Die letzten Tage der Erde 11 Harmagedon – die entscheidende Schlacht zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts...
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Die letzten Tage der Erde 11 Harmagedon – die entscheidende Schlacht zwischen den Mächten der Finsternis und des Lichts – steht kurz bevor. Der Antichrist vereint die Truppen der ganzen Welt in Israel, sodass sich die Gläubigen in Petra einer Armee gegenübersehen, gegen die sie nichts werden ausrichten können. Wer wird angesichts der Gefahren seinem Glauben treu bleiben? Folgen Sie der Tribulation Force um die ganze Welt, als die Geschichte der Menschheit ihrem Ende entgegengeht. Begeben Sie sich auf das Schlachtfeld von Harmagedon, wenn der Antichrist seine Armeen gegen Petra und Jerusalem marschieren lässt …
TIM LAHAYE JERRY B. JENKINS
HARMAGEDON Die letzten Tage der Erde FINALE Band 11 Roman
Scan by lumpi K&L: tigger Freeware ebook, März 2004 Kein Verkauf!
Projektion J
Titel der Originalausgabe: Armageddon © 2003 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins Published by Tyndale House Publishers, Inc. Wheaton, Illinois, USA Ins Deutsche übersetzt mit Genehmigung von Tyndale House Publishers, Inc. Left behind © ist ein eingetragenes Warenzeichen von Tyndale House Publishers, Inc. Kein Bild dieses Buches darf in irgendeiner Form ohne die Erlaubnis des Verlages und/oder Rechtsinhabers verwendet werden. Alle Rechte vorbehalten. © 2003 der deutschen Ausgabe by Gerth Medien GmbH, Asslar 1. Auflage 2004 Best.-Nr. 657 504 ISBN 3-89490-504-2 Die Bibelstellen wurden der Einheitsübersetzung entnommen. Auf der Grundlage der neuen Rechtschreibregeln. Übersetzung: Eva Weyandt Umschlaggestaltung: Michael Wenserit; Julie Chen Umschlagfoto: Tim O’Brien Autorenfoto: Reg Francklyn Lektorat und Satz: Nicole Schol, Gerth Medien GmbH Druck und Verarbeitung: Schönbach-Druck, Erzhausen Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
Zur Erinnerung an A. W. Tozer, der Gott nachjagte Mit besonderem Dank an David Allen für seine technische Beratung
Sechs Jahre nach Beginn der Trübsalszeit – zweieinhalb Jahre nach Beginn der Großen Trübsalszeit Die Christen Rayford Steele, Ende 40, flog als Flugkapitän für die Fluglinie Pan-Continental und verlor bei der Entrückung Frau und Sohn. Nach den dramatischen Ereignissen wurde er Flugkapitän von Potentat Nicolai Carpathia. Er ist Gründungsmitglied der Tribulation Force. Mittlerweile ist er ein international gesuchter Flüchtling. Aufenthaltsort: Petra. Cameron »Buck« Williams, Anfang 30, ehemaliger Chefreporter des Global Weekly und früherer Herausgeber des Global Community Weekly. Er ist Gründungsmitglied der Tribulation Force und mittlerweile Herausgeber einer Internet-Zeitung mit dem Namen »Die Wahrheit«. Er hält sich als international gesuchter Flüchtling in San Diego auf. Chloe Steele Williams, Mitte 20, war vor den Ereignissen Studentin an der Stanford-Universität und hat Mutter und Bruder bei der Entrückung verloren. Sie ist die Tochter von Rayford, Ehefrau von Buck und Mutter des dreieinhalbjährigen Kenny Bruce. Darüber hinaus ist sie Leiterin und Initiatorin der »Internationalen Handelsgesellschaft«, einem Untergrundnetzwerk von Christen. Auch sie ist Gründungsmitglied der Tribulation Force. Sie hält sich als international gesuchter Flüchtling in San Diego auf. George Sebastian, Ende 20, ehemaliger Kampfhubschrauberpilot der in San Diego stationierten US-Luftwaffe. Er hält sich mit anderen Mitgliedern der Tribulation Force im Untergrund in San Diego auf. 6
Ming Toy, Mitte 20, Witwe, früherer Wachoffizier in einem belgischen Frauengefängnis, hat sich unerlaubt vom Dienst entfernt. Sie hält sich in San Diego im Untergrund auf. Ree Woo, Mitte 20, Pilot der »Internationalen Handelsgesellschaft«. Er hält sich in San Diego im Untergrund auf. Tsion Ben-Judah, Anfang 50, früher rabbinischer Gelehrter und ehemaliger israelischer Staatsmann. Er sprach im israelischen Fernsehen öffentlich über seinen Glauben an Jesus als den Messias, woraufhin seine Frau und seine beiden Kinder ermordet wurden. Einige Zeit lang war er geistlicher Führer und Lehrer der Tribulation Force, heute lehrt er die jüdischen Flüchtlinge in Petra. Über das Internet kommuniziert er täglich mit mehr als einer Milliarde Menschen. Dr. Chaim Rosenzweig, Anfang 70, israelischer Nobelpreisträger, Botaniker und Staatsmann und vom Global Weekly zum »Mann des Jahres« gekürt. Er verübte den Anschlag auf Carpathia. Er führt die jüdischen Flüchtlinge in Petra an. Abdullah Smith, Mitte 30, war früher jordanischer Kampfflieger und danach Erster Offizier der Phoenix 216. Man nimmt offiziell an, dass er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, in Wahrheit hält er sich aber in Petra auf. Al B. (Albie), Anfang 50, gebürtig aus Al Basrah im Norden Kuwaits. Er ist Pilot und ein international tätiger Schwarzmarkthändler. Heute ist er Mitglied der Tribulation Force und hält sich im Untergrund in Al Basrah auf. Mac McCullum, Anfang 60, ehemaliger Pilot Carpathias. Man nimmt offiziell an, dass er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam, in Wahrheit hält er sich im Untergrund in Long Grove, Illinois, auf. 7
Hannah Palemoon, Anfang 30, arbeitete als Krankenschwester in dem Krankenhaus der Weltgemeinschaft in NeuBabylon. Auch sie saß angeblich in dem abgestürzten Flugzeug, befindet sich aber im Untergrund in Long Grove, Illinois. Lea Rose, Anfang 40, ehemals Oberschwester im Arthur Young Memorial Hospital in Palatino, Illinois. Sie hält sich im Untergrund in Long Grove, Illinois, auf. Lionel Whalum, Ende 40, früher Geschäftsmann, heute Pilot der »Internationalen Handelsgesellschaft«. Er befindet sich ebenfalls im Versteck in Long Grove, Illinois. Chang Wong, 20, ist Ming Toys Bruder. Er ist Maulwurf der Tribulation Force im Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon. Gustaf Zuckermandel jr. (Zeke oder Z.), Mitte 20, ist Urkundenfälscher und Verkleidungsspezialist. Sein Vater starb durch die Guillotine. Er hält sich in einem Untergrundversteck in Avery, Wisconsin, auf. Die Feinde Nicolai Jetty Carpathia, Ende 30, war während der dramatischen Ereignisse Präsident von Rumänien und wurde dann Generalsekretär der Vereinten Nationen. Carpathia war bis zu seiner Ermordung in Jerusalem selbst ernannter Potentat der Weltgemeinschaft. Drei Tage später kehrte er auf dem Palastgelände der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon ins Leben zurück.
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Leon Fortunato, Mitte 50, ist Carpathias rechte Hand. Augenblicklich ist er der allerhöchste geistliche Führer des Carpathianismus und verkündet den Potentaten als den auferstandenen Gott. Er hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf. Viv Ivins, Ende 60, ist schon lange mit Carpathia befreundet und arbeitet für die Weltgemeinschaft. Sie hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon auf. Suhail Akbar, Mitte 40, Carpathias Sicherheits- und Geheimdienstchef. Er hält sich im Palast der Weltgemeinschaft in NeuBabylon auf.
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Prolog »Zum ersten Mal seit langer Zeit«, begann Nicolai, »spielen wir das Spiel wieder gleichberechtigt mit. Die Wasserwege regenerieren sich selbst und im Bereich der Infrastruktur ist einige Aufbauarbeit zu leisten. Wir wollen dazu beitragen, alle unsere loyalen Bürger wieder auf eine Stufe mit uns zu stellen. Direktor Akbar und ich haben für die Abtrünnigen einige Überraschungen parat. Wir sind wieder im Geschäft, Leute. Es ist an der Zeit, dass wir unsere Verluste wegstecken und selbst wieder austeilen.« Die neue Stimmung dauerte drei Tage. Dann gingen die Lichter aus. Im wahrsten Sinne des Wortes. Alles wurde dunkel. Nicht nur die Sonne, sondern auch der Mond, die Sterne, Straßenlaternen, elektrische Lichter, die Scheinwerfer. Alles, was je Licht abgegeben hatte, war jetzt dunkel. Die Nummern auf den Telefonen, die Taschenlampen, alles, was schillerte, was im Dunkeln glühte. Die Notlichter, Ausgangsbeleuchtung, Alarmleuchten – alles. Es war stockdunkel. Wie hieß noch die Redewendung? Dass man die Hand nicht vor Augen sehen könne? Das traf zu. Gleichgültig, welche Tageszeit es war – die Menschen konnten nichts sehen. Weder ihre Uhren, Armbanduhren, nicht einmal Feuer, Streichhölzer, nichts. Es schien, als sei das Licht nicht einfach nur ausgegangen. Jede Spur davon schien vom Universum verschluckt worden zu sein. Die Menschen schrien vor Angst auf, als sie sich mit dem schlimmsten Albtraum ihres Lebens konfrontiert sahen – und es hatte bisher wirklich viele gegeben. Sie waren blind – vollständig unfähig, irgendetwas anderes außer Dunkelheit zu sehen, 24 Stunden am Tag. Sie tasteten sich durch den Palast, sie drängten sich nach 10
draußen. Sie versuchten, jedes Licht und jeden Schalter anzuknipsen, an die sie sich erinnern konnten. Sie sprachen miteinander, um zu erfahren, ob nur sie das Problem hatten oder alle anderen auch. Sucht eine Kerze! Reibt zwei Stöcke aneinander! Erzeugt Reibung auf dem Teppich und statische Elektrizität. Tut alles. Alles! Irgendetwas muss doch den Hauch eines Schattens erzeugen, einen kleinen Lichtstrahl. Aber alles war umsonst. Chang verspürte den Drang zu lachen. Er wollte in brüllendes Gelächter ausbrechen. Er wünschte, er könnte allen Menschen überall erzählen, dass Gott erneut einen weiteren Fluch ausgesprochen hatte, ein weiteres Gericht über die Erde hatte kommen lassen, von dem nur diejenigen betroffen waren, die das Zeichen des Tieres trugen. Denn Chang konnte sehen. Es war zwar anders, da auch er keine Lichter sah. Er sah alles dunkler, als hätte jemand in einem Kronleuchter die Wattzahl heruntergedreht. Er sah, was er sehen musste, auch seinen Computer, seinen Bildschirm, seine Uhr und seine Wohnung. Sein Essen, sein Waschbecken, seinen Herd – alles. Und das Beste war, er konnte auf seinen Gummisohlen im Palast herumschleichen, zwischen seinen Kollegen hindurch, während sie sich vorantasteten. Schon nach wenigen Stunden passierte etwas noch Seltsameres. Die Leute starben nicht an Hunger oder Durst. Sie konnten sich den Weg zu Essen und Trinken ertasten. Aber sie konnten nicht arbeiten. Es gab nichts, über das man sprechen konnte, kein anderes Gesprächsthema als die verfluchte Dunkelheit. Und aus irgendeinem Grund fingen sie auch an, Schmerz zu empfinden. Es juckte und sie kratzten sich. Sie hatten Schmerzen und sie rieben. Sie schrien auf und kratzten sich noch mehr. Bei vielen wurde der Schmerz so stark, dass sie auf dem Fußboden zusammensanken, sich wanden, sich kratzten und Erleichterung 11
suchten. Je länger es dauerte, desto schlimmer wurde es, und jetzt verfluchten die Menschen Gott und bissen sich auf ihre Zungen. Sie krochen über die Flure, suchten nach Waffen, flehten Freunde und sogar Fremde an, sie zu töten. Viele begingen Selbstmord. Der gesamte Palastkomplex wurde zu einem Heim der Schreie, des Stöhnens und des Jammerns, während in den Menschen die Überzeugung wuchs, dass dies das Ende der Welt war. Aber sie hatten kein Glück. Wenn sie nicht den Mut aufbrachten, sich selbst zu töten, litten sie. Ihr Leid verschlimmerte sich von Stunde zu Stunde. Von Tag zu Tag. Es ging immer weiter. Und nach einer ganzen Weile hatte Chang die beste Idee seines Lebens. Wenn es je einen guten Zeitpunkt für ihn gegeben hatte, aus dem Palast zu fliehen, dann jetzt. Er würde sich mit Rayford oder Mac in Verbindung setzen, mit irgendjemandem, der bereit und in der Lage war, ihn abzuholen. Er ging davon aus, dass es den anderen Mitgliedern der Tribulation Force, ja sogar allen Gläubigen auf der Welt, die das Siegel Gottes trugen, genauso erging wie ihm. Jemand würde mit einem Jet herfliegen und hier in NeuBabylon landen. Die Angehörigen der Weltgemeinschaft würden alle in Deckung gehen, da sie keine Ahnung hatten, wie so etwas in vollkommener Dunkelheit möglich sein sollte. Solange niemand sprach, konnte auch niemand identifiziert werden. Die Tribulation Force könnte Waffen und Flugzeuge anfordern, was immer sie wollte. Falls jemand sie ansprach oder ihnen drohte, so hatte die Tribulation Force immer noch den Vorteil, dass sie sehen konnte. Aber da Christus in einem Jahr wiederkommen würde, dachte Chang, waren die Guten sogar noch besser dran als damals, als sie nur tagsüber ihre Arbeit hatten tun können. Im Augenblick waren die Gläubigen im Vorteil, solange Gott 12
es für angemessen hielt, die Rollläden heruntergezogen und die Lichter ausgeknipst zu halten. »Gott«, betete Chang, »gib mir nur noch ein paar Tage Dunkelheit.«
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1 Zum ersten Mal seit dem Start bekam Rayford Steele Bedenken wegen ihres Passagiers. »Wir hätten sie nicht mitnehmen sollen, Smitty«, seufzte er. Er warf Abdullah, der am Steuerknüppel saß, einen verstohlenen Seitenblick zu. Der Jordanier schüttelte den Kopf. »Das war Ihre Entscheidung, Captain, so Leid es mir tut. Ich habe versucht, Ihnen klar zu machen, wie wichtig sie für Petra ist.« Die Dunkelheit, die nur Neu-Babylon einhüllte, aber schon aus einer Entfernung von gut 100 Meilen sichtbar war, war anders als alles, was Rayford bisher in seinem Leben gesehen hatte. Als Abdullah mit der Gulfstream den Landeanflug auf Irak begann, war es 12 Uhr mittags Palastzeit. Gewöhnlich funkelten die prächtigen Gebäude der neuen Welthauptstadt in der hellen Mittagssonne. Jetzt erhob sich, so weit das Auge sehen konnte, von Neu-Babylons ausgedehnten Grenzen eine schwarze Säule in den wolkenlosen Himmel. Chang Wong war Rayfords Maulwurf im Inneren des Palastes. Im Vertrauen auf die Aussage des jungen Mannes, dass sie im Gegensatz zu allen anderen würden sehen und alles erkennen können, warf Rayford Abdullah einen weiteren Seitenblick zu, als dieser das Flugzeug aus der Helligkeit des wolkenlosen Tages in die Dunkelheit steuerte. Abdullah schaltete die Landescheinwerfer an. Rayford blinzelte. »Brauchen wir das ILS?« »Das Instrumenten-Landesystem?«, fragte Abdullah. »Ich glaube nicht, Captain. Ich habe ziemlich gute Sicht.« Angesichts der unheimlichen Dunkelheit, die in NeuBabylon herrschte, musste Rayford unwillkürlich an den strahlenden Sonnenschein in Petra denken. Er spähte über die Schulter zurück zu der jungen Frau. Sicher hatte sie Angst. Doch sein prüfender Blick verriet ihm, dass dies nicht der Fall war. 14
»Wir können immer noch umkehren«, schlug er vor. »Dein Vater schien über unseren Abflug nicht gerade begeistert gewesen zu sein.« »Er hat sich vermutlich um Sie Sorgen gemacht«, erwiderte Naomi Tiberias. »Dass ich klarkommen werde, weiß er.« Der Humor und Witz der noch jungen Computerexpertin waren legendär. Im Umgang mit Erwachsenen wirkte sie anfangs schüchtern und zurückhaltend, doch wenn sie jemanden besser kannte, wurde sie ihm gegenüber offener. Sie hatte Abdullah geholfen, seine Computerkenntnisse zu erweitern, und seit in Neu-Babylon die Lichter ausgegangen waren, war sie praktisch unablässig mit Chang in Kontakt geblieben. »Warum ist es nur hier so dunkel?«, fragte Naomi. »Das ist so seltsam.« »Ich weiß es nicht«, erwiderte Rayford. »In der Prophezeiung heißt es, die Ereignisse würden nur ›den Thron des Tieres‹ betreffen und über sein Reich würde sich Dunkelheit legen. Mehr wissen wir auch nicht.« Bei jedem seiner Besuche in Petra hatte Rayford festgestellt, dass Naomis Verantwortungsbereich und ihr Einfluss unter den Israeliten gewachsen waren. Schon früh hatte sie sich als Technologiespezialistin zu erkennen gegeben und ihr Wissen an andere weitervermittelt. So war sie trotz ihres Alters langsam, aber sicher zur Leiterin des umfangreichen Computerzentrums in Petra avanciert – zur Lehrerin, die die Lehrer lehrte. Das Computerzentrum, das von Changs Vorgänger, dem verstorbenen David Hassid, geplant und eingerichtet worden war, ermöglichte es den Israeliten, die in Petra Zuflucht gesucht hatten, Tag für Tag mit den Menschen außerhalb der Felsenstadt in Kontakt zu bleiben. Mit Hilfe von Tausenden von Computern konnten die Mentoren über das Internet mit Tsion Ben-Judahs weltweiter Leserschar Verbindung aufnehmen. Naomi koordinierte den Kontakt zwischen Chang in NeuBabylon und den Mitgliedern der Tribulation Force auf der 15
ganzen Welt. Dass sie zusammen mit den anderen nach Neu-Babylon kam, um Chang abzuholen, war dessen Idee gewesen. Rayford selbst war anfangs nicht damit einverstanden gewesen. Da der 7500 Meilen weite Flug von San Diego nach Petra sehr anstrengend gewesen war, hatte Abdullah für die letzten 500 Meilen den Steuerknüppel übernommen. Der kampferprobte George Sebastian wäre im Grunde besser geeignet gewesen, aber Rayford fand, dass dieser in letzter Zeit sehr beansprucht worden war. In San Diego gab es genug für ihn zu tun und außerdem wollte Rayford Georges Kräfte für die »Schlacht des großen Tages Gottes, des Allmächtigen« sparen, wie Dr. Ben-Judah sie nannte. Diese Schlacht würde in weniger als einem Jahr stattfinden. Mac McCullum und Albie, die in Al Basrah, knapp 200 Meilen südlich von Neu-Babylon, stationiert waren, standen ebenfalls bereit. Aber für sie hatte Rayford andere Aufgaben. Rayfords Schwiegersohn Buck Williams und seine Tochter Chloe hatten angeboten, bei der Rettung Changs aus der Höhle des Löwen zu helfen, aber Rayford war davon überzeugt, dass Buck schon bald in Israel von größerem Nutzen sein würde. Und was Chloe betraf – die Internationale Handelsgesellschaft brauchte dringend ihre Kompetenz und ihr Sachwissen. Außerdem musste sich jemand um den kleinen Kenny kümmern. »Pack alles zusammen, was du gebrauchen kannst, Chang«, hatte Rayford diesen ermuntert. »Smitty und ich werden dich in ein paar Tagen abholen.« Chang hatte erwidert, diese Aufgabe sei zu umfangreich, um sie alleine bewältigen zu können. Wenn Naomi ihm helfen könnte, würden sie viel schneller aufbrechen können. »Es darf nichts zurückbleiben. Naomi könnte von großem Nutzen sein. Ich möchte den Palast von überall überwachen können.« »Keine Sorge«, beruhigte Rayford ihn. »Du wirst sie schon bald persönlich kennen lernen.« 16
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Ihr Vater gehört zu den Ältesten in Petra, weißt du.« »Ach ja?« »Sie sind die Einzigen, die von ihrer Familie noch übrig sind. Sein Beschützerinstinkt ist sehr stark ausgeprägt.« »Wir haben beide viel zu erledigen.« »Aha.« »Ich meine es wirklich ernst, Captain Steele. Bitte bringen Sie sie mit. Es ist ja nicht so, als hätte ich sie nicht bereits auf dem Bildschirm gesehen.« »Und, was hältst du von ihr?« »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Wir haben viel zu erledigen.« Rayford spürte einen Ruck an seinem Copilotensitz. Naomi beugte sich vor. »Kann Mr. Smith denn genug sehen, um diesen Flieger zu landen?« »Das ist noch nicht sicher«, erwiderte Rayford. »Es sieht so aus, als hätte jemand unsere Fenster braun übermalt. Sieh mal zu, ob du unseren Jungen aufwecken kannst.« Chang war sicher, dass die Landebahnen in Neu-Babylon frei waren, aber er konnte natürlich von dort aus nicht telefonieren, weil er befürchtete, jemand könnte ihn belauschen. Naomi holte einen kleinen, schmalen Computer aus einer Aluminiumhülle und tippte eifrig darauf herum. »Meiden Sie die Landebahnen 3 links und rechts«, erklärte sie. »Und er möchte wissen, für welche Landebahn Sie sich entscheiden, damit er dort auf uns warten kann.« Rayford entgegnete mit einem Blick zu Abdullah: »Meint er das ernst, Naomi?« Sie nickte. »Sag ihm, der Tower sei geschlossen und wir würden unsere Ankunft sowieso nicht melden. Von hier oben aus können wir nicht sehen, welche Landebahn es ist, darum wird er uns schon die Koordinaten geben müssen und –« 17
»Einen Augenblick«, unterbrach Naomi ihn und tippte wieder etwas ein. »Er hat alles durchgegeben, was Sie brauchen.« Sie reichte Rayford den Laptop und deutete auf den Anhang der Mail. »Der Rechner ist stimmaktiviert. Sagen Sie nur, was Sie wissen möchten.« »Die Maschine erkennt meine Stimme?«, fragte Rayford und starrte auf den Bildschirm. »Ja«, erwiderte der Computer. Naomi lachte. »E-Mail-Anhang bitte«, sagte Rayford. Ein ausführliches Raster mit einer Luftaufnahme des Flughafens von Neu-Babylon erschien auf dem Bildschirm. »Ich werde die Koordinaten für Sie eingeben, Smitty«, bot Rayford an. Er programmierte die Daten in das Flugsystem ein. »Dieses Teil macht alles für Sie, außer kochen, Captain Steele«, sagte Naomi stolz. »Haben Sie einen Infrarotanschluss?« »Ich denke schon. Haben wir so was, Smitty?« Abdullah deutete auf ein Licht am Instrumentenbord. »Hier«, erklärte Naomi. »Lassen Sie mich mal.« Sie beugte sich über Rayfords Schulter und richtete die Rückseite des Laptops auf den Port aus. »Bereit zur Landung, Captain?«, fragte sie. »Roger.« »Landeanflug eingeleitet«, sagte sie und drückte auf einen Knopf. »Landebahnwahl?«, fragte der Computer. Naomi blickte Rayford an, der wiederum zu Abdullah hinübersah. »Erkennt das Ding sogar meinen Akzent?«, fragte der Jordanier. »Ja«, erwiderte der Computer. »Landebahnen 3 links und 3 rechts sind belegt. Wählen Sie Landebahn 11 oder 16.« »11«, entschied Abdullah. »Links oder rechts?«, fragte der Computer nach. »Links«, erwiderte Abdullah. »Warum auch nicht?« 18
Abdullah schaltete den linken Autopiloten ein und nahm die Hände vom Steuerknüppel. »Danke«, sagte er. »Gern geschehen«, erwiderte der Computer. Sechs Minuten später setzte die Gulfstream auf der Landebahn auf. Um kurz nach ein Uhr morgens fuhr Buck in San Diego im Bett hoch. Chloe rührte sich auch. »Schlaf weiter, Liebling«, forderte sie ihn auf. »Du hast jetzt drei Nächte Wache gehalten. Nicht heute Nacht.« Er hob die Hand und wollte etwas einwenden. »Du brauchst deinen Schlaf, Buck.« »Ich dachte, ich hätte etwas gehört.« Das kleine Funksprechgerät auf seinem Nachttisch meldete sich. Sebastians Spezialcode. Buck schnappte sich das Gerät. »Ja, George?« »Die Bewegungsmelder«, flüsterte Sebastian. Jetzt fuhr auch Chloe hoch. »Ich werde mich mit dem Periskop mal umsehen«, schlug Buck vor. »Vorsichtig«, warnte Sebastian. »Schieb es nicht höher und dreh es auch nicht.« »Verstanden. Hat sonst noch jemand was gemerkt?« »Nein.« »Also gut. Dann wollen wir mal.« Chloe war bereits aus dem Bett gesprungen und zog sich ein Sweatshirt über. Sie schloss einen Schrank auf, holte zwei Maschinengewehre heraus und warf Buck eines davon zu, während er zu dem Periskop neben Kennys kleiner Kammer marschierte. Er lehnte die Waffe gegen die Wand, steckte das Funkgerät in die Tasche seines Schlafanzugs und sah durch das Periskop. Während sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, hörte er, dass Chloe die Tür zu Kennys Zimmer öffnete und wieder schloss. Mit seinen fast vier Jahren schlief Kenny jetzt länger, aber nicht mehr so tief wie früher. 19
»Ist er wach?«, fragte Buck, ohne den Blick von dem Periskop zu lösen. »Schläft tief und fest«, erwiderte Chloe. Sie legte Buck einen Pullover über die Schultern. »Wie du es eigentlich auch tun solltest.« »Ich wünschte, es wäre so«, seufzte Buck. »Das glaub ich dir gern.« Sie legte ihm die Hände auf die Schultern. »Was siehst du?« »Nichts. George sagt, ich solle das Fernrohr nicht drehen. Im Augenblick ist es auf Bodenhöhe nach Westen ausgerichtet. Ich würde es gern sechs Zentimeter höherschieben, damit ich einen besseren Überblick bekomme.« »Er hat Recht, Schatz«, wandte sie ein. »Du weißt, dass es immer quietscht, wenn es bewegt wird. Jeder, der da draußen ist, könnte es hören.« »Ich glaube nicht, dass jemand da ist«, erwiderte Buck. Er wandte sich ab und rieb sich die Augen. Sie seufzte. »Möchtest du einen Stuhl?« Er nickte und kehrte zum Periskop zurück. »Könnte natürlich ein Tier gewesen sein. Vielleicht der Wind.« Chloe schob einen Stuhl gegen seine Knie und drückte ihn darauf. »Darum solltest du mich einfach –« »Oh nein«, stöhnte er. »Was ist?« Er legte den Finger an die Lippen und zog sein Funkgerät aus der Tasche. »George«, flüsterte er. »Sechs, sieben, acht, neun. Neun bewaffnete Soldaten der Weltgemeinschaft unmittelbar im Westen.« »Was tun sie?« »Nicht viel. Sie lungern rum. Sie wirken gelangweilt. Vielleicht hat im Vorbeifahren irgendetwas ihre Aufmerksamkeit erregt.« »Irgendwelche Fahrzeuge?« 20
»Kann ich nicht sehen. Ich müsste das Rohr ausfahren und drehen.« »Das geht nicht. Sind da noch mehr Soldaten?« »Kann ich von hier aus nicht erkennen. Es kommen keine mehr dazu. Jetzt kann ich nur noch drei sehen.« »Achte auf Motorengeräusche.« Buck schwieg eine Weile. Dann: »Ja, ich kann einen Motor hören. Und jetzt noch einen.« »Ich höre sie auch«, bestätigte George. »Ich glaube, sie fahren weg. Kann ich rüberkommen?« »Sag ihm, er soll lieber nicht kommen«, flüsterte Chloe. Die Flughafenangestellten, die Rayford durch das Cockpitfenster in der unheimlichen gelbbraunen Landschaft erkennen konnte, schienen entsetzliche Schmerzen zu erleiden. Chang hatte ihm gesagt, die Leute würden sich winden und stöhnen, aber der landende Jet hatte sie offensichtlich in Panik versetzt. Sie mussten davon ausgehen, dass das Flugzeug abstürzen würde, wie es auf den Landebahnen 3 links und rechts augenscheinlich bereits mit anderen Maschinen geschehen war. Es war, als hätten die Menschen den Versuch aufgegeben, etwas sehen zu wollen. Jeder, der sich in der Nähe der Gulfstream IX befand, war in die Dunkelheit getaumelt, um dem Jet zu entkommen, und jetzt kauerten sie in kleinen Gruppen hier und dort am Boden. »Das muss Chang sein«, sagte Rayford. Er deutete auf einen schlanken Asiaten, der auf sie zueilte und sie wild gestikulierend aufforderte, die Tür zu öffnen. »Lass mich das machen, Naomi«, erwiderte Abdullah. Er löste seinen Gurt und stieg über ihre Beine hinweg. Nachdem er die Tür geöffnet und die Trittleiter heruntergelassen hatte, sah Rayford, wie Chang sich an eine kleine Gruppe von Männern und Frauen in dunklen Arbeitsoveralls wandte, die tastend hinter ihm herkamen. 21
»Bleibt weg!«, rief er. »Gefahr! Heiße Motoren! Und außerdem tritt Öl aus!« Sie wandten sich um und zerstreuten sich in alle Richtungen. »Wie ist sie heruntergekommen?«, rief jemand. »Das ist ein Wunder«, bemerkte ein anderer. »Habt ihr auch an Schuhe mit Gummisohlen gedacht?«, fragte Chang, als er ihnen aus dem Flugzeug half. »Ich finde es auch schön, dich zu sehen, Chang«, begrüßte Abdullah ihn grinsend. Chang bedeutete ihm zu schweigen. »Die Leute hier sind blind«, flüsterte er. »Aber nicht taub.« »Chang«, begann Rayford, doch der junge Mann war gerade dabei, sich mit Naomi bekannt zu machen. »Also gut, ihr zwei, ihr könnt euch später kennen lernen. Jetzt wollen wir erst mal erledigen, was wir zu tun haben, und dann hier verschwinden.« »Soll ich mich anziehen?«, fragte Buck, als er Sebastian im Overall entdeckte. »Nein. Den habe ich immer an, wenn ich Wache schiebe. Lass mich mal sehen.« Er spähte durch das Periskop. »Nichts. Soll ich es ausfahren und drehen, Buck?« »Nur keine Scheu.« »Alles klar. Falscher Alarm.« Chloe schnaubte. »Das sagt ihr nur, um mich zu beruhigen. Mindestens neun Soldaten der Weltgemeinschaft waren dort draußen und vermutlich waren es sogar noch mehr. Sie kommen bestimmt zurück.« »Hey«, wandte Sebastian ein. »Wir sollten das Beste annehmen und nicht das Schlimmste.« »Vielleicht tue ich das ja?«, widersprach sie. »Priscilla und Beth Ann haben weitergeschlafen?« Er nickte. »Vielleicht erzähle ich Priss lieber gar nichts davon, darum wäre ich euch dankbar, wenn –« »Wenn ich es auch nicht tun würde? Das ist vernünftig, 22
George. Die kleine Frau lieber nur nicht beunruhigen. Sie braucht ja nicht zu merken, dass es Zeit ist weiterzuziehen«, spottete Chloe. »Weiterziehen?«, fragte Buck. »Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.« »Dann sitzen wir also einfach hier herum und warten, bis sie uns finden, was sie vielleicht sogar schon getan haben?« »Chloe, hör mir zu«, beruhigte Buck sie. »Du hättest dir diese Jungs vielleicht einfach mal ansehen sollen. Sie waren nicht einmal misstrauisch. Vermutlich haben sie nur darüber gesprochen, dass das hier früher einmal eine Militärbasis gewesen ist. Sie wirkten überhaupt nicht angespannt, haben sich nicht einmal richtig umgesehen. Sie haben die Ventile entdeckt und sie überprüft, das war alles.« Chloe schüttelte den Kopf und sank auf einen Stuhl. »Ich hasse es, so zu leben.« »Ich auch«, seufzte Sebastian. »Aber welche Möglichkeiten haben wir? Die Weltgemeinschaft hat gestern in den Überresten von Los Angeles eine Enklave von Menschen gefunden, die das Zeichen nicht trugen. Sie haben mehr als zwei Dutzend hingerichtet.« Chloe schnappte nach Luft. »Gläubige?« »Ich glaube nicht. Normalerweise sagen sie es, wenn es sich um Judahiten handelt. Ich hatte den Eindruck, dass es eher ein Schlupfwinkel von irgendwelchen Milizgruppen gewesen ist. Etwas in der Art.« »Das sind die Menschen, die wir erreichen wollen«, sagte Chloe. »Und wir sitzen hier herum und können unser Gesicht nicht auf der Straße zeigen, ziehen Kinder groß, die fast nie die Sonne sehen. Gibt es nicht irgendeinen Ort mitten im Nichts, wo die Weltgemeinschaft uns nicht aufstöbern kann?« »Die beste Alternative wäre natürlich Petra«, bemerkte Buck. »Sie wissen, wer da ist, können aber nichts dagegen unterneh23
men.« »Dieser Gedanke gefällt mir immer besser. Aber wie auch immer, was werden wir wegen dem unternehmen, was gerade passiert ist?« Buck und Sebastian sahen sich an. »Kommt schon, Jungs«, sagte Chloe. »Du denkst, Priscilla hätte nicht gemerkt, dass du weg bist, und würde nicht fragen, wo du gewesen bist?« »Sie weiß, dass ich Wache habe.« »Aber hierher kommst du nur, wenn etwas los ist.« »Ich hoffe, dass sie weitergeschlafen hat.« Chloe erhob sich und setzte sich auf Bucks Schoß. »Seht mal, ich will wirklich nicht mit euch streiten … Buck, sag es ihm.« »Chloe Steele Williams will wirklich nicht mit uns streiten«, verkündete er. »Okay«, murmelte Sebastian. »Sie hätte mich durchaus täuschen können.« Chloe schüttelte den Kopf. »George, bitte. Du weißt, wie froh wir sind, dass du Teil der ›Tribulation Force‹ bist. Dein Talent ist von unschätzbarem Wert für uns und mehr als einmal hast du uns vor einer Katastrophe bewahrt. Aber alle, die hier leben, haben es verdient zu erfahren, was ihr heute Nacht gesehen habt. Das den Leuten zu verschweigen, so zu tun, als sei es nie geschehen, wird nichts an der Tatsache ändern, dass wir beinahe entdeckt worden wären.« »Aber wir wurden nicht entdeckt, Chloe«, wandte Sebastian ein. »Warum sollen wir die anderen in Aufregung versetzen?« »Wir sind doch bereits aufgescheucht worden! Ich bin den ganzen Tag mit diesen Frauen und Kindern zusammen. Selbst ohne die Schnüffler von der Weltgemeinschaft, die mitten in der Nacht direkt über unsere Köpfe hinwegtrampeln, leben wir wie die Präriehunde. Die Kinder kommen nur dann an die frische Luft, wenn sie zufällig aufwachen, bevor die Sonne aufgeht, und jemand sie nach draußen bringt. Ihr Jungs müsst euch wegschleichen und 30 Meilen fahren, um zu euren Flugzeugen 24
zu kommen, und das in der Hoffnung, dass ihr nicht verfolgt werdet. Ich sage nur, dass wir, wenn wir uns selbst verteidigen müssen, das Recht haben, darauf vorbereitet zu sein.« Rayford nahm sich vor, Tsion danach zu fragen. Was war an dieser Dunkelheit so Besonderes, dass die Opfer Schmerzen litten? Er hatte von Katastrophenszenarien gehört – Zugunfällen, Erdbeben, Schlachten –, bei denen die Helfer noch jahrelang nach der Katastrophe von den Schreien und dem Stöhnen der Verletzten verfolgt wurden. Während er zusammen mit Abdullah und den beiden jungen Leuten über die Landebahn schlich, betrachtete er die sich vor Schmerzen windenden Menschen. Offensichtlich wären diese lieber tot, als so zu leiden. Und einige waren bereits gestorben. Die Trümmer von zwei abgestürzten Flugzeugen blockierten zwei Landebahnen. Sie schwelten noch und viele verkohlte Leichen saßen noch auf ihren Sitzen. Während er sich von den Toten zu den Leidenden bewegte, wurde Rayford von seinen Gefühlen überwältigt. Das Jammern und Klagen der Menschen drang ihm wie ein scharfes Messer ins Herz. Er verlangsamte seine Schritte, wollte so gern helfen. Aber was konnte er tun? »Oh! Bitte!« Das war der Schrei einer Frau mittleren Alters. »Bitte, helft mir doch! Helft mir!« Rayford blieb stehen und starrte sie an. Sie lag auf der Seite auf dem Asphalt in der Nähe des Terminals. Andere wollten sie zum Schweigen bringen. Ein Mann rief: »Wir sind alle genauso orientierungslos und blind, Frau! Wir brauchen genauso Hilfe wie du!« »Ich habe Hunger!«, jammerte sie. »Hat jemand was zu essen?« »Wir haben alle Hunger! Halt den Mund!« »Ich möchte sterben.« »Ich auch!« 25
»Wo ist der Potentat? Er wird uns retten!« »Wann hast du den Potentaten das letzte Mal gesehen? Er hat seine eigenen Sorgen.« Rayford konnte sich nicht von der Szene lösen. Er hob den Blick, aber auch er konnte nur etwa sechs Meter weit sehen. Er hatte die anderen verloren. Abdullah kam wieder zurück. »Ich wollte Sie nicht mit Namen ansprechen, Captain, aber Sie müssen kommen.« »Mein Freund, ich kann nicht.« »Wollen Sie zum Flugzeug zurückgehen?« »Ja.« »Dann werden wir uns dort treffen.« Abdullah entfernte sich wieder, aber ihre leise Unterhaltung hatte die Schreie zum Verstummen gebracht. Jemand rief: »Wer ist da?« Ein anderer: »Wo geht er hin?« »Wer hat ein Flugzeug?« »Können Sie sehen?« »Was können Sie sehen?« Erneut war die Stimme der Frau zu hören: »O Gott, rette mich. ›Und ob ich schon wanderte –‹« »Halt den Mund da drüben!« »Gott ist groß und herrlich. Ich preise ihn mit Lobgesang –« »Dass ich nicht lache! Wenn du nicht für Licht sorgen kannst, halt den Mund!« »Gott! O Gott, rette mich!« Rayford kniete nieder und legte der Frau die Hand auf die Schulter. Mit einem Aufschrei entwand sie sich ihm. »Warten Sie!«, sagte er und griff erneut nach ihr. »Oh! Der Schmerz!« »Ich wollte Ihnen nicht wehtun«, entschuldigte er sich leise. »Wer sind Sie?«, stöhnte sie. Er entdeckte die Zahl 6, die für die Vereinigten Europäischen Staaten stand, auf ihrer Stirn. »Ein Engel?« 26
»Nein.« »Ich habe darum gebetet, dass er mir einen Engel sendet.« »Sie haben gebetet?« »Versprechen Sie, es niemandem zu erzählen. Ich flehe Sie an.« »Sie haben zu Gott gebetet?« »Ja!« »Aber Sie tragen Carpathias Zeichen.« »Ich verachte dieses Zeichen! Ich kenne die Wahrheit. Ich habe sie immer gekannt. Ich wollte nur einfach nichts damit zu tun haben.« »Gott hat Sie geliebt.« »Ich weiß, aber jetzt ist es zu spät.« »Warum haben Sie ihn nicht um Vergebung gebeten und sein Geschenk angenommen? Er wollte Sie retten.« Sie schluchzte. »Wie können Sie hier sein und so etwas sagen?« »Ich bin nicht von hier.« »Sie sind mein Engel!« »Nein, aber ich gehöre zu den Gläubigen.« »Und Sie können sehen?« »Genug, um klarzukommen.« »Oh, bringen Sie mich dahin, wo es etwas zu essen gibt. Bringen Sie mich in den Terminal zu den Snackautomaten. Bitte!« Rayford versuchte ihr aufzuhelfen, aber sie fuhr zurück. Ihr Körper schien in Flammen zu stehen. »Bitte, fassen Sie mich nicht an!« »Es tut mir Leid.« »Sie können mich am Ärmel halten. Sehen Sie den Terminal?« »Nur schemenhaft«, erwiderte er. »Ich kann Sie dorthin bringen.« »Bitte, Sir.« Sie rappelte sich auf und nahm seinen Jacken27
ärmel vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger. »Langsam, bitte.« Mit kleinen Schritten trippelte sie hinter Rayford her. »Wie weit ist es?«, fragte sie. »Keine hundert Meter.« »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, schluchzte sie. Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. »Ich werde Ihnen etwas holen«, schlug er vor. »Was möchten Sie?« »Irgendetwas«, erwiderte sie. »Ein Sandwich, einen Schokoriegel, Wasser – irgendetwas.« »Warten Sie hier bitte.« Sie lachte erbittert auf. »Sir, ich sehe nur Dunkelheit. Ich könnte nirgendwohin gehen.« »Ich bin sofort wieder da. Ich werde Sie schon finden.« »Ich habe gebetet, Gott möge meine Seele retten. Und wenn er das tut, werde ich sehen können.« Rayford wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Sie hatte selbst gesagt, dass es zu spät war. »Am Anfang …«, sagte sie. »Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt. Der Herr ist mein Hirte. O Gott …« Rayford rannte zum Terminal, bahnte sich den Weg zwischen den schmerzgepeinigten Menschen hindurch. Am liebsten hätte er ihnen allen geholfen, aber er wusste, dass dies nicht möglich war. Ein Mann lag quer vor der automatischen Tür und rührte sich nicht. Rayford stellte sich vor den elektrischen Impulsgeber und die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter. Doch der Mann blockierte sie. »Bitte bewegen Sie sich von der Tür weg«, forderte Rayford ihn auf. Der Mann war entweder tot oder er schlief. Rayford drückte stärker, aber die Tür ließ sich kaum bewegen. Schließlich warf er sich mit aller Kraft dagegen. Langsam wurde der Mann von der Tür fortgeschoben. Rayford hörte sein Stöhnen. Im Inneren fand Rayford die Verkaufsautomaten, doch als er 28
in die Tasche griff, um ein paar Münzen herauszuholen, musste er feststellen, dass die Automaten zerstört worden waren. Einige Leute hatten sich bis hierhin vorgetastet, die Automaten mit Gewalt aufgebrochen und den gesamten Inhalt herausgeholt. Rayford suchte nach irgendetwas, das sie vielleicht übersehen hatten. Doch er fand nur leere Flaschen, Dosen und Verpakkungen. »Wer ist da?«, fragte jemand. »Wo gehen Sie hin? Können Sie sehen? Ist irgendwo Licht? Was ist passiert? Werden wir alle sterben? Wo ist der Potentat?« Rayford eilte wieder nach draußen. »Wo gehen Sie hin?«, rief jemand. »Nehmen Sie mich mit!« Er fand die Frau auf dem Bauch liegend, ihr Gesicht in den Armen vergraben. Sie wurde von Schluchzern geschüttelt. Ihr Anblick zerriss ihm das Herz. »Ich bin wieder da«, sagte er leise. »Doch es gibt nichts zu essen. Es tut mir Leid.« »O Gott, o Gott und Jesus, hilf mir!« »Madam«, sagte er und griff nach ihr. Sie schrie auf, als er sie berührte, aber er drehte ihr Gesicht zu sich herum, sodass er ihre leeren, blinden, verängstigten Augen sehen konnte. »Ich ahnte es schon, bevor alle verschwunden sind«, schluchzte sie. »Und dann wusste ich es ganz genau. Bei jeder Plage und jedem Gericht drohte ich Gott mit der Faust. Er hat versucht, mich zu erreichen, doch ich habe mein eigenes Leben geführt. Ich wollte mich niemandem unterordnen. Aber vor der Dunkelheit habe ich immer Angst gehabt und Hunger ist mein schlimmster Albtraum. Ich habe meine Meinung geändert, möchte alles zurücknehmen …« »Aber das geht nicht.« »Es geht nicht! Es geht nicht! Ich habe zu lange gewartet!« Rayford kannte die Prophezeiung. Menschen, die Gott zu oft zurückgewiesen hatten, würden nicht mehr zu ihm kommen können, selbst wenn sie es wollten. Gott hatte ihre Herzen ver29
härtet. Aber diese Prophezeiung zu kennen bedeutete nicht, dass Rayford sie verstand. Und ganz bestimmt bedeutete es nicht, dass sie ihm gefallen musste. Sie stimmte nicht mit dem Bild des Gottes, den er kannte, überein. Der Gott, den er kannte, war liebevoll und gnädig und suchte nach Möglichkeiten, wie er jeden im Himmel willkommen heißen konnte. Er würde niemanden vor verschlossenen Toren stehen lassen. Rayford erhob sich und spürte, wie das Blut aus seinem Kopf strömte. Und in diesem Augenblick vernahm er ein Rauschen aus den Lautsprechern. »Hier spricht euer Potentat!«, ertönte wenig später Carpathias Stimme. »Seid guten Mutes. Habt keine Angst. Eure Qual ist bald vorüber. Folgt dem Klang meiner Stimme zum nächsten Lautsprecherturm. Essen und Getränke werden dorthin gebracht werden. Dort werdet ihr auch weitere Anweisungen bekommen.« »Lasst uns eine Abmachung treffen«, sagte Chloe. »Ich werde den Rest der Wache übernehmen, und ihr erklärt euch bereit, morgen früh allen anderen von unserem Besuch heute Nacht zu erzählen.« Buck blickte George an, der auf ihn deutete. »Du trägst hier die Verantwortung, wenn dein Schwiegervater fort ist, Kumpel.« »Nur, weil ich länger dabei bin. Ich beuge mich deinen militärischen Kenntnissen.« »Das ist keine Schlacht, Mann. Hier geht es um Öffentlichkeitsarbeit. Aber wenn du meinen Rat hören willst: Ich würde sagen, tu, was du willst, aber tue es richtig. Sag ihnen: ›Es ist nur fair, dass wir euch darüber informieren, dass wir in der Nacht Soldaten der Weltgemeinschaft hier gesehen haben, aber nach unserer Einschätzung müssen wir uns keine Sorgen machen.‹« »Ist das fair, Chloe?«, fragte Buck. 30
Sie nickte. »Ich würde lieber beten und die Munition austeilen, aber ja. Behandelt alle wie Erwachsene, dann werden sie ihr Bestes geben.« »Wenn du wirklich Wache hältst, Chloe«, sagte Sebastian, »dann gehe ich jetzt nach Hause und stelle mein Funkgerät ab.« »Abgemacht.«
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2 Wer auch immer sich darüber Gedanken gemacht hatte, wie er die verängstigten Bewohner von Neu-Babylon versammeln könnte, ging davon aus, dass die über die Lautsprecher gespielte Musik sie schon zu den Lautsprechertürmen locken würde. Während nun Leon Fortunato, Nicolai Carpathias rechte Hand, beruhigend auf sie einredete – »Bewegt euch vorsichtig, loyale Untergebene. Helft einander. Meidet Gefahren.« –, wurde im Hintergrund eine von einem 500 Stimmen umfassenden Chor aufgenommene Version der Hymne von »Heil dir, Carpathia« gespielt: Heil dir, Carpathia, unser Herr und auferstandener König. Heil dir, Carpathia, er herrscht über alles. Wir beten ihn an bis zum Tod; er ist unser geliebter Nicolai. Heil dir, Carpathia, unser Herr und auferstandener König. Rayford hasste dieses Lied. Nahezu alle zwei Stunden wurde es von den Sendeanstalten der Weltgemeinschaft über das Radio gesendet. Carpathia bestand darauf, dass es bei jedem seiner öffentlichen Auftritte gesungen wurde. Die organisierten Paraden und Versammlungen zu seinen Ehren begannen und endeten immer mit diesem Lied. Doch hier geschah etwas Seltsames. Zwar erhoben sich die Menschen und bewegten sich quälend langsam zu den Lautsprechertürmen, doch niemand sang mit. »Denkt daran«, sagte Fortunato mit gepresster Stimme, und Rayford vermutete, dass auch er Schmerzen litt, »diejenigen von uns, die euch dienen, die euch Wasser und Nahrungsmittel bringen, können auch nicht sehen und sind auf die Orientierung durch die Durchsagen und die Musik angewiesen. Bitte habt Geduld und lasst die Schiebewagen durch. Wenn wir alle zu32
sammenarbeiten, wird für jeden genug da sein. Und da das Bild unseres allerhöchsten Potentaten im Augenblick nicht sichtbar ist, lasst uns als Zeichen unserer Anbetung gemeinsam mit dem Chor die Hymne singen.« Die Menschen in Rayfords Umgebung fühlten sich durch Fortunatos Worte augenscheinlich nicht ermutigt. »Ich werde nicht singen«, sagte jemand. »Tod dem Potentaten!« »Pass auf, was du sagst«, warnte ein anderer. »Du bringst dich in Teufels Küche!« »Carpathia kann genauso wenig sehen wie wir anderen! Er weiß also nicht, wer das gesagt hat.« »Er ist kein Sterblicher. Ich würde das Schicksal nicht herausfordern!« »Was hat er denn in letzter Zeit für dich getan?« Rayford nahm an, dass es den Menschen im Inneren des Palastes besser ging. Sie konnten sich wenigstens zu ihren Wohnungen, der Dusche, ihren Betten und Kühlschränken vortasten. Viele der Menschen, die sich im Freien aufhielten, fanden nicht einmal wieder den Weg hinein. Rayford konnte nur erahnen, welche Desorientierung überall herrschte, wo niemand sehen konnte. Selbst seine eingeschränkte Sehfähigkeit war schon frustrierend. »Es gibt zwölf unterschiedliche Lautsprechertürme«, fuhr Fortunato fort. Zum Glück wurde die Musik leiser gedreht, während er redete. »Wenn die Vorräte eingetroffen sind, verhaltet euch bitte so geordnet wie möglich. Nennt euren Namen, damit unsere Mitarbeiter ihn auf Audiodisk aufnehmen können. Dann bekommt ihr eure Ration Essen und Wasser.« »Wir wollen auch Antworten haben!«, rief jemand, als könne Fortunato ihn verstehen. »Was ist das? Wie lange wird es dauern? Warum haben wir Schmerzen?« Chloe wusste, wie Ming Toy am folgenden Morgen auf diese 33
neue Gefahr reagieren würde. Sie und Ree Woo würden auf der Stelle heiraten wollen. Alle außer Chloe hatten versucht, den beiden diese Sache auszureden, aber Ming hatte schon alles geplant. Tsion Ben-Judah sollte die Trauung über Video von Petra aus vornehmen. »Ich weiß, es ist von einem so wichtigen und beschäftigten Mann viel verlangt«, vertraute sie Chloe an. »Aber die Trauung wird nur ein paar Minuten dauern.« »Ich denke, er wird es machen«, hatte Chloe ihr geantwortet. »Wenn ich er wäre, würde ich es tun.« Dieselben Leute, die Ming und Ree wegen der vorgerückten Stunde auf dem prophetischen Kalender von einer Heirat abrieten, hatten Chloe und Buck davor gewarnt, während der Trübsalszeit ein Kind zu bekommen. Aber bestimmte Dinge waren wirklich Privatsache. Chloe konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie Buck nicht geheiratet hätte, obwohl sie wusste, wie wenig Zeit ihnen noch blieb. Und sie konnte sich auch ein Leben ohne ihren kleinen Sohn nicht mehr vorstellen. Wenn Ming und Ree ein Jahr vor der Wiederkunft Christi heiraten wollten, dann war das doch ihre Angelegenheit. Es war ja nicht so, als wüssten sie nicht, was auf sie zukam. In dieser Phase der Menschheitsgeschichte noch eine Familie zu gründen war jedoch eine andere Sache, aber auch das ging sie nichts an, es sei denn, Ming fragte sie um Rat. Buck schien nach ihrem Gespräch innerhalb von wenigen Sekunden wieder eingeschlafen zu sein. Sicher hatte George Sebastian Recht gehabt mit seiner Annahme, dass seine Frau die Aufregung verschlafen hatte. Priscilla hatte immer etwas zu tun, war immer in Bewegung. Sie stand schon vor Tagesanbruch auf und ihre Gesundheit ließ sehr zu wünschen übrig. Häufig wirkte sie müde und in der Regel war sie schon gegen neun Uhr im Bett. Chloe war froh, Wache halten zu können, und wenn schon aus keinem anderen Grund, dann um Buck einmal eine Nacht 34
Ruhe zu gönnen. Drei Nächte hintereinander hatte er nun schon Wache gehalten. Sie genoss die Routine, behielt den Bewegungsmelder im Blick und überwachte das Gelände durch das Periskop. Ihre Tagesarbeit war hektisch und verlangte ihr viel ab. Sie verbrachte fast den gesamten Tag am Computer, hielt den Kontakt zu den Lieferanten und koordinierte die Transporte der Lebensmittel und anderer Lieferungen auf der ganzen Welt. Auf diese Weise blieb sie über das Weltgeschehen auf dem Laufenden, doch die Nachrichten, die sie über ihre verborgenen Kanäle erhielt, verschlimmerten sich zusehends. Immer mehr Kontaktpersonen wurden aufgespürt, von Soldaten der Weltgemeinschaft bei nächtlichen Razzien oder an neu aufgebauten Kontrollstellen geschnappt. Sobald festgestellt wurde, dass diese Lieferanten das Loyalitätszeichen Carpathias nicht trugen, wurden sie hingerichtet. Ein Augenzeuge berichtete, der Fahrer eines großen LKW, der mit norwegischen Ausgaben von Bucks Zeitschrift »Die Wahrheit« beladen war, habe verhindern wollen, dass seine Ladung in die Hände der Weltgemeinschaft fiel. Er hatte die Wachen am Kontrollpunkt so lange abgelenkt, bis seinem Beifahrer die Flucht gelungen war. Dann habe er den Wagen eine Böschung hinunter in einen Fjord rollen lassen. Die Moralüberwacher hatten ihn erschossen. Chloe hörte auch Nachrichten über Dissidenten auf der ganzen Welt – vorwiegend Juden –, die in Konzentrationslager gebracht und dort erbarmungslos gefoltert wurden. Doch man ließ sie nicht sterben; ganz bewusst wurden sie am Leben erhalten. Gelegentlich gab es Berichte über das wundersame Eingreifen Gottes. Zum Beispiel erschien ein Engel an einer Guillotine und warnte die noch Unentschiedenen vor den Konsequenzen, die die Annahme von Carpathias Zeichen mit sich bringen würde. Abgesehen von der Tatsache, dass es mittlerweile 35
nichts mehr nutzte, das Zeichen anzunehmen – die Nachzügler wurden in jedem Fall zu Tode gebracht –, hatte der Engel die Unentschlossenen angefleht, sich für Christus zu entscheiden und sich retten zu lassen. Und viele hatten es getan. Chloe legte sich ein Tuch um die Schultern und spähte in Kennys Zimmer. Er atmete noch immer tief und langsam. Sie legte noch eine Decke über ihn. Er rührte sich nicht. Sie schloss seine Zimmertür, überprüfte den Bewegungsmelder und setzte sich dann vor das Periskop. Da es keine Hinweise darauf gab, dass sich irgendjemand auf dem Gelände aufhielt, konnte sie es ausfahren und drehen. Es gefiel ihr, diese hochmoderne Vorrichtung in ihrer Wohnung zu haben. Es befriedigte ihr inneres Bedürfnis, ihre Familie und Freunde, die mehr als 200 Menschen, zu schützen – »zu kontrollieren«, hätte Buck sicher gespottet –, die jetzt in San Diego im Untergrund lebten. Alle hofften, bis zur Wiederkunft Christi zu überleben, aber mehr noch: aus ihrer beengten Behausung heraus irgendetwas bewirken zu können. Ein besonderer Vorteil des Periskops lag darin, dass der Beobachtende sich nicht zu bewegen brauchte. Durch einen einfachen Schalter an den Handgriffen wurde die Vorrichtung ausgefahren und wieder eingezogen; auch konnte man sie dadurch in jede Richtung drehen. Chloe wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele Spiegel dafür benötigt wurden. Während sie ihre Stirn an das Okular legte, sich entspannte und ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnte, bemerkte sie, dass George Sebastian das Periskop zu ebener Erde und nach Westen ausgerichtet zurückgelassen hatte. Die oberen Linsen waren mit falschen Büschen getarnt. Sie konnten fast zwei Meter ausgefahren werden, aber es war wichtig, zuvor die Umgebung zu ebener Erde zu überprüfen, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war, der auf das Periskop aufmerksam werden konnte. Das Fernrohr konnte in einer geschmeidigen Bewegung in 36
fast jeder Geschwindigkeit gedreht werden, aber es war besser, es langsam zu drehen. Die Augen konnten sich schneller anpassen und der Benutzer bekam keine Schwindelgefühle. Chloe drehte das Rohr immer nur etwa einen Zentimeter weiter. Mit jedem Druck auf den kleinen roten Knopf am linken Griff drehte sich die Linse um einen Zentimeter und zeigte ihr einen neuen Ausschnitt von 45 Grad; das bedeutete, dass sie mit acht Drehungen die 360 Grad abdecken konnte. Da sie im Westen nichts wahrnehmen konnte, schwenkte Chloe das Periskop nach rechts. In Kalifornien war es kurz nach drei Uhr morgens. Rayford hatte sich etwa eine Viertelmeile vom Terminal entfernt. Überall traf er auf Männer und Frauen, die zwar jünger waren als er, sich aber mit dem schmerzgepeinigten Gang älterer Leute fortbewegten. »In unseren Bemühungen, Sie über alles auf dem aktuellen Stand zu halten«, verkündete Fortunato, »möchten wir einige ermutigende Neuigkeiten weitergeben. Zwar ist es nach wie vor so, dass in Neu-Babylon kein Licht existiert, doch dieses irritierende Phänomen hat keinerlei Auswirkungen auf unsere Telefon- oder Funkübertragung. Unsere Heiz- und Kühlsysteme funktionieren weiterhin. Sogar die Herde sind betriebsbereit, solange sie nicht durch Sonnenenergie gespeist werden. Elektro- und Gasherde funktionieren und geben Hitze ab, darum seien Sie extrem vorsichtig, wenn Sie sich durch Räumlichkeiten bewegen. Piloten, die von Neu-Babylon abgeflogen sind oder die Stadt angesteuert haben, berichten, dass diese Dunkelheit allein auf die Stadt beschränkt ist. Da wir nicht wissen, wie lange sie andauern wird, sollten Sie einem Weg folgen, der aus der Stadt hinausführt. Irgendwann werden Sie ins Licht kommen.« Überall in seiner Umgebung vernahm Rayford entschlossene Stimmen. 37
»Ich gehe«, sagte jemand. »Ich auch. Ich weiß zwar nicht, wohin, aber ich werde irgendwie ins Licht kommen.« »Hat nicht irgendjemand einen Kompass für Blinde? Ohne so etwas werden wir im Kreis laufen.« »Achtung, Achtung«, ertönte Fortunatos Stimme erneut, »alle Angestellten in Führungspositionen treffen sich um 15 Uhr im Büro des Potentaten.« Rayford blickte auf die Uhr. Es ist jetzt Viertel nach eins. Wie wollen sie das bis drei Uhr schaffen? »Verwendet Audio-Uhren«, schlug Fortunato vor. »Wir haben jetzt 13 Uhr 15. Um 14 Uhr 30 werden wir alle Lautsprecher abschalten mit Ausnahme des Lautsprechers am Westeingang des Palastes. Folgt den Geräuschen und ihr werdet den Weg zum Büro des Potentaten finden. Die Aufzüge sind in Betrieb. Der untere rechte Knopf bringt euch ins oberste Stockwerk. Die Teilnahme ist zwingend vorgeschrieben, aber auf die Mitarbeiter der höchsten Führungsebene begrenzt.« »Ich gehe eh weg«, sagte jemand. »Ich auch. Ich will der Sache auf den Grund gehen.« »Herausfinden, was los ist.« »Ich denke, er ist Mensch gewordener Gott; warum kann er nichts dagegen unternehmen?« Rayford blinzelte, dann blinzelte er noch mal. In der Ferne glaubte er ein Licht zu erkennen. Er entfernte sich immer weiter vom Flugzeug und von Chang, Naomi und Abdullah, aber schlimmstenfalls konnte er den Menschen um halb drei zum Palasteingang folgen und von dort aus seine Leute suchen. Im Augenblick musste er jedoch nachsehen, was es mit dem Licht auf sich hatte. Chloe hatte das Periskop mittlerweile viermal komplett geschwenkt und sah nun nach Osten. Während sie die dunkle Landschaft betrachtete, entdeckte sie zwei kleine Lichter. Sie 38
hielt die Luft an, als diese größer wurden. Was auch immer das war, es kam näher. Schon bald wurde deutlich, dass es sich dabei um einen Wagen oder Lastwagen handelte. Er hielt etwa einen Straßenzug von dem Gelände entfernt an und wendete. Jetzt sah sie nur die roten Rücklichter. Und dann blieb er stehen. Zehn Minuten lang, dann noch mal fünf. Chloe schwenkte etwas eiliger weiter. Nichts. Noch einen Schwenk und sie hatte wieder die östliche Sektion und den wartenden Wagen erreicht. Auf keinen Fall würde sie deswegen Buck aufwecken. Es war ja nicht so, als ob sie mit Verkehr rechneten. Aber hier gab es nur wenig anderes und ganz bestimmt nichts, wegen dem man zu dieser Nachtzeit stehen bleiben musste. Chloe wünschte, das Periskop hätte auch eine Teleskopfunktion, damit sie sich das Fahrzeug näher betrachten und nachsehen könnte, ob jemand ausstieg. Der Fahrzeugschacht des Bunkers wurde nur in der Nacht geöffnet, wenn sie sicher waren, dass sich niemand in der Nähe befand. Er lag nach Osten. Ob sie es wagen konnte, sich die Sache etwas näher anzusehen? Wenn die Lichter im Inneren ausgeschaltet blieben, konnte sie durch die kleine Tür im Tor nach draußen spähen und befände sich somit 100 Meter näher an dem geheimnisvollen Lastwagen. Und es war ja nicht so, als würde sie sich tatsächlich hinauswagen. Chloe nahm einen schwarzen Pullover mit einer Kapuze aus dem Schrank und zog ihn über ihren Schlafanzug und ihr Sweatshirt. Über ihre dicken Wollsocken schnürte sie ihre hohen Wanderstiefel. Sie nahm das Maschinengewehr mit, verzichtete jedoch auf das Funkgerät. Auf keinen Fall wollte sie sich durch irgendeinen unbeabsichtigten Funkspruch verraten. Und sie hatte auch nicht die Absicht, sich in eine Situation zu bringen, in der sie um Hilfe rufen musste. Das Gewehr war nur 39
zu ihrer Beruhigung gedacht. Genau wie das Gebet: »Herr, hilf mir oder vergib mir, je nachdem.« Leise öffnete Chloe noch einmal Kennys Tür. Dieser hatte sich noch immer nicht gerührt. Sie berührte seine Wange. Feucht vom Schlaf, aber angenehm warm. Sie küsste ihn auf die Stirn. Kühl und weich. Sie zog seine Tür hinter sich ins Schloss und ging zu ihrem Bett hinüber. Buck schlief tief und fest. Sie kniete sich auf die Matratze neben seinen Bauch und beugte sich über ihn, um ihm einen KUSS zu geben. Wenn er nicht im Tiefschlaf gewesen wäre, hätte ihn das aufgeweckt. In der Dunkelheit war Chloe verblüfft über den Kontrast zwischen ihrer dunklen Kleidung und ihrer Haut, die kaum jemals an die Sonne kam. Sie suchte Handschuhe und eine Skimaske heraus, und als sie den Korridor betrat, der an den anderen unterirdischen Quartieren vorbei zum Fahrzeugdeck führte, schwitzte Chloe bereits. Ihre Räume befanden sich in der Mitte des Komplexes. Die anderen waren in den übrigen vier Flügeln untergebracht. Sie schlich an Sebastians Unterkunft vorbei, den Räumen von drei weiteren Familien, an einer Reihe von Räumen, die von allein stehenden Männern bewohnt wurden, unter anderem von Ree Woo und ihrem Vater, zwei weiteren Familienquartieren und dann an einem Teil, der von Familien und allein stehenden Frauen bewohnt wurde. Dort hatte auch Ming ihr Zimmer. Alle wussten, dass George heute Nacht Wache hielt und dass Buck Williams, der in Rayfords Abwesenheit die Verantwortung trug, ihn ablösen würde. Sicher schliefen deshalb alle so tief und fest. Rayford löste sich von der Menge und ging auf das Licht zu. Bildete er es sich nur ein? Im Umkreis von sechs Metern verschwamm alles, und niemand in seiner Nähe schien irgendetwas sehen zu können, geschweige denn das, was er sah. Je näher er kam, desto stärker hatte er den Eindruck, das Licht sei 40
die Silhouette einer Person, aber er konnte nichts anderes erkennen und schätzte, dass das Licht noch immer etwa 50 Meter entfernt war. Als er noch im Palast gearbeitet und in der Nähe gelebt hatte, waren in diesem Bereich die Garagen und der Wagenpool untergebracht gewesen. Hatte jemand einen Weg gefunden, irgendwie Licht zu schaffen? Rayford hatte kleine Gruppen von humpelnden Menschen hinter sich gelassen und jetzt schien sich nichts mehr zu befinden zwischen ihm und diesem … diesem was? Dieser Erscheinung? Aus der Entfernung wirkte das Licht einfach nur hell, doch schon bald konnte er die Farbe besser erkennen. Zuerst rot, dann gelblich und schließlich ein tiefdunkles Orange. Ja, eindeutig ein Mann, groß und schlank. Und er bewegte sich. Andere hielten sich in seiner Nähe auf, nutzten sein Licht, um an den Fahrzeugen zu arbeiten. Sie schienen wie alle anderen auch unter Schmerzen zu leiden, aber sie arbeiteten mit einem Eifer, als gäbe das Licht ihnen Kraft. Der Mann schien so weit sehen zu können, wie sein Licht strahlte, etwa einen Meter. Jeder, der Licht brauchte, musste folglich so nah an ihn herankommen. Rayford erkannte Carpathia. Dr. Ben-Judah hatte immer wieder gelehrt, dass dieser Mensch zuerst als lügende Schlange auftreten würde, dann als brüllender Löwe und schließlich als Engel des Lichts. Rayford musste ein Lachen unterdrücken. Der Teufel in Nicolai wünschte bestimmt, er könnte mehr Licht aussenden als diesen jämmerlichen Schein, der es ihm gestattete, nur diejenigen zu erkennen, die sich in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten. Rayford ging weiter, bis er die kleine Gruppe außerhalb des Kreises von Mechanikern erreichte, die versuchten, einige Wagen für einen Zweck herzurichten, über den er noch nichts wusste. »Alle Systeme betriebsbereit?«, fragte Carpathia. »Ja, Potentat. Der Jeep ist einsatzbereit.« 41
»Schalten Sie die Lichter ein.« Der Mechaniker kam seiner Aufforderung nach. »Sie hören den Fluss im elektrischen System, der Saft fließt also, Exzellenz, aber wie Sie sehen können –« »Wie wir alle sehen können oder vielmehr nicht«, beendete Carpathia seinen Satz, »keine Lichter. Nun, wenn es sein muss, werde ich vor dem Konvoi herlaufen, bis wir auf dem Weg nach Al Hillah die Dunkelheit hinter uns gelassen haben. Mir ist egal, wie lange das dauert.« Was für eine Strategie war das? Die Führungsebene wird sich in Carpathias Büro treffen und dann wird er sie nach Al Hillah führen? Aus welchem Grund? Und was war mit den Menschen, die in Neu-Babylon zurückblieben? Würden sie sich ihnen nicht anschließen wollen, um Erleichterung von ihren Schmerzen zu finden? »Was ist denn in Al Hillah los?«, fragte Rayford. »Wer fragt da?«, erwiderte Carpathia. »Und warum sprechen Sie mich nicht mit meinem Ehrentitel an?« Nicolai sah in Rayfords Richtung, aber offensichtlich konnte dieser auch nicht weiter sehen als alle anderen, die sich innerhalb seiner höllischen Aura befanden. Während Nicolai vortrat, wich Rayford zurück und ging nach links, dann trat er hinter Carpathia. »Ja«, wiederholte Rayford mit leicht verstellter Stimme. »Was ist in Al Hillah, o Großer?« Carpathia wirbelte herum und Rayford entwich erneut. »Ich habe mit dem ersten Fragesteller gesprochen! Wer hat die Frage gestellt?« »Vielleicht ist er voller Furcht entflohen«, erklärte Rayford mit tiefer Stimme, »Exzellenz.« Das könnte lustig werden. Chloe wusste, dass der lange Korridor zum Fahrzeugdeck meist kalt und feucht war, und vielleicht war das auch jetzt der 42
Fall. Aber in ihrer Erregung ging sie mit raschen Schritten zur Haupttür, vorbei an den Fahrzeugen und zu den Türen, die sich zu ebener Erde öffnen ließen. Ihr war unangenehm warm geworden. Sie zog Handschuhe und Skimaske aus und machte sich Vorwürfe, dass sie sie übergestülpt hatte, bevor sie sie brauchte. Chloe zog den Reißverschluss ihres Pullovers auf und fächelte sich Luft zu. Den Rücken an die Mauer zwischen dem großen Tor und der kleinen Tür gelehnt, blieb sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Es gab Chloe ein köstliches Gefühl der Freiheit, so dicht an der Erdoberfläche zu sein. Und es war nur noch ein knappes Jahr bis zur wahren Freiheit! Ihre Knie brannten nach der Anstrengung, darum glitt sie zu Boden und streckte die Beine aus. Sie legte ihre Waffe zur Seite, griff nach ihrer Stiefelspitze und streckte abwechselnd das rechte und linke Bein. Trotz ihrer zahllosen ernsten Verletzungen hatte sie in Griechenland zeigen können, dass sie noch immer bemerkenswert in Form war. Darauf war sie stolz. Sie zog den Reißverschluss wieder hoch, stülpte die Skimaske über das Gesicht, schlüpfte in die Handschuhe und legte sich den Riemen des Maschinengewehrs über die Schulter, sodass die Waffe in ihrer rechten Hand lag. Dann erhob sie sich und wandte sich zur Tür. Das Tor durfte sie nicht öffnen. Hier ging es um alles oder nichts. Die daran befestigte Erde und das Buschwerk würden sich bewegen und das Tor war entweder ganz offen oder geschlossen. Die kleine Tür war zwar genauso getarnt, doch sie konnte langsam und nur einen Spalt weit geöffnet werden, wenn sie dies wollte. Sie schaltete das Licht aus und erfasste den Türgriff. Rayford eilte zum Palast. Er wollte nach den anderen sehen und ihnen von seinem Plan erzählen. In den vergangenen sechs Jahren hatte er mehr bizarre Dinge erlebt, als er sich je hätte 43
vorstellen können, und wenn auch viele größer, lauter und wilder gewesen waren, so war dies doch etwas Besonderes. Diese armen Menschen! Sicher, sie hatten ihre Entscheidung getroffen, und, ja, sie hatten die Gelegenheit gehabt, sich Gott zuzuwenden. Aber welchen Preis mussten sie gerade dafür bezahlen! Sie wurden von Schmerzen gequält. Immer mehr Menschen kamen in sein Blickfeld. Viele waren tot. Andere saßen auf dem Boden und weinten. Alle hatten den Versuch aufgegeben, irgendetwas erkennen zu wollen. Sie sahen nur Dunkelheit, die ihnen jegliche Orientierung raubte. Diejenigen, die versuchten, der Musik oder Fortunatos Stimme zu folgen, humpelten oder schlurften mit nach vorn oder zur Seite ausgestreckten Armen weiter in die eine oder andere Richtung, als seien sie betrunken. Sie rannten ineinander, prallten gegen Gebäude, sie stolperten über Müll, und viele hatten einfach keine Energie mehr, wurden langsamer, blieben stehen und taumelten. Rayford hätte gern geholfen, aber er konnte nichts für sie tun. Auf seinem Weg zu Changs Quartier kam Rayford eine Idee. Er blieb im Aufzug und erreichte das oberste Stockwerk des Palastes. Dort schlich er an mehreren Angestellten vorbei, die telefonierten oder vor ihren Computern saßen und versuchten, irgendetwas zu diktieren. Aber natürlich konnten sie nicht überprüfen, ob ihre Nachrichten durchkamen. Bei den Telefonaten ging es immer um das eine Thema. Carpathia hatte seit der Zeit, als Rayford noch für ihn gearbeitet hatte, seine Assistentin gewechselt. Chang hatte ihm ihren Namen genannt. Er nahm an, dass sie es war, die im Vorzimmer von Carpathias neuem Büro am Schreibtisch saß und telefonierte. Rayford bemerkte, dass sie zusammenzuckte, als sie hörte, wie er sich auf einer Besuchercouch niederließ, aber er sagte nichts, und sie führte ihr Gespräch zu Ende. »Ich weiß es nicht«, jammerte sie. »Ich soll versuchen, so weiterzumachen, als hätte ich keine Schmerzen. Aber ich habe 44
Schmerzen, Mom, wie alle anderen auch. Ich kann kaum etwas tun, außer wenn er hier ist, denn er strahlt irgendwie einen besonderen Schein aus, und dann finde ich wenigstens ein paar Dinge. Aber er hat eine Sitzung der höchsten Führungsebene anberaumt und sie planen irgendeine Pilgerreise … Nein, ich muss nicht mit und ich will auch gar nicht. Er hat nicht einmal den Mitarbeitern gesagt, dass ihre Chefs gehen. Ohh! Aua … ach, ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Krämpfe, denke ich. Kopfschmerzen, wie ich sie noch nie erlebt habe, und Schwindel …« Sie schien Amerikanerin zu sein, aber sie hatte Rayford den Rücken zugewandt, sodass er die Zahl auf ihrer Stirn oder ihrer Hand nicht erkennen konnte. »Und ich habe das Gefühl, als läge eine schwere Last auf meinen Schultern, die mich herunterdrückt. Meine Hüften tun weh, meine Knie, Knöchel, Füße. Wie deine Arthritis, denke ich. Aber, Mom, ich bin erst 36 Jahre alt. Ich fühle mich wie 75 … Ja, ich esse. Ich taste mich zu meiner Wohnung, und das gelingt mir auch, aber wenn ich mich hinlege, möchte ich 100 Jahre lang schlafen. Doch ich kann nicht … Nun, wegen der Schmerzen! In keiner Position kann ich liegen. Es ist, als würde sich diese Dunkelheit auf mich legen und alle diese Schmerzen verursachen. Und das geht allen so.« Rayford bewegte sich und die Frau erstarrte. »Einen Augenblick, Mom.« Sie wandte sich um. Rayford konnte die »6« auf ihrer Stirn erkennen. Er hatte richtig geraten. Die Vereinigten Nordamerikanischen Staaten. »Ist da jemand? Kann ich Ihnen helfen?« Er war versucht, ihr zu sagen, er habe einige Fragen zur Sitzung, er könnte jedoch warten, bis sie ihr Gespräch zu Ende geführt hatte. Aber sie würde seine Stimme nicht erkennen und misstrauisch werden. Gern würde er beruhigend auf sie einreden, ihr etwas sagen, das Jesus sagen würde. Aber ihr war jetzt nicht mehr zu helfen. Noch nie hatte sich Rayford so hilflos 45
gefühlt. »Tut mir Leid, Mom«, entschuldigte sie sich. »Jetzt höre ich schon irgendwelche Geräusche. Ich mache jetzt besser Schluss. Gleich beginnt diese Sitzung, und ich weiß nicht einmal, was er will. Niemand kann irgendetwas lesen, wenn er es nicht in sein Licht hält, und es werden 20 Teilnehmer erwartet … Ja, 20 … Ich weiß … ja, wir waren einmal 36. Stell dir das vor. Aufregend? Nein. Schon lange nicht mehr. Er ist nicht der Mann, für den ich ihn gehalten habe … Er ist gemein, grausam, bösartig, egoistisch, selbstsüchtig. Ich schwöre, ich würde ein Wörterbuch brauchen … Ich kann nicht! … Nein! Natürlich kann ich nicht! Wohin sollte ich gehen? Was würde ich tun? Er weiß, was ich weiß, und er würde mich niemals aus seinen Fängen lassen … Nein, jetzt muss ich damit leben … Ich weiß nicht, Mom. Das kann kein gutes Ende nehmen. Mir ist es mittlerweile egal. Der Tod wird eine Erleichterung sein … Tut mir Leid, aber ich meine es ernst … Nicht doch, Mom. Ich werde nicht übereilt handeln … Ich weiß. Wir alle haben das. Alle außer Onkel Gregory, schätze ich. Er hält noch immer durch, oder? … Wie lebt er? Du weißt, was passiert, wenn er entdeckt wird … Nein, sag es mir nicht. Ich möchte es nicht wissen. Es ist besser, wenn ich nichts weiß, falls jemand fragt. Sag ihm einfach, ich sei stolz auf ihn und er solle durchhalten. Und du und Dad, ihr müsst auch vorsichtig sein. Wenn ihr dabei erwischt werdet, dass ihr ihm helft …« Rayford vernahm Schritte auf dem Flur und sie hörte sie offensichtlich ebenfalls. »Muss jetzt Schluss machen, Mom. Bleib gesund.« Sie legte den Hörer auf und drehte sich um, als die Tür geöffnet wurde. Ein großer, knochiger Mann von etwa 50 Jahren starrte Rayford mit aufgerissenen Augen an. Ihm blieb der Mund offen stehen. Er deutete auf Rayfords Stirn und Rayford bemerkte auch an dem Neuankömmling das Zeichen der Gläubigen. 46
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Carpathias Assistentin. »Wer ist da?« Rayford legte den Finger an die Lippen und deutete in den Flur. Lautlos formte er die Worte »In fünf Minuten«. Der Mann schloss die Tür und rannte davon. Die Frau zuckte die Achseln. »Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben«, murmelte sie, »wer immer Sie sind.« »Wer immer es war, er ist gegangen«, entgegnete Rayford. Sie fuhr zusammen. »Und wie lange sind Sie schon hier?« »Lange genug, um über Ihren Onkel Gregory Bescheid zu wissen.« »Ich bin ja so blöd! Ich kenne Sie nicht, oder?« »Nein.« »Sie gehören nicht zur Führungsebene?« »Nein.« »Ist jemand bei Ihnen?« »Nein, Krystall.« »Woher kennen Sie meinen Namen?« »Ich kann Ihrem Onkel helfen.« »Wenn Sie jemandem davon erzählen, werde ich alles leugnen.« »Möchten Sie nicht, dass er Hilfe bekommt?« »Sie wollen mir nur eine Falle stellen.« »Das stimmt nicht. Wenn ich zur Weltgemeinschaft gehören würde, könnte ich nichts sehen, oder?« »Sie können nicht sehen.« »Das kann ich doch. Und ich kann es beweisen. Ihre Kleidung passt farblich nicht zusammen.« »Damit führen Sie mich nicht hinters Licht. Ich kann ja nichts sehen. Im Augenblick ziehe ich mich nach Gefühl an, wie alle anderen auch.« »Mein Fehler. Halten Sie Finger in die Höhe; ich werde Ihnen sagen, wie viele es sind … Drei und Ihre rechte Hand ist mir zugewandt. Sie halten den kleinen, den Ring- und den Mit47
