco und für sich selbst Single Malt Scotch. Schließlich überschüttete er seinen Sohn mit einem Haufen Fragen. "Warum hast du mir nichts wegen Moody gesagt? Warum kannst du dich nicht wehren? Warum habe ich mir eigent79
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lich die Mühe gemacht dir beizubringen, wie man sich verteidigt? Macht es dir Spaß, die Familie in Schimpf und Schande zu stürzen? Freut es dich, dass deine Mutter jedes Mal, wenn sie die Eltern eines deiner Klassenkameraden trifft, daran erinnert wird, dass du in der Klasse dieses Schlammbluts versagt hast? Und dass es sie in die Trunksucht treibt? Macht es dir Spaß, mich zu beschämen? Warum hast du mir nichts gesagt? Warum musste ich es von Rita Skeeter erfahren? Wusstest du, dass sie einen Artikel darüber schreiben will? Mad Eye Moody übt Rache an der Familie Malfoy. Wenn ich nicht der Herausgeber wäre, dann würde das sogar gedruckt werden. Draco ließ die Fragen über sich ergehen und hielt den Griff des Butterbierkrugs fest umklammert. Auf all diese Fragen gab es nur eine einzige Antwort, und er wusste, dass die Lucius nicht gefallen würde. "Es tut mir Leid. Ich würde es dir gern recht machen, Vater, und dich in Schutz nehmen. Ich hab' versucht, mich bei ihm beliebt zu machen, ich versuche jedes Mal mich zu wehren, wenn er mich behext, vor allem letzten Monat, als er mich in zwei aufeinanderfolgenden Stunden mit Crucia Menore und Imperio belegt hat. Ich versuche die Flüche abzuwehren, aber wenn ich das tue, nimmt er mir den Zauberstab weg, und ich muss ihm unbewaffnet gegenübertreten." "Scheißdreck, Draco." Lucius' Hand legte sich blitzschnell mit eisernem Griff um das Handgelenk seines Sohnes und verdrehte ihm den Arm, bis er vor Schmerz brannte. "Ich habe dir beigebracht, wie man sich ohne Zauberstab verteidigt, ich habe meine Zeit damit vergeudet, dir zu erklären, wie man Flüchen ausweicht, und als Dank dafür stehst du jetzt da vor der ganzen Klasse, von der niemand dir das Wasser reichen kann! Und du lässt es zu, dass ein dreckiges Schlammblut dich verflucht! Ich weiß, dass du vorhattest, während der Ferien in der Schule zu bleiben, aber wenn du zurück ins Schloss kommst, dann buchst du einen Platz im Hogwarts Express zurück nach London. Du kommst in den Ferien nach Hause. Ich nehme mir für eine Weile frei, so dass wir üben können, damit du, wenn du wieder in der Schule bist, diesem scheinheiligen, verrückten Heini zeigen kannst, was eine Harke ist." Draco musste sich zusammennehmen, um wegen des Schmerzes oder Lucius' Drohung nicht hörbar nach Luft zu schnappen. Den Weihnachtsball verpassen? In den Ferien nach Hause geschickt werden, wenn alle anderen in der Schule blieben? Dann wäre die Demütigung perfekt. "Vater, bitte, nicht das. Professor Snape meinte, der beste Weg mit Moody fertig zu werden sei, nicht den Kopf einzuziehen und alles, was er mir nur entgegenschleudern kann, auf mich zu nehmen und nach jeder Stunde erhobenen Hauptes hinauszugehen, im Bewusstsein, dass Moody mich nicht kleingekriegt hat. Das hat er nämlich vor, jedenfalls hat er ihm das vor Wochen gesagt." Er wollte Lucius noch nichts von dem Gedankenbassin erzählen, weil er ihm sonst vielleicht verbieten würde, eins herzustellen. Es würde Draco nicht überraschen, wenn Lucius ein paar seiner Erinnerungen bedenklich fände. Der Ober tauchte mit ihrem Mittagessen auf, daher ließ Lucius Dracos Arm endlich los. Als Draco unter dem Tisch den Arm ausschüttelte, um seinen Kreislauf wieder in Gang zu bringen, warf er einen verstohlenen Blick über den Tisch um festzustellen, ob irgendwelche seiner Argumente bei Lucius Eindruck machten. "Und? Hast du wenigstens einen Plan, wie du es Moody heimzahlen willst? Hat Snape dir dabei geholfen, dir etwas auszudenken?", fragte Lucius mit einer Stimme, die die Wirkung einer eiskalten Dusche hatte. "Ich arbeite daran. Ich hatte mir was ausgedacht, aber es hat bei Moody nicht so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt hatte. Aber ich habe eine Menge über ihn gelesen, und wenn du mir noch irgendwas über ihn sagen kannst, wäre das auch hilfreich, ich meine nämlich, dass die Ferien ein guter Zeitpunkt wären, um etwas anderes zu probieren." Lucius fragte ihn aus über das, was er über Moody in Erfahrung gebracht hatte, wechselte dann schließlich das Thema und stellte ihm Fragen darüber, was er in den anderen Fächern lernte. Draco schob seine Besorgnis über Verteidigung gegen die Schwarze Magie beiseite, und seine Augen leuchteten, als er von ihrem neuesten Runen-Projekt erzählte. "Es wirft ein paar der 80
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Schlüsse über den Haufen, die ich ursprünglich über das Smaragd-Saphir-Amulett gezogen hatte, das du dem Museum gestiftet hast. Da wir angenommen hatten, dass es sich dabei um ein sumerisches Stück handelt, wiesen die Runen darauf hin, dass es dazu benutzt wurde, um Nixen zu rufen und zu beherrschen, dass es aber keinen Einfluss auf Wassermänner hat, aber unser Lehrer hat gesagt, dass letztes Jahr eine Tafel ausgegraben wurde, die ähnliche Zeichen aufweist wie die sumerischen Schriftzeichen, die aber in Wirklichkeit babylonisch sind, deshalb will ich mir dieses Stück noch einmal ansehen. Vielleicht sollten sie es aus der Ausstellung nehmen, bis ich dazu komme." Lucius musste über Dracos weitschweifigen Vortrag fast lächeln. "Wenn wir nicht eine Zeitung hätten, die du mal leiten sollst, dann würde ich dich irgendwo als Kurator unterbringen." Draco errötete. Er hatte sich eigentlich nicht so ereifern wollen, da es riskant war, Lucius so viel über etwas zu erzählen, woran ihm so viel lag, aber der einzige Mensch außer ihm, der ihm bereitwillig zugehört hatte, als er begeistert von neueren archäologischen Funden erzählt hatte, war Hermione gewesen. Sie hatte sogar einem der Weasley-Brüder geschrieben, der in Ägypten für Gringotts arbeitete, um ihn nach einer Skulptur zu fragen, die in einem arabischen Vampirgrab gefunden worden war. Immerhin war wenigstens einer dieser Weasleys zu etwas nutze. Als sie schließlich mit dem Essen fertig waren, meinte Lucius, dass der Nachtisch gestrichen sei, weil Draco in diesem Schuljahr nicht viel mit dem Besen flog. Draco machte das nicht wirklich etwas aus, da er sich um drei mit Vin bei Honeydukes treffen wollte. Lucius zog seine Taschenuhr hervor und murmelte irgendetwas davon, dass er sich mit einem seiner Reporter im Pub treffen wollte. "Eventuell werde ich dich bitten, ihr ein paar Hintergrundinformationen für Artikel zu liefern, die sie gerade schreibt. Und -" seine Stimme war plötzlich sehr leise – "ich werde dich in ein Firmengeheimnis einweihen. Rita ist ein nicht registrierter Animagus." Draco fiel die Kinnlade herunter. Von so was hatte er noch nie gehört – das Ministerium überwachte alle, die sich an der Animagus-Transformation versuchten, streng, weil sie so furchtbar schief gehen konnte, und sorgte dafür, dass sie über ihre äußeren Kennzeichen Bescheid wussten, damit Hexen und Zauberer sich in ihrer Tiergestalt nicht verstecken konnten. "Was ist sie denn?", fragte er leise, damit keiner der Gäste sie belauschen konnte. "Ein Käfer! Ist das nicht umwerfend? Sie hat gesagt, sie hätte sich von irgend so einem Muggel namens James Bunt inspirieren lassen, der diese Muggeldinger benutzt, die Wanzen heißen, aber ehrlich gesagt ist es mir egal, warum sie's getan hat. Wichtig für mich und die Zeitung ist allein, dass sie überall hinkommt und alle möglichen interessanten Gespräche belauschen und für mich aufschreiben kann, so dass wir mehr Zeitungen verkaufen und uns nette Mittagessen wie dieses hier leisten können. Also bitte in der Schule keine fliegenden Käfer erschlagen, klar?" Draco, der zu verblüfft war, um etwas zu sagen, nickte. Nachdem Lucius die Rechnung bezahlt hatte, stand er auf, packte Draco an der Schulter und dirigierte ihn wieder hinaus auf die Straße. "Mir liegt immer noch im Magen, was da in dieser Scheißstunde vor sich geht, und ich möchte, dass du mir jeden Donnerstag über alles Bericht erstattest, was er sagt und tut, und dass du dir irgendwas ausdenkst, irgendeine Falle, um ihm das abzugewöhnen. Das ist genau die Art Verhalten, die ich von einem Schlammblut erwarte; kein reinblütiger Zauberer würde sich je einem anderen gegenüber so benehmen, und schon gar nicht einem Malfoy gegenüber." "Und was ist mit den Ferien?", fragte Draco und war stolz auf sich, weil es ihm gelang, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. "Ich gebe dir mit Kira in den nächsten Wochen Bescheid. Es hängt alles davon ab, was ich von dir und über dich höre." Damit drehte Lucius Draco den Rücken zu und ging über die Straße in den Pub. ***
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Draco brachte die nächsten paar Wochen hinter sich, indem er sich in der Bibliothek beschäftigte und versuchte, nicht über Moodys Stunden nachzudenken, es sei denn, es ließ sich absolut nicht vermeiden. Alle Lehrer inklusive Moody, der behauptete, Zeugnisse zu verabscheuen, hatten ihnen Aufsätze aufgegeben, die in den drei Tagen abgegeben werden mussten, bevor die Ferien anfingen. Nachdem die erste Aufgabe des Trimagischen Turniers einmal vorüber war, begannen die Slytherins, untereinander Quidditch zu spielen, indem sie jahrgangsweise Mannschaften bildeten, und abgesehen von einem unglücklichen Zwischenfall, bei dem Millicent Bullstrode, die als Verteidigerin aufgestellt war, Draco einen Bludger direkt auf den rechten Ellbogen schlug, gewannen die Viertklässler die drei Spiele, die sie in dem Herbst spielten. Draco schrieb drei Extra-Aufsätze für Zaubertränke und bat Professor Snape, Lucius einen Brief zu schreiben, in dem er ihm mitteilte, wie gut Draco sich konzentrierte und dass er sich überhaupt nicht über den Quidditch-Unfall beklagte und wie schnell er sich davon erholt hatte und wie viel Zeit er in der Bibliothek verbrachte. In seinem Antwortbrief erteilte Lucius Draco die Erlaubnis, über die Ferien in der Schule zu bleiben, allerdings unter der Bedingung, dass Professor Snape ihn an Dracos fünfzehntem Geburtstag im Januar entweder zum Mittag- oder Abendessen nach Hogsmeade begleitete. Abgesehen von einer Kleinigkeit verging der Monat genau wie die drei vorigen. Die Kleinigkeit hörte auf den Namen Viktor Krum. Seit er in der Bibliothek an ihren Tisch gekommen war, hatte Viktor darauf geachtet, dass er mindestens einmal täglich zu den Mahlzeiten neben Draco saß. Er fragte ihn nach den verschiedenen Fächern und Lehrern, auch nach denen, die früher einmal Verteidigung gegen die Schwarze Magie unterrichtet hatten, jetzt aber nicht mehr an der Schule waren. Und am Montag nach der ersten Aufgabe fragte er, ob er in den nächsten paar Wochen an ihrer AG teilnehmen könnte. Draco überlegte, ob er aus reinem Wissensdurst darum bat oder um Insiderinformationen über Potters Talente zu erhalten. Es gäbe wohl kaum einen besseren Weg zu erfahren, was Potter alles wusste, als seinen Klassenkameraden zuzuhören, wenn sie darüber sprachen, was sie gerade lernten, vor allem, wenn eines der Mitglieder der Gruppe Potters beste Freundin war. Ich kann Potter nicht leiden, dachte Draco, und ich will nicht, dass er das Turnier gewinnt. Ich will es Viktor aber auch nicht so einfach machen zu gewinnen. Das wäre wie Mogeln, und schließlich gibt es auch noch so was wie Schulstolz. Nachdem er den ganzen Tag über innere Monologe geführt hatte, wusste er, was er tun würde, nämlich die Entscheidung den anderen überlassen. Also bat er Viktor zu warten, bis er die anderen gefragt hätte, und am Mittwochabend fragte er sie, bevor sie anfingen, gegenseitig ihre Aufsätze zu kritisieren, ob sie bereit wären, Viktor wenigstens vorübergehend in die AG aufzunehmen. Sie reagierten so, wie er es sich gedacht hatte. Miranda sah keinen Grund, warum sie nein sagen sollte, und Reilly hatte Bedenken, dass er sich nicht voll würde einsetzen können, war aber bereit, ihn zuzulassen, wenn er zu ihrem gemeinsamen Wissen beitragen könnte. Hermione lehnte es ab, das Thema in irgendeiner Weise zu diskutieren. "Das kann ich Harry nicht antun", beharrte sie. "Wie würde es aussehen, wenn ich Krum irgendwelche Informationen über irgendwas gäbe und es stellt sich dann raus, dass es für eine Aufgabe nützlich ist?" Draco spielte den Advocatus Diaboli und fragte sie: "Und wenn er lediglich intellektuell nicht einrosten und ein paar gebildete Gespräche über Magie im Allgemeinen führen will? Was, wenn er gar nicht versucht, irgendwelche spezifischen Informationen zu bekommen?" "Hat er dir das gesagt, Draco?", fragte sie. "Nein, aber ich hab' ihn auch eigentlich nicht danach gefragt. Bist du so sicher, dass er Übles im Schilde führt?" "Nein, aber ..." "Dann geh rüber und frag ihn", verlangte Draco. "Ich würde es gern wissen, aber ich wollte ihm kein Loch in den Bauch fragen, für den Fall, dass ihr alle dagegen wärt. Wie es aussieht, ist nur einer von euch dagegen, also meine ich, dass wir ihn danach fragen sollten, warum er sich 82
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
uns anschließen will und was er beitragen kann. Moody hat den Gryffindors diese Woche keinen Aufsatz aufgegeben, also hat Hermione weniger zu tun als der Rest von uns, deshalb sollte sie zu ihm gehen und ihn fragen, einverstanden?", sagte er zu Miranda und Reilly. Sie nickten, und Hermione verzog das Gesicht. "Sein Fanclub liegt mal wieder auf der Lauer. Diese ganzen Zweitklässlerinnen, die ihn anglotzen, sind richtig unheimlich, und die Sechstklässlerinnen sind noch schlimmer. Die glauben wirklich, dass er sich Hals über Kopf in sie verlieben wird, wenn sie ihn dazu bringen können, sich kurz mit ihnen zu unterhalten." Reilly lachte. "Ich glaube nicht, dass der in was anderes verliebt sein kann als in einen Snitch oder einen tollen Besen. Nimm dir vier Minuten Zeit, Hermione, was kann das schon schaden? Und wenn du dann immer noch nein sagst, dann sagen wir auch nein." "Genau", fügte Draco hinzu. "Na los. Was haben wir schon zu verlieren?" Sie stand auf, straffte die Schultern, ging zu Viktors Tisch hinüber, berührte ihn an der Schulter, um sich bemerkbar zu machen und schickte sich an, sich zu ihm zu setzen. Vom Tisch der AG aus sah Draco, wie Viktor aufsprang und einen Stuhl vorzog. Hermione sah sehr ernst aus, als sie etwas sagte, das nach Dracos Meinung die Wörter "Harry" und "Potter" beinhaltete, aber als Viktor redete, schien ihr Gesichtsausdruck sich zu entspannen, und als sie schließlich den Kopf schüttelte, lächelte sie ihn an. Dann berührte sie seinen Arm viel freundlicher als vorhin, als sie an seinen Tisch gekommen war, und nickte. Sie wies auf ihre AG, und Viktor stand wieder auf und zog ihren Stuhl zurück, damit sie auch wieder aufstehen konnte. Weniger als fünf Minuten, nachdem sie den Tisch der AG verlassen hatte, war sie wieder da. Sie lächelte immer noch und wirkte fast nervös. "Du bist allein? Willst du immer noch nicht, dass er mit uns zusammenarbeitet?" "Nein, ich glaube, es gehört sich nicht, und zwar nicht nur wegen Harry, sondern auch wegen Diggory. Es ist einfach nicht richtig, dass Hogwarts-Schüler den Schülern aus Beauxbatons und Durmstrang helfen." Reilly warf ein: "Ich wette, Roger Davies hilft dieser Vila aus Beauxbatons." "Warum?", fragte Draco. "Weil sie sich von ihm zum Weihnachtsball hat einladen lassen. Welcher Typ würde dem Mädchen, das er zum Ball eingeladen hat, nicht helfen?" Aus irgendeinem Grund war Hermione, die an einer Flasche Kürbissaft nippte, die sie mit in die Bibliothek gebracht hatte, plötzlich rot geworden und hörte sich an, als ob sie sich verschluckt hätte. "Alles okay?", fragte Miranda und klopfte ihr auf den Rücken. Hermione keuchte, schluckte hörbar und sagte: "Hab mich verschluckt. Sollen wir jetzt anfangen?" Draco hatte kaum einen Gedanken an den Weihnachtsball verschwendet, weil er nicht einmal gewusst hatte, ob er hingehen konnte. Es war allerdings nur noch wenige Wochen bis dahin, und er sollte sich langsam um eine Begleiterin kümmern. Falls Lucius ihn nach Hause rief, konnte er immer noch familiäre Angelegenheiten vorschützen und absagen, das Mädchen müsste deshalb nicht erfahren, dass er gewusst hatte, dass er nicht hingehen könnte. Aber wen sollte er fragen? Pansy Parkinson war die nächstliegende Wahl. Ihr Vater wäre begeistert, aber Matthew Derrick, einer der Verteidiger des Slytherinteams, der letztes Jahr seinen Abschluss gemacht hatte, hatte einmal gesagt, dass es fast unmöglich sei, mit jemandem aus dem eigenen Haus zu gehen, da man, falls es in die Brüche ging, diese Person nach wie vor in jeder Stunde, bei jeder Mahlzeit und jeden Abend im Gemeinschaftsraum treffen würde, und das jahrelang. Das hier war allerdings keine richtige Verabredung, lediglich ein einziger Schulball. Setz sie auf die Liste der potentiellen Möglichkeiten. Er würde sicher niemanden aus Hufflepuff mitnehmen. Er hatte sich bei Quidditchspielen und in der Bibliothek mit ein paar Mädchen aus diesem Haus unterhalten – drei der Drittklässlerinnen hatten kürzlich an seinem gewohnten Tisch in der Bibliothek gesessen -, und sie hatten zu
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
dritt ungefähr die Hirnmasse eines einzelnen gehabt. Ziemlich nett, ziemlich hübsch, aber es lohnte sich nicht, mit ihnen zu reden. Fast alle Mädchen aus der dritten und vierten Klasse in Ravenclaw hatten schon einen festen Freund. Ihm war am Beispiel von Reilly und Miranda aufgefallen, dass die Ravenclaws sich früher fürs andere Geschlecht interessierten als die Schüler aus den anderen Häusern, weil sie so viel Zeit in kleinen Gruppen miteinander verbrachten und zusammen lernten, und die Beziehungen ergaben sich da von ganz allein. Reilly hatte einmal gesagt, dass kein Ravenclaw über der fünften Klasse wegen der vielen übel gescheiterten Beziehungen und der Konkurrenzkämpfe um die Gunst des anderen Geschlechts jemals im Gemeinschaftsraum saß; dann drückte er Mirandas Hand und sagte: "Aber uns wird so was nie passieren, nicht wahr, Schatz?", und sie beugte sich zu ihm und küsste ihn, während Draco und Hermione vorgaben, mit einer Himmelskarte beschäftigt zu sein, auf der sie den Polarstern suchen sollten. In Gryffindor gab es ein paar niedliche Drittklässlerinnen, und eine von Hermiones Schlafsaalgenossinnen stammte ganz eindeutig von Nymphen ab, aber sie ging schon mit diesem irischen Jungen. Hermione. Es machte definitiv mehr Spaß, sich mit ihr zu unterhalten als mit Pansy, aber er konnte sich nicht vorstellen, mit ihr zu tanzen – jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, nicht mit jemandem, dessen Blut nicht rein war. Aber falls sie keinen Partner hatte, dann würde er sich auch keine Partnerin suchen müssen, sie könnten sich einfach dort treffen und zusammen rumhängen, das wäre auch nicht übel. Draco wandte sich wieder seinen Büchern zu und verbrachte den Rest der Zeit damit, die Ergebnisse der Zaubertränke aufzuzeichnen, die er in diesem Schuljahr bereits gebraut hatte, und Mirandas und Reillys Aufsätze über den Agricultura-Fluch zu korrigieren, was schwierig war, da er alle paar Sätze das Bedürfnis hatte, sich an Armen und Schultern zu kratzen, wo ihm Gras gewachsen war, nachdem Moody ihn mit diesem Fluch belegt hatte. Kurz vor zehn packten sie zusammen, um zu einer vernünftigen Uhrzeit in ihre Gemeinschaftsräume zurückzukehren. Hermione trödelte herum, und Reilly und Miranda gingen, bevor Draco sein gut sechs Meter langes Schaubild zusammengerollt hatte, und er wartete auf sie, um mit ihr zusammen hinauszugehen. Als sie sich ihre Tasche über die Schulter hängte, stellte er ihr die Frage, die er bis dahin aus seinen Gedanken verbannt hatte. "Hermione, du gehst doch allein zum Weihnachtsball, oder?" Sie reagierte nicht ganz so, wie er erwartet hatte. "Natürlich nicht! Wieso fragst du so was? Meinst du, ich sei nicht süß genug, um eingeladen zu werden? Meinst du, kein Junge würde mich einladen?" Ihre Stimme wurde lauter, und da er die Schutzzauber bereits entfernt hatte, drehten sich diejenigen Schüler, die noch in der Bibliothek waren, um, und starrten sie an. Er legte ihr sanft die Hände auf die Schultern, in der Hoffnung, sie zu beruhigen. "Pfoten weg, Malfoy." Sie stieß seine Hände weg. "Ich hab' die Nase gründlich voll von diesem Ball. Ihr Jungs benehmt euch alle so - so richtig kindisch! All diese Erwartungen, Einschätzungen und Annahmen, das ist so absolut lächerlich. Warum kann keiner von euch sich wie ein Erwachsener benehmen?" Draco war sprachlos. "Ich benehme mich nicht kindisch." "Ha!" Von ihrem Tisch neben der Tür aus warf Madam Pince ihnen einen finsteren Blick zu. Die anderen Schüler starrten sie immer noch an. "Ich hab' dich nur gefragt, weil ich auch allein hingehen würde, wenn du allein gehst, dann könnten wir uns nämlich einfach dort treffen." Seine Stimme war erheblich leiser als ihre. "Ich will kein Trara darum machen, und vielleicht kann ich ja gar nicht kommen." "Und warum fragst du mich dann nicht einfach?" Sie lächelte wieder, aber es war kein freundliches Lächeln. Es erinnerte ihn an Narcissa, wenn sie ihm ein paar unangenehme Neuigkeiten von Lucius überbrachte.
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6. Kapitel: Heute fröhlich, morgen traurig
"Ich will nicht mit dir hingehen, ich will mich nicht mit dir verabreden! Ich will mich einfach nur mit dir dort treffen." Madam Pince kam auf sie zu. "Lass mich mal nachdenken: Du willst nicht mit mir hingehen, aber du willst auch nicht, dass ich mit jemand anderem gehe? Das ist ja wohl das Bescheuertste, was ich je gehört habe! Ich hab' den Eindruck, dass du von Moodys Stunden irgendwie Gehirnerweichung hast, Draco." Sie trat einen Schritt zurück, so als ob sie gehen wollte. "Lass das gefälligst aus dem Spiel." Draco griff nach ihrer Hand und hinderte sie daran, sich zu weit zu entfernen. "Ich hatte eine Idee, du hast gesagt, es interessiere dich nicht, und dabei sollten wir es belassen." Madam Pince stand jetzt direkt zwischen ihnen und der Tür. Sie richtete ihren Zauberstab auf Draco und sagte: "Malfoy, Granger, raus jetzt. Wenn ich irgendeinen von Ihnen dieses Jahr noch mal so laut und deutlich höre, dann dürfen Sie nachsitzen, bis der Riesenkalmar zur Bibliothekstür hereinspaziert, um sich ein Buch über die algerische Wüste auszuleihen." Sie schwenkte ihren Zauberstab über die beiden, und Draco fühlte, wie sein Mund versiegelt wurde. Hermione fasste sich ebenfalls mit den Händen an die Lippen, eine Geste, die ihn stark an ihre Reaktion erinnerte, als er sie versehentlich mit dem Densaugeo-Fluch getroffen hatte. Madame Pince zog Hermiones Hand weg, unter der eine Reihe Knöpfe über ihrem Mund zum Vorschein kam. Draco vermutete, dass er genauso aussah. "Sie können sie aufknöpfen, wenn Sie wieder in Ihren Schlafsälen sind, aber solange Sie sich in meiner Bibliothek aufhalten, herrscht Ruhe!" Madam Pince hatte eine äußerst furchterregende Art, sehr, sehr leise zu schreien. Hermione versuchte, ein Zeichen der Entschuldigung zu machen, aber Draco packte lediglich seine Bücher zusammen, ging so schnell er konnte zur Tür und beschloss, beim Frühstück Pansy zum Ball einzuladen. Nach dieser Szene vor den Augen so vieler Schüler musste er einfach zum Weihnachtsball gehen, und zwar mit dem hübschesten Mädchen, das er finden konnte. Als er durch die fast verlassenen Flure des Schlosses lief, presste er die Kiefer hinter seinen zugeknöpften Lippen zusammen, und seine Gedanken schweiften wieder zu Hermione. "Ich frag' mich, mit wem sie wohl geht", dachte er. "Möglicherweise mit diesem verdammten Potter. Ich sollte ihm am Freitag in Zaubertränke irgendwas Fieses in seinen Kessel tun ..." *** Anmerkungen der Autorin: Die Verse zu Beginn des Kapitels stammen aus Ever Changing Moods von Paul Weller. Einige der Ideen für die Amulette stammen von http://members.aol.com/enchgifts3/amulets.html Außerdem habe ich mich in Bezug auf meine Vorstellungen von Magie von Katherine Nevilles Das Montglane-Spiel und von Frances Hodgeson Burnetts Sarah, die kleine Prinzessin, inspirieren lassen (was für ein Kontrast, stimmt's?).
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Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi ([email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
7. Kapitel Schon mal einen Moralischen gehabt?
Have you ever chased the night that sailed in front of you, On a boat that's bound for hope, but left you in the queue, With your shouting, waving, taunting, flaunting friends as crew, Telling you that every lie you ever heard was true? Have you stood upon that dock? Have you ever had it blue? The Style Council
Anfang Dezember setzte in Hogwarts windiges Schneeregenwetter ein. Jeden Morgen hatten die Zauberer aus Durmstrang in dem Bemühen sich aufzuwärmen, nachdem sie nachts auf dem Schiff halb erfroren waren, am Slytherin- Tisch allen Tee, Kaffee und die Weiße Heiße Schokolade ausgetrunken, noch bevor die meisten der Slytherins überhaupt zum Frühstück erschienen waren. Obwohl das Bettzeug in den Kabinen mit Wärmezaubern behext war, wusch das Wasser ständig die Zauberformeln vom Holz, so dass es in den Gängen und auf Deck lausig kalt war. Immerhin waren sie entsprechend angezogen. Aber die Kälte draußen war nichts im Vergleich zu dem Ton, in dem der Brief geha lten war, den Draco ein paar Tage nach Monatsbeginn von Lucius erhielt: Endlich habe ich beim Propheten eine Aufgabe gefunden, die selbst jemand, der so unerfahren ist wie du, bewältigen kann. Rita Skeeter, die du letzten Sommer auf einem Empfang kennen gelernt hast, hat in diesem Herbst regelmäßig Hogwarts besucht, um über das Trimagische Turnier zu berichten. Es ist ziemlich schwierig für sie, die Champions zu interviewen, und wir brauchen jemanden, der sie durch die Schule führt, damit sie mehr Stoff für ihre Artikel findet – lustige, banale Begebenheiten, das liegt ihr am meisten. Du wirst dich am Montag beim Frühstück mit ihr treffen, und ich hoffe, dass sie den ganzen Tag an deinem Unterricht teilnehmen kann. Das ist eine irrsinnig einfache Aufgabe, Draco. Nicht mal du solltest imstande sein, sie zu vermasseln, aber selbst wenn das passiert, bleibst du in den Ferien trotzdem in der Schule. Deine Mutter und ich haben für den 29. eine Einladung zu einer Bigfoot-Jagd in Kanada erhalten. Du könntest zwar mitkommen, aber das würde dich bei deinen Studien zu weit zurückwerfen. Am 30. treffe ich mich mit den Investoren im Newport Inn in Hogsmeade. Wir werden meine Geschäftsreise mit einem frühen Geburtstags-Abendessen für dich verbinden, so dass deine Mutter und ich nicht so kurz hintereinander zweimal kommen müssen. Mein Büro wird sich mit dir in Verbindung setzen, um ein Treffen für diesen Tag zu vereinbaren, eventuell in der Lokalredaktion der Zeitung. Richte dich darauf ein, die Nacht in Hogsmeade zu verbringen, du kannst dann an Silvester in die Schule zurück. Ich habe Snape eine Eule geschickt, um alles zu vereinbaren. Des Weiteren habe ich über unser Gespräch über diesen Schlammblut-Lehrer nachgedacht, den du da hast. Mir wird immer noch übel beim Gedanken daran, dass du von einem Auror in Schwarzer Magie unterrichtet wirst, aber ich kann es nicht ändern. Ich würde dich lieber selbst darin unterrichten, aber das ist derzeit nicht machbar. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass deine Klagen bezüglich der Art, wie er dich in Flüchen unterrichtet, beweisen, dass du ein Schwächling bist, und damit meine ich nicht nur, dass du nicht genügend Magie aufbieten kannst, um seine Flüche abzuwehren. Es wird keine Klagen über Moodys Unterrichtsmethoden vor dem Schulausschuss geben, und es wird dir nicht gestattet sein, dich deinerseits darüber zu 86
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
beschweren. Stattdessen wirst du dieses Fach als praktische Übung betrachten, und zwar nicht nur in Bezug auf Flüche und deine Unfähigkeit sie abzuwehren, sondern auch als wöchentliche Bestätigung der Tatsache, dass ein Malfoy imstande sein muss, seinen Feinden die Stirn zu bieten, und dazu gehören auch Schlammblüter. Verinnerliche diese Lektion im Laufe dieses Jahres. Ich erwarte, dass du letztendlich einen Weg finden wirst, es Mad Eye Moody heimzuzahlen. Der Brief war in Dracos Augen ein zweischneidiges Schwert. Er freute sich natürlich, dass er die Ferien in der Schule verbringen durfte, und es würde sicher nicht übel sein, Rita mit zu seinen Stunden zu nehmen, und dann war da sein Gebur tstag, auf den er sich freuen konnte. Er beglückwünschte sich dazu, Lucius nichts davon erzählt zu haben, dass er ein Gedankenbassin herstellen wollte, denn wenn er einmal damit fertig war, könnte er Moody vernichten, und Luc ius würde sich darüber freuen, dass Draco ganz allein einen Weg gefunden hatte, es zu tun. Er wäre doch stolz auf ihn, oder? In vielerlei Hinsicht waren die letzten Unterrichtswochen vor den Ferien nicht anders als die vergangenen drei Monate. Draco saß stundenlang in der Bibliothek, aber glücklicherweise hie lten die Schutzzauber alle anderen Schüler fern. Es gelang ihm, sie so zu verändern, dass sie auch Käfer fernhielten, nur für den Fall, dass Rita in der Schule herumflog und ihn mit Hermione zusammen sah; Draco hatte Lucius die Natur ihrer Beziehung immer noch nicht erklärt, und er wollte nicht das Risiko eingehen, dass Rita es tat. Falls sie sie gesehen hätte, wäre sie natürlich kaum auf den Gedanken gekommen, dass sie Freunde waren oder sonst irgendwas in der Art, da sie nicht miteinander redeten. Draco war mehr und mehr mit Moody beschäftigt und wühlte sich durch einen Stapel Bücher über Gedankenbassins, damit er mit ihrer Geschichte vertraut wäre, wenn Professor Snape die Zeit fände, ihm dabei zu helfen, eins zu bauen. Er hatte wirklich nicht die Energie, sich neben diesen Aufgaben und seiner normalen Schularbeit noch Gedanken über andere Leute zu machen. Er nahm sich jedoch ein paar Minuten Zeit, um Pansy Parkinson zu fragen, ob sie mit ihm zum Weihnachtsball gehen wollte, und natürlich sagte sie sofort ja. Das einzige Problem dabei war, dass sie die Einladung so auffasste, dass sie sich bei jeder Mahlzeit, im Gemeinschaftsraum, im Unterricht und sogar in der Bibliothek neben ihn setzen durfte. Als sie ungefähr zehn Tage vor Unterrichtsende nach ihrem letztem AG-Treffen vor Ferienbeginn zu ihren Schlafsälen gingen, beklagte er sich bei Reilly, dass sie ihn so hartnäckig abzulenken versuchte, dass er ihr hatte versprechen müssen, sich beim Frühstück und im Unterricht neben sie zu setzen, solange sie nicht versuchte, sich mit ihm zu unterhalten, bevor sie damit einverstanden war, sich nicht mehr jeden Tag und überall an seine Fersen zu heften. "Ich hab' ihr gesagt, dass sie die Nächste auf Moodys Liste wäre, wenn sie nicht ein bisschen auf Abstand ginge, und dass meine Hausaufgaben darunter leiden würden, wenn sie mir ewig nachläuft." Reilly sagte: "Siehst du, deshalb musst du dich mit einer zusammentun, der ihre Noten genauso wichtig sind wie dir deine. Ansonsten kriegt ihr nie was gearbeitet!" "Da gibt es in unserer Klasse nicht viele Alternativen. Du gehst schon mit Miranda, ich hab' meine Wette darüber verloren, ob Viola mit diesem Hufflepuff zusammenbleibt, und Hermione geht schon mit Potter." "Nein, tut sie nicht. Er hat Cho Chang zum Weihnachtsball eingeladen, aber sie geht schon mit Cedric Diggory", warf Miranda ein. Draco war verblüfft. Wenn sie nicht mit Potter zusammen war, mit wem ging sie dann zum Ball? Doch wohl nicht mit diesem abgerissenen Weasley, der womöglich in seiner normalen Schulrobe auftauchen würde. Und auch nicht mit dieser Tranfunzel Longbottom – sie musste doch höhere Ansprüche haben. Sie musste ihn angelogen haben, als sie gesagt hatte, sie würde mit jemand anderem gehen, aber warum? Es konnte nicht so schlimm sein, allein hinzugehen, er hatte das wirklich vorgehabt, bis sie ihm gesagt hatte, sie sei schon mit jemand anderem verabredet. Und nun, da er Pansy gefragt hatte, musste er auch mit ihr hingehen; Draco wusste, dass sie 87
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ihren Eltern bereits eine Eule geschickt hatte, um ihnen davon zu erzählen, jedenfalls hatte er gehört, wie sie beim Mittagessen einer Fünftklässlerin von der verzauberten Make-upAusrüstung erzählt hatte, die ihre Mutter ihr geschickt hatte, aber es würde nicht so viel Spaß machen, wie allein hinzugehen. *** An einem Dezembermorgen wartete Draco bereits in aller Frühe am Frühstückstisch bis fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn, wobei er alle paar Sekunden auf die Uhr sah. Rita hatte es wohl nicht bis in den Großen Saal geschafft. Obwohl Hagr id nie jemanden nachsitzen ließ, der zu spät kam, wollte Draco dabei nicht den Anfang machen, also beschloss er, gleich nach der Stunde in den Eulenschlag zu gehen und Lucius eine Nachricht zu schicken, um ihm zu erklären, warum Rita nicht da gewesen war. Als er an der Kutsche und der Koppel der Beauxbatons vorbeikam, wurde ihm von den Ausdünstungen der Pferde schwindlig; der Geruch des Whiskys erinnerte ihn ans Herrenhaus, vor allem wenn seine Eltern ein Fest gaben. Er fröstelte, doch eher weil ihm kalt war als von seinen Fantasievorstellungen, und stellte fest, dass er richtiggehend zitterte, als er auf die Klasse zuging, und hielt sich im Hintergrund. Weil sie immer noch mit den abstoßenden Krötern arbeiteten, versuchten die meisten, in Hagrids Unterricht so viel Abstand wie möglich zu dem Lehrer und dem, was er gerade vorführte, zu halten, um Verbrennungen und Stiche zu vermeiden. Draco, der am Rande von Hagrids Kürbisfeld neben dem Eingang zur Hütte stand, konnte wegen des Windes kaum verstehen, was Hagrid sagte. "Ich bin nicht sicher, ob sie Winterschlaf halten oder nicht. Ich dachte, wir probieren einfach mal aus, ob sie gerne ein Nickerchen machen möchten und packen sie in diese Kisten ...", sagte Hagrid und zeigte auf die zehn Kröter, die an Pfähle angebunden um ihn herum auf dem Boden hockten. Jeder war fast zwei Meter lang und hatte einen dicken, erdfarbenen Panzer; Draco fragte sich, ob sie wohl ihre Flammenwerfer dazu benutzen konnten, um sich von den Stricken zu befreien, mit denen sie angebunden waren. Mit ihren flinken Beinen wären sie in der Lage, schneller zwischen den Schülern hin und her zu rennen, als irgendeiner von ihnen würde fliehen können. "Nächstes Mal bringe ich meinen Besen mit zum Unterricht", murmelte er. Seamus Finnegan, der ebenfalls am Rande der Menge stand, nickte heftig. Draco sah völlig entgeistert aus, als Hagrid auf ein Dutzend Kisten zeigte, die am Rande des Feldes aufgestapelt waren, und von denen jede mit Kissen und weichen Decken ausgepolstert war, aber zum Glück auch einen Deckel zu haben schien. Gut – Kröter, die in Kisten gefangen waren, die mit einer Zauberformel unbrennbar gemacht wurden, waren wesentlich besser als Kröter, die frei auf dem Schulgelände herumrannten. "Bringen Sie sie einfach hierher", sagte Hagrid, "dann machen Sie die Deckel zu und wir warten ab, was passiert. Kommen Sie mal vor von da hinten. Tun Sie sich zusammen, je drei Mann pro Kröter! Los jetzt." Draco debattierte kurz mit sich, was schlimmer war: Wildgewordene Knallschwänzige Kröter oder Mad Eye Moody und kam zu dem Schluss, dass Moody schlimmer war. Hier hätte er wenigstens ein bisschen Unterstützung dabei, mit den unangenehmeren Seiten der Schule fertig zu werden. Dicht gefolgt von Vin und Greg ging er auf einen Kröter ohne Saugnäpfe zu, wobei er überlegte, dass er sich darum kümmern würde, den Kröter zu fangen, die gefährliche Aufgabe, das Vieh anzufassen, aber den anderen überlassen würde, als plötzlich ein lauter Knall sie alle zusammenfahren ließ. Einer der Kröter flog in einem niedrigen Kreis durch die Luft, drehte sich dabei rückwärts, war aber immer noch an den Pfahl gebunden. Die Zentrifugalkraft reichte aus, um den Strick zu lockern, und er trampelte auf dem Kürbisfeld herum, wobei seine blindwütigen Bewegungen die anderen Kröter losrissen. 88
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Innerhalb von Augenblicken waren alle Kröter bis auf einen frei, und sie machten sich daran, die Kisten, kuscheligen Kissen und weichen Decken zu verwüsten. Mit einem entsetzten Blick auf einen enthaupteten Teddybären packte Draco Vin, der wie versteinert dastand, und versuchte, ihn in Richtung der Hütte zu ziehen. Finnegan half mit einem Schubs nach, und Draco stürzte hinter Vin und Seamus her und warf dann einen Blick nach hinten um festzustellen, ob der Rest der Klasse sich vor den Krötern in Sicherheit gebracht hatte. Als er die Tür der Hütte erreichte, konnte er drinnen Greg erkennen, hinter dem Pansy he rvorlugte. Blaise war bereits auf halbem Weg zum Schloss, und Finnegan jagte außen herum zu den paar Leuten zurück, die immer noch im Kürbisfeld standen. Sie standen alle nahe bei Hagrid und hatten ihre Zauberstäbe hervorgeholt. Draco holte ebenfalls seinen Zauberstab heraus und blieb in der Hintertür der Hütte stehen, in der Hoffnung, dass Hagrid sie nicht wieder herausrufen würde. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, dass er sich in dieser Stunde noch einmal verletzte. Als eins der Gryffindor-Mädchen schrie: "Mach die Scheißtür zu, Malfoy!", tat er wie geheißen und ging ans Fenster um zuzusehen, wie Hagrid und seine Helfer mit den Viechern fertig wurden. Er beobachtete, wie Hermione gekonnt einen Kröter mit einem Schockzauber in den Bauch traf und schnappte nach Luft, als Hagrid eins der Biester einfach hochhob und in eine Kiste warf, auf die Weasley vorher ein paar Mal seinen Zauberstab gerichtet hatte. Martin Kratt, der sich brennend für seltsame Kreaturen interessierte und in einem Aquarium im Gemeinschaftsraum Regenbogenfische hielt, beschwor mit seinem Za uberstab Lassos, die er wie ein amerikanischer Cowboy schwang, und schaffte es, einen Kröter am Stachel zu erwischen und in eine weitere Kiste zu zerren. Irgendwann, als einer der Kröter sich direkt vor der Hütte befand, drängelten Draco und Millicent sich durch die Klasse zur Tür, weil sie hofften, die Kreatur durch den Spalt unter der Tür mit einem Schockzauber treffen zu können, aber Greg packte seinen linken Arm und entwand ihm den Zauberstab. "Bist du verrückt? Wenn du diese Tür aufmachst, dann wird er uns alle kriegen!", schrie er fast hysterisch und richtete seinen Zauberstab auf die Tür, wobei er einen Schließzauber rief. Obwohl Greg völlig außer sich war, als er zielte, und im Prinzip selten einen Zauberspruch richtig hinbekam, traf er die Tür, die sich noch fester verschloss als zuvor. Jetzt saßen sie alle in der Hütte in der Falle. Draco hielt Greg seine gespreizten Finger entgegen und trat zurück, um etwas Platz zw ischen sich und seinem Klassenkameraden zu schaffen. "Beruhig dich, keiner geht jetzt raus! Alles in Ordnung", fügte er langsam hinzu, in demselben Ton, den er immer benutzte, wenn er versuc hte, einen scheuenden Pegasus zu beruhigen. "Ich werde nur aus dem Fenster sehen, bis sie fertig sind, alles klar?" Er legte seine Hand auf Gregs, nahm ihm den Zauberstab aus den zitternden Fingern, richtete ihn dann auf den verängstigten Slytherin und sagte: "Sartrennui." Greg ließ sich auf den Stuhl fallen, saß ganz still da und drehte Däumchen. "Noch jemand, der hysterisch werden möchte?", sagte Draco zum Rest der Klasse. "Nein? Gut, dann sehe ich mir das Spektakel jetzt an. Wir machen die Tür wieder auf, wenn sie fertig sind." Draco ging wieder ans Fenster und öffnete es einen Spaltbreit, weit genug um zu hören, was diejenigen, die immer noch draußen waren, sagten. Er war etwas enttäuscht, dass Greg sie so wirkungsvoll eingesperrt hatte. Draco überlegte, dass es die gesteigerte Erregung des Auge nblicks gewesen sein musste, die Greg über seine übliche Schwäche bei Zaubersprüchen hinweggeholfen hatte, genau wie sich bei nicht ausgebildeten Kindern die Zauberkräfte immer dann manifestierten, wenn sie irgendwie aufgeregt waren. Draco erinnerte sich dunkel, wie er mitten in Lucius' Arbeitszimmer gestanden hatte, als er noch zu klein gewesen war, um über die Schreibtischkante zu gucken, und zugehört hatte, wie Lucius sich mit seiner eigenen Mutter darüber stritt, ob die Zauberkraft, die Draco an den Tag legte, eine überemotionale, weibische Reaktion sei, wie Lucius glaubte, und ob es seine magischen Kräfte hemmen würde, wenn man solche emotionalen Ausbrüche verhinderte, während er heranwuchs. Draco war überrascht gewesen, dass seine Großmutter diesen speziellen Kampf gewo nnen hatte. 89
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Obwohl sie eingeschlossen waren, wäre der Spalt im Fenster breit genug gewesen, um seinen Zauberstab hindurchzustecken und notfalls einen der Kröter zu behexen, aber sie schienen draußen alles unter Kontrolle zu haben. Ein paar von Dracos Klassenkameraden versammelten sich um ihn herum um zu sehen, was passierte. Er hörte wieder, wie dieses Gryffindor-Mädchen jammerte, sie hätte Angst, Wahrsagen zu versäumen, wenn die Kröter bis zum Nachmittag nicht wieder eingefangen wären, und dachte einen Augenblick darüber nach, wie dämlich einige ihrer Fächer doch waren. Der einzige Grund, warum er dieses Fach hier überhaupt belegt hatte, war, dass Lucius Muggelkunde und Wahrsagen verachtete. Er ließ sich immer darüber aus, wie sinnlos das alles war, was für ein Scharlatan jeder so genannte Seher, den er getroffen hatte, gewesen war, und wie das Ministerium sich beharrlich weigerte, diese Praxis zu verbieten. Doch natürlich war in jeder Ausgabe des Propheten eine ganze Seite den Horoskopen gewidmet, da Lucius sich in erster Linie als Kapitalist und Geschäftsmann sah, und erst in zweiter Linie als Mann von Prinzipien. Draco beobachtete, wie Hagrid Weasley und Potter etwas zurief, die in Richtung der Hüttenwand zurückzuweichen schienen, gleich um die Ecke von Dracos Standort. "Macht ihm jetzt keine Angst! Versucht einfach, ihm den Strick um den Stachel zu legen, damit er keinen von den anderen verletzt!" "Klar, das möchten wir natürlich keinesfalls!" Draco hörte, wie Weasley zurückschrie und sah, wie sich von der anderen Seite der Wand ein Funkenregen ergoss. Schon komisch – ich bin mir tatsächlich mal mit Weasley über was einig, dachte Draco. Er wandte seinen Blick den rüttelnden Kisten im Kürbisfeld zu, und ihm wurde klar, dass, falls einer der Kröter aus den Kisten entwischte, er ihn vielleicht von seinem Standort aus aufhalten musste, weil Weasley, Potter und Hagrid auf der anderen Seite des Hauses beschäftigt waren. Etwas extrem Buntes stach ihm in die Augen, und eine irgendwie vertraut klingende Stimme drang an sein Ohr. "Na, na, na ... sieht aus, als ob das Spaß machen würde." Rita Skeeter lehnte an Hagrids Gartenzaun und besah sich das Chaos. Sie trug heute einen dicken, magentaroten Umhang mit einem violetten Pelzkragen, und über dem Arm hatte sie eine Krokohandtasche. Draco erkannte den vertrauten Notizblock des Propheten, der aus der Tasche herausragte. "Wer sind Sie denn?" Draco hörte Hagrids Donnerstimme gleichzeitig mit einem dumpfen Schlag, der die Hütte erschütterte. Hagrid musste den Kröter gefangen haben, sagten die Leute. Pansy, die an einem Tisch in dem Bereich saß, der aussah wie die Küche einer Jacht, allerdings mehr in Bezug auf seine Größe als auf den Stil, hob zwei kaputte Tassen und einen Krug vom Boden auf und fügte die Teile mit einem blauen Lichtstrahl aus ihrem Zauberstab wieder zusammen. "Rita Skeeter, Reporterin beim Tagespropheten", antwortete Rita und strahlte Hagrid an. Draco konnte die Strahlen der schwachen Wintersonne auf ihren Goldzähnen glitzern sehen und schüttelte sich. Er öffnete den Spalt im Fenster etwas weiter. Obwohl die Kröter alle eingefangen waren, könnte derjenige, den Hagrid festhielt, immer noch entwischen, und der Himmel allein wusste, wie lange die Kisten, die Weasley und Finnegan gemacht hatten, halten würden. Er wollte hinausgehen und Rita begrüßen, wie Lucius es von ihm erwarten würde, aber er überlegte, dass einer seiner Klassenkameraden ihn womöglich behexen würde, wenn er auch nur einen Schritt auf die Tür zu machte. "Ich dachte, Dumbledore hätte gesagt, dass Sie hier Hausverbot haben ", sagte Hagrid zu Rita und fing an, den letzten Kröter zu den anderen herüberzuzerren. "Wie heißen diese faszinierenden Kreaturen?", fragte sie und strahlte noch mehr. "Knallschwänzige Kröter", grunzte Hagrid. "Tatsächlich?", fragte sie neugierig. "Von denen hab' ich noch nie gehört ... Woher stammen sie?" Hagrid unterhielt sich ein paar Minuten mit Rita über die grässlichen Kröter, dann kamen ein paar der anderen Schüler, darunter auch Hermione, zu ihnen in die Hütte. Draco hatte ve r90
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
sucht, Ritas Blick zu erhaschen, um ihr zu sagen, dass sie eingesperrt waren und dass er sie deshalb nicht draußen begrüßt hatte. Er würde Lucius in seinem heutigen Brief schreiben müssen, wie er es geschafft hatte, eine so simple Aufgabe zu vermasseln, außerdem, dass er Rita erst beim Frühstück und dann auch noch beim Mittagessen verpasst hatte. Im Geiste war er schon dabei sich auszudenken, wie er es genau formulieren würde, entschuldigend zwar, aber mit einem deutlichen Hinweis darauf, dass es nicht seine Schuld gewesen war; dann fragte er die in der Hütte versammelte Gruppe, ob er den Zauberspruch aufheben könne, den er über Greg ve rhängt hatte, damit sie ins Schloss zurückkehren konnten. Als es oben im Schloss zum Ende der Stunde läutete, war er schon auf halbem Weg übers Kürbisfeld, in der Hoffnung, Rita zu erwischen, bevor sie mit Hagrid fertig war, und wenn mö glich mit Hermione zu vereinbaren, dass sie beim nächsten AG-Treffen für die anderen zusammenfassen sollte, was sie unternommen hatten, um die Kröter einzufangen. Sie war jedoch schon auf dem Weg zurück ins Schloss, lachte und lief praktisch Arm in Arm mit Potter daher. Als Rita sich von Hagrid verabschiedete, starrte Draco den Rücken der Gryffindors, die sich langsam entfernten, finster hinterher und dachte darüber nach, mit welchem gemeinen Fluch er dem schwarzhaarigen Jungen am besten schlechtes Ta nzen anhexen könnte. Dann stellte er sich neben Rita und wartete, dass sie ihr Gespräch mit Hagrid beendete, weil er sie weder unterbrechen noch gehen lassen wollte, ohne mit ihr gesprochen zu haben. Schließlich wandte sie sich von den Krötern ab und bemerkte Draco. Einen Augenblick sah sie ihn verständnislos an, dann fand sie die Sprache wieder. "Klein- Draco! Meine Güte, du wirst ja ein richtig stattlicher Mann. Was machst du hier?" "Ich hatte hier Unterricht. Ich muss jetzt wieder ins Schloss, aber ..." Er hielt inne und sah Hagrid an, der seinem Gespräch mit Rita aufmerksam lauschte. Draco mochte Hagrids Stunden nicht, aber es hatte keinen Wert, vor einem der Reporter des Propheten unhöflich zu sein, erstens weil Lucius davon erfahren könnte, und zweitens weil es, wie Lucius sagte, seiner Fähigkeit Abbruch tun könnte, die Reporter in ein paar Jahren zu leiten und zu führen. Aus reiner Höflichkeit fragte Draco Hagrid also: "Hätten Sie was dagegen? Die Stunde ist zu Ende, und ich würde gerne ein paar Minuten über wichtige geschäftliche Dinge reden." "Ich muss eh zu den Krötern und nachschauen, ob die Kisten halten", sagte Hagrid und winkte Rita zum Abschied zu. Sie winkte heftig zurück und zog ihre Eilfeder und ihren Block aus ihrer Tasche. "Eine Sekunde", sagte sie zu Draco und lutschte einen Augenblick an ihrer Feder. "Lass mich das schnell notieren: Rubeus Hagrid, Lehrer für Pflege Magischer Kreaturen, sorgt in jeder Stunde für Aufregung bei seinen Schülern. Wie klingt das als Einleitung, mein Junge?" "Kommt drauf an, was Sie unter Aufregung verstehen, denke ich", antwortete Draco und machte sich auf den Weg zum Schloss. "Warum wollen Sie überhaupt einen Artikel über ihn schreiben?" Rita verzog das Gesicht. "Weil dein Vater es nicht erlaubt, dass ich über Mad Eye Moody schreibe. Er sagt, er will keine Aufmerksamkeit erregen bezüglich der Art, in der Moody seinen Unterricht abhält, aber ich habe gehört, dass es da noch einen anderen Grund gibt, stimmt's? Ich hab' gehört, dass er dir im Unterricht ziemlich übel mitspielt, ist das wahr?" Draco presste die Lippen zusammen, bevor er antwortete. Ihm war vor kurzem aufgefallen, dass er sich von innen auf die Lippen biss oder heimlich seine Zähne in seine Knöchel und Finger vergrub, was seltsame Spuren auf seinen Händen hinterließ, ihm aber irgendwie dabei half, mit dem Stress, unter dem er stand, besser fertig zu werden, so als ob er bestimmte Dinge, über die er absolut nicht nachdenken wollte - zum Beispiel den Unterricht in Verteidigung gegen die Schwarze Magie - aus seinen Gedanken vertreiben könnte, wenn er sich selbst nur genug wehtat. "Und, wie läuft's in Moodys Unterricht?" Er konnte ihre Eilfeder in ihrer Tasche kratzen hören und vermutete, dass sie sie innen auf magische Weise vergrößert hatte, so dass ein Tischchen hineinpasste, was ihr erlaubte, sich Notizen machen, während sie unterwegs waren.
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Er antwortete schnell: "Sehr gut, in allen meinen Fächern läuft es sehr gut, überhaupt keine Probleme." Rita war schließlich Journalistin. Obwohl Lucius nicht ganz Großbritannien lesen lassen würde, dass Draco Schulprobleme hatte, konnte sie ihm trotzdem berichten, dass er sich in aller Öffentlichkeit dazu geäußert hatte, deshalb wechselte er das Thema. "Ich sollte mich beim Frühstück mit Ihnen treffen, aber Sie waren nicht da. Sind Sie wirklich aus dem Schloss verbannt worden?" "Dumbledore hat mir gesagt, ich sei im Schloss nicht länger willkommen, deshalb komme ich durch den Schutzwall nicht hinein, aber er kann mir nicht verbieten, aufs Gelände oder auf die Fenstersimse zu kommen. Ja, ich weiß, dass dein Vater dir von meinem kleinen Trick erzählt hat", sagte sie, als sie Dracos überraschtes Gesicht sah; sie war so vertrauensselig, wie sie ihm ihr Geheimnis, dass sie ein Animagus war, einfach so anvertraute. "Ehrlich gesagt habe ich ihn darum gebeten. Ich brauche jemanden, der mich von innen mit Informationen versorgt, jemanden, der mir berichtet, was dort vorgeht und wo ich nach Stoff für Artikel und Kurzmeldungen suchen soll." "Sie wollen, dass ich spioniere? Dass ich meine eigenen Klassenkameraden ausspioniere?", fragte Draco. Wenn Rita aus der Schule verbannt worden war, was hinderte Dumbledore dann daran, ihn vom Unterricht zu suspendieren oder sogar von der Schule zu werfen, wenn er dabei erwischt wurde, wie er einer bekannten Reporterin Informationen zuspielte? "Welcher Unterschied besteht da zu diesen Briefen, die du deinem Vater jeden Tag schreibst? Meinst du, er entnimmt ihnen nichts, was er in der Zeitung veröffentlichen kann? Oder worüber er detailliertere Nachforschungen anstellt und was er sogar als Druckmittel benutzen kann?" Draco wurde blass. Natürlich hatte er Artikel in der Zeitung gesehen, die auf dem beruhten, was er Lucius schrieb, aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass Lucius diese Artikel anhand dessen, was Draco gesagt hatte, zusammenstellte. Er suchte nach einer passenden Antwort. "Ich will keine Zeit verschwenden, die ich eigentlich mit Lernen verbringen sollte, mein Vater hat mich nur gebeten, Sie durch die Schule zu führen. Es hört sich so an, als wäre ihm gar nicht bewusst, dass Sie Anweisung haben, das Schloss nicht zu betreten." Genau. Dagegen hätte sie keine Argumente. Er fügte hinzu: "Außerdem ist vor den Ferien sowieso nicht mehr allzu viel los – wie lange wollten Sie überhaupt hier bleiben?" "So lange, bis ich das erledigt habe, was mein Boss von mir erwartet." "Und was wäre das?" "Nee, nee, Draco. Du wirst nichts von mir erfahren, ohne mir etwas zu liefern, was ich ve rwenden kann. Genau, warum arbeiten wir eigentlich nicht auf dieser Basis zusammen?" Rita schenkte ihm ein dünnes Lächeln, wobei ihre Augen verschwörerisch glitzerten. "Lucius muss ja nichts von meinem Teil der Abmachung wissen." "Wovon reden Sie eigentlich?" Er war jetzt total verwirrt. "Wenn du mir Informationen zuspielst, oder Anregungen für Artikel, Aussagen deiner Mitschüler oder sogar deiner Lehrer, vor allem über irgendeinen der Trimagischen Champions, dann werde ich dir was erzählen – über deine Mitschüler, ihre Eltern und vielleicht auch über deine Lehrer – ich weiß ein paar Dinge über Severus Snape, bei denen sich dir vor Entsetzen die Haare kräuseln würden." Sie hielt inne, beugte sich zu ihm hinüber und fuhr ihm mit den Fingern übers Haar, das flach an seinem Kopf anlag, dann huschte ein fast wehmütiger Ausdruck über ihr Gesicht. "Du würdest vielleicht sogar total süß aussehen damit. Malfoys mit Locken sind ziemlich selten." Draco wich zurück. Ritas Hände waren ausgesprochen unheimlich. Bei solch langen Fingernägeln hatte er das Gefühl, dass sie damit seinen Kopf aufspießen wollte. "Was sollte ich damit anfangen?" Er war zugegebenermaßen neugierig auf diese Geheimnisse, auf die Rita da anspielte, aber er war sich nicht sicher, ob sie das Risiko wert wären, sich mit Professor Snape oder sogar mit Dumbledore anzulegen.
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Rita machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge, so als ob sie versuchte, mitfühlend oder bedauernd zu klingen, aber nicht über die Erfahrung verfügte, es richtig zu machen. "Lass mich dich was fragen. Was weißt du über deine Eltern?" Das war nicht die Art Frage, die Draco erwartet hatte. "In Anbetracht dessen, dass wir uns regelmäßig schreiben und miteinander reden und dass ich praktisch alles lese, was mein Vater schreibt, glaube ich, dass ich eine Menge über sie weiß", sagte er kalt. Sie waren nur zwanzig, dreißig Meter von der Schlosstreppe entfernt rechts im Schatten stehen geblieben. "Ich wette, du weißt nichts, was du nicht aus einem Buch hast", sagte Rita. "Liege ich da richtig? Setzt Lucius Malfoy sich mit dir hin und erzählt dir alte Familiengeschic hten? Geht Narcissa jemals mit dir zum Mittagessen und schwelgt in Erinnerungen daran, wie sie sich in deinen Vater verliebt hat?" Draco konnte fühlen, wie das Gespräch ihm entglitt. Nein, natürlich taten sie das nicht, aber sollte er das wirklich einer von Lucius' Angestellten erzählen? Welches Recht hatte sie zu frage n oder Antworten zu verlangen? Er musste ihr irgendwas erzä hlen, und zwar so, dass er sie dabei nicht beleidigte oder seine Familie in Verlegenheit brachte, aber alles, was ihm einfiel, war, das Gespräch so schnell wie möglich zu beenden. "Ms. Skeeter, ich glaube nicht, dass dieses Gespräch irgendwie angemessen ist, und ich muss jetzt wieder an meine Schularbeit zurück. Es tut mir Leid, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen hierbei helfen kann." "Dann lauf schon, Kleiner", sagte Rita in demselben falschen, mitfühlenden Tonfall und zeigte auf die Schule. "Aber ich werde deinen Vater bitten, dir genaue Anweisungen zu geben, wie du mir helfen kannst. Dann kannst du nicht mehr nein sagen, und ich hätte keine Informationen an dich vergeudet, ich kann bei dem Handel also nur gewinnen. Ich gebe dir noch eine Chance, mir die Informationen zu besorgen, die ich haben will, danach, nun ja, ziehe ich mein Angebot zurück." Jetzt nachzugeben wäre zu linkisch und unpassend gewesen. Vielleicht war das einer von Lucius' Tests, da er ihm in seinem Brief lediglich erlaubt hatte, Rita mit in den Unterricht zu nehmen, und was sie da von ihm verlangte, war etwas völlig anderes. Es würde sicherer sein um Erlaubnis zu fragen, statt Rita einfach blind zu vertrauen, deshalb sagte er, anstatt ihrer Bitte nachzukommen, einfach nur: "Das muss ich mit Zuha use klären. Wenn Lucius sagt, ich kann, dann tue ich es bestimmt, aber in dieser Angelegenheit will ich nichts hinter seinem Rücken unterne hmen." "Und du willst keine Geheimnisse erfahren? Nichts von dem verborgenen Geflüster, das niemand seine Kinder hören lässt? Armer kleiner Junge, dir entgeht so viel. So viel Loyalität – wie süß." Sie berührte wieder sein Haar, sah sich schnell um, und dann – war sie plötzlich weg. Ein kleiner Käfer saß auf Dracos Schulter, breitete die Flügel aus und flog davon. Als er zum Schloss zurückging, rief er sich das Gespräch wieder und wieder in Erinnerung. Rita log, was diese großen Geheimnisse betraf, sie musste lügen, er wusste es einfach. Über seine Familie war in der Presse so viel geschrieben worden, und es gab so viele Bücher über sie, zum Beispiel das über seinen Großvater, das gerade erschienen war: Geisel des Schicksals – Eine Sammlung von Malfoy-Briefwechseln. Natürlich drang nicht jede Kleinigkeit unbedingt an die Öffentlichkeit, aber jedes wirklich große Geheimnis, alle wirklich ernsten Dinge, wären ihm im Laufe der Jahre zu Ohren gekommen, oder er hätte davon gelesen. Die magische Gesellschaft war zu klein, um wirklich große Geheimnisse zu hüten. *** Irgendwie schaffte Hermione es jedoch, das Geheimnis, mit wem sie zum Weihnachtsball ging, für sich zu behalten. Als die Wintersonnenwende und der Beginn der Ferien herannahten, ging es in den Klassenzimmern, auf den Fluren und in den Gemeinschaftsräumen immer fröhlicher zu. Überall kursierten Gerüchte über den Weihnachtsball, wer mit wem hinging, woher an dem Wochenende Blu93
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
men für die Mädchen geliefert werden konnten, und Draco belauschte sogar ein paar Gespräche unter den Mädchen, was passieren würde, wenn zwei von ihnen in genau derselben Abendrobe erschienen. Es wurde darüber geredet, dass Dumbledore die Weird Sisters engagiert hätte, und ein Teil von Draco war beeindruckt, da sie in Hogwarts ziemlich beliebt waren, auch wenn er selbst alles in allem nicht viel von ihren musikalischen Darbietungen hielt. Kirley McCormack hätte besser daran getan, bei Quidditch zu bleiben. Zum Tanzen waren sie allerdings durchaus okay. Einige der Lehrer, zum Bespiel Professor Flitwick, gaben es auf, ihnen viel beibringen zu wollen, wenn sie mit ihren Gedanken so eindeutig woanders waren; er verbrachte die letzte Stunde vor den Ferien damit, ihnen ein paar Kniffe beim magischen Duell zu demonstrieren, mit denen er vor dreißig Jahren mehrfach die nationalen Meisterschaften gewonnen hatte. Andere Lehrer waren nicht so großzügig. Professor McGonagall erlaubte ihnen wenigstens, Eiszapfen in glitzernden Weihnachtsschmuck zu verwandeln, aber nichts würde Professor Binns jemals davon abbringen damit aufzuhören, seine Aufzeichnungen über die Koboldaufstände durchzuackern. Da nicht mal sein eigener Tod Binns davon hatte abhalten können, weiter zu unterrichten, nahmen sie an, dass eine Nichtigkeit wie Weihnachten das kaum zuwege bringen würde. Jedes Mal, wenn er das Geschichts-Klassenzimmer betrat, war Draco dankbar für seine soliden Grundlagen in Geschichte der Magie der nichtmenschlichen Zauberer, da ihm das gestattete, die Stunde damit zu verbringen, seine Aufzeichnungen aus den anderen Fächern noch einmal durchzuarbeiten und abzuschreiben. Snape und Moody ließen sie ebenfalls bis zur letzten Minute in ihrem Unterricht schuften, und Moody würde sie natürlich genauso wenig in der Klasse Spiele machen lassen wie er Draco für einen Tag Ruhe gönnen würde. Mit einem gehässigen Blick in die Runde verkündete er ihnen, er werde in der letzten Stunde spezielle Feiertagsflüche vorführen, was für Draco Vorwand genug war, um sich für den Rest der Woche in der Bibliothek zu vergraben. Keins der Mitglieder seiner AG war dort – sie hatten nicht genug zu tun, um ein Treffen zu rechtfertigen, also hatte er genug Zeit, um sich durch Furcht vor dem Rentier und Feiertagsflüche für nette und weniger nette Zauberer zu arbeiten, in der Hoffnung daraus zu erfahren, was Moody mit ihm vorhatte. Bis zu einem gewissen Grad funktionierte es sogar. Als Moody zu Beginn der Stunde den Rotnasen-Fluch auf ihn schleuderte, lenkte Draco ihn auf Millicent um, die den Nachmittag in der Krankenstation verbrachte und darauf wartete, dass ihre Nase aufhörte zu leuchten, und Draco glaubte, dass er die Auswirkungen des Glöckchen-Fluchs, der das Opfer scheppernde, klirrende und verstimmte Glockentöne im Hintergrund hören ließ, auf ein Minimum reduziert hatte, weil sie nicht sehr laut waren. Leider hatte Draco nichts über den Knallbonbon-Fluch gelesen, und für den Rest des Tages fielen jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, billige Schmuckstücke heraus. Pansy lief ihm eine Zeit lang hinterher und sammelte die winzigen Stofftiere ein, die sie – wenn man Millicent Glauben schenken wollte – rund um ihren Nachttisch herum aufstellte. Zumindest außerhalb der Klassenzimmer hatte das Personal von Hogwarts Dekorationen angebracht, die genauso fantastisch waren wie jene im Herrenhaus, als seine Großmutter das letzte Mal die Feiertage dort verbracht hatte - damals war er elf gewesen. Eiszapfen, die niemals schmolzen, waren an den Geländern der Marmortreppe angebracht worden, und die üblichen zwölf Christbäume im Großen Saal waren mit allem nur Erdenklichen geschmückt, angefangen bei Glöckchen, die lieblich klangen, bis hin zu winzigen Figürchen von Jungfern und Burschen, die den ganzen Tag lang jedem zuwinkten, der an ihnen vorbeikam. Pansy setzte das Gerücht in die Welt, dass sie, wenn man ein paar Stunden nach dem Abendessen in den Großen Saal ging, mehr taten als nur zu winken, aber am nächsten Abend schloss Filch alle Türen zum Saal ab, so dass niemand je erfuhr, ob es sich dabei um einen Tatsachenbericht oder um ein Märchen ha ndelte. Mitten in diesem vorweihnachtlichen leichtfertigen Treiben erhielt er eine Nachricht von Lucius, in der er ihn für die Art kritisierte, in der er Rita begegnet war. "Kannst du nie bei ir94
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
gendwas die Initiative ergreifen?", schrieb Lucius. "Du hast die perfekte Gelegenheit vermasselt, dafür zu sorgen, dass eine unserer neugierigsten Journalistinnen in deiner Schuld steht, und was noch schlimmer ist, du hast bei der Beschreibung deiner Unterrichtsstunden nicht mehr Grips als ein Jarvey bewiesen. Ich will nicht hören, dass du mit irgendwem über die Stunden von diesem Schlammblut-Moody gesprochen hast." Ein paar Abende vor Unterrichtsende hielt Draco seine Verabredung mit Rita hoch oben auf dem Astronomieturm also ein. Den meisten Schülern war es dort zu kalt, und Draco staunte über Ritas Fähigkeit, in ihrer Käfergestalt die Kälte zu ertragen. Da es draußen schneite, war sie mit Sicherheit das einzige "Insekt", das außerhalb des Schlosses anzutreffen war. Dank Dracos Schutzzaubern waren sie, nachdem sie sich verwandelt hatte, für alle Schüler unsichtbar, die sich dort hinauf verirrten, und nachdem sie ihre Feder und ihr Pergament behext hatte mitzuschreiben, erzählte er ihr, was er über den Weihnachtsball in Erfahrung gebracht hatte, was in jeder seiner Unterrichtsstunden passiert war, vor allen Dingen in Hagrids, Moodys und – aus irgendeinem Grund – in denen von Professor Snape, und machte ein paar ausgewählte Bemerkungen darüber, dass es in diesem Jahr keine Quidditch-Spiele gab. Rita erklärte, sie arbeite gerade an einem Artikel darüber, dass die ehemaligen HogwartsAbsolventen sich beschwerten, weil die Quidditch-Spiele in diesem Jahr ausfielen. Anscheinend fanden die meisten Ehemaligen das Trimagische Turnier zwar relativ interessant, aber weniger aufregend als Quidditch, und sie empfanden es auch nicht als gleichwertiges gesellschaftliches Ereignis. Deshalb hatten sie sich beim Schulausschuss und bei Dumbledore beschwert. Rita hoffte, ihr Artikel werde Dumbledore anspornen, den Ehemaligen zu gestatten, zu den Trainingsspielen der einzelnen Häuser zu kommen, auch wenn die Häuser nicht gegeneinander antreten würden. Am ersten Nachmittag der Weihnachtsferien stolperte er über Hermione, die in einer Ecke der fast verlassenen Bibliothek auf einem Sofa saß und sich die Zeit mit Lesen vertrieb, und setzte sich zu ihr. Er war ungefähr in der Mitte von Bradford Meltzers Der Anwalt des Ministers für Magie angelangt, und sie hatte kürzlich Ein kalkuliertes Risiko von Katherin Velis angefangen, als sie sich bei ihm beschwerte, dass ihre Mitbewohner sie mit Fragen darüber löcherten, mit wem sie zum Ball ging. Er hatte sie gerade bitten wollen es ihm zu sagen, aber die Frage blieb ihm im Halse stecken, als sie sagte: "Und Draco, vielen, vielen Dank, dass du nicht so neugierig bist und mich nicht damit nervst. Ich will mich nicht mit Fragen rumärgern, mit wem ich zum Ball gehe – wenn das den Leuten wirklich so wichtig ist, dann können sie auch bis dahin warten." Sie hatte ihm gegenüber noch nie solche Dankbarkeit gezeigt. Irgendwie war es rührend, obwohl sie so ein Geheimnis darum ma chte. "Hermione, ich verstehe nicht, warum das ein Geheimnis sein muss, aber ich respektiere deine Wünsche." Hermione lächelte, und in ihren Augen blitzte der Schalk. "Tust du mir dann einen Gefa llen?" "Kommt drauf an, was ich tun muss." "Es wird dir gefallen." Ihre Augen weiteten sich, als sie ihr Buch zuklappte und die Beine anzog. "Du musst dich wie ein Ekelpaket benehmen, damit es funktioniert. Ich will, dass die Leute aufhören, mir Fragen über den Ball zu stellen, und das geht nur, wenn sie irgendwie abgelenkt werden." Draco packte die Abenteuerlust. "Klingt bis jetzt gut ... red weiter." "Wenn du nächstes Mal hörst, dass jemand mich fragt, mit wem ich zum Ball gehe, musst du so tun, als seist du überrascht, dass ich überhaupt gefragt werde. Du kannst sagen, was du willst, du musst lediglich wie ein totaler Widerling klingen." Hermione lachte. "Das kannst du doch, oder?" "Das ist doch mein größtes Talent, oder? Das klingt nach einer Menge Spaß. Bist du auch sicher, dass es dir nichts ausmacht, zu wem ich es sage? Auch wenn es Weasley oder Potter ist?"
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"Weasley – ich meine Ron, ist der Schlimmste von allen, ehrlich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass er mich selbst fragen will, aber er geht nicht mal mit jemandem hin. Ich will, dass du das sowohl in Rons Anwesenheit als auch in der anderer tust, aber Ron kapiert überhaupt nichts, ich bezweifle daher, dass er auch nur mitkriegt, was los ist", überlegte Hermione. "Ich kann also so richtig eklig zu dir sein?" "Oh ja! Und ich werde auch irgendwas Grässliches zu dir sagen. Wir können nur hoffen, dass keiner der Ravenclaws in der Nähe ist – Miranda hat mir gesagt, sie hätten langsam die Nase voll davon, wie wir uns immer anblaffen." "Wenn wir uns öffentlich streiten ...", begann Draco. "Dann bleiben wir trotzdem privat gute Kameraden", beendete Hermione den Satz für ihn. "Ich kenne unsere Regelung genauso gut wie du, aber manchmal ärgere ich mich über das, was du privat zu mir sagst." "So wie an dem Abend, als wir mit Viktor über die AG gesprochen haben", bemerkte Draco. "Aber wir können uns nicht über alles einig sein – das geht einfach nicht. Der Einzige, mit dem ich mir immer einig bin, ist Lucius Malfoy." Sie saßen einen Moment schweigend da, wobei Draco darüber nachdachte, was er da gerade gesagt hatte, und er merkte, dass er daran etwas ändern musste. Ihm wurde klar, dass er schon vor langer Zeit etwas daran geändert hatte. "Bist du –", sagte Hermione, aber Draco unterbrach sie. Er sah sie nicht an, sondern starrte geradeaus in Richtung des hinteren Teils der Bibliothek. "Wenn ich es mir recht überlege, stimme ich gar nicht immer mit ihm überein, ich erzähle ihm nur, dass das so ist. Wenn ich wirklich genauso dächte wie er, dann säße ich jetzt nicht hier." Er drehte sich zu ihr um, als sie sich an die Sofalehne zurücklehnte. "Und warum sitzt du dann hier?", fragte Hermione und lächelte ein bisschen. "Soll ich das endlich als Anflug einer jugendlichen Rebellion des Malfoyschen Erben betrachten?" Draco runzelte die Stirn und überlegte sich seine Antwort sorgfältig. "Nein, das habe ich eigentlich nicht vor. Im Gegensatz zu dem, was du vielleicht denkst, respektiere ich ihn wirklich, und ich will, dass er mit mir zufrieden ist. Ich will tun, was er verlangt, weil das loyal und ehrenhaft ist, außerdem respektvoll und all das, was die meisten Leute für unwichtig halten. Ich kenne niemanden, der so perfekt ist wie er, und ich weiß, dass ich das auch anstreben sollte." Hermione fragte: "Hat sein Vater ihm auch alle möglichen Extraaufgaben und so aufgehalst, als er klein war? Hält er das für die richtige Art, mit dir umzugehen?" "Er spricht nicht viel über seinen Vater, meine Großmutter übrigens auch nicht, jedenfalls nicht über persönliche Dinge wie so was." Draco hielt an sich, bevor er noch mehr sagte. Er hatte sich bisher weder mit Hermione noch mit sonst jemandem in Ho gwarts wirklich über seine Familie unterhalten, jedenfalls nicht über persönliche Belange. Das wäre dasselbe wie eine Schwäche einzugestehen, und ein schwacher Malfoy wäre eine Schande für Lucius und den Rest der Familie. Draco konnte sich nicht dazu überwinden, sich einfach so eine Blöße zu geben. Hermione war mit dieser Antwort nicht zufrieden und bohrte weiter. "Wieso lässt du es zu, dass er dich so unter Druck setzt?" Er wollte ihr gerade sagen, dass er keineswegs unter zu großem Druck stand, als sie sagte: "Lüg mich nicht an, Draco, ich hab' gesehen, wie du arbeitest und dir Sorgen machst, und ich kenne die Briefe, die du nach Hause schickst." "Es ist nicht zu viel Druck!", warf Draco ein. "Wie ich schon sagte, er will einfach, dass ich so perfekt bin wie er, und das ist noch lange nicht der Fall. Ich brauche seine Führung, wenn ich kein Versager werden will, und zwar nicht nur als Malfoy, sondern auch als Zauberer. Ich mache jeden Tag Fehler und erkenne, dass ich versagt habe. Von ein paar davon erzähle ich ihm und tue etwas dagegen, und andere ... die müssen einfach warten, bis ich dazu bereit bin, Lucius davon zu erzählen, oder bis ich selbst damit fertig werde. Meine Entscheidung, mich mit dir abzugeben, ist vielleicht ein Ze ichen von Versagen, mit dem ich mich jetzt aber nicht auseinander setzen will; wenn ich mir also einreden muss, dass du eine reinblütige Hexe bist, die bei der Geburt
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versehentlich vertauscht wurde und es irgendwo ein bemitleidenswertes Muggelkind gibt, das als Squib aufwächst, dann tue ich das auch." Bei seinem letzten Satz verwandelte Hermiones ernster Ausdruck sich in ein Lachen; ganz offensichtlich war sie der Meinung, dass es ein Witz sein sollte. Es war aber keiner. Er kannte seine Fehler – diejenigen, die er Lucius mitteilte und jene, mit denen er sich im Laufe des vergangenen Jahres selbst auseinander zu setzen versucht hatte. Hermione gehörte zur letzteren Kategorie. Draco hatte viel zu viel Zeit damit verbracht, über Hermione Granger nachzudenken, aber statt seine Meinung über Schlammblüter und Zauberer mit unvermögendem Hintergrund oder aus lächerlichen Familien wie den Weasleys zu ändern, hatte er sich eingeredet, dass Hermione gar kein Schlammblut war; sie war anders, und dafür musste er eine Erklärung erfinden, die mit dem, was man ihn über Muggel und Schlammblüter gelehrt hatte, in Einklang stand, und damit, was er tagtäglich mit Schlammblütern wie Moody erlebte, die ihn aber nicht daran hindern würde, seine Zeit mit ihr zu verbringen. Aber wenn man ein Geheimnis mal eineinhalb Jahre bewahrt und es im Geiste immer wieder und wieder durchgekaut hat, dann ist man daran gewöhnt, alles, was damit zu tun hat wegzudiskutieren. *** Als der Monat Dezember sich langsam dem Ende zuneigte, merkte Draco, wie seine Energie immer mehr nachließ. Er war in früheren Schuljahren mit Quidditch, AG-Sitzungen und der Schule im Allgemeinen erstaunlich gut zurechtgekommen, aber in diesem Jahr kam zu viel dazu, was zu seiner totalen Erschöpfung beitrug: Der zusätzliche Stress der Stunden in Verteid igung gegen die Schwarze Magie, dann einerseits die nervöse Erwartung, was Moody in der nächsten Stunde wohl mit ihm anstellen würde, und andererseits die Stunden, wenn nicht Tage, die er brauchte, um sich von dem Fluch oder der Serie von Flüchen zu erholen, mit denen Moody ihn belegte. Und zu allem Überfluss hatte Lucius in seinen Briefen ein Arbeitsprogramm für Draco aufgestellt, mit dem er seine Projektions-Fähigkeiten verbessern sollte. Jeden Abend musste er eine Weile in diesem Zustand verbringen, wobei er nach und nach die Dauer der Projektion und die Distanz, die er von seinem Schlafsaal aus zurücklegen konnte, vergrößern sollte. Als er es vor Jahren das erste Mal versucht hatte, war es ihm nicht gelungen, das Stockwerk seines Schlafsaals zu verlassen, später war er bis zum Gemeinschaftsraum gekommen. In der Mitte des dritten Schuljahrs gelangte er dann in diejenigen öffentlich zugänglichen Bereiche des Schlosses, wo er in seinem Normalzustand auch Zeit verbrachte, und er fand, dass es fast so leicht war, in die Bibliothek und in den Großen Saal zu gelangen, wie sich in den Räumen der Slytherins zu bewegen, obwohl es ihm Kopfschmerzen bereitete, wenn er versuchte, die Bücher im verbotenen Teil der Bibliothek zu lesen, ohne sie zu öffnen, weil die Buchstaben so zusammengedrängt waren und es die Anstrengung, sie zu trennen, nicht wert war. In diesem Jahr hatte Lucius jedoch darauf bestanden, dass er daran arbeitete, in die anderen Schlafsäle und in die Privaträume und Büros der Lehrer zu gelangen. Bei Snapes Räumen war das ziemlich einfach, da die Slytherins bei ihm sowieso Zutritt hatten, und sogar Professor Flitwicks und Sprouts Räume waren ihm während ihrer abendlichen Sprechstunden zugänglich, wodurch Draco in den zweifelhaften Genuss kam, die Herbologie-Lehrerin mit Neville Longbottom über die fantastischen Eigenscha ften von DRAGONER, einem neuartigen Pflanzendünger, diskutieren zu hören. Er schaffte es aber noch nicht, in die anderen Gemeinschaftsräume zu kommen, und es gelang ihm nur dann, die Badezimmer der Vertrauensschüler zu betreten, wenn eine der Türen tatsächlich offen stand, ein Trick, den er nach Tagen vergeblichen Probierens herausfand.
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Wie gewöhnlich schaffte ihn die Anstrengung, vor allem an neue Orte zu Projizieren, sowohl physisch als auch geistig, und er wollte immer gleich danach schlafen gehen, aber Luc ius wollte bis zum nächsten Morgen einen Brief, in dem er ihm seine Fortschritte erläuterte, also schrieb er pflichtbewusst einen Bericht, ging in den Gemeinschaftsraum und rief Kira ans Fenster, damit sie den Brief zum Herrenhaus brachte, oder wo Lucius sich sonst gerade aufhielt. Die treue Eule kehrte immer am nächsten Morgen mit Dracos Belohnung für eine zur Zufriedenheit erledigte Aufgabe zurück – normalerweise mit Süßigkeiten oder Büchern – und mit einer Antwort von Lucius, die Anweisungen enthielt, was er als Nächstes versuchen sollte. Wenn man seine Projekte, seine Hausaufgaben und die Stunden, die er mit Lernen verbrachte, zusammennahm, schlief Draco jede Nacht weniger als fünf Stunden. Er spürte, wie die Schule darunter litt. Es fiel ihm immer schwerer, sich zu konzentrieren. Es nahm ihm den Appetit. Er schnauzte die anderen an. Die Mittagspause verwendete er lieber für ein kurzes Nickerchen als zum Essen, oder er saß in der Bibliothek über seinen Büchern. Und das Schlimmste daran war, dass dieser Lebenswandel sich nach wenig mehr als einer Woche negativ auf seine Projektionen auswirkte. Er wurde nach kürzerer Zeit wieder in seinen Körper zurückgezogen, der Übergang von einem Zustand zum anderen vollzog sich fast rüttelnd, und irgendwann befürchtete Draco, dass er nicht mehr nahtlos vor sich ging. Seit er zum ersten Mal Projiziert hatte, war niemals spürbar Ze it vergangen, bis er nach dem Ende einer Projektion das Gefühl hatte, wieder in seinem Körper zu sein. Jetzt spürte er dabei nie das vertraute Einrasten, sondern eher so etwas wie langsames Hineingleiten – dabei kribbelten ihm die Glieder, und er hatte das Gefühl, dass sie zitterten, wuchsen, sich streckten und sich förmlich neu bildeten, außerdem schmerzte sein Rücken, und der Kopf dröhnte ihm, bis er einschlief. Es war seltsam und furchterregend. Und das wollte er Lucius nicht sagen. Er hatte nicht nur Angst, dass sein Vater ob dieses Versagens in Wut geraten würde, nein, Draco wollte ihn nicht enttäuschen. Luc ius hatte so viel Geld investiert, damit er dieses Talent besser beherrschen lernte, so viel Zeit, sich neue Übungen auszudenken und Dracos Berichte zu lesen, und alles nur, um ihm dabei zu helfen, diese Gabe weiterzuentwickeln - Zeit und Geld, die für wichtigere Dinge hätten verwendet werden können. Draco dachte: Ich bin es ihm schuldig, es jedes Mal besser zu machen, keine Rückschritte zu machen, es nicht zu vermasseln. Und nicht zu versagen. Anstatt ihm zu erklären was passierte, versuchte Draco in diversen Büchern über die Kunst der Projektion Beschreibungen seiner Erfahrungen zu finden, vor allem in seinem eselsohrigen Exemplar von Mulroney Vengas Flug des Navigators, das von einem Entdecker aus der Mitte des 18. Jahrhunderts handelte, der sein großartiges Talent zur Projektion dazu benutzt hatte, das innere Afrika, China und Sibirien zu erforschen. Nichts half. Er arbeitete außerdem daran, sein Versagen in den Briefen, die er schrieb, zu verschleiern. Lucius erwartete nie von ihm, dass er beschrieb, wie es sich anfühlte, wenn man den Zustand der Projektion beendete, es war also einfach, jegliche Beschreibung dieses Gefühls einfach wegzulassen. Und anstatt zu sagen, wie lange seine Projektionen dauerten, schrieb er, wie weit er sich dabei von seinem Schlafsaal entfernte oder beschrieb die neuen Räume, die er dabei sah, die Gespräche, die er belauschte, und die Geister, denen er aus dem Weg ging. Da Dracos Projektionen unter diesen Umständen immer kürzer waren, hoffte er, dass Lucius zugunsten des Nutzens solcher Streifzüge über deren begrenzte Dauer hinwegsehen würde. Es kam Draco nie in den Sinn, dass seine Angst, was passieren würde, wenn Lucius hinter seine falschen Darstellungen kam, ihm nicht weniger zusetzte, als wenn er seinem Vater die Wahrheit über seine Probleme bei der Projektion gestanden und die Konsequenzen auf sich geno mmen hätte. *** Am Weihnachtsmorgen wurde Draco von einem beunruhigenden Knirschen geweckt. Hinter dem Fenster ging die Sonne gerade erst über dem Horizont auf, und als er die Vorhänge beiseite 98
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
zog um zu ermitteln, woher das störende Geräusch kam, erkannte er, dass der Boden vor seinem Bett förmlich übersät war mit Sammelkarten von berühmten Hexen und Zauberern, Einwickelpapier von Morags Minzepastetchen, leeren, blauen Sodaflaschen der Marke Pixie und von etwas, das aussah wie ein meterhoher Eimer voller Popcorn. "Könnt ihr das nicht in den Gemeinschaftsraum mitnehmen?", murmelte er, immer noch halb im Schlaf und total angeekelt. "Nein", sagte Vin. Greg, der zu sehr mit Kauen beschäftigt war, um etwas zu sagen, schüttelte nur den Kopf. "Dann müssten wir das Zeug mit den anderen teilen, so wie im zweiten Schuljahr, als du gesagt hast, wir sollen über die Ferien hier bleiben." "Ich hab' euch damals nicht dazu aufgefordert hier zu bleiben, und ich weiß nicht mal, warum ihr dieses Jahr hier geblieben seid. Schließlich geht keiner von euch heute Abend mit irgendwem zum Ball." Die Jungen hielten in ihrer Fressorgie endlich inne und sahen sich verwirrt an. "Wir sind hier geblieben, weil unsere Eltern das gesagt haben." Es war eine ziemlich einfache Erklärung, aber sie dachten wahrscheinlich, es sei die richt ige, selbst wenn das nic ht stimmte. Sie hatten einfach nicht genug Fantasie, um darauf zu kommen, warum sie wirklich hier waren – nämlich um ein Auge auf Draco zu haben, nicht nur einfach für den Fall, dass er irgendetwas brauchte, sondern auch, um ihren Eltern Bericht zu erstatten, die ihrerseits Lucius über jegliches Benehmen, das nicht seiner gesellschaftlichen Stellung entsprach, in Kenntnis setzen würden. Der einzige Grund, warum Draco das nicht so viel ausmachte, wie es eigentlich sollte, war der, dass sie nicht genug Grips hatten, um irgendetwas zu bemerken, was wirklich ungewöhnlich war, wie zum Beispiel die Schüler, mit denen zusammen er lernte. Es zwang ihn allerdings dazu darauf zu achten, dass seine täglichen Berichte nach Hause so genau und vollständig wie möglich ausfielen. Da seine Eltern sich fast am Ende der Welt befanden und Eulen dem Polarkreis nicht gern so nahe kamen, hatte man ihm in diesen Ferien die täglichen Berichte sogar erlassen. Stattdessen schrieb er mindestens eine Seite pro Tag, und am 28. würde er alles zusammen zum Herrenhaus schicken, damit Lucius vor ihrem Treffen am 30. noch Zeit hätte es zu lesen. Mit einer letzten Grimasse in Richtung des immer noch wachsenden Haufens zwischen Gregs und Vins Betten zog er seine Vorhänge wieder zu und machte sich daran, die Geschenke auszupacken, die der Weihnacht smann nachts am Fußende seines Bettes deponiert hatte. Schnell packte er neue Roben, neue Bücher (eins mit einem unansehnlichen Einband, der sehr nützlich war, wenn man es in Geschichte unter der Bank lesen wollte) und eine neue Büchertasche von seinen Eltern aus, außerdem ein sich drehendes, von einer Kerze beleuchtetes Kaleidoskop von Narcissas Familie in Frankreich, und von seiner Großmutter, von der er annahm, dass sie nichts von dem Frettchen-Zwischenfall zu Beginn des Schuljahrs gehört hatte, bekam er einen ausgestopften, singenden Jarvey, den er hastig abstellte und unter sein Bett stopfte, und schließlich etwas, das, wie sich herausstellte, eine leere Schachtel mit einer Karte von Vin und Greg war. Nachdem er einen Blick in die Schachtel geworfen hatte, zog er die Vorhänge wieder auf und schrie durchs Zimmer: "Was war da drin, und wo ist es geblieben?" Vin hatte zumindest den Anstand, schuldbewusst dreinzublicken, als er stammelnd zugab, dass Gregs Mutter ihnen die Schachtel, die mit knallenden Zuckerstangen gefüllt gewesen war, vor über einer Woche geschickt hatte. Seither war sie in seinem Koffer gewesen, aber jeden Abend hatte er eine oder zwei Stangen als Knabberei herausgenommen. Draco überraschte das nicht – vor zwei Jahren hatte er von Greg eine fast identische Geschichte gehört, nachdem er die Schachtel, die mit Schoko-Knallbonbons gefüllt gewesen war, nicht einmal bekommen hatte. Er wandte sich wieder den letzten paar Päckchen zu. In einem Umschlag von Professor Snape befand sich ein Buch zum Thema, wie man in den indischen Kolonien Gedankenbassins verwendete, mit der Nachricht, dass er hoffe, Draco werde es ebenso nützlich finden wie er selbst. Und in einem Karton, der in blaues Papier mit einer weißen Satinschleife verpackt war, waren eine Notiz von Hermione und ein dickes Buch mit dem Titel Magische Hitwunder – Mu99
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
sikalische Abenteuer in der Muggelwelt. Es sah faszinierend aus mit all den Fotografien, die sich nicht bewegten – die mussten von Muggeln gemacht worden sein – und den kleinen Reliefs, die die Lieder spielten, wenn er sie mit seinem Zauberstab antippte. Draco fragte sich, ob sie den gelbbraunen Schal schon ausgepackt hatte, den er für sie bei einer der Eulen-Order-Anzeigen im Tagespropheten bestellt hatte. Er stopfte Hermiones Geschenk in seine neue Büchertasche, dann ging er duschen und zog sich an, um mit Vin und Greg zusammen zum Frühstück hinunterzugehen. Es war erstaunlich, dass sie immer noch essen konnten, nachdem sie ihre ganzen Weihnachts-Süßigkeiten auf einmal verschlungen hatten. Wenn sie nicht so viel Bewegung hätten, während sie die jüngeren Schüler übers Schulgelände jagten, wären sie vermutlich so groß wie Walbabys. Ein paar der Slytherins inklusive Draco verbrachten den Nachmittag damit, Fliege nde Schneebälle vom Astronomieturm zu werfen, was eine wunderbare Art war, eine Reihe Schneeballschlachten, die am Boden stattfanden, durcheinander zu bringen. Von dort oben sah es so aus, als ob keiner der Schüler unten im Schnee es fertig brächte, eine Festung aus Schnee zu bauen, da sie immer wieder von feindlichen Zauberstäben niedergewalzt und umgeworfen wurden. Lucius hatte Draco beigebracht, wie er eine Schneefestung so befestigen konnte, dass sie nur von der wärmenden Sonne zerstört werden konnte, und er hätte den anderen zu gern gezeigt, wie man eine richtige Schneeballschlacht führte, aber keiner der Slytherins wollte vom Turm hinuntersteigen. Es machte zu viel Spaß, die anderen zu bombardieren, sich zu verstecken und die Kämpfer im Glauben zu lassen, die fliegenden Schneeklumpen fielen vom Himmel. Kurz vor Sonnenuntergang ließ er ein paar abgehärtete Sechst- und Siebtklässler auf dem Turm allein, um den Rest Schnee zu verarbeiten, und ging zu den Schlafsälen zurück, in der Hoffnung, dass er noch ein paar Minuten Zeit hätte, um Hermiones Buch zu überfliegen, bevor er sich für den Ball fertig machen musste. Er sollte sich um kurz vor acht mit Pansy im Gemeinschaftsraum treffen, und er wusste, dass er fast zwanzig Minuten brauc hen würde, um alle Knöpfe an der Abendrobe, die Narcissa für ihn ausgesucht hatte, zu schließen. Sobald er unten angekommen war, zog er Magische Hitwunder hervor und fing an, den Teil über Then Jerico durchzublättern, wobei er so vertieft war, dass er gar nicht bemerkte, wie jemand, der immer noch den Leuten draußen zuwinkte, rückwärts zur Tür hereinkam, bis er mit ihm zusammenstieß. Hermione schnappte nach Luft, als sie stolperte, und sie rollten wild durcheinander über den Boden. Draco gelang es, sich von ihren Beinen zu befreien, hockte sich neben sie und streckte ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Als sie beide wieder standen, strich sie sich das Haar aus dem Gesicht, und er konnte sehen, dass sie den Schal, den er ihr geschenkt hatte, um ihr Haar gewickelt hatte. "Wo rennst du denn hin?", fragten sie wie aus einem Munde, bevor sie lauthals loslachten, weil sie beide zugleich dasselbe gefragt hatten. "Du zuerst", fügte Draco hinzu. "Ich muss mich für den Weihnachtsball fertig machen", antwortete Hermione. "Und dafür brauchst du drei Stunden?", fragte Draco. "Warum?" "Weißt du nicht, dass man einem Mädchen niemals Fragen über ihr ich-mach-mich-schönfür-eine-Party-Getue stellen soll?" "Ich habe noch nie vor einer Party mit einem Mädchen geredet. Das liegt etwas außerhalb meines Erfahrungsbereichs", antwortete er. Hermione sagte: "Dann weißt du es jetzt." Dann hielt sie inne, fasste sich ans Haar und fügte hinzu: "Danke für den Kaschmirschal, das ist wirklich ein schönes Geschenk. Ist das Buch sicher bei dir angekommen? Ich habe es einem Hauselfen gegeben, aber sie hatten so viele Präsente zu überbringen, dass ich mir nicht sicher war ..." "Hab's bekommen." Er hielt das Buch hoch, um ihr zu zeigen, dass er es schon angefangen hatte. "Es sieht toll aus, ich freu' mich schon drauf, es mir anzuhören. Vielen Dank."
