L U X
H I S T O R I S C H E
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Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
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L U X
H I S T O R I S C H E
R E I H E
Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
Heftpreis 75 Pfg.
LUX HISTORISCHE REIHE bringt in fesselnder Darstellung, plastisch und farbig, Zeitbilder und Szenen aus dem großen Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Menschen, Völker, historische Schauplätze und Landschaften aus allen Zeitaltern der Vergangenheit erstehen in bunter Folge vor dem Auge des Lesers. Geschichte wird hier zur lebendigen Gegenwart. Jedes Heft gibt ein abgerundetes und in sich abgeschlossenes Bild des dargestellten Zeitraumes. Titel der ersten Hefte: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Sphinx am Strom Priester und Magier Götter und Helden Die Griechen Die Perserkriege Die Tempel Athens Alexanderzug Pyrrhus — der Abenteurer
9. 10. 11. 12. 13. 14. 15.
Hannibal Untergang Karthagos Marius und Sulla Kaiser ohne Krone Das Goldene Rom Die ersten Christen Hadrian und Marc Aurel
Titel der folgenden Summern: Oaesaren und Soldaten Germanenzüge Die Hunnenschlacht Die Mönche von Monte Cassino Der Prophet Allahs Karl der Große ' Heiliges Römisches Reich Kaiser und Päpste Die Kreuzfahrer Friedrich Barbarossa Die Hohenstaufen Bürger und Bauern Die Humanisten Der Schwarze Tod Die Renaissance Neues Land im Westen Fahrendes Volk Kitter und Landsknechte
Kaiser der Welt Der Große Krieg Der Sonnenkönig Ruf übers Meer Der Preußenkönig Rokoko Im Schatten der Bastille General Bonaparte Kaiser Napoleon Kongreß in Wien Eiserne Straßen Der vierte Stand Verschwörer und Rebellen Sieg der Technik Bismarck Die rote Revolution Demokratie und Diktatur
und viele weitere Hefte. LUX HISTORISCHE R E I H E bringt jedes Heft mit farbigem Umschlag, Illustrationen, Geschichtskundlichen Landkarten, Anmerkungen und Zeittafel. VERLAG SEBASTIAN L U X - M U R N A U VOR MÜNCHEN
LUX
HISTORISCHE
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OTTO ZIERER
HADRIAN UND MARC AUREL PHILOSOPHEN AUF DEM RÖMISCHEN K A I S E E T H R O N
VERLAG SEBASTIAN LUX • MÜRNAU • MÜNCHEN • INNSBEUCK • ÖLTEN
EINFÜHRUNG Das Mittelmeer ist in der Zeit des Kaisers Augustus zum römischen Binnenmeer geworden. Über die drei Halbinseln, die in das Meer ragen —• über die spanische, italische und griechische Halbinsel —, und den Küstengürtel ringsum herrschen die kaiserlichen Adler. Vom „Römischen Meere" aus greift der Herrschaftsraum Roms nach Nordwesten bis zum Ärmelkanal, nach Osten bis ins Zweistromland und in Ägypten bis zum ersten Katarakt des Nilstroms. Rom, die Kaiserstadt am Tiber, ist der wirtschaftliche, politische und geistige Mittelpunkt des Hundertmillionenreiches. Auf ewig scheint der Friede gesichert. Grenzkämpfe in den entlegenen Randprovinzen berühren die Völker der Reichsmitte nicht, wie Palastrevolutionen, höfische Intrigen, ja Kaisermorde kaum über die römische Bannmeile hinaus wirken. Als das erste Jahrhundert nach Christus zu Ende geht, erhebt sich das Kaisertum Roms erneut zu augusteischer Größe. Indem die Kaiser nicht mehr die leiblichen Erben, sondern durch Adoption die Besten unter den Bürgern, Staatsmännern und Feldherm zu Thronfolgern bestimmen, erstrahlt das Imperium noch einmal im Glänze ruhmreicher Herrschergestalten. Trajan ist der erste der Adoptivkaiser. Als er dem Tode geweiht ist, bestimmt er seinen bewährten Kampfgefährten, den Statthalter in Antiochia, zu seinem Nachfolger. Am 9. August des Jahres 98 hält der Feldherr Älius Hadrianus mit der Benachrichtigung vom Tode Trajans die Urkunde seiner Adoption in Händen. Hadrian, der 13. Nachfolger des Augustus, ist berufen, nicht wie Trajan Mehrer, sondern wie Augustus Hüter eines Weltreiches zu sein. 2
In dem luxuriösen Vorort von Antiochia, wo der Statthalterpalast liegt, drängen sich die fremden Gesandtschaften, die Prokonsuln und Statthalter, die Senatoren und Heerführer, um dem neuen Kaiser zu huldigen. Für den Morgen dieses Spätsommertages hat der Sekretär des Kaisers Einladungen ausgegeben, deren Dringlichkeit sie einem Befehl gleichsetzt. fiadrian wird über die Grundsätze sprechen, die ihn als Herrscher leiten werden. Die Sitzung ist wegen der Hitze sehr früh am Morgen angesetzt; unter den Palmen des Schloßplatzes fahren seit einer halben Stunde Viergespanne und Reisewagen vor, eine Gruppe von hohen Offizieren trifft zu Pferde ein; der alte Attianus, der ehemalige Vormund Hadrians, läßt sich von einem Seitenflügel des Palastes in einer Sänfte herübertragen. Die Geladenen versammeln sich in einem kühlen, nach griechischem Vorbild gebauten Peristyl, einem viereckigen, schattigen Säulenumgang, der einen kleinen mosaikbelegten Hof einschließt. Dort plätschert in silbernem Strahl Quellwasser in das Becken aus Lapislazuli, seltene Blumen, Topfpalmen und kostbare Vasen stehen am Brunnenrande. Um das grelle Sonnenlicht abzuhalten, ist der Innenhof mit weißem Segeltuch überspannt. Da der Cäsar noch nicht zu erwarten ist, haben sich die Generäle und Politiker auf den Ruhebetten niedergelassen, eine Gruppe steht vor einer großen, an der Wand des Peristyls aufgespannten Landkarte und bewundert die saubere Zeichnung. Senator Sosius Papus, der zum Freundeskreis des Kaisers gehört und als Jüngling in Athen studiert hat, erklärt den Offizieren Zweck und Anlage der Karte. Es ist eine Erddarstellung nach den Angaben des berühmten Astronomen und Geographen Claudius Ptole3
maus1 aus Alexandrien, dessen Buch „Geograpbia" kürzlich erschienen ist. „Der neue Cäsar Hadrianus", meint Lusius Quietus, dessen weiter, weißleuchtender Berbermantel seltsam fremdartig gegen die Harnische der Römer absticht, „der neue Cäsar soll ja bis obenhin voll von griechischer Weisheit stecken. Aber ich habe noch nicht viel Rühmenswertes über seine staatsmännischen Gaben gehört!" General Palma, einer der ältesten und verdienstvollsten Offiziere des Heeres, rückt klirrend seinen Schwertgurt zurecht. „Bildung schadet zwar nichts", grollt er, „aber das Reich der Römer braucht zur Zeit keine Dichter, Philosophen und Gelehrten, sondern Heerführer, die kraftvoll durchgreifen. In Syrien und östlich des Libanon stehen die rebellierenden Juden immer noch unter Waffen, Nordafrika ist im Aufstand, und an der Donaugrenze rühren sich die Barbaren2. Ich bin gespannt, wie Hadrian diesen Aufgaben zu Leibe rücken wird." „Graeculus, Griechlein, nennen sie ihn", spottet Präfekt Priskus, der ehemalige Oberkommandierende im Osten. „Alle seine Freunde sind Philosophen und Künstler ; als Generalstäbler hat er griechische Verse gekritzelt, während wir Marschbefehle schrieben!" Priskus wirft sich ächzend auf ein Ruhelager, ungeniert ruft er nach Wein. Dann wendet er sich wieder zu Palma. „Man muß sich mit den Tatsachen abfinden. Im Augenblick ist es unnütz, gegen den Strom zu schwimmen, nachdem der Senat bereits feierlich den neuen Cäsar bestätigt und vor allem, nachdem die Legionen seine Erhebung begeistert begrüßt haben. Es ist mir unerklärlich, warum die Truppen hinter einem solch unsoldatischen Cäsar stehen." Palma winkt dem Sklaven, der Erfrischungen herumreicht. „Sie lieben ihn seit den Kriegen gegen die Daker", sagt er achselzuckend, „damals hat sich das Griechlein nicht übel bewährt." In diesem Augenblick betritt Sueton3, der Sekretär des neuen Kaisers, begleitet von einigen Hofbeamten, die Halle. „Der Imperator Cäsar Älius Hadrianus!" ruft Sueton mit lauter Stimme. \
Hadrian ist einundvierzig Jahre alt, hochgewachsen, von kraftvoller Gestalt; ein kurzer Bart umrahmt sein klargeschnittenes Gesicht; Stirn, und Wangen sind gebräunt von der syrischen Sonne. Nach den üblichen Begrüßungsworten tritt der Cäsar an die ausgebreitete Länderkarte. „Senatoren, Heerführer und Statthalter!" beginnt er mit einer Stimme, der man die rhetorische Schulung anmerkt, „ich habe in den Wochen, seit ich vom Schicksal allzu jäh vor die Aufgabe der Reichsführung gestellt wurde, die künftigen Grundsätze der Beichspolitik überdacht und mit wohlunterrichteten Männern beraten. Ich habe mich zu einschneidenden Veränderungen unserer Zielsetzung entschlossen und bin gewillt, sofort die notwendigen Schlußfolgerungen aus der gegenwärtigen Lage zu ziehen. Ich hoffe auf die Unterstützung aller Behörden, Dienststellen und Ministerien. Einwände gegen die von mir vorgeschlagenen Grundsätze der Politik möge man sogleich an Ort und Stelle erheben. Manches wird für den Augenblick ungewohnt klingen. Daß sich trotzdem seine Berechtigung erweise, will ich hoffen." Die Generäle blickten einander fragend an. Was soll das? Die Zukunft liegt doch völlig klar vor dem Nachfolger eines Trajan! Was der große Eroberer und Mehrer des Reiches begonnen hat, die Unterwerfung des Ostens, den Vorstoß nach Innerpersien und vielleicht nach Indien, die harte Züchtigung aller Rebellen und die Bestrafung der aufsässigen Provinzen •—all das muß doch auch die nächste Aufgabe sein, die Trajans Erbe zu erfüllen hat. Die Legionen verlangen nach Beute, die Generäle nach Auszeichnungen und Beförderungen, die Senatoren und Beamten nach neuen Wirtschaftsräumen für ihre persönliche Bereicherung — was bedarf es der langen Erklärungen? Hadrian wendet sich zur Karte und spricht weiter, indem er jeweils die erwähnten Gebiete aufzeigt. „Wir haben versucht, in die volkreichen und gut verteidigten Gebiete der Parther vorzudringen; die Legionsadler sind über Euphrat und Tigris hinaus bis zu den armenischen Gebirgen, bis in die iranischen Tafelländer gezogen, man kennt jenseits unserer natürlichen Grenzen Roms Kraft und Größe. Laßt uns deshalb der Menschheit ein Beispiel der Mäßigung geben und auf dem Höhepunkt der Macht freiwillig Verzicht leisten! Ich bin entschlossen, dem 5
parthischen König die Länder Armenien, Mesopotamien und einen Teil Syriens zurückzugeben — freiwillig und in Freunschaft zurückzugeben!" Einen Atemzug lang scheint die Versammlung erstarrt, als erster faßt sich Quietus. Unbeherrscht springt er auf. „Älius Hadrianus — Vergebung: Cäsar Imperator", ruft er, „das ist unmöglich! Was die Legionen unter größten Opfern erobert haben, was der vergöttlichte Trajan erworben hat, willst du in der ersten Stunde deiner Herrschaft fortschenken? Du scherzest, Cäsar!" Hadrian lächelt. „In Regierungserklärungen pflege ich nicht zu scherzen! Aber ich wußte, daß mich einige von euch nicht begreifen würden. Staatsführung fordert mehr als Legionsführung . . . Gut, nehmen wir an, Rom gelingt es, durch die Gewalt seiner Waffen, seiner augenblicklichen militärischen Überlegenheit die eroberten Gebiete festzuhalten. Was erwerben wir denn? Einen ewigen Unruheherd, den Haß freiheitsliebender Menschen und einen Abgrund von Sorgen, in den wir auf Jahrzehnte unsere Steuergelder, unsere Volkskraft und unsere Hilfsmittel werfen müßten. Ist der Haß von Unterdrückten damit nicht zu teuer bezahlt? Und was wäre dann, wenn Rom einmal von anderen Völkern angeriffen würde, wenn uns die Wellen des Sturmes in der tunde der Schwäche träfen? Die Geschichte erweist, daß keine Macht für ewige Zeiten stark bleiben kann. Laßt uns heute schon an diesen Tag denken, laßt uns ein kleineres, aber gesichertes Imperium erhalten, anstatt ins Maßlose und damit in den eigenen Untergang zu wachsen!" „Nur in der Beibehaltung unserer alten Politik", ruft Präfekt Priskus in zorniger Erregung, „nur in jener Politik, die Rom von den Tiberhügeln bis zu den fernsten Küsten geführt hat, nur in der Eroberung und im Erwerben liegt Roms Schicksal. AVenn das Imperium aufhört zu wachsen, wird es anfangen zu schwinden." „Es liegt in der Natur eines Ackers", erwidert Hadrian gelassen, „daß er in einer Zeit gepflügt, in einer anderen besät und wieder in einer anderen abgeerntet wird. Rom hat den Erdkreis lange genug mit Schwert und Pflugschar aufgerissen — nun mag es ans Säen denken!" Die Generäle wehren sich erbittert gegen den neuen Kurs, der dem Zugeständnis einer Niederlage gleichzukommen
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scheint. Nur einige Senatoren unterstützen Hadrians Ansicht. Sueton dirigiert unterdessen eine Anzahl von Schreibsklaven, die die einzelnen Reden niederschreiben. Senator Sosius Papus verschafft sich Gehör. „Es dürfte sicherlich ein einmaliger Vorgang in der Geschichte sein", sagt er, „daß ein auf der Höhe seiner Macht stehendes Weltreich auf den Preis eines siegreich geführten Krieges verzichtet; aber vielleicht sind die wirklich großen und weitblickenden Taten der Politik seltener als der vergängliche und billige Triumph, der meist nicht einmal die Lebenszeit des Siegers überdauert. Wir können mit dem König der Parther einen Handelsvertrag abschließen ! Er wird anstatt eines fortschwelenden, verlustreichen Krieges ungeheure, segenspendende Gewinne einbringen. Ich begrüße daher den Vorschlag des Cäsar Hadrianus." Der Kaiser nimmt wieder das Wort. „Nordarabien, das wichtige Verbindungsglied zwischen dem ägyptischen und syrischen Reichsteil, der Schlüsselpunkt zur Beherrschung der Handelsstraßen nach Indien, wird römische Provinz bleiben; die Grenzsicherung soll an Stelle der Eroberung treten." An Hand der Karte entwirft Hadrian ein Bild der neu zu schaffenden Lage. Die Städte Baalbek, Palmyra, Damaskus und Bosra werden die großen Durchgangsplätze für den Warenaustausch, die blühenden Märkte des Imperiums im Osten sein. Auf den Trümmern Jerusalems4, das wegen seiner Lage wie ein Sperriegel den Zugang nach Arabien, Mesopotamien und Ägypten beherrscht, muß eine starke römische Festung erbaut werden. „Damit werden sich die jüdischen Stämme niemals einverstanden erklären", ruft Lusius Quietus, der Statthalter Jerusalems. „Für die Juden der ganzen Welt bedeutet diese Stadt mit den Ruinen des Tempels eine heilige Stätte. Solange unsere Truppen dort stehen, wird ganz Israel unser Todfeind sein! „Trotzdem soll die Festung gebaut werden", entgegnet Hadrian kühl. „Man kann die Juden, denen sicherlich unrecht geschehen ist, anderweitig entschädigen. Vielleicht erlaubt man ihnen, neben der Festung ihren Tempel wieder aufzubauen. Es ist zu überlegen, ob man nicht auch die Provinz Dakien, jenes Land zwischen der Donaumündung und den 7
Karpaten, das der verewigte Kaiser dem Imperium angegliedert hat, den ursprünglichen Besitzern zurückgibt!" Wieder bricht ein Sturm der Empörung los, aberHadrian bewahrt seine unerschütterliche, fast liebenswürdige Ruhe. Nigrinus, der Statthalter Griechenlands, erklärt, daß die Preisgabe der dakischen Gaue die Abschlachtung der Tausende bereits dort angesiedelter Römerkolonisten zur Folge hätte, denn der glimmende Zorn der unterworfenen Barbaren werde nur durch die Gegenwart der Legionslager gebändigt. Die Provinzen an Donau, Save und Theiß erfüllten eine doppelte Aufgabe; sie brächten reiche Gewinne und sicherten zugleich Italien gegen die Barbaren. Diese Länder müßten auf jeden Fall unter römischer Kontrolle bleiben und ihre Grenzen gegen die Barbaren überall gestärkt und befestigt werden! „Die beste Sicherung", erwidert Hadrian, „ist der Abschluß von gerechten Verträgen, die von beiden Parteien gern und aus freiem Willen eingehalten werden. Aber der Forderung, daß die gesamte Grenze im Norden, also an Donau und Rhein, ja selbst im hohen Norden Britanniens militärisch gesichert werden muß, stimme ich gern zu. Aus der Zeit, da ich als Kommandeur unter Domitian an der Donau und später als Tribun in Germanien diente, weiß ich, daß die wirksamste Art der Grenzsicherung in der Anlage ausgedehnter Verteidigungswerke besteht. Der verstorbene Kaiser hat im Donaudelta den Trajanswall gebaut. Unsere Aufgabe wird es sein, diesen Festungsgürtel des Reiches dort fortzusetzen, wo keine natürlichen Verteidigungsstellungen, wie Gebirge und Ströme, vorhanden sind. Meine Techniker werden entsprechende Pläne ausarbeiten. Mit Sorge blicke ich auf die unnatürliche und unhaltbare Aufblähung der Heeresorganisation. Der göttliche Trajan hat die Zahl der Legionen auf mehr als dreißig erhöht, dreihunderttausend Soldaten müssen unterhalten werden. Beinahe ein Drittel des Staatshaushaltes wird von der Armee beansprucht. Das hat in manchen Provinzen zu weitgehender Zerrüttung der Finanzen geführt. Die Steuerrückstände, die als Schuldscheine der Privatpersonen oder Städte in der Staatskasse liegen, haben die Höhe von 900 Millionen Sesterzen6 erreicht. Eine derartige Verschuldung muß auf die Dauer die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Reichsteilen lähmen. Ich bin daher entschlossen, 8
