Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
DIE Reihe
Hans Siebe
Mord war nicht geplant
Verlag Das Neue Berlin
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Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
DIE Reihe
Hans Siebe
Mord war nicht geplant
Verlag Das Neue Berlin
Oberleutnant Dieter Boltin, ein sympathischer, engagierter Kriminalist, privat auf bestem Wege, eine neue Familie zu gründen, wird, als er einem Trickbetrüger das Handwerk legen will, erschlagen aufgefunden. Ein außergewöhnliches Vorkommnis, an dessen Aufklärung Hauptmann Rabe sehr persönlich interessiert ist, handelt es sich bei dem Toten doch nicht nur um einen Kollegen, sondern auch, um einen Freund. Beim Sichten der Unterlagen des toten Kriminalisten stößt der Hauptmann auf eine heiße Spur. Er ahnt nicht, daß er damit zwar in ein Wespennest sticht, sich von der eigentlichen Lösung des Falles jedoch entfernt.
ISBN 3460-00151-6 1. Auflage © Verlag Das Neue Beflin, Berlin • 1988 Lizenz-Nr.: 409-160/215/88 ■ LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner PriiHed in the German Democratic Republic Gesaintherstellun«: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden 622 812 3 0020»
1. Vor dem Krankenhaus verkaufen ambulante Händler Blumen. Artur Miete ersteht von einem hünenhaft wirkenden jungen Mann sechs rote Rosen, in Zellophan gehüllt wie Aufschnitt in der Kaufhalle. Ob der Athlet mit den Händen wie Kohlenschaufeln nicht eine angemessenere Tätigkeit fände, denkt Miete. Das Gittertor schwenkt nach innen, die Besuchszeit beginnt, einige Dutzend Wartender drängen hindurch. Sobald Miete die Krankenhausluft in die Nase bekommt, befällt ihn ein beklemmendes Gefühl; diese Mischung aus Speise, Desinfektionsmitteln und einem Hauch Apotheke. Er ist froh, daß Martha ihn draußen erwartet, und küßt sie zärtlich. Sie ist schmal geworden, und im Haar sind neue graue Strähnen. Über der Patientenkleidung trägt sie ihren gelben Bademantel, Miete muß an ein Kanarienvögelchen denken. Sie setzen sich auf eine Gartenbank und rücken vor der prallen Sonne in den Baumschatten. „Wie geht’s dir, Marthchen?“ fragt er besorgt. „Nächste Woche kann ich ‘raus, sagt der Oberarzt.“ Und sie fügt im gleichen Atemzug hinzu: „Wie kommst du zurecht, Dickerchen?“ Die Sorge um sein Befinden tut ihm wohl; er sagt nicht, daß alles so geht wie immer, im Gegenteil, er sagt: „Du fehlst mir sehr!“
Sie nickt zufrieden und ist froh, daß es bald überstanden ist. Nach dreißig Jahren hat sie ihn zum ersten Mal allein lassen müssen, wegen der notwendig gewordenen Gallenoperation. Wie sie da eng beieinandersitzen, könnte man sie für Neuvermählte halten. Er erzählt Neues aus der „Möbelbude“, so nennt er seinen volkseigenen Betrieb, nichts Besonderes, aber Martha will alles wissen. Er kommt gerade von der Frühschicht, hat wegen des sonnigen Wetters einen Umweg durch den Park gemacht. Es ist wahr, Poldam gehört zu den schönsten Städten der Republik; eine Viertelstunde saß er am Seeufer auf der Bank und sah den Brettseglern zu. „Warst du allein?“ fragt Martha und mustert ihn verstohlen. Er lächelt nachsichtig, sie ist wieder mal eifersüchtig. Artur widersteht der Versuchung, „ja“ zu sagen; Martha merkt es, wenn er schwindelt. „Nein“, sagt er, „ein Mann in meinem Alter hat sich zu mir gesetzt.“ „Ein Mann?“ „Ja, ein Mann. Wir haben uns unterhalten.“ „Und worüber?“ fragt sie. Vielleicht über Vögel, denkt Martha, wenn der andere - oder war es doch eine Frau? - ebenso vernarrt war in die gefiederten Gesellen wie Artur? Worüber reden zwei Mittfünfziger, wenn nicht über Hobbys? Artur träumt von Volieren mit Fasanen und Exoten. „Eigentlich wollte ich es dir gar nicht sagen“, verkündet er, „es sollte eine Überraschung werden!“ Martha rückt dichter an ihn heran und drückt seinen
Arm. „Eine Überraschung? Für mich?“ Sie kichert, und Artur weiß warum. Überraschungen gelingen ihm selten, Weihnachtsund Geburtstagsgeschenke holt er schon vorher herbei und kann nicht abwarten, ob sie sich freut. „Stell dir vor, er verkauft ein Grundstück!“ „Wer?“ Martha starrt Artur verblüfft an. „Na, der Mann!“ Umständlich berichtet Miete seiner Frau, wie er mit dem anderen ins Gespräch gekommen ist. „Hast du etwa mit unserem Lottogewinn geprahlt?“ fragt sie. Er könnte sagen, daß es sein Gewinn ist, sie will ja von der Spielerei nichts wissen, aber er übergeht es. Sein Banknachbar hatte ihn bewundert; man liest zwar in der Zeitung, welche Gewinne in jeder Woche ausgeschüttet werden, aber einem leibhaftigen Gewinner begegnete Herr Beier zum ersten Mal. Das Grundstück liegt in Finkenhain, berichtet Artur, und seiner Stimme merkt Martha an, daß er Feuer und Flamme ist. Gegen Finkenhain gibt es nichts einzuwenden, ein bißchen abgelegen zwar und nur mit dem Bus zu erreichen, denn immer mit dem Wartburg zu fahren, würde zu teuer werden, aber es sind fast alles Waldgrundstücke dort. „Ein Waldgrundstück“, sagt Artur. „Also etwas zum Faulenzen“, fügt sie hinzu und erwärmt sich dafür. Sie wollte nie einen Garten, in dem man sich übers Wochenende mit dem Unkraut abplagt; ein Faulenzergrundstück dagegen wäre nicht schlecht. Das Lottogeld liegt seit einem Jahr unangerührt auf der Sparkasse, fast unangerührt, denn fünf von den fast fünfzigtausend Mark hat Tochter Hilde bekommen zur
Ausstattung der neuen Wohnung. „Achtzehntausend verlangt er, den Taxpreis.“ „Und keine Mark extra?“ fragt Martha ungläubig. „Das ist verdächtig.“ „Was du immer hast“, erwidert er ärgerlich. So ist Martha, was vom Üblichen abweicht, macht sie mißtrauisch. Zugegeben, Grundstücke zum Taxpreis sind die Ausnahme. „Dabei ist ein Haken“, vermutet Martha, „vielleicht eine Hypothek?“ Wortlos langt Artur das Foto aus der Brieftasche, das Herr Beier ihm überlassen hat, und reicht es Martha. Es zeigt einen ansehnlichen Bungalow mit schmiedeeisern eingefaßter Terrasse. Das Bauwerk wirkt solide. Nur die hohen Kiefern stören Martha, wenn da mal eine umstürzt? „Heute abend besichtige ich das Grundstück!“ erklärt Artur. So bestimmt, wie er es sagt, weiß sie, daß er es sich nicht ausreden läßt. Gewöhnlich folgt er ihren Ratschlägen, darf sich nur nicht gegängelt fühlen, dann wird er störrisch. „Sicher verlangt er eine Anzahlung?“ Das sagt sie zu beiläufig, als daß es so gemeint sein kann, findet Artur. Die Frage bereitet ihm Unbehagen, denn sie trifft ins Schwarze. In der Tat nähme Herr Beier davon Abstand, in der Zeitung zu inserieren, wenn ein Vorvertrag zustande käme. „Dreitausend Mark“, sagt Artur, „natürlich schriftlich, wie es sich gehört!“ „Natürlich“, wiederholt Martha, „dreitausend Mark für ein Stück Papier!“ Sie seufzt übertrieben. „Wenn
dir jemand sagt, im Himmel sei Jahrmarkt, dann fragst du, wo die Buden stehen. Gib es zu, Dickerchen.“ Artur brummt beleidigt. Die zehn Jahre als Schöffin im Bezirksgericht haben sie verdorben; man kann nicht in jedem Menschen einen Gauner sehen. Das tut sie ja auch nicht, verteidigt er sie gleich darauf, doch wenn sie die steile Falte über der Nasenwurzel bekommt wie eben, dann wittert sie Ungutes. „Was du gleich vermutest“, sagt er, es klingt aber wenig überzeugend. Jetzt hält sie mir wieder die Uhr vor, denkt er. „Erinnerst du dich an die goldene Schlüsseluhr?“ fragt Martha. „Ja, ja, die war aus Messing. Wie kann ich das vergessen, so oft wie du mich daran erinnerst.“ „Wenn dieser Herr Beier dich anschmieren will, dann hat er das Grundstück von einem Onkel geerbt.“ Artur starrt sie verblüfft an. „Wie-wieso? Kein Onkel, eine Tante!“ „Auch gut“, sagt Martha. „Bestimmt hat Herr Beier dir erzählt, daß er das Grundstück erst kürzlich geerbt hat. Das erklärt ein fremdes Namensschild an der Pforte, und daß er nichts Schriftliches, was ihn als Eigentümer ausweisen könnte, in den Händen hält. Es verschafft ihm auch einen zeitlichen Spielraum, bis der Erbschein vorliegt und die Umschreibung im Grundbuch erfolgt. Mit der Methode legt er noch andere Esel ‘rein!“ behauptet Martha sarkastisch. Artur will es nicht wahrhaben, aber sie hat ihn verunsichert. „Was soll ich denn machen? Nicht nach Finkenhain fahren? Und wenn es tatsächlich eine einmalige Gelegenheit ist?“
„Hinfahren sollst du“, sagt Martha, „aber ohne Geld. Ist es ein reeller Handel, dann wartet Herr Beier mit der Anzahlung bis Montag. Bis dahin ziehst du Erkundigungen ein!“ „Erkundigungen? Wie denn?“ Martha glaubt, daß es Zufall wäre, sollte Artur das erste Opfer sein. Sie rieche förmlich die Masche, behauptet sie. Bevor Artur, ohne Geld, nach Finkenhain fährt, soll er zur Volkspolizei gehen und sich beraten lassen, am besten zur Bezirksbehörde, die haben den Überblick. Artur sieht sie ungläubig an; da spricht aus ihr wieder die Schöffin: „In vielen Strafsachen wäre die Polizei bei rechtzeitiger Verständigung prophylaktisch wirksam geworden!“ „Wenn du meinst“, sagt Artur halbherzig. Ihm fällt ein, daß Martha vor einem Jahr ausgezeichnet worden ist, als sie an ihrem Postschalter einen Scheckbetrüger entlarvte. „Ich glaube, der Gedanke ist gar nicht mal schlecht“, erklärt Artur, und bis zum Ende der Besuchszeit sprechen sie nicht mehr darüber.
2. Bis zum Dienstschluß um sechzehn Uhr sind es noch dreißig Minuten. Oberleutnant Dieter Boltin räumt die Schreibutensilien in den Schub. Leise pfeifend überläßt er sich der aufkommenden Feierabendfreude, die der Freitag vor einem dienstfreien Wochenende auslöst. Eigentlich könnte er gehen, der Dezernatsleiter bot es ihm an, bei den vielen
.Überstunden. Es war auch seine Absicht gewesen, doch bevor er den Schub schließt, fällt sein Blick auf den blauen Aktenhefter. Der Deckel ist mit Stempeln und Vermerken übersät; sie belegen den Instanzenweg vom Ermittlungsorgan zur Justiz und zum Strafvollzug. Boltin langt die Akte heraus und schlägt den Deckel auf; staubiger Archivdunst steigt empor. Die Blätter sind vergilbt, und das dreifache Täterfoto ist verblaßt. Boltin erkennt seine eigene Handschrift, von ihm stammt der Eröffnungsvermerk der Ermittlungssache Simon, Gerhard. Es war einer seiner ersten Fälle in der Bezirksdienststelle gewesen, den er damals als Leutnant zu bearbeiten hatte. Das Gesicht auf dem Foto wirkt unfertig; vielleicht liegt es an dem weichen runden Kinn. Der Blick ist verhangen, und es scheint so, als wollte Simon in Tränen ausbrechen. Vor drei Wochen sah Boltin ihn wieder, er erkannte ihn sofort. Eine Nachfrage bei der Staatsanwaltschaft bestätigte, was er vermutete: Der zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilte Simon war vorzeitig entlassen worden; der Strafrest von sechs Monaten war zur Bewährung ausgesetzt worden. Der Zufall hatte bei ihrer Begegnung seine Hand im Spiele gehabt. Boltin hielt mit seinem Trabant bei Rot an der Ampel. Auf der Nebenspur wartete ein weißer Lada, und am Lenkrad saß Simon. Boltin notierte sich das Kennzeichen, denn da ergaben sich doch Fragen: Kaum aus dem Strafvollzug entlassen, besaß Simon schon wieder einen Führerschein? Und wem gehörte
das Fahrzeug? Am selben Tag noch erfuhr Oberleutnant Boltin, daß der Fahrzeughalter ein gewisser Willi Heise ist, Besitzer der Autowerkstatt in der Gadeberger Straße. Das allein war Anlaß genug, die Strafsache Gerhard Simon aus dem Archiv anzufordern. Dieter Boltin versucht, das Gesicht, dem er vor drei Wochen begegnet war, aus der Erinnerung mit dem verblaßten Foto zu vergleichen. Die Jahre im Strafvollzug sind nicht spurlos an Simon vorübergegangen. Der damals Dreiundzwanzigjährige ist jetzt siebenundzwanzig Jahre alt, drei Jahre jünger als er selbst. Boltin fährt erschrocken aus seinen Gedanken auf, als die Wechselsprechanlage schnarrt. Er drückt die Taste und meldet sich. Der Ruf kommt aus der Einlaßkontrolle. Die öffentliche Sprechzeit ist vorüber, und der Obermeister der Volkspolizei fragt, ob Boltin noch zu sprechen sei. „Ein Bürger Miete, Genosse Oberleutnant. Er sagt, es geht um einen Trickbetrüger.“ Oberleutnant Boltin blickt auf die Uhr, noch fünfzehn Minuten bis Dienstschluß, aber Trickbetrug fällt in sein Ressort. „Soll raufkommen!“ sagt er. Der Bürger Miete sitzt ihm gegenüber auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch: fünfundfünfzig Jahre alt, von Beruf Tischler und im Möbelkombinat als Maschineneinrichter tätig. Ein spärlicher dunkler Haarkranz umrahmt die rosige Kopfhaut. Auf Mietes Stirn perlt Schweiß – die Hitze macht ihm zu schaffen – , er tupft ihn mit dem Taschentuch fort. Boltin nickt ihm ermunternd zu. „Wollen Sie eine Anzeige erstatten, Herr Miete? Ich bin Oberleutnant Boltin.“
„Eine Anzeige?“ wiederholt Miete. „Also eine Anzeige eigentlich nicht. Ich brauche einen Rat.“ Artur Miete berichtet über seine Bekanntschaft mit Herrn Beier, der das Grundstück in Finkenhain, Parkaue zwölf, verkaufen will. Miete vergißt auch nicht zu erwähnen, daß es eigentlich seine Frau ist, die dem „Grundstücksverkäufer“ eine betrügerische Absicht unterstellt. „Können Sie den Mann beschreiben?“ Miete spürt, daß der Oberleutnant nicht nur aus Routine fragt. Sollte an Marthas Verdacht etwas dran sein? Ein Wunder wär’s nicht. Miete bemüht sich, den Mann zu schildern, wie er ihn in Erinnerung hat; er wirkte vertrauenerweckend, seriös, und er trug eine Brille mit Goldrand und getönten Gläsern. „Wie war er bekleidet?“ „Grauer Anzug mit rötlichen Nadelstreifen“, antwortet Miete, „ach ja, und einen Staubmantel!“ Der Mantel interessiert Boltin. „Erinnern Sie sich an eine Besonderheit des Mantels?“ Miete schüttelt den Kopf. Von einer Besonderheit weiß er nichts, so genau hat er nicht darauf geachtet. „Höchstens…“, er verstummt. „Ja?“ Der Oberleutnant sieht ihn fragend an. „Mir fiel auf, daß er sehr hell war, fast wie ein weißer Kittel; er muß ziemlich oft gewaschen worden sein.“ Boltin sagt nicht, daß er längst seiner Sache sicher ist. In seinem Schub liegen die Anzeigen zweier geschädigter Bürger. Sie haben für das Grundstück in Finkenhain, Parkaue zwölf, zwei- beziehungsweise dreitausend Mark in bar bezahlt. Das Grundstück gehört aber einem Ehepaar Meiners, das zur Zeit seinen Urlaub in Bulgarien
verbringt. Boltin denkt nicht daran, den Gaststättenleitern der HO den Urlaub zu verderben; zumal sie mit dem Betrug kaum etwas zu tun haben dürften. „Wann sind Sie mit Herrn Beier verabredet?“ „Um neunzehn Uhr. Soll ich hinfahren?“ „Ja, gewiß! Ich werde auch dort sein, um mich mit dem Herrn zu unterhalten!“ Boltin sagt nicht, daß er vorhat, dem Trickbetrüger das Handwerk zu legen; Miete soll ihm unbefangen gegenübertreten. „Und das Geld?“ fragt Miete. „Soll ich zur Kasse…“ „Nein, nicht nötig!“ Boltin fügt rasch hinzu: „Ich meine, sofern Herr Beier sich als Eigentümer ausweist, läuft die Anzahlung ja nicht weg.“ „Das sagt meine Frau auch“, bestätigt Miete. Boltin denkt daran, daß es reizvoll wäre, den Betrüger nach der frisch begangenen Straftat zu entlarven, aber es kann nicht die Taktik der Kriminalpolizei sein, ein Verbrechen geschehen zu lassen. Bevor Oberleutnant Boltin dazu kommt, mit Miete Details zu erörtern, wird die Tür aufgerissen, und Hauptmann Rabe steht auf der Schwelle. Er entschuldigt sich. „Hallo, Dieter! Ich wußte nicht, daß du noch im Dienst bist!“ „Grüß dich, Heinz!“ gibt Boltin zurück. Rabe tut einige Schritte ins Zimmer und fragt, ob man sich am Wochenende sehen wird. Boltin schüttelt den Kopf. „Morgen geht’s in den Spreewald“, sagt er, „wir haben Hansi eine Kahnfahrt versprochen.“ „Schade“, antwortet Rabe, „wenn Erika dienstfrei hätte…“ Oberleutnant Erika Rabe, seine Frau, gehört zum Dezernat Jugend. Rabes tun sich manchmal schwer,
gemeinsame Vorhaben mit dem Dienst abzustimmen. Aber einige Male im Jahr unternehmen sie etwas mit Dieter Boltin, seiner zukünftigen Frau Inge Gäde und deren siebenjährigem Sohn Hansi. „Wirklich schade“, wiederholt Rabe, „vielleicht klappt’s nächstes Wochenende.“ Heinz reicht Dieter die Hand und verabschiedet sich bis Montag, dabei blickt er flüchtig auf den Besucher vor Dieters Schreibtisch, nicht ahnend, daß er ihm bald unter entsetzlichen Umständen erneut begegnet. Rabes Schritte entfernen sich auf dem Korridor, Boltin lauscht ihnen nach; das Dezernat „Gesundheit und Leben“ liegt am anderen Ende und eine Etage höher. Heinz war extra auf einen Sprung hergekommen. „Tja, dann stimmen wir uns mal ab“, wendet Boltin sich an den Bürger Miete, „wie wir es angehen.“
3. Kurze Zeit nach Miete verläßt Oberleutnant Boltin das Dienstgebäude aus roten Klinkersteinen, das um einen vierstöckigen Neubau erweitert worden ist. Er hatte versucht, Hauptmann Griebsch, seinen Arbeitsgruppenleiter, telefonisch zu erreichen, um ihn pflichtgemäß von der beabsichtigten Festnahme des Trickbetrügers zu unterrichten, doch Griebsch befindet sich außer Haus. Auf dem Parkplatz stehen nur noch wenige Fahrzeuge, und Boltin geht zu seinem gelben Trabant. Die Farbe gefällt ihm nicht, irgendwann spritzt er ihn um; es war kein anderer Farbton zu haben, und länger war-
ten wollte er nicht. Boltin benutzt die Hauptstraße und stoppt an jeder Straßenbahnhaltestelle; es ist Stoßzeit im Verkehr. Endlich biegt er in die ruhige Ringstraße ein und hält wenig später vor dem Schulhort. Hansi erwartet ihn schon. Der Junge besitzt die zierliche Statur seiner Mutter und wirkt dadurch jünger als seine Altersgenossen. Von seinem Vater hat er gar nichts, denkt Dieter Boltin voller Genugtuung. Inges geschiedener Mann ist ein athletischer Typ. Hansi steigt in den Trabant ein und gurtet sich auf dem Beifahrerplatz an. Er läßt Onkel Dieter wissen, daß er viel lieber mit Vatis Skoda fährt, obwohl der älter ist. „Es tut mir leid, daß ich dir keinen flotteren Wagen bieten kann“, sagt Boltin nachsichtig. „Du mußt nachher allein bleiben“, fügt er hinzu, „ich fahre nach Finkenhain.“ „Au fein, ich komme mit!“ „Das geht nicht, Hansi, es ist dienstlich.“ Der Junge zieht einen Schmollmund und starrt beleidigt vor sich hin. Boltin ahnt, was in Hansi vorgeht. Der trauert seinem Vater nach, den er nur an einem Wochenende im Monat besuchen darf. Seinem „Onkel Dieter“ brachte er anfangs Bewunderung entgegen, einen Kriminalisten als neuen Vati in Aussicht zu haben, das war schon was. Aber der neue Onkel sprach nie über Verbrecherjagden und trug die gleichen Anzüge wie andere Väter auch; trüge er doch wenigstens eine Uniform! Boltin bemüht sich, den Kontakt zu Hansi zu vertiefen, aber der macht es ihm schwer. Dabei empfindet er Zuneigung zu Inges Jungen, nicht nur wegen der Ähn-
lichkeit mit ihr. Als seine eigene Ehe vor zwei Jahren in die Brüche ging, Ina fand sich nie mit seinem unberechenbaren Dienst ab und suchte anderweitig Zerstreuung, da wurde ihr das Sorgerecht für den zwei Jahre alten Peter zugesprochen. Ina tröstete sich bald, und er mied den Umgang mit seinem Sohn, um ihm das Hinundhergerissen werden zwischen zwei Vätern zu ersparen. Inges Junge hilft ihm über den Verzicht hinweg. Dieter Boltin fragt Hansi nach Erlebnissen in der Schule und im Hort. Der Junge antwortet lustlos und trägt es ihm nach, daß er nicht nach Finkenhain mitfahren darf. Das jedenfalls glaubt Boltin, daher trifft ihn Hansis heftige Forderung überraschend: „Ich will weiter Kontakt zu Vati!“ Boltins Kopf ruckt herum, er mustert den Jungen neben sich. Hansis altkluge Formulierung macht ihm klar, daß er die Aussprache zwischen Inge und ihm am vergangenen Abend mitangehört haben muß. „Wie meinst du das?“ fragt Boltin mit gepreßter Stimme. Der Gedanke entsetzt ihn, daß Inges Sohn die ganze Unterhaltung belauscht haben könnte. Er wüßte dann, daß Inge anfangs seinen Vorschlag strikt ablehnte, Gädes Umgangsrecht mit seinem Sohn nach der für den Herbst vorgesehenen Heirat gerichtlich aufheben zu lassen. Erst allmählich gelang es ihm, mit treffenden Argumenten Inges Zustimmung zu erlangen. Boltin hält den Atem an, wie steht er vor Hansi da, wenn er es gehört hat? Es würde Jahre dauern, ehe der aufgeweckte Junge ihm das vergaß. „Ich will viel öfter zu Vati!“ beantwortet Hansi die Frage, die Boltin schon vergessen hat.
Ich muß diplomatisch sein, erkennt Dieter, lieber einen Rückzug in Kauf nehmen, als einen nicht wieder gutzumachenden Schaden anrichten. Inzwischen biegt er in die Stakener Straße ein und stoppt an der Bordsteinkante. Über zwei Schaufenster hinweg reicht das Schild: „PGH Friseure – Salon Irene“. Die Ladentür steht offen. Boltin wendet sich dem Jungen zu. „Hör mal, Hansi, wenn dir so viel daran liegt“, er betont, die letzten Worte, „dann darfst du deinen Vati selbstverständlich wie immer besuchen.“ Der Junge ahnt nicht, wie schwer ihm die Worte über die Lippen kommen. Sie sind gelogen, aber es ist eine Notlüge, beschwichtigt sich Boltin. Von Hansi erntet er einen zweifelnden Blick mit deutlichem Triumph darin. Wie kann der kleine Kerl nur so wissentlich dreinschauen, sinniert Boltin. Sind Eltern sich um das Ausmaß der Katastrophe eigentlich im klaren, die es für Kinder bedeutet, wenn Ehen auseinandergehen? In der Ladentür steht Inge; sie wundert sich wohl, weshalb sie beide nicht aussteigen. Hansi entdeckt seine Mutti, löst den Gurt, springt aus dem Trabant und läuft zu ihr hin. Inge umfängt ihren Sohn, und er umklammert ihren Nacken, läßt sie nicht los, als Dieter zu ihr tritt. Inge sieht ihn fragend an. Was hat der Junge, bedeutet es. „Später!“ flüstert Dieter. Inge löst sich aus Hansis Umarmung. Dieter sieht dessen Blick und möchte Inge jetzt nicht küssen, sie aber zieht seinen Kopf herab und tut es. Er atmet den Duft ihres Haares; sie bändigt die dunkle Fülle mit
einem Pagenschnitt. Aus der offenen Ladentür quillt es warm und nach Haarwasser riechend. Der Hitze wegen trägt Inge unter dem Kittel nur Slip und BH. Dieter spürt durch den Stoff ihre samtige Haut und die kleinen festen Brüste. Bekleidet wirkt ihre Figur knabenhaft, nackt bietet sie alle weiblichen Attribute, die einen Mann aufregen. Eine Kollegin ruft die Chefin zur Kasse. Und Hansi zwängt sich energisch zwischen Mutti und Onkel Dieter. Mit Achtundzwanzig besitzt Inge Gäde das Vertrauen der Genossenschaftler und leitet den renommierten Salon. Wie an jedem Freitag ist heute bis zwanzig Uhr geöffnet. Sie übergibt Dieter die Liste für den Wochenendeinkauf. „Ich muß um neunzehn Uhr dienstlich in Finkenhain sein“, sagt er. „Bleibst du lange fort?“ fragt sie besorgt. An die Unwägbarkeiten seines Dienstes hat sie sich noch immer nicht gewöhnt. Sie erkennt aber die Notwendigkeit und verschont ihn mit Klagen. Dieter überschlägt, daß er etwa zu neunzehn Uhr zwanzig die Funkstreife anfordern wird. Boltin will das Eisen schmieden, solange es warm ist und die Vernehmung durchführen, bevor man Beier in U-Haft überstellt. .Es kann neun Uhr werden, Ingemaus“, sagt er bedauernd. „Früher bin ich auch nicht zu Hause.“ Dieter nickt. Sie wirft noch die Tageskasse in den Nachttresor; ohne die Fahrt nach Finkenhain hätten Hansi und er Inge abgeholt. So aber fährt er mit dem Jungen zur Lebensmittelkaufhalle. Der Parkplatz ist besetzt. Boltin wartet, bis eine Lü-
cke frei wird und stellt den Trabant ab. Während er aus dem Kofferraum den Beutel mit den leeren Flaschen herauslangt, läuft Hansi plötzlich davon. Boltin blickt ihm ärgerlich nach, denn der Junge überquert, ohne nach links und rechts zu sehen, die Fahrbahn; ein Wartburg bremst heftig. Auf der anderen Straßenseite steht Gäde. Hansi stürmt mit ausgebreiteten Armen zu ihm hin; sein Vater fängt ihn auf und schwenkt ihn herum. Dieter Boltin unterdrückt seinen Unmut. Es ist nicht das erste Mal, daß Gäde ihnen auflauert. Doch er bestreitet die Absicht und nennt es Zufall. Die Einkaufsstätte seinetwegen zu wechseln, lehnte Dieter bisher ab, nun erwägt er es ernsthaft. Er kramt im Gepäckraum, als sei es wunder wie wichtig. Dabei beobachtet er Gäde und dessen Sohn. Sie reden angeregt miteinander, wobei Gäde meist fragt, und Hansi antwortet. Eigentlich ist es erstaunlich, wie intakt die Bindung zwischen Vater und Sohn noch zu sein scheint. Inge wurde vor drei Jahren von Gäde geschieden, nachdem alle Versuche, ihn von seiner Alkoholabhängigkeit zu kurieren, gescheitert waren. Damals war Hansi knapp vier Jahre alt. Dieter weiß, daß Inge den Jungen manchmal eine ganze Woche lang seinem Vater überließ. Das änderte sich, erst, seit sie vor einem Jahr die Verbindung mit ihm einging; ein Grund mehr für Hansi, ihn nicht gerade ins Herz zu schließen. Was erzählen die beiden so lange und finden kein Ende, denkt Dieter. Er blickt auf seine Uhr, noch fünf Minuten, länger gesteht er ihnen keinesfalls zu. Die Zeit wird knapp wegen Finkenhain. In der Kaufhalle,
sieht er, stehen Kundenschlangen an den Kassen. Die fünf Minuten verstreichen. Boltin überquert die Fahrbahn, und Hansi sieht ihn kommen. Es verschlägt Dieter die Sprache, er spürt einen Kloß im Hals, denn der Junge klammert sich an seinen Vater; Passanten werden aufmerksam. Gäde trägt einen blauen Jeansanzug. Die blankgewetzten Stellen wirken aber nicht wie stilgerechte Merkmale, sondern echt heruntergekommen; mindestens zwei Tage hat Gäde sich nicht rasiert. Boltin weht eine Bierfahne an. Er beugt sich zu Hansi hinab. „Komm einkaufen! Ich muß noch weg!“ „Dann geh doch“, sagt Hansi und fängt an zu weinen. Gäde ist es wohl peinlich wegen der Leute, aber in seinen Augen glimmt die Freude darüber, daß sein Sohn zu ihm hält. Der Junge heult lauter und stößt Boltin zurück. Der appelliert an Gädes Einsicht und sagt ihm, daß er allein einkaufen wird, danach sollen beide beim Trabant sein. Gäde verspricht es. „Ich will aber nicht!“ schreit Hansi und fügt hinzu: „Ihr könnt gar nicht zum Gericht, sagt Vati!“ Boltin wechselt die Farbe, wird rot und danach blaß, er mustert Herbert Gäde. Der hält seinem Blick stand, und seine Miene verrät, daß er zu dem steht, was der Junge sagt. Dieter wendet sich der Kaufhalle zu und wertet den Auftritt als Niederlage. Schuld daran ist er selbst, er hätte eine bessere Gelegenheit abwarten sollen, um mit Inge zu reden. Mit zwei vollen Beuteln kehrt Boltin zum Trabant zurück, da ist Hansi erstaunlich vernünftig. Anscheinend hat Gäde ihm zugeredet. Boltin verstaut die Einkäufe. Hansi umschlingt den Nacken seines Vaters und küßt ihn, steigt danach ma-
nierlich ein. Dieter bietet Gäde die Hand als versöhnliche Geste. Der aber wendet ihm brüsk den Rücken zu und stakt unsicheren Schrittes davon; achselzuckend steigt Boltin ins Auto. Die Fahrt zur neuen Vorstadt verläuft schweigend. Hansi starrt verkniffen vor sich hin. Boltin versucht sich den plötzlichen Sinneswandel des Jungen zu erklären. Dann glaubt er das Rätsel gelöst zu haben: Hansi weiß, daß Inge und er nicht vor einundzwanzig Uhr zu Hause sein werden; hat Gäde ihm versprochen, ihn zu besuchen? Je länger Boltin nachdenkt, um so sicherer wird er sich dessen, und er verspürt darüber hilflosen Zorn. Die Hände sind ihm gebunden. Dieses eine Mal noch gesteht er den beiden zu, dann nicht mehr. Inges Wohnung liegt im achten Stock des zehnetagigen Neubaus. Auf der Balkonbrüstung blühen rote Geranien und lila Petunien. Der Fahrstuhl wird repariert, sie erklimmen die Treppe. In der Diele empfängt ihn wie immer ein Duft von Inges Parfüm und ein Hauch „Salon Irene“. Boltin verhehlt es nicht, er lebt hier schon längst nicht mehr mit dem Status eines Besuchers; denn nicht nur den elektrischen Rasierer besitzt er inzwischen doppelt. In seine Einraumwohnung, die ihm nach der Scheidung zugewiesen wurde, zieht es ihn nicht. In der Dienststelle ist bekannt, daß man ihn hier erreicht. Es geht ihm wie den Datschenbesitzern, denkt Dieter Boltin, die meist auch einen doppelten Haushalt haben, sogar zwei Farbfernseher sind nicht selten. Hansi rumort in seinem Zimmer und legt die Kassette vom „Tierhäuschen“ in den Recorder ein; das Märchen
hat sein Vater ihm geschenkt. Wenn Hansi es jetzt abspielt, dann spricht es dafür, daß er sich auf dessen Besuch einstimmt. Nach den Wochenenden bei Gäde erzählt Hansi immer von einem Spiel, das sie beide erfunden haben. Es geht um eine Reise nach… nach… Boltin fällt der Name nicht ein. Flüchtig erwägt er, die Wohnungstür abzuschließen, verwirft aber den Gedanken wieder; er kann den Jungen unmöglich einsperren. Bevor er geht, sieht Boltin in Hansis Zimmer. Der hockt im Schneidersitz auf dem Teppich und lauscht dem Märchen, dabei kennt er längst jedes Wort. Das Zimmer ist schmal, für ein zweites Kind zu eng. Sie werden, wenn es einmal soweit ist, den Kindern das Schlafzimmer überlassen und sich hier einschränken. Hansi erwidert freundlich seinen Abschiedsgruß und scheint erleichtert, daß er geht. Boltin wendet sich noch einmal um. „Erwartest du Besuch?“ „Besuch? Was denn für Besuch?“ Hansi vermeidet es, ihn anzusehen. „Einen Freund oder so?“ Dieters Stimme klingt beiläufig. „Nö -!“ antwortet Hansi abweisend. „Denke daran“, wiederholt Boltin die sattsam bekannte Mahnung, „laß keinen Fremden in die Wohnung!“ „Bestimmt nicht!“ versichert Hansi, wie immer, wenn man ihn allein läßt. Diesmal glaubt Dieter einen höhnischen Unterton herauszuhören. Sein Vater ist ja kein Fremder. Der Parkplatz füllt sich. Am Freitag um diese Zeit kommen die Anwohner nach Hause, weiß Boltin; wenn er um einundzwanzig Uhr zurückkommt, wird er herumkurven müssen, ehe er ein Fleckchen findet. Man sollte den Mietern personengebundene Plätze zu-
weisen, denkt er. Im Falle der Schwerbeschädigten funktioniert es. Seine Armbanduhr verrät ihm, daß er zügig fahren muß, um vor neunzehn Uhr in Finkenhain zu sein. Er beschleunigt das Tempo. Die Nebenstraße ist frei, auf beiden Seiten parken Fahrzeuge. Vor der nächsten Kreuzung blickt er nach rechts, wer von dort kommt, hat Vorfahrt, doch die Fahrbahn ist leer. Von links heult ein Motor heran, Boltins Kopf ruckt herum, und ein eisiger Schreck durchzuckt ihn, ein weißer Lada rast auf ihn zu. Gleich kracht es, kreischt berstendes Blech. Boltin reißt das Lenkrad nach rechts. Der Trabant legt sich beinahe auf die linke Seite. Die Reifen quietschen. Das Fahrzeug rast auf die Bordkante zu. Die Bremse heult, und die Vorderräder prallen hart an die Bordsteine. Boltin wird in den Gurt gepreßt. Der Motor verstummt, abgewürgt. „Da haben Sie aber Schwein gehabt!“ sagt ein älterer Herr mit einem Dackel an der Leine. Die Worte erfaßt Boltin gar nicht, er lauscht, aber von dem Lada ist nichts mehr zu hören und zu sehen schon gar nicht. Der ist weg! Verrückt, denkt Boltin, das war ein Verrückter! Nun erst erkennt er seine Lage: Einem ersten Impuls folgend, will er aus dem Trabant herausspringen, doch das ist unmöglich; sein Fahrzeug steht in der Lücke zwischen zwei parkenden LKWs, auf jeder Seite kaum eine Handbreit Zwischenraum. Oberleutnant Boltin dreht die halboffene Scheibe herab und beugt sich hinaus. Es ist unfaßbar, er ist haargenau in diese Lücke gerutscht. Der Mann mit dem Dackel versichert, daß er alles beobachtet habe und bietet sich als
Zeuge an. Dieter Boltin nickt zerstreut; seine Erregung klingt ab und weicht sachlicher Überlegung. Zuerst muß er sich aus der Falle befreien. Es dauert viel länger, rückwärts aus der Lücke zu rollen, als hineinzugeraten. „Der war betrunken! Bestimmt war der blau!“ behauptet der Zeuge. Boltin notiert seinen Namen und die Anschrift. Die Hand zittert noch. Dem weißen Lada nachzufahren ist sinnlos, sein Vorsprung ist zu groß. Es gibt auch…zig Möglichkeiten, in Nebenstraßen abzubiegen. Er widerspricht dem Mann mit dem Dackel nicht, der ein ums andere Mal versichert, der Ladafahrer sei stinkbesoffen gewesen. „Haben Sie gesehen“, fragt Boltin, „ob noch weitere Personen in dem Lada saßen?“ „Außer dem Betrunkenen? Nein, keiner!“ Dieter Boltin steigt gedankenversunken in seinen Trabant ein. Es wird knapp, aber er kann es noch schaffen, vor neunzehn Uhr in Finkenhain zu sein. Mit mechanischen Bewegungen handhabt er Lenkrad und Gangschaltung und versucht, den auf ihn zurasenden Lada in die Erinnerung zurückzurufen. Doch an mehr als an die verschwommenen Umrisse einer über das Lenkrad gebeugten Gestalt entsinnt er sich nicht. Der Fahrer trug eine Mütze, den Schirm tief in die Stirn gezogen. Je weiter Boltin sich vom Ereignisort entfernt, um so sachlicher vermag er an den Vorfall zu denken. Der zunehmende Abstand versetzt ihn beinahe in die Lage eines unbeteiligten Beobachters. Die Tatsache, daß der Zusammenstoß nur durch sein blitzschnelles Reagieren verhindert worden war, beschäftigt ihn am meisten.
Boltin hört noch das pfeifende Geräusch und meint den Luftzug zu verspüren, als der Lada vorbeiraste. Seine Gedanken kreisen um den einen Punkt. War es Zufall oder Vorsatz? Sollte ein Zusammenprall beabsichtigt worden sein, hat der Ladafahrer kaum in selbstmörderischer Absicht gehandelt. Er mußte vorbereitet gewesen sein, den Aufprall glimpflich zu überstehen. Er kannte die Sekunde des Zusammenstoßes und vermochte sich mit Händen und Füßen abzustützen; vielleicht hatte er sogar mit Sicherheitsgurt und Bandagen manipuliert? Oberleutnant Boltin erinnert sich an einen Film über die risikoreiche Arbeit der Stuntmen. Es war erstaunlich, welch heikle Situationen diese Männer unverletzt überstanden. Seine eigene Chance, unverletzt davonzukommen, schätzt Boltin so gering ein, daß ihm nachträglich der Mund trocken wird. Hätte er nicht in buchstäblich letzter Sekunde den Kopf nach links gewendet, wäre der Aufprall mit fünfzig bis sechzig Stundenkilometern völlig unvorbereitet erfolgt. Der Sicherheitsgurt, das bewiesen Unfallanalysen, ist bei einem seitlichen Aufprall wenig wirksam; der Unfall hätte für ihn tödlich verlaufen können. Vielleicht rede ich mir das alles nur ein, ermahnt sich Boltin. Vielleicht war der Ladafahrer tatsächlich betrunken oder mit seinen Gedanken sonstwo? Wer fährt schon sein eigenes Fahrzeug zu Schrott? Und wenn der weiße Lada gestohlen war? Und wer haßt oder fürchtet ihn, Oberleutnant Boltin von der Kripo der Bezirksdirektion der Volkspolizei, so sehr, daß er entschlossen ist, ihn physisch zu vernichten? Die Fragen bleiben
unbeantwortet, Boltin verdrängt sie und konzentriert sich auf die Straßen. An Hand der Karte hat er sich orientiert; von Finkenhain kennt er bisher nur die Durchgangsstraße. Der Ort ist ein Wochenendparadies, stellt er fest. Etliche Hektar vierzig- bis fünfzigjährigen Kiefernbestandes sind wie ein Streuselkuchen in gleichgroße Stücke geschnitten. Die Parzellen sind mit Sommerhäuschen, einige auch mit Einfamilienhäusern bebaut. Boltin stellt seinen Trabant am Anfang der Parkaue ab und geht zu Fuß. Vor einigen Gärten parken PKWs, vielleicht sind es Besucher, denn die meisten Anwesen besitzen Einfahrten und Garagen. Es ist achtzehn Uhr fünfundvierzig. Boltin schaut vergeblich nach einem braunen Wartburg aus. Der Bürger Miete ist noch nicht zur Stelle. Einige hundert Meter entfernt stoppt an der Haltestelle der Linienbus. In den beiden aktenkundigen Fällen kam Herr Beier im ersten Fall nannte er sich Krüger - mit dem Bus und ließ sich zurück von den „Käufern“ in deren PKWs in die Stadt mitnehmen. Boltin beschleunigt seine Schritte. Parkaue zwölf unterscheidet sich nicht von den anderen Grundstücken und ist nicht zu verfehlen. Der Bungalow und die schmiedeeisern umzäunte Terrasse entsprechen dem Foto. Nur der Zaun paßt nicht ins Straßenbild, auch die Bezeichnung Straße ist irreführend, stellte Boltin fest. Die Parkaue kennt weder Bürgersteig noch Fahrbahn, sie besteht aus einer festen Grasnarbe mit kaum angedeuteten Fahrspuren. Der Maschendrahtzaun von Nummer zwölf ist arg verrostet
und an zwei Stellen niedergedrückt, so auch neben der Pforte, es erscheint wie ein Witz, dieselbe abzuschließen. Offensichtlich wird der Zaun demnächst abgerissen, denn auf dem Grundstück sind einige hundert Bossensteine gestapelt. Oberleutnant Boltin blickt umher, Nummer elf wirkt verwahrlost. An der Pforte Nummer zwölf prangt das Schild „Meiners“. Boltin drückt auf die Klinke, die Tür ist verschlossen; er zaudert nicht und betritt durch das Zaunloch den Waldgarten. Massive Holzläden sichern die Fenster des Bungalows. Die Haustür wirkt einbruchsicher, und vor einer schaufenstergroßen Glasscheibe zur Terrasse ist eine Jalousie herabgelassen. Alles erweckt den Anschein, als berge der Wochenendsitz Wertvolles. Boltin geht am Bungalow vorbei, hinter einer Koniferengruppe verborgen steht eine rohbaufertige Garage. Der Oberleutnant erinnert sich, daß einer der „Käufer“ sie erwähnt hat. Ein paar Schritte weiter steht ein baufälliger Holzschuppen, dem man ansieht, daß seine Tage gezählt sind. Oberleutnant Boltin hebt lauschend den Kopf. Vor dem Grundstück stoppt ein Auto. Der Fahrer praktiziert die verbreitete Unsitte, vor dem Ausschalten auf das Gaspedal zu treten. Der Motor heult auf und verstummt. Boltin lächelt nachsichtig, der jagt sein Geld durch den Auspuff. Miete ist es nicht, dem traut er die Unart auch nicht zu, es ist kein Zwei-, sondern ein Viertaktmotor. Der Drahtzaun klirrt; der Ankömmling tritt ebenfalls durch das Loch herein. Oberleutnant Boltin geht auf den Zehenspitzen in den offenen Schuppen hinein.
4. Bevor Miete mit seinem Wartburg auf die Fernstraße fährt, sieht er, daß die Kraftstoffanzeige sich bedenklich dem Nullpunkt nähert. Der Tankinhalt müßte zwar bis Finkenhain und zurück reichen, aber Miete liebt kein Risiko. So bleibt ihm nichts weiter übrig, als den Umweg zur Tankstelle in Kauf zu nehmen. An den Zapfsäulen warten Fahrzeugschlangen; einige PKW sind voll besetzt, und das Gepäck verrät, daß man eine Badefahrt plant. Miete sieht auf seine Uhr, die Zeit rast ihm davon. Er bot Oberleutnant Boltin an, ihn im Wartburg mitzunehmen, der lehnte es aber ab. Herr Beier, so begründete er, kann zeitig zur Stelle sein, um die Ankunft seines „Käufers“ zu beobachten. Ist er kein Anfänger, Boltin scheint dies zu unterstellen, dann verrät ihm seine Nase, daß da irgend etwas im Busche ist. Der Oberleutnant will selbst als erster am verabredeten Ort sein. Miete rollt wieder ein Stück in der Warteschlange; es ist noch ein halbes Dutzend Fahrzeuge vor ihm. Er versucht sich den Ablauf in Finkenhain auszumalen, aber er besitzt keine rechte Vorstellung, wie alles funktionieren soll; die Grundstückspforte ist doch sicher verschlossen? Dann ist Miete an der Reihe und tankt zwanzig Liter Gemisch. Martha mag es nicht, wenn er volltankt; das geht einmal tüchtig ins Geld, zum anderen verführt es zu unnötigem Herumfahren. Er kann sich ihren Argumenten nicht verschließen. Der Umweg zur Tankstelle kostet eine Viertelstunde,
und Miete denkt daran, daß schon alles erledigt sein könnte, wenn er in Finkenhain ankommt. Der Oberleutnant hat Beier des beabsichtigten Betruges überführt und festgenommen. Artur verspürt darüber Bedauern, dann verfährt er umsonst den teuren Kraftstoff, und der Traum vom Waldgrundstück wäre ausgeträumt. Lieber wäre ihm, wenn Martha mit ihrer Unkerei Unrecht hätte und Herr Beier keineswegs beabsichtigte, ihn um dreitausend Mark zu prellen. Artur Miete biegt in eine andere Richtung ab. Angenommen, Beiers Überprüfung durch Oberleutnant Boltin befreit diesen von jedem Verdacht? Dann steht die Frage, welche Konsequenz er daraus ableitet, daß sein Kunde ihm einen Betrug unterstellt und die Kripo alarmiert hat? Miete versetzt sich in Beiers Situation. An dessen Stelle würde er demjenigen, der ihn ins offene Messer laufen lassen wollte, etwas husten und für das Grundstück einen anderen Interessenten suchen. Die Stimmung ist Miete verdorben, vielleicht war es falsch gewesen, auf Martha zu hören? Plötzlich rumpelt der Wartburg vorn rechts, und er muß kräftig zupacken, um das Lenkrad zu halten, sonst bricht der PKW aus. Radpanne – registriert er seufzend. Auch das noch! Er lenkt an den rechten Fahrbahnrand, hält und steigt aus. Der Reifen ist von der Felge gesprungen und hinüber, das sieht Miete auf den ersten Blick. Er reibt ärgerlich seinen Nacken; seit Jahren ist es die erste Reifenpanne. Nur keine Hektik, beruhigt er sich, tut die notwendigen Handgriffe und auch unnötige. Zu der mit dem Tanken vertanen Viertelstunde kommt eine weitere hinzu, dafür sorgen ein
klemmender Wagenheber und eine überdrehte Radmutter. Es ist kein gutes Omen für sein Vorhaben, findet er. Seine ölverschmutzten Hände säubert er notdürftig. Er verzichtet darauf, durch überhöhtes Tempo die verlorene Zeit aufholen zu wollen. Das ist ohnehin unmöglich. Es ist neunzehn Uhr zwanzig, da biegt Artur Miete mit seinem braunen Wartburg in Finkenhains Parkaue ein. Am Anfang der Straße, die eigentlich eine Wiese ist, steht ein gelber Trabant. Miete erinnert sich, daß Oberleutnant Boltin sagte, er käme mit einem gelben Trabi. Artur Miete schaltet herunter und fährt vorbei, ist unsicher, was ihn erwartet. Wo, zum Kuckuck, hat denn der Oberleutnant Posten bezogen? Auf dem Grundstück? Ob Herr Beier noch wartet? Selbst Boltin muß über Mietes Ausbleiben irritiert sein. Vor einigen Grundstücken halten PKWs; die meisten gehören zur teureren Kategorie. Die Sonne versteckt sich hinter Wolken, vereinzelte Gewitter sind angesagt. Trotz der Abendstunde ist es noch recht hell; wegen der Sommerzeit, in Wahrheit ist es ja erst achtzehn Uhr zwanzig. Parkaue elf wirkt unfreundlich; das Grundstück ist verwildert. Brennesseln, Disteln und andere Unkräuter wuchern mannshoch. Der Wind wird tüchtig Schmarotzersamen zu ihm herüberpusten. Miete verzieht spöttisch die Mundwinkelf er tut ja so, als sei der Kauf schon perfekt. Vor Nummer zwölf stoppt er. Die zweiflügelige Einfahrt ist mit Kette und Vorhangschloß gesichert. Herr Beier hat nicht übertrieben, mit dem Maschendrahtzaun ist kein Staat mehr zu machen, aber die Bossensteine, die ein neues Zaungitter einfas-
sen sollen, sind ja schon gestapelt. Beier hat erklärt, fällt Miete ein, daß die Steine nicht im Kaufpreis enthalten sind. Hätte er Martha gesagt, daß der neue Zaun fünftausend Mark kostet, wer weiß, ob sie sich dann so angestellt hätte. Artur Miete steigt aus und klappt mit der Tür, man soll hören, daß er kommt. Die Gartenpforte steht einladend offen. Der Himmel bezieht sich noch mehr; in der Ferne, nach Poldam zu, grummelt es. Das muß aber nicht bedeuten, daß ein Gewitter heraufzieht, oft verharrt es jenseits des Sees. Ein Windstoß fegt in die Baumwipfel, Kiefernzweige prasseln herab. Von der Hand zu weisen ist Marthas Befürchtung nicht, daß mal einer der Bäume umstürzen könnte. Miete läßt sich Zeit, als er den Betonweg entlanggeht, um einen ersten Eindruck zu gewinnen, unbeeinflußt von dem anpreisenden Schmus des Verkäufers. Die Rosetten des schmiedeeisernen Terrassengitters sind mit Goldbronze gestrichen, nirgends eine Spur Rost. Die Jalousie vor der Glasscheibe zur Terrasse klafft einen Spalt. Am liebsten spähte Miete hindurch, aber vielleicht beobachtet Beier ihn längst? Artur folgt dem Betonweg, der um eine Koniferengruppe herumführt, welche die rohbaufertige Garage verdeckt. Links hinter der Garage erblickt er einen schiefen hölzernen Schuppen mit offener Tür. Wie von einem Blitz getroffen, bleibt Miete stehen und starrt auf den Mann, der da bäuchlings am Boden liegt. Seine Arme sind so angewinkelt, als hätte er einen Fall vorwärts abgefangen. Das rechte Bein ist angezogen, das linke ausgestreckt. Der Kopf ruht wie
schlafend auf der linken Gesichtshälfte; die Augen starren nach rechts ins Leere. Miete tut einen Schritt vorwärts und verhält. Ein Kälteschauer beginnt in seinem Kopf, rinnt den Nacken abwärts und den Rücken hinunter. Das Frösteln überrieselt seinen Körper und erzeugt eine Gänsehaut; Miete stöhnt. Eine Faust umschließt sein Herz und preßt es schmerzhaft, und er spürt es schneller schlagen. Dann versiegt die innere Kälte, statt ihrer steigt es siedendheiß in ihm auf. „Mein Gott!“ flüstert Miete. „Um Himmels willen!“ Er ist in Schweiß gebadet. Der Wechsel von heiß und kalt geschieht in Sekunden. Die Starre weicht so plötzlich von ihm, wie sie ihn befiel. Mit wenigen Schritten ist er bei dem Mann. Ich muß ihm helfen, denkt Artur. Er beugt’ sich hinab und sieht, daß dem nicht mehr zu helfen ist. Der ist tot! „Ja, aber – Herr Oberleutnant?“ stammelt Miete fassungslos. Da ist kein Irrtum möglich. Das Unfaßbare ist nackte, nicht zu widerlegende Wirklichkeit! Die helle Sommerhose und die dunkle Jacke hat Miete vor ein paar Stunden gesehen. Er taumelt zwei, drei Schritte rückwärts, starrt wie gebannt auf eine senkrecht verlaufende Wunde am Hinterkopf. Er hält sich mühsam auf den Beinen, und ein Gedankensturm durchtobt ihn. Stünde er vor einem fremden Leichnam, er ertrüge den Anblick gefaßter. Die Tatsache aber, daß Oberleutnant Boltin seinetwegen hergekommen ist, grämt ihn total. Ohne Marthas Rat wäre er nicht zur Volkspolizei gegangen, ohne seine Vorsprache in der Bezirksdirektion läge der Oberleutnant hier nicht tot am Boden!
„Großer Gott“, stöhnt Miete, „wer konnte das ahnen?“ Auf der Straße wird ein dudelnder Recorder vorbeigetragen; fröhliche junge Menschen lachen ausgelassen. Miete möchte schreien: ,Seid still, hier liegt ein Toter!’ Aber er bleibt stumm; sein aufgewühltes Inneres kommt allmählich zur Ruhe. Er beginnt zu überlegen und sieht Dinge, die ihm bisher entgingen. Da ist das nach außen gestülpte Futter von Boltins rechter Jackentasche. Wurde er niedergeschlagen? Wenn ja, womit? Ich darf nichts anfassen, denkt Miete, das ist wichtig! Er tut zwei, drei Schritte rückwärts und spielt mit dem Gedanken, in den Schuppen zu gehen. Vielleicht versteckt sich Beier da drin? Mietes Hände öffnen und schließen sich, als könne er den Mörder fassen. Ängstlich ist Miete nicht, war er nie, und er spürt, wie kalte Wut in ihm aufsteigt und Besitz von ihm ergreift. Beier ist längst über alle Berge. Die offene Gartenpforte galt nicht ihm als Willkommen, Beier hat sie in Panik offengelassen. Miete wird den Schuppen nicht betreten, es könnten Spuren verdorben werden, aber hineinsehen muß er! Und er handelt überlegt. Er, der gelegentlich einen Kriminalroman liest, läuft von nun an auf den Zehenspitzen, damit die Kripo seine Spuren von denen des Täters zu unterscheiden vermag. Artur Miete blickt in den Schuppen, entdeckt Gartengeräte, Maurerhandwerkszeug und defekte Gartenmöbel, sonst nichts. Ich vertrödele hier die Zeit, denkt er, und der Mörder, der Beier, entkommt! Denn es steht für ihn fest, daß der „Grundstücksverkäufer“ der Täter ist. Sogar den Tathergang vollzieht Miete nach: Beier wartet auf seinen Käufer. Oberleut-
nant Boltin beobachtet ihn vom Schuppen aus. Die verschlossene Gartenpforte ist ja kein Hindernis gewesen, der Zaun daneben ist defekt. Beier wird allmählich ungeduldig, als er aber gehen will, stellt Boltin ihn zur Rede. Aber wurde der Oberleutnant denn nicht von hinten erschlagen? Miete schüttelt seine Beklemmung ab, geht auf Zehenspitzen vom Schuppen weg, blickt noch einmal mit unsagbarem Bedauern auf den Toten und läuft zum Ausgang. Er will die Gartentür hinter sich schließen, da verharrt seine ausgestreckte Hand in der Luft, es würgt ihn im Hals, denn an der Türklinke haftet Blut. Behutsam greift er in den Maschendraht und zieht die Tür hinter sich zu. Ein Mann und eine Frau kommen mit Taschen und Beuteln vorbei und mustern ihn neugierig. Miete muß an sich halten, um ihnen nicht zu sagen, daß da drinnen ein Toter liegt – ermordet! Und daß er den Mörder kennt! Er rückt sich hinter dem Lenkrad seines Wartburg zurecht und startet; neben der Bushaltestelle steht eine Notrufsäule, erinnert er sich.
5. Drei Jahre fährt Norbert Kühn schon den Linienbus zweiundzwanzig ab Hauptbahnhof in Poldam über Finkenhain nach Wendekietz. Im Winterhalbjahr ist der Bus spärlich besetzt, und die Linie wird im Stundenrhythmus befahren. Die Stammfahrgäste kennt Kühn vom Angesicht und weiß, wo sie aussteigen.
Im Sommer verkehrt der Zweiundzwanziger halbstündlich. Die Strecke könnte er mit verbundenen Augen fahren, behauptet er, denn er kennt jedes Schlagloch. Abwechslung gibt es selten, höchstens, wenn ein verliebtes Pärchen nicht daran denkt, daß er es im Spiegel beobachten kann. Kuhns Aufmerksamkeit richtet sich auf den Fahrgast auf der dritten Zweierbank, denn er erkennt ihn wieder. Der ist Bennigsenstraße eingestiegen, der ersten Haltestelle ab Hauptbahnhof, ist bis Finkenhain mitgefahren und dort ausgestiegen. Er trug einen sehr hellen Staubmantel. In Wendekietz hält Kühn immer zwanzig Minuten Pause ein, raucht eine Zigarette und fährt wieder zurück. An der Haltestelle in Finkenhain stand wieder der Mann mit dem hellen, fast weißen Staubmantel; nur trug er ihn zusammengefaltet wie ein Päckchen unter dem Arm. Der Busfahrer beobachtet den Fahrgast im Spiegel und grübelt, was an dem so ungewöhnlich ist? Es ist die Veränderung, die mit ihm vorgegangen ist, weiß Kühn plötzlich. Wie kann ein Mensch sich in einer knappen Stunde so auffällig verändern? Der Mann mit der Goldrandbrille und den getönten Gläsern saß auf der Herfahrt gelassen da; sein übergeschlagenes rechtes Bein verstellte den Mittelgang. Er musterte gelangweilt die vorübergleitende Landschaft. Intelligenzler, dachte Kühn, zumindest möchte er dafür gehalten werden. Der ausgeblichene Staubmantel sprach nicht gerade für einen überdurchschnittlichen Verdienst. Oder – das gibt es ja auch – der Mann ist krankhaft sparsam. Nun wirkt er total verändert, seine Hände zupfen ner-
vös an seinem grauen Anzug mit den rötlichen Nadelstreifen herum. Der Stoff ist von bester Qualität, aber etliche Jährchen alt. Der Mann rückt ständig an seiner Brille und blickt gehetzt umher. Sein Gesicht ist aschgrau, und in seinen Blicken steht Panik. Norbert Kühn wunderte es nicht, stünde er plötzlich auf und spränge aus dem fahrenden Bus. Was verwandelt einen Mann in kurzer Zeit so sehr? Er muß etwas Schreckliches erlebt haben – oder er ist irgendeiner Gefahr mit knapper Not entronnen, sinniert Kühn. Der Bus wird voll, je näher sie Poldam kommen, und der Verkehr so dicht, daß er sich nicht mehr um den Fahrgast kümmern kann. Der fällt ihm erst wieder auf, als er Bennigsenstraße aussteigt. Es ist die Haltestelle, an der er eingestiegen war. Der Mann blickt dem Bus hinterher. Die im Spiegel über dem Fahrerplatz forschend auf ihn gerichteten Blicke vergißt er nicht, sie haben ihn Nerven gekostet. Er sieht sich um, als fürchte er, daß man ihm folgt oder hier auflauert. Dann läuft er die Bennigsenstraße hinunter, biegt in die Kirchgasse ein und verharrt vor dem Hauseingang Nummer siebzehn. Der Mann hastet hinein, als gälte es, keine Sekunde zu verlieren. Der Hausflur riecht muffig und nach Katzen. Der Mann öffnet auf dem ersten Podest die Tür zu seiner Kochstube. Die Miete ist so gering, daß er das Außenklo in Kauf nimmt. Er verriegelt hinter sich und entfaltet Betriebsamkeit, zerreißt den Staubmantel in taschentuchgroße Stücke. Das gelingt ihm mühelos, denn der mürbe Stoff reißt wie Zunder. Im Allesbrenner macht er aus Kohlenanzünder ein Feuer, doch der Ofen qualmt, erst
als er die Lappen mit Spiritus tränkt, brennen sie. Hastig packt der Mann einen Koffer, stopft Wäsche und Toilettenutensilien hinein. Danach rückt er die Liege von der Wand, hebt ein Dielenbrett an und holt ein in Zellophan gehülltes Päckchen heraus. Es enthält gebündelt Fünfzig- und Hundertmarkscheine; einige stopft er in seine Brieftasche, die übrigen wirft er in den Koffer. Noch einmal blickt der Mann umher, entdeckt aber nichts, das er wert fände mitzunehmen. Den Barockspiegel mit dem vergoldeten Stuckrahmen läßt er ungern zurück, sieht er hinein, umrahmt das goldene Geflecht sein Konterfei wie eine Gloriole. Die altväterlichen Möbel enden sicher auf dem Sperrmüll, wo er sie aufgelesen hat. Der Mann meidet die knarrenden Stufen, als er mit Koffer und Tasche die Treppe hinabgeht. Die Haustür fällt leise hinter ihm zu, es dünkt ihm ein Zeichen von Endgültigkeit.