telfinger in die Höhe.« »Woher wissen Sie das?« »Sie meinen, wieso ich sehen kann?« »Sie können nicht sehen.« »Und woher weiß ich dann, dass Sie mir jetzt sechs Finger zeigen, alle fünf an Ihrer linken Hand und den Zeigefinger Ihrer rechten? Sie haben mir den Handrücken zugewandt. An Ihrem Gesichtsausdruck merke ich, dass Sie sich langsam überzeugen lassen. Jetzt haben Sie Ihre Hände unter dem Schreibtisch versteckt.« Krystall presste die Lippen aufeinander, und Rayford hatte den Eindruck, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Er erhob sich. »Bleiben Sie, wo Sie sind«, warnte sie ihn mit zitternder Stimme. Rayford trat hinter sie. »Das würde doch keinen Spaß machen«, sagte er. Sie fuhr zusammen und wirbelte auf ihrem Stuhl herum. »Jetzt kann ich Ihre Hände wieder sehen«, bemerkte er. »Sie sind auf Ihrem Schoß zusammengeballt, die Daumen zeigen nach oben.« »Also gut, Sie können mich sehen. Wieso?« »Weil diese Dunkelheit ein Fluch Gottes ist und ich zu ihm gehöre.« »Meinen Sie das ernst?« »Ich kann Ihrem Onkel helfen, Krystall.« »Wie?« »Wollen Sie damit sagen, dass er das Zeichen noch nicht angenommen hat?« »Und wenn das so wäre?« »Dann ist es noch nicht zu spät für ihn. Glaubt er an Christus?« »Ich glaube nicht. Ich denke, er ist einfach nur ein Rebell.« »Ein glücklicher, wenn er schnell handelt.« »Wenn Sie denken, Sie könnten mich dazu bringen, Ihnen zu sagen, wo er sich versteckt, dann sind Sie –« 48
»Das brauche ich nicht zu wissen. Sie wären töricht, wenn Sie es riskieren würden, es mir zu verraten, und außerdem haben Sie Ihrer Mutter doch gerade gesagt, sie solle seinen Aufenthaltsort nicht einmal Ihnen verraten.« Sie antwortete nicht. »Wenn Sie ihm wirklich helfen wollen, sagen Sie ihm, er solle sich die Website von Dr. Tsion Ben-Judah ansehen. Können Sie sich das merken oder soll ich den Namen buchstabieren?« »Denken Sie etwa, ich würde diesen Namen nicht kennen und wüsste nicht, wie man ihn schreibt?« »Tut mir Leid.« »Aus dieser Website weiß ich, dass es für mich und meine Eltern, ja, für meine ganze Familie zu spät ist … Und dabei waren sie so stolz auf mich.« »Es tut mir Leid, Krystall.« »Es tut Ihnen Leid? Was denken Sie wohl, wie mir zu Mute ist?« »Sie werden doch niemandem verraten, dass ich hier war, oder?« »Warum sollte ich? Man könnte Sie sowieso nicht sehen und was würden sie wohl tun? Alles nach Ihnen abtasten?« »Da ist was dran.« »Aber was machen Sie eigentlich hier?« »Eine geschäftliche Angelegenheit. Die Aussicht, Ihrem Onkel helfen zu können, war nur noch ein zusätzlicher Bonus.« »Nun, vielen Dank dafür. Sie sind also ein Judahit, ja?« »Ich glaube an Christus, um genauer zu sein.« »Dann sagen Sie mir eines: Wieso ist es für die Leute, die Carpathias Zeichen bereits angenommen haben, zu spät? Haben wir in dieser Hinsicht keinen eigenen freien Willen mehr?« Rayford schnürte es die Kehle zu. »Offensichtlich nicht«, brachte er mühsam heraus. »Ich verstehe es selbst nicht so genau, aber Sie müssen zugeben, Sie hatten genügend Gründe, den anderen Weg zu wählen.« »Jahrelang.« 49
»Sie sagen es, Krystall.« »Dann hatte ich also, nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, keine Wahl mehr?« »Ja, genau. Vielleicht hatten Sie sie auch vorher nicht mehr. Wer kennt schon die Gedanken Gottes?« »Ich fange an, sie zu begreifen.« »Wie das?« »Das hier tut weh. Es tut weher als der durch die Dunkelheit verursachte Schmerz. Ich habe nur zu spät erkannt, schätze ich, dass man mit Gott nicht sein Spiel treiben kann.«
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3 Das Problem war, dass Chloe, die die Tür nur einen Spalt geöffnet hatte, nicht so viel sehen konnte, wie notwendig war. Zwar war die Tür nach Osten gerichtet, wo das verdächtige Fahrzeug stand. Durch den Spalt in der Tür konnte sie jedoch nur nach Nordosten sehen. Sie musste folglich die Tür weit öffnen, um zu überprüfen, ob das Fahrzeug noch da stand, wo sie es zuletzt gesehen hatte. Konnte sie es riskieren, dass die Tür das Licht einer Straßenlaterne zurückwarf oder ein Geräusch verursachte oder irgendeinen tragbaren Bewegungsmelder auslöste, den die Leute von der Weltgemeinschaft vielleicht mitgebracht hatten? Chloe wünschte, das Fahrzeug würde etwas Gutes und nichts Schlechtes bedeuten. Vielleicht gehörte es ja einer Gruppe von Gläubigen, die gehört hatten, dass ein Teil der Tribulation Force sich hier unterhalb der ehemaligen Militärbasis verborgen hielt. Wäre es nicht wunderschön, weitere Brüder und Schwestern zu haben, die mithelfen, sie ermutigen und verteidigen konnten? Damals in Chicago war Chloe diejenige gewesen, die die Gläubigen von The Place entdeckt hatte, eine Gruppe von Gläubigen, die gemeinsam ihren Glauben lebten. Auf der anderen Seite waren die folgenden Aktivitäten, ihr Einzug bei der Tribulation Force der erste Schritt zur Preisgabe ihres Verstecks gewesen. So viel Körperwärme, die sich in einem Gebiet bewegte, das nach Angaben der Weltgemeinschaft unbewohnbar war, hatte Misstrauen geweckt. Die Weltgemeinschaft hatte angefangen herumzuschnüffeln. Chloe hatte ihre neuen Freunde zwar gefunden, aber sie war auch schuld an der Aufgabe eines großartigen Verstecks. Das durfte auf keinen Fall noch einmal geschehen. Hier lebten zu viele Menschen, und auch wenn sich ihr Versteck unter der Erde befand, bot es alle Vorteile des Strong-Gebäudes. Zum einen hatte George Sebastian Chloe und alle anderen, die 51
Interesse daran zeigten, in neuen Kampftechniken trainiert. Die Grundbegriffe hatte Chloe bereits von Mac McCullum bei ihrem gemeinsamen Einsatz in Griechenland gelernt. George und Priscilla hatten einige in der ehemaligen Militärbasis zurückgelassene Geräte dafür genutzt. Sie entsprachen zwar nicht der modernsten Technik, doch sie waren sehr nützlich. »Diese neuartigen Maschinen nehmen dir sowieso alle Arbeit ab«, sagte er. Er hatte die vorhandenen Geräte aufpoliert und geölt, und schon bald hatten mehrere Mitglieder der Tribulation Force angefangen, in einem provisorischen Fitnessraum ihre vernachlässigten Muskeln aufzubauen. Chloe genoss Georges Training. Vieles davon basierte auf gesundem Menschenverstand, vieles aber auch nicht. Er hatte eine hervorragende Ausbildung und sich als ausgezeichneter Lehrer erwiesen. Chloe hatte das Gefühl, in fast jeder Situation mit einer Waffe umgehen zu können. Dieses Training war ihr auch jetzt von Nutzen und sagte ihr, dass sie einen schweren Fehler beging. Sie hatte sich nicht nur unerlaubt von ihrem Posten entfernt; niemand hatte Kenntnis davon, wo sie sich aufhielt. Von hier aus hatte sie keine Möglichkeit, irgendjemandem Bescheid zu geben. Wenn sie diese Tür nun so weit öffnete, dass sie einen möglichen Feind erkennen könnte, den sie einen Straßenzug entfernt wähnte, könnte es durchaus sein, dass er urplötzlich unmittelbar vor ihr stand. Sollte sie die Tür rasch öffnen, hinaustreten und sie dann wieder schließen oder sollte sie eine Hand am Türgriff lassen für den Fall, dass sie sich schnell würde zurückziehen müssen? Sie drückte ihr Ohr an die Tür und lauschte, ob sie ein Geräusch vernahm, aber ihr Maschinengewehr stieß gegen das Metall, und außerdem war ihr Ohr sowieso von der Skimaske und der Kapuze verdeckt. Sie zog sich zurück und kam sich wie ein Idiot vor. Wir atmen tief durch. Wir beruhigen uns. Wir gehen einfach in einer schnellen Bewegung nach draußen und schließen die Tür hinter uns. Dass sie im kollektiven »Wir« 52
dachte, gab ihr das Gefühl, nicht so allein zu sein, doch sie wusste natürlich, dass sie sich etwas vormachte. Vorsichtig stieß Chloe die Tür auf und schlich mit langen Schritten nach draußen. Dann schloss sie die Tür hinter sich. War das Fahrzeug noch immer da? Sie würde eine Weile abwarten müssen. Wenn es sich noch in der unmittelbaren Nähe befand, hatte es seine Scheinwerfer ausgeschaltet. Chloe rannte geduckt zu einer Reihe hoher Büsche und drehte sich dann leise um, weil sie sichergehen wollte, dass der Feind sich nicht von hinten angeschlichen hatte. Sie hielt einen Augenblick inne und genoss die Freiheit, einfach draußen in der kühlen Morgenluft zu stehen. Nachdem sich ihre Augen an das trübe Licht der Straßenlaternen gewöhnt hatten, spähte Chloe durch die Büsche und entdeckte den weißen Wagen der Weltgemeinschaft genau an der Stelle, wo sie ihn von dem Versteck aus gesehen hatte. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet und er schien einfach nur herumzustehen. Die Frage war, ob er leer war, und falls das der Fall war, wie viele Soldaten darin gesessen hatten und wo sie sich jetzt aufhielten. Rayford schlich auf Zehenspitzen zum Ende des Flurs. Der Mann wippte auf den Füßen und rang die Hände. »Englisch?«, fragte er mit ausgeprägtem deutschen Akzent. »Ja, ich bin Amerikaner.« »Bruder, Bruder, Bruder!«, flüsterte der Mann und schlang die Arme um Rayford. »Wer sind Sie? Wie ist Ihr Name? Was tun Sie hier?« Der Mann war sehr muskulös, vermutlich ein Arbeiter. »Ich habe dieselben Fragen an Sie, mein Freund«, erwiderte Rayford und befreite sich aus seiner Umarmung. »Aber wir müssen irgendwohin gehen, wo wir nicht belauscht werden.« »Gut, gut, ja. Wo?« 53
»Meine Freunde halten sich in einem Privatquartier auf. Sie müssen sie kennen lernen. Dort können wir miteinander reden.« »Ich bin nicht sicher, ob ich so lange warten kann! Das ist so aufregend. Wie weit?« »Sechs Stockwerke unter diesem in einem dieser Flügel«, erklärte Rayford und führte ihn zum Aufzug. »Sie wohnen hier? Im Palast, meine ich? Sie arbeiten hier?« »Früher.« Rayford sah sich um und beugte sich zu ihm vor. »Ich gehöre zum Untergrund in San Diego und habe Kontakte zu den Leuten in Petra. Wir holen unseren Maulwurf hier heraus, solange wir noch die Gelegenheit dazu haben.« »Ich wollte gerade fragen, ob Sie der Maulwurf sind!« »Früher gehörte ich dazu. Jetzt haben wir nur noch den einen, zumindest dachten wir das. Sie sind von hier?« »Keine sechs Meilen entfernt, ist das zu glauben?« Bei den Aufzügen standen drei Männer und tasteten nach den Knöpfen. Rayford und sein neuer Freund sahen sich wissend an und betraten hinter ihnen den nächsten Aufzug. »Ich muss pünktlich wieder hier sein«, sagte einer der Männer. »Ja«, erwiderte der andere. »Ich wünschte, ich hätte eine Audio-Uhr.« »Ich habe von meiner das Glas abgenommen. Ich ertaste die Zeit. Das Problem ist, dass man dabei unter Umständen die Zeiger verstellt und dann immer noch nicht die genaue Zeit weiß.« Er legte zwei Finger vorsichtig auf seine Uhr. »Ich schätze, es ist zehn vor drei. Bleiben uns also zehn Minuten.« Rayford bemerkte, dass der Deutsche auf seine Uhr sah und die Augenbrauen in die Höhe zog. Der Aufzug blieb zwei Stockwerke tiefer stehen und die drei tasteten sich vor. Doch als sich die Türen gerade schließen wollten, streckte Rayfords Begleiter beide Hände aus, tippte dem Mann mit der Uhr mit der einen Hand auf die Schulter und verstellte gleichzeitig mit 54
der anderen seine Uhr. Der Mann zögerte, sodass der Mann hinter ihm in ihn hineinrannte. Er sagte: »Hm?«, und der dritte Mann erwiderte: »Was?« Der Deutsche zog die Hände wieder zurück, sodass sich die Türen ungehindert schließen konnten. Als sich nur noch er und Rayford im Aufzug befanden, brach er in schallendes Gelächter aus. »Ich nehme an, das war das letzte Mal, dass er die richtige Zeit hatte. Also, darf ich mich jetzt vorstellen?« »Noch nicht«, erwiderte Rayford. Mit dem Mund formte er die Worte: »Die meisten Aufzüge und Korridore sind verwanzt.« Dumm oder mutig? Chloe wusste, das war Ansichtssache und viele würden sicher Ersteres denken. Aber sie war so schrecklich neugierig wegen des Wagens und noch mehr in Bezug auf die Leute, die darin saßen. Im Schatten der Bäume und weit von den Straßenlaternen entfernt schlich sie, so leise sie konnte, nach links und einen Straßenzug in westliche Richtung. Sie verlangsamte ihre Schritte, als sie auf einer Höhe mit dem Fahrzeug und noch etwa 30 Meter links davon entfernt war. Sie ärgerte sich, dass sie vergessen hatte, das Fernglas mitzubringen. Und das Funkgerät. Sie hätte es ja ausgeschaltet lassen können, bis sie es brauchte, aber dann hätte sie wenigstens die Möglichkeit gehabt, Verbindung zu Buck aufzunehmen. Doch bisher bestand ja noch keine Gefahr. Chloe schlich näher heran und redete sich ein, falls jemand im Lieferwagen säße, würde sicher der Motor laufen oder eines der Fenster würde offen stehen. Aber beides war nicht der Fall, doch sie wollte nicht einfach auf den Wagen zugehen, ohne Gewissheit zu haben. Sie schlug einen weiten Bogen, um sich davon zu überzeugen, dass niemand herankam oder dass sie niemanden übersehen hatte. Schließlich erreichte sie den Wagen und spähte durch die hinteren Fenster hinein. Niemand da. 55
Doch von ihrer Position aus konnte sie nicht erkennen, ob jemand auf dem Vordersitz saß. Falls jemand wartete, würde er oder sie vermutlich am Steuer sitzen. Sie schlich sich von der anderen Seite heran, hielt sich geduckt unter den Fenstern, bis sie sich aufrichten und ihr Opfer überraschen könnte, falls notwendig. Rayford war über die steigende Zahl an schmerzgepeinigten Bewohnern verblüfft, die in den Fluren lagen, als er und sein neuer Freund den Aufzug verließen und zu Changs Wohnung gingen. Ehepaare kauerten weinend in den Ecken. Andere krochen über den Boden, tasteten sich zu den verschiedenen Räumen vor, zogen sich an Türgriffen hoch und ließen die Finger über die Nummern gleiten, bevor sie an die Tür klopften und ihre Freunde anflehten, sie einzulassen. »Das bricht mir das Herz«, flüsterte er dem Deutschen zu. »Mir nicht«, erwiderte der Mann, »aber ich arbeite daran.« Rayford klopfte leise an Changs Tür. Das Gespräch im Inneren brach ab. »Ich bin es«, flüsterte er. »Und keine Angst. Ich habe noch jemanden mitgebracht.« Abdullah öffnete die Tür so weit, dass er mit einem Auge hinaussehen und den Lauf seiner Pistole hinaushalten konnte. Nachdem er Rayford erkannt hatte, betrachtete er den Deutschen von oben bis unten. Er bemerkte das Zeichen des Gläubigen auf der Stirn des Mannes und öffnete die Tür ganz. Sie betraten die Wohnung, dann konnte den Mann nichts mehr aufhalten. Nachdem er sich umgesehen, die Computer und die Stapel an CDs betrachtet hatte, sagte er: »Kann ich reden? Sind wir hier sicher?« Chang nickte, obwohl ihn die Überschwänglichkeit des Mannes zu befremden schien. Trotzdem arbeiteten er und Naomi unbeirrt weiter. »Ich heiße Otto Weser«, stellte er sich vor. »Ich bin ein Schreiner aus Deutschland, Judahit, Leiter einer kleinen Grup56
pe von Gläubigen hier in Neu-Babylon.« Er umarmte Abdullah. »Passen Sie auf diese Pistole auf, ja?«, lachte Otto. Chang hob er beinahe vom Boden hoch. »Seht uns nur an! Sie sind Asiate. Unser Freund mit dem Turban ist, was, Ägypter?« Abdullah korrigierte ihn. »Ach so, Jordanier. Aber ich war nah dran. Ich bin Deutscher. Mr. Steele, Ihr Name klingt westlich, und Sie haben mir gesagt, Sie seien Amerikaner, aber auch Sie sehen ägyptisch aus.« »Eine Verkleidung.« »Und die junge Dame, Sie kommen auch aus dem Mittleren Osten, nicht? Natürlich. Ich werde Sie nicht ohne Erlaubnis Ihres Vaters umarmen.« Otto deutete zuerst auf Rayford, der den Kopf schüttelte, dann auf Abdullah, der beleidigt abwinkte. »Oh, Sie sind alt genug, auch wenn Sie nicht Ihre Tochter ist.« Er wandte sich an Chang. »Dass sie nicht zu Ihnen gehört, ist klar, es sei denn, Sie sind verheiratet.« Naomi kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Mein Vater ist nicht hier, aber wenn ich Ihnen die Erlaubnis geben darf, dann haben Sie sie.« »Ach, ich liebe junge Leute, die die alten Filme noch zu schätzen wissen.« Nachdem sich alle vorgestellt hatten, sagte Otto: »Ich werde es kurz machen. Ich weiß, Sie sind auf einer Mission hier und müssen schnellstens wieder verschwinden. Ich hatte keine Ahnung, ob ich Brüder oder Schwestern im Inneren des Palastes finden würde, doch ich bin so froh, dass das der Fall ist. Meine Freunde und ich, wir betrachten uns als die Erfüllung einer Prophezeiung. Wollen Sie wissen, warum? Wir hatten uns in Deutschland verkrochen, uns vorwiegend verborgen gehalten, aber gegen die Weltgemeinschaft angekämpft, wo das möglich war. Gott – wer sonst? – richtete meine Aufmerksamkeit auf Offenbarung 18. Ich war verblüfft; was kann ich sonst sagen? 57
Sie kennen den Abschnitt. Ich habe ihn auswendig gelernt. Ich bin kein Gelehrter, kein Student, kein Theologe, aber ich versuche, meinen Leuten einen Schritt voraus zu sein, damit ich ihnen ein wenig beibringen kann. Nun, in Offenbarung 18 wird von der Zerstörung dieser Stadt gesprochen, genau dieser Stadt. In den Versen 4 bis 8 heißt es: ›Dann hörte ich eine andere Stimme vom Himmel her rufen: Verlass die Stadt, mein Volk, damit du nicht mitschuldig wirst an ihren Sünden und von ihren Plagen mitgetroffen wirst. Denn ihre Sünden haben sich bis zum Himmel aufgetürmt und Gott hat ihre Schandtaten nicht vergessen. Zahlt ihr mit gleicher Münze heim, gebt ihr doppelt zurück, was sie getan hat. Mischt ihr den Becher, den sie gemischt hat, doppelt so stark. Im gleichen Maß sie in Prunk und Luxus lebte, lasst sie Qual und Trauer erfahren. Sie dachte bei sich: Ich throne als Königin, ich bin keine Witwe und werde keine Trauer kennen. Deshalb werden an einem einzigen Tag die Plagen über sie kommen, die für sie bestimmt sind: Tod, Trauer und Hunger. Und sie wird im Feuer verbrennen; denn stark ist der Herr, der Gott, der sie gerichtet hat.‹ Nun, das hat mich umgehauen. ›Verlass die Stadt, mein Volk‹? Das war doch eine ganz klare Aufforderung. Das Volk Gottes, zumindest einige Mitglieder davon, würde bis kurz vor den Ereignissen hier sein! Wer waren sie? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Gläubige hier waren, und falls das der Fall war, würden sie bestimmt nicht lange durchhalten. Wie könnten sie auch? Da die Soldaten der Weltgemeinschaft und die Moralüberwacher auf der ganzen Welt Menschen töten, die nicht Carpathias Zeichen tragen, wie sollte jemand hier ausharren können? Wir wussten es nicht, aber wir wollten es herausfinden, und ich sage Ihnen, es hat keinen Spaß mehr gemacht, in Deutschland mit der Weltgemeinschaft Verstecken zu spielen. Fast 40 von uns packten ihre Sachen und machten sich auf den Weg hierher. Es war keine leichte Reise, muss ich betonen. Es war 58
auch nicht leicht, hier zu leben, aber das wussten wir ja, bevor wir hierher kamen. Wir haben sechs unserer Mitglieder verloren, seit wir hier sind – vier auf einmal und zwei, das muss ich leider gestehen, durch meine Schuld. Aber wir werden sie wieder sehen, nicht wahr? Und ich kann es kaum erwarten. Etwas anderes, das ich kaum erwarten konnte, war diese Plage der Dunkelheit. Als sie begann und wir merkten, dass alle außer uns blind waren, kam mir die Idee, mir diesen Palast anzusehen – das Gelände, den Hof, den Palast und alles –, vor allem aber das Büro des Potentaten. Ich konnte keinen von den anderen bewegen, mich zu begleiten, darum bin ich allein hier, und wen treffe ich hier? Nun, wenn wir die Prophezeiung erfüllen, indem wenigstens einige vom Volk Gottes vor dem Ende aus dieser Stadt entfliehen, dann sind Sie eine Gebetserhörung, wie ich bislang noch keine erlebt habe. Wir brauchen einen Ort, an den wir gehen können, und welchen besseren Ort gibt es als einen, an dem wir endlich in Sicherheit sein werden? Wenn Sie Verbindungen in Petra haben, dann möchten wir dorthin fliehen, wenn man uns dort haben will.« »Entschuldigen Sie, Rayford«, unterbrach Chang. »Das ist alles sehr interessant und aufregend, aber ich muss Naomi jetzt in die, Sie wissen schon, in die ganzen technischen Finessen einweisen, die David Hassid hier eingebaut hat. Und ich denke, dann sollten wir uns auch schleunigst auf den Weg machen.« »Richtig«, erwiderte Rayford, »und mir wäre es lieb, wenn Abdullah hier bei euch bleiben würde. Ich möchte zusammen mit Otto zurück zu Carpathias Büro und mich in die große Sitzung einschleichen, um zu hören, was sie vorhaben.« »Oh! Das würde mir Spaß machen! Wie ich schon sagte, ich wollte mir sowieso sein Büro ansehen. Darum ging ich ja eben dorthin, wo ich Sie traf, aber ich war so erschreckt, jemanden mit dem Zeichen zu sehen –« »Otto«, unterbrach Rayford, »wir müssen jetzt los.«
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Chloe hatte so lange geduckt bei der Beifahrertür gehockt, dass sie ihren Plan beinahe aufgegeben hatte. Und wenn sie nun der Fahrer sah, der auf seine Leute wartete? Sie wäre ihm gegenüber vermutlich im Vorteil, aber was würde sie dann tun? Ihn entwaffnen? Ihn vom Funkgerät fern halten? Ihn zwingen, ihr zu sagen, wo seine Leute waren und was sie vorhatten? Das würde nichts bewirken. Dadurch würde sie nur ihr unterirdisches Versteck preisgeben. Eine andere Möglichkeit war natürlich, den Mann zu töten und dann zu versuchen, vor den anderen davonzulaufen – vorausgesetzt, er sagte in Bezug auf ihren Aufenthaltsort die Wahrheit. Schließlich redete sie sich ein, dass der Wagen leer war. Sie würde einmal schnell über das Gelände gehen, um sich davon zu überzeugen, dass keine Leute von der Weltgemeinschaft in der Nähe oder ihnen auf der Spur waren; dann würde sie zurückgehen und Hilfe holen. Chloe entsicherte das Maschinengewehr, legte den rechten Zeigefinger an den Auslöser, nahm den Kolben in die andere Hand und stand rasch auf. Leer. Und so fühlte sie sich jetzt auch. Seit sie den Bunker verlassen hatte, hatte sie die Auswirkungen des Adrenalins nicht gespürt, aber der anschließende Zusammenbruch ihres Kreislaufs lahmte sie beinahe. Sie sank neben dem Wagen zusammen, um wieder zu sich zu kommen. Ihre Arme und Beine waren wie Pudding, und wären Chloes Sinne nicht so wach gewesen, hätte sie den Kopf auf die Brust legen und neben dem Wagen einschlafen können. Doch sie konnte auch das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht abschütteln. Vor ihrem inneren Auge sah sie mindestens neun Soldaten der Weltgemeinschaft, die ihre Gewehre auf sie gerichtet hatten. Wenn man bedachte, wie dumm ihr Plan gewesen war, konnte sie sich glücklich schätzen. Aber im Grunde hatte sie ja gar keinen richtigen Plan gehabt. Zwar stimmte sie 60
dem Motto der Tribulation Force »Wir sprechen nicht von Glück« zu, doch es fiel ihr schwer, ihre bisherige Unversehrtheit Gott zuzuschreiben, wenn sie bedachte, wie leichtsinnig sie wieder einmal ihre Sicherheit aufs Spiel gesetzt hatte. Chloe erhob sich und lief das Gelände ab. Während sie sich lautlos durch die Dunkelheit bewegte, fühlte sie sich verletzlich und ausgeliefert. Sie gab sich die größte Mühe, sich sorgfältig umzusehen und nicht nur schnell zuzusehen, dass sie wieder in die Sicherheit des Bunkers kam. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen und ihr Puls raste. Als Rayford und Otto Carpathias Bürosuite erreichten, hatte die Sitzung bereits begonnen, und die Nachzügler drängten sich in der Tür zu seinem Konferenzraum. Rayford entdeckte Carpathias unheimlichen Schein, aber nur Leon Fortunato stand dicht genug neben ihm, um davon zu profitieren. Rayford legte den Männern in der Tür sanft die Hände auf die Schultern, und sie traten beiseite, um ihn durchzulassen. Otto folgte ihm. Um nicht gesehen zu werden, begaben sie sich in die hinterste Ecke des Raumes, weit von Carpathia entfernt. Der Potentat bat Krystall, die Sitzung zu eröffnen, was sie auch tat, indem sie die Anwesenden namentlich nannte. Bei den letzten drei Namen hatte sie jedoch Schwierigkeiten und sie fragte Carpathia, ob sie sie in Carpathias Licht von der Liste vorlesen könnte. »Vielleicht sollten diejenigen, deren Namen nicht verlesen wurden, sich kurz melden«, schlug Carpathia vor. Während sie dies taten, berührte Otto Rayfords Arm und sagte lautlos, er sei versucht, seinen Namen zu nennen und zu sehen, welche Aufregung dies verursachen würde. »Wenn die Herren bitte versuchen würden, ihre Berichte möglichst kurz zu halten«, begann Carpathia. »Der Direktor des Sicherheits- und Geheimdiensts, Suhail Akbar, hat das Wort.« 61
»Vielen Dank, Exzellenz. Oh! Verzeihen Sie mir, aber ich habe auch Schmerzen. Aua!« »Suhail, bitte!« »Ich entschuldige mich, Euer Hoheit, aber ich weiß nicht, was ich ma-« »Nun nehmen Sie sich doch zusammen, Mann!« »Ich werde es versuchen, Sir. Unsere größte Sorge, meine Damen und Herren, ist neben dem Offensichtlichen ein –« »Was ist wichtiger als das Offensichtliche?«, fragte ein Anwesender mit einem indischen Akzent. »Wir müssen eine Lösung finden für dieses –« »Wer spricht da?«, fragte Carpathia. »Raman Vajpayee, sind Sie das?« »Ja, Sir, ich möchte nur wissen –« »Raman, Sie sollten einfach nur den Mund halten. Wie können Sie es wagen, ein Mitglied meines Kabinetts zu unterbrechen?« »Nun, Sir, es ist von größter Wichtigkeit, dass –« »Von größter Wichtigkeit ist, dass die einzige Reaktion auf Ihr Vergehen eine unterwürfige Entschuldigung ist, und zwar sofort.« »Es tut mir Leid, Potentat, aber –« »Das kann man wohl kaum als unterwürfig bezeichnen. Während einer internationalen Krise kann ich eine solche Insubordination nicht dulden. Ich bin geneigt –« »Was denn?«, unterbrach Vajpayee ihn. »Mich zu Tode zu bringen, wie Sie das bei allen tun, die ihre Meinung äußern? Ich sage Ihnen etwas: Ich wäre lieber tot, als so zu leben! Im Dunkeln! Mit Schmerzen! Und keine Hilfe in Sicht. Und doch machen Sie weiter –« »Treten Sie vor, Raman! Sofort!« Der Inder trat vor, schob andere aus dem Weg. Rayford war klar, dass er dem Klang von Carpathias Stimme folgte. Er konnte nicht einmal den Schein sehen. 62
»Ich bin hier, nur Armeslänge von Ihnen entfernt! Töten Sie mich, weil ich es gewagt habe, meine Meinung zu sagen, oder entlarven Sie sich als Feigling!« »Suhail«, forderte Carpathia, »bringen Sie diesen Mann hinaus und exekutieren Sie ihn.« »Dann sind Sie also tatsächlich ein Feigling! Sie wollen es nicht einmal selbst tun! Erweisen Sie mir doch wenigstens diesen Respekt.« »Ich empfinde nur Verachtung für Sie, Raman. Sie haben Ihrer Stellung innerhalb der Weltgemeinschaft Schande gemacht und ich –« »Töten Sie mich selbst, Sie unfähiger –« Bei diesen Worten stürzte sich Carpathia auf den Inder. Endlich konnten beide einander sehen. Während die anderen entsetzt zuhörten, kämpften die beiden Männer miteinander. Carpathia gelang es schließlich, den Kopf des Mannes in die Hände zu nehmen. Mit einer heftigen Drehung brach er Vajpayee das Genick. Der Tote glitt zu Boden. »Noch jemand, der Einwände hat?«, fragte Carpathia. »Irgendjemand, der lieber tot sein möchte, als für die Sache zu leiden? Hmm? Wenn nicht, dann können Sie jetzt fortfahren, Suhail, und wenn Sie fertig sind, schaffen Sie diesen Leichnam hier heraus.« Ausgesprochen erschüttert unterdrückte Suhail seine Schmerzensschreie und berichtete, an diesem Nachmittag sei ein Flugzeug in Neu-Babylon gelandet. »Wir müssen davon ausgehen, dass es nur über Autopilot hat landen können«, erklärte er, »aber wir haben keinerlei Hinweise darauf, um welches Flugzeug es sich handelt, und wir bitten alle um größte Vorsicht, da wir vielleicht Spione unter uns haben.« »Wenn wir die Passagiere des Flugzeugs nicht dazu bringen können, sich zu identifizieren«, sagte Carpathia, »werde ich es persönlich am Ende dieser Sitzung in Augenschein nehmen.« »Das ist wohl unser Stichwort«, flüsterte Rayford Otto zu. 63
»Wir müssen vor ihnen verschwunden sein.« Während sie sich langsam aus dem Raum schoben, fuhr Carpathia fort: »Wie Sie wissen, bin ich entschlossen, dem Judenproblem ein Ende zu setzen, und wenn das die Judahiten einschließt, die sich in den Bergen verborgen halten, umso besser. Ich kündige hiermit eine Sitzung aller zehn Oberhäupter der Weltregionen an, die in sechs Monaten stattfinden wird. Wir werden uns in Bagdad treffen, um unsere Strategie für eine Säuberung der Welt von unseren Feinden festzulegen. In der Zwischenzeit werden wir unseren Kommandoposten von hier nach Al Hillah verlegen, wo wir wieder Licht haben werden. Wie viele von Ihnen wissen – und falls dies neu für Sie ist, bitte ich, diese Information vertraulich zu behandeln –, befindet sich in Al Hillah unser umfangreiches Lager mit Nuklearwaffen. Diese Waffen waren uns freiwillig von den Weltnationen zur Verfugung gestellt worden. Ich hatte damals diese Forderung als Vorbedingung für meine Bereitschaft gestellt, meine jetzige Position anzutreten. Diese Waffen werden uns für die Endlösung dieses Problems höchst nützlich sein. Bereits bevor der Rest der Welt mit meiner Meinung übereinstimmt, habe ich vor, Kampftruppen in Israel zusammenzuziehen. Von allen zur Verfügung stehenden Militärpersonen in den Vereinigten Carpathiatischen Staaten, die nicht bereits den Friedenstruppen oder Moralüberwachern angehören, wird erwartet, dass sie sich im Jesreel-Tal zum Kampftraining einfinden. Was unseren Umzug nach Al Hillah betrifft, werden wir in 24 Stunden aufbrechen. Nehmen Sie alles mit, das Ihnen bei diesem Umzug helfen kann.« »Was ist mit unseren Untergebenen, unseren Abteilungen?« »Sie werden zurückbleiben, und sie dürfen nicht erfahren, wohin wir gehen oder dass wir überhaupt aufbrechen. Haben das alle verstanden?« Rayford hatte gerade die Tür erreicht. Niemand antwortete. 64
»Verstanden?« »Ja«, murmelten ein paar. »Dann kehren Sie jetzt an Ihre Arbeit zurück. Mr. Akbar, Reverend Fortunato und ich werden uns zur Landebahn begeben.« Rayford bedeutete Otto, ihm zu folgen. Er rannte zu den Aufzügen. »Rufen Sie jeden Aufzug und drücken Sie in jedem alle Knöpfe, damit die Aufzüge in jeder Etage stoppen. Halten Sie diese Aufzüge so lange auf, wie Sie können. Ich nehme die Treppe. Ich habe keine Ahnung, wo meine Freunde stecken, aber ich muss unbedingt eine Nachricht in Changs Wohnung hinterlassen für den Fall, dass sie dorthin zurückkehren. Wir müssen hier verschwunden sein, bevor Carpathia unser Flugzeug identifiziert und erfährt, wo wir sind. Verstanden?« »Verstanden. Danke, dass Sie mir vertrauen.« »Hatten Sie gehofft, uns begleiten zu können? Denn wenn Sie nicht –« »Nein, das werden wir später vereinbaren. Ohne meine Leute würde ich sowieso nicht mitkommen.« »Wenn Sie meinen Freunden zufällig vor mir begegnen, schicken Sie sie bitte zum Flugzeug.« Rayford rannte die Treppen hinunter, und die Leute, die dort lagen, schrien und jammerten. Sie riefen ihn an, fragten ihn, wie es käme, dass er in der Dunkelheit rennen könne. Nur ungern ignorierte er sie. Er erreichte das Erdgeschoss, stieg über mehrere Menschen hinweg und lief zwischen anderen hindurch. So schnell er konnte, stürmte er durch die Tür und rannte über die Landebahnen zum Flugzeug. Wenn er es schaffte, die Motoren zu starten und die Maschine schon in Startposition zu stellen, dann konnte er nur noch hoffen und beten, dass Chang, Naomi und Abdullah bereits unterwegs waren. Buck hatte stundenlang tief und fest geschlafen, bevor sich Unruhe in ihm breit machte. Er wurde nervös und war plötzlich 65
hellwach. Es waren Schuldgefühle. Er hatte Chloe die Wache überlassen, obwohl sie doch den ganzen Tag mit der Handelsgesellschaft und der Betreuung ihres Sohnes ausgelastet war. Was für ein Ehemann war er nur? Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und setzte sich auf. »Wie läuft es, Schatz?«, rief er. Vielleicht sah sie gerade nach Kenny. Oder sie holte sich einen Tee in der Küche. Sich streckend, verließ er das Schlafzimmer. »Chloe!«, rief er. »Da ist etwas auf dem Bewegungsmelder!« Er beugte sich über das Periskop und sah schnell hindurch. Er konnte nichts entdecken, bis er zum Südwesten kam. Dort stand eine einsame, bewaffnete Gestalt. Er runzelte die Stirn. »Chloe!«, rief er. »Ruf besser George an. Da ist irgend so ein Typ auf acht Uhr. Chloe?« Er erstarrte. Er erhob sich und ging in die Küche. Alles war dunkel. Und Kenny weinte. Auf dem Weg in Kennys Zimmer schnappte sich Buck das Telefon und tippte Mings Nummer ein. »Hey, mein Großer«, sagte Buck zu dem Jungen, der in seinem Bettchen stand. Als dieser ihn entdeckte, hörte er auf zu weinen und strahlte. »Mama?« »Kommt sofort«, sagte er. »Leg dich doch wieder hin und schlaf weiter. Es ist noch Nacht.« Ming meldete sich. »Es tut mir so Leid, dich aufzuwecken, Ming, aber ich habe hier einen kleinen Notfall.« »Macht doch nichts, Buck.« »Könntest du kurz auf Kenny aufpassen? Ich glaube, Chloe ist draußen.« »Ich bin sofort da.« Er dankte ihr und griff nach seinem Funkgerät. »George, bist du wach?«
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4 Rayford hatte die Motoren bereits gestartet und das Flugzeug gewendet, als er Carpathias Schein in der Ferne entdeckte. Der Potentat schien es eilig zu haben, aber Suhail Akbar und Leon Fortunato in seinem Gefolge kamen nicht so schnell mit. Die laufenden Motoren würden ihnen unter Umständen verraten, wo sich die Maschine befand, darum stellte Rayford sie wieder aus und betete, dass diese drei fast blinden Männer von ihrem Kurs abkämen, bevor seine Leute beim Flugzeug angekommen waren. Rayford schaltete sein Handy ein und rief Mac McCullum in Al Basrah an, um ihn über die neuesten Entwicklungen zu unterrichten. »Kannst du mit Albie heute noch nach Al Hillah fliegen?« »Wir sitzen hier wie längst überfällige Hennen.« »Ich schätze, das heißt Ja. Seit Griechenland stehst du ganz oben auf der Fahndungsliste. Wie kommt ihr klar?« »Mit Toben, Charme und natürlich nur nachts. Ich schätze, ihr wollt vermutlich einfach nur wissen, was NC und seine Jungs vorhaben.« »Ideal wäre, wenn ihr herausfinden könntet, wo sie sich in Bagdad treffen werden, und den Treffpunkt dann verwanzen würdet.« »Oh sicher. Ich werde ihnen einfach sagen, ich wäre der neue Diener und ich müsste ein paar Stunden im Sitzungsraum verbringen, bevor die anderen dorthin kommen.« »Wenn ich es für einfach halten würde, würde ich es selbst erledigen«, erwiderte Rayford. »Albie kennt alle und jeden. Wenn es machbar ist, wird er dafür sorgen, dass es geschieht.« Chang, Naomi und Abdullah tauchten mit Kisten und Schachteln beladen auf. Naomi wirkte aschfahl. Rayford öffnete die Tür und ließ die Trittleiter herunter. »Gu67
tes Timing«, begrüßte er sie. »Wir haben alles gehört, Captain«, erklärte Abdullah. »Dank dieses jungen Genies.« »Das war doch nur Angeberei«, erwiderte Chang. Er stellte die Kisten ins Flugzeug und half Naomi an Bord. »Ich wollte ihr zeigen, dass David den ganzen Palast mit Wanzen versehen hat und dass wir Carpathia tatsächlich abhören können.« »Dann wusstest du also, dass er herkommen wollte?«, erkundigte sich Rayford. Er räumte für Abdullah den Pilotensessel. »Könnten wir bitte über etwas anderes sprechen?«, bat Naomi. Das brachte alle zum Verstummen. Rayford warf einen Blick nach draußen. Die orangefarbene Silhouette bewegte sich jetzt schneller. Offensichtlich hatte er Akbar und Fortunato zurückgelassen oder sie litten wieder zu stark unter ihren Schmerzen. Carpathia schien von den Schmerzen nicht betroffen zu sein. Vielleicht hob Gott sich das Beste für ihn noch auf. Rayford und Abdullah gingen die Checkliste durch und überprüften in aller Eile die Schalter. »Dann lassen Sie den Vogel mal an«, forderte Rayford Abdullah auf. Aber Abdullah blieb reglos sitzen und verrenkte sich beinahe den Hals, um den orangefarbenen Schein zu beobachten, der dem Flugzeug nun immer näher kam. »Worauf warten Sie noch, Smitty? Wir sollten hier verschwinden.« »Einen Augenblick noch, Captain. Wie weit kann er sehen, was meinen Sie?« »Etwa so weit, wie sein Schein reicht. Und jetzt los.« »Einen Augenblick noch.« »Was machen Sie, Mr. Smith?«, rief Naomi. »Ist das nicht Carpathia?« »Er weiß nicht, wohin er geht. Aber ich weiß es.« »Wenn wir die Motoren anlassen, kann er nichts tun«, erklärte Rayford. »Aber mir wäre es lieber, wenn er nicht mitbekä68
me, wer wir sind.« »Das wird er nicht«, beruhigte ihn Abdullah. Rayford beugte sich über Abdullah und blickte zum Fenster hinaus. Er sah, wie Carpathia etwa sechs Meter hinter dem Flugzeug über die Landebahn eilte. »Und los geht’s«, rief Abdullah. Er ließ die Motoren an und der orangefarbene Schein ging zu Boden. Als sie in der Luft waren, beugte Naomi sich vor. »Kann ich mit Ihnen reden?«, fragte sie. Rayford zog seine Kopfhörer ab. »Ist so etwas normal für euch?«, erkundigte sie sich. »Nichts ist mehr normal, Naomi. Aber du hast ja auch ganz schön viel durchgemacht.« »Ich habe noch nie gehört, wie ein Mann ermordet wurde. Und ich bin auch noch nie an so vielen leidenden Menschen vorbeigegangen, ohne dass ich etwas für sie tun konnte. In Petra sind wir isoliert, und ich wollte dort sein, wo etwas los ist. Aber jetzt wäre ich durchaus damit einverstanden, wenn ich so etwas nie wieder sehen müsste. Und von unserem Computerzentrum aus können wir mehr bewirken als irgendwo sonst.« »Es tut mir Leid, dass du das alles miterlebt hast«, entschuldigte sich Rayford. »Für mich war es auch nicht leicht.« Er erzählte ihr von der Frau, der zu helfen er versucht hatte, und von seinem Gespräch mit Carpathias Assistentin. »Wir werden ihren Onkel im Computer suchen«, versprach sie. »Und vermutlich werden wir auch von Mr. Weser hören.« »Das hoffe ich. Was für ein Typ.« Sie beugte sich noch weiter vor. Zwar müsste sie wegen des Motorenlärms lauter sprechen, doch ihre Worte schienen nur für Rayford bestimmt zu sein. »Chang geht es nicht besonders gut, wissen Sie.« »Wieso das?« »Das war sein Heim, so verrückt das auch klingt. Aber es muss seltsam sein, es einfach so zu verlassen.« »Ich würde meinen, dass er froh ist, hier fortzukommen.« 69
»Ich wünschte, ich hätte Mr. Hassid kennen gelernt, von dem Chang so oft spricht. Was sie im Palast und in Petra aufgebaut haben …« Rayford nickte. »Wirst du jetzt von Petra aus den Palast überwachen können?« »Gemeinsam mit Chang schon. Es wird schön sein, ihn dabeizuhaben.« »Wird er keine Konkurrenz sein?« »Wohl kaum. Ich werde ihn einfach tun lassen, was er möchte. Ihm liegen diese technischen Dinge mehr als der Umgang mit Menschen. Aber er kann auch unterrichten, wenn er möchte.« Rayfords Telefon klingelte. Es war George Sebastian. »Wir haben versucht, Sie zu erreichen. War Ihr Telefon ausgeschaltet?« »Ich hatte es abgestellt, während ich im Palast unterwegs war. Ich wollte mich melden, sobald ihr aufgestanden seid. Es ist bei euch noch ziemlich früh, oder?« »Wir haben hier eine Notlage.« »Warum flüstern Sie? Wo stecken Sie?« »Draußen.« »Wie viel Uhr ist es bei euch?« »Kurz vor fünf Uhr morgens. Wir können Chloe nicht finden.« Buck erkannte, dass die Gestalt, die er durch das Periskop bemerkt hatte, Chloe gewesen sein musste, also, wo steckte sie jetzt? Es sah ihr ähnlich, ohne Funkgerät oder Handy nach draußen zu gehen, aber das war bestimmt Absicht gewesen und keine Unbedachtheit. Es würde jedoch nicht leicht sein, das den anderen klar zu machen. Er und George hatten sich getrennt und suchten unterschiedliche Bereich der Umgebung ab. Sie waren schwer bewaffnet und blieben in ständigem Kontakt miteinander. George hatte 70
den leeren Lieferwagen der Weltgemeinschaft entdeckt, der vermutlich ein Köder gewesen war, aber keine Soldaten oder Chloe. Buck hoffte, er werde nicht noch mehr Leute zur Unterstützung rufen und ihr Versteck noch mehr in Gefahr bringen müssen. Zwei Stunden später, als die Sonne aufging und Buck und George keine andere Wahl mehr hatten, als wieder hineinzugehen, hatten sie zwei Quadratmeilen abgesucht, aber nichts gefunden. Im unterirdischen Bunker waren inzwischen alle aufgestanden. Sie waren besorgt, beteten und wollten unbedingt Neuigkeiten erfahren. Ming Toy brachte Kenny und Georges Tochter Beth Ann in ihre Wohnung, »so lange wie nötig«. George und Priscilla errichteten im Trainingsraum eine Kommandozentrale. Ree Woo saß an einem kleinen Klapptisch in der Ecke und wühlte sich durch die Akten, um zu sehen, ob einer ihrer falschen Namen sie verraten hatte. Buck gestand, dass er ihnen keine große Hilfe sein würde. »Ich bin wie gelähmt.« »Du musst dich davon frei machen«, ermahnte George ihn. »Du tust Chloe und uns keinen Gefallen damit.« Buck funkelte ihn an, aber er wusste, das George Recht hatte. »Du hast gut reden, Sebastian. Es ist ja nicht deine Frau, die dort draußen ist.« Priscilla blickte zur Seite. George ließ seine Papiere auf den Tisch sinken und kam auf Buck zu. Er legte die Hände auf Bucks Stuhllehne und beugte sich dicht über ihn. »Ich sage das jetzt nur einmal. Wenn meine Frau dort draußen wäre, wäre ich genauso unruhig wie du, aber ich musste jetzt auch hier sitzen und die Hände in den Schoß legen, wie ich das im Augenblick tue. Ich schulde deiner Frau sehr viel. Ich bin genau wie du daran interessiert, sie zu retten. In Griechenland hat sie ihr Leben für mich riskiert. Ich kann nur erahnen, was du empfindest. Unwissenheit ist schlimmer, als das Schrecklichste zu wissen. Nur leider wissen wir nun mal nichts. Vielleicht ist sie nur ein 71
wenig sauer auf sich, weil sie gegen die Regeln verstoßen und ein paar Schritte übersprungen hat. Vielleicht empfindest du Schuldgefühle, weil du sauer auf sie bist und Angst hast, dass sie in der Patsche sitzt. Das nehme ich dir nicht übel. Wirklich nicht. Ich sage dir, wir brauchen jetzt jeden, vor allem jemanden mit deinem Verstand. Also, willst du sie jetzt finden, damit wir sie wieder gesund und sicher zurückholen können, oder willst du vom Schlimmsten ausgehen und jetzt anfangen zu trauern?« »George!«, schimpfte Priscilla. »Ich will es ihm ja nicht unnötig schwer machen«, sagte George. »Es ist nur so, dass wir tagsüber draußen nichts unternehmen können, es sei denn, wir wissen mit Bestimmtheit, dass die Luft rein ist und wir jemanden mit einer guten Verkleidung und einer guten falschen Identität haben. In der Zwischenzeit müssen wir uns ausruhen und nachdenken, und auf keinen Fall können wir es gebrauchen, dass Buck hier herumsitzt und sich Leid tut wegen –« »Ist gut, George, ich habe es begriffen! Okay?« »Dann ist die Sache zwischen uns geklärt?« »Natürlich.« »Ich meine, denkst du, ich sei aus Gesundheitsgründen mitten in der Nacht dort draußen herumspaziert?« »Keine guten Neuigkeiten«, sagte Ree. »Chloes ›Chloe Irene‹ und Macs ›Howie Johnson‹ sind nach Griechenland nicht mehr zu gebrauchen. Hannahs ›Indira Jinnah‹ könnte noch brauchbar sein, aber nur sie kann den Namen benutzen, und sie ist zu weit weg. Rayfords und Abdullahs mittelöstliche Identitäten könnten noch okay sein, doch Abdullah ist in Petra, und Rayford wird erst mal Ruhe brauchen, wenn er dort ankommt.« »Sei dir da nicht zu sicher«, wandte George ein. »Er wird weitermachen, bis er umfällt.« »Sprich weiter«, forderte Buck ihn auf. »Ist Albies ›Commander Elbaz‹ schon aufgeflogen?«, fragte 72
Ree. Buck nickte. »Leider.« »Auch viel zu weit weg«, erwiderte George. »Was haben wir sonst noch?« »Einen noch. Mings Jungenidentität ›Chang Chow‹.« »Ming sollten wir nicht losschicken«, wandte Buck ein. »Warum nicht?«, fragte George. »Sie hat immer noch die Uniform. Sie kann sich die Haare schneiden und –« »Hey!«, rief Ree. »Ihr sprecht über meine Verlobte.« »Ach ja?« »Wir sollten sie zumindest fragen.« »Nein, Ree«, widersprach George. »Ich dachte, wir schleppen sie einfach hier herein, drücken sie zu Boden und schneiden ihr die Haare ab.« »Jetzt beruhigt euch, Jungs«, mahnte Priscilla. »Niemand kennt mich. Mit einer falschen Identität könnte ich doch –« »Nein, das wirst du nicht«, ereiferte sich George. »Jetzt sieht die Sache schon anders aus, ja?«, fragte Buck. »Die Aussicht, deine Frau nach draußen zu schicken –« »Halt den Mund!«, fuhr George ihn an. »Ich sage nur, dass sie unerfahren und absolut nicht gesund ist.« »Ming ist körperlich auch nicht besonders gut drauf«, gab Ree zu bedenken. »Und in der Handhabung von Waffen nicht geübt.« »Komm mir nicht damit«, widersprach Buck. »Sie hat im ›Buffer‹ gearbeitet.« »Der Umgang mit Häftlingen in einem Frauengefängnis ist wohl etwas anderes, als einen unserer Leute aus den Händen der Weltgemeinschaft zu retten.« »Das würden wir sowieso nicht von ihr erwarten«, meinte George. »Buck und ich, vielleicht noch du, Ree, werden losziehen, um Chloe zu holen. Wir brauchen Ming oder jemand anderen, um herauszufinden, wo sie steckt.«
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Chloe hatte bei ihrer Suche im Süden zwei weitere Fahrzeuge der Weltgemeinschaft erspäht. Beide Wagen blieben stehen und mehr als ein halbes Dutzend Soldaten stiegen aus jedem aus. Ganz eindeutig begann gerade eine sorgfältig geplante Suche nach Geheimverstecken. Und das unterirdische Versteck lag auf ihrem Weg. Vielleicht waren sie Buck ein paar Stunden zuvor durch das Periskop gelangweilt erschienen, doch irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, sodass sie Verstärkung angefordert hatten. Diese Typen meinten es ernst. Sie hatten Metalldetektoren, Sonden und ein Gerät dabei, das ein Geigerzähler zu sein schien. Chloe überlegte, ob sie Zeit hatte, zum Gelände zurückzulaufen, um die anderen zu warnen. Wenn sie entdeckt wurde, würde sie diese Kerle geradewegs zu ihrer Tür führen. Entschlossen, sie abzulenken und von ihrem Ziel abzubringen, setzte sie sich erneut in Bewegung. Sie musste sie auf sich aufmerksam machen, aber es musste unbeabsichtigt wirken. Langsam, aber zielbewusst, ging sie weiter. Anstatt am Ende des Geländes nach rechts abzubiegen und zum Eingang zurückzugehen, marschierte Chloe an der Südseite weiter in Richtung Westen. Als sie hörte, dass mindestens eines der Fahrzeuge in ihre Richtung fuhr, begann sie zu laufen, dann zu rennen. Sie wusste, dass sie einem Lieferwagen niemals würde davonrennen können, aber vielleicht konnte sie irgendwo Zuflucht suchen, wo der Wagen sie nicht erreichen konnte. Das Maschinengewehr war zwar leicht, doch es behinderte sie. Wenn sie nicht davon ausgehen konnte, dass sie damit die ganze Truppe würde auslöschen können, dann war es sinnvoller, es wegzuwerfen und später wieder zu holen. Ihr würde sicher keine sinnvolle Erklärung einfallen, warum sie eine solche Waffe bei sich trug. Der Lieferwagen, vielleicht sogar alle beide, kam schnell näher. Chloe warf das Gewehr und die Skimaske ins Gebüsch. Sie beschleunigte und rannte etwa eine 74
Viertelmeile weiter. Die Wagen hatten Mühe, ihr zu folgen. Chloe hatte das unterirdische Versteck nun hinter sich gelassen, und sie beschloss, dass der beste Ansatz Gleichgültigkeit sei, darum rannte sie mit gesenktem Kopf weiter. Der erste Wagen holte sie schließlich ein, aber sie wandte sich nicht einmal um. Eine junge Frau, die auf dem Beifahrersitz saß, rief: »Sollen wir Sie mitnehmen?« »Nein, danke.« »Steigen Sie ein.« »Nein, danke. Das ist in Ordnung so.« »Wir möchten Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Dann los.« »Kommen Sie, bleiben Sie stehen, und lassen Sie uns mit Ihnen reden.« »Sie reden doch mit mir.« »Woher kommen Sie?« »Etwa sechs Meilen westlich.« »Der Ort ist vor kurzem von dem Tsunami überflutet worden.« »Allerdings.« »Was machen Sie hier?« »Joggen.« »Wie sind Sie hierher gekommen?« »Gelaufen.« »Wo wollen Sie hin?« »Nach Hause.« »Wie heißen Sie?« »Phoebe.« Das klingt biblisch. »Phoebe wie?« »Phoebe Evangelista.« »Woher haben Sie diesen fremdländischen Nachnamen?« »Von meinem Mann.« Eigentlich ist er ja ein ganz normaler Amerikaner. »Haben Sie einen Ausweis?« 75
»Nicht bei mir.« »Also gut, Madam, ich muss Sie bitten, stehen zu bleiben, damit wir kurz mit Ihnen reden können.« »Nein, danke. Sie können mir ja bis nach Hause nachfahren, wenn Sie wollen.« Ich werde so weit vom unterirdischen Versteck fortlaufen, wie es geht. Bis ich umfalle. »Ich frage Sie jetzt nach Ihrer Ursprungsregion und Ihrem Zeichen.« »Bei diesem Wetter nehme ich jetzt ganz bestimmt nicht meine Kapuze ab oder ziehe meine Handschuhe aus, nachdem ich so lange gerannt bin und schwitze.« »Sie haben das Zeichen an beiden Stellen?« Chloe winkte ab und rannte weiter. Der Lieferwagen überholte sie und blieb vor ihr stehen. Chloe lief um ihn herum. Sie hörte, wie die Türen geöffnet wurden, und vernahm das Geräusch von Stiefeln auf dem Asphalt. Schon bald wurde sie von bewaffneten uniformierten Soldaten flankiert, ein Mann auf jeder Seite, die mit ihr Schritt hielten. »Also gut«, sagte einer von ihnen, »der Spaß ist vorbei. Bleiben Sie stehen oder wir müssen Sie in den Lieferwagen stekken. Kommen Sie, Madam, Sie wissen doch, dass wir Sie überwältigen können, aber das ist doch bestimmt nicht nötig.« Chloe rannte weiter. Der Mann rechts von ihr warf seinem Kollegen die Waffe zu, und das Nächste, was sie wusste, war, dass er beide Arme um ihren Hals gelegt hatte und ihr mit den Knien in den Rücken sprang. Kurz bevor sie zu Boden ging, verlagerte er sein Gewicht, sodass sie mit dem Gesicht auf dem Asphalt aufschlug. Chloe merkte, dass sie verletzt war; Blut tropfte von ihrer Stirn. Er drückte ihr sein Knie in den Nacken, zog ihre Hände zurück und legte ihr Handschellen an. Da sie es ihm möglichst schwer machen wollte, ließ sie ihren Körper erschlaffen. »Wie Sie wollen«, sagte einer der Männer. Er packte die 76
Handschellen und zerrte sie zum Lieferwagen. Ganz bewusst hielt sie den Kopf unten und ließ sich von Sand und Steinen das Gesicht zerkratzen. Als sie auf dem Bauch neben dem Lieferwagen lag, konnte sie nicht an den Handschellen hochgehoben werden, ohne dass ihre Schultern ausgekugelt wurden, was der Soldat beinahe tat. »Es geht auch leichter«, sagte ein junger Soldat, »aber wenn es das ist, was sie will …« Er packte ihre Füße und befestigte sie mit einem Plastikband an den Handschellen. Dann warf er sie in den Lieferwagen. Chloe war sicher, dass sie sich eine Rippe gebrochen hatte. Während der 25-minütigen Fahrt zum Hauptquartier begann Chloe zu beten. Gott, gib mir Kraft. Lass mich sterben, bevor ich irgendetwas verrate. Sei bei Kenny, Buck und Dad. Sie erinnerte sich daran, wie George erzählt hatte, er habe mit seinen Bewachern in Griechenland überhaupt nicht gesprochen. Wenn sie nur auch diese Stärke hätte. Sie würde sie lieber verspotten, ärgern, in die Irre führen. War es besser, alles still über sich ergehen zu lassen oder zurückzuschießen, ihnen zu zeigen, dass sie kein Schwächling war? Folter. Würde sie sie ertragen können? Mit deiner Hilfe, Gott. Lass mich meinen Körper für meine Lieben hingeben. Im Hauptquartier wurden ihr die Handschellen abgenommen. Man durchsuchte sie und fragte erneut nach ihrem Namen und nach ihrer Heimatregion. Chloe schwieg. Vorsichtig berührte sie mit den Händen die Abschürfungen an Stirn und Wangen. »Sie hat es uns doch bereits gesagt. Phoebe Evangelista, Amerikanerin.« »Dann sollte doch irgendwo unter diesem Blut eine 6 zu finden sein. Hol mal ein nasses Tuch und wisch es ab.« Jemand hielt Chloe am Hinterkopf fest und betupfte mit dem Tuch ihr Gesicht. Sie schrie auf. »Ich kann nichts erkennen. Das heißt aber nicht, dass es nicht da ist. Habt ihr ihren Namen und ihre Beschreibung in den 77
Computer eingegeben?« »Ja. Bisher aber ohne Ergebnis. Wascht sie und steckt sie in einen Overall. Und nehmt ihre Fingerabdrücke.« Chloe war versucht, sich wieder ohnmächtig zu stellen und sich von den Mitarbeitern der Weltgemeinschaft ausziehen zu lassen, doch sie tat dennoch, was man ihr sagte. Mit brennendem Gesicht verließ sie die Dusche, zog einen dunkelgrünen Overall an und ballte die Fäuste. Man führte sie in den Raum, in dem sie fotografiert werden sollte und ihre Fingerabdrücke genommen werden sollten. Die ganze Zeit hielt sie die Fäuste geballt. Chloe sah so vollkommen anders aus als das Mädchen, das sechs Jahre zuvor an der Universität in Stanford studiert hatte, dass sie sich keine Gedanken darum machte, ihr Foto könne sie verraten. Eine stämmige Mexikanerin griff nach Chloes Hand und sagte: »Rechte Hand zuerst, bitte.« Chloe schüttelte den Kopf. »Kommen Sie schon, Süße. Sie wollen sich doch wohl nicht gegen mich zur Wehr setzen. Man wird auf jeden Fall Ihre Fingerabdrücke nehmen, also können Sie genauso gut mich das machen lassen.« Chloe schüttelte erneut den Kopf. »Ich werde Ihnen die Fingerabdrücke abnehmen. Wie hätten Sie’s denn gerne: Soll ich ein paar Männer hereinrufen, die Sie festhalten? Denn wenn ich das tue, werde ich dieses Ding hier einsetzen.« Die stämmige Frau zeigte Chloe ein hässliches Metallseil, das dem Gerät ähnelte, das Hundefänger einsetzten, um kleine Hunde zu fangen. »Ich lege dies um Ihr Handgelenk. Wenn ich es festzerre, wird sich Ihre Hand öffnen. Ich weiß nicht, wer Sie sind oder warum Sie hier sind, aber das wollen Sie bestimmt nicht durchmachen.« Chloe schüttelte erneut den Kopf und die Frau bat über ihr 78
Funkgerät um Unterstützung. Chloe wehrte sich gegen die beiden jungen Männer, aber wie die Frau gesagt hatte, lohnte es kaum den Aufwand. Nachdem sich die Metallschlinge um ihren Arm geschlossen hatte, öffnete sich ihre Hand und ihre Fingerabdrücke wurden über das Internet an die Datenbanken auf der ganzen Welt geschickt. »Wir scannen auch Ihre Netzhaut, Süße. Wenn Sie je einen Führerschein gemacht, am College studiert oder geheiratet haben, werden wir Sie schon finden.« Chloe hoffte nur, dass bei der Weltgemeinschaft wie überall sonst Personalknappheit herrschte. Vielleicht würde es eine Weile dauern, sodass Buck, George und die anderen sie herausholen konnten. Wem mache ich hier eigentlich etwas vor? Rayford hatte auf ein paar Ruhetage gehofft, bevor er wieder nach San Diego zurückflog, aber ihm blieb keine Wahl, als Petra sofort nach dem Auftanken wieder zu verlassen. Verblüfft nahm er zur Kenntnis, dass Mac McCullum auf ihn wartete. »Ich habe es von Buck erfahren«, erklärte Mac. »Dachte, Tsion und Chaim sollten darüber Bescheid wissen, damit sie zusammen mit den Leuten hier beten können. Albie hat bereits einen Kontaktmann wegen Al Hillah; er braucht mich nicht. Ich bin dein Pilot.« »Mac, das kann ich nicht von dir erwarten –« »Das tust du ja auch nicht. Ich melde mich freiwillig. Und wenn du nicht dickköpfig bist und deinen Rang heraushängen lässt, pack lieber deine Sachen.« Rayford war sehr dankbar dafür. In der Luft erklärte Mac ihm: »Du kannst nachdenken, beten, schlafen oder reden. Ich fliege dieses Baby nach San Diego und ich freue mich auf das Wiedersehen mit den anderen und das Kennenlernen der Neu79
en. Ich schätze, dass Chloe dort schon auf uns wartet.« »Bis auf den letzten Punkt bin ich ganz deiner Meinung«, erwiderte Rayford. »Aber bei dieser Sache habe ich ein ganz schlechtes Gefühl. Wenn Buck und George sie nicht bald entdecken oder herausfinden, dass die Weltgemeinschaft sie geschnappt hat, müssen wir unsere Leute dort wegschaffen.« »Und wohin sollen wir sie bringen?« »Petra ist der einzige Ort, der mir da einfällt.« »Chloe wird nichts verraten. Es sei denn, sie haben sie aus dem unterirdischen Versteck kommen sehen. Was haben sie schon in der Hand?« »Sie hielt sich bestimmt in diesem Bereich auf. Wenn sie sie nicht davon überzeugen kann, dass sie von woanders gekommen ist, haben sie auf jeden Fall einen Anhaltspunkt, wo sie mit ihrer Suche beginnen können.« Rayford barg den Kopf in den Händen und versuchte zu schlafen. Es hatte keinen Zweck. Er konnte nur beten. Chloe war von Anfang an sein Liebling gewesen. Sie liebte die Schule, war neugierig, zielstrebig, eigensinnig. Sie hatte sich als letztes Mitglied der Familie für Christus entschieden, und Rayford machte sich keine Illusionen darüber, dass er die Verantwortung für ihr früheres Zögern trug. Er hatte ihr beigebracht, nur das zu glauben, was sie sehen, riechen und berühren konnte. Chloe wollte immer in Aktion sein, mitten im Geschehen, und wenn jemand ihr das verweigerte, dann handelte sie eben auf eigene Faust. Er wollte ihr das übel nehmen, vor allem jetzt, aber seine Sorge und Furcht lahmten ihn. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als zu erfahren, dass sie in Sicherheit und wieder bei Buck und Kenny war. Egal, was passierte: Sie würden eines Tages wieder zusammen sein, und zwar in weniger als einem Jahr. Aber irgendwie war dieser Gedanke nicht so tröstlich, wie er angenommen hatte. Wenn sie starben, würden sie bei Christus sein, und sollten 80
sie überleben, würden sie 1000 Jahre mit ihm auf dieser Erde leben. Aber der Gedanke an das Sterben war Furcht erregend. Vermutlich würde jedes Mitglied der Tribulation Force, das im kommenden Jahr noch starb, ein Märtyrer sein, aber trotzdem würden ihre Angehörigen um sie trauern, sie vermissen. Und das Schlimmste war, Rayford mochte gar nicht daran denken, wie seine geliebte Tochter vermutlich sterben würde. Das Leiden würde vielleicht nur kurze Zeit dauern, aber niemand wollte sich vorstellen, dass ein geliebter Mensch etwas so Schlimmes wie Folter durchmachen musste. »Vater«, betete Rayford, »lass dies schlimmstenfalls ein Umzug werden. Ich habe bestimmt keine Sonderbehandlung verdient. Ich habe es nicht verdient, dass meine Tochter auf übernatürliche Weise beschützt wird. Du brauchst sie nicht; du brauchst keinen von uns. Aber wir haben uns dir verschrieben und vertrauen darauf, dass du weißt, was du tust.« Jock war ein großer, dicker Mann, dessen Uniform ihm früher vielleicht einmal gepasst hatte, doch da sie mittlerweile sehr eng saß, sah er jetzt wie ein Würstchen darin aus. Er ließ Chloe von seinem Untergebenen aus einer kleinen Zelle in einen etwas größeren Raum bringen. Mit der Hand deutete er auf einen Stuhl und sie setzte sich ihm gegenüber an einen Metalltisch. Jock ließ einen Aktenordner auf den Tisch fallen, zog seine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Müde und laut seufzend ließ er sich auf den Stuhl sinken. »Also, Phoebe Evangelista, wie ist Ihnen denn dieser Name eingefallen?« Chloe starrte ihn an. Er sprach mit australischem Akzent und trug eine »18« auf der Stirn. Eine Tätowierung auf dem Handrücken zeigte das Gesicht von Nicolai Carpathia. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?« Chloe zog die Augenbrauen in die Höhe und nickte. »Nun, was interessiert es mich, ob Sie etwas dagegen haben. Ich habe heute viel Arbeit junge Dame, und Sie halten mich davon ab.« 81
»Dann machen Sie sich doch an die Arbeit«, sagte Chloe. »Sie kann also doch reden«, kommentierte Jock und zog eine schlanke Zigarre aus der Tasche. »Ich dachte, Sie würden zu der ganz schweigsamen Sorte gehören. Also, Sie sind meine Arbeit und Sie waren ein ungezogenes Mädchen. Sie haben meine Leute angelogen, nicht wahr?« »Ja.« »Wollen Sie jetzt reden oder soll ich Ihnen sagen, was wir herausgefunden haben?« Chloe zuckte die Achseln. »Aus Ihnen werden wir nichts herausbekommen, oder?« »Nein.« »Es hat eine Weile gedauert, aber wir sind tatsächlich fündig geworden. Bei uns herrscht nicht nur Personalmangel, unsere Systeme stürzen ab und –« »Das bricht mir das Herz.« Jock griff nach seiner Akte. »Ja, nun, nach dem, was wir gefunden haben, kann ich mir das vorstellen. Ich habe heute Morgen gute und schlechte Nachrichten für Sie, Mrs. Williams. Welche möchten Sie hören?« Jetzt war es passiert. Innerhalb weniger Stunden hatten die Fingerabdrücke oder der Netzhautscan sie verraten. »Nichts, was Sie sagen, ist eine gute Nachricht.« »Seien Sie nicht zu voreilig. Wir sind vernünftige Menschen, auch wenn Sie und Ihresgleichen anderer Meinung sind und versuchen, alle Schafe, die diesem Dummkopf Ben-Judah folgen, vom Gegenteil zu überzeugen.« Tsion hat mehr Verstand in seinem kleinen Finger als ihr alle zusammen. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten.« »Ich möchte ihn nicht hören.« »Aber sicher werden Sie das.« »Lassen Sie mich raten: meine Freiheit gegen ein paar Informationen?« »Nun, Sie können sich so arrogant geben, wie Sie möchten, 82
Mama, aber ich denke, Sie werden mich anhören, wenn der Vorteil für Sie mit Ihrem Kind zu tun hat.«
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5 Albies Schwarzmarktwelt war eine Schattenlandschaft, in der es vorwiegend Spitznamen und Anfangsbuchstaben gab. Albie selbst hatte sich nach seiner Heimatstadt Al Basrah benannt. Leute, die wussten, wer er war, wussten auch, wie sie ihn erreichen konnten. Bevor er Christ wurde, hatte Albie zu den drei bekanntesten Schwarzmarkthändlern des Mittleren Osten gehört. Nach seiner Entscheidung für Christus blieben nur noch zwei übrig und nach dem Tod von einem von ihnen – durch die Hand des anderen nach einem geplatzten Geschäft, wie man sich erzählte – war es nur noch einer. Und mit diesem Mann wollte Albie in Kontakt treten. Albie hatte Double-M oder Mainyu Mazda nie gemocht, auch nicht, als er selbst noch dazugehört hatte. Ein Mord an einem Menschen war für Mainyu keine große Angelegenheit. Auf diese Weise hatte er seinen Ruf bewahrt und seine führende Rolle verteidigt. Wenn man etwas brauchte, irgendetwas, dann war er der richtige Mann. Aber zu bedauern war derjenige, der je den Versuch unternahm, diesen Mann zu betrügen oder hinters Licht zu führen. Man erzählte sich, dass er höchstpersönlich ein Dutzend Menschen ermordet hatte, darunter auch eine seiner Frauen, die ihren Teil eines Abkommens nicht eingehalten hatten. Niemand wagte zu sagen, wie oft er andere mit einem Mord beauftragt hatte. Diejenigen, die Bescheid wussten, behaupteten, Mainyu würde jeden Mord von eigener Hand feiern, indem er sich ein doppeltes M auf den Hals tätowieren ließ. Begonnen hatte er damit vor 20 Jahren, nachdem er in einem kuwaitischen Gefängnis einen Wachposten erwürgt hatte. Die erste Tätowierung hatte er selbst vorgenommen, die Farbe war eine Mischung aus Gummiabrieb von den Sohlen seiner Schuhe, Farbspänen von den Gefängnisgittern und Blut gewesen. Er hatte eine spitze Büroklammer über der Flamme eines Feuerzeugs 84
erhitzt und sich dann damit tätowiert. Dieses erste doppelte M hatte er unmittelbar unterhalb seines Adamsapfels angebracht. Für jeden weiteren Mord folgte eine weitere Tätowierung. So konnten die Menschen sehen, wie viele Morde er begangen hatte. Als Albie Mainyu das letzte Mal begegnet war, hatte dessen »Halsband« aus zwölf doppelten M bestanden. Die neueren Tätowierungen waren deutlicher und professionell durchgeführt. Albie ließ auf der Straße verlauten, er wolle mit Mainyu sprechen, und innerhalb von zwei Stunden wurde ein Zettel mit einer Adresse auf der Abadan-Insel im Shatt al Arab im südwestlichen Iran unter seiner Tür hindurchgeschoben. Es sah MM ähnlich, dem Ruf des Geldes zu folgen. Pipelines verbanden Abadans riesige Raffinerie mit den Ölfeldern des Iran. Natürlich führte Mainyu seinen Schwarzmarkthandel im Untergrund der Stadt durch. Wie alle anderen, die das Loyalitätszeichen Carpathias nicht trugen, war Albie zu einer Gestalt der Nacht geworden. Er und Mac bewohnten gemeinsam eine Wohnung in einem entlegenen Viertel Al Basrahs. Dem Vermieter war es gleichgültig, ob die Mieter das Loyalitätszeichen trugen oder nicht. Hauptsache, die Miete kam pünktlich und in voller Höhe am Ersten des Monats. Albie hatte Mac den Motorroller als Fortbewegungsmittel schmackhaft gemacht. Diese wogen nicht viel und man konnte sie problemlos in der Wohnung oder im Wald in der Nähe des kleinen Flugplatzes verbergen. Albie würde warten, bis die Sonne untergegangen war, bevor er sich auf eine Reise begeben würde, die ihn auf seinem Motorroller zu der Insel führen würde. Die gesuchte Adresse lag 30 Meilen von seiner Wohnung entfernt. Als Jock unerwartet das Gespräch darauf brachte, dass Chloe das Frühstück vermutlich schon übergangen hätte, lief ihr das 85
Wasser im Munde zusammen. »Aber Sie werden sicher verstehen, Madam, dass wir nichtkooperationsbereite Gefangene nicht noch durchfüttern können. Sicher werden Sie aber irgendwann irgendeinen nahrhaften Energieriegel bekommen, der Sie bis zu Ihrer Hinrichtung am Leben erhält.« Er klopfte auf seine Akte. »Ich kann nicht genau sagen, wann ich Nachricht vom internationalen Hauptquartier bekommen werde, aber ich denke, das hier könnte ein großes Spektakel werden. Denken Sie nicht?« »Das ist mir egal.« »Aber Ihr Kind – wie heißt es noch mal?« Chloe senkte den Blick und presste die Lippen aufeinander. Wie gern würde sie den Namen ihres Kindes nennen. Kenneth Bruce Williams. Kenny Bruce. Kenny B. Aber diesem Mann würde sie ihn nicht verraten. Kennys Geburt war offiziell nicht registriert und die Weltgemeinschaft wusste nicht, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen hatte. »Es kann doch nicht schaden, wenn ich den Namen kenne.« »Phoebe Evangelista jr.« Jock blickte zur Decke hinauf und verdrehte die Augen. »Wissen Sie was? Ich finde das überhaupt nicht lustig. Ich bin aber auch nicht erstaunt, denn ich habe schon mit Leuten Ihres Schlages zu tun gehabt. Einige behaupten, es sei bewundernswert, dass ihr an eurer Sache festhaltet, obwohl ihr wisst, dass ihr am Ende verlieren werdet. Aber ich hätte gedacht, dass ein religiöser Mensch – und das sind Sie doch, nicht wahr? –, also, ich hätte gedacht, dass Ihnen das Wohl Ihres Kindes mehr am Herzen liegen würde. Ist es ein Mädchen? Wie alt ist sie jetzt?« »Sehen Sie«, erwiderte Chloe, »Sie wissen, wer ich bin und was ich bin und was ich nicht bin. Auf keinen Fall bin ich ein Anhänger Carpathias. Darauf steht die Todesstrafe, also warum machen Sie nicht einfach –« »Oh, einen Augenblick mal, Madam. Diese Dinge sind Verhandlungssache. Ziehen Sie keine voreiligen Schi-« 86
»Ich werde Ihnen keine Informationen liefern, um meine Strafe abzumildern. Ich bin an einem Leben im Gefängnis nicht interessiert. Ich würde das Zeichen nicht annehmen, selbst wenn Sie mir versprechen würden, meine Familie zu verschonen. Und jeder weiß, dass die, die das Zeichen annehmen, trotzdem hingerichtet werden.« »Oh, wo haben Sie das denn gehört? Das ist ja schrecklich. Und noch dazu eine Lüge.« »Wie Sie meinen.« Jock lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und rief nach dem Wachhabenden, der vor der Tür stand: »Nigel?« »Sir?« »Könnten Sie ein Fenster öffnen? Es ist sehr stickig hier drin.« Der junge Beamte öffnete das Fenster und verließ danach wieder den Raum. Chloe konnte erkennen, dass dieses mit dicken Gitterstäben versehen war. Ein Entkommen würde nicht möglich sein. »Es ist nur fair, dass ich Ihnen sage, was ich anzubieten habe«, fuhr Jock fort. »Sehen Sie, wir wissen mehr als nur Ihren Namen. Wir wissen, dass Sie vor sechs Jahren die Universität Stanford verlassen haben. Wir wissen, dass Sie die Tochter von Potentat Carpathias erstem Pilot sind. Ihr Vater hat sich den Subversiven angeschlossen und war vielleicht sogar an der Ermordung des Potentaten beteiligt. Ihr Mann ist auch ein früherer Angestellter Seiner Exzellenz und gibt nun eine subversive Internetzeitung heraus. Sie stehen in enger Verbindung zu Tsion Ben-Judah und dem verräterischen Attentäter Chaim Rosenzweig. Und Sie, Mrs. Williams, sind auch keine jungfräuliche Braut mehr. Nein. Sie sind Leiterin des judahitischen Schwarzmarktes und sorgen dafür, dass Millionen von Menschen am Leben bleiben, die nicht das Recht haben, zu kaufen oder zu verkaufen, weil sie das Zeichen des Potentaten nicht tragen. Nein, Madam, Ihnen sollte man eigentlich kein Angebot ma87
chen, keinen Handel anbieten, keine Pause verschaffen, nicht einmal etwas für Ihr Kind tun. Denn mehr noch: Sie waren an einer Operation in Griechenland beteiligt, wo Sie sich als Offizier der Weltgemeinschaft ausgegeben haben.« »Woher wissen Sie das?« Die Worte waren heraus, bevor Chloe nachdenken konnte. Gab es einen Maulwurf in ihren eigenen Reihen? Sie konnte nicht erkannt worden sein. »Ich sage es Ihnen, wenn Sie mir etwas verraten.« »Ist auch egal.« »Das haben Sie dem Netzhautscan zu verdanken. Normale Sicherheitskameras wie die in unserem Hauptquartier in Ptolemais können ein recht gutes Bild Ihrer Iris aufzeichnen und es mit dem vergleichen, das aufgenommen wurde, als Sie sich in Stanford eingeschrieben haben. Dabei gibt es viermal so viele Vergleichspunkte wie bei einem Fingerabdruck und noch nie hat es einen Irrtum gegeben. Zum Glück für Ihren Kollegen, der einen unserer Beamten in dem Gebäude ermordet hat, haben wir ihn nicht ausfindig machen können. Aber er hält sich hier in der Stadt auf, nicht? Wie weit entfernt? Wie weit von der Stelle entfernt, an der Sie gejoggt sind?« Buck konnte kaum glauben, was er da hörte. Und noch dazu ausgerechnet von Sebastian, der nur wegen des selbstlosen, heldenhaften Handelns der Mitglieder der Tribulation Force – und vor allem Chloes – hier saß. »Es fällt mir nicht leicht, Buck«, sagte George. »Aber wir müssen das Wohlergehen von 200 Menschen gegen die fast aussichtslose Rettung einer Person abwägen.« »Erstens«, erwiderte Buck, »gehst du davon aus, dass die Weltgemeinschaft sie geschnappt hat. Sie könnte sonst wo sein. Aber selbst wenn du Recht hast, inwiefern ist ihre Situation aussichtsloser als die, in der du dich befunden hast?« »Buck, ich weiß, okay? Auch ich will auf keinen Fall untätig zusehen. Aber hier gibt es einen großen Unterschied: Der Ge88
fangene in dieser Situation war ein großer und starker Mann, der darauf trainiert war zu töten. Und trotz allem, was Mac, Hannah und Chloe meinetwegen unternommen haben, stand ich, wie du dich sicher erinnerst, meinen Bewachern doch allein gegenüber. Selbst dann standen die Chancen schlecht und es hätte so oder so ausgehen können. Angenommen, ich hätte versagt und die drei wären verraten worden. Dann hätten wir vier Leute verloren. Wenn wir das hiesige Hauptquartier stürmen, könnten wir alles verlieren.« »Und was schlägst du vor? Lassen wir sie verrotten, während wir uns in Petra in Sicherheit bringen?« »Ich stelle mir Folgendes für Ihr Kind vor, Mrs. Williams«, erklärte Jock, »für den Fall, dass Sie zur Vernunft kommen und uns ein wenig helfen. Ich schätze, Sie würden es vorziehen, dass Ihr Sohn oder Ihre Tochter weiterhin so lebt, wie auch Sie und Ihr Mann leben. Das läuft unseren Zielen natürlich zuwider. Wir möchten, dass alle Kinder der JuniorWeltgemeinschaft angehören, bevor sie ihre Schulausbildung beginnen. Aber in Ihrem Fall sind wir bereit, Ihr Kind erst einmal zu ignorieren, bis es zwölf Jahre alt ist.« »Und wer würde ihn großziehen?«, fragte Chloe. Sie wand sich und musste feststellen, dass Hunger tatsächlich eine effektive Taktik war. »Dann sprechen wir also über einen Jungen. Auch gut. Möchten Sie mir nicht den Namen nennen, um unsere Verhandlungen zu erleichtern?« Chloe antwortete nicht. Das waren keine Verhandlungen. Sie musste Kenny nur noch ein weiteres Jahr schützen, dann hätte die Weltgemeinschaft keinerlei Möglichkeiten mehr, ihn in die Finger zu bekommen. »Aber, Mrs. Williams, Sie sind doch eine kluge Frau. Sie müssen doch wissen, was für ein Fang Sie für uns sind. Die 89
