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MEHDI CHAREF, in Frankreich lebender Algerier, ist bekannt geworden durch seinen ersten Roman «Tee im Harem des Ar chimedes», den er selbst verfilmt hat. Nach weiteren Filmen («Miss Mona», «Camomille») liegt mit Harki seine zweite Veröffentlichung vor. In seinem Buch «Harki» behandelt Mehdi Charef ein schwieri ges und schmerzhaftes Thema, das bis heute von den meisten Schriftstellern vermieden wurde. Einerseits stellt er das Problem der Algerier, die sich in der französischen Armee verpflichtet hatten und dadurch zu Verrä tern ihres eigenen Landes wurden, dar. Andererseits zeigt er uns, wie diese Menschen gerade von denen, auf deren Seite sie während des Unabhängigkeitskrieges gekämpft haben, später in ihrem Exilland Frankreich als Menschen zweiter Klasse be handelt werden. Es liegt kaum eine Generation zurück; die Erinnerung, der Haß, die Rachegefühle, die Gewissensbisse sind noch sehr le bendig im Bewußtsein der Menschen, und es ist für viele noch unmöglich, darüber zu sprechen. Mehdi Charef hat es gewagt. Die der Geschichte entrissenen Fragmente sind keine Rehabilitationsversuche. Es lag dem Au tor vielmehr daran, die harte Wirklichkeit mit Motiven und Gründen dieser Menschen, die durch das Schweigen auch Op fer der Geschichte geworden sind, zu enthüllen. Dieser Rückblick in die jüngste Vergangenheit ist wie auch sein erstes Buch eine eindringliche Lektion für die Zukunft.
Mehdi Charef
Harki
Roman
Aus dem Französischen von Christel Kauder
BECK & GLÜCKLER
Titel der Originalausgabe: Le Harki de Meriem Deutsche Erstausgabe 1.Auflage 1991 © 1989 Mercure de France © 1991 Beck & Glückler Verlag, Holbeinstr. 8, D – 7800 Freiburg Übersetzung: Christel Kauder Umschlagdesign: Book Graphics Satz: Barbara Herrmann, Freiburg Belichtung: Johannes Schimann, Pfaffenhofen Druck und Bindung: Freiburger Graphische Betriebe Printed in Germany All rights reserved ISBN 3-924.175-77-2
V 1.0
Juli 2003
(skl) by edoc Dieses Ebook ist nicht für den Verkauf bestimmt!!!
Für meine Schwester Amaria, die nicht weit vom Fluß ruht und mich in Beni-Ouassine erwartet. Und für Larbi.
Selim war stolz auf sich, stolz und glücklich. Er frohlockte innerlich, daß er es gewagt und geschafft hatte, dieses Verlangen, das bis dahin eine Mutprobe für ihn gewesen war, endlich zu stillen. Die Zigarette im Mund und ein zufrie denes Lächeln auf den Lippen, ging er entspannt und von der milden Herbstnacht friedlich gestimmt durch die Innenstadt von Reims, wie einer, der sich soeben von einer schweren Last befreit hat. Er hatte den Mut aufgebracht, und dafür brauchte man Mut, eine Prostituierte anzusprechen. Vor allem in einer Kleinstadt, wo man an jeder Straßenecke unverhofft auf seine Concierge oder seinen Schwager stoßen kann. Er verließ das Stundenhotel unbemerkt. Auf dem schwatzhaf ten Pflaster schlug er den Kragen seines Trenchcoats hoch und zündete sich eine Camel Filter an. Er beeilte sich, aus der dü steren Straße zu verschwinden. Das dürfte Marc umhauen, sag te sich Selim, endlich befreit. Sein bester Freund, zweiund zwanzig Jahre alt wie er selbst, würde sicher neidisch sein. Aber wenn er die Herausforderung annehmen wollte, brauchte er nur hinzugehen und sich seinerseits freizumachen. Denn es gab einen Wettstreit zwischen ihnen: Hatte der eine etwas getan, war es der andere sich schuldig, das Gleiche zu tun. Was das Ding mit der Nutte anging, hatte Selim dem Freund Marc verschwiegen, wann und wie er die Sache in Angriff nehmen wollte. Nutten waren häufig das Thema ihrer Gesprä che, und jeder der beiden hegte in sich heimlich den Wunsch, diesen Damen mal unter den Rock zu gehen. Selim hatte seinen 5
Geburtstag abgewartet, um sich statt eines Geschenks eine Nummer mit dem schönsten Straßenmädchen zu leisten, das er in Reims ausfindig machen konnte. Schon seit langem drängte es ihn nach dieser Erfahrung, die seiner Meinung nach jeder Mann unbedingt machen mußte. Eine Frau mit üppiger Figur, die sich ohne Zwang zur Rechtfertigung einfach hingibt; das Stundenhotel, das nach Schuld und Moral riecht; das nackte Zimmer mit nur einem, stets frisch gemachten Bett. Die kleine Toilette mit kaltem Wasser aus einem quietschen den Hahn. Der rauhe, eisige Waschlappen läßt das Geschlechtsteil frösteln, das bereits den Helm abnimmt, den Oberkörper aufbläht und den stämmigen Kerl spielt. Das Kon dom, das, von den kundigen Fingern der Dame geleitet, ohne Umstände seinen Platz findet. Das Zimmer leicht verschämt wieder verlassen und nicht wagen, sich umzudrehen, um der Dame, die einem Erleichterung verschafft hat, zu danken und sie zu grüßen. Auf der Treppe so diskret wie möglich sein und zum lieben Gott beten, daß man am Ausgang nicht seinem ei genen Vater begegnet; dann auf Zehenspitzen rasch das Hotel verlassen, so schnell, als ob man gerade Feuer gelegt hätte. Nuttenstraßen sind immer lang. Zu lang, und es sind immer zu viele Leute da. Und selbst wenn man allein ist: Ist die Sache einmal gelaufen, gibt es kein dringenderes Bedürfnis als zu verschwinden. Endlich die befreiende Zigarette! Der Gedanke, die Welt dieser Damen zu durchdringen, erreg te Selim mehr als deren Körper oder der Akt an sich. Ob wohl… In seinem Alter war er, genau wie sein Freund Marc, versessen auf Erfahrung und Wissen. Sie hatten Kokain und Heroin ebenso ausprobiert wie Fallschirmspringen, kurzum alles, was für einen Nervenkitzel oder Angstgefühle sorgte. Aber sie beließen es stets bei einem einzigen Versuch und ka men später nie mehr darauf zurück. Selim ließ das Stadtzentrum hinter sich. Er bahnte sich einen Weg durch die Finsternis des überdach ten Marktes und bedauerte nur eins: Die Prostituierte hatte ihm 6
seine Lieblingsstellung verweigert. Man wendet einem neuen Kunden nicht den Rücken zu, schon gar nicht, wenn er dunkelhäutig ist. Erhaltungstrieb bei diesen Damen, selbst wenn der Typ sich frisch gekämmt hat, in Kenzo-Klamotten steckt, gewienerte Sherwood-Schuhe trägt und eher nach Schickimicki aussieht. Sei’s drum, Marc würde herzlich lachen und Selim würde nicht das geringste Detail seines Abenteuers auslassen, um Eindruck zu schinden. Der Eingang des Stundenhotels, der nach frischer Farbe roch; der Portier, der dem Avereil Dalton von Morris glich und dem Aussehen nach besser Bettler als Rausschmeißer hätte sein können. Die Prostituierte, die auf der Treppe Licht machte; ihr violettes, knapp unterm Hintern abgeschnittenes Röckchen und darunter das fast unsichtbare Band, das zwei prachtvolle Hälf ten teilt. Das erregt den Kunden, wenn man vor ihm hergeht; das erspart der Dame, die an alles denkt, Zeit und Arbeit. Der Kunde, der einem auf der Treppe begegnet und wie ein Schul diger den Kopf senkt, Pierre!… Wie Pierre, als seine Frau ihn hinauswarf… In diesem Moment dachte Selim an Pierre, sei nen Flurnachbarn. Er hatte das nervöse, unangenehme Frösteln, das einen bei einer bösen Erinnerung überkommt. Es war, als ob er Pierre gegenüber schlecht gehandelt hätte, und Pierres Gericht wollte nicht mehr aus seinem Kopf verschwinden. Der Kunde ähnelte Pierre. Das gleiche Alter, etwa vierzig, und lang, sehr lang und mager; das fettige, an den Rändern aschgraue Haar zu einer Bürstenfrisur geschnitten. Eindrucks voller Zinken, fast so breit, wie das Gesicht schmal war. Und Pierres Augen, Triefaugen; ganz eingesunken unter der Stirn und weit hinten versteckt, so betrachteten sie mutlos und un auffällig die Welt. Für Selim war Pierres Bild vor allem gleichbedeutend mit dem ersten Mal; aber weil er seinen Nachbarn mochte und respektierte, war dieses erste Mal Schmerz, kein Fest. 7
Es war in Huguettes Kneipe. Selim war fünfzehn. Jeden Abend nach den Hausaufgaben spielte er mit Erlaubnis seines Vaters Azzedine bei Huguette noch einige Partien Flipper und wartete gleichzeitig, immer noch mit Azzedines Zustimmung, auf den betrunkenen Pierre, um ihn nach Hause zu bringen. Sie waren Nachbarn. Da Huguette Selim von klein auf kannte, räumte sie ihm Sonderrechte ein und schaltete das Gerät für ihn an, während sie die letzten Gäste abkassierte, denn sie machte ihren Laden früh zu. Seiner Gewohnheit getreu saß Pierre an seinem Stammplatz vor einem Pastis. Auch er hatte Selim heranwachsen sehen, er nannte ihn «den Kleinen». Zu dieser Uhrzeit waren nur noch sie beide in der Kneipe, und Huguette stellte die Stühle auf die Tische, um kurz auszufegen. Draußen hörte man die letzten Gäste lachen und auf den Bürgersteig pinkeln. Pierre saß an einem Tisch in der Nähe des Tresens, seine Krücken zwischen den lahmen Beinen. Mehr als die Hälfte seines Verstandes war bereits im Pastis ertrunken. Er hockte auf seinem Stuhl und wetterte auf Selim, der das Fußballteam von Saint-Etienne der Mannschaft von Reims vorzog. Er schwenkte eine seiner Krücken gegen all die jungen Fußballidioten von heutzutage, die nur noch für Knete spielen, während zu seiner Zeit… Vor zwanzig Jahren. Als er zwanzig Jahre alt war. Selim hörte nicht zu. Oder kaum. Pierre kippte sich noch ein Glas. Sein kleiner Kopf mit dem müden Fuchsgesicht saß schief auf dem langen Hals, wie eine Blume, die auf ihrem Stiel verwelkt. Schweiß trat ihm auf die Stirn und rann als dünnes Rinnsal am Ohr entlang, bevor er in seinem Hemdkragen versickerte. «Noch ein Glas für uns, Huguette! Das letzte!» Bei Pierre war es immer das letzte, erinnerte sich Selim, und es waren all diese letzten, die… Pierre hatte Mühe, Selim anzu sehen, der zwischen zwei Kugeln seine Milch mit Sirup schlürfte. 8
«Wir trinken es auf Joseph, klarer Fall!» sagte Pierre mit ei ner selbstverständlichen Geste. Selim stimmte zu, gab aber gleichzeitig Huguette zu verste hen, daß er kein weiteres Glas wollte. Er tat so, als würde er seinem Nachbarn zuprosten, um ihn nicht zu beleidigen, hatte jedoch nur Augen für den Flipper. Huguette schenkte Pierre ein und teilte ihm mit, daß es wirk lich das letzte sei. «Auf Joseph!» sagte Pierre und hob sein Glas. «Er wird ge nauso gerührt sein wie wir; ist ’ne aufrichtige Ehrerweisung für ihn, klarer Fall!» Selim nickte erneut. Joseph, ein Zechkumpan. Der Bastler des Viertels. Ein kleiner Dicker mit einem runden, roten Ge sicht, der ebenso gut eine Fensterscheibe erneuern wie einen Kessel reparieren konnte. Ein Glücksfall für die Leute in der Straße, die ihn mit reichlich Wein bezahlten. Ein Tränchen trat in Pierres Auge, ein Tränchen für den Freund Jo, der genau an diesem Tag beerdigt worden war. Nach der dritten Flasche Wein des Morgens hatte ihn seine Leber mitten auf einer Bau stelle im Stich gelassen. Als sie ihn fanden, hatte er seinen Pin sel noch in der Hand. Das war das einzige, woran er sich fest gehalten hatte. Bei der Beerdigung konnte Pierre sich dem Zug nicht an schließen: der Alkohol und die Krücken. Außerdem war es besser, wenn er nicht hinging, weil er, wie er sagte, diese blö den Trauergäste sowieso nur allesamt beschimpft hätte. Und dann berief er sich auf die Freundschaft: niemals einen Freund begraben. «Ich bei Jojos Beerdigung!» rief er und fingerte an seinem Glas herum. «Warum sollte ich ihn bestatten, den armen Kerl? Er hat mir nie was Böses getan, und die anderen, die einfach daherreden, er wär’ ihr Kumpel gewesen, das sind die ersten, die ihn ins Loch stoßen!» Alles diente ihm als Vorwand, sein schlechtes Gewissen mit Pastis zu betäuben. Er bat Huguette um einen Eiswürfel und 9
nahm den Faden wieder auf: «Es gibt sogar welche, die sich für Beerdigungen in ihren Sonntagsstaat werfen, weil sie so froh sind, den Toten loszu werden, um seinen Platz einzunehmen oder seine Frau zu vö geln.» «So ist das!» bekräftigte er anschließend und klopfte mit dem Glas auf den Tisch. «Immer mit der Ruhe!» mahnte Huguette nur. «Auf Bruder Joseph!» sagte Pierre. «Den letzten für heute auf Joseph im Himmel!» «Du hast recht!» behauptete Selim ohne Überzeugung. Der Kleine hatte Joseph als einen Kerl in Erinnerung, der glaubte, all sein Elend sei nur den Ausländern zuzuschreiben. Er sagte: «Frankreich den Franzosen». Pierre trank einen Schluck und sackte auf seinem Stuhl in sich zusammen. Zwi schen zwei Tilts sah Selim ihn traurig an. Pierre faltete die Hände über den Knien und rang nach Luft; es klang, als ob es ihm die Eingeweide umdrehte. Er wollte weiterreden, aber es fiel ihm schwer. Er konnte die in seinem wirren Kopf verstreu ten Worte nicht auf die Reihe bringen. Er nahm ihn in beide Hände und kratzte sich in den struppigen Haaren. «Was mich mal umbringen wird, ist die Angst», gestand er dem leeren Tresen. «Ein Heidenbammel, ich weiß nicht, wie die Quacksalber das nennen. Aber wenn dieser verdammte Scheiß mich überkommt, frißt er mich von innen auf, zerreibt mir die Gedärme und wird größer und größer…» Er atmete schwer. Er betrachtete sein Glas mit Abscheu, als wollte er es mit ei nem Schwung an der Wand zerschmettern. Er hielt sich zurück. Es gab nur dieses Glas, das ihn noch vor seiner Angst bewahren konnte. Er wackelte immer wieder mit dem Kopf und richtete sich schließlich auf, um nicht einzu schlafen. Selim fürchtete, dieser Kopf könnte abfallen, wenn er plötzlich nach vorn sank. 10
«Ein Glück, daß sie den Fusel erfunden haben! Wie sollte ich sie sonst ersäufen, diese Scheißangst, was!» Keiner antwortete ihm. «Noch einen, Huguette!» «Nein!» «Den letzten», schwor Pierre, «beim Haupte meiner Frau!» «Den letzten!» warnte Huguette, die mit ihrem Scheuertuch kämpfte. Und sie schenkte nach. Es drängte sie, ihren Laden dichtzu machen. «…den letzten!» sagte Pierre. «Damit das verfluchte Muffen sausen ein für allemal vergeht.» Er rieb sich das Gesicht. Es war grau wie Beton. Selim lehnte mit verschränkten Armen auf dem Flipper und wartete wie jeden Abend, daß Huguette sie zur Tür drängte und ein letztes Mal beschimpfte, bevor sie sich aus dem Staub machten. «Hast du so was nicht?» «Hm! Doch! Was?» fragte Selim, von Pierres Frage überfor dert. «Na, die Angst, von der ich dir seit einer Stunde erzähle, du kleiner Idiot!» «Hm, doch, doch, manchmal!» erwiderte Selim, um ihn zu beruhigen. Mehr sagte der junge Mann dazu nicht. Er ließ Pierre lieber im Ungewissen. Der Behinderte segelte allein auf seiner Wolke. Er redete, ge stikulierte, lachte sogar. Gelegentlich machte er obszöne Ge sten, die Huguette erröten ließen. Zum wiederholten Mal fing er an, von seiner Fußballerkarriere zu erzählen, die ein Autoun fall in Kniehöhe abgebrochen hatte. Und weil er alles in den Stollen und wenig im Kopf gehabt hatte, war eine Umschulung aussichtslos gewesen. Angewidert forderte Huguette Selim auf, Pierre nach Hause zu begleiten. Der Junge konnte sich nicht weigern. Draußen auf der dunklen Straße geriet Selim mit dem schwankenden Leichnam in den Armen ganz schön in Verle 11
genheit. Er mußte seinen Kameraden kräftig anpacken, den Kopf unter dem Arm des Betrunkenen durchschieben und schließlich losgehen. Aber das gefiel Pierre nicht. «Hältst du mich für blöde?» brüllte er. Er brach auf dem Pflaster zusammen, verzog das Gesicht vor Schmerz und jammerte über die verlorene Zeit. «Das Leben ist ein einziger Scheißhaufen, und jeder Tag frißt dich ein bißchen mehr auf.» Dann boxte er Selim, der ihn wieder aufrichtete, mit seinen kleinen, schlappen Fäusten auf die Schulter. Pierre dachte, daß seine Schläge Gewicht hätten, aber der Junge spürte keinen Schmerz. Schmerz nur wegen der Verzweiflung seines Flur nachbarn. Der Säufer betrachtete Selims Hilfe als Beleidigung. Er stieß den Halbwüchsigen mit seinen Krücken und giftigen Worten zurück. Da lehnte sich der Junge, der seinen Freund nicht im Stich lassen wollte, mit dem Rücken an eine Wand, um Luft zu holen. Wenn Pierre schrie und sich wehrte, kam stets ein Zeitpunkt, an dem er müde wurde, und den nutzte Selim. Sie brachen wieder auf. Nach ein paar Schritten ließ der Krüppel eine Krücke fallen. Der junge Mann setzte ihn vorsichtig auf den Bürgersteig und hob das Hilfsmittel auf. Neue Wortgefechte, neue Beschimpfungen, und sie näherten sich schwankend ihrem Haus. Das bruchstückhafte Gemurre Pierres begleitete jeden ihrer ungleichen Schritte. Zuerst galt es seinem Pfadfinder, für den die Bezeichnungen von Schwachkopf bis Hurensohn reichten. Dann legte er sich mit der ganzen Erde an. Als er sich seinen Kummer von der Seele geredet hatte, kam er zu dem Schluß, daß alle Arschlöcher seien, ausgenommen seine Mutter. Aber nicht bei ihr, sondern bei seiner Frau lieferte Selim ihn ab. Pierres vierzig Jahre zerflossen auf den Schultern des klei nen Jungen in Schweiß und Tränen. Die Toreinfahrt des Ge bäudes war immer das schwerste Hindernis für die beiden Schatten. Es blieb stets eine Krücke zurück. Selim setzte Pierre auf die ersten Treppenstufen und kehrte um, sie zu holen. Bei 12
der Gelegenheit schaltete er das Licht ein. Die Concierge, der Pierre den Spitznamen Olive gegeben hat te, weil sie Popeyes Braut glich, «außer daß ihr ein Besen zum Wegfliegen unter der Möse fehlt», ließ ihren Kopf hinter der Scheibe ihrer Loge sehen und bedeckte ihren Oberkörper. Sie kam nicht heraus, selbst dann nicht, wenn Pierre seinen Pastis auf den Stufen erbrach, was häufig geschah. Sie unterließ es, einen Fuß über die Schwelle ihrer Loge zu setzen, seit Pierre ihr einmal in der gleichen Situation den Hintern gezeigt und sie als Waschweib beschimpft hatte, das beim Bumsen zu kurz kam. Zwischen Lachlust und höflich-verschämtem Luftanhal ten schwankend, hatte Selim gesehen, wie Olive vor Entsetzen die Augen weit aufsperrte, bis sie ihr fast aus dem Kopf traten. Dann hatte sie den Rückzug angetreten, um zum heiligen Antonius von Padua zu beten, daß er ihnen vergab. Selim hatte rasch seinen Nachbarn geschultert, weil er fürchtete, Olive könnte mit Popeye wiederkommen. «Wenn du’n Pechvogel bist, lassen sie dich alle fallen. Kein Mensch mehr für dich da!…» brütete Pierre immer noch vor sich hin. Die rechte Tür in der zweiten Etage traktierte er jedesmal mit einem Krückenschlag, weil der Mieter «nur ein dämliches Wildschwein ist. Kommt aus seinem Wald in den Ardennen her und wählt Mitte, weil er zu feige ist, sich freizuspielen. Weiß ich genau!» Er mochte ihn nicht. «Übrigens hat Reims Sedan noch immer geschlagen, also bitte!» Nach vielen mühsamen Anstrengungen erreichte das Duo endlich den dritten Stock. Pierre bestand stets darauf, die Tür selbst zu öffnen. Selim machte keinen Versuch, ihn umzu stimmen. Der Säufer wollte beweisen, daß er so blau gar nicht war und sich zu benehmen wußte. Während Pierre aufschloß, hielt der junge Mann ihn an der Taille fest, weil er fürchtete, er könnte auf der Fußmatte erneut zusammenbrechen. Gleich hin ter der Tür ließ Pierre seine Krücken fallen und stützte sich mit den Händen an der Flurwand ab. Anschließend ließ er sich 13
langsam zu Boden gleiten, bis er auf den Knien landete. End lich ließ Selim ihn los. In dem winzigen Wohnzimmer mit den dicken, gelbbraun geblümten Tapeten, einer Festung aus Mö beln mit spitzen Ecken auf einem dichten Teppichboden, saß Pierres Frau und rührte sich nicht. Die Haare voller Locken wickler, hockte sie Kekse knabbernd im Bademantel direkt vor dem Fernsehgerät. So war es jedesmal, wenn Selim ihr den Mann zurückbrachte. Sie scherte sich nicht darum, was sich hinter ihr abspielte. Wenn die beiden Komplizen zuviel Lärm machten, stellte sie das Gerät lauter. Erst wenn Selim die Krücken an die Wand schob, damit der Durchgang frei war und Pierre zu seinem Zimmer kriechen konnte, drehte sie sich um. Und immer musterte sie den jungen Mann mit dem gleichen kranken Blick, der plötzlich aufleuchtete wie eine Fackel im Dunkeln. Sie erhob sich, kaute lässig ihre Kekse und warf dem Jungen begehrliche Blicke zu. Jedesmal das gleiche Spiel. Seit dem ersten Abend, an dem er ihr den Göttergatten zurückgebracht hatte. An jenem Abend hatte Pierre sich im Flur erbrochen, und der junge Mann konnte ihn nicht mehr hochheben. Er wartete auf die Hilfe der Ehe frau. Wie gewöhnlich saß sie vor dem Fernsehgerät. Sie hatte sich umgedreht, völlig überrascht, Selim zu sehen; offensicht lich hatte sie geglaubt, ihr Mann sei allein. Sie starrte den Jungen lange an, und ihre Fackeln funkelten wie Kristall. Ohne sich um ihren Mann zu kümmern, ging sie auf Selim zu. «M’dame…», murmelte dieser mit einer Kopf verbeugung. «Guten Abend!» antwortete sie mit erhobenem Kopf. Beun ruhigend. Zwei Schritte vor Selim blieb sie stehen. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Sie musterte ihn wieder, bis sich ihr Mund zu einem liebenswürdigen Lächeln verzog. Sie trat einen Schritt vor, und ihre Hände streichelten die Wangen des Jungen. Die ser wich bis an die Tür zurück. Sie löste den Gürtel ihres Ba 14
demantels, ließ ihn auf den Teppichboden gleiten und liebkoste ihre Brüste, um Selim scharfzumachen. Sie reichte ihm mit bestimmter Geste die Hand. Verlegen wandte er sich zu Pierre um. Zusammengekrümmt, die Stirn auf dem Boden, hustete der Säufer qualvoll am Eingang seines Zimmers. Hin- und hergerissen zwischen seinem Respekt vor Pierre und dem herausfordernden Hinterteil, das sich ihm anbot, zö gerte Selim noch. Pierres Ginette zog einen Lockenwickler aus ihren Haaren, dann einen zweiten, und nahm den jungen Mann bei der Hand. Er ging mit. Sie war jünger als ihr Mann, die Kleine, und fül lig: vielleicht die Kekse. Eine kräftige, mollige Blonde mit ro sigen Wangen. Ihre Brüste nahmen sich aus wie ein Willkom mensgruß. Sie ging mit zögernden Schritten und lächelte Selim noch einmal beruhigend zu. Dann kniete sie sich vor ihn hin und knöpfte ihm den Hosenschlitz auf. Vorsichtig umschloß sie das Geschlechtsteil und die Eier mit der hohlen Hand, wie man ein Neugeborenes aus dem Bauch seiner Mutter holt, und sah Selim an, als wollte sie sagen: Kei ne Sorge, Kleiner, wird schon alles gutgehen. Doch da war noch Pierre. Der junge Mann versuchte einen Rückzug, aber Ginette hielt ihn fest. Am Ende des Flurs rülpste der Ehemann ein letztes Mal, bevor er in seinem Zimmer ver schwand. Seine Ginette stand auf und knallte die Tür zu. Selim machte seinen Hosenschlitz wieder zu und schickte sich an, zu gehen. Da kam sie rasch auf ihn zu, faßte ihn um die Taille und drängte ihn ungestüm an die Wand. Vor Rührung bebend, küßte sie sein Haar und seinen Hals. Ihr Blick war feucht vor Verlangen und nagelte den Kleinen fest. Einen Moment lang dachte er, Ginette würde in Tränen ausbrechen, so sehr ließ die Erregung sie erschauern. Sie keuchte, ihre Kehle war ausgetrocknet. Sie schluckte krampf haft, zog Selim zu dem Sessel, ließ sich rücklings darauf nieder und streckte dem Jungen die Hände entgegen. Er zögerte, wandte sich zum Flur um. 15
Da spreizte Ginette ihre kräftigen Schenkel, wie sich die Pforten zum Paradies öffnen mögen, und Selim zog seine Jacke aus.
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Die Frau seines Kumpels Pierre – das war sein «erstes Mal». Von daher der Strom der Erinnerungen, der auf der Treppe des Stundenhotels in ihm hochflutete. Woran es lag, daß Pierre vor der Concierge Olive den Hintern und nicht den Schwanz ent blößte, hatte Selim danach erfahren: «Darum, weil er keinen mehr hochkriegt», wie Pierres Frau sich ausdrückte. Wie oft der junge Mann Pierre, der schwer war wie ein Pfer dekadaver, auch begleitete, jedesmal baute sich Ginette vor ihm auf wie eine Bettlerin. Später hatte Selim den Verdacht, daß sie auf ihn wartete und darüber hinaus ihrem Mann sogar Geld gab, damit er sich betrank, weil sie hoffte, daß der Ju gendliche ihn zur dritten Etage hinaufschleppen würde. Der Gedanke, daß ihm dieses erste Mal aufgedrängt worden war und nicht auf seiner eigenen Wahl beruhte, störte Selim. Er nahm die Begegnung mit Pierres Doppelgänger auf der Treppe als ein Zeichen. Ein Motorengeräusch zu dieser Stunde im ausgestorbenen Reims war etwas Ungewöhnliches. Selim türmte über die brei te Avenue, die in beiden Richtungen befahren werden konnte. Der Wagen, ein marineblauer 403, der jetzt zu seiner Rechten auftauchte, beschleunigte in seiner Richtung. Obwohl Platz gewesen wäre, dem Fußgänger auszuweichen, jaulte der Motor nun erst richtig auf, und der Wagen hielt genau auf ihn zu. Der junge Mann riß sich von seinen Gedanken los und hechtete mit einem Satz von der Fahrbahn. Die drei Wageninsassen heulten vor Wut. Sie hatten ihr Ziel nur knapp verfehlt. Selim hatte ihre Augen gesehen. Vor allem die eines schmächtigen Mannes mit einem Schnurrbart, unter dem sich hohle Wangen verbargen. 17
Er hatte auf der Rückbank gesessen. Der andere, ein Hellbrau ner, der mit seiner Kippe auf Selim gezeigt und aus Leibeskräf ten «Araberdrecksau» gebrüllt hatte, saß neben dem Fahrer. Vor der Ampel an der Straßenecke legte der verrückte Wagen bei Rot eine Verschnaufpause ein. Selim stand wie festgenagelt auf dem Bürgersteig und reckte zornig seinen Mittelfinger hoch. Der Schmächtige auf dem Rücksitz antwortete mit einer nervösen, überheblichen Geste, die Selim aufforderte, ihnen zu folgen, wenn er ein Mann war. Der 403 kam wieder in Fahrt und verschwand in der Stille der Nacht. Wut und das Gefühl der eigenen Ohnmacht angesichts der Herausforderung ließen den gedemütigten Selim tief Luft holen. Gegen seinen Willen wurde ihm seine Andersartigkeit wieder bewußt. Er dachte nicht mehr an Ginette und Pierre. Er wußte, daß er mit einem helleren Gesicht in aller Ruhe nach Hause gehen würde. Er stammte nicht woandersher, und er fühlte sich nicht woanders her. Selim stellte sich keinen Notausgang vor, keine Stadt und kein Land, in das er zurückkehren könnte. Er stammte aus Reims, aus Frankreich, und zwar seit dem Tag, als er im Kran kenhaus Saint-Charles geboren worden war. Es machte ihn sogar traurig, wenn er daran dachte, er könnte diese Stadt eines Tages verlassen, diese Stadt, die er so sehr liebte, für die er beim jährlichen Leistungswettbewerb in Französisch einen ersten Platz und bei der französischen Jugendmeisterschaft im Florettfechten einen Platz auf dem Podest erobert hatte. Er vergaß die Nutte und seinen Freund Marc, bei dem er an diesem Abend angeblich gewesen war. Das hatte er seinen El tern gesagt, um schnell vom Geburtstagstisch und den Ge schenken wegzukommen. «Komm nicht zu spät nach Hause!» hatte sich seine Mutter Meriem beunruhigt. Er hatte seine Geschenke weggeräumt. Nichts als Kleidung, eine Fliege der Marke Zegna von seiner Schwester Saliha, ei nen Mantel von seinem Vater Azzedine und von seiner Mutter Arrow-Hemden, schwer zu bügeln, aber wirklich schön. Seine 18
Mutter Meriem hatte ihm sogar einen Henna-Abdruck auf die rechte Hand gesetzt. Henna bringt Glück. Ernüchtert trat Selim seinen Weg in die Fußgängerzone an. «Ich habe Marc versprochen, bei ihm vorbeizukommen», so der letzte Satz, den er zu seinen Eltern gesagt hatte, bevor er es bei den Nutten versuchen wollte. Er hatte seine Schwester und seine Mutter geküßt und den Vater umarmt. Einen Vater, der ein paar Stunden zuvor noch begeistert gerufen hatte: «Rechtsanwalt! Mein Sohn wird Rechtsanwalt!» Ein Plan, der in ihrer Vierzimmerwohnung häufig wieder kehrte, seit der Filius Jura studierte. «Richter, das ist besser!» hatte Saliha erwidert. «Nicht so glanzvoll», hatte der Vater gesagt. Er fand das gro ße Palaver im Rampenlicht verlockender. Er träumte laut von der Zukunft seines Sohnes. Meriem hörte zu; Saliha, den Kopf in den Händen und die Ellenbogen auf dem Tisch, mokierte sich. Selim lächelte. Man baute auf den Erfolg des Sohnes, um jedes Bedauern über das Exil auszulöschen. Seine kleine Schwester dagegen büffelte für ein Krankenschwesterdiplom. «Das reicht mir», sagte sie. In der leeren Fußgängerzone blieb Selim vor der Nummer 47 stehen. Er blickte zu einem modernen Gebäude mit Glastüren auf. Das Licht in der vierten Etage erleichterte ihn und ließ ihn lächeln. Hier lebte sein Freund Marc in einer kleinen Mietwoh nung, zwei Straßen von seinen Eltern entfernt. Die einzige Herausforderung, die Selim nicht annehmen konnte: allein in einem Studentenzimmer zu wohnen. Sobald er Meriem darauf hin ansprach, drückte sie sich ein paar Tränen ab. Er beobachtete Marcs Fenster. Er wollte nicht zu seinem Freund hinaufgehen, sondern entschied sich, ihn anzurufen. In der Nähe wartete eine Telefonzelle auf ihn – und seine Mutter, die nicht einschlief, solange sie nicht den Schlüssel im Schlüs selloch gehört hatte. «Ich komme von einer Nutte!» sagte er einfach so. 19
«Was sagst du da?» fragte Marc verdutzt. «Ich habe mir einen Quickfick geleistet!» «Das Geschenk, das du für deinen zweiundzwanzigsten Ge burtstag aufgehoben hattest?» Marc lachte. «Hm…». Selim lachte auch. «Welche hast du aufs Kreuz gelegt, alter Freund?» «Ich erzähl’s dir morgen. Ich bin in einer Telefonzelle, und sie glauben, ich wäre bei dir!» «Wieviel hast du bezahlt?» «Morgen. Ich sag dir alles morgen.» «Komm doch jetzt vorbei.» «Nein! Salut…» Sie lachten schallend. Selim legte den Hörer auf. In der nächtlichen Kälte knöpfte er seinen Mantel zu. Er hatte es eilig, nach Hause zu kommen, und tastete seine Taschen nach den Schlüsseln ab. Auf dem Nachttisch würde ihn Les Boucs von Chraibi erwar ten. Ein Satz aus diesem Buch kam ihm in den Sinn: «Sie ha ben ihre Seele auf der anderen Seite des Mittelmeeres gelas sen.» «Hopp!» Eine harte Faust zog Selim heftig gegen die Vertiefung einer Garageneinfahrt. Auf diese Weise überrumpelt, wurde er an die Tür gedrückt. «Hopp!» sagte der kleine Schmächtige mit den hohlen Wan gen spöttisch und schüttelte Selim am Kragen. Dieser versuch te sich aus dem Griff zu befreien, aber der andere, der Hell braune, gab ihm mit einem Kopfschütteln und anschließendem «tststs» zu verstehen, daß er ruhig bleiben sollte und daß es überhaupt nichts nützte, sich so zu winden. Er sah aus, als wollte er sagen: Wir sind zu dritt. Selim erkannte sie wieder, aber er konnte den 403 nicht entdecken. Der dritte, der Chauffeur, stand links von Selim. Er war unge fähr fünfzig Jahre alt, rund und kahlköpfig, und er lachte ner vös, während er sich gleichzeitig um die Stille ringsherum Sor 20
gen machte. Er fuhr mit seinen schwitzenden Händen über sei nen grauen Pulli und ohrfeigte Selim. Er prustete los, als ob es ihn zutiefst befriedigte, endlich einem Araber eine zu verpas sen. «Halt still!» Der kleine Schmächtige stieß pausenlos sein Hopp! aus und hielt Selim, der größer war als er, stolz am ausgestreckten Arm. Bei jedem Hopp!, auf das eine heftige Bewegung nach unten folgte, wollte der Kleine den Blick seines Gefangenen sehen. Wollte diesem Scheißarabersohn, der nicht ängstlich wirkte, nicht einmal, nachdem er Schläge eingesteckt hatte, sein ge schärftes Auge, seinen vor Rachedurst zitternden Mund zeigen. «Das geht doch ni…», Selim konnte seinen Satz nicht been den, der Kleine hielt ihm mit der linken Hand den Mund zu. «Doch, doch, das geht!» antwortete der Hellbraune, der den Gelassenen spielte. Jetzt drückte er seinerseits heftig seine Faust auf Selims Mund und sagte mit verzerrtem Gesicht: «Deine Papiere, wir wollen deine Papiere sehen, das ist alles, klar? Es steht fest, daß du dir eine Abreibung holst, eine Abrei bung allererster Güte, so daß du dich eine ganze Weile nicht mehr im Spiegel ansehen wirst. Aber nur», er hob den Zeige finger, «nur wenn du bescheiden genug warst, Araberdrecksau und Sohn einer Araberdrecksau zu bleiben. Weil du genau das bist, und die Araberdrecksäue, die wollen wir nicht, nicht mal mit ’ner blau-weiß-rot bemalten Birne… Verstanden?» Er legte den Finger an sein Ohr und senkte seine roten Au gen. Weil keine Antwort kam, zog er den Krauskopf an den Haaren. «Armer Irrer!» schleuderte ihm Selim entgegen. Der Hellbraune wischte sich den Mund ab und fuhr fort: «Falls du das Pech hast, einen französischen Personalausweis zu besitzen, machen wir dich kalt. Wir wollen keine Araberaf fen in unseren Melderegistern. Dreckiger Araber bist du, drek kiger Araber bleibst du. Deine Papiere?» 21