6. Erika Rabe sitzt auf dem Hocker vor ihrem Frisierspiegel. Sie bürstet ihr Haar und mustert sich kritisch. Im Dienst bändigt sie die Fülle mit einem Knoten im Nacken; so verleiht es ihr Strenge. Zu dem duftigen Sommerkleid in warmen Goldtönen jedoch, das ausgebreitet auf dem Bett liegt, trägt sie das blonde gewellte Haar offen. Es wirkt fraulich und jugendlich zugleich. Erika entdeckt ein paar neue Fältchen in den Augenwinkeln und ist dennoch mit sich
zufrieden; die Dreißig sieht man ihr nicht an. Im Bad verstummt das Rauschen der Brause. Die Tür klappt, Schritte hört Erika nicht, der Teppichboden verschluckt sie, außerdem läuft Heinz barfuß. Im Spiegel sieht sie ihn ins Schlafzimmer kommen, drahtig und schlank, das dunkle Haar ungekämmt, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. Sie läßt ihren Bademantel mutwillig auseinandergleiten, ist darunter nackt. Nicht daß sie ihn verführen will, dazu bleibt keine Zeit, sie haben Karten zur Spätvorstellung des beliebten Laienkabaretts ergattert, es freut sie aber, wenn Heinz sie begehrt; vier Ehejahre haben ihre Leidenschaft füreinander kaum abgekühlt. Sie spürt seine Hände auf ihren Schultern, ihr Atem geht rascher, ihre Blicke treffen sich im Spiegel. In seinen Augen leuchtet es übermütig, da rafft sie den Mantel an sich, als fröre sie. „Wir müssen uns beeilen“, sagt sie, und ihre Stimme vibriert ein bißchen. „So, müssen wir?“ fragt er und streift den Mantel von ihren Schultern, beugt sich herab und streichelt ihre Brüste. Erika schließt die Augen, sie verraten ihm sonst, daß sie kaum lange widerstehen kann. „Wir kommen eben später“, flüstert er. Bevor sie einen Widerspruch vortäuscht, zerreißt das Telefon in der Diele jäh die zärtliche Stimmung. Sie wechseln einen besorgten Blick; es wäre nicht das erste Mal, daß dieses Signal sie zum Dienst ruft. Nach dem zweiten Läuten läuft Heinz zur Tür, doch Erika erreicht den Apparat vor ihm, überzeugt, daß der Anruf
ihr gilt; ein zwölfjähriges Mädchen ist seit drei Tagen vermißt, vielleicht wurde es gefunden? „Bestimmt für mich“, sagt Erika. Die Diele ist für die Zweieinhalbzimmerwohnung viel zu groß; aus einer protzigen Behausung mit acht Zimmern sind drei Wohnungen erstellt worden, und Rabes bekamen die Diele, die vor drei Jahrzehnten wohl zugleich als Empfangssalon diente. Heinz steht abwartend da, als Erika sich meldet. Es kann auch ein belangloser Anruf sein, sie besitzen einen großen Bekanntenkreis. „Ja, er ist da“, sagt Erika und wirft ihm einen fragenden Blick zu. Heinz ist mit drei Schritten bei ihr. Sie reicht ihm den Hörer und bedeckt die Sprechmuschel mit der Hand. „Strecker“, flüstert sie, „er tut so komisch!“ „Ja, Günter, was gibt’s?“ fragt Hauptmann Rabe. Major Strecker räuspert sich, seine Stimme klingt anders als sonst, weniger barsch als von ihm gewohnt. „Tut mir leid, Heinz, sicher habt ihr etwas vor?“ Rabe wundert sich, daß Strecker Erika einbezieht, gewöhnlich tut er das nicht. „Du bist doch fit?“ klingt es besorgt. Heinz Rabe macht einen Spaß und spürt sofort, daß er nicht ankommt. „Ich bin nicht sinnlos angeheitert, wenn du das meinst. Was liegt denn an?“ „MUK-Einsatz in Finkenhain“, antwortet der Major. „Du - Heinz…“ Im Hörer rauscht sekundenlang nur die Leitung. „Ja? Was ist?“ Heinz blickt auf Erika und zuckt ratlos mit den Schultern. „Es hat einen von uns erwischt“, sagt Strecker heiser.
Rabe sinnt noch der Tragweite dieser Mitteilung nach, da ergänzt der Major: „Genossen Boltin!“ „Nein!“ flüstert Rabe. „Leider ja. Auf einem Grundstück in Finkenhain. Eine schwere Kopfverletzung, meldet der Funkstreifenführer, vielleicht ein unglücklicher Fall? Oder aber…? Herrgott, ich weiß es nicht! Mach dich fertig, wir holen dich ab!“ Nach einer Pause: „Heinz, du warst doch mit ihm befreundet? Ich meine, wenn du deshalb nicht…? Ich würde das akzeptieren.“ „Doch, Günter, gerade weil wir Freunde waren.“ Heinz Rabe legt den Hörer auf und sinkt auf den Hocker nieder, schüttelt ungläubig den Kopf. Erika tritt zu ihm, rafft ihren Bademantel am Hals, sie fröstelt. „Was ist? Rede doch!“ „Dieter ist tot! Er liegt mit einer Kopfverletzung auf einem Grundstück in Finkenhain, sagt Günter.“ Sie wird blaß, bekommt kein Wort heraus, muß sich ebenfalls setzen. Beide starren sich an, sie werden mit der Nachricht nicht fertig. „Erika – begreifst du das? Dieter tot? Heute nachmittag habe ich noch mit ihm gesprochen! Und nun gibt es ihn nicht mehr?“ Rabe springt auf und streift die lähmende Starre ab. „Ich muß mich fertig machen, sie sind gleich hier!“ Ein Wort von Erika hält ihn auf. „Inge!“ sagt sie. Beide sehen sich betreten an. Sie sind sich schnell einig, daß man ihr die furchtbare Nachricht nur persönlich überbringen kann. „Ich kann’s nicht allein“, sagt Heinz. Sie verabreden, nach der Ermittlung der näheren Umstände Inge Gäde gemeinsam aufzusuchen. Erika kämpft nicht länger
gegen die Tränen an. Sie hängt das Kleid in den Schrank zurück, ohne Bedauern um den verlorenen Abend. Die Erschütterung um Dieters Tod läßt dafür keinen Raum; mechanisch streift sie ihren Hausanzug über. Dann steht sie am Erkerfenster und beobachtet die Straße, um Bescheid zu sagen, wenn der Wagen da ist. Sie hört Heinz im Schlafzimmer rumoren. Ihre Tränen versiegen allmählich, sie verspürt aber eine große Traurigkeit und weiß, daß Inge sie jetzt braucht. Am liebsten rauchte sie eine Zigarette, doch dann schämte sie sich vor Heinz. Sie hat ihm versprochen, das Laster aufzugeben. Beide wollen nicht länger auf ein Baby verzichten. In der Wohnung raucht sie seit Wochen nicht mehr, im Dienst nur noch gelegentlich. Sobald Heinz fort ist, wird sie die „Köderzigarette“ paffen. Die liegt im Nachtschrank zwischen den Cremedosen und hat sicher deren Gerüche angenommen, sie wird scheußlich schmecken. Es gibt sie nur, weil Erika ihren Willen testet. Bisher hat sie den Köder nicht geschluckt, nachher tut sie es. Darf sie denn nicht schwach werden, wenn über einen lieben Menschen so entsetzliches Leid kommt und sie der Überbringer der Nachricht sein muß? Auf der Straße stoppt der schwarze Wolga. Die rechte vordere Tür wird geöffnet, Leutnant Klose steigt aus und blickt herauf, rückt seine Brille dabei in die Stirn. Erika Rabe winkt ihm zu, und Manfred Klose huscht ins Auto zurück wie ein Kaninchen in seinen Bau. „Sie sind da!“ ruft sie ins Schlafzimmer hinüber. Heinz küßt sie flüchtiger als sonst; sie möchte jetzt
nicht an seiner Stelle sein. Doch sie weiß, daß ihnen das Schlimmste noch bevorsteht, wenn sie Inge aufsuchen werden. Sie beobachtet, wie Heinz in den Wolga einsteigt. Von Major Strecker sieht sie nur dessen rechtes Knie und seine Hand. Heinz blickt nicht mehr herauf, sonst tut er es immer. Kaum ist das Auto fort, holt Erika die Zigarette, zündet in der Küche elektrisch eine Gasflamme, da sie die Streichhölzer nicht findet. Das Tabakstäbchen schmeckt ekelerregend; Erika hustet und drückt es nach wenigen Zügen aus. Immer wenn sie nach Nikotin giepert, wird sie an diesen Geschmack denken, und der Appetit aufs Rauchen vergeht ihr, hofft sie. „Los, Busche, drehen Sie auf!“ befiehlt Major Strecker, kaum daß der vierte Gang eingelegt ist. Er wendet sich an Rabe: „Wir wissen nur, was die Funkstreife durchgegeben hat: Boltin ist tot, und es sieht nicht nach einem Unfall aus!“ „Das ist eine subjektive Meinung, nehme ich an. Kann nicht eine Verwechslung…“ Rabe verstummt, denn Strecker läßt ihn nicht ausreden. „Nein, keine Verwechslung! Der Bürger, der ihn aufgefunden hat, ein gewisser Miete, hat ein paar Stunden zuvor mit Boltin gesprochen.“ Das war wohl der Dicke, denkt Rabe, der kurz vor Dienstschluß vor Dieters Schreibtisch saß. Laut sagt er: „Morgen wollte Dieter mit seiner zukünftigen Frau und ihrem Jungen in den Spreewald!“ „Morgen regnet es“, sagt Klose und denkt daran, daß aus der Radtour mit Birgit ohnehin nichts wird, denn an dienstfrei ist kaum zu denken.
„Soll das ein Trost sein?“ murmelt Rabe. Der Wolga biegt in die Finkenhainer Parkaue ein. Vor Nummer zwölf parken drei Funkwagen und ein brauner Wartburg. Zwei uniformierte Genossen warten draußen, die anderen sind wohl am Ereignisort, vermutet Rabe. Über der grasnarbigen Straße liegt eine niederdrückende Atmosphäre, vielleicht sind die dräuenden Wolken daran schuld. Vor einigen Gartentoren stehen Anwohner und tauschen Vermutungen aus. Hinter dem Wolga stoppt der Lada des Tatortstaatsanwaltes Reichert, gefolgt vom Barkasbus der Kriminaltechnik. Major Strecker begrüßt Reichert, beide kennen sich seit Jahren und haben schon öfter bei Tötungsdelikten und Unfällen zusammengearbeitet. Zuletzt trifft der schwarze Barkas der Gerichtsmedizin ein. Neben der Gartenpforte steht ein Obermeister der Volkspolizei und achtet darauf, daß niemand die Türklinke berührt. Strecker beugt sich hinab, denn es wird schummrig. „Schmierblut“, sagt er und läuft den betonierten Gartenweg voran. Rabe folgt ihm, nach ihnen die Techniker, und alle achten darauf, den Betonweg nicht zu verlassen, um Spuren im weichen Boden nicht zu zerstören. Bei der Terrasse steht eine massige Gestalt; es ist der Bürger Miete, der sie über den Notruf alarmiert hat. Strecker gibt ihm die Hand und sagt, daß man ihn nachher noch benötigt. Das Gesicht des Mannes spiegelt seine Betroffenheit wider. Die Kriminaltechniker verteilen Spurenmarkierer, breite Gummibänder mit gezackten Metalleinlagen, die über die Schuhe gestreift
werden, um eigene von den Tatortspuren unterscheiden zu können. Bei den Koniferen verharren die Männer und lassen dem Gerichtsmediziner den Vortritt. Doktor Taube ist ein alter Praktiker; er nähert sich schweigend der reglosen Gestalt, beugt sich hinab und stellt den Exitus fest. Strecker und Rabe nehmen die Gegebenheiten des Fundortes in sich auf. Der erste Eindruck liefert oft Erkenntnisse, die später nicht mehr zu gewinnen sind. Doktor Taube wendet sich von dem Toten ab und bedeutet Strecker mit der Hand, daß die Spurensicherer in Aktion treten mögen; danach wird er das Opfer noch einer genaueren Besichtigung unterziehen. Die klaffende Wunde im Hinterkopf war auf jeden Fall tödlich gewesen. Major Strecker zögert. Der Spurenhund sollte jetzt eingesetzt werden, aber der Hundeführer ist mit seinem vierbeinigen Helfer noch nicht eingetroffen. Der Major entscheidet, von der üblichen Verfahrensweise abzuweichen, um keine Zeit zu verlieren, und gibt den Technikern das Zeichen, tätig zu werden. Die stellen zwei Standleuchten auf, die den Platz vor dem Schuppen so plötzlich in grelles Licht tauchen, als würde eine Bühne abrupt von Scheinwerfern angestrahlt. Insekten fliegen in die Lichtquellen, Büsche und Bäume werfen lange Schatten. Heinz Rabe ist froh, daß das Gesicht des Toten abgewandt ist; um so deutlicher sieht er die Wunde. „Ist die Identität eindeutig?“ fragt der Tatortstaatsanwalt und blickt Strecker an. „Ja“, antwortet Rabe an dessen Stelle.
Die Spurensicherer kennzeichnen acht verschiedene Indizien mit Nummernschildern. Die geknickten Zweige eines Forsythienstrauches am Schuppen, niedergetretenes Gras, die Halme stehen an der Schuppenwand besonders hoch, und verschiedene Schuhabdrücke im Boden. Dagegen gibt es keinerlei Spuren, die auf einen tödlichen Sturz Boltins hingewiesen hätten. Der Trassologe berichtet, daß vor der Schuppentür und auch drinnen im Staub Abdrücke von Schuhspitzen vorhanden sind, die nur zum Teil von Boltins Schuhwerk stammen. Major Strecker bittet Miete näherzutreten. Der befolgt zögernd die Aufforderung und vermeidet es, den Toten anzusehen. Der Trassologe stellt die Identität von Mietes Schuhsohlen mit einigen Abdrücken vor dem Schuppen fest. „Ich habe in den Schuppen reingesehen“, erklärt Miete, „drin war ich nicht. Es konnte ja sein, daß Beier sich dort versteckt hatte.“ „Beier? Wer ist Beier?“ fragt der Major. „Das ist der, der mir dieses Grundstück hier verkaufen wollte. In der Bude war ich nicht drin!“ versichert Miete noch einmal. „Ich wußte doch, daß Sie nach Schuhspuren suchen werden, deshalb bin ich die paar Schritte auf Zehenspitzen gegangen.“ Miete sieht Hauptmann Rabe an, als erwarte er ein Lob. Doch der Trassologe erklärt, daß auch Oberleutnant Boltin auf Zehenspitzen zum Schuppen gegangen war. „Wir sind soweit, Genosse Major!“ meldet einer der Techniker. Strecker verlangt aber noch eine Aufnahme vom umgestülpten Futter der rechten Jackentasche. Sie wird als Nummer neun gekennzeichnet.
Es kostet Rabe Überwindung, er beugt sich zu dem Toten hinab und zieht Boltins Dienstwaffe aus dem Achselhalfter. Sie befindet sich in vorschriftsmäßigem Zustand: nicht durchgeladen und gesichert. „Haben Sie noch was, Genosse Reichert?“ wendet Strecker sich an den Tatortstaatsanwalt. Der korpulente Reichert zieht seinen Trenchcoat aus und legt ihn über den Arm, tupft mit seinem Taschentuch die Stirn. „Wo ist das Tatwerkzeug?“ „Keine Spur davon“, erklärt der Trassologe. Strecker sieht den Gerichtsmediziner fragend an. „Die Verletzung ist durch stumpfe Gewalt entstanden. Das Tatwerkzeug ist vermutlich ein runder, nicht sehr dicker Gegenstand, vielleicht ein Rohr?“ äußert Doktor Taube. Er wartet darauf, mit der eingehenderen Untersuchung des Toten beginnen zu können. Leutnant Klose, der sich im Hintergrund hielt, tritt nun zu Rabe, von dem er mehr Hinweise erwartet als von dem wortkargen Strecker. Rabe kniet neben dem Toten. „Die Jacke muß ins Labor“, fordert er. „Der bläuliche Schimmer auf dem Rücken scheint derselbe Farbton zu sein wie dort an der Schuppenwand.“ Die Untersuchung der Wand an der Stelle, wo zweifellos ein Gerangel stattgefunden hat, liefert die Bestätigung. Oberleutnant Boltin ist mit dem Rücken an der Wand entlanggestreift. Die Laboruntersuchung wird klären, ob Materialidentität vorliegt. Rabe wendet sich an den Major: „Die tödliche Verletzung im Hinterkopf läßt auf einen Angriff von hinten schließen. Damit stellt sich die Frage nach dem Tatmotiv. Ein Raubmord ist wohl auszuschließen.“
„Ich weiß nicht“, widerspricht Strecker, „denn offensichtlich hat man ihm etwas weggenommen, was sich in seiner rechten Jackentasche befand.“ Major Strecker zeigt nachdenklich auf das umgestülpte Futter, es verrät einiges. Der Gegenstand in der Tasche könnte sperrig gewesen sein, deshalb wurde das Futter herausgerissen. Der Täter nahm sich nicht die Zeit, das Futter wieder zurückzustopfen. Ging es ihm nur um den Tascheninhalt, mußte der Schlag nicht mit der Absicht zu töten geführt worden sein. Es wäre dann kein Mord, sondern Totschlag. Inwieweit in strafrechtlichen Sinne später auf Totschlag plädiert werden wird, kann erst geklärt werden, wenn der Täter ermittelt worden ist. Hauptmann Rabe leert mit dem beklemmenden Gefühl, seinem Freund einen letzten Dienst zu erweisen, dessen Taschen. Leutnant Klose notiert den Inhalt. Es sind persönliche Dinge: ein Taschentuch, Taschenmesser, Kamm und Schlüsselbund mit auffallend vielen Schlüsseln. Rabe weiß, daß sie zu Dieters und Inge Gädes Wohnung gehören; ein Etui enthält Tür - und Startschlüssel vom Trabant. Das Portemonnaie enthält einhundertzwanzig Mark in Scheinen und ein paar Mark Hartgeld, Rabe zählt es jetzt nicht. Auch in Boltins Brieftasche findet er nichts Außergewöhnliches: Personalausweis, Dienstausweis, einen Telelottoschein mit Monatsabonnement, ein Scheckbuch des Spargirokontos mit drei Formularen; auf jedem hat Dieter seine Personalausweisnummer vermerkt. In einem Seitenfach steckt eine Quittung des Dienstleistungskombinates für einen zur Reparatur
gebrachten Elektrorasierer. „Alles?“ fragt Klose. Rabe nickt; das Leeren der Taschen nimmt ihn mehr mit, als er sich anmerken läßt. Der Major blickt in den Garten, in dem es zusehends dunkler wird, als wolle er die Schatten unter Büschen und Bäumen durchdringen; am längsten mustert er das verwilderte Gestrüpp nebenan in Nummer elf. Rabe stimmt dem Leiter der MUK zu, der davon ausgeht, daß der Täter das Tatwerkzeug in Panik von sich geschleudert haben könnte. In diesem Moment öffnen die Männer von der Gerichtsmedizin die hintere Tür des schwarzen Barkas, ziehen den Zinksarg heraus und tragen ihn auf das Grundstück. Für die Neugierigen ist das der endgültige Beweis, daß dort etwas Schreckliches passiert sein muß. Neben dem Toten wird eine Kunststoffplane ausgebreitet und der leblose Körper darauf in Rückenlage gebracht. Doktor Taube untersucht den Leichnam noch einmal, findet aber außer der tödlichen Kopfwunde keine weitere Verletzung. Schwerfällig richtet sich Taube auf. „Der Tod trat vor etwa zwei bis drei Stunden ein, Genaueres nach der Autopsie.“ „Wann ist die?“ fragt Strecker und fügt hinzu: „Doktor, Genosse Boltin ist in Ausübung seines Dienstes ums Leben gekommen!“ Doktor Taube nickt. „Sofort. Zufrieden?“ „Danke!“ sagt Strecker. Er weiß, daß in den nächsten Stunden eine personalintensive Ermittlung in Gang kommt, wie er sie ähnlich erlebte, als Vor Jahren nach
einem dreifachen Knabenmörder gesucht wurde. Damals waren zeitweilig mehr als zweihundert Kriminalisten im Einsatz gewesen, der Erfolg blieb nicht aus. Bevor der Tote in den Sarg gelegt wird, säubert einer der Techniker dessen Fingernägel, die Rückstände verbleiben in einer Plasttüte. Der Deckel wird geschlossen. Das darf nicht wahr sein, denkt Rabe, Dieter liegt da drin? Ihm ist es, als begreife er nun erst die ganze Tragik. Solange er ihn noch sah, in heller Hose, dunklem Jackett, dem beigefarbenen Pullover mit offenem weißem Hemdkragen darüber, solange war er noch vorhanden, konnte man den Leblosen berühren. Heinz Rabe sinniert, ob er nicht doch so etwas wie eine Vorahnung hatte, daß es Dieters letzte Worte waren, die dieser an ihn richtete, als er sagte, sie führen morgen in den Spreewald? Er schüttelt den Kopf, nichts hat er geahnt! Mit starrer Miene sieht er den Männern hinterher, die den Sarg forttragen. Leutnant Klose befragt die Neugierigen nach dem Eigentümer von Nummer zwölf. „Meiners“ lautet das Namensschild. Die Meiners leiten in Poldam das HORestaurant „Bierglocke“, erfährt er, und sind zur Zeit im Urlaub in Bulgarien. Die Befangenheit weicht von den Befragten, sie wollen wissen, was geschehen ist. Klose erklärt, daß in Nummer zwölf ein Tötungsverbrechen an einem Mann begangen wurde; daß der ein Angehöriger der Volkspolizei war, sagt er nicht, dazu ist er nicht befugt. Klose fragt nach Besuchern von Parkaue zwölf; er weiß, daß seine ersten Recherchen nicht viel mehr sind als die Hoffnung auf einen
Zufallstreffer. Am frühen Morgen beginnt die gezielte Aktion, werden die Ermittler in Dreiergruppen die Parkaue und die angrenzenden Straßen durchkämmen, um ein möglichst lückenloses Bild der Personen - und Fahrzeugbewegungen zu erstellen. Dabei wird der günstige Zeitpunkt des Wochenendes hilfreich sein, da die meisten Anwohner anzutreffen sein werden. Ein Bürger sah den braunen Wartburg ankommen, der noch neben den Streifenwagen steht, erfährt Klose. Von anderen Besuchern in Nummer zwölf weiß niemand etwas zu berichten. Es könne ja jeder durch die beiden Löcher im Zaun ein - und ausgehen. Klose betritt mit mageren Notizen den Barkas. Darin sitzen bereits fünf Männer: Der Tatortstaatsanwalt Reichert, Major Strecker, Hauptmann Rabe, Leutnant Klose und der Bürger Miete. Artur Miete erkennt Rabe wieder, der war plötzlich in Boltins Dienstzimmer hereingestürmt. Obwohl Strecker es ist, der Miete auffordert, zwanglos zu berichten, wendet dieser sich meist an Rabe, der ihm vertrauter ist. „Wissen Sie, was mich so fertigmacht?“ beginnt Miete. „Daß der Herr Oberleutnant noch leben würde, hätte meine Frau nicht behauptet, Beier wolle mich aufs Kreuz legen.“ „Moment mal“, wendet Strecker ein, „was hat denn Ihre Frau damit zu tun?“ „Das ist so“, sagt Miete und holt gequält Luft. Er schnauft und berichtet von da an, wo er nach Schichtende, statt nach Hause zu gehen, den Umweg durch den Stadtpark unternahm, am See auf einer Bank saß,
den Brettseglern zusah und mit Herrn Beier ins Gespräch kam. Die Kriminalisten unterbrechen Miete nicht. Nur Klose bittet um eine Pause und legt ein neues Tonband ein. In die Stille hinein fragt Strecker: „Mir ist noch immer nicht klar, Herr Miete, welche Rolle dabei Ihre Gattin…?“ „Die habe ich doch im Krankenhaus besucht. Sagte ich das nicht? Der habe ich alles haarklein erzählt.“ „Aha“, sagt Strecker. So ausführlich, wie die Einleitung geriet, schildert Miete, wie seine Frau nicht davon abzubringen war, daß Beier die dreitausend Mark Anzahlung ergaunern wollte. „Ich glaube, für Herrn Boltin war der kein Unbekannter!“ „Wie kommen Sie denn darauf?“ fragt Rabe. Miete kratzt seinen Schädel mit dem spärlichen Haarkranz. „Herr Boltin fragte, ob mir an dem Staubmantel von Beier eine Besonderheit aufgefallen sei. Stimmt, er hat Besonderheit gesagt. Ich wußte nicht, was er meint, dann fiel mir ein, daß der Mantel auffallend hell gewesen war, ausgebleicht vom vielen Waschen. Als ich das sagte, da hat Herr Boltin genickt. Mir kam es so vor, als kenne er Beier!“ Das läßt sich feststellen, denkt Rabe, trifft Mietes Eindruck zu - und er bezweifelt die Beobachtungsgabe des Mannes nicht -, dann müßte Dieters Arbeitsgruppenleiter davon wissen, und auch in seinen Unterlagen müßte ein Hinweis zu finden sein. Major Strecker denkt wie er. „Kümmern Sie sich um Boltins Schreibtisch, Genosse Rabe!“
Der nickt, die förmliche Anrede ist in Anwesenheit Fremder üblich. Miete berichtet von der mit Boltin getroffenen Absprache; wie das Zusammentreffen mit Beier geplant war, und weshalb er mit zwanzigminütiger Verspätung in der Parkaue eintraf. Die Schilderung seiner entsetzlichen Entdeckung nimmt Miete sichtbar mit. Danach entsteht eine Pause, in der nur das Bandgerät summt. Ein Kleinbus stoppt vor Nummer zwölf, und der Hundeführer steigt mit seinem vierbeinigen Begleiter aus. Bevor Strecker zu ihm geht, wendet er sich noch einmal an Miete: „Rufen Sie sich Beiers Gesicht in die Erinnerung zurück, Herr Miete! Mit Ihrer Hilfe wird Genosse Rabe ein Identi-Kit-Bild erstellen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“ „Bestimmt. Den sehe ich noch genau vor mir!“ „Kommen Sie bitte morgen vormittag in die Dienststelle fürs Protokoll!“ Er gibt Miete die Hand und erreicht in gebückter Haltung den Ausgang, gefolgt vom Staatsanwalt. „Wollen Sie?“ fragt Rabe den neben ihm hockenden Klose und schiebt ihm das PorträtMontage-Gerät hin. Der Wandschrank im Einsatzwagen der Kriminaltechnik ist für alle denkbaren Fälle einer Tatortermittlung ausgerüstet. Miete sieht zum ersten Mal Gesichtselemente und erkennt bald, wie schwierig es ist, sinnvoll mit ihnen zu hantieren. Das beginnt bei der Kopfform. Klose ist an dem Gerät unterwiesen, hat aber selten Gelegenheit, seine Fertigkeiten anzuwenden. Rabe geht ihm zur Hand, und der Bürger Miete erweist sich als guter Beobachter. Nach eingehendem Betrachten des Täterporträts bittet
Miete um eine Korrektur des rechten Ohres; er hat es enger am Kopf anliegend in Erinnerung. Rabe und Klose haben ein intelligent wirkendes, nicht unsympathisches Gesicht vor sich: über der mittelhohen Stirn straff zurückgekämmtes Haar mit deutlich ausgeprägten „Geheimratsecken“, und Miete erwähnt, es sei stark graumeliert. Unter schmalen Brauen blicken kluge Augen; deren Farbe weiß Miete nicht, wie sollte er ahnen, daß man ihn danach fragt? Die schmalrandige Brille mit den getönten Gläsern verstärkt das Image eines Intelligenzberuflers. In dem bartlosen Gesicht dominiert eine geradrückige Nase. Der Mund darunter ist ein Gedankenstrich. „Ein recht genaues Porträt“, stellt Rabe fest. Im allgemeinen geht es bei einem Täterporträt nur darum, den Typ der gesuchten Person darzustellen. Mietes konkrete Angaben machen eine weitgehende Individualisierung möglich. Der zeichnerisch begabte Klose fügt eine sich am Kinn befindliche Narbe hinzu, so groß wie ein halbes Pfennigstück. Der Hundeführer begeht mit der Hündin Senta an langer Suchleine das Grundstück, gefolgt von den mit Handlampen versehenen Technikern. Major Strecker und Staatsanwalt Reichert bleiben auf dem Betonweg zurück. Reichert faßt seine Eindrücke zusammen. Die Waldparzelle scheint erst ein oder zwei Jahre im Besitz des jetzigen Eigentümers zu sein. Überall gibt es bauliche Verbesserungen; der frische Putz am Bungalow, die rohbaufertige Garage. Dagegen erinnern Reste wie der offensichtlich zum Abriß bestimmte Schuppen an den vorher eher bescheidenen Zustand. Aus dem dunklen
Gartenhintergrund dringt die ermunternde Stimme des Hundeführers: „Such voran, Senta! Such voran!“ Das Gewitter ist jenseits des Sees geblieben, nun aber fallen einzelne schwere Tropfen aus dem wolkenverhangenen Himmel und klatschen auf Bäume und Sträucher. „Das fehlt uns noch“, nörgelt Strecker. Der Regen spült nicht nur den blutigen Fleck fort, wo der Tote gelegen hat, als wolle er die Erinnerung an die entsetzliche Tat auslöschen, er vernichtet auch die Spuren an dem Tatwerkzeug, sollte es irgendwo liegen. Es regnet stärker. Dennoch nähert sich der Trassologe barhäuptig, er meldet die Fehlanzeige. Der Hund hat am Tatort Witterung genommen, sucht aber vergeblich. „Versetzen wir uns in die Lage des Täters“, fordert Strecker. „Auf der Flucht merkt er nahe der Pforte, vermute ich, daß er das Tatwerkzeug noch in der Hand hält.“ „Und will es loswerden“, ergänzt Reichert, „aber wohin? Es soll ja nicht gefunden werden.“ Strecker deutet auf das Nachbargrundstück. Als er hier ankam, war es schon schummrig gewesen, dennoch erinnert er sich an mannshohe Disteln und Brennesseln; zur Tatzeit war es dagegen noch hell. Der Dschungel aus Unkraut und Gestrüpp könnte den Täter verlockt haben, das Tatwerkzeug hinüberzuwerfen. Drüben steht kein bewohnbares Gebäude, überlegt Strecker, da ist niemand anzutreffen, und der Staketzaun besitzt Löcher; der Major befiehlt, die Suche dorthin auszudehnen. Vor dem heftiger werdenden Regen fliehen Reichert und er in die halbfertige Garage; sie glauben kaum
noch daran, daß der Hund Erfolg haben wird. Reichert grübelt über den vermutlichen Tathergang nach. Der erscheint zwar eindeutig, aber aus Erfahrung bleibt er mißtrauisch. Vermutlich befand Boltin sich als erster auf dem Grundstück und bezog seinen Beobachtungsposten im Schuppen. Weshalb betrat er ihn auf Zehenspitzen? Die Antwort kann nur lauten: Weil der Verkäufer angekommen war! Sollte Beier Boltin entdeckt haben? Dann bliebe offen, wer wen zur Rede gestellt hat. Möglich wäre auch, überlegt Reichert, daß beide auf Miete warteten, Beier aber nichts von Boltins Anwesenheit wußte. Da Miete nicht kommt, wartet Beier nicht länger. Als Boltin sieht, daß Beier aufbricht, stellt er ihn zur Rede. „Wir können wohl davon ausgehen, Genosse Strecker“, sagt Reichert aus seinen Gedanken heraus, „daß der Täter bei den offensichtlichen Handgreiflichkeiten selber Spuren davongetragen hat.“ „Das ist zu vermuten. Trotzdem verstehe ich nicht, daß Boltin ihm den Rücken gekehrt hat. Begreifen Sie das? Ein trainierter Judoka läßt sich hinterrücks niederschlagen?“ „Das spricht allerdings für einen Hinterhalt“, erwägt Reichert. „Hat man ihm aufgelauert, um ihm das abzunehmen, was er in der rechten Jackentasche trug? Das begreife ich nicht!“ „Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen“, gesteht Strecker, „es sei denn, Boltin hat Beier etwas abgenommen, was der unter allen Umständen zurückhaben wollte!“ „Das klingt plausibel“, gibt Reichert zu, „was könnte
das aber sein?“ Bevor sie weiterspekulieren, dringt von Nummer elf lautstarkes Bellen herüber, und Strecker wertet es als Erfolgsmeldung. Der Hund muß fündig geworden sein. Trotz des Regens laufen beide zum Staketzaun. Der Trassologe kommt ihnen entgegen, in der Hand eine Zellophantüte und darin eine etwa vierzig Zentimeter lange Eisenstange, ungefähr dreißig Millimeter stark. An einem Ende ist sie abgeflacht, angewinkelt und gespalten. In größerer Ausfertigung nennt man dieses Werkzeug „Kuhfuß“. „Das Ding dient dazu“, sagt Reichert, „um Nägel aus Kistendeckeln zu ziehen.“ Er muß es wissen, bevor er sein Fernstudium aufnahm, war er in der Spedition DEUTRANS tätig gewesen. Das Eisen glänzt naß und erinnert an einen erstarrten Schlangenleib mit Kobrakopf. An einer Stelle kleben Haare, sieht Strecker und schluckt beeindruckt. Zweifellos ist es das Tatwerkzeug, mit dem Boltin erschlagen wurde. Der Major spricht dem Hundeführer, einem älteren Obermeister, seine Anerkennung aus. Der gibt sie an Senta weiter, die eng an seinem linken Bein sitzt, und klopft ihr nasses Fell. Trotz des Regens blicken noch einige Bewohner der Parkaue zu Nummer zwölf herüber. Dort steigen die Kriminalisten in ihre Fahrzeuge, nur ein Streifenwagen bleibt zurück und sichert den Tatort, der bei Tageslicht noch einmal untersucht werden wird. Der Himmel hat ein Einsehen, der Regen versiegt, die Wolken reißen auf, und einzelne Sterne blinken. „Es tut mir leid“, sagt Strecker, „aber an Dienstschluß ist nicht zu denken!“ Für seine
Begleiter kommt die Weisung nicht überraschend, sie haben es erwartet. Es gilt, den der Tat dringend verdächtigen Beier rasch zu ermitteln. „Du weißt, Günter“, erwidert Rabe, „daß Erika und ich mit Dieter und Inge Gäde befreundet sind - waren.“ Heinz Rabe räuspert sich und ergänzt: „Für Inge ist es ein furchtbarer Schlag. Sie muß benachrichtigt werden.“ „Sollen wir dich dort absetzen?“ „Nein, bringt mich nach Hause. Erika wartet, wir fahren beide zu ihr.“ „Einverstanden“, sagt Strecker, „sind weitere Angehörige zu verständigen?“ „Nein. Seine Mutter ist voriges Jahr gestorben, andere Verwandte besitzt er nicht.“ Nach längerem Schweigen erklärt Strecker bedauernd, daß er es ihm nicht ersparen kann, danach zur Dienststelle zu kommen. „Ist doch logisch“, antwortet Heinz Rabe.
7. Auf dem Parkplatz schaut Inge Gäde vergeblich nach Dieters Trabant aus. Dabei ist es ein Viertel nach einundzwanzig Uhr. Der Andrang war heute außergewöhnlich groß, erst um zwanzig Uhr dreißig verließ die letzte Kundin den Laden. Dieter hat keinen Parkplatz gefunden, erwägt Inge, und der Trabi steht vielleicht in einer Nebenstraße. Es gibt in der neuen Vorstadt kaum noch einen autolosen Haushalt. Der Fahrstuhl ist repariert, und Inge ist froh, die acht Etagen nicht erklimmen zu müssen. Die Füße schmer-
zen, es war ein anstrengender Tag. Sie öffnet behutsam die Wohnungstür und schaltet das Licht in der Diele ein. Das bernsteinfarbene Glas in Hansis Zimmertür schimmert hell. Inge lächelt nachsichtig, er hat im Bett gelesen und ist darüber eingeschlafen; vorsichtig drückt sie die Klinke hinab. Der Anblick überrascht sie dann doch. Hansi liegt angekleidet auf dem Bett, das aufgeschlagene Buch neben sich. Er schläft fest, sie könnte ihn mühelos entkleiden, ohne ihn zu wecken. Inges Blick fällt auf das Buch. Sie kennt es nicht. Es sind utopische Erzählungen für Leser ab zwölf Jahre, für Hansi also noch schwer verständliche Geschichten. Vielleicht gehört das Buch der Schulbibliothek? Sie blättert darin, findet aber keinen Stempel, im Gegenteil, das Buch ist neu. Ihr steigt ein unangenehmer Geruch in die Nase. Gar nicht zimperlich entkleidet sie Hansi; der reckt sich und öffnet die Augen. „Du bist ja nicht ausgezogen!“ sagt sie vorwurfsvoll. „Was ist das für ein Buch?“ „Utopische Erzählungen“, sagt Hansi verschlafen, umfängt Inge und küßt sie. „Das sehe ich“, sagt sie, „woher hast du es?“ „Das habe ich schon lange!“ behauptet er. Inge hebt schnüffelnd die Nase. „War jemand hier?“ „Nö, wer denn?“ Er sieht an ihr vorbei und tut so, als schlafe er wieder ein. „Du kannst mich nicht verkohlen! Es riecht nach Bier!“ Hansi schweigt. Sie hebt sein Kinn und zwingt ihn, sie anzusehen. „War dein Vater hier?“ Er dreht den Kopf zur Seite. „Ach wo, bestimmt
nicht.“ „Du lügst!“ behauptet Inge. Komisch, denkt sie, sonst schwindelt er kaum, wenn ja, hat es immer mit seinem Vater zu tun. Sie denkt „sein Vater“ und nicht Herbert. Hansi streift den Schlafanzug über und kriecht unter die Bettdecke. „Natürlich riecht es nach Bier!“ sagt Inge ärgerlich, geht zu dem mit Bildern von Frau Elster und Herrn Fuchs beklebten Papierkorb und findet darin drei Kronenverschlüsse von Pilsener Bier. „Und was ist das?“ fragt sie ernstlich böse. Hansi sieht ein, daß es keinen Sinn hat weiterzulügen. Ja, der Vati war da und hat das Buch mitgebracht und daraus vorgelesen. „Wann ist er gekommen?“ „Da war Onkel Dieter schon weg“, antwortet Hansi widerwillig. „Das kann ich mir denken!“ Was soll bloß werden, überlegt sie, wenn Dieter darauf besteht, das Umgangsrecht für Hansis Vater aussetzen zu lassen? Das verkraftet der Junge nicht. „Warum hast du gelogen?“ fragt sie streng. „Weil… weil - ich sollte nicht sagen, daß er hier war“, gesteht Hansi kleinlaut. Inge steht an seinem Bett und blickt ratlos auf ihn hinab, sie ist zornig auf Gäde. Der verdirbt den Jungen und stiftet ihn zum Lügen an. Was Dieter wohl sagt, wenn er es erfährt? Dieter ist kompromißlos, wenn es um Recht und Unrecht geht. Er muß es ja nicht erfahren, überlegt sie und setzt sich auf die Bettkante. Sie zieht die Decke fort, die Hansis Gesicht verbirgt. „Sieh mal, Hansi, wenn dein Vater verlangt hat, du
sollst uns nicht sagen, daß er hier war, dann meint er nicht mich, sondern Onkel Dieter.“ „Kann sein“, räumt Hansi ein. Meine Güte, denkt Inge, ist das nicht mies, was ich tue? Es ist echt schlimm, aber was soll ich machen? „Weißt du, am besten sagen wir’s Onkel Dieter gar nicht, daß dein Vater hier war.“ „Und wenn er fragt?“ Wie er mich ansieht! Inge spürt, daß sie rot wird und ärgert sich darüber. Er sieht mich an, als habe er mich bei wer weiß was ertappt. „Auch nicht, wenn er fragt?“ wiederholt Hansi hartnäckig. „Nein, auch dann nicht!“ antwortet sie heftig und ergänzt milder: „Deck dich schön zu, ich lüfte noch.“ Sie beugt sich über ihn und küßt ihn. Er umschlingt ihren Nacken und zieht sie herab. „Schlaf gut, mein Kleiner“, sagt Inge zärtlich. Sie steht auf, löscht das Licht, öffnet das Fenster und schließt sachte die Tür hinter sich. In der Küche ist das Geschirr abgewaschen und steht zum Trocknen da. Inge räumt es in den Schrank. Die Einkäufe sind in die Fächer sortiert, darin ist Dieter pedantisch. Sie überlegt, ob sie etwas Kalorienarmes anrichtet, einen Obstsalat oder eine Quarkspeise? Er freut sich, und es schadet seiner Figur nicht. Sie nimmt die Quarkpackung aus dem Kühlschrank, da klingelt es zweimal lang. Dieter läutet dreimal kurz. Die Fahrstuhltür klappt; Inge geht in die Diele und öffnet. Sie staunt, denn vor ihr stehen Erika und Heinz Rabe. „Hallo, ihr beiden, kommt herein!“ sagt sie fröh-
lich; aber wirkliche Freude kommt nicht in ihr auf, denn Rabes machen bedrückte Gesichter; Erika sieht gar an ihr vorbei. Beide treten in die Diele, und Inge schließt die Tür hinter ihnen. Wie immer, wenn sie einer Frau begegnet, mustert Inge die Frisur. Erika trägt das Haar als Knoten im Nacken, sie wirkt ernst und beinahe fremd. „Legt ab“, fordert Inge, „Dieter ist noch nicht da!“ Sie fängt einen Blick auf, den Erika und Heinz tauschen, und er rührt sie an wie ein kühler Hauch; es steigt eine ungute Ahnung in ihr auf. Plötzlich weiß sie, daß beide ihr etwas Unangenehmes mitteilen werden. Erikas Mutter ist wegen Krebsverdacht ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert worden. Inge legt der Freundin einen Arm um die Schultern. „Hast du etwa eine schlechte Nachricht von deiner Mutter?“ fragt sie besorgt. „Nein, nein“, antwortet Erika hastig, „im Gegenteil, es ist eine gutartige Geschwulst!“ Sie blickt hilfesuchend auf Heinz. Auch das registriert Inge. „Ihr habt doch irgend etwas, das sehe ich euch an“, sagt sie und spürt plötzlich, daß es sie selbst betrifft. Rabes hängen ihre Leinenjacken an die Garderobe und gehen ins Wohnzimmer. Inge bleibt in der Tür stehen und fragt, ob sie Kaffee anbieten darf? Ihre Miene ist nun besorgt. Rabes schütteln ihre Köpfe, und Heinz sagt, daß sie nicht anders könnten, sie müßten ihr weh tun. „Du mußt sehr tapfer sein, Inge“, fordert Heinz. „Dieter ist etwas zugestoßen!“ ergänzt Erika. „Um Gottes willen!“ flüstert Inge und sucht am Türpfosten Halt; ihre Augen sind schreckhaft geweitet,
ihre Blicke hasten von einem zum andern. „Was denn? Was ist passiert? Ein Unfall mit dem Trabi?“ Niemand von ihnen weiß, wie nahe daran Dieter Boltin gewesen war, mit dem Trabi in einen Zusammenprall verwickelt zu werden. „Dieter ist tot“, sagt Heinz. „Nein!“ haucht Inge tonlos. „Nein, das ist nicht wahr! Dieter doch nicht!“ Ihr Gesicht wird schneeweiß, die Lippen sind blaß, die Augen voller Unglauben. Sie umklammert mit beiden Händen die Türklinke. Erika ist rasch bei ihr, umfängt sie und führt sie zum Sessel. „Es… es tut uns entsetzlich leid, Inge“, stammelt Erika, hockt sich auf die Sessellehne und zieht die Freundin an sich. Noch sind Inges Augen tränenleer, sie ist außerstande, das Gesagte zu begreifen, und schüttelt ratlos den Kopf. „Wie… wie ist es denn passiert? Er hat doch keine Schuld? Er fährt immer vorsichtig.“ Erika wirft Heinz einen fordernden Blick zu. Er räuspert sich. „Es war kein Unfall. Es ist im Dienst passiert.“ „Im Dienst? Wie denn im Dienst?“ fragt sie. „Er muß nach Finkenhain, hat er gesagt!“ Inge spürt nicht, daß ihre Augen sich mit Tränen füllen, sie quellen aus den Augenwinkeln und kullern die Wangen hinab. Sie sitzt reglos da, wie erstarrt, ihre Arme hängen kraftlos herab. „Es war in Finkenhain“, erklärt Heinz. „Wir wissen noch nicht, wie es passiert ist. Dieter muß eine Festnahme beabsichtigt haben, vermuten wir. Dabei wurde er niedergeschlagen.“ „Totgeschlagen!“ verbessert Inge bitter, blind von
Tränen, unaufhaltsam rollen sie ihr übers Gesicht. „Wir ruhen nicht eher, bis wir den Täter haben, verlaß dich drauf!“ „Davon wird Dieter nicht wieder lebendig!“ stöhnt sie. Mit ihrer Beherrschung ist es vorbei. Sie preßt das Gesicht an Erikas Schulter und schluchzt hemmungslos. Kaum verständlich spricht sie ihren Jammer aus, der sie überkommt: „Wir haben uns lieb gehabt. Im Oktober wollten wir heiraten. Ich wollte ein Kind von ihm, ein Mädchen. Warum mußte er sterben? Warum? Hat ihm denn keiner geholfen?“ Heinz blickt Erika fragend an, und sie nickt. Es bleibt wie abgesprochen. Sie läßt Inge jetzt nicht allein. Heinz fährt zur Dienststelle, Strecker und Klose warten auf ihn. Er zögert, bis der Weinkrampf in leises Wimmern übergeht. „Erika bleibt hier, hörst du, Inge? Ich muß zur Dienststelle. Der Täter darf keinen Vorsprung bekommen.“
8. Rabes Schritte dröhnen hohl auf dem Gang; die Beleuchtung ist nachts auf das Notwendigste reduziert, und hinter den Türen fehlt das Schreibmaschinenklappern. Dennoch herrscht jene dienstbereite Atmosphäre, die Hauptmann Rabe von den Bereitschaftsnächten her kennt. Im Begriff, aus Gewohnheit eine Etage höher zu steigen, besinnt er sich und biegt in den Korridor ein, an dem Boltins Dienstzimmer liegt. Major Strecker sitzt auf Dieters Platz und liest eine Akte, er schiebt sie fort, als Rabe ins Zimmer tritt.
Streckers Gesicht schimmert gelb, hoffentlich spielt ihm seine Leber nicht wieder einen Streich, denkt Rabe. Hauptmann Griebsch, Dieters Arbeitsgruppenleiter, ist aus einem Kino herausgeholt worden; er begreift noch nicht, daß Boltin tot sein soll. Griebsch und Klose blättern in zwei Akten. Beides sind Fälle von Trickbetrug, und beide betreffen den vorgetäuschten Verkauf des Grundstückes Parkaue zwölf in Finkenhain. „War es schlimm?“ fragt Strecker, während Rabe Griebsch stumm die Hand reicht. „Ich möchte so etwas nicht noch einmal erleben!“ antwortet Rabe. „Erika bleibt bei ihr.“ Der erste Betrugsfall, informiert Griebsch, liegt eine Woche zurück. Der Verkäufer nannte sich Krüger und kassierte von einem Klempnermeister, den er in der Mitropagaststätte getroffen hatte, zweitausend Mark. Griebsch schiebt Rabe das von Boltin montierte Porträt hin. Rabe findet wenig Ähnlichkeit mit dem Identi-KitBild, das er und Klose mit Mietes Hilfe erstellt haben. Der zweite Fall liegt nur vier Tage zurück, berichtet Griebsch, und diesmal nannte der Verkäufer sich Beier wie im Fall Miete. Es gibt keinen Fall Miete, denkt Rabe bitter, es ist ein Fall Boltin geworden. Das Täterbild ähnelt mehr dem von ihm und Klose angefertigten. Der Verkäufer forderte und bekam dreitausend Mark Anzahlung. „Der Ablauf war immer derselbe“, erklärt Griebsch. „Krüger, beziehungsweise Beier, kam mit dem zweiundzwanziger Bus nach Finkenhain und ließ sich nach der Besichtigung von den Käufern in spe in deren PKWs zurück nach Poldam mitnehmen. Im zweiten
Falle war es ein Bäckermeister in Begleitung seiner Frau.“ „Das erklärt das bessere Identi-Kit-Bild“, wirft Strecker ein, „vier Augen sehen mehr als zwei.“ Griebsch erläutert, daß er beide Vorkommnisse mit Boltin besprochen habe und fügt hinzu: „Wir müssen davon ausgehen, daß Beier alias Krüger von der Abwesenheit der Grundstücksinhaber wußte und sich deshalb dort so sicher fühlte.“ „Das heißt“, ergänzt Strecker, „er muß irgendwelche Beziehungen zu ihnen haben.“ „Das Naheliegendste wäre“, fügt Rabe hinzu, „daß er ein Stammgast der ,Bierglocke’ ist.“ „Behalte das im Auge, Heinz!“ fordert Strecker und sagt an Griebsch gerichtet: „Ich schlage vor, Walter, daß wir in der MUK die Bearbeitung der Betrugsdelikte mit übernehmen, da ein Zusammenhang mit dem Fall Boltin zu vermuten ist.“ „Einverstanden“, erklärt Griebsch, „wir unterstützen euch, wo wir es können.“ „Mir ist nicht klar“, sagt Rabe, „wie die Betrogenen so rasch dahintergekommen sind, daß sie aufs Kreuz gelegt wurden.“ „Ganz einfach“, antwortet Griebsch, „beide Käufer bekamen Bedenken, nachdem sie die Anzahlung hingeblättert hatten. Sie erkundigten sich und stellten fest, daß ihr Verkäufer unter der angegebenen Adresse unbekannt war.“ Hauptmann Rabe setzt sich auf die Schreibtischkante, wie er es oft getan hat; jetzt sitzt aber nicht Dieter am Tisch, sondern Günter Strecker. Rabe biegt ein Plastlineal in den Händen, als prüfe er
seine Festigkeit. Dabei entwickelt er eine Theorie. Man müsse davon ausgehen, meint er, daß beide Betrugsfälle und der mißlungene an Miete nicht die einzigen seien. Meiners’, das hat Klose erfragt, befinden sich in der dritten Woche in Bulgarien. Sollte der Trickbetrüger, der zweifellos darüber informiert ist, die Zeit nicht schon mehrfach genutzt haben? Eine Umfrage in der Bezirkspresse bringt vielleicht weitere Fälle ans Licht. „Verlieren wir nicht aus den Augen, Genossen, daß es auch andere Tatmotive geben könnte“, meint Strecker. „Für einen Raubmord spricht zwar wenig; Geld, Wertsachen und die Dienstwaffe sind vorhanden, aber denkt an die umgestülpte Jackentasche. Es wären auch persönliche Motive vorstellbar: Feindschaft, Haß. Ebenso steht die Frage nach einem politischen Motiv. Will jemand mit dem Angriff auf einen Angehörigen des Sicherheitsorgans Volkspolizei seinen Haß auf unseren Staat zum Ausdruck bringen?“ Rabe wendet sich an Griebsch: „Oder war Dieter anderen Verbrechen auf der Spur, deren Aufklärung verhindert werden soll?“ „Nein. Davon würde ich wissen! Das heißt…“ Griebsch reibt nachdenklich seine Wangen und beginnt neu: „Genosse Boltin hat mir gesagt, daß er eine Akte aus dem Archiv angefordert habe. Unter Umständen müßte eine alte Strafsache erneut verhandelt werden.“ „Ich glaube nicht“, behauptet Rabe, „daß überhaupt ein Mord geplant war.“ „Totschlag ist eine ebenso abscheuliche, hinterhältige Gewalttat!“ „Logisch“, sagt Griebsch.
Strecker erklärt, an Rabe und Klose gerichtet: „Du, Manfred, kümmerst dich morgen früh darum, welcher Busfahrer zur fraglichen Zeit den Zweiundzwanziger gefahren hat. Haben wir Glück, erinnert er sich, wo dieser Beier zugestiegen ist.“ „In dem Fall schlage ich vor“, wirft Rabe ein, „daß einige Genossen sich mit dem Identi-Kit-Bild in der betreffenden Gegend umsehen.“ „Außerdem läuft die Personenfahndung an. Weitere Vorschläge?“ „Wir kümmern uns gleich morgen darum, in welche Gaststätten die Stammgäste der ,Bierglocke’ ausgewichen sind“, erklärt Rabe. „Einverstanden“, sagt Strecker und blickt auf seine Armbanduhr. „Im übrigen passiert es heute, es ist Mitternacht vorbei.“ In allen Schreibtischen findet sich etwas aus dem privaten Umfeld seines Benutzers, sinniert Strecker und breitet den Inhalt der Schublade auf dem Tisch aus. Es sind Kleinigkeiten wie Kugelschreiber, Taschenspiegel und eine Tüte Fruchtbonbons, aber auch einige Fotos von Dieters eigenem Sohn, von Inge Gäde und Hansi. Griebsch blickt über Streckers Schulter und sagt, daß er die Akten nun unter den Genossen aufteilen müsse. Rabe schlägt vor, Dieters persönliche Hinterlassenschaft Inge Gäde zukommen zu lassen, das wäre in Dieters Sinn. „Was mache ich damit?“ fragt Griebsch und zeigt auf eine dicke blaue Akte, die mit Stempeln und handschriftlichen Vermerken übersät ist. In dieser Akte hatte Strecker gelesen, als Rabe ins Zimmer trat. Der Ma-
jor deutet auf den vier Wochen alten Ausgangsvermerk des Archivars. „Dieter hat mich über Details noch nicht informiert“, erklärt Griebsch. „Vielleicht war er seiner Sache nicht sicher?“ ergreift Rabe Boltins Partei. „Es war nie Dieters Art, ungelegte Eier zu begackern!“ Griebsch übergeht die Erklärung achselzuckend. „Am gescheitesten gebe ich sie ans Archiv zurück.“ „Hör mal, Walter“, wendet Rabe sich an Griebsch. „Ich täte das nicht so rasch. Bestimmt meinte Dieter diesen Fall, als er sagte, daß eine alte Strafsache unter Umständen erneut verhandelt werden müsse.“ Diese Meinung teilt Griebsch gar nicht, seine Arbeitsgruppe ist ausgelastet. Wo soll man auch ansetzen, um eine vor vier Jahren abgeschlossene Ermittlungssache neu aufzurollen? Noch dazu, wenn Boltin seiner Sache nicht sicher war. Wäre er es gewesen, argumentiert Griebsch, hätte er den Fall bei einer Frühbesprechung erwähnt. „Es geht um Autodiebstahl?“ fragt er. „In sechs Fällen!“ bestätigt Strecker und schiebt ihm die Akte hin. Da Griebsch mit einer abwehrenden Geste reagiert, schaut Rabe an seiner Stelle hinein. „Gerhard Simon“, liest er und überfliegt die Seiten. Strecker gibt Erläuterungen und beweist einmal mehr, wie rasch er aus einer Akte das Wesentliche herausfiltern kann. „Boltin brauchte zehn Monate, ehe er Simon sechs geklaute Lada nachweisen konnte. Auf der Gartenparzelle seiner Mutter hat dieser Simon eine Feierabendwerkstatt betrieben. Die gestohlenen PKWs hat er ausgeschlachtet und als Ersatzteile verwendet.“
„Diese Notiz von Dieter ist neu!“ Rabe zitiert aus der Akte, „… daß der zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug Verurteilte, vor einem Monat vorzeitig entlassen worden war. Der Strafrest von sechs Monaten wurde zur Bewährung ausgesetzt.“ „Los, Manfred, verschwinde nach Hause! Du hast es am weitesten!“ wendet Strecker sich an Klose, der stumm auf dem Stuhl sitzt und gegen die Müdigkeit ankämpft. Klose will sich nicht anmerken lassen, wie gern er der Aufforderung nachkommt, doch seine Schritte entfernen sich rasch auf dem Korridor. „Sehr weit hat er’s gar nicht“, behauptet Rabe und grinst. „Wieso? Ist er umgezogen?“ fragt Strecker. Davon hat Leutnant Klose ihn nicht unterrichtet. „Nee, das nicht“, sagt Rabe, „aber er schläft meist nicht zu Hause.“ Strecker runzelt die Stirn. Ob an dem Gerede etwas dran ist? Ihm wird wieder einmal klar, daß er wenig aus dem privaten Bereich seiner Mitarbeiter weiß. Angeblich steht er in dem Ruf, nicht sehr kontaktfreudig zu sein. Da ist Heinz Rabe anders, der lockt den verstocktesten Schweiger aus der Reserve. „Hier ist eine Telefonnummer vermerkt“, sagt Rabe und dreht einen Zettel zwischen den Fingern. Er schreibt die Rufnummer in sein Notizbuch, dahinter Dieters Namen mit einem Fragezeichen und legt den Zettel in die Akte zurück. Er schiebt sie Strecker hin, als habe der einen Anspruch darauf. Der Major reicht den Hefter jedoch an Griebsch weiter. „Das ist dein Bier, Walter! Ich gäbe den Vorgang nicht sang- und klanglos ans Archiv zurück!“
Rabe rutscht von der Schreibtischkante und tritt ans Fenster. Die Silhouetten der alten Kastanien heben sich dunkel von dem nun wolkenlosen Nachthimmel ab. Vielleicht regnet es morgen gar nicht, denkt er, die Meteorologen irren öfter. „Ich glaube, wir machen Schluß“, sagt Griebsch und gähnt. Rabe wendet sich ins Zimmer zurück. „Was macht der eigentlich, der Simon? Wo ist er abgeblieben?“ „Er arbeitet wieder als Autoschlosser in seiner früheren Brigade im ,VEB Kraftverkehr’„, antwortet Strecker. „Die haben seine vorzeitige Entlassung aus dem Strafvollzug beantragt und bürgen für ihn.“ „Ich kümmere mich mal darum“, versichert Griebsch und klemmt die Akte unter den Arm, „sobald ich Zeit habe!“ Rabe und Griebsch sehen sich wenige Stunden später im Beratungsraum wieder. Mit übernächtigten Gesichtern hocken sie auf den Klappsitzen. Die Leinwand an der Stirnseite des kleinen Saales und die dichtschließenden Rollos vor den Fenstern verraten, daß hier auch Filme vorgeführt werden. Beide sind von zu Hause abgeholt worden, und nun treffen nacheinander Kriminalisten aus allen Dezernaten ein. Leises Raunen schwebt über den Köpfen, Begrüßungen werden ausgetauscht und Vermutungen über den Anlaß dieser Maßnahme. Hauptmann Rabe zählt achtunddreißig Genossen, als die Tür geöffnet wird und Oberst Winter hereintritt, ein hochgewachsener Mann mit dichtem grauem Haar; ihm folgt Major Strecker. Rabe schätzt den Oberst aus dem Ministerium auf Ende Fünfzig.
Strecker wendet sich an die Versammelten. Heinz Rabe sieht besorgt, daß es ihm nicht gut geht, Günter hat Schmerzen und ist bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. Nach der knappen Begrüßung fährt Strecker fort: „Genossen, ein trauriger Anlaß führt uns zusammen: Gestern abend ist Oberleutnant Boltin einem heimtückischen Verbrechen zum Opfer gefallen. Bei Ausübung einer dienstlichen Handlung ist er hinterrücks erschlagen worden.“ Die aufbrandende Unruhe verrät, daß nur wenige Anwesende Kenntnis davon hatten; nachdem wieder Stille eingekehrt ist, fährt Strecker fort: „Ich übergebe das Wort an Genossen Oberst Winter. Bitte, Genosse Oberst.“ Winter tritt an das seitwärts stehende Rednerpult; seine Blicke schweifen über die ihm zugewandten Gesichter hinweg. Der Oberst erklärt, daß er sich während der Fahrt aus der Hauptstadt hierher nach Poldam mit den Fakten vertraut gemacht habe. „Der Genosse General hat mir befohlen, eine ,Sonderkommission Boltin’ zu organisieren und zu leiten. Sie gehören zu dieser Kommission und sind von den sonstigen Dienstobliegenheiten entbunden. Alle Mittel und technischen Möglichkeiten stehen zur Verfügung, um das Verbrechen an Oberleutnant Boltin so schnell wie nur möglich aufzuklären. Alle Informationen gehen an meinen Stab. Die hiesige MUK wird verstärkt und arbeitet ansonsten so weiter wie bisher!“ Oberst Winter wendet sich an Strecker. „Sie, Genosse Strecker, bilden mit Ihrem Kollektiv die Vorhut der Sonderkommission. Berichten Sie nun über den au-
genblicklichen Stand.“ Der Oberst nimmt seinen Platz am Tisch ein, und Major Strecker geht zum Pult. Im Gegensatz zu Winter, der frei gesprochen hat, benutzt Strecker einen Merkzettel. Der Saal wird verdunkelt, nur die Leselampe am Pult wirft einen kreisrunden Schein. Hauptmann Griebsch bedient den Bildwerfer und legt die Dias ein. Strecker gibt Erläuterungen zum Tatort. Beim Anblick des Toten halten die Versammelten spürbar den Atem an. Das letzte Dia zeigt das umgestülpte rechte Taschenfutter von Boltins Jacke. Die Rollos werden hochgerollt, nur das Licht bleibt eingeschaltet, denn der Himmel ist bezogen; ein grauer Morgen kündigt sich an. Strecker kommt jetzt auf die wichtige Frage nach dem Motiv zu sprechen. „Die wahrscheinlichste Version, Genossen“, beendet der Major seine Ausführungen, „ist die folgende: Oberleutnant Boltin wollte in Finkenhain einen Trickbetrüger festnehmen, der Anzahlungen für ein Grundstück kassierte, dessen Eigentümer verreist sind. Es ist zu klären, weshalb er die Festnahme allein durchzuführen beabsichtigte. Der Trickbetrüger ist Verdächtiger Nummer eins. Sie erhalten jeder sein Identi-Kit-Bild.“ Oberst Winter wendet sich nach Streckers Worten erneut an die Versammelten. Die Organisierung der Sonderkommission ist der nächste Punkt.