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Sie tauschten Höflichkeiten über den Weihnachtsmorgen und die Geschenke aus, die sie bekommen und selbst gemacht hatten. Er erwähnte den Niemals-verblühenden-Ansteckstrauß aus Orchideen, den er für Pansy bestellt hatte und erklärte, dass es sich dabei anscheinend um das offizielle Geschenk der Slytherin-Jungen an ihre Freundinnen handelte. "Das soll wohl der Wink mit dem Zaunpfahl sein, was?", fragte Hermione mit dem Anflug eines Lächelns. "Du willst noch vor heute Abend wissen, mit wem ich zum Ball gehe, oder?" Er zuckte die Achseln um zu zeigen, dass ihm das egal war. "Wenn du es mir erzählen wolltest, dann hättest du es schon getan." "Na gut, heute Abend sehe ich es nicht so eng, deshalb gebe ich dir einen Tipp. Ich gehe mit einem der Champions!", sagte sie lebhaft. "Reilly hat mir gesagt, dass du nicht mit Potter hingehst", stotterte er. "Dieser Lü gner, ich werd' ihn ..." "Tu ich auch nicht", warf sie ein. "Er hat mich nicht mal gefragt, und er geht mit Parvati Patil. Und du weißt genau, dass ich nicht mit dieser faden Vila gehe." Draco lachte und überlegte laut. "Du gehst nicht mit Diggory, da er seit zwei Jahren mit der Sucherin aus Ravenclaw zusammen ist, daher musst du mit ... Viktor hingehen?", endete er, und seine Kinnlade fiel herab. Zum zweiten Mal in diesem Gespräch fragte er sie: "Warum?" "Er war der Erste, der mich gefragt hat", sagte sie schlicht. "An dem Tag ..." "In der Bibliothek? An dem Tag, als er an unseren Tisch gekommen ist? Als ich dich ihm vorgestellt habe? Beim ersten Mal, als du mit ihm gesprochen hast?" Dracos Stimme war bei jeder Frage schriller geworden, zum Schluss glich sie fast einem Piepsen. Er zwang sich, seine Tonlage zu senken. "Und du warst an dem Abend so wütend auf mich", fügte er hinzu, als er sich daran erinnerte, wie Madam Pince ihre Lippen zugeknöpft hatte. Hermione sagte nur ganz leise: "Ja." Draco dachte an Hermiones Worte und an ihr Benehmen im vergangenen Monat zurück und sagte kalt: "Ich dachte mir, dass da was im Busch ist. Du hast dich so merkwürdig benommen, vor allem wenn Viktor und diese Horden von Mädchen dabei waren. Jetzt weiß ich also, warum. Na gut. Dann viel Spaß." Er wandte sich ab, um den Korridor hinunterzugehen, bevor sie noch die Chance hatte zu sagen: "Wünsch ich dir auch!", und stieg sehr steif zu den Kellergewölben hinunter. Hermione? Sie ging mit Viktor? Er war fast fünf Jahre älter als sie! Er konnte kaum Englisch! Er würde sich wahrscheinlich über nichts als Quidditch unterhalten wollen! Draco schoss eine ganze Litanei von Fragen, die Hermiones Pläne für den kommenden Abend betrafen, wie eine Ansammlung von Quidditchbällen durch den Kopf. Als er wieder in seinem Schlafsaal war, zwang er sich, sich auf sein Buch zu konzentrieren, und später dann darauf, sich für den Weihnachtsball fertig zu machen, und verbannte alle Gedanken an Hermione Granger, um stattdessen an Pansy und seine unmittelbare Beschäftigung nämlich seine erste Verabredung - zu denken. Er hatte natürlich über Verabredungen ge lesen und wusste, dass sie außerhalb der Schule Besuche im Isola oder Café Lola in der Diagonallee beinhalteten, oder ein Konzert im Museum oder ein Quidditch-Spiel, aber nur sehr wenige seiner Bücher enthielten brauchbare Informationen über eine erste Verabredung in Hogwarts, vor allem, wenn es sich dabei um ein schulweites Ereignis wie den Weihnachtsball handelte. Er würde einfach den Stier bei den Hörnern packen müssen. Es war nicht so, dass er Pansy nicht gekannt hätte, er kannte sie seit Jahren unter verschiedenen Aspekten. Pansy Parkinson war fast einen Monat älter als er und schon fünfzehn, sie hatte einen schönen Teint und ein gutmütiges Gesicht; sie war Papas Liebling, war tierisch ausgela ssen und sich ihrer selbst auf natürliche Art bewusst, sie war angenehm im Umgang und merkwürdig selbstbewusst. Sie war klein und zierlich, kaum 1,50 m groß, und hatte den Hang, ihren kirschroten BMW (Broomstick MagicWerks) bei sehr hohen Geschwindigkeiten zu fliegen, allerdings nur über weite Landflächen geradeaus, weil sie im Kurvenfliegen nicht besonders gut war. 101
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Es war nett, sich für eine kurze Zeit mit ihr zu unterhalten, aber sie interessierte sich nicht besonders für die Themen, über die man sich nach Lucius' Meinung auf Partys unterhielt, wie zum Beispiel Politik, Bücher oder die ethische Rechtfertigung für die Unterdrückung der Muggel, obwohl sie so tat, als interessiere es sie, denn, wie sie sagte: "Wenn es dich interessiert, Draco, dann interessiert es auch mich." Es war, wie er einmal Millicent zu Blaise hatte sagen hören: "Pansy ist ein Mädchen, das ihren Umhang nach dem Wind hängt." Es war fast acht Uhr, als er sie im Gemeinschaftsraum traf; die Rüschen ihrer blassrosa Robe ließen sie wie eine Portion Zuckerwatte aussehen, und ihr Haar umspielte ihr Gesic ht in winzigen Löckchen. Sie sah wirklich unglaublich hübsch aus, und als einer der geldgierigen Zweitklässler aus Slytherin in dem kleinen Fotoatelier, das er in einer Ecke des Gemeinschaftsraums eingerichtet hatte (eine Galleone für zwei Fotos), ein Bild von ihnen machte, dachte Draco, wenigstens das würde Narcissa gefallen, wenn sie es später sah. Die seltenen Briefe, die sie ihm schrieb, begannen und endeten normalerweise mit der Frage: "Und, hattest du schon eine Verabredung?" Dazwischen ließ sie sich im Allgemeinen über seine Fehler aus, und warum die jedes Mädchen abschrecken würden sich mit ihm sehen zu lassen, abgesehen von denen natürlich, die nur hinter seinem Geld her waren. Aber nicht mal Narcissa konnte das von Pansy Parkinson behaupten. Einige der Viertklässler, wie zum Beispiel Blaise, der mit Eloise Midgen aus Hufflepuff ging, waren schon zum Großen Saal hinaufgegangen; als Vin, Greg, Millicent und ihr Begleiter, ein Sechstklässler, sowie Martin und seine langjährige Freundin sich ebenfalls hatten fotografieren lassen, ging die Gruppe hinauf. Und sobald er die Eingangshalle betreten hatte, waren all seine Vorsätze, nicht an Viktor Krum und seine Verabredung zu denken, für die Katz, denn als er Hermione erblickte, musste er all seine Willenskraft aufbieten, um sie nicht anzustarren. Sie sah nicht wie Hermione aus. Ihre Haare waren anders, die Art, wie sie sich hielt, war anders, sogar die Art, wie sie sich ihm zuwandte und ihm ganz schnell und fast unmerklich zuzwinkerte, während Pansy sich mit Eloise unterhielt, war anders. Sie begrüßten einander normalerweise nie in aller Öffentlichkeit, jedenfalls nicht freundschaftlich, aber so, wie das Schloss heute Abend aussah, mit all den Lichtern und den Menschen, die so anders aussahen als sonst, war es leicht zu vergessen, wie man sich normalerweise verhielt, und so natürlich zurückzulächeln, jedenfalls ein ganz klein wenig. Pansy riss ihn aus seinen Überlegungen, als sie sich umdrehte, um die Champions und ihre Begleiterinnen zu betrachten, Hermione sah und einen Schrei ausstieß, der sowohl Entsetzen als auch Enttäuschung darüber ausdrücken mochte, eines der Mädchen, die sie am meisten verabscheute, am Arm eines der berühmtesten Menschen auf diesem Ball zu sehen, vor allem, weil Pansy im vergangenen Herbst selbst versucht hatte, Viktors Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich bringe sie lieber von hier weg, bevor sie eine Szene macht, dachte Draco und zog an Pansys Arm, um sie in den Großen Saal zu führen, gerade als die massiven Türen aufgestoßen wurden. Obwohl das Lächeln auf ihrem Gesicht eingefroren zu sein schien und sie sich mit leerem Blick umsah und die Dekorationen und die anderen Schüler betrachtete, hatte sie seine Hand wie einen Schraubstock umklammert, und ihre Lippen bewegten sich kaum, als sie Eloise gedämpft etwas zuflüsterte, was nach Dracos Ansicht Kritik an Viktors Sehvermögen und Zurechnungsfähigkeit war, sowie daran, dass Hermione sich neben der Schule offensichtlich mit der Herstellung von Liebestränken befasste. Zu dem Zeitpunkt, als die Mädchen Hermiones mutmaßliche Verstöße gegen die Magische Gesetzgebung und den Hexenkodex, den Draco für etwas hielt, was vor ein paar Jahren von einer Hexe namens Helen Fielding geschrieben worden war, durchgehechelt hatten, saß die Gruppe bereits an dem Tisch, der sich ungefähr in der Mitte des Bereichs befand, in dem normalerweise der große Slytherin- Tisch stand. Eine kleine Szene wurde dadurch abgewendet, dass die beiden leeren Plätze dort von zwei Fünftklässlern ohne Anhang eingenommen wurden – Jeremy Ba n102
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
wart und Augustin Verdant. Ihre Freundinnen gingen in Durmstrang zur Schule, aber da keine von ihnen sich unter den Gästen des Trimagischen Turniers befand, waren sie ohne weibliche Begleitung erschienen; das war ihnen lieber, als wenn ihre Mitschüler ihren Freundinnen womöglich eine Eule schickten, um ihnen über ihre Seitensprünge zu berichten. Als die Schulchampions mit ihren Begleitern hereinkamen, standen sie wieder auf, nachdem sie sich gerade erst hingesetzt hatten. Draco erhob sich, um noch einen Blick auf Hermione zu erhaschen, was nicht schwierig war, da ihre blaue Abendrobe von den neutralen und den Pastellfarben abstach, die die anderen Champions trugen. Natürlich wirkte sie nicht so ätherisch wie Fleur oder so überschäumend wie Pansy, aber sie trug denselben leuchtenden Blick zur Schau, den er an ihr bemerkt hatte, wenn sie kurz davor war, eine besonders schwierige Hausaufgabe zu beenden oder die Funktionsweise einer Zauberformel zu verstehen. Als die Champions an der Ehrentafel Platz nahmen, stieß Pansy ihn mit dem Knie am Bein an und flüsterte ihm ins Ohr: "Na, fallen dir die Augen aus?" Draco brachte dieser Kommentar etwas durcheinander. Hatte er Hermione angestarrt? Er war nicht der Meinung, aber Pansy wäre wohl ausgesprochen empfindlich gegenüber Affronts wie dem, dass ihr Begleiter andere Mädchen anstarrte. Draco griff nach der vergoldeten Speis ekarte und wich Pansys Frage aus, indem er stattdessen fragte: "Was möchtest du zum Abendessen?" Pansy studierte ostentativ die Karte, dann sagte sie: "Ich will Pasta Primavera, und ich will, dass diese Vila damit aufhört, die Begleiter anderer Leute zu bezirzen. Hör auf sie anzugaffen, Draco. Du bist mit mir hier. Kümmer dich gefälligst um mich." Zum Teufel, sie klang wie seine Mutter, so richtig notleidend und fordernd. Nicht gerade das, was er sich für sein erstes Rendezvous wünschte. Er warf selbst einen Blick auf die Karte, sagte seinem Teller, er wünsche Roastbeef mit Reis Pilaw, und wandte sich dann Pansy zu, wobei er versuchte, aufmerksam und konzentriert zu klingen. "Solange du bei mir bist, würde ich nicht mal bemerken, wenn da direkt vor meinen Augen ein Vila-Striptease stattfände, ", murme lte er. "Außerdem haben auf diese Entfernung nur reinblütige Vilas eine Wirkung." "Ich glaube, sie muss ein Amulett haben, das ihren Zauber verstärkt", warf Eloise ein, und sie und Pansy nahmen ihre Unterhaltung über die verschiedenen Möglichkeiten wieder auf, wie ein Mädchen die Aufmerksamkeit eines Jungen auf sich ziehen und beha lten konnte, und wie unfair es sei, dass Liebestränke in der Schule verboten waren, während Mädchen mit Vilablut herumliefen und die Jungen behexten. Draco schottete sich gegen ihr Gespräch ab und blickte sich im Raum um, um für seinen nächsten Brief an Lucius Eindrücke zu sammeln. Die Wände des Saals waren mit silbrig funkelnden Eiskristallen bedeckt, und unter der sternenbedeckten schwarzen Decke hingen Hunderte von Girlanden aus Mistelzweigen und Efeu. Im Geiste schrieb er Artikel darüber, welche Paare anwesend waren, was es zu essen gab und welche Musik im Hintergrund gespielt wurde. Außerdem merkte er sich dass Karkaroffs Frau nicht angereist war, um die Ferien mit ihrem Mann zu verbringen, und verfasste kurze Kommentare, die Lucius einen guten Eindruck von dem Ereignis vermitteln würden. Als das Essen schließlich von ihren Tellern verschwand, schnatterte Pansy ihm wieder die Ohren voll und bombardierte ihn mit Fragen über Quidditch, die Schule, was er von den Abendroben der anderen Mädchen hielt und ob sie zu viele Schulvorschriften verletzen würden, wenn sie später einen Besenritt machten. Auf Dumbledores Aufforderung hin erhoben sie sich erneut und sahen zu, wie er seinen Zauberstab schwenkte, woraufhin alle Tische und Stühle um die Schüler herumsausten und sich an der Wand aufreihten, wobei alle Laternen darauf erloschen und eine freie Fläche entstand. Dann beschwor er entlang der rechten Wand eine erhöhte Plattform, auf die ein Schlagzeug, mehrere Gitarren, eine Laute, ein Cello und ein paar Dudelsäcke gebracht wurden. Unter den wild begeisterten Rufen der meisten Schüler und dem gedämpfterem Applaus vom Rest strömten nun die Weird Sisters auf die Bü hne. Am Morgen war im Tagespropheten ein Artikel von Rita über ihren neuen Modeberater zu lesen gewesen. Sie hoffte auf den Erfolg ihrer neuen Kollektion von GrungeRoben™, die man ab nächstem Frühjahr exklusiv bei Gladrag erwerben konnte. 103
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Das erste Stück war eine Ballade, und Draco konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Potter und Patil tanzten, als ob sie sich nie zuvor berührt hätten, während Chang und Diggory sich in so offensichtlicher Harmonie wiegten, wie sie nur denjenigen Paaren eigen war, die schon seit Jahren zusammen tanzten. Sowohl er als auch Pansy kicherten, als Hermione zusammenzuckte, als Viktor ihr bei den ersten drei Takten auf die Zehen trat, doch Draco vermutete, sie taten es nicht aus demselben Grund. Als das Lied halb vorüber war, zog Pansy Draco am Arm und führte ihn auf die andere Seite der Tanzfläche, ziemlich weit weg von einem der Weasley-Verteidiger, der mit einer Jägerin aus Gryffindor um die Tanzfläche hüpfte, und so weit weg von Moody wie nur möglich. Er wusste es zu schätzen, dass sie dafür sorgen wollte, dass Moody sie auf dem Ball nicht behexte und sprach sie darauf an. Als Antwort kicherte sie und schlang die Arme noch fester um ihn. Seine Abendrobe aus Samt war so schon schwer und warm genug, und es bereitete ihm zusätzliches Unbehagen, als Pansy sich so eng an ihn drückte. Als sie sich drehten, dirigierte er sie zum Rand der Tanzfläche, wo es etwas kühler war. Das Gedränge war dort auch längst nicht so groß. An der Seite konnte er Vin an ihrem Tisch sitzen sehen, vor dem sieben leere Butterbierflaschen standen und der die kleine Fruchtfledermaus Barny anstarrte, die aus einem der Flaschene tiketten gehüpft war und auf dem Tisch tanzte. Und über Pansys Kopf hinweg sah er, wie Hermione bei Potter und Weasley saß, die offensichtlich von ihren Damen sitzen gelassen worden waren. Es sah so aus, als ob sie sie aus irgendeinem Grund anbrüllte. Draco beobachtete, wie Hermione aufsprang. Sie stürmte nur ein paar Schritte von ihm entfernt über die Tanzfläche, und er sah, dass ihr Gesicht und ihre Augen rot waren, obwohl es nicht so aussah, als ob sie tatsächlich weinte. Er schielte kurz zum Gryffindor-Tisch und bemerkte, dass Potter überrascht aussah und Weasley sich darüber zu freuen schien, dass sie gekränkt war. Dann tat Draco etwas für ihn völlig Untypisches. Er gab einem Impuls nach. "Pansy", begann er, "tanzt du mal ein paar Runden mit Vin? Er macht da drüben einen ziemlich einsamen Eindruck, und ich könnte eine Pause und etwas zu trinken gebrauchen." Pansys Gesicht verzog sich zu einem Schmollen und war ein einziger Ausdruck der Enttäuschung. Sie warf einen kurzen Blick auf Vin und sagte: "Ich habe keine Lust, dass er mir die Schuhe ruiniert, wenn er sich auf der Tanzfläche wie ein Trampeltier benimmt. Deshalb will nämlich keins der Mädchen mit ihm tanzen." "Bitte, bitte, tu's für mich Pansy, ja? Nur zwei Tänze?" Draco sah ihr direkt in die Augen und konzentrierte sich voll und ganz auf seinen Appell. "Ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber ..." "Du revanchierst dich aber später dafür, oder?", endete Pansy an seiner Stelle und strich ihm mit der Hand über die Wange. "Zwei Tänze, dann erwarte ich, dass du kommst und mich rettest." Draco nickte schnell, drehte Pansy in Vins Richtung und gab ihr einen kleinen Schubs, dann drängte er sich so schnell er konnte durch die Menge in die Richtung, in die Hermione verschwunden war. Wenigstens war er sicher, dass sie nicht Disappariert war, da man in Ho gwarts nicht Apparieren oder Disapparieren konnte. Sie war nicht in der Eingangshalle, und ihm wurde klar, dass er ihr nicht würde folgen können, falls sie in ihren Schlafsaal zurückgegangen war, also folgte er einer Eingebung und ging zum Haupteingang hinaus, in der Hoffnung, sie auf den Stufen oder in den Ziergärten zu erspähen. Das Haupttor stand offen, und als er die Schlosstreppe hinunterstieg, blinkten und funkelten im Rosengarten dort, wo der Weg von Büschen, verschlungenen Zierpfaden, einem Springbrunnen und großen Steinstatuen gesäumt war, kleine bunte Lichter. Er fand sie, wie sie allein auf einer der kunstvoll geschnitzten Bänke saß und kniete sich einfach vor sie hin, weil er Angst hatte sich zu setzen. Er wusste, dass der Saum seiner schwarzen Robe dadurch schmutzig wurde, aber es war ihm ziemlich egal. Falls es nötig sein sollte, würde er sie Lucius mitgeben, damit sich zu Hause ein Hauself darum kümmerte. 104
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Sie blickte nicht auf, also entschloss Draco sich nach einer langen Weile endlich zu reden. "Was ist da drinnen passiert?" Als sie immer noch nicht aufsah oder etwas sagte, fügte er hinzu: "Ich hab' dich rausrennen sehen. Ist alles in Ordnung?" Schließlich antwortete sie. "Ich will hier nicht darüber reden. Ron könnte rauskommen, und ich will heute Abend nicht mit ihm reden. Er ist ein widerlicher, egoistischer Mistkerl." Sie stand auf, hob den Rock ihrer Abendrobe von dem funkelnden Weg und trat zur Seite, wobei sie mit den Händen eine Bewegung machte, die Draco als Aufforderung wertete, sich zu ihr an die Wand zu stellen. Sie konnten von weitem leise die Musik vom Ball hören und gelegentlich auch Stimmen, die durch die verzauberten Grotten und den Pflanzenwuchs zu ihnen drangen. Hermione sagte immer noch nichts. Draco wusste nicht, was er sagen sollte. Warum war er ihr hier hinaus gefolgt? Vielleicht wollte sie in Ruhe ungestört nachdenken oder weinen (wie Mädchen das manchmal zu tun pflegten), und er verhinderte das mit seiner Anwesenheit. Oder vielleicht ... "Sollst du dich hier draußen mit Viktor treffen? Er hat dich doch nicht sitzen gelassen, oder? Ich hab' gesehen, wie du dich drinnen mit Potter und Weasley unterhalten hast und hab' mich gefragt ...", fragte Draco. Hermione unterbrach ihn mit einem kurzen, scharfen Laut, der sowohl ein Lachen als auch ein Weinen hätte sein können. Sie starrte immer noch vor sich hin. "Er wollte mir etwas zu trinken holen. Ich sollte wieder reingehen und ihn suchen, aber ich glaube, ich muss ein paar Minuten allein sein." Das war eigentlich seine Antwort. "Also gut, ich geh' wieder rein. Bis dann ...", begann er und berührte sie zum Abschied leicht an der Schulter. "Nein", sagte sie schlicht, hob die Hand und legte sie auf seine, die auf ihrer Schulter ruhte. "Das habe ich nicht gemeint. Du kannst ein paar Minuten hier bleiben, es sei denn, du musst wieder rein." Er antwortete nicht, als sie sich etwas herumdrehte, um ihm ins Gesicht zu blicken, und eine Bewegung mit der rechten Hand machte, um seinen Arm zu umklammern, so als wollte sie ihn daran hindern wegzugehen. Sie zitterte – er konnte es dort, wo seine Hand ihre Schulter berührte, fühlen – möglicherweise vor Kälte. Ihre Abendrobe war zu dünn für das winterliche Wetter. Draco konzentrierte sich darauf, Hermiones letzte Frage zu beantworten. "Pansy ist losgegangen, um ihre gute Tat des Jahres zu tun. Ich kann ein paar Minuten erübrigen. Bist du sicher, dass du nicht wieder rein willst?" "Ja." "Willst du dir was zu trinken holen? Sie haben da drüben bei dem Steinrentier eine kleine Bar eingerichtet." "Mir geht's gut." Sie standen einen Augenblick schweigend da und lauschten der Musik, dem Springbrunnen und den Geräuschen, die von dem nunmehr entfernten Weg zu ihnen drangen. Sie sollte sich heute Abend nicht aufregen, dachte Draco. Ich sollte sie irgendwie aufmuntern. Wenn sie sich nämlich aufregt und anfängt zu weinen, hat sie morgen furchtbare Kopfschmerzen, so wie letzten Winter, und dann ist sie beim Aufsatzschreiben oder beim Lernen oder sonst was zu nichts nutze. Gute Musik half ihm normalerweise dabei, seine Stimmung zu heben, und obwohl die Weird Sisters nicht unbedingt sein Fall waren, mochte Hermione sie vielleicht. "Würde es dir besser gehen, wenn du ein bisschen Musik hörst?", fragte er. Der Anflug eines Lächelns erschien auf ihrem Gesicht. "Das wäre einen Versuch wert", antwortete sie knapp. Er zog seinen Zauberstab hervor, und aus einem der Steine in der Schlossmauer ertönte Two Way Street, eine der Balladen der Weird Sisters. Hermione sah immer noch unglücklich aus. War es das Lied? "Du amüsierst dich nicht besonders gut, stimmt's?", fragte er. "Das Tanzen fehlt mir", sagte Hermione, so als wäre ihr das gerade eben klar geworden. "Dabei hatte ich mich so darauf gefreut." 105
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
"Das muss dir nicht fehlen", antwortete Draco. "Du tanzt ja bereits fast mit mir. Sozusagen. Ist das okay?" Hermione nickte und legte die andere Hand auf Dracos Schulter. Er hob seine Hand ebenfalls, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als er eine vertraute Stimme hörte. "Ich denke, Ihre Reaktion ist völlig übertrieben." Sie fuhren beide zusammen, als Professor Snapes Stimme durch die Büsche drang und blieben wie angewurzelt stehen, als sie ihn um die Ecke kommen hörten, aber sie konnten ihn nicht sehen und auch nicht hören, mit wem er sprach, als er sagte: "Ich verstehe einfach nicht ..." "Das ist ...", sagte Draco im selben Augenblick, als Hermione sagte: "Ich hab' Angst ..." "Hier sitzt man wie auf dem Präsentierteller", endete sie. "Das muss nicht sein", erwiderte Draco sanft. "Ich hab' dran gedacht, meinen Zauberstab mitzubringen. Lass mir nur einen Augenblick Zeit." Er trat einen Schritt zurück und verhängte Schutzzauber, um sie vor umherirrenden Blicken zu schützen und verzauberte die Steine, auf denen sie standen, so dass sie trotz der kalten Luft Wärme abgaben. Mit der verstärkten Musik war es einfach, ihre eigene kleine Tanzfläche zu genießen. Diesmal legte sie ihre Hände auf seine Arme, und er fasste sie um die Hüften, dann wiegten sie sich an der Wand ganz kurz einfach nur im Takt der Musik, ohne zu reden, ohne an irgendwas zu denken und ohne dass sie sich dessen wirklich bewusst waren. Draco war später nicht mehr sicher, wie lange sie dort draußen gewesen waren. Hermione hatte aufgehört zu zittern, und er nahm nur den Vanilleduft ihrer Haare und ein sanftes, wiegendes Gefühl wahr, bis eine Stimme mit starkem Akzent die Idylle störte. Es hörte sich an, als ob Viktor herumfragte: "Wo ist Hermio-ninny?" Zum zweiten Mal an jenem Abend fuhren Draco und Hermione gleichzeitig zusammen, erschrocken über die Unterbrechung dieses eigenartigen, flüchtigen Augenblicks. Hermione schien kurz das schlechte Gewissen zu plagen, und sie sagte: "Ich sollte jetzt gehen, damit er mich findet. Es ist nicht seine Schuld, dass ich nicht drin bleiben wollte. Danke, dass du mich aufgemuntert hast1 , beziehungsweise dafür, dass du mich hier gesucht hast." Und bevor Draco noch etwas sagen konnte, zog sie sich zurück und ging durch die Schutzzauber auf Viktor zu. Als er die Schutzzauber entfernte, beobachtete er, wie sie Viktor etwas zurief. Es gibt keinen Grund, die Zauber nicht zu entfernen und zu riskieren, dass jemand womö glich gegen das Schloss kracht, dachte er und wischte einen Käfer von der Seite seines hohen Kragens. Viktor erspähte Hermione, ging mit seinen typischen, linkischen und schlurfenden Schritten auf sie zu und sagte: "Da bist du ja! Ich dachte, ich hätte dich verloren. Komm zurück und tanz mit mir!" Als sie sich mit einem letzten Lächeln zu Draco umdrehte, legte der Sucher den Arm um sie und führte sie zurück zum Schlosstor. Draco folgte ihnen in kurzem Abstand nach drinnen, erfreut darüber, dass er es geschafft hatte, Hermione aufzumuntern und zu verhindern, dass sie Stunden oder sogar Tage verlor, weil sie nach einem Weinkrampf Kopfschmerzen hatte, die sie besser mit Lernen verbracht hätte. Viktor bemerkte nicht einmal, dass Draco ihnen folgte, aber Pansy fiel es sofort auf, als er die Eingangshalle betrat. Sie sah gereizt aus und stand mit verschränkten Armen bei einem Jungen aus Durmstrang, den Draco nicht gut kannte, und bei Eloise und Blaise. Als er auf sie zuging, packte Pansy ihn am Arm und zog ihn, noch bevor er irgendetwas sagen konnte, zur Wand bei ihrer Treppe, wobei sie ihm gedämpft anklagende Fragen zuzischte. Ich muss lange draußen gewesen sein, dachte er, wenn sie so aufgebracht ist. Pansy startete eine Tirade, die mindestens sieben Minuten dauerte, und Draco hätte schwören können, dass sie nicht einmal inne hielt, um Luft zu holen. Sie beklagte sich über den Zustand ihrer Schuhe und des Saums ihrer Abendrobe, die Vin massakriert hatte, dann darüber, wie unfair es sei, zwei ganze Tänze lang allein gelassen zu werden, und wie niederträchtig von ihm, sie zu ignorieren und einfach wegzulaufen, und darüber, wie wichtig es sei, anwesend zu sein, wenn die Band ihr 1
Unübersetzbares Wortspiel mit "pick up" und "pick me up". Anm. d. Ü.
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Lieblingslied spielte; außerdem ließ sie sich über seinen Egoismus aus, das einfach zu vergessen, obwohl sie ihm kaum fünf Minuten, bevor er gegangen war, gesagt hatte, dass sie diesen Tanz mit ihm tanzen wollte. Zum Glück halfen seine Erfahrungen mit Narcissas Vorträgen ihm dabei, Pansy davon zu überzeugen, dass er sie wirklich mochte, dass er ihre Gefühle nicht hatte verletzen wollen, dass es ihm furchtbar Leid tat wegen der Schäden, die Vin ihrer Kleidung zugefügt hatte, und dass er einfach die Zeit vergessen hatte, als er hinausgegangen war um sich abzukühlen, weil sie ihn so heiß machte. Ihre Reaktion auf seinen Kommentar war völlig unerwartet. Pansy warf ihm die Arme um den Hals, küsste ihn vor allen Leuten und zerrte ihn völlig perplex und mit großen Augen förmlich zurück in den großen Saal und auf die Tanzfläche, wo sie die nächste Stunde damit ve rbrachte um ihn herumzutanzen, während er versuchte, mit ihren hüpfenden Bewegungen Schritt zu halten. Die laute Musik und die bunten Lichter machten das Denken schwierig. Zwischendurch bemerkte er immer wieder Hermione, die entweder bei Viktor saß oder mit ihm tanzte, und deren ganze Aufmerksamkeit anscheinend auf ihren Begleiter gerichtet war. Als Viktor einmal wegsah, trafen ihre Blicke sich kurz, und sie lächelte Draco zu und schickte ein kurzes, stummes "Danke!" in seine Richtung, bevor sie sich wieder Viktor zuwandte. Am Ende des Ball war Draco erschöpft von Pansys Überschwang, und das sagte er ihr auch, als sie zu den Schlafsälen zurückgingen. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Slytherins in ihrem unterirdischen Gemeinschaftsraum noch weiterfeierten, und normalerweise genoss Draco diese Unterbrechung seiner üblichen Routine. Heute Abend wollte er jedoch nichts als stundenlang nur schlafen, idealerweise den ganzen zweiten Weihnachtsfeiertag lang. Da sie frei hatten und Luc ius so weit weg war, hatte er keine seiner üblichen Verpflichtungen, und das wollte er ausnutzen. Bevor sie ihn zu seinem Schlafsaal hinaufgehen ließ, musste er Pansy versprechen, in der nächsten Woche mit ihr zur Silvesterfeier zu gehen. Wie üblich überlegte er sich beim Zubettgehen, was er Lucius in seinem nächsten Brief schreiben würde, aber an diesem Abend fiel es ihm irgendwie schwer, gewisse Dinge zu formulieren, zum Beispiel, dass er mit Hermione getanzt (falls man das so nennen konnte) und Pansy geküsst hatte. *** Für den Rest der Ferien schienen diverse Aktivitäten seines Hauses und familiäre Verpflichtungen sich verschworen zu haben, ihn von der Biblio thek und ein paar Tage lang sogar vom ganzen Schulgelände fernzuhalten. In ganz Slytherin waren die Leute zu dem Schluss gekommen, dass es nun Zeit sei, an die Hausaufgaben zu denken, die sie in der ersten Ferienwoche vernachlässigt hatten. Jetzt, wo Weihnachten vorbei war, schienen alle sich ziemlich ausgelaugt zu fühlen – alle außer Draco, dem langsam beim Gedanken an seinen baldigen Trip nach Hogsmeade leicht mulmig wurde. Er schaffte es jedoch, sich während seiner Sprechstunde kurz mit Professor Snape zu treffen und ihm zu erzählen, dass Lucius nichts von ihren Plänen, ein Gedankenbassin anzufertigen, wusste und auch nichts davon wissen durfte, was ihn zumindest zum Teil von seiner Angst vor dem Geburtstagsessen befreite. Während der nächsten Tage ging Draco den Stapel Kopien der Briefe durch, die er Lucius im letzten Halbjahr geschickt hatte, mit besonderem Augenmerk auf das Tagebuch, das er geführt hatte, als Lucius und Narcissa verreist gewesen waren, und beeilte sich, die fünf Weihnachtsgeschenke durchzulesen, die er noch nicht aufgeschlagen hatte; außerdem holte er die Lektüre von ein paar Ausgaben des Propheten nach - alles in Vorbereitung auf sein Geburtstagsessen. Am 30. brach die Morgendämmerung hell und klar herein, und über Nacht war eine Schicht Neuschnee gefallen, der die Landschaft in eine glitzernde, weiße Wunderwelt verwandelte. Professor Snape, der sich erst beim Abendessen zu den Malfoys gesellen würde, erlaubte Draco, gleich nach dem Frühstück auf seinem Nimbus nach Hogsmeade zu fliegen, so wie Lucius es 107
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
verlangt hatte. Draco packte seine Unterlagen, seine Abendrobe, seine Quidditchtracht und sonstige Kle idungsstücke in einen Minikoffer, in dem fast unbegrenzt Platz war, der aber sehr wenig wog und ihn auf dem Besen nicht aus dem Gleichgewicht bringen würde, wenn er ihn mit einem Haken direkt über dem hinteren Ende befestigte. Der Flug über den Schnee blendete ihn fast und vermittelte ihm, während er durch die Straßen von Hogsmeade zum Newport Inn flog, das wunderbare Gefühl von Geschwindigkeit; gleichzeitig fühlte er sich in Hochstimmung versetzt, weil er das Schloss verließ. Zum Glück kam er ziemlich frühzeitig im Gasthof an und hatte ein paar Minuten Zeit, seine Sachen in seinem Zimmer zu verstauen, das sich in der Dreizimmer-Suite seiner Familie befand, bevor er sich die Straße hinunter zur Redaktion des Propheten begeben musste. Offensichtlich hatte Lucius schon eingecheckt, so dass Draco sich keine Gedanken ums Auspacken machen musste, weil Lucius dem Hotelpersonal seine Sachen nie anvertraute und deshalb immer einen Hauselfen dabei hatte. Draco hatte sowieso nichts in seiner Tasche, was Lucius nicht sehen durfte. Der Elf übergab ihm einen Ordner mit Unterlagen, die Lucius für ihn dagelassen hatte, damit er sie sich ansah – Karten von seiner Bigfoot-Jagd, ein paar Ausgaben der amerikanischen Zeitschrift Newswizard und eine Liste der Dinge, die Draco während des Schuljahrs inzwischen erledigt haben sollte. Eine ganze Reihe davon konnte er abhaken, wie zum Beispiel " in Zaubertränke ExtraPunkte für Slytherin sammeln" und "alle Haus-Quidditchspiele gewinnen", andere jedoch, wie "lerne, wie man einen Falken in eine Handsäge verwandelt", und "lerne, die Seestern-Figur mit dem Besen perfekt zu beherrschen", konnte er nicht abhaken. Und er verschwendete keine Sekunde damit daran zu denken, welche Diskussion der Unterricht in Verteidigung gegen die Schwarze Magie auslösen würde. Draco schüttelte den Kopf, um jeden Gedanken an Moody zu verbannen – schließlich waren Ferien, und er war, wenn auch nur für kurze Zeit, dem Schloss entronnen, für dieses ... was war es eigentlich? Ein Treffen? Ein Ausflug? Eine Geburtstagsfeier? Wahrscheinlich mehr eins der ersten beiden als Letzteres, sagte er sich, als er vom Gasthof durch Hogsmeade zur Redaktion ging. Er genoss die frische Luft und den Sonnenschein und benutzte den Spaziergang von zwanzig Minuten dazu, um sich Antworten auf die Fragen zurechtzulegen, die Lucius vermutlich stellen würde, und die zusätzlichen Unterlagen durchzusehen. Als er bei dem Gebäude ankam, lag es fast verlassen da. Da es sich hier nur um eine Zweigstelle handelte, war es immer viel ruhiger als in der Redaktion in der Diagonallee – es war eher ein Ort, an dem die Hexen und Zauberer, die für Schottland und die Hebriden zuständig waren, herumhängen konnten, inklusive dieses verhutzelten Zauberers, dessen Obsession die Muggel waren, die zu beweisen ve rsuchten, dass es im Loch Ness ein Kelpie gab. Die Abteilung für Falschmeldungen versuchte immer wieder, die Augenzeugen des Zauberers persönlich vorzuladen, aber Suzanne Lilac, die Anwältin der Zeitung, verhinderte das jedes Mal. In diesen Tagen war es außerdem Rita Skeeters Stützpunkt, und als Draco sich Lucius' offener Tür näherte, hörte er lautes Gelächter, aus dem überraschenderweise etwas herausklang, das Lucius' echtes Lachen sein musste. Draco hatte es so selten gehört, dass er kaum noch wusste, in welchem Zusammenhang. Er wollte eigentlich nicht anklopfen und sie unterbrechen, aber falls Lucius aufblickte, würde er wissen, dass Draco da war, also hatte er nur die Möglichkeit, sie ostentativ zu unterbrechen oder zu lauschen, und die unbekannten Konsequenzen einer Unterbrechung, vor allem wenn eine Angestellte zugegen war, konnten nicht schlimmer sein als die Folgen, wenn er sie belauschte. Also klopfte er leise an den Türrahmen und lugte ins Zimmer. Lucius saß hinter dem Schreibtisch auf seinem Stuhl; er hatte sich zurückgelehnt, so dass seine Beine auf der Tischkante ruhten. Rita saß auf einem der Besucherstühle, und aus ihrer Tasche quo llen Pergamentrollen, Federn und ein paar grüne Blätter hervor - der Boden um sie herum war damit übersät. Beide hatten ein Glas in der Hand, das mit einer smaragdfarbenen Flüssigkeit gefüllt war – Draco nahm an, dass es sich dabei um Schäumenden Re'em Martin 108
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handelte, den Lucius gern tagsüber trank, weil er ihm angeblich extra Energie verlieh, so dass er bis spät in die Nacht arbeiten konnte, falls das nötig sein sollte. Draco hatte ihn nie selbst probieren dürfen, weil Lucius behauptete, er sei zu teuer, um ihn an Draco zu verschwenden. Draco stand im Türrahmen und sah sich im Büro um. Er war seit dem zweiten Schuljahr, als Lucius fast jeden Monat nach Hogsmeade gekommen war, weil er an den regelmäßigen Sitzungen des Schulausschusses teilnehmen musste, nicht mehr hier gewesen, und das Büro hatte sich seither kaum verändert. Es war ein völlig runder Raum, der sich in der Mitte der Etage befand und dessen kristallklare Wände sich mit einer einfachen Drehung des Klarheits-Knopfes an der Tür blickdicht machen ließen, wobei die Decke jedoch durchsichtig blieb. Derzeit waren die Wände fast unsichtbar, also wartete er, bis Lucius seinen Satz beendet hatte und ihm ein Zeichen machte hereinzukommen und sich auf die Ottomane zu setzen, die an einer der Seitenwände stand. Draco war überrascht, dass Luc ius die Sitzgruppe aus seinen Räumen im Herrenhaus mitgebracht hatte, das hatte er nämlich noch nie getan, und es machte Draco nervös. Er kaute ein bisschen an seinem Finger und sah sich ein paar der seltsamen, neuen Kunstwerke an, die Lucius überall im Zimmer aufgehängt hatte. Ein paar davon hingen sogar an den Wänden. Lucius' Stimme riss ihn aus seinen Träumereien. "Hast du Rita alles über den HippogryphAngriff im letzten Jahr erzählt?", fragte er. Draco sprang auf und antwortete wahrheitsgemäß, dass er das nicht getan habe, und Lucius lächelte und sagte: "Gut. Ich möchte, dass du ihr beschreibst, wie du alle Anweisungen dieses Riesen, der sich Lehrer schimpft, befolgt hast, und wie du dabei fast getötet wurdest." Lucius fuhr in dramatischem Ton fort: "Mein einziger Sohn, misshandelt von einem wildgewordenen Untier." Doch Draco hatte den letzten Satz kaum gehört. "Riese?", fragte er mit Augen, die so groß wie Untertassen waren. "Hagrid ist ein Riese? Wie kann das sein?", fragte er töricht. Mit einer Stimme, die Dracos nachäffte, fragte Lucius: "Wie? Draco, du solltest deine Nase von Zeit zu Zeit nicht nur in deine Schulbücher stecken." Er wandte sich an Rita und bemerkte: "Er hat so hart daran gearbeitet, Klassenbester zu werden, deshalb hat er die Neigung, andere Dinge überhaupt nicht zu beachten. Aber es ist die Sache doch wert, nicht wahr, mein Sohn, die Nummer eins in Zaubertränke zu sein und sich in allen anderen Fächern um diese Position zu bemühen?" Es war immer so, wenn sie in der Öffentlichkeit waren. Bei solchen Gelegenheiten konnte Lucius ihn nicht genug loben und behauptete immer, er sei besser in der Schule, als er tatsächlich war, und sie spielten eine ganze Reihe von Gesellschaftsspielchen, um sein fotografisches Gedächtnis zu demonstrieren, wobei Draco ganz genau wusste, welche Antworten von ihm erwartet wurden. Er sagte zu Rita: "Ich bin nur deshalb so gut, weil mein Vater so großzügig ist im Hinblick auf die Zeit und die Aufmerksamkeit, die er mir widmet, und weil er sich so große Mühe mit mir gibt. Mein höchstes Ziel ist, den Erwartungen der Familie gerecht zu werden, und ich will, dass er stolz auf mich ist." Über Ritas Kopf hinweg sah er, dass Lucius ein ganz klein wenig lächelte. Rita bekam einen Hustenanfall, so als ob sie an ihrem Drink erstickte, aber sie fasste sich schnell wieder. Lucius gab ihr ein Glas klares Wasser und sagte: "Genug geplaudert. Kommen wir wieder auf unser Thema zurück – Draco, erklär Rita, was letzten September passiert ist." Er fing an, dieselbe Geschichte zu erzählen, die er bei der Abteilung für Vorschriften und Regelungen im Umgang mit Magischen Kreaturen zu Protokoll gegeben hatte: Wie Hagrid die Tiere am ersten Schultag herausgebracht hatte, wie das Schoßhündchen des Lehrers, Harry Potter, offensichtlich vor der Stunde mit ihm ausgemacht hatte, die anderen Schüler zu blamieren, und wie der Hippogryph ihn aus heiterem Himmel angegriffen hatte. Aber was war schon vom Liebling eines Lehrers zu erwarten, der sich vermutlich jeden Ta g beherrschen musste, um keine kleinen Kinder zu fressen? Wie konnte Dumbledore so jemanden auf die Schüler loslassen? Schließlich sprach er über seinen langen Genesungsprozess – der zwar nicht so lange gedauert hatte, wie alle annahmen, der aber trotzdem nicht leicht gewesen war, da das Untier seine Armmuskeln ziemlich übel zugerichtet hatte. 109
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"Und obwohl Knochen mit einem Zaubertrank und Haut mit einer Zauberformel geheilt werden können, ist es fast unmöglich, den Heilungsprozess von Muskeln und Sehnen zu beschleunigen", bemerkte Rita. "Du armes Hascherl", fügte sie hinzu und sah Draco so mitfühlend an, dass er es kaum glauben konnte. Als sie einen kurzen Blick auf ihre Notizen warf, fing er Lucius' Blick auf und zuckte leicht die Achseln, um zum Ausdruck zu bringen, dass Ritas misslungener Versuch, nett und verständnisvoll zu sein, ihn anwiderte. So ein affektiertes Gehabe passte überhaupt nicht zu ihr. Dann stellte Rita ihm ein paar Fragen, wie Hagrid als Lehrer war und was sie im Unterricht gelernt hatten. Draco antwortete: "Als ich wieder zum Unterricht gegangen bin, das muss so ungefähr im Oktober gewesen sein, waren wir in dem Jahr mit den gefährlichen Kreaturen fertig und haben die meiste Zeit damit verbracht, Flabberwürmer mit Salat zu füttern. Es war total langweilig, und ich glaube nicht, dass wir dabei irgendwas Nützliches für unsere O.W.L.s gelernt haben, was mich ganz schön nervös macht. Ich hab' genau wie ein paar meiner Klassenkameraden selbst viel gelesen", bemerkte er, wobei er an Hermione dachte, "aber keiner von uns mag die Art, wie Hagrid seinen Unterricht abhält. Wir haben aber alle Angst etwas zu sagen, weil wir dann vielleicht eine schlechtere Note bekommen. Mir würde nicht im Traum einfallen, einen Lehrer offen zu kritisieren, und weil Hagrid im letzten Jahr nicht da war, als er uns eigentlich unsere Beurteilungen hätte mitteilen sollen, hatten wir auch nie Gelegenheit, uns anonym zu beschweren." "Wie waren denn deine Prüfungen im letzten Jahr? Worin bestand die Prüfungsaufgabe, wenn ihr gar nichts gelernt hattet?" Draco fühlte Lucius' Blick auf sich ruhen. Er hatte ihm absichtlich nichts von der Prüfung in Magische Kreaturen am Ende des dritten Schuljahrs gesagt, weil er sich gedacht hatte, dass Lucius' Reaktion auf so eine dämliche Prüfung vermutlich zwei oder drei lange Aufsätze über interessantere Geschöpfe im Sommer nach sich ziehen würde, aber jetzt musste er es ihm wohl oder übel sagen. "Wir mussten Flabberwürmer eine Stunde lang am Leben erhalten. Es war ziemlich unmöglich, dabei nicht sehr gut abzuschneiden, weil es ganz schön schwierig ist, so ein Viech umzubringen. Mein Freund Vincent Crabbe hat seine während der Prüfung aber ständig angestupst, so dass einer davon ihn zum Schluss ziemlich übel gebissen hat, was ziemlich dämlich ist, es sei denn, man hat keinen höheren MQ als so ein Flabberwurm. Ich weiß, dass sie keine Zähne haben, aber es hat bis Mittag gedauert, bis er den Schleim von seiner Hand abgekriegt hatte." Draco schüttelte sich ein bisschen, als er daran dachte, wie Vin die Bücher und Pergamentrollen aller anderen damit beschmiert hatte, entspannte sich aber wieder etwas, als Lucius nicht auf die Berichterstattung über die Prüfung reagierte. Lucius sah langsam etwas ungeduldig aus, was das Interview anging, und unterbrach Dracos Erzählung. "Skeeter, reicht Ihnen das? Ich möchte, dass das einen Tag, bevor die Schule anfängt, fertig ist, damit wir den Eltern der jüngeren Schüler vor Abfahrt des Hogwarts-Express einen Packen Zeitungen verkaufen können." "Oh, bis dahin ist das auf jeden Fall fertig, Sir. Es wird in der Schule einschlagen wie ein Bludger, wenn Sie das möchten." "Sie sehen das sehr richtig, Skeeter. Könnten Sie uns jetzt ein paar Minuten allein lassen? Ich habe meinen Sohn seit Monaten nicht gesehen." "Selbstverständlich, Mr. Malfoy. Ich mache mich sofort an die Arbeit, was halten Sie davon? Soll ich Ihnen ein Konzept machen, bis Sie morgen wieder abreisen?" Er nickte ihr zu, womit die Unterhaltung für ihn beendet war. Draco fühlte, wie Luc ius ihm seine gesamte Aufmerksamkeit zuwandte, und konzentrierte sich darauf, seine Hände im Schoß ruhig zu halten und geradeaus durch den Raum zu starren. Wenn er seinen Blick losließ, würde Lucius womöglich behaupten, er habe seine Kraft und Konzentrationsfähigkeit eingebüßt, und Draco wusste, dass das nicht der Fall war. Irgendwie musste er Lucius das klarmachen. Lucius stand auf, machte die Wände undurchsichtig und ging um seinen Schreibtisch herum zu dem Sessel, der neben Draco stand. Draco hatte sich zwar auf ein GESPRÄCH gefasst gemacht, 110
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aber es war so seltsam, die vertrauten Möbel von zu Hause in diesem Büro zu sehen. Er wagte nicht zu fragen, warum Lucius die Sachen aus seinen Räumen zu Hause hierher gebracht hatte, aber er nahm an, es sei nur vorübergehend und dass alles wieder an seinem Platz sein würde, wenn er das nächste Mal nach Hause kam. Schließlich hatte Draco das Gefühl, dass er seinen Blick gefahrlos von Lucius abwenden konnte und rutschte auf die äußerste Kante der Ottomane, wobei er die Seiten mit den Händen fest umklammerte. Er kämpfte darum, sich an all das zu erinnern, was Lucius ihm zum Lesen geschickt hatte, an die Unterlagen, die er auf dem Weg zur Redaktion des Propheten durchgesehen hatte und an jedes einzelne Wort in seinen letzten Briefen, das ihm helfen würde, schnell und mühelos zu antwo rten, wenn Lucius ihm eine Frage stellte. Es war das erste Mal, dass er in dem Wissen, dass er lügen würde, zu einem GESPRÄCH gekommen war. Normalerweise formulierte er bestimmte Dinge einfach weniger vernichtend oder änderte mitten im Satz seine Meinung, aber etwas zu bagatellisieren war schließlich keine Lüge. Außerdem waren seine Ansichten ungebildet und rückständig, weit entfernt von den Fakten und entsprachen so gar nicht denen von Lucius. Es kam ihm furchtbar seltsam vor Lucius anzulügen, obwohl er wusste, dass er lügen musste, denn die Wahrheit zu sagen würde ihn nur noch mehr in Schwierigkeiten bringen. Lucius ließ sich in seinem Sessel nieder und sah alles andere als entspannt aus, als er sich vorbeugte und seine Stirn gegen Dracos knallte. Durch den hellroten Nebel hinter seinen fest geschlossenen Augen fragte Draco sich, welche Zauberformel Lucius benutzte, damit es ihm nicht wehtat, wenn er das machte. Draco hatte nie gesehen, dass er vor einem GESPRÄCH einen Schutzzauber für seinen Kopf gesprochen oder einen schmerzlindernden Trank genommen hätte. Es war schlicht und einfach eine weitere Demonstration von Lucius' umfassender Macht und seiner beeindruckenden Stärke. Wenn Lucius einmal angefangen hatte zu frage n, hörte er nicht mehr damit auf. Nach fast zwei Stunden, in denen sie praktisch Seite für Seite die Bücher besprochen hatten, die Draco in diesem Halbjahr gelesen hatte, machten sie eine kurze Pause. Lucius rief aus dem Kühler eine Flasche Butterbier für Draco und noch ein Glas Re'em Martin für sich selbst herbei. Draco tat von den Kopfnüssen alles weh, und sein Rücken und seine Schultern schmerzten, weil er sie so lange in derselben Stellung hatte halten müssen, aber wenigstens half das Butterbier gegen seinen trockenen Mund. Es kam ihm vor, als hätte er jahrelang geredet. Während dieser wenigen Minuten war Lucius ein anderer Mensch. Er plauderte lä ssig und leicht übers Wetter, über das exzellente Quidditch-Spiel, das sie am Tag vor der Bigfoot-Jagd gesehen hatten, und darüber, wie spektakulär die darauf folgende Meteorshow gewesen war. "Am nächsten Tag waren die Muggelzeitungen voll von Berichten über das spektakuläre Pola rlicht. Diese Höhlenmenschen haben wirklich von nichts eine Ahnung." Draco hörte zu, während er sich in der Hoffnung, dass Lucius es nicht bemerken würde, verstohlen den Nacken massierte und die Schultern streckte. Er versuchte, seinen Drink nicht zu schnell auszutrinken, weil er wusste, dass Lucius das GESPRÄCH fortsetzen würde, sobald er den letzten Schluck genommen hatte, aber Lucius wurde ungeduldig und nahm ihm die Flasche aus der Hand, als sie erst halb leer war. Er zog Draco an den Schultern zu sich heran und drückte ihm dann die Arme gegen den Körper, so dass ihre Köpfe sich wieder nahe kamen, dann fing er an, Draco nach dem Unterricht, nach seinen Fehlschlägen bei Teilen des Projektionsprojekts und nach dem Weihnachtsball zu fragen. Wenn Draco nach einer Antwort suchte oder etwas sagte, das nicht hundertprozentig mit dem übereinstimmte, was er in einem früheren Brief geschrieben hatte, war Lucius ungehalten. Aber wenigstens bei den Unwahrhe iten, die verschleiern sollten, dass es ihm nicht gelungen war, seine Projektionen zu verlängern, hatte er seine Worte so oft geübt, dass er sie automatisch hersagen konnte. Draco glaubte nicht, dass Lucius bemerkte, wie er die Wahrheit verdrehte – jedenfalls reagierte er darauf nicht anders als auf seine wahrheitsgemäßen Aussagen. Die Projektionen waren allerdings das Einzige, worüber er ihn belüge n konnte, da niemand sonst in der Schule sie 111
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mitverfo lgen konnte. Hermione nicht zu erwähnen war etwas anderes, da er im Prinzip nicht log in Bezug auf das, was sie in der AG machten, er versäumte es lediglich zu erwähnen, dass sie auch dazugehörte. Zwischen den Fragen hörte Draco draußen vor dem Büro manchmal Ritas Stimme oder die eines anderen Angestellten, und sein Magen zog sich zusammen, als er mitbekam, wie die Empfangsdame verkündete, es seien Pizzen mit Garnelen und Ananas geliefert worden, aber er konnte es sich nicht leisten, seine Gedanken abschweifen zu lassen. Als Lucius endlich aufstand und sich streckte, fiel fast kein Licht mehr durch die Decke. Draco war überrascht, dass er sein Unbehagen so offen zeigte. Lucius behauptete immer, es sei ein Zeichen von Schwäche, sich körperlichen Schmerz anmerken zu lassen, weil es dem Feind verriet, was einen plagte, und das sei dumm, ignorant und schlichtweg unklug. Draco nahm Lucius' Wink an und hob die Arme über den Kopf um zu versuchen, wieder Gefühl in seinen Gliedern zu bekommen. Im Nu stand Lucius hinter ihm, packte seine Handgelenke und hielt sie hoch, wobei er sie ein ganz klein wenig zu weit nach hinten drückte. "Tu das nicht", war alles, was er sagte, als er auf Dracos nunmehr nach oben gerichtetes Gesicht hinunterblickte. Endlose Augenblicke verstrichen, in denen keiner von ihnen ein Wort sagte, während Draco darum kämpfte, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen oder sich gar zu winden, obwohl seine Arme sich anfühlten wie Bleigewichte und er nichts weiter wollte, als sie herunterzunehmen, auf dem Sofa zusammenzusacken und sich auszuruhen. Endlich ließ Lucius Dracos Arme so abrupt los, dass Draco rückwärts über die Ottomane fiel. Am liebsten wäre er einfach dort liegen geblieben und hätte nur nach Luft geschnappt, aber Lucius verlangte, dass er aufstünde und seinen Umhang holte. "Du hast mich heute Nachmittag genug Zeit gekostet", sagte er, "und wir kommen zu spät zum Abendessen, wenn wir jetzt nicht zurück zum Gasthof gehen. Das ist ziemlich dumm, da ich mich darauf gefreut hatte zu sehen, ob du Fortschritte beim Quidditch gemacht hast. Das muss dann wohl bis morgen warten." Eine Prise Kaminpulver brachte Draco auf den Weg ins Hotelfoyer, während Lucius direkt in ihre Suite apparierte und scho n im Bad war, als Draco die Treppe heraufkam. Narcissa war in ihrem Zimmer und trainierte auf den Verzauberten Stufen, die sie vor dem Kamin beschworen hatte. Draco störte sie nicht dabei, einerseits weil es drückend heiß im Zimmer war und andererseits, weil Narcissa es nicht ausstehen konnte gestört zu werden, wenn sie sich auf ihr Training konzentrierte. Er trug dem Elfen auf ihr zu sagen, dass er zurück sei, damit sie sich keine Sorgen machte. Draco wusste, dass sie das sowieso nicht tun würde, auch ohne dass er ihr Bescheid sagte. Sie kümmerte sich nur darum, wo er war, wenn Lucius es ihr auftrug. Eine Nachricht auf seinem Nachttisch teilte Draco mit, sich um sieben in der Hotelbar einzufinden. Gut. Dann hatte er noch über eine Stunde Zeit für sich. Er war halb verhungert, durstig und erschöpft und wünschte sich, dass es eine Möglichkeit gäbe, allem auf einmal Abhilfe zu schaffen, aber er hatte eigentlich keine Zeit, sich aufs Ohr zu legen. Er schob alle Gedanken an den vergangenen Nachmittag beiseite und bestellte durch den Kamin eine Käseplatte. Während er darauf wartete, dass der Hotel-Elf an die Tür klopfte, zog er einen Bademantel an und drehte in seinem Bad ein halbes Dutzend Wasserhähne auf. Als sein Imbiss kam, nahm er ihn mit ins Bad und stellte ihn auf die Ablage, während er die Eukalyptusdämpfe einatmete. Er dachte an Lucius' Begutachtung seiner Leistungen und beschloss, den nächsten Morgen damit zu verbringen, eine zwanzig Zoll lange Pergamentrolle mit guten Vorsätzen für sein neues Lebensjahr zu verfassen. Die meisten Zauberer fassten zum neuen Jahr gute Vorsätze, aber da ihrer beider Geburtstage so nah an diesem Feiertag waren, nahmen sie sich auf Lucius' Vorschlag hin immer ein paar Tage Zeit, um Dracos Liste zu vervollkommnen, was ihm gestattete, zu seinem schulischen Alltag zurückzukehren, bevor er all seine Pläne und Vorsätze in die Tat umsetzte. Nachdem er seinen Heißhunger gestillt hatte, stellte er sich unter den Wasserfall- Hahn und ließ sich die dampfend heißen Wasserkaskaden über Kopf und Rücken strömen und den Schmerz wegschwemmen. In diesem Augenblick der Entspannung brandeten jedes Wort, jeder Befehl und jede Anweisung, Forderung, Behauptung, Erfordernis, Beschränkung und jeder Wunsch, die 112
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Lucius während des Nachmittags geäußert hatte, ohne jeden Zusammenhang über seinen Verstand hinweg und erstickten dabei fast das Rauschen des Wassers. Er lehnte sich an die warme, geflieste Wand und glitt mit flach an die Wand gepressten Händen zu Boden, das Gesicht einem der anderen Wasserhähne zugewandt, der einen feinen Dunst im Raum versprühte, während das Wasser immer noch auf ihn niederströmte. Die Flüssigkeit aus den Rohren verhinderte, dass ihm das Wasser aus den Augen lief. Er empfand ob seiner Schwäche Ekel vor sich selbst, weil er nicht einmal in der Lage war, ein paar Stunden mit dem Mann zu verbringen, den er vergötterte, vor allem da Lucius ja nur versuchte ihn stärker, besser und klüger zu machen. Nachdem er sich ein paar Minuten lang selbst bemitleidet hatte, dachte er, es sei jetzt Zeit sich zusammenzureißen. Sie würden in aller Öffentlichkeit zu Abend speisen, Narcissa würde beschwichtigt werden müssen, und einer seiner Lehrer würde ebenfalls anwesend sein; er konnte seine Familie heute Abend nicht in Verlege nheit bringen. Falls er das tat, würde er nie zum Schlafen kommen, und er wollte so gern schlafen. Das Wasser hatte seinen schmerzenden Muskeln wirklich Linderung verschafft, er konnte seinen Hals fast wieder problemlos von einer Seite zur anderen drehen, und seine Kopfschmerzen waren kaum mehr wahrnehmbar, nur noch direkt über den Augen. Es würde schon alles gut gehen, sagte er sich, stand auf und schlug mit Nachdruck gegen einen der Wasserhähne. Das war sein Abend, sein Geburtstag, und er würde sich amüsieren. *** Als Draco in sein Schlafzimmer zurückkam und seine Robe neben dem Bett hängen sah, waren Lucius und Narcissa bereits unten. Er hatte eine der neuen dunkelgrünen Wollroben mitgebracht, die er zu Weihnachten bekommen hatte, da sie weniger ausgefallen war als die formelle Abendrobe, die er zum Weihnachtsball getragen hatte, und besser geschnitten als seine Schuluniform. Sie war behext, so dass sie außen warm, aber innen nicht zu heiß war, weswegen er seinen Umhang in der Suite lassen konnte, ohne befürchten zu müssen, nach einem Verdauungsspaziergang durch Hogsmeade bei Madam Pomfrey zu landen, um sich einen Aufmöbel-Trank zu holen. Er erwartete, alle an der Bar versammelt zu finden, aber als er unten ankam, teilte der Che fkellner ihm mit, seine Begleiter hätten sich bereits zu Tisch gesetzt, weil die nicht zu bändigenden Fans der Magpies ihrem Team im Magischen Radio lauschten und seine Mutter befürchtet hatte, der Flammende Scotch könnte ihr Haar in Brand setzen. Als Draco sich an den Tisch setzte, konnte er an Lucius' Blick ablesen, dass er ungehalten war, weil Draco erst erschienen war, als alle anderen schon saßen. Lucius und Narcissa saßen mit Professor Snape an einem runden Tisch in der Mitte des Raums. Draco beobachtete, wie ständig irgendwelche Hexen und Zauberer an ihren Tisch kamen, um Lucius ihre Ehrerbietung zu erweisen, Narcissas Kleid zu bewundern, ihre Arbeit beim Schwebenden Golfturnier im vergangenen Monat zu loben (weil nur Hexen und Zauberer im Schnee Golf spielen konnten, waren einige der besten Golfplätze in Schottland im Winter für sie reserviert), Lucius' kürzlich erschienenen Artikel über die Bedeutung des Handels mit den Ministerien für Magie der unteren Sahara-Region zu rühmen und die Familie dazu zu beglückwü nschen, dass sie kürzlich den Obskur-Verlag losgeworden war. Er benahm sich vorbildlich, redete nur, wenn er gefragt wurde, lächelte allen zu, die ihm auf die Schulter klopften, um ihm alles Gute zum Geburtstag zu wünschen und zu fragen, wie es in der Schule lief, und nickte jedes Mal höflich, wenn einer der Besucher das schwache Niveau der heutigen Schüler beklagte, wie es mit Hogwarts bergab ging und warum genau der alte Narr seines Direktorpostens wieder enthoben werden sollte. In Wirklichkeit rauschte das meiste davon jedoch völlig an ihm vorbei, während er sich auf den Brotkorb und die Speisekarte konzentrierte, und er wünschte, dass er sich getraut hätte, unter dem Tisch ein Buch zu lesen, wie er es so oft im Herrenhaus tat. Professor Snape schien die Unterhaltung von Zeit zu Zeit ebenfalls extrem unangenehm zu sein, und als der 113
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Unterbeauftragte der obersten Finanzbehörde stehen blieb, um mit ihnen zu plaudern, versteckte er sich hinter der Speisekarte. Der Speisesaal des Newport war für ein magisches Restaurant insofern ungewöhnlich, als es dort Kellner gab. Es war ein alter Brauch, da den ersten Inhabern im Jahr 1503 aufgefallen war, dass ihre Gäste sich darüber beschwerten, dass ihre Speisen nicht so serviert wurden, wie sie es wünschten, wenn sie die Bestellung bei ihrem Teller nicht schnell genug aufgaben oder Sonderwünsche hatten. Die meisten Angestellten waren Schlammblüter, die kürzlich ihren Abschluss in Hogwarts gemacht hatten und die nicht nur wegen des Geldes dort arbeiteten, sondern auch, um einen tieferen Einblick in die magische Welt zu bekommen. Auch Hogwarts konnte ihnen nicht alles beibringen. Als der erste Gang – eine Suppe – gebracht wurde, teilte Lucius allen mit, er wolle mit seiner Familie und ihrem Gast allein sein, woraufhin die Menge sich schnell auflöste. Er fragte Professor Snape, was in Hogwarts los war, und Draco entging nicht, dass er das, was er ihm vorhin erzählt hatte, mit dem verglich, was der Lehrer sagte. Draco versuchte, keine sichtbare Reaktion zu zeigen, als Lucius' Mund hart wurde, als Professor Snape eine Bemerkung über Professor Vectra machte, die dem widersprach, was Draco über sie gesagt hatte. Narcissa beteiligte sich kaum an dem Gespräch, außer als sie kurz über Quidditch sprachen, und Draco wurde nur selten etwas gefragt, also sagte er selbst auch nur sehr wenig. Als sie mit dem Hauptgang halb fertig waren, wandte Lucius seine Aufmerksamkeit jedoch seinem Sohn zu. "Während wir nicht zu Hause waren, ist ein Brief angekommen, über den ich mit dir reden möchte. Die Abteilung für Magische Zusammenarbeit lässt anfragen, ob der Prophet irgendwelche Kopien des Alexandria-Papyrus im Archiv hat. Kannst du dich erinnern, worum es sich dabei handelt?" "Zuerst vor fast fünfunddreißig Jahrhunderten erschienen, war der Alexandria-Papyrus die erste magische Zeitung, die öffentlich herausgegeben wurde. Er wurde ursprünglich in Hieroglyphen-Schrift verfasst, und im zweiten Jahrtausend seines Bestehens erschienen täglich zwei Ausgaben, eine auf Ägyptisch, die andere auf Griechisch. Er hat ein paar Preise für seine umfassenden Untersuchungen der brüchigen Fundamente der Pyramiden von Gizeh gewonnen und als Erster über den fehlgeschlagenen Gedächtniszauber berichtet, der an Muggeln vorgenommen wurde, die die Sphinx gesehen und daraufhin dieses grässliche Abbild in der Wüste geschaffen haben", rezitierte Draco aus dem Gedächtnis. Lucius lächelte und fuhr fort: "Barty Crouch hat mich um einen Gefallen gebeten, und da ich gern hätte, dass er irgendwann in meiner Schuld steht, habe ich ihm gesagt, ich würde sehen, was ich tun kann." Lucius zog einen Brief aus der Tasche und breitete ihn auf dem Tisch aus, so dass Draco und Professor Snape ihn sehen konnten. "Anscheinend hat das Ägyptische Ministerium ein geheimes Versteck von antiken Papyri entdeckt, und sie haben nicht genug Leute um herauszufinden, was genau drinsteht. Sie halten das unter Verschluss, weil sie nicht wollen, dass zig Leute dort auf Schatzsuche gehen, es würde ihr Muggel- Gedächtniszauber-Team zu sehr beschäftigen und wäre außerdem pure Geldverschwendung. Barty hat uns gebeten, in den Akten des Propheten nachzuschauen, ob wir dort irgendwas über den Papyrus oder irgendwelche Artikel aus der Zeit finden, als dieses Versteck ursprünglich angelegt wurde." "Und, habt ihr was gefunden?", fragte Draco, der von Lucius' Ausführ ungen völlig fasziniert war. "Wir haben einen ganzen Ordner voller Aufzeichnungen, aber ich kann niemanden erübrigen, um sie durchzugehen. Ich dachte, du würdest das Projekt vielleicht gern übernehmen." Das wollte Draco auf jeden Fall, und er sagte es Lucius. Obwohl er mit der Schule und seinen anderen Projekten bereits hinreichend beschäftigt war, war das genau die Art von Recherchen, in die er sich zu gern vertiefte. Allerdings wollte er noch etwas mehr Hintergrundinformation. "Haben sie irgendeine Vorstellung, worum es in den Papyri überhaupt geht?" "Alles, was man mir gesagt hat war, dass es sich bei den Runen um Zauberformeln handelt, bei denen mumifizierte Körper verwendet werden und dass sie die Details dieser Zauberformeln 114
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benötigen, außerdem müssen sie wissen, ob in irgendwelchen modernen Texten etwas darüber steht, ob diese Zauberformeln je dahingehend modifiziert wurden, dass dabei verweste Leichen verwendet werden." "Lucius! Das ist wirklich nichts, worüber ich mich beim Abendessen unterhalten will", beschwerte sich Narcissa. "Draco, warum ermunterst du ihn auch noch dazu?" Sie starrte ihren Sohn und ihren Mann finster an, schob ihren Teller beiseite und stellte ihren Drink direkt vor sich hin. "Für mich ist das Abendessen damit beendet, und vielen Dank dafür, dass ihr so ein absolut gutes Essen ruiniert habt." "Narcissa, bitte. Wir sind nicht allein", sagte Lucius und sah ostentativ Professor Snape an. Draco legte seine Gabel auf den Rand seines Tellers und wartete, bis diese Konfrontation vorüber war. Narcissa gab ihrem Gatten keine Antwort, stattdessen hob sie ihr Glas und trank es auf einmal leer. Dann stellte sie es wieder auf den Tisch und entschuldigte sich rasch. Lucius versuchte, die Situation zu retten. "Severus, ich entschuldige mich hiermit für meine Frau. Sie steht wegen der Organisation der Kerzenparade morgen Abend gerade ziemlich unter Stress. Sie verlangt ihr alles ab." Professor Snape schien begierig zu sein, die Sprache wieder auf die Papyrus-Texte zu bringen und fragte Lucius schne ll: "Was will das Ministerium denn mit der Zauberformel anfangen?" "Das steht nicht in dem Brief, aber ich weiß auch nicht, warum das wichtig sein sollte. In der Antike gab es zig Zauberformeln, bei denen mumifizierte Leichen verwendet wurden, stimmt's, mein Sohn?" Draco wertete dies als Aufforderung, die ungewöhnlichen Zauberformeln und komplizierten Zaubersprüche zu beschreiben, die die ägyptischen Zauberer in ihren Gräbern benutzt hatten, von denen viele über die Verstorbenen selbst gesprochen wurden, um Muggel und nicht zuletzt andere Zauberer fernzuhalten. Professor Snape unterbrach ihn häufig mit Bemerkungen über die Zaubertränke, die in jener alten Zeit erfunden worden waren, und Lucius sah so aus, als mache ihm das genauso viel Spaß wie ein Quidditch-Spiel. Das Gespräch setzte sich während des Essens in dieser Stimmung fort, und zum Schluss gab es dann Dracos verzauberte Euphorische Schokoladen-Geburtstagstorte, die jedem, der einen Bissen davon aß, eine Nacht voller angenehmer Gedanken und wundervoller Träume bescherte. Narcissa war vergessen, und Draco schaffte es sogar, jeden Gedanken an das GESPRÄCH des vergangenen Nachmittags zu verdrängen, während er eine Tasse Darjeeling- Tee trank. Als sie fertig waren, beendete Lucius ihre Diskussion mit der Frage: "Severus, trinken Sie an der Bar noch ein letztes Glas mit mir?" Der Lehrer stimmte zu und sagte zu Lucius, er werde ihn um eins an einem der Tische treffen, die weit entfernt von den feiernden Quidditch-Fans standen. Draco glaubte in ihrer Mitte Narcissa zu erkennen, aber als er blinzelte, stellte er fest, dass er sich wohl geirrt haben musste. Lucius beugte sich hinunter, um Draco etwas zu sagen. "Wir haben morgen Vormittag noch eine Menge zu tun, bevor ich nach London zurückkehre. Wir frühstücken um fünf, dann machen wir deine guten Vorsätze fertig und unterhalten uns noch ein bisschen über dieses Projekt. Ich möchte, dass du ohne meine ausdrückliche Erlaubnis mit niemandem darüber sprichst, auch nicht mit Rita und Snape." Draco war erschöpft und konnte kaum noch klar denken, aber trotzdem schaffte er es zu sagen: "Wenn du es erlaubst, möchte ich es schriftlich haben, und zwar mit dem Familiensiegel auf dem Umschlag. Ich will nicht, dass jemand versucht, mir etwas zu verschweigen." Daraufhin musste Lucius lächeln, schickte Draco ins Bett und sagte: "Cleverer Junge, es ist gut, dass du so umsichtig bist. Das ist die einzige Möglichkeit dich davor zu schützen, irgendjemandem auf den Leim zu gehen." In dieser Nacht hatte Draco angenehme Träume. Er hatte für Slytherin den Quidditch-Pokal gewonnen, und als er ihn strahlend hochhielt, erblickte er in der Menge Lucius und Narcissa, die stolz mit dem Kopf nickten und sich mit den Hexen und Zauberern unterhielten, die bei ihnen
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standen. Obwohl er ein halbes Spielfeld entfernt war, konnte er so, wie man es in seinen Träumen tut, hören, wie Lucius und Narcissa deutlich sagten: "Das ist unser Sohn." Der letzte Tag des Jahres war fast so hell und verschneit, wie der vorherige gewesen war. Lucius ließ Draco am darauffolgenden Morgen zuallererst mit seiner Liste von guten Vorsätzen und Herausforderungen anfangen, denen er im neuen Jahr gerecht werden sollte, unter anderem sollte er seine Wronski-Finte vervollkommnen und am Alexandria-Projekt arbeiten. Draco war erleichtert, dass Lucius nicht länger auf seinem "weniger schlafen, mehr arbeiten" herumzureiten schien und nichts dagegen hatte, wenn er jede Nacht volle sieben Stunden schlief. Es war auch eine Überraschung, als Lucius ihm mitteilte, dass er bis auf weiteres nic ht mehr Projizieren solle; während ihrer Bigfoot-Jagd hatte ein Medo-Magier der Inuit Lucius erzählt, dass ihre Forschungen und historischen Bräuche die Projektion verboten, "solange der Schnee wirbelt, da sonst der Geist vom Eis verschlungen werden könnte". Draco war erleichtert – nicht, weil er Angst davor hatte, im Winter zu Projizieren, sondern weil er dadurch bitter benötigte Zeit gewann und in seinen Briefen keine Lügen mehr erzählen musste. Während Lucius in der Redaktion war, schrieb Draco seine Listen fertig, und bevor Lucius nach London zurückkehrte, statteten sie Qualitätszubehör für Quidditchspieler einen Besuch ab, um sich nach einer Trainingsausrüstung umzusehen. Lucius vereinbarte mit ihnen, dass sie Draco ein paar Hanteln und einen Farb-Bludger in die Schule schicken sollten, der nicht so harte Schläge austeilte, sondern stattdessen Farbflecken auf der Robe hinterließ und entwickelt worden war, um einem Sucher beizubringen, echten Bludgern auszuweichen. Bevor er ging, gab Lucius Draco noch eine letzte Anweisung in Bezug auf das AlexandriaProjekt. "Heute morgen ist noch ein Brief von Crouch gekommen. Bevor ich gestern Abend ins Bett gegangen bin, habe ich eine Eule zu seinem Haus geschickt und ihm mitgeteilt, ich hätte mit dir vereinbart, dass du dich darum kümmerst, und heute morgen habe ich eine Eule von ihm bekommen, dass du dir von Moody einen Erlaubnisschein für die Verbotene Abteilung der Bibliothek holen sollst." Wenn Draco nicht gesessen hätte, hätten seine Knie nachgegeben, so dass er auf dem Boden gelandet wäre. Moody freiwillig besuchen? Außerhalb des Unterrichts? Bezweckte Lucius damit, dass er eine Woche auf der Krankenstation verbrachte, weil er wieder und wieder behext worden war? Schließlich gelang es ihm hervorzuwürgen: "Warum denn das?" "Das weiß ich nicht." Draco war überrascht. So etwas hatte er Lucius noch nie sagen hören. "Ich habe aber schon gesagt, dass du es tun würdest", fuhr Lucius fort, "und da möchte ich jetzt auch keinen Rückzieher machen. Das ist schließlich nur eine Lappalie, und du bist zu unwichtig, um eine Staatsaffäre daraus zu machen." "Kann ich nicht ohne Moodys Hilfe anfangen und erst zu ihm gehen, wenn ich nicht mehr weiterkomme?" Lucius warf einen Blick auf den Brief und dann auf Dracos gequältes Gesicht. Er klang resigniert, als er sagte: "Du hast bis Mitte Februar Zeit. Wenn du bis dahin nicht fertig bist, musst du mit Moody darüber reden. Mir gefällt das genauso wenig wie dir, es ist schlimm genug, dass du dich mit diesem Schlammblut im Unterricht herumschlagen musst." Draco verzog das Gesicht und biss sich auf die Lippen. Dann würde er eben in den nächsten paar Wochen besonders hart an dem Projekt arbeiten und es bis zum Stichtag über die Bühne bringen. Als Draco am späten Nachmittag in die Schule zurückkam, war die Silvesterparty der Slytherins bereits in vollem Gange. Professor Snape ließ sich an diesem Abend lieber nicht im Gemeinschaftsraum blicken, da die Schüler in den für alle zugänglichen Bereichen alle möglichen Spiele veranstalteten und auch vor den Privaträumen nicht Halt machten. Es war seit mindestens zwölf Jahren das erste Mal, dass mehr als eine Handvoll Schüler über die Ferien in der Schule geblieben war, und aus diesem feierlichen Grunde hatte Bruce Warrington, einer der Jäger von Slytherin, ein Fest organisiert, das den Silvesterpartys im Haus seiner Eltern so weit
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wie möglich nachempfunden war. Draco war selbst nie dort gewesen, hatte aber von Pansy und Blaise, die im letzten Jahr dabei gewesen waren, davon gehört. Butterbier-Wärmer verbreiteten einen würzigen Duft im Raum, und aus einem Musikomaten, den jemand hereingeschmuggelt hatte, erfüllte Musik die Luft. Die Hexen warfen nacheinander eine leere Flasche durch den Raum und küssten dann den Za uberer, über dessen Kopf sie zum Stehen kam; Draco küsste nicht weniger als drei Mädchen, darunter zwei Siebtklässlerinnen, von denen er nicht einmal wusste, wie sie hießen. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, klammerte Pansy sich an seine Schulter oder fasste nach seiner Hand und zog ihn unter den Mis telzweig, der immer noch neben einem der Kamine hing. Es war so einfach, diesen festlichen Augenblicken nachzugeben. Ein paar Minuten vor Mitternacht begaben sich viele Schüler sieben Stockwerke hinauf zum höchstgelegenen Raum des Hauses, dem privaten Gemeinschaftsraum der Vertrauensschüler, um sich zum neuen Jahr etwas zu wünschen. In den vergangenen Jahren hatte Draco sich praktische Dinge gewünscht – einen besseren Besen, Quidditchsiege, Punkte für Slytherin und mehr Talent beim Projizieren. Dieses Jahr war es schwieriger, sich etwas zu wünschen. Wie könnte er einen Wunsch für ein besseres Verhältnis zu Mad Eye Moody formulieren? Er wusste, dass es gefährlich war, einen Wunsch auszusprechen, der die Art veränderte, in der ein Mensch dachte oder handelte. Doch wenn er das Projekt nicht zu dem von Lucius genannten Zeitpunkt beendete, dann würde er Moody um den Erlaubnisschein bitten müssen, und es konnte nicht allzu problematisch sein, einen Wunsch auszusprechen, der ihm diese eine Frage leichter machen würde. Draco ging zu einem der weniger belagerten Fenster, lehnte sich gegen das Sims und ve rsuchte, sich gegen den Lärm der anderen Slytherins im Raum abzuschotten. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf Moody, wobei er sich vorstellte, wie dieser grausame Mann ihn anlächelte und ihm ein Stück Pergament mit seiner Unterschrift reichte, und formulierte seinen Wunsch. Er hatte seinen Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ein paar Hände auf seinen Schultern ihn herumdrehten und Pansy ihren Mund auf seinen drückte. Instinktiv erwiderte er ihren Kuss, während im Raum laute "Alles Gute zum Neuen Jahr!"- Rufe erklangen. Funkenregen ergossen sich aus Zauberstäben, und ein Dutzend Filibuster-Knallfrösche wurden aus dem Fenster gewo rfen, wo sie explodierten; ein paar der Siebtklässler beschworen Blasen, die nicht zerplatzten und von der Decke herunterschwebten und durch den Raum gekickt wurden. Als Pansy ihn losließ, wünschte er ihr ein glückliches Jahr 1995 und dachte, dass das kommende Jahr vielleicht besser sein würde als das vorige. *** Als der Unterricht wieder begann, lag draußen eine dicke Schneedecke. Die Fenster des Gewächshauses waren so stark beschlagen, dass man in der Herbologiestunde nicht hinaussehen konnte, und da die Vertretung in Pflege Magischer Kreaturen nicht wollte, dass die Zauberer ihrem kostbaren Einhorn zu nahe kamen, wurde während dieser Stunden der kalte Wind mit ein paar Hyazinthblauen Flammen abgehalten. Selbst als Hagrid zurück war, sorgte sein Salamander-Feuer dafür, dass es nicht zu ungemütlich wurde. Draco teilte seine Zeit zwischen der Schule und dem Papyrus-Projekt auf. Er fand in der Bibliothek viele brauchbare Quellen, auch ohne die Verbotene Abteilung zu konsultieren, aber als der Monat Februar immer näher heranrückte, wurde ihm klar, dass er den Erlaubnisschein von Moody vielleicht doch brauchen würde. Er bat Hermione zu versuchen, die benötigten Bücher zu beschaffen, aber sie weigerte sich kategorisch zu helfen und sagte: "Nach all diesen schrecklichen Dingen, die du über Hagrid gesagt hast, werde ich dir auf keinen Fall dabei helfen, Stoff für einen Artikel in deiner Zeitung zu sammeln." Sie war vernünftig genug um einzusehen, dass Rita seine Aussagen verdreht hatte, obwohl er natürlich zugab, dass er so etwas Ähnliches wie das, was sie geschrieben hatte, auch 117
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gesagt hatte. Sie gab zu, dass Rita dafür berüchtigt war, alles zu verdrehen, allerdings ärgerte Draco sich darüber, dass sie seine Kommentare mit dem verglich, was Potter im letzten Nove mber zu Rita gesagt hatte. Rita mochte die Tatsachen verdrehen, aber sie würde nicht das Blaue vom Himmel lügen. Als die Wintermonate vergingen, verfiel Draco, was das Lernen und die Schule anbetraf, wieder in seine Routine von vor den Ferien, allerdings mit einem wichtigen Unterschied. Eine n großen Teil seiner angeblich freien Zeit verbrachte er nun nicht mehr damit, Projizieren zu üben, sondern mit Nachforschungen über Zaubersprüche, die mit Mumien zu tun hatten. Mindestens dreimal wollte er über eine Entdeckung frohlocken oder ein Problem durchsprechen, auf das er gestoßen war, aber er nahm Lucius' Mahnung, mit niemandem ernsthaft darüber zu reden, ernst, jedenfalls so lange, bis ihn die Angst packte, dass er den Termin im Februar nicht würde einha lten können. *** Obwohl Pansy ganz offens ichtlich hoffte, er werde die meisten Wochenenden und Abende mit ihr und ihren Freunden verbringen, teilte er ihr mit, er sei in diesem Halbjahr zu beschäftigt, um viel Zeit mit ihr zu verbringen, obwohl er gern mit ihr zusammen war. Sie weinte ein bisschen und sagte: "Aber wir passen doch so gut zusammen!" Doch Draco konnte nicht noch mehr Verpflichtungen auf sich nehmen und wiederholte lediglich, es liege nicht an ihr, sondern an seinem Stundenplan. Er war so schon überfordert, und es war wichtiger, seine Freizeit mit seinem Gedankenbassin zu verbringen als mit Pansy. Mitte Januar nahm Draco sich nach Zaubertränke einen Augenblick Zeit, um mit Professor Snape zu besprechen, wann sie mit dem Gedankenbassin anfangen könnten. "Ach ja", sagte Professor Snape, als Draco ihn nach der Stunde an sein Versprechen erinnerte. "Lassen Sie mich mal sehen ... Wie wär's mit Dienstagabend acht Uhr? Für den Anfang sollte das Zaubertränke-Klassenzimmer ausreichen ... Ich muss mir genau überlegen, wie wir das am besten angehe n ..." Am Dienstagabend um acht ging Draco durch die Kellergewölbe der Slytherins zum Zaubertränke-Klassenzimmer. Als er dort ankam, war es dunkel und leer, aber er machte mit seinem Zauberstab Licht und wartete nur fünf Minuten, dann tauchte Professor Snape auf, der ein großes Paket dabeihatte, das er auf sein Pult hievte. "Was ist das?", fragte Draco. "Forschungsmaterial und Rohmaterial", sagte Professor Snape und zog seinen Umhang aus. "Ich habe seit Freitag die ganze Zeit die Bibliothek durchkämmt, und zum Glück habe ich das hier zusammenstellen können. Es ist zwar nicht alles, was Sie brauchen werden, aber es ist ein Anfang. Ich kann alles in meinem Büro unterbringen, wenn wir es gerade nicht brauchen, hinter der Tür ist ein Schrank, an den Sie leicht herankommen." "Gut", sagte Draco und versuchte so zu klingen, als sei er überhaupt nicht ängstlich und lediglich froh, dass es Professor Snape gelungen war, ihm den Beginn dieses Projekts so leicht zu machen. Er wusste nicht recht, warum er nervös war – vielleicht war es nur die Vorstellung, so fortgeschrittene Magie hinter Lucius' Rücken zu praktizieren. "So ..." Professor Snape hatte seinen Zauberstab hervorgeholt und machte Draco ein Ze ichen, dasselbe zu tun. "Bei den Zaubersprüchen und dem Zaubertrank, die ich Ihnen hierfür beizubringen versuche, handelt es sich um höchst fortgeschrittene Magie, Draco – viel, viel fortgeschrittener als das, was in den O.W.L.s verlangt wird." "Wie funktioniert es?", sagte Draco nervös. "Nun, wenn es einwandfrei funktioniert, dann wirken die Zaubersprüche und der Trank zusammen mit dem Amulett, das Sie eigenhändig mit Ihrem Zauberstab erscha ffen müssen", sagte Professor Snape, "und es entsteht ein Bassin wie das, das Sie in meinem Büro gesehen haben, in das eine begrenzte Anzahl Ihrer Gedanken hineinpassen. Sobald eine Erinnerung im Gedanken118
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bassin ist, werden Sie sie untersuchen können, und das Gedankenbassin selbst wird die anderen Erinnerungen, die Sie hineingetan haben, vermischen, um Ihnen dabei zu helfen, Entscheidungen zu treffen. Sie müssen auch Ihren Zauberstab behandeln, aber das machen wir erst ganz zum Schluss. Sind Sie bereit anzufangen?" Draco nickte, und Professor Snape griff nach dem Deckel der Kiste und machte sie auf. Ein Stapel Bücher, Unterlagen und Fläschchen flog heraus, und alles landete ordentlich aufgereiht auf dem Tisch. Professor Snape sagte: "Haben Sie das Buch von Guilio Camillo gelesen, das ich Ihnen über Weihnachten geschickt hatte?" "Natürlich! Da stand drin, dass ein Gedankenbassin aus acht Teilen besteht. Der einfachste Teil ist das Bassin aus Speckstein, der so porös ist, dass die gesammelten Erinnerungen darin herumschwimmen können, aber andererseits hart genug, um sie daran zu hindern sich aufzulösen, und es muss vom Zauberstab desjenigen Zauberers ausgehöhlt werden, der es erschafft. Außerdem braucht man ein Stück Elfenbein, das man sechzig Tage lang mit sich herumgetragen haben muss und das eine Erinnerung liefert, die so gut ist wie die eines Elefanten, eine Blüte vom chinesischen Ginkgo-Baum, ein bisschen zerstoßenen Rosmarin, der zu gleichen Teilen mit Weinraute gemischt wurde, und vier Zauberformeln und Zaubersprüche, Simonides, Recordatio, Benevolo und Armaritudo. Der letzte Zauberspruch ist für den Zauberstab, damit man damit die Erinnerungsfetzen aus seinem Gedächtnis holen kann." Draco ging zu einem der Pulte und lehnte sich dagegen. "Haben Sie gesehen, dass die Blüte zur Frühjahrs- oder Sommersonnenwende gepflückt werden muss?" "Nein, davon stand bei Camillo nichts. Darin ging es mehr darum, wie die Leute ihre Gedankenbassins benutzen und nicht, wie sie sie zusammenbauen. Das heißt, wir können frühestens im April damit fertig sein." Draco fühlte eine Welle der Enttäuschung. Er hatte gehofft, dass es nicht so lange dauern würde. "Es wird noch länger dauern. Wo wollen Sie heutzutage Elfenbein herbekommen?", fragte Professor Snape streng. "Neues Elfenbein ist in der magischen Welt auf dem freien Markt nicht erhältlich, auch nicht in der Muggelwelt, da es von einer vom Aussterben bedrohten Art stammt. Falls Sie nicht vorhaben, Professor Dumbledores Cembalo zu missbrauchen, werden Sie in der Nähe des Schlosses kaum welches auftreiben, aber vielleicht gibt es bei Ihnen zu Hause welches." "Aber ich fahre erst im Sommer wieder nach Hause!", rief Draco. In der Woche der Osterferien war Lucius bei einer Tagung des Propheten, und er hatte vor, wieder in der Schule zu bleiben. Er hatte ein paar Sachen aus Elfenbein zu Hause – eines seiner Schachspiele war aus Elfenbein, aber Lucius würde nie erlauben, dass man es ihm in die Schule schickte. Er konnte es aus dem Herrenhaus schmuggeln, aber erst in ein paar Monaten. "Sie sehen aus, als bräuchten Sie eine Aufmunterung. Hier ..." Professor Snape gab ihm einen Schokofrosch. "Essen Sie das, während wir über eine Lösung diskutieren. Ich hatte geglaubt, Sie würden über Ostern nach Hause fahren, aber so wie es aussieht, werden wir nicht vor Juni fertig. Wir können bis zum Ende des Schuljahrs alles vorbereiten und die Blüte zur Sommersonnenwende pflücken. Sie können über die Sommerferien alles mit nach Hause ne hmen, dort das Elfenbein besorgen und in der ersten Juliwoche den Zauberspruch allein sprechen. Die Blüten wachsen in Hogsmeade wild, und ich werde dafür sorgen, dass sie zur richtigen Zeit gepflückt wird. Sie darf sowieso nicht älter als einen Monat sein, wenn man dem Gedankenbassin den letzten Schliff gibt." "Es könnte schlimmer sein", murmelte Draco und biss dem Frosch den Kopf ab. "Es könnte ein Jahr dauern." "Oh, ich bezweifle, dass es sich so lange hinziehen wird", sagte Professor Snape. Sie sortierten die einzelnen Stapel, und Draco nahm den Rosmarin, damit er wenigstens anfangen konnte. Zwanzig Minuten später verließ er das Klassenzimmer, ging durch den Korridor und bog um eine Ecke, dann machte er einen Umweg hinter eine Rüstung, ließ sich auf 119
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und bog um eine Ecke, dann machte er einen Umweg hinter eine Rüstung, ließ sich auf ihrem Sockel nieder und aß den letzten Schokofrosch auf. Er dachte an die viele Zeit, die er hiermit verbringen würde und dass er seine Anstrengungen eigentlich auf die vielen Aufgaben, die Luc ius ihm erteilt hatte, konzentrieren sollte. Aber das hier war irgendwie eine andere Art von Projekt. Hatte Lucius ihm nicht aufgetragen, mit Moody fertig zu werden, ganz egal, wie? Wäre dies nicht ein großer Schritt auf dem Weg dorthin? Als er darüber nachdachte, was Professor Snape ihm gesagt und gegeben hatte, fühlte er sich ausgelaugt und seltsam leer, obwohl er doch eigentlich so voller Schokolade war. *** Gegen Ende Februar stand Draco eines Montagmorgens auf und zog sich so unaufmerksam an, dass er erst nach einer ganzen Weile bemerkte, dass er im Begriff war zu versuchen, statt seiner Socke seinen Hut über den Fuß zu ziehen. Als er schließlich all seine Sachen an den richtigen Körperteilen hatte, rannte er davon um nachzusehen, ob er Hermione in der Bibliothek finden würde, aber wegen seiner Probleme beim Anziehen und anderer organisatorischer Verzögerungen hatte er sie verpasst, deshalb ging er in den Großen Saal, wo er sie am GryffindorTisch erspähte, wo sie mit Potter und Weasley beim Frühstück saß, die berüchtigt dafür waren sie immer genau dann aufzuhalten, wenn Draco mit ihr reden musste – der Teufel sollte sie holen. Da Draco sich nicht wohl genug fühlte um zu essen, wartete er, bis Hermione ihren letzten Löffel Porridge hinuntergeschluckt hatte, dann teilte er ihr durch verschiedene komplizierte Handze ichen und Kopfbewegungen mit, dass er draußen mit ihr reden wollte. Aufgrund des kalten Wetters konnte man sich draußen vor dem Schloss problemlos treffen, da sich kein Schüler ohne einen triftigen Grund dort aufhalten würde. Gemeinsam schmiedeten sie einen Plan, wie Draco es am besten anstellen könnte, sich Moody in seiner Sprechstunde am späten Nachmittag zu nähern. Normalerweise mussten die Schüler vor dem Büro eines Lehrers ein Formular unterschreiben, wenn sie einen Termin in seiner Sprechstunde wollten, aber Draco und Hermione hatten entschieden, es sei unklug, Moody vorher wissen zu lassen, dass sie zu ihm wollten. Doch Moodys Reaktion, als er Draco in der Tür stehen sah, machte deutlich, dass er ihn schon erwartet hatte. Sobald er drinnen war, ließ Draco seinen Blick schnell über eine Reihe Gegenstände schweifen, von denen er annahm, dass Moody sie während seiner Zeit als Auror benutzt hatte. Einige davon waren ihm vertraut, weil Draco ebensolche Vorrichtunge n in Lucius' Sammlung gesehen hatte, zum Beispiel der große gläserne Drehkreisel auf seinem Schreibtisch, der voller Sprünge war, aber andere waren ausgesprochen merkwürdig. Er bemerkte in einem Spiegel ihm gege nüber ein verschwommenes, schattenhaftes Bild seiner selbst, aber es war irgendwie doch nicht sein Spiege lbild, und dann war da ein Verschwiegenheits-Sensor, der nur ein bisschen kleiner war als der, den Lucius im Alkoven seiner Räumlichkeiten im Herrenhaus hatte. Er hatte jedoch keine Zeit, Professor Moody nach seinem Spiegelbild zu fragen, da sie anderes zu tun hatten. Er umklammerte Crouchs Brief an Lucius, holte tief Luft und hob zu seiner Frage an. "Bitte, Sir", sagte er und hielt sich dabei an das Skript, das sie am Vormittag ve rfasst hatten, "ich bin vom Ministerium gebeten worden ..." "Du lügst, Junge", unterbrach Moody ihn, noch bevor er den Satz beendet hatte. "Das Ministerium würde dich niemals bitten, irgendwas zu tun, für die bist du weniger als ein Stück Fliegendreck auf ihrem Tisch." Er saß schweigend da und starrte Draco mit seinem entsetzlichen Auge finster an. "Aber Sir, ich habe hier einen Brief von Mr. Crouchs Abteilung mit einer Anweisung, und man hat mir gesagt, ich solle Sie um Hilfe bitten", sagte er sehr schlicht und rasch, wobei er so viele Worte wie möglich heraussprudelte, bevor Moody ihn wieder unterbrechen konnte.
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"Bist du derjenige, der über diese Mumien recherchiert?" Moody streckte die Hand aus, damit Draco ihm den Brief gab, und richtete sein normales Auge darauf, um ihn zu lesen, während das magische weiterhin Draco fixierte. Der Lehrer lachte beim Lesen kurz und rau auf, und Draco versuchte, ruhig und gelassen zu wirken, während er wartete. Er kannte selbst jedes Wort, das darin stand, aber Moody ließ sich keine Reaktio n auf das, was er las, anmerken. Allerdings war sein Gesicht so vernarbt und schrecklich, dass Draco sich fragte, ob er überhaupt in der Lage war, eine sanfte oder freundliche Miene aufzusetzen. Moody rollte das Pergament wieder zusammen, steckte es in seine Schreibtischschublade und stand auf, wobei er stöhnend sein Holzbein ausstreckte, dann fing er an, im Zimmer auf und ab zu gehen. "Man hatte mir gesagt, dass ein Schüler mich auf dieses Projekt ansprechen würde", sagte er verächtlich, "aber ich hatte nicht erwartet, dass Sie das sein würden. Der Gedanke, es Ihnen anzuvertrauen, macht mich krank, aber in Anbetracht dessen, woher die Anweisung stammt, und dass man dort überzeugt ist, Ihnen eine so wichtige Aufgabe anvertrauen zu können ..." Er verstummte, dann kam sein nächster Satz so schroff heraus wie immer. "Haben Sie mit irgendjemandem über Ihre Recherchen gesprochen?" Draco versicherte ihm schnell, er habe, seit er damit bego nnen hatte, nur mit Lucius darüber gesprochen. "Und ich nehme an, dass er mit Mr. Crouch darüber gesprochen hat", fügte er hinzu und warf Moody, der die Kiefer fest zusammenpresste, einen Blick zu; es sah so aus, als müsse er sich beherrschen, um Draco nicht auf der Stelle zu verfluchen. Draco fragte sich kurz, warum er seinen eigenen Zauberstab noch in der Tasche hatte. Er hätte ihn in der Hand behalten sollen, als er hereingekommen war, er sollte eigentlich seine eigene Art von ständiger Wachsamkeit praktizieren, vor allem, wenn Moody in der Nähe war. Moody trat wieder hinter seinen Schreibtisch und lachte noch einmal schrill, wobei sein magisches Auge sich so rasch drehte, dass Draco allein vom Zusehen schlecht wurde. "Und, können wir Mr. Crouch vertrauen, sein Geheimnis zu wahren? Schließlich ist er wirklich gut darin, wichtige Dinge unter Verschluss zu halten", murmelte er. Moody zog aus einer Ablage auf seinem Tisch Pergament und eine Feder und fing an zu schreiben; bei dem kratzenden Geräusch lief es Draco kalt über den Rücken. "Sie bekommen von mir, worum Mr. Crouch mich gebeten hat, das ist das Wenigste, was ich in seinem gegenwärtigen Zustand für ihn tun kann. Sie haben gelesen, dass er krank ist und sich für eine Weile hat beurlauben lassen? Ich bin überzeugt, die Ergebnisse ihrer Arbeit werden seine Stimmung heben, während er sich erholt." Auf Moodys Gesicht war plötzlich ein geistesgestörtes Lächeln erschienen. Draco fiel nichts ein, was er darauf sagen konnte und versuchte zurückzulächeln, in der Hoffnung, Moody werde ihn bald entlassen, aber seine Miene versteinerte sich, als Moody weitersprach. "An diesen Erlaubnisschein sind ein paar Bedingungen geknüpft. Erstens will ich jede Woche einen zwölf Zoll langen Bericht, und zweitens werden Sie mir, wenn er fertig ist, eine exakte Kopie davon bringen, bevor Sie ihn Ihrem Vater schicken." Draco machte große Augen, es war ihm unbegreiflich, warum Moody ihn so einfach davonkommen ließ. Er nickte und streckte die Hand nach dem Pergament aus, das Moody zusammengerollt und versiegelt hatte, damit er es Madam Pinch geben und anfangen konnte. Obwohl Moody bisher nicht gemein zu ihm gewesen war, fühlte er sich in diesem Büro immer noch äußerst unwohl und wollte so schnell wie möglich in den vertrauten Teil der Schule zurück. Doch anstatt ihm die Pergamentrolle zu geben, schoss Moodys runzlige Hand vor und schloss sich um Dracos Handgelenk. Mit leiser, scharfer Stimme sagte er: "Ich kann sehen, was Sie denken, Malfoy. Glauben Sie ja nicht, Sie werden im Unterricht von Ihrer Funktion beurlaubt, nur weil ich Ihnen diesen Erlaubnisschein für die Bibliothek gegeben habe. Sie spielen dieser Tage eine höchst wichtige Rolle, und es ist an mir dafür zu sorgen, dass Sie ihr auch gerecht werden." Draco versuchte sich loszumachen, aber Moody war zu stark, so dass er sich nur gegen den Schreibtisch stützen konnte, um nicht vornüber zu fallen. Moodys Gewäsch hatte weder Hand noch Fuß – wovon redete der Lehrer da eigentlich? 121
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Er hatte nicht gesehen, wie er es gemacht hatte, aber plötzlich hatte Moody seinen Zauberstab in der Hand und hielt ihn direkt zwischen Dracos Augen. Draco versuc hte sich zu befreien; sie waren hier ja nicht im Unterricht, und es waren keine anderen Schüler dabei, deren Anwesenheit Moody vielleicht davon abhalten würde, etwas wirklich Gemeines zu tun, etwas, von dem er sich wirklich nicht erholen konnte. Er wunderte sich kurz über seine eigene Dummheit, ohne einen anderen Schüler oder wenigstens eine Eule in Moodys Büro gegangen zu sein. Moody dachte ganz eindeutig darüber nach, was er Draco antun könnte, und einen Augenblick trafen Dracos graue Augen sich mit Moodys finster starrendem menschlichen Auge. Er holte tief Luft und versuchte, sich auf das Schlimmste gefasst zu machen, als sie beide zusammenfuhren, weil es an der Tür klopfte. Innerhalb einer Sekunde hatte Moody dem Besucher vor der Tür: "Augenblick!" zugerufen und Draco vom Tisch zurückgeschubst, so dass er hinfiel. Er riss sich schnell zusammen, als Moody ihm die Pergamentrolle in die Hand drückte, ihn anzischte, jeden Montag eine versiegelte Pergamentrolle in seinen Eulenpostkasten zu werfen und ihn dann zur Tür hinausstieß. Draco raste an dem Ravenclaw-Schüler vor Moodys Tür vorbei und rannte so schnell er konnte davon, um so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und Moodys Büro zu bringen. Erst als er bei der Bibliothek ankam und Madam Pince Moodys Pergament gab, dachte er darüber nach, wie viel Glück er gehabt hatte, Moody zu entkommen. Warum hatte der Wunsch, den er an Silvester ausgesprochen hatte, nicht funktioniert? Seine Stunden waren in diesem Halbjahr nicht erträglicher geworden, allerdings waren sie auch nicht schlimmer als vorher, und Draco war ganz einfach an elende Donnerstage und rege lmäßige Gänge zur Krankenstation gewöhnt, wo er sich heilen und die Wirkung der Flüche aufheben ließ. Damit kam er klar, aber es hätte leichter sein müssen, den Erlaubnisschein für die Bibliothek von dem Lehrer zu bekommen; was stimmte nur nicht mit seiner Fähigkeit, sich etwas zu wünschen? *** Draco machte sich sofort an die Lektüre der Bücher, die er mit Moodys Erlaubnis aus der Bibliothek geholt hatte. Am Morgen der zweiten Aufgabe war er so vertieft in die Beschreibung eines Verstecks, in dem jüngst zweitausendzweihundert Jahre alte griechische Zauberstäbe entdeckt worden waren, dass er das Buch mit zum See nahm. Er hatte ge hört, dass diese Aufgabe ziemlich langweilig werden würde, obwohl niemand so richtig wusste, worin sie bestand, außer dass sie etwas mit dem See zu tun hatte; er hatte jedenfalls keine Lust, zwei Stunden lang tatenlos draußen in der Kälte herumzusitzen. Pansy hatte bereits verkündet, sie werde nicht hingehen, weil der Wind ihr Haar und ihren Teint ruinieren würde, und es sei schon schlimm genug, dass Pflege Magischer Kreaturen im Freien stattfände. Warum sie das störte, wohingegen sie keinerlei Probleme damit zu haben schien, bei Sturm in Hogsmeade herumzulaufen, war ihm ein Rätsel, auf dessen Lösung er aber eigentlich nicht viel Zeit verwenden wollte. Er schloss sich einer Gruppe Slytherins an, die wenigstens hingehen wollten um zu sehen, worum es bei dieser Aufgabe ging, und lief mit ihnen durch die kalte Luft zur Tribüne, wo sie sich in die letzte Reihe setzten. Dank Kissen- und Wärme-Zaubern waren die Sitze wenigstens bequem, also lehnte er sich gegen die Sperre und steckte seine Nase in sein Buch, bis er in seiner Konzentration gestört wurde, weil ein Raunen durch die Menge ging. Es begann in der Ecke der Ravenclaws und verbreitete sich von dort aus unter den Gryffindors, Hufflepuffs und dann von Eloise aus unter den Slytherins. Roger Davies war gerade gekommen, und er wusste, worin die Aufgabe bestand und wer außer den Champions noch daran beteiligt war. Die Champions mussten sich in den See begeben und etwas holen, das ihnen genommen worden war, aber es hatte sich herausgestellt, dass das "Etwas" in Wirklichkeit ein "Jemand" war, und dass in diesem Augenblick drei HogwartsSchüler und Fleurs kleine Schwester im See waren. Erst als Chris Kratt Roger damit aufzog, dass er nicht Fleurs "Jemand" war, dämmerte es Draco, worüber sie eigentlich sprachen. 122
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Ein beunruhigender Gedanke durchfuhr ihn, und er blickte durch die Menge zu den Gryffindors hinüber. Er konnte Hermione nirgends erblicken, und als Potters Freundin und so weiter sollte sie eigentlich dort sein. "Roger", fragte er, "weißt du, wen die anderen Teilnehmer retten müssen?" "Klar, Cedric muss Cho retten, schließlich sind sie seit Jahren zusammen, und er hat keine Geschwister. Potter, der ein Waisenkind ist, muss seinen Ersatzbruder raufholen, den jüngsten Weasleyjungen, und ich glaube, weil Krums Heimatstadt zu weit entfernt ist, haben sie es nicht geschafft, jemanden herzuholen, im Gegensatz zu Fleurs Schwester, also haben sie beschlossen, dass er das Mädchen retten soll, mit dem er beim Weihnachtsball war. Ich erinnere mich nicht mehr an ihren Namen, aber es ist die mit den schönen Haaren." Viktor sollte Hermione retten? Wie konnten die Schiedsrichter das einfach so beschließen? Die Aufgaben waren dazu da, um die Champions auf die Probe zu stellen, nicht, um andere Schüler in Gefahr zu bringen! Viktor war nichts als ein nutzloses Gör mit einem Spatzenhirn, das berühmter war, als es seinem Seelenheil zuträglich war – er würde es nie schaffen, Hermione in der vorgeschriebenen Zeit zu retten. Draco sprang auf, ließ sein Buch fallen, schnappte sich Gregs Omniokular und fing an, das Wasser abzusuchen, als ob er unter die Oberfläche blicken und sehen könnte, wo Hermione gefa ngen gehalten wurde. Natürlich wusste er nicht, was er tun konnte, um sie zu retten, falls Viktor es vermasselte. Konnte er sich irgendwo verstecken, dann in den See Projizieren und sie wenigstens finden? Er hatte nie zuvor versucht, sich während einer Projektion unter Wasser zu begeben, und Lucius' Ermahnung, nichts zu unternehmen, bevor es wieder wärmer wurde, klang ihm in den Ohren, aber es war vielleicht die einzige Wahl, die er hatte. Als er durch sein Omniokular blickte, fragte er sich, warum Hermione sich damit einverstanden erklärt hatte, noch dazu für Viktor. Natürlich verbrachten sie im Moment in der Bibliothek ziemlich viel Zeit zusammen, das stimmte schon, aber sie verbrachte dort auch Zeit mit Draco, und das hieß noch lange nicht, dass sie deshalb sein "Jemand" war. Vielleicht hatte sie sich freiwillig gemeldet – es sähe Hermione durchaus ähnlich, sich als Versuchskaninchen für eine experimentelle Zauberformel zu melden, wahrscheinlich dachte sie, sie könnte aus der Erfahrung etwas lernen oder Extrapunkte oder so was einheimsen. Er wandte sein Omniokular dem Schiedsrichtertisch zu und hoffte für den Fall, dass er doch selbst in den See musste, mit dem Zoom vielleicht ein paar Aufzeichnungen erkennen zu können, wo die Geiseln gefangen gehalten wurden. Dann, als er am Schiedsrichtertisch plötzlich Dumbledore erblickte, wurde ihm mit einer Welle der Erleichterung klar, dass Hermione natürlich nichts passieren würde. Dumbledore würde drei Schüler und ein kleines Mädchen niemals ohne irgendeine tolle Schutzmaßnahme in das eiskalte Wasser schicken – das wusste er. Draco konnte Dumbledore persönlich zwar nicht besonders gut leiden, aber er brachte genug Bewunderung für das Talent des Direktors in Transfiguration und Zauberformeln auf, um sicher zu sein, dass es nicht zu schief gehen konnte, ganz egal, was sie mit Hermione gemacht hatten. Diesen Gedanken fand Draco so beruhigend, dass er das Omniokular beiseite legte, nach seinem Buch suchte und dann zuschaute, vermutlich aufmerksamer, als er es getan hätte, wenn Hermione nicht beteiligt gewesen wäre. Schließlich stellten die Champions sich am Seeufer auf – alle außer Potter, der, wie es hieß, vermisst wurde. Sekunden später tauchte er jedoch auf, und das Gemurmel der Menge, was wohl mit Weasley, seiner Geisel, passieren würde, wenn er überhaupt nicht erschien, verstummte schlagartig. Sie sahen zu, wie Viktor, Diggory und Fleur ihre Zauberformeln sprachen, ihre Transfigurationen ausführten und dann unter Wasser verschwanden, und kicherten ungläubig, als Potter nichts dergleichen tat und dann plötzlich unter den Wellen verschwand. Jetzt würde der langweilige Teil beginnen, dachte Draco, und wandte sich deshalb wieder seinem Buch zu. Alle paar Minuten erschien auf der Oberfläche eine Boje mit einem Lagebericht eines der Unterwasserwächter – drei Ministeriumsbeamte aus der Abteilung für Magische Spiele waren mit Marinokularen im See stationiert, und sie verkündeten den Zuschauern auf diese Art 123
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
und Weise, ob es den Teilnehmern gelang, gewisse Hindernisse zu überwinden, zum Beispiel die Grindylows und den Würgetang. Ludo Bagman, der als Kommentator fungierte, las der Menge die Botschaften vor; es gab Beifall, Stöhnen und manchmal Buh-Rufe, dann fing das Publikum wieder an, sich zu unterha lten. Nachdem er erwähnt hatte, dass Fleur bereits ganz am Anfang nicht weiterkam, waren die Beauxbatons-Schüler unglücklich, und auch bei den Ravenclaws war die Stimmung um einiges gedämpfter. Draco sah, wie Davies den See mit seinem eigenen Omniokular nach einem Zeichen absuchte, dass Fleur mit oder ohne Gabrielle zur Oberfläche zurückgekehrt war. Wenn er sein Buch nicht dabei gehabt hätte und Hermione nicht dort unten gewesen wäre, überlegte Draco, wäre er längst wieder zum Schloss hinaufgegangen. Ungefähr eine Stunde nachdem Bagman den Startpfiff gegeben hatte, fingen die Hufflepuffs endlich an zu jubeln, und die Ravenclaws wurden etwas munterer, als Diggory mit seiner Freundin auf den Schultern ungefähr zwanzig Meter vom Ufer entfernt auftauchte. Ein paar Minuten später erschien etwas, das irgendwie entfernt wie Viktor aussah und zog eine immer noch schlafende Hermione ans Ufer, und die Durmstrang-Schüler und die meisten Gryffindors tobten, allerdings nicht so heftig wie die Hufflepuffs. Draco unternahm keinen Versuch zu verbergen, wie erleichtert er war, Hermione wieder sicher an Land zu sehen, da er es damit erklären konnte, wie froh er war, Viktor wieder in Siche rheit zu wissen. Es waren so viele Leute um sie herum, dass er an diesem Tag gar nicht versuchte, mit ihr zu reden. Jetzt, da sie nicht mehr im Wasser war, hatte Draco keinen Grund mehr zu bleiben, und er machte sich nicht die Mühe, bis zum offiziellen Ende der Aufgabe zu warten, sondern machte sich auf den Weg zurück zum Schloss, gerade als Fleur aus dem See geholt wurde, und ve rbrachte den Rest des Tages über seinen Büchern. Am nächsten Morgen beim Frühstück brachte Kira ihm einen Brief und ein Päckchen von Lucius, außerdem eine Pergamentrolle vom Propheten. Nachdem er Lucius' Nachricht gelesen hatte, erbrach er das Siegel und fragte sich, wer bei der Zeitung ihm wohl etwas schickte; gelegentlich schickte Lucius' Sekretärin ihm auf seine Anweisung hin Sachen, aber sie benutzte immer sein Siegel. Das hier war aber nicht so gekennzeichnet. Als er den Inhalt überflog, fühlte er, wie ihm das Blut in den Adern gefror. Er saß wie erstarrt auf seinem Stuhl und war nur noch in der Lage, seine Augen über die Seite schweifen zu lassen. Er konnte nicht glauben, was er da las. Den ersten Absatz würden einige Leute beunruhigend finden, aber falls irgendein Redakteur bei der Ze itung den zweiten sah, könnten die Folgen fatal sein. Er las: Miss Granger, ein unscheinbares, aber ehrgeiziges Mädchen, scheint eine Vorliebe für berühmte Zauberer zu haben, die Harry allein nicht befriedigen kann. Zwei Jahre lang hat sie die ungeteilte Aufmerksamkeit von Draco Malfoy, dem Erben einer der größten Verlagsgruppen weltweit, genossen, aber anscheinend begehrt Miss Granger mehr als Harrys Ruhm und Dracos Vermögen. Seit Viktor Krum, der Sucher der bulgarischen Quidditch-Mannschaft und Held der letzten Weltmeisterschaft, in Hogwarts eingetroffen ist, hat Miss Granger die drei Jungen gegeneinander ausgespielt. Krum, der nicht verhehlt, in die falsche Miss Granger verknallt zu sein, hat sie bereits dazu eingeladen, ihn in den Sommerferien in Bulgarien zu besuchen und betont, er habe "noch nie etwas Ähnliches für ein anderes Mädchen gefühlt". Dennoch hat Miss Granger Krum beim Weihnachtsball – obwohl sie mit ihm dort war – sitzen gelassen und allein im Großen Saal herumirren lassen, während sie draußen vor den Mauern des Schlosses mit Draco Malfoy poussiert hat, ungeachtet des Kummers, den sie damit Pansy Parkinson zufügte, einem hübschen, temperamentvollen Mädchen, das keine Ahnung davon hatte, dass ihr Tanzpartner in den Armen einer anderen Frau lag.