Selim zuckte nicht mit der Wimper. Der Glatzkopf mit seinen fünfzig Jahren auf dem Buckel ohrfeigte ihn erneut und kicher te sich eins in seinem Blouson, als hätte er bei der Dreierwette in der richtigen Reihenfolge gewonnen. «A!… Ära!… Arrrraber!» sagte der kleine Schmächtige, der fest auf seinen Beinchen stand und sich immer mehr ereiferte. «Araber!... Arrraber!... Arrrrrrraaaber!…» «Wenn man sich zu Hause schützen und ohne Angst ausge hen will, muß man sich bewaffnen…» Diese Worte Pierres kamen Selim in den Sinn. Pierre hatte sich von der Unsicherheitspsychose anstecken lassen und sich für den Fall, daß man ihn zu Hause überfiele, ein Gewehr zuge legt. Aber auch bei Pierre spielte die Angst vor den Auslän dern, den nordafrikanischen Halbstarken mit, obwohl es in sei nem Viertel, von Selim abgesehen, nicht viele von diesem Ge sindel gab, wie er sagte. Das Gewehr hatte er sich zugelegt, um sich selbst Angst zu machen. Von irgend etwas mußte man schließlich leben und die Leere ausgleichen, die durch Langeweile entstand. Wie jedermann. Pierre probierte seine erste Patrone an Spatzen aus, die auf einer benachbarten Fernsehantenne zwitscherten. Von Panik ergriffen liefen sämtliche Hausbewohner mit Azzedine an der Spitze herbei und zeigten drohend mit dem Finger auf Pierre, der sie mit aufgepflanztem Seitengewehr auf den Treppenab satz zurückdrängte. Der Säufer lag auf der Lauer. Er hielt sich für den Verteidiger des Gebäudes und des Parkplatzes, achtete auf ungewöhnliche Geräusche im Treppenhaus. Jetzt, da er bewaffnet war, hatte auch seine Ginette Angst beim Anblick des Ehemannes, der pausenlos sein Gewehr wienerte und sie von der Seite ansah. Sie bat die Nachbarn um Hilfe. Die kamen wieder, Azzedine immer noch vornweg, und warnten den Freund Pierre. «Mit so was spielt man nicht, Monsieur Pierre», sagte Azze dine in Verteidigungsstellung. «Und ich weiß, wovon ich spre 22
che!» «Er hält mich wohl für einen Anfänger!» erwiderte Pierre mit rotem Kopf. Pierre redete jeden Fremden in der dritten Person an. Er ver sagte sich das vertrauliche Du und fühlte sich zu überlegen, um das Sie zu benutzen. «Ein Unfall ist schnell passiert!» fuhr Azzedine fort. «Er soll sich nicht meinen Kopf zerbrechen!» sagte Pierre mit verächtlich gerecktem Kinn. Die Nachbarn hatten Angst. Besonders morgens, wenn er sein Quantum Weißwein noch nicht geschluckt und deshalb den Tatterich hatte, der gute Pierrot. Man mußte sich hüten, mit dem Moped unter seinem Fenster längszuknattern. «Man muß sich bewaffnen!» brüllte er bei Huguette. Selim wäre gern bewaffnet gewesen. Seine drei Angreifer zeigten sich entschlossen. Er wehrte sich mit Fußtritten und versuchte, das Filzen hinauszuzögern. Er schrie nicht, weil er dem kleinen Schmächtigen sein Vergnügen nicht gönnen woll te. Der wartete nämlich nur auf eins: daß der kleine Araber drecksack ihn anflehte. Und Selim klagte auch nicht. Der Fünf zigjährige mit dem stummen Lachen blockierte seinen Arm mit einem Schlüssel und drückte kräftig. Der kleine Schmächtige, der dem jungen Mann mit der einen Hand den Mund zuhielt und ihn mit der anderen an die Wand preßte, sah, wie sich Se lims Pupillen vor Schmerz weiteten. Der Hellbraune durchsuchte die Taschen. Er zerrte am Man tel, daß die Knöpfe absprangen. «Ära!… Arrra!… Araber!… Hopp, hopp!» stotterte der Klei ne und versetzte Selim mit dem Knie Stöße in den Unterleib. Der Glatzkopf lachte wieder und zog ruckartig an der krausen Mähne. Der Hellbraune fand die Brieftasche. Er nahm Selims Personalausweis heraus und zeigte ihn angeberisch seinen Freunden. Ein Ausdruck gravitätischer Verachtung trat auf sein Gesicht, und seine Augen füllten sich mit Haß. Der Hellbraune spuckte Selim an und las: 23
STAATS – AN – GE – HÖ – RIG – KEIT – FRAN – ZÖ – SISCH. Er betonte jede Silbe. Der Glatzkopf, der die Fortsetzung ahnte und auch das Ver gnügen, das sie ihm bereiten würde, hätte sich am liebsten die Hände gerieben, wenn er nicht seine Beute hätte festhalten müssen. In grenzenloser Verachtung tänzelte der Kleine auf den Ze henspitzen und mühte sich, Selims Nase mit einem Kopfstoß zu traktieren. Vergeblich. Er zog den Kopf des Arabers nach unten und biß ihn ins Ohr. Selim stieß einen Schrei aus, den die nervöse Hand jedoch ersticken konnte. Der Hellbraune drückte ihm sein Paßbild vor die Augen und sagte zu ihm: «Haste deine Visage gesehn? Denk gut nach!» Er sagte «dönk». «Mit der Fresse kannste kein Franzose sein!» Er markierte immer noch den Gelassenen, der Hellbraune. Er holte sein Springmesser heraus und ließ mit krampfhaftem La chen die Klinge springen, wie man einer Frau das leichte Hös chen abstreift: mit Genuß. Sollten sie ruhig die Augen aufreißen, bis ihnen fast die Hornhaut platzte, Selim glaubte es einfach nicht. Er verbot sich, es zu glauben. Er hatte nichts Böses getan. Von dem Schmächtigen und dem Glatzkopf, die mit fröhli chem Haß die Messerklinge ansahen, eingezwängt wie in ei nem Schraubstock, konnte er sich nur winden; seine Chance zu fliehen war winzig. Der Hellbraune sagte kühl: «Wärst du ’ne Araberdrecksau geblieben – eine Abreibung, und der Rettungsdienst hätte dich nach Hause gebracht. Aber so, wie’s jetzt steht, wird der Rettungsdienst nichts mehr zu tun haben.» Die Spitze der Klinge kitzelte Selims Bauchnabel. Er wehrte sich wie ein Aal in einer Reuse. Er spürte, wie eine kalte Me tallspitze in seinen Bauch eindrang und ihn erstarren ließ. Er hatte keine Schmerzen. Er starrte den Hellbraunen vollkommen ausdruckslos an. Leer, als ob er sich weigerte, irgend etwas zu begreifen. Er wehrte sich nicht mehr, er hatte keine Angst 24
mehr. Der Schmächtige nahm die Hand von Selims Mund, der weit geöffnet blieb. Seine Beine trugen ihn nicht mehr, aber es war ihm wichtig, aufrecht zu stehen. Er klammerte sich ans Mau erwerk, so wie Pierres Hände sich an der Kette des Wasserka stens festgehalten hatten, als er sich auf seiner Toilette eine Kugel in den Kopf gejagt hatte. Hatte Pierre versucht, ein letz tes Mal ganz allein aufzustehen? Oder wollte er aufrecht ster ben? Denn das Gewehr hatte er für sich gekauft, der gute Pier rot, einzig und ausschließlich für sich. Selim wäre gern allein abgetreten, nicht mit der Erinnerung an seinen Nachbarn. Pierre, der sein Gewehr bestimmt gründ lich gereinigt und auf Hochglanz gebracht hatte, bevor er sich in den Mund schoß. Und danach abtreten. Wie Selim. Dieser Abgang war es, der Selim auf Pierres Spuren brachte. Pierre, der Reims’ Aufstieg in die erste Liga nicht erleben konnte, wie er auch die Tränen nicht gesehen hatte, die Selim an jenem Tag über die Wangen gelaufen waren. Er hatte ein paar letzte Worte auf der Toilettentür hinterlas sen. «Es lohnt sich nicht, mit Schweinehunden weiterzuleben!» «Araber! Hopp, hopp!» höhnte der Schmächtige ein letztes Mal und hüpfte wie ein Affe vor Selim herum, der jetzt lang sam an die Garagentür sackte. Er verstand die Schwäche nicht, die ihn zu Boden gleiten ließ. In einem letzten Aufflackern erinnerte er sich noch einmal an Pierre. Denn Selim hatte oft an den Tod seines Nachbarn und an die Stille gedacht, die sich ausbreitet, wenn Seele und Körper sich trennen. Er hatte versucht, sich vorzustellen, zu spüren, was Tod be deutet. Pierres Gesicht ist immer noch da, auf der letzten Gera den, der Kopf zerschlagen über dem leeren Pastisglas. Die Gauloises bleues. Die schwarzen Fingernägel. Und schließlich, wenn schon abtreten, warum dann nicht mit Pierre! Selims Kopf schlug auf den kalten Asphalt. Kalt. 25
Saliha sitzt auf einer Bank im Zollbereich des Flughafens Tlemcen, Algerien. Ihre Haare haben alle Spannkraft verloren und sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine widerspenstige Strähne, die über der linken Wange hängt, streicht sie hinters Ohr. Seit dem Tod ihres Bruders vor vier Tagen hat Saliha nichts als Wasser zu sich genommen. Sie sehnt sich nach nichts, außer vielleicht nach dem Tod. Die «Scheißhurentochter», wie der Zollchef sie genannt hat, steckt die fröstelnden Hände unter ihren weiten Pullover. Sie trägt einen langen Faltenrock, schwarze Strümpfe verbergen ihre Waden. «Wer da rüberfährt, bedeckt sich besser», hat man ihr in Reims gesagt, «vor allem als junges Mädchen; sonst hagelt es Anzüglichkeiten in deinem Rücken.» Über Salihas Rük ken hängt ein Jeansblouson. Der Flughafen kann aufatmen, es ist Nacht. Die Zollbüros sind menschenleer, die Schalter geschlossen. Dennoch wagt das junge Mädchen nicht, seinen Platz zu verlassen. Es hat Angst. «Tochter eines räudigen Hundes, Christenhure, setz dich da auf deinen Arsch, und rühr dich nicht vom Fleck!» hat te der Zollchef – ein Nervenbündel im Khakihemd mit dunklen Schweißflecken unter den Achseln – kommandiert. Das hatte sich am frühen Nachmittag des Vortages nach ihrer Landung abgespielt. Jetzt ist es drei Uhr morgens, und Saliha befindet sich immer noch am gleichen Platz. «Bent harki! Bent harki! Harkitochter! Harkitochter!» sagte der Zollchef immer wieder und zeigte Saliha seinen Kollegen und den Reisenden, die sich hinter ihren Koffern drängten und 26
die Beschimpfungen tatsächlich oder zum Schein begrüßten, um etwas weniger gründlich gefilzt zu werden. Die Harkitochter senkte den Kopf vor dem ausgestreckten Finger des Zollbeamten, einem Finger, der so angespannt war, daß er zitterte wie eine Knarre, die ihre Zielscheibe sucht. Den ganzen Nachmittag wartete Saliha im Stehen geduldig vor dem Schalter des gereizten Zollbeamten darauf, daß man ihr den Paß zurückgab. Der Kerl ließ einfach nicht locker. Sobald er mit einem Koffer fertig war, kam er mit rächender Faust auf Saliha zurück: «Ihr Bruder läßt sich von feigen, rassistischen Franzosen ab murksen (Saliha glaubte, er würde ergänzen: «und sie haben recht daran getan»), und ihr Vater, der bescheuerte Harki, will ihn hier begraben!» Der Zollbeamte schlug sich auf die Schenkel, berief sich auf das Publikum und machte ein Gesicht, als wollte er sagen: Die halten uns wohl für Idioten, oder was? «Als ob Algerien sich nicht an die Schweinehunde erinnerte, die es verraten haben! (Er brüllte:) Du scheißt auf Algerien, und wenn du es brauchst, kommst du zurück. Du benutzt es, als ob nichts gewesen wäre! Keiner merkt was, wie?» Er drehte sich im Kreis. Er schauspielerte, nahm Gesten zu Hilfe. Dann holte er Luft und schrie: «Nichts da! Sie werden nicht durchkommen!» (abrupte Be wegung nach vorn, zorngeröteter Hals) «Nichts zu machen!» Und die Hände in die Hüften gestemmt, begab er sich wieder in den Hintergrund der Szenerie: dorthin, wo man mit nichtssa gender Miene auf den Beifall lauert. Die Neugierigen, die auf ihren Flug warteten, flüsterten einander etwas zu und traten näher, um sich die Harkitochter anzusehen. Manche musterten sie wie eine Leprakranke, andere erinnerten sich nicht mehr. Saliha hatte Angst. Diese unbestimmte Angst, die verrückt macht, weil das Denken in tausend Stücke zerspringt und man keinen Anhaltspunkt mehr hat. Ihre Hände klammerten sich an 27
die Bank. Und doch wäre sie am liebsten weggelaufen, um zu suchen, sich wiederzufinden… anderswo. Sie hielt sich an der Bank fest, damit sie nicht wie eine Verrückte in alle Richtun gen losrannte. Sie preßte die Lippen zusammen aus Furcht, irgend etwas zu sagen oder gar zu schreien. Sie verbot sich, diesen Mund, den finstere Gefühle zum Überlaufen drängten, zu öffnen. Ihr angespannter Körper mit den überreizten Nerven schmerzte. Sie sah sich aus dem Zollgebiet abhauen und mit dem Kopf zuerst die Glasfassaden durchstoßen, um an die fri sche Luft zu kommen, sich vor sich selbst zu retten, vor den Gedanken, die sie nicht mehr kontrollieren konnte. Wie die kleine «Aubergine» in der Grundschule, die von den Klassen kameraden so genannt wurde, weil sie einen rot-violetten Fleck auf der Wange hatte. Wenn die Lehrerin zu laut schrie, geriet die kleine Aubergine, ein Blondschopf mit grünen Augen, in panische Angst. Zuerst fingen ihre Füße unter dem Tisch an zu trommeln, dann wiegte sie in ihrer grenzenlosen Einsamkeit den Kopf heftig hin und her und umklammerte, damit die Ka meraden ihre Verwirrung nicht bemerkten, mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Hände die Tischkante. Da sie von sich aus nicht mehr den Verstand oder die Kraft aufbrachte, sich zu be ruhigen, rannte sie zur Klassentür, um draußen Zuflucht zu suchen. Die Lehrerin versperrte ihr den Weg und versuchte, sie zu besänftigen. Die Schüler johlten wie bei einem Spiel, waren glücklich über die unerwartete Pause. Aubergine irrte zwischen den Tischen herum, sagte nichts, schrie nicht und ging immer wieder auf die Tür zu, durch die sie entkommen wollte. Sie wurde wild, zerrte am Kleid der Lehrerin, biß in die Arme, die sie festhalten wollten. Die Lehrerin gab ermüdet auf, und die Kleine fand ihren Weg durch die Flure der Schule. Um ihre Angst zu verbergen und wieder zu Verstand zu kommen, schloß sich die kleine Blonde schließlich in einer der Toiletten ein. Sie öffnete nur dem Direktor, der das zitternde Kind zur Krankenstation brachte. Dort mußte es eine halbe 28
Tablette aus einer roten Dose schlucken. Aubergine verließ ihr Zimmer nur, um zur Schule zu gehen, sonst nie. Als Saliha sie zu einem Geburtstagsfest einlud, kam sie nicht. Sie fürchtete immer, daß einer dieser verdammten Angstanfälle sie irgendwo erwischte. Sie konnte nicht mehr lachen. «Algerien hat ein gutes Gedächtnis!» wiederholte der Zoll chef, der eine so leichte Beute nicht loslassen wollte. «Und Stolz! Alle, die versucht haben, es zu bescheißen, sind mit blu tiger Tinte in unserer Geschichte festgehalten.» Fehlte nicht viel, und der Beamte hob die Faust. «…Sie legen uns rein, sie kommen zurück, und wir sollen sie auch noch beglückwünschen, diese Scheißharkis!» Er stand zwei Schritte von Saliha entfernt. Sie wagte nicht, den Kopf zu heben. «Dafür müssen sie zahlen in ihrem ewigen Exil, ihr ganzes erbärmliches Leben lang zahlen!» In der Menge gab es Leute, die dem Chef liebend gern ap plaudiert hätten. Andere waren dagegen mehr daran interes siert, leichter hinauszugelangen, und schoben dem Beamten unauffällig ihr Geschenk zu. Die Armen wurden bis auf die Socken gefilzt. «Tochter eines Verräters, das ist alles, was du bist! Ich hätte hier gern deinen bescheuerten Vater in Empfang genommen. Wenn er Schneid hätte, wäre er an deiner Stelle gekommen, um seinen Sohn auf den Heimatboden zu überführen. Er hat sich für Frankreich entschieden, und siehst du, wie es ihm das heimzahlt? Mit einer Leiche, das geschieht euch recht!» Fast hätte der Chef sich selbst applaudiert. «Steh auf!» befahl er dem jungen Mädchen. Sie kam der Aufforderung fügsam nach. Mit schweißnassem Finger hob er ihr Kinn an. Ohne sich um die Tränen auf ihrem Gesicht zu kümmern, reichte er ihr den Paß und fügte hinzu: «Das Vaterland will mit der Brut von Verrätern nichts zu tun 29
haben! Ruf deinen Vater an und sag ihm das. Einer aus BenEssedik kann es bestätigen, und zwar für die gesamte Region, in der man seinen Namen nicht vergessen hat.» Der Beamte zog seine Hose auf den höchsten Punkt seines runden Bauches, machte eine Bewegung, die einer Habtacht stellung glich, und ging mit schweißnassem Rücken schnellen Schritts hinaus. Saliha rief in Reims an und verständigte ihre Eltern, daß sie am Vormittag des nächsten Tages mit dem Sarg über Paris zu rückkehren werde. Sie legte den Hörer auf, ohne mehr dazu zu sagen. Ohne zu sagen, daß kein Cousin ihr entgegengekommen war, obwohl ihr Vater Azzedine seiner Familie in Algerien ein Telegramm geschickt hatte. Nicht einmal ihr Onkel Driss, Az zedines Bruder, hatte sich aufgerafft. Da sie gegenüber der bornierten Haltung des Zollbeamten machtlos war, hatte sie auf Unterstützung oder Trost gehofft. Nichts. Niemand, weder von der Familie des Vaters noch von der der Mutter. Zu Beginn ihres Lebens im Exil hatten Meriem und Azzedine davon abgesehen, ihrer Familie zu schreiben. Azzedine befürchtete eine Jagd auf die Harkis. Erst nach Se lims Geburt hatte er über das Dorf Medenine nach OuledHaffouz, seinem Heimatort, geschrieben und seiner Mutter die glückliche Neuigkeit verkündet. Danach nahm die Zahl der Briefe zu. Sie schickten auch Ge schenke und Postanweisungen mit Empfangsbestätigung. Aber nie kam eine Antwort. Das Ehepaar nahm das Schweigen hin. Schämte man sich für Meriem und Azzedine? Beneidete man sie? Sie wußten es nicht. Meriem sehnte sich oft danach, die Heimat, die Familie wiederzusehen. Wenn sie allein in der Wohnung war, sang sie sich das Heimweh in alten Liedern von der Seele. «Und was ist mit Vergebung?» fragte sie. «Wenn man dafür bezahlen muß, zahle ich mit meinem Leben.» Für Azzedine kam das nicht in Frage. «Ich habe nichts zu bezah len!» Keine Menschenseele in Salihas Umgebung. Nichts als Stille. Sie sind alle nach Hause gegangen, verschluckt von der 30
Nacht; haben sie auf dem Flughafen allein gelassen. Einsam keit, die gibt es nur in Liedern, hatte sie sich vorher, im Kreis der Familie gesagt. Jetzt gab es Einsamkeit nur für sie. Sie saß immer noch am gleichen Platz auf der Bank. Der Schicksalsschlag und die Beleidigungen hatten ihren Körper abmagern lassen. Sie machte einen armseligen, klägli chen Eindruck. Die widerspenstige Strähne war wieder über ihre Wange gefallen. Warum sie noch hinters Ohr streichen! Ein Nachtwächter war vorbeigekommen, hatte sie angesehen. Bestimmt hatte man ihm gesagt, wer Saliha war. Wortlos war er wieder hinausgegangen. Saliha stand auf; sie wollte das ein zige Wesen aufsuchen, das wie sie in dieser Stille geblieben war, ihren Bruder. Sie ging zur Krankenstation, wo die Zollbe hörden Selims Sarg bis zu seiner Rückführung untergebracht hatten. Einen Toten ausweisen! Sie streichelte den Sarg, ging um ihn herum, brach auf dem Holz zusammen und sprach Kin derworte: «Wach auf, großer Bruder, und aller Kummer wird vorbei sein. Ich flehe dich an, laß uns nicht so zurück. Du hast kein Recht, Mamas und Papas Träume von heute auf morgen zu vernichten. Aufgestanden, Selim, wie früher, wie früher.» Ihr Mund streifte das Holz, küßte es. Sie konnte nicht weinen und nahm es sich übel. Sie hatte ihre letzten Tränen beim Zollbe amten gelassen, sie hatte keine mehr. Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und trommelte auf den Sarg. «Was sind wir ohne dich, Selim?» Sie rief erneut die stumme Kiste an. Nie hatte sie die Angst gekannt, allein, ohne ihren großen Bruder dazustehen. Die Lücke, die dieser Tod gerissen hatte, war so tief, weil sie Selim zu sehr geliebt, sich zu sehr auf ihn verlassen hatte. Er hatte immer alles arrangiert. Sogar wenn seine Schwester ausgehen wollte. Er gab vor, sie mit ins Kino zu nehmen, und ließ sie dann ihre Freunde besuchen. Er leistete sich einen Film oder erwartete sie auf einer Terrasse, wo er in einem Buch blätterte. Anschließend gingen die beiden untergehakt nach Hause zu 31
den Eltern, die die Gewißheit hatten: Sie war bei ihrem Bruder. «Selim, was ist ein Harki?» «Warum fragst du mich das?» Sie war neun Jahre alt, als sie ihrem Bruder diese Frage stell te. Die Eltern hatten sie im Rathaus für eine Ferienkolonie an gemeldet, und die Vorschriften duldeten nur zwei Ausländer kinder in einer Gruppe von je ungefähr zwanzig französischen Kindern. Die Immigranten, die ihre Kinder anmelden wollten, bildeten schon im Morgengrauen eine lange Schlange vor der Rathaustür. Sie kamen zu Hunderten für zwölf Plätze. In Sali has Gruppe gab es drei glückliche Auserwählte. Einen kleinen Marokkaner, eine kleine Tunesierin und sie, Saliha. Weil ihr Vater ein Harki ist, wie die Immigrantenkinder in der Grund schule neidisch sagten. «Ja, du bist die Tochter eines Franzosen, deshalb fährst du in die Kolonie! Dein Vater ist ein Schuft, er hat gegen uns ge kämpft.» Sie wurde geschnitten und bekam den Spitznamen Harkia. Die weibliche Form von Harki. «Spiel doch mit deinen französischen Brüdern», warfen ihr die kleinen Immigranten an den Kopf, sobald sie sich ihnen in der Pause näherte. «Bei dir zu Hause wird Schweinefleisch gegessen und Wein getrunken, und mittags wagst du es, an unseren Tisch zu kom men!» riefen ihr die kleinen Araberinnen nach. Sie forderten sie auf, die den Moslems reservierte Tischreihe zu verlassen, während ihr Vater darauf bestand, daß sie dort saß. Da sie die Streitigkeiten nicht mehr ertrug, redete sich Sa liha eine ganze Woche lang Bauchschmerzen ein, damit ihre Mutter sie vom Schulessen befreite. «Das schmeckt einfach nicht, Mama. Zu Hause schmeckt es viel besser!» Und Meriem meldete sie vom Schulessen ab. Weil die Frage Saliha auch nachts nicht zur Ruhe kommen ließ, erkundigte sie sich schließlich: 32
«Was ist ein Harki, Mama?» Meriem hockte vor dem geöffneten Kühlschrank und machte sich plötzlich steif. Sie vergaß, was sie im Gemüsefach gesucht hatte. Nach langem Schweigen sagte sie, ohne sich umzudrehen: «Das ist einer, der den Mut hatte, alles aufzugeben, damit seine Familie leben konnte.» Meriem wandte sich um und sah ihre Tochter an. Saliha hatte nichts verstanden und versuchte auch nicht, zu verstehen. Für sie war es wichtig, daß ihre Mutter ihr eine Antwort gegeben hatte, in der weder Scham noch Gewissensbisse mitschwangen. Das Gefühl, daß ihre Mutter sich sicher war, beruhigte sie. So viel hatte sie nicht erwartet. Meriem richtete sich besorgt auf. Es war das erste Mal, daß eins ihrer Kinder das verbotene Wort aussprach. «Warum willst du das wissen?» «Ich habe es in einem Buch gelesen.» Meriem drang nicht weiter in sie. «Was ist ein Harki, Selim?» fragte Saliha am gleichen Tag ihren Bruder. Er war in seine Hausaufgaben vertieft, sie beendete gerade die ihren. «Ich habe Mama gefragt, aber ich habe nicht verstanden, was sie gesagt hat. Jedenfalls ist sie stolz darauf, daß wir Harkis sind!» «Nein, nicht stolz», sagte der vier Jahre ältere Selim. «Sie schämt sich nicht, die Frau eines Harkis zu sein. Das ist etwas anderes!» «Aber was ist ein Harki?» «Ein Araber, der während des Krieges zwischen Fran zosen und Algeriern gegen die Araber gekämpft hat.» «Gegen uns? Warum?» Es hatte ihr einen Schock versetzt. Sie sah die Kritzelei an ei ner Wand der Schule wieder vor sich: «Araber raus». «Vielleicht dachte er, eine französische Regierung könnte für 33
sein Vaterland besser sein!» vermutete Selim. «Also mochte Papa die Araber nicht?» Sie dachte an ihre Lehrerin: «Die Araber bringen nur Pro bleme. Sie kommen im Unterricht nicht mit und deshalb brem sen sie die anderen Schüler.» Das hatte Mademoiselle Le Goff eines Tages vor der Klasse gesagt. Saliha hatte sich angespro chen gefühlt und geglaubt, daß ihr Vater den Arabern vielleicht aus den gleichen Gründen zürnte: Schließlich wollte er, daß sie die Beste war! «Aber ja, Papa mag die Araber, weil wir selber welche sind! Ich meine, er wollte, daß die Franzosen mit den Arabern in Algerien bleiben und dort zusammenarbeiten.» «Warum wollen dann Zahia und Nourredine in der Schule nicht mehr mit mir spielen?» «Weil sie neidisch sind, daß du in die Ferienkolonie fährst und sie nicht!» Was Selim über die Harkis wußte, hatte ihm Si Ali, sein Leh rer an der Koranschule, beigebracht. Azzedine hatte seinen Sohn für den Abendkurs angemeldet, weil er ihm auch eine moslemische Erziehung geben wollte. Dort nannten ihn seine Kameraden «der Franzose», und während der Pause waren Faustschläge an der Tagesordnung. «Ould Harki! Harkisohn, wenn du mit uns Fußball spielen willst, mußt du schon ins Tor gehen. Davor ist kein Platz für dich.» Und Selim krempelte die Ärmel auf und spuckte in die Hän de. Der Lehrer, ein Anhänger des Integralismus, trennte sie. «Was ist ein Harki, Si Ali?» Der Lehrer hatte ihm geantwortet: «Kümmer dich nicht um sie, das sind Idioten. Mach dich an deine Arbeit. Ich kenne deinen Vater, er ist ein braver Mann.» Selim hatte sein Leben lang zwischen zwei Stühlen gesessen: Auf der einen Seite lehnte ihn die französische Gemeinschaft ab, auf der anderen beschimpfte ihn die algerische. Daher bahnte er sich seinen Weg mit der Faust. Er beklagte sich nie und setzte stets alles daran, besser zu sein als diejenigen, die ihn verhöhnten. In allem der erste, bedauerte er nur, daß er 34
nicht noch mehr wußte, und war besorgt, die Meute könnte ihn einholen. Allein gegen alle, das war seine Stärke. Er lernte un ermüdlich und ging aufrecht, trug den Kopf ganz hoch, um sich groß zu fühlen, ein bißchen größer als die anderen. Allein. Er liebte dieses Gefühl, stark und allein zu sein, ohne Furcht vor irgendwem. Denn er würde zu weit gehen, als daß die Spötter ihn einholen konnten. Und je weiter er sich von den anderen entfernte, desto größer war sein Vergnügen. Nur Marc verstand ihn und konnte ihm folgen. Saliha verließ die Krankenstation. Sie drehte sich in der Zoll halle im Kreis, die Hände unter den zu langen Ärmeln ihres Pullovers verborgen. Mit gesenktem Kopf und schlenkernden Armen ging sie mit kleinen Schritten über den grauen Fliesen boden. Nie hatte sie ihre Eltern so sehr geliebt wie in diesem leeren Raum unter den weißen, aggressiven Neonlichtern. Wenn die Ihren da gewesen wären, sie hätte es ihnen gesagt, wie sie es noch nie getan hatte. Nachdem der Traum zerborsten war, waren sie nur noch zu dritt auf dieser Welt. Nur noch zu dritt. Man hört mit allem auf und läßt sich gehen, müde, mut los. Aufgeben oder immer wieder von vorn anfangen, zu dritt allein, untergehakt, um einander zu stützen und zu niemand anders mehr Vertrauen zu haben. «Dann bleibe ich also allein, wenn Papa und Mama sterben?» Sie hörte ein Geräusch, eine Tür wurde aufgestoßen. Als sie sich umwandte, merkte sie, daß sie sich, ohne die Augen zu öffnen, auf den Platz gesetzt hatte, der ihr vom Zollchef zuge wiesen worden war. Das Geräusch? Eine alte Frau, die die gro ße Halle betrat. Saliha hielt sie zuerst für eine Putzfrau, aber sie war viel zu alt und zu schwach, als daß ein Arbeitgeber sich noch auf sie verlassen hätte. Ganz klein und ausgetrocknet war die Alte, wie eine Wurzel im Wind. Sie trug blaue Leinenschu he ohne Schnürsenkel, die an den Zehen offen waren. Ihr Kopf war mit einem hellen geblümten Seidenschal bedeckt. An der Stirn lugte eine hennagefärbte Strähne darunter hervor. 35
Sobald sie das junge Mädchen gesehen hatte, ließ sie es nicht mehr aus den Augen. Sie kam auf Saliha zu. Aber in der Mitte der riesigen Halle mußte sie stehenbleiben, um wieder zu Atem zu kommen. Da sah Saliha, wie die zusammengepreßten Lip pen der Alten über einem zahnlosen Mund zitterten. An ihrer Kehle sah man, wie ihr Herz klopfte. Auf der Stirn hatte sie eine Tätowierung, einen Olivenzweig, das Wahrzei chen ihrer Vorfahren. Es folgte dem Verlauf ihrer Runzeln. Sie bewegte sich, als ob sie ihr ganzes Leben lang gelaufen wäre, ohne Pause, zu Tode erschöpft. Saliha fragte sich, wie diese kleinen Füße sie noch tragen konnten – sie waren so zierlich; und die kleinen, abgearbeiteten Hände, konnten sie noch etwas ergreifen? Sahen ihre Augen noch ausreichend? Die Alte trat einen Schritt näher. Sie sah Saliha fest an, musterte sie von oben bis unten. Sie schickte ihr das zärtlichste Lächeln und beugte sich dann vor, wie um den Geruch des Mädchens zu schnuppern. Saliha war verlegen und wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie erwiderte höflich das Lächeln. Wenn die Alte gekonnt hätte, sie wäre mit einem Satz auf Sa liha zugesprungen. Das Alter ließ sie taumeln. Sie legte Saliha eine tätowierte Hand auf den Kopf. Ihre Schultern bebten unter dem karmesinrot-violetten Brusttuch. Sie sagte: «Aïnin, aïnin oulidi!» Die Rührung übertrug sich auf ihren Körper, aber sie hielt sich tapfer. Saliha verstand das arabische Wort «Sohn, mein Sohn». Sie richtete sich auf. «N’tia Saliha, bent oulidi Azzedine?» Saliha erhob sich. Sie hatte den ganzen Satz verstanden. Sie nahm das Gesicht der Alten und küßte sie auf die Stirn. «Ja, ich bin Saliha, die Tochter deines Sohnes Azzedine.» Sie drückte ihre Großmutter so fest, daß sie fürchtete, sie zu ersticken. Die Alte wurde von Schmerz geschüttelt, ihre Knie gaben nach. Saliha konnte dieses Stück Leben nicht mehr hal 36
ten. Sie ließ sich ebenfalls gehen und stürzte auf die Knie. Die beiden küßten sich innig mit tränennassen Lippen. «Mein Mädchen, mein kleines Mädchen.» «Großmutter!» Eine Großmutter riecht gut, sie riecht nach Wärme. Das hatte Saliha nicht gekannt. Sie hätte ihr am liebsten gesagt: «Du bist noch schöner als in den Geschichten von Papa.» Sie hockten Kopf an Kopf, Auge in Auge. In ihrer Phantasie war Saliha nie besonders weit über das Mittelmeer hinausgekommen. Wie ihre Familie fühlte sie sich von denen «da drüben», die die Post nicht beantworteten, im Stich gelassen. Also vermied sie es, sich überhaupt etwas vorzustellen. In jener Nacht bedauerte sie, von dieser starken, echten Liebe nicht geträumt zu haben. Sie lehnten aneinander, und die Umarmung war so fest, daß Saliha allein wegen dieses Gefühls die Reise schon viel früher hätte wagen können. Eine solche Liebe, sie konnte es nicht glauben, «Wo ist dein Bruder, mein kleines Mädchen?» Die arabischen Worte fielen Saliha mühelos wieder ein. Sie verstand sie alle. Sie sagte sich, daß ihr Vater recht gehabt hatte, als er sie dazu drängte, gemeinsam mit Selim die Koranschule zu besuchen. Die Alte saß mit gekreuzten Beinen in der Krankenstation und betete, eine Hand auf dem Sarg. Die Enkelin neben ihr hielt ihre andere Hand. Sie verfolgte die Bewegungen der schmalen Lippen ihrer Großmutter, die Gottes Gnade anrief. Saliha legte den Kopf auf den Schenkel der Alten, die endlich redete: «Alle haben sich geweigert, dich abzuholen. Die Schwestern deines Vaters, ihre Männer und sogar Driss, der noch der nette ste ist, keiner wollte mich hierher begleiten. Da bin ich heim lich weggegangen, um zu dir zu kommen. Aber weil ich nie über unser Dorf hinausgekommen war, habe ich mich verlau fen.» Sie strich ihrer Enkelin übers Haar. «Auf der geteerten Straße hätten sie mich gefunden und zu 37
rückgebracht (sie holte tief Luft), also bin ich über Fußwege und Felder marschiert, immer auf die Lichter zu, die in der Nacht Ras-el-Aine beleuchten. Ich wollte nach Tlemcen. Ich habe mich oft verirrt. Zum Glück hat mich jedesmal ein Schä fer auf den richtigen Weg zurückgewiesen. Als es Nacht wur de, wollte ich weitergehen, aber das Alter ist mir so ins Kreuz gefahren, daß ich auf den Rücken gefallen bin. Ich habe mich an den Rand der Teerstraße gesetzt. Dort haben mir Autofahrer geholfen, aber sie fuhren nie sehr weit. ‹Oh, Mütterchen, bis nach Tlemcen, das ist ein weiter Weg für dich›, hat ein Last wagenfahrer zu mir gesagt. ‹Ich will zum Flughafen, und ich komme auch hin!› habe ich ihm geantwortet. Ich habe mich beim Gehen dauernd umgedreht, weil ich Angst hatte, daß ei ner deiner Onkel mich einholt. Sie haben Autos. Nour, der jüngste, hat mir gedroht. Er hat mir gesagt, wenn ich heimlich zu dir gehe, soll ich mich im Dorf nie wieder blicken lassen. Er ist bei der Polizei und fürchtet, seine Stelle zu verlieren. Aber ich wußte, daß Gott mir helfen würde, damit ich ans Ziel komme!» Die Alte beugte sich vor, um ihre Enkelin auf den Kopf zu küssen. «Jetzt wissen sie, daß ich bei dir und Selim bin. Sie werden kommen», sagte sie mit einem Blick zum Eingang, «aber sie werden nicht wagen, einzutreten. Sie werden draußen auf mich warten.» Sie holte Luft und richtete wieder ein paar Worte an den lie ben Gott. Dann sprach sie weiter. «Seit der Unabhängigkeit haben sie mir keinen einzigen Brief von deinem Vater vorgelesen. Sie haben die Post und eure Adresse vor mir versteckt. Sie teilten sich das Geld von den Postanweisungen und prügelten sich um die Geschenke. Dabei wollte ich nur, daß sie euch ein kurzes Dankeschön schreiben und liebe Grüße von mir bestellen. Sie haben nie Erbarmen mit mir gehabt. Sie haben schnell vergessen, daß sie vor der Unab hängigkeit für sich selbst und für ihre Kinder nur deshalb etwas 38
zu essen hatten, weil dein Vater mit seinem Eintritt in die fran zösische Armee und seiner Selbstverleugnung sie von seinem Sold unterhalten hat. Dein Vater hat sich selbst aufgegeben, damit keines seiner Geschwister allzu sehr leiden mußte. Und wie grausam ich zu deiner Mutter gewesen bin! Mein Gott, wenn sie mir nur verzeiht!» «Mama hatte nicht die Kraft zu kommen», sagte Saliha. «Sie kann nicht mehr denken, seit Selim tot ist. Man könnte meinen, sie hat ihr Gedächtnis verloren. Papa mußte sie festbinden, sonst hätte sie sich selbst verletzt. Der Arzt war da, und danach war sie wie abwesend.»
