PerryRhodan EXTRA 10 Bernhard Kempen
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PerryRhodan EXTRA 10 Bernhard Kempen
Hauch der ESTARTU Neue Hoffnung für die Mom'Serimer – sie glauben an eine Rückkehr in die NACHT
Nach vier langen Jahren ist die Gefahr für die Terraner und ihre Verbündeten endlich beseitigt. Die Terminale Kolonne TRAITOR ist abgezogen, die Welten der Milchstraße sind wieder frei. Für die Menschen beginnt Ende des Jahres 1347 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, was dem Jahr 4934 alter Zeitrechnung entspricht, eine Epoche des Aufräumens, des Wiederaufbaus, des Schließens alter Wunden. Und es beginnt eine Zeit der Abschiede und der Umwälzungen. Viele der Verbündeten suchen nun, nach dem Ende der kosmischen Geschehnisse, neue Ziele und neue Aufgaben. Zu diesen Verbündeten gehören die Mom'Serimer, die einst auf der SOL eine neue Heimat fanden, nachdem ihre alte der Vernichtung anheimfiel. Ein halbes Jahrhundert lang haben sie die Geschichte des legendären terranischen Fernraumschiffes mitgeprägt, um das sich so viele Legenden ranken wie um kein anderes terranisches Schiff. Nun haben viele von ihnen die SOL verlassen und sich auf dem Planeten Neu-NACHT niedergelassen. Dort suchen sie nach einer neuen kosmischen Aufgabe – und sie spüren den HAUCH DER ESTARTU ...
Prolog Als der Puls noch schlug Vor 7 Millionen Jahren Der Planet brannte. Energiestrahlen zogen Schneisen der Verwüstung durch die Städte. Kernbrandbomben rissen glühende Wunden in die Landschaft. Lava ergoss sich über die Ebenen. Rauch und Asche trübten die Atmosphäre. Die Überlebenden flohen in panischer Angst, doch sie fielen ebenfalls dem gnadenlosen Angriff des Feindes zum Opfer. Nur wenigen gelang es, sich mit Raumschiffen vor dem Inferno in Sicherheit zu bringen. Doch sobald sie den Weltraum erreicht hatten, vergingen auch sie im Feuer der feindlichen Flotte. Als sich die todbringenden Angreifer zurückzogen, war der Planet nur noch ein schwelender Schlackeklumpen. Seine Bevölkerung war nahezu vollständig ausgelöscht worden. Eines der Raumschiffe, die von der Oberfläche geflohen waren, trieb durch den luftleeren Raum. Der Rumpf war durch eine Explosion aufgerissen, und ein Schwärm aus winzigen Gestalten begleitete das Wrack. Die Körper waren in der Kälte des Weltraums schockgefroren. Sie wiesen schwere Verwundungen und Verbrennungen auf. Doch nicht alle waren tot. Noch nicht ganz. Der verbrannte Planet rotierte ein paar Mal um seine Achse, während das Raumschiff weiter davon trieb. Irgendwann leuchtete in der Nähe ein heller Punkt auf, und mitten im Nichts dehnte er sich zu einer gleißenden Spirale aus. Das Gebilde verharrte eine Weile, als wollte es sich einen Überblick verschaffen. Kurz darauf setzte es sich in Bewegung und näherte : sich dem Schwärm, der das Raumschiffswrack begleitete. Zunächst kaum merklich, änderten sich die Flugbahnen einiger der gefrorenen Gestalten. Einer nach dem anderen stürzten die fast toten Körper in die rotierende Spirale aus Licht. Sie verschwanden einfach darin, als hätte ein Schwarzes Loch sie geschluckt.
Nachdem das leuchtende Gebilde auch den letzten Überlebenden der Katastrophe in sich aufgenommen hatte, zog es sich wieder zu einem Punkt zusammen, der schließlich erlosch.
* »Ich biete euch das ewige Leben!«, verkündete eine körperlose Stimme. Jon'ho Sarenti kam schlagartig zu Bewusstsein. Eben noch hatte er zusammen mit den anderen Flüchtlingen in dem kleinen Raumschiff um sein Leben gebangt. Dann eine schwere Erschütterung, grelles Licht und unerträgliche Hitze, gefolgt von der kurzen Empfindung eisiger Kälte. Schließlich gar nichts mehr. Und nun war er von einem Sternenmeer umgeben. Zahllose Lichtpunkte zogen an ihm vorbei. Er blickte sich um und sah überall das gleiche Bild. Ein Gefühl sagte ihm, dass er selbst nur noch ein Lichtpunkt war. »Als Gegenleistung erwarte ich, dass ihr in meine Dienste tretet«, fuhr der unsichtbare Sprecher fort. Jon'ho suchte nach dem Ursprung der Stimme und ordnete sie einer der helleren Sternenballungen zu. Gleichzeitig erkannte er ein Muster in den Bewegungen. All die Lichtpunkte schienen in einer flachen Spirale um dieses leuchtende Zentrum zu kreisen. Wie eine Galaxis im Zeitraffer ... »Was ist geschehen?«, fragte eine andere Stimme. Jon'ho richtete den Blick auf einen Lichtpunkt, den er intuitiv als ihren Ausgangspunkt erkannte. Er war sich nicht sicher, aber die Stimme klang wie die des Piloten, der das Fluchtraumschiff von der Planetenoberfläche gestartet hatte. »Ihr seid tot«, antwortete der Unbekannte. »So gut wie tot. Deshalb unterbreite ich euch dieses Angebot.« »Wie kann ich tot sein, wenn ich immer noch in der Lage bin, zu denken und zu sprechen?«, fragte der Pilot. »Ich habe nur eure Bewusstseine geweckt und in dieses Kontinuum außerhalb von Zeit und Raum geholt. Ihr seid eine äußerst widerstandsfähige Lebensform. Nach dem Angriff auf euer Raumschiff seid ihr nicht ganz gestorben, sondern nur in Kältestarre ver-
fallen. Würde man eure Körper bergen und auftauen, hättet ihr keine Überlebenschance. Ihr würdet kurz darauf euren schweren Verletzungen erliegen. Ich biete euch eine andere Möglichkeit – nicht nur ein neues Leben, sondern die Unsterblichkeit.« »Warum tust du es nicht einfach?«, fragte eine andere Stimme, wahrscheinlich einer der Flüchtlinge, die Jon'ho nicht persönlich kannte. »Warum stellst du uns vor die Wahl?« »Weil die Unsterblichkeit ein Fluch sein kann«, antwortete der Unbekannte. »Weil ihr vielleicht eines Tages, irgendwann in sehr ferner Zukunft, mich verfluchen werdet. Denn es ist die absolute Unsterblichkeit, die ich euch verleihen würde.« »Alles, was lebt, kann auch getötet werden«, wandte der Pilot ein. »Aber nicht, wenn es bereits tot ist. Eure Körper werden sterben, doch euer Geist wird in ihnen weiterleben. Selbst wenn ihr in einer Sonne verglüht, wäre euer Bewusstsein auf ewig an die Asche gefesselt. Nur ein Unsterblicher wie ich könnte euch erlösen und euch den endgültigen Tod bringen.« »Wie sieht die Gegenleistung aus, von der du gesprochen hast?«, dachte Jon'ho konzentriert. Als nichts geschah, vermutete er zunächst, dass sein Gedanke ungehört verhallt war. Doch dann wurde ihm klar, dass sich die körperlose Wesenheit nur etwas Zeit ließ, bevor sie antwortete. »Ihr sollt mir helfen, weitere Opfer des Krieges zu verhindern, in dem eure Heimatwelt vernichtet wurde. Ich brauche euch als Wächter, die ihre Aufgabe mit großer Geduld und voraussichtlich über einen sehr langen Zeitraum erfüllen.« »Weil wir nichts mehr zu verlieren haben, würdest du uns wieder zum Leben erwecken, wenn wir dir dienen«, stellte der Pilot fest. »Zum ewigen Leben«, bekräftigte der Unbekannte. »Ich hätte nie gedacht, dass es mir einmal so schwerfallen würde, mich zwischen Leben und Tod zu entscheiden«, sagte ein anderer von Jon'hos Artgenossen. »Deshalb gebe ich euch so viel Zeit in diesem zeitlosen Augenblick.« »Ich will leben!«, meldete sich die Stimme des Piloten. Jon'ho dachte nach. Letztlich lief alles auf die Entscheidung zwischen einer ungewissen Zukunft und gar keiner Zukunft hinaus. Im
Grunde war es kaum anders als das Leben, das er bisher geführt hatte. Er brauchte nicht lange zu überlegen. Schließlich fiel auch er in den Chor der anderen Stimmen ein, die den Satz des Piloten wie ein Echo wiederholten. »Ich will leben!«
1. Nach dem Sturm 15. März 1348 NGZ Der Regenbogen leuchtete wieder. Fast drei Jahre lang hatten die Bewohner von Terrania auf dieses Symbol der Hoffnung verzichten müssen. Nun erstrahlte die Holoprojektion über der Waringer-Akademie in neuem Glanz. Perry Rhodan ließ noch einmal den Blick über den Rainbow-Dome schweifen, die kreisförmige Anlage, deren Gebäudeteile wie eine Tropfenkrone angeordnet waren. Er drehte sich um, als er hinter sich ein leises Summen hörte. »Hallo, Malcolm«, sagte er zu dem sargähnlichen Gebilde, das durch die Tür auf die Terrasse hinaus schwebte. »Hast du auch das Bedürfnis verspürt, ein wenig frische Luft zu schnappen?« Rhodan wusste, dass der Wissenschaftler ihm die saloppe Begrüßung nicht übel nehmen würde. »Du weißt, dass mir Veranstaltungen mit Smalltalk und Entertainment zuwider sind«, gab Malcolm Scott Daellian zurück. Sie hatten gemeinsam am Festakt anlässlich der offiziellen Wiedereröffnung der bedeutendsten technischen Hochschule von Terra teilgenommen. Rhodan hatte als Resident der Liga Freier Terraner eine angemessen salbungsvolle Ansprache gehalten, während sich Daellian mit ein paar kurzen und sachlichen Bemerkungen begnügt hatte. »Und du solltest wissen, dass die Terraner in der Zeit des Wiederaufbaus Signale wie diese brauchen.« Rhodan nahm einen Schluck vom gatasischen Züyglürii-Cocktail, den er vom anschließenden Empfang mitgenommen hatte. »Ich bin Wissenschaftler und kein Politiker«, drang die synthetische Stimme aus dem Medotank. Das achteckige Prisma enthielt die Überlebenstechnik für das Gehirn des Mannes, dessen Körper bei einer schweren Reaktorkatastrophe zum größten Teil vernichtet worden war. »Aber du hast recht. Es hat lange genug gedauert, die' Waringer-Akademie nach dem Angriff der Mikro-Bestien vollständig zu restaurieren.«
»Die Belagerung durch die Terminale Kolonne ist nicht spurlos an Terra vorbeigegangen. Der TERRANOVA-Schirm hat die Erde drei Jahre lang vor der Vernichtung bewahrt, aber in dieser Zeit wurde nicht nur die Akademie in Mitleidenschaft gezogen.« Rhodan blickte erneut auf die architektonische Umsetzung eines Regentropfens, der auf eine Wasseroberfläche traf, und kratzte sich gedankenverloren an der linken Schulter. »Hast du schon über meinen Vorschlag nachgedacht?« Es dauerte eine Weile, bis Daellian antwortete. Dem knapp zwei Meter hohen Kasten war keine Regung anzumerken. Ein unversehrter Mensch hätte vielleicht mit einem tiefen Atemzug oder einer anderen Verlegenheitsgeste reagiert. »Nach den anstrengenden Vorbereitungen für den Zeitsprung über 20 Millionen Jahre und der Retroversion der Negasphäre brauche ich dringend eine Erholungspause«, sagte er schließlich. »All das liegt erst ein Vierteljahr zurück. Vorher war ich seit 1335 Residenz-Minister für Wissenschaft und Technologie und habe in diesem Amt gleichsam nebenbei die Waringer-Akademie geleitet. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich die Kraft aufbringe, diese Aufgabe wieder in vollem Umfang zu übernehmen. Außerdem hat Baldwin Carapol die Sache ganz gut im Griff.« »Das genügt mir vorläufig«-, sagte Rhodan. »Mehr kann ich nicht von dir verlangen.« Insgeheim war ihm allerdings klar, dass Daellians gedämpft klingendes Lob für seinen Nachfolger eine große Auszeichnung darstellte. »Danke!«, kam es aus dem Medotank. »Ich musste von der Party flüchten, weil mir der Leiter der mathelogischen Fakultät auf die Nerven gegangen ist. Warum fragt er nicht gleich Carapol? Der ist doch jetzt Minister! Der Mann verlangt, dass sein Budget...«. »Entschuldige bitte«, unterbrach Rhodan ihn. Die Komeinheit seines schlichten, aber eleganten Anzugs gab ein dringliches Tonsignal von sich. »Dieser Anruf scheint wichtig zu sein. Außerdem bin ich als Resident der falsche Ansprechpartner für dein Problem. Wie du schon sagtest, das ist letztlich Baldwins Sache. Oder wende dich an den Wirtschaftsminister. Homer weiß bestimmt Rat.« »Schon gut. Ich wollte nur etwas Smalltalk betreiben«, erwiderte Daellian.
Die Komeinheit piepte erneut. »Schlechter Zeitpunkt, Malcolm.« Rhodan hoffte, dass Daellian die Zurückweisung nicht falsch verstand. Seit seinem Unfall litt der Wissenschaftler unter posttraumatischen Belastungsstörungen und geriet immer wieder in schwere psychische Krisen. So leid es Rhodan tat, aber er konnte sich nicht um alles kümmern. Er aktivierte die Komeinheit und entfernte, sich ein paar Schritte von Daellian. »Hier Rhodan. Was gibt es?« »Hier Kellind«, antwortete ihm eine weibliche Stimme. »Ich habe hier jemanden, der dich dringend sprechen möchte.« »Davon gibt es etliche«, gab Rhodan zurück. »Allein hier in der Waringer-Akademie dürften es um die hundert sein.« »In diesem Fall geht es um gute zweihunderttausend Anfragen. 75.000 plus 125.000, um genau zu sein.« Rhodan verstand sofort, worauf sie anspielte. Dies war die Zahl der Mom'Serimer, die sich auf Neu-NACHT angesiedelt hatten, und die Zahl jener, die in der Scherbenstadt zurückgeblieben waren. »Wo bist du?« »Dort, wo ich hingehöre, an Bord der SOL«, antwortete Fee Kellind. »Wir werden in wenigen Minuten im Solsystem eintreffen.« »Worum geht es?« »Um die Projektorstation eines Hyperkokons und einen Wächter, der den Hauch der ESTARTU gespürt hat.« Rhodan wurde hellhörig. »Ich trinke nur noch meinen Cocktail aus, dann mache ich mich unverzüglich auf den Weg.« »Gut«, bestätigte Fee Kellind und unterbrach die Verbindung. »Malcolm.« Der Terranische Resident wandte sich wieder dem Medotank zu, der sich die ganze Zeit nicht von der Stelle gerührt hatte. »Ich glaube, diese Sache könnte auch für dich interessant sein.«
2. Wächter in der Sonne Vor fast 17 Jahren Etwas hatte sich verändert. Für Jon'ho Sarenti war es zunächst nur ein unbestimmtes Gefühl. Er war soeben aus einem sehr langen, tiefen und traumlosen Kälteschlaf erwacht. Er brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Er blickte zur Zeitanzeige über der Liegemulde. Die Automatik hatte ihn vor Ablauf des üblichen Wartungsintervalls geweckt. Ein deutlicher Hinweis, dass eine ungewöhnliche Situation eingetreten war. Er versuchte, sich bewusst auf die Natur der Veränderung zu konzentrieren, die er gespürt hatte. Es fiel ihm schwer, weil es für ihn keine direkten Wahrnehmungen gab. Es fühlte sich anders als in einem lebenden Körper an. Eher so, als wäre man der Lenker eines Fahrzeugs. Irgendwann hatte man die vage Empfindung, dass »etwas« anders war. Erst nach einer Weile nahm man ein ungewohntes Geräusch wahr oder bemerkte ein Instrument, das nicht den üblichen Wert anzeigte. Jon'ho erteilte seinem toten Körper die Anweisung, sich von der Kälteschlafliege zu erheben. Als er sich auf diese Bewegung konzentrierte, wurde die ungewohnte Empfindung deutlicher – ein Gefühl der Unsicherheit. Als hätte das Fahrzeug die Bodenhaftung verloren. Jon'ho musste unablässig subtile Korrekturbefehle geben, um seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Er tat es automatisch, da er schon eine Ewigkeit in diesem toten Körper existierte und ihn fast so gut wie einen lebenden lenken konnte. Aber nur fast. Er spürte Erschütterungen, die durch den Boden der Station liefen. Die normalen Vibrationen der technischen Anlagen konnte auch ein lebender Körper kaum wahrnehmen. Doch dieses Zittern fühlte sich ungewöhnlich stark an. So etwas hatte Jon'ho noch nie erlebt, seit er der Wächter der Station war. Es erinnerte ihn an etwas aus der Zeit, als er noch wirklich gelebt hatte. Eine Explosion, eine Katastrophe, die dazu geführt hatte, dass ...
Jon'ho zwang sich, die Erinnerungen zu verdrängen, und gab sich einen Ruck. Er existierte hier und jetzt, und er hatte eine Aufgäbe zu erfüllen. Als Wächter der Projektorstation. Er musste nach dem Rechten sehen, wenn die Automatik ihn weckte. Er setzte seinen Körper in Bewegung und trat durch den Eingang zum Tiefschlafraum auf den Korridor hinaus. Einmal in Gang gesetzt, lief sein Körper fast wie von selbst weiter, und er musste nur noch kleine Korrekturbefehle geben. Als er am Fenster vorbeikam, seiner einzigen Verbindung zur Außenwelt, bemerkte er eine weitere Veränderung. Eine halbe Ewigkeit lang hatte dahinter ein grell weiß glühendes Feuer gelodert. Immer wieder hatte er stundenlang auf die wabernden Energien hinaus gestarrt, die schemenhafte Strukturen bildeten und sofort wieder zerflossen. Doch nun strahlte die Glut in rötlichen Farbtönen. Jon'ho drängte alle Fragen nach den Ursachen dieser Veränderungen in den Hintergrund seines Bewusstseins. Schließlich betrat er die Zentrale. Sofort erkannte er, dass die Systeme verrückt spielten. Auf den Konsolen blinkten Warnsignale, kaum ein Instrument zeigte Normalwerte an. »Was ist geschehen?«, fragte er in den Raum. »Notfallsituation«, antwortete ihm die Stimme des Stationscomputers. »Der Betrieb lässt sich nur durch extrem erhöhte Energiezufuhr aufrechterhalten. Gleichzeitig droht die Gefahr des Ausfalls verschiedener Systeme durch die übermäßige Belastung.« »Wie würde sich eine Abschaltung dieser Systeme auswirken?« »Option undurchführbar«, entgegnete der Computer. »Der Betrieb muss aufrechterhalten werden.« Jon'ho warf einen Blick auf verschiedene Anzeigen, die immer höhere kritische Werte erreichten. »Die Station könnte vernichtet werden, wenn die Reaktoren oder die Projektoren durchbrennen.« . »Gefahr durch Überlastung gegeben«, bestätigte der Computer. »Trotzdem muss der Betrieb aufrechterhalten werden.« Genau das hatte auch der körperlose Auftraggeber vor einer halben Ewigkeit eindringlich betont. Doch was war zu tun, wenn unbekannte Umstände die weitere Erfüllung dieser Aufgabe verhinderten? Jon'ho rang sich zu einer Entscheidung durch. »Systeme abschalten!«
Eine besonders heftige Erschütterung lief durch die Station. »Befehl nicht ausführbar«, widersprach der Computer und bekräftigte erneut seine Direktive: »Der Betrieb muss aufrechterhalten werden.« Jon'hos erster Impuls war, die Bedenken ernst zu nehmen, da er gar nicht in der Lage war, die technischen Funktionen der Station in vollem Umfang zu begreifen. Doch dann wurde ihm bewusst, dass das Steuersystem der Station vor einem logischen Dilemma stand, das es nicht aus eigener Kraft lösen konnte. Aus diesem Grund gab es einen Wächter an Bord der Station. Der Auftraggeber hatte bewusst auf die Kombination von natürlicher Intelligenz und Kybernetik ohne künstliche Intelligenz gesetzt. Außerdem hatte er den Wächtern ein letztes Mittel in die Hand gegeben, das sie jedoch nur im äußersten Notfall und nach reiflicher Überlegung einsetzen sollten. Genau dieser Fall war nun eingetreten. »Überrangbefehl«, sagte Jon'ho. »Systeme herunterfahren, dann Notsprung!« »Erneute Bestätigung und Autorisierung.« Der Computer hielt sich strikt ans Protokoll. »Überrangbefehl«, wiederholte Jon'ho und nannte eine Ziffernfolge. »Sämtliche Projektionssysteme abschalten.« Der Computer befolgte die Anweisung.
3. NACHT-Gedanken 15. März 1348 NGZ Nur ein einziges Licht brannte in der Nacht. Perry Rhodan blickte von der Serafin-Kerze auf und hob den Kopf. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich an die ihn umgebende Dunkelheit zu gewöhnen. Selbst jetzt konnte er die über einhundert tausend Augenpaare der Mom'Serimer nur erahnen, die von ihren Behausungen in der Scherbenstadt auf die einzige Lichtquelle im riesigen Saal blickten. Sie hatten alle anderen Lichter gelöscht, während sich vier Personen rund um die einsame Kerze versammelten. »Du hast recht«, antwortete Fee Kellind auf Rhodans Frage. »Eigentlich müsste die SOL dringend zu einer gründlichen Überholung in die Werft. Aber es gibt ständig neue Anfragen, ob wir uns nicht schnell noch um dies oder jenes kümmern können. Nachdem die Terminale Kolonne in der Milchstraße gewütet hat, fehlt es an allen Ecken und Enden.« Rhodan nickte. »Und nun die Mom'Serimer.« Er wandte sich an die Person, die rechts von ihm saß. »Ich dachte, euer Volk hätte endlich seine Bestimmung gefunden.« »Unser Volk ist geteilt«, sagte Lord Remo Aratoster für einen Mom'Serimer betont langsam. Der Anführer des auf der SOL verbliebenen Teil seines Volkes hatte die Gehirntentakel über der flachen Stirn ineinander verschränkt und löste sie nun voneinander, als wollte er seine Worte veranschaulichen. »Ich kann nur für die Hälfte sprechen, die mit dem Leben an Bord der SOL zufrieden ist. Rede mit dem selbsternannten Propheten der NACHT, wenn du anderslautende Ansichten hören möchtest.« Rhodan musterte den Gesichtsausdruck des sichtlich gealterten Anführers der Mom'Serimer. Die rosafarbene Haut des knollenförmigen Schädels war blasser geworden, und die seitlich am Kopf sitzenden Mandelaugen blickten trübe. Die ohnehin schmalen Lippen unter der flachen Nase und den zusätzlichen Riechlöchern hatte sich verbittert zusammengezogen.
»Ich verstehe deinen Groll gegen Seramir, der 75.000 Angehörige deines Volkes nach Neu-NACHT geführt hat«, sagte Rhodan. »Und ich weiß, dass du um deinen Sohn Milo trauerst, der auf diesem Planeten den Tod fand.« »Wegen einer Illusion«, gab Aratoster zurück. »Weil der Prophet den sternenlosen Himmel einer Dunkelwolke mit der NACHT verwechselt.« »Muss ich dir in Erinnerung rufen, dass dein Volk von einer tiefen Sehnsucht getrieben wird? Dass ihr nachhaltig von der Zeit geprägt wurdet, die ihr im PULS von Segafrendo verbracht habt? Selbst die Scherbenstadt hier im Mittelteil der legendären SOL verrät euer Bedürfnis, euch zu isolieren und gleichzeitig kosmischen Wundern nahe zu sein.« »Eine Rückkehr in die NACHT ist uns nicht möglich, seit der PULS erloschen ist. Also bleibt uns nur die Suche nach einem Ersatz.« »Und nun glaubt der Prophet, einen solchen gefunden zu haben.« »Du hast den wirren Funkspruch gehört, den er an die SOL geschickt hat«, sagte Aratoster. »Ich habe keine Ahnung, welche Ideen ihm der mysteriöse Besucher auf Neu-NACHT in den Kopf gesetzt hat. Über die Hyperkokons weiß ich weniger als du.« »Vielleicht liegt es in der Natur eines Propheten, sich unklar auszudrücken«, sagte Rhodan. »Auch ein Hyperkokon ist ein ausgelagerter, unzugänglicher Teil des Universums. Obwohl die hyperphysikalischen Grundlagen kaum vergleichbar sein dürften, gibt es durchaus Gemeinsamkeiten mit dem Grundprinzip eines PULSES. Malcolm?« »Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können«, kam die Antwort aus dem Medotank, der links von Rhodan auf einem Prallfeld schwebte. Klang das nach Ironie? Rhodan zuckte mit den Achseln. »Aber es gibt keine Hyperkokons mehr. Sie wurden vor Jahrmillionen von ES erschaffen, um die feindlichen Flotten des Imperiums Orbhon zu isolieren, die gegen den Schutzherrenorden in Marsch gesetzt wurden. Vor sechzehneinhalb Jahren fielen sie in den Normalraum zurück, als die Kosmokraten die Hyperimpedanz erhöhten. Die planetaren
Steuerstationen fielen aus, und, die Projektorstationen in den Sonnenkoronen wurden vernichtet.« »Es würde mich nicht wundern, wenn der Prophet irgendwie von dieser Geschichte erfahren und sich in eine Wahnvorstellung hineingesteigert hat.« Fee Kellind räusperte sich. »Trotzdem finde ich, dass wir der Sache auf den Grund gehen sollten«, sagte die Kommandantin der SOL. »Ich hoffe nur, dass das Hypertakt-Triebwerk durchhält. Unsere* Techniker arbeiten gerade an einer kleinen Unregelmäßigkeit in der Frequenzabstimmung. Vielleicht könntest du dir die Sache mal ansehen, Malcolm.« »Das werde ich tun«, versprach der Wissenschaftler. »Dann gib den Startbefehl, sobald die SOL einsatzbereit ist«, sagte Rhodan zu Kellind.
