Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
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Als Roswitha Henneberg nach längerer Bewußtlosigkeit im Krankenhau...
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Kriminalroman
Delikte Indizien Ermittlungen
Reihe
Als Roswitha Henneberg nach längerer Bewußtlosigkeit im Krankenhaus zu sich kommt, gelten ihre ersten Gedanken dem schrecklichen Sturz mit dem Motorroller. Zwischen Wachen und Dahindämmern erinnert sie sich an eine Schnur, die über die Straße gespannt war, und an ein Gesicht, das sich haßverzerrt über sie beugte. Leutnant Kielstein, der zunächst an eine zügige Aufklärung des Falls glaubt, gerät bald in eine Sackgasse. Er kann nicht wissen, daß ihn die schwerverletzte Frau nach anfänglicher Unterstützung bewußt irreführt, weil sie erst einmal selbst die Gründe für dieses ihr ganz unbegreifliche Werbrechen verstehen will. Eine Geschichte, deren Kriminalhandlung nicht Selbstzweck der Gestaltung ist, sondern die in der Auseinandersetzung mit überholten und starren Denk- und Verhaltensweisen einen Nerv unserer Zeit trifft.
Klaus Möckel
Haß
Verlag Das Neue Berlin
1. Die schwarze … massive … Platte, die mich schon die ganze … Zeit niederdrückt… hebt sich schaukelnd … von meiner Stirn, wird grau … hellgrau, weiß. Sie … weicht zurück, und es ist keine … Platte mehr, es ist eher ein kalk … farbenes Tuch, ein … Leichentuch. Mein Leichentuch … Denn mir, Roswitha … Henneberg, ist etwas … Schreckliches zugestoßen … und obwohl mich das Dunkel in meinem Kopf … am Überlegen hindert, beginne ich mich langsam … zu erinnern. Die Kurve … die Schnur … der Sturz, der Aufprall. Und das Gesicht … hinter der Brille, das haßverzerrte… Gesicht. Vielleicht habe ich das … alles nur geträumt. Aber da sind die Schmerzen … im Rücken, die sich sacht … regen, da sind die Stiche … im Bein. Durchs Fenster fällt … fahles Sonnenlicht … Wieso hat dieses kalk … bleiche Tuch ein Fenster? Weil es kein Tuch … ist, sondern eine … weiße Wand. In einem weißen … Zimmer. Wo ich … auf einem weißen Bett … liege. Auf einem … Krankenhausbett. Nein, ich habe nicht … geträumt, mir ist etwas sehr … Schlimmes passiert … und es war kein … Unfall. Ich sehe die … Straße vor mir, die Bäume … rechts und links … die Kurve hinter dem Hügel, den hellen … Strich der Schnur im Schein … werferlicht, ich durchlebe erneut den Sturz … verspüre den … Aufprall. Und starre … in das Gesicht mit der … Motorradbril-
le, das dicht vor mir auf … taucht, aber sofort wieder verschwimmt … so daß ich mich vergeblich … bemühe, seine Konturen festzuhalten … Dann stehen zwei Schatten neben meinem Bett, und auch sie … sind weiß: weiße Schatten, was … für ein Unsinn. Der eine Schatten, der … kleinere, beugt sich zu mir herab und sagt etwas. Eine … Stimme, auf – und abschwellend wie ein … ferner Sender, dringt an mein … Ohr. Laut … leise … leise … laut: „Sie scheint … sich zu kommen … Herr … oktor.“ Der größere … Schatten neigt sich leicht … nach vorn, wackelnd … schwankend, eine Panoptikumsfigur … und flüstert: „Na, wie …eht es uns, Frau …nneberg?“ „Uns“, hat er gesagt … „uns“, was mag er nur … wollen? Ob noch mehr Leute in … diesen Sturz verwickelt sind … noch mehr in diesem Raum? Aber nein … ich war allein auf der Straße … liege … allein im Zimmer. Wie geht es … uns … eine … Floskel, eine ganz allgemeine … Frage, wie sie die Ärzte … stellen, ohne eine Antwort zu erwarten … Schlecht geht es … schlecht … wenn ich auch … brav … zu lächeln versuche … Er, der Doktor … lächelt zurück, bevor er wieder … zum Schatten wird … und dann … im Weggehn, flüstert er … kaum noch verständlich: „Lassen … ir sie schlafen, Schwes … Patient … aucht Ruhe.“ Allein in diesem … Krankenzimmer, durch dessen Fenster jetzt schmal die Sonne … fällt. Ein magerer Streifen, mager wie dieser ganze … verunglückte Sommer. Trotzdem gibt der Strahl Wärme, der nackte Raum wirkt … lebendiger, der bräunliche Fußbodenbelag beginnt … ein wenig zu glänzen, und gelänge es mir, die
Hand auszu … strecken, könnte ich die plötzlich … flimmernde … Kante des Nachttischchens berühren. Wie zu Hause … Sonnabend – oder Sonntagmorgen, wenn ich nicht zur Arbeit muß. Wenn ich mir die halbe Stunde Geruhsamkeit … vor dem Aufstehn gönne, das Nachdenken … über die vergangene Woche … das Vorausdenken bis zum Abend, das Nicht … denken … die Erinnerung an die wenigen schönen Augenblicke in meinem Leben, aber nie das Träumen … Träume führen zu nichts, ich habe sie mir seit langem abgewöhnt. Die Kante des Nachttischs flimmert … doch ich kann die Hand nicht … nach ihr ausstrecken, ich bin zu schwach. Ich kann … das Bein nicht bewegen, das schmerzt … den Kopf nicht anheben, der einer großen, dumpf dröhnenden … Trommel gleicht. Den schweren Weih … Wasserbecken in den Kirchen … meiner Kindheit. Mutter … weshalb muß ich gerade jetzt … an dich denken… Du hast es gut gemeint … aber du hast zuviel verschwiegen. Glauben … und sich unterordnen. Beten, vertrauen, doch keine Fragen stellen. Die Kindheit … ich möchte sie fassen … aber ich liege hier, und alles … verschwimmt. Ich schwimme mit … auf einer Wolke, die mich umhüllt und weg … trägt. Der Fußboden … die Sonne … wo ist der magere Streifen … Wärme geblieben? Schlafen … dahindämmern … nachdenken. Wie lange mag ich schon hier sein: eine Nacht … einen Tag … zwei Tage? Keine Sonne mehr im Zimmer, eher abendliches Dunkel, gestern … oder vorgestern … war es auch dunkel, ein grauer … verregneter Tag; morgens, als ich zur Arbeit fuhr, sah es noch so aus, als wollten
die … Nässeschleier über den See nach Süden … abziehen, aber dann kamen neue Wolken, richtige Geschwader. Der Weg vorm Haus voller Pfützen, die Straße glitschig … am Fabriktor ein ganzer See, so daß die Leute … fluchend zurücksprangen, wenn ein LKW oder Barkas … zu forsch heranfuhr. Ich sprach mit dem Pförtner übers Wetter … das jetzt, im Oktober, genauso schlecht war wie schon im Juli und Au … gust, und später noch mal mit Gerd Grollmann … dem Ersten Lageristen der Elektroakustik. Dann verlief der Tag mit den üblichen Gesprächen und … Anweisungen, war mit Arbeit vollgestopft bis zum Gehtnichtmehr … Junghans rief dauernd an, weil die neuen Barometer nicht kamen, und ich schlug mich mit dem Leiter vom Fuhrpark herum, der den Unschuldigen spielte. Gegen elf hatten wir eine BGL-Sitzung, doch da Braun Urlaub macht und also keiner anwesend war, der am Stänkern Freude hat … spulte sich alles ohne Zwischenfall ab. Um den Planvorlauf drehte sich’s … und um einen Neuerervorschlag. Hoffmann II aus der … Uhrenabteilung hat sich da was mit neuen Transportpaletten ausgeknobelt, aber ich befürchte, daß die Arbeits … erleichterung minimal ist und daß es ihm hauptsächlich um die Prämie … geht. Ich hab’, wie üblich, nicht mit meiner Meinung hinterm Berg gehalten. Wenn wir seinerzeit … hätten alle unser Geld so leicht verdienen wollen … wo ständen wir heute? Um drei eine Unterhaltung mit der Grenz … fast freundschaftlich, weil sie endlich mal was Gutes gemacht hat, sich in der letzten Zeit überhaupt ein bißchen mehr am Riemen reißt … um vier Feierabend … dann
der Abstecher in den Konsum – da hatte es mal kurz zu regnen aufgehört. Ein paar blaue Stellen am Himmel … so ein blasses, falsches Blau, als Kinder sagten wir Magermilchhimmel dazu, doch bald war wieder alles in Schwarz getaucht, und als ich mein bißchen … Wurst und Käse eingekauft hatte, begann es erneut zu strippen. Natürlich hatte ich den … Regenumhang dabei, die Kapuze noch feucht vom Morgen, und wenn mich das viele Wasser auch nicht beglückte, das an mir … herunterlief, es war weiß Gott nicht das erste Mal. Als ich bei Margit vorbeifuhr, hatte ich Lust … zu hupen, obwohl ich das seit Jahren nicht mehr getan hatte … Wir sehn uns im Betrieb, das läßt sich nicht vermeiden … wir grüßen uns sogar – anfangs, nachdem sie mir Siegfried weggenommen hatte, war sie Luft für mich –, aber das ist auch alles. Und natürlich hupte ich nicht, weshalb sollte ich einen solchen Schritt tun? Selbst wenn sie von sich aus käme, mich … einladen würde: „Schau doch nach der Arbeit mal vorbei, Witha, ich hab’ mich damals … schäbig benommen, aber seither ist so viel Zeit vergangen … wir zwei waren doch gute Freundinnen“, selbst dann müßte ich mich überwinden. Es ist der Stolz … der nein sagt. Und woran hätte ich mich all die Jahre halten sollen, wenn nicht an meinen … Stolz. Ich fuhr also durchs Robert-Koch-Viertel, an der neuen Schule vorbei … und nahm dann, wie stets, die … Abkürzung hinterm Stadion. Dort ist die Durchfahrt eigentlich untersagt, doch hat mich mit dem Roller noch nie … jemand angehalten. Weshalb auch … der Weg ist übersichtlich, und ich nehme mir Zeit. Selbst wenn es so regnet wie gestern, das gehört sich einfach … Manch-
mal kommen einem trotz allem Kinder entgegen … Später, auf der Landstraße, hab’ ich dann Tempo aufgemacht. Und nachdem ich den Abzweig Fichtengrund erreicht hatte, wo es kaum noch Verkehr gibt … war ich wohl bei sechzig Sachen angelangt. Gewiß, der Asphalt ist dort voller Löcher und, wenn’s regnet … unangenehm seifig, aber ich kenne ja jeden Meter. Ich könnte die Strecke blind fahren, so oft bin ich da entlanggekutscht … Erst der Hügel, dann die scharfe Kurve … Ich fuhr aber nicht blind, ich hatte wegen des Wetters und der anbrechenden Dunkelheit den Scheinwerfer angemacht. Doch ob nun Scheinwerfer oder nicht … niemals bisher, nie ist etwas passiert.
2. „Die Patientin ist noch sehr schwach“, flüstert die Schwester, „und spricht kaum. Deshalb war ich ja so erschrocken. Ich erwähnte nur, daß sie nach ihrem Unfall schön still liegen müsse, da fuhr sie mich an, das sei kein Unfall gewesen. Wirklich, sie fuhr mich richtiggehend an; sie sprach zwar leise, aber mit einer unwahrscheinlichen Schärfe, und dabei riß sie die Augen auf. Ich sagte: ,Na na, Frau Henneberg, was erzählen Sie denn da, beruhigen Sie sich bitte’, aber sie wurde bloß noch aufgeregter. ,Es war ein Anschlag, Schwester, eine Schnur war quer über die Straße gespannt, und sein Gesicht haßverzerrt.’ Also, ich dachte, ich hör nicht recht. ,Sein Gesicht?’ fragte ich, und bestimmt hat sie meine Verblüffung mitgekriegt, ,wessen Gesicht?’ Sie aber gab keine Antwort, ich konnte nichts weiter aus ihr herauskriegen. Obwohl sie noch mehrmals davon anfing.
Ich weiß nicht, ob sie sich das alles nur einbildet. Jedenfalls dachte ich, es sei besser, wenn ich das der Polizei mitteile,“ Die Schwester ist klein, rotblond und hat runde dunkelblaue Augen. Eine Samariterseele, wie man sie auch in Krankenhäusern nicht mehr so häufig antrifft. Sie macht ein schuldbewußtes Gesicht – der Arzt hat das eigenmächtige Gespräch mit dem VP-Amt offenbar mißbilligt, er hält die Aussage der Patientin für Spintisiererei. Kielstein jedoch, der infolge dieses Anrufs in die Klinik gekommen ist, setzt seine Schuljungenmiene auf, lächelt ihr aufmunternd zu. „Es war durchaus richtig, sich an uns zu wenden. Um solchen Dingen nachzugehen, sind wir ja da.“ In Wirklichkeit gibt es freilich besondere Gründe, daß er sich der Sache angenommen hat. Er kann den Arzt verstehen, wenn er die wirren Behauptungen einer noch halb benommenen Patientin nicht allzu ernst nimmt. Was ihn dennoch bewogen hat, selber hierherzufahren (und nicht Felsch, Andreesen oder sonstwen zu schicken), das ist der Name der Verunglückten. Eine Roswitha Henneberg hat Kielstein vor zwei Jahren bei einem Gerichtsprozeß als Schöffin kennengelernt. Eine mittelgroße, energische Frau mit herben Gesichtszügen, Anfang der Fünfzig und recht intelligent. In dem Prozeß ging es um ein größeres Wirtschaftsverbrechen: Einige leitende Mitarbeiter eines Transportbetriebes hatten über ein privates Fuhrunternehmen Treibstoff verschoben. Solche Straftaten mehrten sich in den letzten Jahren beängstigend, und die Urteile waren demzufolge
nicht gerade milde ausgefallen. Kielstein, in der Verhandlung nur Beobachter – an der Aufdeckung des Vergehens hatte er allerdings großen Anteil gehabt –, wurde anschließend vom Staatsanwalt im Wagen mitgenommen. Zusammen mit eben jener Frau Henneberg. Dabei war er ins Gespräch mit ihr gekommen, hatte erfahren, daß sie in einem Großlager arbeitete, in verantwortlicher Stellung, und auch noch eine Gewerkschaftsfunktion bekleidete. Die Persönlichkeit dieser Schöffin hatte sich ihm eingeprägt. Bündig formulierte Gedanken, eine entschiedene Sprechweise, Selbstsicherheit. Aber auch eine Strenge in Worten und Gesten, die ihm nicht so ganz gefiel. Nun ja, es war eine andere Generation. Jedenfalls hat er sich bei dem Anruf aus dem Krankenhaus gleich an sie erinnert. Diese Frau würde wohl kaum irgendeinen Unsinn erfinden, nur um sich interessant zu machen. Die Schwester ist zu der Patientin gegangen, um sich von ihrem Befinden zu überzeugen, jetzt steht sie wieder in der Tür des Besucherzimmers. „Sie ist aufgewacht, Sie können mit ihr reden“, sagt sie. „Aber bitte nicht länger als vier Minuten, der Doktor hat es mir ausdrücklich aufgetragen.“ Vier Minuten, warum gerade vier, denkt Kielstein, erwidert jedoch nichts. Er lächelt erneut, nickt und schaut zum Zeichen des Einverständnisses auf seine kürzlich erstandene Quarzuhr. Dann folgt er der Rotblonden. Er ist großgewachsen, überragt sie um Kopfeslänge, doch im Kielwasser ihres etwas zu breit geratenen Hinterteils fühlt er sich durch den Korridor geleitet wie von einem Lotsenboot. Roswitha Henneberg liegt in einem Einzelzimmer, das
Kielstein in seiner Kahlheit trostlos vorkommt. Ein Nachttisch, ein Bett, ein Stuhl, ein Blechschrank in der Ecke, ein mit Plast abgedeckter Rollstuhl neben dem Fenster. Doch vielleicht ist das normal und hauptsächlich das bleiche, spitze Gesicht der Patientin an diesem Eindruck schuld. An das sich der Kriminalist nicht konkret, aber doch irgendwie anders erinnert. Was hab’ ich denn erwartet, denkt er ärgerlich und zieht sich mit eckiger Bewegung den Stuhl ans Bett. Die Rotblonde schließt leise die Tür hinter ihm. „Die Kripo“, sagt die Patientin, und Kielstein erkennt ihre eigenartig kratzende Stimme wieder, „ich … hab’ Sie nicht gerufen … doch es ist gut, daß Sie kommen.“ Sie versucht sich in ihren Kissen aufzurichten, sie schafft es nicht. „Bitte bleiben Sie liegen, strengen Sie sich nicht an. Es genügt, wenn Sie mir ein paar Fragen beantworten. Ich bin Leutnant Kielstein, vielleicht erinnern Sie sich an unsere Begegnung vor zwei Jahren nach dem Benzin-Prozeß. Sie nahmen damals als Schöffin teil. Hinterher saßen wir beide im Wagen von Doktor Paters.“ Ein Funken leuchtet in ihren Augen auf. „Der BenzinProzeß … Richtig … Sie sind das. Es ist mir recht, daß gerade Sie sich … meines Falles annehmen. Obwohl ich Sie natürlich lieber unter anderen Umständen … wiedergetroffen hätte. Gewiß sehe ich schrecklich aus, nach meinem entsetzlichen … Sturz.“ Kielstein gibt keine Antwort auf diese halbe Frage; ja, sie sieht schlecht aus, und er will nicht heucheln. Er denkt aber, daß diese Geschichte vorläufig kein Fall ist und hoffentlich nie einer werden wird. Er zieht den