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Meriem hatte allein mit ihrer Tochter geweint. Da sie in Frank reich ohne Verwandtschaft waren, hatte Azzedine Fenster und Türen der Wohnung verriegelt. Und Klageweiber wie drüben gab es auch nicht. Über Klageweiber hätte die Großmutter ihrer Enkelin so manches erzählen können. Diese Rolle hatte sie nämlich in ihrer Jugend ein halbes dutzendmal selbst gespielt. Aber da sie weder überzeugt noch überzeugend jammern konn te, hatte man sie nicht mehr hinzugerufen. Bei den Klagewei bern ist es wie bei den Athleten: Mit zunehmendem Alter wer den sie träge, verlieren ihre Kraft; dann vergißt man sie und ersetzt sie durch Jüngere, die ihre Ellbogen gebrauchen und versuchen, die großen Stars unter den Klageweibern, die ech ten, die professionellen, zu kopieren, die sich, kaum zum Trau erfall geladen, über die Tugenden des Verstorbenen informie ren, um sie zu rühmen und mitten auf dem Hof tränenreich zu besingen. Die nicht wollen, daß man sie mit dem Karren ab holt, weil sie lieber mit blutenden Füßen ankommen. Das macht mehr her! Die besten kündigen sich mit krankhaftem Geheul an, wenn sie noch sechs Meilen vom Trauerhaus entfernt sind. Manche werfen sich, sobald sie am Horizont aufgetaucht sind, heftig auf den steinigen, dornenübersäten Boden. Sie wälzen sich auf der Erde, schlagen sich auf Brust, Kopf und Schenkel, reißen sich an den Haaren, zerkratzen sich das Gesicht, so daß sich Schweiß und Tränen auch noch mit Staub vermengen. Damit sie von Anfang an gut angeschrieben sind, kriechen sie auf das Haus zu, und ihre Gewänder haben keine Ähnlichkeit mehr mit Kleidung, selbst wenn sie eigens zu diesem Anlaß gefertigt 40
worden sind. Völlig zerlumpt überqueren sie schließlich den Hof und humpeln auf die Hausherrin zu, um diese zu umarmen. Sie heulen, beten, singen zum Steinerweichen, fallen in den Hof ein, als wollten sie Klassenbeste werden, und bitten dann um Wasser. Sie haben sich den Leichenschmaus wohlverdient, und die Dreistesten, die Hartnäckigsten unter ihnen kehren mit einem Geschenk zurück, einem Liter Öl, einem Kilo Zucker. Die alte Frau war schließlich eingeschlafen. Saliha lag immer noch auf dem Boden, den Kopf im Schoß ihrer Großmutter, die auch im Schlaf die tätowierten Hände auf den Haaren ihrer Enkelin ruhen ließ. Wenn Azzedine die beiden hätte sehen können: Die Frau, die ihn zur Welt gebracht hatte, mit dem Mädchen, das er in die Welt gesetzt hatte! Gestern und heute. Sie waren da, und durch sie war auch er in dieser trübseligen Halle, in der sie sich an einanderklammerten, um weniger Angst zu haben. Hier in die ser Krankenstation wußte Saliha, daß alles, was sie nach dem Tod ihres Bruders unternahm, nur dazu dienen würde, die Zeit zu vergessen, sie ohne Aufhebens verstreichen zu lassen. Nichts würde je wieder sein wie zuvor. Sie würde leben, um denen, die sie liebten, keinen Kummer zu machen. Sie wollte nicht sterben. Sie verlangte nach nichts. Sie fragte sich ledig lich, ob sie tatsächlich existierte. Die Wärme, die sich von den Schenkeln der Großmutter auf Salihas Gesicht übertrug, brach te sie wieder zu sich. Obwohl sie die Alte erst seit so kurzer Zeit kannte, hatte sie das Gefühl, immer schon von dieser Wärme getragen worden zu sein. Sie hatte sich daran gewöhnt und fühlte sich im Schoß ihrer Großmutter in Sicherheit. Zum ersten Mal seit Selims Tod schloß sie die Augen, gestand sich das Recht auf Schlaf zu. Unter den rauhen Händen der Alten fürchtete sie nichts, nicht einmal den Zollchef. Ein Scheuertuch fiel klatschend in einen Wassereimer. Beim Scheppern des Eimers, der über die Fliesen gezogen wurde, verscheuchte der Tag die Nacht. Das Besenballett begann. Die 41
Putzfrauen waren angetreten und standen schnatternd im Zoll bereich. In der Dunkelheit betrachtete Saliha das Licht, das allmählich unter der Tür hindurchdrang. Neon oder Morgen dämmerung? Sie versuchte nicht, es herauszufinden. Sie hob den Kopf und sah ihre Großmutter an, die ihr zulächelte. Beide wollten gern miteinander reden, wußten aber nicht, was sie sich sagen sollten. Saliha fragte: «Wann ist Papa geboren, Großmut ter?» «Ah! Wie er mir damit auf die Nerven gehen konnte, immer sollte ich mich an den Tag und den Monat seiner Geburt erinnern! Zum Glück wußte er das Jahr. Weißt du, mein Kind, wir lebten in einem so entlegenen Dorf, daß damals keiner aus der Familie gern in die Stadt ging. Jetzt, wo es Autos gibt, hat sich das geändert. Nicht einmal die französische Armee ist zu uns vorgedrungen. Stell dir vor, als dein Vater auf die Welt gekommen ist, hat dein Großvater gesagt: Wir werden ihn an melden, wenn wir in die Stadt gehen. Wir gingen einmal im Monat in die Stadt, um Zucker und Kaffee zu besorgen. Und jedesmal sagte derjenige, den man zum Markt geschickt hatte, er hätte vergessen, beim Bürgermeisteramt vorbeizugehen. Bis zu dem Tag, an dem ich einen Knoten in den Turban deines Großvaters gemacht habe. Da hat er daran gedacht, die Ge burtsurkunde mitzubringen. Sonst wäre dein Vater alt genug gewesen, sich selber anzumelden.» Sie lachten. «Dein Vater ist an dem Tag geboren, als der erste Zug unsere Gegend durchquert hat. Das gesamte Geflügel hat sich im Stall zusammengekuschelt, den Kühen ist die Milch geronnen, und ich war so durcheinander, daß ich beim Pfeifton der Lokomoti ve niedergekommen bin.» Wieder umarmten sie sich lachend, und die Großmutter fuhr fort: «Wer erinnert sich nicht an die erste Lokomotive? Aber frag mich nicht nach dem Tag und dem Monat!» Die Großmutter nahm die Hand der Kleinen. Ihr Daumen mit dem bläulich verfärbten, deformierten Nagel strich unablässig 42
über Salihas Ring. «Dein Großvater wagte nicht mehr, seine Waschungen im Fluß vorzunehmen, weil er Angst hatte, von den Reisenden gesehen zu werden. Er wetterte gegen den Fortschritt. Mit die sem Zug hat sich alles verändert. Weil man in den Geschäften im Dorf nicht mehr viel fand, war man gezwungen, ihn zu nehmen. Zuerst natürlich die Männer. Die fuhren bis hierher nach Tlemcen, um zu tun, was sie sich im Dorf nicht trauten, aus Angst, erkannt zu werden: sich besaufen und zu den Wei bern gehen. Sie kamen mit Zigaretten und Kaugummis zurück und sagten dauernd: Okay, okay! Sie trugen keinen Turban mehr, und wenn sie früher an den Abenden geraucht und zu sammen Tee getrunken hatten, hörten sie jetzt jeder in seiner Ecke Radio. Sie dachten nur noch an den nächsten Zug. Sie hatten Geschmack gewonnen an der Stadt, der richtigen Stadt, in der man seine Seele verliert. Danach hat es sie weiter hin ausgezogen, bis nach Oran. In Oran haben sie das Meer gese hen und jenseits des Meeres Frankreich. Frankreich! Sie haben einen neuen Traum zu träumen begonnen, nur dein Großvater nicht. Er mochte die Stadt nicht. Wäre dort nicht die Moschee gewesen, er hätte vielleicht nie einen Fuß hineingesetzt.» «Hatte Papa Ähnlichkeit mit Großvater?» fragte Saliha. «Ob Azzedine so groß und so stark wie sein Vater war? Oh, nein! Dein Großvater war stärker und zudem sanftmütiger. Er hörte jedem zu, und jeder hörte ihm zu. Weil er sich in die Leu te hineinversetzen konnte und sein Wort hielt. Nie hat ihm je mand den Respekt verweigert. Ein unermüdlicher Arbeiter, ein großzügiger Mensch und stark. So stark, daß die französischen Soldaten, als sie gekommen sind, um unsere Männer in ihren schmutzigen Krieg zu holen, ihn als allerersten eingeschrieben haben. Er wollte nicht, er wußte weder, wohin man ihn brachte, noch was er tun sollte. Er ist morgens in den Krieg gezogen, und ich habe geglaubt, er käme abends zurück. Tag für Tag habe ich mit der Wanne voll Salzwasser auf ihn gewartet, um ihm die Füße zu waschen. Keine Nachricht. Er konnte nicht 43
schreiben, und drüben verstand keiner Arabisch. Fünf Jahre lang! Nach diesen Leidensjahren ist er zu mir zurückgekehrt. Er war ganz allein. Einer seiner Brüder, Mokhtar, der mit ihm aufgebrochen war, und ein Sohn der einäugigen Taos sind nicht zurückgekommen. Sie sind unter den Kugeln der Deutschen gestorben wie viele andere aus benachbarten Dörfern und der Stadt. Sie stellten sie in die vorderste Linie, weil sie stark wa ren und sich nie beklagten. Nach ihrem Krieg haben die Fran zosen im Zentrum der Stadt ein Denkmal errichtet: kein einzi ger arabischer Name auf der Liste, hat man mir gesagt. Als dein Großvater bei seiner Rückkehr am Ende des Feldweges auftauchte, der am Fluß entlang führt, hat der Hund trotz seines beträchtlichen Alters aufgeheult wie ein junger Köter, den man erdrosselt. Er hat sogar so getan, als könnte er sehen und hören, so stolz war er darauf, daß er als erster sein Herrchen wiederer kannt hatte. Mein Gott, wie habe ich gelitten! Er schämte sich, in diesem Zustand heimzukehren, mit seinem schweren Mantel und dem Käppi auf dem Kopf. Er war abgemagert und ging gebeugt, mit kleinen Schritten. Ich konnte ihm nicht einmal die Füße waschen: Sie waren verletzt und verbunden. Das Gewehr noch geschultert, so ist er zurückgekehrt! Als sie ihn nicht mehr brauchen konnten, haben sie ihn unversorgt ziehen las sen. Sein Bauch war von Bajonetthieben zerschnitten, und die trockenen Verbände klebten an den Wunden fest. Große Lö cher im Bauch und Narben bis zum Hals. Tag und Nacht habe ich ihn gepflegt! Ich habe ihn zur Pilgerfahrt nach Sidi Ali mit genommen, habe ihn im Hammam Boughrara gewaschen. Es hat nichts genützt. Er ist an seinen Verletzungen gestorben. Ich sehe noch, wie er die Schnauze des Hundes streichelt und sich zwingt zu lächeln, um mich zu beruhigen. Bevor er starb, hat er zu mir gesagt: Ich habe Menschen getö tet. Dann, bevor er den Kopf abwandte: Sie hatten genausoviel Angst wie ich! Man konnte gut sehen, daß er immer noch Kummer hatte. Und auch Gewissensbisse. Er hat um Vergebung gebeten. Ich 44
habe ihm die Augen zugedrückt und die Lider abgewischt.» Die Putzfrauen machten sich über die Krankenstation her. Sie waren überrascht, die Alte und ihre Enkelin dort vorzufinden. Da räumten die beiden das Feld und ließen die Besen ihre Ar beit tun. Es war Tag geworden, ein wunderbarer Tag. Kein Wölkchen trübte den Himmel. Saliha nahm ihre Großmutter mit in die Cafeteria. Der Barkeeper benutzte die glänzende Kaffeema schine als Spiegel und rückte seine Fliege zurecht. Die beiden Frauen lehnten sich an die Bar. Der Kellner sah erstaunt auf die Wanduhr in der Halle. «Sabah elkheir!» sagte er. «Sie werden warten müssen, ich kann Ihnen noch nichts anbieten!» Sie warteten geduldig an einem Tisch. «Was willst du später einmal werden?» «Krankenschwester», sagte Saliha. «Gott möge dir beistehen… Denkt dein Vater noch an mich?» «Oh, ja, Großmutter! Außerdem haben Selim und ich ihn immer wieder nach dir gefragt. Übrigens nennt man dich bei uns zu Hause nicht Großmutter; wir nennen dich bei deinem Vornamen und Papa sagt ‹Halima das Luder, Halima die Fu rie›.» Halima lächelte. Es schmeichelte ihr, daß man über Tausende von Kilometern hinweg so sehr an sie dachte. «Sag deiner Mutter, sie möge mir verzeihen», sagte sie und legte ihre Hand auf die ihrer Enkelin. Saliha hätte gern gewußt, was es da zu verzeihen gab, aber sie wagte nicht, zu fragen. Der Kellner brachte zwei große Tas sen Kaffee und eine Kanne Milch. Sie dankten. Saliha bezahlte und gab Halima alles französische Geld, das ihr blieb, doch die Alte wies es zurück. Da steckte Saliha ihr die Scheine in die Bluse. Anschließend holte sie Fotos von ihren Eltern und von Selim aus ihrer Tasche. Halima streichelte sie wortlos und hielt 45
sie sich dann ganz dicht vor die Augen, als ob sie Einzelheiten auf den Gesichtern und im Hintergrund unterscheiden wollte. «Er war noch ein Kind!» sagte sie nur, als sie die Fotos in ih re Bluse schob. Sie senkte den Kopf, um eine Träne zu verber gen. Am anderen Ende der Cafeteria tauchte ein Zollbeamter auf. Ohne näherzutreten machte er Saliha ein Zeichen, ihm zu fol gen. Vor den ersten Passagieren, die sich ringsherum einfan den, umarmten sich die beiden Frauen ein letztes Mal. Stärker als je zuvor. Sie weinten vor Liebe. «Wie kommst du wieder nach Hause, Großmutter?» «Oh, die Kinder werden draußen auf mich warten. Es hat ih nen nur der Mut gefehlt, mit dir zu sprechen. Der Mut, mit dir gesehen zu werden.» Sie nahmen einander noch einmal in die Arme. «Aber du wirst deinem Vater sagen, daß sie alle bei uns wa ren, Brüder und Schwestern, Onkel, Tanten und Cousins, daß du sie nur nicht alle mit Namen kennst. Sag, sie hätten dich in Empfang genommen und dich umarmt, sag, sie hätten Selim beweint. Sag auch, sie hätten versucht, mit dem Zoll zu spre chen, um Selims Überführung zu erleichtern. Sag meinem Sohn, daß ich ihn liebe! Sag deiner Mutter, daß ich sie liebe!» «Mademoiselle!» rief der Zollbeamte ungeduldig. Saliha löste sich von ihrer Großmutter, die mit gesenktem Kopf unbeweglich stehenblieb wie eine Irrende, die vom Weg abgekommen ist und die Suche aufgegeben hat.
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Selim wurde auf dem Gemeindefriedhof in Reims beigesetzt. Um sich den düsteren Anblick des Leichenwagens zu ersparen, mietete sein Vater Azzedine einen Peugeot J7. Als Trauergäste nur Huguette und Marc. Keine Blumen. «Sie waren der letzte, der ihn gesehen hat, wie fühlte er sich, als er von Ihnen weggegangen ist?» «Gut… richtig glücklich sogar!» antwortete Marc, die Kehle wie zugeschnürt, weil er verpflichtet war zu lügen. Azzedine drückte Marc ganz fest an sich. «Es bleibt alles beim alten, unsere Tür ist stets offen für Sie.» «Ja… ja, danke», erwiderte Marc. Im örtlichen Käseblatt sagte der Bürgermeister, daß der Ge meindevorstand und die Polizei alles unternommen hätten, um die Schuldigen festzunehmen, und daß diese eine exemplari sche Bestrafung verdienten. Aber er war nur mit knapper Mehrheit und dank der Stimmen der extremen Rechten ins Rathaus gewählt worden. Saliha verließ das Elternhaus: «Ich kann nicht länger hierbleiben und auf ihn warten, ihn suchen.» Meriem und Azzedine schwiegen dazu. Die junge Frau wohnte fortan im Schwesternheim des Krankenhauses, wo es immer ein freies Zimmer gab. Meriem sagte, daß sie nicht län ger in diesem Land leben könne, in dem man ihren Sohn um gebracht hatte, weil er schön war. Sie verzehrte sich vor Kum mer. «Hilf mir, Azzedine. Bitte laß mich dieses Land verlassen und in meine Heimat zurückkehren. Und verzeih mir, daß ich 47
dich allein zurücklasse.» Er half ihr. Sie saß mit gesenktem Kopf ganz hinten in einer Ecke an der Wand zusammengekauert auf einem Orientteppich. Wie da mals, als Azzedine gekommen war, um sie aus ihrem Dorf zu holen und zu heiraten. Nur daß er zu jener Zeit fand, sie sei die Allerschönste in ihrem geblümten Nylonkleid und unter dem durchsichtigen Schleier, der ihr Gesicht verbarg, ungeschminkt bis auf den Mund, auf den sie Souak aufgetragen hatte – es sorgt für schönes Zahnfleisch und glänzend weiße Zähne –, und das Henna an Fußsohlen und Handflächen. Als Meriem aufblickte zu dem Mann, der ihr die Hand reichte, schien sie sagen zu wollen: «Nimm mich nicht, Junge, sie werden sich über dich lustig machen!» Er hatte sie bei den Händen genommen und auf dem alten Pferd entführt. Als Azzedine zu seiner Mutter sagte: «Ich will Meriem aus der Familie des Ouled Cheikh-Faka zur Frau», hatte sich Halima das Gesicht zerkratzt und geschrien: «Du willst mich verrückt machen! Du willst Schande über mich bringen!… Du weißt genau, daß diese Frau da verheiratet gewesen ist und daß ihr Mann sich nach nicht einmal einem Jahr von ihr losgesagt hat! Warum? Niemand weiß es. Und solange man es nicht weiß, schweigt man besser darüber. Es macht dir also nichts aus, daß ich ein Leben lang eine Schwie gertochter am Hals haben soll, auf die man mit dem Finger zeigt? Ich will sie nicht in meinem Hause haben! Ich will mit einer Ouled Cheikh-Faka nichts zu tun haben, das sind alles Heuchler!» «Aber ich will sie», antwortete Azzedine. «Dann ist mein Sohn also ein Schwächling?… Soll ich dir was sagen? Diese Leute da haben dich verhext, um ihre Toch ter loszuwerden!» «Ich will sie, und du wirst es ihnen sagen!» «Nie werde ich zu Ouled Cheikh gehen! Im letzten Jahr hat 48
sein Sohn einen ganzen Karton Kernseife aus Marokko mitge bracht, und seine Frau hat mir kein einziges Stück abgegeben, obwohl mein Gesicht aufgesprungen und verbrannt war!» Azzedine hatte Meriem zum ersten Mal auf dem Feld gese hen. Er half bei der Ernte der Familie Ouled Cheikh, denn die Bauern in den Bergen gingen sich bei den schweren Arbeiten von Weiler zu Weiler gegenseitig zur Hand. Das war Tradition, selbst wenn zwei Familien wegen eines kleinen Stücks Land oder eines verirrten Tieres zerstritten waren. Für eine Zeit ver gaß man den Bruderkrieg. Meriem trug auf dem Kopf einen Brotkorb und auf der Schulter einen Krug mit Sauermilch. Von weitem hatte Azzedine sie für eine alte Frau gehalten. Mit ge beugtem Rücken und unsicheren Schritten ging sie über das trockene Gestein auf die Erntearbeiter zu. Sie trug erbärmliche Kleidung, ein durchlöchertes Umschlagtuch verbarg ihr Haar. Sie war gerade neunzehn Jahre alt, und ihr Mann hatte sich ein Jahr zuvor von ihr losgesagt. Als die Erntearbeiter sie sahen, legten sie in Erwartung der Pause die Sichel aus der Hand und ließen sich im Schatten einer Eiche nieder. Sie genehmigten sich einen Kautabak und warteten, daß Meriem sie bediente. Ihre Brüder wandten ihr den Rücken zu, solange sie in der Nä he war. Die anderen blickten sie von der Seite an. Das konnten sie getrost wagen. Schließlich war sie nur eine Verstoßene. Und schlimmer noch «eine bereits durchlöcherte Jungfrau», wie sie sagten. Eine für den Rest ihres Lebens unwürdige Frau. Die kann man anstarren, ohne daß etwas dagegen einzuwenden wäre. Deshalb war auch ihr und nicht ihren Schwestern die schwere Arbeit vorbehalten, wie überhaupt sämtliche Schufte rei. Die Schwestern, ja, die waren sauber, sauber und unbe fleckt. Die Eltern ließen Meriem die Männer bedienen, weil sie sich nichts mehr von ihr versprachen. Es sei denn, ein Verrück ter käme zufällig vorbei. Nur Azzedine bedankte sich, wenn sie ihm das Brot reichte oder die Sauermilch aus dem Krug in sei ne Schale goß. Sie blickte ihn nicht an. Sie konnte nicht. Er sah 49
ihre dunklen Augen: ein kläglicher, aber faszinierender Blick hinter der winzigen Öffnung des Umschlagtuches. In den fol genden Tagen dachte Azzedine nur an eines: diese Augen. Er wartete auf die Frühstückspause. Er war verliebt und kam fröh lich aufs Feld. Gegen Ende der Erntezeit bei Ouled Cheikh faßte er sich ein Herz. Als Meriem sich der Eiche näherte, nahm er ihr Krug und Korb ab und schlug vor, daß er die Män ner bediente. Alles nur, damit sie ihn sah, ihn für eine Sekunde wahrnahm. Sie bedankte sich mehrmals und heftete endlich den dunklen, geheimnisvollen Blick auf ihn. Da beschloß er, daß er von nun an die Welt mit diesen Augen betrachten woll te. «Du bist verrückt, eine Durchlöcherte», sagte seine Mutter zu ihm. «Ich habe mit deinen Brüdern darüber gesprochen. Sie sind nicht einverstanden, und deine Schwestern lachen schon über sie.» Azzedine ging selbst zu Ouled Cheikh und bat um Meriems Hand. «Wenn du sie heiratest, will ich dich hier im Ort nicht mehr sehen», sagte seine Mutter wieder. «Wir werden in Großvaters Hütte ziehen. Er ist wenigstens klug genug gewesen, eine Wohnung weit weg von hier zu bau en, damit er seine Ruhe hat!» sagte Azzedine erregt. Die Hütte war ein Unterschlupf für Skorpione und Vipern. Die Mutter gab nach und gewährte den Frischvermählten ein Zimmer in der Nähe des Stalls. «Aber mehr gebe ich dieser Frau nicht, weder Mitgift noch Gold, noch Feierlichkeiten», fuhr die Mutter wütend fort. «Daß wir sie bei uns aufnehmen, ist das schönste Geschenk, das sie sich erträumen konnte. Dir gebe ich das alte Pferd, damit du deine Schmach transportieren kannst. Ihre Geschwister dürften sich freuen: ein Mund weniger zu stopfen!» Halima weinte über die Schande. Auf dem alten Pferd holte Azzedine Meriem schließlich zu sich. Sie krümmte sich zusammen und schien immer noch zu 50
sagen: «Nimm mich nicht, Junge, du wirst nichts als Gelächter und Anzüglichkeiten ernten.» Kein Jubelgeschrei, kein Segensruf begleiteten sie auf ihrem Weg. Das Dorf lauerte hinter den Strohmauern und schien mit dem Finger auf sie zu zeigen. Die Mutter schlachtete ein Huhn und briet es mit Zwiebeln an. Gleich am nächsten Morgen schickte sie Meriem zum Wasserholen. Der Brunnen war nicht weit weg, aber die vollen Wasserkrüge wollten erst einmal auf den Rücken des Esels gehoben sein. Die Schwägerinnen über nahmen diese Arbeit nie wieder. Meriem fegte den staubigen Hof, wusch das Geschirr ab, ging das Holz holen. Sie leistete keinen Widerstand, ließ sich alles gefallen, wie um sich dafür zu bestrafen, daß sie keine Ehefrau war, mit der man sich sehen lassen konnte. Am Abend massierte Azzedine ihr die Füße. «Und sie kriegt kein Kind!» rief die Mutter eines Tages. Die Ehe war ein Jahr alt, und Meriems Bauch war immer noch flach. «Ich kann verstehen, daß ihr erster Mann sie verstoßen hat. Deine Frau ist unfruchtbar!» Azzedine bat um Geduld, aber die Mutter gab nicht nach. «Sie werden sagen, daß mein großer, starker Sohn dran schuld ist, weil er keinen Samen hat. Ich sehe schon, wie dieses Schlangengezücht von Dorf zu Dorf rennt und sein Gift ver spritzt. Verstoß diesen vertrockneten Baum, mein Sohn, sonst geht deine Mutter darüber zugrunde!» Hinter der Steinwand hörte Meriem zu. Und Meriem weinte. Azzedine tröstete sie. Aber kaum hatte er sich umgedreht, ver weigerte man seiner Frau das Brot. Der Acker brachte nur noch Sorgen. Zwei von Azzedines Brüdern, Aïssa, der älteste, und Driss, der jüngste, hatten von Hunger getrieben das Dorf verlassen. Sie tauchten nur ein oder zwei Mal im Monat mit ein paar Münzen auf, die sie «bei Geschäften» verdient hatten, wie sie sagten. 51
«Wo geht ihr hin? Was macht ihr?» fragte die Mutter. Sie antworteten nicht. «Geschäfte». Sie gingen barfuß von Marokko nach Tlemcen und trieben Schwarzhandel mit ir gendwelchem Schund. Die verlassenen Ehefrauen gaben ihrer Schwiegermutter die Schuld, sie hätte ihre Gören eben nicht richtig erzogen. Driss, der andere Bruder, sammelte Spargel, das einzige Gemüse, das auch ohne Regen klein und dünn mitten im Dornengestrüpp gedeiht. Driss bot es für zwanzig Centime pro Bund auf der Straße nach Tlemcen an. Er verbrachte seine Tage unter der glühenden Sonne, über die Ernte gebeugt oder am Straßenrand ste hend, wo er, sein Bund Spargel in der ausgestreckten Hand, die Autos heranwinkte. Je schlimmer das Elend wurde, desto mehr ließ die Mutter es Meriem spüren. Die junge Frau war völlig gebrochen, weil sie für den ungnädigen Himmel büßen mußte. Den ganzen Tag lang in der Zwickmühle – hier eine zornige Mutter und dort eine weinende Frau –, wartete Azzedine nicht, bis der Regen kam. Ohne Frau oder Mutter zu verständigen, ging er eines Mor gens zur Kaserne in die Stadt. Er meldete sich als Freiwilliger bei der französischen Armee. Fünfzehn Franc pro Woche, und schon bei seinem ersten Ausgang kam er mit Geschenken und Lebensmitteln zurück. Die Familie war es zufrieden. Die Mut ter verwaltete die Ersparnisse. Man konnte Seife, Zucker, Kaf fee und Öl kaufen. Aber der Dschebel ringsum wollte von Az zedine jetzt endgültig nichts mehr wissen. Die Mutter hatte den Nachbarn gesagt: «Er macht, was er will, er hört nicht auf mich, und er gibt mir nichts. Und nebenbei, wenn er mir irgendwas anbieten sollte, ich würde es sowieso nicht nehmen. Das könnt ihr mir glau ben!» Meriem, der Frau des Opferlamms, wurde jetzt etwas mehr Aufmerksamkeit im Hause zuteil. Man vergaß ihre Unfrucht 52
barkeit, und die Schwägerinnen halfen ihr bei der schweren Arbeit. Man konnte sich sogar jeden Dienstag das türkische Bad leisten. Die Mutter begleitete ihre Töchter und die Schwiegertochter in die Stadt. Sie machten ein paar Einkäufe und senkten den Kopf, wenn sie an der Kaserne vorbeikamen. Meriem liebte es, wenn Azzedine in ihre Brustwarzen biß. Dann überlief sie ein Schauer, der sie von der Erde abheben ließ, und sie lachte laut auf. Azzedines Mund wanderte über den Körper seiner Frau. Meriem streichelte seine Haare und wartete, daß dieser Mund auf den ihren zurückkehrte. Sie schloß die Augen und lächelte, gerührt von dieser Liebe. Und wenn er in sie eindrang, sagte sie zu ihm: «Vielleicht schenkst du mir jetzt ein kleines Baby, Inch’ Al lah!» Sie verschränkte die Beine in seinem Rücken und versteckte sich in ihm. «Wenn sie dich töten, sterbe ich auch», sagte sie zu ihrem Mann, wenn er auf Urlaub zu Hause war. «Warum sollte man mich töten?» «Man erzählt sich, daß sie Harkis in einen Hinterhalt locken, wenn die sich allein in der Stadt verirren.» «Ich bin nie allein, und ich bin bewaffnet», beruhigte Azze dine sie. «Paß gut auf… Ich dachte nicht, daß man zu zweit so allein sein kann.» Wirklich allein war Azzedine, als Meriem Reims verließ. Sie hatte zu ihm gesagt: «Schon bei dem Gedanken, in dieser Stadt dem Mörder mei nes Sohnes zu begegnen und mich entschuldigen zu müssen, wenn ich ihn anremple, werde ich verrückt!» Sie hatte nichts mitnehmen wollen. Sie küßte ihren Ehemann und ihre Tochter und nahm ihren französischen Paß. Abflug mittags in Orly, Air Algerie. Saliha ging wieder ins Schwe sternheim zurück. Azzedine kehrte heim in die Vierzimmer 53
wohnung, die plötzlich zu groß und zu ruhig geworden war. Er setzte sich auf den Badewannenrand. Wenn nur Pierre noch dagewesen wäre, um zwei oder drei Schüsse in die Luft zu ja gen und die Stille zu stören. Nach Selims Tod hatte die Busge sellschaft, bei der Azzedine arbeitete, ihm drei Tage frei gege ben. Seine Dienstuniform, blauer Blazer und graue Hose, hing ihm gegenüber an der Badezimmertür. An diesem Tag verrich tete er zum ersten Mal in seinem Leben die Gebetszeremonie. Er richtete den Teppich nach Osten aus und erinnerte sich an die Worte, die sein Vater fünfmal am Tag gesprochen hatte. Dann holte er Les Boucs von Chraïbi unter Selims Bett her vor. Er legte das Buch auf das Kopfkissen, machte die Tür zum Zimmer seines Sohnes zu und sagte sich, daß er nie wieder den Mut aufbringen würde, sie zu öffnen. Das Zimmer seiner Toch ter stand offen. Die Tür des Elternschlafzimmers war zu: Der Harki schlief von nun an auf der Schlafcouch im Wohnzimmer. Er verließ das Badezimmer und hielt sich das Kreuz. Meine Knochen sind alt, sagte er sich. Dreiundfünfzig Jahre. Noch zwei Jahre bis zum Ruhestand. Er haderte mit sich selbst, weil er seine Frau nicht begleitet hatte. Da drüben werden sie sagen: Er hat Angst, er will nicht sterben. Das ließ ihm keine Ruhe. Er, Azzedine, hatte keine Angst zu sterben. Er wollte nur nicht von den Händen derjenigen umgebracht werden, die weder die Uniform der französischen Soldaten noch das Gewand der Re volution getragen, sondern sich nach der Unabhängigkeit in der Verwaltung emsig zu schaffen gemacht hatten. Das waren die Leute, die immer einen Feind oder ein Fußballspiel fürs Volk brauchten, weil das Volk nicht denken sollte. Die Leute, die nicht den Mut gehabt hatten, sich dem Maquis anzuschließen, und behaupteten, man habe sie schließlich nicht gefragt, sie hätten nichts gewußt… Die Leute, die nach dem letzten Schuß in die algerische Armee eingetreten waren, weil sie ahnten, aus welcher Richtung der Wind in Zukunft wehen würde. Für solche Leute war er ein Feind, für alle, die weder den Mut gehabt hatten, es ihm gleichzutun, noch gegen ihn zu 54
kämpfen. Die waren es, die Azzedine verabscheute. Die waren es, die ihn peinigen würden, wenn er zurückkäme. Er war Soldat gewesen, und er hatte verloren. Seinen Krieg verloren. Einen Krieg, an den er nicht glaubte, als er sich ver pflichtete. Er war vierundzwanzig Jahre alt gewesen. All die Fallen und Hinterhalte, in die man die Kolonialtruppen gelockt hatte, waren damals für sein Verständnis nur das Werk einer Gruppe von Spinnern, die leicht mundtot zu machen wären. Gegen Ende jener fünfziger Jahre gab es die Worte Krieg und Unabhängigkeit in seiner Gegend nicht. Er war weit weg von Algier und dem Aurès-Gebirge. Und außerdem wollte Azzedi ne gar nicht wissen, ob es Krieg oder Unabhängigkeit geben, das heißt, ob er mit einem Dienstgrad oder den abgeschnittenen Eiern im Mund enden würde. Er verpflichtete sich nicht gegen irgend jemanden, er verpflichtete sich gegen den Boden: den ausgedörrten Bauch seines Heimatbodens. Die Sonne hatte sogar den Fluß austrocknen lassen, der die Ländereien durch floß, und alle verbrachten ihre Zeit damit, um Regen zu beten. Der Boden war so hart, so rissig, daß selbst die Schlangen ihn mieden. Sie verkrochen sich unter den Betten, weil der Schat ten und die Kühle der Zimmer sie angezogen hatten. Die Ge müsefelder glichen einem Bouleplatz! Die Bäume trugen saft lose Früchte, wie eine Mutter, die keine Milch mehr in ihren Brüsten hat. Die Tiere, sofern sie nicht von selber weggingen, mußten weit, weit fortgebracht werden, an Flüsse, die noch Wasser führten. Und wenn Azzedine sie am Abend zurücktrei ben wollte, weigerten sie sich, dieses bißchen Gras, diese we nigen Pfützen zu verlassen. Dann mußte Azzedine mit heftigen Schlägen den Rücken der Kühe bearbeiten, sogar auf die Flan ken der Kälber prügelte er ein! Vergebliche Mühe!… Und er mußte sich angewöhnen, die zwei Kühe an Ort und Stelle zu melken. Sein Bruder Driss kam mit dem Esel, um die Milch abzuholen. Er, Azzedine, verbrachte die Nacht dort, wo er war. Ein Boden, auf dem man nur noch krepieren konnte, das sag 55
te sich Azzedine in den dreißig Jahren seines Lebens im Exil immer wieder. Und weil ihm außer dem Leben nichts geblie ben war, hatte er es für die Seinen hergegeben.