9. Das Frühstück verläuft bei Schreiters sonnabends anders als an den Werktagen. Am Sonnabend sitzt man in der geräumigen Wohnküche um den Tisch, ohne hektisch auf die Wanduhr zu blicken. Es wird auch keine Schnitte stehend verschlungen, was Erna Schreiter gar nicht mag. Es riecht nach frischem Kaffee und geröstetem Toast. Rudolf sitzt auf seinem Platz mit dem Ausblick auf den Hühnerauslauf. Die weißen Leghorn drängen an der Gittertür und gakeln; sie werden sonst zeitiger gefüttert. Aus dem Radio klingt Musik und manchmal eine Zeitansage, Rudolf beachtet sie kaum, auch das gehört zu den Besonderheiten am Wochenende. Erna braucht nicht zu ihrem Federvieh ins „Kombinat Industrielle Mast“, nur Monika muß an die Kaufhallenkasse. Die Konsumhalle öffnet um acht Uhr. Rudolf mustert verstohlen seine Tochter. Monika blickt verbiestert drein. Nicht mal ihr Töchterchen Anita heitert sie auf mit ihrem Geplapper. Die dreijährige Enkelin sitzt zwischen der Mutti und ihrer Oma. Monika ist mit ihren Gedanken woanders, das spürt Rudolf, sie beachtet Anitas Fragen gar nicht. Das Kind will wissen, ob man nachmittags zum Bracksee fährt? „Erst abwarten, wie das Wetter wird“, antwortet Rudolf an Monikas Stelle. Monika Schreiter schiebt den Teller mit der angebissenen Honigschnitte von sich und nippt an ihrem Kaffee. Sie ist keine Schönheit mit der großen Nase und den aufgeworfenen Lippen, schön ist nur ihr Haar mit dem Stich ins Rötliche; derselbe Schimmer liegt auf Anitas Lockenköpfchen. Monika langt nach den Ziga-
retten auf dem Küchenbüfett und ignoriert Vaters mißbilligende Blicke. Rudolf hat es nicht gern, wenn beim Frühstück geraucht wird. Sie sagt unbeherrscht: „Meine Güte, ja, ich weiß, bei Schreiters pafft man nicht am Tisch!“ „Wenigstens nicht, solange jemand ißt!“ bestätigt Erna. „Noch ein Stüllchen, mein Mäuschen?“ wendet sie sich an die Enkelin. „Ich verstehe ja“, sagt der auf Ausgleich bedachte Rudolf, wenn Erna zu streng vorgeht, „du machst dir Gedanken, weshalb Gerhard nicht gekommen ist. Vielleicht war etwas mit dem Motorrad?“ Erna Schreiter macht aus ihrem Herzen keine Mördergrube, sie spricht aus, was sie bedrückt. „Ihr beide mit eurem Gerhard! Kaputtes Motorrad! Da lachen ja die Hühner! Gadeberg ist nicht aus der Welt, schließlich fährt der Bus hierher!“ „Es ist das erste Mal, daß er nicht gekommen ist“, verteidigt Monika den Freund. Rudolf überlegt, ob Gerhard am Ende auch nicht zur Frühschicht gegangen ist. Die halbe Brigade zieht heute in der Werkstatt eine Schicht durch, da zwei SkodaKipper ausgefallen sind. „Ich telefoniere nachher mal“, sagt er. „Und wann pflückst du die Schattenmorellen? Am Nachmittag wecke ich ein“, sagt Erna stirnrunzelnd. Ihre Unzufriedenheit über Monikas Freund erhält neue Nahrung. Es war ein Fehler von Rudolf gewesen, den gerade erst aus dem Strafvollzug entlassenen Gerhard Simon mitzubringen. Rudolfs Begründung akzeptiert Erna nicht; er wäre Brigadier und habe Simons vorzei-
tige Entlassung in die Wege geleitet. Da sei es selbstverständlich, sich auch nach Feierabend um ihn zu kümmern. „Die Kirschen laufen nicht weg“, sagt Rudolf. Der Gedanke, Gerhard könne eine Fehlschicht bringen, läßt ihm keine Ruhe. Nächste Woche erstattet er dem von der Abteilung Inneres eingesetzten Bewährungshelfer Bericht; eine Fehlschicht ist das letzte, was er vortragen möchte. Rudolf erinnert sich daran, daß Simon, bevor er in den Strafvollzug mußte, die meisten Abende in der Kneipe herumhockte. Dabei lebte seine Mutter damals noch, er besaß ein gemütliches Zuhause und seine Ordnung. Vor einem Jahr ist Simons Mutter gestorben. Der Garten mitsamt der Feierabendwerkstatt wurde verkauft. Das Geld, Rudolf weiß nicht wieviel, wurde zur Schadenregulierung herangezogen. Es sind vor allem die Schulden, die an Simon wie Bleigewichte hängen, und die Erna den künftigen Schwiegersohn verleiden, das weiß Rudolf. Gerhard wurde zur Wiedergutmachung des von ihm angerichteten Schadens verurteilt. Es müssen noch sechzig- oder siebzigtausend Mark sein, die er der Staatlichen Versicherung schuldet. Der Gedanke, daß Gerhard den gestrigen Abend in einer Kneipe verbracht haben könnte, beunruhigt Rudolf Schreiter. Er denkt an Gerhards triste Behausung: ein Giebelzimmer, in einem zweistöckigen Haus in der Altstadt. Das Viertel soll bald rekonstruiert werden. Das Zimmer ist geräumig, aber der schiefe Kachelofen sieht nicht so aus, als erwärme er es im Winter. Die Bude ist
mit einem Bett ausgestattet, zwei Stühlen, einem Tisch und einem Schrank; als Waschgelegenheit dient eine Schüssel im eisernen Ständer. Gardinen seien nicht erforderlich, meinte der Bewährungshelfer, ein sonst ganz umgänglicher Kassierer der Stadtsparkasse. Es könne ja niemand hineinsehen, wegen der nur fünf Meter entfernten Giebelmauer des Nachbarhauses. Aus einer solchen Bude treibt es den Menschen geradezu in die nächste Gaststätte, findet Rudolf. „Du wolltest in der Truhe auf dem Boden nachsehen, wegen ‘ner Gardine, Erna!“ erinnert er seine Frau. Erna hebt Anita vom Stuhl auf ihren Schoß, auch das gehört zum Frühstück am Wochenende. An den anderen Tagen ist dazu keine Zeit, da bringt Monika ihr Töchterchen in den Kindergarten. Erna sieht Rudolf kopfschüttelnd an, sie versteht ihn nicht. Simon hat Monika gestern abend versetzt, sie denkt Simon, nie Gerhard, und Rudolf zerbricht sich seinen Kopf, wie er dessen Bude gemütlicher machen kann. Sie hat es nicht vergessen, sondern aus Trotz unterlassen. In der Truhe sind Gardinen, das weiß sie, vor zwei Jahren wurden die beiden kleinen Stubenfenster herausgebrochen und das große, vierteilige eingesetzt; dazu mußte eine neue Gardine her. „Wie wäre es denn mit dem Teppich aus dem Wohnzimmer?“ fragt sie spitz. Rudolfs Stirn rötet sich vor Ärger; Erna mag Gerhard nicht und macht kein Geheimnis daraus. Sie denkt nicht daran, daß Monika keine Schönheit ist. Der Kerl, der ihr das Kind angedreht hat, ist verheiratet und zahlt Alimente. Rudolf bezweifelt, daß der an mehr als an
die flüchtige Umarmung gedacht hätte, wäre er ledig gewesen. Tröstlich findet er, daß Anita ein liebes, gesundes Kind ist. Sich selber macht Rudolf nichts vor, er würde lügen, wollte er behaupten, daß Gerhard ihm ans Herz gewachsen sei. Er entspricht ganz und gar nicht dem Wunschbild, das ihm von einem Schwiegersohn vorschwebt, aber Monika liebt ihn, und das ist entscheidend; sie haben nur eine Tochter! „Wir haben in der Brigade beschlossen, Gerhards Bude zu renovieren. Er weiß es noch nicht, es wird ‘ne Überraschung!“ „Wie rührend“, sagt Erna, „in der Brigade beschlossen! Du hast es bestimmt und basta! Gegen den Brigadier kommt keiner an. Sie sagen ja und amen.“ „Du hast keine Ahnung, Erna! Wenn du wüßtest, wie ich mir den Mund fusselig geredet habe. Jeden einzelnen mußte ich mir vornehmen. So einen Brief an den Staatsanwalt schreibt man rasch: Und bürgen für ihn!“ Rudolf ereifert sich und schnauft. „Es kommt darauf an, daß man eine Verpflichtung in die Tat umsetzt. Mit schönen Worten ist Gerhard nicht geholfen. Man muß für ihn da sein.“ „Und weshalb ausgerechnet wir?“ „Mutti! Vati! Hört endlich auf!“ fordert Monika. So rasch ist Erna Schreiter nicht zu bremsen, gerät sie einmal in Rage. Da flutscht ihr auch mal ein Wort heraus, das sie später gern zurücknähme. Daß es noch kein ernstliches Zerwürfnis mit Mann und Tochter gab, liegt daran, daß beide nicht nachtragend sind. Auch diesmal schießt Erna über das Ziel hinaus und weist spöttisch darauf hin, daß Monika die Forderung ihres
Vaters, für Simon dazusein, wörtlich nimmt, wenn der bei ihr schläft. Monika errötet und wirft einen Blick auf Rudolf, sieht dessen beschwichtigende Handbewegung und schluckt die heftige Erwiderung hinunter; statt dessen sagt sie ruhig: „Du tust ihm Unrecht, Mutti. Weißt du, was er gesagt hat? Wenn wir heiraten, adoptiert er Anita.“ „Da freut sich aber der Papa“, spottet Erna, „der braucht dann keine Alimente mehr zu zahlen!“ „Auf die pfeift Gerhard, hat er gesagt. Ich muß los, sonst komme ich zu spät.“ Monika springt auf. An der Tür wendet sie sich noch einmal an den Vater und fragt ihn, ob er wirklich die Werkstatt anruft. Sie wirft ihm einen jener Blicke zu, mit denen sie sich wortlos verständigen, deren Sinn Erna selten erfaßt. Wird sie ihn einmal gewahr, tut sie es mit der Bemerkung ab, Vater und Tochter seien wieder einmal ein Herz und eine Seele. Erna stellt Anita auf den Boden und verspricht ihr, daß sie den Hühnern die Körner streuen darf, sie tut es sonnabends immer. Rudolf sieht, wie Monika ihr Fahrrad aus dem Schuppen holt und zur Gartenpforte schiebt. Er hat ihren Blick verstanden und weiß, daß sie auf ihn wartet. „Das beste wäre, man holt ihn aus der Bruchbude heraus!“ sagt Rudolf. „Du meinst Simon?“ Erna fügt ahnungsvoll hinzu: „Und wo soll er hin?“ „Natürlich müßte man wissen, ob er Anita wie’n eigenes Kind hält.“ Erna fühlt ihre Knie schwach werden und setzt sich wieder. Ihre Stimme klingt kleinlaut: „Meinst du im
Ernst, daß - daß Monika den heiratet!“ „Gerhard ist kein schlechter Kerl! Dann hätte ich mich nicht für ihn abgestrampelt.“ Rudolf verschweigt, daß einige Kollegen munkeln, es ginge ihm nur darum, für seine Tochter einen Mann und fürs Enkelkind einen Vater aufzureißen. „Monika ist die richtige Frau für ihn, kannst du glauben.“ „Mir ist wichtiger, ob er der richtige Mann für Monika ist. Du hast es dir wohl in den Kopf gesetzt und läßt es dir nicht ausreden? Weißt du, was mir an Simon nicht gefällt? Der kann mir nie in die Augen gucken.“ „Weil er spürt, daß du ihm nicht traust. Ich komme gut mit ihm aus.“ „Willst du ihn wirklich ins Haus holen? Das verkneife dir mal ganz fix! Daraus wird nichts! Außerdem wäre es zu eng.“ „Das weiß ich. Wir bauen eben an.“ Eigentlich wollte er es noch für sich behalten. Gewiß, das Haus wird nicht schöner dadurch, man sieht ihm heute noch an, was vor fünfundzwanzig Jahren an die Hütte mit Stube und Küche angepappt wurde, als er und Erna heirateten und bei den Eltern wohnten, Es verschlägt Erna die Sprache, dann aber macht sie Rudolf klar, daß sie niemals mit Simon unter einem Dach wohnen würde. Rudolf ärgert sich, davon gesprochen zu haben. Es sollte erst mehr Zeit verstreichen, damit Gerhard beweisen konnte, daß Verlaß auf ihn ist. „Abwarten, Erna“, sagt er versöhnlich, „noch ist es nicht soweit. Bevor die Bewährung nicht ‘rum ist, heiratet Monika nicht, das hat sie mir versprochen.“
„Ach, sieh mal an“, erklärt Erna, „ihr habt alles schon hinter meinem Rücken ausgemacht? Komm, mein Kleines“, wendet sie sich der Enkeltochter zu, „wir gehen jetzt und füttern unsere Putchen.“ Rudolf sieht auf die Uhr, er muß sich beeilen, wenn er Monikas Blick richtig gedeutet hat. Er geht in den Flur, zieht die Sommerjacke an und holt aus dem Nachtschrank seine Brieftasche mit den Papieren vom Skoda. „Wo willst du denn hin?“ ruft Erna aus dem Hühnergatter herüber, als er das Garagentor öffnet. „Telefonieren, sagte ich doch!“ Am Eichenplatz wartet Monika mit dem Fahrrad neben der Telefonzelle. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit. Sie wirft die Münzen ein, und Rudolf wählt. Erst beim dritten Mal kommt die Verbindung zustande. Die Fahrmeisterei des „VEB Kraftverkehr“ meldet sich. Monika wirft noch etliche Münzen nach, bevor man in der Werkstatt an den Apparat geht. Dann ist Grapentin dran, Rudolfs Stellvertreter. „Schreiter! Guten Morgen, Kutte! Ist bei euch alles in Ordnung?“ „Morgen! Sag mal, habt ihr in euren Betten Wanzen? Du kannst doch noch gemütlich am Kissen horchen!“ brummt Grapentins Baß. „Weshalb ich anrufe: Ist Simon da?“ Rudolf hört es am anderen Ende schnaufen, als habe der korpulente Grapentin einen Hundertmeterlauf hinter sich. „Höre mir auf mit dem Traumtänzer“, sagt Kurt Grapentin, „der ist mit seiner Karre auf den Pinsel gefallen!“ Monika hält das Ohr dicht am Hörer und
versteht jedes Wort. Sie sieht ihren Vater erschrocken an. Der winkt beschwichtigend ab und spricht hastig ins Telefon. Es leuchtet rot, und Monika steckt wieder ein Fünfzigpfennigstück in den Zahlschlitz. „Kurt, mal ohne Spaß, meine Tochter steht neben mir, was ist mit Gerhard?“ „Nischt Schlimmet“, versichert Grapentin, ,,’ne Hand verstaucht und paar Zähne wackeln. Die Unfallklinik hat ihn krankgeschrieben. Seine Eierfeile hat nur ‘ne Schramme abgekriegt, sagt er. Ist gar nicht lange her, da rief er an!“ „Sag mal, wann ist das denn passiert?“ fragt Rudolf Schreiter. „Gestern abend, sagt er, auf dem Weg zu euch.“ Monika küßt ihren Vater erleichtert auf die Wange, bleibt aber dennoch besorgt; daß der Unfall auf dem Weg zu ihr passiert ist, tröstet sie ein wenig. Nicht so Rudolf. Der sieht seiner Tochter, die kräftig in die, Pedale tritt, mit gemischten Gefühlen hinterher. Da war Kurt Grapentins abfällige Bemerkung, er nannte Gerhard einen Traumtänzer. Gewiß, die geschicktesten Hände hat er nicht, war aber auch drei Jahre aus dem Beruf heraus, hat im Strafvollzug auf einer Baustelle gearbeitet. Rudolf Schreiter steigt in seinen Skoda ein. Er ist es gewohnt, den Stier bei den Hörnern zu packen. Wer verwehrt ihm denn, sich zu überzeugen, ob Gerhard nicht etwa flunkert? Es wäre gar nicht mal so abwegig, wenn es statt eines Motorradunfalles eine Kneipenschlägerei gewesen wäre.
10. Adolf Patzer tritt mit Koffer und Tasche auf den Bahnhofsplatz hinaus. Ihn fröstelt. Der Morgenwind weht kühl von der See her, er riecht nach Meereswasser. Der Platz liegt verlassen da. Die Bahnhofsuhr zeigt die vierte Morgenstunde an; bei Normalzeit wäre es drei Uhr. Am Taxistand hält ein Wolga; Patzer winkt, und das Taxi rollt heran. Das entfernte Ziel verspricht eine lohnende Fuhre; hat der Fahrer Glück, dann bekommt er in Grienow einen Fahrgast zum Bahnhof Rügendamm. Er verstaut Koffer und Tasche im Gepäckraum. Sie fahren über den Damm, und Patzer wirft kaum einen Blick auf den Strelasund und die ankernden Schiffe. Die Brise kräuselt das Wasser und zaubert Gischt auf die Wellenkämme, die schneeigweiß in der aufgehenden Sonne blinken. Maria, denkt er und ist von seinen Gefühlen gerührt, mein rettender Hafen, immer dann angesteuert, wenn mein Lebensschiff vom Sturm geschüttelt wird. Dabei half sie nie uneigennützig, gesteht er sich ein, sie tat es immer der Jungen wegen, die nun doch ohne Vater aufgewachsen sind. Bevor sie es noch einmal versuchten, müßte er sein Leben ordnen, verlangte sie. Das bedeutet eine Art Bewährung unter ihrer Aufsicht. Davor war er stets zurückgeschreckt. Doch nun ist er soweit und wird alles tun, was sie für richtig hält. Patzer döst. Im Zug hat er die meiste Zeit gestanden. In Berlin-Lichtenberg mußte er stundenlang auf den Anschluß warten. Nun fallen ihm die Augen zu; er schreckt empor, als der Fahrer nach der Straße fragt. „Selliner Straße vier“, sagt er. So lautete der Absen-
der auf ihrem letzten Brief. Der Wolga hält vor einem zweistöckigen Haus mit weißer Fassade, im Stil der Jahrhundertwende und mit ausladenden hölzernen Baikonen. Adolf Patzer zahlt und gibt ein reichliches Trinkgeld. Das tut er immer, selbst wenn er weniger Geld besitzt als heute. Er blickt dem Taxi hinterher und ärgert sich, daß er es nicht warten ließ, bis er sicher war, daß Maria zu Hause ist. Die Straße fällt nach dorthin ab, woher das gleichmäßige Rauschen der Brandung heraufdringt. Sie ist leer bis auf einen einsamen Spaziergänger, dessen Stock rhythmisch auf das Pflaster klopft. Patzer blickt an dem Haus empor, die hübschen Gardinen hinter den Fenstern lassen es gepflegt und einladend erscheinen. Neben einem der sechs Klingelknöpfe liest er den Namen „M. Patzer“. Maria hat ihren Vorsatz, nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen anzunehmen, nie wahrgemacht. Die Zeitungsbotin öffnet die Haustür und hält ihn für einen anreisenden Urlauber. Es wäre schön, denkt Patzer, als er die Treppe emporsteigt, ein paar Wochen hierzubleiben, die letzten Julitage und den August. Fuhr er nicht in der Hoffnung her, hier unterzutauchen? In der Saison wimmelt es von Urlaubern; der Strand und die Straßen des kleinen Seebades quellen über von sonnenhungrigen Städtern. Im ersten Stock stellt Patzer das Gepäck vor der Wohnungstür ab; sein Herz klopft heftig und nicht allein vom Treppensteigen. Der Puls macht bestimmt hundertzwanzig, denkt er und blickt auf die Armbanduhr. Es fehlen zehn Minuten an fünf Uhr, eine ungeeignete Besuchszeit. Er drückt dennoch
auf den Klingelknopf. Es schrillt in der Wohnung; Schritte hört er nicht, doch dann rasselt es hinter der Tür, und sie wird den Spalt geöffnet, den die Sicherheitskette gestattet. Eine Hand rafft den Morgenmantel am Hals, darüber entdeckt er ein clownhaftes Gesicht mit erstaunt aufgerissenen Augen. „Du…?“ Das einsilbige Wort drückt außer Verwunderung auch Ablehnung aus. Die Tür wird geschlossen, und ein paar Herzschläge lang glaubt Patzer, daß sie es bleibt. Da rasselt die Kette erneut, und die Tür geht auf, aber kaum weiter als vorher. „Guten Morgen, Maria!“ sagt er unsicher. „Morgen! War denn unten auf?“ Sie mustert ihn, und ihr Blick fällt auf das Gepäck; sie schüttelt den Kopf und weiß mit seinem Erscheinen nichts anzufangen. Ihr Zaudern wird peinlich. Dann öffnet sie eine Türhälfte und tritt beiseite. „Komm erst mal ‘rein“, sagt sie nicht unfreundlich. Adolf Patzer atmet auf. Die erste Hürde ist genommen; er schiebt sich an ihr vorbei in den Flur, setzt Koffer und Tasche ab. Nun erst sieht er, daß Marias Gesicht dick eingecremt ist. „Starre mich nicht so an“, sagt sie, und ihr Ärger über die Störung schlägt durch. „Zu nachtschlafender Zeit…“ Sie bricht ab und mustert ihn. Patzer weiß, daß er nicht in bester Verfassung ist. Der graue Anzug mit den roten Nadelstreifen ist von der Bahnfahrt zerdrückt, seine Augen hinter der Goldrandbrille mit den getönten Gläsern sind vor Müdigkeit gerötet. „Ich weiß, es ist eine Zumutung, dich einfach zu überfallen, aber ich wußte nicht wohin.“
Maria glaubt zu verstehen. „Hast du hier einen Urlaubsplatz? Ist dem Kollegen Computer ein Irrtum unterlaufen und dein Zimmer noch nicht frei? Da fiel dir ein, daß ich…?“ Sie sieht ihn fragend an. Er könnte über die Brücke gehen, die sie ihm baut, es klingt so plausibel, aber er tut es nicht. „Nein, ich komme direkt zu dir, Maria! Ich weiß keinen Rat, verstehst du?“ „Kein Wort!“ sagt sie kopfschüttelnd. „Aber nun bist du hier. Wir werden weitersehen.“ In den Worten schwingt etwas von ihrer Gabe mit, in verfahrenen Situationen einen Ausweg zu finden. Es war vor allem auch diese Fähigkeit Marias, die ihn bewog, die Reise zu unternehmen. Es ist ja nicht das erste Mal seit ihrer Trennung, daß er sie um Hilfe bittet. Vor drei Jahren, als er nahe daran war, wegen Versicherungsschwindel belangt zu werden, trafen sie sich in Stralsund in einem Cafe am Markt. Damals half sie ihm mit einem größeren Geldbetrag, den er inzwischen zurückgezahlt hat. „Geh ins Zimmer!“ sagt Maria und deutet auf die Tür mit den Butzenscheiben. Diese Wohnung ist ihm fremd, sie lebte früher in Stralsund, in einer Altstadtgasse. Aber die Möbel kennt er, den protzigen Schrank haben sie beide vor sechzehn Jahren ausgesucht. Hinter den Glasscheiben stehen bunte Römer. Dahinter ist die Rückwand mit Seidenstoff bespannt. Das war damals modern; nun ist der Stoff vergilbt. Maria war damals zweiundzwanzig, jetzt ist sie achtunddreißig, und die Zwillinge sind knappe Sechzehn.
Ob sie noch schlafen? Was werden sie sagen wenn Maria ihnen eröffnet, daß ihr Vater da ist? Oder sagt sie gar nicht, wer er ist? Möchte sie es nicht, dann verzichtet er darauf, sich erkennen zu geben. Ob Maria allein ist? Im Zimmer deutet nichts auf einen Mann hin. Das bedachte er überhaupt nicht, daß er sie aus dem Bett heraus von der Seite eines Mannes wegholen könnte mit seinem Läuten morgens um fünf. Maria kommt ins Zimmer und steht unschlüssig vor ihm. Im Sessel kauernd, blickt er zu ihr auf. Die Creme hat sie aus dem Gesicht entfernt und Rouge aufgelegt. Das dunkle Haar trägt sie kurz und dauergewellt. Das Kleid verrät Geschmack, sitzt aber zu eng. Sie ist fülliger geworden und ähnelt jetzt mehr als früher ihrer üppigen Mutter. „Die Zwillinge sind in Thüringen, im Ferienlager“, sagt sie. „Du wirst über die Enttäuschung hinwegkommen, sie nicht zu sehen.“ Bevor er gegen ihre Ironie protestieren kann, fragt sie: „Möchtest du dich frisch machen?“ Er nickt, und sie zeigt ihm die Badtür. Er holt seinen Kulturbeutel aus dem Koffer. Er verabscheut Elektrorasierer und rasiert sich naß. Im Bad ist Rasierzeug vorhanden, sieht er, vielleicht gehört es den Zwillingen? Im Wohnzimmer klirrt Porzellan. Vor gut sechzehn Jahren fing es an mit Maria. Auf einem Betriebsausflug holte er die damals zierliche Kollegin Runge aus dem Versand zu jedem Tanz. Es imponierte ihr, daß sie von dem Abteilungsleiter, dem Ingenieur Adolf Patzer, begehrt wurde. Es wäre besser gewesen, das Begehren nicht wörtlich zu nehmen.
Schuld daran war der Wein, denn ein Draufgänger bei Frauen war er nie. Als Maria sagte, daß sie schwanger sei, haben sie geheiratet. Das mit seiner Sekretärin Dora passierte während einer Dienstreise nach Ilmenau, als die Zwillinge Arnim und Berthold, A und B in der Reihenfolge ihres Erscheinens mit zehnminütigem Abstand, vier Jahre alt waren. Nachts ging ein Gewitter nieder, Dora starb fast vor Angst und flüchtete zu ihm ins Zimmer. Später, als Maria sich hatte scheiden lassen und er mit Dora verheiratet war, fürchtete sie sich nie mehr vor Blitz und Donner. Dora bekam keine Zwillinge, doch beide Mädchen wurden im selben Jahr geboren. Mit dem Kind aus Doras erster Ehe besaßen sie nun drei Töchter. Komisch, denkt Adolf Patzer, wie manches im Leben sich wiederholt. Als er von Dora geschieden wurde, waren die beiden Mädchen auch gerade drei und vier Jahre alt. Adolf mustert sich im Spiegel; er wirkt nun wieder gepflegt und fühlt sich gleich wohler. Am besten bei seinen Scheidungen fuhr Maria. Sie behielt die komplette Wohnung und er seinen Moskwitsch. Der wurde verkauft, um Doras bescheidene Wohnung zu vervollständigen. An einen neuen PKW war nie mehr zu denken, da Dora aufhörte zu arbeiten und die drei Kinder betreute. Und jeden Monat waren die Alimente für die Zwillinge fällig. Sie waren der Grund, weshalb Dora die Ehegemeinschaft aufkündigte. Sie war es leid, von der Hand in den Mund zu leben, zog zu einem verwitweten Elektromeister, der drei Gehilfen beschäftigte, und nahm die Möbel mit.
Sein gewinnendstes Lächeln im Gesicht, tritt Adolf ins Wohnzimmer. Dort warten drei Frühstücksgedecke. Maria steht am Fenster und blickt hinaus. Wieso drei Gedecke, denkt er. Die Zwillinge sind doch im Ferienlager? Ist eins für mich bestimmt? Und für wen das andere? Daß sie ihn zum Frühstück einlädt, freut ihn, und er möchte ihr etwas Nettes sagen. „Du, Ria…“ Sie fährt herum und funkelt ihn wütend an. „Laß das, Adolf! Für dich Maria! Du hast kein Recht mehr, mich anders zu nennen!“ Vor der Vehemenz, mit der sie es sagt, erschrickt er und wehrt mit beiden Händen beschwichtigend ab. „Aber - aber ja“, stottert er, „selbstverständlich, wie du es wünschst, Maria!“ Nun spricht er ihren Namen aus, als habe er einen Kiesel im Mund. Etwas friedlicher macht sie ihm klar, daß sie nur ihrem Mann den Kosenamen gestattet. Er starrt sie entgeistert an. „Deinem - deinem Mann?“ Sie lächelt belustigt und überlegen. „Ja. Vor drei Wochen haben wir geheiratet. Das alte Namensschild ist noch dran, weil wir nächste Woche sowieso in seine Wohnung nach Bergen ziehen. Dann hättest du mich hier nicht mehr angetroffen.“ Da er stumm zu Boden blickt, fährt sie fort: „Du bringst mich in eine scheußliche Situation. Paul ist eifersüchtig, und unterschlagen kann ich dich ihm nicht. Die Geppertsche im Parterre sitzt am Fenster, sobald es hell wird. Weshalb kommst du überhaupt?“ fragt sie heftig. Adolf tritt neben sie und blickt hinaus. Zwischen zwei Häusern hindurch entdeckt er einen schmalen Streifen blaue Ostsee. Das Zimmer läßt sich mit „Meeresblick“
vermieten, denkt er und findet die Überlegung albern; als gäbe es für ihn keine andere Sorge. „Ich bin in eine furchtbare Sache reingerutscht“, sagt er kleinlaut, steht auf, geht zu seinem Koffer und hebt den Deckel an. „Das - das gehört mir nicht!“ Marias Brauen rucken in die Stirn hinauf, sie blickt kopfschüttelnd auf die mit Schnippgummi gebündelten roten und blauen Geldscheine. „Und ich dachte, du wolltest wieder einmal Geld borgen!“ Er schlägt den Deckel zu und stolpert zu seinem Sessel zurück. Maria setzt sich ihm gegenüber. „Erzähle!“ Er nickt bereitwillig, das hat er ja vor; er hat die Reise nur unternommen, um Maria das Furchtbare zu berichten, das ihm widerfahren ist. Er besitzt sonst keinen Menschen, dem er sich offenbaren könnte. Adolf holt weit aus und beginnt damit, daß Dora damals schuld daran war, daß das Gewitterkind zur Welt kam. Die Pille hatte sie absichtlich abgesetzt, gestand sie später. Daß die Alimente ihn auffraßen, das war dann der Grund, daß Dora… Maria unterbricht ihn. Sie weiß, was er sagen will und ist anderer Meinung. „Das war es nicht allein“, behauptet sie, „sei ehrlich Adolf, du kommst nur einmal im Jahr darauf, mit einer Frau zu schlafen. Meine Güte, du wirst ja rot?“ Ihre Verwunderung ist echt, doch ihre Offenheit verwirrt ihn. „Meine Nachfolgerin, die Dora“, sagt Maria, „die war kein Kind von Traurigkeit, wußtest du das nicht? Nein? Alle Welt wußte es, nur du nicht!“ sagt sie und blickt besorgt auf die Kordeluhr an der Wand.
„Ich glaube nicht“, fährt Adolf zögernd fort, „daß du dich in meine Lage versetzen kannst. Von meinem Ingenieurgehalt gingen die Alimente ab für vier Kinder, und zwei Jahre lang mußte ich Unterhalt für Dora zahlen, sie war laut Attest nicht erwerbsfähig. Ich kam mit den Zahlungen in Rückstand!“ „Wem sagst du das!“ Maria seufzt, beginnt dann glucksend zu lachen. Das begreift er nicht und blickt sie ratlos an. Ergötzt sie sich an seiner Misere? Das ist doch gar nicht ihre Art. „Entschuldige“, sagt Maria, „es ist zu komisch“, sie gluckst schon wieder, „wenn einer mit so bescheidenen sexuellen Ansprüchen wie du derart löhnen muß!“ „Das finde ich gar nicht komisch“, widerspricht Adolf irritiert. „Eines Tages kam ich darauf, daß ich schön dumm war, mich mit Problemen herumzuschlagen, für die mir unterm Strich nicht mehr als Äquivalent blieb als dem Kollegen, der den Hof fegt. Dann, bitteschön, wollte ich auch nicht mehr dafür tun!“ Adolf Patzer spürt, daß Maria für diese Philosophie kein Verständnis aufbringt, wie sollte sie es auch als Betroffene? Wenigstens war sie nie so rasch mit Lohnpfändung bei der Hand wie Dora. „Ich habe mir dann einen Job gesucht“, gesteht Adolf, „bei dem ich kein Gehirnschmalz investieren mußte und der Lohn wenig über dem mir zustehenden Existenzminimum lag.“ „Das stimmt!“ bestätigt Maria ohne Bitterkeit. Er sagt ihr nicht, wie schwer es ihn ankam bei Kadergesprächen, wenn man nach einem Betriebswechsel erfuhr,
wer da als Lagerarbeiter tätig war, jede Qualifizierung abzulehnen. „Meine Einnahmequelle wurde auch ausgetrocknet“, gesteht Adolf und berichtet, daß er am laufenden Band Verbesserungsvorschläge produzierte. Die wurden dann von Kollegen eingereicht, die später die Prämie mit ihm teilten. „Erspare es mir“, bittet Adolf trübsinnig, „dir die Beratung der Konfliktkommission zu schildern.“ „Was das alles mit dem Geld in deinem Koffer zu tun hat, weiß ich immer noch nicht!“ sagt Maria. Da kommt er endlich auf den Kern und erzählt, daß er anfing, abends in der HO-Gaststätte „Bierglocke“ servieren zu helfen. Ohne Lohn, nur fürs Trinkgeld. Der Emil Meiners sei eine Seele von Mensch, versichert Adolf. Der läßt ihm manchen Zwanziger zukommen und gratis Abendbrot. „Was für eine Karriere“, spottet Maria, „vom Ingenieur für Werkzeugmaschinen zum Aushilfskellner!“ „Was blieb mir denn anderes? Meine Alimenteschulden…“ „Ich glaube, jetzt verstehe ich dich“, sagt sie, „einmal wolltest du wieder aus dem vollen…“ Sie lächelt nachsichtig und fragt: „Hast du’s gestohlen?“ „Nein. Die mir’s gegeben haben, denen tut es nicht weh, kannst du mir glauben! Dabei war es reiner Schwachsinn. Ich wußte doch, daß der Schwindel auffliegt. Aber das Geld hat mich schier besoffen gemacht, glaub ich. Alles war so einfach. Die Meiners fuhren nach Bulgarien, und ich versprach, mich um ihr Grundstück in Finkenhain zu kümmern. Wer sonst sollte es tun? Eines Tages, in der Mitropa-Gaststätte,
kam ich mit ‘nem Klempner ins Gespräch. So’n Angeber-Typ, der protzte nur so ‘rum. Na ja, da stach mich der Hafer. Ich erzählte ihm, daß mir ein Grundstück gehört. Von ‘ner Tante geerbt und vielleicht verkäuflich. So ‘ne Augen kriegte der! Am nächsten Tag besichtigt der Kerl doch die Parzelle und fleht mich an, wenigstens zweitausend als Anzahlung zu nehmen, als Vorvertrag sozusagen.“ „Ich verstehe, da bist du auf den Geschmack gekommen!“ „Ja, so ungefähr. Von dem Teigaffen, dem Bäcker, habe ich dann drei Mille gefordert…“ „Und prompt kassiert!“ ergänzt Maria. „Nun kommt dein Budiker aus Bulgarien zurück, und die Käufer können jeden Tag aufkreuzen und…“ Die Klingel im Flur schneidet ihr das Wort ab. Dann sagt sie: „Paul!“ Ihre Miene wird besorgt. „Lieber Himmel, wie erkläre ich ihm…?“ Sie bricht ab, endet aber entschlossen: „Am besten mit der Wahrheit!“ Sie geht hinaus, und Adolf bleibt in banger Erwartung zurück. Vielleicht ist dieser Paul ein rabiater Mensch? Da kommt er schon herein, und Adolfs erster Eindruck ist nicht schlecht, Paul wirkt sehr sportlich, sein Nasenbein ist eingedrückt, und später erfährt Adolf, daß Paul Sämisch früher zur DDR-Boxstaffel im Weltergewicht gehörte. „Das ist Patzer, mein Geschiedener, Paulchen“, stellt Maria vor. „Er tauchte plötzlich hier auf.“ Fast beschwörend fügt sie hinzu: „Du weißt schon, von dem ich dir erzählt habe.“ Adolf sieht sich so gemustert, daß er meint, er stünde im Hemd; nun entdeckt er, daß
über Paulchens Gesicht ein Schmunzeln geistert. Was mag Maria ihm Schmunzelnswertes erzählt haben? Paul Sämisch küßt Maria so, daß kein Zweifel am Tatbestand aufkommt. Sie holt die Kaffeemaschine aus der Küche und bittet zu Tisch; frische Brötchen hat Paul mitgebracht. „Darf man erfahren, was Sie zu Ihrer geschiedenen Frau führt?“ fragt Marias Mann. Adolf beabsichtigt nicht, ihn in sein Problem einzuweihen, daher nimmt es ihm den Atem, als Maria an seiner Stelle antwortet: „Adolf ist in eine schlimme Geschichte reingerasselt und braucht einen Rat.“ „Aber – Maria…!“ versucht er sie zu stoppen. Paul streicht reichlich Butter auf ein Brötchen, und Maria fährt unbeirrt fort: „Er hat zwei Bürger um fünftausend Mark geprellt! Nun weiß er nicht, wie er aus der Bredouille herauskommt!“ Adolf ist zum Heulen. Wieso erzählt sie Paul davon? Ist der etwa auch kriminell? So sieht er aber nicht aus. „Aber – Ma-maria“, stottert Adolf, „du kannst deinem Mann doch nicht einfach…“ „Gerade ihm“, unterbricht sie ihren Geschiedenen, „Paul ist Hauptmann bei der Kripo. Wenn einer dir raten kann, dann er!“ Patzer wird es schwarz vor Augen, nicht viel, und er rutscht vom Stuhl. Paul Sämisch ist Hauptmann der Kripo? Erlauben sich beide einen Scherz? Sie berichtet Paul, ohne ein Detail auszulassen, wie Adolf zu den fünftausend Mark gekommen ist. Es beeinträchtigt Pauls Appetit nicht, kein Wunder, hinter ihm liegt ein anstrengender Nachtdienst. Adolf
fühlt sich schlecht, und er möchte weinen. Er ist wieder einmal ins Fettnäpfchen getreten; er ist und bleibt ein Pechvogel. Züchtete er Tauben, sie flögen ihm fort, er hätte besser Hühner gehalten. Besäße er Hühner, gäbe es eine Überschwemmung, die Hühner ertränken, und er hätte sich besser mit Enten befaßt. Paul wischt sich mit der Serviette den Mund ab. „Vorbestraft?“ „Nein, nie!“ „Ist der Zaster noch vorhanden?“ fragt Paul und gießt die dritte Tasse Kaffee ein. „Doch, ja! Das heißt, bis auf zweihundert!“ Adolf hält seine Tränen nicht länger zurück. „Schaffen Sie die ‘ran“, sagt Paul, „und geben Sie den Geschädigten das Geld zurück. Das wirkt auf jeden Fall strafmildernd.“ „Die Zweihundert borge ich dir“, sagt Maria spontan. Dann wäre ich aus allem heraus, denkt Adolf, und kann nachts wieder schlafen. „Sie sind mir ein komischer Kauz“, sagt Paul und reinigt mit einem Zahnstocher hinter vorgehaltener Hand sein Gebiß. „Sie ergaunern mir nichts, dir nichts fünf Riesen und kriegen hinterher solches Fracksausen, daß Sie ein paar hundert Kilometer Bahnfahrt unternehmen, um zu fragen, wie Sie sich die Kohle vom Hals schaffen sollen. Das ist mir noch nicht untergekommen!“ Patzer ist mit den Nerven fertig, keiner versteht ihn, Maria nicht, und ihr Mann schon gar nicht. „Es geht doch nicht um das Geld“, flüstert Adolf, „es ist doch wegen des Toten!“
Paul wirft den Zahnstocher in den Ascher, und sein Gesicht nimmt einen gespannten Ausdruck an. „Wie bitte? Ein Toter?“ Maria stellt ihre Tasse ohne zu trinken auf den Teller zurück, daß es klirrt. Als sei plötzlich ein Damm gebrochen, berichtet Adolf Patzer, was er Maria die ganze Zeit über hatte sagen wollen. Wie er mit dem zweiundzwanziger Bus nach Finkenhain fuhr, der braune Wartburg des Lottokönigs jedoch noch nicht dastand. Dabei war es schon neunzehn Uhr zehn. Wie er die Pforte aufschloß, zu den Koniferen ging und einen Mann dort liegen sah. „Kannten Sie ihn?“ fragt Paul. „Nein!“ antwortet Adolf. „Ich kannte ihn nicht, ich dachte, er sei bloß gestürzt. Erst nachdem ich mich hinabgebeugt hatte, sah ich, was passiert war. Der war erschlagen worden! Niemand kann sich selbst den Hinterkopf spalten! Ich war fix und alle!“ flüstert Patzer. „Mein Mantel war ins Blut getaucht. Ich habe ihn zu Hause verbrannt!“ „Und wann haben Sie die Kripo benachrichtigt?“ Patzer senkt schuldbewußt den Kopf. „Also gar nicht“, sagt Samisch. „Der Mann liegt seit gestern abend noch dort? Wissen Sie überhaupt, ob er wirklich tot war?“ „Bestimmt!“ versichert Patzer. Pauls Miene ist verschlossen. Er sagt Maria, daß aus der Fahrt nach Bergen nichts wird. Nun bringt er ihren „Verflossenen“, so sagt er wörtlich, zur Klärung des mysteriösen Sachverhaltes zur Dienststelle.
11. Rudolf Schreiter stoppt den Skoda vor dem baufällig wirkenden Haus. Das Tor steht offen, und die Flügel hängen schief in den Angeln. Schreiter verschließt den PKW und durchquert die Toreinfahrt, seine Schritte hallen hohl von den Wänden wider. Auf dem Hof steht eine Remise, sie ist wegen Einsturzgefahr gesperrt. „Eltern haften für ihre Kinder!“ verkündet ein Schild. Trotzdem ist darin ein Motorrad abgestellt, und Rudolf erkennt Simons MZ. Die rechte Fußraste ist verbogen, und eine frische Schramme am Tank ist nicht zu übersehen. Schreiter graut es bei der Vorstellung, hier wohnen zu müssen, um nichts auf der Welt tauschte er mit Gerhard Simon. Ob es nicht falsch ist, einem Wiedereinzugliedernden, wie es amtlich heißt, eine schwer vermietbare Wohnungen anzubieten? Soll andererseits der aus dem Strafvollzug Entlassene bevorzugt mit einer Neubauwohnung bedacht werden? Die Lösung liegt vielleicht in der Mitte, überlegt Schreiter. Der Hintereingang ist repariert worden; Rudolf weiß, daß Simon die Tür geflickt hat. Die Treppe ist sauber gewischt, dafür sorgt eine Rentnerin im ersten Stock, hat Gerhard gesagt. Das Haus wirkt innen wohnlicher als außen. Rudolf erklimmt schnaufend die Stiege, gar nicht darauf bedacht, es geräuschlos zu tun; er will Simon ja nicht überraschen. Überrascht ist er dann selbst. Kaum klopft er, wird schon die Tür geöffnet, und Gerhard steht auf der Schwelle. Es sieht aber nicht so aus, als freue ihn der Besuch. „Morgen, Gerhard!“ grüßt Rudolf. Was er noch sagen will, bleibt ihm im
Halse stecken. Simon tritt beiseite, um ihn einzulassen, und Rudolf entfährt ein überraschter Laut. „Morgen“, sagt Gerhard, „komm ‘rein!“ Auf alles ist Schreiter gefaßt, auf ein unordentliches Nachtlager, auf schmutziges Geschirr, etliches hat Erna spendiert, ohne es zu wissen. Aber der simple Hausrat ist nicht mehr vorhanden. Da steht ein Klubtisch, um ihn herum drei Sessel, eleganter als die eigenen. Die ausgetretenen Dielen sind mit einem Teppichboden bedeckt. Die Wände sind tapeziert und nicht mit billiger Tapete, sogar die Decke ist mit Rauhfaser beklebt. Gerhard steht neben ihm und weiß nicht, welche Miene er aufsetzen soll. Sein Gesicht verrät Stolz über die Veränderung und jene Genugtuung, die eine gelungene Überraschung bereitet, aber auch Besorgnis darüber, was Rudolf wohl daraus schließt? Die wichtigsten Entdeckungen macht der erst, als er sich zeitlupenhaft dreht und alles in sich aufnimmt. Das Bettgestell ist verschwunden, dafür steht dort eine Couch, daneben eine Stehlampe. Auf einem Tischchen ein Radiorecorder, ein Plattenspieler und - Rudolf traut seinen Augen nicht - ein Fernseher. Er tritt näher und täuscht sich nicht, es ist ein Farbgerät. Die Gardine am Fenster würde auch Erna gefallen. An der rechten Zimmerseite steht eine Schrankwand. Rudolf Schreiter läßt sich in einen Sessel fallen. Solche Sessel würde Erna nie kaufen, die wären ihr zu teuer, aber Gerhard besitzt drei davon. „Hast du im Lotto gewonnen?“ fragt Rudolf und mustert Gerhard forschend. Der sitzt ihm gegenüber und kehrt dem Fenster den Rücken; so bleibt sein Gesicht
im Schatten, aber Schreiter sieht die angeschwollene rechte Mundpartie. Der Farbfernseher zieht Rudolfs Blicke an. Seit er bei Kurt Grapentin ein Fußballspiel in Farbe sah, erwägt er, sich solches Gerät anzuschaffen. „Wie ist der Empfang?“ fragt er, als wäre es wichtig. „Du kommst doch nicht, um den Fernseher zu bestaunen?“ fragt Simon. „Natürlich nicht“, antwortet Schreiter. „Du hast noch kein Wort darüber verloren, daß deine Bude sich so gemausert hat! Ich habe von deinem Unfall gehört, daß du nicht zur Schicht gekommen bist. Wie geht es dir?“ Gerhard Simon streift den Pulloverärmel höher, sein rechtes Handgelenk ist mit einer Binde umwickelt. „Verstaucht! Ich bin krank geschrieben. Tut mir leid, ich konnte nichts dafür, eine Ölspur!“ „Hoffentlich dauert’s nicht lange“, meint Schreiter besorgt, denn zwei Kollegen sind bald mit Urlaub an der Reihe. „Wo ist es denn passiert?“ „In der Kurve am Bracksee“, sagt Gerhard. Die Fragerei ist ihm lästig. Es ist die Richtung zu uns nach Gadeberg, denkt Rudolf. Dann kann er nicht anders und kommt wieder auf die Veränderung in Gerhards Behausung zu sprechen. Im Hinblick auf dessen Verhältnis zu Monika glaubt er, ein Recht darauf zu haben, indiskrete Fragen zu stellen. „Mensch, Gerhard, wie hast du das finanziert?“ Er macht eine umfassende Armbewegung, sie schließt alles Neue ein. „Doch nicht von den paar Mäusen, die dir bei der Entlassung verblieben sind?“
Simon lacht unsicher. „Weshalb willst du das wissen?“ Er drückt sich vor der Antwort, stellt Rudolf fest. Ich muß die Wahrheit aber erfahren, einmal als Brigadier des Kollektivs, das die Verantwortung für ihn übernommen hat, und zum andern als künftiger Schwiegervater. Zum ersten Mal ist Rudolf nicht mehr sicher, ob an Ernas Vorbehalten gegenüber Simon nicht doch etwas dran ist. Schreiter wechselt das Thema, will aber auf die unbeantwortete Frage zurückkommen. „Wo wolltest du denn gestern abend hin?“ „Zu euch, das weißt du doch!“ antwortet Gerhard und langt ein Päckchen „Camel“ aus der Hosentasche. Gerhard raucht, und seine Hände verraten, daß er nervös ist. Das Rauchen beruhigt ihn scheinbar, er sagt bedauernd, daß es ihm leid tut, sicher hat Monika gewartet? Rudolf brummt unbestimmt, soll er sich einen Vers darauf machen. „Ich habe ‘ne Frage“, setzt Rudolf neu an. „Ich hätte sie für später aufgehoben, aber nun“, er wirft einen bezeichnenden Blick auf den Wohnkomfort, „will ich damit nicht länger hinterm Berg halten. Wie stehst du zu Monika?“ Simon vermeidet es, ihn anzugucken und hüllt sich in eine Qualmwolke ein. „Ich verstehe die Frage nicht. Wir gehen halt miteinander.“ „Reden wir Tacheles! Willst du sie heiraten?“ Er sieht Gerhard aufmerksam an, aber der weicht ihm aus. „Frage lieber deine Frau, ob sie will, daß wir heiraten.“ An dem Einwand ist etwas dran, denkt Rudolf, aber er soll ja nicht Erna, sondern Monika heiraten. „Und das Kind stört dich nicht?“
Die Antwort läßt auf sich warten; vielleicht drückt er damit aus, daß er von einer Stieftochter nicht entzückt ist? Aber sagte er nicht, er wolle das Kind adoptieren? „Das wollte Monika längst wissen“, sagt Gerhard. „Ich habe nichts gegen Anita.“ Die Versicherung klingt lahm, aber Rudolf gibt sich erst einmal zufrieden; wichtiger ist ihm die Antwort auf die andere Frage. „Du hast mir noch nicht gesagt, wie du das hier alles bezahlt hast.“ Simon zerdrückt die halbgerauchte Zigarette im Ascher. „Na schön, du gibst ja doch keine Ruhe. Du wirst schon wissen, ob du mich in die Pfanne haust oder nicht.“ Rudolf starrt Gerhard erschrocken an. Der grinst unsicher und wehrt mit der Hand ab. „Mach dir nicht in die Hose! Ich habe keinen Bruch gemacht und keinen fahrbaren Untersatz geklaut!“ Schreiter schluckt, meint dann: „Das wäre auch das Letzte!“ Es fällt Simon nicht leicht, das sieht Rudolf ihm an, aber er läßt sich zu einer Erklärung herbei. „Damals beim Prozeß habe ich einen Kumpel verschont. Wenn ich gesungen hätte, wäre der auch in den Knast gegangen. Ich hätte dann vielleicht ein Jahr weniger gekriegt.“ Rudolf rutscht im Sessel nach vorn und beugt sich zu Gerhard hinüber. „Mensch, weißt du, was du da sagst?“ „War es nicht klar genug? Dafür, daß ich meinen Kumpel nicht in die Pfanne gehauen habe, revanchiert er sich. Na und?“ Schreiters Gedanken überstürzen sich. Der Prozeß ging damals an der Gerechtigkeit vorbei? Wie kann es
das geben, daß einer sich von seinem Schuldanteil loskauft? „Und dir hat es nichts ausgemacht, für etwas bestraft zu werden, das du nicht zu verantworten hast?“ „Du kriegst da was in den falschen Hals! Wer sagt denn, daß ich es nicht zu verantworten habe? Ich stand eben nur als Alleintäter da und habe meinen Kumpel…“ „Komplizen!“ unterbricht Rudolf. „Von mir aus! Den habe ich draußen gelassen! Denke nicht an Ehre unter Gaunern und solchen Scheiß. Es war eine nüchterne Rechnung: Unter dem Strich stand, daß es sich lohnen würde, ein paar Monate mehr runterzureißen.“ „Und deine Rechnung geht scheinbar auf, aber nur scheinbar“, meint Schreiter düster. „Weiß es Monika?“ „Natürlich!“ Das sagt er Rudolf hämisch grinsend ins Gesicht. „Heißt das, sie hat deine Luxusbude schon gesehen?“ „Und ob! Was denkst du, wo wir hinfahren, wenn es regnet? Ihr gefällt es jetzt besser als vorher. Außerdem hat sie dieselben Fragen gestellt wie du; sie ist eben deine Tochter.“ „Und du hast dasselbe geantwortet?“ fragt Rudolf ungläubig. „Na klar, man lügt nicht ohne Not!“ Gerhards Ironie bringt Rudolf auf, aber er beherrscht sich. Schlimmer als die Tatsache, daß Monika es vor ihm und ihrer Mutter verheimlicht hat, ist für ihn, daß sie Gerhards Gerede anscheinend akzeptiert. Das begreift er nicht. „Mensch, praktisch bist du mit einem Bein schon wieder im Knast! Der Verräter schläft nie!
Es gibt unglaubliche Zufälle! Wenn das platzt, daß damals nicht alles zur Sprache kam, dann sitzt du doch wieder drin!“ „So ist es schlicht und ergreifend“, Gerhards Stimme klingt ungeduldiger. „Siehst du nun ein, daß mir der ganze Mist von wegen Wiedereingliederung und so auf den Docht geht? Wo mir dauernd dieses - dieses komische Schwert überm Kopf baumelt?“ „Damoklesschwert, meinst du. Da ist was dran. Junge, Junge, Mensch, Gerhard, was soll denn nun werden?“ „Und dieses Getue im Betrieb! Kollege Simon möchte Sie sprechen, Kollege Direktor! Und dabei grinsen die Weiber so, daß ich mitkriege, sie würden viel lieber sagen: Der aus dem Knast, Sie wissen schon!“ „Rede keinen Blödsinn“, sagt Rudolf ärgerlich. Dabei ist es gar nicht so abwegig, was Gerhard denkt. Wie oft haut er in der Brigade auf den Tisch, wenn die Flachserei losgeht, von wegen „gesiebte Luft“ und „Sonne im Waffelmuster“, und wie die Umschreibungen für den Strafvollzug noch lauten. Rudolf Schreiter stemmt sich aus dem Sessel und steht unschlüssig vor Simon. Der tut gleichmütig, aber das ist Theater, in Wahrheit ist er besorgt. „Was tust du nun?“ fragt Gerhard. „Mensch, weißt du überhaupt, in was du mich reinziehst? Du machst mich zum Mitwisser! Da läuft einer herum und begeht neue Straftaten! Und nur, weil du ihn gedeckt hast! Nun weiß ich davon, stell dir das vor!“ Gerhards Stimme klingt mit einem Male sanft, wie Rudolf es nicht von ihm kennt. „Du tust ihm Unrecht,
glaube es mir. Der unternimmt nie wieder was Krummes. Der ist kuriert.“ Rudolf starrt Gerhard verblüfft an; von der Seite hat er es noch nicht betrachtet. „Er ist ein angesehener Kollege, weißt du. Von der Gerechtigkeit geht niemandem etwas ab. Die Strafe, die der Staatsanwalt gefordert hat, die hat das Gericht verhängt, und ich habe sie total abgebrummt mit dem Rest auf Bewährung. Was änderte es, wäre sie auf zwei Schultern verteilt worden?“ Er quatscht einen hanebüchenen Stuß, denkt Rudolf, aber irgendwie beruhigt es. Wüßte ich nur, ob ein Körnchen Wahrheit dran ist! Er fühlt sich in Zweifel gestürzt und weiß nicht, wie er aus der Zwickmühle herauskommt, in die er ohne Schuld hineingeraten ist. Er geht zur Tür und verharrt dort noch einmal. Der Blick, mit dem er Gerhard mustert, verrät Ratlosigkeit. „Wer der Kumpel ist, willst du wohl nicht sagen?“ Simon vermeidet es, Schreiter anzusehen. „Weshalb nicht? Aber erst, wenn ich weiß, daß du uns nicht in die Pfanne haust!“ Auf der Treppe knarrt eine Stufe. Der da heraufkommt, bemüht sich, leise zu sein. Der Schritt verhält vor der Tür. Dann geschieht etwas, das Rudolf zu denken gibt. Gerhard wiederholt lautstark zur Tür hin: „Verstehst du, Rudolf? Erst muß ich sicher sein, daß du uns nicht in die Pfanne haust!“ Schreiter ist mit zwei Schritten an der Tür, reißt sie auf und späht hinaus. Auf dem Podest ist niemand, aber die Bodentürklinke bewegt sich langsam nach oben. Schreiter tut so, als bemerke er es nicht und verabschiedet sich kühl. „Sieh zu, daß wir bald mir dir rechnen können“, sagt
er. Auf der Straße parkt hinter seinem Skoda ein weißer Lada. Rudolf geht dicht an der Motorhaube vorbei und spürt deren Wärme. Der PKW ist gerade erst abgestellt worden. Von Simons Besucher? Hat der es vorgezogen, ihm nicht zu begegnen? Schreiter fährt los, biegt in eine Nebenstraße ein und läuft zurück. Er bezieht Posten in einem Hauseingang, entschlossen, auf Simons Besucher zu warten. Könnte der nicht der „Kumpel“ sein? Karl Plocher tut so, als sei er hier zu Hause; er fläzt sich mit ausgestreckten Beinen in den Sessel und pafft. „Wie sich so was einprägt. Dabei hatte ich die Stimme fünf Jahre nicht mehr gehört! Trotzdem wiedererkannt!“ „Und warum bist du nicht verduftet?“ „Mich interessierte, was du mit ihm plauschst.“ „Ich dachte schon, er hat dich gesehen.“ „Nee, hat er nicht, dank deiner Geistesgegenwart. Merci! Weniger schön ist, daß du ihm den Quark von dem Kumpel auf die Nase gebunden hast, den du nicht verrätst.“ „Was sollte ich denn machen? Irgendwie muß ich ihm doch das hier erklären!“ Er macht eine umfassende Geste mit dem Arm. „Das ist die typische Gängelei in diesem Staat! Das kotzt mich echt an! Machst du blau, oder weshalb kreuzt dein Brigadevater hier auf?“ „Mann, paß doch auf, fordert Gerhard ärgerlich, „da ist der Ascher!“ Er nimmt behutsam die herabgefallene Zigarettenasche vom Teppichboden auf. ,,’tschuldige“, knurrt Plocher und rückt den Kristall-
ascher heran, den Monika Gerhard geschenkt hat. „Ich bin gestern mit meiner Karre auf den Pinsel gefallen!“ sagt Gerhard und zeigt seine geschwollene Lippe. Karl Plocher, untersetzt und breitschultrig, wird in seinem Sessel ein paar Zentimeter größer. „Wann und wo?“ „Was ist? Was hast du denn? Weshalb willst du’s wissen?“ fragt Simon. Da Kalle ihn weiter abwartend ansieht, wie es immer seine Art ist, fügt er widerwillig hinzu: „Abends gegen halb sieben, in der Kurve am Bracksee.“ „Achtzehn Uhr dreißig?“ wiederholt Plocher nachdenklich. „Ja, ich wollte nach Gadeberg, ich hatte es Monika versprochen.“ „Ach ja, die bumst du doch? Weißt du was? Ich war dabei!“ „Wobei?“ fragt Gerhard verblüfft. „Als du auf die Fresse gefallen bist! Hattest du Unfallzeugen?“ „Nein, keinen Schwanz! Stell dir vor, wenn mir mehr passiert wäre… So ist es meist, wenn man einen Zeugen braucht…“ „Du hast einen! Ich war dabei!“ Bevor Gerhard zum Sprechen ansetzt, fügt Plocher hinzu: „Du hast mich mitgenommen, weil ich zum Baden an den Bracksee wollte. Mein Lada hatte Kupplungsschaden. Zurück bin ich per Anhalter!“ „Wozu soll das denn gut sein?“ „Du kannst fragen“, sagt Plocher, seufzt und qualmt wie ein Schornstein. Dann tut er so, als handele es sich um Belangloses: „Es könnte ja sein, daß Monika fragt, wo du gewesen bist. Oder gehst du nie fremd? Dann
sagst du, der liebe Kalle, was mein Kumpel ist, der war dabei. Der ist mit mir auf die Schnauze gefallen.“ Gerhard wirft sich in einen Sessel. Dabei beobachtet er den anderen aus halbgeschlossenen Augen. „Ich kenne dich, Kalle, du machst mir falschen Leim warm! Du kommst her, weil du, weiß der Deibel weshalb, für gestern abend ein Alibi brauchst! Was liegt denn an? Erwartest du, daß man dich fragt: Bürger Plocher, wo befanden Sie sich am Freitag zwischen achtzehn und zwanzig Uhr?“ „Red keinen Scheiß!“ sagt Plocher, und seine Augen funkeln böse; er ist ernstlich ungehalten. „Es bleibt dabei, okay?“ „Von mir aus“, sagt Simon, „ich mache ein paar Tage blau. Mensch, Kalle“, unterbricht er sich, „ich habe Rudolf nichts davon gesagt, daß ich bei dem Unfall nicht allein war!“ „Hat er danach gefragt?“ „Nee!“ „Na also! Am besten fahren wir gleich mal zum Bracksee, damit wir uns nicht widersprechen, falls man uns fragt.“ „Mit dir ist es immer dasselbe“, knurrt Gerhard mißvergnügt, „man reicht dir den kleinen Finger, und du nimmst dir nicht nur die ganze Hand, du kugelst einem den Arm aus! Spuck’s aus, du hast was gedreht und brauchst ein wasserdichtes Alibi!“ Plocher geht auf Simons Bemerkung gar nicht ein. „Du, in Nieskow“, sagt er, „also ziemlich weit vom Schuß; ein Garagenhof, schön separat. In der Garage Nummer vierzehn stellt ein Zahnklempner seinen neu-
en, weinroten Lada ab. Das Türschloß ist ein Ulk.“ „Nee, Kalle, es bleibt dabei: Nie wieder!“ „Man wird doch fragen dürfen. Du hättest ja nischt damit zu tun. Du fährst bloß deinen Kumpel zu seiner Braut. Na, was ist?“ „Ich habe ,nee’ gesagt!“ „Ich hab’s vernommen! Du solltest aber nicht undankbar sein. Hätte ich dem Alten nicht eingeheizt, von wegen ,der Simon spaßt nicht, der packt aus’, der hätte keine müde Mark rausgerückt, um die Bruchbude hier bewohnbar zu machen.“ „Wer wem dankbar sein muß“, antwortet Simon heftig, „darüber gibt es wohl keine Unklarheit – oder?“ „Reg dich ab, Junge“, sagt Plocher friedlich, der auch den kameradschaftlichen Ton drauf hat. „Komm, wir fahren zu der Scheißkurve am Bracksee.“ Rudolf Schreiter drückt sich in den Hauseingang, denn gegenüber steigen zwei junge Männer in den weißen Lada ein. Rudolf kneift die Augen zusammen, es ist keine Sinnestäuschung. Der sich da hinter das Lenkrad schiebt, ist Karl Plocher, neben ihm legt Gerhard Simon den Sicherheitsgurt an. „Plocher“, flüstert Schreiter, „ausgerechnet Plocher!“ Ihn befällt Resignation. Ist der jener Kumpel, von dem Gerhard gesprochen hat, dann ist der Fall hoffnungslos – oder so gut wie. Dessen Einfluß auf Gerhard kann nur negativ sein. Schreiter rechnet. Es ist fünf oder sechs Jahre her, da gehörte auch Plocher zu seiner Brigade. Schon damals, erinnert er sich, steckten Plocher und Simon zusammen. Gegen Plochers Arbeit war nichts zu sagen, der
war geschickter und verläßlicher als Simon. Die Bolzen, die er anzog, mußte man nicht auf festen Sitz überprüfen. Von Plocher hätte Gerhard sich manches annehmen können, tat es aber nicht. Nur das Kneipenhocken übernahm er von dem fünf Jahre Älteren. Das Kneipengeld verdiente Plocher mit privaten Reparaturen. Dagegen war nichts einzuwenden, das taten viele, aber was er an Material brauchte, stahl er dem Betrieb. Plötzlich interessiert es Schreiter, wo die beiden hinfahren mögen. Er hastet zum Skoda und fährt los, kann aber den Lada nirgends entdecken. Er lacht ärgerlich, das fehlte noch, daß er Detektiv spielt. Nein, er fährt nach Hause und pflückt die Schattenmorellen. Eine Erkenntnis allerdings festigt sich: Monika muß sich von Simon trennen, je eher, je besser. Es ist bitter, aber die Wahrheit: Seine Frau hatte mit ihrer Skepsis recht. Rudolfs Gedanken kehren zu Plocher zurück. Nachdem ihm der Diebstahl einer Einspritzpumpe nachgewiesen wurde, entließ man ihn fristlos. Er fand wieder Arbeit bei einem privaten Krauter. Schreiter grübelt über die Adresse nach, aber sie fällt ihm nicht ein, es ist zu lange her. Da war doch noch etwas? Es gab eine Beratung der Konfliktkommission wegen Plocher; Schreiter ist sicher, daß es nicht um Diebstahl ging. Er fährt Richtung Gadeberg und weicht immer öfter Radfahrern aus mit Badezeug auf dem Gepäckhalter; es werden mehr, je näher er dem Bracksee kommt. Obwohl der Himmel bezogen ist und Regen angekündigt wurde, lassen die sich nicht abhalten. Plötzlich tritt Schreiter auf die Bremse. Vor ihm hält am Straßenrand ein weißer Lada, nur ein paar Meter
vor einer Kurve. Die beiden Männer, die heranschlendern und dann einsteigen, sind Plocher und Simon. Was suchen die denn hier, denkt Schreiter. Das ist doch die Kurve, in der Gerhard gestern abend verunglückt sein will? Rudolf stutzt, weshalb stellt er es in Frage? Er kann es nicht erklären und fährt an dem Lada vorbei; ihm ist es gleich, ob beide ihn erkennen oder nicht. Dann weiß er wieder, worum es damals in der Beratung der Konfliktkommission ging: Plocher war nachts „Schwarztaxi“ gefahren. Dabei hatte er eine Frau belästigt. Der Vorgang war von der Volkspolizei der Konfliktkommission übergeben worden. Bald darauf wurde Plocher entlassen.