Stuhl noch zwei Zentimeter näher ans Bett, beugt sich vor und sagt vorsichtig-umständlich: „Frau Henneberg, die Schwester teilte mir mit, daß Sie nicht, wie von der Verkehrspolizei bisher angenommen, an einen selbstverschuldeten Unfall glauben.“ Die Frau erwidert mit leiser, doch ziemlich erregter Stimme: „Es war kein Unfall und schon gar kein selbstverschuldeter … Ich kenne die Strecke wie meinen … Küchenschrank, ich lege sie täglich zweimal zurück. Früher mit dem Fahrrad … seit einigen Jahren mit dem Motorroller. Ich passe auf, ich … beteilige mich nicht an der Erhöhung der Unfallquote.“ Warum muß diese Frau mit dem Motorroller fahren, denkt Kielstein, sie könnte sich doch bestimmt einen Trabant leisten. Ob sie ihre Hunderter lieber zur Sparkasse bringt? Er wendet ein: „Die Straße war glitschig am betreffenden Tag, Sie stürzten, als Sie aus der Kurve herauskamen und das Tempo beschleunigten. Es ging auf den Abend zu. Zwischen den Bäumen war es dunkel.“ „Ich stürzte, weder weil es … glatt noch weil es … dunkel war. Ich beschleunigte, wie ich … an dieser Stelle immer beschleunige. Auch bei Regenwetter … Ich hatte das Licht angeschaltet. Das Unglück war nur, daß ich die Schnur zu spät sah.“ Sie läßt den Kopf, den sie zuletzt etwas angehoben hat, ins Kissen zurückfallen. „Sie bleiben also dabei, daß über die Straße eine Schnur gespannt war?“ „Ja“, sagt die Frau und starrt ihn an, „sie war wie ein … Strich, wie ein Messer. Ich … ich nahm instinktiv die Beine zurück. Obwohl ja das Schutzblech davor war …
Ich raste mitten in diese Schneide hinein.“ Sie dreht das Gesicht leicht zur Seite, wohl die einzige Bewegung, zu der sie nun noch die Kraft findet, und schließt die Augen. Kielstein begreift, wie sehr das Sprechen sie ermüdet, und schaut unwillkürlich zur Uhr. Drei Minuten sind vergangen: Der Arzt weiß Bescheid. Doch die Patientin erholt sich und fragt: „Sie … glauben mir nicht?“ „Wir werden Ihre Aussage überprüfen. Es müßten sich Spuren finden lassen.“ „Bestimmt finden Sie … Spuren, bestimmt.“ „Sie haben der Schwester dann noch etwas von einem Mann erzählt, der sich über Sie beugte, bevor Sie das Bewußtsein verloren?“ Sie schweigt einen Augenblick. „Ein Mann“, sagt sie, „ich weiß nicht … Das hab’ ich nicht gesagt. Vielleicht ein Mann, vielleicht … Es war ein Gesicht, verstehen Sie, ein Gesicht mit einer Motorradbrille. Wie in einem Alptraum. Ganz nahe … ganz haßverzerrt. Es … es war entsetzlich.“ Sie wendet den Kopf erneut zur Seite, behält jedoch die Augen offen. Sie scheint jetzt außerordentlich erregt. Der Leutnant nimmt das zur Kenntnis, ist aber keineswegs überzeugt, daß es sich bei ihren Worten um die Wahrheit handelt. Möglicherweise doch nur eine Fieberphantasie. Die Frau hat einen Schock erlitten, eine Menge Blut verloren, sie ist operiert worden, hat fast zwei Tage ohne Bewußtsein gelegen und ist auch jetzt alles andere als gesund. Man wird sehen, was die Untersuchung des Motorrollers ergibt, den die Verkehrspolizei sichergestellt hat. Und die Besichtigung des Unfall-
ortes, wenn auch nach einer halben Woche schlechtem Wetter dort kaum noch etwas zu entdecken sein dürfte. „Dieses Gesicht, ich meine, kam es Ihnen bekannt vor?“ fragt Kielstein. Die Frau schaut ihn an und erwidert nichts. Dann, nach einigen Sekunden, formen ihre Lippen ein tonloses Nein. „Haben Sie vielleicht irgendeinen Verdacht, wer die Schnur gespannt haben könnte, Frau Henneberg?“ Die Tür hinter ihm öffnet sich, und die Rotblonde steckt den Kopf durch den Spalt: „Die vier Minuten sind um, Herr Leutnant, die Patientin ist erschöpft, Sie müssen Schluß machen.“ Kielstein nickt und erhebt sich zögernd; die Frau auf dem Krankenbett scheint bereits zu schlafen. Er trägt den Stuhl an seinen alten Platz zurück, verläßt den Raum. „Haben Sie denn noch etwas erfahren?“ kann sich die Schwester nicht enthalten zu fragen. „Etwas erfährt man immer“, murmelt Kielstein weise wie Salomon und fügt versöhnlich hinzu: „Es ist schon in Ordnung, daß Sie uns benachrichtigt haben.“
3. Er nimmt den Bus in die Stadt zurück und versucht sich während der Fahrt ein erstes Bild zu machen. Aber er sieht immer nur das blasse, kantige Gesicht der Frau im Krankenbett vor sich, ihre großen Augen, das strähnige, von der Schwester wahrscheinlich am Morgen recht und schlecht gekämmte Haar. Ihre Stimme, ja, die hat noch den einstigen schroffen Klang
gehabt, dieses Kratzen, die Härte. Aber sonst? Wie anfällig wir doch alle sind, denkt er, ein unvermuteter Schlag wirft uns aus den stabilsten Gleisen. Er spürt die Lust zum Philosophieren in sich – der Mensch, ein denkendes Schilfrohr, wie hieß gleich der französische Gelehrte, der das Wort geprägt hatte. Aber er ruft sich schnell zur Ordnung. Diese Frau Henneberg würde wieder auf die Beine kommen und genauso selbstsicher darauf wandeln wie ehedem. Im Straßenverkehr hielt sie sich ja anscheinend jetzt noch für unfehlbar. Wie schön, wenn die Schnur, das haßverzerrte Gesicht dennoch bloß in ihrer Einbildung existierten. Doch er hat das unangenehme Gefühl, daß sein Wunsch nicht in Erfüllung gehen wird. Er steigt am Platanendreieck aus, spendiert sich am Kiosk eine Currywurst mit Brot sowie einen Becher Brühe und hastet dann mit großen Schritten in die Dienststelle. Von seinem Zimmer aus, das kürzlich renoviert worden ist (endlich einmal!), telefoniert er mit Brenner von der Verkehrspolizei. Sie beide kennen sich schon lange, haben auch den gleichen Dienstrang. „Der Vorgang Henneberg?“ sagt der andere. „Klar ist mir das ein Begriff. Ich hab’ ihn noch auf dem Tisch, und das Fahrzeug steht unten im Hof. Die Besitzerin liegt ja im Krankenhaus, und nähere Verwandte scheinen nicht dazusein, wenigstens nicht hier im Ort.“ Ob den Genossen etwas aufgefallen sei, will Kielstein wissen, und Brenner fragt ganz erstaunt: „Wieso? Die Sache ist doch eindeutig. Überhöhte Geschwindigkeit auf unübersichtlicher, regennasser Fahrbahn. Bedauerlich ist der schwere Sturz selbstverständlich, aber be-
stimmt kein Wunder. Da predigt man und predigt, warnt die Leute über Presse, Funk und Fernsehen, führt Belehrungen durch und gründet Verkehrsaktivs. Man schreckt nicht vor empfindlichen Geldstrafen zurück und entzieht die Fahrerlaubnis, aber all das nützt nur wenig. Und so schlimm dieser Unfall sein mag, er ist nur ein kleiner Stein auf einem Berg, der das ganze Jahr über wächst.“ Brenner ist in seinem Element, doch Kielstein, der sich auf die Schreibtischecke gesetzt hat, rutscht immer ungeduldiger hin und her. „Gut, gut“, ruft er ins Telefon, „du hast ja recht, nach eurer Meinung ist es eine klare Sache. Ich komm’ trotzdem mal ‘rüber und schau’ mir die Karre an, den Bericht hätt’ ich auch gern auf dem Tisch. Bothe wird dir morgen sicherlich erklären, weshalb.“ Er legt auf. Felschs Boxernase schaut zur Tür herein, was Kielstein durchaus in den Kram paßt: „Komm, wir müssen ‘rüber zum Verkehr.“ Der Kriminalmeister ist wie meist die Gelassenheit in Person. Er fragt nicht viel, legt die Mappe mit der Diebstahlsgeschichte, die ihn gerade beschäftigt, aus der Hand und folgt dem Leutnant. Auf dem kurzen Weg, den sie zu Fuß zurücklegen, läßt er sich den Sachverhalt erläutern. „Nein, ich weiß noch nicht, ob wir uns da wirklich reinhängen“, erklärt Kielstein, „aber Bothe ist einverstanden, daß wir dem Verdacht erst mal nachgehen, und wenn die Aussage der Henneberg stimmt, haben wir schon eine Menge Zeit verloren.“ Er versetzt einer leeren Sprayflasche vor seinen Füßen einen Tritt, der dem Fußballstar Streich Ehre gemacht hätte. Felsch geht einer Pfütze aus dem Weg und sagt ruhig:
„Eine Schnur über die Straße spannen, wer tut so was? Irgendein Lausebengel? Ich kann mich nicht erinnern, daß mir in meiner Laufbahn je eine solche Gemeinheit begegnet wäre!“ „Hoffen wir“, gibt Kielstein zur Antwort, „daß der Täter nur in der Phantasie der Verunglückten existiert.“ Der „Troll“ steht unter einem Schuppendach und ist mit einer Plane abgedeckt. Er sieht verbogen und verbeult aus, der Lenker sitzt schief, die vordere Schutzverkleidung ist halb gelöst, der Lack an verschiedenen Stellen abgeschrammt. Doch genaugenommen ist dem Roller weniger passiert als seiner Fahrerin. „Na, dann wollen wir mal“, sagt Kielstein, „aber Vorsicht, damit wir nicht noch mehr zudecken, als es die Ahnungslosen taten, die hier vor uns am Werk waren.“ Er holt ein Vergrößerungsglas aus der Tasche und hockt sich hin. Ohne etwas zu berühren, untersucht er Zentimeter um Zentimeter den Vorderreifen, das vordere Schutzblech, die Lenkung. Felsch geht um das Fahrzeug herum und gleichfalls in die Hocke. So geduckt ist er fast breiter als hoch, ein Steinquader. Er tastet das Rad mit dem bloßen Auge ab. Verkrusteter Schmutz, kleine Steine, Laubreste. „Ob hier wirklich was zu entdecken ist“, sagt er zweifelnd. „Leider sieht’s ganz danach aus“, Rudolf Kielstein geht mit dem Glas noch einen Zentimeter näher an die Kante des Schutzblechs heran. „Da, schau dir das an, ich glaube, ich bin fündig geworden.“ Felsch beugt sich vor und nimmt das Vergrößerungsglas. Vorn auf der linken Seite des Rollers ist das Blech hochgebogen und leicht eingerissen. Auf den ersten
Blick ist daran nichts Auffälliges, es ist einfach beim Sturz passiert, beim Aufprall. Ein lehmiger Klumpen klebt festgebacken an dieser Stelle. Beim zweiten Hinschaun jedoch nimmt Felsch das dünne Ende wahr, das aus dem Klumpen hervorsieht und zu einem winzigen Stück Dederonschnur zu gehören scheint. Offenbar hat es sich in dem eingerissenen Blech, festgeklemmt. Kielstein erhebt sich, zieht an seinen Fingern, daß sie knacken, und sagt mit mißmutigem Gesicht: „Verdammter Dreck! Jetzt scheint’s tatsächlich ein Fall zu werden, an dem mir gar nichts liegt. Aber es hilft ja nichts. Bleib du hier und bewach das geschundene Roß, ich versuch Bothe zu kriegen und die Spezialisten. Nachdem die sich hier vergnügt haben, fahren wir mit ihnen zum …“, er zögert, „Unfallort. Wo eine Schnur gespannt war, müßte sich ja was gerieben haben. Das wäscht der kräftigste Regen nicht ab.“
4. „Kam Ihnen … das Gesicht bekannt vor, haben Sie einen Verdacht, wer die Schnur … gespannt haben könnte?“ Er dachte, ich hörte nicht mehr zu, der Leutnant, ich sei schon weggetreten, und er … zweifelte überhaupt daran, daß in meinem Setzkasten da oben noch alles … zueinander paßt. Anders als wir, die jungen Leute heute … immer an allem herumkratzen, immer alles in Frage stellen … Gewiß, bei dem ist das Beruf, man muß das berücksichtigen, er scheint ja anständige Arbeit zu leisten … im Gegensatz zu manchen anderen, die Aufklärung in der Benzin-Sache war vor allem sein Verdienst
… hat sich damals ziemlich abgerackert. Und dennoch … bei uns im Betrieb die Jungen – das gleiche Kaliber. Alles bekritteln, alles besser wissen, und dann, wenn man aufs Grundlegende zu sprechen kommt: „Ach, ihr immer mit euren … Moralpredigten.“ Man kann nicht alles … ständig … von Grund auf neu machen wollen! Nicht heute, nicht jetzt. Fünfundvierzig, ja, da war das was anderes, als alles am Boden lag … im Dreck, niedergetrampelt, nieder … gebombt, als keiner mehr richtig wußte, wie’s weitergeht, und sich das, woran man geglaubt hatte, als maßlose Schweinerei erwies. Woran auch ich geglaubt hatte mit meinen neunzehn Jahren, wenngleich nicht so fanatisch wie Mutter und nicht so … schwärmerisch wie Gotthard. Gotthard … wie fern sein Bild heute ist, und doch denk’ ich, seit ich hier liege, wieder öfter an ihn. Wenn ich erst zu Hause bin, muß ich … das Foto aus der Truhe holen, den Trauerflor hab’ ich damals abgemacht … als es wieder aufwärts ging. Das Altgedächtnis bleibt mit fortschreitenden Jahren am besten erhalten, hat mir irgendwann mal ein Psychologe erzählt. Gotthard war meine große Liebe. Meine Leidenschaft, das sag’ ich heute, wo diese Wörter in Büchern und Filmen so lächerlich strapaziert werden, wo alles auf Sex und ständigen … Partnerwechsel hinausläuft und wo man in der Pille das beste Mittel sieht, die Beziehungen zwischen Mann und Frau zu regeln. Obwohl ich natürlich nicht gegen den Fortschritt bin … Deshalb bauen wir das hier ja schließlich auf. Ich war achtzehn Jahre alt, er neunzehn, er wollte so gern…
Soldat werden, für die Neuordnung der Welt kämpfen, aber wegen seines Nierenleidens nahmen sie ihn nicht, das heißt, sie hätten ihn möglicherweise trotzdem … genommen, wäre sein Vater nicht dagegen gewesen, und der saß irgendwo in der Gauleitung. Gotthard studierte Jura, manchmal frag’ ich mich, ob das vielleicht damals, als ich mich für die Schöffenkandidatur aufstellen ließ, untergründig eine Rolle … spielte. Sein Hobby aber war der Schiffsmodellbau, stets saß er über irgendwelchen Basteibogen. Segelschiffe, Kreuzer, Torpedoboote; in den ersten Nachkriegsjahren war mein Zimmer noch voll davon, und alle hatte er sie … Roswitha getauft. Dann, vierundvierzig, wurde er doch eingezogen, er hatte sich da gar nicht mehr so sehr bemüht. Wir hatten noch nicht zusammen geschlafen, Mutter war streng katholisch und achtete genau darauf, daß ich meine Unschuld mit … in die Ehe brachte. Eine Ehe, aus der nichts wurde. Wir versuchten es trotz des mütterlichen … Verdikts; ich täuschte einen BDM-Einsatz vor und schlich mich mit auf sein Zimmer. Ich erinnere mich an nichts mehr, außer an das dunkel gebeizte harte Bett … Er war noch ängstlicher und ungeschickter als ich, wir brauchten drei … Anläufe, und es war zunächst keine rechte Freude. Dann fuhr er los, und ich besuchte ihn vierzehn Tage später in seinem Ausbildungslager. Er hatte ein paar Stunden frei, wir gingen in ein Wäldchen, wo alle Rekruten ihre … Mädchen mit hinnahmen und – sofern sie Sold oder ein schönes Freßpaket von zu Hause gekriegt hatten – auch mal eine von den Gewerbsmäßigen. Wir
fanden einen Platz, der uns günstig schien. Vielleicht hatte Gotthard die Stelle schon ausprobiert, er kam mir plötzlich so … erwachsen vor. Wir liebten uns zum ersten Mal … richtig, ich war sehr glücklich, als ich nach Hause zurückfuhr. Ich schrieb ihm jeden Tag, bis zum Oktober, bis der Brief … mit dem schwarzen Kreuz … aus Polen kam.