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In der Stille, die in die Wohnung eingezogen war, erinnerte sich Azzedine an den ersten Tag, an dem er seinen Fuß in die Kaserne gesetzt hatte. «Wie alt bist du, mein Junge?» Der Stabsfeldwebel Lasaosa, zuständig für Rekrutierungen, sprach Arabisch. «Vierundzwanzig.» «Kannst du ein bißchen Französisch?» «Nein…» «Dann bringen wir es dir bei. Zieh dich nackt aus!» Azzedine entkleidete sich. Der Stabsfeldwebel vermaß ihn von oben bis unten. «Dreh dich um!» Bevor Azzedine sich umdrehte, legte er die Hände auf den Rücken, um sein Gesäß zu verbergen: In seiner Gegend sagte man ihm bereits nach, er sei schwul, weil er seine Frau nicht dick machte!… «Nimm die Hände da weg! Hast du Angst, dein Arschloch zu zeigen?» Azzedine gehorchte. «Gut, das reicht. Der Kurpfuscher macht den Rest», sagte Lasaosa. Azzedine zog sich wieder an, und der Oberrekrutierer bat ihn, sich gerade zu halten. «Warum verpflichtest du dich bei uns?» Auf diese Frage war Azzedine nicht gefaßt. Lasaosa half ihm. «Damit du was zwischen die Zähne kriegst? Weil die Partisa nen, diese Scheißfellaghas, schon genug Unheil angerichtet 57
haben? Um anständige Verhältnisse zu erreichen und ein Mann zu werden? Antworte!» «Anständige Verhältnisse», antwortete Azzedine, der nicht so recht wußte, wie er sich vor diesem Vorgesetzten drücken konnte. «Das wirst du haben, mein Junge, anständige und sichere Verhältnisse!» An der Wand hinter dem Rekrutierungsfeldwebel hing das Bild eines Soldaten mit Schnauzbart. Azzedine wußte nicht, wer es war. Zwischen dem Papierkram lagen eine Knarre und Kugeln auf dem Schreibtisch. Ein altes Bajonett diente als Briefbeschwerer. Die Frau und die Gören des Stabsfeldwebels lächelten auf einem anderen Bild. Auf dem Boden vor dem Schreibtisch ein Spucknapf, den Lasaosa zur Seite schob, um an die Schreibmaschine heranzukommen. «Diese Hurensöhne haben vergessen, für Papiernachschub zu sorgen!» fluchte der Sergeant. Er spannte ein Blatt in die Maschine. Unter dem Fenster schwollen Stiefelgeräusche im Marschtritt auf und ab, und ein Großmaul brüllte: «Eins, zwo, eins, zwo.» Dann: «Lefur, wenn du das Stroh auf deiner Birne genug zerwühlt hast, halt’ gefäl ligst den Kopf hoch!» Lasaosa sah zum Fenster. «Dein Name und Vorname?» «Azzedine Ould-Haffouz.» «Dein Dorf?» «Sidi-Aïssa.» Lasaosa betrachtete seinen frischgebackenen Rekruten neu gierig: «Bist du deshalb so ein Strich in der Landschaft? Man sagt, daß sich nicht mal mehr der Wind in deine Gegend verirrt, weil’s da so wenig gibt, womit er spielen könnte.» Azzedine schüttelte schüchtern den Kopf, ohne allzuviel zu verstehen. Lasaosa unterbrach die Tipperei und fragte tückisch: «Sag mal, hast du in deiner Ecke jemals einen lausigen Parti 58
sanen gesehen?» «Nein!» «…Nein, Herr Stabsfeldwebel!» «Nein, Herr Stabsfeldwebel.» «Aber du hast doch zumindest schon gehört, wie sie bei dir da unten über Fellaghas geredet haben», sagte Lasaosa und kratzte sich unter dem Arm. «Nichts, Herr Stabsfeldwebel.» «Aha! Na schön, mein Junge, du hast soeben eine Prämie für deinen Eintritt verpaßt!» «Davon weiß ich nichts, Herr Stabsfeldwebel.» «Na, dann wird’s Zeit, daß du’s lernst, mein Junge. Wenn du nämlich dieses Blatt unterschrieben hast, ist genau das dein Beruf, und es sollte mich doch wundern, wenn es da unten kei nen einzigen Partisanen gäbe, dem man das Fell über die Ohren ziehen kann!» Lasaosa lachte und fuhr fort: «Heute abend versuchst du dich zu erinnern, in deinem Bett, einem richtigen sauberen und weichen Bett, und vorher gibt’s eine gute Suppe. Von jetzt an wird es dir an nichts mehr fehlen, nie mehr wird es dir an irgend etwas fehlen. Frankreich nimmt dich in seinen Dienst und beglückwünscht dich, daß du dich ihm angeschlossen hast.» Der Stabsfeldwebel rieb sich die Hände. Azzedine bedankte sich mit einer Kopfverbeugung. Lasaosa führte aus: «Und in ein paar Monaten kannst du lesen und schreiben, machst deinen Führerschein und erhältst einen guten Sold. Frankreich will einen verantwortungsbewußten, zivilisierten Menschen aus dir machen, und wenn diese bescheuerten Fel laghas uns nicht zuviel Scherereien machen, haben später auch deine Gören was davon.» Azzedine beschränkte sich auf schüchterne Zustimmung. «Um diese Zukunft vorzubereiten, sind wir hier, mein Junge. Das Gequatsche von Unabhängigkeit ist reiner Blödsinn. Du weißt es, weil du dich unserem Kampf anschließen willst. Die 59
se dreckigen Hungerleider werden nicht lange Widerstand lei sten. Mit zuverlässigen und mutigen Burschen, wie du einer bist, werden wir ihnen im Handumdrehen das Maul stopfen. Und du wirst sehen, in ein paar Jahren gehst du gestärkt und mit einem Dienstgrad aus der Sache hervor. Alle, die dir ins Gesicht gespuckt haben, weil du auf unserer Seite warst, wer den dir danken, sobald sie begriffen haben, daß Frankreich zum Wohle aller und der Zivilisation hierbleiben muß. Kapiert, mein Junge?» «Ja, Herr Stabsfeldwebel!» sagte Azzedine mit einer einfälti gen Habtachtstellung. «Das ist gut, Kleiner. Es beweist, daß du nicht so blöd bist wie die Partisanen!» Der Stabsfeldwebel lächelte, während er mit der Maschine Azzedines Ausweis übertrug. «Komm her, ich will dich messen!» Der Stabsfeldwebel stand auf und ging zu der Meßlatte an der Wand. Unter seiner Khakiuniform hatte er nackte Füße. Azze dine tat so, als merkte er nichts. In seiner Wohnung fiel ihm auch wieder ein, daß dieser Stabsfeldwebel sich immer, wenn er im Bordell abstieg, eine Perücke auf seinen spärlich behaarten Schädel setzte. Er hockte sich ans Ende der Bar und wartete, daß der Alkohol ihm Mut machte. Dann steckte er einer Nutte den Finger in die Möse. Vorher wandte er den Mädchen den Rücken zu, als ob er Angst vor ihnen hätte. Anschließend war er wie neu belebt, stieß ei nen gewaltigen Schrei aus, und das ganze Bordell gröhlte: «Der mit den Startschwierigkeiten ist da und holt gleich sein Periskop raus!» Er packte ein Mädchen beim Hinterteil und stieg die Stufen zum Zimmer hinauf. Wenn Lasaosa wieder auf dem Treppenabsatz auftauchte, ba ten alle Stammgäste unauffällig um Ruhe. Der Stabsfeldwebel legte dann nämlich seine Hände aufs Treppengeländer, um wieder zu Atem zu kommen, und rülpste fett wie ein Baby, das 60
gerade gesäugt worden ist. Das brachte die Soldaten zum La chen; was sie allerdings nie begreifen konnten, war die Tatsa che, daß der Stabsfeldwebel jedesmal Tränen in den Augen hatte, wenn er das Zimmer verließ. Er setzte sich wieder an die Bar, brüllte ein triumphierendes: «Achtung!» und legte die Hand zum Gruß an die Stirn. Und das war der Punkt, an dem das Publikum sich vor Lachen nicht mehr halten konnte: Der Stabsfeldwebel merkte, daß er seine Perücke im Zimmer ver gessen hatte, und rannte im Galopp nach oben. Lasaosa klopfte dem zukünftigen Harki auf die nackte Schul ter: «Du bist nicht gerade massig gebaut, aber du siehst mir zäh aus. Und deine Ausdauer wirst du brauchen, wenn du hinter den Partisanen her bist. Sie sind flink, diese Bestien, flink und gerissen! Die bewegen sich im Dschebel wie Fische in einem Riff. Außerdem sind sie gefährlich, wollen sich nicht ergeben, selbst wenn man sie gefangen hat. Sie fressen lieber eine Gra nate, ehe sie sich die Eier abschneiden lassen. Sie kriechen durchs hohe Gras und tauchen zack! hinter deinem Rücken auf. Du wirst lernen müssen, rückwärts zu gehen, mein Junge, und in jedem deiner Brüder einen Fellagha zu wittern, verstanden?» «Ja, Chef», sagte Azzedine. In Reims konnte er sich nicht mehr erinnern, ob er «Ja, Chef» oder «Ja, Herr Stabsfeldwebel» gesagt hatte – das «Ja, Chef» hatte er sich wohl erst sehr viel später erlauben können. Als der Stabsfeldwebel ihn zum Schlafsaal führte, sagte er noch zu ihm: «Du hast drei Tage Ausgangssperre. In der Zeit stellen wir dich allen in der Kaserne vor und du lernst die Gewohnheiten und Verpflichtungen unserer Mutter Armee kennen… Danach hast du einen freien Abend. Da kannst du zu den Weibern ge hen oder dich vollaufen lassen. Alles, was ich will, ist, daß es nicht auffällt, wenn du zurückkommst. Und bums vor allem nicht mit den Mädchen, die um die Kaserne herumstreichen. 61
Die nimmst du im Stehen, und sie hängen dir die Syph an. Sie waschen sich nicht zwischen zwei Nummern, weil sie kein Wasser haben. Geh ins Bordell und frag nach Zaina, das ist die wildeste. Die Französinnen da können dir nicht mal einen ab lutschen.» Der Schlafsaal war grau, eine riesige Bude. Braune Strohsäk ke in übereinandergestellten Betten. An den Wänden einige Fotos von gesuchten Arabern. Es roch nach Kresol. Azzedine kam mit Sack und Pack zu den neuen Rekruten. Drei Araber, Boussetta, Chaouch, Naïm, und Perez, ein Spanier. Sie legten den Eid ab, die rechte Hand vor der Trikolore erhoben, und formierten sich im Gleichschritt nach den Befehlen des Groß mauls. Forbach, so hieß er und stammte aus dem Osten. Er war in der Gegend um Oran gestrandet, weil ihm seine Schwäger auf den Fersen gewesen waren. Zwischen zwei belgischen Bie ren hatte er seine Frau wohl etwas zu heftig geschlagen. Eines Abends, als sie aus der Fabrik, wo sie Konservendosen aus zeichnete, nach Hause gekommen war, hatte Forbach sie im Badezimmer überrascht. Sie war gerade dabei, ihren Strumpf haltergürtel abzulegen. «Für wen trägst du dieses Hurenzeugs?» «Für dich», sagte sie zitternd. «Nach fünf Jahren Ehe denkst du auf einmal an mich? Red keinen Mist: wenn es für mich wäre, warum solltest du ihn dann ausziehen, du Schlampe, hä?» Er schlug zu. Nicht stark, hatte er gesagt. Zu stark, hatte Lasaosa vom Rekrutierungsbüro gesagt. Aber sie haben ihn trotzdem behalten. Forbach machte angst, selbst wenn er nichts sagte. Er war klein und rundlich, seine Wangen waren vom Wein aufgedunsen. Stets sah er gereizt aus, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, und seine Aufmerksamkeit erlahmte nie. Immer auf dem Quivive, dieser Forbach, wie ein Fuchs. Nach dem Laufschritt die Schiefertafel. Azzedine lernte, Französisch zu lesen. Zunächst, weil es Pflicht war, und dann, weil der un terrichtende Soldat, ein junger Einberufener mit runder Brille, 62
zu ihm gesagt hatte: «Streng dich an, alter Freund, du wirst es eines Tages brau chen!» Heute in Reims, das allmählich in den Schlaf sank, wußte Azzedine, was der Lehrer sagen wollte. Er fragte sich, was aus diesem jungen Mann geworden war, den man gegen seinen Willen ins Landesinnere geschickt hatte. Und die anderen? Perez, der sich selbst französischer nannte als ein Durand? Der Spanier beschimpfte die Franzosen, weil sie nicht zu den Waf fen griffen, um dieses Land zu verteidigen, von dem sie be haupteten, es gehöre ihnen. Mit ihm sprach man besser nicht über die französische Bevölkerung Algeriens, er fand sie zum Kotzen. «Wenn es wirklich ihr Land ist, sollen sie doch ihr Gewehr nehmen und es verteidigen! Sie flennen, das ist alles, was sie können. Den Kampf überlassen sie der Armee. Aber für mich ist Algerien mein Heimatland, und ich verteidige es, weil ich hierbleiben will!» Und später, als es ihm in der Region nicht heiß genug her ging, hatte er sogar darum gebeten, ins Aurès-Gebirge versetzt zu werden: «Da gibt’s nämlich Arabergesindel, das man bis auf den letzten Blutstropfen ausquetschen kann!» Die Harkis um ihn herum waren nicht einverstanden. Vor allem nicht mit «Arabergesindel». «Ihr könnt mich alle am Arsch lecken», brüllte er mitten im Speisesaal und kletterte auf einen Tisch. Da kam der Befehl aus dem Kasino, daß besagter Perez ins Loch zu stecken sei. Das hinderte ihn nicht daran, weiterzuma chen: «Was hier gebraucht wird, ist ein Franco, und zwar nicht mein bescheuerter, sondern der de Gaulle!» kreischte er und pustete die schwarze Strähne weg, die ihm die Sicht versperrte. , Anschließend erging er sich in spanischen Flüchen auf die beiden diensthabenden Knilche, die ihn am Schlafittchen ge 63
packt hatten. «Wenn er noch einmal Arabergesindel sagt, reiß’ ich ihm den Arsch auf», sagte Chaouch und stieß sein Eßgeschirr weg. Am liebsten hätte er es an die Wand gefeuert, aber er hatte Angst vorm Loch. Boussetta und Azzedine beruhigten ihn. Naïm dagegen sagte nichts. Er redete überhaupt wenig. Er war noch sehr jung, kaum zwanzig, mit unbeteiligtem Gesichtsaus druck, gleichgültig gegenüber allem, was um ihn herum ge schah oder gesagt wurde, als ob er nur einen Gedanken im Kopf hätte und darauf wartete, ihn in die Tat umzusetzen. Nachts schlief er kaum. Mit nackten Füßen ging er im Schlaf saal auf und ab, qualmte eine Zigarette nach der anderen. Von Zeit zu Zeit kamen seine O-Beine zum Stehen. Azzedine beob achtete ihn neugierig von seinem Strohsack aus. Die Hände auf dem Rücken und die Nase an der Fensterscheibe, wartete Naïm auf die Morgendämmerung: den Augenblick, in dem sie zu ihrer Mission aufbrachen. Er hatte einen schokoladenbraunen Fleck auf der Stirn, genau oberhalb des linken Augenlides un ter dem dichten, schwarzen Haar. Seine Schultern waren schmal, sein Rücken krumm. Die Uniform schlotterte an ihm, weil sie zu groß war. Um männlicher auszusehen, hatte er sich gleich nach seiner Einberufung einen Schnurrbart wachsen lassen. Bei seiner Ankunft hatte er gesagt: «Sie haben meinen Vater umgebracht…», so überzeugend, daß Lasaosa ihm sogar den Besuch beim Arzt erspart hatte, «…und ich will ihn rä chen», hatte er in einer Nacht, die von Anfang an nach Schlaf losigkeit aussah, mit flacher Stimme ohne Zorn zu Azzedine gesagt. «Sie»: die Partisanen. Sie hatten ihm den Vater getötet, weil er ihnen eine Absage erteilt hatte. Das war in Medenine gewesen. Sie wollten, daß er einen Karren voll Sprengstoff, der unter Heu verborgen war, durch das ganze Dorf bis zu einer französischen Kneipe fuhr. Sie wollten sich um die Zündschnur kümmern. «Und ich? Wer wird sich um meine Familie kümmern, wenn man mich schnappt?» 64
«Hast du Angst? Dann schick uns deinen Sohn!» hatten die Mudschaheddin geantwortet. Der Alte hatte nur mit seiner Frau darüber gesprochen. Eines Abends war seine klägliche Ziegenherde allein nach Hause gekommen. Seine Leiche fand man in einer alten ausgetrockne ten Quelle. Naïm hatte ihm den Turban abgenommen und um den Hals geknotet, damit man den roten Einschnitt nicht sah. Dann hatte er ihn auf seine Schultern geladen und sich am fol genden Freitag in der Moschee vor dem Abendgebet anstelle des Imam an die Gläubigen gewandt: «Unsere Brüder, die Mudschaheddin, haben meinen Vater ge tötet, weil das, was sie von ihm verlangt haben, ihm zu gefähr lich erschien. Sie haben keinerlei Nachsicht mit ihm gehabt. Ihr Chef, das wißt ihr alle, ist Bachir-Tani. Er führt sie an in unse rer Region, und unter euch gibt es welche, die an seiner Seite kämpfen. Wenn ihr ihn also wiederseht, dann sagt dem BachirTani ausdrücklich, daß er einen Feind mehr hat: einen Araber mit krausem Haar, wie er selber!» Bei den Schießübungen erwies sich Naïm schnell als der ge schickteste, und keiner in der Kaserne konnte es im Laufen mit ihm aufnehmen. Bei jeder Runde seiner Gruppe war er der er ste, der vom Lastwagen sprang und als Aufklärer zu einem verlassenen Bauernhof schlich oder einen Schatten auf einem Felsen näher in Augenschein nahm. Sein Chef Masson warf ihm häufig seinen Übereifer vor und rief ihn zur Ordnung. Boussetta dagegen (sein Name bedeutet: der mit den sechs Fingern, ganz einfach weil sein Großvater sechs an jeder Hand hatte) liebte weder das Schießen noch das Laufen. Sobald es hieß, das Gewehr zu schultern und die Kaserne zu verlassen, sann er über Tricks nach, es sich so angenehm wie möglich zu machen. Er war von weither gekommen, aus Guelma, um sich bei dieser Armee zu verpflichten. Für ihn war sie weder Zu flucht noch eine Art gesellschaftliches Sprungbrett, wie man es ihm vorgespiegelt hatte. Es war ein Job wie jeder andere mit einem festgelegten Sold. Er ging seiner Beschäftigung nach, 65
etwa so wie ein Saisonarbeiter, aber was er am liebsten hatte, war sein Bett. Mit Bordellbesuchen durfte man ihm nicht kommen, nicht mal mit einer Sauftour. Er sagte in schiefer Habtachtstellung: «Herr Stabsfeldwebel, du verwahrst mir mein Geld für die Ersparnisse: Ich rauche ja nicht mal.» Nie einen Heiermann in der Tasche, wenn er mit seinen Ka meraden in die Stadt ging. Weil er schon von Geburt an sehr groß war, hatte er sich angewöhnt, mit eingeknickten Knien zu gehen, um die Kleinen nicht zu überragen. Und er konnte keine fünf Schritte tun, ohne sich umzudrehen, so groß war seine Furcht vor einem Partisanenbeil in seinem Rücken. Mit mehr als dreißig Jahren war er bei weitem der älteste aller Rekruten. Als Waisenkind war er von einem bärtigen Mann aufgenom men worden, der sich selbst als Moslem und außerordentlich gutherzig bezeichnete. Was sich so auswirkte, daß Boussetta, sobald er in der Lage war, ein Reisigbündel zu ziehen, keine Minute mehr für sich hatte. Er mußte nicht nur zweimal täglich aus einem Brunnen, der sehr weit vom Dorf entfernt war, Wasser schöpfen gehen, sondern durfte die Ziegen hüten und den Rest des Tages damit verbringen, den Garten umzugraben, zu mähen, zu kochen, zu waschen und von den Söhnen des Bärtigen Ohrfeigen einzustecken. Und damit geizten sie nicht. Kurz, er war das Mädchen für alles! Derjenige, den man nicht liebt, wie er sagte, und der sich alles gefallen läßt: Fünfund zwanzig Jahre hatte er es in dieser Familie ausgehalten, hatte das Kind gespielt, das aus dem gleichen Geschlecht stammt, und vage gehofft, seine Eltern würden eine Frau für ihn auftun und ihn verheiraten. Auf diese Weise sah er all seine Halbge schwister zu einem neuen Heim aufbrechen, sei es auf einem Hochzeitspferd, sei es zu Fuß. Nur er blieb zurück. Als die letz te unter die Haube gebracht war – Hanina, die ihn das «Kamel ohne Höcker» nannte, weil er weder auf Beschimpfungen noch auf Schläge reagierte –, bekam er einen Wutanfall und suchte seinen Stiefvater auf. Er fand ihn im Schatten der Strohwand, 66
wo er sich mit der einen Hand am Bart kratzte und mit der an deren die feinen, schwarzen Perlen seiner Gebetsschnur liebko ste. Der Alte meditierte. Boussettas Ankunft überraschte ihn; denn für gewöhnlich wagte der Junge es nicht, ihn direkt anzusprechen, sondern schaltete die Stiefmutter ein. «Verheirate mich, bitte, oh Si Halim», flehte Boussetta. «Mach, daß du wegkommst!» sagte Si Halim und hielt es nicht einmal für nötig aufzublicken. «Du hast dem Imam in der Moschee versprochen, daß du dich um mich kümmern würdest wie um deine leiblichen Söh ne», erinnerte ihn der junge Mann mit vor der Brust gefalteten Händen. «Schämst du dich nicht, mich mitten im Gebet zu stören! Los, los! Tempo! Gib mir meinen Stock, damit ich dir sämtli che Knochen zerschlage!» Zum ersten Mal küßte «das Kamel» seinem Herrn nicht die Hand. «Glaubst du, ich habe deiner gesammelten Brut den Hintern abgewischt, nur um mich jetzt wegjagen zu lassen?» entgegne te er. «Das ist es doch, oder? Ich weiß, daß du deine Pilgerfahrt ins vielgeliebte Mekka vorbereitest, um dir Vergebung für dei ne Sünden zu holen. Vielleicht denkst du mal darüber nach!» Und Boussetta spuckte auf den Boden. Der Alte verlor vor lauter Wut seine Gebetsschnur. Er holte seinen Stock. Aber um seinen Sklaven zu schlagen, hätte er verdammt schnelle Beine gebraucht! «Ich habe schon graue Haare, und er will mich verprügeln wie einen kleinen Jungen!» sinnierte Boussetta, während er mit seinen Plattfüßen auf den Hügel zurannte, der hinter dem Dorf aufragte. Als er oben angekommen war, legte er die Hände als Schalltrichter an den Mund und schrie: «Ich melde mich freiwillig… Nur für mich selbst!» Seitdem legte er seinen Sold zur Seite und hatte nur den einen Gedanken: zu heiraten. 67
Sämtlichen Kameraden diente er sich als Schwager an, aber keiner hatte eine Schwester im heiratsfähigen Alter. Und Az zedine sagte zu ihm: «Wer beweist uns, daß du kein Schlappschwanz bist? Man sieht dich nie im Bordell!» «Aber du gehst doch auch nicht zu den Nutten!» «Ich bin verheiratet und treffe mich einmal in der Woche mit meiner Frau.» «Du willst ja wohl nicht, daß ich mir mitten auf dem Hof ei nen abwichse, nur um dir zu beweisen, daß ich eine Frau ver dient habe!» Boussetta regte sich auf, und der Schlafsaal lachte. «Ich hatte einen Jungen, weißt du!» gestand er an einem an deren Abend, denn stets mußten erst die Lichter gelöscht sein, bevor ihm seine Tofla wieder einfiel. «Mit einer Frau, die das Massaker in Guelma im Mai 45 überlebt hat, falls du davon schon mal gehört hast.» «Nein.» «Mein lieber Mann, ich weiß nicht, was an dem Tag über die französische Armee gekommen war. Die Soldaten haben ange fangen, auf alles zu feuern, was den Burnus trug. Häuser nie dergebrannt, Frauen vergewaltigt, Männer aufgehängt oder erschossen und in die Kherataschluchten geworfen. Ein regel rechtes Massaker. Selbst ihre Flotte hat vom Meer her alle Dör fer und noch die kleinste Hütte mit Kanonen beschossen… Zwanzigtausend Tote hat das gebracht, und du willst das nicht gewußt haben?» «Nein», sagte Azzedine, «von einer Gegend zur anderen wußte man nie sehr viel.» «Tofla stammt von dort», sagte Boussetta. «Sie hat ihre El tern sterben sehen. Die hatten sie unter einer Wanne versteckt, als sie hörten, wie die Franzosen die Hoftür aufbrachen. Sie hat gesehen, wie ihr Vater aus nächster Nähe an einer Kugel starb und ihre Mutter unter den Soldaten. Kannst du dir vorstellen, was das in ihrem Alter für ein Schock war? Sie hat sich die 68
Ohren zugehalten, und weißt du, was ihr eingefallen ist, damit sie nicht schrie? Sie hat angefangen zu singen!» Boussetta streckte sich auf seinem Strohsack aus und starrte an die Dek ke. Dann schloß das «Kamel ohne Höcker» die Augen. «Seitdem singt sie immerzu, die Tofla, und hört nichts mehr. Du kannst sie ansprechen, sie antwortet dir nicht. Ich habe ver sucht, ihr die schönsten Dinge zu sagen, die ich mir vorstellen konnte. Ich habe sie noch hier drin.» Er zeigte auf seinen Bauch. Tofla war von einer blinden Alten aufgenommen worden. Sie versorgte die Frau und verdiente sich ihren Lebensunterhalt, indem sie Tag für Tag am Ufer des Flusses die Wäsche des ganzen Dorfes wusch. Aber es gab viele, die sie nicht bezahl ten. «Ich war am anderen Ufer mit der Wäsche meiner Adoptiv familie beschäftigt», erinnerte sich Boussetta, «und wagte nicht, sie anzusprechen, ich ließ sie singen. Sie trällerte Worte aus einer anderen Region, deshalb verstand ich nichts. Sie hatte runde, weiche Schultern und eine Brust, sag ich dir!… Sie saß in der Hocke, das Kleid bis zu den Knien, und du kannst dir denken, wie ihr Geschlechtsteil mich herausforderte. Es war schön wie ein Baby im Warmen. Ganz rosig. Ich wußte, daß die anderen Männer Tofla ausnutzten; ihre blinde Alte mußte dauernd Abtreibungen bei ihr machen lassen. Ich dagegen wollte nur ihre Scham berühren, einfach die Finger darauf le gen. Es ist der einzige Frauenhintern, den ich in meinem Leben gesehen habe, aber es gibt keinen schöneren, da bin ich si cher.» Boussetta machte die Augen wieder auf, damit er dieses Ge schlecht besser vor sich sehen konnte. «Eines Tages hat sie mich ertappt, als ich es anstarrte. Sie ist in Gelächter ausgebrochen und hat angefangen, mit meiner Erregung zu spielen. Bald preßte sie die Knie zusammen, bald spreizte sie sie, und ich traute mich nicht mehr, den Kopf zu 69
heben. An einem Abend, als sie früher als ich mit dem Aus wringen fertig war, hat sie dann unter der Brücke von El-Djorf auf mich gewartet. Sie tanzte barfuß auf den Steinen im Fluß. Ihr Kleid hatte sie bis zum Nabel hochgezogen und hielt es mit beiden Händen. Ich habe den Esel an einer Pappel festgebun den und gewartet, daß sie mich ruft. Sie ist wieder ans Ufer gekommen, hat mich zu sich herangewunken, mich ins Gras gelegt und hat sich auf mich gesetzt! Selbst bei der Liebe hat sie gesungen, mit geschlossenen Augen, ein kleines Lächeln im Mundwinkel, wie in einem Traum. Am Schluß sang sie nur deshalb nicht mehr, weil sie auf mir eingeschlafen war. Als sie dann schwanger war, wußte ich, daß es nur von mir sein konn te. Ich habe sie danach gefragt, aber sie hat gelacht. Lachen, das war alles, was sie konnte, wenn sie nicht sang. Natürlich hat die Alte wieder gewollt, daß sie abtreiben läßt, aber ich bin in die Moschee gegangen und habe Imam Si Abdelmajid ange fleht, daß er das verhindert: ‹Si Abdelmajid› habe ich zu ihm gesagt, ‹sie hat kein Recht dazu, es ist mein Sohn!› Weißt du, was er mir geantwortet hat? ‹Das sagst du, daß er dein Sohn ist! Ihr fallt wie ein Haufen Hasen über das arme Mädchen her! Sie kommt nicht dazu, sich sauberzumachen, bevor ein anderer sie beschmutzt, und du wagst es, herzukommen und deinen ‹Besitz› einzufordern! Aber nimm an, das Kind sieht wirklich euch beiden ähnlich – da willst du von einem Geschenk reden! Sie ist verrückt und du bist plemplem!›» Boussetta richtete sich empört auf seinem Strohsack auf. «Du mußt mich verstehen, Azzedine, um dem Imam gegen über nicht respektlos zu sein, habe ich die Moschee lieber ver lassen, ohne ein Wort zu sagen.» Boussetta war so groß, daß er sogar im Sitzen aussah wie ein ausgewachsener junger Bursche im Stehen. Bei den Gleichschrittübungen streiften seine Hände die Knie. Selbst Forbach gelang es nicht, ihn geradezurichten. Er hatte ihn «Winkeleisen» getauft. Kurz und gut, Boussetta hatte schließlich akzeptiert, daß Tofla allen gehörte. Er war ihr aus 70
dem Weg gegangen, sogar was die Liebe betraf, und träumte dennoch weiter von dem schönen Pärchen, das sie beide mit ein bißchen mehr Glück hätten abgeben können. «Ach! Wenn der Imam gewollt hätte, nicht wahr, Azzedine?» Azzedine konnte nicht mehr antworten, er schlief. Da zog Boussetta sich die Decke über die Nase und schloß die Augen, seine Beine waren nackt bis zu den Knien.
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Naïm stand am Fenster und brütete Finsteres über Bachir-Tani aus. Nächtliche Stille war eingekehrt. Das Kasernengelände erholte sich von den Übungen des Tages. Dann bellte der Wachhund und verriet mit freudigem Eifer, daß Chaouch aus dem Bordell zurück und endlich über die Umfassungsmauer geklettert war. Diese Hürde bereitete dem kurzbeinigen Harki stets große Mühe. Da er für ein so hohes Hindernis zu klein war, stellte er sich auf Steinhaufen, die er im voraus unten an der Mauer anlegte. Chaouch verfluchte den Wachhund und schlich sich durch die Gänge. Er ging nie normal, bewegte sich stets im Laufschritt. Sonst hätte er mit seinen kleinen Füßen der Gangart der anderen unmöglich folgen können. Das Ergeb nis war, daß er enorm schwitzte. «Sie lieben mich, die Schlampen. Alle!» flüsterte er Naïm zu, der immer noch am Fenster stand. Naïm antwortete nicht. Er beschränkte sich auf ein Lächeln und sah aus, als ob er sagen wollte: «Es gibt schließlich nicht nur das auf der Welt!» Chaouch ließ sich lachend unter seine Decke gleiten. Dieser rundliche Kleine prahlte nicht nur mit seinen Erfolgen im Bordell, sondern auch mit einem halben Dutzend Mätres sen, die ihm überall in der Stadt zu Diensten seien, Araberin nen und andere. «Das muß man sehen, wie sie mich lieben! Das macht die Fahne, da bin ich sicher. Ich trage sie so gut, was, Freunde?» rühmte er sich jedesmal, wenn die Schwadron zur Patrouille aufbrach. Die Freunde um ihn herum hörten ihm zu, weil er sie zum 72
Lachen brachte und so die Partisanen für Augenblicke verges sen ließ. Seine Funktion als Fahnenträger, das war der ganze Stolz dieses Chaouch! Bei der Parade am Sonntagmorgen, wenn die Kompanie, von der Fanfare angeführt, sich ihren Weg durch die breiten Adern der Stadt bahnte, dann warf er sich in die Brust, ganz allein, vorn, die Nase im Wind, die Augen auf die Zipfel des Banners geheftet, oben, ganz oben. «Hör mal, ich bin ja einverstanden damit, daß du der Fahne zulächelst, aber doch nicht wie ein Idiot!» schnauzte Forbach ihn bei der Rückkehr an. Tatsächlich hätte man bei dem dämlichen Gesicht, das er in solchen Augenblicken zog, meinen können, er habe die Fahne erfunden und man verdanke sie ihm. Ein Künstler, der endlich seinen Weg gemacht hatte! Was Chaouch nicht wußte, war, daß seine Vorgesetzten ihn auf diesen Posten geschoben hatten, um einige der armen Schlucker anzulocken, die der Parade zusahen. Und er gab wirklich eine verteufelt gute Reklame ab. Gut genährt, sauber, rosig, blankgeputzt, verkörperte er perfekt die Rolle eines Mannes, der das Elend besiegt hat. «Dieser Job kommt an bei den Frauen», gluckste Chaouch hinten auf dem Geländewagen, der über die Unebenheiten des Dschebel rumpelte. «Ihr solltet mal sehen, was für Augen mir die Schlampen sonntags hinter ihrem Haïk machen!» Ohne die Partisanen, die immer auf der Lauer lagen, ganz zu vergessen, hielten Azzedine und die anderen das Gewehr schußbereit und ließen ihn weiterreden: «Es ist gar nicht mal die Fahne, es ist mein Schwanz, den sie sehen! Dick! Riesig, was ich da habe, hahaha!» Er klopfte sich auf die Schenkel, und alle lachten sich krumm und schief, auch wenn Masson vorn in seinem Jeep diesem Soldaten Chaouch, der nie ‹die Klappe halten und auf die lau sigen Partisanen lauern› wollte, das Loch androhte. Chaouch erklärte unbekümmert und angeberisch: «Jetzt kapiert ihr Idioten, warum bei unseren Spritztouren in 73
den Dörfern die Haïks unauffällig gelüftet werden! Weil die Frauen mir Augen machen! Und sogar die Christenweiber wol len meine Fahne sehen!» Von da an kannte er keine Grenzen mehr. «Es gibt sogar eine, so eine mit gelbrotem Haar, wie die Fa sern am Maiskolben, die konnte es gar nicht fassen, als sie meinen Hosenstall aufmachte, weil sie da auch ein Fähnchen erwartet hatte!… Und stellt euch vor, sie hat selber eins geba stelt! Ein kleines blauweißrotes Fähnchen, das sie mir jedesmal untendran befestigt und in Habtachtstellung grüßt!» Einmal hatte das Gelächter an dieser Stelle aufgehört. Naïm hatte sich im zweiten Jeep aufgerichtet, zeigte zum Ho rizont und schrie: «Da ist einer, ich hab’ gesehen, wie sich einer bewegt hat!» Stille. Alle sperrten die Augen auf und starrten in die angege bene Richtung. Dann sagte Masson zu Naïm: «Das liegt bloß daran, daß du so schielst! Kommt, wir ver schwinden!» Beschämt und vor allem enttäuscht, nahm Naïm unter den bösen Blicken der Kameraden wieder Platz. Chaouch sagte: «Dieser Heim mit seinem Bachir-Tani, der blufft doch nur. Beinahe hätte er uns Angst eingejagt.» Die Schwadron machte sich aus dem Staub, und Chaouch fuhr fort: «Die wildeste von all meinen Mätressen ist eine Araberin. Wenn ich der die Adresse ihrer Konkurrentinnen geben würde, die würde sie garantiert umbringen. Und ihrem Schwachkopf von Ehemann, der uns überrascht hat, als sie mir gerade einen geblasen hat, habe ich gedroht, ihn als Partisanen anzuschwär zen, wenn er Stunk macht. Das hat ihn abgekühlt, und ich habe ihm an den Kopf geworfen: ‹Du bist kein Partisan, du bist kein Harki, also bist du ein Stück Scheiße!› Da hat er die Klappe gehalten.» Danach verzog Chaouch das Gesicht und markierte den Ab 74
gebrühten: «Jetzt reicht’s aber! Schluß mit der Alberei! Ich werd’s ihnen geben, bis sie Blut und Wasser schwitzen, solange ich noch diese Khaki-Uniform trage!» Was ihn nicht daran hinderte, im Bordell und völlig besoffen zu brüllen: «Sie kriegen ihre Unabhängigkeit, morgen oder in zehn Jah ren, worüber beschweren sie sich also?» Bei diesem Tabuwort, Unabhängigkeit, bekamen selbst die brünstigsten Freier weiche Knie, und die Mädchen blieben auf halber Treppe stehen. Die Angst. Vor allem bei den arabischen Nutten. Denen verhießen die Partisanen daß sie ihnen die Va gina bis zum Bauchnabel aufreißen würden. So stand es an der Tür des Puffs. Die Frauen betäubten die Angst mit Bier. Birra, Birra! Chaouch bestellte immer gleich drei Flaschen und trank sie weg wie eine. Unabhängigkeit: Er war der einzi ge, der es wagte, dieses Wort auszusprechen, und jedesmal trat Stille ein. Lastende Stille! Ein bißchen so, als ob die Männer plötzlich aufhörten, sich selbst über das Schicksal dieses Lan des zu belügen, das ihnen schon nicht mehr gehörte. Und was die Nutten auch taten, um ihre Stimmung wieder aufzumöbeln, sie wollten nicht mal mehr eine Gratisnummer schieben. Dann war Chaouch zufrieden, daß er ins Schwarze getroffen hatte, und spendierte eine Runde für alle. Er liebte es, die Truppe zu provozieren. Auf diese Weise, sagte er sich, würden sie noch gemeiner mit der Bevölkerung umgehen. Warum steckte so viel Haß in Chaouch? Das fragte sich Az zedine. Er tat ungern mit ihm zusammen Dienst, weil der Fah nenträger die Araber, ob Männer oder Frauen, so brutal behan delte. Die Frauen zwang er, ihren Schleier zu lüften, um sie darunter ordentlich zu befummeln. Sie zu filzen, wie er sagte. «Unterm Haïk versteckt sich nicht nur ’ne Möse, es kann auch schon mal ’n Koffer, ’ne Knarre sein…» Die ganze Stadt wünschte sich sehnlichst, diesen Chaouch am Ende eines Stricks baumeln zu sehen. Und er wußte es. 75
«Chaouch, das Volk verlangt deinen Kopf!» Die Inschrift prangte an der Wand des Stadions, in dem die Soldaten trainierten. «Papiere!» brüllte er jedesmal, wenn er einen Araber traf. Den verängstigten Bauern versetzte er eine Ohrfeige oder ei nen Schlag mit dem Gewehrkolben. «Verstehst du kein Französisch? Ich habe gesagt: deine Pa piere!» Er sprach sie nämlich auf Französisch an, um sie noch nach drücklicher als Idioten und Minderbemittelte hinzustellen. Wenn er nachts mit seinen Kameraden durch die finsteren, en gen Dorfstraßen patrouillierte, erscholl es von den Dächern: «Chaouch, du bist schon jetzt mausetot!» «Gott schenke mir nach der Befreiung das Glück, mich mit dir zu befassen, schändlicher Chaouch!» «Kommt heraus, wenn ihr Männer seid!» schrie Chaouch sei nen unsichtbaren Beleidigern zu und zeigte ihnen die Faust und seine Eier. Darüber konnte er sogar den Gleichschritt verges sen. Er rannte von Haus zu Haus, beschimpfte und bedrohte die geschlossenen Türen, traktierte sie mit wütenden Stiefeltritten. Seine Augen schwollen an vor Zorn, bis sie fast aus dem Kopf traten. Anfangs versuchte sein Chef, ihn zu beruhigen. Vergeblich. Dann drohte er ihm: «Wenn du deine Klappe nicht halten kannst, gehst du heute abend nicht in die Falle, sondern auf direktem Weg ins Loch!» warnte ihn Masson. «Chaouch, du bist schon jetzt mausetot!» erklang es wieder aus dem Dunkel der Nacht, und dieses Gemurmel schwoll an zu einem schrecklichen Chor, wenn dazu noch die Kinder weinten und die Frauen klagten. Steine und Konservendosen regneten auf die Patrouille herab, und die acht Burschen gingen schneller, rückten zusammen, beobachteten alles, was sich über, vor oder hinter ihnen beweg te. Nur Azzedine konnte Chaouch überreden, sich wieder ein zureihen. Aber dann fing das ganze Dorf wie mit einer Stimme 76
im gleichen Rhythmus wieder an, die Männer klopften sich an die Brust, die Frauen auf die Schenkel: «Chaouch, du hast Angst! Chaouch, wir hören dich nicht mehr!» Und Chaouch warf seinem Chef einen flehenden Blick zu, als wollte er sagen: «Chef, darf ich noch mal? Chef, eine letzte, saftige Beleidi gung?» Jedesmal befahl ihm Masson, sich ruhig zu halten, und Chaouch war gezwungen, seine Wut bis zur Kaserne aufzuspa ren. Aber jeder der sieben anderen schwor sich, nie mehr mit ihm auf Patrouille zu gehen. In wenigen Monaten war der klei ne Bursche Chaouch in seiner französischen Uniform zum Schrecken des Dorfes geworden. Wie zur Bestätigung seines Rufs ließ er sich einen Schnurrbart wachsen und rasierte sich den Schädel.