Steuerrückstände und öffentliche Schulden mit dem heutigen Tage zu streichen. Die Schuldscheine werden bei der Totenfeier für Trajan als Weiheopfer zu Füßen seiner Ruhmessäule verbrannt werden. Der römische Bürger soll bewußt in ein neues Zeitalter eintreten." „Heil unserem Cäsar!" ruft Sosius Papus, „die Wirtschaft wird von einer Bergeslast befreit!" Hadrian kündigt mit einigen abschließenden Bemerkungen weitere Gesetze des öffentlichen und privaten Rechtes an, dann bittet er die Anwesenden, ihre Beschwerden oder Anfragen vorzubringen. Präfekt Priskus führt Klage, daß es den Werbern der Legionen immer schwerer falle, dem Reich genügend Rekruten zur Verfügung zu stellen. In Italien sei es fast ganz aussichtslos, Nachschub für die gelichteten Legionen aufzutreiben. „Die Tage der unbedingten Vorherrschaft der Stadt Rom neigen sich ihrem Ende entgegen", erwidert Hadrian. „Die Grundsätze, nach denen Äugustus Octavian einst das Imperium ordnete, daß nämlich Italien die militärischen, die Provinzen aber die finanziellen Lasten zu tragen hätten, bestehen nicht mehr. Germanien, Gallien, Spanien, Illyrien und Syrien sind unsere Hauptwerbeplätze geworden, und in vielen Legionen sind nur noch die Unteroffiziersund Offiziersstellen mit Italikern oder gar mit Römern besetzt. Das mag so bleiben, nur ist darauf zu sehen, daß die Truppen nicht mehr nach den gleichen Sprachen und Stämmen oder gar aus der gleichen Landschaft zusammengesetzt werden. Meutereien haben uns gelehrt, welche Gefahr national einheitlich zusammengesetzte Truppenteile sein können; es besteht immer die Möglichkeit, daß sie geschlossen zu den Aufständischen überlaufen." x „Und woher sollen wir unsere Rekruten nehmen?" fragt der alte Palma. „Viele Provinzen stellen als jährliche Steuer Jungmannschaften zum Militärdienst ab. Das soll auch künftig so bleiben. Wenn dieser Ersatz nicht genügt, muß man in den barbarischen Grenzländern zu Zwangsaushebungen greifen und die neuen Soldaten in andere Provinzen verschicken. Wir werden die Provinz Syrien mit Germanen, die Provinz Germanien mit Syrern und, wenn nötig, beide mit Galliern niederhalten. Wenn die Götter mein Gebet erhören, so soll eine Periode des Friedens und des inneren 9
Entfaltens auf den lauten Ruhmestag der Eroberung folgen. Das ist das Bild des Imperiums, das mir vorschwebt: An den beruhigten und gesicherten Grenzen stehen unsere Soldaten auf der Wacht, während im weiten Räume unserer Herrschaft Bauern, Kaufleute und Handwerker friedlich ihrer Arbeit nachgehen. Rom hat ein Weltreich geschaffen; jetzt ist die Stunde der Erfüllung gekommen, in der Rom allen Völkern seinen Segen bringt. Wenn ich am Ende meines Lebens sagen darf, daß ich diesem Zweck gedient und die reichen Mittel des Imperiums zu solchem Ziel gelenkt habe, dann will ich zufrieden sein und den ewigen Mächten reiche Opfer bringen." Einen Augenblick zögert Hadrian, als wolle er seinen Worten noch etwas hinzufügen, dann verläßt er in Begleitung Suetons die schweigende Versammlung. Schon in den folgenden Tagen ergeht eine Reihe von kaiserlichen Dekreten und Bestimmungen zur praktischen Durchführung der angekündigten Maßnahmen. Noch von Antiochia aus werden die üblichen bemalten Kaiserbilder, die zur Verehrung in den Tempeln aufgestellt und mit feierlichen Opfern begrüßt werden, in die Provinzen verbracht. Hadrian selbst reist über die Donauprovinzen nach Rom. Eine Verschwörung der entlassenen Generäle unter der Führung von Lusius Quietus wird niedergeschlagen, die Rebellen erleiden den Henkerstod. Das wichtige Amt des Kriegsministers, das mit dem Oberbefehl über die Leibwache und die Stadttruppe der Prätorianer verbunden ist, legt Hadrian in die Hände des Generals Similis, eines zuverlässigen Offiziers aus einem uralten römischen Geschlecht. Als Similis später das Amt, das er nur widerwillig übernommen hat, mit Genehmigung des Kaisers niederlegen darf und nach sieben Jahren friedlichen Landlebens stirbt, läßt er auf seinen Grabstein setzen: „Hier ruht Similis, der viele Jahre existiert — aber nur sieben gelebt hat!" * Der Kaiser hat das Unerhörte gewagt und die Lehren der Philosophie auf die praktische Reichspolitik angewandt; weder die Macht seines Amtes noch die schwindelnde Höhe des Reichtums haben ihn verblendet. Alle 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.03.03 07:23:58 +01'00'
Kraftströme des Kaisertums, alles Gold der Schatzkammern sollen dem Frieden und dem Glück der Völker des Imperiums dienen. Nachdem das Staatsruder auf den neuen Kurs festgelegt und die Regierungsämter zuverlässig besetzt sind, bricht Hadrian zum anderen Male mit allen Vorstellungen, welche die Welt bisher von einem römischen Kaiser gehabt hat. Seine Auffassung von cäsarischer Pflicht läßt ihn nicht im goldenen Palast Roms verharren, sondern befiehlt ihm, herabzusteigen in die dämmerigen Täler, in denen die Völker leben. Hadrian beginnt sein Imperium zu durchwandern... Er reist nicht mit dem üblichen Prunk und Luxus des göttlichen Cäsars, nicht umgeben von Garden und Hofstaat, ja, nicht einmal in den bequemen Wagen, wie sie die hohen Beamten und reichen Kaufleute benutzen, sondern er geht meist zu Fuß. Nur ein kleines Gefolge von Prätorianern, Ingenieuren, Künstlern und Verwaltungsbeamten begleitet ihn auf seinen Zügen durch Gallien und Germanien bis nach Britannien und wieder zurück nach Spanien und Nordafrika. Der Kaiser besucht Griechenland und weilt lange in der Stadt seiner Sehnsucht, in Athen. Kaum nach Rom zurückgekehrt, greift er abermals zum Wanderstab und inspiziert die ausgedehnten Küstengebiete Afrikas; später wendet er sich nach Kleinasien, Syrien, Judäa und Ägypten. Seiner Spur folgt ein leuchtender Strom von Segen. Neugegründete oder erweiterte Städte, zahllose Bauplätze für Brücken, Wasserleitungen und Tempel bezeichnen seinen Weg. Zwischen der Rhein-Main-Grenze und dem Donaugau läßt Hadrian den Limes6, den riesigen Grenzwall, gegen die Germanen ausbauen; im Norden Britanniens wird der Schottenwall verstärkt. * Im Frühjahr begibt sich der Kaiser wieder auf Reisen. Eine Anzahl von Wagen bringt ihn und sein Gefolge über die Via Appia nach Brindisi an der Südostspitze Italiens, wo ein Kriegsschiff bereit liegt. Bei windstiller See treiben die Ruderer die Galeere in vierundzwanzig Stunden über die Adria bis zu dem Hafen von Dyrrhachium-Durazzo in Albanien. Von dort aus setzt Hadrian seine Reise zu Fuß fort. 11
Von seinem Privatsekretär Sueton begleitet, durchquert er — immer dem langsameren Troß voraus — das gebirgige Epirus und das zerklüftete Makedonien. Diese beiden Provinzen galten früher wegen der zahlreichen Räuber als höchst gefährlich für Reisende; nun aber hat die römische Ordnung selbst diese Balkanschluchten befriedet, so daß der Kaiser ungefährdet seine Straße ziehen kann. Nach dreiwöchigem Marsch nähert sich der kaiserliche Inspektionszug dem Hebrusflusse, der durch zahlreiche Bäche gespeist wird. Weit hinter dem Kaiser und seinem Sekretär müht sich das Gefolge, Anschluß an den vorausgeeilten Augustus zu finden. Der Himmel wölbt sich wolkenlos über einsamen Tälern, dunkle Wälder treten dicht an das helle Band der gepflasterten Straße heran; nur selten wird die unberührte Abseitigkeit dieses Landes durch ein Landgut oder ein Dorf unterbrochen. Langsam steigt die Sonne über den Rand der Waldberge empor, als hinter den Wanderern Hufgeklapper laut wird. An der Biegung des Tales taucht ein Postkurier auf, der vermutlich mit Regierungsdepeschen zur nächsten Station unterwegs ist. Er sprengt in flottem Trab daher und führt am Leitseil ein zweites Pferd mit dem Felleisen. Wortlos, ohne einen Blick auf die Männer am Wegrande zu werfen, reitet er vorüber. Auf den Zuruf Suetons, wie weit es bis zur nächsten Poststation sei, zuckt er nur die Schultern und verschwindet gleich darauf jenseits der Hügelwelle. „Das nenne ich Eifer!" lacht Hadrian. „Der Mann will sicher Posthalter einer Regierungsstation werden." Sueton ist schlechter Laune; Hunger und Durst plagen ihn seit Stunden. Seufzend zieht er die Straßenkarte aus der Tasche. Als er einen Blick auf das farbig gezeichnete Blatt geworfen hat, hellt sich sein Gesicht auf. „Der letzte Meilenstein zeigte 120 Meilen bisByzanz. Wir müßten demnach gleich bei der Umspannstation ,Zu den bunten Tabernen' sein." Der Kaiser ist rüstig weitergegangen, jetzt hat er die Höhe des Hügels erreicht und winkt. „Voran, Sueton! Hier ist es ja, was dein Herz begehrt: Die Station hegt vor uns! Umspannstation und Übernachtungsplatz, wie auf der Karte vermerkt ist." 12
Aufatmend legt Sueton die Karte zusammen und eilt seinem Herrn nach. Der Postplatz ist eine Ansammlung von niederen Gebäuden und ausgedehnten Stallungen; auf dem weiten Vorplatz steht eine Reihe von hochrädrigen Karren, Menschen sind vor den Ställen beschäftigt, Pferde und Buckelochsen werden von Knechten ausgeschirrt und aus Eimern getränkt. Eben bringt ein Junge dem Kurierreiter ein frisches Pferd. Der Bote nimmt rasch einen Schluck aus dem Krug und galoppiert dann wieder davon, seinem unbekannten Ziel entgegen. „Hoffentlich", lächelt Hadrian, „trägt der Bursche nicht etwa die Mitteilung meiner bevorstehenden Ankunft, von irgendeinem Übereifrigen verraten, in die Städte, die wir besuchen wollen." Sie nähern sich der Taberne. Als sie den lärmerfüllten, von Menschen und Tieren belebten Platz erreicht haben, erblicken sie inmitten der Karren eine Gruppe debattierender Männer, von denen einer der Wirt zu sein scheint, während die anderen Legionärsuniform tragen. Die Soldaten verhöhnen den empörten Insassen einer vornehmen Reisekutsche, während der Wirt zu vermitteln trachtet. „Ich verlange Quartier!" schreit der Reisende, „darauf habe ich Anspruch, denn ich bin ein schwerkranker Mann. Und ich schwöre bei Mithras 7 , daß ich hierbleiben werde; wer mich daran hindert, wird von meinem Freund, dem Statthalter von Thrakien, zur Rechenschaft gezogen werden." „Aber es geht wirklich nicht, mein Herr", beschwichtigt der Posthalter, „ich habe es schon einmal gesagt, daß wir hier eine staatliche Poststation haben, die nur für den amtlichen Verkehr eingerichtet ist; die wenigen Übernachtungsplätze stehen ausschließlich den kaiserlichen Beamten und Offizieren zur Verfügung. Da wir das Haus bereits besetzt haben, ist es unmöglich, Privatgäste aufzunehmen..." „Bezahlen wir Gutsbesitzer und Kaufleute die Steuern oder tun es die Beamten? Das frage ich dich!" Ein Offizier tritt aus dem Stationshaus, er scheint der Führer der militärischen Einheit zu sein, die hier Rast gemacht hat, denn die Legionäre weichen achtungsvoll zurück. Der alte, tiefgebräunte Kriegsmann tritt an die Kutsche heran, betrachtet verachtungsvoll den aufge13
regten Reisenden und fährt ihn an: „Die Station ist von uns belegt, pack dich davon!" „Halt, Centuriol!" mischt sich jetzt Hadrian ein und drängt sich zwischen den gaffenden Ochsentreibern und Soldaten durch. „Wie ich sehe, führt die Kolonne schweres Kriegsgerät, vermutlich mit der Bestimmung nach Odessa. Noch ist es Mittag, und die Gespanne haben gerastet. Der Transport kann also noch heute die Station Olbia erreichen, ich rate zur Weiterfahrt." „Bist du vom Dämon besessen, daß du es wagst, mir einen Bat zu geben?" knurrt der Offizier und tritt drohend näher. Aber Hadrians gleichgültige Miene und sein kalter, ruhiger Blick machen ihn unsicher. „In gewissem Sinne ist es auch meine Sache", fährt der Kaiser fort, „wann die Ladungen ihren Bestimmungsort erreichen. Habe ich doch dem Statthalter in Odessa die Zusendung von Nachschub auf raschestem Wege versprochen. Da sieht man nicht gerne, daß unnütz getrödelt wird." Der Offizier ist sprachlos vor Überraschung. „Wer bist du, Mann?" „Ein hoher Beamter! Das mag dir genügen, mein Freund, ein Diener des Staates, der sich müht, seine Pflicht zu tun. Also erfülle auch du die deine, Centurio, und brich auf!" Es ist ganz still geworden, mißtrauisch blickt der Offizier auf den hochgewachsenen, majestätischen Mann; aber bevor er etwas erwidern kann, tritt Sueton an ihn heran und flüstert ihm ein paar Worte ins Ohr. Der Kolonnenführer erblaßt, streift noch einmal mit scheuem Blick den Kaiser, dann gibt er hastig die Befehle zum Weitermarsch. Die Legionäre gehen unmutig zu den Wagen, die Treiber nehmen die Leitseile auf, Joche werden auf die Nacken der Ochsen gelegt, die langen Peitschen knallen, und die Gespanne ziehen schwerfällig an. Staubend und lärmend rollt die Kolonne weiter. Der Posthalter, dem ein guter Verdienst entgangen ist, unterdrückt mühsam seinen Zorn. Da er sich nicht gegen den Fremden zu wenden wagt, hält er sich an den Besitzer der Kutsche. „Der Herr hätte in einer Stunde die öffentliche Taberne ,Zum Kamel' erreicht, dort wäre er so gut aufgehoben gewesen, als schliefe er daheim im eigenen Bett." Der Beisende lacht verächtlich. 14
„0 du Einfältiger! Es ist schade, daß Wirte niemals reisen; sonst würdest du, beim Jupiter, keine öffentliche Herberge empfehlen! Ich selbst fahre seit Jahren von einem Ort zum anderen und habe dabei meine trüben Erfahrungen gesammelt. Eben bin ich auf dem Wege nach dem Heilbad Anticyra am Golf von Korinth. Meine Ärzte haben mir die dortige Nießwurz empfohlen, auch soll die Milch der Kühe dort wahre Wunder wirken. Aber — um beim Thema zubleiben—ich will dir sagen, was die öffentlichen Herbergen in diesem gesegneten Lande sind: Spelunken für Eselstreiber und zweifelhaftes Gehöhter; die Türen haben keine Schlösser und sind nachts offen, damit die Diebe desto leichter das Gepäck durchsuchen können. Es fehlt auch die geringste Vorsorge für die Bequemlichkeit der Reisenden. Die Wirte sind Halunken, und die von dir gerühmten Betten haben die fatale Eigenschaft, bei Nacht zehntausend Beine und tausend Stacheln zu bekommen, so daß man glaubt, in einem Ameisenhaufen zu liegen. Ich kenne die meisten Herbergen zwischen Byzanz und Athen, aber nur wenige machen eine Ausnahme." „Da — sieh selber!" sagt er zu dem ihm unbekannten Hadrian, „hier neben meinem kleinen Schreibpult im Wagen war ein kunstvoller Geschwindigkeitsmesser von hohem Wert angebracht. Man vermochte auf einer Skala jederzeit die zurückgelegten Meilen abzulesen. Ich habe dieses Instrument für viel Geld in Chalcedon gekauft und nebst einer verstellbaren Ventilation in meine Kutsche einbauen lassen. Wo ist es hingekommen? Fort, gestohlen, in einer dieser räuberischen Herbergen entwendet!" Hadrian winkt den Wirt heran. „Ich brauche einen Raum, in dem ich ungestört ein paar Briefe diktieren kann. Schließe das Palatium auf!" Der Posthalter macht große Augen und kraut sich den Bart. „Aber Herr", sagt er, „das Palatium ist für ganz hohe Staatsbeamte, für den Statthalter selbst reserviert. Es ist mir nicht erlaubt, Fremde dort einzulassen." „Nun gut", erwidert Hadrian, „ich bin der Erste aller Statthalter. Dort auf der Höhe siehst du schon die Marschkolonne meiner Prätorianer. Und du, Sueton, mach dich bereit, ein Diktat aufzunehmen!" * 15
Wenige Minuten später sitzt Hadrian in einem Raum des Palatiums, jenes Anbaues, der seit Neros Zeit fast zu jeder größeren Poststation gehört. „Schreib, Sueton: Hadrian an den Präfekten der Verkehrsangelegenheiten in Rom. Wir wollen den Postverwaltern Anweisung geben, die unerfreulichen Zustände an den Straßen zu beenden. Wenn wir schon Pässe ausstellen, wenn wir staatliche Eilwagen verkehren lassen und regelmäßige Postumen unterhalten, so müssen auch Vorkehrungen für die Unterbringung der Reisenden getroffen werden..." Hadrian diktiert lange Anweisungen, befiehlt den Bau von Gasthäusern und Übernachtungsheimen für das gesamte, mehrere tausend Meilen umfassende Straßennetz des Imperiums. Sueton schreibt gewandt mit und läßt das Diktat später von einem Schreibsklaven auf Pergament übertragen. Dann übergibt er die gesiegelte Rolle dem Posthalter und Wirt. „Laß das kaiserliche Schreiben durch Eilkurier heute abend noch nach Dyrrhachium bringen! Der Kurier muß den Anschluß an das Postschiff nach Brindisi erreichen!" Hadrian, der sehr bescheiden lebt, weist das Festmahl zurück, das der aufgeregte Wirt zubereiten ließ. Er bittet nur um ein Glas Milch und etwas Brot, dann setzt er — wieder dem Gefolge voraus und begleitet von Sueton — seine Wanderung fort. * Gegen Abend nähert sich derr Kaiser dem Städtchen Orestia, einem schmutzigen, ärmlichen Ort am Hebrus. Am Geländer der hochgewölbten Steinbrücke, nahe dem Ortseingang, lehnt ein Müßiggänger in schmutziger, zerrissener Tunika. Prüfend mustert er die herankommenden Fremden. „Heil euch, römische Gebieter!" sagt er in holprigem Latein, „ist vielleicht ein Fremdenführer gefällig? Ich kenne die großartigen Sehenswürdigkeiten von Orestia, denn ich bin hier geboren, auch weiß ich alle heiligen Sagen, und wenn ihr wünscht, werde ich mit euch durch alle Götterhaine und Tempel gehen, die ausgestellten Opferund Siegesgaben erklären und..." „Genug, genug!" lacht Hadrian und reicht dem Aufdringlichen einen Silberdenar. Der Mann betrachtet die 16
