Seewölfe 166 1
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Seewölfe 166 1
Kelly Kevin 1.
„O Lord!“ sagte der dicke Nathaniel Plymson. Er stand an einem der winzigen Fensterchen, durch die Licht und manchmal auch frische Luft in die Schenke drangen. Die Schenke trug den schönen Namen „Bloody Mary“ und lag an der Ecke Millbay Road — St. Marys Street in Plymouth. Für den dicken Nathaniel Plymson war sie eine Goldgrube, auch wenn er selber manchmal behauptete, daß sie der letzte Nagel zu seinem Sarg sei. Vor allem, wenn gewisse Leute wieder im Lande waren, zu deren Gewohnheiten es gehörte, Kneipeneinrichtungen zu Kleinholz zu verarbeiten. Nathaniel Plymson hatte gerade das Bein eines wackelnden Tisches verkeilt, eines funkelnagelneuen Tischs, der das Brennholz ersetzte, das von seinem Vorgänger übrig geblieben war. Um Brennholz für das Kaminfeuer brauchte sich der dicke Plymson überhaupt vorerst nicht mehr zu sorgen. Dafür war sein Bestand an heilen Stühlen auf einen schäbigen Rest zusammengeschrumpft, und der Tischler von Plymouth konnte sich die Hände reiben. Seufzend tastete Nathaniel Plymson nach seiner schönen blonden Perücke. Die war auch neu. Plymson brauchte jedesmal eine neue Perücke, wenn die Seewölfe von der „Isabella VIII.“ in die „Bloody Mary“ einfielen. Nicht, daß der dicke Wirt etwa kein Talent gehabt hätte, im richtigen Moment den Kopf einzuziehen. Aber der Mensch hängt nun einmal an lieben alten Gewohnheiten, und für die Männer Philip Hasard Killigrews war es eine besonders liebe alte Gewohnheit, Plymsonsche Perücken zu ruinieren. „O Lord“, wiederholte der Dicke mit einem abgrundtiefen Seufzer. „Hä?“ fragte sein einziger Gast, der Eddy Smith hieß und mit seinem Rundschädel, den vorstehenden Augen und den schlaksigen Gliedern wie der Urenkel eines Kraken aussah.
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„Sie kommen!“ verkündete Nathaniel Plymson düster. „Wer kommt?“ fragte Eddy Smith, dem es allein in der „Bloody Mary“ sowieso langweilig war. „Die Seewölfe“, sagte Nathaniel Plymson. „He! Wölfe? Spinnst du?“ Eddy Smith hatte schon ein bißchen viel von dem Selbstgebrannten getrunken, den Plymson unverfroren Whisky zu nennen pflegte. Eddy war es egal, wie das Zeug hieß, solange es schön scharf schmeckte und man davon besoffen wurde. Neugierig geworden schwankte er von dem langen Schanktisch zu der Nische am Fenster, um ebenfalls einen Blick auf die „Wölfe“ zu werfen. Ein bißchen enttäuscht stellte er fest, daß sie ziemlich menschenähnlich wirkten. Allerdings: der Riese mit dem wüsten Narbengesicht, dem Amboßkinn und dem Brustkasten wie ein Bierfaß sah aus, als sei es besser, ihm nicht zu begegnen. Der schlanke junge Mann mit dem blonden Haar und den blauen Augen hatte tatsächlich etwas von der sehnigen Zähigkeit eines Wolfs. Und der dritte — du lieber Himmel, der trug statt der fehlenden rechten Hand einen stählernen, bedrohlich blitzenden Haken, mit dessen scharfgeschliffener Spitze er sich gerade ausgiebig hinter dem Ohr kratzte. Von den vier Männern, die da über den Kai auf die „Bloody Mary“ zuschlenderten, sah eigentlich nur einer nicht besonders beunruhigend aus: der magere schwarzhaarige Junge mit den unternehmungslustig funkelnden Augen. Aber wenn er in Gesellschaft von drei Wölfen wie denen dort aufkreuzte, konnte er auch nicht so ohne sein, wie Eddy Smith sehr richtig vermutete. „Wer is'n das?“ nuschelte er, während er sich wieder zu seinem Selbstgebrannten trollte. „Seewölfe“, wiederholte Nathaniel Plymson. „Vier aus der Crew dieses Satansbratens Killigrew, den sie Seewolf nennen. Höllenhunde sind das, sage ich dir. Wo die auftauchen, fliegen die Fetzen. Fünf Jahre haben sie sich nicht mehr in
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England sehen lassen. Und kaum sind sie zurück von ihrer Weltumsegelung, legen sie mir die Kneipe in Trümmer! Eine Schande ist das! Eine verdammte Schande!“ Nathaniel Plymson sah aus, als wolle er gleich weinen. Eddy Smith hatte sich inzwischen in ein Stadium von Milde und Besinnlichkeit hinein getrunken und seufzte teilnahmsvoll. „Warum läßt du sie denn 'rein, wenn sie dir die Kneipe in Trümmer legen?“ erkundigte er sich. „Und dann meine Perücke“, murmelte Plymson erbittert. „Jedes verdammte Mal ruinieren sie mir meine Perücke. Der Teufel soll sie lotweise holen. Lotweise, jawohl!“ „Und warum läßt du die Kerle dann 'rein?“ fragte Eddy Smith mit der Beharrlichkeit des Angesäuselten. Nathaniel Plymson schoß ihm einen vernichtenden Blick zu. „Dämliche Frage! Die Seewölfe, Mann! Wenn die den Hund von der Kette lassen, fließt hier in einer Nacht mehr Wein und Whisky als sonst im ganzen Monat. Und was sie mir zertöppern, das bezahlen sie gleich doppelt und dreifach. Die können mit dem Gold nur so um sich schmeißen, sage ich dir - schließlich weiß jedes Kind, daß sie mit 'nem ganzen Schiffsbauch voller Schätze zurückgekehrt sind. Denen ist nichts zu teuer, wenn sie einen Spaß haben wollen. Gentlemen sind das, du Esel, richtige Gentlemen!“ Eddy Smith spitzte die Ohren. Daß Plymson die „Gentlemen“ eben noch als Höllenhunde und Satansbraten bezeichnet hatte, fiel ihm nicht weiter auf. Er hatte nur das Wort „Schätze“ gehört. Eddy Smith war nämlich beileibe kein ehrbarer Bürger, sondern ein Erzhalunke, und das Wort Schätze wirkte auf ihn ungefähr so wie eine Flasche Baldrian auf einen streunenden Kater. „Mann!“ staunte er. „'ne Schiffsladung Gold? Ehrlich?“ „Gold und Silber und Perlen und Edelsteine“, schwärmte Nathaniel Plymson. Das hatte er zwar nur
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gerüchteweise erfahren, aber schließlich gehörte es zu den vornehmsten Aufgaben eines Kneipenwirts, Gerüchte mit den passenden Ausschmückungen weiterzuverbreiten. In der „Bloody Mary“ floß nicht nur Alkohol, sondern auch ein sprudelnder Quell aller möglichen Neuigkeiten. Von hier aus wanderten sie meist in die Barbierstuben, dann weiter zum heimischen Herd, wurden von treusorgenden Ehefrauen auf den Marktplatz getragen, und wenn sie am Ende wieder in der „Bloody Mary“ landeten, erkannte Plymson sie meistens nicht mehr wieder und ging daran, sie als ganz neue Geschichten weiterzuerzählen. Aber daß die „Isabella VIII.“ von ihrer Weltumsegelung einen Haufen Schätze mitgebracht hatte, stand so fest wie der Tower in London. Und der stand sehr fest. Eddy Smith kratzte sich heftig hinter dem rechten Ohr. Gespannt lauschte er den Schritten, die über das Katzenkopfpflaster klapperten. Dann flog die Tür auf, und herein spazierten vier von den „Gentlemen“, die von Zeit zu Zeit für eine Renovierung der „Bloody Mary“ sorgten. Diesmal sahen sie ganz friedlich aus. Schließlich wollten sie auch nur einen kleinen Abschiedsschluck nehmen. Morgen früh ging es ankerauf, Richtung London. Und Bill, der schlaksige schwarzhaarige Moses, hatte mit überzeugenden Argumenten die Ansicht verfochten, daß er bisher beim Landgang nicht viel mehr erlebt habe als alte Heuchler, die ihm auf die Finger guckten und ihm predigten, gefälligst nicht so viel zu saufen. Also war ihm besagter Abschiedsschluck genehmigt worden, in Begleitung von Edwin Carberry, Donegal Daniel O'Flynn und Matt Davies. Denn schließlich mußte jemand da sein, der dem jüngsten der Crew ein bißchen auf die Finger schaute und ihn ab und zu ermahnte, gefälligst nicht so viel zu saufen. So war eben das Leben. Man mußte das Beste aus dem machen, was man kriegen konnte. Bill schnupperte vergnügt den Mief der „Bloody Mary“. Ed
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Carberry griff in die Tasche und befreite Sir John, den roten Ara-Papagei. Und Nathaniel Plymson zeigte strahlend seine schadhaften Zähne und zog sich noch schnell die neue blonde Perücke von der Glatze, um sie in einem Schubfach in relative Sicherheit zu bringen. Eddy Smith, der Halunke, verholte sich unauffällig ans Ende des langen Schanktischs. Vorsicht hieß die Mutter der heilen Rumflasche. Wer wußte schon, ob Leute, die Kneipenmöbel geraderückten, ihre Aktivitäten nicht auch auf Gesichter ausdehnten, die ihnen nicht gefielen. Wie gesagt: Eddy Smith hatte Ähnlichkeit mit dem Urenkel eines Kraken. Er glaubte nicht recht, daß sein Gesicht den vier Seewölfen besonders gefallen würde. Außerdem hatte er noch einen anderen Grund, sich unauffällig zu verhalten. Einen Grund, der in seinem Kopf herumspukte, seit das Stichwort Schätze gefallen war, und der ihm keine Ruhe mehr ließ. Eddy Smith pflegte anderer Leute Besitztümer stets unter dem Aspekt zu betrachten, wie man sie sich am besten unter den eigenen Nagel reißen konnte. So auch jetzt! Die Goldstücke, die der Riese mit dem zernarbten Rammkinn auf den Schanktisch warf, sprachen für sich. Wo die herstammten, da klimperte bestimmt noch mehr in der Tasche. Ganz abgesehen von der Sache mit den Schätzen, die vorerst noch Tauben auf dem Dach waren. Nun war zwar Eddy Smith weder ein Held noch ein Narr, jedenfalls kein so ausgemachter Narr, daß er sich allein an vier hartgesottene, salzgewässerte Seewölfe gewagt hätte, aber schließlich war er nicht der einzige Erzhalunke, der im schönen Plymouth herumlief. Im Gegenteil! Eddy Smith hatte beizeiten gelernt, daß Einigkeit stark macht. Deshalb pflegte er innige geschäftliche Beziehungen zu einem Erz-Ober-Halunken, der Patrick Killarney hieß, wegen seiner schönen roten Haare „Red Fox“ genannt wurde und eine starke Bande von Halsabschneidern und Wegelagerern befehligte.
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Für „Red Fox“ waren auch ein paar Seewölfe kein unverdaulicher Happen. Von dem Gold, dem Silber, den Perlen und den Edelsteinen ganz zu schweigen! Eine solche Chance ließen sich Killarney und seine Hafenratten bestimmt nicht entgehen. Man mußte ihnen nur Bescheid geben. Genau das hatte Eddy Smith jetzt vor, und er war überzeugt davon, daß der „rote Fuchs“ ein paar hübsche Goldstückchen für die Nachricht springen lassen würde. Eddy Smith trank noch einen Selbstgebrannten und verließ die „Bloody Mary“ noch im Stadium des aufrechten Gangs. Nathaniel Plymson, der das höchst ungewöhnlich fand, blickte ihm nach und hatte da so seine eigenen Gedanken. * „Saftladen!“ krähte der Papagei Sir John. Zur Abwechslung saß er auf Ed Carberrys Kopf. Nathaniel Plymson war froh, daß er seine Perücke in Sicherheit gebracht hatte. Er ahnt nämlich, daß sich der Vogel sonst bestimmt das gute Stück als Landeplatz ausgesucht hätte. „Noch einen Whisky für jeden“, bestimmte der Profos. „Whisky, sagte ich. Nicht deine selbstgebrannte Haifischspucke, Plymson!“ „Einen?“ maulte Matt Davies. „Mann, sind wir hier vielleicht in 'nem Kloster, oder was ist?“ Der Profos schnaubte. „Dir zeig ich gleich, woher in diesem Kloster der Wind weht, du karierter Decksaffe! Noch ein Wort, und ich zaubere dir einen Slipknoten in deinen verdammten Haken!“ „Ha! Kannst du ja mal versuchen, wenn du mit dem Haken tätowiert werden willst“, fauchte Matt. Aber dann zog er es doch vor, aus der Reichweite des Profos' zu verschwinden. Ein Whisky war besser als kein Whisky. Ganz abgesehen davon, daß sie schon mehrere gelenzt hatten und bei dem Abschiedsschluck die Betonung auf Schluck lag - was hieß, daß sie ohne wesentliche Schlagseite an Bord der „Isabella“ zurückerwartet wurden.
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Dan O'Flynn ließ sich den echten Schottischen mit Genuß durch die Kehle rinnen. Bill hatte glänzende Augen, weil er noch nicht so geübt war, was Hochprozentiges betraf. Nathaniel Plymson strahlte, denn weder seine Perücke noch die Reste seiner Einrichtung waren in Gefahr. Über das plötzliche, auffällig-unauffällige Verschwinden des Halunken Eddy Smith ließ er sich keine grauen Haare wachsen. Erstens wuchsen auf seiner Glatze sowieso keine Haare, und zweitens huldigte er dem gesundheitsförderlichen Grundsatz, sich nicht in Angelegenheiten zu mischen, die ihn nichts angingen. Vor allem nicht in Angelegenheiten, in die außer diesen Teufelsbraten von Seewölfen auch noch ein schwarzer Höllenhund wie Red Fox Killarney verwickelt war und bei denen man am besten daran tat, den Kopf einzuziehen und sich zu verkriechen. Die vier Seewölfe ahnten nichts von Nathaniel Plymsons prophetischen Gedanken, als sie nach einem weiteren, endgültig allerletzten Whisky die „Bloody Mary“ verließen. Draußen dämmerte es, über dem westlichen Horizont lag ein glutroter Streifen wie der Widerschein einer Feuersbrunst. Ed Carberry schnupperte in den Wind. Es hatte aufgebrist. Morgen würden sie raumschots an der englischen Südküste vorbei- segeln. Ein Geräusch unterbrach die erbaulichen Betrachtungen des Profos'. Ein sehr eigenartiges Geräusch. Scharf, schabend, begleitet von einem ganz leichten metallischen Singen - haargenau so, als werde mit einem Ruck ein Degen aus der Scheide gezogen. Edwin Carberry blieb stehen. Schräg neben ihm kreiselte Dan O'Flynn herum, der nicht nur scharfe Ohren, sondern vor allem ungewöhnlich scharfe Augen hatte. Jetzt bohrte er sie in den Schatten des Torwegs, aus dem das Geräusch gedrungen war - und was er da sah, ließ ihn grimmig die Lippen von den Zähnen ziehen.
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Blitzende Klingen! Schattenhafte Gestalten, die eben dabei waren, sich auf die Millbay Road zu pirschen. Matt Davies und Bill hatten sie ebenfalls erspäht, und der Moses, dessen Tatendrang vom echten Schottischen durchaus nicht eingeschläfert worden war, reckte unternehmungslustig die Schultern. „Erst mal abwarten, ob die überhaupt was von uns wollen“, mahnte der Profos. Sie wollten, kein Zweifel. Der Anführer hatte fast so schöne rote Haare wie Ferris Tucker, der Schiffszimmermann der „Isabella“, das zeigte sich, als die Burschen in den Lichtkreis der nächsten Sturmlampe gerieten. Der Rotkopf war es auch gewesen, der den Degen gezogen hatte. Jetzt gab er seinen Kumpanen ein Zeichen. Und die pirschten sich lautlos heran wie Katzen an die Sahneschüssel wahrscheinlich, weil sie nicht die ganze Millbay Road durch wildes Kriegsgeschrei aufscheuchen wollten. „Lebensmüde“, konstatierte Matt Davies trocken. Aber lebensmüde sah der knochige rothaarige Bursche eigentlich nicht aus. Eher hungrig — beutehungrig. Seine Kumpane, etwas mehr als ein Dutzend, waren auch nicht gerade von dem Kaliber, das in der Sonntagsschule herangezogen wird. Zwei von ihnen hielten schwere Steinschloß-Pistolen in den Fäusten und zielten auf die Seewölfe. Somit bestand kein Zweifel mehr an ihren unfreundlichen Absichten. Edwin Carberry rieb sich andächtig die mächtigen Fäuste. „Weg mit den Erbsenspuckern“, forderte er. „Wenn ihr scharf auf 'ne anständige Keilerei seid ...“ Er stockte. Denn im selben Augenblick klapperten Hufe, rumpelten Räder, und der finstere Rachen des Torwegs spuckte auch noch einen offenen einspännigen Karren aus. „Steigt ihr freiwillig auf?“ erkundigte sich der Rotschopf mit einem spöttischen Grinsen.
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Dem Profos verschlug es glatt die Sprache. Den anderen ebenfalls. Nur Dan O'Flynn mit seinem legendären Mundwerk konnte das natürlich nicht passieren. „Dir haben sie wohl das Hirn durchlöchert, du Kakerlake“, fauchte er aufgebracht. „Mann, verhol dich, bevor ich dir was auf deinen blöden Schädel gebe. Dann glotzt du nämlich durch deine eigenen Rippen wie ein Affe durchs Gitter, du ...“ „Schnappt sie euch“, sagte der Rotkopf, der offenbar ein Mann der Tat war. Seine Halsabschneider grinsten erfreut und wollten aufs Wort gehorchen, mußten aber schon im nächsten Moment begreifen, daß das nicht ganz so einfach war, wie sie gedacht hatten. Da nämlich legten die Seewölfe los, und an der Ecke Millbay Road — St. Marys Street flogen mal wieder die Fetzen. Der Rotkopf bereute seinen Vorwitz spätestens in dem Augenblick, in dem er sich rückwärts in der Luft überschlug und da landete, wo der Gaul vor wenigen Minuten etwas hatte fallen lassen. Drei von seinen Kumpanen suchten schon beim ersten Zusammenprall der Fronten das schmutzige Straßenpflaster auf und zeigten keine Anstalten, sich so schnell wieder zu erheben. Mit Ausnahme eines kleinen, krummbeinigen Kerls — und der erhob sich nicht, sondern wurde erhoben. Ed Carberry packte ihn nämlich bei den Füßen und begann, ihn im Kreis zu schwenken. Das hatte der Seewolf bei jener ersten legendären Schlacht vor der „Bloody Mary“ mit einem Gegner getan, der ihm dann aus den Stiefeln gerutscht, durch einen Fensterladen gesegelt und im Bett einer liebestollen Witwe gelandet war. Der Profos mußte den Trick noch üben. Ihm rutschte der Krummbeinige zwar nicht aus den Stiefeln, aber dafür wurde versehentlich Matt Davies umgesäbelt — und später behauptete er natürlich steif und fest, genau das sei es gewesen, was den Kampf entschieden habe. In Wahrheit war es die Verstärkung, die einer der verdatterten Banditen herbei pfiff.
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Ein weiteres halbes Dutzend Angreifer brach aus Gassen, Torwegen und dunklen Hauseingängen hervor. Da die Seewölfe alle Hände voll mit dem ersten Dutzend zu tun hatten, konnten sie nicht verhindern, daß ihnen die Neuankömmlinge in den Rücken fielen. Fäuste wurden geschwungen, Knüppel sausten, Beulen und blaue Flecken erblühten - und diesem Ansturm waren auch die kampferprobten Männer von der „Isabella“ nicht mehr gewachsen. Ed Carberry hatte wenigstens noch die Genugtuung, den Krummbeinigen auf den Rothaarigen zu schleudern, worauf beide in innige Berührung mit den Pferdeäpfeln gerieten. Matt Davies war ohnehin schon weggetreten, Bill und Dan O'Flynn verschwanden unter den Angreifern, die sie einfach durch ihr massiertes Gewicht zu Boden drückten und blitzartig mit dicken Hanfstricken verschnürten. Ed Carberry, des Krummbeinigen ledig, blickte sich wild um, rollte die Augen und sah zum Fürchten aus. Aber inzwischen konnte sich fast die ganze Bande um ihn kümmern, und genau drei Minuten später ging auch der Profos mit fliegenden Fahnen unter. Nach zwei weiteren Minuten lagen die Opfer gefesselt unter einem Haufen alter Säcke auf dem davonrumpelnden Wagen. Die Banditen verschwanden eilig von der Bildfläche. Das Schlachtfeld leerte sich, und als wenig später die ersten Anwohner vor ihren Haustüren erschienen, um kräftig mitzukeilen, lag der Platz vor der „Bloody Mary“ so friedlich in der Abenddämmerung, als sei überhaupt nichts geschehen. Niemand wußte Genaues. Sie hatten Lärm gehört, das war alles. Der einzige, der ihnen die Geschichte hätte erzählen können, Nathaniel Plymson nämlich, hütete sich diesmal aus gutem Grunde, seinen Mund aufzutun. 2.
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Der Lärm war auch an Bord der „Isabella VIII.“ gehört worden. Die ranke Galeone lag außer Sichtweite, aber durchaus nicht außer Hörweite der „Bloody Mary“ am Pier. Ferris Tucker, der riesige rothaarige Schiffszimmermann, strich wie ein grollender Geist durchs Schiff, zerrte hier an einem Brooktau, klopfte dort gegen ein Querspant und belegte jeden einzelnen Holzwurm mit finsteren Verwünschungen. Aus der Kombüse drangen verlockende Düfte. Der Kutscher, Koch und Feldscher an Bord, warf ein Riesenexemplar von Steak nach dem anderen in die Pfanne, und die Männer, die sich nur zu oft wochenlang auf Fisch und Pökelfleisch beschränken mußten, erwarteten ein Festmahl. Philip und Hasard, die siebenjährigen Zwillinge, schaukelten auf den Webleinen des Steuerbord-Hauptwants und betrachteten halb sehnsüchtig, halb mißtrauisch das abendliche Plymouth. Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, hatte sich zu ihnen gesellt. In seinem immer noch gebrochenen Englisch erzählte er ihnen, wie es im fernen London aussah. Da er sich noch sehr gut an seine eigenen ersten Eindrücke erinnerte, nahm die Stadt an der Themse in seinem Bericht die Züge eines fabelhaften Platzes voller Wunder, Kuriositäten und Unglaublichkeiten an. Die Jungen lauschten hingerissen, Sam Roskill, der blonde Schwede Stenmark und Old O'Flynn lauschten ebenfalls, aber nicht auf Batutis Erzählungen, sondern auf den Lärm von der „Bloody Mary“. Das Geschrei und die Flüche hörten sich ziemlich wüst an. Haargenau so, als sei da drüben eine jener prachtvollen Keilereien im Gange, die bei einem zünftigen Landgang nun mal das Salz in der Suppe bildeten. Na ja, vielleicht hatten sich da ein paar Leute stark gefühlt, weil die Männer von der „Isabella“ nur zu viert waren. Sam Roskill seufzte. Stenmark schien es in den Fäusten zu jucken, da er sich ausgiebig die Knöchel kratzte. Und Luke Morgan, Smoky und Bob Grey, die jetzt ebenfalls ans Schanzkleid traten, hatten ein gewisses Funkeln in den Augen.