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«Ich erinnere mich an den Tag, an dem ich im Glatzkopf Chaouch den Chaouch von früher, den mit der langen Locken mähne, nicht wiedererkannte. Ich stand auf der Brücke, die zum Dorf führt, und pinkelte in den Wadi. Der Fahnenträger hatte am anderen Ufer Stellung bezogen mit dem Auftrag, die Brücke zu bewachen. Als er mich entdeckte, schrie er mir zu: ‹He, du kleiner Wichser, verzieh dich von dieser verfluchten Scheißbrücke, bevor die verdammten Partisanen sie in die Luft jagen.› Ich war sieben. Ich bin gerannt, der Urin ist mir über die Schenkel gelaufen. Man muß allerdings wissen, daß Chaouch mit seiner Stimme einen Marktschreier übertönen konnte. Eine andere Erinnerung. Am Vortag waren meine Mutter und ich unterwegs, um unser Brot zum Gemeindebackofen zu brin gen. Die Preise in der Bäckerei waren unerschwinglich gewor den. Deshalb knetete meine Mutter wie die meisten der Dorf bewohner die Brotfladen selbst, das war billiger, und ließ sie dann im Gemeinschaftsofen backen. Sie trug das Tablett mit den Fladen auf ihrem verschleierten Kopf, und wir näherten uns der besagten Brücke, die den Zugang zum Dorf beherrsch te. Seit einiger Zeit war der Ort von der französischen Armee eingeschlossen. Um den Durchgang zu kontrollieren, standen auf der Brücke ein Soldat, der sich in der Nase bohrte, und Chaouch. ‹Halt!› sagte der Harki Chaouch zu uns und versperrte uns den Weg. Wir hatten Angst, denn sein Ruf war schon bekannt, hier und in weitem Umkreis. 78
‹Verdammte Hurenbrut, wohin geht ihr?› ‹Das Brot zum Backofen bringen›, sagte meine Mutter schüchtern. ‹Laß mich mal deine Visage sehen!› brüllte Chaouch. Sie schob die beiden Zipfel ihres Schleiers auseinander und lieferte ihr Gesicht mit gesenkten Augen den Blicken des Har kis aus. Er sagte nichts. Er sah mich lange an, und ich erinnere mich, daß der Blick dieses Idioten noch irgendeinen Rest von Menschlichkeit bewahrt hatte. Etwas Zärtliches, etwas unend lich Winziges wollte in seinem Augenwinkel aufscheinen, das er, Chaouch, zu ersticken, auszutilgen versuchte, indem er kräf tig die Brauen runzelte. Man hätte meinen können, daß er sei nen schwachen Punkt verstecken wollte. Ich habe sogar ge dacht, er würde mich anlächeln. Von wegen! Er stieß meine Mutter zur Seite, nahm ihr das Tablett aus den Händen und schleuderte es in den Fluß. Er starrte uns an, als ob die Ge meinheit stärker wäre als er. Er rieb sich die Hände wie nach einem gut und schnell erledigten Job. Meine Mutter dachte, er würde uns ebenfalls ins Wasser werfen. Sie wich schreiend zurück. Ich hielt mich an ihrem Haïk fest und folgte ihr. Chaouch fluchte noch deftiger, als er sah, wie wir die Bö schung neben dem Fluß hinunterrannten, um das Tablett und die Reste der drei Fladen zu retten, die uns mindestens zwei Tage lang ernähren sollten. Und etwas anderes zu essen hatten wir nicht!» «Warum bist du so bösartig?» fragte Azzedine ihn schließ lich. «Ich, und bösartig?» empörte sich Chaouch, der gerade ge duscht hatte. «Ich mache meine Arbeit, und ich werde dafür bezahlt.» Er legte sich das Handtuch über den nackten Schädel: «Wer sagt dir, daß meine Mutter mich freiwillig kriegen wollte?» fragte er ernst. «Wie meinst du das?» sagte Azzedine. 79
Aber es kam keine Antwort. Chaouch verzog sich, um die vergoldete Spitze seiner Fahne zu polieren. Die meisten Patrouillengänge verliefen ergebnislos, selbst wenn die Truppe, von einem Spitzel alarmiert, überraschend auftauchte. Ob sie Dörfer, Zeltdörfer oder sonstige Örtlichkei ten durchkämmte, nie fand sich auch nur ein einziger Rebell. Dennoch gingen Unmengen anonymer Briefe in der Kaserne ein, die nach Herzenslust denunzierten. Überall wurden Parti sanen gesichtet, aber jedesmal, wenn die Armee sich in Bewe gung setzte, auf die Umgebung einprügelte, die Läden verwü stete, hatte sie sich umsonst bemüht. Die graugrünen Wagen fuhren in den Dschebel zurück. Um nicht unverrichteterdinge in die Kaserne heimzukommen, war Masson einmal am Steuer des Geländewagens und gefolgt von zwei Jeeps nach Ben-Essedik abgebogen, einem Dorf, das oft als Schlupfwinkel von Widerstandskämpfern bezeichnet wurde. Es war ein Nachmittag im Juni, und die neuen Rekru ten, Azzedine, Boussetta, Chaouch und Naïm, wurden erst seit kurzer Zeit mit Missionen betraut, die sie weiter weg führten. Sie saßen hinten auf dem Geländewagen und sperrten die Augen auf, weil sie einen Hinterhalt befürchteten. Azzedine vielleicht stärker als die anderen; die Essedik-Region lag näm lich ganz nah bei seinem Heimatdorf: Jeder Hirte, der ihren Weg kreuzte, mußte ihn erkennen. Seine Einheit bestand aus rund zwanzig Männern, genug für einen Überfall auf das verfallene Ben-Essedik. Wie üblich lie ßen sie ihre Wagen, die Lärm machten und zuviel Staub auf wirbelten, ziemlich weit vor dem Dorf stehen. Sie hofften, bei unauffälliger Annäherung ein paar unvorsichtige Mudschahed din zu überraschen. Die Truppe umstellte den Block aus primi tiven Hütten. Die Hunde bellten nicht. Aus dem einfachen Grund, daß es keine mehr gab. Bei den vorangegangenen Durchsuchungen waren sie allesamt wie Hasen abgeknallt worden. Gleich als das Dorf im Verdacht stand, dem Wider stand Zuflucht zu bieten, hatten die Franzosen dem Dorfälte 80
sten befohlen, die Hunde fortzuschaffen oder zu erschießen. Der Alte hatte sie zwar zehn Kilometer weiter zu einem seiner Söhne gebracht, aber sie waren schneller in ihren Unterschlupf zurückgekehrt als er in sein Dorf. Sobald nun ein Lastwagen oder eine Khaki-Uniform am Horizont auftauchte, fingen die Köter an zu kläffen, und der Partisan, der bei seiner Familie zu Besuch war, konnte sich in aller Ruhe absetzen. Deshalb hatte die Armee es vorgezogen, die Hunde einen nach dem anderen zu beseitigen. An jenem Nachmittag hatten die Soldaten jeden Winkel umstellt und schließlich Schwein gehabt: Ein Mud schaheddin, der ihren einschlägigen Dienststellen bekannt war, fiel ihnen in die Hand. Dieser Partisan, ein echter Widerstands kämpfer, war gekommen, um zwischen den Schenkeln seiner Frau moralische Stärkung zu suchen. Die Hose noch auf den Waden, den Hintern an der frischen Luft, wurde er von dem Soldaten Lanson mit Chaouchs Unterstützung an den Haaren mitten auf den Hof gezogen, wo Perez Gelegenheit hatte, ihn mit dem Gewehrkolben windelweich zu schlagen, bevor Mas son einschritt, um seinen mörderischen Eifer zu bremsen. «Lausiges Dreckschwein!» geiferte Perez dem Gefangenen blind vor Wut ins Gesicht. Die halbnackte Ehefrau umschlang ihren Rebellen-Ehemann wie ein Krake. Sie bedeckte ihn mit ihrem Körper, um ihn vor den Schlägen zu schützen. Sie raufte sich die hennagefärbten Haare aus. Ihre Schreie ließen die ganze Gegend aus dem Schlaf hochfahren. «Sie hat noch nicht genug, die Fatima!» höhnte ein Soldat. «Seht euch an, wie sie sich ans Gehänge von ihrem Macker klammert!» Und alle lachten. Bis auf Azzedine, der sich mit unbehagli chem Gefühl weiter hinten versteckte. Die Bauern liefen aus allen Richtungen herbei, die Frauen riefen Allah an und scho ben dabei die von der Siesta zerzausten Haare unters Kopftuch. Als der Geländewagen im Hof vorgefahren war, befahl Mas son, den Partisanen aufzuladen, aber davon wollte die Ehefrau 81
nichts hören. Sie hängte sich an ihren Mann, wie man sich ans Leben klammert. Sie kratzte jeden, der näherkam, weil sie ge nau wußte, daß sie ihren Partisanen, wenn sie ihn einmal los ließ, nie in ihrem Leben wiedersehen würde. Einem Soldaten gelang es, den Mudschaheddin mit heftigen Stiefeltritten in den Rücken in eine sitzende Position zu bringen. Und dann kam – entsetzlicher Augenblick –, was zum Wendepunkt in Azzedi nes Leben werden sollte. Oberleutnant Masson bestimmte ihn dazu, die Ehefrau und ihren Mann auseinanderzubringen. Er nahm den Befehl entgegen wie eine Ohrfeige. Er verließ seinen Platz im Hintergrund und ging mit schwankenden Schritten auf das Ehepaar zu. Dabei fühlte er, daß die Blicke der Kameraden, aber vor allem die der Bauern auf ihn gerichtet waren: Er kann te sie alle! Er packte die Frau ungeschickt bei den Schultern und versuchte, sie an sich zu ziehen. «Nein!» flehte sie. Linkisch, hilflos, schwitzend zog Azzedine stärker an ihren Schultern, aber sie wandte sich zu ihm um und bat ihn: «Khouïa! Mein Bruder, Allah wird dir Frieden und Reichtum schenken, laß meinen Mann! Dir wird Gottes Schutz und Djena, das Paradies, zuteil werden.» Ihre Tränen mischten sich mit ihrem Speichel. Sie schmiegte sich an die Brust ihres Mannes, der von den Schlägen immer noch außer Gefecht war. Azzedine umfaßte ihre Taille und hob sie hoch. Sie stieß ihn so heftig zurück, daß er beinahe gestürzt wäre. Seine Kameraden verspotteten ihn wie bei einer Zirkus vorstellung. Chaouch lachte am lautesten. Und der Oberleut nant sagte ironisch: «Der wird nicht mal mit ’nem Weibstück fertig! Man sollte ihn ins Aurès-Gebirge schicken, da kann er Kohldampf schie ben!» Azzedine war nervös, rot vor Scham; um die Frau zum Schweigen zu bringen, fiel ihm nichts Besseres ein, als an ihrer langen, dichten Mähne zu ziehen. Aber sie flehte ihn nur noch lauter an und ließ ihren Mann nicht los. 82
Um es hinter sich zu bringen, trat er ihr zweimal ins Kreuz. Halb erstickt vor Schmerz fiel sie auf die Seite. Zwei Rekruten konnten den Partisanen endlich zum Geländewagen schleppen. Da marschierten die Bauern geschlossen auf Azzedine zu. Als Masson das sah, zog er seine Pistole und feuerte einen Schuß in die Luft ab. Die Araber wichen zurück. Der Oberleutnant zeig te auf Azzedine: «Der hier gehört zu uns», sagte er. «Und er hat recht. Die Ge schichte wird ihn bestätigen.» Wieder auf dem Lastwagen gelandet, verbarg Azzedine die Augen hinter seiner Kopfbedeckung. Die Bauern sahen nur ihn an. Der Mudschaheddin wurde eingesperrt und sogleich als Antar, der Stellvertreter Bachir-Tanis, identifiziert. Moncef, ein alter, ganz zerfurchter Freiwilliger, hatte ihn er kannt: «Ich habe ihn auf meinen Knien reiten lassen, als er noch ganz klein war, dieser Schwachkopf!» Die Kaserne konn te stolz auf ihren Fang sein. Das Oberkommando würdigte die Tat: «Der wird uns weitere einbringen.» Masson suchte Freiwillige, die den Gefangenen befragen sollten; denn viele Soldaten verabscheuten Übungen dieser Art, besonders unter den jungen Einberufenen. Aus Azzedines Gruppe hoben drei die Hand: Perez, Naïm und Chaouch. Der Oberleutnant nahm nur zwei von ihnen und verwies Naïm auf den Schießplatz. «Aber Herr Oberleutnant, ich werde diesen Antar zum Spre chen bringen, Ehrenwort!» Naïm schäumte. «Soldat, ich habe gesagt, auf den Schießplatz, und zwar so fort!» donnerte Masson. Aber Naïm stand immer noch in Habtachtstellung mitten auf dem Hof und ließ nicht locker: «Antar gehörte zu den Leuten, die meinen Vater umgebracht haben, Herr Oberleutnant. Es steht mir zu, ihn zum Sprechen 83
zu bringen.» Er war gereizt, dachte nur an seine Rache, und das sah Mas son ihm an. Er wußte nur zu gut, daß Naïm Antar kaltgemacht hätte, ohne ihm eine einzige Frage zu stellen. Wieder schrie er ihn an: «Auf den Schießplatz!… Rechtsum! Im Gleichschritt marsch, du Arsch! Eins, zwo, eins, zwo…» Mitten in der Nacht, als man in der Kaserne endlich die Ruhe und die frische Luft genießen zu können glaubte, wollte Antars Jammern nicht aufhören. Perez und Chaouch legten sich schwer ins Zeug. «Scheiße, macht ihn endlich fertig, den lausigen Araber!» schrie jemand an einem Fenster. «Laßt uns pennen!» Wer in dieser Nacht Schlaf finden wollte, hätte taub sein müssen. Aus der Folterkammer drangen kurze, gellende Schreie, die die Schläge Antar entrissen. Zwischendurch flehte er stoßweise mit schleppender, heiserer Stimme, daß man ihm den Gnadenstoß geben solle. Das ging so weiter, bis Perez und Chaouch zurückkamen und stolz verkündeten: «Wir haben saubere Arbeit geleistet, Chef! Wir haben ihn verdammt übel zugerichtet, aber er stirbt nicht, Ehrenwort!» «Das Blöde dabei ist, Chef», fügte Chaouch hinzu, «daß er weder essen noch trinken will der Idiot! Er muß unbedingt bei Kräften bleiben, damit er plaudert.» «Aber er wird reden, das garantiere ich Ihnen, Chef. Ehren wort!» versicherte Perez. «Idiotenbande, wenn er krepiert, ohne zu plaudern, kriegt ihr was von mir zu hören!» warnte sie Masson. Perez und Chaouch entrissen dem Mudschaheddin keinerlei Geheimnis, obwohl sie sogar das Essen ausfallen ließen für das unerhörte Glück, einen Partisanen fertigzumachen. Sie brach ten sich mit Bier wieder auf Vordermann! Als hochrangigem Rebell, der für eine ganze Region verant wortlich war, hatte man Antar nicht einmal den Aufenthalt in einer Zelle zugebilligt. Kaum in der Kaserne angekommen, 84
fand er sich im «Beichtstuhl» wieder, dem ehemaligen Keller, der in eine Folterkammer umgewandelt worden war. Perez und Chaouch krempelten sich bereits die Ärmel auf. Moncef, der zahnlose alte Harki, war ebenfalls mit von der Partie. Es gab auch eine Schreibmaschine auf einem Tisch, aber keiner der drei konnte sie bedienen. Und das Irrwitzige daran: Chaouch glaubte zuerst, es handele sich um ein Folterinstrument. «Nun gut», sagte Moncef ruhig zu dem Gefangenen, «ich ha be dich erkannt, Aïssa, und du, du erinnerst dich an mich, nicht wahr? Das steht schon mal fest, okay? Du nennst dich Antar? Schön, schön! Aber weil wir unter wohlerzogenen Leuten sind, wirst du uns sagen, wo wir Bachir-Tam finden. Das ist alles. Danach trennen wir uns als gute Freunde.» Moncef rieb sich die Hände: einfache Sache, kein bißchen kompliziert! Antar lag auf den Knien, seine Hände waren im Rücken gefesselt. Er hob den Kopf zum Harki der ersten Stun de auf. Dieser lächelte und bot ihm eine Zigarette an. «Tebri garo?» Moncef zündete die Zigarette an und steckte sie Antar zwi schen die Lippen. Der Mudschaheddin nahm einen Zug und ließ den Rauch durch die Nase entweichen. Er holte Luft und spuckte dem Harki die Zigarette ins Gesicht. Moncef betrachte te gelassen die Zigarette, die auf den Boden gefallen war, und drückte sie dann mit dem Absatz aus. Er blies die Aschespur von seinem Hemd und löste die Arme aus ihrer Verschränkung. Ohne einen Blick für Antar sagte er mit blasierter, ernüchterter Miene: «Du kannst anfangen, Perez.» Perez versetzte Antar einen Fußtritt in den Bauch, so daß er sich flachlegte. Danach prügelten Chaouch und er den ganzen Abend auf ihn ein. Der Mudschaheddin verlor mehrmals das Bewußtsein. Zwischen zwei Ohnmachtsanfällen antwortete er auf die Fragen mit einem: «Ichtiqlal, ichtiqlal…» «Was quatscht das Arschloch da?» brüllte Perez. 85
«Istiqlal», übersetzte Chaouch, «aber weil wir ihm die Zähne eingeschlagen haben, sagt er ich statt is. Istiqlal heißt im Arabi schen Unabhängigkeit.» Zweimal mußten sie die Badewanne mit dem vom Blut des Partisanen rotgefärbten Wasser ausleeren. Und als Chaouch Antar mit der Elektrozange in die Hoden kniff und dieser auf dem dreckigen, nassen Boden an allen Gliedern zitterte, als hätte er einen Preßlufthammer im Bauch, starrte er ihn mit of fenem Mund an und versuchte sich vorzustellen, was so ein Ding wohl in einem Menschen anstellen kann. Manchmal beugte er sich über Antar und betastete sein Handgelenk, wie man den Puls fühlt; er wollte feststellen, ob der Partisan unter dem Elektroschock warm wurde oder nicht. «Schalt aus!» befahl Perez, und Chaouch stellte den Apparat ab. «Tut gut, wenn das aufhört, was, Antar? Aber es liegt nur an dir, alter Freund! Sag uns bloß, wo wir Bachir-Tani schnap pen können, und wir lassen deine Eier in Ruhe, Ehrenwort!» «Ich, Ich… hl. I…» «Ah! Nimm du sie, sonst bringe ich ihn auf der Stelle um!» seufzte Perez und reichte Chaouch die Zange. Im Morgengrauen lebte Antar immer noch, und Naïm, der die ganze Nacht am Fenster zugebracht hatte, verfluchte die beiden Folterer, weil sie ihrem Opfer nichts entlockt hatten. «Keine Sorge, heute morgen packt er aus», versicherte ihm Perez. «Und wir stöbern Bachir-Tani auf, du kriegst ihn ganz für dich allein.» Auch Azzedine hatte kein Auge zugetan. Bei jedem Klage laut Antars hatte er in seinem Kopf die Frau schreien hören. Im Geiste sah er, wie sie sich von Schlägen gezeichnet an ihn drückte und flehte: «Khouïa, laß mich! Laß mir meinen Mann, und Gott segne dich!» Was ihn anging, er hätte den Partisanen gern laufenlassen, aber da waren die anderen und Masson und die Armee und der Krieg… 86
Er hatte auch die Bauern wieder vor Augen, wie sie mit erho bener Faust auf ihn zugekommen waren. Sie würden von nun an sein Dorf verwünschen, mit dem Finger auf seine Mutter zeigen und auf jedes Mitglied seiner Familie spucken, das ih nen über den Weg lief. Schließlich verbarg er den Kopf in den Händen, um die Schreie, die aus dem «Beichtstuhl» herauf drangen, nicht mehr zu hören, aber auch, als ob er sein Ge dächtnis ausleeren wollte. Er war an dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Zum ersten Mal seit seiner Einberufung wurde Azzedine klar, daß er in der Falle saß, daß er, selbst wenn Algerien französisch bliebe, für alle Zeiten ein Unter drücker war. Er war Soldat geworden, wie man in einer Fabrik anfängt, weil man am Ende des Monats bezahlt wird. Jetzt wußte er, daß er um sein Überleben kämpfen mußte, gleichgül tig, was geschah. Auch wenn die Franzosen gewinnen sollten, hätte er deswegen noch längst keinen Frieden. «Istiqlal» wurde zum Alptraum für ihn. Die grünweiße Fahne mit rotem Halb mond und rotem Stern hörte in seinem Geist nicht mehr auf zu wehen. Und es war der Tod, der mit den drei Farben im Wind flatterte. Er schwitzte, und seine Augen weiteten sich wie bei dem Helden in jedem Film der B-Serie, wenn das Drehbuch Furcht vorschreibt. Wie in diesen Filmen wollte er fliehen, aber der Zuschauer weiß genau, daß der Held erledigt ist, daß nur ein äußeres Element ihn aus seiner Angst holen kann: ein Tele fonläuten, ein Statist, der vorbeikommt… Naïm stand immer noch am Fenster und riß ein Streichholz an. Das Geräusch ließ Azzedine herumfahren, und er sah, daß sich der junge Mann schon wieder eine Zigarette anzündete. Wie in den B-Filmen beruhigte ihn diese Anwesenheit eines zweiten. Azzedine fühlte sich jetzt wie einer, der keine Wahl hat, der in der Haut eines anderen steckt. Eines anderen, der nur noch die schlimmsten Befehle auszuführen und die schmutzigsten Arbeiten zu erledigen hat, um sich zu schützen, um nicht zu sterben. Er wußte, daß er abstoßend werden würde, Abfall. Es mußte sein. Und er verstand den niederträchtigen 87
Chaouch. Erzählte man sich nicht, daß der berüchtigte Chaouch eines Tages mit Forbach und dem Soldaten Lanson in Begleitung der Militärpolizei zurückgekommen war, weil sie alle drei be schuldigt wurden, eine junge Araberin vergewaltigt zu haben? Lanson, ein langer, schlanker Blonder mit Bürstenhaarschnitt, der im Gleichschritt marschierte, selbst wenn er völlig betrun ken oder im Bordell war, hatte behauptet, alles sei die Schuld des Ausbilders Forbach gewesen, und sie beide, Chaouch und er, hätten nur ihrem Vorgesetzten gehorcht, weil sie befürchte ten, sonst bestraft zu werden. Folgendes hatte sich abgespielt: «Nuttenpack! Schlampen! Mit euch bums’ ich nicht!» hatte Forbach die Mädchen im Bordell an jenem Abend angeschrien. Er beschimpfte sie in Habtachtstellung, stockbesoffen und rot vor Zorn. Und es war wirklich so, daß niemand aufzublicken wagte, wenn er diese Stinklaune hatte. Die Soldaten verbargen den Kopf zwischen den Brüsten der Nutten. «Heute abend habe ich keinen Bock, meine Eichel in zu gro ßen Fotzen verschwinden zu lassen! Mein Schwanz braucht was Frisches an den Rändern!» Er rülpste satt und forderte Lanson und Chaouch auf, mit ihm zu kommen. «Aber, Chef… Ich hab’ noch nicht gebumst! Wir werden doch noch nicht nach Hause gehen?» sagte Chaouch in pani scher Angst. «Und ich? Ich bin noch nicht mal blau!» beklagte sich Lan son. «Du fährst, und du hältst die Klappe!» erwiderte Forbach mit Tränen in den Augen. «Was das Bumsen betrifft, ich hab’, was wir brauchen.» Bei einer Patrouille in der Gegend hatte Forbach unlängst ei ne junge Araberin gesehen, groß, größer als er, die gerade ihre Krüge an einer Quelle am Ufer des Wadi füllte. «Sie hat Beine, die mir bis hier gehen (Forbach zeigte an sei ne Schulter), und Haare, die ihr bis auf den Hintern fallen. Ich 88
hab’ sie gesehen, als sie fast ganz nackt war und anfangen wollte, sich im Wadi zu waschen. Aber Scheiße! Sie hat die Motorengeräusche gehört und sich schnell wieder angezogen. Masson hat nicht gewollt, sonst hätten wir sie an Ort und Stelle aufs Kreuz gelegt.» Der Himmel war rot. Von Lanson gesteuert, fuhr der Jeep mit ausgeschalteten Scheinwerfern eine gute halbe Stunde. «Die Kleine ist aus dem Dorf, wo wir so viel Schwierigkeiten hatten, den Hund zu töten. Erinnerst du dich, Lanson?» fragte Forbach. «Nein, Chef… Ich war nicht dabei!» antwortete Lanson, den der Ausflug etwas beunruhigte. «Er war alt, er war blind und ist mit drei Kugeln im Arsch immer noch durch die Felder gerannt! Zum Schluß hat er sich in einem Loch versteckt, das er wohl gut kannte. Da haben Prunier vom 4. und ich es mit einer Granate in die Luft ge sprengt, damit er es nie mehr aufkriegt.» Forbach lachte nervös. Als der Jeep im Dorf des blinden Hundes angekommen war, machte er eine kontrollierte Schleuderpartie mitten hinein in eine Ansammlung von Federvieh, das sich pfeilschnell zum Stall hin flüchtete. Forbach sprang auf den Boden und holte seine Knarre heraus. Da Chaouch und Lanson nicht wußten, woran sie waren bei so einem verrückten Kerl, blieben sie an ihrem Platz. Das brachte Forbach auf die Palme. «Idioten! Nehmt mich in die Mitte, und zwar dalli!» Die beiden gehorchten, während ein paar verängstigte Ein wohner einer nach dem anderen aus ihren Hütten kamen. Zu erst war es der Vater, der aus seinem Schuppen auftauchte und seinen Turban zurechtrückte. Er hatte ein langes, hohlwangi ges, von der Gluthitze verbranntes Gesicht. Sein linker Arm war mit farbigem Stoff verbunden, und er strich im Gehen über diese Verletzung. Er war an die vierzig und hatte sanfte Augen. «Salam alaikum!» sagte er, nicht eben ruhig angesichts eines bereits sehr erregten Forbach. 89
Seine Frau kam in den Hof und schloß wohlweislich die Tür hinter sich. Es war eine kräftige Frau, die ihr Umschlagtuch über den Kopf zog, als sie sah, daß ein Araber dabei war: Chaouch. Ihre Hände glänzten fettig, als hätte sie gerade But tergrieß gerollt. Dann trat eine Alte vor, klein und vertrocknet wie eine Pflanze, der Regen fehlt. Hinter der Mutter einer der Söhne, ein Heranwachsender. Er hatte ein altes, an den Füßen ausgefranstes Ziegenfell in den Händen und tat so, als ob er es ausschüttelte. Da spielte Forbach seinen großen Trumpf aus, den jeder geile Franzose in- und auswendig kannte und oft ge nug eingesetzt hat, wenn er mit Familien zu tun hatte, die von der Welt abgeschnitten und wehrlos in elenden Hütten im hin tersten Winkel des Dschebel lebten. Er fragte zuerst nach dem Namen des Partisanen, der sich regelmäßig im Dorf mit Le bensmitteln eindecken komme. Chaouch übersetzte. «Wir haben noch nie Partisanen bei uns aufgenommen, sag ihm das, Khouïa!» sagte der Vater. «Scheiße auch!» brüllte Forbach und drehte sich zu Chaouch um. «Hält der Typ mich für einen Idioten? Sag ihm, daß wir durch unsere Spitzel alles wissen, was hier ausgeheckt wird.» Natürlich wußte Forbach überhaupt nichts. Er wollte nur das Mädchen, das hinter einer Tür versteckt war. Aber er nutzte grundsätzlich seine Uniform aus. «Wir sind sicher, ganz sicher sogar, daß ihr den lausigen Par tisanen was zu fressen gebt», fuhr er fort. Wieder stritt der Bauer es ab. «Na schön, wir werden ja sehen!» sagte Forbach. Dann befahl er Chaouch: «Geh in den Stall und zähl die Ziegen, und du, Lanson, sorgst dafür, daß all die Figuren rauskommen, die hinter den Türen lauern und uns beobachten.» Lanson ging in die Hütte und kam mit dem jungen Mädchen wieder, das seinen kleinen Bruder an der Hand hielt. Beim An blick des Mädchens vergaß Forbach seinen Zorn und senkte die 90
Knarre. Man hätte meinen können, ihm wäre gerade eine Hei lige erschienen. Sein Blick wurde mild. Um ein Haar hätte er das Mädchen und jedermann angelächelt, als ob er gekommen wäre, um ihre Hand anzuhalten. Er sagte zu Masson: «Wenn wir sie und ihre Scheißfahne endgültig erledigt haben, werde ich von den Arabern nur eins vermissen: ihre Weiber.» «Sechs, Chef, sechs Ziegen haben sie!» rief Chaouch, der im Laufschritt zurückkam. Da besann sich Forbach wieder auf sein Spiel und seine Wut. Er musterte den Vater aus nächster Nähe, Auge in Auge, und blies den Oberkörper auf, um ihn zu beeindrucken: «Du wagst es, mir zu sagen, hier war kein Partisan, und dabei fehlt eine Ziege! Hältst du mich für einen Esel, einen Hmar, oder was?» «Setta!» sagte der Vater zu Chaouch. «Wir hatten immer nur sechs Ziegen!» Er schlug sich auf die Hüften, um deutlicher zu zeigen, daß er den ganzen Schwindel überhaupt nicht begriff. «Lüg nicht, du Trottel!» schrie Forbach und streifte die Nase des Bauern mit seiner Pistole. «Bei unserer letzten Runde wa ren es sieben. Ich selbst habe sie gezählt! Wo ist die siebte ge blieben?» Der Vater schwor bei Gott, daß er die Wahrheit gesagt habe, und bat die Soldaten inständig, sie sollten ihm glauben. Chaouch übersetzte. «Davon will ich nichts wissen», sagte Forbach, der merkte, daß er auf der Stelle trat. «Es fehlt eine Ziege, wo ist die?» Die Mutter näherte sich geräuschlos und verneigte sich vor Chaouch: «Ach, mein Bruder, sag deinem Chef, daß er sich irrt. Hier ist wirklich kein Partisan gewesen.» Chaouch war verlegen und wußte nicht, was er antworten sollte. Er zeigte mit dem Kinn auf Forbach und sagte: «Er hat das Sagen.» 91
Und der Mann, der das Sagen hatte, verlangte, daß man ihm das junge Mädchen übergab. Es würde in der Kaserne verhört werden, weil alle die Mitarbeit verweigerten. Die Mutter kniete nieder, um Forbach anzuflehen. Er ver drückte sich und befahl Lanson, das Mädchen in den Jeep zu bringen. Der Vater und auch der Sohn boten sich selbst als Er satz für die Tochter an. Aber der Ausbilder stieß sie mit dem Ellbogen zurück. «Die Männer sind Dickschädel, die plaudern nicht!» sagte Forbach und war schon auf dem Weg zum Jeep. Da ging die Großmutter, die bis jetzt stumm geblieben war, zu dem Wagen und flüsterte Chaouch ins Ohr: «Ya oulidi, enta Hamou ould Chaouch? Mein Junge, du bist Hamou ould Chaouch, ich erinnere mich an dich. Als du noch ganz klein warst, hast du uns zum Sidi-Moussa-Fest den Tee serviert. Und ich weiß sogar noch, daß deine Mutter mit dir geschimpft hat, weil du die Hälfte unterwegs verschüttet hast.» Sie griff nach seinem Arm und drückte ihn. Der Soldat Chaouch war aschfahl geworden. «Hamou, ich verlasse mich auf dich, Junge, daß du mir meine Enkelin heil und gesund nach Hause bringst.» Die Alte legte ihre rissige Hand auf die behaarte Pranke des Harkis. Chaouch war ziemlich mitgenommen, zumal er wußte, was aus dem jungen Mädchen werden würde. Er wagte nicht, die Alte anzusehen, und entzog sich ihr. Der Jeep verschwand in der Nacht. Die Soldaten mißbrauchten das Mädchen unter der Brücke, die zum Gut des reichen Kolonisten Blanchard führte. Zuerst Forbach, dann Lanson. Als Chaouch zögerte, seinerseits maßzunehmen, erinnerte ihn der Ausbilder: «Von heute abend an bist du für die Leute in diesem Kaff ge liefert. Also schieb deine Nummer. Wenn man dich dafür hängt, hast du es wenigstens getan.» Chaouch ging unter die Brücke, wo die junge Frau auf dem Rücken lag. Sie weinte nicht mehr, und ihre Schreie, die beim ersten, Forbach, so laut gewesen waren, waren verstummt. 92
Verwundet wie sie war, ließ sie es sich sogar gefallen. Man hätte sagen können, sie schlief. Chaouch knöpfte seinen Ho senschlitz auf. Forbach und Lanson warteten im Jeep auf ihn. Sie lachten, sie rauchten. Der Blonde mit dem Bürstenhaar schnitt zitterte beim Lachen. Er hatte Angst vor dem, was er war, vor dem, was er getan hatte. Um Chaouch Beine zu ma chen, startete Forbach den Jeep. Als der Harki ihn auf die Brücke rollen hörte, fluchte er und tauchte am Geländer auf, während er noch seine Hosen hochzog. Seine beiden Kompli zen im Jeep hielten sich bei seinem Anblick die Seiten vor La chen. Sie fuhren zurück zum Bordell. Die vergewaltigte junge Frau ging nach Hause und brach wie ein Klageweib mitten auf dem Hof zusammen. Aber bei ihr war es keine Angabe: Sie wollte sich umbringen. Ihre Familie fesselte sie und schloß sie ein. Der Vater lief ins Dorf zur Mili tärpolizei. Die Mutter kratzte sich das Gesicht blutig. Bartuß zog sie kreuz und quer durch das Gelände, ging von Ort zu Ort und stieß mit gebrochener Stimme hervor: «Sie haben meine Tochter entehrt! Sie haben meine Mourja ne beschmutzt und verurteilt! Niemand wird meine Tochter mehr nehmen… Die schönste, ach, mein Gott!» Manchmal warf sie sich auf den Boden und biß in das staubi ge Erdreich, wie man sich in ein Leben verbeißt, das nicht nur Geschenke bereithält. Sie weckte die ganze Region auf, und einige Frauen begleite ten sie sogar auf ihrem verrückten Gang und weinten mit ihr. «Hamou ould Chaouch aus El Kantara war auch dabei.» Es wurde nicht mehr Nacht im Dorf. Die Verzweiflung der Mutter brachte alle Kerzen zum Brennen. «Chaouch hat meine Tochter verurteilt», stöhnte sie und zer riß sich das Kleid. In den engen Straßen des moslemischen Stadtteils warteten die Bauern auf die Mutter, stützten sie, wenn sie vor Erschöp fung taumelte und brachten sie dann auf ihren Leidensweg zu 93
rück. Die Frauen säumten die Straßen und wiederholten wei nend: «Chaouch! Der aus El Kantara! Sie kommen jedes Jahr zum Sidi-Moussa-Fest…» Als die Mutter schließlich aufhörte, den Namen Chaouchs und seiner Angehörigen in jedes Gedächtnis zu hämmern, brach sie vor der Tür der Moschee zusammen. Und alle um sie herum klagten das Schicksal an. Ihre Tochter war zu schön, es mußte so kommen. Der Vater weigerte sich, das Bordell zu betreten. «Wie sollen wir dann die Leute erkennen, die du beschul digst, deine Tochter mißbraucht zu haben?» fragte der Chef der Militärpolizei in Medenine. «Ich habe sie euch beschrieben. Wenn sie da sind, findet ihr sie. Ich jedenfalls setze keinen Fuß da rein. Gott bewahre mich davor!» Die Militärpolizisten – vier Männer – stießen die Bordelltür auf. Die Burschen drinnen fielen wieder in Edith Piafs Les trois cloches ein, und die Soldaten, randvoll mit Bier, gröhlten dazu im Chor. Nicht fünf Minuten – wie der Polizeichef gesagt hatte – sondern bis zum Sonnenaufgang mußte der Vater warten. Er hatte reichlich Zeit, sich vom Bordell zu entfernen, und ohne die üblichen Waschungen den fadjr zu beten: Die Morgen dämmerung brach schon an. Er hätte nicht sagen können, wie viele Soldaten er herauskommen und kotzen sah, bis endlich die Polizei mit Forbach, Lanson und Chaouch auftauchte. Männer, die so blau waren, hatte er noch nie gesehen! Er wußte nicht, wer von den Soldaten oder den Bullen wen stützte! Sie bemerkten den Vater nicht einmal, der neben dem Jeep wartete. Vor soviel Ungerechtigkeit selber trunken, stürzte er sich auf Forbach, packte ihn an der Kehle und stieß ihn heftig gegen eine Wand. «Gott möge mir verzeihen!» betete er und drückte Forbach mit aller Kraft den Hals zu. 94
Gott verzieh ihm bestimmt, denn er hatte nicht genug Zeit, den Ausbilder zu erwürgen. Die anderen, Bullen und Soldaten vereint, fielen über ihn her und prügelten ihn durch. Von diesem Tag an wurde Chaouch rundweg unausstehlich. Er wußte, daß die gesamte Region sei ne Schuld nie vergessen würde: weil er ein Kind des Landes war. In den Dörfern spuckte jeder vor ihm aus. Da dachte er lieber an seine als an ihre Haut. Und wenn er wie durch ein Wunder vage Gewissensbisse verspürte, schlug er nur noch stärker auf seine Blutsbrüder ein. Antar starb unter der Folter. Bevor er den letzten Atemzug tat, hatte er Perez so weit gebracht, daß der sich beklagte, weil er nicht mehr wußte, wie er sein Opfer noch peinigen konnte, damit es etwas länger litt. In Wirklichkeit war der gesamte Körper des Mudschaheddin gefühllos gegenüber den Schlägen geworden. Und er konnte nicht einmal mehr «Istiqlal» sagen. Er flüsterte nur noch. Antar war in allen Farben schillernd ge storben. Grün, Grau, Rot, Gelb und Blau fanden sich auf sei nem nackten Leichnam, der auf dem Boden ausgestreckt lag und aussah, als schliefe er, wie die Babys, die man vor der Ge burt im Bauch ihrer Mutter fotografiert. Als er starb, lagen sei ne Hände auf den Geschlechtsteilen. Sie haben ihn in eine braune, mit A.F. markierte Decke gewickelt und zusammen mit einem anderen Leichnam hinter der Düne des Schießplatzes begraben. Der andere Leichnam war ein Kind, ein Schäferjun ge, der inmitten seiner Schafe Angst bekommen hatte, als er am Rande der Wüste die motorisierte Streife auf sich zukom men sah. Er ließ seine Tiere, seine Flöte und den Stock im Stich und nahm Reißaus. Aber es war zu heiß, und die Soldaten hatten keine Lust, bei der Jagd auf ein zerlumptes Arabergör Schweiß zu vergießen. Und weil «die Chancen eins zu eins stehen, daß es ein Partisan oder ein Komplize ist», war Masson der Ansicht, man solle schießen. Eine Kugel genügte, und der Chef sagte: «Wenn der älter als dreizehn war, beiß’ ich mir’n Loch in den 95
Bauch!» Von Stiefeln gestoßen, rollten die beiden Toten die Düne hinunter in ein ausgetrocknetes Bachbett, wo sie unter ein paar Schaufeln roter Erde verscharrt wurden. Danach kehrten die Totengräbersoldaten ohne Aufregung in die Kaserne zurück. Oft kamen die Partisanen, wenn sie von einer Leichengrube erfahren hatten, in der Nacht, um ihre Toten auszugraben und ihnen ein würdigeres Begräbnis zukom men zu lassen. Dann schossen sie anhaltende Feuerstöße in den Himmel. Jeder Feuerstoß war eine Ehrenbezeigung für einen Toten, und selbst die Kinder, den Kopf unter der Decke, zähl ten an den Fingern mit.
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1961. Man schrieb bereits 1961. Die neuen Rekruten waren schon nicht mehr ganz neu, als Azzedine, Boussetta, Chaouch und die anderen entdeckten, daß aus den Scharmützeln eines Antar ein Krieg geworden war. Ein Krieg, der an die Dörfer heranrückte. Jetzt wurde eine Nachtpa trouille von der Bevölkerung nicht mehr mit Steinen und Kon servendosen empfangen, sondern mit Gewehren und Pistolen. Die besser organisierten Rebellen bewaffneten die Bauern, die ihren ganzen Ehrgeiz daran setzten, so nah an eine Kaserne heranzukommen, daß sie eine Granate über die Mauer werfen konnten. Danach verloren sie sich in der Nacht. Auf ihren Kon trollgängen im Gelände lernten die Soldaten den Hinterhalt kennen; jeden Tag ließen sie Tote an Ort und Stelle zurück und waren immer gefährlicheren Partisanen ausgeliefert. In kurzer Zeit waren das Dorfpostamt, das Kommissariat, das kleine Ki no, in dem amerikanische Schwarzweiß-Western vorgeführt wurden, und die französische Kneipe von Bomben in die Luft gesprengt. Nur das Bordell blieb verschont. Das hoben sich die Partisanen bis zum Schluß auf, um sich dann in aller Ruhe mit diesen arabischen Nutten zu befassen, die sich bei Weingela gen aufs Kreuz legen ließen. Die Harkis hatten keinen Zweifel mehr, was ihre eigene Zukunft betraf. Die halbe Kaserne warte te nur auf den Befehl, die Waffen niederzulegen. Jetzt wußte jeder Harki, daß der Punkt erreicht war, an dem es keine Rück kehr mehr gab, und wurde angesichts der unausweichlichen Niederlage besessen wie Chaouch oder fand sich abstoßend wie Azzedine. Ihr Krieg war nur noch Spiel mit dem Tod, Ab rechnung mit den Partisanen. Man hätte auch sagen können, 97
daß sich jeder vor seinem Tod oder seiner Abreise nach Frank reich verpflichtet glaubte, in seinem Notizbuch ein Maximum an gegnerischen Toten festzuhalten, um mit einem Minimum an Bedauern abzureisen. Wohl oder übel standen sie an der vordersten Front, bei jedem Hinterhalt, jeder Verhaftung, jeder Folterung. Masson nutzte diese aussichtslose Lage, um die Region ein letztes Mal in Furcht und Schrecken zu versetzen. Es war umsonst. So ver gingen für Azzedine, der bereits seit drei Jahren im Einsatz stand, lange Monate, in denen seine Garnison aus Medenine nach besten Kräften gegen immer mehr und immer besser be waffnete Mudschaheddins kämpfte. Es gab die einen, die sich wie Perez, Forbach und die Harkis blindlings in den Dschebel stürzten, um ihrer Vergangenheit nichts schuldig zu bleiben, aber auch die anderen, die jungen Einberufenen, die nur davon träumten, nach Frankreich zurückzukehren, und sich weigerten, auf die Bauern zu schießen. Perez schimpfte sie Linksradikale, und Forbach drohte ihnen: «Diese Schwulis, von denen werde ich mir einen unter der Dusche vorknöpfen!» 1962 kam das Aus für Massons Bande. Die Kaserne wartete auf den Evakuierungsbefehl. Während die Zivilisten in Evian oder anderswo Gespräche führten, wagte sich keine Streife mehr in den Dschebel. In den Dörfern tauchten die ersten alge rischen Fahnen an den Fenstern auf, und die Kinder waren schon seit Ewigkeiten nicht mehr in die französische Schule gegangen, die immer noch die Absicht hatte, ihnen die Mar seillaise einzutrichtern. Des Nachts wurde in Haus und Hütte, in Zeltdorf und Städtchen wieder die algerische Nationalhymne angestimmt, während Masson und seine Männer da oben in ihren vier Wänden geduldig warteten. «Wir haben unseren Job erledigt», sagte Masson am Tag nach einer so verbrachten Nacht. «Ich bin stolz auf euch, und ihr sollt wissen, daß ihr euch später über euer Verhalten im 98
Hinterland nicht schämen müßt. Ihr habt euch wie Männer, wie Soldaten benommen. Ihr habt eure Kraft, euren Mut und die Mittel ausgeschöpft, die euch gegeben waren, um eure Aufgabe erfolgreich durchzuführen. Die Regierung und halb Frankreich haben uns fallenlassen, und trotzdem habt ihr niemals den Mut verloren. Also habt ihr ein Recht darauf, stolz zu sein. Wir sind eine kleine Garnison, die große, nie ersetzte Verluste erlitten und den Partisanen widerstanden hat…» «Und ihre Frauen gebumst hat!» schrie Perez, der mit erho bener Faust aus der Reihe getreten war. Keiner der anderen zuckte mit der Wimper. Perez beschimpf te sie: «Was wollt ihr! Haben wir etwa nicht auf Teufel komm ’raus gebumst und abgemurkst? Jetzt bloß kein Bedauern!» «Perez, du hältst die Klappe, wenn ich rede!» fuhr Masson ihn an. «Es gibt keinen Chef mehr, Chef!» erwiderte der Spanier großspurig. Aber schließlich entschuldigte er sich, weil er trotz allem Respekt hatte. Masson kam zum Schluß: «Wir werden dieses Land verlassen, aber mit erhobenem Haupt!» Er knallte die Hacken zusammen, stand stramm und gab «der Trompete» ein Zeichen, das Totensignal anzustimmen. Die Garnison war auf dem Friedhof. Sie hatte gerade ihren letzten Verstorbenen begraben. Moncef, den alten Harki, der Antar wiedererkannt hatte. Zwei Tage zuvor hatte er Perez beiseite genommen und zu ihm gesagt: «Töte mich! Was habe ich in meinem Alter in Frankreich zu suchen. Ich kenne dort keinen.» «Dich töten! Mach es doch selber, alter Freund!» «Du weißt ganz genau, daß ich noch nie was selber machen konnte», hatte der alte Harki geantwortet. Da hatte Perez ihm eine Kugel in den Nacken geschossen, und die Stirn des Harkis war an der rauh verputzten Wand zer 99
platzt. «Er hat mich selber darum gebeten», hatte Perez zu Masson gesagt. Sie standen jetzt unter der Fahne, die im Wind knatterte. Was von der Blaskapelle übriggeblieben war, unterstützte «die Trompete», und Azzedine hißte die Flagge ganz langsam zur Spitze des Mastes, wie Chaouch, der Fahnenträger, es ihm bei gebracht hatte. In diesem ganzen Jahr besuchte Azzedine seine Familie nur zweimal und immer in Begleitung eines zweiten Harkis, das war Naïm. Die arabischen Freiwilligen waren nicht mehr gut angesehen bei der Bevölkerung, und Masson gab ihnen die Urlaubsschei ne nur, wenn sie zu zweit ausgehen konnten. Azzedines erste Erlaubnis galt für die Beschneidung seines kleinen Neffen Hafid, dem Sohn seines Bruders Aïssa. Die Mutter hatte fünf Hühner schlachten lassen, damit es nicht nur Brot gab, und lud die Nachbarn ein. Sie kamen zum Abendge bet und segneten den Beschnittenen. Manche grüßten Azzedi ne, ohne seiner Uniform besondere Aufmerksamkeit zu schen ken. Das waren die Leute, die ihn schon als einen toten Mann betrachteten. Sie waren ihm nicht böse, weil sie wußten, daß andere mit ihm abrechnen würden. Sie verstummten, wenn Azzedine an ihnen vorbeiging. Andere wetteten eher darauf, daß Azzedine die Flucht nach Frankreich gelingen würde. Eine prima Gelegenheit, fügten sie hinzu, seine Frau Meriem sitzen zulassen: Sie hatte ihm kein Kind geschenkt. Meriem, um deretwillen er an jenem Abend gekommen war, Meriem, der er die Hälfte seiner Ersparnisse vom Sold über ließ, während die andere an seine Mutter ging. Und dieser Sold hatte die Familie während der drei Kasernenjahre am Leben erhalten. Im vorangegangenen Jahr, als die Brunnen austrock neten, hatte er über einer alten Quelle eine Pumpe anbringen lassen, die noch etwas Wasser ansaugte. Das ganze Dorf profi 100
tierte davon. Man sagte: «Wie schade, so ein guter Junge!» Die Alten behaupteten sogar, daß er nur deshalb noch lebte, weil die Partisanen ihm wegen dieser Pumpe, die er den Seinen geschenkt hatte, eine Gnadenfrist gewährten. Aber alle erinner ten sich an die Geschichte in Ben-Essedik und Antars Gefan gennahme. Antar, dessen Märtyrertod in der gesamten Region feierlich gedacht wurde. Andere erzählten, daß die Wider standsbewegung den Leuten aus Ben-Essedik das Sonderrecht gewährt hätte, sich selber zu einem von ihnen zu wählenden Zeitpunkt an Azzedine zu rächen. «Hast du nicht getötet, mein Sohn?» «Nein, Mutter», antwortete Azzedine. Er wandte sich ab bei der Antwort, denn in die Augen seiner Mutter hinein hätte er nicht lügen können. «So ist das im Krieg», gestand er Meriem, wenn sie allein in ihrem Schlafraum waren. Meriem bedeckte ihren nackten Körper und schmiegte sich an ihren Mann. «Es heißt, sie oder wir», sagte er, «deshalb habe ich getötet. Ich habe auf Schatten geschossen, und wenn der Staub sich gelegt hatte, waren die Schatten immer noch da, aber sie lagen flach. Ich habe auch gefoltert, um zu erfahren, wo die Leute, die unseren Tod wollten, auf uns warteten. Ich habe ihnen angst gemacht, damit ich in Frieden schlafen konnte.» Meriem blies die Kerze aus und legte den Kopf auf Azzedi nes Brust. Was er auch getan und verbrochen haben mochte, er war ihr Mann. Sie würde nie vergessen, daß er sich freiwillig gemeldet hatte, um seine Familie zu ernähren. Zum letzten Mal sah Azzedine sein Zeltdorf, als sein Bruder Aïssa begraben wurde. Der Junge, der mit seinem jüngeren Bruder Driss vom Land geflohen war, um in der Stadt Geschäf te zu machen. Welche Geschäfte? Haschisch, das sie in Marokko besorgten und in Tlemcen eintauschten. Gegen Elend eintauschten. In 101
Wirklichkeit verbrauchten sie selbst mehr davon als sie ver kauften, und wenn sie von Zeit zu Zeit mit einem Sack voller Lebensmittel auf dem Rücken in den Schoß der Familie zu rückkehrten, dann taumelten sie und ihre Lider waren ange schwollen. «Was macht ihr in der Stadt, sagt mir das!» fragte sie die Mutter außer sich. «Geschäfte», antworteten die beiden Burschen. Ihre Frauen weigerten sich, mit ihnen ins Bett zu gehen. «Weil sie nur deshalb herkommen!» beschwerten sie sich bei der Schwiegermutter. Und eine verlangte die Scheidung. In den letzten Monaten hatten sich die beiden Brüder ganz dem Haschisch und dem Schmuggel verschrieben, während die Alte die Schwiegertöchter und deren Kinder mit Azzedines Sold unterhielt. Und das dauerte bis zu dem Tag, an dem ein Zollbeamter Aïssa an der marokkanischen Grenze eine Kugel in den Rücken jagte. Da Driss weniger Stoff geraucht hatte, konnte er sich in Sicherheit bringen und wartete die Nacht ab, um die Leiche seines Bruders ins Dorf zu tragen. Und der Imam sagte zu Azzedine: «Die Tradition will, daß du die Witwe deines Bruders heira test. Du wirst sie heiraten, und ihre Kinder sind von da an die deinen.» Azzedine küßte dem Imam die Hand und kehrte schnell in die Kaserne zurück. Er gab nie eine Antwort. Boussetta lachte: «Monsieur Azzedine hat zwei Frauen, eine, die nicht dick wird, und eine, die ihm drei Gören beschert hat, ohne daß er sie je angefaßt hat! Ist doch toll, oder? Und ich reiß’ mir ein Bein aus, um ’ne Frau zu finden. So ungerecht ist das Schicksal!» Zwischen zwei nervösen Lachanfällen wiederholte Boussetta die Neuigkeit auf den Gängen der Kaserne. Die Soldaten gröhl ten ebenfalls vor Lachen, aber weniger über Azzedine als über Boussetta. Lebenslänglich eingesperrt, der Ärmste! Beim letzten Hinterhalt der Partisanen im Dschebel hatte er 102
plötzlich Angst bekommen und sich in Windeseile verdrückt. Auf dem Heimweg zur Kaserne hatte die Patrouille ihn wie dergefunden. Er saß mitten auf der Straße und ging die Liste seiner möglichen Ehen durch: Ohne auf Massons Beschimp fungen zu achten, machte er sich nur Sorgen um den Preis des Hochzeitskleides und sagte immer wieder: «Ach, die Frauen! Ach, die Frauen!» Von diesem Tag an beschloß man, ihn in der Kaserne zurückzulassen, weil er außerhalb der Armee nieman den hatte. Und es war auch niemand in Sicht, der ihn hätte ha ben wollen. «Doch,» hatte Masson gesagt, «die Partisanen! Also werden wir ihn hier einbuchten, auch wenn er zu nichts mehr nütze ist.» Die Moral in der Kaserne war unter Null gesunken. Perez vertrieb sich die Zeit damit, die jungen Einberufenen anzu schreien und auf sie zu spucken. «Zum Glück bleiben uns die arabischen Brüder! Die haben wenigstens Schneid!» brüllte er. Und dann beglückwünschte er die Harkis, die noch bereit wa ren, ihre Haut teuer zu verkaufen. Für Perez war es eine Schan de, mitanzusehen, daß diese französischen Soldaten einfach nicht mehr wollten! Schlappschwänze waren das! Eines Abends im Bordell hatte er sogar erlebt, daß ein Bursche aus Martigues in Schluchzen ausbrach, als eine Nutte ihm anbot, alles zu tun, was er wollte, und das auch noch umsonst: Die Mädchen hatten nur noch die Soldaten, sahen nur noch in der Truppe ihre Rettung. Also waren sie zu allem bereit, um sie aufzumuntern und geil zu machen! Sie hatten mehr Angst vor der Niederlage als vor den Solda ten. «Scheiße auch», plärrte der Typ aus Martigues, «wann kön nen wir uns endlich aus diesem dämlichen Land verdünnisie ren?» Im Puff gab es keine fröhlichen Burschen, keine Piaf, kein 103
Gelächter mehr. Geblieben waren nur der Rauch, der zur Decke steigt, und das gluckernde Geräusch, das entsteht, wenn man lauwarmes Bier ins Glas schüttet. Das Haus, das von den Sol daten bewacht wurde (Befehl von Masson: der einzige Ort, den jeder Soldat ohne Murren aufsuchte, war gut zu schützen), lag in den letzten Zügen. «Henri! Armer Henri! Mein Kumpel Riton!» jammerte der Kerl aus Martigues. Er wußte nicht einmal, wo sein Kumpel Riton geblieben war. Er konnte sich nur noch daran erinnern, daß sein Freund Riton, ein Spezialist in Sachen Sprengstoff, als Aufklärer in ein ver lassenes Dorf gegangen war, wo ihre Patrouille Rauch über einem Dach hatte aufsteigen sehen. Die anderen hatten das Nest umstellt. Dann hatten sie Ritons gräßlichen Schrei gehört. Erst jetzt waren auch seine Kameraden in das Dorf eingedrun gen, waren gerannt wie die Verrückten, hatten jeden Winkel durchstöbert, ihre Magazine ziellos leergeschossen. Aber nicht der kleinste Gegenangriff. Und Riton? Sie hatten sich schließlich den Tatsachen beugen müssen, zu allererst der Chef: «Scheiße auch! Das ist das erste Mal, daß die Partisanen ei nen unserer Verwundeten mitnehmen! Los jetzt, zurück in die Kaserne!» Aber was hatten sie auf den beiden Jeeps und dem Lastwagen entdecken müssen? Die drei Fahrer, von Kugeln durchsiebt! Ihre Schreie hatten sie nicht gehört, weil sie selbst mit ihrer Schießerei so einen Krach gemacht hatten. Riton wurde nie gefunden. «Jungens, ab in die Kaserne!» sagte der Chef, als er an jenem Abend, an dem der Kleine aus Martigues zusammengebrochen war, das Bordell verließ. Er war so betrunken, daß Lanson ihn sogar stützen mußte, damit er die Stufen hinunter kam. «Burschen, dies ist die letzte Nacht hier. Die Strecke wird zu gefährlich. Sagt dem Puff ade!» Die Nutten weinten, aber nicht die Französinnen sondern die 104
Araberinnen. Die Französinnen wußten genau, daß ihre beiden Zuhälter, Anselme und Mr. M, so getauft, weil er Peter Lorre in dem Film von Lang ähnlich sah, sie am nächsten Tag nach Oran auf ein Schiff bringen würden. Die Araberinnen dagegen zerkratzten sich das Gesicht und klammerten sich an die Solda ten, besonders an die Harkis, wie eine Fatma an ihren Partisa nen: «Bruder, du hast mir versprochen, mich mitzunehmen!» «Keine Weiber!» brüllte Masson. Aber die Mädchen weiger ten sich, die Harkis gehen zu lassen… Sie zerrissen ihnen die Uniform! Sie riefen Gott an, daß die Männer ihr Versprechen halten sollten. Eine von ihnen, sie trug ein durchsichtiges Nylonunter kleid auf der nackten Haut, warf sich sogar vor die Räder eines Jeeps und schrie, sie würde sich nur vom Fleck rühren, wenn man sie mit in die Kaserne nehme. «Wer ist das, die da?» frage Masson wütend. «Houria», sagte Azzedine im Rücken seines Chefs. «Miststück von Houria!» rief Forbach, vor Rachsucht rot an gelaufen, weil er gelernt hatte, daß «Houria» ein Synonym von «Istiqlal», Unabhängigkeit, ist. Der Jeep setzte zurück, um ihr auszuweichen, und Houria schloß sich völlig gebrochen mit den anderen Mädchen im Bordell ein. «Ich möchte nicht an ihrer Stelle sein», sagte Masson, «wenn die Partisanen ihnen auf den Pelz rücken.» In der folgenden Nacht lösten Widerstandskämpfer die Fran zosen in der Umgebung des Bordells ab. Die Partisanen be schränkten sich aber darauf, die übriggebliebenen Frauen, die Araberinnen, unter Zwangsverwaltung zu stellen, ohne sie an zurühren. Die Französinnen waren abgereist. Die Einnahme des Freudenhauses wurde vom Dorf wie ein erster Sieg be grüßt, den jeder und vor allem jede auf eigene Weise kommen tierte. «Wenn die Mudschaheddins sie nicht sofort umgebracht ha ben, dann nur, weil sie sie uns nackt und kahlgeschoren vorfüh 105
ren wollen, diese Schlampen, die die französischen Soldaten so reichlich bedient haben!» sagten die Männer zustimmend. «Vorbei die schönen Zeiten, der Schmuck, die feinen Klei der!» triumphierten die Frauen. «Vorbei mit dem Geld, das sie ihrer Mutter geben konnten. Auch sie, die Mütter, müßten be straft werden!» Das Schicksal, das den arabischen Nutten vorbehalten war, rief auch solche Kommentare hervor: «Mit dem Messer von der Fotze bis zum Nabel aufschlitzen», schlug ein Bürschchen vor, «und zwar alle!» «Denen muß die Möse ganz schön gejuckt haben, daß sie den Feind rangelassen haben! Dabei hätten wir die Sache genauso gut erledigt!» urteilte ein anderer, der auf seinem Maultier saß. «Oder sie haben es ge macht, weil sie das Elend nicht mehr aushalten konnten!» «Wir haben das Elend schließlich auch ausgehalten!» erinner te ein Alter. Andere redeten davon, in den Puff einzudringen und die fünf Frauen, um die sich keiner mehr kümmerte, kaltzumachen, was den wachhabenden Partisanen vor der Tür veranlaßte, jedem, der sich näherte, eine Kugel anzudrohen, Befehl vom Wider stand. Da zerstreuten sich alle. Die Frauen blieben lange Tage, lange Nächte ohne Ausgang. Das Dorf vergaß sie schließlich. Als einziges Lebenszeichen war von Zeit zu Zeit abends, wenn es kühler wurde, gedämpft die Musik einer Platte zu hören, die sie sich auflegten, immer die gleiche: die Piaf und ihr Non, je ne regrette rien. Das letzte Wort hatte das Feuer. Eines Nachts stürzte das Bordell bren nend über den fünf Unglücklichen zusammen. «Sie haben sie bei lebendigem Leibe verbrannt!» sagte die eine Hälfte der Dorfbewohner. «Nein», antwortete die andere, «bestimmt haben sie sich in gegenseitigem Einvernehmen selbst umgebracht.»