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Münze mißtrauisch und enttäuscht. Diese Geldstücke aus Neros Zeit gelten für minderwertig, da Kaiser Nero das Metall mit Zinn und Kupfer hat mischen lassen. „Die Absicht ist gut", sagt der Fremdenführer mit saurem Gesicht, „aber die Münze mit dem Nero ist schlecht!" Hadrian zieht die Stirne kraus. „Die römischen Geldstücke, ob Kupfer, Silber oder Gold, werden in jeder Provinz zum gleichen Kurs genommen. Du wirst also deinen Denar wie jeden anderen loswerden." „Sage das nicht, Herr! Unser Steuereinnehmer, ein verfluchter Armenier, befiehlt uns, in gutem Gelde zu zahlen, er nimmt keinen ,Nero'. Aber dann wechselt er die eingegangenen Summen in griechische Drachmen und Neros um, weil sie auf den Märkten von Byzanz etwas niedriger gehandelt werden, und behält den Überschuß für sich." „Sueton", sagt der Kaiser, „ich glaube, ich werde dir heute noch einige Schreiben diktieren müssen...!" * Wenige Stunden später trifft das Gefolge ein. Nun spricht es sich schnell herum, daß der Kaiser in der Stadt weilt. Vor dem Gasthaus drängen sich die Bürger und bringen Ovationen dar, der Eat und die Beamten erscheinen zur offiziellen Begrüßung. Hadrian hat beschlossen, auch dieser Stadt wie so vielen anderen auf großzügige Weise zu helfen. Ingenieure und Sachverständige entwerfen Pläne. Die Stadträte sind vor Überraschung sprachlos, als sie hören, daß das kleine, schmutzige Orestia eine Wasserleitung, Theater, Stadion und einen Tempel erhalten soll. Sie vernehmen voll Ehrfurcht, daß Techniker und Arbeitskolonnen aus entfernten Provinzen heranbeordert werden sollen. In ihrem Glück und um dem Kaiser ihre Dankbarkeit zu zeigen, bitten sie um die Genehmigung, den neuen Tempel dem „Göttlichen Hadrian" weihen zu dürfen. Doch der Kaiser lehnt ab. Und als keine Einigung zustande kommt, wer von den Göttern, Mithras, Jupiter oder Isis8, den Vorzug verdiene, entscheidet Hadrian wie schon andernorts, daß ein schlichtes Gotteshaus ohne Götterbild, nur der Andacht und Erhebung dienend, dem „Unbekannten Gott" geweiht werden soll. 18
Zum Andenken an den Kaiserbesuch beschließt der Rat, Münzen schlagen zu lassen, die auf der einen Seite das Bild der Stadt und die Schrift „Goldenes Zeitalter" und auf der anderen Hadrians Kopf mit der Umschrift „Bereicherer der Welt" tragen sollen. Der Name von Orestia wird mit Genehmigung des Kaisers in „Hadrianopolis", Adrianopel', umgeändert. * Inder „Hauptstadt des Geistes"—im klassischen Athen, das der Kaiser unablässig mit neuen Bauten schmückt und dessen Tradition als Heimat der Künste und Wissenschaften er zu erneuern trachtet — weilt Hadrian am liebsten. Immer wieder kehrt er dorthin zurück und verbringt seine Tage in der Gesellschaft von Bildhauern, Architekten, Dichtern und Philosophen. Annius Florus, den Historiker, Poeten und Freund aus früherer Zeit, fordert er auf, ihn auf seinen ausgedehnten Fußwanderungen zu begleiten, aber der an die Bequemlichkeiten der Großstadt Gewöhnte lehnt ab: „Nimmer will ich sein der Cäsar, Nicht durchwandern Barbareien, Nicht den Frost der Wildnis leiden..." Hadrian zahlt mit gleicher Münze heim und schickt dem Dichter ein Pergament mit Spottversen: „Nimmer will ich sein der Florus, Nicht durchwandern die Tabernen, Hocken nicht in schlechten Küchen, Nicht den Stich der Fliegen leiden..." Musikalische Feiern im wiederhergestellten OdeionTheater, Besichtigungen der Bauplätze am großartigen, von Hadrian gestifteten Riesentempel des Olympeions füllen die Athener Tage. Sogar die Panathenäen, das uralte Fest zu Ehren der Göttin Athene, werden erneuert, und Hadrian, der hier nichts anderes sein will als Grieche unter Griechen, schreitet im Festzuge unter den Ratsmännern der Stadt. In Athen beschließt der Kaiser die Reise ins Wunderreich Ägypten; denn von jeher zieht es den Griechengeist zu dem uralten, rätselhaften Land am Nil. Diesmal reist Hadrian mit größerem Gefolge. Seine Gemahlin Sabina mit ihrem Hofstaat, eine Anzahl gelehrter Freunde und viele Beamte begleiten ihn. 19
Unter den Gefährten befindet sich auch der götterschöne Jüngling Antinous, der dem Herzen des Cäsars wegen seiner wahrhaft hellenischen Heiterkeit seit langem nahesteht. Die „Isis", ein ägyptischer Großsegler, ist nach dem Piräus, dem Hafen Athens, beordert, um die kaiserliche Reisegesellschaft an Bord zu nehmen. Schwerbäuchig biegt der Dreimaster in seiner imponierenden Länge von 180 Fuß und mit seiner gewaltigen Tragkraft am Kai vertäut. Der geschnitzte Bug mit dem Bilde der ägyptischen Göttin Isis ist mit Blumenkränzen umwunden, und bunte Tücher flattern von den Masten. Das Schiff, das bis zu tausend Personen aufnehmen kann, bietet alle Bequemlichkeiten für die Überfahrt. Zugleich führt es in seinen Laderäumen normale Fracht: Leinwand, Tongeschirr, Waffen und öl; auf der Herreise hatte es Pfeffer, Papyrus und 400000 Scheffel Weizen nach Athen gebracht. * Dreihundert Stadien9 vor der ägyptischen Küste leuchtet ein tiefstehender, roter Stern aus der blauen Nacht, das Licht des Leuchtturmes Pharus, das den Schiffern als Richtpunkt dient. Beim Morgengrauen sieht man die dunklere Färbung des Wassers, in das sich hier die Nilfluten mischen — Alexandria kommt in Sicht. Rauschende Empfänge ermüden den Kaiser. Bald enteilt er in die westliche Wüste zur gefährlichen Löwenjagd. Die Freude am Abenteuer und der Reiz der Wüstenlandschaft haben von der Seele des Kaisers Besitz ergriffen, und nur mit Mühe ist er zu bewegen, die geplante Nilreise anzutreten. Mit prachtvollen Fellen geschmückt und mit Blumen bekränzt, unter seidenen Sonnensegeln ziehen die kaiserlichen Barken den Nilstrom aufwärts. Vom Deck aus senden die Jäger ihre Pfeile und Speere ins Papyrusdickicht, wo zu Millionen die Sumpfvögel — die Ibisse, Reiher und Flamingos — horsten, neugierig drängt sich alles an der Reling, wenn Flußpferde die plumpen Riesenhäupter aus den schwarzen Fluten heben oder Krokodile sich träge ins Wasser wälzen. An den Ufern liegen niedrige Bauernhütten unter hochschäftigen Palmen, Weizenfelder wogen, und Schöpfwerke pumpen das kostbare Wasser weit ins Uferland. Eigen-
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artige, aus irdenen Töpfen und luftgefüllten Ziegenhäuten zusammengesetzte Flöße treiben vorüber, und plötzlich tut sich der Blick in eine lotosbedeckte Bucht mit dem erhabenen Wunderbau eines Felsentempels auf — majestätisch und erschütternd durch die Stille, mit der er im Arm der Jahrtausende ruht. Hadrian schreitet durch die alte unterägyptische Hauptstadt Memphis, durch die endlosen Galerien der verfallenen Königsstadt; alle irdische Größe ist dahingegangen. Selbst das fiamesseum — das Gigantenwerk einer versunkenen Zeit — ist geplündert, um Alexandria zu erbauen und zu schmücken. Immer muß das Alte fallen, damit das Neue wachsen kann. Wie vor Jahrtausenden betet dieses Volk seine heiligen Tiere an, Katzen, Krokodile und den Stier Apis. Priester weissagen Hadrian, daß ihn nur das Opfer eines geliebten Menschen vor Unheil bewahren könne. Die weitere Nilfahrt verläuft unter dem Schatten dieser Schicksalsdrohung. Dieses Land mit seinen Riesentempeln, mit den fremdartigen und verschlossenen Königsfiguren, den schweigenden Felsengräbern, den himmelragenden Pyramiden unter rotglühendem Firmament und den rätselhaften Antlitzen der Sphinxe ergreift alle Gefährten des Kaisers mit zwingender Gewalt. Roms Macht und Hoheit wird klein und gering angesichts der Jahrtausende dieser Kultur; hier wirkt ein höheres Gesetz, das man nicht mit Legionen oder Flotten zu erschüttern vermag. Ein Hauch von Ewigkeit, die Nähe furchtbarer und unbewegter Götter weht die Fremden an. Der Kaiser befiehlt einen Ausflug in die nahen Gebirge, er will die kaiserlichen Domänen besichtigen, die dort liegen. Rhammius Martialis, der Präfekt Ägyptens, zieht die Stirne in Falten, als er die nötigen Anordnungen trifft; denn die Porphyrbrüche am Mons Claudianus sind eine Hölle für die dort arbeitenden Verbrecher. Lebenslänglich Verurteilte oder vom Tode Begnadigte, auch viele Christianer arbeiten dort am roten Feuerberge unter glühendem Wüstenhimmel und brechen die Steine, aus denen Roms Paläste erbaut werden. Die Verurteilung zu den Bergwerken bedeutet einen langsamen, qualvollen Tod. Kamelreiterabteilungen der römischen Besatzungstruppe geleiten den Kaiser; man hat in den Wüstengebirgen nicht 21
nur die Angriffe räuberischer Araber, sondern auch verzweifelte Aufstände der Häftlinge zu fürchten. Dann steht Hadrian in den Steinbrüchen, er sieht die nackten, ausgedörrten Gestalten in der Gluthitze meißeln und in geballten Trauben an den Seilzügen hängen, und er bemerkt die stachligen Peitschen am Gürtel der Aufseher; erschüttert wendet er sich ab und diktiert dem Rechtsgelehrten Salvius Julianus, der seit langem an einer „Gesetzesvorläge zur Rechtsverbesserung" arbeitet, eine Reihe von Entwürfen, die dazu dienen sollen, den Gesetzen ihre Grausamkeit zu nehmen. Dann wieder berät Hadrian handelspolitische Verbesserungen. Die Karawanenwege, die von den Häfen des Roten Meeres die indischen Waren bringen, sollen ausgebaut werden; noch unter Trajan ist der alte Kanal10 des Pharao Necho, den Darius erneuert und Ptolemäus Philadelphus vollendet hatte, wieder ausgeschachtet und dem Verkehr übergeben worden. Jetzt passieren jährlich 120 große Lastsegler den Nilkanal. Möglichkeiten der Verbreiterung und Vertiefung des Kanals werden besprochen. Auf seiner Barke diktiert Hadrian die Erlasse, nach denen neue, gemauerte Straßen, Kanäle und Hafenplätze erbaut werden sollen. Das Füllhorn fließt über, wohin dieser Kaiser auch geht; es ist wahr, was auf den Denkmünzen steht: „Hadrian, der Bereicherer des Menschengeschlechtes." Noch immer hängt über dem Haupte des Kaisers die Prophezeiung von' Memphis; auch die Astrologen des Hofes verkünden, daß eine verderbliche Konstellation der Gestirne den Tod Hadrians oder eines seiner nächsten Freunde oder Verwandten fordere. In hundert Nächten hat Antinous, der den Kaiser in tiefster Verehrung liebt, mit den Göttern gerungen; aber er fand keinen anderen Ausweg, als sich selbst dem Spruch des Schicksals zu unterwerfen. In einer Sternennacht, als die Barken zwischen Papyrusdickichten dahinstreichen, als die Sichel des Mondes tief über den Palmenhainen des Ufers hängt, hebt Antinous noch einmal die Hände betend zu den unerbittlichen Mächten. Dann läßt er sich leise in die Fluten des Stromes gleiten. *
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Hadrian, der den Opfertod seines Freundes ahnt, ist wie rasend vor Schmerz, dann versinkt er tagelang in tiefste Schwermut. Er läßt eine prachtvolle Totenfeier richten, umschreitet selbst mit den höchsten Eeichsbeamten den Holzstoß, auf dem die Leiche aufgebahrt ist. In der Nähe der Unglücksstelle wird die prächtige Stadt Antinoupolis zum Gedenken des Jünglings erbaut. Wie Alexander von Makedonien seinen Gefährten Hephaistion, läßt auch Hadrian Antinous vergöttlichen, seine Idealgestalt durch Hunderte von Bildhauern immer wieder darstellen. Er schenkt damit der Kunst seiner Zeit ein Motiv junger, strahlender Schönheit, das noch einmal das heitere Gleichmaß des hellenischen Olymp aufschimmern läßt. Die Hofastrologen,,entdecken" den Stern des Antinous, des neuen Gottes, am nächtlichen Firmament.
* Mit kleinerem Gefolge reist der Cäsar durch Arabien nach Judäa und besucht dort die neugegründete Feste Aelia Capitolina in Jerusalem. Dann eilt er weiter nach Syrien, wo ihn die Botschaft von der Fertigstellung des Athener Olympeions erreicht.
* Das Ruderschiff gleitet über gähnende Abgründe, über Schluchten und Zacken dahin, die mit gläsernen Wassermassen ausgefüllt sind. Nichts sieht man von jener Unterwelt, die vom Meere bedeckt ist; die hölzerne Schale des Schiffes ritzt nur die Haut der See, das zerbrechliche Menschenleben, das sich in der Schale birgt, ahnt nur dunkel, über welcher Schreckenswelt es schwebt. Über dem Meer aber wölbt sich der Himmel, Wolken treiben dahin und sind wie Träume, die kommen und gehen und von denen nichts bleibt, es zu fassen und festzuhalten. Hadrian liegt unter purpurnem Sonnensegel an Deck des großen Staatsschiffes. Aus der Tiefe des Mitteldecks tönt das Pochen der Taktschläger, die den Ruderschlag begleiten, das Ächzen der Ruder und das Keuchen der Sklaven. An der Schiffsflanke rauschen die Wogen, und über das schlaffe, lateinische Segel ziehen kreischende 20
Möwen. Das Meer ist mit grünweißen Inseln bedeckt, hinter jeder Durchfahrt tauchen neue Eilande empor; die Horizonte sind unruhig und wirr, es ist als habe das Land ein weitmaschiges Netz über das Ägäische Meer gebreitet. Da die Windstille nur über dem Meeresspiegel herrscht, in den höheren Schichten aber ein stetiger Luftstrom nach West zieht, treiben die balligen Wolken als eilige Segler über dem Schiff dahin, überholen es und verschwinden am fernen Horizont. Wie die Wolken fliegen Hadrians Gedanken der langsamen Fahrt der Galeere voraus; Ungeduld und Sehnsucht tragen sie auf Zauberschwingen zur Heimat der Seelen: nach Griechenland. Was ist das für eine seltsame Bestrickung, die von diesem Land ausgeht? Warum zieht es die Gebildeten immer wieder an die Stätte, die seit einem Jahrhundert nur Schatten und Schemen birgt? Griechenland ist nicht viel mehr als ein totes Land, ein verarmtes, entvölkertes Gebiet, auf dessen Trümmerstätten ein Geschlecht von entarteten Nachfahren haust. Der Kaiser erinnert sich der Klage des vor wenigen Jahren verstorbenen Plutarch, daß ganz Griechenland heute kaum in der Lage sei, so viele Schwerbewaffnete aufzustellen, als in den Glanzzeiten die kleine südgriechische Stadt Megara allein ins Feld geschickt habe. Der erste größere Besuch Hadrians in der Provinz Achaia — wie das Vaterland der Künste und Wissenschaften heute heißt — hatte diese Ansicht bereits bestätigt; er fand damals ein herabgekommenes Land, das neben zahlreichen ärmlichen Dörfern nur noch in etwa hundert Orten städtisches Leben aufwies. Einzelne Gebiete waren völlig verödet, beinahe menschenleer. Auf den Trümmern des einstmals großartigen Theben fristeten nur wenige Hirten und Bauern mühsam ihr Leben, in den Ruinen der thebanischen Stadtburg Kadmea lebten verwilderte Bettler. Nur über Athen lag noch ein Abglanz der alten Schönheit. Vor sieben Jahren, als Hadrian zum erstenmal nach Griechenland gekommen war, hatte das Volk den Kaiser wie einen „Gott und Neugründer" empfangen, erhoffte es sich doch von dem Verehrer hellenischen Geistes eine durchgreifende Verbesserung seiner wirtschaftlichen und politischen Zustände. 24
Und Hadrian hatte die Hellenen nicht enttäuscht. Er befahl, die Stätten wieder zu errichten, die durch das Erdenleben der großen Männer geweiht waren. Auf seinen Befehl entstand im südöstlichen Teil Athens die neue Hadrianstadt; um den Mittelpunkt des olympischen Zeustempels, der von hundertzwanzig gewaltig aufragenden prunkvollen Säulen umgeben war, reihten sich zahlreiche Prachtbauten, eine Bibliothek und ein Gymnasium mit Säulen aus gelblichem, geädertem Marmor ; eine gewaltige Wasserleitung führte dem erneuerten Athen das Quellwasser des Kephissos zu und nahte sich im erhabenen Schritt ihrer Bogen der wiederbelebten Stadt. Jahrelang wurde an diesen Plänen geschafft. Nun aber sind der mächtige Olympeion-Tempel und der größte Teil der Bauten vollendet. Athen ruft Hadrian...!