4. Als der PULS noch schlug Vor drei Tagen »Prophet, Prophet, komm schnell!«, rief der junge Mom'Serimer aufgeregt. »Es ist was passiert!« Seelenruhig griff Seramir nach der Teetasse, die vor ihm auf dem kleinen Tisch stand. Er nahm einen Schluck, genoss den aromatischen Geschmack des Getränks und stellte die Tasse wieder ab. Erst dann ließ er sich zu einer Erwiderung herab. »Was gibt es, mein Freund?« »Beeil dich, wir haben Besuch bekommen!« Der Mom'Serimer namens Jubo drohte vor Ungeduld zu platzen. »Vergeud keine kostbare Lebenszeit!« Seramir saß unter dem Vordach seines kleinen Hauses und blickte über die sandige Ebene von Neu-NACHT auf den Berg. Natürlich hatte er die Triebwerksgeräusche gehört und die Aufregung der Mom'Serimer vernommen. Doch ihm, dem uralten, weisen Propheten und Anführer der kleinen Kolonie, stand es nicht zu, aufzuspringen und sich der schaulustigen Menge anzuschließen, die sich zweifellos am anderen Ende der Stadt versammelt hatte. »Ist jemand von der SOL gekommen, um nach dem Rechten zu sehen? Vielleicht sogar Perry Rhodan höchstpersönlich?« »Nein, nein, keine Terraner«, sprudelte es aus Jubo hervor. »So ein Raumschiff hat noch keiner von uns gesehen. Es sieht aus wie ein großer Schokoladentaler, der auf Mom'Scheri-Pralinen steht, du weißt, dieser komische Scherz der Terraner, den keiner von uns so richtig versteht. Aber alles aus Weißer Schokolade. Die mag ich nicht so gern wie richtige Schokolade, aber ich wollt ja eigentlich nur sagen, dass das Raumschiff weiß ist.« Seramir horchte auf. Nun verspürte er doch eine gewisse Unruhe. Fremde waren auf Neu-NACHT gelandet? Was hafte das zu bedeuten? Bestand Anlass zur Sorge? »Warum wurde es nicht vom System der Verteidigungssatelliten aufgehalten, das die Terraner über Neu-NACHT installiert haben?« Der Prophet erinnerte sich jetzt, dass Jubo und sein Bruder Tarm
gelegentlich in der kleinen Bodenstation aushalfen, die den Mom'Serimer eine gewisse Kontrolle über das automatische Verteidigungssystem ermöglichte. »Das ist ja das Aufregende!«, begeisterte sich Jubo. »Als der Satellit es aufforderte, sich zu intendi... identifizieren, kam von dem Piloten eine Antwort,- in der er mehrmals ESTARTU erwähnte! Natürlich haben wir ihm sofort die Landegenehmigung erteilt.« Seramir wurde hellhörig. »ESTARTU? Was genau hat er gesagt?« »Irgendwas mit einer gehauchten Botschaft oder so.« Jubo verknotete verlegen die Gehirntentakel. »Leider hab ich nicht alles mitbekommen.« Eine Botschaft von ESTARTU? Seramir zwang sich dazu, nicht in unprophetische Hektik zu verfallen. Erneut griff er nach der Tasse und trank den letzten Schluck Tee aus. »Also gut«, sprach der Prophet und erhob sich vom Klappstuhl. »Dann führe mich zu unserem Besucher.« »Schnell, schnell!« Jubo flitzte bereits mit wehenden Gehirntentakeln los. Seramir trat unter dem Vordach hervor und auf den Weg, der um sein Haus herum und zur Kolonie führte. Er hatte sich bewusst ein Grundstück ausgesucht, das ein wenig abseits der kleinen Stadt lag. Von hier bot sich ein freier Blick in die unverbaute Landschaft. Es war nur angemessen, dass sein Haus dem Berg zugewandt war, in dem die Hinterlassenschaften der Terminalen Kolonne schlummerten. Schließlich hatten sich die Mom'Serimer der Aufgabe verschrieben, den Berg der Gefahren zu bewachen und die im Krieg gegen TRAITOR dezimierte Urbevölkerung von Neu-NACHT zu unterstützen. Als sich der Prophet von seinem Haus entfernte, kam die Stadt Milo in Sicht. Sie war nach dem großen Helden der Mom'Serimer benannt, der bei der ersten Erkundung des Berges das Leben verloren hatte. Milo bestand, ähnlich wie die Scherbenstadt in der SOL, aus übereinandergestapelten Wohncontainern und Halbfertigbauteilen, die die Terraner nach Neu-NACHT geliefert hatten. Doch es war weniger die mom'serimische Architektur, die den Blick des Propheten anzog. Ein Stück abseits auf der Ebene konnte
er bereits das kleine scheibenförmige Raumschiff erkennen, von dem Jubo gesprochen hatte. Dieser stürmte immer wieder vor, um kurz darauf zu Seramir zurückzukehren und ihn zu größerer Eile anzutreiben. Doch Seramir gab sich alle Mühe, sich nicht von Jubos Unruhe anstecken zu lassen. So etwas gehörte sich nicht für einen Propheten.
* Endlich erreichten sie die kleine Gruppe, die bereits höchst ungeduldig auf das Staatsoberhaupt der Mom'Serimer wartete. »Grüß dich, Prophet!« Kreit Scharkenbrat, für die Bodenstation der Verteidigungssatelliten verantwortlich, war nicht weniger aufgeregt als Jubo. »Ich dachte mir, dass alle anderen etwas zurücktreten und einen Halbkreis bilden und du dich hier in die Mitte stellst, zusammen mit dem Bürgermeister von Milo und ein paar anderen wichtigen Persönlichkeiten. So können wir dem Besucher einen angemessenen Empfang bereiten.« Seramir bemühte sich, ruhig zu bleiben, während Kreit hektische Vorbereitungen für den großen Augenblick traf. »Wäre es nicht angebracht, zu diesem Anlass einen Vertreter der Aurenspürer dazu zu holen?«, fragte er. »Möglicherweise betrifft diese Angelegenheit auch die Urbevölkerung von Neu-NACHT.« »Mach dir keine Gedanken, ich hab längst jemanden zu ihnen geschickt«, erwiderte Kreit. »Sehr umsichtig von dir.« Der Prophet nickte. »Hat sich unser Besucher, der Bote ... bereits blicken lassen?« Er verspürte eine seltsame Scheu, den Namen der Superintelligenz auszusprechen, die für die Mom'Serimer eine so schicksalhafte Bedeutung hatte. »Seit der Landung hat sich nichts weiter getan«, antwortete Kreit. Erneut nickte Seramir; er nahm das fremde Raumschiff etwas genauer in Augenschein. Jubos Beschreibung war recht zutreffend. Es ruhte auf vier Kegeln und hatte die Form eines flachen Zylinders mit einem Durchmesser von vielleicht vierzig Mom'SerimerKörperlängen.
Außer Hitzeflimmern und knackenden Geräuschen, mit dem das Metall nach dem Eintritt in die Atmosphäre abkühlte, war nichts wahrzunehmen. Seramir fragte sich bereits, ob sie selbst etwas unternehmen sollten, um den Insassen des Raumschiffs auf sich aufmerksam zu machen. Dann trat plötzlich von selbst eine Veränderung ein. In der vielleicht fünf Meter hohen Seitenwand der Scheibe bildete sich eine rechteckige Öffnung. Etwas schob sich heraus, senke sich herab und berührte schließlich den Boden. Am oberen Ende dieser Rampe tauchte ein vierbeiniges Wesen auf, wie Seramir es noch nie zuvor gesehen hatte. In diesem Moment kam ein junger Mom'Serimer angerannt. Es war Jubos älterer Bruder Tarm. »Die Aurenspürer sind verschwunden«, rief er keuchend. »Ich hab in allen Baumnestern nachgesehen, aber ich konnte niemanden finden. Ich weiß nicht, wohin sie ...« »Nicht jetzt!«, fuhr Kreit den Neuankömmling an. »Unser Besucher hat sich gezeigt!« Inzwischen war das fremde Wesen die Rampe hinabgestiegen und kam auf die Gruppe der Mom'Serimer zu. Es hatte einen Kugelkopf, zwei Arme und vier Laufbeine, auf denen es sich leicht asymmetrisch fortbewegte... als würde es humpeln. Es trug offenbar keine Kleidung, sondern nur einen Gürtel, wo der aufrechte Oberkörper in den Hinterkörper überging. Seine Haut machte den Eindruck, als würde sie aus Glas bestehen. Dennoch war sie offensichtlich weich, weil sie sich mit den Bewegungen des Wesens spannte und entspannte. Doch nicht überall. Ein großer Teil der linken Körperhälfte war von einer Art schwarzen Kruste überzogen, die nicht so beweglich zu sein schien. Offenbar war sie die Ursache für die ungleichmäßigen Schritte. Intuitiv hatte Seramir den Eindruck, dass die gläserne Haut der Normalzustand war, während die Kruste nur die Folge einer schweren Verletzung sein konnte. An diesen Stellen erschien die Haut verbrannt. »Ich grüße euch!«, unterbrach das Wesen die Überlegungen des Propheten. »Ich komme mit einer Botschaft. Mein Name ist Jon'ho Sarenti.«
* Seramir konnte seine Ungeduld kaum zügeln. Tausend Fragen schössen ihm durch den Kopf. Doch er zwang sich dazu, nicht aus der Rolle des weisen, bedächtigen Anführers zu fallen. Sollten sie zuerst einen Raum herrichten, um sich ungestört mit dem Besucher unterhalten zu können? Sollten sie ihn bewirten? Oder ihm die Gelegenheit bieten, sich nach der zweifellos langen Reise auszuruhen? Aber vielleicht trank er gar keinen Tee. Vielleicht musste er gar nicht schlafen. Der Prophet beschloss, nicht noch mehr kostbare Zeit zu verlieren und das Gespräch an Ort und Stelle fortzusetzen. Er wandte sich zu den anderen Mom'Serimern um, die aufgeregt schwatzten. Er hob die Arme, um sie zum Schweigen zu bringen. Als Ruhe eingekehrt war, wandte er sich wieder dem Besucher zu. Er wählte seine ersten Worte mit Bedacht. »Ich bin Seramir, der Prophet der NACHT und der Anführer der Mom'Serimer. Du bist ein Bote der ESTARTU?« Der Fremde besann sich einen Moment, bevor er antwortete. »Ich habe eine Botschaft für ihn«, sagte er. »Auf der Suche nach ihm habe ich den Hauch der ESTARTU gespürt, der mich zu dieser Welt führte. In welcher Verbindung steht ihr zu ihr?« Seramirs Enttäuschung währte nur kurz. Wider besseres Wissen war in ihm erneut die größte Hoffnung seines Volkes aufgekeimt – die Hoffnung auf die Rückkehr der Superintelligenz. Natürlich sollte sie sich nicht erfüllen. Sie konnte sich gar nicht erfüllen. Aber was hatte es mit diesem Hauch auf sich? »Von dieser Welt geht etwas Besonderes aus«, sagte Jon'ho Sarenti, als hätte er die unausgesprochene Frage gehört. »Eine Aura, zu der ich mich hingezogen fühlte, die ich schon einmal gespürt habe, vor sehr langer Zeit, als ich ... meinen Dienst antrat. Jedenfalls ist sie seiner Aura sehr ähnlich.« Endlich begriff Seramir, wovon der Besucher redete. »Mit ihm meinst du ES, die Superintelligenz, die über diesen Teil des Universums herrscht.«
»Ihn kenne ich nur als ihn. Zu ihr hatte ich keinen direkten Kontakt. Seinen Worten konnte ich nur entnehmen, dass sie offenbar in einem Verhältnis wie Bruder und Schwester stehen.« »Das ist wahrlich eine komplizierte Geschichte«, sagte Seramir. »Wir standen in den Diensten der ersten ESTARTU, die schließlich durch die Superintelligenz K'UHGAR vernichtet wurde. Aus einem überlebenden Splitter entstand daraus das Wesen, das wir ES nennen. Von ihm spaltete sich wieder um ein Teil ab, der zu einer neuen ESTARTU wurde. Deshalb sagt man auch, dass sie, gleichzeitig seine Mutter und seine Schwester ist.« »Wie seid ihr an diesen Ort gelangt?«, wollte der Besucher wissen. Seramir begann mit einer kurzen Zusammenfassung der Geschichte seines Volkes. »In ferner Vergangenheit waren die Mom'Serimer die Wächter der NACHT. Im Auftrag der ESTARTU hüteten wir den PULS von Segafrendo. Als ESTARTU besiegt wurde und die NACHT erlosch, wurden wir von den Terranern gerettet und durch einen Zeitsprung über Jahrmillionen in diese Epoche gebracht. Wir fanden Zuflucht im Raumschiff SOL, bis für uns die Zeit gekommen war, eine neue Heimat zu suchen.« Er gestikulierte vage. »Eine Hälfte unseres Volkes verließ die Scherbenstadt in der SOL und siedelte sich hier auf Neu-NACHT an. Weil uns der sternenlose Himmel dieses Planeten an unsere verlorene Heimat erinnert. Jetzt helfen wir den hier lebenden Aurenspürern beim Wiederaufbau ihrer Zivilisation. Sie hatten schwer unter dem Angriff eines mächtigen Feindes zu leiden.« »Der PULS von Segafrendo«, wiederholte Jon'ho Sarenti nachdenklich. »Ein extradimensionaler Raum, der von der Superintelligenz ESTARTU stabilisiert und als Versteck genutzt wurde. Unsere Seelenverwandtschaft scheint tiefer zu gehen, als wir ahnen.« »Wovon sprichst du?«, fragte Seramir verwundert. »Auch ich war der Wächter eines isolierten Raumbereichs, der seine Entstehung einer Superintelligenz verdankt. Auch dieses Refugium ist erloschen, doch ich bin rechtzeitig aus der Sonne gekommen.« Seramir brauchte nur einen kurzen Augenblick, um den Zusammenhang zu erkennen. »Du sprichst von einem Hyperkokon!«, rief er. »Diese Welt fiel ebenfalls erst vor einigen Jahren in den Normal-
raum zurück. Als sich die Hyperimpedanz änderte und viele Raumschiffe strandeten, hielten wir uns mit der SOL in der Galaxis Hangay auf. Dort saßen wir für lange Zeit auf dem Planeten Ultrablau fest.« »Aus dem gleichen Grund fielen die Systeme der Projektorstation aus, der ich als Wächter zugeteilt war. Es gelang mir, sie vor der Vernichtung zu bewahren und an einen sicheren Ort zu bringen. Als es mir nicht mehr möglich war, meine Aufgabe zu erfüllen, sendete ich eine Nachricht an ES, wie ihr ihn nennt. Ich wartete. Ein paar Jahre vergingen, doch es kamen keine neuen Anweisungen. ES antwortete nicht. Also machte ich mich auf die Suche nach ihm. Und dann fand ich euch.« Der Prophet hob bedauernd die Arme. »Es tut mir leid, dass wir dir nicht weiterhelfen können. Wir wären nicht einmal in der Lage, einen Kontakt zu ESTARTU herzustellen. Ihre Mächtigkeitsballung ist viele Millionen Lichtjahre entfernt. Selbst wenn wir ein geeignetes Raumschiff hätten, würde der Flug viele Jahre und mehrere mom'serimische Generationen beanspruchen. Und selbst wenn wir es schaffen, wäre ungewiss, ob die neue ESTARTU noch eine Verwendung für uns hätte. Aber wir könnten dir ein anderes Angebot machen.« Jon'ho hatte den Kopf gesenkt und hob ihn nun wieder, um dem Propheten in die Augen zu sehen. »Welches?« »Du sagtest, dass wir Seelenverwandte sind«, antwortete Seramir. »Wir waren Diener zweier Superintelligenzen, die sogar in enger familiärer Verbindung zueinander stehen. Dann brach eine neue Ära an, und wir wurden nicht mehr benötigt. Es gibt so vieles, das uns miteinander verbindet. Wir bieten dir an, auf Neu-NACHT zu bleiben und unter den Mom'Serimern und den Aurenspürern zu leben. Wir haben die besten Voraussetzungen, zu guten Freunden zu werden!«
* Jon'ho wunderte sich. Er war kaum auf dieser Welt gelandet, und schon schlugen die Bewohner ihm vor, sich hier niederzulassen. Die Mom'Serimer wa-
ren eigenartige Wesen. Lag es an ihrer Kleinheit, dass sie eine solche Hektik verbreiteten? Oder hatte Jon'ho nach einer halben Ewigkeit ein anderes Verhältnis zum Ablauf der Zeit entwickelt? Normalsterbliche konnten es sich nicht leisten, zu viel Lebenszeit zu vergeuden. Deshalb musste bei ihnen alles schnell gehen. Oder hatte er das Gefühl dafür verloren, wie normale Intelligenzwesen miteinander umgingen und Vertrauen fassten? Immerhin hatten Jon'ho und die Mom'Serimer sehr viel gemeinsam. Ebenso seltsam war, wie selbstherrlich der Sprecher dieses Volkes das Angebot unterbreitet hatte, ohne sich mit seinen Artgenossen zu beraten. War er ein Tyrann? Oder waren die Mom'Serimer von Natur aus ein sehr gastfreundliches Volk? Jon'ho gelangte zu einem Entschluss. Wieder blickte er dem Anführer in die Augen. »Ich danke euch sehr für dieses freundliche Angebot«, sagte er. »Aber vielleicht kann ich euch einen besseren Vorschlag unterbreiten.« Der Prophet breitete in einer großzügig wirkenden Geste die Arme aus. »Wir sind bereit, ihn uns anzuhören.« »In diesem Zusammenhang habe ich eine Bitte«, begann der Wächter. »Als ich den galaktischen Funkverkehr abgehört habe, um mir ein Bild von der aktuellen Lage zu machen, war häufig von einem Wesen namens Perry Rhodan die Rede. Ist es euch möglich, einen Kontakt zu ihm herzustellen?« »Wir können einen Funkspruch nach Terra schicken«, antwortete der Anführer der Mom'Serimer. »Doch Perry Rhodan ist ein viel beschäftigter Mann. Ich kann dir nicht versprechen, dass er sich meldet.« »Er scheint in enger Verbindung zu dem Wesen zu stehen, das ihr ES nennt. Es wäre mir sehr wichtig, mit ihm zu reden.« »Ich werde es versuchen, aber ich kann dir nichts versprechen.« Jon'ho erkannte, dass er mehr in die Waagschale werfen musste, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Er verließ sich darauf, dass das Wort des Propheten großes Gewicht bei den Terranern hatte. »Dann werde ich es anders formulieren«, sagte er. »Ich stelle die Bedingung, die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Perry Rhodan zu erhalten.«
Der Prophet wich ein Stück zurück. Mit einer solchen Antwort schien er nicht gerechnet zu haben. Jon'ho ließ sich nicht beirren. »Dafür biete ich euch die mögliche Erfüllung eurer Sehnsucht. Die Projektorstation ist schwer beschädigt, aber vieles lässt sich reparieren, wenn ich technische Unterstützung erhalte. Auch ich kann euch nichts versprechen, doch es müsste möglich sein, die Systeme an den erhöhten hyperphysikalischen Widerstand anzupassen. Wenn wir zusammenarbeiten, besteht eine realistische Chance, einen neuen Hyperkokon zu erzeugen – einen Raum außerhalb des Raumes, eine neue NACHT für die Mom'Serimer!«
5. Fremde in der Nacht 20. März 1348 NGZ Es war kühl auf Neu-NACHT Rhodan rieb sich die linke Schulter. Seit der Landung machte sich sein Zellaktivatorchip mit einem leichten Pochen bemerkbar. Ihn fröstelte ein wenig, als ihm der Wind ins Gesicht wehte. Das Klima des Planeten erinnerte ihn an Tibet oder das peruanische Andenhochland. Die Luft war spürbar dünner als auf terranischer Meereshöhe. Erodierte Gebirge wechselten sich mit sandigen oder felsigen Ebenen ab, auf denen spärliche Vegetation ums Überleben kämpfte. Doch die Mom'Serimer schienen sich auch hier rundum wohl zu fühlen – bis jetzt. Seramir, der das Empfangskomitee für die Space-Jet von der SOL anführte, begrüßte ihn. »Herzlich willkommen, Resident. Wir fühlen uns geehrt, dass du dich unverzüglich auf den Weg zu uns gemacht hast.« Rhodan musterte den geheimnisumwitterten Propheten der NACHT. Sein Aussehen wich in einigen markanten Punkten von dem eines gewöhnlichen Mom'Serimers ab. Seine Haut wies nicht das gewöhnliche Zartrosa auf, sondern ein mattes Grau mit einem Stich ins Violette. Wie seine Artgenossen besaß er zwei 60 Zentimeter lange Ganglionen, externe Gehirnfortsätze, die der Wahrnehmung und Gestikulation dienten. Das Besondere an Seramir war, dass aus seinem Schädel ein zweites, wenn auch deutlich kürzeres Paar dieser beweglichen Gehirntentakel hervortrat. Alle vier Ganglionen waren auf den Terraner gerichtet, als wollte der uralte Mom'Serimer ihn sondieren. In seinen außergewöhnlich dunklen Augen stand ein unergründliches Funkeln. »Ich gebe mir alle Mühe, für gute Freunde und die Bürger der Liga Freier Terraner da zu sein«, entgegnete Rhodan diplomatisch. Dann blickte er zu dem zweiten Raumschiff, das auf dem kleinen Landefeld neben der mom'serimischen Stadt stand. »Das ist euer Besucher, nehme ich an.«
»Er hat sich in sein Schiff zurückgezogen, um sich auf die Ankunft der Terraner vorzubereiten. Er wird sich bestimmt in Kürze zeigen. Aber er ist so unglaublich langsam. Es geschieht immer wieder, dass er während eines Gesprächs mehrere Sekunden lang schweigt!« Rhodan konnte sich gut vorstellen, dass jemand mit einem gemächlicheren Zeitempfinden die Mom'Serimer in den Wahnsinn trieb. Diese Wesen wurden nach menschlichen Maßstäben nur etwa 20 Jahre alt und legten ein viel höheres Lebenstempo vor. »Dann sollten wir hinübergehen und anklopfen«, schlug Rhodan vor. Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da setzte sich die Delegation der Mom'Serimer auch schon in Bewegung. Rhodan warf einen Blick auf Daellians Medotank, der nach ihm die Space-Jet verlassen hatte. Gemeinsam folgten der Resident und der Wissenschaftler der Gruppe. Unterwegs musterte Rhodan die Stadt, die sich aus übereinander gestapelten terranischen Wohncontainern und anderen Bauteilen zusammensetzte. Milo war sie in der Zwischenzeit von ihren Bewohnern getauft worden. Rhodan dachte kurz an den jungen Mom'Serimer, der ihm bei ihrer gemeinsamen Erkundung des Berges der Gefahren das Leben gerettet und dabei den Tod gefunden hatte. Seine Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, als er eine Bewegung am Beiboot bemerkte. Es hatte die Form einer dicken Scheibe, die auf vier trichterförmigen Füßen ruhte. Waren es Triebwerke, die gleichzeitig als Landestützen dienten? Das weiße Kleinraumschiff hatte einen Durchmesser von etwa 45 Metern und eine Gesamthöhe von vielleicht 15 Metern. Damit entsprachen die Ausmaße ungefähr denen der Space-Jet, mit der Perry Rhodan auf NeuNACHT gelandet war. Am Rand der Scheibe bildete sich eine rechteckige Öffnung, eine Rampe wurde ausgefahren, und ein fremdes Wesen trat ins Freie. Im ersten Moment dachte Rhodan an einen Zentauren oder einen Algorrian. Vier Laufbeine und ein Oberkörper mit zwei Handlungsarmen. Der halslose Kugelkopf mit den leuchtenden violetten Augen ähnelte entfernt einem Haluter. Doch mit einer Höhe von etwa 1,60 Meter war der Körper deutlich kleiner, außerdem schlanker
und rechtwinklig abgeknickt. Das dritte Stirnauge fehlte, und die mittleren Extremitäten dienten offenbar nur der Fortbewegung. Die Haut des Wesens erinnerte ihn an die Buhrlos, die »gläsernen« Menschen, die sich einst auf der SOL entwickelt hatten und sich für längere Zeit im Weltraum aufhalten konnten. Schließlich, vor fast tausend Jahren, waren sie in ES aufgegangen. Und ihm fiel auf, dass die rechte Körperhälfte des Besuchers wie verbrannt aussah. Doch all diese Vergleiche hatten möglicherweise keine tiefere Bedeutung. Rhodan war sich nur sicher, dass er ein solches Wesen noch nie zuvor gesehen hatte. Als sie sich dem Fremden bis auf etwa zehn Meter genähert hatten, blieb dieser plötzlich stehen. Die Laufbeine knickten ein, und er hob die Arme zum Kopf, als wollte er sich vor etwas schützen. Rhodan blieb ebenfalls stehen. »Was hat das zu bedeuten?«, wandte er sich leise an Seramir. »Ich weiß es nicht. Ein derartiges Verhalten haben wir noch nie ...« Der Fremde stieß tief grollende Töne aus, die von seinem Translator in verständliches Interkosmo übersetzt wurden. »Ich grüße dich, Bote von ES!« . Perry Rhodan stutzte. Was sollte er von dieser Begrüßung halten?
* »Ich bin Perry Rhodan«, sagte der Terraner. »Mir wurden schon viele Titel verliehen, doch dieser ist mir neu.« »Verzeih mir.« Der Fremde richtete sich zögernd wieder auf. »Mein Name ist Jon'hoSarenti. An den Mom'Serimern habe ich den Hauch der ESTARTU gespürt. Doch deine Aura ist viel stärker. Es ist die Aura von ES.« Rhodan ahnte, worauf der Fremde anspielte. »Die Superintelligenz hat mir die relative Unsterblichkeit verliehen, und mein Volk steht in einer besonderen Beziehung zu ES. Wolltest du darüber mit mir sprechen?« . »Ich war der Wächter des Hyperkokons, von dem auch diese Welt umschlossen war. Als die Technik meiner Projektorstation ausfiel, sendete ich ein Signal an ES. Doch es kamen keine neuen Anwei-
sungen. Kannst du als Bote von ES mir helfen, Verbindung zu ihm aufzunehmen?« Rhodan war sich bewusst, dass er bei einem Erstkontakt grundsätzlich mit allem rechnen musste. Doch es geschah selten, dass ein Fremdwesen sozusagen mit der Tür ins Haus fiel. Gerade wenn es um Dinge von kosmischer Bedeutung ging, hielten sich die Vertreter der höheren Sphären normalerweise sehr bedeckt. Der Terraner beschloss, sich darauf einzulassen. Seine Intuition sagte ihm, dass er diesem Fremden vertrauen konnte. »Unsere Möglichkeiten, mit ES in Verbindung zu treten, sind sehr begrenzt. In den meisten Fällen nimmt ES Kontakt mit uns auf. Wenn die Superintelligenz nicht auf deinen Ruf geantwortet hat, fürchte ich, dass auch ich nichts erreichen werde.« Jon'ho ließ die Arme sinken und stand eine Weile regungslos da. »Es tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss«, fuhr Rhodan fort. »Lass uns über dein Angebot an die Mom'Serimer reden.« Jon'ho erklärte, unter welchen Bedingungen sich die Station vielleicht wieder in Betrieb nehmen ließ. Doch er betonte ausdrücklich, dass er keine Garantie geben konnte. Anschließend wandte sich Rhodan an den Propheten der NACHT. »Ihr wärt bereit, es auf einen Versuch ankommen zu lassen?« »Wir könnten endlich zu unserer eigentlichen Bestimmung zurückkehren«, antwortete Seramir eilfertig. »Es war eine gute Wahl, sich auf dieser Welt niederzulassen, aber im Grunde hatte NeuNACHT immer nur eine symbolische Bedeutung für uns. Dieser Planet ist das Sprungbrett zum Aufbruch in die wahre NACHT!« Rhodan verkniff sich eine Bemerkung darüber, dass Seramir noch vor einem Vierteljahr etwas ganz anderes gepredigt hatte, im Nu hatte er ein neues Weltbild parat und den Dingen völlig neue Bedeutungen zugewiesen. Er wurde seiner Rolle als Prophet gerecht. Der Terraner blickte zur Stadt Milo zurück. »Wie ich sehe, haben sich die Mom'Serimer mit Feuereifer darangemacht, sich auf dieser Welt häuslich einzurichten. Wollt ihr das alles nach so kurzer Zeit wieder aufgeben?« »Darf ich euch darauf hinweisen, dass diese Diskussion ...«, setzte Daellian an.