Judahiten haben uns viele Unannehmlichkeiten bereitet und uns oft in Verlegenheit gebracht, das muss ich zugeben. Es besteht kein Zweifel daran, dass Ihre Leute auch irgendwie hinter unserem kleinen Problem in Neu-Babylon stecken. Sie können uns helfen. Ich bin nicht so naiv zu denken, Sie würden das wollen, aber ich versuche, Ihnen einen Grund zu liefern. Sie haben uns etwas anzubieten.« »Darf ich aufstehen?« »Natürlich, aber ich möchte Sie warnen, wir sind eingeschlossen. Ich bin dreimal so schwer wie Sie. Aber nur mal angenommen, Sie würden mich irgendwie überwältigen, mir das Genick brechen oder so, Sie würden hier nicht herauskommen.« »Ich möchte mich nur ein wenig bewegen, Sir.« »Fühlen Sie sich frei. Und nennen Sie mich Jock.« Klar, Sie sind ja jetzt mein bester Freund. »Hey, möchten Sie Frühstück?« »Natürlich.« »Ich auch. Was möchten Sie haben?« »Ich bin nicht anspruchsvoll.« »Ich schon. Ich schwärme für das gute, alte traditionelle Frühstück: Eier, Speck, Würstchen, Toast, Pfannkuchen mit Ahornsirup. Möchten Sie auch?« Er macht bestimmt Witze. Chloe erhob sich mit verschränkten Armen und wandte sich ab. »Kommen Sie! Ich kann Sie nicht dazu bringen, mich beim Vornamen zu nennen. Ich kann Sie nicht dazu bringen, mir zu sagen, was Sie essen möchten. Werden Sie mir wenigstens Gesellschaft leisten? Nehmen Sie, was ich nehme?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich nicht wählerisch bin.« »Sie haben mir auch gesagt, dass Sie hungrig sind. Dann werde ich also für uns bestellen, ja, Chloe? Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Sie Chloe nenne?« »Um ehrlich zu sein, ja.« 90
»Na gut, dann also Mrs. Williams, wenn Sie wollen. Wie Sie möchten. Nur sagen Sie mir Ihre Wünsche und Vorlieben. Wenn das Kissen in Ihrer Zelle nicht weich genug ist, sagen Sie Bescheid. Oder melden Sie sich am Empfang.« Jetzt war die Maske also gefallen. Chloe hatte ihn davon überzeugt, dass sie nicht kooperieren würde, darum spielte er jetzt den guten Cop. Oder etwa nicht? Jock ging an ihr vorbei und rief erneut nach Nigel. Sie hörte, wie er das beschriebene Frühstück bestellte. Danach wandte er sich ihr wieder zu. »Die Mahlzeiten sind hier wie in jedem anderen Gefängnis, Chloe, aber selbst dem schlechtesten Koch dürfte es schwer fallen, ein Frühstück zu verderben. Also hören Sie mir zu, während wir warten … Ich sehe, Sie sind nicht so leicht umzustimmen. Das hatte ich auch gar nicht erwartet, und ich hätte Sie nicht respektiert, wenn es so leicht gewesen wäre. Ich schlage Ihnen Folgendes vor: Sie wissen, dass nichts, was Sie uns verraten, Ihnen die Freiheit bringen wird. Wie würden wir in der Öffentlichkeit dastehen? Aber ich kann Ihre Hinrichtung in eine lebenslange Haftstrafe umwandeln lassen, und ich kann dafür sorgen, dass Sie in eine Haftanstalt kommen, in der es sich recht gut leben lässt. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Natürlich würde es sich dabei um ein Hochsicherheitsgefängnis handeln, aber Sie würden die Vormundschaft über Ihren Sohn behalten, bis er zwölf Jahre alt ist.« Tatsache war, Kenny war bei Buck, und wenn sie sich zusammenriss, würde sich daran auch nichts ändern. Wenn sie nur Buck warnen könnte, damit sie aus dem Versteck verschwanden und nach Petra gingen. Chloe war ein wenig schwindelig vor Hunger. »Und was muss ich dafür tun?« »Natürlich müssen Sie das Loyalitätszeichen annehmen. Sonst würde unsere Glaubwürdigkeit erschüttert. Das bringt Ihnen Leben statt Tod. Aber was Ihnen eine anständige Haftan91
stalt und die Vormundschaft über Ihren Sohn einbringt, sind Informationen.« »Sie denken, ich würde meine Leute verraten.« »Ja, das denke ich schon. Und wissen Sie, warum? Weil Sie eine liebende Mutter sind. Denken Sie allen Ernstes, Ihre Leute würden Sie nicht sofort aufgeben, um ihre Haut zu retten? Ich bitte Sie!« Albie erschauderte, als er mit seinem Motorroller durch Abadan fuhr. Er hatte seine Kappe tief in die Augen gezogen. In Al Basrah war es auch nicht besser, aber Abadan musste Sodom und Gomorrha ähneln, bevor Gott diese Städte zerstört hatte. Jede Form der Sünde und der Ausschweifung wurde gleich auf der Straße ausgeübt. Die ehemals verborgene Schattenseite der Stadt war jetzt die Stadt. Eine Bar reihte sich an die nächste, dazwischen fand man Wahrsagerzelte, Bordelle, Sexshops und Clubs, in denen Perversionen jeglicher Art praktiziert Wurden. Der Geruch von Haschisch durchdrang die Luft. Kokain- und Heroinhandel wurden auf offener Straße betrieben. Die Friedenstruppen der Weltgemeinschaft und die Moralüberwacher hatten früher mehrmals wöchentlich Razzien durchgeführt, doch da ihre Reihen sich mehr und mehr lichteten, beschränkten sie sich nun ausschließlich auf Verbrechen gegen die Regierung. Wenn man es nur einmal versäumte, sich wie gefordert dreimal vor dem Bild Carpathias zu verbeugen und den Kratzfuß zu machen, wurde man ins Gefängnis gesteckt. Ohne Loyalitätszeichen erwischt? In diesem Punkt gab es keine Gnade. Sie spielten gern mit den Menschen und sagten diesen, sie hätten noch eine letzte Chance. Wenn ein dankbar weinender Mensch sich dann voller Eifer einem Zentrum zur Verteilung des Loyalitätszeichens näherte, wurde er als abschreckendes Beispiel zur Guillotine gezerrt. Auch wenn die Zustände in Abadan ganz übel geworden waren, gab es noch einen schlimmeren Teil der Stadt, und dort 92
betrieben Mainyu Mazda und seine Leute ihre Geschäfte. Auf dem Markt, wo lautes Feilschen und Betrügereien an der Tagesordnung waren, standen provisorische Zelte und Bretterbuden ohne Dach. Eine Plane in der Ecke konnte schnell an den Eckpfosten befestigt werden, sollte es anfangen zu regnen, aber ansonsten hielten die Schwarzmarkthändler und ihre Handlanger (einer stand immer draußen Wache) im Inneren Hof, trafen sich mit Leuten, die irgendetwas haben wollten und bereit waren, einen hohen Preis dafür zu bezahlen. Albie schaltete den Motor ab, blieb aber auf seinem Motorroller sitzen. Er schob das Zweirad mit den Füßen durch die engen Gassen. Unter den schlafenden Betrunkenen befanden sich auch Verrückte, Damen mit schlechtem Ruf, Männer und Frauen, die alle möglichen Waren zum Kauf anboten. Alle winkten dem in Leder gekleideten, schmächtigen Mann auf seinem Motorroller zu und boten ihm ihre Waren an. Albie sah weder nach rechts noch nach links, mied den Blickkontakt. Er wusste, wohin er unterwegs war, und bemühte sich, auch nach außen hin diesen Eindruck zu vermitteln. Er konnte einen gewissen Stolz darüber, dass er mit seinem Geschäft niemals so tief gesunken war, nicht unterdrücken. Was er vor Jahren getan hatte, war zweifelsohne illegal gewesen, und keine Umstände konnten dies rechtfertigen. Aber im Vergleich zu dem, was er hier sah, hatte er Klasse gehabt. Er hatte einen Flughafen geleitet – das war seine Tarnung gewesen. Und seine Klientel waren in der Regel reiche Geschäftsleute und Piloten gewesen, keine Verbrecher und Ganoven. Aber er kannte diese Welt und ihre Sprache. Er brauchte einen Jock steckte sich die erste Gabel voll Eier in den Mund, schob sie in die rechte Wange, ließ ein Stück Würstchen folgen und sprach mit vollem Mund. »Nigel hat Ihr Frühstück offensichtlich vergessen, nicht wahr, Chloe? Oh, stimmt. Sie haben bisher ja noch keine Kooperationsbereitschaft gezeigt, nicht? Nun, es liegt an Ihnen.« Mit großem Genuss verzehrte Jock 93
sein Frühstück, trank zwischendurch Kaffee, leckte sich die Lippen und grinste Chloe an. »Sie möchten doch sicher auch etwas? Nicht? Es ist wirklich gut. Ehrlich. Es liegt an Ihnen, Chloe. Ansonsten wird Nigel Sie im Auge behalten. Diesen Energieriegel wird man Ihnen in Ihre Zelle bringen; ich würde sagen, etwa eine Stunde, vielleicht zwei, nachdem Sie aufgegeben haben. Und ›Energie‹ ist vielleicht nicht das richtige Wort. Er soll Sie am Leben halten, bis wir Sie hinrichten können. Er enthält Nährstoffe, aber eigentlich keine Energie. Sie werden ihn trotzdem mögen, sich darauf freuen. Ich meine, kommen Sie, es ist natürlich kein Rührei mit Schinken, aber er wird Ihre einzige Mahlzeit sein.« Albie erreichte schließlich ein kleines Gebäude, das nicht mehr war als eine Ansammlung von verwitterten gelben Brettern, die mit Stacheldraht und Nägeln zusammengehalten wurden. Ein Vorhängeschloss hing vor der Tür, die wiederum von einem großen, schmächtigen Mann bewacht wurde. Albie kannte ihn noch von früher. Wenn er sich nicht irrte, hieß der Mann Sahib und war Mainyus Ex-Schwager. »Ex«, weil er der Bruder der Frau war, die Mainyu ermordet hatte. So viel zum Thema Familienbande. Albie stieg von seinem Motorroller und streckte dem Wächter seine Hand grüßend entgegen. Sahib ignorierte sie und sah ihn an. »Du willst diesen Motorroller verkaufen? Dann bist du hier richtig.« »Nein, ich möchte Mainyu sprechen, Sahib.« Überrascht blickte der Mann ihn genauer an. »Albie?« Und jetzt ergriff er auch die ausgestreckte Hand. Er hob einen Finger, schloss die Tür auf und verschwand. Albie hörte eine leise, aber hitzige Unterhaltung. Ein Fremder tauchte auf. Mit harten, kalten Augen sah er sich um, bevor er davoneilte. Sahib trat wieder aus der Hütte und schloss die Tür hinter 94
sich. »Zwei Minuten, Albie«, erklärte er und deutete an, dass Mainyu gerade telefonierte. »50 Dollar, wenn ich deinen Motorroller bewachen soll.« »20.« »25.« »Abgemacht. Und wenn er nicht so ist, wie ich ihn zurückgelassen habe, dann schlage ich dir den Schädel ein.« »Ich weiß, Albie. Du zahlst im Voraus.« »Zehn jetzt, 15 später.« »15 jetzt.« Albie zählte die Geldscheine ab. Das Handeln, sogar die Drohungen gehörten zu dem Spiel dazu. Aus der Hütte war ein Räuspern zu vernehmen, und Sahib beeilte sich, Albie hineinzuschieben. Als er Albie folgte, sah dieser eine kleine Frau aus einem ähnlichen Verschlag in der Nähe kommen. »Warte«, sagte er. »Sahib, du bewachst doch den Motorroller?« »Ich sagte, ich würde es tun. Ach, sie ist nur ein Gast, der euch Gesellschaft leisten wird.« Die junge Frau war von Kopf bis Fuß verhüllt. Sie hatte große Augen und blickte sie ernst an. Eine »42« prangte auf ihrer Stirn und sie trug eine Tasche bei sich. Sahib zog sie ins Innere und verließ den Verschlag wieder. Er verschloss die Tür hinter ihnen. Mainyu saß an einem wackligen Schreibtisch. Ein Becher stand vor ihm und beim Lächeln zeigte er erstaunlich weiße Zähne. »Albie, mein Freund, wie geht es dir?«, fragte er und begrüßte den Hereinkommenden herzlich. »Mir geht es gut, Mainyu. Aber ich muss darauf bestehen, mit dir unter vier Augen zu sprechen.« »Natürlich. Bitte setz dich doch.« Albie nahm auf einem verrosteten Klappstuhl Platz, während die Frau um den Tisch herumging, aus der Ecke eine Holzkiste 95
holte, sich darauf niederließ und ihre Tasche öffnete. Albie suchte Mainyus Blick und deutete mit dem Kopf auf die Frau. »Sie?« Mainyu winkte ab. »Tätowiererin. Was unser Geschäft angeht, hat sie weder Ohren noch Zunge.« Lächelnd holte die Frau ihre Instrumente heraus und richtete die Lampe aus, damit sie ihn besser sehen konnte. Er hob das Kinn, und sie desinfizierte einen kleinen Bereich seines Halses, wo offenbar eine Tätowierung angebracht werden sollte. »Du weißt, was man sich über meine Tätowierungen erzählt, alter Freund?« Albie lächelte. »Alle wissen es.« »Ob nun wahr oder nicht, es ist auf jeden Fall effektiv, oder?« »Effektiv, allerdings. Stimmt es, Mainyu?« »Natürlich.« »Und wer war dein letztes Opfer?« »Du meinst wohl, wer es sein wird?« »Wie bitte?« »Manchmal lasse ich mir die Tätowierung bereits im Voraus machen.« Obwohl er es angesichts der Situation nicht wollte, war Rayford eingedöst. Als er wieder zu sich kam und bemerkte, dass die Gulfstream sich bereits den Vereinigten Staaten näherte, kramte er in seinen Taschen herum. »Was ist los, Ray?«, fragte Mac. »Wie viel Uhr ist es in Neu-Babylon?« »Kurz vor zehn Uhr abends.« »Also Vormittag in San Diego und noch immer keine Nachricht. Buck hat versprochen anzurufen, wenn sie herausgefunden haben, wo sie ist. Erinnerst du dich noch an die Nummer der Zentrale im Palast?« »Die kannte ich nie. Du etwa?« »Früher einmal.« 96
»Sollte leicht zu erreichen sein. Aber da ist niemand mehr. Möchtest du jemand in Petra sprechen?« »Nein. Erinnerst du dich, was David oder Chang über diese Telefone gesagt haben? Dass man sie unmöglich zurückverfolgen kann?« »Daran kann ich mich allerdings erinnern.« Er nannte Rayford die Kombination von Symbolen und Zahlen, die bei den Satellitentelefonen die Herkunft des Anrufs verschleierten. Rayford gab die Nummer für eine internationale Vermittlungsstelle ein. »Den Palast der Weltgemeinschaft in NeuBabylon, bitte«, sagte er. »Ich verbinde Sie«, erklärte die Stimme am anderen Ende, »aber dort herrscht im Augenblick Dunkelheit und es könnte Verzögerungen geben.« »Danke.« »Sie sprechen mit dem Hauptquartier der Weltgemeinschaft, dem Palast in Neu-Babylon. Bitte gedulden Sie sich einen Augenblick. Auf Grund von technischen Schwierigkeiten ist es uns im Moment unmöglich, Ihren Anruf sofort entgegenzunehmen.« Und dann wurde wieder die Hymne »Heil dir, Carpathia« gespielt. »Weltgemeinschaft, mit wem kann ich Sie verbinden?« »Mit Krystall, bitte.« »Die Sekretärin im Büro des Potentaten?« »Natürlich.« »Sir, Sie rufen außerhalb der Arbeitszeit an. In den Büros ist niemand mehr.« »Das weiß ich. Ihre Wohnung, bitte.« »Wen darf ich melden?« »Ich werde es ihr sagen.« »Ich muss das wissen, Sir, sonst werde ich niemanden zu dieser Nachtzeit aus dem Bett holen.« 97
»Wenn Sie unbedingt wollen, hier spricht ihr Onkel Gregory.« »Einen Augenblick bitte.« Mac warf Rayford einen verblüfften Blick zu. »Onkel Gregory?« »Lange Geschichte.« »Langer Flug. Ich freue mich darauf.« »Onkel Gregory?«, meldete sich Krystall verschlafen. »Ist dies eine abhörsichere Leitung?«, fragte Rayford. »Ich denke schon. Ich weiß es nicht. Sie sind nicht mein Onkel, oder?« »Sie wissen, wer ich bin.« »Sie haben mir Ihren Namen nie gesagt.« »Sie wissen, dass ich ein Freund bin.« »Davon werde ich erst überzeugt sein, wenn Sie meinem Onkel wirklich helfen können. Ich habe Ihre Botschaft weitergegeben.« »Tatsächlich? Und nimmt er Verbindung auf?« »Ich denke schon.« »Glauben Sie mir, wenn er den Kontakt herstellt, werden meine Leute ihn mit allem versorgen, was er braucht.« »Dafür bin ich dankbar, aber warum ruf-« »Es geht um einen Gefallen.« »Ich wusste es doch. Ich kann nicht –« »Hören Sie mich doch zu Ende an. Ich hatte keine Ahnung, dass ich etwas brauchen würde, als ich mit Ihnen gesprochen habe. Ich brauche eine Information, die nur Sie mir geben können.« »Ich kann Ihnen keine Informationen geben.« »Ich erwarte nicht viel und keinesfalls möchte ich Sie in Schwierigkeiten bringen.« »Ach, was macht das schon?«, sagte sie. »In Schwierigkeiten zu sein ist auch nicht schlimmer, als gut bei ihm angesehen zu sein.« 98
»Ich muss wissen, ob Sie etwas über eine wichtige Verhaftung in den Vereinigten Nordamerikanischen Staaten wissen. Es handelt sich um eine junge Frau –« »Ja, ja! Gestern Abend, schon einige Stunden nach Feierabend. Wir haben wegen des Umzugs morgen Nachmittag noch gearbeitet – Mr. Akbar kam ganz aufgeregt herein und sprach von einem Durchbruch in San Diego. Unsere dortigen Mitarbeiter haben wohl jemanden verhaftet, der in enger Verbindung zu den Judahiten steht.« »Haben Sie eine Ahnung, was sie vorhaben –« »Mehr weiß ich nicht. Wirklich.« »Ich weiß das mehr zu schätzen, als ich sagen kann, Krystall. Kann ich noch irgendetwas für Sie tun?« »Was könnten Sie denn schon für mich tun?« »Ich wünschte nur –« »Sehende Augen können Sie mir nicht schicken und sonst fällt mir nichts ein.«
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6 Die Tätowiererin zog ihre Gummihandschuhe an und fragte Mainyu Mazda mit indischem Akzent, ob er eine Betäubung wünsche. Entsetzt starrte er sie an. »Sie nehmen offensichtlich nie eine«, sagte sie daraufhin. »Kopf zurück, Kinn hoch.« Albie hatte damit gerechnet, dass eine Begegnung mit diesem Mann in diesem Teil der Stadt seltsam verlaufen würde, aber nie hätte er erwartet, eine Tätowierung mit ansehen zu müssen. »Sprich, mein Freund«, forderte Mainyu ihn mit einer Geste auf. »Warum bist du zu mir gekommen?« Albie beugte sich vor, die Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, und erzählte MM von der dringenden Angelegenheit in Al Hillah. Die batteriebetriebene Tätowierungsnadel der Frau gab schnelle, klickende Geräusche von sich. Mainyu zuckte zusammen, ermutigte Albie aber mit »Ähs« und »Hms«. Schließlich sagte er: »Einen Augenblick, Kashmir.« Die Frau zog sich zurück und beschäftigte sich im Schein der Lampe mit der Nadel. »Es ist kein Geheimnis, dass du kein Freund des Potentaten bist«, sagte MM. Albie lächelte. »An einigen Orten ist es hoffentlich ein Geheimnis.« »Warum lässt du dir nicht von Kashmir ein Loyalitätszeichen geben? Jede Zahl, die du möchtest.« »Du weißt, dass das nicht geht, Mainyu.« »Ach ja. Du bist jetzt Judahit und glaubst an die bösen Geister.« »Die bösen Gei-« Mainyu winkte mit dem Handrücken ab. »Glaubt ihr nicht, dass jemand, der das Zeichen Carpathias angenommen hat, in die Hölle kommt oder so etwas?« »Wichtiger ist noch, wem die eigene Loyalität gilt.« MM 100
blickte Kashmir an, lehnte sich zurück und grinste Albie an. Er begann laut zu lachen. »Du willst doch jetzt nicht anfangen, mich zu bearbeiten, alter Freund, oder? Ich hatte mich schon gefragt, ob du das wohl tun würdest.« »Nein, du hast deine Entscheidung schon getroffen. Ich frage mich nur, warum du eine 72 und keine 216 hast.« »Du denkst, ich sei ein Freund des internationalen Regimes?« »Nun, ich habe mich gefragt –« »Ob mein Zeichen echt ist? Du müsstest mich doch besser kennen.« Er spuckte aus. »Aber die Strafe für ein gefälschtes Zeichen ist noch schlimmer als die Todesstrafe«, wandte Albie ein. »Öffentliche Folter, ich weiß«, erwiderte Mainyu. »Doch die Weltgemeinschaft ist an mir nicht interessiert, es sei denn, ich kann ihr behilflich sein. Wenn ich das Zeichen dessen tragen sollte, dem ich loyal ergeben bin, dann wäre es die Nummer 1. Was sagen unsere mexikanischen Freunde immer, Albie? ›Haltet Ausschau nach der nùmero uno!‹ Und wenn ich für die Weltgemeinschaft nicht von Vorteil wäre, dann würde ich wie Millionen andere jetzt in die Ebene Jesreel abkommandiert. Was für Geschäfte könnte ich dort schon machen?« »Inwiefern bist du für die Weltgemeinschaft von Nutzen?« Kashmir tupfte ein wenig Blut von Mainyus Hals, das aus der neuen Tätowierung lief. »Ich bin Geschäftsmann, Albie. Ich will den größten Profit für den kleinsten Aufwand und im Augenblick macht man den mit Kopfgeld.« »Du –« »Ich liefere die unloyalen Bürger an die Friedenstruppen aus. Natürlich tue ich das. Was glaubst du, wie hoch die Kosten für ein solches Geschäft sind? Man bekommt 20 000 Dollar pro Kopf. Und es ist derselbe Preis, ob tot oder lebendig. Ich finde Tote irgendwie handlicher. Wenn das Opfer erst mal ruhig ge101
stellt ist, besteht keine Gefahr mehr. Bei der richtigen Größe des Plastiksacks bleibt sogar der Wagen sauber. Kannst du mir folgen?« »Dann lieferst du also –« »An die Weltgemeinschaft, ja, natürlich. Wenn ›wenig Aufwand für großen Gewinn‹ das Mantra des Geschäftsmannes ist, welches bessere Geschäft könnte es geben als etwas für nichts! Sie sind bereit, für etwas zu zahlen, das ich liefern kann.« Albie fragte sich, wie viele der Opfer Mainyus wohl Judahiten gewesen waren. »Dann stellt meine Bitte«, sagte Albie, »für dich wohl einen Interessenkonflikt dar?« »Natürlich nicht, mein Freund! Nicht, wenn du das Geld mitgebracht hast. Ich bin kein Freund der Weltgemeinschaft. Ich bin einfach nur ein Geschäftsmann. Mir geht es nur um den Profit.« »Ich war nicht sicher, was ein solcher Dienst kosten würde.« »Oh doch, das wusstest du. So lange bist du doch noch nicht aus dem Geschäft draußen. Und ganz bestimmt hast du nicht erwartet, dass ich eine solche Sache zusagen würde, ohne dass das Geld vor mir auf dem Tisch liegt – nicht, wenn es praktisch sofort erledigt werden muss.« »Du hast die Leute, die Hardware, die –?« »Du weißt, dass mir alles zur Verfügung steht. Es wird erledigt. Vorausgesetzt du hast das Geld.« »Vor ein paar Jahren hat so etwas 20 000 Dollar gekostet«, sagte Albie. »Darum gehe ich davon aus, dass du mehr mitgebracht hast, weil du die Inflation und die Dringlichkeit der Aufgabe berücksichtigt hast.« Albie blickte ihn zögernd an. »Natürlich hast du das, und du wirst nicht den Fehler machen, mir das Geld vorzuenthalten, weil du weißt, dass es für mich ein Leichtes wäre herauszufinden, wie viel du bei dir hast.« »Natürlich. Ich habe 30 000 Dollar mitgebracht.« 102
»Hmm.« »Das ist doch sicher genug. 50 Prozent mehr müssten Inflation und die Dringlichkeit abdecken.« »Es reicht nicht«, sagte Mainyu. »Das sind 20 000 zu wenig.« Albie war sich nun fast sicher, dass der Handel abgeschlossen werden würde. Sie befanden sich in der Phase des Feilschens und alles andere als eine hitzige Auseinandersetzung von beiden Seiten wäre eine Missachtung des anderen. »30 000 – mehr habe ich nicht mitgebracht und mehr werde ich auch nicht bezahlen.« »Aha. Und hast du alles bei dir oder hast du auch etwas bei deinem Motorroller gelassen?« »Du müsstest mich doch eigentlich kennen, Mainyu. Wer lässt schon Bargeld draußen auf der Straße?« Mainyu lachte. »Sahib!« Der Mann schloss die Tür auf und trat ein. »Wie viel bezahlt dir unser Freund, damit du seinen Motorroller bewachst?« »25.« »Wie viel schuldet er dir noch?« »Zehn.« Mainyu wandte sich an Albie. »Du hast also 30 000 bei dir plus die zehn, die du Sahib noch schuldest?« »Ja.« »Sonst noch was?« »Nur ein wenig Kleingeld für die Heimfahrt.« »Zeig mir die 30 000.« Albie griff in seine Jackentasche und holte eine Plastiktüte mit Geldscheinen hervor. »Und jetzt die zehn, die du Sahib schuldest.« Albie klatschte einen Zehner auf den Tisch. »Und jetzt dein Kleingeld.« Aus der linken Tasche holte Albie ein paar Scheine und Münzen. »Vielleicht noch mal 15«, erklärte er. 103
Mainyu presste die Lippen aufeinander und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Wo sind die zusätzlichen 20 000?«, fragte er. »Ich hab dir doch gesagt, mehr als 30 000 zahle ich nicht.« »Dann haben wir ein Problem. Was werden wir wegen der anderen 20 unternehmen?« Albie unterdrückte ein Grinsen. Mainyu war immer ein harter Verhandlungspartner gewesen. »Du meinst es also ernst«, sagte er. »Du wirst es nicht für 30 erledigen? Soll ich mein Geschäft woanders machen?« »Oh nein! Damit mir durch die Lappen geht, was ich bereits vor der Nase hatte?« »Dann machst du es also?« »Es ist bereits geschehen, mein Freund. Etwas für nichts. 50 000 plus Kleingeld für praktisch nichts.« »50?« »Kashmir, ruf für mich im Palast an, ja? Sprich mit Mr. Akbar. Sahib? Erinnerst du dich, was ich dir in Bezug auf Geschäfte beigebracht habe? Kreative Lösungen, um gute Geschäfte zu machen?« Sahib nickte. »Ja, Mr. Mazda.« »Deine Pistole, bitte.« Sahib holte eine 44er hervor. Mainyu Mazda nahm sie in die Hände und betrachtete sie. »Mein alter Freund und ich sind verhandlungstechnisch 20 000 Dollar voneinander entfernt und er ist die Lösung. Wie hoch ist der Preis für einen Bürger ohne Loyalitätszeichen, Sahib?« »20 000.« »Das macht zusammen 50. Und das, ohne die andere Aufgabe überhaupt zu erledigen.« Er zielte mit dem Lauf auf Albies Stirn und drückte ab. Ihre Zelle war seltsam, fand Chloe. Ein Käfig in der Ecke eines größeren Raums. Die Metallpritsche war an der Wand befe104
stigt. Ihr Bett, nahm sie an. Und eine Kombination aus Waschbecken und Toilette stand für jeden sichtbar im Raum. Nicht, dass ihr das etwas ausgemacht hätte. Die Einrichtung konnte nicht verschoben werden. Es gab nicht einmal einen Toilettensitz, eine Decke oder ein Kissen. Nichts. Schwach vor Hunger kroch Chloe auf die Pritsche und legte sich mit dem Gesicht zur Tür auf die Seite. Die Pritsche wurde von etwa vier Zentimeter breiten ineinander verflochtenen Metallstreifen gehalten, die ein wenig nachgegeben hätten, wenn sie mehr als 100 Pfund gewogen hätte. Nicht einmal der bislang allgegenwärtige Nigel war irgendwo zu sehen. Der Außenraum war sehr hell, die Sonne schien durch die Fenster und Gitter herein. Aber ansonsten war der Raum eintönig, nur Fliesen, Linoleum und Stahl in dunklen Grüntönen. Chloe wollte schreien, jemandem sagen, dass sie Hunger hatte, aber ihr Stolz war stärker als ihr Unbehagen. Als sie hörte, wie die Tür geöffnet wurde, setzte sie sich schnell auf. Ein Mann in einer Wärteruniform kam hereingeeilt. Flaschen mit Reinigungsmitteln hingen neben seinem Handy an seinem Gürtel. Er hielt einen Putzlappen in der Hand und in der hinteren Hosentasche steckte ein weiterer. »Oh, hallo«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass wir jemand in Haft haben.« »Das sollen Sie auch gar nicht wissen«, erwiderte sie charmant. »Wie bitte?« »Ich bin einfach hier hereinspaziert. Habe mich wie ein Dummkopf selbst eingeschlossen.« Er lachte strahlend. »Und Sie hatten das Pech, heute einen Overall zu tragen, sodass Sie auch noch wie ein Häftling aussehen. Wirklich dumm.« »Ja, so bin ich eben«, erwiderte sie. »Vielleicht wurden Sie wegen Ihres schlechten Kleiderge105
schmacks eingesperrt?« »Vermutlich.« »Nun, ich wollte nur einen Eimer holen. Viel Glück für Sie.« »Danke.« Er nahm den Eimer aus der Ecke unter einem an der Wand befestigten Fernsehgerät und ging zur Tür zurück. Dann blieb er unvermittelt stehen und drehte sich noch einmal um. »Man hat Ihnen doch Ihren Telefonanruf gewährt, oder?« »Oh sicher. Ich wurde wie eine Königin behandelt. Ich habe den Nikolaus angerufen.« Er stellte den Eimer ab und trat zu dem Käfig. Über die Schulter blickte er zur Tür zurück, dann wandte er sich wieder zu ihr um und senkte die Stimme. »Nein, ich meine es ernst. Das ist etwas, das mir hier nicht gefällt. Ich meine, die Leute bekommen, was sie verdienen, weil sie das Zeichen nicht annehmen und so, wie Sie. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass Sie nach all diesen Jahren noch eine Gerichtsverhandlung bekommen, aber was ist aus dem Telefonanruf geworden? Ich meine, wir leben doch immerhin noch in Amerika, oder?« »Nicht in dem Amerika, an das ich mich erinnere.« »Ich auch nicht. Hey, wollen Sie telefonieren?« »Was?« »Sie müssen mir versprechen, es nicht zu verraten. Dann bekomme ich nämlich eine Menge Ärger.« »Was, mit Ihrem Telefon?« »Sicher, hier.« Er nahm es vom Gürtel ab und reichte es ihr durch die Gitter hindurch. »Aber nur einen Anruf, und Sie müssen sich beeilen. Und dann verstecken Sie es. Oder schieben Sie es über den Boden, so als hätte ich es fallen gelassen oder so etwas. Ich komme nachher zurück und hole es mir.« »Meinen Sie das ernst?« »Sicher. Was kann das schon schaden? Nur los. Zeigen Sie es 106
den Typen hier. Das ist eine Schande – so ein hübsches kleines Ding wie Sie. Ich bin gleich zurück.« Chloes Hände zitterten, als sie sich mit dem Rücken zur Tür in eine Ecke stellte. Für wie dumm halten die mich denn? Das Ding funktioniert vermutlich nicht einmal, und wenn doch, dann bestimmt nicht von hier aus. Es war ihr egal. Sie musste es versuchen. Sie musste mit jemandem sprechen. Im Versteck anzurufen, wagte sie nicht, da sie annahm, dass dies eine Falle war und ihr Anruf vermutlich abgehört würde. Chloe wählte die Nummer ihres Vaters. Er war mittlerweile sicher wieder nach Petra zurückgekehrt. Rayford hatte Krystall im Palast noch einmal aufgeweckt. »Ich habe über Ihre Bitte nachgedacht«, sagte er. »Meine Bitte?« »Um Augen.« »Machen Sie sich nicht über mich lustig!« »Nein, diese Sache hat mir keine Ruhe gelassen, und ich wüsste vielleicht ein paar Augen, die Sie benutzen könnten. Erinnern Sie sich daran, dass, kurz bevor ich mit Ihnen gesprochen habe, jemand die Tür geöffnet hat, sie dann aber wieder geschlossen hat und weggelaufen ist?« »Wie könnte ich das vergessen? Bei dieser Gelegenheit haben Sie mich zu Tode erschreckt.« »Er ist auch Christ und er kann in Neu-Babylon sehen.« »Ich bin ganz Ohr.« »Ich könnte ihn vielleicht überreden, noch einmal zurückzukommen und Ihnen zu helfen, wenn alle anderen fort sind. Er kann Ihnen sagen, wo bestimmte Dinge liegen, alles Mögliche für Sie tun.« »Was springt für Sie dabei heraus?« »Bestimmte Informationen in den Akten könnten von Interesse für mich sein.« »Mehr, als Sie schon wissen?« 107
»Sehen Sie, er hilft Ihnen ein paar Tage lang oder solange Sie wollen, und Sie gewähren ihm Zugang zu Informationen, die mir helfen könnten. Abgemacht?« »Was springt für ihn dabei heraus?« »Darum kümmere ich mich schon. Ich werde ihn jetzt sofort anrufen und sehen, ob ich das arrangieren kann. Nun, vielleicht rufe ich ihn lieber erst morgen an. Warum soll ich ihn aufwekken?« »Nein, warum sollte ich die Einzige sein, die zu dieser Stunde wach ist?« »Tut mir Leid.« Rayford vernahm ein Klopfen im Telefon, das ihm anzeigte, dass ein zweiter Anruf hereinkam. »Bleiben Sie einen Augenblick dran, Krystall.« Er überprüfte die Nummer des Anrufers. Eine Nummer aus San Diego, aber er kannte sie nicht. »Ich nehme den Anruf besser entgegen. Wenn es mir gelingt, diese Sache zu arrangieren, wird der Mann Sie anrufen.« Er drückte zweimal auf den grünen Knopf, wodurch er das erste Gespräch beendete und das andere entgegennahm. »Steele.« »Daddy, ich bin es.« »Chloe!« »Bitte, hör einfach zu. Hast du noch diese Aufnahmevorrichtung an deinem Handy?« »Ja, aber –« »Schalte sie ein. Sofort. Hast du es? Ist sie eingeschaltet?« »Ja, aber –« »Ich weiß, dass dieser Anruf abgehört wird, und vermutlich wird dein Telefon danach unbrauchbar sein, aber ich konnte niemand anderen anrufen. Ich befinde mich im Gefängnis der Weltgemeinschaft in San Diego, und sie versuchen, mich zu überreden, die anderen zu verraten. Sag Buck und Kenny, dass ich sie von ganzem Herzen liebe und dass ich, wenn ich sie hier nicht mehr wieder sehe, im Himmel auf sie warte. Das war 108
alles meine Schuld, aber ich war 30 Meilen weit von unserem Versteck gejoggt und, oh, hör zu, ich wollte dir nur sagen, dass es mir im Augenblick gut geht. Ich habe nur hier gesessen und mich an unsere wunderschöne Reise mit Mom und dir nach Colorado erinnert. Ich war damals fünf oder sechs. Erinnerst du dich?« »Vage, Chloe, hör zu –« »Dad, ich kann nicht lange sprechen. Mir ist es sehr wichtig, dass du dich an diese Reise erinnerst!« »Liebes, das muss mehr als 20 Jahre her sein. Ich –« »Das stimmt! Aber sie war so wunderschön, und ich wünschte, alle könnten dort einmal hinfahren. Wenn ich einen Traum hätte, dann dass wir alle so bald wie möglich dorthin fahren könnten.« »Chloe –« »Dad, nicht. Ich weiß, dass sie mich abhören. Also grüße bitte alle von mir, und bitte sie zu beten, dass ich bis zum Ende stark bleibe. Ich werde nichts verraten. Nichts. Und, Dad, denk an die Colorado-Reise, damit ich weiß, dass wir beide zur selben Zeit an dasselbe denken. Ich liebe dich, Dad. Vergiss das niemals.« »Ich liebe dich auch, Schatz. Ich –« »Tschüs, Daddy.« Mit diesen Worten legte sie auf. »Du bist hier doch derjenige, der so viel Erfahrung mit Kämpfen hat, George«, sagte Buck. »Und du redest nur vom Zusammenpacken?« »Du sollst wissen, Buck, dass ich dir nichts von dem, was du zu mir sagst, übel nehmen werde, bis Chloe wieder gesund und munter zurück ist. Erst dann werden wir abrechnen.« »Ja, und sie wird dich niedermachen«, fügte Priscilla hinzu. Buck musste über George lächeln, und es amüsierte ihn immer, wenn Priscilla vergeblich versuchte, sich dem Humor ihres Mannes anzuschließen. Aber es gab nichts, das Bucks Lau109
ne verbessern konnte. Über seinen Kontakt im Palast hatte sein Schwiegervater ihre Vermutungen über Chloes Aufenthaltsort bestätigt, aber das örtliche Hauptquartier der Weltgemeinschaft war einfach für einen Überfall zu stark bewacht. »Wir müssen eben daran festhalten«, sagte Sebastian, »dass sie, wenn sie erst einmal herausgefunden haben, wer sie ist, erkennen werden, dass sie nur lebend für sie von Wert ist.« Buck wusste, dass dies zutraf, aber er hielt es nicht für eine gute Idee, von seiner geliebten Frau zu reden, als sei sie eine Handelsware. Am Spätnachmittag brachte Ming Beth Ann Sebastian und Kenny in den Fitnessraum. Ree sprang auf und umarmte Ming auf für ihn untypische Weise. Buck wusste, dass die Sache mit Chloe ihn ernüchtert hatte. Er fragte sich, ob Ree jetzt sogar Bedenken in Bezug auf die Hochzeit bekommen hatte. Beth Ann rannte zwischen ihren Eltern hin und her. Kenny marschierte stirnrunzelnd zu Buck und kletterte auf seinen Schoß. »Er hat nicht geschlafen«, erklärte Ming. Buck nickte und drückte Kennys Wange an seine Brust. »Bist du müde, Kumpel?«, fragte er. Kenny schüttelte den Kopf. »Ich will Mami.« »Sie wird bald wiederkommen.« Der Junge schloss die Augen. Buck blickte Priscilla an, biss sich auf die Lippe und konnte seine Tränen nicht mehr zurückhalten. »Das ist der Teil, den ich hassen werde«, flüsterte er lautlos. Kenny hob den Kopf, doch Buck drückte den Kopf des Jungen unter sein Kinn und legte beide Arme um ihn. Er wiegte ihn und weinte. Priscilla schob Beth Ann zu ihrem Vater und beugte sich über Buck. »Wag es ja nicht aufzugeben, Buck. Keiner von uns tut das.«
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Chloe wollte jeden anrufen, den sie kannte, aber sie zweifelte nicht daran, dass es sich hierbei um eine Falle handelte. Es war viel zu einfach gewesen. Das GPS im Telefon ihres Vaters würde der Weltgemeinschaft verraten, wo er sich befand. Sie war davon ausgegangen, dass er sich in Petra aufhielt, doch den Geräuschen nach zu urteilen befand er sich in der Luft. Wie lange waren er und Abdullah in Neu-Babylon geblieben, wenn er erst jetzt auf dem Rückweg war? Da stimmte etwas nicht. Natürlich hatte man ihn über ihr Verschwinden informiert. Vielleicht war er auf dem Heimweg. Sie hoffte nur, dass er das Telefon loswerden konnte, bevor er Kalifornien erreicht hatte. Auf keinen Fall wollte sie die Weltgemeinschaft in die Nähe des Verstecks führen. Chloe hob die Hand und schob das Handy durch eine Öffnung im Käfig. Es landete auf dem Boden und zerbrach. »Hoppla«, kommentierte sie. »Und das, nachdem dieser nette Mann es mir freundlicherweise geliehen hatte.« Es dauerte keine Minute, bis der Wachbeamte zurückkehrte. Er trug noch immer dieselbe Kleidung; dieses Mal hatte er jedoch keine Reinigungsutensilien dabei. Keinen Eimer, keine Tücher, keine Flaschen. Er kniete nieder, um die Stücke aufzusammeln. »Danke, dass ich Ihr Telefon benutzen konnte. Das war wirklich sehr freundlich. Vielleicht könnten Sie mir einen Kuchen mit einer Feile darin hereinschmuggeln oder meine Leute benachrichtigen. Tut mir Leid, dass es kaputtgegangen ist.« »Das ist schon in Ordnung, Puppe«, sagte er. Er vermied es, sie anzusehen. »Wir haben, was wir brauchen. Sieht so aus, als würde Daddy sich kurz vor der Ostküste befinden. Ich denke, er müsste jetzt bald auftanken. Die Flughäfen werden bestimmt auf der Hut sein. Wenn Sie sich einen Gefallen tun wollen, arbeiten Sie mit Jock zusammen. Er ist wirklich fair. Nein, wirklich. Ich sage nicht, dass ihm Ihre Interessen am Herzen liegen, aber er ist Realist. Sie haben, was er haben möchte, und 111
er weiß, dass ihn das etwas kosten wird.« »Nun, dann, mein Freund, sagen Sie Jock, ich sei zu einem Handel bereit. Ich gebe ihm alles, was er möchte, jetzt, da ich weiß, dass er fair ist. Ich meine, das habe ich doch von Ihnen gehört, und ich kenne Sie lange genug, um Ihnen vollkommen zu vertrauen.« »Spielen Sie ruhig weiter die Schlaumeierin, Kleine. Sie werden schon sehen, wohin Sie das bringt. Ach, übrigens, Nigel hat Ihren Energieriegel. Soll ich ihm sagen, dass Sie hungrig sind?« Chloe setzte sich auf das Metallbett. Sie war ausgehungert, aber noch immer siegte ihr Stolz über ihre Verzweiflung. »Nein. Ich hatte ein üppiges Frühstück. Ich würde noch keinen Bissen herunterbekommen.« »Dann vielleicht ein wenig Fernsehen.« »Ersparen Sie mir das. Ich habe genug Propaganda gehört.« »Aber die Nachrichten fangen gerade an.« »Ach ja, das objektive ›Global Community News Network‹. Hey, okay, also gut! Das ist laut genug!« Er ignorierte sie, drehte die Lautstärke noch weiter auf und ging zur Tür. »Stellen Sie es leiser, bitte! Sir?« »Ich kann Sie nicht verstehen«, sagte er. »Das Fernsehen ist so laut.« Vermutlich hatte Jock alles inszeniert. Die 17-UhrNachrichten begannen gerade. Die Reporterin Anika Janssen sendete live aus Detroit. »Guten Abend. Zu dieser Stunde wird das internationale Hauptquartier der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon noch immer von der Dunkelheit heimgesucht. Diese seltsame Dunkelheit ist auf die Stadt begrenzt, und man geht davon aus, dass dies ein Akt der Aggression von Seiten der Dissidenten gegen die neue Weltordnung ist. Es ist uns gelungen, mit Suhail Akbar, dem Geheimdienst112
und Sicherheitschef der Weltgemeinschaft, der sich in der heimgesuchten Stadt aufhält, übers Telefon ein Interview zu führen. Trotz des dort herrschenden Aufruhrs hat er gute Neuigkeiten zu berichten.« »Ja, Anika«, sagte Akbar, »nach Monaten der sorgfältigen Planung und Kooperation der verschiedenen Strafverfolgungsbehörden der Weltgemeinschaft können wir nun berichten, dass es einer aus Soldaten der Friedenstruppen und den Moralüberwachern zusammengesetzten Spezialtruppe gelungen ist, einen Judahisten, einen der Top-Terroristen der Welt, festzusetzen. Die Verhaftung wurde nach Monaten der Planung heute kurz vor Tagesanbruch in San Diego vorgenommen. Einzelheiten der Operation kann ich nicht bekannt geben, aber die Verdächtige wurde ohne Gegenwehr entwaffnet und verhaftet. Ihr Name ist Chloe Steele Williams; sie ist 26 Jahre alt. Schon früher war sie an der Stanford-Universität in Palo Alto als Radikale bekannt. Aus diesem Grund wurde sie auch vor sechs Jahren von der Universität gewiesen, nachdem sie Direktionsmitglieder bedroht hatte.« »Herzlichen Dank, Direktor Akbar. Wir haben weiterhin erfahren, dass Mrs. Williams die Tochter von Rayford Steele ist, der früher als Pilot für den Supreme Potentaten Nicolai Carpathia geflogen ist. Er wurde vor einigen Jahren wegen Insubordination und Alkoholmissbrauch im Dienst entlassen, und der Geheimdienst der Weltgemeinschaft nimmt an, dass seine Verärgerung hierüber dafür verantwortlich ist, dass er sich gegen die Weltgemeinschaft gewandt hat und heute ein international gesuchter Terrorist ist. Er war an der Verschwörung gegen Potentat Carpathia beteiligt und ist ein Freund des ehemaligen israelischen Staatsmannes und jetzt führenden Judahiten Dr. Chaim Rosenzweig. Beide gehören zum Kreis um Rabbi Tsion Ben-Judah, dem Kopf der Judahiten, der letzten Festung im Widerstand gegen die neue Weltordnung. Mrs. Williams ist ebenfalls die Ehefrau von Cameron Willi113
ams, der früher ein gefeierter amerikanischer Journalist war und auch direkt für Potentat Carpathia gearbeitet hat, bevor er wegen Differenzen aus seinem Job entlassen wurde. Er gibt eine subversive Internetzeitung heraus, die auch in begrenzter Auflage gedruckt wird. Williams, seine Frau und ihr Vater sind international gesuchte Flüchtlinge, die wegen mehr als drei Dutzend Morden auf der ganzen Welt gesucht werden, deren Aufenthaltsort aber unbekannt ist. Mrs. Williams selbst steht an der Spitze einer Schwarzmarkthandelskette, die verdächtigt wird, auf der ganzen Welt Waren im Wert von mehreren Milliarden Dollar unterschlagen und diese gegen exorbitante Gewinne an Menschen verkauft zu haben, die selbst nicht kaufen und verkaufen können, weil sie sich weigern, dem Potentaten ihre Loyalität zuzusichern. Die Williams’, die mit ihrem Schwarzmarkthandel ein Vermögen verdient haben, haben nach zwei Abtreibungen und nach dem Tod einer älteren Tochter, die unter fragwürdigen Umständen ums Leben kam, noch ein Kind. Der Sohn, den sie Jesus Saviour Williams genannt haben – hier sein Bild –, ist zwei Jahre alt. Bekannte berichten, die Williams’ glaubten, er sei die Reinkarnation von Jesus Christus, der eines Tages Potentat Nicolai Carpathia besiegen und die Welt dem Christentum zurückgeben würde.« Chloe starrte ein Kleinkind an, das eindeutig nicht Kenny Bruce war. Es hatte eine Bibel auf dem Schoß und trug ein TShirt mit der Aufschrift »Tötet Carpathia!«. »Direktor Akbar berichtet, dass seine Truppen das Hauptquartier der Judahiten in San Diego, in den Vereinigten Nordamerikanischen Staaten, aufgespürt haben, wo Mrs. Williams heute festgenommen wurde. Die örtlichen Beamten der Weltgemeinschaft sagen, dass sie – Zitat – ›wie ein Vogel singt‹ und alle möglichen Informationen preisgibt, auch über ihre Familie, um einem Todesurteil zu entgehen. 114
Unsere Reporterin Sue West sprach mit Colonel Jonathan ›Jock‹ Ashmore. Sue?« »Danke, Anika. Colonel Ashmore, wie bedeutend ist nach Ihrer Einschätzung diese Verhaftung?« »Sie ist von unschätzbarem Wert«, erklärte Jock. Er zupfte nervös an seiner Uniformjacke, die kaum seinen umfangreichen Bauch verdeckte. »Es hat sich gezeigt, dass Mrs. Williams eine Terroristin ist, die weiß, wann es an der Zeit ist zu kapitulieren. Als ihr klar wurde, dass sie eindeutig identifiziert worden war, und wir ihr die überwältigenden Beschuldigungen gegen sie vorlegten, dauerte es nur noch wenige Minuten, bis sie uns verschiedene Deals anbot, um ihre Haut zu retten.« »Können Sie uns sagen, worum es sich dabei handelt?« »Nicht vollständig, obwohl ich Ihnen sagen kann, dass sie darum gebeten hat, ihren Sohn so bald wie möglich in die Junior-Weltgemeinschaft aufzunehmen. Allerdings hat sie den Aufenthaltsort eines untergeordneten Schwarzmarkthändlers aus dem Mittleren Osten mit Namen Al Basrah verraten, der denselben Namen trägt wie eine iranische Stadt.« »Ich glaube, sie liegt im Irak, Colonel, aber sprechen Sie nur weiter.« »Was?« »Al Basrah liegt im Irak, Sir.« »Wie auch immer. Auf jeden Fall hat sich dieser Kerl selbst erschossen, um einer Verhaftung zu entgehen.« »Wir zeigen gleich ein Bild des toten Al Basrah«, erklärte Sue West ihren Zuschauern, »aber wir möchten Sie warnen: Dieses Bild ist wirklich kein schöner Anblick.« Chloe erhob sich und starrte das Foto an. Es zeigte Albie mit einem schwarzen Loch zwischen seinen leblosen Augen. Es bestand kein Zweifel, er war es. Aber war dieser Bericht real oder manipuliert? Chloe rief: »Jock! Jock! Nigel! Hol Jock!« Ihre Schreie wurden zu Schluchzern und sie fragte: »Stimmt das? Ich möchte wissen, ob das stimmt! Ist Albie tot? Sagt mir, 115
dass Albie nicht tot ist!« Aber niemand kam. Und niemand antwortete. Während das Fernsehgerät weiterdröhnte, glitt Chloe weinend zu Boden. »Gott, bitte! Nein!«
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7 »Ich habe einen Freund in Florida«, sagte Mac. »In Jacksonville. Er arbeitet in der Handelsgesellschaft mit. Wir können dort auftanken und so die regulären Flugplätze meiden.« »Und ich lege dieses Ding dann vor dem Start unter eines der Räder«, erklärte Rayford und zeigte aufsein Handy. »Was werden sie wohl damit machen, wenn sie zerquetschtes Metall und Plastik auf dem Asphalt finden?« »Willst du es nicht lieber ins Wasser werfen? Es wird keine Minute dauern, es im Meer zu versenken.« »Und wie soll ich das machen, Mac, mein Fenster herunterlassen und es hinauswerfen?« »Nein. Da gibt es so einen hübschen kleinen Trick, den wir beim Militär immer angewandt haben, wenn wir etwas aus großer Höhe verschwinden lassen wollten. Man steckt das Teil in den Bremsschacht, der am Boden natürlich geschlossen ist. Wenn wir in der Luft sind, aktiviere ich die Bremse –« »– wobei der Schacht sich öffnet. Sehr nett.« »Ja«, sagte Mac. »Man bringt die Maschine einfach hoch, drosselt den Motor, aktiviert die Bremse und schon fliegt das Telefon in den tiefen blauen Ozean.« »Ich möchte aber keine Zeit verlieren.« »Gib mir das Ding. Ich werde es machen. Dauert nur eine Minute.« »Zuerst muss ich Chloes Nachricht abschreiben. Sie hat versucht, mir etwas zu sagen, das ist sicher.« »Ich bin jetzt sowieso an der Reihe, eine Pause zu machen, Ray. Wenn du das Telefonat abgeschrieben hast, tauschen wir den Platz, und ich sehe es mir an.« Chang traf mitten am Nachmittag in Petra ein. Naomi erbot sich, ihn ein wenig herumzuführen. »Ich hinterlasse eine Nachricht im Computerzentrum, dass 117
sie uns benachrichtigen, wenn sie etwas über Chloe erfahren«, sagte sie, »aber du sollst das Zentrum erst ganz zum Schluss sehen, okay?« Er zuckte die Achseln. »Abdullah hat veranlasst, dass deine Sachen in dein neues Quartier gebracht werden. Es liegt nicht weit von seinem entfernt. Er wird dich dorthin begleiten, damit du dich einrichten kannst, dann komme ich vorbei und mache eine erste Besichtigungstour mit dir.« Chang war entschlossen gewesen, sich nicht sofort mit jemandem in ein Team stecken zu lassen. Vor allem nicht mit Naomi. Sie war vermutlich noch ein Teenager, was in Ordnung war. Er war selbst gerade erst 20 geworden. Und natürlich bestand kein Zweifel an ihren intellektuellen und technischen Fähigkeiten, aber sie würden im Laufe des kommenden Jahres eng zusammenarbeiten müssen. Warum die Dinge unnötig komplizieren? Und doch … sie war einfach atemberaubend. Olivfarbene Haut und herzliche dunkle Augen, umrahmt von langen, schwarzen Haaren. Chang fiel es schwer, sie nicht anzustarren. Ihr schüchternes Lächeln war wunderhübsch und sie wirkte so freundlich und selbstlos. Er hatte noch nie eine Freundin gehabt, sich in der Highschool jedoch schon einmal für ein Mädchen interessiert, es ihr aber nicht gezeigt. Auf dem Weg zu Changs Quartier stellte Abdullah ihn allen möglichen Leuten vor. Sie behandelten Chang, als sei er eine wichtige Persönlichkeit, doch er schämte sich so sehr dafür, dass er das Zeichen Carpathias trug, dass er seine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen aufbehielt. Eigentlich hätte er sie gern abgenommen und sich höflich verbeugt, aber er konnte es nicht. »Unser Mann im Palast«, nannte Abdullah ihn, und die Leute umarmten ihn oder schüttelten ihm die Hand; viele segneten ihn. 118
Für Chang war diese ungewohnte Herzlichkeit ein Vorgeschmack auf den Himmel. »Ich frage mich, wie die Chancen stehen, dass ich Dr. Ben-Judah und Dr. Rosenzweig kennen lerne«, sagte er. »Ach, tut mir Leid«, entschuldigte sich Abdullah. »Ich hatte es dir eigentlich sagen sollen. Sie lassen sich entschuldigen, dass sie dich nicht angemessen begrüßt haben. Aber sie sitzen wegen Chloes Verschwinden mit den Ältesten zusammen und später haben sie noch eine Ratssitzung. Sie bitten dich, sie morgen früh beim Manna zu treffen.« »Gut, ja. Danke, Mr. Smith. Ich möchte nämlich mit Dr. BenJudah über eine bestimmte Sache reden.« »Ich denke, auch Naomis Vater würde dich gern kennen lernen.« An Abdullahs Tonfall merkte er, dass dieser ihm etwas mitteilen wollte, aber Chang biss nicht an. »Ich freue mich, auch ihn kennen zu lernen.« Als sie die Unterkünfte erreichten, die von einem Team unter der Leitung von Lionel Whalum hertransportiert und aufgebaut worden waren, zeigte Abdullah Chang zuerst sein Reich. »Du siehst, dass ich gern nahe am Boden lebe. Ich sitze draußen an einem Feuer und esse mein Manna. Und drin schlafe ich auf dem Boden. Wenn dir das nicht gefällt, brauchst du das nicht zu tun. Deine Unterkunft ist kaum kleiner als dein Zimmer im Palast, aber natürlich sehr viel einfacher und spartanischer eingerichtet.« »Es ist perfekt«, sagte Chang, als sie ankamen. Sein Gepäck lag neben seiner Pritsche und seine Computer und Aktenkisten standen neben der Tür. »Heute Nacht schlafe ich als freier Mann und brauche mir um nichts weiter Gedanken zu machen als um das Wohlergehen meiner neuen Freunde.« »Ich lasse dich jetzt allein, damit du auspacken kannst. Wenn du etwas brauchst – du kannst meine Unterkunft von hier aus sehen. Brauchst du jetzt schon irgendetwas?« 119
»Nur eines. Ich mache mir ein wenig Gedanken um das Manna. Mögen es alle?« »Ja. Ich bin davon überzeugt, dass es dir schmecken wird. Stell dir vor, wir werden vom König selbst ernährt. Sicher, es ist nur Nahrung und es scheint nur Brot zu sein. Aber es kommt geradewegs aus der himmlischen Küche. Wie kann es da anders schmecken als wunderbar? Wir bekommen eine Portion vor Sonnenuntergang; du wirst also vor deinem Zusammentreffen mit Dr. Ben-Judah und Dr. Rosenzweig wissen, ob du es magst oder nicht.« Eine halbe Stunde später, als Chang seine Unterkunft so eingerichtet hatte, wie es ihm gefiel, vernahm er ein Klopfen an der Tür. »Herein!«, rief er, aber niemand trat ein. Während er auf die Tür zuging, rief er: »Es ist offen!« Noch immer tat sich nichts. Als er die Tür öffnete, stand Naomi davor. »Komm doch rein!«, forderte er sie auf. »Oh, das darf ich nicht«, erwiderte sie. »In meiner Kultur gehört sich das nicht.« »Das wusste ich nicht. Es tut mir Leid.« »Das lernst du schon noch. Komm, ich zeige dir Petra.« »Noch keine Nachricht wegen Chloe?«, fragte er, als sie loszogen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin sicher, dass das nicht gut ausgehen wird.« »Das befürchte ich auch«, seufzte er. »Aber wir können trotzdem hoffen und beten.« Naomi erklärte ihm, die Ausmaße der Stadt seien so groß, dass es Tage dauern würde, alles zu sehen. »Neben dem Computerzentrum stehen kleine Geländefahrzeuge. Dann werde ich dir zuerst die Schatzkammer zeigen, danach einige der Gräber in der Nähe – es gibt viele. Zuletzt bringe ich dich zu der Opferstätte, an der die Raketen eingeschlagen sind. Die Quellen sprudeln dort noch immer und versorgen uns mit Wasser für 120
mehr als eine Million Menschen. Wenn ich richtig kalkuliert habe, werden wir kurz vor Sonnenuntergang dort sein, und wir können unser Manna mit Wasser genießen, das unmittelbar aus der Quelle stammt.« Chang war an so viel Laufen und Klettern nicht gewöhnt, darum war er froh, als sie endlich einen fahrbaren Untersatz hatten. Petras wundervolle Architektur verblüffte ihn, und er fragte sich, wie jemand aus den Felsen solche Gebäude hatte erschaffen können. Als sie schließlich die Opferstätte erreichten, wo die Quelle sich in Zisternen ergoss und über Aquädukte überallhin geleitet wurde, schaltete Naomi den Motor ihres Wagens aus. »Hast du Durst?«, fragte sie. »Immer. Aber in erster Linie versuche ich mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass mich hier niemand mehr beobachtet.« »Das muss schrecklich gewesen sein. Ich kann mir ein solches Leben gar nicht vorstellen. Willst du aus meinen Händen trinken?« Chang, der normalerweise immer schnell reagierte, lächelte nur. »Was immer in deiner Kultur angemessen ist.« Sie kniete nieder, wusch ihre Hände in einem kleinen Rinnsal und schüttelte sie trocken. Chang tat es ihr nach. Sie führte ihn so dicht wie möglich an den Mittelpunkt der Quelle. »Bereit?«, fragte sie. Er nickte und sie tauchte die Hände wie ein Gefäß ins Wasser und rührte sie an sein Kinn. »Beeile dich«, lachte sie. »Meine Hände sind nicht wasserdicht.« Er senkte sein Gesicht an ihre Hände und nahm einen großen Schluck. Seine Kehle war ziemlich ausgedörrt, mehr, als er gedacht hatte, und obwohl das Wasser eigentlich nur wenige Grad kälter sein konnte als die Luft, war es beinahe eiskalt. Er hustete und lachte und sagte: »Mehr.« 121
Er trank erneut aus ihren Händen und sie sagte: »Jetzt bin ich an der Reihe.« Chang legte die Hände ineinander und ließ sie trinken. »Reicht es?«, fragte er, als seine Hände leer waren. Sie nickte. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und wischte ihr den Staub fort. Dann fuhr er mit gespreizten Fingern durch ihr Haar. Naomi schloss die Augen und hob ihr Gesicht der untergehenden Sonne entgegen. Sie breitete die Arme aus und streckte die Hände dem Himmel entgegen. »Und da ist es schon, Chang. Empfange deine Tagesration Brot von dem Gott des Himmels.« Chang trat zurück, sah hoch und breitete die Arme aus, während es aus dem Himmel kleine Brotstücke regnete, die den gesamten Bereich bedeckten. Die Menschen unter ihnen strömten mit Krügen und Körben bewaffnet aus ihren Quartieren und sammelten ein, was sie zum Abendessen brauchten. »Genau wie in der Bibel«, erklärte Naomi ihm, »sollen wir nur das aufsammeln, was wir brauchen, und nichts aufheben. Es wird verderben und zeigt nur unseren mangelnden Glauben an Gott, der uns jeden Tag neu gibt.« Chang setzte sich neben sie und nahm das Manna in die Hand. »Bittet ihr Gott, das Brot zu segnen, das er selbst uns gegeben hat?«, fragte er. Sie lachte. »Soll ich?« »Gern.« Er zog schnell seine Kappe ab, als sie zu beten begann. »Dem großen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und dem Vater unseres Herrn und Erlösers Jesus Christus danken wir für alles, was er uns gibt.« Ihre Stimme war so rein und klar und ihre Worte so vollkommen, dass Chang unwillkürlich gegen seine Rührung ankämpfen musste. »Danke, dass du uns heute bewahrt und Chang hierher gebracht hast. Möge er erfrischenden Frieden und Ruhe in dir 122
finden. Im Namen Jesu bitten wir dich, unser Essen, diese Gabe, die du uns geschenkt hast, zu segnen. Amen.« Mit feuchten Augen wandte sich Chang ab und setzte seine Kappe wieder auf. Er hielt das warme Manna in den Händen, konnte jedoch vor Rührung nicht essen. Naomi streichelte seine Schulter. »Gott segne dich, Chang«, sagte sie. »Er segne dich.« Er riss sich zusammen und fuhr sich mit der freien Hand über das Gesicht. »Warte nicht auf mich«, brachte er mühsam heraus. »Iss ruhig schon.« »Das sollte ich vielleicht tun«, meinte sie fröhlich. »Ich kann von diesem Manna einfach nicht genug bekommen.« »Wie schmeckt es?«, fragte er. »Oh nein, das kann ich dir nicht sagen. Ich weiß nur, wie es für schmeckt.« Chang nahm zwei kleine, weiße Stücke aus der Hand und legte sie sich auf die Zunge. »Und?«, fragte sie. Es war, als hätte ihn der Schlag getroffen. »Oh«, sagte er. »Oh.« »Mehr hast du nicht zu sagen?« Er nahm mehrere Stücke auf einmal. »Oh!« »Ich schätze, es schmeckt dir.« »Ich schmecke Honig. Bestimmt ist es Honig.« »Ja.« »Fast wie Kekse, diese süßen Lebkuchen auf Oblaten. Und sie machen wirklich satt. Ich möchte mehr essen und kann doch einfach nicht mehr.« »Stell dir vor«, sagte Naomi, »alles, was wir für 24 Stunden brauchen, kommt in drei Rationen.« »Wirklich ein Wunder.« »Im 2. Buch Mose, Kapitel 16, Vers 31 heißt es: ›Das Haus Israel nannte das Brot Manna. Es war weiß wie Koriandersamen und schmeckte wie Honigkuchen.‹« »Ich bin beeindruckt«, sagte er. »Hast du etwa das ganze Alte 123
Testament auswendig gelernt?« Sie lachte. »Wohl kaum, aber weißt du, in meiner Kindheit habe ich es nicht das Alte Testament genannt. Es war meine Bibel. Ich habe jeden Tag darin gelesen. Das tue ich noch, doch jetzt ist das etwas ganz anderes, jetzt – jetzt kenne ich Gott wirklich.« »Ich lerne auch Bibelverse auswendig«, sagte Chang. »Aber ich habe nie eine eigene Bibel besessen. Ich wurde als Atheist erzogen, darum musste ich sie im Internet lesen.« »Aber du lernst Verse auswendig?« »Tut das nicht jeder? Ich meine, Dr. Ben-Judah erinnert uns doch in jeder seiner täglichen Botschaft daran.« »Womit beschäftigst du dich im Moment?« »Mit dem Neuen Testament. Dem Johannes-Evangelium. Ich bin jetzt beim 3. Kapitel und komme nur langsam voran.« »Bis dahin kannst du es auswendig?«, fragte sie. »Das ist gut.« »Nun, ja, ich denke. Doch stelle mich lieber nicht auf die Probe. Ich meine, Kapitel 3 könntest du mich abfragen, denn da bin ich gerade, aber …« Seine Stimme verklang. Chang hätte die ganze Nacht über dort neben Naomi sitzen bleiben können, doch sie erhob sich und trank noch einmal aus der Quelle. »Komm, ich zeige dir etwas«, sagte sie dann und hielt ihm die Hand hin. Er reichte ihr seine Hand und sie zog ihn hoch. »Siehst du meine Kleidung?« Er zuckte die Achseln und nickte. Ob er ihre Kleidung sah? Den ganzen Tag über hatte er ihr schon verstohlene Blicke zugeworfen. Er wusste nicht, wie er es nennen sollte. Es war mehr ein Gewand als ein Kleid. Er vermutete, dass die Frauen sich in biblischer Zeit so gekleidet hatten. »Etwas anders habe ich hier noch nie getragen. Ich hatte es an, als wir ankamen.« »Es sieht ganz neu aus.« 124
»Ich wasche es jeden Abend aus, und jeden Morgen ist es neu, genau wie das Erbarmen des Herrn.« »Auch ein auswendig gelernter Vers?« »Ja. Diesen Vers hat mir mein Vater aufgesagt, nachdem wir die Bomben überlebt hatten.« »Du hast das hier miterlebt?« »Wir gehörten zu den Ersten, die herkamen.« »Wie war das?« »Wie ein Traum, Chang. Manchmal kann ich gar nicht glauben, dass es wirklich passiert ist.« »Wie lautet der Vers?« »Klagelieder, Kapitel 3, die Verse 22 bis 24: ›Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist noch nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue. Mein Anteil ist der Herr, sagt meine Seele, darum harre ich auf ihn.‹« »Das ist ein wunderschöner Vers.« »Nicht wahr? Ich habe meinem Vater versprochen, wir würden spätestens bei Sonnenuntergang wieder im Computerzentrum sein. Es liegt in der Nähe des Amphitheaters, wir müssen uns also beeilen.« »Wirst du mir irgendwann einmal deine Geschichte erzählen?«, erkundigte er sich. »Natürlich. Und ich möchte deine hören. Vielleicht morgen früh nach dem Frühstück.« Das Computerzentrum war so, wie Chang es sich vorgestellt hatte. Allerdings war es eher ungewöhnlich, so viele Computer in einer aus einem Felsen gehauenen Höhle vorzufinden. Doch im Augenblick war er viel mehr von Naomi beeindruckt als von dem Computerzentrum. »Findest du allein zu deiner Unterkunft zurück?«, fragte sie. »Wir ziehen uns früh zurück und stehen bei Sonnenaufgang auf.« »Ich denke, ich würde sie schon finden, aber ich möchte lieber nicht allein gehen«, erwiderte er. »Ich denke, heute brauche 125
ich noch einmal einen Führer, du weißt schon, da dies meine erste Nacht hier ist.« »Ich suche dir jemanden. Warte einen Augenblick.« »Naomi!«, wandte er ein. »Ich mache nur Spaß. Natürlich finde ich hin. Mir wäre es nur lieber, wenn du mich dorthin begleiten würdest.« »In meiner Kult-« »Unangemessen, natürlich. Wie wäre es, wenn ich dich nach Hause bringe?« »Das wäre akzeptabel und sogar sehr ritterlich. Mein Vater wartet auf mich, und wenn ich nach Hause komme, wird es schon dunkel sein. Er wird beruhigt sein, wenn ich in Begleitung komme.« Wie Abdullah hatte auch Naomis Vater ein kleines Feuer vor ihrer Unterkunft angezündet. Er war ein großer, rundlicher Mann mit einem dichten, lockigen Bart. Schüchtern trat Chang näher, nahm in der Dunkelheit seine Kappe ab und verbeugte sich. »Chang Wong«, stellte er sich vor. Naomis Vater ergriff ihn an den Schultern und drückte zuerst seine rechte Wange an Changs Wange, dann seine linke. »Eleazar Tiberias«, begrüßte er ihn mit volltönender, tiefer Stimme. »Vielleicht kennst du meinen See.« Chang kratzte sich am Kopf und blickte Naomi verwirrt an, was diese und ihren Vater zum Lachen brachte. »Ich habe schon viel von dir gehört, junger Mann«, fuhr der ältere Mann schließlich fort. »Ich bin froh, dass du dich um meine Tochter kümmerst, und ich freue mich schon darauf, dich besser kennen zu lernen.« Auf dem Weg zu seiner Unterkunft sog Chang tief die kühle Nachtluft ein. Abdullahs Feuer glimmte nur noch ein wenig und der Rauch drang in Changs Kleidung. Er fühlte sich so frei, so glücklich und so bezaubert, dass er sicher nicht würde schlafen können. Er kniete neben seinem Bett nieder und wuss126
te kaum, was er beten sollte. Er versuchte, sich an den Vers zu erinnern, den Naomi zitiert hatte, aber mehr als »Groß ist deine Treue« fiel ihm nicht ein, darum wiederholte er diesen Satz immer wieder, bis er sich schließlich ins Bett legte. Durch das geöffnete Fenster starrte er zum Himmel hinauf, der so klar war, dass er das Gefühl hatte, jeden Stern im Universum sehen zu können. Doch nach weniger als 60 Sekunden sah er nur noch Naomi in seinen Träumen. Mac beschäftigte sich mit Rayfords Niederschrift. »Du hast jedes Wort dieses Gesprächs aufgeschrieben, oder?« »Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte«, erwiderte Rayford. »Wichtig daran ist diese Reise nach Colorado.« »Woran kannst du dich noch erinnern, Ray?« »Das ist schon so lange her, Mac. Einfach eine Reise, wie man sie macht, wenn die Kinder noch klein sind. Raymie war noch nicht einmal auf der Welt. Nur wir drei.« »Ja, aber nachdem sie dir mitgeteilt hat, was du Buck und Kenny ausrichten sollst, spricht sie davon, dass das Ganze ihr Fehler war. Und dann die Sache mit dem Joggen. Das meint sie doch nicht ernst, oder?« »Dass sie 30 Meilen von zu Hause weg war? Nein. Zweifellos versucht sie, die Leute von der Weltgemeinschaft in die Irre zu führen, aber darauf fallen die bestimmt nicht rein.« »Sie verspricht, nichts zu verraten, und weißt du was, das glaube ich ihr aufs Wort.« »Ich auch. Aus Chloe werden sie nichts herausbekommen.« »Dann sagt sie, die Reise sei so ›etwas ganz Besonderes‹ gewesen und sie wünschte, alle könnten erneut dorthin fahren. Aber du sagst, ihr drei wärt allein gewesen.« »Richtig. Und was will sie jetzt? Dass alle von San Diego nach Colorado fahren?« »Das kann nicht sein«, widersprach Mac. »Sie sagt selbst, dass die Weltgemeinschaft zuhört. Aber sie sagt, ihr Traum sei, 127
dass ›wir alle so bald wie möglich dorthin fahren könnten‹. Wo in Colorado wart ihr denn genau, Ray?« Rayford schüttelte den Kopf. »Ich erinnere mich nicht mehr. Wohin fährt man in diesem Land?« »Ich bin oft da gewesen«, erklärte Mac. »Welche Städte habt ihr besucht?« »Nur Springs und Denver, glaube ich.« »Seid ihr auch mit der Seilbahn gefahren?« »Auf den Pikes Peak, sicher.« »Dieser Ort mit den großen Felsformationen?« »Ja, der Garten der Götter.« »Auch die Ranch?« »Flying W, natürlich. Das gehört doch dazu.« »Die ›Air Force Academy‹?« »Wir sind daran vorbeigefahren, hatten für eine Besichtigung aber keine Zeit. Wir fuhren zu einem Konzert.« »Wohin?« »Außerhalb von Denver. Es war ein Open-Air-Konzert. Ich hatte den Eindruck, als müssten wir ewig hochsteigen. Ich musste Chloe tragen. In dieser Höhe war ich so kurzatmig.« »Red Rocks?« »Ja! So hieß es. Irgendein Country-Musical. Chloe hat es besonders gut gefallen.« »Kapierst du’s, Ray?« »Was?« »Was sie dir zu sagen versucht.« »Nein, aber du anscheinend. Spuck es aus.« »Red Rocks.« »Das sagte ich ja.« »Ähem.« »Oh! Petra! Die Weltgemeinschaft ist auf der Suche nach dem Versteck und wir müssen die Leute herausholen und nach Petra bringen.«
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Am Morgen führte Abdullah Chang zu der Stelle, an der sich der Ältestenrat täglich versammelte. Auf dem Weg lag überall frisches Manna, und viele waren draußen, um ihr Frühstück einzusammeln. »Ich werde dir heute keine Gesellschaft leisten«, entschuldigte sich Abdullah, »da Naomi mich im Computerzentrum braucht. Sie bittet dich, dass du ihr hilfst, sobald du Zeit hast.« »Gibt es ein Problem?« »Ich fürchte, ja.« Chang blieb stehen. Abdullah klang so ernst, so geheimnisvoll. »Was ist los?« »Ich möchte dir lieber nicht dein Frühstück verderben, Chang.« »Es würde mir das Frühstück verderben? Ich werde meine Helden kennen lernen, und ich bin an einem Ort, an dem ich hingehen kann, wohin ich möchte, und tun kann, was ich will. Und trotzdem gibt es Nachrichten, die mir den Tag verderben könnten?« »Bitte, beeile dich. Wir wollen nicht zu spät kommen.« »Ich möchte es wissen, Mr. Smith. Sagen Sie mir, dass es sich nicht um Chloe Williams handelt.« »Im Augenblick ist sie noch am Leben, und abgesehen von der Tatsache, dass ›Global Community News Network‹ die abscheulichsten Lügen über sie verbreitet, gehen alle davon aus, dass die Weltgemeinschaft sie nicht hinrichten wird, solange sie noch die Hoffnung haben, dass sie Informationen von ihr bekommen.« Chang schüttelte beim Weitergehen den Kopf. »Dann wäre sie besser dran, wenn sie so tun würde, als würde sie nachgeben, oder zumindest so tun würde, als denke sie darüber nach, ihnen Informationen zu liefern. Aber sicher wird sie von Anfang an klargestellt haben, dass sie gar nicht daran denkt.« »Kennst du Mrs. Williams?« »Natürlich nicht.« 129
»Aber du hast mit ihr telefoniert und übers Internet kommuniziert, um –« »Ja, ich weiß, was für ein Mensch sie ist. Sie wird nicht nur nichts preisgeben, es wird ihr eine Freude sein, das auch lautstark zu verkünden.« »Ich fürchte«, gestand Abdullah, »dass sie dadurch ihren möglichen Nutzen für die Weltgemeinschaft einschränkt und so ihr Leben verkürzt.« »Aber die ›Tribulation Force‹ in San Diego plant doch sicher eine Befreiungsaktion!« »Ich weiß es nicht. So wie ich Cameron kenne, ist es vermutlich schwer, ihn davon abzuhalten, einfach dort hineinzustürmen. George Sebastian wird sicher ein solches Unternehmen anführen wollen, aber das ist nicht dasselbe, wie eine Gruppe von Amateuren im Wald zu überraschen, wie sie es in Griechenland getan haben. Du kannst dir sicher vorstellen, dass die Weltgemeinschaft in San Diego mit einem solchen Überfall rechnet und gewappnet ist.« »Ich habe den Eindruck, das war noch nicht alles, was Sie mir sagen wollten, oder, Mr. Smith?« »Ich sollte nicht alles ausplaudern. Naomi kann es kaum erwarten, dir dies im Computerzentrum mitzuteilen.« Chang blieb erneut stehen und legte Abdullah die Hand auf die Schulter. »Verzeihen Sie mir meine Vertraulichkeit, aber es hat doch keinen Zweck, Informationen zurückzuhalten. Bitte, ich muss es wissen. Lassen Sie mich nicht unvorbereitet dorthin gehen.« Abdullah blickte zu Boden. Er blieb stehen und nahm eine Hand voll Manna, hielt es jedoch nur in der Hand. »GCNN behauptet, Chloe hätte Albie verraten und er hätte lieber Selbstmord begangen, als sich gefangen nehmen zu lassen.« »Kommen Sie, Mr. Smith. Wir wissen doch, dass das nicht wahr ist. Sie würde niemals –« Abdullah nahm Chang am Ellbogen und zog ihn weiter. 130
»Niemand verdächtigt Chloe, irgendetwas damit zu tun zu haben, und jeder, der Albie kennt, weiß, dass er sich nicht umgebracht hat.« »Und wo liegt das Problem?« »Es gibt Hinweise darauf, dass Albie tatsächlich tot sein könnte. Er und Mr. McCullum haben sich sehr nahe gestanden, wie du weißt, und als Mac die Nachricht erreichte, hat er auf verschiedene Weise versucht, mit Albie in Kontakt zu treten.« »Das könnte auch ein Zufall sein. Vielleicht hat er sein Telefon nicht dabei. Vielleicht –« »Er hat sein Telefon immer dabei. Mac hat ihn immer erreichen können.« »Aber Mac und Captain Steele sind jetzt bestimmt schon in San Diego. Vielleicht funktioniert das Satellitentelefon auf diese Entfernung nicht und –« Jetzt blieb Abdullah stehen. »Wir sind fast da. Hinter der nächsten Biegung warten Dr. Ben-Judah und Dr. Rosenzweig auf dich. Mr. Tiberias wird euch miteinander bekannt machen und an der Mahlzeit teilnehmen. Die Mahlzeiten hier sind recht kurz, da wir nur eine Speise haben und Quellwasser dazu trinken.« »Danke, Mr. Smith. Ich glaube trotzdem, dass Albie sich noch melden wird.« »In Ordnung, wenn du dir so sicher bist. Aber bei einem unserer Anrufe hat sich jemand gemeldet, und es war nicht Albie. Wie du vielleicht weißt, hatte er einen gefährlichen Auftrag, und möglicherweise war es falsch, allein zu gehen. Der Mann, der den Anruf entgegengenommen hat, sagte Mac, wenn er seinen Freund noch einmal sehen wolle, solle er sich die Nachrichten ansehen. Wir haben Nachrichten gesehen und diese Sendung aufgezeichnet, Chang. Naomi wird sie dir nach dem Frühstück zeigen. Und jetzt geh.«
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Um neun Uhr abends lag Chloe wimmernd auf der Stahlpritsche in ihrer Zelle in San Diego. Nachdem die Sonne untergegangen war, hüllte Dunkelheit den großen Raum ein. Das einzige Licht spendete das Fernsehgerät. Seit der falsche Wärter die Überreste seines Handys geholt hatte, war niemand mehr bei ihr gewesen. Sie hatte die Nachrichtensendung sicher ein Dutzend Mal gehört, da sie keine andere Wahl hatte, aber sie weigerte sich, sie sich noch einmal anzusehen. Die Lügen machten ihr nichts aus. Kein Judahit würde auch nur eine davon glauben, und selbst wenn, würde Buck sie in der nächsten Ausgabe von »Die Wahrheit« richtig stellen. Aber Albie, der arme liebe Albie. Sie hoffte und betete, dass auch diese Nachricht eine Lüge war, aber woher hatten die Behörden so schnell das Foto eines Toten bekommen, der ihrem Freund so ähnlich sah? Seit dem vergangenen Abend hatte Chloe nichts mehr gegessen. Sie zog die Knie an die Brust und legte die Arme um ihre Schienbeine. Sie wiegte sich und versuchte so, den Schmerz in ihrem Magen zu lindern. Sie versuchte, sich zu trösten, indem sie sich vorstellte, dass George, Buck und ihr Vater im Augenblick ihre Befreiung planten. Die Gedanken an Kenny verdrängte Chloe, denn sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass ihr die Arme wehtaten. Würde sie ihn je wieder sehen? Was würde Buck antworten, wenn ihr Sohn nach ihr fragte? Wer würde für Kenny sorgen, wenn Buck unterwegs war? Sie fragte sich, ob der Schlaf wohl das Hungergefühl lindern würde und ob sie überhaupt würde schlafen können. Von George hatte sie genügend über solche Operationen erfahren, um zu wissen, dass jeder Befreiungsversuch genau dann unternommen würde, wenn die Weltgemeinschaft am wenigsten damit rechnete, also konnte es Tage dauern, vielleicht länger. Sie musste lernen zu schlafen. Irgendwie musste Chloe trotz ihrer Situation bei Verstand bleiben. 132
Mit dem Aufstieg Nicolai Carpathias waren alle Rechte von Gefangenen eingeschränkt worden. Da sind wir, ein Jahr vor dem Ende der Geschichte, und ich könnte in meiner Zelle erschossen werden, weil ich das Zeichen nicht trage. Einsam, hungrig, voller Sehnsucht nach ihren Lieben und voller Trauer um Albie schloss Chloe in der Dunkelheit die Augen, legte die Hände auf die Ohren und summte vor sich hin, um den Lärm des Fernsehgeräts zu übertönen. Darum hörte sie auch nicht das Eintreten der Nachtwache, bis die Wachhabende vor ihrem Käfig stand. Chloe zuckte zusammen und fuhr hoch. Das plötzliche Auftauchen der stämmigen Gestalt jagte ihr schreckliche Angst ein.