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„Da geht's rund“, sagte Bob Grey andächtig. „Der Profos hat aber auch immer Glück“, brummte Sam Roskill. Inzwischen lauschten auch Batuti und die Zwillinge dem Kampflärm. Gebrüllt und geflucht wurde jetzt nicht mehr. Also mußte das Gefecht jenes Stadium stummer Verbissenheit erreicht haben, in dem entschieden wurde, welcher Partei der Wind ins Gesicht wehte. Nicht mehr lange, dann würden sich die ersten wutentbrannten, in ihrer Ruhe gestörten Einwohner in die Schlacht stürzen, sich neue Fronten bilden und frische Kämpfer angelockt werden. Es kam nicht soweit. Der Lärm verstummte überraschend schnell. Die Männer auf der Kuhl grinsten sich eins, denn nach ihrer Meinung konnte das nur bedeuten, daß ihre Kameraden den vorwitzigen Gegnern eine gepfefferte Lektion erteilt hatten. Was natürlich eine Kehrtwendung, einen neuerlichen Besuch in der „Bloody Mary“ und einen kräftigen Schluck auf den Sieg erforderte. Sam Roskill seufzte schon wieder. Ferris Tucker, der soeben im Niedergang auftauchte, widmete ihm einen vernichtenden Blick. Kopfschüttelnd peilte der rothaarige Schiffszimmermann landeinwärts. „Dieser karierte Riesenaffe von einem Profos hat wohl Quallen im Hirn“, grollte er. „Saufen wie ein Loch und 'ne Prügelei vom Zaun brechen, ha!“ „Wieso vom Zaun brechen?“ protestierte Stenmark. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung, hast du nicht!“ „Mißratener Bengel!“ knurrte Donegal Daniel O'Flynn, womit er seinen Sohn Donegal Daniel junior meinte. „Kleines O'Flynn erwachsen, kann saufen, wieviel will“, sagte Batuti mit schlagender Logik. So ging es noch eine Weile weiter: Die Männer hatten Freiwache und reichlich Zeit, das Blaue vom Himmel zu reden. Nach einer halben Stunde allerdings wurden sie unruhig, denn inzwischen
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hätten Carberry und die anderen tatsächlich zurück sein müssen. Der Ansicht war auch Philip Hasard Killigrew, der vom Achterkastell auf die Kuhl gesprungen war und aus zusammengekniffenen eisblauen Augen ebenfalls landwärts spähte. Sein langes schwarzes Haar flatterte im Wind. Im Widerschein der roten Abenddämmerung wirkte das braungebrannte Gesicht mit der Narbe noch verwegener als gewöhnlich. „Gefällt mir nicht“, sagte er knapp. „Das sieht Ed nicht ähnlich. Ferris, schnapp dir ein paar Männer und sieh nach, was da passiert ist.“ „Aye, aye, Sir! Sten, Smoky, Batuti!“ Bewegung geriet in die Männer. Daß sie nicht zum Vergnügen an Land gingen, brauchte ihnen niemand zu sagen. Aber sie mußten schließlich in der „Bloody Mary“ die Lage peilen, und es konnte ja immerhin sein, daß da vielleicht zufällig ein paar volle Gläser herrenlos herumstanden oder so. „Schaut bloß nicht so durstig aus der Wäsche“, schnauzte Ferris Tucker. „Ihr glaubt wohl, es geht zur Kirmes, was? Wer ein Glas auch nur schief ansieht, kriegt die Hammelbeine so lang gezogen, daß er demnächst durch den Kanal waten kann, verstanden?“ „Fein!“ Batuti freute sich. „Mit langes Hammelbeine du brauchst nicht mehr aufentern, um Toppen zu klarieren, eh?“ „Und ob! Weil du nämlich anschließend eins auf die Rübe kriegst, daß du sogar aufentern mußt, um die Nagelbank zu klarieren. Los jetzt, verdammt! Mir ist es irgendwie zu still hier.“ Tatsächlich schienen in der Millbay Road und der St. Marys Street eitel Ruhe und Eintracht zu herrschen. Nichts wies darauf hin, daß hier vor wenig mehr als einer halben Stunde eine Schlacht geschlagen worden war. Keine Spur von Siegesgeschrei war aus der „Bloody Mary“ zu hören. Nur ein einsamer Betrunkener sang ein sehr trauriges Lied von einer gewissen Pretty Lucinda, die demnach ein Luder gewesen war und ihn sitzengelassen
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hatte. Sonst war es still, und die Seewölfe fanden das nicht gerade beruhigend. Der Anblick der selbst für den frühen Abend recht schwach besuchten Schenke ließ sie auch nicht klüger werden. Etwas aufschlußreicher war da schon das Verhalten des fetten Nathaniel Plymson. Der hatte seine funkelnagelneue blonde Perücke wieder aufgesetzt, stand hinter dem Schanktisch und verschüttete beim Anblick der neuen Besucher mindestens einen halben Humpen Wein, weil er den Krug nicht mehr ruhig halten konnte. Sein Doppelkinn hüpfte, seine Augen wurden weit, auf der Stirn bildeten sich Schweißperlen. Alles in allem bot der Besitzer der „Bloody Mary“ das Bild des personifizierten schlechten Gewissens. Dabei hatte er gar nichts weiter verbrochen. Er sah lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die dafür sprach, daß man ihm die Schuld an den Ereignissen in die Schuhe schieben würde. Normalerweise ließ ihn das kalt: Er hatte seine emsigen Wurstfinger in so vielen zweifelhaften Geschäften, daß es ihm zwangsläufig ziemlich gleich sein mußte, wer ihm wann und wo welche Schuld an was auch immer in die Schuhe schob. Aber bei diesen verdammten Seewölfen war das natürlich etwas ganz anderes. Nathaniel Plymson wurde der Kragen zu eng. Er schluckte heftig. Sein Blick wanderte von dem furchterregenden Neger mit den rollenden Augen zu dem nicht minder furchterregenden rothaarigen Riesen, von dem bulligen braunhaarigen Smoky zu dem schlanken blonden Schweden Stenmark — und plötzlich fiel dem dicken Plymson ein, daß er eigentlich sehr dringend etwas in seinem Weinkeller zu erledigen hatte. „Hier geblieben!“ grollte Ferris Tucker drohend. Damit wurde die Angelegenheit im Weinkeller für Nathaniel Plymson noch etwas dringender und veranlaßte ihn dazu, wie eine geölte Kanonenkugel im düsteren Hintergrund der Schenke zu verschwinden.
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Das heißt, er verschwand nicht, sondern watschelte die Treppe hinunter, die in besagten Weinkeller führte. Die Seewölfe kannten die Treppe und den Weinkeller ebenfalls. Um einen watschelnden, schnaufenden, schwitzenden Nathaniel Plymson einzuholen, brauchten die vier Männer noch nicht einmal groß ihre Schritte zu beschleunigen. Der Dicke gelangte endgültig zu der Überzeugung, daß ihm das Schicksal einen üblen Streich gespielt hatte, als ihm die „Bloody Mary“ als Besitz beschert worden war. Dabei hatte er diesmal wirklich keine Schuld. Der Himmel wußte, daß er keine Geschäfte mit Patrick „Red Fox“ Killarney tätigte. Aber was nutzte es, daß der Himmel das wußte. Die Seewölfe wußten es nicht - und die waren ihm jetzt auf den Fersen, als ob sie zu allem anderen auch noch Gedanken lesen könnten. Nathaniel Plymson wischte zwischen den Weinfässern hindurch, gewann den Vorratskeller und strebte der Hintertür zu, um draußen im Gewirr der dunklen, verwinkelten Gassen unterzutauchen. Was ihm das einbringen sollte, wußte er allerdings selbst nicht. Es spielte auch keine Rolle, da es gar nicht erst so weit kam. Die Hintertür war mit einem massiven Schloß und drei schweren Riegeln gesichert, damit sich niemand im Keller selbst bediente, und Nathaniel Plymson schaffte nur zwei von diesen Riegeln. Beim dritten nahm ihm der blonde Stenmark die Arbeit ab. Aber da hatte Batuti den quiekenden Dicken bereits am Kragen, und Ferris Tucker durchbohrte ihn mit einem Blick von der Sorte, bei der selbst der Teufel Reißaus genommen hätte. Der arme Plymson hätte auch gern Reißaus genommen, aber er konnte nicht. Kreideweiß und schlotternd starrte er den rothaarigen Hünen an, der vollends die Tür öffnete und mit dem Daumen nach draußen wies. „An die frische Luft mit ihm“, ordnete er an. „Und behandelt ihn vorsichtig. Er soll
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uns ja schließlich noch was erzählen können.“ * Der Profos nieste. Das lag an dem Staub, der ihm in die Nase drang. Der wiederum stammte von den Säcken, die man über die vier Gefesselten geworfen hatte. Säcke, die vor nicht allzu langer Zeit noch dem Transport von Mehl gedient haben mußten und immer noch dazu neigten, ihre gesamte Umgebung gleichmäßig zu pudern. Zwei Minuten später nieste auch Dan O'Flynn. Als nächster kam Bill wieder zu sich und schließlich auch Matt Davies. Jetzt niesten sie im Quartett. Zwischendurch fluchte Ed Carberry in allen Tonlagen, und auf dem Kutschbock kicherte jemand hingerissen. „Dir wird das Lachen noch vergehen, du kalfaterte Landratte!“ brüllte der Profos und fügte einige finstere Mutmaßungen hinzu, die die Ahnenreihe des Mannes betrafen. Der hörte auf zu kichern. Er entstammte einem Geschlecht ehrbarer Taschendiebe und hatte es nicht nötig, sich als Enkel eines triefäugigen, verlausten Ziegenbocks bezeichnen zu lassen. „Dir stopf ich gleich das Maul, du Nachttopf-Matrose!“ drohte er wütend. „Als ob du hirnrissige Ratte einen Nachttopf von 'nem Bierkrug unterscheiden könntest! Dir würde ich gern mal die Gurgel massieren und dann ein bißchen die Zähne putzen, du krummer Hund!“ Der Mann auf dem Kutschbock blieb die Antwort nicht schuldig. Ein paar Leute, die offenbar zu Fuß neben dem Wagen marschierten, leisteten ebenfalls ihren Beitrag. Dan O'Flynn hörte auf zu niesen und fand seine übliche Form wieder, und auf diese Weise wurde die weitere Fahrt ganz unterhaltsam. Den Seewölfen gelang es allmählich, sich trotz der Fesseln durch den Berg von alten Mehlsäcken zu wühlen. Sie gewannen
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frische Luft und freie Sicht, aber ihre Lage war deshalb kaum weniger bescheiden. „Pfui Deibel“, knurrte der Profos angesichts der Galgenvogel-Gesichter ringsum. „Die feine Gesellschaft von Plymouth ist das jedenfalls nicht“, bemerkte Dan respektlos. Sie ernteten wütende Blicke. Ein paar von den Burschen schüttelten drohend die Fäuste, obwohl sie bestimmt nicht den Ehrgeiz hatten, zur feinen Gesellschaft von Plymouth gerechnet zu werden. Die Seewölfe sahen sich um, zählten ihre Gegner, kamen auf anderthalb Dutzend und entdeckten schließlich auch den rothaarigen Anführer, der der nächtlichen Karawane hoch zu Roß voranritt. Das Ziel war eine vorspringende Landzunge im Osten von Plymouth. Die Seewölfe kannten die Ecke. Seit ewigen Zeiten lag dort das Wrack einer Kogge, die ein Sturm auf die Klippen geworfen hatte. Das Vorschiff mit dem Mannschaftslogis und den Laderäumen war heil geblieben. Seitdem diente es allen möglichen Sorten von lichtscheuem Gesindel als vorübergehender Unterschlupf. Im Augenblick beherbergte es offenbar die Banditen und Halsabschneider, die sich um den großen, drahtigen Kerl mit dem brandroten Haarschopf geschart hatten. Denn daß sie Banditen in die Hände gefallen waren, brauchte den Seewölfen niemand groß zu erzählen. Sie ahnten auch, wem sie das zu verdanken hatten. Nicht Nathaniel Plymson, o nein - der hatte noch genug von dem denkwürdigen Abend, an dem er versucht hatte, den Seewolf Philip Hasard Killigrew an die Preßgang von, Francis Drakes „Marygold“ zu verschachern. Aber Plymson war nun mal eine alte Klatschtante, die den Mund nicht halten konnte. Und da war dieser Kerl in der „Bloody Mary“ gewesen, der aussah, als ob er mit einem Kraken verwandt wäre. Der Bursche hatte lange Ohren gemacht, ein gewisses Glitzern in den Augen gehabt und sich dann plötzlich beachtlich schnell verdrückt.
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Na warte, dachte Ed Carberry grimmig, während der Karren dort anhielt, wo verstreute Felsblöcke den Weg auf die Landzunge versperrten. Den Gefangenen wurden die Fußfesseln durchtrennt. Sie marschierten freiwillig, weil es im Augenblick wenig Sinn hatte, Widerstand zu leisten. Fast zwanzig Banditen waren ein bißchen viel, die Stricke an den Armen saßen auch sehr fest - da hieß es zunächst mal abwarten, aufpassen, den Gegner in Sicherheit wiegen. Minuten später knarrten die Planken des Wracks unter ihren Füßen. Die Banditen hatten das aufgerissene Vorschiff abgeschottet, die Lecks zugenagelt und ihre Räuberhöhle reichlich mit zusammengewürfelten Beutestücken ausgestattet. Teppiche, Sessel und Sofas, Kästen und Truhen, Weinfässer und Rumflaschen — es war alles da, was das Herz begehrte, einschließlich einer Badewanne, himmelblau, mit vergoldeten Füßen. Dan O'Flynn versuchte, sich eine der verwahrlosten, schmutzstarrenden Gestalten in diesem Monstrum vorzustellen, und prustete los. „Du hast wohl nicht alle Tassen im Schrank“, knurrte einer der Banditen, womit er bewies, daß er eine hoffnungslose Landratte war, bei der die Mucks im Schapp nun mal Tassen im Schrank hießen. „Feine Gesellschaft“, knurrte Ed Carberry. „Gebadet haben die in dem Ding bestimmt noch nie. Vielleicht brennen sie Schnaps drin — dieses Zeug, das aufs Gehirn schlägt. Deshalb haben sie sicher auch so dämliche Gesichter.“ Die Banditen knirschten vor Wut. Nur der Rothaarige grinste amüsiert. Dan O'Flynn musterte das lange, hagere Gesicht, die breiten Wangenknochen, das kantige Kinn und die grünlichen Augen. Er gelangte zu dem Ergebnis, daß dieser Bursche der einzige von der ganzen Bande war, der so aussah, als habe er ein bißchen Verstand im Schädel.
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„Kennst du den Kerl mit dem Dachstuhlbrand?“ fragte Dan in Carberrys Richtung. „Kann ich jeden lausigen Banditen kennen? Aussehen tut er, als hätte ihn ein räudiger Esel mit des Teufels Großmutter im Suff gezeugt.“ „Hüte deine Zunge!“ fauchte der Rothaarige. „Ich bin Patrick Red Fox Killarney.“ „Mach dir nichts draus“, sagte Dan O'Flynn tröstend. „Kann ja jedem passieren, nicht?“ tat Bill das Seine dazu. „Die große Schnauze vergeht euch noch!“ verkündete der „rote Fuchs“ grimmig. „Außerdem sind wir hier keine Banditen, sondern Rebellen, damit das klar ist.“ „Wie schön“, sagte Ed Carberry. „Ich bin Ire, ich ...“ „Und deine Halsabschneider sind verkleidete Jesuiten, was? Wenn du Mißgeburt von einem Iren ein Rebell bist, bin ich ein Agent des Allerkatholischsten Philipp. Spar bloß deinen Atem; den brauchst du noch, wenn ich dir den Kopf nach hinten drehe. Was willst du überhaupt von uns, du nachgemachter Schnapphahn?“ „Stopft ihm das Maul!“ befahl der Rotschopf schneidend. „Und dann dreht ihnen die Taschen um, aber ein bißchen plötzlich!“' Der Befehl wurde prompt befolgt. Allerdings mit mäßigem Erfolg, da die Banditen keine Ahnung hatten, was alles nötig war, um einem Edwin Carberry das Maul zu stopfen. Um so gründlicher leerten sie den Gefangenen die Taschen. Was da an Goldstücken zusammenkam, reichte zwar durchaus, um den meisten von den Halunken Stielaugen zu verschaffen, aber es war als Beute nicht gerade überwältigend. Red Fox Killarney. der sich für einen irischen Rebellen hielt, zog die Lippen von den langen Zähnen. „Das sieht nicht schlecht aus“, behauptete er. „Wo das herstammt, ist bestimmt noch mehr. Unsere Freunde hier werden uns
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verraten, was es ist, wo es steckt und wie wir es uns am besten holen können.“ Auffordernd sah er in die Runde. Matt Davies und Bill starrten ihn an, als hätte er sich vor ihren Augen plötzlich in das legendäre Kalb mit den zwei Köpfen verwandelt. Dan O'Flynn und Ed Carberry wechselten einen Blick. Dan kicherte, Ed kicherte, und dann brachen die Seewölfe plötzlich wie auf Kommando in dröhnendes Gelächter aus. Patrick „Red Fox“ Killarney begann zu ahnen, daß ihm die Beute, auf die er diesmal ein Auge geworfen hatte, auf jeden Fall nicht so leicht in den Schoß fallen würde. * „Ich bin unschuldig!“ beteuerte Nathaniel Plymson. Batuti, Smoky, Ferris Tucker und Stenmark sahen sich an. Die Sturmlampe der „Bloody Mary“ ließ die Katzenköpfe glänzen. Die Männer standen immer noch an der Ecke Millbay Road — St. Marys Street, jetzt allerdings dicht an der Kaimauer, gegen die das kühle Wasser des Hafenbeckens schwappte. „Er ist unschuldig“, sagte Stenmark ergriffen. „Jawohl!“ schwor Plymson und legte die Hand auf die Stelle oberhalb seines mächtigen Bauchs, wo er das Herz vermutete. „Jetzt hör mal zu, mein Freund“, sagte Ferris Tucker sanft. „Die vier waren in der ,Bloody Mary', klar? Sie haben Streit gekriegt, und jetzt sind sie verschwunden. Auch klar?“ „J-ja, ja“, stotterte Plymson. „Klar ...“ „Und du hast alles gesehen, weil du eine neugierige alte Klatschtante bist und dir so etwas nicht entgehen läßt. Also wirst du uns jetzt erzählen, was passiert ist und wer unsere Freunde gekapert hat. Klar?“ „Nein!“ jammerte Plymson. „Ich meine, ja ... ich meine, ich weiß nichts, ich hab nichts gesehen, ich...“ „Tz, tz, tz“, machte Ferris Tucker.
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Batuti hatte den dicken Kneipenwirt bereits am Kragen gepackt. Plymson zappelte, kreischte und schrie Zeter und Mordio, aber es nutzte ihm nichts. In hohem Bogen segelte er durch die Luft und „ verschwand im hoch aufspritzenden Wasser der Mill Bay. Zwei Sekunden später tauchte sein Kopf wieder auf — ein runder, blanker Schädel, auf dem ein paar nasse Einzelhaare Kringelmuster bildeten. „Meine Perücke!“ kreischte Nathaniel Plymson schrill. Das gute Stück schwamm im Hafenbecken. Daß er sich nasse Füße und einen kalten Hintern holte, schien dem Dicken im Augenblick gleichgültig zu sein. Wie ein strampelnder Mops paddelte er auf seine Perücke zu, entwickelte schwimmerische Qualitäten, die ihm niemand zugetraut hätte, und grapschte mit beiden Händen nach dem Ding, das jetzt Ähnlichkeit mit einem nassen gelben Staubwedel hatte. „Hilfe!“ schrie Plymson. „Ich kann nicht schwimmen.“ „Du kannst schwimmen!“ schrie Ferris Tucker ungerührt zurück. Plymson konnte es tatsächlich. Jedenfalls hatte er es gerade eben gelernt, was ihm erst jetzt bewußt wurde. Einen Augenblick gemahnte sein Mondgesicht an ein sehr erstauntes Baby. Dann begriff er zweierlei, nämlich daß ihm wirklich niemand nachspringen würde und daß er beide Hände brauchte, um sich aus eigener Kraft über Wasser zu halten. Entschlossen stülpte er sich die Perücke auf den Schädel, verkehrt herum, so daß ihm die langen Nackenfransen in die Augen hingen, und paddelte in dem soeben erlernten MopsStil auf die Kaimauer zu. Als er an der Eisenleiter hochkletterte, keuchte er wie ein Walroß, klapperte mit den Zähnen und stierte angstvoll durch die Perückenfransen. „Na?“ fragte Ferris Tucker. „W-w-w ...“, stotterte Plymson. Vielleicht sollte es eine Frage werden, die mit Wer, Wie, Was oder Warum anfing.
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„Wo kleines Bill?“ grollte Batuti. „Wo kleines O'Flynn, wo großes Profos, wo Matt Davies mit Haken?“ „W-w-weiß ich nicht!“ stammelte Plymson. „Ich schwöre! Ich habe nichts gesehen! Ich war die ganze Zeit hinter meinem Schanktisch! Ich hatte viel zuviel Krach in der Schenke, um irgendetwas zu hören, ich ...“ „Batuti“, sagte Ferris. „Nein!“ kreischte Nathaniel Plymson. Aber da fühlte er sich schon wieder angelüftet, vollführte eine Luftreise und landete zum zweiten Male in der Mill Bay. Sauberer wurde er davon nicht. Das Wasser war nämlich eine ziemlich trübe Brühe, in der allerlei Zeug herumschwamm, das nicht nach Rosen duftete. Diesmal hielt Plymson seine Perücke fest und tauchte mit ihr unter. Dafür vergaß er beim Auftauchen für einen Moment das Paddeln. Er schluckte Hafenwasser, spuckte, würgte, keuchte und war ziemlich grün im Gesicht, als er endlich wieder über die Eisenleiter auf den Kai stieg. Seines Haupthaars Fülle hielt er mit der rechten Hand vor die Brust gepreßt. Die Linke brauchte er, um seine rutschende Hose festzuhalten. Auf seinem kahlen Schädel hing ein schöner langer Algenbart. Aber viel besser würde die mißhandelte Perücke in Zukunft auch nicht mehr aussehen. „Na, siehst du“, sagte Ferris Tucker freundlich. „Jetzt hast du sogar schwimmen gelernt. Nun brauchst du nur noch ein bißchen zu üben.“ „Nein“, jammerte Plymson. „Nicht mehr bitte!“ „Kühle Bäder erhöhen aber das Erinnerungsvermögen. Oder kannst du dich schon wieder gut genug erinnern? Unsere Freunde waren in der ,Bloody Mary' - fällt dir das jetzt wieder ein?“ „J-ja“, stotterte Plymson. „Und sie kriegten Streit?“ „Erst draußen“, beteuerte der Dicke. „Sie waren gerade zur Tür hinaus, da fing es an.“
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„Sofort? Dann sind Sie überfallen worden?“ „Ja“, sagte Plymson schicksalsergeben. „Von wem?“ „Banditen, glaube ich. Mehr weiß ich nicht! Wirklich nicht!“ „Woher wußten diese Banditen, daß da ein paar Leute kamen, die Geld in den Taschen hatten?“ „Nicht von mir!“ schrie Plymson erschrocken. „Von wem dann?“ Nathaniel Plymson dachte daran, daß dem Erzhalunken Eddy Smith das Messer ziemlich locker saß und daß es sich schon gar nicht empfahl, die Feindschaft von Red Fox Killarney auf sich zu ziehen. „Ich weiß nicht“, stöhnte er. „Keine Ahnung, ich ...“ Der Rest der Worte war nur noch ein Gurgeln. Da segelte er nämlich bereits wieder durch die Luft. Und diesmal erfolgte das Verhängnis so überraschend, daß er schrill aufschrie und vor Schreck die Perücke losließ. Das gute Stück flog wesentlich weiter als sein Besitzer. Plymson klatschte ins Wasser, strampelte und erzeugte konzentrische Wellen, die die Perücke sacht davontrugen. Jetzt wurde sie auch noch von einer leichten Strömung erfaßt, drehte sich um sich selbst, trudelte weiter, und Nathaniel Plymson vergaß schon wieder das Paddeln, als er sein funkelnagelneues Haar auf Nimmerwiedersehen davonschwimmen sah. Diesmal schnitt er das Gesicht eines gebrochenen Mannes, als er glücklich wieder auf dem Kai gelandet war. Es empfahl sich immer noch nicht, sich die Feindschaft des „Rotfuchses“ zuzuziehen. An der Tatsache, daß dem Halunken Eddy Smith das Messer locker saß, hatte sich auch nichts geändert. Aber was war das alles im Vergleich zu der Aussicht, lotweise in der Mill Bay ersäuft zu werden? „Schwimmen kann er jetzt schon ganz gut“, stellte Stenmark fest. „Mal sehen, ob
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er sich auch an den Kerl erinnern kann, der ihm einen Haufen neugieriger Fragen über seine Gäste gestellt hat. Na, wie ist es?“ Nathaniel Plymson spuckte ein Stückchen Seetang aus. Wehmütig blickte er dem winzigen gelblichen Punkt auf dem Wasser nach, der noch vor wenigen Minuten ein Prachtexemplar von blonder Perücke gewesen war. „Smith“, sagte er matt. „Er heißt Eddy Smith.“ „So. Und was war mit diesem Eddy Smith?“ „Der war zufällig da. Kriegte mit, wie dieser ver ... eh - wie Mister Carberry mit dem Gold herumklimperte. Und - und von den Schätzen, die die ,Isabella` den Spaniern abgenommen hat, das weiß doch jedes Kind, nicht wahr?“ „So?“ knurrte Ferris Tucker. „Bestimmt!“ beteuerte Plymson. „Eddy stellte 'ne Menge Fragen. Ich hab ihm nichts erzählt, nicht viel, ehrlich nicht, aber das meiste konnte er sich selbst zusammenreimen. Dann verdrückte er sich. Ich - ich hatte ja keine Ahnung, was dieser krumme Hund vorhatte, sonst hätte ich die Gentlemen bestimmt gewarnt, das schwöre ich.“ „Bestimmt“, sagte Ferris sarkastisch. „Und wo finden wir den krummen Hund?“ Noch einmal wog Nathaniel Plymson Eddys locker sitzendes Messer gegen das kalte Wasser der Mill Bay ab. Die Mill Bay war im Augenblick näher. Und Eddy würde wahrscheinlich überhaupt nicht erfahren, wer ihn verpfiffen hatte. „Holy Cross“, ächzte der Dicke. „Die ausgebrannte Kirche. Eddy hat sich in der Ruine eingenistet ...“ Ein paar Minuten später trottete Nathaniel Plymson naß und kahl auf seine Kneipe zu. Er hoffte inständig, daß es die „Isabella VIII.“ in den nächsten zehn Jahren nie mehr nach Plymouth verschlagen würde. 3. Die Kogge war zu ihrer Zeit ein gutes, stabil gebautes Schiff gewesen.