Im Norden der Stadt, schon vor den verfallenen Toren, wo sich das parkähnliche Gelände sanft zum Kephissostal hinabsenkt, liegt der einstige Bezirk der einst hochberühmten Athener Akademie. Die stattlichen Mauern, die den ehrwürdigen Platz ehemals umgaben, sind zum Teil niedergebrochen, Efeu und Ginster wuchern auf dem Schutt, auch die Gebäude des alten Gymnasiums, die Säulenhallen und Bäder, sind zu Ruinen geworden. Die uralten Platanen, unter denen vor einem halben Jahrtausend die großen Philosophen Piaton und Aristoteles wandelten, sind der Zeit zum Opfer gefallen. Vor zwei Jahrhunderten hat sie der Römer Sulla niederlegen lassen, um aus den Stämmen Belagerungsgeräte herzustellen. Nur einige wenige der Baumriesen sind in entlegenen Winkeln der verwilderten Parks stehengeblieben. Ein neues Geschlecht von Bäumen ist herangewachsen — auch wieder stark, kronengewaltig und knorrig —, und doch nicht vergleichbar jenen, unter deren Schatten sich einst die Philosophen und ihre Schüler lagerten, um von Gott, der Unsterblichkeit und der göttlichen Natur zu sprechen. Nachdenklich steht Hadrian auf den ungepflegten Wiesen, die sich zwischen den Baumgruppen breiten; schweigend wandelt er auf den verwachsenen Pfaden und ent25
deckt von Schlingpflanzen und Moos überzogene Marmorstatuen ; er steigt zum Kephissos hinab, wo sich lichtgrüne Teiche wie rätselhafte Augen öffnen. In Begleitung des Kaisers befinden sich der Athener Philosoph Polemon, der ausersehen ist, bei den bevorstehenden Feiern die Weiherede zu halten, und der junge Philosoph Demonax. Polemon ist bemüht, die mangelnde Pflege des Parkes zu entschuldigen. „Verzeihe die Nachlässigkeit, Imperator! In den letzten Jahren wurde an so vielen Plätzen Athens gebaut, daß für die Instandsetzung der Akademie keine Zeit und keine Arbeitskräfte blieben." Aber der Kaiser hört nicht zu; sein Auge umfaßt das verwilderte Gehölz, die blumenbedeckten Wiesenflächen und den schimmernden Teich, tief atmet er die Luft, die ihm gesättigt erscheint von der Atmosphäre einer großen Vergangenheit. „Zu denken, daß Piaton hier saß und mit Aristoteles debattierte! Daß Xenophon vielleicht an diesem Platz von den letzten Stunden des Sokrates erfuhr!" flüstert er. Dann wendet er sich an seine Begleiter — wie im Fieber überstürzen sich die Worte: „Von ewiger Dauer ist die Erde, die Lüfte stehen wie zu Anbeginn über Hainen und Quellen, die Natur ist unsterblich, nur die Menschen, die dem Dasein Bedeutung und Sinn gegeben haben, sind verschwunden. Sie, deren Gedanken das Ungeordnete geordnet, die Urgründe aufgedeckt und das Vergängliche ins Ewige erhöht haben, sie allein sollen spurlos vergangen sein? Können wir daran glauben, Freunde? Nein, das Unsterbliche lebt weiter und schwebt gleich kristallklarem Gewölk über dem Wechsel der Zeit. In uns atmet Piatons Gedanke, in uns dauert das Werk des Aristoteles; Perikles, Phidias, Euripides und Kleanthes leben in uns. An uns und unserem Willen liegt es, die großen Tage noch einmal heraufzuführen. Und es wird leicht sein, denn wir sind dem Zeitalter des Perikles und Piaton in vielem überlegen, weil wir im Besitze von Wissen sind, das jenen noch mangelte." Wie im Rausch spricht Hadrian, der Herr der Welt... „Stille, ihr Schatten! Eure Zeit kehrt zurück, die alte Welt steigt noch einmal herauf: denn ich will dem Sonnengott gleich das feurige Gespann des Tages zurückführen, 2G
auf daß es nach langer Nacht wieder Tag über Griechenland werde!" Dann zählt er auf, was bereits geschehen ist und was noch getan werden kann. Das Olympeion, ein neuer Mittelpunkt des Hellenentums, wird geweiht; ein Heiligtum des all-hellenischen Zeus soll errichtet werden. Um die Griechen auch wieder zu politischer Tätigkeit zurückzuführen, ist ein Parlament geplant, in dem alle Städte und Stämme vertreten sein sollen. Neugestiftete Olympische Spiele, die alle fünf Jahre die Griechen in Athen vereinigen, werden das Gefühl der Zusammengehörigkeit stärken. Großzügige Hafenbauten aber und die nach Athen verlegten Getreideund Keramikmärkte sollen den verschwundenen wirtschaftlichen Reichtum wiederbringen. Jeder Tag der Festlichkeiten in Athen ist mit Spielen ausgefüllt. Zunächst finden die altgebräuchlichen, hellenischen Sportkämpfe statt, die Wettrennen, olympischen Fünf- und Zehnkämpfe und die musischen Spiele. In den Tagen des Frühlingsmonats feiert Athen das große Götterfest, an dem der Kaiser den Sängern, Poeten und Malern die Preise zuerkennt. In schneeweißer hellenischer Tracht, als Künstler unter Künstlern, fühlt er sich glücklich inmitten einer erhabenen, geistigen Welt. Im uralten Dionysostheater unter dem Akropolisfelsen werden Komödien Menanders und seiner Zeitgenossen aufgeführt; die Schatten einer größeren Zeit steigen aus der Tiefe in die Gegenwart. Seit Tagen wird im neuerbauten Hadrianischen Stadion in Athen gehämmert; römische Theaterarchitekten und Maschinisten treffen die letzten Vorbereitungen für die erste große Tierhetze, wie sie in Rom zu den Volksbelustigungen gehören. Schon sind hohe und feste Bohlenwände vor den untersten Sitzreihen der Tribünen aufgerichtet, in der Sandbahn werden große Versenkungen ausgehoben, in denen die mechanischen Hebeeinrichtungen Platz finden sollen. Die lange Straße vom Hafen Piräus her wird von Menschenmassen gesäumt, denn dort rollen die schweren Gerätewagen mit den Käfigen der Bestien zur Stadt. Vier oder sechs Joche mit kräftigen Stieren sind vor jedes der 27
Gefährte gespannt, gewaltige Peitschen werden geschwungen. Wächter mit dreizackigen Spießen schreiten nebenher. Hinter den Gitterstäben der blockigen Holzkäfige sieht man Krokodile, Panther, Löwen, wilde Büffel, Hirsche, Eber und sogar indische Tiger, die wütend den Boden mit ihren Schweifen schlagen und von Zeit zu Zeit zornig an den Gittern rütteln. Einige der Bestien haben den wochenlangen Transport und die Seefahrt auf den Käfigschiffen schlecht überstanden; sie liegen halbtot in den Kisten und sind weder durch das Geschrei der Menge, noch durch Steinwürfe aufzuscheuchen. Die Matrosen erzählen, daß mehrere hundert wertvolle Tiere schon während der Seefahrt verendet seien. Athen, das bisher nur die sportlichen und musischen Wettkämpfe gekannt hat, wartet gespannt und mit heimlichem Schaudern auf das ungewohnte Schauspiel, das ihm die römischen Herren zu bieten gedenken. *
Zu Füßen der Akropolis, die einst das Athener Volk bei den Weihespielen des Äschylos, Sophokles und Euripides gesehen hat, lärmen mit unvorstellbarem Gepränge die römischen Circusspiele. Aber inmitten der grausamen Darbietungen erinnern die Schicksalsmächte den Friedenskaiser jäh an die Fragwürdigkeit alles irdischen Planens. Noch während der Einweihungsfeierlichkeiten des Olympeions erhält Hadrian die Nachricht, daß im Osten des Imperiums ein furchtbarer Aufstand ausgebrochen sei. Die jüdischen Freiheitskämpfer haben sich gegen die drükende Besatzungsmacht erhoben und rasen mit Feuer und Schwert gegen alles, was römisch und griechisch ist. *
Der kaiserliche Legat Julius Severus, der sich in Dakien und Britannien Kriegsruhm erworben hat, wird mit der Niederwerfung des Aufstandes betraut. In Cäsarea, an der Küste Palästinas, angekommen, ruft er das bisherige Oberkommando zusammen und läßt sich über die Lage unterrichten. Nur wenige hohe Offiziere sind in dem Saal der Stadtburg versammelt. Routenkarten mit maßstabloser Einzeichnung der Städte, Straßen und Gebirge liegen auf dem 28
langgestreckten Steintisch. Tineius Rufus, der ehemalige Prokurator Jerusalems, hat außerdem die im römischen Heer geltenden Unterweisungen für die Kriegsführung herbeischaffen lassen. Der Statthalter von Syrien, Publius Marcellus, der bisher den Oberbefehl in Judäa geführt hat, umreißt die Lage. „Wer die Ursachen der Volkserhebung in Judäa aufzeigen will", sagt er, „muß bis auf die Tage des Kaisers Tiberius zurückgreifen. Schon damals erwiesen sich die Juden innerhalb des Reichsgefüges als fremdes und widersetzliches Element, so daß sich Tiberius genötigt sah, gegen sie vorzugehen. Selbst als unter dem Kaiser Vespasian im Jahre 70 der berühmte Tempel zu Jerusalem zerstört und die Stadt in Trümmer gelegt worden war, beruhigte sich das Land nicht, der Volkszorn Judas schwelte unter der Asche fort. Wir haben sein verzweifeltes Aufflammen erlebt, als Trajan gegen die Parther kämpfte. Der Name des Feldherrn Lusius Quietus brennt heute noch blutig im Gedächtnis der Judenschaft. In der Folge hoffte das Volk, durch ein Wunder seines Gottes befreit zu werden. Da aber die Mauern der römischen Zwingburg Aelia Capitolina in Jerusalem immer höher und gewaltiger emporwuchsen, mußte das Volk Israel das Schlimmste erwarten und erhob sich in Angst vor der endgültigen Unterjochung." Der greise Legat Julius Severus unterbricht den Statthalter, nachdenklich blickt er auf die ausgebreitete Karte. „Ein gebirgiges und militärisch schwer zu eroberndes Land! Wieviel Truppen standen bei Ausbruch der Revolte in jüdischen Garnisonen?" „Die zehnte Legion", antwortet Tineius Rufus, „dazu einige Reiterabteilungen bundesgenössischer Truppen. Die unvollendete Burg Aelia Capitolina hatte noch keine Besatzung." Julius Severus wendet sich wieder an Marcellus. „Ein Überblick über die militärischen Ereignisse würde uns die Entscheidung darüber, was jetzt zu tun ist, sehr erleichtern." „Die Juden", meint der Statthalter Syriens, „müssen seit langem in den Felsenbergen entlang den Gebirgen Ephraim und Juda bis hinauf zum See Genezareth Verteidigungsgalerien, unterirdische Gänge und geheime 29
Waffenlager angelegt haben. Eines Tages fielen sie über Unsere schwachen Stützpunkte, über die verstreuten Abteilungen und die römischen und griechischen Siedler her und machten alles erbarmungslos nieder. Tineius Rufus rückte mit dem Hauptteil der zehnten Legion aus Cäsarea heran, mußte aber den fanatisierten und nach Zehntausenden zählenden Massen weichen. Mit Mühe rettete er einige eingeschlossene Besatzungen und wich an die Küste zurück. In dieser Not kamen wir dem Prokurator mit Teilen der vierten Legion aus Syrien zu Hilfe, wir mobilisierten ferner die im Küstengebiet stationierte dritte Legion — aber auch dieses Truppenaufgebot vermochte sich gegen die erbittert kämpfenden Scharen des Barkocheba nicht zuhalten." ,, Wer ist dieser Mann ? Ein Rabbi—ein Gesetzeslehrer— wie ich hörte?" „Barkocheba — das ist ein jüdischer Name und heißt ,Sohn des Sternes'! Der Hohe Rat der Juden hat den Rebellen nach seinen ersten Siegen öffentlich als den erwarteten Messias anerkannt." „Kenne sich der Höllenhund mit diesem Volke aus!" ruft der Legat. „Ich dachte, schon unter Kaiser Tiberius sei ein Messias erschienen!" „Die Juden warten von jeher auf einen Befreier", erklärt Rufus. „Alte Prophezeiungen haben ihnen die Geburt eines Erlösers verheißen. Der Messias, den du meinst, hieß Jesus Christus. Die Politiker Judas haßten ihn, weil er als Prediger, nicht als Krieger gekommen war und die Gewalt ablehnte. Dem Barkocheba laufen sie alle nach, denn er erstrebt die Befreiung mit den Waffen und — ich muß gestehen — bisher war ihm der Erfolg nicht versagt." „Der Feind steht mit seiner Hauptmacht nur zehn Meilen von hier?" fragt Julius Severus. „Der Ort heißt Bether, nicht wahr?" „Ja, es ist eine stark befestigte Stadt und beherrscht den größten Teil der Ebene Saron." Der Feldherr tritt an die offene Fensternische, deren heller Vorhang zurückgezogen ist und blickt in den Hof hinunter. Nach einer Weile geht er langsam an den Kartentisch zurück und verharrt mit aufgestützten Händen in nachdenklichem Schweigen. In plötzlichem Entschluß richtet er sich auf und winkt den Schreibsklaven, seine Befehle mitzuschreiben. 30
„Ich ordne hiermit eine grundsätzliche Änderung der Taktik an. Offene Feldschlachten sind zu vermeiden. Wir ziehen ein Netz von Kastellen, Kontroilinien und Durchgangsstellen über das Land, jedes Dorf wird verbrannt, die Bevölkerung auf den Sklavenmärkten in die Fremde verkauft, die Städte werden zerstört. Ich will den Rebellen die Zufuhren abschneiden, ihre Versorgung entscheidend stören und sie durch Hunger und Terror in die Knie zwingen." „Dazu werden die drei vorhandenen Legionen nicht ausreichen...", wagt Publius Marcellus einzuwerfen. Ohne den Einwand zu beachten, fährt Julius Severus fort: „Kraft kaiserlicher Vollmacht befehle ich, daß aus Arabien die zweite Legion, aus Ägypten die dritte Legion herbeigezogen wird. Reiterei der zehnten Legion ist bereits von Nordafrika her unterwegs, die siebente Legion ist angewiesen, einige Regimenter bereitzustellen." In diesem Äugenblick werden die Vorhänge des Eingangs zurückgeschlagen, die Offiziere am Portal springen auf, der kaiserliche Generaladjutant Älius Verus tritt in den Saal, hinter ihm erscheint die hohe Gestalt des Kaisers. Hadrian begrüßt die Überraschten und richtet dann ohne Übergang das Wort an die Legaten. „Mein Freund, es dürfte dir und deinen Offizieren bekannt sein, daß ich den Ruhm des Dichters Homer über den des Helden Achill und jenen des Aristoteles über den seines kriegerischen Schülers Alexander stelle. Krieg ist für mich keine billige Gelegenheit, Ruhm zu erwerben, sondern eine furchtbare Unterbrechung des Friedens. Dieser Kampf aber muß mit voller Härte geführt werden; denn wir verteidigen unser Lebensprinzip gegen ein anderes. Rom hat den Geist des Weltbürgertums von den Hellenen geerbt, römische Waffen haben vollendet, was griechischer Geist begann: die Vereinigung aller Völker, Rassen und Religionen unter dem väterlichen Dache eines Imperiums. Geistige Freiheit und Gewährenlassen der Menschen nebeneinander müssen dem Imperium als unantastbare Grundlagen erhalten bleiben, sonst zerfällt es in seine Völkerbestandteile! Der Geist unseres Jahrhunderts strebt von der Vielheit nationaler Eigenarten zur größeren Einheit römisch-hellenischer Kultur. An allen Küsten des Mittelmeeres und in 31
vielen Ländern der Barbarei spricht man unsere Sprache, schätzt man unser Recht und unsere Ordnung. Nur die Juden sind bemüht, aus dem Kreis der Völker des Imperiums auszubrechen. Das könnte uns gleichgültig sein, wäre nicht die außerordentlich bedeutsame strategische Lage der Provinz. Hierzulande vereinigen sich die Handelsstraßen Arabiens mit denen, die aus Babylon und Indien kommen; das Land liegt wie ein Sperriegel zwischen Syrien und unserem Hauptgetreidelieferanten Ägypten, an einer Stelle, die von jeher durch die orientalischen Binnenvölker — vornehmlich die Parther — bedroht war. Die Länder des Ostens drängen an das Mittelmeer, wir aber werden unsere Macht nur so lange erhalten können, als wir die alleinigen Gebieter im Wirtschaftsraume der gesamten Küstenländer sind. Es ist daher Selbsterhaltungstrieb, wenn wir keine Rebellen im Umkreis der Feste Aelia Capitolina dulden. Die Notwendigkeit zwingt uns, mit rücksichtsloser Gewalt den Aufstand so niederzuwerfen, daß eine Wiederholung der Rebellion nicht zu befürchten ist." Der Kaiser macht eine kurze Pause, dann fährt er fort. „Man hat mir gemeldet, daß sich die Christianer dem jüdischen Aufstande nicht angeschlossen haben und darum von den Leuten Barkochebas verfolgt werden. Man muß also dafür sorgen, daß bei der Behandlung der Gefangenen entsprechende Unterschiede gemacht werden. Im übrigen aber befehle ich meinen Truppen, hart und unnachgiebig durchzugreifen!" * Um die befestigte Stadt Bether wütet der letzte Kampf. Die Feldstellungen der Legionen, die das weite Land zwischen dem See Genezareth und Jerusalem zur Wüste gemacht haben, ziehen sich würgend um die Schar des Barkocheba. In der Burg von Bether tagt der Hohe Rat Israels, um ein letztes Angebot zur Unterwerfung, das von dem Legaten Julius Severus ausgegangen ist, zu beraten. Zwei Parteien stehen sich gegenüber. Der Rabbi Jochanaan spricht im Namen der Gemäßigten. „In einer Zeit, da uralte, mächtige Großreiche zu Provinzen des römischen Imperiums werden, kann ein kleines Land nicht eine unkluge, verderbliche Politik der starren 32