12. Birgit schläft auf dem Rücken, und ihr langes braunes Haar kontrastiert zum weißen Kissen; eine Strähne streift das Gesicht und endet zwischen ihren Brüsten; ihr Mund ist geöffnet, und sie atmet gleichmäßig. Leutnant Manfred Klose richtet sich schlaftrunken auf, beugt sich über Birgit und küßt sie. Sie stammelt etwas wie ein träumendes Kind. Durch den Vorhang dringt trübes Tageslicht und täuscht frühen Morgen vor. Manfred Klose blickt auf die Uhr und erschrickt, es ist sieben Uhr dreißig. Er fährt empor und rüttelt die Schläferin. „Birgit, wach auf! Ich habe verpennt!“ Sie öffnet die Augen und guckt erstaunt, streckt ihre Arme aus und umfängt seinen Nacken. Er sträubt sich,
als sie ihn herabziehen will; ihr Blick ist mutwillig. „Du bist der Größte!“ flüstert sie und lacht leise; es klingt wie das Gurren einer Taube. Er kann nicht anders und küßt ihren Mund, den Hals und ihre Brüste; dann reißt er sich los. „Hörst du? Ich habe verschlafen! Ich muß weg!“ Birgit zieht einen Schmollmund und schlüpft unter die Decke. Er geht auf das Spiel nicht ein, ihr das Deckbett fortzuziehen, springt auf und lauscht. Nebenan im Badezimmer rauscht die Dusche. Birgits Verwandte gehen heute nicht aus dem Haus wie an anderen Wochentagen. „Was mache ich nun? Ich kann nicht ‘raus!“ Auf dem Korridor sind Jungenstimmen. Auch das noch, denkt er. Birgit hat erwähnt, als er heute nacht kam, daß beide Cousins aus dem Ferienlager zurück sind. Am Montag fahren sie nach Schwerin zu Birgits Eltern. Sie sitzt aufrecht im Bett und blickt ratlos drein. Birgit will ihr Geheimnis nicht preisgeben, und Manfred möchte sie keinesfalls kompromittieren. „Still“, sagt Birgit und lauscht, „ich glaube, jetzt ist nebenan frei.“ Da klappt wieder die Tür, und das Wasser rauscht. „Ich gehe eben ungewaschen“, sagt Manfred, „so ein Mist!“ Er fuhrwerkt in seine Hose. Birgit fällt auf das Kissen zurück und beobachtet ihn schalkhaft lächelnd; es verrät einen Abglanz glücklicher Stunden. Dagegen gewinnt Manfred der Heimlichkeit keinen Reiz ab. Birgit ist schließlich neunzehn, aber Onkel und Tante wären entsetzlich hausbacken, behauptet sie. Die sähen es als Vertrauensbruch an,
wüßten sie von dem heimlichen Besucher. Manfred schlüpft in den Flur, nicht sicher, ob die Zimmertür nebenan einen Spalt geöffnet wurde. Von Jungs im Alter von zwölf und dreizehn Jahren erwartet man besser nicht, daß sie sich als Kavaliere erweisen. Manfred Klose fährt mit der Straßenbahn nach Hause und duscht. Seine Zimmerwirtin schläft noch, wie meist, in den Tag hinein. Die alte Dame ist schwerhörig und gewohnt, daß er zu ungewöhnlichen Zeiten kommt und geht. Sein Fach im Kühlschrank gähnt leer, er hat vergessen einzukaufen. Manfred ißt zwei trockene Brötchen und trinkt dazu eine Cola. Zuerst nimmt er die Bahn zum Autobushof; am Sonnabendmorgen stehen dort mehr Busse herum als an anderen Wochentagen. In der Fahrmeisterei fragt Leutnant Klose nach dem Fahrer der Linie zweiundzwanzig, der gestern zwischen achtzehn und zwanzig Uhr im Einsatz war. Der Verkehrsmeister blickt auf den Dienstplan. „Von den drei Kollegen, die zu der Zeit die Strecke fuhren, ist nur Kollege Kühn da. Wer sind Sie? Und was wollen Sie von denen?“ „Volkspolizei, Leutnant Klose. Ich brauche eine Auskunft.“ Der Verkehrsmeister blickt flüchtig auf den Ausweis und fragt besorgt, ob gegen einen der Fahrer etwas vorliege. „Nein, gar nicht“, versichert Klose, „aber einer dieser drei Kollegen könnte eine wichtige Beobachtung gemacht haben.“ „Ach so“, sagt sein Gegenüber, „gehen Sie mal zur Waschhalle hinüber, Kühn müßte dort sein.“ An der Waschstraße wartet Norbert Kühn darauf, daß
sein Zweiundzwanziger von den rotierenden Bürsten gereinigt wird. In fünfzehn Minuten beginnt seine Vierstundenschicht. Klose zeigt dem Fahrer das Identi-Kit-Bild. Kühn starrt es an und sagt spontan: „Das ist doch der von der dritten Zweierbank!“ In der Halle dröhnt, zischt und poltert es, daß man das eigene Wort nicht versteht. Sie gehen in den Aufenthaltsraum und Kühn nimmt das Bild noch einmal in die Hand. „Das ist er, einwandfrei!“ Der Busfahrer ist sich seiner Sache sicher und vermag sogar die Zeit anzugeben, in der dieser Fahrgast in der Bennigsenstraße zustieg. Kühn erinnert sich auch noch, daß der Mann in Finkenhain den Bus verließ und vierzig Minuten später wieder mit ihm zurückfuhr. „Der kam mir gleich komisch vor!“ „Wieso komisch?“ „Auf der Hinfahrt“, berichtet Kühn, „markierte er den feinen Otto, als fahre er nur mit dem Bus, weil sein Volvo in der Werkstatt steht. Aber zurück! Ich kann Ihnen sagen, das reinste Nervenbündel!“ Der Busfahrer schilderte, weshalb ihm der Fahrgast aufgefallen war. „Und wo ist er ausgestiegen?“ fragt Klose. „Wieder Bennigsenstraße, da bin ich sicher.“ „Es kann sein, daß wir Sie noch benötigen“, sagt Klose, „Sie bekommen dann Bescheid.“ Er verläßt den Bahnhof zufrieden. Der Fahrer scheint enttäuscht zu sein, da ihm nicht gesagt wurde, worum es geht. Auf dem Weg zur Straßenbahn überlegt Klose, ob er gleich in der Bennigsenstraße recherchieren oder vorher die „Bierglocke“ ansteuern sollte. Er entscheidet
sich für letzteres, da es auf dem Weg liegt. Es ist kurz vor neun Uhr. Um diese Zeit haben sonnabends nur wenige Gaststätten geöffnet; die „Bierglocke“ ohnehin nicht. Im Fenster hängt die behördliche Genehmigung für die Betriebsferien. Leutnant Klose liest, daß das Lokal ab Dienstag wieder geöffnet ist. In diesem Stadtteil kennt Klose sich nicht aus; er läuft erst einmal um den Block. Es sind ältere, aber gepflegte dreistöckige Häuser mit kleinen Vorgärten. In einer Nebenstraße entdeckt Klose eine Gaststätte. Die Tür steht offen, doch der Eingang ist mit einem Stuhl verstellt; eine Frau um die Fünfzig bohnert den Fußboden. Klose tritt an die Tür, da faucht sie ihn an, ob er nicht sähe, daß noch geschlossen sei? Der Leutnant zeigt seinen Ausweis. Die Frau starrt ihn verlegen an und stammelt eine Entschuldigung. „Ich habe nämlich was gegen Leute, die morgens schon am Bierhahn hängen!“ „Sehe ich so aus?“ fragt Klose amüsiert. Dann zeigt er der Frau das Fahndungsbild. „Kennen Sie diesen Mann?“ Er sagt nicht, daß er in ihm einen Stammgast der „Bierglocke“ vermutet. Die Frau wischt ihre Hände an der Schürze trocken und ergreift mit spitzen Fingern das Bild, hält es weit von sich. Zum Lesen braucht sie sicher eine Brille, denkt Klose. „Ist das nicht der Kellner von der ,Bierglocke’?“ fragt sie. Klose ist überrascht. Daß der Gesuchte in der HO-Gaststätte beschäftigt sein könnte, darauf ist er noch gar nicht gekommen. „Ich hole meinen Alten öfter da ‘raus!“ sagt die Frau und seufzt. „Na klar, das ist Patzer! Bloß den ,Kellner’ dürfen Sie nicht wörtlich nehmen.“
„Wie meinen Sie das?“ „Der kellnert bloß aus Gefälligkeit, sagt mein Alter.“ „Aber daß er Patzer heißt, wissen Sie?“ „Vielleicht auch Pratzer. Aber so ähnlich bestimmt.“ Leutnant Klose bedankt sich und läuft zur Straßenbahn. Die Mißstimmung wegen des verqueren Tagesbeginns verfliegt endgültig; in ihm erwacht so etwas wie Jagdeifer. Zwei Anläufe hat er unternommen, und beide waren erfolgreich. Vielleicht bleibt das Glück ihm hold? In der Bennigsenstraße stehen sehr alte Häuser, schmal und eng aneinandergeschmiegt, als stützten sie sich gegenseitig. Die Läden gehören Handwerksbetrieben, doch heute sind die Jalousien herabgelassen; nur ein Blumenladen ist geöffnet. Klose zeigt der jungen Verkäuferin das Bild. Sie bedauert und kann ihm nicht helfen, immerhin aber sah sie diesen Herrn schon öfter. Sie sagt Herr und nicht Mann, registriert Klose. Der lief dann immer zur Kirchgasse oder kam von dort, erklärt die Verkäuferin. „Sagt Ihnen der Name Patzer oder Pratzer etwas?“ versucht es Leutnant Klose noch einmal. „Nein, tut mir leid.“ Ein älterer Mann kommt herein, und bevor er seinen Wunsch äußert, fragt ihn die junge Frau: „Herr Werner, kennen Sie einen Herrn Patzer?“ Herr Werner mustert Klose neugierig. „Suchen Sie den? Da haben Sie Pech, junger Mann. Herr Patzer ist verreist. Gestern abend ist er los mit Koffer und Tasche!“ „Ich versuche es trotzdem“, sagt Klose und zeigt dem
Bürger Werner das Bild. „Natürlich, das ist er! Kirchgasse siebzehn, eine Treppe! Sind Sie Kripo?“ „Erraten“, sagt Klose und lächelt freundlich, denn er hat allen Grund dazu. „Das dachte ich mir“, sagt Herr Werner, „ist doch logisch, bei so einem Bild.“ Leutnant Klose ist überzeugt, daß er der Verkäuferin und dem hilfsbereiten Bürger Stoff zum Rätseln hinterläßt. Er geht in die Kirchgasse und rümpft die Nase, als er den Hausflur von Nummer siebzehn betritt; es riecht muffig und nach Katzen. Das oberste Stockwerk ist unbewohnt. Klose drückt in der ersten Etage den Klingelknopf neben dem Schild „A. Patzer“. Also doch Patzer, denkt er. Drinnen schnarrt es, doch vergeblich, hinter der Tür rührt sich nichts. Der Verdacht, daß Patzer Boltins Mörder ist, hat sich erhärtet, jetzt hat der das Weite gesucht! Aber das nützt ihm nichts, es ist nur eine Frage der Zeit, wann er sich in den Maschen der überbezirklichen Fahndung verfängt. Eigentlich sollte Klose in der Dienststelle anrufen, damit die Fahndung nach Patzer ohne Verzug eingeleitet werden kann; er bringt es aber nicht über sich, seinen Erfolg so billig herzugeben. Er möchte erleben, welchen Eindruck es auf Strecker und Rabe macht, wenn er den Namen und die Adresse des Tatverdächtigen auf den Tisch legt. Major Strecker eilt, aus Finkenhain kommend, stracks in Rabes Dienstzimmer. Die Überprüfung des Tatortes mit einem Team von Technikern hat keine neuen Erkenntnisse gebracht. Ob die drei Dutzend Genossen
erfolgreicher waren, die mit einem Bus hingeschafft und in der Parkaue zu dritt ausgeschwärmt waren, um die Anwohner zu befragen, das weiß er nicht. Die Meldungen gehen direkt an den Leiter der „Sonderkommission Boltin“, und Oberst Winter vereinigt die Ermittlungsfäden in seiner Hand. Die Gaststättenleiter der „Bierglocke“ aus Nessebar zurückzurufen, wird gegenstandslos, sie befinden sich mit ihrem Volvo auf der Rückfahrt irgendwo in Rumänien. Strecker wandert nervös hin und her, bleibt endlich neben Rabes Schreibtisch stehen. „Hat Manfred sich schon gemeldet?“ „Nein, noch nicht“, sagt Rabe, „hoffentlich hat er nicht verpennt.“ Der Major erinnert sich an Rabes Andeutung letzte Nacht, daß Klose nicht zu Hause schläft, und ertappt sich dabei, daß er auf Manfreds Freundin neugierig ist. Vielleicht läßt es sich einrichten, überlegt er, sie bald einmal kennenzulernen. Es ist wichtig zu wissen, welchen Umgang ein junger Genosse pflegt. Mit Rabe spricht er nicht darüber. „Willst du nicht nach Hause, Günter?“ fragt dieser. „Es reicht, wenn ich hier die Stallwache übernehme.“ Strecker ziert sich nicht lange, Rabe hat ja recht, alles was möglich war, wurde getan; ehe nicht neue Erkenntnisse vorliegen, heißt es abzuwarten. „Es geht auf zehn“, sagt Strecker, „weshalb gibt Manfred keinen Zwischenbericht? Das kapiert der nie!“ „Huste mal ohne Hals“, wirft Rabe hin, „soll er melden, daß es nichts zu melden gibt?“ „Eine Fehlmeldung ist immerhin eine Meldung!“
nörgelt Strecker, endgültig entschlossen, nach Hause zu gehen. Daß er in immer kürzeren Abständen von heftigen Gallenschmerzen befallen wird, sagt er nicht, auch nicht, als Heinz Rabe ihn fragt, ob er sich nicht gut fühle. Sehnsucht nach seinen vier Wänden hat Günter wohl nicht, sinniert Rabe. Streckers Frau ist vor vier Jahren gestorben. Beide Töchter sind verheiratet, eine in Berlin, die andere in Dresden. An Festtagen besucht Strecker sie abwechselnd. Den Eineinhalbzimmerhaushalt besorgt eine ältere Frau. Talent zum Kochen besitzt Günter gar nicht; außer Pellkartoffeln und Hering bringt er kaum etwas zustande; sonnabends und sonntags ißt er in einem Lokal. „Rufe mich an“, sagt Strecker, „sobald etwas vorliegt!“ Dann geht er endlich. Rabe wählt seine eigene Rufnummer, kaum daß Günter weg ist, und Erika meldet sich, sie hat am Nachmittag Bereitschaftsdienst. „Wie geht es Inge?“ fragt Heinz nach der Begrüßung. „Sie ist sehr tapfer“, antwortet Erika, „aber sie hat ein Problem. Sie weiß nicht, ob sie es Hansi jetzt gleich sagen soll oder erst später. Sie will vorgeben, Dieter sei für einige Wochen dienstlich fort. Was meinst du?“ Heinz Rabe schüttelt den Kopf, obwohl Erika es nicht sehen kann. „Nein, das bringt nichts. Außer der zusätzlichen Belastung für sie, wenn sie es verheimlicht. Der Junge würde nicht verstehen, weshalb sie so niedergedrückt ist. Wir reden ihr zu, daß sie es Hansi beibringt. Er ist fast sieben! Sie soll aber nur von einem Unfall sprechen.“
Erika ist derselben Meinung. „Du, wir müssen uns um Inge kümmern!“ „Ja, du hast recht. Wir sehen uns ja nachher. Tschüs, Liebes!“ Rabe legt auf. Es klopft an die Tür, und ein junger Wachtmeister bringt ein Fernschreiben. Rabe quittiert den Empfang. Er schaut auf den Absender und stutzt. Das Fernschreiben kommt von der VP-Dienststelle in Stralsund. Den umfangreichen Text lesend, sinkt Hauptmann Rabe in Zeitlupentempo auf seinen Stuhl nieder. Die Tür wird stürmisch geöffnet, Manfred Klose kommt herein, und Rabe sieht ihm sofort an, daß er erfolgreich gewesen ist. Manfreds Art verrät es, wie er sich an seinem Schreibtisch niederläßt. Rabe mustert Klose. Viel geschlafen hat Manfred wohl nicht, denkt er, seine Birgit scheint ein munteres Häschen zu sein. „Weißt du, wer Oberleutnant Boltin auf dem Gewissen hat?“ fragt Leutnant Klose. „Nein, leider nicht. Da haben wir noch eine harte Nuß zu knacken.“ „Irrtum! Der Kerl ist zwar getürmt, er hat aber keine Chance, den kriegen wir!“ „Erstens ist deine Ausdrucksweise nicht korrekt“, stellt Rabe fest, „zweitens irrst du vermutlich, wenn du Adolf Patzer meinst, den Aushilfskellner in der ,Bierglocke’!“ Rabe blickt auf das vor ihm liegende Fernschreiben. „Er wohnt Kirchgasse siebzehn.“ Kloses Gesicht ist maßlos verblüfft und drückt tiefe Enttäuschung aus, fast tut er Rabe leid. Bestimmt hat Manfred seinen Triumph auskosten wollen. Und nun
das! Rabe schiebt ihm das Fernschreiben hinüber. Vor den Stralsunder Genossen hat Adolf Patzer darauf bestanden, zu Protokoll zu geben, daß er zwei Betrügereien begangen hat und eine dritte beabsichtigte, doch mit Boltins Tod habe er nichts zu tun. „Das weiß man doch“, ereifert sich Klose, „das leichtere Delikt wird eingestanden, um mit besserem Erfolg die schwerere Straftat abzustreiten!“ „Eine uralte Erkenntnis, Manfred. Auf diesen Fall trifft sie aber nicht zu, glaube es einem alten Hasen.“ „Mensch, Heinz, das bedeutet ja, daß wir noch mal bei Null anfangen!“ Doch Klose ist so schnell nicht zu überzeugen, er wiederholt die Darstellung des Busfahrers, der das auffällige Benehmen seines Fahrgastes beeindruckend geschildert hat. „Versetze dich mal in Patzers Lage“, fordert Rabe. „Der hat vor, den dritten Käufer um dreitausend Mark zu erleichtern. Von dem ist aber nichts zu sehen. Statt dessen findet er Dieter Boltin erschlagen auf. Stell dir das vor! Das ist doch klar, daß der Hals über Kopf türmt!“ „Du drückst dich auch nicht gerade korrekt aus“, gibt Klose den Tadel zurück. „Ja, verdammt noch mal! Begreife doch: Wir haben noch keinen einzigen Schritt auf der Spur des Täters getan! Der hat einen von uns kaltblütig umgebracht – und wir tappen noch im dustern! Nicht auszudenken, wenn der uns durch die Maschen saust! Du, dann – dann gehe ich freiwillig irgendwo den Hof fegen!“ „Was ist denn damit?“ fragt Klose und zeigt auf die persönlichen Dinge, die Boltin bei sich trug und die
nun auf Rabes Schreibtisch liegen. „Das kriegt seine - seine Frau.“ Rabe wählt bewußt die Bezeichnung, obwohl Dieter und Inge nicht verheiratet waren. Letztlich kommt es nicht auf ein gestempeltes Papier an, denkt er, sondern darauf, was der eine dem andern bedeutet. Wie viele staatlich sanktionierte Ehen verdienen diese Bezeichnung gar nicht. Die Kleinigkeiten nahm Rabe am Tatort aus Dieter Boltins Taschen. „Ich muß gestern ziemlich fertig gewesen sein“, sagt er, „sein Kalendernotizbuch habe ich übersehen. Das steckte in der hinteren Hosentasche. Du hättest sehen sollen, wie der Laborant vom KI mich angeglotzt hat, als er es brachte.“ Manfred Klose blättert in dem Büchlein. Es gibt kaum einen Tag des vergangenen halben Jahres, an dem nicht etwas vermerkt ist, dienstlich oder privat. Die Notizen enden am gestrigen Tag, abgesehen von einem Zahnarzttermin Mitte des nächsten Monats und dem Urlaubsanfang. Klose liest die Eintragungen vom Vortag. Rabe steht auf und tritt ans Fenster, er blickt auf die Straße, auf der heute vormittag wenig Betrieb herrscht. „Heinz…!“ Rabe wendet sich um und sieht, daß Manfreds Gesicht rot angelaufen ist. „Ja…?“ „Mann, Heinz, um neunzehn Uhr wollte Genosse Boltin in Finkenhain sein, stimmt das?“ „Ja, und?“ „Das darf doch nicht wahr sein“, sagt Manfred heiser, „er hatte vorher eine Verabredung!“ „Was?“ Mit drei Schritten ist Rabe bei ihm und nimmt den Kalender. Klose hat recht, da steht es:
,Achtzehn Uhr zwanzig. Heinrich Wachsmann, Smetanastraße dreiundzwanzig.’ „Die Smetanastraße liegt gar nicht in Richtung Finkenhain“, stellt Klose fest. „Du irrst“, widerspricht Rabe. „Wenn Dieter in Inge Gädes Wohnung war, was so gut wie sicher sein dürfte, dann mußte er auf der Fahrt nach Finkenhain durch die Smetanastraße. Aber wer ist Heinrich Wachsmann? Und was wollte Dieter von ihm?“ „Oder er von Boltin.“ „Oder so!“ Hauptmann Rabe bestellt einen Wagen, und Klose fragt: „Soll ich mitkommen?“ Rabe ist versucht, ihn hierzulassen, nickt aber. Manfred ist auf die Notiz gestoßen und soll dabeisein, wenn sich etwas Entscheidendes herausstellt. Rabe wählt Streckers Rufnummer an, um ihm die Ereignisse durchzugeben, aber der meldet sich nicht. Die Fahrt legen Rabe und Klose schweigend zurück. Der Fahrer versucht vergeblich, mit den Genossen im Fond eine Unterhaltung zu beginnen; er fährt Rabe öfter, und noch nie war der so schweigsam wie heute. Der Wolga biegt in die Smetanastraße ein und hält vor Nummer dreiundzwanzig. Ein alter Herr führt seinen Dackel spazieren, oder der ihn, wie es scheint, und blickt den beiden Männern, die ins Haus treten, neugierig hinterher. Wachsmann wohnt Hochparterre, ist aber nicht da, hinter der Wohnungstür bleibt es still; ein Junge kommt ins Haus und mustert sie. „Der olle Wachsmann ist da draußen mit seinem Köter!“ sagt er.
Der Mann mit dem Dackel ist der Gesuchte, und er erschrickt kein bißchen, als Rabe und Klose sich ausweisen; aber die Neugier auf seinem Gesicht vertieft sich. Wachsmann führt die Besucher in seine Wohnung. Das Zimmer wirkt unaufgeräumt. Der Alte bittet dies zu entschuldigen, auf Besuch sei er nicht eingerichtet. „Kennen Sie einen Herrn Boltin?“ fragt Rabe. „Boltin? Nein, kenne ich nicht.“ „Sie waren aber gestern mit ihm verabredet“, sagt Klose. „Bestimmt nicht. Ich bin nie verabredet, äh, so gut wie nie“, behauptet der alte Herr. „Wann soll das denn gewesen sein?“ „Um achtzehn Uhr zwanzig“, antwortet Rabe. „Tut mir leid“, erklärt Wachsmann, und seine Stimme verrät die Enttäuschung, daß aus einer Unterhaltung nun wohl nichts wird. „Ich war gestern mit niemand verabredet und kenne auch keinen – wie heißt er?“ „Boltin!“ sagt Klose. „Nein, kenne ich bestimmt nicht, tut mir leid.“ Rabe gibt noch nicht auf. In Dieters Kalender steht eine konkrete Zeit und ein Name. Und der Mann dieses Namens sitzt ihnen gegenüber. Das muß doch etwas bedeuten. So sagt er geduldig: „Hören Sie, Herr Wachsmann! Herr Boltin, den Sie nicht kennen, hat einen Unfall gehabt, deshalb können wir ihn nicht selbst befragen und wenden uns an Sie. Er muß einen Grund gehabt haben, Ihren Namen und die Zeit achtzehn Uhr zwanzig in seinem Taschenkalender…“ „Unfall? Mann Gottes! An einem Unfall ist der junge Mann gestern haarscharf vorbei! Meinen Sie etwa den?
Das stimmt, das kann um achtzehn Uhr zwanzig gewesen sein! Jawohl! Danach hat er meinen Namen aufgeschrieben, als Zeuge! Das ist richtig!“ „Wonach aufgeschrieben? Wovon sprechen Sie?“ fragt Rabe. „Der fuhr einen gelben Trabant, nicht wahr?“ „Boltin? Ja, das stimmt“, sagt Rabe. „Ich habe nämlich gesehen, wie der weiße Lada auf ihn los ist. Der Fahrer war betrunken. Der junge Mann hat zwar den Kopf geschüttelt, aber ich bleibe dabei, der war stinkblau.“ Hauptmann Rabe und Leutnant Klose wechseln erstaunte Blicke. Sie erfahren die unglaublich klingende Geschichte von einem Ladafahrer, der Boltin mit hohem Tempo gerammt hätte, wäre der ihm nicht halsbrecherisch ausgewichen. Sie streuen geschickte Fragen ein, aber Herr Wachsmann widerspricht sich in keinem Detail. Nun bekommt Heinrich Wachsmann doch noch das Gefühl, ein wichtiger Zeuge zu sein. Er führt seine Besucher auf die Straße hinaus und demonstriert den Vorfall. Nur seiner Schlußfolgerung vermögen Rabe und Klose nicht zuzustimmen, daß jedem Menschen sein Schicksal vorbestimmt sei, sonst wäre dieser Boltin nicht doch noch verunglückt. „Hoffentlich nicht schlimm?“ fragt Wachsmann. „Leider doch“, erklärt Rabe, „Herr Boltin ist verstorben.“ Das tut dem alten Herrn aufrichtig leid, bestätigt aber seine Philosophie. Rabe bringt Klose in die Dienststelle zurück und fährt zum Stadtrand hinaus. Der angekündigte Regen prasselt endlich herab, es schüttet wie aus Kübeln. Günter wird hoffentlich nicht schon zum Mittagstisch gepil-
gert sein, überlegt Rabe, als er zum Hauseingang sprintet. Der Fahrstuhl trägt ihn in den neunten Stock hinauf. Strecker starrt ihn verwundert an, da Rabe bereits vor der Wohnungstür steht. Der lange Gang mit den vielen Türen erinnert mehr an ein Hotel als an einen Wohnblock. „Du?“ Günter Strecker scheint zu überlegen, ob er Rabe einlassen soll. „Komme ich unpassend?“ fragte der irritiert. „Nein, nein“, antwortet der Major hastig und führt seinen Besucher ins Wohnzimmer, er räumt dort eilig ein Puzzlespiel beiseite. Daß Strecker diesem Zeitvertreib anhing, hatte Rabe bisher für ein Gerücht gehalten. Rabes Bericht stimmt den Major nachdenklich; er verschwendet aber keinen Gedanken darauf, ob Patzers in Stralsund protokollierte Aussage glaubhaft ist oder nicht. „Patzer wird morgen überstellt“, sagt Rabe. „Niemand hindert uns“, erwägt Strecker, „ihn vorzunehmen, als hielten wir ihn für den Täter. Daneben gilt es, wie du sagst, noch einmal beim Urschleim anzufangen!“ Rabe hält sich nicht lange auf, und der Major begleitet ihn auf den Gang hinaus zum Fahrstuhl.
13. Plocher frißt wie ein Schwein, Willi Heise beobachtet es angewidert; Karl nimmt das Eisbein in die Hand, beißt in die wabbelige Schwarte, kaut schmatzend und stößt dabei wohlige Grunzlaute aus. Zwei Fettspuren triefen aus den Mundwinkeln und vereinigen sich am Kinn. Auf seinem und Elviras Tel-
ler duften Erbspüree und Sauerkraut und kitzeln Heises Nase. Er schält zittrig seinen Apfel, zerteilt ihn in Häppchen, kaut sie bedächtig, mummelt Knusperbrot und trinkt Selters. Der Tisch steht am Küchenfenster; den mittleren Platz mit Ausblick auf den Hof hat Heise an Plocher abgetreten, ebenso den im Bett neben Elvira. Sie sitzt rechts neben Karl, er links von ihm. Elvira stochert im Essen und blickt mitleidig herüber. Sie mag kein Eisbein, das weiß Heise, selbst Plocher ist nicht so wild darauf wie er. Karl wollte, daß er seinen Apfel am Mittagstisch ißt, es gäbe etwas zu bereden. Zwölf Broteinheiten am Tag, in sechs Mahlzeiten aufgeteilt, sind Heises Diabetikerdiät. Sie hat den Sechzigjährigen auf fünfundfünfzig Kilo abmagern lassen; trüge er seine früheren Anzüge, käme er sich wie eine Vogelscheuche darin vor. Elvira sieht seine hungrigen Blicke, legt Sauerkraut auf ein Tellerchen und ein Häppchen mageres Fleisch. „Das verträgst du“, sagt sie und blickt Zustimmung heischend zu Plocher. Bevor Heise danach langt, wirft auch er einen fragenden Blick auf Karl, der tut so, als sähe er nichts. Heise nimmt den Teller und schnuppert genießerisch, greift nach dem Besteck und schluckt Speichel. „Willst du ihn umbringen?“ fragt Karl übertrieben besorgt und schüttet alles auf Elviras Teller zurück. Nun mag sie nicht mehr essen und schiebt die kaum angerührte Mahlzeit fort. Plocher verschlingt das restliche Fleisch und benagt die Knochen; Willi Heise ist den Tränen nahe. Die Wohnung liegt über der Werkstatt; auf dem Hof stehen einige reparaturbedürftige Lada.
Wie lange ist es her, grübelt Heise, daß er stolz darauf war, selbständiger Handwerksmeister zu sein? Die Werkstatt ist klein, mehr als drei Fahrzeuge finden darin keinen Platz, aber die Werkzeuge sind modern, es fehlt an nichts. Ehe Plocher vor sechs Jahren hier anfing - er wurde beim volkseigenen Kraftverkehr wegen Diebstahls entlassen -, beschäftigte Heise zwei Leute. Damals funktionierte die Ehe mit Elvira noch. Er hätte auf seine Stammtischrunde hören sollen, denkt Heise manchmal, die ihn gewarnt hatte, sein zwanzig Jahre jüngeres Bürofräulein zu heiraten. Plocher leckt die Finger ab und rülpst. Elvira holt eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und die halbvolle Klaren. Heise sieht weg, als das Bier schäumend ins Glas läuft. „Wir sind keine Unmenschen“, sagt Karl, „stimmt’s, Elvi? Würden wir aber nicht darauf achten, hätte er sich längst zu Tode gefressen und gesoffen!“ Er kippt den Schnaps und trinkt das Bier. Heise spürt den Haß aufsteigen, der ihn überkommt, sobald Plocher sich als Chef und Kumpel zugleich aufspielt. „Das bißchen Kraut hätte nicht geschadet, im Gegenteil!“ ergreift Elvira Willis Partei, was selten geschieht. „Stimmt - hätte er gestern abend nicht über die Stränge geschlagen!“ Plocher holt die zweite Flasche Bier. Heise schluckt verbiestert. Warum lass’ ich mir das bieten? Wer ist Plocher, daß er sich diese Frechheiten herausnehmen darf? Was gehört ihm denn? Nichts! Seinen Anteil von den „Nebengeschäften“ hat er mit Weibern durchgebracht. Es fing damit an, daß er aus dem
volkseigenen Betrieb Material anschleppte, das er dort stahl. Zu der Zeit zahlte Heise gerade einen Kredit zurück und kratzte jede Mark zusammen. Im Kraftverkehr kam man Plocher auf die Schliche. Heise mußte froh sein, daß Karl ihn nicht als Hehler benannte. Wie konnte er es ihm verwehren, als er Arbeit forderte? Nicht lange, und Karl ekelte die beiden Kollegen hinaus. Das war nur der Anfang gewesen. Eines Abends stand ein Lada auf dem Hof; Plocher schuftete die Nacht hindurch, und Heise half. Morgens war der PKW in Teile zerlegt, von denen man einige gerade brauchte. „Wieso hat Willi über die Stränge geschlagen?“ fragt Elvira und räumt das Geschirr in die Spüle. Plocher beobachtet sie; Elvi ist zehn Jahre älter als er, die sieht man ihr aber nicht an. Sie ist schmal in den Hüften, hat an den richtigen Stellen üppige Rundungen und besitzt volles, dunkles Haar. Die schwarzbraunen Augen sehen Männer nie anders als taxierend an. Heise wußte nicht, daß er einen Vulkan heiratete. „Es ist Zeit für die Spritze“, sagt Willi. „Die eilt nicht“, widerspricht Plocher. Heise zieht den Kopf zwischen die Schultern, wie eine Schildkröte, die sich bei Gefahr in ihren Panzer verkriecht, aber der fehlt ihm; er besitzt nur verwundbare Stellen. Was finge er ohne Elvi an? Er schafft es zur Not, das Insulin in die Spritze aufzuziehen, kann sich aber nie überwinden, die Nadel ins Fleisch zu pieken. Auch fürs Geschäft ist Elvi unentbehrlich, sie führt die Bücher. Sogar mit Plocher ist er auf Gedeih und Verderb ver-
bunden; ginge der fort, wäre auch Elvira nicht zu halten. An Plocher hängt die Werkstatt; Karl schuftet von früh bis spät. Er selbst hält nur noch eine Stunde durch, ist dann in Schweiß gebadet und muß sich ausruhen. Die Augen verlangen immer stärkere Gläser, und er hat Mühe mit kleinen Schrauben. Die Kunden sind es gewöhnt, sich an Plocher zu wenden. „Warum sagst du es nicht?“ nörgelt Elvira. „Gestern abend hat er sich bei Bruno vollaufen lassen“, quetscht Karl durch die Zähne. Elvira starrt Willi ungläubig an; sie war im Kosmetiksalon gewesen und weiß nichts davon. Da er nicht widerspricht, scheint es zu stimmen. „Zwei Bier und einen Klaren!“ hält er entgegen. Es klingt wenig überzeugend. Karl fläzt mit ausgestreckten Beinen auf dem Stuhl und pafft eine Zigarette; der Qualm riecht süßlich streng. „Vier Bier und vier Schnäpse!“ straft er Willi Lügen und scheint mit seiner Geduld am Ende. Heise gibt auf, zu widersprechen hat keinen Sinn. Das letzte Mal, als er es riskierte, liegt ein Jahr zurück, und damals ging Karl mit den Fäusten auf ihn los. „Ist das wahr?“ fragte Elvira ungläubig. Sonst hält Willi ängstlich seine Diät ein. Trotz seines freudlosen Daseins hängt er am Leben und fürchtet den Tod; nicht weniger aber, daß er die noch verbleibenden Jahre im Gefängnis zubringen müßte; schuldbewußt senkt er den Kopf. „Weshalb sagst du es jetzt erst?“ fragt Elvira. Karl zuckt die Schultern. Willi weiß die Antwort, behält sie aber für sich. Elvira sollte selbst darauf
kommen: Plocher ist rachsüchtig und nachtragend, aber seine Genugtuung besteht meist nur darin, sich eine Vergeltung auszumalen; sie später auch zu verwirklichen, ist ihm dann weniger wichtig. „Seit Jahren war er nicht in Brunos Stampe“, grollt Karl, „aber ausgerechnet gestern abend!“ Elvira kommt nicht hinter den Sinn seiner Worte. Sie erwägt nur, daß Willis Blutzuckerspiegel bedrohlich angestiegen sein könnte. „Ich war so was von gieprig auf Bier“, sagt Willi. „Er wollte gesehen werden!“ behauptet Karl. „Brunos Gäste sollen bezeugen: Von achtzehn bis neunzehn Uhr dreißig war Heise in der Kneipe.“ „Ist das wahr?“ fragt Elvira. „Natürlich! Sieh dir sein Gesicht an, dann weißt du’s! Er wollte ein Alibi haben!“ „Ist das wahr?“ wiederholt Elvira stereotyp. Sie versteht es nicht. In Karls und Willis Heimlichkeiten wurde sie nie eingeweiht. Willi sagte ihr nur, welche gebrauchten Teile nicht auf den Rechnungen erscheinen durften, da sie „unter der Hand“ beschafft wurden und bar bezahlt werden mußten. In den letzten drei Jahren gab es diese Fälle kaum noch. Deshalb wollte Karl, daß ich am Mittagstisch sitze, überlegt Heise, um mir unterzujubeln, daß er mir auf die Schliche gekommen ist. Karl läßt die Zigarettenasche auf den Fußboden fallen und beugt sich zu Willi hinüber. „Das Saufen hättest du dir sparen können! Ich habe den Bullen nicht auf die Hörner genommen!“ Heise sagt nicht, daß ihn diese Mitteilung ungemein
erleichtert. Sofern Karl die Wahrheit sagt; das weiß man bei ihm nie. Dann lebt man weiter in der Furcht vor einer nahen Gefahr. Elviras Knie werden schwach, sie muß sich setzen. Die Vorbereitungen, die Karl gestern traf, ehe sie zur Kosmetik ging, bekommen plötzlich einen Sinn; die Bandagen und die Gurte. Plocher zerdrückt die halbgerauchte Zigarette im Ascher. „Ich war zum Bracksee, baden! Simon hat mich auf dem Motorrad mitgenommen!“ Heise tut uninteressiert, dabei überlegt er, weshalb Karl sich zu dieser Erklärung herabließ. Entweder hatte er sein wahnwitziges Vorhaben wirklich aufgegeben, oder Simon mußte als Alibi herhalten. Grundlos jedenfalls tat Plocher nichts. Elvira holt aus dem Wandschränkchen die Spritze und das Insulin. Heise verfolgt es ängstlich, er denkt an den unangenehmen Einstich. „Stell dir vor“, sagt Karl, „Elvi vergißt mal, die Luftbläschen rauszudrücken. Kommt Sauerstoff ins Blut, gibt es Gerinnsel, Hirnschlag oder so. Dann ist der Ofen aus, dann gibst du den Löffel ab.“ „Schäme dich, so was zu sagen!“ fährt Elvira auf. Über Heises Gesicht huscht ein Ausdruck besseren Wissens, seine Stimme klingt ironisch: „Ihr werdet euch hüten! Was hättet ihr davon? Die Werkstatt wird geschlossen! Von euch bekäme keiner das Gewerbe! Außerdem…“ Heise verstummt und genießt die Pause. „Was meinst du mit ,außerdem’?“ fragt Karl. „Bei Doktor Zander liegt nämlich nicht nur mein Testament.“ „Was heißt das nun wieder?“ wendet Elvira sich an Karl. Plocher winkt ab. „Nichts, gar nichts. Der alte
Spinner blufft.“ Seine Miene drückt jedoch Besorgnis aus.
14. Die Wohnung erscheint Inge Gäde einsamer als vor einem Jahr, ehe Dieter in ihr Leben trat. Noch waren keine vierundzwanzig Stunden vergangen seit ihrer letzten Begegnung. Die Gewißheit, daß es gestern ein Abschied für immer gewesen war, daß es kein Wiedersehen und keine Zärtlichkeit mehr gibt, trifft sie mit unbarmherziger Gewalt. An der Garderobe sieht sie Dieters Lederjacke. Inge hängt sie in den Schrank, um nicht bei jedem Schritt in die Diele an ihren Jammer erinnert zu werden. In Hansis Zimmer ist es still; sie hat ihm gesagt, daß Onkel Dieter tödlich verunglückt ist. Der Siebenjährige sah sie fassungslos an und wollte wissen, wie es passiert war. Inge verbarg das Geschehen hinter vagen Umschreibungen. Wäre es nicht Sonnabend, sie vergrübe sich in ihre Arbeit, und die Anteilnahme der Kolleginnen wäre tröstlich gewesen. So versucht sie es mit den am Wochenende fälligen Hausarbeiten, hält oft einen Gegenstand in der Hand und weiß nicht wozu. Inge zieht ein dunkles Kostüm an, blickt in Hansis Zimmer und sagt, daß sie telefonieren geht. Er spielt mit Bausteinen, doch sein Werk ist kaum weitergediehen als vor einer Stunde. In der Fernsprechzelle wählt sie Rabes Rufnummer, aber es meldet sich niemand. Dabei braucht sie einen Rat. Gebot es nicht der An-
stand, daß sie Dieters geschiedener Frau persönlich die traurige Nachricht überbrachte, bevor es offiziell getan wurde? Sicher empfindet die Frau Anteil an seinem Schicksal. Inge glaubt nicht, daß eine Abneigung über den Tod hinausreicht. Sie ist auch besorgt, Dieters frühere Frau könnte glauben, sie wolle sich einen Vorteil sichern. Der Gedanke ist ihr unangenehm. Seine Exgattin sei kleinlich auf Vorteile aus, hatte Dieter erwähnt. Schon deshalb will Inge, daß Klarheit zwischen ihnen herrscht. Dieter war nicht begütert gewesen, sein Sparkonto weist aber ein Guthaben von sechstausend Mark aus, und an Sachwerten ist außer dem Trabant noch einiges vorhanden. Inge weiß, daß sie keine Ansprüche geltend machen kann, ihr genügen ein paar Erinnerungen an das glückliche Jahr mit ihm. Auch seine erste Frau ist nicht Erbin, hatte er gelegentlich erwähnt, ohne ernsthaft an den nun eingetretenen Fall zu denken; erbberechtigt ist nur sein leiblicher Sohn. Gern hätte Inge mit Erika oder Heinz Rabe darüber gesprochen, doch nun muß sie die Entscheidung allein treffen. Kurzentschlossen kehrt sie in die Wohnung zurück, aber nur, um Hansi zu holen. Nach Luckenwalde, zu Dieters geschiedener Frau, kann sie den Jungen schlecht mitnehmen, da bleibt nur sein Vater. Sie wird mit Hansi zu ihm fahren; trifft sie ihn zu Hause an, und er ist nüchtern, dann will es das Schicksal, daß sie fährt. Auf Hansis Türschwelle sagt sie, daß sie ihn bis morgen bei seinem Vater lassen wolle. Hansis Gesicht strahlt, und die Trauer um Onkel Dieter ist vergessen. Inge verbirgt ihre Enttäuschung darüber.
„Freue dich noch nicht“, mahnt sie, „wer weiß, ob er zu Hause ist.“ „Dann vielleicht in der Kneipe?“ „Das fehlte noch, daß wir ihn dort herausholen!“ Sie fahren die paar Haltestellen mit der Straßenbahn. Inge fällt ein, daß sie an Lebensmittel hätte denken sollen, wer weiß, ob Gäde genug im Hause hat? Die Kaufhallen schließen gleich, aber es gibt eine Spätverkaufsstelle. In der Nebenstraße mit den dreistöckigen Häusern reißt Hansi sich von ihrer Hand los und stürmt zu der Gaststätte an der Ecke hin. Aus der offenen Tür dringt Kneipenluft ins Freie. „Hansi!“ ruft Inge hinter ihm her; er beachtet es nicht, steht im Eingang und blickt suchend umher. Das Lokal ist mäßig besucht, Gäde ist nicht unter den Gästen. Inge schluckt die Schelte hinunter. Die Trauer um Dieter reduziert alle anderen Gefühle, für zornige Aufwallungen fehlt ihr die Energie. Sie gehen durch den Hausflur und wenden sich dem Seitenflügel des Hinterhauses zu. Im Hofgarten wirft ein Kastanienbaum Schatten. Gäde bewohnt im ersten Stock Stube und Küche und nutzt einen winzigen Balkon als Abstellplatz. Die Klingel funktioniert nicht, Inge klopft an die Tür. Überraschend schnell steht Gäde vor ihnen, sein Gesicht verrät Staunen. „Inge – du?“ Bevor sie ein Wort sagt, springt Hansi an ihm empor und umschlingt seinen Nacken. Darüber kommt Inges Begrüßung zu kurz, und Gäde entschuldigt sich. Sie geht dicht an ihm vorüber, verspürt jedoch keinen Alkoholatem. Die Stube und die Küche blitzen sauber, so akkurat sah es hier noch nie bei einem ihrer seltenen
Besuche aus. „Erwartest du jemand?“ Er sieht sie erstaunt an. „Besuch? Nein! Wie kommst du darauf?“ Er wendet sich an Hansi und sagt ihm, daß er eine neue Lok für die TT-Bahn bekommen hat. Hansi stürmt ins Zimmer. „Setz dich doch“, bittet Gäde und blickt Inge besorgt an. Sie folgt der Aufforderung, beide sitzen sich gegenüber. Sie findet es beruhigend, daß der Küchentisch zwischen ihnen für Distanz sorgt. Sie will es ihm sagen und spürt es würgend im Hals aufsteigen. „Inge – ist ist was passiert?“ Die Tränen verschleiern ihren Blick, sie kramt nach dem Taschentuch. „Dieter ist tot!“ stößt sie hervor, und die Tränen kullern ihre Wangen hinab. „Nein!“ sagt er tonlos und starrt sie an. Hansi steht in der Tür, die neue Lok in der Hand, und will seine Freude äußern; aber sie erlischt auf seinem Gesicht. Es bedarf keiner Aufforderung, stumm wendet er sich ab. Inge berichtet von dem unfaßbaren Verbrechen. Gäde hängt an ihren Lippen und schüttelt den Kopf. „Das ist ja furchtbar“, stammelt er, als sie verstummt. „Willst du Hansi bei mir lassen?“ Sie nickt und sagt, es solle für einen Tag sein und daß sie nach Luckenwalde fährt, zu Dieters geschiedener Frau. „Ach ja?“ macht Gäde, der die Notwendigkeit wohl nicht einsieht. „Ich kann dich ja mit dem Skoda…“, er bricht ab und beginnt hastig neu. „Geht ja nicht, der Schwimmer vom Vergaser säuft dauernd ab.“ Sie ahnt, daß er lügt und verübelt es ihm nicht. Führe er sie und Hansi nach Luckenwalde und brächte sie
wieder zurück, entfiele der Grund, ihm den Jungen zu lassen. „Ich war nicht sicher“, sagt Inge, „ob ich dich sonnabends antreffe, und ob du dann nicht…“ „Besoffen bist, willst du sagen!“ ergänzt er und übergeht ihre Verlegenheit. „Ich trinke kaum noch etwas“, behauptet er, „trocken bin ich nicht, nein! Das habe ich auch nicht vor, ab und an ein Bier!“ „Stehst du das durch?“ fragt sie skeptisch. „Es ist keine moralische Läuterung, sondern gesundheitlich notwendig. Der Arzt meint, die Leber hält das nicht länger durch.“ So sachlich, wie er darüber spricht, wirkt es eindrucksvoller als ein Gelübde. „Ich habe vergessen, etwas Eßbares mitzubringen. Du bist wohl kaum auf einen Kostgänger eingerichtet?“ Gäde steht auf, geht zum Kühlschrank und öffnet die Tür. Die Fächer sind gefüllt, im Tiefkühlfach liegt Schokoladeneis, das Hansi gern mag. „Das sieht aus, als wußtest du, daß ich dir den Jungen bringe?“ Herbert Gäde starrt sie betroffen an. „Wie kommst du denn darauf?“ „Nur so, sagt sie und geht zur Stubentür, um sich von Hansi zu verabschieden. Gäde steht hinter ihr, und sie spürt seine Hand auf ihrer Schulter. „Inge – ich – ich möchte dir nur sagen, daß es mir sehr – sehr leid tut!“ Sie wendet sich ihm zu und sieht, wie es in seinem Gesicht arbeitet; seine zuckenden Mundwinkel verraten, daß er im Innersten aufgewühlt ist; seine Augen blinken naß. Als sie sich gegenüberstehen, gleitet seine Hand von ihrer Schulter. Nun hängen seine Arme
kraftlos herab.
15. Zwei Eimer Schattenmorellen stehen auf dem Gartenweg, sieht Erna, als sie aus dem Küchenfenster blickt. Rudolf pflückt den letzten der drei mannshohen Sauerkirschbäume leer. Von der Last befreit, richten sich die Zweige empor. Rudolf pflückt verbissen. Die wenigen hellrosa Früchte läßt er hängen, sie reifen noch und werden von Anita genascht. In der Küche bereitet Erna die Weckgläser vor, bäckt nebenbei einen Apfelstrudel, der zum Kaffee warm gegessen werden soll. Sie grübelt, was es zwischen Vater und Tochter gegeben haben mag. Beide gehen sich aus dem Weg, und beim Mittagessen schien es so, als dräuten Gewitterwolken mit Entladung. Monika wusch das Geschirr und fuhr dann mit dem Rad, Anita im Kindersitz, an den Bracksee; zum Kaffee will sie zurück sein. Welches Problem zwischen Vater und Tochter schwebt, ahnt Erna nicht; morgens waren beide noch ein Herz und eine Seele. Bestimmt hatte Monika an der Telefonzelle auf ihn gewartet. War das Telefonat Anlaß der Unstimmigkeit gewesen? Und wo war Rudolf so lange geblieben? Erna widersteht der Versuchung hinauszugehen und pflücken zu helfen; eine angefangene Arbeit bringt er selbst zu Ende. Sie wartet, bis er die drei vollen Eimer in die Küche trägt. Erna wäscht die Kirschen und rückt für Rudolf die
Schüsseln zurecht, damit er einen Eimer voll entsteint. Doch dann zügelt sie ihre Ungeduld nicht länger. „Habt ihr euch beide gestritten?“ „Noch nicht“, antwortet er und seufzt wie immer, wenn etwas Unangenehmes zu erledigen ist. „Es ist gut, daß wir darüber reden, bevor ich mit ihr reinen Tisch mache.“ Erna staunt; es muß etwas Schwerwiegendes sein. „Es geht um Simon“, sagt Rudolf. Daraus, daß er nicht den Vornamen nennt, schließt Erna, daß es sehr unangenehm ist. Sie bemüht sich, ihre Genugtuung zu verbergen; hat Rudolf seinen Standpunkt geändert? „Hat er was angestellt?“ fragt sie. „Etwas Neues nicht“, antwortet Rudolf, „es liegt länger zurück, ist aber ein dicker Hund!“ Rudolf beschreibt Simons veränderte Behausung und zählt auf, welche Möbel und Luxusgegenstände die vordem triste Bude verwandelt haben; er vergißt nicht, den Farbfernseher, die teure Gardine und die Sessel zu erwähnen. „Ich habe es überschlagen, zwölftausend Mark reichen nicht. Da kommt mehr zusammen.“ Erna setzt sich und starrt ihn ungläubig an. „Davon hat Monika nie etwas gesagt. Woher hat er das Geld?“ „Das habe ich ihn auch gefragt.“ „Ich kann es mir denken“, behauptet sie. „Der hat damals mehr geklaut als die sechs Autos! Das Geld dafür hat er beiseite geschafft!“ Rudolf starrt sie verblüfft an. „Du kannst recht haben! Er sagte zwar, er habe einen Komplizen gedeckt und für den mitgesessen! Dafür hat der sich revanchiert!“
„Das glaube ich ihm nicht“, erklärt „Erna und verhehlt nun nicht länger ihre Zufriedenheit darüber, Monikas Freund richtig eingeschätzt zu haben. „Der und für einen anderen gesessen? In der Hoffnung, daß der sich dafür erkenntlich zeigt? Niemals, sage ich dir! Simon doch nicht! Andersherum wird ein Schuh draus: Der Kumpel verwahrt, was beide ergaunert haben. Simon blieb keine Wahl, hätte er den Komplizen mit reingezogen, wäre auch sein Anteil futsch gewesen.“ Rudolf verschließt sich ihren Argumenten nicht, sie beweisen, daß sie vieles schärfer sieht. „Und was hat Monika damit zu tun?“ fragt sie. „Moni findet nichts dabei, daß er vor Gericht falsch ausgesagt hat. Jedenfalls behauptet er es“, schränkt Rudolf ein. „Das glaube ich auch nicht!“ „Da bin ich nicht so sicher“, widerspricht er, „falls er ihr dieselbe Geschichte von einem Gestrauchelten aufgetischt hat, der nie wieder auch nur einen Hosenknopf klaut!“ „Du hast es wohl geglaubt? Das sähe dir ähnlich!“ „Ich war nahe daran, aber seine verbuffte Moral ging mir gegen den Strich. Dann habe ich seinen Kumpel gesehen – und war bedient.“ „Kennst du ihn denn?“ fragt Erna erstaunt. „Ja. Du übrigens auch. Erinnerst du dich? Ein gewisser Karl Plocher! Vor sechs Jahren war er in meiner Brigade. Der klaute wie ein Rabe! Vor dem war nichts sicher, außer flüssiges Eisen!“ „Ich erinnere mich, daß du damals davon sprachst.“ Die Küchenuhr klingelt, und Erna zieht den Apfelstrudel aus dem elektrischen Ofen; die Küche duftet
sogleich wie eine Backstube. Sie stochert den Kuchen vom Blech und fragt nebenher, was Rudolf nun zu tun gedenke? Sie weiß, daß er sich die Entscheidung nicht leicht macht. Er schiebt die Aussprache mit seiner Tochter nicht ohne Grund so lange auf. „Frage lieber, was ich nicht tue! Ich kann nicht so tun, als wüßte ich von nichts. Das geht nicht. Da gehe ich kaputt! Da finde ich keinen Schlaf mehr! Aber genau das verlangt er von mir; die Augen verschließen, die Ohren zustopfen und alles vergessen!“ „Das möchte ihm so passen!“ erklärt Erna und hält mit ihrer Meinung nicht zurück. „Geht dir nun ein Licht auf, welchen Kuckuck du uns ins Nest geholt hast? Bist du immer noch dafür, diesen – diesen…“, sie verschluckt das unfeine Wort, „als Schwiegersohn an deine Brust zu drücken?“ „Hör auf, verdammt!“ fährt er sie barsch an. ,,’tschuldige!“ fügt er kleinlaut hinzu. Eine Weile hängen sie schweigend den eigenen Gedanken nach. Endlich räuspert er sich. „Eins steht fest: Monika muß sich von ihm trennen! Ich bin mir im klaren darüber, was wir von unserem Mädel verlangen. Du hast es erlebt, wie unglücklich sie ist, wenn er sie nur mal versetzt. Ihn aufzugeben, das – das ist für Moni eine Katastrophe.“ „Die wird es, wenn sie sich nicht von ihm trennt“, behauptet Erna. Das Entsteinen geht Rudolf nicht mehr von der Hand; er grübelt, wie er Monika überzeugen kann, und bezweifelt, daß es ihm gelingt. „Das einzige, was ich für Simon tun kann, Erna, ich gebe ihm eine Frist, inner-
halb der er die ganze Wahrheit sagen muß; zu mehr bin ich nicht bereit!“ Sie begreifen beide die merkwürdige Situation: Sie sind zum ersten Mal verbündet, um bei Monika etwas durchzusetzen. Der Apfelstrudel ist abgekühlt und kann gegessen werden. Erna schaltet die Kaffeemaschine ein; da schiebt Monika das Fahrrad durch die Gartentür, doch der Kindersitz ist leer. Beide sehen sich betroffen an. Monika kommt mit einem Gesicht in die Küche, als erwarte sie Ärger; sie raucht eine Zigarette und setzt sich an den Tisch. „Anita habe ich bei Ritters abgegeben“, sagt sie, „das Kind muß ja nicht hören, was ihr mir zu sagen habt.“ Sie wirft trotzig den Kopf zurück und signalisiert damit Kampfbereitschaft. Ihre Worte schaffen klare Positionen, findet Rudolf. „Also gut, reden wir nicht drum herum“, sagt er, „beginnen wir mit der wichtigsten Frage: Weißt du, daß Simon vor Gericht einen Mittäter verschwiegen hat?“ „Ja.“ Rudolf und Erna wechseln einen enttäuschten Blick. Die anschließende Frage erübrigt sich fast: „Findest du es richtig, daß er falsch ausgesagt hat?“ Bevor Monika antwortet, ergänzt er: „Und daß er sich dafür bezahlen läßt?“ Monika wird rot. Für sie ist es neu, daß Vater und Mutter den gleichen Standpunkt gegen sie einnehmen. Obwohl Mutter noch kein Wort gesagt hat, sieht sie ihr an, was sie denkt. Kein Wunder, sie mochte Gerhard nie. „Du siehst das zu verbissen“, behauptet Monika, und Rudolf spürt, daß sie sich mühsam beherrscht. „Wer hat denn einen Schaden davon, daß Gerhard die Strafe
für einen Kumpel mit heruntergerissen hat? Wem nützt es, wenn statt einem zwei eingesperrt werden? Das ist doch nicht mehr als gerecht, wenn derjenige seinem Kumpel auf die Beine hilft!“ „Menschenskind, Monika“, stößt Rudolf hervor, „weißt du, was du da redest? Es geht um Recht und Gerechtigkeit! Du findest es in Ordnung, – wenn damit Schindluder getrieben wird?“ „Du klopfst Sprüche! Das war zu erwarten!“ sagt sie. Erna denkt praktischer. „Vater sagt, daß die Klamotten in seiner Bude mindestens zwölftausend Mark gekostet haben.“ „Eher mehr“, ergänzt Rudolf. „Da fragt man sich“, fährt Erna unbeirrt fort, „was da wirklich gelaufen ist. Die sechs gestohlenen Autos – das liegt vier Jahre zurück. Trotzdem hat sein Komplize noch soviel Geld? Da stimmt was nicht!“ Trotz der massiven Anschuldigung bleibt Monika eigensinnig. „Gerhard hat mir hoch und heilig versichert, daß es keine offenen Rechnungen mehr in seinem Leben gibt. Alles wäre klar, hat er gesagt. Seine neue Einrichtung – ich dacht auch, mich trifft der Schlag. Aber dann hat er mir von seinem Kumpel berichtet. Ihr seht das falsch. Gerhards Kumpel hatte es gar nicht nötig mitzumachen. Es war reine Abenteuerlust, versteht ihr?“ „Nein“, antwortet Rudolf. „Du hast dir einen Bären aufbinden lassen“, bestätigt auch Erna. „Ach du!“ Monika blitzt sie an. „Von dir war nichts anderes zu erwarten! Du mochtest Gerhard vom ersten
Tag an nicht! Daß aber auch du…?“ Sie mustert enttäuscht ihren Vater. „Hast du denn noch immer die Absicht, Simon zu heiraten?“ fragt Rudolf. Monikas Antwort klingt bitter. „Du sprichst von ihm, als sei er ein Fremder! Ja – ja – ja –! Ich sehe keinen Grund, es nicht zu tun!“ In der Kaffeemaschine sprudelt das Wasser. Das Glucksen unterbricht die Stille. Erna sinkt auf den Schemel nieder und reibt nervös ihre Arme. Rudolf hört auf, Kirschen zu entsteinen und starrt Monika ungläubig an. „Das ist doch nicht dein Ernst!“ bringt er mühsam hervor. „Du verbindest deine Zukunft mit einem Mann, der, wie wir jetzt wissen, jeden Tag für seine Straftaten zur Verantwortung gezogen werden kann.“ „Für die hat er drei Jahre gesessen!“ antwortet Monika heftig. „Man kann nicht für eine Sache zweimal bestraft werden! Das müßtest du wissen“, fügt sie spöttisch hinzu, „du warst doch jahrelang in der Konfliktkommission!“ Sie zerdrückt ihre Zigarette im Ascher. Rudolfs Erregung wächst, er begreift ihre Verbohrtheit nicht. Sie hat den Überblick verloren, erkennt er. „Natürlich wird niemand für eine Straftat zweimal belangt. Verstehst du denn nicht? Wer vor Gericht vorsätzlich falsche oder unvollständige Aussagen macht, kann mit Freiheitsentzug bis zu drei Jahren bestraft werden!“ Die sachliche Feststellung verfehlt ihre Wirkung nicht; Monika starrt ihn betroffen an, faßt sich aber und wirft hin: „Das muß man ihm erst beweisen, daß er damals falsch ausgesagt hat!“
„Oder unvollständig, meint Vati“, ergänzt Erna. Monika klopft eine neue Zigarette aus der Packung; es ist dieselbe Sorte, die Simon raucht. Sie inhaliert hastig und schleudert heftig das rötliche Haar aus der Stirn. „Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter!“ Erna schnauft und blickt besorgt zu Rudolf. Der wird blaß, stellt die Schüssel mit den entsteinten Kirschen auf den Tisch, steht auf, geht langsam zu Monika hin und bleibt vor ihr stehen. „Sag das noch mal!“ „Was - was meinst du?“ Sie blickt unsicher zu ihm auf. „Von wegen: Wo kein Kläger ist, da ist auch kein Richter!“ „Na und? Stimmt doch!“ würgt sie hervor. Plötzlich huscht ungläubiges Staunen über ihr Gesicht. „Sag bloß, du willst ihn verzinken?“ Rudolf packt sie an den Armen, reißt sie vom Stuhl hoch und bringt sein Gesicht dich vor ihres. „Verzinken, sagst du? Das ist Gaunersprache! Färbt sie schon auf dich ab? Ist es so weit mit dir gekommen? Dein Simon hat mich zum Mitwisser gemacht! Ich konnte es nicht verhindern, aber zum Komplizen macht er mich nicht!“ Erna behält den Überblick. „Laß das Mädel los, Rudolf!“ Er schüttelt Monika heftig; so grob war er noch nie zu ihr. Die letzte Ohrfeige bekam sie als Zwölfjährige, als sie statt abends um acht erst um zehn Uhr nach Hause gekommen war. „Schließlich warst du es, der ihn ins Haus gebracht hat!“ erinnert Erna. Rudolf stößt Monika auf den Stuhl zurück. Sie springt empört auf und läuft zur Tür. „Du bringst es fertig,
deinen Schwiegersohn anzuzeigen? Nur wegen eines haltlosen Verdachtes? Pfui Teufel!“ „Wenn der Verdacht haltlos ist, wie du sagst, dann wird er ihn leicht entkräften!“ „Vater hat recht“, ergreift Erna seine Partei. „Aber wo Rauch ist, da ist auch Feuer!“ „Ihr seid ja total verspießert und merkt es nicht mal!“ schreit Monika. „Für den Buchstaben des Gesetzes macht ihr mein Leben kaputt! Geh doch hin“, kreischt sie ihren Vater an, „und hetze ihm die Bullen auf den Hals! Mich seht ihr dann nie wieder – und Anita auch nicht!“ Sie stürmt zur Tür und reißt sie auf, aber Erna ist vor ihr dort und hält sie mit gespreizten Armen zurück. „Monika, sei vernünftig!“ Rudolf überkommt jene Gelassenheit, wie nach jeder plötzlichen Aufregung; er geht zum Fenster und spricht gegen die Scheiben: „Halte sie nicht auf, Erna! Sie kommt allein zur Vernunft!“ Zu Monika sagt er, ohne sich umzuwenden: „Erkläre Simon, bis Dienstag hat er Zeit, um das in Ordnung zu bringen. Am Mittwoch bin ich bei der Kripo. Sage ihm, daß es seine letzte Chance ist für strafmildernde Umstände.“ „Du bist gemein! Gemein bist du!“ stammelt Monika, schiebt die Mutter beiseite, läuft hinaus und kracht die Tür zu. „Sie meint es ernst“, sagt Erna. Rudolf antwortet nicht und zuckt zusammen, als die Tür zuschlägt. „Ich laß unser Kind nicht ins Unglück rennen!“ erklärt Erna entschlossen und will Monika folgen, aber
Rudolf hält sie zurück. „Du begehst einen Fehler, wenn du sie festhältst. Es klingt brutal, ich weiß, aber laß sie gehen. Sie kommt von allein zur Vernunft. Aufhalten läßt sie sich sowieso nicht.“ „Sie kann doch nicht mit dem Kind…?“ Erna bricht ratlos ab. „Wo will sie denn hin?“ „Das fragst du? Zu Simon natürlich!“ Er stößt einen Lacher aus, der gar nicht fröhlich klingt. „Was wir nicht schaffen, besorgt der selbst, verlaß dich drauf!“ „Wieso? Was meinst du?“ „Sein wahres Gesicht zu zeigen!“ In Monikas Zimmer klappen Schranktüren und Schübe. Erna und Rudolf sitzen steif am Küchentisch und lauschen auf die Geräusche. Erna schaltet die Kaffeemaschine aus, der Appetit ist ihr vergangen. „Gehst du am Mittwoch wirklich zur Kripo?“ fragt sie und weiß, daß sie es sich sparen konnte. „Ich hoffe, ich brauche es nicht. Er wird es mir aber nicht abnehmen.“ Nach einer Pause ergänzt Rudolf: „Siehst du einen Ausweg?“ „Nein!“ antwortet Erna, schiebt ihre Rechte über den Tisch und legt sie auf seinen Arm. Die Zimmertür schlägt zu; Monika holt ihr Fahrrad aus dem Schuppen, schnürt einen Koffer auf dem Gepäckträger fest und schiebt das Rad auf die Straße hinaus. Erna springt auf und läuft zur Tür. „Erna…“ Rudolfs leise, bittende Stimme hält sie zurück; hätte er sie angeschrien, wäre sie rausgerannt. Nun lehnt sie am Türpfosten und weint; er tritt zu ihr hin und nimmt
sie in seine Arme. In der baufälligen Remise steht Gerhards Motorrad. Monika atmet erleichtert auf, dennoch ist nicht sicher, daß er zu Hause ist. Die Radfahrt von Gadeberg nach Poldam hat sie angestrengt, und meist hat Anita geweint. Sie begreift nicht, daß sie nicht nach Hause gehen, um Omas Apfelstrudel zu essen. Während der Fahrt gelangt Monika zu der Einsicht, daß der überstürzte Aufbruch unklug gewesen war. Sie hätte sich vorher vergewissern müssen, wie Gerhard sich dazu stellt, wenn sie zu ihm zieht. Es bringt Unbequemlichkeiten mit sich, zu dritt zu hausen. Sie denkt erschrocken daran, daß es kein Bad gibt, nur eine Toilette auf dem Treppenpodest, die auch von den anderen Mietern benutzt wird; statt einer Küche besitzt Gerhard nur eine Nische mit winzigem Elektrokocher. Und der Wasserhahn befindet sich im Parterre auf dem Flur. Mit gutem Willen sind diese Erschwernisse zu ertragen, ob Gerhard den aber aufbringt? Noch schwerer wiegt, daß der Weggang ihr die Möglichkeit nimmt, auf den Vater einzuwirken, daß er sein Vorhaben aufgibt. Monika lehnt das Fahrrad an den Schuppen und erklimmt die steile Treppe, an einer Hand Anita, in der anderen den Koffer. Sie hat zuwenig Kindersachen mitgenommen, fällt ihr ein. Die Einsicht besitzt etwas Tröstliches, sie liefert den Anlaß, weitere Sachen von zu Hause zu holen. Monika hofft, daß der Vater dann sagt, er nehme von seinem Vorhaben Abstand. Auf ihr Klopfen fragt Gerhard von drinnen, wer da sei? Der Riegel klackt; er steht nur mit einer Badehose bekleidet
vor ihr und starrt sie verblüfft an. „Du…? Wo kommst du denn her?“ Seine Stimme klingt freudig überrascht, aber die Freude erlischt, als er den Koffer und Anita entdeckt. „Was – ist denn passiert? Haben deine Alten dich rausgefeuert?“ fragt er besorgt. „Läßt du uns nicht ‘rein?“ fragt Monika. Sie sieht seine zerwühlte Liege; sie stört seinen Nachmittagsschlaf und weiß nun seine spontane Freude zu deuten, die so rasch verging, als er sah, daß es keine zärtliche Stunde wird. „Du hast mir noch nicht geantwortet“, erinnert er und gähnt, „Bleibst du länger?“ Sie sieht ihn verwirrt an. „Wieso? Heißt das, daß – wir nicht bleiben können?“ „Setz dich doch“, sagt er, ihrer Frage ausweichend. Anita vermißt ihr Töpfchen, und Monika geht mit ihr zur Toilette im Treppenhaus. Als sie zurückkommen, ist Gerhard angezogen und hat die Überrumpelung scheinbar verkraftet; er bemüht sich, freundlich zu sein. „Nun sag schon, was bedeutet der Überfall?“ Der Koffer steht noch mitten im Zimmer. Anita klettert mit den schmutzigen Schuhen auf einen Sessel, und Gerhard stößt einen erschrockenen Ruf aus; mit der neuen Einrichtung geht er eigen um. „Ich bin von zu Hause weg!“ sagt Monika. „Das sehe ich“, antwortet er, und seine Miene verrät, wie unangenehm es ihm ist. Nun fällt Monika mit der Tür ins Haus; sie hofft so am ehesten auf sein Verständnis. „Was blieb mir denn übrig? Vater geht Mittwoch zur Kripo und zeigt dich
an wegen falscher Aussage vor Gericht, wenn du dich bis Dienstag nicht selbst stellst!“ Sie glaubte, daß es ihn erschüttern oder einen Wutanfall auslösen würde, täuscht sich aber. Gerhard vermeidet es, sie anzusehen; sein Zigarettenrest qualmt noch im Ascher, aber er zündet sich eine neue an und inhaliert nervös. „Gib mir eine!“ bittet Monika. „Du – ich hab bloß noch die paar“, sagt er und hält ihr zögernd die halbvolle Packung hin; da stößt sie seine Hand zurück. „Ich dachte es mir! Dieser verdammte Scheißkerl!“ knurrt Gerhard. „Benimm dich!“ fordert Monika. „Denke an das Kind! Von wem sprichst du?“ „Von wem wohl? Wer will mich denn verzinken?“ Aus Monikas Gesicht weicht die Farbe, sie starrt ihn erschrocken an, widerstreitende Gefühle überkommen sie. Seine haßerfüllten Blicke gelten dem Vater, sind aber auf sie und Anita gerichtet. „Was fällt dir ein? Wie sprichst du denn von meinem Vater?“ Gerhards Gesicht enthüllt seinen Charakter von einer bisher unbekannten Seite; meist trafen sie sich bei ihren Eltern, und er war um einen guten Eindruck bemüht. „Ich glaube nicht“, versucht sie zu begütigen, „daß man dich dafür streng bestraft, daß du einen Mittäter verschont hast. Du kriegst bestimmt Bewährung.“ Simon springt auf und zerdrückt die eben angerauchte Zigarette im Ascher. „Hör auf davon, verdammt noch mal!“ schreit er. „Ich kann dein Gequatsche nicht mehr hören! Du hast keine Ahnung, worum es geht! Das ist
nicht mit drei Jahren abgetan, wenn dein Alter mich in die Pfanne haut! Sage ihm das, hörst du?“ Seine Stimme überschlägt sich. Anita weint verängstigt; Monika nimmt sie in die Arme. Simon raucht eine neue Zigarette an und reicht Monika die Packung; diesmal verzichtet sie nicht. Sie fühlt sich ausgehöhlt, seine Worte lassen sie nicht mehr los. Was fürchtet er denn? Wofür droht ihm eine so harte Strafe? „Sage mir doch, worum es geht. Ich habe dir versprochen, daß ich zu dir halte. Das tue ich. Du mußt mir aber vertrauen. Wofür kriegst du mehr als drei Jahre?“ Sie spricht leidenschaftslos, und das bleibt nicht ohne Eindruck auf ihn; er setzt sich und scheint froh, darüber reden zu können. „Es stimmt gar nicht, ich habe vor Gericht nichts Falsches ausgesagt! Dein Alter ist auf dem Holzweg! Es war alles so, wie die Kripo es protokolliert hat! Sechs Ladas habe ich mir unter den Nagel gerissen! Ich allein – auf eigene Rechnung!“ „Du meinst, daran war niemand beteiligt?“ „Endlich kapierst du! Und dafür habe ich meine Strafe weg!“ „Das begreife ich nicht, entschuldige. Du sagtest doch, dafür, daß du einen Kumpel…“ „Ja, ja –!“ unterbricht er sie heftig. „Mit meinen paar Schlitten hatte der nichts zu tun!“ „Ich glaube, jetzt verstehe ich“, erklärt Monika tonlos und ist froh, daß Anita in einen Halbschlaf gefallen ist. „Dein Kumpel hat auch Autos gestohlen? Und dafür, daß du ihn nicht verraten hast…“ „So ungefähr. Außerdem hänge ich mit drin.“ Monika
erfährt fassungslos, daß Simons Kumpel, dessen Namen er nicht nennt, im Laufe einiger Jahre drei Dutzend Ladas gestohlen hat; die genaue Zahl weiß er nicht. An diesen Diebstählen war Gerhard beteiligt; er fuhr den andern immer zum Tatort, meist in einen entfernten Bezirk der Republik, und half dann, die gestohlenen PKWs auszuschlachten, „Großer Gott“, flüstert Monika und fühlt, daß sie heute zum zweiten Mal den Halt verliert. „Begreifst du den Witz?“ fragt er spöttisch. „Dein Alter zeigt mich an wegen falscher Aussage. Dabei habe ich vor Gericht die Wahrheit gesagt! Die lassen aber bestimmt nicht locker und wollen wissen, wer mir die Bude hier ausstaffiert hat. Das war ein Fehler.“ „Geh bitte – und sieh, ob du ein Taxi auftreibst.“ Simon nickt und scheint zufrieden, seine Miene ist gleichmütig, er macht auch keinen Versuch, sie zurückzuhalten. An der Tür wendet er sich noch einmal um. „Meinst du nicht, daß du deinen Alten rumkriegst?“ „Bestimmt nicht“, sagt Monika matt. Ich will es auch gar nicht mehr, denkt sie. Er geht zu ihr und beugt sich hinab. „Und wenn du ihm sagst, es wäre was unterwegs? Er wünscht sich doch einen Enkel.“ „Das ist geschmacklos“, flüstert sie, „und male den Teufel nicht an die Wand!“ „Du hast recht, es würde sowieso nichts mit uns. Du hast zuviel von deinem Alten! Ich geh dann!“ sagt er, seine Schritte verlieren sich die Treppe hinab.