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Auch das Wrack war noch halbwegs stabil. Wo es notwendig erschien, hatten die Banditen Schäden und Schwachstellen ausgebessert - meist mit abenteuerlichen Holzkonstruktionen, bei denen einem guten Schiffszimmermann die Haare zu Berge gestanden hätten. Jedenfalls gab es im Vorschiff ein paar kreuz und quer verlaufende Latten und Balken, die da nicht hingehörten, und an einen dieser Balken hatten die Banditen ihre Opfer gefesselt. Dazu war er ganz gut geeignet. Er verlief längsschiffs etwas über Kopfhöhe und zwang die Gefangenen, mit emporgereckten Armen aufrecht zu stehen. Nicht gerade eine bequeme Haltung, aber längst nicht so ungemütlich wie eine Galeone im Sturm, und da hatten sich die Seewölfe schon tagelang mit Unbequemlichkeiten herumschlagen müssen, die diese lächerlichen Landratten von Banditen ganz sicher nicht überbieten konnten. Red Fox Killarney betrachtete zufrieden die vier gefesselten Männer. „Jack! Paddy!“ befahl er. „Ihr verschwindet zum Hafen und beobachtet den Kahn, klar? Ich will alles wissen, was auf der ,Isabella` vor sich geht. Aber benehmt euch gefälligst unauffällig, verstanden?“ Jack und Paddy trollten sich. Der größte Teil der Banditen hatte sich zu den Überresten der Kombüse zurückgezogen, wo sie irgendeine Mahlzeit zubereiteten und dabei ausgiebig ihre Kehle befeuchteten. Der Anführer hatte jeden mit drei bis vier häßlichen Todesarten bedroht, den er hinterher sinnlos betrunken antreffen würde. Anscheinend konnte er sich darauf verlassen, daß seine Befehle befolgt wurden. Jedenfalls kümmerte er sich nicht weiter um die Aktivitäten seiner Kumpane, sondern wandte seine Aufmerksamkeit den Gefangenen zu. Außer Red Fox befanden sich jetzt nur noch sechs weitere Männer im Raum, die wohl so etwas wie den harten Kern der Bande darstellten.
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Finstere, verkommene Kerle, hartgesotten und skrupellos, sämtlich von dem Kaliber, das für ein blankes Goldstück die eigene Großmutter verschachert. Rebellen waren sie bestimmt nicht, auch wenn sich das ihr Häuptling vielleicht gern einbildete. Schon gar keine irischen Rebellen. Selbst wenn sie Iren gewesen wären, was höchstens auf drei oder vier von ihnen zutraf – ihre Haut trugen diese Typen allenfalls für die Aussicht auf fette Beute zu Markte, aber bestimmt nicht für irgend etwas, das sie für eine gute Sache hielten. Bei dem „roten Fuchs“ waren die Seewölfe nicht ganz so sicher. Er paßte nicht zu dem verkommenen Gesindel und hatte ein anderes Kaliber. Vielleicht hatte er wirklich mal auf der Seite der irischen Rebellen gekämpft und war gezwungen worden, sein Land zu verlassen und unterzutauchen. Aber das mußte schon eine ganze Weile zurückliegen. Jetzt war der Kerl ein Bandit und nichts anderes, da biß keine Ratte das Kabelgarn ab. Dan O'Flynn peilte nach links und nach rechts, verfolgte den Balken mit den Augen und versuchte herauszufinden, was alles zusammenbrechen würde, wenn sie kräftig genug an den Fesseln zerrten. Eine ganze Menge, vermutete er. Ed Carberrys Blicke wanderten ebenfalls. Bill und Matt Davies gaben sich Zeichen mittels Mimik. Alle vier dachten das gleiche: Wenn sie überhaupt aus dieser Mausefalle entwischen wollten, dann lag ihre Chance darin, den Balken kleinzukriegen, an den sie gefesselt waren. „So“, sagte Red Fox Killarney gedehnt. „Und jetzt zur Sache! Was hat euer verdammter Kahn geladen?“ Er starrte. Dan O'Flynn dabei an. Der fühlte sich denn auch angesprochen. „Heringe“, erklärte er pulvertrocken. „Gepökelte“, bekräftigte Matt Davies. „Massenweise gepökelte Heringe, Mann! Wenn ihr die kapert, könnt ihr euch mal so richtig satt essen.“ Er kassierte eine Ohrfeige für diese Antwort, was ihn veranlaßte, dem „roten Fuchs“ wutentbrannt vor die Füße zu
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spucken. Unartige Jungs wurden geohrfeigt. Ein ehrlicher Seemann, fand Matt, hatte mindestens Anspruch auf einen ehrlichen rechten Haken. „Heringe?“ fauchte Killarney. „Kein Gold? Kein Silber? Keine Perlen und Edelsteine?“ „Nee“, sagte Dan. „Kein Gold, kein Silber, keine Perlen und Edelsteine. Schade, nicht?“ Red Fox Killarney blieb fast die Luft weg. Seine Kumpane liefen rot an vor Wut. Ed Carberry benutzte die Gelegenheit, um mal probeweise an den Fesseln zu zerren — und siehe da: der Balken produzierte ein dumpfes Ächzen. „Laß das!“ fauchte Red Fox. „Was denn?“ fragte der Profos unschuldig, während links von ihm Dan O'Flynn und rechts von ihm Bill und Matt mit vereinten Kräften weiterzerrten. „Aufhören!“ schrie Red Fox. „Ihr haltet mich wohl für dämlich, ihr verdammten ...“ „Stimmt“, sagte Carberry. „Sogar für sehr dämlich, du Hohlkopf. Oder glaubst du etwa, du siehst besonders klug aus, was, wie? Ein Blecheimer ist 'ne Schönheit gegen dich, du räudige Kanalratte, du dreimal um die Großrah gewickeltes Bilgengespenst, du ...“ Red Fox gurgelte vor Wut und machte Anstalten, sich auf den; wehrlosen Gefangenen zu stürzen. Der hatte nur darauf gewartet. So wehrlos war er nämlich gar nicht. Er hatte die Beine frei. Und falls der „rote Fuchs“ überhaupt noch einen Gedanken fassen konnte, bevor er das Bewußtsein verlor, dann war es sicher der Gedanke, daß er den Fehler sträflichen Leichtsinns begangen hatte. „Jetzt!“ kommandierte der Profos. Ehe einer der verdatterten Banditen es verhindern konnte, warfen sich alle vier Gefangenen gleichzeitig zurück, stemmten die Füße gegen die Planken, zerrten mit ihrem ganzen Gewicht an den Stricken — und dieser Belastung war der nachlässig verkeilte Balken nicht mehr gewachsen.
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Ein dumpfer Krach erschütterte das Vorschiff der gestrandeten Kogge. Berstend und splitternd kam der Balken nach unten und wirbelte eine Staubwolke auf. „Nein!“ schrie jemand entsetzt — vermutlich der Mann, der die seltsame Balkenkonstruktion entworfen hatte und daher wußte, was in den nächsten Sekunden alles zusammenbrechen würde. Die Seewölfe brauchten sich nicht erst darüber zu verständigen, was zu tun war. Mochte das Vorschiff zusammenbrechen — Planken konnten auf jeden Fall nicht schießen oder den Säbel schwingen. Noch waren die Banditen gefährlicher, denn besonders lange würde deren Verwirrung bestimmt nicht dauern. „Hooo ruck!“ kommandierte Ed Carberry mit Donnerstimme. Der Balken wurde angehievt und verwandelte sich zwischenzeitlich in einen Rammbock. Die Banditen spritzten auseinander, zumal es im selben Augenblick Planken zu regnen begann. Die Seewölfe versuchten verbissen, ihre Fesseln über das rohe Holz zu streifen. Sie zogen die Köpfe ein und wichen zum Bug aus. Um sie herum verwandelte sich die Behausung der Banditen in einen Trümmerhaufen. Aber die Seewölfe schafften es nicht schnell genug, sich von dem schweren Balken zu befreien. Dan O'Flynn hatte Pech, kriegte ein Stück Holz auf den Kopf und legte sich schlafen. Damit saß Ed Carberry hoffnungslos fest, da er seine Fesseln nicht über die von Dan weg bis zum Ende des Balkens zerren konnte. Bill hatte als erster die Hände frei. Er wollte sich sofort über Carberrys Fesseln hermachen, weil sich Matt auch selbst befreien konnte, doch da stürmte bereits die Hauptstreitmacht der Banditen aus der Richtung der Kombüse. Bill hatte keine Chance, obwohl er wie eine Wildkatze kämpfte. Matt Davies kam gar nicht erst von dem Balken los, sondern wurde von einem wohlgezielten Kinnhaken gefällt, hinter dem eine Menge Wut saß. Ed Carberry schnaubte und fluchte vor Wut. Am
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liebsten hätte er den Angreifern den Balken um die Ohren geschlagen, aber solange das Gewicht von zwei Bewußtlosen daran zerrte, konnte das nicht einmal der bärenstarke Profos schaffen. Eine Minute später war er der dritte Bewußtlose. Das Erwachen des rothaarigen Banditenhäuptlings kriegte nur noch Bill mit. Und bei dieser Gelegenheit lernte der Moses der „Isabella“ ein paar Flüche kennen, die er noch nie in seinem bewegten Leben gehört hatte. * Auf der Kuhl der „Isabella“ herrschte eine gewisse Unruhe, als Ferris Tucker, Batuti, Smoky und Stenmark über den Pier zurückmarschierten. „Ob die bei dem Spaß zugeschaut haben?“ fragte Smoky. „Konnten sie doch nicht, du Esel. Schade! Das Schauspiel, wie Nathaniel Plymson schwimmen lernt, gibt's logischerweise nur einmal.“ „Glaubst du, jetzt kann er's?“ „Klar kann er's. Hast du doch gesehen. He, was ist denn das?“ Sie hatten die Gangway erreicht, enterten hoch, und jetzt konnten sie sehen, auf was sich die allgemeine Aufmerksamkeit konzentrierte. Der flinke, drahtige Bob Grey stand im Mittelpunkt des Interesses. Er hielt etwas in der Hand, etwas Gelbes, Triefendes, das an ein Bündel Seetang erinnerte und den Männern offenbar Rätsel aufgab. Selbst Hasard, Ben Brighton und Big Old Shane waren vom Achterkastell gestiegen, um das Ding zu begutachten. Natürlich durften die Zwillinge nicht fehlen, die überall zu finden waren, wo es irgendetwas Neues zu sehen gab. „Was ist denn mit euch los?“ fragte Ferris Tucker kopfschüttelnd. Pete Ballie wies auf das gelbe Ding. „Das schwamm hier vorbei. Bob hat es 'rausgefischt, mit 'nem Enterhaken, der trifft ja nicht nur mit seinen Messern auf zehn Yard Entfernung 'ne Kakerlake. Aber
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was, zum Teufel, das vorstellen soll, das möchte ich wirklich gern wissen.“ „Pflaumen auf den Klüsen“, konstatierte Ferris Tucker. „Sieht doch ein Blinder, daß das Nathaniel Plymsons Perücke ist.“ Schweigen. Und verdutzte Gesichter. „Schönes blondes Skalp für Gürtel von Batuti“, sagte der hünenhafte GambiaNeger strahlend. „Seit wann sammeln sie in Gambia Kopfhäute?“ knurrte Pete Ballie. „Das — das soll 'ne Perücke sein?“ „Siehst du das nicht?“ „Nee. Aussehen tut es wie 'n seefahrender Staubwedel. Und wie, bitte schön, kommt Nathaniel Plymsons Perücke dazu, hier vorbeizuschwimmen?“ „Weil wir sie ins Wasser geschmissen haben“, erläuterte der blonde Stenmark. „Das heißt, ins Wasser geschmissen haben wir eigentlich den dicken Plymson. Aber da ging die Perücke natürlich auch mit. Und als er das dritte Mal in den Bach flog, konnte er den Skalp nicht festhalten. Da ist er abgetrieben. Der Skalp, meine ich. Plymson lernte nämlich schwimmen und ist immer wieder rausgeklettert.“ Wieder sekundenlange Stille. Philip Hasard Killigrew holte tief Luft, und seine eisblauen Augen funkelten. „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen?“ fragte er scharf. Durchaus nicht, beteuerten Ferris, Smoky, Stenmark und Batuti im Chor. Der rothaarige Schiffszimmermann übernahm den weiteren Bericht und vergaß auch nicht zu erwähnen, daß sie nicht mal dazu gekommen seien, an den schönen vollen Gläsern in der „Bloody Mary“ zu riechen. Klar, im Grunde genommen ging es nicht an, dem dicken Plymson einfach so mir nichts, dir nichts das Schwimmen beizubringen. Aber erstens hatte, man ihm das schlechte Gewissen von der Spitze seiner roten Nase ablesen können, und zweitens war da ja schließlich der Erfolg, der für sich sprach. „Der Salzknabe heißt Eddy Smith und nächtigt in der Ruine einer ausgebrannten Kirche“, schloß Tucker seinen Bericht.
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„Wenn er Ed und die anderen an irgendwelche Banditen verschachert hat, wird er ja wohl auch wissen, wo die Kerle stecken. Ich schätze, vier Mann werden genügen.“ „Und wenn sich die ganze Bande in diese Kirchenruine verholt hat?“ wandte Luke Morgan ein. „So nah an der Stadt? Bestimmt nicht.“ Das Argument leuchtete auch den anderen ein. In einer ausgebrannten Ruine am Stadtrand konnte ein kleiner Halunke seinen Rausch ausschlafen, aber keine Bande von Wegelagerern ihr Quartier aufschlagen. Erst recht nicht, wenn es sich um eine Bande von der Stärke handelte, die nötig war, um Männer wie Ed Carberry, Matt Davies, Dan O'Flynn und Bill so einfach abzufangen und einzusacken. Ein paar Minuten später war Ferris Tucker mit seiner Gruppe schon wieder unterwegs. Sie brauchten nicht lange zu marschieren. Eine enge, holprige Gasse führte auf den Hügel hinauf, wo die Kirchenruine mit dem ausgebrannten Turm stand. Ratten quiekten in den engen Torwegen, über den Dächern zerriß das Kampfgeschrei von zwei. Katern die nächtliche Stille. Eine Frau keifte irgendwo, eine Männerstimme antwortete, sie solle ihn, in drei Teufels Namen, endlich in Ruhe sein Bier saufen lassen. Wind pfiff zwischen den Hauswänden, und ab und zu trug das geisterhaft dünne Bimmeln der Glocke von dem halbverfallenen Turm herüber. „Hu“, murmelte Stenmark. „Wetten, daß es da Gespenster gibt?“ Smoky wurde etwas blaß um die Nase: er war der abergläubischste der Crew. Ferris Tucker schnaufte erbittert. „Halt die Luke, Stenmark!“ knurrte er. „Da drüben gibt's höchstens Ratten, 'ne Menge vierbeiniger und eine zweibeinige, nämlich diesen Eddy Smith.“ „Und Fledermäuse“, behauptete Stenmark. „Und Eulen.“ „Aber keine Gespenster! Außer du reißt noch einmal die Luke auf. Dann verarbeite ich dich nämlich so, daß du mindestens mit
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dem Kopf unter dem Arm herumläufst, verstanden?“ Stenmark zog es vor, nicht weiter auf dem Thema herumzureiten. Smoky rollte verbiestert die Schultern und schnitt ein Gesicht, das die Bereitschaft signalisierte, es zur Not auch mit einem Gespenst aufzunehmen. Batuti für seinen Teil war auch abergläubisch, aber das mußte so sein. In seiner afrikanischen Heimat gehörte Magie genauso selbstverständlich zum Alltag wie Essen und Trinken, da war das eine einfache Sache. Auf jedes Töpfchen paßte ein Deckelchen, für jeden bösen Geist gab es ein probates Mittel, um ihn zu verjagen, und damit hatte es sich. Auch Smoky vergaß den Gedanken an Gespenster, als sie vor der Kirchenruine anlangten. Gespenster schnarchen nicht. Jedenfalls hatte der Decksälteste nie dergleichen gehört. In der ausgebrannten Kirche schnarchte jemand so laut und ausdauernd, als sei er im Traum dabei, sämtliche Wälder Britanniens abzuholzen. Eine schmale Pforte führte ins Innere der Ruine. Ferris Tucker öffnete sie. Vorsichtig, aber er konnte beim besten Willen nicht verhindern, daß die Angeln erbärmlich quietschten. Das Schnarchen brach ab und wurde zum unwilligen Grummeln. Die Seewölfe glitten rasch über die Schwelle und sahen sich um. Sterne schienen durch das geborstene Dach. Auf dem Boden lag Schutt herum, das Gestühl bestand nur noch aus verkohlten Überresten. Lediglich in unmittelbarer Nähe des Turms war ein Teil des Kirchenschiffs einigermaßen erhalten geblieben, und dort regte sich etwas auf einem provisorischen Lager aus Fellen und Decken. Ein Strohsack knisterte. Eine Gestalt richtete sich auf, vorquellende Augen blinzelten. Ihr Blick erfaßte die vier Männer, die zielstrebig über die Schuttberge turnten — und Eddy Smith begriff die Gefahr mit dem wachen Instinkt einer Ratte.
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Die Zeit, die er normalerweise brauchte, um mit seinem von Plymsons Selbstgebranntem brummenden Schädel in den Wachzustand zurückzufinden, verkürzte sich auf ein Minimum. Wie ein Kastenteufel sprang er von seiner Schlafstätte hoch. Die Flucht durch die Pforte oder die zusammengestürzte Mauer auf der anderen Seite des Kirchenschiffs war ihm versperrt, das sah er mit einem Blick. Sein Gesicht verzerrte sich. Er ahnte, was die Stunde geschlagen hatte und wer ihm da an den Kragen wollte. Da er wußte, daß dabei nichts Gutes für ihn herausspringen konnte, reagierte er schneller als je in seinem Leben. In letzter Sekunde schaffte er es, unter Ferris Tuckers zupackenden Fäusten wegzuwischen. Der Schiffszimmermann fluchte und verlor fast das Gleichgewicht. Dann setzte er dem Gauner nach, der wie ein Wiesel auf den Mauerdurchbruch zufegte, der in den Turm führte. Eine steinerne Wendeltreppe wand sich aufwärts — und Eddy Smith jagte mit keuchenden Lungen die Stufen hinauf. Nicht, weil er etwa vor Schreck den Verstand verloren hätte, sondern weil er ganz genau wußte, daß die verdammte Turmtür klemmte. Also flitzte er nach oben. Oben war immer gut, wegen der strategischen Position — vor allem, wenn man keine andere Wahl hatte. Eddy, der Gauner, rechnete sich noch eine kleine Chance aus, seine Gegner zu verwirren und Zeit zu gewinnen, um irgendwie an der Außenmauer herunterzuklettern, aber er hatte die Rechnung ohne Ferris Tucker gemacht. Der blieb dem Gegner eisern auf den Fersen, polterte die Wendeltreppe hoch und fluchte, weil er es idiotisch fand, immer im Kreis zu rennen. Die anderen folgten ihm. Auf der engen Treppe konnten sie sich nur im Gänsemarsch bewegen. Dunkel war es auch. Aber in dem alten Gemäuer hallte jedes Geräusch hohl und gespenstisch wider, und deshalb ließen sich die Ereignisse auch außer Sichtweite sehr gut verfolgen.
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Einmal polterte eine Latte, mit der der fliehende Gauner nach seinem Verfolger geworfen hatte. Das nächste Mal kollerte ein Stein die Stufen hinunter. „Na warte, du Mistkerl“, knurrte Ferris Tucker erbittert — und dann begann ein Schau- beziehungsweise Hörspiel, wie es Smoky, Stenmark und Batuti noch nie erlebt hatten. Zuerst war es nur ein schwaches, vibrierendes Singen, das sofort verstummte. Dann bimmelte kurz und aufgeregt die kleinere Glocke, die auch manchmal vom Wind in Schwingungen versetzt wurde. Eddy Smith hatte den höchsten Punkt des Turms erreicht, den Glockenstuhl, und von da aus ging es nicht mehr weiter. „Bleibt unten!“ befahl Ferris Tucker gelassen. „Hier ist es sowieso zu eng, um eine harte Gerade ... Er verstummte. Wieder bewies das Poltern, daß der Gauner irgendetwas nach seinem Gegner geworfen hatte. Diesmal schien er sogar getroffen zu haben. Ferris Tuckers Fluch klang so richtig wütend, und seine Kameraden wußten, daß es dem Halunken da oben jetzt gleich sehr schlecht ergehen würde. „Komm schon her, du Laus!“ brummte der rothaarige Hüne ungeduldig. Und nach einer Pause, die von Rascheln, Schaben und einem seltsamen metallischen Singen erfüllt war: „Na schön, dann hole ich dich eben! Aber dann verarbeite ich dich zum Putzlumpen und wische den Laden hier mit dir auf, da kannst du 'ne Buddel Gift drauf trinken.“ Das nächste, was die hingerissenen Lauscher vernahmen, war ein dumpfer, vibrierender Glockenschlag, dann ein etwas hellerer, klangvollerer. Und noch einer: Da oben schien man notfalls regelrecht musizieren zu können. Schon ertönte wieder das aufgeregte Gebimmel der kleinen Glocke, und die Seewölfe nahmen an, daß sich Eddy Smith an irgend etwas festhielt, das diese mißtönende Klingelei auslöste.