Isolierung treiben. Die anderen Völker des Weltreiches haben sich eingeordnet in diese übernationale Welt und haben zur Erhaltung des Friedens einen Teil ihrer Freiheit aufgegeben. Warum soll Israel verbluten, nur weil ein paar Fanatiker glauben, ohne diese viel zu teuer erkaufte Freiheit nicht leben zu können? Laßt uns Frieden mit dem Kaiser, mit der Übermacht der Welt machen...!" Zornige und empörte Zwischenrufe antworten dem Rabbi. Der Lärm legt sich erst, als sich der ehrwürdigste Mann dieses Rates, der uralte Ben Akiba, von dem man sagt, er habe noch in dem alten Tempel gebetet, erhebt. Ben Akiba wird von seinem Volke wie ein Heiliger verehrt. Er hat die in den Jahrhunderten angesammelten mündlichen Auslegungen und Überlieferungen, die Gesetze und Kommentare zu den heiligen Büchern gesammelt. Sein Buch „Mischna" gilt im Volke schon heute als ebenso ehrwürdig wie die uralten Schriften. W Ben Akiba hat zu Beginn des Aufstandes den Führer der Rebellen, den Makkabäer Barkocheba, feierlich als Messias begrüßt. Auch jetzt noch, in der Stunde des nahenden Untergangs, glaubt er an die Gottgesandtheit des Mannes, den er als König der Juden ausgerufen hat. „Rabbi Jochanaan, ich sage dir: Jahve, der Gott unserer Väter, der Moses aus Ägypterland geführt und der seine Hand tausend Jahre lang über dem Haupte seines Volkes gehalten hat, ist mächtiger als die Götzen aus Marmor und Holz, die sich die Heiden machen. Wir sind das auserwählte Volk des Herrn. Oder glaubst du, wir hätten uns ohne die Hilfe Gottes im Kreise übermächtiger Nachbarn zu erhalten vermocht, nur gewappnet durch unser Gebet, das wir zu Jahve sandten ? Jerusalem wird noch dauern, wenn der olympische Zeus und der römische Jupiter längst in Trümmern liegen, denn Jerusalem ist wie Gottes Werk gegenüber den Werken der Menschen. Nein -— Juda wird niemals aufgehen in anderen Völkern! Es ist zum Hüter des heiligen Altares bestellt, und Barkocheba, der Sohn Davids, ist gesandt, die alten Verheißungen zu erfüllen." Josua Ben Chanaja springt von seinem Sitz auf. Er war Parlamentär im römischen Lager und kennt die ungeheure römische Macht. „Seht von den Zinnen Bethers hinab in die Ebene Saron!" ruft er seinen Glaubensgenossen zu. „So weit das 33
Auge reicht, ist das Feld besät von den Zelten der Römer; täglich rollen Geschütze und Mauerbrecher von Cäsarea heran. Juda kann nicht siegen!" „Gott kann alles", entgegnet Ben Akiba. Die Alten nicken ihm zu. „Wenn Jahve will, stirbt morgen der Kaiser, oder es tut sich die Erde auf, das römische Heer zu verschlingen." „Das sind Träume, Ben Akiba. Heute geschehen keine Wunder mehr. Denkt daran, ihr Ältesten des Volkes, was vor den Mauern dieser letzten Zuflucht Judas mit unseren Brüdern und Schwestern geschieht! Wie Vieh treibt man sie auf die Sklavenmärkte; die Preise sind so sehr gefallen, daß man einen Mann so billig wie ein schlechtes Pferd verhandelt. In Gaza feilschen die Käufer aus aller Welt um die billige Menschen wäre aus Juda. Das Blut der Erschlagenen raucht auf der heiligen Erde der Väter, das blühende Land der Verheißung ist ein einziger Brandplatz." Schweigen lastet über der Versammlung, Barkocheba ist bleich geworden und preßt seine Faust um das Schwert. Josua Ben Chanaja fährt mit erhobener Stimme fort: „Kennt ihr die Pläne der Sieger? Juda soll ausgelöscht und für alle Zeiten vertilgt werden. Was Kaiser Vespasian begann, will man nun vollenden. Auf der heiligen Stätte des Tempels wird die Zwingburg vollendet, schon verteilt man das Land unter die Kömerkolonisten, den Israeliten aber wird man das Betreten der heiligen Stätte bei Todesstrafe verbieten. Unser Volk soll zerstreut, unser nationaler Mittelpunkt ausgelöscht und unser Gott durch heidnische Altäre geschändet werden. Wollt ihr, die ihr noch in letzter Stunde mildere Bedingungen vom Kaiser erlangen könntet, die endgültige Vernichtung des Judentums, seine Heimatlosigkeit für alle Zeiten?" Ben Akiba hebt seine Hände zum Himmel, als wolle er den Gott Abrahams beschwören. „Es gibt keine irdische Ewigkeit! Und sollte Jahve uns die Prüfung auferlegen, Jahrhunderte oder Jahrtausende fern der Heimat zu verleben, vom Zornwind des Herrn in alle Winde zerstreut, so bewahren wir den Gott der Väter in unseren Herzen, tragen ihn über die Straßen der Welt, bis wir wieder heimkehren können nach Jerusalem, der Hochgebauten Stadt. Solange Israel glaubt, wird es ein Volk auch in der Fremde sein; solange Juda seine Gesetze hält, wird es nicht vergehen." 34
Das Antlitz des greisen Gelehrten verklärt sich, als schaue er in ferne Zukunft. „Kettet die heiligen Schriften, bewahrt die Thora und den Talmud, Brüder! Wo immer in Tagen der Not zwei Israeliten einen dritten treffen, da weile Gottes Wort unter ihnen! Wenn uns eine grausame Welt der Heimat beraubt, flüchte dich, Tochter Zions, zurück zu dir selber und in den Arm des Herrn, deines Gottes!" Begeistert umringen die Männer des Hohen Rates den Alten, und gemeinsam sprechen sie die Worte des vierundfünfzigsten Psalmes, den David sang, als er verfolgt wurde. „Hilf mir, mein Gott, durch deinen Namen und schaffe mir Recht durch deine Gewalt! Gott, erhöre mein Gebet, vernimm den Schrei meiner Seele! Denn Hoffärtige streiten wider mich, und Erbarmungslose knechten meine Freiheit und haben Gott nicht vor Augen. Siehe, Gott stehet mir bei, und der Herr tröstet meine Seele..."
* Der verzweifelte Kampf um die Mauern der Festung geht weiter. Am 6. August — dem Unheilstage Israels, an dem Jerusalem dreimal in die Hände seiner Feinde fiel — übersteigen die Legionäre des Julius Severus die Breschen von Bether. Es ist das Jahr 135 n. Chr. Ein endloser Leidensweg hebt a n . . .
* Hadrian kehrt verwandelt aus dem Judenkrieg zurück. Seine Hoffnung, ein goldenes Zeitalter ewigen Friedens für die Völker des Imperiums heraufzuführen, ist im Brandschein der zerstörten Städte, im Jammer der versklavten und vertriebenen Männer, Frauen und Kinder zusammengebrochen. Es gibt keinen Frieden auf der Welt...
* Der heitere Philosoph, der Förderer der Künste und Wissenschaften, ist ein finsterer, wortkarger, verschlossener Kaiser geworden. 35
Fieberhaft läßt er in den Vorbergen Roms die Bauarbeiten an seiner Villa zu Tibur vorantreiben. Lastschiffe bringen ägyptische Obelisken, asiatische Säulen, griechische Skulpturen, fremdartige Bäume und Pflanzen für die Gärten und den Park. Der Lebensstil des Cäsars ist von orientalischer Großartigkeit. Der Villenbau von Tibur ist viermal so groß wie der gesamte Palatin-Hügel Roms mit seinen Prachtbauten. Alle Athener Lieblingsplätze Hadrians sind dort nachgebildet. Jetzt entscheidet der Kaiser die seit langem schwebende Präge der Nachfolgeschaft; aus der Schar seiner nahen Verwandten und Freunde wählt er den jungen Lucius Verus und adoptiert ihn als Sohn und Erbe. Eine schleichende, unheilbare Krankheit verzehrt den Kaiser, vergeblich suchen die Ärzte nach Heilmitteln. Der Tod pocht an die Bronzetore der Villa von Tibur. Doch diesmal gilt es noch nicht dem Cäsar; unerwartet wird Lucius Verus aus einem Leben des schrankenlosen Genusses abberufen. Dann tastet das Verhängnis sich an das Leben des Herrschers heran, eine weitverzweigte Hofverschwörung wird aufgedeckt. In diesen bedrohlichen Tagen verdunkelt Hadrian seinen Ruf als Schöpfer humaner Gesetze und Hüter des Rechtes durch grausame Folterungen und rasche Hinrichtungen. „Wie vieler Brände und Sintfluten bedürfte es, um die bodenlose Schlechtigkeit der Welt zu strafen!" schreibt er voll bitteren Zornes in sein Tagebuch. Die Polizei gewinnt in dieser Zeit wieder ihre alte, unter Tiberius und Nero geübte Macht. Ein eigenes Korps wird als Geheimpolizei eingesetzt. Jetzt ist wieder niemand vor Angebern und Spionen sicher, selbst bis in die nächste Umgebung der kaiserlichen Familie dringen die Agenten vor. Unvorsichtige werden ein leichtes Opfer der für jede Anzeige bezahlten Spitzel. „Ein Soldat in bürgerlicher Tracht setzt sich neben dich und fängt an, vom Kaiser übel zu reden. Nachdem du auf solche Weise ein Unterpfand seiner Vertrauenswürdigkeit erhalten hast, wagst auch du deine Bildseite rechts: o b e n : Teilstuck aus dem Limes, der befestigten römischen Reichsgrenze mit Wachttürmen in Sichtentfernung, Der Germ. Limes führte von Bonn bis Regens bürg; M i t t e : Grabstein eines Grenzsoldaten; Geschützstellung und Schleudergeschütz; u n t e n : Germanen greifen ein Kastell an.
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Meinung zu sagen ... dann aber wirst du in Ketten ins Gefängnis geführt." 11 Seitdem es eigene Gesetze über Hochverrat und Majestätsbeleidigung gibt und den Denunzianten ein hoher Blutlohn gezahlt wird, sind die Angeberei und die „Majestätsprozesse" zu einer gefährlichen Plage in Italien und den Provinzen geworden. Die Krankheit des Kaisers schreitet fort. Der Mann, den die Völker „Beglücker des Menschengeschlechtes" genannt haben, wird von Schmerzen zerrissen, umsonst bemühen sich Ärzte und orientalische Wundermänner um ihn. Die Sorge Hadrians gilt der Wahl eines tüchtigen Nachfolgers. Ganz Rom ist überrascht, als der Cäsar schließlich den ehrenhaften, aber wenig hervorgetretenen Senator Marcus Annius Verus Antoninus 12 adoptiert. Der Augustus knüpft eine Bedingung an die Adoption: er will auch die übernächsten Nachfolger bestimmen. Da gibt es zwei Vettern des verstorbenen Älius Lucius Verus: Marcus Aurelius Verus und Lucius Verus den Jüngeren. Diese beiden Jünglinge sollen von Antoninus adoptiert werden, um dereinst gemeinsam das Imperium zu erben. Der Kaiser liebt Marcus Aurelius seit Jahren wie einen Sohn. Wegen seiner Wahrheitsliebe nennt er ihn gern „Marcus Verissimus", Marcus den Wahrheitsfanatiker 13 . Marc Aurel hat das Herz Hadrians, des Griechenfreundes, gewonnen, seitdem schon frühzeitig seine hingebungsvolle Neigung zu philosophischen Studien sichtbar geworden war. Hadrian fühlt, daß auch seine Tage gezählt sind. Und nun, kurz vor dem Ende, erwacht noch einmal die große, schöne Seele des Kaisers. In lächelnder Demut beugt er sich dem Schicksal; ruhig und gelassen erwartet er seine letzte Stunde. In Rom und in den Provinzen atmet man wie von einem Alpdruck befreit auf, als der Cäsar befiehlt, die Majestätsprozesse einzustellen. Mühsam, schmerzlich und langsam ist das Sterben Hadrians. Von Tibur läßt er sich in die Bäder nach Bajä bringen, und dort endlich neigt sich sein Gestirn zum Untergang. Eilkuriere holen Antoninus aus Rom herbei. Er findet den Sterbenden gefaßt und fast frei von Schmerzen. Leise, mit kaum verständlicher Stimme, spricht Hadrian Verse in griechischer Sprache vor sich hin: 38
„Schmeichelseele, rastlos wandernde, als du noch des Leibs Begleiterin warst, in welches Land wirst du jetzt reisen, starr und nackt, voll Todesblässe? Ach, nun endet Scherz und Freude..." * „Marcus Aurelius an seinen Lehrer Quintus Junius Rusticus. Alles Heil dir und gute Gesundheit! Nachdem die glänzenden Feiern zum Säkularfest, mit dem die Stadt Rom ihr neunhundertjähriges Bestehen beging, vorüber sind, drängt es mich, dir, meinem verehrten Lehrer, meine Gedanken zu schreiben. Überall, wo sich in diesen Tagen und Wochen Männer trafen, denen das Geschick der Stadt und des Imperiums am Herzen liegt, sprach man über Rom, über seine Vergangenheit und über die Schicksalslose der Zukunft. Was wird sein, wenn tausend Jahre Geschichte auf Palatin, Capitol und das Marsfeld herabblicken? Man hat mir von einer Legende der Juden erzählt. Einer der Helden des Volkes soll der Sonne geboten haben, stillzustehen, damit er Zeit habe, sein Werk zu vollenden. Daran denke ich, wenn ich den Geist unseres Jahrhunderts in einem Gleichnis zu fassen versuche. Unter dem gegenwärtigen Cäsar Antoninus, den das Volk ,Pius', den Frommen, nennt, verharrt die Waage der Geschichte gleichsam in der Schwebe, es scheint so, als ob wirklich die Sonne stillstände. Antoninus Pius ist mit klugem Geschick bemüht, das Erbe Hadrians zu erhalten, nichts durch Voreiligkeit, Übermut oder Kriege zu gefährden, nichts anzurühren gleichsam, um Gefahr und Zerstörung zu bannen. Das Imperium ist wie eine Glocke aus schimmerndem Kristall, unter der die hundert Völker vereint sind — ein einziger kräftiger Schlag kann sie in tausend Stücke zerbrechen. Kaiser Trajan hat Roms Machtbereich an seine äußersten Grenzen ausgedehnt. Kaiser Hadrian hat dem Imperium Segen und Friede gebracht. Die Aufgabe der Nachfolger besteht nicht mehr in Eroberung und Erweiterung, sondern in Erhaltung des Bestehenden. Die Grenzen des Reiches bilden einen magischen Kreis. Nur das, was inner39
halb der Grenzen lebt, ist Wirklichkeit; was jenseits davon im Dunkel der ewigen Wälder, der Gebirge und Wüsten droht, ist eine andere Welt, die mit der unseren nichts gemeinsam hat. Wir wollen ruhen in uns selbst, in genügsamem Wohlbehagen, von dem Wunsche erfüllt, ungestört den Frieden der Zeit zu genießen. Vielleicht hast du gehört, daß eine Gesandtschaft gelbhäutiger und schlitzäugiger Männer aus dem fernen Wunderlande China, das uns Seide und Jadesteine liefert, vor dem Kaiser erschienen ist und ihm einen gemeinsamen Eroberungsfeldzug gegen die zwischen unseren Reichen hegenden Länder vorgeschlagen hat. Cäsar Aritoninus lehnte ab. Rom will nichts weiter als Friede. Über uns, o Freund, wölbt sich in mildem Blau der Abendhimmel. Ein weniges noch, dann wird die Sonne hinter dem Horizont versinken, um vielleicht in einer anderen Welt einem neuen Staat als Morgensonne aufzugehen. Ich sehe die leisen Schatten der ersten Dämmerung, kühl weht der Wind, und mich schauert's vor der sinkenden Nacht. Die Gebildeten haben statt des Glaubens eine Weltanschauung gewählt, sie flüchteten in die Philosophie. Die Masse des Volkes aber ergibt sich den Mythen und dem Gespensterglauben, den Dämonen asiatischer Religionen oder den zahlreichen ägyptischen Geheimkulten. Schon hört man aus den Provinzen, daß die Christianer immer mehr Anhänger gewinnen. Sie weigern sich, den Standbildern der Kaiser Opfer zu bringen. Auch das ist einer der Schatten, die auf das Bild unserer Tage fallen. Glaube mir, mein Freund, der Gedanke, eines Tages Kaiser des Imperiums zu sein, hat nichts Verlockendes für mich. Ich werde niemals das beängstigende Gefühl verlieren, auf schmalem Pfad über einem furchtbaren Abgrund zu wandeln. Lieber als den Purpur der Cäsaren trüge ich das Gewand des Philosophen. ,Die Philosophie ist meine Mutter, die Kaisertribüne aber meine Stiefmutter!'"14 *
Am 1. März des Jahres 161 n.Chr., im Jahr 914 nach Gründung Roms, geht Antoninus Pius, der Vater seiner Völker, ins Schattenreich ein. 40