16. Hauptmann Rabe schließt geblendet die Augen, als er vom mäßig erleuchteten Korridor in die Helle des Labors tritt. Die weißgefliesten Wände reflektieren das Licht der Neonlampen und verleihen dem mit vielfältigen Apparaten ausgestatteten Raum nüchterne Strenge. Rabe rümpft die Nase, es riecht nach Säuren und Lösungsmitteln. Der Diplomchemiker Böwe, ein hagerer Genosse unbestimmbaren Alters, sitzt im weißen Kittel an seinem Schreibtisch über ein Formular gebeugt. Er wendet sich zur Tür um und schiebt seine Brille in die Stirn hinauf. „Du kommst wie gerufen, Heinz!“ empfängt er den Eintretenden. ,,’n Abend, Schorsch“, grüßt Rabe. Böwe deutet einladend auf das spartanische Sitzmöbel unter einem Tisch mit Marmorplatte. „Komm, setz dich. Kaffee?“ Rabe angelt den Hocker mit dem Fuß hervor und läßt sich darauf nieder, hebt aber abwehrend die Hände, er mag den schwarzen Extrakt nicht, den Böwe Kaffee nennt. Der bedient sich aus einem für andere Zwecke vorgesehenen Glasgefäß, in dem er den dunklen Inhalt mit dem Bunsenbrenner erhitzt hat. „Wenn du spektakuläre Ergebnisse erwartest, muß ich dich enttäuschen“, erklärt Böwe und nippt an dem heißen Getränk. „Komm erst mal mit“, sagt er, durchquert den langgestreckten Raum, und Rabe folgt ihm. Er entdeckt auf einem der Tische die dunkle Jacke, die Dieter Boltin gestern zur hellen Hose getragen hatte. Böwe bleibt stehen und zeigt auf die Jacke. „Die blaue Farbe auf dem Rückenteil ist mit dem Ver-
gleichsmaterial von der Schuppenwand identisch.“ Rabe nickt, er hat es erwartet; weit mehr interessiert ihn, ob die Untersuchung des umgestülpten Taschenfutters etwas ergeben hat. Böwe zuckt bedauernd die Schultern. „Dachtest du an einen bestimmten Stoff?“ fragt er. „Nein. Ich dachte überhaupt nichts“, antwortet Rabe. „Wir vermuten, daß Dieter Boltin hinterrücks erschlagen wurde und daß der Täter etwas aus der rechten Jackentasche an sich genommen hat.“ „Glaubst du, daß er deshalb erschlagen wurde?“ fragt Böwe und schiebt die herabgerutschte Brille wieder in die Stirn hinauf. „Ich lege mich nicht fest“, erklärt Rabe, „du weißt, welche Zufälle es gibt, aber möglich wäre es.“ Böwe führt ihn zu einem kompakt wirkenden Mikroskop. Rabe nimmt davor auf einem Drehstuhl Platz. Der Chemiker legt ein Präparat ein und schaltet die Beleuchtung an. Rabe beugt sich über das Okular und korrigiert die Schärfe. Auf dem Objektträger erscheint ein Gebilde, das einer Mondlandschaft gleicht, in der einige Dutzend Spinnenbeine auffallen. „Das sind die unter Boltins Fingernägeln sichergestellten Partikel“, erklärt Böwe. „Die Stoffasern sind zweifelsfrei analysiert: Aus diesem Material werden Jeanshosen hergestellt. Trug Boltin welche?“ Rabe verneint die Frage entschieden, er erinnert sich nicht, daß Dieter Jeans besessen und getragen hätte. „Wie der Zufall so spielt: Die Hose, von der diese Stoffasern stammen, ist mit Quecksilber in Berührung gekommen. Die Spektralanalyse lieferte den zuverläs-
sigen Beweis, obwohl es sich nur um winzige Spuren handelt. Vielleicht hilft es euch weiter?“ „Wie kontaktieren Jeans mit Quecksilber?“ „Keine Ahnung. Eventuell ein zerbrochenes Thermometer. Das herauszufinden ist euer Bier.“ Bei dem Rundeisen handele es sich um das Tatwerkzeug, bestätigt Böwe wie erwartet. Die Blutspuren daran stammen von Boltin, ebenso das Schmierblut an der Gartentürklinke. Rabe denkt an den Autopsiebefund, den Doktor Taube übermittelt hat. Der Arzt hat jene Passage seines Befundes auf der Maschine gesperrt getippt, in der er feststellt, daß der kraftvoll geführte Schlag die Tötungsabsicht untermauert. „Alles in allem ein mageres Ergebnis“, gesteht Böwe und verhehlt nicht sein Bedauern darüber, als Rabe sich nach Mitternacht von ihm verabschiedet. Auf der Türschwelle fragt Rabe: „Vorausgesetzt, wir ermitteln einen Tatverdächtigen im Besitz einer Jeanshose…“ Böwe unterbricht ihn: „In diesem Fall liefert uns die Spektralanalyse die Gewißheit, ob Quecksilberspuren daran haften.“ Obwohl Rabe die verblüffend sichere Materialbestimmungsmethode kennt, versagt er sich den skeptischen Vorbehalt nicht; „Wenn ich daran denke, Schorsch, daß Millionen blauer Schlauchhosen fabriziert und getragen werden, kommen mir Bedenken.“ “Vergiß sie!“ fordert Böwe und klopft Rabe auf die Schulter. “Ich gehe davon aus, daß es keine zwei Jeans mit Quecksilberspuren gleicher Konsistenz gibt!“ – Es ist ein Uhr vorbei, da schließt Heinz Rabe behutsam die Wohnungstür auf, um Erika nicht zu wecken.
In der Diele entdeckt er, daß unter der Schlafzimmertür Licht hindurchschimmert, er öffnet sie spaltbreit. Erika liest noch in einem Buch. Er tritt auf Zehenspitzen ein, setzt sich auf den Bettrand und küßt sie. Erika befreit sich aus seinen Armen und sieht ihn mit ernst gewordenem Gesicht forschend an. „Gibt es etwas Neues?“ Er teilt ihr das Ergebnis der Laboruntersuchung mit, während er sich entkleidet. Im Pyjama aus dem Bad zurückkehrend, gähnt er ausgiebig. „Ich bin hundemüde!“ „Inge hat angerufen“, sagt Erika. Sie berichtet, was sie von Inge Gäde erfahren hat. Daß diese Hals über Kopf nach Luckenwalde gefahren war, zu Dieters geschiedener Frau. „Sie hat versucht, uns vorher anzurufen. Ich hätte ihr abgeraten. Du wohl auch?“ Heinz bestätigt es. „Inge war auch ziemlich enttäuscht. Dieters ehemalige Frau fand kaum ein Wort des Bedauerns, zeigte sich um den Nachlaß besorgt und betonte den Anspruch ihres Sohnes darauf. Stell dir vor, sie hat Inge nicht mal eine Tasse Kaffee angeboten!“ Erikas Stimme klingt empört. Heinz liegt neben ihr auf den Ellenbogen gestützt und wickelt eine ihrer blonden Haarsträhnen um seinen Zeigefinger. „Hörst du überhaupt zu?“ fragt sie. „Als Inge sagte, daß sie den Jungen zu seinem Vater gebracht habe, da kamen mir ganz eigenartige Gedanken.“ „Wieso?“ fragt er und wickelt ihr Haar vom Finger. „Es war die Art, wie sie von Gäde sprach, daß er völ-
lig nüchtern gewesen sei…“ Heinz fährt im Bett empor. „Völlig nüchtern! Das war es! ‘tschuldige, den ganzen Tag giepere ich auf ein Bier!“ Er springt aus dem Bett, läuft in die Küche und kommt mit einem Tablett, auf dem eine Flasche und zwei Gläser stehen, wieder. Er weiß, daß Erika ein Bier nicht verschmäht, obwohl sie auf ihre Figur achtet. „Du mit deinen verrückten Einfällen“, sagt sie kopfschüttelnd. „Wie blitzsauber es bei ihm war, hat sie geschildert, und er erinnere sie wieder an jenen Gäde…“ „Den sie einmal geheiratet hat“, fällt er ihr ins Wort. „Inge sagte, ich hätte die Begrüßung zwischen Vater und Sohn erleben sollen. Du – sie war richtig gerührt. Sie will Hansi wieder öfter zu ihm bringen.“ Heinz schenkt das Bier in die Gläser, trinkt seines in einem Zuge leer, kriecht ins Bett zurück und starrt mit im Nacken verschränkten Händen zur Decke empor. Erika trinkt genüßlich und stellt das leere Glas hörbar auf den Nachttisch; eine Weile ist es still zwischen ihnen. „Hut ab, falls Gäde es schafft, trocken zu werden. Die Rückfallquote ist hoch, wie du weißt. Schluß davon, es ist zwei Uhr vorbei“, sagt er und dreht sich auf seine Schlafseite. „Gestern abend, als es passierte…“, beginnt sie noch einmal. „Vorgestern, am Freitag, war es; seit zwei Stunden ist Sonntag“, korrigiert er. „… da war Gäde heimlich bei Hansi. Inge war sehr ungehalten darüber.“
17. Am Samstagabend sieht Heise im Fernseher den „Kessel Buntes“. Ab und an tritt er ans Fenster und beobachtet den Werkstatthof, auf dem Plocher herumwirtschaftet. In der Küche klappert Geschirr. Heise schlurft hinüber, verharrt auf der Schwelle und sieht Elvira zu, die den Schrank ausgeräumt hat und den Inhalt abwäscht. Das tut sie sonst nur beim Frühjahrsputz. Es ist Zeit für die Spritze. Als errate sie seine Gedanken, sagte sie: „Spritz dich mal selbst!“ „Aber – Elvira…?“ barmt er. Damit erschreckt sie ihn öfter, um etwas durchzusetzen. „Das kannst du doch nicht machen“, fügt er hinzu, „warum auch?“ Elvira hantiert in der Spüle; ihre Figur erscheint unter dem dünnen Kittel als Silhouette vor dem Fensterviereck. Heise starrt auf die Brüste; unter dem Fähnchen ist sie nackt. „Warum?“ wiederholt sie. „Weil du es bald allein tun mußt! Ich habe das Theater satt. Merkst du nicht, daß Karl wieder spinnt?“ „Doch, das merke ich“, sagt Willi. Was Elvira „spinnen“ ‘nennt, überkommt Plocher alle paar Monate. Dann vertauscht er die Kennzeichen des Lada gegen die gefälschten und fährt nachts als „Schwarztaxi“. Früher glaubte Heise, daß er auf den Nebenverdienst versessen ist. Bis Plocher damit herauskam, er befördere nur Frauen und Mädchen und sei auf Abenteuer aus. „Mal sehen, ob er den Kurzschluß findet, den ich eingebaut habe!“ Heise grinst schadenfroh. „Wie meinst du das, du hast das Theater satt?“
„Das sage ich dir!“ Elvira trocknet das Geschirr ab und stapelt es auf dem Tisch. Sie wird auch den Spind scheuern, bevor sie einräumt. „Denkst du, ich mache das hier aus Langeweile? Ich laß mir nicht nachsagen, daß ich eine Luderwirtschaft geführt habe!“ Heises Beine versagen den Dienst, er setzt sich. Elvira spaßt nicht; ihre Schwester liegt im Krankenhaus, und der Schwager mit dem Kommissionsgemüsehandel hätte gern, wenn sie zu ihm käme. „Elvira, das – das kannst du doch nicht machen!“ „Und was macht ihr mit mir?“ So konkret waren ihre Vorwürfe bisher noch nie. Von den jahrelangen Machenschaften wollte sie nichts wissen und verschloß Augen und Ohren davor; als Simon eingesperrt war, lief kaum noch etwas. Seit der wieder draußen ist, braue sich etwas zusammen, behauptet sie. „Wie hat Karl das heute mittag gemeint, er hätte den Bullen nicht auf die Hörner genommen?“ Willi sieht sie beschwörend an. „Den macht er fertig, hat er gesagt! Der ist dabei und rollt Simons alte Geschichte von vorn auf! Dann sind wir diesmal mit dran!“ Elviras Gesicht nimmt einen entgeisterten Ausdruck an. „Den Bullen fertigmachen? Seid ihr bescheuert? Und was danach?“ „Karl wäre verduftet. Die alte Karre könne sich die Kripo sauer braten, sagt er. Das Chassis hat keine Nummer mehr und das Kennzeichen ist sowieso…“ „Ihr seid wirklich behämmert! Die Kriminaltechnik macht alte Ziffern wieder lesbar! Die fallen über den Unfallwagen her und suchen Fingerabdrücke!“ Heise sagt, daß Karl kein Anfänger ist und Hand-
schuhe trägt. „Du Trottel! Und Simon? So oft wie ihr ihm die Karre borgt? Von dem genügt ein einziger Abdruck, von dem haben sie alle zehn Finger! Dann seid ihr dran, Karl und du!“ „Das kann Simon nicht machen und uns verzinken, soviel Geld, wie er aus mir herausgequetscht hat! Mehr ist nicht drin!“ „Daher wohl der Scheck?“ fragt Elvira. „Dreitausendachthundertundvierzig Mark ans KonsumMöbelhaus? Das steht auf dem Auszug. Wozu hast du in drei Wochen vierzehntausend Mark bar abgehoben? Du brauchst es mir nicht zu sagen, es ist dein Geld. Ich kann es mir aber denken! Mensch, Willi, ihr hängt beide drin! Aber ich halte mich ‘raus.“ Schritte poltern die Stiege herauf, Plocher steht in der Tür und faucht Willi an: „Hast du an der Elektrik gefummelt?“ „Hast wohl einen Kurzen und findest ihn nicht? Elektrik ist nicht deine Stärke!“ Plocher ist mit drei Schritten bei Willi und reißt ihn vom Stuhl hoch. „Hast du mir einen Kurzschluß eingebaut?“ „Nein, be-bestimmt nicht“, stottert Heise. „Laß ihn los!“ herrscht Elvira Plocher an. Den Ton ist er nicht von ihr gewöhnt und läßt Willi verblüfft los. „Ja“, sagt sie, „er hat einen Kurzschluß gebastelt, weil ich es wollte.“ „Spinnst du?“ bringt Plocher unsicher heraus. „Ich nicht, du!“ erwidert sie. „Weshalb sonst wechselst du die Kennzeichen?“ „Na und? Auf ein Schwarztaxi mehr kommt es nicht
an! Kann ich dafür, daß sonnabendsnachts zuwenig Taxis fahren?“ „Du tust es aus Gefälligkeit, nicht wahr? Ums Geld geht’s dir gar nicht, stimmt’s?“ „Halt den Mund!“ knurrt er. „Hauptsache, die Frauen sind jung und haben stramme Brüste!“ Heise beobachtet ängstlich, daß Plocher immer wütender wird und nähert sich verstohlen der Tür. Karl vertritt ihm den Weg. „Du bleibst hier, wir sind noch nicht fertig!“ „Bleib, Willi, ich sage dir, was da läuft!“ „Laß nur, Elvi, das geht mich nichts an!“ „Nein, das geht dich nichts an, du tote Hose! Wir sind ja bloß verheiratet. Ich sage es dir trotzdem: Wenn so eine eingestiegen ist, dann fährt er aus der Stadt ‘raus, hält ihr ein Messer an die Kehle und…“ „Bist du still, verdammt noch mal!“ brüllt Plocher. „Ich habe noch nie ein Messer…“ „Richtig, ein Schraubendreher war’s! Hauptsache, es piekt und macht Angst! Dann müssen sie die Blusen ausziehen und ihre Brüste zeigen…“ „Elvira!“ schreit Karl. Das beeindruckt sie nicht; sie läßt sich auch nicht einschüchtern, als er drohend auf sie zugeht; sie bringt nur den Tisch zwischen sich und ihn und fährt dabei höhnisch fort: „Wenn er dann nach Hause kommt, Willi, weißt du, was wir dann machen?“ Plocher schleudert den Tisch beiseite und packt sie an den Armen. „Sei still!“ schreit er und hält ihr den Mund zu. Sie beißt in seine Hand, daß er vor Schmerz
brüllt. „Dann spielen wir das nach! Dann hält er mir ein Messer an den Hals, und ich muß mich auszie…“ Seine Schläge klatschen auf sie nieder, aber er schlägt mit flachen Händen; es tut ihr nicht weh, im Gegenteil! Heise steht wie festgenagelt an der Tür. Plocher zerfetzt Elviras Kittel. Nun ist sie es, die Karls Hemd zerreißt und sich an seine behaarte Brust preßt. „Wie Tiere!“ stammelt Heise, sich rückwärts über die Schwelle tastend. „Wie Tiere!“ Der „Kessel Buntes“ geht zu Ende, da kommen beide ins Wohnzimmer, als wäre nichts gewesen. Elvira trägt noch den zerrissenen Kittel, der mehr entblößt als verhüllt. Beide tun friedlich. Elvira holt aus der Küche den Karton mit der Spritze; ihre Hand zittert nicht, als sie das Insulin aufzieht und es ihm injiziert. „Ihr habt recht“, verkündet Plocher, „mit Schwarztaxi spielt sich vorläufig besser nichts ab. Das mit Simons Fingerabdrücken leuchtet mir ein.“ Er steht auf, geht zum Fernseher und schaltet auf einen Westsender um. Heises Mundwinkel wandern spöttisch abwärts. Der Wildwestfilm nähert sich seinem Höhepunkt. Plocher ist von der Knallerei begeistert. Die Erschossenen purzeln von den Gäulen wie reife Pflaumen vom Baum. Elvira holt eine Flasche Rotwein und zwei Gläser. Heise weiß, daß es nicht bei einer Flasche bleibt. „Ich kaufe noch einen Apparat“, sagt er. Karl und Elvira reagieren nicht, denen ist es egal, was er tut oder unterläßt. Hauptsache, daß er sie nicht stört und seine Diät einhält, denn sterben darf er nicht. Heise will in seine Kammer, die vormals Plocher gehörte, doch der hält ihn zurück.
„Gestern abend beim Baden hat Gerhard mich daran erinnert, daß wir ihm einen fahrbaren Untersatz versprochen haben.“ Willi Heise fühlt, daß sich etwas an ihrem Dreierverhältnis verändert. Bisher galt das Gebot, über bestimmte Dinge in Elviras Gegenwart nicht zu sprechen. „Ist ja auch verständlich“, erklärt Karl, „mit ‘ner Frau und ‘nem Kind auf dem Motorrad.“ „Was will er denn noch alles?“ murrt Heise. „Ich habe ihm schon genug in den Rachen gestopft.“ „Versprochen ist versprochen“, behauptet Karl. „Gerhard ist mit unserm alten Schlitten zufrieden, den motzt er sich auf.“ Da Heise stumm bleibt, fügt er hinzu: „Stell dir vor, wenn er’s Maul aufgemacht hätte! Oder er täte es noch und singt? Dann gehen wir in den Knast!“ „Er aber auch! Und von wegen alter Schlitten“, widerspricht Heise, „der Lada gehört zum Betrieb.“ „Bla-bla-bla-!“ spottet Plocher. „Du halbblindes Huhn fährst doch sowieso nicht mehr.“ Heise schluckt verbiestert, es ist wahr, Karl spricht es nur unumwunden aus. Er durchschaut ihn und Elvira: Auf ihr Girokonto zahlt sie in immer kürzeren Abständen vierstellige Beträge ein: Plocher repariert zwei Tage in der Woche für seine privaten Kunden ohne Rechnung. Für den neuaufgebauten Lada in der Garage hat er die Papiere von einem Wagen mit Totalschaden gekauft. Der PKW steht lackiert da, dem fehlt nur der Motor. Der Kraftfahrzeugbrief ist auf Karl Plocher ausgestellt. „Bevor der neue nicht fahrbereit ist“, wagt Heise ein-
zuwenden, „kann Simon den alten nicht kriegen.“ „Ist klar“, stimmt Karl friedlich zu, „ich habe ‘n Motor in Aussicht.“ „So?“ sagt Heise skeptisch. „Ich verstehe nicht: Hättest du ihn zu Schrott gefahren, dann kriegte Simon ihn ja auch nicht.“ „Ich habe aber nicht“, erwidert Plocher, „man muß flexibel sein und sich einer neuen Lage anpassen, darauf kommt es an.“ Heise wendet sich achselzuckend ab und ist froh, daß Elvira mit keinem Wort den Schwager erwähnt, den er nicht ausstehen kann. Der Gemüsehändler hatte ihm vor Jahren schon Hörner aufgesetzt, als an Plocher noch gar nicht zu denken
18. Adolf Patzer verbringt eine schlaflose Nacht, ihr war ein anstrengender Tag vorausgegangen; angenehm hätte das Frühstück bei Maria sein können, wäre nicht Paul Sämisch, ihr Mann, dabeigewesen. In Stralsund hatte er darauf bestanden, zu Protokoll zu geben, daß er nichts mit dem Toten in Finkenhain zu tun hatte; nachmittags sagte man ihm, daß er nach Poldam überstellt werden würde. Er erinnert sich an Sämischs Abschiedsworte, die ein Unbehagen hinterließen: „In was sind Sie da reingeraten, Herr Patzer?“ Im Dienstwagen von Stralsund nach Poldam schlief er. Bis Montag würde er die Gastfreundschaft in Anspruch nehmen müssen, hatte der Schließer verkündet,
dennoch wurde er schon am heutigen Sonntagmorgen von zwei Kriminalisten abgeholt. Jetzt sitzt Patzer in einer Zelle. Das vergitterte Fenster unter der Decke besitzt außen eine Sichtblende. Er hockt auf dem Schemel und grübelt über Sämischs Äußerung nach; wie meinte der das, er wäre in etwas hineingeraten? Dieses Etwas läßt ihn nicht los. Was kann noch schlimmer sein, als einen Toten zu finden und für dessen Mörder gehalten zu werden? Er spürt, daß etwas Bedrohliches auf ihn zukommt. Adolf Patzer ist sich gar nicht mehr so sicher, ob es richtig war, zu Maria zu fahren. Irgendwann am Vormittag bekommt er Malzkaffee und zwei Scheiben Brot, eine mit Marmelade, die andere mit Leberwurst. Der Wachtmeister erklärt, daß er außer einem Stammkunden in der Ausnüchterungszelle der einzige Gast des Hauses sei. Patzer zwingt sich, das Wurstbrot zu essen, wird danach von einem Wachtmeister abgeholt, der ihm eine Kette um das rechte Handgelenk legt. Patzer protestiert, er laufe nicht davon. Es sei Vorschrift, erklärt der Volkspolizist und führt ihn einen Gang entlang, an offenen Zellentüren vorbei. Die Schritte hallen hohl von den Wänden wider. Sein Begleiter öffnet eine Gittertür, danach eine hölzerne. Sie sind nun in dem Gebäudetrakt, in dem sich die Büros befinden. Sie steigen zwei Stockwerke empor und passieren einen Vorplatz. An der Wand hängt ein Foto mit schwarzem Trauerflor. Patzer liest den Text darunter: „In Ausübung seines Dienstes starb unser Genosse Oberleutnant Dieter Boltin. Sein Tod ist uns Verpflich-
tung!“ Patzer bleibt wie angewurzelt vor dem Porträt stehen. Das Gesicht ist ihm im Profil zugewandt, wie jenes, das vor ihm am Boden lag. Es ist jenes! Es gibt keinen Zweifel! Der Tote in Finkenhain war dieser Oberleutnant Boltin. Blitzartig bekommen alle ihm bisher unverständlichen Geschehnisse einen Sinn: Hauptmann Sämischs Worte und die Tatsache, daß man ihn nicht bis Montag in Stralsund behielt. Der Wachtmeister, der ihn an der Kette führt, scheint ahnungslos zu sein, er blickt auf das Foto, danach auf den Häftling. „Kannten sie ihn?“ „Wie? Ach so, nein. Nicht direkt, meine ich. Als ich ihn fand…“ Patzer bricht ab. In Rabes Dienstzimmer stimmen Major Strecker, Hauptmann Rabe und Leutnant Klose die Vernehmungstaktik ab. Was ist am besten geeignet, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Das ist die Frage. Das Stralsunder Protokoll enthält die Feststellung, daß Patzer über die Identität des Toten nicht informiert worden ist; ein Nachsatz fügt an, daß niemals der Eindruck entstand, daß er das Opfer persönlich kannte. „Die Befragung leitest du, Heinz“, eröffnet Strecker das Gespräch. „Der Fall wird dir vermutlich ohnehin übertragen.“ Heinz Rabe sieht Strecker überrascht an. „Ein Fernschreiben befiehlt mich morgen ins Ministerium. Ich habe dem Leiter empfohlen, dir den Fall zu überlassen.“ Rabe gibt zu, daß die Überraschung gelungen ist, falls dies Streckers Absicht gewesen war. Der Bürger Patzer wird vorgeführt. „Machen Sie das Ding ab“, befiehlt Rabe dem
Wachtmeister und deutet auf die Kette; zu Patzer sagt er: „Treten Sie vor und setzen Sie sich.“ Die Fragen nach den Personalien sind Routine. Die Kriminalisten mustern den Mann in dem grauen Anzug mit den rötlichen Nadelstreifen, er ähnelt verblüffend dem am Tatort erstellten Identi-Kit-Bild. Die Augen hinter den getönten Gläsern der Goldrandbrille blinzeln müde; unsympathisch wirkt Patzer nicht. Die abgesprochene Taktik sieht vor, zunächst die beiden Betrugsfälle zum Gegenstand zu machen, dabei aber jeden Bezug auf die in Stralsund protokollierten Geständnisse zu vermeiden. Es wird festzustellen sein, ob Patzer von seinen dortigen Aussagen abweicht. Danach wird man von dem beabsichtigten dritten Betrug in Finkenhain sprechen und den Fall Boltin vom Anfang her aufrollen. Patzer bemüht sich, alle Fragen zufriedenstellend zu beantworten; dabei fällt aber seine zunehmende Nervosität auf. Er ist intelligent und scheint das Vernehmungskonzept zu erahnen; die Vorhaltungen muten ihn wohl an wie ein Geplänkel vor dem eigentlichen Angriff. „Darf ich Ihnen sagen, wie sehr es mich erschüttert, daß der Tote ein – ein Oberleutnant der Volkspolizei war? Es – tut mir sehr, sehr leid. Ich habe nichts, absolut nichts damit zu tun.“ Patzers Ausbruch bringt zwar die Vernehmungstaktik aus dem Konzept, beeindruckt aber die Kriminalisten keineswegs. „Sie irren! Selbstverständlich sind Sie der Anlaß“, widerspricht Hauptmann Rabe, erwähnt aber nicht, daß Boltin vorhatte, Patzer als Trickbetrüger zu
entlarven. „Woher und seit wann wissen Sie, wer der Tote ist?“ „Ich – ich habe eben das Foto auf dem Gang gesehen!“ Der neben der Tür auf einem Stuhl sitzende Wachtmeister ist unschlüssig, ob er es bestätigen soll; er ist gewohnt, nur auf Fragen zu antworten. So beschränkt er sich darauf, bestätigend zu nicken. In Rabe regen sich Zweifel. „Sie haben den Toten auf dem Foto erkannt, obwohl er Uniform trägt?“ „Ja, sofort!“ antwortet Patzer, der den Zweifel in Rabes Stimme heraushört. „Wie war das denn?“ fragt Strecker. „Wie fanden Sie den Toten auf?“ „Er lag am Boden, das Gesicht auf der linken Seite.“ „Ist es nicht so“, fragt Rabe eindringlich, „daß Sie Oberleutnant Boltin nur deshalb auf dem Foto zu identifizieren vermochten, weil sie ihm vorher von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden?“ Mit eckigen Bewegungen erhebt Patzer sich vom Stuhl und starrt entsetzt auf Rabe, danach auf Strecker und Klose. „Setzen Sie sich!“ fordert der Major. Patzer kommt der Aufforderung hastig nach. Rabe und Strecker verständigen sich flüsternd. Die Befragung läuft in eine andere als die geplante Richtung, aber Patzers spontaner Einwurf verkürzt sie, und das ist ihnen recht. „Wir fahren nach Finkenhain!“ verkündet Rabe. „Sie werden uns dort zeigen, wo und wie Sie den Toten fanden.“ „Fühlen Sie sich dazu in der Lage?“ fragt Strecker. „Oder möchten Sie, daß wir vorher eine Pause einlegen?“
„Wir würden das durchaus verstehen“, ergänzt Rabe, „sicher sind Sie noch nicht viel zum Schlafen gekommen.“ „Bitte keine Pause“, antwortet Patzer. Die Fahrt nach Finkenhain verläuft schweigend. Neben Busche, dem Fahrer des Wolga, sitzt Strecker, hinten sind Rabe und Klose eingestiegen, Patzer sitzt zwischen ihnen. „Wir brauchen eine Decke, Genosse Busche!“ fordert Rabe, als sie in Finkenhain vor dem Grundstück Parkaue zwölf aussteigen. Busche holt sie aus dem Kofferraum und gibt sie Klose. Die Männer betreten den Garten, und Rabe geht voraus; er bleibt stehen und wendet sich an Patzer: „Stellen Sie sich vor, es ist jener Freitagabend. Wie spät war es?“ „Etwa zehn Minuten nach sieben“, antwortet der Gefragte. Die Umgebung läßt ihn nicht unberührt, er putzt nervös seine Brillengläser. „Also, Freitagabend, neunzehn Uhr zehn“, wiederholt Rabe. „Tun Sie alles so wie vor zwei Tagen. Jede Kleinigkeit ist von Bedeutung.“ Patzer läuft zögernd den Gartenweg entlang und bleibt vor den Koniferen stehen, die den Platz vor dem Schuppen verdecken. „Weshalb blieben Sie vorgestern hier stehen?“ fragt Strecker. „Nein, hier nicht“, wehrt Patzer ab. „Dort erst, hinter den Koniferen.“ „Dann tun Sie’s auch jetzt!“ fordert Rabe. Patzer geht die wenigen Schritte und verharrt neben einem Taxusstrauch. „Hier war es, hier blieb ich stehen und…“
„Wo war Oberleutnant Boltin?“ fragt Strecker. „Ich dachte, wo bleibt denn Herr Miete nur? Dann sah ich, daß dort jemand lag!“ Die Erinnerung nimmt ihn mit, er tupft seine Stirn. „Wo genau? Zeigen Sie es“, sagt Rabe und kämpft vergeblich gegen einen Rest von Mißtrauen an. Boltins Foto in Uniform mußte doch die Erkennung wesentlich erschwert haben! Patzer bleibt stehen und zeigt stumm auf den Boden. „Manfred!“ ruft Rabe. Er ist sich der makabren Seite des Planes bewußt. Klose nickt und breitet die Decke dort aus, wo Patzer es zeigt. Rabe und Strecker registrieren, daß es die richtige Stelle ist. „Herr Patzer“, erklärt Rabe, „der Genosse Leutnant nimmt jetzt mit Ihrer Hilfe jene Haltung ein, in der Sie den Toten entdeckt haben.“ „Konzentrieren Sie sich“, verlangt Strecker. „Jedes Detail ist wichtig.“ Patzer nickt stumm; er weiß nun, wieviel von seinem Erinnerungsvermögen abhängt und gewinnt einen Teil seines Selbstvertrauens zurück. Es ist seit jeher eine seiner Stärken, sich nach Tagen noch an Einzelheiten einer Konstruktionsskizze zu erinnern. Gerade diesen Teil des Planes hatten Strecker und Rabe zuvor ausführlich diskutiert. Sie gehen davon aus, daß der Täter in Panik geraten war und sich dementsprechend verhielt. Dafür gibt es Anhaltspunkte: Er ließ das Taschenfutter seines Opfers umgestülpt, lief mit dem Tatwerkzeug in der Hand bis zur Gartentür und schleuderte die Eisenstange dort erst auf das Nachbargrundstück. Den überzeugendsten Beweis lieferte das Tatortfoto: Die extreme Vergrößerung verrät,
daß der am Boden Liegende noch Reflexbewegungen ausführte, bevor sein Körper reglos wurde, das zeigen die Schleifspuren. Zu dieser Zeit war der Täter längst fluchtartig davon gehastet. Patzer hockt sich neben dem auf der Decke liegenden Leutnant und korrigiert dessen Kopf-, Arm- und Beinhaltung. Nun liegt Klose auf dem Bauch, die Arme sind angewinkelt nach vorn gerichtet, als hätte er einen Fall vorwärts abgefangen. Das linke Bein ist ausgestreckt, das rechte angezogen. Das Gesicht ruht auf der linken Seite. Adolf Patzer richtet sich auf, tritt zurück und schüttelt unmerklich den Kopf. „Haben Sie ihn so gefunden?“ fragt Rabe. „Ja und nein. So lag er da, das ist richtig, aber irgend etwas ist anders gewesen. Ich komme nur nicht darauf.“ „Vielleicht betrifft es die Bekleidung?“ hilft Strecker. „Was trug Oberleutnant Boltin?“ „Eine helle Hose und eine dunkle Jacke“, antwortet Patzer. „Die Jacke!“ wiederholt er hastig. „Nein, nicht die Jacke, nur die Tasche! Das Taschenfutter war herausgestülpt!“ Klose wendet sein rechtes Taschenfutter nach außen und Rabe hält es mit der Sofortbildkamera fest. Es dauert drei Minuten, dann ist das Foto entwickelt und zeigt die nahezu hundertprozentige Übereinstimmung mit dem Tatortfoto. Es beweist, daß Patzer Boltin erst zu Gesicht bekam, nachdem dessen Gliedmaßen zur Ruhe gekommen waren, zu einer Zeit also, da der Täter vermutlich längst geflüchtet war. Hinzu kommt, daß Patzer, wie vom Busfahrer bestätigt wurde, diesen grauen Anzug trug, der Täter aber mit Jeans
bekleidet gewesen sein mußte. „Gehen Sie zum Wagen, Herr Patzer“, sagt Rabe und gibt damit zu verstehen, daß dieser sich als vom Tatverdacht befreit ansehen darf. „Angenommen, er hätte sich nicht an das Taschenfutter erinnert?“ wendet Rabe sich an Strecker. „Das änderte nichts an der Tatsache, daß er die knabenhafte Schuhgröße achtunddreißig besitzt, von der es lediglich die beiden Abdrücke neben dem Toten gibt, aber keine beim Schuppen, wo eine Rangelei stattfand.“ „Noch mal zum Taschenfutter: Der Bürger Miete oder sonstwer könnte ja Boltins Jackentasche gefilzt haben, nachdem Patzer fort war?“ erwägt Klose, schüttelt die Decke aus und legt sie zusammen. „Mensch, Manfred“, sagt Rabe vorwurfsvoll. „Du hast Einfälle!“ „Durchaus reale“, bestätigt Strecker. „Patzer muß mit der Entlassung trotzdem bis morgen warten, denn ehe die Formalitäten…“ „Kommt nicht in Frage“, unterbricht ihn Rabe, „keine Stunde länger. Das verantworte ich.“
19. Hansi Gäde erlebt einen Sonntag, wie er ihn mag. Vati und er schlafen im breiten Ehebett und beginnen den Tag mit einer Kissenschlacht; ein Kopfkissen platzt, und sein Inhalt wirbelt durch die Stube. Vati schimpft nicht etwa, sie lachen beide, daß ihnen die Tränen über die Wangen kullern und beseiti-
gen nach dem Frühstück gemeinsam die Kampfspuren. „Was machen wir jetzt?“ fragt Gäde, nachdem sie das Geschirr gespült haben. „Wir fliegen nach Mulawien!“ antwortet Hansi. Zwei hintereinandergestellte Stühle sind das Flugzeug, und Hansi erzeugt mit dem Mund das Düsengeräusch; Vati ist nie Spielverderber. Nach der Landung tragen sie jeder einen Handtuchturban und einen weißen Lakenumhang – wie die Mulawier. Im Schneidersitz auf dem Teppich hockend, einigen sie sich auf die Besonderheiten des exotischen Landes; sie beginnen mit der Sprache: Bei den Mulawiern dominiert in der ersten Silbe jeden Wortes das O. „Großer Voter“, sagt Hansi, „loß ons hör rosten.“ Daß aus rasten rosten wird, erheitert sie, und Hansi sprüht vor neuen Einfällen. Mit Onkel Dieter konnte er nie so spielen. Hansi entdeckt dann auch eine verblüffende Eigenschaft der Mulawier: Sie können nicht lügen. Auf jede Frage antwortet ein Mulawier wahrheitsgemäß. „Mochtest do, großer Voter, doß Honsi ommer bo dor blobt?“ „Na klar, Jungchen“, antwortet Herbert Gäde, aber nicht in der Landessprache. Die Zeit verrinnt, und Vater und Sohn werden des lustigen Palavers nicht müde. Der Zwang, auf jede Frage wahrheitsgemäß zu antworten, verführt dazu, ihnen Realität unterzulegen. Hansi fragt ernsthafter, als es dem Spiel anstünde: „Host do mone Motti noch lob?“ Gäde starrt Hansi betroffen an, es ist nicht nur dahin-
geredet, der Junge wartet auf Antwort. „Ja, Hansi, ich habe sie immer noch lieb“, sagt er. Auch Hansi vergißt die exotische Sprache und fragt, ob Vati wieder zur Mutti ziehen will, in die neue Wohnung im achten Stock mit dem Balkon voller Geranien und Petunien? „Ja, Hansi, das wäre schön!“ Gäde wischt sich verstohlen über die Augen. Hansi will seine Mutti fragen, ob sie Vati noch lieb hat und wieder mit ihm Zusammensein will. Ungeduldig denkt er daran, daß sie ihn erst am Nachmittag holt. Gäde löst den Handtuchturban, Hansi tut es ihm nach, und beide legen auch den weißen Umhang ab; ihnen fällt nichts ein, was die heitere Unbefangenheit zurückzuholen vermochte. „Wir essen ein Schokoladeneis“, sagt Gäde, „und dann braten wir Buletten.“ Buletten braten macht Spaß, dabei darf Hansi helfen. In der Küche klappert Geschirr, und Hansi hört das „Plopp“, als der Kühlschrank geöffnet wird, danach plätschert ein Getränk. Die Tür zur Küche ist nur angelehnt, und Hansi sieht durch den Spalt, daß Vati keine Cola trinkt, nicht einmal Bier, er gießt wasserhellen Schnaps aus der Flasche ins Glas ein. Gäde gießt es voll, gewöhnlich trinkt er Bier daraus, und leert es in einem Zuge. Er stöhnt genüßlich und füllt es noch einmal. Hansi tritt auf die Schwelle, beobachtet den Vater mit gekrauster Stirn und lauert darauf, ob er wohl auch das zweite Glas leert. Herbert Gäde entdeckt seinen Jungen und lacht verlegen. Seine Augen leuchten wieder so fröhlich wie in Mulawien, aber es ist eine andere, nicht so herzliche
Fröhlichkeit. Vater trinkt auch das zweite Glas leer, wischt über den Mund und rülpst; das tut er sonst nie. „Das ist nichts für dich, mein Junge“, sagt Gäde. “Ich weiß, das ist Schnaps“, antwortet Hansi und verzieht denMund so angewidert, wie Mutti es immer tat. Gäde setzt sich auf einen Stuhl und zieht den Jungen an sich. „Schnaps ist nichts Schlechtes“, behauptet er. „Es ist ein Zauberwasser. Es macht lustig, wenn man traurig ist. Es macht Sorgen kleiner und Freude größer. Es hilft Einsamkeit zu ertragen und macht Geselligkeit erst schön.“ „Das alles macht Schnaps?“ fragt Hansi ungläubig. „Ich sage doch, es ist ein Zauberwasser, aber nicht für Kinder.“ „Und für Krimis auch nicht“, ergänzt Hansi. Gäde starrt ihn verblüfft an. „Wie – wie kommst du denn darauf?“ „Onkel Dieter hat Schnaps getrunken und hat sich geschüttelt und hat ,pfui Teufel’ gesagt!“ „Wer weiß, was er getrunken hat?“ Gäde langt einen Eisbecher aus dem Kühlschrank und gibt ihn Hansi. „Iß aber nicht hastig, hörst du?“ Er klopft seine Taschen ab und ergänzt: „Ich geh rasch wegen Zigaretten!“ „In die Kneipe?“ fragt Hansi besorgt. „Be-bestimmt nicht“, versichert Gäde und vermeidet es, ihn anzusehen. „Ich ziehe welche vom Automaten an der Ecke.“ Die Wohnungstür klappt. Hansi geht zum Fenster und blickt auf den Hof hinab, sieht, wie der Vati ihn mit unsicheren Schritten überquert. Hansi ist neugierig, wieviel Eis noch im Kühlschrank sein
mag und zählt drei Becher. Aus der Schnapsflasche ist schon eine ganze Menge heraus. Die Flasche fühlt sich eiskalt an. Hansi dreht den Verschluß ab und riecht daran; es dringt ihm streng in die Nase und kribbelt bis in den Kopf. Das Zauberwasser! Hansi überkommt eine trotzige Entschlossenheit, er will wissen, ob es wirklich lustig macht. Seit sie aus Mulawien zurückgekehrt sind, ist er traurig. Er gießt Vatis Glas voll und stellt die Flasche wieder in den Kühlschrank zurück. Er setzt sich an den Tisch, führt das Glas an den Mund und kostet. Das Zauberwasser brennt auf den Lippen. Hansi schluckt, und sogleich fährt es ihm feurig bis in den Magen hinab. Danach leert er das Glas tapfer in einem Zuge, wie Vati es tat. Hansi schüttelt sich und hustet, wie Onkel Dieter damals. Doch was ihm nun geschieht, das vergißt er nie mehr in seinem Leben: Er glaubt zu ersticken. Der Atem stockt ihm. Ein glühendes Messer schneidet in seinen Leib. Er krümmt sich, nach Luft ringend, und Tränen schießen ihm aus den Augen. Der Mund brennt höllisch, sein Kopf droht zu zerspringen. Hansi ist keines Gedankens mehr fähig, legt seine Arme auf den Küchentisch und bettet den Kopf darauf; vor seinen Augen kreisen feurige Räder. Er hebt den Blick und sieht den Herd wie einen Kreisel tanzen, schwebt plötzlich selbst in der Luft und fühlt sich schwerelos. Dabei sind Arme und Beine aber aus Blei. Dann kippt er polternd mit dem Stuhl um. Gäde findet im Portemonnaie keine passenden Münzen und geht nun doch in die Kneipe. Natürlich trinkt
er etwas, bevor er Zigaretten kauft. Das Bier schmeckt nicht ohne einen Klaren dazu. Er weiß jedoch, er darf Hansi nicht enttäuschen. Gäde lehnt die Einladung an den Stammtisch ab, bezahlt und geht wieder. An der frischen Luft spürt er, daß er einen richtigen Rausch hat, und diese Einsicht ernüchtert ihn fast, als er daran denkt, daß Inge am Nachmittag kommt, um Hansi abzuholen. An die Wohnungstür klopft er vergeblich, Hansi öffnet nicht. Plötzlich besorgt, kramt er den Schlüssel aus der Tasche. Weshalb reagiert der Junge nicht? In der Küche liegt Hansi am Boden und lallt, aus seinen Mundwinkeln rinnt Speichel. Gäde hebt ihn auf, seine Arme und Beine baumeln schlaff herab; er trägt ihn in die Stube und legt ihn aufs Bett. Gäde ernüchtert vor Schreck und ergeht sich in Selbstvorwürfen. Hansi erlebt indes einen Vollrausch, Gäde kennt die Symptome nur zu gut und ist besorgt, daß der Alkohol dem Siebenjährigen schadet. Er schwankt, ob er ihn ins Krankenhaus schaffen soll. Der Gedanke, daß Inge den Jungen in diesem Zustand vorfindet, läßt ihn verzweifeln. Mit flatternden Händen brüht er Kaffee, nicht sicher, ob der Kreislauf des Kindes das „Gegengift“ verträgt. Er erwägt, einen Arzt anzurufen und anonym um Rat zu fragen, wie man mit einem betrunkenen, sieben Jahre alten Jungen zu verfahren habe. Hansis Gesicht ist schneeweiß. Gäde spricht Stoßgebete und weiß nicht, an wen er sie richten soll, er glaubt an keinen Gott, doch wäre ihm auch der Teufel als Verbündeter recht, wenn er nur dafür sorgte, daß
dem Jungen nichts geschieht. Ihm kommt ein vernünftiger Gedanke; Gäde bewirkt, daß Hansi den Mageninhalt erbricht. Danach kehrt ein wenig Farbe in das Gesicht des Jungen zurück. Hansi reagiert auf Ansprache, lallt aber unverständlich. Gäde ist gerührt vor Freude und muß etwas gegen den ausgestandenen Schrecken tun: Er geht schwankend in die Küche, sein Gesicht ist im Wandspiegel blasser als Hansis. Der Geruch von Erbrochenem macht ihn ganz krank; er langt die Schnapsflasche aus dem Kühlschrank, gießt das Bierglas voll und leert es. Inge Gäde verbringt den Sonntag mit Grübeln darüber, wie alles weitergehen soll. Die Vorhänge sind zugezogen, sie liegt bei Dämmerlicht auf dem Bett. Auf das Mittagessen verzichtet sie und ist froh, daß Hansi bei seinem Vater versorgt ist, bedauert nur die Absprache, den Jungen erst nachmittags zu holen. Wie wird Hansi den Tag mit seinem Vater verbringen? Sie erinnert sich an ein närrisches Spiel: eine Reise in irgendein Phantasieland. Herbert besaß immer einen engen Kontakt zu seinem Sohn, schon ehe der auf eigenen Beinen stand. Sie versucht sich in die Unternehmungen der beiden hineinzudenken. Hat Herbert den Vergaser repariert? Beim Basteln ist er geschickt. Ob der wirklich defekt war? Vielleicht sind beide irgendwohin gefahren? Das war der Anfang ihres Auseinanderlebens gewesen: Sie konnten sonntags nie etwas unternehmen, Herbert bestand auf seinem Frühschoppen. Er kam pünktlich zum Mittagessen, war aber wegen des genossenen Alkohols nie fahrtüchtig. Ob er wirklich nicht
mehr trinkt? Es fällt ihr schwer, daran zu glauben. Am Nachmittag trinkt sie auf dem Balkon Kaffee und findet es absurd, Hansi nur zweitausend Meter entfernt zu wissen und auf seine Nähe zu verzichten. Die auf siebzehn Uhr vereinbarte Abholzeit verlegt sie um eine Stunde vor und beschließt, ihn um sechzehn Uhr abzuholen. Aus dem Ecklokal dringt Gelächter. Sie geht an der offenen Tür vorbei, und der Gedanke, Herbert könne dort drinnen sein und Hansi allein in seiner Wohnung gelassen haben, beschleunigt ihre Schritte. Sie überquert den Hof und blickt verstohlen zu den Fenstern hinauf; trotz des sonnigen Wetters sind sie geschlossen. Die Klingel ist noch entzwei, Inge klopft an die Tür. In der Wohnung rührt sich nichts, auch nicht beim zweiten Klopfen. Die beiden sind irgendwohin gegangen, denkt sie enttäuscht. Sie will kehrtmachen, hört aber hinter der Tür ein Geräusch. Das findet sie seltsam. Nachdem sie noch heftiger geklopft hat, ist sie sicher, daß die Klappe am Guckloch bewegt wurde. „Herbert? Warum machst du nicht auf?“ ruft sie. Doch hinter der Tür bleibt es still wie vordem. Sie verharrt ratlos, daß eine Stunde an der verabredeten Zeit fehlt, ist kein Grund, ihr nicht zu öffnen. Ob dem Jungen etwas zugestoßen ist? Sie schluckt beklommen und faßt einen Entschluß: Erika Rabe wird ihr helfen! Inge hastet zur Telefonzelle. Erika meldet sich, und Inge schildert erregt, daß jemand in Gädes Wohnung sei, sich aber nicht meldet; nun sei sie total verunsichert. „Wo bist du, Inge?“ Sie beschreibt die Fernsprechzelle, und die Freundin
fordert, daß sie dort warten soll. Überraschend schnell stoppt Rabes blauer Wartburg neben ihr, und Inge steigt zu Erika ins Auto. Auf das Klopfen wird wieder nicht reagiert, aber Erika bestätigt, daß hinter der Tür ein Geräusch war. „Laß mich“, sagt sie, schiebt Inge zur Seite und donnert an die Tür, daß es durchs Treppenhaus dröhnt. „Kriminalpolizei! Öffnen Sie, Herr Gäde!“ Erst nach dreimaliger Aufforderung klirrt die Sicherheitskette, und im Türspalt erscheint Gädes blasses Gesicht mit in die Stirn herabhängendem Haar. „Inge –? Du -? ‘tschuldige, wir – wir schlafen ein bißchen. Ist es denn schon…?“ Weiter kommt er nicht, denn Inge drückt die Tür nach innen, und Gäde weicht zurück. Auch Erika Rabe drängt an ihm vorbei und spürt seine Alkoholfahne. Auf dem Küchentisch steht eine leere Schnapsflasche. In der Stube schlägt ihr der säuerliche Geruch von Erbrochenem entgegen; auf dem Bett liegt Hansi apathisch da. „Was hast du mit ihm gemacht?“ ruft Inge bestürzt und beugt sich über den Jungen. „Ich war Zi-zigaretten holen“, stammelt Gäde, „da hat er - hat er aus der Flasche…“ „Laß mich, Inge!“ Erika prüft die Reflexe des Kindes. „Wieviel hat er getrunken?“ herrscht sie Gäde an. Der zuckt die Schultern und meint, es könne ein Bierglas voll gewesen sein. „Mach dir keine Sorge“, flüstert Erika. „Hansi hat nur einen Rausch. Trotzdem fahren wir ins Krankenhaus.“ Inge nickt dankbar; froh, daß Erika so entschlossen handelt und keine Gefahr für den Jungen sieht. Sie mu-
stert Gäde verächtlich. Der steht mit hängenden Schultern da wie ein Häufchen Unglück und stammelt unverständlich, sucht nach Worten, die seine Schuld mildern, doch sein benebeltes Gehirn läßt ihn im Stich. Erika Rabe wendet sich ihm zu. „Ihnen ist wohl klar, daß Sie das Kind nie mehr anvertraut bekommen?“ Gäde starrt Inges Begleiterin ungläubig an, seine Augen weiten sich entsetzt, aus seinem Gesicht weicht jeder Rest von Farbe. „Das – das können Sie doch nicht machen.“ „O doch! Der Bericht geht an das Referat Jugend beim Rat der Stadt! Alles weitere veranlaßt man dort!“ Inge trägt den Jungen auf den Armen, Erika nimmt den Beutel mit den paar Sachen an sich. Gädes Gesicht verzerrt sich wütend, er stolpert zu dem Schränkchen hin, in dem er Hansis Spielsachen verwahrt, reißt sie auf den Boden heraus und tritt mit den Füßen darauf herum. „Die brauche – ich dann – nicht mehr!“ Inge starrt entsetzt auf den Tobenden; so außer Kontrolle geraten, hat sie ihn noch nie erlebt. Der Wutanfall geht so rasch vorüber, wie er kam. Das letzte, was Inge von ihrem geschiedenen Mann sieht, bevor Erika die Tür schließt, ist, daß er schluchzend inmitten der zerbrochenen Spielsachen auf dem Boden kauert.