Der Brief, der dem Entwurf des Artikels beilag, las sich wie die Nachricht eines Erpressers. "Falls du nicht möchtest, dass dies hier in der Redaktion mit spitzer Feder geschrieben und den 124
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Lesern bekannt wird, lass am Sonntag das Mittagessen ausfallen und triff dich mit mir auf der Seite der Slytherins unter der Quidditch-Tribüne." Unterschrieben war es erwartungsgemäß mit "Rita Skeeter". Obwohl er es nicht gern zugab, auch nicht vor sich selbst, wusste Draco, was Angst war. Sie überkam ihn jedes Mal, wenn er Moodys Klassenzimmer betrat und schoss ihm in die Glieder, wenn er an einem Dementor vorbeikam. Und während er vor Lucius Malfoy stand, kostete es ihn jede nur mögliche körperliche und geistige Anstrengung, sie zu unterdrücken. Er wusste jedoch, dass Lucius – falls er diesen Artikel jemals zu Gesicht bekam – sich nicht einmal die Mühe machen würde, Dracos Entschuldigungen oder Erklärungen zuzuhören. Lucius würde ihn schlicht und einfach umbringen. Natürlich nur, wenn er davon ausging, dass Pansy ihn nicht vorher umbrachte. Irgendwann hatte er ein paar Slytherin-Mädchen dabei zugesehen, wie sie draußen Muggel-Kampftechniken geübt hatten, weil sie meinten, das sei "gut für die Figur", und Pansy war durchaus in der Lage, einen Quintaped mit einem Fußtritt in die Nordsee zu befördern. Doch ganz egal wie, tot wäre er auf jeden Fall. Für den Rest des Tages nahm Draco fast nichts und niemanden wahr. Er wich nicht von seiner üblichen Wochenend-Routine ab, obwohl er das AG-Treffen am Sonntagnachmittag ausfa llen ließ, spielte im Gemeinschaftsraum mit Pansy Karten, aß mit Vin und Greg zusammen und vergrub sich an einem Tisch des Gemeinschaftsraums bis in die frühen Morgenstunden in seine Bücher. Er konnte sich zwar nicht wirklich auf die Arbeit konzentrieren, wusste jedoch, dass er auch nicht würde schlafen können, wenn er hinaufging. Er versuchte herauszufinden, welche Fragen Rita ihm stellen würde, und was er tun oder sagen konnte um sie zu überzeugen, ihren Artikel vor dem Abgabetermin umzuschreiben. Irgendwann gegen fünf Uhr morgens glitt er die Treppe hinauf, kroch ins Bett und zog die Vorhänge fest zu. Er saß den ganzen Morgen nur herum und nahm keinerlei Notiz von seinen Mitbewohnern, als sie zum Frühstück gingen und von einem Besenrennen um den See herum zurückkamen. Eine halbe Stunde vor dem Mittagessen ging er seit mehr als einem Tag zum ersten Mal hinaus, um sich mit Rita zu treffen. Der Himmel war strahlendblau, und die Luft war frisch und klar, was ihm jedoch im Prinzip gar nicht auffiel. Rita wartete mit einem triumphierenden Ausdruck im Gesicht bereits auf ihn. Sobald er in Hörweite war, sagte sie: "Du hast also Sinn für Praktisches und bist außerdem vernunftbegabt. Welch angenehme Überraschung. Malfoys entwickeln diese Fähigkeiten nämlich normalerweise nicht, bevor sie vierzig sind." Während er stundenlang über Rita, ihren Artikel und über Lucius nachgedacht hatte, war Draco zu dem Schluss gelangt, sich stark und argumentativ zu geben, mit anderen Worten, informationshungrig. Er wollte, dass sie ihre Beweggründe offen legte. "Kommen Sie endlich zur Sache Rita, Sie haben mich doch nicht hierher bestellt, um mir Unterricht in Familiengeschichte zu erteilen. Was wollen Sie?" "Ich denke, das liegt auf der Hand. Als wir uns das erste Mal unterhalten haben, hast du mir Informationsbröckchen hingeworfen, die aber nicht sehr brauchbar waren. Dumbledore hat Hagrid und die restlichen Angestellten so fest im Griff, dass das Dutzend Briefe von Eltern, die seine Entlassung gefordert haben, auf geheimnisvolle Weise verschwunden ist. Wir brauchen ein paar solide Informationen über Hogwarts, und zwar schnell. Meine Leser wollen noch einen Artikel über Potter, aber dein Vater will nicht, dass ich noch mehr Reklame für ihn mache. Er will etwas, das dem Wunderknaben und seinen Freunden und Höflingen so richtig auf die Nerven geht und die Leser dazu bringt, sich ein bisschen über ihn zu ärgern, aber er will auch nicht, dass ich zu hart zuschlage. Ich kann Potter noch nicht direkt aufs Korn nehmen. Die ganz oben meinen, sie hätten ihre Gründe, und wenn ich will, dass der Artikel erscheint, dann muss ich mich an ihre Vorgaben halten." "Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet", erwiderte Draco. "Sagen Sie mir, was Sie von mir wollen, oder ... oder ich ..." 125
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
"Du wirst gar nichts tun, weil du nicht willst, dass der Entwurf, den ich dir geschickt habe, jemals das Licht der Welt erblickt. Was ich will, ist eine gute Informationsquelle. Hier sind meine Bedingungen, hör gut zu: Ich möchte, dass du und deine Freunde mir jegliche brauchbare Information zuspielt, und ich will, dass vor allem du mir neue Themen erschließst. Ich kann schlecht zu irgendeinem dieser Kinder fliegen und sagen: 'Summ, summ, erzählt mir alle Neuigkeiten, damit ich in der Zeitung darüber berichten kann.' Ich brauche einen Aufhänger, und den werde ich von dir bekommen. Du wirst ein paar auserwählten Persone n verraten, dass ich ein Animagus bin, und dich jeden Tag an einem vorher vereinbarten Ort mit mir unterhalten, es sei denn, es regnet, oder es ist ein Hogsmeade-Wochenende, und du wirst einen Mitschüler mitbringen, der mir ebenfalls interessante Tipps geben kann. Deine Freundin Pansy hat ein offenes Ohr für Klatsch, du kannst es ihr also erzählen, und wenn du glaubst, dass die beiden Schlägertypen, die dir nicht von der Seite weichen, den Mund halten können, kannst du es ihnen auch erzählen. Alle anderen, die du zu unseren Treffen mitbringst, werden lediglich einen kleinen Käfer herumfliegen sehen. Sorg nur dafür, dass keiner versucht mich zu erschlagen, sonst verwandle ich mich nämlich zurück und breche jemandem sämtliche Knochen im Leib." Das waren wenige r Bedingungen, als Draco erwartet hatte. "Ist das alles? Werden Sie dafür den Artikel fallen lassen?" "Nicht ganz", sagte sie knallhart. "Ich werde den Artikel nicht fallen lassen, sondern dich lediglich nicht darin erwähnen. Wenn es eine Dreierbeziehung ist, sieht es so aus, als sei sie gerissen. Wenn du ins Spiel kommst, ist sie nur noch eine Schlampe – dabei kommt keiner von euch besonders gut weg. Außerdem kann es sein, dass ich dich ab und zu um ein paar Gefallen bitten werde. Schließlich hindert mich nichts daran, irgendwann eine Fortsetzung zu schreiben, wenn ich dazu gezwungen werde", fügte sie hinzu. Draco war klar, dass sie ihn mit Hermione beim Weihnachtsball gesehen haben musste, und er wusste, dass sie die Informationen, die sie an jenem Abend gesammelt hatte, jederzeit benutzen konnte. Lucius würde sich nicht weniger darüber aufregen, wenn er es erst in sechs Monaten oder sechs Jahren herausfand. Welche Wahl hatte er schon, wenn er es realistisch betrachtete? Wenn im Propheten irgendein Artikel erschien, in dem behauptet wurde, Hermione ginge mit Potter und betrüge ihn gleic hzeitig mit Krum, würde sie stocksauer auf ihn sein, aber sie war keine Mörderin. Sie würde vielleicht rumschreien oder sogar Sachen nach ihm werfen, aber sie würde ihn nicht wirklich verletzen. Es wäre zwar kein Vergnügen, aber auch nicht schmerzhaft. Das erklärte er auch Rita. "Sie lassen mir nicht wirklich eine Wahl, ich muss es tun." Ihr Lächeln wurde breiter und erstreckte sich jetzt von einem Ohr zum anderen. Als sie Draco eine ihrer klauenartigen Hände entgegenhielt, damit er sie schüttele, so als hätten sie tatsächlich einen Deal gemacht, sah sie einfach widerlich aus. Er sah sie an, als ob sie ein Knallschwänziger Kröter wäre, und wich zur Mauer zurück. "Abgemacht oder nicht?", fragte Rita, deren Lächeln zu einem höhnischen Grinsen zusammenschrumpfte. Er wusste, dass er sie berühren musste; die Magie, die die Abmachung besiegelte, bestand in einem Handschlag, sie wäre sonst nicht gezwungen, ihr Angebot einzuhalten, aber er wollte es so lange wie möglich hinauszögern. Rita scharrte ungeduldig mit den Füßen, während Draco sich zwang, den Arm zu heben und seine Hand in ihre zu legen. Ihre Fingernägel hinterließen auf seinen Fingern entlang der zerbissenen Knöchel und auf seiner Handfläche Spuren, die noch den ganzen Tag zu sehen waren. Am nächsten Morgen erhielt er mit der Post einen Terminkalender, und von diesem Auge nblick an verbrachte er jeden Tag ein paar Minuten damit, Rita Skeeter mit Exklusivmeldungen aus Hogwarts zu versorgen, manchmal über wichtige, manchmal über unwichtige Dinge. An manchen Tagen gesellte Pansy sich für einen Spaziergang übers Gelände zu ihm und flüsterte ihm hässliche Dinge über die Mädchen in den anderen Häusern ins Ohr. Nach ein paar Wochen hatte es sich in Haus Slytherin herumgesprochen, dass Draco Malfoy täglich auf dem Rasen Hof hielt (zu unterschiedlichen Zeiten zwar, aber an bestimmten Wochentagen immer zur selben Zeit), um über die Schüler anderer Häuser zu tratschen. Manchmal handelte es sich dabei um böswilligen Klatsch, manchmal war das Gesagte banal und unbedeutend, doch Draco war das 126
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
alles ziemlich unangenehm. Er betrachtete jedoch jedes Wort, das ein Slytherin sagte, als Ziege lstein, der zw ischen ihm und Rita eine Mauer errichtete, und wenn sie nur dick genug würde, wäre er in der Lage, sie sich vom Leib zu halten. Mittendrin erschien im Propheten der Artikel über Hermione. Sie bemerkte nicht, dass Draco dabei seine Hand im Spiel gehabt hatte, da Rita den Text ziemlich verändert hatte, und er war entschlossen zu verhindern, dass sie es je herausfand. Das ga nze Frühjahr über waren sie beide sehr beschäftigt, weil Hermione Potter dabei half, sich auf die dritte Aufgabe vorzubereiten, und weil er selbst am Alexandria-Projekt und jede Woche einen Abend lang an seinem Gedankenbassin arbeitete. Im späten Frühjahr hatte er fünfzig Zoll Pergament mit Notizen, grafischen Darstellungen und Erklärungen von verschiedenen Zauberformeln gefüllt, die Ableitungen der OriginalSprüche waren, die in den Rollen von Alexandria beschrieben wurden. Obwohl Moody verlangt hatte, dass er sie ihm persönlich überbringen sollte, weigerte Draco sich schlicht zu riskieren, mit dem Lehrer allein zu sein. Das ganze Jahr lang beklagte er sich bei den AG-Treffen über den Unterricht in Verteidigung gegen die Schwarze Magie und über Moodys ungewöhnliches Verhalten. Obwohl sie durchaus Verständnis zeigte, glaubte Hermione eigentlich nicht, dass Moody so schlecht war, wie Draco ihn hinstellte, und sie konnte nichts Unvereinbares an der Art finden, wie er den Unterricht der Slytherins im Gegensatz zu dem seiner anderen Klassen abhielt, besonders nachdem er begonnen hatte, allen Viertklässlern praktischen Unterricht darin zu erteilen, wie man böse Sprüche und Flüche abwehrte und abschüttelte. Sogar Hermione war es einmal nicht gelungen, einen Wackelpeter-Beine-Fluch abzuwehren, aber Draco wusste, dass die Flüche, mit denen Moody ihn belegte, weit schlimmer waren als alles, mit dem sich irgendein anderer Schüler im Klassenzimmer für Verteidigung gegen die Schwarze Magie konfrontiert sah. Trotzdem meldete Hermione sich auf Dracos Bitte hin in Moodys Sprechstunde an, und während sie Moody über obskure Flüche ausfragte, die dazu dienten, unsichtbare Flugobjekte abzuwehren, klopfte Draco an seine Tür, händigte ihm in weniger als einer Minute die Pergamente und Bücher aus, entschuldigte sich dann, er müsse Madam Pince in weniger als zehn Minuten die ausgeliehenen Bücher zurückbringen und huschte hinaus, bevor Moody ihn daran hindern konnte. *** Er war so sehr mit seinen Prüfungen beschäftigt, dass er die Sommersonnenwende am 21. Juni fast vergaß. Es fiel ihm erst wieder ein, als Professor Snape ihn beim Frühstück fragte, ob er vorhabe, kurz nach zwei an diesem Nachmittag seine Ginkgo- Blüte zu pflücken. "Oh nein, da kann ich doch nicht. Da muss ich zu einer Prüfung. Ich kann Professor Vector ja schlecht fragen, ob ich während der Prüfung mal kurz raus darf, oder?" "Haben Sie ein gutes Gefühl bei Ihren Prüfungen, Draco?", fragte Professor Snape. "Insgesamt zuversichtlich?" "Geht schon", sagte Draco. Im Prinzip stimmte das sogar; er war zwar nervös, vor allem im Hinblick auf Verteidigung gegen die Schwarze Magie, aber er ging beim Rausgehen im Geiste noch einmal alle Sprüche und Flüche durch, die er geübt hatte, und die Gewis sheit, dass er sich an sie erinnern konnte, gab ihm ein besseres Gefühl. "Das ist der einzige Teil am Gedankenbassin, den Sie nicht unbedingt selbst machen müssen, wissen Sie. Ich könnte sie für Sie pflücken und in meinem Büro aufbewahren. Sie wäre dort sowieso für die letzte Woche, die Sie noch in der Schule sind, besser aufgehoben. Ich gehe davon aus, dass Sie keinen Wert drauf legen, dass einer Ihrer Mitbewohner sie aus Versehen aufisst." Draco musste bei der Vorstellung, wie Vin oder Greg an einer Blume knabberten, lachen. "Das brächten die durchaus fertig, wenn sie mitten in der Nacht Hunger bekämen. Wenn es 127
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Ihnen nichts ausmacht, dann hole ich sie mir am Tag vor unserer Abreise bei Ihnen ab und packe sie sofort in meinen Koffer." Sie kamen überein, dass das ein praktikabler Plan war, und Draco wandte sich wieder der Verteidigung gegen Flüche und böse Sprüche zu. Die Vorstellung, wie seine Mitbewo hner sich auf die stechend riechende Ginkgo-Blüte stürzten, war komisch genug, um ihn zum Lächeln zu bringen, wenn er daran dachte. Gut geeignet, um ihn von stressigen Gedanken an die Prüfung in Verteidigung gegen die Schwarze Magie abzulenken, dachte Draco. Er dachte aber ganz sicher nicht daran, sich von seinem Stress oder sonst etwas ablenken zu lassen, als Hermione zehn Minuten vor seiner Prüfung mit einem seltsamen, verträumten Ausdruck im Gesicht in die Bibliothek gestürmt kam. Während sie in der Transfigurations-Abteilung in Windeseile ein paar Bücher überflog, fuhr sie sich ständig mit den Fingern durchs Haar. Er wollte diese letzten paar Minuten auf sinnvolle Art verbringen, und Hermione würde wegen des Artikels, der an diesem Morgen erschienen war, wahrscheinlich sowieso nicht mit ihm reden, aber sie hörte nicht auf, nach Luft zu schnappen und auf und ab zu hüpfen, was ihn so ablenkte, dass er einfach wissen musste, worüber sie sich da ereiferte. "Ich hab's gewusst! Ich hab's gewusst!" Als er näher kam, konnte er sie kichern hören, was an sich schon äußerst merkwürdig war. Hermione kicherte niemals. Pansy kicherte, Eloise ebenfalls, sogar Millicent, jedenfalls manchmal, aber obwohl Hermione ein nettes Lachen hatte, hatte er noch nie zuvor einen solchen Laut von ihr vernommen. Als er nahe genug war um zu flüstern, sagte er scherzend: "Du weißt doch sonst alles, warum überrascht dich dieses bisschen Information denn so?" Sie hob ihre glänzenden Augen von der Buchseite und antwortete: "Ich weiß, wie Rita Skeeter sich Informationen über alle möglichen Leute verschafft hat, und ich weiß, dass du dabei eine Rolle spielst." Ihm rutschte das Herz in die Hose. Das ganze Jahr über hatte er geglaubt, sie habe nie bemerkt, dass er und die anderen Slytherins Rita mit Informationen versorgt hatten. Er hätte wissen müssen, dass es sie wütend machen würde, als sie an diesem Morgen gesehen hatte, dass er zitiert worden war, obwohl er nichts gesagt hatte, was nicht der Wahrheit entsprach. Natürlich konnten die Wörter "wir" und "Macht" auf hunderterlei Art interpretiert werden. Er hätte niemals zu ihr rübergehen und ihr lieber ein paar Tage Zeit lassen sollen, um sich zu beruhigen. Jetzt blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als es zu erklären. "Hermione, ich musste es tun. Sie hat mir keine Wahl gelassen." "Wovon redest du eigentlich, Draco? Du hast sie dieses Jahr doch nicht erst zu einem Animagus gemacht!" Sie sah ihn spöttisch- fragend an und fragte, wobei ihre Stimme mit jedem Wort kälter wurde: "Was meinst du damit, dass du keine Wahl hattest? Was hast du getan, Draco?" Schlagartig traf ihn die Erkenntnis. Sie wusste gar nicht, dass er Rita Informationen zugespielt hatte, sie wusste nur, dass Rita ein Animagus war und sich in einen Käfer verwandeln konnte. Er versuchte, einen Rückzieher zu machen und die Sache herunterzuspielen, und sagte: "Ich hab' ihr von der Schule und so erzählt, nichts wirklich Wichtiges." Sie glaubte ihm nicht. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. "Nein, das ist nicht alles", sagte sie mit kühler, schneidender Stimme. Es kam ihm vor, als könnte sie direkt durch ihn hindurchsehen. "Draco. Was hast du getan?" Er antwortete nicht. "Du weißt, dass wir zur Prüfung müssen. Entweder du sagst mir jetzt, was du getan hast, oder ich küsse dich hier vor allen Leuten und überlasse es dir, das deinem Vater zu erklären." Was für eine Drohung soll das denn sein?, fragte die Stimme in seinem Hinterkopf. Eine, von der sie genau weiß, dass ich sie ernst nehmen werde, antwortete er stumm. "Erinnerst du dich noch an den Artikel im März? Den über dich?" "Meinst du, den könnte ich vergessen? Wenn ich all die Hassbriefe und die Heuler aufgehoben hätte, bräuchte ich einen Extra-Koffer, um sie nach Hause zu schleppen."
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Draco atmete tief durch. "Nun ja, der war ursprünglich ein bisschen länger. Sie hat uns beim Weihnachtsball gesehen und das in dem Artikel erwähnt. Sie hat mir ihren ersten Entwurf geschickt und gesagt, wenn ich ihr nicht helfe, Informationen über die Schule zu sammeln, dann würde sie ihn ihrem Verleger schicken, und das konnte ich doch nicht zulassen." Hermiones Augen schossen Blitze. "Draco! Und warum zum Teufel konntest du das nicht? Zwischen uns ist nichts passiert – weder beim Weihnachtsball noch sonst irgendwann. Wenn sie das deinem Vater gezeigt hätte, hätte er dir einen Heuler geschickt und verlangt, dass es nie wieder vorkommt; wir hätten ihm die Wahrheit über den Ball erzählen können, und alles wäre vorbei gewesen. Stattdessen hast du ..." "Es wäre nicht vorbei gewesen. Er hätte nie irgendeiner Erklärung zugehört, mir nicht und dir schon gar nicht." Draco beharrte auf diesem Punkt. "Er hätte mich umgebracht. Und es würde mich nicht wundern, wenn er sich danach dich vorgeknöpft hätte." Er hatte nie zuvor gesehen, dass Hermione ihn so angewidert ansah. "Es wäre nicht das erste Mal, dass Lucius Malfoy versucht, mich umzubringen, und ich habe seinen letzten Versuch überlebt. Und ich kann nun mal nicht glauben, dass er dir wirklich nicht zuhören oder dich sogar umbringen würde." "Nicht das erste Mal?" Draco war total verwirrt. "Ich weiß, dass er dich nicht ausstehen kann, aber warum glaubst du, dass er versucht hat dich umzubringen?" Hermione machte ein schockiertes Gesicht, zog ihn zu dem Tisch zurück, auf dem er seine Bücher ausgebreitet hatte, und sagte: "Pack deine Sachen zusammen, wir gehen ein bisschen spazieren." "Wir haben nur noch fünf Minuten!" "Ich bring' dich zum Unterricht. Wenn du willst, trage ich dir sogar deine Bücher", sagte sie, lächelte aber immer noch nicht. Sie hatten die Bibliothek jetzt verlassen, aber er konnte an ihrem Gesicht ablesen, dass es sich nicht um ein leichtes Gespräch handeln würde, wie man es beim Spazieren gehen sonst führte. Sie lehnten sich an die Wand, und Hermione stürzte sich in ihre Geschichte. Sie beschuldigte Lucius, hinter den Angriffen auf Schlammblüter in ihrem zweiten Schuljahr zu stecken und Ginny Weasley mit einem Zauberspruch belegt zu haben, der sie dazu veranlasst hatte, die Anweisungen des Finsteren Lords zu befo lgen und ein Ungeheuer freizulassen, dessen Anblick jeden in Stein verwandelte, außerdem, dass sie glaube, Lucius hätte Weasley die spezielle Anweisung erteilt, das Untier auf sie zu hetzen und dass er deshalb vom Schulvorstand von Ho gwarts suspendiert worden sei. Als sie endlich fertig war, hatten sie kaum noch zwei Minuten, um zu ihren Prüfungen zu gehen, und Draco hatte keine Chance, ihr all die Löcher zu zeigen, die ihre Geschichte aufwies. Für ihn war offensichtlich, dass irgendjemand – wahrscheinlich Potter – ihr diese Geschichte suggeriert haben musste. Sie war den größten Teil des zweiten Schuljahrs versteinert gewesen, und als sie wiederbelebt worden war, musste sie sich in einem merkwürdigen Geisteszustand befunden haben, in dem jeder ihr leicht die sonderbarsten Geschichten einreden konnte. Lucius war nahegelegt worden, den Schulvorstand zu verlassen, weil die Anschuldigungen, die er gegen Hagrid vorgebracht hatte, jeglicher Grundlage entbehrten und auf unzuverlässigen Quellen beruhten – es gab keinen anderen Grund dafür! Er würde Hermione am nächsten Tag aufsuchen und ihr die ganze Geschic hte erklären müssen. Jetzt hatte er dazu aber keine Zeit. Er musste jetzt gehen und sich Verteidigung gegen die Schwarze Magie stellen. Die Klasse versammelte sich in Moodys Klassenzimmer, zückte ihre Federn und wartete auf die Ankunft des Lehrers. Draco fühlte sich innerlich völlig verkrampft – er hatte das schreckliche Gefühl, dass es völlig egal war, wie viel er gebüffelt hatte, weil Moody trotzdem einen Weg finden würde, um ihn schlecht abschneiden zu lassen. Bevor sie ihn sahen, hörten sie es – das dumpfe Klappern seines Holzbeins auf dem Flur, das sich dem Klassenzimmer näherte. Als er hereinkam, trug er einen Muggel-Zylinder bei sich, 129
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
der mit winzigen Pergamentrollen gefüllt war. Er stellte ihn auf sein Pult, setzte sich auf seinen Stuhl und sagte: "Alle die Federn weglegen. Ich habe gehört, dass Sie letztes Jahr in diesem Fach eine praktische Prüfung mit einem praktischen Hindernislauf abgelegt haben. Wie Sie unschwer feststellen können, fällt mir so was mit meinem Bein ziemlich schwer, deshalb werden wir hier drinnen eine praktische Prüfung abhalten. Zuerst werden Sie aus diesem Hut eine Pergamentrolle ziehen und sie mir geben, ohne vorher einen Blick darauf zu werfen; es steht ein Fluch drauf, und dieser Teil der Prüfung macht acht Prozent Ihrer Note aus. Um die volle Punktzahl zu erreichen, müssen Sie ihn abwehren. Falls Sie dazu nicht in der Lage sind, können Sie versuchen ihn abzuschütteln, Sie bekommen dabei für jede Sekunde, die Sie dazu brauchen, einen Punkt Abzug. Wenn Ihnen nichts davon innerhalb von einhundert Sekunden gelingt, werde ich den Fluch aufheben, und Sie bekommen eine schlechte Note. Zweitens wird jeder von Ihnen versuchen, den Imperius-Fluch abzuschütteln. Falls Ihnen das innerhalb von einer Minute gelingt, bekommen Sie für diesen Teil der Prüfung die volle Punktzahl. Falls nicht, haben Sie eine weitere Minute Zeit, um die halbe Punk tzahl zu erreichen. Falls es Ihnen dann immer noch nicht gelingt, sind Sie in diesem Teil durchgefallen." Er sah Draco direkt an und sagte: "Malfoy, wir beginnen mit Ihnen." Draco stand auf und trat zu Moodys Pult, als ob er zum Schafott ginge. Wenigstens würde es sich nun endlich auszahlen, dass er das ganze Jahr über geübt hatte, Moodys Flüche abzuwehren. Er kannte jeden bösen Spruch im Buch, und wenn es einen Gegenspruch oder eine Abwehr dafür gab, dann waren sie ihm bekannt. Es bestand kein Grund, nervös zu sein. Er zwang sich, seine Hand ruhig zu halten, als er in den Hut griff und eine Pergamentrolle herauszog. Er händigte sie Moody aus, auf dessen Gesicht dasselbe schreckliche, geistesgestörte Lächeln lag wie damals, als Draco ihn um den Erlaubnisschein für die Bibliothek gebeten hatte. Moody stand auf, und Draco ging zur anderen Seite des Klassenzimmers, wo er normalerweise stand, wenn er während des Unterrichts behext wurde. Er wusste, dass er blass war und dass ihm die Angst ins Gesicht geschrieben stand, aber er hatte die Ärmel seiner Robe hochgekrempelt und hielt seinen Zauberstab bereit. "Crucio!", sagte Mad Eye Moody. Brennender Schmerz durchfuhr Draco wie das Höllenfe uer. Er wurde von einer Qual übermannt, wie er sie nie zuvor gefühlt hatte; seine Knochen lösten sich auf und sein Kopf würde ganz sicher jeden Augenblick zerspringen, er konnte förmlich fühlen, wie seine Hirnmasse auf den Boden tropfte; seine Augen rollten wild in seinem Kopf hin und her, er wollte, dass es aufhörte ... dass er das Bewusstsein verlor ... nur noch sterben ... Und dann war es vorbei. Er lag wie ein knochenloser Haufen völlig schlaff auf dem Fußboden. Er konnte die Blicke seiner Mitschüler auf sich fühlen, aber sie waren absolut still. Alles, was er hören konnte, war das Klappern von Moodys Bein, als er zu ihm hinüberhinkte. Er fühlte seine knorrige Hand auf seiner Schulter, als er ihn auf die Füße stellte. Er gab sich Mühe, nicht wieder hinzufallen und sich zu konzentrieren. Dann beugte Moody sich über ihn und sagte ihm etwas direkt ins Ohr: "Sie sind durchgefallen, Malfoy, genau wie ich es erwartet habe." Er tastete sich wie durch einen Tunnel vorwärts, als er zu seinem Pult zurückging und sich auf seinen Stuhl sinken ließ. Er wusste, dass Moody irgendetwas zu der Kla sse sagte, aber es war ihm unmöglich, die einzelnen Worte zu verstehen. Der rasende Schmerz, der erst vor ein paar Minuten seinen Leib gemartert hatte, hatte zwar nachgelassen, aber jeder Muskel tat ihm mehr weh als nach einem fünfstündigen Quidditchtraining. Während er zusah, wie Moody seine Kla ssenkameraden mit harmlosen Flüchen wie Wackelpeter-Beine und Wackel-Ohren belegte, stieg in Draco siedendheiß der Hass hoch und ließ keinen Raum mehr für andere Empfindungen. Zum ersten Mal im Leben wollte er seinen Zauberstab dazu benutzen, um seiner brennenden Wut Genugtuung zu verschaffen, nicht um sich zu verteidigen, sondern um anzugreifen ... um zu töten. 130
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Wenn er die Energie dazu aufbrächte, überlegte er, würde er es vielleicht sogar tun. Er war jedoch so erschlagen, dass er lediglich imstande war, seinen Kopf auf die Arme zu legen und zu versuchen, genug Willenskraft aufzubringen, um den Imperius-Fluch abzuschü tteln, obwohl er sich fragte, warum das noch wichtig war. Seine endgültige Note bestand bereits zu achtzig Prozent aus Nichts, und selbst wenn er den Fluch abschü ttelte, würde er nicht mehr als zwanzig Prozent der Punktzahl erreichen. In diesem Halbjahr wäre er auf jeden Fall dur chgefallen, trotz all der Punkte, die er für regelmäßiges Erscheinen zum Unterricht und für seine Aufsätze bekommen haben musste. Wozu sollte es also gut sein? In ein paar Wochen würde sein Gedankenbassin fertig sein. Vielleicht wäre es besser, ganz durchzufallen und es Dumbledore zu überlassen, das nächsten Monat zu klären. Aus irgendeinem Grund nahm Moody Draco diesmal nicht als Ersten dran, sondern zuerst nacheinander alle anderen. Nachdem jeder seine Note bekommen hatte, ging Draco langsam nach vorne. Er hielt sich gerade und hatte den Kopf hoch erhoben, obwohl die Anstrengung, sich aufrecht zu halten, alles vor seinen Augen verschwimmen ließ. Er ließ seinen Zauberstab auf seinem Platz liegen, da nicht seine Fingerfertigkeit, sondern seine Willensstärke ihn durch diese Prüfung bringen würde. Moody hob seinen Zauberstab, richtete ihn auf Draco und sagte: "Imperio!" Es war dasselbe, absolut wundervolle Gefühl, an das er sich von der Stunde im Herbst her erinnerte. Draco glaubte zu schweben, als alle Gedanken und Sorgen in seinem Kopf sanft fortgeweht wurden und nichts hinterließen als eine vage, schwer zu fassende Glückseligkeit. Er stand völlig entspannt da und war sich der Blicke, die auf ihm ruhten, kaum bewusst. Dann hörte er Mad Eye Moodys Stimme, die in einer weit entfernten Kammer seines leeren Gehirns widerhallte: Gelobe ihm zu dienen ... Draco machte gehorsam den Mund auf, um es nachzusprechen. Gib zu, dass du dem Finsteren Lord dienst ... Aber wieso? In seinem Hinterkopf war eine andere Stimme erwacht. Das ist absolut bescheuert, ehrlich, sagte die Stimme. Unterwirf dich deinem Gebieter ... Nein, ich denke nicht, dass ich das tun werde, sagte die andere Stimme etwas fester. ... nein, ich will das eigentlich gar nicht. Knie nieder vor Ihm-Der-Nicht-Genannt-Werden-Darf ... "DAS WERDE ICH NICHT!" Die Worte brachen aus ihm hervor, hallten durch das Klassenzimmer, und das träumerische Gefühl wich so plötzlich von ihm, als hätte man ihn mit kaltem Wasser übergossen – urplötzlich war der dumpfe Schmerz, den der Cruciatus-Fluch hinterlassen hatte, wieder da – urplötzlich war ihm wieder bewusst, wer er war. Er sah Moody an und musste trotz des Schmerzes lächeln. Moodys Mund war eine dünne Linie, und er sah Draco mit beiden Augen direkt an, als ob er in ihn hineinsehen könnte. Draco sprach fast ohne nachzudenken und sah Moody dabei mit hoch erhobenem Kopf ebenfalls direkt an. "Sie dachten, Sie könnten mich fertig machen, aber das haben Sie nicht, das können Sie gar nicht und werden es auch niemals tun. Das ganze Jahr über haben Sie jede Woche alles nur Erdenkliche auf mich geschleudert, und zwar nicht nur im Klassenzimmer, sondern auch woanders, und ich stehe immer noch hier vor Ihnen. Ich hab' mich nicht beklagt, ich hab' Sie nicht angefleht aufzuhören, und das werde ich auch nie, weil ich stärker bin als Sie. Und das hier ist der Beweis. Sie können mich durchfallen lassen, aber Sie und ich wissen, dass Sie in dieser Schlacht, die Sie gegen einen Teenager geschlagen haben, der Verlierer sind." Moody holte tief Luft; seine Hände zitterten, als ob er versuchte den Drang zu bezä hmen, sie um Dracos Hals zu legen und zuzudrücken. Draco machte sich auf irgendeine Reaktion von Moody gefasst, auf einen neuen Fluch oder einen Schrei, irgendwas, aber die totale Stille ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Sie taxierten einander für einen Zeitraum, der Draco wie eine Stunde vorkam, dabei konnten es höchstens ein paar Augenblicke gewesen sein. Moody ließ 131
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Draco immer noch nicht aus den Augen, als er mit leiser, kalter Stimme sagte: "Oh nein, das habe ich nicht, mein Sohn. Ich kriege Sie schon klein, und zwar schneller als Sie denken. Sie alle. Sie sind alle entlassen." Mit Hilfe von Vin und Pansy schaffte Draco es hinauf zur Krankenstation, wo Madame Pomfrey ihm ein pfeffriges Gebräu zu trinken gab, das die Spinnweben vertrieb, die immer noch in seinem Kopf herumschwirrten. Pansy quatschte ihn voll, als sie zum Schlafsaal zurückgingen: "Willst du heute Abend immer noch zur dritten Aufgabe gehen? Das solltest du dir nicht entgehen lassen, das wird sicher eine tolle Show!" Er ließ ein paar ausgesuchte Kommentare über gewisse Konkurrenten ab, haup tsächlich über Potter, dann sagte er: "Ich geh' nur hin um zu sehen, ob Viktor gewinnt. Sonst macht es nämlich keinen Spaß. Ich will nicht da sitzen müssen und zusehen, wie aller Ruhm diesem Heini mit dem großen, narbigen Kopf zufällt und dann all die Scheißfeiern der Gryffindors sehen müssen. Wenn ich mich nachher noch genauso fühle wie jetzt, ist es pure Zeitverschwendung." Bis zum Abendessen hatten die Muskelschmerzen zwar nachgelassen, aber er war immer noch nicht sehr hungrig, und er konnte nicht die rechte Begeisterung dafür aufbringen, beim Turnier zuzusehen. Das, was er Pansy vorhin erzählt hatte, stimmte immer noch. Als die verzaub erte Decke über ihnen sich langsam von blau zu dunkelviolett verfärbte, erhob sich Dumbledore vom Lehrertisch, und es wurde still. "Meine Damen und Herren, in fünf Minuten werde ich Sie bitten, zum Quidditch-Feld hinunterzugehen, um der dritten und letzten Aufgabe des Trimagischen Turniers beizuwohnen." Sie gingen zum Quidditch-Feld, das nunmehr nicht wiederzuerkennen war. Rundherum erhob sich eine gut drei Meter hohe Hecke. Direkt vor ihnen befand sich eine Lücke: Der Eingang zu dem weitläufigen Labyrinth. Der Gang dahinter wirkte dunkel und unheimlich. Der Himmel war inzwischen von einem klaren, dunklen Blau, und die ersten Sterne zeigten sich am Firmament. Draco sah zu, wie Ludo Bagman sich seinen Zauberstab an die Kehle hielt und "Sonorus" murmelte, wodurch er seine Stimme magisch verstärkte, so dass sie bis zur Tribüne widerhallte. "Meine Damen und Herren, die dritte Aufgabe des Trimagischen Turniers wird in Kürze beginnen! Lassen Sie mich den Punktestand rekapitulieren: Auf Platz 1 mit jeweils fünfundachtzig Punkten: Mr. Cedric Diggory und Mr. Harry Potter, beide Schüler in Hogwarts!" Die Hochrufe und der Applaus waren so laut, dass im Verbotenen Wald die Vögel in den sich verdunkelnden Himmel aufflatterten. "Auf Platz 2 mit achtzig Punkten: Mr. Viktor Krum aus dem DurmstrangInstitut!" Wieder brandete Applaus auf. "Und auf Platz 3: Miss Fleur Delacour aus der Beauxbatons-Akademie! Also los, Harry und Cedric ... auf meinen Pfiff!", sagte Bagman. "Drei ... zwei ... eins –" Er pfiff kurz, und Harry und Cedric stürmten vor, hinein in den Irrgarten. Alle Köpfe der Zuschauer drehten sich zu den drei Meter hohen Bildern, die an verschiedenen Stellen über der Hecke erschienen waren. Man konnte die Konkurrenten von bestimmten Plätzen in der äußersten Reihe aus sehen, aber als sie tiefer ins Labyrinth eindrangen, konnte die Menge nur verfolgen, was an bestimmten Punkten passierte, wo zwischen den Hecken pflanzliche Überwachungsvorrichtungen postiert worden waren. Die Schüler der siebten Klasse hatten in Herbologie für Fortgeschrittene das ganze Jahr über an Zauberformeln gearbeitet, die es gestatten würden, das Geschehen durch Gruppen von Blä ttern, Blumen und Stängeln zu überwachen. Bagmans Pfeife ertönte noch zweimal, dann hallte seine Stimme durchs Stadion. "Wie Sie sehen können, erlauben Ihnen pflanzliche Überwachungsvorrichtungen, die an strategischen Punkten über der Hecke angebracht wurden, mitzuverfolgen, wie die Champions mit ihrer gefährlichen Aufgabe zurechtkommen. Wir hier im Schiedsrichterstand werden einige der Herausforderungen, auf die sie stoßen werden, aufzeic hnen und Ihnen im Laufe des Abends vorspielen. Da wir Ihnen aber nicht alle Spannung nehmen wollen, werden wir nichts von dem aufzeichnen, was in den beiden innersten Bereichen geschieht. Die gefährlichsten und aufregendsten Aufgaben sind aber über das ganze Labyrinth verstreut, glauben Sie also nicht, dass Sie alle interessanten Dinge verpassen werden. 132
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Nebenbei bemerkt werden viele unter Ihnen wissen, dass es in Hogwarts nicht möglich ist, zu Apparieren, zu Disapparieren oder einen Portal-Schlüssel zu benutzen. Einige unter Ihnen wurden sogar in zwei Teile gespalten, als Sie es im sechsten oder siebten Schuljahr probiert haben. Wie auch immer, Professor Dumbledore hat diesen Bannfluch im Bereich des QuidditchFeldes aufgehoben. Falls einer der Konkurrenten rote Funken in die Luft schickt um anzuzeigen, dass er in Schwierigkeiten ist und aufgeben will, kann einer der Aufseher zu ihm Apparieren und ihn herausholen. Überdies ist der Trimagische Pokal in Wirklichkeit ein Portal-Schlüssel. Wenn der Gewinner – oder die Gewinnerin", verbesserte er sich hastig, "ihn im Zentrum des Irrgartens berührt, wird er oder sie augenblicklich zum Siegerkreis transportiert, der sich genau hier befindet." Er beleuchtete mit seinem Zauberstab einen Bereich neben dem Eingang zum Labyrinth, und die Menge applaudierte. Hoch über ihren Köpfen konnten sie beobachten, wie die Konkurrenten von Ba gmans Kommentaren begleitet die einzelnen Aufgaben bewältigten. Jeder von ihnen besiegte einen Boggart, und Draco war sich verschwommen der Tatsache bewusst, dass Lucius es sehr interessant fände, dass Potter mehr Angst vor einem Dementor als vor dem Finsteren Lord hatte, wie er es wohl vermutet hätte. Die Menge tobte, als Diggory einen von Hagrids Knallschwänzigen Krötern besiegte, als Viktor der Teufelsschlinge entkam und Fleur drei Kornische Pixies erledigte. Potter war seltener zu sehen als die anderen, und Draco murmelte ein paar Slytherins zu, es sehe Potter ähnlich, den Weg ohne Überwachungsvorrichtungen und Ungeheuer zu wählen. Diggory und Viktor bekamen es beide mit Pogrebins zu tun; Diggory kam viel schneller an einer ganzen Reihe von ihnen vorbei, was erstaunlich war, da Russland diese fiesen kleinen Dämonen in viele Länder ihrer früheren Bündnispartner exportiert hatte, weswegen eigentlich anzunehmen gewesen wäre, dass Viktor ihnen in Bulgarien schon früher begegnet war. Als Fleur ein paar Minuten später durch einen goldenen Dunst schritt und plötzlich auf dem Kopf stand, ließen eine ganze Reihe Zauberer in der Menge ein Heulen ertönen, aber kaum eine halbe Minute später stieg weniger als drei Meter von der Stelle entfernt, wo sie sich zuletzt befunden hatte, ein roter Funkenregen auf. Professor McGonagall Apparierte ins Labyrinth um sie zu retten, und kaum zwei Minuten später lag sie schluc hzend in Madame Maximes Armen. Draco war nicht ganz sicher, wie lange es dauerte, bis Viktor ebenfalls rote Funken hochschickte. Ungefähr zur selben Zeit beobachteten die Zuschauer, wie Potter einen Kröter in die Luft jagte und Diggory einen Troll niederschlug, der nach Bagmans Worten fast ein halbes Jahr alt und bereits größer war als er selbst. Alle vermuteten, dass Potter und Diggory inzwischen im innersten Bereich des Irrgartens angekommen waren und stellten sich vor, welch schwierige Hindernisse sie wohl noch überwinden mussten, bevor sie den Pokal erreichten. Fast hatte er Lust, bis zum Ende zu bleiben, aber wer wusste schon, wie lange es noch dauern würde? Die kalte Nachtluft bekam seinem schmerzenden Körper nicht allzu gut, und er überlegte, dass er nicht gedacht hätte, dass die Wirkung des Cruciatus-Fluchs so lange anhalten würde. Er hatte Moody im Verdacht ihn zusätzlich behext zu haben, damit der Schmerz länger anhielt, aber er wusste, dass er keine Möglichkeit hatte es zu beweisen, ebenso wenig wie er beweisen konnte, dass Moody es irgendwie so gedreht hatte, dass er diesen speziellen Fluch aus dem Hut zog. Er war müde, ihm tat alles weh, und da er jetzt wusste, dass ein Hogwarts-Schüler den Pokal gewinnen würde, legte er keinen gesteigerten Wert darauf zu bleiben und es sich anzusehen. Falls Potter gewann, musste er nicht unbedingt zusehen, wie Hermione übers Feld rannte und sich voller Freude in seine Arme warf; und wenn er verlor, musste er ebenso wenig zusehen, wie sie sich total unglücklich in seine Arme stürzte. Also ging er ins Schloss zurück, lief durch die fast völlig verlassenen Gänge zum Keller der Slytherins und stapfte dann mühsam die Treppe zu seinem Schlafsaal hinauf, wo er zwei Fläschchen seines patentierten Universal-Heilmittels aus seinem Koffer nahm, sie austrank und in einen bleiernen Schlaf sank. Er träumte davon, dass er wieder im Herrenhaus war. Er glaubte Schreie,
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Gebrüll und Weinen zu hören, aber wie immer sagte er sich, dass es nur ein Traum sei und nicht beachtet werden müsse. Erst als er am nächsten Morgen vor dem Frühstück in den Gemeinschaftsraum kam, erfuhr er, dass er doch nicht geträumt hatte. Da er selbst nicht mitbekommen hatte, was passiert war, fiel es ihm schwer zu entscheiden, was er glauben sollte. Dumbledore sagte in einer Ansprache beim Frühstück an diesem Morgen lediglich, dass Diggory tot sei dass und niemand mit Potter über das, was im Labyrinth passiert war, reden solle. Unter sich redeten die Schüler natürlich, und es kursierten sowohl Gerüchte als auch Wahrheiten. Als Potter wieder aufgetaucht war, sei er blutüberströmt gewesen – das wurde allgemein als tatsächliches Geschehen akzeptiert. Alles andere war jedoch nur Gerücht. Sirius Black sei in jener Nacht im Schloss gesehen worden, was den Verdacht aufkommen ließ, dass die Todbringer irgendwie die Hand im Spiel gehabt hatten. Karkaroff war verschwunden, und niemand, nicht einmal die Durmstrang-Schüler, wusste etwas über seinen Verbleib. Andere, nicht so glaubwürdige Geschichten besagten, Moody habe sich mit Potter verschworen, um die Konkurrenz auszuschalten. Andere behaupteten, Hagrid und Madame Maxime verbrächten viele Stunden zusammen in seiner Hütte, aber niemand wusste, ob das etwas mit dem Pokal zu tun hatte oder nicht. Wie jeden Tag in Hogwarts schickte Draco jeden Morgen einen Brief an Lucius. Er beric htete ihm über die Prüfungen im Allgemeinen, beschrieb seine Prüfung in Verteidigung gegen die Schwarze Magie jedoch nicht im Einzelnen. Er erzählte ihm, worüber die Leute redeten und bat beziehungsweise flehte Lucius schließlich an, ihm mitzuteilen, was tatsächlich passiert war. Im Propheten hatte nichts als die kurze Notiz gestanden, dass Potter auf Biegen und Brechen gesiegt hatte. Er beschloss, dass er warten konnte, bis er wieder im Herrenhaus war, um Lucius wegen Hermiones Geschichte über die Kammer des Schreckens zu befragen. Hermione selbst war wie vom Erdboden verschluckt, jedenfalls bis zum Tag des Abschiedsfestes. Da die Prüfungen vorüber waren, hatte sie keinen Grund mehr, in der Bibliothek zu sitzen, und er sah sie auch nicht im Großen Saal. Er vermutete, dass sie sich irgendwo mit Potter herumtrieb. Draco war sich nicht ganz sicher, ob er sich Sorgen machen sollte, weil sie so viel Zeit mit jemandem verbrachte, der mit größter Wahrscheinlichkeit gestört war, aber sie hatte klipp und klar gesagt, dass nichts, was er sagte, sie daran hindern würde, mit Potter zusammen zu sein. Stattdessen lief er mit seinen Hausgenossen übers Gelände und verbrachte seine Tage damit darauf zu warten, dass zwei Zauberer und eine Hexe seine Briefe beantworteten. Er hatte Rita am Tag nach der dritten Aufgabe geschrieben um sie zu fragen, ob sie ihre Treffen für den Rest des Sommers einstellen könnten, da sein Stundenplan jetzt etwas durcheinander sei, weil er keine Schule mehr hatte. Draco war der Ansicht, sie schulde ihm etwas für seine Hilfe bei dem Artikel über Potter, und er war so dreist ihr zu sagen, dass – falls sie ihm nicht etwas anderes mitteilte – er davon ausginge, dass sie ihre Klatschtreffen erst im September wieder aufne hmen würden. Moody hatte auf seine Bitte, seine Prüfung in Zaubertränke mit ihm zu besprechen, nie geantwortet, und jedes Mal, wenn sie sich bei den Mahlzeiten im Großen Saal begegneten, wich er Dracos Blicken aus. Es sah so aus, als ob er Dracos Anwesenheit nicht einmal wahrnahm. Und Professor Snape war nicht da, er war nach der dritten Aufgabe auch nicht zu seinen Sprechstunden erschienen, so dass Draco ihn nicht bitten konnte, als Vermittler bei Moody zu fungieren; ebenso wenig konnte er ihn ersuchen, Dracos Note in Verteidigung gegen die Schwarze Magie aufzuheben. Es sah so aus, als bliebe ihm nichts anderes übrig, als sich im Sommer damit auseinander zu setzen, was hieß, dass Draco nicht darum herumkommen würde, Lucius seine Note zu erklären, wenn er nach Hause kam. Vorausgesetzt, Lucius war überhaupt zu Hause. Er hatte in den letzten Tagen nicht geschrieben, und Draco fing an, sich Sorgen zu machen. Es sah ihm so gar nicht ähnlich, überhaupt nichts von sich hören zu lassen, ohne es Draco vorher zu sagen. Natürlich waren ihm die Ge134
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
rüchte, die in der Schule über Lucius, die Todbringer, ja sogar über den Finsteren Lord und dass Potter irgendwas damit zu tun hatte, kursie rten, nicht verborgen geblieben. Er machte sich auch Sorgen wegen Hermione, vor allem deshalb, weil sie vernünftigen Ratschlägen nicht zugänglich war und keinen Sicherheitsabstand zu Potter einhalten wollte. Die Geschichten, die manche der Schüler erzählten, schrieben ihm entweder mehr Tapferkeit zu, als Draco sich vorstellen konnte, oder sie beschuldigten ihn rundweg des Mordes. Ein paar Stunden vor dem Abschiedsfest brachte Kira ihm schließlich eine lange Pergamentrolle, die Lucius' vertrauliches Siegel trug. Falls irgendjemand anders als der rechtmäßige Empfänger versuchte sie zu entrollen, verspritzte sie Tinte über seine Hände und Kleidung, die sich eine Woche lang nicht entfernen ließ. Draco legte den Brief auf sein Bett und fing an zu lesen: Deinem letzten Brief entnehme ich, dass du nicht beim Trimagischen Turnier warst, als die letzte Aufgabe zu Ende war, was mich freut. Es gab keinen Grund für dich, deine Zeit dort zu vergeuden, während du wichtigere Dinge zu tun hattest. Ich bin jedoch sicher, dass du ein paar Geschichten über das, was am Ende des Turniers passiert ist, gehört hast, vielleicht sogar, dass ich irgendwie etwas damit zu tun hatte. Ich verlange, dass du alles tust, was in deiner Macht steht, um diesen Lügen ein Ende zu bereiten. Ich hatte mit dem Verschwinden und dem Tod des Jungen nichts zu tun. Ich habe sogar aus sehr hochgestellter Quelle gehört, dass Diggory nicht hätte sterben müssen, wenn Potter nicht gewesen wäre. Sag das deinen Klassenkameraden, sie sollen es alle wissen. Ich werde dir jetzt aber etwas mitteilen, worüber du mit niemandem außer mir reden darfst. Der Finstere Lord ist zurückgekehrt. Ich war nicht selbst dabei, als er von dem körperlosen Zustand, in dem er sich seit 1981 befand, wieder auferstanden ist; ich habe jedoch von jenen, die dort waren, gehört, dass es ihm mit Hilfe von Potter und eines anderen seiner Anhänger gelungen sei, einen Körper zu erschaffen. Er weilt nun wieder unter den Zauberern und ist weit mächtiger als alle anderen. Allerdings ist er noch immer schwach und muss sich erst wieder daran gewöhnen, einen Körper zu haben. Es scheint so, als sei während des Wiedererweckungsprozesses nicht alles nach Plan verlaufen. Er hatte seinen Zauberstab seit über einem Jahrzehnt nicht benutzt, und es gab ein Problem damit, das schließlich dazu führte, dass der Finstere Lord selbst sowie ein paar andere verletzt wurden. Er hat vor, sich den Sommer über in unserem Strandhaus in Ibiza zu erholen, um wieder gehen zu lernen und wie man isst und Campari trinkt. Trotz dieser geringfügigen Probleme wird die Rückkehr unseres Gebieters zum ersten Mal seit Jahren endlich so einiges wieder ins rechte Lot rücken. Einige Berichte, die wir demnächst veröffentlichen werden, enthalten Hinweise, dass Herr Minister Fudge dem Ministerium endlich auferlegt hat, gegen Schlammblüter vorzugehen, die ihre Vorurteile gegen reinblütige Zauberer öffentlich geäußert haben, so dass sie das künftig nicht mehr tun und außerdem auch kein höheres Amt bekleiden können. Wie du aus dem Geschichtsunterricht weißt, werden alle Schlammblüter und Muggelfreunde, die gegen ein solches Gesetz verstoßen, mit Strafen belegt, die von öffentlicher Auspeitschung, wie sie im Erlass von 1643 festgelegt wurde, bis zu einer Gefängnisstrafe in Azkaban reichen. Alle, die sich dem widersetzt haben, werden wahrscheinlich zum Dementorkuss verurteilt werden. Draco hielt im Lesen inne. Gut, dachte er. Moody würde endlich bekommen, was er verdiente. Wenn sie jedoch hinter Schlammblütern im Allgemeinen her waren, dann könnte Hermione in Gefahr sein. Scheiße, und er konnte es ihr noch nicht einmal sagen. Jedenfalls nicht im Klartext. Ihm fiel ein, wie sehr Lucius darauf beharrt hatte, dass diese Information streng vertraulich bleiben müsse. Wir werden mit den Schlammblütern und Muggelfreunden, die nicht verstehen, wie wichtig reines Blut ist, oder denen das egal ist, Tacheles reden. Ein Umschwung steht unmittelbar bevor, 135
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und ich werde unter jenen sein, die ihn vorantreiben. Dir ist sicher klar, welche Konsequenzen es hätte, wenn du darüber reden würdest. Einen solchen Trotz gegenüber der Familie, mir selbst oder unserem Gebieter würden wir nicht dulden. Draco wusste, was er damit meinte. Es war Lucius' übliche Drohung – dass er Draco verstoßen und fallen lassen würde, als hätte er nie existiert, dass er seinen Namen ausradieren, eine neue Familie gründen und ein neues Leben beginnen würde. Und natürlich konnte niemand Lucius daran hindern zu tun, was er wollte, höchstens vielleicht Er-Der-Nicht-Genannt-WerdenDarf. Er würde sich etwas ausdenken, irgendwas, um Lucius diesmal von Hermione fernzuhalten. Im zweiten Schuljahr war es ihm egal gewesen, was mit ihr passierte. Sie war widerlich, gemein und unfreundlich zu ihm gewesen, und vermutlich hatte er sie auch nicht freundlicher behandelt. Das war auch gar nicht seine Absicht gewesen. Doch unter den gegebenen Umständen wurde ihm etwas flau im Magen, als er sich vorstellte, wie Lucius sie dem Ministerium übergab und nach Azkaban schickte, nur weil sie seinem Sohn in aller Öffentlichkeit ein paar Gemeinheiten an den Kopf geworfen hatte. Natürlich konnte Lucius nicht wissen, wie oft Draco und Hermione diese öffentlichen Beleidigungen gemeinsam ausgeheckt hatten. Trotzdem, dachte Draco, wieso sollte ihn das kümmern? Sie hatten nicht mehr miteinander geredet, seit sie sich in der Bibliothek über Rita und ihre Artikel im Propheten gestritten hatten, und sie hatte so besorgt ausgesehen und seit der dritten Aufgabe ihre ganze Zeit mit Potter ve rbracht. Auf der Heimfahrt im Zug sollte es ihm eigentlich gelingen, ein paar Minuten allein mit ihr zu sprechen. Als er zum Abschiedsfest in den Großen Saal ging, sah er sich nach ihr um, ließ sich dann jedoch von den Dekorationen und der allgemeinen Stimmung dort ablenken. Von den üblichen Dekorationen war nichts zu sehen. Normalerweise war der Große Saal in den Farben des Hauses geschmückt, das den Hauscup gewonnen hatte. Heute hingen an der Wand hinter dem Lehrertisch jedoch schwarze Behänge. Draco war sofort klar, dass sie als Zeichen des Respekts für Cedric dort hingen. Moody saß auf seinem üblichen Platz und zuckte bei jedem Gläserklingen und Geschirrklappern zusammen, doch Professor Karkaroffs Stuhl war leer. Die Durmstrang-Schüler sagten, er sei zu ein paar Sitzungen in die Schule zurückgekehrt, aber eine ganze Reihe Slytherins glaubten das nicht. Sie wussten nicht so recht, was sie glauben sollten. Die Gespräche verstummten, als Professor Dumbledore sich am Lehrertisch erhob. Es wurde ganz still im Großen Saal, wo es diesmal sowieso weniger lebhaft zuging als üblicherweise bei einem Abschiedsfest. "Wir sind am Ende eines weiteren Jahres angelangt", sagte Dumbledore und blickte in die Runde. Er hielt inne, und sein Blick fiel auf den Hufflepuff- Tisch. Schon bevor er sich erhoben ha tte, war es an diesem Tisch am stillsten gewesen, und noch immer waren dort die traurigsten und blassesten Gesichter im ganzen Saal zu sehen. "Es gibt vieles, was ich Ihnen heute Abend gern sagen würde", sagte Dumbledore, "aber zuerst muss ich den Verlust eines großartigen Menschen bekannt geben, der eigentlich hier sitzen und das Fest mit uns genießen sollte." Er wies auf den Hufflepuff- Tisch. "Ich möchte, dass Sie sich alle erheben und auf Cedric Diggory anstoßen." Alle kamen der Aufforderung nach; die Bänke kratzten über den Boden, als der ganze Saal sich erhob, die Becher hob und einstimmig mit lauter, tiefer und klangvoller Stimme sagte: "Auf Cedric Diggory." Draco senkte den Blick auf den Tisch, als alle sich wieder setzten. "Cedric vereinte in sich eine ganze Reihe jener Eigenschaften, die für Hufflepuff typisch sind", fuhr Dumbledore fort. "Er war ein guter und loyaler Freund, arbeitete immer hart und wusste Fairness zu schätzen. Sein Tod hat Konsequenzen für Sie alle, ganz egal, ob Sie ihn nun kannten oder nicht. Deshalb bin ich der Meinung, dass Sie ein Recht haben zu erfahren, wie es 136
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genau dazu gekommen ist." Draco hob den Kopf und wandte sich zu Dumbledore um, der völlig ruhig wirkte, als er sagte: "Cedric Diggory wurde von Lord Voldemort ermordet." Draco fühlte das Raunen, das durch den Saal ging, mehr als dass er es hörte. Er konnte im Geiste fast Lucius' Stimme hören, der wieder und wieder das sagte, was auch in seinem Brief stand: "Der Finstere Lord ist zurückgekehrt", aber er kam nicht ganz dahinter, was es bedeutete. Er fragte sich, ob irgendeiner der Schüler im Saal dazu tatsächlich in der Lage war. "Das Ministerium für Magie", sagte Dumbledore, "wünscht nicht, dass ich Ihnen das sage. Es kann sein, dass einige Ihrer Eltern entsetzt sein werden, weil ich es getan habe." Draco wus ste, dass Lucius dazugehören würde. Dumbledore fuhr fort: "Entweder, weil sie nicht glauben, dass Lord Voldemort zurückgekehrt ist, oder weil sie gla uben, ich sollte Ihnen das nicht sagen, weil Sie zu jung dazu seien. Ich glaube jedoch fest daran, dass die Wahrheit normalerweise einer Lüge vorzuziehen ist und dass jeder Versuch zu behaupten, Cedric sei durch einen Unfall oder durch eigenes Verschulden gestorben, einer Beleidigung seines Andenkens gleichkäme." Greg versetzte Draco unter dem Tisch einen Fußtritt und flüsterte: "Pansy hat gesagt, es war kein Unfall und überhaupt nicht Diggorys Schuld. Stimmt das?" Draco wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Sollte er wiederholen, was Lucius geschrieben hatte und was die Gerüchteküche in der Schule behauptete? Greg musste das alles inzwischen doch zu Ohren gekommen sein. Es war unmöglich, dass er den Geschehnissen so wenig Beachtung geschenkt hatte. Auch Vin beugte sich vor, um Dracos Antwort zu hören. "Ich glaube, Lucius denkt das auch. Ein paar Leute sagen, Potter hatte was damit zu tun, aber ich weiß nicht genau, was." Nachdem er mit seiner kurzen Antwort fertig war, wandte Draco sich wieder Dumbledore zu, um sich anzuhören, wie der Direktor Lucius' Vermutungen mehr oder weniger bestätigte. "Es gibt noch jemanden, der im Zusammenhang mit Cedrics Tod erwähnt werden muss", fuhr Dumbledore fort. "Ich spreche hier natürlich von Harry Potter." Bewegung kam in den Großen Saal, als ein paar Köpfe sich in Harrys Richtung drehten, bevor sie sich wieder Dumbledore zuwandten. "Harry Potter ist es gelungen, Lord Voldemort zu entkommen", sagte Dumbledore. "Er hat sein Leben riskiert, um Cedrics Leiche nach Hogwarts zurückzubringen. Er hat in jeder Beziehung mehr Mut im Angesicht von Lord Voldemort bewiesen als die meisten anderen Zauberer, und deshalb möchte ich ihm hiermit die gebührende Ehre erweisen." Dumbledore wandte sich ernst an Harry und hob noch einmal seinen Becher. Fast alle Anwesenden taten es ihm nach. Draco sah von seinem Platz aus zu. Er konnte fühlen, wie sich ihm die Blicke fast aller Slytherins zuwandten. Sie wussten –er hatte gehört, wie man es ihnen gesagt hatte –, dass Lucius etwas über die Rückkehr von Du-Weißt-Schon-Wem wusste, und Draco hatte auch gehört, wie sie sich fragten, ob er selbst wohl in irgendwelche finsteren Geheimnisse eingeweiht war. Seine Miene war nicht zu entziffern, als er zusah, wie die Schüler an den anderen Tischen sich erhoben, Potters Namen murmelten und auf ihn anstießen. Er konnte sich nicht dazu überwinden aufzustehen. Lucius hatte in seinem Brief klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er Potter für einen Mörder hielt und außerdem für jemanden, der eine Gefahr für sich selbst und alle Zauberer und Hexen darstellte, die näher mit ihm in Berührung kamen. Außerdem wusste Draco, dass Lucius ihn am nächsten Tag nach Dumbledores Abschiedsrede fragen würde, und wenn er jetzt aufstand, dann würde er Lucius entweder anlügen oder zugeben müssen, dass er auf Potter angestoßen hatte. Beides würde verheerende Folgen haben, und im Moment wünschte er sich nichts sehnlicher als eine Ausrede, um sich möglichst elegant hier herauszuwinden. *** Am nächsten Morgen schlief Draco länger, als er eigentlich sollte. Die schweigsamen Hauselfen waren immer noch in den Schlafsälen mit Packen beschäftigt, doch Draco nahm sich ein 137
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paar Minuten Zeit, um ein paar persönliche Dinge in seine Schultasche zu stopfen, die er als Handgepäck mitnehmen wollte. Es war nicht nötig, dass die Dienstboten diese Bücher sahen und möglicherweise Lucius etwas davon erzählten. Er biss sich auf die Lippe, als er die meisten Bücher über Gedankenbassins in einen Karton packte, der irgendwann an diesem Tag in Professor Snapes Büro gebracht werden würde. Es gab keinen Grund, sie mit nach Hause zu nehmen. Wenn er die Ginkgo-Blüte von dem Lehrer bekommen hatte, konnte er sich anhand seiner Notizen mit dem Speckstein und den Elfenbeinbestandteilen befassen. Als er in den Großen Saal hinunterkam, war der Slytherin- Tisch fast verlassen. Anscheinend schliefen die meisten seiner Mitbewohner noch immer die Effekte ihrer privaten Abschiedsfeier am Abend zuvor aus. Draco war nur eine Stunde geblieben, da er sich immer noch nicht ganz von Moodys Prüfung erholt hatte. Die Schüler aus Durmstrang saßen wie üblich unglücklich im Saal auf einem Haufen und flüsterten miteinander. Viktor war nirgends zu sehen. Er warf einen Blick durch den Saal zum Gryffindor-Tisch, aber Hermione war nicht da. Er hatte seit dem Tag vor der dritten Aufgabe nicht mehr mit ihr geredet, aber jetzt hatte er den verzweifelten Wunsch, sich mit ihr über Lucius' Brief zu unterha lten. Er drehte sich wieder zum Tisch um. Ein paar Scheiben Toast und zwei große Tassen Kamillentee waren alles, was sein Magen verkraftete, und das grelle Licht der Sonne an der verza uberten Decke tat ihm weh, also schleppte er sich wieder nach unten, um seine Sachen zu ordnen, bevor die Wagen zum Bahnhof abfuhren. Als sie sich endlich am Schultor einfanden, waren die meisten Wagen nach Hogsmeade schon abgefahren. Sie zwängten sich zu fünft in einen hinein und sprachen nicht viel. Pansy rieb sich pausenlos den Kopf und verfluchte sich dafür, dass sie ihre schmerzlindernden Tränke am Abend zuvor eingepackt hatte, und Draco, der als Einziger keinen Kater hatte, probierte ve rschiedene Anti-Übelkeits-Sprüche an seinen Mitbewohnern aus. Leider war Greg so fett, dass die Sprüche nie bis zu seinem rebellierenden Magen durchdrangen, weswegen er ihm keine Linderung verschaffen konnte. Im Zug gelang es ihnen, ein Abteil für sich allein zu ergattern, nachdem sie drei Zweitklässler den Gang hinuntergeschickt hatten. Draco holte sein Exemplar von Vaterland aus seiner Tasche und setzte sich in Fahrtrichtung ans Fenster, aber er las kaum. Stattdessen starrte er aus dem Fenster. Pansy und Lavinia standen immer wieder auf, um andere Schüler zu besuchen oder nach Schmerzmitteln zu fahnden, und Vin und Greg unterhielten sich über die Abschiedsfeier, während sie sich mit dem Gebäck, das sie beim Hinausgehen hatten mitgehen lassen, die Zeit vertrieben; Greg nippte außerdem ständig an dem Blubbernden Magenverstimmungs-Trank, den er ganz unten in Pansys Handkoffer gefunden hatte. Nachdem sie ungefähr eine halbe Stunde in Richtung London unterwegs gewesen waren, fingen Vin und Greg an, sich Gedanken zu machen, wie sie den Strafpredigten ihrer Eltern wegen ihrer wieder einmal verheerenden Zensuren entgehen könnten. Vin wandte sich an Draco und fragte: "Warum wollte Moody nicht mit dir reden, als du ihn nach deinen Zensuren gefragt hast, Draco?" "Vielleicht, weil er ein verschlagenes, rücksichtsloses Schlammblut ist? Oder ein Feigling ohne jegliche Manieren? Hast du irgendeine andere Erklärung dafür? Wenn er nicht so besessen davon gewesen wäre, dass Diggory sich selbst umgebracht oder dass Potter ihn umgebracht hat oder was auch immer sonst passiert ist, dann hätte er sich in seiner Sprechstunde mit einem Schüler, der Fragen hat, zusammengesetzt, wie er es laut Vorschrift in Hogwarts eigentlich tun sollte." Draco ereiferte sich wieder einmal, wie er es immer zu tun pflegte, wenn von Moody die Rede war. "Ich hoffe, dass Dumbledore ihn diesen Sommer irgendwie los wird." "Hat er zu Anfang des Schuljahrs nicht gesagt, er würde nur ein Jahr bleiben?", fragte Greg. "Ich hab' von Arlan gehört, dass er nächsten Herbst wieder unterrichten wird. Allerdings weiß ich nicht, woher er seine Informationen hat", fügte er hinzu.
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
"Wenn er das tut, dann breche ich die Schule ab. Oder ich gehe zu Professor Snape, lasse mich vom Unterricht befreien und bitte ihn um Erlaubnis, stattdessen ein unabhängiges Forschungsprojekt durchzuführen." "Die bekommst du nur, wenn deine Noten über dem Durchschnitt der Klasse liegen, und bei deinen Zensuren in diesem Jahr ...", begann Vin. "Die müssten insgesamt immer noch überdurchschnittlich sein", sagte Draco verzweifelt. All seine anderen Noten waren wie immer ausgezeichnet. Die können Moody das nicht einfach so durchgehen lassen, dachte er unglücklich. Greg fragte: "Was ist mit deinem großen Racheplan?" Draco verfiel in Schweigen. Er hatte niemandem von dem Gedankenbassin erzählt, und da es derzeit noch nicht verwendbar war, konnte er es auch nicht benutzen, um Lucius oder Dumbledore zu beweisen, was in Moodys Stunden und danach tatsächlich passiert war. Lucius' Brief hatte jedoch irgendwie das Versprechen enthalten, dass die Vorurteile gewisser Schlammblüter gegenüber reinem Blut öffentlich bekannt gemacht würden, und Draco konnte nur hoffen, dass Moody sich unter ihnen befand. Er war jedoch nicht sicher, was genau Lucius veröffentlichen würde, da er sich in Bezug auf die Einzelheiten nur sehr vage ausgedrückt hatte. Er durfte niemandem, nicht mal seinen Mitbewohnern, verraten, was Lucius genau gesagt hatte, aber er musste ihnen irgendwie mitteilen, dass er die Lage unter Kontrolle hatte. Wie könnte er irgendeinen unter ihnen beherrschen, wenn sie glaubten, er sei so schwach, dass er sich von einem Schlammblut – und sei es auch ein Lehrer – einschüchtern ließ? "Vielleicht muss ich gar nicht auf meinen Plan zurückgreifen. Lucius scheint da ebenfalls ein paar Ideen zu haben." Er wechselte das Thema. "Wollt ihr zwei nicht die Hexe mit den Süßigkeiten suchen gehen? Ich bin am Verhungern!" Greg befühlte vorsichtig seinen Bauch und meinte, er könne jetzt auch etwas zu essen vertragen. Vin, der nach dem Gebäck immer noch nicht genug hatte, war immer bereit, nach weiteren Leckerbissen Ausschau zu halten. Als sie durch den Gang gingen, hörten sie aus mehreren Abteilen kleine Explosionen – Filibuster-Feuerwerkskörper oder Explodierendes Mau Mau, dachte Draco. Ein paar der Abteiltüren waren geschlossen und erglühten in schwachen AbeoZaubern. Die Jungen kamen grinsend zu dem Schluss, dass ein paar Sechst- und Siebtklässler die Heimfahrt ausgesprochen genossen. Während sie durch den Zug wanderten, unterhielten sie sich mit Schülern aus Slytherin und Ravenclaw und belauschten ein paar langweilige Gespräche der Gryffindors. Sie trafen keine Hufflepuffs, erfuhren jedoch auf ihrem Weg, dass das gesamte Haus im ersten Wagon saß und eine Art "Begegnungstreffen" abhielt, wie Reillys älterer Bruder, ein Siebtklässler aus Ravenclaw, das nannte. Immer wenn er an einer offenen Tür vorbeikam, fühlte Draco die Blicke der Insassen auf sich. Schüler aus allen Jahrgängen und aus allen anwesenden Häusern schienen zu wissen, was während seiner Prüfung in Verteidigung gegen die Schwarze Magie passiert war, und ein paar unter ihnen – inklusive einiger, die Draco kaum kannte – stellten ihm (hauptsächlich hämische) Fragen über Moody, seine Noten und was er dagegen zu unternehmen gedachte. Es war ihm nicht ganz klar gewesen, dass seine Noten ein so beliebtes Gesprächsthema waren, und er fühlte sich dadurch noch unangenehmer an das erinnert, was in diesen Unterrichtsstunden passiert war, und fürchtete sich noch mehr vor Lucius' Reaktion. Wenn jeder Schüler über sämtliche fiesen Einzelheiten unterrichtet war, dann würde Lucius innerhalb von zwei Tagen ebenfalls darüber Bescheid wissen, auch wenn Draco ihm nichts davon erzählte – vorausgesetzt, er wusste es nicht sowieso längst. Als sie sich dem Zugende näherten, hörte Draco durch eine offene Tür vertraute Stimmen. Ein paar Sechstklässler waren mit einem lauten Knall-Poker-Spiel beschäftigt. Tilda Upton rief Draco durch die Tür zu, er solle einen Moment stehen bleiben. "Ich hab' gehört, du hattest vorige Woche Probleme mit Moody. Hast du es schon gemeldet, oder vielleicht dein Dad?" Das gab ihm den Rest. Er hatte die Nase gestrichen voll von all den Fragen und Bemerkungen, und er würde sich fortan nichts mehr gefallen lassen. Er ballte die Fäuste und brüllte mit 139
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
funkelndem Blick: "Jawohl, ich werde diesen Sommer nach Hogwarts Apparieren, Moody ausfindig machen, ihm seinen Zauberstab wegnehmen und ihn nach Herzenslust verfluchen. Will irgendjemand vielleicht versuchen, mich daran zu hindern?", schrie er, wobei er niemanden im Besonderen ansah. Alexa Vale hob den Blick von ihren Karten und sagte: "Na na, jetzt beruhig dich mal, Kleiner. Wir wollten damit gar nichts sagen. He, hat vielleicht einer von euch Lust mitzuspielen?" Draco machte den Mund erst auf und dann wieder zu, ohne ein Wort zu sagen. Sie hatten ihn beleidigt, und jetzt wollten sie, dass er sich hinsetzte und ihnen bei ihrem (vermutlich getürkten) Spiel seine Galleonen überließ? So weit kommt's noch, dachte er, als er Greg sagen hörte: "Ja, klar. Ich hab' schon seit Wochen nicht mehr gespielt." Er warf sich auf einen der freien Plätze, zog seinen Geldbeutel heraus und sagte: "Ich steig' ein!" Vin wandte sich an Draco und meinte: "Ich spiele zwar nicht mit, würde aber gern zusehen und vielleicht die eine oder andere Wette auf einen der Spieler abschließen. Bleibst du auch hier?" "Nicht bei diesen Heinis", sagte Draco und wies mit dem Kopf auf die Spieler. "Ich geh' ein bisschen spazieren", fügte er hinzu und zeigte den Gang hinunter. Ihm war eingefa llen, dass er ohne Vin und Greg vielleicht eine Chance hatte, Hermione ausfindig zu machen und ihr von Lucius' Brief zu erzählen. Er hatte wegen des Abschiedsfests in Slytherin am Abend zuvor und aufgrund seiner Annahme, dass die Gryffindors etwas Ähnliches veranstalteten, nicht versucht, zu ihr zu Projizieren, und hier im Zug war das sowieso unmöglich. Man hatte ihm zu oft gesagt, die einfachste Möglichkeit, seinen Körper zu verlieren, bestünde darin, ihn unbeaufsichtigt irgendwo öffentlich in einem sich vorwärtsbewegenden Fahrzeug zu hinterlassen. Es war natürlich ein Risiko, im Zug mit ihr zu reden, aber falls jemand sie sah und annahm, er überbrächte ihr eine Nachricht von Professor Snape, wäre es zumindest erklärbar. Also lief er durch den Zug, wobei er nach Hermione und der Hexe mit den Süßigkeiten Ausschau hielt und in einige der Abteile "hallo" rief. Schließlich erblickte er sie gleich beide zusammen mit Weasley am Ende eines Ganges. Er drückte sich an die rüttelnde Tür und hoffte, dass sie ihn nicht bemerken würden. Obwohl er wusste, dass er zu weit entfernt war, um irgendetwas damit zu erreichen, dachte er immer wieder: "Geh rein, Weasley, geh wieder rein." Zum Glück ging Weasley tatsächlich wieder ins Abteil, während Hermione noch im Gang bei der Hexe mit den Süßigkeiten stehen blieb. Sobald er drin war, ging Draco so schnell er konnte auf sie zu und machte ihr ein Zeichen zu warten, aber entweder hatte sie ihn nicht gesehen, oder sie wollte nicht warten, da sie schon wieder hineingegangen war und die Tür hinter sich zugezogen hatte, noch bevor er die Hälfte der Strecke zu ihr zurückgelegt hatte. Wenigstens war die Hexe mit den Süßigkeiten noch da, so dass er sich zumindest etwas zu Essen kaufen konnte, wenn er schon nicht mit Hermione reden konnte. Er suchte sich ein paar Blätterteigburger, Schokofrösche und Sprießende Nüsse aus, und sie holte eine Flasche Kürbissaft für ihn heraus und steckte alles zusammen in eine Tüte, damit er es besser zu seinem Platz zurücktragen konnte. Während er eine Galleone aus seinem Geldbeutel fischte, hörte er aus Hermiones Abteil Stimmen. Potter war auch drin und erzählte seinen Freunden wieder irgendwelche Geschichten. Wie hielt Hermione es nur mit so einem selbstherrlichen Trottel aus?, fragte er sich. Er konnte im Geiste fast Lucius' Worte hören: Wir werden mit den Schlammblütern und Muggelfreunden, die nicht verstehen, wie wichtig reines Blut ist, oder denen das egal ist, Tacheles reden. Ein Umschwung steht unmittelbar bevor, und ich werde unter jenen sein, die ihn vorantreiben. Er musste einfach mit ihr reden, und das hier war vielleicht die letzte Gelegenheit, bevor sie London erreichten, danach wäre es zu spät. Lucius würde es erfahren, wenn Draco eine Eule zum Haus eines Schlammbluts schickte, und es gab keine Garantie dafür, dass sie sich nächste Woche oder so in der Diagonallee treffen würden. Während er durch den Zug gewandert war, hatte er darüber nachgedacht, was er ihr erzählen wollte und hatte im Geiste eine kleine Rede verfasst, überarbeitet und geprobt, so was in der Art von: Hermione, es ist vielleicht am 140
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
besten, wenn du den Sommer über untertauchst, zieh keine Aufmerksamkeit auf dich, halte dich im Hintergrund. Vielleicht würde sie ihm ja glauben und ihm die Erklärung ersparen, warum er so etwas zu ihr sagte. Er hörte durch die Tür Potters Stimme, der gerade fragte: "Wie hattse daf gemacht?", und dann murmelte Weasley irgendwas als Antwort. Würden sie gehen? Vielleicht würden sie Weasleys Super-Brüder besuchen gehen, dann könnte er mit Hermione reden. Vielleicht ... vie lleicht ... vielleicht ... Vielleicht war das seine beste Chance. Er mochte den Gedanken nicht besonders, dass Potter und Weasley erfuhren, was vorging, aber wenn er Hermione irgendwas erzählte, vor allem, wenn es mit dem Finsteren Lord zu tun hatte, würde sie es diesen Armleuchtern vielleicht weitersagen, weil sie glaubte es ihnen zu schulden, obwohl sie vermutlich nicht einmal halb so viel über sie wussten wie Draco. Er straffte die Schultern, hob die Hand, um an die Tür zu klopfen und ... "Draco! He, was machst du denn hier?" Greg Goyles unverwechselbare Stimme hallte von den Wänden wider. Draco fuhr zusammen; er war sicher, dass die Insassen des Abteils Greg gehört hatten, da sie einen Augenblick, der sich zu einer Ewigkeit auszudehne n schien, schwiegen. Draco dachte sich für seine Mitbewohner schnell eine Erklärung aus. Dann hörte er Weasley seinen Namen sagen – fragten sie Hermione irgendwas über ihn? Das könnte als Erklärung fast ausreichen. Draco machte Greg und Vin, die hinter ihm standen, ein Zeichen still zu sein und benutzte seinen Zauberstab, um schnell ein Wort in die Luft zu schreiben: "Lauschangriff", besagte es in giftgrünen Buchstaben. Die Slytherins gingen übertrieben leise auf Draco zu, so als ob ihre Schritte sogar das Fahrgeräusch des Zuges übertönen könnten. Nun, da er seine Entschuldigung ausgesprochen hatte, musste er das Gespräch auch bela uschen. Es hörte sich so an, als redeten sie über Rita Skeeter. Draco presste seinen Zauberstab mit einem Ende an die Wand und mit dem anderen an sein Ohr und flüsterte: "THX." Nun konnte er jedes Wort verstehen, das sie sagten. Hermione sagte: "So ist sie an all diese hübschen Interviews der Slytherins gekommen. Denen war es egal, dass sie etwas Verbotenes getan hat, solange sie ihre gemeinen Geschichten über uns und Hagrid bei ihr loswerden konnten." Sie sprachen also wirklich über Rita! Draco fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Was, wenn sie erfuhren, dass Draco Hermione über Rita aufgeklärt hatte? Oder noch schlimmer, wenn Lucius Draco verdächtigte, Hermione von Rita erzählt zu haben? Immer mit der Ruhe, dachte er. Wie sollte er denn darauf kommen? Es weiß ja kaum jemand, dass wir überhaupt miteinander reden. Er zog sich von der Tür zurück und warf Vin und Greg einen Blick zu. Das Gespräch auf der anderen Seite der Wand schien sie überhaupt nicht zu interessieren; Greg wühlte in Dracos Tüte mit den Süßigkeiten, und Vin drehte seinen Zauberstab zwischen den Fingern. "Können wir jetzt gehen?" Draco flüsterte: "Noch nicht, ich muss das hier noch hören." Er musste wissen, wie schlimm es kommen würde und hoffte zu erfahren, was genau Hermione mit Rita angestellt hatte. Es wäre vielleicht die einzige Möglichkeit, Lucius' Zorn abzuwenden, falls - beziehungsweise wenn - er von einigen der Geschehnisse im letzten Jahr erfuhr. Er hörte wieder Hermione, die gerade sagte, sie hätte Rita in ein Glas gesperrt. Sie muss sie gefunden haben, als sie in ihrer Animagus-Gestalt war, überlegte Draco. Er hörte Hermione sagen: "Ich habe das Glas mit einem Unzerbrechlichkeits-Zauber belegt, wisst ihr, damit sie sich nicht verwandeln kann. Und ich hab' ihr gesagt, sie müsste ihre Feder ein ganzes Jahr lang einmotten. Wollen doch mal sehen, ob sie es sich nicht abgewöhnen kann, gemeine Lügen über andere Leute in die Welt zu setzen." Nein, dachte Draco. Das würde nicht gehen. Das würde Lucius noch mehr in Rage bringen als zu erfahren, dass sein Sohn mit einem Schlammblut zusammen lernte. Er musste mit ihr
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
reden, sie warnen, ihr seine Informationen im Austausch gegen ihr Insekt im Glas verkaufen. Sie würde das verstehen, das tat sie immer, auch wenn er sich nicht ganz klar ausdrückte. Er nahm den Zauberstab von der Tür, hob die Zauberformel auf, und Vin und Greg umringten und fragten ihn, was er jetzt tun wolle. "Ich muss mit ihnen reden", sagte Draco. "Das geht den Propheten an. Ihr könnt entweder mit reinkommen oder wieder zu eurem Pokerspiel gehen." Keiner sagte etwas, als Draco die Tür aufzog. Draco sprach langsam, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, während er sich gemächlich ins Abteil schob, wobei ein nervöses Lächeln, von dem er hoffte, dass es gewinnend war, um seine Lippen spielte. Vielleicht hören sie mir eher zu, wenn ich den Propheten und das, was Rita mich hat sagen lassen, herunterspiele, dachte er und sagte: "Du hast eine erbärmliche Reporterin gefangen, und Potter ist mal wieder Dumbledores Liebling. Tolle Sache." Es gibt weit tollere Sachen, und über die musst du dir Gedanken machen. Er riss die Augen weit auf und versuchte, so ehrlich und offen auszusehen, wie er konnte. Vin und Greg sahen nur verwirrt aus. Draco wünschte sich, sie würden gehen; er hätte viel mehr sagen können, wenn sie nicht dabei gewesen wären, aber so dumm sie sich im Unterricht auch manchmal anstellten, es bestand immer das Risiko, dass sie irgendwas von dem, was er sagte – etwas unklar Formuliertes, nicht ganz Durchdachtes – wiederholten und Lucius erzählten. Ich muss sie dazu bringen, sich auf das Unmittelbare zu konzentrieren, dachte Draco. "Wir versuchen wohl, nicht dran zu denken, was?", sagte er sanft und sah dabei erst Hermione und dann Potter und Weasley an. "Wir versuchen so zu tun, als wäre es nicht passiert?" "Raus hier", rief Potter. Könnte dir so passen, dachte Draco. Du willst das vermutlich nicht hören, aber ich werde dafür sorgen, dass Hermione weiß, welches Risiko sie eingeht, wenn sie mit dir befreundet ist. Wenn sie unauffälliger wäre, das heißt, wenn sie nicht ständig mit dir zusammen wäre, würde niemand Notiz von ihr nehmen, und sie wäre einfach nur ein Schlammblut mehr, das gute Zensuren einheimst. Und das könnte man übersehen. Man kann sie aber nicht übersehen, wenn sie mit dir zusammen ist. Seit der Abschiedsfeier am Abend zuvor war er Hermione nicht mehr so nahe gekommen, und gestern hatte er nicht mit ihr reden können. Das hier würde vermutlich seine beste Chance sein, mit ihr zu sprechen, seit er sie bei der dritten Aufgabe auf der Tribüne gesehen hatte. Sie wich seinem Blick aus und sah auf ihre Katze hinunter, die sich auf ihrem Schoß im Schlaf rekelte. Sie sah irgendwie aus, als hätte sie Angst– vielleicht vor ihm? Merkte sie nicht, dass er sein Bestes tat, um sie zu warnen? Anders konnte er es vor so vielen Leuten nun mal nicht machen. "Du hast die falsche Seite gewählt, Potter! Ich hab' dich gewarnt! Hab' ich dir nicht gesagt, du solltest dir deine Freunde sorgfältiger aussuchen? Hast du das vergessen? Das war am ersten Tag in Hogwarts, als wir uns im Zug getroffen haben. Ich hab' dir gesagt, du solltest dich nicht mit Pack wie diesem abgeben!" Er wies mit dem Kopf auf Weasley und sah Hermione irgendwie verzweifelt an. Bitte versteh, was ich damit sagen will, dachte er und starrte sie an. Lass mich einfach ausreden, bring deine lästigen Freunde dazu mir zuzuhören. "Jetzt ist es zu spät, Potter! Nun, da der Finstere Lord wieder da ist, werden sie die Ersten sein, die abtreten müssen! Und wenn du nicht vorsichtiger bist, wirst du für den Tod deiner Freunde verantwortlich sein. Schlammblüter und Muggelfreunde zuerst! Die nächsten – Diggory war der Er ..." Doch bevor er seinen Satz beenden konnte, bevor er aussprechen konnte, dass das, was mit Cedric passiert war, jedem anderen Schüler auch hätte passieren können – jedem, der mit Potter zusammen war – explodierte im Abteil ein Kaleidoskop von Feuerwerk, und alles um ihn herum wurde schwarz. ***
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Draco konnte endlich Seezon Alley vor sich sehen. Während die Diagonallee in der magischen Welt als fantastisches Einkaufsviertel galt, war Seezon Alley, die erst vor einem Jahrhundert angelegt worden war und sich entlang der Themse erstreckte, berühmt für ihre Luxusrestaurants, ihre Vergnügungsparks, ihre zahlreichen Ferienhotels und für ihren Zoo, der unter dem Namen Echt Magische Menagerie bekannt war. Die neueste Attraktion dort war Simon Branfords luxuriöses Bad, in das sich Hexen aus der ganzen Welt per Portal-Schlüssel begaben, um sich einen Tag lang verwöhnen zu lassen, zum Bespiel mit Levitierenden Momenten™, einer Massage, die ausgeführt wurde, während man einen Meter über dem Boden schwebte, SchlammBlut™, wobei man in eine Wanne mit gereinigtem Schlamm tauchte, der aus der Que lle von Stonehenge stammte, oder mit Branfords patentierten Borstigen Horklumps. Die magischen Zoologen Großbritanniens waren völlig aus dem Häuschen gewesen, als das Bad bekannt gegeben hatte, dass diese stoppeligen Geschöpfe zu irgendetwas nutze seien. Narcissa war begeistert davon. Zum Glück war für Rita das auch, da sie den Anweisungen, die Draco in seiner Nachricht erteilt hatte, nachgekommen war. Als er im grellweißen Foyer eintraf, fühlte er sich unter den in alle möglichen pastellfarbenen Roben gekleideten Hexen, die auf sprudelnden Diwanen und Sesseln ruhten, äußerst unbehaglich; er stellte sich als Vertreter des Propheten vor, der mit der Starreporterin reden musste, woraufhin die Empfangsdame ihm mitteilte, Rita genieße gerade eine brodelnde Schlammpackung. Nachdem er seine letzten Galleonen auf ihrem Schreibtisch hinterlassen hatte, öffnete sie die Tür zum Flur und führte ihn ins Bernsteinzimmer, wo Rita in einer Badewanne von drei Metern Durchmesser schwamm, die mit blubberndem Schlamm gefüllt war, während einer der Bad-Elfen ihre furchterregend langen Fingernägel manikürte. Simon Branford massierte ihr gerade höchstpersönlich die Füße. Es war ganz eindeutig ein unheimliches Szenario und wurde nur dadurch gemildert, dass die Kerzen im Raum ein so schwaches Licht verbreiteten, dass er wenig mehr als Umrisse erkennen konnte. Rita bemerkte ihn nicht, als er in den Raum schlüpfte, und fuhr derart erschrocken hoch, als er sie ansprach, dass der Elf gegen die Wand geschleudert wurde. "Draco", sagte Rita barsch, "was zum Teufel tust du denn hier? Wie bist du ins Allerheiligste der Hexen hineingekommen? Hast du jemanden bestochen?" "Ehrlich gesagt hatte ich keine Wahl. Ich musste Sie finden." Rita steckte ihren linken Fuß unter die Blasen und sagte: "Simon, ich glaube, Sie können jetzt eine Pause machen." Ein rasches Finite Incantatem schickte ihn fort, und sie sagte zu Draco: "Wozu all die Mühe? Das Schuljahr ist vorbei, und ich ge he gleich zu meinem Agenten, um mich mit ihm darüber zu unterhalten, ob es sich vielleicht lohnt, auf Reisejournalismus umzusteigen. Und das ist alles deine Schuld." "Meine Schuld?", fragte Draco überrascht. "Was hab' ich denn getan?" "Du hast deiner Freundin erzählt, dass ..." "Sie ist nicht meine Freundin", unterbrach Draco sie. "Das sagst du, und sie auch. Ich habe seit letztem März weder dir noch ihr ein Wort geglaubt", bemerkte Rita. "Aber darum geht's hier nicht. Ihr beide seid mir ehrlich gesagt ziemlich egal, ich habe nur keine Lust, in Azkaban zu landen. Sie ist nämlich ein ganzes Stück ausgebuffter als du, Draco. Wenn du auch nur einen Funken Fantasie hättest, dann hättest du den Spieß umgedreht, als ich dich im Frühjahr erpresst habe, so hat sie das nämlich gemacht." Draco schluckte den Köder nicht. Wenn er sie damals bloßgestellt hätte, dann wäre die Ze itung womöglich dafür zur Rechenschaft gezogen worden, wissentlich einem Animagus Unterschlupf gewährt zu haben, und Lucius hätte es herausgefunden und Draco die Schuld daran gegeben, dass eines der Firmengeheimnisse des Propheten ans Licht gekommen war, und das war die Sache nicht wert. Rita fuhr fort: "Ich habe beschlossen, ein Jahr lang um die Welt zu reisen. Ich warte nur noch darauf, vom Propheten ein paar nette Aufträge zu bekommen. Wie wär's mit einem Monat auf Ibiza? Ich hab' gehört, da soll gerade ziemlich was los sein." 143
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Draco sah sie fragend an und sagte: "Kann ich zu Ende erklären, warum ich hier bin?" "Der größte Teil von mir schert sich keinen Knut darum, aber wenn das die einzige Methode ist, um dich loszuwerden, dann mach mal." "Sie müssen mit mir zur Redaktion kommen. Mein Vater erwartet Sie dort heute Nachmittag, und er hat zu mir gesagt, ich solle Sie suchen und hinbringen." In der Dunkelheit des Raumes konnte Draco dort, wo das Kerzenlicht auf Ritas Goldzähnen funkelte, erkennen, dass sie lächelte. "Ich glaube nicht, dass er das getan hat. Ich glaube, du hast dich freiwillig dazu erboten. Und tu nicht so, als wärst du überrascht, ich weiß genau, wie ihr zwei vorgeht. Ich habe ihn lange genug beobachtet, und ich denke, ich habe auch ein Gefühl für dich bekommen, mein Kleiner. Wäre es richtiger zu sagen, dass du Lucius so wenig wie möglich über Hermione Granger erzählt und ihn stattdessen im Glauben gelassen hast, dass du sie herumschubsen und dazu bringen könntest, mich dir zu überlassen? Und dass du es getan hast, damit er dich im Gegenzug etwas tun lässt, das du gern tun möchtest?" Draco wurde blass und wusste, dass Rita es gesehen hatte. "Es ist schon erstaunlich, wie viel Zeit man zum Nachdenken hat, wenn man in einem unzerbrechlichen Glas gefangen ist und nichts außer ein paar Scheißblättern zu essen hat!", sagte sie wütend. "Sag mir doch noch mal, Draco – warum sollte ich dir noch gleich helfen?" Er dachte fieberhaft nach, was er darauf antworten könnte, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es viel Zweck hätte, an ihre Pflicht gegenüber der Zeitung, ihre Loyalität gegenüber den Malfoys oder an ihr Verantwortungsgefühl ihren Auftrag zu erfüllen zu appellieren, selbst wenn sie im Grunde nicht mehr tat, als einem anderen Reporter genug Informationen und Stoff zuzuspielen, damit er darüber einen Artikel unter seinem eigenen Namen schreiben konnte. Argumentieren war zwecklos, also sagte er nur: "Bitte." Er bettelte nicht, er wollte sie nicht mal um etwas bitten, aber er war verzweifelt. Er konnte Lucius nicht als Versager unter die Augen treten. Er hatte im letzten Schuljahr genug Fehler gemacht, er konnte den Sommer nicht mit einem neuen Fehler beginnen. "Ich schulde Ihnen einen Gefallen. Das ist alles, was ich Ihnen anbieten kann." Er konnte fühlen, wie Rita Skeeter ihn sehr aufmerksam beobachtete. Er runzelte die Stirn, wich ihrem Blick aus und sah sich stattdessen im Raum nach etwas um, worauf er seine Aufmerksamkeit richten konnte. Unter ihrem Blick fühlte er sich, als ob ein Irischer Phönix über sein Grab gewandelt wäre. Die Stille wurde nur von dem geschäftigen Bad-Elfen unterbrochen, bis Rita schließlich sagte: "Wenn die Zeit kommt, deine Schulden zu bezahlen, Draco, wirst du dir wünschen, du hättest mir dieses Angebot nie gemacht. Eines Tages werde ich etwas von dir verlangen, das du mir nicht leichten Herzens geben kannst." Plötzlich durchfuhr ihn die Erinnerung an Mr. Nim, seinen ersten Geschichtsle hrer, der ihm von einem Gringotts-Kobold erzählt hatte, der einen Pakt mit einem skandinavischen Bauernmädchen geschlossen hatte. "Solange du mir nicht meinen erstgeborenen Sohn nimmst ..." Rita ließ ein ausgesprochen bitteres Lachen ertönen. "Ich werde nicht diejenige sein, die Anspruch auf diesen besonderen Schatz erhebt." Sie hielt inne und sah Draco an, als ob sie erwartete, dass er irgendetwas unternahm. "Warum stehst du immer noch da rum? Lauf zur Zeitung zurück, ich genieße noch den Rest meiner Behandlung, dann fliege ich auch hin." "Sie wollen wieder transformieren? Wenn ich Sie wäre ..." "Ich habe nicht vor, mich vor Beginn des nächsten Jahrtausends wieder in einen Käfer zu verwandeln. Ich kann auch Apparieren, weißt du. Möglicherweise bin ich schon vor dir dort." Sie hatte natürlich Recht. Er würde mindestens eine halbe Stunde brauchen, um zur Diagonallee zu fliegen. Die Abteilung für Verkehr im Ministerium redete ständig davon, eine Kaminverbindung zwischen Seezon Alley und der Diagonallee zu eröffnen, doch Beschwerden von Umweltpolitikern brachten das Projekt immer wieder dadurch zum Scheitern, dass sie mehr Studien zu den Auswirkungen zusätzlicher Kaminfeuer auf die anliegenden Muggel-Gemeinden forderten.