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8 Naomis Vater begrüßte Chang genau wie am Abend zuvor, Wange an Wange. Chang verbeugte sich zwar, doch im hellen Tageslicht mochte er seine Kappe nicht abziehen. »Ein kleiner Tipp«, flüsterte Eleazar Tiberias ihm während ihrer Begrüßung ins Ohr, »in jeder Kultur ist es unhöflich, in Gegenwart eines älteren Menschen die Kopfbedeckung nicht abzunehmen.« »Verzeihen Sie mir«, flüsterte Chang, »aber wenn ich sie abziehen würde, wäre meine Schande offenbar.« Eleazar Tiberias schloss die Augen und nickte wissend. Man hatte ihn offensichtlich über Changs doppeltes Zeichen informiert. »Ich verstehe.« Der ältere Mann griff nach einem Korb mit Manna. »Dr. Ben-Judah wird jeden Augenblick hier sein, aber ich möchte dich schon einmal Dr. Rosenzweig vorstellen. Komm mit.« Chang folgte dem älteren Mann in dessen Unterkunft, wo der schmächtige Chaim Rosenzweig sie bereits erwartete. Er sah aus wie Albert Einstein und nicht wie der berühmte Micha, der sich dem Potentaten entgegengestellt hatte. Rosenzweigs Haar war nachgewachsen, so lange hielt er sich schon in Petra auf. Seine Haut hatte ihre dunkle Färbung verloren und er sah wieder genau aus wie früher. Rosenzweig erhob sich. Für sein Alter war er noch ein wahres Energiebündel. »Du bist also Chang Wong, unser Maulwurf-Genie in Neu-Babylon!« »Nun, ich –« »Keine falsche Bescheidenheit, mein junger Freund. Gott hat dich gebraucht. Oh, er hat dich auf so wunderbare Weise gebraucht! Ach, was für eine Belohnung wird im Himmel auf dich warten.« Er ergriff Changs Arm und drückte ihn. »Komm, wir wollen draußen auf Dr. Ben-Judah warten. Eleazar, leisten Sie uns doch bitte Gesellschaft. Dr. Ben-Judah ist hier der Führer, wie du sicher weißt, obwohl er vieles jünger ist als ich. 134
Ach ja, mindestens 20 Jahre. Vor vielen en war er einer meiner Studenten. Wirklich. Nun, Chang Wong, willkommen, willkommen, willkommen. Leider stößt du an einem höchst traurigen Tag zu uns, an dem wir den Verlust eines unserer Mitglieder und die Gefangennahme eines anderen betrauern, aber wir sind froh, dass du jetzt hier bist.« Aus der Ferne sah Chang Dr. Ben-Judah näher kommen. Dieser befand sich in Begleitung einiger Männer. Sie kamen aus dem Computerzentrum. Dr. Rosenzweig vertraute ihm an: »Diese Männer werden uns nicht Gesellschaft leisten und natürlich sind sie auch keine Leibwache. So etwas ist hier unnötig. Aber Dr. Ben-Judah ist so populär und beliebt, dass er nirgendwohin gehen könnte, wenn er sich nicht in Begleitung von einigen der Ältesten befindet. Jeder möchte einen Augenblick seiner Zeit, aber diese Augenblicke häufen sich. Sie wollen ihn nur ihrer Wertschätzung und Liebe versichern, aber er hat so viel zu tun und einen so engen Terminplan.« »Ich fühle mich geehrt, dass er sich ein wenig Zeit für mich nimmt«, sagte Chang. »Wie alle anderen möchte auch ich einen Augenblick seiner Zeit.« »Oh, glaub mir, junger Freund, ich kenne ihn so gut, dass ich sagen kann, er hat sich auf diese Begegnung gefreut.« Dr. Ben-Judah und seine Begleiter hatten die beiden nun erreicht, doch die Ältesten wandten sich gleich wieder um und verschwanden. »Oh, ich denke, du weißt, wer das ist. Tsion, darf ich dir Chang Wong vorstellen«, begann Rosenzweig. Dr. Ben-Judah begrüßte Chang auf typisch jüdische Art. Zuerst verbeugte er sich vor ihm, dann nahm er den Jungen fest in die Arme. »Setz dich doch, setz dich«, sagte er. »Setz dich hier zwischen Dr. Rosenzweig und mich. Weißt du, vor Jahren war er mein Prof-« 135
»Das habe ich ihm schon erzählt, Tsion«, unterbrach Chaim ihn. »Lass uns beten und essen.« Tsion beugte sich zu Chang hinüber und flüsterte, sodass nur Chang es hören konnte: »Diese älteren Leute haben keine Geduld!« Tsion hielt Changs Hand und ergriff auch die von Chaim. »Eleazar, leisten Sie uns doch Gesellschaft.« Nachdem die vier sich an den Händen gefasst hatten, hob Dr. Ben-Judah das Gesicht und Chang neigte den Kopf. »Lieber Vater im Himmel, du Schöpfer, Herr und Freund«, begann er, »am Anfang eines weiteren Tages, der uns zur Wiederkunft unseres Herrn und Erlösers führt, preisen wir deinen Namen. Wir danken dir für unser tägliches Brot. Und wir sind beschämt, wenn wir daran denken, wo wir noch vor einigen Jahren gestanden haben. Mr. Tiberias, Geschäftsmann und der Religion ergeben, Dr. Rosenzweig, Staatsmann, Gelehrter ad Agnostiker. Ich, ein Student der Bibel, aber blind für die Wahrheit. Und Chang Wong, ein brillanter junger Atheist. Du gütiger Gott hast uns allen eine zweite Chance gegeben und uns durch das Blut deines lieben Sohnes erlöst. Wir preisen dich in seinem Namen.« Tsion hielt Chang den Korb mit dem Manna hin. Dieser nahm eine kleine Hand voll. Die älteren Männer nahmen eine größere Portion und Tsion sagte: »Ich möchte dir gern zeigen, wie ich meine tägliche Portion esse. Ich bin froh, dass die Mahlzeiten nicht mehr so viel Zeit einnehmen wie sonst, obwohl ich gestehen muss, dass ich manchmal auch die ganzen Beilagen vermisse. Die Mahlzeiten hier dauern oft nicht länger als fünf Minuten.« Er legte das Manna in die rechte Handfläche, legte vorsichtig seine Finger darum und nahm ein Stück mit Daumen und Zeigefinger. »Wie Erdnüsse, nicht wahr?«, sagte er lächelnd. »Eine Hand voll und ich bin satt.« Mr. Tiberias erhob sich wenig später und sammelte die Reste 136
in den Korb, dann warf er sie in den Wind, der sie davontrug. »Sagen Sie mir, Dr. Ben-Judah«, begann Chang, »stimmt das mit Albie?« »Dass er tot ist? Ich fürchte, ja«, erwiderte Tsion. »Aber Selbstmord! Das glaubt natürlich keiner von uns.« Nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten, merkte Chaim an: »Tsion, wir müssen jetzt wirklich los.« »Ach, Sir«, warf Chang ein, »ich zögere zu fragen, weil alle mir erzählt haben, wie beschäftigt Sie sind und dass jeder ein wenig Ihrer Zeit haben möchte …« »Bitte, Chang. Wir verdanken dir so viel. Frag alles, was du möchtest. Wenn ich dir helfen kann, werde ich das tun.« »Ich würde Sie gern kurz allein sprechen. Das soll keine Beleidigung sein, Dr. Rosenzweig.« »Das empfinde ich auch nicht so. Mr. Tiberias und ich werden uns auf unsere Sitzung vorbereiten.« Tsion führte Chang hinter einen Felsblock. »Was kann ich für dich tun?« Chang nahm seine Kappe ab und zeigte ihm die auf seine Stirn tätowierte 30 und die dünne rosafarbene Linie, wo der Biochip der Weltgemeinschaft eingesetzt worden war. Er sah das Mitgefühl in den Augen des alten Mannes. »Ich gestehe, dass es wirklich seltsam ist, Chang, das zu sehen, wo ich auch das Zeichen des Gläubigen auf deiner Stirn bemerke.« »Ich kann es nicht ertragen, in den Spiegel zu sehen«, seufzte Chang. »Ich wage gar nicht, hier meine Kappe abzunehmen. Ja, es hat mich am Leben erhalten, und, ja, ich hatte Zugang zu Informationen, von denen kein Gläubiger jemals geträumt hätte. Aber es verspottet mich, verflucht mich. Ich hasse es.« »Es wurde dir aufgezwungen, Junge. Es war weder deine Entscheidung noch deine Schuld –« »Das weiß ich, Sir, aber ich möchte, dass es verschwindet. Ist das möglich?« 137
»Ich weiß es nicht.« »Ich lese jeden Tag Ihre Botschaften. Sie sagen, dass bei Gott alle Dinge möglich sind. Warum sollte er das hier nicht entfernen können?« »Ich weiß es nicht, Chang. Ich möchte dir einfach nicht versprechen, dass er es tun wird.« »Aber wenn ich glaube, dass er es tun wird? Und wenn Sie es glauben?« »Auch wenn wir beide es fest glauben, Chang, und noch so sehr vertrauen und studieren, niemand kann von sich behaupten, dass er die Gedanken Gottes kennt. Wenn ich beten soll, dass Gott es dir wegnimmt, dann werde ich es tun. Und ich glaube, dass er es kann und tun wird, was er möchte. Aber ich möchte dich bitten, dass du seine Entscheidung akzeptierst, egal, wie sie auch ausfallen mag.« »Natürlich.« »Sag das nicht zu leichtfertig. Ich sehe, wie sehr du dir das wünschst, und ich möchte nicht, dass dein Glaube ins Wanken gerät, sollte Gott dir diese Bitte nicht gewähren.« »Ich werde enttäuscht sein und mich fragen, aus welchem Grund er mir diese Bitte abschlägt, aber ich werde seinen Willen akzeptieren. Werden Sie für mich beten?« Dr. Ben-Judah betrachtete Chang eindringlich. Er presste die Lippen aufeinander, dann wandte er seinen Blick ab. Schließlich sagte er: »Ich werde es tun, Komm, setz dich hierher und warte. Ich weiß, dass es dir lieber wäre, wenn wir dies in aller Stille tun würden, doch mir wäre es lieber, wenn wir mit mehreren dafür beten würden. Hast du etwas dagegen?« »Natürlich nicht. Es gefällt mir nur nicht, wenn sie mich mit diesem –« »Das ist nun mal nicht zu vermeiden. Das ist ein Teil des Preises.« Chang nickte und Tsion rief nach Eleazar und Chaim. Sie kamen und blickten Chang ernst an, der auf einem Stein saß 138
und den Kopf in den Händen barg. Tsion informierte sie über Changs Wunsch und bat sie, sich ihm im Gebet anzuschließen. Die drei kamen näher, Ben-Judah in der Mitte, Tiberias links und Rosenzweig rechts von ihm. Tsion legte seine linke Hand an Changs Hinterkopf und seine rechte Hand auf Changs Stirn. Die anderen beiden nahmen jeweils eine von Changs Händen und legten ihre freie Hand auf dessen Schultern. Chang erschauderte bei der sanften Berührung dieser drei Männer Gottes und er fühlte sich von ihnen und von Gott geliebt. Sein Körper versteifte sich zunächst, entspannte sich dann jedoch nach einem Augenblick wieder. »Lieber Vater im Himmel«, begann Tsion so leise, dass Chang ihn kaum verstehen konnte, »wir wissen, dass du diesen jungen Mann geschaffen hast. Du kennst ihn und hast ihn schon vor Grundlegung der Erde geliebt. Du, der du reich bist an Erbarmen, hast uns geliebt, als wir noch tot waren in unserer Sünde. Du hast uns zusammen mit Christus lebendig gemacht und erhöht. Denn durch Gnade hast du uns erlöst durch den Glauben und nicht wegen dem, was wir getan haben; die Gabe Gottes ist es, nicht durch Werke, damit niemand sich rühme. Denn wir alle sind sein Werk, geschaffen in Christus Jesus. Chang Wong, da wir wissen, dass du nicht durch vergängliche Dinge wie Silber oder Gold erlöst wurdest, sondern durch das kostbare Blut Christi als Lamm ohne Fehl und Flecken, glaube an Gott. Er hat Christus von den Toten auferweckt und hat ihn verherrlicht, damit unser Glaube und unsere Hoffnung auf Gott gerichtet seien. Wir kommen nun zusammen im Glauben. Wir beten zu dem Gott, dem alles möglich ist, dem Gott, der uns wie Schadrach, Meschach und Abed-Nego früher vor dem Feuer des Feindes verschont und geschenkt hat, dass das Feuer keine Macht über uns hatte; kein einziges Haar auf unseren Häuptern wurde versengt, unsere Kleidung wurde nicht angetastet und nicht einmal der Geruch des Feuers haftete uns an. 139
Gott, nach deinem Willen bitten wir dich, jedes Zeichen des Bösen von diesem Jungen wegzunehmen.« Chang erschlaffte. Er hatte das Gefühl, als würde jedes seiner Glieder 100 Pfund wiegen. Er schwitzte aus jeder Pore und spürte, wie ihm der Schweiß über sein Gesicht, seine Arme und seinen Körper lief. Die Hände der Männer wurden feucht, doch sie ließen diese ruhig liegen, wo sie lagen. Als Chang das Gefühl hatte, er würde von dem Stein herunterrutschen, sagte Tsion: »Danke, meine Herren.« Sie drückten ermutigend Changs Hände und Schultern und traten zurück. Jetzt wurde er nur noch von Tsion gehalten, dessen Hände nach wie vor an seinem Kopf lagen. Er ließ seine Hand von der Stirn zu Changs Hinterkopf gleiten. Chang öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne. Fragend sah er Dr. Ben-Judah an. Tsion lächelte. »Meine Herren?«, sagte er, »was sehen Sie?« Tiberias beugte sich von der einen, Rosenzweig von der anderen Seite über Chang. »Preis sei Gott!«, rief Chaim. Eleazar hob den Kopf und brach in schallendes Gelächter aus. »Ich sehe nur das Zeichen des Gläubigen! In meiner Unterkunft habe ich einen Spiegel. Komm mit und sieh es dir selbst an!« Noch nie hatte Rayford Mac so verzweifelt erlebt. Oder so entschlossen. »Wenn jemand diesen alten Jungen umgebracht hat, muss ich deswegen etwas unternehmen, Ray«, sagte Mac. »Gib mir eine Aufgabe, damit ich aktiv an der Lösung unseres Problems beteiligt bin. Ich meine das wirklich sehr ernst.« »Ich kenne Albie auch schon lange«, entgegnete Rayford. »Das weiß ich. Und ich habe das Gefühl, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit kennen.« »Was sagt dir dein Gefühl, Mac? Ist das nur Propaganda der 140
Weltgemeinschaft oder ist er wirklich tot?« Mac seufzte. »Nun, er hat auf keinen Fall Selbstmord begangen, aber ich habe das Gefühl, dass sie ihn getötet haben.« Rayford rief über Macs Telefon Buck an, um ihm mitzuteilen, dass sie gegen zehn Uhr abends in San Diego landen würden. »Bucks Apparat. Hey, Mac, hier spricht George.« »Nun, dies ist Macs Telefon, aber hier spricht Rayford. Wie ist die Situation, George?« »Wie Sie sich denken können. Buck befindet sich in ziemlich schlechtem Zustand. Wir haben alle Mühe, ihn davon abzuhalten, geradewegs zum Hauptquartier der Weltgemeinschaft zu marschieren.« »Könnt ihr Jungs uns um zehn Uhr abholen?« »Zehn? Sie sind aber ziemlich schnell.« »Ja, nicht übel. Wir haben nur eine Zwischenlandung gemacht und sind einen kleinen Umweg geflogen, um mein Telefon zu versenken, guck sollte mitkommen. Vielleicht können wir ihn alle zusammen ja ein wenig beruhigen.« »Sie müssen dafür sorgen, dass er mitkommt. Auf mich hört er nicht.« »Ist er da?« »Er ist mit Kenny unten. Der kleine Kerl kann ohne seine Mama nicht einschlafen.« »Nun, sagen Sie Buck, das sei eine Anweisung. Wir vier müssen miteinander reden, sobald wir gelandet sind. Kann jemand auf Kenny aufpassen?« »Sicher. Im Augenblick haben wir mehr freiwillige Babysitter, als wir gebrauchen können.« »Hey, denken Sie, dass es zu spät ist, Lionel Whalum in Illinois anzurufen?« »Nein, er ist ein Nachtmensch. Was ist los?« »Ich habe Chloes Nachricht entschlüsselt. Sie ist davon überzeugt, dass wir alle von San Diego nach Petra schaffen müssen.« 141
»Das hatte ich befürchtet«, sagte Sebastian. »Lionel ist der Einzige, der über ausreichend Flugzeuge, Kontakte und Erfahrung verfügt, um so etwas durchzuziehen – und zwar schnell.« »Dieses Versteck hier war einfach perfekt.« »Jedes unserer Verstecke war perfekt, bis es plötzlich nicht mehr sicher war, George.« »Dem kann ich nicht widersprechen.« »Rufen Sie Lionel für mich an, ja? Ich muss Zeke erreichen und sehen, ob er aus seiner Versenkung kommen und uns in Petra helfen kann.« »Woran denken Sie?« »An eine Aufgabe für Buck, damit er nicht verrückt wird, und etwas für Mac und mich, damit wir das Gefühl haben, etwas für Albie zu tun.« »Ich hoffe, ich werde auch daran beteiligt.« »Wir würden nicht im Traum daran denken, so etwas ohne Sie durchzuziehen, George.« »Na, haben Sie genug von unserem Fernsehprogramm?«, fragte die Nachtwache Chloe. »Ja, allerdings.« Chloe hatte sich den Aufmarsch der Armeen aller Länder in den Vereinigten Carpathiatischen Staaten angesehen. Nur die Stadt Neu-Babylon war davon ausgenommen. Diese wurde überhaupt in den Nachrichten größtenteils ignoriert. Im flackernden Licht des Fernsehgeräts konnte Chloe erkennen, dass die Frau eine Farbige war. »Ich bin Florence«, stellte sie sich vor. Mit ihrem Gummiknüppel stellte sie das Gerät ab. »Ich bin diejenige, die Ihnen heute Abend zu essen geben wird, wenn Sie ein braves Mädchen gewesen sind. Sind Sie ein braves Mädchen gewesen?« »Offiziell bin ich hungrig, falls Sie das meinen.« »Das habe ich Sie nicht gefragt, aber ich habe Ihren Energieriegel in der Tasche, wenn Sie ihn haben möchten.« 142
»Das möchte ich allerdings.« »Das hat aber nicht lange gedauert, bis Ihre Stimmung sich geändert hat. Wie ich hörte, waren Sie ziemlich hochnäsig und arrogant, als würden Sie nichts brauchen oder wollen.« »Ich möchte gern am Leben bleiben.« »Wie lange? Sie geben uns besser etwas, das Jock gebrauchen kann, sonst werden Sie es nicht bis zu Ihrer ersten Dusche schaffen.« »Und wann ist das?« »Einmal in der Woche. In einer Woche.« »Ich kann eine Woche lang nicht baden?« »Baden können Sie in diesem Waschbecken, so oft Sie wollen. Wie schmeckt das Wasser?« »Nicht wie Wasser.« Florence lachte. »Wenn das nicht die Wahrheit ist. Sie werden es trotzdem trinken. Sie müssen. Diese 250 Kalorien am Tag werden Sie am Leben erhalten, aber Sie werden nicht für etwas anderes zu gebrauchen sein.« »Was erwartet mich hier sonst noch?« »Ach, Sie wissen schon: Vielleicht findet einer der Wärter an Ihnen Gefallen, möchte eine Verabredung mit Ihnen. Sie verstehen, was ich meine.« Chloe lachte. Sie konnte nicht anders. »Sie finden das lustig? Was werden Sie tun?« »Das wäre es wert, dafür zu sterben«, erwiderte Chloe. »Er würde mich zuerst umbringen müssen.« »Das sagen Sie jetzt. Aber mich werden Sie nicht töten. Sehen Sie nur, wie viel größer als Sie ich bin.« »Eine von uns würde das nicht lebend überstehen.« »Das sind doch alles nur große Worte. Sie werden ganz anderer Meinung sein, wenn Sie an Gewicht verlieren und dieser Overall an Ihnen herumschlottert.« »Dann warne ich Sie lieber jetzt, solange ich noch bei Verstand bin. Sie und jeder andere hier würden es bedauern, 143
wenn Sie versuchen, mir irgendetwas anzutun.« »Tatsächlich?« »Tatsächlich. Und dazu gehört auch Jock.« »Jock tut so etwas nicht, aber er weiß, wann er wegsehen muss.« »Nun, wenn er wieder hinsieht, wird jemand tot sein. Einer seiner Leute oder seine Star-Gefangene.« »Warum geben Sie nicht endlich nach, Mädchen? Geben Sie Jock ein paar Informationen. Er erwartet doch gar nicht viel. Und Sie hätten eine Ruhepause, wie sie seit Monaten niemand mehr gehabt hat. Sie kommen hier herein, ohne Zeichen, und sind noch immer am Leben? Das sollte Ihnen doch eigentlich etwas klar machen: Sie sind in der Position zu verhandeln.« »Sie könnten mich genauso gut gleich töten.« »Denken Sie nicht, dass ich das nicht gerne tun würde.« »Sie? Sie kennen mich doch gar nicht. Ich würde Sie nicht töten wollen.« »Sie haben gerade gesagt, dass Sie das sehr wohl tun würden. Wenn ich in diesen Käfig hereinkäme.« »Nun, sicher, wenn Sie mir etwas antun wollten, würde ich mich verteidigen.« »Ich würde Ihnen alles Mögliche antun wollen. Sie sind entweder für uns oder gegen uns, Süße.« »Nun, dann bin ich gegen Sie«, erwiderte Chloe. »Sagen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß.« »Sagen Sie mir, in welcher Form ich diese 250 Kalorien bekomme.« »Das wissen Sie doch. In Form eines Energieriegels.« »Und das ist alles?« »Allerdings. Einmal am Tag.« »Davon kann doch kein Mensch leben.« »Das haben Sie gesagt, nicht ich. Natürlich bekommen Sie vielleicht mehr, wenn Sie uns mehr erzählen.« »Vielleicht?« 144
»Aber das ist nicht sehr wahrscheinlich. Denn da Sie es sich heute nicht verdient haben, trage ich heute Abend die Verantwortung. Und Sie bekommen alle 24 Stunden nur einen. So wie Sie mich heute Abend beleidigt haben, gebe ich ihn vielleicht für morgen an Nigel weiter.« Chloe wollte darum betteln, aber das würde sie nicht tun. Sie würde einfach schweigen und hoffen, dass es Florence Spaß machen würde, jeden Tag für die Essensverteilung zuständig zu sein. »Wenn Sie noch wach sind und mir keinen Ärger machen, bringe ich ihn gegen Mitternacht. Also, für den Fall, dass Sie lesen, Make-up auflegen, Ihre Zehennägel lackieren oder was auch immer machen möchten, schalte ich das Licht an. Und da das Fernsehgerät ausgeschaltet ist, lasse ich ein wenig Musik laufen, damit Sie schlafen können.« Oh bitte, lass das Licht und die Musik aus. Florence watschelte zur Tür, die Hände an ihren Gürtel gelegt, an dem alles außer einer Pistole hing – ein Gummiknüppel, ein Schlüsselring, ein leeres Holster und, aus welchem Grund auch immer, ein Vorrat an Pistolenkugeln. Sie schaltete die Lichter an – alle –, und Chloe hatte den Eindruck, dass es jetzt heller war als während des Tages, als die Sonne durch die Fenster hereingeschienen hatte. Damit konnte sie fertig werden. Sie konnte ihr Gesicht zur Wand drehen. Und trotz des tiefen Bedauerns, dass sie sich selbst um ihre Mahlzeit gebracht hatte, konnte Chloe auch damit umgehen. Sie würde beten, an ihre Lieben denken, auswendig gelernte Bibelverse aufsagen und hoffen, dass sie darüber einschlafen würde. Doch dann ertönte die Musik, lauter, als es nötig gewesen wäre. Viel zu laut. Und natürlich wurde die Hymne »Heil dir, Carpathia« gespielt, vom Band, und zweifellos würde das die ganze Nacht so gehen. Buck hatte ihr einen anderen Text beigebracht. Das könnte 145
sie ein paar Minuten ablenken. Wie lautete er noch gleich? Sie ging den Text gedanklich durch, dann begann sie mitzusummen und schließlich leise zu singen: Scheitern wirst du, Carpathia, du Heuchler und Dummkopf; Scheitern wirst du, Carpathia, du Narr. Ich bekämpfe dich, bis zu deinem Tod; Auf dich wartet der Feuersee. Scheitern wirst du, Carpathia, du Heuchler und Dummkopf. Nachdem er sich in Eleazar Tiberias’ Spiegel davon überzeugt hatte, dass das Zeichen des Potentaten tatsächlich verschwunden war, war Chang zum Computerzentrum gerannt. Ausgelassen hüpfte und jubelte er und freute sich mit Abdullah und Naomi. Doch schließlich zeigten sie ihm die Aufzeichnung der Nachrichten über Albie, und das ernüchterte ihn. Obwohl er gerade aus dem Palast entkommen war, verblüffte selbst Chang die Tatsache, dass die Weltgemeinschaft den Nerv hatte, solche erfundenen Informationen über Chloe in einer so genannten Nachrichtensendung zu verbreiten. Er fragte sich, wie selbst Sympathisanten der Weltgemeinschaft solchen Unsinn glauben konnten. Aber Naomi zeigte ihm einige E-Mails von Judahiten aus der ganzen Welt, die deutlich machten, dass viele Ermutigung brauchten. Man musste sie daran erinnern, dass der Teufel der Vater der Lügen ist. »Unsere Schreiber«, erklärte Naomi Chang, »hier in diesem Bereich, verfassen in Textbausteinen Antworten auf die am häufigsten gestellten Fragen. Diese werden an die Leute weitergegeben, die die Antworten tippen. Sie können sich dann die passenden Textbausteine heraussuchen und eingeben.« Sie bat einen Schreiber, seine Antwortliste einmal auszudrucken. Sie nahm das Blatt aus dem Drucker und zeigte es Chang:
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»Die einzigen Informationen, die in den Nachrichten korrekt weitergegeben wurden, sind Chloes Name, ihr Alter und die Tatsache, dass sie die Tochter von Rayford Steele und die Frau von Cameron Williams ist. Zwar stimmt es, dass sie die Stanford-Universität besucht hat, aber sie war auf dem Campus weder als Radikale bekannt noch ist sie der Universität verwiesen worden. Nach der Entrückung ist sie freiwillig abgegangen, aber sie hatte immer einen guten Notendurchschnitt und sich nie an Studentendemonstrationen beteiligt. Rayford Steele hat tatsächlich als Pilot in Nicolai Carpathias Diensten gestanden und wichtige Informationen für die Sache der Jünger Christi auf der ganzen Welt beschafft. Er wurde keineswegs wegen Insubordination und Alkoholmissbrauch im Dienst entlassen. Er ging auf eigenen Wunsch, nachdem seine zweite Frau bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Die Judahiten sind alles andere als die letzten ›Widerstandszellen gegen die neue Weltordnung‹. Viele jüdische und moslemische Splitterparteien sowie ehemals militante Gruppierungen vorwiegend in den Vereinigten Nordamerikanischen Staaten weigern sich noch immer, das Loyalitätszeichen des Supreme Potentaten anzunehmen, und müssen sich aus Angst um ihr Leben versteckt halten. Cameron Williams war in der Tat ein bekannter amerikanischer Journalist, der ebenfalls direkt im Dienste des Potentaten gestanden hat, aber auch er ging freiwillig und hat seinen Job nicht wegen Differenzen mit seinen Vorgesetzten verloren. Was die begrenzte Auflage seiner subversiven Internetzeitung betrifft, das ist nun wirklich Ansichtssache. ›Die Wahrheit‹ wird von demselben Publikum gelesen, das täglich die Botschaften Dr. Tsion Ben-Judahs liest, immerhin mehr als eine Milliarde Menschen. Rayford Steele, Cameron Williams und Chloe Williams werden nicht wegen ›mehr als drei Dutzend Morden auf der gan147
zen Welt‹ gesucht. Die Tribulation Force räumt ein, dass Cameron Williams einen, Rayford Steele zwei Menschen getötet hat, aber jedes Mal aus Notwehr. Die von Mrs. Williams geleitete Internationale Handelsgesellschaft hat sich niemals widerrechtlich irgendwelche Waren angeeignet und verkauft ihre Waren auch nicht aus Profitgier, vielmehr wird der Handel zum ausschließlichen Nutzen ihrer Mitglieder betrieben. Die Williams’ haben keinerlei durch den Schwarzmarkt erworbenen Reichtum angehäuft. Ohne die Großzügigkeit ihrer Mitglieder würde die Handelsgesellschaft gar nicht existieren. Mrs. Williams hatte nie eine Abtreibung oder ein Kind verloren und hatte nur eine Schwangerschaft. Ihr Sohn ist dreieinhalb Jahre alt. Die Williams’ haben ihrem Sohn niemals göttliche oder besondere Kräfte zugeschrieben. Allerdings halten sie Nicolai Carpathia für den Antichristen, und sie glauben, dass Jesus Christus Carpathia eines Tages besiegen und sein Reich auf der Erde aufrichten wird. Ein Telefongespräch mit Mrs. Williams während ihrer Gefangenschaft hat bestätigt, dass sie nicht bereit ist, mit der Weltgemeinschaft zu kooperieren, und das ist die Politik der gesamten Tribulation Force. Sie gibt keinerlei Informationen preis, nicht einmal, um der Todesstrafe zu entgehen. Außerdem hat sie in der Vergangenheit mehrfach ihre Bereitschaft gezeigt, für die Sache Christi zu sterben. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Mrs. Williams irgendwelche Informationen über Al Basrah, Mitglied der Tribulation Force, preisgegeben hat, auch gibt es keinerlei Hinweise auf einen Selbstmord.« »Wird dieser Text irgendetwas bewirken?«, fragte Chang. »Bei unseren Leuten schon«, erwiderte Naomi. »Aber sogar die Menschen, die es besser wissen sollten, wollen eine Bestätigung. 148
Alle anderen sind sowieso mit dem Truppenaufmarsch im Jesreel-Tal beschäftigt.« »Was passiert in San Diego?« »Nicht viel, bis Captain Steele und Mr. McCullum dort eintreffen, was übrigens jeden Augenblick sein sollte. Wir treffen Vorbereitungen für 200 Neuankömmlinge, die im Laufe der kommenden Tage eintreffen werden. Du kannst dir also vorstellen, was das bedeutet. Hast du in letzter Zeit mit deiner Schwester gesprochen?« »Nein. Ich wollte, und jetzt habe ich natürlich Neuigkeiten für sie.« »Und sie hat Neuigkeiten für dich.« »Was denn?« »Oh, ich möchte ihr die Überraschung nicht verderben.« »Naomi!« »Nein, wirklich nicht. Ich kann es kaum erwarten, sie kennen zu lernen, und auf keinen Fall möchte ich unsere Beziehung belasten, indem ich ihr Vertrauen missbrauche.« »Sie hat dir etwas anvertraut, das sie mir noch nicht erzählt hat?« »Nicht wirklich. Aber meine Aufgabe besteht darin, Informationen von den Menschen entgegenzunehmen.« »Wie zum Beispiel …?« »Zum Beispiel Botschaften für die Führungsebene. Die Betreffenden müssen nicht herkommen und sie im Computer lesen, sondern wir drucken sie aus und bringen sie zu ihnen.« »Und in einer dieser Nachrichten hast du etwas über meine Schwester erfahren, das sie mir lieber selbst mitteilen sollte?« Naomi nickte. »Nun, dann werde ich mich dieser Sache einmal annehmen«, sagte er und holte sein Handy hervor. »Und danach hast du ein paar Minuten Zeit für mich?« »Ja, schon«, erwiderte sie. »Aber nur ein paar. Es wird ein hektischer Tag werden.« »Du schuldest mir noch eine Geschichte.« 149
»Meine Geschichte, meinst du? Eigentlich ist es die Geschichte von meinem Vater und mir, aber sie ist kurz. Ich werde sie dir nachher erzählen.« »Dann sehen wir uns gleich«, sagte Chang und wählte die Nummer seiner Schwester. »Hallo, Chang«, meldete sich Ming. »Verzeih, wenn ich flüstere, aber ich passe gerade auf Kenny Bruce auf, und er ist endlich eingeschlafen.« »Ich habe mich nur gefragt, wie es dir geht und wie die Lage bei euch ist.« »Du weißt es sicher.« »Ja. Ich habe Neuigkeiten für dich.« »Erzähle, Bruderherz.« »Gott hat das Zeichen des Tieres von meiner Stirn entfernt!« »Gelobt sei Gott! Erzähl mir davon! Ich kann es kaum erwarten, dich zu sehen.« Er berichtete ihr, was passiert war. »Das ist wirklich wundervoll, Chang. Zu schade, dass es an einem sonst eher unglücklichen Tag passiert ist.« »Ja, und du hast auch Neuigkeiten für mich?« »Was meinst du?« »Keine Ahnung. Nur so eine Ahnung.« »Oh Chang. Ree hat mir einen Heiratsantrag gemacht, und ich habe Dr. Ben-Judah gebeten, uns zu trauen, wenn wir bei euch eintreffen.«
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9 »Ich sehe mich mal um«, sagte Buck, »damit sie sicher landen können.« George saß am Steuer des Ford und warf Buck einen Seitenblick zu. »Als wir das Gelände verlassen haben, war niemand da, unterwegs war auch nichts Verdächtiges zu sehen, und niemand ist uns gefolgt. Die letzte halbe Meile sind wir über Feldwege gefahren und haben die Scheinwerfer nur eingeschaltet, um zu sehen, ob wir noch auf dem Weg sind. Buck, der Flughafen ist so sicher wie eh und je.« Buck seufzte und schüttelte den Kopf. »Wann bin ich so vorsichtig geworden? Du bist doch derjenige mit militärischen Vorkenntnissen.« »Es gibt ›vorsichtig‹ und ›vorbereitet’ und es gibt ›paranoid‹«, erwiderte Sebastian. »Ich weiß, sie haben Chloe, aber das war keine groß angelegte Suche. Es war ihr Fehler. Es tut mir Leid, aber dein Schwiegervater sagte, sie hätte es selbst zugegeben. Und sie hat sich ja schon einmal aus dem Versteck geschlichen –« »Aber warum ist sie nach draußen gegangen? Ich habe Männer gesehen und sie vermutlich auch. Die haben sie geschnappt.« »Routineüberprüfung. Du hast selbst gesagt, dass sie gelangweilt gewirkt haben.« »Nun, jetzt sind sie nicht mehr gelangweilt, oder?« »Nein, Buck, jetzt sind sie nicht mehr gelangweilt. Ich werde am Ende der Landebahn parken. Wenn du draußen im Wald herumlaufen willst, bis sie hier sind, dann bitte.« »Du kommst nicht mit?« »Du bist der Boss. Wenn du mir sagst, ich soll dich begleiten, dann werde ich das tun. Aber du hast ganz deutlich gesagt: ›Ich sehe mich mal um.‹ Das kannst du gerne tun.« »Komm mit.« »Du gibst mir den Auftrag?« 151
»Ich bitte dich als Freund.« »Das ist nicht fair, Buck. Spiel nicht diese Karte aus!« »Komm schon. Und wenn ich nun auf etwas stoße? Das wirst du dir nie verzeihen.« »Du bist wirklich unverbesserlich.« Sebastian hatte Recht. Tatsache war, er war nervös und musste unbedingt irgendetwas tun. Am liebsten würde Buck geradewegs ins Hauptquartier der Weltgemeinschaft in San Diego marschieren und Chloe herausholen. »Du weißt, dass Rayford die Befreiung Chloes sicher auch befürworten wird«, sagte Buck, als sie durch den Wald streiften. »Komm schon, er und Mac waren fast 16 Stunden in der Luft. Vermutlich haben sie sich am Steuer abgewechselt. Sie werden sich erst einmal ausruhen müssen.« »Mac hat von der Sache mit Albie erfahren. Er ist schrecklich aufgebracht und kann es kaum erwarten, aktiv zu werden.« »Er will nach Al Basrah zurückkehren und herausfinden, was passiert ist. Wie auch immer, Buck, selbst wenn wir einen Überfall planen: Wann soll der stattfinden und wer wird unsere Leute in der Zwischenzeit nach Petra bringen?« »Ich dachte, Rayford hätte Lionel darauf angesetzt.« »Lionel wird das Unternehmen organisieren und die nötigen Voraussetzungen schaffen, sicher. Aber wir müssen diese Leute hier herausführen und darauf achten, dass die Aufgabe erledigt wird.« Buck schlug nach einer Mücke. »Was tun wir hier? Da ist noch gar nichts. Wessen Idee war das überhaupt? Hörst du ein Flugzeug?« »Nein. Aber jetzt sind wir hier draußen, wie du gesagt hast, also lass uns unsere Arbeit tun.« »Jetzt willst du nach etwas suchen?« »Ich möchte nur keine Zeit verlieren, das ist alles. Wir sollten uns nicht zu weit vom Landeplatz entfernen.« 152
Buck wurde ganz plötzlich von Fliegen umschwärmt. Er legte sein Maschinengewehr ab und wedelte mit beiden Händen in der Luft herum. »Lass uns hier verschwinden.« Sie kamen etwa in der Mitte der Landebahn heraus. »Jetzt müssen wir den ganzen Weg zu der Stelle laufen, an der sie etwa zum Stehen kommen werden«, stöhnte George. »Gehen wir los«, sagte Buck. »Wir können uns die Zeit vertreiben, indem wir den Angriff planen.« »Auf das Hauptquartier der Weltgemeinschaft?« »Was denn sonst?« »Was weißt du über das Haus?« »Was meinst du? Wir sind doch dran vorbeigefahren. Du hast es doch auch gesehen.« »Buck, keiner von uns ist je im Inneren gewesen. Ich weiß, dass es vier Stockwerke und einen Keller hat, aber ich habe keine Ahnung, ob die Gefangenen im Keller untergebracht sind. Du etwa?« »Nein, aber ich erinnere mich noch daran, dass die unteren Fenster vergittert sind.« »Das ist gut. Das ist hilfreich. Doch je mehr du weißt, desto mehr sollte dir klar sein, dass du gar nichts weißt.« »Was für ein blödes GI-Gelaber ist das denn?« George blieb stehen. »Also gut«, sagte er, »sieh mal. Folgendes ist meine Meinung zum Hauptquartier der Weltgemeinschaft: Ich weiß, dass es zu den größten in Nordamerika gehört, aber ich habe keine Ahnung, wie viele Leute sie haben. Du?« »Nein.« »Und jetzt zu den vier Stockwerken und dem Keller. Ich habe keine Ahnung, wo das Gefängnis untergebracht ist. Du?« »Nein.« »Ich schätze, sie haben männliche und weibliche Gefangene getrennt untergebracht, aber ich bin nicht sicher. Du?« »Nein.« »Also, wenn das so ist, befinden sie sich auf demselben 153
Stockwerk oder auf unterschiedlichen Stockwerken?« »Keine Ahnung.« »Siehst du, wo wir stehen, Buck? Wir haben gar nichts. Eine Militäroperation – und vor allem ein Überraschungsangriff – ist ein kompliziertes Manöver, das einer intensiven Planung bedarf. Wir haben nur ein einziges Ziel: Chloe lebendig herauszuholen. Um das zu schaffen, brauchten wir jemanden im Inneren.« »Wir haben aber niemanden im Inneren!« »Genau, und wie sollten wir dann das Ganze durchziehen, Buck? Denk doch mal nach, Mann. Denk an das, was wir wissen müssen, bevor wir hineingehen. Halten sie die wichtigen Gefangenen von den anderen getrennt, und wenn ja, wo?« »Also gut. Du hast deine Meinung deutlich geäußert.« »Ich habe noch nicht einmal angefangen, Buck. Ihr seid von meiner militärischen Ausbildung ganz begeistert, aber ihr wisst nicht mal die Hälfte davon. Hier geht es einfach um gesunden Menschenverstand. Abgesehen davon, dass wir genau wissen müssten, wo Chloe gefangen gehalten wird, müssten wir den kürzesten Weg hinein und hinaus kennen. Wir müssten wissen, welche Türen oder Fenster am leichtesten zu überwinden sind. Wir müssten wissen, wie viele Gewehre wir brauchen würden, und, Buck, sag du mir, was das bedeutet. Wie entscheiden wir über die Menge an Munition, die wir mitnehmen müssen?« »Die Größe und Stärke der Türen und Fenster?« »Nun, das, ja. Aber hier geht es um ihre Leute, Kumpel. Auf wie viele werden wir treffen und wie werden sie bewaffnet sein? Wenn du mir sagen könntest, dass Chloe in der nordöstlichen Ecke des zweiten Stockwerks festgehalten wird und wie viele Beamte ich außer Gefecht setzen müsste, um dorthin zu kommen, wie viele Leute sie bewachen und was für Waffen sie haben, dann könnte ich vielleicht einen Plan entwerfen. Ansonsten tappen wir im Dunkeln, verlassen uns auf Annahmen und Schätzungen und riskieren, dass wir alle geschnappt werden.« 154
Sie erreichten das Ende der Landebahn und ließen sich im Gras nieder. »Wie soll man denn eine solche Sache durchziehen?« George legte sich die Waffe auf den Schoß. »Es ist niemals einfach, aber es gibt bestimmte Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, und in der guten alten Zeit, als die Leute noch nicht durch ein Zeichen identifiziert wurden, konnte man in der Regel jemanden einschmuggeln. Jemand muss sich bestens in dem Gebäude auskennen, vielleicht sogar Zugang zu den Plänen bekommen, den Grundrissen, den Elektrizitätssystemen.« »Ich kann in Anbetracht der Situation nicht einfach nichts tun, George. Was werden wir machen?« Buck sah die Landescheinwerfer bereits, bevor er die Motoren der Gulfstream hörte. Er gab mit einer starken Taschenlampe das Signal, dass die Luft rein war, und innerhalb kürzester Zeit war das Flugzeug gelandet und verborgen. Rayford und Mac stiegen aus. Wortlos schüttelten sich die vier Männer die Hand; Buck und Rayford umarmten sich. Beide waren keine emotionalen Menschen, aber sie hielten sich länger in den Armen als je zuvor. Danach beluden sie den Wagen, doch bevor sie einstiegen, meinte Mac: »Ich fühle mich 20 Jahre älter. Müssen wir sofort wieder in den Wagen steigen?« »Wir haben es nicht eilig«, erklärte Rayford. »Vertritt dir ruhig erst noch die Beine.« »Ich habe sowieso nichts dagegen, ein wenig später zurückzukommen«, sagte Buck. »Heute war es ruhig, aber bestimmt schnüffelt die Weltgemeinschaft später wieder herum.« »Du denkst doch nicht, dass Chloe sie durch ihre Behauptung, sie sei 30 Meilen von zu Hause entfernt gewesen, tatsächlich in die Irre geführt hat?«, erkundigte sich Rayford. Buck lachte. »Wohl kaum, aber sie hat es wenigstens versucht. Eigentlich würde es mich interessieren zu wissen, wo sie heute Nacht stecken. Vielleicht können wir herausfinden, wo 155
sie sie geschnappt haben.« »Jetzt denkst du richtig«, lobte George. »Das wird uns auch einen Hinweis darauf geben, wie lange es noch dauern wird, bis sie das Versteck entdecken, und wie viel Zeit wir noch haben, um von dort zu verschwinden.« »Ich kann wirklich nicht so lange wegbleiben«, sagte Naomi. Chang saß mit ihr neben einer Säule, die zu einem Säulengang im Hof des Urnengrabes gehörte. »Wenn ich jemanden wie dich hätte, der für mich einspringen könnte, dann hätte ich mehr Zeit.« »Aber für wen?«, fragte er und sie begann zu lachen. »Im Ernst, mich interessiert deine Geschichte.« »Ich erzähle gern von früher, obwohl es auch eine traurige Geschichte ist. Mein Vater war Geschäftsmann. Wir besaßen eine Restaurantkette. Es waren mehrere Lokale in der Nähe des Teddy-Kollek-Stadions. Kennst du Jerusalem?« »Nein.« »Er war ehrlich und gut, und die Leute mochten ihn, respektierten ihn. In meiner Kultur ist das sehr wichtig.« »In meiner auch.« »Ich schätze, in allen Kulturen ist der Ruf eines Menschen entscheidend. Aber mein Vater war sehr stolz darauf, dass er so viele Freunde besaß und so erfolgreich war. Er hat gut für meine Mutter und mich gesorgt. Er war auch sehr religiös und unsere Familie natürlich auch. Wir gingen an jedem Sabbat in die Synagoge. Wir kannten die heiligen Schriften. Wir liebten Gott. Ich glaube, mein Vater war auch darauf stolz, aber nicht in einem negativen Sinne – verstehst du, was ich meine?« Chang nickte. »Vor etwa acht Jahren – ich war damals elf Jahre alt – wurde meine Mutter krank. Krebs. Verzeih mir, wenn ich nicht sage, welches Organ davon betroffen war. Wir kennen uns noch nicht so gut.« 156
»Das ist schon in Ordnung.« »Sie war sehr krank. Mein Vater hat sich ihr gegenüber fantastisch verhalten. Er hätte genügend Geld gehabt, um eine Hilfe für sie einzustellen, eine Haushälterin. Aber das tat er nicht. Er engagierte eine Teilzeitkraft, hat selbst einfach nur noch halbtags gearbeitet und jeden Nachmittag und jeden Abend mit ihr verbracht. Er war ein wundervolles Vorbild für mich und inspirierte mich, noch hilfsbereiter zu sein. Wir liebten meine Mutter, und mein Vater sagte, wir sollten es als ein Vorrecht betrachten, sie so zu unterstützen, wie sie uns so viele Jahre lang unterstützt hatte. Trotz ihrer Schmerzen machte er sie glücklich.« »Er scheint mir ein wundervoller Mensch zu sein.« »Oh ja, das ist er, Chang. Das war er schon immer. Auch vorher schon. Kurz nach meinem zwölften Geburtstag verschlimmerte sich der Zustand meiner Mutter und er musste sie ins Krankenhaus bringen. Die Ärzte sagten ihm, es gäbe keine Hoffnung mehr. Aber mein Vater glaubte nicht an diese Aussage ›keine Hoffnung‹. Er glaubte an Gott. Er hat den Ärzten und allen anderen, die meine Mutter zu früh betrauern wollten, gesagt, dass wir es ihnen schon zeigen würden – er und sein kleines Mädchen würden es ihnen zeigen. Und wie würden wir es ihnen zeigen? Wir würden beten und Gott würde handeln und meine Mutter würde geheilt werden.« Chang spürte den Schmerz in Naomis Stimme. Sie schwieg eine Weile. »Ist schon gut«, sagte er. »Du kannst ein anderes Mal weitererzählen.« »Nein«, widersprach sie und wischte sich über die Augen. »Es ist nur so, mir ist, als wäre es gestern gewesen. Eines Abends kam mein Vater sehr spät aus dem Krankenhaus zurück. Er war sehr aufgebracht. An Schultagen ging ich abends nicht mit, nur am Nachmittag besuchte ich sie. Ich fragte ihn: ›Vater, was ist los? Geht es Mutter wieder schlechter?‹ Er antwortete: ›Nein, und es wäre mir auch egal.‹ Das hat mir Angst 157
gemacht. Er hatte nie Streit mit ihr, hat nie etwas Schlechtes über sie gesagt, zumindest nicht in meiner Anwesenheit. Aber sie hatte ihm etwas erzählt, das sie seiner Meinung nach nur wegen der Medikamente, die sie bekam, gesagt hatte. Sie weinte und widersprach ihm, das stimme nicht, sie würde es wirklich glauben. Ich fragte: ›Was, Vater, was?‹ Aber er brach in Tränen aus und erklärte, er hätte seine Stimme erhoben und ihr gesagt, sie solle aufhören, Unsinn zu reden. ›Ich habe sie zum Weinen gebracht‹, sagte er mir und weinte sich die Augen aus. ›Die Frau, die ich von ganzem Herzen liebe und die vor meinen Augen stirbt, ich habe sie verärgert.‹ Und ich tröstete ihn: ›Aber, Vater, sie hat dich doch auch verärgert. Was hat sie gesagt?‹ Er erwiderte: ›Sie hat mir gesagt, Jesus sei der Messias. Ich wollte wissen, wo sie etwas so Blasphemisches gehört hätte, aber sie wollte es mir nicht erzählen, aus Angst, ich würde jemandem Schwierigkeiten machen, was ich auch bestimmt getan hätte.‹ Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Mir blieb beinahe die Luft weg, als er ihre Worte wiederholte. Er hatte erwidert, er werde ihr nicht erlauben, mich wieder zu sehen, wenn sie an diesem Unsinn festhalte, doch das brachte mich nur zum Weinen. An diesem Abend wurden wir ins Krankenhaus gerufen. Man teilte uns mit, wenn wir sie noch lebend sehen wollten, sollten wir sofort kommen. Auf dem Weg dorthin weinte er und machte sich Vorwürfe, weil er sich mit ihr gestritten hatte. ›Ich bin schuld daran!‹, wiederholte er immer wieder. Er flehte Gott an, sie zu verschonen, machte ihm Versprechungen. Noch nie habe ich ihn in einem so erbärmlichen Zustand erlebt. Wir waren bei ihr, als sie starb. Ihre letzten Worte an uns waren: ›Ich gehe jetzt zu Gott. Lest die Prophezeiungen. Lest die Prophezeiungen.‹ Sie blickte mich dabei an, dann sagte sie dasselbe zu meinem Vater.« »Wow!« 158
»Ich bin nicht so zum Glauben an Jesus gekommen, wie du vielleicht denkst. Man sollte meinen, mein Vater und ich wären nach Hause gefahren und hätten angefangen, uns mit den Prophezeiungen zu beschäftigen. Und schließlich wären wir wie meine Mutter zum Glauben gekommen. Aber so war es nicht. Der Schmerz meines Vaters war so groß, dass er auf Gott zornig wurde und überhaupt nicht mehr in den Schriften gelesen hat. Wir hörten auf zu beten. Wir gingen auch nicht mehr in die Synagoge. Er liebte mich noch immer und sorgte für mich, aber er versuchte, sich in seine Arbeit zu flüchten. Seine Freunde bedauerten ihn, weil er nicht mehr derselbe Mann war wie früher. Ich konnte die letzten Worte meiner Mutter einfach nicht vergessen, aber mein Vater verbot mir, in der Bibel zu lesen, schon gar nicht die Prophezeiungen. Ich war traurig, so schrecklich traurig, weil sich mit dem Verlust meiner Mutter mein Leben so radikal verändert hatte. Außerdem hatte ich auch meinen Vater, so wie ich ihn kannte, verloren. Wann immer ich andeutete, Gott könnte uns helfen oder wir sollten Trost in der Synagoge suchen, wollte er nichts davon hören. Bei der Entrückung war ich 13. Das hat alle wachgerüttelt, sogar meinen Vater. Zu Tode erschrocken, wandten wir uns Gott, der Synagoge, den Schriften wieder zu. Ich begann, die Prophezeiungen zu studieren, und obwohl ich noch jung war, wurde mir klar, was meine Mutter erkannt hatte, nachdem jemand sie darauf hingewiesen hat. Mein Vater wollte es nicht zugeben, aber ich glaube, er begann es auch zu erkennen. Als wir hörten, dass der bekannte Gelehrte Dr. Tsion BenJudah im internationalen Fernsehen über seine Nachforschungen in Bezug auf den Messias berichten würde, haben wir es uns gemeinsam angesehen. Am folgenden Tag sprach jeder von den Schwierigkeiten, in die Dr. Ben-Judah sich gebracht hatte, indem er behauptete, der Messias sei bereits gekommen, aber mein Dad und ich waren eher aufgeregt. Er beschaffte sich 159
ein Neues Testament und wir haben jeden Abend darin gelesen. Die Geschichte von Saulus, der dann zum Paulus wurde, sprach meinen Vater ganz besonders an. Wir lasen schneller und schneller und immer mehr, und wir kamen zu der Erkenntnis, dass Jesus der Messias war und dass er uns von unseren Sünden retten könnte. Wir lernten die Verse 1 bis 4 aus 1. Korinther, Kapitel 15 auswendig: ›Ich erinnere euch, Brüder, an das Evangelium, das ich euch verkündet habe. Ihr habt es angenommen; es ist der Grund, auf dem ihr steht. Durch dieses Evangelium werdet ihr gerettet, wenn ihr an dem Wortlaut festhaltet, den ich euch verkündet habe. Oder habt ihr den Glauben vielleicht unüberlegt angenommen? Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift.‹ Mein Vater und ich hatten nur den einen Wunsch: zu tun, was Paulus getan hatte. Wir wollten sie für uns in Anspruch nehmen, diese Wahrheit, durch die wir, wie Paulus schrieb, gerettet werden konnten. Wir wussten nicht, was wir sagen oder tun sollten, darum haben wir einfach gebetet und Gott gesagt, wir würden es glauben und wollten es annehmen. Es dauerte Wochen, bis wir uns genügend Wissen angeeignet hatten, dass wir das Ausmaß unserer Entscheidung erfassen konnten und erkannten, was das alles bedeutete. Vater fand schließlich hinten im Testament einige Erläuterungen zur Entscheidung für Christus. Darin wurde davon gesprochen, dass wir annehmen, glauben und bekennen sollten. Wir beschäftigten uns mit diesem so genannten Weg zur Erlösung – mit all diesen Versen, die davon sprechen, dass alle gesündigt haben und des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, mangeln, dass der Lohn der Sünde der Tod ist und dass das Geschenk Gottes das ewige Leben ist durch Jesus Christus, unseren Herrn.« Chang starrte sie an. »Es ist immer anders«, erklärte er. »Ich 160
weiß nicht, wie viele Bekehrungsgeschichten ich schon gehört habe, aber jede ist einzigartig. Ich meine, alle haben dasselbe Ergebnis, aber bei einigen war es das große Massenverschwinden. Bei dir war es eigentlich deine Mutter.« »Wir können es gar nicht erwarten, sie wieder zu sehen, Chang. Und es wird nicht mehr lange dauern.« Chloe konnte nicht sagen, ob sie tatsächlich geschlafen hatte oder nur mit ihren Gedanken woanders gewesen war, als Florence gegen Mitternacht lärmend den Raum betrat. Ohne großes Aufheben zu machen, steckte sie den Energieriegel durch die Gitter und ließ ihn fallen. Chloe hätte sich am liebsten darauf gestürzt, ihn aufgerissen und gierig verschlungen, aber ihr Stolz ließ das nicht zu. Sie wandte sich zu der Frau um, rührte sich aber nicht. »Abendessen, Süße«, sagte Florence. »Ich empfehle einen trockenen Weißwein dazu. Außerdem Tafelwasser.« Chloe rührte sich erst, nachdem ihre Wächterin gegangen war. Sie verspeiste eine Hälfte des Riegels, der fade und geschmacklos war. Aber es hieß ja, dass Hunger der beste Koch ist. Den Rest packte sie wieder ein. Sie war entschlossen, ihn bis zum Frühstück aufzuheben. Aber die wenigen Kalorien, die sie gerade zu sich genommen hatte, regten nur ihren Appetit an. Sie hielt noch eine halbe Stunde durch, dann verspeiste sie den Rest. Obwohl sie noch immer hungrig war, hatte der Riegel ihren Magen doch ein wenig beruhigt, und sie konnte einschlafen. Sie träumte zuerst von ihrer Familie. Buck und Kenny waren ihr so nahe, dass sie sie riechen konnte, aber sie konnte sie nicht in den Arm nehmen, berühren oder küssen. Dann kamen Bilder von ihren entsetzten Gesichtern. Sie verabscheuten sie. Hatte sie das Zeichen angenommen? War sie hässlich? Sie verzogen die Gesichter und wandten sich ab. Chloe rannte zu einem Spiegel und stellte fest, dass sie kei161
nen Kopf mehr hatte. Sie verlor das Bewusstsein, und als sie in ihrem Traum auf dem Boden aufschlug, erwachte sie. Sie setzte sich auf die Pritsche, barg ihr Gesicht in den Händen und wiegte sich hin und her. Dies würde schwerer werden, als sie sich vorgestellt hatte. Sie würde sich keinen Augenblick etwas vormachen. Nicht einmal unter Folter würde sie der Weltgemeinschaft irgendwelche Informationen liefern. Sie betete darum, dass ihre Hinrichtung, sollte sie nicht irgendwie noch befreit werden, schnell vonstatten gehen würde. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie jemand sie befreien sollte. »Ich habe eine schwierige Entscheidung getroffen, Buck«, begann Rayford. Es war zwei Uhr morgens. Sie saßen im unterirdischen Versteck zusammen. Buck war in Rayfords Zimmer gekommen. Er würde die Nacht dort verbringen. Ming übernachtete in seinem und Chloes Zimmer, damit Kenny in seinem Bett schlafen konnte. Sebastian und ein junger Freund hielten Wache. »Ich will es gar nicht hören«, erwiderte Buck. »Vermutlich nicht, aber aus irgendeinem Grund hat Gott mich in diese Lage gebracht, und auch wenn ich hin- und hergerissen bin und fast genauso viel Interesse an dieser Sache habe wie du, muss ich hier die Entscheidung treffen, Buck. Mac schläft gerade. Wenn er ausgeschlafen hat, wird er nach Wisconsin fliegen und Zeke abholen. Er wird ihn in Petra absetzen, damit er mit unserer neuen Aufgabe beginnen kann.« Buck ließ den Kopf hängen. »Unsere nächste Aufgabe ist nicht hier?« »Hör mich zu Ende an. Mac wird seine Sachen aus Al Basrah holen und nach Petra umziehen. Unterwegs wird er Otto Weser anrufen, von dem ich dir erzählt habe. Er ist im Palast und hat vielleicht Informationen über die Vorgänge in Al Hillah. Carpathias Assistentin weiß, dass Nicolai in Bagdad ein Treffen aller zehn Staatsoberhäupter plant. Wir denken, dass er bei die162
ser Gelegenheit alle Armeen in Israel zusammenziehen wird.« »Dad, es tut mir Leid, aber mir ist im Augenblick alles andere egal. Es sieht so aus, als würde es eine Menge zu tun geben, aber in der Zwischenzeit lassen wir Chloe hängen.« »Buck, wir beide haben lange nicht geschlafen. Glaub mir, ich habe genauso viel geweint und gebetet und mir Sorgen gemacht wie du, und das ist wirklich –« »Das bezweifle ich.« »– kräftezehrend. Ich muss mich ausruhen und du auch.« »Dad, ich werde nicht schlafen können.« »Ich habe nichts von Schlafen gesagt. Zieh dich aus, lege dich hin und die Füße hoch. Gönne deinem Körper eine Pause, auch wenn du deine Gedanken nicht ausschalten kannst. Wir müssen einen klaren Kopf behalten, Buck.« »Du willst mir also sagen, dass ich heute Abend nicht mit George hinausgehen werde.« »Ich lasse nicht einmal George hinaus, Buck. Wir wollen ihn doch keinem unnötigen Risiko aussetzen. Er hat ein gutes Team, das mit der Weltgemeinschaft fertig wird, sollte diese sich heute Nacht zeigen. Wir wollen nur wissen, wo sie mit ihrer Suche beginnen. Ich finde es gut, dass die Leute bereits mit dem Packen begonnen haben. Flugzeuge und Piloten stehen bereit. Wir müssen jederzeit reisefertig sein.« Buck beugte sich nach vorne und stützte die Ellbogen auf den Knien auf. »Ich vertraue dir, Dad, und ich weiß, du hast nur unser Bestes im Sinn. Aber ich verstehe es nicht. Wann fangen wir an, das Hauptquartier auszukundschaften und zu überlegen, wie wir hineinkommen oder wie wir Kontakt zu jemandem aufnehmen können, der uns Informationen über dieses Gebäude liefern kann?« »Wir beide werden sehen, wie weit wir morgen Abend sind. Wenn George zur Verfügung steht, werden wir ihn mitnehmen.« »Aber das ist doch Zeitverschwendung.« 163
Rayford lehnte sich seufzend zurück. »Meine dringlichste Aufgabe ist es, Kräfte zu sparen. Unser Verstand sagt uns, dass wir Energie haben, weil wir an nichts anderes denken, aber ein solcher anhaltender Adrenalinstoß wird uns auf Dauer auslaugen. Er bringt uns dazu, übereilt und ineffektiv zu handeln. Glaub mir, Buck. Ich möchte sie genauso sehr befreien wie du, aber wir sind nicht nur für Chloe verantwortlich.« »Aber ich möchte so bald wie möglich wissen, ob der Erkundungstrupp etwas weiß über –« »Nein, ich habe darum gebeten, dass sie uns erst morgen früh wieder stören, außer im Notfall natürlich.« »Dad!« »Über etwas Bescheid zu wissen, an dem man im Augenblick nichts ändern kann, hilft uns nicht weiter. Und jetzt sei still, wir wollen uns ein wenig ausruhen.« Wie alle anderen in Petra zog Chang es um die Mittagszeit vor, im Inneren zu arbeiten. Nach einigen Versuchen hatte er festgestellt, dass er auch von Petra aus Neu-Babylon abhören konnte. Das Problem war jedoch, dass die Entscheidungsträger nach Al Hillah gingen. Nachdem der Plan, sie dort ebenfalls zu belauschen, fehlgeschlagen war, hatte er den Auftrag bekommen, sich zu überlegen, wie Otto Weser ihn mit Informationen versorgen könnte. Das hing davon ab, welche Hardware zurückgeblieben war, in die er sich von Petra aus einschalten konnte. Chang sorgte sich darum, dass sein Interesse an Naomi zu offensichtlich sein könnte. Am liebsten hätte er jede freie Minute mit ihr verbracht. Er beschloss, nichts zu riskieren, und blieb über Mittag an seinem Computer sitzen. Er hatte zwar Hunger, aber er würde es auch noch bis zum Abend aushalten können. Trotzdem freute sich Chang sehr, als Naomi mit einem Korb auf ihn zukam. »Hey, du Arbeitstier«, sagte sie. »Nicht, dass du mir verhun164
gerst.« »Hallo«, erwiderte er. »Ich habe dir ein paar Honigwaffeln gebracht.« Mittlerweile war die Hymne »Heil dir, Carpathia« für Chloe zu einem Hintergrundgeräusch geworden. Es musste etwa vier Uhr morgens sein. Sie hatte versucht, sich beim Schlafen die Ohren zuzuhalten, doch wenn sie dann tatsächlich einschlief, sanken ihre Hände herunter. Darum hörte sie auch das Öffnen der Tür und hielt den Atem an. Den schweren Schritten und klirrenden Schlüsseln nach zu urteilen, war es Florence. Was konnte sie wollen? Es klang, als würde sie vor dem Käfig stehen, und Chloe roch Essen. Ein Burger mit allem, was dazugehörte. Und das Geräusch eines Strohhalms, vermutlich in einem kalten Getränk. Im Augenblick erschien Chloe dies wie der Nektar der Götter. Langsam drehte sie sich herum. Im trüben Licht sah sie Florence auf dem Boden sitzen, den Rücken an die Gitterstäbe gelehnt. Chloe stützte sich auf einen Ellbogen auf und atmete hörbar aus. »Sind Sie wach?«, fragte Florence. »Ich fürchte schon.« »Soll ich diese Musik ausstellen?« »Interessiert Sie denn, was ich möchte?« »Kommen Sie mir nicht schon wieder so.« »Wenn Sie wirklich wissen wollen, was ich möchte: Ja, ich möchte, dass die Musik ausgestellt wird.« »Ich bin nicht so schlimm, wie Sie denken«, meinte Florence. Sie stellte ihren halb aufgegessenen Burger und ihr Getränk und einen weiteren Pappbecher neben den Käfig und ging zur Tür. Die Musik hörte auf. Als Florence zurückkehrte, sagte Chloe: »Danke.« »Mm-hmm«, erwiderte die Wärterin und ließ sich wieder auf den Boden gleiten. »Ich esse gerade einen Burger.« 165
»Das merke ich.« »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« »Haben Sie nicht.« »Sehen Sie, warum sind Sie nur immer so? Kann man denn nicht mal was Nettes für seine Mitmenschen tun?« »Ich wünschte, es wäre so.« »Nun, Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen, wenn Sie Schokolade mögen.« »Gibt es irgendjemanden, der keine Schokolade mag?« »Wie wäre es mit einem Schokoladenshake?« »Ich träume doch noch, oder? Keine Musik mehr und jetzt mitten in der Nacht auch noch ein Schokoshake. Was ist denn in Sie gefahren?« »Ich habe es Ihnen doch gesagt. So übel bin ich gar nicht. Niemand ist so übel.« Ich wüsste da schon jemanden. »Wenn Sie mir wirklich einen Schokoshake geben wollen, dann kann ich nur sagen: Danke.« »Ich bin auch Mutter, wissen Sie.« »Tatsächlich?« »Mm-hmm. Sein Name ist Brewster. Er ist fast drei Jahre alt.« »Haben Sie ein Foto?« »Allerdings! Wollen Sie es wirklich sehen?« »Natürlich.« »Einen Augenblick. Ich werde wohl keine Schwierigkeiten bekommen, wenn ich das Licht einschalte, wenn wir allein sind.« Sie aß ihren Burger auf und ließ den Becher mit dem Schokoshake auf dem Boden stehen, während sie ihren Müll wegbrachte. Chloe wünschte sich das Getränk so sehr, dass sie zu zittern begann. War es möglich, dass sie irgendwie an diese Frau herankam, so von Mutter zu Mutter? Florence ging erneut nach draußen und schaltete das Licht an. Als sie zurückkam, wurde die Tür hinter ihr verschlossen, eine Regel, die hier streng beachtet wurde, wie Chloe bereits 166
gemerkt hatte. Der Becher würde nicht durch die Gitterstäbe passen, darum musste die äußere Tür natürlich verschlossen sein, wenn sie die Käfigtür öffnen wollte. Aber das zeigte Chloe auch, dass Florence gelogen hatte, als sie sagte, sie seien allein. Denn wie würde sie sonst wieder hinauskommen? »Also, wenn ich diesen Käfig aufschließe, was natürlich absolut gegen die Regeln verstößt, werden Sie mir meine Freundlichkeit nicht dadurch vergelten, dass Sie irgendetwas Dummes versuchen, oder? Ich bin größer und stärker als Sie, aber selbst wenn Sie –« »Ja, ich weiß. Ich habe es von Jock gehört. Wir sind beide eingeschlossen.« »Genau.« »Also, wenn ich mich benehme und den Shake nehme und Sie schließen mich wieder ein, wie kommen Sie wieder raus?« »Ich klingele, sie lassen mich hinaus.« »Dann sind wir also gar nicht allein.« »Nun, nein, nicht, nachdem ich nach den anderen geklingelt habe.« »Und wenn sie sehen, was Sie mir geben?« »Dann bekomme ich Probleme. Also, wenn Sie ihn wollen, dann nehmen Sie ihn besser jetzt sofort.« »Ich möchte ihn.« »Bleiben Sie, wo Sie sind. Stehen Sie nicht auf, wenn diese Tür sich öffnet, sonst mache ich sie sofort wieder zu.« Florence schloss den Käfig auf, reichte Chloe den Becher und schloss schnell wieder zu. Es war das erste Mal, dass Chloe eine Emotion bei ihr wahrgenommen hatte. Florence wirkte aufgeregt, vielleicht sogar furchtsam. Möglicherweise verlegen wegen des Gefühls, etwas Gutes zu tun, obwohl sie es nicht sollte. Chloe saugte gierig an dem Strohhalm und wurde nicht enttäuscht. Der Shake war noch kalt, dickflüssig und geschmackvoll – schokoladig. 167
Florence beobachtete sie. »Hey, Mädchen. Denken Sie daran, Sie trinken das auf leeren Magen. Sie halten sich besser ein wenig zurück.« »Das werde ich. Und außerdem möchte ich nicht, dass mir das Gehirn einfriert.« Florence lachte. »Und vergessen Sie nicht, mir das Foto von Brewster zu zeigen.« »Oh, das werde ich. Sobald Sie fertig sind.« Warum nicht jetzt?, fragte sich Chloe, als sie erneut einen Schluck nahm. Die Kälte des Getränkes würde sie wach halten, aber es gab ja nichts, worauf sie sich am Morgen freuen könnte. Vielleicht würde Jock auftauchen und wieder vor ihren Augen frühstükken. »Jock«, kicherte sie. »Was?«, fragte Florence. »Eier vor mir.« »Was sagst du?« »Jock. Jack. Jick. Jeck …« »Hm?« Chloe wurde schwindelig. Der Becher entglitt ihr. Sie wollte ihn mit der anderen Hand festhalten, aber der Becher entfiel ihr und der Inhalt ergoss sich auf den Boden. Dies war für sie die größte Tragödie, an die sie sich erinnern konnte, und sie begann zu weinen. Die Augen fielen ihr zu. Sie zwang sich, sie offen zu halten, und hob bewusst das Kinn, damit sie Florence ansehen konnte, die sie einfach nur beobachtete. Florence drückte auf eine Klingel. Die äußere Tür wurde geöffnet und Nigel und Jock kamen mit einer Bahre herein. »Ich werde das aufwischen«, sagte Florence und schloss den Käfig auf. »Gute Arbeit, Flo«, lobte Jock. »Das mit deinem Kind hat mir gefallen.« »Oh Süßer, wenn sie Hunger haben, sind sie so leicht zu manipulieren.« 168
10 Buck wurde am Vormittag durch ein leises, aber anhaltendes Klopfen an Rayfords Tür geweckt. Er erhob sich von seinem Klappbett und öffnete die Tür. »Ich hatte irgendwie gehofft, ich würde deinen Schwiegervater aufwecken«, sagte Sebastian. Plötzlich war Buck hellwach. »Wie viel Uhr ist es?« »Fast zehn.« »Was ist los?« »Buck, ich möchte lieber mit deinem Schwiegervater reden.« »Was soll das, machst du Witze? Du kannst mir nichts über meine Frau erzählen?« »Ich bin Rayford verantwortlich, Buck, und du auch.« »Das ist wirklich die Höhe, George. Weißt du das?« Buck donnerte gegen Rayfords Tür. »Sebastian ist hier mit einer Nachricht, Dad. Steh auf.« Rayford tauchte verschlafen im Türrahmen auf. »Hallo, Jungs«, begrüßte er sie. »Wie habt ihr geschlafen?« »Vermutlich so wie du«, erwiderte Buck. »Jetzt lass uns zur Sache kommen.« Buck verstaute Laken und Decken im Bettkasten, schob diesen wieder zurück und setzte sich. Rayford nahm neben ihm Platz. »Einer meiner Leute wartet im Flur«, erklärte Sebastian. »Ich wollte zuerst sehen, ob ihr zwei präsentabel seid.« »Dann rufe ihn rein«, forderte Rayford ihn auf. »Es macht ja nichts, dass wir hier in unserer Unterwäsche sitzen.« Razor war lateinamerikanischer Herkunft, Anfang 20, und verhielt sich sehr militärisch. Er salutierte, doch Buck winkte ab. »Fangen Sie an«, sagte er. »Wir sind doch unter uns. Was haben Sie?« »Meine Herren, wie Sie wissen, hatte ich Wache, und gegen drei Uhr bemerkte ich eine Aktivität am Bewegungsmelder. Zu 169
meinem Team gehört neben zwei Männern auch eine Frau, darum bat ich sie, am Periskop der Williams’ nachzusehen. Die Frau deshalb, weil in Ihrer Wohnung im Augenblick ja eine Frau allein übernachtet, nun, mit einem Kleinkind.« »Wir wissen Bescheid, Mr. Razor«, unterbrach Buck ihn. »Bitte weiter.« »Ja, Sir. Sie sah nach und berichtete von feindlicher Aktivität auf dem Gelände und holte die Erlaubnis von Miss Toy ein, Ihre Wohnung zu betreten.« Buck sah zu Rayford hinüber, der den Kopf schüttelte, und starrte zu Boden. Um alles in der Welt … »Ich persönlich konnte ähnliche Aktivitäten wahrnehmen und alarmierte mein Team. In Tarnanzügen gingen wir nach draußen, mit leichten Schnellfeuergewehren bewaffnet. Wir wollten beobachten, uns, wenn möglich, so dicht heranschleichen, dass wir verstehen konnten, was geredet wurde, und, wenn nötig, das Versteck entweder verteidigen oder den Feind irgendwie auf neutralen Boden locken und so den Bewohnern besagten Geländes die Gelegenheit geben –« »Zu entfliehen«, unterbrach Buck erneut. »Ja, also, was passierte?« »Wir beobachteten zwei verschiedene Gruppen von Soldaten der Weltgemeinschaft, die den Bereich absuchten; sie schienen jedoch zwei Blocks westlich von uns begonnen zu haben und suchten in westlicher Richtung.« »Was bedeutet, dass sie sich von uns fortbewegten und nicht auf uns zu?« »Ja, Sir, aber das ist durchaus keine gute Nachricht. Wir beobachteten also ihre Suche und konnten uns an ihrer Seite halten. Zwei meiner Leute auf der Südseite schafften es, sich durch die Büsche getarnt so nah an sie heranzuschleichen, dass sie verstehen konnten, was gesprochen wurde. Sie bekamen den Eindruck, dass diese Mannschaft mit ihrer Suche da anfangen sollte, wo sie erst kürzlich aufgehört hatte – ich schätze, 170
das ist das, Mr. Williams, was Sie und Mr. Sebastian etwa 24 Stunden zuvor beobachtet hatten. Sie sollten ihren Suchradius immer weiter vergrößern, bis zu der Stelle, an der Mrs. Williams gefangen genommen worden war.« »Ich hoffe, Sie sind ihnen zu dieser Stelle gefolgt«, sagte Buck. »Das sind wir, Sir. Wir hörten sie sagen, dass sie morgen Nacht um dieselbe Zeit wieder an derselben Stelle anfangen und in der anderen Richtung suchen wollten, also in der Richtung, in der unser Versteck liegt. Unserer Meinung nach leisten sie sehr gründliche Arbeit, und darum sollten wir, wenn es möglich ist, vor 20 Uhr morgen Abend hier verschwunden sein.« »Haben Sie den Verantwortlichen Bescheid gegeben und wird der Umzug vorbereitet?« »Ja, Sir, aber da ist noch etwas. In der Nähe der Stelle, an der Mrs. Williams gefangen genommen wurde, haben unsere Leute ihre Skimaske und ihr Maschinengewehr gefunden.« »Was sagt dir das, Buck?«, fragte Sebastian. »Sie hat sie von uns abgelenkt.« »Aber wir, das heißt meine Leute, haben auch gehört, wie zwei Soldaten der Weltgemeinschaft über ihr Befinden gesprochen haben.« Buck konnte sich nur mit Mühe zurückhalten. »Bitte, Officer Razor, sagen Sie, was Sie über meine Frau gehört haben.« »Sie schienen anzudeuten, dass sie verlegt werden sollte, Sir.« »Wann?« »Noch innerhalb der nächsten Stunde, Sir. Sie sagten, es solle geschehen, bevor Carpathia Soldaten aus dieser Gegend anfordert.« »Zurück zu dem Zeitpunkt, Razor«, fragte Buck. »Innerhalb der nächsten Stunde jetzt oder in der Nacht?« »In der Nacht, Sir.« 171
»Also gut, hören Sie bitte auf mit dem ›Sir‹. Ich weiß, dass Sie beim Militär gedient haben, aber ich nicht, und es macht mich verrückt. Sie sagen mir also, Chloe sollte gegen vier Uhr heute Morgen verlegt werden?« »Ja, S-« »Wohin?« »Meine Leute haben nur gehört, S-, Mr. Williams, dass sie sagten, ›irgendwo in den Osten‹.« »›Irgendwo in den Osten‹.« Buck stand auf und hob ergeben die Hände. »Sie haben sie irgendwo in den Osten gebracht, was bedeutet, mit dem Flugzeug –«, er blickte auf die Uhr, »vor etwa sechs Stunden. Sagen Sie mir, Razor, ist irgendjemand von Ihnen auf die Idee gekommen, zum Hauptquartier der Weltgemeinschaft zu fahren, um zu sehen, ob die Möglichkeit besteht, diese Verlegung zu verhindern?« »Nein, Sir.« »Niemand hat daran gedacht, dass dies vielleicht ein Notfall ist und man Mr. Steele, Sebastian oder mich wecken sollte?« »Als ich den Bericht bekam, Sir, äh, tut mir Leid, war die Verlegung bereits im Gange.« »Das nehmen Sie an.« »Ja, das ist eine Annahme.« »Der einzige Zeitpunkt, zu dem sie vielleicht verletzlich waren, war der, an dem sie meine Frau aus ihrer Zelle holten, aus dem Gebäude schafften, in einen Wagen setzten, um sie zu einem Flugzeug zu bringen – und wir alle haben das verschlafen.« »Ich entschuldige mich, Sir, aber meiner Meinung nach hätten wir nichts tun können, da wir erst zu spät davon erfuhren.« Buck konnte nicht still stehen bleiben. Er lief in der Wohnung auf und ab und blickte die anderen drei Männer erwartungsvoll an. »Da war sie, unsere Chance«, sagte er. »Wir hätten eine Gelegenheit gehabt und haben sie verschlafen.« 172
»Buck, bitte«, beruhigte Rayford ihn, aber sein Schwiegersohn wollte sich nicht beruhigen lassen. »›Irgendwo in den Osten‹«, schimpfte Buck. »Das engt die Möglichkeiten wirklich ein, nicht? Wenn wir alle jetzt einfach nach Osten laufen, dann holen wir sie vielleicht ein, oder?« »Danke, Razor«, sagte Sebastian. »Wenn sonst nichts mehr ist, können Sie jetzt gehen.« »Danke, meine Herren«, verabschiedete sich Razor. »Ja, danke für nichts«, seufzte Buck. »Ich entschuldige mich, Sir, wenn –« »Ach, gehen Sie einfach«, unterbrach Buck ihn. Rayford nickte dem jungen Mann zu und dieser eilte dankbar hinaus. »Buck«, sagte George, »er hat vermutlich die richtige Entscheidung getroffen. In den frühen Morgenstunden einfach loszurennen, in der Hoffnung, rechtzeitig dort einzutreffen und etwas zu unternehmen, ohne Plan –« »Wäre es nicht einen Versuch wert gewesen?« Buck trat nach einem Stuhl. Dieser flog bis in die Küche und knallte gegen den Tisch. »Ich schätze, wenn ich meine Frau je wieder sehen will, muss ich allein losziehen.« »Und dich umbringen lassen«, gab Rayford zu bedenken. »Jetzt hast du Luft abgelassen. Das reicht nun.« »Es reicht nicht, bis ich Chloe wiederhabe.« Chloe war von ihrer Metallpritsche in die Schokoladensoße auf dem Boden gerutscht. Da sie ihren Sturz nicht abfangen konnte, schlug ihr Kopf hart auf dem Boden auf. So lag sie mit einem angewinkelten Bein auf dem Boden und kämpfte gegen den Schlaf an. Was immer ihre Bewacher in das Mixgetränk getan hatten, hatte sie so betäubt, dass sie einfach nur nachgeben und in einen tiefen Schlaf sinken wollte. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich nach Kennys Geburt genauso gefühlt hatte. Florence schloss den Käfig auf und kniete nieder, um das verschüttete Mixgetränk aufzuwischen. Sie rollte Chloe auf die 173
Seite und zog ihren Fuß gerade, damit beide Beine parallel lagen. Mit der einen Hand hielt sie Chloe fest, während sie mit der anderen den Fußboden aufwischte, dann ließ sie sie los, und Chloe rollte wieder auf den Rücken. Ihre Augen schlossen sich und ihre Atmung wurde tief und regelmäßig, aber innerlich betete sie verzweifelt: Gott, lass mich bei Bewusstsein bleiben. Lass mich hören, was gesagt wird, hilf mir zuzuhören. »Ist der Boden trocken?«, fragte Jock. »Einen Augenblick noch«, erwiderte Florence. »Leg das Laken dorthin, Nigel, und nimm ihre Füße.« Chloe spürte Jocks Hände in den Achselhöhlen und die von Nigel an ihren Füßen. »Auf drei«, ordnete Jock an. Sie hoben sie vom Boden hoch und legten sie auf das Laken. Dann hoben sie das Laken auf die Bahre. Chloe war froh, dass ihre Augen geschlossen waren. Sie hatte jeglichen Gleichgewichtssinn verloren und das Gefühl, jeden Augenblick von der Bahre zu fallen. »Jetzt schnell hinaus zum Lieferwagen.« Die Bahre wurde durch den großen Raum gerollt, durch die Tür und hielt dann an. Chloe hörte, wie sich die Aufzugtüren öffneten. Sie wurde in den Aufzug gerollt. Der Aufzug fuhr ein Stockwerk nach oben. Schon bald befand sie sich an der frischen Luft. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Augen nicht öffnen. Sie spürte die kühle Nachtluft, aber irgendwie konnte sie nicht einmal erschaudern. Sie wollte ihre Beine zusammenpressen und reiben, ihre Arme mit den Händen massieren, aber sie war wie gelähmt. Herr, bitte. Lass mich wach bleiben. »Ein Leichenwagen?«, fragte Nigel. »Wessen Idee war das denn?« »Meine«, lachte Jock. »Die Leute sehen nicht gern hin, wenn sie denken, dass eine Leiche darin liegt.« »Fährst du mit?«, fragte Florence. 174
»Ja«, erwiderte Jock mit Stolz in der Stimme. »Das ist meine Sache, bis zum Schluss.« »Wann wird das sein?«, fragte Florence. Chloe spürte, wie sich das Fahrzeug bewegte. »Keine Ahnung. Sie werden diese Geschichte noch ausschlachten. Vielleicht bekommen wir ja noch Informationen von ihr. Das Wahrheitsserum wird wohl der nächste Schritt sein.« »Das funktioniert immer, nicht wahr?« »In der Regel schon.« Dieses Mal würde es nicht funktionieren. Gott, lass nicht zu, dass ich irgendetwas sage, was du nicht möchtest. Chloe war von Kopf bis Fuß wie gelähmt, doch Gott schien ihr ihren Wunsch zu erfüllen, und sie blieb bei Bewusstsein. Sie konnte hören und riechen. Berührungen und Sehfähigkeit waren eine andere Sache, aber sie war sich sicher, dass sie die Kühle der Morgenluft spüren konnte. Sie schätzte, dass sie fast eine Stunde mit dem Wagen unterwegs waren. Dann wurde die Bahre aus dem Leichenwagen geholt, etwa 100 Meter weit gerollt und ein paar Stufen hinaufgetragen; in ein Flugzeug, wie sie annahm. Und als die Motoren aufheulten, wusste sie, dass sie Recht hatte. Chloe hörte, wie Florence und Nigel sich von ihrem Vorgesetzten verabschiedeten und Jock noch einmal beglückwünschten. Dann legten Jock und ein anderer Mann sie über mehrere Sitze. Irgendwie schafften es die Männer, sie mit den Gurten mehrerer Sitze anzuschnallen. Den Stimmen nach zu urteilen, saßen sie in der Reihe vor ihr. Sie hatte den Eindruck, dass sich außer ihnen keine weiteren Reisenden im Flugzeug befanden. Es musste ein Jumbo sein, denn sie kannte kein anderes Flugzeug, in dem die Sitzreihen über so viele einzelne Sitze verfügten, dass sie ausgestreckt darauf liegen konnte. »Wie lange dauert der Flug?«, fragte ein Mann mit spani175
schem Akzent. »Vier Stunden, glaube ich, Jess«, erwiderte Jock. »Dann ist es noch eine Fahrt von etwa 50 Meilen in den Nordosten. Das ganze Gebiet um Chicago ist nuklear verseucht, weißt du, wir werden also so weit in den Norden fahren, wie es geht.« Das Gespräch glitt in andere Dinge ab und Chloe gab ihrer Müdigkeit nach. Buck wusste, dass er den anderen im Augenblick lästig fiel, aber er konnte einfach nicht dagegen an. Während alle anderen im Versteck ihre Sachen packten und sich auf den großen Umzug vorbereiteten, ging er den Leuten auf die Nerven. Hatte jemand im Hauptquartier der Weltgemeinschaft gearbeitet, bevor er zum Glauben gekommen war? Kannte jemand jemanden, der dort gearbeitet hatte oder noch dort arbeitete? Gab es irgendwelche Verbindungen, irgendwelche Spuren, irgendwelche Insider-Informationen? Gab es irgendjemanden, der mit jemandem sprechen konnte, der jemanden kennen könnte, der irgendwelche Informationen über Chloes Verbleib liefern könnte? Er versuchte, über ein abhörsicheres Telefon im örtlichen Hauptquartier anzurufen, indem er sich als Angehöriger der internationalen Weltgemeinschaft ausgab. Dies kaufte ihm jedoch niemand ab. Er schrieb einige Stichpunkte für Ming auf. Sie sollte es versuchen, während er mit Kenny spielte. Aber auch ihr Versuch scheiterte. Schließlich suchte Rayford Buck auf und sagte: »Tu, was du tun musst, aber du solltest fertig sein, wenn alle anderen fertig sind.« »Ich reise sowieso mit leichtem Gepäck, Boss«, erwiderte Buck. »Denkst du, Lionels Leute könnten mich einfach irgendwo im Osten absetzen?« Rayford ging kopfschüttelnd weiter. »Hey, Dad«, rief Buck, »ist deine Wohnung offen?« »Ja, und leer mit Ausnahme deiner Sachen.« 176
»Ich räume sie jetzt aus.« Auf dem Weg zu Rayfords Zimmer traf Buck zufällig Razor. »Sir«, begrüßte der junge Mann ihn und salutierte verlegen. »Hey, Razor, einen Augenblick. Ich schulde Ihnen eine Entschuldigung.« »Nein, das ist schon in Ordnung. Ich weiß, was Sie durchmachen.« »Das ist ein Grund, aber keine Entschuldigung. Ich möchte Sie um Verzeihung bitten. Mein Verhalten war unangemessen.« »Natürlich, Sir. Machen Sie sich keine Gedanken darüber.« »Danke. Und darf ich Sie etwas fragen?« »Natürlich.« »Wie kommen Sie zu diesem Namen?« Razor errötete und senkte den Blick. »Von einem Unfall mit einem Schneemobil.« »Autsch. Will ich das hören?« »Ich saß zum ersten Mal darauf. In Minnesota. Ist nicht gerade Mexiko, nicht wahr? Ich habe den Stacheldraht übersehen und hätte dabei ums Leben kommen können. Zum Glück ist der Draht an meinem Helm abgeglitten, sonst hätte er mir vermutlich den Kopf abrasiert. Der Helm wurde mir jedoch halb vom Kopf gerissen und blieb irgendwie im Draht hängen, während ich darunter hindurchrutschte. Die Leute, die den Unfall beobachtet haben, sagten, der Draht hätte sich irgendwie von selbst um den Helm gewickelt. Er ist nicht durchgerissen, und nachdem ich ihn so weit gestreckt hatte, wie es ging, wurde er wie ein Wurfgeschoss auf mich geschleudert. Er traf mich am Hinterkopf und ich verlor das Bewusstsein.« »Aber Sie sind uns erhalten geblieben. Und egal, was ich eben gesagt habe, ich bin froh, Sie bei uns zu haben.« Diese verrückte Geschichte erinnerte Buck an Enthauptungen. Er konnte natürlich im Augenblick an nichts anderes denken, als dass er Chloe vielleicht verlieren würde, und er hatte 177
Angst, sie könnte leiden. Den Gedanken, sie könnte verletzt, missbraucht, gefoltert werden – diese Möglichkeiten wollte er nicht einmal in Betracht ziehen. Es war kein Trost für ihn, dass er sie, selbst wenn sie sterben sollte, in weniger als einem Jahr wieder sehen würde. Was würde das für Kenny bedeuten? Und was das Schlimmste war: Er musste immer daran denken, wie Chloe vermutlich sterben würde. Tot war tot, und es würde keinen Unterschied machen, das wusste er. Aber wenn es so weit kommen würde und falls die Weltgemeinschaft ein öffentliches Spektakel aus ihrer Hinrichtung machen würde – was bestimmt geschehen würde –, dann würde er auf keinen Fall zusehen. Die Vorstellung, dass seine geliebte Frau eines so hässlichen, grotesken Todes sterben würde, machte ihn krank. Dass sie ihrem Glauben bis zum Ende treu bleiben würde, daran bestand für ihn kein Zweifel. Er hatte von anderen gehört, sogar selbst gesehen, wie sein alter Freund Steve Plank Carpathia die Stirn geboten und Gott die Ehre gegeben hatte, bevor er starb. Falls es so weit kam, würde Chloe im Himmel einen neuen Körper bekommen, das wusste er. Aber trotzdem stieß ihn die Vorstellung ab, dass der Mensch, der ihm auf der Welt am liebsten war, auf die schlimmste Art sterben würde, die er sich vorstellen konnte. Wenn er schon jetzt nichts anderes denken konnte, wie würde es sein, sollte es tatsächlich passieren? Er suchte nach Rayford. »Ich bin ziemlich beschäftigt«, sagte sein Schwiegervater, »und du solltest dich auch beschäftigen. Ich sage nicht, dass es deine Gedanken von Chloe ablenken würde; bei mir hat das nicht funktioniert. Doch du wärst dann wenigstens etwas produktiver.« »Ich weiß, aber ich würde gern kurz mit dir sprechen.« Er erzählte Rayford von seinen quälenden Tagträumen. Verblüfft stellte er fest, dass Rayfords Lippe zu zittern begann. Seine Stimme klang belegt. »Ich mache dasselbe durch, Buck. Ich wollte dir nur nichts davon sagen.« 178