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„Hab ich dich!“ grollte Ferris Tucker durch das Gebimmel und einen weiteren tiefen, vollen Ton. Ein Schrei ertönte. Dann ein Klatschen, begleitet von einem zufriedenen Knurrlaut des Schiffszimmermanns. Der Bretterboden dröhnte. Eddy Smith stieß ein Fauchen der Wut aus, die Zuhörer sahen direkt vor sich, wie der Bursche aufsprang - und dann ging da oben ein Tanz los, bei dem die Beteiligten im wahrsten Sinne des Wortes selbst die Musik veranstalteten. Die Glocken läuteten. Aber sie läuteten so, wie die Bürger von Plymouth sie bestimmt noch nie gehört hatten. Dumpf und mißtönend, wenn sich Eddy Smith daran festzuhalten suchte. Laut und hallend, wenn Ferris Tucker sie mit der Schulter rammte, weil sie ihm im Weg waren. Sie läuteten im Takt von Schwingern, linken und rechten Haken und gestochenen Geraden. Die wilde Kakophonie über ihren Köpfen verriet den lauschenden Seewölfen deutlich, von welchem Kaliber diese Schwinger, Haken und Geraden waren. Einmal bimmelte das kleine Glöckchen schrill und hysterisch, weil sich Eddy Smith an dem Seil festklammerte, um nicht aus dem Schalloch zu fallen. Kurz darauf ertönte die größte Glocke tief und klar, als Ferris Tucker den kreischenden Gauner wieder in die Sicherheit des Glockenstuhls zurückbeförderte. Eddy Smith suchte nur noch blindlings sein Heil in der Flucht. Dabei erzeugte er eine recht harmonische Tonfolge, die sich in wesentlich größerer Lautstärke wiederholte, als Ferris Tucker mit seinen rahsegelbreiten Schultern durch den Glockenstuhl pflügte. Eddy Smith steuerte zu der Komposition noch ein paar spitze Schreie bei, dann verlor sich das Ganze in einem sacht nachhallenden, ungemein friedlichen Klingen. Ferris Tucker erschien am Kopfende der Wendeltreppe. „Blöder Hund“, sagte er. „Muß der sich ausgerechnet einen Platz zum Kämpfen aussuchen, wo einem das verdammte Gebimmel den Nerv tötet?“
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Und das blieb sein einziger Kommentar, während er sich bückte und den bewußtlosen Eddy Smith auf seine Schulter hievte. * „Was is'n jetzt kaputt?“ fragte der Gauner mit dem Namen Jack beklommen. Paddy, sein klein geratener, aber breit gebauter Komplice, rieb sich das Kinn. Beide lauschten auf das Geläute, das erstens von einem Kirchturm kam, der gar kein Kirchturm mehr war, und zweitens höchst geisterhaft klang, jedenfalls nicht wie normales Glockengeläute. Eine ganze Weile ging das schon so. Jetzt verstummte der Lärm, und Paddy und Jack wechselten einen Blick. „Ob ich mal nachsehen soll?“ fragte Paddy. „Quatsch! Da rennt doch jetzt schon halb Plymouth hin, um nachzusehen.“ Jack hatte recht. Aber bis halb Plymouth auf den Beinen war und die Nachthemden in die Hosen gestopft hatte, dauerte es etwas. Die ersten beherzten Männer, die sich - mit Piken oder Mistforken bewaffnet - dem unheimlichen Turm näherten, fanden die Kirchenruine leer vor. Nichts Verdächtiges war zu sehen. Es gab einen Auflauf, die Leute palaverten des langen und des breiten. Auf die Wahrheit konnten sie nicht kommen - und da Eddy Smith auch später nie einen Anlaß sah, die unrühmlichen Ereignisse zu erwähnen, wurde in jener Nacht die Legende vom Gespenst in der Holy Cross Church geboren. Paddy und Jack erfuhren das erst sehr viel später. Sie hatten einen Auftrag. Sie sollten die „Isabella VIII.“ beobachten, was sie aus der sicheren Deckung eines windschiefen Schuppens taten. Sie wußten, daß Red Fox Killarney sehr ungemütlich werden konnte, wenn seine Befehle nicht buchstabengetreu ausgeführt wurden. Deshalb ließen sie kein Auge von der ranken Galeone mit den überlangen Masten. Deshalb bemerkten sie die über
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den Kai marschierende Gruppe erst, als sie sie schon unmittelbar vor der Nase hatten. Immerhin: es reichte noch, um den Mann zu erkennen, den sich der voranmarschierende rothaarige Riese wie ein Bündel Lumpen über die Schulter geworfen hatte. „Mann, das ist ja Eddy!“ staunte der hagere Jack. „Waaas?“ fragte Paddy erschrocken. „Bist du kurzsichtig? Eddy Smith, Mann! Die haben Eddy gekapert.“ Paddy schluckte. Er dachte etwas langsam. Die Gruppe mit dem Bewußtlosen war schon am Ende der Pier, als es bei dem kleinen, breitschultrigen Banditen funkte. „Verdammt“, fluchte er. „Die werden Eddy ausquetschen wie 'ne reife Zitrone.“ „Eben“, sagte Jack. „Und jetzt weiß ich auch, wieso die Glocken so merkwürdig geläutet haben.“ „Ja?“ fragte Paddy begierig. „Klar, Mann! Weil sie Eddy aus dem Glockenstuhl gepflückt haben, was sonst? Dabei sind ganz schön die Fetzen geflogen. Und jetzt werden sie Eddy ausquetschen. Glaubst du, daß er dichthält?“ „Nee“, sagte Paddy nüchtern. „Ich glaub's auch nicht.“ Jack schluckte und dachte nach. „Eddy wird alles ausquatschen. Dann ist Red Fox im Eimer. Wir müssen ihn warnen.“ „Stimmt“, sagte Paddy. „Dann los“, knurrte Jack. Vorsichtig zogen sich die beiden Gauner von ihrem Beobachtungsposten zurück. Ein paar Minuten später setzten sie sich in Trab, um so schnell wie möglich das Wrack auf der Landzunge zu erreichen. 4. Erst die dritte Pütz Seewasser half Eddy Smith wieder ins Bewußtsein zurück. Klatschnaß, schlaff und mit stierem Blick, erinnerte er noch lebhafter als sonst an den Urenkel eines besonders häßlichen Kraken. Zuerst stöhnte er nur: Ferris Tucker hatte ihm dazu verholfen, nicht nur die Glocken läuten, sondern auch die Engelchen im
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Himmel singen zu hören. Stenmark berichtete gerade von dem Kampf im Glockenstuhl mit seiner kuriosen Begleitmusik. Dröhnendes Gelächter quittierte seinen Bericht, und in Eddy Smiths Ohren klang dieses Gelächter nach einer Horde von Teufeln, die sich darauf freuten, ihn nach allen Regeln der Kunst auseinander zunehmen. Nur allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Dieser fürchterliche rothaarige Riese, der ihn in den Glockenstuhl verfolgt und dort mit ihm Ball gespielt hatte! Dann dieser schreckliche Schwarze, der die Zähne fletschte und mit den Augen rollte und aussah wie der Satan persönlich! Zwei andere waren auch noch da gewesen, aber an die könnte sich Eddy Smith nicht so genau erinnern, obwohl jeder einzelne von dem Kaliber gewesen war, um das man besser einen großen Bogen schlägt. Bestimmt waren es Männer von der legendären „Isabella“ mit ihren Schätzen. Und jetzt... Die Erkenntnis, daß der Boden unter ihm sacht schwankte, bohrte sich in Eddy Smiths Hirn wie ein glühender Nagel. Erschrocken riß er die Augen auf. Über sich sah er den Sternenhimmel und ein schwarzes Filigran von Masten und Rahen, Wanten und Pardunen. Kein Zweifel, er befand sich auf einem Schiff. Widerstrebend drehte er den Kopf, erst nach links, dann nach rechts, und versuchte, mit dem niederschmetternden Anblick von mehr als einem Dutzend Männern fertig zu werden, die im Kreis um ihn herumstanden und grimmig auf ihn niederstarrten. Da waren sie wieder. Der schwarze Herkules mit den rollenden Augen. Der rothaarige Hüne. Ein grauhaariger, graubärtiger Bursche, der an einen Vorzeitriesen erinnerte, ein verwitterter Kerl mit einem Holzbein, einer mit einem Eisenhaken anstelle der linken Hand und… Eddy Smith schluckte krampfhaft. Sein Blick war auf den Seewolf gefallen - und dieser eine Blick genügte, um dem kleinen Halunken einen kalten Schauer über den
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Rücken zu jagen. Dieser große, breitschultrige Mann stand ganz ruhig da, die Hände locker in die Hüften gestützt. Eine Narbe zeichnete das Gesicht unter dem langen schwarzen Haar - ein markantes, verwegenes Gesicht, von Wind und Wetter gebräunt, dessen Züge in diesen Sekunden unbeugsame Härte ausstrahlten. Auch die Augen wirkten hart. Augen von einem klaren, intensiven Blau, das an Gletschereis erinnerte und genauso kalt funkeln, aber auch in einem wilden Feuer aufflammen konnte. Eddy Smith hatte das Gefühl, als dringe der Blick dieser eisblauen Augen bis auf den Grund seiner schwarzen Seele. Er wurde blaß, dann rot, dann wieder blaß, und obwohl noch kein einziges Wort gefallen war, krampfte jämmerliche Angst seine Eingeweide zusammen. Die Männer der „Isabella“ hatten Mühe, ihr Grinsen zu unterdrücken. Von dem Blick, mit dem der Seewolf den durchnäßten, reichlich lädierten Banditen durchbohrte, pflegten sie zu behaupten, daß selbst der Teufel davor Reißaus nehmen würde. Aber der Gauner Eddy Smith war nicht der Teufel, sondern nur ein ganz kleines Licht, ein mieser Schnapphahn, der sich noch nicht einmal getraute, seine Opfer selbst auszuplündern, der andere vorgeschickt und sich auf seinen Strohsack verkrochen hatte. Jetzt zitterte er wie Espenlaub. Da es nichts schaden konnte, wenn er noch ein bißchen mehr zitterte, übten sich die Männer fleißig in drohenden Gebärden. Jeff Bowie polierte angelegentlich seinen Haken. Bob Grey begann, mit einem seiner Spezial-Wurfmesser herumzuspielen, warf es hoch, fing es wieder auf und betrachtete den triefenden Halunken, als wolle er schon mal Maß nehmen. Ferris Tucker streichelte den Griff seiner riesigen Axt. Old O'Flynn lehnte am Schanzkleid, wog eine seiner Krücken in der Hand und holte wie zur Probe damit aus. Dem armen Eddy Smith wurde heiß und kalt bei diesem Anblick, und als er den Mund auftat, klang
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seine Stimme sehr dünn und bescheiden. „N-nein“, stammelte er. „Bitte nicht!“ „Du kannst also sprechen?“ fragte der Seewolf. Eddy schluckte. „J-ja, Sir“, antwortete er brav wie ein Schuljunge. „Fein. Dann mach den Mund auf! Wen hast du auf die Männer gehetzt, die sich in der ,Bloody Mary' friedlich einen Drink genehmigen wollten?“ Eddy schluckte abermals. Genau wie Nathaniel Plymson wußte er, daß es sehr unangenehm war, Patrick Killarney zum Feind zu haben. Aber genau wie Plymson ging er davon aus, daß das, was er von den Seewölfen befürchtete, noch viel unangenehmer sein würde. „Red Fox“, flüsterte er kaum hörbar. „Wer ist das?“ „Patrick Red Fox Killarney. Ein - ein ...“ „Bandit?“ „Ja, Sir“, sagte Eddy ergeben. „Du gehörst an die Rahnock geknüpft“, erklärte Hasard gelassen. Er wartete, bis die Worte voll in das Bewußtsein des erbleichenden Halunken gedrungen waren, bevor er fortfuhr: „Aber du hast noch eine Chance, deinen schäbigen Hals zu. retten. Wenn du uns genau erzählst, wie viele Leute dieser Red Fox hat und wo sie sich versteckt halten, lassen wir dich vielleicht laufen.“ Eddy Smith sah einen Silberstreif am Horizont. Er lag immer noch wie ein Häufchen Elend auf den Planken der Kuhl. Sein Herz hämmerte, und seine Stimme krächzte. „Ja, Sir“, stammelte er. „Ich werde alles sagen, Sir! Ich - ich will mit diesen verdammten Banditen nichts mehr zu tun haben.“ * „An die Brassen und Fallen!“ kreischte Sir John. „Hopphopp, du rothaariger Riesenaffe!“ Ed, Dan und Bill mußten grinsen, obwohl sie eigentlich keinen Grund zum Lachen hatten. Matt Davies konnte nicht
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mitgrinsen, weil er noch bewußtlos war. Beulen zierten die Köpfe der vier Seewölfe, aber eine Beule hatte auch Patrick „Red Fox“ Killarney davongetragen. Jetzt stierte er den Papagei an, der von der „Bloody Mary“ aus den Weg hierhergefunden hatte. Der Vogel wurde dem Banditenhäuptling immer unheimlicher. Er konnte ja nicht ahnen, daß Sir John auch nicht viel klüger war als andere Papageien, sondern nur die Bezeichnung nachplapperte, mit der der Profos manchmal den rothaarigen Schiffszimmermann belegte. „Rübenschwein!“ krähte der Vogel, dem die allgemeine Aufmerksamkeit gefiel. „Affenarsch und Rübenschwein! Klar Schiff zum Gefecht, du Urenkel einer kalfaterten Kanalratte!“ Red Fox schluckte. Seine Männer kratzten sich die Köpfe. Daß der Papagei ihren Anführer als rothaarigen Riesenaffen klassifiziert hatte, war ein starkes Stück, aber sie kamen nicht dazu, lange darüber nachzudenken, ob sie den Vogel nun komisch, unheimlich oder unverschämt finden sollten. Vom Ende der Landzunge ertönte ein schriller Pfiff, und wenig später tauchten Paddy und Jack aus der Dunkelheit wie Schemen auf. Zunächst einmal prallten sie zurück, als sie die Verwüstung sahen, die der Ausbruchsversuch der vier Gefangenen angerichtet hatte. Dann erzählten sie. Etwas weitschweifig, nicht ohne ausgiebig auf das merkwürdige Glockengeläute und seinen mutmaßlichen Grund einzugehen. Red Fox Killarney lauschte mit wachsender Ungeduld und stieß einen wütenden Zischlaut aus, als schließlich der Name Eddy Smith fiel. „Sie haben ihn an Bord geschleppt“, schloß Jack seinen Bericht. „Dort werden sie ihn bestimmt nach allen. Regeln der Kunst ausquetschen. Und Eddy ist nicht der Typ, der dichthält, wenn es Dresche gibt.“ Killarney zog die Unterlippe zwischen die Zähne.
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Sein Blick wanderte zu den Gefangenen, die wieder an Händen und Füßen gefesselt waren, aber dessen ungeachtet triumphierend grinsten. Diesmal grinste auch Matt Davies mit. Er hatte den wesentlichen Teil von Jacks Bericht gehört, und auch für ihn stand fest, daß sie jetzt bestimmt nicht mehr lange in dieser Mausefalle hocken würden. „Der Seewolf macht Hackfleisch aus dem Rotkopf“, erklärte Dan O'Flynn. „Mindestens“, knurrte Carberry. „Und was von den anderen übrig bleibt, wird auch nur noch dazu taugen, das Deck damit aufzuwischen. Als Fischfutter kann man sie nämlich nicht verwenden, das wäre 'ne Zumutung für die armen Fische ...“ In diesem Stil ging es weiter. Eine Weile hörten die Banditen verblüfft zu, welche erlesenen Todesarten ihnen da prophezeit wurden. Dann lief Red Fox Killarney rot an, holte Luft und brüllte dazwischen, auf welche ebenfalls recht phantasievollen Arten er die Gefangenen vom Leben zum Tode befördern würde, wenn sie nicht sofort den Mund hielten. Die grinsten nur. In ein paar von den Galgenvogelgesichtern ihrer Gegner begann sich ob so viel Kaltschnäuzigkeit etwas wie widerwilliger Respekt zu regen. „Die Kerle haben recht, Red Fox“, sagte ein schwarzbärtiger Hüne schließlich. „Dieser Seewolf wird uns garantiert auf die Pelle rücken. Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich über ihn erzählt, wird das für uns verdammt kitzlig.“ „Sollen sie doch aufkreuzen“, knurrte einer der Banditen. „Wir werden sie schon gebührend empfangen.“ „Verschwinden wir doch einfach“, schlug ein anderer vor. „Verschwinden? Du hast wohl Seetang im Hirn! Sind wir vielleicht Kaninchen, die sich in irgendwelchen Löchern verkriechen?“ „Kaninchen“, stöhnte Ed Carberry. „Mit so netten kleinen Tierchen vergleichen die sich! Verlauste Kanalratten seid ihr! Und das Rattenloch, in dem der Seewolf euch
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nicht aufstöbern würde, muß erst noch gebuddelt werden, ihr Idioten.“ Red Fox Killarney antwortete nicht. Er hatte die grünlichen Augen zusammengekniffen und dachte angestrengt nach. Die Seewölfe beobachteten ihn. Auf Dan O'Flynns Stirn erschien eine steile Falte, weil er ahnte, daß bei den Überlegungen des Banditenhäuptlings irgendeine Teufelei herauskommen würde. „Verschwinden“, sagte Killarney gedehnt. „Das ist gar kein schlechter Gedanke.“ „He! Das meinst du doch nicht wirklich, oder?“ Red Fox grinste. „Überleg doch mal“, sagte er. „Was wird passieren, wenn Eddy Smith verrät, daß wir hier auf dem Wrack unser Hauptquartier haben?“ „Dieser Seewolf wird mit seinen Leuten erscheinen“, sagte einer der Banditen mit schlagender Logik. „Eben! Da er nicht ahnt, daß wir gewarnt sind, wird er auf seiner ,Isabella' höchstens eine Ankerwache zurücklassen. Wir brauchen also hier nur zu verschwinden und abzuwarten, bis die Crew abrückt. Dann können wir in aller Ruhe den Kahn ausräumen.“ Stille. Leicht erschrockene bei den Seewölfen, andächtige bei den Männern des „roten Fuchses“. Was Red Fox Killarney da vorgeschlagen hatte, war ebenso einfach wie genial. Selbst die Gefangenen konnten im Innern dem Plan eine gewisse Erfolgsaussicht nicht absprechen. Unter den Banditen brach Jubel aus. Erregt gingen ihre Stimmen durcheinander. Jeder hatte plötzlich ein irgendwo aufgeschnapptes Gerücht über die Schätze der „Isabella“ beizusteuern. Sie überboten sich gegenseitig in der Schilderung der Reichtümer, die sie ernten würden, und nach ein paar Minuten hatten sie sich in eine Euphorie hineingesteigert, als seien sie schon dabei, in Silber, Gold und Edelsteinen herumzuwühlen. „Und was tun wir mit denen da?“ fragte der Schwarzbart schließlich mit einer
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Geste in Richtung auf die Gefangenen. „Zur Hölle schicken?“ Red Fox schüttelte den Kopf. „Noch nicht“, sagte er ruhig. „Den Spaß bereiten wir uns später. Vorerst bringen wir sie mal von hier weg. Wer weiß, ob wir sie nicht noch irgendwann als Faustpfand gebrauchen können.“ * Eddy Smith schmorte in der Vorpiek, weil man ihm keine Gelegenheit geben wollte, seine Banditenfreunde zu warnen. Daß die ohnehin schon gewarnt waren, konnten die Seewölfe nicht ahnen. Trotzdem sollte Red Fox Killarneys Rechnung nicht aufgehen. Er hatte es nämlich diesmal nicht mit einem Gegner zu tun, der blindlings drauflos stürmte, sondern mit einem Mann, der Probleme auch mit dem Kopf und nicht nur mit Faust und Degen zu lösen verstand. Hasard und Ben Brighton, Big Old Shane und Old O'Flynn standen auf dem Achterkastell und beratschlagten. „Was gibt's denn da noch zu überlegen?“ knurrte der alte O'Flynn. „Auf sie mit Gebrüll, ist doch ganz klar! Die nehmen wir auseinander, daß die Fetzen fliegen! Aber eins sag ich euch gleich: Ich bleibe nicht an Bord, ich will, verdammt noch mal, dabei sein und den Mistkerlen meine Krücken uni die Ohren schlagen.“ „Und wer soll deiner Meinung nach an Bord bleiben?“ fragte Hasard trocken. „Mir egal! Zwei Mann reichen doch wohl, oder?“ „Vergißt du da nicht eine Kleinigkeit?“ Der Alte kratzte sich am Kopf - ziemlich verwundert. Big Old Shane grinste in sein graues Bartgestrüpp. Ben Brighton hatte die Brauen zusammengezogen und nagte an der Unterlippe. „Dieser kleine Gauner hat die Banditen nicht nur auf Ed und die anderen gehetzt“, sagte er in seiner ruhigen, manchmal etwas umständlichen Art, „Er hat sie vor allem auf die Schätze der ,Isabella` scharfgemacht. Was ist, wenn es den Kerlen einfällt, unsere alte Tante