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Lucius hatte natürlich jede Menge Leitartikel geschrieben, in denen er sich vernichtend darüber äußerte, wie wenig Rücksicht die Muggel auf ihre Umwelt nahmen und hinzugefügt, dass man sie nicht nach ihrer Meinung über so einfache Dinge wie magische Feuerstellen fragen sollte, die so geringe Auswirkungen hatten, vor allem im Vergleich mit ihren stinkenden Automobilen und Flugzeugen. Die von Zauberern verwendeten Autos waren wenigstens auf magische Weise so modifiziert worden, dass sie weder Benzin noch irgendwelche anderen widerlichen, stinkenden Substanzen benötigten. Der Flug zur Diagonallee war wesentlich entspannender als irgendeiner seiner anderen Ausflüge an diesem Tag. Rita hatte ihm ihr neuestes Notizbuch und eine ihrer giftgrünen Federn gegeben, für den Fall, dass Lucius einen Beweis dafür verlangte, dass sie auf dem Weg dorthin war. Sie hatte ihrem Boss sogar eine kurze Notiz auf eines der leeren Pergamentstücke gekritzelt. Draco hatte vor, seinen Beweis dafür, dass Rita frei und auf dem Weg zu Lucius war, einfach bei seiner Sekretärin abzugeben, aber als er dort ankam, sagte sie: "Geh rein. Dein Vater erwartet dich schon." Lucius' DiktaFeder huschte über ein Stück Pergament und schrieb das offizielle Memo nieder, das alle Mitarbeiter als wöchentliches Rundschreiben erhielten. Als Draco hereinkam, hielt sie an und legte sich auf Lucius' Befehl auf seinen Schreibtisch. Draco war erstaunt und erfreut, Lucius lächeln zu sehen. Er hatte ihn natürlich in diesem Jahr nicht oft gesehen, aber seit Beginn des Schuljahrs hatte Lucius noch nie so fröhlich ausgesehen. Und als sein Vater nun hinter seinem Schreibtisch hervorkam, um Draco so fest zu umarmen, dass er kaum noch Luft bekam, wusste er nicht, wie er darauf reagieren sollte. Es war offensichtlich, dass Rita bereits in der Redaktion eingetroffen war, und ebenso offensichtlich, dass Lucius noch nichts von ihren Plänen im Hinblick auf Tapetenwechsel wusste. Wenn er es gewusst hätte, wäre er nicht so fröhlich gewesen. "Ich vermute, sie ist wieder da?", fragte Draco zögernd. "Nicht nur das, sondern sie arbeitet und schreibt auch schon wieder, so dass wir endlich Gelegenheit haben werden, über Potters Verhalten während der dritten Aufgabe zu berichten. Wollen doch mal sehen, wie der kleine Zauberer von der Straße auf diesen Bericht aus erster Hand reagiert!", antwortete Lucius aufgeregt. "Das hast du gut gemacht, mein Sohn. Das hatte ich nicht erwartet ... aber trotzdem, es ist dir gelungen, und das genügt für den Augenblick. Was willst du mit dem Rest des Nachmittags anfangen?" "Ich soll doch um fünf zu meinem ersten Quidditchtraining zu Hause sein, oder?", fragte Draco im Gege nzug. Lucius' Antwort verriet ihm, dass er an diesem Nachmittag noch nicht die letzte Überraschung erlebt hatte. "Das lassen wir ausfallen. Ich will heute mit dir zu Abend essen, hier in der Diagonallee. Dann kannst du mir erzählen, wie du Rita aufgespürt und die perfekte kleine Miss Schlammblut dazu gebracht hast, sie dir zu überlassen. Wir treffen uns hier um halb acht." Draco fragte sich, ob er sich wirklich in Lucius' Büro befand und nicht stattdessen in eine Parallelwelt geraten war, als er das Redaktionsgebäude betreten hatte, aber falls das hier der Wirklichkeit entsprach, dann würde er Lucius' gute Laune ausnutzen. "Kann ich bis dahin zu Flourish & Blott's gehen?", fragte er. Lucius nickte, also fuhr Draco fort: "Dann brauche ich ein paar Galleonen. Ich habe heute kein echtes Geld dabei." Er musste Lucius ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass er auch im Herrenhaus nicht mehr viel hatte, da er sein ganzes Geld am letzten Woche nende in Hogsmeade ausgegeben hatte. "Ich habe nicht viel dabei – nicht einmal genug für die Art Abendessen, die wir uns heute genehmigen werden. Warum gehst du nicht rüber zu Gringotts und hebst ein bisschen Kleingeld ab? Es ist zu umständlich, es aus meinem Tresor-Gewölbe zu holen, aber wenn du zwanzig aus deinem eigenen holst, sorge ich dafür, dass es noch diese Woche ersetzt wird." Draco war noch nie ohne Lucius oder Narcissa im Schlepptau bei Gringotts gewesen, aber es würde ja wohl nicht weiter schwierig sein, einen Abstecher zu seinem eigenen Gewölbe zu machen. Ihm fiel allerdings ein, dass er seinen Schlüssel nicht dabei hatte – der war auch im 145
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
Herrenhaus, und er sagte es Lucius. "Dann gebe ich dir ein Ausweis-Schreiben mit. Feder", sagte Lucius und richtete seinen Zauberstab auf die DiktaFeder. "Eine neue PergaNotiz bitte – an den Leitenden Kobold, Gringotts-Bank. 'Bitte betrachten Sie dieses Schreiben als Vollmacht für meinen Sohn, um sein Gewö lbe zu öffnen. Die Nummer ist in Ihren Unterlagen verzeichnet. Ich erwarte, dass Sie ihm mit dem ihm gebührendem Respekt begegnen, da er heute mein Vertreter bei Ihrer Bank ist.'" Dann rollte er das Pergament zusammen, gab es Draco und schickte ihn mit einem Schulterklopfen hinaus. Draco schnappte sich seinen Besen und nahm die Schräge hinunter bis zur Eingangstür förmlich in kleinen Sprüngen. Ein Freispruch von Lucius! Die Chance, im Buchladen einzukaufen, ohne dass er ihm dabei über die Schulter sah! Nicht mal das Abendessen dürfte allzu stressig werden, da Lucius mit Dracos abenteuerlichem Tag ganz eindeutig zufrieden war und Draco auf keinen Fall für Ritas Bitte um einen neuen Aufgabenbereich verantwortlich machen konnte. Oder doch? Er hoffte, beim Hinausgehen die amerikanische Praktikantin Cassandra irgendwo zu treffen, aber als er sie in Mr. McKennas Büro erspähte, wo sie offensichtlich an einer langwierigen Redaktionssitzung teilnahm, hielt er nicht an, um sich mit ihr zu unterhalten. Er hoffte, irgendwann in diesem Sommer noch einmal Gelegenheit dazu zu haben. Als er durch die zwei Stockwerke hohen Türen trat, die direkt auf die Diagonallee führten, sah er ein paar Meter vor sich eine vertraute Gestalt die Straße überqueren. Er hatte seit fast einer Woche nicht mehr mit Professor Snape gesprochen und hatte noch ein paar Minuten Zeit, um ihn zu begrüßen, bevor er zur Bank musste. Draco hatte ein paar Fragen bezüglich der Prüfungen und der Ginkgo-Blüte, die er brauchte, um weiter an dem Gedankenbassin arbeiten zu können. Draco rief ihn an: "Hallo, Professor! Hätten Sie eine Minute Zeit für mich?" Professor Snape blieb stehen, drehte sich um und ging zurück, um Draco zu begrüßen. Er sah blass aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Draco nahm an, er habe zu viel Zeit damit verbracht, die Abschlussprüfungen zu korrigieren. Nachdem sie ein paar Höflichkeiten ausgetauscht hatten, nahm Draco die Gelegenheit wahr, um Professor Snape bei etwas um Hilfe zu bitten. "Während der Woche zwischen den Prüfungen und dem Abschiedsfest habe ich mindestens dreimal versucht, bei Moody einen Termin zu bekommen, um mit ihm über meine Note in Verteidigung gegen die Schwarze Magie zu reden, aber er hat nicht mal darauf reagiert. Aber wenn ich will, dass meine Zensur noch mal geändert wird, dann muss ich ihn darum bitten, und er hat das unmöglich gemacht. Könnten Sie für mich mit ihm reden?" Professor Snape wurde noch bleicher. Er machte den Mund ein paar Mal auf und zu, so als ob er Schwierigkeiten hätte sich zu artikulieren. "Setzen wir uns doch", sagte er schließlich, packte Draco am Ellbogen und dirigierte ihn zu einer leeren Bank. "Da ist etwas, das Sie über Moody wissen müssen. Eigentlich sind es sogar zwei Dinge. Den ersten Teil davon kennen Sie schon, würde ich mal sagen. Soweit ich weiß, wurde letzte Woche in der ganzen Schule darüber geredet, aber ich war beschäftigt und ..." Professor Snape verstummte, bevor er mit so leiser Stimme fortfuhr, dass es nunmehr nur noch ein Flüstern war. "Draco, Moody war gar nicht wirklich Moody. Sie haben Alastor Moody nie kennen gelernt. Ihr diesjähriger Lehrer in Verteidigung gegen die Schwarze Magie war ein Schwarzer Magier, der Mad Eye Moody entführt und sich für ihn ausgegeben hat, um im Auftrag von Sie-Wissen-Schon-Wem an Harry heranzukommen. Er hatte bei Cedric Diggorys Tod, Potters Verschwinden beim Trimagischen Turnier und Sie-Wissen-Schon-Wessen Rückkehr die Finger im Spiel. Sie wissen doch über Letzteres Bescheid, oder?" Draco stieß einen Ruf der Verblüffung aus. Wie konnte das sein? Wie konnte Moody nicht Moody sein, sondern ein Schwarzer Magier? Und wenn er ein Schwarzer Magier war, warum hatte er Draco dann so behandelt? Hätte er nicht viel zu viel Angst davor haben sollen, einen Malfoy zu misshandeln, wenn er nicht wirklich ein Auror war und deren Immunität genoss? Während ihm alle möglichen Fragen durch den Kopf schossen, überkam ihn ein irgendwie be-
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
täubendes und total unwirkliches Gefühl. Alles, was ihm als Antwort auf Professor Snapes sensationelle Enthüllung einfiel, war: "Wie?" Professor Snape fing an zu erklären, wie der falsche Moody Polyingrediens-Trank benutzt hatte, um Moodys Aussehen anzunehmen, wie er Potters Namen in den Feuerkelch gesteckt und während der letzten Aufgabe Zauberformeln gesprochen hatte, damit Potter den Pokal als Erster erreichte. "Aber Potter war zu edelmütig, um das Turnier einfach so zu gewinnen", fuhr der Lehrer fort und knirschte mit den Zähnen, bevor er weitersprach, "und wollte den Titel mit Cedric Diggory teilen. Cedric ist fast unmittelbar darauf ermordet worden, und Sie-Wissen-SchonWer hat sich von einem Todbringer bei seiner Auferstehung assistieren lassen. Und das ist das zweite, was ich Ihnen sagen muss", sagte der Lehrer weiter. "Teil des Auferstehungsprozesses war eine Zauberformel, die eine verwesende Leiche erforderte." "Warum ist es so wichtig, dass ich ..." Draco riss die Augen auf, als die Erkenntnis ihn traf. "Sie meinen, ich ... wie könnte ich ...? Das wusste ich nicht! Was habe ich ...? Kamen die Anweisungen nicht von Mr. Crouch im Ministerium?" "So haben wir uns das alles zusammengereimt", sagte Professor Snape. "Sie kamen tatsächlich von Mr. Crouch, jedenfalls in gewisser Weise, aber eigentlich stammten sie von Sie-WissenSchon-Wem höchstpersönlich. Der Finstere Lord hat seine Spie lchen mit Ihnen getrieben, Draco, und wenn ich Recht habe, auch mit Ihrem Vater. Ich kann nicht glauben, dass Lucius Sie wissentlich in diese Situation gebracht hat." "Sie meinen mit den Recherchen? Die Recherchen, die ich angestellt habe, und die sie benutzt haben, um ... um ..." Draco konnte hören, wie seine Stimme immer schriller wurde. Er musste völlig hysterisch klingen. Was mussten die Leute denken, die vorbeikamen? Er musste sich irgendwie beruhigen. Er schlug die Hände vors Gesicht und sackte auf seinem Stuhl in sich zusammen. Eine Frage kristallisierte sich aus dem Nebel, der seine Gedanken verschleierte, heraus, etwas ungeheuer Wichtiges, das er unbedingt wissen musste. "Wer war er?" "Moody? Das war Mr. Crouchs Sohn. Mr. Crouch selbst war nicht mit Sie-Wissen-SchonWem im Bunde, obwohl wir der Meinung sind, dass er seinen Geschäften eine ganze Weile unter dem Imperius-Fluch nachgegangen ist." Professor Snape unterbrach sich. "Ich sollte Ihnen das alles gar nicht erzählen. Es könnte gefährlich für Sie sein, wenn Sie es wissen. Wenn Ihr Vater herausfände ..." "Wie viel gefährlicher kann es für mich noch werden, nachdem ich direkt etwas mit der Rückkehr des Finsteren Lords und mit Diggorys Tod zu tun habe, und ..." Er bekam kaum noch Luft und fühlte, wie er anfing zu keuchen, obwohl das Atmen ihm an einem so sonnigen Nachmittag eigentlich leicht fallen sollte. "Dafür können Sie nichts. Bitte, hören Sie mich an. Ich werde Ihnen so viel erzählen wie ich kann, aber zuerst sollten Sie wissen, dass ich Dumbledore alles gesagt habe." "Alles?", fragte Draco. Er fühlte sich derzeit nicht in der Lage, eine komplexere Frage zu stellen. "Was Moody mit Ihnen gemacht hat, worin Ihre 'Prüfung' bestand, alles, was er nach Ihren Worten zu Ihnen gesagt hat und auch das mit Ihren Recherchen." "Werde ich von der Schule fliegen?", fragte er. "Nein, Dumbledore weiß ja, dass Sie nichts dafür können. Er hat sich doch selbst von dem falschen Moody hinters Licht führen lassen, wie könnte er Ihnen dann vorwerfen, dass Sie nicht bemerkt haben, dass Crouc h ein Betrüger war? Er wird im September mit Ihnen darüber sprechen, und er hat schon veranlasst, dass Ihre Note in Verteidigung gegen die Schwarze Magie geändert wird." Das war eine Erleichterung, dachte Draco. Wenigstens brach nicht alles zusammen – nur ein paar Dinge. Er hörte Professor Snape zu, der ihm von Barty Crouch erzählte und wie er in die Rolle von Mad Eye Moody geschlüpft war. "Während ich mir seine Geschichte angehört habe, und als Dumbledore später ein paar Lücken gefüllt hat, wurde mir klar, dass es nicht Ihrem Vater 147
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
oblag zu entscheiden, dass Sie die nötigen Recherchen durchführen sollten. Crouch hatte gewisse Bücher nicht im Haus, und sein Sohn war kein Gelehrter. Für Sie-Wissen-Schon-Wen hing viel von der Zauberformel ab, und er hat Moody nicht zugetraut, dass er es richtig hinbekommen würde, also ..." "... haben sie mich benutzt." "Ich bin seit ... nun ja, seit mir selbst keinem jungen Mann mehr begegnet, der im Ruf stünde, so gründliche Nachforschungen zu betreiben, wie Sie das tun, aber diese Geschichte heben wir uns besser für ein andermal auf. Ich würde sagen, es gab ein paar Gründe dafür, dass Sie der geeignetste Kandidat für diese Aufgabe zu sein schienen. Sie sind diskret und gehorchen Ihrem Vater. Jeder, der Ihre Familie nur ein bisschen kennt, weiß das. Sie befanden sich außerdem am richtigen Ort, nämlich in Hogwarts, und das hieß, dass Sie die Informationen, die Sie zusammengetragen hatten, problemlos an den als Moody getarnten Crouch weitergeben konnten. Wir nehmen an, er hat die Informationen an Sie-Wissen-Schon-Wen weitergeleitet." Obwohl Draco sich über vieles Sorgen machte, lag eine Sorge ihm besonders am Herzen: "Weiß Lucius etwas davon? Wusste er, als er mir den Auftrag erteilt hat, wozu er dienen sollte?" "Das weiß ich nicht ", sagte Professor Snape rasch. "Ich möchte es nicht glauben. Es würde Sinn machen, wenn er es nicht gewusst hätte, wozu hätten Sie sonst über Moody, ich meine Crouch, gehen müssen, um seinem Herrn die Ergebnisse zu übermitteln? Falls Lucius wirklich seine Hände dabei im Spiel gehabt hätte, hätten Sie einfach alles ihm schicken können. Ich denke, diesmal ist Ihr Vater genauso getäuscht worden wie wir alle. Ich bin gerade dabei, Ihnen sämtliche Illusionen über ihn zu rauben, stimmt's?" "Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was besser ist, wenn er es von Anfang an gewusst hätte oder wenn er hinters Licht geführt worden wäre." "Und was ist mit Ihnen? Selbstverständlich sind Sie total durcheinander wegen der Rolle, die Sie dabei gespielt haben, aber warum? Weil jemand Ihnen etwas vorentha lten hat, das Sie hätten wissen müssen, oder weil Moody nicht Moody war, oder weil es Ihnen wirklich etwas ausmacht, dass Sie-Wissen-Schon-Wer wieder zurück ist?" Draco wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Er konnte sich ja nicht mal auf seine eigenen Gedanken zu diesem Thema einen Reim machen, wie sollte er es dann Professor Snape erklären? Natürlich war Snape mit Lucius befreundet, und alles, was Draco sagte, würde Lucius vermutlich sowieso zu Ohren kommen. Jetzt, wo er darüber nachdachte, war er wütend auf sich selbst, weil er bei diesem Gespräch so offen gewesen war, aber damit konnte er sich befassen, wenn Lucius ihn später danach fragen würde. Er wollte Professor Snapes Frage eigentlich überhaupt nicht beantworten, und ganz sicher nicht jetzt, wenn er über so vieles nachdenken musste, und ... und er musste noch zu Gringotts, bevor sie um fünf zumachten, und es war schon ... zehn vor! "Oh, Mist ... Können wir vielleicht später noch mal darüber reden?" Draco sprang auf und suchte seine Sachen zusammen. "Ich muss heute Nachmittag noch zur Bank, aber ich würde gern mehr darüber hören ... sind Sie noch ein bisschen länger hier?" Er stotterte, er hatte noch nie so das Zeitgefühl verloren. Dieser Tag entwickelte sich noch zu einer richtigen Katastrophe. "Ich hatte zwar nicht vor zu bleiben, aber ich kann es tun. Warum machen Sie nicht Ihre Besorgungen, während ich mir die Ingredienzien besorge, die ich brauche, und dann treffen wir uns um halb sechs bei Florean Fortescue. Reicht Ihnen diese Zeit?" Sie waren inzwischen schon auf dem Weg zur Bank, und Draco nickte zur Bestätigung, dann rannte er den letzten Block bis zu dem schneeweißen Gebäude und hechtete die Stufen hinauf. "Sir, wir schließen in fünf Minuten", sagte der Türsteher-Kobold, als er durch eine der Türen zu einem der geöffneten Schalter flitzte. Bis er dort angekommen war und erklärt hatte, dass er in sein Gewölbe müsse, rang er keuchend nach Atem. Er zeigte dem Kobold Lucius' Pergament, der las den Brief sorgfältig und sagte: "Sehr wohl", und gab es Draco zurück. "Ich hole jemanden, der Sie hinunterbringt. Movridus! Bitte bring Lucius Malfoys Sohn hinunter zu seinem Tresor-Gewölbe. Du musst die Karte 148
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7. Kapitel: Schon mal einen Moralischen gehabt?
vom Dokumentenstapel nehmen, wir haben schon alle weggeräumt, die wir sonst hier liegen haben." Sie hielten in einem Vorzimmer an, wo Movridus mehrere Haufen Pergamentrollen und einige Aktenordner durchsuchte. Minuten später sagte er endlich: "Da ist sie ja!", und führte Draco in den vertrauten, von brennenden Fackeln erhellten Steinkorridor. Movridus pfiff, woraufhin ein kleiner Karren die Schienen hinauf auf sie zukam. Sie stiegen ein und fuhren los; es war die kürzeste Fahrt durch Gringotts' Labyrinth von verschlungenen Gängen, an die Draco sich erinnern konnte, und sie endete in einem Bereich, in dem er seiner Ansicht nach nie zuvor gewesen war. "Das ist nicht mein Gewölbe", sagte Draco. Er sah den Kobold finster an und fügte hinzu: "Wenn das die Sicherheit ist, die Sie allen Ihren Kunden angedeihen lassen, dann ist es ein Wunder, dass der Laden noch nicht pleite gegangen ist." "Ich bin neu in dieser Abteilung, Sir. Ich war die letzten siebzehn Jahre für die Altertümer unten zuständig", sagte der Kobold und sah einen Stapel Papiere durch, der an einem Klemmbrett befestigt war, das plötzlich in seiner Hand erschienen war. "Nur einen Moment, Mr. Malfoy. Ich habe oben am Schalter meine Brille vergessen, und obwohl ich auch ohne lesen kann, ist meine Fernsicht etwas beeinträchtigt." Draco sagte: "Dann sehe ich mir währenddessen mal dieses winzige Gewölbe hier an." Der Kobold gab keine Antwort, was Draco als Zustimmung auslegte. Ihm war total flau und komisch zumute, er wollte einfach nur hier fertig werden, nach Hause gehen, sich in seinem Zimmer einschließen und nichts tun als über das nachzudenken, was Professor Snape gesagt hatte. Im Augenblick konzentrierte er sich jedoch auf das, was er vor sich hatte und betrachtete die Gegend, in der der Karren angehalten hatte. Jedes Mal, wenn er mit Luc ius oder Narcissa in einem der Familien-Gewölbe gewesen war, hatte es sich um eines von denen im Hochsicherheitsbereich gehandelt, die man betreten konnte, und wo sie dann die Tasche seines Vaters oder die Handtasche seiner Mutter mit Galleonen gefüllt hatten. Dieses Gewölbe befand sich auf Augenhöhe, war aber kaum dreißig Zentimeter hoch, obwohl es so tief war, dass er mit dem Arm nicht ganz bis nach hinten hineingreifen konnte. Statt Geld waren stapelweise kleine Bücher mit dunkelblauem Ledereinband darin, außerdem Aktenordner und etwas, das aussah wie ein komisches Muggel-Gerät. Es war aus einem Material, von dem Hermione ihm gesagt hatte, dass man es "Platsik" nannte. Es waren Hunderte Löcher darin, außerdem hatte es fünf kleine Knöpfe, und vorne drauf stand das Wort "SONY". Er zog es heraus und fing an, an den Knöpfen zu drehen und auf die Schalter zu drücken. "Mr. Malfoy, in meinen Aufzeichnungen steht, dass das hier Ihr Tresor-Gewölbe ist. Nummer 1154, für dreißig Jahre von Ihnen, Alexander Malfoy, Sohn von Lucius und Celeste Malfoy, am 15. November 1978 gemietet und bezahlt." Draco ließ das Gerät fallen, das krachend auf dem Boden landete. *** Have you ever watched the day, passing by your door, Powerless to change its course, your feet fixed to the floor, When all the people you thought you knew are changing more and more Even the girl you thought would see, seems only to ignore The only love worth fighting for? Have you ever had it blue?
____________________ Das Lied stammt von The Style Council und war eine der Melodien des Films Absolute Beginners. 149
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8. Kapitel: Ernüchtert
Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi ([email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
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8. Kapitel: Ernüchtert
8. Kapitel Ernüchtert
Look at you now. You're disenchanted, Can't believe how things can change. Take a little out of life and things get strange. Now you find the wishes you were granted, Things you thought were in your hand, Have slipped away. How much can you withstand?
Draco konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie er zu Florean Fortescue zurückgekommen war und Professor Snape gefunden hatte, der im Schatten an einem Tisch in der Nähe des vorderen Fensters saß, oder was er genau gesagt hatte, als er sich auf einen der schmiedeeisernen Stühle fallen gelassen und ihn so gedreht hatte, dass er mit dem Rücken zu den Passanten saß, die immer noch durch die Straßen flanierten. Wie durch einen Nebel hörte er den Lehrer fragen, ob er bei Flourish & Blotts irgendwelche guten Bücher gefunden hätte und ob die Fahrt zum Gringotts-Gewölbe so Übelkeit erregend gewesen sei, wie Professor Snape sie immer empfand, und bemerkte so gerade eben, dass er ihm ein Glas Sprudelwasser anbot. Er musste den Kopf geschüttelt oder bestätigend genickt oder sonst irgendetwas getan haben, das Professor Snape veranlasst hatte, einfach weiterzureden und über dies und jenes zu plaudern, über alle möglichen unsinnigen und merkwürdigen Dinge und ... "Wer ist Alexander Malfoy?" Die Frage kam aus seinem Mund wie eine von Droobles Kaugummiblasen und hing über dem Tisch, wo sie den Raum zwischen ihnen ausfüllte. Durch den Nebel, der ihn umgab, hörte er Professor Snape husten und prusten, und Draco fragte sich kurz, ob er wohl erstickte, aber er wollte seinen Blick nicht von diesem Fleck in der Mitte des Tisches losreißen, der mit den mattweißen Tupfen und dem Spritzer bla uen Sirups auf dem schwarzen Stein irgendwie hochinteressant war. Jawohl, er musste sich den Tisch ganz genau ansehen und unter die Lupe nehmen, dann müsste er nämlich nicht ... In äußerst vorsichtigem Ton fragte Professor Snape: "Ich weiß nicht genau, von wem Sie da reden, Draco. Ich glaube nicht, dass ich jemanden kenne, der so heißt." Obwohl jede Bewegung unglaublich anstrengend war und es ihn unendliche Mühe kostete, die Person zu fixieren, die ihm am Tisch gegenüber saß – vor allem, wenn er eigentlich über so viele andere Dinge nachdenken konnte, zum Bespiel darüber, wie die Wolken aussahen, die sich in den Sprudelwasser-Gläsern spiegelten, oder was das für ein Summen war, das aus der Tasche von jema ndem kam, der ein paar Tische weiter weg saß, oder über die Art, wie der Niednagel an seinem linken Zeigefinger sich gegen seinen Daumen rieb, wenn er die Fäuste ballte –, hob Draco abrupt den Kopf, sah seinen Lehrer mit weit aufgerissenen, verschleierten Augen fest an und sagte, wobei er jedes Wort betonte: "Lügen Sie mich nicht an. Ich will keine Lügen mehr hören. Mir reicht's. Ich glaube, ich will jetzt gehen und rausfinden, was los ist, aber ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll mit meinen Nachforschungen, und auch nicht, wohin ich gehen soll, und ich kann nicht verstehen, warum keiner mir je was davon gesagt hat, und ich bin mir nicht mal sicher, was man mir nicht gesagt hat, oder was stimmt oder warum ich irgendwas von dem glauben soll, was Sie mir erzählen, weil Sie ja ganz offensichtlich wie alle anderen gelogen 150
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8. Kapitel: Ernüchtert
haben." Er hielt inne, griff nach seiner Tasche und sagte: "Ich muss mir das nicht länger anhören", und machte eine Bewegung, als ob er die Eisdiele verlassen wollte. Professor Snape streckte die Hand aus, packte ihn am Ärmel seiner Robe und riss ihn unsanft auf seinen Stuhl zurück. "Machen Sie hier kein Theater und setzen Sie sich wieder hin. Sie wissen nicht, was Sie da sagen, und Sie könnten mit den falschen Worten einen Tumult auslösen, falls irgendjemand außer mir Sie hört. Ich gebe Ihnen irgendwas zur Beruhigung." Er griff in seine Taschen und fing an, alle möglichen Dinge daraus hervorzuholen, kleine Fläschc hen mit farbigen Flüssigkeiten, Tütchen, die mit etwas gefüllt waren, was aussah wie Insektenbeine, vier braune Knöpfe und den heutigen Propheten. Doch Draco schüttelte den Kopf, presste die Lippen zusammen und versuchte, ruhig zu wirken. Er wusste, dass es ihm nicht gelang, da er fühlen konnte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg und wie ihm auf Stirn und Nacken der Schweiß ausbrach. Er hatte sich kein bisschen angestrengt, trotzdem fühlte er, wie ihm der Schädel dröhnte und wie ihm das Herz klopfte, so als ob er gerade dreimal ums Quidditch-Feld des Herrenhauses herumgerannt wäre. Während der letzten halben Stunde hatte er sich genauso gefühlt. Als Professor Snape anfing, Tropfen aus den verschiedenen Fläschchen, die jetzt auf dem Tisch herumstanden, zusammenzumixen, bemühte er sich, die Bruchstücke seiner jüngsten Erinnerungen wieder zusammenzusetzen. Er hatte sich gerade das komische Muggel-Gerät angesehen, als die Worte des Kobolds ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatten. "Mr. Malfoy, in meinen Aufzeichnungen steht, dass das hier Ihr Tresor-Gewölbe ist. Nummer 1154, für dreißig Jahre von Ihnen, Alexander Malfoy, Sohn von Lucius und Celeste Malfoy, am 15. November 1978 gemietet und bezahlt," hatte er gesagt. Draco drehte sich zu dem Kobold um, warf ihm einen wütenden Blick zu, verzog den Mund zu einem höhnischen Lächeln und fragte: "Von wem bitte?" "Bitte entschuldigen Sie, Sir, aber ich verstehe nicht ganz. Das hier muss Ihr Gewölbe sein, so steht es jedenfalls in den Unterlagen, die ich von oben mitgebracht habe. Sehen Sie?" Er zeigte Draco das Pergament und las ihm vor: "Alexander Malfoy, geboren am 31. Juli 1961, Apparitionsschüler-Lizenz Nr. UK8212866." Der Kobold zeigte auf den letzten Eintrag auf dem Formular und fuhr fort: "Der letzte Zugriff auf das Gewölbe erfolgte am 21. November 1978 um 15 Uhr 14. Liebe Güte, Mr. Malfoy, es ist aber lange her, dass Sie zuletzt hier unten gewesen sind. Waren Sie im Ausland?" Zum ersten Mal im Leben verschlug es Draco die Sprache. Er lehnte sich an die Steinmauer und sank zu Boden, dann griff er nach dem kleinen schwarzen Kasten und blickte zum Klemmbrett des Kobolds auf, während sein Verstand sich bemühte, das, was er da sah, in irgendeinen logischen Zusammenhang zu bringen. Es war unmöglich. Diese Information ergab in keiner Wirklichkeit irgendeinen Sinn. Hatte die Fahrt auf dem Gringotts-Karren sein Gehirn zu sehr durchgerüttelt? Weil er sich beweisen wollte, dass das nicht der Fall war, sagte er im Geiste das Periodensystem der Amulette auf. War er in irgendeiner Parallelwelt gelandet? Waren Bertie Botts' Bohnen, die er auf dem Weg hierher gegessen hatte, ein Überbleibsel aus der Flower Power™-Produktlinie 1 ? Das konnte doch alles nicht wahr sein, oder? Ein ratterndes Geräusch schreckte ihn auf, und er sah, wie aus der Dunkelheit der Höhle noch ein Kobold auf sie zukam. "Gibt's hier irgendein Problem, Movridus?" Er nahm dem anderen Kobold das Klemmbrett aus der Hand und hielt es vor eine Fackel, dann fragte er: "Mr. Malfoy, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?" Draco fand noch immer keine Worte, sondern stand einfach nur da und sah den Kobold an, der ganz eindeutig ein Managertyp war. "Mr. Malfoy?" 1
Nach der "Blumenkinder"-Bewegung der 1968er Generation. Anm. d. Ü.
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8. Kapitel: Ernüchtert
An diesem Punkt verlor er fast die Beherrschung. Es war jenes Zittern, das ihn immer befallen hatte, wenn er sich vor ungefähr zehn Jahren unbewusst auf die Art, die Lucius ihm so oft verboten hatte, anschickte zu Projizieren. Er hatte geglaubt, man hätte ihm das ausgetrieben, aber die wenigen bewussten Gedanken, die er derzeit hatte, waren klar und deutlich. Er war im Begriff sich aufzulösen, und das konnte er doch nicht tun. Er musste sich irgendwie zusammenreißen, sonst ... sonst ... sonst ... "Sir? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?" Der Kobold klang noch immer so verdammt bemüht, so als ob Draco lediglich dabei wäre, seine letzte Zinsaufstellung zu prüfen. Es war nicht gerade die praktischste Art, sich mit einem Teenager in Trance zu unterhalten. Vor allem, wenn besagter Teenager sich sekundenlang an zwei Orten gleichzeitig befand und zwei Körper hatte, nämlich einen festen und einen transparenten, die beide dieselbe Haltung einnahmen, mit gekreuzten Beinen, die Knie nur jeweils ein paar Zentimeter voneinander entfernt. Doch die unendlich höflichen Kobolde würden ihre Kunden niemals ausfragen, oder? Ein paar Augenblicke verstrichen, ohne dass jemand etwas sagte, während Draco versuchte, sich an die Regeln, Übungen und Methoden zu erinnern, wie man in sich selbst zurückkehrte. Er bewegte die Finger, zuckte mit den Schultern und vollführte weitere kleine Muskelbewegungen, um sich in seine eigene Haut zurückzuzwingen. Er stellte sich vor, wie er die Mauer in seinem Rücken und den Steinboden unter seinen Füßen fühlte, und blinzelte wieder und wieder, während er den flackernden Fackelschein mit seinen eigenen, sterblichen Augen sah. Er wusste später nicht mehr, wie lange es gedauert hatte, aber die Kobolde waren immerhin sehr geduldig. Schließlich unterzog er seine körperlichen Systeme einem letzten Test und zwang sich zu sprechen. "Mir ist nur irgendwie schwummerig von der Karrenfahrt. Sie wissen ja, wie das ist. Oder eventuell auch nicht, da Sie Bewegungen nicht auf dieselbe Art empfinden wie wir Zauberer", sagte er kurz. Wenn er wissen wollte, was in diesem Gewölbe war, dann musste er lügen. Ganz offensichtlich handelte es sich hier um einen furchtbaren Irrtum, aber Draco war nicht sicher, ob er bei den Kobolden, bei ihm selbst oder jemand anderem lag, und er musste herausfinden, was hier los war. Der leitende Kobold half ihm auf die Füße, und obwohl er sich immer noch so fühlte, als ob er gleich auseinanderbrechen könnte, war das Gefühl nicht mehr so unmittelbar. Als er wieder auf den Füßen stand, stopfte er den kleinen Kasten in seine Tasche und hielt sich an der Tür zum Gewölbe fest, als ob sie ihm Halt bieten könnte. Als er hineinspähte, sah er stapelweise Fotos. Einige davon waren magisch, andere bewegten sich nicht. Er nahm an, dass es sich dabei um Muggelfotos handelte; und dann waren da noch Kästen, die noch kleiner waren als der in seiner Tasche. Sie hatten Löcher und sahen auch so aus, als wären sie aus Platsik, außerdem lagen stapelweise Rollverschluss-Schriftrollen im Tresor, wie sie bei Flourish & Blotts üblicherweise als Tagebücher für Erstklässler verkauft wurden, da man die Schlösser so behexen konnte, dass sie von Erwachsenen nicht geöffnet werden konnten. Lucius hatte ihn einmal mit so einer Rolle erwischt und sie sofort ins Feuer geworfen, weil er der Meinung war, wenn Draco etwas aufschrieb, das Lucius nicht lesen konnte, dann müsse er es selbst auch nicht mehr lesen. Seine Tasche war nicht groß genug, um alles mitzunehmen. Er hatte seinen DehnSack™ nicht mitgebracht, weil seine normale Tasche aerodynamischer war, und womöglich würden die Kobolde es oben notieren, wenn er den gesamten Inhalt des Gewölbes in seine zu kleine Tasche stopfte, also musste er das mitnehmen, was am interessantesten aussah. Er blätterte die Fotos durch und sah eins, bei dem er wieder weiche Knie bekam und war froh, dass er sich immer noch an der Tür festhielt. Er stopfte es zusammen mit einem Dutzend anderen in seine Tasche, außerdem zwei von diesen Dingern, die wie Tagebücher aussahen, und noch drei kleine Kästen. Während er das Gewölbe durchsucht hatte, hatten die Kobolde sich in Kauderwelsch unterhalten. Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass sich ein dritter Kobold zu ihnen gesellt hatte und mit einem überdimensionalen Finger auf Dracos ursprüngliche Eskorte zeigte. "Mr. Malfoy", sagte der Neuankömmling, "ich möchte mich für Movridus' Inkompetenz entschuldigen. Das hier ist ganz eindeutig nicht Ihr Gewölbe, Sie sind viel zu jung ..." 152
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8. Kapitel: Ernüchtert
"Doch, ist es!", unterbrach Draco ihn. Er würde es nicht zulassen, dass sie ihm die Sachen wieder wegnahmen. "Ich hab' dem Alter ein Schnippchen geschlagen und ein Porträt behext, das an meiner Stelle altert", stammelte er. "Das hier ist Eigentum der Malfoys, und ich werde diese Sachen mitnehmen. Ich möchte, dass niemandem außer mir gestattet wird, etwas aus diesem Gewölbe zu entfernen, es sei denn, ich erlaube es ihm persönlich", fügte er hinzu und wiederholte das, was er Lucius hatte sagen hören, als sie im vorigen August eines der Gewölbe des Propheten verlassen hatten. "Wenn Sie mich nicht sofort wieder zur Schalterhalle zurückbringen, dann werde ich dafür sorgen, dass jeder von Ihrer, äh, heutigen Verwirrung erfährt. Sie und Ihre Kobold-Kollegen sind anscheinend nicht besonders gut informiert, kann mir also vielleicht jemand den Weg hier raus zeigen?" Die drei Kobolde starrten ihn an, als ob das so ziemlich die letzte Antwort wäre, mit der sie gerechnet hatten. Er machte sich ihr Schweigen zunutze und behexte schnell seine Tasche, so dass die Kobolde sie nicht öffnen und irgendetwas herausnehmen konnten, dann warf er sie sich über die Schulter und sprang ohne die Tür zu öffnen so selbstsicher in den Karren, dass er über sich selbst überrascht war. Die ganze Fahrt zurück nach oben verspürte Draco den schrecklichen Drang, die ganze Geschichte so schnell wie möglich zu entwirren und, sobald er alles wusste, etwas zu unternehmen – allerdings wusste er nicht so recht, was. "Draco", Professor Snapes Stimme störte ihn in seinen Gedanken. "Das, was Sie offensichtlich hören wollen, kann ich Ihnen nicht sagen." "Und warum verdammt noch mal denn nicht? Wohl Angst davor, dass Lucius wütend auf Sie wird, weil Sie den Kniesel aus dem Sack gelassen haben? Oder machen Sie sich Sorgen darüber, was ich tun könnte, wenn jemand mir verrät, was hier vorgeht?" Dracos Stimme brach bei jedem Wort, das er sagte, und sein Ton passte ziemlich gut zu seinen Gedanken, die ausgesprochen unzusammenhängend waren. "Nein, damit meine ich, dass ich es nicht kann. Ich kann Ihnen im wahrsten Sinne des Wortes nicht sagen, was mir plötzlich durch den Kopf geht." Draco sah bestürzt aus, als der Lehrer fortfuhr. "Als Sie diesen ... diesen Namen ausgesprochen haben, sind plötzlich die Erinnerungen wieder wach geworden – alles Mögliche, an das ich seit über fünfzehn Jahren nicht mehr gedacht habe, Erinnerungen an ein Leben, von dem ich dachte, ich hätte es vergessen. Ich weiß nicht genau, warum ich so lange nicht an all das gedacht habe, aber jetzt, da ich es getan habe, kann ich nicht drüber reden. Ich glaube, ich könnte es nicht mal aufschreiben." Das war eine weitere Überraschung an diesem Nachmittag, der bereits übervoll davon war. Professor Snape musste immer noch oder schon wieder lügen, da es keinen triftigen Grund für ihn gab, dies zu sagen. Er kannte Alexander Malfoy, und er würde Draco ein paar Antworten liefern müssen. "Warum sollte ich Ihnen glauben? Wie können Sie mir ins Gesicht lügen? Ich weiß, dass Sie ihn gekannt haben – sehen Sie sich mal das hier an!" Draco zog ein Foto aus der Tasche. Es war ein Bild von drei kleinen Jungen, die für eine Gartenparty angezogen waren und in die Kamera winkten. Einer von ihnen hatte dichte, goldblonde Locken und graue Augen, die genauso geschnitten waren und exakt dieselbe Farbe hatten wie Dracos Augen, einer hatte dunkle, ganz glatte Haare und eine Nase, die für sein Gesicht zu groß war, und der dritte sah genauso aus wie Harry Potter an dem Tag, als Draco ihn zum ersten Mal in dem Robengeschäft gesehen hatte, nur dass Draco wusste, dass es nicht Potter sein konnte. Er war nicht als Zauberer aufgewachsen, obwohl er möglicherweise Gryffindor-Blut hatte, aber es gab von ihm ganz sicher keine altmodischen Fotografien, auf denen er eine Matrosenrobe trug. Der blonde Junge sah ein paar Jahre jünger aus als die anderen beiden, und Draco vermutete, dass alle drei zwischen fünf und acht Jahren alt waren. "Erzählen Sie mir etwas hierüber. Ich weiß, dass Sie das sind, und dass der hier ... das muss ..." Er unterbrach sich. "Ich weiß nicht, wie ich meine Frage formulieren soll, damit Sie mir sagen, was ich wissen will." Er flehte seinen Lehrer jetzt fast an, etwas, was er sonst nie tat. Jedenfalls nicht bei jemand anderem als Lucius. Nicht mal Moody hatte er auf diese Art
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8. Kapitel: Ernüchtert
angebettelt, aber er war auch noch nie so verzweifelt um Informa tionen verlegen gewesen wie in diesem Augenblick. Professor Snape sah ihn weiterhin schweigend und ohne zu lächeln an. Er wirkte so statuenhaft, dass Draco sich fragte, ob er überhaupt noch atmete. "Sagen Sie mir, dass Sie das nicht sind. Dass es nur eine Geschichte ist. Irgendein Streich, den Lucius der Bank gespielt hat, dann gebe ich auf, halte meinen Mund, und wir können uns über irgendwas Unverfängliches unterha lten, zum Beispiel darüber, welche Sorten Eiskrem es heute hier gibt. Aber sagen Sie mir die Wahrheit, ich merke sofort, wenn Sie lügen." Er wusste zwar nicht, wie er Professor Snape bei einer Lüge ertappen sollte, vor allem wenn es um etwas ging, worüber er so gut wie keine Informationen hatte, außer denen aus dem Gewölbe, und das hatte er noch nicht mal richtig durchsuchen können, aber es gab keinen anderen Weg, dies zu verlangen. Professor Snape antwortete immer noch nicht. Er bewegte den Mund, als ob er zu antworten versuchte, aber es kam kein Ton heraus. Draco beobachtete ihn, während er aus dem Haufen Sachen, die er aus seiner Tasche gezogen hatte, eine Feder nahm und versuchte, etwas auf die Speisekarte zu schreiben, aber irgendwie brachte er es nicht fertig, irgendwelche Spuren auf dem Pergament zu hinterlassen. Schließlich brachte Professor Snape ein paar Sätze heraus. "Das ist kein Streich, und auch kein Spiel. Es ist alles real, so real wie alles andere, mit dem Sie sich im letzten Jahr herumschlagen mussten, aber irgendwas hindert mich daran, Ihnen etwas darüber zu sagen." Draco sackte auf seinem Stuhl zusammen. Bis zu diesem Augenblick hatte ein Teil von ihm sich verzweifelt bemüht zu glauben, alles sei nur ein ausgeklügeltes Spiel, das Lucius sich ausgedacht hatte, um seinen Tag nicht zu einfach zu gestalten – als ob er das je gewesen wäre. Der Lehrer fuhr fort: "Ich kann es ganz einfach weder aussprechen noch aufschreiben. Das Wissen ist in meinem Kopf vorhanden, aber ich kann es Ihnen nicht vermitteln. Ich könnte vielleicht nach Hogwarts zurückkehren und versuchen, diese Erinnerungen in mein Gedankenbassin zu tun, aber das nützt Ihnen hier und jetzt nicht sehr viel." Jetzt war Draco genauso verwirrt darüber, dass Professor Snape unfähig war, ihm etwas mitzuteilen, von dem er sagte, er wisse es, wie über die Tatsache, dass der Lehrer tatsächlich etwas über diese Person wusste, das er ihm sagen könnte ... diesen "Sohn von Lucius und Celeste Malfoy". "Stehen Sie unter einem Fluch?", fragte er, als der logische und bewusste Teil seines Verstandes endlich wieder die Oberhand gewann. "Hat jemand Sie mit einem Zauberspruch belegt?" Sie hatten in Flitwicks Stunde zwar noch keine Gedächtniszauber durchgenommen, aber er hatte nicht all diese Jahre im Herrenhaus gelebt, ohne Zeuge zu werden, wie Lucius solche Zauber bei seinen Feinden und ab und zu auch bei seinen Freunden angewandt hatte. Draco hatte den Verdacht, dass er selbst ebenfalls ein paar Mal das Opfer eines solchen Zauberspruchs geworden war, aber das Problem mit Gedächtniszaubern ist nun mal, dass es unheimlich schwierig ist festzustellen, ob man einen gehabt hatte oder nicht; das lag in der Natur des Spruches selbst begründet. "Ich glaube nicht, dass es ein gewöhnlicher Zauberspruch ist. Wenn das der Fall wäre, könnte ich mich jetzt nicht an all diese Dinge erinnern", überlegte Snape. "Und ich hab' noch nie von einem Zaubertrank gehört, der so eine Wirkung hätte. Allerdings kannte der Finstere Lord eine ganze Reihe von Sprüche n und Formeln, von denen sogar Zauberer, die ziemlich versiert waren in schwarzer Magie, noch nie etwas gehört hatten. Er hat vor und während seines Aufstiegs zur Macht viele Dinge im Alleingang recherchiert, so dass die Todbringer immer erst davon erfahren haben, wenn er ein Versuchskaninchen brauchte. Und normalerweise hat er immer die geno mmen, die er beseitigen konnte, wenn der Versuch fehlschlug oder womöglich zu gut funktionierte. Er hatte eine ganze Menge Gedächtniszauber auf Lager, von denen einige dazu dienten, die Leute auf seine Seite zu ziehen, andere wiederum dazu, seine Feinde – nicht die Bedrohungen – auszuschalten. Er hat niemanden als Bedrohung empfunden, jedenfalls wurde das damals behauptet. Möglicherweise ist das einer davon, ich weiß es nicht." 154
Flüche bis zum Überdruss
8. Kapitel: Ernüchtert
"Wenn Sie sich nicht erinnern können, wozu soll dann das Gedankenbassin gut sein?" "Ein Gedächtniszauber entfernt die Erinnerung nicht aus Ihrem Kopf, so wie bei einem Gedankenbassin. Wo sollte sie denn auch hin? Dann würden Millionen Erinnerungen überall auf der Welt rumfliegen, und die Muggel könnten mit ihnen zusammenstoßen. Stellen Sie sich bloß mal das Durcheinander vor, wenn jeder plötzlich die Erinnerungen von anderen Leuten im Kopf hätte. Nein, ein Gedächtniszauber verhindert nur, dass man bewusst auf diese Erinnerung zugreifen kann. Sie ist immer noch da in Ihrem Kopf, weswegen ich vermutlich Erinnerungen an dieses Foto habe. Und das, was Sie gesagt haben, hat sie wieder wachgerufen." "Woran erinnern Sie sich denn in Bezug auf die Zeit und die Leute auf dem Bild?", fragte Draco zögernd. "Ich weiß genau, wo das Bild gemacht wurde, und auch, dass Gemma Sugar es gemacht hat, und ich weiß, dass wir auf Narcissa Harts siebter Geburtstagsfeier waren, und ..." Er hielt inne, schockiert über das, was er gesagt hatte. "Wie habe ich mich ...?" Die Puzzleteile, die Draco zusammengesetzt zu haben glaubte, lagen plötzlich wieder auf einem Haufen durcheinander. Wie konnte Narcissa etwas mit diesem Bild zu tun haben? Er hatte immer gewusst, dass sie zusammen mit seinem Lehrer in Hogwarts gewesen war, aber keiner von beiden sprach jemals darüber. Warum sollte sie sich die Mühe machen, mit ihm über Severus Snape zu reden, und warum sollte er mit Draco über ein Thema sprechen, das so gar nichts mit der Schule zu tun hatte? "Wenn ich einfach ohne nachzudenken weiterrede", sagte Professor Snape gerade, "dann sage ich vielleicht noch etwas, das wichtig ist. Es ist, als ob all diese Erinnerungen schlagartig zurückgekehrt wären, als ich dieses Bild angesehen habe. Ich kenne dieses Gesicht und seinen Namen, ich weiß auch etwas über die Zeit, in der dieses Bild entstanden ist, aber ich kann nichts davon in irgendeinen Zusammenhang bringen. Ich weiß nicht, was all das bedeutet und kann Ihnen sagen, dass ich noch nie mit einer solchen Erinnerung konfrontiert worden bin – ich weiß nicht, was diese Gedanken bedeuten. Fragen Sie mich was, dann werden wir schon sehen, wo es hinführt." Er klang fast verzweifelt. "Haben Sie irgendeine Frage, damit ich irgendwie einen Anfang finden kann?" Gab es eine Frage, die vage genug war, um ihn dazu zu bringen zu sagen, was Draco inzwischen vermutete, nämlich dass der goldblonde Junge Alexander Malfoy war? Vielleicht würde es funktionieren, wenn er eine Frage über den anderen dunkelhaarigen Jungen stellte, der ständig seine komische, quadratische Brille abnahm und den Fotografen ansah, dachte Draco. "Erzä hlen Sie mir von den Jungen auf diesem Bild", bat er. "Sie haben mich überraschend gut erkannt. Ich glaube, ich bin da ungefähr acht, genau wie James Potter. Sehen Sie mich nicht so überrascht an, Sie haben doch schon rausgefunden, dass das Potters Vater ist, stimmt's?" Draco nickte, und Professor Snape fuhr fort. "Wir waren keine Freunde, wir sind uns wirklich nur jedes Jahr auf allen möglichen Geburtstagspartys begegnet, jedenfalls bis wir nach Hogwarts kamen, außer dass dies das letzte Jahr war, in dem wir Alexander gesehen haben." Professor Snape war überrascht über das, was er da gerade gesagt hatte, fuhr aber unmittelbar fort. "Außer im Sommer, weil er in dem September damals in Durmstrang angefangen hat und nicht mal in den Ferien sehr oft nach Hause gekommen ist. Ich kann mich jetzt an jede Einzelheit dieses Tages erinnern, zum Beispiel an die Imitatoren von Martin Miggs und seinen Assistenten Sindy und ihre Tricks, und daran, dass es Eis mit Himbeer- und Minzegeschmack gegeben hat und an das Tablett mit Zuckerwatte, das wir entdeckt haben, gleich nachdem dieses Bild gemacht worden ist, und wie wütend Lucius war, als er gesehen hat, wie sein Sohn sie überall in den Haaren hatte." An diesem Punkt angekommen, hielt er inne und schlug die Hand vor den Mund. "Ach du meine Güte, Draco, Sie hätten das nicht auf diese Art erfahren sollen." Zu diesem Zeitpunkt konnte Draco an überhaupt nichts mehr denken, und sein Kopf war von misstönendem Geschrei erfüllt. Er sagte leise: "Habe ich nicht. Die Kobolde haben es mir mehr oder weniger verraten, als sie seinen Tresor geöffnet haben. Ich musste es nur noch mal von 155
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8. Kapitel: Ernüchtert
einem Zauberer hören, ich meine, die Kobolde hatten sich vielleicht geirrt. Oder vielleicht ist das Gewölbe in Wirklichkeit 1878 gemietet worden – er ist nicht der erste Lucius in der Familie, und ich war nicht sicher, dass ich die Namen von jedem Einzelnen meiner Vorfahren kannte. Aber als ich dieses Bild gesehen habe ..." Er war nicht in der Lage, seine Gedanken gleich jetzt in Worte zu fassen, also schloss er die Augen und presste die Fingerspitzen an die Schläfen. "Können Sie mir sonst noch irgendwas sagen?" Professor Snape rieb sich die Stirn. "Ich glaube nicht. Ich leide definitiv unter den Nachwirkungen irgendeiner Zauberformel. Ohne ein anderes Bild, über das ich reden könnte, glaube ich nicht, dass ich all diese Erinnerungen ohne mein Gedankenbassin ordnen kann. Als ich Ihnen gesagt habe ..." Er brach ab und rieb sich die Schläfen, dann fuhr er fort: "Ich kann nicht mal seinen Namen noch mal aussprechen. Ich hab' das Gefühl, dass mir der Kopf zerspringt." "Ist schon okay", sagte Draco mutlos. Er sah den Lehrer an, der blass war, schwitzte und so aussah, als ob er furchtbar litte. "Nein, ist es nicht", widersprach er. "Sie haben ein Recht darauf, alles zu erfahren", sagte er mit schmerzverzerrter Stimme, "aber nicht mal ich verstehe alles davon. Ich weiß nur, wie alles angefangen hat, und ich weiß nicht mal, wie er gestorben ist." Bei diesen Worten ließ Draco seinen Kopf mit einem dumpfen Knall auf die Tischplatte fallen, und Professor Snape rief gequält: "Zum Kuckuck! Ich packe das völlig falsch an. Ich glaube nicht, dass ich Ihnen jetzt gleich noch mehr sagen kann, ich muss diese Gedanken selbst erst mal verarbeiten oder sie sogar ganz aus meinem Kopf verbannen. Und bei all dieser Aufregung sind wir gar nicht dazu gekommen, unser Gespräch von bevor Sie zur Bank gegangen sind zu beenden, ich muss also immer noch mit Ihnen über Sie-Wissen-Schon-Wen reden." Ach, stimmt ja, dachte Draco. Er hatte nicht mehr an Diggory oder daran gedacht, welche Rolle er selbst bei diesem Wahnsinn gespielt hatte, und auch nicht an die Rückkehr des Finsteren Lords, jedenfalls nicht, seit das Gewölbe geöffnet worden war. Er hatte die Stirn noch gegen den kühlen Steintisch gepresst, und seine Augen waren geschlossen, so als ob ihn das vor diesem ganzen entsetzlichen, überwältigenden Wissen bewahren würde. "Ich werde bald für den Rest des Sommers in Frankreich sein", sagte er. "Ich bin nicht sicher, dass wir noch mal Gelegenheit haben werden, miteinander zu reden. Eigentlich", er sah auf die Uhr, "haben wir auch jetzt keine Zeit mehr dazu. Ich muss in ungefähr zehn Minuten im Café Koriander sein, um mich mit Lucius zu treffen." "Sie müssen was?" Professor Snape klang total entsetzt. "Sie sind absolut nicht in der Verfassung, auch nur zwei Minuten mit ihm zu verbringen, geschweige denn ein paar Stunden. Schicken Sie ihm eine Eule, sagen Sie ihm, Sie seien krank geworden, Sie seien auf den Steinen ausgerutscht und hätten sich den Knöchel verrenkt, so dass sie nach Hause gehen mussten." "Sie wissen, dass das nicht funktionieren wird." Draco richtete sich auf seinem Stuhl auf. "Wenn ich hingehe und nichts sage, wird er sich nichts dabei denken, aber wenn ich nicht auftauche – ganz egal, was für eine Ausrede ich dafür habe – wird er mich nicht ... ich meine, wird er keine Ruhe geben, bis er weiß, was los ist." "Ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist. Sie haben heute einen furchtbaren Schock bekommen, eigentlich sogar mehrere, und ich bin nicht sicher, ob Sie das durchstehen können." Warum klang Professor Snape so nervös? "Ich weiß, wie ich ein Abendessen mit Lucius durchstehen kann, und ich habe im Prinzip keine Wahl. Ich werde ihm nichts von dem Gewölbe erzählen, versproche n!" "Sie können ihm nicht mal sagen, dass Sie mich heute getroffen haben. Und Sie können ganz gewiss über nichts von dem reden, was ich Ihnen erzählt habe – nicht mal, wenn Sie behaupten, Sie hätten es zufällig gehört oder Ihnen wäre irgendein Gerücht zu Ohren gekommen." "Nicht mal darüber, dass Moody jemand ganz anderes war? Weil er, wenn ich ihm das sagen würde, nicht so wütend über meine Note in Verteidigung gegen die Schwarze Magie wäre."
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8. Kapitel: Ernüchtert
"Nein!" Professor Snape schrie so laut, dass die Familie drei Tische weiter sich zu ihnen umdrehte. "Möglicherweise weiß er es schon, und wenn er den Namen des Betrügers erwähnt, dann lassen Sie ihn mich bitte wissen, aber wenn er das Thema nicht anschneidet, tun Sie es bloß nicht. Noch was, bevor Sie gehen." In Snapes hagerem Mundwinkel zuckte ein Muskel. "Kann ich dieses Bild behalten? Nur eine Zeit lang, um zu sehen, ob es mir dabei helfen kann, meine Erinnerungen in den Griff zu bekommen?" Draco nickte. Er war nicht auf dieses eine Foto angewiesen. In seiner Tasche steckten noch drei Dutzend weitere, die er Professor Snape nicht gezeigt hatte. *** Als Lucius bei dem Restaurant ankam, sprach Draco gerade mit dem Oberkellner. Er hatte seine Schriftrollentasche nicht dabei, deshalb nahm Draco an, dass Lucius später noch einmal in die Redaktion wollte oder vielleicht an diesem Abend überhaupt nicht nach Hause käme. Beide Möglichkeiten könnten bedeuten, dass das Abendessen kürzer ausfallen würde als Draco befürchtete, was eine Erleichterung wäre. Trotz des Versprechens, das er Professor Snape gegeben hatte, machte Draco sich ziemliche Sorgen, ob er es schaffen würde, sein neuerworbenes Wissen vor Lucius zu verbergen. Es würde schon schwierig genug sein, die Tasche vor ihm zu verstecken, aber Draco wollte ihren Inhalt nicht dadurch beschädigen, dass er sie schrumpfte, und er wollte sie ganz bestimmt nicht bei dem Mädchen an der Umhang- und Besenkontrolle lassen, die ihn für seine Begriffe etwas zu intensiv angestarrt hatte, während er auf Lucius wartete. Bevor sie zu ihrem Tisch gingen, machte Lucius an der Bar halt, um ein paar im Aufstieg begriffene Ministeriumsbeamte zu begrüßen, die mit zwei von Gringotts' Geschäftsführern – einem Kobold, dessen Namen Draco nicht aussprechen und sich noch weniger merken konnte, und einem Zauberer namens Cantwell F. Muckenfuss – etwas tranken. Sie unterhielten sich über die Probleme mit dem Wechselkurs von Galleonen in Gulden, dann erwähnte Lucius, dass Draco an diesem Tag auf der Bank gewesen sei. Die Geschäftsführer drehten sich daraufhin sofort zu ihm um. "Wir sind dieser Tage sehr um unseren Kontakt zu den Kunden bemüht", sagte der Zauberer. "Ja, wir müssen dafür sorgen, dass unsere zukünftigen Kunden mit unseren Dienstleistungen zufrieden sind. Die Hexen in unserem Beraterausschuss meinen, wir sollten sogar die Benutzung der Karren für Kinder beschränken. Wir sind dabei eine Vorschrift einzuführen, die es ihnen untersagt allein zu fahren, wenn sie unter zwölf sind." "Dracos Mutter wollte ihn nicht mitfahren lassen, bevor er neun war", warf Lucius ein. Draco konnte sich nicht daran erinnern, dass Narcissa darum so besorgt gewesen wäre. Brachte Lucius ihn da irgendwie mit Alexander Malfoy durcheinander, oder erzählte er Märchen, damit es so aussah, als sei Narcissa eine besorgte Mutter? Jemand kniff ihn in den Arm, und er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gespräch zu und verbannte die Erinnerung an das, was er heute entdeckt hatte, in den hintersten Winkel seines Verstandes. "Draco, antworte Mr. Muckenfuss. Er möchte etwas über die Kobolde hören, die dich heute begleitet haben." "Tut mir Leid, Sir", erwiderte Draco, dem plötzlich einfiel, dass er das, weswegen Lucius ihn eigentlich zu Gringotts geschickt hatte, nicht erledigt hatte – er hatte zwanzig Galleonen aus dem Gewölbe holen sollen, und das hatte er nicht getan, weil er nach all den Problemen beim Tresor und seiner erstaunlichen Entdeckung nicht mehr zu seinem eigenen Gewölbe gefahren war. Er konnte schlecht die Wahrheit darüber sagen, was er auf der Bank gemacht hatte, weil sie dann die Kobolde befragen und erfahren würden, dass er beim falschen Gewölbe gewesen war, und er konnte auch nicht übertreiben und sagen, er hätte die Zeit vergessen, als er sich mit Professor Snape unterhalten hatte, aber wenn er log wie gedruckt ... Wie sollten sie dahinter kommen?
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8. Kapitel: Ernüchtert
"Ich habe es ehrlich gesagt heute Nachmittag nicht mehr auf die Bank geschafft, Vater", sagte er und beobachtete, wie Lucius erbleichte. "Ich bin bei Flourish & Blotts vorbeigegangen und habe im Schaufenster ein paar hochinteressante Bücher gesehen. Eigentlich wollte ich mich gar nicht so lange dort aufhalten, aber na ja, als ich bemerkt habe, wie spät es schon war, hatte Gringotts inzwischen geschlossen." Lucius packte daraufhin seinen Arm direkt über dem Handgelenk mit schraubstockartigem Griff, diesmal mit der ganzen Hand, und Draco hoffte nur, dass er ihm nicht das Blut abschnüren würde. Er redete immer noch im Plauderton und lächelte unverbindlich, aber Draco kannte den Blick in seinen Augen, als er sich an die Männer vom Ministerium und von der Bank wandte. "Sie wissen ja, wie die jungen Zauberer von heute sind – sie bemerken das, was um sie herum vorgeht erst, wenn es sie direkt betrifft." Daraufhin entspann sich zwischen den versammelten Erwachsenen eine Diskussion darüber, wie schlecht junge Hexen und Zauberer sich heutzutage benahmen und dass so etwas zu ihrer Zeit niemals geduldet worden wäre. Während Draco dastand und Lucius' Reaktionen beobachtete, war ihm klar, dass das auch jetzt nicht toleriert werden würde, aber Lucius würde sich seinen Unmut erst anmerken lassen, wenn sie wieder unter sich waren. Draco trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, während Lucius den anderen erzählte, dass dies ganz eindeutig eine einmalige Verfehlung seines Sohnes sei, dessen Zensuren in der Schule und dessen Respekt vor Erwachsenen – insbesondere vor Lucius und Narcissa selbst – bewiesen, dass er vor allem im Vergleich mit den unwichtigeren Geschöpfen in seinem Jahrgang in Hogwarts musterhaft sei. Sie unterbrachen ihr Gespräch, als der Zauber, den der Oberkellner Lucius gegeben hatte, anfing zu blinken und zu summen um ihnen mitzuteilen, dass ihr Tisch bereit war. Im Restaurant herrschte fast völlige Stille, die einzigen Geräusche kamen aus der Küche oder aus dem Weinkeller, wo die Weinkellner die Flaschen sortierten, die aus der ganzen Welt per Kaminpulver dort eintrafen. Das Koriander war außerdem für seinen Scotch berühmt und führte ein Sortiment von Abfüllungen aus kleineren magischen Brennereien, außerdem aus einigen wenigen MuggelDistillerien, die die magische Welt seit jener Zeit belieferten, als noch engere Handelsbeziehungen zwischen den beiden Welten bestanden. Auf ihrem Tisch stand bereits eine Flasche aus der Brennerei Bardouin, und an jedem Platz stand ein Glas. Jeder Tisch wurde von einem Zauber gekrönt, der von dem großen Magier Pauelzimmon erfunden worden war und um die Stühle herum einen Abschirmzauber schuf. Dies gestattete es den Gästen, sich zu unterhalten und den Kellnern ihre Bestellungen mitzuteilen, ohne dass sie an den anderen Tischen gehört wurden, obgleich man sie sehen konnte. Es war bekannt, dass auch andere Restaurants an dieser Zauberformel interessiert waren, aber das Patent lief erst in dreißig Jahren aus. Obwohl Draco sicher war, dass Lucius das Restaurant nicht deshalb ausgesucht hatte, weil sie sich dort ungehört unterhalten konnten, wusste er, dass Lucius es ausnutzen würde. Sie saßen noch keine fünf Sekunden, als Lucius in seiner höchsteigenen, furchterregenden Art anfing zu brüllen, wobei sein Gesicht völlig ausdruckslos blieb, seine Stimme jedoch so laut wie eine Flüstertüte war. "Wag es ja nicht, mich dazu zu bringen, in aller Öffentlichkeit zu lügen, und sei es nur gegenüber solch unbedeutenden Würmern wie Kobolden und schäbigen Ministeriumsbütteln", begann er, bevor er Draco ermahnte, sich nichts anmerken zu lassen und diese Strafpredigt wie ein Mann auf sich zu nehmen. Dann wandte er sich seinen gewohnten Themen zu, wie zum Beispiel der Familienschmach und Dracos Verfehlungen als Sohn. Nachdem er eine Minute lang Dracos Sünden aufgezählt hatte, griff er nach seiner Hand und legte sie mit der Handfläche nach oben auf die Lehne seines eigenen Stuhles. Lucius rückte seinen Stuhl etwas zurecht, damit die anderen Gäste nichts sehen konnten, dann nahm er seine Gabel vom Tisch und stieß sie langsam und bedächtig in den fleischigen Teil von Dracos Handfläche, direkt unter dem Daumen. Draco biss sich innen auf die Lippe, genau dort, wo er sich auch immer in Moodys Stunden biss, wenn die Flüche zu schlimm wurden. Es kostete ihn einige Anstrengung, die gelangweilte Miene zu bewahren, die jeder, der zu ihrem Tisch hinübersah, auf dem Gesicht von Lucius Mal158
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8. Kapitel: Ernüchtert
foys Sohn zu sehen erwartete; er war jedoch gut darin, und weder zuckte sein Mund noch zitterten seine Schultern, und der erstickte Schrei, der ihm durch seine fest zusammengepressten Lippen entfuhr, sollte eigentlich wegen des vielgepriesenen Abschirmzaubers keine weiteren Folgen haben. Lucius hörte nicht auf zu reden, sein Mund formte weiterhin Worte hinter einem Ausdruck, der eine Mischung aus Lächeln und Hohn war. Die Worte selbst hatten fast keine Bedeutung. "Du brauchst das", "Du verdienst das", "Du bist es, der mich veranlasst, dir das anzutun." Natürlich brauchte er das. Natürlich verdiente er es. Er wusste, dass er es war. Als Lucius die Zinken endlich wegnahm, zitterte Draco die Hand. Lucius hatte nicht so fest zugestochen, dass es blutete, aber die Gabelspitzen hatten in seiner Haut Vertiefungen hinterlassen, die noch eine ganze Weile zu sehen sein würden, ganz egal, wie lange er seine Handfläche verstohlen auf sein kühles Wasserglas legte. Während Draco sich bemühte, seinen Puls dazu zu bringen, wieder normal zu schlagen, goss Lucius sich ein Glas Scotch ein und kippte auch einen Spritzer davon in das Glas neben Dracos Teller. Dann nahm er einen großen Schluck, und Draco nippte ebenfalls an seinem Glas. Der Alkohol brannte in seiner Kehle, aber er entspannte auch seine Schultern, und wenn er seine Hand nicht weiterhin auf das kühle Glas hätte legen wollen, hätte er sich sogar auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Als er das erste Glas ausgetrunken hatte, schenkte Lucius sich nach und bestand darauf, dass Draco ihm ganz genau erzählte, wie er Rita ausfindig gemacht hatte. Draco wurde blass und fragte sich, was passieren würde, wenn seine Geschichte sich nicht mit dem deckte, was Rita gesagt hatte, aber da er nur entweder wilde Ausflüchte machen oder aber Lucius die Wahrheit sagen konnte, erzählte er den Ablauf des Vormittags in allen Einzelheiten. Lucius unterbrach ihn. "Du bist per Projektion in einer Muggel-Siedlung gewesen?", fragte er, wobei ihm deutlich anzuhören war, wie sehr ihn das entsetzte. "Hast du dir vorgenommen, jeden Tag vor dem Mittagessen sieben Dummheiten zu begehen, oder machst du das einfach nur so?" "Ich war inkognito dort und hatte Muggelsachen an", log Draco. "Ich wollte einfach nur rauskriegen, wo Rita war und dann selbst zu dem Haus fliegen, um sie zu retten", fuhr er fort und versuchte, seine Spuren mit erklärenden Worten zu verwischen. Lucius nickte, und Draco erzählte weiter: "Aber als ich dort angekommen bin und festgestellt habe, dass das Glas, in dem Granger sie gefangengehalten hatte, offen war, hab' ich sie mir vorgeknöpft und verlangt, dass sie mir sagt, wo Rita ist." "Wie hast du das gemacht, wenn du sie nicht anfassen oder den Rosaringhe-Fluch über sie sprechen konntest, um sicherzugehen, dass sie nicht lügt?" "Ich hatte meinen Zauberstab dabei, und sie wusste ja nicht, dass ich ihn nicht benutzen konnte", sagte Draco. Das stimmte irgendwie schon, er hatte den Zauberstab in der Tasche gehabt, aber nie daran gedacht, ihn gegen Hermione zu benutzen. "Aber in Anbetracht dessen, wie du gestern im Zug auf ihren Fluch reagiert hast, hätte sie vielleicht angenommen, du hättest sowieso nicht genug Grips, um ihn zu benutzen." Lucius schüttelte angewidert den Kopf und fragte: "Hast du sie bedroht?" Draco wusste nicht, ob ja oder nein in Lucius' Augen eine befriedigende Antwort sein wü rde. Er wollte gerade "nein" sagen, aber Lucius' Gesichtsausdruck verriet deutlich seine Erwartung, dass Draco die Macht und die Kräfte der Malfoys gebührend demonstriert habe. Er änderte das Wort in: "Nicht, bevor ich das Haus durchsucht und sie im Garten gefunden habe. Ich bin direkt hinter ihr erschienen, habe meinen Zauberstab auf sie gerichtet und verlangt, dass sie mir sagt, wo Rita ist. Sie hat mir dann gesagt, sie hätte Rita bereits freigelassen und hat mir von Branfords Bad erzählt." Darüber schien Lucius sich so zu freuen, dass Draco spontan beschloss, noch dicker aufzutragen und sagte: "Danach musste sie sich dann mit dem Gesicht zur Wand vor ihr kleines Haus stellen, die Hände auf die Mauer legen und bis hundert zählen, damit sie nicht
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8. Kapitel: Ernüchtert
sieht, wie ich verschwinde, und glaubt, dass ich Disappariert wäre." Er nahm wieder einen kle inen Schluck von dem Scotch. "Du hast dir keine Sorgen gemacht, dass sie erfahren könnte, dass du Projizieren kannst?" "Nein, ich dachte nicht, dass sie das heute erfahren würde", sagte er und fragte sich, warum es eigentlich so wichtig war, dass seine Antworten auf Lucius' Fragen möglichst immer ein Quäntchen Wahrheit enthielten, wo er ihm doch andererseits so viele Lügen über das, was er getan hatte, auftischte. Noch dazu, wo er so viel in seiner Tasche versteckt hatte. Er schob sein Bein nach links um sicherzugehen, dass der Riemen seiner Tasche immer noch unter dem Stuhlbein festgeklemmt war, er hatte ihn nämlich darunter geschoben, als er sich hingesetzt hatte. Er wusste, dass es reine Paranoia war zu glauben, Lucius könnte die Tasche während des Essens zu sich beordern, aber er wollte lieber auf Nummer Sicher gehen. Draco fuhr mit seiner wahrheitsgemäßen Schilderung fort, indem er Lucius erzählte, wie er beschlossen hatte, Kira vorauszuschicken, wie er nach London geflogen war und Rita getroffen hatte, was alles nachprüfbar war. "Dann bin ich zu dir gekommen, und ich wette, dass sie irgendwann innerhalb der letzten paar Stunden aufgetaucht ist." "Sie ist gerade angekommen, als ich gegangen bin und ist mit mir hierher gekommen. Sie soll jetzt eine Reportage über das Trimagische Turnier machen." Lucius hatte noch ein paar Fragen in Bezug darauf, wo Draco tagsüber gewesen war, die Draco zu seiner Zufriedenheit zu beantworten hoffte, während sie zu Abend speisten. Als sein Kaviar-Kanapee kam, verschlang Draco es in weniger als einer Minute, da er im Zuge der Ereignisse der vergangenen Stunden völlig vergessen hatte, wie ausgehungert er war. Dann saß er da und sah zu, wie Lucius langsam und schweigend aß und keine weiteren Fragen stellte, bis er mit dem Gang fertig war. Das ging für den Rest des Abendessens so weiter, Draco beantwortete Lucius' Quizfragen über die Morgenzeitung, wie die Schlammblut-Straße und das Haus ausgesehen hatten und ob es in Branfords Bad voll gewesen sei. Lucius stellte eine Reihe Fragen über die Bücher bei Flourish & Blotts, und Draco kramte in seinem Gedächtnis nach Teilen von Buchtiteln und Zusammenfassungen, die er in den letzten paar Wochen gelesen hatte, in der Hoffnung, dass die Buchhandlung sie tatsächlich ausgelegt hatte, falls Lucius auf die Idee käme es nachzuprüfen; die Wärme, die er verspürt hatte, seit er den ersten Schluck von Lucius' Scotch getrunken hatte, war längst verflogen. Er fühlte sich leicht unwohl, konnte aber nicht sagen, ob es vom Alkohol, vom Essen selbst, von seinem hektischen Tag oder davon kam, dass er zu schnell gegessen hatte. Er hatte äußerst zwiespältige Gefühle. Ein Teil von ihm schrie in gellender Panik und mit der Stimme des Kobolds immer wieder "Alexander Malfoy". Ein anderer Teil beantwortete relativ ruhig Lucius' bohrende Fragen. Und dann war da noch ein dritter Teil irgendwo dazwischen. Dies war der kleinste und unsicherste von allen, fast auf ein Nichts reduziert und tief in dem innerlichen Kataklysmus verborgen, der ihn überwältigt hatte, seit er bei Gringotts gewesen war. Dieser Teil seines Verstandes riet ihm durchzuhalten und abzuwarten, bis er eine Chance bekam, das Rätsel zu lösen; er versuchte außerdem, die Fragen beiseite zu schieben und noch zu warten, bis er anfangen würde sich zu fragen, warum er das, was er über Lucius wusste, nicht mit diesen neuen Informationsfetzen in Einklang bringen konnte – denn um mehr handelte es sich dabei nicht, es waren lediglich Wortfetzen, die vielleicht der Wahrheit entsprachen, und fragmentarische Erklärungen, also nicht viel, was zu seinem Verständnis der Dinge beitrug. *** Es wurde nicht besser. Nach dem Abendessen schickte Lucius ihn allein nach Hause und trug ihm auf, ihn bei Narcissa zu entschuldigen, weil er zu einem Meeting mit verschiedenen Inserenten bei der Zeitung müsse. Während Lucius ihm auseinander setzte, warum ausgerechnet dieses Meeting mit den Inserenten so wichtig war, gingen Draco ein paar Zeilen aus einem Lied durch den Kopf: "Ich 160
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8. Kapitel: Ernüchtert
hörte, du hast eine neue Freundin. Wie gefällt das deiner Frau?", aber er erklärte sich bereit, es Narcissa zu erklären. Das tat er immer, obwohl es hieß, dass sie statt auf Lucius auf ihn wütend wurde, aber das war immer noch besser, als sich Lucius' Zorn zu stellen, wenn er ihm diesen kleinen Gefallen verweigerte. Er hatte nicht oft Gelegenheit, sich mit Narcissa zu streiten, und obwohl er wusste, dass er es eigentlich nicht sollte, genoss er es jedes Mal. An diesem Abend gab es sowieso nur sehr wenig, was er genießen konnte. Lucius bot ihm eine Prise Kaminpulver an, und Draco war versucht, das Angebot anzune hmen, da ihm von seinen zahlreichen Besenflügen an diesem Tag sämtliche Knochen wehtaten; doch Lucius könnte es als Zeichen von Schwäche auffassen, ihm unangenehme Fragen stellen und es zum Vorwand nehmen, seine Tasche zu durchsuchen. Nein, Fliegen wäre nicht nur praktischer, sondern auch sicherer. Was für ein Unterschied zu heute morgen, dachte Draco, als er den Londoner Luftraum verließ. Zwischen den Feldern sah er auf den Straßen Muggel-Lichter, die von hier oben wie Sterne funkelten, aber unten waren sie dämliche, stinkende Dinger, die einem die Luft nahmen; in der nun in unheimliches Dunkel getauchten Landschaft sah er Trauben von kerzengleichen Lichtern, die die Anwesenheit von Muggeln verrieten, außerdem die wie Edelsteine funkelnden Zaubererhäuser. Er hatte keine Probleme, den Unterschied zu erkennen: Während die Muggel- Lichter kalt und seelenlos waren, leuchteten die magischen Lichter immer in vielen Farben, die nachts wie kleine runde Regenbogen erglühten. Er konzentrierte sich auf die Lichter, damit er nicht über die schwere Tasche nachdenken musste, die am hinteren Ende des Besens hing. In den Landstrichen, wo nur vereinzelt einige wenige Zaubererhäuser standen, gab es keines der sternengleichen Lichtermeere, die ihm so vertraut waren, deshalb war er fast froh, als er in der Ferne das Herrenhaus aufragen sah, das für jeden, der kein Malfoy war oder über den kein Familienzauber gesprochen worden war, nur wie ein x-beliebiger Hügel aussah. Als er sich ihm auf dem Besen näherte, hörte er vom Quidditch-Feld Rufe. Er musste nicht erst hinsehen um zu wissen, dass Narcissa dort herumflog und Tore schoss, doch als er näher kam, sah er, dass der Rest des Teams nicht aus Dienstboten und Hauselfen bestand, sondern dass sie den Quaffle Vacchs, seinem Trainer, zuwarf, der ihn zurückwarf. Ihr trillerndes, schrilles Gelächter vermischte sich mit den Rufen der Eulen, die im Eulenschlag ein- und ausflogen. Von der Seite aus, von der er sich nä herte, war es unmöglich, zum Herrenhaus zu kommen, ohne dass sie ihn bemerkten. Ganz egal, in welcher Stimmung sie sich gerade befand, erwischte Narcissa ihn regelmäßig, wenn er versuchte sich an ihr vorbeizuschleichen. Möglicherweise lag es daran, dass sie die Aufmerksamkeit, die sie Lucius' Kommen und Gehen nicht schenkte, voll auf Draco konzentrierte. Es wäre also heldenhafter zu ihnen hinüberzufliegen, zu behaupten, er sei erschöpft und sich dann für den Rest des Abends in sein Zimmer zu verziehen. Als er sich dem Spielfeld näherte, hielt er an, versteckte seine Tasche in einem Gebüsch, hob wieder ab und flog zu dem Punkt, wo Vacchs den Torhüter spielte, allerdings nicht besonders geschickt, da Narcissa ihn mit dem Quaffle immer wieder foulte. Er versuchte, zwischen ihren Würfen mit dem Trainer zu reden, aber das erwies sich als schwierig. Sie lachte jedes Mal aufs Neue, wenn der Ball durch den Ring ins Netz fiel, das während seiner Trainingsstunden immer hinter dem Ring schwebte. Als sie sah, dass Draco versuchte, Vacchs' Blick auf sich zu ziehen, hörte sie auf zu lachen, und ihre Augen verengten sich zu silbernen Schlitzen. "Dylan, du hast Gesellschaft", sagte sie und streckte den Finger aus, so dass Vacchs' Blick ihrem langen Fingernagel folgte und sich Draco zuwandte. "Hallo, Junge", rief der Trainer, "komm und mach mit – ich will sehen, wie gut du den Quaffle wirfst." "Ach, das kann er ganz wunderbar, oder jedenfalls konnte er es, bevor er einen Höhenflug gemacht hat und alles außer Sucher für unter seiner Würde befand", sagte Narcissa und warf den Quaffle in Richtung Tor. Zu Dracos Überraschung verfehlte sie es diesmal.
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8. Kapitel: Ernüchtert
Ob Vacchs wohl wusste, dass er ursprünglich trainiert hatte, um Jäger zu werden?, überlegte Draco. Schon bei seinem allerersten Besenflug hatte Lucius damit begonnen ihm beizubringen, wie man vom Besen aus einen Ball warf und auffing. Bevor er nach Hogwarts gekommen war, hatte sich immer alles um den Quaffle gedreht, vielleicht deshalb, weil Narcissa einmal Jäger gewesen war, obwohl er sein tägliches Training regelmäßig damit beendet hatte, nach den Spielzeug-Snitchen zu suchen. Alle erwarteten von ihm dasselbe, nämlich dass er im zweiten oder dritten Schuljahr ins Team aufgenommen und in der fünften oder sechsten Klasse genau wie Narcissa vielleicht sogar Mannschaftskapitän würde. Lucius hatte niemals in der Hausmannschaft gespielt, er hatte Draco immer erzählt, er habe zu viel anderes zu tun gehabt. Selbst während des Monats, bevor er in die Schule kam, hatte er sich damit beschäftigt, Bludger abzuwehren und Torhüter zu spielen, um sein allgemeines Geschick zu trainieren, wie Lucius immer sagte. Seine Quidditchtrainer konzentrierten sich jedoch immer noch darauf, einen besseren und schnelleren Flieger aus ihm zu machen und ihm beizubringen, wie man Bälle am geschicktesten warf und auffing. *** "Bist du schon fertig?", fragte Lucius an jenem heißen Julinachmittag und steckte den Kopf durch die Tür zu Madam Malkins Robengeschäft. "Fast", rief er zurück, als die Näherin die letzte Robe auf die Fußbank legte, die der unordentliche, dunkelhaarige Junge eine halbe Stunde zuvor freigemacht hatte. Dort lagen bereits ein Dutzend schwarze Roben und ein weiteres Dutzend in allen möglichen anderen Farben – in Khaki, Dunkelblau, Dunkelgrau, dunkelgrüne aus Wolle, und eine aus weißem Leinen für eine spätsommerliche Veranstaltung beim Propheten. "Setzen Sie das alles auf meine Rechnung", sagte Lucius zu einer der Hexen, als er in den Laden kam. Dann wandte er sich an Draco und sagte: "Hast du getrödelt und sie aufgehalten? Ich wüsste nicht, warum es so lange dauert ein Kind einzukleiden, es sei denn, es zappelt ständig herum." "Nein Vater, habe ich nicht. Ich musste eine Weile warten, weil sie gerade mit einem anderen Jungen beschäftigt waren", sagte er. Lucius wandte sich an die Hexen: "Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt, Sie sollten sich mit meinem Sohn beeilen. Wir haben heute noch einiges vor, und ich muss wieder in die Redaktion zurück. Wenn das Ihre Vorstellung von Service am Kunden ist, dann wundert es mich, dass der Laden noch nicht pleite gemacht hat." "Es tut mir Leid, Mr. Malfoy", antwortete die ältere der beiden Hexen. "Aber der kleine Harry Potter war hier, und na ja, Sie verstehen schon. Wir wollten uns eben ordentlich um den armen Jungen kümmern." Draco sah auf und erblickte einen Ausdruck auf Lucius' Gesicht, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er sah tatsächlich überrascht aus! Draco nahm an, dass er selbst genauso überrascht aussah. Harry Potter? Dieser dürre, zerlumpte Gassenjunge war Harry Potter? Draco hatte natürlich "Aufstieg und Fall der Dunklen Mächte" und "Wichtige Ereignisse der magischen Welt im 20. Jahrhundert" gelesen und wusste alles über die Linie Gryffindor, aber da niemand wusste, wie Harry Potter wirklich aussah, obwohl der Prophet jahrelang versucht hatte, an ein Foto zu kommen, hatten die meisten Zauberer keine klare Vorstellung von ihm. Würde Lucius ungehalten sein, weil er ihn nicht erkannt hatte? Während Lucius bezahlte, die Näherin zurechtwies und veranlasste, dass alles am nächsten Tag ins Herrenhaus geschickt wurde, suchte Draco nach seinem Buch und seiner Jacke, die während der stundenlangen Anprobe verlegt worden waren. Als sie die Diagonallee hinuntergingen, um sich mit Narcissa im Zauberstabladen zu treffen (sie brauchte auch einen neuen, weil ihrer sich zu sehr verzogen hatte, um richtig zu funktionieren), bombardierte Lucius ihn mit Fragen über Harry Potter und schien es zu genießen, Draco abzufragen, was er aus seinen 162
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8. Kapitel: Ernüchtert
Geschichtsbüchern und aus dem Unterricht über die Potters und Gryffindors wusste; seine Antworten mussten zum großen Teil gestimmt haben, weil Lucius ihn nichts wiederholen ließ. Danach beschrieb Draco ihm, wie Potter aussah, wiederholte, was er gesagt hatte und erinnerte sich schließlich daran, dass er Lucius nach Rennbesen hatte fragen wollen. "Nicht heute, es hat überhaupt keinen Zweck danach zu fragen, ich habe nämlich keine Zeit dazu", sagte Lucius. "Wenn du wirklich einen neuen brauchst, kannst du bis Dezember warten. In der Schule brauchst du keinen, du solltest dieses Jahr deine Zeit nicht mit Fliegen, sondern mit Lernen verbringen. Wenn deine Zensuren meinen Erwartungen entsprechen, werde ich es als Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk in Erwägung ziehen." "Aber wie soll ich dann mit meinem Training vorankommen? Es ist doch sinnlos, Werfen und Fangen zu üben, wenn ich nicht in der Luft bin", drängte Draco. "Du wirst dieses Jahr nicht Jäger werden, und vielleicht auch nächstes Jahr noch nicht. Die Positionen in der Hausmannschaft von Slytherin sind alle vergeben, und dieses Jahr sollten eigentlich nicht viele Siebtklässler im Team sein. In deinem zweiten Schuljahr werden die Positionen des Suchers und des Torhüters frei, aber du bist weder groß noch stark genug für einen Torhüter, und vor 1993 wird nur ein neuer Jäger gebraucht werden, weil der Mannschaftskapitän in diesem Jahr ein Siebtklässler ist. Ich bezweifle allerdings, dass du als Jäger eine Chance gegen die älteren Schüler hättest, die natürlich stärker sind als du kleines Jüngelchen, ganz egal, wie schnell du fliegen kannst oder wie gut du darin bist, Bälle zu fangen." Er blieb stehen, hielt einen Moment in seiner Rede inne und drehte sich zu Draco um, der im selben Augenblick wie Lucius stehen geblieben war. "James Potter war ein hervorragender Jäger, sagt deine Mutter. Sie sind in der Schule nämlich gegeneinander angetreten, wusstest du das?" Das hatte Draco natürlich nicht gewusst. Weder Lucius noch Narcissa sprachen jemals über ihre Schulzeit in Hogwarts, und alles, was Draco über die Schule wusste, hatte er von seinen Hauslehrern oder aus dem reichlich mitgenommenen Exemplar von Die Geschichte von Ho gwarts, das er dieses Jahr aus der Bibliothek stibitzt hatte. "Ich frag' mich, ob der junge Mister Potter da wohl seinem Vater nachschlägt. Aber selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, ernennen sie ihn vielleicht trotzdem zum Jäger, falls er in Gryffindor landet. Das ist nämlich so was wie eine Tradition." "Er wusste ja nicht mal, was Quidditch ist! Er ist fast wie ein Muggel!" "Widersprich mir nicht, Draco. Das heißt gar nichts. Wie war das denn, als du mit drei Jahren zum ersten Mal auf einen Besen gestiegen bist?", fragte Lucius, als er weiterging. Ich bin geflogen, dachte Draco, als er sich wieder in Bewegung setzte und versuchte, mit Lucius Schritt zu halten. "Er hat sich von alleine bewegt. Ich habe instinktiv gewusst, wie es geht. Aber ich könnte nicht bei einem Quidditch-Spiel fliegen, wenn ich das nicht dank all deiner Trainer gelernt hätte, die mich zum Jäger trainiert haben. Ein Bludger könnte glatt meine Abwehr durchbrechen!" "Wäre das so schlimm?", fragte Lucius, und Draco lief es kalt den Rücken herunter. Wenn er Quidditch spielte, trug er immer eine Robe und einen Hut, die so verzaubert waren, dass sie die Wucht der Bludger-Angriffe auffingen, weil er nur selten mit Verteidigern spielte, nachdem vor ein paar Jahren ein Hauself sein Ohr verloren hatte, nachdem er von einem Bludger getroffen worden war. Mit seiner Robe bekam er allenfalls blaue Flecken oder wurde vom Besen geworfen, damit er lernte den Bludger-Angriffen auszuweichen, aber die Knochen konnten sie ihm nicht brechen. Doch falls Lucius ihn ohne seinen Hut spielen ließe ... "Meinst du, ich werde gegen ihn spielen, so wie sie gegen seinen Vater gespielt hat?" "Warum sollte ich sonst einen Haufen Galleonen zum Fenster rauswerfen, um WeltklasseJäger anzuheuern, damit sie dich trainieren? Du bist zwar fast zu klein für diese Position, aber du hast genug Strategien gelernt, um in ein paar Jahren gut genug zu sein, um ins Team aufgenommen zu werden. Alles, was du tun musst, ist ..." Lucius wurde von der Ladenglocke unterbrochen, die anzeigte, dass sie bei Ollivander's angekommen waren, und als Draco es fertig brachte, mit seinem Zauberstab aus Apfelholz (das aus den Gärten der Hesperiden stammte) und Drachenherzsehne einen Strahl silbrigen Lichts zu 163
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den Gärten der Hesperiden stammte) und Drachenherzsehne einen Strahl silbrigen Lichts zu erzeugen (Lucius hatte nicht erlaubt, dass Mr. Ollivander ihm etwas anderes als Zauberstäbe mit einem Herzstück aus Drachensehne zeigte), hatte er den Gedanken an Harry Potter und selbst Quidditch in den hintersten Winkel seines Verstandes verbannt. Er hatte Lucius' oder Narcissas Zauberstäbe nie für irgendetwas anderes benutzen dürfen als manchmal für einen LumosSpruch, und jetzt hatte er nichts anderes im Kopf, als endlich ein paar Sprüche mit seinem eigenen Zauberstab auszuprobieren. *** Allerdings schien die ganze Welt sich gegen ihn verschworen zu haben. Er wollte lediglich über die Unterlagen in seiner Tasche ein paar Offenbarungs-Zauber sprechen, doch diesmal kam ihm Quidditch in die Quere. Narcissa gab Vacchs Anweisung, den Snitch aus der Kiste mit den Bällen zu holen, die auf der Bank stand, die etwas außerhalb des Quidditch-Felds zehn Meter über dem Boden schwebte. Während er den winzigen, geflügelten Ball aus der Kiste nahm, dachte sie sich eine Herausforderung für Draco aus. "Seit wie vielen Monaten hast du jetzt nicht mehr gespielt?" "Ich hab' gegen Slytherin-Mannschaften gespielt." "Das zählt nicht. Wie lange ist es her, dass du wirklich etwas tun musstest, um zu gewinnen?" Er versuchte ihr zu erklären, dass es ein Unterschied sei, ob man Sucher oder Jäger war. "Es ist ganz egal, wie schlecht die anderen sind, wenn ich den Snitch als Erster sehe, dann liegt es nur an mir ihn zu fangen." "Du glaubst also, dass du was Be sseres bist als die anderen im Team? Du bist ja ganz schön selbstherrlich geworden. Ich kann jedenfalls keinen Grund erkennen, warum das so sein sollte", sagte Narcissa kurz angebunden. Draco hielt ihrem finsteren Blick trotzig stand. Wie sollte sie denn wissen, was er dachte, oder ob er Grund hatte anzunehmen, er sei gut genug? Sie hatte ihn nie wirklich spielen sehen, hatte sich nie die Mühe gemacht, zu irgendeinem der Spiele zu kommen, während Lucius das eigentlich fast immer tat. Und jedes Mal, wenn sie an seinem Training teilnahm, brachte sie ihn total aus dem Konzept, indem sie ihm Anweisungen zurief und ihn ständig kritisierte. Was hatte sie denn heute Abend vor? "Dylan, wollen Sie nicht mal Dracos Fähigkeiten als Sucher testen? Wir haben Sie schon für zwei Tage bezahlt, und bisher haben Sie immer nur mit mir gespielt, weil er sich in der Gegend herumgetrieben hat." "Es ist so dunkel, dass ich mir unter diesen Bedingungen keinen richtigen Überblick verschaffen kann", antwortete Vacchs und kam ebenfalls zum mittleren Tor, wo sie sich gerade aufhielten. "Warum lassen Sie es nicht auf einen Versuch ankommen?", fragte sie leise. Draco versuc hte sich davonzustehlen, aber sie nahm kurz Geschwindigkeit auf, packte das hintere Ende seines Besens und hinderte ihn so an der Flucht. "Lassen Sie den Snitch frei, dann werden wir ja sehen, wie lange der Junge braucht, um ihn zu fangen. Wir können uns so lange auf einem der Diwane dort drüben ausruhen", sagte sie, zeigte mit dem Zauberstab auf die beiden Zweisitzer, die auf dem Boden standen und hob sie in die Luft, so dass sie sich mit ihren Besen auf gleicher Höhe befanden. "Einer der Elfen kann uns ein bisschen Eis bringen, während mein Sohn uns seine brillanten Flugkünste vorführt." Ihr Mund hatte sich zu einem Lächeln verzogen, das Draco nur zu gut kannte. Vacchs sah Draco mit einer Miene an, die deutlich sagte: Was soll ich denn machen? "Ehrlich gesagt werde ich selbst langsam müde, und wenn wir morgen schon ganz früh mit dem Training anfangen wollen, sollten wir heute Abend nicht mehr allzu lange machen." 164
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"Na gut, dann eben eine Stunde. Wenn er es bis dahin nicht schafft ihn zu fangen, ist er sowieso ein hoffnungsloser Fall." In der nächsten Stunde flog Draco also Dutzende von Malen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit mal höher und mal tiefer kreuz und quer übers Feld, wobei er angestrengt durch die Dunkelheit spähte. Nach ungefähr zwanzig Minuten legte sich Nebel über den Boden und hüllte die Bäume ein, wodurch es noch schwieriger wurde, mehr als zwei Meter weit zu sehen. Es war inzwischen fast dunkel, auf jeden Fall aber nicht mehr hell genug, um den winzigen Snitch irgendwo aufleuchten zu sehen, daher konnte er lediglich umherspähen und mal schnell, mal bedächtig und im Grunde ziemlich ziellos durch die Gegend fliegen. Er gab es auf, Vacchs irgendwelche der schwierigen Manöver vorzuführen, die seine früheren Trainer ihm beigebracht hatten. Für einen Augenblick sah er ihn vorbeifliegen und wendete geschickt, um ihm nach oben zu folgen, aber als er näher kam, wechselte er die Richtung jäher als sonst und flog geradewegs auf Narcissa zu. Draco blickte auf und sah, wie sie ihn mit der linken Hand fing, weil sie in der rechten ihren Zauberstab hatte. Sie beorderte den Snitch in ihre Hand um ihn daran zu hindern, ihn zu fangen. Verdammtes Luder. "Runter mit dir", rief sie. "Ich lasse ihn nicht los, bis du gelandet bist." Das war gar keine schlechte Idee. Dann könnte er hier in der Mitte des Feldes auf dem Boden sitzen bleiben und an etwas ganz anderes denken, sie ignorieren und darauf warten, dass die Stunde um war. Leider ging das nicht. Lucius ließe ihm eine solche Unhöflichkeit gegenüber Narcissa vielleicht durchgehen, aber nicht, wenn jemand dabei war, der nicht zur Familie gehörte. Auch wenn es nur ein Trainer war. Vacchs könnte es ausposaunen. Er würde einen Gedächtniszauber brauchen. Er könnte noch in dieser Nacht jemandem eine Eule mit einer Klatschgeschichte über die Malfoys schicken, und das würde eine öffentliche Richtigstellung erfordern. Und Lucius würde keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass es Dracos Schuld war. Im Nu stand er deshalb wieder neben seinem Besen auf dem Boden. Hoch über sich sah er, wie Narcissa den Arm zurückwarf und den Snitch wieder freiließ. Noch bevor sie den Arm wieder heruntergenommen hatte, hob er ab und stieg mit enormer Geschwindigkeit wieder in die Luft, wobei er sich bemühte, der Richtung von Narcissas Wurf zu folgen. Ohne weiter nachzudenken streckte er den Arm aus, während er seine Flughöhe beibehielt, und da war er, dicht über seiner geöffneten Hand. Von ferne hörte er jemanden applaudieren. Es stellte sich heraus, dass er mit seiner Anna hme, es sei Vacchs, richtig lag; als er wieder bei ihnen war, um den Snitch in die Kiste zurückzupacken, sagte Narcissa lediglich: "Das entsprach aber nicht so ganz den Regeln, oder?" Draco hob zu einer Erklärung an, dass es einerlei sei, wie lange es dauerte, bis der Snitch gefangen war, aber Vacchs unterbrach ihn und stürzte sich in langwierige Erläuterungen über Quidditch-Kommentatoren im Wandel der Zeiten und ihre Ansichten darüber, wann der Snitch rechtzeitig gefangen wurde, bevor er sich in Lobhudeleien über Narcissas Apportierzauber erging. Er verglich sie sogar mit Modesty Rabnott, der bei einem Spiel vor ein paar hundert Jahren den Goldenen Snidget mit einem Apportierzauber gefangen hatte. Draco freute sich nicht nur über die Ablenkung, sondern auch darüber, dass Vacchs so viel über Quidditch und traditionelle Geschichte wusste. Bisher waren seine Trainer meistens Muskelmänner gewesen, Typen wie Ludo Bagman, deren Interesse für Sport jeglichen Gedanken an andere Themenbereiche erstickte. Dieser Vacchs machte dagegen den Eindruck, als könne man sich mit ihm tatsächlich vernünftig unterhalten. Narcissa sah nicht erfreut aus. Sie wirkte eingeschnappt, was es ihm leichter machte, ihr, nachdem er sich seine Tasche geschnappt hatte und zum Herrenhaus zurückgegangen war, die Lügenmärchen zu erzählen, die Lucius ihm aufgetragen hatte, und ihr danach zu erklären, warum er so müde war und ins Bett gehen musste. Die Sache mit den Recherchen war jedenfalls die 165
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reine Wahrheit. Und sie würde ihm nicht vorwerfen können, sie im Glauben gelassen zu haben, dass es sich dabei um Schularbeiten handelte, das hatte er nämlich nie behauptet. Er stieg mit angehaltenem Atem sämtliche Treppen hinauf und lief durch alle Flure, und als er die schwere Tür zu seinem Schlafzimmer öffnete, fiel die Erschöpfung, die ihn wie ein Umhang eingehüllt hatte, angesichts dessen, was er heute Nacht tun musste, von ihm ab. Er musste so viel lesen wie möglich, da es sein konnte – es war sogar sehr wahrscheinlich -, dass er nicht noch einmal Gelegenheit dazu bekommen würde. Es war ihm verboten, die Tür mit einem Za uberspruch zu verschließen, also hüllte er die Klinke in einen Meldezauber ein, der ihn warnen würde, wenn jemand sie berührte. Dann öffnete er seine Tasche und schüttete den Inhalt auf sein Bett. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sich irgendetwas davon genauer anzusehen. Einerseits wollte er sich dabei Zeit lassen, andererseits jedoch wollte er alles so schnell wie möglich durchsehen und in Minutenschnelle in sich aufnehmen; er wollte alles in kleine Stücke zerreißen, ohne vorher auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben, sein Zimmer in Brand stecken und alles bis auf die Grundmauern niederbrennen. Jegliche Konsequenzen hatten ihre Bedeutung für ihn verloren. Draco wandte sich von dem Haufen ab, schob irgendwelches Zeug von seinem Schreibtisch herunter, warf seine Schulbücher vom Regal und riss ein Gemälde von der Wand. Er na hm einen seiner Aktenordner, der Kopien der Briefe enthielt, die er Lucius in den letzten Jahren geschickt hatte, und blätterte ihn durch, dann fing er an, Seiten herauszureißen und in den Papierkorb zu werfen. Schließlich warf er den ganzen Ordner hinein, hielt seinen Zauberstab darauf und stieß ein paar Worte hervor, die die Seiten in Flammen aufgehen ließen. Alles musste vernichtet werden. Er konnte nicht hinsehen, er wollte auch gar nicht hinsehen; wenn alles verschwand, dann würde es sein, als hätte es nie existiert, und morgen könnte er einen Gedächtniszauber über Professor Snape sprechen und einen Weg finden, um die Erinnerung an das Gewölbe aus seinem Gedächtnis zu löschen, und dann könnte er einfach so weitermachen wie bisher. So als ob alles normal und wie immer und in Ordnung und gut und sicher wäre. Natürlich war es das nicht. Das war es ganz und gar nicht. Er wusste, dass es das nicht war. Er musste sich diesen Haufen ansehen. Ganz egal, was passiert war, er schuldete es Alexa nder Malfoy. Er musste das Versprechen halten, von dem er nicht einmal sicher war, dass er es gegeben hatte, und wenn, dann wusste er nicht mehr, warum. Dieses Gewölbe war so viele Jahre verschlossen gewesen, und irgendjemand musste von den Geheimnissen, die es barg, wissen. Warum sah es nur so aus, als müsse er dieser Jemand sein? Er sollte eigentlich wie Lucius sein. Er sollte die richtige Entscheidung treffen und dazu stehen. Er sollte keinerlei Konsequenzen fürchten, sondern nach der Wahrheit suchen. Lucius würde niemals an sich selbst zweifeln. Aber würde Lucius sich je in solch einer unüberlegten, orientierungslosen Situation wiederfinden wie der, in der Draco sich gerade befand? Oder vielleicht doch? Lucius wusste wirklich nicht alles – dass das tatsächlich so war, hatte Draco schon das ganze letzte Jahr über vermutet, aber sein Gespräch über den Finsteren Lord mit Professor Snape heute Nachmittag war der endgültige Beweis dafür. Entweder hatte Lucius nichts davon gewusst, dass Du-Weißt-Schon-Wer hinter den Recherchen nach der Zauberformel steckte, die Draco angestellt hatte, oder er wusste es doch. Und wenn er es wusste, dann wusste er auch, dass ein Todbringer in Hogwarts Verteidigung gegen die Schwarze Magie gelehrt hatte, was hieß, dass er sein stillschweigendes Einverständnis zu allem gegeben hatte, womit Draco sich in diesen Stunden herumgeschlagen hatte, einschließlich des Cruciatus-Fluchs während der Abschlussprüfung. Und er hatte Draco an Cedrics Tod mitschuldig gemacht, war selbst darin verwickelt gewesen, und ... Dracos Illusionen lösten sich eine nach der anderen in Nichts auf, übrig blieben nur die Fetzen der Unterlagen aus dem Gewölbe, mit denen sein Bett übersät war, und die Schnipsel seiner eigenen Aktenordner, die auf dem Boden herumlagen und deren Asche den Papierkorb füllte. 166
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Er konnte nicht klar denken. Er hatte einfach nicht genug Informationen um zu entscheiden, ob Lucius es gar nicht bemerkt hatte oder ein Scheusal gewesen war – Lügner oder Opfer eines merkwürdigen Gedächtniszaubers, das war hier die Frage. Er konnte lediglich die Bücher, Fotos und die kleinen Muggelkästchen stapeln, um sich Platz auf dem Bett zu schaffen und sie sich dann näher anzusehen, also tat er das. Die Fotos waren so banal, dass sie schon wieder faszinierend waren. Auf jedem war ein lockenköpfiger Junge mit verschiedenen anderen Menschen an vielen verschiedenen Orten zu sehen. Das Bild eines Zehnjährigen am Meer mit Dracos Großmutter, die beide Dottys Tropffreie Eiskrem aßen, ein Schnappschuss aus derselben Zeit von dem Jungen in einer Schuluniform mit einer roten Krawatte (nicht mit einer Slytherin-Krawatte in Grau und Grün), ein fast bewegungsloses Bild eines sehr viel jüngeren Lucius mit einer Frau und einem Kinderwagen, ein Säugling auf dem Arm von Lucius und eines Mannes mittleren Alters mit schwarzen Haaren und hellen Augen, und der fast erwachsene Junge mit einem Besen. Da war ein Foto von einem Mann, von dem Draco von Bildern her wusste, dass es sein Großvater war, der neben dem kle inen Jungen auf einem fliegenden Teppich saß, der ungefähr einen Meter über dem Boden schwebte, und ein fast bewegungsloses Bild, von dem Draco erst dachte, es sei ein Muggel-Foto, das aber in Wirklichkeit ein normales Bild von einem stillen, leeren Zimmer war. In regelmäßigem Abstand flog vor den Fenstern des Zimmers ein Vogel vorbei. Es sah so aus, als befände es sich im Herrenhaus, aber die Aussicht hatte Draco noch nie vorher gesehen; allerdings gab es eine Menge Flure und Zimmer, die er nie betreten hatte, und das hier mochte durchaus eines davon sein. Es dauerte eine Weile, bis er die Tagebücher aufbekam. Beide waren klein, hatten ungefähr das Format eines kleinen Buches und waren in einem Stil gehalten, der vor Dracos Geburt modern gewesen war, das wusste er aus den Romanen aus der Schulzeit seiner Mutter, die er gelesen hatte. Die Einbände waren aus weichem, ziemlich abgenutzten Leder und trugen Siegel, die anscheinend mit Zauberformeln in den Deckel gebrannt worden waren. Die meisten hatten die Form von zwei gewundenen Schlangen, die wie eine Acht oder wie das Symbol für Unendlichkeit aussahen, je nachdem, wie herum er sie betrachtete. Er probierte ein paar unspezifische Öffnungszauber und Amulette aus, dann fiel ihm etwas aus seiner Schublade ein, das vielleicht funktionieren würde. Lucius hatte Dracos einziges Tagebuch zwar Jahre zuvor vernichtet, aber der Schlüssel hatte nicht daran gehangen, als er es ins Feuer geworfen hatte. Er hatte zu der Zeit in seiner Schublade gelegen, und aus irgendeinem Grund lag er immer noch dort, mehr oder weniger eingeklemmt zwischen Seitenwand und Boden der dritten Schublade von oben. Als Draco ein eigenes Tagebuch bekommen hatte, hatte er den Schlüssel so verzaubert, dass nur er damit etwas aufschließen konnte, und wie sich herausstellte, war das Tagebuch aus dem Gewölbe anscheinend so verzaubert worden, dass es nur mit einem Tagebuchschlüssel geöffnet werden konnte, aber es musste kein bestimmter sein, da das Schloss aufsprang und das Pergament sich in seiner Hand von selbst entrollte und ihm die letzte Seite offenbarte. Irgendwie überlief es ihn kalt, als er sich die Seiten ansah. Sie waren mit einer kleinen, engen Schrift bedeckt, und die Feder war beim Schreiben so hart ins Pergament gedrückt worden, dass die Einkerbungen von der Spitze immer noch zu sehen waren. Sie wirkten irgendwie modrig und verbreiteten einen strengen Geruch. An manchen Stellen war die Tinte mit Wasser verschmiert worden, bevor sie vollständig getrocknet war, und an den Rändern waren Fingerabdrücke, weshalb einige Wörter nur schwer zu ent ziffern waren. Aber er las trotzdem. 5. März 1975. Ich werde in den Osterferien nicht nach Hause fahren. Hatte ich das mal vorgehabt? Seine neue Sekretärin (Kathleen? Katherine? Sie heißt irgendwie so ähnlich) sagt, er wird wegen irgendwelcher Ermittlungen für die Todbringer unterwegs sein. Ich vermute mal, er ermittelt dabei neue Wege mich zu ignorieren. Er könnte mir wenigstens selbst schreiben, aber dann müsste er ja an mich denken, und ich weiß, dass er damit keine Zeit vergeuden will. Na ja, um diese Jahreszeit macht es Spaß, Skandinavien zu überfliegen, jedenfalls mehr als an Weih167
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nachten. Es ist etwas wärmer und es besteht weniger die Gefahr, dass es schneit, und der Anblick von Eis, das krachend und klatschend ins Meer fällt, ist durchaus imstande, mich von jedem anderen Gedanken abzulenken. 9. März 1975. Ich habe in der Bibliothek ein paar alte Zeitungen gelesen, wobei mir aufgefallen ist, dass ich schon seit drei Jahren nicht mehr in England war. Eigentlich bin ich froh darüber. Jede Woche hört man von einer neuen Razzia des Ministeriums bei einer reinblütigen Familie, und die Leute werden mit erschreckender Regelmäßigkeit ins Gefängnis geschickt. Professor K sagt, es habe nichts mit Osteuropa zu tun, und wir sollen keine der beiden Seiten unterstützen, denn wenn wir Partei ergreifen, und die andere Seite gewinnt, sind wir in Gefahr. Vaters Artikel sprechen natürlich eine andere Sprache, oder haben das jedenfalls in den vier Monaten seit Großvaters Tod getan. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er mich zur Beerdigung nicht abgeholt hat. Ich bezweifle, dass er sich die Mühe gemacht hat selbst hinzugehen. Er fehlt mir. Nein, nicht ER, warum sollte er das? 2. April 1975. Ich war in der letzten Woche nicht da, hatte schulfrei und so weiter. Ich konnte dich nicht mitnehmen, weil ich nicht wollte, dass sie dich sieht und Fragen stellt, aber ich war mit Nana auf Kreuzfahrt – den ganzen Weg nach Leningrad und zurück. Das war die Reise, die sie mir versprochen hatte, als ich hier angefangen habe (lange genug hat sie dazu gebraucht). Es gab den ganzen Tag lang zu essen und auch Alkohol. Ich habe eine Flasche Wodka rausgeschmuggelt. Diese dicken Mäntel müssen ja wenigstens zu etwas gut sein! Levski und ein paar seiner Zimmergenossen wollen mir beibringen, wie man Kopeks spielt. 3. April 1975. Kopeks ist Mist. Kopfschmerzen auch. 4. April 1975. Der Wodka macht es schwierig, irgendwas getan zu bekommen. Kathleen hat mir heute einen Brief von ihm geschickt, in dem er fragt, ob ich im Sommer hier bleiben könnte. Irgend so ein Lügenmärchen, dass das Herrenhaus renoviert werden müsste – es hat ja nur achtunddreißig Schlafzimmer, deshalb ist es unmöglich, mich irgendwo unterzubringen. Sie werden mich nicht am Bleiben hindern, das tun sie nie. Ich muss sowieso Nachhilfeunterricht nehmen. Und er hat versprochen, mich im August zu besuchen, aber ich weiß, dass er es nicht tun wird. Und es ist mir schnurzpiepegal. Sie hat mir außerdem die Ausgabe vom letzten Sonntag geschickt, die so schwer war, dass zwei Schneegänse nötig waren, um sie zu tragen. Seit dem Frühjahr sind die Verkäufe aus Werbung gestiegen. Eigentlich sollte ich beeindruckt sein, aber ich will nicht. Jede Menge Anzeigen, die für Ferien außerhalb Englands werben, und zwei Artikel über Firmen, die sich in Amerika niederlassen. Aber keine Artikel über Todbringer. Keine Ahnung, ob sie sich eine Woche lang ruhig verhalten haben oder ob Vater Anweisung hat, weniger über sie zu berichten. 30. April 1975. Ich bin schockiert. Ich bin überrascht. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich habe einen Brief von Vater bekommen, den er eigenhändig geschrieben hat. Und diesmal hat er sogar meinen Namen richtig geschrieben. Und er hat auf etwas Bezug genommen, das ich in meinem letzten Brief geschrieben habe, was womöglich heißt, dass er ihn tatsächlich gelesen hat. Sehr seltsam. Ich will ihn aber nicht beantworten. 12. Mai 1975. Nächstes Jahr werde ich drei Kurse für Fortgeschrittene in schwarzer Magie belegen, Zaubertränke, Zauberformeln und Runengeschichte, allerdings glaube ich, dass ich sie nicht schaffen werde. Da muss man sich zu viele Formeln merken, und dazu fehlt mir die Zauberkraft. Warum lässt er mich nicht einfach Theorie und Sprachen machen? Dafür brauche ich keine sonderlich starken Zauberkräfte. K sagt, ich müsse mich auf meine Pflichten vorbereiten, aber ich weiß nicht, worin die bestehen. Seine neue Sekretärin, ich glaube, sie heißt Nora, hat mir eine Kiste mit Schokofröschen geschickt (das erste Päckchen von zu Hause seit Weihnachten!) und ein Memo, das unter den Angestellten verteilt worden ist. Bin ich jetzt ein Angestellter? Vielleicht sollte ich es einfach ablegen, oder ich könnte einen Feuerzauber daran ausprobieren. Aber dabei bekomme ich immer nur schwarze Finger und kriege es dann mit K zu tun. Das ist die Sache definitiv nicht wert.