5. Ich war weich seinerzeit, mit neunzehn Jahren, und wer mir jetzt im Betrieb Härte und Unduldsamkeit nachsagt, hat mich nicht gekannt. Ich war nachgiebig … hätte es auch nie gewagt, mich offen gegen meine Mutter aufzulehnen … nur innerlich tat ich das … denn sie versuchte, mich in ihren Rahmen zu pressen, nach ihren engen Glaubenssätzen zu erziehen. Sie hatte ihren Mann gleichfalls jung verloren, an einer Herzkrankheit, deshalb sah sie meine Verbindung mit Gotthard nicht gern. Ihre Prinzipien waren falsch, das ist aus heutiger Sicht leicht zu begreifen, doch ich verstehe jetzt, daß sie sich an etwas festhalten mußte … „Ihr Alten wollt nichts mehr verändern“, schrie mich viel später einmal meine Tochter Jutta an, bei einer unserer Auseinandersetzungen; dabei ging es ihr nur um die Launen und angeblich so neuartigen Einfälle ihres Freundes. „Ihr Alten“, lachhaft. Damals war ich dreiundvierzig … oder vierundvierzig. Aber wie oft haben mir „wohlmeinende“ Bekannte seither zugetragen, daß mich vor allem die jüngeren Mitarbeiter im Betrieb für jemanden halten, der zwar genau, aber höchst unflexibel sei.’ Oh-
ne Phantasie, dogmatisch … Modeworte haben sie ja sehr schnell bei der Hand. Ich versuche mich im Bett aufzurichten, es gelingt noch nicht, doch es geht mir schon besser als gestern, beim Besuch dieses Kielstein. Das Bein gibt Ruhe, der Kopf dröhnt nicht mehr so. Der Arzt, ein hagerer … trockener Typ, der vom Alter her durchaus mein Sohn sein könnte, sagte heute morgen, ich solle nicht so viel grübeln, das wäre der Genesung abträglich. Er hat vielleicht recht … nur wie soll ich das zuwege bringen. Nach so einer … furchtbaren Sache. Etwa indem ich die Wände anstarre, die Rillen im Putz zähle? Wenn ich Schach spielen könnte wie Siegfried, würde ich im Geist die Meisterpartien durchgehen, er hat wenigstens immer behauptet, daß ihm das möglich sei. Aber ich hab’s nie weiter als bis zu den Anfangszügen gebracht. Dabei wollte er mir’s oft erklären. Für manche Dinge … kann ich eben nicht die Geduld aufbringen. Und warum soll ich jetzt in diesem Zimmer mit dem Nachdenken aufhören, wo ich endlich einmal genügend Zeit dafür habe. Einen Verdacht, einen Verdacht … da gibt es manchen im Betrieb, den ich nicht gerade samtweich anfassen konnte, manchen aus meiner Zeit als Schöffin, der vielleicht ein milderes… Urteil erwartet hatte, manchen Nachbarn und lieben Bekannten, der auf das Haus im Grünen scharf ist. Ob wohl jemand fähig wäre, mir aus Gewinnsucht so hinterhältig aufzulauern, oder weil er wütend auf mich ist? Verzerrt war das Gesicht, haßvoll … verzerrt, aber das ist auch alles, woran ich mich erinnere. Ich habe immer nur das Gerechte und Gute gewollt, wer könnte mir das mit solchem … Haß vergel-
ten. Ich liege und denke nach; draußen tobt heftiger Wind, Sturm geradezu, er fährt ums Haus, rüttelt am Fenster … ich wäre gern ein Windrad, das sich treiben läßt. Träume, Schäume, Schluß damit. Die Grenz hat mich einmal mit einem ähnlichen haßerfüllten Blick bedacht, als ich ihr sagte, sie dürfe nicht so oft fehlen. Wenn ihr Kind immer und ewig krank sei, müsse sie sich eben eine Heimarbeit suchen. Na und? Jutta strotzte in diesem Alter auch nicht vor Gesundheit, aber man hatte mich … rausgeschmissen, wäre ich der Arbeit ständig ferngeblieben. Ließ ich die Kleine halt blutenden Herzens bei der Nachbarin. Gewiß, ich verdiente meine Pimperlinge in einem Privatbetrieb, und die sozialistische Industrie kann und soll mit den Menschen nicht so … umspringen. Selbst nicht mit jemandem, der in solche Geschichten verwickelt war wie sie. Sie bezog ja auch bei aller Bummelei ihr volles Gehalt – wir leisten uns das. Na ja, in der letzten Zeit lief’s ein bißchen besser mit ihr – einmal hat sie sogar Überstunden gemacht, als Not am Mann war … man wird sehen. Ein offenes Wort wird sie sich jedenfalls ab … und zu gefallen lassen müssen. Wenigstens solange ich da bin. Ihre giftigen Blicke schrecken mich überhaupt nicht … Doch diese Hinterhältigkeit, diese bodenlose Gemeinheit, das kann man einfach keinem zutrauen. Obwohl es Augenblicke gibt, wo man an jedem zweifelt. Damals, als ich Juttas Freund Detlef aus dem Haus wies … hatte ich wirklich das Gefühl, er könnte mir eines Tages hinterrücks auflauern und mich zu Boden schlagen. Dieser Scharlatan, der meine Tochter hörig und blind gemacht hatte. Der
Dr. phil. ein Ehrgeizling voller gescheiter Reden, hinter denen … nichts steckte, ein Zyniker, der alles in den Schmutz zog, was einem lieb und wert war, und zum Überfluß seine Gefühle nicht im Zaum halten konnte. Der einmalig jähzornig war. Ich würde mich nicht wundern, wenn er manchmal tätlich gegen sie geworden ist. Aber sie verehrte ihn ja, glaubte an sein Genie. „Er ist nur so unausgeglichen, weil ihr ihn mit seinen Ideen nicht zum Zug kommen laßt“, behauptete sie. Nein, so durfte sie mir nicht kommen … „Seine Ideen, daß ich nicht lache. Die sind so alt wie der Kapitalismus, die haben wir zum Glück hinter uns gelassen.“ Und sie: „Aber ihr hört ihm ja gar nicht zu, wenn er redet.“ – „Das war’ auch noch schöner. Das ist für uns längst kein Diskussionsgegenstand mehr… und was heißt überhaupt ,ihr’? Ich hoffe doch, daß du genauso dazu gehörst.“ Sie duckte sich zusammen, als wollte sie mir … im nächsten Augenblick … an die Gurgel fahren. „Nicht, wenn ihr auf diese Art predigt. Nicht, wenn ihr euch so aufspielt, als ewig Zufriedene, die alles schon haben, alles in der schönen gewohnten Ordnung lassen wollen. Niemals!“ Sie hat das Temperament ihres Vaters, Jutta, und seine Sprunghaftigkeit, deshalb lief sie Detlef nach, schanzte ihm … ihren Lohn zu, lebte mit ihm, verließ ihn, wenn er’s zu toll trieb, denn andere Weiber gehörten auch zu seinen … modernen … Anschauungen, und kehrte wieder zu ihm zurück. Der Dr. phil. würde sonstwas darum geben, sich in meinem Haus einzunisten und es zum Treffpunkt für Gleichgesinnte zu machen, das weiß ich. Für seine Freunde … und Freundinnen. Philosophische
Abende, Saufpartys mit Jutta als der verständnisvollen Gastgeberin, wo man über Staat und Gesellschaft herziehn würde, was das Zeug hält. Erst im vorigen Monat rückten sie wieder mal säuselnd bei mir an, waren ganz die lieben Kinder – inzwischen hat sie ihn ja tatsächlich geheiratet. Dann kamen wir auf die Politik, und es gab denselben Krach wie stets. Detlef, ja, wenn man mich über den befragen würde, ich glaube, ich könnte mich nicht zurückhalten…
6. Es geht auf drei Uhr nachmittags, ein Herbsttag, ungewöhnlich kalt, mit heftigem, böigem Wind, der einen frühen Winter anzukündigen scheint. Das Obst, das noch nicht geerntet ist, fällt von den Bäumen, gelbes Laub wirbelt über die Straßen und klebt in den Pfützen fest, die Leute hüllen sich in ihre Regenmäntel und frieren trotzdem, eine bibbernde Enddreißigerin in dünnem Pullover schaut neidvoll auf zwei klügere Geschlechtsgenossinnen, die bereits die Pelzjacke hervorgeholt haben. Ein paar Bengel mit roten Gesichtern sammeln unter wild rauschenden Bäumen Kastanien auf, Fenster schlagen klirrend zu, Ziegel zerbersten krachend am Boden. In der Nacht hat der Sturm Dächer abgedeckt und Bäume quer über die Landstraßen gelegt, er hat Telefonmasten geknickt und Leitungen zerrissen. Die Räum- und Reparaturkommandos haben alle Hände voll zu tun. Kielstein sitzt in seinem Arbeitszimmer und ordnet Steine, wie er es nennt, er ist heilfroh, daß er es gestern noch geschafft hat, zum Unfallort zu fahren, heute wäre
die Sache viel komplizierter. Der Verdacht hat sich bestätigt, ist zur Gewißheit geworden. Die Schnur hat an zwei Bäumen links und rechts der schmalen Straße ihre Markierungen hinterlassen, dünne Riffelspuren in der Rinde. Außerdem haben die Kriminalisten rechts in Höhe der Abschürfungen, einen schwarzen Faden gefunden, der möglicherweise von einem Handschuh stammt. Von einem Stoff – oder Wollhandschuh. Die Laboruntersuchungen stehen freilich noch aus. Da hat Kielstein also seinen Fall – er ist so glücklich darüber wie der unfreiwillige Bräutigam übers Baby seiner Anverlobten. Weshalb hast du dir diesen Beruf ausgesucht, würde Marianne, seine geschiedene Frau, sagen, wäre sie hier, und er würde ihr beweisen, wie notwendig Kriminalisten auch in dieser Gesellschaft sind. Jawohl, heute mehr denn je, was nicht ganz seinen einstigen Vorstellungen entspricht. Auch damit werden wir fertig werden, tröstet er sich, morgen kann es schon wieder anders sein. Du brauchst gar nicht so spöttisch den Mund zu verziehen, sagt er zu dem Bild seiner Ehemaligen, das vor seinem geistigen Auge flimmert. Weshalb denkt er überhaupt an Marianne, streitet sich in Gedanken nach all den Jahren der Trennung immer noch mit ihr? Er hat Karin gehabt und Irene, er hat im Augenblick ein mehr oder weniger festes Verhältnis mit Cordula, einer hübschen Brünetten, der die Männer hinterherschauen, die das aber nicht kümmert, seit sie mit ihm bekannt ist. Und doch denkt er, obwohl inzwischen fast vierzigjäh-
rig, selbstbewußt und mit allerlei Erfahrungen ausgestattet, nach wie vor an das Gesicht Mariannes, seiner ehemaligen großen Liebe, die längst wieder verheiratet ist. Die Ehe mit ihrem Architekten soll schlecht gehen, hat ihm kürzlich ein Bekannter geflüstert, und sofort schlief Kielstein die Nacht unruhig. Und sagte seine Verabredung mit Cordula für den Abend ab. Was gemein war, weil zum zweiten Mal hintereinander – das erste Mal war es freilich nicht seine Schuld gewesen, er hatte einen wichtigen Auftrag ausführen müssen, also einen echten Grund gehabt. Das Gesicht Mariannes, so wie er es aus der letzten Zeit ihres Zusammenlebens in Erinnerung hat, ein wenig spöttisch, aber ungemein anziehend … Dabei hat er sich jetzt mit einem ganz anderen Gesicht zu befassen, einem mit Motorradbrille. Frau Henneberg hat nicht phantasiert, als sie ihm davon erzählte, und wenn mehr aus ihr herauszuholen ist als beim ersten Gespräch, dann ist der Täter theoretisch schon gefaßt. Man muß nur ihr Erinnerungsvermögen anstacheln, auch das letzte Detail aus ihrem Gedächtnis herauslocken, man muß ihr Einzelheiten ins Denken zurückrufen, die sie vergessen hat oder für ganz unwichtig hält. Trotz der ungünstigen Lichtverhältnisse in jenem Augenblick und trotz ihres Schreckens; etwas hat sich ihr bestimmt eingeprägt! Es kann nicht so schwer sein: Sie ist eine resolute Person mit festen Ansichten über die Gesetze und die Notwendigkeit, sie zu verteidigen. Wenn sie wieder etwas zu Kräften gekommen ist, wird sie gewiß gut mitarbeiten.
Auch das Motiv dürfte auf diese Weise zu ermitteln sein. Wer hatte einen Grund, gerade auf Frau Henneberg einen so exakt ausgeklügelten Anschlag zu unternehmen. Kielstein hat sich überzeugt: Es war die gefährlichste Stelle auf dem Weg, den sie immer benutzte; das Regenwetter, der zu dieser Zeit minimale Verkehr – alles paßte zusammen. Der Täter (die Täterin?) muß die Verunglückte genau beobachtet haben, lange bevor er seine Falle zuschnappen ließ. Auch am Tag des Attentats: die Schnur für die Richtige zu spannen war Sekundensache. Zwar ist nicht ganz ausgeschlossen, daß es nur ein übler Kinderstreich war, die Tat eines Verrückten, aber Kielstein hält eine solche Variante doch für unwahrscheinlich. Die Henneberg sprach von Haß in dem Gesicht, das sich über sie beugte – wenn sie mit der Schnur recht behalten hat, weshalb sollte sie sich in diesem Punkt getäuscht haben. Keine Zufallstat, sondern eine gezielte Aktion, das scheint ihm logisch und auch wichtig für die nächsten Schritte. Er läßt sich mit dem Krankenhaus verbinden, bittet um einen Besuchstermin bei der Patientin Henneberg. Der Wind hat noch zugenommen und schüttelt die Akazien vor dem Haus, reißt ihnen armstarke Äste ab. Er fegt auch durch den Park hinterm Krankenhaus, den der Arzt im Blick hat, als er mit mißmutigem Gesicht Kielstein den Termin nennt. „Aber nicht länger als acht Minuten, die Genesung der Patientin ist in Frage gestellt, wenn es ihr nicht gelingt, endlich abzuschalten.“ Der Arzt legt den Hörer auf und tritt ans Fenster. Er schaut auf den Park, eine wild bewegte Hecken- und Baumlandschaft, die auf ihn in diesen Minuten den Ein-
druck düsterer Größe macht. Er liebt die Poesie, vor allem die leicht dekadente, er hat zu Hause im Bücherschrank Baudelaires Band „Die Blumen des Bösen“ stehen und bedauert, sie nicht hier und jetzt wieder lesen zu können. Er wendet sich schließlich ab, um die rotblonde Schwester vom baldigen Besuch des Leutnants zu unterrichten. Er sieht nicht die Gestalt im grauen Regenmantel, die ungeachtet des Sturms unter den Bäumen steht, die Hände in den Taschen, die Augen zusammengekniffen, und zum ersten Stock emporstarrt, als müsse sie bei ebendiesem Wetter ein ganz bestimmtes Fenster ausmachen.
7. Die Schwester ist im Zimmer, sie stellt mir Milchkaffee und ein Honigbrötchen auf den Nachttisch, Muckefuck, wo ich mich nach einer Tasse schwarzem, kräftigem Bohnanza sehne … Sie glaubt, ich schlafe, aber ich beobachte sie. Sie ist mir sympathisch, die Kleine … nicht so besserwisserisch wie viele Leute heutzutage, ein bißchen neugierig vielleicht, sie streicht um mich herum, möchte gern Dinge erfahren, über die ich mir selbst nicht im klaren bin, sie möchte gern … auch ein ganz klein wenig Polizei spielen. Sie ähnelt Anna Polly bei uns im Lager, die allerdings ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel hat; die tut auch still und zuverlässig ihre Arbeit, ist immer pünktlich und fehlt so gut wie nie, wenngleich man sie vielleicht nicht zu den Klügsten zählen kann. Manchmal ist sie auch ein bißchen auf Klatsch aus.
Einmal kommt doch Polly zu mir ins Büro (wir nennen sie alle so, denn ihr Nachname ist ja eigentlich ein Vorname), sie kommt unter dem Vorwand … die Stückzahl der neu gelieferten Kristallvasen stimme nicht, und fragt mich direkt über Siegfried aus. „Stimmt das denn, Witha“, sagt sie und schaut mich aus ihren runden Augen an wie ein hungriges Rebhuhn, „ich hab’ gehört, dein Verfloßner ist nach’m Westen, das hätt’ ich ja von meinem ehemaligen Bereichsleiter nicht gedacht, der hatte doch hier alles, was er braucht, oder seh’ ich das falsch?“ Es war fast eine kleine Provokation von ihr – so viele Jahre ist es her, aber es hat sich mir eingeprägt. Siegfried arbeitete damals nicht mehr im Lager, sondern in der Verwaltung, wo er sich absolut nicht zurechtfand: Meine Schuld war’s nicht. Er hatte wechseln wollen, behauptete, mit mir sei kein Auskommen … „Du siehst’s falsch oder richtig, Polly“, gab ich so kühl wie möglich zur Antwort, „ich begreif bloß nicht, weshalb du mir jetzt damit die Zeit … stehlen mußt, ich bin dabei, die neuen Warenlisten zu prüfen, mir raucht der Kopf, und die Termine drängen. Wenn du Siegfried meinen Verflossenen nennen willst, dann tu’s, obwohl ich nie … mit ihm verheiratet war. Jedenfalls kann ich dir nicht sagen, ob er über die Grenze ist oder zum Mond geflogen, es interessiert mich nicht mehr.“ Ich brauchte ihr ja nicht … auf die Nase zu binden, daß ich’s schon von der Direktion wußte und daß ich so was vorausgeahnt hatte. „Na, tu nur nicht so“, sagte Polly, „immerhin … habt ihr ein Kind zusammen, und ich hab’s ja nicht bös ge-
meint. Einfach drüben zu bleiben nach der Dienstreise, wo er hier im Betrieb manchmal so auf die Pauke gehaun hat, das hätte ich nicht gedacht.“ Sie knödelte ab … mit ihren dicken Waden, und ich mußte die Liste noch mal von vorn durchsehn, so aufgewühlt war ich. Aber ich ließ mir nichts anmerken, nie. Ich hab’ das Private immer radikal vom Beruflichen getrennt. Hart war ich geworden, jawohl, hart vor allem … zu mir, und so muß man sein, wenn man sein Leben im Griff behalten will. Das nämlich hab’ ich nach dem Tod Gotthards lernen müssen; da war niemand, mich zu trösten. Mutter versuchte es zwar, aber sie wußte nicht, wie tief mir die Sache ging. Für sie war es … Gottes Fügung, wie alles, was danach kam und was sie nie mehr verstand. Für mich dagegen war es Gottes Ohnmacht, meine schöne Welt seligen Glaubens brach zusammen wie das ganze Großdeutsche Reich. Wer hätte mich schon aus meiner abgrundtiefen Trauer … herausholen sollen, ich war Gotthard doch bis in tausend Ewigkeiten verbunden. Außerdem war ich nicht die einzige, der es so ging; die Männer, die vom Alter her für mich in Frage kamen, waren knapper geworden als heutzutage die Klempner … und Glaser. Ich vegetierte acht lange Jahre blind wie ein Maulwurf, ich hatte mir meine Höhle in einem alten Mietshaus gegraben und arbeitete in einem kleinen Schneidereibetrieb als sogenannte Kontoristin, das heißt, ich schmiß für den Chef den Schreib – und Rechenkram, die Stelle hatte mir Mutter vermittelt. Ich grub mich ein … aber ich wehrte mich meiner Haut, ich wollte keine
halben Sachen. Da war ein Heimkehrer bei mir im Haus, verheiratet und drei Söhne, darunter ein Nachzügler, erst nach der Rückkehr gezeugt. Der Heimkehrer hieß Hartmut oder Helmut, er bot sich an, mir zwei Abende in der Woche mit … Liebe zu versüßen, er war mir nicht umsympathisch, und ich hätt’ mich fast drauf eingelassen. Doch in letzter Minute erfuhr ich, daß es da auf der anderen Straßenseite noch eine Dritte gab, eine gewisse Elfriede … Der hatte er auch schon zwei Abende reserviert. In jenen Jahren begannen sich manche meiner ehemaligen Freundinnen für Politik zu interessieren … für die Politik mit dem neuen Vorzeichen. Sie sagten, alles Vorherige sei falsch und verderblich gewesen, und es käme jetzt auf die radikale Umkehr an. Sie redeten und agitierten, aber so schnell kriegten sie mich nicht. Daß etliches falsch gewesen war, hatte ich zwar begriffen, doch mit ihrer Umkehr wußte ich nichts anzufangen. Sache der Menschheit, sagten sie, und des Proletariats, nur … wo war dabei meine Sache, zu wem sollte ich denn umkehren? 1952 traf ich bei einer meiner Freundinnen, die mich mit Ausdauer für den DFD werben wollte, die DSF, die Partei und möglichst alles auf einmal, traf ich bei Margit Rösler Siegfried Holz. Ich erinnere mich noch wie heute an jenen Tag: Wir hatten echten schwarzen Tee besorgt und für viel Geld Eier, die wir mit Margarine brieten. Dazu gab’s eine Art Rosinenbrot – eine unmögliche Zusammenstellung … Siegfried war ein Emigrantenkind, hatte die Jugend in der SU verbracht und leitete eine Berufsschule. Er erzählte viel von seinen Schülern
und daß das neue Deutschland vor allem technische Kader brauche. Die natürlich antifaschistisch geschult sein müßten. Er machte sich über die Klitsche lustig, in der ich mein Geld verdiente, und sagte, ich sei verrückt, mich so zu verkriechen, die Zukunft läge in unserer Hand … Er ging am vierten Tag mit auf mein Zimmer, nagelte ein Stalinbild neben dem Büfett an die Wand und redete mit mir über China, den Langen Marsch. Er ließ jedoch das Foto von Gotthard hängen, was ich ihm hoch anrechnete. Zwischen den alten, wurmstichigen, zusammengestoppelten Möbeln schwang erstmals Wärme, die nicht vom Ofen kam. Diese Wärme nutzte er aus, als er mich aufs Bett drängte, mich auszuziehen begann. Wir brauchten keinen Alkohol, um uns in Stimmung zu bringen, ich ließ es geschehen, ich hatte wohl darauf gewartet. Er kam dann öfter, unregelmäßig, so wie es seine Arbeit an der Schule zuließ. Als ich schwanger wurde, freuten wir uns beide. Wir nannten unsere Tochter Jutta. Es war eine gute Zeit, aber sie währte nicht lange. Ein knappes Jahr nach Juttas Geburt wurde ihr Vater aus Gründen, die ich so richtig erst nach und nach erfuhr, seines Postens … enthoben und verschwand für zweieinhalb Jahre aus unserem Ort. Ich war zu jener Zeit in die Partei eingetreten, in die DSF, den DFD und zusätzlich in den FDGB. Man sagte mir, ich müßte mich damit abfinden, daß Siegfried in einer anderen Stadt lebe, und sosehr ich mich bemühte, etwas an meiner Lage zu ändern, es gelang mir nicht. Wochenlang sahen wir uns gar nicht, dann nur unter Schwierigkeiten. Es fiel mir ungemein schwer, mich an diese Situation zu gewöh-
nen. Die Schwester ist wieder gegangen, sie wollte … mich bestimmt ein bißchen ausfragen; schon vorhin, als sie mir den Besuch Kielsteins ankündigte, druckste sie herum, aber es hat keinen Zweck, über Dinge zu reden, die mir selbst … völlig schleierhaft sind. Das Gesicht, dieses Gesicht hinter der Brille, es ist nichts als ein zur Fratze entstellter Flecken, kein Frauen – und kein Männergesicht, ein undefinierbares … zu einer Grimasse erstarrtes Zerrbild. Ich will es festhalten, doch es taucht immer tiefer ins Dunkel. Ich muß mich an Details erinnern. Das Kinn, ja, die Kinnpartie war wie bei … Siegfried. Rundlich, zu weich, im Scheinwerferlicht des Rollers, dessen Lampe funktioniert haben muß, obwohl er am Boden lag, hab’ ich’s gesehn. Weich und weibisch, das gefiel mir nie an seinem Kinn, aber wer kann für sein Gesicht. Siegfried, was red’ ich da, das ist unmöglich … unmöglich. Aber das Kinn war rund und genauso verbittert nach vorn geschoben wie damals, Jahre später, als er mich zum zweiten Mal verließ, um zu … Margit überzusiedeln. Als er mich’ anschrie, ich sei selbst an allem schuld, ich sei ein Eisblock, die Kälte in Person, wegen Leuten wie mir … würde hier noch mal alles zusammenbrechen. Und ich stand starr da und fraß die Ungerechtigkeit in mich hinein. Ich sagte kein Wort und warf mich erst verzweifelt aufs Bett, als er aus dem … Haus war.