Marc Aurel und sein Vetter Lucius Verus besteigen gemeinsam den Thron des Augustus. * Gegenüber der großen Hadrianvilla in Tibur, wo auch Marc Aurel Hof hält, hegt der Palast seines Mitregenten Lucius Verus. Die beiden großartigen Bauten erheben sich auf einer der Terrassen des Anioflusses, an denen das Wasser ruhig vorbeiströmt, während es ober- und unterhalb tosend über die Felsen stürzt. Dichte Laubbäume beschatten die Uferwiesen und wölben sich über dem schmalen Flußbett. Die Räume der Villen und Hallen sind auch in den heißesten Monaten von angenehmer Kühle. An diesem Sommermorgen, der sich wie ein Geschenk der heiteren Götter des Olymps aus Nebel und Dunkelheit erhoben hat, steht auf einer der Felsklippen, die über dem schäumenden Anio aufragen, der Kaiser Marc Aurel. Sein Blick umfaßt von dieser waldumrauschten, windumwehten Höhe aus den Kranz von Villen, Palästen und Gärten Tiburs, wo sich während des Sommers das reiche, vornehme Rom trifft. Wenn die beiden Kaiser in Tibur weilen, schlägt hier, an den Ufern des Anio, das Herz des Imperiums. Gesandtschaften aus aller Welt bewohnen die kaiserlichen Gasthäuser; hohe Offiziere warten auf Befehle, die sie ihren Legionen überbringen sollen; Statthalter berichten dem Kaiser von dem Zustand ihrer Provinzen, und Glücksritter, Abenteurer, Schauspieler, Dichter, Maler und Philosophen drängen sich in den Vorzimmern der Majestäten. Als überschwere Bürde lastet die Verantwortung für das Glück oder Unglück der Völker des Reiches auf Marc Aurel. Als er die Nachfolge des Kaisers Antoninus antrat, gedachte er, die glanzvollen Tage Hadrians zu erneuern und eine durch den Geist der Philosophie veredelte und vertiefte Welt zu schaffen. Aber es war, als hätten sich mit einem Schlage alle Horizonte Roms verfinstert. Die Zauberstunde der Kaiser schien vorüber. Gegen die Ostgrenze brachen die Parther vor. Marc Aurel konnte das beunruhigte, gärende Rom nicht verlassen und schickte seinen Mitregenten Lucius Verus an die Seite des alten Haudegen Priskus. Kaum war die Hauptgefahr im Osten gebannt, als afrikanische Horden 41
mordend und plündernd in die reiche Provinz Spanien einfielen. Zugleich jagten sich die Nachrichten aus den verschiedenen Reichsteilen über Mißernten, Hagelstürme und riesige Feuersbrünste, Hungersnöte und Bankzusammenbrüche brachten die gesamte Finanzwirtschaft in Unordnung. Es war, als habe eine unbekannte Macht alle Dämonen der Schattenwelt gegen Rom gehetzt. Aber nun scheint der Tiefpunkt durchschritten, der Weg hebt sich zu neuem Aufstieg. Vor Wochen ist Lucius Verus als Sieger aus dem Osten zurückgekehrt und hat zusammen mit Marc Aurel den Triumphzug über die Parther zum Capitol angeführt. Ein Schatten freilich lag auch auf diesem Glückstage: Unter den Gefangenen wankten todbleiche Gestalten, die in Krämpfen zu Boden stürzten und unter entsetzlichen Zuckungen starben. Das furchtsame Rom flüsterte sich zu, die Parther hätten die Pest eingeschleppt. In Gedanken verloren pflückt Marc Aurel Blätter von den Zweigen und wirft sie in das strömende, quirlende Wasser. „So ist das Leben, dieses seltsame, von tausend Geheimnissen umwitterte Leben...", denkt er. „Man fließt mit dem großen Strom, wird von hier nach dort gewirbelt, windet sich durch Engen und Schluchten — und am Ende wartet der Wasserfall, der jähe Absturz in das Unbekannte. Man kann nichts weiter tun, als sich selbst getreu bleiben, sich mühen, nicht gegen die Gesetze der Menschen und der Götter zu verstoßen. ,Ich will mich hüten, je zum Tyrannen zu werden, es geschieht so leicht. Auch möchte ich gut, schlicht, rein, ernst, prunklos und ein Freund der Gerechtigkeit bleiben, das ist die vollkommene Sittlichkeit. Jeden Tag will ich verbringen, als ob er der letzte wäre, ohne zu ermüden und ohne Überheblichkeit."' 15 Laute Stimmen rufen den Namen des Kaisers. Die Sklaven suchen im Park nach ihrem Gebieter. Wahrscheinlich ist eine wichtige Botschaft des Senats oder der Schlachtenbericht eines der Feldherrn eingetroffen. Nachdenklich, mißmutig und bedrückt wendet sich der Cäsar dem Palast zu... * 12
Stunden später steht Marc Aurel in einem Peristyl der Villa, umringt von schmeichlerischen Höflingen. Der Fußboden aus Schlangenmarmor ist durch ein System von Heizröhren künstlich zu erwärmen, die Wände der Säulenumgänge wechseln geschmackvoll zwischen weißen und violett gefleckten Marmortafeln, die mit Streifen grünen Gesteins eingefaßt sind. Die Säulen sind aus ägyptischem Malachit und spiegeln in seltsamem Grün. Ein Wasserbecken erglänzt in märchenhaft schimmerndem Blau inmitten des gelben Marmors. Ägyptische Lotosblüten, noch im Nilschlamm verwurzelt, schwimmen reglos auf dem Wasserspiegel, goldene und buntfarbige Schleierfische gleiten wie Märchenwesen zwischen den Wasserpflanzen hindurch. Als Besonderheit — denn griechische Peristyle sind meist offen — überdeckt ein Tonnengewölbe mit kunstvollem Glasmosaik den Raum. Nur gedämpft fällt Licht aus der Dämmerung des Gartens durch die Öffnungen an den Stirnseiten, es ist angenehm kühl hier, und wenn alles ganz still ist, vernimmt man das vielfältige Getriller der Vögel, die im Laubdach über dem Hause nisten. Im Innenhof, der an das Peristyl anschließt, steht ein mächtiger Ahorn, der seine Zweige über die weißen Säulengänge deckt. Schweigend hört Marc Aurel der Unterhaltung zu, die um die nächsten Pferderennen, die Favoriten der grünen, blauen oder roten Parteianhänger im Circus, um die Fechtsklaven und die neuen, soeben aus Syrien eingetroffenen Tänzerinnen kreist. Klatsch, Skandalchronik, Spiele und Unterhaltung sind die Gesprächsthemen der Gesellschaft. Der Kaiser durchschreitet schweigend den Saal und tritt durch die Tür in den Garten. Eine von Vorläufern und Prätorianern begleitete Sänfte, die von acht riesigen Sklaven getragen wird, schwankt die Straße zur Auffahrt hinauf. Vor dem Peristyl halten die Träger, die Vorhänge der Sänfte werden zurückgeschlagen, und ein Haushofmeister hilft Lucius Verus, dem Mitkaiser, beim Aussteigen. Überrascht steht der Ankömmling vor Marc Aurel, dann streckt er ihm beide Hände zum Gruß entgegen. Plaudernd gehen die beiden befreundeten Herrscher die Stufen der Terrasse hinab in die dämmernde Kühle des Parks. „Weshalb dein sorgenvolles Gesicht, mein Vetter?" fragt Lucius teilnehmend. Ärgerlich erzählt ihm Marc 43
Aurel von dem hohlen, leichtfertigen Geschwätz der Hofgesellschaft, das ihm von Tag zu Tag widerwärtiger und unerträglicher erscheine. Lucius Verus lacht. „Was kümmern dich diese Hohlköpfe? Schmerz und Lust, Tod und Geburt, Krieg und Frieden, alles ist ihnen Anlaß zum Genuß und zur Befriedigung ihrer wilden Lebensgier. Aber sie schaden niemandem damit, und manchmal sind sie mir sympathischer als die Trauerredner und Melancholiker, die von nichts anderem reden als von Tod und Untergang. Diese Salonhelden gehören nun einmal zu Rom, so wie die Rennfahrer und Gladiatoren, die Schauspieler und Musiker, die Tänzer, Volksredner und Straßenhändler." „Ach, Lucius", sagt Marc Aurel, „vor welche Aufgabe hat uns das Schicksal gestellt! Wer vermöchte diese Welt zu ändern, wer sie wieder zu Kraft, Einfachheit, Ehrfurcht und Würde emporzuführen? Das schwelgerische und üppige Rom unserer Tage lebt vom Ertrage der Sklavenarbeit, von den Steuern der Provinzen, von der Arbeit und dem Schweiß der anderen Völker. Es ist zu trage und zu feige, Waffen zu tragen, und läßt sich von germanischen, gallischen und syrischen Söldnern beschirmen. Haben wir es nicht bei den Aushebungen zum Partherkrieg erlebt, daß es kaum gelang, die Offiziersstellen mit Römern zu besetzen? Diese im Luxus zugrunde gehende Gesellschaft ist nicht mehr bereit, um Leben und Dasein zu kämpfen. Die Männer, die durch Herkunft, Stellung und Vermögen dazu bestimmt wären, mitzuhelfen bei der Führung des Reiches, alle ihre Kräfte einzusetzen, um den Bestand des Imperiums zu sichern, kennen nichts Wichtigeres, als an den Fällen von Tibur kostbare Villen zu errichten, in den Meeresbuchten künstliche Inseln mit Tempeln anlegen zu lassen. Kein Haus wird mehr erbaut, zu dem nicht die seltensten, aus fernsten Ländern herangeschafften Gesteinsarten verwendet würden. Niemand schätzt heute noch den schönen, einheimischen Marmor, nur weil er so nahe bei Rom, am Ufer des Anio, gebrochen wird. Aus der arabischen Wüste muß der Baustein kommen, aus Griechenland der weiße und bunte Marmor. Die Ordnung unseres Lebens ist gestört, die Menschheit hat in Üppigkeit und Wohlleben den Maßstab für wahre Schönheit, Größe und Befriedigung verloren." 44
„Du urteilst zu bitter, Freund! Die Menschheit ist vielleicht besser als du denkst!" Marc Aurel zuckt die Achseln. „Ein Punkt nur ist die Lebensdauer der Menschen, ihr Wesen ist in stetem Flusse, ihre Empfindung dunkel, das ganze Gewebe des Körpers steter Fäulnis unterworfen, ihre Seele ein Kreisel, ihr Schicksal schwer zu bestimmen, ihr Ruf zweifelhaft.. ," 16 Von irgendwoher klingt mißtönendes Geschrei. Hinter einem vergoldeten Bronzegitter stolzieren mit häßlichem Kreischen radschlagende Pfauen, in den Bäumen flattern persische Fasanen mit goldroten, langen Schweifen, und afrikanische Perlhühner laufen in Scharen über die gepflegten Rasenflächen. Marc Aurel bleibt an einem kleinen marmorumrandeten Teich stehen und schaut einem Zug Ringelenten zu, der über die dunkle Wasserfläche rudert. „Der Luxus der Hauptstadt", sagt er, „ist nicht nur ein moralisches, sondern vor allem ein wirtschaftliches Problem. In jedem Jahr werden dem Imperium allein für indische Luxuswaren 55 Millionen Sesterzen, für arabische und persische Einfuhren aber 100 Millionen entzogen. Das sind Ausgaben, die wir uns nicht leisten können. Muß es denn sein, daß wir chinesische Seide mit ihrem Gewicht in Gold aufwiegen, daß wir indisches öl für 400, Zimtsaft sogar für 1500 Denare das Pfund kaufen, daß wir Bahreinperlen und Uralsmaragde im Werte von Millionen erwerben? Ist es notwendig, daß die römischen Frauen sich mit Nardenessenz parfümieren, daß sie sich in asiatische Stoffe mit gestickten und gewirkten Mustern von Tieren, Menschen, Bäumen in den verschiedensten Farben kleiden? Daß sie syrischen Schmuckstein, germanischen Bernstein, indische Korallen tragen und arabische Drogen einnehmen, um ihre Jugendfrische zu erneuern?" Lucius Verus streut den Vögeln aus einem am Gitter hängenden Korb Körner und gehackte, hartgekochte Eier. „Warum", erwidert er, „sollen wir wie hausbackene Bürger und Bauern leben, wenn wir die Mittel haben, uns mit Luxus zu umgeben? Die Väter erwerben ein Vermögen, damit es die Söhne leichter haben im Leben; die Vorfahren unseres Geschlechtes haben eine Welt erobert, wir aber wollen den rechten Gebrauch davon machen. Wer einen Sack voll Gold ins Meer wirft, ist ein verschwenderischer 45
Narr, wenn aber jemand das Gold benützt, um den Lebensgenuß zu steigern, sich mit den schönen Dingen des Daseins zu umgeben, der handelt weise und vernünftig!" * Während sie noch sprechen, hastet über die Parkwege ein bestaubter Kurier heran. Marc Aurel nimmt persönlich das Schreiben entgegen, das der Senat mit dem Vermerk höchster Dringlichkeit an ihn gerichtet hat. Sein Antlitz ist bleich, als er das Pergament aus den Händen legt. Die gefangenen Parther, die man kürzlich noch im Triumphzug — welch ein Hohn! — zum Capitol geführt habe, hätten die Pest eingeschleppt — das ist die eine Schrekkenskunde. In Rom greife die Seuche mit rasender Gewalt um sich; der Schwarze Tod gehe durch die Gassen der Hauptstadt. Im Norden aber — und das ist die zweite Nachricht — seien zahllose, wandernde Germanenstämme aufgebrochen. Schon hätten sie die Donau in breiter Front überschritten, die Sperriegel der Kastelle und Legionslager gesprengt und wälzten sich nun vernichtend nach Süden. * Die Reihe der Katastrophen, die das Imperium erschüttern, setzt sich fort. Es ist, als läge die Natur selbst in Fieberschauern. Nie erlebte, gewaltige Stürme rasen über Land und Meer, Erdbeben fordern schwere Opfer; die Pest aber hat inzwischen Zehntausende dahingerafft. Ganze Stadtviertel der Hauptstadt entvölkern sich, weite Landstriche sterben aus. Dazu kommen Mißernten, Hungersnöte und die ungeheure Gefahr der unaufhörlich über die Grenzen strömenden Barbaren. Der Kaiser gibt allen, die in dieser Stunde zaghaft weichen wollen, ein Beispiel standhaften Mutes. Er folgt als erster seinem eigenen Aufruf, der die Opferung des überflüssigen Luxus für die Rettung des Reiches fordert, und läßt seine kostbaren Palasteinrichtungen und Landgüter, die prachtvollen Villen und Sammlungen versteigern. Alle Erträgnisse werden der Staatskasse überwiesen. Dann zieht Marc Aurel an der Spitze einer Armee dem Feinde entgegen. 46
Bei Aquileja17 — schon auf italischem Boden — fangen die kaiserlichen Legionen den Stoß der Germanen auf. Die geschlagenen Horden fluten nach Norden über die Alpen zurück. Aber der Glaube an die unangreifbare Größe des Imperiums ist zerstört. Ein feindliches Heer stand auf der geheiligten Erde Italiens, und es bedurfte der ganzen Kraft Roms, den Angriff abzuwehren. Die innere Schwäche des Weltreiches ist der ringsum lauernden Barbarenwelt offenbar geworden. Der Kaiser ist klug genug, die wahren Gründe des Niedergangs zu erkennen. Der Glaube des Römervolkes an den Schutz und Schirm der alten römischen Götter ist erschüttert oder bereits ganz verloren. Rom selber hat zudem zu viel von seiner stolzen Eigenart aufgegeben, als daß es den Völkerschaften in den Provinzen ringsum noch sehr imponieren könnte; es ist nicht mehr Herz, Kopf und Arm des Imperiums, sondern gleichsam eine der Provinzen des Reiches. Solange die Völker rund um das Mittelmeer in tausend Tempeln zu Jupiter, dem höchsten der römischen Götter, gebetet und dem Standbild des Kaisers hingebend geopfert haben, waren sie mit unzerreißbaren Banden an Rom gefesselt. Aber seitdem allenthalben neue Religionsgemeinschaften auftraten und, wie die Christianer, mit ihren zahlreichen Anhängern den Cäsarenbildern das Opfer verweigerten, war die Schwäche der überlieferten Kaiseridee allzu deutlich sichtbar geworden. Vielleicht konnte Gewalt noch einmal das Unglück wenden. Marc Aurel erläßt deshalb Befehle an die Statthalter der Provinzen, in denen rücksichtsloses Vorgehen gegen die Unbotmäßigen gefordert wird. *
Im März des Jahres 170 n. Chr. erhält der Prokonsul der kleinasiatischen Stadt Smyrna, Statius Quadratus, durch Postkurier eines dieser kaiserlichen Schreiben. Er läßt sogleich Herodes und Niketes, die einflußreichsten Männer des Magistrates der Stadt, zu sich rufen, um mit ihnen nach Verlesung des Schreibens die notwendigen Maßnahmen zu besprechen. Nach der üblichen, langen rhetorischen Einleitung, mit denen der Kaiser alle seine Erlasse beginnt, spricht Marc Aurel davon, daß der Glaube an die Götter, insbesondere die Verehrung des capitoli47