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ausgerechnet dann zu kapern, wenn wir nicht an Bord sind?“ „Heiliger Strohsack!“ sagte Old O'Flynn erschrocken. „Da hab ich nicht dran gedacht, verdammt.“ „Eben.“ Hasard grinste matt. „Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Ben. Wir müssen vorsichtig sein. Allerdings können wir gegen fast zwei Dutzend Banditen auch nicht mit ein paar Mann ausrücken. Ich schlage vor, wir teilen uns. Eine Hälfte kommt mit mir, die andere bleibt zur Verteidigung der ,Isabella' zurück.“ Er drehte den Kopf und durchbohrte Old O'Flynn mit einem Blick. „Und du wirst bei der Hälfte sein, die an Bord bleibt, Donegal“, erklärte er kategorisch. „Wir haben einen Fußmarsch vor uns, bei dem du dir die Krücken abwetzen würdest, bevor du sie auch nur einem einzigen Banditen um die Ohren schlagen könntest, klar?“ „Aye, aye, Sir“, sagte Donegal Daniel O'Flynn senior — mit der Betonung auf „Sir“ und beleidigter Miene. Aber er sparte sich jeden Kommentar. Wenn die Stimme des Seewolfs diesen gewissen Tonfall hatte, empfahl es sich nicht, weiter zu debattieren. Hasard suchte acht Mann aus, die ihn bei dem Befreiungsunternehmen begleiten würden: Batuti und Big Old Shane, den kleinen, stämmigen Pete Ballie mit seinen ankerklüsengroßen Fäusten, Bob Grey, der so ausgezeichnet mit dem Messer umgehen konnte, Blacky, Stenmark und Luke Morgan und schließlich noch Gary Andrews, den Fockmastgast, der zwar erschreckend hager, aber zäh wie Leder war. Ben Brighton würde unterdessen das Kommando auf der „Isabella“ übernehmen. Hasard wußte, daß er sich auf seinen Bootsmann und ersten Offizier voll und ganz verlassen konnte. Und nicht nur auf ihn. Old O'Flynn konnte mit seinem Holzbein zwar keine langen Fußmärsche unternehmen, aber er war ein Kerl aus Granit und Eisen, der schon mehr als einmal bewiesen hatte, wie gut er mit
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seinen Krücken um sich zu schlagen .verstand. Will Thorne, der weißhaarige Segelmacher, handhabte sein Entermesser mindestens ebenso gut wie die Lieknadel. In den Fäusten des etwas schmalbrüstigen Kutschers konnte die eiserne Pfanne aus der Kombüse zur wirksamen Waffe werden. Al Conroy war ein Meister mit der Drehbasse, Ferris Tucker mit seiner riesigen Axt ein Kämpfer, der mindestens fünf Gegner aufwog, und Smoky, Sam Roskill und Jeff Bowie standen ihm kaum nach. Diese neun Männer hatten das Zeug, notfalls den Satan persönlich mit sämtlichen Unterteufeln vierkant in die Hölle zurückzubefördern und ihnen noch einen Eimer Wasser nachzukippen. Wer immer heute nacht versuchen sollte, die „Isabella“ anzugreifen — er würde sich eine gewaltige Abfuhr holen. Es war Mitternacht, als Hasards Stoßtrupp von Bord ging. Plymouth schlief bereits. Die Aufregung über das „Gespenst“, das in der ausgebrannten Kirchenruine die Glocken geläutet hatte, war abgeklungen. Sogar die „Bloody Mary“ glänzte mit verschlossener Tür und dicht verrammelten Fenstern — wahrscheinlich, weil der dicke Nathaniel Plymson um seine Perücke trauerte. Hasard grinste leicht und nahm sich vor, dem armen Mann das gute Stück zurückzubringen, falls es nicht inzwischen endgültig dem Spieltrieb der Zwillinge oder des Schimpansen Arwenack zum Opfer gefallen war. Aber im Augenblick hatten sie andere Sorgen. Ein ziemlich langer Fußmarsch lag vor ihnen. Was sie am Ende erwartete, stand noch in den Sternen. 5. Der Wagen rumpelte. Diesmal brauchten sich die Gefangenen nicht mit staubenden Mehlsäcken herumzuärgern, aber dafür hatten sie das Mißvergnügen, vor den stinkenden Füßen ihrer Gegner zu liegen. Da sie an Händen und Füßen gefesselt waren, konnten sie
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dagegen leider nichts tun. Jeder Versuch, sich aufzurichten, hatte einen Tritt zur Folge. Die Banditen brauchten sich dabei nicht einmal besonders anzustrengen, da ihre Opfer auf dem rüttelnden, holpernden Wagen ohnehin fast von selbst wieder umkippten. Red Fox Killarney ritt voran, genau wie beim erstenmal. Der Weg führte durch die Hügel im Norden von Plymouth. Mondlicht lag über Feldern und Waldstücken, ein Bach rauschte in der Nähe. Es war eine schöne Nacht, aber weder die Banditen noch ihre Gefangenen hatten im Augenblick Sinn für die Betrachtung von Naturschönheiten. Die Banditen träumten von den Reichtümern, die in ihrer Vorstellung bereits in greifbarer Nähe waren. Die Gefangenen versuchten, sich trotz ihrer mißlichen Lage den Weg einzuprägen. Dan O'Flynn mit seinen Katzenaugen konnte an einem staubigen Stiefel vorbei durch die Lücke zwischen zwei Latten der Wagenwand spähen. Die allgemeine Richtung verriet ihnen der Stand der Sterne. Ed Carberry, der das gute alte Plymouth wie seine Westentasche kannte, wußte sowieso, wohin es ging spätestens in dem Augenblick, in dem der Wagen über eine verdächtig knackende Holzbrücke rollte und einem Weg folgte, der in engen Windungen hügelan führte. Eine alte Mühle lag auf der Spitze des Hügels. Sie war längst nicht mehr in Betrieb, einer der Flügel hing wie ein gebrochener Arm nach unten. Der Wagen rollte in den schwarzen Schatten neben dem verfallenen Bauwerk. Während Red Fox Killarney und ein paar ebenfalls berittene Kumpane die Pferde an einen Mühlenflügel banden, beförderten die restlichen Banditen unsanft ihre Gefangenen zu Boden, sprangen vom Wagen und packten die vier gefesselten Männer am Kragen. Sie konnten sich nicht wehren. Einer nach dem anderen wurde in die Mühle geschleift und einfach auf den schmutzigen Bretterboden geworfen. Ein ungemütlicher Aufenthaltsort, das
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begriffen sie sofort. Der Wind pfiff durch alle Ritzen, Ratten quiekten, es stank eindeutig nach Mist, wobei unklar blieb, was dieser Mist in einer alten Mühle zu suchen hatte. Der Bandit mit dem struppigen schwarzen Haar entzündete eine Öllampe, und in ihrem trüben, blakenden Licht konnten sich die Seewölfe ihr Gefängnis etwas näher ansehen. Auch eine Art Wrack. Oben auf der Galerie lehnte das schwere Kammrad an einem Geländer, das sich schon bedenklich nach außen bog. Von dem einstigen Mahlwerk waren nur noch Trümmer übrig, einer der Mühlsteine hatte sich selbständig gemacht und beim Sturz die halbe Treppe mitgenommen. In den Ecken lag tatsächlich Mist, und eine morsche Futterkrippe bewies, daß der Raum wohl irgendwann vorübergehend als Pferdestall benutzt worden war. Red Fox Killarney verzog angewidert das Gesicht, dann wandte er sich den Gefangenen zu. „Viel Vergnügen“, sagte er hämisch. „Wir werden jetzt losziehen und die ,Isabella` ein bißchen erleichtern. Nur schade, daß ich dabei eurem sagenhaften Seewolf nicht begegne. Ich würde ihn zu gern vor meine Klinge holen und auf das richtige Maß zurechtstutzen.“ „Ach, du meine Güte“, sagte Dan O'Flynn ergriffen. „Der spinnt, dieser abgebrochene Rebell“, erklärte Bill überzeugt. Und Carberry gluckste vor Lachen. „Auf das richtige Maß zurechtstutzen? Ha! Mal ganz was Neues, was. wie? Der Seewolf würde dich auf das Maß von 'nem neugeborenen Zwerg zurechtstutzen, du rothaariger Maulaffe! Der würde dir mit dem Degen die Hosen ausziehen und die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch ziehen.“ „Vielleicht läuft er mir über den Weg“, stieß Killarney durch die Zähne. „Dann werden wir ja sehen, wer wem die Haut abzieht. Das heißt, du wirst es nicht sehen. Dir werden wir nämlich vorher Gelegenheit geben, mit einem Strick um den Hals an einem Ulmenast
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auszuprobieren, wie schwer dein verdammter Affenarsch ist, verstanden?“ Carberry war platt, was bei ihm höchst selten passierte. Bill, Dan und Matt Davies kicherten einhellig über den verdutzten Gesichtsausdruck des Profos'. Und Red Fox Killarney hätte sich vor Wut am liebsten seine roten Haare gerauft, weil diese hartgesottenen, salzwassergetränkten Kerle einfach nicht klein zu kriegen waren. „Sechs Mann als Wache“, fauchte er. Und als der Schwarzbart den Mund öffnete, um etwas zu sagen, schrie er: „Halt's Maul, oder ich vergesse mich. Ich will mit diesen Höllenhunden keine Überraschungen mehr erleben, kapiert? Los jetzt! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit!“ Sie brachen auf. Red Fox, der Schwarzbart und zwei andere schwangen sich wieder in die Sättel, die Hauptstreitmacht der Banditen kletterte auf den Wagen, der sie bis in die Nähe des Hafens bringen sollte. Jeder einzelne Mann war bis an die Zähne bewaffnet: Säbel, Degen und Dolche, Steinschloß-Pistolen und Musketen, genug Munition, um eine Festung zu belagern. Sicher war sicher. Zwar rechneten sie nicht mit viel Widerstand, aber Red Fox Killarney wußte noch aus seiner Zeit bei den irischen Rebellen, daß man sich am besten stand, wenn man sich stets auf alle Eventualitäten vorbereitete. Das Mahlen der Räder und das Klappern der Hufe entfernten sich. Die Seewölfe wechselten stumme Blicke. Sie glaubten nicht recht daran, daß die Rechnung des rothaarigen Banditenhäuptlings aufgehen würde. Dafür kannten sie ihren Kapitän zu gut, aber natürlich waren sie ihrer Sache nicht völlig sicher. Sie ahnten schon jetzt, daß die Stunden des tatenlosen Wartens gewaltig an ihren Nerven zerren würden. * Wie eine schwarze Raubtierpranke schob sich die Landzunge zwischen das dunkel glänzende Wasser und den
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sternengespickten Himmel. Eine Raubtierpranke, deren Krallen nach oben gerichtet waren — so jedenfalls konnte man das Wrack der Kogge mit einiger Phantasie sehen. Hasard runzelte die Stirn. Der Gauner Eddy Smith hatte von einem heilgebliebenen Vorschiff gesprochen, von einem einigermaßen bewohnbaren Platz. Aber als solchen konnte man den Trümmerhaufen dort drüben eigentlich beim besten Willen nicht bezeichnen. „Ziemlicher Saustall“, murmelte Big Old Shane in sein Bartgestrüpp. „Vielleicht haben sich Ed und die anderen befreien können und ein bißchen die Möbel gerade gerückt.“ Hasard hatte den gleichen Gedanken gehabt. „Viel kann es ihnen aber nicht eingebracht haben, sonst wären sie längst wieder auf der ,Isabella` aufgetaucht.“ Er wandte sich zu den anderen um. „Ihr bleibt erst mal hier. Batuti, wir beide schleichen uns an und peilen die Lage.“ „Aye, Sir.“ Der Herkules aus Gambia zeigte sein Prachtgebiß. “Ich zuerst, in Ordnung? Batuti schwarz, Nacht schwarz, also keine Gefahr, wenn wir auf einen Posten stoßen.” Hasard grinste. „Genau umgekehrt! Batuti schwarz, Nacht schwarz — also eine erstklassige Eingreifreserve für den Notfall. Du bleibst in Sichtweite, hältst aber etwas Abstand, klar?“ „Klar, Sir! Auf geht's!“ Seelenruhig verstaute Batuti den mörderischen Morgenstern unter seinem Hemd, damit das Ding nicht gegen irgendwelche Steine klirren konnte. Hasard trug seinen Degen und hatte sich den Radschloß-Drehling in den Gürtel geschoben. Vorsichtig glitt er zwischen die Felsen, wich einem Dornengestrüpp aus, und wenig später war seine Gestalt für die Augen der anderen mit der Dunkelheit verschmolzen. Batuti folgte ihm mit der lautlosen Geschmeidigkeit einer Raubkatze. Es lag nicht nur an seiner dunklen Hautfarbe, daß er eine besondere Begabung dafür hatte, sich völlig unsichtbar durch die Nacht zu
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bewegen, diese Gabe war ein Erbteil seiner afrikanischen Heimat. Er War in der Wildnis aufgewachsen, in einer Umgebung, wo nur hellwache Sinne und ein sicherer Instinkt die Menschen vor den zahllosen Gefahren ihrer Umwelt bewahren konnten. Batuti hatte allen Gefahren getrotzt und so manche Bewährungsprobe bestanden. Bis dann eines Tages jene Fremden mit ihren Pistolen und Musketen über sein Dorf herfielen, Menschen wie Vieh zusammentrieben und junge Männer und Frauen in einem langen Elendszug zur Küste verschleppten. Auf dem Sklavenschiff, auf dem er landete, hatte Batuti die Spanier hassen gelernt. Philip Hasard Killigrew und seine Männer waren es gewesen, die ihn schließlich befreiten und dafür sorgten, daß seine schwarzen Leidensgenossen ein Schiff erhielten, mit dem sie nach Afrika zurücksegeln konnten. Seit damals gehörte der riesige GambiaNeger zur Crew der „Isabella“ — und seit damals war er bereit, sich notfalls für den Seewolf in Stücke hacken zu lassen. Im Augenblick allerdings bestand dazu kein Anlaß. Wenn die Fetzen flogen, würden sie den Banditen um die Ohren fliegen. Batuti fletschte die Zähne, während er sich vorsichtig seinen Weg durch das Gewirr der Felsen suchte. Dan O'Flynn war sein besonderer Freund und für ihn im Grunde immer noch das freche Bürschchen von damals. Und wenn die Kerle Bill etwas angetan hatten ... Batuti wälzte finstere Gedanken, die sich auf den zukünftigen Gesundheitszustand der Banditen bezogen. Der Seewolf übte sich darin, seine ganz ähnlich gearteten Gedanken beiseite zu schieben. Er wollte nicht glauben, daß Ed Carberry, Matt Davies, Dan und Bill etwas passiert war. Es hatte keinen Sinn zu grübeln, das würde ihn nur im entscheidenden Moment die Konzentration kosten. Geduckt schlich er weiter, den Blick auf das Wrack geheftet und jede Deckung nutzend. Dabei bewegte er sich
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genauso raubtierhaft geschmeidig wie der schwarze Herkules hinter ihm. Ein paar Minuten später war er fast sicher, daß sich niemand im Wrack der Kogge aufhielt. Völlige Dunkelheit, kein einziges Geräusch außer dem steten Rauschen und Gurgeln der Brandung -es war unwahrscheinlich, daß sich eine Horde von mehr als zwanzig Männern so benahm. Hatte Eddy Smith ihnen einen Bären aufgebunden? Hasard glaubte nicht daran, nicht bei dieser feigen Ratte. Viel eher hielt er es für möglich, daß dieser Banditenhäuptling mit dem Namen Red Fox Killarney schnell geschaltet und jemanden losgeschickt hatte, um die „Isabella“ zu beobachten. Der mußte denn natürlich mitgekriegt haben, wie Eddy Smith an Bord gebracht wurde. Um sich ausmalen zu können, daß diese miese kleine Ratte den Mund auftun würde, wenn man nur nachdrücklich genug fragte, bedurfte es weiß der Himmel keiner besonderen Phantasie. Hieß das, daß die Banditen ihr Versteck geräumt hatten? Einfach so? Kampflos? Der Seewolf konnte die Wahrscheinlichkeit nicht einschätzen, da er die kämpferischen Qualitäten des geheimnisvollen „roten Fuchses“ nicht kannte. Hasard runzelte unbehaglich die Stirn, als er an die „Isabella“ dachte. Wenn dieser Killarney schlau war, würde er möglicherweise versuchen, die Situation für sich auszunutzen. Soll er, dachte der Seewolf grimmig. An Bord der „Isabella“ warteten neun kampferprobte Männer unter der Führung des erfahrenen, besonnenen Ben Brighton. Die Banditen würden sich blutige Köpfe holen, wenn sie etwas versuchten. Nur noch wenige Schritte trennten Hasard jetzt von dem Wrack. Das Vorschiff, das Eddy Smith als stabile, gut abgeschottete Behausung geschildert hatte, war tatsächlich nur noch ein Trümmerhaufen. Durch das geborstene Deck schien der Mond in den Raum. Bis vor kurzem mußte er allerdings noch als
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Wohnung gedient haben, dafür sprachen Teppiche, Möbelstücke und aller mögliche Plunder, der vermutlich aus Raubzügen stammte. Jetzt war das Wrack verlassen. Nach ein paar Sekunden angespannten Lauschens richtete sich Hasard mit zusammengepreßten Lippen auf und winkte zu Batuti hinüber. Gemeinsam drangen sie in das Wrack ein, immer noch vorsichtig, weil sie keine böse Überraschung erleben wollten. Sie fanden nichts, jedenfalls nichts von Interesse. Batutis Käuzchen schrei rief auch die anderen auf den Plan. In der nächsten Viertelstunde wurde auf dem Trümmerhaufen, der einmal eine seetüchtige Kogge gewesen war, das Unterste zuoberst gekehrt, doch nirgends war ein Hinweis darauf zu entdecken, wohin sich die Banditen mit ihren Gefangenen gewandt hatten. „Weit können sie eigentlich noch nicht sein“, meinte Big Old Shane überlegend. „Viele Männer, viele Stiefel, viele frische Spuren“, erklärte Batuti. „Vor paar Stunden hat es geregnet. Und Banditen sind bestimmt' zu dämlich, Spuren zu verwischen.“ Da war etwas dran. Die Seewölfe marschierten über die Landzunge zurück, bis zu der Stelle, wo das Gewirr der Klippen von niedrigem Buschwerk abgelöst wurde. Ein paar Lichtungen gab es ebenfalls, und dort fanden sich nicht nur die Spuren von vielen Stiefeln, sondern auch von Pferdehufen und Wagenrädern. „Ha!“ sagte Batuti. „Banditen nicht nur dämlich, Banditen sogar saudämlich!“ Womit er deutlich zu verstehen gab, daß es für ihn, den Mann aus der Wildnis Afrikas, ein Kinderspiel sein würde, diese Spuren bis zu ihrem Ende zu verfolgen. Hasard zögerte nur eine Sekunde. Er konnte sich ungefähr in die Gedankengänge des Banditenhäuptlings versetzen. Aber die „Isabella“ war gerüstet. Und sie mußten ihre Kameraden befreien, um jeden Preis. Denn wenn dieser Red Fox Killarney erst einmal begriff, daß die Seewölfe wie Pech und Schwefel
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zusammenhielten, daß vom Moses bis zum Kapitän niemand auch nur im Traum daran dachte, irgendwelche Reichtümer höher einzuschätzen als das Leben eines der ihren, dann würde die Lage erst recht kritisch werden. „Also los“, sagte Hasard hart. „Und ein bißchen Tempo, wenn ich bitten darf. Ich möchte so schnell wie möglich zurück an Bord sein.“ * Um dieselbe Zeit kauerte Sam Roskill im Großmars und spähte scharf in die mondhelle Nacht hinaus. Der schlanke schwarzhaarige Mann mit den dunklen Augen rechnete nicht wirklich damit, daß jemand es wagen würde, die „Isabella“ anzugreifen, doch das hinderte ihn nicht daran, seine Aufgabe ernst zu nehmen. In seinem bewegten Leben, das ihn als Piraten in die Karibik und schließlich zu den Seewölfen verschlug, hatte er schon so manches erlebt, was er vorher nicht für möglich gehalten hätte. Dieser Patrick „Red Fox“ Killarney brauchte seinen Kriegsnamen nicht unbedingt nur seinem roten Haar zu verdanken. Es konnte genauso gut sein, daß es sich bei dem „Fuchs“ um einen besonders schlauen und listenreichen Burschen handelte. Sam Roskill jedenfalls war auf der Hut. Unten auf dem Achterdeck sah er Ben Brighton wie einen unruhigen Schatten auf und ab gehen: von Backbord nach Steuerbord, von Steuerbord nach achtern und wieder zurück zum Backbordschanzkleid. Old O'Flynn stand auf seine Krücken gelehnt am Bug und schien ein Loch in die Luft zu starren. Die restlichen Männer lagen oder kauerten auf der Kuhl, dösten vor sich hin oder unterhielten sich leise. Sie hätten eine Mütze voll Schlaf nehmen können, bis sich tatsächlich etwas tat. Aber daran dachte niemand, dafür bereiteten sie sich zu viele Sorgen um die vier Männer, die sich in der Gefangenschaft von brutalen, skrupellosen Banditen befanden.