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Die meisten Einträge bestanden aus ganz ähnlichen Klagen, verworfenen Plänen und Erzä hlungen über den Unterricht. Als die Stunden vergingen, bekam Draco Kopf- und Gliederschmerzen, und je mehr er las, je länger er die Gesichter auf den Bildern anstarrte, wie sie sich ihm zuwandten und ihn anlächelten, umso mehr schwand auch das letzte Bisschen Seelenfrieden, das ihm noch verblieben war. Auf einer einzelnen Seite, umgeben von einem Dutzend Leerseiten, fand er ein Gedicht. Es war nicht datiert. Tot hänge ich am Ende deines Fadens, bis du daran ziehst Zwischen uns wird immer nur Spannung sein Dann können wir sie auch genauso gut nutzen Ich bin dir entrückt, so entrückt wie Worte in einem alten Tagebuch Fern wie Kerzenlicht, die personifizierte Abwesenheit Wärme ist ein seltsames Ding, sie schwindet beim geringsten Anlass Reibung erzeugt Wärme, und auch Hass Die Lebenslinie ist kalt und abstrakt, dünn und so leicht zu zerbrechen Grausamkeit, Bitterkeit und Schmerz Ist alles, was wir beherrschen und in uns bergen. Mindestens dreimal las er den Eintrag, den Alexander auf den Tag genau zwanzig Jahre vorher gemacht hatte. Aus irgendeinem Grund zitterten ihm die Hände, und seine Augen wollten einfach nichts fixieren. Wie seltsam – zwei Briefe in einer einzigen Woche. Ich glaube nicht, dass das schon mal vorgekommen ist, jedenfalls nicht, seit ich mit der Schule angefangen habe, und das ist fast acht Jahre her. Offensichtlich hat Vater mein Zeugnis bekommen und war darüber sehr ungehalten. Aber er hat keinerlei Möglichkeit, mich zu bestrafen. Was könnte er schon tun? Mir keine Süßigkeiten mehr schicken? Er hat das sowieso seit Jahren nicht mehr gemacht. Mir sagen, ich solle in der Schule bleiben? Ist schon passiert. Wenn er mich wieder schlagen wollte, müsste er schon herkommen, und die Mühe macht er sich bestimmt nicht. Das Einzige, was er tun kann, ist, in der Bibliothek Anweisung zu geben, mich keine Bücher mehr ausleihen zu lassen, die nichts mit der Schule zu tun haben, weil 'alles, was für die Schule nicht wichtig ist, nur meinen Geist verdirbt'. Als Draco das erste Pergament entrollt hatte, hatte er eigentlich vorgehabt, die Tagebücher vom wissenschaftlichen Standpunkt aus zu lesen, so als ob er lediglich recherchierte und dabei auf eine Originalquelle gestoßen wäre, die ihm die Antworten auf ein Rätsel liefern würde, das er so schnell wie möglich lösen musste. Er machte sich Listen der Ereignisse, auf die Alexander sich bezogen hatte, und eine Aufstellung der Ausgaben des Propheten, über die er geschrieben hatte, um sie für weitere Nachforschungen zu benutzen. Bei den ersten paar Einträgen suchte er nach Anhaltspunkten, wer dieser Mensch gewesen und was ihm zugestoßen war, aber die Alltäglichkeit der meisten Einträge machte das ungeheuer schwierig. Ein Eindruck, den er aus diesen persönlichen Worten gewann, das, was ihm am merkwü rdigsten daran vorkam, war, dass Alexander so gut wie keinen Kontakt zu Lucius gehabt hatte und niemals eine Mutter erwähnte, obwohl Draco inzwischen annahm, dass diese Celeste Alexanders Mutter war. Er konnte allerdings nicht herausfinden, ob sie mit Lucius verheiratet gewesen war oder nicht. Seine Beschreibungen des Unterrichts und der Schule ließen Draco vermuten, dass er auch nicht in Hogwarts, sondern in Durmstrang zur Schule gegangen war, allerdings erwähnte er niemals den Namen der Schule auf den Seiten, die Draco las, deshalb war er sich dessen nicht ganz sicher. Jeder dieser gewöhnlichen, kleinen Absätze verursachte ihm Übelkeit. Wie konnte Lucius einen anderen Sohn und eine andere Frau gehabt haben? Wie kam es, dass die Leute, die Alexander gekannt hatten und die jetzt Draco kannten, das nie erwähnt hatten? Warum hatte Lucius
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nie etwas gesagt? Und Narcissa – sie kannte Alexander ganz eindeutig, was aus Professor Snapes Geschichte klar hervorging. Warum hatte sie ihm nichts davon erzählt? Draco wollte aus seinem Zimmer fliehen und sich in Lucius' Bibliothek begeben um nachzusehen, ob er irgendwas über Alexander oder selbst über Celeste herausfinden konnte. Was waren das für Eltern, die keine Babyalben Schühchen, Krakeleien oder Zeichnungen von ihrem Sohn hatten? Lucius stellte alles aus Dracos Kinderzeit offen zur Schau, und Draco hatte immer geglaubt, es mache ihm Spaß, den Besuchern all diese Dinge zu präsentieren. Irgendetwas musste doch noch vorhanden sein, und sei es nur eine Notiz, die in einem alten Buch steckte. Immerhin handelte es sich um eine Bibliothek, und in Bibliotheken blieben die Dinge unberührt, bis ein Forscher kam und irgendetwas Wichtiges oder Wundervolles dort fand. Bibliotheken verliehen ihm immer ein Gefühl der Sicherheit. Er hatte sich immer sicher und wohl gefühlt zwischen diesen Wänden voller Wörter um sich herum. Es war, als ob die bedruckten Seiten die Schatten, die ihn umringten, zurückdrängten, und Erinnerungen an eine Zeit bargen, die schon Vergangenheit gewesen war, bevor er überhaupt existiert hatte. Er wollte die Tagebücher zwar nicht in seinem Zimmer lassen, sie aber auch nicht mit in die Bibliothek ne hmen, für den Fall, dass Lucius sich dort aufhielte. Er saß manchmal sogar mitten in der Nacht stundenlang in der Bibliothek und las; Draco wusste das, weil Lucius ihn ab und zu weckte und in den großen, in Burgund- und Mahagonitönen eingerichteten Raum rief, damit er sich einen Absatz in einem Buch oder eine neu entdeckte Zauberformel ansah. Dazu wäre immer noch Zeit, wenn er seine Hausaufgaben machen sollte, oder wenn Lucius die Stadt verließ. Vielleicht hatte der Finstere Lord, als er den Gedächtniszauber an Professor Snape vorgenommen hatte, alles aus dem Herrenhaus entfernt, was an Alexanders Existenz erinnerte. War es möglich, dass er auch die anderen Hausbewohner mit Gedächtniszaubern belegt hatte? Keiner der derzeitigen Bediensteten war länger als fünfzehn Jahre im Haus. Und Luc ius, Narcissa und Großmutter? Hatte man auch ihre Erinnerungen manipuliert? Konnte er ihnen Fragen stellen, so wie Professor Snape, und würden sie sich dann erinnern können und reden? Er war jedoch nicht sicher, ob er das überhaupt wollte. Lucius würde sic h darüber aufregen, dass er die Tagebücher beim Abendessen nicht erwähnt hatte, und er hatte keinen Beweis dafür, dass Narcissa Alexander nach ihrer Geburtstagsfeier jemals wiedergesehen hatte. Falls Alexa nder in Durmstrang zur Schule gegangen war, wie die Tagebücher vermuten ließen, dann wäre er schon mit acht oder neun Jahren von zu Hause weggewesen, und da er eindeutig nicht oft nach Hause gekommen war, wäre sie ihm auch in den Ferien nicht begegnet. Und woran würde sie sich tatsächlich in Bezug auf einen Jungen erinnern, den sie vor dreißig Jahren vielleicht nur kurz gekannt hatte? Manchmal konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, was tags zuvor passiert war. Nachdem er ein paar Stunden gelesen und nachgedacht hatte, sammelte er die TagebuchRollen ein, schloss die, die er gerade las, wieder ab, und stopfte sie zu Peppy unters Bett, wo man sie nicht finden würde. Er würde später noch einmal einen Blick darauf werfen, und wenn er die Gelegenheit dazu hatte, würde er ein paar zeitgenössische Ausgaben des Propheten lesen, vor allem die auf seiner Liste. Dann befasste er sich mit den Muggeldingern. Er konnte nicht verstehen, warum ein Zauberer Muggelkästen in einem Gringotts-Gewölbe versteckte, und er war sicher, dass sie etwas sehr Wichtiges enthalten mussten. Doch Draco schaffte es nicht, die kleinen Kästchen zu öffnen oder dazu zu bringen, irgendwas zu tun, ganz egal, wie oft er auf die Knöpfe drückte oder Offenbarungs-Zauber über sie sprach, daher musste er sie schließlich beiseite legen. Wer könnte ihm mit den Kästen helfen? Er wollte sowieso mit Professor Snape reden und ihn fragen, ob er noch weitere Erinnerungen an Alexander hatte. Draco überlegte, dass er Profe ssor Snape außerdem fragen konnte, ob er sich mit Muggel- Technik auskannte, aber dann fiel ihm ein, dass Hermione in einem Muggel-Haus aufgewachsen war und vielleicht wusste, was das für Kästen waren. Er hatte versprochen, ihr eine Eule zu schicken, in der er ihr erklärte, wie sie
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8. Kapitel: Ernüchtert
diesen Sommer in die Malfoy-Archive hineinkommen würde; er könnte sie in demselben Brief auch nach den Kästen fragen, aber das war ein Risiko. Draco wusste, dass Lucius seine ausgehenden Eulen nicht überprüfte, aber alle Eulen – auch die Familieneulen – die von draußen ins Herrenhaus kamen, mussten durch eine Sicherheitsschranke, damit sie keine Nachrichten hereinbrachten, die mit bösen Sprüchen behext waren. Sämtliche Heuler liefen über einen hörgeschädigten Hauselfen, der sie öffnen und beantworten musste. Es wäre möglich – nicht wahrscheinlich, aber möglich -, dass, wenn Draco von Hermione eine Eule mit Informationen über die Kästen bekäme, Lucius davon erfahren und vom Inhalt der Kästen Kenntnis erlangen würde und auch davon, was in den Tagebüchern stand und was sich in dem Gewölbe befunden hatte, und dann würde Draco nie wieder etwas davon sehen oder hören. Das konnte er nicht zulassen. Es war zu riskant darauf zu warten, ob er sie zufällig in der Bibliothek traf, da er nicht mehr viel Zeit hatte, bevor er in die Ferien fuhr. Er konnte sie aber jetzt gleich besuchen. Er konnte zu ihr Projizieren, eine Zeichnung von den Kästen mitnehmen und schauen, ob sie ihm irgendetwas Nützliches darüber sagen konnte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel Schriftrollen, von denen er eine zu sich rief, dann murmelte er Leonardo und hielt seinen Zauberstab darauf, der eine exakte Zeichnung des großen Kastens und eines der kleineren Kästchen anfertigte. Als die Tinte trocknete, schob er alles andere von seiner Bettdecke, um es zusammen mit den Tagebüchern zu verstecken. Alles außer dem Foto von Alexander mit Potters Vater und Professor Snape. Er wollte es nicht zurücklassen, also steckte er es in die Tasche. Er nahm das Pergament und ging zu dem Lehnstuhl, der normalerweise zwischen den Bücherregalen stand, jetzt aber direkt unter dem Dachfenster in der Luft schwebte. Er hatte genau die richtige Größe, um sich im Schneidersitz darauf niederzulassen. Draco schloss die Augen und fühlte, wie er in Trance fiel. Seine Augen waren geschlossen, und er wartete auf den Augenblick, in dem er sich von seinem Körper löste und ohne Augen sehen und ohne Ohren hören konnte, aber er wollte sich nicht einstellen. Er kam nicht aus seinem Körper heraus und konnte das Haus nicht durchs Fenster verlassen und schnappte nach Luft, als er merkte, dass die Schriftrolle ihm aus der Hand gefallen war und auf dem Boden lag. Er hörte sie fallen und knistern, als sie landete. Er öffnete mit einem Ruck die Augen und blickte in Richtung Horizont. In der Schwärze der Nacht zeigte sich ein flüchtiger dunkelblauer Schimmer. Er war die ganze Nacht aufgewesen und hatte gelesen, und jetzt dämmerte der Morgen. Auch wenn ich mir dessen nicht bewusst bin, muss ich zu müde sein um zu Projizieren, oder der Alkohol ist Schuld daran. Aber er war sicher, dass er so viel Energie hatte wie ein Billywig. Sein Geist wusste es jedoch besser, und wenn er nicht wollte, dass er das Herrenhaus verließ, dann gab es keine Zauberformel und auch keinen Zaubertrank, der ihn dazu zwingen konnte, ihn hinauszulassen. Das einzige Amulett, das ihm jetzt vielleicht etwas genützt hätte, befand sich in einer Vitrine aus Adamant im Museum für Toleranz in Stonehenge. Im Auge nblick hatte er keine Möglichkeit es zu holen. Er musste bis morgen warten. Na gut, eigentlich bis später am heutigen Tag, da es bereits morgen war. Er konnte gar nichts tun, deshalb konnte er genauso gut aufräumen und dann ins Bett gehen, obwohl er vermutlich nur zwei oder drei Stunden schlafen konnte, bis man irgendwo nach ihm rief. Er trank die Milch in dem mit einem Temperatur- und Frischekontrolle-Zauber belegten Glas auf seinem Nachttisch in kleinen Schlucken und machte sich fürs Bett fertig. Eine halbe Stunde später, als er gerade am Einschlafen war, fiel ihm ein, dass er Lucius gar keine Liste dessen gemacht hatte, was er gestern alles unternommen hatte, und auch keinen Plan für morgen. Er schüttelte sich beim Gedanken daran, was er schreiben konnte: Habe mich mit Professor Snape getroffen, um mit ihm über meine Beteiligung an der Rückkehr des Finsteren Lords zu sprechen. Habe im Gringotts-Gewölbe ein großes Familiengeheimnis entdeckt. Habe meinen Trainer beeindruckt, indem ich den Snitch auf ungewöhnliche Art gefangen habe. Und für die Schlafenszeit am nächsten Abend stand da statt "schlafen": Zum Muggel-Haus Projizieren, um mit angeblichem Schlammblut über Familiengeheimnis zu sprechen.
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8. Kapitel: Ernüchtert
Irgendwie hatte er den Eindruck, dass Lucius nichts davon als adäquate Beschäftigung betrachten würde. *** Aber auch wenn er sich einen Plan gemacht hätte, wäre es unmöglich gewesen, sich daran zu halten. Niemand weckte ihn am nächsten Morgen, und er fuhr erst kurz nach Mittag erschrocken aus dem Schlaf hoch. Er schlief nie so lange, und ganz sicher nicht zu Hause, deshalb sprang er aus dem Bett und schob den Traum über ein Skelett, das versuchte einen Gedächtniszauber an ihm vorzunehmen, beiseite. Er wollte sich gerade anziehen, als er die Notiz auf seinem Schreibtisch sah. Draco, als ich Dekky gestern Abend aufgetragen habe, einen Schlafzauber über deine Milch zu sprechen, damit du sieben Stunden durchschläfst, habe ich nicht damit gerechnet, dass du sie erst trinken würdest, wenn du morgens aufwachst. Warum solltest du sonst um halb elf morgens noch schlafen, wenn du sie nicht zu so einem ungewöhnlichen Zeitpunkt getrunken hättest? Sag Mr. Vacchs sofort Bescheid, wenn du wach bist und mach dir dann etwas zu essen. Triff dich eine halbe Stunde später auf dem Quidditch-Feld mit ihm zu deiner ersten Trainingsstunde in diesem Sommer. Ich erwarte, dass du dich dabei geschickter anstellst als gestern Abend. Ich werde zum Abendessen nicht zu Hause sein, werde mich aber mit dir unterhalten, bevor du ins Bett gehst. Bitte warte im Wohnzimmer auf mich. Ich erwarte, dass du bis dahin die ersten sechs Kapitel von "Immer mit dem Schlimmsten rechnen – Zauberformeln, um unerwartete Situationen zu überleben" gelesen hast. Es dauerte fast drei Stunden, bis Vacchs ihn auf Herz und Nieren geprüft hatte. Der Trainer stoppte die Zeit, die er benötigte, um in unterschiedlicher Höhe übers Feld zu fliegen, wie lange er brauchte, um erst hundert und dann hundertachtzig Meter hoch zu steigen und benutzte einen Winkelmesser-Talisman, um seine Künste im Kurvenfliegen einzuschätzen. Vacchs brachte ihm im Prinzip nichts bei, behauptete jedoch, dass die verschiedenen Tests ihm einen allgemeinen Eindruck von Dracos Können verschafften. "Und was ist mit meinen Schwächen?", fragte Draco. "Du meinst die Dinge, an denen wir arbeiten müssen?" "Das, was ich nicht kann und das, worin ich nicht gut bin. Lucius und vor allem Narcissa haben Ihne n garantiert eine Pergamentrolle gegeben, auf der jede Kleinigkeit steht." "Klar, er hat mir was gegeben, aber ich verlasse mich lieber auf mein eigenes Urteilsvermögen und nicht auf das eines Laien, und ich bin durchaus imstande selbst zu entscheiden, woran wir arbeiten müssen. Ich sage nicht, dass es da nichts gäbe, aber du bringst die besten Voraussetzungen mit. Morgen sehen wir uns dann an, wie du damit klarkommst, wenn dir die Bludger um die Ohren fliegen!" Das Abendessen war das entspannendste, das er seit Wochen erlebt hatte. In Hogwarts ging es bei den Mahlzeiten immer laut zu, und es war entnervend, beim Essen zu lesen, das ging nur manchmal beim Frühstück, weil Vin oder Greg regelmäßig irgendwas verschütteten oder sich in ein Gespräch über Quidditch oder Politik stürzten. Heute Abend, wo Lucius und Narcissa bei der Wohltätigkeitsveranstaltung waren, hatte er seine Ruhe. Allerdings war das Buch, das Lucius ihm zum Lesen dagelassen hatte, nicht gerade das, was man beim Essen gerne las, da einige Passagen ziemlich unappetitlich waren, vor allem die, die davon handelten, dass man mit dem Besen in einen Sandsturm geriet und nicht Disapparieren konnte, oder wie man einem Alligator entkommen konnte, wenn man im Treibsand festsaß und den Zauberstab in der Robentasche hatte, die sich gerade einen Meter unter dem Erdboden befand. Er sah kaum von seinem Buch auf, als er ins Wohnzimmer ging und sich ans Fenster setzte. Es mussten mehrere Stunden vergangen sein, als er endlich Lucius' und Narcissas Schritte hörte; 172
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8. Kapitel: Ernüchtert
es klang so, als ob einer von beiden strauchelte und der andere ihn stützte. Narcissa ging vorbei, doch Draco sprang gerade noch rechtzeitig aus seinen Kissen hoch, bevor Lucius die Tür öffnete und ihm befahl, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen. Sie setzten sich auf ihre üblichen Plätze, und Lucius kritisierte Dracos Schlafgewohnheiten, dann fing er an, ihn wie erwartet über das Training auszufragen, dazwischen stellte er immer wieder Quizfragen zu den verschiedenen Zauberformeln, die in dem Buch beschrieben worden waren, und wie man Schutzzauber überwand. Dracos Gedanken schweiften einen Augenblick zu den Tagebüchern in seinem Zimmer und zu Alexander ab. Es war klar, dass er Lucius nicht oft gesehen hatte, aber hatte er jemals ein GESPRÄCH wie dieses mit ihm geführt? Wie war es wohl verlaufen, was hatte Lucius für Fragen gestellt, und wo hatten sie sich befunden? In diesem Raum? In diesem Sessel und auf dieser Ottomane? Lucius bemerkte Dracos momentane Geistesabwesenheit und reagierte darauf, indem er ihn auf beide Wangen schlug. "Was hast du heute Abend nur gegessen, dass du dich nicht auf mich konzentrieren kannst?" "Tinten-Linguini à la arrabiata." "Und was hattest du zu trinken?" Er packte Draco am Kragen und fragte: "Hast du etwa Wein getrunken?" "Nein! Das würde ich nie, es sei denn, du bietest ihn mir an. Ich weiß, dass ich nicht in den Keller gehen oder einen Dienstboten ohne deine Erlaubnis runterschicken darf!" "Sieh zu, dass du das nicht vergisst", ermahnte ihn Lucius und ließ Dracos Robe los. Dann zog er die Ottomane zu sich heran, so dass ihre Knie und ihre Stirnen sich berührten. Er wechselte abrupt das Thema und sagte in anklagendem Ton: "Hast du heute Projiziert?" "Nein, nicht seit ich mich auf die Suche nach Rita gemacht habe." "Weißt du noch, was wir letzten Sommer über die chinesischen Drachen gelesen haben?" Vielleicht wegen seines Namens oder wegen Lucius' umfangreicher Sammlung von alten, römischen Schriftrollen hatte Draco immer geglaubt, dass jeder gern über etwas las, in dem sein Name vorkam. Deshalb war er mit der Geschichte und den Legenden über Drachen wohlvertraut. Er hatte das Gefühl, dass er mit echten Drachen nur wenig gemeinsam hatte, mögliche rweise hatte er sich deshalb ein Zitat aus Im Verborgenen lauernde Drachen – Feuerbälle im Wandel der Zeiten zu eigen gemacht: "Die chinesischen Drachen konnten sich der Legende nach so groß machen wie das Universum oder so klein wie eine Seidenraupe." Sie konnten außerdem die Farbe wechseln und blitzschnell verschwinden. "Ich möchte, dass du die Talente von chinesischen Drachen übst. Du kannst mit der Größe anfangen – sei heute Abend so klein wie eine Seidenraupe, wenn du Projizierst. Ich will, dass du im Umkreis von fünf Meilen um das Industriegebiet von Whinging nach Spuren von Magie suchst. Schick mir deinen Bericht, bevor du schlafen gehst, und lass darin nichts aus." "Wieso?", fragte Draco verwundert. "Weil ich es gesagt habe", sagte Lucius, zog den Kopf zurück und ließ seine Stirn gegen Dracos krachen. Er hatte einen Augenblick Zeit, um sich darauf vorzubereiten, bevor es passie rte, und straffte Hals und Schultern, um keinen Millimeter zu weichen, wenn der Schlag ihn traf. "Und stell keine Fragen." Lucius erhob sich, und Draco, der immer noch leicht benommen war, versuchte mühsam ebenfalls aufzustehen. "Geh jetzt. Ich will deinen Bericht noch vor Sonne naufgang haben. Wenn er was taugt, kannst du wieder bis Mittag schlafen." "Aber wonach soll ich ...", begann Draco. Lucius sagte jedoch nur: "Du wirst von deinem eigenen Zimmer aus aufbreche n. Ich will nicht, dass du deine Mutter weckst, indem du durch ihr Zimmer polterst." Aber das war keine Antwort auf seine Frage. Wenn er nicht erst vor zehn Stunden aufgewacht wäre, hätte er sich nicht vorstellen können die Energie aufzubringen, dies zu tun. Dieser Abend hätte wie der vorige enden können, als er nicht mehr genug Ausdauer für diese Art von Magie gehabt hatte. So hatte er einen guten Vo rwand, um zu Hermione zu Projizieren, ohne dass Lucius es missverstehen würde. Er wusste 173
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nämlich immer, wenn Draco Projizierte und auch, wie lange er weg war, aber er hatte keine Möglichkeit herauszubekommen, wo er genau gewesen war. Als er wieder in seinem Zimmer war, zog er sich dunkle Sachen an, setzte sich ans Fenster und fiel problemlos in Trance. Im Nu war er wieder in der Muggelstraße, allerdings viel näher am Haus, und so klein wie Lucius es verlangt hatte. Er konnte seine Größe wieder ändern, wenn er Hermione sah, aber falls Lucius irgendeine Möglichkeit hatte herauszufinden, auf welche Art er Projiziert hatte, wollte er keinen Zweifel daran lassen, dass er seine Anweisungen befolgt hatte. Er überlegte kurz, welches Zimmer wohl ihres war, dann begab er sich in eines im zweiten Stock, wo das zu grelle Licht von einem dieser Muggel- Geräte auf ihren schlafenden Kniesel vor dem Fenster fiel. Weder Crookshanks noch Hermione bemerkten, dass Draco, der jetzt wieder seine normale Größe angenommen hatte, im Raum erschienen war. Ihr Schreibtisch, der unter dem Fenster stand, war die einzige Lichtquelle im Raum, und Crookshanks lag dort schlafend auf einer Ansammlung von Papieren. Als Draco sich im Zimmer umsah, konnte er Hermione zunächst nicht erblicken. Er sah ein paar vertraute Bücher, zum Beispiel die Arithmantikbücher fürs nächste Schuljahr, Numerologie und Gramatica, Drittes Jahr und Nelli Whites neuestes analytisches Werk, Die Übersetzung des Lemegeton-Textes; andere waren ihm jedoch völlig unbekannt, und aufgrund ihres Druckbilds und Einbands nahm er an, dass es sich dabei um Muggel-Werke handelte. Allerdings hatte er keinen blassen Schimmer, warum in aller Welt Hermione etwas über Stolz und Vorurteil las. Er wandte den Blick von den Büchern ab und sah sich im Zimmer um, da er zu ergründen hoffte, wohin sie gegangen sein könnte, als er sie sah. Sie saß zusammengerollt und in eine Decke gewickelt in einem Lehnstuhl am Fenster, der seinem eigenen merkwürdig ähnlich sah. Neben ihr lag ein Buch auf dem Fußboden, und ihre Augen waren geschlossen. Er beugte sich über ihr Ohr und flüsterte ein paar Mal ihren Namen, aber sie rührte sich kaum. Selbst als Dracos Stimme lauter wurde, reagierte sie immer noch nicht. Und er konnte ihr nicht auf die Schulter klopfen oder sie wachrütteln, da er ja keinen Körper hatte. In diesem Zustand war zaubern schwierig, aber ein paar einfache Formeln waren trotzdem möglich. Immerhin war er in dieser Form eine magische Erscheinung, und man hatte ihm vor Jahren beigebracht, dass er, wenn er sprechen könne, auch zaubern könne. Er könnte zum Be ispiel versuchen, das Buch mit einem Bannspruch auf ihren Schoß zu schicken, aber das würde vielleicht schmerzhaft sein, vor allem, wenn er nicht richtig zielen konnte. Oder er könnte versuchen Crookshanks zu wecken und hoffen, er werde sein Frauchen wecken, aber womöglich bekäme der Kniesel beim Anblick eines halb durchsichtigen Draco einen Schock und würde aus dem Fenster fallen oder so. Er entschied sich für einen Apportierzauber, weil ihm das als die am wenigsten anstrengende Art erschien sie zu wecken. Er konzentrierte seine gesamte Energie auf ihre Decke und beorderte sie zu sich. Hermione wirbelte kurz herum und versuchte sie festzuhalten, dann sprang sie auf die Füße. In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass er einen Riesenfehler gemacht ha tte. Das Shirt war offensichtlich oft gewaschen worden, da es an manchen Stellen fast durchsichtig war. Sie hatte ein langes Hemd an, auf dem in abwechselnd rot und gold blinkenden Buchstaben stand: Gemischtes FKK-Quidditch - Mannschaft Gryffindor; dazu trug sie ein paar grüne Kniestrümpfe. Sie sah ihn total entsetzt an. "Ich bin entsetzt, dich zu sehen", schrie sie und hielt sich in dem Versuch, sich zu bedecken, die Hände vor die Brust. "Gib mir sofort die Scheißdecke, du Mistkerl! Und wie zum Teufel bist du überhaupt in mein Schlafzimmer gekommen?" Er drehte sich schnell um, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Es fühlte sich so an, als ob es rot wäre, aber wie konnte man rot werden, wenn da gar kein Blut war, das einem ins Gesicht schießen konnte? Das war ein Geheimnis, das er nicht unbedingt ergründen wollte. Dann 174
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probierte er einen Bannspruch, um die Decke zu ihr zurückzuschicken, aber sie flatterte nur ein bisschen herum, ungefähr wie eine Matratze in einem Sumpf. "Ich kann sie nicht aufheben. Ich bin gerade ..." "Wieder mal in körperlosem Zustand, das ist nicht zu übersehen", sagte sie. "Normalerweise würde ich dich bitten die Augen zuzumachen, aber das ist wohl sinnlos, da du sie sowieso nicht benutzt, oder?" Sie stapfte zu der Decke und wickelte sie sich fest um die Schultern, dann sah sie ihn finster an. "Willst du mich jetzt jeden Tag hier besuchen? Soll ich Plätzchen backen? Was willst du denn, was so wichtig wäre, dass du mir nicht einfach eine Eule schicken konntest?", fragte sie wütend. "Als ich gestern gegangen bin, wollte ich eigentlich Rita suc hen, dann in die Diagonallee und danach nach Hause zum Quidditchtraining, aber ..." Einen Augenblick lang fehlten ihm die Worte, er wusste einfach nicht, was er als Nächstes sagen sollte. "Wie bitte? Draco, erklär mir das bitte oder verschwinde", sagte sie ärgerlich. Er fing an zu erklären, was er bei Gringotts entdeckt, was er gelesen und auf den Bildern gesehen hatte. Nach einer Minute lehnte sie sich in ihrem Lehnstuhl zurück, und als er ungefähr zur Hälfte mit seiner Erzählung fertig war, rutschte sie vom Sitz auf den Boden. Er redete einfach weiter. Als er geendet hatte, stand ihr der Mund offen, und sie presste die Hand davor. Zum ersten Mal wurde ihm die gesamte Tragweite aller Möglichkeiten bewusst, und er erinnerte sich an etwas, das Lucius bei einem Vortrag über Fwoopers und Billywigs gesagt hatte. Wegen eines Fluchs, der seit ungefähr dreihundert Jahren auf der Familie lastete, konnte jeder Malfoy nur einen einzigen männlichen Nachkommen haben, fiel Draco ein. Er hörte im Geiste Lucius' Stimme: "Nur je ein Kind zur selben Zeit ..." Und wenn es einen Draco gab, dann konnte es keinen Alexander geben. Und wenn Alexander nicht irgendwann irgendwie gestorben wäre, dann hätte es keinen Draco gegeben. Seine Existenz beruhte auf der Nicht-Existenz der Person, über die er so viele Stunden nachgedacht hatte, seit er Hermione zum letzten Mal gesehen hatte. Laut sagte er: "Ich bin kein Ding. Was bin ich dann? Bin ich wirklich? Bin ich irgendwas? Alles über mich wurde erfunden. Es ist gelogen worden, Dinge wurden einfach vergessen, und ich sehe dir an, dass du noch nie in irgendeinem Buch etwas über ihn gelesen hast." "Nein, nie." Inzwischen war Draco überzeugt, dass der Finstere Lord Lucius irgendetwas Furchtbares angetan hatte. Vielleicht hatte er den Propheten dadurch zur Kooperation gezwungen, dass er Lucius' einzigen Sohn gefoltert oder umgebracht hatte, während er zur Macht aufstieg und Anhänger um sich versammelt hatte, und er sagte es Hermione. Sie sah ihn an, als ob er den Verstand verloren wäre. "Wird dir jemals in den Sinn kommen, dass das nicht Du-Weißt-Schon-Wessen Werk sein könnte? Vielleicht steckt dein Vater dahinter." "Nein, unmöglich. Warum sollte er seinem einzigen Sohn so was antun?" "Du brauchst dir doch nur anzugucken, was er mit dir macht." "Er macht nichts mit mir, was nicht nötig wäre, um mir Disziplin beizubringen, mich stärker zu machen und meine Kräfte zu testen und zu vergrößern. Er tut nichts, was ich nicht auch verdienen würde." "Du arbeitest so hart. Du arbeitest für jede Note, die du bekommst. Du sitzt länger an deinen Hausaufgaben als irgendjemand sonst, vielleicht sogar länger als ich, und du machst diese ga nzen Extra-Projekte. Außerdem widersprichst du nie einem Lehrer, jedenfalls nicht im Unterricht, mal abgesehen von Hagrid, und bei dem ist das sowieso egal. Ich weiß, dass du denkst, es sei wichtig für dich, aber manchmal frage ich mich, ob es dir genauso wichtig wäre, wenn es dabei nicht um deinen Vater ginge. Du stehst unter seiner Fuchtel, und zwar permanent, und du kannst seine n Erwartungen unmöglich gerecht werden. Wenn du für einen Aufsatz die volle Punktzahl bekommst, was fragt er dich dann?" 175
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"Warum hast du keine Extra-Punkte bekommen?" "Und wenn du nicht die volle Punktzahl bekommst?" "Dann muss ich für ihn Aufsätze schreiben oder Reden verfassen über das, was ich versäumt habe, allerdings hat er mir keine Extraaufgaben wegen meiner Prüfung in Moodys Stunde aufgegeben." Draco unterdrückte ein Schaudern, als er sich an seine letzte Stunde in Verteidigung gegen die Schwarze Magie erinnerte. "Warum nicht? Weil es gar nicht Moody war? Oder hast du im Schriftlichen alle Fragen richtig beantwortet? Ich habe ..." "Im Schriftlichen? Wir hatten keine schriftliche Prüfung, sondern eine praktische, aber in meinem Fall war sie wohl eher unpraktisch." "Oh, das klingt interessant, was musstet ihr tun?", fragte Hermione neugierig. "Das war nicht interessant, das war absolut grauenhaft!" Zum ersten Mal hatte er laut ausgesprochen, was er über die Prüfung dachte, und dann erzählte er, wie der falsche Moody jeden Schüler zweimal behext hatte, wie er den Cruciatus-Fluch erdulden musste und dann den Imperius-Fluch abgeschüttelt hatte. Er stellte fest, dass sie eine fantastische Zuhörerin war, die an genau den richtigen Stellen nach Luft schnappte und dann zu seiner Überraschung nach seiner Hand griff, als ob sie sie tätscheln wollte, was zwar nicht ging, aber trotzdem eine nette Geste war. "Mann, bin ich blöd", sagte sie, stand auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu laufen, wobei sie vor sich hinmurmelte. Draco musste seine Ohren nicht benutzen um zuzuhören, also konzentrierte er sich auf ihre geschürzten Lippen, um von ihnen das Gesagte abzulesen. "Warum hab' ich nicht zugehört warum hab' ich nicht aufgepasst, als er sich über Moody den falschen Moody den mörderischen Moody beklagt hat – Crouch bringt Harry in Gefahr wenn ich zugehört aufgepasst nachgedacht gewusst hätte, dass ich nicht alle Antworten kenne dann wäre Cedric nicht Harry nicht Voldemort nicht aber keiner hört Draco zu, dem beliebten Draco dem beherrschten Draco sein Vater ist eine Gefahr Draco und ich wussten es und ich habe alle Anzeichen gesehen und habe nicht, hätte aber und ich hasse es ..." "Hermione!", brüllte er, und sie fuhr zusammen und wandte sich ihm mit geweiteten, glasigen Augen zu. "Ich kann dich nicht an den Schultern packen oder schütteln, damit du damit aufhörst. Worüber redest du da eigentlich?" Sie wirkte immer noch nicht ganz wach, als sie antwortete: "Ich hätte irgendjemandem etwas davon sagen sollen. Als du dich über Moody beklagt hast, habe ich mir zu viele Sorgen gemacht, was Harry dazu sagen würde, dass ich so viel Zeit mit dir verbringe, um es ihm zu erzählen oder um Dumbledore wissen zu lassen, was du gesagt hattest. Und ich hätte nicht so selbstsüchtig sein sollen. Wenn ich das nicht gewesen wäre, dann ..." Sie erstickte fast an ihren Worten, dann versuchte sie, Draco zu umarmen. "Upps", sagte sie, als sie hinter ihm aufs Bett fiel. Er sah sie etwas verwirrt an, als sie sich wieder aufsetzte. "Hör zu, es ist passiert, und wir können nichts dran ändern. Mach dir keine Vorwürfe, Professor Snape wusste eine Menge darüber, und er war der Meinung, dass er auch nichts machen konnte. Dem Direktor wollte ich es sowieso nicht sagen." Er musste sie irgendwie aufmuntern, es war ja nicht ihre Schuld, sondern seine. Oder vielleicht auch die von Lucius, aber ganz sicher nicht Hermiones. "Wir hatten so Unrecht. Wenn Dumbledore es gewusst hätte ... aber er wusste es nicht." Sie schob sich mit beiden Händen das Haar aus den Augen und sagte: "Aber wenn diesen Sommer oder nächstes Schuljahr irgendwas Merkwürdiges passiert, dann sag es mir bitte." "Werde ich", log er. Er hatte nicht vor, ihr etwas über sein Gespräch mit Professor Snape zu sagen oder über die Recherchen, die er wegen der Zauberformeln angestellt hatte. Das musste sie nun wirklich nicht wissen! "Können wir jetzt zum wahren Grund meines Besuchs kommen?" Er zog das Pergament aus der Tasche und zeigte es Hermione, wobei er es über das Bett hielt, damit kein Licht durch die transparente Form fallen konnte. "Was ist das?" 176
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Hermione lachte. "Was machst du denn mit Muggelzeug?" "Es war in dem Gewölbe, und nein, ich weiß nicht, warum Alexander Malfoy MuggelGeräte in seinem Gewölbe hatte. Wenn du mir sagst, wie ich die Kästen aufkriege, dann komme ich vielleicht dahinter." "Die macht man nicht auf, die spielt man ab." Er sah verwirrt aus, als sie fortfuhr. "Die kle inen sind Bänder, und der große ist ein Kassettenrekorder. Schau mal hier, er heißt Walkman. Ich glaube, die gibt es seit Ende der siebziger Jahre. Du nimmst das Band und drückst dann beim Walkman auf diesen Knopf hier", sagte sie und zeigte auf den, auf dem EJECT stand, "dann steckst du das Band hinein, so dass die Seite mit dem braunen Band innen in Richtung der Öffnung zeigt. Dann machst du den Deckel zu und drückst auf START, und du kannst hören, was auf dem Band ist!" "Das klingt nicht sehr kompliziert. Es ist so ähnlich wie ein MiniMusikomat, oder?" "So ähnlich, aber du brauchst Kopfhörer, damit du etwas hören kannst. Hast du in dem Gewölbe welche gefunden?" Draco schüttelte den Kopf. "Dann musst du dir ein Paar von mir le ihen. Soll ich dir per Eule welche schicken?" Draco schüttelte wieder den Kopf und erklärte ihr die Sicherheitsvorschriften für die Post. "Wie wär's, wenn ich dir in der Bibliothek welche in einem Umschlag hinterlege? Falls du damit erwischst wirst, sagst du einfach, jemand in der Schule hätte dir einen Streich gespielt, damit dein Vater dich nicht irgendwie verdächtigt. Und du wirst vermutlich auch Batterien brauchen, weil alles, was fast zwanzig Jahre alt ist, definitiv tot sein dürfte." Sie erklärte ihm, wie Muggel ihre eklektischen Geräte mit Batterien betrieben, was ihm zu viel Aufwand für einen zu geringen Nutzen zu sein schien. "Kann ich dieses Gespräch etwas weniger ernsthaft beenden, um dieses ganze melodramatische Zeug zu vergessen?" "Und wie?" "Wo hast du dieses Shirt her? Das Slytherin- Team braucht unbedingt auch so was." "Aber ihr habt doch gar keine Mädchen in der Mannschaft!", sagte sie und lächelte endlich wieder, während sie einen Schritt auf ihn zu machte. Er beugte sich näher zu ihr. Sein Geruchssinn funktionierte nie, wenn er sich außerhalb seines Körpers befand, aber er hatte den Eindruck, dass von ihrem Haar ein leichter Zitrusduft ausging. "Wir würden glatt welche aufnehmen, um solche Shirts zu bekommen. Also spuck's aus. War es ein Geschenk von Potter?" Er versuchte, sich nicht von ihr zurückzuziehen, nachdem er diese Frage gestellt hatte. "Nein", sagte sie. "Er war nicht mal in der Nähe, als sie verkauft wurden. Die Jäger haben sie kurz vor dem ersten Spiel im dritten Schuljahr drucken lassen und haben sie dann verkauft, um Geld für Partys nach den Spielen und so zu sammeln. Gleich nach dem Spiel gegen Hufflepuff, als Harry noch in der Krankenstation war, hat Angelina Johnson eine große Verkaufsaktion gestartet – das Shirt zu zwei Galleonen -, und sie waren so witzig, dass ich unbedingt eins haben musste. Sie waren schon nach drei Stunden ausverkauft. Kann ich dich jetzt auch mal was fragen? Oder wirst du dich wie üblich vorher aus dem Staub machen?" "Würdest du mich verfluchen, wenn ich sagen würde, ich muss sofort weg?" "Ja, aber es würde nichts bringen, oder?" "Keine Ahnung. Ein paar Flüche würden vielleicht funktionieren, aber ich fühle mich nicht stark genug, um noch einmal Crucio zu ertragen." "Dann geh lieber, wir treffen uns dann morgen in der Bibliothek. Vergiss nicht, eine Antwort auf meine Frage mitzubringen." "Und verrätst du sie mir?" "Draco, was in aller Welt hast du jetzt vor?"
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8. Kapitel: Ernüchtert
----------------Anmerkung der Autorin: Die Ideen für dieses Kapitel stammen außer von J. K. Rowling aus "Everything But the Girl", woraus die Verse am Anfang entnommen wurden und das mir auch den Titel lieferte. Einige Gedanken sowie die Metaphorik stammen aus Katherine Nevilles "Das Montglane-Spiel", aus Julian Mays "Galactic Milieu"-Serie, aus "Tommy" von den Who, aus Susan Beth Pfeifers "About David", aus Mildred Pierces "Anna to the Infinite Power" und aus Roger Zelazneys "Die neun Prinzen", das ich für meine Arbeit als Betaleserin von "Draco Sinister" gelesen habe und das ich wärmstens empfehlen kann. Alexanders Gedicht ist eine Abwandlung von "Remote" von Patrick Kane, gesungen von Hue & Cry.
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Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi ([email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner ([email protected]) Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
9. Kapitel Alles bricht zusammen
You don't have to take this crap You don't have to sit back and relax You can actually try changing things I know you've always been taught to rely Upon those in authority, But you never know until you try How things just might be. Are you gonna try to make this work? Or spend your days down in the dirt? Everything can change and walls can come tumbling down… (Paul Weller)
"Dann geh lieber, wir treffen uns dann morgen in der Bibliothek. Vergiss nicht, eine Antwort auf meine Frage mitzubringen." "Und, verrätst du sie mir?" "Draco, was in aller Welt hast du jetzt vor?" Hermione saß immer noch am Fenster, als Draco schon seit einer Stunde weg war. "Was hast du jetzt vor?" – Die Frage hallte in ihrem Kopf wider wie ein Mantra. Sie wusste nicht recht, ob sie sie sich selbst stellte oder den Gedanken zu Draco schickte. Reichte es nicht, dass sie sich Sorgen um Harry machen musste? Warum musste sie auch noch Dracos Probleme lösen? Vor allem da sie sicher war – sie hatte zwar keinen Beweis dafür, aber das hieß nicht, dass sie sich irrte -, dass, was auch immer Dracos Bruder passiert war, Lucius Malfoys Schuld sein musste. Morgen würde sie natürlich mehr erfahren, wenn das Päckchen, das Draco ihr schicken wollte, ankam. Sie glaubten beide, dass es zu riskant sei, den Inhalt des Gewölbes in Malfoy Manor zu lassen, wo Lucius ihn finden konnte, wenn er sich Dracos Zimmer vornahm, oder ganz einfach, wenn er hereinkam, während Draco gerade eins von Alexanders Tagebüchern las. Er wollte ihr seine Eule am nächsten Tag schicken, und sie sollte die Bänder, Fotos und Tagebücher mitbringen. Sie hatten sogar einen raffinierten Plan ausgetüftelt, wie sie sich in der Boolschen Bibliothek treffen konnten. Hermione sollte morgen zur Zweigstelle in der Diagonallee gehen und in ihrer beider Namen nach einem Buch aus der Verbotenen Abteilung fragen, das sie für ihr Sommerferienprojekt in Arithmantik benötigten. In der magischen Welt war es üblich, dass jedes bestellte Buch vierundzwanzig Stunden später zur Verfügung stand, so dass sie sich am darauffolgenden Tag heimlich treffen konnten. Selbst wenn Dracos Vater es herausfinden sollte, wie sehr könnte er sich schon darüber aufregen? Schließlich trafen sie sich diesmal, um zusammen Schularbeiten zu machen. Wie auch immer, etwas Besseres war ihnen nicht eingefallen. Hermione sagte sich, dass sie ihm schließlich nicht uneigennützig half, sondern aus purem Eigennutz – jedenfalls diente alles irgendwie der Selbsterhaltung und gleichzeitig der Sicherheit ihrer Freunde. Wenn sie Draco half und mehr über das in Erfahrung brachte, was Alexander fast zwanzig Jahre zuvor passiert war, gelänge es ihr vielleicht, ein paar Spuren zu finden, die Professor Dumbledore im Angesicht von Voldemorts Rückkehr von Nutzen sein konnten. Jedes 180
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Wort, das Draco über Lucius Malfoy, den Propheten oder die Todbringer verlauten ließ – ganz egal in welchem Zusammenhang – könnte dazu dienen, Voldemort eher früher als später zu besiegen. Und das würde jedem nützen, vor allem aber Harry. Und dann war da natürlich noch die Sache mit Rita. Bevor Hermione sie freigelassen ha tte, hatte sie Tenosynovium über sie gesprochen, damit sie mindestens ein Jahr lang nichts schreiben konnte. Doch Rita konnte reden. Und nach allem, was Draco gesagt hatte, hatte es sich auf jeden Fall so angehört, als hätte Rita schon mindestens einmal Gelegenheit gehabt, mit Lucius Malfoy und wer weiß mit wem noch zu sprechen. Sie hatte keinen Grund, Mr. Malfoy nicht zu erzählen, was sie an dem Tag belauscht hatte, als Hermione sie auf dem Fenstersims in der Krankenstation gefangen hatte. "Ich könnte mich in den Arsch beißen, dass ich ihr keinen Gedächtniszauber verpasst habe!", schrie Hermione ihr Spiegelbild an und blinzelte überrascht, als der Spiege l sie nicht zurechtwies, weil sie geflucht hatte. Es war derselbe Spiegel, den ihre Eltern ihr vor mehr als zwölf Jahren gekauft hatten; es war ein Kleinmädchen-Spiegel in gelb mit winzigen rosa Blümchen, aber nachdem sie ein Jahr mit Hogwarts' verzauberten Spiegeln verbracht hatte, die immer Antwort gaben, war es irgendwie immer wieder überraschend, keine Reaktion zu erhalten. Vor allem, wenn sie so dringend mit jemandem reden wollte. Sie hatte Draco ausreden lassen ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen, aber es war niemand da, der ihr zuhören würde. Sie war erst seit ein paar Tagen aus Hogwarts zurück, und sie rechnete keinesfalls damit, auch nur eine ihrer beiden besten Freundinnen in allernächster Zeit zu sehen. Sie sah sich wieder hoffnungslos in ihrem Zimmer um, wobei ihr Blick an Harrys Adresse hängen blieb, die sie an ihren Spiegel geklebt hatte, gleich neben die Anleitung, wie man vom Tropfenden Kessel mit Kaminpulver zu Rons Haus gelangte. Was würden sie sagen, wenn Hermione ihnen schrieb und ihnen von Draco Malfoy erzählte? Sofort schien Harrys Stimme ihren Kopf zu erfüllen, so dass sie ihr nicht entrinnen konnte. "Du bist mit Malfoy befreundet? Hermione, das ist total blöd ... Denk dran, was Malfoys Vater ist, was die beiden gemacht haben – du kannst ihnen nicht trauen. Das werde ich Sirius schreiben, er hat Erfahrung mit schwarzer Magie und kann uns helfen rauszufinden, ob du unter einem Confundus-Zauber stehst." Ja, genau das würde Harrys Ratschlag sein. Schnurstracks zu Sirius gehen, weil nur irgendein Zauberspruch sie dazu bringen konnte, sich so zu verhalten. Hermione starrte aus dem Fenster auf den tintenschwarzen Himmel hinaus. Sie bezweifelte stark, dass Sirius ihr hierbei helfen konnte. Soweit sie wusste, war er derzeit auf Professor Dumb ledores Bitte hin untergetaucht, und das Letzte, was sie wollte, war, dass er ihretwegen seine Deckung aufgab, zumal sie wusste, dass sie bei absolut klarem Verstand war. Und wie könnte sie es Harry überhaupt beibringen? "Lieber Harry, hallo! Ähm, weißt du, ich bin mit Draco befreundet, und er steckt gerade in einer furchtbaren Klemme ..." Sogar im Geiste klang das einfach nur blöd. Also versuchte sie, sich die Reaktion von Ron Weasley, ihrem anderen besten Freund, vorzustellen, und auf einmal sah sie Rons rote Haare und sein sommersprossiges Gesicht mit der langen Nase vor sich, das total entsetzt wirkte. "Malfoy?" Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie Ron keuchen und würgen würde. "Aber ... aber kein Malfoy würde sich mit einer Muggel-geborenen Hexe wie dir abgeben! Die haben mal wieder versucht, dich fertig zu machen, stimmt's? Hermione, mir ist echt schleierhaft, warum du dich mit so einem sehen lassen würdest! Ich werde Dad fragen, ob er mal mit dir redet, er weiß, wie die Malfoys wirklich sind ..." Mr. Weasley war ein voll ausgebildeter Zauberer, der im Ministerium für Magie in der Abteilung für Missbrauch von Muggelartefakten arbeitete und der, soweit ihr bekannt war, Lucius Malfoy aus tiefstem Herzen hasste und das immer getan hatte, seit sie zusammen in Hogwarts zur Schule gegangen waren, aber sie glaubte nicht, dass er sehr viel Mitgefühl für Draco aufbrin181
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
gen würde. Aber Hermione war der Gedanke sowieso unsympathisch, dass die ganze Familie Weasley erfuhr, dass sie, Hermione, wegen Dracos Wehwehchen nervös wurde. Mrs. Weasley würde ein Riesentheater machen, und Ginny, Rons dreizehnjährige Schwester, würde ihre Kenntnisse dazu benutzen sich an Draco für eine Bemerkung zu rächen, die er bei Flourish & Blotts gemacht hatte, kurz bevor sie in Hogwarts angefangen hatte, und die sie ihm nie verziehen hatte. Die Weasleys waren eine so große, glückliche Familie; sie wollte sie später in diesem Sommer besuchen, und irgendwie hatte sie keine Lust darauf, dass alle sich immer wieder besorgt nach ihrer geistigen Gesundheit – oder nach der von Draco – erkundigten. Hermione massierte sich mit den Fingerspitzen den Nacken. Was sie sich wirklich brennend wünschte (und sie kam sich fast dumm dabei vor es zuzugeben), war ein erwachsener Zauberer, der die Malfoys kannte und wusste, was im Juni in Hogwarts passiert war, und den sie um Rat fragen könnte, ohne sich dabei dämlich vorzukommen, jemanden, dem Draco nicht egal war, jemanden, der Erfahrung mit schwarzer Magie hatte ... Die Erkenntnis durchfuhr sie fast blitzartig. Die Lösung war so einfach und offensichtlich, dass sie kaum glauben konnte, dass sie erst jetzt darauf kam – Snape. Sie schauderte. Professor Snape war alles andere als einer ihrer liebsten Menschen, aber wenn man irgendjemandem von Draco erzählen konnte, dann war er es. Und hatte Draco nicht selbst gesagt, Snape sei einiges von dem bekannt, was in Moodys Unterricht vorgefallen war? Und er war Dracos Hausvorsteher, Draco hatte bei ihm normalerweise immer die besten Noten, bessere sogar als Hermione, und ... Sie setzte sich hin und versuchte, weitere Gründe dafür zu finden, Snape nichts zu sagen, aber ihr fiel keiner ein. Hermione sprang vom Bett, eilte durchs Zimmer und setzte sich an ihren Schreibtisch, wo sie nach einem Stück Pergament griff. Dann füllte sie ihre blaue, gefiederte Schreibfeder mit Tinte, schrieb Sehr geehrter Professor Snape, und hielt inne, um darüber nachzudenken, wie sie das Problem am besten in Worte fassen konnte, wobei sie sich immer noch wunderte, dass sie nicht sofort an den Lehrer gedacht hatte. Dann schnippte sie in die Finger und fing an zu schreiben. *** Was für ein langweiliger Ort, dachte Draco, als er zwischen den Parkplätzen, Bürohochhäusern und Schnellimbissen herumlief, die das Industriegebiet von Whinging umgaben. Er versuc hte, sich die Namen der verschiedenen Firmen einzuprägen: AJP Versicherungen, Baker Tilly Finanzberatung, Vermessungsingenieure Frazer, Bäckerei & Konditorei Baron, und auf der Straßenseite gegenüber Grunnings Bohrmaschinen. Alles grässliche Mugge lbetriebe, aber das war zu erwarten gewesen. Was für eine Art von Magie sollte er nach Lucius' Ansicht wohl ausgerechnet hier finden? Wenn er Projizierte, konnte er Zauberkräfte deutlicher und präziser spüren, als Zauberer dies normalerweise vermochten. Zaubersprüche hinterließen Spuren, die sich mit bestimmten Amuletten aufspüren ließen, aber es war umso schwieriger festzustellen, wann eine Zauberformel gesprochen worden war, je mehr Zeit seither verstrichen war. In den Geschichtsbüchern stand, dass dies der Grund dafür sei, dass die Todbringer das Schwarze Mal hinterließen, nachdem sie eine Familie angegriffen hatten – auf diese Art wusste jeder, dass dort gezaubert worden war. Wenn Haut und Knochen ihn nicht beengten, konnte er fast so mühelos wie ein Amulett erspüren, wenn irgendwo gezaubert worden war, sogar, welche Formel wann gesprochen worden war. Aber selbst unter normalen Umständen war er dabei seines Wissens etwas besser als die meisten anderen Menschen. Lucius kritisierte oft, dass er sich diese erhöhte Fähigkeit im Zauberformel- Unterricht nicht zunutze machte, aber er verstand einfach nicht, dass es viel schwieriger war präzise Feststellungen zu treffen, wenn er von Hexen und Zauberern umgeben war. Doch wenn er allein war und Projizierte, war es fast so leicht wie Fliegen. 182
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Da er um diese Bürogebäude herum nichts Brauchbares finden konnte, hievte Draco sich aufs Dach des höchsten Hauses um nachzusehen, ob er von dort aus irgendwelche magischen Felder ausfindig machen konnte. Dieses Bürohochhaus war meilenweit das höchste. Er befand sich gut sechzig Meter über dem Boden und konnte mit beiden Augen und auch ohne sie fast fünf Kilometer weit sehen. Vor ihm blinkten die Muggel- Lichter in weiß und allen möglichen leuchtenden Farben und wechselten immer wieder die Gestalt. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er abends über London oder von dort nach Hause flog, hatte er schon solche Lichter gesehen; er musste sich konzentrieren, um die flüchtigen Auren zu erspüren, die von Zaubersprüchen hinterlassen worden waren. Erst als er sich umdrehte, um einen Blick nach hinten zu werfen, bemerkte er jenseits der Lichter von den Restaurants und Pubs fast am Rande seines Gesichtsfelds das vertraute Leuchten. Im Nu stand er wieder auf der Straße und ging darauf zu, für den Fall, dass irgendwo auf dem Weg dorthin noch schwächere magische Felder zu finden wären. Also würde dieser Ausflug doch keine reine Zeitverschwendung sein. Lucius wäre zufrieden. Doch wieso kümmerte es ihn, ob Lucius zufrieden war? Lucius war ein Lügner, oder nicht? Ein Lügner, ein Todbringer, ein furchtbarer Vater und ein grauenvoller Ehemann ... und ein ... ein brillanter Mann, der für alles, was er getan hatte, Respekt und Wertschätzung verdiente. Ein Mann, der laut Zeitungsberichten und Geschichtsschreibung während des gesamten ersten Regimes des Finsteren Lords unter dem Imperius-Fluch gestanden hatte. Alles, was er Alexander angetan hatte, musste auf Befehl des Finsteren Lords geschehen sein, und möglicherweise hatte er Alexander nach Durmstrang geschickt, damit er in Sicherheit war, so wie er Draco im Juli nach Frankreich schickte. Jawohl, es gab Gründe dafür. Selbstverständlich gab es Gründe dafür. Es musste Gründe dafür geben. Lucius hatte immer seine Gründe. Natürlich teilte er diese Draco nur selten mit. Selbst bei solchen Dingen wie der Kammer des Schreckens hatte er Draco lediglich angewiesen, sich davon fernzuhalten. Keine Erklärung, lediglich eine Anweisung. So wie die Anweisung heute Abend. Rebellische Gedanken schossen Draco durch den Kopf, als er seinen Blick umherschweifen ließ und die kleinen Muggelhäuser, die die Straße säumten, und die Geschäfte an den Ecken betrachtete. Er ging einfach nur vorwärts, ohne etwas zu fühlen, nachdenklich und in Gedanken versunken, wobei er die Bilder wieder und wieder an seinem geistigen Auge vorbeiziehen ließ. Von den Bildern schweiften seine Gedanken zu den Worten, die sich in schwarzer Tinte von den Tagebuchseiten abhoben, dann zu Professor Snapes Gesicht, als Draco ihm tags zuvor die erste Frage gestellt hatte. Wenn er so in Gedanken versunken war, konnte er kaum nach magischen Feldern Ausschau halten. Und was auch immer passierte, er musste Lucius' Auftrag erledigen. Wenn er keinen Bericht zustande brachte, würde Lucius ihm jede Menge Fragen stellen, was er denn die ganze Nacht getrieben hatte. Wenn Draco lügen musste und seine Geschichte weder Hand noch Fuß hätte ... dann würde Lucius vielleicht in einem Wutanfall wieder Dracos Zimmer durchsuchen und Peppy, die Fotos, die Tagebücher und den ganzen Rest find en, und das wäre das Ende von allem. Draco beschloss, sich voll auf seine unmittelbare Aufgabe zu konzentrieren. Wenn er heute Abend einen guten Bericht ablieferte, dann würde das Lucius vielleicht genug ablenken, um Draco zu ermöglichen, all seine brandne uen Geheimnisse zu bewahren. Und da er fast eine Stunde bei Hermione gewesen war, hatte er nicht mehr viel Zeit, um seine Ermittlungen durchzuführen, bevor es zu schwierig werden würde, die Projektion gefahrlos aufrechtzuerhalten. Er blieb mitten auf dem Bürgersteig unter einem durchgebrannten Muggel-Licht stehen. Es war niemand zu sehen, niemand konnte ihn sehen oder schlimmer, durch ihn hindurchsehen, so dass er sich voll auf das, was er tun musste, konzentrieren konnte. 183
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Lucius hatte ihn jahrelang in etwas trainiert, das er KONZENTRATION nannte. Schon der Art, wie Lucius das Wort immer aussprach, war zu entnehmen, dass es in Großbuchstaben geschrieben wurde. Draco hasste es, KONZENTRATION zu üben, weil es sowohl physisch als auch psychisch erschöpfend war und ihn geistig völlig auslaugte, und am Ende einer Sit zung konnte er normalerweise kaum noch stehen und sehen, geschweige denn, seinem geregelten Tagesablauf nachgehen. Doch das, was er bei der KONZENTRATION lernte, war auch anderweitig nützlich, zum Beispiel in Prüfungen, wenn er die von den Federn der anderen Schüler verursachten Geräusche ignorieren musste, oder im Schlafsaal, wenn Blaise so laut schnarchte, dass es unmö glich war zu schlafen, oder während der AG-Sitzungen, wenn er wusste, dass es darauf ankam, nicht mit Hermione zu schwätzen, damit sie beide in Ruhe arbeiten konnten. Es war auch nützlich, wenn er abgelenkt wurde, weil er über Alexander Malfoy nachdachte und eigentlich einen Auftrag für Lucius erledigen sollte. In dem dunklen Winkel mitten in der Muggel-Stadt schloss Draco für einen Moment die Augen und machte sie dann wieder auf. Es befriedigte ihn, obwohl es, während er Projizierte, egal war, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. Er blieb ganz still stehen, sog die Nacht in sich ein und konzentrierte sich auf die stillen Ecken der Straße und auf die Dunkelheit, nicht aber auf das Schreien eines Babys, das aus einem Fenster drang, oder auf den leisen Klang einer Geige. Er bewegte sich durch die pechschwarze Nacht, aber irgendwie konnte er trotzdem sehen. Es war, als ob er sich in einem Korridor befände und um sich herum dessen offen stehende Türen sehen könnte. Jede Türöffnung barg ein Bild oder ein Geräusch – Lucius' Gesicht, Narcissas Rufe während des Quidditchtrainings, den empörten Ausdruck auf Hermiones Gesicht, das Foto von Alexander und die Muggelstraße, die er vom Dach aus gesehen hatte und deren Abbild in seiner Fantasie magisch erhellt wurde. Ohne einen Muskel zu bewegen schloss er nacheinander alle Türen, dann öffnete er diejenige, die auf die Straße führte und trat hindurch. Direkt vor ihm stand ein Haus, das nicht nur für einen Malfoy etwas baufällig aussah, mit einem spiralförmigen Garten drum herum, in dem ganz offensichtlich so viele magische Pfla nzen wuchsen, dass er überrascht war, dass er nicht den Zorn der Nachbarn erregt hatte, die (wenn man von den kleinen Plastikfiguren ausging, die sie in den Vorgärten hatten) alle Muggel waren. In einem Blumenkasten auf der Fensterbank wuchsen drei Blattpflanzen, die ganz eindeutig Alraunen waren. Ein riesiger Knieselzwickstrauch, der in Form einer Maus beschnitten war, blockierte fast die Eingangsstufen. Vom schmiedeeisernen Tor an lag über allem eine blassorangene Schicht, die schwerelos in der Luft hing und das Haus inklusive Kamin überzog und auch die Fenster und Bäume einhüllte. Unter einem Dornenstrauch kam eine kleine Gestalt hervor, deren Halsband in allen nur denkbaren Grüntönen leuchtete. Solche Halsbänder trugen üblicherweise gemeldete Kniesel, wie er aus Hermiones Buch über Knieselpflege wusste, das er während eines entsetzlich langweiligen Sonntags im dritten Schuljahr gelesen hatte, während Hermione einen Aufsatz fertig schrieb. Draco beugte sich herunter um zu sehen, ob er die Aufschrift lesen konnte. Er wollte nicht durchs Gartentor gehen, denn obwohl er keine unlauteren Absichten hatte, war es normalerweise keine gute Idee, einem Kniesel zu nahe zu kommen, bevor man sich gebührend vorgestellt hatte, sie konnten nämlich ziemlich laut kreischen, wenn sie überraschend einer neuen Person begegneten und diese beäugten. Auf der Erkennungsmarke stand in silbernen Buchstaben Androcles Figg, sein Alter wurde mit fast vier Jahren angegeben. Der Kniesel sah Draco missbilligend an und zog sich dann unter einen Busch zurück. Draco betrachtete wieder das Haus. Die Fenster waren alle dunkel, aber neben der Eingangstür leuchtete ein Muggel-Licht. Klar, schließlich war es schon spät, und das hier war eine Muggel-Siedlung. Er prägte sich den Namen der Katze und die Adresse ein und ging zum Bürgersteig zurück. Er versagte sich die neugierige Frage, warum ein Kniesel- Besitzer wohl mitten in einer Muggel-Stadt wohnte. Das war nicht sein Bier, jedenfalls nicht, wenn er seine Ermittlungen noch 184
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
nicht beendet hatte; inzwischen lief ihm die Zeit förmlich davon, und er hatte noch nicht das ganze Gebiet inspiziert, das Lucius ihm bezeichnet hatte. Falls Lucius diese Information für wichtig befände, würde er sie gegebenenfalls benutzen. Er schloss die Tür zu dem Rätsel, so wie er die ganze Nacht über jedes Mal die Türen zu Alexanders Lächeln, Hermiones Stimme, Professor Snapes besorgtem Ausdruck und zu Luc ius' finsterem Blick geschlossen hatte, wenn sie drohten, sie wieder aufzureißen, obwohl er sie so sorgfältig zugemacht hatte. Er konnte jedoch spüren, wie die Neugier sich durch ihre Spalten und Ritzen stahl. Sein Verstand war wie ausgehungert nach etwas, worüber er nachdenken konnte und wollte sich nicht länger nur erbarmungslos mit purer Wahrnehmung begnügen. Er wollte sich neugierige Fragen stellen, aber das konnte er nicht zulassen. Lucius würde wütend werden, wenn er nicht ... ... die Augen schloss, in die Dunkelheit eintauchte, alle Türen verschloss und die Augen wieder öffnete, um ... ... ein Haus zu sehen, das in Zaubersprüche gehüllt war, die nichts glichen, was er in diesem großen Maßstab schon einmal gesehen hatte. Die Schutzzauber, die er im vorigen Sommer gesprochen hatte, als er mit Lucius' schwarzkünstlerischer Sammlung herumhantiert hatte, sahen genauso aus, aber sie hüllten Amulette und behexte Bücher ein, nicht zweistöckige Häuser mit Rosensträuchern davor, samt Giebeln, Zäunen, einem adretten Vorgarten und einer Vier aus Messing neben der Haustür. Das magische Feld schillerte einerseits, andererseits war es von dunkler Farbe, nicht wirklich schwarz, aber so dunkel, dass seine Augen irgendwie daran abglitten, als ob sie selbst wüssten, dass sie nicht hinsehen wollten. Draco war bewusst, dass er das Haus auch nicht einen Augenblick hätte betrachten können, wenn er sich nicht im Zustand der Projektion befunden hätte; und wenn dieser Zauberspruch auch nur entfernt jenen ähnelte, die er im vergangenen Sommer benutzt hatte, dann wäre nicht einmal ein Zauberer, der erfahren darin war, Auren um Dinge herum zu sehen, in der Lage diese hier wahrzunehmen, jedenfalls nicht klar und deutlich. Draco probierte ein paar seiner üblichen Tricks aus um festzustellen, ob dieser Zauberspruch sich so anfühlte wie die, die er selbst benutzt hatte, aber er konnte nichts feststellen, als er das Haus im Geiste wie durch eine Kristallkugel sah. Das war mehr als merkwürdig. Im Laufe der Jahre hatte Draco gelernt, dass es sich um einen mehr als nur etwas komplizierten Zauberspruch handeln musste, wenn etwas sich nicht wie durch eine Kristallkugel betrachten ließ. So ein Zauberspruch oder Amulett mussten mit einer Zauberkraft erschaffen werden, die dem gewöhnlichen Beobachter verborgen blieb, und er hatte im vorigen Sommer, als er einige von Lucius' Amuletten untersucht hatte, gelernt, dass er nicht in der Lage war sie zu entziffern, falls die Eventualitäten, die die betreffende Person oder den Gegenstand umgaben, sich im Fluss befanden, oder wenn die Magie, die sie einhüllte, zu alt war, um sie deutlich zu spüren. Manchmal, allerdings sehr selten, konnte Draco nicht mit Bestimmtheit sagen, um welche Art von Magie es sich handelte, wenn er mit etwas herumhantierte, das Lucius auf ungewöhnliche Art behext hatte, um Draco auf die Probe zu stellen, es sei denn, er wurde selbst zu einem Teil des Zauberspruchs. Würde er in der Lage sein zu ermitteln, welcher Zauber über das Haus gesprochen worden war, wenn er hineingriff?, fragte er sich. Ein Versuch konnte schließlich nicht schaden, oder? Er hob den Arm und lehnte sich in die Dunkelheit. Einen Augenblick lang passierte überhaupt nichts. Ein beunruhigendes Zittern durchlief seinen Körper, das wesentlich stärker war als der leichte Schlag, den er im Winter manchmal verspürte, wenn er über einen Teppich ging. Er fiel hintenüber, und wäre er nicht reiner Dunst und Magie gewesen, wäre er hingefallen. Stattdessen wurde ihm Augenblicke später klar, dass der Schock groß genug gewesen war, um die Projektion abrupt zu beenden. Ohne ein Blinzeln oder das vertrauten Ziehen zu verspüren sah Draco plötzlich die Wände seines Zimmers vor sic h. Es juckte ihn am ganzen Körper, und jeder einzelne Muskel fühlte sich an, als hätte er ihn sich gezerrt. Er konnte jede einzelne Haar185
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
strähne auf seinem Kopf fühlen, und so leicht sie auch waren, lastete ihr Gewicht doch schmerzhaft auf ihm. Obwohl Draco bewusst war, dass er seinen Auftrag noch nicht erfüllt hatte, war ihm klar, dass er nicht noch einmal zurückgehen konnte, jedenfalls nicht so, wie er sich derzeit fühlte. Eigentlich sollte er sich nach einer Projektion nicht völlig erschlagen fühlen, auch wenn sie über zwei Stunden gedauert hatte. Er konnte sich nur an eine einzige Gelegenheit erinnern, wo er sich nach einer einfachen Projektion genauso ausgelaugt gefühlt hatte – nämlich als Lucius ihn auf die Probe gestellt hatte, indem er ihm befahl zu Projizieren, während er mitten in seinem Arbeitszimmer stand, um zu sehen, wie lange er eine Projektion aufrechterhalten konnte, wenn sein physischer Körper langsam auf einen Erschöpfungszustand zusteuerte. Draco nahm sich einen Augenblick Zeit, um wieder zu sich zu kommen und neue Kraft zu schöpfen, während er die Vorstellung genoss, einfach aufzuschreiben, was er gesehen hatte, den Bericht einem Elfen zu geben, damit er ihn zu Lucius brachte, und dann wieder lange aus zuschlafen, um sich von all dem zu erho len. Er brauchte immer eine Weile, bis er sich in seiner eigenen Haut wieder wohl fühlte, und so wie ihm jetzt alles wehtat, dauerte es verständliche rweise etwas länger. Er dachte über die unerwartete Zauberformel nach, die das Haus einhüllte, das er zuletzt besucht hatte. Der Zauberer, der sie gesprochen hatte, legte ganz eindeutig großen Wert darauf, dass sie nicht zu entziffern sei, und er wusste genau, dass er über genügend Zauberkraft verfügte, um das, was ihm selbst möglich war, auf mächtige und gleichzeitig subtile Art vor anderen zu verbergen. Schließlich raffte Draco sich von seinem Polsterstuhl hoch, schleppte sich durchs Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch, wo er sich ein Stück Pergament nahm, seine Krähenfeder in sein Tintenfass von Murano tauchte und seinen üblichen Briefkopf im Memostil niederschrieb: AN: LSM und VON: DCM. Dann hielt er inne und überlegte, wie er die Entdeckungen, die er gemacht hatte, nachdem er Hermiones Haus verlassen hatte, am besten zusammenfassen sollte. Schließlich schnippte er in die Finger und fing an zu schreiben. *** Kurz nach eins rollte Draco schließlich seine vierzehn Zoll lange Schriftrolle zusammen und versiegelte sie mit seinem Zauberstab. Obwohl er nichts geschrieben hatte, was irgendwen besonders interessieren könnte, hatte Lucius ihm vor Jahren beigebracht, dass Hauselfen nicht zu trauen sei und dass man sie nichts überbringen lassen sollte, was nicht ordentlich versiegelt war. Sogar bevor er einen eigenen Zauberstab hatte, benutzte Draco immer einen Siegel- Zauber, wenn er Lucius etwas anderes schickte als nur die Bitte um ein Treffen. Nachdem er einen Hauselfen mit der Nachricht fortgeschickt hatte, wollte Draco wieder in seinen Lehnstuhl klettern und noch ein paar von Alexanders Tagebüchern lesen oder die Fotos noch einmal betrachten oder aufgrund dessen, was Hermione ihm über die Bänder gesagt hatte nachprüfen, ob sie wirklich so funktionierten. Er war jedoch so müde. Obwohl er normalerweise nichts darum gab, wenn Lucius bei Morgengrauen hereinkam und ihn mit einem Buch auf dem Schoß schlafend im Lehnstuhl antraf, wollte er lieber nicht daran denken, was passieren würde, wenn Lucius ihn mit einem dieser Bücher erwischte. Diese Bücher, dachte er, als er ins Bett kroch. Er musste die restlichen dieser Bücher holen und alles lesen, was Alexander hinterlassen hatte. Auch wenn er die Bänder nicht hören konnte, würden die Bücher ihm helfen zu verstehen. Oder etwa nicht? Er versuchte wieder, an nichts zu denken und sich zu zwingen einzuschlafen. Wenn er so müde war, sollte das eigentlich kein Problem sein, aber die Gedanken, die er verdrängt hatte, seit er Hermiones Haus verlassen hatte, machten ihn nervös und gereizt. Er drehte die Bettdecke um, 186
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
wendete seine Kopfkissen mindestens ein Dutzend Mal und stand dann auf um Peppy zu holen, dann noch einmal, um ihn wieder wegzupacken. Womöglich würde Lucius hereinkommen, weil er Fragen bezüglich des Memos hatte und ihn finden. Das Nächste, was Draco bewusst mitbekam, war, dass ihn jemand an der Schulter rüttelte. Wenn er die Augen geschlossen hielt, merkte er es gar nicht richtig. Doch auch als er sie mühsam öffnete, war es immer noch dunkel, und alles war ausgesprochen verschwommen. Er konnte kaum mehr als ein paar Stunden geschlafen haben ... er konnte sich nicht einmal aus den Kissen hochraffen. Es war eine anstrengende Nacht gewesen, und er hatte wie ein Stein geschlafen, so als ob ein großes Gewicht seinen Körper gegen die Matratze gepresst und ihn dort festgehalten hätte. Seine Augen waren mit Sand und Staub verklebt, als hätte er bei Sturm Quidditch gespielt. Wegen der Schmerzen in seinen Armen und Beinen, die ihm das Gefühl gaben, als hingen Gewichte daran, fragte er sich, ob er sich wegen all der Gedanken, die er sich machte, so furchtbar fühlte, oder weil er tags zuvor zum ersten Mal seit Monaten intensiv Quidditch gespielt hatte. Er hörte eine irgendwie vertraut klingende Stimme zischen, er solle sich aufsetzen und sofort aufstehen. "Ich will nicht unnötig hart sein mit dir, aber du musst. Na los schon, Junge, setz dich hin." Es war natürlich Dylan, aber was machte er hier mitten in der Nacht? "Es ist fast sechs, du musst aufwachen. Wir müssen in knapp zehn Minuten auf dem Spielfeld sein. Dein Vater will sehen, was ich dir gestern beigebracht habe." Draco widersetzte sich. Er redete direkt in sein Kopfkissen und zwang sich, so laut zu sprechen, dass Dylan ihn verstehen konnte, wenn er genau hinhörte. "Sie haben mir doch gar nichts beigebracht. Und mir tut alles weh." Hatte er das tatsächlich gesagt? Hatte er sich bei diesem Fremden wirklich über lächerliche Gliederschmerzen beklagt? Was würden Lucius oder Narcissa sagen ... oder tun ... wenn sie es herausfänden? In Anbetracht dessen, was er da zwischen dem Trainer und Narcissa gesehen hatte, konnte Draco nicht damit rechnen, dass Dylan irgendwelche Geheimnisse für sich behalten würde. Es brächte Dylan keinen Vorteil, warum sollte er sich die Mühe also machen? "Ich habe hier Saft." Draco öffnete die Augen und drehte den Kopf kaum merklich zu Dylan. "Bringen Sie ihn her." "Wenn du aufstehst und zum Schreibtisch kommst, kannst du ihn haben." "Ach so, Bestechung. Schon kapiert." Er machte die Augen wieder zu und kniff sie ganz fest zusammen, als ob ihn das vor dem Lärm schützen würde. Es funktionierte nicht. Und er hatte keine Wahl. Wenn er nicht sofort aus dem Bett kroch und auf Kommando seine Tricks vorführte, wusste er, was er zu erwarten hatte. Also stand er auf, goss den Saft hinunter, warf Dylan hinaus, während er seine Nachtrobe mit der Sportausrüstung vertauschte und traf sich dann mit ihm, um zum Spielfeld hinunterzugehen. Als sie durch das feuchte Gras liefen, war am Himmel der erste Schimmer der Morgenröte zu sehen. Nicht einmal die Vögel waren schon aufgewacht, obwohl sie leise Eulenrufe hören konnten, als sie zu Lucius' Büro gingen. Draco beklagte sich bei Dylan über die Taubheit in seinen Händen – sie waren definitiv immer noch eingeschlafen -, daher zeigte Dylan ihm eine interessante Streckübung, die dafür sorgte, dass Dracos Finger sich wieder wie Finger verhielten und nicht wie die riesigen, leblosen Bubotuber-Klumpen, die von seinen Händen hingen. Er streckte sie immer noch, als sie beim Quidditch-Feld ankamen, dann reckte er sich und schob seine Gedanken beiseite, wie es ihm nach nur einem einzigen Tag hier zur Gewohnheit geworden war. Es funktionierte jedoch nie besonders gut, denn sobald er merkte, dass er seit ein paar Minuten nicht mehr an Alexander gedacht hatte, überwältigten die Gedanken und Bilder ihn von neuem.