nischen Jupiter und der damit verbundene Kaiserkult, ein Zeichen und ein Symbol für die Vereinigung der verschiedenartigen Völker, Rassen und Religionen in dem Imperium seien. „Deshalb", schreibt Marc Aurel, „muß die schon von meinen Vorgängern verbotene Geheimlehre der Christianer, die es den Göttern und dem Cäsar gegenüber an Ehrfurcht fehlen läßt, schärfstens unterdrückt werden!" Herodes, der jüdische Friedensrichter von Smyrna, bückt auf den Prokonsul, dessen Miene aber nicht erkennen läßt, was er denkt. „Seltsam", murmelt Herodes, „ich glaubte immer, es säße ein duldsamer Philosoph auf dem römischen Kaiserthron!" „Der Kaiser hat seine Gründe", erwidert der Statthalter und setzt die Verlesung des Ediktes fort. „Wir legen noch einmal unseren getreuen Präfekten und Statthaltern dar, warum wir zu der Einsicht gelangten, daß die Christianer nicht länger geduldet werden können. Sie sind Feinde und Schädlinge unseres Staates. Eine Religion ohne Götter, die nicht in Tempeln und vor Altären opfert, sondern in verborgenen Versammlungen geheimnisvolle und düstere Dinge treibt, muß das Volk mit Recht in Unruhe und Abscheu versetzen. Es ist bewiesen, daß die Anhänger dieser Sekte weder die vorgeschriebenen Opfergaben darbringen, noch an den allgemeinen Opfern teilnehmen. Selbst von den einfachsten Bürgerpflichten, der Mitwirkung an den Siegesfesten, der Teilnahme an den allgemeinen Feiertagen oder an den Lustbarkeiten halten sie sich fern. Diese unerlaubte Religion macht sich weiterhin der Verbrechen schuldig, die in der Trajanischen Prozeßordnung als Jmpietas in Principem' und als ,Sacrilegium' bezeichnet sind. Jmpietas in Principem' — Ehrfurchtsverletzung gegen den Kaiser — ist die Weigerung der Christianer, der Büste des Cäsars als Ausdruck der Üntertanenehrfurcht Weihrauch zu streuen und am Geburtstage des Kaisers und dem Kaiser-Festtag die vorgeschriebenen Opfer darzubringen. .Sacrilegium' — Gotteslästerung — ist die Verleugnung aller Götter; das erscheint uns als der Anfang der Gottlosigkeit überhaupt. Unter Bezug auf die angeführten Titel der Rechtsbücher befehlen wir also, die als Christianer Verdächtigen zu er48
greifen, sie zur Probe opfern zu lassen und im Falle der Weigerung nach den gültigen Gesetzen zu bestrafen. Ich verweise auf die Verordnungen der kaiserlichen Vorgänger Trajan und Antoninus Pius, nach denen die Angehörigen der niederen Stände zu enthaupten sind, den Tieren vorgeworfen oder lebendig verbrannt werden, während Männer und Frauen aus vornehmem Geschlecht ebenso wie römische Bürger der Verbannung oder in schweren Fällen dem Schwerte verfallen." Der Prokonsul legt das Schreiben auf den Tisch. „Das bedeutet den Beginn einer neuen Verhaftungsweile", sagt er ernst. „Sie wird von einem Teil der Bürgerschaft begrüßt werden, da die Masse in unserer Provinz die Anhänger der neuen Religion seit langem bekämpft. Alle Unfälle, die das Reich in den letzten Jahren betroffen haben, schreibt der Aberglaube den Christianern zu. Natürlich hetzen auch die Priester der Tempel, die für ihre Einnahmen fürchten." „Bedenkst du aber auch",warnt Herodes, „daß sich unter den Einwohnern Smyrnas wenigstens jeder vierte zum Christentum bekennt?" Statius Quadratus nickt. „Es wird ein Kampf im eigenen Haus", sagt er, „ich weiß, daß der Oberste der Kaufmannschaft Christianer ist. Mein Kutscher, mein Koch und die Hälfte meiner Schreiber sind Christianer. Tausende von Legionären sind dieses Glaubens. Wollten wir nach dem Buchstaben verfahren, so müßten wir ein furchtbares Blutbad anrichten. Vorläufig werden wir deshalb nur einige zur Abschreckung herausnehmen und uns an besonders fanatische Christianer halten." „Man muß sich des Oberhauptes der Sekte bemächtigen", schlägt Niketes vor. „Gelingt es, den Bischof Polykarpus18 zum Widerruf zu zwingen, so haben wir gewonnenes Spiel." Als die Bestimmungen des kaiserlichen Ediktes bekannt werden und die Häscher in die Häuser eindringen, um namhafte Christianer zu verhaften, bemächtigen sich Angst und Unruhe der Einwohner von Stadt und Provinz. Mit Grauen im Herzen erleben die christlich gesinnten Bürger, wie ihre standhaft gebliebenen Gemeindeältesten im Circus 49
den Löwen und Tigern, den Bären und Leoparden vorgeworfen werden. Der Pöbel hat tagelang seine Unterhaltung. Mit gefalteten Händen betreten die Märtyrer die Arena, sterbend singen sie die Choräle ihres Glaubens oder sprechen ihre Gebete. Nur wenige versagen angesichts der furchtbaren Todesdrohung. Die übrigen aber beachten kaum die brüllenden Bestien und empfangen den Tod ohne Gegenwehr und ohne um Gnade zu bitten. Selbst der an derartige Blutszenen gewöhnte großstädtische Mob beginnt zu verstummen; der Circus verfolgt schweigend, verwundert und endlich seltsam ergriffen den Opfertod der Christianer. Welch eine Kraft muß diesem Glauben innewohnen — so denkt mancher auf den Rängen der Arena —, wenn er seine Anhänger befähigt, ohne Furcht zu sterben! Die Männer und Frauen dort unten auf dem blutbefleckten Sand haben die uralte Angst des Menschengeschlechtes vor dem dunklen Bätsei des Todes überwunden. Polykarpus, den Bischof von Smyrna, haben die Polizeidiener bisher nicht entdecken können. Der Priester ist weit über die Stadt Smyrna hinaus als Helfer der Armen, als Tröster der Mühseligen und Verfolgten bekannt. Der Sechsundachtzigj ährige wurde von Mitgliedern seiner Gemeinde beinahe mit Gewalt aus der Stadt gebracht und auf einem Landgute geborgen. Den Bischof aber drängt es, sein reiches Leben durch den Tod als Blutzeuge zu krönen. Jetzt, in der Stunde der Not, will er den Gläubigen ein Beispiel des standhaften Sterbens geben. Aber sie flehen ihn an, sich zu retten. Sein Leben ist ihnen notwendiger als sein Tod. In der Nacht zum Freitag träumt der Greis, er habe auf feurigem Kissen geschlafen. Als er seinen Freunden von dem Traum erzählt, brechen viele in Tränen aus. ,,Ich werde denFeuertod sterben", sagt der Bischof ruhig. Zwei Knechte haben das Versteck des Gesuchten verraten. Noch am selben Abend bringt man ihn weiter. Wieder finden sich Christianer, die ihr abgelegenes Landgut als Asyl anbieten. Dort verbringt der Gehetzte die nächste Nacht. Kaum hat er sich erhoben, als Soldaten die Tore aufbrechen. Noch wäre es Zeit zu fliehen, die Freunde halten die Schergen auf. Polykarp aber weiß, daß seine Stunde gekommen ist. 50
„Der Wille des Herrn geschehe!" betet er und stellt sich seinen Verfolgern. „Bedurfte es solchen Aufwandes", sagt einer der Häscher, „um dieses Greises habhaft zu werden?" Auf einem Esel führen sie den Bischof nach Smyrna.
Unter dem Stadttor begegnet dem Aufzug ein Wagen mit Herodes und Niketes, die unterwegs zu einem auf dem Lande wohnenden Freunde sind. Die beiden Beamten fordern die Wärter auf, den Gefangenen zu ihnen herüberzubringen. Zuschauer drängen sich heran. Herodes und Niketes wenden ihre Beredsamkeit auf, den von den Anstrengungen der Flucht erschöpften Priester zum Widerruf seines Glaubens zu veranlassen. Nur ein wenig Weihrauch vor der Bildsäule des Kaisers verbrannt, ein paar Worte, daß die alten Götter leben, ein Schwur bei den Olympiern — und das Leben sei ihm bewahrt. „Aber hätte ich denn nicht meine Seele verloren?" erwidert Polykarp. „Nein — ich werde meinen Herrn nicht verraten." Vom Circus her tönt das Brüllen der wilden Tiere. „Da — höre!" redet Herodes ihm zu, „wenn du starrsinnig bist, wird die Arena dein Schicksal sein." „Dort beginnt der Weg ins Paradies!" antwortet der Greis. Die Schergen zerren den Wehrlosen mit sich fort und bringen ihn zum Statthalterpalais, damit er dort gerichtet werde. „Nur etwas Weihrauch!" drängt Statius Quadratus, der sich scheut, den angesehenen, unbescholtenen Mann den Henkern preiszugeben, „nur eine Geste, die ich für ein Kaiseropfer ansehen kann!" „Ich war ein Schüler des heiligen Evangelisten Johannes, den Domitian nach Patmos verbannt hat", entgegnet der Bischof. „Irenäus19 und Ignatius20 waren meine Schüler und Freunde. Als man Ignatius bei der letzten Christenverfolgung durch diese Stadt führte, segnete er mich mit gefesselten Händen, und von Rom aus schrieb er mir vor seiner Hinrichtung: ,Da ich weiß, o Polykarp, daß du auf Gott wie auf einem unerschütterlichen Felsen ruhst, so 51
Der Westen des römischen Imperiums
schätze ich mich glücklich, einen so großen Bischof wie du bist von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Mögen wir uns einst in Gott vereinigt wiederfinden!' — Wie könnte ich das Vertrauen, das in mich gesetzt wurde, täuschen, nur um mein Leben zu retten?" „Schwöre deinem Christus ab!" versucht es der Statthalter noch einmal, „anerkenne die Göttlichkeit des Cäsars!" Da spricht der Bischof das Wort, das der ganzen leidenden Christenheit dieser Zeit zum Trost gereicht: „Sechsundachtzig Jahre diene ich ihm, und er hat mir nie ein 52
Der Osten des römischen Imperiums
Leid getan; wie kann ich meinen König lästern, der mich erlöst hat?" Die Vernehmung findet in der offenen Vorhalle des Statthalterpalastes statt. Unter den Tausenden von Zuschauern sind nur wenige Christen, da die meisten fürchten, sich durch unbedachte Äußerungen des Mitgefühls zu verraten. Der Abschaum der Großstadt aber ist besorgt, daß ihm das Schauspiel des brennenden Scheiterhaufens entgehen könnte. „Polykarp soll brennen!" brüllt der Pöbel, „tötet den Christen!" 53
Geschäftige Hände häufenEeisigbündel, Holz und Stroh. Die unter der Menge verteilten Heidenpriester und Tempeldiener schleppen Wachs und Öl heran und tränken damit den Scheiterhaufen. Henkersknechte richten inmitten des Holzstoßes einen Pfahl auf. Als das Geschrei der Menge immer wilder und drohender wird, übergibt Statius Quadratus den Bischof dem Nachrichter. Die Henker, die ihn an den Pfahl fesseln wollen, weist der Bischof zurück. „Erlaßt mir die Fesseln! Der mir Stärke gibt, das Feuer zu ertragen, wird mich auch ohne Stricke aufrecht sterben lassen!" * Am Abend dieses Tages liest der Statthalter Smyrnas in einer Schrift Marc Aureis: „Menschlich ist es, auch den Irrenden zu lieben! Bedenke, daß ihr beide in Bälde tot sein werdet, daß dir niemand durch seine andere Meinung Schaden zufügt, denn die Freiheit, zu glauben, liegt ja immer bei dir. Auch die Götter schütten ihre Wohltaten ja über alle Menschen gleichmäßig aus. So edel sind die Unsterblichen! Was aber — sage es mir — hindert dich, ebenso edel zu sein..." 21 Von ferne hört man das Toben der aufgehetzten Menge, die — angestachelt von fanatischen Opferpriestern — die Häuser der angesehenen Christianer stürmt und plündert. Kopfschüttelnd legt der Prokonsul das Buch beiseite. Welches mag das wahre Gesicht des Kaisers sein — denkt er — das des humanen Philosophen oder jenes des mitleidlosen Richters? * Zur gleichen Stunde dieses 26. März schreibt die Gemeinde der Christianer von Smyrna an die Brüder in Philadelphia einen Brief, in dem sie das Sterben des heiligen Polykarp schildert, der also schließt: „Wir aber sammelten die Gebeine des Heiligen, die köstlicher als Gold und Edelgestein sind, und wir verwahren sie an einem sicheren Orte. Der Herr wird uns gewähren, daß wir uns an dieser Stelle nach Möglich54
keit versammeln und mit Freude den Jahrestag seines Martyriums feiern können, auch zum Andenken derer, die den Kampf schon vollendet haben, wie auch zur Ermunterung jener, die ihn noch bestehen sollen. Amen."22 * Der große Bruch inmitten der Zeit wird immer deutlicher, wie eine tiefe Kluft zieht er sich durch die Menschheit. Während der Kaiser für die Erhaltung des Alten, Bestehenden kämpft, streben die unterdrückten Völker und Provinzen, die Armen und Hungernden, die Not leiden, um einer kleinen Schicht von Bevorrechteten ihr Herrenleben zu ermöglichen, zu den unentdeckten Ufern der Jenseitshoffn ung. Überall in den Provinzen ballen sich Unwetter gegen Rom. Ein Militäraufstand bricht aus, an der Parthergrenze lodern wilde Kämpfe, ein Erdbeben legt die Großstadt Smyrna in Schutt und Asche. Schließlich erheben sich abermals und diesmal furchtbarer als je die Germanen an der Donaugrenze. Mit eilig zusammengerafften Truppen reitet Marc Aurel nach Norden... * Der Regen schlägt dem Kaiser ins Gesicht. Er hat seinen bequemen Reisewagen vorausgeschickt und setzt sich denselben Strapazen aus wie der einfache Legionär. Stürme fegen über die Alpenpässe. Ein fauchender Nordwind treibt Nebelschwaden aus den Alpentälern vor sich her, manchmal mischt sich Schnee in das wüste Wetter. Schwerfällig ziehen die Truppenschlangen die Paßstraße bergan. An der mittleren Donau und donauaufwärts im Kärntnerland brennen bereits die Dörfer der römischen Kolonisten. Ungeheure Massen von Barbaren sind über den Strom gebrochen, die Kastelle sind eingeschlossen, mit mehreren Legionslagern hat man keine Verbindung mehr. Kuriere bringen Kunde von der unteren Donau und berichten vom Auftauchen neuer Völkerscharen in diesen Gauen. Der Norden scheint in einer einzigen überwallenden Bewegung begriffen zu sein, eine Wanderung von unfaßbaren Ausmaßen vollzieht sich dort hinter den Waldgebirgen und Sümpfen. 55
Marc Aurel strafft sich im Sattel, sein von Falten durchfurchtes Gesicht wird noch härter in diesen Wochen und Tagen. Das Pferd setzt Huf vor Huf, die Eegentropfen gefrieren im Backenbart des Kaisers. Die Berggipfel sind verhangen, und keine Wolkenlücke zeigt den Himmel, der diese unruhevolle Welt überspannt. * Als sich das Heer bei Vindobona, in der Gegend des heutigen Wien, dem Donaustrom nähert, als bereits Brandruinen und niedergetrampelte Felder die Militärstraße säumen, bringt man einen aus den Händen der Barbaren befreiten Römer vor Marc Aurel, einen ehemaligen Centurio, der vor Jahren in germanische Gefangenschaft geraten war. Der Centurio berichtet, daß die Barbaren auf ihrem Marsche mehr als hunderttausend gefangene Männer und Frauen als Sklaven mit sich führten. Er versteht die Sprache der wandernden Horden und kennt ihre Gebräuche. Eingehend läßt sich der Kaiser von ihm über seine Beobachtungen und über den großen Wanderzug der Nordvölker berichten. * „Die Germanen, die wir als Gegner vor uns haben, sind die beiden Stämme der Markomannen und der Quaden. Sie greifen nicht, wie man vielleicht meinen könnte, aus Übermut oder Raublust an, sondern aus Not. Sie selber sind Flüchtlinge und Vertriebene, sie sind ein Keil, der uns trifft, der aber selbst von der Axt getrieben wird. Hoch oben im Norden zieht ein anderes, fremdes Germanenvolk quer durch das ehemalige Wohngebiet der Markomannen, und die ansässigen Stämme sind vor ihnen gewichen. Das Imperium wird von einer wahren Völkerkatastrophe gestreift, die zeigt, welche Kräfte im Norden zusammengeballt sind. Eine schwertragende Wetterwolke zieht vorüber — uns treffen nur die Hagelschauer, die an ihren Rändern niederprasseln. Rom möge auf der Hut sein, daß die Völker, die jetzt nach Osten in die Steppen abgezogen sind, sich nicht eines Tages gegen das Reich kehren!" „Welches Volk hat die Markomannen und Quaden verdrängt?" 56
„Es sind die Goten, Cäsar! Alle anderen Germanenstämme, so stark und zahlreich sie auch sein mögen, verlassen fluchtartig ihre Äcker und Dörfer, wenn die Goten nahen. Niemand widersteht ihnen." Marc Aurel blickt seine Begleiter an. „Ich entsinne mich, in der ,Germania' des Tacitus gelesen zu haben, daß die Wohnsitze der Goten an den Ufern des Ostmeeres liegen. Das Volk wird von Königen beherrscht, straffer als die übrigen germanischen Völker, doch ohne daß die Freiheit der einzelnen sehr darunter leidet." Er winkt dem Centurio, in seinem Bericht fortzufahren. „Ich habe mehr von diesem Volk erfahren als Tacitus", sagt der Offizier. „Die Goten sollen anfänglich auf der skandinavischen Halbinsel ansässig gewesen sein. Von dort sind sie ausgewandert und ließen sich für einige Zeit an neuen Siedlungsstätten nieder. Aber die Unrast oder die Not trieb sie weiter, und nach einem langen Wanderzug schlugen sie im Lande, an der Weichselmündung, am Ufer des Meeres, ihre Lager auf. Sie vertrieben die dort ansässigen Stämme aus ihrer Heimat, nachdem sie eine Schlacht gegen sie geschlagen hatten und reihten auch den Stamm der Vandalen den besiegten Völkern ein. Als aber dann die Masse des Volkes wuchs und schon der sechste König herrschte, beschlossen die Goten, daß erneut das Heer aufbrechen sollte. Es suchte nun nach geeigneten Wohnstätten und durchzog die Gebiete vieler anderer Stämme. i Diese Landnahmefahrt ist es, die die Markomannen und Quaden zu Aufbruch und Südmarsch zwingt. Obwohl der Zug des Gotenvolkes in südöstlicher Richtung das Wohngebiet dieser Völker nur berührt hat, sind besonders während der jahrelangen Rastpausen der wandernden Massen starke Kampf- und Beutegruppen tief ins Markomannengebiet vorgestoßen und haben die alteingesessenen Bewohner vertrieben. .Beim Weitermarsch kam die Spitze des Gotenheeres in ein Land weit nördlich des Schwarzen Meeres. Die große Fruchtbarkeit der Gegend erregte das Entzücken der Wanderer — schon war die Hälfte des Heeres übergesetzt, da soll die Brücke, auf der sie den Strom überschritten haben, zusammengebrochen sein, so daß niemand mehr hinübergehen — aber auch niemand zurückkehren konnte.' " a 2 57