8. Die Gestalt im grauen Regenmantel steht reglos unter den Bäumen, etwas vor dem Wind geschützt durch den Stamm einer dicken Kiefer, leicht zusammengeduckt und den Kragen hochgeschlagen. Sie starrt noch immer zu den Fenstern des ersten Stocks empor, an dem nichts Besonderes zu entdecken ist, doch jetzt mit eher abwesender Miene. Sie wissen nichts, sie können nichts wissen, denkt sie. Es war ein Verkehrsunfall, die Alte ist auf der glatten Straße weggerutscht, sie kam mit zu großem Tempo aus der Kurve, eine alltägliche Sache. Die Verkehrspolizei hat den Fall längst zu den Akten gelegt. Ein morscher Ast bricht vom Baum, segelt herab und streift den Saum des Mantels. Die Gestalt tritt automatisch einen Schritt zur Seite. Sie prüft nicht, ob der Mantel beschädigt ist. Ich sollte nicht hier rumstehn bei diesem Wetter, es wird noch auffallen. Ich sollte meiner Arbeit nachgehn, mich nicht anders verhalten als sonst. Ich hab’ keinen Grund, beunruhigt zu sein, es ist alles glatt gegangen, besser, als ich’s je hätte erwarten können. Niemand hat mich gesehn, niemand weiß was vom wirklichen Hergang der Dinge. Ich hatte genügend Zeit, die Schnur abzumachen und einzustecken. Der Regen hat alle Spuren ausgelöscht, auch die winzigsten. Und doch hab’ ich einen Fehler gemacht, ich hätte mich nicht über sie beugen dürfen, hätt’ mich beherrschen müssen. Ich wollte wissen, was los ist, ob sie’s tatsächlich erwischt hat, und das kann mir jetzt zum Verhängnis werden. Ich hielt sie für tot. Wenn ich nur wüßte, ob sie noch was mitgekriegt hat. Es war finster – trotzdem, ich hab’ keine Gewißheit.
Die Gestalt steht und grübelt, doch dann löst sie sich von den Bäumen. Sie hat die Hände aus den Taschen genommen, die Hände, die in schwarzen, schon etwas abgegriffenen Handschuhen stecken, sie streift das feuchte Laub, das sich ihr an die Sohlen geklebt hat, am Gras ab und geht über den Kiesweg mit schnellen Schritten zum Ausgang des Parkes. Auf der Straße herrscht wegen des Wetters nur mäßiger Verkehr. Immerhin fährt aber der Bus zur Stadt, und an der Haltestelle haben sich einige Menschen eingefunden. Die Gestalt mischt sich unter die Wartenden, der graue Regenmantel ist nun einer von verschiedenen. Jemand versucht trotz des Windes eine Zigarette anzuzünden, es gelingt erstaunlicherweise nach mehreren Ansätzen. Die Gestalt entledigt sich des rechten Handschuhs, holt ein kleines Feuerzeug hervor, sucht gleichfalls nach Rauchbarem. Doch da taucht der Bus auf. Er kommt näher, hält, die Leute steigen ein. Die Gestalt will gleichfalls einsteigen, doch im letzten Augenblick überlegt sie es sich anders. Sie nimmt den Fuß, den sie bereits aufs Trittbrett gesetzt hat, wieder herunter und macht auf dem Absatz kehrt. Der Fahrer zuckt die Achseln, die Türen des Busses schließen sich, er fährt an. Die Gestalt geht mit hastigem, dann jedoch betont ruhigerem Schritt die Straße entlang und um den Park herum zum Vordereingang des Krankenhauses. Etwa zweihundertfünfzig Meter sind zurückzulegen, ehe man durch ein schmiedeeisernes Tor über einen Plattenweg zum Hauptportal gelangt. Die Gestalt steigt einige Stufen empor, öffnet mühsam die große Tür und wendet sich nach links, wo über einem
Schiebefenster das Wort Anmeldung steht. Eine ältere Frau mit ovaler randloser Brille und einem weißen Kittel sitzt dahinter. Als sie den Besuch bemerkt, schiebt sie das Fenster auf und fragt: „Sie wünschen?“ „Ich hätte gern etwas über das Befinden einer Patientin gewußt, die vor vier Tagen hier eingeliefert worden ist – ein Unfall.“ „Wie heißt die Patientin?“ „Henneberg, Roswitha Henneberg.“ „Eine Angehörige von Ihnen?“ „N-nein, eine… Bekannte.“ „Ich kann Ihnen hier keine Auskunft geben, Sie müssen sich an den behandelnden Arzt wenden.“ „Darf sie Besuch empfangen?“ „Wie sagten Sie, Rosa Henneberg?“ „Roswitha.“ Die Frau mit der randlosen Brille wendet sich vom Fenster ab und greift nach dem Telefonhörer. Sie wählt eine dreistellige Nummer und beginnt sich zu erkundigen. Die Gestalt im Regenmantel wartet reglos. Schließlich sagt die Frau, den Hörer noch in der Hand: „Besuch ist zur Zeit nicht möglich, Frau Henneberg hat zuviel Blut verloren. Vielleicht am Sonntag. Rufen Sie doch am nächsten Sonnabend noch mal bei uns an.“ „Vielen Dank“ murmelt die Gestalt im Regenmantel und setzt ein blasses Lächeln auf. Dann verläßt sie fast rennend das Haus.
9. „Es sieht so aus, als sollten Sie recht behalten, Frau Henneberg“, sagt Kielstein, „da hat Ihnen offenbar jemand einen sehr bösen Streich gespielt.“ Er sitzt erneut in dem Zimmer mit den weißen Wänden, dem Blechschrank und dem abgedeckten Rollstuhl. Nur eine Kleinigkeit hat sich verändert: Auf dem Schränkchen steht, in einer leeren Milchflasche, ein großer buschiger Strauß gelber und rotbrauner Herbstastern. Schöne Blumen, denkt Kielstein, Bothe würde seine Freude daran haben. Hauptmann Bothe, sein Chef, ist vernarrt in Blüten und Grünpflanzen, in seinem Dienstzimmer ranken sich die verschiedensten Hydrogewächse, und zu Hause in seiner Wohnung hat er in Flaschen und Gläsern einen romantischen Minigarten angelegt. „Streich ist gut … Leutnant, dieser Streich hat mich fast das Leben gekostet.“ Die Henneberg sieht nicht viel besser aus als bei seinem letzten Besuch, ihr Gesicht ist immer noch so wächsern und spitz, ihr Haar noch genauso strähnig. Aber ihre Stimme ist etwas fester geworden, und ihre Hände scheinen mehr Kraft zu haben, sie zupfen an der Bettdecke, streichen hier und da eine Falte glatt. Kielstein, der sich’s auch diesmal wieder auf dem einzigen Stuhl im Raum unbequem gemacht hat, schiebt die langen Beine etwas tiefer unters Bett: „Ich sagte ,böser Streich’, aber es stimmt, das Wort ist aller Wahrscheinlichkeit nach nicht hart genug.“ „Ein Verbrechen … vorbedacht … nennen wir die Dinge ruhig beim Namen. Ich hab’ als Kind nie was beim Namen nennen dürfen, hab’ das dann später erst mühsam lernen müssen.“ Kielstein nickt, um das Ge-
spräch nicht auf ein Nebengleis abgleiten zu lassen. Auf die genaue Bezeichnung der Tat kommt es im Moment nicht an. Er hebt leicht die Schultern. „Ich hätte gern noch ein paar Fragen zu der Person gestellt, die sich über Sie beugte, als Sie am Boden lagen.“ „Sie haben mir nicht geglaubt. Sie dachten, ich phantasiere, nicht wahr?“ „Anfangs klang Ihre Aussage ein wenig unwahrscheinlich. Die Umstände deuteten auf einen Unfall hin. Inzwischen haben wir Untersuchungen angestellt.“ „Haben Sie etwas gefunden?“ „Ich glaube schon. Nur habe ich noch nicht alle Ergebnisse auf dem Tisch. Wenn wir mehr wissen …“ In ihre dunklen, doch im Gegensatz zum letzten Mal schon klareren Augen tritt der Schimmer eines Lächelns. „Sie wollen’s mir nicht sagen, Sie halten mich für schwatzhaft!“ „Ganz bestimmt nicht. Aber gerade Sie als ehemalige Schöffin müßten mich verstehen.“ Das Lächeln erlischt. „Ja, natürlich“, murmelt sie. „Es ist nur, weil ich gern begreifen möchte … warum …“ „Wir werden es herausbekommen“, erwidert Kielstein. „Mit Ihrer Hilfe. Bitte versuchen Sie sich jetzt genau zu erinnern, wie das war, bevor Sie stürzten. Als Sie den Hügel herunterfuhren. Haben Sie da nichts Verdächtiges bemerkt?“ „Nein. Nichts. Ich konnte doch nicht vermuten …“ „Natürlich nicht. Dennoch fällt einem hinterher manchmal etwas ein, das man zunächst nicht beachtet hat. Und wenn’s ein Geräusch ist.“ Die Patientin schüttelt nur schweigend den Kopf.
„Also gut“, fährt Kielstein fort, „dann die Augenblicke nach dem Sturz. Als sich die Person über Sie beugte. Das letzte Mal meinten Sie, das Gesicht sei Ihnen nicht bekannt vorgekommen. Bleiben Sie bei dieser Aussage?“ „Ja. Alles ging so schnell und war so … getrübt. Eine Sekunde, dann wurde es schon dunkel …“ „Aber die Motorradbrille. Daran erinnern Sie sich genau?“ „Genau“, erwidert die Frau leise. „Sie verdeckte den oberen Teil des Gesichts. Die Augen dahinter funkelten in einem grellen Glanz … Vielleicht durch den Scheinwerfer.“ Motorradbrillen trug man früher, denkt der Leutnant, heute haben Zweiradfahrer einen Helm. Ausgenommen vielleicht Rennfahrer. Er fragt: „Können Sie diese Brille näher beschreiben? Ihre Farbe?“ „Die Farbe? Grau oder braun … grün, vielleicht auch schwarz. So eine alte Brille mit Leder ringsum und breiten Gläsern. Von der Stirn bis zum Mund war alles bedeckt. Nur die Nase nicht. Die war frei.“ „Schon klar“, sagt Kielstein und denkt, daß man hier eher weiterkommt, wenn man der Frau ein paar Modelle vorlegt. Er setzt erneut an: „Kehren wir nochmals zum Gesicht zurück. Uns interessiert jede Einzelheit. Vielleicht, wenn wir konkret vorgehen. War es eine Frau oder ein Mann? Ich meine, kurzes oder langes Haar? Eine Mütze? Locken vielleicht? Schminke im Gesicht, Lippenstift? Ohrringe? Ein Bart?“ Die Patientin schaut ihn nachdenklich an, als versuche sie, sich an seinem Antlitz zu orientieren. Sie bohrt sich geradezu in ihn hinein: „Ein Bart? Nein… ich glaube nicht. Auch keine
Mütze. Ob das Haar kurz oder lang war, kann ich nicht sagen. Möglicherweise mittel. Und eher glatt … Heutzutage gehn die Männer sowieso wie die Frauen und die Frauen wie die Männer.“ „Nicht alle, Frau Henneberg. Die Älteren weniger. Ausnahmen gibt es natürlich … Kein Bart, meinen Sie, und das Haar mittellang? Und glatt? Na, das ist doch schon etwas. Die Haarfarbe?“ Kielstein lebt auf, er ist guten Mutes. Er ist versucht, die Beine übereinanderzuschlagen. Gewiß, man darf sich keinen Illusionen hingeben, aber die Kugel scheint doch ins Rollen zu kommen. Es wäre ja auch gelacht. Er hat sich in den letzten beiden Tagen über die Henneberg informiert – sie gehört zum Glück nicht zu jenen Menschen, die auf allen Festen tanzen, mit Gott und der ganzen Welt bekannt sind. Im Gegenteil, ihr Lebensbereich ist eng abgesteckt. Da ist der Betrieb und dann eine ziemliche Weile nichts. Die Arbeit, die gesellschaftlichen Funktionen. Sie ist in der BGL und war als ehemalige Schöffin eine Zeitlang Vorsitzende der Konfliktkommission. Schon möglich, daß sie sich dabei Feinde gemacht hat – auch als Leiterin für Warenbewegung in ihrem Großlager scheint sie auf geteilte Sympathien zu stoßen. Doch der Personenkreis, mit dem sie hier in Berührung kommt, ist überschaubar. Ebenso wie die Zahl der Verwandten und näheren Bekannten. Kein Mann und kein Hausfreund, nur eine Tochter in Berlin, mit der sie sich mehr oder weniger überworfen hat. Eine ältere Frau, die ihr zuweilen im Haus hilft, ein sechzehnjähriger Bengel, der ihr im Herbst das Obst von den Bäumen im Garten holt und was von Motorrädern ver-
steht. Kielstein hat ihn sich vorgemerkt. Dann noch eine ehemalige Freundin in ihrem Alter, Leiterin der Betriebsbibliothek, mit der sie sich gleichfalls entzweit hat. Wegen eines Mannes, der wiederum seit Jahren in der Bundesrepublik lebt. Von ihm stammt ihre Tochter. Eine komplizierte Geschichte, der Leutnant sieht da noch nicht durch. Bleibt jene Gruppe von Leuten, mit denen sie vielleicht durch ihre Tätigkeit beim Bezirksgericht aneinandergeraten ist. Das wäre natürlich ein weites Gebiet, aber die Wahrscheinlichkeitsrechnung spricht kaum für eine solche Variante. Diese Arbeit der Henneberg liegt schon eine Weile zurück, außerdem erfahren die Angeklagten den Anteil der Schöffen an der Urteilsfindung nicht. Nein, jener Bereich kommt wirklich erst zuallerletzt in Frage … „Die Haarfarbe“, sagt Frau Henneberg, „ich weiß nicht. Es war ja so ein Zwielicht. Dunkel möglicherweise, ja, dunkel … Oder vielleicht doch hell?“ Sie schaut Kielstein an, als müsse der es wissen. Fehlanzeige, denkt er und wirft einen Blick auf die Uhr. Gleich wird die Schwester mahnen. „Lippenrot?“ fragte er noch. „Der Mund war verzerrt“, sagt die Frau, „böse, ich erwähnte das schon. Schmale Lippen, eher blaß. Auch das Gesicht war blaß … Grau … Wenigstens scheint mir das jetzt so.“ „Und die Form des Gesichts? Rund, länglich … irgendwie markant?“ Die Patientin wirkt kläglich in ihrer Hilflosigkeit, sie scheint plötzlich sehr müde. Kielstein kommt sich aufdringlich vor. „Es war so verschwommen, das Gesicht, so nebelhaft …“ Hinter Kielstein öff-
net sich die Tür. „Die Nase“, fragt er unbeirrt, „die Stirn, hoch oder niedrig?“ Er ärgert sich selbst, daß er kein Ende findet. Das ist bestimmt nicht die richtige Methode, zum Ziel zu kommen, aber er möchte soviel wie möglich aus der Kranken herausholen, bevor er gehen muß. Nicht die rotblonde Schwester, der Arzt taucht hinter ihm auf, mit einer Miene wie ein eingetrockneter Apfel. „Ich muß doch sehr bitten, Leutnant“, sagt er, „sehen Sie denn nicht, wie erschöpft die Patientin ist? Ich verstehe ja, daß Sie Ihre Pflicht erfüllen wollen … trotzdem!“ „Sie hatten mir acht Minuten zugebilligt“, murmelt Kielstein schuldbewußt, „sieben sind erst ‘rum.“ „Sieben? Neun, lieber Genosse, neun!“ Der Arzt schüttelt mißbilligend den Kopf und klopft auf seine Armbanduhr. Die Kranke liegt da, ohne sich einzumischen, ihr Blick scheint eher nach innen gerichtet. Kielstein schiebt den Stuhl zurück und erhebt sich. „Auf Wiedersehen, Frau Henneberg, Sie haben uns weitergeholfen. Wenn der Doktor einverstanden ist, komme ich morgen wieder. Wir werden versuchen, ein Porträt des Täters anzufertigen. Ein paar Angaben haben wir ja schon. Auch einige Modelle von Motorradbrillen werde ich Ihnen zeigen.“ Der Arzt sagt weder ja noch nein, er steht mißmutig da, beide Hände in den Kitteltaschen. Kielstein geht zur Tür. Als er sie öffnet, hebt die Patientin unerwartet den Kopf. „Es war ein hartes, kantiges Kinn“, flüstert sie, „und die Nase war platt wie bei einem Boxer.“
10. Weshalb hab’ ich das getan, weshalb … hab’ ich diesen Kielstein … belogen? Ich bin doch für die Wahrheit und gegen die Lüge. Immer schon, solang ich denken kann, seit ich das Unaufrichtige in meiner Kindheit erkannte … das Versteckspiel zwischen den Eltern und mir, die ich stets nur erfahren durfte, was mir angeblich guttat, was ich verstehen konnte, die nichts vom Zusammenleben zwischen Mann und Frau wußte, nichts von den Problemen der Großen. Gewiß, von mir verlangte man, daß ich meine kleinen Sünden, das Naschen am Zucker, das Blättern im dicken Doktor-Buch … in dem der nackte Mann abgebildet war … gleich zugab. Aber als Mutter das Verhältnis mit dem Luftwaffenoffizier hatte, leugnete sie es mir gegenüber ab, und als wir den grünen Teppich und die beiden kostbaren Vasen verkauften, mußte ich Tante Herta erzählen, wir hätten sie für die Kirche … gestiftet. Eine Schwindelei, die Mutter später selber furchtbar sündhaft fand. Am schlimmsten freilich waren die politischen Lügen in jener Zeit, nur daß Mutter das nie begriffen hat. Aber ich habe es begriffen, nach Gotthards Tod … nach dem Zusammenbruch und mein Leben danach eingerichtet. Wenn die Aufrichtigkeit auch, ich will es eingestehn … nicht ganz durchzuhalten war. Die kleinen Notlügen, Behauptungen, die man mitunter aufstellt, ohne sich völlig sicher zu sein, und die man dann nicht zurücknehmen kann – wer gebraucht sie nicht. Damals … als ich nach wochenlanger Trennung endlich wieder zu Siegfried fuhr, obwohl er noch nicht geschieden war,
sagte ich überall, ich müsse mit Jutta zum Facharzt. Auch gegenüber der Partei. Was hätte ich denn sonst tun sollen? Und später, als er wieder hier war, im Betrieb den Bereich Glaswaren unter sich hatte und es nicht verkraften konnte, daß ich quasi seine Vorgesetzte wurde, behauptete ich, es sei nur vorübergehend. Für mich sei eine Stelle im Handel vorgesehen. Ich sprach sogar mit Grollmann darüber … der seinerzeit mein Stellvertreter war, er solle so tun als ob. Was ich mir davon erhoffte, weiß ich selbst nicht mehr. Ich merkte, daß das Verhältnis mit Siegfried auseinanderging, und wollte ihn halten. Ich wollte aber auch die Stelle nicht aufgeben … Er hatte das schnell durchschaut. Im Gesellschaftlichen, den Jungen gegenüber, da muß man gleichfalls manchmal was verteidigen, was nicht stimmt … nicht ganz stimmt. Daß wir zum Beispiel den Jahresplan wegen des miesen Wetters nicht erfüllen und wegen der zu geringen Lieferungen. Dabei liegt’s in Wirklichkeit an der … Schlamperei im Transport und am mangelhaften Einsatzwillen. Siegfried nannte so was bewußte Vertuschung und wollte immer gleich auf die Barrikaden, Aber Wahrheit und Unwahrheit bilden hier ein schwer zu trennendes Gemisch. Doch das mit Kielstein ist ganz was anderes … Ich habe ihn gegen meine eigentliche Absicht und dennoch bewußt beschwindelt. Er ist tüchtig, der Leutnant, und ich hab’ das Gefühl, daß er jede Spur zielstrebig verfolgt, wenn man ihn erst mal drauf ansetzt. So müssen Kriminalisten sein, so stell ich mir das vor. Nur … ich will nicht, daß er zu schnell vorankommt. Es war so entsetzlich – ein Schock … ich will mir erst selber Klarheit verschaffen. Weshalb dieser