Seramir unterbrach den Wissenschaftler. »Dieses Angebot kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Wir leben seit fast drei Segaf auf Neu-NACHT. Unsere Bindung an diese Welt ist noch nicht sehr fest. Es würde uns nicht allzu schwer fallen, sie wieder zu verlassen.« »Und was wird aus den Aurenspürern, die ihr unter die Fittiche genommen habt?« »Sie lassen sich die meiste Zeit sowieso nicht blicken, wie auch jetzt«, sagte der Prophet. »Wir können sie fragen, ob sie mitkommen möchten, wenn wir in die NACHT umziehen. Obwohl ich nicht glaube, dass sie ihren Heimatplaneten aufgeben wollen. Diese Welt ist Mitglied der LFT die Terraner wären bestimmt bereit, ihnen Entwicklungshilfe zukommen zu lassen. Ihr habt ohnehin viel bessere Voraussetzungen als wir, ihnen tatsächlich zu helfen.« Rhodan schloss kurz die Augen und wünschte sich, dass die Mom'Serimer möglichst bald in einem Hyperkokon verschwanden, wo sie keinen politischen Einfluss auf die LFT mehr nehmen konnten. Aber natürlich sprach er diese Gedanken nicht aus. Davon abgesehen, war nicht die Welt Mitglied der LFT, sondern die auf ihr lebenden Mom'Serimer. Aber das waren Details, die bei den kleinen Hektikern keinerlei Eindruck machen würden. »Sind die Herren Politiker jetzt bereit, mir für einen Moment ihr geneigtes Ohr zu schenken?«, meldete sich Daellian erneut zu Wort. Rhodan öffnete die Augen. »Verzeihung, Malcolm. Was wolltest du sagen?« »Dass eure Diskussion völlig am Thema vorbeigeht. Niemand muss Neu-NACHT verlassen und irgendwohin umziehen. Das Pelarga-System gehört zum Peldron-Nebel, der bis zum 11. September 1331 komplett in einen Hyperkokon eingebettet war. Wenn ich unseren Besucher richtig verstanden habe, müsste sich eine extrauniversale Sphäre auch rund um dieses Sonnensystem errichten lassen. In der wäre es dann nachts völlig dunkel.« »Danke, Malcolm!«, sagte Rhodan. »Daran hat offenbar keiner von uns gedacht. Also schlage ich vor, dass wir jetzt einen Plan ausarbeiten.«
*
»Was hältst du von der Geschichte?« Nach der lebhaften Diskussion und der anschließenden »Expertenrunde« hatte sich Rhodan ein wenig Bedenkzeit erbeten. Er spazierte über die sandige Ebene auf den Berg zu, der sich am Horizont erhob. Der Überlebenstank neben ihm wurde von Prallfeldern in der Schwebe gehalten. »Sie ist auf jeden Fall hochinteressant«, sagte Daellian. »Es gibt noch viele offene Fragen zum Thema Sternenozean. Wir haben keineswegs alle Rätsel gelöst, die mit den Hyperkokons in Zusammenhang stehen.« »Wie schätzt du diesen Jon'ho ein?« »Es klingt plausibel, was er sagt. Wir sollten auf jeden Fall versuchen, die Station wieder in Betrieb zu nehmen. Auch wenn sich Jon'ho selbst nicht ganz sicher ist, ob es funktioniert. Aber mich als Wissenschaftler reizt es, mich dort umsehen zu können.« »Immerhin scheint es die einzige zu sein, die vor der Vernichtung gerettet werden konnte. Nach unseren bisherigen Informationen sind alle Projektorstationen explodiert.« »Auch das klingt plausibel«, sagte Daellian. »Dieses Wächtervolk scheint nicht gerade vor Tatendrang zu platzen. Und schon gar nicht, nachdem seine Angehörigen sieben Millionen Jahre lang stupide ihren Dienst versehen haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass die meisten Wächter gar nicht mehr die Initiative aufbrachten, der Entscheidung des Computers mit einem Überrangbefehl zu widersprechen.« »Sofern sie noch am Leben oder handlungsfähig waren«, gab Rhodan zu bedenken. »Hältst du es für möglich, die Technik den Bedingungen der erhöhten Hyperimpedanz anzupassen?« »Wenn ES seine Finger im Spiel hatte, müssen wir mit allem rechnen. Vielleicht genügen ein paar Handgriffe, um sie wieder zum Laufen zu bringen. Aber vielleicht stehen wir auch völlig ratlos da und verstehen gar nichts. Obwohl ich Jon'hos Andeutungen entnehme, dass die Systeme recht einfach konstruiert sind. Was tatsächlich die sinnvollste Lösung ist, wenn die Maschinen über Jahrmillionen reibungslos laufen sollen.«
»Also können wir es nur auf einen Versuch ankommen lassen.« Rhodan blickte nachdenklich auf den Überlebenstank an seiner Seite. »Wie schätzt du Jon'ho Sarenti als Person ein?«, wiederholte er eine der Fragen, die ihn beschäftigten: »Schwer zu sagen.« Rhodan wartete, doch Daellian sprach nicht weiter. »Können wir ihm vertrauen?« »Worauf willst du hinaus?« Rhodan gab sich einen innerlichen Ruck. »Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er mehr weiß, als er preisgibt.« »Glaubst du, er verheimlicht uns etwas?« »Was meinst du?«, fragte Rhodan zurück. »Muss man immer alles ausplaudern, was einem durch den Kopf geht?« Als Rhodan schwieg, fuhr er fort: »Er ist schon ein seltsamer Bursche. Aber wenn ich mir vorstelle, dass jemand sieben Millionen Jahre lang in einer Raumstation gefangen ist und nichts anderes tut, als sich zu vergewissern, dass der Computer alles im Griff hat, selbst wenn er die meiste Zeit im Tiefschlaf verbringt...« »Nach so langer Zeit muss man einfach etwas wunderlich werden.« Es dauerte eine Weile, bis der Sprachsynthesizer des Medotankes wieder aktiv wurde. »Wie konnte er überhaupt so lange überleben?« »Gute Frage«, sagte Rhodan. »Wir sollten sie ihm bei der nächsten Gelegenheit stellen.« »Irgendwie kommt er mir gleichzeitig unheimlich und vertraut vor«, sagte Daellian. Darauf erwiderte Rhodan nichts mehr. Das war die Antwort, auf die er gewartet hatte.
* Alles war so sinnlos geworden. Eine halbe Ewigkeit lang hatte er seine Aufgabe erfüllt, dann war mit einem Schlag alles zusammengebrochen. Er war vermutlich der Letzte seines Volkes und in einer Zeit gestrandet, die nicht seine war.
Er musste sich den Tatsachen stellen. Die Ära der Hyperkokons war zu Ende, und er wurde nicht mehr gebraucht. Sein Auftraggeber hatte ihn bestimmt längst vergessen. Aber vielleicht gab es eine neue Aufgabe für ihn. Wenn sich die Station reparieren ließ, konnte er den Mom'Serimern eine neue Heimat bieten. Die nicht mehr gebrauchten Diener zweier Superintelligenzen konnten ihrem Leben gegenseitig einen neuen Sinn geben. Aber welchen Sinn? War das Vorhaben nicht letztlich nur eine Illusion? Was hatten Jon'ho Sarenti und die Mom'Serimer davon, wenn sie zu Wächtern einer NACHT wurden, die niemand mehr brauchte? Wäre es nicht eine Lebensaufgabe, wenigstens den Mom'Serimern zu dienen? Auch wenn ihre Sehnsucht nur auf einer Illusion beruhte? War nicht das ganze Leben nur eine Illusion? Man wurde geboren, man erfüllte seine Aufgaben, und wenn man schließlich starb, löste sich alles in kosmischen Staub auf. Und Jon'ho konnte nicht einmal sterben. Wäre es nicht besser, in einer Illusion zu leben, als völlig sinnlos dahinzuvegetieren? Diesmal war es keine Entscheidung zwischen einer ungewissen Zukunft und gar keiner Zukunft. Wenn die Götter die Sterblichen im Stich ließen, mussten diese ihrem Leben und ihrem Tod selbst einen Sinn geben. Konnte er sich damit abfinden? Jon'ho Sarenti war sich nicht sicher. Plötzlich kam ihm ein ganz neuer Gedanke. Ein schicksalhafter Zusammenhang. Eine verlockende Aussicht. Eine Lösung seines Dilemmas. Aber die Idee ließ sich praktisch nicht umsetzen. Es wäre so gut wie unmöglich, die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. So gut wie, aber nicht völlig unmöglich. Jon'ho erkannte, dass es vielleicht doch einen Weg gab ...
6. Auf der Spur der Aurenspürer »Mann, ist das alles komplifiziert!«, stöhnte Jubo Jassiffer. »Soll ich es dir noch einmal ganz genau erklären?«, fragte Tarm Jassiffer. »Nein, ich hab's schon verstanden. Aber diese ganz Terrimino... na, diese langen Wörter machen mich schwindlig. Super-Intellenzen. Hyper-Impedanterie. Geht's nicht 'ne Nummer kleiner?« »Wir leben in einem gewaltig großen Universum. Manchmal braucht man lange Wörter, um Dinge zu beschreiben.« »Puh! Ich hätte Lust, was ganz Kleines zu machen. Eine Sandburg bauen. Oder meine Pfefferminzbonbons zählen.« Die beiden jungen Mom'Serimer hatten sich ein Stück vom Rand des Landefeldes entfernt, wo die großen Leute ihre kosmischen Pläne geschmiedet hatten und nun alles für den Aufbruch ins Weltall vorbereiteten. Natürlich war keiner von ihnen auf die Idee gekommen, die Kleinen am bevorstehenden Abenteuer teilhaben zu lassen. Tarm hätte gern die Gelegenheit genutzt, nach so langer Zeit die SOL wiederzusehen. Aber man hatte beschlossen, nur Seramir als Botschafter von Neu-NACHT mitzunehmen. Außerdem gehörten er und sein Bruder zu den Mom'Serimern, die sich entschieden hatten, auf diesem Planeten zu leben. Man konnte eben nicht alles haben. »Ich wüsste was«, sagte Tarm. »Ist schon 'ne Nummer größer, aber nicht riesengroß. Eine Kleinigkeit, an die keiner von den ganz großen Leute denkt.« »Nun sag schon! Wie lange willst du mich noch zappeln lassen?« »Wir suchen die Aurenspürer!« »Noch so 'n langer Name!« »Vielleicht fällt uns ein kürzerer ein.« »Blinkies. So nennen die Terranier sie manchmal.« »Find ich nicht so gut. Ein bisschen seriöser sollte es schon klingen.« »Wie wär's mit Auspüs? Oder Ausper?« »Klingt auf jeden Fall besser als Situdaez.« »Situ... was?«
»Sie selbst bezeichnen sich als Summe ihrer Taten und des aktuellen energetischen Zustandst Hat Milo rausgefunden, als er mit ihnen kommu... gesprochen hat. Abgekürzt heißt das Situdaez.« »Ist mir immer noch zu komplifiziert Ausper gefällt mir besser.« »Ist sogar völlig logisch. Weil sie nicht espern, sondern auspern.« »Wo willst du sie suchen?«, fragte Jubo. »Ich würde in ihrem Dorf anfangen. Vorhin bin ich nur im Zickzack rumgerannt und sofort wieder umgekehrt, als ich niemanden gesehen hab. Diesmal sollten wir nach Spuren Ausschau halten.« »Glaubst du, dass wir welche finden?« »Das sehn wir dann. Wenn man etwas sucht, weiß man vorher noch nicht, ob und was man wo finden wird.« »Stimmt. Fangen wir gleich damit an?« »Nachdem wir die nötige Ausrüstung zusammengestellt haben. Vielleicht sind wir mehrere Tage unterwegs. In dieser Zeit müssen wir essen und trinken.« »Stimmt! Eine Thermoskanne, ein Teekochset ... aber vielleicht keine Kochtöpfe und Gemüse, sondern lieber Konzentratwürfel...« »Sehr gut. Also übernimmst du die Logistik .« »Nein, ich kümmere mich lieber darum, wie wir was machen.« »Auch gut«, sagte Tarm. »Was macht ihr da?«, fragte Ressa Jassiffer. »Ihr habt hier nichts zu suchen, solange ihr noch minderjährig seid!« »Wir brauchen nur ein paar Sachen, Vater«, erwiderte Tarm. »Außerdem hat der Laden noch gar nicht geöffnet.« Ressa stand im Eingang zur kleinen Abstellkammer seiner Pfefferminzteestube. »Wenn der Prophet sieht, dass meine Kinder Zugang zu gefährlichen Drogen haben, bekomme ich mächtigen Ärger.« »Seramir ist mit Perry Rhodan und diesem komischen Wächter zur SOL geflogen. Du musst dir also keine Sorgen machen.« »Meine Kinder werden mich eines Tages in den Ruin treiben!« Ressa wedelte verzweifelt mit den Gehirntentakeln. »Was sucht ihr hier überhaupt?« »Wir brauchen nur ein paar Sachen. Wir sind dann mal für ein paar Tage weg.«
»Es freut mich, dass ihr eine Weile meine Nerven schonen wollt. Was habt ihr vor?« »Wir wollen die Ausper suchen.« »Was?« »Die Aurenspürer. Wir nennen sie von nun an Ausper, um nicht so viel Zeit zu verlieren.« »Gute Idee. Grüßt sie schön von mir, wenn ihr sie findet.« »Machen wir«, sagte Tarm. »Hast du noch diesen BlinkTranslator?« »Ich dachte, ihr lernt die Sprache der Aurenspürer ... der Ausper ... in der Schule bei eurem Indoktrinato.« »Das schon, aber wir haben noch nicht mal die Farbverben durchgenommen.« »Na gut«, sagte Ressa. »Er liegt in der Vitrine neben der Theke.« Er wandte sich von der Kammer ab, in der seine Kinder herumkramten, und betrat den Schankraum seiner Pfefferminzteestube. Tarm folgte ihm, während Jubo versuchte, einen angerosteten Teekocher zum Laufen zu bringen. Ressa zog einen Schlüssel hervor und öffnete die Vitrine, in der verschiedene Gegenstände lagen, die für ihn einen bedeutenden materiellen oder ideellen Wert hatten. »Hier«, sagte er und nahm das Gerät heraus. »Aber mach ihn mir nicht kaputt!« »Großes mömsches Ehrenwort!«, sagte Tarm. »Es ist der Translator, den Milo Aratoster höchstpersönlich bei der ersten Kontaktaufnahme mit den Auren ... Auspern benutzt hat.« »Ich weiß«, sagte Tarm. »Da hängt er.« »Ich weiß«, wiederholte Tarm. Ressa ließ sich nicht beirren und trat vor eins der zahlreichen Holos von berühmten Mom'Serimern, die sämtliche Wände der Pfefferminzteestube zierten. »Dieses Bild von ihm wurde aufgenommen, kurz nachdem er zum ersten Mal den Fuß auf die Oberfläche von Neu-NACHT setzte.« Oh Mom, jetzt bloß keine Geschichten aus alten Zeiten!, dachte Tarm verzweifelt. »Ich weiß, Vater«, wiederholte er mit Nachdruck. »Ich werd lieber mal nachsehen, was Jubo treibt.«
»Besonders stolz bin ich auf diese seltene Aufnahme von Crom Harkanvolter«, fuhr Ressa fort. »Sie zeigt ihn, wie er gerade ...« Den Rest hörte Tarm nicht mehr, weil er inzwischen fluchtartig den Schankraum verlassen hatte.
7. Herr der Trümmer 22. März 1348 NGZ »Ziel erreicht«, meldete Roman Muel-Chen, der Erste Pilot. »Die SOL kehrt in diesem Moment in den Normalraum zurück.« Perry Rhodan blickte auf das schematisierte Holo, das sich zusehends mit Daten füllte. »Wie sieht es hier aus?«, fragte Fee Kellind. »Unübersichtlich«, antwortete Viena Zakata, der Leiter der Abteilung Funk und Ortung. »Die kleine rötliche Sonne scheint nie Planeten hervorgebracht zu haben. Dafür treibt ziemlich viel Zeug in der Ekliptik herum.« »Lässt sich die Sammelbezeichnung >Zeug< etwas genauer definieren?«, erkundigte sich die Kommandantin. »Die Hauptmasse besteht aus Asteroiden«, präzisierte der Ortungschef. »Gesteinsbrocken von mehreren Kilometern Durchmesser bis runter zu feinstem Staub. Dazwischen in wahlloser Verteilung ein beachtlicher Anteil von technischem Schrott. Von der Mikroschraube bis rauf zum fast vollständigen Raumschiffswrack. Einen Moment ...« »Was gibt es?«, fragte Kellind besorgt. »Offenbar ist nicht alles Schrott, was hier rumfliegt. Ich orte ein paar verschwommene Energieechos, die sich aber nicht richtig zuordnen lassen. Es ist schwierig, in diesem Gewimmel Genaueres zu erkennen.« »Also der ideale Ort, um etwas zu verstecken«, bemerkte MuelChen. Er warf einen Seitenblick auf Jon'ho Sarenti. Der Fremde hielt sich ebenfalls in der Zentrale der SOL auf und verfolgte das Geschehen schweigend. »Gefahreneinschätzung?« »Auch das ist schwer zu sagen, Fee«, antwortete Zakata. »Generell rate ich dazu, vorsichtig zu sein.« Fee Kellind drehte sich zum Terranischen Residenten um. »Perry, du hast das Kommando für diesen Einsatz.«
Rhodan wandte sich Jon'ho zu und deutete auf das Ortungsholo. »Kannst du uns zeigen, wo sich die Station befindet?« Der Wächter kam ein paar Schritte näher; er warf nur einen flüchtigen Blick auf das Datengewirr. »Sucht die zwei größten Asteroiden. Verbindet sie mit der Sonne zu einem Dreieck. Dann bestimmt das Zentrum des Umkreises.« »Schon erledigt«, sagte Zakata. »Hmm ... an dieser Stelle orte ich nur ein paar höchstens faustgroße Trümmer.« »Nun vollführt eine Punktspiegelung mit der Sonne, als Fixpunkt«, fuhr Jon'ho fort. »Ah!« Der Ortungschef entblößte grinsend sein Pferdegebiss. »Genau auf der anderen Seite. Raffiniert! Moment mal... da ist was.« Diesmal warteten die anderen geduldig ab, bis Zakata seine Erkenntnisse preisgab. »Keine klare Ortung, eher ein verschwommener Fleck. Aber nicht wie eine Staubwolke. Die könnte ich in ihre Bestandteile auflösen. Dieses Ding bleibt verschwommen, egal, wie nahe ich rangehe.« Rhodan sah Jon'ho an. »Ein Ortungsschutz?« »Etwas Besseres ließ sich mit den Mitteln der Station nicht erzeugen. In der Sonnenkorona bestand keine Notwendigkeit zur Tarnung.« »Verstehe. Aber es hat offenbar funktioniert.« Rhodan blickte sich in der Zentrale um. »Wir haben detailliert festgelegt, wie wir vorgehen wollen. Malcolm und ich gehen an Bord von Jon'hos Schiff, die beiden Leichten Kreuzer sorgen für die Rückendeckung. Jon'ho, Malcolm, Tonko ... wenn es keine Einwände gibt, kann es losgehen.« »Ich habe ein seltsames Gefühl«, sagte Tonko Kerzner. »Ich würde lieber ein paar Kreuzer mehr mitnehmen.« Rhodan schüttelte entschieden den Kopf. »Das haben wir doch bereits besprochen. Das Trümmersystem ist unbewohnt. Nichts deutet auf irgendwelche Gefahren hin.« »Du hast das Kommando.« Tonko fügte sich mit einem Achselzucken. »Aber als Leiter des Bereichs Außenoperationen bestehe ich darauf, wenigstens eine Kreuzerstaffel in Bereitschaft zu halten.« »Wenn es dich beruhigt ...« Rhodan nickte den anderen zu und verließ die Zentrale der SOL.
* »Willst du dich nicht lieber dem technischen Team im Leichten Kreuzer anschließen?«, sagte Rhodan zu Daellian, als sie den Hangar betraten. »In Jon'hos kleinem Schiff könnte es etwas eng für dich werden.« »Es ist groß genug für zehn Särge. Außerdem würde ich gern einen konkreteren Eindruck von der Technik erhalten, mit der Jon'ho Sarenti arbeitet. Wir haben eine Einsatzbesprechung nach der anderen abgehalten. Ich hatte bisher kaum die Gelegenheit, es mir etwas genauer anzusehen.« Rhodan blickte zu dem Schiff hinauf, das mit ausgefahrener Rampe im Hangar der SOL stand. Der Wächter war ihnen vorausgegangen und verschwand soeben im Innern der kleinen Einheit, die wohl ein Beiboot der Station war. »Wenn du darauf bestehst...«, sagte Rhodan mit einem leisen Seufzer. »Du hast darauf bestanden, dass ich an diesem Einsatz der SOL teilnehme«, rief Daellian ihm ins Gedächtnis. »Du hast mich praktisch dazu überredet. Warum willst du mich jetzt in die zweite Reihe abschieben? Das ist inkonsequent von dir.« »Wir wissen nicht, ob die Technik des Beiboots irgendwelche Rückschlüsse auf die der Station zulässt, Malcolm. Die Vermutung liegt natürlich nahe, aber letztlich geht es doch um die Systeme, die der Projektion eines Hyperkokons dienen.« »Glaubst du wirklich, ich hätte nicht verstanden, aus welchem Grund du ausgerechnet mich mit diesem geheimnisvollen Wächter zusammenarbeiten lässt? An Bord der SOL stehen dir jede Menge fähiger Hyperphysiker zur freien Verfügung – Tangens der Falke, Tess Qumisha, Benjameen da Jacinta, Cora Landesmann...« »Sie sind alle damit beschäftigt, die Probleme mit dem HypertaktTrieb-werk in den Griff zu bekommen.« »Unsinn«, gab Daellian schroff zurück. »Die Hauptarbeit wird von den Technikern erledigt. Es wäre kein Problem, einen von ihnen für diesen Einsatz abzuziehen. Du hast mir diesen Job aufgedrängt. Ich soll meine Empathie spielen lassen, um einen tieferen Einblick in
Jon'hos Persönlichkeit zu erhalten. Also lass mich endlich meine Arbeit machen!« Ohne ein weiteres Wort aktivierte Daellian die Prallfelder seines Tanks und schwebte die Rampe hinauf. Rhodan stieß langsam den angehaltenen Atem aus, schüttelte den Kopf und folgte dem Wissenschaftler. »Hier Zakata!« Der Ortungschef meldete sich, als Rhodan gerade durch die Öffnung ins Innere des Beiboots getreten war. »Da draußen tun sich seltsame Dinge. Die Energieechos, die ich vorhin erwähnte, sind schwächer geworden. Einige sind sogar ganz erloschen.« »Ist das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?« »Keine Ahnung«, antwortete Zakata. »Ich wollte dich nur auf dem Laufenden halten.« »Das gefällt mir nicht«, mischte sich Tonko Kerzner ein, der das Gespräch über den Kommandokanal mithören konnte. »Soll ich den Einsatz abbrechen, nur weil du ein ungutes Gefühl hast?«, gab Rhodan zurück. »Du bist der Chef«, brummte Tonko. »Ich sage nur, was ich denke.« »Wir machen wie geplant weiter«, entschied Rhodan. »Danke, Zakata! Halt weiterhin die Augen offen.« »Mach ich. Seid vorsichtig!«
* »Startfreigabe!«, hörte Perry Rhodan die Stimme des Hangarchefs. »Es kann losgehen«, sagte er zu Jon'ho Sarenti und blickte sich kurz zum Tank um, in dem Malcolm Daellian schweigend das Geschehen verfolgte. Der Wächter hantierte an den Kontrollen des Beiboots. Kurz darauf erhob es sich vom Boden des Hangars und schwebte mit langsamer Fahrt durch das offene Tor in den Weltraum. Der Terraner blickte auf dem Panoramasichtschirm über die Instrumente. Er sah zwei weitere Raumschiffe, die aus anderen Hangars der SOL gestartet waren. Das eine war die SOL-KR 30, ein Leichter Kreuzer der DIANA-Klasse, der von Oberst Tonko Kerzner
kommandiert wurde. Die SOL-KR 12, eine Einheit der MERKURKlasse, war mit einem technisch-wissenschaftlichen Ausrüstungsmodul ausgestattet; ihre Stammbesatzung titulierte sie gern als »fliegende Werkzeugkiste«. Rhodan konzentrierte sich auf die Zielregion. Er kniff die Augen zusammen, doch aus einer Entfernung von 20 Millionen Kilometern zeichnete sich das Trümmerfeld lediglich als blasser Schein ab – schwächer als das Band der Milchstraße am terranischen Nachthimmel. Die SOL war ein Stück »oberhalb« der Ekliptik in Parkposition gegangen. Bei der Einsatzbesprechung, hatte Jon'ho vorgeschlagen, auf den Beiboot-Einsatz zu verzichten und die Station direkt mit dem Hantelraumschiff anzufliegen. Roman Muel-Chen hatte dem Wächter geduldig erklärt, dass ein solches Manöver in der Trümmerzone nicht in Frage kam. Wenn der acht Kilometer lange Gigant mit angemessener Vorsicht und aktivierten Prallfeldern vorrückte, würde es Wochen dauern, bis sie ihr Ziel erreicht hatten. Natürlich waren die Schutzschirme der SOL leistungsfähig genug, um auch bei höherer Geschwindigkeit Kollisionen zu vermeiden, doch in diesem Fall würde das Raumschiff eine gewaltige »Bugwelle« erzeugen, die das gesamte Trümmerfeld ins Chaos stürzen konnte. Nun konnte Rhodan die ersten Lichtpunkte erkennen, die allmählich unregelmäßige Formen annahmen. Ein grauer Fleck löste sich in einen kartoffelförmigen Asteroiden von etwa einem Kilometer Durchmesser auf, ein heller Sonnenreflex wurde zu einer durchlöcherten runden Metallscheibe: Die Auswertung der Ortungsdaten hatte ergeben, dass die meisten Raumschiffswracks zwei verschiedenen Typen zuzuordnen waren. Nach der Isolation der Hyperkokons hatten sich offenbar Würfelschiffe der Kybb-Cranar und diskusförmige Einheiten eines unbekannten Volkes gegenseitig aufgerieben. Bislang war der Peldron-Nebel kaum erforscht worden. Niemand wusste, welche Schätze hier eines Tages vielleicht geborgen wurden. »Da ist etwas.« Jon'hos Stimme riss Rhodan aus seinen Gedanken. Der Wächter tätigte einige Schaltungen, dann erschienen zwei konzentrische Kreise auf dem Sichtschirm. »Ein Energieecho. Es bewegt sich mit relativ hoher Geschwindigkeit auf uns zu.«
»Tonko?«, fragte Rhodan über die offene Sprechverbindung. »Wir haben es ebenfalls bemerkt«, antwortete der ertrusische Kommandant des Leichten Kreuzers. »Auswertung läuft... das Ding hat zylindrische Form ... Moment... oh ... in diesem Fall sollte man wohl eher von Walzenform sprechen.« »Ein Raumschiff der Mehandor?« »Korrekt«, bestätigte Tonko Kerzner. »Habt ihr versucht, Kontakt aufzunehmen?« »Na klar. Doch bis jetzt... Moment... soeben kriegen wir was rein. Ich stelle es zu dir durch.« Rhodans Minikom projizierte ein Holofeld, in dem ein unfreundliches Gesicht mit kunstvoll geflochtenem rotem Bart sichtbar wurde. »Verschwindet von hier!«, forderte der galaktische Händler sie ohne Umschweife auf. »Die Trümmer gehören uns. Ihr habt hier nichts zu suchen!« Rhodan aktivierte die Sprechverbindung. »Die Eigentumsverhältnisse innerhalb des Peldron-Nebels werden derzeit im Galaktikum verhandelt. Es besteht...« »Was interessiert mich das Galaktikum?«, gab der Springer zurück. »Wir haben das Trümmerfeld als Erste entdeckt. Also haben wir auch die Bergungsrechte.« »Wir sind nur an einem einzigen Objekt interessiert. Der rechtmäßige Eigentümer sitzt rieben mir. Wenn wir das Objekt geborgen haben, verschwinden wir wieder und lassen euch in Ruhe.« »Abgelehnt. Ich lasse nicht zu, dass ihr euch hier irgendwas unter den Nagel reißt. Wenn ihr nicht sofort abdreht ...« »Was dann?«, fragte Rhodan ruhig. Die Antwort des Mehandor bestand in einem schweren Schlag, der Jon'ho Sarentis Beiboot heftig durchschüttelte.