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Die Harkis verließen die Kaserne nicht mehr. Zwei Leicht sinnige, die sich in ihr Zeltdorf gewagt hatten, waren gelyncht worden. Jetzt kamen die Familien in die Kaserne, um Neues zu erfahren und vor allem, um zu bereden, wie man am besten das Exil vorbereiten konnte. Der Letzte, der sich allein ins Dorf traute, war Chaouch. Nachts, um seine Mätressen zu befriedigen. Er sagte: «Der Krieg ist nicht zu Ende, sie haben immer noch Angst vor mir.» «Sie», die Dorfbewohner. Azzedine und Perez hatten alles versucht, ihn davon abzuhalten. «Ich, meine Besten, kann nicht länger als drei Tage mit ’ner Latte rumlaufen!» sagte er zu ihnen. Dabei hatte man eine Woche vorher eine seiner Mätressen, Zohra, tot vor der Kasernenmauer gefunden. Sie war Witwe, Mutter von zwei Kindern, und Chaouch besuchte sie nachts in ihrem Häuschen am Ufer des Wadi. Alles, was ihm beim An blick ihrer Leiche einfiel, war: «Da spar’ ich das Geld, das ich ihr gegeben habe, damit sie ihren beiden Küken den Schnabel stopfen konnte. Aber wenn die Partisanen sämtliche Weiber umbringen wollen, mit denen ich gevögelt habe, bleibt ihnen bald nur noch die eigene Mut ter.» An jenem Abend war Chaouch selbstzufrieden über die Mau er geklettert. Seine einzige Vorsichtsmaßnahme bestand darin, einen Burnus anzuziehen. «Ich, meine Besten, ich hab’ Schneid!» schrie er noch von der Mauer herab. Und das war der letzte Satz, den Azzedine aus seinem Munde vernahm. Am nächsten Tag schlug die Ordonnanz Alarm. Alle Soldaten gingen hinter der Mauer in Stellung. Die Dorf bewohner, die näherkamen, konnten von außen nur ihre Helme und die Gewehre sehen, die auf sie gerichtet waren. Sie rückten in Reih und Glied vor, schweigend, gesammelt und mit langsamen Schritten. Von seinem erhöhten Platz rief 107
Masson seinen Männern zu: «Macht keine Dummheiten, Jungs, sie sind nicht bewaffnet!» Es waren Hunderte von Bauern. Das ganze Dorf, Männer, Frauen, Kinder. In der ersten Reihe des Zuges marschierte ein bärtiger Mann mit Turban, grauer Pluderhose und nacktem Oberkörper. Er führte ein Pferd, das an einen Karren ange schirrt war. Als die Soldaten dies bemerkten, senkten sie die Gewehre und sahen sich an. Der Karren kam vor dem Kaser nentor zum Stehen. Da erkannten alle Soldaten, daß Chaouch darauf lag, von Messerstichen durchbohrt. Sie standen auf und hefteten ihre Blicke auf Masson, als ob sie den Befehl hören wollten, in die Menge zu schießen. Mit einer Bewegung der flachen Hand befahl Masson Ruhe. Neben Chaouchs Leiche auf dem Karren lag die einer jungen Frau. Sie war fast noch ein Mädchen. Auf der rechten Seite verbargen ihre schwarzen Haa re eine Wunde unter ihrem Kinn, aber das Blut war reichlich über ihr himmelblaues Nachthemd geflossen. Ihr Vater, der Mann, der die Karre führte, kippte Chaouchs Leiche in den Staub. Dann beugte er sich über seine Tochter und sagte schluchzend: «Ich habe meine eigene Tochter getötet, weil sie ihr Land mit diesem Teufel entehrt hat…» Er zeigte Chaouch der Menge. Chaouch, den eine Fliege aufwecken zu wollen schien, indem sie ihn an der Nase kitzel te. «… diesem Teufel, der uns jahrelang erniedrigt und beleidigt hat, der uns Angst und Haß gebracht hat!» «Weine nicht länger, alter Mann!» sagte eine Frauenstimme in der Menge. «Du hast für viele von uns Rache genommen und viele Wunden geschlossen. Gott segne dich!» Der Vater nahm das Pferd wieder bei den Zügeln und alle kehrten ins Dorf zurück, um das junge Mädchen zu begraben. Masson ordnete an, die sterblichen Überreste Chaouchs herein zuholen. Forbach sagte zu Azzedine: «Man kann nicht sagen, daß er gelitten hat, der Idiot! Er ist 108
gestorben, während er seine Nummer schob.» «Die Trompete» schmetterte ihr letztes Totensignal, diesmal für Chaouch. Man beerdigte ihn hinter der Kaserne neben an deren Harkis. Azzedine bestand darauf, daß die Totengräber ihn mit dem Kopf in Richtung Mekka betteten, und Lanson bekam noch einen Wutanfall, als die Harkis ihn daran hinder ten, ein Holzkreuz, das er ungeschickt zurechtgebastelt hatte, zu Füßen des Grabes anzubringen. «Ich habe dir doch oft genug gesagt, daß wir Araber kein Kreuz wollen!» erinnerte ihn Boussetta. «Weil ihr Barbaren seid!» murrte der Blonde mit dem Bür stenhaarschnitt. «Bei dem Wind ist in einem Monat keine Spur mehr vom Grab übrig, und jeder trampelt über Chaouch hin weg.» Am gleichen Abend ritt eine Araberin, deren Gesicht unter dem Haïk nicht zu erkennen war, auf einem Esel zum Friedhof. Vor Chaouchs Grab fing der Esel an zu schreien. Spürte er die Anwesenheit seines ehemaligen Herrn? Die Frau schlug ihren Schleier zurück und begann, den Harki auszugraben. Der Wachtposten alarmierte Masson. Der Chef ließ sich von Azze dine begleiten, damit er mit der moslemischen Frau sprechen konnte. Sie blieben vor der Frau stehen, die am Grab kniete und mit den hohlen Händen die Erde wegkratzte, die den toten Chaouch bedeckte. Als sie die beiden bemerkte, sagte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen: «Er ist mein Bruder, und ich bin gekommen, um ihn zu ho len.» Ihre Stimme klang nicht traurig, aber sie hatte auch keine Zeit, den Kopf zu heben. Sie machte sich eifrig zu schaffen, als ob anderswo andere auf sie warteten und ihre Zeit knapp wäre. «Wir werden Ihnen helfen», sagte Masson. Azzedine ging Schaufeln holen. Zusammen mit Boussetta hatte er Chaouch rasch ausgegraben und legte die Leiche auf 109
den Esel. Aber die junge Frau lehnte die Armeedecke ab, die sie ihr anboten. «Ich werde meinen Bruder mit dem Haïk zudecken und mit bloßem Kopf durch das ganze Dorf gehen, damit jeder sieht, daß ich mich nicht schäme, den gleichen Namen zu tragen.» Sie musterte Azzedine und entschleierte sich. «Die Leute werden mich geschminkt und schön sehen», sagte sie immer noch genauso gelassen. Sie hatte ihre dunklen Augen mit einem Kajalstrich auf den Lidern betont, Zahnfleisch und Lippen mit Souak gepflegt. Ihre Haare waren mit Henna gefärbt. «Du bist schön, und du bist stark!» sagte der einfältige Bous setta leise und schüchtern. Hörte sie ihn? Sie sah nur die Leiche ihres Bruders auf dem Eselsrücken an. «Ich habe immer gewußt, daß er jung sterben würde. Er liebte das Leben nicht», sagte sie, während sie ihn mit ihrem Haïk bedeckte. «Unser Vater hat ihn nicht gemocht; er hat Chaouch nie beachten wollen, weil er zu früh geboren wurde. Er hatte unsere Mutter in Verdacht, ihn betrogen zu haben. So kann ein Leben durch Hochmut zerstört werden.» Sie zog den Esel auf den Weg zum Dorf. «Mein Vater ist 1935 gleich nach seiner Heirat nach Frank reich ausgewandert», fuhr sie fort. «Aber er kam alle zwei Jah re auf Urlaub. Im August. Daher sind wir alle im Mai geboren, nur der arme Chaouch nicht. Er konnte schon damals nicht ab warten: Er ist zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen. Da wollte mein Vater, Friede seiner Seele, ihn nicht anerkennen und unsere Mutter verstoßen. Zum Glück ist er schließlich dem Rat des Imam gefolgt und zu uns zurückgekehrt.» Boussetta und Azzedine begleiteten die junge Frau auf dem geteerten Weg. «Aber der Zweifel hatte sich so stark bei ihm eingenistet, daß auch unsere Mutter anfing, Chaouch böse zu sein. Sie gab ihm die Schuld daran, daß sie die Liebe ihres Mannes verloren hat 110
te. Sie behandelte ihn schlechter als uns, seine Geschwister. Er fühlte sich wie ein Eindringling. Mit dreizehn Jahren hat er sich lieber woanders umgesehen: in der Stadt. Er hat gesagt: ‹Ich mache mir keine Sorgen. Ich lasse keinen im Kummer zurück, wenn ich sterbe. Niemand weiß, daß es mich gibt›.» Obwohl ihre Wangen inzwischen schwarz von Kajal waren, weil sie so weinte, lag ihr noch daran zu sagen: «Die Nachricht von seinem Tod hat keine drei Stunden ge braucht, um zu uns auf den anderen Hügel zu gelangen. Aus Aïn-Safia ist sie uns vom Minarett der Moschee herab verkün det worden. Das bedeutet, daß alle froh darüber waren!… Oh, wie ich ihnen das verüble! Allen, allen!» Da weinte Boussetta auch. Er sagte zu ihr: «Nimm mich mit!» Aber wie hätte sie begreifen sollen, daß er, ein armer Simpel, wie ein Kind war, das mit seiner Mama redet? Sie entfernte sich mit ihrem Esel und dem toten Chaouch, der hin und her schaukelte. Die beiden Soldaten kehrten in die Kaserne zurück. Plötzlich blieb Boussetta abrupt stehen, eine Erleuchtung hat te ihn heimgesucht: «Und ich dämlicher Tölpel habe ihr nicht angeboten, sie zu heiraten!» Er wollte ihr nachlaufen. Azzedine hatte die größte Mühe, ihn daran zu hindern. «Glaubst du, sie kommt wieder?» Ohne zu antworten, nahm Azzedine seinen Freund in die Arme und drückte ihn heftig.
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Jetzt gehörten nur noch sie beide zu den arabischen Freiwilli gen, die über den gleichen Zeitraum gedient hatten. Chaouch war tot, aber auch Naïm. Naïm als erster, ein halbes Jahr zuvor. Ohne die Befriedigung, seinen Vater gerächt zu haben. Den noch war es kein Fehler gewesen, daß er sich dafür eingesetzt hatte! Seine beiden Jahre als Soldat hatte er nur mit einem ein zigen Gedanken im Kopf verbracht: Bachir-Tani zu töten. Es gab keinen, der dem Rebellen fanatischer nachgestellt hätte. Er war bei jeder Patrouille, jeder Razzia, jedem Zusammenstoß im Gelände dabei. Und er führte die Arbeit im Hause zu Ende: in der Zelle. Nachdem Perez und Chaouch an Antar gescheitert waren, der starb, bevor sie ihn zum Sprechen bringen konnten, hatte Naïm Masson vorgeschlagen, die Partisanen oder die als solche Verdächtigten, die seine Männer in der Folgezeit hier und da erwischten, ihm zu überlassen. Er prahlte damit, daß er so seine eigenen Vorstellungen über die Art habe, sie zum Re den zu bringen. Und tatsächlich redeten viele Gefangene, ohne daß er sie groß hätte schlagen müssen. Naïms Geheimnis be stand darin, ihnen Vergeltungsmaßnahmen an ihrer Familie anzudrohen. «Zuerst deine Frau, und wenn du dann die Klappe nicht auf machst, alter Freund, schlepp’ ich dir deine Tochter hier in die Kaserne und wir nehmen sie uns vor deinen Augen einer nach dem anderen vor, ich und alle meine Kumpels.» Dann brachen die Leute zusammen. Sie wußten, daß er zu al lem fähig war. Was ihnen am meisten angst machte bei Naïm, war sein Blick, der Blick eines zum Tode Verurteilten. Ganz offensichtlich würde er nichts und niemanden verschonen. Ei 112
nem unverheirateten Mudschaheddin, der furchtlos war und mit Auskünften geizte, brachte er die Schwester in die Zelle: «Wenn du mir in einer Minute nicht gesagt hast, wo sich Bachir-Tani versteckt, leg’ ich sie hier vor dir aufs Kreuz!» Und der Gefangene verriet Bachir-Tanis Versteck. Nur daß Bachir-Tani nicht nur ein Versteck hatte; er wechselte sie stän dig, und alles, was man am angegebenen Ort fand, waren auf geschlitzte Konservendosen und leere Zigarettenschachteln. Aber es kam auch vor, daß die Soldaten nach Aussagen, die sie einem Gefolterten entrissen hatten, Partisanen in ihrem Ver steck überraschten, und daraus ergaben sich Auseinanderset zungen, die oft lange dauerten; die Bevölkerung der gesamten Umgebung rannte herbei, betete, weinte, klagte Gottes Gerech tigkeit ein, denn nur sehr wenige hatten keinen Sohn oder Nef fen oder Cousin unter den Mudschaheddins. Häufig warfen Kinder Steine nach den französischen Fahrzeugen, und die Soldaten mußten in die Luft schießen, um die Zivilisten beisei te zu drängen. Die Schießerei hörte erst auf, wenn bei den Par tisanen die Munition knapp wurde. Aber Masson rückte nicht näher, weil er aus Erfahrung wußte, daß sie immer zwei Patro nen zurückbehielten, die eine für den ersten Harki, der sich zeigen würde, die andere, um sich selber abzuknallen. Masson verlegte sich auf den Granatenbeschuß, so lange, bis der Bau ernhof, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, über den Wider standskämpfern explodierte. Dann befahl er, ihre Leichen vor den Frauen, die sich die Hände zerbissen, und den Männern, die mit den Zähnen knirschten, auf die Lastwagen zu werfen. Man durfte den Dorfbewohnern keine Märtyrer hinterlassen, sie hätten sie als Vorbilder hingestellt. Und einen Friedhof an gelegt. Naïm hätte alles dafür gegeben, in einer dieser Leichen, für die man ständig neue Massengräber schaufeln mußte, BachirTani zu erkennen. Aber jedesmal Fehlanzeige! Nach einiger Zeit kamen ihm sogar Zweifel, Bachir-Tani in dieser Region schnappen zu können. Er bat darum, nach Westen in das Gebiet 113
um Oran versetzt zu werden, weil er sich größere Chancen ver sprach, ihn dort zu finden. Masson war dagegen: Er wollte den mutigsten seiner Harkis nicht ziehen lassen. Während der Patrouille umkreiste Naïm die Felsen wie ein Hund, der eine Ecke zum Pinkeln sucht. Man hätte meinen können, daß er den Rebellen witterte, daß er seine Spur aufge nommen hatte. Auf diese Weise konnte er lange im Zickzack kurs unterwegs sein, bis er von Masson zur Ordnung gerufen wurde. Der haßte es nämlich, wenn man sich zerstreute. Der Oberleutnant sagte zu Azzedine: «Geh ihm nach, sonst verlieren wir ihn.» Und Azzedine folgte Naïm mit der Waffe in der Faust, um ihn zu schützen. Überhaupt nicht mehr einverstanden war Naïm, wenn Masson das Signal zum Rückzug in die Kaserne gab. «Aber, Chef», sagte er zu ihm, «das ist eine prima Spur, die ich da habe! Sieh mal, Chef, die Schritte gehen in Richtung Süden zu den Ouassinis. Garantiert gibt’s da unten Möglichkei ten, sich zu verstecken, Chef!» «Gar nichts gibt’s da, wir waren vor drei Tagen da.» Azzedine nahm Naïm beim Arm und drängte ihn rasch zum Jeep. Aber manchmal weigerte sich Naïm rundweg und ging allein los; die Augen auf den Boden geheftet, hob er verrostete Gegenstände auf, leere Patronen!, schlich sich über Feldwege, die mit hohem Gras bewachsen waren, verlor sich in Höhlen am Rande der Klippen. Es machte ihn wütend, wenn er unver richteterdinge zurückkam. Eines Abends sah er klar und deutlich etwas hinter einem Felsen. «Haste gesehen?» fragte er Azzedine, der ihm wie immer auf zehn Schritt folgte. «Wo?» «Da oben hinter dem Felsen.» «Hinter welchem? Es gibt ziemlich viele.» «Der da, der auf die Stadt runterkotzt und unten ganz schwarz 114
ist.» «Da ist nichts. Du spinnst!» «Und ich sag’ dir, daß ich da was glänzen sehen hab’, was sehr gut ein Gewehrlauf sein könnte!» Und Naïm rannte auf den besagten Hügel zu. «Komm zurück», schrie Azzedine, «bist du bescheuert, oder was? Der Chef wird dir was erzählen!» Aber Naïm war schon beim Aufstieg. «Wo will der Blödmann hin?» rief Masson. «Er hört einfach nicht, Chef!» beklagte sich Azzedine. «Ich werde ihn holen!» «Nein», sagte Masson, «ich verbiete es dir. Wenn er die Schnauze voll hat, kommt er schon zurück. Ich geh erst mal ’ne Stange Wasser in die Ecke stellen.» Alle folgten Naïm mit den Blicken, bis er nur noch ein klei ner Khakipunkt ganz oben am Gipfel war. Den Schwanz in der Hand, brüllte Masson: «Komm da runter, du Idiot!» Naïm antwortete mit einem Schrei: «Bachir-Tam!» Bachir-Tani, erklang das Echo, einmal, zweimal… «Bachir-Tani, verdammter Hundesohn, zeig dich, wenn du ein Mann bist!» rief Naïm wieder, den Rücken der Patrouille zugewandt. So klein er da oben auch wirkte, man ahnte, daß er mit den Füßen aufstampfte. Die Arme ausgebreitet, das Gewehr zum Himmel gereckt, kreischte er mit versagender Stimme: «Du Schschscheißbachirrr, komm raus, wenn du Schneid hast!» Und das Echo sandte es höflich in die ganze Region. Masson wurde nervös: «Der sieht so bald kein Tageslicht wieder, den loch’ ich ein, wenn wir zurück sind, und wie!» «Du kommst da runter, du Idiot!» brüllte jetzt Forbach. 115
Naïm drehte sich um und rief Masson zu: «Hörst du mich, Chef? Sie sind hier! Sie wollen uns heraus fordern, Chef! Ich sage dir, es ist Bachir mit seinen Männern!» Und dann lachte er aufgeregt. Masson sagte: «Der spinnt, der Idiot!» Azzedine ging auf den Hügel zu, aber der Chef rief ihn zu rück: «Bleib, wo du bist, oder ich steck’ dich mit ihm zusammen ms Loch!» «Ich hole ihn», sagte Azzedine. «Nein!» explodierte Masson. Oben auf dem Gipfel stieß Naïm ein Freudengeheul aus. Er forderte Masson nochmals auf: «Hört ihr, Bachir-Tani hat mich gerufen, Chef! Paßt auf, das Schwein Bachir-Tani ruft nach mir!» «Habt ihr was gehört?» fragte Masson seine Männer. «Nein, Chef», antwortete Perez. «Ich auch nicht», sagte Forbach, «der ist schon bescheuert zur Welt gekommen, der Naïm. Meinen Sie nicht, wir sollten ihn holen?» Masson kam nicht dazu, sich zu äußern. «Ich komme, Bachir!» schrie Naïm und verschwand auf der anderen Seite. Azzedine bat erneut darum, ihn holen zu dürfen. «Ich habe nein gesagt!» Masson sah seine Männer an, er wirkte ganz schön verärgert. Ein paar Sekunden später trug das Echo einen Feuerstoß her über, und Masson richtete sich in seinem Sitz auf. Die anderen hatten Angst vor der Stille, die folgte. Sie beobachteten sich gegenseitig. Jeder wartete auf einen Befehl vom Chef. Nichts. Er brüllte: «Hört auf, mich wie Trottel anzustarren!» Ohne irgend jemanden zu fragen, stürzte Azzedine auf den Hügel zu. 116
«Schön», sagte Masson endlich, «sehen wir nach!» Was sie entdeckten, als sie außer Atem den Gipfel erreichten, war Azzedine, der auf halber Höhe des Hangs bemüht war, Naïms Kopf zwischen zwei Kakteen zu befreien. Naïm war von einer Kugel in der Kehle getötet worden, aber er hatte eine riesige Wunde im Unterleib und seine Eier im Mund. Und ringsherum bis zum Horizont niemand, keine Spur von Partisanen. Nichts. Stille.
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März 1962. Die Abreise stand bevor. Im ganzen Dorf gab es keinen französischen Zivilisten mehr. Hintereinander waren sie über die Straße nach Oran dem Schiff nach Frankreich entgegengezogen, hatten Häuser, Geschäfte, alles zurückgelassen. Auch Masson erhielt den Evakuierungsbefehl. Er verständig te die Harkis, die sich beeilten, Frauen und Kinder zur Kaserne kommen zu lassen. Vor der Auswanderung kümmerte sich die Armee um sie. Zu beiden Seiten der Straße, die zur Kaserne führte, bildeten die Dorfbewohner Spalier für die Harki-Familien, die mit Bün deln auf dem Kopf eintrafen. Den Frauen riefen sie zu: «Du hast deinen Nutzen davon gehabt, jetzt mußt du zahlen!» Und die Kinder mußten sich an den Haïk ihrer Mutter pres sen, um den Steinen auszuweichen, die gleichaltrige Sprößlin ge nach ihnen warfen. Die Frauen aus dem Dorf sangen und klatschten in die Hände, verspotteten die zukünftigen Exilan ten. Meriem kam in Begleitung ihrer Schwiegermutter. Ihr wurde der gleiche Empfang zuteil. Die letzte geteerte Gerade vor dem Kasernentor erschien ihr lang, sehr lang, so heftig be schimpfte und bespie man sie. Eine besonders erregte Frau versuchte sogar, ihr den Schleier herunterzureißen, um sich an ihren Namen zu erinnern. Zum Glück gelang es ihrer Schwie germutter, die Rasende zurückzustoßen, wobei sie selbst eben falls ein paar Beschimpfungen hinter sich austeilte. Meriem hatte einen braunen Koffer bei sich. In der Kaserne brachte Azzedine sie und seine Mutter ins Ka sino, wo sich die Familien schon drängten. 118
Er drückte seine Mutter heftig an sich. Sie küßte ihn und sag te: «Du weißt, ich kenne die Araber: In spätestens einem Jahr kannst du wiederkommen, dann haben sie alles vergessen!» Ihrer selbst sicher, tätschelte sie ihm die Schulter. Azzedine nickte, stimmte zu, um ihr eine Freude zu machen. «Bis dahin, inch’Allah, paß gut auf dich und deine Frau auf.» Und die Mutter verließ die Kaserne. Die eifrige Zuversicht, die sie gerade verbreitet hatte, ließ ihr Gesicht richtig heiter aussehen. Die Kinder spielten unbekümmert im Kasino. Die Mütter schwiegen. Sie vermieden es, einander anzusehen, als ob jede fürchtete, die eigene Angst und Scham auf dem Gesicht der anderen zu entdecken. Manche waren schon älter und hatten viele Kinder. Andere waren ganz jung, allein oder mit einem Baby, das die Brust haben wollte. Nur eine freute sich auf das Exil. Sie war sehr jung, hatte sich als Frau eines Harkis ausgegeben und war zu ihrem Bruder in die Kaserne gekommen mit dem einzigen Ziel, der von ihren Eltern eingefädelten Heirat mit einem umherziehenden alten Zigarettenhändler zu entkommen. Die Eltern und der zukünfti ge Gatte, ein kleiner Dicker mit einem Fez auf dem Kopf, for derten den Wachtposten auf, sie herauszugeben. Aber die Klei ne klammerte sich an ihren Harki-Bruder, und Masson vertrieb die Eindringlinge mit Zustimmung all seiner Leute. «Wenigstens eine, die die Partisanen nicht vögeln werden!» sagte Perez und musterte die Flüchtige. Der wandernde Händler verhehlte nicht, daß er sich an die El tern halten und die Mitgift, die Kleider, das goldene Armband zurückverlangen würde… Viele Harkis warteten allerdings vergeblich auf ihre Frauen und Kinder. Man konnte leicht erkennen, daß diese Vergesse nen als letzte auf die Lastwagen steigen würden. Andere jedoch wollten sich nicht damit abfinden, allein abzureisen. Zu ihnen gehörte auch Moussa, etwas älter als Azzedine, mit kahl ge 119
schorenem Schädel und einem Bart, um sein Doppelkinn zu verbergen. Außerdem hatte er riesige Pfoten mit abgekauten Fingernägeln. «Ich werde mir meine Frau holen», verkündete er Azzedine. «Ihre Eltern haben sie eingesperrt, damit sie mir nicht folgen kann. Und wenn sie nichts mehr von mir wissen will, dann will ich wenigstens meine Tochter haben.» Mit geschultertem Gewehr hastete er zu seinem Dorf. Er mußte sich beeilen, wenn er vor der Abfahrt der Lastwagen, die für den folgenden Tag festgesetzt war, zurück sein wollte. Er marschierte die halbe Nacht lang und wich den trostlosen Ne stern im Dschebel sorgfältig aus. Aber der Mond war zu hell, und als er fast angekommen war, hatten die Bauern im Hand umdrehen den Namen für diese Gestalt heraus, deren Unruhe sich im übrigen leicht erraten ließ: Moussa drehte sich dauernd um. Es fielen zwei Feuerstöße. Beim ersten stürzte er auf die Knie, und sein linkes Bein gab nach, als er sich wieder aufrich ten wollte. Der zweite ließ ihn mit baumelnden Armen und einem Schmerz zurück, der ihm die Brust zerriß. Moussa war lange unterwegs gewesen. Sein Körper war erhitzt. Das wurde ihm bewußt, als eine eiskalte Flüssigkeit ihm langsam bis zur Taille sickerte. Er wollte nicht wissen, ob es Blut war, und er wollte nicht wissen, woher die Kugeln gekommen waren, die ihn getroffen hatten. Er zitterte am ganzen Leibe. Die Bauern hinter den Steinwänden beobachteten Moussa, der im Mond licht schwankte. Man hätte meinen können, daß er betete, zu mal er zufällig in Richtung Mekka kniete. Sein Gewehr rutsch te ihm von der Schulter und fiel zu Boden. Moussa wußte, daß die Bauern ihn belauerten. Er wehrte sich, wollte nicht zusam menbrechen. Er hätte den Tod noch hinausschieben können, wenn nicht ein unerträglicher Schrei aufgestiegen wäre. Ein herzzerreißender Ruf, der sich über alle Hütten erhob. Der Ruf eines kleinen Mädchens, Moussas eigener Tochter: «Papa! Papa!» Dieser Ruf verschaffte ihm eine Freude, die ihn erledigte. Er 120
gab nach. Er ließ sich fallen. Eine Hand hielt dem kleinen Mädchen den Mund zu. Die Hunde bellten.