Haß, weshalb gerade auf mich? Wenn ich am Ende selber Anlaß dazu gegeben hätte? Ich muß nachdenken … ich weiß viel zuwenig. Das Kinn war rundlich-weich wie das Siegfrieds, aber sonst? Ist nicht auch das von Polly so ähnlich, und das Holgers, des Jungen, der mir im Garten immer die Äpfel abnimmt? An die Kinnpartie Detlefs kann ich mich dagegen nicht erinnern, obwohl gerade das vielleicht not täte. Man schaut den Leuten zuwenig ins Gesicht. Juttas Kinn ist spitzer, fast wie meins, und wenn sie erregt ist, nimmt sie es eher zurück, schiebt die Stirn vor. Jutta, was soll das … selbst wenn sie eine Maske aufgehabt hätte, ich würde sie erkennen, und dann, das eigene Fleisch und Blut … Da schon eher die Grenz, die hätte einen Grund, und ihr ist einiges zuzutrauen. Doch über ihr Kinn kann ich weiß Gott nichts sagen, eher über ihre Augen, die sind grün wie bei einer Katze. Die Grenz hat ein hübsches Gesicht, das muß ich zugeben; mit ihren schwarzen Haaren sieht sie aus wie Anfang Zwanzig, obwohl sie fast dreißig ist; es heißt, daß die Männer auf sie fliegen, nur kleben zu bleiben scheint keiner mehr. Zwei Jahre war sie verheiratet, dann beteiligte sie sich an der Sache mit den Radios, und ihre Ehe ging in die Brüche. Sie saß damals in der Buchhaltung und besorgte die Rechnungen für das meiste, was geklaut wurde … angeblich war sie nur reingeschlittert, aus Unverstand und Abenteuerlust … schönes Abenteuer. Am Gewinn war sie kaum beteiligt gewesen, deshalb kam sie mit ‘nem halben Jahr davon. Der Betrieb nahm sie nach dieser Zeit wieder auf, nicht in der Buchhaltung, das ist klar, aber als Packerin im
Lager. Ich war nicht gerade begeistert darüber, das hat sie schnell … gemerkt. „Für Sie bleib’ ich wohl immer und ewig die aus’m Knast“, hat sie mir mal gesagt, und man mußte hören, wie giftig sie das rausbrachte. Jedes Wort langgezogen und zwischen den Zähnen zerquetscht. Dabei hatte sie ganz und gar unrecht. Klar, daß man den Menschen die Jugendfehler nicht bis an die Urne vorhalten darf. Es ist vielmehr ihre Laxheit gegenüber der Pflicht und ihre ständige Besserwisserei, die ich ihr ankreide. Auch in politischen Dingen … wo ich ihr nicht demokratisch genug bin. Das wäre mir schon die rechte Demokratie. Erst was leisten und dann mitreden, so seh’ ich die Dinge. Wir Älteren, der Braun, der Junghans, auch der Grollmann, obwohl der ein paar Jahre weniger mit sich rumschleppt, haben es stets mit gutem Grund so gehalten. Aber die Grenz … wirklich, ich habe unser Gespräch in Erinnerung an meinem letzten Tag im Betrieb … sie war da eher aufgeschlossen, denn sie hatte keine Veranlassung, sich mit mir anzulegen. Sie saß mir in meinem Büro gegenüber und sagte: „Das haben Sie mir nicht zugetraut, Frau Henneberg, stimmt’s, daß ich die DSFFeier so hinkriege. Nun loben Sie mich ruhig mal, wenn’s Ihnen auch schwerfällt.“ Und ich hab’ sie gelobt, ein bißchen jedenfalls, es fiel mir in diesem Augenblick gar nicht so schwer. Deshalb kann ich mir letztlich doch nicht vorstellen, daß sie zwei Stunden später diese Gemeinheit begangen haben soll. Trotz der Auseinandersetzungen, die es bisweilen zwischen uns gab … Das Gesicht, das mich anstarrte, war rund und füllig,
die Nase keineswegs platt, eher normal … oder täusche ich mich? Manchmal ist es, als müßte ich sagen, das war’s. Ganz nahe scheint es mir, ich kenn’ es genau. Doch ich krieg’s und krieg’s nicht zu fassen. Ein Porträt will Kielstein anfertigen lassen, keine schlechte Idee, das wird mir vielleicht weiterhelfen. Ich habe das Gefühl, das bringt mich auf die Spur. Denn ich muß wissen, weshalb mir das geschehen ist, gerade mir. Und woher dieser Haß kommt.
11. Ein weißer Shiguli hält auf dem Parkplatz vorm Krankenhaus, und eine junge, flott gekleidete Frau steigt aus. Sie trägt einen sportlich geschnittenen Samtrock, eine Lederjacke über dem Grisutenpullover und pelzbesetzte Stiefel. An der rechten Hand einen großen Ring mit dunkelrotem Stein, dem man allerdings ansieht, daß er nicht echt ist. In der linken einen Strauß rosa Nelken. Sie schließt das Auto ab und geht mit sicherem Schritt durchs Hauptportal über den Plattenweg zur Anmeldung. Dann, nach kurzem Wortwechsel mit der Pförtnerin hinterm Schiebefenster, die Treppe zum ersten Stock hinauf. Hier im Korridor bleibt sie zögernd vor der Tür mit der Aufschrift „Arztzimmer“ stehen. Die rotblonde Schwester tritt aus einer der weißen Türen und steuert auf sie zu. „Sie wünschen?“ „Ich heiße Jutta Baum. Ich bin die Tochter von Frau Henneberg und möchte zu meiner Mutter.“ „Ach so“, sagt die Schwester, „ja. Wir hatten Sie schon eher erwartet.“ Sie mustert die Besucherin neugierig. „Wir waren ein paar Tage nicht in Berlin, ich
meine, nicht zu Hause. Ich hab’ das Telegramm erst heute nacht vorgefunden. Sie können sich meinen Schreck vorstellen. Was ist denn eigentlich passiert?“ „Ein … schwerer Unfall“, sagt die Schwester mit kurzem Zögern in der Stimme. „Aber sie hat noch mal Glück gehabt. Das Allerschlimmste ist überstanden. Obwohl sie nach wie vor ziemlich schwach ist. Wir dürfen sie nicht überanstrengen.“ „Kann ich sie besuchen?“ fragt die junge Frau. „Ja“, erwidert die Schwester, „aber nicht lange. Der Doktor wird Ihnen später nähere Auskunft geben, wenn Sie es wünschen. Nur jetzt ist er nicht zu sprechen, er ist im OP. Kommen Sie, ich bring’ Sie zu Ihrer Mutter.“ Sie segelt voran; Jutta, in ihrem Windschatten, macht sich auf einen unguten Anblick gefaßt. Dann steht sie in dem kleinen Krankenzimmer. „Besuch für Sie, Frau Henneberg, Ihre Tochter.“ Der Anblick ist schlimmer, als sie dachte. „Guten Tag, mein Kind. Schön … daß du gekommen bist. Na, verschlägt’s dir die Sprache? Ich seh’ nicht gerade aus, als hätte ich … eine Kur hinter mir, stimmt’s?“ Es ist der Ton, den sie in Begegnungen mit ihrer Tochter immer anschlägt, wenn auch diesmal leiser und gewollt forsch. Ein wider Willen abwehrender Ton. Jutta ist versucht, die Rührung zu unterdrücken, die sie beim Anblick dieses schmalen, durchscheinenden Gesichts empfindet. Sie schüttelt die Versuchung ab, kniet vorm Bett nieder und ergreift die Hand der Älteren. „Mutter, wie konnte das nur passieren? Ich hab’ das Telegramm erst heut nacht gefunden, wir waren unter-
wegs. Ich bin gleich hergekommen. Es ist so schrecklich.“ „Laß das“, sagt die Mutter, und das Zittern in ihrer Stimme ist nur bei genauem Hinhören zu vernehmen, „ich bin noch nicht tot. Steh auf und hol dir den Stuhl … Schöne Blumen hast du mitgebracht, leg sie dort auf den Schrank. Neben die andern, die hat mir der Betrieb geschickt. Die Schwester wird sie nachher in ein Glas stellen.“ Sie entzieht ihrer Tochter die Hand. Jutta tut, was die Mutter verlangt, trägt den Stuhl zum Bett. „Wie fühlst du dich?“ fragt sie. „Es geht … den Umständen entsprechend. Ich hab’ endlich einmal Zeit, über Verschiedenes nachzudenken. Jede böse Geschichte hat auch ihr Gutes.“ „Du trägst es mit Humor“, sagt Jutta. „Fein, daß die eigne Tochter das mal feststellt. Aber … spaßig war’s nicht. Nein, gar nicht!“ „Bist du mit jemandem zusammengestoßen?“ Die Frau im Bett scheint überrascht, sie wirft der Jungen einen prüfenden Blick zu. „Ja, hat man dir denn nichts erzählt?“ „Im Telegramm stand nur schwerer Unfall. Den Arzt konnte ich noch nicht erreichen.“ „Kein Zusammenstoß“, murmelt die Frau, „ich muß wohl … die Kontrolle über das Fahrzeug verloren haben.“ Die Erklärung geht ihr offensichtlich schwer von der Zunge. Die Rotblonde kommt ins Zimmer, macht sich am Schränkchen zu schaffen und verschwindet dann wieder. Sie nimmt die Blumen mit, um sie ins Wasser zu stellen. „Brauchst du etwas, Mutter? Wäsche vielleicht, ein Glas Eingemachtes? Du ißt doch Pflau-
menkompott gern. Ich hab’ in der Eile nicht an so was gedacht. Aber ich nehm’ mir eine Woche frei im Institut. Ich kann vielleicht bei Antje übernachten.“ „Du bist … allein gekommen?“ „Ja. Detlef kann im Moment nicht weg. Er muß sein geplantes Buch überarbeiten. Der Termin ist schon überschritten. Er läßt dich herzlich grüßen.“ „Herzlich“, sagt Juttas Mutter, „na, meinetwegen.“ Und in ihrer Stimme ist ein lauernder Unterton, als sie fragt: „Ihr wart unterwegs in den letzten Tagen? Wo denn?“ „Ich in Rostock“, erwidert die Tochter. „Eine Fachtagung. Detlef wollte nicht allein in Berlin bleiben und ist nach Leipzig gefahren, um in der Deutschen Bücherei zu arbeiten. Eben des Buches wegen. Er ist auch jetzt noch dort, wohnt im Hotel. Ich hab’ mit ihm telefoniert.“ „Ein bißchen Wäsche könnte ich schon gebrauchen“, sagt die Patientin, „zwei Nachthemden, Taschentücher, einen Morgenrock. Zu essen nichts, ich hab’ keinen Hunger. Laß dir den Schlüssel zum Haus geben, du brauchst nicht bei deiner Freundin zu übernachten, du nicht …“ „Mutter!“ bittet Jutta. „Wenn’s mich erwischt hätte“, sagt Frau Henneberg erregt, „ihm … wäre es doch gelegen gekommen, nicht wahr? Keiner, der ihm mehr dazwischenredet, der ihn durchschaut … Und dann, wenn das Haus auch klein ist … es hat eine wunderbare Lage. Es ist geeignet für bestimmte Projekte …“ „Mutter, was redest du. Wir haben unsere Wohnung.
Wir wollen gar nicht aus Berlin weg.“ „Wenn ich einmal sterben sollte“, flüstert die Frau, „das Haus gehört dir, verstehst du, dir allein – nicht ihm!“
12. Vielleicht wäre das alles nicht passiert, denkt die Gestalt im Regenmantel, hätte die Alte mich nicht in den letzten Wochen so ganz besonders gegen sich aufgebracht. Ohne es zu merken, sie läuft ja blind durch die Welt, mit Scheuklappen wie die Pferde. Hätte sie nicht diese neue Masche versucht, diesen hinterhältigen Dreh: teile und herrsche, aber teilen will sie gar nicht, es soll absolut nach ihren Vorstellungen gehn, sie allein hat die richtige Meinung, und ihr hast du dich unterzuordnen, wer du auch sein magst. Was du auch denken und empfinden magst – das heißt, sie setzt voraus, daß du wie sie denkst, und falls nicht, ist’s grundfalsch, schief und verderblich. Das war schon immer so und wird bei ihr so bleiben, selbst wenn sie die Axt, die sie noch vor ein paar Jahren kräftig gebraucht hat, hier und da durch Hinterlist ersetzt. Das ist wahrscheinlich ihre Art, aus Erfahrungen zu lernen: Manche mögen darauf hereinfallen, ich nicht. Nein, ich hab’ nichts vergessen, kein Stück von den Demütigungen, die sie mir und andern zugefügt hat. Ich denk’ nicht nur an mich, ich denk’ auch an Ilona. Lange Zeit hab’ ich’s hingenommen, mir nichts anmerken lassen, hab’ überspielt, runtergeschluckt, was kaum zu verdauen war. Aber dann, bei diesem letzten Manöver, ist mir die Sicherung durchgebrannt. Erst über Jahre hinweg die
Peitsche, jetzt plötzlich das Zuckerbrot, mag sich dadurch täuschen lassen, wer will, ich weiß zu gut Bescheid. Und an jenem Tag – das war der Höhepunkt der Heuchelei. Ich merkte plötzlich, wie falsch alles war, jahrelang hatte sich das angestaut, und jetzt konnte ich’s nicht mehr ertragen. Nein, das hätte sie nicht tun dürfen, alles, aber das nicht. Es war ein Augenblick, an dem es keine andere Möglichkeit mehr gab. Ich versuchte die Wut auch diesmal runterzuwürgen, doch es gelang nicht. Ich konnte nicht mehr an mich halten, ich rannte aus dem Haus und durch die Straßen, ich dachte, ich werd’ irre. Und dann kam mir wie ein Blitzstrahl dieser Gedanke. Ich wußte doch Bescheid über sie, ich kannte ihren Weg, ich hatte diese Variante im Geist schon ein paarmal durchgespielt. Ich weiß nicht, ob ich sie umbringen wollte, soweit überlegte ich gar nicht, ich handelte wie unter Zwang. Ich mußte die Zange lösen, die mein Herz gepackt hielt, den Druck von meinem Kopf nehmen, mich befreien. Ja, befreien ist das richtige Wort. Ich mußte ihr einen Denkzettel verpassen. So ist es eben passiert, und was geschehen ist, ist geschehen, ich kann es nicht rückgängig machen. Nur klug muß ich jetzt sein und kaltes Blut bewahren. Die Gestalt im Regenmantel schreitet langsam durch die Straßen – auch an diesem Tag ist es naßkalt, aber der Wind hat sich gelegt, und so empfindet man das Wetter fast als angenehm. Es ist die Stunde der Dämmerung, in den Betrieben ruht die Arbeit schon eine Weile oder hat nach dem Schichtwechsel neu begonnen. Der Berufsverkehr ist bereits abgeflaut, doch die meisten
Läden haben noch offen, und in ihnen drängen sich nach wie vor die Menschen. Die Gestalt bleibt vor dem Schaufenster einer Boutique stehen. Modische Herbstkleidung, schillernde Tücher, Handtaschen. Keine Preise dran, die werden ganz schön gepfeffert sein. Aber schick sind die Sachen, das muß man sagen, sehr schick. Die Gestalt geht vom Fenster zur Tür, greift nach dem Türknopf und zieht dann die Hand wieder zurück. Nein, das hat noch Zeit, nicht heute. Eine Frau in exquisitem Leder Jäckchen, weißblond und mit hoheitsvollem Blick unter grüngetönten Lidern hervor, rauscht ins Geschäft – man sieht ihr an, daß sie die blauen Scheine nur so auf den Ladentisch blättern wird. Die Gestalt im Regenmantel schaut ihr einen Augenblick lang hinterher, dann schlägt die Tür wieder zu. Wenn sie mich erkannt hätte, denkt die Gestalt, wenn sie irgendwas Bestimmtes gesehen hätte, wär die Polizei längst bei mir gewesen, und zwar nicht die Verkehrspolizei. Die Gestalt geht weiter, mit einem Blick auf die eine und andere Schaufensterauslage, läßt sich vom nun spärlicher fließenden Passantenstrom die Hauptstraße hinuntertreiben zum Käthe-Kollwitz-Platz. Urplötzlich aber bleibt sie, von heißem Schreck durchzuckt, stehen. Und wenn sie mich nicht erkannt, doch das mit der Schnur begriffen hat? Wenn sie der Polizei erzählt, daß es gar kein Unfall gewesen sein kann? Die in der Anmeldung des Krankenhauses hat das Wort Unfall geschluckt, ohne mich zu korrigieren, doch das kann Kripotaktik sein. – Das ist Kripotaktik! Wenn sie etwas vermuten, es aber erst überprüfen wollen, weihen sie keine Menschenseele ein. Ich bin ein Dummkopf, ich
hätte dran denken sollen. Viel eher – jetzt sind sie mir vielleicht schon auf der Spur. Die Gestalt steht erstarrt da, die Finger der rechten Hand in den Pulloverkragen gekrallt, den sie krampfhaft ausweitet; ihr ist, als müsse sie ersticken. Nur keine Panik, denkt sie, ich muß kaltes Blut bewahren, muß jetzt ganz ruhig überlegen. Was kann ich tun, um klarzusehn, die Ungewißheit bringt mich um. Die Kripo … ich muß herausbekommen, ob die Kripo wirklich schon im Spiel ist. Die Gestalt, von einem jungen Mann angerempelt, setzt sich mechanisch in Bewegung, geht dann jedoch schneller und betritt schließlich eine Telefonzelle. Da kein Fernsprechbuch vorhanden ist, ruft sie die Auskunft an und läßt sich die Nummer des Kreiskrankenhauses geben. Sie holt ein Taschentuch hervor, breitet es, mit dem Körper die Sicht von draußen verstellend, über die Sprechmuschel. Ihre Stimme zittert ein wenig, als sie mit der Klinik spricht, die Station verlangt, auf der die Patientin Roswitha Henneberg liegt. Eine Schwester meldet sich, sie hat eine warme und freundliche Stimme: „Die Chirurgische … Schwester Barbara, Sie wünschen?“ „Hier ist die Kriminalpolizei, ich hätte gern den Stationsarzt gesprochen.“ Am anderen Ende der Leitung tritt für einen Augenblick Stille ein, dann sagt die Schwester: „Ach, Sie sind’s, Leutnant, ich verstehe Sie kaum … Ist es dringend? Doktor Hansen hält sich gerade unten im Labor auf.“
Die Gestalt im Regenmantel umklammert den Telefonhörer, sie setzt vergebens zu einer Erwiderung an. Leutnant … denkt sie … also doch … „Hallo, Leutnant Kielstein, sind Sie noch dran?“ „Nein, danke … Ich wollte sagen, hier spricht ein … Genosse … Nein, es ist nicht so dringend … Wir melden uns später noch mal … Auf Wiederhören.“ Die Gestalt hängt den Hörer ein und verläßt die Zelle. Langsam wird sie ruhiger, entschlossener. Jetzt, wo kein Zweifel mehr besteht, daß die Kripo im Krankenhaus war, etwas weiß, es wenigstens vermutet, ist eine neue Lage entstanden. Nun gut, denkt die Gestalt, sie vermuten also, daß es kein Unfall war. Trotzdem, es bleibt dabei, hätte die Alte was gesehn, sie wären längst bei mir gewesen. Sie tappen im dunkeln und halten mich für ahnungslos, das ist meine Chance. Niemand weiß, daß ich es war, denkt die Gestalt, sie werden versuchen, Anhaltspunkte zu finden, aber das wird ihnen schwerfallen, und dann – ich brauch’ ja nicht abzuwarten. Ich muß ruhig überlegen, muß klug sein, aber ich brauch’ nicht abzuwarten. Vielleicht kann ich Verwirrung stiften, etwas tun, das die Polizei auf eine ganz falsche Spur bringt.