»Wirklich? Dieselbe Vorstellung?« »Genau. Ein Vater sieht das ein wenig anders. Denke nur daran, was du für Kenny empfindest. Ich war bei Chloes Geburt dabei. Es ist, als wäre es erst gestern gewesen. Sie war ein kleines, quirliges Mädchen, das sich nur trösten ließ, indem man es fest in eine Decke wickelte und seiner Mutter an die Brust legte. Aber für uns war sie das schönste Wesen, das wir je gesehen hatten. Wir hätten alles für sie getan, wirklich alles, um sie zu beschützen. Das hat sich nie geändert. Sie ist jetzt zu einer wunderhübschen Frau herangewachsen und irgendwie sehe ich sie trotz ihrer Verletzungen und Entstellungen noch immer so.« »Ich auch.« »Und darum, Buck, weiß ich, was du denkst. Wir müssen stark sein und versuchen, nicht stehen zu bleiben. Ich weiß nicht, was wir sonst tun können.« Spät am Abend begleitete Chang Naomi zu ihrer Unterkunft. »Morgen würde ich dir gern etwas auf meinem Computer zeigen«, sagte er. »Ich habe entdeckt, dass der Produktionschef von GCNN sich in der Dunkelheit offensichtlich in den Produktionsraum vorgetastet und den Schalter betätigt hat, durch den drei der vier Tochtergesellschaften Zugriff auf das internationale Netzwerk bekommen. Jetzt läuft es dort wieder.« »Findig«, staunte Naomi. »Oder?« »Oh, ich war beeindruckt. Aber es hat mich auch richtig begeistert. Es gibt nämlich keine Sperre, sodass ich auch darauf Zugriff habe. Ich kann die Tochtergesellschaften durch das System, das David Hassid in Neu-Babylon installiert hat, austricksen.« »Ich kann es kaum erwarten, das zu sehen.« »Es hat unbegrenzte Kapazität, Naomi. Wenn Cameron Williams herkommt, werden wir zusammen die Lügen der Weltgemeinschaft widerlegen. Und das wird sogar ohne Verzöge179
rungen gehen.« »Und sie können nichts dagegen unternehmen?« »Nicht, dass ich wüsste. Es sei denn, sie bauen ein ganz neues Netzwerk auf. Sie denken vielleicht, sie hätten viel Zeit dazu, aber das Ende ist näher, als sie ahnen.« »Sie haben also den kurzen Strohhalm gezogen, Partner, ja?«, fragte Mac. »Tut mir Leid, Mr. McCullum«, erwiderte Ree, »aber diese Redewendung verstehe ich nicht.« »Nun, es bedeutet, dass Sie Dienst haben.« Eine Stunde zuvor hatten sie das Gebiet durch das Periskop genau abgesucht und waren zu dem Schluss gekommen, dass sie den Wagen unentdeckt aus dem Parkdeck holen konnten. »Sie zum Flugzeug zu fahren? Kein Problem. Das mache ich gern. Ich wünschte nur, ich könnte Sie nach Wisconsin fliegen. Die ›Gulfstream‹ bin ich nur einmal geflogen, aber das hat mir gefallen.« »Wenn Sie so wenig Erfahrung haben, dann bin ich froh, dass Sie mich nicht fliegen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Knapp drei Stunden später landete Mac in Hudson, Wisconsin, wo Gustaf Zuckermandel Jr., besser bekannt als Zeke, auf ihn wartete. »Ich wünschte, Sie könnten alle hier in Avery kennen lernen«, sagte der 25-jährige junge Mann. »Aber sogar der Mann, der mich hergebracht hat, ist schon wieder zurückgefahren. Wir haben eine ganze Stunde gebraucht, um meine Sachen im Gebüsch zu verstecken.« Mac folgte ihm zu seinen Kisten und Koffern. »Bist du sicher, dass wir dieses ganze Zeug am helllichten Tag ins Flugzeug laden wollen, Zeke?« »Es sei denn, Sie wollen bis zum Einbruch der Dunkelheit warten, aber das ist nicht nötig. Das hier gehört zu dem Bereich, den die Weltgemeinschaft vergessen hat. Seit ich hier 180
bin, habe ich noch nicht einen einzigen Angehörigen der Friedenstruppe zu Gesicht bekommen.« Während sie die Sachen verluden, erkundigte sich Mac: »Und, hast du keine Vorbehalte wegen deiner Abreise? Du hast doch sicher eine gute Beziehung zu diesen Leuten aufgebaut.« »Ich habe viele Bedenken, aber ich schätze, man muss dahin gehen, wohin man gerufen wird. Ich wurde hierher gerufen und jetzt werde ich abberufen. Wer hätte gedacht, dass ein so unwichtiger Mensch wie ich jemals irgendwohin gerufen würde?« »Du bist wirklich der beste Fälscher und Verkleidungsfachmann, den ich je getroffen habe, und ich höre, hier hast du deine Fähigkeiten sogar noch verfeinert.« »Ach, das stimmt nicht, Mr. McCullum. Die Sache ist die, hier gab es für mich in Bezug auf Verkleidungen, Dokumente und so etwas nicht viel zu tun, weil wir sie einfach nicht brauchten. Und so hatte ich Zeit, mich mit der Bibel zu beschäftigen, ich konnte mich im Lesen üben und all das, und schon bald hat mich der Verantwortliche hier unter seine Fittiche genommen. Ich habe nie gelehrt oder gepredigt, aber ich habe geholfen, so gut ich konnte. Es hat mir gefallen, ich war gern beschäftigt. Als Geschenk haben sie mir den Titel Hilfspastor verliehen.« »Ehrenhalber, ja?« »Ja, so ungefähr.« »Nun, ich hoffe, du hast dich geehrt gefühlt, denn das bedeutet wirklich schon etwas.« »Ich werde alle vermissen, aber ich muss Ihnen sagen, ich freue mich auf Petra und kann es kaum erwarten, die Stadt zu sehen. Und wieder mit Dr. Ben-Judah und Dr. Rosenzweig, Ihnen und all den anderen zusammen sein zu können, nun …« »Und eine große Aufgabe wartet auf dich.« »Sie werden mir sicher einiges darüber erzählen.«
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Chloe erwachte nach mehr als vier Stunden in der Luft. Die Wirkung der Drogen hatte nachgelassen und sie kam wieder zu sich. Und sie hatte schrecklichen Hunger. Ein Energieriegel und ein paar Schlucke des Milchshakes, bevor die Wirkung des Medikaments einsetzte, waren alles, was sie seit sieben Uhr an dem Abend vor ihrer Gefangennahme zu sich genommen hatte. Dies erleichterte es ihr, eine anhaltende Bewusstlosigkeit vorzutäuschen. »Wie viel Uhr ist es hier?«, fragte Jocks Gefährte einige Zeit später, als das Flugzeug landete. »Fast Mittag und ich habe Hunger«, erwiderte Jock. »Und du?« »Oh ja.« »Ich werde der Gefangenen gleich etwas zu essen geben. Ein wenig den guten Cop spielen. Ihr ein wenig Wahrheitssaft verabreichen. Mal sehen, ob wir sie zum Singen bekommen.« »Sie ist wirklich ein zäher Vogel, nicht wahr?« »Das kannst du laut sagen, Jess. Mittlerweile könnte ich den ›Halleluja-Chorus‹ schon auswendig singen.« »Und wenn sie nicht weich wird? Wie lange gibst du ihr?« »Wenn man sie nicht innerhalb der ersten 48 Stunden weich kocht, dann schafft man es gar nicht mehr.« »Hunger ist kein Motivator?« »Wäre er für mich, aber ich schätze, die Erfahrungen bei Kriegsgefangenen haben das Gegenteil bewiesen. Diejenigen, die diese erste Runde der psychischen und körperlichen Folter überstehen, werden niemals zusammenbrechen, egal, wie lange man weitermacht.« Während sie Chloe die Gangway hinuntertrugen, sagte Jock: »In dieser Einrichtung hat es, bevor wir sie übernommen haben, noch nie weibliche Gefangene gegeben. Wir werden sie in Einzelhaft stecken. Nur so können wir sie von den anderen Insassen getrennt halten.« Chloe wurde auf den Rücksitz eines großen Kombis gelegt, 182
ohne Türgriffe und Fensterheber, dessen Fenster mit Maschendraht gesichert waren. Jock legte ihr trotzdem noch Handschellen an. »Sie wird bald zu sich kommen«, erklärte er. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Als sie unterwegs anhielten, zermarterte sich Chloe das Gehirn über einen möglichen Fluchtweg. »Ich hole was zu essen«, sagte Jock. »Du bleibst bei ihr.« Chloe setzte sich langsam auf. »Ich muss zur Toilette.« Jock starrte sie überrascht an. »Im Ernst?« »Sicher.« »Ich habe aber niemanden, der Sie begleiten kann. Sie müssen die Männertoilette benutzen und einer von uns muss Sie dorthin begleiten.« »Vergessen Sie’s.« »Soll ich Ihnen eine von diesen Erwachsenenwindeln geben?« »Wie weit sind wir von unserem Ziel entfernt?« »Eine halbe Stunde.« »Dann warte ich noch.« Während Jock im Lokal war, versuchte sie, eine Unterhaltung mit dem Mann zu beginnen, den sie bisher noch nicht gesehen hatte. Er trug eine 0 als Zeichen, was bedeutete, dass er aus den Vereinigten Südamerikanischen Staaten kam. Er war auffallend dunkelhäutig und hatte perfekte Zähne. »Sie erinnern mich an meinen Mann«, sagte sie. »Tatsächlich?«, erwiderte er. »Ja, nur ist er nicht so hässlich.« Der Mann fand dies amüsant und wandte sich zu ihr um. »Sie sind wirklich witzig«, sagte er. »Warum wollen Sie mich ärgern?« »Sie gehören zu den Leuten, die mich irgendwann töten werden. Sieht nicht so aus, als könnte ich mich irgendwie dagegen wehren, also …« »Das macht Sinn.« 183
»Jock nennt Sie Jess.« »Ja. Jesse«, erwiderte er. »Hmm. Nach Jesus. Ist das Ihr richtiger Name? Jesus?« Chloe sprach den Namen spanisch aus. »Das stimmt, und ich habe eine Schwester, die Maria heißt.« »Ist sie auch eine Anhängerin von Carpathia?« »Natürlich.« »Wie enttäuschend muss das für Ihren Namensvetter sein.« Jock brachte das Essen und nahm ihr die Handschellen ab. Die Männer machten sich über ihr Essen her, während Chloe in dem Käfig saß, der sie von dem Vordersitz trennte. Laut betete sie: »Herr, danke für dieses Essen. Ich bitte dich, mir zu helfen, es langsam zu essen, damit ich nicht krank werde, und dass du alles Gift unschädlich machst, das Jock vielleicht hineingetan hat. Gib mir die Kraft, Jocks und Jesses Bemühungen zu widerstehen, mich dazu zu bringen, etwas zu sagen, was ich nicht sagen sollte. In Jesu Namen, amen.«
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11 »Ich mochte Albie sehr«, sagte Zeke, während Mac sie über den Atlantik flog. »Er war ein guter Mann.« »Das stimmt, Z.«, erwiderte Mac. »Und ich begreife einfach nicht, was da geschehen ist. Aber ich fürchte, dass er etwas schrecklich Dummes getan hat und selbst die Schuld an seinem Tod trägt.« »Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Sie und Captain Steele und alle anderen haben immer auf ihn und seine Ideen gehört.« »Aber wir sind eben auch nur Menschen. Wenn man auch nur für eine Sekunde unachtsam, wenn man zu selbstsicher wird, wer weiß? Er war entschlossen, sich mit diesem Typ aus der Unterwelt, den er von früher kannte, zu treffen, und auch wenn wir beide uns darauf verständigt hatten, dass ich nach Petra gehe und Rayford von da aus in die Staaten fliege, wollte Albie seine Mission trotzdem durchziehen. Es ist genauso sehr meine Schuld. Wir beide hielten es für wichtig – und es musste schnell geschehen. Und jetzt sieh, in welchen Schwierigkeiten wir stecken.« »Rayford sagte, Tsion und Chaim würden es sehr schwer nehmen.« »Das tun wir alle. Wir haben so etwas zwar schon häufiger miterlebt, aber es wird dadurch nicht leichter. Sobald alle aus San Diego eingetroffen sind, wird ein kleiner Gedenkgottesdienst für Albie abgehalten.« »Wann wird das sein?« »Ach, die Ersten werden vermutlich gegen drei Uhr morgen früh eintreffen. Wir beide werden etwa 13 Stunden früher da sein. Wenn ich dich abgesetzt habe, werde ich nach Al Basrah fliegen und die Wohnung ausräumen, in der Albie und ich untergekrochen waren. Ich muss dafür sorgen, dass wir keine Spuren hinterlassen. Von Petra aus werde ich das größere Flugzeug nehmen, weil ich dann noch diesen Otto Weser und 185
seine Leute mitbringe.« »Captain Steele hat mir von ihm erzählt. Sie bringen sie nach Petra wegen dieser Bibelstelle, in der es heißt, dass Gottes Leute Babylon verlassen werden, bevor Gott die Stadt zerstört?« »Genau.« Z. starrte auf den Ozean, der sich siebeneinhalb Meilen unter ihnen befand. »Wie das wohl ausgesehen hat, als das alles Blut war?« »Das kann man sich nicht vorstellen.« »Hey, Mac, denken Sie, Rayford kann Carpathias Sekretärin trauen?« »So wie er sagt, kann er das vermutlich. Zweifelst du daran?« »Ich traue niemandem, der nicht Christ ist. Und wenn sie nun Bedenken bekommt, uns eine Falle stellt und Sie und diesen Otto verrät?« »Ein ausgesprochen unangenehmer Gedanke …« »Sie haben selbst gesagt, dass man nicht vorsichtig genug sein kann.« »Nun«, sagte Mac, »wir müssen wissen, was in Al Hillah vorgeht, und so viel wie möglich über das, was danach kommt, und wir sehen keine andere Möglichkeit, wie wir uns diese Informationen beschaffen könnten.« Eine Stunde später kramte Zeke in seinen Taschen und holte ein Buch heraus. Er wirkte verlegen. »So etwas hätte ich damals in Chicago noch nicht lesen können.« »Keiner von uns hätte –« »Aber jetzt, da ich besser lesen kann, kann ich noch mehr machen, Sie wissen schon, wissenschaftlich.« »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel schätze ich, dass ihr mich bitten werdet, einigen Leuten ein neues Aussehen und eine neue Identität zu geben.« »Richtig. Unsere anderen Identitäten sind aufgeflogen.« »Ich habe dieses Buch in einer verlassenen Bibliothek an der 186
Grenze zu Minnesota gefunden. Da steht vieles drin, von dem ich noch nie gehört habe. Neue Methoden, Haut- und Augenfarbe zu verändern. Falsche Narben und Verletzungen vorzutäuschen. Über wie viele Leute sprechen wir?« »Ich denke, nur fünf«, erwiderte Mac. »Ich glaube, Ray möchte eine neue Identität für sich, Buck, Sebastian, Smitty und mich.« »Wirklich? Das ist alles? Und ich habe so viel Zeug mitgeschleppt.« »Was hast du dabei?« »Alles, was ich von Chicago noch übrig hatte. Uniformen der Weltgemeinschaft von allen Rängen, Ausweise, Dokumente, Klamotten für Männer und Frauen. Das wird leicht werden. Ich meine, es wird einige Zeit dauern, aber ich hatte schon befürchtet, ihr würdet das für zehn oder zwölf Leute brauchen. Das größte Problem wird Mr. Sebastian sein, aber für ihn habe ich bereits eine Idee.« »Erzähle.« Zeke legte sein Buch auf den Schoß, um die Hände frei zu haben. »Das Problem bei großen Menschen ist, dass man sie nicht kleiner machen kann. Einen kleinen Menschen kann man größer aussehen lassen, aber bei den großen, stämmigen wird das schwierig. Allerdings kann ich George ein ganz anderes Aussehen verleihen. Ich werde ihn älter machen. Dann wirkt seine Größe nicht mehr so bedrohlich. Es sieht dann so aus, als sei sein Gewicht altersbedingt. Vielleicht sollte er sogar einen Stock bekommen und eine Brille tragen. Das blonde Haar wird abgeschnitten, weiß gefärbt, er bekommt Falten ins Gesicht. Und auf einmal ist er kein Mann Ende 20 in Topform mehr, sondern 30 Jahre älter, durch gutes Essen träge und ein wenig füllig geworden, vielleicht hat er Diabetes, Knieprobleme, er geht ein wenig gebückt. Dann wird er um die Taille herum noch ein wenig ausgepolstert und er watschelt. So ein Mann stellt für 187
niemanden eine Bedrohung dar.« »Klasse! Was wirst du mit mir machen?« »Ihr verräterischstes Kennzeichen ist Ihr Südstaatenakzent. Können Sie nicht irgendeinen anderen nachmachen? Können Sie nicht vielleicht ein Yankee oder ein Brite sein?« »Einen Briten nachzumachen ist leichter als einen Yankee, das ist mal sicher.« »Wenn Sie einen Briten imitieren können, dann werde ich Sie auch wie einen aussehen lassen. Mit Tweedanzug und allem.« Chloes Vorahnungen über ihr mögliches Ziel wurden bestätigt, als Jock über Funk ihre Ankunft ankündigte und der Kombi von einer Reihe Motorräder und Streifenwagen erwartet wurde. Diese eskortierten die berühmte Gefangene zu der Haftanstalt, die früher unter dem Namen Stateville Correctional Center in Joliet, Illinois, bekannt gewesen war. Diese Haftanstalt war ein wahres Haus des Schreckens und von einem Staatsgefängnis in eines der größten internationalen Gefängnisse der Weltgemeinschaft umgewandelt worden. Männliche wie auch weibliche Gefangene wurden darin untergebracht. Das zweitgrößte Frauengefängnis nach der Belgium Facility for Female Rehabilitation (Buffer). Das Erste, was Chloe auffiel, waren die unzähligen Wagen der Medienanstalten, die die Einfahrt versperrten. Kameras wurden von jeder nur vorstellbaren Erhöhung aus auf den Kombi gerichtet, und nachdem das Fahrzeug an ihnen vorübergefahren war, suchten sich die Kameraleute einen guten Beobachtungsposten in dem großen Hof. In den vergangenen zweieinhalb Jahren war der Hof zur Legende geworden. Gefangene durften sich nur aus zwei Gründen dort aufhalten: Dreimal am Tag wurden sie an einer riesigen Bronzestatue Carpathias vorbeigeführt. In Gruppen von 30 bis 50 Gefangenen durften sie davor niederknien und das Bild an188
beten. Der andere Grund war ihre Hinrichtung. Auf dem Hof waren sieben Guillotinen etwa zehn Meter voneinander entfernt so aufgestellt, dass die Sonne von morgens bis abends auf sie herunterbrannte. Jock blieb mit dem Wagen auf dem Hof stehen. »Sehen Sie sich das nur an, Süße«, sagte er. »Diese Fallbeile werden jeden Abend geschliffen, aber keines von ihnen ist je gesäubert worden. Kein Abkratzen, kein Waschen, kein Rost. Und sehen Sie diese Rillen an jeder Seite, durch die die Fallbeile hinuntergleiten? Das ist der so genannte Schlitten. Damals, als wir noch menschlicher verfuhren, wurden sie immer geschmiert. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt kratzen die Fallbeile über die Seiten, manchmal bleiben sie hängen, ruckeln, stoppen. Ich meine, sie wiegen noch immer so viel, dass sie sogar an einem schlechten Tag mindestens drei Zentimeter in deinen Hals eindringen. Früher war es Pech für uns, wenn ein Fallbeil seine Arbeit nicht verrichtete. Das Urteil besagte, dass der Kopf des Delinquenten auf den Klotz zu legen war, bis das Fallbeil herunterfiel. Wenn er aus irgendeinem Grund dadurch nicht getötet wurde, dann war die Strafe trotzdem verbüßt. Und glauben Sie nicht, das sei nicht mehr als einmal passiert. Viele Leute laufen heute mit schlimmen Wunden am Hals herum. Aber wenn ein Gefangener heute nicht durch das Fallbeil getötet wird, dann ziehen wir es einfach wieder hoch und lassen es noch einmal herunterfallen. Zweimal, dreimal mit einem verrosteten, blutverkrusteten Fallbeil, das, wie ich ja schon sagte, jeden Abend geschärft wird – und irgendwann ist es dann so weit.« Etwa sechs Meter vor jeder Guillotine stand ein wackliger Holztisch, grau und durch Sonne und Wind verwittert. Hinter jedem Tisch standen zwei monströse Stühle aus Rotholz und bezeichnenderweise weniger verwittert. »Die verantwortlichen Beamten und die Leute, die das Zei189
chen verteilen, dürfen dort sitzen«, erklärte Jock. »Die Verurteilten stehen in der Schlange. Sobald ihre Daten aufgenommen und ihre persönlichen Habseligkeiten beschlagnahmt worden sind, bekommen sie einen Wäschekorb aus Plastik in die Hand gedrückt, den sie dem Henker reichen. Der stellt ihn dann auf die andere Seite der Guillotine. Der Kopf fällt in den Korb, der Körper bleibt, wo er gekniet hat. Lebenslänglich Verurteilte ohne Aussicht auf Haftentlassung sammeln die Körper ein. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« »Verschonen Sie mich.« »Oh, das gefällt Ihnen nicht, oder?« Jock stieg aus. »Leg ihr Handschellen an, Jess«, ordnete er seinen Beifahrer an. Jesse drehte sich herum und öffnete das Gitter. »Hände«, befahl er. »Sie sollten mich besser wieder betäuben«, erwiderte Chloe. »Was heißt das?« »Denkt ihr etwa, ich würde mir freiwillig wieder Handschellen anlegen lassen, damit ihr mich irgendwohin bringen könnt, wo ich gar nicht hinwill?« Jock öffnete die hintere Tür. »Einen Augenblick, Jock«, rief Jesse. »Sie hat noch keine Handschellen an!« Jock, der, wie es Chloe erschien, eine große Show für die Kameras abzog, sprang auf den Rücksitz. Chloe hatte die geballten Fäuste unter den Oberschenkeln versteckt. »Sie wollen uns Schwierigkeiten machen?« Er blickte sie drohend an. Jock packte ihre Handgelenke und riss ihr die Hände hoch. Dann legte er sie zusammen und hielt sie so, dass Jesse die Handschellen anlegen konnte. Dann glitt Jock rückwärts aus dem Wagen und zerrte sie heraus. Dabei stieß sie sich den Kopf an, ihre Knie schürften über den Boden und dann über den Asphalt. Jock zog sie auf die Beine. 190
Chloes Körper schmerzte, aber sie war froh, Widerstand geleistet zu haben. Alle anderen konnten ruhig sanft in diese gute, kalte Nacht des Todes gehen. Sie nicht. Jock legte die Hand an ihren Ellbogen und führte sie vor eine Guillotine. »Das wird morgen Ihr Schicksal sein, wenn Sie heute nicht kooperieren.« Der Gestank war überwältigend und beide Männer legten sich ihre Taschentücher über Mund und Nase. Chloe, deren Hände zum Glück dieses Mal vor ihrem Körper gefesselt waren, hielt sich mit den Fingern die Nase zu. »Wie Sie sehen können«, erläuterte Jock, »waschen wir weder die Plattformen noch den Boden ab. Ich meine, wem würde das schon nützen?« Der Bereich vor den Guillotinen erinnerte Chloe an ein Schlachthaus. Die Erde war schwarz, durchtränkt mit Blut. »Sehen Sie diesen Müllcontainer dort hinten?« Unmittelbar hinter der mittleren Guillotine, vielleicht 30 Meter davon entfernt, stand ein Müllcontainer, der etwa halb so groß war wie ein Güterwaggon. Er hatte keine Abdeckung. »Die Gefangenen nehmen den Korb und werfen den Kopf hinein. Zwei Gefangene bringen den Körper auch dorthin. Sehen Sie diese schwarzen Spuren, die zu dem Müllcontainer führen? Ich schätze, Sie wissen, was das ist.« Allerdings wusste Chloe es. Sie versuchte, die Luft anzuhalten, aber Jock zerrte an ihrem Arm, sodass sie sich nicht mehr die Nase zuhalten konnte. Sie betete, dass er sie nicht auch noch zu dem Müllcontainer bringen und zwingen würde hineinzusehen. »Er wird einmal in der Woche geleert.« Die Soldaten der Weltgemeinschaft hielten die Medien zurück, doch die Reporter riefen Chloe ihre Fragen zu. »Was ist das auf ihrem Overall? Hat sie sich beschmutzt?« Chloe, der das schrecklich peinlich war, rief: »Schokolade!« Jock wirbelte herum und schlug ihr mit dem Handrücken ge191
gen die Stirn. »Sie reden mit keinem außer uns, verstanden?« »Sie haben mich betäubt, und zwar mit einem Schoko-« Jock sprang hinter sie und legte ihr die Hand auf den Mund. Als sie den Versuch unternahm, ihn zu beißen, stieß er ihr mit dem Knie in den Rücken, sodass die Luft aus ihren Lungen entwich. »Gib mir das Klebeband, Jess.« »Es hätte nicht so weit kommen müssen, Miss«, sagte dieser und holte eine Rolle Klebeband aus seiner Jackentasche. »Ich hatte gehofft, wir müssten das nicht tun.« Jock riss ein Stück Klebeband ab und nahm dabei die Hand von Chloes Mund. »Sagt doch nur einmal die Wahrheit! Ich wurde betäubt! Sie –« Jock klebte ihr das Klebeband so fest über den Mund, dass sie den Kiefer nicht mehr bewegen konnte, geschweige denn reden. Gott, betete Chloe im Stillen, hilf mir, stark zu sein. Ich möchte es ihnen nicht leicht machen. Ich möchte nicht in die Unterwerfung geprügelt oder durch Drohungen dazu gebracht werden, klein beizugeben. Und falls sie mich töten, lass mich zuerst reden. Hilf mir, mich an alle Verse zu erinnern, die ich auswendig gelernt habe. Bitte, Gott, lass mich dein Wort weitersagen. Jock und Jesse brachten sie über den Hof zu einer Stahltür in einem der Zellenblocks. Die Tür befand sich zu ebener Erde, doch sie nahm an, dass sie über Stufen hinunter in den Trakt geführt werden würde, in dem sich die Zellen für die Einzelhaft befanden. Etwa zehn Meter vor der Tür blieben sie stehen, die Reporter waren ebenfalls etwa zehn Meter von ihnen entfernt. »Hat sie noch mehr ausgespuckt?«, rief eine Frau. »Oh ja«, erwiderte Jock. Chloe schüttelte mit aller Macht den Kopf. »Die ganze Zeit«, fuhr er fort. »Natürlich haben wir sie darauf hingewiesen, dass sie keine mildernden Umstände zu 192
erwarten hat für, äh, körperliche Gunstbeweise. Sie kann sich nur helfen, indem sie die Wahrheit sagt. Ich bin zuversichtlich, dass uns auch das noch gelingen wird. Wir haben bereits mehr über den judahitischen Untergrund und die illegale Schwarzmarkthandelskette erfahren als von jeder anderen Quelle, die wir je hatten. Und wie Sie wissen, hat sie Mr. Al Basrah verraten, einen führenden Subversiven aus dem Mittleren Osten. Er ist bereits tot.« Chloe schüttelte auch weiterhin den Kopf, aber sie machte sich keine Illusionen darüber, dass dies am Abend nicht auf GCNN gezeigt werden würde. »Das ist für den Augenblick alles, Leute. Mrs. Williams muss noch einige Bedingungen erfüllen, wenn ihr Todesurteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt werden soll, aber unsere täglichen Hinrichtungen werden morgen früh um zehn Uhr wie gewohnt durchgeführt. Vermutlich werden wir nicht ganz so viel zu tun haben wie gestern, als jede Guillotine eine halbe Stunde lang fast ununterbrochen im Einsatz war, aber nach den letzten Zahlen werden es 35 Gefangene sein, also fünf für jede Guillotine.« Die Presse begann, sich zurückzuziehen, doch Jock und Jesse blieben weiterhin mit Chloe dort stehen. »Ich werde jetzt meine Besichtigungstour mit Ihnen fortsetzen, junge Dame, und Sie werden mir zuhören«, sagte Jock. »Die besten Tage meines Lebens habe ich in diesem Hof verbracht, wenn ich zusehen konnte, wie diese Leute bekommen, was sie verdient haben. Ehrlich, ich war enttäuscht, als ich nach San Diego versetzt wurde, aber die hohen Tiere versicherten mir, dass dort eine große Zelle von Judahiten vermutet wurde. Sie sagten mir, ich könnte hierher zurückkommen, wenn wir sie ausgehoben hätten. Ich hoffe, dass Sie nur die Erste sind.«
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Mac war froh, dass Zeke ihn auf dem langen Flug begleitete. Der junge Mann hatte zwar keine gute Schulbildung, war jedoch klug und neugierig. Nie gingen ihm die Fragen oder der Gesprächsstoff aus. »Abdullah ist schwierig, weil man ihm seine Herkunft ziemlich deutlich ansieht. Auch ist sein Akzent sehr ausgeprägt, er muss also mittelöstlicher Herkunft bleiben, aber auf keinen Fall Jordanier. Rayford ist ziemlich einfach, weil ich alles mit ihm machen kann. Buck ist wegen seiner Narben im Gesicht auch ziemlich schwierig zu verkleiden. Aber wie auch immer, ich werde euch fünf Jungs in ganz andere Menschen verwandeln. Was habt ihr vor?« »Ich weiß es selbst noch nicht so genau, Zeke«, erwiderte Mac. »Gerüchten zufolge hat Carpathia die zehn Könige zusammengerufen, er nennt sie natürlich die ›Regionalpotentaten‹, aber wir wissen, wer sie sind, nicht wahr?« »Allerdings.« »Falls Otto in Neu-Babylon Erfolg hat, erfahren wir im Voraus, wo das große Treffen stattfindet. Dann können wir versuchen hineinzukommen und im Saal Abhörwanzen installieren. Natürlich geht es uns nicht darum, die vorausgesagten Ereignisse aufzuhalten, aber es wäre gut zu wissen, was genau passieren soll.« »Was geschieht mit Carpathias Sekretärin?« »Krystall? Wenn es nach mir ginge, würden wir ihr klar machen, welches Schicksal Neu-Babylon erwartet, und sie dort wegschaffen.« »Nach Petra?« Mac schüttelte den Kopf. »So gern wir das auch tun würden, aber Gott hat diese Stadt allein als Zufluchtsstätte für sein Volk bestimmt. So traurig das auch ist, sie hat ihre Entscheidung getroffen, ihren Standpunkt bezogen und das Zeichen angenommen. Ihre Rettung aus Neu-Babylon wird nur verhindern, dass sie bei der Zerstörung der Stadt, wenn Gott endlich sein 194
Gericht über sie bringt, ums Leben kommt. Sie wird sowieso sterben, irgendwann zwischen der Zerstörung der Stadt und der Wiederkunft Christi, und es wird ihr nicht gefallen, wie ihr ewiges Leben dann aussehen wird. Das bedeutet doch nicht, dass wir nicht mit ihr befreundet und für ihre Hilfe dankbar sein können. Oder dass wir nicht traurig darüber sein könnten, dass sie zu lange gewartet hat, um die Wahrheit zu erkennen.« »Ich frage mich trotzdem, ob wir ihr trauen können«, sagte Zeke. Der Zeitpunkt der Evakuierung des unterirdischen Bunkers in San Diego wurde auf zwölf Uhr vorverlegt, zum einen, weil die Vorbereitungen früher abgeschlossen waren, und zum anderen, weil man sichergehen wollte. Niemand wusste genau, wann die Weltgemeinschaft mit ihrer nächsten Suchrunde beginnen würde. Buck befand sich auf dem Fahrzeugdeck und stand in Funkkontakt mit Ming, die in seiner Wohnung auf Kenny aufpasste und gleichzeitig das Periskop bediente. Sobald sie bestätigte, dass die Luft rein war, schickte Buck beladene Fahrzeuge zum Flugplatz, wo die von Lionel Whalum gestellten Flugzeuge und Piloten sie erwarteten. Gegen sechs Uhr abends meldete sich Ming bei ihm. »Buck, Chloe ist im Fernsehen.« »Sieht Kenny zu?« »Ich bringe ihn in sein Zimmer.« Buck rannte zurück in den Wohnbereich, und als er in seinem Zimmer ankam, hatte sich auch Rayford eingefunden. In den Nachrichten wurde gezeigt, wie Chloe versuchte, mit der Presse zu reden, und dass Jock sie schlug. Buck empfand einen mörderischen Zorn, vor allem, als sie ihr den Mund zuklebten. An die Lügen war er gewöhnt, doch er konnte es nicht ertragen zu sehen, dass sie misshandelt wurde. 195
»Was meinst du, Ray, wo das ist?«, fragte er. Rayford schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht genau.« Eine der Reporterinnen sagte: »Hier in Louisiana sind die Haftbedingungen besonders streng, vor allem die Haftanstalt Angola ist dafür bekannt. Die international gesuchte Terroristin Chloe Williams wird den Tag bereuen, an dem sie hierher gebracht wurde. Die Guillotine wird eine süße Erleichterung sein.« »Angola in Louisiana!«, rief Buck. »Ich breche sofort auf. Ich werde Sebastian und Razor mitnehmen. Wenn du auch mitkommen willst, ist mir das natürlich recht. Wen sonst sollten wir deiner Meinung nach noch mitnehmen?« »Einen Augenblick, Buck«, wandte Rayford ein. »Wir werden nicht nach Louisiana fliegen.« »Was? Du hast drei deiner besten Leute nach Griechenland geschickt, um George zu befreien, und Chloe überlässt du der Weltgemeinschaft, damit die mit ihr machen, was sie wollen?« »Sie ist mit Sicherheit nicht in Louisiana.« »Du hast es doch gerade gehört!« »Denk doch einmal nach, Buck. Wir sollen glauben, dass sie in Louisiana ist. Sie haben sie aus San Diego fortgebracht, weil sie einen Überfall befürchteten. Die würden auf keinen Fall verraten, wohin sie gebracht wurde.« Buck wusste, dass Rayford Recht hatte. »Sie ist aber doch in einem Gefängnis, oder? Das würden sie doch nicht vortäuschen.« »Denen würde ich alles zutrauen.« »Ray, ich kann doch nicht einfach nach Petra fliegen und sie hier lassen. Wenn ich in der Nähe bleibe, habe ich wenigstens die Möglichkeit –« »Aber wie erfahren wir, wo sie gefangen gehalten wird?« »Ich würde mir nie verzeihen, wenn ich mich in Sicherheit bringen würde und sie allein sterben ließe. Ich weiß nicht, wie du das kannst.« »Das habe ich auch nicht vor!« 196
»Komm schon, Dad, wir stehen in dieser Sache doch Seite an Seite. Warum enthältst du mir Informationen vor?« »Ich werde Krystall anrufen, um zu erfahren, ob sie etwas gehört hat. Das Problem ist, dort drüben ist es vier Uhr morgens, und sie ist auch nicht der Meinung, dass irgendjemand dort eine Ahnung hat. Die Leute, die darüber Bescheid wissen, befinden sich in Al Hillah, und sie können wir nicht erreichen. Außerdem wird es ziemlich verdächtig wirken, wenn Krystall anfängt, sich nach Chloe zu erkundigen.« Es war spätabends, und Chloe war erstaunt, dass man sie schon so lange in Ruhe gelassen hatte. Sie hatte Recht gehabt: Man hatte sie tatsächlich in Einzelhaft gesteckt. Die Treppe führte in die Erde hinunter und sie war in eine kleine Zelle ohne Pritsche, ohne Waschbecken und Toilette geführt worden. Es gab keinen Stuhl, keine Bank, gar nichts. Nicht einmal Licht oder ein Fenster. Man hatte ihr das Klebeband vom Mund abgezogen, und nachdem die Metalltür ins Schloss gefallen war, saß sie in absoluter Dunkelheit. Jocks Gesicht tauchte in der kleinen rechteckigen Öffnung in der Tür auf. »Ich lasse Ihnen jetzt etwas Ruhe«, sagte er, »und ich werde mich auch ausruhen. Denken Sie darüber nach, was Sie mir erzählen können, denn wenn ich zurückkomme, werden wir sehen, ob wir Ihnen eine Injektion geben müssen, damit Sie ein wenig gesprächiger werden. Diese Haftbedingungen haben Sie Ihrem kleinen Spielchen von heute zu verdanken. Wenn Sie Platzangst oder Angst vor der Dunkelheit haben, wird Ihnen Ihr Aufenthalt hier nicht gefallen.« Chloe hatte beides, aber das würde sie nicht zugeben. Sie befürchtete, Panik zu bekommen oder den Verstand zu verlieren, doch nachdem sich Jocks Schritte entfernt hatten, machte sich ein unvorstellbarer Friede in ihr breit. »Danke, Herr«, sagte sie. »Ich brauche dich. Ich bin bereit zu sterben, aber ich möchte dich nicht beschämen. Du musst das 197
Wahrheitsserum überwinden. Bitte, lass nicht zu, dass ich irgendetwas oder irgendjemanden verrate, und lass mich stark sein, damit ich mir nicht so viele Gedanken mache. Hilf mir, meine Gedanken zu ordnen und an das Wesentliche zu denken. Und sei bei Kenny, Buck und Dad.« Allein der Gedanke an ihre Familie brachte sie zum Weinen. Chloe drückte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich auf den kalten Boden gleiten. »Gott, bitte erinnere mich an die Bibelstellen, an die ich jetzt denken soll. Lass nicht zu, dass Hunger, Erschöpfung oder Angst mich daran hindern, sie mir in Erinnerung zu rufen. Du weißt, wer ich bin und wer ich nicht bin. Ich möchte so sein, wie du mich haben willst. Du weißt besser als ich, dass ich nur ein unvollkommener Mensch bin.« Sie legte sich auf die Seite und war erstaunt, dass ihr Herz aus Angst vor der Enge und der Dunkelheit nicht zu rasen begann. Das allein war der Beweis für sie, dass Gott sie hörte. Sie sagte Bibelverse auf, wobei sie ganz weit hinten in der Bibel begann. Doch als sie stockte, machte sich Panik in ihr breit. »Herr, lass meinen Verstand wach sein. Bitte lass mich nicht vergessen. Ich möchte mir diese Verse in Erinnerung rufen und dich vor mir sehen.« Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Wie soll ich mich erinnern? Und wenn ich alles vergesse? »Herr, bitte.« Und plötzlich sah sie Licht. Träumte sie? Sie blinzelte. In der alten, staubigen Zelle war es so hell, dass sie ihre Augen abschirmen musste. Eine Vision? Ein Traum? Eine Halluzination? Und dann ertönte eine Stimme. Sie sagte ihre Lieblingsverse auf. Sie wiederholte sie Wort für Wort. »Ist das deine Antwort, Gott? Du sprichst sie mir vor und ich wiederhole sie? Danke! Danke!« Ein lautes Klopfen an der Tür. »Ruhe da drin!« »Ja, Ruhe, sei ruhig.« Diese Stimme kam aus der Ecke! 198
Chloe nahm die Hände von den Augen und sah eine Gestalt in der Ecke sitzen, die den Finger an die Lippen gelegt hatte. »Bist du das, Herr?«, fragte sie atemlos. »Niemand kann Gott sehen und am Leben bleiben«, flüsterte die Gestalt. »Wer bist du dann?« »Er hat mich geschickt.« »Preis sei Gott.« »Ja.« »Kann dich sonst noch jemand sehen?« »Morgen. Erst dann.« »Du wirst mich an das erinnern, was Gott versprochen hat?« »Das werde ich.« »Deine Anwesenheit weckt in mir den Wunsch zu singen.« »Dann tu es doch.« »Sing mit mir.« »Ich bin nicht hier, um zu singen, sondern um zu sprechen. Du singst.« Chloe begann zu singen. »Wenn wir mit dem Herrn wandeln im Licht seines Wortes, welche Herrlichkeit schenkt er uns! Wenn wir seinen guten Willen tun, ist er bei uns und bei allen, die ihm trauen und gehorsam sind.« »Ruhe da drin!«, ertönte es von außen. Chloe sang noch lauter. »Vertrauen und gehorchen, denn es gibt keinen anderen Weg, froh in Jesus zu sein, als zu vertrauen und zu gehorchen.« »Wenn ich diese Tür öffnen muss, werden Sie sich wünschen, ich hätte es nicht getan!« »Und in Gemeinschaft werden wir zu seinen Füßen sitzen …« Jetzt wurde gegen die Tür gehämmert, vermutlich mit einem Knüppel. Chloe lachte laut. »Ihnen gefällt meine Stimme nicht«, sagte sie zu ihrem neuen Freund. »Oder der Text«, sagte er und sie lachte umso mehr. 199
»Verlieren Sie da drin den Verstand?« »Nein! Haben Sie irgendwelche Wünsche?« »Nur, dass Sie aufhören.« »Tut mir Leid, das ist nicht möglich!« Und sie begann erneut zu singen. »Ich verlasse mich auf die Verheißungen Christi, meines Königs, in alle Ewigkeit wird sein Lob erklingen; Ehre sei Gott. Ich will es rufen und singen, ich verlasse mich auf die Verheißungen Gottes.« »Also gut!« Die kleine Tür wurde aufgerissen. Der Raum wurde wieder dunkel. »Sie haben ein Licht hier drin?« »Sicher! Das Licht Gottes.« »Ich meine es ernst! Was haben Sie da?« »Nur das Licht seiner Gegenwart.« »Wenn Jock gleich zurückkommt und feststellt, dass Sie irgendetwas bei sich haben, werden Sie es bedauern.« »Ich werde die Gelegenheit bedauern, ihn zu überraschen? Das glaube ich nicht. Wollen Sie mitsingen? Kommen Sie, singen Sie mit. Wer sich auf die Verheißungen Gottes verlässt, kann nicht scheitern …« Der Wärter knallte die Tür wieder ins Schloss.
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12 Rayford hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was Buck durchmachte. Für einen Ehemann musste es noch schlimmer sein als für einen Vater. Aber genau wusste er dies natürlich nicht. »Wir werden Folgendes tun«, erklärte er seinem Schwiegersohn. »Ich habe mit Lionel vereinbart, dass er uns eine zweisitzige Maschine zurücklässt. Sie ist schnell, hat aber nur eine begrenzte Reichweite. Wir werden unterwegs auftanken müssen, vielleicht in Cypress. Wir werden den anderen helfen, hier zu verschwinden, dann können wir von mir aus auf dem Flugplatz warten. Irgendwo in den Mittelwesten fliegen, in den Süden. Wo immer du meinst, dass wir Chloe am nächsten sind.« »Und was tun wir?« »Wir können das kleine Satellitenfernsehgerät mitnehmen und mit Mac, Otto und Krystall in Kontakt bleiben, sehen, ob wir irgendeinen Hinweis bekommen«, erklärte Rayford. »Du willst also einfach nur auf demselben Kontinent sein, wenn sie stirbt, willst du mir das damit sagen?« »Nun, äh, nein –« »Dad, denk doch einmal darüber nach. Ich kann nicht fliegen. Du hast nicht einmal einen Ersatzpiloten. Keiner von uns hat eine militärische Ausbildung. Du hast ein zweisitziges Flugzeug für zwei Leute, also brauchen wir im Grunde keinen Gedanken daran zu verschwenden, Chloe zu befreien und mitzunehmen.« Rayford barg den Kopf in den Händen. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, Buck. Ich werde die Staaten nicht verlassen, solange sie noch gefangen gehalten wird. Aber wenn wir nicht erfahren, wo sie steckt, werde ich auch keine Mannschaft darauf ansetzen.« »Wohin werden wir gehen?« »Wie wäre es mit Wisconsin, wo Zeke sich versteckt gehal201
ten hat? Er sagte mir, die Weltgemeinschaft dort würde niemals herumschnüffeln. Es ist ziemlich zentral, sodass wir jede Stadt schnell erreichen können.« Jock führte Chloe in einen schwach beleuchteten Raum etwa 100 Schritte von ihrer Zelle entfernt. »Heute Abend sind nur wir beide da, Madam. Kein anderer Beamter, den Sie zum Narren halten können, keine hellen Lichter in Ihren Augen, kein Druck.« Doch als sie sah, wo sie sitzen sollte, in einem auf dem Fußboden festgeschraubten Stahlstuhl mit Lederriemen an den Armlehnen und für die Beine, sagte sie: »Nein, wir beide werden nicht allein sein, Jock.« »Was meinen Sie?« »Sie allein können mich nicht in diesem Stuhl festschnallen.« »Ich könnte schon, aber das würde Ihnen nicht gefallen.« »Und Sie würden sich wünschen, Sie hätten es gar nicht erst versucht. Ich werde mich auf keinen Fall festschnallen lassen, es sei denn, ich werde überwältigt.« »Wie wäre es, wenn wir es mit dem einfachen Weg versuchen?«, fragte er. »Wie wäre es, wenn wir uns einfach eine Weile unterhalten und sehen, ob Sie festgebunden werden müssen.« »Kein Wahrheitsserum?« »Nicht, wenn Sie kooperieren.« »Ich kann Ihnen auch gleich sagen, dass ich das nicht tun werde.« »Ich kann Sie nicht überreden, noch einmal darüber nachzudenken, nett zu sein, sich selbst der Nächste zu sein?« »Nein. Zum einen muss ich zur Toilette, und solange mir das nicht gestattet wurde, werde ich mich nicht einmal hinsetzen, geschweige anschnallen lassen.« Jock seufzte und führte sie wieder den Flur entlang. »Wie Sie sich vorstellen können«, sagte er, »gibt es in einer Gefängnis202
toilette kein Fenster. Der einzige Weg nach draußen ist derselbe wie der hinein. Und da werde ich auf Sie warten.« Mitten in der Nacht telefonierte Mac mit Rayford. Er überquerte gerade den Atlantik. »Wann wird Otto Weser denn wieder im Palast sein?« »Gegen acht Uhr abends Ortszeit.« »Ich schätze, jede Information über Chloe hat im Augenblick absolute Priorität.« »Richtig.« »Und dann Carpathias Pläne.« »Genau.« »Ich werde versuchen, ihn eine halbe Stunde, nachdem er dort eintreffen wollte, zu erreichen. Sobald ich etwas weiß, werde ich mich wieder bei dir melden.« Als Chloe aus der schmutzigen Toilette kam, wartete Jock mit drei Wärtern auf sie, einer Frau und zwei Männern. »Dann sind wir zwei doch nicht alleine, Jock, oder?« »Das hätten Sie haben können. Wenn Sie angeschnallt und immer noch nicht glücklich sind, blicken Sie in den Spiegel, dort sehen Sie nämlich diejenige, die daran schuld ist. Zumindest haben Sie es mir erspart, es zuerst auf die freundliche Tour zu versuchen und Sie dann doch hinterher anschnallen zu müssen.« Während Chloe den Flur entlangschritt, packte die Frau ihre rechte Hand und drehte sie ihr auf den Rücken, während einer der Männer ihre linke Hand nahm. Sie überlegte, ob sie protestieren sollte; sie hatte Jock ja deutlich gesagt, dass sie es ihnen nicht leicht machen würde. Sobald sie den kleinen Raum betraten, bückte sich der dritte Mann, packte sie an den Knöcheln und riss sie von den Füßen. Der Druck an ihren Schultern ließ sie aufschreien, aber innerhalb von wenigen Sekunden saß sie angeschnallt im Stuhl. 203
Die Wärter gingen, ließen aber eine Injektionsnadel bei Jock zurück. Dieser schloss die Tür und kam näher. »Das ist Ihre letzte Chance«, begann er. »Werden Sie mir die Wahrheit sagen, ohne dass ich nachhelfen muss?« Chloes Puls beschleunigte sich, doch dann bemerkte sie, dass ihr Freund aus der Zelle auf Jocks Stuhl saß. »Ich werde Ihnen auch damit nicht die Wahrheit sagen«, erklärte sie. »Oh, keine Sorge, das Zeug hat schon stärkere Menschen als Sie umgehauen«, erwiderte Jock. Er führte eine Nadel in ihre Vene ein. Er tat dies mit einer unglaublichen Präzision. Offensichtlich hatte er Erfahrung darin. Chloe spürte keinen Schmerz. Er befestigte die Nadel mit Pflaster. Dann führte er eine Plastikkanüle ein, die bis zu seinem Tisch führte. Jock setzte sich, Chloes neuer Freund stand hinter ihm. Sie unterdrückte ein Grinsen, sah ihn über Jocks Kopf hinweg an. »Wen sehen Sie an?«, fragte Jock. »Niemanden, den Sie kennen«, erwiderte Chloe. Das war die Wahrheit, wenn es denn das war, was er hören wollte. Jock stach die Injektionsnadel in den Schlauch. »Wenn ich den Inhalt dieser Spritze injiziere, wird das Serum in Ihre Venen gelangen. Sie werden sich dann sehr entspannt fühlen. Sie wissen vermutlich, wie dieses Zeug wirkt. Es wirkt einer Chemikalie in Ihrem Gehirn entgegen, die Sie daran hindert, allzu offen zu sein. Aber natürlich ist das genau das, was ich von Ihnen möchte.« »Ich kann es kaum erwarten zu hören, was ich zu sagen habe.« »Ich hoffe, Sie sagen genug, denn hier geht es für Sie um Leben und Tod.« »O Jock, ich glaube, jemand anders braucht das Wahrheitsserum dringender als ich.« »Sie zweifeln an meinen Worten?« »Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich, egal, was ich sage, 204
sterben werde.« »Nicht notwendigerweise.« »Sie sind ein Lügner. Ich weiß das, und das ist die Wahrheit, und wenn ich mich nicht irre, haben Sie mir die Injektion noch nicht verpasst.« »Nein, aber jetzt genug davon. Und los geht es.« Chloes Besucher hinter Jock begann wie ein Dirigent zu dirigieren und Chloe begann zu summen. Dann sang sie leise: »Dort sind Segensströme; da ist Liebe. Wir werden erfrischt von dem Erlöser im Himmel.« »So schnell wirkt das Serum nicht, darum glauben Sie nicht, dass Sie die Wahrheit singen.« »Segensströme, Segensströme brauchen wir. Tropfen des Erbarmens fallen um uns herum, doch wir brauchen die Ströme.« »Nette Melodie.« »Danke. Ist auch ein schöner Text.« Schon nach wenigen Minuten spürte Chloe die Wirkung des Serums. Es war seltsam. Ein Wohlgefühl, ein Gefühl des Vertrauens, dass sie frei war, alles zu sagen, einfach alles. Wenn sie es nicht besser wüsste, würde sie diesem Mann helfen wollen, indem sie seine Fragen beantwortete. Es würde ihr nichts geschehen und alles wäre in Ordnung. Doch sie wüsste es besser. Sie sah an Jock vorbei. »Wie lange wirst du bei mir sein?«, fragte sie. »So lange wie nötig«, erwiderte der unsichtbare Mann. »Wie bitte?«, fragte Jock. »Solange das hier dauert. Ich habe mich ausgeruht. Ich werde lange durchhalten.« »Darauf wette ich.« »Probieren Sie es aus.« Chloe lächelte. »Ich denke, Sie werden mich sehr anstrengend finden.« »Wie fühlen Sie sich?« »Prima.« »Gut. Das ist schon ein Fortschritt.« Jock grinste sie an. 205
»Wie heißen Sie?« »Chloe Steele Williams und ich bin stolz darauf.« »Wie heißt Ihr Vater?« »Rayford Steele.« »Und Ihr Mann?« »Cameron Williams. Ich nenne ihn Buck.« »Haben Sie ein Kind?« »Ja.« »Wie heißt es?« »Sein Name ist für Buck und mich etwas ganz Besonderes, weil er nach zwei sehr lieben Freunden und Gefährten benannt wurde, die bereits gestorben sind.« »Und wie hießen sie?« »Wenn ich das beantworte, kennen Sie ja den Namen meines Sohnes.« »Und warum sollte ich den Namen Ihres Sohnes nicht kennen?« »Je weniger Sie über ihn wissen, desto schwieriger wird es für Sie, an ihn heranzukommen.« »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass wir Ihrem Sohn nichts antun wollen.« »Das ist eine Lüge.« »Ist auch egal. Sie haben am Telefon Ihrem Vater gegenüber seinen Namen erwähnt: Kenny.« Jock injizierte noch mehr Serum, und Chloe hatte den Eindruck, als würde sie eine sofortige Wirkung spüren. Vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Seltsam, aber das Zeug schien sie dazu bringen zu wollen, die Wahrheit zu sagen, auch wenn die Antworten nicht die waren, die Jock hören wollte. Sein Gesicht war noch stärker gerötet als sonst. Machte sie ihn wütend? Sie hoffte es. »Gehören Sie einer Untergrundgruppe an, die dem Supreme Potentaten der Weltgemeinschaft Nicolai Jetty Carpathia nicht treu ergeben ist?« 206
»Ja.« »Und Sie glauben nicht, dass der Potentat eine Gottheit genannt werden sollte?« »Nein, außerdem halten wir ihn für den Antichristen, von dem in der Bibel gesprochen wird.« »Ist Ihnen klar, dass allein schon diese Aussage mit dem Tod bestraft wird?« »Ja, so genau, wie ich weiß, dass Gott die Wahrheit liebt. Gottes Gesetz ist Wahrheit, Jesus ist die Wahrheit, und wenn Sie die Wahrheit kennen, wird sie Sie frei machen.« Woher kam denn das? Danke, Herr. »Gehören Sie einer judahitischen Gruppe an, die in San Diego Unterschlupf gefunden hat?« »Fragen Sie mich, wer ich bin?« »Ich fragte Sie, ob Sie eine –« »Ich bin eine Jüngerin Christi, des Sohnes des lebendigen Gottes. Er ist mächtiger als ich, und ich bin nicht wert, den Riemen seiner Sandalen zu lösen.« »Was?« »Haben Sie mich nicht verstanden?« »Haben die Judahiten oder eine Splitterpartei der Judahiten, die sich die ›Tribulation Force‹ nennt, irgendetwas mit der Dunkelheit über Neu-Babylon zu tun?« »Das war das Werk Gottes.« »Ist es Ihre Absicht oder die Ihrer Gruppe, die Weltregierung zu stürzen?« »Das ist bereits geschehen. Die Auswirkungen sind nur noch nicht sichtbar.« »Die Regierung der Weltgemeinschaft ist gestürzt?« »Es wird noch bekannt werden.« »Beten Sie das Bild Nicolai Carpathias mindestens dreimal pro Tag an?« »Niemals.« »Werden Sie mir den Aufenthaltsort Ihrer Gefährten nennen 207
oder Informationen liefern, die zu ihrer Festnahme führen? Ich spreche in erster Linie von Ihrem Vater, Ihrem Mann, Dr. Tsion Ben-Judah und Dr. Chaim Rosenzweig.« »Lieber würde ich sterben.« Jock injizierte ihr den Rest des Serums und wartete etwa fünf Minuten lang, während er nervös mit den Fingern auf den Tisch trommelte. Chloe sang aus vollem Herzen Amazing Grace. Jock erhob sich und blickte schwer atmend zur Tür hinaus. Dann kam er zu Chloe herüber, entfernte die Infusionsnadel und löste die Riemen. »Sind wir fertig?«, fragte sie. »Nein, aber Sie haben die höchste Dosierung bekommen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Wir können noch ein paar Minuten plaudern, und wenn diese letzte Dosis Sie doch noch zur Besinnung kommen lässt, sagen Sie es mir.« »Dann sprechen wir doch über Sie, Jock. Wieso sind Sie von Carpathia so begeistert?« »Oh nein, so nicht. Lassen Sie mich in Ruhe. Offensichtlich glauben Sie, was Sie glauben. Das ist beeindruckend, das muss ich zugeben. In die Irre geführt, aber beeindruckend. Das ist das Problem bei religiösen Extremisten.« »Ach, das sind wir also?«, fragte sie. »Natürlich.« »Sie würden uns gern mit Menschen in einen Topf werfen, die im Namen ihres Glaubens töten, nicht wahr?« »Sie sind genauso extrem wie sie.« »Wir töten keine Menschen, die nicht unserer Meinung sind. Wir errichten nicht überall Statuen unseres Gottes und fordern per Gesetz, dass jeder sich dreimal am Tag davor verbeugt. Wir bieten die Wahrheit, zeigen den Menschen den Weg, rufen sie auf, zu Gott zu kommen. Aber wir zwingen sie nicht.« Jock ließ sich auf seinen Stuhl sinken. »Ist Ihnen klar, dass Sie morgen sterben werden?« 208
»Ich hatte so eine Ahnung.« »Und das macht Ihnen nichts aus?« »Natürlich tut es das. Ich habe Angst.« »Und Sie werden Ihren Mann, Ihr Kind, Ihre Familienangehörigen und Freunde niemals wieder sehen.« »Wenn ich das denken würde, dann wäre das etwas ganz anderes.« »Ich verstehe. Das ist so eine von Ihren unrealistischen Hoffnungen: Eines Tages werden Sie alle auf den Wolken herumschweben, auf Ihren Harfen spielen und weiße Gewänder tragen.« »Gegen Wolken habe ich nichts, aber hoffentlich werde ich nicht bis in alle Ewigkeit Harfe spielen müssen.« Jock schüttelte den Kopf. »Sie wissen, dass wir Ihre Hinrichtung in die ganze Welt übertragen werden.« »Und zuerst noch weitere Lügen über mich verbreiten?« »Wir werden sagen, was wir sagen müssen, um das Gesicht zu wahren.« »Und Sie müssen das Gesicht wahren, weil diese militärische Operation ein kolossaler Misserfolg war, nicht wahr?« »Hätte besser laufen können.« »Hätte? Es hätte nicht schlimmer laufen können! Was haben Sie denn erreicht?« »Nun, wenn wir herausfinden, wo sich der Rest dieser Feiglinge versteckt, haben wir durchaus etwas erreicht.« »Sie nennen sie Feiglinge, weil sie sich versteckt halten, oder meinen Sie den Rest der Feiglinge, die so sind wie ich? Finden Sie mich feige?« »Um ehrlich zu sein, nein.« »Darf ich morgen zum Abschied noch etwas sagen?« »In Ihrem Fall werden wir das nicht gestatten können. Ich höre schon, wie Sie versuchen, eine Predigt zu halten, auf Carpathia losgehen, versuchen, die Menschen zu retten.« »Also darf ich nur etwas sagen, wenn es mit der Ideologie 209
der Weltgemeinschaft übereinstimmt?« »So ungefähr.« »Das werden wir noch sehen.« »Wir? Wer ist ›wir‹?« Chloe erhob sich und merkte, dass ihr Freund fort war. Sie sprach weiter. »Jock, ist Ihnen eigentlich klar, dass der Tag kommt, und zwar viel früher, als Sie denken, an dem jeder Gott und seinen Sohn anerkennen muss?« »Das denken Sie?« »›Es ist ein unwiderrufliches Wort: Vor mir wird jedes Knie sich beugen und jede Zunge wird bei mir schwören.‹« »Nun, Süße, ich nicht.« »Tut mir Leid, Jock. Jeder von uns wird vor Gott Rechenschaft über sich selbst ablegen.« »Mein Gott ist Carpathia. Das reicht mir.« »Und wenn Jesus nun gewinnt?« »Er gewinnt?« »›Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ›Jesus Christus ist der Herr‹ – zur Ehre Gottes, des Vaters.‹« »Ich hoffe, das gibt Ihnen Trost, wenn Sie morgen früh in der heißen Sonne stehen, diesen Gestank einatmen, sehen, wie die Köpfe rollen, und wissen, dass Ihrer der nächste sein wird. Vielleicht bin ich bei Befragungen nicht so gut, wie ich gedacht hatte, und vielleicht haben Sie viel Geld ausgegeben, um sich gegen das Wahrheitsserum immun machen zu lassen. Aber wenn Sie vor der Guillotine stehen, wird nichts Sie so zu Verstand bringen wie das Wissen, dass Sie als Nächste an der Reihe sind. Ich werde Sie morgen früh beobachten, Mädchen. Mein Gefühl sagt mir, dass Sie zittern und jammern werden, dass Sie um eine weitere Chance betteln werden, um Ihr Leben zu retten.«
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Um 8 Uhr 30 morgens Palastzeit war Mac noch immer etwa sieben Stunden von Petra entfernt. Er rief die Nummer von Otto Weser an, die Rayford ihm gegeben hatte, und stellte sich vor. »Er ist auferstanden«, begrüßte ihn der Deutsche. »Christus ist wahrhaftig auferstanden«, erwiderte Mac. »Was haben Sie für mich?« »Ich muss Ihnen sagen, Miss Krystall ist wirklich ein Juwel. Ich wünschte, sie würde auf unserer Seite stehen. Sie ließ mich ein Gespräch mit Suhail Akbar anhören, dem Leiter des Sich-« »Ich weiß, wer er ist, Mr. Weser. Mit allem nötigen Respekt, machen wir es kurz.« »Carpathia hat ihn und seine Leute mit zwei Dingen beauftragt: erstens, die Regierung nach Al Hillah zu verlegen, und zweitens, an einem Termin in sechs Monaten in Bagdad ein richtiges Oktoberfest für alle Weltführer vorzubereiten.« »Also nicht im Oktober?« »Das ist nur so eine Redewendung. Es wird eine richtig große Sache. Mit Pomp, Flaggen, Lichtshows, Musikgruppen, Tänzern und allem. Wenn die Lichter in Neu-Babylon wieder angehen, kehrt die Regierung zurück. Aber selbst wenn das geschieht, wird diese Sache in Bagdad steigen.« »Und wo genau? Wissen wir das?« »In einem ganz neuen Gebäude, Mr. McCullum. An der Stelle, an der früher, vor dem Krieg, das Irakische Museum gestanden hat. Es wird auf dem neuesten Stand der Technik sein, luxuriös ausgestattet, mit Räumen für die Sitzungen und die Festivitäten. Daran teilnehmen werden nur die zehn anderen Staatsoberhäupter, aber offensichtlich plant Carpathia neben den privaten Unterredungen mit seinem Kabinett auch noch andere Festlichkeiten für die Öffentlichkeit. Seinen Leuten gegenüber sagt er, dass es bei diesem Treffen mit den Subpotentaten jedoch um die Endlösung der Judenfrage geht.« 211
»In einem Deutschen müsste dies doch unangenehme Erinnerungen wachrufen, oder?« »Ja, allerdings. Bei uns kann man sehen, was dabei herauskommt, wenn sich ein Volk für etwas Besseres hält. Auf dieser Straße sind wir schon einmal gegangen.« »Irgendetwas über Chloe Williams?« »Krystall sagt, sie befände sich im Angola-Gefängnis in Louisiana.« »Vermutlich bezieht sie sich auf die Nachrichtensendung, die auch wir gesehen haben. Oder hat sie andere Informationen?« »Ich werde sie fragen.« Wenige Sekunden später meldete sich Otto wieder. »Beides. Sie sagt, sie hätte diese Nachrichtensendung gehört, aber sie hat auch mitbekommen, wie Leute vom Sicherheits- und Geheimdienst über Chloe gesprochen haben. Laut neuesten Informationen soll sie morgen um zehn Uhr hingerichtet werden.« »Wir müssen los und George und ein paar andere mitnehmen, Rayford«, sagte Buck. »Das macht einfach keinen Sinn«, wandte Rayford ein. »Warum sollten sie bekannt werden lassen, wo sie festgehalten wird?« »Vielleicht, um uns eine Falle zu stellen.« »Dann ist es noch weniger wahrscheinlich, dass sie dort ist.« »Du denkst, sie seien auch hinter Krystall her?«, fragte Buck. »Dass sie ihr bewusst falsche Informationen gegeben haben, um sie auf die Probe zu stellen?« »Wir werden Sebastian fragen.« Seit den frühen Morgenstunden saß Chang nun schon an seinem Computer im Technologiezentrum. Als Naomi kam, blieb sie hinter ihm stehen und legte ihm die Hände auf die Schultern. 212
»Truppen, Truppen und noch mehr Truppen«, stöhnte er. »Die aus Griechenland könnten Israel überwältigen, ganz zu schweigen davon, wozu die aus den gesamten Carpathiatischen Staaten in der Lage wären. Und das ist erst der Anfang.« »Irgendwelche Neuigkeiten über Mr. Williams’ Frau?« »Den Informationen aus dem Palast und aus Al Hillah ist nur zu entnehmen, dass Chloe in Louisiana festgehalten und um sechs Uhr abends unserer Zeit hingerichtet wird.« »Oh nein.« »Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Sie werden die Hinrichtung im Weltfernsehen ausstrahlen und sie sagen doch nie die Wahrheit. Wenn sie die ›Tribulation Force‹ anlocken wollten, hätten sie sie doch in San Diego lassen können. Rayford und Buck stecken mitten in der Evakuierung des Verstecks, aber sie wissen nicht, was sie jetzt tun sollen. Ich hoffe, sie durchschauen das Spiel der Weltgemeinschaft. Nach unseren Informationen befindet sich Chloe vier Stunden von San Diego entfernt. Die Weltgemeinschaft braucht sie nur irgendwo hinzubringen, wo eine Tochtergesellschaft von GCNN eine Live-Sendung organisieren kann.« Naomi zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben Chang. »Falls es jemals eine Sendung gegeben hat, die du stören möchtest, dann diese, nicht wahr?« »Auf keinen Fall will ich, dass die ganze Welt das auf dem Bildschirm verfolgt.« »Aber wir würden wollen, dass sie sehen und hören, was Chloe sagen wird.« »Ganz bestimmt. Ich werde bereit sein und umschalten, wenn sie die Geduld mit ihr verloren haben.« Sebastian stimmte Rayford zu. »Auf keinen Fall werden sie durchsickern lassen, wo sie tatsächlich gefangen gehalten wird«, sagte er. »Das wäre ein großer Fehler.« »Und wo stehen wir jetzt?«, fragte Buck. »Ich würde lieber 213
das Schlimmste mit Sicherheit wissen als gar nichts.« »Mal sehen, ob Krystall bereit ist, ein Risiko einzugehen«, schlug Rayford vor. »Ich werde sie anrufen.« Als sie sich meldete, sagte Rayford: »Ich möchte Sie um einen großen Gefallen bitten.« »Für das, was ich Ihren Leuten bereits gegeben habe, könnte ich hingerichtet werden.« »Ich werde Ihnen eine Information geben, die Ihr Leben verlängern wird.« »Wovon sprechen Sie?« »Sie lesen doch Dr. Ben-Judahs Website, oder?« »Das habe ich Ihnen ja gesagt.« »Dann wissen Sie auch, dass er anhand der Bibel alle diese Plagen und Gerichte, die die Erde getroffen haben, vorausgesagt hat.« »Ja, das ist richtig unheimlich.« »Es ist tatsächlich unheimlich, aber auch real, und wir wissen, was als Nächstes mit Neu-Babylon passieren wird – wir wissen nur nicht den genauen Zeitpunkt.« »Und was ist das?« »Gott wird die ganze Stadt zerstören, innerhalb von einer Stunde.« »Ach du meine –« »Er wird seine Leute herausrufen – zum Beispiel Otto und seine Freunde. Sie werden verschont werden. Und Sie müssen auch von dort verschwinden.« »Wohin soll ich gehen?« »Irgendwohin, nur fort aus Neu-Babylon.« »Und Sie sind sicher, dass das passieren wird?« »Wenn nicht, dann wäre es das erste Mal, dass eines dieser vorhergesagten Ereignisse nicht eintrifft. Also, Krystall, ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie in Sicherheit sind, nur weil Sie Neu-Babylon verlassen. Der Rest der Welt wird ebenfalls leiden, aber vielleicht nicht so schlimm und schnell wie 214
Neu-Babylon. Eine Flucht aus der Stadt ist Ihre einzige Chance.« »Wurde in den Prophezeiungen auch vorhergesagt, dass Carpathia diese ganzen Truppen nach Israel senden wird?«, fragte Krystall. »Haben Sie je von Harmagedon gehört? Das ist es. Aber das Ende von Neu-Babylon kommt zuerst.« »Und was soll ich für diese Warnung tun?« »Rufen Sie jemanden an. Jemanden, der Bescheid weiß. Und Sie sollen bei dem Gespräch den Namen ›Chloe Williams‹ fallen lassen. Sagen Sie ihm, Sie hätten es in den Nachrichten oder wo auch immer gehört und seien neugierig. Ob sie tatsächlich hingerichtet wird und wo. Werden Sie das tun?« »Sie glauben nicht, dass das Ganze in Louisiana stattfinden wird?«, fragte sie. »Nein, es fällt mir schwer, das zu glauben.« »Ich verspreche Ihnen nichts, aber ich werde mal sehen, was ich machen kann.« »Was werden Sie heute Abend machen, Jock?«, fragte Chloe, als er sie in ihre Einzelzelle brachte. »Wie ein Baby schlafen. Morgen ist ein großer Tag. Wir erzählen der Welt, Sie hätten gesungen wie ein Kanarienvogel, aber schließlich hätten Sie sich doch geweigert, das Zeichen anzunehmen, und Carpathia keine Treue schwören wollen. Uns seien unsere Hände gebunden gewesen.« »Und Sie sind der Held.« »Ich werde vermutlich befördert. Ins internationale Hauptquartier geholt.« »Welches sich wo befindet?« »Was interessiert Sie das? Sie können es doch niemandem erzählen oder etwas dagegen unternehmen.« »Dann können Sie es mir ja auch ruhig sagen.« Er legte den Kopf auf die Seite. »Gerüchten zufolge werde 215
ich dem Jesreel-Tal zugeteilt.« »Ach, wirklich? Was ist da denn los?« »Das darf ich nicht sagen.« »Aber Sie wissen es?« »Ja, sicher weiß ich das.« »Gratuliere.« »Danke.« »Nach oben sind keine Grenzen gesetzt, nicht wahr?« »Ich denke, nicht«, erwiderte er. »Möchten Sie eine kleine Insider-Information?« »Damit kommen Sie ein wenig zu spät, aber ich höre.« »Neu-Babylon wird niemals zur Normalität zurückkehren.« »Und das wissen Sie natürlich ganz sicher.« »So sicher, wie ich hier stehe«, erwiderte Chloe. »Nun, ich zweifle, dass Sie Recht haben, aber Sie werden es nicht mehr miterleben können. Ich dagegen schon.« »Auch da wäre ich nicht so sicher.« »Wir sehen uns morgen früh, Madam.« Chloe saß in der dunklen Zelle und fragte leise: »Bist du noch immer bei mir?« »Immer«, lautete die Antwort. »Bis ans Ende der Zeit.« Chloe legte sich auf den Boden und betete. Sie konnte nicht schlafen. Sie sang, sie sagte Bibelverse auf, sie lobte Gott und sie hörte zu. Meist hörte sie zu, wie er sie tröstete.
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13 »So etwas werde ich nicht noch einmal zulassen, Dad«, sagte Buck. Sie standen vor ihrem zweisitzigen Jet im Westen von Wisconsin und behielten ihr kleines Fernsehgerät im Auge. Sie warteten auf Krystalls Anruf. »Wir könnten herausfinden, dass Chloe nur eine halbe Stunde von hier in St. Paul gefangen gehalten wird, und wir könnten nichts dagegen unternehmen. Wir haben keinen Wagen, keine Verkleidung, keine Ausweise, nichts. Niemals wieder, Dad. Das meine ich ernst.« Rayford schien nichts zu sagen zu haben. Er tat Buck Leid. »Ich weiß nicht, was wir sonst hätten tun können«, meinte Buck. »Aber alles wäre besser gewesen, als hier dumm rumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas geschieht.« »Ich weiß auch nicht, warum Krystall noch nicht angerufen hat«, überlegte Rayford. »Sie hatte doch den ganzen Tag Zeit.« Er sah zum wiederholten Male auf seine Uhr. »In Neu-Babylon ist es jetzt Nachmittag.« »Wir sollten lieber hoffen, dass sie nicht hinter ihr her sind, ihr Telefon nicht verwanzt haben oder so etwas. Dann wüssten sie über Otto Bescheid und dass wir den Ort kennen, an dem die große Konferenz stattfinden soll.« »Ach, das glaube ich nicht«, meinte Rayford. »David und Chang haben immer gesagt, dass die Weltgemeinschaft nicht die eigenen Telefone anzapft.« »Du meinst, alle seien den ganzen Tag in Al Hillah in Sitzungen gewesen und Krystall hätte niemanden erreichen können, der ihr verrät, wo Chloe steckt? Du hättest ihr einen Zeitrahmen stecken sollen. Kann sie sich denn nicht denken, dass wir diese Information vor der Hinrichtung brauchen?« »Es ist ja nicht so, als würde sie für uns arbeiten, Buck. Sie ist ein Gottesgeschenk gewesen.« »Interessant, dass man so etwas über einen Menschen sagt, der das Zeichen des Tieres trägt.« 217
Gegen zwei Uhr nachmittags setzte Mac Zeke in Petra ab. Abdullah hatte die größere Maschine bereits startklar gemacht. Er sorgte auch dafür, dass Zeke eine Unterkunft bekam. »Ich habe vor, die Wohnung so schnell wie möglich auszuräumen«, erklärte Mac. »Dann hole ich Weser und seine Leute ab und komme wieder her. Ich möchte das alles gern erledigt haben, bevor GCNN mit Chloes Hinrichtung auf Sendung geht. Ich werde nicht zusehen, wie sie getötet wird, aber ich möchte sehen, was vorher geschieht.« Auf Grund der undurchdringlichen Dunkelheit wusste Chloe nicht, wie viel Zeit vergangen war. Hin und wieder drückte sie ihr Ohr an die Stahltür und lauschte. Es waren keine Aktivitäten im Trakt der Einzelhäftlinge zu vernehmen. Sie dachte, das Warten auf die eigene Hinrichtung sei wie das Warten darauf, zum Vorgesetzten zitiert zu werden, oder auf eine Strafe, die einen erwartete – nur noch schlimmer. Dennoch war sie aus irgendeinem Grund relativ ruhig. Sie war sehr traurig, wenn sie an Buck dachte – nicht so sehr, weil er sie vermissen würde, sondern weil es für ihn schwer werden würde, Kenny die Ereignisse erklären zu müssen. Er war noch zu klein, und es würde keine hilfreiche Erklärung geben, das wusste sie. Aber die täglichen Fragen. Ein Kind brauchte seine Mutter, und keine Ersatzmutter konnte ihn so lieben, wie sie es tat … all diese Gedanken beschäftigten sie. Chloe spürte die Gegenwart Gottes, auch wenn sie den Botschafter nicht wie am vorhergehenden Abend sehen konnte. Ihre Muskeln schmerzten, weil sie in unterschiedlichen Gebetshaltungen mit Gott sprach. Immer wieder versuchte sie, eine bequemere Lage zu finden. Das Hungergefühl konnte sie zum Glück verdrängen. Schon bald, sagte sie sich, würde sie am Festmahlstisch des Königs 218
der Könige speisen. Im Laufe der Stunden wichen ihre Zweifel immer mehr der Gewissheit. Sie hatte alles auf diese eine Karte gesetzt, wie sie früher immer gern gesagt hatte. Wenn sie sich irrte, dann irrte sie sich eben. Aber die Zeit des Fragens und der Vorbehalte war vorbei. Chloe hatte zu viel gesehen, zu viel erlebt. Wie jeder andere auf diesem Planet hatte sie erlebt, dass Gott real war, dass er der Herr über diese Welt war, der Erzfeind des Antichristen, und am Ende würde Gott den Sieg davontragen. Kurz nach ihrer Entscheidung für Jesus hatte Chloe eine gewisse Selbstgefälligkeit empfunden, vor allem wenn sie von den Menschen wegen ihres Glaubens beschimpft oder verspottet wurde. Sie war zu höflich, um Schadenfreude zu zeigen, aber sie konnte eine gewisse Befriedigung nicht leugnen, die ihr das Wissen verschaffte, dass sich ihre Überzeugung eines Tages als richtig herausstellen würde. Doch zum Glück empfand sie nicht mehr so. Je mehr sie gelernt hatte und je mehr sie wusste und das Vorbild anderer Christen vor Augen hatte, die aufrichtiges Mitgefühl für die schlimme Lage der Menschen empfanden, die keine Beziehung zu Gott hatten, desto mehr reifte auch Chloe in ihrem Glauben. Das zeigte sich in ihrer Trauer um die Seelen der Menschen, in dem verzweifelten Wunsch, diese würden die Wahrheit erkennen und sich Christus zuwenden, bevor es zu spät war. Sie wusste nicht einmal, was sie mit ihrer Liebe und dem Mitleid für die Menschen, die das Zeichen Carpathias bereits angenommen hatten und für alle Ewigkeit verloren waren, tun sollte. Auch wenn diesen nicht mehr geholfen werden konnte, trauerte sie um sie. Das Aufflackern der Menschlichkeit bei Florence, bei Nigel, Jesse, Jock … was bedeutete das? Sie konnte nicht erwarten, dass Ungläubige wie Gläubige lebten, und so blieb ihr nicht die Möglichkeit, sie zu verurteilen – nur, sie zu lieben. Doch jetzt war es hoffnungslos. Chloe konnte zwar nicht verstehen, wie es noch immer Men219
schen auf der Welt geben konnte, die noch keine Entscheidung getroffen hatten, doch offensichtlich gab es sie noch. Sie würde versuchen, diese Menschen in den Augenblicken der Freiheit, die Gott ihr verschaffen würde, zu erreichen. Mit ihren letzten Worten würde sie sich an diese Menschen wenden. Wie jemand in den vergangenen sechs Jahren all diese Geschehnisse hatte erleben und trotzdem nicht erkennen können, dass er zwischen Gott und dem Satan wählen musste – oder schlimmer noch: dass er die Möglichkeiten kannte und sich bewusst für den Satan entschied –, das war ihr unbegreiflich. Aber es stimmte zweifellos. Ming hatte ihr von Moslems erzählt, die gegen Carpathia waren, weil sie ihrem eigenen Glauben anhingen. Einige praktizierende Juden, die nicht an Jesus als den Messias glaubten, lehnten ebenfalls Carpathia als Gott dieser Welt ab. George kannte einige Soldaten, die sich weigerten, einem Diktator die Treue zu schwören. Auch sie hatten sich noch nicht für Christus entschieden. Chloe fragte sich, was mit den anderen Insassen von Stateville war, die ebenfalls an diesem Morgen sterben würden. Viele würden das Zeichen Carpathias tragen, aber viele sicher auch nicht. Würde sie, als die berühmteste Gefangene, die Letzte in der Reihe sein? Mac kramte in seinem Gepäck und fand seine Verkleidung als Penner. Niemand würde unter der dreckigen Kappe eines stinkenden Mannes nach dem Zeichen Carpathias suchen. Nur in dieser Verkleidung wagte sich Mac tagsüber noch nach draußen. Er fand seinen Motorroller an der Stelle, an der er ihn im Gebüsch in der Nähe des Flughafens versteckt hatte, und fuhr bis zum Stadtrand von Al Basrah. Dort kettete er ihn sorgfältig an, bevor er in die Stadt taumelte. Mac begegnete vielen Betrunkenen. Er tat so, als irre er ziellos umher, doch er hatte ein Ziel. Und als er in die Nähe der Wohnung kam, die er und Albie sich geteilt hatten, verschwand 220
er in einer Gasse. Den Rest des Weges rannte er. Er wollte gerade die Treppe hinaufsteigen, als er Stimmen vernahm. Mac blieb stehen und setzte sich auf den Treppenabsatz. Zwei Männer standen vor seinen schmutzigen Räumlichkeiten. »Du kannst nicht da rein, alter Mann!«, rief einer von ihnen. »Verschwinde.« Mac murmelte, ließ den Kopf in den Nacken sinken und begann zu schnarchen. Die Männer lachten. »Wie auch immer«, flüsterte einer der beiden, »ich schätze, dass er im Dunkeln kommt. Doppel-M will ihn lebend.« Mac kannte diesen Spitznamen. »Ich habe zwei Männer beauftragt, den Eingang zu beobachten. Sie werden eine Stunde vor Sonnenuntergang auf ihrem Posten sein. Bist du sicher, dass er nicht früher kommt?« »Er hat kein Zeichen, Mann! Wer würde so etwas riskieren?« Als die Männer weitergingen und Mac sicher sein konnte, dass die Luft rein war, sprang er auf und öffnete die Tür. Die Wohnung war leer. Kein einziges Möbelstück mehr. Alle ihre Sachen – verschwunden. Die Wohnung diente nur noch als Falle für ihn, sollte er hierher zurückkehren. Mac sprang die Stufen hinunter, rannte zu seinem Motorroller, fuhr zum Flugplatz und machte sich mit seinem Flieger auf den Weg nach Neu-Babylon. Otto würde seine Leute zum Landeplatz bringen, das hatten sie so vereinbart. »Wir laden besser da ein, wo uns niemand sehen kann«, sagte er. Die etwa 30 Männer und Frauen wollten Mac danken, aber er lächelte nur und drängte sie, ins Flugzeug einzusteigen. Er würde sich erst in Petra wieder sicher fühlen. Und dann wäre er, ausgestattet mit einer neuen Identität von Zeke, bereit für jede Operation, die Rayford sich ausgedacht hatte. Otto stand abseits und wippte auf den Zehenballen. »Sobald alle drin sind«, bestimmte Mac, »fliegen wir los.« 221
»Mac, wir können noch nicht starten.« »Warum? Was ist noch?« »Sie ist tot.« »Wer?« »Krystall.« »Wovon sprechen Sie?« »Sehen Sie es sich doch selbst an. Nachdem ich heute Morgen hier war, kehrte ich zu unserem unterirdischen Versteck zurück und half den Leuten, sich fertig zu machen. Als wir ankamen, trug ich ihnen auf, auf Sie zu warten. Ich erklärte ihnen, Sie könnten als Einziger hier landen, weil nur Sie sehen können. Dann ging ich in den Palast, um mich bei Krystall zu bedanken. Die Tür zu ihrer Wohnung war nicht abgeschlossen, und als ich eintrat, fand ich sie.« »Woher wissen Sie, dass sie tot ist?« »Ich bin kein Arzt, Sir, aber in dem Raum stank es schrecklich. Offensichtlich hatte jemand etwas hineingeworfen. Sie lag auf dem Boden. Das klingelnde Telefon neben ihr. Ich ließ es liegen, überprüfte ihren Puls. Sehen Sie es sich selbst an.« »Mr. Weser, wir haben jetzt einfach keine Zeit mehr. Wenn sie tot ist, dann ist sie eben tot, und das tut mir wirklich Leid. Und Rayford, der sie in die Sache hineingezogen hat, trägt möglicherweise die Verantwortung dafür. Aber ich kann nichts mehr für sie tun, und wir könnten diese Mission hier unnötig in Gefahr bringen, wenn wir beide jetzt davonlaufen und alle anderen hier im Flugzeug warten lassen.« »Denken Sie, dass sie hinter ihr her waren? Dass sie jemanden geschickt haben, der sie töten sollte?« »Ich weiß nicht, wie sie das hätten anstellen sollen, wo sie doch nicht sehen können.« »Ich habe lange darüber nachgedacht. Kann es nicht sein, dass vielleicht jemand, der sich im Palast gut auskennt, irgendein giftiges Gas in ihre Wohnung geworfen hat?« »Könnte sein. Das erklärt, warum Rayford nichts mehr von 222
ihr gehört hat. Haben Sie ihm schon Bescheid gesagt?« »Das hätte ich wirklich tun sollen, oder? Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich war so verwirrt.« »Gehen Sie an Bord. Ich werde Rayford anrufen.« Buck sah auf, als Rayford einen Anruf von Mac entgegennahm. Als sein Schwiegervater nach einigen Augenblicken die Hand über die Augen legte, erkundigte sich Buck: »Was ist los?« Rayford bedeutete Buck zu warten. Seine Knie zitterten. »Was? Ist Chloe schon tot?« »Nein, Buck«, erwiderte Rayford. »Aber jetzt können wir eh nichts mehr tun.« Er erzählte ihm, was er erfahren hatte. Buck zog die Knie an die Brust. »Ich kann kaum glauben, dass ich hier mitten im Nichts festsitze und darauf warte, dass meine Frau stirbt, und nicht einmal weiß, wo sie ist.« Rayford war aschfahl im Gesicht. »Wir könnten uns auf den Weg nach Petra machen.« »Aber wenn jemand –« »Niemand, der darüber Bescheid weiß, wird es uns sagen, Buck. Es ist Zeit aufzugeben.« »Aufgeben?« »Ja, Buck«, erwiderte Rayford und erhob sich. Seine Stimme zitterte. »Ich habe aufgegeben. Sie ist jetzt in Gottes Händen. Wenn er beschließt, sie zu retten, dann wird er das auch ohne unsere Hilfe tun.« Während Rayford an Bord ging, erhob sich Buck, ließ den Kopf hängen und legte die Hände auf die Maschine. »Chloe«, sagte er mit rauer Stimme, »wo immer du bist, ich liebe dich.« Nach einer langen Nacht des Betens schlief Chloe doch noch ein. Einige Zeit später wurde sie von dem unverwechselbaren Motorengeräusch eines Hubschraubers aufgeweckt. Es war 223
nicht nur ein Hubschrauber; möglicherweise waren es sogar drei. Einen Augenblick lang gestattete sie sich zu überlegen, ob vielleicht ihre Rettung nahte. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass ihr Mann und ihr Vater und vermutlich noch einige andere Mitglieder der Tribulation Force nichts unversucht lassen würden, um sie zu befreien. Aber sie wusste auch, dass sie ohne ein Wunder nicht erfahren würden, wo man sie festhielt. Das war der Grund ihrer Verlegung gewesen. Hatten sie es vielleicht doch herausgefunden? Immer wieder staunte sie über die Möglichkeiten, die viele ihrer Gefährten auftaten. Sollte sie sich auf eine Flucht vorbereiten für den Fall, dass sie tatsächlich das Gefängnis stürmten und nach ihr suchten? Wussten sie vielleicht noch mehr, nicht nur, wo sie gefangen gehalten wurde? Kannten sie möglicherweise den Lageplan des Gefängnisses, wussten sie, wo sich die Zellen für die Gefangenen befanden, die in Einzelhaft saßen, und in welcher Zelle sie zu finden war? Und wie viele waren es? Würden sie die Soldaten der Weltgemeinschaft überwältigen können? Ihre Fragen wurden auf einen Schlag beantwortet, als ihr Freund zurückkam und die Dunkelheit ihrer Zelle sich erhellte. »Darf ich deinen Namen wissen?«, fragte sie. »Du kannst mich Caleb nennen.« »Ich werde heute nicht gerettet, oder, Caleb?« »Du wirst befreit werden, aber nicht so, wie du meinst.« »Befreit?« »Heute noch wirst du mit Christus im Paradies sein.« Das trieb Chloe auf die Knie. »Ich kann es kaum erwarten«, sagte sie. »Viele Menschen hier auf der Erde werde ich schrecklich vermissen, aber kaum etwas anderes. Wie sehr sehne ich mich danach, bei Jesus zu sein!« Neben den Hubschraubern hörte Chloe nur den lauten Lärm von außen, aber nichts von innen. Fahrzeuge, metallisches Hämmern. Rufe. Irgendetwas wurde gebaut. Trotz allem wurde Chloe nervös. 224
»Ich möchte ein vorbildhaftes Kind Gottes sein«, sagte sie. Nur mit Mühe konnte sie ihre Gefühle unter Kontrolle behalten. »Gott wird dir vollkommenen Frieden schenken, wenn deine Gedanken auf ihn ausgerichtet sind.« »Danke, Caleb. Aber auf einmal fühle ich mich so verletzlich.« Schließlich hörte Chloe Geräusche aus dem Inneren des Gebäudes. Ein Poltern an der Stahltür, das kleinere Fenster wurde aufgeschoben. Jocks Gesicht erschien. »Nun, wie geht es uns heute Morgen, kleine Dame? Toilettenpause.« »Einen Augenblick, bitte.« »Oh, ein zähes Mädchen.« Verzweifelt blickte sie Caleb an. »›Meinen Frieden gebe ich euch, sagt euer Herr Christus‹«, sprach er ihr zu, »›nicht einen Frieden, wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch. Euer Herz beunruhige sich nicht und verzage nicht.‹« Chloe klopfte an die Stahltür. »Ich bin bereit«, sagte sie. Ein Wärter öffnete die Tür. Als Chloe aus der Zelle trat, stand Jock in einer blauen Uniform mit Goldknöpfen vor ihr. In seiner Begleitung befand sich eine Frau, die einen Blazer mit dem Emblem von GCNN und eine Ledertasche trug. »Du meine Güte«, stöhnte diese. »Das wird so nicht gehen. Lassen Sie mich wissen, wann ich zu Ihnen in den Waschraum kommen kann. Und, Jock, beschaffen Sie ihr einen sauberen Overall.« »Ich soll mich für die Hinrichtung herrichten?«, fragte Chloe verwirrt. »Alles Äußerlichkeiten, meine Liebe«, erwiderte die Frau. »Der Gerechtigkeit wird Genüge getan, aber alle sollen sehen, dass Sie nicht misshandelt wurden.« »Ich verstehe«, sagte Chloe und wandte sich in Richtung Toilette. Die Frau folgte ihr. »Ich wurde meiner Familie entrissen, 225
durfte hungern, wurde mit Drogen betäubt, durch das halbe Land geflogen, bekam ein Wahrheitsserum injiziert und wurde in Einzelhaft gefangen gehalten, und das alles nennen Sie eine faire Behandlung?« »Hey, ich bin nur für das Make-up zuständig. Rufen Sie mich, wenn Sie dafür bereit sind.« »Wofür?« »Ich werde Ihr Haar richten und Ihnen ein wenig Make-up auflegen.« »Machen Sie sich keine Mühe.« »Oh, das muss ich.« »Sie haben keine Wahl?«, fragte Chloe. »Wenn Sie präsentabel wären, vielleicht, aber sehen Sie sich nur an.« »Aber das darf doch sicher ich entscheiden. Ich werde ja wohl so aussehen dürfen, wie ich möchte.« »Denken Sie. Aber da irren Sie sich.« Sie kamen an einem Spiegel vorbei und Chloe erhaschte einen Blick auf sich. Sie sah wirklich entsetzlich aus. Ihr Gesicht war verschmutzt, ihr Haar zerzaust. Bizarr. Wann habe ich mich das letzte Mal von jemandem zurechtmachen lassen? Und hier bekam sie es kostenlos, doch sie hatte nicht das geringste Interesse daran. »Trödeln Sie nicht herum«, rief die Frau. »Wir müssen pünktlich zur Sendezeit fertig sein.« Chloe schüttelte den Kopf. Fernsehleute. Sie erwarteten tatsächlich von einer Verurteilten, dass sie sich an die Sendezeiten hielt. »Ich lege einen frischen Overall aufs Waschbecken! Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie sich umgezogen haben!« Chloe zog sich um, sagte aber kein Wort. Als sie herauskam, warf die Frau ihr vor: »Sie wollten mir doch sagen, wenn Sie fertig sind.« »Nein, das wollte ich nicht.« 226