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Sam Roskill blickte zum Kai hinüber, auf die dunklen Häuser, die wenigen Sturmlampen, den ausgebrannten Kirchturm auf dem Hügel, der wie ein hohler Zahn in den Nachthimmel ragte. Der schlanke schwarzhaarige Mann grinste in sich hinein, als er an den Kampf im Glockenstuhl dachte. Das mißtönende Geläute war auch auf der „Isabella“ zu hören gewesen. Sams Blick wanderte weiter, suchte das dunkle Wasser der Mill Bay ab, und nach ein paar Sekunden zuckte er leicht zusammen. Da war doch etwas? Sam kniff die Augen zusammen und beugte sich über die Segeltuchverkleidung, um besser zu sehen. Eben noch hatte er geglaubt, in der bewegten See etwas wie einen schwarzen Flecken zu sehen. Einen Flecken, der sich bewegte und sich der „Isabella“ näherte. Da! Jetzt hob er sich auf der unruhigen, vom Mondlicht wie mit Quecksilber gesprenkelten Fläche ganz deutlich ab. Ein paar Sekunden später nahm er die länglichen Umrisse eines Boots an. Sam Roskill pfiff leise durch die Zähne. Also doch, dachte er. Um diese Zeit pullte niemand durch die Mill Bay, wenn er nicht etwas zu verbergen hatte – vor allem nicht ohne Positionslicht. Außerdem konnten sich höchstens Verrückte oder Schiffbrüchige mit dieser Nußschale auf dem offenen Meer bewegt haben, also mußte der Kahn irgendwo abgelegt und mit voller Absicht einen Bogen geschlagen haben, um sich der „Isabella“ von der Seeseite her zu nähern. Mit zusammengekniffenen Augen prüfte Sam die Wasserfläche rings um das Boot – und da entdeckte er den zweiten Schatten. Noch eine Nußschale! Von der Größe her mußte jedes dieser Boote etwa zehn, zwölf Mann Platz bieten. Die Riemenschläge würden wohl auch in unmittelbarer Nähe der Galeone von Wind und Wellen übertönt werden. Kein übler Plan! Der einzig vernünftige, genau-. genommen, denn schließlich konnten die Banditen nicht eine Kanone auf dem Kai in Stellung bringen und vor den Augen von
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ganz Plymouth einen Sturmangriff riskieren. Was ihnen im übrigen auch sehr schlecht bekommen wäre! Sam lächelte grimmig, dann schwang er sich über die Segeltuchverkleidung der Plattform und enterte ab. Sekunden später stand er neben Ben Brighton und Ferris Tucker und berichtete leise, was er beobachtet hatte. „Sieh mal an“, sagte der Bootsmann gedehnt. „Zwei Dutzend Kerle, meinst du?“ „Platz hätten sie, aber ob es wirklich so viele sind, kann ich noch nicht sagen. Sollen wir ihnen ein paar mit den Drehbassen verplätten?“ Ben hob die linke Braue. „Dir ist wohl die Großrah auf den Kopf gefallen, was? Wir können doch keine Boote zu Treibholz verarbeiten, bevor wir überhaupt wissen, wer drin sitzt und was die Typen wollen. Vielleicht ist es der Jungfrauenverein, der eine Mondscheinpartie veranstaltet.“ Ferris prustete los. Sam Roskills schwarze Augen blitzten. „Das wäre mal was! Hoffentlich sind es schöne knackige Jungfrauen. Trotzdem würde ich vorsichtshalber die Drehbassen klarmachen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Sir.“ „Schlaukopf“, knurrte Ben Brighton. Und lauter: „Al, laß die Drehbassen besetzen. Alle vier! Wer weiß, ob die Kerle nicht auch noch versuchen, uns von Land her in die Zange zu nehmen.“ „Aye aye“, ertönte die Stimme des schwarzhaarigen Stückmeisters. „Himmelarsch, muß ich euch erst anlüften, bevor ihr die müden Knochen bewegt? Smoky, Jeff, Will! Hopphopp, oder glaubt ihr, die Kugeln kriegen Flügel und fliegen von alleine zu euch?“ Die Männer sprangen auf. „Kein Gebrüll!“ rief Ben Brighton dazwischen. „Die Kerle nähern sich mit Booten von der Seeseite. Sam wird euch gleich erzählen, wie viele es sind. Zum Donnerwetter, Sam, willst du hier Wurzeln schlagen, oder wieso bist du noch nicht wieder im Großmars?“
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Sam brummelte irgendetwas vor sich hin, das sich auf den Geisteszustand eines Bootsmanns bezog, der von seinen Leuten die Kunst des Gedankenlesens erwarte. Während der schlanke schwarzhaarige Mann wie der Blitz wieder aufenterte, überprüfte Al Conroy mit der ihm eigenen Gründlichkeit die Drehbassen. Es dauerte nur Minuten, bis die „Isabella“ gefechtsklar war. Ben Brighton warf einen zufriedenen Blick in die Runde, bevor er sich dem alten O'Flynn zuwandte. „Donegal, du erklärst deinen Enkeln, daß es hier gleich rundgeht und sie sich gefälligst gefechtsmäßig zu benehmen haben. Kutscher, hast du den verdammten Affen irgendwo gesehen?“ „Bin ich Affenwärter?“ ereiferte sich der schmalbrüstige Koch und Feldscher. „Kutscher ...“ „Aye aye, Sir! Arwenack treibt sich wahrscheinlich mal wieder im Laderaum herum. Soll ich ihn suchen, Sir?“ „Nein, verdammt! Und steck dir den Sir an den Hut! Sam?“ „Sechzehn Mann in zwei Booten“, meldete Sam Roskill aus dem Großmars. „Ziemlich schwer bewaffnet. Soll ich weiter beobachten?“ „Runter mit dir! Wir sind hier schließlich auch nicht mit Blindheit geschlagen.“ Sam enterte ab und flitzte zum Schanzkleid, wo die beiden Boote inzwischen ebenfalls zu erkennen waren. Allerdings riskierte er nur einen vorsichtigen Blick und versuchte genau wie die anderen, dabei möglichst unsichtbar zu sein. Je später die Angreifer merkten, daß sie bereits erwartet wurden, desto größer würde der Überraschungseffekt sein — und damit die Chance, den Überfall ohne große Komplikationen zurückzuschlagen. Ben Brighton nahm seine Wanderung über das Achterkastell wieder auf. Langsam und ruhig — so als sei er völlig ahnungslos und gehe eine ganz normale Ankerwache. In wenigen Minuten würden die beiden Boote die „Isabella“ erreicht haben. Sogar die Jakobsleiter hing an passender Stelle
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außenbords. Sie wirkte als Einladung, aber der Bootsmann hatte sie absichtlich nicht einholen lassen, da man auf diese Weise zumindest wußte, wo die Köpfe auftauchen würden, die es mit Beulen zu verzieren galt. Ben Brighton warf noch einen prüfenden Blick in die Runde. Die Drehbassen waren feuerbereit, doch sie dienten nur als Reserve; auf der Kuhl wurde jede Hand gebraucht, wenn es zum Kampf kam. Neun Mann gegen sechzehn! Ben Brighton mußte grinsen, als er das erwartungsvolle Funkeln in den Augen des rothaarigen Schiffszimmermanns sah. Ferris Tucker fand das Verhältnis gerade richtig. Er wog allein fünf Angreifer auf. Und ob er für Old O'Flynn oder den Kutscher überhaupt jemanden übriglassen würde, war noch sehr die Frage. * Patrick Red Fox Killarney ahnte nicht, daß er und seine Männer bereits sehnlichst erwartet wurden. Er kauerte im Bug des vordersten Bootes und spähte zu der schwarzen Bordwand der „Isabella“ hinüber. An Deck war, jedenfalls aus seinem Blickwinkel, nur die Ankerwache zu sehen. Die See war bewegt genug, um das Knarren in der Takelage zu übertönen, also würden die Burschen an Bord auch nichts von den vorsichtigen Riemenschlägen hören. Red Fox hielt eine Menge von seinen eigenen Qualitäten und neigte dazu, die seiner Gegner zu unterschätzen. Bisher war das immer gut gegangen, da es sich bei seinen Gegnern oder vielmehr Opfern meist um ahnungslose Reisende handelte, reiche Pfeffersäcke, die schon beim ersten Säbelrasseln das große Zittern kriegten und nicht an Gegenwehr dachten. Bei dem Aufstand in Irland hatte es Red Fox vorwiegend mit Soldaten zu tun gehabt, die sich mit ihrer starren militärischen Disziplin und ihren vorausberechenbaren Aktionen schwertaten gegen einen Feind, der nach
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Freischärlerart blitzschnell aus dem Dunkel operierte. Und die Gendarmen, die hier in Plymouth manchmal gegen das Banditenunwesen eingesetzt wurden, waren arme Teufel, die am Leben hingen und nicht daran dachten, sich für ihren Hungerlohn ein Bein auszureißen. . Nein, bisher war der „rote Fuchs“ noch nie an einen ebenbürtigen Gegner geraten. Daß jemand seine gerissenen Winkelzüge voraussehen und ihn überspielen könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Dieser Killigrew wollte seine gefangen genommenen Männer wiederhaben, Eddy Smith hatte das Versteck auf dem Wrack verraten, und der Seewolf würde dorthin ziehen. Logischerweise mit allem, was er hatte, denn Eddy mußte ihm auch erzählt haben, daß er es mit zwei Dutzend Gegnern zu tun haben würde. Also befand sich jetzt auf der „Isabella“ nur noch die Ankerwache, und die würde man einfach überrennen — punktum! „Riemen hoch und ein“, kommandierte Red Fox flüsternd. „Raus mit den Fendern! Wenn ihr den Kahn an die Bordwand knallen laßt, ziehe ich euch eigenhändig die Haut ab!“ Die Männer waren den Tonfall gewöhnt, genau wie die Seewölfe an Ed Carberrys wüste Drohungen gewöhnt waren. Nur mit dem Unterschied, daß Red Fox seine Drohungen meist erfüllte. Was er auch nötig hatte! Denn seine Halsabschneider und Galgenvögel waren keine verschworene Gemeinschaft, sondern eine wilde Horde, die jeden längst zum Teufel gejagt hätte, der ihnen den Gehorsam nicht mit den Fäusten einzuprügeln verstand. Jetzt zogen sie die Köpfe ein, warfen hastig die Korkfender aus und paßten höllisch auf, daß die Boote nicht vom Seegang gegen die Bordwand der „Isabella“ geworfen wurden. Red Fox richtete sich auf und tastete nach einer Sprosse der Jakobsleiter. Er enterte als erster auf — es fehlte ihm durchaus nicht an Mut, abgesehen davon, daß diese Sache seiner Meinung nach nicht viel Mut erforderte. Vorsichtig schob er sich höher, überzeugte sich durch einen Blick, daß
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seine Leute ihm folgten, und lauschte aufmerksam den langsamen Schritten der Ankerwachen. Genau das war der Augenblick, in dem an Bord der „Isabella“ der Schimpanse Arwenack wieder auf der Kuhl erschien. Der Himmel mochte wissen, wo er sich herumgetrieben hatte. Niemand hatte mitgekriegt, aus welcher Ecke er aufgetaucht war. Jetzt hüpfte er jedenfalls putzmunter über die Planken, sah sich um und verzichtete ausnahmsweise auf das übliche Keckern, weil die Männer, die da im Schutz von Schanzkleid und Nagelbank kauerten, so ungewöhnlich still waren. Der Schimpanse staunte, was man ihm bei seinem lebhaften Mienenspiel ohne weiteres ansehen konnte. Ausgiebig kratzte er seine behaarte Brust. Irgendetwas lag in der Luft, das spürte er. Etwas, das vielleicht Abwechslung versprach und ergründet werden mußte. Arwenack war von Natur aus neugierig, und der Anblick der außenbords hängenden Jakobsleiter in Verbindung mit den schabenden Geräuschen an der Bordwand genügte, um dieser Neugier ein Ziel zu geben. Red Fox Killarney hatte in seinem Leben noch keinen Schimpansen gesehen. Da das Tier sich so gut wie lautlos bewegte, hörte er noch nicht einmal, daß da etwas über die Planken auf die Jakobsleiter zuglitt. Er hatte gerade die Höhe des Schanzkleids erreicht und schob vorsichtig den Kopf über die Kante. Bevor die Seewölfe es irgendwie verhindern konnten, tat Arwenack auf seiner Seite das gleiche. Sie starrten sich an. Ein verblüffter Schimpanse und ein mehr als verblüffter, vor Schrecken versteinerter Banditenführer. Red Fox sah zwei glänzende Knopfaugen und einen dunklen, zottigen Kopf, der nur dem Leibhaftigen selber gehören konnte. Jetzt grinste dieser fürchterliche Schädel auch noch. Die wulstigen Lippen legten ein schreckerregendes Gebiß frei, ein wildes Fauchen und Keckern erklang — und Red
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Fox Killarneys Erstarrung löste sich in einer Explosion der Panik. Mit einem Schrei fuhr er zurück. Dabei ließen seine Fäuste die Kante des Schanzkleids los, und prompt verlor er den Halt auf der Jakobsleiter. Wie ein Stein sauste er in die Tiefe und klatschte ins Wasser. Im nächsten Moment klatschte es noch ein paarmal, weil der Banditenhäuptling bei dem . Sturz zwei, drei von seinen Kumpanen mitgerissen hatte. Red Fox paddelte im Wasser. Das kühle Naß brachte ihn wieder halbwegs zu Verstand. Inzwischen hockte Arwenack auf dem Schanzkleid und sah für die Augen der Banditen immer noch furchterregend, aber doch nicht gerade wie der Satan persönlich aus. Deutlich hörte Killarney das unterdrückte Gelächter an Bord, höchst spöttisches Gelächter. Die Wut, die in ihm hochschoß, erstickte ihn fast. „Auf sie!“ brüllte er. „Werft die Enterhaken! Vorwärts, Männer! Denkt an das Gold! Vorwärts! Vorwärts ...“ 6. Mondlicht fiel durch die weit offene Tür der Mühle. Die sechs Bewacher, die Red Fox Killarney zurückgelassen hatte, hielten sich teils draußen, teils in unmittelbarer Nähe der Tür und damit der frischen Luft auf, Erstens und vor allem, weil ihnen der penetrante Mistgestank auch nicht besser gefiel als den Seewölfen. Und zweitens, weil sie im Gegensatz zu ihrem Anführer der Ansicht waren, daß man mit vier an Händen und Füßen gefesselten und schwer angeschlagenen Männern nun wirklich keine bösen Überraschungen mehr erleben konnte. Außerdem verhielten sich die Gefangenen friedlich, dösten vor sich hin und wirkten mehr tot als lebendig. Daß das ein sehr gefährliches Vorzeichen war, wäre den Banditen nicht einmal im Traum eingefallen. Sie würfelten, um sich die Zeit zu vertreiben. Ab und zu warfen
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sie einen Blick auf die gefesselten Männer, was ihnen als ausreichendes Maß von Wachsamkeit erschien. Jeder Blick zeigte das gleiche Bild: vier schlaffe Gestalten mit gesenkten Köpfen. Die Arme waren ihnen auf den Rücken gefesselt, was sie mit ihren Händen taten, konnten die Banditen daher nicht sehen. Vor allem das nicht, was Matt Davies hinter seinem Rücken mit der scharf geschliffenen Hakenprothese anstellte. Normalerweise pflegte Matt den Haken nur nachzuschleifen, wenn ein Kampf in Sicht war. Aber da das ziemlich oft passierte, befand sich die Spitze fast immer in einem Zustand, daß Matt äußerste Vorsicht walten lassen mußte, wenn er sich am Kopf kratzen wollte und gerade die Linke nicht frei hatte. Jetzt lag der Haken um das Gelenk von Matts einziger Hand, reichlich mit solidem Hanf umwunden. Aber da das Metall glatt war und ziemlich leicht hin und her rutschte, ließ sich zumindest einer der Stricke mit der nadelscharfen Spitze erreichen und bearbeiten. Genau das tat Matt Davies jetzt schon seit einer geraumen Weile. Es war ein mühseliges Unterfangen. Die Spitze rutschte mindestens zehnmal ab, bevor sie sich einmal hinter einer Hanffaser verfing, und auch dann standen die Chancen höchstens eins zu eins, daß diese Faser dünn genug war, um sie zu zerreißen. Viel Kraft durfte Matt nicht aufwenden, um die Banditen nicht mißtrauisch werden zu lassen. Er lehnte wie ein nasser Sack an der Wand, das Kinn auf der Brust, und erweckte den Eindruck, als könne er kaum noch den Kopf heben. Ed Carberry, Dan O'Flynn und Bill taten das gleiche. Nur aus den Augenwinkeln beobachteten sie Matts Bemühungen und arbeiteten an ihren eigenen Fesseln, soweit sich das unauffällig bewerkstelligen ließ. Doch die Stricke waren zu straff gespannt, als daß ernsthaft eine Aussicht auf Erfolg bestanden hätte. „Schaffst du's?“ wisperte Dan O'Flynn, der unmittelbar neben Matt an der Wand lehnte.
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Die Antwort war ein Brummen, das alles mögliche bedeuten konnte. Wahrscheinlich wohl die Aufforderung, gefälligst den Schnabel zu halten, und keine dämlichen Fragen zu stellen. Matt konzentrierte sich. Der Strick, den er bearbeitete, wurde inzwischen nur noch von wenigen Fasern zusammengehalten. Es wäre ihm wohl ohne Schwierigkeiten gelungen, ihn mit einem kräftigen Ruck zu sprengen, aber eben diesen kräftigen Ruck galt es nach Möglichkeit zu vermeiden. Schweiß lief über Matts Gesicht. Seine Muskeln schmerzten, die Konzentration auf die schwierige Arbeit ließ ihn allmählich kribblig werden. Er brauchte noch zehn Minuten, dann spürte er, wie der Strick riß und die Fesseln lockerer wurden. Noch einmal fünf Minuten, und er hatte sämtliche Stricke unauffällig abgeschüttelt. Sein Blick haftete an den Banditen. Die Burschen waren gerade drauf und dran, sich in die Haare zu geraten. Ein langes, dürres Gerippe von Mann behauptete, sein kleiner, wie seliger Kumpan habe heimlich einen der Würfel umgedreht, um zu gewinnen. Das Wiesel bestritt das energisch. Ein dritter Mann, der ihm offenbar eins auswischen wollte, beschuldigte ihn lautstark, sowieso ständig zu mogeln. Sie fauchten sich an, belegten sich mit den erlesensten Bezeichnungen aus der heimischen und exotischen Tierwelt – und Matt Davies nutzte die Gelegenheit, seinen Arm mit der Hakenprothese unauffällig hinter den Rücken des neben ihm sitzenden Dan O'Flynn zu schieben. Diesmal war die Sache einfacher, da Matt seinen Haken besser handhaben und zumindest aus den Augenwinkeln etwas 'sehen konnte. Als der erste Strick riß, behauptete das Wiesel gerade, sein dürrer Kumpan müsse vom Sensenmann persönlich mit einem mottenzerfressenen schottischen Hochlandgespenst gezeugt worden sein. Das führte zum wütenden Protest eines Kerls, dessen Stolz auf seine schottische Abstammung offenbar auch
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Hochlandgespenster einschloß. Kategorisch erklärte er; eine Mißgeburt wie der Dürre könne nicht mal von einer schottischen Bettwanze abstammen. Matt Davies grinste sich eins, krümmte sich zusammen und gab ein effektvolles Stöhnen von sich. „Halt dein Maul, oder du kriegst was drauf!“ fauchte der Dürre, der ein Ventil für seine Wut suchte. Matt hörte auf zu stöhnen und ließ sich schlaff zurücksacken, so daß er mit der rechten Schulter an der Wand lehnte. Das war der Zweck der Übung gewesen. Jetzt saß er nämlich so, daß er mit einiger Mühe auch an Ed Carberrys Fesseln heranreichte, und die bearbeitete er mit der Spitze des Hakens, während sich Dan vor- sichtig von dem Rest der Stricke befreite. Die Banditen stritten sich mittlerweile intensiv über die Frage der Überlegenheit schottischer Hochlandgespenster gegenüber ordinären englischen Poltergeistern. Der Dürre behauptete, es gebe überhaupt keine Geister. Eine Behauptung, die die anderen einhellig seiner allgemein bekannten Dämlichkeit zuschrieben. Im Nu waren sie dabei, ihre diesbezüglichen Erfahrungen auszutauschen — und das klang so, daß selbst der alte O'Flynn mit seinen ewigen Spökenkiekereien vor Neid erblaßt wäre. Als Ed Carberrys Fesseln fielen, waren die Bewacher gerade bei einer knackigen rothaarigen Hexe, die zu ihrer Zeit angeblich bei Vollmond nackt auf einer Waldwiese in der Nähe von Plymouth zu tanzen pflegte. Die Schilderung geriet höchst plastisch. Jedenfalls schlug sie die Banditen für eine Weile völlig in Bann. Niemand dachte daran, zu den Gefangenen hinüberzusehen, und Dan O'Flynn konnte in aller Ruhe darangehen, auch noch Bills Fesseln aufzuknüpfen. Die tanzende Rothaarige war ein sehr ergiebiges Gesprächsthema. Das Wiesel beschrieb mit beiden Händen ausufernde Schlangenlinien in der Luft, um die Qualitäten ihres Körperbaus zu
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verdeutlichen. Begierig rückten die übrigen Banditen näher heran. An dem Wiesel war ein Dichter verloren gegangen. Allerdings ein Dichter von Werken, die bestimmt nicht in der Sonntagsschule gelesen wurden. Andächtig lauschten die anderen seinen anatomischen Ausführungen. Den Seewölfen blieb Zeit genug, auch ihre Fußfesseln zu lösen. „Na dann“, sagte Ed Carberry fröhlich. Die vier zogen die Beine an, sprangen wie auf ein geheimes Kommando auf — und eine Sekunde später war in der alten Mühle die Hölle los. * Auf der „Isabella“ befand sich der Kampf um diese Zeit noch im Stadium der Entwicklung. Red Fox Killarney und vier seiner Kumpane waren im Wasser gelandet, was hieß, daß schon fünf Pistolen mangels trockenen Pulvers nicht mehr schießen konnten. Enterhaken flogen, mit Gebrüll enterten Männer. auf, Schüsse krachten, da die Banditen in den Booten versuchten, für ihre Komplicen das Schanzkleid freizuhalten. Die Seewölfe dachten nicht daran, ihre Köpfe hinzuhalten. Sie warteten lieber, bis die Köpfe ihrer Gegner auftauchten. Da nämlich konnten die Kerle in den Booten nicht mehr schießen, ohne die eigenen Leute zu gefährden. Sechs goldgierige Banditen wollten sich gleichzeitig auf die Kuhl schwingen. Nicht einer kriegte auch nur ein Bein auf die Planken. Wie die Kastenteufel schnellten vor ihnen Gestalten aus der Deckung des Schanzkleids. „Arwenack!“ dröhnte der alte Schlachtruf der Seewölfe - und die Galgenvögel flogen schneller wieder außenbords, als sie denken konnten. Es klatschte kräftig. Und zweimal krachte es, weil die Stürzenden in einem der Boote gelandet waren. Flüche, Geschrei, nochmaliges, diesmal lauteres Klatschen. Red Fox Killarneys Stimme brüllte etwas von „weiter abhalten“, was ihm natürlich schon
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früher hätte einfallen müssen. Sam Roskill schob den Kopf vor und riskierte einen schnellen Blick. „Die haben den Kahn umgeschmissen“, meldete er trocken. „So an die zehn, zwölf Mann schwimmen jetzt im Bach.“ „Wer sagt's denn“, knurrte Ferris Tucker. „Zu dämlich, um ihr Pulver trocken zu halten! He, Ben! Sollen wir ihnen den zweiten Kahn auch noch kippen?“ „Nur zu! Klar bei Musketen! Sperrfeuer auf den Kahn!“ Der rothaarige Schiffszimmermann wog einen Enterhaken in der Faust. Neben ihm richteten sich Al Conroy, Sam Roskill, Will Thorne und der Kutscher auf. Sie feuerten ihre Musketen auf das zweite Boot ab, und den Banditen, die keinerlei Deckung hatten, blieb nichts anderes übrig, als eilig ins Wasser zu hechten. Ferris Tucker schleuderte den Enterhaken mit einem schnellen, kräftigen Wurf. Er erwischte die achtere Ducht des Boots, holte sofort das Tau durch und warf sich zurück. Der Ruck hob das Heck des Kahns aus dem Wasser, er kenterte durch und schwamm kieloben auf den Wellen. Gleichzeitig hatte Ferris ihm so viel Schwung gegeben, daß er abtrieb, und um ihm vollends den Garaus zu bereiten, durchlöcherten Will Thorne und der Kutscher die Beplankung mit ein paar wohlgezielten Musketenschüssen. Jetzt hatten die Banditen endgültig keine Waffe mehr, bei der das Pulver trocken geblieben war. Aber sie waren immer noch sechzehn Mann. Die Gier nach den Schätzen, die sie auf der „Isabella“ vermuteten, hatte sie tollkühn werden lassen. Red Fox Killarney schäumte vor Wut, sie dachten gar nicht daran, aufzugeben. Beim zweiten Versuch enterten sie alle gleichzeitig und brachen wie eine Woge über das Schanzkleid. Diesmal waren es zu viele, um sie daran zu hindern, die Kuhl zu stürmen. Red Fox Killarney hielt den Degen in der Faust und sah mit einem wilden Blick um sich.