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Lucius stand am Ende des Weges, der vom Haus zum Quidditch-Feld führte, neben der offenen Tür zum Schuppen, wo die Bälle und Trainings-Besen aufbewahrt wurden. Ein paar Meter vom Rand des Feldes entfernt schwebte ein Quaffle ungefähr dreißig Zentimeter über dem Boden. "Vielen Dank, Dylan, dass Sie so früh gekommen sind", sagte Lucius höflich. "Ich muss in ungefähr zwanzig Minuten bei einer Sitzung in Stonehenge sein, Sie wissen ja, dass sie im Institut dort immer mit den Hühnern aufstehen, oder? Dann lassen Sie mich mal sehen, was Draco bis jetzt erreicht hat." Lucius sprach Draco nicht ein einziges Mal direkt an und würdigte ihn kaum eines Blickes. Stattdessen redete er nur mit Dylan, als ob sein Sohn ein flotter neuer Besen wäre, der für ihn einen Testflug machen sollte. Der Trainer ging in den Schuppen, um die Übungs-Snitche zu holen, und Draco stieg auf seinen Besen. So wie zwei Abende zuvor, als Narcissa ihn auf die Probe stellen wollte, warf Dylan vier Glühende Snitche aufs Feld, weil sie im Dämmerlicht leichter auszumachen waren als die normalen goldenen, danach noch zwei Bludger, die fast überhaupt nicht zu erkennen waren. Draco hob in einer raffinierten Kurve, die Dylan ihm beigebracht hatte und die ihm irgendwie Spaß machte, ab, um die Snitche zu fangen. Wenn es ihm gelang, wenigstens einen davon zu erwischen, bevor Lucius weg musste, dann war alles in Ordnung. Wenn er Lucius wenigstens einen neuen Trick vorführen konnte, dann würde ihm nichts Schlimmes widerfahren. Während die Minuten verstrichen, ohne dass er den Snitch fing, hörte er Lucius mit durch einen Sonorus-Zauber verstärkter Stimme übers Feld rufen: "Noch dreizehn Minuten – du vergeudest nur deine Zeit, wenn du dich um die Bludger kümmerst!" "Noch neun Minuten – versuch's mit der Seestern-Figur und halt dich mit der rechten Hand fest, die dir beim Fangen sowieso nicht viel nützt!" "Noch vier Minuten – ich kann mir nicht vorstellen, dass du auf einem Komet irgendwie schlechter sein könntest!" Lucius beendete den Sonorus-Zauber zwischendurch nie, deshalb konnte Draco hören, wie er sich zwischen seinen Zurufen mit Dylan unterhielt. Natürlich verstand Lucius unter Smalltalk eigentlich einen Vortrag darüber, wie die Welt sein sollte; Draco hatte ihn schon unzählige Male gehört und konnte Teile davon aus dem Gedächtnis aufsagen. "Mein Weltbild und meine Meinung über Muggel im Allgemeinen und Schlammblüter im Besonderen ist ziemlich engstirnig. Ich habe es versucht, aber ich kann solche Unterzauberer einfach nicht ertragen, weder privat noch auf der Arbeit. Deshalb besuche ich das Arische Ausbildungszentrum in Edinburgh (AAE), dort gibt es alles, was mir gefällt, und nichts, was mir nicht gefiele." Nachdem er zehn Minuten geflogen war, suchte Draco die Gegend etwas hektischer ab. Natürlich war es selbst bei einem regulären Spiel selten, dass man den Snitch innerhalb von fünfzehn Minuten fing, aber hier flogen vier Snitche herum – warum konnte er nicht einmal einen einzigen davon finden? Das war äußerst rätselhaft – er hätte wenigstens einen vorbeizischen sehen müssen, aber das hatte er nicht. Natürlich war es nicht besonders hilfreich, dass er jedes Mal Sterne sah, wenn er einen Bludger an den Kopf bekam, aber wenigstens schien der Schutzzauber zu halten. Er konnte fühlen, wie er blaue Flecken bekam, aber er hatte nicht das Gefühl zu bluten oder sich etwas gebrochen zu haben. Immerhin hatte ihn diesmal kein Bludger auf die Nase getroffen. Unter sich erblickte er kurz Dylan, der auf einem der Teakholz-Stühle saß, die einen guten Meter über dem Boden schwebten, während Lucius am Rande des Spielfelds auf und ab stolzierte. Dylan hatte seinen Zauberstab auf den Knien liegen und den Kopf in die Hände gestützt. Draco hatte keine Zeit für Mitgefühl, aber wenn er Lucius' Herausforderung nicht schnell gerecht wurde, dann wäre Dylan vermutlich seinen Job los. Draco wusste nicht genau, warum ihn das so sehr kümmern sollte, vor allem, weil Dylan so viel Zeit mit Narcissa verbrachte, aber er war kein wirklich unangenehmer Trainer – nicht so wie dieser Typ vor zwei Jahren, der der
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Meinung gewesen war, es sei eine gute Methode, ihn spielen zu lassen, während eine seiner Hände auf seinem Rücken festgebunden war. "Noch zwei Minuten – kannst du die Scheißdinger nicht finden? In der letzten Minute habe ich drei davon gesehen! Warum kannst du das nicht?" Nur noch zwei Minuten? Es war Zeit für eine verzweifelte Maßnahme, Zeit, einen Kniff anzuwenden, den er noch nie in einem Match beobachtet hatte, der ihm jedoch im Frühjahr in einer Arithmantik-Stunde eingefallen war, als sie mit dreiteiligen Gimbalr ingen gearbeitet hatten, wie man sie in manchen von Newtons alchemistischen Experimenten verwendete. Er flog zur Mitte des Spielfeldes, ungefähr sechs Meter über dem Boden, gerade hoch genug, um proble mlos wenden zu können, aber nicht so hoch, dass er den Boden nicht mehr klar ausmachen konnte. Die Sonne stand jetzt auch etwas höher, so dass er von einem Paar Torpfosten zum anderen sehen konnte. Er hielt einen Moment mitten in der Luft inne. "Du gibst doch nicht auf, Junge, oder? Du hast nur noch eine Minute!" Dann packte er seinen Besen so fest er konnte mit der rechten Hand und warf sich mit ausgestreckter Hand nach links. Der aus der Schubkraft resultierende Schwung bewirkte, dass er sich in der Luft im Kreis drehte. Als er einen halben Kreis beschrieben hatte, zog er den Besen hoch, wodurch er sich gleichzeitig in zwei Richtungen drehte, einmal nach links und dann rückwärts. Er zwang sich, mit weit geöffneten Augen die Gegend nach allem abzusuchen, was in seinem Gesichtsfeld vorbeifliegen könnte, vorzugsweise ein winziger gold ener Ball. Schwindlig wurde ihm dabei nicht. Draco wurde niemals schwindlig. Er drehte sich einfach immer weiter, sah sich dabei suchend um, und dann erspähte er ihn. Genauer gesagt sah er zwei "ers" – zwei winzige Snitche in seiner Reichweite. Der eine war ungefähr 1,50 m über ihm, der andere weniger als drei Meter unter ihm. Er würde jedoch nur einen davon fangen können und hatte keine Zeit darüber nachzudenken, welcher am meisten Sinn machen würde. Ein Ruck an seinem Besen beendete abrupt die Drehbewegung, und er blickte jetzt geradewegs nach unten. Ein weiterer Ruck machte dem Sinkflug ein Ende und ließ den Besen eine Rechtswendung machen, dorthin, wo der Snitch wieder übers Feld in Richtung der Zuschauerseite raste. Er jagte ihm nach und dachte nicht mehr im Entferntesten an Bludger und Brüder. Bevor er nahe genug war um danach zu greifen, hallte wieder Lucius' Stimme übers Feld. "Die Zeit ist um, Draco. Komm jetzt sofort wieder runter." Er machte sich nicht die Mühe abzusteigen, bevor er anfing zu erklären, es habe an der Dunkelheit, den unsichtbaren Snitchen und den brutalen Bludgern gelegen, aber Lucius wollte nichts davon hören. Er zog Draco den Besen unter dem Hintern weg, so dass er unsanft auf den Boden knallte, wo er mit dem Gesicht nach unten im Gras liegen blieb, dessen Geruch seine Nasenlöcher erfüllte. Als er sich wieder hochrappelte, sprach Lucius ihn endlich mit leiser, aber scharfer Stimme direkt an. "Wo hast du diese Drehung gelernt? Ich kann mich nicht erinnern, irgendjemandem gesagt zu haben, er solle sie dir beibringen. Ehrlich gesagt kann ich mich erinnern, sie je zuvor gesehen zu haben." "Die hab' ich nirgendwo gelernt – ich hab' sie mir ausgedacht. Irgendwann in diesem Frühjahr, als wir im Unterricht was durchgenommen haben, das mich an Quidditch erinnert hat, aber vor heute morgen konnte ich sie noch nie ausprobieren, jedenfalls nicht mit Snitchen und Bludgern", erklärte Draco. "Die Drehung selber habe ich allerdings schon ein paar Mal ausprobiert, als ich im letzten Frühjahr geflogen bin." "Du hast mir aber gar nichts darüber geschrieben. Wieso nicht?", fragte Lucius. "Ich dachte nicht ..." "Wenn ich das je noch mal von dir höre, dann wirst du danach bei mir nicht mehr viel zu denken haben." Das Blut pochte ihm von der Anstrengung immer noch in den Adern, und er achtete nicht sonderlich auf das, was Lucius sagte. Wenn er es getan hätte, dann hätte er innegehalten, als 189
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Lucius ihn unterbrochen hatte, und nicht über seinen Kopf hinweg geredet, so als ob er ihn gar nicht hören könnte. "... du hast vergessen, dass ich dir Mitte April davon geschrieben habe. Ich hab' gesagt, ich hätte in einem Spiel gegen die Fünftklässler den Snitch während einer verrückten Drehung gefangen, die ich ausprobieren wollte." "Dann musst du es so ungeschickt formuliert haben, dass es keinen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Du hast noch eine Chance, es wieder gut zu machen, nämlich indem du mir noch mal erklärst, wie du diese Bewegung ausgearbeitet hast." Also tat Draco das und lieferte jedes Mal, wenn er eine von Lucius' Fragen beantwortete, eine perfekte Erklärung ab. Diesmal war es einfach, da er lediglich etwas so beschrieb, dass es jedes Mal gleich klang, und er fühlte sich völlig befreit, als er seine wahrheitsgemäßen Erklärungen abgab; es war ganz anders als das körperlich spürbare, bedrückende Gefühl, das er jedes Mal empfand, wenn er Lucius die Unwahrheit sagte. Dylan, der wieder auf den Boden gesprungen war, hatte ebenfalls ein paar Fragen, aber Lucius, der entschlossen war, die Informationen, die er wollte, auch zu bekommen, brachte ihn zum Schweigen. Doch Lucius schien irgendwie nicht völlig befriedigt zu sein, vielleicht weil er auf dem Sprung war und eigentlich gar keine Zeit hatte, irgendwelche Fragen zu stellen. "Ich muss jetzt zu meiner Sitzung, aber ich komme heute Mittag gegen eins zurück, bevor ich gegen Abend noch mal weg muss. Bis dahin möchte ich, dass Sie diese Drehung mit ihm üben, Dylan, und alles, was er sonst noch üben muss. Lassen Sie das Mittagessen in der Sporthalle servieren, und wenn ich wiederkomme, erwarte ich, dass Sie an diesem hübschen kleinen Trick arbeiten", endete er, bevor er Disapparierte. Sobald Lucius weg war, überhäufte Dylan Draco mit Fragen über die Drehbewegung, wie er sie entwickelt hatte und was er tat, um sie zu trainieren. Jede einzelne Frage war natürlich ernst und drängend, doch Draco hatte das Gefühl, dass Dylan auf die Antworten wirklich neugierig war und nicht nur versuchte, Fehler in Dracos Erklärungen zu finden. Obwohl er trotzdem welche fand. Draco führte sie noch ein paar Mal bei verschiedenen Geschwindigkeiten vor. Dann startete Dylan seinen ersten Versuch, der ziemlich in die Hose ging. Doch jeder weitere war besser als der vorangegangene, und beim achten Versuch fügte er sogar eine dritte gleichzeitige Drehung hinzu, bei der er vertikal rauf und runter flog, so dass er sich eigentlich in drei Richtungen zugleich bewegte. "Ich sage nicht, dass das etwas besonders Revolutionäres oder Brillantes ist, zumal der Spieler in der Lage sein muss, dabei einiges an Schwindelgefühl auszuhalten, aber wenn du damit keine Probleme hast, dann sollten wir durchaus daran arbeiten." "Lucius möchte, dass wir das tun, und das genügt mir", sagte Draco auf eine Weise, die Lucius gefallen würde, falls Dylan es ihm gegenüber erwähnte oder falls jemand sie gehört hätte. Also fingen sie an und machten nur ungefähr eine Stunde später eine Pause, um Apfelsinen und Toast zu essen und mittags ein paar Sandwichs. Während sie beim Essen saßen, dachte Dylan über Dracos Drehung nach. "Vielleicht fängst du den Snitch während der Drehung deshalb leichter, weil du irgendwie den Bewegungen folgst, die ihre Flügel an den Drehgelenken machen." "Das sind aber keine denkenden Snitche. Sie können sich doch nicht denken, dass der sich drehende Sucher ein übergroßer Snitch ist." Dylan hatte es sich zur Regel gemacht, nach dem Essen mindestens eine halbe Stunde lang nicht zu fliegen, also saßen sie während des Essens und noch ein Weilchen danach im Gras, und Draco beantwortete Dylan all seine Fragen über sein Training in der Schule, was sie in Trainingsspielen ohne ihr Quidditch-Feld gemacht hatten und ob noch irgendjemand die Hindernisstrecke durch den Verbotenen Wald flog. "Da war ich nur einmal", sagte Draco, "noch dazu zu Fuß. Ich musste im ersten Schuljahr mal nachsitzen, und ich geh' da nie wieder hin, nicht mal, wenn ich in der Luft bin. Ich habe zum ersten Weihnachtsfest in Hogwarts einen Rennbesen bekommen, aber die Strecke dort habe ich 190
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
nie ausprobiert, nicht mal, als ein Siebtklässler mich zu einem Rennen rausgefordert hat. Mir ist dieser Ort einfach unheimlich." *** Am späten Nachmittag war Draco schließlich so eifrig damit beschäftigt, Dylan haushoch zu besiegen, als sie auf dem Feld hin und her jagten, dass er gar nicht merkte, als Lucius zurückkam. Er hatte ihnen anscheinend lange vom Boden aus zugesehen, bevor er irgendetwas sagte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dann gab er etwas von sich, das der kürzeste Kommentar war, den er je während eines Quidditchtrainings abgegeben hatte, seit Draco in Hogwarts angefangen hatte. "Ich habe jetzt genug gesehen, Draco. Wir treffen uns in siebzig Minuten in meinem Arbeitszimmer." Es war eigentlich eine glatte Untertreibung zu sagen, dass Lucius Malfoy sich gern reden hörte. Selbst wenn er gerade nichts erklärte oder diskutierte, konnte er ungemein weitschweifig sein, vor allem, wenn er mit Draco sprach, und ganz besonders, wenn Draco etwas nicht genauso machte, wie Lucius es wollte. Draco hoffte, dass Lucius deshalb so kurz angebunden gewesen war, weil er mit dem Ergebnis des Trainings an diesem Tag zufrieden war. Während er allein zum Herrenhaus zurückging, zerbrach er sich die ganze Zeit den Kopf darüber. Dylan blieb zurück, um sich mit Lucius zu unterhalten und aufzuräumen, deshalb ging Draco allein zum Haus zurück und malte sich aus, worüber Lucius wohl in ihrem GESPRÄCH mit ihm reden wollte. Als er duschen ging, machte er nicht einmal in seinem Zimmer halt. Er wusste genau, dass – wenn er es täte – er das Bedürfnis verspüren würde, das Tagebuch weiterzulesen, vor allem, da er es schon so lange nicht mehr aufgeschlagen hatte, oder die Fotos noch einmal durchzublättern, aber er konnte nicht gleichzeitig in Lucius' Arbeitszimmer sein. Er würde während ihres GESPRÄCHS jedwede neuen Entdeckungen oder Enthüllungen nur sehr schwer für sich behalten können. Auf dem Weg ins Haus erklärte er niemandem im Besonderen, dass er hoffe, seine Sachen für diesen Abend würden im Badezimmer bereitliegen, bis er mit dem Duschen fertig wäre, da er wusste, dass die Elfen dafür sorgen würden, dass das der Fall war. Er beeilte sich so sehr, dass er sogar noch vor Lucius im Arbeitszimmer war und stand wartend an seinem üblichen Platz auf der Brücke vor dem Schreibtisch. Er rührte nichts an und las auch die Papie re nicht, die auf dem Tisch lagen; sie standen zwar sozusagen für ihn auf dem Kopf, waren aber dennoch lesbar, falls er Lucius' Anweisungen wegen so einer Kle inigkeit hätte Trotz bieten wollen. Sein Blick schweifte auf der Suche nach neuen Titeln, die er noch nicht gesehen hatte, über die Bücherregale, und er fragte sich, wovon Bücher wie The Paradigm of Uncertainty oder The Wild Swans wohl handelten. Er warf einen Blick zur Seite, wo Lucius' Sessel und seine Ottomane gestanden hatten, aber zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, waren sie nicht da. Vielleicht konnte er Lucius später fragen, warum. Er konnte nicht sagen, wie lange er dort gestanden hatte, aber er wusste sofort, dass Luc ius zu spät kam, weil er anfing Fragen zu stellen, noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte. "Wenn du deine Unwissenheit verbirgst, wird dich niemand schlagen und du wirst es nie lernen. Stammt dieser Spruch von dir?" "Ich ..." "Stammt dieser Spruch von dir?" "Eigentlich ist er von Bradford Rayburn." "Du hast Brad Rayburn zitiert, den ich zwei Jahre nach seinem Abschluss in Hogwarts gefeuert habe, weil er sich geweigert hat, sich an den expositorischen Stil des Propheten zu halten? In dem Memo, wo du mitten in einer Erläuterung von Verhüllungs-Zaubern, die jeder x191
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
beliebige Erstklässler hätte schreiben können, plötzlich und völlig unverständlicherweise vom Thema abgeschweift bist und darüber geschrieben hast, wie man Bücher bannt und versteckt? Soll das ein Witz sein? Vielleicht eine ziemlich billige Art, dich über deine Bestrafung in diesem Sommer zu beklagen?" "Nein, ich hab's nur deshalb erwähnt, weil es eine Metapher ist und weil man mit Verhü llungs-Zaubern ..." "Sollte das etwa komisch sein? Wolltest du irgendwas beweisen, weil ich nicht akzeptiere, dass ..." "Nein, es war eine Metapher dafür, wie mir plötzlich etwas eingefallen ist, als ich ..." Lucius gab ihm keine Gelegenheit, den Satz zu beenden. Lucius schlug ihn ins Gesicht. Da der Angriff völlig unerwartet kam, flog Dracos Kopf zur Seite. Lucius hatte ihn noch niemals so geschlagen, nicht mit der flachen Hand direkt auf die Wange, so hart, dass er fast das Gleichgewicht verlor. Der leidenschaftslose, völlig emotionslose Ausdruck auf Lucius' Gesicht war ihm relativ vertraut, nicht jedoch die absolute Kälte seiner Augen. Draco drehte es buchstäblich den Magen um. Lucius musste irgendwie von den Dingen erfahren haben, die er aus dem Gringotts-Gewölbe geholt hatte. Warum sollte er sonst so wütend sein? Draco konnte ihn nicht mehr ansehen und wandte den Blick ab, um stattdessen über Luc ius' Aktenordner hinweg das Bücherregal anzustarren. Seine Wange brannte wie Feuer, aber er wagte nicht zu reagieren oder irgendeine Frage zu stellen. Sekundenlang standen sie schweigend da, bevor Lucius wieder anhob zu sprechen, doch Draco kam es wie Stunden vor. "Ich habe deinen Bericht gelesen und bin ehrlich erstaunt, wie es dir gelingt, die einfachsten Tatsachen durch blumige Prosa völlig zu verdrehen und mit albernen kleinen Anspielungen unheimlich große Geheimnisse daraus zu machen. Du sollst einen Bericht schreiben, keinen schmalzigen Roman voller Handlungslücken." Er warf Dracos Memo auf den Schreibtisch, hielt seinen Zauberstab darauf und hüllte es in einen Feuerball, der die Ränder des Pergaments fast berührte, es jedoch nicht in Brand setzte, auch nicht den Tisch oder irgendetwas darauf. "Du wirst eine korrigierte Version dieses Berichts schreiben, die genau, präzise und frei von Metaphern ist!", befahl Lucius. "Und bis du damit fertig bist, wirst du das Feuer in Gang ha lten und verhindern, dass es das Pergament erfasst, und mir dann beide Schriftrollen zurückbringen." Draco griff nach seinem Zauberstab, damit er das brennende Pergament in sein Zimmer bringen konnte, ohne sich selbst dabei zu verbrennen, aber Lucius hielt ihn auf. "Habe ich gesagt, du sollst das gleich jetzt tun?" "Nein, Sir." "Nein, das habe ich nicht", beantwortete Lucius sich seine Frage selbst, als ob Draco kein Wort gesagt hätte. "Zuerst brauche ich deine Hilfe. Wir haben einen Gast im Haus, jemanden, der heute Nachmittag mit mir hergekommen ist, und ich erwarte, dass du dich ungefähr eine Stunde lang mit ihm unterhältst." An derartiges war Draco bereits gewöhnt. Es war nicht das erste Mal, dass Lucius oder Narcissa ihm auftrugen, einen Gast zu beschäftigen, während sie anderweitig zu tun hatten, und Draco hatte im Laufe der Jahre gelernt, welche Fragen er ihren Gästen stellen musste. Frauen mochten es, wenn er sie nach ihren Kindern fragte, sofern sie welche hatten, oder nach ihrer Meinung über neue Bücher oder magische Radioprogramme. Männer ließen sich normalerweise in Gespräche über ihre Lieblings-Quidditchmannschaft verwickeln, doch Draco hatte von amerikanischen Besuchern auch eine Menge über Quodpot gelernt. Und wenn Lucius ihn bat, sich um einen Gast zu kümmern, dann konnte er nichts von dem Gewölbe wissen – er hatte vorher lediglich seinen Standpunkt klarmachen wollen, und Draco hatte eindeutig nicht aufmerksam genug zugehört, um alles zu verstehen. Genau, das war es, das war die Erklärung. "Werde ich deinen Gast im Salon vorfinden?", fragte er und gab sich alle Mühe, damit seine Stimme nicht vor Erleichterung über seine Erkenntnis zitterte. 192
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"Nicht heute Abend – er ist schon hier." Lucius richtete seinen Zauberstab auf den Teil des Zimmers, wo sie normalerweise während ihrer GESPRÄCHE saßen, und sagte: "Accio!" Ein Tarnumhang, der groß genug gewesen wäre um einen Riesen zu verbergen, flog durchs Zimmer in seine Hände, und dort, wo er gewesen war, erblickte Draco eine vertraute Sitzgruppe. Jemand saß auf der Ottomane – seiner Ottomane – und hatte Draco und Lucius den Rücken zugekehrt. "Setz dich auf meinen Platz, mein Sohn, und unterhalte dich ein Weilchen mit dem Professor." "Aber ... ich ... wer?" Lucius verstand sich meisterhaft auf unerwartete Wendungen, aber das war total ungewohntes Terrain. "Professor Karkaroff stattet mir gerade einen unverhofften Besuch ab", sagte Lucius bissig. "Es hat ihm nicht viel Spaß gemacht, sich mit mir zu unterhalten, schauen wir also mal, ob du dich ein bisschen mit ihm amüsieren kannst." Draco wäre am liebsten wie angewurzelt auf dem Teppich stehen geblieben, aber er zwang seine Beine, sich zu Lucius' Stuhl zu bewegen. Sein Kopf war erfüllt von Professor Snapes Aussagen und Hermiones Fragen, und als er auf Professor Karkaroff hinuntersah, nahm er nichts als ein summendes Geräusch in seinen Ohren wahr. Dann hörte er Lucius' Stimme, die leise und hart klang. "Ich hoffe, Sie werden sich gut mit Draco unterhalten. Warum plaudert ihr zwei nicht darüber, wie Viktor während des Schuljahrs trainiert? Igor hat vielleicht ein paar gute Tipps für dich, Draco." Professor Karkaroff sagte dazu kein Wort. In dem, was Lucius gesagt hatte, meinte Draco einen gewissen Unterton gehört zu haben, er war jedoch nicht ganz sicher, was er jetzt tun oder sagen sollte. Er flüsterte Lucius leise zu: "Ich weiß nicht, was ich ihn fragen soll – und war er nicht fast zwei Wochen lang verschwunden?" Lucius packte ihn am Handgelenk, und sie gingen zu dem Sessel, in dem er sonst immer saß, wobei Draco gezwungen war, sich an Lucius' Seite seinen Schritten anzupassen. Dann stieß Lucius ihn statt einer Erklärung in den Sessel, so dass Professor Karkaroff ihm auf der Ottomane gegenüber saß, und sagte: "Stell dir vor, wie eine Katze mit einer kleinen Maus spielt. Wenn die Katze dem Tierchen mit einem Tatzenhieb das Genick bricht, dann ist das Spiel im Nu vorbei, aber wenn sie der verletzten Maus die Illusion gestattet, sie könne freikommen, und sie dann wieder und wieder dieser Freiheit beraubt, dann ist ein viel besseres Spiel im Gange." Dann flüsterte Lucius Draco ins Ohr: "Ich bin sicher, dir fällt eine Menge ein, wonach du ihn fragen kannst – stell ihm lediglich keine Fragen über den vergangenen Monat." Er sagte nicht warum, sondern ging zum Schreibtisch zurück, sagte ein paar Worte zu dem immer noch brennenden Pergament auf dem Tisch und ging hinaus, ohne die beiden eines weiteren Blickes zu würdigen. Draco saß eine ganze Weile nur sprachlos da und starrte Professor Karkaroff an. Der Le hrer blickte nicht ein einziges Mal vom Boden auf. Er sah genauso aus wie das letzte Mal, als Draco ihn unmittelbar vor der dritten Aufgabe gesehen hatte, groß und dünn, mit kurzen weißen Haaren und einem gelockten Kinnbart, an dem er ununterbrochen zerrte. Außerdem hatte er einen glasigen Blick. Über seinem ziellosen Verhalten lag eine fast greifbare Erschöpfung. Draco musterte sein gesenktes Gesicht so gut er konnte, in der Hoffnung, irgendeinen Aufhänger für ein Gespräch zu finden. Doch wie konnte man mit jemandem reden, wenn man es ausschließlich auf Befehl eines anderen tun sollte, und wenn die Person, die man offensichtlich in ein Gespräch verwickeln und von der man etwas lernen sollte, eindeutig lieber ganz woanders wäre? Was konnte er schon anderes sagen als: "Wie sah Krums Trainingsplan aus? Ich hab' ihn nie fliegen sehen, das ganze Jahr nicht. Wie hat er sich denn fit gehalten? Wenn ich nicht richtig trainiere, dann möchte Lu..., ich meine, mein Vater, dass ich wenigstens alle paar Tage ein paar Übungen mache, damit me in Stil nicht ganz verloren geht, aber ..." Professor Karkaroff blickte endlich auf, und Draco verstummte jäh. "Ich dachte, das wüsstest du längst. Hat deine kleine Freundin dir nicht erzählt, dass er aufhört?", fragte er gehässig 193
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mit halbgeschlossenen Lidern über Augen, die nach wie vor scharf und nachdenklich blickten, auch wenn sie rot gerändert waren. Draco machte große Augen. Er wusste nicht, auf welchen Teil von Professor Karkaroffs Satz er zuerst reagieren sollte, und sein Zögern gab dem Lehrer die Gelegenheit, selbst eine Tirade anzustimmen. "Ich hab' euch zwei beim Weihnachtsball zusammen gesehen. Ich habe Viktor wieder und wieder gesagt, er solle sich da auf nichts einlassen, aber er hat sich geweigert mir zuzuhören. Er hat ihren Behauptungen mehr geglaubt als meinen Fakten, und nachdem der Artikel in dieser Zeitschrift erschienen war, hat er mir praktisch den Rücken gekehrt. Er war dermaßen verbohrt, dass es unmöglich war, ihm bei der dritten Aufgabe zu helfen, und wenn ich es getan hätte, wäre sowieso alles im Eimer gewesen. Andersherum betrachtet wäre es aber möglicherweise die bessere Lösung gewesen, dann wäre ich nämlich ganz sicher nicht an diesen Stuhl gefesselt, um mich mit einem beschränkten Teenager zu unterhalten, dessen Horizont am Ende seiner bemerkenswert spitzen Nase endet." Draco war zugleich hochinteressiert und entsetzt. "Was meinen Sie mit 'besser'?" Karkaroff schwieg. "Was meinen Sie mit 'im Eimer'?" Wieder kam keine Antwort. "Was meinen Sie mit 'gefe sselt'? Was meinen Sie damit, Sie hätten ihm bei der letzten Aufgabe helfen sollen? Was hätte er Ihrer Meinung nach denn tun sollen?" Karkaroffs plötzliches Schweigen frustrierte ihn. Der Lehrer verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg weiter. Sein Mund war verzerrt, als ob er die Worte mit Gewalt zurückzwang. "Und was meinen Sie mit 'spitz'?", brüllte er Karkaroff direkt ins Gesicht, fast genau so wie Lucius ihn an den Abenden immer angebrüllt hatte, wenn er auf Karkaroffs Platz gesessen hatte. Karkaroff hob die Hand, rieb sich die eigene Nase und gestattete sich den Anflug eines Lächelns. Den Eindruck von Erschöpfung vertrieb es allerdings nicht. Er sprach langsam, wie im Traum. "Ich glaube, man hat dir gesagt, keine Fragen über den Wonnemonat Juni zu stellen." "Wie konnten Sie das hören?" "Ist das eine Frage, die ich beantworten muss, oder denkst du nur wieder laut?" Draco verlor langsam die Geduld. "Ist die Anzahl der Fragen, die ich stellen darf, begrenzt, oder habe ich nur eine bestimmte Zeitspanne dafür zur Verfügung?" "Von all den Fragen, die ich heute den ganzen Tag über gehört habe, ist das eine der ersten, die ich ganz ehrlich nicht beantworten kann", sagte Karkaroff mit einem plötzlichen Anflug von überraschtem Humor. "Professor", drängte Draco, "beantworten Sie diese Frage, oder ich ... ich ... ich sage es meinem Vater. Sie erzählen mir jetzt, was Sie hier machen." "Das ist keine Frage", antwortete Karkaroff, der sich immer noch über irgendetwas amüsierte. "Beantworten Sie sie trotzdem – verraten Sie mir ein oder zwei Fakten", meinte Draco. "Fakten sind per definitionem eine nur begrenzt wirksame Therapie, um Fälle von fortgeschrittenen Wahnvorstellungen zu behandeln." "Ich hab' keine Wahnvorstellungen!", stellte Draco richtig. Lucius hatte ihm aufgetragen, mit Karkaroff Katz und Maus zu spielen – warum kam es ihm jetzt so vor, als hätte Karkaroff den Spieß umgedreht? "Nein, aber ich", sagte Karkaroff verdrießlich. "Ich habe in den letzten drei Tagen höchstens eine Stunde geschlafen, und wenn ich jetzt nicht genau aufpasse, sehe ich überall auf deinem Gesicht kleine, violette Stachel." Er zog an seinem Spitzbart, der irgendwie struppig aussah, und sah Draco an, als sei er nicht sicher, ob er ihn wirklich sah. "Irgendwie habe ich dich mit Locken in Erinnerung. Wann hast du sie dir abgeschnitten?" Eine Welle der Erkenntnis und der Erinnerung warf Draco fast vom Stuhl. Karkaroff kannte Alexander. Konnte er der "K" sein, der ein paar Mal in den Tagebüchern erwähnt wurde? Konnte Draco ihm eine Frage stellen, und würde er dann gena uso reagieren wie Professor Snape? Und
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
was viel wichtiger war, konnte man ihm vertrauen, es nicht Lucius zu sagen, so wie Draco Professor Snape vertraut hatte? Ganz sicher nicht, dachte Draco. Er kannte Professor Karkaroff ja gar nicht, jedenfalls nicht richtig, und er hatte sich noch nie mit ihm unterhalten, jedenfalls nicht einfach so über seine Person. Aber vielleicht könnte er auf Umwegen etwas über Alexander erfahren oder die Information sogar im Austausch erhalten. Wenn Karkaroff die magische Welt vor Ende der dritten Aufgabe verlassen hatte, wusste er vielleicht gar nicht, dass Moody nicht wirklich Moody gewesen war. Draco wusste aus seinen Geschichtsbüchern, dass Moody Karkaroff vor fast fünfzehn Jahren als Todbringer verhaftet hatte – möglicherweise würde er sich freuen, wenn er hörte, was mit Moody geschehen war. Und wenn er seine Fragen vorsichtig genug stellte und Karkaroff genug wusste, dann könnte er Lucius sagen, dass Moody nicht Moody gewesen war, ohne Professor Snape dabei überhaupt zu erwähnen. Draco lächelte sein charmantestes und entwaffnendstes Lächeln, bei dem ihm die Ehrlichkeit aus dem Blick sprach, sah Karkaroff direkt in die Augen und stellte eine Frage, die auf den ersten Blick simpel zu sein schien, die jedoch verborgene Schätze ans Licht bringen konnte, wenn er nur sorgfältig genug vorging. Er klang absolut unschuldig und nichtsahnend, als er fragte: "Haben Sie gehört, wie es Professor Moody geht?" Die Frage konnte auf vielerlei Arten beantwortet werden, und fast alle davon würden eine äußerst wichtige Tür aufstoßen. Karkaroff erstarrte und sah plötzlich zugleich wütend und angsterfüllt aus. "Wenn ich an jenem Abend nicht zu einem dringenden Termin gerufen worden wäre, hätte ich alles getan, um den Gehilfen des Finsteren Lords zu schützen. Ich hatte ihm während des Turniers jedes Mal geholfen, wenn er es verlangt hatte. Jeder kann Viktor danach fragen und erfahren, wie es wirklich war!" Draco wollte nicht in eine Falle tappen. Karkaroff musste jetzt über Moodys falsche Ident ität sprechen, und zwar klar und deutlich, und Draco konnte nicht durchblicken lassen, dass er irgendwas darüber wusste, jedenfalls jetzt noch nicht. "Was meinen Sie damit?", fragte er einfach. Karkaroff redete sehr schnell, so als ob er sich diese Erklärung zurecht gelegt und immer wieder geprobt hätte. "Man hat mir gesagt, dass der Mann, der dich als Professor Moody unterrichtet hat, in Wirklichkeit der treueste Diener des Finsteren Lords gewesen sei. Er war auf seine Bitte hin in Hogwarts, und ich verfluche den Tag, an dem ich seinen Beteuerungen keinen Gla uben geschenkt habe. Als er mich gleich, nachdem die Champions erwählt worden waren, angesprochen und mir gesagt hat, wer er wirklich ist und warum er dort war, dachte ich, er wäre ein Spion des Ministeriums, der den Auftrag hatte, mich in eine Falle zu locken. Er hat sich geweigert, mir den Beweis zu liefern, den ich verlangt hatte um sicherzugehen, dass seine Beteuerungen und Versprechungen, mich wieder in den Dienst des Finsteren Lords zu stellen, der Wahrheit entsprachen, deshalb habe ich es abgelehnt ihm zu helfen." Draco starrte Karkaroff nur an. Das konnte doch einfach nicht wahr sein. "Dieser teuflische kleine Lümmel hat mich dazu gebracht, mich eines Nachmittags auf unserem Schiff mit ihm zu treffen, und in meinem Büro hat er mir dann gezeigt, wer er wirklich war – nämlich Barty Crouch. Natürlich habe ich mich an die Zeitungsberichte über die Silberkinder erinnert, die sich vorgenommen hatten, all jene aus dem Weg zu räumen, die gegen die Todbringer waren; die, die mit nur sechzehn Jahren indoktriniert worden waren, und mir wurde plötzlich klar, dass er der Einzige war, der aus Azkaban fliehen konnte. Er hat mir befohlen dafür zu sorgen, dass Harry Potter den Trimagischen Pokal gewinnt, und ich habe mich geweigert ihm zu helfen. Ich wollte natürlich, dass Durmstrang gewinnt, und ich habe nicht eingesehen, warum der Ruhm einem Feind des Finsteren Lords zukommen sollte. Er hat mir nämlich keinen Grund dafür genannt. Er hat gesagt, er würde mir noch eine Chance geben, sich ihm anzuschließen. Wir haben bis ein paar Tage vor der ersten Aufgabe nicht mehr miteinander gesprochen. Es scheint so, als hätte Barty dafür gesorgt, dass ich erfahre, dass an dem Tag, als die Drachen ankamen, auf dem Quidditch-Feld etwas vor sich ging, das mit dem Turnier zu tun hatte. 195
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Man hat mir nicht gesagt was, aber als ich dort ankam, wusste ich es. Was ich nicht wusste war, dass Barty mir gefolgt war, möglicherweise unter seinem Tarnumhang verborgen, und er hat mich dabei fotografiert, wie ich die Drachen beobachtet habe. Er muss mir auch zurück zum Schiff gefolgt sein, am nächsten Abend tauchte er nämlich dort auf und hat mir Bilder von mir gezeigt, wie ich den Drachen zusah und wie ich Viktor meine Notizen gezeigt habe. Das war der Moment, als er mir meine zweite Chance bot. Wir kamen überein, dass ich die Punkte so vergeben konnte, wie ich wollte, solange ich damit nicht verhinderte, dass Potter zu Beginn der dritten Aufgabe in Führung lag. Hauptsächlich hat er verlangt, ihm gewisse Ingredienzien für Zaubertränke zu beschaffen, wenn ich irgendwie herankommen konnte, und dafür zu sorgen, dass Viktor gewisse Informationen nicht hatte, die ihm während der dritten Aufgabe geholfen hätten. Crouch hat gesagt, solange Potter mit einem annehmbaren Vorsprung ins Labyrinth ginge, würde er in der Lage sein, die Pläne des Finsteren Lords durchzuführen, und Viktor wäre in Sicherheit, und alle kompromittierenden Fotos, die Barty von mir hatte, würden vernic htet. Und mein Meister würde erfahren, dass ich ihm bei dieser wichtigen Aufgabe zur Hand gegangen war." Ein breites Lächeln glitt über Karkaroffs Gesicht, so als ob er sich die schönste Erinnerung seines Lebens ins Gedächtnis riefe. Draco war dermaßen verblüfft, dass er nicht eine der vielen Dutzend Fragen stellen konnte, die ihm durch den Kopf gingen. "Leider sollte es nicht sein. Barty hatte mir bereits Wochen vor der dritten Aufgabe gesagt, ich solle drei Tropfen von Schneckenheimers Spezialsucrose nehmen und untertauchen, bis er sich mit mir in Verbindung setzen würde, wenn der Finstere Lord sicher zurückgekehrt war und alle aus dem Weg geräumt hatte, die darauf aus waren, seine Macht zu zerstören. Das habe ich dann getan. Aber anscheinend wollte Barty allen Ruhm für sich und hat unserem Gebieter niemals gesagt, dass ich ihm bei seinem Vorhaben geholfen hatte. Ich werde nie erfahren, ob er vorhatte, es je zu tun, denn bevor er sich mit dem Finsteren Lord in Verbindung setzen oder mir selbst mitteilen konnte, dass ich gefahrlos zurückkommen kann, hat er den Dementorkuss erhalten; er ist jetzt einer von ihnen, seelenlos und unfähig mich zu schützen, wie er es eigentlich versprochen hatte." Draco schluckte. Sein Mund und sein Rachen waren so trocken, dass es wehtat. Er hatte geglaubt, Crouch hätte seine Intrigen allein gesponnen– waren Professor Snape und Hermione nicht auch dieser Meinung? Doch wenn Karkaroff die Wahrheit sagte ... Er wollte nichts mehr über den Finsteren Lord hören und griff nach den Strohhalmen der Fragen, die er Karkaroff ursprünglich hatte stellen wollen, als er Moody-den-Lehrer als Betrüger entlarvt hatte. "Das ist mir alles völlig egal", sagte er abweisend. "Das hat nichts mit mir zu tun. Ich kümmere mich nur um mich und um niemand anderen. Wenn Sie gewusst haben, dass die Person, die mich in Verteidigung gegen die schwarze Magie unterrichtet hat, in Wirklichkeit ein Todbringer war, warum haben Sie mir dann nicht gesagt, dass er einen Grund dafür hatte, mich so zu beha ndeln? Warum haben Sie es nicht meinem Vater erzählt?" "Woher weiß t du, dass ich das nicht getan habe?" Draco kniff die Augen zu – er konnte Karkaroffs schadenfrohes Grinsen einfach nicht ertragen. "Er hätte irgendwas unternommen. Er hätte ihm das Handwerk gelegt oder mir zumindest was gesagt, damit ich weiß, warum er sich so benommen hat. Ich meine, es ist doch aus Studien bekannt, dass Azkaban seltsame Auswirkungen auf Zauberer hat, auch wenn sie schon seit Jahren wieder draußen sind. Aber Sie haben es ihm gesagt, und er hat nichts ... er hat nichts ... ich versteh' nicht, wieso nicht." "Weil er nichts davon wusste", sagte Karkaroff in merkwürdigem Plauderton, als hätte er Draco eben lediglich gesagt, Lucius habe nicht gewusst, dass es an diesem Abend regnen würde. "Aber Sie haben doch gerade eben gesagt ..." "Nein, habe ich nicht. Ich habe nur gefragt, woher du wissen willst, ob ich es getan habe oder nicht. Du weißt nicht genug, um zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden zu können. Die 196
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Todbringer werden die Geschichte, die ich dir gerade erzählt habe, nicht glauben, ga nz egal, wie oft ich sie ihnen so ehrlich ich kann ..." "Sie haben gelogen?", unterbrach Draco ihn. "Der Verschwiegenheits-Sensor hat aber nicht angeschlagen." Lucius hatte zwar keinen in diesem Raum, aber es konnte nicht schaden, wenn Karkaroff glaubte, es gäbe einen. "Woher willst du wissen, dass ich nicht gelogen habe?", fragte Karkaroff auf genau dieselbe Art wie zuvor, mit demselben schadenfrohen Grinsen im Gesicht. Draco hatte den Drang, es wegzuhexen. Stattdessen war es an der Zeit, seinen Trumpf aus zuspielen. "Ich hätte mir denken können, dass Sie Rätselraten mit mir spielen würden. So wie Alexander über Sie geschrieben hat, könnte man meinen, Sie hätten ..." "Alexander? Wer ist ... oh!" Der Lehrer saß mit offenem Mund da und sah total entsetzt aus. Er nahm eine seiner Hände von seinem Spitzbart und fing an, rhythmisch zu kla tschen. Sein linkes Auge zuckte krampfhaft. Die Stimme versagte ihm, als er fast dieselben Worte sagte, die auch Professor Snape benutzt hatte. "Ich weiß nicht, von wem du redest. Ich bin sicher, dass ich niemanden kenne, der so heißt." "Sie kannten ihn aber. Ich weiß das von ihm selbst – Sie waren einer seiner Lehrer in Durmstrang. Deshalb durfte ich nicht hin, stimmt's? Können Sie mir wenigstens das bestätigen, wenn Sie sich scho n an nichts anderes erinnern können?" "Ich kann nicht ... ich kann nicht ... ich kriege Kopfschmerzen, wenn ich mich erinnern soll. Warum fragst du nicht deinen Vater? Er hat dir doch von deinem Bruder erzählt, oder? Niemand anders könnte es getan haben." Draco nahm Karkaroff nicht die Illusion, Lucius hätte ihm alles erzählt; er hatte einen Plan, und er würde sich nicht unnötig den Kopf wegen jemand zerbrechen, den er noch nicht einmal besonders gut leiden konnte. "Ich habe gelesen, was er als Abschlussarbeit in Durmstrang im Sinn hatte, er hat darüber in den Monaten vor seiner Abschlussprüfung geschrieben, aber seine Ausführungen waren etwas zu hoch für mich." Eigentlich stimmte das gar nicht, aber da alle Durmstrang-Schüler außer Viktor Krum während ihres Aufenthalts in Hogwarts an ihrer Abschlussarbeit gearbeitet hatten, nahm er an, dass Alexander so etwas in der Schule auch gemacht haben musste. Karkaroff konnte nicht wissen, dass alles nur Vermutung war. "Können Sie sich irgendwie daran erinnern?", fragte er. Karkaroff gab einen erstickten Laut von sich. "Er hat nie eine Abschlussarbeit gemacht – er ist im letzten Schuljahr im zweiten Halbjahr gar nicht mehr in der Schule erschienen. Ich bin nicht mal sicher, dass er die Aufgaben seiner Hauslehrer erledigt und seinen Abschluss als Za uberer gemacht hat. Aber ich denke, Lucius hätte dir doch sicher gesagt, was passiert ist – jemand anderem hat er es nie erzählt." Karkaroff starrte mit entrücktem Blick vor sich hin. "Alexi ist in den Weihnachtsferien immer in der Schule geblieben, es sei denn, Flora war auf einer ihrer Eisbrecher-Kreuzfahrten. 1977 hat Lucius aber dafür gesorgt, dass er nach England zurückkommt. Von Januar bis März 1978 waren er und Lucius so gut wie verschollen. Kein Editorial erschien in der Zeitung, und niemand hat je eine von Alexanders Ferienhausaufgaben oder auch nur das kleinste Fitzelchen Pergament zu sehen bekommen. Ich glaube, es ist wochenlang niemandem aufgefallen, weil Flora unterwegs war, und die Redaktion läuft im Prinzip so gut wie von allein, außerdem war dort gerade Saure Gurkenzeit, aber irgendwann haben die Leute angefangen zu reden. Ungefähr Mitte März tauchten sie dann wieder auf. Ich hab' gehört, dass Lucius eines abends in der Redaktion erschienen sein und angefangen haben soll, die Redakteure anzubrüllen, er hat sie Faulpelze und nichtsnutzige Schlammblüter genannt. Keiner hat gefragt, wo er gewesen war – sie hatten irgendwie zu viel Angst vor ihm, und das Geheimnis um sein Verschwinden hat seinen Angestellten nur noch mehr Angst eingejagt, jedenfalls behauptete man das. Und als die Zeit verging, hat sich schließlich keiner mehr getraut zu fragen, wo sie gewesen waren."
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Das war Draco bereits bekannt. Im dritten Schuljahr in Hogwarts hatte er sich stundenlang in der Bibliothek versteckt, um Aufstieg und Fall der Dunklen Mächte zu lesen. Lucius wollte es nicht im Haus haben, weil es bei einem Verlag erschienen war, den er als "revisionistischen Haufen von Einhorn-Seelen" bezeichnete, aber Draco hatte in seinem ersten Schuljahr in Zeitschriften und anderen Büchern Hinweise darauf gefunden. In einem Kapitel ging es um die Behauptungen von Leuten, die beschuldigt worden waren, Todbringer zu sein, und die beteuert hatten, alle Flüche, die sie geschleudert, und alle Zaubertränke, die sie verabreicht hatten, seien auf den Einfluss von Imperio zurückzuführen gewesen. In dem Buch stand, Lucius habe im November 1991 eine dreiseitige Erklärung fürs Ministerium geschrieben, in der er behauptete, sich nicht an die Monate erinnern zu können, in denen er verschwunden gewesen war. Er behauptete außerdem, er könne sich lediglich daran erinnern, vom Finsteren Lord persönlich mit dem Imperius-Fluch belegt worden zu sein, und alles, was er danach getan habe, sei nicht aus freiem Willen geschehen. In dem Buch stand nichts darüber, dass noch jemand anders zusammen mit Lucius verschwunden gewesen wäre, also fragte Draco: "Was ist mit Alexander? Ist er auch wieder aufgetaucht?" "Am selben Abend an Lucius' Seite, und ich glaube nicht, dass ich für den Rest des Jahres je einen ohne den anderen gesehen hätte, was auch äußerst merkwürdig war." Draco hatte fast Angst zu fragen, aber er musste es tun. "Und danach? Nach 1978?" "Keine Ahnung. Ich kann mich nicht dran erinnern, ihn nach Dezember 78 noch mal gesehen zu haben, aber das will nichts heißen. In jenem Winter ist so einiges passiert, was bei mir ein paar Gedächtnislücken hinterlassen hat, ein paar Gedächtniszauber, gegen die ich irgendwie nichts ausrichten kann. Ich habe aber das Gefühl, dass ich ihn 1979 tatsächlich nicht gesehen habe. Deine Eltern haben im Februar geheiratet, und er war ganz sicher nicht auf der Hochzeit. Es wäre auch irgendwie zu unpassend gewesen." "Wieso?" "Alexi und Narcissa kannten sich seit seiner Geburt. Sie war ein paar Jahre älter, aber dein Onkel Charlot war derselbe Jahrgang wie Alexander, und er ist Mitte der Siebziger ein paar Jahre in Durmstrang zur Schule gegangen, bevor er nach Hogwarts gewechselt hat, als deine Großmutter gestorben ist. Narcissa hat Charlot ein paar Mal in Durmstrang besucht, dabei aber auch immer eine Weile mit Alexi verbracht, und er hat sich immer gefreut sie zu sehen. Ich bin sicher, Lucius hat nie mit Narcissa geredet, falls er sie überhaupt kennen gelernt hat, bevor sie einander ein Jahr, nachdem sie mit der Schule fertig war, offiziell vorgestellt wurden. Ich bin sicher, dein Vater wusste vor ihrer Heirat, dass sie befreundet waren." Draco starrte Karkaroff an. Vor Überraschung und Entsetzen war ihm übel, und sein Verstand raste. Dieses Gespräch glich in keiner Weise seiner Unterhaltung mit Professor Snape, und auch nicht den faszinierenden Entdeckungen, die er gemacht hatte, während er die Tagebücher las. Jedes einzelne Wort, das Karkaroff von sich gab, war wie der Blick unter einen Stein, der ein Nest giftiger Nattern beherbergte. Er verstand nicht, warum er Karkaroff weiterhin zwanghaft Fragen stellte, aber er konnte sich auch nicht beherrschen. "Sie haben vorhin gesagt, es sei merkwürdig gewesen, dass Alexander immer mit Lucius zusammen war, wenn Sie sie gesehen haben. Wieso?" Seine Frage klang zwar zögernd, aber dennoch fest. "Vor diesem Jahr hatte ich ihn nur einmal mit Lucius zusammen gesehen, nämlich an dem Tag, als er ihn zur Schule gebracht hat – oh, und natürlich bei seiner Wunschzeremonie. Daran kann ich mich erinnern, als wäre es gestern gewesen. Es war so merkwürdig. Sie fand nicht statt, als er einen Monat alt war, weil Celeste gerade eine Woche vorher gestorben und Alexi so krank war, jedenfalls behaupteten das die Ärzte. Sie haben alle gesagt, er würde auch sterben, weil er bei ihrem Sturz verletzt worden war. Nur die moderne Medo-Magie war imstande, sie am Leben zu erhalten, bis er geboren war. Wer hätte gedacht, dass ein Sturz von einem Baum eine so
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
mächtige Hexe wie Celeste umbringen könnte? Jeder weiß, dass es nicht gut für eine Hexe ist, wenn sie in einem so fortgeschrittene n Schwangerschaftsstadium Äpfel isst. Es war nur ein Dutzend Zauberer bei dem Fest – aber keine Hexen. Lucius wollte zu dem Zeitpunkt keine ins Haus lassen, weswegen es von Anfang an unter keinem guten Stern stand. Die Zahl muss sich nämlich die Waage halten. Keine der Blumen blieb die ganze Zeremonie über stehen, und Alexi hat nicht aufgehört zu brüllen, bis einer der Gäste, irgendein Kollege deines Vaters name ns Rydell, ihn hochgehoben und levitiert hat, so dass nichts und niemand ihn berühren konnte. Selbst als Baby mochte Alexi es nicht, wenn er angefasst wurde, und dieser Zauberer hat das erkannt. Außer bei offiziellen Anlässen und Festlichkeiten hat man sie kaum jemals zusammen in der Öffentlichkeit gesehen, und Alexi wurde oft von Hauselfen oder seinem Kindermädchen irgendwohin gebracht; Lucius hat ihn auch nie in der Schule besucht. Alexi war in der Schule immer sehr mitteilsam und extravertiert, aber in jenem letzten Jahr mit Lucius machte er nie einen Schritt, ohne seinen Vater vorher anzuschauen, ob er es erlaubte und billigte. Fast so wie ..." Er verstummte. "Wie was?" Der entrückte Blick wich aus Karkaroffs Augen, und er fauchte Draco an: "Fast so wie du natürlich. Das habe ich sofort gewusst, als ihr beide hier hereingekommen seid, obwohl ich es nicht sehen konnte, und obwohl ich zu der Zeit nicht an Alexander gedacht haben kann. Es war, als ob ich einem Gespräch zuhörte, das ich Jahre zuvor schon mal angehört hatte. Als er in jenem Jahr mit Lucius zusammen war, sah er sogar anders aus als vorher. Als er zur Schule ging, hatte Alexi so scharf geschnittene, feingemeißelte Züge und war so blass – wie Elfenbein. Seine Augen waren viel zu groß für sein Gesicht, und er hatte jede Menge Haare, die ihm in die Stirn fielen und sein schmales Gesicht noch kleiner wirken ließen. Er sah immer so aus, als ob er gerade eine schwere Krankheit hinter sich hätte und bekam oft Weinkrämpfe, aber mehr aus Ärger und Erschöpfung, und nicht, weil er Schmerzen gehabt hätte. Wenn ich ihn im Flur sah, vor allem nachts, wirkte er wie ein Geist und genauso substanzlos. Später sah er aber genauso aus wie Lucius, bewegte sich wie er und redete genau wie er – er sprach Lucius alles nach, fast wortwörtlich. Es war unheimlich. Er war nicht mal mehr der Schatten seiner selbst. Er war Lucius' Schatten geworden." Als Karkaroff sprach, schlug die Uhr, die auf dem Schreibtisch stand. Karkaroff hatte fast eine Stunde lang geredet, Lucius würde bald zurückkommen. Und Karkaroff durfte ihm auf keinen Fall sagen, worüber sie sich unterhalten hatten. "Professor, ich hab' da eine Idee", sagte Draco höflich. Er musste zugleich diplomatisch und fordernd sein – eine ziemliche Herausforderung. "Ich bin nicht sehr gut in Gedächtniszaubern, aber Sie brauchen einen, damit Sie Lucius nicht sagen können, dass ich Sie nach Alexander gefragt habe. Er hat keine Ahnung, dass ich irgendwas über ihn weiß." "Du hast doch gesagt ..." "Nein, hab' ich nicht. Das haben Sie nur angenommen", sagte Draco mit einem wütenden Blick. "Und jetzt hören Sie zu. Wenn Sie sich selbst einen Gedächtniszauber verpassen, so dass Sie alles vergessen, worüber wir in der letzten halben Stunde geredet haben, dann vergesse ich, Lucius von Ihrem kleinen Vortrag bezüglich: 'Ich stand unter Crouchs Befehl' zu erzählen. Wenn die nicht wissen, dass sie ihn geprobt haben, sind sie vielleicht geneigter, Ihnen zu glauben – oder jedenfalls weniger geneigt, Sie für einen Verräter und Spitzel zu halten, der versucht, einen harmlosen Fünfzehnjährigen, der noch keine fortgeschrittenen Gege nsprüche gelernt hat, mit dem Confundus-Zauber zu belegen." "Vielleicht nicht in der Schule, aber du würdest doch ebenfalls lügen, wenn ..." "Halten Sie den Mund und tun Sie's. Es ist besser für uns beide. Sie können meinen Zauberstab benutzen." Karkaroff lachte nur. "Darauf falle ich nicht rein – du versuchst wohl, mich mit einem Trick dazu zu bringen, irgendwas zu tun. Eigentlich solltest du inzwischen das Handbuch des Bösen 199
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
für Squibs gelesen haben und wissen, dass du deinem Rivalen niemals eine Waffe in die Hand geben solltest!", sagte er sarkastisch. "Das würden Sie nicht wagen. Was würden Sie denn danach machen? Glauben Sie wirklich, Sie kämen aus diesem Haus raus, wenn Sie mich verfluchen?" "Hier komme ich sowieso nicht raus. Das habe ich an Lucius' Blick abgelesen", sagte Karkaroff leise. "Hör zu, ich trau dir nicht, dass du mir deinen Zauberstab einfach so gibst. Sobald ich ihn berühre, wirst du vermutlich irgendwas tun, zum Beispiel einen Hauselfen rufen, und bevor ich mich versehe, werde ich in einen Kerker verbannt. Wenn du deine Haut mit einem Gedächtniszauber retten willst, dann musst du es schon selbst tun." "Ich hab' aber noch gar nicht gelernt wie!" Draco hatte definitiv keine Lust, sich an einem Gedächtniszauber zu versuchen, jedenfalls nicht ohne vorher gebührend geübt zu haben. Er kannte natürlich die Worte des Spruchs, aber die Theorie, die sich dahinter verbarg, verstand er noch nicht. "Dann musst du das Risiko eingehen, dass ich deinem Vater jede einzelne deiner Fragen weitersage", versuchte Karkaroff ihn zu ködern. "Auf lange Sicht ist es doch sowieso egal. Hast du etwa Schiss, Kleiner?", fragte er in einem Ton, der zugleich gehässig und resigniert klang. "Auf lange Sicht ist es egal." "Aber ich ..." "Tu es!", flüsterte Karkaroff boshaft und stürzte sich auf Dracos Zauberstab. "Accio!", schrie er. Draco fühlte, wie sein Zauberstab in seiner Hand zuckte, aber Karkaroff war ansche inend zu erschöpft, um ohne Zauberstab etwas zu sich beordern, das ihm nicht gehörte, und Draco gelang es, seinen Stab festzuhalten. Dann sagte er das erste Wort, das ihm in den Sinn kam: "Obliviate!" Der Zauberspruch explodierte mit der Gewalt eines Feuerwerkskörpers von Filibuster, stark genug, um Karkaroff ins Stolpern zu bringen, wobei er Draco ebenfalls umwarf. Einen Augenblick später hievte Draco sich in den Sessel und schnappte nach Luft, als die Tür aufging. Er musste nicht erst hinsehen um zu wissen, wer es war. Lucius rief: "Draco! Wer hat diese Zauberformel gesprochen? Was zum Teufel ist passiert?" Draco sah Lucius schweigend an, und sein Blick schweifte ständig entsetzt zwischen ihm und Karkaroff hin und her. "Der Sensor hat angeschlagen – hatte Karkaroff irgendwas bei sich versteckt? Warum liegt dein Zauberstab auf dem Fußboden?" Lucius packte Draco am Ohr und zog ihn auf die Füße. Draco versuchte Luft zu holen und zu erklären, was passiert war, aber er brachte kein Wort heraus. "Ich … ich … ich …" "Warum verschwende ich hier bloß meinen Atem!" Lucius ließ Draco los, so dass er wieder hinfiel, dann drehte er sich zu Karkaroff um, der auf der Ottomane zusammengeklappt war. Er versuchte ihn hochzuziehen, aber Karkaroff war so schlaff, dass Lucius sichtlich Probleme hatte ihn zu bewegen. "Ich hatte nur meinen Zauberstab in der Hand, das ist alles." Draco stieß die Lüge atemlos hervor. "Und als er sich auf mich gestürzt hat, habe ich den ersten Spruch losgelassen, der mir eingefallen ist." "Und der wäre?", knurrte Lucius, der sic h immer noch mit Karkaroff abmühte, der trotz seiner Anstrengungen dabei war, von der Ottomane zu rutschen. "Ein Gedächtniszauber", flüsterte Draco. Lucius ließ Karkaroff fallen. "Wie bitte?", rief er. "Wie stark war der?" "Wie ...?" Lucius sank zwischen Draco und Karkaroff zu Boden und schob den schlaffen Körper des Lehrers beiseite. Karkaroff stöhnte, als er herumrollte. "Wie stark? Ein Monat? Eine Woche? Ein Jahr? Welche Erinnerungen hast du blockiert?" Lucius sah wieder Karkaroff an. "Ich weiß nicht", sagte Draco zu Lucius' Rücken. "Ich hab' ja noch nie einen gesprochen, so stark kann er also nicht sein, oder?" 200
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
"Das erfahren wir, wenn er wieder zu sich kommt, aber wenn du es fertig gebracht haben solltest, wenigstens ein paar Monate zu blockieren, dann wärst du weit nützlicher, als ich je gedacht hätte." Lucius drehte sich mit einem strahlenden Lächeln wieder zu Draco um. "Waa...?" "Nützlich, aber dämlich, wie es scheint. Hast du nicht verstanden, was ich gemeint habe, als ich dich hier mit ihm allein gelassen habe? Wenn Karkaroff sich nicht erinnern kann, warum er all die Dinge getan hat, die er in den letzten Monaten getan hat, dann könnte er immer noch nützlich sein. Vielleicht hält er sich dann für einen treuen Diener des Finsteren Lords und nicht für einen dreckigen Verräter." Lucius machte eine Bewegung, als wollte er Draco tätscheln, aber Draco versteifte sich. Er wollte nicht, dass Lucius ihn anfasste, nicht nach dem, was Karkaroff gesagt hatte, jedenfalls nicht, bevor er ein paar Dinge nachgeprüft hatte um sicherzugehen, dass Karkaroff nicht gelogen hatte. Immerhin war der Mann ziemlich gut darin. Lucius stellte irgendeine Frage. "Tut mir Leid, Sir. Wie war noch mal die Frage?" Ganz egal, was er fühlte oder wovor er Angst hatte, er konnte sich Lucius gegenüber nicht anmerken lassen, dass sich etwas geändert hatte. Er würde sich so verhalten müssen wie immer, oder Luc ius würde ihm beim nächsten GESPRÄCH Fragen stellen, und was wäre, wenn er sich in seinem Lügengespinst verhedderte? Alles war plötzlich so chaotisch, und Lucius stellte schon wieder eine Frage. "Warum kannst du nicht zuhören?" Er trat Draco gegen das Schienbein. "Pass gefälligst auf, du vergeudest meine Zeit. Weißt du, was ein Verräter ist?" Trotz all des Horrors war er immer noch in der Lage, wie aus der Pistole geschossen etwas aufzusagen. "Er unterwandert das politische System, so dass es nicht länger Widerstand leisten kann. Einen Mörder muss man weniger fürchten. Der Verräter hingegen ist wie eine Seuche." Lucius tätschelte ihm die Wange, dieselbe, die er kaum eine Stunde zuvor geschlagen hatte. Draco verspürte den Drang, vor Lucius' Hand zurückzuweichen. "Cleverer Junge. Aber wenn ein Verräter gar nicht weiß, dass er alles verraten hat, was ihm lieb und teuer ist, ist er dann überhaupt ein Verräter?" Draco war sich nicht sicher, aber das konnte er Lucius nicht sagen. Und was wäre schon dabei, wenn man Dinge verriet, die falsch waren? Lucius wäre doch sicher nicht der Meinung, dass das ein Verbrechen wäre? Doch wenn er tatsächlich den Finsteren Lord erst unterstützt und dann verraten hatte, dann ... Ach, auf Lucius' Frage gab es so viele mögliche Antworten, und sie widersprachen sich alle. "Ich denke, das hängt von den Umständen ab, weil ..." Lucius und Draco fuhren zusammen, als sie Karkaroff wieder stöhnen hörten. "Draco, ab in dein Zimmer", sagte Lucius. "Ich glaube, Igor und ich müssen uns mal kurz unterhalten, um festzustellen, wie groß der Schaden ist, den du angerichtet hast und wie schwierig es wäre, den Zauber zu brechen. Außerdem will ich innerhalb der nächsten halben Stunde eine Zusammenfa ssung eures Gesprächs. Und da aller guten Dinge drei sind, auch eine LISTE für heute." Draco raffte sich auf und machte sich ohne ein weiteres Wort an Lucius so schnell er konnte davon, wobei er sein Memo, das immer noch in dem Feuerball steckte, gut einen Meter vor sich herschweben ließ. Er wollte weg hier, zurück ins Horrorkabinett seines Zimmers, auch wenn er Lucius' Geboten Folge leisten musste, bevor er sich wieder Alexanders Sachen zuwenden, Karkaroffs Informationen ordnen und ein paar neue Schaubilder und Listen machen konnte. Er hätte sich am liebsten übergeben, hauptsächlich vor lauter Schock und Entsetzen, aber das ging nicht. Er musste sich sammeln, sich konzentrieren und schreiben! Wenigstens diesmal musste er sich keine Gedanken darüber machen, was er in dem Bericht schreiben sollte; er konnte ein paar Zeilen über Professor Moodys Identität schreiben und ein bisschen was über das Ende der dritten Aufgabe, wobei er statt Karkaroffs Informationen die von Professor Snape verwenden würde. Lucius würde die Wahrheit nie erfahren. Zumindest könnte Draco behaupten, man könne Karkaroffs Erinnerung an ihr Gespräch nicht trauen. Er konnte sogar in allen Einzelheiten seine Prüfung in Verteidigung gegen die Schwarze Magie schildern, 201
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
wie er den Cruciatus-Fluch erduldet und es geschafft hatte, den Imperius-Fluch abzuschütteln, und wie stark Lucius' Lektionen ihn machen mussten, wenn er sogar den Imperius-Fluch besiegen konnte, auch wenn er von jemandem gesprochen worden war, der ihn möglicherweise vom Finsteren Lord selbst beigebracht bekommen hatte. Lucius wäre zufrieden mit ihm, und ein Teil von Draco, jener winzige Teil, der immer noch versuchte, die Gedanken an Todbringer, Flüche ohne Gegenspruch und an den Bruder, den er nie kennen gelernt hatte, zu unterdrücken, wollte nun einmal unbedingt, dass Lucius zufrieden war. Draco hatte sich jegliche Schuldgefühle für das, was Karkaroff gerade passiert war, verkniffen. Es war reine Notwehr gewesen, und ein Gedächtniszauber war schließlich keineswegs ein verbotener Fluch. Die Ministeriumsbeamten sprachen ständig Gedächtniszauber über Muggel, und manchmal sogar über Zauberer. Wenn sie korrekt durchgeführt wurden, waren sie ein legitimes Mittel zur Selbsterha ltung. Doch wenn er sie jemals in voller Absicht zu einem bestimmten Zweck anwenden wollte, dann musste er besser dabei werden. In Anbetracht seiner Unterhaltung mit Karkaroff war ihm jedoch klar, dass er Alexanders Sachen aus dem Haus schaffen und irgendwie mit Hermione und Professor Snape sprechen musste, und alles, ohne bei Lucius Verdacht zu erregen. Und wenn er anfing in der Gegend herumzureihern, wäre das ein todsicheres Mittel, um Lucius' Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Jeder dieser Gedanken, die so heftig in ihm rumorten, dass es sich anfühlte, als zerschme tterten sie seine Finger, seine Zähne und sein Trommelfell, musste einer nach dem anderen beiseite geschoben werden. Er hastete in sein Zimmer, um die Tür hinter sich zuzumachen und sich in den Zustand der KONZENTRATION zu versetzen, in dem er nacheinander alle Türen würde schließen können. Als er jeden einzelnen Gedanken weggesperrt hatte, holte er seine Alexander-Sammlung aus den diversen Verstecken und packte alles zusammen in eine Schrumpftasche. Nur das Foto von Professor Snape, Potters Vater und Alexander ließ er draußen. Er öffnete das Fenster und rief nach Kira, die kaum eine Minute später auf dem Sims landete. Durch das offene Fenster drangen vage, undeutliche Stimmen zu ihm, die aus eine m der Zimmer unter ihm kamen, wo ebenfalls ein Fenster offen stehen musste, um die frische Sommerbrise hereinzulassen. Sie half jedoch nicht, seine Stimmung zu heben oder seine trüben Gedanken zu vertreiben. "Kira", sagte er düster, "du musst die Nacht wohl bei Hermione verbringen und warten, bis sie ihre Antwort geschrieben hat – und versuch nicht nach ihr zu hacken, wenn sie dich verza ubert, alles klar? Sieh mich nicht so an ..." Kira blinzelte ihn mit ihren dunkelgrauen Augen traurig an. "Ich weiß, es ist ein Muggel- Haus, aber ich bin sicher, dass sie ein paar Leckerli für Eulen hat – diese Eule, die Potter da hat, kriegt bei ihr vermutlich besser zu fressen als bei ihm." Sie pickte nach seiner Hand, als er die Tasche an ihrem Bein festband und sie losschickte. Einen Augenblick später hob Kira vom Fenstersims ab und verschwand aus seinem Blickfeld. Draco, der jetzt definitiv unglücklich und besorgt war, sah ihr wehmütig nach. Ich wünschte, du könntest mich mitnehmen, dachte er, als er zu seinem Schreibtisch zurückging und sich wieder seinen unmittelbaren Problemen zuwandte – zwei Berichte für Lucius zu schreiben und das Feuer in Gang zu halten -, da er erst wieder an Alexander denken konnte, wenn er damit fertig war und sie Lucius geschickt hatte. Er konnte die Stimmen immer noch hören, war jedoch nicht in der Lage sich genügend zu konzentrieren, um einzelne Worte auszumachen; er hatte nicht die geringste Lust, nach unten zu Projizieren um nachzusehen, was dort los war. Er hatte zu tun, und zwar wichtige Dinge, nämlich für Lucius. Er musste einen Bericht schreiben. Als er fertig war – er hatte Lucius' Frist sogar eingehalten -, übersandte er ihm alles mit einem Hauselfen. Keiner der Bediensteten wäre kompetent genug, um das Pergament bis ins Arbeitszimmer zu bringen, ohne dass die Flammen erloschen, und er hatte zu viel Energie darauf verwandt, das Feuer in Gang zu halten. Dann nahm er ein Notizbuch und setzte sich aufs Bett, um eine Zusammenfassung dessen zu schreiben, was Karkaroff wirklich gesagt hatte, die nur für seine eigenen Augen bestimmt war. Er machte sich auf einem weiteren Stück Pergament Notizen – alles Mögliche, was er im Ra h202
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
men von Hausaufgaben oder bei Spaziergängen über die Ländereien recherchieren konnte, zum Beispiel in welchem Garten Apfelbäume standen oder in welchen Büchern oder Artikeln etwas über weitere Zauberer stand, die in den späten Siebzigern verschwunden und Opfer des Imperius-Fluchs geworden waren, ja selbst, was die Konkurrenzblätter geschrieben hatten, als Lucius und Narcissa geheiratet hatten. Alle paar Minuten bewegte er seinen Zauberstab über die Worte und verstümmelte die Sätze mit einem Heuristik- Zauber. Er selbst konnte die neugeordneten Sätze immer noch verstehen, aber alle anderen, die sie sahen, würden denken, Draco hätte eine Liste dessen geschrieben, was er für seine bevorstehende Frankreichreise einpacken wollte. Frankreich. Onkel Charles' Haus. Vielleicht würde er dort noch mehr Hinweise finden, irgendetwas anderes, irgendeine Bemerkung oder einen Hinweis darauf, dass es Alexander gegeben und worin seine Existenz bestanden hatte. Er musste jetzt schlafen, dachte er, zog sich aus und fiel ins Bett. Wer weiß, wann er aufstehen musste, um wieder Quidditch zu spielen, sich seinen Schulbüchern zuzuwenden sowie all den HERAUSFORDERUNGEN, TESTS und GESPRÄCHEN und allem, wofür er sonst noch seine Fragen wieder verdrängen musste, so wie er es jetzt gerade tat. Es hatte keinen Zweck, sich Antwo rten auf Fragen auszudenken, wenn er eigentlich recherchieren, Bücher lesen und Quellmaterial überprüfen sollte. Seine Fantasie würde ihn hier nicht weiterbringen, sondern die tatsächlichen Begebenheiten zu sehr entstellen, um sie als verlässliche Grundlage für irgendwelche Schlussfolgerungen zu verwenden, die ihn die ganze Nacht wach halten würden. Algorithmen sind nutzlos, wenn sie nicht funktionieren, Theoreme ebenfalls, wenn sie nicht beweisen, was sie eigentlich beweisen sollten. Warum also Zeit damit vergeuden? Endlich war es ganz still in der Dunkelheit, und er saß im Bett und betrachtete die trägen Schatten an der Wand. Als er jünger gewesen war, hatte er in ihnen nach Gesichtern, Chimären und Worten Ausschau gehalten. In mondhellen Nächten wie dieser, oder wenn auf seinem Schreibtisch eine winzige Kerze brannte, konnte er die dunklen Worte an der Wand fast lesen. Er nahm einen Schluck aus dem Glas warmer Milch, das der Hauself mitgebracht hatte, als er ihn gerufen hatte, um seine Berichte zu Lucius zu bringen, und glaubte, drei Schattenspiel- Gesichter zu erkennen, die sich genauso bewegten wie die Jungen auf dem Foto, das nun in Bedeutende Entdeckungen der modernen Magie steckte, das er sich aus der Schulbibliothek ausgeliehen hatte. Lucius würde niemals hineinschauen, und wenn er es tat, konnte Draco immer noch behaupten, das Foto hätte bereits in dem Buch gesteckt, als er es sich ausgeliehen hatte. Er neigte den Kopf, während er an seiner Milch nippte. Lachten sie ihn aus? Winkten sie ihm zu? Er konnte nichts weiter hören als das Klirren des Glases, wenn er es auf dem Nachttisch abstellte. Er starrte noch spöttisch- fragender vor sich hin, während er trank und ihm die Augen und Glieder immer schwerer wurden. Nur das Bild des Merkurstabs auf dem großen Glas verhinderte, dass es ihm aus den Fingern glitt und zu Boden fiel, und bevor er das halbvolle Glas zum letzten Mal abstellen konnte, verfiel er erneut in einen Schlaf, der genau acht Stunden dauerte. Als er in der Mitte des Vormittags aufwachte, stieß er, als er sich aufsetzte, mit einer Pergamentrolle zusammen, die auf Brusthöhe über seiner Bettdecke schwebte. Sie entrollte sich sofort, und sein Blickfeld war erfüllt von Lucius' gleichmäßiger Schrift in olivefarbener Tinte. Warum verlangst du immer wieder in letzter Minute Änderungen an deinem Terminplan? Ich habe dich gestern fünfmal gesehen – warum konntest du mich nicht bei einer dieser Gelegenheiten fragen, ob es ein günstiger Tag sei, um in die Boolsche Bibliothek zu gehen? Zum Glück hatte ich sowieso vorgesehen, dass du den heutigen Nachmittag mit Lernen verbringst. Wenn du das hier liest, habe ich bereits dein Mittagessen mit deiner Mutter abgesagt, sie sieht dich nächste Woche auf der Reise sowieso noch öfters, als ihr lieb ist. Mir ist außerdem klar, dass du dein Versprechen, deine Hausaufgaben zu machen, bevor ihr nach Frankreich fahrt, nicht halten kannst. Ich habe deinem Onkel Charles einen Brief geschrieben, in dem ich ihn gebeten habe, dir eine Aufgabe zu erteilen, wenn ihr in Eze an203
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
kommt. Du wirst jeden Tag mindestens acht Stunden arbeiten, bis du mit deinen Hausaufgaben und dem, was ich dir aufgegeben habe, fertig bist. Dylan reist nicht mit euch zusammen nach Frankreich, er wird erst einen Tag später dort eintreffen, nachdem er auf dieser Seite des Kanals einer so genannten Familienverpflichtung nachgekommen ist. Beeil dich also, in die Bibliothek zu kommen, es ist nämlich in diesem Sommer deine einzige Gelegenheit. Sieh zu, dass du das Beste daraus machst. Diesmal hatte Draco keine Einwände, genau das zu tun, was Lucius gesagt hatte. Inne rhalb von zwanzig Minuten hatte er das Haus verlassen und war auf dem Weg nach London, wobei er so schnell flog wie an jenem Tag, als er wegen Rita so oft hin und her geflogen war. Doch diesmal war er in besserer Stimmung. *** Hermione war ebenfalls gut gelaunt, als sie auf einer der Bänke vor der Boolsche n Bibliothek saß und den Glöckchen-Springbrunnen direkt davor betrachtete. Der Eingang zur Bibliothek gehörte offiziell zur Diagonallee, war aber etwas nach hinten versetzt. Es war ein atemberaubendes Gebäude, das der antiken Bibliothek von Alexandria nachempfunden und zu einer Zeit errichtet worden war, als gelehrte Muggel in der magischen Welt ein- und ausgingen und es nicht ungewöhnlich für Zauberer gewesen war, sich mit Muggeldingen zu befassen. Natürlich hatte auch damals eine Trennung zwischen den beiden Kulturen bestanden. Das hatte sie im dritten Schuljahr in der ersten Woche Muggelkunde gelernt. Doch die Magie hatte es einem Dutzend Ägyptischer Hexen und Zauberer ermöglicht, über hunderttausend Schriftrollen aus der Bibliothek von Alexandria zu retten. Im Lauf der Jahre war viel dafür getan worden, diese Schriftrollen zu erhalten, und die Originale waren natürlich nicht öffentlich zugänglich, sondern wohlverwahrt in Gewölben rund um die Welt, die von Koboldunternehmern erbaut worden waren, die sich derselben Technik bedient hatten, die auch bei den Gewölben in den Gringotts- Zweigstellen überall auf der Welt angewandt worden war. Die Boolsche Bibliothek verfügte jedoch über Kopien, und Hermione war offiziell dort, um sie sich anzusehe n. Doch falls Draco es schaffen sollte nach London zu kommen, war ihr klar, dass ihre Schularbeiten hinter den Kassetten und Büchern in ihrer Büchertasche zurückstehen würden. Im Zug nach London und dann im Bus zum Tropfenden Kessel hatte sie sich auf Alexanders vorsintflutlichem, klobigen Walkman ein paar Minuten von seinen Kassetten angehört. Er hatte zwei Anschlüsse für Kopfhörer, damit zwei Leute gleichzeitig hören konnten, deshalb hatte sie ein zweites Paar von ihrem eigenen Walkman mitgebracht. Auf ein paar Kassetten war Musik – es musste sich dabei um magische Musiker handeln, weil sie sie nie zuvor auf den Schallplatten und Tonbändern gehört hatte, die ihre Eltern vor ihrer Geburt immer gespielt hatten. Ein paar der Lieder hörten sich an, als sänge Alexander sie selbst– die Stimme glich zu sehr derjenigen, die die Bänder so besprochen hatte, als sollten sie ein mündliches Tagebuch sein. Da sie wahrscheinlich keine Zeit haben würden sich alles anzuhören, hatte sie die Lieder für ihn aufgeschrieben. Die Tagebuch-Kassette musste Draco sich aber selbst anhören, sie würde ihm nicht mal sagen, was drauf war, falls er sie danach fragen sollte. Das hatte sie beschlossen, nachdem sie an diesem Morgen gerade mal fünf Minuten davon gehört hatte. Sie hatte sie sic h nicht mal selbst angehört, da sie den Walkman weggepackt hatte, als sie sich von den Busfahrgästen entfernt hatte, die das junge Mädchen, das verlangt hatte, in einer Straße auszusteigen, in der alle Musikläden und Buchhandlungen geschlossen waren, argwö hnisch musterten. Sie konnten den Tropfenden Kessel natürlich nicht sehen, obwohl er Hexen, Zauberern und allen anderen Wesen jederzeit offen stand. Sie ging nicht in den Pub, sondern gleich auf die 204
Flüche bis zum Überdruss
9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Damentoilette, um die Robe anzuziehen, die sie in ihrer Tasche mitgebracht hatte. Sie wollte in der Diagonallee nicht deplatziert wirken. Während sie wartete, blätterte sie ihr Herbologie-Buch fürs fünfte Schuljahr durch, malte kleine Blümchen und Gräser an den Rand und hörte den Glöckchen zu, wie sie durch den verzauberten Springbrunnen hüpften und die Luft mit trillernden Tönen erfüllten. Sie war nicht sicher, ob Draco sich würde loseisen können, obwohl sie wusste, dass er es versuchen würde. Weniger wahrscheinlich war, dass Professor Snape ihren Brief ernst ge nommen oder überhaupt erhalten hatte. Hermione hatte geschrieben, sie hoffe, sich mit Draco in der Bibliothek treffen zu können und hatte Professor Snape gebeten, sich nachmittags dort mit ihnen zu treffen. Falls er den Brief bekommen hatte, würde er sicher da sein, aber vie lleicht machte er im Sommer ja auch Ferien, um mal aus seinem stinkenden Labor im Kellergewölbe herauszukommen. Sie kicherte, als sie sich vorstellte, wie er sich Sonnenschutzcreme auf seine wachsbleiche Haut schmierte und fragte sich, ob er wohl wie ein Vampir in Flammen aufgehen würde, wenn er sich eine Badehose anzog, um ein Sonnenbad zu nehmen. Doch selbst wenn er im Sommer normalerweise immer Ferien machte, würde er es dieses Jahr vielleicht wegen der Voldemort-Situation nicht tun. Möglicherweise war er gerade auf einer weiteren Mission für Dumbledore, oder er war dabei, an irgendeinem exotischen Ort Ingredie nzien für Zaubertränke zu horten, so dass er sich an diesem Nachmittag nicht zu ihnen gesellen könnte. Aber zum ersten Mal im Leben wollte sie Snape wirklich sehen. Würde das Harry und Ron wohl schockieren? Natürlich wären sie total entsetzt, wenn sie sie hier vor der Boolsche n Bibliothek sitzen sähen, wie sie auf Draco Malfoy wartete. Zum Glück war sie sicher, dass sie keinem von ihnen begegnen würde. Soweit sie wusste, ging Harry niemals allein in die Diagonallee, und obwohl Ron sich natürlich in der magischen Welt frei bewegen konnte, war er erst zweimal in der Boolschen Bibliothek gewesen. Beide Male hatte er eine Wette gegen Fred und George verloren, und sie hatten ihn hineingeschickt, um nach Percy zu suchen. Percy war sogar der Erste gewesen, der ihr erzählt hatte, wie fantastisch die Bibliothek war, mit ihren Regalen, die sich so weit erstreckten wie die Tribüne eines Quidditch-Stadions, mit den Leitern, die vom Boden bis zur Decke im Raum herumschwebten, und den Gewölben unter dem Fußboden des Hauptsaals, die von denselben Erbauern stammten, die Gringotts in London errichtet hatten. Allerdings lauerten hinter den Bücherstapeln, Schriftrollen und Tafeln keine Drachen, die könnten nämlich den Büchern Schaden zufügen. Sie wollte gerade hineingehen um nachzusehen, ob Draco inzwischen via Kaminpulver angekommen war, als sie ihn ihren Namen rufen hörte. Er sah furchtbar aus. Seine Haare waren strähnig, seine Augen rot gerändert, und obwohl er etwas Farbe im Gesicht hatte, wahrscheinlich vom Besenflug, wirkte er krankhaft blass. Als er ihr vom Besucher seines Vaters am Abend zuvor und von dem ungeplanten Gedächtniszauber erzählte, den er Professor Karkaroff verpasst hatte, wurde ihr klar, warum er so ein Häufchen Elend war. "Wow", sagte Hermione. "Ja, 'wow' trifft es voll und ganz. Besser könnte ich es auch nicht ausdrücken", antwortete Draco. "Es war irgendwie, als ob ein Unterwasservulkan mich ins Meer hinausspült, ich hatte die Lage überhaupt nicht unter Kontrolle." "Irgendwie macht das keinen Sinn." "Ich weiß, aber manchmal tut es einfach gut, Metaphern zu bilden, ganz egal, ob sie hundertprozentig passen oder nicht", sagte Draco trocken. "Das meinte ich nicht damit. Ich meinte, dass deine Geschichte keinen Sinn ergibt. Wenn Karkaroff in Barty Crouchs Intrigen verwickelt war, dann hätte jemand davon gewusst." "Nicht, wenn Karkaroff niemandem etwas davon gesagt hat. Aber vielleicht lügt er ja auch. Ich hab' echt keine Ahnung, und Lucius kann ich schlecht danach fragen."
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
"Er ist dein Vater. Vielleicht bringt es ihn ja dazu, über das, was er getan hat nachzudenken, wenn du ihn fragst ..." Sie verstummte. Sie rief sich in Erinnerung, wie Alexanders Stimme auf den Kassetten geklungen hatte – ganz anders als Dracos, und doch so ähnlich in seinem Bemühen, den starken Mann zu markieren, auch wenn die Situation es eigentlich überhaupt nicht erforderte. Ich möchte gern um den Tisch herumgehen, ganz schnell kurz und flüchtig seine Hand berühren und ihm sagen, dass ich seine Ängste verstehe, und auch, dass er sich in die Enge getrieben fühlt, dachte Hermione. Auch wenn er es selbst nicht weiß. Sie hätte gern gesagt : Ich weiß deine Träume zu schätzen und respektiere deine Alpträume. Aber sie wusste, dass er das nicht gern hören würde, und schon gar nicht von ihr. Stattdessen fragte sie: "Was, wenn Karkaroff es irgendjemandem erzählt und sie dich zur Rede stellen?" "Hermione, ich bin ein Malfoy. Was können sie mir schon anhaben?" "Wen meinst du mit 'sie'? Wer ist sie, Draco?" "Weißt du das nicht?" "Das Ministerium?" "Nein." "Dann ..." Sie zögerte, als ob sie nicht ganz sicher wäre, wie sie den Satz formulieren sollte. "...weiß ich es nicht." "Ich auch nicht. Ich bin ja nicht mal mehr sicher, wer 'wir' ist, jedenfalls nicht in meiner Welt. Wenn ich nicht mal das weiß, wie soll ich dann rauskriegen, wer 'sie' sind?" "Vielleicht, indem du dir die Kassetten anhörst ..." Sie nahm den Walkman und setzte Draco ein Paar Kopfhörer auf. Sie hatte den Walkman in einer Weise behext, die vermutlich gegen Arthur Weasleys Gesetz zum Schutz von Muggeln verstieß. Da die Batterien in diesen alten Walkmans lediglich dazu dienten, den Ton zu verstärken und den Motor anzutreiben, so dass das Band sich drehte, hatte sie über das Plastikgehäuse einen Rotationszauber gesprochen, damit er auf ihr Kommando lief. Sie konnte an Dracos Gesicht ablesen, dass er das Gefühl der kleinen Plastikhörer auf seinen Ohren nicht mochte. Und als sie den Walkman einschaltete, schien es ihn noch mehr zu stören. "Ich kann kein Wort verstehen!", schrie er laut, um Alexanders Worte zu übertönen. "Gibt es keine andere Methode, um sich das anzuhören?" Er nahm den Kopfhörer ab und warf ihn auf den Tisch. Hermione runzelte die Stirn und dachte über Zauberformeln nach, mit denen man die Lautstärke erhöhen könnte. Sie nahm ebenfalls ihre Kopfhörer ab und drehte den Walkman so laut, wie es ging. Aus den Hörern kamen schwache Töne. Sie schwenkte ihren Zauberstab, woraufhin der Lautstärkeregler noch einen Punkt weiter sprang, nämlich bis auf elf, und Alexanders Stimme erfüllte den Raum, als unterhie lte er sich in natürlicher Lautstärke im Plauderton direkt mit ihnen. Was er sagte, war jedoch alles andere als Geplauder. *** Die Kassette hatte seine Stimme kaum eingefangen, sie klang zugleich zaghaft und gleichgültig. Das Erste, was sie auf dem Band zu hören bekamen, war: "Ich sollte wohl nicht erwähnen, dass ich sechzehn bin, oder? Ich fühle mich nämlich nicht so jung." Dann war minutenlang fast nichts zu hören. Draco ließ Hermione nicht auf den Knopf drücken, mit dem man die Wörter und Leerpassagen überspringen konnte, so wie ein Stein, den man in einen See wirft, auf dem Wasser hüpft, da er keinen Atemzug, kein Husten oder sonst eins der Hintergrundgeräusche verpassen wollte, die so vertraut klangen. Die übliche Geräuschkulisse des Herrenhauses mit seinen Menschen, Elfen und magischen Kreaturen war allgegenwärtig, ja sogar die jeden Geräusches bare Anwesenheit 206
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
der Geister war hier zu spüren, wie eine Brücke durch Zeit und Raum, die ihn zwanzig Jahre in die Vergangenheit versetzte. Von klein auf musste ich mein eigener Ratgeber sein, weil er mir nie einen Rat gegeben hat. Manchmal bekommen meine Klassenkameraden in der Schule Besuch, dann sehe ich Familien, die sich mögen, und Väter, denen ihre Kinder nicht egal sind, und ich ertappe mich dabei, dass ich sie hasse. Als ich noch jünger war – zu jung, um zur Schule zu gehen – habe ich das ihm gegenüber mal erwähnt. Da wusste ich noch nicht, dass er wollte, dass ich Hass empfinde. Hermione sprach gegen die aufgenommene Stimme an. "Du kannst das nicht erkennen, aber das wurde nicht alles zur selben Zeit aufgenommen. Ich kann sagen, wo das Band angeha lten und dann wieder gestartet wurde – an den Stellen ist ein leises Klicken zu hören. Man kann unmöglich sagen, wann er die Bänder besprochen hat." "Das muss in den drei Monaten gewesen sein, als er und Lucius verschwunden waren", flü sterte Draco. "Auf manchen kann ich die gewohnten Geräusche des Herrenhauses hören, aber nicht immer. Ich glaube, manchmal ist er woanders. Aber sei jetzt still, ich möchte ihn hören." Die meiste Zeit hörte Draco mit dem Kopf auf dem Tisch zu. Ab und zu setzte er sich auf, und einmal sprang er vo m Stuhl und lief um das kleine Zimmer herum, wobei er die meiste Zeit mindestens einen Finger im Mund hatte. Dort, wo er die Nagelhaut durchgebissen hatte, konnte sie Blut sehen, aber das machte ihr im Prinzip nicht viel aus. Beim Anblick der Stellen hingegen, wo er seine Knöchel aufgebissen hatte, wurde ihr fast schlecht. Sie hörten fast eine Stunde lang zu. Er wollte nie, dass ich Gefühle zeige, das will er auch jetzt nicht – weder Frohsinn noch Traurigkeit. Von Fröhlichkeit kann sowieso keine Rede sein. Er sagt, er könne seine Wut zeigen, weil er alle anderen Emotionen besiegt hat. Er hat aber nie versucht, seinen Hass zu besiegen. Er will, dass er wächst, und er will, dass ich wachse, genau wie die Alraunen, die wir in den Treibhäusern in der Schule pflanzen. Eigentlich sollte ich "gepflanzt haben" sagen, weil ich weiß, dass ich nie dorthin zurückkehren werde. Er würde es nicht erlauben. Ich habe zu viele Übungen und Tests hinter mir, ich muss sie bestehen und darf nicht aus der Reihe tanzen. Ich weiß, dass es für mich keinen Ort gibt, an dem ich mich verstecken könnte, ich habe keine Wahl. Er hat Tage damit verbracht, mir sein Weltbild zu erklären. Wir sind reinblütige, mächtige Zauberer – das ist nichts Neues, außer dass er weiß, dass ich nicht mächtig bin. Er sagt, ich werde es sein. Dafür würde er schon sorgen. Während sie zuhörten, konzentrierte Hermione sich auf Dracos Gesicht. Er verstand es meisterhaft, eine völlig ausdruckslose Miene zur Schau zu stellen. Sein Mund war eine dünne Linie, und er atme te ruhig und gleichmäßig. Nur am gelegentlichen Zucken seiner Wange war erkennbar, welche Wirkung diese Worte auf ihn ausübten. Es war jedoch schon so lange her, dass sie sich zuletzt richtig mit ihm unterhalten hatte – eigentlich seit dem Weihnachtsball nicht mehr -, deshalb konnte sie nicht völlig sicher sein, was seine kaum wahrnehmbaren Reaktionen ausdrückten. Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann, also rede ich mit dir. Mir ist immer noch nicht ganz klar, warum er dich oder die anderen Kassetten noch nicht gefunden hat. Ich kann sie mir natürlich nicht anhören, weil ich die Kopfhörer nicht dabei habe, aber es ist gut zu wissen, dass ich Musik habe. Wer hätte gedacht, dass so ein Muggelding so nützlich sein könnte? Nari hat gesagt, es würde vielleicht nach einiger Zeit aufhören zu funktionieren – das überrascht mich eigentlich nicht. Muggelsachen halten längst nicht so lange wie magische Sachen. Wahrscheinlich meint er das, wenn er sagt, wir wären was Besseres. Magische Musik geht nie kaputt, aber sie lässt sich auch nicht so leicht verstecken. In den Nächten, in denen er mich schlafen lässt, weine ich mich immer in den Schlaf. Ich kann mich auf nichts konzentrieren, weil ich ständig an was denken muss ... Ich bin der Meinung, dass es mir eigentlich besser ergehen sollte. Es muss doch irgendwo einen besseren Ort geben. Die Schule war das jedenfalls nicht. In der Schule war ich ... Na gut, ich finde, niemand sollte sich langweilen müssen oder daran gehindert werden, das zu tun, was 207
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
er gerne möchte. Ich habe mich in der Schule fast nur gelangweilt. Aber dann hat er mich abgeholt und gesagt, es sei Zeit, interessante Dinge zu entdecken. Ich habe aber nichts als Langeweile entdeckt. Immer nur stundenlang im Zimmer hocken, ohne irgendwas anzusehen oder zu tun, abgesehen von den Büchern, die er mir zum Lesen dagelassen hat, oder mich mit dir zu unterhalten, mein kleiner Silberkasten, Stunde um Stunde. Ich zähle sogar die Stunden, in denen ich wach liege, auch die Minuten und Sekunden, und dann erscheint plötzlich etwas zu essen, und dann schlafe ich ein und er spricht in meinen Träumen mit mir und sagt mir, ich müsse ein guter Junge sein, sein guter Junge, dass er mich lange genug allein gelassen hätte und dass es nun Zeit sei für mich. Für mich, obwohl er eigentlich eher sich selbst meint, 'Sich' mit einem großen 'S' und so weiter, und dass ich ihm folgen solle, und danach könne ich selber Führer werden. Aber wenn ich nicht länger zuhören wollte, dann habe ich lieber die Langeweile gewählt und bin aufgewacht. Mein Vater verursacht mir Alpträume. Im Familienkreis bin ich immer wütend und frustriert. Hast du dich schon mal gefragt, warum du ausgerechnet diese Familie hast? Letztes Jahr hat Charles mich gefragt, was ich täte, wenn ich nach England zurückgebracht würde – hat er es damals schon gewusst? Ich hab' ihm gesagt, ich würde lieber sterben, als mit ihm zu leben. Ich kann es nicht aushalten. Ich breche wegen jeder Kleinigkeit in Tränen aus, aber das kann ich ihm nicht zeigen, also drehe ich mich um und schreie ihn an, und dann denkt er, ich sei wütend und nicht verletzt, und ich weiß, dass ich ihm selbst nach all diesen Tagen seinen Willen lassen sollte. Ich muss nachgeben und mich ihm fügen. Ich weiß nicht mal, warum ich mich überhaupt noch wehre. Wen will ich damit schützen? Wen wird es freuen, dass Alexander Nefandous Malfoy nicht mal einen simplen Cruciatus-Fluch über einen simplen Muggel sprechen konnte? "Bitte schalt es ab." Hermione fuhr in ihrem Sessel hoch und langte nach der Stoptaste, doch dann fiel ihr ein, dass die nicht funktionieren würde, weil das Gerät nicht mit einer Batterie, sondern mit einer Zauberformel angetrieben wurde. Sie schwenkte ihren Zauberstab und Alexander verstummte. "Was ist denn?" "Was werde ich zu hören bekommen, Hermione? Wie viel abartiger wird es noch werden? Außerdem verstehe ich sowieso nicht, wovon er da eigentlich redet." "Möglicherweise steht er unter einem Confundus-Zauber", überlegte Hermione. "Ich weiß, dass du gerne glauben möchtest, dein Vater wäre nur eine Schachfigur bei all dem, deshalb ..." "Ich habe noch nichts gehört, was das Gegenteil beweisen würde. Vielleicht steckt da irgendwie der Finstere Lord dahinter. Ich hab' dir doch gesagt, dass Lucius zu Protokoll gegeben hat, er könne sich an diese drei Monate nic ht erinnern. Vielleicht hat Lucius unter dem ImperiusFluch gestanden, und Alexander hat es gar nicht gemerkt. Karkaroff hat gesagt, sie hätten sich nicht oft gesehen, und ich gebe zu, dass das nicht besonders gut ist, aber es ist trotzdem etwas völlig and eres als das, wovon er da redet." "Willst du damit sagen, Lucius kann sich nicht daran erinnern, weil er unter dem ImperiusFluch steht?" "Genau." "Moody, ich meine Crouch, hat uns beide mit dem Imperius-Fluch belegt. Kannst du dich daran erinnern, woran du zu diesem Zeitpunkt gedacht hast?" "Nur verschwommen. Ich würde auf diese Erinnerungen keinen Eid schwören", sagte Draco. Hermione dachte darüber nach. Es war fast ein Jahr her, dass Crouch ihnen im Unterricht den Imperius-Fluch demonstriert hatte, und wenn sie an diesen Tag zurückdachte, musste sie Draco Recht geben, dass diese Erinnerungen nur sehr schwer zugänglich waren, wenn seitdem genügend Zeit vergangen war. "Willst du weiterhören, oder meinst du, du hast schon genug gehört?" "Schalt es wieder ein." Jeder Tag zieht sich schier unendlich in die Länge. Er hat beschlossen, magische Fähigkeiten in mir zu entdecken, was selbst ein Jahrzehnt in Durmstrang nicht fertig gebracht hat. Heute 208
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
ist der schlimmste Tag von allen. Er hat mich irgendwohin jenseits meines Zimmers gebracht, jedenfalls für den größten Teil des Tages; keiner der Elfen ist dorthin gekommen. Ich glaube, sie haben uns gar nicht gesehen, und sie sehen uns wohl auch jetzt nicht. Es würde mich sowieso keiner von ihnen erkennen, dazu war ich zu lange weg. Er hat mir noch eine Chance gegeben, über die Angebote nachzudenken, die er mir gemacht hat. Er hat mich fast angefleht – mich, das stelle man sich nur vor! Er sagt, ich sollte eigentlich stolz genug sein um instinktiv zu wissen, was ich zu tun habe. Er sagt, ich füge mich jedes Mal etwas mehr, wenn ich die Augen schließe und mir sage, ich müsse mir die Momente in Erinnerung rufen und festhalten, die ich einfach ignoriert habe, als sie vorübergingen. Ich weiß aber gar nicht, was er will. Er fängt dann an zu brüllen und sagt, das wüsste ich sehr wohl, das sollte ich wissen, aber ich weiß, dass ich es einfach nicht verstehen kann. Er verspricht, dass ich es wissen werde. Aber ich habe meine Fotos und meine Tagebücher und weiß, dass ich mich an etwas ganz anderes erinnere. Ich will seine Versprechungen nicht, ich will auch nicht nachgeben, ich will einfach nur nach Hause. Und dann fällt mir ein, dass ich schon zu Hause bin. Hermione und Draco waren so in das sich drehende kleine Tonband vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie jemand ihren Lesesaal betrat. Snapes ersticktes Husten riss sie aus ihren Träumen in die Wirklichkeit zurück. "Haben Sie sich die Bänder angehört, von denen Sie mir erzählt haben, Miss Granger?", fragte er langsam. Hermione nickte. Sie war so froh gewesen, als sie ihn in der Tür hatte stehen sehen, dass sie lächelte. Natürlich hatte sie Snape noch nie zuvor angelächelt, und sie fragte sich, ob sie es jemals wieder tun würde. Sie wollte ihn nach Dumbledore fragen und ob er wusste, wie es Harry ging und ob es irgendetwas Neues über Voldemort gäbe, aber Draco war ja da. Ganz egal, wie groß das Chaos in seinem Leben derzeit auch sein mochte, ein paar der Informationen, über die sie verfügte, wollte sie ihm nach wie vor nicht anvertrauen. Vor allem, weil sie bereits genug über Alexander gehört hatte, um sich große Sorgen um Dracos Sicherheit zu machen, und zwar sowohl um sein körperliches als auch um sein seelisches Wohlergehen. Snape hatte noch einen Stuhl herangezogen und rückte ihn an eine der leeren Seiten des Tisches; er und Draco unterhielten sich gerade. "Sie konnten sich nicht mal an seine Stimme erinnern?", fragte Draco, der ziemlich wütend aussah. "Jetzt schon. Seit Hermione mir von Ihrem mitternächtlichen Besuch in ihrem Haus geschrieben und mich gebeten hat hierher zu kommen, habe ich ein bisschen in den Kartons mit meinen Schulsachen gekramt. Als das Heim 1981 geschlossen wurde, haben sie alle meine Sachen nach Hogwarts geschickt, und ich hab' mir nie die Mühe gemacht, das alles durchzusehen." Draco griff diesen Themawechsel auf, als wollte er solche Themen wie Alexander und persönliche Archive möglichst vermeiden. "Warum wurde ihr Haus geschlossen? Ist es irgendwie zerstört worden?" Snape lachte, es klang wie Nägel, die über eine Tafel kratzen. Hermione hatte ihn noch nie lachen gehört, und es jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. "Nicht mein Haus. Das Heim. Ich bin in Marvolos Zentrum für Magische Waisen aufgewachsen, und es wurde kaum einen Monat nach dem Mord an Potters Eltern geschlossen." "Aber ich habe in Muggelkunde eins der Bücher Ihrer Mutter gelesen", sagte Hermione. "Das, in dem Medo-Magie und Muggeltherapien für alltägliche Leiden verglichen wurden. Warum sind Sie ...?" "Meine Mutter war die Medo-Magierin des Zentrums, und wir hatten dort eine Wohnung. Ich bin dort mit den anderen Kindern zusammen unterrichtet worden – wir hatten sowohl die traditione llen Fächer als auch auf Anordnung des Gründers und Sponsors des Zentrums ein paar speziellere -, bis wir alt genug für Hogwarts waren. Wenn Sie an meiner kompletten Lebensgeschichte interessiert sind, können wir das ein andermal nachholen. Ich glaube nämlich, Draco ist derzeit wesentlich mehr an einer kompletten Lebensgeschichte von Alexander interessiert. Stimmt's?" 209
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
"Können wir die Kassette wieder einschalten? Meinen Sie, dass Sie sich an noch mehr erinnern, wenn Sie zuhören, Professor Snape?" Ich habe das Licht gekostet. Er hat es mir heute einen Augenblick lang gegönnt, und alles hat sich von mir entfernt, der Schmerz verschwand, und ich wollte mehr davon. Ich trieb in meiner distanzierten Traurigkeit und Gleichförmigkeit inmitten der glänzenden See. All meine Ängste und meine Kümmernisse waren in diesen Momenten, in denen er mir das Licht gab, wie weggeblasen, und es fehlt mir. Alles, was ich jetzt will ist, es zurückzubekommen. Ich war eine Seegurke wie die, die Charles im Herbst immer vom Strand mitbringt, und ich war weder traurig noch fröhlich, und ich will es wiederhaben. Natürlich hat er völlig Recht. Es besteht kein Grund zu leiden, wenn ich mein Licht bekommen kann. Er verspricht, dass ich jede Minute meines wachen Daseins darin verbringen kann. Die Dunkelheit macht mich immer so müde. Alles, was ich sehe, ist dein kleines rotes Licht. Aber das genügt nicht, um mich von seinem Licht fernzuhalten. Ich weiß nicht mal mehr, wieso ich mich daran erinnern kann, es nicht gewollt zu haben. Ich glaube auch, dass ich eigentlich nicht mehr mit dir reden sollte. Ich wurde an seine Seite gebracht. Es tat so weh, viel mehr als jede Medizin, die ich je genommen oder jede Aufgabe, die ich je erledigt habe. Es dauert immer so lange, seine Aufgaben zu machen, und ich muss schreien. Ich brenne darauf, und vielleicht habe ich es tatsächlich getan, aber bei all den maskenhaften Gesichtern, die mich anstarrten, konnte ich nicht feststellen, ob jemand mich gehört hatte. Ich bin sicher, es war ihnen egal. Ich weiß nicht, warum ich immer noch mit meinem kleinen Muggelkasten rede. Ich habe heute Abend allen Muggeldingen abgeschworen, und ich sollte auch dir abschwören. Ich werde alle meine Sachen von früher, meine Erinnerungen und meine Kindheit wegpacken. Ich will sein werden. Ich will SEIN sein. Ich mag die Leichtigkeit, die mich überkommt, wenn ich es bin. Wenn ich mich ergebe. Also werde ich dich in meine Kiste packen, dich wegschließen und dich den Geschichtsbüchern überlassen, um mich meinem brillanten, wundervollen, liebevollen Vater im Dienste dessen anzuschließen, der mir das selige Licht geschenkt hat. Hermione hielt das Band an, und Draco fragte niemanden im Besonderen: "Er stand unter dem Imperius-Fluch, oder?" Jetzt war es an Snape zu nicken. "Wieso?", fragte Draco. "Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, aber es hört sich so an, als hätte Ihr Vater ein paar Monate damit verbracht, ihm eine Gehirnwäsche zu verpassen und zu versuchen ihn dazu zu bringen, für den Finsteren Lord Kanonenfutter zu spielen. Wenn ein Teenager, der gerade aus der Schule gekommen ist, in den Kreis des Finsteren Lords eingeführt wurde, musste er ein paar Kostproben seines magischen Könnens und seiner Talente geben. Sie-Wissen-Schon-Wer wollte niemanden an seiner Seite, der nicht auf mindestens einem Gebiet seinen Standards entsprach. Ich glaube nicht, dass Alexander ganz allein dazu in der Lage war, und vermutlich wollte er es auch gar nicht, aber offensichtlich wollte Ihr Vater es." "Wieso?", fragte Draco noch einmal. "Keine Ahnung." "Und es gibt keine Todbringer, die berichtet hätten, wie sie in den Kreis aufgenommen wurden oder was sie dafür durchmachen mussten, so dass darüber nichts in den Geschichtsbüchern steht." "Das stimmt nicht ganz, Miss Granger. Eine sehr kleine Anzahl von ehemaligen Todbringern hat geredet, aber man kam überein, ihre Geschichten nicht zu veröffentlichen, so dass in Zukunft keine egomanen Hexen oder Zauberer diese Ideen aufgreifen und eine Armee auf die Beine stellen könnten." Sie hätte gern einen Witz darüber gemacht, dass er ihnen im Sommer keine Hauspunkte abziehen konnte, aber es waren weder der richtige Ort noch die richtige Zeit dafür. Stattdessen fragte sie: "Wenn er unter einem Fluch stand, wer hat ihn dann kontrolliert? Und wozu brauchten sie ihn überhaupt? Auf dem Band hat es sich so angehört, als hätten sie ihn zu einem bestimmten 210
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Zweck gebraucht, warum hätten sie sonst nicht einfach nach einer Woche oder so einfach aufgegeben?" "Das kann ich nicht sagen", meinte Professor Snape. "Ich habe in meinen Erinnerungen nach irgendwas gekramt, das einen Hinweis darauf geben könnte. Ich kann Ihnen alles sagen, was ich weiß, aber das ist nicht unbedingt alles, woran ich mich erinnern kann. Manche Erinnerungen sind klar und deutlich, die meisten aber nicht. Derzeit verfüge ich über ein paar kleine Fetzen beziehungsweise Häufchen von Erinnerungen. Als ich seine Stimme gehört habe, kam mir blitzartig noch eine Erinnerung. Eigentlich waren es so viele Gedanken auf einmal, dass es unmö glich war, sich auf irgendeinen davon zu konzentrieren. Ich muss über alles noch ein bisschen nachdenken, und ich will es auch noch mal mit meinem Gedankenbassin probieren, jetzt, wo ich ein paar mehr Erinnerungen parat habe. Können Sie nächste Woche nach Ho gwarts oder nach Hogsmeade kommen, um sie sich anzusehen?" Er drehte sich zu Draco um. "Wird Lucius es Ihnen erlauben?" "Nein, ich werd' ihn nic ht mal danach fragen. Wir fahren schon ziemlich bald zu meinem Onkel Charles nach Frankreich, und das hier ist wirklich der einzige Tag, an dem ich weg kann. Ich muss auch noch ein paar offizielle Hausaufgaben erledigen, wenn ich das nämlich nicht tue, werde ich nicht dazu kommen, ein paar von meinen ..." Hermione berührte ihn am Arm. "Wenn dir die Zeit davonrennt, dann solltest du Professor Snape lieber sagen, was Karkaroff dir erzählt hat." "Sie haben Karkaroff gesehen?", rief Professor Snape. "Wann? Wie ging es ihm?" Draco erzählte ihm von dem Verhör und dem Gedächtniszauber. Lucius hatte so getan, als sei es eine gute Sache, dass er Karkaroff einen Gedächtniszauber verpasst hatte, aber Snape war eindeutig alles andere als erfreut darüber. "Das muss ich Dumbledore sagen", erklärte er. "Sie haben diesen Sommer zu sehr über die Stränge geschlagen, und das gefällt mir gar nicht." Draco nickte, als hätte er keine Wahl, als hätte er das erwartet. Hermione hatte ihn noch nie so resigniert – fast schon bezwungen – gesehen wie in den letzten Tagen. Es war, als sähe sie eine ganz andere Person, die sie mit Dracos Augen ansah. Der einzig vertraute Zug an ihm war die Kälte, mit der er darüber sprach, wie er Karkaroff verhört und behext hatte. Sie wusste, dass es im Prinzip reine Selbstverteidigung war, aber sie fragte sich, was wohl der Grund dafür sein mochte. Sie fragte: "Hast du dir keine Sorgen über das gemacht, was dein Vater mit Karkaroff machen könnte, wenn du ihm von dem Gedächtniszauber erzählst?" "Nein, hätte ich mir denn deshalb Sorgen machen sollen?", fragte er definitiv verwirrt. Er schien immer noch nicht in der Lage zu sein, das Puzzle zusammenzusetzen, obwohl es für Hermione so gut zusammenpasste wie die Bauklötzchen eines Kindes. "Du kannst doch nicht einfach da sitzen und mir erzählen, dein Vater habe früher unter dem Imperius-Fluch gestanden und dass das jetzt wieder der Fall sei, und dass es sich so anhöre, als ob dein Bruder ebenfalls unter diesem Fluch gestanden hätte und dass die Leute mit Zaubersprüchen dazu gebracht worden seien ihn zu vergessen, und gleichzeitig behaupten, du würdest dir keine Sorgen machen, was er möglicherweise mit Professor Karkaroff gemacht hat?" "Ich könnte ja eh nichts machen. Du hast doch gehört, was Alexander auf dem Band gesagt hat – wenn Lucius irgendwas mit mir anstellen will, dann kann ich ihn nicht dran hindern. Ich hab' schließlich bisher nicht ein einziges Mal nein zu ihm gesagt! Jedes Mal, wenn ich ihn anlüge, fühlen sich die Gewissensbisse wie Nadelstiche an und bringen mich fast um den Verstand. Natürlich tue ich es trotzdem, aber ich hasse es. Sogar hier zu sitzen und all diese Dinge zu sagen tut weh – es ist nicht richtig, es macht mich schier verrückt, und ich kann nicht aufhören daran zu denken." Snape sah auf Draco hinunter, weshalb Hermione seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. Einen Augenblick rührte sich niemand, und keiner sagte ein Wort. Dann senkte Snapes Hand sich langsam auf Dracos Schulter. "Sie müssen etwas für mich tun", sagte er.