»Wir gehen wieder hinein, damit ich den Spiegel benutzen kann.« »Wie Sie wollen. Ich brauche ihn nicht.« »Kommen Sie schon, Sie müssen fertig werden.« »Ich bin fertig.« »Warten Sie, stopp! Halten Sie still.« Chloe blickte der Frau ins Gesicht. »Sagen Sie mal, ist Ihnen die Absurdität des Ganzen denn nicht klar? Ist es nicht schon schlimm genug, dass ich hingerichtet werde? Müssen Sie auch noch ein Spektakel daraus machen?« »Ich muss meine Arbeit tun.« »Dann werden Sie sie jetzt und hier tun.« Die Frau stellte ihre Tasche auf den Boden und holte einen Kamm und eine Bürste heraus. Eifrig machte sie sich daran, Chloes Haare herzurichten. Dann wusch sie mit einem nassen Lappen Chloes Gesicht und tupfte Rouge auf ihre Wangen. Als sie Wimperntusche holte, wandte Chloe ein: »Nein. Das reicht jetzt. Keine Wimperntusche, keinen Lippenstift. Wir sind fertig.« »Wissen Sie, Sie sind ein richtig attraktives Mädchen.« Chloe zog die Augenbrauen in die Höhe. »Vielen Dank. Wenn ich auf das hier zurückblicke, dann wird das meinen Morgen erhellen.« Was für ein tröstlicher Gedanke: Mein Kopf ist vielleicht der hübscheste im Abfalleimer. Als Chloe zu Jock zurückkam, sagte er: »Brauche ich die Handschellen?« »Nein.« »Das ist mein Mädchen.« Sie blickte ihn fragend an. »Nichts Persönliches«, erwiderte er. »Ich tue nur, was ich tun muss.« »Dann achten Sie darauf, dass ich die Gelegenheit bekomme, ein paar letzte Worte zu sagen.« »Wenn es an mir läge –« Sie wirbelte zu ihm herum und funkelte ihn an. »Es liegt doch an Ihnen, Jock, und das wissen Sie ganz genau. Jeder, der 227
Ihnen irgendetwas vorschreiben könnte, ist Tausende von Meilen entfernt. Übernehmen Sie doch nur einmal Verantwortung, ja? Treffen Sie eine eigenständige Entscheidung. Kündigen Sie an, dass ich sprechen werde, und lassen Sie es mich tun. Am Ende werde ich tot sein und Sie werden befördert. Was kann das also schaden?« Jock mied ihren Blick. Er führte sie die Treppe hinauf und hinaus in die Morgensonne. Sie schirmte die Augen gegen die Helligkeit ab. Die von Carpathia kontrollierte Presse war zahlreich vertreten und man hatte sogar Tribünen aufgebaut und offensichtlich die Öffentlichkeit eingeladen. Chloe überlegte, was der Lärm sollte, bis ihr schließlich klar wurde, dass die Menge erkannt hatte, dass nun die Hauptattraktion eintraf, und ihr applaudierte und zujubelte. Die anderen Gefangenen – vorwiegend Männer – standen bereits in den ihnen zugewiesenen Reihen oder warteten hinter den Tischen. Einige traten nervös von einem Fuß auf den anderen. Andere schienen kaum Luft zu bekommen. An jedem Tisch saßen Beamte, einer mit einem Gerät zum Anbringen des Zeichens. Was sollte das? An diesem Punkt wurden sogar die Leute, die das Zeichen noch annahmen, hingerichtet. Glaubten sie, das Zeichen würde ihnen in dem Leben nach dem Tod, das Carpathia ihnen anbot, irgendeinen Vorteil bieten? Auf dem Boden neben den Guillotinen saßen Gefangene in dunklen Arbeitsanzügen. Dies waren offensichtlich die Lebenslänglichen, von denen Jock gesprochen hatte. Sie würden die Köpfe und leblosen Körper aufsammeln und in den Müllcontainer werfen. Sie wirkten aufgeregt, lächelten, scherzten miteinander. Jock führte sie zu einer Reihe am mittleren Tisch. »Nun, ich denke, das war es dann«, sagte er. Und ein wenig entschuldigend fügte er hinzu: »Sie können trotzdem –« »Wir hätten gestern wetten sollen«, meinte sie. »Madam?« 228
»Sie waren sicher sicher, dass ich in letzter Minute betteln und flehen würde.« »In diesem Punkt haben Sie gewonnen«, gab er zu. »Sie sind eine seltsame Frau.« Chloe bemerkte die Scheinwerfer auf hohen Masten, die aufgebauten Podeste mit den Kameraleuten und ihren Kameras. Techniker mit Kopfhörern rannten hierhin und dorthin; die Menschen sahen ungeduldig auf ihre Uhren. In der Schlange vor dem Tisch zu ihrer Rechten fiel ein Mann mittleren Alters, der Carpathias Zeichen trug – was bedeutete, dass er für irgendein Kapitalverbrechen verurteilt worden war –, schluchzend und heulend auf die Knie. Er umklammerte die Hosenbeine des Mannes vor ihm. Dieser legte ihm vorsichtig die Hand auf die Schulter. Ihm war augenscheinlich unbehaglich zu Mute. Eine ältere Frau in der Schlange dahinter hatte ihr Gesicht in den Händen verborgen und schwankte. Sie betete, nahm Chloe an. In jeder Schlange standen Juden, die an ihren Davidsternen und den aus einem Stück Stoff oder Pappe selbst gefertigten Käppis zu erkennen waren. Die Menschen wirkten ausgezehrt, trugen Narben an ihrem Körper. Man hatte sie hungern lassen, geschlagen und in der Sonne stehen lassen. Aus Bucks Nachforschungen und den Insider-Informationen von David Hassid und Chang wusste Chloe, dass Carpathia die Juden schrecklich foltern ließ, bis sie halb tot waren. Jedoch durfte keiner von ihnen vor der öffentlichen Hinrichtung sterben. Chloe war genauso entsetzt gewesen wie alle anderen, als das Fernsehen die schlimmsten, unvorstellbaren Foltermethoden zeigte. Die übelsten Perversionen waren auf bestimmten Kanälen 24 Stunden am Tag zu sehen und Grenzen gab es praktisch nicht mehr. Doch als Studien belegten, dass die Fernsehsendungen mit den höchsten Einschaltquoten die Tag für Tag ausgestrahlten öffentlichen Hinrichtungen waren, war ihr klar ge229
wesen, dass es mit der Gesellschaft wirklich bergab gegangen war. Der Blutdurst war offensichtlich nicht zu stillen. Die menschliche Gesellschaft hatte den Punkt erreicht, an dem die beliebtesten Live-Hinrichtungen die waren, die eine Stunde dauerten und in denen es Zeitlupenwiederholungen gab; wenn die Guillotinen nicht richtig funktionierten und die Fallbeile stecken blieben, wenn die Opfer nur schrecklich verwundet wurden und schrien, aber nicht wirklich tot waren … Das war es, was die Öffentlichkeit sehen wollte, und je mehr, desto besser. Vor jeder Hinrichtung wurden die Vergehen des Verurteilten verlesen. Je schmutziger die Vergangenheit, desto befriedigender die ausgeübte Gerechtigkeit, so die gängige Meinung. Chloe wusste, welche Geschichten über sie kursierten. Sie konnte nur erahnen, was über die wahrhaft Schuldigen gesagt wurde. Chloe beobachtete, wie Jock zu einer Tribüne und einem aufgestellten Mikrofon ging. Ein Regieassistent bedeutete der Menge zu schweigen, wartete auf sein Stichwort, dann bedeutete er ihr zu applaudieren, während er Jock Ashmore vorstellte und einige vorformulierte Einführungsworte sagte. Er nannte ihn den Top-Untersuchungsbeamten der Weltgemeinschaft, der allein für die Gefangennahme von Chloe Steele Williams verantwortlich sei, einer der führenden Anti-CarpathiaTerroristinnen. Die Leute jubelten. »Danke«, begann Jock. »Wir werden heute 36 Hinrichtungen für Sie vollstrecken – 21 wegen Mordes, zehn wegen Verweigerung der Annahme des Loyalitätszeichens, vier wegen verschiedener Verbrechen gegen den Staat und eine wegen aller dieser Vorwürfe zusammen und zusätzlich vielen, vielen anderen Vergehen.« Die Menge jubelte, klatschte und pfiff vor Begeisterung. »Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass Chloe Steele Williams zwar letztendlich nicht bereit war, das Loyalitäts230
zeichen unseres Supreme Potentaten anzunehmen, doch sie hat uns genügend detaillierte Informationen über ihre auf der ganzen Welt versteckt lebenden Gefährten gegeben, die uns helfen werden, die Judahiten außerhalb von Petra auszulöschen und die Handelsgesellschaft auszuheben.« Erneut begann die Menge zu jubeln. »Doch mehr zu ihr, wenn sie später der 36. Patient von Dr. Guillotine sein wird.« Als sich die Menge schließlich beruhigte, fuhr Jock fort: »Wir beginnen heute Morgen in Reihe 7 mit einem Mann, der seine Frau und seine beiden kleinen Söhne ermordet hat.« Chloe erhaschte einen Blick auf einen Monitor, wo in Nahaufnahmen die verstümmelten Leichen der beiden Kinder gezeigt wurden. Gott, gib mir Kraft, betete sie im Stillen. Lass meine Gedanken auf dich ausgerichtet sein. Eine Frau, die unmittelbar vor ihr stand, wandte sich unvermittelt um. Sie war blass und kränklich und trug kein Loyalitätszeichen. »Sind Sie die Williams?«, erkundigte sie sich. Chloe nickte. »Ich möchte nicht sterben, und ich weiß nicht, was ich tun soll!« Danke, Herr. »Wenn Sie wissen, wer ich bin«, erwiderte Chloe, »dann wissen Sie auch, wofür ich eintrete.« »Ja.« »Ihre einzige Hoffnung ist, dass Sie Ihren Glauben auf Christus setzen. Bekennen Sie, dass Sie gesündigt haben, von Gott getrennt sind. Sie können sich selbst nicht retten. Jesus ist am Kreuz für Ihre Sünden gestorben. Wenn Sie das glauben, sagen Sie es Gott, und bitten Sie ihn, Sie durch das Blut Christi zu erretten.« »Aber ich werde trotzdem sterben?« »Sie werden sterben, aber Sie werden dann bei Gott sein.« Die Frau fiel auf die Knie, faltete die Hände und rief laut zu 231
Gott. Ein Wärter deutete auf einen Häftling und dann auf die Frau. Der Mann sprang auf und rannte auf sie zu. In dem Augenblick, als er sie erreichte, sprang Chloe ihm in den Weg und rammte ihm die Schulter in den Körper. Ihr Ellbogen traf ihn am Mund. Sein Kopf flog zurück. Schreiend stürzte er zu Boden und spuckte Blut. Die Frau betete weiter. Schließlich erhob sie sich. Der Mann stand mühsam auf und bewegte sich erneut auf die Frau zu, doch Chloe deutete nur drohend auf ihn, und er verzog sich. »Ich habe gebetet«, erklärte die Frau, »aber ich habe noch immer Angst. Wie kann ich sicher sein, dass es funktioniert hat?« »Lassen Sie mich mal sehen«, erklärte Chloe und sie erkannte das Zeichen des Gläubigen auf ihrer Stirn. »Was sehen Sie auf meiner Stirn?«, fragte Chloe. »Ein Zeichen, beinahe dreidimensional.« Die Frau streckte die Hand aus, um es zu berühren. »Ich sehe dasselbe Zeichen bei Ihnen«, erwiderte Chloe. »Nur die Kinder Gottes werden mit diesem Zeichen versiegelt. Egal, was heute auch mit Ihnen passiert, Sie gehören zu Gott.« Die Menge brüllte, während die Häftlinge den ersten Mann an den Haaren zur Guillotine schleiften. Dieser wehrte sich mit aller Macht, trat um sich und schrie. Dann knickten seine Beine weg und er musste auf das Podest getragen werden. Der Mann wand sich und schlug um sich, sodass zusätzliche Häftlinge gerufen werden mussten, die ihn festhielten. Nachdem der Henker überprüft hatte, dass alle Extremitäten richtig lagen, zog er an dem Seil und das Fallbeil fiel herunter. Das rostige Stück Eisen, das vom Blut Hunderter Opfer geschwärzt war, blieb an einer Ecke hängen, bevor es den Hals des Opfers traf. Chloe zuckte zusammen. Das Fallbeil grub sich nur halb in den Hals des Mannes. Dieser zuckte zusammen und zog sich zurück und schlug nach den Häftlingen, die ihn festhalten wollten. 232
Irgendwie gelang es ihm, sich zu befreien, und er taumelte blutend umher. Die Häftlinge lachten und duckten sich und verspotteten ihn, während der Henker einmal gegen das Fallbeil schlug, es gerade rückte und erneut hochzog. Zwei Häftlinge packten den Mann und legten ihn wieder hin, woraufhin erneut an dem Seil gezogen wurde – und dieses Mal funktionierte das Gerät richtig. Die Reaktion der Menge zeigte, dass dieses Schauspiel der perfekte Einstieg in den Tag gewesen war. »Als Nächstes«, erklärte Jock, »kommt die erste von zehn Personen, die sich geweigert haben, das Zeichen anzunehmen, unseren Ehrengast natürlich ausgenommen. Das Beste werden wir uns bis zum Schluss aufheben.« Doch bevor er weitersprechen konnte, erschien Caleb als leuchtende Erscheinung mitten auf dem Hof zwischen Chloe und Jock. Er schien gut fünf Meter groß zu sein, und seine Kleidung war so weiß, dass die Helligkeit die Menschen in den Augen schmerzte. Sie schrien auf und erstarrten. Jock wandte sich um. Er wollte sehen, was die Menge so erschreckte. Dabei stürzte er, das Mikrofon umklammert, zu Boden und schien sich nicht mehr rühren zu können. Als Caleb zu sprechen ansetzte, erbebte der Boden, und ein Windstoß wirbelte Staub auf. Chloe war davon überzeugt, dass alle am liebsten geflohen wären, doch sie konnten es nicht. »Ich komme im Namen des allerhöchsten Gottes«, begann er. »Hört meine Stimme und hört auf meine Worte. Wenn ihr mich nicht beachtet, dann tut ihr dies auf eigene Gefahr. ›Ach, dass die Menschen dem Herrn für seine Güte und seine wundervollen Werke an den Menschenkindern danken würden!‹ Denn er befriedigt die Sehnsucht der Seele und erfüllt die hungernde Seele mit Güte. Ihr, die ihr in Dunkelheit und im Todesschatten wandelt, seid gebunden in Bedrängnis, weil ihr gegen das Wort Gottes rebelliert und den Rat des Allerhöch233
sten verachtet habt. Ruft zum Herrn in eurer Not und er wird euch aus eurer Not befreien. Er wird euch aus der Dunkelheit und dem Todesschatten führen und eure Ketten entzweibrechen. So spricht der Sohn des allerhöchsten Gottes: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.‹ Aber weh denen, die heute nicht auf meine Warnung hören. So spricht der Herr: ›Wer das Tier und sein Standbild anbetet und wer das Kennzeichen auf seiner Stirn oder seiner Hand annimmt, der muss den Wein des Zornes Gottes trinken, der unverdünnt im Becher seines Zorns gemischt ist. Und er wird mit Feuer und Schwefel gequält vor den Augen der heiligen Engel und des Lammes. Und der Rauch von ihrer Peinigung steigt auf in alle Ewigkeit, und alle, die das Tier und sein Standbild anbeten und die seinen Namen als Kennzeichen annehmen, werden bei Tag und bei Nacht keine Ruhe haben.‹«
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14 Chang saß im Computerzentrum und verstand nun endlich die Redewendung »gebannt am Bildschirm hängen«. Er war bereit, die Leitung der Sendung zu übernehmen und sie vor Chloes Hinrichtung zu unterbrechen. Doch das Auftauchen dieses Botschafters Gottes, der die noch Unentschlossenen davor warnte, das Zeichen anzunehmen, und sie bat, sich für Christus zu entscheiden, das musste die Welt unbedingt sehen und hören. Seit Monaten kamen aus der ganzen Welt Berichte über Engel herein, die bei den Zentren zur Verteilung des Loyalitätszeichens und an den Guillotinen auftauchten. Einige Berichte klangen wirklich unglaublich, aber Tsion Ben-Judah sagte, sie stimmten mit der liebevollen Freundlichkeit Gottes überein. Chang sah zu den Ältesten hinüber, die vor dem großen Bildschirm saßen. Hinter ihnen warteten Hunderte von Computerfachleuten an ihren Tastaturen auf Anweisungen. Die untergehende Sonne warf ihre Strahlen durch die Tür, die etwa 30 Meter von Chang entfernt war. Das sanft fallende Manna rührte ihn beinahe zu Tränen. Dass Gott seinem erwählten Volk zu essen gab, dass er es beschützte und erfreute, dass er Chloe tröstete und Botschafter mit seiner guten Nachricht aussandte … Gott war wirklich multitaskingfähig, wie man heute so gerne sagte. Ein Telefon läutete und Naomi nahm den Anruf entgegen. Chang las an ihren Lippen ab, als sie sich zu Tsion beugte. »Es ist Buck. Für Sie.« »Cameron, mein Freund! Wie schwer das für Sie sein muss … Nein, tut mir Leid, ich weiß von keinem Fall, wo der Botschafter Gottes in die Hinrichtung eingegriffen hätte … Ja, natürlich könnte Gott sie auf wundersame Weise befreien, aber ich möchte Sie bitten, sich auf jeden möglichen Ausgang vorzubereiten …«
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Rayford stellte seine Entscheidung, während der Sendung in der Luft zu sein, nun in Frage. Er schaltete den Autopiloten ein und sah sich die Übertragung an, aber der gefürchtete Augenblick würde ganz sicher kommen, und er fragte sich, wie er danach wieder die Steuerung des Flugzeugs übernehmen sollte. Doch er hatte keine Wahl. Vielleicht war dies die beste Therapie. Wenn er nicht erleben wollte, dass Chloe und Buck am selben Tag starben, musste er sich zusammenreißen. Der arme Buck. Er telefonierte gerade mit Tsion und bekam offensichtlich nicht die Antwort, die er sich erhofft hatte. Rayford wollte ihn trösten, aber Buck war nicht der Typ Mensch, der sich in einer Krise trösten ließ. Erst nach den schrecklichen Ereignissen war dies möglich. Im Augenblick diskutierte er seine Situation gerade mit Tsion. Während der Botschafter Gottes auf die fassungslose Menge starrte und die neun noch Unentschlossenen weinend auf den Knien liegen sah, bedrängte Buck Tsion. »Aber er hat seinen Mann doch an Ort und Stelle! Es würde ihm doch nicht schwer fallen einzugreifen. Warum kann er sie nicht einfach herausholen und uns zurückgeben? Sie wissen doch, dass er das könnte! Er hätte uns doch irgendwie mitteilen können, wo sie festgehalten wurde. Was habe ich denn nur getan oder nicht getan, dass ich offensichtlich so unwürdig bin?« Chang wandte sich wieder dem Bildschirm zu, damit er nichts verpasste, doch er hörte, wie Tsion ernsthaft auf Bucks Fragen einging. »Cameron«, entgegnete Tsion, »Sie sind jetzt gerade verständlicherweise völlig durcheinander. Sie wissen genauso gut wie jeder andere, dass es in dieser Periode der Geschichte und in dieser ganzen Trübsalszeit nicht um uns persönlich geht. Gott hat einen Plan. Es geht um die Schlacht zwischen Gut und Böse, die sich bereits über Jahrtausende hinwegzieht. Er ver236
söhnt sein Volk mit sich. Wir sollten dankbar sein, dass wir dazugehören dürfen. Er überschaut das Gesamtbild, aber das gibt uns auch einen Hinweis auf seine ewig währende Liebe zu uns. Vertrauen Sie ihm, mein Freund. Vertrauen Sie ihm, trotz aller Umstände.« Chloe hatte das Gefühl, bereits im Himmel zu sein; Calebs Schein hatte ihr die Sicht auf den bösartigen Tod des ersten Opfers versperrt. Sie sah, wie Jock sich auf die Beine rappelte und sich den Staub von der Kleidung klopfte. »Bitte, Leute, bleibt da. Wir haben ja schon davon gehört, dass solche Erscheinungen an anderen Hinrichtungsstätten aufgetaucht sind, wenn wir so etwas auch hier noch nicht erlebt haben. Dies ist ein Trick der Spiritualisten innerhalb des Rebellionslagers. Vielleicht sollten wir den Eindringling um Erlaubnis bitten, mit unserem Programm fortfahren zu dürfen.« Er wandte sich zu Caleb um und tat so, als habe er schreckliche Angst vor ihm. Chloe spürte, dass er die Menge mit seiner Erklärung nicht hatte überzeugen können. »Mein lieber Herr«, sagte Jock mit vor Sarkasmus triefender Stimme, »dürfen wir fortfahren?« Calebs Stimme wurde lauter als je zuvor von den Gefängnismauern zurückgeworfen. »Ihr wurdet vor Gericht gestellt und eurer Verbrechen gegen den allerhöchsten Gott für schuldig befunden. Dass ihr das Zeichen des Bösen tragt, verurteilt euch zum Tode. Nichts, was ihr tut, kann euer Schicksal ändern. Denn ihr habt das Tier und sein Standbild angebetet und sein Zeichen angenommen, darum werdet ihr den Wein des Zornes Gottes trinken. Ihr werdet mit Feuer und Schwefel in der Gegenwart der heiligen Engel und in der Gegenwart des Lammes gemartert werden. Und ihr werdet Tag und Nacht keine Ruhe finden. Was der Herr auch nur denkt, soll eintreten, und was er beschließt, wird nie abgeändert werden, denn in der Bibel heißt 237
es: ›Der Herr der Heere hat geschworen: Wie ich es erdacht habe, so wird es geschehen; wie ich es plante, so wird es auch kommen.‹« Jock starrte Caleb mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann blickte er achselzuckend zur Menge hinüber. »Dabei hatte ich doch nur eine einfache Frage gestellt …«, sagte er und die Menge lachte nervös. »Ich nehme das mal als Erlaubnis dafür, dass wir jetzt weitermachen dürfen, denn, hey, wenn er Recht und Gott uns im Blick hat, dann kann er auch jederzeit auf den roten Knopfdrücken. Aber seht nur, wer heute hier stirbt! Seht ihr es? Wer stirbt hier? Sagt es lauter, ich will euch hören!« Niemand antwortete. »Das so genannte Volk Gottes!«, spottete Jock. »Die Leute, die sich für ihn anstatt für den realen Gott und unseren Supreme Potentaten Nicolai J. Carpathia entschieden haben! Kommt schon, Leute, lasst euch doch von diesen großen, leuchtenden, durchsichtigen Geistern nicht einschüchtern! Ja, er ist wirklich Furcht erregend. Aber was hat er denn schon anderes getan, als nur eine Fernsehübertragung zu unterbrechen? Im Gegenteil, er hat sie sogar noch besser gemacht! Ist dies hier großes Theater oder was? Der Feind zeigt sich und rasselt mit seinem Säbel, aber er hat nichts bewirkt! Ihr seid hergekommen, weil ihr sehen wollt, wie Köpfe rollen, und das werdet ihr auch sehen. Diese Menschen können so viel schreien, beten und flehen, wie sie wollen, sie werden trotzdem sterben!« Fasziniert beobachtete Chloe, wie die neun unentschlossenen Personen sich erhoben. Sechs von ihnen trugen das Zeichen des Gläubigen auf ihrer Stirn. Auf irgendeine Weise hatten sie innerlich eine Bestätigung bekommen, denn sie hoben die Hände und lächelten trotz des Schicksals, das sie erwartete. Die anderen drei wirkten elend, und Chloe nahm an, dass sie zu den Hartherzigen gehörten, die ihre Meinung vielleicht noch gern ändern würden, aber zu lange gewartet hatten. Jock war trotz seines Gehabes durch Calebs Erscheinung 238
entweder mehr eingeschüchtert, als er sich anmerken ließ, oder er hatte die Sendezeit im Blick. Auf jeden Fall rief er: »Wir werden die Sache ein wenig beschleunigen, ja? Jeweils einer von den zehn ohne Zeichen vor jede Guillotine, alle gleichzeitig. Sofort! Bewegt euch! Häftlinge, ihr werdet dafür sorgen, dass es schnell geht! Wir werden sie alle auf einmal hinrichten und die Verspätung dadurch wieder wettmachen. Jeder von euch, der das Zeichen noch haben möchte, möge sich jetzt melden!« Die Frau vor Chloe und die sechs anderen mit dem Zeichen der Gläubigen blieben, wo sie waren, während die anderen drei sich ein Zeichen geben ließen. Die Häftlinge gingen zu den sieben Personen ohne Carpathias Zeichen. Die Frau vor Chloe wurde ebenfalls geholt. Sie drehte sich um und umarmte Chloe. »Sei stark und vertraue Gott«, sagte diese. Sie zerrten die Frau zu der mittleren Guillotine. Keiner der sieben wehrte sich oder musste in die Knie gezwungen werden. Bereitwillig legten sie ihren Kopf unter das Fallbeil auf die Lünette. »Auf drei«, verkündetet Jock, und die Menge, die noch immer vor dem großen, leuchtenden Fremden Angst hatte, wurde langsam wieder lebendig. Chloe senkte den Kopf und schloss die Augen. Sie war entschlossen, die Hinrichtung der Kinder Gottes nicht mit anzusehen. Doch selbst mit geschlossenen Augen blendete sie noch der helle Schein des Engels, und als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Caleb den ganzen Hof mit einem so hellen Licht erfüllt hatte, dass niemand etwas sehen konnte. Das hatte verheerende Auswirkungen auf die Kameras und die Kameraleute riefen um Hilfe. Sie flehten Jock an zu warten. »Wir werden uns durch diesen Trick des Feindes nicht aufhalten lassen!«, rief Jock und zählte bis drei. Das Geräusch des herunterfallenden Fallbeils war zu hören, und die Leute jubelten, doch auf 239
Grund des gleißend hellen Lichtes konnte niemand die Toten sehen, weder dort im Hof noch über das Fernsehen überall in der Welt. Chang lehnte sich zurück und betrachtete den Bildschirm. Er winkte Naomi zu sich herüber. »Hast du das gesehen?«, fragte er. »Wenn der Engel das auch bei Chloe macht, werden wir die Übertragung nicht zu unterbrechen brauchen. Das wird er schon für uns erledigen.« »Aber er ist fort«, sagte Naomi. »Sieh nur.« Sie hatte Recht. Der Gefängnishof wirkte wieder ganz normal. Die Hinrichtungen wurden während der folgenden halben Stunde planmäßig durchgeführt. Vor jeder Hinrichtung wurde die Liste der Vergehen des Delinquenten verlesen, eine plastische Darstellung der begangenen Verbrechen. Da Caleb nun nicht mehr anwesend war, zeigte die Menge wieder mehr Mut. Die Menschen zischten, buhten, jubelten und applaudierten. Die Häftlinge waren bereits über und über mit dem spritzenden Blut und dem aufgewirbelten Staub bedeckt und sie schienen trunken zu sein von der Faszination ihrer Aufgabe. Chloe stand nun schon seit über einer Stunde in der glühend heißen Sonne. Die meiste Zeit hielt sie die Augen gesenkt. Schwach vor Hunger und Durst und schwindelig von der heißen Sonne, hatte sie Mühe, ihre Emotionen unter Kontrolle zu behalten. Sie betete inständig, dass Gott ihr die Gelegenheit geben würde, für ihn zu sprechen, und dass sie in der Lage sein würde, in Worte zu fassen, was sie beschäftigte. Chloe vermisste Caleb. Als er noch da gewesen war, schien sie in dem Schein der göttlichen Herrlichkeit zu ruhen. Sie hatte die Gegenwart Gottes gespürt. Jetzt wusste sie, dass dieser bei ihr war, aber der Glaube allein genügte nicht. Sie versuchte, sich darüber zu freuen, dass sie bald in die Gegenwart des allmächtigen Gottes eintreten und schon bald zu Jesu Füßen sit240
zen würde. Aber im Augenblick stand sie in der Hitze, eingehüllt von Staub, und sah die mitleidigen Blicke der Menschen, die das Zeichen verteilten, und anderer Beamter, die die Namen der Verurteilten in ihren Unterlagen notierten. Sie hatten dies schon häufiger getan, hatten erlebt, wie so genannte »Ehrengäste« verspottet und gedemütigt wurden, als sei eine Hinrichtung nicht schon schlimm genug. Mehr als 30 Minuten, nachdem Caleb ihn unterbrochen hatte, war Jock wieder ganz er selbst. Er hatte sich in die Aufgabe hineingefunden und freute sich, wie Chloe annahm, innerlich bereits auf seine Beförderung, sah sich schon in den Korridoren der Macht in Al Hillah, zusammen mit dem Potentaten höchstpersönlich. Jock stand noch immer vor der Menge, doch nun nahm er sich ein schnurloses Mikrofon und kam auf Chloe zu. »Und jetzt der Augenblick, auf den wir alle gewartet haben«, rief er und die Menschen begannen zu klatschen. Als er bei Chloe ankam, ergriff er sie an der Schulter und drehte sie zu der Menge herum. Er hatte den Arm um sie gelegt und trotz Chloes Abscheu wunderte sie sich über seine Sanftheit. Seine Finger lagen auf ihrer Schulter. Am liebsten hätte sie sich ihnen entwunden und ihn angespuckt, doch sie wusste, dass die Weltbevölkerung zusah, und dies war ihre letzte Gelegenheit, Menschen für Christus zu gewinnen. »Es ist Sitte, dass berühmte Gefangene letzte Worte sprechen«, sagte Jock. »Aber eigentlich bin ich dagegen. Was meint ihr?« Eine männliche Stimme schrie: »Nun macht schon endlich ein Ende mit ihr! Tötet sie! Wir wollen diesen hübschen kleinen Kopf in einem Korb sehen!« Andere klatschten und schrien: »Lasst sie sprechen!« Jock blickte zu einer Regieassistentin hinüber, und Chloe sah, dass die Frau ihm ein Zeichen gab. Er hatte noch Zeit. 241
»Ich weiß nicht«, setzte er erneut an. »Soll ich oder soll ich nicht?« Die Menge begann wieder zu schreien. »Während wir noch darüber nachdenken«, fuhr Jock fort, »wollen wir uns das Band mit den Verbrechen ansehen, die heute zu sühnen sind.« Die Zuschauer zischten und buhten, während auf den Monitoren ein Film mit den schlimmsten Übeltaten, die Chloe, die Judahiten, die Tribulation Force und die Internationale Handelsgesellschaft begangen haben sollten, gezeigt wurde. Chloe war erstaunt, dass viele der Plagen und Gerichte der vergangenen sechs Jahre ihr und ihren Gefährten zur Last gelegt wurden. Schließlich wurden die vermeintlichen Beschuldigungen gegen ihren Vater und ihren Mann genannt. Außerdem wurde das Foto eines zweijährigen Jungen gezeigt, den sie angeblich nach Jesus benannt hatten und von dem sie behaupteten, er sei der wiedergeborene Gott des Universums. »Trotz all dessen«, erklärte Jock, »hat diese kleine Dame praktisch alles preisgegeben, als sie mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert wurde. Um die Schande von ihrer Familie abzuwenden, vor allem von ihrem Kind, dem Fleisch gewordenen Gott, hat sie hinter verschlossenen Türen wie ein Vogel gesungen. Sie lieferte uns jede Menge Informationen. Wir müssen zugeben, Chloe Steele Williams hat mehr dazu beigetragen, als wir je hätten tun können, um auch die letzten Zellen der Rebellion gegen die neue Weltordnung auszulöschen.« Die Menschen jubelten. »Darum hat sie vielleicht genug gesagt! Vielleicht hat sie bereits zu viel gesagt! Vielleicht sollten wir das jetzt einfach durchziehen! Was meint ihr?« Mehr Applaus. Die Menschen stampften und schrien. »Mrs. Williams hat ihre Freunde, Verwandten und Mitverschwörer verraten, aber schließlich hat sie sich doch geweigert, den wahren Gott dieser Welt, den auferstandenen Nicolai Carpathia, ihrer Loyalität zu versichern.« Buhrufe erfüllten den 242
Gefängnishof. »Und darum, Mrs. Williams«, sagte Jock und wandte sich zu ihr um, »werden wir jetzt der Gerechtigkeit Genüge tun, es sei denn, Sie ändern Ihre Meinung in diesem Punkt.« Chloe griff nach dem Mikrofon, doch Jock hielt es fest. »Ts, ts, ts!«, zischte er. »Keine letzten Worte für Sie, es sei denn, Sie sind bereit, durch die Annahme des Zeichens hier offen vor allen zu erklären, dass Ihre Loyalität nur dem Führer der Weltgemeinschaft gilt.« Doch sie versuchte auch weiterhin, das Mikrofon in die Hand zu bekommen, und ihre beiden Hände lagen nun an dem Mikrofon. »Werden wir hier Zeuge eines historischen Augenblicks, Leute?«, fragte Jock. »Sie wissen, Mrs. Williams, dass Sie, wenn Sie das Mikrofon nehmen, auch das Zeichen Carpathias annehmen?« Sie ergriff das Mikrofon und Jock wandte sich mit ausgebreiteten Armen an die Menge und stachelte sie zu einem mächtigen Applaus an. »Jock, Sie haben mir gesagt, wenn es an Ihnen läge, würden Sie mich ein paar Worte sagen lassen. Liegt es an Ihnen?« Jock griff nach dem Mikrofon. »Das war nicht die Vereinbarung! Sie können nur sprechen, wenn Sie das Zeichen annehmen.« Caleb tauchte erneut hinter Chloe auf und hob nur einen Finger und winkte ab. Jock erstarrte und fiel mit ausgestrecktem Arm auf den Rücken. Die Menge musste unwillkürlich lachen, während Jock errötete und zu schwitzen begann. Er konnte sich nicht rühren. Chloe wandte sich an die Menge und begann zu sprechen. »Ein berühmter Märtyrer hat einmal gesagt, er würde es bedauern, dass er nur ein Leben für Jesus hingeben könnte. So empfinde ich heute. Als mein Erlöser Jesus Christus am Kreuz hing und für die Sünden der Menschen starb, betete er: ›Vater, ver243
gib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.‹ Was ich persönlich lieber tun würde? Wenn ich wählen könnte? Ich wünschte, ich könnte bis zur Wiederkunft Christi bei meiner Familie, meinen Lieben, meinen Freunden bleiben. Aber das ist nicht mein Schicksal und ich akzeptiere das. Ich möchte meinem Mann und meinem Sohn sagen, dass ich sie sehr liebe. Und ein ewiges Dankeschön an meinen Vater, der mich zu Christus geführt hat. Ein bekannter Missionar, der ebenfalls den Märtyrertod gestorben ist, hat einmal geschrieben: ›Der ist kein Narr, der hergibt, was er doch nicht behalten kann, um damit zu gewinnen, was er nie verlieren kann.‹ Er sprach von seinem Leben auf der Erde und dem ewigen Leben mit Gott. Als Mensch freue ich mich nicht auf den Tod, so wie wir ihn heute bereits 35-mal miterlebt haben. Aber um ehrlich zu sein, kann ich ihn in meinem Geist kaum erwarten. Denn den Körper zurückzulassen, bedeutet, bei Gott zu sein. Und wie Jesus bei seinem eigenen Tod gesagt hat, sage auch ich: ›In deine Hände übergebe ich meinen Geist.‹ Und jetzt: ›Darauf warte und hoffe ich, dass ich in keiner Hinsicht beschämt werde, dass vielmehr Christus in aller Öffentlichkeit – wie immer, so auch jetzt – durch meinen Leib verherrlicht wird, ob ich lebe oder sterbe. Denn für mich ist Christus das Leben, und Sterben Gewinn … Es zieht mich nach beiden Seiten: Ich sehne mich danach, aufzubrechen und bei Christus zu sein – wie viel besser wäre das.‹ Und zu meinen Gefährten, die auf der ganzen Welt die Sache Gottes unterstützen, sage ich: ›Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, 244
auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ›Jesus Christus ist der Herr‹ – zur Ehre Gottes, des Vaters. Dem einen Gott aber, der die Macht hat, euch vor jedem Fehltritt zu bewahren und euch untadelig und voll Freude vor seine Herrlichkeit treten zu lassen, ihm, der uns durch Jesus Christus, unseren Herrn, rettet, gebührt die Herrlichkeit, Hoheit, Macht und Gewalt vor aller Zeit und jetzt und für alle Zeiten.‹ Buck und mein kleiner Sohn, ihr sollt wissen, dass ich euch liebe und dass ich am Osttor auf euch warte.« Chloe bückte sich und legte das Mikrofon auf Jocks reglose Brust. Ohne Eskorte ging sie zur mittleren Guillotine. Als sie niederkniete und ihren Kopf unter das Fallbeil legte, blendete Calebs Schein die Augen der Welt. Chloe hörte nur, wie das Seil gezogen wurde, und vernahm das Fallen der scharfen Klinge des Todes, die zum ewigen Leben führte.
Zwischenspiel Etwa 15 Stunden später taumelte Buck mit blutunterlaufenen Augen, müde und erschöpft aus Rayfords Flugzeug. Er konnte es kaum erwarten, seinen Sohn in die Arme zu schließen. Abdullah war zum Flugplatz gekommen, der außerhalb von Petra lag. Ming hatte ihn zusammen mit dem Jungen begleitet. Buck nahm seinen Sohn auf den Arm und drückte ihn an sich. Seine Tränen liefen über die Wangen des Jungen. Während sie zum Siq zurückfuhren, der nach Petra hineinführte, gab Abdullah über Funk ihre geschätzte Ankunftszeit durch. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, Buck«, sagte er, »aber Dr. Ben-Judah möchte einen Gedenkgottesdienst abhalten, sobald du und Rayford eingetroffen seid.« 245
Buck war überwältigt von der Anteilnahme. Mehrere 100 Menschen hatten sich an der Opferstätte zusammengefunden. Bekannte hatten für Bucks und Chloes engste Freunde Platz gemacht. So schwer es auch war, Buck setzte sich auf einen Stein und nahm die Szenerie in sich auf. Die Arme seines Sohnes lagen noch immer fest um seinen Hals geschlungen. Tsion und Chaim standen in der Mitte und warteten darauf, dass die Menschen ruhig wurden. In einem Halbkreis um sie herum und Buck, Kenny und Rayford zugewandt, standen George und Priscilla Sebastian mit Beth Ann. Ree Woo und Ming Toy hielten sich an der Hand. Und gerade aus Illinois eingetroffen waren Lionel Whalum und seine Frau Felicia zusammen mit Lea Rose und Hannah Palemoon. Buck nickte Zeke zu, der neben Abdullah und Mac stand. Nicht weit davon entfernt saß Chang zusammen mit seiner neuen Freundin Naomi auf einem Stein. Sie schienen sich in der Gesellschaft des jeweils anderen sehr wohl zu fühlen, was, wie Buck bemerkte, auch Naomis Vater Eleazar Tiberias aufzufallen schien. Tsion hob die Hand und bat um Ruhe. Er sprach leise, doch Buck hatte den Eindruck, dass alle ihn über das Rauschen des Wassers hinweg verstehen konnten. »Ich habe heute meine Bibel mitgebracht. Wie ihr sicher verstehen könnt, haben die Ältesten und vor allem Dr. Rosenzweig und ich unablässig in der Bibel, in Bibelkommentaren und Konkordanzen geforscht, um zu verstehen, was in den vergangenen Tagen geschehen ist. Dies sind akademische Versuche, und wenn sie sich auf das Alltagsleben hier auswirken, können sie auch als geistliche Übungen betrachtet werden. Jeden Tag entdecken wir auf jeder Seite die Spuren Gottes, der seinen Willen in unserer Mitte und in dieser Welt tut. Aber heute bringe ich ein Wort Gottes, das nicht nur zu meiner theologischen Bibliothek gehört; es handelt sich vielmehr 246
um einen Text, den ich schon ein paar Jahre vor der Entrükkung zu studieren begonnen habe. Wie ihr alle wisst, hat sich mein Leben drastisch verändert, nachdem ich erkannt hatte, dass Jesus der Messias war, den ich so lange gesucht hatte, und ich erkannte dies nicht nur wegen der Entrückung, sondern auch weil ich mich an die Aufgabe gemacht hatte, die Prophezeiungen über den Messias zu studieren. Dazu musste ich mir ein Exemplar des Neuen Testaments beschaffen, was für mich damals noch mehr als peinlich war. Ich hatte Angst, nicht nur für meine Kollegen, sondern auch für Gott ein Gräuel zu sein. Ich war der Wahrheit bereits auf der Spur, bevor die Entrükkung mir den Beweis lieferte, und schon bald danach wusste ich nicht nur, dass Jesus Christus der wahre Messias ist, sondern hatte es auch für mich in Anspruch genommen. Und auf einmal wurde dieses Buch –«, er hielt es in die Höhe, »zu meinem Lebensbrot. Es war nicht mehr nur ein notwendiges Mittel zur Textforschung, das ich mir mit hochrotem Kopf und voller Entschuldigungen gekauft hatte, sondern mein wertvollster Besitz. Als meine Familie ermordet wurde, klammerte ich mich an dieses Wort Gottes. Es wurde ein körperliches Symbol, ein Talisman, wenn ihr so wollt, für das Wort Gottes, das für mich Jesus bedeutete, der Christus, der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes, das Lamm, das ermordet wurde, um die Sünden der Welt zu tragen. Ich las einmal von einem großen Theologen, dem die Bibel so wertvoll wurde, dass er sie manchmal streichelte, ja, liebkoste wie einen Sohn, eine Tochter oder seine Frau. Das erschien mir seltsam, aber allmählich verstand ich es und konnte es nachempfinden. Ich liebe dieses Buch! Ich liebe dieses Wort! Ich liebe seinen Autor, und ich liebe den Herrn, den es beschreibt. Warum spreche ich heute vom Wort Gottes, wo wir doch mit traurigem Herzen zusammengekommen sind, um uns an zwei liebe Ge247
fährten zu erinnern? Weil sowohl Albie als auch Chloe Menschen des Wortes waren. Oh, wie haben sie Gottes Liebesbrief an uns geliebt! Albie zögerte nicht, allen zu sagen, dass er kein Gelehrter sei, dass er nur ungern las. Er war ein Mann der Straße, kannte sich aus in den Dingen der Welt, war schnell, gerissen und klug. Aber wann immer sich ihm die Gelegenheit bot, das Wort Gottes zu hören, machte er sich Notizen, stellte er Fragen, nahm es in sich auf. Das Wort Gottes wirkte sich auf sein Leben aus. Es hat ihn verändert. Es half ihm, zu dem Mann zu werden, der er an dem Tag war, an dem er gestorben ist. Und Chloe, unsere liebe Schwester und eines der ersten Mitglieder der damals noch so kleinen ›Tribulation Force‹, die heute so stark angewachsen ist. Wer konnte sie kennen und nicht auch ihren Geist, ihren Verstand und ihren Mut lieben? Was für eine Frau und Mutter war sie! Sie war noch so jung und hat doch die Internationale Handelsgesellschaft zu einem Unternehmen ausgebaut, das buchstäblich Millionen von Menschen auf der ganzen Erde am Leben erhalten hat, die sich weigerten, das Zeichen des Antichristen anzunehmen, und deshalb ihr Recht verloren, zu kaufen und zu verkaufen. In verschiedenen Verstecken habe ich in den vergangenen sechs Jahren mit Chloe und ihrer Familie zusammengelebt. Oft fand ich sie in ihre Bibel vertieft. Sie lernte Bibelverse auswendig und sagte sie anderen Menschen weiter. Oft reichte sie mir ihre Bibel und bat mich, sie abzuhören und zu sehen, ob sie die Verse auch wirklich wörtlich auswendig kannte. Und immer wollte sie genau wissen, was die einzelnen Verse bedeuteten. Es reichte ihr nicht, den Text nur zu kennen; sie wollte, dass er in ihrem Herzen, in ihren Gedanken und in ihrem Leben lebendig wurde. Denen, die Chloe am meisten und schmerzlichsten vermissen werden, bis wir sie in der Herrlichkeit wieder sehen werden, gebe ich den Rat, der auch mich nach dem grausamen Tod 248
meiner geliebten Familie davor bewahrt hat, den Verstand zu verlieren: Klammert euch an Gottes unveränderliche Hand. Klammert euch an sein Wort. Verliebt euch ganz neu in das Wort Gottes. Schnappt nach seinen Verheißungen wie ein Welpe, der seine Zähne in euer Hosenbein gräbt und nicht loslassen will. Buck, Kenny, Rayford, wir begreifen es nicht. Wir können es nicht. Wir sind nur menschliche Wesen. In der Bibel steht, dass das Wissen so flüchtig ist wie ein Tag. ›Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt‹ – und, oh, meine Lieben, es kommt –, ›vergeht alles Stückwerk. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind und urteilte wie ein Kind. Als ich ein Mann wurde, legte ich ab, was Kind an mir war. Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.‹ Habt ihr dieses Versprechen gehört? ›Dann aber …‹ Wie können wir uns an diesem ›Dann aber‹ des Wortes Gottes freuen! Das ›Dann‹ kommt, meine lieben Freunde! Das ›Dann‹ kommt!« Tsion setzte sich und schlug die Bibel auf, die auf seinem Schoß lag. »Ich möchte mit den folgenden Versen schließen – wir, die wir nicht wie die Heiden trauern, sondern die wir die Gewissheit haben, dass wir unsere Freunde bald wieder sehen werden. Der Psalmist schreibt: ›Kostbar ist in den Augen des Herrn das Sterben seiner Frommen. Ach Herr, ich bin doch dein Knecht, dein Knecht bin ich, der Sohn deiner Magd. Du hast meine Fesseln gelöst. Ich will dir ein Opfer des Dankes bringen und anrufen den Namen des Herrn. Ich will dem Herrn meine Gelübde erfüllen, offen vor seinem ganzen Volk, in den Vorhöfen am Hause des Herrn in deiner Mitte, Jerusalem. Halleluja! Lobet den Herrn, alle Völker, preist ihn, alle Nationen! Denn 249
mächtig waltet über uns seine Huld, die Treue des Herrn währt in Ewigkeit. Halleluja! Danket dem Herrn, denn er ist gütig, denn seine Huld währt ewig. So soll Israel sagen: denn seine Huld währt ewig.‹«
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15 Sechs Jahre, fünfeinhalb Monate nach Beginn der Trübsalszeit Wenige Tage nach dem Trauergottesdienst waren Ree und Ming in einer kleinen Zeremonie von Tsion getraut worden. Die Beziehung zwischen Chang und Naomi hatte sich weiterentwickelt, doch man riet ihnen, mit ihrer Verlobung bis nach der Wiederkunft Christi zu warten. Über mehrere Monate hinweg hatte Rayford die Tribulation Force neu organisiert. Mac, Abdullah und Ree waren die Hauptpiloten. Lionel Whalum erklärte sich bereit, zusammen mit Ming, Lea und Hannah die Leitung der Handelsgesellschaft zu übernehmen. Chang hatte einen brillanten Plan entwickelt, wie man den Konferenzraum in Bagdad, in dem das Treffen der zehn Regionalpotentaten stattfinden sollte, mit Abhörvorrichtungen ausstatten konnte. Bei seiner täglichen Überprüfung des Hauptcomputers in Neu-Babylon hatte er entdeckt, dass Leon Fortunato sich die Aufzeichnungen über die täglichen Regierungsentscheidungen zur Vervielfältigung und Weiterleitung übermitteln ließ. Der große Durchbruch kam, als Chang erfuhr, dass die Regierung eine Ausschreibung gemacht hatte und ein Unternehmen suchte, das die Halle für das große Ereignis mit Lautsprechern ausstatten und verkabeln konnte. Er erzählte Naomi von seiner Idee. »Brillant«, lobte sie, »und ich denke, Captain Steele wird derselben Meinung sein. Du weihst ihn besser gleich in deine Pläne ein, meinst du nicht?« Spät am Abend bat Chang Rayford ins Computerzentrum. »Folgendes ist mein Plan«, berichtete er. »Ree Woos Identität ist nie gelüftet worden und sein Name ist der Weltgemeinschaft unbekannt. Ich habe ein Dossier über ihn erstellt, laut dem er 251
eine gute technische Ausbildung und eine kleine Elektrofirma in Südkorea besitzt, die ›Woo & Co.‹ heißt.« »Die, wie ich annehme, nicht existiert.« »Natürlich nicht. Wie Sie sehen können, habe ich ihn als loyalen Anhänger mit gutem Ruf aus der Region 30 dargestellt, außerdem gibt es eine Liste mit zufriedenen Kunden. Wenn man diese Kunden überprüft, wird man feststellen, dass ihr Leumund einwandfrei ist. Ich weiß bereits, welche anderen Gebote für diesen Auftrag vorliegen, darum kann ich sie leicht unterbieten und Woo den Job verschaffen.« »Und was dann?« »Ich gebe weiterhin Informationen über ihn ein, zum Beispiel, dass er vorzugsweise mit einer kleinen Mannschaft nachts arbeitet, wo sie keine anderen Geräusche bei ihrer Arbeit stören. Den Konferenzsaal herzurichten und die Zusammenarbeit mit GCNN werden kein Problem darstellen. Das kann ich Ree und Ihnen in wenigen Tagen beibringen. Wir werden doppelt so lange veranschlagen, wie Sie tatsächlich brauchen werden, sodass Sie sich auch mit dem Hauptkonferenzsaal neben der großen Halle beschäftigen können, wo sich, wie wir wissen, Carpathia mit seinem Kabinett und den zehn Regionalpotentaten zusammensetzen wird. In diesem Raum die Wanzen anzubringen ist schwieriger, aber auch das ist zu bewerkstelligen. Ich würde ja zu gern mitkommen, aber es würde zu lange dauern, eine Verkleidung für mich zu erfinden. Ich habe einfach zu lange mit den Leuten zusammengearbeitet. Darum schlage ich vor, dass ich Buck und George zeige, wie sie den Raum verwanzen können, und während Sie und Ree Verkabelung und Beschallung des Hauptsaals übernehmen, können sie sich in den Konferenzraum schleichen und sich die anderen Arbeiten vornehmen.« »Ree ist der Einzige, der tatsächlich wie ein Koreaner aussieht, Chang. Wir anderen sind zu groß.« 252
»Das ist leicht. Die ganze Mannschaft muss sowieso vorher überprüft werden; ich kann die Nationalitäten und das Aussehen, das Zeke sich ausdenkt, in den Zentralrechner eingeben und genehmigen lassen. Allerdings werde ich Mr. Woo erklären müssen, dass er mit seiner internationalen Mannschaft eine hervorragende Arbeit wird leisten müssen.« »Die Idee gefällt mir, Chang. Ich werde dafür sorgen, dass alle mitmachen, vor allem Zeke. Er wird für uns eine einheitliche Firmenbekleidung entwerfen müssen und dafür sorgen, dass die Verkleidungen und Dokumente in Ordnung sind.« Die Vorarbeiten verliefen ohne Zwischenfall. Zeke hatte George und Rayford sehr viel älter gemacht. Buck wurde zu einem rotgesichtigen Australier. Alle begriffen sehr schnell die grundlegenden elektronischen Fakten. Buck fiel das Lernen besonders leicht, weil er seinen ganzen Eifer auf das neue Projekt konzentrierte. Es schien nur eine kurze Pause zu sein, aber rückblickend erschien sie Rayford sehr wichtig. Die einzige Vertreterin des Kabinetts der Weltgemeinschaft, die »Woo & Co.« den Auftrag für die Beschallung des Konferenzsaals erteilte, war noch nicht bei der Weltgemeinschaft angestellt gewesen, als Rayford und Buck für Carpathia gearbeitet hatten. Sie zeigte überhaupt kein Misstrauen, dennoch beruhigte es ihn, dass sie es mit einer Fremden zu tun hatten. Der Rest der Regierung hielt sich noch immer in Al Hillah auf. Die Frau ließ verlauten, sobald der Konferenzsaal für das große Treffen in ein paar Wochen hergerichtet sei, werde die Regierung dorthin umziehen, um sich darauf vorzubereiten. Rayford war von Rees Fähigkeit zu bluffen beeindruckt. Von Chang hatte er die notwendigen technischen Begriffe gelernt, und wenn die Frau in der Nähe war, warf er damit nur so um sich. Sie blieb nie lange, und da Woo und seine Mannschaft Namensschilder trugen und tief in die Stirn gezogene Kappen 253
mit dem Firmenlogo, wurden sie niemals genau überprüft. Die Arbeit ging gut voran. Lionel hatte Chang das nötige Zubehör beschafft, und die Männer verkabelten die Räume mit allem, was nötig war, um von jeder Station am großen Konferenztisch aus senden zu können. Auch wurden Video-Transmitter in der Hälfte der Lampen angebracht. Ree Woo und seine Gefährten brachten den Auftrag vor der festgesetzten Frist zu Ende und der ausstehende Betrag wurde elektronisch überwiesen. »Jetzt stehen wir wieder auf Carpathias Lohnliste«, sagte Chang zu Rayford. Carpathias Kabinett zog von Al Hillah in das geräumige Quartier neben dem Konferenzsaal in Bagdad um und innerhalb von nur wenigen Tagen würden nun auch die Oberhäupter der zehn Regionen der Welt eintreffen. Eines Abends sagte Rayford zu Buck: »Carpathia hat sich schon seit Monaten nicht mehr direkt an die Weltbevölkerung gewandt. Jetzt werden wir wenigstens wissen, was in seinem Kopf vorgeht.« Seit in Neu-Babylon die Lichter ausgegangen waren, hatte Carpathia sich zurückgehalten. Die Regierung befand sich im Chaos und viele seiner Angestellten waren gestorben. Der Potentat schien nichts anderes getan zu haben, als die massiven Truppenbewegungen und Verstärkungen in Israel zu überwachen. Rayford nahm an, dass Carpathia seine Unfähigkeit, etwas gegen diese neueste Plage zu unternehmen, peinlich war. »In solchen Situationen ist er besonders gefährlich, oder?«, entgegnete Buck. »Wenn er Zeit hat, zu denken und zu planen. Dann kann man damit rechnen, dass er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht hat.« Carpathia deutete dieses »Etwas« an, als Chang zum ersten Mal in den Konferenzsaal schaltete. Nicolai saß mit seinen 254
engsten Mitarbeitern zusammen, und Chang beschloss, das Gespräch für Rayford aufzuzeichnen. »Ich habe Neuigkeiten«, sagte der Potentat. »Und es ist etwas so Dynamisches und Herrliches, dass ich es kaum erwarten kann, es Ihnen mitzuteilen. Aber ich muss noch warten. Sie werden sich gedulden müssen, bis unsere Kollegen aus der ganzen Welt eingetroffen sind. Ich möchte Ihnen allen drei Leute vorstellen, drei Personen, die uns helfen werden, unser Ziel zu erreichen.« »Woher kommen sie, Exzellenz?«, fragte Viv Ivins. »Das bleibt für den Augenblick ebenfalls ein Geheimnis.« »Oh, Euer Herrlichkeit, warum müssen Sie mit unserer Neugier spielen?«, fragte Leon. »Seien Sie froh, dass ich nur mit Ihnen spiele, mein Freund. Die Rebellentruppen werden den Tag bereuen, an dem sie auch nur im Traum daran gedacht haben, sich mir zu widersetzen.« Rayford wollte sich gerade schlafen legen, als man ihm mitteilte, Tsion wolle ihn sehen. »Er ist bereit, in Ihre Unterkunft zu kommen«, richtete man ihm aus. »Oh nein, ich komme gern zu ihm.« Als Rayford eintraf, begann Tsion sogleich: »Bevor ich zu meiner Bitte komme, sollen Sie wissen, dass ich Ihnen zur Verfügung stehe. Die Ältesten und ich sind uns vollkommen darüber im Klaren, dass Sie, wenn Sie sich in Petra aufhalten, der Leiter der ›Tribulation Force‹ sind, und ich bin nur, wie soll ich es ausdrücken, der geistliche Leiter.« »Ich bin sehr froh, dass Sie dieses Thema angesprochen haben, Tsion, denn ich wollte schon lange mit Ihnen über Ihre Haltung mir gegenüber sprechen. Das ist mir unangenehm. Ich betrachte Petra nicht als das Hauptquartier der ›Tribulation Force‹. Sicher, ich habe das Gefühl, dass Gott mich mit der Leitung beauftragt hat, aber ganz offensichtlich hat er Ihnen die Füh255
rung des Volkes Israel übertragen, das aus mehr als einer Million Menschen besteht. Sie sollten nicht das Gefühl haben, mir verantwortlich zu sein. Sie haben Ihre Ältesten und Ihren Kollegen Chaim, und wie immer der Herr Sie führt, ist in meinen Augen richtig. Ich beuge mich dem.« »Ich weiß Ihr Vertrauen zu schätzen, Captain Steele. Aber Sie dürfen Ihre Führungsverantwortung nicht herunterspielen. Ich wollte Sie gerade nach Ihrer Meinung zu meiner nächsten Auslegung fragen, die über das Fernsehen an die ganze Welt gehen soll.« Rayford war verwirrt. »Ihre Auslegungen werden doch täglich über das Internet verbreitet, oder?« »Natürlich. Aber gelegentlich legt Gott mir eine Botschaft aufs Herz, durch die er, wie ich glaube, zu Gläubigen und Ungläubigen sprechen möchte. Ich weiß zwar, dass die Website von allen aufgerufen werden kann und auch von vielen Ungläubigen gelesen wird, doch wenn wir noch einmal in der Lage wären, uns ein wenig Sendezeit zu stehlen und global zu senden, wäre ich sehr dankbar. Ich denke, Gott hat mir eine Botschaft gegeben, die sogar der Gott dieser Welt und seine Lakaien hören sollten. Wenn die Wahrheit Gottes über das von Carpathia kontrollierte Fernsehen zu den Menschen kommt, nun, dann ist das so, als würde man das Evangelium in die Tiefe der Hölle tragen.« »›Und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen‹«, zitierte Rayford. »Ausgezeichnet. Also, was meinen Sie? Schaffen wir das und wann?« »Erstens, Tsion, brauchen Sie dazu meine Erlaubnis nicht.« »Betrachten Sie es als Information.« »Das ist in Ordnung. Aber Sie wissen ja, dass wir die besten Techniker der Welt hier haben, und damit meine ich nicht nur Chang. Er ist der allerbeste, aber Naomi kommt gleich nach ihm. Die beiden sind als Team unschlagbar. Sie arbeiten ge256
nauso für Sie wie für mich, also, wann immer Sie etwas tun möchten, sagen Sie einfach Bescheid.« »Sie halten sehr viel von den beiden, Rayford. Und ich auch. Ich würde es jedoch vorziehen, diese ganze Sache mit Ihnen abzuwickeln.« »Wie Sie möchten. Ich sage nur, Tsion, egal, wann wir dies tun, es ist Piraterie. Es ist illegal.« »Haben Sie ein Problem damit?« »Überhaupt nicht. Nicht das geringste. Wir befinden uns im Krieg, und ich bin bereit, jedes Mittel einzusetzen, um einen Vorteil zu erlangen. Ich meine nur, dass dies nicht geplant werden muss. Chang hat sein System so aufgebaut, dass er nur einen Hebel umzulegen braucht. Wenn sie auf Sendung sind, können auch wir senden. Sagen Sie, wann, dann wird es geschehen.« »Also gut, ich denke, wir sollten das zu einer guten Sendezeit machen, wenn die meisten Menschen zusehen. Vielleicht während irgendeiner offiziellen Verlautbarung Carpathias oder während einer der beliebtesten Sendungen.« »Und die kennen Sie ja.« »Erinnern Sie mich nicht daran. Ich denke, das eine ist so gut wie das andere. Wie wäre es mit morgen Mittag unserer Zeit?« »Betrachten Sie es als erledigt.« »Alle sollen nach Möglichkeit daran teilnehmen, da ein LivePublikum mich inspiriert.« »Eine Million Menschen? Ich kann mir nicht vorstellen, warum. Wir werden die Kameras aufstellen. Chang wird bereit sein.« Am folgenden Tag war Tsion ungewöhnlich nervös. In Petra hielten sich viele Neuankömmlinge auf, und er wusste nie genau, wie das Publikum reagieren würde. Die Ältesten hatten für ihn gebetet und ihm Mut gemacht. Als er vortrat, um seine Rede zu halten und Chang ihm per Handzeichen mitgeteilt hatte, 257
dass er auf Sendung war, brachen die Zuschauer in Petra in Jubel aus. Es war genau, wie Tsion befürchtet hatte, und obwohl er um Ruhe bat und versuchte, ihnen deutlich zu machen, dass Gott allein die Ehre zukommen sollte, wollten die Menschen sich nicht beruhigen lassen. Rayford hatte offensichtlich bemerkt, wie unangenehm berührt Tsion war, denn er eilte zum Rabbi und flüsterte ihm zu: »Die Menschen lieben Sie und danken Ihnen, Tsion! Sie sind so dankbar, weil Sie ihnen so viel bedeuten. Nehmen Sie das einfach an, dann werden sie schon zur Ruhe kommen.« »Aber, Captain Steele! In Jesaja, Kapitel 42, Vers 8 spricht Gott doch unmissverständlich! Da steht: ›Ich bin Jahwe, das ist mein Name; ich überlasse die Ehre, die mir gebührt, keinem andern.‹« »Und ich versuche nur, Ihnen zu erklären, dass diese Menschen Sie nicht glorifizieren wollen. Sie möchten Ihnen nur danken, dass Sie sie auf ihn hingewiesen haben.« Aber Tsion konnte den Jubel der Menge nicht entgegennehmen, so sehr er Rayfords Worten auch glauben wollte. Im Augenblick wünschte er sich, dass sich die Erde unter ihm auftun und ihn verschlucken würde. Mit hängendem Kopf stand er da und starrte mehrere Minuten lang zu Boden, bis die Menschen des Jubelns müde wurden. Nachdem die Schaltung vorgenommen worden war, hatte Chang sich wieder ins Computerzentrum zurückgezogen. Es machte ihm Spaß zu hören, welches Chaos diese Schaltung in Bagdad verursacht hatte. »Was ist da los?«, rief jemand. »Wie konnte das passieren? Es ist unmöglich!« Ein anderer ordnete an, alle Sendestationen abzuschalten. »Das geht nicht«, lautete die Antwort. »Alle unsere Systeme sind überrollt worden.« 258
Und so waren es nicht nur die eine Million Menschen in Petra, die an diesem Tag die Nachricht Gottes durch Tsion hörten. Es waren die Menschen auf der ganzen Welt. »Gott hat mir eine Botschaft gegeben, die ich, wie ich glaube, an euch weitergeben soll«, begann Tsion. »Ich werde sie nicht beschönigen oder verharmlosen, denn wir befinden uns in der gefährlichsten Zeit in der Geschichte der Menschheit. Das Leben, so wie wir es kennen, wird noch etwa sechs Monate so weitergehen. Die Schlacht aller Zeiten, die seit Anbeginn der Zeit wütet, wird bald ihren Höhepunkt erreichen. Der böse Herrscher dieser Welt, der Antichrist, lässt seinen Zorn und seine Rache vorwiegend an Gottes erwähltem Volk aus. Auf der ganzen Welt werden unschuldige Männer und Frauen gefoltert. Ihr Verbrechen? Sie sind Juden. Einige glauben an Jesus als den Messias, viele glauben dies nicht. Trotzdem weigern sie sich, das Loyalitätszeichen Nicolai Carpathias anzunehmen, und er lässt sie Tag für Tag dafür bezahlen. Viele haben die Berichte darüber gesehen und wissen, mit welcher Genugtuung der Böse die Durchführung seines Planes verfolgt. Vor vielen Jahren begann ich die Wahrheit des Wortes Gottes aufzuzeigen, indem ich Ihnen im Voraus von den zu erwartenden Gerichten und Plagen erzählte, Dinge, die unzweifelhaft vor Hunderten, ja Tausenden von Jahren im Wort Gottes vorhergesagt wurden. Wir sahen die Erfüllung der Prophezeiung von dem Reiter auf dem weißen Pferd, der Frieden versprach, aber ein Schwert brachte. Darauf folgte das rote Pferd, der Dritte Weltkrieg. Danach kam das schwarze Pferd der Hungersnot, dann das fahle Pferd des Todes. Als Nächstes erlebten wir den Märtyrertod vieler Heiligen vor dem großen Erdbeben, dem großen Zorn des Lammes. Diese sechs Gerichte sind in der Bibel vorhergesagt und das siebte leitete die nächsten sieben ein. Hagel und Feuer regneten auf die Erde hinab. Dann fielen brennende Berge ins Meer. 259
Wermut vergiftete das Wasser, und Sonne, Mond und Sterne verloren ein Drittel ihrer Leuchtkraft. Dämonische Heuschrekken griffen die Menschen an, die nicht von Gott versiegelt waren, und dann wurden wir von einer 200 Millionen starken Armee dämonischer Reiter geplagt, die einen großen Teil der Bevölkerung getötet haben. Das 14. Gericht leitete die letzten sieben ein, von denen wir fünf bereits erlebt haben. Millionen litten an Geschwüren, dann wurde das Meer zu Blut, danach die Flüsse. Die Sonne hat die Menschen in Flammen aufgehen lassen und ein Drittel des Grüns der Erde versengt. Für die Dunkelheit, die sich über Neu-Babylon gelegt hat, wurden vermeintlich vernünftige Erklärungen gefunden. Doch niemand kann begründen, warum die Menschen sich vor Schmerzen auf die Zunge beißen. Ich sage euch, nichts in der Bibel weist daraufhin, dass diese Dunkelheit vor dem Ende aufhören wird. Darum hat der Herrscher dieser Welt sein Königreich verlegt. Er denkt vielleicht, der Tag würde kommen, an dem er und seine Anhänger wieder dorthin zurückkehren könnten, aber ich sage, dies wird nie geschehen. Zwei Gerichte werden noch vor der Wiederkunft unseres Herrn und Heilands Jesus Christus über die Erde kommen. Hört auf mich! Der Euphrat wird austrocknen! Heute mögt ihr darüber lachen, aber ihr werdet euch wundern, wenn es geschieht, und daran denken, dass es vorhergesagt wurde. Das letzte Gericht wird ein Erdbeben sein, das den gesamten Globus dem Erdboden gleichmachen wird. Dieses Gericht wird Hagelkörner bringen, die so groß sind, dass Millionen von Menschen ums Leben kommen. Tag für Tag werde ich gefragt, wie Menschen alle diese Dinge sehen können und sich trotzdem für den Antichristen entscheiden anstatt für Christus. Das ist schon immer ein Rätsel gewesen. Für viele von euch ist es bereits zu spät. Ihr könnt eure Meinung nicht mehr ändern. Ihr werdet jetzt vielleicht erkennen, dass ihr euch in diesem Krieg für die falsche Seite 260
entschieden habt. Aber wenn ihr dem Feind Gottes eure Treue geschworen habt, indem ihr sein Loyalitätszeichen angenommen habt, dann ist es zu spät für euch. Wenn ihr das Zeichen noch nicht angenommen habt, könnte es trotzdem zu spät für euch sein, weil ihr zu lange gezögert habt. Ihr habt die Geduld Gottes auf eine zu harte Probe gestellt. Aber es gibt viele Menschen, die noch eine Chance haben. Betet zu Christus, sagt Gott, dass ihr Sünder und getrennt von ihm seid und dass ihr erkennt, dass eure einzige Hoffnung im Blut Christi liegt, das er am Kreuz für euch vergossen hat. Denkt daran: Wenn ihr euch nicht Christus zuwendet und vor dem kommenden Gericht bewahrt werdet, wird das Schreckliche, das im Augenblick auf der Erde geschieht, das Beste sein, was ihr in eurem Leben noch zu erwarten habt. Wenn ihr euch aber Christus zuwendet und euer Herz noch nicht verhärtet wurde, ist diese Welt das Schlimmste, was ihr für den Rest der Ewigkeit erlebt habt. Diejenigen von euch, die bereits meine Brüder und Schwestern in Christus sind, fordere ich auf, treu zu sein bis zum Tod, denn Jesus selbst hat gesagt: ›Fürchte dich nicht vor dem, was du noch erleiden musst. Der Teufel wird einige von euch ins Gefängnis werfen, um euch auf die Probe zu stellen … Sei getreu bis in den Tod; dann werde ich dir den Kranz des Lebens geben.‹ Was für eine Verheißung! Christus selbst wird euch die Krone des Lebens geben. Es wird eine große Freude für uns sein, Jesus wiederkommen zu sehen, aber was für ein Vorrecht ist es, für ihn zu sterben. Die gute Nachricht lautet: Ich glaube, dass der Feind, ob er es nun zugibt oder nicht, weiß, dass seine Zeit begrenzt ist. Auch das wurde vorhergesagt. In Offenbarung, Kapitel 12, Vers 12 heißt es: ›Darum jubelt, ihr Himmel und alle, die darin wohnen. Weh aber euch, Land und Meer! Denn der Teufel ist zu 261
euch herabgekommen; seine Wut ist groß, weil er weiß, dass ihm nur noch eine kurze Frist bleibt.‹ Wenn ihr an meinen Worten zweifelt, dann denkt daran, dass alles, was dieser Mann getan hat, vorhergesagt wurde. In Offenbarung, Kapitel 13, Verse 5 bis 8 heißt es: ›Und es wurde ermächtigt, mit seinem Maul anmaßende Worte und Lästerungen auszusprechen; es wurde ihm Macht gegeben, dies zweiundvierzig Monate zu tun. Das Tier öffnete sein Maul, um Gott und seinen Namen zu lästern, seine Wohnung und alle, die im Himmel wohnen. Und es wurde ihm erlaubt, mit den Heiligen zu kämpfen und sie zu besiegen. Es wurde ihm auch Macht gegeben über alle Stämme, Völker, Sprachen und Nationen. Alle Bewohner der Erde fallen nieder vor ihm: alle, deren Name nicht seit der Erschaffung der Welt eingetragen sind ins Lebensbuch des Lammes, das geschlachtet wurde.‹ Euer Name kann in das Lebensbuch des Lammes eingetragen werden! Das ist die gute Nachricht. Aber jetzt muss ich euch auch die schlechte Nachricht sagen. Der Zorn des Bösen wird von jetzt an bis zum Ende ein ungeahntes Ausmaß annehmen. Mit zunehmender Stärke wird er fordern, dass alle Menschen ihn anbeten und sein Zeichen annehmen. Für euch, die ihr meinen Glauben teilt und bereit seid, treu zu sein bis zum Tod, denkt an die Verheißung im JakobusBrief, Kapitel 5, Vers 8, wo davon die Rede ist, dass die Ankunft des Herrn nahe bevorsteht. Liebe Brüder und Schwestern, gebt euren Glauben weiter, und lebt euer Leben so, dass andere Christus im Glauben annehmen können und gerettet werden. Denkt daran, meine Freunde. Ihr könnt beten, um diejenigen, die die Wahrheit noch nicht gehört haben, auf ihn aufmerksam zu machen. Ihr könntet derjenige sein, der den letzten Menschen zu Christus führt. Im 2. Petrusbrief, Kapitel 3, Verse 10 bis 14 heißt es: ›Der Tag des Herrn wird aber kommen wie ein Dieb. Dann wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt 262
und aufgelöst, die Erde und alles, was auf ihr ist, werden (nicht mehr) gefunden. Wenn sich das alles in dieser Weise auflöst: wie heilig und fromm müsst ihr dann leben, den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen! An jenem Tag wird sich der Himmel im Feuer auflösen und die Elemente werden im Brand zerschmelzen. Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt. Weil ihr das erwartet, liebe Brüder, bemüht euch darum, von ihm ohne Makel und Fehler und in Frieden angetroffen zu werden.‹ Ich fordere euch auf, unserem Herrn und Erlöser nachzueifern und mit ihm zu sagen: ›Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?‹ Einige haben zu Recht gefragt, wie ein liebender und gnädiger Gott solche schrecklichen Plagen und Gerichte über die Erde kommen lassen kann. Doch ich frage euch: Was sonst hätte er nach so vielen tausend Jahren tun können, um die Menschen aus ihrer falschen Sicherheit aufzurütteln, damit sie bei ihm Erbarmen und Vergebung suchen? Denkt daran, wie gnädig er gewesen ist. Er hat seine Gemeinde vor dem Beginn der Trübsalszeit zu sich geholt. Er hat zwei übernatürliche Zeugen geschickt, die in Jerusalem über seine Liebe gepredigt haben. Er goss seinen Heiligen Geist in Macht aus, wie er es durch den Propheten Joel versprochen hat, um die Menschheit von der Notwendigkeit zu überzeugen, zum Glauben an Christus zu kommen. Er hat 144 000 jüdische Evangelisten versiegelt, die in die ganze Welt ausgezogen sind und eine ›große Menge, die niemand zählen kann‹ mit dem erlösenden Wissen über den Sohn Gottes erreicht haben. Er hat drei Engel des Erbarmens geschickt, um den Menschen zu helfen, ihre Entscheidung für Christus zu treffen. Und er hat versprochen, die Menschen auf übernatürliche Weise zu warnen, bevor er Babylon zerstört. 263
Vor allem lässt Gott es in seiner Gnade noch immer zu, dass die Menschen eine eigene Entscheidung über ihr ewiges Schicksal treffen. Sie können sich für Jesus Christus als Herrn und Erlöser entscheiden oder dem Satan glauben. Die wundervollste Nachricht, die ich euch heute weitergeben kann, ist, dass Gott uns die Möglichkeit gegeben hat, die hervorragenden Köpfe und das Wunder der Technologie zu nutzen, mit denen er uns hier gesegnet hat. Jeder, der mit uns über das Internet in Verbindung tritt, wird eine persönliche Antwort bekommen und alles erfahren, was er wissen muss, um eine Entscheidung für Christus zu treffen. Ja, ich weiß, dass der Herrscher dieser Welt sogar den Besuch unserer Website für ungesetzlich erklärt hat, aber wir können euch versichern, dass sie sicher ist und dass euer Besuch nicht zurückverfolgt werden kann. Wir verfügen über Tausende von Seelsorgern, die bereitstehen, euch über das Internet Fragen zu beantworten. Wir verfügen ebenfalls über eine Rettungsmannschaft, die euch hierher holen kann, solltet ihr um Christi willen verfolgt werden. Dies ist eine gefährliche Zeit und viele werden getötet werden. Viele unserer Lieben haben ihr Leben bei der Ausübung ihres Glaubens bereits verloren. Aber wir werden tun, was wir können, um bis zum Ende für das zu kämpfen, was richtig ist. Denn am Ende werden wir siegen und bei Jesus sein.« Gegen Ende von Tsions Predigt drängte Rayford sich durch die Menge zum Computerzentrum. Er stellte sich hinter Chang und beobachtete, wie der junge Mann lachte und die Frustrationen aus Bagdad und bei den verschiedenen Sendestationen auf der Welt mitverfolgte. Als Chang Rayford bemerkte, sagte er: »Hier, hören Sie sich das an.« Er spielte eine Sitzung ein, die er im Konferenzraum aufgenommen hatte und in der Carpathia wissen wollte, wen er wegen der Fernsehkatastrophe feuern oder töten sollte. 264
»Wo steckt Figueroa?« »Seit wir Neu-Babylon verlassen haben, wurde er nicht mehr gesehen, Exzellenz.« »Was ist mit seinen Leuten? Dieser junge Asiate. Der Skandinavier.« »Über den Verbleib des Asiaten ist nichts bekannt. Der Skandinavier ist an der Hitze gestorben, wissen Sie nicht mehr?« »Ich kann nicht jeden im Gedächtnis behalten, der an einer dieser Plagen gestorben ist. Wer leitet den Fernsehsender im Augenblick?« »Die Verantwortung wurde auf die Tochtergesellschaften verteilt. In Neu-Babylon geht im Augenblick nichts mehr.« »Das weiß ich, Leon! Ich möchte, dass jemand dem ein Ende setzt. Was sollen denn die Leute denken?« Fortunato räusperte sich. »Ich bitte um Vergebung, Hoheit, aber sie werden sich fragen, was viele aus dem Kabinett sich auch fragen. Sie fragen: ›Was ist mit der Tatsache, dass so viele dieser Plagen, die wir durchlitten haben, vorhergesagt worden sind? Ist vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit an der Sache? Wer ist Carpathia überhaupt?‹« »Sie wollen wissen, wer Carpathia ist?«, fragte Nicolai und hob seine Stimme. »Mein eigenes Kabinett?« »Ja, Sir.« »Und was ist mit Ihnen, Leon? Wer bin ich Ihrer Meinung nach?« »Ich weiß, wer Sie sind, Sir, und ich bete Sie an.« »Wollen Sie etwa andeuten, dass es in meinem inneren Kreis Menschen gibt, die dies nicht tun?« »Ich sage Ihnen nur, was ich höre, Majestät.« »Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir es ihnen klar machen, Leon. Vielleicht ist es an der Zeit, dass sie erfahren, wer ich bin, wenn sie das wirklich noch nicht wissen.«
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Chang wusste, dass er nicht würde schlafen können. Er und Naomi waren unterwegs zu ihrer Unterkunft. Je näher sie kamen, desto mehr verlangsamten sich ihre Schritte. »In was für einer unglaublichen Zeit wir leben«, bemerkte er. »Wirklich?«, fragte sie. »Wenn ich wählen könnte, würde ich sagen, dass es mir lieber wäre, ich hätte Jesus früher kennen gelernt und wäre bei der Entrückung mit ihm gegangen.« »Nun, wenn wir die Wahl gehabt hätten.« »Wir hatten sie.« »Ja.« »Eigentlich denke ich, dass die schönste Zeit nach der Wiederkunft Christi sein wird. Ich werde nicht nur mit Jesus in einer Friedenszeit auf der Erde leben, ich werde auch mit dir 1000 Jahre lang leben.« Dieser Gedanke überwältigte Chang. Er blieb stehen und nahm ihre Hände. »Ich frage mich, wie ich wohl aussehen werde, wenn ich 1020 Jahre alt bin«, sagte er. »Ein faltiger kleiner Chinese, schätze ich.« »Für mich wirst du trotzdem schön sein. Und ich werde eine alte Jüdin mit einem Haufen Kinder im Alter zwischen 500 und neunhundertundnochwas Jahren sein.« Er nahm ihr Gesicht in die Hände. »Ich bin so dankbar, dass ich dich gefunden habe.« Buck lag auf seiner Pritsche. Seine Arme taten ihm weh vom langen Bibellesen. Er beschäftigte sich intensiv mit allen Stellen über die bevorstehende Schlacht. Rayford hatte ihm versprochen, er werde nach Jerusalem reisen können, und zuerst war er enttäuscht, weil er dachte, die ganze Aktion werde außerhalb von Petra oder im Jesreel-Tal stattfinden. Aber nach dem, was er nun gelesen hatte, waren die Armeen der Welt dort nur stationiert. Ein großer Teil der Schlacht würde in Jerusalem ausgetragen werden. Und es gab keinen Ort der Erde, an dem er lieber wäre. 266
16 Rayford war erstaunt, dass sich die Lage tatsächlich noch verschlechtern konnte. Als er dachte, Carpathia könnte durch nichts mehr seine üblen Machenschaften steigern, kamen Berichte herein, die deutlich machten, dass Carpathia überall in der Welt noch einen draufgesetzt hatte. Es gab mehr Verfolgungen, mehr Folterungen, mehr Hinrichtungen. Tsions Aufruf an die Menschen, sich über das Internet mit den Seelsorgern in Petra in Verbindung zu setzen, hatte eine überwältigende Reaktion zur Folge. In der Folge bildeten deshalb die Ältesten noch mehr Seelsorger aus und Naomi und Chang brachten noch mehr Menschen den Umgang mit den Computern bei. Tsion hatte schon immer gepredigt, dass die Welt sich auf Harmagedon zubewegte, aber noch nie hatte Rayford dies so persönlich empfunden. Er begann sich richtig auf die Begegnung mit seinem Erlöser und die Wiedervereinigung mit seiner Familie und seinen Freunden zu freuen. Aber es gab noch viel zu tun. Mac, Abdullah und Ree organisierten auf der ganzen Welt Piloten, die im großen Stil Menschen mit ihren Flugzeugen nach Petra brachten. An manchen Tagen fragte sich Rayford, ob sie den Anforderungen auch nur annähernd gewachsen waren. Die einzige Voraussetzung für einen Freiflug in die Sicherheit war das Zeichen des Gläubigen. Man ging davon aus, dass jeder Mensch ohne das Zeichen Carpathias verfolgt oder hingerichtet werden würde. Besonders erstaunlich fand Rayford, dass das Ende der seltsamen Voraussage in Offenbarung 16, Verse 10 bis 11 sich vor den Augen der Anhänger Carpathias in der ganzen Welt erfüllt hatte: »Da kam Finsternis über das Reich des Tieres und die Menschen zerbissen sich vor Angst und Schmerz die Zunge. Dennoch verfluchten sie den Gott des Himmels wegen ihrer Schmerzen und ihrer Geschwüre; und sie ließen nicht ab von 267
ihrem Treiben.« Wie konnte es sein, fragte sich Rayford, dass alle diese Plagen und Gerichte über die Erde kommen konnten und doch die Mehrheit der Menschen ihr Leben nicht änderte? Chang hatte gnädigerweise die Kontrolle über das internationale Fernsehen an die Weltgemeinschaft zurückgegeben. Und aus Carpathias öffentlichen Ankündigungen ging hervor, dass dieser sich die Leistung zuschrieb. »Wenn er das nächste Mal so etwas sagt«, meinte Chang zu Rayford, »werde ich sofort diesen Werbetrailer einblenden, den wir uns in der vergangenen Woche ausgedacht haben.« Es handelte sich dabei um eine besonders ausdrucksstarke Aufnahme aus Tsions letzter Fernsehrede und eingeblendet wurde der Satz: »Ankündigungen von Ihrem Potentaten werden nur mit freundlicher Erlaubnis von Tsion Ben-Judah und seinen Freunden in Petra zugelassen.« Über mehrere Tage hinweg hatte Chang die Wanzen getestet, die Buck und George in dem privaten Konferenzraum in Bagdad angebracht hatten. Es gelang ihm, Video und Audio zu koordinieren, und er konnte auf jeden Redner schalten und sogar Carpathia folgen, wenn dieser sich am Tischende bewegte. Die Ankunft der zehn Regionalpotentaten aus der ganzen Welt wurde von GCNN übertragen, und Buck konnte sich nicht erinnern, je einen solchen Pomp und Aufwand erlebt zu haben, seit Carpathia in Jerusalem die Kreuzstationen verspottet hatte. Paraden, Musikkapellen, Lichtshows, Tanzmädchen, Ankündigungen und Proklamationen. Die Straßen gesäumt von jubelnden Menschen, während die Repräsentanten der verschiedenen Regionen ihrem Potentaten voranschritten. Schließlich wurden die Würdenträger und ein paar tausend Anhänger, die das Glück gehabt hatten, Karten zu bekommen, in den großen Konferenzsaal geführt, wo Carpathia ihnen ein 268
aufregendes neues Kapitel in der Weltgeschichte in Aussicht gestellt hatte. Leon Fortunato, dem allerhöchsten Geistlichen des Carpathianismus, wurde die Aufgabe zuteil, die königlichen Gäste willkommen zu heißen. Er hatte seine volle Amtstracht angelegt. Seinen Kopf schmückte ein randloser Fes aus kardinalrotem Fell mit einem flachen Abschluss, verziert mit einer Quaste aus Gold- und Silberfäden mit kleinen Spiegelstückchen, die die Scheinwerfer reflektierten. Er trug ein neues Gewand aus dunkelrotem und schillerndem gelben Stoff mit jeweils sechs Streifen Brokat auf jedem Ärmel. Fortunatos Worte klangen in den Ohren der Tribulation Force so kriecherisch und schleimig, dass allen außer dem Antichrist vor Verlegenheit übel wurde. Carpathia stand in vorgetäuschter Demut daneben und unterdrückte nur mit Mühe ein Grinsen. Er sonnte sich in der Anbetung seiner Speichellecker. »Danke, danke euch allen«, sagte Carpathia schließlich mit ausgestreckten Armen. »Ihr seid so freundlich zu eurem demütigen Diener, der in eine Verantwortung gestellt wurde, wie er sie sich nie erträumt hätte, um dann durch einen Funken des Göttlichen zu entdecken, dass er wahrhaftig Gott war – bis zu dem Punkt, dass er sich selbst von den Toten auferweckt hat. Und doch habt ihr – ja, jeder Einzelne von euch – mir meine Aufgabe leichter gemacht, trotz der niederdrückenden Opposition und der Widerstände auf jeder Seite. Jede Region wurde von dynamischen Subpotentaten regiert, die sich in Krisenzeiten zusammengetan und dazu beigetragen haben, aus unserer zänkischen Welt eine wahrhaftige Weltgemeinschaft zu machen.« Immer wieder wurde Carpathia von tumultartigem Applaus unterbrochen und jedes Mal sonnte er sich darin. »Dies«, fuhr er fort, »ist der vielleicht geschichtsträchtigste Augenblick in der Geschichte unserer Welt. Trotz der Dezimierung unserer Bevölkerung – und unserer Regierung – durch 269
zahlreiche Plagen und den ›Gerichten vom Himmel‹, wie unsere Feinde sie nennen, habe ich die obersten Führer aus jeder Ecke dieser Erde zusammengerufen. Morgen werde ich in einem privaten Gespräch meinen wunderbaren, wahrhaft inspirierten Plan vorstellen, der uns dabei unterstützen wird, ein für alle Mal unseren Traum von wahrer weltweiter Harmonie Wirklichkeit werden zu lassen. Unsere Widersacher haben reichlich Gelegenheit gehabt, ihren Irrtum zu erkennen und sich unserer internationalen Familie anzuschließen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie unsere Ziele einfach missverstanden und die Vorteile nicht erkannt haben, die ihnen ein Schulterschluss mit uns bringen würde. Stellen Sie sich nur vor, was wir erreichen könnten, wenn alle mitmachen würden! Nun, dieser Tag wird bald anbrechen, meine Freunde. Wir werden gemeinsam unsere Feinde als Mitarbeiter begrüßen oder sie aus unserer Mitte tilgen. Dann werden nur noch loyale Anhänger übrig bleiben … loyale Anhänger, die ein gemeinsames Ziel verfolgen: das wahre Utopia, das Paradies auf Erden. Zweifellos müssen alle, sogar die Opposition, zugeben, dass wir fair gewesen sind. Wir haben Geduld gezeigt. Wir haben es versucht. Aber die Zeit für Toleranz ist vorüber. Merken Sie, dass meine Geduld zu Ende ist? Ich gebe es offen zu. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, entweder an Bord zu kommen oder ausgelöscht zu werden. Innerhalb eines halben Jahres, das verspreche ich jedem loyalen Bürger unserer Weltgemeinschaft, wird der Widerstand gegenüber dem wahren Frieden zerstört sein. Ihr werdet in dem friedlichen Land eurer Träume leben.« Die Repräsentanten der Subpotentaten spielten bei ihren Interviews mit den Fernsehreportern alle Variationen derselben Melodie ab: »Dies ist ein ungeahntes Privileg. Was würde ich nicht alles geben, um an dieser privaten Sitzung teilnehmen zu können!« 270