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Viele Harkiwohnungen, ob in der Stadt oder auf dem Land, waren von einem neu gebildeten algerischen Säuberungskorps umstellt worden. Diese Leute, Freiwillige der letzten Stunde, warteten, daß die Harkis ihre Familie holen kamen, und brach ten sie dann entweder um oder, was am häufigsten geschah, forderten Lösegeld. Wer von diesen Harkis hätte nicht all sein Hab und Gut dem neuen Korps gegeben, damit es ihn und die Seinen bis zur marokkanischen Grenze begleitete? Danach mußten sich die Emigranten allein durchschlagen, um auf die andere Seite der Grenze zu gelangen. Dort wurden ganze Familien von Erpressern hingemordet, die befürchteten, sie könnten eines Tages von einem der Angehörigen, der in die Heimat zurückkam, denunziert werden. Dann ging man dazu über, Zivilisten, die als Feuerwehrmann oder Briefträger oder Arbeiter bei der Müllabfuhr beschäftigt gewesen waren, «Har kis» zu taufen und zur Zielscheibe zu machen. Überall wurden Leichen gefunden, im Wadi, unter den Brücken, an Orten, die als Versteck gedient hatten. Es hatte die Stolzen gegeben: die Partisanen und die Harkis. Jetzt war die Stunde der Raffgierigen da. Der Krieg war zu Ende. Es war ein schöner Sonntagmorgen. Die Kasernentore waren weit geöffnet, und man hörte nur das stetige Brummen von Motoren. Jeder Lastwagen stand bereit, auf Massons Befehl hin loszufahren. An der Spitze hatte sich Masson in seinem Jeep aufgerichtet und sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. In den Fahrzeugen, die mit Planen überdeckt waren, drängten 122
sich die Frauen der Harkis und warteten brav wie Schüler auf den Klassenbänken. Auf einem anderen Lastwagen sorgten sich ihre Männer bei dem Gedanken an die lange Strecke nach Oran durch all die vielen Dörfer, in denen man bestimmt schon auf sie wartete. «Was macht der denn noch?» brüllte Masson. «Ich hole ihn, Chef!» sagte Lanson und sprang vom Jeep. Der Blonde mit dem Bürstenhaarschnitt rannte zu den Latri nen, um Perez zu holen, der im letzten Moment darum gebeten hatte, sich noch schnell die Blase erleichtern zu dürfen. Lanson ging an den Duschen vorbei und stieß die Tür zu jedem Wasch raum auf, ohne den Spanier zu finden. Auf dem Weg zur Waschküche ebenfalls kein Perez. Da ging der Blonde zu dem Gebäude, das zugleich die Krankenstation und die Zellen be herbergte. Er fand ihn nicht in der Krankenstation, er fand ihn in einer Zelle. Erhängt. In der gleichen Zelle, in der Chaouch und Perez Antar zu Tode gefoltert hatten. Der junge Lanson hatte Angst, denn der Erhängte lächelte. Starr vor Entsetzen rannte er zu den Lastwagen. «Und?» brüllte Masson. «Er will nicht kommen!» antwortete Lanson. «Warum nicht?» «Er hat bloß gesagt, er will Boussetta und die Kaserne mit all der zurückgelassenen Munition nicht den Partisanen überlas sen, Chef. Er hat gesagt, ich soll Ihnen sagen, daß er sich bis zu seiner vorletzten Patrone verteidigen wird.» «Wie er meint», sagte Masson abschließend, «wir verziehen uns jedenfalls!» Er hob den Arm, und der Konvoi setzte sich in Bewegung. Boussetta hatte sich tatsächlich geweigert zu emigrieren. Als er in den vier hohen Wänden der Kaserne allein war, wartete er, bis sich der Qualm des letzten Lastwagens gelegt hatte, und schloß alle Tore der Garnison. Dann fiel ihm ein, daß er Lan son hatte sagen hören, auch Perez wolle bleiben. Er machte sich auf die Suche nach ihm, aber seine Neugierde reichte nur 123
bis zum Kasino. Er setzte sich auf eine Bank, holte ein Bündel Scheine aus seiner Tasche und fing an, die Lappen zu zählen. Er war glücklich! Am Vortag hatte er Massons Büro belagert, um seinen Zaster einzufordern. «Was willst du damit anfangen, du armer Irrer, wenn du nicht mit uns kommen willst?» «Das geht dich nichts an, Chef! Ich will meinen Sold für drei Jahre Militärdienst!» Masson mußte eine Sammlung veranstalten, und jeder Soldat steuerte ein paar Scheine bei. Boussettas letzter Satz hatte Azzedine gegolten, kurz bevor der Konvoi startete: «Dir kann ich es ja sagen: Ich werde bald heiraten, ich habe alles, was man dazu braucht.» «Du hast es wirklich verdient», hatte Azzedine geantwortet. Und hätte beinahe geheult. Auf der Straße nach Oran hatte sich die Bevölkerung ver sammelt. Wie zu befürchten war, empfing sie den Konvoi mit Beschimpfungen und Steinwürfen. Masson, der die Spitze bil dete, mußte seinen Fahrer zusammenstauchen, weil der in der immer dichteren Menge von panischer Angst erfaßt wurde. Auch die Bauern aus dem Dschebel waren nämlich in Massen gekommen, um den Harkis ein letztes Mal ihre Verachtung zu zeigen. Diese saßen im ersten Lastwagen, gleich hinter Mas sons Jeep. Sie hörten, wie das Volk ihren Kopf verlangte. Das Gewehr zwischen den Knien, die Hände am Lauf, hockten sie da mit gesenktem Haupt. Sie wußten sehr genau, was sie verlo ren, aber überhaupt nicht, was sie erwartete. Die meisten waren nie über diese Gegend hinaus gelangt, und nun Frankreich… Ein improvisierter Chor lauerte auf dem Marktplatz auf ihre Ankunft. Bewaffnete junge Zivilisten in Habtachtstellung stimmten mit erhobener Faust die algerische Nationalhymne an. Masson salutierte militärisch, die Hand am Käppi. 124
Endlich wurde die Straße breiter. Der Konvoi beschleunigte, und bald konnten die Soldaten die hintere Plane ihres Lastwa gens hochziehen. Und die wiedereingekehrte Helligkeit brachte an den Tag, daß viele von ihnen weinten. Nie waren so viele Leute über das Pflaster im Hafen von Oran gestampft. Die Unabhängigkeit verjagte die Franzosen aus Algerien, dem Land, in dem die meisten von ihnen geboren waren. Gewimmel überall. Schwarz die Kais, die Gesichter, die Kleider. In Trauer gehüllt. Keiner konnte sprechen ohne Trä nen in der Stimme. Niemand drehte sich um, sie hatten nur das eine Ziel: die Gangway des ersten Schiffes zu erreichen und sich dann in ihr Unglück zurückzuziehen. Dicke Rauchwolken stiegen rings um den Hafen auf: Die Kolonisten, die mit dem Auto oder im Lastwagen gekommen waren, hatten ihre Fahr zeuge angezündet, um sie nicht den Arabern zu überlassen. Aber dieses engstirnige Verhalten amüsierte die Araber eher. Die Feuerwehrleute wußten inzwischen nicht mehr, worauf sie den Schlauch zuerst richten sollten. Leute mit Koffern auf dem Kopf, Bündeln über dem Arm, Taschen auf dem Rücken, Kin dern auf den Schultern, alles drängelte sich wild! Alles ging fort, ohne groß zu wissen, wohin. Eine Frau in den Fünfzigern, von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, hatte es vorgezogen, sich auf ihren Koffer zu setzen und sich richtig auszuweinen. Sie sagte immer wieder: «Wohin bloß, wohin, mein Gott?» Ihre Schwiegertochter weinte ebenfalls. Sie hatte ein Kind auf dem einen Arm, zog mit der freien Hand an ihrem Kleid und antwortete: «Ich weiß es nicht, Schwiegermama, aber bitte gehen Sie doch weiter, sonst verlieren wir Sie noch!» «Dann verliert mich lieber da, wo ich mich auskenne!» Dem Nervenzusammenbruch nahe, rief die Schwiegertochter: «Jean-Michel, Jean-Michel!» Ihr Mann, der schon weit vorn stand, drehte sich zornig um: 125
«Was ist denn los?» «Deine Mutter will nicht weitergehen. Und ich kann nicht mehr!» «Mama! Also wirklich…» Mehr sagte Jean-Michel nicht. Sein Schamgefühl hinderte ihn daran: Zu groß war seine Erschütterung, er wollte sie nicht zei gen. Ein alter Kolonist war mit einem Karren eingetroffen. Das Gewehr über der Schulter, lud er sein Gepäck auf dem Kai ab. Er half seiner Frau, die eine Marienstatue in den Armen hielt, beim Aussteigen. Dann befreite er das Pferd von seinen Gurten und tätschelte ihm zärtlich den Hals. «Töte es nicht, Isidore!» flehte seine Frau. Aber der Kolonist wollte sein Pferd nicht den Arabern über lassen. Er hatte sein Gewehr schon in Anschlag gebracht. «Odysseus, mein braver Odysseus!» jammerte die Frau und stellte sich zwischen Gewehr und Tier. Ihr Mann war bleich. Er wirkte kalt und gefühllos, aber seine Hände zitterten. Da führte sie das Pferd zum Hafenausgang und ließ es laufen. Der Kolonist gab keinen Laut von sich. Das Pferd trottete allein auf den heimatlichen Hof zu. Die Frau kniete nieder und gab der algerischen Erde einen letzten Abschiedskuß. Der Mann verfolgte weiterhin von fern seinen Odysseus, dem die ganze Geschichte herzlich egal war. Massons Truppe trennte sich auf den Kais. Die verheirateten Harkis durften das Zivilistenschiff nehmen, damit sie bei ihrer Familie bleiben konnten. Azzedine stand unten vor dem Lastwagen und drehte sich nach seinen Regi mentskameraden um, die ein anderes Schiff besteigen würden. Er grüßte sie in Habtachtstellung. «Bis Saint-Mandé… Wenn dir irgendwas passiert, ich bin im Fort von Saint-Mandé», sagte Masson zu ihm. Und zum erstenmal schüttelte Azzedine seinem Vorgesetzten die Hand. In Massons Blick lag etwas Verlegenes, ein unbe 126
stimmtes Gefühl für seinen Harki, als ob er sich selbst vorhiel te, ihn zu einem Ideal geführt zu haben, das ihm wesensfremd sein mußte. Und weil er Azzedines traurigen Blick nicht ertra gen konnte, machte er rasch kehrt, um sich seiner Truppe anzu schließen, die ihn in Reih und Glied am Ende des Kais erwarte te. «Macht euch keine Sorgen. Frankreich läßt euch nicht im Stich. Von nun an ist die französische Armee eure Mutter, sie wird euch schützen.» Die Harkis hatten Masson nur allzu gern geglaubt, als er ih nen unlängst diese Rede gehalten hatte. Sie waren dermaßen hilflos! Meriem weinte nicht. Sie hakte sich bei ihrem Mann ein in der Gewißheit, daß ein schöneres Leben sie erwartete, ein Leben, das ihnen allem, nur ihnen beiden bestimmt war. Sie fühlte sich leicht, bereit, dieser neuen Welt, die die anderen zum Weinen brachte, die Stirn zu bieten. Sie hatte so sehr gelit ten, bei ihren Eltern, bei ihrer Schwiegermutter, im Krieg, daß es ihr jetzt schien, etwas Schlimmeres könne ihr gar nicht zu stoßen. Sie fühlte sich eher erleichtert. Auf der Schiffsbrücke stellte sie sich vor Azzedine, schob ih ren Schleier zur Seite und zeigte ihm ihre hoffnungsfrohen Au gen. Sie sahen sich lange an, dann antwortete er mit einem Lä cheln. «Ich wäre fast glücklich, wenn um uns herum nicht so viele Tränen flössen», flüsterte sie ihm ins Ohr. Sie setzten sich neben ihr Gepäck. Azzedine verstand die Freude seiner Frau. Sie hatte Angst gehabt, sie hatte Hunger gehabt, und wenn sie ihm nicht begegnet wäre, sie gälte in die sem Alter, mit dreiundzwanzig, als Verstoßene auf Lebenszeit, weil sie von ihrem ersten Mann geschieden war. Sie hätte nur noch als alte Jungfer sterben können, nachdem sie ihr ganzes Leben lang weiter nichts als eine Bedienstete ihrer Geschwister gewesen wäre, in Lumpen gehüllt und dazu verdammt, den Mund zu halten. Also reiste sie voll Zuversicht nach Frankreich ab, und diese 127
geballte Kraft wollte sie an ihren Mann weitergeben. Er blieb nachdenklich, seine Augen liebkosten das Meer. Das Schiff war jetzt überfüllt, vollgestopft bis in die Laderäume und bereit zur Abfahrt. Die Sirene zerriß den Leuten das Herz. Verzwei felte Rufe stiegen zum Himmel auf, als ob das Schiff untergin ge. Franzosen wie Harkis wußten nicht, ob sie den Kopf senken sollten, um ihren Kummer zu verbergen, oder hoch erhobenen Hauptes ein letztes Mal auf Oran blicken sollten, das sich ent fernte. Mitten in all dem Jammer erhob sich ein alter Jude mit einem zu kleinen Hut und einem schweren, dunklen Mantel. Er bahn te sich mühsam einen Weg durch die Seinen, die vor Schmerz versteinert waren, stützte sich auf die Reling und heftete seinen Blick auf diese Stadt Oran, die ihn vertrieb. Er sprach Arabisch und wirkte wie benommen von den Worten, die er an die so sehr geliebte Heimat richtete. Fertige Sätze, wie aus einem Ge dicht, kamen ihm in den Sinn, und er nahm sie in sich auf, wie man sich ernährt. Er rezitierte ganz laut, gestikulierte dazu und flocht mit einem Lächeln ein: «Oran El Bahia! Oran El Zahia!» Es schien, als ob einzig diese Worte, die ihm wieder einfielen von so vielen anderen, die er vergessen hatte, ihn aufrecht hiel ten. Seine betagte Ehefrau schleppte sich auf Knien zu ihm hin. Unterwegs stützte sie sich auf den einen oder anderen, ruhte sich aus, indem sie eine brüderliche Hand küßte, die man ihr reichte. Zu Azzedine, der beiseite rückte, um sie vorbeizulas sen, sagte sie: «Wir sind aus Sidi el-Houari, und Sie?» «Medenine.» Sie musterte auch Meriem eingehend: «Möge Gott Sie beide beschützen!» sagte sie. Ihr lief die Nase, und bei jeder Ruhepause massierte sie sich mit verzerrtem Gesicht die Knie. Sie suchte Zuflucht in jeder manns Augen. Es tröstete sie, daß das Unglück nicht nur über 128
sie gekommen war. Zu Füßen ihres Mannes angelangt, klam merte sie sich an seinen Mantel und rief ihm zu: «Jahrelang wolltest du mir dieses Gedicht vortragen, und nie hast du dich daran erinnert; und wenn ich zu dir sagte, überleg doch noch einmal ganz genau, hast du geantwortet, ich war neun, als ich es in der Koranschule gelernt habe, also kann ich mich nicht mehr daran erinnern, und hast dich aufgeregt.» Der Alte hörte nicht zu: «Oran, die rote, Oran, die ungetreue…» «Mein Gott», schloß die Frau, «jetzt wo wir vergessen müs sen, erinnert er sich an alles!» In der Ferne am Kai winkten die Araber mit Händen und Ta schentüchern. Darunter Trauernde und solche, die nur wegen des Schauspiels gekommen waren, aber niemand, der die wah re Bedeutung des Ereignisses ermessen konnte. Als das Meer Oran außer Sichtweite entführt hatte, verlor der alte Jude das Gleichgewicht und glitt langsam zu Boden. Er schloß die Augen. Die Frau nahm ihm den Hut ab und bettete seinen Kopf in ihrem Schoß. Sie sah, daß sich seine Lippen erneut bewegten, er betete auf Hebräisch. Da nahm sie sein Gebet mit lauter Stimme auf, und die Juden auf dem Schiff erhoben sich. Wer einen Hut trug, nahm ihn ab. Azzedine und alle anderen Araber taten es ihnen nach. Kurz darauf faltete der Alte die Hände, und seine Lippen bewegten sich nicht mehr. «Ist er tot?» fragte seine Frau einen Nachbarn, der neben ihr stand. Der Nachbar hockte sich hin und drückte dem alten Juden die Augen zu. Matrosen trugen die Leiche auf einer Bahre fort. Die Alte hatte nicht die Kraft zu folgen, sie blieb sitzen und betete. Das Schiff fuhr einen Tag und eine ganze Nacht lang. Erst am Spätnachmittag des nächsten Tages war es am Ziel. Port-Vendres. Frankreich. Sie waren in Massen gekommen, die Neugierigen, die auf die Schiffe aus Algerien warteten. Franzosen zeigten sich belustigt über andere Franzosen, die die Gangway herunterkamen: 129
«Pieds-noirs». Sie verfolgten sie mit den Blicken, als seien sie vom Planeten Mars gelandet. Kinder hefteten sich den Ver bannten an die Fersen, um zu sehen, ob sie schwarze Spuren auf dem Pflaster hinterließen, und ihre Eltern sagten: «Sie krie gen nur, was sie verdient haben, nachdem sie auf dem Rücken der einheimischen Bevölkerung soviel Kohle angehäuft haben. Jetzt werden sie sehen, was das wahre Leben ist, ohne die Fat ma für den Haushalt und den Messaoud zur Bedienung. Ge schieht ihnen ganz recht! Das sind alles Juden! Hoffen wir nur, daß sie sich hier nicht lange aufhalten. Hopp, hopp, ab zum Bahnhof!» Araber und Juden verabschiedeten sich am Kai. Sie umarm ten sich. Sie kannten sich nicht, sie hatten nichts miteinander gemein außer der Angst, sich allein in einem Abteil, einem Viertel, einer Stadt wiederzufinden. Diejenigen, die zufällig in die gleiche Richtung gingen, blieben beieinander wie zusam mengeschweißt. Militärlastwagen erwarteten die Harkis, die über ganz Frank reich verteilt werden sollten. Meriem und Azzedine blieben mit anderen aus Oran im Süden. Die Armee brachte sie zu einem Durchgangslager, das in aller Eile am Rande des Industriege biets von Aix-en-Provence errichtet und Rouge-Terre genannt worden war. Der Unterschied zwischen einem Durchgangslager und einem Elendsviertel für Immigranten ist leicht zu begreifen: In den Lagern gibt es in jeder Baracke fließendes Wasser, in den Elendsvierteln nur einen Hahn für alle. Von Arabern umgeben, fühlte sich Meriem nicht allzu fremd. Die Siedlung war ihr durchaus sympathisch. Die Tage vergin gen, und sie hatte kein Heimweh. Sie genoß endlich ihre Unab hängigkeit. Sie lebte auf, genau wie viele andere Frauen. Sie besaßen genug Zuversicht, das Schicksal ihrer Familie in die Hand zu nehmen. Auf den Männern dagegen lastete die Nie derlage und das Exil. Sie neigten eher dazu, in Schweigen und Alkohol dahinzudämmern. Jeden Abend trafen sie sich in den 130
beiden Kneipen der Siedlung und ertränkten ihren Kummer im Bier. Sie verboten es sich, von der Heimat zu reden, außer um anderen die Schuld zu geben. Allen: Den Pieds-noirs, denen man eine Entschädigung versprach; den Algerienfranzosen, von denen sie verhöhnt wurden; den Franzosen, für die «offen sichtlich überhaupt nichts gewesen ist», wie sie sagten. Am meisten erregte sich Boufeldja: Ein pausbäckiger, kleiner Mann aus Boufarik, der sich während des Krieges dadurch ausge zeichnet hatte, daß er seinen Bruder, einen Widerstandskämp fer, an die Franzosen verriet, um ihm, so hieß es, seine Frau auszuspannen, deren Schönheit im ganzen Dorf gerühmt wur de. Obwohl er vor seinen Eltern und der Moschee schwor, daß er mit der Festnahme des Bruders überhaupt nichts zu tun hat te, ließ er sich nicht davon abbringen, die Schöne zu überreden, daß sie ihn als zweiten Ehemann nahm. Als er dann Drohungen von den Partisanen erhielt, hatte der Zorn ihn übermannt. Und die Angst! Eines Nachmittags hatte man die junge Frau im Haus der Schwiegereltern gefunden, nackt und tot. Aber Bou feldja war schon weit weg, in französischer Uniform. «Und das alles für nichts!» jammerte er in der Kneipe. «All die verlorenen Jahre, damit man uns als Einwanderer betrach tet! Dabei sagen selbst die Franzosen, daß wir Franzosen sind!» Manche Harkis hatten widerwillig dem Vorschlag der Armee zugestimmt, sie wieder in die Garnison aufzunehmen. Wider willig: Denn der Krieg war vorbei, und sie wollten nichts mehr davon hören. Widerwillig: Da man sie einmal zum Narren ge halten hatte, war ihr Vertrauen in die Trikolore äußerst be grenzt. Mit einem Wort, eine gewisse Anzahl hatte ohne Be geisterung die Uniform wieder angezogen. Sie konnten sicher sein, eine Stelle zu haben, auch wenn sie es darüber nicht gera de zu Reichtum bringen würden. Nicht so Azzedine. Azzedine war taub für den Appell des Signalhorns: «Ich habe keine Soldatenseele!» Meriem war sehr froh darüber. Sie wußte, daß ihr Alptraum, der sie bei Tag wie bei Nacht quälen konnte, nun in ihrem 131
Geist verblassen würde. In diesem Traum hatte ihr ein ganz junger Soldat im Berberdialekt mitgeteilt, Azzedine sei im Dschebel gefallen. «Nein, ich habe keinen Sinn fürs Militär!» wiederholte Azze dine, während er seine nassen Hände über dem Spülstein schwenkte, ehe er sie am Handtuch abtrocknete. Er sprach mit sich selbst, als ob er sich zu überzeugen versuchte. Meriem kniete auf dem Bettvorleger im Schlafzimmer und betete. In Azzedines Stimme schwang Bedauern mit: Im Grunde bewun derte er diese Soldaten, die ihre Tressen auf den Schultern so stolz trugen, wie man den nationalen Verdienstorden trägt, mit schwärmerischen und glänzenden Augen. Azzedine wäre gern von diesem ritterlichen Geist beseelt gewesen, aber er zog es vor, sich als Straßenwärter von der Gemeinde Rouge-Terre einstellen zu lassen. Er verbrachte seine Tage zusammen mit seinem Kollegen Lacatus (einem Rumänen aus Konstanza, der nach Frankreich gekommen war, nachdem er sich geweigert hatte, das Portrait des Führers der Einheitspartei auf den winzi gen Kiosk zu kleben, in dem er Lose verkaufte) in einer Ko lonne, die Material quer durch den ganzen Vorort transportier te. Und daß er sich für den Führerschein anmeldete, war Laca tus’ Rat zu verdanken, der ihm überzeugend die damit verbun denen Vorzüge gepriesen hatte. Am Abend verabschiedete sich Azzedine von dem Rumänen und machte sich, Baguette unterm Arm, auf den Weg zum La ger, das sich weit entfernt ausdehnte, jämmerlich wie ein Veil chen auf dem Auge und abseits der beleuchteten Straßen. Bei Regenwetter drang Wasser in die Baracken, und die Kinder patschten den ganzen Tag lang durch den Schlamm. Übrigens kamen alle Harkis von ihrer Arbeit zu Fuß nach Hause: Es gab keine Beförderungsmöglichkeit. Sie zerstreuten sich auf der Straße wie müde Krieger. Sie redeten nicht miteinander, ihr Blick war auf die Siedlung gerichtet. Wenn Azzedine sie in immerhin etwas flotterer Gangart überholte, grüßten sie ihn kaum. Im Grunde hatte keiner von ihnen Lust, in die Baracken 132
zurückzukehren. Wären da nicht Frau und Kinder, die sie er warteten, sie hätten sich in der Kneipe eingenistet. Ja, so sah es aus; es war das erbärmliche Leben derer, die sich nicht bei der Armee weiterverpflichtet hatten. Sie mußten Stellen annehmen, die selbst die Immigranten ablehnten. Zum Beispiel als Hilfs arbeiter in der überheizten Reifenfabrik im Untergeschoß. Oder im Zementwerk, wo die schweren Säcke ihnen das Kreuz ka puttmachten und der Staub sie fast erstickte. «Analphabeten, alles Analphabeten! Was soll ich mit diesen Eseln anfangen», jammerte der Sozialarbeiter, den das Rathaus eigens für diese «neuen Franzosen» eingestellt hatte. «Sollen sie uns doch zur Schule schicken», sagte Boufeldja zu Si Hamza, dem Harkiältesten. «Wir verlangen ja nur, daß wir etwas lernen können.» Und Si Hamza, die Kapuze seines weißen Dschellabas auf dem Kopf, zog los und übermittelte es dem Rathaus. Viele Harkis ließen sich so gehen, daß sie völlig herunterka men, vor allem diejenigen, deren Familien nicht mitgekommen waren. Man nannte sie Junggesellen. Sie waren zusammen mit Maghrebinern und Afrikanern in einem mehrstöckigen Wohn heim in der Nähe des Güterbahnhofs untergebracht. Viele von ihnen sah man im Zentrum von Aix. Sie nagten am Hungertuch und bettelten. Der bekannteste war Ould-el-Hady. Wenn dem ein Passant das Almosen verweigerte, stand er stramm und sang ihm die Marseillaise vor. Andere hefteten sich den fran zösischen Personalausweis ans Revers und fanden sich bei der Volksküche ein. Einmal wöchentlich schickte Si Hamza, der Chef, Azzedine mit dem kleinen Lastwagen der Bürgermeiste rei auf den Weg, damit er diese Vagabunden einsammelte. Sie mußten unter die Dusche, bekamen anschließend von den Frauen der Harkis im Gemeinschaftsraum eine chorba serviert, und Si Hamza las ihnen zum wiederholten Mal die Leviten: «Herrgott nochmal, ihr seid Männer, so reißt euch doch zu sammen!» Aber es war leicht zu sehen, daß das Leben diese Burschen 133
k.o. geschlagen hatte. Sie scherten sich nicht um Si Hamzas «wir müssen uns euretwegen schämen!» Die Scham trugen sie in sich selbst. Zwei oder drei sprangen in den Var – und durf ten sich noch zusätzlich schämen, weil sie rechtzeitig herausge fischt wurden, die Kehle voll Wasser und schon blau angelau fen, aber die Weinflasche immer noch in der Tasche. Und doch war es schließlich ein Ertrunkener, mit dem der für Harkis re servierte Teil des Friedhofs in Rouge-Terre eingeweiht wurde. Wenn er sich hätte vorstellen können, wie verzweifelt die Sei nen waren, als sie ihn auf ihren Schultern in christliches Ge lände mit lauter Kreuzen ringsherum trugen, er hätte sich in einem anderen Departement ins Wasser geworfen. An jenem Tag hatte Si Hamza den Eindruck, alle Kultur, die in ihm war, zu verhöhnen. Ein furchtbares Gefühl! Selbst der Koran hat an das eine nicht gedacht: daß ein Mos lem durch den Eingang eines christlichen Friedhofs getragen und dort begraben werden könnte. Das Gefühl einer völligen Zerrissenheit erfaßte die arabischen Gläubigen und bewirkte, daß sie die Zeremonie schneller durchzogen. Am gleichen Abend forderte Si Hamza beim Bürgermeisteramt der Gemein de einen anderen Ort, an dem sie ihre Toten beerdigen konnten. Dann kam der Ramadan, und der Älteste bestand darauf, daß die Gemeinschaft die Fastenzeit einhielt. Aber die meisten die ser «neuen Franzosen» wußten nicht mehr, wohin sie blicken sollten. Nach Paris? Nach Mekka? Boufeldja, der am meisten erbittert war, schlug mit der Faust auf den Tisch und antwortete Si Hamza: «Schon um mich von Algerien abzusetzen, werde ich nicht fasten!» «Wenn ihr so argumentiert», entgegnete Si Hamza, «richtet ihr euch zugrunde. Was wird uns bleiben, wenn wir uns von unseren religiösen Wurzeln trennen? Sie allein können uns noch aufrechterhalten.» «Nur zu, pflegen wir die Unterschiede auch noch! Als ob man nicht schon genug mit dem Finger auf uns zeigt!» erwider 134
te Boufeldja. Manche, wie Azzedine, brachten es noch fertig zu lächeln, wenn sie ihre Wohnung betraten. Azzedine fand eine Meriem vor, die sich einfach darüber freuen konnte, daß sie ihrem Mann das Abendessen bereitet hatte. Wie all ihre Gefährtinnen hatte sie den Haïk abgelegt und erledigte ihre Einkäufe selb ständig. In der Zweizimmerwohnung gab es ein Bett, einen Tisch und zwei Stühle. Ein Radio sendete Nachrichten aus Al gier und auch die Musik von drüben. Zwischen zwei Liedern, in denen die Freude über die Unabhängigkeit feierlich besun gen wurde, lehrte der Sprecher die Schreibweise des Wortes Algerien: el dja-zeïr. In der Siedlung waren andere Töne zu hören. Die betrunken heimkehrenden Männer prügelten, die Frauen flehten, die Kinder weinten. Azzedine beschloß umzu ziehen, sobald er seinen Führerschein gemacht hatte. Aber ge nau am Tag vor der Prüfung geschah es, daß Djelloul, einer der Junggesellenharkis, von ihnen ging. Azzedine tat die ganze Nacht kein Auge zu. Bald plagte ihn die Prüfung, die er unbe dingt bestehen wollte, bald dieser junge Harki Djelloul, ein Kurzbeiniger mit dunkler Haut, der vor einiger Zeit aus dem Junggesellenheim ausgewiesen worden war, weil er die Algeri er in seiner Umgebung nicht ertragen konnte. Sobald ihm einer auf dem Flur über den Weg lief, zog er sein Messer, und über all brach Geschrei los. Aber schlimm wurde es, als er einen alten Mann verletzte. Die Polizei kam vorbei, nahm Djelloul mit, und Si Hamza mußte sich sehr ins Zeug legen, bis der Kommissar ihm den Hitzkopf schließlich unter der Bedingung auslieferte, daß er das Heim verließ. Seitdem wohnte er im Lager, von Harkifamilien umgeben. Er arbeitete nachts in der Reifenfabrik, aber sein Traumberuf war Chauffeur. Und bald hörte er, daß das Krankenwagentransportunternehmen Delorme in Rouge-Terre einen Fahrer suchte. Er hatte seinen Führer schein beim Militär gemacht, aber Delorme empfing ihn fro stig: «Du hast nicht genug Straßenerfahrung für diesen Job.» 135
Darüber mußte Djelloul herzlich lachen. Er faltete die Hände über der Brust und sagte ziemlich stolz: «Ich? Sogar Massu wollte, daß ich sein Fahrer bin, als er ge sehen hat, wie ich meinen Chef in Algier aus einem Hinterhalt geholt habe! Mitten im Kugelhagel bin ich am Steuer des Jeeps Slalom gefahren. Mein Chef hielt sich schon für tot, aber ich habe ihn in die Kaserne zurückgebracht. Er hatte keinen einzi gen Flecken auf seiner Uniform! » Im Gegensatz zu Djelloul lachte Delorme nicht. «Und die Minen, nie hat auch nur eine meine Reifen be rührt!» Delorme ernüchterte ihn: «Ich kann Sie nicht einstellen!» «Na schön, wenn das so ist, reden wir nicht mehr darüber!» sagte Djelloul und verließ den Laden. Aber auf dem Weg zur Siedlung begegnete er dem jähzorni gen Boufeldja und erzählte ihm die Geschichte. «Weißt du, warum er dir die Stelle nicht gegeben hat?» fragte Boufeldja spöttisch und klopfte Djelloul an die Stirn. «Nein!» «Aâla oujhek!» (wegen deines Gesichts) «Oujhi!» (mein Gesicht) «Was ist los mit meinem Gesicht?» Boufeldja faßte sich mit beiden Händen an den Kopf, als wollte er sagen: «Kann einer so blöd sein?» «Deine Visage ist nicht weiß», erklärte er, «auch wenn dein Ausweis es ist!» «Du glaubst, er wollte mich nur wegen meiner Hautfarbe nicht haben?» «Wenn ich es dir doch sage!» versicherte Boufeldja und kehr te ihm den Rücken. Da fackelte Djelloul nicht lange. Im Eilschritt marschierte er zurück zum Krankentransportunternehmen. Delorme telefo nierte gerade. Djellouls Messer traf ihn in den Bauch. «Ein dreckiger Araber aus dem Ghetto ist es gewesen», konn te Delorme den Polizisten noch zuflüstern. 136
Djelloul war schon wieder zu Hause. Er hatte sich in seiner Baracke mitten in der Siedlung eingeschlossen und drohte den Polizisten, die sie umstellten, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen, sobald einer von ihnen näherkam. Zur Bekräftigung feu erte er einen Schuß ab, der einen der Bullen streifte. Alle Har kis, Si Hamza als erster, verstanden ihren Bruder. Und der Bruder brüllte hinter dem Fenster: «Ich wollte nur Sanitätsfahrer werden, Si Hamza, und Kranke transportieren, so wie vorher bei meinem Chef, dem Haupt mann Vergne!» «Hab keine Angst, mein Sohn, wir halten zu dir», beruhigte ihn der Älteste, der zwischen Djelloul und der Polizei vermit telte. Si Hamza ging zum Kommissar und sagte: «Er wollte seinen Dienst weitertun, verstehen Sie! Mit voller Geschwindigkeit, wie drüben, mit Sirene und Blaulicht!» Von Zeit zu Zeit sah man zwischen den Fensterläden eine Hand Djellouls und darin eine Pistole, die er aus dem Dschebel mitgebracht hatte. Auf diese Weise machte er klar, daß er auf der Hut war. Aber erst viel später in der Nacht erfuhren die Bullen und die Menge, daß Delorme seinen Verletzungen erle gen war, wie man so sagt. Si Hamza teilte es Djelloul mit. «Das ist mir egal!» antwortete der Schwarze. «Ich habe für ihn und die anderen im Krieg gekämpft, und er läßt mich ab blitzen, als ob ich ein Nichts wäre!» Der Kommissar wollte den Tränengaseinsatz vorbereiten las sen. Sofort stellten sich die Harkis zwischen die Baracke des Flüchtlings und die Gendarmen. Betreten sagte der Kommissar zum Ältesten: «Die Bevölkerung hätte kein Verständnis dafür, daß ein Bur sche ganz allein uns so lange in Schach gehalten hat. Wir müs sen angreifen.» «Nein», erwiderte Si Hamza. «Wir halten zu ihm, und er al lein wird über sein Schicksal entscheiden.» «Sag ihnen, Si Hamza, sag ihnen, daß wir sehr viel fester als 137
sie an den Sieg geglaubt haben!» brüllte Djelloul. Er war erregt, man hörte die Tränen in seiner Stimme. «Wir haben uns für sie aufgeopfert, und sie wollen uns nichts geben, was! Sag es ihnen, Si Hamza!» «Mach dir keine Sorgen, mein Sohn, mach dir keine Sorgen!» wiederholte Si Hamza. Der Älteste sprach mit Djelloul, wie man mit einem Kind spricht. Und der Schwarze hinter seinem Fenster weinte jetzt heiße Tränen. «Sie mögen uns nicht, was!» stieß er noch zwischen zwei Schluchzern hervor. «Beruhige dich», sagte Si Hamza nur. In diesem Moment fuhr ein D.S. vor: der Unterpräfekt mit Anzug, Krawatte und Assistentenschar. Direkt hinter ihm, als ob sie ihn beschatteten, Journalisten und Fotografen. Der Unterpräfekt setzte sich mit dem Kom missar und Si Hamza auf die Stufen einer nahegelegenen Ba racke. Als der Morgen dämmerte, hockten sie immer noch dort. Azzedine erinnerte sich bis heute daran, daß er Meriem hatte überreden wollen, in ihre Wohnung zu gehen, weil es kalt war. Aber Meriem wollte nicht in die behagliche Wärme des Öl ofens zurück. Sie hatte gesagt: «Diesen Jungen darf man nicht allein lassen! » Als der Schuß widerhallte, schloß Meriem die Augen und legte die Hände vors Gesicht. Sie murmelte «mein Gott»! Az zedine und Boufeldja stießen Si Hamza zur Seite, um die Tür aufzubrechen. Von den Bullen rührte sich keiner. Der Kom missar überließ es den Harkis, das Notwendige zu tun. Djelloul hatte sich ins Herz geschossen, aber er war noch nicht tot. Er saß auf einem Stuhl. Das Atmen bereitete ihm Mühe. Er lächelte Azzedine und Boufeldja zu und stammelte: «Ihr habt’s gesehen! Ins Herz, die Kugel. Nicht ins Gesicht. Ich schäme mich nicht für meinen Kopf!…» Er sagte noch: «Das Herz dagegen, das hat sich oft schlecht betragen…» 138
Er hob mühsam die rechte Hand und beugte den Zeigefinger als Bitte um Vergebung. Er starb auf der Tragbahre des Notarz tes. Die Frauen im Ghetto weinten wie daheim im Hinterland. Am Morgen war die Siedlung wie ausgestorben, die Kinder waren in der Schule, die Männer in der Fabrik. Und Si Hamza betete immer noch.
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Als Azzedine seinen Führerschein in der Tasche hatte, sehnte er sich nur noch danach, zusammen mit Meriem das Ghetto weit hinter sich zu lassen. Der Arzt hatte ihm gesagt: «Deine Frau ist dafür geschaffen, Kinder zu haben, mein Lie ber. Es gibt überhaupt keinen organischen Grund für Kinderlo sigkeit. Was euch allen fehlt, ist Ruhe und Frieden, was, mein Lieber? Kein Streß mehr…» Streß, davon hatte Azzedine noch nie etwas gehört. Meriem und er hatten einen Haufen Untersuchungen hinter sich, sie bezweifelten allmählich, daß sie eines Tages ein Baby haben könnten. Ein Grund mehr, die Siedlung zu verlassen, dieser Streß! Azzedine meldete sich auf eine Anzeige, in der ein Ausliefe rer in Bezons am Stadtrand von Paris gesucht wurde. Seine Bewerbung wurde nicht nur angenommen, sondern das Unter nehmen sicherte ihm auch eine Wohnung zu. «Kein Problem, Monsieur», antwortete ihm eine leise Stimme am Telefon, «wir haben, was Sie brauchen.» Meriem umarmte ihre Nachbarn. Azzedine lud Bett, Tisch und die beiden Stühle mit Lacatus’ Hilfe auf den kleinen Last wagen und ging zu Si Hamza, um sich zu verabschieden. Der empfing ihn mit weit geöffneten Armen: «Wo du auch hingehst, wo du auch sein wirst, achte immer darauf, ein gutes Bild von unserer Gemeinschaft zu zeichnen. Mögen deine Kinder – Gott schenke sie dir! – beweisen, daß wir keine verlorene Generation gewesen sind!» Der Alte ließ Azzedines Schultern immer noch nicht los. «Wenn die Algerier für die Freiheit geschaffen sind», fuhr er 140
fort, «wer sagt uns dann, daß sie nicht eines Tages selbst mit einer Militärregierung dastehen.» Si Hamza umarmte Azzedine und sagte weiter: «Sie sagen ‹die richtige Wahl›, aber was ist das, die richtige Wahl? Vielleicht warst du es ja, der sie getroffen hat, als du zur Armee gegangen bist, um deine Familie ernähren zu können. Du hast getan, was zu tun du für gut gehalten hast, und nur das zählt. Laß deine Kinder zuerst aufrechte Menschen sein, dann wird Gott sie schon führen.» Der zeremonielle Abschied wollte kein Ende nehmen. Lacatus, der Azzedine und Meriem begleitete, hupte mehr mals, um die Araber zu zerstreuen, die den Eheleuten bei der Abfahrt zuwinkten. Der Lastwagen fuhr gen Norden. Meriem brach in Tränen aus. Die Reise dauerte lange, und das Trio war erschöpft, als es am Morgen in Bezons vor dem Auslieferungslager ankam, in dem Azzedine arbeiten sollte. Eine Sekretärin gab ihm die Adresse, und der Lastwagen fuhr wieder los, ihrer zukünftigen Bleibe entgegen. Sie war schnell gefunden. Bei ihrem Anblick verzog Meriem das Gesicht, und Azzedine faßte sich mit beiden Händen an den Kopf. Wieder hatte das Schicksal sie in ein Durchgangslager verschlagen. Und dabei hatte Meriem von einem Häuschen oder einer eini germaßen behaglichen Wohnung geträumt! Nein, es würde wieder nur Schlamm und Kälte geben. Azzedine nahm Meriems Hand: «Ich schwöre dir, daß wir hier nicht alt werden.» Sie blieben fünf Monate. Die Nachbarschaft, zumeist Mag hrebiner, war angenehm. Die Erwachsenen sprachen Arabisch, die Kinder Französisch. Bei schönem Wetter war das Leben in der Siedlung sogar ganz erträglich – bis auf einen einzigen, aber gewaltigen Nachteil: Die Vereinigung der Algerienfranzosen schickte Vertreter, die für ihren Hilfsfonds sammelten. Azzedine weigerte sich, die Abgabe für die Mitgliedsmarke zu entrichten. Er antwortete 141
einfach: «Mir fehlen die Mittel, Ihnen zu helfen.» Der Vertreter zog verärgert ab und knallte die Tür zu. Meriem kaufte zum erstenmal auf dem Markt ein. Ihre Be gleiterin war Arjouna, eine Tunesierin, die zwanzig Jahre älter war als sie und mit der sie sich rasch angefreundet hatte. Ar jouna gehörte zu der ersten Immigrantengeneration, die in den Bergwerken des Nordens gelandet war. Aber ihr Mann hatte die Untertagearbeit nicht vertragen und eine Klaustrophobie entwickelt. Da hatten sie sich woanders umgesehen. Sie nahm Meriem mit ins Elendsviertel von La Garenne, wo man das Fleisch bei einem Metzger kaufen konnte, der sich an die mos lemischen Traditionen hielt. Währenddessen lieferte Azzedine in einem Kastenwagen Le bensmittel aus. Er war froh über seine Stelle. Wenn die Fahrten nicht zu lang waren, konnte er seinen Arbeitstag zeitig genug beenden, um seine Französischaufgaben durchzusehen und anschließend an einem Abendkursus teilzunehmen. Er wurde von einer jungen Lehrerin in der gleichen Schule erteilt, die auch die Kinder der Siedlung besuchten. Er machte rasche Fortschritte, und gab sein Wissen an Me riem weiter, die auf diese Weise ihre ersten französischen Wor te lernte. Aber das große, das unvergleichliche Glück kam für Meriem, als sie zu Beginn des Herbstes merkte, daß sie schwanger war. Als sie es Azzedine mitteilte, blieb ihm vor Freude beinahe die Luft weg. Sie spotteten über den «Streß» und beeilten sich, Si Hamza und ihre Freunde im Süden zu benachrichtigen. Immer noch auf der Suche nach einer besser bezahlten Stellung und einer schöneren Wohnung, gleichgültig, in welcher Region, nahm Azzedine die Kleinanzeigen in den Zeitungen noch gründlicher unter die Lupe. Als die Gruppe der Algerienfranzosen wieder sammeln kam, öffnete er ihren Vertretern nicht einmal die Tür. So dringlich Meriem ihm auch riet, sich etwas zuvorkommender zu geben 142
und sich wenigstens am Fenster zu zeigen, er lehnte es ab, sich sehen zu lassen. Er ließ die Vertreter einen nach dem anderen an die Tür klopfen und rührte sich nicht von seinem Stuhl. «Sie werden schon begreifen, daß es sich nicht lohnt wieder zukommen», sagte er zu seiner Frau. «Mir machen sie angst!» seufzte Meriem. Als Azzedine am nächsten Tag im Morgengrauen zu seiner Arbeit aufbrach, entdeckte er ein riesiges H, das mit weißer Farbe auf die rote Tür gepinselt worden war. Ein H wie Harki.