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Zwei Schritte neben ihm schien sein schwarzbärtiger Unterführer gerade das Fliegen zu lernen: Ein Fausthieb Ferris Tuckers beförderte ihn im Überschlag rückwärts wieder über das Schanzkleid. Der Banditenhäuptling hatte sich die Sache ganz leicht vorgestellt und war überzeugt gewesen, daß sie die Kuhl im ersten Ansturm leerfegen würden - doch es. kam ganz anders. Dieser rothaarige Riese dort drüben beförderte schon den zweiten Gegner außenbords. Ein schlanker, wendiger Bursche mit dunklem Haar und blitzenden schwarzen Augen wehrte mit dem Degen die schweren Säbel von zwei Angreifern ab, daß es eine Art hatte. Ein untersetzter dunkelblonder Mann verteidigte ganz allein den Niedergang zum Achterkastell: mit einer Ruhe, als handele es sich um harmloses Stockfechten. Oben auf der Nagelbank kauerte ein einbeiniger Alter und hielt mit grimmigem Gesicht nach lohnenden Zielen für seine Krücken Ausschau. Vor dem Kombüsenschott schlug ein schmalbrüstiger Bursche mit einem Ungetüm von Bratpfanne um sich, und den einzigen Mann, der bisher zu Boden gegangen war, mußten gleich vier von Killarneys Banditen auf den Planken halten. Sie versuchten es wenigstens. Im nächsten Moment übertönten ihre quietschenden Schreie den Kampflärm. Wie die Kastenteufel gingen sie hoch. Gelassen machte sich Will Thorne über den dritten her - und Red Fox Killarney holte tief Luft, um sich auf diesen weißhaarigen Höllenhund zu stürzen, der die Frechheit hatte, seinen Gegnern mit einer Lieknadel die Kehrseite zu lädieren.. Der Segelmacher konnte seine Absicht in die Tat umsetzen - Red Fox Killarney nicht. Im selben Moment nämlich fiel sein Blick auf das zottige Untier, das ihn vorhin so erschreckt hatte. Das Biest schaukelte in den Wanten. Es spielte mit einem
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Belegnagel herum, holte aus - und Red Fox Killarney begriff viel zu spät, daß auch ein Affe in der Lage ist, bei einem Enterkampf Freund und Feind zu unterscheiden. Red Fox riß gerade noch rechtzeitig schützend die Arme hoch, doch das bewahrte ihn nicht davor, rückwärts gegen das Schanzkleid geschleudert zu werden und das Übergewicht zu kriegen. Zum zweitenmal in dieser schwärzesten Nacht seines Lebens klatschte er ins Wasser der Mill Bay. Dabei verlor er den Degen, schluckte eine Menge von der schmutzigen Brühe und klammerte sich schließlich keuchend und halb ersoffen an das noch schwimmende Boot. Irgendwo in der Nähe paddelten zwei weitere Banditen. Der Schwarzbart versuchte gerade verbissen, wieder an der Jakobsleiter aufzuentern. Red Fox wischte sich das Wasser aus den Augen, peilte nach oben und konnte gerade noch ausweichen, bevor ihm ein weiterer außenbords fliegender Mann auf den Kopf fiel. „Das war meiner!“ protestierte eine laute Stimme auf der Kuhl. „Such dir einen anderen, du Stint!“ gab jemand brummend zurück - und Red Fox Killarney hatte das Gefühl zu träumen. Nein, dachte er. Das gab es nicht! Das durfte nicht wahr sein! Blinde, lodernde Wut flammte in ihm auf. Mit einem Knurren stieß er sich von dem Boot ab, schwamm auf die Jakobsleiter zu und kletterte dem Schwarzbart nach. Der gelangte allerdings auch diesmal nicht weit, da ihn einer seiner Kumpane mitriß, der den Weg über das Schanzkleid rückwärts probierte. Killarney klammerte sich fluchend an den Holzsprossen fest, preßte sich dicht an die Bordwand und vermied es auf diese Weise, ebenfalls mitgerissen zu werden. Als er auf die Kuhl sprang, hatte er nur noch einen Dolch und seine Fäuste als Waffen, aber das war ihm gleichgültig. Rasend vor Zorn stürzte er sich ins Getümmel und versuchte, dem schlanken Burschen mit dem schwarzen Haar und den dunklen Augen einen Uppercut zu
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verpassen. Sam Roskill wich geschmeidig aus. Red Fox Killarney erwischte seinen eigenen Mann, der torkelte zurück - und wurde im nächsten Moment in die Gegenrichtung katapultiert, da ihn Old O'Flynn von der Nagelbank aus mit seinem Holzbein am Achtersteven erwischt hatte. Der Bandit prallte mit Killarney zusammen, und beide rollten in schöner Eintracht bis ans Schanzkleid. Benommen stemmte sich Red Fox hoch. Etwas Rundes, Braunes kollerte vor seine Füße. Neben ihm erschien der Kopf des unermüdlichen Schwarzbarts über dem Schanzkleid. Ein anderer runder Gegenstand flog durch die Luft, es gab ein hohles Geräusch, und der Schwarzbart verschwand von der Bildfläche, um das dritte kühle Bad zu nehmen. Killarneys Blick zuckte dorthin, wo er den Ausgangspunkt der braunen Wurfgeschosse vermutete. Das Kombüsenschott! Es stand offen. Den Raum davor verteidigte der Mann mit der Bratpfanne. Und im Schatten des Schotts bewegten sich zwei schlanke Gestalten. Kinder! Zwei kleine Jungs, die sich glichen wie ein Ei dem anderen, die mit phänomenaler Zielsicherheit Kokosnüsse warfen und sich zu allem Überfluß auch noch königlich zu amüsieren schienen. Die nächste Kokosnuß traf den völlig verblüfften „roten Fuchs“ und verwandelte seine Benommenheit für zwei, drei Minuten in einen Zustand halber Ohnmacht. In diesen Minuten wurde auf der Kuhl der „Isabella“ der Kampf entschieden. Red Fox Killarneys Blick war ziemlich verschwommen. Er hörte nur das Wasser aufspritzen, begriff dunkel, daß jedes Klatschen einen Mann außenbords bedeutete, und dann drang die ungehaltene, aber durchaus nicht aufgeregte Stimme von Ferris Tucker in sein Bewußtsein. „Nun kappt doch endlich die Taue und holt die Jakobsleiter ein, ihr kopfschwachen Heringe! Oder wollt ihr mit diesen müden Figuren vielleicht die ganze Nacht Ball spielen.“
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„Na und? Macht doch Spaß, oder?“ „He, Ben! ,Sollen wir ihnen diesen Krakenkerl aus der Vorpiek nachschmeißen?“ „Nein, den behalten wir noch etwas. Und den Clown da drüben könnt ihr ...“ Schlagartig lichtete sich der Nebel in Red Fox Killarneys Gehirn. Die Aussicht, in die Gefangenschaft dieser Höllencrew zu geraten, ließ ihn von einer Sekunde zur anderen seine Benommenheit vergessen. Nur weg, das war sein einziger Gedanke. Wie von einem Katapult abgeschnellt, sprang er auf, warf sich herum, und bevor es jemand verhindern konnte, hechtete er mit einem verzweifelten Sprung über das Schanzkleid ins Wasser. „Muß 'ne harte Rübe haben, wenn er die Kokosnuß verdaut hat“, stellte Ferris Tucker fest. „Sollen wir sie verfolgen und ein paar von ihnen schnappen?“ fragte Sam Roskill begierig. Ben Brighton sah den Banditen nach, die ihr Boot Boot sein ließen und wie vorn Teufel gehetzt in Richtung Kai schwammen. Red Fox Killarneys roter Schopf leuchtete im Mondlicht. Ein paar von seinen Kumpanen hatten immerhin noch genug Anstand, um ihre halb oder ganz bewußtlosen Mitstreiter vor dem Ertrinken zu bewahren. Ben zögerte einen Moment, dann schüttelte er entschieden den Kopf. „Wir bleiben an Bord und passen auf die ,Isabella` auf. Ich möchte keine böse Überraschung erleben. Eine böse Überraschung reicht mir nämlich für heute“, fügte er drohend hinzu und ließ den Blick von Old O'Flynn zu den Zwillingen wandern. „Was, zum Teufel, hast du diesen Satansbengeln erzählt, Donegal?“ „Was du gesagt hast! Daß sie sich gefälligst gefechtsmäßig benehmen sollen!“ „Und das haben sie ja auch getan“, sagte Ferris Tucker mit einem breiten Grinsen. „Dafür kannst du den Kerlchen keinen Vorwurf machen, Ben. Da mußt du dich
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eben beim nächsten Mal etwas klarer ausdrücken!“ Ben Brighton faßte sich an den Kopf. Er holte tief Luft, aber seine Stimme klang ziemlich matt und erschüttert. „Klar Schiff überall!“ ordnete er an. „Und wenn mir hier in drei Minuten noch eine einzige Kokosnuß herumkollert, kriegt irgend jemand das Ding an den Schädel!“ * „Hier weiter!“ Im Schatten hoher alter Fichten standen sie an einer Weggabelung. Einer dreifachen Gabelung, genau gesagt. Batuti zeigte nach rechts. Sehr entschieden, obwohl alle drei Wege hoffnungslos ausgefahren und zertrampelt waren. „Bist du sicher?“ fragte Pete Ballie mißtrauisch. „Jawohl“, erklärte Batuti. „Aber ...“ „Wagen von Banditen hat dreieckige Scharte am vorderen Rad. Siehst du Abdruck von dreieckige Scharte an Backbord? Siehst du ihn vorn? Ist verdammtes Abdruck auf Weg Steuerbord, oder ist nicht?“ „Weiß ich nicht“, gab Pete Ballie zu. „Aber ich“, sagte der Seewolf trocken. Er hatte sich vorgebeugt und den Boden etwas genauer untersucht. Allerdings bezweifelte er, daß er ohne Batutis fabelhaftes Talent zum Spurenlesen den richtigen Weg mit der gleichen Sicherheit gefunden hätte. „Sag ich doch!“ Der schwarze Herkules strahlte. „Batuti immer sicher. Weiter, Sir?“ „Weiter“, erwiderte der Seewolf, und die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung. Ein paar Minuten später erreichten sie die Holzbrücke, die über einen Bachlauf führte. „Da oben auf dem Hügel liegt 'ne alte Mühle“, bemerkte Pete Ballie. Er war schon auf Francis Drakes „Marygold“ als Rudergänger gefahren und kannte sich in der Umgebung von Plymouth bestens aus. „Soviel ich weiß, dürfte der Schuppen so
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ziemlich der einzige brauchbare Unterschlupf weit und breit sein.“ „Sehen wir mal nach. Aber vorsichtig, klar? Wenn ich auch nur ein einziges lautes Wort höre, kann sich der Betreffende jetzt schon darauf freuen, daß er bei der nächsten Rumausgabe höchstens Bilgenwasser abkriegt.“ „Rumausgabe?“ echote Blacky – sehr interessiert und sehr leise. „Ruhe! Fangt bloß nicht an, die Sache im Geiste zu begießen, bevor sie vorbei ist!“ Ein paar Männer kicherten. Ebenfalls sehr leise. Dann breitete sich Stille aus, nur noch unterbrochen von den winzigen Geräuschen, die sich nicht vermeiden ließen und ohnehin vom Plätschern des Bachs und dem Singen des Windes in den Baumkronen übertönt wurden. Knapp zehn Minuten später hatten die Seewölfe die alte Mühle im Blickfeld. Daß sie nicht mehr benutzt wurde, verriet der gebrochene Flügel selbst aus der Ferne. Hinter den Fensterluken war der geisterhafte Schein einer Öllampe zu sehen. Pferde oder Wagen konnte Hasard nirgends entdecken. Er kniff die Augen zusammen, dann gab er den Männern ein Zeichen, den Weg zu verlassen und einen Bogen quer durch das niedrige Gestrüpp zu schlagen. Nach ein paar weiteren Minuten konnten sie die Rückseite der Mühle sehen. Auch hier stand der Karren nicht, dessen Spur sie gefolgt waren. Die Pferde mochten die Banditen- in der Mühle untergebracht haben, bei dem Wagen war das nicht möglich. Hasard dachte an die „Isabella“ und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Wir jetzt machen Trümmerhaufen aus Mühle?“ erkundigte sich Batuti begierig. Der Seewolf nickte. Etwas anderes würde ihnen wohl kaum übrig bleiben, wenn sie Dan und Bill, Carberry und Matt Davies herausholen wollten. Das glaubte er jedenfalls, aber schon im nächsten Moment mußte er seine Meinung ändern. Ein schriller Schrei ertönte.
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Von einer Sekunde zur anderen brach ein wahrer Sturm los; und es gab keinen Zweifel daran, daß da schon jemand anders versuchte, die Mühle in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, 7. Es war ein kläglicher Haufen, der sich da nach und nach auf den sicheren Grund einer Pier verholte. Fast die Hälfte von Red Fox Killarneys Bande lag zunächst mal keuchend, spuckend und schlaff wie eine Ansammlung nasser Säcke am Boden: einige, weil sie noch halb bewußtlos waren, ein paar, weil sie gerade eben erst gemerkt hatten, daß sie schwimmen konnten, wenn sie nur richtig wollten. Red Fox hatte eine Beule an der Stirn, wo ihn die Kokosnuß getroffen hatte. Und von Arwenacks Belegnagel war er auch gestreift worden: sein linkes Ohr brannte wie die Hölle. Triefend, außer Atem und überdies waffenlos stand er da, musterte die Jammergestalten und machte sich klar, daß der Trupp, den er da vor sich sah, mindestens doppelt so stark gewesen war wie der Gegner. Jedenfalls zahlenmäßig. Sonst war die Bezeichnung „stark“ für diesen geschlagenen Haufen lächerlich. Die Kerle von der „Isabella“ hatten nicht einmal ihre Schußwaffen eingesetzt, nachdem die Angreifer die ihren nicht mehr gebrauchen konnten. Diese verdammten Hunde hatten sich nicht mit Nägeln und Zähnen gewehrt, sondern so getan, als hätten sie es überhaupt nicht nötig, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu kämpfen. Fairneß war das gewesen, wie Red Fox Killarney sehr wohl erkannte. Aber diese Fairneß gegenüber einer zweifachen Übermacht erschien ihm wie blanker Hohn. Nicht einer von ihnen war tot oder auch nur schwer verletzt. Man hatte mit Kokosnüssen nach ihnen geworfen, sie mit der Lieknadel gepiekt und mit einer simplen Bratpfanne um die Ohren gehauen. Und am Ende hatte man sie
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einfach wie dumme Jungen ins Wasser zurückbefördert. Das war mehr als eine Niederlage, das war eine Schmach — und der Gedanke daran ließ Red Fox Killarney vor Wut fast den Verstand verlieren. Immerhin reichte es noch zu der Erkenntnis, daß sie sich schleunigst verdrücken mußten, da der Kampflärm bestimmt nicht ungehört geblieben war. Beim augenblicklichen Zustand seiner Männer hatte der Banditenhäuptling nicht das geringste Interesse daran, mit irgendwelchen Gendarmen zusammenzustoßen. Deshalb verzichtete er auch darauf, zu der Stelle an der Küste zurückzumarschieren, wo sie den Wagen und die Pferde gelassen hatten. Eilig zogen sie sich in die Hügel zurück: ein Zug von nassen, schwankenden Jammergestalten, die diejenigen mitschleiften, die sich noch jämmerlicher fühlten. Nach einer Viertelstunde erreichten sie eine halbverfallene Farm, deren versoffenen Besitzer Red Fox mit regelmäßigen kleinen Beuteanteilen zu bestechen pflegte. Bisher hatten die meisten der Banditen geglaubt, daß die Goldstücke an diesen fetten, heruntergekommenen Halunken glatt verschwendet seien. Jetzt waren sie froh, jemanden aus dem Schlaf scheuchen zu können, der sie nicht verraten würde. Der Farmer, angetan mit einem voluminösen Nachtgewand und einer Zipfelmütze, stolperte gähnend in seinen klappernden Holzpantinen herum, entzündete ein Feuer im Kamin, stellte selbstgebrannten Schnaps auf den Tisch und gewann für die erschöpften Galgenvögel beinahe die Züge eines rettenden Engels. Schnaps und Kaminfeuer, schmuddelige Decken und die Möglichkeit, die triefenden Kleider auf eine Leine zu hängen, hoben die Stimmung etwas. Lediglich Red Fox verzichtete darauf, seine Sachen zu trocknen. Er wurde von der Wut genug erwärmt. Von dem Selbstgebrannten ließ er auch die Finger, weil er einen klaren Kopf brauchte. Er wollte nicht aufgeben. Während er mit
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langen Schritten im Raum auf und ab marschierte, immer an der bekränzten Wäscheleine entlang, begann auch bereits ein Plan in seinem Kopf Gestalt anzunehmen. So ganz und gar gelogen hatte der „rote Fuchs“ nämlich nicht, als er den gefangenen Seewölfen gegenüber behauptete, ein irischer Rebell zu sein. Er war ein ziemlich mißratenes Exemplar von Freiheitskämpfer, was er in lichten Momenten sogar selbst wußte. Zu Zeiten jugendlichen Leichtsinns hatte er tatsächlich aus Idealismus für seine Heimat gekämpft. Später reizte ihn vor allem die Tatsache, daß die Spanier den irischen Aufstand unterstützten, und zwar nicht nur mit Waffenlieferungen, sondern auch mit Golddublonen. Leider war Red Fox nicht mehr dazu gekommen, seine gierigen Finger nach einem Teil dieser Golddublonen auszustrecken. Der Boden in Irland wurde zu heiß für ihn, die eigenen Leute standen kurz davor, ihn als den Halunken zu entlarven, der er war, und er mußte fliehen. Aber die Spanier, soweit sie nicht sehr gut informiert waren, hielten ihn immer noch für einen irischen Rebellen, und er hatte es für nützlich gefunden, die entsprechenden Kontakte bis zum heutigen Tag zu pflegen. Es gab eine Reihe spanischer Agenten, die kaltblütig genug waren, um getarnt auf englischem Boden zu spionieren. Red Fox kannte ein paar von ihnen, versorgte sie sogar ziemlich regelmäßig mit Informationen und hatte ihnen für den Notfall die Unterstützung seiner Bande angeboten. Aus einem durchaus handfesten Grund: Wenn es einmal hart auf hart ging, wollte er sich die Möglichkeit offen halten, nach Spanien zu entschwinden. Die Agenten, die er lauthals Freunde und Verbündete zu nennen pflegte, spielten für ihn nur die Rolle von nützlichen Idioten, und nie vorher waren sie ihm nützlicher erschienen als in diesen Minuten. Die Spanier haßten den legendären Seewolf wie die Pest. Er, Red Fox, hatte ihn bisher nur als beliebiges Opfer betrachtet, das man
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ausplündert und vergißt, doch jetzt haßte er ihn ebenfalls. Seine Augen begannen zu funkeln. Hatte Eddy Smith nicht erzählt, daß die _Isabella“ morgen früh nach London weitersegeln wolle? Morgen! Noch war es Nacht und herrschte völlige Finsternis, aber der Banditenhäuptling wußte, daß er keine Zeit mehr zu verlieren hatte. Er winkte seinen Unterführer herbei und erläuterte ihm im Flüsterton seinen Plan. Der Schwarzbart hörte zu, kniff die Augen zusammen und grinste anerkennend. Der Plan gefiel ihm. Seine Kumpane sahen zwar immer noch so aus, als ob ihnen für die nächsten Stunden außer Schnaps und einem schönen warmen Kaminfeuer überhaupt nichts gefallen könnte, aber ein paar geflüsterte Worte genügten auch bei ihnen, um den Funken der Begeisterung wieder zu entfachen. Oder besser den Funken der Gier: Die Schätze auf der „Isabella“ stellten eine Verlockung dar, für die man getrost ein paar Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen konnte. Die letzte Flasche vom Selbstgebrannten wurde im Eiltempo geleert, und die Männer stiegen in ihre feuchten Kleider. Ein paar Minuten später marschierten sie ab. Alle außer Red Fox — denn der hatte etwas anderes zu erledigen und wollte erst später in der alten Mühle wieder zu seinen Leuten stoßen. Der Farmer, immer noch in Nachtmütze, Hemd und Holzpantinen, sattelte ein Pferd aus seinem Stall. Es war ein Kaltblüter; ein riesenhafter, schwerfälliger Ackergaul,. der mit Killarneys gewohntem Reittier sowenig gemein hatte wie ein Huhn mit einem Falken. Aber es würde ihn immer noch schneller ans Ziel bringen, als er es auf den eigenen Beinen geschafft hätte. * Ed Carberry, Matt Davies, Dan O'Flynn und Bill hatten in der Stunden ihrer
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Gefangenschaft eine Menge gesunder Wut angesammelt. Viel zuviel Wut, um an einem lächerlichen halben Dutzend Banditen ausgelassen zu werden. Zumal die Kerle immer noch fasziniert den unsittlichen Schilderungen des Wiesels lauschten und nicht einmal bemerkten, wie ihre Opfer plötzlich aufsprangen. Das Wiesel redete gerade mit Händen und Füßen, um gewisse Vorzüge der rothaarigen Hexe plastisch zum Ausdruck zu bringen. Die vier Seewölfe sahen sich an, nickten sich zu, holten tief Luft - und im nächsten Moment ließ ein donnerndes „Arwenack!“ die Mühlenwände erzittern. Die Banditen sprangen auf, als seien unter ihren Kehrseiten Pulverfäßchen explodiert. Sie waren völlig verdattert. Zu verdattert jedenfalls, um sich schnell genug auf ihre überlegene Bewaffnung zu besinnen. Einhellig versuchten sie, nach Musketen und Pistolen zu greifen, doch zwischen ihnen und ihren Gegnern lagen nun mal nur wenige Schritte. Dan O'Flynn war der schnellste. Er erwischte eine Muskete beim Lauf, riß sie dem Wiesel aus den Fingern und benutzte sie als Keule. Ed Carberry knöpfte sich den Burschen vor, der vorhin mit soviel Vehemenz die schottischen Hochlandgespenster verteidigt hatte, und entwand ihm ebenfalls die Waffe. Der Dürre mußte wirklich von Natur aus dämlich sein. Er stand mit hängenden Armen da, glotzte wie ein neugeborenes Kalb - und Bill, der Moses, hatte regelrecht Hemmungen, dem Burschen seine Fäuste zu schmecken zu geben. „Was ist denn mit dir los?“ erkundigte sich Matt Davies. „Wartest du auf 'ne Einladung?“ Der Dürre stieß einen Schrei aus und warf sich auf Bill. Der zeigte seinem Gegner binnen kürzester Frist, daß er besser daran getan hätte, sich zurückzuhalten. Der Dürre trat eine unfreiwillige Luftreise an, krachte gegen die Wand - und die war zu morsch, um den Anprall auszuhalten. Die Mühle brach nicht zusammen, aber die Banditen verstanden das unerwartete
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Verschwinden ihres dürren Komplicen als Signal zur allgemeinen Flucht. Drei warfen sich auf den Stiefelabsätzen herum und rasten der Tür zu. Die zwei restlichen konnten das nicht: einer war bewußtlos, der zweite lehnte halb zusammengesunken an der Wand und starrte wie hypnotisiert auf die nadelscharfe Spitze der Hakenprothese, der die Seewölfe ihre Freiheit verdankten. Matt ließ Milde walten und benutzte die Linke, um seinem Gegner zu einem erholsamen Schlaf zu verhelfen. Dan, Bill und Ed stürmten bereits durch die Tür, um den Fliehenden nachzusetzen, doch die hatten ohnehin keine Chance, weit zu kommen. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich Gestalten vor ihnen auf. Schlagartig wurde es ringsum im Gebüsch lebendig. Die verwirrten, entnervten Banditen hatten den Eindruck, als stürme ihnen eine ganze Armee entgegen. Sie brachten immerhin noch genug Vernunft auf, um einzusehen, daß unter diesen Umständen kein Weizen mehr für sie blühte. Entsetzt prallten sie zurück, versteinerten und reckten so krampfhaft die Arme hoch, als hätten sie den Ehrgeiz, ein paar Sterne vom Himmel zu pflücken. Nur der Dürre beteiligte sich nicht. Er war einfach zu groggy, um seine Hände zu heben. Glasigen Auges torkelte er herum, lallte unverständliches Zeug - und der Himmel mochte wissen, mit wem er Philip Hasard Killigrew verwechselte, als er ihm mit einem fast erleichterten Seufzer in die Arme kippte. Patrick Red Fox Killarney brauchte genau eine halbe Stunde, um das abgelegene Gasthaus zu erreichen, das sein Ziel war. Den Ackergaul band er in einiger Entfernung an einen Baum, da es ihm nicht geraten erschien, den Wirt und seine Familie zu wecken. Vorsichtig pirschte er sich auf die Rückseite des Gebäudes. Dort warf er so lange Eicheln gegen eine bestimmte Scheibe, bis jemand wutentbrannt das Fenster aufriß.
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„Kein Lärm, Amigo!“ rief Red Fox halblaut. Stille. Dann ein tiefer Atemzug. „Bueno! Warte, Amigo!“ Zwei Minuten später knarrte die Hintertür, und Red Fox Killarney huschte über die Schwelle. Der Mann, der ihm geöffnet hatte, war hellhaarig und braunäugig und sah überhaupt nicht aus wie ein Spanier, In dem Zimmer, in das er den rothaarigen Banditen führte, wartete ein zweiter Mann, der schon mehr südländische Züge aufwies. Jedenfalls jetzt, im Nachtgewand und mit aufgelöstem, pechschwarzem Haar: Tagsüber trug er eine prachtvolle Perücke, die ihn völlig veränderte. Genau wie sein Begleiter tarnte er sich als Kaufmann und wechselte das Quartier fast ebenso oft wie sein Hemd. „Lorenzo! Amigo mio!“ Killarneys Lächeln war so falsch wie die goldenen Ohrringe einer Zigeunerin, als er dem Schwarzhaarigen die Hände entgegenstreckte. „Wir haben lange nichts voneinander gehört! Ich hoffe, die Dinge entwickeln sich in eurem Sinne.“ Der schwarzhaarige Lorenzo hob die Schultern. Sein hellhaariger Kumpan, Ernesto mit Namen, verzog das Gesicht, als habe er in eine der sauren Zitronen seiner spanischen Heimat gebissen. „Die Dinge entwickeln sich durchaus nicht in unserem Sinne, Amigo mio“, sagte er gallig. „Ihr Landsmann Francis Drake ...“ „Ich bin Ire“, protestierte Red Fox. „Drake ist nicht mein Landsmann!“ „Nichtsdestoweniger hat er unter Mißachtung jeglichen Rechts in Cadiz einen Haufen spanischer Schiffe versenkt, die Armada entscheidend geschwächt und die Pläne Seiner Allerkatholischsten Majestät wenn auch nicht durchkreuzt, so doch zumindest in erheblichem Maße erschwert!“ Der Spanier drückte sich gestelzt aus, obwohl seine schwarzen Augen vor Wut noch düsterer flammten als vorher. „Und wir konnten nichts tun, um das Verhängnis aufzuhalten! Nichts! Aber die Rache wird England treffen, soviel ist
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sicher. Cadiz wird gerächt werden! Cadiz ...“ „War in Cadiz nicht auch dieser Mann dabei, den ihr El Lobo del Mar nennt?“ fragte Red Fox gedehnt. Jetzt sah der Spanier nicht nur aus, als habe er in eine saure Zitrone gebissen, sondern als sei diese Zitrone überdies noch vergiftet gewesen. „El Lobo del Mar!“ fauchte er. „Dieser Teufel! Dieser dreimal verdammte Hund von einem Piraten! Er ist noch schlimmer als El Draque! Viel schlimmer!“ El Draque, der Drache, das war der Kriegsname, den die Spanier Sir Francis Drake angehängt hatten, auf dessen „Marygold“ Philip Hasard Killigrew vor Jahren seine abenteuerliche Laufbahn als Freibeuter und Kaperfahrer begonnen hatte. Red Fox Killarney konnte das nicht wissen, und es wäre ihm auch gleichgültig gewesen. Er kniff die grünen Augen zusammen, lächelte leicht und sah von einem zum anderen. „Spanien hat also immer noch Interesse daran, den Seewolf zu fangen?“ fragte er gedehnt. Lorenzo knirschte mit den Zähnen. Ernesto seufzte sehnsüchtig. „Wenn uns das gelingen würde ...“ „Es wird euch gelingen“, erklärte Patrick Red Fox Killarney gelassen. „Jedenfalls wenn ihr auf meinen Rat hört. Sind irgendwelche getarnten spanischen Galeonen in der Nähe?“ Die beiden Männer starrten ihn an. Verblüffung zeichnete ihre Gesichter. Aber sie kannten den rothaarigen Burschen und angeblichen Rebellen lange genug, um zu wissen, daß er zumindest keine leeren Sprüche zu klopfen pflegte. „Allerdings“, sagte Lorenzo gedehnt. „Die ,Marguerite' und die ,Navarre` kreuzen im Kanal - getarnt als französische Handelsfahrer.“ „Sehr gut.“ Red Fox lächelte. „Das heißt, es ist gut, wenn es sich um hinreichend armierte, kampfstarke Schiffe handelt. Stark genug jedenfalls, um die Galeone des Seewolfs aufzubringen.“ Scharf sog Lorenzo die Luft ein.