* Das Raumschiff brannte. Flammen schössen aus der Instrumentenkonsole, der Sichtschirm erlosch. Die künstliche Schwerkraft fiel aus. Das Beiboot hatte einen schweren Treffer erhalten, bevor Jon'ho einen Defensivschirm aktivieren konnte.
Mit einer solchen Antwort hatte auch Perry Rhodan nicht gerechnet. Sein leichter Schutzanzug hatte sich automatisch geschlossen und einen Konturschirm aufgebaut. Auch um Daellians Medotank war ein schwaches Flimmern zu erkennen. Also schien der Wissenschaftler den Angriff unbeschadet überstanden zu haben. Rhodan musterte die Daten, die auf die Sichtscheibe seines Raumhelms projiziert wurden. Der Druckabfall sorgte dafür, dass die erhitzte Restluft rapide abkühlte und die Flammen erstickt wurden. Druckabfall... »Jon'ho!«, rief Rhodan erschrocken. »Leg einen Raumanzug an!« Der Wächter rührte sich nicht. Rhodan fuhr herum, als er einen Sog spürte. Er sah, wie sich auf der linken Seite der Steuerzentrale ein Riss bildete. Er griff nach einer Verstrebung der Konsole, um sich festzuhalten, als die Atemluft mit der Gewalt eines kleinen Sturms in den Weltraum entwich. Doch schon nach kurzer Zeit hörte der Sog auf. Die Atemluft an Bord des nur 45 Meter durchmessenden Beiboots hatte sich schnell verflüchtigt. »Jon'ho!«, wiederholte Rhodan, obwohl er wusste, dass seine Stimme im Vakuum nicht mehr hörbar war. Erstaunt beobachtete Rhodan nun, wie Jon'ho Sarenti ihm den Kopf zuwandte und mit einer Hand auf den Riss zeigte. Der Wächter konnte im luftleeren Raum überleben! Die gläserne Haut... in der Tat wie bei den Buhrlos. Oder wie bei Halutern, die es bis zu fünf Stunden im Vakuum aushielten ... Jon'ho erhob sich von seinem Sitz und stieß sich mit zwei der vier Laufbeine von der Konsole ab. In der Schwerelosigkeit trieb er auf den Riss zu, hinter dem nun blinkende Lichtpunkte vor schwarzem Hintergrund zu erkennen waren. Rhodan verließ sich darauf, dass Jon'ho wusste, was er tat, und folgte ihm auf dieselbe Weise. Nachdem er sich durch die scharfkantige Öffnung gezwängt hatte, blickte er sich zu Daellian um. Er sah den Überlebenstank auf der anderen Seite des Risses, und im nächsten Moment wurde ihm klar, dass er nicht hindurch passen würde.
»Warte, ich helfe dir ...«, sagte Rhodan und packte eine Verstrebung. Er versuchte, sie zur Seite zu biegen, doch das weiße Metall gab keinen Millimeter nach. »Lass es bleiben«, hörte er Daellians Stimme über den Anzugkom, während er sah, wie sich der Medotank ins Innere des Beiboots zurückzog. »Du kannst nichts für mich tun.« »Ich werde Unterstützung holen«, versprach Rhodan. »Wir lassen dich hier nicht zurück.« »Geh weg von der Öffnung!«, befahl der Wissenschaftler. »Bring dich in Sicherheit!« »Malcolm, ich werde auf gar keinen Fall...« »Verschwinde endlich, verdammt noch mal! Sonst muss ich Hilfe holen, um deine Reste im Vakuum aufzulesen!« Nun begriff Rhodan, was Daellian vorhatte. Hastig stieß er sich vom Rumpf des Beiboots ab. Dann sah er, wie der Überlebenstank beschleunigte und in den Riss krachte. Den Aufprall hörte er nur über die Funkverbindung zu Daellian. Der Medotank hatte die Öffnung ein wenig erweitert, doch nun steckte er fest. Rhodan überlegte, wie er Daellian helfen konnte, und blickte sich im Weltraum um. Er sah ein paar unregelmäßig geformte Trümmerstücke und bemerkte dann einen dunklen Schatten, der sich von der Seite näherte. Es war die SOL-KR 30. In einer offenen Schleuse standen vier Gestalten in Schutzanzügen, die sich mit einem Hechtsprung in den Weltraum hinaus katapultierten. Sie aktivierten ihre Antriebssysteme und flogen auf das Wrack des Beiboots zu. Rhodan hoffte, dass sie das nötige Werkzeug dabeihatten, um Daellian zu befreien. »Einen Augenblick noch, Malcolm«, sagte er. »Dann werden wir gemeinsam versuchen ...« »Mach dir keine Sorgen um mich«, entgegnete der Wissenschaftler. »Ich komme schon zurecht.« Als Rhodan sich wieder zu ihm umdrehte, sah er, dass sich der Medotank Zentimeter für Zentimeter durch die Öffnung bewegte.
Offenbar hatte Daellian beschlossen, es mit roher Gewalt zu probieren, und ließ die Prallfeldschirme und den Gravopuls-Antrieb mit höchster Leistung arbeiten. Bevor die Leute von der SOL-KR 30 das Beiboot erreicht hatten, hatte der Tank den letzten Widerstand überwunden und schoss aus der Öffnung in den Weltraum. »Alles in Ordnung bei euch?«, fragte einer der Männer in den Raumanzügen. »Kümmert euch lieber um Jon'ho«, gab Daellian schroff zurück. »Den haben die Kollegen schon in die Mitte genommen.« »Danke, dass ihr so schnell reagiert habt!«, sagte Rhodan. »Es freut mich, dass wir euch aus der Patsche helfen konnten.« Wenig später hatten sich die Schiffbrüchigen sowie das Rettungsteam in der Schleuse des SOL-Beiboots versammelt und warteten darauf, dass der Druckausgleich hergestellt wurde.
* »Was ist passiert?«, wollte Rhodan von Tonko Kerzner wissen, als er die Zentrale des Leichten Kreuzers erreicht hatte. »Nachdem sie euch zerschossen hatten, blieb uns nichts anderes übrig, als ihnen eine Salve vor den Bug zu setzen«, antwortete der Leiter der Außenoperationen. »Aber die Springer hatten ihre Schutzschirme bereits aktiviert. Im nächsten Moment ist die Bereitschaft von der SOL gestartet. Als die Mistkerle die sechs Leichten Kreuzer bemerkten, nahmen sie sofort Reißaus und versteckten sich zwischen den Trümmern. Wie es aussieht, kennen sie sich hier bestens aus, die Burschen.« »Tut mir leid, dass ich deine Bedenken nicht ernst genommen habe, Tonko«, sagte Rhodan. »Das hätte böse ausgehen können«, brummte der Ertruser. »Danke für die schnelle Hilfe!« »Keine Ursache.« »Warum haben die Mehandor ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet?«, kam Rhodan auf das Thema zurück. »Normalerweise halten sie sich doch an die Gepflogenheiten der galaktischen Etikette.«
»Ich weiß auch nicht, was ihnen an uns nicht gepasst hat«, sagte Kerzner. »An die SOL scheinen sie sich nicht heranzutrauen. Offenbar haben sie ge1 wartet, bis sich leichtere Beute in ihre Nähe wagt.« »Dringender Anruf von der SOL!«, meldete der Kommunikationschef. »Durchstellen!« »Hier Morten Racast«, sagte der Mann mit den dunkelblonden langen Haaren, der im Holofeld erschienen war. Der Halbarkonide war so etwas wie der inoffizielle Geheimdienstchef der SOL. »Ich habe mal versucht, den Angreifer anhand der verfügbaren Daten zu identifizieren. Und siehe da! Ich bin sehr schnell fündig geworden.« »Raus mit der. Sprache«, knurrte Kerzner. »Das Raumschiff, das euch solche Schwierigkeiten gemacht hat, ist unter der Bezeichnung ANHI registriert. Der Eigentümer ist ein gewisser Anhof, Patriarch der Anhof-Sippe, die sich auf drei Walzenraumer verteilt.« »Was ist mit ihm?«, fragte Rhodan. »Bis vor Kurzem ist er lediglich durch ein paar Drogengeschäfte aufgefallen und war als kleiner Fisch in die Machenschaften im Zusammenhang mit dem Projekt Ara-Toxin verwickelt. Doch in den letzten Jahren der TRAI-TOR-Krise nutzte er das allgemeine Chaos, um wehrlose Raumschiffe zu überfallen und um ihre Fracht zu erleichtern.« »Ein Pirat?«, fragte Rhodan. »Bislang eher auf dem Niveau eines Taschendiebs. Aber wie es aussieht, wagt er sich mittlerweile auch an andere Ziele.« »Warum ist er so sauer geworden?« »Vielleicht hat er im Trümmerfeld etwas entdeckt, das er sich um keinen Preis der Welt wegnehmen lassen will.« »Er hätte einfach stillhalten und abwarten können, bis wir wieder verschwunden sind. Dann hätten wir gar nicht bemerkt, dass er sich hier herumtreibt.« »Vielleicht kompensiert er seine schlimme Kindheit oder hat die falschen Drogen genommen«, sagte Racast. »Ich sehe in seiner Karriere eine klare Tendenz, die für ihn nur ein böses Ende nehmen kann.«
»Was machen wir jetzt?«, fragte Kerzner. »Die sechs Leichten Kreuzer der Bereitschaft haben uns in die Mitte genommen. Setzen wir den Vorstoß mit verstärkter Rückendeckung fort?« »Damit dürfte es ein Problem geben«, warf der Kommunikationschef ein. Kerzner drehte sich zu dem Mann um. »Warum?« »Unser Bordarzt meldet, dass sich dieser Jon'ho nicht mehr gerührt hat, seit unsere Leute euch an Bord geholt haben. Er möchte ihn so schnell wie möglich in die Medostation der SOL bringen.«
8. Ein Toter stirbt 22. März 1348 NGZ »Das kann nur ein böses Omen sein!«, rief Lord Remo Aratoster. »Jedes große Unternehmen birgt die Gefahr von Rückschlägen in sich«, ereiferte sich der Prophet der NACHT. »Wir dürfen uns nicht beirren lassen. Wir müssen bereit sein, Opfer zu bringen, um den Traum unseres Volkes ...« »Ich musste schon meinen Sohn für deine Träume opfern«, warf Remo mürrisch ein. »Nun hast du auch noch den Wächter auf dem Gewissen. Wenigstens kannst du dir jetzt deine neueste Idee aus den Gehirntentakeln schlagen. Ohne Jon'ho Sarentis Unterstützung wird es euch kaum gelingen, die Hyperkokonstation wieder in Betrieb zu nehmen.« »Das ist noch nicht gesagt«, schaltete sich Perry Rhodan ein, der sich nach der Rückkehr der Beibooflottille mit den beiden mom'serimischen Anführern in einem Besprechungsraum der SOL zurückgezogen hatte. »Bislang konnten unsere Ärzte noch keine eindeutigen Angaben zu Jon'hos Zustand machen. Der Wächter scheint über einen recht ungewöhnlichen Metabolismus zu verfügen.« »Heißt das, du bist gewillt, diesen verrückten Plan weiterzuverfolgen?« »Wenn wir beim nächsten Mal mit einer Beibooflottille ins Trümmerfeld vorrücken«, erklärte Rhodan, »haben wir nichts mehr von den Springern zu befürchten. Außerdem wird sich die SOL dann etwas näher am Einsatzgebiet aufhalten, um notfalls eingreifen zu können.« Remo richtete einen Finger auf den Terraner. »Es war sehr leichtsinnig von dir, sich Jon'hos Raumschiff anzuvertrauen, das schon beim ersten Schusswechsel einen schweren Treffer einstecken musste.« »Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht damit gerechnet, dass ES' Übertechnik so anfällig sein könnte. Offenbar hat man bei den peripheren Systemen tatsächlich auf die einfachsten Lösungen zurückgegriffen. Schließlich war es nur ein Beiboot, das nichts mit der Erzeugung des Hyperkokons zu tun hatte.«
»Also wurde unser großer Plan durch diesen kleinen Rückschlag nicht gefährdet«, fasste Seramir zusammen. »Die Station ist unversehrt. Diesmal brechen wir mit einer großen Streitmacht auf, vertreiben die Weltraumpiraten und nehmen die Station in Besitz!« »Du hast schon wieder zweimal >groß< gesagt«, bemerkte Rhodan. Der Interkom seines Schutzanzugs gab ein melodisches Tonsignal von sich. »Entschuldigt mich einen Moment«, sagte er zu den Mom'Serimern. »Ja?« »Kellind hier«, meldete sich die Kommandantin. »Daria Markus möchte dich sprechen.« »Wie steht es um Jon'ho?«, erkundigte sich Rhodan besorgt. »Das würde sie dir gern persönlich erklären.« Plötzlich hatte Rhodan ein sehr ungutes Gefühl. »Ist er ... tot?« »Das war auch meine erste Frage. Aber darauf wollte sie keine definitive Antwort geben.« »Wie darf ich das verstehen?« »Frag sie selbst«, antwortete Kellind und unterbrach die Verbindung.
* Als Rhodan die Medoabteilung der SOL betrat, wartete Oberstleutnant Daria Markus bereits auf ihn. Sie war für den Fachbereich Medizin/Psychologie zuständig. Er stutzte und ließ seinen Blick an ihrer auffälligen Erscheinung hinauf wandern. »Stimmt was nicht?«, fragte Markus und sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. Die Frau trug einen stahlblauen, eng anliegenden Anzug, der ihre attraktive Figur ausgesprochen gut zur Geltung brachte. An den Ohrläppchen baumelten mandarinengroße Anhänger in Form schwarzer Kugeln, deren unregelmäßige Oberfläche langsam pulsierte. Doch am erstaunlichsten war ihre Frisur. Das nachtschwarze Haar wurde durch ein kleines Kraftfeld in Form gehalten. Es bildete eine perfekte Kugel, die sich aus Markus Schädeldecke erhob und in der es sich unablässig wie Seetang in der Strömung bewegte. »Ich bin beeindruckt«, sagte Rhodan.
»Ich habe lediglich versucht, mein Outfit dem Thema dieser Expedition anzupassen.« »Du solltest dich als Modedesignerin selbstständig machen«, bemerkte Rhodan trocken. »Der Hyperkokon-Stil wird bestimmt der ganz große modische Renner.« »Mach dir keine falsche Hoffnung«, entgegnete Markus mit einem spöttischen Lächeln. »So schnell wirst du mich nicht los. Ich bin mit meinem Job an Bord der SOL rundum zufrieden.« »Das freut mich.« Rhodan holte tief Luft. »Wie steht es um Jon'ho?« Bevor die Ärztin antwortete, blickte sie ihn einen Moment lang schweigend an. »Folge mir!«, forderte sie ihn auf. Sie führte Rhodan in ein Untersuchungszimmer, in dem Jon'ho Sarenti auf einer Liege aufgebahrt lag. »Der wohl ungewöhnlichste Patient, den ich je hatte.« Die Ärztin blickte Rhodan kopfschüttelnd an. »Heißt das ...?«, setzte Rhodan an. Wenn der Wächter der Station den Angriff auf das Beiboot nicht überlebt hatte, standen die Chancen schlecht, den Plan der Mom'Serimer in die Tat umzusetzen. »Um deiner unausgesprochenen Frage vorzugreifen ... Es ist schwierig, seinen Zustand kurz und knapp zu beschreiben. Aber wenn ich es mit einem einzigen Wort ausdrücken müsste, würde ich sagen: Er ist tot.« Rhodan seufzte, doch bevor er etwas darauf erwidern konnte, ergriff die Ärztin erneut das Wort. »Keine voreiligen Schlussfolgerungen! Das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Wie ich bereits andeutete, verhält sich die Angelegenheit in Wirklichkeit viel komplizierter.« »Wie darf ich das verstehen?« »Gehen wir die Untersuchungsergebnisse der Reihe nach durch. Wenn ich mir den Zustand seiner Körperzellen ansehe, gelange ich zum Schluss, dass dieses Wesen höchstens seit ein paar Sekunden tot ist. Wenn ich die Untersuchung ein paar Minuten später wiederhole, gelange ich zum selben Ergebnis.« »Du meinst...« »Ich meine, dass der Zustand >vor Sekunden gestorben< von Dauer ist. Dieser Körper befindet sich in einer Art Stasis.«
»Das ist wenigstens etwas«, sagte Rhodan. Die Äußerung ließ ihn hoffen. »Und weiter?« »Als Nächstes habe ich eine physikalische Altersbestimmung durchgeführt, was immer schwierig ist, wenn man nicht weiß, welche Bedingungen auf der Heimatwelt eines Fremdwesens herrschen oder wie viel Lebenszeit es im Weltraum verbracht hat. Aber wenn man verschiedene Isotopenanalysen kombiniert, erhält man in der Regel einen brauchbaren Mittelwert. Bei diesem Patienten deuten die Untersuchungsergebnisse darauf hin, dass sein Körper vor zwei bis zehn Millionen Jahren aufgehört hat zu leben.« Rhodan nickte. »Das entspricht der Zeit, in der die Hyperkokons aktiviert wurden.« »Ich kann also nur vermuten, dass damals etwas mit dem armen Kerl gemacht wurde, das wir nicht einmal in Ansätzen verstehen. Er starb und wurde unmittelbar darauf konserviert oder in Stasis versetzt.« »Aber noch vor einer knappen Stunde habe ich mich mit ihm unterhalten«, wandte Rhodan ein. »Das dürfte mit den weiteren Eigenarten zusammenhängen, die ich an ihm festgestellt habe. Zunächst fiel mir auf, dass er ein sehr ungewöhnliches UHF-Strahlungsmuster aufweist.« »Ein psi-begabter Mutant?« Die Ärztin schüttelte den Kopf. »Das Muster hat eine völlig andere Struktur. So etwas habe ich noch nie gesehen, weder bei lebenden noch toten Subjekten oder Objekten.« »Was schließt du daraus?« »Auf diesem Gebiet tappt unsere Wissenschaft immer noch größtenteils im Dunkeln. Ich kann nur sagen, dass sich das Strahlungsmuster auf das Gehirn und bestimmte Nervenknoten konzentriert. Und mir ist aufgefallen, dass eine Frequenzkomponente dabei ist, die auch bei Telekineten besonders stark ausgeprägt ist.« »Ein Geisteswesen, das einen Körper per Telekinese steuert?« »Als Fachfrau müsste ich eine solche Schlussfolgerung als viel zu unwissenschaftlich zurückweisen. Aber als Mensch kann ich nur sagen: So etwas in der Art dürfte es sein.« »Eine zutreffende Umschreibung«, sagte Jon'ho Sarenti.
9. Ein Toter lebt 22. März 1348 NGZ Mit einer Mischung aus Entsetzen und Erstaunen starrte Perry Rhodan auf den Wächter, der sich von der Liege erhob, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen. »Jon'ho ... du lebst!«, entfuhr es Rhodan. »Diese Einschätzung ist nicht ganz zutreffend, wie die Medizinerin soeben ausgesagt hat. Ich bin weiterhin ebenso tot wie zuvor.« »Wie ist das möglich?«, fragte Rhodan verwirrt und warf einen Seitenblick auf Daria Markus, die das Geschehen sprachlos verfolgte. »Mein Körper bleibt in der Kälte und Luftleere des Weltraums eine Zeit lang handlungsfähig«, erklärte Jon'ho. »Das hast du erlebt, als wir mein Beiboot verlassen haben. Doch irgendwann war die Restwärme aufgebraucht, und ich bin erfroren. An Bord dieses Raumschiffes bin ich langsam wieder aufgetaut. Mein Gehör ist schon seit einigen Minuten wieder funktionsfähig, sodass ich euer Gespräch verfolgen konnte. Doch erst jetzt ist mein Körper wieder in der Lage, mich handeln und sprechen zu lassen.« »Wie kannst du tot sein und gleichzeitig ...leben?«, wollte Rhodan wissen. »Wie es genau funktioniert, kann ich dir auch nicht beschreiben. Ich weiß nur, dass mein lebendes Bewusstsein in der Lage ist, diesen toten Körper zu lenken. Doch ich kann dir versichern, dass es sich ganz anders anfühlt als zu der Zeit, als ich wirklich gelebt habe.« »Diese Zeit liegt sieben Millionen Jahre zurück«, sagte Rhodan. »Damals war ich schon fast gestorben. Doch dann kam jenes Wesen, das ihr ES nennt, und bot mir und den anderen Wächtern gleichzeitig den Tod und das ewige Leben.« »ES hat dir die Unsterblichkeit verliehen.« Rhodan fasste sich unwillkürlich an die linke Schulter. »Genauso wie mir.« »Dir hat er einen Zellaktivator gegeben, der deinen lebenden Körper nicht altern lässt«, sagte Jon'ho. »Bei mir verhält sich die Sache etwas anders. Und wie es scheint, war er dazu auf ihre Hilfe angewiesen.«
»Mir ihr meinst du ESTARTU«, schlussfolgerte Rhodan. »Sie hat einen Helfer geschickt, der über die Technik oder die Kenntnis verfügte, einem Toten das ewige Leben zu geben. An ihm habe ich zum ersten Mal den Hauch der ESTARTU wahrgenommen.« »Allmählich verstehe ich die Zusammenhänge.« Rhodan wurde nachdenklich. »Stammt dein Volk aus der Galaxis, die wir M 87 nennen und die bei den Völkern ESTARTUS als Druithora bekannt ist?« »Mein Heimatplanet befand sich im Zentrumsgebiet dieser Galaxis, die ihr Milchstraße nennt«, antwortete Jon'ho. »Warum fragst du?« »Hast du jemals von den Skoars gehört?« »Dieser Name ist mir unbekannt.« »Wie nannte sich dein Volk?« Jon'ho gab einen Zischen von sich, auf das ein dumpfes artikuliertes Grollen folgte, das schließlich in ein Fauchen überging. Der Translator gab die Lautfolge als »Schukurrach« wieder. »SENECA«, sprach Rhodan den Bordcomputer der SOL an. »Gibt es, abgesehen von dieser Ähnlichkeit, weitere linguistische Übereinstimmungen zwischen der Sprache von Jon'ho Sarenti und denen der Skoars aus M 87 oder den Halutern?« »Das wüsste ich aber«, kam die prompte Antwort. »Auf einen solchen Zusammenhang hätte ich längst hingewiesen, sofern er denn bestehen würde. Es lassen sich keinerlei sprachliche Verwandtschaften zu den Skoars oder den von ihnen abstammenden Bestien und Halutern feststellen. Dies wäre auch zeitlich problematisch. Ich denke, du verrennst dich da in etwas, das nicht sein kann, Perry.« »Immerhin liegt die Vermutung nahe«, sagte Rhodan. »Die Verbindung zu ESTARTU, ein ähnlicher Körperbau ...« »Andererseits wurde bis heute keine linguistische Verwandtschaft zwischen den Sprachen der nordamerikanischen Algonkin und denen der Papua von Neuguinea festgestellt, obwohl beide Volksgruppen in enger Beziehung zu den Lemurern standen. Und in diesem Fall beträgt die zeitliche Kluft lediglich 50.000 Jahre.« »Und falls es tatsächlich eine Verbindung zwischen den Schukurrach und den Skoars gäbe, hätten wir es mit einem Abstand von
knapp sieben Millionen Jahren zu tun«, spann Rhodan den Gedanken weiter. »Hättest du etwas einzuwenden, wenn wir eine Probe deines Zellmaterials mit den genetischen Informationen in unseren Datenbanken abgleichen?« »Ich hatte mich bereits mit der Vorstellung abgefunden, der letzte Überlebende meines Volkes zu sein«, sagte Jon'ho. »Wenn sich herausstellen sollte, dass entfernte Verwandte von mir überlebt haben...« Er verstummte, als eine leichte Erschütterung den Boden erzittern ließ.
* »Was war das?« »Kein Grund zur Beunruhigung, Leute«, drang im nächsten Moment Fee Kellinds Stimme aus allen Lautsprechern des Bordinterkoms, als hätte sie Rhodans besorgte Frage gehört. »Die SOL ist inzwischen in die Randzone des Trümmerfeldes eingedrungen. Die Prallschirme halten alles fern, was uns gefährlich werden könnte. Doch dann kam uns etwas in die Quere, was bei der Berührung mit dem Schirm hochgegangen ist. Das hat einer der Generatoren nicht verkraftet. Keine Gefahr für das Schiff. Ende der Durchsage.« »Perry?«, hörte Rhodan sie keine Sekunde später über seinen privaten Anzuginterkom. Ohne Zeit zu verlieren, hatte die Kommandantin den Kanal gewechselt. »Ja«, meldete er sich. »Das war eine Raummine, und keine schwache«, sagte Kellind. »Die Energiesignatur deutet auf einen weit verbreiteten arkonidischen Typ hin. Wird gern von Springern benutzt. Aber natürlich auch von vielen anderen galaktischen Völkern. Mein Hinweis auf die Mehandor war keineswegs ethnisch diskriminierend gemeint.« »Verstanden«, sagte Rhodan mit einem leichten Grinsen. »Wir wollen niemanden vorverurteilen, aber es wäre durchaus möglich, dass Anhof der Absender dieses freundlichen Grußes war.«
»Eigentlich hätte er wissen müssen, dass er der SOL mit einem solchen Bömbchen nichts anhaben kann. Aber man kann es ja mal probieren. Wenn er es denn war.« »Du weißt, wie du als Flottenadmiralin auf feindliche Angriffe zu reagieren hast.« »Selbstverständlich, Terranischer Resident.« »Tonko soll seine wichtigsten Leute zusammentrommeln. Wir müssen die nächste Außenoperation besprechen.« »Mit oder ohne Jon'ho?« »Er weilt wieder unter den Lebenden«, sagte Rhodan. »Soweit man ihn überhaupt als Lebenden bezeichnen kann.« »Muss ich das verstehen?« »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es selbst verstanden habe.« »Wie auch immer«, schloss Kellind. »Ich werde alles Nötige veranlassen.« Rhodan wandte sich wieder an Jon'ho Sarenti. »Bist du überhaupt bereit, einen zweiten Vorstoß zur Station zu wagen?« »Selbstverständlich«, sagte der Schukurrach. »Es ist meine Station. Ich würde sie gern wieder in Besitz nehmen. Doch dazu brauche ich mein Beiboot.« »Wir haben das Wrack geborgen. Aber es macht nicht den Eindruck, dass es sich in nächster Zeit aus eigener Kraft von der Stelle bewegen kann.« »Das ist bedauerlich, da die Station nur über dieses eine Beiboot verfügte. Aber das ist kein Problem. Ich brauche nur den Kodesender aus der Zentrale, um den Tarn- und Schutzschirm der Station abschalten zu können.« »Kümmert ihr euch darum?«, fragte Rhodan mit einem Seitenblick auf Daellian. »Wird erledigt«, drang die künstliche Stimme des Wissenschaftlers aus dem Überlebenstank.