13. Hauptmann Bothe beugt sich über seine Aktentasche, die neben dem schweren, nußfarbenen Schreibtisch auf dem Fußboden steht, und kramt darin. Er hat das rechte Bein leicht eingeknickt, sein kräftiger
Rücken spannt das fischgrätengemusterte Jackett, und der Hinterkopf, vom Licht der Tischleuchter weißlich angestrahlt, weist eine kreisrunde kahle Stelle auf, die vom Haar nur notdürftig überdeckt ist. Kielstein, in der Hand einen Brieföffner aus Plast, schaut von der Höhe seiner ein Meter achtzig leicht gereizt auf den Vorgesetzten herab. Das könnte er sich wirklich mal abgewöhnen, denkt er, diese Manie, immer erst im Schrank, im Regal oder in seiner Tasche herumzuwühlen, wenn man mit dringlichen Dingen zu ihm kommt. Und überhaupt, diese Tasche. Wie lange schleppt er die eigentlich schon mit sich herum. Er muß sie von seinem Großvater geerbt haben, so unansehnlich und unförmig, wie sie ist. Daß seine Frau sie ihm nicht längst abgenommen und auf den Müll geschmissen hat! Da gibt es ja inzwischen wirklich modernere und praktischere Behältnisse, zum Aufklappen oder Über-die-SchulterHängen. Aber wahrscheinlich stellt er sich auf die Hinterbeine, wenn sie ihm mit so was kommt. Er macht sich ja noch einen Jux daraus, das Vehikel überallhin mitzunehmen und möglichst auffällig darin zu kramen. „Was stehst du herum und bohrst mir deinen angespitzten Blick ins Genick“, sagt Bothe in diesem Moment und verlagert sein Körpergewicht aufs andere Bein. „Leg meinen kostbaren Brieföffner in die Federschale, du wirst ihn noch zerbrechen, wenn du ihn so biegst. Und nimm Platz, du bist heute der erste, der meinem Sessel die Ehre gibt. Einen winzigen Augenblick Geduld, ich steh’ gleich zu deiner Verfügung. Ich hab’ bloß eine wichtige Entscheidung zu treffen, und wenn du nun schon mal da bist, kannst du mir vielleicht
mit einem Rat zur Seite stehn.“ „Eigentlich brauch’ ich selber einen Rat“, murrt Kielstein, legt aber den Brieföffner aus der Hand und setzt sich hin. „Das mit der Henneberg läuft irgendwie falsch.“ „Falsch? Du warst doch vor ein paar Tagen noch so zuversichtlich.“ „Das war ich und bin’s auch jetzt. Aber ich hatte mir mehr von ihrer Mitarbeit versprochen. Der Versuch, ein Porträt vom Täter anzufertigen, hat uns kein Stück vorangebracht.“ Bothe hat seine Sucharbeit in der Tasche beendet und holt nun, für den Leutnant unerwartet, zwei Gläser ans Lampenlicht. „Das ist das Schöne an diesem alten Lederkoffer“, sagt er aufgeräumt, „daß man so viel verschiedenartige Dinge darin unterbringen kann. Blumenerde hab’ ich damit schon transportiert und vor vielen Jahren sogar einmal Pferdedung. In Packpapier eingewickelt natürlich, aber untersteh dich, das Hilda weiterzutratschen.“ Hilda ist Bothes Frau; Kielstein denkt, daß sie die Geschichte mit den Pferdeäpfeln sicherlich längst kennt. „Der Zeichner hat sich alle Mühe gegeben“, beharrt er auf seinem Thema, „an ihm lag’s bestimmt nicht.“ „Gleich, gleich“, murmelt Bothe, „wir sind sofort bei unserem Fall, du mußt mir vorher nur noch eine Frage beantworten. Welche der beiden bescheidenen Pflanzungen gefällt dir besser?“ Er nimmt die Gläser vom Fußboden und stellt sie vor Kielstein auf einen runden Tisch. Beide sind sie etwa gleich groß, das eine bauchig, mit schlankem Hals und einer relativ kleinen Öffnung, das andere zylinderförmig und im Durchmesser einem
breiten Einweckglas entsprechend. Auf ihrem Grund befindet sich, von Blumenerde überlagert, eine Kiesschicht, bedeckt mit saftgrünem Moos. In dem Glaszylinder sprießt eine winzige violette Blüte, umgeben von schilfartigen Gräsern, in dem anderen Behälter wächst nichts als unterschiedliches Blättergeflecht. Kielstein fügt sich ins Unvermeidliche, offenbar kommt er an dieser Pflanzendiskussion nicht vorbei. „Das da gefällt mir besser“, entschließt er sich tapfer und zeigt auf das zylinderförmige Glas. „Du meinst? Na ja, gelungen ist es schon. Obwohl das Arrangement hier auch was für sich hat. Du darfst dich nicht durch die Saint Paulia täuschen lassen.“ „Ich bin Laie, ich kann nur meinen Eindruck wiedergeben. Weshalb willst du das unbedingt jetzt wissen?“ „Weil wir heute abend bei Hans-Peter eingeladen sind. Monika hat Geburtstag.“ Jetzt wird Kielstein verschiedenes klar. Hans-Peter ist der ältere der beiden Bothe-Söhne und Monika diejenige von seinen Schwiegertöchtern, die auf Grund ihres Interesses für sein Hobby seine besonderen Sympathien genießt. „Wenn du das Glas mit dem Blättergemisch für wertvoller hältst, mußt du eben das schenken“, sagt er. „Mit dem Blättergemisch?“ „Na, mit den Farnen oder was das ist.“ Bothe packt die beiden Behältnisse und stellt sie auf den Schreibtisch. „Du lernst es nie“, sagt er, vorwurfsvoll den Kopf schüttelnd. „Aber es stimmt, sie haben beide was für sich. Ich werde sie ihr wohl beide mitnehmen … Also, was war nun mit dem Porträt?“ „Wir haben es nach ihren Angaben angefertigt: Motor-
radbrille, platte Boxernase, halblanges glattes Haar, schmale Lippen, kantiges Kinn, aber sie konnte niemanden damit in Verbindung bringen. Trotz der verschiedenen Varianten, die wir versuchten.“ „Dann war es vielleicht doch ein Unbekannter“, vermutet Bothe. Kielstein schüttelt mißmutig den Kopf. „Ich weiß nicht. Wenn sie wenigstens einmal gesagt hätte: ,Halt, das ist es.’ Aber das Unbefriedigende war, daß sie nie ganz zustimmte. Mal hohe Stirn, mal schmale Stirn, mal verdecktes, mal freies Ohr; wir bewegten uns immer auf so einer Mittellinie zwischen Mann und Frau, und wenn wir dachten, wir hätten es, verlangte sie plötzlich das Gegenteil. Es ging so weit, daß sie ein rundes Kinn wollte und eine spitze Nase.“ Bothe, der sich inzwischen auf seinem Schreibtischstuhl niedergelassen hat, die Gläser noch immer im Blick, sagt trocken: „Dann war es wohl ein Fehler von dir, darauf zu bauen, daß sie sich an Einzelheiten erinnert.“ „Wir schienen ganz nahe dran. Die Frau machte einen zuverlässigen Eindruck.“ „Wenn sie nichts Konkretes bemerkt hat, braucht sie deswegen nicht gleich unzuverlässig zu sein.“ „So hab ich’s ja nicht gemeint“, sagt Kielstein mürrisch. Das Telefon schrillt kurz auf, doch als Bothe abnimmt, ist niemand dran. Eine der üblichen Fehlverbindungen. „Und wie soll’s jetzt weitergehn?“ fragt der Hauptmann. „Wir werden uns intensiver als bisher in ihrem Bekanntenkreis umsehn. Und in ihrer Arbeitsstelle. Nach Anglern, die Motorrad fahren und schwarze
Handschuhe tragen. Der Faden stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus einem solchen Handschuh. Die Schnur – das steht fest – war eine null-Komma fünfunddreißig Millimeter starke Dederon-Angelschnur aus dem Chemiefaserwerk Guben. Marke Leska-Exquisit. Sie muß beim Aufprall des Rollers gerissen sein, hat sich im Schutzblech verklemmt und ist von dem Blech dann nochmals zerschnitten worden. Oder angeritzt – die Tatperson hat es wohl eilig gehabt und heftig daran gezogen. So ist das kleine Ende hängengeblieben, das wir gefunden haben.“ „Na, das sind doch einige verheißungsvolle Ansatzpunkte“, sagt Bothe. Kielstein zieht an seinen Fingern. „Geangelt wird viel in unserer Gegend, mit dem Motorrad fährt auch mancher, und was die Handschuhe angeht … Ich hatte mir die Sache jedenfalls einfacher gedacht. Außerdem werden wir die Ermittlungen vorläufig sehr unauffällig führen. Der Täter soll denken, daß wir nach wie vor an einen Verkehrsunfall glauben.“ „Scheint alles logisch, allerdings kann das sehr arbeitsaufwendig werden.“ „Sag ich doch“, bekräftigt Kielstein. „Heute bin ich ja unter anderem gekommen, weil ich …“ „Weil du noch ein paar Leute haben willst.“ „Andreesen ist nach wie vor krank. Ich hab’ im Augenblick nur Felsch zur Verfügung.“ „Oh“, sagt Bothe, „ihr seid ein wunderbar eingearbeitetes Gespann, ihr beiden, ich setze vollstes Vertrauen in euch.“ „Soll das heißen, daß wir alles allein machen müs-
sen?“ „Allein? Im Lager der Henneberg gibt’s den Betriebsschutz, in Berlin, wo ihre Tochter wohnt, gibt’s Kollegen.“ „Du weißt, daß ich das nicht meine“, wehrt sich Kielstein. „Vorläufig müßt ihr das zu zweit machen“, sagt Bothe. „Zur Zeit fehlt es mir wirklich an Mannschaft. Das Wetter. Alle Welt ist krank.“ Kielstein denkt, daß er offenbar einen schlechten Tag erwischt hat. Er will sich erheben, doch da klingelt erneut das Telefon. Bothe läßt es dreimal scheppern, bevor er abhebt. Diesmal ist ein Kollege dran, Oberleutnant Bienert, bei dem die Einbruchsgeschichten zusammenlaufen. „Da ist eine Sache, die Sie interessieren könnte“, sagt er, „draußen in Daggendorf. Jemand ist in ein Einfamilienhaus eingestiegen. Bei einer Frau Henneberg, das ist doch wohl Ihr Fall. Obwohl meine Leute schon dort waren. Ich hab’ bereits vorhin bei Ihnen anzurufen versucht, aber es war immer besetzt.“ „Es war nicht besetzt“, erwidert Bothe, „der Apparat hat anscheinend ‘ne Macke. Roswitha Henneberg, sagen Sie?“ „Ja, wohnhaft Daggendorf, Fichtengrund sechs.“ „Das ist durchaus unser Fall; wer hat den Einbruch entdeckt?“ „Die Tochter der Besitzerin, eine gewisse Jutta Baum. Sie scheint im Augenblick dort zu wohnen.“ „Danke, wir werden uns darum kümmern.“ Bothe legt sanft den Hörer auf die Gabel und dreht sich zu Kielstein um, den es nun nicht mehr auf seinem Platz hält. „Sieh an“, sagt der Hauptmann, „es bleibt also nicht bei
der einen Überraschung. Na, wenigstens weißt du jetzt, wo du weitermachen kannst.“
14. Das Haus liegt (wie fünf oder sechs andere) am Fuß eines Hügels, der den sogenannten Fichtengrund begrenzt. Nadelbäume gibt es hier im Tal freilich nicht mehr – der Blick fällt auf Gärten und Wiesen, ehe er die dunkle Waldkulisse im Hintergrund erfaßt, lediglich einige Buchen und Akazien säumen die Straße, die weiter nach Daggendorf führt. Eine idyllische Gegend, wenn sie sich auch dem Zugriff der Datschenbesessenen nicht entziehen konnte. Die Reihen weißer oder brauner Bungalows, jeweils ins enge Quadrat sorgfältig gepflegten Gartenlandes gequetscht, klettern fast bis zur Kuppe des Hügels hoch. Und auch auf der anderen Seite des Tals, wo sich hinter einem Bach ein ungepflegter Grasstreifen erstreckt, sind sie im Vormarsch. Holzstapel, angehäufte Bausteine, Fertigteile, lehmige Gruben fürs Fundament und einige Drahtzäune, die den neuen Besitz absichern sollen. „Du kannst sagen, was du willst, schöner wird die Landschaft durch diese Kolonien nicht“, nörgelt Felsch, als sie aus dem Wagen gestiegen sind und vor der Gartentür des Hennebergschen Grundstücks stehen. „Wer uns vor zwanzig Jahren erzählt hätte, daß das Land mal auf diese Weise grünen und blühen wird, dem hätten wir hübsch was geblasen.“ „Das empfindest du nur so, weil du nicht beteiligt bist. Hättest du hier deine hundert Quadratmeter eigenen Grund und Boden, in den du deinen Spaten stoßen könntest, du würdest diese Neuaufteilung für die beste
Sache der Welt halten.“ Es ist still im Haus, das sich, unten rot geziegelt, oben mit Holz verkleidet, zwischen Büsche und abgeerntete Obstbäume duckt. Ein schmuckes Haus, klein im Grundriß, doch zweigeschossig und mit einer Glasveranda vorn. Für eine einzelne Person bietet es allemal genügend Platz. Kielstein drückt auf den weißen Klingelknopf, und fast augenblicklich kommt hinter dem Haus eine junge Frau in Jeans und weitem dickem Pullover zum Vorschein. Sie trägt einen Rechen in der Hand, den sie jedoch abstellt. „Moment, ich muß erst den Schlüssel holen.“ Sie weiß Bescheid über den Besuch. Um dem Risiko zu entgehen, vielleicht niemanden anzutreffen, hatten sich die beiden Kriminalisten angemeldet. Dann sitzen sie sich im Wohnzimmer gegenüber, dessen lederbezogene Sitzmöbel altehrwürdige Nüchternheit ausstrahlen. Gemütlich ist es hier nicht gerade, denkt Kielstein, eigentlich eine sonderbare Ausstattung für eine alleinstehende Frau. Als hätte Jutta Baum seine Gedanken erraten, sagt sie: „Meine Mutter hält sich fast immer oben auf, wenn sie zu Hause ist, oder auf der Veranda. Nur wenn sie Besuch bekommt, bittet sie ihn hier herein.“ „Genau wie Sie uns“, sagt Kielstein und fügt hinzu: „Kriegt sie denn oft Besuch?“ „Ich glaube nicht. Sie müssen wissen, daß ich schon seit Jahren in Berlin wohne und relativ selten in Daggendorf bin.“ „Und seit wann halten Sie sich jetzt hier auf?“ „Das habe ich bereits alles Ihren Kollegen erzählt. Vor knapp einer Woche fand ich zu Hause ein Telegramm
mit der Mitteilung vor, daß meine Mutter einen schweren Unfall erlitten hätte. Ich fuhr her und besuchte sie im Krankenhaus. Da es ihr nicht gut ging, entschloß ich mich zu bleiben. Ich war bloß zwischendurch noch mal in Berlin, hab’ das mit meiner Dienststelle geregelt. Alles in allem bin ich den sechsten Tag hier.“ Kielstein versucht sich ein Bild von Jutta Baum zu machen, die mittelgroß ist, ein wenig fülliger, als sie es vielleicht selbst gern hätte, und deren ovales, mit kräftigem Make-up versehenes Gesicht nur auf den zweiten Blick Ähnlichkeit mit dem ihrer Mutter aufweist. Was bei deren augenblicklicher Gebrechlichkeit und dem Altersunterschied allerdings auch nicht verwundert. Ihm fällt auf, daß sich die junge Frau Zwang antun muß, um ruhig zu erscheinen. Erst der Unfall, dann der Einbruch, das war wohl ein bißchen viel. „Möchten Sie rauchen?“ fragt Felsch, der die Unruhe der Frau gleichfalls mitgekriegt hat, und zückt ein scheußliches falschgoldenes Zigarettenetui. „Danke. Eigentlich bin ja ich die Gastgeberin. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“ Jutta Baum greift nach der Zigarette, ist aber gleichzeitig auf dem Sprung, umgehend irgendein Getränk herbeizuschaffen. „Bitte machen Sie sich keine Mühe. Wir bleiben bestimmt nicht lange … Also was ist nun genau passiert? Wenn Sie es auch schon erzählt haben – schildern Sie uns die Vorgänge nochmals von Anfang an.“ „Na ja, es begann, als ich zum zweiten Mal aus Berlin kam“, berichtet die junge Frau. „Der Tag war anstrengend gewesen: erst die lange Fahrt mit dem PKW, dann noch ein schneller Besuch bei meiner Mutter. Ich war
ziemlich müde und legte mich zeitig hin. Aber wegen der Aufregungen konnte ich nicht einschlafen. Und mit einemmal gab es da so ein fürchterliches Getöse, ein Poltern und Blechgeschepper. Direkt neben mir, dachte ich, aber es war natürlich draußen gewesen, im Garten. Ich sprang vom Bett auf, rannte zum Fenster – Stille. Das heißt, nicht absolut: Der Wind pfiff, und die Bäume rauschten. Ich glaubte schon, ich hätte mich geirrt und vielleicht doch bereits geschlafen, aber da nieste plötzlich jemand hinterm Haus. Na, Sie können sich meinen Schrecken vorstellen …“ „Wo schliefen Sie“, fragt Kielstein, „oben?“ „Ja. Das Schlafzimmer liegt rechts und hat nur ein Fenster zur Seite. Im Dunkeln konnte man aber sowieso nicht viel sehen. Um irgendwas zu machen, schrie ich: ,Detlef, da ist jemand im Garten!’ Dann schaltete ich Licht an und rannte in den Nebenraum, um nach hinten Ausschau zu halten. Ich schaltete überall das Licht an, ich wollte den Eindruck erwecken, dass viele Leute im Haus wären.“ „Detlef riefen Sie?“ sagt Kielstein. „Der Name meines Mannes. Er ist aber nicht hier, er ist zur Zeit in Leipzig.“ „Und wie ging’s weiter!“ „Ich sah nichts, ich hörte nur, wie jemand weglief. Nach hinten; gewiß war er über den Zaun geklettert. Sie können sich denken, daß ich danach erst recht nicht schlief. Obwohl ich mir einbilde, einigermaßen mutig zu sein.“ „Haben Sie eine Erklärung für den Lärm, den der Eindringling machte?“ fragt Felsch.