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Draco sprach, als ob er ihn weder hörte noch fühlte. "Ich hab' versucht, es weiter zu ignorieren und so zu tun, als ob es nicht wahr wäre, und dann plötzlich – zack – ist es wieder da." "Draco, das ist ein Zeichen, dass du dich all dem hier stellen und ihm die Stirn bieten musst. Sprich mit ihm, wenn du nach Hause kommst", sagte Hermione ermutigend. "Nein. Auf keinen Fall." Snape drehte Dracos Stuhl herum, so dass er ihm gegenüber saß. "Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass er nicht merken darf, dass Sie irgendwas wissen. Sie können sich nicht benehmen, als hätte sich irgendwas geändert. Sie können die Vergangenheit nicht ändern, die Gegenwart aber sehr wohl." "Und die Zukunft", sagte Hermione. Ihr war plötzlich klar geworden, worauf Professor Snape hinauswollte. "Sie werden diesen Sommer sowieso nicht mehr oft Gelegenheit haben, Lucius zu sehen, und was hätten Sie schon davon, wenn Sie ihm gegenüberträten. Er kann Ihnen nicht mehr sagen als ich oder die Tagebücher, die Sie lesen können, wenn sie aus Eze zurückkommen oder während Sie dort sind. Vielleicht können Sie sogar mit Charles reden – Sie haben zwar keine gute Menschenkenntnis, aber es sollte Ihnen möglich sein herauszufinden, ob Sie ihm vertrauen können." "Aber er ist Narcissas Bruder!" "Und wenn ich mich recht erinnere, war er auch Alexanders Freund. Aber das ist hier ziemlich nebensächlich. Wollen Sie wiedergutmachen, was Sie mit den Zauberformeln angerichtet haben, die Sie im Januar recherchiert haben?" Hermione war verwirrt, aber Draco ganz eindeutig nicht, denn er nickte. "Dann erzählen Sie mir, was Lucius sagt und tut. Wenn er noch weitere Gäste hat, lassen Sie es mich wissen. Wenn er längere Zeit unterwegs oder ungewöhnlich hektisch ist, sagen Sie es mir auch." Hermione mischte sich ein. "Und wenn irgendjemand so was anzufangen versucht, wie es Alexander beschrieben hat, dann sag uns Bescheid, bevor noch mehr passiert." "Was könntet ihr schon dagegen machen?", wollte Draco wissen. Professor Snape und Hermione schwiegen sich aus. "Genau das dachte ich mir. Aber ich muss wieder ins Herrenhaus, und ich will nicht mit ihm dort allein bleiben, statt nach Frankreich zu fahren." "Dann schreiben Sie mir, so oft Sie können. Ich werde Ihnen eine Extraaufgabe geben, ein paar Zaubertränke zu recherchieren." "Nein, bitte nicht!", unterbrach ihn Draco. "Wenn Sie es Extraaufgabe nennen, dann muss ich es so schnell wie möglich erledigen, damit er nicht unzufrieden mit mir ist." Snape runzelte die Stirn. "Dann denke ich mir einfach alle paar Tage eine neue Frage für Sie aus, zum Beispiel über Ingredienzien und und so weiter." "Versuchst du auch, mir zu schreiben?", fragte Hermione. "Nur damit ich dich im Auge behalte und weiß, dass alles in Ordnung ist", fügte sie schnell hinzu. Draco lächelte. "Da unten macht sich keiner die Mühe, meine ankommende oder ausgehe nde Post zu kontrollieren, du kannst mir also sogar zurückschreiben. Lass einfach immer deinen Namen weg, dann kommt kein Mensch drauf." Er kritzelte die Adresse des Châteaus in ihr Schriftrollenbuch und zeichnete schnell eine Karte von Eze daneben. "Noch ein Geheimnis", bemerkte Hermione. "Ist es nicht toll, dass ich im letzten Halbjahr den Bandelbrot-Zauber gelernt habe? Anders könnte ich sie gar nicht zusammenhalten", sagte Draco. "Ich muss einen Extrakoffer für die Reise packen ..." "Nur, um dein ganzes Gepäck drin zu transportieren." *** Die restlichen Tage vor seiner Abreise nach Frankreich bestanden aus Pergamentrollen, Schulbüchern und Snitchen. Lucius erwähnte weder Karkaroff noch Barty Crouch, allerdings
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
kritisie rte er Draco auch nie wieder wirklich wegen seiner Prüfung in Verteidigung gegen die Schwarze Magie. Draco war absolut höflich zu Lucius, auch wenn er immer wieder das Bedürfnis hatte, vor ihm zurückzuweichen, vor allem während ihrer abendlichen GESPRÄCHE. Die dauerten allerdings nie besonders lange, Lucius schien Dracos Gesellschaft genauso schnell fliehen zu wollen wie Draco die seine. Wenn er sich im Arbeitszimmer befand und jede einzelne bohrende Frage mit präzisen Worten, die ihm völlig leicht von den Lippen gingen, beantwortete, hatte er das Gefühl auf einem Teppich zu sitzen, der aus eigener Kraft schwebte; doch auch wenn er allein im Zimmer war, konnte er nicht klarer denken. Nicht einmal das Glas Milch jeden Abend vor dem Schlafengehen verschaffte ihm mehr den traumlosen Schlaf, an den er gewöhnt war. Er schwitzte jede Nacht, ganz egal, wie leicht er sich zudeckte, zwei Schlafanzüge durch, und er glaubte sogar, er hätte gehört, wie sich einige Hauselfen über die Extraarbeit beklagt hatten, weil sie jeden Morgen sein Bett reparieren mussten. Anscheinend ging seine Fantasie mit ihm durch. Am Mittwoch, dem Abend vor ihrer Abreise, gab Lucius ihm eine Liste mit Instruktionen, wie er sich bei Charles zu benehmen hätte. Er verbot ihm, über das Turnier zu sprechen, auch nicht über den Propheten, die Familie Crouch, Durmstrang oder irgendwelche der Angestellten dort, über Politik im Allgemeinen und eine ganze Reihe andere Themen. Es war ihm jedoch erlaubt, über Quidditch, Quodpot, Besen, das Schachspiel, das kürzlich unter einem Berg bei Eze entdeckt worden war, Pegasus-Polo und über den Versuch einer australischen Hexe zu reden, die Erde auf einem Feuerblitz Maxima zu umrunden, ohne dabei zu landen. Sie steckten die Köpfe zusammen, während Draco immer wieder die verbotenen Themen aufzählte, außerdem die Liste der Bücher, die er lesen und besprechen sollte, die Untersuchung, die er auf Lucius' Wunsch in Charles Garten machen sollte und was er tun könnte, um Narcissa daran zu hindern, sich ständig in irgendwelchen magischen Parfümerien herumzutreiben, um noch mehr teure Düfte und Schönheitslotionen zu erwerben, die sie sowieso schon in ihrer Sammlung hatte. Es war ein relativ schmerzfreier Abend. Obwohl er Stunden dauerte, bekam Draco weniger als ein Dutzend Kopfnü sse, was ein ziemlich guter Durchschnitt war. Als er fertig war, schickte Lucius Draco nicht wie gewöhnlich einfach aus dem Zimmer, sondern ging mit ihm zusammen durch die Korridore, am Musikzimmer und am Salon vorbei die beiden Treppen hinauf bis zu Dracos Zimmertür. "Noch was", sagte Lucius, als Draco gerade in sein Zimmer gehen wollte. "Ich möchte, dass du versuchst, mich nächste Woche zu besuchen, nachdem du dich an deine neue Umgebung gewöhnt hast. Ich schicke dir eine Eule mit dem genauen Datum und der Zeit, und du kannst dann versuchen, bis hierher zu Projizieren, wenigstens bis auf deinen Balkon. Dort werde ich auf dich warten." "Aber ich habe noch nie vorher den Kanal überquert, nicht mal für einen kurzen Ausflug. Wie kann ich ..." "Dann musst du es eben bis dahin üben. Versuch erst mal, bis Montglane zu kommen, dann bis nach Paris. Mach dir keine Sorgen", sagte er, was Draco zutiefst schockierte. Er konnte sich nicht erinnern, Lucius jemals zuvor diese Worte sagen gehört zu haben. Lucius griff Draco unters Kinn und zwang ihn, zu ihm aufzublicken. Dann fügte er hinzu: "Wenn du es nicht kannst, dann kannst du es eben nicht, aber es gibt keinen Grund, es nicht zu versuchen. Kannst du nicht ein einziges Mal das Unmögliche wagen?" Ohne ein weiteres Wort ließ er Draco los und ging davon. Er kam am nächsten Morgen nicht, um sich von ihnen zu verabschieden, als sie losgingen, um sich mit der Reiseleiterin am Einfahrtstor zu treffen. Sie war schon Stunden vorher mit dem Besen zum Herrenhaus geflogen und hatte mit den Elfen und Schlammblut-Bediensteten das Gepäck zum Abtransport per Portal-Schlüssel vorbereitet. Hexen und Zauberer bewältigten nicht gern große Distanzen auf diese Art, und das Kamin-Netzwerk war so chaotisch, dass Narcissa es 213
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
möglichst vermied, es zu benutzen. Obwohl sie darauf bestanden hatte zu fliegen, hatte Lucius sie einige Tage zuvor darauf hingewiesen, dass das Wetter um diese Jahreszeit zu unzuverlässig sei und hatte darauf bestanden, stattdessen eine Reiseleiterin anzuheuern. Sie war zwar noch nicht lange im Geschäft – weniger als zehn Jahre -, aber sie hatte in ihrem siebten Jahr in Hogwarts die höchste Zahl N.E.W.T.s in Transfiguration erreicht, nämlich vier, und sie war im letzten Jahr zweimal Gegenstand eines Unternehmensprofils im Propheten gewesen. Sie stand sowohl bei Gladrags als auch bei der bulgarischen Quidditch-Mannschaft unter Vertrag und organisierte deren Reisen, und Draco konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie auch auf einen Vertrag mit dem Propheten aus war. Er hörte, wie sie einem der Schlammblüter zumurmelte, wie enttäuschend es sei, dass Mr. Malfoy nicht persönlich zugegen war, da sie doch extra seinetwegen eine maßgeschneiderte Robe angezogen hätte. Das Schlammblut kicherte über ihren Kommentar, und Draco, der ungeduldig auf ihre Abreise wartete, obwohl er vier Stunden mit Narcissa in einem Wagen würde verbringen müssen, kehrte ihnen den Rücken zu. Er glaubte nicht, dass er seit Ferienbeginn alles in allem schon vier Stunden mit ihr verbracht hatte. Er sah zu, wie die Reiseleiterin ihre Werkzeuge ordnete – eine auf der Seite liegende Aubergine und vier Igel in einem Käfig, der viel zu groß für so kleine Geschöpfe war. Neben ihr stand ein Elf der Reiseagentur, der ein Geschirrtuch trug, das fast genau dieselbe Farbe hatte wie die Aubergine. Alle anderen standen mindestens sechs Meter entfernt, so dass sie die Frucht in einen Reisebus und die Igel in Hippogryphe verwandeln konnte. Draco stand fast fünfzehn Meter von ihnen entfernt im Eingang des Herrenhauses. Er wo llte nach wie vor möglichst weit weg von Geschöpfen sein, die so aussahen wie Hippogryphe, auch wenn sie über das etwas weniger gewalttätige Naturell von Igeln verfügten. Wenn er mal im Bus saß, würde er sie wenigstens nicht mehr ansehen müssen. Als sie fertig war, bedeutete die Reiseleiterin Draco und Narcissa, schnell einzusteigen. Das Innere war mit gemütlichen Sesseln und einem großen Picknickkorb ausgestattet. Sie saßen sich schweigend gegenüber, was bedeutete, dass sie hören konnten, wie der Elf auf dem Fahrersitz Platz nahm und den wandelbaren Geschöpfen befahl, sich in die Lüfte zu erheben. Auf jedem Sessel lag eine Broschüre des Reisebüros, in der die Route beschrieben war, der sie bis zum Mittelmeer folgen würden. Außerdem enthielt es Angaben zu dem Frühstück, das sich in dem Picknickkorb befand, über den Aufenthalt beim Zoll in Boulogne-sur-Mer und wie wichtig es war, sich dort zu beeilen. Die Flugzeit betrug fast vier Stunden, und der Zauberspruch der Aubergine würde höchstens fünf Stunden anhalten. Er blätterte die Broschüre durch, dann zog er verstohlen Hermiones Transkriptrolle aus seiner Reisetasche. Weit weg vom Herrenhaus fühlte er sich endlich sicher genug, um sie zu entrollen. Hermione hatte sie so verzaubert, dass sie aussah wie ein Dutzend Gedichte, und selbst wenn Narcissa sie sähe, würde sie nie drauf kommen, um was es sich dabei tatsächlich handelte. Aber Narcissa schien sich sowieso nicht für das zu interessieren, was Draco las. Sie saß auf dem Boden und holte ein Päckchen nach dem anderen aus dem Picknickkorb. "Wo zum Te ufel haben die meinen Champagner hingepackt? Man kann nicht ohne Champagner nach Frankreich reisen!" Draco hatte keine Lust ihr zu erklären, dass niemand erwartete, dass sie mit etwas dergle ichen ankamen, da das Haus über seinen eigenen Weinberg verfügte. Narcissa machte sich jedoch ganz offensichtlich keine Sorgen wegen eines Geschenks. Er zog die Knie auf dem Sitz an und versuchte, so unauffällig wie möglich zu sein. Wenn sie sich beruhigte, konnte er ihr ein paar einfache Fragen stellen, zum Beispiel, was sie für seine Cousins eingepackt hatte oder ob sie diesen Sommer Pegasus-Polo spielen oder nur an ihren Equitations- Zaubern arbeiten würde. Ihm wäre im Traum nicht eingefallen sie zu fragen, warum Lucius sie für den ganzen Sommer fortschickte, obwohl er seit seiner Unterhaltung mit Professor Snape die ganze Zeit darüber nachgedacht hatte.
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
Narcissas Geschrei brachte ihn von der Zukunft in die Gegenwart zurück. "Ich hasse fliegen, wenn ich in so einem Scheißgemüse eingesperrt bin", beklagte sie sich, zog sechs Flaschen Butterbier aus dem verzauberten Kühler und brachte dabei eine mit ihrem Zauberstab zum Zerplatzen. "Wie soll man von hier aus irgendwas sehen können? Da lobe ich mir doch einen Besen, wenn einem der Wind durch die Haare fegt, man die Vögel überholt und dich natürlich auch", sagte sie und wandte sich zu Draco um, als ob ihr gerade eben wieder eingefallen wäre, dass es ihn auch noch gab. "Ich wette, ich könnte dich jederzeit mit dem Besen überholen. " Sie stand auf und ging zum Fenster des Wagens. "Ich könnte diese Tür hier öffnen, und dann wäre ich schneller dort als du, schneller als der Blitz. Wo ist mein Besen? Und wo ist die Scheißtür? Hast du sie weggeza ubert?" "Nein, natürlich nicht. Das hat die Reiseleiterin gemacht, gleich nachdem wir eingestiegen waren. Vorschrift vom Ministerium. Hast du es nicht gesehen?" "Spiel dich nicht so auf, schließlich weißt du nicht über alles auf der Welt Bescheid. Mach dich lieber nützlich und such eine Tür für mich!" Trotz ihrer Forderung stand er nicht auf, sondern drehte sich nur in seinem Sitz um, wobei er seinen Zauberstab bereithielt für den Fall, dass er sie daran hindern müsste, irgendeine Dummheit zu begehen. Sie sah eigentlich gar nicht beschwipst aus – das Haar fiel ihr lose ins Gesicht, und ihre Wangen waren blass. Aber möglicherweise verbarg sie irgendwas vor ihm, je nachdem, welches Make-up sie benutzt hatte. Immerhin hatte sie in solchen Dingen Erfahrung. "Du kannst hier nicht einfach rausfliegen", warnte er sie. "Wir sind hier über dem Kanal, gut achtzig Meter hoch! Du würdest nicht fliegen, sondern ertrinken! Du bist kein Animagus, Mutter." Im Nu stand sie nicht mehr vor dem Fenster, sondern vor seinem Sitz. Jetzt waren ihre Wangen gerötet, und ihre Augen funkelten. "Warum nennst du mich immer noch so, du Lü mmel? Es mag ja mein offizieller Titel sein, aber du weißt genau, dass ich ihn nicht hören will." Er war erleichtert, weil sie immerhin nicht mehr vor dem Fenster stand. "Tut mir Leid, ich wollte nicht ...", antwortete er leise und wandte den Blick von ihr ab und starrte auf den Boden. Sie griff ihm unters Kinn, fast genauso wie Lucius am Abend zuvor und genauso, wie sie es fast immer tat, wenn sie ihn sah. Eigentlich hatte sie ihn seit Jahren nicht mehr auf andere Art angefasst, abgesehen vom letzten Monat, als sie ihn vom King's Cross-Bahnhof abgeholt hatte. Sie drehte seinen Kopf jedoch nie so, dass er sie ansah, sondern immer seitlich von sich weg. Narcissa war um einiges stärker, als sie aussah. Es fiel kein weiteres Wort mehr, während sie vor ihm stand und ihn beobachtete, bis sie den Elfen der Reiseagentur hörten, der sich unter Zuhilfenahme eines Sonorus-Zaubers Gehör verschaffte. "Meine Dame und mein junger Herr, in wenigen Minuten werden wir an der Passkontrolle des Ministère de la Magie landen. Madame Verna hat den Sicherheitschef gebeten, an Bord zu kommen, Sie können also noch ein paar Minuten sitzen bleiben. Sie werden nicht extra aussteigen müssen." "Ich will aber aussteigen", schrie Narcissa zurück. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, einen Verstärker-Zauber zu sprechen, sie schrie auch so laut genug, so dass Draco sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. "Holen Sie jemanden, der mich hier rauslässt. Ich brauche einen Drink, verdammt noch mal!" Der Elf antwortete nicht. Stattdessen Apparierte ein rotgesichtiger Adjutant in den Wagen, der ein Klemmbrett und eine Feder dabei hatte. Er fasste sich sehr kurz. "Ihr Elf hat mir Ihre Pässe bereits gezeigt, und ich kann nirgendwo Schmuggelware sehe n, Sie können also weiterfliegen", war alles, was er sagte, bevor er wieder Disapparierte. Narcissa hatte nicht einmal Gelegenheit, ihre Bitte zu äußern. Das süßliche Lächeln, das sie für den Beamten aufgesetzt hatte, verschwand nicht langsam, sondern in Sekundenschnelle. "Scheißbeamte, können sich nicht mal eine total einfache Scheißfrage nach einem Scheißwill215
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
kommensglas Wein anhören!" Sie beugte sich über ihre Tasche, während sie über die Handlanger des Ministeriums schimpfte, die nicht wussten, wen sie zuvorkommend zu behandeln hatten, und holte ihren Zauberstab heraus. In dem Moment, als der Elf die Aubergine wieder abheben ließ, richtete sie ihn auf die Wand. "Du kannst doch hier nicht einfach ein Loch reinpusten, während wir in der Luft sind!", schrie Draco und zog seinen eigenen Zauberstab hervor. Er konnte es nicht zulassen, dass sie sie beide umbrachte – er hatte noch zu viel vor! "Es ist aber scheiß-stickig hier, und ich brauche einen Scheißdrink!", brüllte Narcissa zurück. "Steck den Zauberstab wieder ein, Mutter", sagte er und zwang seine Stimme, ruhig zu klingen. Er dachte, sie würde sich vielleicht beruhigen, wenn er mit ihr reden konnte. Wenn sie auf diese Tour anfing, zwangen normalerweise entweder Lucius oder einer Hauselfen sie dazu, ihre Stimmung zu ändern. Er war ihr noch nie allein entgegengetreten, aber jetzt hatte er vermutlich keine andere Wahl. Auch wenn sie wütend wurde oder Lucius einen Anfall bekäme, wenn er es erfuhr, würden sie wenigstens wieder sicher auf dem Boden sein, wenn er die Konsequenzen auf sich nehmen musste. "Nein." Sie machte ein paar Schritte, um näher ans Fenster zu kommen, ganz eindeutig uns icher, ob der Zauberspruch aus drei Meter Entfernung funktionieren würde. Wenn sie so wenig Vertrauen in ihre Zaubersprüche hatte, dann war sie entweder leicht angetrunken oder saß schon zu lange auf dem Trockenen. In Anbetracht ihrer derzeitigen Stimmung wohl eher Letzteres. "Du wirst den Wagen zum Absturz bringen, bitte nimm den Zauberstab runter", bat er sie. Seine Stimme klang jedoch nicht flehentlich. Er würde sie nicht anflehen, er würde ... "’Loham..." Auf dem Boden erschien eine Anzahl Buttermesser. "Alohe..." Diesmal kam Lametta aus ihrem Zauberstab. "Alouet..." Ihr Sitz hatte plötzlich ein Tupfenmuster. Jetzt reichte es ihm. "Expelliarmus!", rief er. Narcissa kehrte Draco den Rücken zu, als er sie entwaffnete, und als ihr der Zauberstab aus der Hand flog, stolperte sie auf ihren hohen Absätzen. Im selben Moment erhoben sie sich wie auf Kommando steil in die Luft, so dass Draco sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass der Elf zugehört hatte und es mit Absicht machte. Die Wendung warf sie beide um, aber Draco gelang es, sowohl seinen als auch Narcissas Zauberstab festzuhalten, der ihm direkt in die Hand geflogen war. Sie bot einen jämmerlichen Anblick, als sie so auf dem Boden saß. So muss ich ausgesehen haben, als sie mich aus dem Zug geholt hat, dachte er. Er konnte sie jedoch nicht einfach so da sitzen lassen, es wäre gefährlich, falls der Wagen noch eine abrupte Bewegung machte. Allerdings traute er ihr nicht, womöglich würde sie versuchen, ihm ihren Zauberstab zu entreißen, wenn er hinüberging und ihr in den Sitz half. "Narcissa?", fragte er vorsichtig. "Würdest du dich bitte hinsetzen, dich beruhigen und ein Butterbier trinken? Du hast das, was du aufgemacht hast, zwar verschüttet, aber ich hol' dir noch eins." Er beorderte eine Flasche zu sich, machte sie auf und konzentrierte sich darauf, so präzise wie möglich zu zielen, als er sie zu ihr schickte. Sie saß immer noch zusammengekauert wie ein Häufchen Elend auf dem Boden und trank zwar ein paar Schlucke, schien sich aber nicht bewegen zu wollen. Und so verbrachten sie den Rest der Reise nach Frankreich: Narcissa schluckte ein Butterbier nach dem anderen, und Draco tat so, als ob er las, in Wirklichkeit dachte er jedoch über die verschiedenen Möglichkeiten nach, etwas über Alexander herauszufinden, während er Lucius' Fuchtel entronnen war. Erst als der Elf verkündete, dass sie in weniger als fünfzehn Minuten landen würden, raffte sie sich hoch und fing an sich darauf vorzubereiten, ihrem Bruder und seiner Familie gegenüber216
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zutreten. Sie bestand darauf, dass Draco ihr den Zauberstab zurückgab, damit sie ihr Haar in Ordnung bringen, sich umziehen und über ihre Lippen und ihr Gesicht einen Make- up-Zauber sprechen konnte. Draco kam ihrer Bitte nervös nach. Doch statt sie zu ignorieren, während sie mit sich beschäftigt war, steckte er seinen Zauberstab hinter sein Buch und hielt ihn auf sie gerichtet. Sie versuchte jedoch nicht noch einmal zu fliehen, und als sie schließlich landeten, saß sie friedlich auf einem Sofa und blätterte in der Hexe im Spiegel. Als der Elf die Aubergine auf Charles' Landeplatz landete und die Tür wieder an die Wand zeichnete, sprang Narcissa hinaus, als ob sie nicht die geringsten Sorgen hätte. Nichts an ihr erinnerte mehr an die wütende Frau, die sie ein paar Stunden zuvor gewesen war. Draco war in wesentlich gedämpfterer Stimmung und müder als sie. Mit Narcissa zu reisen war immer ausgesprochen anstrengend, und er sehnte sich danach, ins Haus zu gehen und sich auszuruhen. Aber obwohl es sich nur um einen Familienbesuch handelte, musste er zuerst gewissen Verpflichtungen nachkommen. Die warme Sonne und der Rosmarinduft, der in der Luft lag, halfen ihm dabei, seine Erschöpfung abzuschütteln; es war viel angenehmer, sich hier im Freien aufzuhalten als in den verregneten Mooren, wo er letzte Woche gewesen war. Als Charles' Frau Shera Narcissa mit einer Umarmung und einem Schwall von Willkommensworten begrüßte, folgte Draco ihnen mit seinem Onkel auf dem mit Kies bestreuten Pfad, während der Wagen sich wieder in eine Aubergine zurückverwandelte. Unter den Hainen von Weiden und Granatapfelbäumen, die rund um Charles' Garten herum standen, war ihm, als beträte er eine neue Welt. Er war jedoch noch keine zwölf Schritte den Pfad hinuntergegangen, als ein riesiger Falke direkt vor ihm auf einem Ast landete, der sich unter seinem Gewicht bog. Narcissa und Shera hatten so viel Vorsprung, dass sie nicht stehen blieben, doch Draco und Charles hielten an, damit Charles dem Falken den Brief vom Bein nehmen konnte. Von seinen unzähligen Besuchen bei Charles in der Zeit, bevor er in Hogwarts angefangen hatte, war Draco mit der Postzustellung im Mittelmeerraum vertraut. Eulen aus England flogen normalerweise nicht weiter als bis zum Postamt in Burgund, wo die französischen Beamten die Briefe an Falken weitergaben, die sowohl auf der europäischen als auch auf der afrikanischen Seite des Mittelmeers entlang der Küste die besseren Zusteller waren. Draco ging ein Stück weiter, damit Charles seine Post ungestört lesen konnte – er wusste aus jahrelanger Erfahrung mit Lucius, dass die Leute nicht gern gestört wurden, während sie ihre Briefe lasen – und pflückte einen Granatapfel von einem der Bäume, als Charles den Brief entfaltete. Doch bevor er ihn öffnen konnte, um die Kerne zu knabbern, rief Charles ihn zurück. "Draco, der ist für dich." "Wer sollte mir jetzt schon schreiben?" "Vielleicht hat deine Freundin schon Sehnsucht nach dir", neckte ihn Charles, als Draco das Pergament entrollte. Darauf fiel Draco keine passende Erwiderung ein – er musste Hermiones Brief noch einmal lesen. Und dann noch mal. Ich bin gerade aus der Bibliothek zurückgekommen – ich habe heute nichts Brauchbares in Erfahrung gebracht, weil ich an meiner Zaubertränke-Aufgabe arbeiten musste -, und da war ein Brief vom Ministerium für mich. Ich muss am Freitag nach London, um mich mit einem Ermittlungsbeamten zu treffen, sie wollen mir aber nicht sagen, worum es dabei geht. Als ich den Brief gelesen habe, nahm ich an, es könnte etwas mit Rita zu tun haben – will sie sich vielleicht als Animagus registrieren lassen? Aber gerade eben ist mein Exemplar des Propheten gekommen, und zwei Artikel auf der Titelseite geben mir ziemlich zu denken im Hinblick darauf, warum sie mich tatsächlich sehen wollen. Deine Zeitung berichtet, dass das Ministerium dabei ist zu ermitteln, ob Harry Cedric Diggory umgebracht hat – Draco, du weißt, dass das nicht stimmt! -, weil sie Diggorys Zauberstab nicht finden können. 217
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In demselben Artikel steht auch, dass sie gegen nicht gemeldete Animagi ermitteln, inklusive Hexen, die sich in Käfer verwandeln können (du weißt, was das heißt, oder?), und Zauberer, die sich in Hunde verwandeln können (ich kann jetzt nicht erklären, was das mit mir zu tun hat, aber möglicherweise wollen sie mich deshalb befragen – es ist ziemlich kompliziert). Ich habe eine Kopie gemacht, sie ist ganz unten auf diesem Pergament. Draco, ich weiß nicht, was ich machen soll! Was soll ich lesen, damit ich die Ermittlungsverfahren, die das Ministerium bei Hexen anwendet, verstehe? Ich weiß doch nur, wie das beim Ermittlungsausschuss für Gefährliche Kreaturen funktioniert! Hast du eine Idee? Sein Blick glitt zum Ende der Seite und er überflog den Artikel, den Hermione beigefügt hatte. Ein Satz darin erregte seine Aufmerksamkeit: "Im letzten Monat hat das Ministerium unter anderem folgende Ermittlungsverfahren eröffnet: Eines im Hinblick auf jüngst entdeckte unregistrierte Animagi und ein weiteres zur Aufklärung des Verschwindens sämtlicher Kopien altägyptischer Schriftrollen aus der Boolsche n Bibliothek in der Diagonallee, die sich mit der Wiedererweckung mumifizierter Leichen befassen." Er umklammerte das Pergament so fest mit den Händen, dass er es dabei fast zerknüllte. Als Charles seine Hand wegzog, konnte er den Abdruck der Schrift auf seinen Fingerspitzen sehen. Draco konnte lediglich flüstern: "Hast du zufällig eine Feder dabei?" Schweigend reichte Charles ihm eine Feder und führte ihn in einen Hain zu einer Bank aus Teakholz. Draco riss ein Stückchen von der Schriftrolle ab und kritzelte: "Die Geschichte von Hogwarts, 12. Kapitel. Gib Acht auf dich. Ich schreibe dir dorthin." Charles blickte ihm über die Schulter und las, was er geschrieben hatte. Hermiones Worte konnte er jedoch nicht erkennen – Draco hatte ihren Brief immer noch fest in seiner Faust. "Was ist los? Was heißt '12. Kapitel'? Wem schreibst du da?" "Hast du nie die Geschichte von Hogwarts gelesen?" Charles schü ttelte den Kopf. "Jedenfalls nicht mehr seit mindestens zwanzig Jahren." "Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert wurden über Hogwarts ein paar Zauberformeln gesprochen, die es zu einem Zufluchtsort für Hexen und Zauberer machten, damit sie der Verfolgung durch die Muggel entgehen konnten. Diese Zauberformeln sind nie aufgehoben worden, aber im Lauf der Jahre wurden sie auf andere Weise genutzt. Die Schutzzauber halten jeden fern, der das Schloss betreten will, um jemandem zu schaden, der geschworen hat, Ho gwarts zu schü tzen und zu verteidigen. Wenn sie nach Hogwarts fährt und den Schwur leistet, wenn sie die Schule betritt, dann kann das Ministerium sie nicht verhören, weswegen es ihnen äußerst schwer fallen dürfte rauszufinden ..." "Was sollen sie denn rausfinden?" Draco sah seinen Onkel mit Augen an, die so klar und hart waren wie Mondsteine. Er hatte noch nie zuvor so offen mit Charles gesprochen, und er traute ihm auch nicht über den Weg, aber wenn das Ministerium hinter ihm her war, dann hatte er wirklich nichts mehr zu verlieren. "Irgendjemand sitzt womöglich ganz schön im Schlamassel." "Und was hat das mit dir zu tun?" "Sie sitzt vielleicht meinetwegen im Schlamassel." "Was hast du denn gemacht?", fragte Charles. Draco wusste, dass es riskant war, Charles selbst so viel zu verraten, aber er dachte an das, was Professor Snape gesagt und was Alexander geschrieben hatte, und irgendetwas im Gesicht seines Onkels brachte ihn dazu, aufs Ganze zu gehen. "Alles hat irgendwie damit angefangen, dass ich Alexanders Kassetten und Tagebücher gefunden habe ..."
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9. Kapitel: Alles bricht zusammen
----------------------Das Lied am Anfang des Kapitels stammt wieder von Paul Weller, aus seiner Zeit mit Style Council. Es heißt Walls Come Tumbling Down und stammt aus dem Album Our Favorite Shop von 1985. Weitere Anregungen für dieses Kapitel stammen aus Cinderella, Emerald House Rising von Peg Kerr, Die Säulen der Erde von Ken Follett, The Iowa Baseball Confederacy von W. P. Kinsella, Der geheime Garten von Frances Hodgeson Burnett und aus Border Crossing von Pat Barker, außerdem aus der Fernsehserie The West Wing (Folge: Two Cathedrals). Wer mehr über Gyroskope und Gimbalringe erfahren möchte, kann hier nachsehen: http://hyperphysics.phy-astr.gsu.edu/hbase/gyr.html Tenosynovium ist eine Verballhornung des lateinischen Namens für Karpaltunnelsyndrom.
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Flüche bis zum Überdruss Originaltitel: A Surfeit of Curses Autorin: Heidi ([email protected]) Deutsche Übersetzung: Monika Hübner ([email protected]) Disclaimer: Diese Geschichte basiert auf Charakteren und Situationen, die das geistige Eigentum von J.K. Rowling sowie von verschiedenen Verlegern inklusive Bloomsbury Books, Scholastic Books, Raincost Books und Warner Bros., Inc. - jedoch nicht nur von diesen - sind. Weder die Autorin noch die Übersetzerin dieser Geschichte verdienen Geld damit, und es ist nicht ihre Absicht, irgendwelche Copyrights oder Warenzeichen zu verletzen. Zusammenfassung: Seelische Nöte, Reisen, Traumata und Lehrer mit Vendettas. Eine Geschichte über Draco im 4. und 5. Schuljahr und danach - mit Snape, Hermione, einer Frischlingsreporterin namens Cassandra und ein paar Knieseln namens Figg. Anmerkung der Autorin und Widmungen: Für Penny, die sich immer die Zeit nimmt, und für Cassie, Ebony (alias AngieJ) und Lee (alias Gwendolyn) für ihre kompetente und hervorragende Arbeit als Beta-Leser.
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
10. Kapitel Das Leben, wie es im Buche steht In every way I find myself the hollowest of men, And every day I lose myself and then I wonder when Some narrator is gonna be my savior, Write new rules for my behaviour. I live my life as text these days Clear signs of life are all that I crave. Living my life like a sentence these days… (hue&cry)
"Alles hat irgendwie damit angefangen, dass ich Alexanders Kassetten und Tagebücher gefunden habe ..." "Wer ist Alexander? Ein Freund von dir?", fragte Charles. Draco verlagerte das Gewicht seiner Tasche und wartete geduldig einen Augenblick auf den Ausdruck des Wiedererkennens, der normalerweise ungefähr zehn Sekunden, nachdem er Alexanders Namen erwähnt hatte, auf den Gesichtern der Leute aufleuchtete. Doch er wartete vergebens. Er sagte es noch einmal, diesmal unter Verwendung des vollen Namens. "Na ja, als ich Alexander Malfoys Tagebuch und Kassetten gefunden habe ..." Dann hielt er wieder inne und suchte in Charles' Gesicht nach irgendeiner Reaktion. Es war jedoch keine zu erkennen. Charles benahm sich, als hätte er gar nicht gehört, was Draco gesagt hatte, und meinte: "Seit du das letzte Mal hier warst, haben wir den Garten ein bisschen umgemodelt, und den neuen Swimmingpool unter den Klippen hast du wahrscheinlich noch gar nicht gesehen. Die Mädchen sind fast die ganze Zeit da unten und spielen Meerjungfrau. Ich sag' ihnen ständig, dass die Meerjungfrauen im Norden ganz anders sind als die, die sie kennen, aber ... Habt ihr immer noch Nixe im See von Hogwarts?" "Onkel Charles?", sagte Draco zaghaft. Seine Stimme klang etwas krächzend. "Du kannst dich nicht an jemanden erinnern, der Alexander hieß? Aus der Schule?" "In meinem Jahrgang gab es ein Mädchen namens Alexis, sie war aber nicht in meinem Haus. Sie war in Ravenclaw, und ich habe eigentlich ..." "Nein, nicht aus Hogwarts. Als du in Durmstrang warst, und vorher, kanntest du da niemanden, der ..." "Ich bin mit keinem anderen Jungen aus England in Durmstrang gewesen – alle anderen dort waren aus dem Osten. Und ich war auch nur bis Mai 1977 dort, danach habe ich mein fünftes Schuljahr in Hogwarts wiederholt und 1981 da meinen Abschluss gemacht. Der Name erinnert mich aber weder bei der einen noch bei der anderen Schule an etwas." "Das muss er aber!", rief Draco. "Ich habe ... ich meine, jemand ... aber ... Profess ..." Er wollte gerade Professor Snapes Namen nennen, dann brach er ab. Der Lehrer hatte ihn gebeten, ihn im Zusammenhang mit Alexander nicht zu erwähnen. "Kar ..." Nein, er konnte ihm auch nicht erzählen, was Karkaroff gesagt hatte. Dann müsste er den Gedächtniszauber erklären, außerdem Lucius' Reaktion und viel zu viel, was er gar nicht in Worte fassen konnte. "Draco, du musst da was verwechseln", sagte Charles leise. "Wenn du willst, kann ich in meinem Kaminverbindungsbuch nachsehen, wer von meinen Freunden und früheren HogwartsSchülern drinsteht."
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
"Aber da steht er bestimmt nicht drin", protestierte Draco und versuchte ein letztes Mal, die Reaktion zu provozieren, die er sich so verzweifelt wünschte. Alles, was er in den letzten paar Wochen über Alexander erfahren hatte, drohte jetzt zwischen den verschlungenen Baumwurzeln hervorzubrechen. "Er ist gestorben, bevor ich geboren wurde, und ich habe über ihn gelesen, und du ... du kamst dabei auch vor." Er raffte ein Dutzend der Informationsfetzen zusammen, die er gesammelt hatte, und sagte: "Das war ungefähr, als der Finstere Lord zum ersten Mal an die Macht gekommen ist, und da war diese Art, wie die Leute zu seinen Anhängern wurden und wie sie alles Mögliche unter dem Imperius-Fluch getan haben, und jemand hat mir erzählt, dass das stimmt ... und bist du wirklich sicher, dass du mit niemandem zur Schule gegangen bist, der so hieß ..." Charles sah ihn ungläubig an. "Ja, und dieses Gespräch wird langsam sehr verwirrend, außerdem sagst du immer wieder dasselbe. Es hört sich an, als ob du irgendwelche Geschichten mit tatsächlichen Ereignissen durcheinander bringst, und dann kommt ein heilloses Kuddelmuddel dabei raus. Ich hab' Narcissa schon so oft gesagt, sie soll nicht mit diesem Scheißgrünzeug fliegen. Die Abgase können jedem aufs Hirn schlagen, und bei deiner Mutter war das definitiv immer der Fall. Ich weiß echt nicht, warum sie ..." "Aber ..." "Draco, jetzt reicht's", sagte Charles, der langsam die Geduld verlor. Dann fuhr er etwas freundlicher fort: "Du hast ganz offensichtlich zu viel gearbeitet, bist zu viel unterwegs gewesen, hast zu viel gelesen und zu wenig gegessen, warum gehen wir also nicht vor dem Abendessen ins Haus zurück, damit du wieder einen etwas klareren Kopf bekommst." "Wie war Lucius, als er jünger war?" Draco wechselte das Thema um festzustellen, ob er Charles' Reserve durchbrechen konnte, und seine Stimme klang jetzt mehr als nur etwas verzweifelt. "Wann haben er und Narcissa sich kennen gelernt? Kannst du dich erinnern, wann du ihm zum ersten Mal begegnet bist?" "Das ist schon so lange her ... können wir später darüber reden? Du solltest dich ausruhen, irgendwas anderes machen, oder ich sollte was anderes tun." Alle Wärme war aus Charles' Stimme gewichen. "Ich weiß, dass du einen anstrengenden Vormittag hinter dir hast, und ich bin mir bewusst, wie gestresst du bist – das ging mir immer genauso, wenn ich auf Reisen war -, aber ganz egal, was du meinst, wir müssen nicht jetzt darüber reden." "Ich will aber", sagte Draco aggressiv. In diesem Ton würde er niemals Lucius um etwas bitten, auch Narcissa nicht. Es war der Tonfall, dessen er sich in der Schule im Gemeinschaftsraum oder im Klassenzimmer bediente, wenn er sich Gehör verschaffen musste. "Ich muss dich fragen ..." "Es gibt keinen Grund, so aggressiv zu klingen", sagte Charles mit falscher Fröhlichkeit. Er klang wie Narcissa, wenn sie in Gesellschaft waren und sie wusste, wer zuhörte. "Ich will mich darüber nicht mehr unterhalten, bis du dich ein bisschen ausgeruht hast. Es muss die Seeluft sein. Wenn du dich akklimatisiert hast, fühlst du dich bestimmt viel besser." Sein Tonfall verbot jedes weitere Wort. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, gab es nichts, was Draco ihn noch hätte fragen können, da er sich sowieso nicht erinnern konnte oder wollte. Wenn die Erwähnung des Namens diese Erinnerungen nicht wachrief, dann war Draco klar, dass das, was er eigentlich sagen wollte, leicht verrückt und überreizt klingen würde – kein Wunder, dass Charles nicht hatte zuhören wollen. Noch dazu war er zu Besuch hier und gerade erst angekommen, und dafür benahm er sich reichlich unhöflich. "Du hast Recht", sagte er einfach. "Ich muss das wohl in irgendeinem Traum gehört haben." Er hielt einen Moment inne, dann wechselte er geschickt das Thema. "Ich kann mich nicht erinnern, diese Bäume bei meinem letzten Besuch schon mal gesehen zu haben. Wie sind die so schnell gewachsen?" Sie gingen den Rest des Weges zum Haus, Draco schweigend, während Charles einen permanenten Monolog über den neuen alchemistischen Garten führte. Der lange Pfad erstreckte sich vor ihnen wie die schwach beleuchteten Gänge in dem riesigen Klassenzimmer für magische 221
Flüche bis zum Überdruss
10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Geschichte in Hogwarts, und hier und da waren Lichtflecken zu erkennen, genau wie jene, die durch die vergoldeten Fensterscheiben in der Schule fielen. Als er unter dem Blätterbaldachin einherschritt, kam Draco sich unter den uralten Platanen, die den Wegrand säumten, wie ein Zwerg vor. Er atmete die Luft, die nach Salz, Rosmarin und Lavendel schmeckte, in tiefen Zügen ein. Es war irgendwie beruhigend, immer wieder einen Blick aufs Meer zu erhaschen und die Wirklichkeit von sich fernzuhalten. In den über zweitausend Jahren, in denen die Familie seiner Tante mitten zwischen den Klippen und der sprühenden Gischt gelebt hatte, hatte das Land sich von nacktem Fels und salzhaltigem Boden in einen der bestorganisierten Kräutergärten Europas verwandelt. Als die Provence noch Gallia Transalpina hieß, hatte die Familie Clary damit begonnen, Gärten anzupflanzen, und die Saat, die jedes Frühjahr gesät wurde, ging in direkter Linie auf diejenige zurück, die in einer Zeit gesät worden war, als kein Muggel ohne magische Hilfe seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Die Westgoten, Burgunder und Ostgoten schafften es nie, die Enklaven der Zauberer entlang des Mittelmeers zu erobern, und in Dracos Geschichtsbüchern stand überall, dass die Präsenz all dieser Zauberkraft entlang der Küste die Gegend davor bewahrt hatte, voll und ganz von Frankreich annektiert zu werden, nicht einmal zu der Zeit, als Karl der Große und die Franken alles rundherum regiert hatten. Seine Tante Shera Clary stammte von den Phönizischen Zauberern und Alchemisten ab, die die Meere sowohl unter als auch über Wasser beherrschten – und das Unternehmen ihrer Familie, Pupliogargal, hatte fast fünf Jahrhunderte lang den Kiemenkraut-Handel mit den Erzeugern in Atlantis kontrolliert, indem es das Interesse der Familie an Gartenbau mit ihrer Nähe zum Mittelmeer verband. Sie sprach ein paar Brocken Französisch und hatte als Kind Englisch gelernt, doch heutzutage sprach man in Aeonium Okzitanisch, die Sprache, die die magischen Gemeinschaften rund ums Mittelmeer gemeinsam hatten. Obwohl von Beruf Schriftstellerin, war sie aus Tradition Herbologin, und daher fielen die Gärten in ihren Zuständigkeitsbereich. Draco hoffte, dass Narcissa sich auch in diesem Sommer wie früher daran beteiligen würde, den Garten zu verzaubern. In England gab sie immer vor es zu hassen, unter der schwachen Sonne zu arbeiten, und zog ihren Mondgarten im Herrenhaus vor, aber hier konnte sie ganze Tage zwischen den Pflanzen verbringen. Und was noch besser war: Sie bestand nie darauf, dass er dabei helfen sollte. Nicht, dass er etwas gegen Pflanzen im Allgemeinen gehabt hätte, ganz besonders nicht hier, wo die Bibliothek voll gestopft war mit Büchern über Gartenbau und Herbologie, inklusive einer Reihe von Büchern über die Geschichte des Clary-Besitzes. Einige der familieneigenen Gärten hatten in den letzten zweihundert Jahren ein neues Gesicht bekommen, als die Muggel neue zerstörerische Waffen erfunden hatten, noch bevor die Zauberer neue Zauberformeln entwickeln konnten, um eventuellen Zerstörungen vorzubeugen. Acht verschiedene Gärten erstreckten sich über den Besitz: Ein Wassergarten, ein grüner Rosengarten, ein Wintergarten mit Blüten, die nur aufgingen, wenn die Temperatur fast den Gefrierpunkt erreichte, eine Kräuterterrasse, die die Elfen für ihre täglichen Zaubertränke und Mahlzeiten benutzten, ein Olivenhain, ein Weinberg (der jedoch nur mittelmäßige Weine hervorbrachte), ein Gemüsegarten und der erst kürzlich angelegte alchemistische Gartenweg. Der Gartenweg war unendlich und kreisförmig und wand sich auf dem Rückweg wie ein Irrgarten, der schließlich an einer hohen grünen Mauer aus Sträuchern endete, die höher war als Dracos Kopf. Charles streckte die Hand aus und zupfte ein Blatt vom oberen Ende der Wand. Raschelnd und knisternd teilten sich Blätter und Äste und zogen sich zurück, so dass ein bogenförmiger Durchgang entstand. Als er hindurch trat, musste Draco sich die Hand vor die Augen halten. Das Haus, das vor ihm stand, war heller als alles, was er je zuvor gesehen hatte. Er erinnerte sich, dass Charles' Haus nach seinem letzten Besuch in Eze zusammengestürzt war, als ein Riese, der auf einem Spaziergang durch die Alpen gewesen war, beschlossen hatte, das Ende des Mistrals abzuwarten 222
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
und sich einfach draufgesetzt hatte. Dass sie das Haus wieder aufgebaut hatten, war also keine Überraschung. Allerdings schon, was sie daraus gemacht hatten. Es hatte nur ein Stockwerk, das fast völlig aus farbigem Glas bestand, das nicht überall gleichmäßig durchsichtig war. Der Bau erstreckte sich über fast zweitausend Quadratmeter, und ungefähr alle sechs Meter wechselten die Außenwände die Farbe – rot, gelb, grün, braun, scharlachrot, schwarz, ocker, pfirsichfarben, rubinrot, olivfarben, violett, rehbraun, fliederfarben, gold, schokoladenbraun, malvenfarben, cremefarben, blutrot, silbern, rosa, azurblau, zitronengelb, grau, lila, weiß, pink, orange und blau. Einige der Glasscheiben wiesen ein Muster aus klaren Blasen auf, andere ein Kaleidoskop von verschiedenen Farben. Auf dem gewölbten Glasdach erhob sich ein gewaltiges Prisma, das bunte Regenbogen auf den Rasen und den steinernen Pfad warf, der zum Meer führte. Charles ging einfach weiter, doch Draco blieb stocksteif stehen und starrte es an. "Aber woher kommt das alles?", überlegte er laut. "Von all meiner harten Arbeit, woher wohl sonst?", sagte Charles leichthin, drehte sich um und ging zu Draco zurück. "Du weißt doch, dass Glas genau wie Holz organischen Ursprungs ist – allerdings wächst es nur in Brackwasser. Letzten Sommer haben wir Barpurdom angeheuert, der in Murano einer der Spitzenarchitekten für Bauten aus Magiemeerholz ist, damit er ungefähr dreißig Meilen von hier Samen erntet. Die Samen und das Feld, auf dem das alte Haus gestanden hat, wurden am Äquinoktium vorbereitet, und Shera und ich haben die ganze Nacht damit verbracht, die Saat überall auf dem Feld auszusäen." "Wie konnten die Samen an Land schwimmen?", fragte Draco, der von der Beschreibung fasziniert war. Er starrte die Platanenallee an, die sich um das Haus herum wand und einen grünen Baldachin bildete, der die leuchtenden Farben der Kristallwände im Vergleich dazu noch leuchtender erscheinen ließ. Wie konnte dieses gewaltige Ding aus der Erde herausgewachsen sein? "Wir haben sie in einem Beutel durch die Gegend getragen – jedes Samenkorn war so groß wie ein Reiskorn und glänzte so hell wie eine Sternschnuppe", sagte Charles. "Es raschelte die ganze Zeit in dem Beutel, als würden sie langsam darin rumschwimmen. Wenn wir sie dort, wo wir eine Wand wollten, auf den Boden fallen ließen, haben sie sich gewunden und gedreht und sich innerhalb von Sekunden in den Fels und in die Erde eingegraben. Als wir fertig waren, hat die ganze Parzelle geglüht und gebrodelt", fügte er aufgeregt hinzu. "Wir sind dann noch ein paar Tage im mas geblieben, wo wir sowieso schon seit ungefähr einem Jahr gewohnt hatten, und den Monat danach haben wir im Sommerhaus von Sheras Eltern im Atlasgebirge verbracht. Als wir zurückgekommen sind, hatte das Brackwasser seine Schuldigkeit getan, und die Wände waren perfekt gewachsen – ungefähr fünf Meter hoch -, und das Prisma (das der einzige Kamin im Haus ist) war fast fertig. Ich glaube, die Sonnenzauber und Türschilder haben sie erst angebracht, kurz bevor wir an Halloween eingezogen sind. Alle Innenwände lassen sich verschieben, und bei den Außenwänden können wir die Farben mit Zaubersprüchen umschalten. Du wirst in einem der Gästezimmer wohnen, das die Mädchen als Spielzimmer benutzen, wenn keine Gäste im Haus sind." Charles und Shera hatten zwei Töchter im Alter von vier und sieben Jahren. "Die Wände dort sind deshalb normalerweise fast farblos, aber ich glaube, derzeit sind sie durchscheinend olivgrün. Deshalb kann man nicht so leicht hineinsehen. Wir legen zwar Wert darauf, in die Zimmer der Mädchen gucken zu können, aber du bist alt genug, um etwas Privatsphäre zu verdienen, besonders wenn du Ferien hast." Trotz der Hitze fröstelte Draco bei dem Gedanken, dass sein Schlafzimmer durchsichtige Wände haben könnte. Gut, dass Lucius nicht da war; Draco hatte kaum irgendwelche geheimen Verstecke im Herrenhaus, aber das war etwas ganz anderes, als sich in einem Raum zu befinden, in den Lucius jederzeit hineinsehen konnte. In dem Fall hätte er wohl nie auch nur eine Minute für sich allein gehabt.
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
"Der Wind scheint kälter geworden zu sein, du frierst ja", sagte Charles, als sie sich wieder in Bewegung setzten. "Lass uns reingehen, dann kann ich dich kurz herumführen, und du kannst dich vor dem Abendessen ein bisschen ausruhen." Bis dahin waren es noch mindestens drei Stunden – und wo war Narcissa? Lucius hatte ihm aufgetragen, ein Auge auf sie zu haben. Es wäre keine gute Idee, bei dieser Aufgabe schon wenige Minuten nach ihrer Ankunft zu versagen, auch wenn er derart abgelenkt worden war. Und immer noch war. Charles beantwortete seine unausgesprochenen Fragen. "In deinem Zimmer steht ein Korb mit einer Früchtepyramide, alles heute morgen frisch gepflückt, und Narcissa ist wahrscheinlich sowieso mit den Mädchen unterwegs und sieht sich den Ziergarten an. Shera hat die Sträucher in ein lebensgroßes Spiel Verschwindender Treppen verwandelt, und sie reden seit Tagen über nichts anderes, wenn sie vom Spielen kommen." Als sie auf das Haus zugingen, starrte Draco die ungewöhnliche Bauweise zunehmend faszinierter an. Die Eingangstür und Eingangshalle waren kristallklar und voller Pflanzen, von denen er nicht mal den Namen kannte. Für den Fall, dass Lucius danach fragen würde, sollte er sie lieber nachschlagen. Jenseits des Eingangs befand sich ein großer Raum, der mindestens dreizehn mal dreizehn Meter maß und mit einfachen, gedrechselten Möbeln in Pastellfarben ausgestattet war, die zu den Farben passten, die von den Außenwänden und den Regenbogen in den Raum geworfen wurden, die von den ins klare Glasdach darüber eingelassenen Prismen ausgingen. Hier war eine verzauberte Decke überflüssig, jedenfalls dann, wenn man den Himmel von jedem Winkel des Raumes aus betrachten konnte, sogar durch die Kronleuchter von Murano hindurch, die von der Decke hingen. Die Fußböden waren die einzigen Teile der Konstruktion, die nicht völlig aus Glas waren. Muster aus Bodensteinen und Kacheln teilten den Raum in Nischen und Bereiche auf, die das Auge des Besuchers auf Skulpturen aus Onyx und Elfenbein lenkten, die sich in die Ecken, Rundungen und Alkoven schmiegten, die in die Wände gehauen waren. An jedem Ende führten bogenförmige Durchgänge zum Rest des Hauses. Charles deutete auf den Durchgang auf der rechten Seite. "Auf dieser Seite geht es auf die Terrasse und zu den anderen Wohnbereichen, und der Bogen links führt in die Schlafzimmer. Beide Flure laufen kurvenförmig aufeinander zu, so dass die Wohnräume inklusive deiner teuren Bibliothek sich jeweils an der Außenseite des Hauses befinden und die Privaträume auf der Innenseite, und alle gehen auf einen Hof hinaus, so dass jedes Zimmer sowohl von oben als auch durch eine der Seitenwände Sonne bekommt. Die Küche ist in der Mitte des Hauses, und es gibt einen Eingang durch diese Wand", sagte Charles und zeigte auf die tiefrote Scheibe in der Mitte der Wand des großen Saales. Draco konnte dahinter verschwommene Gestalten erkennen, aber nur sehr undeutlich, und nachdem sie durch den Bogen gegangen waren, konnte er nicht einmal mehr sagen, wo die Küche zwischen den Schlafzimmern zu seiner Rechten auf der inneren Biegung Platz finden sollte. "An jedem Bett befindet sich ein Hebel, wenn du den runterdrückst, werden alle Wände für eine Viertelstunde undurchsichtig, danach sind sie wieder durchsichtig. Das sollte reichen um dich umzuziehen oder zu duschen und so weiter, danach wird das Haus dann wieder so wie vorher." Nur eine Viertelstunde? Das war nicht viel Zeit, kaum genug, um ein paar Seiten von Alexanders Notizbüchern zu lesen. Er musste sich irgendwas überlegen, um allein sein zu können. Charles führte ihn an weiteren Glasscheiben vorbei, dann blieb er schließlich stehen. "Das ist dein Zimmer", meinte er, als sie vor der fünften Glasscheibe ankamen. Er tippte die Wand mit seinem Zauberstab an, dann nahm er Dracos Hand und presste sie gegen die Scheibe. Wenn er im Herrenhaus ein Fenster auf diese Weise berührt hätte, wäre Lucius sauer gewesen wegen des schmutzigen Handabdrucks, aber hier hinterließ er nicht die geringste sichtbare Spur. Stattdessen öffnete sich ein winziger bogenförmiger Durchgang, der schnell vom Fußboden aus fast zwei Meter hoch wuchs, so dass Draco genug Platz hatte um hindurchzugehen.
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Im Vergleich zu seinem Zimmer im Herrenhaus standen sehr viele Möbel darin. Die Wände verteilten sich so, dass zwei davon auf den Flur gingen, hinter einer anderen befand sich ein Badezimmer, das drei blickdichte Kobaltwände hatte, und eine dritte, rosafarbene, ging auf einen Hof hinaus, auf dem ein maßstabgerechtes Modell des Hauses, das vermutlich Charles' zwei Töchtern gehörte, und ein Springbrunnen standen. Der in fröhlichen Farben eingerichtete Raum wurde von einem Glasventilator von Murano an der Decke gekühlt, außerdem standen ein mit Leinen bezogenes Bett darin, ein Kleiderschrank (da es keine Einbauschränke gab), ein großer Tisch, zwei Stühle und ... ein richtiges Klavier! Er drehte sich wieder zur Tür um; Charles war nicht hereingekommen, sondern im Durchgang stehen geblieben und lächelte fast nachsichtig. "Wir haben eine ganze Menge Sachen aus dem alten Haus gerettet, die aber irgendwie nicht mehr richtig in die Wohnräume gepasst haben. Unter anderem das hier. Ich hoffe, es stört dich nicht, ich wusste nicht, ob du immer noch spielst." Draco machte große Augen. Er hatte nie mit einer solchen ... Überraschung ... gerechnet. Oh, er würde sich wirklich anstrengen müssen, um damit im Zimmer auch seine Arbeit zu erledigen. Und er würde das Zimmer ab und zu verlassen müssen, aber im Moment ... wollte er einfach nur darauf spielen. Es juckte ihn richtiggehend in den Fingern, die Tasten zu berühren, die in allen Regenbogenfarben schillerten. Zum ersten Mal seit Tagen glitt ein echtes Lächeln über sein Gesicht, und er ließ seine Tasche fallen und ging zur Bank, wobei er Charles' Anwesenheit schon fast vergessen hatte. Er bemerkte nicht einmal, wie der Durchgang verschwand, und die Musik übertönte Charles' Schritte, die sich im Flur entfernten. Die Lichtverhältnisse hatten sich bereits geändert, als er halb desorientiert vom puren Vergnügen, wieder Klavier zu spielen, aufstand. Als er sich aus dem Krug neben seinem Bett ein Glas Wasser eingoss, überlegte er, ob er bis zum Abendessen wohl noch genug Zeit hatte um sich hinzulegen. Er holte ein Pergament aus seiner Tasche – eins, auf dem nichts über Alexander stand – und verzauberte es so, dass es ihn in neunzig Minuten wecken würde. Dann ging er durchs Zimmer und sah im Schrank und in den Schubladen nach, ob auch alles ausgepackt und weggeräumt worden war, außerdem versuchte er einen Platz zu finden, wo er den Inhalt seiner Schultasche verstecken konnte. Wenn Charles sich überhaupt nicht an Alexander erinnern konnte, wieso war es dann gefährlich, wenn er irgendetwas davon sah? Musste er die Sachen überhaupt verstecken? Vielleicht schon, sagte sich Draco, als er den Schrank auf der Suche nach versteckten Leisten oder Zwischenräumen abklopfte. Vielleicht log er ja und würde sich später an irgendetwas erinnern. Und dann war da immer noch Narcissa. Was, wenn sie sich in den Kopf setzte, in seinen Sachen herumzuschnüffeln? Oder noch schlimmer, was wäre, wenn Charles ihr von seinem Gespräch mit Draco erzählte? Charles stand ja vielleicht wirklich unter einem Gedächtniszauber, aber was war mit ihr? Mit all seinen Sachen in der Hand ging er zum Bett zurück und ließ sich auf dem Boden nieder. Es wurde langsam spät, und er hatte begriffen, dass es am einfachsten wäre, die Tasche jetzt einfach unters Bett zu stopfen und dort wie aus Versehen zwischen die Latten zu klemmen, so dass kein Erwachsener sie erreichen konnte. Danach setzte Draco sich aufs Bett, zog die Schuhe aus, trank in kleinen Schlucken das Wasser und verfluchte sich dafür, dass er nicht alles bis zum Ende durchdacht hatte, als er Charles in dem Wäldchen diese dämliche Frage gestellt hatte. Er hatte angenommen, damit sämtliche Zauber zu brechen, aber es hatte nicht funktioniert, oder? Diesmal wusste er wirklich nicht, was er davon halten sollte. Und je länger er dasaß und darüber nachdachte, desto miserabler fühlte er sich wegen seines verzweifelten, kläglichen Versuchs, aus Charles etwas herauszubekommen. Die Sonne schien so warm herein – nicht übermäßig warm, und eine verzauberte Brise wehte zwischen den Wänden -, aber die Wärme machte ihn so schläfrig, dass er das Gespräch nicht noch einmal im Geiste rekapitulieren konnte. Er musste Hermione einen längeren Brief schrei225
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ben, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wo der Falkenhorst war, und sein Onkel würde sich vielleicht darüber aufregen, wenn er sich auf dem Grundstück herumtrieb, statt zu bleiben, wo man ihm gesagt hatte. Außerdem war er schläfrig, und wenn er ihr erst schrieb, wenn der Wecker klingelte und er aufwachte, dann hätte er einen viel klareren Kopf, und er würde sich so klar und deutlich ausdrücken, wie sie es von ihm erwartete. Er legte den Kopf aufs Kopfkissen, und der Schlaf übermannte ihn und hüllte ihn ein wie die Wolken, die über ihm schwebten. *** Wie viele Leute denken bis kurz vor ihrem fünfzehnten Geburtstag nicht daran, von zu Hause wegzulaufen? Hermione hatte genug Kinderbücher gelesen um zu wissen, dass Weglaufen etwas war, das Kinder normalerweise mit zehn oder elf Jahren taten, wenn sie alt genug waren, um sich der weiten Welt zu stellen, aber noch jung genug um nicht zu wissen, wie es dort wirklich zuging. Aber in ihrem Alter? So etwas taten höchstens jugendliche Kriminelle. Keine Hexen, die Klassenbeste waren. Es sei denn allerdings, dass diese Hexen möglicherweise auch angebliche Entführer waren. Oder die beste Freundin eines angeblichen Mörders, der (wie sie wusste) das, wessen man ihn möglicherweise anklagte, gar nicht getan hatte, obwohl sein Pate ebenfalls ein flüchtiger, unregistrierter Animagus war. Oder sie waren (und das war dabei am schwersten zu verdauen) tatsächlich mit dem Jungen befreundet, dessen Vater einer der Gründe sein könnte, warum sie und Harry überhaupt verfolgt wurden. Hermione saß vor dem Erkerfenster im Wohnzimmer und starrte die Worte an, die Draco auf das Pergament gekritzelt hatte. Hogwarts – Zufluchtsort. Natürlich war es das. Aber hatte sie es nötig, das auszunutzen? Normalerweise lief sie vor den Folgen ihrer Handlungen nie davon – natürlich log sie manchmal, aber im Allgemeinen nur um zu verhindern, dass andere in Schwierigkeiten gerieten. Natürlich wusste sie, wie sie im Sommer nach Hogwarts kommen konnte. Im Juli bevor sie dort angefangen hatte, ungefähr eine Woche, nachdem die Dame mit dem spitzen Hut gekommen war, um mit ihren Eltern zu sprechen, waren die Grangers zu einem Orientierungstag für Muggelfamilien zur Falsprech-Farm gefahren, die sich etwas außerhalb von Hogsmeade befand. Die Eltern der Muggel-geborenen Schüler hatten dort einige der Lehrer kennen gelernt, den Schulsprechern Fragen gestellt, Fotos vom Schulgelände angeschaut und eine kurze Einführung in die Magie erhalten. Sie erinnerte sich, dass sie Kürbissaft vom ersten Schluck an gemocht hatte, während ihre Eltern das Gesicht dabei verzogen hatten und ihre Mutter bemerkt hatte, dass er wahrscheinlich eine Menge Zucker enthielt. Ihr Vater hatte seit ihrer Rückkehr nach England keine Papiere ausgemistet, und die Wegbeschreibung nach Hogsmeade befand sich mit hoher Wahrscheinlichkeit immer noch in seinem Büro zu Hause, ordentlich in einem Ordner abgeheftet, auf dem "Granger, Hermione (Internat)" stand. An diesem Nachmittag war ihre Mutter nicht im Büro, sondern im Garten. Victoria Granger liebte lange Autofahrten; sie sagte, es sei so angenehm, stundenlang durch die Gegend fahren zu können, ohne befürchten zu müssen, dass plötzlich mitten auf der Straße ein Elefant stand und den Verkehr für Stunden blockierte, wie es in Sierra Leone der Fall gewesen war, oder sich Sorgen machen zu müssen, ob der altersschwache, stotternde Yugo es wohl aus der Stadt heraus schaffen würde. Sie musste sie lediglich über die Lage aufklären, in der sie steckte. Ihre Mum wusste so gut wie alles über Hogwarts und hatte Rita in ihrem Glas gesehen, bevor Hermione sie freigelassen hatte. Und sie hatte nicht entsetzt reagiert oder verlangt, dass Hermione wieder ein Muggelleben führte oder ihre Freundschaft mit jemandem aufgab, dessen Narbe ganz eindeutig mehr war als das Schwarze einer Zielscheibe. Wie konnte sie auch, da sie
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Hermione bereits um die halbe Welt geschleift hatte bei dem, was sie weltverbesserische Missionen nannte? Die Grangers hatten sich, als Hermione fast fünf war, im Anschluss an das öffentliche Interesse, das die Hungerkatastrophe in Äthiopien ausgelöst hatte, der Organisation Médecins Sans Frontières angeschlossen. Sie waren im Laufe der Jahre in verschiedenen Protestbewegungen Mitglied gewesen, sehr zum Leidwesen ihrer Familien, und obwohl Zahnpflege nicht ganz oben auf der Prioritätenliste all jener stand, die am Verhungern waren, wollten sie dort sein, wo die Menschen litten, in der Hoffnung, so gut es ging zu helfen. Das Ärzteehepaar Granger hatte ein Jahr als Zahnmediziner im französischsprachigen Afrika verbracht, dann waren sie für kurze Zeit nach England zurückgekehrt, bevor sie sich Anfang 1988 in die UdSSR aufmachten, um einen Lehrauftrag am Medizinischen Institut von Moskau zu erfüllen. Sie hatten keinerlei Bedenken gehabt, Hermione aus der Schule zu nehmen, da sie bereits mit drei Jahren lesen konnte – was hätte sie also im Kindergarten großartig lernen können? Die erste Schule im herkömmlichen Sinne, die sie besucht hatte, war die Angloamerikanische Schule in Moskau gewesen; es war entsetzlich, sich an geregelten Unterricht gewöhnen zu müssen, aber die meisten Schüler dort führten ein ungewöhnliches Leben. Sie passte zwar nicht hundertprozentig dorthin, wurde aber auch nicht geschnitten. Doch Ende 1989, als das politische Klima in der UdSSR im Wandel war, beschlossen ihre Eltern, es sei Zeit, wieder in England zu praktizieren. Victorias Eltern wollten sich aufs Altenteil nach Barbados zurückziehen, deshalb zogen die Grangers in ihr Elternhaus ein und eröffneten ungefähr einen Kilometer vom St. Bartholomew's entfernt eine Klinik. Es war höchste Zeit dafür gewesen. Ein Jahr später fanden sie im Briefkasten einen Brief ohne Marke, der Hermione nach Hogwarts einlud. Ihre Eltern hatten sich ganz gut daran gewöhnt. Viel besser jedenfalls als Lavenders Eltern, die total verwirrt waren, dass es so etwas wie Zauberei geben konnte. Ihr erster Besuch in der Diagonallee vor Beginn ihres zweiten Schuljahrs war schon schwierig und verwirrend genug gewesen, bevor sie bei Flourish & Blotts über die Malfoys stolperten, doch im nächsten Sommer rissen sie bereits Witze darüber, dass sie sich Roben besorgen würden, um für den Ausflug passend ausstaffiert zu sein. Wenn sie die einzige Beteiligte gewesen wäre, hätte Hermione kein Problem damit gehabt, zum Ministerium zu gehen und ihnen genau zu erklären, was sie in Bezug auf Rita unternommen hatte – aber sie war nicht die Einzige. Auf der Rückreise im Zug hatte Harry ihnen erklärt, was Veritaserum war, das so geheim war, dass Hermione nur in einem einzigen Buch etwas darüber hatte finden können. Was, wenn sie ihr das verabreichten? Nicht, um sie über Rita zu befragen, sondern über Sirius ... oder Harry ... oder sogar Draco? Lucius war ihr egal – sie würde ihn liebend gern in Azkaban sehen -, doch was war, wenn Draco in irgendetwas verwickelt war, das ihr überhaupt nicht klar war? Ihre Eltern würden sie darin bekräftigen, all jene energisch zu verteidigen, die geschützt werden mussten: Sirius, Harry und sogar Draco gehörten alle zu dieser Gruppe. Wenn sie Draco dazuzählte, würde sie natürlich die Vorstellung, dass gute Menschen anständig waren und schlechte nicht, neu abwägen müssen, aber das konnte bis zu der langen Autofahrt warten. Sie hatte nicht einmal mehr Zeit, Harry eine Eule zu schicken oder den Weasleys, um sie um Rat zu fragen, oder Dumbledore, um ihn um Erlaubnis zu bitten; einen Moment lang tat es ihr Leid, dass sie statt einer Eule Crookshanks gekauft hatte. Hermione entschied, dass sie in Anbetracht der Umstände einfach ihren Eltern den Brief vom Ministerium erklären und ihnen das Kapitel aus Die Geschichte von Hogwarts über die Zufluchtsstätte zeigen und dann ihren Koffer packen sollte. Dann wären sie innerhalb einer Stunde unterwegs. ***
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Ein lautes, klopfendes Geräusch riss Draco aus dem Schlaf. Das helle Sonnenlicht war verschwunden und durch ein knallgelbes Leuchten ersetzt worden, das den Raum in eine Reproduktion der untergehenden Sonne selbst verwandelte. Er zwang sich klar zu sehen, dann hob er den Kopf vom Kissen, so dass er den Pergamentwecker erreichen konnte und sah, dass er zusammengeknüllt und zerrissen mitten auf dem Fußboden lag. Er konnte sich nicht erinnern, das getan zu haben. Und das Klopfen hörte nicht auf. Sein unvollkommener Takt schien aus der Wand zu kommen, durch die er hereingekommen war, aber von der Hofseite. Er raffte sich hoch und schleppte sich zur Wand um zu versuchen herauszufinden, wie man sie öffnete. Er war so benommen, dass es ihn unglaubliche Anstrengung kostete, die sanfte Krümmung direkt unter seiner Schulter zu erkennen, die genau die richtige Größe für die Hand eines Kindes hatte. Er berührte sie, und die Scheibe teilte sich in zwei genau gleichgroße Hälften, dann rollte sie sich zusammen, als wäre das Glas ebenso leicht verformbar wie Pergament. "Komm schon, Cousin, es ist Zeit fürs Abendessen!", rief eine kindliche Stimme, als er sich durch den starren Bogengang duckte. "Meine Maman hat gesagt, du sollst kommen und dich zu uns setzen, aber deine Maman wollte nicht, dass wir dich holen. Papa hat aber gesagt, dass du Sonne brauchst und hat mich über den Hof geschickt, damit ich dich zum Essen hole." Es war Nore, Charles' ältere Tochter. Selbst in dieser Wärme war ihr Haar schwer und ziemlich schwarz, ganz anders als das helle Haar ihres Vaters. Es lockte sich an den Spitzen und fiel ihr in Kringeln um die großen, haselnussbraunen Augen, die das Auffälligste an ihrem schmalen Gesicht waren. Ihre jüngere Schwester Vale war ebenfalls im Hof; sie hatte Grübchen, rosige Wangen und blonde Haare – nicht so silberblond wie Dracos, sondern in der untergehenden Sonne rotgolden schimmernd. Vale hatte kein Wort gesagt. Sie war noch nicht ganz fünf Jahre alt und eindeutig unsicher im Umgang mit Fremden. Auf Nores Vorschlag hin ergriff sie jedoch seine andere Hand, und die beiden schleppten den halbwachen Draco aus seinem Zimmer. Als sie durch den Hof und um den Brunnen herum gingen, der melodische Wassermusik spielte, sah Nore ihn mit Augen an, die für ihr Gesicht viel zu alt waren. "Ich kann mich überhaupt nicht an dich erinnern. Vale sagt, sie erinnert sich an dich, stimmt's?", fragte sie ihre Schwester. Ohne auf Vales Antwort zu warten fuhr sie fort: "Aber sie war doch noch fast ein Baby, als sie dich gesehen hat, sie kann also nicht Recht haben. Aber ich sollte mich erinnern, und das tue ich nicht." "Das scheint irgendwie eine Seuche zu sein", sagte er sarkastisch. Sie war erst sechs gewesen, als Draco sie zuletzt gesehen hatte; genügten zwei Jahre bei kleinen Kindern, um alles über einen Cousin zu vergessen, vor allem über einen, mit dem sie nie geredet hatten? Das letzte Mal, als er sie gesehen hatte, hatte er sowieso die meiste Zeit mit Lucius zusammen verbracht. Das war im Sommer nach seinem zweiten Schuljahr gewesen, und Lucius hatte darauf bestanden, dass er viel Quidditch spielte und täglich Tests über alles machte, was er in dem Jahr in der Schule gelernt hatte. Lucius war ausgesprochen ungehalten darüber gewesen, dass die Abschlussprüfungen im Juni in jenem Jahr unverhofft ausgefallen waren, dachte Draco. Tagsüber verbrachte er während dieses Monats überhaupt keine Zeit mit seinen Cousinen, und abends hatten sie mit ihrem Kindermädchen gegessen, nicht zusammen mit der restlichen Familie, die normalerweise spät zu Abend aß. Einen Augenblick später befanden sie sich in einem der gewundenen Korridore auf dem Weg zurück in die Wohnbereiche, genauer gesagt zur Bibliothek; Charles und Shera waren dort, aber Narcissa war nirgendwo zu sehen. Und er konnte definitiv alles sehen, was sich in dem Raum befand. Das auffälligste Möbelstück im Zimmer war der federnde Billardtisch, der in der Mitte stand. Draco hatte bisher immer nur auf Tischen gespielt, die aus dem üblichen Gummibaumholz gefertigt waren; angeblich war das das einzige Material, das dafür sorgte, dass die Alabasterkugeln in die dreieckigen Vertiefungen rollten. Diese Tischplatte war jedoch fast durchsichtig, schimmerte in der obersten Schicht ganz leicht grünlich und hatte Vertiefungen, die die Farbe von Meerschaum hatten; in 228
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der untersten Schicht schwammen Fische, die anscheinend gegen den Lärm über ihnen völlig unempfindlich waren. Selbst die Queues, mit denen Charles und Shera spielten, als Draco hereinkam, waren fast unsichtbar. Shera gewann gerade mühelos, obwohl sie mindestens dreißig Zentimeter kleiner war als Charles und daher nicht so weit ausholen konnte. Dafür waren ihre Stöße umso präziser. Sie hatte einen leichten Knochenbau, worin ihre Töchter ihr nachschlugen. Sie hatte genau wie Nore schweres, schwarzes Haar, aber ihres glänzte mehr, und sie hatte es mit wippenden Kämmen hochgesteckt. Charles wollte eindeutig das Blatt zu seinen Gunsten wenden und konzentrierte sich auf den richtigen Winkel, doch Shera verließ den Tisch und kam auf Draco zu, um ihn zu begrüßen. "Mädels, warum geht ihr nicht mal nachsehen, ob Deana Hilfe beim Tischdecken braucht?", sagte sie mit starkem Akzent. "Aber Maman, es ist so langweilig, dabei zuzusehen", sagte Nore. "Ich kann helfen!", warf Vale mit ihrer hohen Stimme ein. Shera zog einen dunklen Zauberstab aus der Rocktasche und gab ihn Nore. "Du kannst ihn nur benutzen, wenn ..." Nore nahm ihrer Mutter den Zauberstab aus der Hand, lief mit Vale im Schlepptau zur Tür und rief: "Wenn Deana mir die Hand führt, weiß ich doch, Maman!" Shera lächelte hinter ihnen her, dann wandte sie sich zu Draco um und sagte mit ihrer melodischen Stimme: "Willkommen im Kristallpalast, Draco. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr wir uns freuen, dich mal wieder zu sehen. Es ist schon so lange her!" "Danke", sagte er etwas unsicher. "Es ist schön, wieder hier zu sein. Alles ist so neu und hell. Ich hab' so was noch nie gesehen. Sogar der Tisch ist ... er ist so ..." "Den haben Muggel hergestellt." Charles hob den Blick von seinem Queue und sah zu, wie seine Kugel von der Decke abprallte und auf Sheras Tischseite landete. "Verdammter Mist! Ich sollte es wohl einfach abblasen. Bei all den Fischen, die da rumschwimmen, kann ich die Kugeln gar nicht richtig sehen!" "Und wessen Idee war es, dass der Tisch gleichzeitig als Aquarium dienen sollte, mein Lieber?", fragte Shera und warf ihrem Mann eine Kusshand zu. "Das war's. Ich verwandle die Oberfläche in irgendwas Brauchbareres." Charles nahm seinen Zauberstab und stieß ihn in die schwammige Tischplatte, doch nichts geschah. "Bei Muggelsachen funktioniert das nicht, weißt du nicht mehr, was der Hersteller gesagt hat, als er gekommen ist, um ihn aufzustellen?" "Dass Muggelsachen nicht auf die richtige Weise gemacht werden und dass Zauberei bei ihnen nicht immer funktioniert, ich weiß. Ich muss ihn irgendwann diese Woche zur Reparatur Apparieren", bemerkte Charles seufzend. Draco war schockiert, dass Charles Muggelsachen im Haus hatte, noch dazu etwas, das neu war. Sie hatten im Herrenhaus zwar ein paar Muggel-Artefakte und Kunsthandwerk, aber das war alles alt, normalerweise mehrere hundert Jahre, aus der Zeit, als zwischen der magischen und der Muggelwelt regere Handelsbeziehungen bestanden hatten. Und natürlich war sein – oder besser Alexanders – Musikspieler seit einer Weile im Herrenhaus, aber das war etwas anderes. Lucius hätte es sicher nicht erlaubt, ihn ins Haus zu bringen, auch ohne zu wissen, wem er gehört hatte. Während Charles und Shera sich über das Spiel und den Tisch unterhielten, ging Draco durchs Zimmer, um sich die Bücher anzusehen, damit sie nicht meinten, er belausche ihre Privatgespräche. Die Bücherregale waren in diesem Haus nicht in die Wände eingelassen. Sie waren aus gerundetem, ganz leicht wasserblauem Glas und erhoben sich sowohl in der Bibliothek als auch in jedem Schlafzimmer fast vier Meter hoch wie Säulen vom Boden bis zur Decke. Genau wie bei den Regalen in ihrem alten Haus befand sich an der Seite jeweils ein Griff, mit dem der Leser sich zu den oberen Regalböden hochziehen konnte; allerdings durften seine kleinen Cousinen die
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Griffe nur im Beisein eines Erwachsenen benutzen. Draco überlegte, ob er dieses Jahr wohl als erwachsen genug angesehen würde. Keins der Regale war so voll wie die im Herrenhaus. Shera hatte bemerkt, dass er sich darüber wunderte, und sagte: "Eine ganze Menge Bücher haben den Umzug nicht überstanden, und obwohl dein Vater uns ganze Kisten voll geschickt hat, brauchen wir immer noch ungefähr tausend mehr, um die Regale in den Wohnräumen zu füllen." "Hast du Lust, einen Einkaufsbummel in Menton zu machen?", fragte Charles lebhaft. "Shera braucht sowieso ein paar Sachen aus der Apotheke, wir könnten also morgen gehen oder irgendwann diese Woche zu einem der Märkte fliegen, wenn du noch etwas Zeit brauchst, um dich zu akklimatisieren." Das würde Narcissa kaum gefallen, dachte Draco. Lucius hatte ihr klar gemacht, dass er das Grundstück nicht für Vergnügungen verlassen durfte, jedenfalls nicht, bevor er mit seiner Arbeit fertig war. Wenn Lucius erfuhr, dass er ein Klavier in seinem Zimmer hatte, wäre sowieso die Hölle los. Aber das konnte er Charles und Shera nicht sagen – das wäre eindeutig ein Verstoß gegen Lucius' Anweisung, nicht über Familienvorschriften zu reden. Stattdessen erinnerte er sie an etwas, von dem er annahm, dass Charles es bereits wusste. "Als wir das letzte Mal hier waren, hat mein Vater mir nicht erlaubt, dort Bücher zu kaufen. ER hat behauptet, das wären alles Muggelgeschäfte, obwohl sie in die Felsen gehauen waren." Charles antwortete: "Aber das ist doch Jahre her! Du bist doch jetzt alt genug, glaube ich, oder wir könnten auf einen der magischen Märkte im Westen gehen. Und wir haben auch Muggelbücher hier, hauptsächlich auf den unteren Regalböden, weil sie anscheinend nicht gerne oben stehen. Viele davon sind ausgesprochen lustig, vor allem die, die angeblich von Zauberei handeln. Außerdem musst du das Lokalambiente kennen lernen." Draco hörte aufmerksam zu, als Charles den Markt in Chanteduc beschrieb. "Der Name bedeutet Lied der Eule, und die meisten Hexen hier glauben, dass es ursprünglich einer der wenigen magischen Märkte war – sonst wäre es unmöglich gewesen, dass dieselben Händler ihre Waren jede Woche in vier verschiedenen Städten verkaufen konnten, die in einem Radius von dreihundert Kilometern lagen, aber genau das haben sie getan." Es klang faszinierend, und er versuchte, einen Einkaufsbummel vor sich selbst zu rechtfertigen. Sie würden eben nicht zum Spaß hingehen, da ein paar Dinge dringend gebraucht wurden, und Charles brauchte vielleicht seine Hilfe beim Aussuchen. Oder irgendwas sonst. Die Sternenglocke ertönte und rief sie zum Abendessen. Draco setzte sich in Richtung Esszimmer in Bewegung, aber Charles hielt ihn auf, bevor er die Tür erreicht hatte. "Bei schönem Wetter essen wir auf der Terrasse, die auf die Klippen hinausgeht. Der Mistral scheucht uns oft genug wieder ins Haus." "Warum haltet ihr den Wind nicht mit einem magischen Frühling oder einem Fumos-Zauber ab?", fragte Draco, als sie durch den Durchgang traten, den Charles in der Ostwand geöffnet hatte. "Weil das den Olivenhainen schaden würde", erklärte Charles. "Magie ist schön und gut, wenn es um Pflanzen, Unkrautjäten und Ernten geht – ich kann mir wirklich nicht vorstellen, das so wie die Muggel zu machen, die dabei total ins Schwitzen geraten und sich förmlich überhitzen. Aber Olivenbäume und Föhren gab es schon lange, bevor es Zauberer und Hexen gab, sogar noch vor den magischen Geschöpfen, und wenn du in die Natur eingreifst und mit Sonne, Regen und Gischt herumpfuschst, dann gedeihen sie nicht, und das Olivenöl schmeckt furchtbar." "Und in meinen Zaubertränken gegen Hautunreinheiten ist es dann nutzlos", warf Shera ein, als sie die Tür aufstieß und auf die Terrasse trat. Draco hatte in seinem Leben unzählige Aussichten genossen. Der Blick von einem Besen über Südengland war unglaublich, ein Sandsturm in Nordafrika wirkte von einem Teppich aus, der in sicherem Abstand darüber hinweg flog, total zerstörerisch, und vom Rücken eines indischen Wusels in Bombay aus sah alles ganz anders aus. Doch der Ausblick von dieser Terrasse, die sich an den Mont Bastide anschmiegte, war schlichtweg atemberaubend. 230
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Obwohl die Fußböden im ganzen Haus aus traditionellen provenzalischen Fliesen bestanden, gingen die Gäste auf der Terrasse über Glas. Bei jedem Schritt hatte Draco das Gefühl, aus diesem Adlernest dreißig Meter tief auf die felsigen Klippen zu stürzen. Er nahm nur am Rande wahr, dass Narcissa sich in einem Sessel an der Wand räkelte und anfing zu lachen, als er nach dem Türgriff langte, um sich daran festzuhalten. Laufen war etwas Notwendiges, etwas, das man drinnen tat, wo ein Besen nicht in Frage kam oder eine Projektion nicht das Richtige war. Laufen musste man eben einfach können, es war alltäglich, gewöhnlich und langweilig. Auf dieser Terrasse zu laufen war wie Fliegen oder Projizieren. Als Draco sich des leicht rauen Gefühls des Glases unter seinen nackten Füßen bewusst wurde und sich statt auf die Felsen unter ihm auf das Meer in der Ferne konzentrierte, wurde es eigentlich genauso einfach, wie sich auf einem Schiff zu bewegen. Er bemerkte, dass der Fußboden nicht völlig glasklar war, sondern leicht bernsteinfarben schimmerte, im Gegensatz zu den vier Meter hohen Wänden, die den Essbereich umsäumten; sie sahen aus, als sollten sie klar sein, aber es befanden sich Spuren von Salz und von der Gischt des Meeres daran. Bis Draco die Aussicht genügend bewundert hatte, waren alle außer Narcissa, die sich nicht aus ihrem Sessel wegbewegt hatte, bereit zum Essen. Falls sie dort sitzen bliebe, würde sie sich vielleicht nicht am Gespräch beteiligen, und die Wahrscheinlichkeit, dass Charles Dracos Fragen von vorhin erwähnte, wäre geringer. Anstatt sich zu ihr zu setzen, ging Draco auf den Tisch zu. Jedenfalls nahm er an, dass es ein Tisch war. Es war schwer auszumachen, ob sich unter all dem Essen, den Tellern, Bechern und anderen Utensilien tatsächlich eine Tischplatte befand. "Eigentlich betreiben wir in der Woche nicht so einen Aufwand bei den Mahlzeiten, aber da es euer erster Abend ist, wollten wir euch einen ordentlichen Eindruck verschaffen", sagte Shera und zeigte auf die Meeresfrüchteplatte. Die Platten stapelten sich bis zu einem Meter hoch über dem Tisch, prächtig und scheinbar in unbegrenztem Überfluss. Ein paar der Schalentiere kannte er, und Nore stellte sich auf ihren Stuhl, deutete mit einem Spieß, der so lang war wie ihr Arm, auf die anderen und erklärte, wie sie hießen. Da waren Austern im eigenen Saft, die in der Schale auf Eis lagen, Klaffmuscheln und würfelgroße Kammmuscheln, die immer noch an ihren gerippten Schalen hingen, SeeigelCreme, Austern aus Bélon, Yabbies (eine australische Austernart), Strandschnecken, Wellhornschnecken, Shrimps, Krabben, Hummer und Scheidenmuscheln, Krabben, die so angerichtet waren, als lägen sie im Sand, Belondines (eine Austernart), große spanische Miesmuscheln, gewöhnliche Garnelen und dicke, halbierte Hummer, die mit Seeigeln und winzigen blutroten Langusten garniert waren. Schalen voller Gazpacho und Seviche standen an jedem Tischende, außerdem schwebten drei Schüsseln mit Saucen (Cocktailsauce, Mignonette-Sauce und TarragonaMayonnaise) um die Meeresfrüchte herum, so dass jeder sie leicht erreichen konnte. Alles war auf tiefen, mit Eisblasen gefüllten Zinntabletts angerichtet. Natürlich war das Eis nicht wirklich nötig, um alles zu kühlen, aber es sah gut aus. Die unterste Lage war mit Austern, Klaffmuscheln und Kammmuscheln die größte, dazwischen lagen ein paar Zitronenscheiben im Eis. Alles war frisch, vollkommen und schwamm im eigenen Saft. Die zweite und dritte Lage war jeweils kleiner und ruhte auf schimmernden Sockeln, in denen sich das Sonnenlicht brach, so dass alles in sämtlichen Farben des Regenbogens erstrahlte. Sie waren mit den schwereren Schalentieren dekoriert, den Shrimps, Miesmuscheln, Scheidenmuscheln und Strandschnecken, die mit Seetang garniert waren, als wären sie auf dem Eis angespült worden. Die Seeluft vermischte sich mit dem Duft der Meeresfrüchteplatten, und Draco bemerkte, dass er am Verhungern war, wusste jedoch nicht genau, was er zuerst probieren sollte. Charles lächelte nachsichtig und beorderte ein bisschen von allem auf seinen Teller, dann bannte er den Teller, so dass er direkt vor Draco stand. Als er sich mit dem Hummerbein abmühte, erschien neben ihm ein Elf und reichte ihm einen Zinnbecher, in dem sich ein Schalenknacker, ein Spezialzinken, ein kleiner Löffel und eine winzige Gabel befanden, um die Schalen aufzubrechen 231
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
und den Inhalt herauszupulen. "Hier sind Ihre Werkzeuge, junger Herr", sagte er mit piepsiger Stimme. Das Mahl war köstlich. Die Austern schmeckten frisch und nach Meer, die Krabbenbeine waren süß, und ihr Körper schmeckte nach Gewürzen und Rosenwasser. Nore sammelte die Hummerschalen von allen ein und kratzte den senffarbenen Rogen für den Kniesel heraus, der ihnen allen um die Beine strich, dann, als die Sonne unterzugehen begann, gesellte Narcissa sich zu ihnen. Selbst nachdem sie ihren Platz am Tisch eingenommen hatte, schmeckte Draco immer noch alles, was er probierte, obwohl das flaue Gefühl im Magen, das sein Gespräch mit Charles hinterlassen hatte, wieder da war. Wenn Charles Narcissa danach fragte, dann würde Lucius innerhalb einer Stunde Bescheid wissen – sie würde zwar eine Woche lang geschafft sein, wenn sie nach England Apparierte, aber Draco wusste, dass sie es tun würde. Das einzig Gute an seiner Sorge wegen Charles war, dass dies seine Sorgen um Hermione etwas in den Hintergrund drängte. Draco wusste, dass im Verlagswesen jeder –bei den Schriftstellern angefangen – das Gespräch an sich riss, wenn er sich für ein neues Werk begeisterte. Shera schrieb normalerweise jedes Jahr ein Heldenlied, stets über die höfische Liebe zwischen einer Hexe im Teenageralter und diversen Zauberern. Die Mädchen hörten wie gebannt zu, als ihre Mutter sich über die Details in den Versen ausließ, die sie morgens geschrieben hatte, bevor die Gäste eingetroffen waren. Das Abendessen war vorüber, und der Tisch (es gab nämlich tatsächlich einen) war zum Mülleimer gegangen, bevor sie ausgeredet hatte. Während die Erwachsenen sich einen Digestif genehmigten und zusahen, wie die Sterne aufgingen, ging Draco mit den Mädchen hinein, um sich bei einem wartenden Hauself ein Sorbet zu holen. "Sie geht nie auf die Terrasse", sagte Nore und zeigte erklärend auf den Hauself, dann reichte sie Draco ein Tablett. "Du musst sie tragen. Maman glaubt nicht, dass wir schon alt genug sind, um mehr als ein Glas gleichzeitig zu tragen, weil wir noch keine eigenen Zauberstäbe haben", meinte sie, während sie ein Glas Sorbet nach dem anderen auf das Tablett stellte. Bis sie ein paar Löffel zusammengesucht hatten und wieder draußen waren, hatte das Gespräch der Erwachsenen sich anderen Dingen zugewandt. "... voller Muggel natürlich ...", sagte Shera gerade, als Nore und Draco herauskamen. Draco bugsierte das Tablett in eine Nische und nahm sich einen Nachtisch, dann setzte er sich so weit wie möglich von Narcissa entfernt auf einen Stuhl. Er hatte kein Buch mit hinausgenommen, weil er sein Zimmer so abrupt verlassen hatte, außerdem wäre es unhöflich gewesen, an seinem ersten Abend in Gesellschaft der anderen zu lesen. Schließlich war er nicht mehr neun. "Ich würde sowieso nicht in die Muggel-Kasinos gehen wollen. Seit sie angefangen haben, dort diese Guckaugen in ihren Kronleuchtern zu installieren, können wir unsere Zauberstäbe nicht mehr beim Roulette oder beim Würfeln benutzen", antwortete Narcissa. "Unsere eigenen Spiele sind da bei weitem fairer." Na klar ... Das war ein weiterer Grund, warum Narcissa diese Besuche genoss. Die Sonne und die Gärten waren schön und gut, aber Partys, auf denen Karten und sonstige Glücksspiele gespielt wurden, waren ein weiterer Ferienbonus. Noch dazu würden in zwei Wochen die Abraxas-Spiele stattfinden, und ein paar Meilen weiter östlich in Monaco standen magische Kasinos direkt neben dem Mirabeau und dem Grand Hôtel. Narcissa war groß darin, Wohltätigkeitsbälle im Stil von Monte Carlo für St. Mungo's und das Museum für Toleranz zu organisieren, aber bei Glücksspielen und Tombolas auf diesen Veranstaltungen ging es immer um Spielgeld und nicht um echte Preise. Beim letzten Ereignis dieser Art im Februar hatte Lucius bei einem Match für eine ganze Mannschaft Nimbus 2001er gestiftet, die von einer Werbekampagne übrig geblieben waren, die die Nationale Britische Besengesellschaft im Sommer vor Dracos zweitem Schuljahr in der Sonntagsbeilage des Propheten geführt hatte. Narcissa hatte in dieser Nacht die Kasinos in Monaco fast dazu gebracht zu schließen, indem sie Spielführer aus den echten Kasinos mitbrachte, die Roulette, Bingo, Ridotto, Po232
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
ker und Explodierendes Siebzehn und Vier leiteten. Da Zauberer unter siebzehn Jahren keinen Zutritt zu Monacos Spielkasinos hatten, hatte Draco sie noch nie von innen gesehen. Er war auch nicht besonders scharf darauf – er hatte oft genug im Schlafsaal um geringe Einsätze gespielt und außerdem mitbekommen, wie es Narcissa ergangen war, nachdem sie eine tollkühne Wette um ein Rubinarmband verloren hatte. Ein Elf erschien, um die Mädchen ins Bett zu bringen, und das Gespräch der Erwachsenen wandte sich von Glücksspielen Sheras neuestem Buch zu. Es sollte gerade ins Englische übersetzt werden – es hatte bisher keinen großen Absatzmarkt für epische romantische Poesie in Romanlänge gegeben, aber Lucius war bereit, ihrem Heldenlied etwas auf die Sprünge zu helfen. Sie war seit zwei Tagen dabei, die Korrekturfahnen durchzusehen, aber mit einigen Übersetzungen war sie nicht besonders glücklich. "Draco, wenn du in Menton bist, tust du mir dann einen Gefallen? Dein Onkel hat ein paar Dinge zu erledigen, könntest du mir in einem der Geschäfte ein paar Nachschlagewerke besorgen? Ich gebe dir die Adresse." "Klar", sagte Draco, dessen Aufmerksamkeit sich abrupt wieder dem Gespräch zuwandte. "Was für Bücher brauchst du denn?" "Ich weiß nicht genau", sagte Shera. "Ein paar Wörterbücher mit geologischer Terminologie in Französisch und Englisch, um sicherzugehen, dass sie meine Wörter auch richtig wiedergegeben haben. Warst du schon mal in einem Muggel-Geschäft?" Draco schüttelte den Kopf, während Narcissa für ihn antwortete. "Natürlich nicht. Du kannst dir bei diesen Muggeln alle möglichen Krankheiten holen, und er hat so eine zarte Konstitution. Zu zart für so was jedenfalls." Draco wollte sie schon unterbrechen, aber sie ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. "Noch was, Schatz ..." – Sie nannte ihn niemals so, es sei denn, sie wollte sich in der Öffentlichkeit als gute Mutter geben – er wusste jedoch, dass sie es nicht so meinte. "... du hast in den nächsten drei Tagen, bevor Dylan ankommt, so viel zu tun. Habe ich nicht gehört, wie du deinem Vater versprochen hast ..." "Ja, natürlich. Danke, dass du mich dran erinnert hast", sagte er so verlegen, wie sie es gern hören wollte. "Ich sollte dann wohl gute Nacht sagen." Sie waren nicht allein. Hieß das etwa, dass sie von ihm erwartete, dass er ihr einen Gutenachtkuss gab? Er stand auf und zögerte einen Augenblick zu lange. "Ich rechne aber damit, dass du mich irgendwann auf diesem Ausflug begleitest", sagte Charles. "Was für ein Ausfl... Charles, ich glaube nicht, dass er ..." "Später, Narci. Ich wollte dich noch fragen, kannst du dich aus der Schule an ein Mädchen erinnern ..." Draco erstarrte in eisigem Schrecken. Er meinte doch nicht etwa ... "... das Sclar-Vaughn hieß? Sie hat nämlich die Übersetzung gemacht, und wir wissen nicht, wie wir es ihr am besten beibringen sollen, falls irgendwelche grundlegenden Änderungen vorgenommen werden müssen." Er konnte sich nicht rühren. Er konnte sich nur dazu zwingen ruhig zu atmen, obwohl die Erwachsenen seine Reaktion gar nicht zu bemerken schienen. Er konnte sie hier draußen nicht einfach so allein lassen, damit sie sich über alte Schulfreunde und wer weiß was noch unterhalten konnten. Nicht, nachdem Narcissa schon fast eine Flasche Wein intus hatte. Zumindest musste er hören, was sie sagten. Doch wenn er blieb und Lucius nicht wie verlangt einen Brief schickte, dann würden so und so Himmel und Hölle über ihn hereinbrechen. Egal, wie er sich entschied, er verlor auf jeden Fall dabei. Das Beste, was er tun konnte, war zu lauschen, etwas, das er im wohl überwachten Herrenhaus niemals tat. Wenn er Glück hatte, machte sein Onkel sich weniger Sorgen um Spione. Nachdem er sich kurz verabschiedet hatte, rannte er über den Hof zurück zu seinem Schlafzimmer und warf sich aufs Bett. Er wiegte sich leise vor und zurück, er konnte nicht Projizieren, bevor sich wieder in der Gewalt hatte. Es kostete ihn fast noch mehr Willenskraft als eine Pro233
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jektion, und er fühlte sich furchtbar zittrig, als die Glaswände um ihn herum sich auflösten und er sich am Ozeanschwimmbecken wiederfand. Der Glasfußboden war kaum sechs Meter über ihm, doch er konnte wegen des Windes und des Brandungslärms Narcissas und Charles' Stimmen nicht hören. Er schob sich näher heran und strengte sich an, ihre Worte zu verstehen. Von seinem Standort aus war es außerdem ziemlich unmöglich, von ihren Lippen abzulesen. Draco wollte die Energie, die es ihn gekostet hätte, sich ganz klein zu machen, nicht vergeuden; stattdessen versuchte er, sich so auf die Felsen zu kauern, dass er zwar nahe genug war um zuzuhören, aber im Schatten der Dunkelheit unsichtbar blieb. Er konnte sehen, wie sie sich unterhielten, sich gegenseitig ihre Fragen beantworteten und lachten, doch er konnte sie immer noch nicht hören. Es wäre furchtbar riskant, sich auf die Höhe der Terrasse zu begeben, wo sie ihn sehen könnten, wenn sie über die Glaswände hinwegblickten, aber wenn er es nicht riskierte, dann wäre die ganze Projektion für die Katz gewesen. Er bewegte sich auf sie zu, wobei er fühlte, wie das Nichts seinen Körper einhüllte und ihn aufwärts beförderte, als ob er zur Oberfläche eines Pools schwämme und sich schon darauf freute, sie zu durchbrechen. Zu seiner Überraschung blieb dieser Moment aus. Stattdessen spürte er Widerstand, als ob das Glas ein Hindernis für ihn wäre, was noch nie zuvor der Fall gewesen war. Immerhin war er nicht in dem Glas gefangen, er konnte lediglich nicht hindurch; er konnte allerdings immer noch den Rückzug antreten, weg vom Haus. Gab es hier Schutzzauber, die einen Zauberer daran hinderten zu Projizieren? Aber wenn das so war, wie war er dann hinausgekommen? Weit entfernt von den Erwachsenen versuchte er noch einmal, nach oben zu kommen; da er annahm, er müsse sich sehr anstrengen, um eine Sperre zu durchbrechen, konzentrierte er seine Energie auf die Wand. Es war nicht nötig. Mühelos und instinktiv bewegte er sich dorthin, wo er hin wollte, geradewegs durch das Glas, als ob sowohl er als auch die Scheibe aus Luft bestünden. Doch als er einmal hindurch war, konnte er sich überhaupt nicht mehr vorwärts bewegen. Auch nicht seitwärts. Zurück, runter, rauf, das funktionierte alles problemlos. Doch so sehr er sich auch bemühte, auf die Terrasse kam er nicht. Und obwohl dort, wo er stand, keine Fackeln brannten und er sich vollkommen ruhig verhielt, bestand trotzdem das Risiko, dass seine verzweifelten Bemühungen Aufmerksamkeit erregen würden. Seine Zimmertür war auch nicht abgeschlossen, da er sich nicht die Mühe gemacht hatte, einen Epox-Zauber darüber zu sprechen, deshalb ... Ich muss wieder zurück! Bevor Draco sich auch nur einen Moment lang Sorgen darüber machen konnte, ob er vielleicht nicht wieder in seinen Körper zurückkäme, war er schon dort, so sicher wie in einem umgestülpten Glas. Es war wie immer, wunderbar schnell wie der Blitz kehrte sein körperloses Ich so geschmeidig wie eine Lakritzstange in seinen Körper zurück. Hoffnungsloser Fall, dachte Draco. Warum war er nicht nahe genug an ihr Gespräch herangekommen, wo er doch problemlos zurück ins Haus und in sein Zimmer gekommen war? Sollte er Lucius fragen? Oder sollte er Lucius lediglich fragen, ob er mit Charles darüber sprechen sollte, ob auf dem Haus vielleicht ein Schutzzauber lag, der ihn beim Projizieren behinderte? Lucius wollte ja immer noch, dass er übte, zurück zum Herrenhaus zu kommen, was konnte er also schon verlieren? Er schrieb an diesem Abend sechs Entwürfe des Briefes an Lucius und wog dabei das Für und Wider ab, das Problem direkt anzusprechen, nur darauf anzuspielen oder unumwunden zu fragen, was er jetzt tun sollte. Am Ende entschied er sich für eine vage Erklärung der Schwierigkeiten, sich hier zu bewegen, und seiner Besorgnis wegen des Glases. Vielleicht würde Lucius ihm ein paar Bücher über die Natur organischen Glases schicken, so dass er selbst imstande wäre, das Problem zu lösen.