10. Baumgeisterstadt Das Dorf der Aurenspürer lag nicht weit von der Stadt entfernt. Wenn man rannte, war man in zehn Minuten da. Tarm und Jubo brauchten eine halbe Stunde, weil Jubo darauf bestand, unterwegs eine Teepause einzulegen. Die zwei Mom'Serimer schwiegen ehrfürchtig, als sie von der Sandebene in die Bodensenke hinabstiegen. Unten am kleinen Fluss standen ein paar Bäume. Eigentlich waren es zu wenige, um sie als Wald bezeichnen zu können. Als Tarm sie an diesem Tag zum zweiten Mal sah, wurde ihm klar, was ihn schon beim ersten Besuch gewundert hatte. Die Bäume waren nicht grün, sondern braun. War es Herbst geworden? Tarm wusste von den Indoktrinatos, dass die Bäume auf Terra regelmäßig ihre Blätter bunt färbten und abwarfen, um während der jährlichen Kälteperiode im Tiefschlaf auszuharren. Aber er hatte auch gelernt, dass Neu-NACHT keine Achsenneigung hatte. Deshalb gab es hier keine Jahreszeiten. Oder hatten die Bäume einen anderen Grund, eine gelegentliche Ruhepause einzulegen? Die Mom'Serimer lebten erst seit drei Segaf auf diesem Planeten, der für eine Umrundung der Sonne Pelarga 16 Segaf brauchte. Bisher hatten sie nur einen kleinen Teil ihrer neuen Heimat erforscht. Sicherlich gab es hier noch viele Dinge, von denen sie nichts wussten. »Ein paar Nester sind runtergefallen«, brach Jubo das Schweigen, das die Brüder ungewöhnlich lange gewahrt hatten. »Als ich vor etwa einem Seg hier war, habe ich eins gesehen, das am Boden lag, und mir nichts dabei gedacht«, sagte Tarm. »Jetzt sind es viel mehr geworden.« Sie hatten den ersten Baum erreicht, ein knorriges Gewächs mit zerknitterten braunen Blättern an den dünnen Ästen, etwa fünfmal so hoch wie ein Mom'Serimer. Daran hing ein Gebilde von anderthalb Metern Durchmesser. Die Kugel bestand aus einer glasigen Substanz und hatte auf einer Seite ein Loch.
Als eine stärkere Brise durch das Flusstal fuhr, schaukelte das Ausper-Nest hin und her und ließ die Baumäste knarren. Jubo trat neugierig näher und blickte zu dem Nest auf. Es hing so hoch, dass er es auch mit einem kräftigen Sprung nicht erreicht hätte. Tarm lauschte auf die Geräuschkulisse, das Raunen des Windes, das Knarren der Bäume und das Schwappen des Flusses. Das Knarren verstärkte sich und ging in ein reißendes Geräusch über. »Jubo!«, rief er. »Pass auf!« Tarm stürmte los, packte seinen Bruder und zerrte ihm vom Baum weg. Im nächsten Moment löste sich das Glasnest vom Ast, hing für einen Moment in der Luft und stürzte dann mit einem dumpfen Platschen zu Boden höchstens zwei Meter von den jungen Mom'Serimern entfernt“. Langsam sackte die Kugel wie ein gestrandetes Meereslebewesen in sich zusammen. Jubo starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Ding. »Jetzt versteh ich, warum die Ausper nicht mehr da sind. Aber warum sterben ihre Bäume?« »Wir werden es herausfinden«, sagte Tarm zuversichtlich. »Es wird schon dunkel. Wir sollten unser Nachtlager aufschlagen und Tee kochen. Morgen werden wir die Suche fortsetzen.«
* Tarm schreckte zum zweiten Mal aus dem Schlaf hoch, als ein weiteres Glasnest zu Boden fiel. Er schlich sich leise davon, um sich hinter einem verdorrten Baum zu erleichtern. Dabei überlegte er, was es eigentlich mit diesen Gebilden auf sich hatte. Offenbar hatte sich bisher niemand die Frage gestellt, ob die Ausper ihre Behausungen künstlich an den Bäumen anbrachten oder ob sie so etwas wie natürliche Früchte waren. Die Mom'Serimer wussten nur, dass sie darin wohnten. Mit diesem Gedanken schlief er wieder ein.
Sobald die ersten Strahlen Pelargas den Himmel erhellten, waren die Brüder wieder auf den Beinen und schauten sich im verlassenen Dorf der Ausper um. Doch sie fanden nichts, was man in der Geisterstadt eines zivilisierten Volkes erwarten würde. Kein zerbrochenes Geschirr, keine Verpackungsreste, keine weggeworfenen Informationsträger. Entweder hatten die Ausper alles mitgenommen, oder in ihrer Kultur gab es all diese Dinge gar nicht. Jubo verlor bald das Interesse am unergiebigen Detektivspiel und setzte sich ans Flussufer, während Tarm noch eine Weile weitersuchte. Schließlich gab auch er es“ auf und gesellte sich zu seinem Bruder. »Was machst du da?«, fragte er ihn. »Ach, nichts«, sagte Jubo. »Mir war langweilig. Also habe ich ein bisschen Punkte-Verbinden gespielt.« Tarm blickte genauer hin. Jubo hockte vor einer Fläche aus glattem, feuchtem Sand und hatte mit einem dünnen Stock Linien hinein gezeichnet. Tarm betrachtete die ungelenken Umrisse eines knochenförmigen Gebildes. »Soll das die SOL sein?« »Klar«, sagte Jubo. »Es war gar nicht so einfach, die passenden Punkte zu finden.« »Und das ist der Prophet?« Tarm deutete auf die eckige Darstellung eines Kopfes mit vier abgewinkelten Strichen, die von der Oberseite abgingen. Das kleine Kunstwerk erinnerte an die Strichzeichnungen, die die Figuren von Sternbildern veranschaulichen sollten. »Ja. Aber für den Körper sind keine Punkte mehr da, die ich verbinden könnte.« »Dann drück doch einfach noch ein paar in den Sand.« »Nein!«, empörte sich Jubo. »Bei diesem Spiel darf man nicht schummeln!« Tarm stutzte. »Was sind das überhaupt für Löcher?« »Keine Ahnung. Sie waren hier im Sand. Du weißt doch, dass ich schon immer gerne Punkte-Verbinden gespielt habe.« Tarm richtete sich auf, um einen besseren Überblick zu erhalten. Die gesamte Fläche war mit den winzigen Vertiefungen übersät. Als
hätte ein Terraner seine dicken Finger in wahlloser Verteilung in den Sand gedrückt. Er ging ein Stück weiter und fand eine weitere Stelle am Flussufer, wo sich die Punkte fortsetzten. Dazwischen lag ein Streifen aus trockenem Sand. Falls sich auch dort kleine Löcher befunden hatten, wären sie längst verweht. »Jubo, du bist ein Held!«, rief er seinem Bruder zu. Der blickte verwirrt von seinen Zeichnungen auf. »Was?« »Du hast die Spur gefunden, nach der wir gesucht haben!«, verkündete Tarm. »Das sind die Fußabdrücke der Ausper! Sie sind in diese Richtung gegangen – flussabwärts!« »Oh!«, sagte Jubo erstaunt.
* Sie folgten dem Lauf des Flusses und stießen immer wieder auf Abdrücke im Ufersand. Am Abend des zweiten Tages entdeckten sie ein weiteres Baumgeisterdorf, das den gleichen traurigen Anblick wie das erste bot. Am folgenden Morgen setzten sie zuversichtlich ihren Marsch fort. Der Fluss entsprang im Gebirgszug, zu dem auch der Berg der Gefahren gehörte, und machte einen großen Bogen um die Sandebene, auf der die Mom'Serimer die Stadt Milo errichtet hatten. Danach vereinigte er sich mit kleineren Bächen und mündete im Tiefland schließlich in einen Binnensee. Schon von fern sahen Tarm und Jubo den See im Sonnenlicht glitzern. Sie erkannten den Streifen aus grüner Vegetation, der das Ufer und den unteren Flusslauf säumte. »Schau mal!«, rief Jubo, als sie die ersten Ausläufer des Waldes erreicht hatten. »Da kommen die Ausper!« Tarm hob den Blick. Sofort sah er die Gruppe der Ureinwohner von Neu-NACHT, die auf ihn immer noch einen unwirklichen Eindruck machten. Sie kamen ihnen am Flussufer entgegen und blieben in Sichtweite stehen. Dann löste sich ein Ausper aus der Gruppe; er lief auf die Mom'Serimer zu. Fasziniert beobachtete Tarm, wie das Wesen die drei dünnen Beine in einer komplizierten Abfolge bewegte. Der trapezförmige Kör-
per wogte im Rhythmus der Schritte. Das undefinierbare Gebilde, das an der Stelle saß, wo sich bei den meisten anderen Intelligenzwesen der Kopf befand, leuchtete in einem matten Orange. Der Ausper wurde langsamer und schien zu zögern, als würde er die beiden Mom'Serimer misstrauisch mustern. Dann ging er auf Jubo zu. Dabei wechselte das leuchtende Ding die Farbe; es schimmerte nun in einem hellblauen Ton. Das Wesen wandte sich von Jubo ab und seinem Bruder zu. Tarm spürte ein unbehagliches Kribbeln, als der Ausper ihm so nahe kam. Der Leuchtkopf erstrahlte nun in sattem Lila. »Er hat unsere Auren gespürt«, flüsterte Jubo ehrfürchtig. »Ich weiß«, sagte Tarm. »Er hat uns geauspert. Ich glaub, irgendwas mit Blau ist immer ein gutes Zeichen.« »Ich hoffe, das kommt nicht von den Pfefferminzbonbons, die ich ab und zu heimlich nasche.« »Ich glaub nicht, dass du dir Sorgen machen musst«, sagte Tarm. »Jetzt kommen die anderen. Das kann nur bedeuten, dass dieser Ausper ihnen mitgeteilt hat, dass mit uns alles in Ordnung ist.« »Vielleicht solltest du jetzt mal das Blinkding aus dem Rucksack holen«, schlug Jubo vor. »Gute Idee.« Tarm war so sehr von der Begegnung mit dem Aurenspürer fasziniert gewesen, dass er gar nicht mehr an den Translator gedacht hatte. Hastig nahm er den Rucksack ab, holte den Apparat heraus, schaltete ihn ein und stellte ihn auf den Boden. »Hallo«, sagte er. Die Lampe auf dem Gerät leuchtete orange, dann grün und wieder orange. Stimmt, dachte Tarm. Jetzt erinnerte er sich an ihre erste Unterrichtsstunde, als sie dieses Lichtwort durchgenommen hatten. »Wir heißen euch herzlich willkommen«, übersetzte der Translator die Signale eines Auspers, der an die Stelle des Aurenprüfers getreten war. Tarm erkannte die Abfolge wieder: orangegrünorange allerdings waren noch ein paar Farbnuancen dazwischen, die wahrscheinlich erst im Fortgeschrittenenkurs durchgenommen wurden. »Habt ihr euch verlaufen? Wir zeigen euch gern einen Weg, auf dem ihr in eure Stadt zurückkehren könnt.«
Tarm war irritiert. Der Tonfall des Auspers klang höflich, aber die eigentliche Bedeutung seiner Worte lief auf die Aufforderung hinaus, ganz schnell wieder zu verschwinden. Bevor er etwas sagen konnte, mischte sich Jubo ein. »Wir haben euch gesucht«, sagte er. »Ihr habt euer Dorf verlassen!« »Die Aura des Landes hat sich verändert«, sagte der Ausper. »Sie hat eine schlechte Farbe angenommen, und die Bäume sind gestorben. Deshalb sind wir an diesen Ort gezogen, wo sie noch in einem kräftigen Grün leuchtet. Viele von uns haben sich hier versammelt, in der Hoffnung, dass wir gemeinsam das Grau zurückdrängen können.« »Wir sind hier, um euch zu helfen«, sagte Jubo. »Was können wir für euch tun?« Der Ausper zögerte eine Weile, bis er antwortete. »Wir danken euch für dieses freundliche Angebot. Aber es ist nicht nötig, dass ihr uns aufsucht. Wenn wir eure Hilfe brauchen, werden wir in eure Stadt kommen.« Tarm gewann immer mehr den Eindruck, dass der Ausper mit netten Worten um das herumredete, was er eigentlich sagen wollte. Wenn man die höflichen Floskeln wegließ, blieb nur noch die Botschaft übrig: Lasst uns in Ruhe! Aber warum waren die Ausper plötzlich so abweisend? Das konnte nur bedeuten, dass sie die Mom'Serimer für die schlechte Aura verantwortlich machten. Jubo hingegen schien sich nicht im Geringsten um irgendwelche unterschwellige Botschaften zu scheren. »Wir sind den ganzen Tag am Fluss entlanggelaufen und würden uns gern ausruhen und Tee trinken. Es macht euch doch bestimmt nichts aus, wenn wir hier irgendwo unser Lager aufschlagen.« Tarm überlegte, ob er Jubo erklären sollte, dass ihre Anwesenheit offenbar unerwünscht war. Doch dann siegten seine Neugier und sein Tatendrang. Sie waren drei lange Tage unterwegs gewesen, und er war nicht bereit, unverrichteter Dinge wieder umzukehren. Er war fest entschlossen, das Rätsel zu lösen, warum sich die Ausper so merkwürdig verhielten.
11. Neustart 23. März 1348 NGZ Jon'ho tauchte aus dem Wrack auf, das in einem Hangar der SOL stand. Er hielt einen schwarzen Zylinder in den Händen. »Alles in Ordnung.« Daellian hatte außerhalb des größtenteils zerstörten Beiboots auf den Wächter gewartet. »Wir haben Glück gehabt, dass der Kodesender heil geblieben ist.« Der Schukurrach sprang auf den Boden und ging dem Wissenschaftler entgegen. »Vielleicht hätte ich es geschafft, die Kodesequenz zu rekonstruieren, aber so können wir uns die mühsame und zeitaufwendige Arbeit sparen.« Im Medotank öffnete sich eine Klappe. »Ich kann ihn an mich nehmen. Dann musst du ihn nicht mit dir herumtragen.« Jon'ho stutzte für einen Moment, dann legte er den Zylinder in das Fach. »Danke!« Das Fach schloss sich wieder. »Welchem Volk entstammst du?«, fragte Jon'ho. Daellian zögerte kurz, bevor er antwortete. »Ich bin Terraner.« »Terraner?«, wiederholte der Wächter erstaunt. »Warum siehst du ganz anders aus als die zweibeinigen Wesen, die den Hauptteil der Besatzung dieses Schiffes ausmachen?« »Ich ... hatte einen schweren Unfall. Das, was noch von meinem Körper übrig ist, wäre allein nicht überlebensfähig. Deshalb brauche ich die Technik, die in diesen Tank integriert ist.« »Wie fühlt es sich an?« »Willst du das wirklich wissen?« »Ja«, sagte Jon'ho in entschiedenem Tonfall. Daellian ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Schrecklich«, sagte er dann. Jon'ho wartete schweigend. »Gerade in der ersten Zeit war es sehr schlimm«, fuhr der Terraner nach einer Weile fort. »Eigentlich wollte ich nur noch sterben. Richtig sterben. Nachdem ich schon fast gestorben war.« Jon'ho schwieg immer noch.
Daellian setzte sich in Bewegung und schwebte langsam auf den Ausgang des Hangars zu. »Mit der Zeit habe ich mich an diesen Zustand gewöhnt«, sagte der Wissenschaftler. »In vielerlei Hinsicht ist der Sarg einem menschlichen Körper sogar überlegen.« Jon'ho begleitete ihn mit gemächlichen Schritten. »Mein Translator kennzeichnet den Begriff >Sarg< als unübersetzbar«, sagte er. »Was ist das?« Daellian erklärte es ihm. »So etwas gab es bei meinem Volk nicht. Unsere Toten wurden ohne Behälter oder Beigaben in die Erde gelegt, um wieder mit ihr eins zu werden.« Wieder schwieg er einen Moment. »Wir scheinen sehr viel miteinander gemeinsam zu haben«, sagte er dann. »Weil der Begriff Leben unsere Existenz nicht ganz zutreffend beschreibt«, fasste Daellian zusammen. »Und weil wir nur einen indirekten Kontakt zu unserem Körper und zur Außenwelt haben«, fügte Jon'ho hinzu. »Auch mir kommt es so vor, als würde ich eine Maschine per Fernsteuerung bedienen.« »Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie man sich als reines Bewusstsein in einem konservierten Körper fühlt. Aber vielleicht ist es meinem Zustand wirklich sehr ähnlich. Einen Moment ...« Daellian hielt vor dem Hangarausgang inne und verstummte für ein paar Sekunden. »Perry hat mir soeben Zeit und Ort der Einsatzbesprechung mitgeteilt«, sagte er schließlich. »Wir sollten uns auf den Weg machen.«
* »Entfernung 200 Kilometer«, meldete Kaiber Vonsch, der Pilot der SOL-KR 12. »Leite Bremsmanöver ein.« Rhodan starrte auf den holografischen Bildschirm des Kreuzers, der Trümmer in verschiedensten Formen sowie ein größeres würfelförmiges Wrack zeigte. Das Zielgebiet war mit einem Fadenkreuz markiert. Kurz darauf wurde an dieser Stelle ein weißer Punkt erkennbar, der sich langsam zu einem verwaschenen Fleck ausdehnte. Wie ein Kugelsternhaufen, den man durch ein unscharf eingestelltes Teleskop betrachtet, dachte der Terraner. »Irgendetwas Verdächtiges in der Nähe?«, fragte er.
»Nur die üblichen vereinzelten Energieechos«, antwortete der Ortungschef Restach Naire. »Sie tauchen plötzlich auf und verschwinden wieder, werden an Trümmerteilen reflektiert und bilden undurchschaubare Interferenzmuster.« »Schlag sofort Alarm, sobald sich etwas konkretisiert«, wies Rhodan ihn an. »Entfernung hundert Kilometer«, sagte Kaiber. »Sind die Kreuzer auf Position?« »In wenigen Augenblicken«, antwortete Restach. Im Holo sah Rhodan, wie zwei der 100 Meter durchmessenden Jagdkreuzer der DIANA-Klasse hinter der Station in Stellung gingen. Sie sollten den Leichten Kreuzer der MERKUR-Klas-se decken, der für den eigentlichen Einsatz vorgesehen war. »Bist du bereit, Jon'ho?« Der Wächter hob schweigend den schwarzen Zylinder. »Alle Kreuzer auf Position«, meldete der Ortungschef. Rhodan nickte Jon'ho zu. Der Schukurrach hielt die Enden des Zylinders und drehte sie in entgegengesetzten Richtungen. Dann zog er das Gerät auseinander. Nun wurde ein Tastaturfeld sichtbar. Mit bedächtigen Bewegungen drückte er eine Reihe von Tasten, woraufhin ein brummendes Signal ertönte. Jon'ho hob den Blick zur holografischen Darstellung. Rhodan wandte sich ebenfalls dem Bildschirm zu und sah, wie sich der Nebelfleck veränderte. In der undurchsichtigen Sphäre bildeten sich Wirbel, die sich zu hellen Punkten zusammenzogen und schließlich erloschen.
* Die Holografie zeigte ein strahlend weißes Gebilde von 1826 Metern Länge, wie Rhodan mit einem Blick auf die eingeblendeten Ortungsdaten erkannte. Die Grundform war ein Kegel, der in mittlerer Höhe von eüier scheibenförmigen, 400 Meter dicken Konstruktion geschnitten wurde. An der Basis weitete sich der Kegel zu einem offenen Trichter, der ebenfalls einen Durchmesser von 1826 Metern aufwies.
Perry Rhodan hatte ein Dejavu. Irgendetwas an dieser Konstruktion kam ihm bekannt vor. »Seltsam ...«, sagte Daellian. Rhodan wandte sich dem Medotank zu. »Was ist seltsam, Malcolm?« »Diese Station sieht ganz anders aus als das, was Startac Schroeder und Trim Marath in der Korona der Sonne Hayok beobachtet haben. Sie berichteten von mehreren diskusförmigen Stationen, deren Größe sie auf ein paar Kilometer schätzten und die von etwa 50 Kilometer durchmessenden Schutzschirmblasen umgeben waren.« Rhodan sah Jon'ho an. »Könnte es sein, dass im Sternenozean von Jamondi eine andere Technik verwendet wurde?« »Über die anderen Hyperkokons weiß ich nichts.« Der Wächter schien einen Moment lang nachzudenken. »Aber der Sonnenschutzschirm verfügt über ungewöhnliche Eigenschaften. Er verschiebt die Station um einen kleinen Betrag in der Raumzeit und erzeugt mehrere virtuelle Projektionen, die dem Energieausgleich dienen. Für einen externen Betrachter könnte das zu Verzerrungs- und Spiegelungseffekten führen.« »Vielleicht ist es ein ähnliches Prinzip wie bei unseren Virtuellbildnern«, sagte Daellian. »Das wäre denkbar.« Rhodan wandte sich wieder an Jon'ho. »Wer hat diese Station gebaut?« »Das ist mir nicht bekannt«, sagte der Schukurrach. »Ich wurde ebenso wie die anderen Wächter per Hypnoschulung in der Bedienung der Technik unterwiesen und gleich darauf in diese Station gebracht. Es gab keine Gelegenheit, Fragen zu stellen. Die Zeit drängte.« »Es sieht zumindest nicht nach Kosmokratentechnik aus, wie wir sie kennengelernt haben«, warf Daellian ein. »Diese glatten weißen Flächen ... Das ist ein völlig anderes Design. ES hat wohl auf die Technik eines uns unbekannten Hilfsvolks zurückgegriffen. Oder sie wurde ihm genauso wie die Methode zur Körperkonservierung von ESTARTU zur Verfügung gestellt.« »Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, so etwas Ähnliches schon einmal gesehen zu haben«, sagte Rhodan nachdenklich.
»Vielleicht erhalten wir einen Hinweis auf die Konstrukteure, nachdem wir uns ein wenig in der Station umgesehen haben«, sagte Daellian. Plötzlich hatten Rhodans Synapsen die Verbindung geschaltet, nach der er gesucht hatte. »Schon wieder M 87 ...«, flüsterte er.
* »Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen«, stellte Daellian fest. »Die Konstrukteure ...«, sagte Rhodan. »Die Raumschiffe der Okefenokees und der Konstrukteure des Zentrums. Diese Station sieht aus wie eine zusammengestauchte Version der raketenförmigen Raumschiffe, die uns in der Galaxis M 87 begegnet sind.« »Das Grundprinzip ist ähnlich«, räumte Daellian ein. »Aber das kann reiner Zufall sein. Mein technischer Sachverstand sagt mir, dass die antennenförmigen Fortsätze an der Kegelspitze zu den Energiezapfsystemen gehören. In der Scheibe dürften sich die Zentrale und die Wohnquartiere der Wächter befinden, und der Trichter an der Basis hat vermutlich etwas mit der Erzeugung oder Stabilisierung des Hyperkokonfelds zu tun.« Jon'ho Sarenti wandte sich dem Medotank zu. »Eine absolut zutreffende Einschätzung.« »Also ist das funktionelle Konstruktionsprinzip der Station überhaupt nicht mit den Raumschiffen aus M 87 vergleichbar, die wie, klassische Raketen aufgebaut sind«, fuhr Daellian fort. »Außerdem liegen auch in diesem Fall mehrere Jahrmillionen zwischen der Aktivierung der Hyperkokons und der Geschichte der Konstrukteure des Zentrums, soweit sie uns bekannt ist.« »Wenn Superintelligenzen im Spiel sind, sollte man keine Idee als zu fantastisch verwerfen«, sagte Rhodan. »Ich bin nur ein Wissenschaftler und verbeuge mich vor der Weisheit der Unsterblichen«, bemerkte Daellian trocken. Kaiber Vonsch räusperte sich. »Wo sollen wir andocken?« »Einen Moment«, sagte der Wächter und betätigte wieder mehrere Tasten des Zylinders. Kurz darauf bildete sich eine rechteckige Öffnung in der Scheibensektion.
»Leite planmäßiges Rendezvous-Manöver ein«, kündigte der Pilot an. »Achtung, da draußen tut sich was!«, meldete der Ortungschef. Perry Rhodan schaltete sofort um. »Annäherung stoppen! Volle Energie auf die Schutzschirme! Was ist passiert?« »Wie es aussieht, will unser guter Freund einfach nicht lockerlassen«, antwortete Restach.
* »Was ist da los?«, brüllte Tonko Kerzner. Die Zentralebesatzung der SOL-KR 30 zuckte unter der Stimme des zweieinhalb Meter großen und 800 Kilogramm schweren Ertrusers zusammen, hatte sich aber schon im nächsten Moment wieder gefasst. »Das Wrack des Würfelraumers der Kybb hat plötzlich den Kurs geändert und treibt auf die Station zu«, meldete Jil Basser von der Ortungsstation. »Die diffusen Energieechos werden klarer... die Signaturen deuten auf Triebwerke und Schutzschirme hin ...« »Ist das Ding gar kein Wrack?« »Ich bin mir nicht sicher ... verdammt, was ist das?« '. »Was ist was?«, knurrte Tonko. »Jetzt scheint das Wrack auseinanderzubrechen ... diese Mistkerle! Sie haben uns ein Trojanisches Pferd geschickt!« »Verdammt! Volle Gefechtsbereitschaft!«, befahl Tonko. Gebannt starrte er auf den Holobildschirm. Das würfelförmige Wrack löste sich in mehrere Teile auf, die erneut die Flugbahn änderten und auf die Leichten Kreuzer zielten. Plötzlich zuckten Energiestrahlen durch den Weltraum und schlugen in die Schutzschirme der Kreuzer. »Feuer erwidern!«, brüllte Tonko. Die Energie der Impulskanonen ließ den Kybb-Raumer aufglühen. Kurz nacheinander detonierten zwei der Brocken. »Energieüberschuss«, meldete die Ortungschefin. »Die Dinger sind mit Sprengsätzen präpariert.« »Traktorstrahlen einsetzen!«, befahl Tonko. »Schiebt den Müll weg, damit er uns nicht um die Ohren fliegt!«
Wieder wurden die Kreuzer von zwei Trümmerteilen aus beschossen. Als sie mit Impulsstrahlen eingedeckt wurden, flammten zwei Feuerbälle auf. »Achtung, Gegner setzt sich ab!«, warnte Basser. »Was?«, fragte Tonko verwirrt. »Zwei Raumschiffe nutzen die Explosionen als Deckung und ziehen sich zurück. Hatten sich offenbar im Wrack versteckt. Ortungsdaten sind noch unklar ... jetzt hab ich sie. Länge 200 Meter, Walzenform.« »Die Springer!«, knurrte Tonko. »Jagt ihnen zwei Transformbomben hinterher! Wir machen Weltraumschrott aus ihnen!« »Energiegewitter erschwert Zielerfassung«, meldete Siko Mentros vom Waffenleitstand. »Versuche genauere Einpeilung durch Abgleich, der Ortungsdaten ...« »Egal, abfeuern!« Hinter den allmählich erlöschenden Feuerbällen leuchteten zwei neue künstliche Sonnen auf. »Zweimal knapp daneben«, stellte Jil Basser lakonisch fest. »Mist!«, schimpfte Tonko.