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„Willst du damit sagen, du weißt, wo sich El Lobo del Mar aufhält?“ stieß er hervor. „Allerdings! Ich weiß, wo er sich aufhält, ich weiß, wann er wieder weitersegelt, und ich kenne sein Ziel. Ich kann ihn euch in die Hände spielen, Amigo mio! Ich kann euch sogar meine Leute zur Verfügung stellen, um die Entermannschaften eurer Schiffe zu verstärken. Aber die Bedingung ist selbstverständlich, daß die Beute halb und halb geteilt wird.“ „Halb und halb?“ erregte sich der Spanier. „Was sonst?“ Killarneys grüne Augen wurden hart. „Ohne meine Informationen könnt ihr überhaupt nichts erreichen. Ohne meine Leute ist es noch sehr fraglich, ob eure beiden Galeonen diesen fetten Brocken tatsächlich schlucken können. Denkt lieber an die Ehrungen und Belohnungen. mit denen man euch in Spanien überhäufen wird, wenn ihr es schafft, den Seewolf zu fangen. Also?“ Ernesto kriegte glänzende Augen. Lorenzo schluckte und sah bereits Orden, Adelstitel und fette Pfründe vor sich. Er atmete tief durch, senkte die Lider und versuchte, die Verachtung zu verbergen, die er für den irischen Burschen empfand. „Einverstanden“, sagte er ruhig. „Wir werden die Beute teilen. Und nun heraus mit der Sprache!“ 8. Sechs gefesselte Banditen lagen in der alten Mühle. Ein Blick auf Matts Stahlhaken hatte sie überzeugt, daß in diesem besonderen Fall Reden Gold und Schweigen nicht mal Silber war. Die Seewölfe wußten, daß der Rest der Banditenhorde ausgerückt war, um die „Isabella“ zu überfallen, und deshalb hatten sie es eilig, zu ihrem Schiff zurückzukehren. Überflüssige Eile, wie sich wenig später erwies. Sie hatten kaum den freien Platz vor der Mühle hinter sich gelassen, als sie bereits das Geräusch von Schritten hörten. Die Schritte von mehr als einem Dutzend Männern — schlurfend, müde, jedenfalls
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weit von jeder Art Siegestaumel entfernt. Noch wurde die Gruppe von den hohen Fichten verdeckt. Hasard lächelte leicht, als er die Holzbrücke über den Bach erreichte und das Zeichen zum Halt gab. Minuten später tauchten die ersten Gestalten aus dem schwarzen Schatten des Waldsaums. Schlappe Gestalten. Zerknittert, verschrammt und immer noch nicht ganz trocken. Sie sahen aus, als seien sie vierkant ins Wasser geflogen — und genau das war es zweifellos, was. ihnen passiert war. Die ersten von ihnen blieben starr stehen angesichts einer Bedrohung, mit der sie nicht im Traum gerechnet hatten. Ein Rotkopf, auf den die Beschreibung Patrick Killarneys zutraf, war nicht darunter. Die Führung schien ein grobschlächtiger schwarzbärtiger Hüne zu haben, der um keinen Deut unternehmungslustiger wirkte als die anderen. Immerhin handelte es sich um fünfzehn Männer, wie Hasard feststellte, aber nachdem die vier Gefangenen befreit worden waren oder besser sich selbst befreit hatten, bestand die Gruppe der Seewölfe ebenfalls aus dreizehn Mann. Was hieß, daß die Banditen zwar in der Überzahl, aber dennoch hoffnungslos unterlegen waren. Sie hätten besser daran getan, auf dem Absatz umzukehren und sich mit fliegenden Beinen zu verdrücken. Aber Wut ist nun einmal nicht die Mutter der Weisheit. Und die müden, frierenden, zerschrammten Banditen hatten auf dem langen Fußmarsch durch die Hügel reichlich genug Wut angesammelt, um jetzt die Lehre zu vergessen, die ihnen der Kampf auf der „Isabella“ eigentlich hätte sein sollen. Der Schwarzbart holte tief Luft und stieß einen urigen Schrei aus. „Auf sie!“ brüllte er. Die Banditen ließen sich das nicht zweimal sagen, aber als sie ihren Fehler einsahen, konnten sie ihn nicht mehr korrigieren, sondern nur noch bereuen.
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Es war ihr Pech, daß sie ausgerechnet auf einer Brücke mit den Seewölfen aneinander gerieten. Die waren es nämlich von zahllosen Enterkämpfen her gewohnt, ihre Gegner mit Zielstrebigkeit und Konsequenz ins Wasser zu befördern. Der Bach hatte gerade die passende Breite und war tief genug, um einem Mann keinen trockenen Faden am Körper zu lassen. Der erste, dem diese Erkenntnis zuteil wurde, war wieder einmal der bedauernswerte Schwarzbart. Es war seine eigene Schuld, daß er sich ausgerechnet auf Philip Hasard Killigrew stürzte. Der Seewolf hatte aus dem feuchten Bart und den zerknitterten Kleidern seines Gegners die richtigen Schlüsse gezogen und bereitete sich ein grimmiges Vergnügen daraus, dem Burschen zu einem weiteren Bad zu verhelfen. Zum vierten Male in dieser denkwürdigen Nacht klatschte der Schwarzbart in hohem Bogen ins nasse Element. Er stieß ein Gebrüll aus, das jedem Stier zur Ehre gereicht hätte, doch das währte nur eine halbe Sekunde, dann schluckte er Wasser und brachte nur noch ein dumpfes Gurgeln zustande. Der Uhu, der jenseits des Bachs in einem hohlen Baumstamm hauste, verließ fluchtartig seine Wohnstatt. In einiger Entfernung verspürte ein angesäuselter Landstreicher das dringende Bedürfnis, sich in ein Mauseloch zu verkriechen. Die schauerlichen Wutschreie, die da durch die Nacht hallten, konnten zweifellos nur von erzürnten Geistern herrühren. Das Klatschen,. Spritzen und Gurgeln, das diese Wutschreie in unregelmäßigen Abständen begleitete, bewies ebenso zweifellos, daß es sich um Wassergeister handelte. Der Landstreicher bekreuzigte sich und zeigte seine Fußsohlen. Und ein alter, erfahrener Luchs, der in der Nähe gerade einen Kaninchenbau belauerte, zog es vor, für diese Nacht ebenfalls seine kriegerischen Absichten aufzugeben und sich aus der Nähe dieser höchst beunruhigenden Geräusche zurückzuziehen.
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Die Banditen hatten nicht den Schimmer einer Chance. Das Pulver für ihre Schußwaffen war sowenig getrocknet wie ihre Kleider, sie mußten sich auf Fäuste, Dolche, Degen und Säbel verlassen. Das hieß, daß sie sich in unmittelbare Reichweite ihrer Gegner vorwagen mußten, und sie begriffen schnell, daß dieser Vorwitz hier an Land die gleichen katastrophalen Folgen für sie hatte wie auf der „Isabella“. Die ersten ergriffen die Flucht, als der Schwarzbart zum vierten Male in den Bach fiel. Zwei von den Kerlen gaben Fersengeld, gleich ein halbes Dutzend folgte nach kurzem Besinnen ihrem Beispiel. Da sie nicht in Richtung Mühle, sondern kopflos nach allen Seiten flüchteten, sahen die Seewölfe keinen Grund, sie zu hindern. Stattdessen fuhren sie fort, Angreifer ins Wasser zu befördern. Ab und zu langten sie auch mal hin, so daß ein paar Gegner das Land der Träume aufsuchten. Schließlich war es nur noch eine kleine Gruppe Unermüdlicher um den Schwarzbart, die mit der Sturheit von Mauleseln immer von neuem anstürmte. Hasard und ein paar andere lehnten längst mit verschränkten Armen am Brückengeländer und beobachteten amüsiert die Szene. Vor allem Bill, Dan O'Flynn, Luke Morgan und Blacky schienen die ganze Angelegenheit zu einer sportlichen Frage erhoben zu haben. Sie waren gespannt, wer es länger aushalten würde: diejenigen, die ihre Gegner immer wieder ins Wasser warfen, oder diejenigen, die immer von neuem aus dem Bach krochen, um sich wieder auf die Gegner zu stürzen. Der Schwarzbart und seine Getreuen konnten nicht mehr so recht bei klarem Verstand sein. Sie hätten längst einsehen müssen, daß sie keine Chance mehr hatten, aber das begriffen sie erst, als plötzlich Hufschlag durch den Kampflärm drang. Ein riesiger Ackergaul tauchte auf. Der Mann im Sattel hatte brandrotes Haar und grüne Augen, und Hasard wußte
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sofort, daß das nur der legendäre Patrick Red Fox Killarney sein konnte. Der Banditenhäuptling schien ebenfalls den Verstand verloren zu haben. Vernünftigerweise hätte er wie vom Teufel gehetzt auf seiner eigenen Spur zurückreiten müssen, doch er dachte nicht daran. Erst unmittelbar vor der Brücke parierte er den schwerfälligen Gaul durch. Unter dem roten Haar war sein Gesicht blaß vor Wut, seine Stimme vibrierte wie eine zu straff gespannte Saite. „Killigrew!“ schrie er. „Hörst du mich?“ „Ich bin ja nicht taub“, sagte Hasard gelassen. „Ich fordere dich zum Duell, Killigrew! Wenn du kein elender Feigling bist, wirst du dich stellen! Ich werde dich zerfetzen! Ich werde Streifen aus deiner Haut schneiden, ich :..“ „Womit denn, du Rübenschwein?“ ließ sich Ed Carberry vernehmen. Der Banditenhäuptling schluckte. Die Kleinigkeit, daß er überhaupt keinen Degen mehr hatte, war ihm in der Aufregung völlig entfallen. „Eine Waffe!“ schrie er. „Black Jack — eine Waffe!“ Black Jack war der Schwarzbart. Bloß hatte der auch keine Waffe mehr aufzuweisen. „Na dann“, sagte Hasard. „Gebt ihm schon einen Piekser, bevor er anfängt zu weinen!“ Etwas blitzte im Mondlicht. Ein Degen trudelte durch die Luft. Die Geschicklichkeit, mit der Red Fox Killarney ihn aus der Luft fing, verriet zumindest, daß er mit dieser Waffe ein wenig besser umzugehen verstand als seine Kumpane. Seine Augen funkelten, als er aus dem Sattel glitt und langsam auf die Brücke zuschlich. Die Seewölfe zogen sich zurück, um den Kampfplatz freizugeben. Der Schwarzbart und die drei letzten Unentwegten standen ohnehin im Bach — bis zum Bauch im Wasser. Das schienen sie allerdings nicht mehr zu merken. Fasziniert beobachteten sie, wie ihr Anführer stehen blieb, den
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Degen zu einer zeremoniellen Geste hob und sich verneigte. „Ach, du meine Fresse“, murmelte Ed Carberry im Hintergrund. Hasard lächelte matt. Sir John Killigrew, das biestige Ekel, das er lange für seinen Vater gehalten hatte, war immerhin einmal auf die Idee verfallen, einen italienischen Fechtmeister zwecks Ausbildung seiner Söhne zu verpflichten, was bei den wilden, grobschlächtigen Killigrew-Sprößlingen wenig genutzt hatte. Gefruchtet hatte es nur bei Philip Hasard, dem Bastard, der in Wahrheit kein Killigrew war, sondern der Sohn einer Spanierin und eines deutschen Malteserritters. Hasard konnte mit dem Degen umgehen, verstand sich auch auf die — für seine Begriffe eher lächerlichen — Förmlichkeiten eines Duells, und sein Lächeln vertiefte sich, als er das Aufflackern von Unsicherheit in Red Fox Killarneys grünen Augen erkannte. Der „rote Fuchs“ hatte sich das Fechten von seinen spanischen Freunden beibringen lassen. Schlecht war er nicht, bestimmt nicht. Nur lag es nun mal in der Natur der Dinge, daß man aus der Übung geriet, wenn man sein Tagwerk vorwiegend darauf beschränkte, ohne Geleitschutz fahrende Kutschen auszuplündern und zitternden Kaufleuten die Pistole vor den dicken Bauch zu halten. Red Fox holte tief Luft, versuchte es mit einem höchst elegant aussehenden Ausfall — und mußte feststellen, daß Eleganz nicht den Erfolg verbürgte. Hasard konterte, fintierte und vollführte zwei blitzschnelle Hiebe, die die weiten Ärmel seines Gegners auftrennten, ohne ihm auch nur die Haut zu ritzen. Red Fox zischte wie eine gereizte Wildkatze. Der Seewolf lächelte freundlich. Nach allem, was passiert war, hatte er irgendwie das Gefühl, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Die Bande des Rothaarigen war so gründlich am Boden zerstört, daß es Hasard einfach widerstrebte, dem Burschen jetzt auch noch ein ernsthaftes Duell zu liefern.
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Ein paar Minuten lang plänkelten sie herum. Red Fox griff an, entfesselte ein Feuerwerk und geriet in ein Delirium der Wut, weil dieses Feuerwerk nahezu spielerisch abgefangen wurde. Hasard grinste, setzte eine Prim an, wich zum Schein zurück und überraschte den Gegner mit einem neuen Ausfall. Seine Klinge durchtrennte Kiliarneys Gürtel. Der Banditenhäuptling keuchte und warf sich in einem fast selbstmörderischen Angriff vor. Die Klingen kreuzten sich, klirrten mit den Parierstangen gegeneinander — und noch während Red Fox Atem schöpfte, wich der Seewolf blitzartig zur Seite und schlug mit dem Glockenkorb zu. Red Fox Killarney kippte bewußtlos zu Boden. Seine Kumpane stöhnten, Hasard stieß den Degen zurück in die Scheide, atmete tief durch und wandte sich dem Schwarzbart zu. „Nehmt ihn mit“, sagte er kalt. „Wir wollen kein unnötiges Blutvergießen. Aber ich rate euch, uns nicht noch einmal in die Quere zu geraten, sonst wird es garantiert nicht so glimpflich für euch abgehen.“ Der Schwarzbart antwortete nicht. Patrick Red Fox Killarney konnte nicht antworten. Aber der Seewolf ahnte, daß er sich mit diesem Mann einen unversöhnlichen Feind geschaffen hatte, der ihm noch eine Menge Ärger bereiten würde. * Früh am nächsten Morgen segelte die „Isabella VIII.“ unter Vollzeug aus dem Hafen von Plymouth. Fast hätten die Seewölfe vergessen, daß sie in der Vorpiek eine Ratte mehr als gewöhnlich mitführten. Ferris Tucker war es, der gerade noch rechtzeitig an den Halunken Eddy Smith dachte — schließlich hatte der Zimmermann den Burschen ja auch eigenhändig aus dem Glockenturm der ausgebrannten Kirche gefischt. Eddy sah gar nicht gut aus, als er aus seinem finsteren, stinkenden Gefängnis
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befreit wurde. Auf die Frage, ob er schwimmen könne, nickte er krampfhaft. Zu spät begriff er, daß diese Antwort ein Bad in der Mill Bay bedeutete. Die Seewölfe hatten inzwischen schon Übung darin, Banditen schwungvoll außenbords zu feuern. Das Wasser klatschte, Eddy Smith paddelte, und da das rettende Land nicht weit war, hatte soweit alles seine Ordnung. Ben Brighton stand auf dem Achterkastell. Hasard hatte ein ernstes Wort mit Big Old Shane gesprochen, Big Old Shane sprach ein ernstes Wort mit den Zwillingen, um ihnen ein für allemal zu erklären, was gefechtsmäßiges Benehmen in Bezug auf siebenjährige Kinder bedeutete. Aber der Seewolf bezweifelte, daß es besonders viel nutzen würde, dafür hatte die Kokosnuß-Aktion zuviel einhelligen Beifall bei der Crew gefunden, und zwar einen Beifall, der um so eindeutiger war, als er wohlweislich nicht offen ausgesprochen wurde. Beim nächsten Fall dieser Art würde man die Zwillinge wohl schlichtweg einsperren müssen. Oder aber Ed Carberry oder OH O'Flynn mußten endlich mal ihre ständige Drohung von der fürchterlichen Tracht Prügel erfüllen — was sie sowieso nicht tun würden, weil sie zwar beide große Töne spuckten, aber im entscheidenden Moment doch immer ein Dutzend Entschuldigungsgründe für die beiden Jungen bereit hatten. Was wiederum er, Hasard, ihnen nicht ernsthaft vorwerfen konnte, weil es ihm nämlich genauso ging, weil er im Grunde stolz darauf war, daß diese beiden Knirpse so deutlich bewiesen, aus welchem Holz sie geschnitzt waren auch wenn er sich ständig ganz verteufelte Sorgen um sie bereitete. Wahrscheinlich, dachte der Seewolf, fehlt ihnen die Mutter. Mütter verstanden es ja bekanntlich, im Zusammenhang mit ihren Kindern Glucken und Tigerinnen gleichzeitig zu sein, ohne das im mindesten als Widerspruch zu empfinden. Aber was sollte es! Philip und Hasard hatten sich nun mal die meiste Zeit ihres Lebens allein
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durchschlagen müssen. Sie waren so, wie sie waren, und daran ließ sich jetzt wahrscheinlich ohnehin nichts mehr ändern. Philip Hasard Killigrew versenkte sich in allgemeine Überlegungen betreffs der Pflichten eines Vaters. Allerdings versenkte er sich nicht so tief, daß er etwa die Kimm aus den Augen gelassen hätte. Seine Aufmerksamkeit war gespannt wie immer. Aber Bob Grey im Großmars hatte das Spektiv zur Verfügung, und deshalb war er es, der als erster die Mastspitzen sichtete. Minuten später hatte auch Hasard sie im Blickfeld. Zwei Galeonen. Hier im Kanal konnte das alles mögliche bedeuten, von Spaniern bis zu holländischen Wassergeusen. Auf jeden Fall war es empfehlenswert, sich auch auf die ungünstigste Möglichkeit vorzubereiten, und genau das passierte an Bord der ,Isabella“. „Klar Schiff zum Gefecht!“ befahl Hasard. Ed Carberry tobte auf der Kuhl herum und gab Flüche von sich, die der über seinem Kopf flatternde Sir John getreulich wiederholte. Al Conroy kümmerte sich um die Geschütze und übertrumpfte die Flüche des Profos', weil seiner Meinung nach Kugeln und Kartuschen nicht schnell genug an Deck gemannt wurden. Wobei „schnell“ natürlich Ansichtssache war. Vermutlich hätte die versammelte Gilde britischer, spanischer und sonstiger Stückmeister glänzende Augen gekriegt angesichts des Manövers auf der „Isabella“, aber Al Conroy ging es eben immer noch nicht schnell genug. Arwenack, der Schimpanse, verholte sich in die Wanten, nicht ohne vorher einen soliden Belegnagel an Land zu ziehen. Old Donegal Daniel O'Flynn verholte sich ebenfalls. Diesmal würde er den Zwillingen zweifelsfrei klarmachen, was gefechtsmäßiges Benehmen für siebenjährige Jungen hieß - daß sie nämlich nicht einmal ihre Nasenspitzen an Deck zu zeigen hatten, wenn sie nicht sämtliche Strafen riskieren wollten, die auf See, an Land und in der Hölle für
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vorwitzige Rinder bereitgehalten wurden. Wenn sie es diesmal nicht kapierten, sagte sich Hasard ergrimmt, war etwas fällig. Aber die Zwillinge wären ja keine Jungen von sieben Jahren gewesen, wenn sie nicht ein bewunderungswürdiges Talent dazu gehabt hätten, immer haarscharf unter der Grenze zu bleiben, hinter der den Erwachsenen endgültig die Geduld ausging. „Franzosen!“ meldete Bob Grey aus dem Großmars. „Jedenfalls segeln sie unter französischer Flagge! Zwei Galeonen, kriegsmäßig armiert. Ziemlich dicke Brocken!“ Das sah der Seewolf inzwischen auch mit bloßem Auge. Franzosen? Keine Gegner für englische Schiffe. Normalerweise nicht. In Frankreich sah es im Augenblick so aus, als werde sehr bald ein hugenottischer Navarra als König regieren. Aber diese beiden vermeintlichen französischen Galeonen segelten in Kiellinie und hielten einen Kurs, bei dem sie gegenüber der „Isabella“ die Luvposition gewinnen würden. Das gefiel dem Seewolf von Minute zu Minute weniger. Wenn er seinen Kurs beibehielt, ostwärts mit Backstagbrise und Steuerbordhalsen, konnte er eine ziemlich hautnahe Begegnung nicht vermeiden. Leichtsinn, sagte ihm sein Instinkt. Im Grunde hatte er keinen Anlaß zum Mißtrauen, vor allem nicht auf einem vielbefahrenen Gewässer, das England nicht nur von Frankreich, sondern auch von den spanischen Niederlanden und den Generalstaaten trennte. Aber Vorsicht war besser als Leichtsinn, und deshalb traf der Seewolf in den nächsten Minuten eine Reihe von Entscheidungen, die ihm bei einem Gefecht den klaren Vorteil einbringen würden. Batuti und Big Old Shane nahmen, mit Bögen, Brandpfeilen und Kohlenbecken ausgerüstet, ihre gewohnten Plätze an Bug und Heck ein. Al Conroy an der Drehbasse stellte wegen seiner sagenhaften Treffsicherheit an sich
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schon einen taktischen Vorteil dar. Im Ruderhaus stand mit Pete Ballie ein Mann, der mitdenken konnte und deshalb keine nennenswerte Reaktionszeit brauchte, um einen Befehl auszuführen. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, hatte schon mehrmals seine Fähigkeit bewiesen, mitten im heißen 'Kampf Schäden zu reparieren, von denen sich die Gegner gefechtsentscheidende Wirkung versprochen hatten. Und daß sich Hasard auf jeden einzelnen der übrigen Männer voll verlassen konnte, stand sowieso fest. Die „Isabella“ hielt stur Kurs, jedenfalls bis zu dem Moment, in dem die Kapitäne der beiden anderen Galeonen sicher waren, daß sie auch weiter Kurs halten würde. Genau in diesem Moment ließ Hasard abfallen. Die „Isabella“ ging mit dem Heck durch den Wind, .luvte auf den neuen Bug an und schnitt den Kurs der feindlichen Führungsgaleone in dem Augenblick, in dem sie dort drüben die Stückpforten herunterrasseln und damit die Maske fallen ließen. Es war ihr Pech, daß es sich um die Steuerbord-Stückpforten handelte. An Backbord ließen sich die Geschützmannschaften etwas mehr Zeit. Die Panik angesichts des unerwarteten Manövers der „Isabella“ trug auch nicht gerade zur Schnelligkeit bei. Und da im selben Augenblick auf beiden Galeonen die spanischen Fahnen am Flaggenstag hochgingen, brauchten die Seewölfe keine weitere Rücksicht zu nehmen. Sie hatten die Luvposition gewonnen, und sie hatten ihre Gegner überrascht. Es war ein kurzes Gefecht. Die Führungsgaleone der Spanier wurde erst mit den Bug- und dann mit den
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achteren Drehbassen beharkt, empfing zwei saubere Löcher in die Wasserlinie und einen Hagel von Brandpfeilen, der das Rigg in Flammen setzte. Die zweite Galeone feuerte eine Breitseite ab, doch der Capitan war nervös geworden und konnte den richtigen Zeitpunkt nicht abwarten. Die Kugeln klatschten wirkungslos ins Wasser, da die „Isabella“ im entscheidenden Augenblick anluvte. Sekunden später fiel sie wieder ab — was so fabelhaft schnell ging, weil Fete Ballie und die meisten anderen eben vorher wußten, was als nächstes folgen würde. Gebannt vor Entsetzen starrten die Spanier von der zweiten Galeone herüber. Hasard wartete kaltblütig, bis die „Isabella“ genau parallel lag. „Backbordkanonen Feuer!“ befahl er. Dumpf krachte die Breitseite. In der Wasserlinie des feindlichen Schiffs klaffte eine Reihe sauber gestanzter Löcher, und damit war das Schicksal der Angreifer besiegelt. Den Spaniern blieb nur noch übrig, in die Boote zu gehen, um ihr Leben zu retten. Die Seewölfe sahen zu. Für sie war der Kampf beendet. Es gehörte zu ihren ungeschriebenen Gesetzen, sich nicht mehr an einem bereits geschlagenen Gegner zu vergreifen. Sie blickten den Booten nach — und in einem dieser Boote konnten sie deutlich den großen, knochigen Mann mit dem feuerroten Haarschopf erkennen. Patrick Red Fox Killarney schüttelte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. Der Seewolf ahnte in diesen Sekunden, daß er dem rothaarigen irischen Banditen nicht zum letzten Male begegnet war …
ENDE