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Beim Abendessen hatte Charles gesagt, dass der Hausrabe während der Nachtstunden alle Briefe mitnehmen würde, die er in einem bestimmten Quarzblock im Hof deponierte; bevor Draco die Schriftrolle für Lucius dort hinterließ, verfasste er noch schnell eine Nachricht für Hermione, in der er sie bat ihm mitzuteilen, wo sie sich befand und ob sie in Sicherheit war. Als Draco einschlief, während er die Sterne betrachtete, die über ihm funkelten, hoffte er inständig, dass es so sei. *** In Sicherheit, in Sicherheit, in Sicherheit. Das war alles, woran Hermione denken konnte, als sie immer weiter quer durch das vom fahlen Mondlicht erhellte Schottland fuhren: Dass sie bald in Sicherheit wäre. Sie wusste nicht genau, wie sie von Hogsmeade nach Hogwarts kommen sollte, oder ob ihre Eltern überhaupt aufs Schulgelände konnten, vor allem mitten in der Nacht, aber sie mussten es versuchen. Sie hatte fast zwanzig Galleonen in ihrem Geldbeutel, die von dem Geld übrig waren, das sie umgetauscht hatte, als sie sich das letzte Mal mit Draco in der Bibliothek getroffen hatte; eigentlich sollte sie davon ihre Schulsachen für das fünfte Schuljahr kaufen, aber falls sie die Nacht in Hogsmeade verbringen müssten, würde es für ein Zimmer im Newport Inn reichen. Wenigstens würde sie sich schnellstens an Professor Dumbledore oder sogar Professor Snape wenden können, wenn sie einmal dort waren, entweder durch das Kaminnetzwerk oder indem sie sich eine Eule mietete. Und niemand vom Ministerium würde auf die Idee kommen, dort nach ihr zu suchen. Sie saß auf dem Rücksitz, hatte den Kopf gegen das Fenster gelehnt und Crookshanks neben sich. Er machte genau wie ihr Vater ein Nickerchen, doch obwohl es schon spät war, konnte sie nicht schlafen. Außerdem brauchte ihre Mutter sie sowieso als Wegweiser. Im Schein ihres Zauberstabs beobachtete sie, wie die Karte über das Pergament rollte. Immer wieder erschienen darauf Hinweise wie "links abbiegen" oder "bei der Silbertanne abbiegen". Sie waren ganz allein auf der Straße, als sie dem gewundenen Weg folgten, der aus der wilden Landschaft rund um Hogsmeade in die Stadt führte. Es war dieselbe Straße, die sie im Frühjahr entlanggegangen waren, um zu Sirius' Höhle zu kommen. Sie hatte das Gefühl, als sei das in einem vorherigen Leben gewesen. In Cedrics Fall traf das sogar zu. Als sie durch die Außenbezirke von Hogsmeade fuhren, hatten sie schon seit fast zehn Minuten keine anderen Autoscheinwerfer mehr gesehen. Nachdem sie die Stadtgrenze überquert hatten, hielt das Auto nach kaum fünfzig Metern an. Hermione sah aus dem Fenster und bemerkte einen Zauberer mit einem glänzenden silbernen Abzeichen auf dem Hut, der mit erhobenem Zauberstab auf das Auto zukam. "Muggel, aussteigen!", rief er. Beim Klang seiner Stimme schrak William Granger aus dem Schlaf hoch und Victoria fuhr auf einen Parkplatz. Hermione versuchte das Fenster zu öffnen, aber anscheinend war die gesamte Elektrik des Wagens ausgefallen. Sie wusste natürlich, dass Autos in Hogwarts nicht funktionierten, aber sie hatte gehofft, dass in Hogsmeade die Magie nicht so hoch konzentriert wäre, dass sämtliche Systeme ausfielen. Stattdessen bat sie ihre Eltern im Auto sitzen zu bleiben und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Neben ihr war Crookshanks jetzt wach, und das Fell seines buschigen Schwanzes sträubte sich; er fauchte jedoch nicht, sondern beobachtete nur alles. "Ich bin kein Muggel, Sir, sondern eine Hexe, die auf dem Weg nach Hogwarts ist", erklärte sie. "Eine Hexe? In einem Muggelmobil? Warum in Merlins Namen sind Sie ...", fragte der Zauberer, von dem sie annahm, dass er zur Ordnungseinheit von Hogsmeade gehörte. "Ich bin Muggel-geboren, Sir", antwortete sie höflich. Vermutlich machte er nur seine Arbeit, von daher würde es nichts bringen, ihn zu verärgern. "Ich bin seit neuestem Haussprecherin und muss morgen früh bei Sonnenaufgang in der Schule sein", log sie gewandt. Ihre Eltern dreh235
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
ten sich auf ihren Sitzen überrascht um. Sie glaubte nicht, dass sie schon einmal in ihrem Beisein gelogen hatte, jedenfalls nicht, wenn sie wussten, dass sie log. Normalerweise wurden die neuen Haussprecher erst ungefähr eine Woche vor Schulbeginn benachrichtigt, aber sie hoffte, dass der Ordnungsbeamte das nicht wusste. "Wohin wollen Sie denn dann mit Ihren Muggeln?" "Wir wollten eigentlich im Newport Inn übernachten." "Haben Sie nie gelernt, dass Autos in Hogsmeade verboten sind? Auf diese stinkenden Maschinen, die uns überrollen und unsere Straßen kaputtmachen, können wir verzichten. Die sind dafür sowieso nicht breit genug." Hermione verbrachte ein paar atemlose Minuten mit dem Versuch dem Beamten zu erklären, dass sie das Auto zum Hotel bringen konnte, ohne den Motor anzulassen, vorausgesetzt natürlich, er gäbe ihr die Erlaubnis, außerhalb des Schuljahrs zu zaubern. Es war eine Sache, zu Hause zu zaubern, aber eine ganz andere, es direkt vor den Augen eines Gesetzeshüters zu tun. Sie hatte noch nie zuvor etwas so Schweres gebannt, aber wenn sie es so machte, wie Professor Flitwick empfahl, nämlich ohne über Größe und Gewicht des Gegenstands nachzudenken, war es genauso einfach, wie ein Kissen zu bewegen. Schwieriger war es dafür zu sorgen, dass das Auto nicht schneller als zehn Stundenkilometer fuhr. Mit dem Beamten neben sich, der jede Bewegung ihres Zauberstabs überwachte, gelang es ihr jedoch, das Auto hinter das Gasthaus zu manövrieren und es neben etwas zu parken, das aussah wie der Schlitten eines Kindes, der von irgendeinem Zauberer ganz eindeutig so behext worden war, dass er auf Erde und Gras genauso gut funktionierte wie auf Eis und Schnee. In einer so warmen Nacht schien Schnee etwas unglaublich Schönes zu sein; wegen des langen Marsches und weil der Zauberspruch sie ermüdet hatte, war sie verschwitzt, schmutzig und total unglücklich wegen der Klemme, in der sie saß, aber gleichzeitig aufgeregt, wieder Magie um sich herum zu spüren. Sie ging zum Kofferraum und hievte ihren Schrankkoffer und Crookshanks' Katzenkorb auf den Gehsteig. "Also dann", sagte Hermione zu dem Beamten, "Wiedersehen!" Doch der Beamte hörte nicht zu. Er stand immer noch neben dem Auto und glotzte den dunklen Eingang zum Newport Inn an. "Da sind Sie ja, Hermione", sagte eine Stimme. Bevor Hermione sich umdrehen konnte, fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Im selben Moment murmelte der Beamte: "Heiliger Bimbam!" Hermione sah zum Eigentümer der Hand auf ihrer Schulter auf und kam sich vor, als hätte man sie in ein Schwimmbecken geworfen – sie war direkt in Professor Dumbledore höchstpersönlich gerannt. Der Beamte sprang neben dem Direktor auf den Gehsteig und schüttelte ihm aufgeregt die Hand. "Sir, wir haben Sie schon seit zwei Monaten nicht mehr in der Stadt gesehen! Nehme an, die Schule hält Sie ganz schön auf Trab, auch ohne solche Aufregungen wie dieser verrückte Sirius Black, der frei hier rumrannte? Im vorvorigen Winter konnten wir nicht mal abends unserer Arbeit nachgehen, mit all diesen Dementoren auf den Straßen." Hermione lächelte und bemerkte, dass Professor Dumbledore ebenfalls lächelte. Sirius war in ihrem dritten Schuljahr eigentlich gar nicht in Hogsmeade gewesen, dafür aber in ihrem vierten, als er in einer Höhle gehaust hatte, die Professor Dumbledore gleich vor den Toren der Stadt auf dem Hogmount gefunden hatte. Aber was die braven Bürger von Hogsmeade nicht wussten, würde sie auch nicht um ihren Schlaf bringen. "Dementoren?", wiederholte Dumbledore stirnrunzelnd. "Solange ich hier irgendwas zu sagen habe, werden sie nie wieder nach Hogwarts oder nach Hogsmeade kommen." "Aber Sie bestimmen doch hier, Sir!", sagte der Beamte mit einem freudigen Unterton in der Stimme. "Und, Sir, ich hätte da eine Frage wegen meinem Neffen ..." "Ja ja", sagte Dumbledore schnell. "Morgen dann, schicken Sie mir einfach eine Eule, dann machen wir einen Termin aus, Clive. Aber jetzt muss ich meine Schülerin und ihre Eltern ins Hotel bringen ..." 236
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Dumbledore verstärkte den Druck auf Hermiones Schulter, und Hermione fühlte, wie sie mit ihren Eltern im Schlepptau ins Hotel bugsiert wurde. Sie musste wohl kurz geblinzelt haben, da sie nicht mitbekommen hatte, wie Dumbledore ihren Schrankkoffer behext hatte, so dass er vor ihnen her ins Hotel schwebte. Durch die Tür hinter der Rezeption kam eine gebeugte Gestalt mit einer Laterne, die sich – ganz Geschäftsfrau – einen Hut auf den Kopf setzte. "Sie haben sie gefunden, Professor!", sagte sie. "Haben Sie irgendwelche Wünsche? Butterbier? Cognac?" "Vielleicht ein Kännchen Tee, Eunice, und einen Teller mit Kesseltörtchen", sagte Dumbledore, der Hermione immer noch nicht losgelassen hatte. "Und ich glaube, das Zimmer der Grangers ist jetzt bereit", fügte er ostentativ hinzu. "Alles ist genauso, wie Sie es gewünscht haben, Professor", sagte Eunice und nahm eine Feder aus einer Schreibtischschublade. "Wenn Sie hier bitte unterschreiben." Sie gab William Granger die Feder, der damit umging, als handele es sich um einen Bohrer, der sich nicht abstellen ließ. Als er unterschrieb, dirigierte Dumbledore Hermione und ihre Mutter zu einer Sitzgruppe neben ein paar Kübelpflanzen in einer Ecke des Foyers, ihr Vater gesellte sich gleich danach ebenfalls zu ihnen. "Setzen Sie sich, Hermione", sagte Dumbledore und zeigte auf einen Sessel neben dem Kamin. Hermione setzte sich und fühlte, wie sie trotz der Wärme des Feuers auf beiden Armen eine Gänsehaut bekam. Dumbledore zog seinen Umhang aus und warf ihn beiseite, dann setzte er sich in einen Sessel Hermione gegenüber. "Ich vermute, Sie fragen sich, woher ich wusste, dass Sie kommen würden", stellte er scharfsinnig fest. Hermione nickte. "Ich ging davon aus, dass Ihr Koffer das Haus nur verlassen würde, wenn Sie hierher kommen wollten. Als Sie ihn in den Wagen gepackt haben, wurde mir klar, dass es nur drei Gründe dafür geben konnte. Molly Weasley sagte, sie würde Sie nicht erwarten, und ich wusste, dass Sie mit dem Koffer nicht den jungen Mr. Potter besuchen wollen. Was ich nicht verstehe ist, warum Sie es für nötig hielten, mitten im Sommer nach Hogsmeade zu kommen, wenn die Schule erst wieder in gut sechs Wochen anfängt. Falls es wegen dieses Zeitungsartikels über Sirius sein sollte, kann ich Sie beruhigen. Das haben wir im Griff." Hermione war so daran gewöhnt, dass Dumbledore immer alles wusste, als ob er mit magischen Augen sehen könnte, dass es eine Überraschung war zu erfahren, dass er nicht all ihre Gedanken kannte. Zum dritten Mal an diesem Tag zog sie den Brief vom Ministerium hervor und gab ihn ihm. "Ich beantrage übrigens Asyl in Hogwarts, damit ich ihre Fragen nicht beantworten muss." Ihre Eltern hörten noch einmal zu, als sie die Sache mit Rita erklärte und ihre Besorgnis wegen Sirius und Harry äußerte. Als Hermione vom Pergament des Ministeriums aufblickte, sah Dumbledore so alt und müde aus, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie wollte ihrer Litanei nicht unnötig eins obendrauf setzen, aber es musste sein. "Es gibt da noch jemanden, über den sie mich verhören können. Draco Malfoy." *** Ein Flug bei Sonnenaufgang über zerklüftete Schluchten und üppige Weinberge am nächsten Morgen führte Charles und Draco über die Provence zu den salzigen Marschen der Camargue. Sowohl Flamingos als auch wilde Abraxaner sahen zu ihnen hoch, als sie vorbeiflogen, was an sich schon ein unvereinbares Szenario war. Draco flog Sheras Saint-Exupéry, da sein eigener Nimbus 2001 mit dem Rest seiner Quidditchausrüstung erst in zwei Tagen mit Dylan zusammen eintreffen würde. Es war noch dunkel gewesen, als Draco an diesem Morgen vom Lärm des Ozeans aufgewacht war, der sich anhörte, als würden die Wellen bis in sein Zimmer schwappen. Das morgendliche Dämmerlicht half ihm dabei sich zu orientieren, es dauerte jedoch fast eine Minute, bis 237
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
er merkte, dass das Geräusch von der schimmernden Muschel auf seinem Nachttisch kam. Er nahm sie in die Hand, um sie zu untersuchen, wobei der Ton sogar noch lauter wurde. Schließlich wurde das Rauschen des Meeres zu einer Stimme – Charles' Stimme –, die ihn aus der Muschel heraus anrief. "Ich hab' ihm nie gesagt, wie diese Dinger funktionieren, und sie sind so neu auf dem Markt, dass ich nicht erwarten kann, dass er schon mal eine gesehen hat!" "Onkel Charles?", rief Draco verwirrt. "Was ist das hier für ein Ding?" Charles klang erfreut und überrascht, als er ihn hörte, beantwortete seine Frage jedoch nicht. "Wir treffen uns in ungefähr zehn Minuten am Eingang – zieh dir Muggelsachen an. Wir müssen uns auf den Weg machen!" "Ich kann nicht!", erwiderte Draco, doch Charles hatte nicht locker gelassen. Also hatte Draco die Shorts anziehen müssen, die er im Schrank gefunden hatte, und hatte einen Pullover darüber gezogen. Mit seinen nackten Beinen kam er sich linkisch und nackt vor und fühlte sich unbehaglich, aber es war nichts anderes da gewesen, was er tagsüber hätte anziehen können. Narcissa hatte die Sachen, die er normalerweise am Ende und am Anfang des Schuljahrs zum King's Cross-Bahnhof anzog, nicht eingepackt, da sie der Meinung war, sie wären so tief im Süden zu warm. Charles wartete draußen schon mit den Besen und zwei Tassen Espresso auf ihn. Er wollte nichts von Dracos Protesten hören, weder in Bezug auf seine Projekte und Schularbeiten noch im Hinblick darauf, dass Narcissa ihm den Ausflug verboten hätte. Charles versicherte ihm, dass alles in Ordnung sei. Es war noch nicht einmal sieben, als er bereits in der Luft war und an einem Brötchen kaute, während er - mal in Charles' Windschatten und mal nicht - hinter ihm herflog. Er wusste ja nicht einmal, wohin sie wollten. "Warum bist du nicht einfach Appariert? Wieso machst du dir die Mühe, mich mitzunehmen?" Charles sagte einfach: "Ich Appariere nie, und du siehst so aus, als könntest du einen Tag Ferien gebrauchen." Er vermied die Themen vom vorigen Tag und stürzte sich stattdessen auf eine Beschreibung des neuen Strandgeräusch-Systems, das er im Haus installiert hatte. "Wir haben keinen Kamin, deshalb können wir kein internes Kaminnetzwerk installieren, und die Wände sind so dicht, dass man sich nicht von einem Zimmer zum nächsten unterhalten kann, geschweige denn durchs ganze Haus." Charles hatte ganz eindeutig ein Faible für neue Erfindungen und alle Arten von Neuheiten, ganz im Gegensatz zu Lucius, dem es am liebsten gewesen wäre, wenn im Herrenhaus alles genauso bliebe, wie es war, als er es vor vielen, vielen Jahren geerbt hatte. Draco tat sein Bestes, um sich in den folgenden Stunden keine Sorgen um Hermione zu machen. Er konnte zwar die fürchterlichen Vorstellungen einer Hermione, die vom Ministerium verhört wurde, nicht ganz verdrängen, auch nicht seine Besorgnis, bei ihrer Rückkehr in Eze einen Brief vom Ministerium vorzufinden, der ihn zum Verhör vorlud, aber zwischenzeitlich versuchte er, wenigstens nicht an Hogwarts zu denken. Sie begaben sich zuerst zum Pofregargelle-Vertriebszentrum. Das Gebäude, in dem es untergebracht war, war einmal ein jahrhundertealtes Herrenhaus gewesen, es war jedoch ganz eindeutig in jüngster Zeit modernisiert worden. An der Vorderfront befand sich eine riesige Glaspyramide, die eine Tintenfischfamilie beherbergte, die fröhlich in einem seltsamen Unterwassergarten herumschwamm. Innen sah es jedoch aus wie jedes x-beliebige Bürogebäude, mit Steinwänden, in die winzige Fenster eingelassen waren, die gerade groß genug für Botenvögel waren, und Möbeln, die so aussahen, als wären sie aus der Bibliothek von Hogwarts entwendet worden. Draco war froh, dass er sich von einem der Regale ein Buch gegriffen hatte, bevor sie sich auf den Weg gemacht hatten; während Charles sich mit seinen Kollegen in einem Gebäude traf, das über das Meer hinausragte, gelang es Draco, dreißig Seiten von Die Quidditch-Konföderation von Vratsa zu lesen. Wenn Charles hier arbeitete, hatte Draco keine Probleme zu verstehen, warum er ein so leicht wie möglich gebautes Haus wollte. 238
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Natürlich hatte dieses Gebäude auch einen praktischen Aspekt. Charles traf sich hier mit ein paar Managern, einige davon waren Zauberer, andere hingegen Nixe, die nicht aus dem Wasser herauskonnten. Der Konferenztisch erinnerte stark an japanischen Stil, so dass die Zauberer auf dem Boden saßen, während die Nixe nicht auftauchen mussten. Den Worten des Übersetzers entnahm Draco, dass die Distributionskette für hochwertiges Kiemenkraut unterbrochen worden war – jene Qualität, die von der Abteilung für Mysterien im Ministerium angekauft wurde –, und dass einige der Pflanzen während der einzelnen Verarbeitungsstufen verschwanden. Draco setzte sich auf eine Seite eines ungepolsterten, glatten Sofas, von dem er immer wieder herunterrutschte. Nachdem er dreimal auf dem Boden gelandet war, machte er es sich dort mit Hilfe eines Kissen-Zaubers bequem, den die Quidditchspieler in dem Roman benutzten, den er mitgebracht hatte. Es war zwar ein langweiliges Gespräch, doch die durchdringenden, schrillen Stimmen der Nixe lenkten ihn von seinem Buch ab. Er wollte Charles nicht unterbrechen, wollte den Raum aber auch nicht einfach so verlassen um nachzusehen, ob er ohne Charles' Erlaubnis irgendwo eine ruhige Ecke zum Lesen finden würde. Er war sicher, dass sein Onkel es nicht gern sähe, wenn er den Raum verließ, obwohl Charles nichts dagegen gehabt hatte, als Draco sich die Unterwasser-Ausstellung angesehen hatte, die an der dem Eingang am nächsten gelegenen Wand zu bewundern war. Eine der Wasser-Alraunen hatte ihm zugewinkt, als sie zu einer anderen in den Topf geklettert war. Er konnte wenigstens nach draußen gehen und den Blick aufs Meer genießen, statt die dunklen Wände hier anzustarren. Wozu war man denn in der Provence, wenn man nicht hinaus durfte? Außerdem wollte Lucius, dass er die Reichweite seiner Projektionen vergrößerte, er könnte also versuchen, in den nächsten paar Tagen England zu erreichen. Charles würde es nie erfahren. Er klappte sein Buch zu, begab sich außer Sichtweite und konzentrierte sich darauf zu Projizieren. Statt eine Kugel so zu verzaubern, dass sie anfing zu funkeln, was möglicherweise unerwünschte Aufmerksamkeit erregt hätte, starrte er eine der Fackeln an – sie hatte gerade die richtige Farbe und Größe. Er blinzelte und fühlte, wie er sich von seinem Körper entfernte, jedoch nicht besonders weit, da er nur einen guten Aussichtspunkt finden wollte. Gerade außer Sichtweite der Sitzungsteilnehmer befand sich eine eiserne Wendeltreppe, die aussah, als führe sie zu einem Loft und zu einer Tür, die nach draußen führte. Draco war winzig klein, als er mit unglaublicher Konzentration die Stufen hinaufglitt. Er konzentrierte sich so stark auf die eisernen Stufen und die anscheinend riesigen Lücken dazwischen, dass er fast vergaß, dass er in seinem Zustand gar nicht hinunterfallen konnte. Als er oben ankam, beugte er sich zu einem der winzigen Fenster, in der Erwartung, Sonnenschein, Vögel, Wellen, Klippen und vielleicht auch ein paar Sonnenanbeter zu erblicken, außerdem all das, was es am Mittelmeer sonst noch so gab, doch stattdessen ... ... fiel er. Er fiel durch den leeren Raum, durch salzige Luft und grobes Salz, das tiefe, dicke Schichten bildete. Er wusste nicht genau, wie tief er gefallen war oder wie lange sein Fall gedauert hatte, er hatte auch nicht wirklich das Gefühl, irgendwann zu landen, es hörte einfach auf. Und als er nicht mehr fiel, war er in einem Zimmer. Es kam ihm irgendwie vertraut vor – es hatte die bedrückende Atmosphäre einer unterirdischen Kammer. Es musste Verbindung zu dem Gebäude haben, in dem er sich befunden hatte, bevor er durch die Tür gegangen war, oder Teil davon sein, da die Farbe der Steine und der Fackeln an den Wänden genau die gleichen waren. Es gab darin weder Fenster noch Türen. Da waren Lichter, eine Matratze und Stühle, ein Krug mit einem Sprung, ein paar verstreute Pergamentfetzen und dieses harte Muggelmaterial, das irgendwie unecht aussah. An einer Wand stapelten sich ein Dutzend Kisten, die aus verfault wirkendem Holz bestanden. Wenn er in der Lage gewesen wäre es zu berühren, wäre es mit Sicherheit zerbröckelt. In der Luft war so viel Staub, dass sie dick wirkte. Wenn Draco gezwungen gewesen wäre sie einzuatmen, wäre er sicher erstickt. 239
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Der Raum war nicht besonders klein, aber weil er keinen Ausgang hatte, verspürte Draco das Bedürfnis ihn zu verlassen. Aber wie? Bevor er Projizieren konnte, brauchte er ein bestimmtes Ziel, aber so wie er in dieses Zimmer geraten war, ohne wirklich zu wissen, wo er sich befand, würde das eine ziemliche Herausforderung sein. Natürlich könnte er einfach durch eine der Wände gehen um nachzusehen, was sich auf der anderen Seite befand, aber da er nicht wusste, was ihn dort erwartete, war ihm der Gedanke äußerst unangenehm. Er hatte beim Projizieren noch niemals Flammen durchquert oder versucht, die Erde zu durchbrechen, und er hasste es, in diesem Zustand unter Wasser zu sein. Wozu sollte es gut sein, sich unter Wasser zu befinden, wenn man nicht fühlen konnte, wie es einen umspielte, einem Auftrieb gab und einen herumwirbelte? Seit im zweiten Schuljahr der Geist von Gryffindor schwarz geworden war, war ihm bewusst, dass er selbst beim Projizieren noch magisch genug war, um Schaden zu erleiden oder sich zu verletzen. In Anbetracht dessen, wie er in diesen Raum gepurzelt war, musste er sich gut überlegen, wie er hier wieder herauskäme; er wollte nicht wie am Abend zuvor gegen eine undurchdringliche Barriere stoßen. Doch wenn er es schaffte, wäre es eine reife Leistung. Lucius wäre stolz auf ihn. Lucius wäre ziemlich beeindruckt, wenn er hier ganz allein herauskäme. Lucius würde merken, dass all die Mühe, die er darauf verwandt hatte, Draco verschiedene Arten der Projektion beizubringen ... Auf einer der Kisten stand Lucius' Name. Sein Name und die Anschrift der Redaktion in der Diagonallee. Draco hielt die Hand über einen der Deckel und versuchte, ihn mit einem Apportierzauber zu heben. Er bebte ein bisschen und glitt dann langsam zur Seite; der Spalt war gerade groß genug für Draco um hineinzusehen. Auf den ersten Blick sah es aus, als sei die Kiste voller Kiemenkraut, von jener Sorte, die die Zauberer für den Fall, dass sie kentern sollten, mit auf lange Schiffsreisen nahmen, doch zwischen den Ranken erblickte er stapelweise Zeitungen – alte, vergilbte Ausgaben des Propheten. Die Seiten waren zusammengefaltet, die Worte darauf feucht und verschmiert, und er konnte kaum sagen, ob die Fotos Leute oder Gegenstände darstellten. Wenn es Leute waren, dann mussten sie sich wohl langweilen – keiner davon bewegte sich. Er versuchte, eine der Zeitungen mit einem Mobili-Libros-Spruch zu bewegen und sie mit Revalo so weit zu bringen, dass er sie lesen konnte, aber obwohl er sich bemühte vorsichtig zu sein, entzog sie sich beharrlich seinem Blick. Nur das Datum, das auf jeder Seite an derselben Stelle stand und deshalb durch den ganzen Pergamentstapel geblutet hatte, war lesbar. Februar 1979. Diese Ausgabe musste er lesen. Verzweifelt und voller böser Vorahnungen probierte er ein paar Trocknungs-Zauber, Klarheits-Zauber und einen Dehydrationsspruch an dem Propheten aus. Das viele Zaubern war furchtbar anstrengend, aber er wollte die Wörter partout entziffern. Natürlich gab es in der Redaktion des Propheten auch alte Ausgaben, aber das komplette Archiv befand sich in einem Lagerraum, und die Schubladen mit den Zeitungsausschnitten waren absolut nicht nach Datum geordnet. Draco hatte überlegt, ob er Lucius die Erlaubnis abschwatzen sollte, ins Archiv zu gehen, aber entschieden, dass das keine gute Idee war, da Lucius herausfinden könnte, wonach er suchen wollte. Dann war er endlich in der Lage, die Schlagzeilen zu lesen und ein paar der Seiten umzublättern. Er überflog die Artikel über die Spiele der Moutohora Macaws gegen die englischen Mannschaften, Leitartikel über die neuen Vorschriften bezüglich der Qualität des Glases von Phiolen und eine Kritik von Kniesel!, das damals ein brandneues Musical gewesen war, das im Theaterbezirk der westlichen Diagonallee gespielt wurde (und immer noch gespielt wurde, sehr zu Dracos Leidwesen, denn Narcissa war jedes Jahr einmal mit ihm dort gewesen, seit er vier war). Er war nicht sicher, was er suchte, aber ...
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Eine Welle von ungeklärten Fällen von Amnesie unter nicht reinblütigen Zauberern und Hexen werde einer neuen Variante der Grippe zugeschrieben, berichtet Viola Jade, und sei nicht Beweis für die Existenz einer neuen Art von Zauberformel oder Zauberspruch. Eine am Dienstag im neuen Englischen Journal für Medo-Magie veröffentlichte Studie berichtet, dass ein Defekt bei Muggel-geborenen dafür verantwortlich sei, dass sie alle Zaubersprüche, Zauberformeln und Zaubertränke vergessen, die sie gelernt haben, wenn sie sich mit der Motten-Influenza infizieren, die ihren Namen von jener Kreatur erhalten hat, die die Infektion von Zauberer zu Zauberer überträgt. Die Autoren der Studie konnten jedoch nicht erklären, warum die Betroffenen ihre Kenntnisse im Wahrsagen nicht ebenso verloren haben. Im vergangenen Monat, seit diese Zeitung ein Editorial veröffentlicht hat, in dem sie verlangte, dass alle Träger der Krankheit unter Quarantäne gestellt würden, bis die allgemeine Ansteckungsgefahr vorbei wäre, wurden über drei Dutzend Hexen und Zauberern ihre Zauberstäbe vom Ministerium für Magie abgenommen. Die Redaktion dieser Zeitung ist jedoch immer noch der Meinung, dass die Maßnahmen des Ministeriums unzureichend sind und die Allgemeinheit unnötig einem Risiko ausgesetzt wird. (Siehe unser Editorial von Lucius Malfoy, Herausgeber, Seite A8). Lily Evans, Assistentin des Stellvertretenden Ministers für Muggel-Beziehungen, hat eine Erklärung des Stellvertretenden Ministers Moon herausgegeben, die wie folgt lautet: "Wir rufen alle Muggel-geborenen Hexen und Zauberer auf, sich im Ministerium zu melden, so dass wir die Ausbreitung der Ansteckung verfolgen und Selbsthilfegruppen für die Betroffenen gründen können. Wir empfehlen außerdem dringend die Anschaffung von Gedankenbassins, die dabei helfen können, verloren gegangene Erinnerungen wiederzufinden." Andere Ausschüsse haben sich mit der Entwicklung von Heilmethoden und vorbeugenden Zaubersprüchen befasst, außerdem wird derzeit erforscht, ob bestimmte Aromen – sei es nun Wacholder, Lorbeer, Kiefer oder Schwefel – dabei helfen könnten, alle Risikopersonen vor Ansteckung zu bewahren. Der Tropfende Kessel meldet einen steigenden Verkauf von Holunderwein, von dem ohne jede Grundlage angenommen wird, dass die vergorenen Beeren vor Ansteckung schützen. Als er sich dem Ende des Artikels näherte, hörte er zum ersten Mal, seit er in den Raum gefallen war, ein Geräusch. Schritte. Über ihm, so kam es ihm vor, liefen Leute herum. Unbewusst warf er einen Blick auf seine Uhr, dann fiel ihm ein, dass sie während einer Projektion nicht funktionierte. Die Zeiger blieben exakt zu dem Zeitpunkt stehen, an dem er Projizierte, deshalb war es immer noch fünf vor neun. Natürlich war es inzwischen später, er hatte gehört, wie es neun schlug, kurz bevor er diesen Raum erreicht hatte. Es geschah absolut plötzlich und unerwartet. Von ganz weit her hörte es sich so an, als ob jemand schrie, seinen Namen schrie, doch er blickte immer noch auf die vor ihm ausgebreitete Zeitung und achtete nicht darauf. "Draco!", rief eine Stimme. Es war ein Ruf der Verzweiflung. Nicht Lucius, nicht so vertraut, doch eine bekannte Stimme, eine Stimme, der er seine Aufmerksamkeit zuwandte – aber wer, und warum? Das Gefühl der Erinnerung, wo er gewesen war, legte sich um ihn wie eine Peitschenschnur, und bevor er noch einen letzten Blick auf die Zeitung werfen konnte, wurde der Fußboden zur Decke, und er glitt und fiel durch Wände, Erde und Himmel, noch unstofflicher als ein Lichtstrahl, bis er ... "Draco! Untersteh dich, mir einfach so wegzusterben! Dein Vater würde mich umbringen, wenn ..." Er drehte den Kopf und sah, dass Charles auf dem Boden neben ihm saß, den Rücken ans Sofa gelehnt und die Hand so fest um Dracos Arm geklammert, dass er sich nicht bewegen konnte. "Lass das", murmelte Draco. "Mir geht's gut, Charles, aber nicht mehr lange, wenn du meinen 241
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Arm weiter so quetschst." Das war keine Beschwerde, dachte Draco klar und deutlich. Ich bin wieder da, und ich werde mich über nichts beklagen, schon gar nicht darüber, dass ich die Zeitung nicht zu Ende lesen konnte. Charles ließ seinen Arm los und packte seine Schultern nicht weniger fest, bevor er seine Manager entließ, die zu ihrer Sitzung mit den Nixen zurückkehrten. "Wie kannst du verdammt noch mal so fest schlafen? Ich hab' dich vorhin rumlaufen sehen – hast du irgendwas angefasst?", wollte Charles wissen. "Hast du irgendwelche Pflanzen aus der Ausstellung gegessen? Was hast du genommen?" "Nichts, ich hab' einfach ..." Dracos Verstand arbeitete auf Hochtouren, Charles wusste ja nicht, dass er Projizieren konnte. Wenn er es gewusst hätte, wäre er nicht so besorgt gewesen. "Ich war irgendwie müde und mir war langweilig, deshalb habe ich einen Beruhigungszauber über mich gesprochen, dann habe ich den Lärm gedämpft, damit ich ein Nickerchen machen konnte. Ich denke, ich hab' dich vorhin nicht gehört", log Draco. "Du hast die Seeanemonen nicht probiert? Die mit den Augen auf den Stacheln?", fragte Charles noch einmal. "Die haben eine ziemlich starke betäubende Wirkung, und ich bin nicht sicher ..." Draco setzte sich auf und schüttelte den Kopf. "Nein, einer meiner Schlafsaalgenossen schnarcht fast permanent, ich hab' einfach gelernt, Geräusche zu ignorieren, es sei denn, sie sind direkt neben mir." "Und du bist nicht rumgelaufen, bevor du dieses Nickerchen gemacht hast?" Bei dieser Frage sah Charles Draco in die Augen. Hier konnte er getrost die Wahrheit sagen. "Ich hab' die ganze Zeit in diesem Bereich hier gesessen." "Vielleicht sollte ich dich nach Hause schicken. Du hast dunkle Ringe unter den Augen und siehst erschöpft aus – so schlimm war das nicht, als wir das Haus verlassen haben", bemerkte Charles. "Du solltest hier nicht herumlaufen, dass hätte ich wohl klarstellen müssen, als wir gekommen sind. Das ist ein Vertriebszentrum hier, und die meisten Türen in diesem Zimmer führen in Lagerhäuser, von denen wir einige aktiv nutzen, während in anderen nur irgendwelche Sachen für längere Zeit lagern." Er zog Draco auf die Füße und führte ihn zum Konferenztisch. "Wir haben ein Team von Gringotts angeheuert, um die Portale zu errichten, und wenn du ohne ein entsprechendes Zutritts-Amulett die Lagerräume betrittst, wo ein paar der teureren Produkte und diejenigen Stoffe lagern, die der Kontrolle unterliegen, dann wirst du durch die Tür eingesaugt und sitzt darin in der Falle." Draco überlegte, dass ihm genau das passiert sein musste. Wenn er sich nicht im Zustand der Projektion befunden hätte, wäre er ... irgendwo gefangen gewesen. Es war so töricht von ihm gewesen, Charles nicht zu gehorchen, und noch törichter, dass er so mit seiner Entdeckung beschäftigt gewesen war, dass er sich nicht vergewissert hatte, wo er war oder wie er wieder zurückkommen würde, ohne zu riskieren, noch einmal durch das Portal zu gehen. Die Zeitungen waren genauso unerreichbar für ihn, als wenn sie auf dem Grund des Meeres lägen. Er hörte kaum, wie Charles sich verabschiedete. "Leute, ich geh' dann, nehme aber eine Muschel mit. Ich glaube, der Junge sollte sich nicht noch mehr hiervon anhören müssen, und Sie kennen meine Ansichten ja bereits. Spritzen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen", endete er. Der Weg zurück zum Besenschuppen kam Draco wie eine Ewigkeit vor. Charles hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und dirigierte ihn durch die Tür; keiner von ihnen sagte ein Wort, bis sie ihre Besen in der Hand hielten. Im selben Augenblick, als Draco sagte: "Ich fühle mich gut genug ...", fragte Charles: "Bist du sicher, du kannst ..." "Alles in Ordnung", sagte Draco stur. Sobald sie zu Hause ankamen, würde Charles Narcissa unweigerlich von seinem "Nickerchen" erzählen, und sie würde genau wissen, was Draco getan hatte. Am besten schob er diesen Augenblick so lange wie möglich vor sich her, denn wenn sie
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Charles' Geschichte gehört hatte, würde er für die restliche Zeit seines Aufenthalts vermutlich ohne Narcissa nirgendwo mehr hingehen können. Draco wusste, dass Charles ihm zwar ganz eindeutig kein Wort glaubte, aber ihre Pläne für den Tag trotzdem nicht ändern wollte. Er stellte Draco jedoch keine weiteren Fragen mehr über sein angebliches Nickerchen. Stattdessen erzählte Charles ihm, was er auf dem Markt von Valbonne besorgen musste und wies ihn darauf hin, dass er keinerlei Gelegenheit mehr haben würde, den Markt zu besuchen, wenn sie sofort nach Eze zurückfliegen müssten. Und welch ein seltsamer und wundervoller Markt es war. Es war ein bunter Mischmasch aus Engländern und Franzosen, und jeder schien den anderen zu verstehen. Auf dem Hauptplatz befand sich der Muggelteil des Marktes, wo die hölzernen, mit Leinenbaldachinen überdachten Stände der Bauern den Bereich begrenzten. An jedem Stand wurde etwas anderes verkauft: Käse an dem einen, Agrarprodukte an dem anderen, und an einem dritten mit Wohlgerüchen gefüllte Flakons. An mit verschiedenen Olivenölsorten beladene Tische schlossen sich solche mit Bündeln von getrocknetem Lavendel und Rosmarin, Knoblauch, Honig, Broten, Seifen und Stoffen an. An fast jeder Ecke standen Blumenhändler. Es war frappierend zuzusehen, wie Charles stehen blieb und viele der Händler begrüßte, bei einigen gab er sogar Bestellungen auf. Er hatte sogar Muggelpapier, das er ein paar der Bauern gab, und sie gaben ihm Münzen zurück. Draco hatte noch niemals etwas direkt bei einem Muggel gekauft – er hätte niemals auch nur im Traum daran gedacht, Lucius um Erlaubnis zu bitten, so etwas tun zu dürfen -, doch er nahm auf Charles' Drängen hin von einem ein Buttercroissant an. Es schmeckte völlig normal, was an sich schon überraschend war. Keiner der Muggel machte eine Bemerkung über den großen Rucksack, den Charles auf dem Rücken trug. Er war innen groß genug für ihre Besen, aber für die Muggel sah er nicht größer aus als die Rucksäcke, die einige von ihnen dabeihatten – diejenigen, die trotz des warmen Wetters Kniestrümpfe zu ihren Sandalen trugen. Erst, als sie den Platz überquert und durch einen Bogengang verlassen hatten, der in die Berge führte, fühlte Draco sich in seiner Umgebung etwas wohler, obwohl er wusste, dass er in seinen Muggelsachen ziemlich deplatziert wirken musste. Er zog seinen Pullover etwas zurecht, so dass sein Zauberstab für alle sichtbar aus seinen Gürtelschlaufen hing. Charles ging die gewundene, schmale Straße entlang voraus, die den Hügel hinunter führte. Sie folgten einem Pfad namens Sentier de la Brague – dem Falschen Pfad – der dort, wo er auf den Abhang traf, wieder kehrt machte. "Kannst du erraten, wo der Eingang ist?", fragte Charles. Draco blickte sich um und sah nichts Offensichtliches. Keinen Stapel Ziegelsteine, kein winziges Café, keinen herumliegenden Portal-Schlüssel, keine glänzende Scheibe, an der man drehen musste. Es war viel raffinierter. Wenn er sich etwas konzentrierte, konnte er die magischen Spuren sehen, die die Hexen und Zauberer hinterlassen hatten, die an diesem Tag bereits hier gewesen waren; besonders stark waren sie auf einem Geröllblock direkt zu ihren Füßen. Er beugte sich hinunter und tippte ihn mit seinem Zauberstab an, doch nichts passierte. Von diesem Blickwinkel aus konnte er jedoch sehen, wie der Eingang funktionierte. "Hab' ihn gefunden!", rief er Charles zu und stand auf. Er stellte einen Fuß auf den breiten, flachen Stein, der vor ihnen lag, und im Hang tat sich ein Durchgang auf, der sie in die Tiefen der Erde einlud. Drinnen, dort wo das Sonnenlicht durch die Mitte der Decke fiel, befand sich ein Zauber wie derjenige in Hogwarts, der den Himmel draußen nachahmte, und sie konnten den riesigen Markt sehen, der sich vor ihnen erstreckte. Der Hügel war innen hohl, der Fels war von fließendem Wasser ausgehöhlt, das Vertiefungen in den Wänden und Säulen hinterlassen und sie geformt hatte. Draco war noch nie zuvor hier gewesen, aber er hatte von Zauberern gelesen, die entlang der Küste Wohnungen und Geschäfte nach diesem Muster errichtet hatten. Indem sie mit Zauberkunst nach und nach die Flüsse umleiteten und die Meere versetzten, hatten sie die Erde abgetragen, dann die Hügel und Bergspitzen magisch abgestützt, so dass die Muggel direkt über ihren Köpfen herumlaufen konnten, ohne jemals zu bemerken, dass die Zauberer da waren.
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Entlang der Wände befanden sich fest eingerichtete Geschäfte, die denen in der Diagonallee in bemerkenswerter Weise glichen, Zweigstellen von Gringotts und Simon Branfords Bad (für die Hexen, die zu beschäftigt waren, um sein Wasserfall-Bad in Clue de Taulanna zu besuchen), und natürlich ein Pofregargelle-Laden, wo sie zuerst hingingen. Die Vorderfront war aus blauem und grünem Glas, sie stammte von demselben Architekten, der Charles' Haus gebaut hatte; von innen sah es so aus, als befänden sich alle Käufer auf dem Markt unter Wasser. Fässer mit Drachenkopfkraut und Meeressalbei standen auf dem Boden aufgereiht, und der Botanitechniker zählte gerade für zwei Hexen Guppyblüten in einen Beutel ab. Als Charles sich kurz mit dem Angestellten unterhielt, nahm Draco sich einen Moment Zeit, um so viel wie möglich von dem, was er von den Zeitungen behalten hatte, auf eine Karteikarte zu schreiben, die er von der Verkaufstheke stibitzt hatte; nun, da er das, was er gelesen hatte, schriftlich festgehalten hatte, konnte er es für eine Weile vergessen, um den Marktplatz zu inspizieren und nach einem Zeitungshändler zu suchen, der den Propheten führte. Charles brauchte nicht lange in dem Laden, also gingen sie bald weiter an einem Dutzend Ständen vorbei und bestellten Fisch, Kräuter für Narcissa und Shera, Farben für Nore, Mesclun und selbstgezogene Babyartischocken mit einem Stich ins Violette, quadratische Wassermelonen, Saubohnen und Socca, in Knoblauch eingelegte Oliven, pinkfarbene Zitronen und selbstentsteinende Kirschen. Bei diesem Verkaufs-Festival – das fast ausschließlich im wohlklingenden Singsang des Okzitanischen geführt wurde – machten sie Station, um am Marktstand von Le Canelou Mandelbutterkekse zu essen, die estouffados genannt wurden und die sie mit Orangenblütenwasser hinunterspülten. In Südfrankreich gab es keinen Kürbissaft. Genau wie vorher auf dem Muggelmarkt schien Charles auch hier jeden zu kennen und lud sogar einen der Weinbauern für die folgende Woche zum Abendessen ein. Auf Charles' Vorschlag hin verbrachte Draco fast eine Stunde damit, die Bücherregale eines Marktstandes zu durchforsten; der Verkäufer kam mit ihnen überein, die siebzig Bücher, die Draco ausgesucht hatte – sechs für Sheras Recherchen und der Rest für die Familienbibliothek – innerhalb der nächsten drei Tage zu liefern. Bis Draco bei dem Buchhändler fertig war, war Charles schon wieder zurück zu dem Laden gegangen; sie wollten sich um zwei am Springbrunnen vor dem Eingang treffen. Bis zum vereinbarten Zeitpunkt hatte Draco noch etwas Zeit zum Vertrödeln, und mit Hilfe des Buchhändlers machte er den einzigen Zeitungsstand auf dem Markt ausfindig – und war im Besitz eines Exemplars des Internationalen Propheten von diesem Morgen. Die ersten Schlagzeilen, die Draco ins Auge stachen, als er die Zeitung auseinander faltete, waren alle langweilig. "Im Ministerium für Magie verpfuschen sie mal wieder alles", murmelte er dem Zeitungshändler zu, der ihn jedoch ignorierte. Die anderen Artikel auf der Titelseite waren alle genauso banal – eine geplante Senkung des Zinssatzes bei Gringotts und der Abschluss der Ermittlungen im Fall von Vandalismus am Maibaum vom letzten Frühjahr in Hogsmeade, wofür eine Bande Doxys verantwortlich gemacht wurde. Auf der Rückseite standen in Spalten mit jeweils ein oder zwei Absätzen Nachrichten aus Großbritannien und dem restlichen Europa. Er konzentrierte sich auf die Nachrichten aus Hogsmeade. Ein Nachtwächter in Hogsmeade meldete, dass am frühen Morgen ein Muggelauto versucht habe, ins Dorf einzudringen. Die Insassen des Wagens wurden als Haussprecherin von Hogwarts nebst Eltern identifiziert. Der Wagen wurde sichergestellt und die Insassen vom örtlichen Ordnungsamt verhört, dann auf Betreiben des Schuldirektors freigelassen. Die Muggel werden heute aus Hogsmeade entfernt, die Hexe ist für einen Sommerkurs in die Schule zurückgekehrt. Eine unerwartete Welle der Erleichterung überkam ihn, und er lehnte sich an eine der marmornen Tischplatten des Cafés neben dem Zeitungsstand. Das Ministerium konnte sie nun nicht mehr erreichen. *** 244
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Die Ministeriumsbeamten standen am Fuß der Steintreppe, die zu den breiten Eichentüren von Hogwarts hinaufführte. Ein paar Wochen zuvor war den Türen beigebracht worden, Ministeriumsuniformen zu erkennen, und sie öffneten sich daher für die vier Hexen, die auf dem Weg unten vor den Stufen warteten, nicht. Hermione stand in der Eingangshalle und machte sich Sorgen. Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, nicht einmal, nachdem Professor Dumbledore dafür gesorgt hatte, dass sie im Gryffindor-Turm in ein Privatgemach geführt wurde. Stattdessen schrieb sie lange Briefe an ihre Eltern, Harry, Ron und Draco, in denen sie stets wiederholte, was Dumbledore ihr mitgeteilt hatte. Ich kann das Gebäude verlassen, aber nicht das Grundstück. Am besten geschützt bin ich im Schloss selbst, am wenigsten im Verbotenen Wald. Zuflucht wird nur denen gewährt, die einen Grund dafür haben, einfach nur um Asyl zu bitten zählt nicht, deshalb gibt Dumbledore mir morgen Arbeit. Es würde mir ja reichen, Radiergummis zu zählen, aber ich weiß nicht, was er sich für mich ausgedacht hat. Madame Pince ist noch zwei Wochen lang weg, sie macht mit ihrer Familie Urlaub auf den Antillen, haben die Hauselfen gesagt, aber ich kann mir vielleicht trotzdem ein paar Bücher ausleihen. In Rons Brief bat sie Mrs. Weasley, ihr in der Diagonallee ein paar Sachen zu besorgen, wenn sie ihre Einkäufe fürs neue Schuljahr tätigten. Ihren Eltern sagte sie, dass sie wie geplant nach Moskau fahren sollten, sie waren seit ihrer Rückkehr nach England nicht mehr dort gewesen, und sie würde nicht sicherer oder besser geschützt sein, wenn sie in England blieben. Für den Fall, dass die Muggel mal wieder Diät machten, steckte sie zu Harrys Brief einen zusammenklappbaren Obstkuchen, den sie sorgfältig in Wachspapier einwickelte. Und in ihrem Brief an Draco bemerkte sie, dass Professor Snape nicht in der Schule gewesen war, als sie angekommen war, dass er jedoch in zwei Tagen von einer Präsentation von neu entwickelten Zaubertränken zurückerwartet wurde, die er für amerikanische Studenten gemacht hatte, die den Sommer im Merlin-College verbrachten. Die Briefe zu schreiben war irgendwie beruhigend; wenigstens tat sie etwas für jeden, der es nötig hatte. Sie wusste jedoch nicht, was sie für sich selbst tun sollte. Professor Dumbledore, der im Türrahmen stand, wusste es aber ganz eindeutig. "Sie beherbergen hier einen Flüchtling", begann eine der Hexen. Dumbledore unterbrach die Hexe mit einer Stimme, die so lieblich wie ein Lüftchen klang und die Schärfe darin verbarg. "Verlassen Sie diesen Ort!" Die Stellvertretende Ministerin versuchte es erneut. "Ein Verbrechen wurde begangen von ..." "Hier wurde kein Verbrechen begangen", ließ Dumbledore sich wieder vernehmen. "Wir sind vom Ministerium ..." "Nicht einmal das Ministerium kann bewaffnete Hexen und Zauberer ohne Erlaubnis des Direktors nach Hogwarts schicken. Accio!", sagte er. Hermione konnte hören, wie ihre Zauberstäbe in seine Hand surrten. "Und jetzt dürfen Sie, falls Sie bereit sind, diese Schule und das darin herrschende Asylrecht zu respektieren, in die Eingangshalle kommen, wo Miss Granger ihre Aussage machen wird." Die großen Türen schwangen auf, und Hermione konnte sehen, wie eine der Hexen unverkennbar nervös einen Schritt vorwärts machte, als ob sie erwartete, dass die Zauberformeln, die über Hogwarts gesprochen worden waren, sie aufs Gras zurückschleudern würden oder noch Schlimmeres.
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Professor Dumbledore stand drinnen und beobachtete sie. Er sah die mit dem Umhang eines Stellvertretenden Ministers bekleidete Hexe nur an, lächelte und sagte leichthin: "Amelia Stet, ich habe Sie schon seit fast zehn Jahren nicht mehr gesehen." Alle Spuren seines Zorns von vorhin waren wie weggeblasen. "Wie geht es Ihrer Mutter?", fuhr er im Plauderton fort. "Hat sie immer noch diesen stark duftenden Abelmoschus? Ich kann mich erinnern, dass sie Ihnen jeden Herbst Blüten davon geschickt hat, und an die Zeit, als Ihr ..." "Sir, wir haben keine Zeit für eine Plauderstunde", erwiderte sie kalt. "Sie beherbergen eine Verbrecherin in der Schule. Übergeben Sie sie mir." Dumbledores Tonfall wurde ebenfalls eisiger. "Wie ich schon sagte, hier wurde kein Verbrechen begangen, jedenfalls keins, das das Ministerium etwas anginge." Sie klang, als läse sie von einem Formular ab. "Die angehende Fünftklässlerin Hermione Granger entführte Rita Skeeter vom Schulgelände und hielt sie nicht weniger als fünf Tage gefangen, dann verbrachte sie die vorgenannte Skeeter im Hogwarts-Express von Schottland nach London." Ihr Tonfall nahm einen falschen Ton der Empörung an, als sie hinzufügte: "Sie hat sie in Käfergestalt gefangengehalten!" "Das ist nicht korrekt", sagte Dumbledore. "Da Rita Skeeter sich in ihrer Animagus-Gestalt befand, als dieses angebliche Verbrechen begangen wurde, war es kein Verbrechen, sondern die fakultative Handlung einer Hexe, nämlich die Ergreifung eines nicht gemeldeten Animagus gemäß Erlass des Ministeriums." Hermione schauderte. "Er sagt die Wahrheit – sie ist ein Käfer-Animagus!" "Animagus? In unserem Protokoll steht nichts darüber, dass Ms. Skeeter ein Animagus ist. In Ms. Skeeters Protokoll steht, dass sie Opfer eines Überfalls und der Transfiguration durch Ms. Granger wurde, die keine ausgebildete Hexe, sondern eine Schülerin ist! Sie wird mit uns nach Azkaban kommen müssen, wo sie in Untersuchungshaft verbleiben wird, während wir unsere Ermittlungen führen." Angst schnürte Hermione die Kehle zusammen. Sie war in einem Haushalt aufgewachsen, in dem der Art, wie eine Regierung ihre Bürger behandelte, große Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und sie war inzwischen zu dem Schluss gelangt, dass magisches Recht eine ziemlich windige Sache war. Sie dachte an Hagrids und Sirius' Geschichten über Azkaban – sie konnten doch nicht ernsthaft vorhaben, sie dorthin zu bringen und dort festzuhalten, während sie nichts anderes taten als zu ermitteln, oder etwa doch? Und wenn Rita und ihr Chef, Lucius Malfoy, im Ministerium das Sagen hatten, dann war es sinnlos zu hoffen, dass die Ermittlungen schnell und auf faire Art und Weise vonstatten gehen würden. Dumbledore sah sich eine Schriftrolle an, die die Ministeriumsbeamtin ihm gegeben hatte, dann gab er sie zurück. "Das gibt Ihnen nicht das Recht, Hogwarts anzugreifen." "Es gibt mir das Recht, Ms. Granger festzunehmen." "Sie hat um Asyl gebeten." Die Stellvertretende Ministerin Stet schnappte nach Luft und stammelte: "Sie ist ... sie kann nicht ... Sie können doch nicht einfach ..." "Sie ist und ich kann. Sie steht unter dem Schutz von Hogwarts." Als die Stellvertretende Ministerin erneut das Wort ergriff, tat sie es mit lauter Stimme, als redete sie nicht mit Dumbledore oder Hermione, sondern mit jemand ganz anderem. "Hiermit teile ich ihr mit, dass sie in Untersuchungshaft genommen wird, falls sie das Schulgelände verlässt. Meinen Zauberstab bitte, Sir." Dumbledore schickte die Zauberstäbe die Treppe hinunter, und kurz bevor die Tür mit einem dumpfen Schlag ins Schloss fiel, sah Hermione, wie die Hexen sich ihre Zauberstäbe aus der Luft schnappten. Sie wusste nicht genau, wie sie wieder vom Schulgelände kommen würden, und es war ihr auch ziemlich egal, solange sie sie nicht mitnahmen. "Ich hoffe, sie kommen gut ins Ministerium zurück. Da das Problem vorerst gelöst ist, Miss Granger, ist es an der Zeit, uns genau zu überlegen, was wir mit Ihnen machen."
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Im Verlauf der folgenden zwei Stunden stellte Dumbledore klar, dass sie für den Rest des Sommers so beschäftigt sein würde, dass sie gar nicht auf die Idee kommen würde, Hogwarts zu verlassen. Aus Die Geschichte von Hogwarts war ihr wohl bekannt, dass der Asylsuchende irgendetwas für die Schule tun musste. Während des Schuljahrs gehörten natürlich alle Schüler zu dieser Kategorie, ebenso alle Lehrer, Hauselfen und sogar Leute wie Filch. Sie standen unter dem Schutz der Schule, auch wenn sie es gar nicht nötig hatten. Während des Sommers musste sie jedoch etwas dafür tun, wenn sie Asyl wollte, und Dumbledore hatte einen Weg für sie gefunden, das zu bewerkstelligen. Nach dem Desaster, das auf das Trimagische Turnier gefolgt war, waren die Räume, in denen Barty Crouch gewohnt hatte, während er vorgegeben hatte, Mad Eye Moody zu sein, versiegelt worden. Allerdings nicht von Fudge, der ganz eindeutig so tat, als wüsste er bereits alles Nötige über die Lage, sondern von Dumbledore selbst, in der Hoffnung, dass das Ministerium Vernunft annehmen und eine Untersuchung fordern würde. Was nicht erfolgt war. Fast ein Monat war seither vergangen, und nichts in dem Raum war angerührt worden. Nicht einmal Mad Eye Moody hatte seine persönlichen Sachen herausholen dürfen, und er wurde langsam ungeduldig. Dumbledore hatte ihr aufgetragen, alles, was sich in dem Zimmer befand, zu katalogisieren, inklusive eventueller Knöpfe unter dem Bett und jeder einzelnen Zauberformel, die über den Feindspiegel gesprochen worden war. Sie war schon einmal hier drinnen gewesen, an dem Tag, als sie Draco zu Hilfe geeilt war, als er Moody seinen Bericht gebracht hatte; wenigstens wussten sie jetzt, warum er so gemein zu Draco gewesen war. Das meiste hatte sich nicht verändert – das Lügen-Gyroskop stand immer noch auf dem Schreibtisch, der Verschwiegenheits-Sensor stand still auf einem kleinen Ecktisch, und die schattenhaften Gestalten, die sich im Feindspiegel bewegten, waren nach wie vor nur schemenhaft zu erkennen. Sie fragte sich, ob er nun wohl die Feinde des echten Moody zeigte oder immer noch versuchte, die von Barty Crouch zu finden. Nun, das würde sie herausfinden. Dumbledore hatte ihr ein Schlüsselbund mit einer blutroten Kugel als Anhänger gegeben. Daran hingen sieben Schlüssel für die sieben Schlösser des Schrankkoffers, und sie hatte Anweisung, das siebte Schloss nicht zu öffnen, es sei denn, es war noch jemand anders bei ihr im Zimmer. Hermione setzte sich auf den Boden, machte den Deckel auf und blätterte eine ganze Weile in den Zauberbüchern, bevor sie den Deckel wieder zuklappte. "Das hier will wohl durchdacht sein", murmelte sie vor sich hin. "Außerdem brauche ich ein magisches Radio, ich bin es nicht gewohnt zu arbeiten, wenn es so still ist." "Vielleicht wären Ihre Noten besser, wenn Sie es täten", sagte eine leise Stimme hinter ihr. "Ich hatte heute noch nicht mit Ihrer Rückkehr gerechnet, Professor Snape", antwortete sie ohne sich umzudrehen. "Und wenn ich bessere Noten hätte, dann könnten Sie Draco in Zaubertränke nicht die besten Zensuren geben." Sie war irgendwie entsetzt, als sie merkte, wie leicht es ihr langsam fiel, Snape beinahe aufzuziehen! "Ich habe hier einen Brief für Sie", sagte er, ohne ihre Frage zu beantworten. Sie nahm ihm das dicke Pergament aus der Hand und entrollte es. Draco hatte das Haus seines Onkels in allen Einzelheiten beschrieben und sich ein paar Mal nach ihrer Sicherheit erkundigt, sagte aber nichts über seine Recherchen in Bezug auf Alexander. Sie hatte wenigstens auf ein paar Kommentare zu den Transkriptionen der Bänder gehofft, aber vielleicht war er nicht dazu gekommen. Als sie den Brief fertig gelesen hatte, stand Professor Snape immer noch in der Tür. "Sein Onkel konnte sich überhaupt nicht an Alexander erinnern, auch nicht, als Draco seinen Namen erwähnt hat. Das ist echt komisch." "Nicht unbedingt. Wie dieser Lockhart gerade lernt, ist es möglich, Erinnerungen wiederzuerlangen, die durch einen Gedächtniszauber blockiert wurden, aber normalerweise ist es eine langwierige Angelegenheit. In diesem Fall ist jedoch ein Damm gebrochen, als Draco über Alexander gesprochen hat, und ich kann nur vermuten, dass dasselbe bei seinem Gespräch mit Kar-
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
karoff passiert ist. Möglicherweise wurden Charles' Erinnerungen auf andere Art blockiert, aber ich kann mir nicht vorstellen, warum", überlegte Snape. "Er hat also nichts Neues erfahren?" "Nein, das war nicht möglich", sagte sie. "Haben Sie was in Erfahrung bringen können?" Snape ließ sich auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder und nahm seine Rolle als Lehrer ein, obwohl Hermione offiziell für diesen Raum zuständig war. "Mein Gedankenbassin ist zum Überlaufen voll. Ich habe so viele Erinnerungen wie möglich hineingetan, und ich bin trotzdem erst bei meinem vierten Schuljahr in Hogwarts angekommen. Mit anderen Worten habe ich mir eine Reihe Geburtstagspartys und Maifeiern angesehen, außerdem zwei chaotische Nachmittage in Francesca Fortescues Eisdiele, aber ich habe nichts gesehen, was Mr. Malfoy irgendwie zu besserem Verständnis verhelfen könnte. Vielleicht, während er in Frankreich ist ..." "Da kann er gar nichts machen. Aber ich könnte – ich hab' Zeit. Was ich nicht habe, ist Zugang zur Bibliothek, jedenfalls nicht, bevor Madam Pince zurückkommt, aber wenn Sie mir einen Ausweis ausstellen könnten, vielleicht sogar für die Verbotene Abteilung, dann könnte ich eventuell ..." Sie redete so schnell, dass sie sich auch nicht einen Moment lang überlegte, wen sie da um diesen ungeheuren Gefallen bat. "Irma zieht mir das Fell über die Ohren, wenn ich Ihnen das erlaube. Außerdem werden die Regale gerade saubergemacht, und ich habe nicht vor, die Hauselfen aus dem Konzept zu bringen, indem ich sie bei der Arbeit störe. Das könnte sie am Kochen hindern. Ich glaube aber fest, dass Professor Dumbledore Ihnen Zugang zu einigen Regalen verschaffen kann, schließlich macht er sich selbst ziemliche Sorgen um Draco. Wenn ich richtig verstanden habe, haben Sie gestern Abend mit ihm geredet?", erkundigte sich Snape. "Mit Draco? Nein, nur mit – oh! Mit Professor Dumbledore? Ja, wir haben über die Kassetten gesprochen, die ich mir angehört hatte, und er hat mich nach Dracos Projektionen gefragt. Ich wusste gar nicht, dass ihm das bekannt war." Sie hielt inne. Bevor sie sich in der Boolschen Bibliothek die Bänder angehört hatten, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, Snape nach seiner Meinung über etwas so Nebulöses wie Erinnerungen zu befragen. Jetzt aber überlegte sie laut: "Glauben Sie wirklich, dass alles, was Draco recherchiert hat, echt ist? Wäre es nicht möglich, dass das alles inszeniert wurde, um ihn abzulenken und zu verwirren und dass wir auch drauf reingefallen sind? Oder dass es sogar etwas ist, das er sich selbst ausgedacht hat?" "Lucius Malfoy ist clever und raffiniert genug, um das zustande zu bringen, und ich schließe nicht aus, dass alles, was Draco in dem Gewölbe gefunden hat, eine Fälschung ist", sagte Snape besorgt. "Aber obwohl es möglich ist, Erinnerungen zu blockieren oder Leute dazu zu bringen, das zu tun, was gewisse Zauberer wollen, ist es nicht möglich, jemandem Erinnerungen einzupflanzen. Alles, was ich in das Gedankenbassin getan habe, entspricht dem, was ich an verschiedenen Tagen gesehen oder gehört habe, es ist alles echt. Alexander war eine wirkliche Person." Hermione hatte noch nie zuvor gehört, dass Professor Snape verwirrt klang, und es sah so aus, als sei es eine neue und unerfreuliche Erfahrung für ihn. Sie wollte ihm dabei helfen, damit klarzukommen, da sie die Hoffnung hatte, ihre eigene Verwirrung zu überwinden, wenn sie es in allen Einzelheiten durchsprachen. "Warum erinnert sich dann keiner an ihn? Und wieso sind Ihre Erinnerungen so plötzlich zurückgekehrt?", überlegte Hermione. Sie hatte darüber gelesen, wie man Gedächtniszauber rückgängig machte, aber sie hatte nichts gefunden, was darauf hinwies, dass dies durch die Nennung eines Namens oder eines Wortes zu erreichen sei. Das klang zu sehr nach unechter Muggel-Hypnose. "Das widerspricht jeder Art von Magie. Aber vielleicht gibt es irgendwo eine Kraft, die bewirkt hat, dass Alexander aus dem Gedächtnis von wer weiß wie vielen Hexen und Zauberern gelöscht wurde, und vielleicht hat sie ihre Meinung geändert, oder irgendeine magische Essenz will, dass die Erinnerung an ihn überlebt. Bis ich die Gründe dafür rauskriege, warum diese Erinnerungen so lange verdrängt wurden und warum sie jetzt wieder aufgetaucht sind, werde ich alles tun, was ich kann, um sie lebendig zu erhalten." Snape erhob sich. "Fangen Sie mit dem Katalogisieren an, Miss Granger. Ich bin sicher, Sie werden alles, was Sie brauchen, hier drinnen finden." Er deutete auf den Schreibtisch. 248
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Auch ohne einen Luftzug flatterte Snapes Robe und blähte sich hinter ihm, als er Hermione allein ließ, der bei seinen entschlossenen Worten der Mund offen stand. Die Erinnerung lebendig erhalten. Sie würde lebendig bleiben. Aber in unmittelbarer Zukunft sollte sie sich am meisten Gedanken über die Erinnerungen in diesem Raum hier machen, und deshalb besorgte sie sich Pergament, Feder und Tinte. **** "Dein Vater wartet schon seit einer Stunde auf dich." Narcissas Stimme war so kalt wie das Glas Chardonnay, an dem sie nippte, als ein völlig zerzauster Draco und ein ebenso zerzauster Charles auf der Glasterrasse landeten. "Und in Anbetracht der vielen Galleonen, die wir in Besen und Quidditchtrainer investiert haben, könntest du ruhig etwas eleganter landen." "Lucius ist hier? Er war doch nicht angemeldet, oder?", fragte Charles. Draco schwieg verlegen, er wollte Narcissa im Beisein von Charles nicht über den Mund fahren, vor allem, da sie gerade zwei wundervolle Stunden damit verbracht hatten, die Côte d'Azur entlang zu fliegen. Morgens waren sie über Land geflogen, aber heute Nachmittag hatten sie dem unendlich blauen Himmel und Meer nicht widerstehen können und waren den ganzen Weg zurück Rennen geflogen, waren mit ihren Besen übers Meer geglitten und hatten versucht, die Vögel zu überholen. "Nein, er ist immer noch in seinem Büro", antwortete Narcissa. Sie stand auf und beugte sich zu Draco, dann sagte sie so leise, dass nur er sie verstehen konnte: "Er will mit dir reden. Und warum bildest du dir ein, du könntest dich ohne meine Zustimmung herumtreiben? Denkst du nie über die Konsequenzen nach?" Sie trat zurück und sagte leichthin zu Charles: "Ich glaube, deine Frau wartet mit einem späten Mittagessen auf dich, und dann sind da noch zwei Mädchen, die den ganzen Morgen geritten sind und es nicht erwarten können, schwimmen zu gehen. Ich muss mit meinem Sohn reden, ich komme gleich nach." Ihr Lächeln musste auf Charles süß und entwaffnend gewirkt haben. Auf Draco wirkte es raubtierhaft. Er versuchte, seinem Onkel durch die Tür zu folgen, aber er war immer noch anderthalb Meter vom Haus entfernt, als er Narcissa "Immobilius!" rufen hörte. Der Wurzelnschlagen-Zauber nagelte ihn mitten in der Bewegung fest. Er schwankte bei dem Versuch, das Gleichgewicht zu wahren, aber da war nichts, woran er sich hätte festhalten können. Er beugte die Knie und spreizte die Knöchel, um nicht die Balance zu verlieren; wenn er fiel, würde er sich womöglich wieder ein Bein brechen. Narcissa umrundete die Terrasse und richtete zwanghaft die Stuhlkissen gerade. Sie trug eine kurze, weiße Robe, und ihr Haar war rechts und links hochgesteckt. Draco, der einen Teil des Vormittags unter Muggeln verbracht hatte, dachte, dass sie kaum älter aussah als er selbst – ganz gewiss sah sie nicht wie die Muggelmütter aus, die er auf dem Markt gesehen hatte. Auf ihren Wangen waren zwei hellrote Flecken, der Rest ihres Gesichts war jedoch durchscheinend blass. "Ich muss gehen und mit Vater sprechen", bettelte Draco. Ein über tausend Kilometer entfernter wütender Lucius war immer noch besser als ein Kampf mit Narcissa auf einer Klippe. Wenigstens konnte sie ihn nicht runterschubsen, ohne vorher den Zauberspruch aufzuheben, der seine Fußsohlen auf dem Glas festhielt. Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie ihren Zauberstab von einer in die andere Hand nahm und dann auf ihn zukam. Sie legte ihm den Zauberstab unters Kinn und zwang ihn aufzublicken, so dass er ihr in die Augen sah. Sie brach in eine leise, wütende Tirade aus, so dass ihre Worte nicht bis ins Haus drangen. "Was soll ich bloß mit dir machen?", fragte sie und drückte den Zauberstab gegen seinen Kiefer. Er antwortete ihr nicht mit Worten – das würde ihm nichts nützen -, sondern schüttelte fast unmerklich den Kopf, während seine Augen versuchten, sich auf die Felsen unter der Terrasse zu konzentrieren. Es schien viel länger als fünfzehn Stunden her zu sein, seit er sich dort unten versteckt und versucht hatte, ihre Gespräche zu belauschen. Narcissa fuhr fort: "Ich weiß wirklich nicht, was du dir dabei gedacht hast, als du heute morgen ohne ein Wort 249
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zu irgendjemandem einfach so abgehauen bist. Dein Vater hat mir gegenüber klar und deutlich gesagt, dass du das Haus nicht verlassen darfst, weil du deine Schularbeiten vernachlässigt hast. Wir sind hier nicht in England, du kennst weder die Gegend noch die Leute hier, nicht einmal die Sprache. Und Shera hat mir erzählt, Charles hätte dich zu den Muggeln mitgenommen! Was haben wir immer gesagt?", wollte sie wissen. "Du sollst niemals ...", begann Draco. Er konnte kaum schlucken, und seine Kehle schmerzte, wo Narcissa den Zauberstab gegen seinen Adamsapfel presste. "Niemals!", unterbrach Narcissa ihn lautstark. Sie trat zwei Schritte zurück und steckte ihren Zauberstab wieder ein, aber ihre Augen funkelten noch immer wütend. "Warum muss ich das noch mal durchkauen? Setz dich nie, nie dieser Art von Gefahr aus. Weißt du überhaupt, was dein Vater täte, wenn er wüsste ... Wie kannst du es wagen zu glauben, du könntest selbst entscheiden, wo du hingehst und was du tust? Du selbstsüchtiges, egoistisches Balg!" "Aber Charles hat darauf bestanden, dass ..." "Wer passt hier auf dich auf? Mein argloser kleiner Bruder oder ich?", sagte sie höhnisch. "Es macht Spaß, mit Charles zusammen zu sein, das gestehe ich ihm zu, aber er hat keinerlei Sinn für Verantwortung oder Pflichten, aber du! Du hast keine Wahl!" "Ich dachte ..." "Nein, hast du nicht. Du hast keinen Gedanken daran verschwendet, was ich durchmachen würde, wenn ich dich beim Frühstück nicht sehe." Sie schrie nicht mehr, sondern sprach mit beherrschter, harter Stimme. "Du hast dich keinen Deut um das geschert, was ich gestern Abend beim Essen gesagt habe, nämlich dass ich dir diesen Ausflug verbiete. Du wolltest dich vor deiner Verantwortung drücken, du wolltest spielen. Ich hoffe, es hat dir Spaß gemacht, Draco, es war nämlich für diesen Sommer das letzte Mal." *** Lucius' Stimmung war nicht besser als Narcissas. Als Draco in die verlassene Küche kam, die der einzige Raum im Haus mit einem Kamin war, sah er den größten Teil von Lucius' Kopf mitten in den Flammen. Er las irgendetwas, weswegen Draco seinen Mund nicht sehen konnte, sein Blick war gesenkt und nicht zu entziffern; er schien Draco nicht zu bemerken, als er hereinkam und sich vors Feuer setzte. Über eine Minute lang schwebte er dort lesend, die umherfliegenden Funken und die an seinen Ohren leckenden Flammen schien er genauso wenig wahrzunehmen. Sie unterhielten sich nicht oft auf diese Art, wenn Draco in der Schule war, weil Lucius sich weigerte, dort Kamingespräche mit ihm zu führen. Er sagte, die anderen Schüler könnten Lucius' Vorschläge und Anweisungen stehlen und zu ihrem eigenen Vorteil benutzen, nicht unbedingt gegen die Malfoys, aber um selbst besser, stärker und klüger zu werden. Draco hatte sich eigentlich für diesen Abend auf ein Kamingespräch mit Lucius gefasst gemacht, nicht aber am helllichten Nachmittag, doch weil Narcissa ihn direkt nach ihrer Strafpredigt in die Küche geführt hatte, war er völlig unvorbereitet. Und da die Küche das Territorium der Hauselfen war, konnte er nicht einmal Pergament und Feder finden, um sich Notizen zu machen. Als Lucius sein Pergament senkte und aufblickte, fragte Draco sich einen Augenblick, ob seine Augen die Flammen reflektierten oder ob sie wirklich so leuchteten. Sein Mund war zusammengekniffen, hart und wütend, und Draco wusste, dass nichts, was er sagen konnte, Lucius besänftigen würde. Selbst weit weg übte er immer noch die volle Kontrolle über Dracos Leben aus. "Was hast du dir heute morgen gedacht?", wollte er wissen, was die erste Frage einer langen Reihe von Fragen über jeden Schritt war, den Draco getan hatte, seit er das Herrenhaus tags zuvor verlassen hatte. Auf Lucius' Befehl kniete Draco sich vor den Kamin und hielt seine Stirn vor Lucius' Gesicht, dann verfiel er ins übliche Schema eines GESPRÄCHS, das aus Aufsagen, Wiederholen und noch mal Wiederholen bestand. Alle paar Sätze verpasste Lucius ihm eine harte 250
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Kopfnuss; er verbarg weder seine Enttäuschung über Dracos Vormittag mit Charles, noch darüber, dass er seine Studien vernachlässigte, noch über seine Probleme beim Projizieren (obwohl Draco die Details dessen, was er an beiden Orten gesehen hatte, unterschlug; Lucius hatte Dracos Erklärung, er hätte sich dort nur umgesehen, akzeptiert). Manchmal zog Lucius sich zurück, und Draco konnte das Kratzen einer Feder hören, als er sich Notizen über Dracos Beschreibung des Marktes, des Hauses und von Charles' Sitzung machte. "Du hättest vielleicht etwas lernen können, wenn du dageblieben wärst und den Managern zugehört hättest, stattdessen hast du beschlossen spielen zu gehen. Deine Fähigkeit Entscheidungen zu treffen beeindruckt mich nicht im Geringsten, und von deinen fadenscheinigen Entschuldigungen wird mir schlecht." "Ich habe mich doch gar nicht ..." Er versuchte sich korrekt zu verhalten, der Schimpftirade mit ernstem Gesicht zuzuhören und vor den Stößen gegen seine Stirn nicht zurückzuweichen. Außerdem hatte er vor, klaglos und ohne ein sichtbares Zeichen des Aufbegehrens die Extraaufgaben auf sich zu nehmen, die Lucius ihm aufbrummen würde, weil er sonst nur noch wütender werden würde. Doch Lucius' Behauptung, er mache Ausflüchte, konnte er nicht akzeptieren. Lucius wollte schließlich eine Erklärung, oder nicht? Wollte er die wirklich? "Für deine Dummheit gibt es keine Entschuldigung. Nur harte Arbeit, Gehorsam und Dankbarkeit für die Lektionen, die ich dir beibringe." "Ich bin dir doch dankbar!", beharrte Draco. Das stimmte doch, oder? "Dann wird es leichter für dich sein, wenn du das Grundstück nicht verlassen darfst", begann Lucius seine Aufzählung der Konsequenzen von Dracos Abenteuer. "Bis Dylan am Samstag ankommt, wirst du nicht fliegen, nicht mal ums Haus herum. Heute Abend wirst du mir eine zehn Zentimeter lange Liste schicken, auf der du genau beschreibst, welche Läden ihr besucht habt – und zwar sowohl die Muggel-Geschäfte als auch die magischen – und alles, was du auf deinem Flug sonst noch beobachtet hast. Du wirst heute Abend außerdem Projizieren; ich erwarte, dass du es in drei Tagen bis nach Hause schaffst. Ich werde in meinem Arbeitszimmer sein ..." "Nach neun, ich kenne deinen Zeitplan." Draco konnte spüren, dass Lucius bei diesen Worten tatsächlich lächelte. Er hoffte, dass Lucius' Wut verraucht war, aber eine Warnung stand noch aus – die, die er so oft gehört hatte, dass er sie als Lucius' einzige leere Drohung verworfen hatte. "Wenn du diese einfachen Aufgaben nicht erledigen kannst, dann bist du für mich nichts weiter als ein Versager, und du solltest inzwischen wissen, dass ich mich mit Versagern nicht lange abgebe." *** Als Hermione sich bereit erklärt hatte, jeden einzelnen Gegenstand in Moodys Räumen zu archivieren, war sie sich nicht über die Unzahl von Dingen im Klaren gewesen, die allein im Büro herumstanden und herumlagen. Es war eindeutig, dass Moody keinem Hauselfen Zutritt gewährt hatte, während er hier gewohnt hatte. Heute morgen beim Frühstück – dem zweiten in ihrem Sommer in Hogwarts – hatte Dumbledore ihr erzählt, dass der echte Moody äußerst empfindlich war, was seine Privatsphäre anging, weswegen er sich nichts dabei gedacht hatte, als Crouch darauf bestand, dass kein Hauself bei ihm saubermachen dürfe. Hermione hatte den Eindruck, dass Dumbledore immer noch – und aus gutem Grund – ziemlich durcheinander war, weil er sich so lange von Moody an der Nase hatte herumführen lassen. Hätte Crouch ebenso überzeugend gewirkt, wenn er sich jemand anderen ausgesucht hätte? Er hatte sich ein paar Dinge zunutze gemacht, für die Moody bekannt war und die er mit ihm gemeinsam hatte. Zum Beispiel Moodys Hass auf die Todbringer, der zu Crouchs Hass auf Todbringer geworden war, die frei herumliefen, und der sich auch auf ihre Kinder erstreckte. Moodys Widerstreben, aus einer anderen Flasche als seiner eigenen zu trinken, hatte es Crouch ermöglicht, stündlich seinen Polyingrediens-Trank einzunehmen; Hermione hoffte, dass er dabei 251
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jedes Mal hatte würgen müssen. Moodys Besorgnis im Hinblick auf Besucher – und Elfen –, die in seinen Bereich eindringen könnten, hatte Crouch einen Vorwand dafür geliefert, überall im Raum die Schwarzkunstobjekte zu verstecken, die Hermione dort gefunden hatte. Zum Glück hatte Crouch sich nicht die Mühe gemacht, Fallen für ungebetene Besucher aufzustellen – das hatte Dumbledore überprüft –, er hatte lediglich ein paar Dinge installiert, die Alarm schlugen, wenn jemand die Schreibtischschubladen oder den Aktenschrank öffnete, und es war ziemlich einfach gewesen, sie zu deaktivieren. Der erste Eindruck, den sie gewonnen hatte, nachdem Snape am Tag zuvor gegangen war, sagte ihr, dass dieses Projekt sie den ganzen Sommer über und vielleicht sogar einen Teil des Schuljahrs beschäftigen würde. Nachdem sie eine ganze Reihe Briefe geschrieben und Nachrichten von Harry und Ron gelesen hatte, machte sie sich einen Plan, wie sie - beginnend bei der Tür - am gescheitesten vorgehen sollte. Sie schwenkte ihren Zauberstab um den Türrahmen herum und bemerkte, dass regelmäßig ein Schließzauber darüber gesprochen worden war, außerdem gab es ziemlich weit oben, gerade außerhalb ihrer Reichweite, einen Riegel im Muggel-Stil, der denen am Schrankkoffer glich, aber ganz eindeutig noch um einiges stabiler war. Innen am Türgriff befand sich ein winziger Detektor für schwarze Magie; möglicherweise war er irgendwann einmal weiß gewesen, aber mittlerweile war er von mattgrauer Farbe. Moody musste seinen Umhang an die Tür gehängt haben, als er Harry nach der dritten Runde des Turniers hierher gebracht hatte. Sie hatte ihn außerhalb des Labyrinths seine Runde machen sehen und gedacht, wie gut es sei, dass er da war, um die Champions zu retten, falls das nötig sein sollte, aber diese Erinnerungen waren nun so schwarz wie eine sternenlose Nacht. Sie nahm den Umhang herunter und schüttelte ihn aus, dann warf sie ihn sich über den Arm, um ihn in ihren Katalog aufzunehmen. Dabei fiel etwas aus seinen Falten – ein Stück Pergament. Na gut, das musste dann ebenfalls katalogisiert werden, dachte sie, als sie es entfaltete. Vielleicht hatte Crouch ja irgendetwas draufgeschrieben, das ... Natürlich nicht. Das hätte er nicht getan. Harry hatte gesagt, er hätte dieses Pergament für seine eigenen Zwecke benutzt und hätte es niemals zerstört – nicht die Karte des Freibeuters! Hatte er sie während des Turniers studiert? Hatte er deshalb gesehen, wo die Champions und die magischen Kreaturen sich innerhalb des Labyrinths befanden, indem er sie beobachtet hatte, wie sie sich auf dem Pergament hin und her bewegten? Hatte er gesehen, wie Harry und Cedric von der Karte verschwanden und gejubelt, weil er genau wusste, wo sie waren? Und hatte er sie fröhlich studiert und mit verzweifelter Spannung auf die Rückkehr seines Herrn gewartet? Irgendwie war ihr schlecht. Er hatte diese Karte benutzt, um seinen eigenen Vater umzubringen, wahrscheinlich mit einem Verbotenen Fluch. Er hatte die Karte benutzt, um zu versuchen Harry umzubringen, und wer weiß wie viele andere Schüler sonst noch – das wäre nämlich passiert, wenn Voldemort den in einen Portal-Schlüssel verwandelten Trimagischen Pokal benutzt hätte, um nach Hogwarts zurückzukehren, wo die ganze Schule sich auf den Tribünen drängte. Diese Karte, die Sirius kaum ein Jahr vorher das Leben gerettet hatte - und möglicherweise auch Snape, als Sirius ihn zur Schlagenden Weide geschickt hatte -, war entweiht worden. Sie sollte eigentlich alles katalogisieren, was sich in Crouchs Räumen befand, damit das Ministerium erfuhr, was er getan hatte und damit man dort jeden beliebigen Gegenstand als Beweis für seine Verbrechen beschlagnahmen konnte – auch wenn er bereits von den Dementoren bestraft worden war, auch wenn es kein Gerichtsverfahren gegeben hatte. Doch wenn ihnen die Karte des Freibeuters in die Hände geriet, die Crouch ja nicht einmal gehört hatte, dann wäre das Ministerium in der Lage, jeden in Hogwarts rund um die Uhr zu überwachen. Wenn sie Dumbledore die Karte gab, müsste er sie dem Ministerium übergeben, wenn sie danach fragten. Doch wenn sie sie nicht erwähnte, dann würde niemand erfahren, dass sie im Büro gewesen war, nur Crouch selbst hätte es gewusst, und er war nicht imstande es zu verraten. Sie brauchte sie eigentlich nicht wirklich. Es wäre schön, sie zu haben, das stimmte schon, aber sie gehörte ihr nicht, und es wäre nicht recht, sie zu behalten. Harry auf der anderen Seite 252
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brauchte sie wirklich. Es wäre vielleicht beruhigend für ihn, wenn er sie studieren und sehen könnte, dass sie hier war und in Sicherheit, und er würde sie in ein paar Wochen ganz sicher wieder brauchen, um in der Schule herumzuschleichen. Es war schon über eine Stunde her, seit sie an diesem Vormittag mit der Arbeit begonnen hatte, und Hermione war der Meinung, sie hätte eine Teepause verdient. Sie faltete die Karte sorgfältig zusammen und ging zum Eulenschlag. *** An diesem Morgen war Draco mit einem wohlüberlegten Plan früh aufgewacht, als ob sein schlafender Verstand die ganze Nacht daran gearbeitet hätte. Lucius rechnete nicht damit, dass er in der Lage wäre, den ganzen Weg bis zum Herrenhaus zu Projizieren, ohne dass er vorher drei Tage übte, aber was wäre, wenn er es heute Abend fertig brächte? Vielleicht würde Lucius die Beschränkungen wieder erlassen, die er ihm am vorigen Abend auferlegt hatte. Er stand auf, zog sich im fahlen Morgenlicht an und ging hinaus auf den Hof, wo er sich mit einem Stück Pergament auf die Bank der Mädchen setzte und den folgenden Brief schrieb: Vater, ich habe immer noch schreckliche Gewissensbisse wegen meines Benehmens nach meiner Ankunft bei den Harts. Ich weiß, dass es nur einen Weg gibt, um meinen Ungehorsam wieder gutzumachen, nämlich indem ich das erreiche, was du von mir erwartest. Ich habe die letzte Nacht damit verbracht darüber nachzudenken, was ich bei meinen letzten Projektionen falsch gemacht habe, und glaube, dass ich das Problem lösen kann. Falls ich nichts von dir höre, habe ich vor, heute Abend zum Herrenhaus zu Projizieren. Die Sonne geht hier kurz nach halb acht unter, am besten Projiziere ich also zwei Stunden später. Draco war an diesem Tag sehr still und kümmerte sich emsig um seine Arbeit. Bei Narcissa war er in Ungnade, und wegen der geheimnisvollen Ströme, die durch Familien flossen, war er sicher, dass selbst Charles und Narcissa wussten, dass sie ihn nicht stören durften; sie würde vielleicht seine Schularbeiten als Entschuldigung benutzen, da sie wusste, dass Charles Lucius' Besorgnis um Dracos bevorstehende O.W.L.s zu schätzen wüsste. Charles drängte Draco nur ein einziges Mal, nach draußen zu gehen. Trotz Narcissas Protesten und Dracos Behauptung, er hätte zu viel zu tun, schickte Charles ihn als Bademeister zum Swimming Pool hinunter, als die Mädchen schwimmen gingen. "Ich habe zu arbeiten, Shera muss schreiben, und die Hauselfen gehen nicht schwimmen. Und wenn du nicht mit ihnen runtergehst, ist Draco die beste Alternative", hatte Charles argumentiert. Er hatte sich mit dem Handbuch der Mittelalterlichen Hexerei, das mit einem ImperviusZauber gut geschützt war, auf einem hohen Felsen niedergelassen, von dem aus er einen perfekten Überblick über das gesamte Schwimmbecken hatte, das direkt in die felsige Küste gehauen war und sich im Rhythmus der Gezeiten füllte und leerte. Die Mädchen kauten Kiemenkraut, bevor sie hineinsprangen und sahen zu, wie Draco die Fische, die im Becken herumschwammen, zurück ins Meer bannte und dann seinen Zauberstab schwenkte, um das Wasser zu erwärmen. Die Mädchen schwammen ihre Bahnen ohne aufzutauchen, so dass Dracos Aufgabe darin bestand dafür zu sorgen, dass sie nach einer Stunde wieder an die Oberfläche kamen. Den restlichen Tag über hatte er hart gearbeitet. Er hatte sogar sein Mittagessen in der Bibliothek über seinen Büchern eingenommen, wo er an einem Aufsatz für Zaubertränke gearbeitet hatte, in dem er analysierte, wie es sich auswirkte, wenn man in brennbaren Mischungen pulverisierte Salamanderschwänze und Phönixfedern mischte. Er entschied, dass er morgen Professor Snape unter dem Vorwand einen Brief schicken konnte, ihn nach der Erklärung eines der Begriffe zu fragen, die er recherchiert hatte, aber in Wirklichkeit wollte er wissen, wie er mit seinen Nachforschungen über Alexander vorankam, die er mithilfe seines Gedankenbassins anstellte. 253
Flüche bis zum Überdruss
10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Gleich nach dem Abendessen entschuldigte er sich damit, noch arbeiten zu müssen und ging in sein Zimmer zurück, um sich fertig zu machen. Als der Zeiger seiner Uhr sich auf acht zubewegte, beobachtete er, wie die Sonne hinter dem Hof unterging. Er hielt die Augen offen, um nach einer Eule oder einem Falken Ausschau zu halten, oder auch nach einem Elfen, der ihm die Nachricht brachte, dass Lucius nicht wollte, dass er käme, aber nichts dergleichen geschah. Kurz vor halb zehn schloss Draco die Augen in Eze und fand sich im Nu in Lucius' Arbeitszimmer wieder, inmitten der vertrauten Sessel und Ottomanen, Flakons und Bücher, Teppiche und Gemälde. Er drehte sich um, um einem Porträt seiner Ururgroßmutter zuzuwinken, das direkt hinter dem Sessel, in dem Lucius während ihrer GESPRÄCHE immer saß, an der Wand hing, aber sie schlief. Durch das geöffnete Fenster konnte er beinahe das Heulen des Windes hören. Oder war es vielleicht tatsächlich der Wind? Lucius war nirgends zu sehen. Hatte er so fest damit gerechnet, dass Draco es nicht schaffen würde, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte zu kommen? Hatte etwas – oder jemand – ihn aufgehalten? Obwohl er wusste, dass er es eigentlich gar nicht fühlen konnte, obwohl er wusste, dass Hermione in Hogwarts in Sicherheit war und kein Grund bestand sich Sorgen zu machen, krampfte sein Magen sich panikartig zusammen, als ihn plötzlich der Gedanke durchfuhr, dass das Ministerium vielleicht beschlossen hatte, Lucius wegen Hermione zu verhören. Und dann würde er alles erfahren. Durch den Nebel seiner Gedanken verdichteten sich die rauschenden Töne vom Fenster zu irgendetwas, das mehr war als nur der Wind. Waren es Stimmen? War es Lucius, der da sprach? Vielleicht ... Vor einem Jahr noch wäre die Vorstellung, von einem Ort zum anderen zu Projizieren, ohne vorher zum Ausgangspunkt zurückzukehren, unmöglich gewesen. Draco nahm sich einen Augenblick Zeit, um Lucius im Geiste dafür zu danken, dass er ihn dazu gebracht hatte, diese Art von Sprüngen zu lernen. Falls Lucius wirklich da draußen war, dann könnte er ihm zeigen, wie gut er inzwischen darin war, und Lucius müsste einfach zufrieden sein. Und das würde alles andere wettmachen. Draco versuchte zu ermitteln, aus welcher Richtung die Stimmen kamen, aber der Wind verwehte die Töne so rasch, als wären sie ein Snidget. Wo würden sie nach Sonnenuntergang schon sein, wenn nicht im Nachtgarten? Jetzt, wo er darüber nachdachte, sah er im Geiste die Abend-Schlüsselblumen und die Tabakpflanzen vor sich. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen an Narcissa zu vertreiben, wie sie in diesem Garten arbeitete, bis die Sonne über den Mooren aufging. Sie war derzeit nicht hier, sie war eintausendfünfhundert Kilometer weit entfernt und würde sich um die Tränenden Herzen, die Nachtblühenden Fliegenfallen und um die Weißen Lichtnelken kümmern und ihm nicht befehlen, Unkraut zu jäten, Motten zu zählen oder stundenlang Erde von einem Topf in den anderen zu füllen, um ihn zu beschäftigen. Er musste sich nicht all die rebellischen Gedanken von vor langer Zeit in Erinnerung rufen, warum sie ihn nicht einfach schlafen lassen konnte, warum er sich unbedingt zu ihr hinaussetzen musste, wenn sie doch eigentlich nur wollte, dass er ihr aus dem Weg ging, solange er dort war. Damals war ihm gar nicht aufgefallen - und eigentlich hatte er es erst bemerkt, als er vielleicht zehn gewesen war -, dass sie nur dann nachts gärtnerte, wenn Lucius nicht zu Hause war. Wenn er da war, war sie natürlich auch nicht glücklicher, aber wenigstens hatte sie jemand anderen, dem sie auf die Nerven gehen und mit dem sie sich streiten konnte. Aber sie ist nicht hier, rief er sich ins Gedächtnis und verscheuchte den Gedanken an sie. Er stellte sich den Garten leer und still vor, so wie er aussah, wenn er vom Quidditch-Feld durch die äußeren Bereiche zurück zum Herrenhaus ging. Dann war er dort und konnte die Stimmen nicht länger hören. Er hatte ein paar Augenblicke der Konzentration gebraucht, um zwischen die Flammenblumen zu Projizieren, und während dieser Zeit mussten die Sprecher sich entfernt haben. Vielleicht waren sie sogar Disappariert, in dem Fall würde er sie niemals finden. 254
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
Bevor er noch den Kopf heben konnte, vernahm er die Stimmen erneut, während er vom Ruprechtskraut-Feld kam, doch er konnte die Sprecher nicht sehen, weil die BlutbeerenSträucher ihm die Sicht versperrten. Es war nicht Lucius' Stimme, doch sie kamen nah genug an ihm vorbei, so dass er verstehen konnte, was sie sagten. "Er hat keine zehn Minuten mehr", sagte der erste Mann. "Und wenn wir es nicht schaffen, bevor seine Zeit abgelaufen ist ...", begann der zweite. "Dann stehen wir in seinen nächsten zwei Stunden ganz schön im Regen", murmelte der Erste, als sie anfingen zu rennen. Draco folgte ihnen mit dem Blick übers Feld. Das Mondlicht war gerade hell genug um richtig zu sehen, jedenfalls nachdem er einmal festgestellt hatte, in welche Richtung er gucken musste. Mitten im Fingerhut-Beet standen mindestens zwanzig Gestalten im Halbkreis. Falls Lucius dort war, konnte Draco ihn nicht erkennen, da sie alle Masken und Kapuzen trugen. Seitlich stand eine weitere vermummte Gestalt, vor der leuchtende Buchstaben in der Luft schwebten, aber von seinem Standort aus konnte Draco sie absolut nicht lesen. Der Mann, der in der größten Lücke im Kreis stand, sprach zu den restlichen. Er trug keine Kapuze, und sein Umhang und seine Robe reflektierten auch nicht den schwächsten Mondstrahl. Selbst auf diese Entfernung konnte Draco erkennen, dass seine Augen rot glühten, heller, als wenn er eine Heuchera-Wurzel gegessen hätte. Ohne wirklich darüber nachzudenken und ohne es im letzten Monat auch nur einmal geübt zu haben, machte Draco sich kleiner, in der Hoffnung, dass die Menge ihn nicht bemerken werde, und bewegte sich auf den Kreis zu. Er wollte vor dem rotäugigen Mann, den er nicht erkannte, obwohl er irgendwie vertraut wirkte, zurückweichen, doch er konnte es nicht. Er kam immer näher, bis ... "Furze! Setzen Sie unseren Gast über die bisherigen Ergebnisse des Experiments des heutigen Abends in Kenntnis!" Die Stimme des rotäugigen Mannes wurde vom Wind verweht. "Impedimenta hat funktioniert, Wurzeln Schlagen ebenfalls", sagte Mr. Furze, dessen Stimme und Name Draco kein Begriff waren. Während er sprach, deutete er auf die in der Luft hängenden Buchstaben, die den Zuschauern ganz eindeutig etwas sagten. "Reducio und Wackelpeter-Beine hatten die gewünschte Wirkung, obwohl wir aus Zeitmangel Wackelpeter-Beine nach weniger als einer Minute aufgehoben haben, so dass wir keine Schlüsse bezüglich der Dauer des Zauberspruchs ziehen können." Er zeigte auf ein Bündel Roben, das zusammengekrümmt außerhalb des Kreises lag und sagte: "Dieser stümperhafte Versuch, die Testperson mit einem Schockzauber zu treffen, hat einen Rückprall verursacht, der ..." Er wurde von der Stimme unterbrochen, die klang, als knüllte jemand Pergament zusammen. "So ungeschickt Avery bei Vorführungen auch sein mag, wir können nicht sicher sein, dass es nur an seinem Versagen lag. Wir müssen diesen Test ein andermal mit einer anderen Testperson wiederholen. Den letzten Test werde ich nun selbst durchführen. Damit Sie alle richtig zusehen können, tue der Licht-Träger jetzt seine Pflicht." "Lumos." An diesem Wort erkannte Draco, dass Lucius ebenfalls zu dem Kreis gehörte. Er stand mit dem Rücken zu ihm, hielt seinen jetzt leuchtenden Zauberstab über den Kopf und tauchte die Gegend mit der Kraft einer kleinen Sonne in Helligkeit. Draco konnte die vermummte Versammlung deutlich erkennen, und zum ersten Mal sah er, um was – oder besser um wen – sie herumstanden. Harry Potter saß im Gras in einer Pfütze, die so aussah, als sei es Blut. Seine Brille saß schief, seine Hosen waren zerrissen, als hätte er versucht, sie sich vom Leib zu reißen, und an den Händen hatte er blutige Kratzer. Er rührte sich nicht, als der Finstere Lord auf ihn zutrat und seinen Arm in den Klee unter einen in einem Stiefel steckenden Fuß schob. Er sprach leise, musste aber einen Sonorus-Zauber benutzt haben, weil Draco seine leise Stimme so deutlich hören konnte, als sei es völlig windstill. "Ich werde keine Zeit mit Worten verschwenden." Er richtete seinen Zauberstab auf Potter und benutzte den Imperius-Fluch, um
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10. Kapitel: Das Leben, wie es im Buche steht
ihn auf die Knie zu zwingen. "Es gibt nur zwei, die irgendwie von Bedeutung sind – Avada Kedavra!" Ein Strahl grünen Lichts schoss aus seinem Zauberstab und raste durch die Nacht. Draco hörte ein zischendes Geräusch, auf das ein Krachen folgte, und irgendwie hatte er das Gefühl, dass der Wind ihn einhüllte – obwohl er eigentlich gar nichts hätte fühlen dürfen. Er hörte den von den Umhängen etwas gedämpften Applaus, der in das Loch mitten in seiner Brust drückte, das ihn vorwärts schob, doch er konnte sich nicht bewegen, er konnte sich nicht sehen lassen ... Wenn Lucius wüsste, wenn Lucius auch nur den geringsten Verdacht hegte, dass Draco ihn gesehen hatte, während er dem rotäugigen Mann, dem Finsteren Lord, zusah, wie es ihm gelungen war ... wie ... wie ... Für einen Augenblick, der ihm wie eine Ewigkeit vorkam, starrte Draco in Potters Gesicht, in seine offenen grünen Augen, die starr und ausdruckslos wie die Fenster eines verlassenen Hauses wirkten, auf seinen halboffenen Mund, der irgendwie überrascht aussah. Und dann, bevor Dracos Verstand das, was er da gesehen hatte, völlig verarbeitet hatte, bevor er etwas anderes als starre Ungläubigkeit empfinden konnte, bevor er sich einen überraschten Ausruf voll und ganz verkneifen konnte, fühlte er über all die Kilometer hinweg, von denen jeder eine Ewigkeit lang war, einen Sog, und er war wieder in seinem Körper.
------------------------Anmerkungen der Autorin: Bei http://www.gothic.net/~malice habe ich eine Menge Informationen gefunden, die ich für die Gärten in Malfoy Manor verwendet habe. Das Haus in Eze basiert auf einem Puppenhaus im Museum für Moderne Kunst. Die Glassamen stammen aus James und der Riesenpfirsich und wurden natürlich für andere Zwecke benutzt. Die Farben des Hauses stammen direkt aus Joseph & The Amazing Technicolor Dreamcoat. Die Angloamerikanische Schule in Moskau gibt es wirklich. Sie hat eine Website unter folgender Adresse: http://www.aas.ru/ Hogmount stammt aus Catladys Geschichten. http://www.schnoogle.com/authorLinks/Catlady/BAD_DREAMS/ Den Sentier de la Brague gibt es wirklich. Eine Beschreibung ist hier zu finden: http://www.beyond.fr/villages/valbonne.html Pofregargelle ist eine fast wörtliche Übersetzung ins Okzitanische von "Gurgel mit Tintenfischen!" Das Zitat zu Beginn des Kapitels stammt aus Hue & Crys Lied Life as Text, aus dem Album Stars Crash Down. Mehr Inspirationen stammen wie immer aus verschiedenen Quellen. Die Gedanken über das Gedächtnis wurden von W. P. Kinsellas The Iowa Baseball Confederacy inspiriert (das auch die Vorlage für den Titel des Buches bildet, das Draco liest) und von Lois Duncans Lost in Time. Das Vorbild für den Markthügel ist in Katherine Nevilles Das Montglane-Spiel zu finden, die spezielle Form von Asyl stammt aus Ken Folletts Die Säulen der Erde, und Pat Barkers Border Crossing gewährt fantastische Einblicke in psychologischen Missbrauch. Die Ideen für die Schlagzeilen der Zeitungen des Internationalen Propheten stammen aus echten Schlagzeilen in der Muggel-Zeitung The New York Times vom 22. August 2001.
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