* »Sind sie weg?«, fragte Rhodan über die Interkomverbindung zwischen den Kreuzern. »Wir können sie nicht mehr orten«, antwortete Tonko von der SOL-KR 30. »Ich verstehe nicht, was sich die Mehandor von solchen Aktionen versprechen.« Rhodan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht haben sie die Flugdaten von Jon'hos Beiboot ausgewertet und sind neugierig geworden, was sich hinter dem Nebelfeld verbirgt. Also haben sie sich hier auf die Lauer gelegt.« »Um uns die Station vor der Nase wegzuschnappen, sobald die Schutzschirme ausgeschaltet sind?« »Anscheinend ist ihnen klar, dass die SOL gerade wegen ihrer Größe im Trümmerfeld einen taktischen Nachteil hat«, vermutete Rhodan. »Solange wir nur mit Beibooten operieren können, stehen ihre Chancen gar nicht so schlecht.«
»Willst du den Einsatz trotzdem zu Ende bringen?«, fragte Tonko. »Ich baue darauf, dass ihr die Augen aufhaltet und uns vor weiteren bösen Überraschungen bewahrt.« »Darauf kannst du dich verlassen«, sagte Tonko. »Trotzdem werde ich eine weitere Kreuzerstaffel von der SOL anfordern. Für alle Fälle.« »Ich bitte sogar darum«, erwiderte Rhodan diplomatisch. »Dann werden wir den Vorstoß jetzt wie geplant fortsetzen.« »Das ist leider nicht mehr möglich«, meldete sich Jon'ho Sarenti zu Wort. »Wir müssen die ursprüngliche Planung modifizieren.« Rhodan stutzte. »Was heißt das konkret?« »Infolge der Kampfhandlungen wurde das Fremdabwehrprogramm der Station aktiviert«, erklärte Jon'ho. »Das bedeutet, dass der Computer jedes Fremdobjekt vernichten wird, das eine Sicherheitsgrenze von etwa vier Kilometern unterschreitet.« Rhodan runzelte die Stirn. »Und was willst du jetzt tun?« »Nachdem mein Beiboot nicht mehr einsatzfähig ist, kann ich nur noch allein und ohne fremde Hilfsmittel in die Station zurückkehren. Erst wenn ich das Abwehrprogramm manuell abgeschaltet habe, könnt ihr gefahrlos mit eurem Raumschiff andocken.«
12. Nachtflug 23. März 1348 NGZ Zwei sehr unterschiedliche Wesen standen in der Schleuse des Leichten Kreuzers. Perry Rhodan blickte hinaus. Vor dem schwarzen Teppich des Weltraums strahlte der weiße Kegel der Station. Ansonsten waren mit bloßem Auge nur ein paar glitzernde Trümmerteile zu sehen. Und ganze drei Sterne – obwohl der Peldron-Nebel zur Zentrumsballung der Milchstraße gehörte und nur 900 Lichtjahre unterhalb der galaktischen Ebene stand. Rhodan machte sich klar, dass diese Region bis vor nicht ganz 17 Jahren vom Rest des Universums abgeschottet gewesen war. Die sichtbaren Sterne gehörten fast ausschließlich zum offenen Sternenhaufen innerhalb des ehemaligen Hyperkokons, der einen Durchmesser von 430 Lichtjahren umschlossen hatte. Das namenlose Trümmersystem lag fünf Lichtjahre vom Rand des Kokons entfernt. Das bedeutete, dass das Licht der Sterne »von außen« fünf Jahre benötigt hatte, bis es hier eingetroffen war. Welches Naturschauspiel das gewesen sein mag! Vermutlich aber hatten es die Springer, falls sie denn um diese Zeit schon vor Ort gewesen waren, nicht würdigen können. Er riss sich von diesen Gedanken los und wandte sich Jon'ho Sarenti zu. Der Wächter hob eine Hand, um anzuzeigen, dass er bereit war. Dann trat er an den Rand der Schleuse und stieß sich ab. Er verließ das Schwerefeld des Raumschiffs und trieb ins All hinaus. Ein schwach schimmernder Halo legte sich um die Gestalt, die zusehends kleiner wurde. Der Schukurrach hatte seine gläserne Haut mit Atemluft vollgesogen und entließ sie nun durch winzige Poren, um seinen Kurs anzupassen. Andernfalls hätte er es nie geschafft, die fünf Kilometer Distanz zur Station mit einem einzigen Sprung gezielt zu überwinden. Rhodan hatte ihm angeboten, einen Raumanzug von der SOL zu benutzen. Für die Techniker wäre es kein großes Problem gewesen,
einen SERUN an die Körperform eines Schukurrach anzupassen. Doch Jon'ho hatte das Angebot mit der gleichen Begründung abgelehnt, die er auch für die Notwendigkeit seines Alleingangs angegeben hatte. Dafür musste er das Risiko in Kauf nehmen, im Vakuum des Weltraums in Kältestarre zu verfallen. Er hatte die Terraner vorgewarnt, dass es vielleicht eine Weile dauern würde, bis er wieder einsatzfähig war. Rhodan kniff leicht die Augen zusammen und erkannte gerade noch den Winzigen schwarzen Punkt, der sich vor der Projektorstation abzeichnete. Jon'ho hatte lediglich den Kodesender mitgenommen, um dem Computer die Anweisung geben zu können, den Hangar zu öffnen, damit er in die Station gelangte. Rhodan malte sich aus, was alles schiefgehen konnte. Wenn der Schukurrach die Station verfehlte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, bis er wieder aus der Sicherheitszone heraus gedriftet war, um ihn schließlich aus dem All zu fischen. Schlechter sah es aus, wenn er nicht im Hangar landete, sondern an einer Antenne hängen blieb. Vielleicht war es möglich, ihn aus der Ferne mit einem gering dosierten Thermostrahl aufzutauen ... in der Hoffnung, dass die Station ein solches Unternehmen nicht als Angriff wertete und zurückschlug. Rhodan verdrängte diese Gedanken. Darüber wollte er sich erst den Kopf zerbrechen, wenn tatsächlich etwas danebenging. Erneut konzentrierte er seinen Blick, doch der schwarze Punkt hatte die Sichtbarkeitsschwelle unterschritten. Er drückte auf den weißen Knopf an der Wand und ließ das Schleusenschott zugleiten. Die Außenmikrofone seines Anzugs übertrugen ein leises Zischen, das allmählich lauter wurde. Dann wandte er sich dem inneren Schleusenschott zu und wartete, bis der Druckausgleich hergestellt war.
* Es machte Jon'ho nichts aus, erneut zu erfrieren.
Dieser Zustand war ihm seit einer halben Ewigkeit bestens vertraut. Immerhin hatte er den größten Teil der Jahrmillionen im Kälteschlaf verbracht. Immer wieder hatte er sich einfrieren lassen und seinen Geist in eine bewusstlose Trance versetzt, bis die Automatik der Station ihn durch ein posthypnotisches Signal geweckt hatte. Doch diesmal blieb er wach, obwohl er von allen Sinnesempfindungen abgeschnitten war. Er bemerkte nicht, wie er in den offenen Beiboothangar trieb und von der künstlichen Schwerkraft ergriffen wurde. Er spürte nicht, wie er auf den harten Metallboden stürzte. Er machte sich keine Sorgen um Verletzungen, weil er wusste, dass der Körper eines Schukurrach deutlich widerstandsfähiger war als die meisten organischen Lebewesen. Er konnte sich nur vorstellen, wie sich das Hangartor schloss und die Halle mit Atemluft geflutet wurde. Er spürte erst wieder etwas, als sich sein toter Körper an die Umgebungstemperatur angepasst hatte und aufgetaut war. Schließlich richtete er sich mit ungelenken Bewegungen auf und verließ den Hangar. Mit mechanischen Schritten machte er sich auf den Weg zur Zentrale. Es stimmte, dass er die Station zunächst allein aufsuchen musste, um alles für die Ankunft der Terraner vorzubereiten. Doch die Gründe, die er genannt hatte, entsprachen nicht der Wahrheit. Ein Fremdabwehrprogramm existierte nicht. Auf diese Idee war er erst gekommen, als sich die Raumschiffe in der Nähe der Station ein Gefecht geliefert hatten. Zuvor hatte er nach einer Möglichkeit gesucht, eine Weile unbeobachtet von den Terranern in der Station agieren zu können. Er hatte darauf gehofft, dass ihm zu gegebener Zeit ein plausibler Vorwand einfallen würde. Nun war dies geschehen. Denn es existierte ein anderes Programm, das Jon'ho autorisieren und aktivieren musste, bevor die Terraner an Bord kamen. Als er die Zentrale erreicht hatte, nannte er erneut den Kode, der ihn berechtigte, Überrangbefehle zu erteilen. Dann gab er dem Computer eine Reihe von detaillierten Anweisungen. Nachdem alles vorbereitet war, schickte er das vereinbarte Signal an den Leichten Kreuzer und kehrte zum leeren Beiboot-Hangar zurück.
13. Herz der Finsternis 23. März 1348 NGZ Beim zweiten Andockversuch gab es keine unliebsamen Überraschungen. Rhodan trat von der Schleuse auf den Metallsteg, der den Leichten Kreuzer mit der Projektorstation verband. Zu beiden Seiten gähnte der schwarze Abgrund der Unendlichkeit, doch das leichte Flimmern verriet ihm, dass der Schutzschirm aktiv war. Das Kraftfeld hielt die Atmosphäre zurück und ermöglichte es der Einsatzgruppe, ohne geschlossenen Raumanzug in die Station überzuwechseln. Der Kreuzer war zu groß, um in den Hangar einfliegen zu können. Das Tor war auf Jon'hos Beiboot zugeschnitten und maß etwa 60 mal 40 Meter. Während der Einsatzbesprechung hatte Tonko vorgeschlagen, eine Space-Jet zu verwenden, die den Ausmaßen des Stationsbeiboots vergleichbar war. Doch Daellian hatte nicht auf die Möglichkeiten der »fliegenden Werkzeugkiste« verzichten wollen. Jon'ho Sarenti erwartete sie im Hangar und begrüßte sie knapp. Er kam umgehend zur Sache. »Alles ist vorbereitet. Wir können sofort mit. der Arbeit beginnen.« »Dann lass uns keine Zeit verlieren.« Rhodan war es durchaus recht, dass Jon'ho sich nicht mit umständlichen Ritualen der Gastfreundschaft aufhielt. »Ich werde die Techniker zu den Projektorsystemen führen«, erklärte Jon'ho. »Sie müssen neu kalibriert werden, um sie an die veränderten Bedingungen anzupassen. Ich könnte es selbst tun, aber mit meinen Mitteln würde es Jahre dauern. Eure Leute verfügen über das geeignete Werkzeug, um die Arbeit in kürzester Zeit zu erledigen.« Ohne ein weiteres Wort machte sich der Wächter auf den Weg zur offenen Innenschleuse des Hangars. Rhodan nickte Malcolm Daellian und den vier weiteren Technikern zu, dann folgte sie dem Schukurrach. Sie traten in einen Korridor, der aus den gleichen strahlend weißen Wänden wie die Außenhülle bestand. Als sie eine Gangkreuzung erreichten, bedeutete Jon'ho den Terranern, sich auf der mar-
kierten kreisrunden Fläche genau in der Mitte zu versammeln. Kurz darauf versank die Scheibe im Boden. In regelmäßigen Abständen tauchten ähnliche Korridorkreuzungen auf. Ein klassischer Lift, kein Antigravschacht, dachte Rhodan. Die Einrichtung der Station zeugte nicht von hochentwickelter Technik. Nachdem sie etwa zehn Decks passiert hatten, hielt die Scheibe an. Jon'ho setzte sich wieder in Bewegung, und die Terraner folgten ihm. Kurz darauf erreichten sie einen Durchgang, hinter dem sich eine größere Halle mit fremdartig wirkenden Maschinen öffnete. Rhodan ließ den Blick über die weiß verkleideten Blöcke, Röhren und Zylinder schweifen. Er konnte nur spekulieren, welchem Zweck sie dienen mochten. Jon'ho führte die Techniker zu einem Aggregat, öffnete per Knopfdruck die Verkleidung und erklärte ihnen, was sie zu tun hatten. Dann nahm er zwei Terraner zu einem Gebilde aus verschlungenen Röhren mit und wies ihr-nen eine andere Aufgabe zu. Rhodan hörte nur mit halbem Ohr zu. Stattdessen verlegte er sich darauf, die Gesamtheit der Anlage auf sich wirken zu lassen. Nach einer Weile sprach Jon'ho ihn an. »Begleitest du mich in die Zentrale? Ich muss dort ein paar Anpassungen vornehmen, damit die veränderten Systeme korrekt gesteuert werden.« »Selbstverständlich«, sagte Rhodan. »Außerdem muss ich dich vielleicht um einen weiteren Gefallen bitten.«
* Rhodan sah sich in der Zentrale um. Sie war in einem ähnlich sachlichen Stil wie der Rest der Projektorstation oder auch die Zentrale des Beiboots gestaltet. Weiße Wände, ein Kontrollpult mit Schaltelementen, ein holografischer Bildschirm. Von Kosmokraten- oder sonstiger Übertechnik konnte wirklich keine Rede sein. Jon'ho hantierte an den Kontrollen und betrachtete Diagramme und Tabellen mit unbekannten Schriftzeichen.
Schließlich drehte er sich zu Rhodan um. »Es ist, wie ich befürchtet habe. Die Energie der Station ist fast vollständig aufgebraucht. Der Sprung in dieses System hat die Reserven stark beansprucht.« »Obwohl wir hier nur ein paar Lichtjahre von der Spendersonne entfernt sind, in der die Station über Jahrmillionen ihren Dienst verrichtet hat?« »Die Kapazität der Speicher ist begrenzt«, sagte der Wächter. »In der Sonnenkorona bestand kein Grund, Energie zu horten, da sie im Überfluss vorhanden war. Wir müssen die Station in die Korona dieser Sonne oder zumindest in größere Nähe bringen, wenn wir sie wieder in Betrieb nehmen wollen.« »Warum hast du sie nicht gleich in der Sonne geparkt?«, wollte Rhodan wissen. »Weil auch die Abschirmungssysteme durch die erhöhte Hyperimpedanz beeinträchtigt werden. Die nötigen Reparaturen lassen sich besser unter Normalbedingungen durchführen.« Rhodan nickte. »Eine Zwickmühle.« »Dieser Begriff ist meinem Translator nicht bekannt.« »Damit meine ich, dass man nicht immer alles auf einmal haben kann.« Jon'ho schwieg für einen Moment. »Ist es möglich, dass die SOL diese Station zur Sonne bringt, während die Reparaturen fortgesetzt werden?«, fragte er schließlich. »Damit die. Speicher über genügend Energie für den Testlauf verfügen?« »Es könnte schwierig werden, die Station aus dem Trümmerfeld herauszuholen«, sagte Rhodan. »Aber wenn wir auf den Weltraumschrott keine Rücksicht mehr nehmen müssen, dürfte es grundsätzlich kein Problem sein.« »Würdest du das in die Wege leiten?«, fragte Jon'ho. »Ich werde mal mit den Leuten von der SOL reden. Vielleicht fällt ihnen etwas Schlaues ein.« Rhodan aktivierte seinen Anzugkom.
* »Hallo, Malcolm«, hörte Daellian die Stimme Perry Rhodans in der modifizierten SERT-Haube, die das bedeckte, was noch von seinem Schädel übrig war. »Wie kommt ihr voran?«
»Es geht so«, antwortete der Wissenschaftler. »Die Arbeit ist gar nicht besonders kompliziert. Aber zeitaufwendig. Stell dir vor, du müsstest sämtliche Teile einer Maschine so zurecht sägen und feilen, dass das Endergebnis exakt um, sagen wir, acht Komma fünf Prozent kleiner ausfällt.« »Verstehe«, sagte Rhodan. »Dann bist du mir um mindestens einen Schritt voraus«, bemerkte Daellian. »Ich kann nicht behaupten, dass ich verstehe, was wir hier eigentlich tun.« »Dabei wirkt die technische Einrichtung der Station eher primitiv.« »Das kann täuschen«, sagte Daellian. »Auch unseren Space-Jets sieht man nicht sofort an, was alles drinsteckt.« »Weil sie als robuste Arbeitsmaschinen konstruiert sind.« »Richtig«, bestätigte Daellian. »Ich komme mir hier vor wie ein früher Flugzeugbauer, der staunend vor einer solchen fliegenden Untertasse steht. Er kann sich gerade noch zusammenreimen, dass das Ding mit einer Art Düsenantrieb fliegt. Auch in der Kommandozentrale der Space-Jet erkennt er vieles wieder, das ihn an die Cockpits seiner Zeit erinnert. Vielleicht ahnt er auch, dass das Ganze aus unbekannten Metalllegierungen und Kunststoffen zusammengebaut ist. Aber wenn er sich den Linearkonverter ansieht, versteht er gar nichts mehr.« »Hauptsache, Jon'ho weiß, was wir hier tun.« Rhodan kam auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. »Ich glaube nicht, dass es für euch zum Problem wird, aber ich wollte dich vorwarnen. Wir werden die Station mit einer Traktorstrahlzugkette in Schlepptau nehmen.« »Davon habe ich noch nie gehört«, erwiderte der Hyperphysiker. »Die SOL ist zu weit entfernt, um die Station direkt mit einem Traktorstrahl erfassen zu können«, erläuterte Rhodan. »Wir hätten jede Menge Weltraumschrott als Beifang im Netz. Deshalb werden zwei Leichte Kreuzer dazwischengeschaltet. Die SOL nimmt den ersten Kreuzer in Schlepptau, dieser den zweiten und dieser die Station.« »Verstehe«, sagte Daellian. »Und wozu der ganze Aufwand?«
»Jon'ho will die fast leeren Energiespeicher der Station in Sonnennähe auffüllen.« »Das leuchtet ein. Wenn die Zapfsysteme auf die Bedingungen innerhalb einer Korona ausgelegt sind, dürften sie hier draußen ziemlich wirkungslos sein. Wir reichen Beschwerde ein, wenn wir damit irgendwelche Probleme bekommen.« »Alles klar.« Rhodan unterbrach die Verbindung.
14. Ströme des Lebens Die Ausper hatten sich schließlich von Jubo breitschlagen lassen und die beiden Mom'Serimer zu einer abgelegenen kleinen Baumgruppe geführt, wo sie die Nacht verbringen durften. Die Stelle war höher gelegen als das Fluss- und Seeufer, an dem die Aurenspürer wohnten; hier oben wurde die Vegetation bereits spärlicher. Der Baum, unter dem sie den Teekocher aufbauten und die Schlafmatten entrollten, hatte nur noch wenige, bereits bräunlich verfärbte Blätter, ähnlich wie seine zwei unmittelbaren Nachbarn und die Bäume, die sie im verlassenen Ausperdorf gesehen hatten. »Schau mal«, sagte Jubo und zeigte nach oben. »Sind das Babynester?« Tarm folgte seinem Blick. Im Licht der Abenddämmerung erkannte er die kleinen glasigen Kugeln, die an den Ästen hingen. Sie hatten ungefähr die Größe terranischer Mandarinen. »Könnte sein«, antwortete er. »Werden sie von selbst größer, oder machen die Ausper irgendwas damit, um später darin wohnen zu können?« »Keine Ahnung«, sagte Jubo. »Vielleicht können wir sie morgen danach fragen.« »Dann lass uns jetzt schlafen, damit wir für die Fortsetzung unseres großen Abenteuers ausgeruht sind.« »Gut«, sagte Jubo, streckte sich auf seiner Matte aus und war im nächsten Moment eingedöst. Tarm schlief unruhig. Er musste ein paar Mal aufstehen, weil ihm der Hagebuttentee zu schaffen machte, den sie zum Abendessen getrunken hatten. Als er sich unter einem Nachbarbaum erleichterte, schaute er zu den drei einsamen Sternen am Himmel auf und ließ den Blick dann über die Flussniederung schweifen. Plötzlich sah er ein Licht in den Bäumen. Es blinkte in verschiedenen Farben und erlosch wenig später. Dann bemerkte Tarm ein anderes Licht am Horizont, das eine Weile in schneller Folge die Farbe wechselte. Gleich darauf setzte wieder das Blinklicht in der Niederung ein.
Tarm war beeindruckt. Offenbar konnten die Ausper mit ihrem Leuchtorgan über große Entfernungen komminimu... miteinander sprechen. Er bedauerte es, den Translator nicht mitgenommen zu haben. Aber er wollte nicht zum Lager zurücklaufen und Jubo wecken, wenn er in seinem Rucksack kramte. Worüber hatten sich die Lichter unterhalten? Ging es vielleicht um zwei junge Mom'Serimer, die sich verlaufen hatten? Über den verderblichen Einfluss, den die Fremden auf diese Welt hatten? Tarm schlich sich leise zu seiner Schlaf matte zurück. Er schlief mit dem festen Entschluss ein, am nächsten Tag mehr über die Geheimnisse der Ausper in Erfahrung zu bringen.
* Nach dem Frühstück schauten sich Tarm und Jubo in der Umgebung ihres Lagerplatzes um. Hier war es ganz anders als auf der höher gelegenen Sandebene, die die Mom'Serimer besiedelt hatten. Sie entdeckten verschiedene Pflanzen, die sie noch nie zuvor auf NeuNACHT gesehen hatten. Offenbar herrschten am Fluss viel bessere Lebensbedingungen für die einheimische Flora als auf dem Rest des Planeten, der nur spärliche Vegetation hervorgebracht hatte. »Gehen wir jetzt zu den Äuspern runter?«, fragte Jubo, nachdem er das Interesse am Pflanzensuchspiel verloren hatte. »Ich würd mir gern ihr Dorf ansehen.« »Ich glaub nicht, dass man uns dort allzu begeistert empfangen wird«, sagte Tarm skeptisch. »Gestern Abend waren sie gar nicht nett zu uns. Wahrscheinlich wäre es ihnen am liebsten, wenn wir ganz schnell wieder verschwinden.« »Sie werden uns schon nicht mit einem bösen Aurenfluch belegen. Wenn wir ihnen auf die Nerven gehen, sollen sie es uns einfach sagen.« »Dazu sind sie viel zu höflich. Eigentlich haben sie uns schon gestern recht deutlich erklärt, dass wir hier unerwünscht sind.« »Dann schleichen wir uns eben heimlich ran«, schlug Jubo vor. »Ich will meinen Freunden nicht erzählen müssen, dass wir nach
einem großen Abenteuer gesucht haben und kurz vor dem Ziel umgedreht sind.« »Wie es aussieht, wird uns die Entscheidung soeben abgenommen. Da kommen sie.« Zwischen den Bäumen in der Flussniederung tauchte eine Gruppe Ausper auf, die sich zielstrebig dem Lagerplatz der Mom'Serimer näherten. Tarm kramte den Translator hervor und schaltete ihn ein. Einer der Ausper löste sich aus der Gruppe und ging weiter, während die anderen in respektvollem Abstand warteten. War es derselbe, mit dem sie am Vorabend gesprochen hatten? Oder der, der sie geauspert hatte? Für die Mom'Serimer sahen sie alle gleich aus, und wie Milo Aratoster herausgefunden hatte, besaßen diese Wesen nicht einmal Eigennamen. »Ich grüße euch«, übersetzte der Translator die Blinksignale des Auspers. »Habt ihr eine angenehme Nacht verbracht?« »Oh ja, an diesem netten Plätzchen kann man es gut aushalten«, antwortete Tarm. »Und wie geht es euch?« »Wir sind besorgt und verunsichert.« Der Ausper kam sofort auf den Punkt. »Seit eurer Ankunft sind seltsame Dinge geschehen. Jetzt hat sich ein neuer Stern am Himmel enthüllt, und die Aura des Lands zeigt sich, in gemischten Farben.« Tarm hatte keine Ahnung, was der Ausper mit »gemischten Farben« meinte, aber etwas anderes ließ ihn stutzen. »Ein neuer Stern?«, wiederholte er nachdenklich. »Jubo, in Astronomonie bist du besser als ich. Wie viele Sterne stehen am Himmel?« »Neu-NACHT ist größtenteils von einer Dunkelwolke umgeben.« Tarms Bruder streckte die Gehirntentakel aus, als wollte er sich größer machen. »Also sehen wir hier fast gar' keine Sterne. Aber die Wolke ist nicht, ganz geschlossen, da gibt es so eine Art Loch. Dadurch blicken wir nach draußen. Wir können aber nur in einem sehr kleinen Winkel rausgucken, und die Sterne sind ja alle irgendwie in Bewegung. Das kann man also gar nicht so richtig sagen. Wieso fragst du?« Wenn es um Jubos Lieblingsschulfach ging, konnte er fast wie ein Erwachsener reden.