20. Am Montagmorgen wird Hauptmann Rabe zum Leiter der „Sonderkommission Boltin“ befohlen. Oberst Winter hat ein zur Renovierung vorgesehenes Dienstzimmer bezogen, nachdem es
notdürftig wieder möbliert worden war. Rabe muß warten; hinter der gepolsterten Tür hört er unterschiedliche Stimmen. Dann wird sie geöffnet, vier Kriminalisten verlassen den Raum und grüßen flüchtig. Rabe erwidert es und blickt in fremde Gesichter. Oberst Winter steht auf der Schwelle. „Guten Morgen, Genosse Rabe. Setzen Sie sich bitte. Kommen wir gleich zur Sache; der General befiehlt täglichen Bericht des Ermittlungsstandes. Zuvor etwas Organisatorisches: Major Strecker war für heute ins Ministerium beordert. Der Befehl ist wegen des Falles Boltin zurückgenommen worden. Trotzdem kommt Streckers Vorschlag zum Zuge, Sie mit der Leitung der MUK zu beauftragen.“ Rabe blickt überrascht auf den Oberst. „Ich verstehe nicht“, sagt er. „Genosse Strecker ist heute nacht mit einer Gallenkolik ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert worden. Vermutlich kommt er noch am Vormittag unters Messer.“ „Das – das tut mir leid, aber damit war zu rechnen.“ „Frage an Sie: Fühlen Sie sich der Aufgabe gewachsen? Vor allem im Hinblick darauf, daß Sie mit Oberleutnant Boltin befreundet waren?“ „Gerade weil wir Freunde waren, Genosse Oberst, werde ich alles daransetzen…“ „Das ist meine Überlegung auch“, unterbricht ihn Winter. „Nun zum Fall: Was gibt es Neues?“ „Unsere erste Vermutung, der Betrüger sei der Täter, ist gegenstandslos geworden.“ Winter hört sich Rabes Bericht aufmerksam an, ohne ihn zu unterbrechen, macht nur einige Notizen. „Gibt
es weitere Versionen?“ „Ja. Raubmord scheidet als Motiv aus; als naheliegend böte sich persönliche Feindschaft an, also Haß.“ „Dem stimme ich zu. Eine Gruppe der Sonderkommission ist dabei, das private Umfeld Boltins auszuforschen. Die Schlüsselfrage lautet: Wer wußte, daß er vorhatte, nach Finkenhain zu fahren?“ „Eine weitere Hypothese lautet: Sollte eine andere Straftat verschleiert, beziehungsweise ihre Aufdeckung verhindert werden? Dazu ist interessant, daß Genosse Boltin sich eine vier Jahre alte Ermittlungssache aus dem Archiv hatte kommen lassen. Es war übrigens Boltins erster selbständiger Fall gewesen. Mir gegenüber hatte er geäußert, daß diese alte Strafsache unter Umständen neu verhandelt werden müsse.“ „Bleiben Sie dran, Genosse Rabe. Und lassen Sie es mich sofort wissen, wenn Sie fündig werden und falls Sie Verstärkung brauchen. Nun zu Ihrer Information: Es gibt da noch eine Version, die ich für bemerkenswert halte. Sie betrifft den Ladafahrer, der Genosse Boltin in der Smetanastraße fast gerammt hätte. Trotz des Sonntags haben gestern vier Gruppen recherchiert. Hier das Resultat.“ Oberst Winter entfaltet einen engbeschriebenen Bogen und liest die Fakten vor: „Von dreiundsiebzig aufgesuchten Haushalten, deren Fenster und Balkons zur Smetanastraße und zu der diese kreuzenden Schubertstraße hinausgehen, wurden in vierundvierzig Fällen die Bewohner angetroffen. Es wurden drei Augenzeugen des Vorfalles ermittelt.“ Der Oberst steht auf und tritt zur an der Wand hängenden schwarzen Tafel. Die
Kreideskizze darauf zeigt die Kreuzung Smetana/Schubertstraße. „Der Zeuge Nummer neunzehn hat den Vorfall von seinem Balkon aus beobachtet und bestätigt die Aussage des Zeugen…?“ „Wachsmann.“ „Richtig. Noch wichtiger ist die Beobachtung der Zeugin vierunddreißig in der Schubertstraße.“ Winter benutzt einen Zeigestock und erklärt die Positionen, „Die Bürgerin war dabei, Gardinen anzubringen, als ihr ein weißer Lada auffiel, der die Schubertstraße langsam entlangfuhr, plötzlich aber so stark beschleunigte, daß die Reifen kreischten. Er stieß dann fast mit dem gelben Trabant aus der Smetanastraße zusammen. Nun das Widersprüchliche. Die Zeugin will zweifelsfrei gesehen haben, daß nicht nur der Trabantfahrer dem Zusammenprall auswich, sondern daß auch der Lada nach links gerissen wurde. Das bestätigt der Zeuge Nummer acht, ein zwölfjähriger Oberschüler.“ Der Oberst wirft den Zeigestock auf den Schreibtisch und kehrt in den Sessel zurück. „Das bedeutet ja“, gibt Rabe zu bedenken, „daß kein vorsätzlicher Zusammenstoß beabsichtigt war. Bisher gingen wir davon aus, daß es ein gezielter Anschlag auf Genossen Boltin gewesen war.“ „Vielleicht bekam der Ladafahrer in letzter Sekunde das große Fracksausen? Er wäre auch nicht unverletzt davongekommen.“ „Er könnte dann Genossen Boltin nach Finkenhain gefolgt sein“, erwägt Rabe. „Auf jeden Fall ist er verdächtig. Was haben Sie als nächstes vor?“
„Die Akte durchzusehen, die Oberleutnant Boltin aus dem Archiv hat kommen lassen.“ „Es kann auf keinen Fall schaden. Stimmt es, Genosse Rabe, daß Ihre Freundschaft mit Boltin auch Ihre Gattin einschloß und diese Frau…?“ „Gäde! Ja, das ist richtig.“ Der Oberst fordert eine charakterliche Einschätzung Inge Gädes und erklärt danach, daß sie mit dem übereinstimmt, was bisher recherchiert worden ist. Wobei verständlicherweise Rabes Schilderung ein wenig emotionell gefärbt war. „Sagen Sie“, fragt Winter, „wie war das Verhältnis Boltins zu dem geschiedenen Mann der Gäde?“ „Sie hatten, soviel mir bekannt ist, kaum persönliche Kontakte. Allerdings hatte Dieter geäußert, daß der siebenjährige Sohn sehr an seinem Vater hängt und daß es dadurch schwierig für ihn ist, den Kontakt zu dem Kind zu vertiefen. Sehen Sie in Gäde einen Tatverdächtigen?“ „Gäde ist Alkoholiker“, antwortet Winter ausweichend, „und damit ein Unsicherheitsfaktor, vergessen Sie das nicht, lieber Rabe!“ In sein Zimmer zurückgekehrt, vertieft Rabe sich in die Akte Gerhard Simon. Er blättert in den angegilbten Seiten und stößt wieder auf den Zettel mit der Telefonnummer. Wie gelassen klang am Sonnabend seine gegenüber Klose gemachte Feststellung, daß es noch einmal bei Null anzufangen gälte. Wie richtig er damit lag, bewies die gestrige Befragung Patzers und dessen Verhalten am Tatort. Rabe dreht den Zettel zwischen den Fingern. Die von
dem Bürger Miete gewiesene Spur war endgültig abgehakt; die zweite, den Rentner Wachsmann betreffend, endete ebenfalls in einer Sackgasse, dennoch glaubt Rabe, daß der „Beinaheunfall“, trotz der neuesten Erkenntnisse, mit dem an Dieter Boltin begangenen Verbrechen im Zusammenhang gesehen werden muß. Heinz Rabe kippt den Stuhl nach hinten und wippt auf zwei Beinen, eine gefährliche Unart. Dann gibt er sich einen Ruck und wählt die fünf Ziffern, die auf dem Zettel stehen. Vielleicht führen sie auf eine neue Spur? Am anderen Leitungsende ertönt das Rufzeichen. Danach meldet sich eine sonore Stimme: „Handwerkskammer, Raschke.“ Rabe meldet sich mit seinem Dienstgrad und fragt, ob Raschke sich an einen Anruf Oberleutnant Boltins erinnert? „Doch, ja. Das war vorige Woche Dienstag oder Mittwoch. Dienstag war’s, er kam dann zu uns.“ „Das tue ich am besten auch. Zuvor eine Frage: Für welches Sachgebiet sind Sie zuständig?“ „Für das Kfz-Handwerk“, antwortet der Sachbearbeiter. Nachdenklich legt Rabe den Hörer auf. Simon ist zwar Kfz-Schlosser, doch er arbeitet in der Werkstatt des volkseigenen Kraftverkehrs. Die haben sicher nichts mit der Handwerkskammer zu schaffen. Wo besteht da ein Zusammenhang? Eine halbe Stunde später sitzt er dem Sachbearbeiter Raschke gegenüber, einem Mann Anfang Fünfzig mit Halbglatze und Bauch. Der ist sofort im Bilde, was Boltins Anruf betrifft. „Ihr Genosse wollte wissen’’, erklärt Raschke, „welche Schrottmengen die Kfz-Werkstatt Heise in der Gadeberger Straße in den Jahren neunundsiebzig, acht-
zig und einundachtzig geliefert hat.“ Rabe überlegt und weiß nicht zu sagen, welche Auskunft er erwartet hat, doch die erteilte sagt ihm nichts. In der Akte Gerhard Simon wird die Werkstatt Heise nicht erwähnt. „Hat Genosse Boltin gesagt, zu welchem Zweck er die Angaben benötigt?“ Da Raschke ihn neugierig mustert, fügt Rabe hinzu: „Wir können Oberleutnant Boltin zur Zeit nicht befragen.“ „Es gehe um eine ältere Ermittlungssache, sagte er.“ Der jüngere Mitarbeiter, der mit Raschke das Zimmer teilt, folgt interessiert dem Gespräch. Daß Dieter sich so offen geäußert hat, wundert Rabe. Das war weder üblich noch Dieters Art. „Hat er Näheres über diesen Fall gesagt?“ Etwas in Rabes Stimme signalisiert Raschke, daß sein Besucher Boltins Offenherzigkeit mißbilligt, und er antwortet eilig: „Nein, nein, das hat er nicht.“ Auch Raschkes Mitarbeiter erklärt abschwächend: „Der Oberleutnant hätte zu uns wohl gar nichts gesagt, hätten sich Herr Raschke und er nicht gut gekannt.“ Rabe ist überrascht, weniger über den Fakt, daß Boltin und Raschke Bekannte waren, sondern darüber, daß es Raschke unangenehm ist, dies zu erwähnen. Die Merkwürdigkeiten nehmen zu, findet Rabe. „Von gut kennen, ist keine Rede“, wendet Raschke sich gleichzeitig an Rabe und seinen Kollegen. „Wir wohnen im selben Haus, das ist alles. Das stellten wir aber erst fest, als er hier war.“ Weshalb wohl liegt ihm daran, überlegt Rabe, seine Bekanntschaft mit Dieter herunterzuspielen? Die Antwort kann nur lauten, daß er sich einer Unkorrektheit
bewußt ist und diese vertuschen will; aber welcher Art könnte sie sein? Rabe grübelt vergeblich. „Welche Auskunft gaben Sie Oberleutnant Boltin?“ fragt er. „Ich habe ihm die gelieferten Schrottmengen genannt.“ „Der Oberleutnant hat die Zahlen aufgeschrieben und war ziemlich erstaunt“, erklärt der jüngere Kollege. „Mensch, Weihe, erzähl keinen Kohl, von wegen erstaunt!“ fährt Raschke ihn ärgerlich an. „Gestatte mal, hier saß ich wie jetzt auch, und der Oberleutnant schüttelte den Kopf und sagte: ,Das ist ‘n Ding!’ Stimmt das etwa nicht?“ Es klingt kampflustig. Raschke zeigt aber keine Neigung, darüber zu streiten, und winkt ab. „Worüber war Genosse Boltin erstaunt?“ wendet Rabe sich an Weihe. Raschke kränkt es, daß der Hauptmann den Kollegen für kompetenter hält, und er antwortet an dessen Stelle: „Die Werkstatt Heise hat als einzige des Bezirkes in diesen Jahren das Schrottsoll doppelt erfüllt.“ „Wobei man hinzufügen muß“, ergänzt Weihe, „daß alle anderen mit der Sollerfüllung zu knabbern haben.“ Hauptmann Rabe erfährt, daß der in den Werkstätten anfallende Schrott mit einer Sollkennziffer belegt wird. Verschrottet eine Werkstatt die doppelte Menge, heißt das, es wurden dort mehr Teile durch neue ersetzt als woanders. „Sagen Sie, Herr Raschke, haben Sie mit dem Inhaber der Werkstatt darüber gesprochen, daß die Kripo sich für die Schrottmengen interessiert?“ Raschke wirft Weihe einen unzufriedenen Blick zu, und Rabe ist überzeugt, daß er in Abwesenheit des an-
deren die Frage verneinen würde. Weihe starrt Raschke an, als warte er darauf, ihn Lügen zu strafen. Der Sachbearbeiter rutscht auf seinem Stuhl umher und reibt nervös seine Halbglatze. „Doch, ja, ich habe es erwähnt. Schließlich interessiert es mich, wie Heise das schaffte, wo doch die andern…“ Das Telefon unterbricht ihn, Raschke hebt ab und meldet sich. So eifrig, wie er sein sofortiges Kommen zusichert, muß der Anrufer übergeordnet sein. Raschke klemmt eine Akte unter den Arm und meint unschlüssig: „Sie entschuldigen mich? Das war ja wohl alles, was Sie zu wissen wünschten?“ Er reicht Rabe die Hand. „Lassen Sie sich nicht aufhalten“, Rabe winkt ab. „Was ich noch wissen möchte, erfahre ich sicher von Herrn Weihe.“ Raschke geht unzufrieden, und Rabe wendet sich an seinen Mitarbeiter. „Hat Ihr Kollege im Zusammenhang mit der Werkstatt Heise etwas zu erwähnen vergessen?“ „Das dürfen Sie laut sagen, Genosse Hauptmann!“ versichert Weihe. „Er hat nicht gesagt, wie besorgt er Ihren Kollegen gefragt hat, ob da etwas auf Heise zukäme?“ „Ach, hat er das? Und was sagte Oberleutnant Boltin darauf?“ „Nein, nein, meinte der, das sei keine richtige Ermittlung. Er wäre nur durch Zufall darauf gestoßen und eruiert mehr privat.“ „Und was sagte Kollege Raschke?“ „Erst mal nichts, als aber der Oberleutnant weg war, ich war kurz rausgegangen, da hat er prompt mit Heise telefoniert. Ich habe nicht alles verstanden, nur so viel,
daß er abends vorbeikäme.“ „Soso, wann war das?“ „Vorigen Mittwoch.“ „Noch eine Frage, Herr Weihe: Mögen Sie Ihren Kollegen nicht?“ „Ich kann ihn nicht ausstehen, er mich aber auch nicht, weil ich es ihm sage, wenn er Mist baut. Ich kann Radfahrer nicht leiden: Oben krummer Buckel und unten treten.“ Rabe bedenkt Weihe mit einem Händedruck, den dieser erwidert. In seinem Dienstwartburg läßt Rabe sich Zeit, ehe er den Zündschlüssel dreht, und grübelt, er kommt aber überhaupt nicht darauf, was die Werkstatt Heise wohl mit dem Schlosser Simon verbindet. Oder wurde bei Heise nebenher „ohne Rechnung“ repariert, und Simon half dabei? Das erklärte dann auch die hohe Planerfüllung bei Schrott. Sprach Dieter nicht davon, daß der alte Fall vermutlich neu verhandelt werden müsse? Wie denn, wenn Simons sechs Autodiebstähle, für die er bestraft wurde, nur die Spitze eines Eisberges darstellten? Heinz Rabe hat das Gefühl, einen Faden aufgehoben zu haben, den er nicht mehr aus der Hand geben darf, Als er den Zündschlüssel dreht, kennt er sein nächstes Ziel: Der volkseigene Kraftverkehr, wo Simon wieder in seiner früheren Brigade arbeitet. Hauptmann Rabe parkt vor dem Büro-Flachbau. Aus dem Betriebsgelände rollt ein Lastzug auf die Straße und zieht eine Staubfahne hinter sich her. Es sind nur wenige Fahrzeuge abgestellt, am Montagvormittag rollen die Räder. Rabe geht an der Ehrenwand vorbei mit den sechs überlebensgroßen Porträts, die als „unse-
re Besten“ ausgewiesen sind. Er ahnt nicht, daß er gleich einem von ihnen gegenübersteht: Rudolf Schreiter, dem Brigadier in der Werkstatt. Der Pförtner weist ihm den Weg zur Reparaturhalle. Aus der schwülen Wärme tritt er in die kühle Halle, die verlassen daliegt; es ist Frühstückszeit. Über den zwei Dutzend Arbeitsgruben stehen Lastkraftwagen, die repariert werden. Wo Hunderte von Fahrzeugen im Einsatz sind, fallen Reparaturen an. Rabe atmet den Geruch von Öl, Benzin und Abgasen. An der Hallenwand schrillt eine Klingel und verkündet das Pausenende. Aus den Aufenthaltsräumen drängen Männer in blauen Arbeitsanzügen herein; und die gespenstisch stille Halle ist plötzlich von Leben erfüllt. Da klirren Werkzeuge, brummen Bohrmaschinen, schleift kreischend Metall an Metall. Bei den Schlossern sind alle Jahrgänge vertreten; Rabe mustert sie und versucht, Simon nach dem verblaßten Foto in der Akte herauszufinden. Doch er bemüht sich vergeblich; ein älterer Kollege begrüßt ihn, und Rabe erkennt ihn von seinem Porträt an der Ehrenwand. „Ich möchte den Kollegen Simon sprechen“, erklärt Rabe nach der Begrüßung, und nachdem er sich ausgewiesen hat. „Da kommen Sie umsonst, Genosse Hauptmann“, sagt Schreiter. „Simon ist krank, ein Motorradunfall!“ Hauptmann Rabe ist enttäuscht, er hatte gehofft, daß die Befragung ihn weiterbringt. Aus reiner Routine fragt er: „Wann war denn der Unfall?“ „Freitagabend. Nicht schlimm, aber mit ‘ner verstauchten Hand.“ Am Freitagabend, denkt Rabe.
„Liegt etwas gegen Gerhard vor?“ fragt Schreiter besorgt. „Sie werden verstehen, daß ich frage, wir bürgen nämlich für ihn. Kommen Sie, gehen wir nach draußen, hier wird es jetzt ungemütlich.“ Sie treten ins Freie hinaus und empfinden die Wärme dort als angenehm. „Um auf Ihre Frage zurückzukommen“, sagt Rabe, „es liegt nichts gegen Simon vor. Ich möchte ihn kennenlernen, eine Akte allein liefert kein Menschenbild.“ Sie setzen sich auf eine der Pausenbänke neben dem Hallentor. Bis morgen hat Gerhard Zeit, Ordnung zu schaffen, denkt Schreiter, ich habe es versprochen und halte es. „Er hatte einen Motorradunfall?“ wiederholte Rabe. „War denn sein Führerschein nicht eingezogen worden?“ „Doch, aber den habe ich beim Staatsanwalt losgeeist. Ein Autoschlosser ohne Führerschein, habe ich gesagt, ist dasselbe wie ein einarmiger Geiger.“ „Sagen Sie, trägt Simon Jeanshosen?“ fragt Rabe. Schreiter sieht ihn erstaunt an. „Meistens – richtige blankgewetzte. Das fragen Sie doch nicht ohne Grund?“ „Natürlich nicht. Ich wiederhole: Es liegt nichts gegen Simon vor. Aber ein Vorkommnis am Freitagabend steht im Zusammenhang mit einem Träger solcher Jeanshosen.“ „Sie werden nicht darüber reden wollen“, räumt Schreiter ein, es würde mich aber beruhigen – oder auch nicht – , wenn Sie mir sagen, wo dieses Vorkommnis war?“ „In Finkenhain“, antwortet Rabe. Das an Boltin be-
gangene Verbrechen ist nicht in der Presse publiziert worden, deshalb ergänzt er: „Vergessen Sie den Ortsnamen wieder.“ „In Ordnung. Um welche Zeit?“ „Zwischen achtzehn und neunzehn Uhr etwa; ein Tötungsverbrechen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“ „Dann hat Gerhard nichts damit zu tun“, antwortet Schreiter erleichtert. „Zu der Zeit war er fünfzig Kilometer entfernt am Bracksee. Um offen zu sein: Er war auf dem Wege zu mir, das heißt, zu meiner Tochter. Ich hatte ihn, als er entlassen wurde, zu uns mitgenommen, damit er abends nicht in die Kneipe läuft. Seine Bude – die konnten Sie vergessen.“ „Zwischen ihm und Ihrer Tochter…?“ „Ja. Damit mußte ich rechnen. Junge Menschen. Meiner Frau war es gar nicht recht.“ „Sie sagten eben, seine Bude ,konnten’ sie vergessen. Wieso die Vergangenheitsform?“ „Inzwischen sieht sie wohnlicher aus, meine ich.“ Du liebe Güte, denkt Schreiter, jetzt komme ich selbst noch ins Schleudern. Was würde der Hauptmann sagen, wüßte er, daß Monika mit Anita wegen Simon fort ist? Es erfüllt ihn aber mit Genugtuung, daß seine Voraussage eingetroffen ist: Monika blieb keine Stunde bei Simon. Sie wohnt jetzt bei einer geschiedenen Kollegin in Gadeberg. Bestimmt renkt sich alles wieder ein, hofft er, denn Anita läßt keine Ruhe, die will zu Oma und Opa. „Eine Frage, Kollege Schreiter, arbeitet Simon auch nach Feierabend?“ „Meinen Sie als Autoschlosser? Davon ist mir nichts
bekannt.“ „Und früher – bevor er straffällig wurde? Machen wir Nägel mit Köpfen, eine klare Frage und eine klare Antwort: Hat Simon früher nebenher in der Autowerkstatt Heise, Gadeberger Straße, gearbeitet?“ Schreiters Kopf ruckt herum, er starrt Rabe betroffen an. „Das ist sie! Na klar ist sie das! Ich bin und bin nicht drauf gekommen! Es stimmt, Willi Heise, LadaService!“ „Sie irren sich nicht? Dort hat Simon…?“ „Simon doch nicht“, fällt ihm Schreiter ins Wort, „der Plocher!“ Rabe ist enttäuscht, denn er hört den Namen zum ersten Mal. „Ich kenne keinen Plocher.“ „Aber ich, verlassen Sie sich drauf!“ Ohne Umschweife berichtet Schreiter, daß Plocher vor sechs Jahren zur Brigade gehörte, wegen Diebereien fristlos entlassen wurde und dann in der Autowerkstatt Heise anfing. Plocher übte damals einen schlechten Einfluß auf Simon aus und trägt die Hauptschuld an dessen Straffälligkeit. „Das ist es, was mir Sorgen macht“, erklärt Schreiter. „Den haben Sie wegen Diebstahl in der Kartei! Wir hatten damals noch Illusionen: Unser Kollektiv gibt ihm Halt! Den bringen wir auf Vordermann, dachten wir! Von wegen! Ruck zuck stand er wieder vor der Konfliktkommission! Und den Simon hat er uns auch versaut!“ „Das kann nicht angehen“, erklärt Rabe ungläubig, „ein gerichtlich geahndetes Delikt kann im Rückfall nicht von der Konfliktkommission beraten werden.“
„Es ging ja nicht um Diebstahl“, erläutert Schreiter. „Es war kein Rückfall im strafrechtlichen Sinne, sondern eine andere dumme Geschichte: Plocher fuhr mit seinem Lada nachts als Schwarztaxi und hatte eine Frau belästigt.“ „So? Welche Farbe hatte denn sein Lada?“ fragt Rabe interessiert. „Weiß! Er fährt noch immer einen weißen Lada, wie ich gesehen habe!“ , Bei Rabe schrillen Alarmglocken. Seit Jahren passiert es in Abständen von fünf, sechs Monaten, daß Mädchen und junge Frauen von einem Schwarztaxifahrer mit weißem Lada belästigt werden. Es kam noch zu keiner Vergewaltigung, aber gefährlich ist der Mann dennoch, der die Opfer mit einem spitzen Gegenstand bedroht und sie auffordert, sich zu entblößen. Der „Busenfetischist“, wie Erika ihn nennt, ist für sie schon zum Trauma geworden. Es ist fünf Monate her, seit er zum letzten Mal aktiv wurde. Rabe läßt es sich nicht anmerken, welch interessanten Hinweis er eben empfangen hat und verläßt Schreiter, nachdem er ihn zum Schweigen verpflichtete. Mit dem Gefühl, auf einer heißen Spur zu sein, resümiert er die neuen Erkenntnisse, während er zur Dienststelle fährt. Dieter Boltin hegte zweifellos einen Verdacht gegen die Werkstatt Heise. Dieser Plocher arbeitet bei Heise, und der hat ihn eingestellt, obwohl er beim volkseigenen Kraftverkehr wegen Diebstahls entlassen wurde? Das ist bemerkenswert. Sind Plocher und Simon Komplizen? Zur Tatzeit hatte Simon einen Unfall. Vielleicht statt am Bracksee – in Finkenhain? Und Simon
könnte Jeans getragen haben. Plocher könnte der seit Jahren gesuchte Schwarztaxifahrer sein. Es wäre nicht das erste Mal, daß man zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt.
21. Gemeinsam mit Griebsch und Klose wertet Rabe in seinem Dienstzimmer die neugewonnenen Fakten aus. Griebsch hat vom Leiter der K die Weisung erhalten, die MUK zu unterstützen. Es wird ein Maßnahmeplan entworfen. Der Angriff zielt auf die Autowerkstatt Heise und damit im Zusammenhang auf Plocher und Simon. Griebsch wird von Rabe angewiesen, seine Aktivitäten auf die Werkstatt zu richten; mit einem Sachbearbeiter der Abteilung Abgaben beim Rat der Stadt wird er eine steuerliche Überprüfung vornehmen. Ausführlich informiert Rabe dann über die von Schreiter erwähnte mögliche Komplizenschaft Simons und Plochers. „Wie der Brigadier es schildert“, ergänzt Rabe seine Ausführung, „könnte Plocher der Kopf des vermuteten Trios sein oder Heise! Und diesen Simon werden wir unter die Lupe nehmen. Er wird uns ganz genau erklären müssen, wie er den Freitagabend verbracht hat.“ „Für dich ist Simon also ein Tatverdächtiger?“ fragt Klose. „Legen wir doch mal auf den Tisch, was konkret für Simons Täterschaft spricht“, fordert Griebsch. „Als bisher Außenstehender sehe ich manches deutlicher. Ihr lauft vielleicht Gefahr, für Details blind zu werden.“
„Einverstanden“, stimmt Rabe zu, „fangen wir beim Motiv an. Heise erfährt von Raschke, daß Oberleutnant Boltin die E-Sache Simon wieder ausgegraben hat, er kann nur diese gemeint haben, wenn es um die Schrottplanerfüllung ging. Angeblich ermittelt er inoffiziell. Seine Nachfrage in der Handwerkskammer beweist, daß er auf der richtigen Spur ist. Heise und Plocher machen Simon klar, daß er wieder im Strafvollzug landet, wenn Boltin nicht gestoppt wird.“ „Einspruch!“ wirft Griebsch dazwischen. „Simon wandert nicht allein dorthin zurück, wo er gerade hergekommen ist – außerdem mit sechs Monaten im Rucksack! Mit ihm sitzen dann auch die Mittäter Plocher und Heise auf der Anklagebank. Was hat Simon zu verlieren, außer seiner Freiheit, versteht sich? Nichts! Anders Plocher und Heise…“ „Du hast recht, Walter, soweit es um die materiellen Dinge geht. Von der psychologischen Seite gesehen, widerspreche ich dir. Simon gewöhnt sich gerade wieder daran, als freier Bürger zu leben. Der Gedanke, abermals für lange Zeit in den Strafvollzug zurück zu müssen, motiviert ihn viel stärker als Heise und Plocher. Am Freitagabend hatte er angeblich einen Motorradunfall und wurde wegen der verstauchten Hand krankgeschrieben.“ „Und er läuft in einer abgewetzten Jeanshose herum, sagtest du“, ergänzt Klose. „Stimmt!“ bestätigt Rabe. „Jedes Indiz für sich reicht aus, um ihn hierher auf den Stuhl zu holen. Kann das KI nachweisen, daß die Stoffasern unter Boltins Fingernägeln von Simons Jeanshose stammen – der Um-
stand, daß sie mit Quecksilber in Berührung gekommen sind, ist ein unwiderlegbarer Beweis – , dann wäre Simon überführt. Verläuft die Untersuchung aber negativ, was dann? Dann haken wir wieder eine Fehlspur ab, und der Täter beseitigt auch die letzten Spuren.“ „Gestatte mal, Heinz“, widerspricht Griebsch, „das hat der doch längst getan.“ „Heinz meint die Jeanshose“, erklärt Klose. „Bisher ahnt der Täter nicht, daß sie ein wichtiges Beweisstück darstellt.“ „Richtig. Es gibt als weiteren Verdächtigen den Plocher. Ob der Jeans trägt, ist noch zu ermitteln. Aber er fährt einen weißen Lada. Dieter Boltin ist eine Stunde vor seinem Tode mit Mühe einem Zusammenstoß mit einem weißen Lada entgangen.“ Darüber ist Griebsch nicht informiert und daher im Begriff, eine Frage einzuwerfen, aber Rabe hebt abwehrend die Hand. „Ich weiß, was du fragen willst. Das erübrigt sich, wenn du mich fortfahren läßt. Auch für dich dürfte es neu sein, Manfred“, sagt er an Klose gerichtet. „Unsere Ermittlungen gleichen oftmals der Arbeit eines Forscherteams, das in seinem Labor einem Naturgeheimnis nachjagt. Dabei geschieht es gar nicht selten, daß nebenher, als Abfallprodukt sozusagen, Zusammenhänge aufgehellt werden, auf die gar nicht gezielt worden war.“ Rabe hat Griebschs und Kloses Neugier geweckt und berichtet nun, was er von Schreiter über Plochers Aktivitäten als Schwarztaxifahrer mitgeteilt bekam. „Was denn, Plocher fährt nachts Schwarztaxi?“ wie-
derholt Klose verblüfft. „Zumindest zeitweise“, schränkt Rabe ein. „Vor sechs Jahren wurde er vor die Konfliktkommission des Kraftverkehrs zitiert, da er einen weiblichen Fahrgast belästigt hatte.“ „Er wird mir immer sympathischer“, behauptet Manfred Klose. Rabe erwähnt, daß seine Frau seit fünf Jahren vergeblich versucht, einem Busenfetischist auf die Spur zu kommen; ein schier unmögliches Unterfangen, da dieser Triebtäter nur in monatelangen Abständen und an weit auseinander liegenden Tatorten aktiv wird. Danach taucht er wieder unter. Lediglich sein Vorgehen ist immer dasselbe. „Und Plocher ist der gesuchte – wie sagtest du – Busenfetischist?“ fragt Klose. „Das habe ich nicht gesagt“, wehrt Rabe ab, „aber er fährt einen weißen Lada wie der Gesuchte. Die zuletzt Geschädigte, eine Kassiererin in einer Konsumkaufhalle, behauptet, sie würde ihn wiedererkennen, obwohl der Vorfall fast ein halbes Jahr zurückliegt.“ In der Gadeberger Straße besteht Parkverbot. Das würde Leutnant Klose nicht hindern, hier mit dem Dienstwagen zu halten, doch es fiele auf. So biegt er in die Seitenstraße ein mit schmaler Fahrbahn und Kopfsteinpflaster. Hier stehen die Häuser einzeln in Gärten. Klose hält so, daß er die Autowerkstatt Heise beobachten kann. Das Anwesen ist klein und wirkt eingezwängt zwischen einem volkseigenen Kohlenplatz und einem privaten Altstoffhandel. Die Torflügel stehen offen und geben den Blick frei auf das Backsteinge-
bäude mit der Werkstatt und der Wohnung darüber. Auf dem Hof stehen einige Lada. Manfred Klose richtet das Teleobjektiv auf einhundertfünfzig Meter ein und rückt sich auf dem Fahrerplatz zurecht. Es war Rabes Einfall gewesen, ein aktuelles Foto zu schießen, um nicht auf das Jahre alte der Einwohnerkartei oder aus Plochers Strafakte angewiesen zu sein. Der Zufall muß mitspielen, das ist ihnen klar; es könnte sein, daß Plocher gar nicht daran denkt, die Werkstatt zu verlassen. Anwesend ist er, das hatte Kloses Anruf ergeben, als er nach Plocher fragte und eine Altmännerstimme dessen Anwesenheit bestätigte. Klose lauert ungeduldig darauf, daß drüben das Werkstattor geöffnet wird und Plocher heraustritt. Heise beschäftigt nur diesen einen Schlosser. Die Gadeberger Straße wird stark befahren; in kurzen Abständen kommen Kraftfahrzeuge vorbei und verdecken das Objekt. Leutnant Klose dreht die Türscheibe herab und hält die Kamera schnappschußbereit. Das ständige Hinüberstarren ermüdet; wenn mancher Krimi-Fan wüßte, wie nervtötend das Observieren sein kann, denkt Klose. Doch dann biegt ein grüner Lada auf den Werkstatthof ein und hält. Der Fahrer steigt aus und geht hinein. Es dauert einige Minuten, sie dünken Klose endlos, dann tritt der Fahrer wieder auf den Hof heraus, begleitet von einem Mann im Schlosseranzug. Klose hebt die Kamera, aber mehrere PKWs fahren vorbei und verdecken das Ziel. Die vordere Haube wird aufgeklappt, und die Männer beugen sich über den Motor. Die Sicht ist frei, nützt
jetzt aber nichts. Fahrer und Schlosser richten sich empor, und die Haube kracht zu. Klose hört es und ist bereit, den Auslöser zu drücken. Da fährt ein Lastwagen mit zwei Hängern vorbei und auch diese Gelegenheit ist verpaßt. Klose murmelt einen Fluch. Weshalb fährt der aber auch mit zwei Hängern? Der Lastzug donnert vorüber, und der Lada rollt rückwärts vom Hof. Doch von Plocher, wer anders soll es sein, ist nur die Stirn zu sehen. Pech – dann aber tritt der Schlosser ins Tor und blickt dem davonfahrenden PKW hinterher; zweimal nacheinander klickt der Kameraverschluß.
22. Am Montagmorgen erwacht Gäde mit schwerem Kopf, und seine ersten Gedanken gelten dem gestrigen Vorkommnis. Auf dem Nachttisch erinnern noch ein paar Federn an die Kissenschlacht und an Hansis unbeschwerte Fröhlichkeit. Die will er in der Erinnerung behalten und alles Häßliche vergessen. Das Vergessenkönnen ist eine schwierige Lebenskunst, die beherrscht sein will, wer wüßte das besser als er. An manchen Tagen gelingt es, an anderen braucht er Alkohol dazu. Auch gestern ist er zur einzigen Sonntagsverkaufsstelle Poldams gefahren, um eine Flasche Klaren zu kaufen. Die Flasche steht auf dem Tisch, und Gäde staunt, daß nur noch eine Neige darin ist. Es ist aber auch ein schlimmer Brocken, den es zu vergessen gilt. Daß Inge gleich mit der Polizei anrück-
te? Die sorgen nun dafür, daß er Hansi nie mehr bekommt. Der Gedanke daran ist so entsetzlich, daß er gar nicht soviel trinken kann, wie notwendig wäre, um das zu verdrängen. In der Küche blickt ihm im Spiegel über dem Waschbecken ein verschwollenes Gesicht entgegen; den pappigen Geschmack spült auch das Mundwasser nicht weg. Es kostet Überwindung, den Rest in der Flasche nicht anzurühren. Das könnte bei einer Verkehrskontrolle zum Verhängnis werden. Er ist ohnehin unsicher, ob nicht noch Restalkohol in seinen Adern gespenstert. Besser wäre, überlegt Gäde, heute die Straßenbahn zu benutzen. Doch dazu ist es zu spät. Die Zeit reicht kaum für eine Tasse Kaffee; hastig richtet er seine Frühstücksbrote und würgt eine trockene Brotscheibe hinunter. Er stopft ein paar Pfefferminzbonbons in den Mund, die er für solche Fälle bereithält. Auf dem Weg zur Garage überlegt er, daß er heute besser nicht ins Plattenwerk führe, aber er will die Kollegen nicht im Stich lassen. Der Skoda startet wie immer. Der absaufende Schwimmer war nur ein Vorwand gewesen, um Inge nicht nach Luckenwalde zu fahren und damit auf Hansis Besuch zu verzichten. Nun bedauert er es, sie belogen zu haben. Auf der stadtauswärts führenden Straße herrscht lebhafter Verkehr, wie an jedem Morgen. Die Straßenbahnen und Busse sind gedrängt voll. Die Poldamer eilen an ihre Arbeitsplätze am Stadtrand und in der Vorstadt. Bald ist der Verkehr weniger dicht, denn die meisten Fahrzeuge biegen in die Seitenstraßen ab; auf-
atmend erkennt Gäde in einiger Entfernung die Kranbrücken des Plattenwerkes. Ein Verkehrspolizist betritt die Fahrbahn und gibt mit seinem Befehlsstab das Stoppzeichen. Gäde durchfährt ein eisiger Schreck. Es gibt keine Möglichkeit, um auszuweichen, und es wäre auch zu spät. Der Polizist mit der weißen Mütze winkt ihn an den Fahrbahnrand. Gäde bleibt keine Zeit, einen neuen Bonbon in den Mund zu stopfen; er hält an der Bordsteinkante und kurbelt die Scheibe herab. Es scheint eine Routinekontrolle zu sein, wie öfter am Montagmorgen, denn da halten ein Barkasbus der Verkehrspolizei, zwei Streifenwagen und ein Fahrzeug der Dringenden Medizinischen Hilfe. Der Volkspolizist tritt an den Wagen, legt die Hand an die Mütze, nennt seinen Namen und Dienstgrad und fordert die Fahrzeugpapiere. Gäde reicht die Zulassung hinaus und ist um Abstand bemüht. Das macht ihn verdächtig. Der Oberwachtmeister beugt sich herab und schnüffelt. „Haben Sie Alkohol getrunken?“ Gäde bestreitet es, gesteht nur, am gestrigen Sonntag einige Schnäpse getrunken zu haben; er muß aussteigen und zum Barkasbus folgen. Aus, denkt er, nun bin ich dran. Einmal mußte es ja so kommen, viel zu lange war es gutgegangen. Jetzt haben sie mich erwischt. Ich Idiot. Anstatt zu Hause zu bleiben und blauzumachen. Aber man läßt doch seine Kollegen nicht im Stich. Was tun die nun für mich? Nichts tun sie, wenn ich ihnen sage, daß ich die „Pappe“ losgeworden bin. Gäde pustet in das gefürchtete Röhrchen, und der
„Luftballon“ verfärbt sich so eindeutig, daß es keines Kommentars bedarf. Er wird aufgefordert, den Skoda neben einem Wartburg und einem Wolga abzustellen, deren Fahrer dasselbe Schicksal ereilt hat. Es bedeutet für ihn keinen Trost. „Mann, Sie riechen ja wie eine Kneipe“, erklärt der junge Arzt in dem Sanitätsfahrzeug, der die Blutprobe abnimmt. „Hoffentlich finden wir Blutspuren im Alkohol.“ Gäde grinst schief. Der hat gut Witze machen, wenn der wüßte, wie beschissen ihm zumute ist. Sein Führerschein wird einbehalten, und der Oberleutnant versichert, daß er den für längere Zeit los ist. Gäde verschließt den Skoda, und ein Wachtmeister erinnert ihn an die Tasche auf dem Beifahrersitz. Die enthält doch sicher das Frühstücksbrot. Aber Gäde winkt ab und wendet sich zum Gehen; an die Arbeit bringen ihn jetzt keine zehn Pferde, erklärt er. Mit der Straßenbahn fährt er zurück in die Stadt und irrt umher. Die Lokale sind noch nicht geöffnet, und viele haben heute Schließtag. Er schlägt die Richtung zum Bahnhof ein und geht in die Mitropagaststätte; stundenlang sitzt er bei einigen Bieren und wartet darauf, daß die Kneipen öffnen, denn hier im Wartesaal vermißt er die Restaurantatmosphäre. Wer hier ein Bier trinkt, überbrückt nur das Warten auf einen Zug oder sitzt eine Verspätung ab. Er weiß nicht zu sagen, wie lange er umhergelaufen ist. In einem Stadtteil, in den er selten gerät, findet er ein geöffnetes Lokal, eine kleine, verräucherte Kneipe. Die paar Tische sind mit Wachstuch bedeckt und neben den Bierhähnen steht auf der Theke eine Glasvitri-
ne mit Buletten und Salat. Der beleibte Wirt mit blaugeäderter Knollennase und wabbeligen Wangen scheint selbst sein bester Kunde zu sein. Gäde ißt und trinkt ausgiebig. Der Gastwirt ist freundlich, solche Gäste mag er, und er hört teilnehmend zu, als dieser sein Mißgeschick schildert. Bald beleben frühe Zecher die Gaststätte, und einer setzt sich zu Gäde an den Tisch. „Gestatten Sie?“ Der Mittzwanziger trägt eine schäbige Lederweste. „Richard“, er nickt zu dem Wirt hin, „hat mir gesagt, daß wir Leidensbrüder sind.“ Rudi Brigalla rückt näher und spendiert eine Lage. Er ist kein Schnorrer, der sich einem Angetrunkenen aufdrängt, um abzustauben. Im Gegenteil, Rudi ist ein Kumpel und versucht, ihn über den Verlust des Führerscheins hinwegzutrösten. Als Berufskraftfahrer ist Rudi böser dran als er, denn er arbeitet nun als Hilfsschlosser. Gäde widerspricht und behauptet, vom Schicksal schlimmer gebeutelt zu sein. Er tut die Misere seiner gescheiterten Ehe kund und den Vorfall am gestrigen Sonntag, und daß er nicht weiß, wie es seinem Jungen geht. Brigalla gibt zu, daß Gäde der Leidgeprüftere ist. Rudi hat nur Querelen mit seinen Bräuten, bei denen er jeweils einzuwohnen pflegt. „Manchmal habe ich die Neese so pläng, sage ich dir, daß ich am liebsten alles hinschmeißen würde und nach ,drüben’ ginge!“ „Wie denn?“ fragt Gäde in jener Trinkphase, wo ein frisches Bier ernüchternd wirkt. „Wie – wüßte ich schon“, sagt Rudi, „es kostet aber zehn Riesen – und die habe ick nich.“
„Für zehntausend Mark kommt man ‘rüber?“ vergewissert sich Gäde, und als Rudi nickt, fügt er hinzu: „Die kriege ich zusammen, wenn ich meinen Skoda verscheuere!“ Ein verkäuflicher Skoda ernüchtert Rudi Brigalla auf der Stelle; er trinkt von nun an nur noch Kaffee. Und Gäde erfährt, daß dieser Tag ihm außer seinem Mißgeschick auch den Glücksfall bescherte, Rudi Brigalla begegnet zu sein.
23. Oberleutnant Erika Rabe besucht ihren Mann selten in seinem Dienstzimmer. Umgekehrt geschieht es häufiger, daß er auf einen Schwatz ins Dezernat „Jugend“ einfällt; daß Erika gar aus dienstlichem Anlaß das Dezernat „Gesundheit und Leben“ aufsucht, geschieht nur alle Jubeljahre einmal. „Du hast etwas für mich?“ fragt sie und läßt sich auf dem Stuhl des abwesenden Klose nieder. Heinz nickt und reicht ihr ein postkartengroßes Foto, das Brustbild eines etwa dreißigjährigen Mannes im Schlosseranzug. Das Gesicht wirkt nicht unsympathisch, aber auch nicht gerade vertrauenerweckend. „Teleobjektiv, Entfernung einhundertfünfzig Meter“, erklärt Heinz. „Es ist der Bürger Karl Plocher. Das Foto stimmt mit dem in seiner Strafakte überein. Beruf Automechaniker, beschäftigt in der Werkstatt Heise, Gadeberger Straße. Dieser Mann hat ein Hobby: Er fährt mit seinem weißen Lada Schwarztaxi!“ Erika hebt aufmerksam den Blick, überwältigt ist sie von der Mitteilung nicht. Es mögen ein Dutzend weiße
Lada sein, die sie bereits als Schwarztaxi enttarnt hat. Der Busenfetischist war nicht unter den Fahrern. „Wie lange ist es her“, fragt Heinz, „seit er zum ersten Male angezeigt wurde?“ „Das weißt du doch“, antwortet sie, „beinahe fünf Jahre.“ „Siehst du! Plocher fuhr schon vor sechs Jahren einen weißen Lada als Schwarztaxi und wurde von einer Frau angezeigt, die er belästigt hatte. Der Vorgang wurde wegen der Geringfügigkeit an die Konfliktkommission im Kraftverkehr abgegeben.“ „Das nennst du geringfügig?“ „Er hatte die Frau nicht bedroht, nur unsittlich berührt.“ „Ach so, du meinst, er ging vielleicht erst später dazu über, die Frauen zu bedrohen?“ „So könnte es doch sein? Du sagtest, die Geschädigte behauptet, ihn wiederzuerkennen?“ „Ja. Aber es war im Februar, und jetzt haben wir Ende Juli. Ich versuche es trotzdem“, erklärt sie. „Klose hat dir eine hübsche Kollektion zusammengestellt, wie du siehst.“ Er reicht ihr fünf gleichgroße Fotos von Männern um die Dreißig hinüber. „Wenn Frau Neubert ihn herausfindet, dann besitzt sie ein phänomenales Personengedächtnis“, behauptet Erika Rabe. Heinz hält ihr entgegen, daß sie nicht vergessen dürfe, welchen Haß jene Frau auf den Mann empfindet, der sie gedemütigt hat und gezwungen, sich vor ihm zu entblößen. „Sollte Plocher dein Busenfetischist sein, dann vergräme ihn mir nicht. Vermutlich hängt er in einer größeren Sache drin. Ich bin nur ne-
benher auf ihn gestoßen.“ Erika verspricht, nichts zu unternehmen, ohne es vorher mit ihm abzusprechen. „Geht klar, Genosse Hauptmann!“ versichert sie. Die Kußhand paßt nicht zu dem dienstlichen Ton. Oberleutnant Erika Rabe telefoniert mit der Leiterin der Kaufhalle. Die Kollegin Neubert bedient an einer Kasse und wird für die Befragung abgelöst; eine knappe Stunde später sitzt Erika Rabe der jungen Frau im Aufenthaltsraum gegenüber. Frau Neubert ist Ende Zwanzig und Mutter eines fünfjährigen Mädchens. „Frau Neubert, ich lege Ihnen einige Fotos vor, darunter ist das eines Mannes, der vielleicht der gesuchte Schwarztaxifahrer sein könnte. Bezeichnen Sie ihn nur, wenn Sie Ihrer Sache absolut sicher sind. Denken Sie daran, daß wir sonst einem Unschuldigen Ungelegenheiten bereiten. Seit dem Vorfall ist immerhin fast ein halbes Jahr vergangen.“ Die junge Frau errötet, und ihre Augen blitzen. „Sein Gesicht vergesse ich nie! Das dürfen Sie mir glauben, Frau Rabe. Mein Mann sagt, den möchte er gern zwischen die Finger kriegen!“ Erika Rabe lächelt nachsichtig. „Jede Art von Selbstjustiz ist natürlich indiskutabel. Das verstehn Sie doch?“ „In einem Polizeiruffilm, Sie wissen schon, eins-einsnull, da wurde der Täter zwischen ein Dutzend Männer gestellt und von der Überfallenen herausgefunden. Ich dachte…“ Die junge Frau verstummt sichtlich enttäuscht. Oberleutnant Rabe erklärt ihr, daß jener Fall anders gelagert war. Im vorliegenden soll der Täter sich noch unentdeckt wähnen. Frau Neubert nickt, das leuchtet ihr ein. Auf ihren Wangen entstehen zwei
kreisrunde rote Flecke, als sie die Fotos entgegennimmt. Erika Rabe beobachtet sie aufmerksam. Frau Neubert wirft das dritte Foto auf den Tisch, ohne die übrigen anzusehen. „Das ist er! Und ob er das ist!“ wiederholt sie mit zornbebender Stimme. Es ist die Fotografie von Plocher. Den Einwand der Kriminalistin, daß sie gar nicht alle Fotos angesehen habe, weist sie mit der Frage zurück: „Wozu?“ Um nicht ungefällig zu erscheinen, betrachtet sie achselzuckend auch die übrigen drei Porträts. „Und wer ist dieser Kerl?“ fragt sie. „Das erfahren sie spätestens vor Gericht.“ Zu der Zeit, da Erika Rabe in der Kaufhalle ermittelt, daß Plocher mit dem seit fünf Jahren gesuchten Busenfetischist identisch ist, erklimmt Leutnant Klose, von zwei Wachtmeistern einer Funkstreife begleitet, die Stiege zu Simons Giebelzimmer. Erst nach wiederholtem Klopfen öffnet der nur mit einer Badehose Bekleidete, dem man ansieht, daß er geschlafen hat. „Volkspolizei, Leutnant Klose! Sind Sie Gerhard Simon?“ Der bestätigt es nickend, und Klose fügt hinzu: „Folgen Sie mir bitte zur Klärung eines Sachverhaltes in die Dienststelle!“ Auf Simons spärliche Bekleidung deutend, ergänzt er: „Ziehen Sie sich an!“ Klose staunt, daß Simon keine Regung zeigt. Er tut gerade so, als habe er uns erwartet, denkt Klose. Simon fragt auch nicht, um welchen Sachverhalt es geht. Nur den Gleichmut, den jede seiner Bewegungen ausdrückt, nimmt der Leutnant ihm nicht ab. Simon hebt die Jeanshose auf, die neben der Couch auf dem Tep-
pichboden liegt, doch Klose fordert, daß er eine andere anzieht. „Besitzen Sie noch mehr Jeanshosen?“ fragt er und öffnet die Garderobentür der Schrankwand. Dahinter herrscht bemerkenswerte Ordnung, sieht Klose. „Nee“, antwortet Simon patzig, „sehen Sie doch nach!“ Klose kontrolliert alle Fächer und Laden. Die Volkspolizisten warten neben der Tür; für sie ist es Routine, einen Tatverdächtigen der Kripo zuzuführen. Bei einem erst vor vier Wochen aus dreijährigem Strafvollzug Entlassenen hätten sie aber noch nie solchen Komfort angetroffen, äußern sie später. Auch Klose ist von dem Luxus überrascht; wie bescheiden nimmt sich dagegen sein möbliertes Zimmer aus. „Dauert’s länger?“ fragt Simon mit spöttisch geschürzten Lippen. „Schon möglich. Das wissen Sie selbst wohl am besten“, erwidert Leutnant Klose. „Nehmen Sie das übliche mit; Sie wissen ja Bescheid: Rasierer, Kamm, Seife und Zahnbürste. Und die Jeans da.“ Rudolf hat es wahrgemacht und mich angeschmiert, denkt Simon erbittert, als sie in den vor dem Haus haltenden Streifenwagen einsteigen. Rudolfs Gerede, er räume mir drei Tage ein und gehe erst am Mittwoch zur Kripo, war ein Dreck wert gewesen! Eigentlich bleibt es egal, ob heute oder übermorgen, er wäre nie freiwillig zur Kripo gegangen, gesteht Simon sich ein, und Monika hat nun auch gegen ihn Partei ergriffen. Alles ist aus und vorbei. Simon sitzt zwischen Klose und dem Streifenführer, einem Oberwachtmeister, und er erinnert sich daran,
wie genau der Leutnant seine Bude besichtigt hat. Bestimmt hat Schreiter ihnen vorgerechnet, wieviel Kohle in den Klamotten steckt, denkt er. Aus dem Gesicht des Leutnants ist nicht abzulesen, wie schwer das wiegen mag, was nun auf Simon zukommt. Immerhin konnte Schreiter keine konkreten Angaben über Plocher und Heise machen, überlegt dieser. Das Gesicht des Leutnants bleibt ausdruckslos. Ob der weiß, was es bedeutet, aus seiner Behausung weggeholt zu werden? Nicht zu wissen, ob man seine eigenen vier Wände wiedersieht, denkt Simon. Für den ist das Alltag, ein Job wie jeder andere. Verdammter Mist, daß alles so kommen mußte. Der Krimi setzt sich nachher zum Abendbrot, malt Simon sich aus, trinkt Bier und glotzt in die Röhre, und später pennt er mit seinem Mädchen. Simon will nicht daran denken, daß er mit Monika für längere Zeit zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen haben soll. Der Streifenwagen biegt auf den Hof der Bezirksdirektion ein und hält. „Kommen Sie!“ fordert der Leutnant. Es sind seine ersten Worte, seit sie eingestiegen sind. Das Gebäude kommt Simon fremd vor, damals, als er zum ersten Mal zur Kripo geholt worden war, gab es den Neubau noch nicht. Der zweite Streifenwachtmeister bringt seine Jeans in einer Zellophantüte weg. Simon erscheint die Zeit endlos, die er in einem Dienstzimmer im Beisein eines älteren Obermeisters verbringt. Wenigstens gestattet der ihm zu rauchen. Dann läutet das Telefon. Der Polizist nimmt eine Mel-
dung entgegen und legt den Hörer auf. „Machen Sie die Zigarette aus, und kommen Sie mit!“ sagt er. Simon zerdrückt behutsam die Glut und steckt die halbe Zigarette in die Tasche; in der kommenden Zeit wird er wohl eine Kippe zu schätzen wissen. Drei Kriminalisten erwarten ihn, und einer davon ist der Leutnant, der ihn hergeholt hat, sieht Simon. Hauptmann Rabe stellt sich vor und fragt die Personalien ab, Herkunft, Lebenslauf, Ausbildung, bisherige Tätigkeiten – und alles möglichst lückenlos. Simon hat es genau so erwartet. „Gibt Ihnen die Anwesenheit hier einen Grund zur Heiterkeit?“ fragt Hauptmann Rabe. „Nein, nein, bestimmt nicht!“ versichert Simon. Das Grinsen schleicht sich oft unbeabsichtigt in seine Miene ein und bringt ihm gelegentlich Ärger. Er versteht nicht, weshalb die Kripo soviel Wesen von seinem Unfall am Freitagabend macht. Man will exakt wissen, wie, wann und wo alles geschah. Es gibt keinen Grund, ihnen etwas zu verheimlichen, überlegt Simon. Doch er behält für sich, daß er, statt mit verbogener Lenkstange nach Poldam zurückzutuckern, ebensogut hätte nach Gadeberg weiterfahren können. Er hatte aber keine Lust verspürt, das griesgrämige Gesicht Erna Schreiters zu sehen. „Ist der Unfall von der Verkehrspolizei erfaßt worden?“ fragt Hauptmann Griebsch. Was soll denn die Frage, denkt Simon. Die haben doch längst alle Unfallprotokolle vom Freitag geprüft und wissen, daß von mir keins dabei ist. „Nein, wozu?“ sagt er. „Es war ‘ne Bagatelle!“ „Es gab also keinen Unfallzeugen?“ stößt Rabe nach.