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Er krempelte die Ärmel hoch und holte hinten aus dem Last wagen einen Benzinkanister, um mit Lappen und Schwamm die Inschrift zu entfernen. Am Abend sagte er zu Meriem: «Sollten sie die Frechheit besitzen, bei ihrem nächsten Rund gang noch einmal an diese Tür zu klopfen, werde ich ihnen öffnen, aber mit der Pistole in der Hand!» Das Ganze in gelassenem, kühlem Ton, ohne die Stimme zu heben, ohne das kleinste Zeichen von Wut oder Haß im Ge sicht. Übrigens hielt Meriem ihn für unfähig, irgend jemanden zu hassen oder zu hintergehen. Und sie war nicht die einzige. Auch Arjouna hatte zu ihr gesagt: «Dein Mann ist ein gerechter und redlicher Mensch.» Und dabei kannte die Tunesierin ihn kaum. Azzedine war ihrem Mann, dem ehemaligen Bergarbeiter, zur Hand gegangen, als das Schaf für das Aïd-Fest zerlegt werden mußte. Danach hatte sie ihm einen Kaffee angeboten. Sie hat ten ein paar Worte gewechselt, was man so sagt, um seine Ver bundenheit zu zeigen, ohne sich in das Leben der anderen ein mischen zu wollen. Meriem zuckte bei jedem Pochen an der Tür zusammen. Sie hatte Angst, die Vertreter könnten wiederkommen. Aber mei stens war es ein Kind, von seiner Mutter geschickt mit der Bitte um eine Zwiebel, eine Schachtel Streichhölzer oder Minze. Wirklich befreit fühlte sie sich erst, als Azzedine einen Brief erhielt, in dem man ihm mitteilte, daß er bei der Stellenaus schreibung der Reimser Verkehrsgesellschaft berücksichtigt worden war. Er hatte ein Duplikat seines Lastwagenführer scheins geschickt und die Prüfung im Fernunterricht bestanden. 144
«So ein Glück!» sagte Meriem und dachte an die Vertreter der Vereinigung. Der Brief kündigte auch die Zuweisung einer Unterkunft an, eine Dreizimmerwohnung in der dritten Etage eines Gebäudes. Ohne daß es ihr bewußt wurde, stieß Meriem ein Freudenge heul aus, das Azzedine erzittern ließ. Drei Tage später zogen sie nach Reims. Sobald alle Möbel in der Wohnung standen, bedankte sich Azzedine bei dem Fernfahrer, der so freundlich gewesen war, sie von Bezons nach Reims zu transportieren. Dann ging er mit ihm hinunter, um sein Jackett zu holen, das er im Lastwagen vergessen hatte. Als er wieder oben war, rief er nach Meriem. Er wollte wissen, wie er die Möbel aufstellen sollte. Keine Antwort. Er fand sie weder in der Küche noch in den anderen Zimmern. Sie war im Bad und saß gedankenverloren auf dem Badewannenrand. «Was hast du?» fragte Azzedine und beugte sich über sie. Sie hielt den Kopf gesenkt und antwortete mit kläglicher Stimme: «Ein Badezimmer… mit heißem Wasser…»
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In kurzer Zeit war Azzedine im ganzen Viertel als der «Busfah rer» bekannt. Auch viele seiner Nachbarn gehörten zu seinen Fahrgästen. Und die Uniform stand ihm wirklich ausgezeich net! Die Schirmmütze, die die Stirn betont, der marineblaue Blazer und die berühmte graue Tergalhose der kleinen Beam ten. «In deinem Bus», neckte ihn dann Meriem, «streckst du der maßen die Brust heraus, daß man meinen könnte, ein Hahn will bei seinem Hühnerhof Eindruck schinden.» Auch Azzedine lachte, so sehr war er überzeugt, daß seine neue Stelle seine Zukunft sicherte. Endlich hatte er den Ein druck, allmählich klarer zu sehen. Während sie auf die Ankunft des Babys warteten, kam es häufig vor, daß sie lange Blicke austauschten, Meriem und er, besonders abends, wenn das Haus im Schlaf versank. Im Grunde sahen sie einander an wie Überlebende einer Ka tastrophe. Und die Zeit, die ihnen zum Leben blieb, betrachte ten sie als ein wunderbares Geschenk. Von dem Geld, das Azzedine nach Hause brachte, konnte sich Meriem in einem kleinen jüdischen Geschäft in Reims, dem einzigen, das übriggeblieben war, endlich orientalischen Stoff kaufen. Daraus nähte sie sich ein Kleid im Stil ihrer Hei mat. Und Meriem verstand sich aufs Nähen! Als ihr erster Ehemann sie verstoßen hatte und sie wieder bei ihren Eltern war, hatte sie alles lernen, alles können müssen, um sich ihr Essen zu verdienen. Meriem dachte oft daran, was aus ihr geworden wäre, wenn ihr Busfahrer ihr bei der Ernte an jenem heißen Nachmittag, an 146
dem sie sich zum erstenmal angesehen hatten, nicht zur Hand gegangen wäre. Sie wäre nichts als eine vorzeitig gealterte Frau, und zwar von dem Tag an, als ihr erster Mann ihr vor der ganzen Familie und anderen Zeugen verkündet hatte: «Ich verstoße dich, Frau!» (den Gewohnheiten entsprechend viermal wiederholt) «Du kriegst keine Kinder!» Ihr Vater hatte ihr sogar eine gelangt, um klarzustellen, wie er es mit einer Tochter hielt, die Schande über sein Haus ge bracht hatte. Als die Eltern nach Hause gingen, war Meriem ihnen auf den Knien gefolgt, hatte sich an die Brust geschlagen, um sich da für zu bestrafen, daß sie weniger als ein Nichts war. In jenem Augenblick wäre Meriem am liebsten gestorben. Sie hatte den lieben Gott darum gebeten: «Du hast mich gemacht, nun nimm mich zurück. Ich flehe dich an!» Der liebe Gott hatte nicht gewollt. Manchmal, in der Stadt, wenn Meriem mit der Einkaufsta sche am Arm die schönen Reimser Auslagen bewunderte, ver anlaßte ein ausdauernder Hupton sie dazu, sich umzudrehen. Es war Azzedine, der von seinem Fahrersitz aus stolz und gerührt seine Frau begrüßte. Dann winkte sie ihm verliebt zu, und er lüftete einen Augenblick respektvoll seine Mütze. Was für ein Lächeln auf beiden Seiten! Ein Lächeln, das sie für immer ver einte. Gemeinsam kauften sie den Kühlschrank und einen Platten spieler der Marke Teppaz. Im Laden des alten Juden in Reims stöberten sie auch eine Platte von Cheikha Rémitti auf, und mit dieser Königin der raï-Musik weihten sie den Teppaz ein. Die Worte waren ziemlich gewagt für die Zeit und die falschen Töne eher langweilig. Aber es war der Klang der Heimat, und Meriem lachte. Azzedine gewöhnte sich bald an, abends auf dem Heimweg von der Arbeit in der Kneipe an der Straßenecke eine Pause einzulegen und vor einem Gläschen die Abendzei tung zu lesen. Und die Wirtin Huguette, eine kleine Rothaarige 147
von fünfzig Jahren, knochig und schrullig, wußte diesen Neuen bald zu schätzen. Er war rücksichtsvoll, großzügig, und er trank nicht. Man kann eine Kneipe führen und Säufer trotzdem nicht mögen! Wie Huguette hinter ihrem winzigen Tresen strahlte, wenn Azzedine mit einem kleinen Blumenstrauß für sie aufkreuzte, das mußte man gesehen haben! Dann stand ihm ein Kuß auf die Stirn und ein Glas von der Wirtin zu. Die Atmosphäre war so angenehm, daß er Meriem sonntags morgens nach dem Markt schließlich regelmäßig mitnahm. Im Grunde war Huguette ihre einzige Freundin. Nach Selims Geburt war Azzedines erster Gedanke denn auch, Huguette an seiner Freude teilhaben zu lassen. Es war kurz vor Tagesanbruch und sie zog gerade ihr Eisengitter hoch, als sie ihn entdeckte. Er saß unrasiert und mit hochgeschlage nem Jackenkragen auf den Stufen. Huguette war beunruhigt. «Er ist da!!!» rief er und fiel ihr um den Hals. «So was Dummes!» sagte sie. «Für Sekt ist es zu früh!» «Stell eine Flasche kalt für heute abend! Ich geh’ mich jetzt erst mal duschen.» Er hatte die ganze Nacht in der Klinik gewacht. Selim hat te sich bitten lassen wie ein schlechter Schauspieler. «Der da», hatte eine Krankenschwester gesagt, «der wird mal Künstler, er übt sich schon in der Kunst, auf sich warten zu lassen!» Meriem litt sehr, verzerrte das Gesicht, ballte die Fäuste. Az zedine saß an ihrem Bett, streichelte ihre Wangen und wischte ihr den Schweiß von der Stirn. Denn Meriem preßte mit aller Kraft, um Leben zu schenken. Meriem, «die keine Kinder kriegt»! Sie war es, die neu geboren wurde, die mit ihrem Pressen all ihre Ängste, all ihre Zweifel von einst verscheuchte. Aber es mußte noch die ganze Nacht vergehen, bis Selim endlich die Nasenspitze zeigte. Da biß Meriem in einem letzten Aufbäumen so fest sie konnte in Azzedines Hand, die ihre Lip pen liebkoste. So übertrug sich der Schmerz, den der Sohn ihr 148
bereitete, auch auf den Vater. Es gab nur sie drei auf der Welt. Danach Stille. Meriem schlief ein, eine Hand auf der Wiege. Azzedine ver ließ das Zimmer auf Zehenspitzen. Reims erwachte, und die Straßen waren noch in nächtliche Kühle getaucht. Azzedine hatte Lust, seine Freude hinauszuschreien, die Welt zu umar men, sie an seinem Glück teilhaben zu lassen. Si Hamza war so weit weg und seine Mutter noch weiter. Die Männer von der Müllabfuhr, die ihm begegneten, hatten gewiß andere Sorgen. In einem solchen Moment allein zu sein, ist schwer zu ertra gen! Es fiel ihm nichts Besseres ein, als sich auf Huguettes Stufen niederzulassen. Während er eine Zigarette nach der an deren qualmte, nahm er sich vor, ganz schnell seiner Mutter und seinen Schwiegereltern zu schreiben. Am Nachmittag rief er zwischen zwei Dienstfahrten in der Siedlung Rouge-Terre an. Boubeker, ein ehemaliger Harki wie er, nahm ab. Er arbeitete als Tankwart bei der Essostation an der Strecke nach Grasse, saß aber vorm Telefon, wenn er nichts zu tun hatte. Wer eine Nachricht für die Siedlung hatte, meldete sich bei Boubeker, und er übernahm die Vermittlung. Er war ein kleiner, schief gewachsener Mann mit Schnurrbart. Kopf und Körper waren dermaßen rechtslastig, daß seine linke Schulter weit nach oben ragte und man ständig darauf wartete, ihn auf die Seite fallen zu sehen. Als sehr junger Mann hatte er sich bei der Garnison in Sétif verpflichtet und sogar ein falsches Alter angegeben. Vorher war er ein kleiner, ganz friedlicher Hirte gewesen, der bei Festen die Flöte spielte. Er beklagte sich nicht über das Leben: Er kannte es nicht. Eine Schale Dickmilch und ein Kan ten Schwarzbrot jeden Tag waren ihm genug. Aber dann wur den seine drei Kühe eines Tages von Flöhen heimgesucht. Von Flöhen, wie Boubeker sie noch nie gesehen hatte. Die armen Tiere fraßen nicht mehr, muhten aus Leibeskräften, wollten nicht stillstehen. Und kein einziger Tierarzt in der ganzen Re gion. Sollte man die Kühe abschreiben? Sterben lassen? 149
Schließlich kam Boubeker auf die Lösung: «Keine Sorge!» sagte er zu seinem Vater. «Ich hab’ da eine Idee!» Und er ging in die Stadt. Er verkaufte ein Huhn und erstand von dem Geld einen Insektenspray. Als er zurück war, schloß er die drei Kühe im Stall ein und besprühte sie von den Beinen bis zu den Ohren. Am nächsten Tag keine Spur mehr von ei nem Floh, aber Sie hätten die Kühe sehen sollen! Das Insek tenvertilgungsmittel war ihnen unter die Haut gedrungen und zerfraß ihnen gründlich Rücken und Weichen. Um zu verhin dern, daß das Gift auch noch das Fleisch verdarb, gab es nur eine Lösung: schlachten, und zwar schnell! Rasend vor Wut krempelte der Vater die Ärmel auf und sagte zu Boubeker: «Ich stech’ sie ab, und danach bring’ ich dich um!» Und Boubeker wußte, was jetzt zu tun war. Er flüchtete in die Stadt, weil er hoffte, sich dort leichter verstecken zu können. Nachdem er schon länger als eine Woche gehungert hatte, be gegnete ihm eine Patrouille, die durch die Stadt marschierte, und er war schwer überrascht, unter den Franzosen auch Ara ber zu sehen: Saubere Araber, die allem Anschein nach sogar was im Bauch hatten. Er folgte der Truppe und fragte den letz ten Araber in der Reihe: «Was macht man, wenn man so sein will wie du?» «Geradegehen und Klappe halten… ganz einfach!» sagte der Harki. «Kannst du ein gutes Wort für mich einlegen, damit ich bei euch unterkomme?» fragte Boubeker. «Oh, das wird schwer, Kleiner, du gehst schief, und du hast Plattfüße.» «Ist das schlimm?» «Nein, das wächst sich aus, Kleiner!» «Dann kann ich also mitkommen?» fragte Boubeker. «Folg uns und halt die Klappe!» Boubeker paßte sich dem Schritt der Patrouille an, bis sie die 150
Kaserne erreichten. Bevor er eintrat, machte er noch einen An spruch geltend, der die Harkis für ihn einnahm: «Aufgepaßt, M’sieur! Du sagst ihnen, daß ich kein Schweine fleisch esse und keinen Alkohol trinke, ja? Monsieur!» «Das wird sich zeigen, das wird sich zeigen!» sagte der Har ki. Und so, in vollem Vertrauen, geriet Boubeker unter die fran zösische Fahne! Er war gerade siebzehn. «Azzedine! Das freut mich aber für dich!» rief er, als Azze dine ihm das freudige Ereignis verkündet hatte. «Sag es allen, und grüß sie alle von mir. Und sag vor allem Si Hamza, daß er für den Kleinen beten soll. Er heißt Selim, ver giß es nicht.» «Wie sollte ich das vergessen?» rief Boubeker entrüstet. «Du rufst nie an, und ausgerechnet, wenn du es einmal doch tust, werde ich es vergessen!» Dann ergingen sie sich lautstark in übertriebenen Höflichkei ten, einfach so, ohne Grund. Das gehört bei uns Arabern dazu. Meriem und Azzedine kehrten nur einmal in das Ghetto am Stadtrand von Aix zurück. Das war zur Herbstzeit gegen Ende der siebziger Jahre. Si Hamzas Uhr war abgelaufen, und sie hatten den Zug genommen, um ihrem Ältesten zusammen mit der großen Harkigemeinschaft, die aus allen benachbarten De partements herbeigeströmt war, die letzte Ehre zu erweisen. An diesem Tag flossen viele Tränen um Si Hamza, und er ließ ebenso viele Waisen zurück, wie es Anwesende gab. Am Ende seines Lebens war er alterslos geworden. Unter seiner Gandou ra und dem weißen Turban ging er gebeugt und krumm. Nur sein Stock konnte ihn noch führen. Jeder küßte ihm die Hand, wenn er ihm begegnete. Si Hamza starb im Bürgermeisteramt von Rouge-Terre, auf dem Gang, der zum Sozialamt führte. Er war gekommen, weil er für einen klugen Jungen, der es ver diente, daß man ihn «auf die Schulen» schickte, um eine Stu dienbeihilfe bitten wollte. Der Greis erlosch wie eine Kerze, deren Docht heruntergebrannt ist; den Kopf zur Seite geneigt, 151
die Perlen seiner Gebetsschnur noch um die Finger gerollt, saß er auf einem schwarzen Kunstledersessel. Als er an der Reihe war und zum Eintreten aufgefordert wurde, dachte die Sozi alarbeiterin, er schliefe. Deshalb ließ sie ihm seine Ruhe und bat den nächsten herein. Denn sie kannte den Alten gut. Sie wußte, wie sehr er sich bei seinen vielen Gängen durch das ganze Departement erschöpfte. Vom Sozialamt bis zur Fürsor ge ließ er keine Stelle aus, um das Leben seiner Gemeinschaft zu verbessern. Wer in der Region hätte Si Hamza nicht ge kannt? Alle achteten ihn, vom hohen Rathausbeamten bis zu den Müllabfuhrleuten, die er dennoch jeden Morgen wütend zusammenstauchte, wenn er sah, daß sie die leeren Mülltonnen von ihrem Kipper herunterwarfen, anstatt sie schön vorsichtig vor den Türen abzustellen. Für seine Gemeinde mischte Si Hamza sich überall ein. Er hatte vom Bürgermeister verlangt, daß ein Raum eingerichtet wurde, der auf dem Heimweg von der Arbeit in den beiden Fabriken, der Reifenfirma und dem Zementwerk, genau vor der ersten Kneipe lag. Zur Stunde des Abendgebets stand er draußen vor der Tür dieses Raumes und zwang die Harkiarbeiter einzutreten, ob sie wollten oder nicht. Nach der Predigt konnten sie die Kneipe natürlich nicht mehr ansteuern. Und Si Hamza hatte seinen Seelenfrieden wieder und konnte anschließend die Schiefertafeln für die Korankurse der Kinder bereitlegen. Auf diese Weise bemühte er sich, im Kreis der Seinen die Sitten und Gepflogenheiten zu wahren, die ein würdiges Menschenleben ausmachen. Zu seinen Aufgaben gehörten auch die Trauungen. Man kam von weit her, ihn um Rat zu fragen. Er segnete die neubeschnittenen Kinder, schaffte familiäre Streitigkeiten aus der Welt, trat Trunkenbolden in den Hintern, um sie auf den rechten Weg zurückzubringen, das heißt: nach Mekka. «Meine Kinder haben eine Seele, und es darf nicht sein, daß die Verzweiflung ihnen den Glauben nimmt», sagte er zum Bürgermeister von Rouge-Terre. Eine seiner letzten Aufgaben bestand darin, die Mitglieder 152
einer rechtsextremistischen Bewegung aus der Siedlung zu jagen. Sie waren gekommen, weil sie hofften, die Wut dieses verlorenen Haufens für ihre Zwecke einspannen zu können. Daß Si Hamza sich für die Seinen verbraucht hatte, wußten alle, die hinter seinem Sarg zum Friedhof von Rouge-Terre zogen. Er ruht in der Allee F, zwischen einer Arlette und einem Massimo. Und zwar schräg zwischen den beiden Gräbern, we gen Mekka. Aber sie hatten lange mit dem Totengräber diskutieren müs sen, weil der behauptete, Si Hamza belege fast zwei Plätze nur für sich allein. Boufeldja mußte mit Bakschisch nachhelfen. Meriem und Azzedine erkannten nicht alle Einwohner des Lagers wieder, die an der Trauerfeier teilnahmen. Die Kinder aus Algerien waren Erwachsene geworden, und die Alten hatte der Mangel ausgezehrt. Sie gingen wie Leute, die nicht mehr träumen, große, tränenlose Augen im hageren Gesicht. Und vielleicht haderten sie mit sich selbst, daß ihnen keine Träne geblieben war, die sie ihrem Ältesten hätten nachweinen kön nen. Die Menschen aus dem Lager waren an dem getrockneten Schlamm zu erkennen, der an ihren Sohlen klebte. Sie umstan den das Grab und betrachteten die anderen, die traurig waren wie sie, die aus anderen Gegenden gekommen waren, weil sie das Glück und den Mut gehabt hatten, das Ghetto zu verlassen. Die Ortsansässigen, die Harkis, die Pieds-noirs, die Juden, sie alle sahen aus, als wollten sie den anderen sagen: «Verzeiht uns, aber wir können nicht einmal mehr weinen.» Die meisten Männer hatten sich einen Schnurrbart zugelegt, um sich den Anstrich von Männlichkeit und Leben zu geben. Sie steckten in dunklen Anzügen, die an Handgelenken und Knöcheln zu kurz geraten waren. Sie sahen einander nicht an, weil jeder darüber nachdachte, was aus den anderen geworden war. Sie sahen alle nach vorn zum Totengräber. Sie beugten nicht den Nacken, die Leute aus dem Ghetto: Sie krümmten sich zusammen. Sie waren wie Spatzen, die von ihrer Mutter verlassen worden waren, weil ein Mensch das Nest gestreift 153
hatte. Sie wußten sich zu Unrecht verflucht und fallengelassen. Aber wenn es keine Wahl, keine Umkehr mehr gibt, wird al les mutlos und ohne Begeisterung getan und gegeben, bis auf das Maß an Zärtlichkeit, das für die Kinder nötig ist. Weiter hinten weinten die Frauen. Ihre Gesichtsschleier waren tränen naß. Sie hatten ihre Ehemänner der Familie vorgezogen, aber es war unmöglich zu erraten, was sie jetzt dachten. Sie sagten nichts. Da waren die Kinder, denen man den Po abwischen, die man aufziehen, lieben mußte. Das war ihre Beschäftigung. Auch Meriem hatte Tage der Ruhe, an denen sie bedrückt mit ten im Wohnzimmer auf dem Teppich saß, auf die Rückkehr ihrer Kinder, ihres Mannes wartete und nichts anderes tun konnte als sich fragen, was aus den Vätern, den Müttern, den Geschwistern drüben geworden war. «Nach drüben», mit die sen Worten hatte Azzedine seinem Sohn Selim geantwortet, als dieser ihn eines Tages fragte, wohin gewisse merkwürdige Autos wollten, die über die Nationalstraße fuhren. Die Strecke nach Süden. Diese Wagen, deren Dach mit Gepäck beladen war, hatten die Aufmerksamkeit des Kindes geweckt, weil sie ganze Ara berfamilien transportierten, die man zwischen den Koffern kaum erkennen konnte. Sie kamen aus dem Norden, aus Hol land, aus Belgien, und fuhren also «nach drüben». Diese Glückspilze! sagte sich Meriem. Viele machten in Reims Stati on und kauften Lebensmittel für die Reise. Sie redeten laut, und sie lachten. Manchmal sah sie ihnen lange zu, wenn sie ihre sieben Sachen mit Spannvorrichtungen wieder auf dem Dachgepäckträger befestigten. Sie brüllten, sie schrien sich an und sahen dabei überglücklich aus, «nach drüben» zurückzu kehren. Die Frauen ließen die Kleinen in den Rinnstein pinkeln und besuchten sich von Wagen zu Wagen, denn sie reisten fast alle im Konvoi. Wenn sie mit viel Gehupe wieder aufbrachen, rührte sich Meriem nicht mehr, hörte nichts mehr um sich her um, starrte auf die Straße, die Strecke «nach drüben»: nach Algerien. 154
Wenn Azzedine bei ihr war, zog er sie am Arm: Er wollte es nicht sehen. Nichts! Der Totengräber warf die erste Schaufel Erde auf den Sarg. Alle grüßten Si Hamza ein letztes Mal. Wer von auswärts kam, stieg wieder in den Peugeot, und die Leute aus dem Lager nahmen mit hängenden Schultern den Weg zum Ghetto. Bou feldja, das neue Oberhaupt der Gemeinschaft, brachte Meriem und Azzedine zu ihrem Zug, aber er hielt sich nicht lange auf dem Bahnsteig auf, weil sein Wagen ungünstig geparkt war: «Die Bullen erkennen unsere Karren am Schlamm auf den Reifen», sagte er, «tut mir leid, aber ich muß zurück…» Si Hamza hatte darauf gedrungen, daß Boufeldja «die Fami lie» nach seinem Tod leitete. Er hatte zu ihm gesagt: «Du wirst meine Hand nehmen, um sie ihnen zu reichen, meinen Fuß, um sie in den Hintern zu treten, wenn sie ab schwören, und mein Herz, um sie zu lieben, aber aufge paßt!…» «Worauf, Si Hamza?» «Du trinkst kein Kronenbourg mehr…» Boufeldja hatte lange nachgedacht und schließlich eingewil ligt.
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Azzedine konnte sich seinen zweiten Stern an die Dienstmütze stecken, als seine Tochter Saliha neun Jahre alt wurde. Diese Beförderung brachte außer einer Gehaltserhöhung mit sich, daß er nicht mehr so häufig zur Spitzenverkehrszeit eingesetzt wur de, und vor allem, worauf er besonders stolz war, daß er zu den sorgfältig ausgewählten Fahrern gehörte, die den Betrieb einer erst kürzlich neu eröffneten Linie sicherstellen sollten. «Du wirst noch Chef des Verkehrsnetzes!» neckten ihn seine Kollegen bei der Runde, die zu seinen Ehren spendiert worden war. Die Schirmmütze im Nacken, streichelte er heimlich mit dem Daumen seinen neuen Stern. Zu den Gästen im Empfangssaal des Unternehmens, der Chef vornweg, gehörten auch Meriem, Selim und Saliha. Sie waren schrecklich beeindruckt, es war auch ihr Fest. Um ihre Schüchternheit zu verbergen, trug Meriem die leeren Gläser, die auf den Tischen herumstanden, zur Bar. Als Selim sich den ersten Preis beim jährlichen Leistungs wettbewerb in Französisch holte, war die Ergriffenheit noch stärker. Meriem stimmte in ihrer Vierzimmerwohnung ein schrilles Freudengeheul darüber an. Sie wußte überhaupt nicht, was das war, ein jährlicher Leistungswettbewerb, aber sie wür de nie mehr vergessen, was ihr Mann zu ihr gesagt hatte: «Un ser Sohn ist besser als die Franzosen!» Im Bürgermeisteramt versammelten sich ein Rektor, der Lei ter des Gymnasiums, der Bürgermeister und viele Journalisten. Am nächsten Tag war Selim neben seinem Vater auf einem Foto in der Zeitung verewigt. Der Vater hielt ihn bei der Schul 156
ter, wie man eine Trophäe zur Schau stellt. Er lächelte wie die Glückspilze im Lotto auf den Prospekten und schien zu sagen: «Ihr seht, daß auch wir euch etwas zu bieten haben.» Meriem war nicht auf dem Foto: zu klein, der Ausschnitt. Und Saliha war zu dem Zeitpunkt gerade am Büfett. Azzedine hatte Di plom und Foto eingerahmt. Man stieß unweigerlich darauf. Sobald man die Wohnungstür aufmachte, hatte man die beiden Rahmen – sie hingen an der gegenüberliegenden Wand – direkt vor der Nase, und erst anschließend reichte Azzedine einem die Hand. Abgesehen von den Glückwünschen, die sie von der gesamten Harkigemeinde Frankreichs erhielten, hatte AFP den Satz wiedergegeben, den ein Vertreter des Ministers formuliert hatte: «Künftig müssen wir mit dieser neuen, ehrgeizigen Generati on rechnen, die frischen Wind und Lebenskraft in unsere alten Gewohnheiten bringen wird.» Verrückterweise hatte Azzedine binnen kurzem mehr Leute in seinem Bus! Bei all den Fahrgästen, die ihn wiedererkannten und Neues von seinem hochbegabten Sohn hören wollten, fand er seinen Sitz zu niedrig. Nach mehr als zwanzig Jahren des Exils waren Meriem und Azzedine mit ihren beiden Kindern endlich glücklich. Meriem sprach mit ihren Nachbarinnen Französisch und gewann die Schönheit einer Frau, die auf die Fünfzig zugeht. Ihr Mann spielte hinter dem Steuer seines Busses Flugzeugpilot und be mühte sich um einen dritten Stern. Selim sammelte ein Diplom nach dem anderen, und Saliha träumte. Alles stand zum besten! Der einzige Schönheitsfehler: Niemand von der Familie drü ben in Algerien reagierte jemals auf die Post oder die Geschen ke, da halfen auch die Empfangsbescheinigungen nicht. Und schließlich fuhr Meriem hin.
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Ohne Gepäck, nur mit ihrem Paß traf sie am Flughafen in Tlemcen ein. Ihr ältester Bruder, Djillali, erwartete sie. Als Kind hatte Meriem ihm die Füße gewaschen und die Suppe hingestellt, wenn er von den Feldern kam. Die Feldarbeiter setzten sich vom frühen Morgen an zuerst an den Tisch. Die Frauen konnten anschließend mit dem vorliebnehmen, was sie übriggelassen hatten. Der große Bruder war kahl geworden und hatte nicht mehr auf den Knochen als sonnenverbrannte Haut. An seiner rechten Hand fehlte ein Finger. Zur Begrüßung am Flughafen hatte Meriem den Kopf an sei ne Schulter gelehnt, und er hatte ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn gegeben. Sonst nichts, kein Blick, kein Wort fürein ander. Schamgefühl dieser Kinder des Windes und der Trok kenheit. Mit Stiefeltritten in den Hintern wird dir hier im Dschebel beigebracht, den Blicken der Frauen auszuweichen und das Schweigen der Erwachsenen zu respektieren. Augen und Mund zugenäht, und für die Ohren gilt auch nichts ande res. Da drüben wächst du nur mit der Nase auf. Kein Wunder, daß es dort so viele Gerüche und Düfte gibt, schließlich muß das Leben einen Sinn behalten. Es war die Zeit der Siesta, der mguil. Djillali verkündete: «Wir gehen zuerst zu unserer jüngsten Schwester Naziha.» «Nein, bring mich direkt zu Vater und Mutter», schlug Me riem vor. «Sie sind gestorben», sagte er verlegen, weil er nie auf die Post aus Frankreich geantwortet hatte. «Gut, gehen wir zum Friedhof, ich will sehen, wo sie liegen.» Auf der Straße nach Medenine versuchte Meriem, über den 158
Horizont hinauszusehen, als ob sie die Kulisse ihrer Kindheit nicht wiedererkennen könnte oder fürchtete, der Anblick würde ihr Gedächtnis wachrufen. Auf dem Friedhof von Ezzerga setz te sie sich mit gekreuzten Beinen zwischen die Gräber ihrer Eltern. Sie stammelte ein Gebet, während sie den Blick ab wechselnd auf die beiden Erdhügel heftete. Djillali war neben ihr, aber er konnte die Worte auf den Lippen seiner Schwester nicht entschlüsseln. Er begriff, daß sie zu ihren Toten sprach. Und doch sah sie nicht so aus, als beklagte sie sich! Sie weinte nicht. Nach einem kurzen Schweigen wandte sie sich zu ihm um: «Laß mich allein hier», sagte sie. «Ja», antwortete er, weil es ihm entgegenkam. «Ich komme am Spätnachmittag wieder.» «Nein, ich finde meinen Weg allein.» Er ging, ohne weiter zu fragen. Meriem suchte den Weg zu ihrem Dorf nie, sie blieb auf dem Friedhof. Sie ist noch heute da. In der weißen Kubba, die sich über die verstreuten Gräber erhebt und die einst den Nomaden aus der Wüste Zuflucht bot, wenn sie kamen, um ihre Verstorbenen zu grüßen, hat sie ihr Lager bezogen. Sie betet. Wenn sie die Kubba verläßt, fegt sie die unebenen Alleen des Friedhofs und dichtet ein paar Geländebuckel, die der Wind freigeweht hat, mit roter Erde ab. Sie verbirgt ihre Falten unter einem alten Umschlagtuch mit verblichenen Farben. Die Dorf bewohner haben sich an sie gewöhnt. Niemand hält sie für eine Verrückte und verbietet seinem Nachwuchs, sich ihr zu nähern. Manche sagen, sie sei eine Hei lige, und stellen jeden Tag am Eingang des Gewölbes Dick milch und Weizenfladen ab. Sie haben ihr den Namen Hadja Hanina – die sanfte Heilige – gegeben. Einmal wöchentlich bringt ihr ein Junge eine Kerze und eine kleine Schachtel Streichhölzer. Er tut es im Auftrag seiner Mutter, die ihm ge sagt hat: «Diese Frau bringt uns Glück! Seit sie da ist, hat dein Vater 159
aufgehört, das Wenige, was er verdient, im Cafe zu vergeuden. Gib ihr diese Kerze, sie soll ihre Nächte erhellen.» Keinem Familienangehörigen ist es gelungen, Meriem aus ih rer Kubba zu holen. Ihre Schwestern sind gekommen und ha ben sie angefleht, diese Lebensweise, die einem Sterben auf Raten gleichkam, aufzugeben. Vergeblich. Sie tut ihnen leid mit diesen Füßen, die an den Hacken rissig sind, und den wir ren, grauen Haaren. Jetzt endlich hat die Französin, wie sie lange Zeit genannt worden ist, Ähnlichkeit mit ihnen! Im Grunde ist ihnen das lieber. Das entschädigt sie für die mehr als zwanzig Jahre alte Vorstellung, diese Schwester liefe in ägyptischen Seidenkleidern herum, trüge glänzende Tücher aus Libyen und schwenke beständig ein volles Portemonnaie! Denn sie haben sie die ganze Zeit mit Eifersucht und Neid ver folgt. Wie gern hätten sie selbst, sie, die Schwestern, ein ande res Leben geführt, und sei es dank eines Harkis! Das Elend trifft Frauen schlimmer. Ein Mann könnte auch nackt leben. Selbst die Tochter hat nicht vermocht, Meriem von ihrem Friedhof zu locken. Saliha besucht sie zweimal im Jahr. «Du mußt mir glauben, daß ich nicht verrückt bin», hat ihre Mutter beim ersten Besuch zu ihr gesagt. «Dein Vater weiß, daß mein ganzes Leben nur ein Gebet ist. Er hat mich oft mit zu Gott erhobenen Armen überrascht. Er versteht mich.» Meriem ist in ihrer Kubba. Allein. Völlig zurückgezogen. Sie hat Wasser, das ihr der Wadi unten am Friedhof liefert, und ihre Tochter hat ihr die Zelle mit kleinen Möbeln aus Frank reich eingerichtet, darunter ein Klappbett.
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Nachdem Saliha ihr Krankenschwesterdiplom gemacht hatte, lief sie sich ein paar Monate im Reimser Krankenhaus die Schuhsohlen durch. Im gleichen Krankenhaus, das Jahre zuvor Selim als Notfall aufgenommen hatte. Aber in Wirklichkeit atmete er da schon nicht mehr. Es war ein Leichnam, den die Polizei hier abgeliefert hatte, nachdem sie endlich von Unbe kannten, die sich bei dem Anruf vorsichtshalber hinter ihren Jalousien versteckten, alarmiert worden war. Nie durchquerte Saliha das Erdgeschoß der Notaufnahme, ohne an ihren Bruder zu denken. Wenn sie dem Arzt begegnete, der in der Nacht des Dramas Dienst gehabt hatte, bremste sie den Schwung des Me dikamentenwagens, den sie schob. Sie sah zu, wie dieser Mann, der den Totenschein ausgestellt hatte, sich entfernte, verbot sich aber jedesmal, ihn zu fragen, ob er sich an den dun kelhäutigen Körper mit einer Stichwunde im Bauch erinnerte. Sobald sie die geforderte Erfahrung erworben hatte, ent schloß sich Saliha, eine Praxis für ambulante Krankenpflege aufzumachen. Das nötige Geld hatte ihr Vater. Er hatte darauf geachtet, an jedem Monatsende zur Seite zu legen, was eines Tages für seine beiden Kinder nützlich sein könnte. Nun blieb alles für Saliha. Nur daß es in Reims bereits mehr als genug dieser jungen Dinger mit dem weißen Häubchen und der Sprit ze gab. Ihre Zahl war Legion! Jedes Viertel hatte eine, manchmal zwei Schwestern. Ange sichts dieser Tatsache, aber auch, weil sie seit Selims Tod diese Stadt immer weniger ertrug und nur noch davon träumte, ihr zu entkommen, beschloß Saliha, Reims zu verlassen. Ihr Vater half ihr beim Umzug in ein zweigeschossiges Ap 161
partement in Sarcelles bei Paris, das sie in den Kleinanzeigen aufgestöbert hatte. Dort gab es genau den Patientenkreis, den sie sich wünschte; eine gute Mischung aus Arabern, Schwarzen und Juden, die in diesen übereinanderliegenden Geschossen, die man Etagen nennt, zusammengepfercht waren. Außerdem waren die wenigen «Spritzen», die in diesem Viertel, dem Quartier des Flanades, mit Strenge ihre Arbeit versahen, den Anforderungen nicht gewachsen. Saliha fühlte sich hier so gleich wohl. Von ihrer Praxis sah man auf die Synagoge, ihr Schlafzimmer lag auf der Vorderseite, direkt über dem Le bensmittelladen des Tunesiers Mongi. Azzedine war natürlich mächtig stolz, als die Beharrlichkeit seiner Tochter nach einiger Zeit mit einem so großen Patien tenkreis belohnt wurde, daß sie nicht mehr wußte, wohin vor lauter Arbeit! «Meine Tochter ist eben sanft und rücksichtsvoll. Sie herrscht ihre Patienten nicht an, das ist der Grund», erklärte er Huguet te. «Monsieur Azzedine, wir wissen allmählich, daß deine Toch ter einmalig ist», sagte Huguette ironisch hinter ihrer Bar. «Du erzählst es uns jeden Tag!» Saliha ist jetzt sechsundzwanzig Jahre alt. Sie hat Abdelrahmane geheiratet, einen Krankenwagenfahrer aus Marokko, den sie bei einem Protestmarsch gegen den ver brecherischen Brandanschlag auf ein Wohnhaus im StalingradViertel kennengelernt hatte. In dem Gebäude lebten Flüchtlinge aus dem Sahel. Sie haben zwei Kinder, vierjährige Zwillingsjungen. Azzedine ist Rentner. Zu beiden Seiten seines dichten Haarschopfes hängen ein paar Locken, die ins Graue spielen. Und er hat eine gehörige Arthrose. Er wohnt immer noch in Reims. Er verbringt seine Tage im 162
Sekretariat einer Vereinigung der Immigrantengemeinschaft, deren vordringlichster Wunsch die Errichtung einer Moschee in der Champagne ist. Aber, wie er Huguette beim abendlichen Aperitif erklärt hat: «Die Moschee, das wird eine knifflige Angelegenheit! Mit dem Kulturverantwortlichen der Stadt kann man ja noch reden! Aber sein Stellvertreter ist ein kleiner, rücksichtsloser Laffe, bei dem es am Auge zuckt, wenn er sich aufregt. Der hört uns nie zu und gibt nicht weiter, was man ihm sagt. Sobald er einen Ausländer sieht, stehen ihm die Haare zu Berge. Also stellt euch vor, wie sein Kopf aussieht, wenn er Worte wie ‹Mo schee› oder ‹Arabischkurs› hört. Er steht auf, er explodiert, er stampft mit dem Fuß auf und stottert immer das gleiche: ‹Und was sonst noch, hä! Und hopp! Die kommen zu uns, und hopp, wollen sie alles so haben wie drüben! Und hopp! Und hopp! Die zwingen uns noch, den Burnus zu tragen! Schon bald, wenn man auf sie hört! Hopp! Was sonst noch!…› Wir haben ihm den Spitznamen Hopp und hopp gegeben, aber man fragt sich wirklich, wie er es angestellt hat, daß er in die Gemeinde verwaltung gekommen ist.» Azzedine sitzt außerdem als ständiges Mitglied im Festkomi tee der Ehemaligen der Verkehrsbetriebe. Er kennt keine Lan geweile in seinem Ruhestand! Jedes zweite Wochenende nimmt er den Zug nach Paris, und von da geht’s ab nach Sar celles, wo er seine kleinen Enkel besucht. Er kreuzt immer samstags gegen siebzehn Uhr auf. Zuerst schaut er in der Pra xis vorbei, wo seine Tochter ihm regelmäßig verkündet, daß sie noch jede Menge Arme, Rücken und Hinterteile zu spritzen hat. Also setzt er sich zu den Patienten in das winzige Warte zimmer. Er stellt die Geschenke für seine Enkel zu seinen Fü ßen ab, dann läßt er stolz die Blicke schweifen und sagt sich: «Es ist schön, es läuft, und es gehört meiner Tochter!» Seiner Tochter Saliha, die ihm um den Hals fällt und ihn schilt: «Schon wieder Geschenke! Was ist das für eine Art, einem so 163
die Gören zu verwöhnen!» Sie umarmen sich heftig. Und endlich die Kleinen! Azzedine erreicht sie über eine enge Treppe, die von der Praxis in die Wohnung führt. Er hört schon, wie sie sich im Wohnzimmer streiten. Er hört sie! Seine Augen leuchten auf. Er nimmt eine Stufe, nimmt langsam die zweite, und je höher er kommt, desto mehr schnürt ihm die Erregung die Kehle zu. Mit erhobenem Kopf lauscht er, was sie wohl sagen, und hält die Luft an. Auf halber Treppe hält er es nicht mehr aus. Er ruft sie. Sobald die Zwillinge seine Stimme erkannt haben, jubeln sie vor Vergnügen und drängeln sich darum, als erster dem Jeddi, dem Großvater, in die Arme zu springen. Sie rufen: «Jeddi! Jeddi!» Und er ist so glücklich, daß er sich fast eine Träne abdrückt. Die beiden Kleinen sind im August des Jahres zur Welt ge kommen, in dem es in Frankreich und im alkoholvernebelten Kopf einiger französischer Proleten in den Sozialwohnungen ziemlich heiß gewesen war. Manche von ihnen hatten von ih ren Fenstern aus auf Araberkinder geschossen, die den Fehler machten, sich die Langeweile auf ihren knatternden Mopeds zu vertreiben. Azzedine erinnert sich daran. Und weil er sich daran erinnert, ist er überglücklich zu sehen, daß seine beiden kleinen Bur schen da sind, und zwar quicklebendig. Diese zwei kleinen Wesen mit dem schwarzen, dichten und lockigen Haar bringen Azzedine jedesmal zum Weinen. Er sagt sich, daß ihr Lachen mächtiger ist als irgendein Gewehr, das hinter einem Fenster im Anschlag liegt, stärker als irgendein Messer, das in der Nacht geschwungen wird. Die beiden Kleinen leben, sie sind unvergänglich. Und wie immer wiederholt Azzedine, bevor er sie in die Arme nimmt, für sich allein ihre Vornamen: «Abdennebi… Malik.» ENDE
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