»Ich weiß das mit den Sternen ja auch, so irgendwie«, beeilte sich Tarm zu versichern. »Aber gestern Nacht, da hab ich einen aufgehen sehen. Einen neuen Stern!« »Oh ... Ah, jetzt fällt es mir wieder ein!«, rief Jubo begeistert. »Unser Indoktrinato hat neulich erzählt, dass es da einen Stern gibt, der wegen der Sache mit dem Loch demnächst in unser Blickfeld wandern wird. Den hast du dann wohl gesehen. Wir müssten mal rausfinden, an welcher Stelle du ...« »Jubo«, schnitt Tarm seinem Bruder das Wort ab. »Ich glaube nicht, dass die Ausper wissen wollen...« Dann fiel der Translator Tarm ins Wort. »Was ist hier geschehen?« Tarm blickte erstaunt auf und sah, wie der Ausper auf seinen drei Beinchen zum Baum rechts neben dem Lagerplatz der Mom'Serimer stelzte. Er blieb einen Moment lang davor stehen und trippelte dann weiter zum nächsten Bäum. Tarm klemmte sich den Translator unter den Arm und folgte ihm. »Was ist los?«, fragte er den Ausper. »Die Bäume ...«, sagte er. »Ihre Aura ist wieder stärker geworden. Sie haben neue Blätter ausgetrieben.« Tarm musterte das Gewächs vom knorrigen Stamm bis zu den höchsten Ästen. Er hätte die Veränderung niemals bemerkt, aber schließlich war er auch kein Ausper. Diese Wesen schienen eine sehr intensive Beziehung zu ihren Bäumen zu haben, und sie konnten Dinge spüren, für die den Mom'Serimern jeglicher Sinn fehlte. Trotzdem hatte Tarm plötzlich eine Ahnung... Doch er wagte es kaum, sie zu Ende zu denken. »Äh ... nur diese beiden Bäume?«, fragte er vorsichtig. Der Ausper drehte sich einmal im Kreis. »Nur diese«, sagte er. »Alle anderen, die so weit vom Fluss entfernt sind, haben eine nachlassende Aura.« »Einen Moment...«, sagte Tarm und lief zu seinem Bruder. Er schaltete kurz den Translator aus und stellte ihm flüsternd eine Frage. Jubo blickte ihn verdutzt an, zögerte eine Weile und zeigte dann auf einen der beiden Bäume. Tarm schaltete den Translator wieder ein und ging zu dem Ausper zurück. »Ich muss dir mal was erklären«, sagte er. »Aber ich weiß noch nicht so richtig, wie ich anfangen soll. Also ...«
15. Endstation 23. März 1348 NGZ Die Station bewegte sich. Jon'ho hatte den Computer angewiesen, ein Holo in die Zentrale zu projizieren, das die nähere kosmische Umgebung abbildete. Natürlich war die Darstellung nicht maßstabgerecht, da die Objekte bei den großen Entfernungen auf winzige Punkte zusammenschrumpften. Das Trümmerfeld war eine langsam rotierende Scheibe aus verwehtem Staub und dichteren Zusammenballungen. Rhodan fragte sich, ob sich hier eines Tages bizarre Planetoide aus Technikschrott und Asteroidengestein bilden würden. Etwas über der Ebene stand die Hantel der SOL. Zwei kleinere Kugeln reihten sich auf einer imaginären Linie auf, die das Raumschiff mit der Projektorstation verband. Ein dreieckiges Fadenkreuz markierte die ursprüngliche Position. So war selbst in dieser Darstellung zu erkennen, dass sich die Station bereits merklich von der Stelle bewegt hatte – auf die Sonne zu und aus der Ekliptik des Trümmerfeldes heraus. Er beobachtete, wie sich die zwei Leichten Kreuzer immer näher kamen, bis einer der beiden Punkte aus der Traktorstrahlkette ausscherte. Inzwischen hatte sich der Abstand zwischen der SOL und der Station so weit verringert, dass nur noch ein Kreuzer als Relais nötig war. Durch den Zug wurde die Station kontinuierlich beschleunigt. Es dauerte nicht lange, bis auch der zweite Kreuzer abdrehte und die Traktorstrahler der SOL direkt auf die Station zugreifen konnten. Beide Objekte kamen sich immer näher, während das Hantelraumschiff gleichzeitig Fahrt aufnahm. In einer guten Stunde würden beide die ersten Ausläufer der Sonnenkorona erreicht haben. »Hier Daellian«, hörte Rhodan über seinen Anzugkom. »Wir haben die Arbeiten abgeschlossen. Was sollen wir jetzt tun?«
»Jon'ho?« Rhodan wandte sich an den Wächter, der das Gespräch mitgehört hatte. »Sie sollen sich ein Stück zurückziehen«, sagte der Schukurrach. »Ich werde jetzt ein paar Testläufe starten.« »Hat die Station schon wieder genug Energie?«, fragte Rhodan. »Bei der gegenwärtigen Entfernung von der Sonne würden die Zapf Systeme mehr verbrauchen, als sie zapfen können. Der Testlauf findet unter simulierten Bedingungen statt und benötigt nur wenig Energie.« »Hast du verstanden?«, wandte sich Rhodan an Daellian. »Wir sind bereits in Deckung gegangen. Von uns aus kann es losgehen.«
* Jon'ho Sarenti hantierte an der Konsole und betrachtete holografische Diagramme, die für Perry Rhodan weiterhin ein Buch mit sieben Siegeln darstellten. »Die Steuersysteme funktionieren«, sagte der Wächter, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. »Jetzt aktiviere ich die Feldmodulatoren ... Die Schwankungen sind noch zu hoch, aber das lässt sich ohne Schwierigkeiten nachjustieren ... Nun nehme ich die Feldgeneratoren in Betrieb ...« »Ist es nicht etwas riskant, hier im Trümmersystem einen Hyperkokon zu projizieren?«, fragte Rhodan besorgt. »Ich fahre nur die Systeme hoch, ohne Projektionsenergie zuzuführen. Es geht nicht darum, einen Hyperkokon zu erzeugen. Ich will mich lediglich vergewissern, ob die Generatoren überhaupt noch funktionieren.« Der Terraner nickte nur. Jon'ho setzte seinen Kommentar fort. »Die Werte weichen von der Norm ab, aber das war zu erwarten. Es werden mehrere Testläufe nötig sein, um die Systeme an den veränderten hyperphysikalischen Widerstand anzupassen. Auch hier sind die Schwankungen recht hoch... und sie schaukeln sich auf! Es kommt zu einem Rückkopplungseffekt! Ich fahre den Generator herunter... Trotzdem wird die
Rückkopplung stärker ... Ich kann nicht erkennen, wodurch sie ausgelöst wird ... Computer, vollständige Abschaltung!« Rhodan spürte, wie der Boden unter seinen Füßen immer stärker vibrierte. »Was geschieht hier, Jon'ho?« Der Wächter schaltete hektisch. »Die Systeme reagieren nicht mehr auf meine Eingaben!« Rhodan hörte Lärm über den Anzugkom. »Was ist passiert, Malcolm?«, fragte er besorgt. Daellians künstliche Stimme meldete sich. »Ein kugelförmiges Maschinenteil glühte plötzlich rot auf und ist dann mit einem schrillen Pfeifen und einem lauten Knall zerplatzt. Keine Ahnung, was das war. Wir haben das Ding nicht angerührt.« »Der Feldstabilisator ...«, sagte Jon'ho. »Hier Kellind«, meldete sich die Kommandantin der SOL. »Was ist los bei euch?« »Beim Testlauf ist irgendetwas schiefgegangen«, antwortete Rhodan. »Genaueres kann ich im Moment noch nicht sagen.« »Unsere Instrumente zeigen eine hyperphysikalische Schockfront an, die starke Raum-Zeit-Verzerrungen zur Folge hat«, sagte Fee Kellind. »In unmittelbarer Nähe der Station.« Rhodan fuhr herum. »Jon'ho, was hat das zu bedeuten?« »Ich kann es mir nicht erklären. Durch die Rückkopplung hat sich eine Energiekonzentration gebildet, die sich zu einem Feld verdichtet...« »Was ist das für ein Feld, Jon'ho?« »In der Hyperortung sieht das Ding wie eine pulsierende Kugel aus«, mischte sich Kellind ein. »Mit jedem Pulsschlag ...« Rhodan wurde von den Beinen gerissen, als ihn etwas mit großer Wucht traf.
* »Mit jedem Pulsschlag dehnt sich die Kugel weiter aus«, sagte Fee Kellind. Noch während sie sprach, sah sie, dass sich die Situation schlagartig geändert hatte. Ein Teil des Holobildschirms in der SOL-Zentrale stellte die Hyperortungsdaten dar. Darauf war zu sehen, wie sich
die Sphäre von einem Moment auf den anderen um ein Vielfaches vergrößerte. Gleichzeitig wurde in der Normalansicht die Projektorstation unsichtbar. »Funkkontakt zu Perry und den Leichten Kreuzern abgerissen«, meldete Viena Zakata. »Was ist passiert?«, fragte Kellind entgeistert. »Die Station ist mitsamt den Kreuzern aus dem Normalraum verschwunden«, kam es von Zakata. »Als sie von der Schockfront erfasst wurde, war sie plötzlich weg.« »Was heißt >weg Wurde sie vernichtet?« »Es deutet nichts auf eine Explosion oder dergleichen hin. Die Schockfront erschwert eine genaue Ortung, aber wenn ich mir die Feldparameter ansehe ...« Kellind fuhr ungeduldig zu ihrem Ortungschef herum. »Was?« »Ich bin mir nicht sicher, aber das Ding hat eine frappierende Ähnlichkeit mit einem Hyperkokon.« »Wie kann das sein?« Kellind wurde unwillkürlich lauter. »Jon'ho Sarenti wollte doch nur einen Testlauf durchführen!« »Bei dem irgendetwas schiefgegangen ist«, sagte Zakata nüchtern. »Die Sphäre oszilliert immer noch. Vielleicht wäre es angebracht, dass sich die SOL ein Stück ... Verdammt!« Kellind sah es ebenfalls auf dem Holobildschirm. Das kugelförmige Gebilde breitete sich weiter aus. Viel zu schnell, um die SOL rechtzeitig in Sicherheit bringen zu können. »Achtung!«, schrie die Kommandantin. Mehr fiel ihr nicht ein. Was konnte sie in einer solchen Lage noch befehlen ...? Im nächsten Moment spürte sie einen Schmerz ...wie der Entzerrungsschmerz bei einer Transition, dachte sie. Dann traf sie ein Schlag, als hätte sie eine Sturmböe gepackt. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte. Sie sah den Boden der SOL-Zentrale auf sich zukommen ... doch der Sturz schien eine Ewigkeit zu dauern. Ihre Bewegung wurde immer langsamer. Sie fühlte sich schwerelos. War die künstliche Gravitation ausgefallen? Die Situation fühlte sich so unwirklich an. Irgendwann wurde ihr bewusst, dass sie keinen Lärm mehr hörte. Es war völlig still geworden ...
Fee Kellind konnte nicht mehr einschätzen, wie lange sie in diesem Schwebezustand verharrte. Schließlich drang wie aus weiter Ferne ein Echo an ihre Ohren. Es wurde lauter. Es war der Lärm, der noch vor wenigen Augenblicken die Zentrale erfüllt hatte. Mit einem Mal lief die Zeit wieder in normaler Geschwindigkeit ab. Kellind landete auf dem Boden und keuchte vor Schmerz. Sie blieb einen Moment lang benommen liegen, bis sie es schaffte, ihren Oberkörper hochzustemmen. »Die Station ist wieder da«, meldete Zakata. Rhodan stand auf und rieb sich die schmerzende Hüfte. Jon'ho Sarentis vier Beine hatten verhindert, dass er das Gleichgewicht verlor. Er starrte gebannt auf die holografischen Darstellungen, die über der Konsole schwebten. »Was ist geschehen?«, wollte der Terraner wissen. Der Wächter wandte ihm den Kopf zu. »Durch die Rückkopplung hat sich ein Hyperkokonfeld gebildet. Es oszilliert und breitet sich unkontrolliert aus ...« »Kannst du es desaktivieren?« »Ich weiß nicht einmal, wie es überhaupt entstehen konnte. Die Projektionssysteme sind längst abgeschaltet.« Rhodan blickte auf einen Bildschirm, der die sechs Leichten Kreuzer zeigte. »Tonko, alles in Ordnung bei euch?« »Mir geht's bestens«, antwortete der Kommandant. »Aber die Terraner in meiner Besatzung brauchen noch einen Moment, bis sie sich erholt haben. Was war das?« »Schau mal auf deinen Bildschirm und sag mir, was du siehst.« Tonko zögerte einen Moment. »Nichts«, sagte er schließlich. »Worauf willst du ...? Verdammt! Die SOL ist weg. Und die Sterne auch!« »Wie es aussieht, wurden wir in einen Hyperkokon versetzt.« Tonko Kerzner stieß einen deftigen ertrusischen Fluch aus. »Wir orten ein paar Trümmerstücke, aber nichts, was weiter als 500 Kilometer entfernt ist. Sitzen wir jetzt für den Rest der Ewigkeit in einer Hyperraumnische fest?« Rhodan sah, wie der Schukurrach konzentriert an der Konsole arbeitete.
»Ich weiß es nicht. Jon'ho scheint sich alle Mühe zu geben, etwas zu tun, aber...« »Achtung, die Feldsphäre dehnt sich weiter aus!«, sagte der Wächter. Diesmal war nichts zu spüren, da sie sich bereits im Innern des Hyperkokons befanden. Rhodan konnte nur die Auswirkungen auf dem Bildschirm verfolgen. Er beobachtete, wie immer mehr Trümmerteile aus dem Nichts auftauchten, bis schließlich ... Tonko fasste in Worte, was Rhodan sah: »Die SOL ist wieder da!«
* »Das Feld hat sich auf 50.000 Kilometer ausgedehnt«, gab Tonko Kerzner über die Sprechverbindung bekannt. »Bestätigt«, meldete Viena Zakata von der SOL. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, wie wir hier wieder rauskommen?«, fragte Fee Kellind. »Wir arbeiten dran«, sagte Rhodan kurz angebunden, um eine Wiederholung der Diskussion zu vermeiden. Falls sich der Hyperkokon stabilisierte, standen sie vor einem großen Problem. Sie wären auf unbestimmte Zeit vom Rest des Universums abgeschnitten. In einem kosmischen Gefängnis, zu dem nur ES den Schlüssel besaß. Dessen Mauern nur kosmische Mächte einreißen konnten... »Was ist das für ein Flimmern?«, wollte Tonko wissen. Rhodan sah es ebenfalls auf dem Panoramasichtschirm. Der Himmel war nicht mehr völlig schwarz. Immer wieder bildeten sich verwaschene Flecken und weiße Schlieren. »Das Feld ist nicht stabil«, sagte Zakata. »Es wabert. Ich vermute, bei jeder Expansion und Kontraktion gelangt eine kleine Portion verzerrten Sternenlichts in die Sphäre.« »Wenn etwas reinkommt, müsste es auch umgekehrt möglich sein«, sagte Kellind. »Können wir mit der SOL auf einer solchen Welle reiten und nach draußen gelangen?« »Schwer zu sagen. Die Raum-Zeit-Verzerrungen sind enorm. Ich würde die Sache lieber noch eine Zeit lang beobachten, um mehr Daten zu sammeln. Dann lässt sich vielleicht ein sicherer Kurs ...« Tonkos Jubelschrei unterbrach den Monolog des Ortungschefs.
»Die Sterne ...«, hauchte Fee Kellind. Die weißen Schlieren hatten sich plötzlich zu Lichtpunkten zusammengezogen. Übergangslos sah der Weltraum wieder normal aus. »Der Hyperkokon hat sich aufgelöst«, sagte Jon'ho. Rhodan stieß einen erleichterten Seufzer aus. Dann sah er den Wächter erstaunt an. »Einfach so?« Jon'ho erwiderte seinen Blick. »Das Energiepotenzial hat sich selbst neutralisiert. Das Feld ist praktisch aus dem Nichts entstanden, ähnlich wie eine Quantenfluktuation. Die Anomalie konnte sich eine Weile halten, doch irgendwann war die Energie verbraucht. Die Schockfront hat sich totgelaufen.« »Heißt das, die Gefahr ist vorbei?« »Nicht nur das«, sagte Jon'ho. »Der Feldstabilisator wurde durch die Rückkopplung zerstört. Eigentlich hätte genau das Gegenteil geschehen müssen. Er hat die Funktion, eine Rückkopplung zu verhindern.« »Was bedeutet das?« Der Wächter sah den Terraner eine Weile schweigend an, bevor er antwortete. »Das bedeutet, dass die Hyperkokon-Feldgleichung mit den aktuell gültigen Parametern keine stabilen Werte mehr ergibt.« »Soll das heißen...?« »Ja«, bestätigte Jon'ho die unausgesprochene Frage. »Mit dieser Projektionstechnik lässt sich nie wieder ein Hyperkokon erzeugen.«
* Rhodan stand ruckartig auf und kniff die Lippen zusammen. War wirklich alles Umsonst gewesen? War es möglich, eine andere Feldgleichung zu finden, in der die Auswirkungen der erhöhten Hyperimpedanz berücksichtigt waren? Wenn Jon'ho nicht daran glaubte, was konnten dann die terranischen Wissenschaftler erreichen, die die theoretischen Grundlagen eines Hyperkokons bestenfalls ansatzweise verstanden? »Du hast es wenigstens versucht«, sagte Rhodan niedergeschlagen. »Dafür danke ich dir. Dafür werden dir zweifellos auch die Mom'Serimer dankbar sein.«
Jon'ho sagte nichts. Er stand reglos da, als wäre er erstarrt. Nach einer Weile drehte er den Kopf und blickte Rhodan an. Der Terraner konnte die Physiognomie eines Schukurrach nicht deuten. Trotzdem spürte er, dass an diesem Blick etwas anders war. Es lag eine Anspannung darin, die beinahe körperlich spürbar war. Unwillkürlich erschauderte er. Jon'ho wandte sich um und drückte eine Taste auf dem Kontrollpult. Rhodan fuhr herum, als er ein Geräusch hörte. Er sah, wie sich das Schott schloss, durch das sie die Zentrale betreten hatten. Was hatte das zu bedeuten? Im nächsten Moment wandte er sich wieder dem Wächter zu, der sich in Bewegung gesetzt hatte. Der Schukurrach ging zu einem Wandfach, aus dem er ein Gebilde nahm, das Rhodan noch nie zuvor gesehen hatte. Doch sein untrüglicher Instinkt sagte ihm, dass es sich um eine Waffe handelte. Dieser Verdacht bestätigte sich, als der Schukurrach das stromlinienförmige Gebilde auf Perry Rhodan richtete und einen Finger auf einen halbkugelförmigen Knopf legte. »Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt«, verkündete Jon'ho Sarenti.
16. Todestraum 23. März 1348 NGZ Bis zu diesem Moment hatte es für ihn zwei Möglichkeiten gegeben. Jon'ho hatte seine ganze Hoffnung auf ein Etwas gesetzt und das Garnichts nur als allerletzten Ausweg betrachtet. Doch nun hatten sich die Voraussetzungen grundlegend verändert. Das Etwas hatte sich als unmöglich erwiesen. Gleichzeitig bot sich ihm die Gelegenheit, den zweiten Weg zu gehen. Eine Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder ergab. Er hätte gern noch ein paar Jahre lang nachgedacht, um nach einer anderen Möglichkeit zu suchen, ein Etwas zu realisieren: Doch vielleicht war ihm der zweite Weg dann für immer verschlossen. War diese Begegnung vielleicht sogar sein Schicksal? Konnte es sein, dass er ihm diese einmalige Gelegenheit bot? War sein Bote nur ein Werkzeug, das er nutzen konnte? Es spielte keine Rolle. Die Entscheidung war gefallen. Er musste die Gelegenheit nutzen, sein wahres Bestreben zu verfolgen. Perry Rhodan blieb völlig ruhig. Es war nicht die Angst, die ihn lähmte und sprachlos machte. Es war ein Instinkt, der ihm riet, sich nicht von der Stelle zu rühren und zu schweigen. Er wartete ab. Er widerstand dem Drang, sich an der linken Schulter zu kratzen, um den Juckreiz zu lindern, der sich wieder stärker bemerkbar machte. Etwas stimmte nicht. Seine Gedanken rasten. Er verstand nicht, warum der Schukurrach mit einem Mal sein Verhalten änderte. »Als die Hyperkokons in den Normalraum zurückfielen und ich diese Projektorstation retten konnte, setzte ich ein Signal an ES ab«, sagte Jon'ho Sarenti. »Die Wahrheit lautet, dass ich eine Antwort auf
dieses Signal erhielt. Aber nicht von ihm, sondern vom Boten einer anderen Entität.« Rhodan wartete schweigend. »Der Bote kam mit einem Kristall, der einen Bewusstseinssplitter von Gon-Orbhon enthielt«, fuhr der Wächter fort. »Auch diese Entität hatte einst in den Diensten von ES gestanden, bis sie ihren Irrtum erkannte. Doch ihr mutiger Alleingang wurde schrecklich bestraft. Gon-Orbhon schilderte mir, dass er in einen langen tiefen Schlaf fiel, während seine Getreuen in den Hyperkokons Krieg und unendliches Leid erdulden mussten. Er machte mir klar, dass ich unwissentlich ein sieben Millionen Jahre währendes Verbrechen unterstützt hatte.« Rhodan dachte nach. »Es liegt fünfzehn Jahre zurück, dass GonOrbhon erwachte und aktiv damit begann, den Machtbereich seines Imperiums auszudehnen«, warf er ein. »Kurz darauf gelang es, ihn vom Einfluss des verwirrten Nocturnenstocks Satrugar zu trennen. Er kam wieder zur Vernunft und verließ die Milchstraße mit der Karawane der Sternenozeanvölker.« »Das ändert nichts daran, dass großes Unrecht geschehen ist«, sagte Jon'ho. »Gon-Orbhon stand kurz davor, die Evolutionsstufe einer Superintelligenz zu erreichen. Deshalb wurde er von seinem Erzrivalen auf ein unschädliches Maß zurückgestuft. Bevor das geschah, konnte er mich von der Verwerflichkeit meines Tuns überzeugen. Nun ist für mich der Zeitpunkt gekommen, meine Schuld abzutragen.« »Was willst du tun?«, fragte Rhodan. »In kurzer Zeit wird der Abstand zwischen der SOL und der Station nur noch wenige Kilometer betragen. Dann werde ich Rache an den Feinden Gon-Orbhons nehmen und die Vernichtungsschaltung aktivieren. Und ich werde mit der Gewissheit sterben, dass die Technik zur Erzeugung der Hyperkokons endgültig vernichtet sein wird. Sie stammte nicht von ihm, den ihr ES nennt, beileibe nicht. Es handelt sich um experimentelle Technologie der Hohen Mächte, mit der euer ES spielte, die sich aber letztlich nicht durchsetzte.« Aus dem Augenwinkel warf Rhodan einen Blick auf die Anzeige seines Anzugkoms. Bevor er feststellen konnte, dass der Funkkontakt abgerissen war, sprach Jon'ho bereits weiter.
»Gib dir keine Mühe«, sagte der Wächter. »Ich habe die Zentrale vollständig isoliert. Kein Signal dringt durch die Abschirmung. Es wird dir nicht gelingen, deine Verbündeten zu Warnen.«
* »Perry meldet sich nicht mehr«, sagte Malcolm Daellian. »Ich habe mehrmals versucht, ihn zu erreichen, aber er reagiert nicht.« »Könnte in der Zentrale etwas passiert sein?«, wollte einer der Techniker wissen. »Vielleicht ist nicht nur der Feldgenerator durchgebrannt. Ich werde vorsichtshalber nachsehen.« Zwei Techniker begleiteten den Überlebenstank des Wissenschaftlers, während die übrigen beiden im Raum mit den Projektorsystemen zurückblieben. Unterwegs nahm Daellian Verbindung mit der SOL auf. Viena Zakata bestätigte, dass der Kontakt zu Rhodans Anzugkom abgerissen war. »Was machen wir jetzt?«, fragte Fee Kellind. »Ich werde nach dem Rechten sehen«, antwortete Daellian. »Sobald ich Genaueres weiß, melde ich mich.« Bei der Einsatzbesprechung hatte Jon'ho Sarenti einen groben Überblick über die Verhältnisse in der Station gegeben, sodass der Hyperphysiker eine ungefähre Vorstellung besaß, wo sich die Zentrale befand. Sicherheitshalber rief er die Peilungsdaten ab, die seine Komeinheit während der letzten Funkkontakte mit Rhodan gespeichert hatte. Auf diese Weise ließ sich der Weg rekonstruieren, den der Resident und der Stationswächter zurückgelegt hatten. Kurz darauf standen sie vor dem Zugang zur Zentrale. Das Schott war fest verschlossen. Als einer der Techniker versuchte, die Schalttafel an der Wand zu bedienen, zog er schon im nächsten Moment die Hand zurück. »Ich orte ein starkes Energiefeld«, sagte Daellian. »Es liegt wenige Millimeter über der Metalloberfläche des Schotts. Die Konfiguration erinnert entfernt an einen Paratronschirm. Kein Wunder, dass nichts mehr durchkommt.«
»Was machen wir jetzt?«, wiederholte der Techniker die Frage der SOL-Kommandantin. »Mit unseren Mitteln dürften wir kaum etwas erreichen«, sagte Daellian. »Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, dass sich von selbst etwas tut.« .
* »Der notwendige Mindestabstand ist erreicht«, sagte Jon'ho Sarenti. »Wenn ich jetzt die Vernichtungsschaltung aktiviere, setzt die Explosion der Station genügend Energie frei, um auch die SOL erheblich zu beschädigen. Vielleicht gelingt es mir sogar, sie vollständig zu vernichten, wenn ich noch ein wenig warte ...« Perry Rhodan suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Er war unbewaffnet, da er nicht damit gerechnet hatte, sich an Bord der Station gegen mögliche Gefahren wehren zu müssen. Er hatte sich auf die Geschütze der Leichten Kreuzer verlassen, falls es zu einem erneuten Angriff der Springer kam. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass er sich plötzlich in einer Notlage wie dieser wiederfinden könnte. Ihm blieb nur die Möglichkeit, mit Worten etwas zu bewirken. »Jon'ho«, sagte er. »Du hast sieben Millionen Jahre lang im Auftrag von ES diese Station überwacht. Wie kannst du plötzlich umschwenken, nur weil irgendeine Wesenheit dir etwas von einem großen Unrecht erzählt? Gon-Orbhon hat Krieg und Verwüstung über die Milchstraße gebracht. Die Hyperkokons haben diesem schweren Leid ein Ende gesetzt.« »Es wird dir nicht gelingen, mich umzustimmen«, erwiderte Jon'ho. »Mein Entschluss steht fest. Ich werde jetzt die Befehlssequenz zur Vernichtung der Station eingeben.« Er drehte sich zur Konsole und hob eine Hand, um die nötigen Schaltungen“ vorzunehmen. Jetzt oder nie!, dachte Rhodan. Plötzlich sah er eine winzige Möglichkeit, die drohende Vernichtung der SOL abzuwenden. Wahrscheinlich war es eine sinnlose Hoffnung, aber er wollte es wenigstens versuchen. Mochte der Strohhalm noch so dünn sein ...
Als der Wächter sich von ihm abwandte und die Waffe nicht mehr auf Rhodan zeigte, stürmte der Terraner los. Seine Hände legten sich um die Waffe, und mit einem kräftigen Ruck gelang es ihm, sie dem überrumpelten Schukurrach zu entreißen. Gleichzeitig traf er diesen mit einem schweren Tritt seitlich am Oberkörper. Jon'ho verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Rhodan hatte kaum mit einem Erfolg seines Angriffs gerechnet, doch es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, sofort auf die neue Situation umzuschalten. Er richtete die Waffe auf Jon'ho Sarenti, der sich wieder auf allen vieren aufrichtete. »Bleib, wo du bist!«, befahl der Terraner. »Wenn du auch nur einen Schritt machst, drücke ich ab!« »Du kannst mich nicht aufhalten!«, erwiderte Jon'ho. Dann stürmte er auf den Terraner zu.