Beinahe hätte Simon die Absprache mit Plocher vergessen. „Doch, ja“, sagt er, „mein – mein früherer Kollege war dabei. Er wollte zum Bracksee.“ „Wie heißt der Kollege? Wo wohnt er?“ „Karl heißt er. Karl Plocher! Gadeberger Straße einundvierzig wohnt er“, antwortet Simon und grübelt, weshalb wohl die Kriminalisten das wissen wollen. Bei Kalle scheint was gelaufen zu sein. Die Kripo will auf die Minute erfahren, was sie beide nach dem Unfall – Sturz infolge Ölspur – getan haben. Simon wird unsicher, darüber haben sie nicht gesprochen. So faselt er von dem Kupplungsschaden des Lada, der schuld war, daß Kalle auf dem Sozius mitfuhr. „In der Unfallstelle sind Sie allein versorgt worden“, stellt Hauptmann Rabe fest, „war Ihr Soziusfahrer denn nicht verletzt?“ „Nein, der hatte Schwein gehabt“, antwortet Simon. Daß in der Unfallstelle nachgeforscht worden ist, nervt ihn. „Könnte es nicht sein“, fragt Rabe, „daß Plocher seine Autopanne nur erfunden hat?“ Simon tut verblüfft und antwortet: „Natürlich ist das möglich. Das konnte ich nicht nachprüfen.“ Der Hauptmann wechselt das Thema. „Wieviel Geld besaßen Sie bei Ihrer Entlassung aus dem Strafvollzug?“ Das weiß der doch auf den Pfennig genau, denkt Simon. „Achthundertsiebzehn Mark fünfzig“, antwortet er. „Verfügten Sie über sonstige Gelder?“ Die Frage klingt beiläufig. Anfangs war nur von dem Unfall die Rede, und es sah so aus, als sei die Fragerei doch nicht von Schreiter veranlaßt worden, überlegt Simon. Jetzt steht es fest, daß es nur ein Ablenkungsmanöver dar-
stellte; nun erst kommt der Hauptmann auf den Punkt. „Sonstige Gelder?“ wiederholt Simon. „Um konkret zu werden“, Rabe spricht nun eine Tonart schärfer, „wie der Genosse Leutnant berichtet“, er nickt zu diesem hin, „müssen Sie mehr als zehntausend Mark investiert haben.“ Sie lassen die Katze aus dem Sack, denkt Simon. „Warum das Theater?“ fragt er spöttisch. „Sagen Sie’s doch rundheraus, daß Schreiter mich angeschissen hat. Damit hat er ja gedroht! Dabei wollte er mir bis morgen Zeit lassen, mich selbst zu stellen!“ Rabe und der Leutnant tauschen einen so verblüfften Blick, daß er echt gewesen sein muß, empfindet Simon. Zugleich wird ihm klar, einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen zu haben. „Hätten Sie sich denn gestellt?“ fragt Rabe freundlich. Simon preßt die Lippen zusammen; seine Lage ist total verfahren. Das einzige, was ihm noch bleibt, ist die Flucht ins Schweigen, glaubt er. „Ich sage nichts mehr, kein Wort!“ „Und was versprechen Sie sich davon?“ fragt der Leutnant. „Wir holen uns heute noch Ihren Brigadier“, versichert Hauptmann Rabe. „Der wird dann nicht länger mit seinem Wissen hinter dem Berg halten.“ Die Kripo weiß auf Anhieb, daß Schreiter mein Brigadier ist, überlegt Simon. Das klingt gar nicht gut, stellt er fest. „An Ihrer Stelle“, wirft Hauptmann Griebsch ein, „ließe ich mir die Chance nicht entgehen, durch eine freimütige Darlegung aller Fakten für ein paar Pluspunkte zu sorgen, Simon!“ „Wir erfahren sowieso, was gelaufen ist“, behauptet
Rabe. Es ist wohl so, ob mit oder ohne Schreiter, sie bleiben ihm auf den Fersen. Die Erkenntnis besitzt etwas Bedrückendes, findet Simon. „Ich sage nichts“, verkündet er heiser. „Wie Sie meinen“, antwortet Hauptmann Rabe ungerührt. „Sie gehen in Untersuchungshaft.“ Simon ist kaum abgeführt worden, da läutet das Telefon, und Rabe empfängt die Mitteilung des Kriminalistischen Institutes, daß keine Materialidentität der Stofffasern mit der vorgelegten Jeanshose vorhanden ist. Es gibt nicht die geringste Quecksilberspur. „Wie geht es nun weiter?“ will Klose wissen. „Das fragst du noch?“ erwidert Rabe. „Wir gehen dem Hinweis nach, den Simon uns eben geliefert hat: Ich unterhalte mich noch mal mit Schreiter. Diesmal reden wir Tacheles, verlaß dich drauf!“
24, Am Dienstagmorgen schreckt Gäde durch lautes Klopfen an der Wohnungstür aus dem Schlaf; er hat die Klingel noch nicht repariert. Jetzt erst merkt er, daß er irgendwann in der Nacht, ohne sich auszukleiden, ins Bett gekrochen ist; nur die Schuhe hatte er von den Füßen gestreift. „Ja, ja, ich komme!“ brummt er und erhebt sich stöhnend. Sofort befällt ihn ein arger Kopfschmerz, und die Zunge ist im Munde gequollen. Auf Strümpfen tapst er in den Flur und öffnet. Vor der Tür stehen zwei Männer. Der mit der schäbigen Lederweste ist Brigalla. Weiß der Teufel, wie er es
angestellt hat, er ist frisch rasiert und putzmunter; sein Begleiter paßt nicht recht zu ihm, findet Gäde. Der duftet nach einem exquisiten Parfüm und trägt über dem eleganten Anzug einen teuren Sommermantel. Der Mann ähnelt einem bekannten Schauspieler. „Guten Morgen, Herbert!“ poltert Rudi Brigalla gemütlich. „Läßt du uns vor der Tür…?“ „Kommt ‘rein!“ sagt Gäde, wegen der Unordnung peinlich berührt, und führt seine Besucher in die Stube, die als Wohn-und Schlafraum dient. Das breite Ehebett beansprucht unziemlich viel Platz. „Das ist Eduard“, sagt Brigalla, „mehr ist nicht notwendig. Er nimmt alles in die Hand, wenn du ihn beauftragst.“ Gäde starrt in das nichtssagende Gesicht mit dem Menjoubärtchen auf der Oberlippe. Das dunkel gefärbte Haar pappt ölig am Kopf, und Gäde tauft ihn „Lackaffe“. Rudi frischt die Erinnerung auf, und bruchstückhaft reiht sich eine Begebenheit an die andere, bis der gestrige Montag in Umrissen verdeutlicht ist. Rudi will vor allem klären, ob Gäde noch zu seinem gestern geäußerten Wunsch steht, sein Leben zu verändern und „im Westen“ neu zu beginnen? Dieser Frage steht Gäde zunächst hilflos gegenüber. Zweieinhalb Millionen Arbeitslose liegen drüben auf der Straße, und in ihrem Fernsehen sagen sie, daß die auch in den nächsten Jahren keine Chance besitzen, wieder zu Lohn und Brot zu kommen. Am schlimmsten sei die Baubranche betroffen. „Das ist nämlich so…“, sagt Gäde, bricht ab und beginnt neu: „Als Betonfacharbeiter…“ „Ich verstehe nicht, Herbert“, unterbricht ihn Brigalla,
„gestern hast du deinen Jammer ausgekotzt, wie beschissen du dran bist…“ „Wieso? Wie meinst du das? Was habe ich denn gesagt?“ Gäde starrt Brigalla besorgt an. „Na eben, wie satt du alles hast. Und deinen Jungen nimmst du mit, hast du gesagt. Deiner Geschiedenen wirst du es zeigen, an wem Hansi hängt.“ Gädes Gesicht wird wehmütig, er sieht den Lackaffen fragend an. „Ginge das denn?“ „Weshalb nicht, Herr Gäde? Wie alt ist denn der Junge?“ „Sieben!“ „Da ist das Risiko weniger groß als bei einem Kleinkind, das eingeschläfert werden müßte.“ „Eingeschläfert?“ Gäde schluckt entsetzt. „Betäubt, meint er“, sagt Brigalla. „Das könnte zur unrechten Zeit aufwachen“, ergänzt Eduard. „Ausgeschleust wird per Container!“ erläutert Rudi. „Keine Details“, weist Eduard ihn zurecht, „bevor die Absprachen verbindlich sind.“ Gäde erinnert sich nicht, daß er gesagt hat, er sei zu diesem Schritt entschlossen, schon gar nicht, daß er Hansi mitnähme. Der Gedanke fasziniert ihn aber. Welcher Art ein Container sein mag, ist dabei unwichtig. Die Frage, wie es danach weitergehen soll, schiebt er beiseite. Ein spielerisch bewegter Gedanke verdichtet sich und nimmt Gestalt an. Eduard geht von seinem Vorsatz ab und verrät nun doch Einzelheiten: Der Container ist eine blinde Kabine in einem Westberliner Lastzug, der im Transit durch die DDR fährt. Zum Ho-
norar, so nennt es der Lackaffe, käme ein kulanter Aufschlag für das Kind hinzu, lächerliche zwei Riesen. Dann will Gäde doch lieber zurücktreten, denn Brigalla bietet für den Skoda nur siebentausend Mark. Gäde erwähnt das Angebot eines Kollegen, der zahlt ihm bare zehntausend. Erst als Brigalla tausend Mark zulegt, willigt Gäde in den Handel ein. In der Tat scheint alles vorbereitet zu sein; Eduard macht einen Treff aus in einem Berliner Interhotel; danach verabschiedet er sich eilig. Brigalla und Gäde fahren dorthin, wo er gestern seinen Skoda stehenlassen mußte; auch der Wolga wartet noch darauf, abgeholt zu werden. Rudi schiebt sich hinter das Lenkrad, und Gäde staunt, da ja auch ihm der Führerschein entzogen worden war. „Holzauge, sei wachsam!“ sagt Brigalla und startet. „Ich hatte meine Pappe als verloren gemeldet und einen Ersatz gekriegt, den haben sie mir abgenommen. Natürlich darf ich mit meiner Originalpappe nicht auffallen, dann machen die mich zur Schnecke. Aber ‘ne gelegentliche Tour ist drin.“ Nach einer Pause ergänzt er: „Mensch, Herbert, du bist zu beneiden!“ „So, meinst du?“ fragt Gäde, zwischen Bangen und Hoffen hin und her gerissen. Sie fahren auf einen Kohlenplatz, und Rudi lenkt den Skoda in einen Schuppen. Der Kohlenhändler ist der Käufer, und Brigalla feilscht flüsternd um seine Provision. Herbert Gäde folgt dem Händler ins Büro, einem kleinen stickigen Raum, der anscheinend nie gelüftet wird. Der Mittfünfziger entnimmt einer Kassette ein Bündel Hundertmarkscheine und wirft die fünftausend
auf den Tisch, zählt von einem losen Stapel weitere dreißig blaue Scheine dazu. Gäde prüft die Summe pedantisch und verstaut das Geld in seiner Jacke; soviel Bares trug er noch nie bei sich. Der Kohlenhändler hat den Kaufvertrag vorbereitet, und Gäde übergibt ihm den Kraftfahrzeugbrief und die Zulassung. Brigalla rät, mit dem Geld in der Tasche keine Kneipe aufzusuchen und den Zaster erst nach Hause zu bringen. Inzwischen sucht Rudi Käufer für den Fernseher und die sonstigen Gebrauchsgegenstände. Gäde staunt, wie genau Brigalla sich bei ihm umgesehen hat; bestimmt ist der nicht zum ersten Mal in dieser Weise tätig. Zu der Erkenntnis, daß es eigentlich gar nicht sein wirklicher Wunsch gewesen war, den nur so dahingeredeten Vorsatz in die Tat umzusetzen, kommt er erst, als es zu spät ist. Der erste Schritt auf dem Weg ohne Umkehr war der Verkauf des Autos, ihm folgen weitere Schritte, zum Beispiel, die tausendvierhundert Mark vom Spargirokonto abzuheben. Am Dienstagmorgen frühstücken Erika und Heinz Rabe gemeinsam und lassen sich dabei Zeit. Heinz ist schweigsam, dabei ist er durchaus kein Morgenmuffel. Er steckt bis über die Ohren in dem Fall Boltin, denkt Erika. Die an jedem Vormittag fällige Lagemeldung an den Leiter der „Sonderkommission Boltin“ macht ihm zu schaffen; und von Oberst Winter fordert der General greifbare Resultate. Noch ist man keinen entscheidenden Schritt vorangekommen. Sie überlegt, ob sie ihn darauf ansprechen soll, da sagt er: „Ich war gestern abend noch in Gadeberg bei einem gewissen Schreiter,
ein Brigadier in der Werkstatt vom Kraftverkehr.“ „So spät?“ fragt sie erstaunt. Heinz scheint erst nach dreiundzwanzig Uhr zurückgekommen zu sein, als sie bereits schlief. „Der Mann war froh, daß wir es ihm erspart haben, Simon anzuzeigen. Er bestätigte Dieters Verdacht: Als Simon damals verurteilt wurde, hatte man nur einen kleinen Fisch geangelt. Der große Hecht schwamm unbehelligt davon. Aber den greifen wir uns, sowie einige Punkte aufgehellt sind.“ „Welche konkret?“ „Heises Beteiligung! Sobald Griebsch fündig wird, schalten wir uns ein und führen den Fall zu Ende, den Dieter erneut aufgegriffen hat. Ob dies aber der Grund gewesen war, weshalb man ihn niederschlug, bleibt für mich zweifelhaft.“ „Dein Kaffee wird kalt!“ erinnert Erika, Heinz pflegt ihn sehr heiß zu trinken. , „Nach dem ersten Tatverdächtigen, diesem Patzer, haken wir nun auch den zweiten ab, den Simon. Der sitzt übrigens ein.“ „War das nicht voreilig?“ fragt sie. „Es bleibt uns nichts anderes übrig. Für die Tatzeit in Finkenhain besitzt er ein windiges Alibi und behauptet, daß dein Busenfetischist Plocher beim Unfall am Bracksee dabei war. Stimmt das, können wir den auch als möglichen Täter vergessen. Dann bleibt nur noch ein Verdächtiger.“ „Einer?“ wiederholt Erika, steht auf und räumt das Geschirr zusammen. Heinz trinkt genußlos den lauwarmen Kaffee und
wiederholt: „Ja, einer! Heise selbst! Er ist derjenige, der seine Existenz verliert, wenn unser Verdacht bestätigt wird. Übrigens hat Winter im Plattenwerk recherchieren lassen.“ „Gegen Gäde?“ fragt Erika ungläubig. „Winters Abneigung gegenüber Alkoholikern ist bekannt. Aber die Auskunft war positiv. Gäde arbeitet zuverlässig und genießt bei seinen Kollegen Ansehen. Bloß, wie gesagt, alle paar Wochen kriegt er einen Rappel und säuft. Ich habe mich auf dich berufen und Winter gesagt, daß Gäde am Freitagabend heimlich bei seinem Jungen war.“ „Ja, das stimmt. Inge war darüber sehr ungehalten.“ „Winter wäre es recht, wenn du Gädes Alibi überprüfen würdest, ehe er seine Truppe einsetzt. Ich habe es zugesagt.“ Da Erika sich nicht äußert, fügt er hinzu: „Es ist dir doch recht?“ „Doch, ja, bevor ein Fremder bei Inge…“, sie bricht ab und bleibt schweigsam. Heinz sieht ihr an, daß sie einiges dafür gäbe, bliebe ihr der Auftrag erspart. In seinem Dienstzimmer findet Rabe ein von Klose notiertes Telefonat auf seinem Schreibtisch. Oberst Winter teilt mit, daß es in den Jahren neunundsiebzig, achtzig und einundachtzig in der Republik unaufgeklärte Autodiebstähle vor allem der Marke Lada gegeben hat. Rabe sitzt an seinem Schreibtisch, die Ellbogen aufgestützt und den Kopf in die Hände vergraben. Wer ihn so sieht, meint, er gibt sich dem Nichtstun hin. Das wäre aber weit gefehlt; er überdenkt noch einmal, was in den vergangenen Tagen im Falle Boltin geschah,
denn der Fall Simon, seine Neuaufnahme durch Dieter und dessen tragischer Tod gehören für ihn zusammen. Mit sicherem Instinkt findet er den Schwachpunkt, an dem er ansetzen muß: das Alibi, das Simon und Plocher sich gegenseitig liefern. Hauptmann Rabe führt einige hausinterne Telefonate, und nebenher meldet sich Klose zurück, der in der „Bierglocke“ das aus Bulgarien zurückgekehrte Ehepaar Meiners aufgesucht hat, um es von dem Geschehenen zu unterrichten. „Weißt du, was Emil Meiners über Patzer gesagt hat?“ Klose blickt Rabe erwartungsvoll an. Der scheint aber nicht begierig, dies zu erfahren. „Was hat er denn gesagt? Mach’s aber nicht so dramatisch.“ „Patzer sei ein armer Hund mit so vielen Alimenten am A… Hintern!“ „Sag schon Arsch, wie Meiners. Seit wann bist du so zart besaitet? – Ich laß eben noch mal Simon bringen. Mit dem reden wir ein offenes Wort. Der bleibt ja in unserer Obhut und kann keinen Schaden anrichten.“ „Verstehe.“ Klose nickt und streift seinen Pulli über den Kopf, denn das Thermometer steigt unaufhaltsam. „Patzer braucht einen Halt und ein bißchen Verständnis, sagt Meiners. Mit dem furchtbaren Verbrechen hat er ja nichts zu tun. Bei dem Anzahlungsschwindel seien diejenigen selbst schuld, die auf das Grundstück scharf gewesen sind.“ „Sagt Emil Meiners. Mach das Bandgerät fertig“, fordert Rabe. Daß er schon wieder zur Vernehmung geholt wird,
dünkt Simon nichts Gutes. Diesmal fehlt der ältere Kriminalist, sieht er. Leutnant Klose hantiert am Tonbandgerät, und Hauptmann Rabe blättert in seinen Notizzetteln. Es sind eine Menge, stellt Simon fest. Er wird sich sein Grinsen verkneifen, beschließt er, wozu die Kripo unnötig reizen? Ob sie inzwischen Schreiter ausgequetscht haben? Morgen, am Mittwoch, hätte er ohnehin seine Drohung wahrgemacht und wäre zur Kriminalpolizei gegangen. „Sie haben gestern zugegeben, daß Plocher die Panne mit dem Lada erfunden haben könnte. Dazu müßte er einen Anlaß gehabt haben, meinen Sie nicht?“ „Doch, schon“, antwortet Simon träge. Wieso fangen die davon an und nicht von der Einrichtung seiner Bude, überlegt er. „Kennen Sie den Anlaß?“ „Nee, keine Ahnung. Darf ich rauchen?“ „Bitte!“ sagt Rabe und langt eine Packung aus seinem Schreibtisch; es sind keine Camel, sondern Duett. Er schiebt auch ein Feuerzeug über den Tisch. „Von Ihrer Beteiligung an den jahrelang verübten Lada-Diebstählen in allen Bezirken der Republik sprechen wir später, Simon!“ sagt Hauptmann Rabe so beiläufig, als gäbe es nichts daran zu bezweifeln. Er blufft, denkt Simon, bestimmt blufft er. Oder haben Willi und Kalle gesungen? „Viel wichtiger ist uns, das an Oberleutnant Boltin begangene Verbrechen aufzuklären.“ Simon verschluckt sich an dem Rauch seiner Zigarette und hustet. Ein Verbrechen an Boltin? Welches? Denkt der Hauptmann etwa, daß er…? Simon hat das
Gefühl, als käme etwas Bedrohliches auf ihn zu. „Sagt Ihnen der Name Finkenhain etwas?“ will Rabe wissen. „Nein. Das Kaff kenne ich zwar, war aber ewig nicht da. Sie wissen, warum!“ Simon grinst schief. „Aber an Oberleutnant Boltin erinnern Sie sich?“ „Das ist doch der, der mich damals…?“ Er unterbricht sich. „Ja, der!“ sagt Hauptmann Rabe. „Er hatte vor, ein paar Unklarheiten zu beseitigen. Ahnen Sie, welche?“ „Weiß ich nicht“, behauptet Simon, kann aber nicht verhindern, daß seine Stimme zittert. „Am vergangenen Freitag ist Oberleutnant Boltin in Finkenhain erschlagen worden“, sagt Rabe. „Hinterrücks erschlagen!“ betont Klose. Der Hieb sitzt. Simons Hände zittern, er kann kaum noch die Zigarette halten; seine Arme und Beine sind aus Blei. Und die Gedanken fahren Karussell. Plocher! Kalle Plocher war’s! Dazu brauchte er das Alibi! Den Bullen mache er fertig, hatte Kalle gesagt. Aber der sagt viel, wenn der Tag lang ist. Und die, die er „fertiggemacht“ hat, die leben alle noch. Aber Oberleutnant Boltin soll tot sein? Hinterrücks erschlagen? Hinterrücks paßt zu Plocher! „Denken Sie etwa, daß ich…?“ fragt Simon und starrt Rabe entsetzt an. „Ja. An Sie dachten wir!“ bestätigt der Hauptmann. Simon schluckt und schluckt und würgt endlich heraus: „Das – das war ich nicht! Bestimmt nicht! Damit habe ich nichts zu tun!“ „Das wissen wir inzwischen“, wirft Rabe hin. „Sie wurden um achtzehn Uhr fünfzig in der Unfallstation
des Bezirkskrankenhauses behandelt und kommen daher nicht als Täter in Betracht.“ Simon atmet erleichtert auf und inhaliert den Tabakrauch so heftig, daß die Glut der Zigarette sich wie an einer Lunte weiterfrißt. „Hören Sie, Simon, wenn Sie Plocher mit einem falschen Alibi helfen, dann ist das unter Umständen Beihilfe zum Mord. Dann geht das Gericht davon aus, daß es vor der Tat so abgesprochen war.“ Simons Gedanken überschlagen sich. Beihilfe zum Mord? Ist Kalle Plocher ein Mörder? Ich mache den Bullen fertig, hatte er gedroht. War es diesmal ernst gemeint? Um achtzehn Uhr dreißig wollte er mit mir am Bracksee gewesen sein, überlegt Simon; fünfzig Kilometer von Finkenhain entfernt. „Klare Frage, klare Antwort, Simon: War Plocher bei Ihrem Sturz dabei?“ „Nein -! Ich – ich sollte es nur sagen!“ Nun ist es ‘raus, denkt er und atmet erleichtert auf. Nur der Gedanke ist ihm unangenehm, daß Kalle ihm seine Verachtung ins Gesicht schleudert. Aber dazu ist keine Gelegenheit mehr. Sollten sie sich noch einmal sehen, dann vor Gericht. Er hat jetzt das Gefühl, mit knapper Not einer großen Gefahr entronnen zu sein. „Hören Sie, Simon, wollen Sie helfen, den Mord an Oberleutnant Boltin aufzuklären?“ fragt Rabe. Der Gefragte starrt den Hauptmann verwirrt an. „Wie denn?“ „Sie rufen jetzt bei Heise an und sagen ihm, er solle Plocher ausrichten, daß Sie bis Ende der Woche bei Ihrer Tante in Cottbus sind.“ Simon schluckt verblüfft und löscht behutsam seine
Zigarettenkippe. Er nickt. „Ist gut.“ Die große Abrechnung ist nicht mehr aufzuhalten, sieht er ein, da wirkt eine bereitwillige Haltung strafmindernd. Hauptmann Rabe wählt die fünf Ziffern und reicht Simon den Hörer; behält aber einen Finger auf der Gabel und wird sie beim ersten falschen Wort herunterdrücken. In der Hörmuschel tutet eine ganze Weile das Rufzeichen, dann wird abgehoben und Heise meldet sich so quengelig wie immer. „Gerhard ist hier! Gerhard Simon!“ sagt der. „Du, Willi, sage Kalle Bescheid, daß ich bis Ende der Woche zu meiner Tante nach Cottbus fahre. Die hat mich eingeladen. Tschüs!“ Der Hauptmann nickt zufrieden und drückt auf die Gabel. Oberleutnant Erika Rabe tippt einen Abschlußbericht für den Staatsanwalt und führt danach eine Vernehmung durch; ein Jugendlicher hat mutwillig Telefonzellen beschädigt. Erst am Nachmittag fährt sie zu Inge Gäde. Heute, am Dienstag, warten im Frisiersalon nur wenige Kundinnen darauf, bedient zu werden. Inge kassiert gerade und nickt ihr zu. Ihr Gesicht ist schmaler geworden, sieht Erika, das Rouge verdeckt die Blässe der Wangen nur unvollkommen. Dieters Tod macht ihr zu schaffen. Inge führt die Freundin nach hinten, in das schmale Zimmer, das als Büro und Umkleideraum dient. Die süßliche warme Luft erschwert das Atmen und verursacht Beklemmungen; Erika bezweifelt, daß sie es hier ständig ertrüge, aber vielleicht war es nur Gewöhnung…Ein Täßchen Kaffee?“ fragt Inge.
„Ja, gern“, antwortet Erika und beobachtet die Freundin, die den Filter vorbereitet. „Ich bin dabei und schreibe den Bericht für die Jugendhilfe.“ Bevor sie erklärt, daß auch Gädes übrige Unkorrektheiten darin erwähnt werden, unterbricht Inge sie. „Du – ich – ich möchte das nicht. Ich habe es mir überlegt.“ Erika Rabe sieht sie betroffen an. „Das ist nicht dein Ernst!“ Aber Inge ist entschlossen, nichts gegen Gäde zu unternehmen. „Am Sonntag war ich aufgeregt; Hansis Zustand war besorgniserregend. Ich habe ihn gestern im Krankenhaus besucht und konnte ihn gleich mitnehmen. Er hat mir alles geschildert. Herbert hat keine Schuld daran, daß Hansi Schnaps getrunken hat.“ Erika hält nicht länger an sich. „Erlaube mal, Inge! Vernachlässigung der Aufsichtspflicht ist das mindeste, was ihm anzulasten ist!“ Inge hört ihr geduldig zu, ändert aber ihren Standpunkt nicht. „Daß er sich dann vor lauter Verzweiflung betrunken hat, verstehe ich. Versetze dich mal in seine Lage. Wir haben ihm angedroht, er dürfe den Jungen nie mehr bekommen, das muß ihn gestern und heute entsetzlich gequält haben. Ich finde, das ist Strafe genug! Er hängt doch an dem Jungen!“ Erika schweigt und vermutet, daß Inges Haltung zum Teil auf praktischen Erwägungen beruht. Sie lebt nun wieder mit Hansi allein, und Gäde ist der einzige, der ihr den Jungen gelegentlich abnehmen kann. Das verschafft ihr ein wenig Bewegungsfreiheit. „Ihm den Umgang mit seinem Sohn zu verweigern,
das sollte ja keine Strafe sein, das hast du selbst gesagt. Es ist eine Vorsichtsmaßnahme, damit es sich nicht wiederholen kann. Ich bin überzeugt, Herbert sorgt in Zukunft dafür, daß Hansi nicht mehr an Schnaps herankommt. Und dem war so elend, daß er bestimmt kein Verlangen mehr danach verspürt.“ Erika nickt stumm und kann sich Inges Argumenten nicht verschließen; was sie sagt, klingt vernünftig. Sie beobachtet Inge, die das siedende Wasser aus dem Pfeifkessel in den Filter gießt. Erika atmet genießerisch den aromatischen Duft ein, der den penetrant aus dem Salon hereindringenden überdeckt. Das Telefon läutet. Erika nimmt Inge den Kessel aus der Hand und filtert weiter. Inge Gäde meldet sich, es ist aber keine Kundin, die um einen Termin bittet. Inge nimmt eine Mitteilung entgegen, die sie sichtlich betroffen macht, sie legt den Hörer auf und starrt sekundenlang auf den Apparat nieder. „Gäde ist wirklich vom Pech verfolgt“, sagt sie. „Ich hatte heute morgen im Plattenwerk angerufen, um ihm zu sagen, daß er den Jungen wie bisher haben kann. Er war aber nicht da. Eben sagt mir sein Meister, daß er krank feiert und -und…“, sie stockt, schließt endlich: „Man hat ihm gestern früh bei einer Verkehrskontrolle den Führerschein abgenommen.“ „Vermutlich Restalkohol“, sagt Erika und fügt hinzu, daß wahrhaftig oft genug vor dem Fahren unter Alkoholeinfluß gewarnt wird. „Wann hat Gäde Hansi am Freitagabend heimlich besucht?“ fragt Erika beiläufig. „Keine Ahnung, ich habe ihn nicht gefragt.“
„Das läuft nicht weg; gelegentlich frage ich Hansi. Du, der Kaffee wird kalt!“ Erika sagt nicht, daß sie die Gelegenheit, den Jungen zu befragen, sehr bald herbeiführen wird. Sie lenkt das Gespräch wieder auf das Thema Alkohol am Lenkrad. Beide genießen den Kaffee, und als Inge an die Kasse gerufen wird, verabschieden sie sich voneinander. Erika Rabe weiß, wo der Schulhort in der Poldamer Umgebung die Ferienspiele durchführt und fährt hinaus. Hansi Gäde besucht gerade das Zelt mit dem Kasperletheater. Erika wartet das Ende der Vorstellung ab und lauscht auf die begeisterten Beifallsrufe der Kinder. Hansi staunt, daß Tante Erika ihn besucht. „Ich hatte in der Nähe zu tun“, gibt sie vor, „und dachte, ist hier nicht Hansi Gäde in den Ferienspielen?“ Inges Sohn berichtet von abenteuerlichen Unternehmungen, Tante Erika hört ihm zu und fragt dann: „Erinnerst du dich an den letzten Freitag, als dein Vati dich besucht hat?“ „Na klar!“ .Er brachte dir doch ein Buch mit? Ich wüßte gern, wie es heißt, ich möchte so eines verschenken.“ „Delta siebzehn im Anflug!“ gibt Hansi stolz Auskunft. „Weißt du noch, wie spät es war, als dein Vati kam?“ „Nö, weiß ich nicht. Er hat mir ein paar Geschichten vorgelesen. Jetzt kommt die Aktuelle Kamera, hat er gesagt, wolln wir den Fernseher einschalten? Ich wollte aber lieber, daß er weiterliest. Fährst du wieder nach Poldam? Wir fahren immer mit einem Bus für uns ganz allein.“
„Ja, ich fahre wieder zurück. Tschüs, Hansi!“ Sie drückt den Jungen an sich und küßt ihn. Auf der Rückfahrt überlegt Erika, daß sie Inge Bescheid geben muß; sie wird ihr sagen, sie hätte vorher nicht daran gedacht, daß sie in der Nähe des Ferienlagers zu tun habe. Sonst berichtet der Junge es ihr abends, und darüber könnte Inge stutzig werden.
25. Das Hotelfoyer, in der Größe einer Bahnhofshalle, ist so belebt wie diese nach der Ankunft eines Zuges. Gäde drängt zwischen Touristen hindurch, fremde Sprachfetzen dringen an sein Ohr, und das quirlige Durcheinander verwirrt ihn. Das imponierende Vestibül ist großzügig mit Polstergarnituren ausgestattet. Eduard fläzt lässig in einem ledergepolsterten Sessel und hebt grüßend die Hand. In seinem guten Anzug, ausgeschlafen und nüchtern, wirkt Gäde heute vorteilhafter als am Vortag. Eduard reicht ihm die Hand, als sei dies eine Auszeichnung. „Sie haben sich zehn Minuten verspätet“, moniert Eduard. Gäde ignoriert es und sagt nicht, daß er unterwegs von dem Gedanken gepeinigt wurde, Eduard könnte verhindert sein, die Verabredung einzuhalten. Es erleichtert ihn, ihm ist, als hätte er auf einem Brückengeländer balancierend einen Abgrund überqueren sollen, und dies wurde ihm plötzlich erspart. Er hatte sich so weit vorgewagt, daß es kein Zurück mehr gab. Alles, was das Leben verschönt, besaß er nicht mehr. Nach dem Fernseher holte
Rudi Brigalla das Radio, den Kassettenrecorder und den Plattenspieler mitsamt den Schallplatten weg; darunter waren unersetzliche gewesen. Brigalla schleppte alles für ein Trinkgeld fort und verdiente sich bestimmt eine goldene Nase daran. Die Poldamer Wohnung erweckt in Gäde kein Heimweh mehr. Eduard führt ihn ins Hotel-Restaurant. In einer von Blattpflanzen separierten Nische ist ein Tisch für vier Personen reserviert. Die Art, wie der Kellner Eduard umsorgt, verrät, daß der hier ein geschätzter Gast ist. Auf die Frage des Obers, ob man auf die übrigen Herrschaften warte, antwortete der Lackaffe, man möchte zu speisen anfangen. „Wer kommt denn noch?“ fragt Gäde neugierig. „Niemand“, antwortet Eduard, „ich will nicht, daß wir gestört werden. Haben Sie die Anzahlung dabei?“ „Gewiß“, sagt Gäde, „aber bevor ich…“ Eduard unterbricht ihn und versichert, daß er sich vorher selbstverständlich von der Seriosität der Abmachung überzeugen müsse. Er entnimmt seiner Kollegtasche ein zweiseitiges Dokument mit dem Kopf eines Westberliner Anwaltbüros, und Gäde ist von dem amtlich wirkenden Schriftstück beeindruckt. Der Ober serviert den Aperitif, und Gäde überfliegt die Paragraphen des mit Herrn Willibald Kreutzer zu schließenden Dienstleistungsvertrages. Die juristisch verklausulierten Bedingungen begreift er nur unvollkommen, klar wird ihm nur, daß die bei Vertragsabschluß fällige Anzahlung von siebentausend Mark – in Worten: siebentausend – als nicht zurückzahlbar gilt, sofern der Vertragspartner zu eins, Willibald
sofern der Vertragspartner zu eins, Willibald Kreutzer also, durch höhere Gewalt an der Ausführung der zugesicherten Leistung gehindert wird. Gäde möchte wissen, was alles unter den Begriff „höhere Gewalt“ fällt, doch der Ober serviert Schwalbennestsuppe. Die Pausen zwischen den Gängen füllt Eduard, der demnach Willibald heißt, geschickt mit Informationen aus und schiebt vor dem Dessert ein Farbfoto über den Tisch. Es zeigt einen stattlichen Lastzug mit der grellbunten Aufschrift „Spedition Krümmer und Söhne“ auf den Planen. Der Laster wirkt vertrauenerweckend, findet Gäde und steckt das Foto ein. „Wann und wo treffe ich den, Herr Kreutzer?“ Das Essen war gut, und der Kognak ausgezeichnet; Eduard lehnt sich behaglich zurück und mustert seinen Gast. In der kultivierten Atmosphäre dieser Gaststätte wirkt der Lackaffe weniger arrogant, stellt Gäde fest. Außerdem zeigt er sich von einer liebenswürdigen Seite. „Sie irren, ich heiße nicht Kreutzer. Wir bleiben bei Eduard, ganz schlicht Eduard.“ Gädes verblüffte Miene entlockt ihm ein Lächeln. „Herr Kreutzer ist Ihr Vertragspartner, den ich vertrete. Er hat Gründe, nicht nach Ostberlin zu kommen. Sie verstehen?“ Gäde ahnt, welcher Art die Gründe sein mögen und nickt. Dann stößt ihm auf, daß vorher nur von fünftausend Mark Anzahlung die Rede gewesen war, und das sagt er. „Sie vergessen, daß Sie danach erst die Absicht äußerten, Ihren Sohn mitzunehmen!“ Herbert Gäde winkt ab. Was sollen die Kleinigkeiten? Alles andere ist jetzt wichtiger. Er überfällt sein Ge-
genüber mit Fragen. „Zuerst telefonieren wir, damit Sie die Bestätigung haben“, erklärt Eduard und gibt dem Kellner einen Hundertmarkschein a conto mit dem Hinweis, daß sie gleich zurückkämen. Im Foyer warten sie vor einem Münzfernsprecher, bis sie an der Reihe sind und drängen sich dann in der engen Zelle. Eduard überläßt es Gäde, die Vorwahl von Westberlin und die Rufnummer vom Briefkopf des Anwaltbüros zu wählen. Es meldet sich eine Sekretärin, die informiert ist, als er seinen Namen nennt. Sie bestätigt die Gültigkeit des Vertrages. In das Restaurant zurückgekehrt, drängt Eduard auf Abwicklung der Formalitäten. Gäde reicht ihm verstohlen sieben von den achttausend Mark des Kohlenhändlers, und geübt zählt Eduard die Scheine. Danach schiebt er ihm ein Stück Landkarte hin und erteilt Instruktionen. „Sehen Sie, auf diesem Parkplatz im Fläming, an der Autobahn in Richtung Leipzig, treffen Sie morgen den Lastzug. Von Poldam aus ist der Ort mit zwei Buslinien zu erreichen.“ Gäde solle sich gut getarnt in der Nähe des Rastplatzes aufhalten. Nach dem Eintreffen des Lastzuges von „Krümmer und Söhne“ müsse er sich dann vergewissern, daß keine Streife der Verkehrspolizei in der Nähe ist. Der Lastzug käme nicht allein, er werde von einem Sicherungsfahrzeug begleitet. Gäde starrt Eduard verblüfft an. „Der LKW-Fahrer markiert eine Panne und räumt die Werkzeugkiste aus. Das Sicherungsfahrzeug hält daneben und deckt es vor Sicht. Aus dem Werkzeug-
fach führt eine Klappe in den Laderaum hinauf. Es wird zwar eng zwischen dem Stückgut, dafür ist der Lastzug aber plombiert und wird nicht vom DDR-Zoll geöffnet.“ Erst jetzt wird es Gäde klar, welches Risiko er eingeht. Meine Güte, denkt er, wie schaffe ich das alles bis morgen? Auf die an Eduard gerichtete Frage erwidert dieser: „Kein Problem, es gibt ja Taxis. Genügend Kleingeld haben Sie ja wohl? Apropos Kleingeld: Dem LKW-Fahrer übergeben Sie die restlichen fünftausend Mark!“ Der Kellner kassiert, und Eduard gibt ein großzügiges Trinkgeld. Im Vestibül verabschiedet er sich eilig. Gäde drückt die feuchtkühle Hand, die ihn an einen Frosch erinnert, und Eduard taucht im Gedränge einer Reisegruppe unter. Plötzlich findet Gäde etwas sonderbar und ärgert sich, daß er nicht schon früher darauf kam. Wieso kassiert der Fahrer des Westberliner Lastzuges die fünftausend Mark in DDR-Währung? Weshalb nimmt er das Risiko auf sich, das Geld durch den Zoll zu schmuggeln? Devisenvergehen werden doch bestraft? Werden Gelder für Ausschleusungen nicht in Westwährung gefordert? Eigenartig, denkt Gäde, sehr eigenartig! Vom Hotel-Restaurant aus geht er ins nahe Centrum-Warenhaus und kauft in der Campingabteilung alles Nötige. Er darf keinen Koffer mitbringen, nur einen Rucksack, hatte Eduard ihm eingeschärft. Außer diesem kauft Gäde noch einen Campingbeutel und wetterfeste Bekleidung für Hansi. Danach sucht er die Lebensmittelabteilung im Parterre auf und versieht sich mit Proviant.
Es könne der Umstand eintreten, ließ Eduard ihn wissen, daß der Treff nicht zustande kommt. Dann müsse er unangenehme vierundzwanzig Stunden ausharren und am nächsten Tag zur selben Zeit zur Stelle sein. Gäde reiht sich mit dem vollen Einkaufswagen in die Warteschlange einer Kasse ein und bedenkt, daß er diesem Umstand zuwenig Bedeutung beigemessen hat. Nur gut, daß er an wetterfeste Kleidung dachte. Am Mittwochnachmittag kehrt er in seine Poldamer Wohnung zurück. Er überprüft die Einkäufe und glaubt umsichtig vorgesorgt zu haben. Er verstaut alles wie für eine Wanderfahrt und trinkt nebenher aus einer Kornflasche, die eigentlich zum Reiseproviant gehört. Es wird ihm klar, daß sein Unternehmen einem Sprung ins Wasser gleicht; er kann nicht einmal bei Eduard nachfragen, falls ihm etwas unklar ist; er kennt weder seinen richtigen Namen noch die Adresse. Rudi Brigalla weiß es! Der hat die Bohrmaschine geholt und schuldet ihm noch das Geld dafür. Gäde trinkt einen Schluck aus der Flasche, ißt ein Paar kalte Würstchen vom Proviant und macht sich auf den Weg. In der verräucherten Kneipe ist Betrieb. Der Wirt füllt Gläser. Auf die Frage nach Brigallas Adresse zuckt er die Schultern, die kennt er nicht, und in Begleitung eines gewissen Eduard hat er ihn nie gesehen. Gäde verspürt keine Lust, zwischen den fremden Zechern auf Brigalla zu warten, zumal der Wirt versichert, daß der nie regelmäßig käme und manchmal wochenlang ausblieb, je nachdem, bei welcher seiner Bräute er „einwohnte“. Herbert Gäde fährt mit der Straßenbahn zu einer Spätverkaufsstelle, deckt sich mit
Getränken ein und denkt auch an Limonade für Hansi. Zu Hause – alles in ihm sträubt sich dagegen, die triste Stube und Küche noch als Heimstatt anzusehen – findet er im Briefkasten einen Zettel seines Meisters. Der hat ihn nicht angetroffen; er solle morgen den Krankenschein bringen, steht auf der herausgerissenen Notizbuchseite. Gäde knüllt das Papier zusammen und wirft es zu den Abfällen, die den Fußboden bedecken. Dann verstaut er die Getränke, und Rucksack und Campingbeutel sind nun prallvoll. Er vermeidet es, Licht einzuschalten, Brigalla hat ihm die Rollos abgeschwatzt, und man sähe dann das Chaos in seiner Wohnung. Gegen neun Uhr dämmert es, und Gäde kriecht mit einem Schwips ins Bett. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. Die Überlegungen kreisen um das morgige Abenteuer. Da er es nicht mehr rückgängig machen kann, verdrängt er das Grübeln darüber, ob er wohl eine Torheit begeht. Im Einschlummern fährt er empor, als an die Wohnungstür geklopft wird. Wer kann es sein? Aus dem Betrieb sicher niemand um diese Zeit. Brigalla? Bringt der die fünfzig Mark für die Bohrmaschine? Oder Eduard? Vielleicht, um zu sagen, daß das Unternehmen aufgeschoben werden muß? Er steht auf und geht ans Fenster; er wird es aufreißen und rufen, sollte es Brigalla sein. Dann aber hält er den Atem an und starrt ungläubig auf die junge Frau hinab, die den Hof überquert; ihren Gang kennt er, da ist kein Irrtum möglich, trotz der Dämmerung. „Inge?“ murmelt er. „Wahrhaftig Inge? Meine Güte!“
Was wollte sie? Dem Jungen ist doch nichts passiert, den sah er gestern im Bus vom Ferienlager. Wenn Inge so spät noch zu ihm kommt, kann es nur bedeuten, daß ihr leid tut, was am Sonntag gesprochen worden war. Er bedauert, daß er sie nicht zurückgerufen hat und kriecht wieder ins Bett. Das ginge auch gar nicht wegen des Durcheinanders in seiner Wohnung; grenzenlos enttäuscht versucht er einzuschlafen. Nimmt er ihr morgen den Jungen weg, wird sie es ihm niemals verzeihen. Zur selben Zeit sitzt Rudolf Schreiter auf dem Balkon einer fremden Wohnung, in Gadebergs neuem Stadtteil. Die junge Frau hat ihn eingelassen, sie kennt ihn ja. Die Kinder schliefen schon, sagt sie bedauernd, und meint das eigene und Anita. Monika arbeitet Spätschicht und nimmt in der Kaufhalle noch Ware an. Die junge Frau bringt es aber nicht übers Herz, ihm einen Blick durch den Türspalt auf die schlafende Enkeltochter zu verwehren. Vom Balkon sieht er auf einen Park. Die Konturen der Bäume verschwimmen schon in der Dunkelheit, und Nebelschwaden steigen vom Boden auf. Die Frau entschuldigt sich, im Bad wartet die Waschmaschine. Rudolf sieht, daß Monika gut untergekommen ist, glaubt aber nicht, daß sie sich hier auf die Dauer wohl fühlt, wo ihr jeder Gegenstand fremd ist. Schreiter hört die Wohnungstür klappen und ein Flüstern im Korridor. Dann steht Monika auf der Balkonschwelle. Er weiß nicht, wie er sich die Begegnung vorgestellt hat. Die Situation ist neu, die gab es zwischen ihnen noch
nicht. Daß sie ihm gerührt um den Hals fällt, konnte er nicht erwarten, das, was nun geschieht, aber auch nicht. Monika steht da und verschränkt die Arme wie Erna, wenn sie ernsthaft gekränkt ist. „Warum kommst du her?“ fragt sie. „Guten Abend, Monika“, sagt er. „Einer muß nachgeben, denke ich.“ ,,’n Abend“, antwortet sie. „Daß du danach herkommst, meine ich. Das ist stark!“ „Ich verstehe nicht. Was heißt danach?“ Er hört ihren Atem, so wie sie schnauft, hält sie sich mühsam im Zaum. „Tue doch nicht so! Du verstehst mich genau! Du hast garnicht bis heute gewartet! Du hattest es eilig und bist schon gestern zur Kripo – oder bestreitest du es?“ „Allerdings!“ » „Gerhard ist gestern festgenommen worden! Seine Wohnung ist versiegelt! Sage bloß, du hast nichts damit zu tun?“ „Genau so ist es! Ich habe Simons Festnahme nicht veranlaßt. Ich bin nicht zur Kripo gegangen. Der Hauptmann kam gestern abend zu uns. Da war Simon schon verhaftet worden. Ich gebe aber zu, daß ich morgen hingegangen wäre.“ Es herrscht ein bedrückendes Schweigen, dann fragt Monika ungläubig: „Die Kripo war bei euch, und Gerhard war vorher schon…?“ „Ja. Ich hoffe, daß du mir glaubst. Wir waren immer ehrlich zueinander. Simon ist vernommen worden und hat zugegeben, daß Plocher sein Komplize ist. Mehr
weiß ich nicht. Alles hat mir der Hauptmann nicht auf die Nase gebunden!“ Als Monika stumm bleibt, fügt er hinzu: „Du, ich bin froh, daß es mir erspart geblieben ist.“ Monika lehnt an der Tür, ihre Schultern zucken; Schreiter geht zu ihr hin und legt einen Arm um sie. Da gibt sie dem Verlangen nach, sich wieder auszusöhnen. Sie umschlingt seinen Nacken und preßt ihr Gesicht an seine Brust. „Komm wieder nach Hause! Mutter grämt sich! Gleich morgen, ja?“ „Nein“, antwortet sie unter Tränen lächelnd, „gleich jetzt! Ich habe dein Auto unten gesehen. Ich wecke Anita. Es ginge auch gar nicht länger, sie fragt dauernd nach euch.“ Schreiter streichelt ihren Rücken und schluckt gerührt. Komme nicht ohne die beiden, hatte Erna ihm auf den Weg mitgegeben. Gegen zweiundzwanzig Uhr läutet im Zimmer des Diensthabenden das Telefon. Heinz Rabe, der in dieser Nacht den Kriminaldauerdienst versieht, hebt den Hörer ab und meldet sich; am anderen Ende spricht Erika. „Heinz? Hast du geschlafen?“ Er schüttelt lächelnd den Kopf, obwohl sie das ja nicht sieht. Sie weiß doch, daß er sich erst lange nach Mitternacht für zwei, drei Stunden auf dem Feldbett ausstreckt; schlafen kann man das nicht nennen. „Weshalb ich anrufe: Inge hat eben mit mir telefoniert. Sie ist sehr besorgt.“ „Besorgt?“ wiederholt er. „Um Hansi? Hat er ihr gesagt, daß du bei ihm warst?“ „Das weiß sie ja von mir, ich hatte im Geschäft ange-
rufen. Nein, sie war heute abend bei Gäde. Der fehlt schon den dritten Tag im Betrieb.“ „Vermutlich ist er stinksauer, weil er den Führerschein los ist und macht nun erst recht einen drauf. Oder was denkst du?“ „Darauf kommt es nicht an, sondern auf das, was Inge denkt.“ „Und was denkt sie? Was wollte sie denn abends bei ihrem Geschiedenen?“ Erika spürt die Ungeduld in seiner Stimme und faßt sich kürzer als beabsichtigt. „Sie fürchtet, er könne sich etwas angetan haben.“ Er verbirgt seine Überraschung nicht. „Unsinn! Gäde doch nicht! Der ist gar nicht der Typ! Na gut“, sagt er, um Erika zu besänftigen, „wenn er sich morgen nicht im Betrieb meldet, sehen wir mal nach ihm.“ „Warum erst morgen?“ fragt sie. „Du könntest eine Funkstreife vorbeischicken.“ „Nun mach mal ‘n Punkt“, antwortet er ärgerlich. „Vielleicht kampiert er bei ‘ner Freundin? Du, ich muß auflegen, der Interne blinkt! Tschüs, schlaf gut!“ „Morgen also. Das habe ich Inge auch gesagt. Gute Nacht, du Brummbär.“ Am Donnerstagmorgen verläßt Gäde zeitig das Haus, und ein Mitbewohner berichtet später, daß er nicht wie sonst zur Garage ging, sondern zur Straßenbahnhaltestelle. Er trug auch keinen Jeansanzug wie meist an Werktagen, sondern einen sportlichen, und er habe einen nagelneuen prallvollen Rucksack und ebensolchen Campingbeutel bei sich gehabt. Gäde fährt zum
Bahnhof und verstaut das Gepäck in zwei Schließfächern. Alles, was er tut, wirkt zielstrebig und entschlossen. Er kann weder auf Brigalla noch auf Eduard zählen, er ist allein auf sich gestellt. Er fühlt sich auch nicht hilfebedürftig, hat Brot und Speck gefrühstückt und Mokka getrunken. Vor dem Bahnhof nimmt er ein Taxi und nennt als Ziel das Ferienspiellager. Die Zelte liegen noch verlassen da, und das Gittertor ist geschlossen; er läßt das Taxi warten. Nacheinander kommen zwei Busse und halten vor dem Eingang; im zweiten sitzt Hansi am Fenster. Gäde gestikuliert und zeigt zum Zaun hin, wo sie sich manchmal treffen, Es dauert lange, ehe der Junge sich davonstehlen kann. Gäde hebt den von ihm gelösten Maschendrahtzaun an, doch Hansi zögert. „Wir fangen gleich mit Ballspielen an“, sagt er, „da fehle ich dann.“ Gäde macht ein enttäuschtes Gesicht. „Wenn du lieber mitspielen willst, dann geh! Ich dachte, du kommst mit? Nicht nach Mulawien, hörst du? Diesmal ist es ein richtiges Abenteuer! Wir fahren weit fort, sehr weit!“ „Mit dem Skoda?“ Hansi kriecht unter dem Zaun hindurch, umarmt und küßt seinen Vater. „Du hast Schnaps getrunken!“ sagt er und wischt heftig seinen Mund. „Nicht mit dem Skoda“, sagt Gäde, „du wirst schon sehen!“ Hansi wird von Abenteuerlust gepackt. Daß heute alles ganz anders verläuft als sonst an den Ferientagen, ist aufregend genug. Sie steigen in das Taxi ein, und Hansi stellt Fragen. Der Vati legt verschwörerisch den Zeigefinger über seine Lippen und deutet auf
den Fahrer. Vor dem Bahnhof steigen sie aus, und Gäde bezahlt. Aus den Schließfächern holen sie den Rucksack und den Campingbeutel, Hansi staunt. Das Gepäck bestätigt ihm, daß Vati kein neues Spiel erfunden hat, sondern mit ihm eine richtige Reise unternimmt. „Fahren wir ins Ausland?“ fragt Hansi atemlos. Ausland ist für ihn der Begriff weiter Ferne. „Erraten! Weit fort! Es wird ein Abenteuer, versprochen ist versprochen.“ „Kommt Mutti auch hin?“ klingt es besorgt. „Bestimmt, aber erst später.“ Sie laufen zur Bushaltestelle, und Hansi grübelt der Antwort nach, die unbestimmt klang. „Weiß Mutti, daß wir beide verreisen?“ fragt er. Gäde zaudert mit der Antwort. „Natürlich nicht! Dann wäre es ja kein Abenteuer!“ Hansi verlangsamt den Schritt; er war nie länger als einige Tage von der Mutti getrennt und kann sich nicht vorstellen, daß es nun für längere Zeit geschieht. Vati faßt seine Hand und drängt zur Eile; dabei blickt er oft zurück, als fürchte er, daß man ihnen folgt; er ist auch nicht so lustig wie sonst. Sie steigen in einen Bus, und der Fahrer schimpft, da sie im Berufsverkehr so viel Gepäck haben. Vati streitet mit ihm; so böse kennt Hansi ihn gar nicht. Der Bus ist gedrängt voll, und die Fahrt macht gar keinen Spaß. In einer Stadt mit Parks und Alleen steigen sie aus, und Vati sagt, dies sei ein Kurort. „Ich habe Hunger!“ behauptet Hansi. Er müsse sich noch gedulden, meint Vati, um Mittag zu essen, sei es noch zu früh. Die Busfahrt hat Hansi
hungrig gemacht. In den Ferienspielen essen sie jetzt das zweite Frühstück. Sie besteigen abermals einen Bus. Der wird nicht so voll und hält seltener; Vati sieht gespannt hinaus und manchmal auf einen Zettel. Sie fahren über eine Autobahnbrücke, dann stoppt der Bus an einem Wartehäuschen. Auf beiden Straßenseiten steht dichter Wald. „Ich habe jetzt ganz dollen Hunger!“ verkündet Hansi ungeduldig; waren sie nach Mulawien gereist, dann machten sie einfach eine Pause und aßen. – Gäde bemüht sich, den Jungen bei guter Laune zu halten. Die bessert sich aber erst, als sie neben einer Kiefernschonung mit mannshohen Bäumchen rasten. Sie essen Knäckebrot und kalte Würstchen und trinken Limonade dazu. Als Hansi etwas abseits geht, nutzt Gäde es und trinkt vom Klaren. Ob das Ziel noch weit sei, fragt Hansi, seine Abenteuerlust scheint gedämpft. Sie nimmt erst wieder zu, als Gäde einen neuen Anorak aus dem Rucksack langt und Hansi hineinschlüpfen läßt, denn der Himmel bezieht sich, und es nieselt. Gäde blickt auf die Uhr und erschrickt. Die Pause dehnt sich zu lange, er drängt zum Aufbruch. Hansi begreift die plötzliche Hast nicht. „Wir müssen pünktlich auf dem Rastplatz sein“, sagt Gäde, „dort fängt das Abenteuer erst richtig an.“ Sie laufen zurück und überqueren die Brücke über die Autobahn. Im Wald halten sie sich von der Autobahn immer gleich weit entfernt, hören Lastzüge vorbeibrummen und das Summen der PKWs. „Findet uns Mutti überhaupt?“ Gäde versichert, das sei kein Problem. Zum ersten
Mal erwägt er, daß der Junge für ihn eine Belastung werden könnte. Sie erreichen den beschriebenen Rastplatz, umgehen ihn, erklimmen einen Hügel und finden eine Stelle, von der aus sie den Parkplatz überblicken. Es hört auf zu nieseln, doch nun schwirren Mückenschwärme aus dem Moosgrund auf, und Hansi wird arg zerstochen. Der Hinweis tröstet ihn nicht, daß so etwas zu einem Abenteuer dazugehört. Auf dem Rastplatz ist ständiges Ankommen und Abfahren. Wie sollen sie da unbemerkt in den Lastzug einsteigen? Gäde beurteilt seine Chancen immer skeptischer. Die verabredete Zeit rückt näher; ein Streifenwagen der Verkehrspolizei biegt auf den Platz ein. Die Besatzung macht hier wohl eine Pause. Auch das noch, denkt Gäde, wenn jetzt der Laster von „Krümmer und Söhne“ kommt, dann „gute Nacht“! Unter den Augen der Polizei spielt sich nichts ab. „Paß auf, flüstert er, „angenommen, wir werden gefragt, wohin wir wollen, dann sagen wir, zu unserer Oma nach Dessau.“ „Wir haben doch gar keine Oma!“ „Du sollst es ja nur sagen!“ „Aber manchmal fragen die Großen richtig böse. Dann muß man die Wahrheit sagen – wie mit dem Bier.“ „Mit welchem Bier?“ fragt Gäde. „Ich sollte doch nicht sagen, daß du bei mir warst. Mutti hat aber die Kappen von den Bierflaschen gefunden…“ Hansi verstummt. Gäde zieht den Jungen an sich und streichelt seine Wangen. „Da hast du es gesagt? Das macht nichts.“
Die verabredete Zeit ist längst überschritten; noch immer hält dort unten der Streifenwagen – und ein zweiter stellt sich dazu. Gäde verspürt einen bitteren Geschmack im Mund; ein Polizist kontrolliert mit seinem Fernglas die Autobahn und schwenkt es auch über den Hügel hinweg. „Duck dich!“ Gäde reißt Hansi zu Boden. Wissen die am Ende, daß ein Westberliner Lastzug hier jemanden mitnehmen soll? Der Gedanke macht Gäde schwindlig, aber er weist ihn als unsinnig von sich. Dann atmet er erleichtert auf, denn beide Streifenwagen fahren nacheinander davon. Nur zwei PKWs halten noch dort unten; käme er doch jetzt, denkt Gäde. Abenteuer spielen ist schöner als zu erleben, stellt Hansi fest. Die Mückenstiche jucken, er hat sich schon blutig gekratzt. Er sagt zu Vati, es sei erst mal genug Abenteuer, und sie könnten ein anderes Mal weitermachen, es wäre ihm recht. Auf dem Rastplatz biegt so ein Lastzug ein, wie sie dauernd auf der Bahn vorbeidonnern. Vati reckt sich empor und starrt hinunter. „Das ist er“, sagt er aufgeregt, „mit dem fahren wir! Nein, er ist es nicht!“ Vatis Gesicht ist enttäuscht. „Ist das denn nicht egal, mit welchem wir fahren?“ „Sei still!“ herrscht Vati ihn an, und Hansi verstummt erschrocken, „‘tschuldige, ich bin nervös, das mußt du verstehen.“ So unbeherrscht ist er sonst nie, nicht mal, wenn er mehr getrunken hat als heute. Das Abenteuer macht keinen Spaß. „Ich will nach Hause!“ sagt Hansi. „Ich muß mal!“ Vati schickt ihn ins Gebüsch und hat sogar an Klopapier gedacht. Als Hansi zurückkommt, riecht
Vati nach Schnaps, und seine Augen glänzen. „Drei Stunden sollten wir warten“, sagt er, „vier sind es jetzt. Wir müssen morgen zur selben Zeit wieder her.“ Vati rülpst. „Morgen komme ich aber nicht mit“, erklärt Hansi entschlossen. „Das Abenteuer ist doof!“ Auf dem Rastplatz hält wieder ein Streifenwagen, und Vati schimpft ihn eine Mistkarre. Hansis Entschluß ist endgültig, morgen macht er nicht mehr mit. Die Ferienspiele sind viel schöner. „Wir fahren doch nicht nach Poldam zurück, du Döskopp!“ erklärt Vati. Hansi schluckt gekränkt. Döskopp hat er ihn noch nie genannt. Das tut er nur, weil er von dem Schnaps getrunken hat. In der Flasche ist nur noch ein Rest. „Trinke nicht mehr, bitte!“ sagt Hansi. Vati winkt ab, leert die Neige doch und wirft die Flasche ins Gebüsch. „Komm!“ Es nieselt wieder, und dann wird ein richtiger Regen daraus. Hansi zieht die Kapuze über den Kopf. Sie stolpern hintereinander durch den Wald, Vati läuft voraus, und treffen auf eine Eisenbahnstrecke. Das einzige Gleis ist verrostet. Auf den Schwellen läuft man besser als durch Gestrüpp; von dem Verkehr auf der Autobahn hören sie längst nichts mehr. Es regnet heftiger, und Vati sagt, viel weiter dürfen sie nicht mehr gehen, sie müssen ja morgen zum Rastplatz zurück. „Morgen kommt der Lastzug bestimmt!“ behauptet er. „Ich will nach Hause! Mir ist kalt!“ Die Schienen krümmen sich zur Kurve. Dahinter steht neben dem Bahndamm ein Häuschen aus roten Ziegelsteinen, ein Streckenwärterhaus, erklärt Vati. Die Tür
und das Fenster sind mit Brettern vernagelt. Es scheint ebenso nutzlos wie das verrostete Gleis, bietet aber Schutz vor Regen. Vati tritt gegen die Tür, und die springt krachend auf. Hansi verspürt noch einen Rest Abenteuerlust und drängt an ihm vorbei hinein, verharrt aber enttäuscht. Ein zerbrochener Stuhl, ein Tisch mit nur noch drei Beinen und ein geborstenes hölzernes Bettgestell, darauf ein modriger Strohsack, sind das ganze Mobiliar; Hansi ekelt es. Der Regen läßt nach. Vati holt ein Büschel Zweige und fegt eine Ecke sauber von Staub und Spinnweben, schüttelt den Strohsack auf, und eine Maus huscht davon. „Wir haben Glück“, behauptet er, „bis morgen halten wir es hier aus!“ Das nennt er Glück? „Auf den Strohsack lege ich mich nicht! Vielleicht sind Giftschlangen drin? Spinnen und Käfer ganz bestimmt! Ich will nach Hause! Und Hunger und Durst habe ich auch!“ Vati ist traurig und sagt, daß es wohl doch nicht richtig überlegt war. „Für ein Kind ist die Strapaze zu groß.“ „Was ist eine Strapaze?“ fragt Hansi, knabbert Knäckebrot und ißt Wurstscheiben dazu. Vati antwortet nicht, er streckt sich auf dem Stroh aus. Hansi legt sich nun doch daneben. Draußen prasselt wieder ein Regenguß nieder. Da überkommt ihn, bevor er in den Schlaf fällt, sogar ein Gefühl von Geborgenheit.
Heinz Rabe schreckt aus seinem Traum empor; ein
riesiger Hundebastard sprang ihn an und biß sich in seiner Schulter fest. Er fährt auf der Couch hoch und sieht Erika über sich geneigt, die ihn heftig rüttelt. „Heinz, wach auf!“ Noch vom Schlaf benommen, registriert er die vertrauten Gegenstände des Wohnzimmers; nach dem Dauerdienst kam er nach Hause, um sich ein Auge voll Schlaf zu gönnen. „Wir haben angerufen, du hast es aber nicht gehört!“ sagt Erika erregt. „Wer, wir?“ fragt er gähnend. „Inge wartet draußen! Hansi ist verschwunden! Von den Ferienspielen weg! Inge ist davon verständigt worden und ist gleich zu Gäde hin, aber der meldet sich nicht. Ein Hausbewohner sah ihn heute morgen sonntagsmäßig gekleidet mit Rucksack und Campingbeutel in Richtung Straßenbahn gehen.“ Heinz Rabe ist nun hellwach und begrüßt Inge Gäde. Die hockt in der Diele auf einem Stuhl und knüllt ihr Taschentuch zusammen. Er geht ins Bad und macht sich frisch. „Ich habe Leutnant Klose zu Gädes Wohnung vorausgeschickt!“ ruft Erika an der Tür. „Ich hoffe, daß du einverstanden bist?“ „Ja, natürlich! Was heißt denn sonntagsmäßig gekleidet?“ will er wissen, als er wieder in die Diele tritt. „Das fiel eben auf, antwortet Inge, „sonst läuft er in seinem Jeansanzug herum!“ Erika setzt sich hinters Steuer des Wartburg; als sie vor Gädes Haus eintreffen, steht dort ein Wolga, und Klose steigt aus. „Der Hausvertrauensmann ist verständigt“, sagt er, „und hält sich zur Verfügung.“ Sie überqueren den Hof, die Fenster von Gädes Woh-
nung sind geschlossen. Auf der Treppe schließt sich ihnen der ältere Rentner an. Das Schloß ginge mit einem krummen Nagel zu öffnen, behauptet Klose, für seinen Universal ist es kein Hindernis. Die Wohnung bietet einen chaotischen Anblick. In der Küche ist der Boden mit Verpackungspapier bedeckt, dazwischen liegen Kassenzettel. „Siehst du, ob etwas fehlt?“ wendet sich Erika an Inge…Und ob! Meine Güte, alles ist weg! Der Fernseher! Das Radio! Der Recorder! Der Plattenspieler!“ Inge steht auf der Stubenschwelle und schüttelt fassungslos den Kopf. „Alles begreife ich“, sagt sie, „daß er aber seine Schallplatten weggegeben hat? Die waren sein Einundalles.“ Sie sagt nicht, er habe sie mitgenommen, registriert Rabe, sondern weggegeben. Wer mit einem Rucksack und Campingbeutel davongeht, augenscheinlich in der Absicht, nicht mehr zurückzukommen, der schleppt keine Schallplatten mit. Inge packt Erikas Arm. „Er hat Hansi mitgenommen!“ „Es scheint so“, sagt Klose, der die Kassenzettel aufsammelt und auf den Küchentisch ausbreitet. Gäde hat einen Anorak Größe einhundertachtundzwanzig gekauft, eine Kindergröße, einen Rucksack und einen Campingbeutel. Auf dem Stuhl neben dem Ehebett liegt eine achtlos hingeworfene Jeanshose. Rabe hebt sie mit spitzen Fingern auf und sieht Inge fragend an. Sie bestätigt, daß Gäde sie seit Jahren besitzt und meistens trägt. „Manfred!“ ruft Rabe zur Küche hinüber und übergibt Klose das Kleidungsstück. „Du weißt Bescheid, sage, es sei dringend!“
Leutnant Klose nickt und entfernt sich, die Wohnungstür klappt hinter ihm zu. „Der Verdacht, daß Gäde vorhat, die Republik ungesetzlich zu verlassen, ist nicht von der Hand zu weisen“, erklärt Rabe. „Hier wird gründlich ausgewertet. Ich veranlasse das.“ Erika zugewendet, ergänzt er: „Um den Jungen kümmerst du dich?“ Sie nickt und legt einen Arm um Inges Schulter. „Ich leite alles ein. Ein Mann mit nagelneuem Rucksack und Campingbeutel, mit einem siebenjährigen Jungen an der Hand, fällt auf. Der kann sich nicht unsichtbar machen.“
26. Am Freitagmorgen bleibt das Hoftor der Autowerkstatt Heise zugesperrt. Auf einem Pappschild steht: „Heute wegen defeckt geschlossen!“ Das Wort defekt ist mit „ck“ geschrieben, aber das wissen Elvira und Willi Heise nicht. Die Mitteilung hat Plocher hingehängt. Sie frühstücken gemeinsam in der Küche, Elvira lustlos, und Willi knabbert grämlich an einem Diabetikerbrötchen, nur Karl läßt es sich schmecken. „Hat Gerhard gesagt, daß er am Wochenende zurück ist?“ fragt Karl. „Wie oft willst du das denn noch wissen?“ nörgelt Heise. „Er bleibt bis zum Wochenende bei seiner Tante, hat er gesagt, und sonst kein Wort.“ ,,’ne Tante in Cottbus ist mir neu“, knurrt Plocher. „Wenn du nicht so stur wärst, dann ginge das ja auch!