Die Sendung endete mit der Zeremonie. Aber der beste Teil würde früh am folgenden Morgen bei der Sitzung der Potentaten kommen, die geheim war, wie alle annahmen, da sie hinter verschlossenen Türen stattfand. Aber es war, als würden ausgewählte Mitglieder der Tribulation Force mit im Raum sitzen. Um einen großen Bildschirm tief in den Höhlen von Petra versammelt saß Rayfords handverlesene Gruppe und verfolgte durch das Wunder der Technologie jeden Augenblick dieser Sitzung mit. Chang saß hinten am Computer. Rayford hatte zwischen Buck und George Platz genommen. Auch Tsion und Chaim waren anwesend. Sie würden die anderen Mitglieder informieren, die mit den Angelegenheiten der Handelsgesellschaft beschäftigt oder in der Luft unterwegs waren. Während der Raum in Bagdad sich füllte, bat Rayford Chang, die Videokamera zu schwenken. »Mal sehen, wer alles da ist.« An dem großen Konferenztisch hatten jeweils drei Personen an jedem Kopfende und sechs an jeder Seite Platz. An jedem Platz standen Mikrofone und an allen Plätzen außer den dreien am hinteren Ende stand ein Platzkärtchen. Am Kopfende waren nur zwei Plätze vorgesehen, einer an der linken Seite für Carpathia, der noch nicht eingetroffen war, und der andere für Fortunato, der nervös mit seinem riesigen Rubinring auf sein luxuriöses Notebook mit Lederhülle tippte. Links von Carpathias Platz saßen die Potentaten der Vereinigten Afrikanischen Staaten, der Vereinigten Europäischen Staaten, der Vereinigten Großbritannischen Staaten, der Vereinigten Südamerikanischen Staaten, der Vereinigten Nordamerikanischen Staaten und Viv Ivins. Jeder trug ein spezielles Outfit seiner Region, von der bunten Dashiki des afrikanischen Potentaten bis hin zu dem breiten Sombrero des Südamerikaners und dem Cowboyhut und dem bestickten Cowboyanzug des Nordamerikaners. 271
Viv Ivins trug wie immer ein dunkelblaues Kostüm, das beinahe zu ihrer Haarfarbe passte, doch zum ersten Mal wurde ihre Erscheinung durch eine riesige Diamantbrosche und eine blendend weiße Bluse vervollständigt. Zu Fortunatos Rechten und an seiner Seite des Tisches hatten die Potentaten der Vereinigten Carpathiatischen Staaten, der Vereinigten Russischen Staaten, der Vereinigten Indischen Staaten, der Vereinigten Asiatischen Staaten, der Vereinigten Pazifischen Staaten und Suhail Akbar Platz gefunden. Auch diese Potentaten hatten ihre schönsten Trachten angelegt. Die Auffälligste war ein schwarzsilberner Kimono des asiatischen Führers. Suhail trug die Galauniform der Friedenstruppen der Weltgemeinschaft und ein dunkelblaues Barett mit funkelnder Goldlitze. Auf den drei Stühlen gegenüber von Carpathia und Fortunato am anderen Kopfende des Tisches saßen drei Männer, die Rayford wie drei identische Schaufensterpuppen vorkamen. Alle trugen einfache schwarze Anzüge, weiße Oberhemden und schwarze Krawatten. Kein Schmuck, keine Kopfbedeckung, nichts anderes. Ihre Hände lagen gefaltet vor ihnen auf dem Tisch. Sie saßen reglos da und sahen weder nach rechts noch nach links. »Diese drei kenne ich nicht, Tsion«, sagte Rayford. »Sie?« Der Rabbi schüttelte den Kopf. »Seltsam, sie scheinen nicht einmal zu blinzeln. Auch die anderen werfen ihnen immer wieder verstohlene Seitenblicke zu. Denken Sie, dass sie real sind? Oder sind das vielleicht nur Figuren?« »Chang«, forderte Rayford den jungen Mann auf, »richte die Kamera doch auf diese drei Männer, ist das möglich?« Chang kam seiner Aufforderung nach und berichtete: »Die sind echt. Ich habe auf Band, wie sie Platz nehmen. Wollen Sie es sehen?« »Solange wir Carpathias großen Auftritt nicht verpassen.« »Das werden Sie nicht.« 272
Chang spulte das Band zurück und zeigte, wie die drei Platz nahmen. Sie schienen eins zu sei, bewegten sich vollkommen synchron und im Einklang miteinander. »Durch welche Tür sind sie hereingekommen?«, fragte Rayford. »Das habe ich nicht gesehen. Sie schienen auf einmal da zu sein.« »Also gut, zurück zum Geschehen.« Ein kurzes Summen ließ Fortunato zusammenzucken. Er griff in sein Gewand, als wolle er einen Piepser ausschalten. Dann erhob er sich rasch, strich sein Gewand glatt und nahm seine Kopfbedeckung ab. »Meine Damen und Herren«, sagte er, »bitte erheben Sie sich für Ihren Supreme Potentaten, Seine Hoheit, Seine Majestät, Seine Exzellenz, unseren Herrn und auferstandenen König Nicolai Carpathia, den Ersten und Letzten, Welt ohne Ende. Amen.« Mit Ausnahme der drei geheimnisvollen Männer, die sich noch immer nicht rührten, erhoben sich alle und nahmen ihre Kopfbedeckung ab. Ein Offizier in blauer Uniform öffnete die Tür, und Carpathia betrat den Raum, woraufhin Fortunato ausgesprochen geräuschvoll auf die Knie sank. Nicolai trug einen schwarzen, gestreiften Anzug mit einem weißen Hemd und einer türkisfarbenen Krawatte. Leon kniete auf dem Boden, das Gesicht in den Händen verborgen und das Hinterteil in die Luft gestreckt. Carpathia blieb einige Meter vor seinem Stuhl stehen und gestattete den Anwesenden, sich ihm nacheinander zu nähern. Sie verneigten sich vor ihm und schüttelten ihm die Hand. Viele küssten ihm die Hand oder seinen Ring, und mehr als einer kniete wie Leon kurz nieder, verlieh flüsternd seiner Hingabe und Ehrfurcht Ausdruck. Dann stellten sie sich hinter ihre Stühle. Als alle ihn begrüßt hatten, entstand ein unbehagliches Schweigen, da offensichtlich Leon der Nächste war und sein 273
Stichwort verpasst hatte. Schließlich räusperte sich Carpathia. Leon blickte auf und sprang hoch, wobei er sich mit dem Fuß in dem Saum seines Gewandes verfing. Ein lautes Reißen war zu hören, als er sich aufrichtete, taumelte und sich an Carpathias Stuhl festhalten musste, der über Rollen verfügte und ihn beinahe in seinen Herrn und auferstandenen König, den Ersten und Letzten, Welt ohne Ende, amen, katapultierte. Fortunato ergriff Nicolais Hand und zog sie an die Lippen, wobei er Carpathia beinahe von den Füßen riss. Im letzten Augenblick bemerkte Leon, dass er die falsche Hand ergriffen hatte, ließ sie sinken, nahm die andere und küsste für alle vernehmlich den Ring des Potentaten. »Euer Exzellenz, Sir«, sagte er und schob mit einer Hand Carpathias Stuhl zurecht und deutete mit einer weit ausholenden Geste darauf. »Herzlichen Dank, Reverend«, sagte Carpathia und nahm Platz. »Meine Damen und Herren, Sie können sich setzen.« Carpathia dankte den Anwesenden für ihr Kommen. »Und jetzt zur Sache. Ich möchte Sie noch einmal daran erinnern, dass dies keine Demokratie ist. Wir sind nicht hier, um abzustimmen, und Sie sind auch nicht hier, um mir Ihre Ideen mitzuteilen. In diesen Zeiten können wir es uns einfach nicht mehr leisten, unterschiedliche Meinungen zu vertreten. Wenn es etwas gibt, das ich Ihrer Ansicht nach wissen sollte, fühlen Sie sich frei, es zu sagen. Wenn Sie ein Problem mit meinem Führungsstil haben oder die Pläne in Frage stellen wollen, die ich Ihnen heute vorlegen werde, möchte ich Sie an die drei ehemaligen Potentaten des Südens erinnern, die auf Grund ihres vorzeitigen Todes ersetzt werden mussten. Fragen? Ich denke nicht. Lassen Sie uns weitermachen. Meine Damen und Herren, die Zeit ist gekommen, Sie ins Vertrauen zu ziehen. Wir müssen alle auf derselben Seite stehen, um die letzte Schlacht zu gewinnen. Sehen Sie mir in die Augen, und passen Sie gut auf, denn das, was Sie heute hören 274
werden, ist die Wahrheit, und Sie werden problemlos jedes Wort davon glauben. Ich bin ewig. Ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit. Ich war da am Anfang und ich werde auch in Ewigkeit da sein.« Carpathia erhob sich und ging während des Sprechens langsam um den Tisch herum. Keiner der Anwesenden folgte ihm mit den Augen. Sie saßen wie gelähmt auf ihren Plätzen. »Wir haben folgendes Problem«, fuhr er fort. »Der Eine, der sich Gott nennt, ist nicht Gott. Ich gebe zu, dass er vor mir da war. Als ich mich aus Ursuppe und Wasser entwickelte, war er bereits da. Aber ganz offensichtlich ist er auf dieselbe Weise entstanden wie ich. Und nur weil er vor mir da war, wollte er mich glauben machen, er hätte mich und all die anderen Wesen im riesigen Himmel erschaffen. Ich wusste es besser. Viele von uns wussten es besser. Er wollte uns einreden, wir seien als dienende Wesen geschaffen worden. Wir hatten eine Aufgabe. Er sagte, er hätte die Menschen nach seinem eigenen Bild geschaffen und wir hätten ihnen zu dienen. Wenn ich zuerst da gewesen wäre, hätte ich ihm sagen können, ich hätte ihn geschaffen und er hätte mir und den anderen von mir geschaffenen Wesen zu dienen. Aber er hat gar nichts erschaffen! Wir, wir alle, Sie, ich, die anderen himmlischen Heerscharen, Männer und Frauen, sind alle aus derselben Ursuppe entstanden. Aber nein! Nicht, wenn wir seiner Aussage Glauben schenken würden! Er war zusammen mit einem anderen evolvierten Wesen wie ich da, und er behauptete, dieses Wesen sei sein geliebter Sohn. Er war der Besondere, der Erwählte, der erstgeborene Sohn. Mir war von Anfang an klar, dass das eine Lüge war und dass ich, dass wir alle benutzt wurden. Ich war ein heller und glänzender Engel. Ich hatte Ehrgeiz. Ich hatte Ideen. Aber das war für den Älteren eine Bedrohung. Er nannte sich selbst Schöpfer-Gott, der Erschaffer des Lebens. Er nahm die vorrangige Stellung ein. Er forderte, dass die ganze Erde ihn anbete 275
und ihm gehorche. Ich hatte den Mut, ihn nach dem Grund zu fragen. Warum auch nicht? Habe ich einen Aufstand angezettelt? Darauf könnt ihr wetten. Und warum auch nicht? Was haben die älteren Rechte mit dem allen zu tun, wo wir doch alle aus derselben Quelle kamen? Es gibt genug für alle, aber wenn es um die Überlegenheit geht, dann steht sie mir zu! Etwa ein Drittel der existierenden Wesen stimmte mir zu und stellte sich auf meine Seite. Sie versprachen mir Loyalität. Die anderen zwei Drittel waren Schwächlinge, leicht zu beeinflussen. Sie stellten sich auf die Seite des so genannten Vaters und seines so genannten Sohnes. Bin ich der Antichrist? Nun, wenn er der Christus ist, dann ja! Ja! Ich bin gegen den Christus, der fälschlicherweise von dem angeblichen Schöpfer gekrönt wurde. Ich werde in den Himmel aufsteigen; ich werde meinen Thron über den Sternen Gottes einnehmen. Ich werde auf den Wolken auffahren; ich werde sein wie der Allerhöchste. Aber weil er zuerst da war und ich den Mut hatte, ihn in Frage zu stellen, wurde ich hinausgeworfen! Wo bleibt da die Gerechtigkeit? Seither sind wir Todfeinde, dieser Vater, dieser Sohn und ich. Er hat sogar den entstandenen Menschen eingeredet, er hätte sie erschaffen! Aber das konnte nicht wahr sein, denn wenn er es getan hätte, hätten sie keinen freien Willen. Und wenn er mich geschaffen hätte, hätte ich nicht gegen ihn rebellieren können. Das macht keinen Sinn. Nachdem mir das klar geworden war, begann mir meine Rolle als Ausgestoßener zu gefallen. Ich stellte fest, dass ich die Menschen, die er gern sein Eigen nannte, besonders leicht ins Wanken bringen konnte. Die Frau mit der Frucht. Sie wollte ihm gar nicht gehorchen. Es war eine Kleinigkeit, reine Suggestion, sie dazu zu bringen, das zu tun, was sie eigentlich tun wollte. Das geschah übrigens gar nicht weit von hier entfernt. Und die ersten menschlichen Geschwister – da hatte ich leichtes Spiel! Der Jüngere war dem Einen, der sich der einzig 276
wahre Gott nannte, treu ergeben, aber der andere … ach, der andere wollte nur das, was ich wollte. Ein kleines bisschen für sich. Und es dauerte nicht lange, bis ich zweifelsfrei bewiesen hatte, dass diese Wesen nicht wirklich Produkte der Kreativität des älteren Engels waren. Innerhalb nur weniger Generationen habe ich sie so verwirrt, so selbstsüchtig, so von sich eingenommen gemacht, dass der alte Mann nicht mehr sagen wollte, sie seien nach seinem Bild geschaffen. Sie betranken sich, sie kämpften miteinander, sie lästerten Gott. Sie waren eigensinnig, sie waren untreu. Sie töteten einander. Die Einzigen, zu denen ich nicht durchdringen konnte, waren Noah und seine Familie. Natürlich kam der große Schöpfer zu dem Schluss, der Rest der Geschichte würde von ihnen abhängen, und vernichtete alle anderen durch eine Flut. Doch schließlich drang ich zu Noah durch, aber er hatte schon begonnen, die Erde wieder neu zu bevölkern. Ja, ich gebe es zu. Der Vater und der Sohn sind über Generationen hinweg meine schlimmsten Feinde gewesen. Sie hatten ihre Lieblinge – vor allem die Juden. Die Juden sind der Augapfel des Älteren, aber darin liegt auch seine Schwäche. Er hat eine Vorliebe für sie und das wird sein Verderben sein. Meine Truppen und ich hatten sie vor vielen Generationen schon beinahe ausgelöscht, aber Vater und Sohn griffen ein, gaben ihnen ihr Land zurück und vereitelten unsere Pläne erneut. Das Schicksal hat uns oft übel mitgespielt, meine Freunde, aber schließlich werden wir doch siegen. Vater und Sohn dachten, sie würden der Welt einen Gefallen tun, wenn sie ihre Absichten niederschrieben. Der ganze Plan liegt offen ausgebreitet da, von der Sendung des Sohnes, damit er stirbt und aufersteht – was ich genauso gut konnte, wie ich bewiesen habe –, bis hin zu den Voraussagen über diese gesamte Periode hier. Ja, viele Millionen haben diese große Lüge geglaubt. Bis zu diesem Zeitpunkt war die andere Seite im Vorteil, wie ich zugeben muss. 277
Aber zwei Dinge werden ihr Untergang sein. Erstens: Ich kenne die Wahrheit. Sie sind nicht mächtiger oder besser als ich oder jeder andere. Sie haben denselben Ursprung wie wir anderen auch. Und zweitens: Ihnen ist vielleicht noch nicht klar, dass ich lesen kann. Ich habe ihr Buch gelesen! Ich weiß, was sie vorhaben! Ich weiß, was als Nächstes passiert, und ich weiß sogar, wo! Sollen sie doch die Lichter in der Stadt ausknipsen, die ich so geliebt habe! Ach, wie schön es war, als sie noch das Zentrum für Handel und Regierung war und die großen Schiffe und Flugzeuge die Waren aus der ganzen Welt hereinbrachten. Sie ist jetzt dunkel. Und was soll’s, wenn sie schließlich zerstört wird? Ich werde sie wieder aufbauen, weil ich mächtiger bin als Vater und Sohn zusammen. Sollen sie doch die Erde zum Beben bringen, bis alles dem Erdboden gleichgemacht ist, und sollen sie doch 100 Pfund schwere Eisbrocken vom Himmel fallen lassen. Ich werde am Ende gewinnen, weil ich ihren Schlachtplan gelesen habe. Der alte Mann plant, den Sohn zu schicken, um das Königreich aufzubauen, das er mehr als 300-mal in seinem Buch erwähnt hat, und er sagt sogar, wo der Sohn auf die Erde kommen wird! Meine Damen und Herren, eine Überraschung wird ihn da erwarten. Der Sohn und ich kämpften von Anfang an um die Seelen der Menschen. Wenn Sie und ich unsere Truppen aus der ganzen Welt zusammenziehen und wie ein Mann von einem einzigen Stützpunkt aus handeln, können wir uns ein für alle Mal von diesen Truppen befreien, die unseren Sieg bisher verhindert haben. Der so genannte Messias liebt die Stadt Jerusalem mehr als alle anderen Städte auf der Welt. Er nennt sie sogar die ewige Stadt. Nun, wir werden uns dieser Sache annehmen. Dort soll er gestorben und wieder ins Leben zurückgekommen sein. Diese seltsame Liebe zu den Juden führte zu dem ewigen 278
›Bund des Segens‹, wie er ihn nennt. Wenn wir, die Herrscher der Erde, alle unsere Ressourcen zusammenführen und die Juden angreifen, muss der Sohn zu ihrer Verteidigung kommen. Dann werden wir uns um ihn kümmern und ihn eliminieren. Das wird uns die vollkommene Kontrolle über die Erde verschaffen, und wir werden bereit sein, uns dem Vater zuzuwenden, und uns des Universums bemächtigen.« Carpathia hatte den Tisch zweimal umrundet und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Er wirkte erschöpft. »Es steht in ihrer Bibel«, endete er. »Und sie behaupten, niemals zu lügen. Wir wissen also genau, wo er sein wird. Sind Sie mit dabei?« »Wir sind mit dabei, Exzellenz«, sagte der Südamerikaner, »aber wo wird das sein?« »Wir ziehen alle zusammen – alle unsere Panzer, Flugzeuge, Waffen und Armeen – in der Ebene von Megiddo. Dieses Gebiet im Norden Israels, auch bekannt als die Ebene von Esdraelon oder die Ebene Jesreel, liegt etwa 30 Kilometer südöstlich von Haifa und 100 Kilometer nördlich von Jerusalem. Zum vereinbarten Zeitpunkt werden wir ein Drittel unserer Truppen dorthin schicken, die die Festung Petra einnehmen werden, und ich werde dieses Mal nur eine Atomwaffe einsetzen. Wir werden sie durch zahlenmäßige Überlegenheit überwältigen, wenn es sein muss auch auf dem Rücken von Pferden. Der Rest unserer Truppen wird auf die so genannte ewige Stadt zumarschieren, durch diese höllischen Mauern schießen und alle Juden vernichten. Und dort werden wir sein, zusammen mit unseren siegreichen Truppen aus Petra, in voller Macht und Stärke, um den Sohn zu überraschen, wenn er ankommt.« Kopfschüttelnd saß Fortunato an seinem Platz, überwältigt von der Brillanz dieser Strategie. »Gibt es noch Fragen an den Potentaten?«, erkundigte er sich. »Irgendeine Frage?« 279
Der Potentat der Vereinigten Asiatischen Staaten hob zögernd die Hand. »Ich weiß nicht, wie es den anderen geht«, sagte er, »aber unsere Armee wird von vielen unabhängigen Generälen angeführt, die nicht leicht auf eine Linie zu bringen sind. Ihre Leute sind durch die Plagen, die Geschwüre und viele andere unglaubliche Qualen ausgesprochen demotiviert. Mehr als die Hälfte meiner Bevölkerung ist tot oder wird vermisst. Wie sollen wir diese Armeen und ihre Führer dazu bringen, uns zu folgen?« Viele nickten zustimmend. »Dies ist eine Frage, die zu beantworten ich mich nicht scheue, meine Freunde«, erwiderte Carpathia. »Doch bevor ich Ihnen sage, wie wir dies gemeinsam bewerkstelligen, möchte ich Ihnen mitteilen, was die erste Priorität Ihrer militärischen Führer sein wird. Als ich vor fast sieben Jahren an die Macht kam, habe ich, wie Sie sich vielleicht erinnern werden, von allen Weltregierungen 90 Prozent ihrer Waffen eingezogen. Diese Waffen wurden an einem geheimen Ort gelagert, den ich nun bekannt geben werde. In riesigen Waffenlagern in Al Hillah und Umgebung, also nur knapp 100 Kilometer südlich von uns, lagern genügend Waffen, um diesen Planeten zu zerstören. Es ist wohl überflüssig zu sagen, dass wir den Planeten nicht zu zerstören brauchen. Wir wollen nur, dass unsere Soldaten mehr Waffen zur Verfügung haben, als wir brauchen, um die Juden auszulöschen und den Sohn zu vernichten, dem ich mich so lange entgegengestellt habe. Nachdem ich Ihnen erklärt habe, wie wir Ihre Militärführer auf unsere Seite ziehen können, wird Ihre nächste Aufgabe darin bestehen, sie nach Al Hillah zu beordern, wo Mr. Suhail Akbar, der Direktor unseres Sicherheits- und Geheimdienstes, dafür sorgen wird, dass sie mehr als ausreichend ausgerüstet sind.« »Wie lange wird das dauern?«, fragte der indische Potentat. »Sie haben weniger als ein halbes Jahr Zeit, meine Damen und Herren, von heute an gerechnet. Ich habe die Truppen der 280
Carpathiatischen Staaten bereits vor Monaten nach Israel verlegt. Und wenn die Armee unserer Weltgemeinschaft an Ort und Stelle vereint ist, möchte ich die Waffenlager von Al Hillah geleert sehen. Verstanden?« »Verstanden«, erwiderte der russische Potentat, »aber wie meine Kollegen kann auch ich es kaum erwarten zu hören, wie wir entmutigte, kranke und verletzte Führer und Truppen überzeugen sollen.« »Reverend Fortunato«, erklärte Carpathia und erhob sich. Leon sprang ebenfalls auf, sein Stuhl rollte zurück. »Meine Damen und Herren, es ist an der Zeit, Ihnen drei meiner vertrauenswürdigsten Assistenten vorzustellen. Zweifellos haben Sie sich schon gefragt, wer die drei Männer am Kopfende des Tisches sind.« »Wir haben uns gewundert, dass sie, seit wir Platz genommen haben, nicht auch nur einmal geblinzelt haben«, sagte der britische Potentat. Carpathia lachte. »Diese drei sind nicht von dieser Welt. Sie bedienen sich ihrer menschlichen Hüllen nur, wenn es notwendig ist. Tatsächlich sind dies Geistwesen, die von Anfang an bei mir waren. Sie gehörten zu den Ersten, die an mich geglaubt und die Lügen durchschaut haben, die der Vater und der Sohn im Himmel und auf der Erde verbreiten wollten.« »Leon«, sagte Carpathia. Gemeinsam schritten sie auf beiden Seiten des Tisches zum anderen Ende. »Entschuldigen Sie, Miss Ivins.« Sie erhob sich und Carpathia schob ihren Stuhl aus dem Weg. »Entschuldigen Sie, Direktor Akbar«, sagte nun auch Leon und Suhail stand ebenfalls auf. Rayford fuhr zusammen, als Tsion laut rief: »Chang, nimm das auf! Davon wird in Offenbarung, Kapitel 16, in den Versen 13 und 14 geschrieben!« Die Kamera schwenkte herum und die in Petra Versammel281
ten hatten einen guten Blick auf Carpathia und Leon, die vor den drei scheinbar leblosen Gestalten am Ende des Tisches standen. Der Antichrist und der falsche Prophet beugten sich herab, stützten ihre Ellbogen auf den Tisch auf und sahen den vermeintlich leblosen Kreaturen in die Augen. Dann öffneten Leon und Carpathia langsam ihren Mund. Sie spien bösartige, schleimige, froschähnliche Wesen aus – Leon eines, Nicolai zwei. Diese Wesen sprangen in die Münder der drei Hüllen. Und auf einmal wurden sie lebendig. Carpathia lächelte. »Das wollen wir uns einmal von vorn ansehen, Chang«, rief Buck. Chang veränderte den Kamerawinkel. Die drei hatten nun eine auffallende Ähnlichkeit mit Carpathia. Sie lehnten sich lässig zurück, lächelten, nickten den anderen Potentaten zu. Die Führer wirkten zuerst verblüfft und verängstigt, doch schon bald wurden sie mit den angenehm aussehenden Fremden warm. »Darf ich Ihnen Aschtaroth, Baal und Cankerworm vorstellen. Sie sind die überzeugendsten Geister mit der besten Überredungsgabe, die ich kenne. Ich möchte Sie nun bitten, dass wir alle uns um sie herum stellen, ihnen die Hände auflegen und sie für diese ungeheure Aufgabe aussenden.« Die drei schoben ihre Stühle zurück, um Platz zu schaffen, damit die Potentaten, Viv, Suhail, Leon und Carpathia sich um sie herumstellen und sie berühren konnten. Carpathia begann: »Und jetzt geht, ihr drei, an die Enden der Erde, um sie für die letzte Auseinandersetzung in Jerusalem zu sammeln, wo wir den Vater und seinen so genannten Messias ein für alle Mal vernichten werden. Überzeugt alle überall, dass der Sieg unser sein wird, dass 282
wir im Recht sind und dass wir vereint den Sohn vernichten können, bevor er diese Welt übernimmt. Wenn er erst einmal vernichtet ist, werden wir die unbestrittenen, allgemein akzeptierten Führer der Welt sein. Ich gebe euch die Macht, Zeichen zu tun, Kranke zu heilen und Tote aufzuerwecken, wenn es sein muss, um die Welt davon zu überzeugen, dass der Sieg unser sein wird. Und jetzt geht in Macht …« Aschtaroth, Baal und Cankerworm verschwanden in einem gewaltigen Blitz, der die Mitte des Konferenztisches traf und den TV-Monitor in Petra vorübergehend schwarz werden ließ. Als das Bild zurückkehrte, veranlasste ein lauter Donnerschlag Chang, sich die Kopfhörer vom Kopf zu reißen. Carpathia und Leon kehrten an ihre Plätze zurück und blieben hinter ihren Stühlen stehen. Die anderen Potentaten, Viv und Suhail folgten ihrem Beispiel. Während sie still regungslos standen, sagte Carpathis: »Lebt wohl, alle zusammen. Wir werden uns in sechs Monaten in der Ebene von Megiddo an jenem großen Tag wieder sehen, an dem der Sieg in greifbare Nähe gerückt sein wird.« Fassungslos saß Buck auf seinem Stuhl, doch er kam schnell wieder zu sich. »Kann mal jemand den Abschnitt vorlesen, von dem Tsion gesprochen hat?« »Ich habe ihn hier«, erklärte Chaim. »In Offenbarung 16, Verse 13 und 14 heißt es: ›Dann sah ich aus dem Maul des Drachen und aus dem Maul des Tieres und aus dem Maul des falschen Propheten drei unreine Geister hervorkommen, die wie Frösche aussahen. Es sind Dämonengeister, die Wunderzeichen tun; sie schwärmten aus zu den Königen der ganzen Erde, um sie zusammenzuholen für den Krieg am großen Tag Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung.‹« »Lesen Sie die folgenden beiden Verse auch noch, Chaim«, forderte Tsion ihn auf. 283
»Der erste ist ein Zitat von Jesus selbst«, führ Chaim fort. »›Siehe, ich komme wie ein Dieb. Selig, wer wach bleibt und sein Gewand anbehält, damit er nicht nackt gehen muss und man seine Blöße sieht. Die Geister führten die Könige an dem Ort zusammen, der auf Hebräisch Harmagedon heißt.‹«
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17 Rayford bat George und Buck, in Petra einen Raum zu suchen, in dem sie sich ungestört treffen konnten und nicht durch Neugierige gestört werden würden. »Es muss Platz für bis zu 20 Personen sein«, erklärte er ihnen, obwohl er wusste, dass es vermutlich nicht einmal die Hälfte sein würde. Er traf sich mit Tsion in dem kleinen Wohnzimmer in dessen Unterkunft. »Ich möchte Sie bitten, meine besten Leute zu schulen«, sagte er. »Mittlerweile wissen alle, was in Bagdad vorgegangen ist, und fragen sich, was das alles bedeutet und was unsere Rolle dabei sein sollte. Niemand möchte einfach nur in Sicherheit herumsitzen, während der Rest der Welt zur Hölle fährt.« »Das kann ich gut verstehen, Rayford, und natürlich werde ich das gern tun. Gerade heute Morgen habe ich alle administrativen Verpflichtungen an Chaim abgegeben. Er wird auch das Lehren übernehmen.« Rayford blickte ihn verblüfft an. »Sie haben was getan?« »Ich möchte auch nicht hier bleiben.« »Was soll das heißen?« »Wenn ich Ihre besten Leute schulen soll, dann möchte ich auch mit dabei sein. Ich möchte lernen, zu kämpfen, eine Waffe zu gebrauchen, mich zu verteidigen, meine Gefährten und Mitjuden am Leben zu erhalten.« Rayford erhob sich und ging zu dem Fenster, von dem aus man in den endlosen Himmel blicken konnte. »Ich bin verblüfft«, gestand er. »Denken Sie nicht, ich hätte Gott nicht zu diesem Punkt befragt.« »Reicht es denn nicht, dass Sie ein Rabbi, ein Lehrer, ein 285
Prediger sind? Jetzt wollen Sie auch noch Soldat sein?« »Rayford, hören Sie: Ich mache mich mit meinem Herrn eins, meinem Messias. Ich kann nicht hier herumsitzen, wo der Antichrist und seine Truppen aus der ganzen Welt sich um Jerusalem sammeln. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie unschuldige Juden getötet werden. In der Bibel lesen wir, dass ein Drittel der verbleibenden Juden sich noch vor dem Ende für den Messias entscheiden werden. Das bedeutet, dass es noch sehr viel mehr gläubige Juden sein werden, als jetzt hier sind, und sie müssen irgendwie erreicht werden. Ich möchte in Jerusalem predigen, Rayford. Das versuche ich Ihnen die ganze Zeit zu sagen.« »Sie werden bestimmt umkommen!« »Ich würde lieber ein paar Tage zu früh im Himmel aufwachen und mich der Armee anschließen, die mit dem Messias in die andere Richtung marschiert, in dem Bewusstsein, dass ich mutig kämpfend gestorben bin, als hier in Petra zu sitzen und alles über das Fernsehen zu verfolgen.« »Ich weiß nicht, ob ich das zulassen kann.« »Wenn der Herr es zulässt, dann haben Sie, denke ich, keine Wahl. Oh Rayford, setzen Sie sich doch. Ich möchte nicht unvorbereitet losziehen. Ich bin erst Anfang 50 und somit noch kein alter Mann. Auch nicht mehr jung, das weiß ich, aber ich bin in Form. Wenn Mac McCullum in seinem Alter diese Dinge noch tun kann, kann ich das ganz bestimmt auch. Ich weiß, dass meine Hände wie die eines Gelehrten sind, aber wie lange kann es schon dauern, bis man Schwielen bekommt und mit einer Waffe umgehen lernt?« »Sie meinen es ernst.« »Ich werde mich nicht davon abbringen lassen. Ich bin mehr als bereit, Ihren Leuten beizubringen, was ich über die Vorgänge weiß. Aber im Gegenzug möchte ich auch Schüler Ihres Mr. Sebastian werden.« Rayford ließ sich kopfschüttelnd auf einen Stuhl sinken. »Sie 286
sind vielleicht noch nicht alt, aber Sie sind starrsinnig.« »Muss ein Krieger nicht auch diesen Charakterzug haben?« »Oh, jetzt sind Sie also ein Krieger?« »Ich hoffe es zu sein.« »Haben Sie die Ältesten um Rat gefragt?« »Ob ich sie informiert habe? Ja. Ob sie glücklich darüber waren? Nein. Werden sie darüber beten? Ja. Interessiert mich, wie ihre Antwort lautet? Nur, wenn es ein Ja ist.« Buck konnte es nicht glauben. »Aber irgendwie muss ich ihn bewundern. Ich werde nie den Abend vergessen, an dem er mit den beiden Zeugen an der Klagemauer gesprochen hat. Das war, bevor ich wusste, dass Dr. Ben-Judah an Jesus glaubt. Für mich war das alles noch ziemlich neu, aber ich erkannte in ihrem Gespräch das nächtliche Gespräch zwischen Jesus und Nikodemus aus dem 3. Kapitel des Johannes-Evangeliums. Es war wirklich sehr bewegend.« »Ich würde mir nie vergeben, wenn ich ihn gehen ließe, und ihm würde etwas zustoßen«, sagte Rayford. »Er ist zäh. Er ist Carpathia im Fernsehen entgegengetreten und hat ihm gesagt, warum Jesus seiner Meinung nach der Messias ist. Und nach der Ermordung seiner Familie wäre er lieber mit einem Maschinengewehr bewaffnet herumgelaufen als mit einer Bibel. Er könnte eine wertvolle Ergänzung für dieses Team sein. Und außerdem ist er der Einzige, der predigen und lehren kann. Ich würde für ihn stimmen.« »Ich nehme kein Votum entgegen.« »Du hast gerade eines bekommen. Stimmt irgendjemand dagegen?« »Ich vielleicht«, erwiderte Rayford. »Dann bist du ein größerer Feigling als er.« Mac war mit Feuereifer dabei. Er war dafür, dass Tsion lernte, ein Soldat zu sein, und mit ihnen nach Jerusalem kam. Wäh287
rend der folgenden Monate lauschte er Woche für Woche Tsions Lehren in dem für sie reservierten Raum und lernte mehr, als er je für möglich gehalten hätte. Er sah das Feuer in den Augen des Rabbis und wusste, dass Tsion trotz Rayfords Vorbehalten mitkommen würde. Eines Abends las Tsion während des Abendunterrichts die Verse 14 bis 15 aus dem Judasbrief: »›Auch ihnen gilt, was schon Henoch, der siebte nach Adam, geweissagt hat: ›Seht, der Herr kommt mit seinen heiligen Zehntausenden, um über alle Gericht zu halten und alle Gottlosen zu bestrafen wegen all ihrer gottlosen Taten, die sie verübt haben, und wegen all der frechen Reden, die die gottlosen Sünder gegen ihn geführt haben.‹‹ Habt ihr das verstanden? Das Wort, das er so oft wiederholt? Es hat schon eine gewisse Wirkung, wenn ein Prophet Gottes in einem einzigen Satz viermal die Gottlosen erwähnt. Diese unsere Feinde sind die Feinde Gottes. Sie sind darauf aus, zu stehlen, zu töten und alles zu zerstören, was Gott gehört. Aber Jesus selbst sagt in Johannes, Kapitel 10, in den Versen 10 und 11: ›Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe.‹ Viele von euch haben mich gefragt, wieso ich der Meinung bin, dass ein Drittel von Gottes auserwähltem Volk sich ihm noch vor dem Ende zuwenden wird. Schlagt in euren Bibeln den Propheten Sacharja, Kapitel 13 auf. In den Versen 8 und 9 spricht der Prophet von dem Überrest des Volkes Israel: ›Im ganzen Land – Spruch des Herrn – werden zwei Drittel vernichtet, sie werden umkommen, nur der dritte Teil wird übrig bleiben. Dieses Drittel will ich ins Feuer werfen, um es zu läutern, wie man Silber läutert, um es zu prüfen, wie man Gold prüft. Sie werden meinen Namen anrufen, und ich werde sie erhören. Ja, ich werde sagen: Es ist mein Volk. Und das Volk wird sagen: Jahwe ist mein Gott.‹ 288
Wie ich euch bereits gesagt habe, ist es eigentlich falsch, diese Auseinandersetzung die Schlacht von Harmagedon zu nennen, da es sich dabei nur um den Aufmarschbereich der Armeen dieser Welt handelt. Der eigentliche Konflikt wird zum einen hier in Petra ausgetragen werden, oder in der Nähe, da Gott gezeigt hat, dass diese Stadt uneinnehmbar ist, und zum anderen in Jerusalem. Oder um genauer zu sein: Diese Auseinandersetzung sollte der Krieg des großen Tages Gottes des Allmächtigen genannt werden.« Buck hob die Hand. »Ich höre diese Dinge schon seit Jahren von Ihnen und noch immer kann ich mir die Reihenfolge nicht richtig merken. Was passiert wann?« Tsion lachte. »Seit Urzeiten debattieren die Gelehrten über diesen Punkt. Ich habe festgestellt, dass ich das nur verstehen kann, wenn ich meine Bibel und alle meine Bücher und Kommentare gleichzeitig aufschlage und versuche, eine Liste der verschiedenen Ereignisse zu erstellen. Meiner Meinung nach werden nach dem sechsten Schalengericht – der Austrocknung des Euphrats – acht Ereignisse aufeinander folgen. Dieses Gericht ermöglicht es übrigens den Königen des Ostens, ihre Truppen und ihr Kriegsgerät trockenen Fußes direkt in die Ebene Megiddo zu schaffen. Dadurch sparen sie Zeit, denn sie brauchen sie nicht um die Kontinente herumzuschiffen. Meiner Meinung nach ist dies eine Falle, die der allmächtige Gott ihnen gestellt hat, aber das ist natürlich nicht biblisch belegt, sondern meine persönliche Meinung. Er lockt diese Herrscher und ihre Armeen dorthin, wo er sie haben möchte. Aber wie auch immer, wenn der Euphrat erst einmal ausgetrocknet ist, werden wir erleben, dass sich die Verbündeten des Antichristen sammeln. Als Nächstes wird meiner Meinung nach die Zerstörung Babylons kommen. In Jesaja, Kapitel 13, Verse 6 bis 9 heißt es: ›Schreit auf, denn der Tag des Herrn ist nahe: Er kommt wie eine zerstörende Macht vom Allmächti289
gen. Da sinken alle Hände herab und das Herz aller Menschen verzagt. Sie sind bestürzt; sie werden von Krämpfen und Wehen befallen, wie eine Gebärende winden sie sich. Seht, der Tag des Herrn kommt voll Grausamkeit, Grimm und glühendem Zorn; dann macht er die Erde zur Wüste und die Sünder vertilgt er.‹« »Wow«, sagte Buck. »Ich weiß nicht, ob ich dabei sein und das miterleben möchte.« »Du wirst zu dem Zeitpunkt in Jerusalem sein«, erklärte Rayford. »Ich auch«, fuhr Tsion fort. »Nach der Zerstörung Babylons kommt dann der Fall Jerusalems. Das wird den alliierten Truppen des Antichristen Auftrieb geben, und sie werden sich ihren Gefährten hier in Bozra, wie die Bibel es nennt, anschließen. Unmittelbar darauf folgt, was ich die nationale Erneuerung Israels nenne. In Römer, Kapitel 11, Verse 25 bis 26 schreibt der Apostel Paulus: ›Damit ihr euch nicht auf eigene Einsicht verlasst, Brüder, sollt ihr dieses Geheimnis wissen: Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben; dann wird ganz Israel gerettet werden, wie es in der Schrift heißt: Der Retter wird aus Zion kommen, er wird alle Gottlosigkeit von Jakob entfernen.‹« »Dann kommt das Gute«, meinte George. »Zumindest so wie ich das verstehe.« »Genau«, bestätigte Tsion. »Die Wiederkunft Christi. Jesus Christus erscheint auf einem weißen Pferd mit 10 000 Soldaten seiner heiligen Armee, und egal, was nach Meinung des Antichristen passieren wird, sein Ende ist nah. Wollt ihr ein bizarres Wortspiel hören? Wenn Johannes in seiner Offenbarung über dieses Ereignis spricht, schreibt er in den Versen 19 und 20 des 14. Kapitels: ›Da schleuderte der Engel seine Sichel auf die Erde, erntete den Weinstock der Erde ab und warf die Trauben in die große Kelter des Zornes Got290
tes. Die Kelter wurde draußen vor der Stadt getreten und Blut strömte aus der Kelter; es stieg an, bis an die Zügel der Pferde, eintausendsechshundert Stadien weit.‹ Stellt euch das mal vor! Wenn Jesus und seine heilige Armee schließlich die Weltalliierten des Antichristen vernichten, wird das Gemetzel so groß sein, dass im zentralen Tal Israels das Blut bis zu den Zügeln der Pferde reichen wird. Wie hoch ist das? 1,30 Meter oder mehr.« »Und wie weit sind 1600 Stadien?« »Ich bin froh, dass Sie diese Frage gestellt haben, George«, erwiderte Tsion, »weil ich mich zufällig damit beschäftigt habe. Das sind etwa 184 Meilen, also etwa so weit wie von Harmagedon bis nach Edom.« »Aber das sind doch nur sechs Ereignisse«, wandte Buck ein. »Gibt es wirklich noch zwei weitere?« »Ja. Das Ende der Kämpfe wird im Jehoshaphat-Tal sein, in dem Gebiet zwischen hier und Südjerusalem, westlich des Toten Meeres. Da Petra sicher ist, werden die Armeen des Antichristen dort draußen kämpfen. Und dann schließlich folgt Jesu siegreiches Erscheinen auf dem Ölberg. Ich möchte dort sein und es erleben!« »Sie werden vielleicht dort sein«, meinte Rayford trocken, »aber ob Sie dann noch am Leben sind, ist eine andere Geschichte.«
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18 Sechs Jahre, elf Monate nach Beginn der Trübsalszeit Es waren nur noch wenige Wochen bis zu dem Höhepunkt der letzten großen Ereignisse, und Rayford hatte sich schließlich an den Gedanken gewöhnt, dass Tsion nach Jerusalem gehen würde. »Dass ich in diesem Punkt nachgebe, bedeutet nicht, dass ich Ihr Vorhaben unterstütze, Tsion.« »Ich kenne Sie besser. Aber vielleicht kenne ich Sie sogar besser als Sie sich selbst. Nach all unseren Auseinandersetzungen wären Sie doch enttäuscht, wenn ich jetzt nachgeben würde.« »Enttäuscht? Nein, ich wäre erleichtert. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich mich vor Gott werde verantworten müssen wegen dem, was mit Ihnen geschieht.« »Vertrauen Sie mir! Ich werde Sie dann schon wieder raushauen.« »Zeigen Sie mir Ihre Hände, alter Mann.« »Ich habe es Ihnen doch gesagt«, wandte Tsion ein. »Ich bin noch nicht so alt.« »Aber älter als ich, für mich also uralt«, neckte Rayford ihn. »Das sind wirklich eindrucksvolle Schwielen. Und George und Razor sagen mir, dass Sie mit dem Gewehr allmählich tatsächlich auch das Ziel treffen.« »Ich verstehe nicht, wie man damit daneben schießen kann. Es feuert so viele Kugeln in so kurzer Zeit ab. Das ist wie bei einem Gartenschlauch. Wenn man sein Ziel verfehlt hat, schwenkt man das Gewehr einfach hin und her, bis man es schließlich doch trifft.« »Was haben Sie vor, Doktor? Jetzt mal im Ernst. Wollen Sie sich irgendwo mit einer Waffe im Anschlag hinstellen und pre292
digen?« »Wenn es sein muss. Rayford, wir kennen uns mittlerweile so lange, dass wir doch offen miteinander reden können. Es ist mir wichtig, dass meine Landsleute ihr Leben dem Messias anvertrauen. Deshalb muss ich dorthin gehen. Ich muss predigen. Ich möchte auch keine Verkleidung anlegen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Weltgemeinschaft überhaupt noch ein spezielles Interesse an meiner Person hat.« »Meinen Sie das im Ernst? Der Anführer der internationalen Judahiten –« »Das ist ihr Ausdruck für uns, nicht unserer und ganz bestimmt nicht meiner.« »Aber, Tsion, alle kennen Sie. Wenn die meine Tochter schon für einen guten Fang gehalten haben, dann stellen Sie sich nur vor, was die machen, wenn sie Sie fangen.« Tsion schüttelte den Kopf. »Aber wenn Gott mir dies auf mein Herz gelegt hat, dann macht er mir vielleicht auch deutlich, dass ich auf übernatürliche Weise beschützt werde.« »Nun, tut er das?« »Ich weiß nur, dass ich gehen muss.« »Ich werde Buck mitschicken. Ich habe ihm versprochen, dass er eine Aufgabe in Jerusalem bekommt. Ich kann mir keinen Ort vorstellen, an dem es mehr Action geben wird als in Ihrer Nähe.« »Ich würde mich geehrt fühlen, ihn als Leibwächter zu haben. Ist er militärisch so gut geschult wie George?« »Wer ist das schon? Aber George hat eine andere Aufgabe, wie Sie wissen.« »Diese Stadt zu verteidigen, ja, das hat er mir bereits gesagt. Meine Frage ist, warum verzichten wir nicht komplett auf die Verteidigung der Stadt, wenn ihre Grenzen sowieso unüberwindlich sind?« »Weil immer mehr Menschen hier Zuflucht suchen und sie sind erst im Inneren der Stadt in Sicherheit.« 293
»Und doch sind sie in der Luft geschützt. Wie erklären Sie das?« »Ich habe aufgehört, Gott verstehen zu wollen, Tsion. Ich bin überrascht, dass Sie nicht auch so weit sind.« »Oh Rayford, gerade sind Sie in eine meiner Fallen getappt. Sie wissen doch, wie gern ich das Wort Gottes zitiere.« »Natürlich.« »Als Sie davon sprachen, dass wir immer versuchen, Gott zu verstehen, musste ich an eine meiner Lieblingsstellen denken. Ironischerweise mündet sie in einen Vers, der meine Handlungsweise trotz der Gefahr rechtfertigt.« »Ich höre.« »Römer 11, Verse 33 bis 36: ›O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen? Wer hat ihm etwas gegeben, sodass Gott ihm etwas zurückgeben müsste? Denn aus ihm und durch ihn und auf ihn hin ist die ganze Schöpfung. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.‹« »Eindrucksvoll.« »Aber, mein Freund, diese Stelle mündet in den ersten Vers des 12. Kapitels, der mein Handeln rechtfertigt: ›Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder, euch selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt; das ist für euch der wahre und angemessene Gottesdienst.‹« »Ich hoffe nur, es wird ein lebendiges Opfer sein, Tsion.« Chang war zu der Überzeugung gelangt, dass Carpathia der Prophezeiung über die Austrocknung des Euphrats Glauben schenkte, denn er hatte empfindliche Messvorrichtungen im Fluss anbringen lassen, die ihre Informationen an den Zentralrechner der Weltgemeinschaft weitergaben. Chang überwachte 294
dies natürlich von Petra aus. Fast vier Wochen später wusste er von der Neuigkeit, noch bevor die Weltgemeinschaft davon erfuhr. »Es ist passiert!«, rief er und sprang von seinem Stuhl auf. Alle in seiner Nähe fuhren zusammen und starrten ihn an. Naomi kam angerannt. »Noch vor einer Minute führte der Euphrat Wasser und jetzt ist er staubtrocken. Morgen wird es in den Nachrichten zu sehen und zu hören sein – ein Reporter wird in dem ausgetrockneten Flussbett stehen und zeigen, dass man ohne Furcht vor Schlamm oder Treibsand hindurchlaufen kann.« »Das ist erstaunlich«, sagte Naomi. »Ich meine, ich wusste, dass es passieren würde, aber ist es nicht so, als hätte Gott es ganz plötzlich getan? Und ist dieser Fluss nicht 1500 Meilen lang?« »Früher schon.« Macs und Abdullahs Aufklärungsflüge über das Gebiet zeigten, dass die gesamten Waffenbestände aus Al Hillah fortgeschafft worden waren. Innerhalb von wenigen Tagen wurden große Kolonnen von Soldaten, Panzern, Lastwagen und schweren Waffen aus Japan, China und Indien in Bewegung gesetzt. »Und«, fügte Chang hinzu, »das ist die Pause, auf die Tsion gewartet hat, ob er es nun wusste oder nicht. Sieh dir das an.« Er druckte eine Anweisung von Suhail Akbar höchstpersönlich aus, in der dieser die Friedenstruppen der Weltgemeinschaft und die Moralüberwacher darauf hinwies, dass alle derzeitigen Befehle außer Kraft gesetzt seien. Ab sofort seien sie direkt der Welteinheitsarmee der Weltgemeinschaft zugeteilt. »Ihre Vorgesetzten haben ähnliche Anweisungen erhalten und sie haben ihnen ab sofort Folge zu leisten. Alle Angehörigen der Friedenstruppen und alle Moralüberwacher haben sich unverzüglich zur Verfügung zu halten oder müssen mit schweren Strafen rechnen.« »Was geschieht mit der Überwachung der Straßen?«, erkun295
digte sich Naomi. »Keine Ahnung, Schatz. Aber vielleicht bedeutet das, dass die Menschen, die Carpathias Zeichen nicht tragen, aus ihren Verstecken herauskommen können.« »Wenn sie es wagen. Es ist doch noch immer ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt. Die Loyalisten werden sie töten und ihre Leichen horten. Dann warten sie auf das Ende des Krieges, um die Prämien zu kassieren.« »Na, das wird ja eine Enttäuschung für sie werden.« »Ich muss so bald wie möglich los«, erklärte Tsion Rayford. »Wie kommen Cameron und ich am schnellsten nach Jerusalem?« »Mit dem Hubschrauber, denke ich. Wenn ich einen Piloten für Sie auftreiben kann.« »Was tun Sie denn im Augenblick?« »Äh, nun – eigentlich nichts.« Tsion lachte. »Ich kann nicht warten. Ich habe Nahrungsmittel und Kleider zum Wechseln eingepackt, und wenn Cameron meiner Bitte nachgekommen ist, hat er ebenfalls gepackt. Wer könnte denn wissen, ob ein Hubschrauber zur Verfügung steht?« »Wir treffen uns in einer halben Stunde am Hubschrauberlandeplatz.« Priscilla Sebastian machte vergebliche Anstalten, Kenny Bruce abzulenken, während Buck sich aus seiner Umklammerung zu lösen versuchte. »Ich bin bald wieder da«, sagte Buck. »Ich muss mit Onkel Tsion gehen.« Kenny schwieg. Er klammerte sich nur weiter an ihn. »Großpapa wird dich besuchen, nachdem er uns abgesetzt hat, okay? Du wirst bei ihm bleiben, solange ich fort bin.« Kennys Griff lockerte sich und er legte den Kopf in den Nak296
ken. »Großpapa?« »Genau.« »Darf ich mit ihm mitfliegen?« »Bestimmt.« »Wann?« »Bald. Sobald er zurückkommt.« »Ich will mit.« »Wir haben nicht genug Platz. Und jetzt sei ein lieber Junge und spiel mit Beth Ann. Großpapa wird bald wieder da sein. Okay?« »Okay.« Mac arbeitete zusammen mit Otto Weser und George die Evakuierungspläne für die Gläubigen aus Neu-Babylon aus, die zum Einsatz kommen würden, sobald die Nachricht hereinkam, dass die Gläubigen die Stadt verlassen sollten. Niemand – nicht einmal Tsion – schien zu wissen, auf welche Weise dies angekündigt werden oder ob jemand außerhalb Neu-Babylons diese Aufforderung hören würde. »Ich weiß, dass es noch andere Gläubige in der Stadt gibt«, erklärte Otto. »Ich habe einem der Führer gesagt, er solle mich anrufen, sobald die Nachricht kommt. Ich weiß nicht, was wir sonst tun können. Wir haben vereinbart, dass wir uns an der Landebahn des Palastes treffen. Wir hoffen, dass wir ein Flugzeug zur Verfügung haben werden, das groß genug ist, sie alle von dort wegzuschaffen.« »Mehr können wir nun mal nicht tun«, entgegnete Mac. Naomi platzte in ihre Besprechung hinein. »Wollt ihr euch von Tsion verabschieden? Alle sind zur Verabschiedung gekommen.« »Er bricht bereits auf?« Sie erklärte Mac den Grund für seine Eile. George, Otto und er folgten Naomi zu einer Lichtung in der Nähe des Hubschrauberlandeplatzes, wo sich, wie es schien, 297
Hunderttausende von Menschen versammelt hatten. »Nachrichten sprechen sich hier schnell herum, nicht wahr, Otto?« »Sehen Sie doch nur, wie viele dieser Menschen weinen! Er fliegt doch nur nach Jerusalem! Das sind doch nicht mehr als 100 Meilen, oder? Und ganz bestimmt kommt er doch zurück.« »Darum weinen sie ja, Otto. Die meisten Leute fragen sich, ob er wirklich zurückkommt.« Rayford wartete mit dem Anlassen des Hubschraubers, damit Tsion sich noch an die Menschen wenden konnte. Der Rabbi zog ein weißes Taschentuch aus der Tasche und winkte ihnen damit zu. Buck stieg vor ihm in den Hubschrauber ein. »Diese Menschen werden dir das Leben hart machen, wenn du ohne ihn zurückkommst, Rayford«, neckte Buck. »Was ich natürlich in einer Stunde oder so vorhabe.« »Ich dagegen komme besser nicht ohne ihn zurück«, meinte Buck. »Leute! Leute!«, rief Tsion. »Ich bin überwältigt von eurer Freundlichkeit. Betet für mich, damit ich das Privileg habe, noch viele Menschen für das Reich Gottes zu gewinnen. Die große Schlacht wird in wenigen Tagen beginnen, und ihr wisst, was das bedeutet. Wartet und beobachtet. Seid bereit für die Wiederkunft Christi! Wenn ich bis dahin nicht zurück bin, werden wir kurze Zeit später wieder vereint sein. Ihr werdet in meinen Gebeten und Gedanken bei mir sein, und ich weiß, ihr werdet auch an mich denken. Noch einmal vielen Dank! Bei Chaim Rosenzweig seid ihr in guten Händen und ich verabschiede mich von euch!« Winkend ging er an Bord. Rayford bemerkte, dass Tränen über die Wangen des Rabbis liefen, als dieser sich anschnallte. »Irgendetwas bedrückt dich doch«, sagte Naomi, als sie und Chang Hand in Hand zum Computerzentrum zurückgingen. Er hatte gerade Rayfords Flug nach Jerusalem mit Hilfe des Com298
puters als Warenlieferung getarnt. Chang zuckte die Achseln. »Manchmal bin ich froh, dass ich hier in Sicherheit bin und ruhig schlafen kann. Das ist so ganz anders als im Palast. Aber dann habe ich auch wieder das Gefühl, dass ich den leichten Weg gewählt habe. Alle rüsten sich für die große Schlacht.« »O Chang, sag so etwas nicht. Du hast doch jahrelang an vorderster Front gearbeitet. Und außerdem weißt du genau, dass du hier im Computerzentrum viel dringender gebraucht wirst. Ich weiß nicht, was wir ohne dich tun würden.« »Bevor ich kam, seid ihr auch ganz gut zurechtgekommen.« Sie ließ seine Hand los und stemmte die Hände in die Hüften. »Du hast aber ein kurzes Gedächtnis, Chang Wong. Wie kannst du vergessen, dass ich den größten Teil des Tages vor dem Computer verbracht und mit dir in Verbindung gestanden habe, obwohl du 500 Meilen entfernt warst? Wenn du mich nicht ausgebildet hättest, hätte ich hier gar nichts erreicht.« »Alles ist installiert und läuft. Es wäre kein Problem, wenn ich mal für ein paar Wochen weg wäre.« »Ich habe nicht von der Technik gesprochen, Chang. Ich will wirklich nicht selbstsüchtig sein, aber ich bin froh, dass du nicht nach draußen gehst. Vater liebt mich, aber nicht so wie du.« »Das hoffe ich doch.« Sie lächelte. »Und ich bin gern mit ihm zusammen, was nicht viele Mädchen meines Alters über ihre Beziehung zu ihrem Vater sagen können. Aber lieber bin ich mit dir zusammen. Du weißt doch, wir wollen überleben, damit wir 1000 Jahre lang zusammen sein können. Wir wollen das nicht wegen deines Gewissens aufs Spiel setzen.« »Du traust mir also nicht zu, dass ich mich in einer richtigen Schlacht gut schlage?« »Doch, das tue ich, Chang. Ich weiß, du bist nur halb so groß wie dieser Sebastian und viel vernünftiger als Buck Williams. 299
Aber ich denke, die Persönlichkeit und das wahre Wesen eines Menschen zeigen sich, wenn der Druck stark wird, und ich habe erlebt, wie du unter Druck reagierst. Mit ein wenig Ausbildung könntest du dich gut behaupten.« Rayford las Changs Übermittlungen und dachte zusammen mit Buck darüber nach, wo sie am besten landen sollten. Buck kramte in seiner Tasche herum und entgegnete: »Das musst du entscheiden, Ray. Ich wüsste keinen Ort, der ungefährlich ist.« »Denk daran, dass erst morgen alle Truppen der Weltgemeinschaft in Megiddo erwartet werden«, sagte Rayford. »Nicht heute. Vielleicht sind sie noch unterwegs.« »Da bin ich anderer Meinung«, widersprach Buck. »Sie haben die Anweisung, sich sofort auf den Weg zu ihrem Bestimmungsort zu machen. Ich kenne keinen Soldaten, der das nicht wörtlich nehmen würde.« »Setzen Sie mich einfach an der Klagemauer ab, Rayford«, bat Tsion. »Ich möchte dort predigen, wenn ich aus diesem Ding aussteige.« »Fällt Ihnen denn kein gefährlicherer Ort ein?« »Hier geht es nicht um Gefahr, Captain. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Der Tag des Herrn steht bevor. Wir wollen kein Lager aufbauen, wenn der Feind angreift.« »Sie haben gut reden«, meinte Rayford. »Nicht, bevor ich nicht wieder mit zwei Beinen heil auf der Erde stehe. Und jetzt tun Sie nur einmal, worum ich Sie bitte.« Rayford erreichte den Tempelberg. Dort wimmelte es nur so von Menschen. »Mist!« »Sie werden schon Platz machen«, beruhigte Tsion ihn. »Glauben Sie mir. Bringen Sie dieses Ding runter und sie werden aus dem Weg gehen. Bitte, ja?«
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19 Das Austrocknen des Euphrats war für die Könige des Ostens von Vorteil, die ihre Waffen jetzt auf dem Landweg nach Israel schaffen konnten. Der Rest des so genannten Fruchtbaren Halbmondes war nicht mehr länger fruchtbar. Die Bewässerungsanlagen versiegten, die Wasserkraftwerke stellten ihren Betrieb ein, Fabriken wurden geschlossen. Kurz gesagt: Alles, was von der Kraft des großen Flusses abhängig war, kam auf der Stelle zum Erliegen. Changs Vorhersage über die Reporter von GCNN, die mitten in dem ausgetrockneten Flussbett stehen würden, erwies sich als zutreffend. Aber all ihre fantasievollen Bemerkungen darüber, dass am Tag zuvor der Wasserstand noch so hoch gewesen und jetzt gar kein Wasser mehr da war, fanden die Menschen, die vom Wasser des Euphrats abhängig waren, überhaupt nicht lustig. Buck war nicht erstaunt, dass Tsion Recht hatte. Als Rayford den Hubschrauber auf eine freie Fläche auf dem Tempelberg zusteuerte, stoben die Menschen zornig auseinander und drohten ihnen mit den Fäusten. Buck schnappte sich seine Tasche und versteckte sein Maschinengewehr auf dem Rücken unter seiner Jacke. Er sprang aus dem Hubschrauber und ging hinter einem Gebüsch in der Nähe der Mauer in Deckung. Er blickte über die Schulter zurück und sah, dass Tsion seinem Beispiel folgte. Er war erstaunt über die Beweglichkeit dieses neu ausgebildeten Guerillakämpfers. Auf dem Boden kniend, schnappten sie nach Luft und beobachteten, wie Rayford wieder abhob. Der davonfliegende Hubschrauber lenkte die Menschen von ihnen ab. Buck sah sich um. »Hier habe ich vor dreieinhalb Jahren gesehen, wie die beiden Zeugen in den Himmel geholt wurden«, sagte er dann.
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Die alte Neugier war wieder da. Rayford konnte sie nicht abschütteln. Er war nur etwa 70 Meilen von Harmagedon entfernt. Er konnte doch nicht so nah daran vorbeifliegen, ohne es sich anzusehen. Das war verrückt, das wusste er. Vielleicht geriet er in den Luftverkehr der Weltgemeinschaft. Aber die Möglichkeit, aus der Luft zu sehen, wovon er schon so viel gelesen und gehört hatte, machte ihn wagemutig. Und wenn er als Konsequenz in den Abgrund fiel, es war trotzdem das Risiko wert. »Cameron, sehen Sie nur«, rief Tsion. »Sehen Sie sich all diese Menschen an! Sie tragen alle kein Zeichen! Sie zeigen sich stolz in der Öffentlichkeit, strahlen sich an, als wollten sie der Weltgemeinschaft trotzen.« Natürlich waren nirgends Soldaten der Friedenstruppen der Weltgemeinschaft zu sehen. Und es gab hier auch keine Moralüberwacher. Doch in der Luft herrschte Krieg, denn trotz aller Behauptungen der frommen Juden auf dem Tempelberg war klar, dass dieser Platz von der Angst beherrscht wurde. Diese Menschen wussten, wo die Weltgemeinschaft steckte, und sie wussten, dass sie schon bald Carpathias Zielscheibe sein würden. »Die alten Männer stehen an der Mauer«, sagte Tsion, »und beten inbrünstig und offen, wie sie es schon seit langer Zeit nicht haben tun können. Mein Herz bricht, wenn ich sie sehe. Die jungen Männer reden, planen, tragen Waffen zusammen. Sie sind entschlossen, diese Stadt zu verteidigen, genau wie ich.« »Aber die Stadt wird fallen, Tsion«, mahnte Buck. »Das haben Sie selbst gesagt.« »Nur vorübergehend, und je mehr von diesen Menschen wir am Leben halten können, desto mehr kommen ins Reich Gottes. Nur das ist mir wichtig.«
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Mac wusste noch nicht so genau, was er von Otto Weser halten sollte. Zweifellos war er ein guter Mann, aber strategisches Denken war nicht gerade seine Stärke. Vielleicht war er als Schreiner in Deutschland erfolgreich gewesen, aber in einer Schlacht hätte Mac nur ungern unter ihm gedient. »Aber verstehen Sie denn nicht, Mr. McCullum«, sagte Otto gerade, »wenn wir bei der übernatürlichen Ankündigung bereits auf der Landebahn am Palast stehen, können wir die Leute doch viel schneller wegschaffen.« »Und wenn wir diese Ankündigung gar nicht hören oder die Leute nicht zum Flugplatz kommen können? Dann sitzen wir dort fest, während die Stadt über uns zusammenstürzt.« »Aber werden wir als Gläubige denn nicht beschützt?« »Denken Sie doch mal nach, Mann! Wenn die Gläubigen beschützt werden, warum sollte Gott sein Volk dort herausrufen, bevor er die Stadt dem Erdboden gleichmacht?« »Ich möchte nicht mehr länger warten, Cameron. Ich gehe jetzt zur Klagemauer und beginne zu predigen.« »Aber wenn nun –« »Wir haben keine Zeit mehr für Einwände«, unterbrach Tsion ihn. »Wir sind aus einem bestimmten Grund hier und ich werde mich jetzt an die Arbeit machen. Also, werden Sie mir Deckung geben? Gehen Sie mit? Was ist nun?« »Natürlich gehe ich mit. Wenn Sie erst den Mund aufmachen, wird mich niemand mehr wahrnehmen.« Tsion drückte sich ein Käppi auf den Kopf und reichte auch Buck eines. »Es hat keinen Zweck, sich wegen Äußerlichkeiten steinigen zu lassen«, erklärte Tsion. »Wir begeben uns an einen heiligen Ort.« Sie verstauten ihre Taschen zwischen einem Baum und einem schwarzen Zaun. In ihren weit sitzenden Baumwollhosen und Jacken und mit umgehängten Maschinengewehren krochen sie aus dem Gebüsch und rannten zur Mauer. 303
»Hey, alter Mann, 200 Dollar für das Gewehr!« »Ich gebe 300!«, brüllte ein anderer. »Diese Waffe ist nicht zu verkaufen!«, rief Tsion. »Kommt, hört, was ich euch zu sagen habe!« Auf dem Platz vor der Klagemauer wimmelte es von Männern in traditionellen Gewändern, die eifrig ihre Gebete in die Spalten zwischen den Steinen schoben. Viele begannen schon zu beten, noch bevor sie die Mauer überhaupt erreicht hatten. Am Tag zuvor war der Platz noch leer gewesen. Und jeder, der in religiösen Gewändern erwischt wurde, selbst mit dem Zeichen Carpathias, wäre sofort in ein Konzentrationslager geschickt oder hingerichtet worden. Sobald Buck und Tsion sich ihren Weg durch die Menge hindurch zur Klagemauer bahnten, ernteten sie böse Blicke von den Männern. Tsion zögerte nicht. Er rief: »Männer von Israel, hört mich an! Ich bin einer von euch! Ich komme mit Neuigkeiten zu euch!« Die Menschen nahmen an, dass es sich um Neuigkeiten über den bevorstehenden Angriff handelte, und begannen sofort, sich zu sammeln. Tsion stieg auf einen kleinen Vorsprung, wo er von ihnen besser gesehen werden konnte. »Wir werden kämpfen bis zum Tod!«, rief jemand. »Das weiß ich und ich werde es auch!«, erwiderte Tsion. »Ihr seht, dass ich meinen Kopf bedeckt habe und kein Zeichen auf meiner Stirn oder Hand trage.« Die Männer jubelten. »Viele von uns werden bei dieser Auseinandersetzung ums Leben kommen«, fuhr Tsion fort. »Ich bin bereit, mein Leben für Jerusalem zu geben!« »Wir auch!«, riefen viele wie mit einer Stimme. »Wir brauchen Waffen!« »Wir brauchen Informationen!« »Was ihr braucht«, rief Tsion, »ist der Messias!« Die Männer brüllten, viele lachten. Andere murrten. Das war ganz eindeutig 304
nicht das, was sie zu hören erwartet hatten. »Viele von euch kennen mich! Ich bin Tsion Ben-Judah. Ich wurde zur unerwünschten Person erklärt, als ich die Ergebnisse meiner Studie über die Prophezeiungen über den Messias im Fernsehen bekannt gab.« Viele erinnerten sich und applaudierten. Obwohl sie ganz eindeutig nicht mit seinen Forschungsergebnissen übereinstimmten, denn sonst würden sie zu den Gläubigen gehören. Doch sie schienen ihn zu bewundern. »Meine Familie wurde ermordet. Ich wurde verbannt. Noch immer ist ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt.« »Und warum bist du dann hier, Mann? Weißt du nicht, dass die Teufel von der Weltgemeinschaft zurückkommen?« »Ich habe keine Angst vor ihnen, denn der Messias wird auch kommen! Lacht mich nicht aus! Wendet euch nicht ab von mir!« Viele blieben daraufhin stehen. »Hört, was in euren Schriften steht. Was hat das eurer Meinung nach zu bedeuten?« Er las die Verse 8 bis 10 aus dem 12. Kapitel des Buches Sacharja: »›An jenem Tag beschirmt der Herr die Einwohner Jerusalems, und dann wird selbst der von ihnen, der strauchelt, wie David sein und das Haus David an ihrer Spitze wie Gott, wie der Engel des Herrn. An jenem Tag werde ich danach trachten, alle Völker zu vernichten, die gegen Jerusalem anrükken. Doch über das Haus David und über die Einwohner Jerusalems werde ich den Geist des Mitleids und des Gebets ausgießen. Und sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben. Sie werden um ihn klagen, wie man um den einzigen Sohn klagt; sie werden bitter um ihn weinen, wie man um den Erstgeborenen weint.‹« »Erkläre uns, was das bedeutet!« »Gott verspricht uns hier, dass er den Schwächsten unter uns so stark machen wird wie David. Und er wird die Nationen vernichten, die gegen uns aufmarschieren. Meine lieben Freunde, damit sind alle anderen Nationen der Erde gemeint!« 305
»Das wissen wir. Carpathia hat kein Geheimnis daraus gemacht!« »Aber Gott sagt, dass wir auf den blicken werden, den wir durchbohrt haben, und dass wir ihn betrauern werden, wie wir den Verlust eines erstgeborenen Sohnes betrauern würden. Der Messias wurde durchbohrt! Und der Messias ist auch Gott. Meine lieben Freunde, ich habe mich ausgiebig mit den Hunderten von Prophezeiungen über den Messias beschäftigt und bin zu der einzig logischen Schlussfolgerung gekommen. Der Messias wurde in Bethlehem von einer Jungfrau geboren. Er lebte ohne Sünde. Ihm wurden Verbrechen zur Last gelegt, die er nicht begangen hatte. Er wurde grundlos ermordet. Er starb, wurde begraben und nach drei Tagen auferweckt. Diese Prophezeiungen allein deuten darauf hin, dass Jesus von Nazareth der Messias ist. Er wird wiederkommen und für Israel kämpfen. Er wird all das Unrecht rächen, das wir im Laufe der Jahrhunderte erduldet haben. Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Der Tag der Erlösung ist nahe. Ihr habt vielleicht nicht mehr die Zeit, diese Texte selbst zu studieren. Gott hat uns den Messias verheißen. Jesus ist die Erfüllung dieser Verheißung. Er kommt wieder. Ich hoffe, dass ihr bereit seid, wenn er kommt!« Rayford flog nicht als Einziger über die Ebene von Megiddo hinweg. Er hatte Mühe, sich seinen Weg durch den Verkehr zu bahnen, aber es fiel ihm auch schwer, den Blick von der Erde abzuwenden. Er stieg auf eine Höhe, von der aus er das 14 mal 25 Meilen große Areal überblicken konnte – etwa 350 Quadratmeilen. Der Staub schien sich eine Meile in den Himmel zu erheben, als Panzer, Lastwagen, Truppentransporter, Raketenabschussrampen, Kavallerien und Bodentruppen in dieses Gebiet zogen. Rayford hatte noch nie eine so große Menschenansammlung an einem einzigen Ort gesehen. Eine aus Millionen von Soldaten 306
bestehende Armee formierte sich in dem Gebiet. Von seiner Position aus konnte er auch den Hafen in Haifa sehen. Große Schiffe liefen ein und warteten darauf, ihre Waffen und Truppen auszuspucken. Aus jeder Richtung fluteten Soldaten und Ausrüstung in die Region. So groß sie auch war, sie schien niemanden mehr aufnehmen zu können. Und doch stießen noch immer weitere Armeen dazu. Buck befürchtete zuerst, Tsion könne die frommen Juden beleidigen. Viele versuchten, ihn niederzuschreien, während andere weggingen. Wieder andere versuchten, die Übrigen zum Schweigen zu bringen, und einige riefen weitere Menschen herbei, damit auch diese ihn anhören konnten. Trotz des Lärms und der Verwirrung wurde die Menge immer größer. Tsion schien seltsam belebt. Er zitierte Bibelverse, legte sie aus und wartete nicht auf die Reaktion der Menge. Seine Botschaft entwickelte sich vom Dialog zum Monolog und doch waren die Menschen fasziniert. »Ja, die Armeen der Welt sammeln sich. Noch während wir hier stehen, rotten sie sich im Norden zusammen. Ihr Ziel ist die Zerstörung Jerusalems. Sie wollen uns vernichten. Aber ich bitte euch, habt keine Angst vor denen, die den Leib zwar töten können, nicht aber die Seele. Sondern fürchtet ihn, der in der Lage ist, sowohl Seele als auch Leib in der Hölle zu vernichten. Ja, ihr wisst, von wem ich spreche. Der Messias kommt wieder! Seid bereit für seine Ankunft! Wenn ihr wissen wollt, wie ihr euch auf ihn vorbereiten könnt, stellt euch hier zu meiner Linken auf, und mein Gefährte wird es euch erklären. Bitte! Kommt jetzt! Zögert nicht mehr! Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Heute ist der Tag der Erlösung.« Buck war verblüfft. Auf so etwas war er nicht vorbereitet gewesen, doch als sich die Juden um ihn versammelten und ihn 307
erwartungsvoll anblickten, schickte er ein stummes Stoßgebet zum Himmel und Gott gab ihm die richtigen Worte. »Wenn jüdische Menschen wie ihr zu der Erkenntnis kommen, dass Jesus euer lang erwarteter Messias ist«, sagte er, »dann wechseln sie nicht von einer Religion zu einer anderen, egal, was andere Menschen behaupten. Ihr habt euren Messias gefunden, das ist alles. Einige würden sagen, ihr habt zur Vollständigkeit gefunden. Alles, was ihr gelesen habt und was euch euer ganzes Leben lang erzählt wurde, ist die Grundlage für eure Annahme des Messias und dessen, was er für euch getan hat.« Buck erläuterte ihnen den Plan der Erlösung und forderte die hungrigen und durstigen Menschen auf, Gott zu sagen, dass sie Jesus als den Messias annahmen. »Er kommt nicht nur, um Jerusalem zu rächen, sondern um eure Seele zu retten, um euch eure Sünden zu vergeben und euch ewiges Leben bei Gott zu schenken.« »Naomi!«, rief Chang. »Komm und sieh dir das an.« Gemeinsam verfolgten sie auf GCNN ein Interview mit Carpathia. Der Supreme Potentat befand sich noch nicht in Harmagedon, aber er saß auf einem mächtigen Schlachtross und schwang ein Schwert, das so breit und lang war, dass allein sein Gewicht einen kleineren Mann aus dem Sattel geworfen hätte. Er trug Lederstiefel, die ihm bis zum Oberschenkel reichten, und ein breites Grinsen lag auf seinem Gesicht. »Uns steht die modernste Technologie zur Verfügung«, rief er, als die Reporterin ihm das Mikrofon hinhielt. »Die Monate der Planung sind vorüber und wir haben einen todsicheren Plan erstellt. Das gibt mir die Freiheit, die Truppen zu ermutigen, mich zu den Schlachtfeldern fliegen zu lassen und ein sichtbares Zeichen dafür zu sein, dass der Sieg in Sicht und bald unser sein wird. Es wird nicht mehr lange dauern, meine Brüder und Schwe308
stern in der Weltgemeinschaft, bis wir siegreich herrschen werden. Ich werde zurückkehren und meinen Thron als siegreicher König aufrichten. Die Welt wird endlich vereint sein! Wir dürfen uns schon jetzt darauf freuen!« Sobald sich die Nachricht verbreitet hatte, dass Tsion BenJudah an der Klagemauer zu den Juden sprach, strömten immer mehr Menschen herbei. »Diese Bibelstellen sagen voraus, was bald geschehen wird!«, rief er. »Hört auf die Worte des Petrus: ›Der Tag des Herrn wird aber kommen wie ein Dieb. Dann wird der Himmel prasselnd vergehen, die Elemente werden verbrannt und aufgelöst, die Erde und alles, was auf ihr ist, werden (nicht mehr) gefunden. Wenn sich das alles in dieser Weise auflöst: wie heilig und fromm müsst ihr dann leben, den Tag Gottes erwarten und seine Ankunft beschleunigen! An jenem Tag wird sich der Himmel in Feuer auflösen und die Elemente werden im Brand zerschmelzen. Dann erwarten wir, seiner Verheißung gemäß, einen neuen Himmel und eine neue Erde, in denen die Gerechtigkeit wohnt.‹ Das ist unsere Verheißung, das ist es, worauf wir uns freuen! Über wie viele Generationen hinweg haben wir um Frieden gebetet. Bald, nach der Auseinandersetzung werden wir ewigen Frieden haben! Der Messias wird als König der Könige wiederkommen. Er hat versprochen, wiederzukommen, Satan zu besiegen und sein tausendjähriges Reich aufzubauen. Er wird Israel wieder aufrichten und Jerusalem für immer zur Hauptstadt machen! Unzählige Anhänger des Messias wurden bereits von der Erde genommen, und nach dem großen Massenverschwinden vor sieben Jahren, das mehr als 2000 Jahre zuvor prophezeit worden war, haben viele Juden und Heiden erkannt, dass Jesus Christus der wahre Messias ist. Unser Prophet Joel hat genau diese Zeit vorhergesagt. Hört 309
auf die Worte der Heiligen Schrift: ›Danach aber wird es geschehen, dass ich meinen Geist ausgieße über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben und eure jungen Männer haben Visionen. Auch über Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen. Ich werde wunderbare Zeichen wirken am Himmel und auf der Erde: Blut und Feuer und Rauchsäulen. Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und schreckliche Tag. Und es wird geschehen, wer den Namen des Herrn anruft, wird gerettet. Denn auf dem Berg Zion und in Jerusalem gibt es Rettung, wie der Herr gesagt hat, und wen der Herr anruft, der wird entrinnen.‹ Ihr seid der Überrest des Volkes Israel. Wendet euch heute dem Messias zu! Hört weiter auf die Prophezeiungen Joels und prüft, ob sie nicht auf die heutige Zeit zutreffen: ›Denn seht, in jenen Tagen, in jener Zeit, wenn ich das Geschick Judas und Jerusalems wende, versammle ich alle Völker und führe sie hinab zum Tal Joschafat; dort streite ich im Gericht mit ihnen um Israel, mein Volk und meinen Erbbesitz.‹ Diese riesige internationale Streitmacht, die der böse Herrscher dieser Welt die ›Welteinheitsarmee‹ nennt, wird von seinem Sammelplatz aufbrechen und durch das Tal Joschafat marschieren, von dem Joel schreibt, und wenn sie feststellen, dass sie die Stadt der Zuflucht nicht einnehmen können, werden die Kämpfe in diesem Tal ausgetragen werden.« Rayford musste zurückfliegen. Hoch über den versammelten Horden des Antichristen konnte er nichts ausrichten. In diesem Tal würde sich die große Armee in zwei Teile aufteilen. Ein Drittel würde seinen unerbittlichen Marsch auf Petra beginnen, der Rest würde nach Jerusalem ziehen. Seiner Schätzung nach würden sie etwa einen Tag brauchen, 310
bis sie ihr Ziel erreichten und mit dem Angriff beginnen konnten. Innerhalb von nur wenigen Stunden konnten die zwei Drittel, die Jerusalem zugeteilt waren, bereits mitten im Kampf stecken. Buck beantwortete Fragen, betete mit den Menschen und versuchte zwischendurch auf das zu hören, was Tsion zu sagen hatte. Dieser schien neuen Auftrieb bekommen zu haben. »Der Tag des Herrn steht kurz bevor«, rief er. »Und wenn ihr zu denen gehört, die noch zweifeln, lasst mich euch sagen, was laut Prophezeiung passieren wird, nachdem sich die Armeen der Welt bei Harmagedon gesammelt haben – was, wie wir alle in den Nachrichten hören konnten, gerade passiert. Wie viele von euch wissen, dass die Friedenstruppen und Moralüberwacher dorthin abgezogen worden sind? Versteht ihr? Ja, viele von euch. Wir geben uns keinen Illusionen mehr hin. Sie rotten sich zusammen und planen unsere Vernichtung. Und doch steht in der Schrift, dass der siebte Engel, wenn sie sich dort gesammelt haben, seine Schale in die Luft ausgießen wird. Wisst ihr, worauf sich das bezieht, ihr Männer von Israel? Das Austrocknen des Euphrats war das sechste Schalengericht Gottes über die Erde, das 20. seiner Gerichte seit der Entrückung. Dieses siebte Schalengericht wird das letzte sein, und wisst ihr, was es nach sich zieht? Wenn diese Schale ausgegossen sein wird – so steht es in der Bibel –, wird ›eine laute Stimme aus dem Tempel‹ kommen, ›die vom Thron her rief: Es ist geschehen.‹ Erinnert euch das nicht an das fleckenlose Lamm Gottes am Kreuz, das ebenfalls ausrief: ›Es ist vollbracht!‹? ›Und es folgten Blitze, Stimmen und Donner, es entstand ein gewaltiges Erdbeben, wie noch keines gewesen war, seitdem es Menschen auf der Erde gibt. So gewaltig war dieses Beben.‹ Ich möchte euch warnen, meine Landsleute. Dieses Erdbeben wird über die ganze Erde kommen. Stellt euch das nur vor! In 311
der Bibel steht: ›Die Inseln verschwanden und es gab keine Berge mehr.‹ Es gab keine Berge mehr! Der gesamte Erdball wird Meereshöhe haben! Wer kann eine solche Katastrophe überleben? In der Prophezeiung wird weiter gesagt: ›Und gewaltige Hagelbrocken, zentnerschwer, stürzten vom Himmel auf die Menschen herab.‹ Meine lieben Freunde, stellt euch das einmal vor. Zentnerschwere Brocken! Wer hat je von solchen Hagelbrokken gehört? Sie werden die Menschen erschlagen! Und in der Bibel heißt es, dass die Menschen Gott wegen dieser Plage verfluchen werden, ›denn die Plage war über die Maßen groß‹. Nun, das will ich meinen! Kehrt um und tut jetzt Buße! Tretet in die Armee Gottes ein, nicht in die des Feindes. Wisst ihr, was hier geschehen wird, hier in Jerusalem? Es wird die einzige Stadt der Welt sein, die vor der vernichtenden Kraft des größten Erdbebens, das je ein Mensch erlebt hat, verschont bleiben wird. ›Die große Stadt‹ – das ist Jerusalem – ›brach in drei Teile auseinander und die Städte der Völker stürzten ein.‹ Das, meine Brüder, ist eine gute Neuigkeit. Jerusalem wird in drei Teile geteilt werden, wird noch schöner, noch effizienter gemacht werden. Es wird auf seine Rolle als neue Hauptstadt im tausendjährigen Reich des Messias vorbereitet werden.« Immer mehr Menschen strömten zum Tempelberg, nachdem sie gehört hatten, dass Tsion dort predigte. Hunderte und schon bald Tausende begannen zu weinen und fielen auf die Knie, taten Buße vor Gott, nahmen Jesus Christus als Messias an und unterstellten ihr Leben dem König der Könige. Buck war müde, tat aber weiter seinen Dienst. Es erstaunte ihn, dass so viele, die in ihrer jahrhundertealten Religion gefangen gewesen waren, endlich erkannten, dass Jesus Christus die alttestamentlichen Prophezeiungen über den Messias erfüllt hatte. Tsion rief: »Wie werden wir wissen, dass dies in Erfüllung 312
geht? Die Zerstörung Babylons wird diesen Ereignissen vorausgehen. Ja, die Zerstörung Babylons! Hört: ›Gott hatte sich an Babylon, die Große, erinnert und reichte ihr den Becher mit dem Wein seines rächenden Zornes.‹ Schrecklich! Es wird entsetzlich sein! Die liebevolle, gnädige Geduld Gottes mit dieser bösen Stadt wird zu Ende sein, und er wird seinen Zorn nicht mehr länger zurückhalten. Die Plage der Dunkelheit wird seinen Zorn nicht zufrieden stellen können. Er wird zulassen, dass sie innerhalb von nur einer Stunde angegriffen, geplündert und zerstört wird. So groß wird die Macht des Unheils sein, das über sie kommt, dass ihre Auswirkungen auf dem gesamten Erdball zu spüren sein werden, während die Nationen den Untergang der Hauptstadt der Welt betrauern!« Da er wusste, dass ihm nur wenig Zeit blieb und dass Buck Kenny versprochen hatte, sein Großvater werde einen Rundflug mit ihm machen, setzte Rayford sich mit Petra in Verbindung und bat Abdullah, seinen Enkel zum Landeplatz zu bringen. Er machte eine kleine Spritztour mit Kenny, hoch in die Luft und wieder hinunter, was der Kleine besonders liebte. Rayford war dankbar, dass der Junge sich nicht nach den Menschen erkundigte, die George und Razor im unteren Teil der Felsenstadt versammelten. Wenn Rayford diese mit der Armee verglich, die er nördlich von Jerusalem gesehen hatte, war klar, dass die wenigen tausend Soldaten in Petra ohne übernatürliches Eingreifen chancenlos sein würden. Die folgenden Stunden widmete Rayford Kenny, dann machte er sich auf den Weg, um nach George und seinen kämpfenden Truppen zu sehen. »Mac, kommen Sie schnell«, rief Otto. »Da ist eine Frau in der Leitung, aber ihr fehlen irgendwie die Worte.« Als Mac in Ottos Unterkunft kam, hörte er, wie die Frau zu berichten versuchte, was sich ereignet hatte. 313
»Ich weiß nicht, wie lange wir noch haben«, erklärte sie atemlos, »aber es ist Zeit aufzubrechen.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Mac. »Ein Engel«, erwiderte sie. »Sind Sie sicher?« »Hell, weiß, leuchtend, groß, sehr groß. Und es war ein Mann, zumindest der da. Er war so hell, dass die Dunkelheit in dieser Stadt gewichen ist. Hier ist es noch immer taghell.« »Was hat er gesagt?« »Er sprach so laut, dass jedermann hier zuhören musste, und nie werde ich auch nur ein Wort davon vergessen. Er sagte: ›Babylon, die Große, ist gefallen, ist gefallen und ist zu einem Wohnort von Dämonen geworden, einem Gefängnis für jeden üblen Geist und einem Käfig für jeden unreinen und verhassten Vogel! Denn alle Nationen haben von dem Wein des Zornes ihrer Unzucht getrunken, die Könige der Erde haben mit ihr Unzucht getrieben und die Kaufleute der Erde sind durch den Überfluss ihres Luxus reich geworden.‹« »Wir sind schon unterwegs! Alle sollen am Landeplatz des Palasts warten, und wenn Sie noch von weiteren Gruppen von Gläubigen hören, schicken Sie sie auch dorthin.« »Das ist noch nicht alles, Sir.« »Wie bitte?« »Ich habe noch eine andere Stimme vom Himmel gehört. Sie sagte: ›Kommt heraus aus ihr, mein Volk, damit ihr nicht an ihren Sünden Anteil habt und damit ihr nicht ihre Strafe empfangt. Denn ihre Sünden sind in den Himmel aufgestiegen und Gott hat sich an ihren Frevel erinnert.‹« »Ich habe kaum genügend Leute zur Verfügung, um diesen Ort zu umstellen«, stöhnte Sebastian. Rayford wich Georges Blick aus. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. So wie ich das verstehe, müssen wir unsere Stellung 314
nicht halten.« »Ich möchte aber nicht, dass Menschen verletzt werden, Captain. Mir wäre es lieber, wir würden uns einfach aufstellen und ein paar heraussuchen.« »Sehen Sie es doch einmal folgendermaßen, George: Jesus wird zuerst hierher kommen. Wir könnten die Ersten sein, die seine Wiederkunft miterleben.« »Sagen Sie das einer kämpfenden Truppe, die tausend zu eins unterlegen ist. Sie sind vielleicht schon im Himmel, bevor Jesus überhaupt von dort aufbricht.« Mac wusste nicht, was sie in Neu-Babylon erwarten würde, darum bat er Lionel in letzter Minute, ebenfalls mit einem großen Flugzeug dorthin zu kommen. Beide konnten dann jeweils bis zu 100 Menschen evakuieren. Als sie am Palast landeten, war ihm höchst unheimlich zu Mute. Die Stadt lag nicht mehr im Dunkeln, aber die verwundeten Menschen in der Stadt wussten nicht, was sie von der plötzlichen Helligkeit halten sollten. Sie hatten schon so lange in Dunkelheit und mit Schmerzen gelebt, dass sie verwirrt waren und noch immer nicht zu sich gefunden hatten. Die meisten humpelten und taumelten umher. Auf die Rettungsflugzeuge warteten mehr als 150 Gläubige, die bei ihrer Ankunft in Jubel ausbrachen. Sie trugen ihre Habseligkeiten in Säcken und Kisten bei sich und konnten es kaum erwarten, an Bord zu gehen, was die ganze Operation sehr erleichterte. Mac und Lionel hatten mit ihren voll besetzten Flugzeugen gerade gewendet und rollten über die Startbahn, als das Gericht seinen Lauf nahm und zwei eindringende Armeen angriffen. Schon bevor Mac den Luftraum über Neu-Babylon verlassen hatte, stieg schwarzer Rauch in den Himmel auf. Er und Lionel kreisten etwa eine Stunde über der Stadt, während ihre Passagiere die vollkommene Zerstörung der einst so großartigen und 315