17. Fluch der Unsterblichkeit 23. März 1348 NGZ Im Bruchteil einer Sekunde schossen Rhodan tausend Gedanken durch den Kopf. Wie hatte er den Schukurrach, so falsch einschätzen können? Mit einem solchen Sinneswandel hätte er nie gerechnet. Warum legte der Wächter eine derartige Todesverachtung an den Tag? Weil Jon'ho längst tot war? Weil er wusste, dass Rhodan ihm mit der Waffe nichts anhaben konnte? . Er musste etwas tun. Auch wenn er letztlich keine Chance gegen ihn hatte. Er durfte nicht zulassen, dass Jon'ho Sarenti das Leben von über einhundert tausend Terranern und Mom'Serimern gefährdete. Er musste den Schukurrach von seinem wahnsinnigen Vorhaben abhalten. Perry Rhodan drückte den halbkugelförmigen Knopf. Ein grüner Strahl schoss aus dem vorderen Ende der Waffe und traf den Wächter. Die Energie fraß sich wie Säure in den Körper, der vom Schwung weitergetrieben wurde. Rhodan hielt den Auslöser gedrückt, bis die Überreste Jon'hos vor der Konsole zu Boden krachten. Rhodan ließ den Knopf los und starrte benommen auf die Leiche des Wächters. Er hatte dieses Wesen nicht töten wollen, aber Jon'ho hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Er atmete einmal tief durch und warf die Waffe fort. Dann blickte er auf die Anzeige seiner Komeinheit, die immer noch ohne Verbindung war. Er wandte sich der Konsole zu. Er hatte genau gesehen, welchen Knopf der Wächter gedrückt hatte, um die Zentrale zu verriegeln. Vielleicht ließ sie sich mit einem weiteren Knopfdruck wieder entriegeln. Dabei fiel sein Blick auf ein rot blinkendes Anzeigefeld. Daneben standen mehrere Reihen leuchtender Balken. Mit jedem Blinken verschwand ein Balken in der unteren Reihe. Als der letzte erlosch, verschwand ein Balken aus der Reihe darüber, worauf die untere Reihe
wieder aufleuchtete und sich erneut in regelmäßigen Intervallen verkürzte. Ein Countdown! War es möglich, dass Jon'ho ...? »Computer?«, sagte Rhodan zögernd. »Bereit«, ertönte eine künstliche Stimme. »Wurde die Vernichtungsschaltung aktiviert?« »Bestätigt.« Jon'ho Sarenti hatte ihn getäuscht! Aber warum hatte er sich zu einem sinnlosen Angriff hinreißen lassen, wenn er die Sequenz längst initiiert hatte? »Vernichtungsschaltung deaktivieren!« »Bitte Kode für Überrangbefehl eingeben.« »Verdammt!«, entfuhr es Rhodan. Jon'ho hatte keine Kodes preisgegeben. Eine Diskussion mit dem Stationscomputer wäre vermutlich Zeitverschwendung. Und die Zeit wurde knapp. Wieder ein Balken weniger in der oberen Reihe. Rhodan versuchte, die Zeitanzeige umzurechnen – und kam auf etwa fünfzehn Minuten. Es wurde sehr knapp. Er schlug mit der flachen Hand auf den Knopf, mit dem Jon'ho das Schott der Zentrale geschlossen hatte, und fuhr herum. Das Schott öffnete sich. Im Korridor dahinter erkannte er Daellians Medotank und zwei der Techniker, die erstaunt aufblickten. »Sofort die Station evakuieren!«, rief er, während er losrannte. »Sagt den anderen Bescheid. Rhodan an SOL! Hört ihr mich?« »Klar und deutlich«; antwortete ihm Fee Kellinds Stimme. »Was war los? Warum konnten wir dich nicht...?« »Keine Zeit für Erklärungen!«, schnitt er ihr das Wort ab. »Seht zu, dass ihr mit der SOL ganz schnell von der Station wegkommt! Sie wird in zehn bis fünfzehn Minuten explodieren!« »Oh Gott!«, entfuhr es Kellind. »Wir werfen sofort die Triebwerke an.« »Rhodan an Leichten Kreuzer! Alarmstart vorbereiten!« »Verstanden«, bestätigte der Pilot.
»Nichts wie raus hier!«
* Sie hatten es rechtzeitig geschafft. Die fünfzehn Minuten, die Rhodan geschätzt hatte, waren um, als er die Zentrale der SOL-KR 12 erreichte. Auf dem Holobildschirm war zu sehen, wie die Projektorstation zusehends kleiner wurde. »Soll die Beibootstaffel zur SOL zurückkehren?«, fragte Kaiber Vonsch. »Noch nicht«, sagte Rhodan. »Ich will mir die Sache aus der Nähe ansehen.« Er hatte immer noch das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass die Ereignisse keinen Sinn ergaben. Und nun schien sich die angekündigte Explosion zu verzögern, obwohl die Zeit eigentlich längst um sein musste. Hatte Jon'ho Sarenti etwas ganz anderes mit der Station vorgehabt? War auch die Vernichtungsschaltung nur eine Täuschung gewesen? »Ortung!«, rief Restach. Rhodans Blick zuckte sofort zur holografischen Darstellung der Station zurück. Aber sie war immer noch intakt. »Zwei Walzenraumer sind aus dem Trümmerfeld aufgetaucht«, fuhr Restach fort. »Fliegen genau auf die Station zu.« »Funkverbindung herstellen«, sagte Rhodan. Der Ortungsoffizier warf ihm einen erstaunten Blick zu, bevor er sich zum Kommunikationschef umdrehte. »Sie antworten nicht«, meldete Runaf Harael. »Dann sendet einfach auf einem Standardkanal, was ich zu sagen habe.« Rhodan räusperte sich. »An die Mehandor. Achtung, die Station kann jeden Augenblick explodieren. Wir haben sie evakuiert, weil eine Vernichtungsschaltung aktiviert wurde.« Die Holografie eines bärtigen Springers wurde sichtbar. Er lachte herzhaft. »Warum sollte ich auf einen solchen Unsinn hereinfallen? So leicht lässt sich ein Anhof nicht täuschen! Ich hoffe, ihr habt in dieser Station noch etwas Beute für uns zurückgelassen.« »Es liegt ganz bei dir«, sagte Rhodan. »Du kannst die freundlich gemeinte Warnung ernst nehmen oder ins Verderben fliegen.«
»Warum solltest du freundlich zu mir sein, nachdem ich eins deiner Schiffe abgeschossen habe?«, entgegnete Anhof. »Weil ich ein Terraner bin und ich selbst meinen Feinden eine faire Chance gebe.« »Ich nutze lieber die Chance auf reiche Beute, nachdem ihr diese Schatztruhe für uns geöffnet habt. Herzlichen Dank für ... Was ist das?« In diesem Moment glühte die Station von innen heraus auf. Innerhalb von Sekunden fraß sich die Glut nach außen, bis sie zu einem großen Feuerball wurde, dessen Energien selbst die Schirme des fliehenden Kreuzers belasteten – und die Mehandor-Schiffe verschlang ...
* Langsam verblasste der Feuerball. Eine Wolke aus feinen Trümmern wurde sichtbar. Mit der Zeit würde sie davon treiben oder sich in den Strom des Trümmerfeldes einreihen, der die namenlose Sonne umkreiste. »Keine Spur von den Springerschiffen«, teilte Restach Naire mit. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Kähne eine solche Explosion überstehen könnten.« »Ich empfange ein Signal«, meldete Runaf von der Kommunikationsstation. »Ein Notsender?«, fragte Rhodan. »Schwer zu sagen. Es sind fünf kurze Piepser.« »Was hat das zu bedeuten?« »Jetzt kommen vier Piepser rein.« Rhodan spürte, dass die komplette Zentralebesatzung gespannt wartete. »Drei Piepser.« »Ein Countdown?«, fragte Rhodan. »Noch eine Bombe?«, schlug der Pilot vor. »Das Ding ist winzig«, sagte der Ortungschef. »Eher eine Sonde. Ein Stück außerhalb der Trümmerwolke, die die Station hinterlassen hat. Trotzdem weit genug weg, um uns nicht gefährlich werden zu können.«
»Zwei Piepser«, meldete Runaf. Rhodan hielt den Atem an. »Einer.« Was würde geschehen, wenn der Countdown bei null angelangt war? »Jetzt empfange ich einen ganzen Wust von Daten ... eine Bildund Tonübertragung«, sagte Runaf. »Durchstellen!« Auf dem Holobildschirm in der Zentrale des Leichten Kreuzers erschien der Kopf von Jon'ho Sarenti.
18. Botschaft eines Toten 23. März 1348 NGZ »Wenn ihr diese Worte empfangt, hat sich meine letzte Hoffnung endgültig zerschlagen. Ich habe diese Botschaft an die Mom'Serimer und die Terraner aufgezeichnet, bevor ihr an Bord der Station gekommen seid. Wenn ihr sie hört, habe ich den Vernichtungsbefehl gegeben. Für diesen Fall hatte der Computer die Anweisung, kurz vorher die Sonde mit der Botschaft zu starten. Sie wird sich aktivieren, nachdem sie einen starken Energieausbruch in der Nähe registriert hat. Zunächst einmal möchte ich mein tiefstes Bedauern aussprechen, euch alle getäuscht zu haben. Ich habe lange mit mir gerungen, bis ich diesen Entschluss gefasst habe. Ich habe sieben Millionen Jahre lang meinen Dienst als Wächter einer Projektorstation verrichtet, die den Hyperkokon rund um den Peldron-Nebel stabilisierte. Offenbar war ich der einzige Wächter, der seine Station retten konnte, als die Technik unter den veränderten hyperphysikalischen Bedingungen versagte. Nachdem das Geisteswesen, das ihr ES nennt, nicht geantwortet hatte, suchte ich nach einer neuen Aufgabe. Ich fasste wieder Hoffnung, als ich auf die Mom'Serimer traf und an ihnen den Hauch der ESTARTU spürte. Ich erkannte eine Möglichkeit, meinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Doch zum jetzigen Zeitpunkt weiß ich noch nicht, ob sich die Projektorsysteme tatsächlich an die veränderte Hyperimpedanz anpassen lassen. Es gibt zu viele Unwägbarkeiten, die mich daran zweifeln lassen. Aber ich habe mich mit euch auf den Weg zur Station gemacht, um es zu versuchen. Wenn ihr meine letzten Worte hört, ist es definitiv nicht mehr möglich, mit den technischen Mitteln der Projektorstation einen Hyperkokon zu erzeugen. Das bedeutet für mich, dass mein Leben jeden Sinn verloren hat. Ich war schon fast gestorben, als er mir und anderen ein zweites Leben anbot. Ein Leben in einem toten Körper. Ein untotes Leben,
das sieben Millionen Jahre währte – tausendmal länger als das Leben, das die Ältesten meiner Artgenossen führten. Ich habe die Mom'Serimer in mein Herz geschlossen, weil sie mir seelenverwandt sind. Für sie wäre ich bereit, ein drittes Leben zu beginnen. Ich wäre bereit, ihren größten Wunsch zu erfüllen und ihnen als Wächter viele Generationen lang einen geschützten Lebensraum zu bieten. Doch nun hat sich herausgestellt, dass ich ihnen diesen Wunsch nicht erfüllen kann. In diesem Fall werde ich alles dafür tun, mir selbst meinen größten Wunsch zu erfüllen. Den Wunsch, nach einer halben Ewigkeit endlich sterben zu dürfen. Doch wie kann ich sterben, wenn mir die absolute Unsterblichkeit verliehen wurde? Mein Geist ist an diesen toten Körper gefesselt, nicht durch das, was ein lebendes Bewusstsein mit einem lebenden Körper verbindet, sondern durch einen Prozess, den nur er oder sie verstehen. Er sagte selbst, dass mein Geist auf ewig an die Atome meines Körpers gefesselt wäre, auch wenn ich mich in die Gluthitze einer Sonne stürzen sollte. Doch er nannte auch die einzige Möglichkeit, wie meine unsterbliche Existenz beendet werden könnte durch jemanden, der wie er selbst unsterblich ist. Deshalb habe ich mich für diesen verzweifelten Plan entschieden. Deshalb habe ich dir, Perry Rhodan, vorgetäuscht, dein Feind zu sein. Deshalb habe ich dich provoziert, dich in die Enge getrieben und dir keine andere Möglichkeit gelassen, als mich zu töten. Um ganz sicher zu sein, habe ich dafür gesorgt, dass du den bedingungslosen Willen verspürst, mich zu töten. Weil ich hoffe, dass du als relativ Unsterblicher in der Lage bist, meinem Leben ein Ende zu setzen. Es tut mir leid, dass ich dich, Perry Rhodan, und die Besatzung des Raumschiffs SOL dafür missbraucht habe, meinen sehnlichsten Wunsch in die Tat umzusetzen. Es tut mir leid, wenn ich euch Angst und Furcht bereitet habe, weil ich mit der Sprengung der Station gedroht habe. Es stimmt, dass ich die Vernichtungsschaltung längst aktiviert hatte, als ich vorgab, ein Agent von Gon-Orbhon zu sein. Aber ich hatte sie so programmiert, dass es erst dann zur Explosion kommt, wenn die Station weit genug von der SOL entfernt ist, damit
sie euch keinen Schaden zufügt. Ich hoffe, dass ihr mir verzeihen könnt. Und ich hoffe, dass sich mein sehnlichster Wunsch tatsächlich erfüllt. Ich weiß nicht, ob auch ein relativ unsterbliches Wesen wie du, Perry Rhodan, oder nur eine Superintelligenz wie ES mich wirklich töten kann. Ich hoffe es, aber ich vermute, dass du es nie erfahren wirst. Was auch immer geschehen wird, nachdem ich meinen Plan in die Tat umgesetzt habe – ich danke euch allen, Perry Rhodan, den Terranern an Bord der SOL und den Mom'Serimern, für das, was ihr für mich getan habt, und hoffe, dass ihr mir verzeihen könnt.«
* Plötzlich wurde Rhodan alles klar. Er hatte sofort das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmte, als Jon'ho ihm offenbarte, ein Agent Gon-Orbhons zu sein. Seine Begründung stand im Widerspruch zu allem, was er vorher gesagt und getan hatte. Und dann die stümperhafte Art, wie er sich hatte überrumpeln lassen – nachdem er Rhodan sogar gezeigt hatte, wie man das Zentraleschott und die Waffe bediente. Es wäre sinnvoller gewesen, wenn er einfach die Vernichtungsschaltung aktiviert hätte, ohne es seinem angeblichen Widersacher anzukündigen. In diesem Fall hätte Rhodan gar keine Möglichkeit gehabt, etwas dagegen zu unternehmen. »Es mag seltsam klingen, wenn ich das sage«, wandte er sich an die Besatzung der SOL-KR 12, »aber ich wünsche Jon'ho Sarenti, dass er tatsächlich gestorben ist.« »Das klingt ganz und gar nicht seltsam«, sagte Malcolm S. Daellian, der ihm in die Zentrale des Kreuzers gefolgt war. »Ich kann seine Beweggründe gut verstehen und wünsche ihm genau dasselbe.« »Ich hoffe, eure Seelenverwandtschaft geht nicht so weit, dass du dich zu ähnlichen Verzweiflungstaten hinreißen lässt.« »Keine Sorge. Ich muss nicht damit drohen, die SOL zu sprengen. Ich würde einfach die Energieversorgung meines Überlebenstanks abschalten.«
»Im Unterschied zu Jon'ho bist du nicht allein, Malcolm«, sagte Rhodan. »Es gibt immer wieder neue Aufgaben für dich. Bei diesem Einsatz der SOL, in der Waringer-Akademie ...« »Gib dir keine Mühe, mir Lebensmut zu predigen, Terranischer Resident«, erwiderte Malcolm schroff. »Ich führe mein Leben, so gut es geht, und wenn es nicht mehr geht, dann ist es eben vorbei.« »Entschuldigung, ich wollte dich nicht...« »Manchmal solltet ihr Politiker einfach mal den Mund halten!«, schnitt Daellian ihm das Wort ab. Dann wendete er den Medotank und verließ die Zentrale. Rhodan schwieg.
Epilog Propheten der Zukunft 24. März 1348 NGZ »Die Welt wurde aus dem Gleichgewicht gebracht«, sagte der Ausper. »Seit die Invasoren unser Volk dezimiert und unser Land verwüstet haben, sterben die Bäume. Es gibt immer weniger Orte, an denen sie überleben können. Als die Mom'Serimer zu uns kamen, fassten wir neue Hoffnung. Doch dann starb auch das Dorf in der Nähe eurer Stadt. Gleichzeitig spürten wir eine Aura des Todes, die sich unserer Welt näherte. Wir mussten uns diesen schlechten Einflüssen entziehen.« »Ihr habt den Besucher aus dem Weltraum, diesen Wächter, geauspert?«, fragte Tarm erstaunt. Er und sein Bruder saßen auf einer Lichtung im Walddorf, umringt von unzähligen Auspern, die gebannt ihren Worten zu lauschen schienen. Hier am Fluss waren die Bäume grün und die Glasnester fest an den Ästen verankert. Sämtliche Behausungen in Sichtweite waren mit Auspern besetzt, die über die Köpfe ihrer Artgenossen hinweg das Geschehen verfolgten. »Die Einflüsse von außen werden immer intensiver«, erklärte das Wesen. »Die Welt hat sich geöffnet. Es ist nicht mehr unsere Welt. Wir fühlen uns schutzlos ausgeliefert.« Tarm versuchte die sehr abstrakten Äußerungen seines Gesprächspartners zu übersetzen. »Das klingt, als würdet ihr allmählich das riesengroße Universum spüren, nachdem der Hyperkokon geöffnet wurde.« »So scheint es zu sein«, sagte der Ausper. »Aber der Wächter will versuchen, einen neuen Hyperkokon für uns zu schaffen!«, ereiferte sich Tarm. »Er könnte unsere gemeinsame Welt wieder besser und kleiner machen.« »Wir haben seine Aura aus der Ferne gesehen. Sie enthält keine Farben, sondern nur Grau und sehr viel Schwarz. Dieses Wesen macht uns große Angst.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Tarm verwundert. »Unser Prophet Seramir und sogar Perry Rhodan scheinen ihm zu vertrauen.«
»Dieses Wesen ist erstarrtes Leben. Seine Existenz gehört der Vergangenheit an. Es hat schon seit langer Zeit keine Zukunft mehr.« »Puh, das wird mir jetzt zu philosophobisch«, stöhnte Jubo. Auch Tarm wollte das Gespräch lieber auf konkretere Bahnen zurücklenken. »Wir werden sehen, was Seramir uns nach seiner Rückkehr verkündet. Vielleicht ist es ja gar nicht so gut, wenn wir uns immer in irgendwelche Löcher verkriechen wollen.« »Ich verstehe sowieso nicht, warum der Prophet ständig von der NACHT schwafelt«, sagte Jubo. »Ich finde es toll, auf einem großen weiten Planeten unter einem Himmel mit immer mehr Sternen zu leben!« »Wir Mom'Serimer haben uns sehr schnell an das Leben auf NeuNACHT gewöhnt«, setzte Tarm hinzu. »Also müsstet ihr es auch schaffen, euch an eine offene Welt zu gewöhnen.« »Vielleicht bleibt uns gar nichts anderes übrig, wenn wir überleben wollen«, sagte der Ausper. »Falls unsere Vermutung zutrifft, sind wir sogar auf euch angewiesen. Ihr könnt unseren Bäumen Lebenskraft spenden.« »Es ist schon ein komischer Zufall, dass ausgerechnet unser... unsere Körperausscheidungen etwas enthalten, das die Bäume wieder grün macht«, sagte Tarm. »Aber im Universum sind schon seltsamere Dinge passiert.« »Komisch ist auch, dass das bisher noch niemand bemerkt hat«, gab Jubo zu bedenken. »Darüber habe ich nachgedacht«, sagte Tarm. »Und dabei ist mir etwas klar geworden. Als wir die Stadt Milo angelegt haben, wurde die Kanalisation so angelegt, dass die Abwässer nicht zum Dorf der Ausper, sondern in die entgegengesetzte Richtung abfließen. Ich weiß nicht, ob diese ... Lebenskraft noch wirksam ist, nachdem das Ganze durch die Kläranlage gegangen ist. Aber alles, was auf der anderen Seite der Sandebene landet, gelangt untenrum über kleinere Bäche schließlich doch wieder in den Fluss.« »Es ist tatsächlich so, dass die Bäume am unteren Flusslauf und rund um den See seit Kurzem besser gedeihen«, bemerkte der Ausper. »Dann sollten wir jetzt konkret überlegen', wie die Mom'Serimer dazu beitragen können, die Lebensbedingungen der Ausper zu ver-
bessern«, sagte Tarm. »Ich bin schon gespannt auf den Gesichtsausdruck des Propheten, wenn wir ihm erklären, dass er einem gewissen Bedürfnis lieber im Schatten eines Ausper-Baumes nachgehen sollte ...«
* »Ich habe euch eine falsche Hoffnung gegeben, und nun hat sie sich zerschlagen!« Seramir senkte den Kopf und ließ die Gehirntentakel hängen. »Es gibt keine neue kosmische Bestimmung für die Mom'Serimer. Es wird nie wieder sein wie damals in der NACHT.« Er hob wieder den Blick und ließ ihn über die 125.000 Gesichter wandern, die gebannt in der Scherbenstadt im Mittelteil der SOL seiner Rede lauschten. Gleichzeitig wurden seine Worte an die übrigen Mitglieder seines Volks auf Neu-NACHT übertragen. »Nicht nur jene, die sich mit mir auf der Oberfläche eines Planeten niedergelassen haben, sondern auch viele von euch, die in der Scherbenstadt geblieben sind, haben sich für die Vision Jon'ho Sarentis begeistert. Ein Hyperkokon ganz allein für die Mom'Serimer – kein Sternenozean, sondern nur ein kleiner dunkler See – wäre die Erfüllung der tiefverwurzelten Sehnsucht unseres Volkes gewesen. Doch nun hat sich gezeigt, dass diese Ära endgültig vorbei ist. Die Hyperkokons sind erloschen, wie auch einst der PULS von Segafrendo erloschen ist. Das sollte uns zu denken geben. Was bedeutet das alles für uns? Jon'ho Sarenti hat den Lebensmut verloren, als er in eine Welt zurückkehrte, die nicht mehr seine war. Als Letzter seines Volkes musste er sich der Erkenntnis stellen, dass seine Dienste nicht mehr benötigt wurden. Auch wir sind ein kleines Volk, das seine einstige Aufgabe verloren hat. Sind wir ebenso wie Jon'ho zum Untergang verdammt? Wenn ich mich umsehe, erblicke ich viele kleine Mom'Serimer, die geboren wurden, seit ich vor drei Segaf die Scherbenstadt verließ. Das beweist mir, dass unser Volk einen unbändigen Lebenswillen besitzt. Wir haben unseren Platz an Bord der SOL behauptet. Wir haben eine erste Kolonie auf einem Planeten gegründet. Was folgt
als Nächstes? Was .auch immer es sein wird – ich sehe, dass wir eine Zukunft haben! Es wird Zeit, dass wir unser Leben selbst bestimmen! Der Wächter des Hyperkokons hat keine Antwort von ES erhalten und ist daran zerbrochen. Wir haben vergeblich auf die Rückkehr der ESTARTU gewartet und uns eine neue Aufgabe gestellt! Wenn die Superintelligenzen unsere Dienste nicht mehr benötigen, können wir endlich frei entscheiden, wie wir unser Leben verbringen wollen. Jeder von uns soll auf seine Weise dazu beitragen, die Mom'Serimer in eine strahlende Zukunft zu führen!« Jubel erfüllte die Scherbenstadt, erst leiser und dann immer lauter. Das Meer aus Gehirntentakeln wogte wie eine Brandung. Seramir trat von den Mikrofonfeldern zurück. »Du bist deiner Berufung wieder einmal gerecht geworden«, sagte Perry Rhodan zu ihm. »Ein wahrer Prophet passt seine Vision immer wieder der Realität an.« »Es ist die Aufgabe eines Propheten, seinem Volk eine Vision zu geben«, antwortete Seramir. »Dazu ist er nicht in der Lage, wenn er unbeirrt ein offensichtlich falsches Ziel verfolgt.« »Eine weise Erkenntnis«, sagte Rhodan. »Zu diesem Zweck muss er sogar bereit sein, sich zu widersprechen ... oder fantasievoll mit Wahrheiten und Lügen zu spielen.« »Bist du nicht selbst ein Prophet der Terraner? Predigst du immer noch genau dasselbe wie vor 3000 Jahren, als du die Menschen aus der Isolation ihrer Heimatwelt in den Weltraum geführt hast? Nenn mir den Unterschied zwischen einem Propheten und einem Politiker!« »Ich verstehe dich besser, als du ahnst. Auch wenn die Partei, die meine Interessen vertritt, andere Ziele verfolgt als die NACHTFraktion der Mom'Serimer. Was uns nicht daran hindert, Koalitionen zu bilden und gelegentlich an einem Strang zu ziehen.« »Ich kann dir versichern, dass du wieder von mir hören wirst!«, sagte der Prophet der NACHT mit einem verschmitzten Grinsen. Dann wandte er sich vom Terranischen Residenten ab und tauchte in der Menge seiner Artgenossen unter.
Perry Rhodan rieb sich nachdenklich das Kinn. Er war sich nicht sicher, was er von dieser Ankündigung halten sollte.
* So viel war mit einem Mal zu Ende gegangen. Perry Rhodan hatte sich in eine Beobachtungskuppel der SOL zurückgezogen, die einen freien Blick in den Weltraum ermöglichte. Nur Wenige Besatzungsmitglieder wussten von diesem Raum, der durch eine Glassitscheibe vom Vakuum getrennt war. War die Ära der Hyperkokons nun unwiderruflich vorbei? Jon'ho hatte gesagt, dass sie unter den herrschen den hyperphysikalischen Bedingungen nicht mehr stabil waren. Was geschah, wenn die Kosmokraten die Änderung der Hyperimpedanz irgendwann rückgängig machten? Rhodan erkannte, dass solche Überlegungen müßig wären. Die letzte Projektorstation war vernichtet, und damit war auch das Wissen um die Hyperkokontechnik verloren. Es war fraglich, ob ES ein weiteres Mal die nötigen Kenntnisse preisgeben würde ... Auf den ersten Blick erschien es »humaner«, einen Feind nicht im Kampf zu vernichten, sondern ihn in ein extrauniversales Gefängnis zu sperren. Aber letztlich hatte auch diese Lösung zu neuem Leid und schweren Konflikten geführt. Rhodan fühlte sich nicht in der Lage, ein Urteil über ES Entscheidung zu treffen. Wie »human« war es, einen Toten zum ewigen Leben zu erwecken? Der Terraner versuchte, sich in Jon'ho Sarenti hineinzuversetzen. Es fiel ihm schwer, obwohl er selbst auf ein ungewöhnlich langes Leben zurückblicken konnte. Was waren knapp drei Jahrtausende gegen einen Zeitraum von sieben Millionen Jahren? Ein solches Alter erreichten in diesem Universum höchstens Superintelligenzen oder Kosmokratendiener. Rhodan starrte in die Unendlichkeit des Weltraums. Doch selbst dieser Blick konnte ihm kein Gefühl für die Unermesslichkeit einer solchen Zeitspanne vermitteln.
Der Resident fühlte sich schuldig, dass er ein Wesen von solch tragischer Größe getötet hatte. Gleichzeitig war er sich bewusst, dass er Jon'ho Sarenti einen unvorstellbar großen Gefallen getan hatte. Er hatte ihn vom Leben und vom Fluch der Unsterblichkeit erlöst. Der Terraner fragte sich, ob auch er eines Tages den Tod als Erlösung willkommen heißen würde. ES hatte es ihm angekündigt, seinerzeit, ganz am Anfang ... Jon'ho Sarenti war der Letzte seiner Art gewesen. Selbst wenn sich eine Verwandtschaft zu den Skoars nachweisen ließ, würde sich nichts an dieser Tatsache ändern. Der Heimatplanet der Schukurrach war vernichtet, vielleicht war sogar die Sonne längst zur Nova geworden. Und nun war das Leben des Wächters zu Ende gegangen. Rhodan fragte sich, was aus den anderen Wächtern geworden war. Hallten ihre Schmerzensschreie unhörbar in den Spendersonnen wider, in denen ihre Stationen explodiert waren? Er erschauderte und verdrängte diese Vorstellung aus seinen Gedanken. Er wandte den Blick von der Finsternis des Alls und den Leuchtpunkten der Sterne ab. Es wurde Zeit, wieder nach vorn zu schauen. ENDE