„Natürlich. Als alles still blieb, ging ich trotz meiner Furcht mit einem Stock bewaffnet ‘raus, denn es konnte ja sein, dass sich der Kerl an meinem Auto zu schaffen gemacht hatte, das unterm Schuppendach stand – meine Mutter hat nie eine Garage bauen lassen. Da hab’ ich dann gesehn, daß er über die beiden Abfalleimer gestolpert sein muß, die ich wegen des Autos zur Seite gestellt hatte. Sie lagen umgekippt mitten auf dem Weg.“ „Der Kerl?“ sagt Kielstein. „Sie glauben doch nicht, daß eine Frau in der abendlichen Dunkelheit bei Wind und Wetter über den Zaun steigt.“ „Absolut ausgeschlossen wäre es nicht.“ „Vielleicht haben die Kollegen irgendwelche Spuren gefunden“, äußert sich Felsch. „Das werden wir bald wissen … Aber berichten Sie weiter. Das war ja wohl erst das Vorspiel“, sagt Kielstein. „Vorspiel ist gut, doch Sie haben recht. Eingestiegen ist er erst gestern abend. Ich kam gegen acht aus der Stadt, da war es schon passiert. Ich merkte es nicht gleich, es schien alles in Ordnung. Aber dann war mein Taschenrechner weg, ich weiß hundertprozentig, daß ich ihn in der Veranda auf den Tisch gelegt hatte. Nachmittags um vier, bevor ich in die Stadt fuhr. In der Schublade fehlten etwa hundertdreißig Mark, gleichfalls mein Geld. Ob er noch was mitgenommen hat, kann ich nicht sagen, da müßte meine Mutter hier sein.“ „Sie sind sicher, daß Sie den Rechner und das Geld nicht woanders gelassen haben?“ „Ganz sicher. Wirklich. Außerdem weiß ich, daß er
durch die Hintertür gekommen ist, er muß einen Schlüssel gehabt haben. Ich hatte nämlich nach der Geschichte am Vortag alle Türen und Fenster fest verriegelt. Und weil die Hintertür ein wenig wacklig ist, hatte ich einen Stock unter die Klinke geklemmt. Der war weg.“ Jutta Baum ist jetzt ruhiger geworden, und was sie sagt, klingt überzeugend. „Dieser Stock hat sich nicht wieder angefunden?“ fragt Kielstein. „Nein. Ihre Kollegen haben alles danach abgesucht.“ „Wie sah er denn aus?“ „Dunkelbraun. Mit einem geschnitzten dicken Knauf und Blechbeschlägen. Ein Wanderstab, wie man das früher nannte.“ „Ein Taschenrechner“, sagt Felsch, „hundertdreißig Mark, ein Knotenstock, da müßte eigentlich was zu machen sein.“ „Das hoffe ich auch“, stimmt die junge Frau zu. „Haben Sie einen Verdacht?“ fragt der Leutnant. „Einen Verdacht nicht. Ich glaube nur, daß sich der Kerl hier auskennen muß. Möglicherweise taucht er noch mal auf. Ich wollte schon umziehn deshalb, zu meiner Freundin, aber die ist weggefahren. Auf jeden Fall hab’ ich meinen Mann gebeten herzukommen. Ich hoffe, daß er noch vor dem Abend eintrifft.“ Kielstein ist das im Hinblick auf die weitere Untersuchung nicht unrecht, er läßt sich jedoch nichts anmerken. „Haben Sie schon Ihrer Mutter von dem Einbruch erzählt?“ fragt er. „Nein, ich wollte sie nicht noch mehr aufregen.“ „Sprechen Sie vorläufig mit niemandem außer Ihrem Mann über die Angelegenheit. Ihrer Mutter werden
wir’s schonend beizubringen versuchen. Vielleicht kann sie uns wichtige Hinweise geben.“ Sie erheben sich, und die junge Frau begleitet sie zur Tür. Kielstein denkt, daß er die Gelegenheit nutzen und sie ein wenig über das Verhältnis zu ihrer Mutter ausfragen könnte, aber er verschiebt das auf später. Er will sich erst einmal Klarheit über diesen Diebstahl verschaffen. „Ein schönes Haus und ein hübscher Garten ist das“, verleiht er – nicht gerade originell – seiner Anerkennung Ausdruck, als sie zum Gartentor gehen. Doch Jutta Baum nimmt keine Notiz von seiner Bemerkung. Statt dessen sagt sie, als die beiden Kriminalisten schon im Begriff sind, ins Auto zu steigen, ein wenig zögernd: „Aber bitte, erzählen Sie meiner Mutter nichts davon, daß mein Mann herkommt; sie hat was gegen ihn und ist da ziemlich eigen. So war’s ja auch nicht geplant. Es ist nur wegen dieser Geschichte. Weil ich auf keinen Fall länger allein in dem Haus wohnen möchte.“
15. Die Dinge verwirren sich immer mehr, und ich weiß tatsächlich nicht mehr, woran ich bin. Erst Jutta, deren Besuche mir guttun, obwohl ich finde, daß sie meinetwegen nicht die Arbeit zu versäumen brauchte; die in ihrem Institut rechnen gewiß mit ihr … dann Kielstein mit seinem Porträt, mit der Frage nach irgendwelchen schwarzen Wollhandschuhen, die der Täter getragen haben soll, und nun dieser Einbruch. Nein, ich erinnere mich nicht, daß jemand aus meiner Bekanntschaft solche Handschuhe besitzt, und das Porträt hat mich der Lösung des Problems auch nicht näher-
gebracht. Vielleicht, wenn ich die Leute von der Kripo ein wenig länger bei der Variante hätte festhalten können, die sich in meinem Kopf einzugraben begann, von der ich inzwischen aber fast nicht mehr weiß, ob sie Realität oder Alptraum war, bei diesen weichen, fließenden Gesichtszügen. Doch da ich die Kriminalisten auf die falsche Fährte gelockt hatte … das kantige Kinn, die platte Nase … klammerten sie sich daran fest, und weder sie noch ich kamen weiter. Es ist schon so: Wenn man sich erst einmal aufs Schwindeln verlegt hat, verwickelt man sich mehr und mehr in Phantasiegespinste, gerät am Ende selbst in die Klemme. Und jetzt noch dieser Diebstahl – niemals in all den Jahren ist jemand in mein Haus eingestiegen, höchstens daß mal ein paar Äpfel geklaut wurden, zwei oder drei Pfund Erdbeeren, und ich wohne nun schon fast zwanzig Jahre in dem Haus, seit ich es damals, nach Tante Hertas Tod, von ihr erbte. Wäre der Diebstahl nicht, ich würde schwören, daß Detlef die Hände im Spiel hat, er war nicht mit Jutta zusammen an dem entscheidenden Tag, war angeblich in Leipzig, sie hat es ja zugeben müssen, daß er sich irgendwo herumtrieb, während sie auf ihrer Konferenz war. Aber dieser Einbruch – das paßt nicht zusammen: Was wollen die plötzlich von mir, was habe ich ihnen getan? War es ein und dieselbe Person, die den Anschlag auf mich verübt und jetzt Jutta bestohlen hat, oder kommt nur zufällig eins zum andern, weil ich im Krankenhaus liege, weil man glaubt, die Situation ausnutzen zu können: Wenn die Katze aus dem Haus ist, tanzen die Mäu-
se auf dem Tisch. Falls das jemand denkt, soll er sich verrechnet haben, die Henneberg hat’s zwar ziemlich erwischtr aber erledigt ist sie noch nicht; mir geht’s schon wieder besser, ich kann mich schon ganz gut aufsetzen im Bett, und Dr. Hansen, der recht zugeknöpft ist und der einem bestimmt keine überflüssige Hoffnung macht, meint, ich könne den Gang zum Klo bald selber wagen … Doch auch wenn dem nicht so wäre, ich muß meine Kraft zusammenraffen und nüchtern überlegen. Wenn es mir mies ging, hab’ ich immer nüchtern überlegt, zum Beispiel damals, als Jutta noch sehr klein war und ich durch die Umstände von Siegfried getrennt … Die Partei kam ihm dahinter, daß er ein Verhältnis mit mir hatte, obwohl er bereits verheiratet war. Seine Frau wollte zwar schon lange nichts mehr von ihm wissen, sie hatten sich gleich nach dem Krieg kennengelernt und paßten überhaupt nicht zusammen, aber sie hatten die Scheidung immer hinausgezögert. Als er ihr nun von meiner Existenz erzählte, machte sie plötzlich ihre Rechte geltend. Ihre „Rechte“, es wäre zum Totlachen gewesen, hätte es mich nicht so direkt betroffen. Natürlich versuchte ich zunächst alles, mein gerade erst gewonnenes Glück zu retten. Siegfried war aus der Stadt weg, quasi über Nacht – nur auf eine Stunde hatte er zu mir kommen und das Wichtigste berichten können – nun lief ich von Pontius zu Pilatus, um an entscheidender Stelle für ihn, mich und unser Kind zu plädieren. Doch ich merkte bald, daß ich ihm auf diese Weise eher schadete und mir nicht half. „Er ist schlimmer als ein Feind“, wetterte Siegfrieds ehemaliger Stellvertreter,
der jetzt kommissarischer Direktor der Berufsschule war, und der Kreissekretär, zu dem ich mich schließlich durchgekämpft hatte, den ich mit meinen Fragen und Klagen bestürmte, rief: „Er hat unser Vertrauen wirklich gröblichst mißbraucht. Begreif doch, ihm war das Beste anvertraut, das wir besitzen: unsere Jugend. Doch nicht nur, daß er sich liberalistisch verhielt, Esperantozirkel duldete, Hotmusik, durch die uns der Klassengegner aufweichen will – er gab auch moralisch ein miserables Beispiel. Und dich selbst, Genossin, hat er ja hintergangen, indem er dir seine Ehe verheimlichte. Wobei wir dir nicht den Vorwurf mangelnder Wachsamkeit ersparen können.“ Daß er Esperantozirkel und diese Hotmusik gefördert hatte, konnte ich auch nicht verstehen – es war einfach eine andere Zeit: Wir nahmen manches tragisch, was uns jetzt eher komisch vorkommt. Aber daß ich nichts von seiner Frau geahnt hatte, war falsch. Ich kannte sie zwar nur vom Foto, doch ich wußte von ihr. Siegfried hatte mir gesagt, daß sie ihm nichts mehr bedeute und die Scheidung lediglich eine Formalität sei, die er irgendwann nachvollziehen würde. Das genügte mir. Er lebte ja hier bei mir, fuhr wochenlang nicht nach Dresden. Trotzdem korrigierte ich den Kreissekretär in diesem Punkt nicht, ich begriff, daß Siegfried mich und unser Kind da heraushalten wollte. Ich überlegte nüchtern, obwohl ich innerlich brannte, und ging nach Hause, ohne etwas erreicht zu haben. Von diesem Tag an stellte ich mich auf die neue Lage ein. Erst später, als sich die Wogen geglättet hatten, nahm ich Siegfrieds Spur wieder auf. Da half es mir dann, daß ich auf den Sekretär und auf andere durch meine Gefaßtheit einen
guten Eindruck gemacht hatte. Wenn es darauf ankam, hab’ ich meine Kraft und meine Gedanken immer zusammengenommen, es wäre doch gelacht, wenn es mir jetzt nicht gelänge, Ordnung in den Wirrwarr zu bringen … Dieser Diebstahl, dieses Eindringen in ein verschlossenes Haus durch die Hintertür – wobei es, wie Kielstein sagte, so aussieht, als habe sich die Person sicher bewegt –, da kommen nicht viel Leute in Frage. Einen Schlüssel kann der Dieb allerdings nicht besessen haben: Das eine Bund ist hier bei meinen Sachen, das zweite hat Jutta, das dritte liegt unberührt im Vertiko, die Polizei hat sich überzeugt. Gestohlen wurde nichts weiter, außer dem Taschenrechner und den hundertdreißig Mark natürlich; na ja, mein Sparbuch, die zweitausend Mark im Stahlkästchen sind gut in der Kommode versteckt. Und trotzdem ist das sonderbar: Hätte es jemand darauf abgesehen gehabt, er hätte auch was gefunden. Frau Sand jedenfalls, die bei mir Bescheid weiß, weil sie immer beim Großreinemachen hilft, hat bestätigt, daß nichts fehlt, und auf die Sand ist Verlaß, wenn ich letztlich auch selbst an Ort und Stelle nachsehen müßte, um sicherzugehn. Mit einem Nachschlüssel könnte der Kerl eingedrungen sein, da passiert ja so manches in der letzten Zeit; ich war leichtsinnig, hab’ mir kein Sicherheitsschloß einbauen lassen, dabei hätte gerade ich durch meine Mitarbeit beim Gericht gewarnt sein müssen; eine Lehre für die Zukunft: Man lernt nie aus. Und wenn es nun Holger war, Holger Franke, der kennt sich in Garten und Haus aus, den hab’ ich mehr als einmal angeblafft, weil
er einfach über den Zaun stieg, anstatt durchs Tor zu kommen, wie es sich gehört, und der weiß auch mit der Technik Bescheid, so ein einfaches Türschloß ist für den kein Problem. Für den Wanderstock, der noch von Tante Hertas Mann stammt, hat er sich gleichfalls schon interessiert. Aber Holger, das kann ich mir nicht vorstellen, weshalb sollte er so was tun, er ist fleißig und nett, hält mir den Motorroller in Schuß und nimmt das Obst ab, obgleich sie heutzutage in der Schule ja ganz schön was leisten müssen, tüchtig rangenommen werden. Das einzige, was mich an ihm stört, ist seine Unpünktlichkeit, vor allem seit er mit dieser Freundin geht. Zweimal hat er sie mitgebracht, aber zuletzt mußte ich ihr doch ein paar Takte sagen, sie nimmt sich zuviel heraus. Holger Franke, das wäre nicht nur für mich enttäuschend, sondern auch für seine Mutter, die im Konsum als Verkäuferin arbeitet und große Stücke von ihrem Jungen hält. Sie und ihr Mann hoffen, einen Wissenschaftler aus ihm zu machen. Wenn ich allerdings mit ganz kühlem Kopf an die Sache herangehe, und das hab’ ich mir ja vorgenommen, muß ich zugeben, daß durchaus einiges gegen ihn spricht. Man hat ja schon gar keine Ahnung mehr, was diesen jungen Leuten so durch den Sinn schwirrt, was sie aus all den Fernsehkrimis aufschnappen und überhaupt anstellen, weil ihnen in ihrer Haut zu wohl wird. Wenn aber nicht Holger, was ich nur hoffen und wünschen will, und wenn nicht … Detlef … wer dann?
16.