prächtigen Stadt mit ansahen. Innerhalb von 60 Minuten war jedes Gebäude dem Erdboden gleichgemacht und jeder Bewohner getötet. Als sich die geheimnisvollen Armeen zurückzogen, die aus dem Norden und Nordwesten gekommen waren, stand die ganze Metropole in Flammen. Mac drehte nach Petra ab. Von Neu-Babylon waren nur noch Asche und Rauch übrig. Verwirrt verfolgte Chang die Berichte von GCNN über Auseinandersetzungen und Uneinigkeiten innerhalb der Welteinheitsarmee. Offensichtlich mussten sich Carpathias Truppen gegen die Nationen zur Wehr setzen, die von Machthunger und Ehrgeiz überwältigt wurden, nachdem die in Al Hillah gelagerten Waffen verteilt worden waren. Die Mehrheit von Carpathias Verbündeten rottete sich jedoch zusammen, um den Widerstand niederzuschlagen, und als alle in Harmagedon versammelt waren, wurden sie von den Dämonen, von Carpathia selbst oder den Realitäten des Krieges überzeugt, sich miteinander gegen das Volk Gottes zu verbünden. Die Zahl der Truppen ergoss sich weit über das Tal von Megiddo hinaus nach Norden und Süden, Osten und Westen, an Jerusalem vorbei und bis hinunter nach Edom. Allein die Zahl der Reiter wurde auf mehr als 200 000 geschätzt. Luftaufnahmen von GCNN konnten nur etwa eine Million Soldaten auf einmal erfassen, aber Dutzende und Aberdutzende unterschiedliche Bilder wurden gesendet und bewiesen, dass die Armee gewaltige Ausmaße hatte. Chang spürte die Panik bei den Menschen in Petra. Diejenigen, die sich die Nachrichten ansahen, konnten sich nicht vorstellen, gegen eine solch überwältigende Armee anzutreten. Diejenigen, die keine Nachrichten sahen, hörten von anderen davon, und erschreckende Berichte über die Ereignisse machten im Lager die Runde. Viele rannten zu den Opferstätten und konnten die Staubwolken und die Massen von Menschen, Tieren und Waffen langsam durch die Wüste näher kommen sehen. 316
Chaim ergriff die Gelegenheit, um die Menschen zusammenzurufen. Es war kurz vor dem erwarteten Abendmanna. »Mein liebes Volk, meine lieben Brüder und Schwestern. Seid guten Mutes. Habt keine Angst. Ich höre wundervolle Berichte aus Jerusalem, wo unser Bruder Tsion das Evangelium von Jesus Christus mit großem Mut und großartigen Ergebnissen verkündigt. Erst vor zehn Minuten habe ich mit dem sehr erschöpften und noch sehr beschäftigten Cameron Williams gesprochen. Er berichtete mir, dass Tausende von Menschen um die Vergebung ihrer Sünden bitten, sich Christus zuwenden und Jesus von Nazareth als ihren Messias anerkennen. Preist den Herrn, Gott, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde!« Die Menschen schienen ermutigt und jubelten und hoben weinend die Hände zum Himmel. »Wir wissen nicht, was kommen wird«, fuhr Chaim fort. »Neu-Babylon ist gefallen und innerhalb von nur einer Stunde vollkommen zerstört worden, genau wie in den Prophezeiungen vorhergesagt. So stehen nun nur noch zwei große Ereignisse auf dem prophetischen Kalender aus, meine Freunde. Und das erste ist?« Die Menschen riefen: »Das siebte Schalengericht!« »Und das zweite?« »Die Wiederkunft Christi!« »Wir dienen dem großen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, dem Befreier Schadrachs, Meschachs und Abed-Negos«, schloss Chaim. »Wir haben das Feuer des Antichristen überlebt und wir sind vor dem Käscher des Vogelfängers bewahrt geblieben. Habt keine Angst. Steht still und wartet auf die Erlösung des Herrn, die er für euch vollbringen wird. Denn den Feind, den ihr heute seht, werdet ihr schon bald nie mehr sehen. Der Herr wird für euch streiten und ihr werdet stille sein.«
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20 Dunkelheit hatte sich über Jerusalem gelegt, doch auf dem Tempelberg wimmelte es noch immer von Menschen. Tsion wirkte auf Buck schwach und erschöpft. Er löste sich von der Menge und ging zu ihren Taschen, um ihm etwas zu essen zu bringen, doch diese waren verschwunden. Er rannte zu Tsion hinüber und empfand nun selbst ein nagendes Hungergefühl. »Ich brauche etwas zu essen für den Rabbi!«, rief er laut. »Mir geht es gut!«, erwiderte Tsion und predigte weiter. »Bitte, hat nicht jemand etwas dabei? Brot, Obst, irgendetwas?« »Fünf Brote und zwei Fische?«, fragte jemand und alle brachen in schallendes Gelächter aus. Ein älterer Mann warf Buck einen Apfel zu. Andere reichten ihm ein rundes Brot, das noch knusprig und warm war. Jemand spendete ein Stück Käse. Wieder andere hatten noch ein paar Orangen dabei. »Helft mir, diesen starrsinnigen Lehrer davon zu überzeugen, eine Pause zu machen!«, bat Buck, und viele drängten Tsion, sich doch wenigstens hinzusetzen. Das tat er auch. Tsion unterhielt sich nun eher, als dass er predigte, und beantwortete Fragen. Zwischendurch steckte er immer etwas zu essen in den Mund. Die Menge wuchs unterdessen noch weiter an. »Ich wusste gar nicht, wie hungrig ich war«, seufzte Tsion. Er blickte Buck an. »Vielen Dank, mein Freund.« Jemand reichte ihm einen Behälter mit Wasser und er nahm einen tiefen Schluck. Auf einmal hob jemand beide Hände und alle verstummten. Das Poltern einer näher kommenden Armee war deutlich zu hören. Buck spürte die Vibration am ganzen Körper. »Wir müssen den Rabbi in ein Versteck bringen«, rief jemand. »Wir können uns ja dort treffen.« 318
Tsion wollte protestieren, aber die Zuhörer verließen in Scharen den Platz. Er und Buck liefen ihnen hinterher. Sie wurden zu einem riesigen Gebäude aus Stein geführt, in dem leicht 1000 Menschen Platz finden konnten. Noch einmal etwa die Hälfte davon drängte sich vor der Vorderfront. »Was sollen wir tun, wenn der Feind eintrifft?«, fragte jemand. »Er ist uns zahlenmäßig noch mehr überlegen als damals bei Gideon.« »Wir müssen einfach unser Bestes geben«, erwiderte Tsion. »Ich versuche heute, möglichst viele meiner Mitjuden ins Reich des Messias zu bringen, bevor es zu spät ist. Deshalb fühle ich mich getrieben, möglichst viele Kandidaten am Leben zu erhalten. Wenn ihr dasselbe Ziel verfolgt, geht in die Stadt und ladet jeden ein, hierher zu kommen und sich uns anzuschließen. Der Feind wird mit der Eroberung Jerusalems beginnen und Menschen gefangen nehmen, aber ich denke, ihr Hauptziel ist die Altstadt. Was könnte Carpathias Stolz mehr schmeicheln als die Vorstellung, an diesen heiligen Ort vorzudringen und sein Hauptquartier hier aufzuschlagen? Wenn wir angegriffen werden, bevor ihr zurückkommen könnt, nehmt das, was ihr hier gelernt habt, mit und sagt es allen weiter, die ihr kennt und trefft. Sie müssen nicht hierher kommen, um ein Gebet zu sprechen und in das Reich des Messias einzutreten.« Jemand rief: »Besser noch wäre, wenn sie bereits entschieden und mit einer Waffe hierher zurückkämen!« »Nun«, erwiderte Tsion, »da habt ihr Recht.« Wie so häufig, wenn Kenny die Nacht bei Rayford verbrachte, wollte der Junge nicht einschlafen. Dazu war er nur bereit, wenn er sich an seinen Großvater kuscheln konnte. Rayford legte sich vorsichtig auf die kleine, für den Jungen gedachte Pritsche und streckte die Arme nach ihm aus. Kenny kletterte auf ihn und legte seinen Kopf auf Rayfords Brust. 319
Dieser kämpfte selbst gegen die Müdigkeit an. Er wollte nicht einschlafen, da Kenny das Bedürfnis hatte zu reden. »Mami ist im Himmel«, sagte Kenny. »Das stimmt. Und wir vermissen sie, nicht wahr?« »Ich schon.« »Ich auch.« »Wir werden sie ganz bald wieder sehen.« »Sehr, sehr bald, Kenny.« Rayford wusste, dass Buck ihm den göttlichen Kalender erklärt hatte. »Morgen?« »Vielleicht. Oder übermorgen. Auf jeden Fall sind es nicht mehr viele Tage.« »Wo ist der Himmel, Großpapa?« »Bei Gott.« »Und Gott ist bei Mami?« »Ja.« »Und Jesus?« »Und Jesus auch.« »Ich möchte, dass sie herkommen.« »Bald.« Rayford hatte mit Priscilla Sebastian vereinbart, dass sie ihn vor Tagesanbruch mit der Beaufsichtigung Kennys ablösen würde. Rayford wurde bei den Truppen vor der Stadt erwartet. Schon bald hörte Kenny auf, zu reden und sich zu bewegen, und seine Atmung wurde regelmäßig und tief. Rayford betete für ihn und wartete noch ein paar Minuten, bevor er vorsichtig unter ihm wegrutschte. Kurz darauf lag Rayford auf seiner eigenen Pritsche auf der anderen Seite des Zimmers und betrachtete den Jungen. Wie sehr hätte sich Irene über ihren Enkelsohn gefreut. Wäre Kenny in einer anderen Periode der Geschichte aufgewachsen, wäre er in einem Jahr in die Schule gekommen. Rayford fragte sich, welche Form der Bildung es wohl im tausendjährigen Reich geben würde. 320
Er fragte sich auch, wie alles sein würde. Würden er, Buck und Kenny alt werden, während Irene, Raymie und Chloe so blieben, wie sie waren, als sie in den Himmel kamen? Und was war mit Amanda? Er fürchtete, dass das Wiedersehen mit seiner Frau unangenehm sein könnte, aber würden solche Situationen in der Gegenwart Jesu überhaupt von Bedeutung sein? Rayford war in den vergangenen Jahren so beschäftigt gewesen, dass er sich den Luxus des Träumens versagt hatte. Wie würde es sein, die Wiederkunft Christi zu erleben und dann tatsächlich bei Christus zu sein? Rayford hatte festgestellt, dass er jetzt in seinem Alter emotionaler war als früher, und oft brachte ihn allein der Gedanke an die Veränderung, die Christus bei ihm bewirkt hatte, zum Schluchzen. Sich vorzustellen, dass der sündlose Sohn Gottes ihn so sehr liebte, dass er für seine Sünden gestorben war … Rayford konnte dies noch immer nicht fassen. Und er freute sich auf die Gelegenheit, ihm zu danken, ihn anzubeten, von Angesicht zu Angesicht, 1000 Jahre lang. Und dann für alle Ewigkeit. Er hatte noch nicht einmal angefangen, sich vorzustellen, wie es im Himmel sein würde. In den frühen Morgenstunden wurden Buck und Tsion von einem älteren Mann namens Shivte und seinen beiden Söhnen, die beide in den Vierzigern waren, bei sich aufgenommen. Es waren sehr weichherzige, aber äußerlich stämmige Männer. Sobald Shivtes Frau auf das geheime Klopfzeichen ihres Mannes hin die Tür öffnete, erbleichte sie und fiel beinahe in Ohnmacht. »Preis sei Gott! Preis sei Gott!«, rief sie. »Sie sind Tsion Ben-Judah! Und ihr!«, fügte sie hinzu und blickte zuerst ihren Mann, dann ihre beiden Söhne an. »Ihr tragt das Zeichen Gottes auf eurer Stirn! Könnt ihr jetzt endlich auch meines erkennen?« 321
Lächelnd nickten die Männern und umarmten sie nacheinander. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr wir Ihre Gastfreundschaft zu schätzen wissen«, erklärte Tsion. »Unsere Sachen sind verschwunden und wir haben keine Vorsorge für eine Übernachtungsmöglichkeit getroffen.« Shivtes Frau erwiderte: »Wir haben leider auch keine großen Unterbringungsmöglichkeiten. Aber wir haben Decken und etwas zu essen.« »Der Herr wird es Ihnen lohnen«, erwiderte Tsion. »Das hat er bereits«, sagte sie. »Meine Männer mit Ihnen durch diese Tür kommen zu sehen, das ist für mich Belohnung genug. Demütig biete ich den Dienern Gottes meine Gastfreundschaft an.« »Erzählen Sie mir doch, wie Sie zum Messias gefunden haben«, lud Tsion sie ein. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Durch Micha«, erklärte sie und Tsion und Buck sahen sich an. »Ich hatte lange gezögert, das Zeichen Carpathias anzunehmen. Ich wollte es nicht. Meine Männer wollten es auch nicht. Sie wollten sich hier tagsüber vor der Weltgemeinschaft verstecken. Aber ich dachte, einer von uns müsste das Zeichen doch annehmen, um etwas kaufen zu können. Von irgendetwas mussten wir doch leben. Ich war dazu bereit, aber mir wurde schon allein von der Vorstellung, diese Statue anzubeten, unwohl. Ich war am Tempelberg und wollte das Zeichen annehmen, auch wenn ich in meinem Herzen nur an den einen wahren Gott glaubte. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Ich hatte Angst um mein Seelenheil, aber ich war der Meinung, ich würde mein Leben für meine Familie opfern, und mir fiel kein besserer Weg ein. Mir war damals nicht klar, dass ich meine Seele an das Böse verkaufen würde. Nicht einmal diese Männer sind das wert.« 322
Ihr Mann und ihre Söhne lächelten. »An diesem Tag stand ich in der Schlange an, Rabbi. Ich stand wirklich in der Reihe. Ich weiß nicht, wie viele Menschen zwischen mir und dem Gerät zur Verteilung des Loyalitätszeichens standen. Ich bemerkte eine Unruhe und verließ die Schlange. Von hinten beobachtete ich, was geschah. Ich hörte die Schüsse, die den Mann Gottes nicht töten konnten. Daraufhin rannte ich zurück in unser Haus, und meine Männer müssen zugeben, dass sie mich verspottet haben. Ihnen hatte der Plan gefallen, dass einer von uns, also ich, das Zeichen annahm, damit wir etwas zu essen hatten. Was sollte nun aus uns werden? Ich habe ihnen gesagt, sie könnten nachts nach draußen gehen und Essen besorgen, aber ich wollte mehr über den Mann Gottes erfahren. Einer meiner jungen Freunde besaß einen Computer und wir fanden Ihre Website. So erkannte ich, dass Jesus der verheißene Messias ist. Jetzt war ich eine Ausgestoßene in meinem eigenen Heim. Meine Männer waren fromme Juden und widersetzten sich Carpathia, aber für den Messias waren sie noch nicht bereit. Ich betete, flehte und bettelte, doch schließlich kamen wir überein, dass wir gar nicht mehr darüber reden würden. Es reicht, sagten sie, und ich hatte genug von ihrer Zurückweisung und ihrem Spott. Aber ich konnte ja noch beten. Und Gott erhört Gebete. Jetzt sind Sie hier und sie sind bei Ihnen und tragen das Zeichen Gottes auf ihrer Stirn.« Rayford konnte nicht schlafen und spürte den Drang, sich mit Buck in Verbindung zu setzen. Auf Zehenspitzen schlich er ins andere Zimmer, damit er Kenny nicht aufweckte, suchte sein Handy und wählte Bucks Nummer. Nachdem dieser sich nach Kenny erkundigt hatte, brachte er Rayford auf den neuesten Stand. »Erstaunlich«, sagte Rayford. »Wie sieht Tsions Meinung 323
nach der Zeitplan aus?« »Er rechnet damit, dass der Angriff hier in den frühen Morgenstunden beginnen wird. Und bei euch wird es vermutlich ebenso sein.« »Das haben wir uns auch schon gedacht, Buck. Aber der Teil mit dem Kämpfen ist so überflüssig.« »Vorübergehend, meinst du.« »Natürlich, aber ich weiß nicht, worin der Sinn liegt, dass man Menschenleben riskiert, wo sie doch hier drinbleiben und –« »– und auf Jesus warten könnten?« »Genau.« »Komm schon, Dad. Wer will das denn? Ich würde es gern sehen, wenn er kommt und sieht, dass ich bei der Arbeit bin. Du nicht?« »Ich weiß, aber du solltest die Menschen sehen, die wir draußen haben. Ein paar tausend, die ich überhaupt nicht kenne. Und dann Otto und ein paar seiner Leute, die alle im Umgang mit einer Waffe völlig ungeübt sind. Ree, Ming, Lionel, Hannah, Zeke. Nicht gerade Soldaten. Mac natürlich und Smitty. Sie können selbst auf sich aufpassen, und dass George und Razor ihren Mann stehen werden, steht natürlich außer Frage. Wenn George mal nicht versucht, den Held zu spielen. Er ist so eifrig, Buck, du solltest ihn sehen. Er versucht wirklich, das Beste daraus zu machen. Man merkt, dass er denkt, er müsse es schaffen, doch dann wird ihm klar, wie wenig Soldaten unter seinem Kommando stehen, und seine Augen werden glasig.« »Ihr habt die Energiewaffen und die Kaliber-50-Gewehre, oder?« »Ja, aber gegen Nuklearwaffen? Ach, komm.« »Ihr könnt damit Schaden anrichten. Sie aufhalten, bis die Golgatha-Kavallerie da ist.« »Die was?« »Der Gedanke kam mir neulich. Jesus wird doch auf einem 324
Pferd vom Himmel kommen. Das steht in der Bibel, sagt Tsion. 10 000 Heilige kommen mit ihm. Die GolgathaKavallerie.« »Du scheinst zu viel Zeit zu haben.« »Hey, Rayford?« »Ja?« »Wir hören den Aufmarsch der Armeen. Ihr auch?« »Nicht bei der Lage der Stadt. Vielleicht, wenn sie näher kommen. Natürlich sind sie von den Opferstätten aus leicht auszumachen. Es ist ziemlich unheimlich. Ich würde nach einem Fluchtweg suchen, wenn ich es nicht besser wüsste.« »Das ist, als würde man sich ein Baseballspiel ansehen, bei dem man den Ausgang und den Punktestand bereits kennt, nicht wahr?« »Also, ich denke«, erwiderte Rayford, »auf so etwas kann auch nur jemand wie du kommen.« »Danke.« Da Chang nicht schlafen konnte, begab er sich gegen vier Uhr morgens ins Computerzentrum und setzte sich an seinen Rechner. Gelangweilt sah er sich die Berichterstattung einer Tochtergesellschaft von GCNN aus Haifa an. Es ging um den Truppenaufmarsch. »Supreme Potentat Nicolai Carpathia macht kein Geheimnis aus seiner Strategie«, erklärte der Reporter gerade. »Es sieht sogar so aus, als wolle er den Feind wissen lassen, was auf ihn zukommt. Gestern Abend hatte ich die Gelegenheit, mit ihm in seinem Bunker in der Nähe des Sees Genezaret zu sprechen.« »Sehen Sie«, sagte Carpathia, »wir sind, was Soldaten, Waffen und Technologie angeht, so überlegen, dass wir unbesiegbar sind, egal, welcher Widerstand uns entgegengebracht wird. Ich habe die Menschen nie im Unklaren darüber gelassen, dass wir zwei Hauptziele verfolgen: Wir möchten Jerusalem belagern, wo die Mehrheit der verbleibenden Juden wohnt. Und wir 325
möchten ein für alle Mal Petra auslöschen, wo sich diese Judahiten wie verängstigte Kinder verkrochen haben. Sie wissen, dass wir kommen, und sie werden uns kommen sehen. Aber sie können nichts dagegen unternehmen.« »Rechnen Sie mit Todesopfern?« »Oh, es gibt immer Todesopfer«, höhnte Carpathia. »Aber für meine Leute ist es eine Ehre, ihr Leben in der Erfüllung ihres Dienstes für mich und die Weltgemeinschaft zu geben. Ich werde dafür sorgen, dass sie angemessen belohnt werden. Natürlich besteht auch durchaus die Möglichkeit, dass es auf unserer Seite keinerlei Verluste gibt. Wenn der Feind sieht, was auf ihn zukommt, und erkennt, dass für ihn keine Hoffnung besteht, gibt er vielleicht auf. Eine bedingungslose Kapitulation wäre natürlich ratsam und selbstverständlich würde ich diese Kapitulation mit dem größten Respekt ihnen gegenüber entgegennehmen.« »Im Ernst? Welche Vorsorge haben Sie für diesen Fall getroffen?« Carpathia lachte so heftig, dass er nicht antworten konnte. Rayford war schon vor Tagesanbruch aufgestanden, angezogen und bewaffnet. Er öffnete die Tür, bevor Priscilla klopfte. »Ich bleibe hier bei ihm, bis er aufwacht, Rayford, wenn das in Ordnung ist.« »Prima. Danke, Priss. Fühlen Sie sich wie zu Hause.« »Ach, Ray? Sie achten doch darauf, dass mein Mann heute Abend nach Hause kommt, ja?« »Soweit das an mir liegt.« »Das klingt nicht sehr beruhigend.« »Nun, es war also eine ernst gemeinte Frage. Meine ernst gemeinte Antwort lautet, dass es keine Garantien gibt. Ich hoffe, er sorgt dafür, dass ich zurückkomme.« »Er fühlt sich allen verpflichtet«, seufzte Priscilla und setzte sich. Rayford blieb an der geöffneten Tür stehen. »Das ist der 326
Preis, wenn man für andere Verantwortung trägt. Er hat sich freiwillig für dieses Kommando gemeldet.« »Als ob es eine andere Möglichkeit gegeben hätte.« »Ich denke, nicht.« »Na ja, ich sage ja nur –« »Ich weiß. Manchmal jedoch kann ein Mann wie ich, der versucht, einen anderen, der weiß, was er tut, im Auge zu behalten, ihm so richtig in die Quere kommen. Sie wissen natürlich, dass selbst wenn –« »Sprechen Sie es nicht aus, Rayford. Viele der Frauen versuchen, sich damit zu trösten, dass ihr Mann nur ein oder zwei Tage im Himmel sein wird, vielleicht sogar noch kürzere Zeit, und dann wiederkommt. Aber der Gedanke hilft mir nicht.« »Es stimmt aber.« »Ich weiß. Im Augenblick mache ich mir jedoch weniger Sorgen darum, wie ich ohne ihn leben soll. Vielmehr habe ich Angst, dass er verletzt wird, leidet, einen schweren Tod hat.« Buck und Tsion tranken den schwärzesten, bittersten Kaffee, den sie je zu sich genommen hatten. Draußen war es noch immer stockdunkel. Shivtes Frau schluchzte und versuchte, es vor ihnen zu verbergen. »Cameron«, flüsterte Tsion, »ich würde es gern sehen, wenn Sie sich zuerst um Shivte kümmern würden.« »Einen Augenblick mal. Ich bin als Ihr Leibwächter hier, nicht als der eines anderen.« »Tun Sie mir diesen Gefallen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Sogar seine Waffe ist alt. Seine Söhne sind der Meinung, die Invasoren würden vom Nordwesten kommen und versuchen, durch das Damaskustor in die Stadt einzudringen.« »Worauf gründen sie ihre Annahme?« »Die Welteinheitsarmee könnte vermutlich alle anderen Tore leicht überrennen, aber das Jaffator und die Zitadelle sind mit vielen Rebellentruppen stark befestigt.« 327
»Aber darüber hinaus«, sagte Buck, »könnten sie versuchen, jedes andere Tor zu stürmen, und meiner Meinung nach ist es wahrscheinlich, dass sie es beim Goldenen Tor versuchen werden. Sie haben es doch in erster Linie auf den Tempelberg abgesehen, oder?« »Ich weiß nicht, Cameron. Tun Sie mir doch bitte diesen Gefallen. Bringen Sie den alten Mann zur Zitadelle, ja? Wenn er erst einmal da ist, können Sie zurückkommen und mich suchen. Ich werde mit den anderen beiden beim Damaskustor sein.« Buck wäre lieber seinem Gefühl gefolgt und geradewegs zum Goldenen Tor gegangen, aber er war wegen Tsion hier, und er würde ihm diesen Gefallen tun. Er wusste nicht, warum die Brüder sich Spekulationen hingaben. Wenn sich zwei Drittel von Carpathias Truppen auf Jerusalem konzentrierten, würden sie nicht viele Soldaten brauchen, um die kleine Altstadt zu erobern. Sobald er und Tsion mit den anderen drei Männern aus der Tür traten, hörten sie Schüsse. Tsion und die Brüder rannten in Richtung Nordwesten, Buck und Shivte nach Westen. Überall waren Rebellen unterwegs, gaben die neuesten Nachrichten weiter. Der Feind marschierte über die Jaffa-Straße. Das Damaskustor wurde belagert. Yad Vashem, das historische Museum für die Opfer des Holocaust, war zerstört worden. Die hebräische Universität, die jüdische National- und die Universitätsbibliothek sowie das israelische Museum standen in Flammen. Die Altstadt würde als Nächstes an die Reihe kommen. Tausende waren tot und viele Weitere gefangen genommen. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, befanden er und Shivte sich am schlimmstmöglichen Ort. Sie waren im Inneren der Mauern der Altstadt in die Enge getrieben worden. Rayford war von Sebastians Strategie beeindruckt, obwohl beiden klar war, dass sie angesichts ihrer zahlenmäßigen Un328
terlegenheit nicht viel würden ausrichten können. Ein Drittel von Carpathias Truppen hatte den Befehl bekommen, Petra zu erobern, und sie verfügten über jede nur erdenkliche Waffe. Mindestens 200 000 berittene Soldaten stellten sich langsam in Position. Sebastians Truppen waren hoffnungslos unterlegen. Die Truppen des Feindes hatten sie und die Stadt buchstäblich umzingelt. »Ich habe nur so wenige Energiewaffen«, beklagte sich George bei Rayford. »Wenn ich gewusst hätte, dass sie auf Pferden kommen, hätte ich Lionel gebeten, mir noch mehr zu beschaffen.« »Was haben denn die Pferde damit zu tun?« »Die Pferde sind nicht geschützt und die Reiter bieten gute Zielscheiben. Sehen Sie nur, wie langsam sie Aufstellung nehmen.« Rayford nahm das Fernglas und beobachtete, wie langsam sich die Reiter bewegten. Sie waren etwa eine Meile von Petras Truppen entfernt. »Sie bewegen sich, als wären sie schon den ganzen Tag unterwegs.« Auf einmal wurde George lebendig. »Wir werden den ersten Schlag führen, und wir werden uns einen Vorteil sichern, zumindest vorübergehend.« »Wie?« »Diese Pferde sind darauf trainiert, bei Gewehrschüssen nicht zu scheuen. Wir könnten ein paar Runden mit den Kaliber-50Gewehren auf sie abgeben und sie ein wenig aufmischen. Vielleicht ein paar Pferde und Reiter ausschalten. Aber ich wette, sie haben es bisher noch nicht mit den zielgerichteten Energiewaffen zu tun gehabt. Wie wäre es mit ein wenig Action?« »Ich bin dabei.« »Ich habe nur etwa 100 von den zielgerichteten Energiewaffen, aber wenigstens war ich klug genug, sie am inneren Rand zu positionieren. Sie müssen gleichmäßig verteilt werden, um 329
den oberen Teil der Stadt herum. Schaffen Sie das?« »Natürlich. Und was dann?« »Sagen Sie den Leuten, sie sollen auf mein Kommando warten. Wenn wir etwa 100 Pferde und Reiter aus dieser Entfernung treffen, wird es einen Aufruhr geben, der alle Pferde für eine Weile aus der Ruhe bringt.« »Brillant.« »Nur, wenn es funktioniert. Die Sache ist, wir müssen das durchziehen, bevor sie genau wissen, wo wir uns befinden. Wir könnten sie vorübergehend in die Flucht schlagen und ihnen zeigen, wie es ist, wenn wir ihnen auf den Fersen sind.« Buck brachte Shivte in die überfüllte Zitadelle, wo sich auch viele verängstigte junge Männer verkrochen hatten. Zwar konnte Buck das Kampfgetümmel auf der Jaffa-Straße hören, doch die Invasoren hatten, genau wie Buck vermutet hatte, das Jaffator gemieden. Warum sollten sie mehr kämpfen als unbedingt nötig? Buck schätzte, dass das Damaskustor etwa eine Viertelmeile entfernt lag, aber es war schwierig, sich den Weg durch die verängstigten Rebellen zu bahnen. Und natürlich waren Tsion und die Brüder nirgendwo in Sicht. »Herr, komm schnell!« Rayford eilte zu einem Geländefahrzeug mit Allradantrieb und fuhr damit in die Nähe der Opferstätten. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er die etwa 100 Männer mit den zielgerichteten Energiewaffen gleichmäßig auf dem Areal verteilt hatte. Auf Georges Kommando hin würden sie nicht sichtbare Strahlen zielgerichteter Energie auf den Feind abfeuern. In weniger als einer Sekunde wurde weiches Gewebe über den Toleranzpunkt hinaus erhitzt, und wenn der Reiter oder das Pferd dem Strahl nicht auswich, würde ihr Fleisch verbrennen. Da Petra von einigen Brigaden berittener Soldaten umzingelt war, könnte dies den Feind unter Umständen durcheinander 330
bringen. Die Strategie bestand darin, in erster Linie auf die Pferde zu zielen, damit diese scheuten und die anderen Pferde ebenfalls unruhig machten. Zweifellos würden auch einige Reiter, vor allem ihre Beine, dabei getroffen werden. Und sie würden vermutlich um sich treten und damit dasselbe Ergebnis erzielen. Wenn der Strahl den oberen Teil des Körpers des Reiters traf, würde er vermutlich schreien und an den Zügeln reißen. George war ein Genie, fand Rayford. »Das Aschentor wird überrollt!«, rief jemand. »Lasst uns einige Soldaten der Welteinheitsarmee töten!« Buck betete, dass dies nicht wahr wäre. Das Aschentor war das südliche Tor und lag der Westmauer am nächsten. Dies war der längere Weg zum Tempelberg, und darum hatte er angenommen, die Welteinheitsarmee werde sich für das Goldene Tor auf der Ostseite entscheiden. Wenn sie durch das Aschentor kamen, würden sie vielleicht versuchen, die Klagemauer zu zerstören. Da er Tsion telefonisch nicht erreichte und ihn und die beiden Brüder am Damaskustor, das im Augenblick noch standzuhalten schien, auch nicht finden konnte, rannte Buck zum etwa eine Meile entfernt gelegenen Aschentor. Unterwegs hörte er alle möglichen Gerüchte. Wenn man diesen Glauben schenken durfte, würde es nicht mehr lange dauern, bis der größte Teil der Stadt Jerusalem erobert war. Sein Ziel war es, am Leben zu bleiben, bis die guten Jungs auftauchten. Rayford schätzte, dass die Sonne in etwa 15 Minuten über Petra aufgehen würde. Er informierte George darüber, dass die zielgerichteten Energiewaffen in Position waren und die Männer auf sein Kommando warteten. »Ich würde wirklich gern mit Sicherheit wissen, dass die Ziele sich da befinden, wo wir sie haben wollen, bevor wir anfangen«, wandte George ein. 331
»Sie müssen tun, was Sie für richtig halten«, erwiderte Rayford. »Mit dem Wagen?« »Zu weit und dauert zu lange.« »Hubschrauber?« »Bingo. Wenn Sie das riskieren wollen.« »Sie würden nicht vermuten, dass wir das sind«, erwiderte George. »Wer wäre so dumm, dass er sich selbst zur Zielscheibe macht?« »Sie schon.« Buck war fast eine Meile weit gelaufen und schnappte nach Luft, als er sah, dass ihm die Truppen von Carpathias Welteinheitsarmee entgegenkamen. Jetzt suchte er wirklich verzweifelt nach Tsion, um ihn aus der Altstadt zu schaffen. Rebellen rannten an ihm vorbei um ihr Leben, aber Buck bemerkte, dass die Soldaten der Weltgemeinschaft keine Schüsse abgaben. Sie bewegten sich mit einem riesigen Rammbock auf die Klagemauer zu. Das war nun wirklich eine Tragödie. Sollte eine so heilige Stätte nach einem Millennium des Gebets in nur wenigen Augenblicken zerstört werden? Auch die Rebellen hatten dies offenbar erkannt. Auf einmal drehten sich die Flüchtenden herum und kamen zurückgerannt. »Nicht die Klagemauer!« »Nicht die Mauer!« »Opfert euch selbst!« »Kämpft bis zum Tod!« Die Nachricht verbreitete sich überall im jüdischen Viertel und bis ins Zentrum der Altstadt und sofort strömten die Menschen zusammen. Buck schloss sich ihnen an. Sie griffen die Soldaten der Weltgemeinschaft an, schossen, warfen mit Steinen, kämpften mit bloßen Händen. Es gelang den Rebellen schließlich sogar, diese zu überwältigten und sie zum Aschentor zurückzutreiben. 332
Immer mehr Rebellen schlossen sich ihnen an, zumindest für dieses kurze Scharmützel. Sie schoben den Rammbock zum Aschentor, jagten die Armee hinaus und schafften es, das Tor zu schließen. Den Rammbock behielten sie im Inneren der Stadt. Großer Jubel erhob sich, und damit wuchs auch, wie es schien, die Zuversicht der Rebellen. Jemand gab einer großen Gruppe den Auftrag, das Tor zu bewachen, während andere zum Goldenen Tor und zum Löwentor auf der Ostseite geschickt wurden. Bucks Telefon klingelte. »Tsion! Wo stecken Sie? Ich habe versucht, Sie zu erreichen!« »Mein Telefon funktioniert nicht. Ich habe mir das hier geliehen. Stimmt es, dass die Rebellen die Armee durch das Aschentor getrieben haben?« »Ja! Ich bin jetzt hier! Wo sollen wir uns treffen?« »Kennen Sie die Kirche der Geißelung?« »In der Nähe des moslemischen Viertels?« »Genau westlich davon, ja!«, erwiderte Tsion. »Beeilen Sie sich! Ich habe die Brüder verloren.« »Sie wissen doch, dass wir hier in der Luft immer beschützt wurden«, merkte Rayford an, als er abhob. »Das würde ich lieber nicht ausprobieren«, meinte Sebastian. »Fliegen Sie geradewegs hoch und drehen Sie eine Runde, damit ich sehen kann, ob die Pferde da sind, wo ich sie haben will. Dann schnell wieder runter.« »Oh nein!«, stöhnte Rayford. »Da kommt sie!« »Was?« Eine Rakete flog geradewegs auf den Hubschrauber zu. Rayford versuchte, ihr auszuweichen, wusste aber, dass es hoffnungslos war. Ein Hubschrauber war einfach nicht so wendig und flog nicht so schnell, dass er einer Rakete ausweichen konnte. »Meine Idee und dazu noch eine schlechte, George. Tut mir 333
Leid.« »Bleiben Sie nur von der Stadt weg, Ray!« Rayford hatte mit dem Gedanken gespielt, auf einer der Opferstätten aufzusetzen, aber wenn die Rakete ihm folgte, würde sie mehr Menschen als nur sie beide verletzen oder sogar töten. Er drehte ab und flog den Hubschrauber von den Truppen in Petra fort, was ihn natürlich näher an die Rakete heranbrachte. »Tut mir Leid, Priscilla«, murmelte Rayford und schloss die Augen, als der Sprengkopf den Hubschrauber traf. Es konnte nicht sein, dass Buck vor Tsion am Treffpunkt eintraf, obwohl er so viel jünger war. Tsion war viel näher gewesen. Buck suchte die Menge in der überfüllten Kirche ab, aber wieder konnte er Tsion nirgends entdecken. Das war seltsam. »Das Herodestor!«, rief jemand und Hunderte von Rebellen rannten zum nördlichsten Tor der Stadt. Es war wirklich erstaunlich, den Eifer in ihren Augen zu sehen angesichts der Bedrohung ihrer heiligen alten Stätten. Sicher war auch Tsion dorthin gegangen. Eine andere Möglichkeit fiel Buck nicht ein. Das Tor lag nur wenige hundert Meter von der Kirche entfernt, aber dieses Mal gab es kein Rennen. Buck wurde von allen Seiten bedrängt; überall waren Rebellen. Vielleicht war das auch ganz gut so. Er war bereits erschöpft und sein Puls raste. Wenn das Telefon des Rabbis nicht funktionierte, konnte er Tsion auch nicht anrufen. Ihm blieb keine andere Wahl, als gelegentlich hochzuspringen und über die Menge hinwegzublicken. Doch als er Tsion Ben-Judah dann endlich entdeckte, war er entsetzt.
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21 Der Hubschrauber erzitterte, blieb aber auf Kurs. »Ich dachte, wir wären verloren«, gestand Rayford. »Ich habe mich nie daran gewöhnen können.« »Wo ist diese Rakete denn hingeflogen?« »Genau durch uns hindurch, wie üblich.« »Das ist noch nichts Ungewöhnliches«, bemerkte Sebastian. Er suchte den Horizont ab. »Da, schauen Sie mal dort drüben.« Rayford entdeckte eine schwarze Rauchwolke etwa eine Meile südlich von Petra. »Vermutlich haben sie ihre eigenen Leute getroffen!«, sagte George und griff nach seinem Funkgerät. »Big Dog 1 an südliche Stellung, over.« »Mac hier, Dog. Was war das?« »Sie haben uns verfehlt. Welchen Schaden hat die Rakete angerichtet?« »Hat einen ihrer Transporter unmittelbar hinter der Kavallerie getroffen. Sie haben bestimmt einige Todesfälle zu beklagen. Irgendwie wirken sie ziemlich aufgebracht.« »Wartet, bis sie herausfinden, dass das Feuer aus ihren eigenen Reihen kam. Achtung, alle Schützen der zielgerichteten Energiewaffen, sofort das Feuer eröffnen!«, befahl George. Innerhalb von wenigen Sekunden lichteten sich die dunklen Reihen von Pferden und Reitern um Petra und die Pferde stoben in alle Richtungen davon. »Eine Meisterleistung, George«, lobte Rayford. »Gut gemacht.« »Ein Teil dieses Pferdefleischs ist bestimmt gut durchgebraten. Hey, Ray, habe ich gehört, dass Sie den Namen meiner Frau gesagt haben, als wir dachten, es wäre vorbei mit uns?« »Ich bekenne mich schuldig.« »Was hat es damit auf sich?« »Ich habe ihr versprochen, so gut es geht, auf Sie zu achten.« 335
»Und das hier war also Ihre Vorstellung davon, was es heißt, auf mich aufzupassen?« »So gut es ging. Wie wäre es, wenn wir zurückfliegen und sehen, ob wir sie dazu bringen, erneut auf uns zu schießen? Vielleicht nehmen wir dieses Mal noch mehr von ihrer Munition mit, und zwar von der anderen Seite?« »Das ist nicht witzig, Rayford.« Wann immer Buck hochsprang, erblickte er Tsion, der auf den Schultern von Zeloten fortgetragen wurde. Er wollte ihnen zurufen, dass sie ihn herunterlassen sollten, aber niemand würde ihn hören; der Lärm war viel zu groß. Was taten sie denn da? Wollten sie ihn umbringen? Vielleicht betrachteten sie ihn als Helden. Vielleicht dachten sie, er könne die Truppen anfeuern. Wie auch immer, das war verrückt. Buck drängte sich durch die Menge, bis er Tsion beinahe erreicht hatte. »Hey!«, rief er. »Hey! Lasst ihn herunter!« »Er wird uns zum Sieg führen!« »Er ist unser Führer!« »Nun, ich bin für ihn verantwortlich und ihr werdet ihn nur umbringen!« Buck ergriff Tsions Knöchel, was die Menge ein wenig aufhielt. Dann rutschte er ihnen aus den Händen und stürzte kopfüber zu Boden. Buck sprang vor, um ihn aufzufangen, und beide fielen auf das Pflaster. Die Menge trampelte über sie hinweg. Gerade in diesem Augenblick durchbrach die Welteinheitsarmee die Mauer oberhalb des Herodestors und eröffnete das Feuer. Die Rebellen um Tsion und Buck stürzten, schlugen mit den Köpfen auf dem Boden auf. Blut spritzte in alle Richtungen. Buck legte die Arme um Tsions Kopf und ging ebenfalls in Deckung, um das Ende des Gewehrfeuers abzuwarten. Die Kugeln flogen ihnen nur so um die Köpfe, und er wartete jeden Augenblick auf die Kugel, die ihn und Tsion treffen und 336
tödlich verwunden würde. Aber sie wurden verschont. Als das Feuer nachließ, zog Buck Tsion auf die Füße und schob ihn zu dem legendären heilenden Teich von Bethesda. »Ich wurde nicht getroffen, Cameron! Ich brauche keine Heilung!« Der Rabbi ist nur mit knapper Not dem Tod entronnen und macht schon wieder Witze. Rayford und George landeten und wurden mit einem Geländefahrzeug zu Georges Posten gebracht. »Sie werden bestimmt zurückschlagen«, sagte Rayford. »Wie wird das aussehen und was unternehmen wir dagegen?« »Sie haben Mörsergranaten postiert. Ich möchte sehen, ob die Reiter ihre Pferde dazu bringen können, sich wieder in Schlachtordnung aufzustellen. Wenn sie das nicht schaffen, wird es ein Chaos geben. Wichtig ist, sie vom Siq fern zu halten. Sie sollen nicht denken, sie könnten hier hereinkommen.« »Man sollte doch meinen, Carpathia hätte seine Lektion gelernt. Stellen Sie sich nur vor, wie viel Geld er schon ausgegeben hat bei seinen Versuchen, uns hier zu erwischen«, meinte Rayford. »Ja, aber jeder Militärführer hält sich für besser als alle anderen, darum wird, wer immer hier das Kommando führt, das am eigenen Leibe erfahren müssen.« »Die zielgerichteten Energiewaffen und seine eigene Rakete hätten ihm doch eigentlich einiges klar machen müssen.« »Eigentlich schon«, meinte George. »Aber ich wette, er wird alles ausprobieren, was er in seinem Arsenal finden kann, bevor er aufgibt.« »Wogegen können wir uns besonders schlecht verteidigen?« »Die zahlenmäßige Überlegenheit. Wenn sie sich hierher in Bewegung setzen, werden sie uns wieder ins Innere der Stadt zurückdrängen.« 337
»Wo wir bisher in Sicherheit waren.« »Das stimmt. Aber Rückzug ist nicht meine Vorstellung von Kriegsführung. Gott hat uns vor dieser Rakete beschützt, aber hat es nicht Spaß gemacht, mit den zielgerichteten Energiewaffen anzugreifen?« Eine junge Frau winkte verzweifelt aus einem kleinen, höhlenähnlichen Gebäude in der Nähe des Teichs und Buck zog Tsion mit sich. »Hier ist noch Platz für zwei weitere Leute«, sagte sie. Buck bemerkte, dass noch etwa 20 andere Menschen in der Kammer standen. »Ist es der Rabbi?«, rief jemand. »Ich bin hier«, erklärte Tsion. »Preis sei Gott. Wann erwarten Sie den Messias?« »Um ehrlich zu sein, ich habe ihn vor etwa fünf Minuten erwartet. Oder vielleicht sollte ich sagen, ich dachte, er würde mich erwarten.« »Ich möchte glauben, dass er kommt, um uns zu retten.« »Das tut er, wenn Sie bereit sind«, erwiderte Tsion. »Ich bin bereit. Ich möchte nur noch am Leben sein, wenn er kommt.« »Ich auch«, bemerkte Tsion. »Aber das hier ist nicht der beste Ort, um das sicherzustellen, oder?« »Was redet ihr da immer vom Messias?«, brummte jemand. »Seit Generationen warten wir darauf, dass er uns rettet.« Tsion erklärte dem Mann, so schnell es ging, dass Jesus bereits gekommen war. Drei der verängstigten Männer und die junge Frau nahmen Jesus als ihren Messias an, der Skeptiker jedoch nicht. »Wenn er kommt«, sagte er, »dann werde ich es glauben.« »›Selig sind, die nicht sehen und doch glauben‹«, zitierte Tsion. Plötzlich verstummten die Schüsse. Buck spähte an der Frau vorbei nach draußen. War es das? War der Messias wie338
dergekommen und hatte die Lage gerettet? Junge Männer rannten vorbei und riefen: »Wir haben gesiegt! Wir haben gesiegt! Sie ziehen sich zurück! Die Tore sind sicher!« »Wartet! Das ist eine Falle! Glaubt es nicht! Sie formieren sich nur neu!« Buck und Tsions Gefährten gingen nach draußen und sahen sich vorsichtig um. »Das gefällt mir nicht«, sagte jemand. »Sie haben Bomben, die uns auslöschen könnten. Was tun sie?« »Sie spielen mit uns.« »Wir sollten in die Offensive gehen! Die Tore öffnen und angreifen! Sie töten, während sie sich zurückziehen.« »Sie ziehen sich nicht zurück. Das ist eine Falle. Sie wollen, dass wir die Tore öffnen. Wir sollten uns neu formieren, genau wie sie. Seid bereit für ihr Kommen.« Auch in Petra herrschte Stille. Rayford bekam einen Anruf von Mac McCullum. »Können Sie und Razor mich einen Augenblick entbehren, George?«, fragte Rayford. »Mac bittet mich zu kommen und mir etwas anzusehen.« Es dauerte eine halbe Stunde, um mit dem Wagen zu Mac zu kommen. Als Rayford eintraf, beobachtete Mac gerade den Feind durch das Fernglas. »Du weißt doch, Ray, dass sie uns genauso gut sehen können wie wir sie. Worauf warten sie noch?« Er reichte Rayford das Fernglas. »Sieht so aus, als hätten sie den größten Teil ihrer Pferde wieder unter Kontrolle gebracht. Das muss ein ziemliches Chaos gewesen sein. Und ich weiß, Ray, dass unsere zielgerichteten Energiewaffen dieses Chaos angerichtet haben. Aber warum zögern sie jetzt noch? Das verstehe ich nicht.« Rayford beobachtete den Feind in der Ferne. Seltsam, es sah 339
nicht so aus, als würden die Pferde scheuen, nachdem sie Verbrennungen erlitten hatten. Nicht im Geringsten. Es war eher so, als könnten die Reiter die Pferde nicht dazu bringen, das zu tun, was sie von ihnen wollten. »Das erinnert mich an einen Bibelvers, Ray. Irgendetwas, das Tsion uns vorgelesen hat. Was war das noch?« »Ich erinnere mich nicht. Willst du ihn fragen? Ich wollte mich sowieso erkundigen, wie es ihm und Buck geht.« Die Stille war mehr als unheimlich. Buck und Tsion näherten sich der Mauer neben dem Herodestor. Buck nahm den Anruf entgegen und reichte Tsion das Telefon. »Ja, hier auch«, antwortete Tsion. »Ich habe das seltsame Gefühl, dass es sich um die Ruhe vor dem Sturm handelt. Pferde? Ja. Sacharja 12, Vers 4: ›An jenem Tag bringe ich alle Pferde in Verwirrung und ihre Reiter zur Raserei. Über dem Haus Juda aber halte ich meine Augen offen, während ich alle Pferde der Völker mit Blindheit schlage.‹ Wissen Sie, Mac, ich glaube, genau das passiert hier gerade.« Sobald Tsion das Gespräch beendet hatte, wollten die Menschen, die um ihn herum standen, wissen, wovon er gesprochen hatte. Er erklärte es ihnen. »Das will ich sehen«, rief einer. »Der Rabbi ist der Meinung, dass die Welteinheitsarmee blind oder verrückt ist.« »Das könnte sein«, schränkte Tsion ein. »Das ist die einzige Erklärung, die ich für die Vorgänge habe.« Einige der jüngeren Männer machten sich gegenseitig Mut und begannen, auf die Mauer zu klettern. Zwei erreichten die Mauerkrone. »Ich kann nichts sehen! Vielleicht verstecken sie sich.« »Rabbi! Sagen Sie uns mehr.« Buck blickte zu Tsion, der mit den Achseln zuckte. »Darum bin ich hier. Wenn sie zuhören wollen, werde ich predigen.« Sobald er begann, sammelten sich wieder die Neugierigen 340
um ihn. Und während Buck beobachtete und zuhörte, wurde ihm klar, welches Vorrecht es war, das hier mitzuerleben. Er hatte das Gefühl, dass er Jesus jetzt bald würde sehen können. Und Chloe. Einen Mann Gottes in Gottes Stadt zu Gottes Zeitpunkt zu hören – was für ein unaussprechliches Vorrecht. Angst? Natürlich hatte er Angst. Fragte er sich, ob Jesus wirklich kommen würde, wie er es vorausgesagt hatte? Das stand für ihn außer Frage. Buck konnte es kaum erwarten. Er konnte es einfach kaum noch erwarten. Wieder bei George angekommen, hatte Rayford auch keine Idee, was sie tun sollten. »Fragen Sie nicht mich«, wehrte er ab. »Wenn Sie die Fünfziger abfeuern wollen, dann bitte.« »Aus dieser Entfernung könnten wir Pferde und Reiter töten und einige ihrer Fahrzeuge vernichten«, erklärte George. »Aber dann würden sie nur zurückfeuern. Um das Innere der Stadt mache ich mir keine Gedanken. Doch ich fürchte, hier draußen in unseren Stellungen könnten wir verletzlich sein.« »Worin liegt der Sinn, in die Offensive zu gehen, wenn man weiß, dass man doch nicht siegen kann?« »Sie haben ja Recht, aber ich hasse es, einfach nur hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass etwas passiert. Wir müssen irgendetwas unternehmen.« »Oh, wenn Sie eine Fünfziger abfeuern, wird eine Menge passieren!« Einer der jungen Männer auf der Mauer unterbrach Tsion. »Sie haben eine Art Riesenmegafon. Vielleicht wollen sie verhandeln.« »Man verhandelt nicht mit dem Teufel«, erklärte Tsion und die Menge brüllte. »Vielleicht bietet er uns einen Waffenstillstand an.« 341
»Ein Waffenstillstand ist so viel wert wie der Charakter des Mannes, der ihn anbietet!« »Achtung, Einwohner Jerusalems! Hier spricht euer Supreme Potentat!« »Buh! Buh! Unser einziger Herrscher ist der Gott Israels!« »Haltet den Mund! Lasst ihn ausreden!« »Hört bitte zu, Bewohner der Stadt Jerusalem. Ich komme in Frieden.« »Nein! Du kommst mit Waffen!« »Kommt, lasst uns doch vernünftig miteinander reden!« »Hört zu. Schsch! Hört ihn doch an!« »Ich biete euch Vergebung. Ich bin zu einem Kompromiss bereit. Ich möchte euch keinen Schaden zufügen. Wenn ihr bereit seid, mir zu dienen, und mir gehorcht, werdet ihr das Gute des Landes zu essen bekommen; wenn ihr euch aber weigert und rebelliert, werdet ihr vom Schwert verschlungen werden. Ich werde mich von meinen Gegnern befreien und an meinen Feinden Rache nehmen. Ich werde mich gegen euch wenden und euch verfolgen. Aber so muss es nicht sein, Bürger der Weltgemeinschaft. Wenn ihr eure Waffen niederlegt und mich in eurer Stadt willkommen heißt, garantiere ich euch Frieden und Sicherheit. Dies wird für mich das Zeichen eurer Zustimmung sein: Wenn ich bis drei zähle und 15 Sekunden lang Stille eintritt, dann gehe ich davon aus, dass ihr bereit seid, auf meine Forderungen einzugehen. Ein einziger Schuss in die Luft wird für mich das Zeichen sein, dass ihr euch mir lieber widersetzt. Aber ich warne euch: Die halbe Stadt ist bereits in unserer Hand. Es wird für uns ein Leichtes sein, die gesamte Stadt innerhalb einer Stunde zu erobern. Die Entscheidung liegt bei euch.« Noch bevor Carpathia beginnen konnte zu zählen, wurden bereits Tausende von Gewehren abgefeuert, auch die von Buck und Tsion. Die Stadt hatte sich entschieden.
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Den feindlichen Soldaten gelang es noch immer nicht, die Pferde unter Kontrolle zu bekommen und Petra zu umzingeln. Rayford stand auf einem Felsvorsprung und beobachtete durch das Fernglas, wie sich weitere Fahrzeuge näherten. Am Horizont war eine dichte Staubwolke zu sehen, und die Unmengen an Munition und Kanonen sahen aus wie eine schwarze Masse, die sein Blickfeld füllte und sich wie Lava auf ihn zubewegte. »Ich lasse sie nicht weiter herankommen«, entschied George. »Wir setzen wieder die zielgerichteten Energiewaffen und die Kaliber-50-Gewehre ein.« »Das ist doch, als wollte man einen Tsunami aufhalten«, entgegnete Rayford. Als die Schüsse eingestellt wurden, trat wieder eine unheimliche Stille ein. Die Welteinheitsarmee griff nicht sofort an, aber Buck wünschte beinahe, sie hätte es getan. Die Stille war beunruhigend. Er fürchtete, das nächste Geräusch könnte der Güterzug sein, von dem die Menschen sprachen, die schon einmal einen Wirbelsturm erlebt hatten – nur dass dieser Wirbelsturm aus einer nicht enden wollenden Schar von Plünderern bestehen würde, die Jerusalem niedertrampeln würde. Doch wenn er dies ertragen musste, um die Wiederkehr Jesu zu sehen, dann sollte es eben so sein. Seltsamerweise wollte die Menge mehr von Tsion hören, und Buck war beeindruckt, dass der Rabbi dazu bereit war. »Es ist noch nicht zu spät!«, rief Tsion. »Entscheidet euch jetzt für den Messias! Bereut eure Sünden, entscheidet euch und lasst euch retten!« Viele kamen seiner Aufforderung nach. Jetzt schien sogar Sebastian alarmiert zu sein. Der Strom an Pferden, Soldaten und Waffen, der sich auf Petra zubewegte, war so unglaublich, dass er den ganzen Horizont ausfüllte. Es war, als würde ein Heuschreckenschwarm die Sonne verdun343
keln. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte sich kein Mensch das Ausmaß der feindlichen Armee vorstellen können. Irgendwie hatten ihre Gegner sich zusammengerauft, ihre Blindheit und ihren Wahnsinn überwunden, hatten sich irgendwie aus ihrer Erstarrung gelöst. Und da kamen sie schon. Sie schwärmten aus und umzingelten Petra von allen Seiten; die hinteren Reihen schlossen langsam auf, sodass schließlich nur noch Armeen zu sehen waren, so weit das Auge reichte. Und während ihre vorderen Linien noch immer etwa eine Meile von ihrer Stellung entfernt waren, war kein Ende der Armee in Sicht. Millionen von Soldaten rückten langsam immer weiter vor. Und als sie ihre Stellung eingenommen hatten, blieben sie einfach stehen und warteten. Worauf, das konnte man nur erahnen. Aber selbst wenn sie stehen blieben, gab es keine Lükke, keine Löcher, kein Ende ihrer Ränge. »Das, Rayford«, sagte Sebastian, »ist wirklich eine unvorstellbare Armee. Wenn jede unserer Waffen jede Kugel abfeuern würde und jede Kugel ein Treffer wäre, würden wir nicht einmal ein ernst zu nehmendes Loch in diese Masse reißen.« »Was halten Sie davon, ihnen entgegenzufahren und zu sehen, ob Sie vielleicht mit jemandem eine Friedenspfeife rauchen können?« »Sie sehen zu viel Fernsehen, Captain.« »Im Ernst, wie wäre es mit einer weiteren Runde von zielgerichteten Energiestrahlen? Mal sehen, ob wir sie noch einmal ein wenig zurückdrängen können.« »Wenn ich vermuten würde, dass sie wie Dominos einer nach dem anderen umfallen würden, würde ich das tun. Sie kommen aber nicht weit, weil sie dann in ihre Hintermänner rennen. Denken Sie etwa, wir könnten Millionen von Soldaten in Panik versetzen?« Rayford schüttelte den Kopf. »Ich hätte nichts dagegen zu sehen, was der Einsatz der Waffe unter ihnen anrichten würde. 344
Vielleicht wären sie dann nicht so eifrig darauf bedacht, näher zu rücken.« »Aber, Ray, es sind so viele.« Tsion predigte noch immer, als ein Geräusch, das wie eine Bombenexplosion klang, durch die Luft hallte. Die Menschen gingen in Deckung. Innerhalb weniger Sekunden verbreitete sich die Nachricht, dass ein zweiter Rammbock den angreifenden Truppen den Weg in die Altstadt geebnet hatte. Dieses Mal hatte die Welteinheitsarmee die Tore gemieden und hatte die nordöstliche Mauer der Altstadt durchbrochen, etwa auf halbem Weg zwischen dem Löwentor und der nordöstlichen Ecke. Hunderte jüdischer Rebellen rannten dorthin und zu Bucks Entsetzen eilte Tsion ihnen hinterher. Er beriet sich nicht einmal mit ihm über mögliche Alternativen. Buck hatte keine Wahl, als ihm zu folgen und zu versuchen, Tsion in dem Gedränge einzuholen. Als ihm dies schließlich gelang, war die Schlacht bereits in vollem Gange, und erstaunlicherweise schienen die Juden wieder die Oberhand zu gewinnen. Sie trieben die Armee zurück, und erbitterte Zweikämpfe um den Rammbock führten beinahe dazu, dass dieser den Rebellen wieder in die Hände fiel. Doch in dem Augenblick, als die Rebellen die Armee wieder durch die Mauer zurücktrieben, wandten sich einige Soldaten um und eröffneten mit ihren automatischen Schnellfeuergewehren, einem Granatwerfer und einer Bazooka, wie es Buck erschien, das Feuer. Auch er schoss zurück, und die Invasion wurde kurz aufgehalten, aber mit Entsetzen sah er mehr als 100 tote oder verletzte Israelis auf dem Boden liegen. Er fragte sich, wie nahe er selbst dem tödlichen Feuer gekommen war. Das Loch in der Wand schien für den Augenblick gesichert zu sein, darum drehte Buck sich um und wollte Tsion am Arm 345
nehmen und zum Teich von Bethesda zurückbringen. Aber der Rabbi lag auf den Knien, die Füße seltsam unter seinem Körper geknickt. Sein Gewehr war ihm von der Schulter gerutscht, der Riemen lag jetzt neben seinem Ellbogen. Buck packte ihn an der Schulter, um ihm aufzuhelfen, aber als er zu ziehen begann, rutschte Tsion zur Seite weg und fiel auf das Pflaster. »Tsion! Kommen Sie! Lassen Sie uns gehen!« Aber dieser rührte sich nicht. »Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Buck und drehte Tsions Gesicht zu sich hin. »Ich glaube nicht, mein Freund.« »Wurden Sie getroffen?« »Ich fürchte, ja.« »Wo?« »Ich weiß nicht genau.« »Können Sie sich bewegen?« »Nein.« »Kann ich Sie bewegen?« »Bitte. Sie versuchen es besser.« Buck hatte keine Zeit, sich zu besinnen. Er nahm Tsions Waffe und hängte sie sich über die linke Schulter, dann stellte er sich hinter den Rabbi und legte die Hände in dessen Achselhöhlen. Er hob ihn hoch und zog ihn durch die Straße. Wie froh war er, dass das Feuer wenigstens vorübergehend eingestellt worden war. Buck keuchte und prustete, denn immerhin musste er seinen Freund einige hundert Meter weit schleppen, doch er wollte nicht stehen bleiben, bevor sie in der kleinen Kammer in Bethesda in Sicherheit waren. Immer wieder sah er sich um, damit er nicht gegen irgendein Hindernis lief. Doch gleichzeitig sah er auch die dicke Blutspur, die der Rabbi hinterließ. Buck blieb stehen, um nach Tsion zu sehen. Er eilte um ihn herum und öffnete dessen Jacke. Dort fand er die Wunde. Es 346
war sicher kein Treffer ins Herz, denn dann wäre er bereits tot. Aber er hatte viel Blut verloren, das aus der Nähe seines Schlüsselbeins kam, bis zum Bauch hinunter und auf die Straße floss. Tsion war blass und seine Augen verdrehten sich. Buck beugte sich über ihn und hörte seinen flachen Atem. »Bleiben Sie bei mir, mein Freund«, sagte er. »Lassen Sie mich gehen, Cameron. Suchen Sie Schutz. Es gibt Schlimmeres, als in den Straßen meiner geliebten Stadt zu sterben.« »Sie werden nicht sterben, Tsion. Sie werden durchhalten und den großen Sieg miterleben, verstanden?« »Das wünschte ich mir.« »Wünschen Sie nicht! Lassen Sie sich nicht hängen!« Buck zog seine Jacke und sein Hemd aus, rollte Letzteres zusammen und stopfte es in die Wunde. Das Loch war beinahe so groß wie Bucks Hand. »Ich muss Sie in einen Schutzraum bringen«, sagte er. »Können Sie noch ein paar Meter aushalten?« »Ich fühle nichts mehr, Cameron. Gehen Sie lieber. Bitte.« »Ich werde Sie auf keinen Fall hier zurücklassen.« »Na, kommen Sie. Ich werde nicht lange hier sein. Das wissen wir beide.« »Ich werde Sie in den Schutzraum bringen.« »Tun Sie es nicht, um meinetwillen.« »Dann um meinetwillen.« Buck wusste, dass er Tsion mit seinen Bemühungen keinen Gefallen tat. Das Hemd fiel herunter und eine große Menge Blut schoss aus der Wunde. Tsion stöhnte. Das Leben schien aus ihm herauszuströmen. Seine Augen waren wässrig und blass, seine Lippen blau. Er hatte zu zittern begonnen. Buck zerrte ihn in einen Schutzraum und versuchte erneut, den Blutstrom zum Versiegen zu bringen, aber Tsion griff mit schwachen, fahrigen Händen nach ihm. Schließlich erwischte 347
er eine von Bucks Händen und zog sie zu sich. »Nicht, mein Freund. Bitte. Es ist zu spät.« »Ich möchte Sie nicht hier verlieren, Tsion!« »Kommen Sie näher«, flüsterte er. »Hören Sie.« Er keuchte jetzt, schnappte zwischen den Worten mühsam nach Luft. »Ich kann sagen … mit Paulus: ›Denn ich werde … nunmehr geopfert … und die Zeit meines Aufbruchs … ist nahe. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet, die Treue gehalten … Schon jetzt liegt für mich … der Kranz der Gerechtigkeit bereit, den mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tag geben wird, aber nicht nur mir … sondern allen, die sehnsüchtig auf sein Erscheinen warten.‹« »Tsion, nicht! Bleiben Sie bei mir!« »Cameron … wegen Jesus … meiner Frau und Kinder … für imm-« Sebastian hatte angeordnet, dass eine weitere Runde aus den zielgerichteten Energiewaffen abgefeuert wurde, und Rayford musste zugeben, dass es interessant war zu beobachten, wie die vordersten Linien schmerzgepeinigt zurückfielen und auch Unruhe in die hinteren Reihen brachten. Razor hatte die Kaliber-50-Gewehre für den Fall eines Gegenangriffs bereitgelegt, der jedoch ausblieb. Das machte die Sache noch seltsamer. Die Felsenstadt mit einer Million Schutzsuchenden saß wie eine hilflose Maus inmitten eines Meers von Feinden, die nur darauf zu warten schienen, sie zu erdrücken. Rayfords Telefon klingelte. Auf dem Display erkannte er Bucks Nummer. »Was ist los?« Bucks Stimme klang belegt. »Er ist tot.« »Tsion?« »Er wurde in die Brust getroffen. Ich konnte nichts tun.« »Du musst hierher zurückkommen, Buck. Wir schicken jemanden.« 348
»Niemand wird hereinkommen und ich kann ihn nicht allein lassen.« »Buck! Komm schon. Er ist tot. Das gefällt mir auch nicht, aber wie du schon gesagt hast, du konntest nichts dagegen tun, und sicher kannst du jetzt nichts tun.« »Niemand könnte hier hereinkommen, und ich wüsste nicht, wie ich die Stadt verlassen sollte.« »Bist du in Ordnung?« »Ich konnte nicht wissen, dass das geschieht, ehrlich.« »Halte dein Telefon bereit. Es hat keinen Sinn, jetzt etwas Dummes zu tun. Das Ende kann nun wirklich nicht mehr weit sein.« Buck legte Tsions Füße übereinander. Er knöpfte seine Jacke über der Wunde zu und faltete Tsions Hände. Dann strich er Tsions Haar glatt, schloss ihm die Augen und warf einen letzten Blick aufsein Gesicht. »Du hättest es beinahe geschafft, mein Freund«, verabschiedete er sich. Dann legte er seine Jacke über Tsions Oberkörper und sein Gesicht. Mit einer Waffe in jeder Hand machte er sich auf den Weg zum Herodestor, wo zwei junge Rebellen einen recht guten Aussichtspunkt erobert zu haben schienen. Das war nicht gerade die sicherste Stelle, und ganz sicher hatte Rayford dies gemeint, als er Buck bat, nichts Dummes zu tun. Aber Buck wusste nicht, was er sonst machen sollte. Mac rief ihn von der anderen Seite der Stellung aus an. »Rayford, ich wollte Sebastian bitten, dich an uns auszuleihen. Denkst du, das wäre machbar?« »Vermutlich wäre er froh, mich los zu sein. Ich werde ihn fragen.« »Wozu?«, erkundigte sich George, als Rayford ihn darauf ansprach. 349
»Mac? Sebastian möchte den Grund erfahren«, erkundigte sich Rayford bei seinem Gesprächspartner. »Das möchte ich lieber nicht sagen.« »Das wird ihm nicht gefallen, das weißt du.« »Muss ich ihm die Wahrheit sagen?« »Das kann nie schaden.« Mac flüsterte: »Ich brauche jemanden zum Reden. Smitty befindet sich etwa 200 Meter weiter westlich und Otto macht mich verrückt. Außerdem könnten wir hier wirklich noch jemanden gebrauchen. Und ein Fahrzeug wäre auch nicht übel, damit ich meine Leute im Osten und Westen überprüfen kann. Habt ihr genauso viele Carpathia-Truppen da drüben wie wir hier?« »Ja, und es ist kein Ende in Sicht, Mac.« »Ich hoffe, dass Jesus bald kommt. Aber könntest du in der Zwischenzeit vielleicht herkommen?«
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22 Auf die Mauerkrone der Altstadt zu klettern, vor allem in der Nähe des Herodestors, war keine leichte Aufgabe. Buck fühlte sich eigentlich noch nicht so alt, aber die beiden Rebellen dort oben waren mindestens 15 Jahre jünger als er. Sie nickten ihm zu und deuteten in die Ferne. Die Soldaten der Welteinheitsarmee sammelten sich auf der Jericho-Straße, auf der Suleiman-Straße und in dem Garten, in dem man das Grab Jesu besichtigen konnte. Die Fußtruppen erstreckten sich, so weit Buck sehen konnte – vom RockefellerMuseum rechts von ihm bis zur Stephanskirche, der hinter dem Garten lag, und sogar bis nach Hel Ha Handasa. Die beiden Rebellen und er waren deutlich zu sehen, aber den Feind schien ihre Anwesenheit nicht zu stören. Buck fragte sich, ob Christus nur inmitten einer aktiven Belagerung wiederkehren würde oder ob er vielleicht jeden Augenblick erscheinen könnte. Er hoffte, dass die Israeliten in Petra von Tsions Tod erst nach der Wiederkunft Christi erfahren würden. Buck machte sich Gedanken über die Truppen hinter dem Rockefeller-Museum. Sie schienen ruhiger, gelassener zu sein als die anderen. Und sie waren schwerer zu erkennen. Er entdeckte Bewegung, aber keine Hektik. Dieses Gebiet würde er im Auge behalten. Buck sah zum Himmel hinauf. Bei der Wiederkunft Christi würde eine dicke Wolke den Himmel überziehen, die Sonne würde verdunkelt sein, die Erde sich aufbäumen. Und all dies konnte jetzt jeden Augenblick geschehen, das wusste er, und wenn er sich gestattete, bei diesem Gedanken zu verweilen, schien die Atmosphäre vor Spannung regelrecht zu knistern. Sebastian gab Rayford sein Einverständnis, Mac zu unterstützen. 351
»Manchmal kommt er mir vor wie ein altes Weib. Aber lassen Sie ihn warten. Gehen Sie unterwegs bei Chang vorbei. Am besten nehmen Sie den steilen Weg hier hinauf und dann auf der anderen Seite wieder runter. So vermeiden Sie den langen Umweg.« »Was ist mit Chang?« »Heitern Sie ihn einfach ein wenig auf. So wie er in den letzten paar Tagen gesprochen hat, hatte ich den Eindruck, dass er lieber hier draußen wäre als im Computerzentrum. Sagen Sie ihm, wie wichtig seine Arbeit für uns ist, denn das ist ja auch wirklich der Fall.« Der Weg, den Sebastian ihm vorgeschlagen hatte, war schwieriger, als Rayford gedacht hatte. Er hatte sich sehr auf das Fahrzeug verlassen, aber das Gelände war dennoch tükkisch. Mehr als einmal trat er auf die Bremse und schaltete zurück, und ein paar Mal stand er vor Felsformationen, an denen er nicht vorbeifahren konnte. Er musste zurücksetzen und einen anderen Weg ausprobieren. Als er im Computerzentrum eintraf, war er erschöpft und freute sich auf eine Pause. Innerhalb der Mauern der Altstadt wurde geredet und geplant. Buck bemerkte mehrere Gruppen von besonders jungen Rebellen, die sich zu den Mauern vorarbeiteten. Ihm gefiel sein Aussichtsposten, aber er hielt es für keine gute Idee, die vordersten Linien so zu postieren. Und je mehr er beobachtete, desto klarer wurde ihm, dass auch jemand anders zu dieser Erkenntnis gekommen war. Die Streitmacht im Zentrum der Stadt war noch immer sehr ansehnlich, aber sie bestand vor allem aus älteren Männern und einigen Frauen. Die jungen Männer, die Teenager und die Jungen Anfang 20 kletterten alle auf die Mauer. Irgendetwas daran ließ Buck keine Ruhe. Sie brachten sich in Gefahr. Hier ging es um alles oder nichts. Er brauchte Alternativen, aber er konnte 352
nur für sich selbst sprechen. Seine Aufgabe war es nicht, die ganze Stadt zu verteidigen. Chang hatte sich mit seiner Aufgabe abgefunden, aber trotzdem freute er sich über Rayfords Ermutigung und die Tatsache, dass dieser sich die Zeit genommen hatte, bei ihm vorbeizuschauen. Naomi kam ebenfalls hinzu und die drei setzten sich vor Changs Bildschirm. »Wir sind alle der Meinung, dass das Millennium bald beginnen wird«, erklärte Rayford. »Spätestens morgen. Darum ist es so wichtig, dass die Leute hier nicht erfahren, was mit Tsion geschehen ist.« »Tsion?« »Er wurde getötet.« »Nein!« Rayford erzählte, was er von Buck gehört hatte. Naomi barg ihr Gesicht in den Händen, und Chang wollte sie trösten, doch auch ihm hatte die Nachricht sehr zugesetzt. »Und Buck geht es gut?« »Bisher schon, aber in Jerusalem ist er in großer Gefahr.« »Können wir ihn herausholen?« »Das wäre das Risiko nicht wert. Er hat sich mit seiner Situation abgefunden. Wie alle anderen versucht er, Juden am Leben zu erhalten und natürlich sich selbst, bis das Ereignis eintritt, auf das die Welt seit Tausenden von Jahren wartet.« Chang deutete auf den Bildschirm. Sie verfolgten die Berichterstattung von GCNN. »Nicolai J. Carpathia, der Supreme Potentat der Weltgemeinschaft, hat die größte Armee in der Geschichte der Menschheit um sich versammelt. Wie Sie auf dieser Luftaufnahme sehen können, wurden alle verfügbaren Soldaten zur Welteinheitsarmee zusammengefasst. Alle verfügbaren Waffen, Fahrzeuge und alle Munition wurden dieser Armee zur Verfügung ge353
stellt. Die Kampftruppe von unzähligen Millionen füllt die Ebenen Israels von der Ebene Megiddo im Norden bis nach Bozra in Edom im Süden und erstreckt sich nach Osten und Westen über die gesamte Breite des früheren so genannten Heiligen Landes. Die Bodentruppen bekommen Unterstützung von den Luftstützpunkten und durch Flugzeugträger, die im Mittelmeer stationiert sind; außerdem durch Truppentransportschiffe sowohl im Golf von Suez als auch im Golf von Aqaba. In diesem Augenblick hat ein Drittel der Truppen Petra südöstlich des Jordan umzingelt, wo sich die judahitischen Rebellen verborgen halten. Nach Angaben von Suhail Akbar, dem Direktor des Sicherheits- und Geheimdienstes der Weltgemeinschaft, hält sich auch Tsion Ben-Judah dort auf. Das Ziel der Welteinheitsarmee ist die vollständige Zerstörung der Stadt, doch natürlich wäre es von Vorteil, den Anführer lebend zu fangen. Die anderen zwei Drittel der Welteinheitsarmee haben die Aufgabe, die Stadt Jerusalem zu erobern. Potentat Carpathia selbst gibt an, dass fast die Hälfte der Stadt bereits besetzt und dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis auch die Altstadt überrannt wird. In einer Pressekonferenz vom heutigen Tage, die er auf dem Rücken seines Pferdes abgehalten hat, zeigte sich der Potentat begeistert über den Verlauf der Auseinandersetzungen.« Carpathias Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Wir sind zuversichtlich, dass dies die letzten beiden Rebellenenklaven auf der Welt sind«, sagte er, »und dass wir, nachdem diese vernichtet und unsere Feinde ausgelöscht sind, werden verwirklichen können, wovon wir so lange geträumt haben: eine Welt, in der Frieden und Harmonie herrschen. In einer wahren Weltgemeinschaft ist kein Platz für Rebellion. Wenn unsere Regierung nicht so gutmütig gewesen wäre oder sich nicht um das Wohl der Bürger bemüht hätte, hätte es vielleicht Grund für 354
Opposition gegeben. Aber wir haben immer nur versucht, alles zu tun, um für unsere Bevölkerung ein Utopia zu schaffen. Es ist sehr schade, dass es so weit kommen musste und dass wir Blut vergießen müssen, um unsere Ziele zu erreichen. Aber wir werden tun, was wir tun müssen.« Jemand erkundigte sich: »Ist die Größe Ihrer Armee nicht ein wenig übertrieben?« »Eine ausgezeichnete Frage«, säuselte Carpathia. Sein Ledersattel quietschte, als er sich auf seinem Pferd zurechtsetzte. »Keine Anstrengung für das Unternehmen Weltfrieden ist zu groß. Die Rebellenparteien leisten uns erstaunlich viel Widerstand. Auf höchster Ebene haben wir deshalb entschieden, dieses Mal nichts dem Zufall zu überlassen. Wir werden einsetzen, was immer nötig ist, um den Sieg zu erringen. Und Möglichkeiten haben wir ja genug.« »Stimmen die Gerüchte, dass Sie so stark bewaffnet sind, weil Sie mit überraschender Unterstützung der Opposition rechnen und befürchten, dass der Gott der Rebellen vielleicht eingreifen könnte?« Carpathia lachte. »Märchen nehme ich eigentlich nicht ernst, aber selbst wenn sie übernatürliche Hilfe bekämen, könnten sie sich mit unserem Kampfapparat nicht messen. Schon allein durch die Tatsache, dass wir uns in der Überzahl befinden, könnten wir selbst unbewaffnet jeden Krieg gewinnen, weil wir die Möglichkeit haben, unsere Reihen immer wieder aufzufüllen. Aber zufällig sind wir auch noch mit dem modernsten Stand der Technologie ausgestattet.« »Warum beenden Sie diesen Krieg nicht sofort? Warum die Verzögerung?« »Ich bin ein Mann des Friedens. Ich glaube noch immer an Diplomatie und Verhandlungen. Die Möglichkeit, diesen Konflikt friedlich beizulegen, ist noch immer gegeben, die Tür ist offen. Ich hatte gehofft, die Feinde des Friedens würden sich durch unsere Streitmacht überzeugen lassen und an den Ver355
handlungstisch kommen. Aber unsere Geduld ist langsam zu Ende. Sie scheinen an einer vernünftigen Lösung nicht interessiert zu sein, und wir sind bereit, jedes notwendige Mittel einzusetzen. Also ist es jetzt nur noch eine Frage der Zeit.« Gegen Mittag, als die Sonne hoch am Himmel stand, bekam Buck großen Hunger. Vorsichtig stieg er von der Mauer herunter, als freiwillige Helfer den Kämpfenden etwas zu essen brachten. Er schlang Obst, Brot und Käse herunter und stieg wieder auf die Mauerkrone. Die Armee schien ebenfalls eine Mittagspause einzulegen. Buck wünschte sich, die Rebellen würden über bessere Waffen verfügen. Vielleicht könnte ein Überraschungsangriff einigen Schaden anrichten. Andererseits war jedoch ein schlafender Riese ein sanfter Riese, und vielleicht war es sinnvoll, im Augenblick alles so zu belassen, wie es war. Er hasste die Vorstellung, untätig auf den Angriff der Gegenseite zu warten, aber da die Mauer nun mit Kämpfern bemannt war, würde der Angriff zumindest nicht überraschend kommen. Rayford hatte sich an den Abstieg gemacht, und dieser war noch schwieriger als der Aufstieg. Er war ein wenig länger als geplant bei Chang und Naomi geblieben, darum ging er davon aus, dass Mac ihn bereits erwarten würde. George wiederum würde vermuten, dass er mittlerweile bei Mac eingetroffen war. Von seinem Aussichtspunkt aus hatte er einen guten Blick über die etwa eine Meile entfernte Armee. Er griff nach seinem Telefon, um Mac zu beruhigen, als ihm klar wurde, dass irgendetwas passiert war. Die vordersten Linien lösten sich wieder auf. Vermutlich hatte George ein weiteres Mal die Energiewaffen abgefeuert. Dieses Mal jedoch nahm die Welteinheitsarmee den Angriff nicht so gelassen hin, trotz der anschließenden Verwirrung. 356
Rayford hörte das Dröhnen von Vergeltungsfeuer, das an Donner bei einem heftigen Gewitter erinnerte. Er wusste ein wenig über Gewehre und Munition Bescheid, sodass ihm klar war, dass Carpathias Truppen zu weit entfernt waren, um Schaden anzurichten. Seiner Meinung nach würden die Stellungen außerhalb von Petra unbeschadet bleiben. Er irrte sich. Vielleicht waren ihre Kanonen größer, als er angenommen hatte, auf jeden Fall flogen die Kugeln an den Stellungen vorbei und ihm um die Ohren. Als eine von ihnen unmittelbar vor ihm explodierte, wurde Rayford beinahe aus seinem Wagen geschleudert. Er klammerte sich mit seiner freien Hand am Griff fest und sein Telefon flog 100 Meter weit einen Felsen hinunter. Und jetzt geriet sein Fahrzeug außer Kontrolle. Er wurde vom Sitz hochgeschleudert und landete hart wieder auf der Sitzfläche. Das Fahrzeug hüpfte und rollte zur Seite. Die Frage, ob er darauf sitzen bleiben sollte oder nicht, war nicht das Einzige, das ihn beschäftigte, und sehr schnell löste sich auch diese Frage in Wohlgefallen auf. Ein weiterer Schlag und er konnte sich nicht mehr festhalten. Er stürzte aus dem Wagen und rollte den Berg hinunter, behielt das Fahrzeug jedoch im Blick. Es krachte gegen einen Felsen und stürzte hinab in ein Tal. Rayford bemühte sich nicht, seinen Sturz abzubremsen. Er legte Hände und Arme an und versuchte locker zu bleiben, mit aller Macht gegen den natürlichen Instinkt anzukämpfen. Der Abhang war sehr steil, und er rollte zu schnell, als dass er irgendetwas tun könnte. Jetzt konnte er nur noch auf eine weiche Landung hoffen. Etwa drei Meter von ihm entfernt schlug eine Kugel ein. Rayford wurde gegen einen spitzen Stein geschleudert und hörte ein leises Rauschen wie von Wasser, als er auf ein dorniges Gestrüpp zurollte. So unangenehm diese Domen auch aussahen, sie waren sicher weicher als das, was ihn gerade getroffen hatte. 357
Rayford konnte sein Körpergewicht verlagern, wurde langsamer und landete in den Dornen. Erst jetzt wurde ihm klar, was dieses Plätschern bedeutete. Mit jedem Schlag seines Herzens, das jetzt immer schneller schlug, strömte Blut aus der Wunde in seiner Schläfe. Er drückte mit der Hand gegen den Kopf und spürte das warme Blut nun an seiner Hand. Er drückte mit aller Macht dagegen, in der Hoffnung, die Blutung ein wenig einzudämmen. Aber Rayford befand sich jetzt in Gefahr – in tödlicher Gefahr. Niemand wusste genau, wo er sich befand. Er hatte weder Kommunikations- noch Transportmittel. Er wollte nicht einmal über seine Verletzungen nachdenken, denn was auch immer er hatte, es war unwichtig im Vergleich zu der Wunde an seinem Kopf. Er brauchte Hilfe, und zwar schnell, sonst würde er innerhalb von Minuten tot sein. Rayfords Arme waren abgeschürft und er spürte Schmerzen in beiden Knien und einem Knöchel. Mit seiner freien Hand zog er sein Hosenbein hoch und wünschte, er hätte es nicht getan. Irgendetwas hatte ihm das Fleisch am Knöchel aufgeschlitzt, aber auch mit seinem Knochen war etwas passiert. Konnte er laufen? Wagte er einen Versuch? Er war zu weit von den anderen entfernt, um kriechen zu können. Er wartete, bis sein Pulsschlag sich verlangsamte und er sein Gleichgewicht wieder fand. Mac und seine Leute waren etwa eine Meile von ihm entfernt. Er konnte sie nicht einmal sehen. Zurückgehen konnte er auch nicht mehr. Er rollte sich auf die Seite und rappelte sich mühsam hoch. Eine Hand hielt er fest auf seine Wunde an der Schläfe gedrückt. Rayford versuchte aufzustehen. Nur ein Bein gehorchte ihm, das Bein mit dem verletzten Knöchel. Vermutlich hatte er sich das Schienbein des anderen gebrochen. Er versuchte zu hüpfen, aber der Abhang war so steil, dass er sich erneut nicht mehr halten konnte. Nur mit Mühe hüpfte er weiter, wurde aber mit jedem Hüpfer schneller und drohte, das Gleichgewicht zu ver358
lieren. Was immer er tat, er konnte seine Hand nicht von seiner Schläfe nehmen, und er wagte nicht, sich erneut zu Boden sinken zu lassen. »Herr, jetzt wäre ein wirklich passender Augenblick für deine Wiederkunft.« Chang spürte, dass irgendetwas passieren würde. Er hatte Signale von Satelliten abgefangen, die sich in einer geosynchronen Laufbahn befanden und die Kommunikation zwischen den Truppen unterstützten. Die gegnerischen Truppen standen kurz davor, sich in Bewegung zu setzen. Das musste er den Verantwortlichen mitteilen. Er rief George an. »Rechnet mit einem Vormarsch in 60 Sekunden«, sagte er. »Wir sind bereits beschossen worden«, rief George. »Du meinst, es kommt noch mehr?« »Ja, sie werden vorrücken.« »War Rayford bei dir?« »Hat sich eben wieder auf den Weg gemacht. Er wollte zu Mac.« »Danke. Ruf Mac an, ja? Ich werde die anderen informieren.« Chang rief Mac an und warnte auch ihn. »Hey«, sagte Mac, »ich kann Sebastian nicht erreichen und Ray ist überfällig.« »Ist auf dem Weg«, sagte Chang. Er rief Buck an. »Rechnet mit –« Aber die Verbindung brach ab. Er wählte erneut. Nichts. »Sie kommen! Sie kommen!« Buck hörte, wie ein junger Rebell diese Worte schrie, als sein Telefon gerade läutete; er sah einen Brandsatz über das Rockefeller-Museum fliegen, geradewegs auf ihn zu. Die Welteinheitsarmee rückte nun von allen Seiten vor. Er hielt sein Tele359
fon ans Ohr, als eine Bombe unmittelbar vor ihm in die Wand einschlug. Kurz bevor die Bombe ein Loch in die Mauer riss, erkannte er noch Changs Stimme am anderen Ende der Leitung. Steinsplitter und Schrapnelle drangen in seine rechte Körperhälfte ein und unterbrachen die Verbindung. Eines seiner Gewehre wurde ihm aus der Hand gerissen. Er spürte einen Schlag an der Hüfte und in seinem Nacken, als der Boden unter ihm nachgab. Einer der Jungen neben ihm wurde in die Luft geschleudert und schlug hart auf dem Pflaster auf. Buck war entschlossen, auf der Mauer zu reiten wie auf einer Welle. Er griff sich an den Hals und spürte, dass dort Blut hervorquoll. Er war kein Arzt, aber er wusste, dass eine Halsschlagader verletzt war – kein kleines Problem. Als die Mauer langsam in sich zusammenstürzte, blieb er darauf stehen und versuchte, mit einer Hand das Gleichgewicht zu halten, da er die andere an seine Wunde presste. Sein Gewehr rutschte ihm von der Schulter in die linke Hand, doch als er sich darauf abstützen wollte, fiel es zu Boden. Er war unbewaffnet, stürzte ab und war tödlich verletzt. Und der Feind rückte näher. Rayford konnte seinen Sturz nur mit seiner freien Hand abfangen, da er es nicht wagte, den Druck an seiner Schläfe zu verringern. Er schlug mit dem Kinn auf und rutschte in einem Winkel von 45 Grad weiter. Es hatte keinen Sinn mehr zu laufen. Er konnte jetzt nur noch kriechen und versuchen, irgendwie am Leben zu bleiben. Bucks Füße verfingen sich in den Spalten zwischen Trümmern der Mauer und sein Oberkörper kippte vornüber. Er hing nun mit dem Kopf nach unten in der zusammenstürzenden Stadtmauer. Seine Hüfte war aufgerissen und blutete ebenfalls und 360
das Blut stieg ihm in den Kopf. Sogar im Inneren des Computerzentrums in der Felsenstadt spürte Chang die Erschütterung der Erde, die von den Schritten der Millionen von Soldaten stammte, die nun auf Petra vorrückten. Er klickte hierhin und dorthin, legte Schalter um und versuchte, verschiedene Anrufe zu tätigen. Wie weit würde Gott dies gehen lassen, bis er den rettenden König sandte? Gegen die Bewusstlosigkeit ankämpfend, tastete er sich vor, eine Hand ausgestreckt, die andere auf die Wunde gepresst. Mit jedem Zentimeter schien der Winkel steiler zu werden, der Weg unebener. Mit jedem Schlag seines Herzens, mit jedem Blutstoß, jedem stechenden Schmerz fragte er sich, wozu das gut sein sollte. Wie wichtig war es, am Leben zu bleiben? Wofür? Für wen? »Komm, Herr Jesus.« Der Schwindel überwältigte ihn. Die Schmerzen wurden unerträglich. Vermutlich war eine Lunge verletzt. Sein Atem kam stoßweise, mühsam, schmerzhaft. Das erste Anzeichen für das Ende war der seltsame Rhythmus seines Herzens. Es raste, dann hüpfte es, dann flatterte es. Zu hoher Blutverlust. Das Gehirn wurde nicht genügend durchblutet, bekam nicht genügend Sauerstoff. Entsetzliche Müdigkeit verdrängte die Panik. Die Bewusstlosigkeit wäre eine große Erleichterung. Und so ließ er sie zu. Reglos blieb er liegen. Seine Lunge drohte regelrecht zu platzen. Sein Herz flatterte und blieb stehen. Das pulsierende Blut sammelte sich in einer Pfütze unter ihm. Trotz seiner weit aufgerissenen Augen sah er nichts mehr. »Herr, bitte.« Er hörte das Herannahen des Feindes. Er spürte es. Aber bald fühlte er nichts mehr. Sein Blut hörte auf zu fließen, kein Lüftchen regte sich. Sein Körper erschlaffte und er starb. 361
Epilog »Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne verfinstern und der Mond wird nicht mehr scheinen; die Sterne werden vom Himmel fallen und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen und sie werden den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen. « Matthäus 24,29-30
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Tim LaHaye • Jerry B. Jenkins
FINALE DIE LETZTEN TAGE DER ERDE
Überall auf der ganzen Welt verschwinden in einem einzigen Augenblick Millionen von Menschen. Plötzlich führerlos gewordene Fahrzeuge geraten außer Kontrolle. Flugzeuge stürzen ab. Menschen brechen verzweifelt zusammen, als sie hilflos mit ansehen müssen, wie ihre Angehörigen vor ihren Augen verschwinden. Nur wenige beginnen, die Wahrheit zu ahnen. Sie schließen sich zusammen und eine fieberhafte Suche beginnt – nach Ihm, von dem man weiß, dass er bald die Geschicke der Welt lenken wird. Doch in den folgenden Jahren wird die Menschheit von einer ganzen Reihe von Schicksalsschlägen heimgesucht, die die Erde in einen Strudel von Tod und Chaos stürzt. Finale (Finale-Band 1) Pb., 360 S., Nr. 657 139
Die Verschwörung (Finale – Band 6) Pb., 320 S., Nr. 657 329
Die Heimsuchung (Finale – Band 2) Pb., 336 S., Nr. 657214
Die Rückkehr (Finale – Band 7) Pb., 300 S., Nr. 657 354
Nicolai (Finale – Band 3) Pb., 300 S., Nr. 657217
Das Zeichen (Finale – Band 8) Pb., 300 S., Nr. 657 380
Die Ernte (Finale – Band 4) Pb., 300 S., Nr. 657 292
Die Entweihung (Finale – Band 9) Pb., 300 S., Nr. 657415
Apollyon (Finale – Band 5) Pb., 280 S., Nr. 657 305
Die Felsenstadt (Finale-Band 10) Pb., 300 S., Nr. 657 466
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