Hin fahre ich, und von Nieskow zurück schaffst du’s allemal!“ „Ich bin lange nicht mehr gefahren, und ehe ich die neue Brille nicht habe… Meine Augen sind schlechter geworden.“ „Laß es bis nächste Woche, Kalle“, wendet Elvira sich beschwörend an Plocher. „Dann ist Simon wieder da.“ „Ihr Mann sei mit ‘ner Delegation für eine Woche in Leningrad, hat die Alte von dem Zahnklempner am Telefon gesagt. Solche Gelegenheit kommt nicht wieder. Schon gut, ich brauche euch nicht. Das mach ich mit links.“ Plocher wirft Willi einen verächtlichen Blick zu; Elvira sieht er gar nicht an, die nimmt Willis Partei, seit die von der Abteilung Abgaben beim Rat der Stadt in den Büchern geschnüffelt haben. Dabei haben die beiden Prüfer gar nichts gefunden. Als Karl grußlos davongeht, sehen Elvira und Willi, daß er seinen „Kampfanzug“ trägt: Die blankgewetzten Jeans, den Rollkragenpulli, dessen Halswulst er bis zu den Augen hochziehen kann, und eine BlousonLederjacke. Für die ist es eigentlich zu warm. Dazu die Mütze mit dem hochklappbaren Schirm. Plocher trägt aber auch eine Umhängetasche mit Werkzeug darin. Sie beobachten, wie staksig Kalle den Hof überquert, mit jedem Schritt zeigend, daß er hier der Macker ist. Elvira räumt den Tisch ab und setzt sich wieder auf ihren Platz. „Ich habe ihn gebeten, er soll dieses Mal auf mich hören“, erklärt Willi weinerlich. „Die von der Abteilung Abgaben sind nicht nur wegen der Lohnsteuer gekommen. Das weißt du so gut wie ich,
Elvi. Die haben jeden Zettel umgedreht und gerechnet und gerechnet.“ „Mich geht das nichts an. Die Bücher sind ordentlich geführt – und sonst weiß ich von nichts.“ „Nein, du weißt von nichts! Daß Kalle den Lada von dem Zahnarzt holt, weil er auf den Motor scharf ist, weißt du auch nicht! Du bist ahnungslos!“ Heise darf sich nicht aufregen, sagt der Arzt, und nun ringt er keuchend um Luft. „Davon weiß ich nichts – und ich will auch nichts wissen!“ „Wie verrückt ist er“, klagt Willi. „Du, da ist was im Gange! Gestern in der Kasse habe ich die komischen Blicke gemerkt. Sie waren nicht unhöflich zu mir, bewahre! Im Gegenteil? Wie möchten Sie es gern, Herr Heise, alles Hunderter oder kleiner?“ „Hast du denn nicht mit Kalle darüber gesprochen?“ Elvira scheint nun doch besorgt zu sein. „Weißt du was? Ich fahre übers Wochenende weg. Ich bin nicht hier, wenn Kalle wiederkommt.“ „Mach, was du willst“, erklärt Heise müde, „du machst ja sowieso, was du willst! Ihr macht beide, was ihr wollt! Ich bin nur euer Fußabtreter!“ Sie will zum Schwager, denkt er, zu dem GemüseKommissionshändler. Wenn sie denkt, dann ist sie aus allem heraus, dann irrt sie. Kalle wird toben, wenn er kommt und Elvira ist weg. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff! Vor drei Wochen war der Zahnarzt mit dem neuen weinroten Lada wegen einer Lappalie auf den Hof gerollt. Kalle erledigte die Unterwegsreparatur und kassierte ein saftiges Trinkgeld. Der Motor
war genau das, was er brauchte. In den Papieren im Handschuhfach fand er die Adresse und fuhr ein paar Tage später nach Nieskow, um die Lage auszubaldowern. Das Wochenende wird Kalle dazu nutzen, um den geklauten Lada zu zerlegen. Später wird er den Motor in den Neuaufbau einhängen. Am liebsten wäre ich auch weg, denkt Heise, wenn Kalle aufkreuzt; denn daß Elvira fort ist, macht ihn fuchtig, und er läßt dann seine Wut an mir aus. „Hast du mal daran gedacht“, fragt sie mit dem schmeichlerischen Ton, den sie drauf hat, wenn sie etwas erreichen will, „dir ein bißchen Bares beiseite zu schaffen für den Fall, daß du mal eingekloppt wirst? Damit du hinterher nicht blank dastehst?“ „Eingekloppt?“ Elvira lacht schrill. „Du bist gut, bist du! Verknackt, eingelocht, meine ich!“ Seine Miene verfinstert sich, er liest in ihren Augen blanke Habgier. Seine Mundwinkel wandern spöttisch abwärts; bevor er ihr noch eine einzige Mark in den Hals stopft, wirft er sie lieber auf den Müll. „Meine paar Mücken liegen auf dem Konto, und dort bleiben sie!“ „Na klar, du hast was beiseite geschafft. Soll ich dir die Spritze geben, bevor ich fahre?“ Sie zeigt mir, wie abhängig ich von ihr bin, denkt er und sagt: „Laß nur, ich gehe zur Poliklinik – das ist ja nicht weit.“
27. Oberst Winter hat die Gruppenleiter der „Sonderkommission Boltin“ zur Besprechung befohlen. Die acht Kriminalisten, Rabe ist der jüngste, sitzen um den Beratungstisch versammelt. „Der Genosse General hat mich beauftragt, allen Angehörigen der Sonderkommission seinen Dank und die Anerkennung für den aufopferungsvollen Einsatz auszusprechen. Der Fall ist zwar noch nicht abgeschlossen, aber die Ermittlung ist nunmehr in die Schlußphase gelangt. Die aufwendigen Recherchen haben ihren Zweck erfüllt und wichtige Zeugenaussagen gesichert, die unsere dritte und, wie wir hoffen, endgültige Täterversion erhärten: Vor vier Jahren hatte Genosse Boltin, als junger Leutnant dieser Bezirksdirektion zugeteilt, den Diebstahl eines PKW Lada zu bearbeiten. Es gelang ihm, dem tatverdächtigen Simon, Gerhard in zielstrebiger Ermittlung weitere fünf Diebstähle nachzuweisen. Simon wurde zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Er hat drei Jahre verbüßt und ist vor fünf Wochen vorzeitig aus dem Strafvollzug entlassen worden; der Rest von sechs Monaten wurde zur Bewährung ausgesetzt.“ Winter blättert in der vor ihm liegenden blauen Akte, fährt dann fort: „Wir wissen es nicht genau und werden es nie mehr erfahren, was Genosse Boltin veranlaßt hat, diese Akte noch einmal aus dem Archiv anzufordern. Gegenüber Hauptmann Rabe äußerte er, daß eine alte Strafsache wohl noch einmal neu verhandelt werden müsse - so ist es doch?“ wendet der Oberst sich an Rabe.
„Ja!“ bestätigt dieser. „Ich erinnere mich, daß Dieter Boltin wörtlich sagte, ich zitiere: Ich bin einer tollen Sache auf der Spur, wenn meine Vermutung zutrifft, dann muß eine alte Strafsache neu verhandelt werden!“ Mit veränderter Stimme ergänzt er: „Ich bin überzeugt, daß der Fall Simon damit gemeint war.“ „Stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel“, wirft Winter ein. „Sie haben die Ermittlung an der Stelle aufgenommen und weitergeführt, wo Genosse Boltin gehindert wurde, es zu tun.“ Die um den Beratungstisch Versammelten registrieren ohne Ausnahme, daß Winter damit das Tatmotiv angesprochen hat. Er bestätigt dies, als er fortfährt: „Hauptmann Rabes Ermittlung hat erhellt, daß es eine Verbindung des angeblichen Einzeltäters Simon zu einem privaten Betrieb des Kfz-Handwerks gegeben hat. Simon hat inzwischen gestanden, daß er in den Jahren neunundsiebzig, achtzig und einundachtzig in zweiunddreißig Fällen am Diebstahl von Lada-PKW beteiligt gewesen war.“ Angesichts der aufbrandenden Unruhe macht Winter eine Pause; er wechselt einen Blick mit Rabe. Vor dieser Zusammenkunft haben beide sich ausgetauscht. Sie wissen, daß ihre nunmehrige Täterversion noch nicht abgesichert ist. Es fehlt die mit Quecksilberspuren behaftete Jeanshose – und das Geständnis des Täters. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt ist, erklärt Oberst Winter: „Ich habe der MUK unter Leitung Hauptmann Rabes befohlen, gegen das Hehlernest vorzugehen und den vermutlichen Kopf des Dreigespanns – sowie des Mordes an Oberleutnant Boltin dringend verdächtigen
Karl Plocher festzunehmen Plocher gilt inzwischen auch eines Sittlichkeitsdeliktes überführt.“ In Rabes Dienstzimmer herrscht jene schwer zu definierende Unruhe vor einer entscheidenden Unternehmung. Im Hof warten abfahrbereite Fahrzeuge, und die Kriminaltechniker sind eingewiesen. Auf einen Spurenhund verzichtet Rabe, denn das Grundstück ist klein und übersichtlich. „Das Hehlernest, wie du es nennst, ist doch gar nicht unser Bier“, erklärt Leutnant Klose kopfschüttelnd. „Dafür ist doch Griebsch mit seiner Truppe zuständig.“ „Punkt eins: Wir lassen uns nicht in die Karten gucken!“ erklärt Hauptmann Rabe. „Griebsch war als Sachbearbeiter von Abgaben dort, man würde ihn sofort wiedererkennen. Punkt zwei: Simon hat ausgesagt, daß Plocher Ladas gestohlen, zusammen mit Heise demontiert und als Ersatzteilspender verwendet hat. Punkt drei: Wir wissen nun, um beim Fall Boltin zu bleiben, daß auch Gädes Jeanshose nicht die des Täters ist…“ „Ich denke, er hat sowieso ein Alibi?“ unterbricht ihn Manfred Klose. Heinz Rabe geht nicht darauf ein. „Plocher könnte mit dem weißen Lada den Anschlag auf Dieter Boltin versucht und eine Stunde später in Finkenhain vollendet haben.“ Hauptmann Griebsch bringt den vom Bezirksstaatsanwalt ausgefertigten Durchsuchungsbefehl für das Grundstück Gadeberger Straße einundvierzig. „Ich muß mich dringend um meinen Laden kümmern“, sagt Griebsch, „brauchst du mich noch?“
„Nein, vorerst nicht, danke dir, Walter!“ Griebsch geht, und Rabe wählt Erikas Rufnummer an. Sie leitet die „Einsatzgruppe Hans Gäde“ und ist seit gestern abend kaum zum Schlafen gekommen. „Geht’s bei dir weiter?“ fragt er. „Ja und nein!“ antwortet sie. „Gäde hat seinen Jungen mit einem Taxi von den Ferienspielen weggeholt und ist zum Bahnhof gefahren. Er besaß kein Gepäck, erklärte der Fahrer.“ Sie schildert, daß die Nachforschungen, welchen Zug Gäde genommen hat, viel Zeit kosteten. Durch aufwendige Umfragen wurde darin ermittelt, daß, ein Mann mit Rucksack und Campingbeutel, in Begleitung eines Jungen, den Bus nach Lünebad benutzt hat. Das Gepäck muß demnach bereits im Bahnhof deponiert gewesen sein. In dem Kurort verließen beide den Bus; Gäde wurde nach dem Fahndungsfoto identifiziert. „Dort verliert sich die Spur“, schließt Erika unzufrieden. Heinz Rabe überlegt. „Gehen wir mal davon aus, daß er vorhatte, die Republik ungesetzlich zu verlassen, dann konnte nur die Transitautobahn sein Ziel sein. Von Lünebad sind es noch knapp vierzig Kilometer bis dorthin. Ob es eine Buslinie gibt, weiß ich nicht; per Anhalter wird er es kaum versuchen.“ „Der Hinweis ist gut“, erklärt Erika. „Wie weit bist du?“ „Das KI hat einen negativen Befund für Gädes Jeans gemeldet. Wir sind im Begriff, bei Heise hinzulangen. Tschüs!“ In dem verlassenen Streckenwärterhäuschen spukt Nachtgetier. Es raschelt im Dachgebälk, und manch-
mal huscht ein Schatten an der Wand entlang. In der Nacht schreckt Hansi, von einem klagenden Schrei geweckt, aus dem Schlaf; ein nächtlicher Räuber hat seine Beute geschlagen. Hansi graust es, er schmiegt sich zitternd an den Vati. Draußen rauscht der Regen. Hansis Sachen sind noch klamm, er friert. Der Strohsack riecht modrig. Als endlich der neue Tag graut, fällt er in einen unruhigen Schlummer. Später erwacht er, da er die Körperwärme neben sich vermißt. Vati hat ihn mit seiner Jacke zugedeckt und sitzt auf der Türschwelle, eine Schnapsflasche neben sich, aus der er ab und an trinkt. Hansi stellt sich wieder schlafend und beobachtet ihn. Vati starrt in den Regen hinaus. Daß der Schnaps ein Zauberwasser ist, das lustig macht, wenn man traurig ist, glaubt Hansi nicht mehr. Er weiß, wie entsetzlich elend ihm davon wurde. Und Vati ist auch nicht fröhlich. Warum sagt er nicht, wohin sie mit dem Lastauto reisen? Sobald er ihn fragt, winkt Vati ab. An der Wand laufen langbeinige Spinnen empor, als ihm eine übers Gesicht kribbelt, fährt er mit einem Schrei hoch. „Bist du wach?“ fragt Vati schwerzüngig; seine Wangen sind unrasiert und die Augen gerötet. Hansi entdeckt angewidert, daß die Flasche dreiviertel leer ist, die Vati abends erst angefangen haben muß. „Ich habe Hunger“, sagt Hansi, „und ich will mich auch waschen.“ „Es geht mal ohne“, behauptet Vati. „Nach Hause will ich auch“, quengelt Hansi, „Mutti macht sich bestimmt Sorgen.“ „Das braucht sie nicht“, brummt Vati, „sobald wir
drüben sind, schicken wir ein Telegramm.“ „Drüben?“ fragt Hansi. „Wo drüben?“ Er ahnt, daß Vati die BRD meint. In seiner Klasse haben zwei Mitschüler Onkel und Tanten dort drüben, aber er doch nicht. Zu wem reisen sie dann? „Ich will aber nicht, wenn Mutti nicht mitkommt!“ „Warte es ab“, sagt Vati, „ich schlafe noch bis mittag – bis der Lastzug kommt.“ Aus seiner Jackentasche holt Vati ein Farbfoto heraus und zeigt es. Der Lastzug ist darauf abgebildet und gefällt ihm. Vati steht schwankend von der Türschwelle auf, er trägt noch keine Schuhe, seine Strümpfe sind pitschnaß, denn vom Vordach über der Tür rinnt der Regen herab. Unsicher geht Vati zum Strohsack hin, in der Hand die noch viertelvolle Flasche. Als er den Verschluß aufdreht, kann Hansi nicht anders und sagt: „Wenn du noch mehr trinkst, gehe ich weg.“ Das ist nun ausgesprochen und nicht wieder zurückzunehmen. Dabei weiß er gar nicht, wohin er gehen sollte. Es wäre gleich, irgendwie käme er schon nach Hause in die schöne Wohnung. Wie prima sein Zimmer ist, hat er noch nie so empfunden wie jetzt. „Höre sich einer den Lauser an!“ sagt Vati und kichert albern, doch den Verschluß dreht er wieder zu, stellt die Flasche auf den Boden und sinkt auf den Strohsack nieder. „Mittag weckst du mich! Heute kommt er bestimmt!“ Der röchelnde Atem verkündet bald, daß Vati eingeschlafen ist. Hansi geht hin, ergreift die Flasche, geht hinaus und schleudert sie ins Brombeerengestrüpp. Aus dem Campingbeutel kramt er ein Frühstück aus
bröckeligem Knäckebrot und Käsescheiben zusammen, trinkt dazu Limonade. Entsetzt entdeckt er, daß außer Fruchtgetränk noch zwei Flaschen Schnaps darin sind. Auch diese wegzuwerfen, wagt er aber nicht. Bevor Elvira geht, zieht sie doch noch eine Spritze auf und injiziert ihm das Insulin. Heise sieht, daß sie sich sorgfältig geschminkt und ihr bestes Kleid angezogen hat. Sie nimmt einen Koffer mit, und was der enthält, kann er nur ahnen. Hat sie einen endgültigen Auszug vor? Das glaubt er nicht. Denke nicht, daß ich mal nur mit einem Köfferchen hier rausgehe, hat sie schon öfter gedroht. Sie scheint aus dem Büro nach einem Taxi telefoniert zu haben, denn plötzlich hält eines draußen vor dem Tor, und der Fahrer hupt. Heise sitzt am Küchentisch auf dem Platz, von dem Karl ihn verdrängt hat. Elvira sagt auf der Schwelle: „Ich gehe dann. Ich muß ein paar Tage hier ‘raus. Meiner Schwester geht es gar nicht gut.“ Sie sagt Schwester und meint den Schwager, denkt Heise. „Geh nur, geh!“ Vor dem Tor hupt wieder der Taxifahrer, und Heise spricht aus, was er immerfort denkt: „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff!“ „Du bist ja bescheuert“, erwidert Elvira und lacht ärgerlich. „Du brauchst Kalle nicht zu sagen, wohin ich bin.“ „Das weiß der auch so“, antwortet er. Elvira zögert, macht dann eine wegwerfende Handbewegung und wendet sich ab; ihre Schritte klappern
die Stiege abwärts. Heise sieht ihr nach, als sie den Hof überquert, an den drei zu reparierenden Lada-PKWs vorbei. Der in der Mitte soll am Montag fertig sein, hat Karl dem Kunden versprochen. Die Autotür schlägt zu, und das Taxi fährt davon, dem Geräusch nach ist es ein Wolga. Die Eisenbahnfahrkarte hat sie bestimmt schon gelöst, Elvira tut nichts unüberlegt. Als sie das Geschirr aus dem Küchenspind wusch, meinte sie es ernst mit dem Weggehen. Es ist seltsam; allein fühlt er sich plötzlich freier. Die Lust überkommt ihn, etwas zu tun, was er schon eine Ewigkeit nicht mehr praktiziert hat: Damals beschäftigte er zwei Schlosser, ein Könner seines Fachs der eine, schwerfällig der andere, dafür aber nie ablehnend bei Überstunden. Am späten Abend, bevor er zu Elvira ins Bett kroch, lief er immer noch einmal durch die Werkstatt und schaltete die Lampen ein, erfreute sich an den aufgeräumten Arbeitsplätzen und an den mattglänzenden Werkzeugen. Heise schlurft zuerst ins Schlafzimmer hinüber, in dem Elvira und Plocher hausen. Der Kleiderschrank sperrt offen, ihre besten Sachen hat sie mitgenommen. Im Wohnzimmer fehlen das japanische Teeservice und die beiden Mohren aus Meißener Porzellan. Es läßt ihn so kalt, als wäre es Talmi gewesen; er tappt die Stiege hinab in die Werkstatt. Die Tür von der Treppe her hat Plocher durchbrochen, man braucht so im Winter nicht in die Kälte hinaus; was der tut, hat Hand und Fuß. Von den drei Reparaturplätzen ist nur der rechte besetzt, und von dem Lada ist die Hinterachse ausgebaut.
Auf den mittleren Platz wird Kalle heute den weinroten Lada rollen, auf den linken daneben den aus der Garage – und dann geht der Umbau über die Bühne. Dabei kommt Karl mit drei Stunden Schlaf aus. Willi Heise tapst über den Hof, um in die Garage zu sehen; da wird das Tor geöffnet, und zwei Herren treten herein. Elvira hat wieder mal nicht abgeschlossen, denkt Heise ärgerlich. „Herr Heise?“ fragt der Ältere. Heise wird es schwindlig, er nickt und bekommt kein Wort über die Lippen. „Volkspolizei, Hauptmann Rabe! Ist bei Ihnen ein Karl Plocher beschäftigt?“ Das Blut, das vom Kopf in die Füße geströmt war und sie bleischwer gemacht hat, wogt wieder zurück. Es geht um Plocher und nicht um ihn. Heise bedauert, Plocher hat heute frei genommen. „Haben Sie das Schild da draußen geschrieben?“ fragt Hauptmann Rabe. Heise verneint, das hat Plocher getan. Weshalb schmunzeln die von der Kripo? Der Hauptmann wird wieder ernst und zeigt den vom Bezirksstaatsanwalt ausgefertigten Durchsuchungsbefehl und fragt, wer außer Plocher noch hier wohnt? Das weiß der auch so, denkt Heise, der hat sich doch vorher informiert. Am besten bleibe ich, soweit es geht, bei der Wahrheit. Nach dem Hauptmann und seinem jüngeren Begleiter, einem Leutnant, kommen noch zwei Kriminalisten auf den Hof und mit ihnen, Heise verzieht ärgerlich das Gesicht, eine junge Frau und ein älterer Mann aus der Nachbarschaft. Sie werden als Zeugen hinzugezogen, das entspräche der Vorschrift.
„Das war gar nicht nötig“, murrt Heise. Das Hoftor wird geöffnet, ein Wolga fährt herein und nach ihm ein Streifenwagen mit drei uniformierten Volkspolizisten. Der ganze Aufwand gilt Plocher? Wissen die nicht, daß ich bei allem, was Kalle betrifft, mit drinhänge, denkt Heise. Unter dem Schleppdach steht der weiße Firmenlada, auf den zeigt der Hauptmann. „Ist das ein Kundenfahrzeug?“ „Nein, der gehört mir – zum Betrieb eben!“ Einer der beiden Kriminaltechniker untersucht das Kennzeichen. Die Kriminalisten sagen endlich, worum es geht – und Heise ist grenzenlos erleichtert; mit keinem Wort ist die Rede von gestohlenen Fahrzeugen. Sie sind Plocher auf der Spur, der mit dem Betriebsfahrzeug „Schwarztaxi“ fährt. Sie vermuten, daß er dabei gefälschte Kennzeichen benutzt. Nach denen suchen sie! Heise fällt kein Stein, sondern ein ganzes Gebirge vom Herzen. Er gibt zu, von Plochers Hobby zu wissen. Alle paar Monate schlägt der sich eine Nacht um die Ohren, um „Schwarztaxi“ zu fahren. „Da ist doch nichts dabei – oder?“ „In einem Dutzend Fälle hat Plocher junge Frauen bedroht und zu unsittlichen Handlungen gezwungen. Wissen Sie davon?“ Heise beteuert, daß er keine Ahnung davon besaß. „Das hätte ich ihm nicht zugetraut!“ versichert er scheinheilig. „Genosse Hauptmann“, meldet der Kriminaltechniker, „es ist zweifellos positiv.“ Hauptmann Rabe nickt. „Die Kennzeichen werden gelegentlich ausgewechselt. Wo verwahrt Plocher die gefälschten?“ Heise tut ahnungslos, obwohl er weiß,
daß sie in der Werkstatt hinter dem Schrank stecken. Der Hauptmann weist seine Begleiter ein: Die Techniker durchsuchen die Werkstatt, von der Zeugin begleitet. Die Polizisten der Funkstreife bleiben auf dem Hof, für sie scheint der Einsatz nichts Besonderes zu sein. „Wo wohnt Plocher?“ fragt Rabe. Willi Heise versucht seine Verlegenheit zu verbergen, doch es bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu offenbaren, daß er ein kranker Mann ist und seine Frau mit dem Gehilfen ein Verhältnis hat. „Wo befindet sich Ihre Frau jetzt?“ „Sie ist zu ihrer kranken Schwester gefahren!“ „Erwarten Sie Ihre Frau heute zurück?“ „Nein, sie bleibt ein paar Tage!“ „Und Plocher?“ Der Hauptmann sieht ihn forschend an. „Plocher?“ „Erwarten Sie den heute zurück?“ „Gewiß, ja! Das heißt, eigentlich nicht!“ Heise erklärt den Widerspruch damit, daß sein Verhältnis zu Plocher angespannt ist. Daher weiß er auch nicht, wo der hingefahren ist. „Wieso hat er nicht den Lada benutzt? Das tut er doch sonst?“ Plötzlich spürt Heise, daß der Kriminalist mehr weiß, als er bisher durchblicken ließ. „Ich denke, daß da gefeiert wird, Sie verstehen?“ Er führt ein imaginäres Glas an den Mund. Die wie eine ungefährliche Belästigung anmutende Aktion nimmt unversehens eine dramatische Wendung: Der Hauptmann wird in die Werkstatt hinuntergerufen; am besten soll Heise gleich mitkommen, fordert er. Der nickt beklommen. Der Leutnant und der als Zeuge fungierende Rentner schließen
sich an. Heise sieht gleich, was passiert ist: Der Werkzeugschrank ist von der Wand abgerückt worden, und dahinter fand sich eine Kollektion gefälschter Kennzeichen. Das hätte Heise verkraftet, davon wisse er nichts, konnte er sagen. Die Kriminalisten haben aber die in der Werkstattecke gestapelten Karosserieteile fortgeräumt, die Kellerklappe freigelegt und geöffnet. Heises Knie geben nach, er sinkt auf eine Schrottkiste nieder und ringt nach Luft. Einer der beiden Techniker ist hinuntergestiegen, schiebt nun Kopf und Schulter aus der Kellerluke. „Das müssen Sie sehen, Genosse Hauptmann! An die fünfzig komplette Räder, Stoßstangen, Lenkräder, Sitze! Und alles in prima Zustand!“ Alles in prima Zustand, wiederholt Heise in Gedanken bitter. Deshalb haben wir es nicht wegschmeißen wollen. Dazu war es zu schade! Vieles haben wir verscheuert, aber nicht alles! Aus! Alles ist aus! Mal mußte es ja so kommen! Lautlos weint Heise vor sich hin. Rabe steigt in den Keller hinab, kommt aber bald wieder herauf und erklärt sachlich: „Daß Sie gestohlene Autos ausschlachten, haben wir vermutet, uns fehlte nur noch der Beweis. Was sagen Sie dazu, Heise?“ „Ich wollte das nicht!“ flüstert der stockend. „Plocher hat die Ladas rangeschafft!“ „Sie haben natürlich nichts damit zu tun, nicht wahr?“ Der Hauptmann hält mit seiner Ironie nicht zurück. „Doch, ja, ich bin da so reingerutscht, wie – wie…“ Heise bricht ab.
„Sie sind festgenommen wegen verbrecherischen Diebstahls und Hehlerei! Machen Sie sich, fertig! Der Genosse Leutnant sagt Ihnen, was Sie in die Untersuchungshaft mitnehmen dürfen!“ „Ich bin Diabetiker! Ich muß spritzen!“ „Nehmen Sie das Insulin mit. Sie werden einem Arzt vorgestellt.“ Heise ist kaum fähig zusammenzusuchen, was er mitnehmen darf; seine Werkstatt und die bescheidene Wohnung wird er nie wiedersehen, davon ist er überzeugt, denn was jetzt auf ihn zukommt, verkraftet seine angeschlagene Gesundheit nicht: die Gerichtsverhandlung und den Strafvollzug. Über den Sprechfunk des Streifenwagens stellt Rabe die Verbindung zur Leitstelle her und löst die Fahndung nach Plocher und Elvira Heise aus; keine Minute soll ungenutzt verstreichen.
28. Im Grunde ist Heise ein bemitleidenswertes menschliches Wrack; wie er da auf dem Stuhl kauert, mag man ihm die verbrecherischen Machenschaften über Jahre hinweg gar nicht zutrauen, überlegt Rabe. Es fällt ihm schwer, sich von Emotionen freizumachen und die Fakten sachlich aneinanderzureihen. Heise ist dem Arzt vorgestellt worden, und der fand ihn bedingt vernehmungsfähig. Zur Untersuchungshaft wird er in die Krankenabteilung eingewiesen werden. Rabe ahnt, daß die Vernehmung noch keine umfassen-
den Aufschlüsse bringen wird, dazu ist der Verbrechenskomplex zu umfangreich. Es wird Tage dauern, ehe die sichergestellten Autoteile den verschiedenen Straftaten zugeordnet sind. Es geht darum, das Eisen zu schmieden, solange es warm ist, so drückt Rabe es für sich aus. Es gilt, Heises Untergangsstimmung zu nutzen und ihn zu einem umfassenden Geständnis zu bewegen. Daß auch Leutnant Klose, der das Bandgerät bedient, Mitleid empfindet, verrät seine Miene, aber Mitempfinden bedeutet nicht etwa Verständnis für die Motive. Zögernd nennt Heise die Adresse seines Schwagers. Elvira wird dort bei ihrer Ankunft empfangen werden. Heises Versuch, seine Frau als ahnungslos hinzustellen, wird als unglaubwürdig zurückgewiesen. „Ich erwarte von Ihnen, daß Sie mithelfen, die Diebstähle im einzelnen aufzuhellen“, wendet Rabe sich an Heise. „Jawohl, Herr Hauptmann! Ich unterschlage keinen - nicht einen, bestimmt nicht!“ versichert Heise. „Moment mal. Haben Sie denn über die Diebstähle Buch geführt?“ fragt Rabe erstaunt. „Nicht direkt! Natürlich nicht. Wenn Plocher das gewußt hätte…“ Er bricht ab und blickt verständnisheischend auf die Kriminalisten. Wie kann ein Mann, der die längste Zeit seines Lebens selbständig zu entscheiden hatte, sich so unterwerfen, überlegt Rabe. Laut sagt er: „Werden Sie deutlicher!“ „Ich habe mir Zeichen ausgedacht, die niemand kennt“, erklärt Heise. „Die habe ich in meinen Kalendern vermerkt.“ Diese Kalender liegen in Heises
Nachtschrank. Am wichtigsten sind die Jahre neunundsiebzig, achtzig und einundachtzig. Stimmen Heises Angaben – und Rabe vermutet es –, wird es möglich sein, die in jenen drei Jahren gestohlenen vierunddreißig Lada den jeweiligen Tatorten zuzuordnen. Damit kommt ein Berg an Kleinarbeit auf sie zu. Es bietet sich aber auch die Chance, Straftaten aufzuhellen, die bisher den prozentualen Anteil unaufgeklärter Fälle hochhielten. Eintönig und schwer verständlich schildert Heise, daß es damit anfing, daß Plocher einen Lada brachte, den er spottbillig gekauft haben wollte. Es machte Heise stutzig, daß sein Gehilfe darauf bestand, ihn sofort zu zerlegen. Damit wurde ein Ersatzteilengpaß überbrückt. Beim zweiten Fahrzeug machte Plocher keinen Hehl mehr daraus, daß es gestohlen war. „Ich wollte da nicht mitmachen, bestimmt nicht“, flüstert Heise, „aber ich steckte in Schulden. Bei der Scheidung nahm ich Kredit auf, um meine Frau auszuzahlen, der das Grundstück gehörte. Und meine jetzige Frau stellte auch Ansprüche.“ Plocher fand es sicherer, wenn die Tatorte so weit als möglich von Poldam entfernt lagen. Schon beim dritten Diebstahl war Simon dabei. Zu der Zeit verkaufte der auf großem Fuß lebende Plocher seinen eigenen Lada. Er rauchte teure Zigaretten und trank besten Kognak, besuchte Nachtbars und schloß dort Damenbekanntschaften; den Firmenlada benutzte er wie sein Eigentum. Die Diebstähle, fast jeden Monat einer, verliefen immer nach dem gleichen Schema: Simon und Plocher fuhren mit Heises PKW in entfernte Bezirke, suchten
tagsüber ein geeignetes Objekt, das dann abends entwendet wurde. Plocher wechselte dazu das Kennzeichen und besaß die passende Zulassung. Wenn die Bestohlenen in Suhl oder Schwerin morgens den Diebstahl entdeckten, war der PKW in Heises Werkstatt bereits zum Teil demontiert. Zögernd gesteht Heise, daß sie oft zu dritt über solches Fahrzeug herfielen. „Wußten Sie“, fragt Rabe, „daß Simon auch auf eigene Rechnung stahl?“ „Nein, das wußten wir nicht!“ „Wie verfuhren Sie, nachdem Simon verhaftet worden, war?“ Heise schildert, daß der Schreck ihm und Plocher in die Glieder gefahren sei. Sie rechneten jeden Tag damit, daß Simon auch jene Diebstähle gestand, die den Hauptteil ausmachten. In der Zeit wurden keine Straftaten begangen. „Wann fingen Sie wieder mit der alten Tour an?“ fragt Rabe. „Und wer fuhr Plocher zum Tatort? Sie?“ Heise scheint gewillt, reinen Tisch zu machen, und gesteht zwei Diebstähle, bei denen er an Simons Stelle beteiligt gewesen war; doch dann war er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dazu fähig. „Und Plocher? Fand der sich mit der Untätigkeit ab?“ „Einen Lada hat er noch organisiert…“ Heise hüstelt und verbessert: „Gestohlen, meine ich! Bei dem zweiten wurde er beinahe geschnappt. Er kam mit knapper Not davon. Seitdem…“, er verstummt. „Wo war das?“ fragt Klose. „In Diepholzwalde“, antwortet Heise. „Könnte ich ein
Glas Wasser…?“ Rabe nickt, und Klose füllt ein Glas aus der Karaffe. Heise trinkt gierig und vermag das Zittern seiner Hände nicht zu verbergen. Rabe registriert besorgt, daß er kaum noch lange durchhält. Der Komplex Autodiebstähle bedeutet kein Geheimnis mehr. Der Abschlußbericht wird Romanumfang annehmen, fürchtet er; wichtiger ist nun, das an Dieter Boltin begangene Verbrechen aufzuhellen. „Berichten Sie, wie das war, als Simon entlassen wurde.“ Heise schildert es bereitwillig. Simon drohte, alles auszupacken, selbst wenn er dann eine neue Strafe aufgebrummt bekäme, falls er nicht entschädigt werden würde. Plocher meinte auch, Gerhard müsse dafür abgefunden werden, daß er vor Gericht geschwiegen hatte. Das bleiche Gesicht bekommt Farbe, und die Stimme wird kräftiger. „Ich sah das nicht ein. Simon würde sich hüten, uns zu verpfeifen! Plocher wollte ihn nur wieder unter seine Fuchtel kriegen! Das war’s!“ „Verstehe ich Sie richtig? Plocher beabsichtigte, mit Simon wieder Diebstähle in der alten Weise zu begehen?“ „Ja! Mit ihm hätte es ja immer geklappt, sagte er, an seiner Pleite sei Simon selbst schuld gewesen! Aber Simon will nicht mehr. Als wir dann erfuhren, daß…“ Heise verstummt, „Weshalb reden Sie nicht weiter?“ fragt Klose. Heise preßt die Lippen aufeinander, sie bilden einen blaßrosa Strich in seinem Gesicht. Er senkt den Blick und scheint entschlossen, entgegen seinem bisherigen Verhalten, nunmehr schweigen zu wollen.
„Als Sie erfuhren, daß der Kriminalist, der gegen Simon ermittelt hatte, den Fall erneut aufgriff und eine Beziehung Simons zu Plocher und Ihrer Werkstatt entdeckt hatte, da verging Ihnen allen erst einmal die Unternehmungslust!“ Heise bleibt stumm, aber sein Schweigen ist beredt. „Am Mittwoch voriger Woche erfuhren Sie von Herrn Raschke, daß Oberleutnant Boltin bei ihm in der Handwerkskammer vorgesprochen hatte, um zu erfahren, wieviel Schrott Sie in den bewußten Jahren geliefert hatten.“ Heise schluckt krampfhaft und sieht Rabe verstört an. „War es so, ja oder nein?“ „Sie kennen Raschke gut, nicht wahr?“ wirft Klose ein. „Gut nicht, er ist mein Kunde“, antwortet Heise. Rabe und Klose tauschen einen Blick, und der Hauptmann nickt unmerklich. Rabe erhebt sich hinter dem Schreibtisch, geht um ihn herum und steht vor Heise. „Sagen Sie mal, wissen Sie wirklich nicht, weshalb wir uns hier so eingehend mit Ihnen unterhalten? Oder tun Sie nur so?“ „Mann, Heise, Sie sind hier bei der Mordkommission!“ fährt Klose ihn an. Heise zuckt zusammen, starrt abwechselnd auf Rabe und den Leutnant. „Als Sie von Herrn Raschke erfuhren, daß Oberleutnant Boltin noch nicht offiziell ermittelt, sahen Sie eine Chance, mit heiler Haut davonzukommen.“ „Sie mußten nur die drohende Gefahr beseitigen!“ wirft Klose hin. „Und das haben Sie dann getan!“ behauptet Rabe.
„Heraus mit der Sprache! War es Plocher?“ Kloses Blick läßt Heise nicht mehr los. Und Rabe beugt sich hinab. „Oder war es Simon?“ „Oder waren Sie es?“ fragt Klose. „Sie hätten doch am meisten verloren, wenn Oberleutnant Boltin zum Zuge gekommen wäre!“ Hauptmann Rabe nimmt aus einem Aktenhefter das Tatortfoto und zeigt es Heise. „Sehen Sie sich das an! Erkennen Sie ihn? Das ist Oberleutnant Boltin! Heimtückisch, hinterrücks erschlagen!“ Heise wird aschgrau, seine Augen weiten sich entsetzt. „Um Gottes willen, nein! Das – das wußte ich nicht! Wirklich nicht! Erschlagen? Wann denn? Wo denn?“ Aus seiner Stimme spricht das Grauen, das er empfindet. Dann sagt er etwas, das Rabe und Klose aufhorchen läßt: „Er wollte ihm nur einen Denkzettel verpassen, hatte er gesagt!“ „Wer?“ fragen beide wie aus einem Munde. „Plocher!“ flüstert Heise. „Das habe ich aber nicht ernst genommen! Er sagt öfter so was!“ Heise schildert stockend, wie er heute vor einer Woche entdeckte, daß Plocher Vorbereitungen wie für eine Rallye traf. „Ich verzog mich lieber in ein Lokal, um nicht in etwas reingezogen zu werden!“ „Sie verschafften sich also ein Alibi, obwohl Sie Plochers Drohung nicht ernst nahmen?“ fragt Klose. „Äußerte Plocher die Absicht, Oberleutnant Boltin umzubringen?“ hakt Rabe nach. „Nein, nein! So nicht! Den Bullen, ‘tschuldigen Sie, so sagte er, den mache ich fertig! Seinen Trabant nehme ich auf die Hörner! Um Himmels willen, Kalle,
habe ich gesagt, mach keinen Quatsch!“ Mühsam beherrscht erklärt Rabe: „Heute vor einer Woche entging Oberleutnant Boltin nur knapp dem mutwilligen Zusammenstoß mit einem weißen Lada. Eine dreiviertel Stunde später, kurz vor neunzehn Uhr, wurde er auf einem Grundstück in Finkenhain ermordet.“ Sekundenlang bleibt es still, dann erst wiederholt Heise dumpf: „In – in Finkenhain? Kurz vor neunzehn Uhr? Dann hat Karl nichts damit zu tun. Da war er mit Gerhard, mit Simon, meine ich, am Bracksee zum Baden.“ „Sie irren! Simon hat gestanden, daß Plochers Alibi falsch ist. Er kann es Ihnen selbst sagen,“ Auf Heises ungläubigen Blick hin fügt Rabe hinzu: „Simon ist nicht bei einer Tante in Gottbus, sondern unser Gast.“ „Heise, Sie decken vielleicht einen Mörder!“ drängt Klose, „Wo ist Plocher?“ „Ich – ich weiß es nicht genau“, flüstert er. „Er besorgt einen Lada vom Zahnarzt. Ich glaube, in Nieskow. Fragen Sie Simon, der sollte ihn hinfahren.“ Simon hat Zeit, über sein verpfuschtes Leben nachzudenken. Am nachhaltigsten bestürzt ihn die Einsicht, daß er niemals, seit er aus dem Strafvollzug entlassen wurde, eine Chance besaß, neu anzufangen. Die Schuldenlast war zu groß, die hing an ihm wie Blei, und noch schlimmer bedrohte ihn jenes Gewicht, das an einem dünnen Fädchen über ihm schwebte. Die paar Wochen Freiheit waren nicht mehr als eine angenehme Unterbrechung des Strafvollzugs; von denen mußte er noch lange zehren – und von den Nächten mit Monika.
Jetzt, da sie bereits Erinnerung waren, sah er manches schärfer. Monika war ein prima Kumpel gewesen, sie hatte sich einen Dreck daraus gemacht, daß er aus dem Knast kam. Sie war keine Schönheit, aber ein männliches Schönheitsideal war er ja auch nicht. Dachte er an ihre Nacktheit, ihre samtweiche Haut und an die festen Brüste, dann regt es ihn auf; ihr Haar besaß einen Stich ins Rötliche, und es roch betörend sinnlich. Mit keiner vor ihr hatte er soviel Spaß gehabt. Schade, daß er Rudolf gegenüber so ruppig gewesen war. Auf dem Gang sind Schritte, und sie verharren vor der Tür; Schlüssel klirren, Riegel schnappen, und es wird geöffnet. „Simon zur Vernehmung!“ Schon wieder, denkt er. Es bedeutet wenigstens eine Abwechslung in der Eintönigkeit eines Hafttages. Er wird in das Dienstzimmer Hauptmann Rabes geführt, und ihm scheint es so, als habe eben erst jemand den Raum verlassen. Der Hauptmann beachtet ihn zunächst gar nicht, er wandert im Zimmer hin und her, und plötzlich bleibt er stehen und behauptet, daß es gar nicht gut um ihn stünde. Er verbessere seine Lage nur, wenn er helfe, den Mörder Oberleutnant Boltins zu finden. Simon spürt den alten Trotz in sich aufsteigen. „Ich sage nichts mehr!“ Rabe gibt dem Leutnant einen Wink. Der fummelt am Tonbandgerät herum, läßt es vorwärts und rückwärts laufen, bis er die gesuchte Stelle findet. „Ach, Simon“, sagt Hauptmann Rabe, „mit Ihrer Sturheit schaden Sie sich nur selbst. Wir sind nicht auf Ihre Aussage angewiesen, Heise hat alles gestanden.“
Der Leutnant schaltet das Gerät an, und vom Band kommt deutlich Willis weinerliche Stimme. Es ist nicht zu fassen, der quatscht und quatscht wie aufgezogen und redet sie alle um Kopf und Kragen. Jeden Schlitten hat der notiert? Das darf doch nicht wahr sein. Der muß wahnsinnig sein! Waren es wirklich vierunddreißig Stück? Oder wieviel? Ach, du große Scheiße! Nun ist alles gelaufen, alles ist klar! Jetzt hilft nur noch der gute Wille, au der Aufhellung mitzuarbeiten. „Was wollen Sie denn noch wissen?“ fragt Simon. „Plocher ist unterwegs, um einen Lada zu stehlen. Wissen Sie, von wo?“ „Ja, falls es der ist, zu dem ich ihn hinkutschen sollte. Schreiben Sie das auf, daß ich das abgelehnt habe? In Nieskow! Ein weinroter Lada von einem Zahnklemp… Zahnarzt!“ „Wo in Nieskow? Wissen Sie es genauer?“ „Ein Garagenhof am Bahnhof, Garage vierzehn„ „Gut, das wär’s. Zigarette?“ Der kann fragen, denkt Simon, aber die Packung Duett ist fast noch voll.
29. Die Bahnfahrt gibt Plocher reichlich Zeit, um über alles nachzudenken. Es war falsch, Elvira Einblick in die Nebengeschäfte zu geben. Bisher fuhr er gut mit seinem Grundsatz, daß Frauen in diesem Job nichts zu schaffen haben. Natürlich war sie clever und ahnte, was es mit den PKWs auf sich hatte, die auf den Hof rollten und nie mehr
hinunter. Zusammen mit Simon hätte er noch ein Dutzend angehängt, aber der will nicht mehr, und mit Willi ist nichts anzufangen. War etwas dran an seinem Gerede, daß beim Rechtsanwalt nicht nur sein Testament deponiert sei? Hinterläßt er wirklich ein Geständnis als Rache für die vielen Schikanen? Der Gedanke festigt sich, und Plocher überlegt, wie dem zu begegnen sei. Es gibt nur eine Möglichkeit: Er muß alles beseitigen, was auf die Autoschlächterei hinweist. Der Keller muß geräumt werden. Kein Schräubchen eines geklauten Lada darf noch vorhanden sein. Der weinrote ist vorläufig der letzte; dessen Motor braucht er, dann ist Schluß. Gibt es keine Beweise, kann er Heises Geständnis als Rache des gehörnten Ehemannes hinstellen. Der Zug trifft verspätet in Nieskow ein. Plocher geht in die Bahnhofswirtschaft und trinkt ein Bier. Bis es Abend wird, dauert es noch, denn er wartet die Dämmerung ab; so hat es immer funktioniert. Der Garagenhof ist von den Neubauten aus einzusehen. Das Schloß bedeutet kein Hindernis. Die Erinnerung an Diepholzwalde verschafft ihm Unbehagen. Dort wäre es fast schiefgegangen: Er war dabei gewesen, die Zündung kurzzuschließen, als ein Mann mit einem Fernglas von einem Balkon herabschrie, was er da am Auto täte? Mit Mühe und Not entkam er seinen Verfolgern. Bei seinem letzten Coup geht er kein Risiko ein. Die Dunkelheit ist wieder sein Verbündeter.
Der Himmel ist wolkenverhangen, daher dämmert es
zeitiger als sonst. Wie der Freitag sich neigt, so der Sonntag sich zeigt, reimt der Volksmund. Daran denkt die Optikerin Karin Rintisch, die mit ihrem Trabant unterwegs ist, um das Wochenende bei den Eltern zu verbringen. Nach Ladenschluß half sie dem Chef noch, die Aufträge dieses Tages zu registrieren, und sie tat es ohne Hast, denn ihr Verlobter kommt erst in der nächsten Woche von der Armee auf Urlaub. Es ist jene zwielichtige Stunde, in der man unschlüssig ist, ob wohl die Beleuchtung schon einzuschalten ist. Auf der Waldchaussee entschließt sie sich dafür. Die Scheinwerfer strahlen die Bäume an und erfassen auch einen Jungen von sechs oder sieben Jahren. Der steht am Straßenrand und hebt zaghaft die Hand. Karin Rintisch nimmt den Fuß vom Gaspedal, tritt auf die Bremse und hält neben dem Jungen. Aus der Anorakkapuze blickt sie ein bekümmertes Kindergesicht voller Tränenspuren an. „Wohin willst du denn, kleiner Mann?“ „Nach Hause, nach Poldam!“ antwortet Hansi Gäde. „Lieber Himmel, so weit? Bis dahin fahre ich nicht. Was machen wir da?“ „Weiß nicht“, antwortet der Junge. „Komm, steig erst mal ein.“ Karin mustert ihren Mitfahrer. Der antwortet auf keine ihrer Fragen. Plötzlich erschreckt sie der Gedanke, daß er vom Heimweh überwältigt aus einem Kinderferienlager weggelaufen sein könnte. Sie stoppt am Straßenrand und fragt ihn. Nein, er sei nirgends weggelaufen; sein Vati brachte ihn zur Fernstraße, weil das Lastauto, mit dem sie mitfahren wollten, wieder nicht
kam. Vati wartet noch bis morgen, aber er will nach Hause zu seiner Mutti. Die Tränen kullern über die Wangen hinab. „Hast du kein Taschentuch?“ Hansi Gäde langt es aus der Hosentasche und zieht dabei zusammengerollte Hundertmarkscheine heraus. „Aber, Junge, was ist denn das für Geld?“ „Das soll ich Mutti geben.“ Es sind einige tausend Mark, schätzt Karin Rintisch und beschließt, den Umweg zum VolkspolizeiKreisamt in Lünebad zu fahren. Der Funkstreifenwagen steht getarnt auf der Garagenanlage. Der Beifahrer beobachtet die Garage Nummer vierzehn. Die Zeit dehnt sich endlos. Auf dem Nieskower Bahnhof werden Waggons rangiert, ab und an pfeift eine Lok. Der Wachtmeister am Lenkrad äußert Zweifel, ob sie hier richtig seien. Der Streifenführer wiederholt den Einsatzbefehl: Sie sollen den Diebstahl eines weinroten Lada aus der Garage vierzehn verhindern, auf der Anlage am Bahnhof. „Jenseits der Gleise gibt es auch noch Garagen, bei den Neubauten“, antwortet der Fahrer. „Hier ist es aber näher am Bahnhof. Ich sehe mal nach.“ Der Hauptwachtmeister läuft zu Nummer vierzehn hin. Die Torflügel besitzen im unteren Teil Lüftungsschlitze. Der Streifenführer leuchtet mit der Stablampe hinein. Da drinnen steht kein Lada, sondern ein grauer Wartburg-Tourist. Im Laufschritt kehrt er zum Wagen zurück. „Wir sind falsch!“ berichtet er atemlos. – Plocher beobachtet die Balkone der Neubauten. Es ist kühl, da sitzt kaum jemand draußen, und es däm-
mert so stark, daß auch ein Fernglas wenig nützt. Kalle Plocher, seit wann hast du Nerven, denkt er. Seine Hände zittern. Diepholzwalde ist mir verdammt an die Nieren gegangen. Doch diesmal ist es ein Kinderspiel, und alles ist vorbereitet. Als er die Adresse des Zahnarztes notierte, nahm er zugleich auch die Abdrücke von Tür- und Zündschlüssel. Das Garagentor gibt nach, die Flügel knarren leise und rasten in die Haken ein. Die Schlüssel passen. Der Motor springt an, und der Lada rollt ohne Licht rückwärts aus der Garage. Die Ledersitze riechen neu, und Plocher bedauert, daß der PKW, wie die vielen anderen zuvor, ausgeschlachtet werden wird. Er steigt aus und schließt das Tor. Der „Kampfanzug“ paßt nicht zu dem feinen Schlitten, denkt Plocher und grinst. Die Jeans sind vom Waschen ausgeblichen. Der Rollkragenpulli ist ausgeweitet, und die Lederjacke zerschrammt. Nach wenigen Kilometern biegt er in einen Waldweg ein und wechselt die Kennzeichen. Der Streifenwagen stoppt vor der Garage des Zahnarztes. Hier gibt es in den Toren keine Lüftungsschlitze. Der Streifenführer deutet auf die Wasserlache davor, die eben erst durchfahren worden ist, das verraten die nassen Reifenspuren. Mit dem Universal öffnet er das Tor; die Garage ist leer. Der Hauptwachtmeister murmelt ein unfeines Wort und hastet ans Funkgerät. Der Tank ist halbvoll, und Plocher genießt die Fahrt. Er liebt es, mit einem flotten PKW die Straßen entlangzuflitzen, und er schert sich wenig um die Straßenverkehrsordnung und die auf den Landstraßen vor-
geschriebenen achtzig Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit. Der Tacho zeigt hundert und manchmal darüber an; ständig überholt er Fahrzeuge, oft risikoreich bei Gegenverkehr. Etwa die Hälfte von Nieskow nach Poldam ist zurückgelegt, schätzt Plocher. Die Chaussee krümmt sich zur Rechtskurve. Die Bremsleuchten der vor ihm fahrenden Kraftfahrzeuge blinken, dann entdeckt er den blitzenden Befehlsstab eines Verkehrspolizisten. Kontrolle! Der Schreck lähmt ihn fast. Aus der Kolonne ausbrechen geht nicht, das verhindern die entgegenkommenden Autos. Vier, fünf PKWs sind vor ihm, aber die Fahrzeugpapiere werden zügig kontrolliert, ebenso die Scheinwerfer. Auf den Gedanken, daß das alles ihm gelten könnte, kommt er nicht. Dieser Argwohn wird erst wach, als der Hauptwachtmeister der Verkehrsstreife seinen Führerschein aufblättert und ihn danach auffordert, rechts heranzufahren. „Okay!“ sagt Plocher, doch statt nach rechts schlägt er die Lenkung links ein und gibt Gas. Er spürt einen dumpfen Schlag an der Karosserie und sieht im linken Außenspiegel, daß der Polizist zu Boden gestürzt ist. „Mist verdammter! So ein Scheiß!“ schreit Plocher sein Entsetzen heraus; abbiegen und die Karre stehenlassen, denkt er, und nichts wie weg! Dann steigt es siedendheiß in ihm auf: Der Polizist hat seinen Führerschein behalten! Mit hundert Stundenkilometern rast er an einem Ortsschild vorbei; zwei Streifenwagen sperren querstehend die Straße. Plocher reißt die Lenkung nach rechts und sieht den Lichtmast zu spät. Es splittert und kracht – und Plocher wird mit unwiderstehlicher
Wucht in den Sicherheitsgurt gepreßt; sein Kopf schlägt an die Frontscheibe, und um ihn ist Nacht. Zwei Polizisten laufen hin, bergen den Bewußtlosen aus dem zerstörten PKW und legen ihn auf eine Decke. Aus einer Kopfwunde rinnt Blut, der Verunglückte atmet flach.
30. Es bleibt ein verregneter Sommer mit unfreundlichen Wochenenden. Auch am Sonnabendfrüh rauscht ein Dauerregen herab und prasselt an die, Scheiben des Dienstzimmers. Heinz Rabe steht am Fenster, die Hände in den Taschen vergraben, starrt er verkniffen hinaus. Hinter ihm liegt eine anstrengende Nacht. An Plochers Vernehmung ist in den nächsten Tagen kaum zu denken, er befindet sich aber außer Lebensgefahr. Im Kriminalistischen Institut brannten bis Mitternacht die Lampen. Rabe schlief mit dem Kopf auf den Armen am Schreibtisch ein; dann schreckte ihn das Telefon auf, und Böwe, der Diplomchemiker, teilte ihm mit, daß der Befund negativ ausgefallen sei. Auch Plochers Jeans weisen keine Quecksilberspuren auf, wie die Stoffasern unter Boltins Fingernägeln. Rabe trommelt an die Scheibe und grübelt. Alle, die mit den bisherigen Ermittlungen konfrontiert wurden, tragen Jeans, doch sämtliche Befunde sind negativ. Es bleibt nur eine Schlußfolgerung: Es gibt einen weiteren, bisher unentdeckt gebliebenen Tatverdächtigen – oder eine zweite Jeanshose eines der Beteiligten.
Um acht Uhr trinkt Rabe in der Kantine Kaffee und ißt ein belegtes Brötchen, Anrufe für ihn werden hierhergelegt. Zehn Minuten nach acht ruft Major Strecker an, er hat alles gut überstanden und möchte am liebsten entlassen werden, aber daran ist natürlich nicht zu denken. Seine Stimme klingt wie immer, findet Rabe und teilt ihm den Stand im Falle Boltin mit. Streckers ermunternde Worte helfen auch nicht weiter. Viertel nach acht ruft Erika an und teilt ihm mit, daß sie nun ihre Exkursion beginnt. „Klose begleitet uns, obwohl er dienstfrei hat“, sagt sie, „du bist wohl nicht abkömmlich?“ „Ich bin hundemüde, verstehst du?“ antwortet er gereizt. Gestern abend um dreiundzwanzig Uhr kamen Erika und Inge mit Hansi vom Volkspolizei-Kreisamt Lünebad zurück. Am liebsten wäre Erika gleich aufgebrochen, um den Platz ausfindig zu machen, an dem Hansi zwei Tage mit Gäde verbracht hatte. Hansi berichtete, daß sein Vater und er mit einem Lastzug nach „drüben“ wollten, daß der aber nicht gekommen sei. Vati glaubt, der käme heute mittag zwischen zwölf und fünfzehn Uhr. Es blieb also genügend Zeit, der Junge konnte sich wenigstens etwas ausruhen. „Wir hoffen“, sagt Erika, „daß Hansi das Versteck findet. Ab Lünebad sind beide wieder mit dem Bus gefahren.“ Rabe denkt daran, daß Gäde seinem Jungen fünftausend Mark, vermutlich sein gesamtes Geld, mitgegeben hat. „Ich komme mit, Erika! Wartet in Lünebad auf mich!“ Plötzlich verspürt er einen nicht zu zügelnden Tatendrang; er verzichtet darauf, auf den Fahrer des Wolgas zu warten und benutzt den eigenen
Wartburg. Noch vor den anderen trifft er in dem Kurort ein. Die Begrüßung fällt knapp aus, als Busche mit dem Dienstwolga vorfährt. Der auf dem Beifahrerplatz sitzende Klose wirkt müde. Dabei hatte er ihn abends nach Hause geschickt. Bestimmt hat Klose wieder nicht in seinem möblierten Zimmer genächtigt. Inge sieht blaß aus mit dunkel umschatteten Augen. Hansi sitzt schlafend zwischen ihr und Erika. Es hilft nichts, er wird geweckt und bestätigt schlaftrunken, daß Vati und er von hier aus mit dem Bus gefahren sind. Es gibt nur eine Linie, die über die Autobahn hinweg kreuzt. Hinter der Brücke entdeckt Hansi das Wartehäuschen. Doch den Platz, wo sie gefrühstückt haben, findet er nicht. Die PKWs bleiben auf der Chaussee zurück, und neben der Autobahn laufen sie zum Rastplatz. Es regnet wieder stärker. Hansi verkriecht sich in seinem Anorak; er hat die Anstrengungen der letzten Tage noch nicht verkraftet. Als der Lastzug nicht kam, liefen Vati und er vom Rastplatz aus durch den Wald bis zu den rostigen Schienen. Die stillgelegte Bahnstrecke ist bald erreicht. Hier müssen Inge und Hansi zurückbleiben. Das Ziel ist nicht mehr zu verfehlen. Das Ziegelhäuschen kauert wie frierend neben der Strecke. Die roten Klinkersteine blinken naß. Das mit Brettern vernagelte Fenster stempelt das winzige Bauwerk zur Ruine ab. Die Tür klafft handbreit offen. Klose bleibt stehen und sieht Rabe fragend an. Der tritt vor ihm auf die Schwelle, stößt die Tür nach
innen und stockt. Später erinnert er sich, daß er keinen Herzschlag lang überrascht gewesen war, als er den an den einzigen Wandhaken Erhängten entdeckte. Klose räuspert sich, hebt stumm die Kamera und knipst. Die Blitze tauchen den Raum in grellweißes Licht. Erika steht neben ihnen. „Nehmt ihn erst ab!“ fordert sie leise. Heinz Rabe und Manfred Klose legen den Toten auf den Strohsack, der als Nachtlager gedient hatte. Erika nimmt das eng beschriebene Papier auf, das unter einer leeren Schnapsflasche am Boden liegt, und zuckt die Schultern. „Das ist kaum lesbar“, sagt sie. „Ich bringe es ihr schonend bei.“ Sie geht hinaus. Inge kommt ihr mit dem Jungen entgegen und blickt sie fragend an. Erika nickt; sie haben es alle geahnt und nur nicht ausgesprochen. „Geh nicht ‘rein“, rät Erika. „Doch. Nimm bitte Hansi.“ Oberleutnant Erika Rabe nimmt Hansi an die Hand, läuft mit ihm zur Chaussee zurück und trägt ihn das letzte Stück. Der Himmel hat ein Einsehen, es regnet schwächer und versiegt endlich ganz. Inge Gäde tritt neben Rabe und blickt tränenlos auf den Toten hinab. Daß er Hansi zu entführen versuchte, verzeiht sie ihm in diesem Augenblick. Die Schäbigkeit des Raumes macht es ihr leicht, den Toten wie einen Fremden anzusehen. Rabe reicht ihr das beschriebene Papier. „Es ist an dich gerichtet. Kannst du es lesen?“ Sie nickt. „Er war betrunken, als er das schrieb.“ Am Boden steht die leere Flasche, die das Papier beschwert hatte, eine zweite liegt leer neben dem Strohsack. „Ich
kann es dir nicht ersparen. Wir müssen den Inhalt erfahren.“ Sie nickt abermals und liest mit zittriger Stimme: „Verzeih mir, Inge! Ich habe alles falsch gemacht. Nun bin ich am Ende. Ich darf ihn bald nicht mehr sehen, sagte Hansi, ihr macht es gerichtlich, sobald ihr geheiratet habt. Ich wollte es nicht glauben, aber er hatte es am Abend vorher von euch gehört. Hansi erfindet das doch nicht. Er sagte, als wir vor der Kaufhalle warteten, daß Onkel Dieter gleich nach Finkenhain fährt. Ich bin vorausgefahren und habe am Ortseingang auf ihn gewartet, bin ihm zu einem Grundstück gefolgt und habe ihn dort zur Rede gestellt, wie er dazu kommt, mir meinen Sohn zu nehmen? Für Hansi wäre es besser, würde er nicht zwischen uns hin und her gerissen, behauptete er. Ich bin auf ihn losgegangen, konnte aber nichts gegen ihn ausrichten. Alles war eigentlich vorbei, stell dir vor, ich habe mich sogar bei ihm entschuldigt. Schon gut, sagte er, vergessen wir’s. Aber dann fragte er, ob ich etwa mit dem Skoda gekommen sei. Das konnte ich nicht abstreiten. Er behauptete, ich sei angetrunken und nahm mir den Autoschlüssel und den Führerschein aus der Hand. Bei mir hakte es aus. Dich hatte er mir genommen! Hansi wollte er mir nehmen! Und nun nahm er mir auch meinen Führerschein weg.“ Inges Stimme klingt immer spröder und erregter. „Er ließ mich stehen und drehte sich um. Ich kriegte das Eisen zu fassen, schlug damit zu und nahm mir meinen Führerschein und die Autoschlüssel wieder, als er am Boden lag. Dann sah ich,
daß er tot war. Es tat mir entsetzlich leid. Das hatte ich nicht gewollt!“ Inge bricht ab, ihr Gesicht ist tränenüberströmt, sie muß sich erst beruhigen, ehe sie weiterlesen kann. „Ich wollte nicht dafür büßen! Ich war genug gestraft! Bei der Rangelei hatte er meine Jacke vom Jeansanzug zerrissen, ich habe sie unterwegs in einen Müllcontainer geworfen. Nach acht war ich bei Hansi, sagte ihm aber, die Aktuelle Kamera begänne gleich. Ich wußte ja, daß ich ihm aus dem neuen Buch vorlesen mußte!“ Inge ist kalkweiß geworden und nicht mehr ihrer Stimme mächtig. Die Hand mit dem Papier sinkt herab. Rabe tritt zu ihr und legt einen Arm um ihre Schulter. „Laß es gut sein“, sagt er und nimmt das Schriftstück an sich. Leutnant Klose hat erschüttert zugehört und wendet sich an Rabe: „Die Jacke von seinem Jeansanzug war es demnach, an der das Quecksilber haftete!“ „Quecksilber?“ fragt Inge tonlos. , Heinz Rabe erklärt ihr den Zusammenhang, und Inge weiß die Erklärung dafür: „Das war voriges Jahr beim Spielen passiert. Das Thermometer in Hansis Zimmer war zerbrochen, als er mit dem Rücken dagegen fiel. Bitte, laß mich weiterlesen!“ Sie nimmt das Papier wieder an sich und liest so hastig, als könne sie es nicht rasch genug hinter sich bringen. „Der Trick mit dem Bier hat mir nichts genützt. Ich hatte zwar ein Alibi, aber der Führerschein wurde mir weggenommen. Doch Hansi blieb mir! Da passierte das mit dem Schnaps. Ich wollte Hansi nach drüben mitnehmen und habe alles verkauft, um einen Halsabschneider zu bezahlen. Ich bin an einen Betrüger gera-
ten, der nur auf die Anzahlung aus war. Zwei Tage hielten wir es hier aus. Hansi weinte nur noch und wollte zu dir. Ich habe ihn zur Chaussee gebracht und ihm alles Geld mitgegeben. Nun trinke ich die letzte Flasche, sonst fehlt mir der Mut. Verzeih mir, wenn du es eines Tages kannst, daß ich dir dein Lebensglück zum zweiten Mal zerstört habe. Herbert.“