Der Centurio blickt den Kaiser aus klugen, schwarzen Augen an. Aus anderen Erzählungen — meint er — habe er entnehmen können, daß der erwähnte Fluß in Wahrheit ein riesengroßer Sumpf gewesen sei und die Brücke ein Knüppeldamm über den schwankenden Grund. Außerdem dürften vorerst nur kleinere Vorausabteilungen soweit vorgestoßen sein; die Hauptmasse des Volkes könne bei dem langsamen Marsch diese Gebiete erst nach Jahren erreichen. Aber es sei so, wie die Vorsänger der Markomannen am nächtlichen Lagerfeuer klagten: ,Es liegen viele Völker unter der Faust der Goten. Auf den Märkten stehen gefangene Vandalen, geknechtete Quaden und leider auch Markomannen zum Verkauf.' " 23
Eine fremdartige, erschreckende Welt hat sich aufgetan. Gefahren lauern jenseits der großen Grenzflüsse des Nordens und Ostens. Stürme steigen in den fernen Wäldern, den Steppen und Gebirgen herauf. Der Kaiser sitzt bis tief in die Nacht am Feldtisch seines Zeltes und grübelt, schreibt in seinem Tagebuch und sucht das Geheimnis der Zukunft zu erforschen. Was werden die nächsten Jahre dieser so zwiespältig gewordenen Welt des Mittelmeer-Imperiums bringen? Warum hat Eom eigentlich nie die rätselhafte Wandersehnsucht der Barbaren gekannt? Weshalb lebt es auch im neunten Jahrhundert seines Bestehens noch in der Ungewißheit über alles, was jenseits seiner Machtsphäre liegt? Das Imperium hat nur erobert, nicht erforscht; es hat genossen und sich zu eigen gemacht, was es besaß, aber keinen Gedanken daran verschwendet, was jenseits der Grenzen war. Dem römischen Volk genügte das Bewußtsein, daß diese Grenzen fest und für alle Zeiten unverrückbar waren. Jetzt aber zerreißt der Barbarensturm die Dämme um das Reich, die seit Jahrhunderten als fest gegolten haben. Alles wird fragwürdig, und ein Gefühl nahenden Endes, unabwendbaren Verhängnisses ergreift auch das Herz des Kaisers. Draußen klirrt der Postenschritt vor der Prätorianischen Pforte des Feldlagers, die Zurufe der Ablösungen tönen in regelmäßiger Folge durch die Nacht. 58
Der Silberstift Marc Aureis gleitet über die Wachsschicht der Schreibtafel: „Noch eine, kleine Weile — und auch du selbst wirst nirgends mehr sein, noch etwas von den Dingen, die du jetzt siehst, noch von den Menschen, die jetzt leben. Alles ist von der Natur zur Umwandlung, zur Veränderung und zum Untergang bestimmt... Aber der Tod ist nur ein Ausruhen von den Widersprüchen des Daseins. .von der Dienstbarkeit gegen das Fleisch. ," 24 * Die Pest, von der Rom und Italien so schwer heimgesucht wurden, erreicht auch das Feldlager des Kaisers an der Donau. Unter den ersten, die von der Seuche ergriffen werden, ist der sechzig jährige Marc Aurel. Am 17. März steht das Herz des Kaisers still. * Nach dem Tode des Kaisers ist Rom nicht mehr das starke Herz der abendländischen Welt. Die Besiegten von einst reißen die Macht an sich. Alle höheren Beamten- und Offiziersstellen sind von Provinzialen besetzt; die Hofämter und Ministerien werden von Syrern und Griechen beherrscht. Es gibt kaum noch einen höheren militärischen Führer, der nicht aus den barbarischen Provinzen stammt. Den Kaiserpurpur vergibt viele Jahrzehnte lang die überfremdete Garde, als wäre er ihr Eigentum. In der gleichen Zeit wächst die Bedrohung an den Grenzen. Seit dem großen Markomanneneinfall zu Zeiten Marc Aureis hat Rom seine Front im Norden verstärkt. Zahlreiche Legionen liegen in den Lagern und Kastellen entlang der Grenze bereit, um einem Angriff der Barbaren entgegenzutreten. Aber dieser andauernde Alarmzustand übersteigt die Kräfte des durch Pest, Krieg und innere Aushöhlung geschwächten Imperiums. Wenn irgendwo im Westen, Süden oder Osten ein Krieg entbrennt, muß man Truppen von der Germanengrenze abziehen, um den Frieden des Reiches wiederherzustellen. Voll tiefer Besorgnis fragen sich die verantwortlichen Männer, was geschehen wird, wenn einmal in einem solchen Augenblick der Schwäche der Germanensturm gegen die Grenzen bricht. 59
Die Barbarengefahr steht wie eine Wetterwand über der WeltstadtEom und über den paradiesischen Fluren Italiens. Unvergessen ist der Schreck jenes plötzlichen Überfalls, den germanische Völker von Böhmen aus gegen die Donaugrenze und von der Altmühl und Oder her gegen die Befestigungen des Imperiums gerichtet haben. Die Gebiete an der mittleren und unteren Donau schmachteten jahrelang unter der Herrschaft der Wilden, die Bewohner dieser Provinzen waren wie Herden hinweggetrieben und dem schrecklichen Los barbarischer Kriegsgefangenschaft überliefert worden. Und waren nicht die Gewalthaufen der Markomannen selbst über die Pässe nach Oberitalien vorgestoßen? Noch zittert das Entsetzen jener Tage im Herzen des Weltreiches nach. Rom hat das Gefühl seiner unantastbaren Sicherheit verloren, um so mehr, als es gezwungen ist, mit dem Aufgebot äußerster Kräfte Krieg gegen die Parther im Osten zu führen und kaum Reserven besitzt, einem zweiten Barbarensturm im Norden standzuhalten. Gern lassen sich die Römer zur Beruhigung der verängstigten Gemüter von heimkehrenden Offizieren oder von zu Besuch weilenden Provinzialen von den riesenhaften Befestigungsanlagen an der Barbarengrenze erzählen. Schon Domitian und Trajan hatten die festen Standlager der Legionen durch eine Kette von Verteidigungswerken ergänzt, die sich vom Mittelrhein über den Odenwald bis ins Neckarland erstreckte. Hadrian hatte die Donauwehr errichtet, einen geschlossenen Wall von Kastellen und Wachtürmen, der entlang des großen Stromes bis zum Schwarzen Meer führt. Unter Antoninus Pius waren im „Zehentland" — zwischen Main, Rhein und oberer Donau —- Völkerschaften, die als Bundesgenossen im römischen Heer dienten, als Grenzschutz angesiedelt worden. Auch heute noch werden den Militärsiedlern alle Erleichterungen gewährt, um den gefährdeten Bogen zwischen Donau und Main zu sichern. Der südliche Limes ist aus einem mit Flechtwerk geschützten Erdwall zu einem geschlossenen Palisadenwerk mit Mauer und Graben ausgebaut; Wachtürme und Festungen dienen dem Schutz der Grenze. Und immer noch wird dort oben am Rande der Römerwelt gebaut. Aber die Unruhe bleibt. Alle Nachrichten aus dem Norden sprechen vom Fortgang jener tiefgreifenden Gärung, 60
die in den Tagen Marc Aureis die germanischen Stämme ergriffen hat. In dem Gewühl sich verschiebender, wandernder und kämpfender Stämme ist keine Ordnung zu erkennen, aber die Tatsache besteht, daß die Germanen weiterhin in Bewegung sind. Neue Stammesnamen tauchen in den Berichten auf, die auf Verbindungen kleinerer Stammesgruppen unter gemeinsamer Führung hinweisen. Vom östlichen Ufer des Niederrheins und vom Nordufer des Mains vernimmt man den Namen eines Stammesbundes, der sich im Gegensatz zu den römerfreundlichen Germanen im Westen und Süden Franken nennt; aus der Ferne des Holsteinlandes dringt der Name der Sachsen, und zwischen Oberrhein und Donau, gegen den Limes vordringend, schließen sich die Sueben mit anderen Stämmen zum alemannischen Bund oder — wie sie sich selber nennen — als „Genossen des Götterhaines" zusammen. Schwächere Scharen von Grenzgermanen, die ihre Wohnsitze verloren haben, bitten um Aufnahme in den Landstrichen am Inn oder im Zehentland. Die Linien, die am Main, am rätischen Limes und an der Donau entlangführen, sind wie Saiten gespannt. Kein römischer Politiker vermag die Vorgänge in der Tiefe der nordischen Wälder und Gebirge zu durchschauen, kein General kann den Frieden garantieren, der heute noch besteht und morgen vielleicht schon im Feuer brennender Grenzsiedlungen, überrannter Kastelle und Lager, im Gewoge kriegerischer Völker zusammenbrechen wird.
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ANMERKUNGEN *) Pt., letzter großer Naturwissenschaftler der Antike, um 100—178 n. Chr.; er entwarf das nach ihm benannte Sonnensystem mit der Erde als Mittelpunktscheibe (Ptolemäisches Weltsystem); er errechnete die Unterlagen für die 140 n.Chr. gezeichnete Weltkarte mit rd. 8000 geographischen Namen; — 2) Griechen und Römer bezeichneten alle vom römischen Standpunkt aus Unzivilisierten als Barbaren; — 8 ) S., geb. um 75 n.Chr., verfaßte Lebensbeschreibungen der ersten 12 röm. Kaiser, vielfach subjektiv gefärbt; — «) zerstört durch Titus, 70 n.Chr. {vgl, Heft 14); — 6) 1 S. = rd. V« Mark; — •) der L. bestand aus festem Erdwall mit Palisadengraben, später z. T. Steinmauern. Auf 550 km Länge verteilten sich über 1000 Wachttürme mit Signalanlagen und 100 Kastelle; — ') persischer Lichtgott, meist in Gestalt des Urstiers, aus dessen Blut sich alles Leben entfaltet; zahlreiche M.-Heiligtümer in der kaiserlich-römischen Welt; der M.-Kult zeitweilig mit dem Christentum um den Vorrang ringend; — 8 ) Hauptgöttin Ägyptens, im röm. Reich der Kaiserzeit vielerorts hochverehrt; — •) über 50 km; —
10
) eine
Verbindung vom Nil und Mittelländischen Meer zum Roten Meer bestand im Altertum 1000 Jahre lang, später versandet; — steller um 130 n.Chr.; —
12
12
) nach Arrian, Schrift-
) der spätere Kaiser Antoninus Pius, 138—161
n. Chr.; — ") der spätere Kaiser Marc Aurel, 161—180 n. Chr.; — 1 4 ), 1 S ) und 16
) aus Marc Aureis „Selbstgesprächen"; — 17) im Jahre 167 n.Chr., es war
der erste planmäßige Angriff der Germanen auf die römische Grenzlinie; — 1B
) P. wurde um 100 durch den Apostel Johannes Bischof von Smyrna; über
seinen Märtyrertod ist ein zeitgenössischer Bericht erhalten; —
19
) Kirchen-
20
vater, der bedeutendste Theologe des 2. Jhs.; — ) Schüler des hl. Johannes; — 21) aus den „Selbstgesprächen"; — 22) und 23) aus der „Gotengeschichte" des Jordanes; — 2*) aus den „Selbstgesprächen".
m
ZEITTAFEL 89—117 Kaiser Trajan, diente unter Kaiser Vespasian n. Chr. (s. Heft 14) in Syrien, unter Kaiser Nerva Statthalter in Obergermanien, von Nerva adoptiert; baute den Limes aus, gründete die Städte Xanten und Nymwegen. 106 Sieg über dieDaker an der unteren Donau (die Kämpfe sind auf der berühmten Traj anssäule in Rom dargestellt); Erweiterung des Reiches um Nordarabien, Mesopotamien, Assyrien, Armenien; größte Ausdehnung des römischen Reiches. Großzügiger Ausbau des Straßen- und Verkehrswesens. Bau des großen Trajansforums. Adoption Hadrians als Nachfolger. 117—138 Kaiser Hadrian, gibt Traj ans Eroberungen jenn.Chr. seits des Euphrat wieder auf; innere Reformtätigkeit, bedeutende Bauten, u. a. die Engelsburg; „Reisekaiser". 118
Verschwörung und Tod des Quietus; Erlaß der Steuerschulden.
120
Suetons Kaiserbiographien.
122 125
Hadrianswall in Britannien. Hadrian in Griechenland; Bau des OlympeionTempels.
130
Hadrian in Ägypten; Tod des Antinous.
131 Beginn des Krieges gegen die Juden. 138—161 Kaiser Antoninus Pius, Adoptivsohn Hadrians, n.Chr. Fortsetzung der Friedenspolitik; AntoninusLimes gegen die Schotten. 161—180 Kaiser Marc Aurel, der „Philosoph auf dem n. Chr. Thron"; teilte bis 169 die Herrschaft mit seinem Stiefbruder L. Verus und später mit seinem Sohn Commodus; trotz großer Tatkraft und kluger Gesetzgebung innere Aushöhlung durch Pest, Hungersnöte, Wirtschaftsverfall, Verfall des Götterglaubens, Christenverfolgung. 63
165
Ende des Partherkrieges.
166
Die Markomannen brechen über die Grenze; erster großer Angriff der Germanen über die ganze nördliche Grenzlinie. Sie überqueren die Alpen, plündern Norditalien.
169
Die große Pest im römischen Heer
180
nach wechselvollen Kämpfen Ende der Grenzkriege; Germanen siedeln rechts der Donau auf röm. Reichsboden als,,Untertanen''.Das Schwergewicht des Reiches verschiebt sich auf Grund der Bedrohung durch die Germanen und durch das neupersische Reich nach Osten.
180
Marc Aurel stirbt im Feldlager an der Donau in Vindobona (Wien), Da der Kaiser das Nachfolgesystem durch Adoption aufgehoben hat, stützen sich die Kaiser künftig ganz auf das Heer oder werden als „Soldatenkaiser" nach Willkür von den Truppen- oder Truppenteilen erhoben, abgesetzt oder beseitigt.
235—284 Die Soldatenkaiser, Zeit größter Wirren. Unter n.Chr. dem Soldatenkaiser Decius große Christenverfolgung (249—251); erneute Christenverfolgung unter Valerian (253—260).
Alle Rechte vorbehalten; Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Kartenzeichnung: Anton Eckert; Illustrationen: H. G. Strick Druek: Dr. F. P. Datterer & Cie. -Inhaber Sellier-Freising/Obb.
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Der Leser, der die in diesem Heft geschilderten Ereignisse im großen Rahmen weiterverfolgen will, wird auf die spannend geschriebene Weltgeschichte
BILD DER JAHRHUNDERTE von OTTO Z I E R E R verwiesen. In neuartiger, eindrucksvoll erzählender Darstellung behandelt Otto Zierer im „Bild der Jahrhunderte", dem der Text zu dem vorliegenden Heft im wesentlichen entnommen ist, die Geschichte des Abendlandes und der Welt von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.
Der Kauf leicht gemacht Das „Bild der Jahrhunderte" kann auf Wunsch bei sofortiger Lieferung ohne Anzahlung gegen zwanzig Monatsraten erworben werden: DM 10,90 für die Rotleinen-Ausgabe, DM 13,75 für die Lux-Luxus-Aüsgabe. Das Werk besteht aus zwanzig Doppelbänden, dem Band 41/44 und dem Historischen Lexikon; es umfaßt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunstdrucktafeln, 500 Lexikonbilder und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enthält Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen und Zeittafeln. Zusätzlich können zur vollen Erschließung des „Bild der Jahrhunderte" der Registerband mit Sach- und Namensverzeichnis und einer Inhaltsübersicht über das Gesamtwerk und Lux-Historischen Bildatlas mit 131 sechsfarbigen Karten 18,5 X 25,5 cm sowie 72 Seiten historische Bilder und Texte geliefert werden. Preis des Werkes bei Barzahlung: Rotleinenausgabe DM 198,— I Lux-Luxusausgabe DM 250,— Registerband DM 7,50 | Registerband DM 10,50 Lux-Historischer Bildatlas, Lux-Luxusausgabe DM 19,80 Presseurteile zu Otto Zierer: BILD DER JAHRHUNDERTE „Wenn Napoleons Formulierung, Genie sei die Verbindung von Phantasie und Fleiß, zutrifft, so liegt diesem Werk gewiß Genie zugrunde. Die Wucht, mit der dem wissenden Leser längst Versunkenes wieder emporgeholt, dem weniger wissenden Neues vorgetragen wird, bleibt aller Bewunderung wert." Die Neue Zeitung „Mit einer unwahrscheinlichen Anpassung in Sprache und Szenerie trifft der Autor die Atmosphäre, die aus dem Wissen um die geschichtlichen Ereignisse ein so lebendiges Erleben schafft, daß der Leser sich als Teilnehmer an den abrollenden Ereignissen wähnt. Mehr vermag ein Geschichtswerk nicht zu geben. Die Absicht des Autors ist in diesem Werk voll erfüllt." EVROPA-Ünian Prospekte durch jede Buchhandlung und durch den Verlag VERLAG S E B A S T I A N L D X - M U R N A U VOR MÜNCHEN