Am Sonntag darf Roswitha Henneberg Be-
such empfangen, und nach Frau Sand, die lediglich für eine halbe Stunde kommt, um gute Besserung zu wünschen und zwei Flaschen selbstgemachten Johannisbeersaft zu schenken, treffen die ersten Kollegen aus dem Betrieb ein. Eine Abordnung, sie besteht aus Karl Braun, Mitglied der Gewerkschaftsleitung und Erstem Lageristen der Abteilung Glaswaren, sowie Petra Ruß, einer Packerin. Die beiden bringen Blumen mit, Apfelsinen und natürlich die besten Genesungswünsche. „Die ganze Belegschaft denkt an dich“, sagt der Lagerist betont forsch und nicht ohne den für ihn bezeichnenden freundlichen Sarkasmus in der Stimme, „sie haben sich geradezu gedrängelt, einen ersten Besuch machen zu dürfen, aber wie du siehst, ist die Ehre schließlich uns zugefallen. Wir waren die Würdigsten.“ „Dazu kann ich euch nur beglückwünschen“, erwidert Roswitha Henneberg, die offenbar Mühe hat, sich der Art ihres Kollegen anzupassen. „Holt euch einen zweiten Stuhl von irgendwoher und schaut mich nicht so betroffen an, ich bin momentan … noch ein wenig mitgenommen.“ Braun geht nach draußen, um die benötigte Sitzgelegenheit herbeizuschaffen, Petra Ruß, die tatsächlich vom schlechten Aussehen der Patientin überrascht scheint, nimmt inzwischen Platz. Sie ist eine unauffällige Person mittleren Alters. Eine von jenen Frauen, die man bei Betriebsfeiern und ähnlichen Festlichkeiten leicht übersieht, die jedoch zuverlässig ihre Arbeit verrichten, immer da sind, wenn Not am Mann ist. „Sie machen aber auch Sachen, Frau Henneberg“, sagt sie. „Mit Absicht ganz bestimmt nicht, Kollegin Ruß, das
können Sie mir glauben.“ Braun bringt den zweiten Stuhl und läßt sich ächzend nieder. Es ist ein kleiner quirliger Mann, mitunter nörglerisch, aber groß im Organisieren, was ihm einen Dauerposten in der BGL eingebracht hat. „Ach was, so schlimm ein solcher Unfall auch sein mag, er hat sein Gutes. Da bist du mal ‘ne Weile ‘raus aus dem Streß, Witha, du hast dich die letzten Jahre genug abgestrampelt. Hast ein wenig Blut verloren, na und? Deine Batterien wirst du schon wieder aufladen.“ „Wissen Sie, Kollege Braun“, sagt die Ruß, „so ganz auf die leichte Schulter würd’ ich die Geschichte ja nicht nehmen.“ „Lassen Sie ihn nur“, die Patientin lächelt, „er sieht eben das Positive an der Sache. Aber reden wir nicht soviel von mir, ich komm’ schon wieder auf die Beine. Wie läuft’s denn bei euch, privat und im Lager?“ „Privat wie überall“, erwidert Braun, „man kracht sich mit der Alten und verträgt sich wieder. Ich bin zum zweiten Mal Großvater geworden, falls dich das interessiert, ein Mädchen, sie hat schon richtige blonde Haare. Und im Lager geht’s natürlich auch blendend. Mit dem Einsatz aller Kräfte, selbst mit denen, die zum Lehrgang und auf Dienstreise sind, erfüllen wir den Plan. Wärst allerdings du da, würde es noch besser flutschen.“ „Einen besonderen Gruß vom Kollegen Junghans, er hat vorübergehend Ihre Vertretung übernommen“, sagt die Packerin. „Er kommt am Mittwoch“, ergänzt Braun, „aber sieh dich vor, er will bestimmt Arbeitsprobleme mit dir besprechen. Die Verantwortung nimmt ihn mächtig mit.“
Er freut sich wie über einen gelungenen Witz. Roswitha Henneberg lächelt erneut, sie ist etwas aufgelebt. Sie zeigt sich aber auch erstaunt: „Der Junghans vertritt mich? Ich hätte eher an Gerd Grollmann gedacht. Der kennt sich doch am besten aus.“ „Grollmann sollte dich vertreten“, sagt Braun, „doch er wollte nicht. Sie hätten in der Elektroakustik ohnehin alle Hände voll zu tun, meint er. Und er hat recht, dort ist zur Zeit am meisten los. Aber von ihm sollen wir dich natürlich gleichfalls grüßen.“ „Von allen im Lager“, beeilt sich Petra Ruß hinzuzufügen. „Von allen?“ Der Ton der Kranken ist spöttisch. „Na ja“, räumt Braun ein, „vielleicht nicht von Hauke oder von Hoffmann II – den hast du mit deiner Reaktion auf seinen Neuerervorschlag zu sehr vor den Kopf gestoßen. Aber unbedingt von Polly. Mit ihr hab’ ich noch gestern gesprochen.“ „Grüß sie wieder, die Polly“, sagt Roswitha Henneberg, „sie ist eine treue Seele.“ „Sie wird dich bestimmt bald besuchen. Dein Unfall ist ihr ziemlich nahegegangen.“ Das Gespräch reißt ab. Die Henneberg scheint müde zu werden, sie legt den Kopf in die Kissen. Petra Ruß schält ihr noch eine Apfelsine ab, gießt ihr ein Glas von dem Johannisbeersaft ein, den Frau Sand mitgebracht hat, dann machen sich die beiden zum Gehen fertig. Draußen wird es langsam dunkel, und Braun ist wohl nicht böse, daß die Besuchszeit vorüber ist. Er schüttelt seiner Kollegin zum Abschied kräftig die Hand, dann verlassen sie den Raum. Doch als sie schon auf dem Korridor stehn, kehrt er plötzlich noch mal um
und steckt den Kopf durch den Türspalt. „Du, Witha“, sagt er „das hätt’ ich fast vergessen, da ist noch jemand, der gern mal vorbeischauen würde, sich bloß nicht traut. Wenigstens kommt mir das so vor. Margit Rösler, heute morgen hab’ ich zufällig mit ihr telefoniert. Du kennst sie ja, sie ist wie du, viel geredet hat sie nicht. Aber eins ist ihr doch rausgerutscht … Sie war schon mal hier im Krankenhaus und ist wieder umgekehrt. Ich erzähl’s dir bloß, damit du nicht zu sehr überrascht bist, wenn sie mal reinplatzt.“
17. Der Oberschüler Holger Franke ist langaufgeschossen und schmal, sein pausbäckiges Gesicht steht im Gegensatz zur gesamten übrigen Erscheinung. Die Arme und Beine, der Oberkörper, zu allem Überfluß noch in ein längsgestreiftes Pulloverhemd gesteckt, sind von einer Mager- und Schlenkrigkeit, die gewiß nur zum Teil altersbedingt ist. Er muß nach seinem Vater kommen, denkt Kielstein, der die Mutter, eine eher rundliche Person, bereits kurz kennengelernt hat. „Ich weiß schon, weshalb Sie hier auftauchen“, sagt Holger ungefragt, „die Sand hat es mir heute vormittag erzählt, aber weiterhelfen kann ich Ihnen nicht. Seit Frau Henneberg den Unfall gebaut hat, war ich noch nicht wieder bei ihr.“ Kielstein zieht sich einen weißen Plaststuhl heran und setzt sich rittlings darauf, die Arme auf den oberen Rand der Rückenlehne gelegt. Ohne daß er sagen könnte, warum, überkommt ihn ein Gefühl der Wohligkeit. Er denkt, daß es richtig war, Holger nicht in der Schule, sondern in Daggendorf aufzusuchen. Hier
auf der Veranda des Zweifamilienhauses, das die Frankes mit einem anderen Ehepaar teilen, scheinen ihm die Voraussetzungen für ein vertrauliches Gespräch am besten gegeben. Daß sich der Junge zunächst wenig aufgeschlossen zeigt, stört ihn nicht. „Du kennst Frau Henneberg gut und bist bei ihr ein und aus gegangen. Das ist mir eine Unterhaltung wert.“ Holger erwidert nichts, er wartet ab. Mit bläßlichen Augen schaut er vor sich auf den mit Heften und Schulbüchern vollgepackten Tisch. Ein Atlas fällt Kielstein ins Auge, aufgeschlagen ist die Karte Nordamerikas. „Ich hab’ dich bei der Arbeit gestört“, sagt der Leutnant. „Das ist keine Arbeit, das ist mein Hobby.“ „Donnerwetter, die Schulaufgaben als Hobby. Da werden sich die Lehrer freuen.“ „Sie verstehen das falsch“, sagt der Junge ein wenig gelangweilt, „ich interessiere mich besonders für Geographie, fürs Reisen. Für den amerikanischen Kontinent. Deshalb.“ „Aber doch auch für Motorroller und fürs Angeln.“ „Fürs Angeln, wie kommen Sie darauf? Überhaupt nicht. Für Motorräder schon. Gehört irgendwie zur Geographie. Jedenfalls für meine Begriffe.“ Sieh an, denkt Kielstein, vom Baum der Dummheit ist das Apfelgesicht nicht gefallen. Solch plumpe Attacken stärken nur sein Selbstbewußtsein. Wird nicht ganz leicht sein, die Dinge aus ihm herauszuholen, die man wissen möchte. „Weshalb hilfst du gerade Frau Henneberg“, fragt er, „sie wohnt doch am anderen Ende des Dorfes.“ „Weshalb schon. Es hat sich so ergeben. Sie hat meine
Mutter angesprochen, ob die jemand für ihren Garten wüßte. Der Roller kam dann dazu. Eben ‘ne Abmachung.“ „Und wo liegt dein Vorteil?“ „Ist das nicht meine Sache? Sie bezahlt mir natürlich was. Weniger als heute üblich, wenn Sie’s genau wissen wollen.“ „Aber du verstehst dich trotzdem gut mit ihr.“ Holger Franke schiebt sich mit den langen Beinen vom Tisch ab. „Ich begreif schon, worauf Sie abzielen“, sagt er, „doch Sie sind auf dem falschen Dampfer. Ich dachte, Sie wollten was über den Einbruch erfahren.“ „Sagen wir, ich würde gern klarsehn. Im übrigen möchte ich mich mit dir darauf einigen, daß ich die Fragen stelle und du sie beantwortest.“ „Also gut, ich komme mit ihr zurecht. Trotzdem, wie Sie’s ausdrücken. Sie ist zwar ein wenig altmodisch, hat ihre Prinzipien, aber das ist vielleicht kein Wunder, wenn man so allein haust wie sie.“ Er weiß Bescheid, denkt Kielstein amüsiert, altmodisch sein und Prinzipien haben gehört für ihn zusammen. Er geht aber darüber hinweg. „Gab’s Auseinandersetzungen mit ihr?“ fragt er. „Ab und zu schon. Es paßte ihr nicht, daß ich manchmal später kam als abgesprochen. Sie ist so für Exaktheit, für die Uhr, wissen Sie. Und ziemlich diktatorisch. Direkt verkeilt.“ „Verkeilt? Das mußt du mir mal genauer erklären“, sagt Kielstein. „Daß ich wegen meiner Freundin Knatsch mit ihr hatte, erfahren Sie ja doch. Die Mona war ein paarmal mit
dort, hat mir geholfen. Das wurde aber nichts, der Alten … ich meine Frau Henneberg … war sie zu laut und zu modern. Na ja, sie hat das Radio im Haus immer ein bißchen stark aufgedreht, weil wir was hören wollten im Garten, und dann ist sie in ihren knallengen Jeans auf den Bäumen rumgeklettert. Sie hat auch so’n Tick – sie schwärmt von der Großfamilie, weil sich ihre Eltern immer krachen. Einmal hat sie davon angefangen, als Frau Henneberg dabei war, da wurde die richtig fuchtig. Vor allem als Mona sagte, wenn wir Jungen über den Sozialismus zu bestimmen hätten, würde nicht alles so holztrocken zugehn.“ „Deine Freundin scheint ein munteres Mädchen zu sein“, bemerkt Kielstein vorsichtig. „Mona ist in Ordnung. Die hält zu Hause alles zusammen, seit ihre Mutter den Neuen hat. Sie sollten mal sehn, wie die sich um die kleine Schwester kümmert.“ Das Apfelgesicht nimmt einen schwärmerischen Ausdruck an. Es ist doch noch ein richtiges Gespräch geworden, der Leutnant ist nicht unzufrieden. Zumal ihm die Herbstsonne durch die offene Vorderfront der Veranda warm auf den Rücken scheint. Er läßt den Blick über die aufgestapelten Bücher gleiten. „Was hat das zu bedeuten?“ fragt er und zeigt auf einige mit dem Bleistift in die Nordamerika-Karte eingetragene Linien. „Das sind die Rückzugsrouten verschiedener Indianerstämme im vorigen Jahrhundert. Der Dakota, Cheyenne, Blackfeet. Dürfte für Sie kaum interessant sein.“ „Du hältst mich wohl für ‘nen völlig fachbeschränkten Polizeistiesel, was?“
Der Bursche grient. „Muß ich die Frage auch beantworten?“ „Erlaß ich dir. Deiner schönen Nase wegen. Hast dich ja immerhin zu einer Unterhaltung mit mir herabgelassen. Also gut: Mona ist in Ordnung, du bist in Ordnung, Frau Henneberg ist verkeilt und hat Prinzipien. Aber in ihr Haus ist jemand eingestiegen. Du kannst mir wohl nicht sagen, wer dafür in Frage käme?“ „Leider nicht.“ „Nicht zufällig einen Wanderstock gesehn, der dir schon immer gefiel, wie man hört?“ „Weder zufällig noch überhaupt.“ „Sicherlich kannst du mir aber erklären, wo du in der entsprechenden Zeit warst und was du gerade getrieben hast.“ „Da müßte ich die entsprechende Zeit erst mal wissen.“ „Am vergangenen Freitag zwischen sechzehn und zwanzig Uhr.“ „Das sind vier Stunden.“ „Ja, haben wir auch ermittelt. Ohne einen Taschenrechner zu bemühn.“ „Wenn Sie mal einen brauchen, ich borg Ihnen meinen gern“, sagt Holger gelassen. „Ich besitze ihn seit einem Jahr. Ein Geschenk von meinem Vater.“ „Genug jetzt“, Kielsteins Ton wird schärfer, „ich hab’ was gefragt.“ „Ich war an diesem Freitag bis siebzehn Uhr in der Schule im Geographiezirkel. Dann bin ich mit Rolf, meinem Freund, hierhergefahren und hab’ gearbeitet. Wir waren bis zehn im Haus. Meine Mutter kann es Ih-
nen bestätigen.“ „Ihr wart die ganze Zeit über im Haus?“ „Ja, wir hatten ‘ne Menge zu tun, und dann haben wir noch Musik gehört.“ Kielstein erhebt sich, das Alibi des Jungen ist löchrig, doch das war kaum anders zu erwarten. Es würde ihn auch nicht weiterbringen, wenn er sich jetzt noch das Zimmer Holgers zeigen ließe. Immerhin hat er aber so etwas wie eine Idee im Hinterkopf. „Und am Abend vorher, zwischen acht und neun, wo warst du da?“ „Wozu wollen Sie denn das wissen?“ „Du kannst es dir nicht abgewöhnen, was“, sagt Kielstein. „Wie soll ich mich da noch so genau erinnern … Am Donnerstag? Wahrscheinlich war ich im Dorfklub, ja, jetzt weiß ich’s wieder. Zum Lichtbildervortrag übers Elbsandsteingebirge. Mona sieht so was gern. Die war dabei, die können Sie fragen.“
18. Nun entschließ ich mich also doch, denkt die Gestalt im Regenmantel, investiere das Geld, zweihundert Mark vielleicht für eine Handtasche, sechs- bis siebenmal hab’ ich vor dem Schaufenster gestanden und bin wieder gegangen, aber die Verlockung war zu groß. Der Preis wird unmäßig sein … dennoch, es ist ein wirklich exquisites Stück. Ja, ich kauf sie, sagt sich die Gestalt und betritt das kleine Geschäft, auf dessen weich schwingender Glastür mit goldenen Lettern die Aufschrift „Boutique für die Dame“ angebracht ist. Ein fast quadratischer Raum mit Kleiderständern und vollge-
stopften Regalen; rechts Mäntel, Röcke und Blusen, links ein Ladentisch, an dem sich hauptsächlich Frauen drängen. Eine Verkäuferin breitet Pullover und Blusen aus, ihr ins Bläuliche spielendes, sanft gewelltes Haar umrahmt ein ovales Gesicht, in dem die Augen kühl unter scharf nachgezogenen Brauen wie unter schräg stehenden französischen Akzentzeichen hervorblicken. Hände wühlen in den Anziehsachen, Hüften verdrängen Hüften vom Tisch. Die Gestalt ist versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen, spürt aber bereits einen wogenden Busen im Rücken. „Bitte“, sagt sie zögernd, „bitte, junge Frau…“ Die Verkäuferin ist viel zu beschäftigt, um auf solch einen hilflosen Versuch zu reagieren, aber urplötzlich tut sich am Ladentisch eine Lücke auf, in die die Gestalt im Regenmantel geschoben wird. „Ich hätte mir gern die Tasche dort angesehn“, sagt sie, von diesem unerwarteten Erfolg beflügelt, halblaut und zeigt mit der diesmal in einem braunen Lederhandschuh steckenden Hand auf den wertvollen Gegenstand. Die Verkäuferin sortiert weiter die Pullis und Blusen, sie gibt durch keinerlei Regung zu erkennen, ob sie die Bitte gehört hat. Plötzlich jedoch wendet sie sich mit graziöser Bewegung vom Ladentisch ab und geht zum Regal ans Fenster. „Die da?“ „Ja, bitte.“ Die Verkäuferin nimmt die Tasche, die in dunklem und hellem Braun changiert, weich ist, bauschig und mit einem golden glänzenden Verschluß ausgestattet, und reicht sie über den Tisch. „Zweihundertachtzig Mark genau.“
„So teuer? Ich dachte…“ Die Verkäuferin zuckt kaum wahrnehmbar die Achseln, damit Bedauern oder auch Geringschätzung ausdrückend, und wendet sich erneut den auf modische Oberbekleidung versessenen Kundinnen zu. Die Tasche, von den kritischen Blicken einiger Umstehender geröntgt, bleibt in den Händen der Gestalt zurück. „Also gut … der Preis ist zwar hoch, doch ich nehm’ sie. Ich bezahle mit Scheck, ich hab’ nicht soviel Bargeld bei mir.“ „Wie Sie möchten“, sagt teilnahmslos die Verkäuferin… Eine Viertelstunde später steht die Gestalt im Regenmantel hinter den Weidenbäumen am Ufer des Gänsesees. Sie hat noch keine Lust, nach Hause zu gehn, die letzten Tage waren aufregend, und nach wie vor sitzt die Unruhe in ihr: Lieber draußen an der frischen Luft als zwischen Wohnungswänden eingezwängt sein. Gewiß, einen Menschen gibt es, zu dem es sie mit großer Macht hinzieht, aber gerade diesen Besuch muß sie sich verkneifen. Ich hab’ viel riskiert, hab’ getan, was ich konnte, sagt sie sich, jetzt darf ich nicht durch unbedachte Schritte wieder alles aufs Spiel setzen. Ich muß mich still verhalten und beobachten. Wenigstens die nächsten zwei, drei Wochen sollen die Dinge genauso weiterlaufen wie bisher. Wenn die Kripo nach dem Täter sucht, wird sie die Fühler in die verschiedensten Richtungen ausstrecken, auch in diese. Besonders in diese. Denn sie wird nach einem Motiv fragen, und ein Motiv, das fände sich hier, weiß Gott. Die Gestalt geht langsam am Ufer entlang, bleibt zwischendurch immer wieder stehen. Sie
denkt an die Henneberg, die in ihrem Bett im Krankenhaus liegt und der die entscheidende Erinnerung einfach nicht kommen darf. Zum Glück, überlegt sie, verrennt sich diese Frau so sehr in ihre eigene Welt, daß es ihr schwerfällt, die Gedanken und Beweggründe anderer zu begreifen. Sie fühlt sich erhaben über alles Menschliche, aber in Wirklichkeit ist sie einsam und unausgefüllt, daher ihre Schroffheit, ihr Ehrgeiz. Doch das ist keine Entschuldigung, sie vergiftet überall die Atmosphäre, macht die einen zum Duckmäuser, die andern zum Heuchler. Und mir versucht sie das einzige zu nehmen, an dem mir wirklich liegt. Ich hab’ sie jahrelang beobachtet, denkt die Gestalt, hab’ gesehn, wie’s die Kollegen und Bekannten ausbaden mußten, sogar die eigne Tochter hat sie vergrault, aber das kommt mir jetzt alles zugute. Nein, nein, sie wird sich nicht erinnern. Und dennoch, ich kann nicht sicher sein … Leichter Wind ist aufgekommen, er surrt in den Weidenzweigen und kräuselt die Oberfläche des Sees. Eine alte Frau nähert sich dem Ufer, sie scheint oft hier zu sein, denn noch bevor sie aus einem gelben Beutel eine Plasttüte mit Brotstücken holt, schwimmen aus verschiedenen Richtungen Enten und Schwäne heran. Die Gestalt im Regenmantel schaut zu, wie die Alte leise brabbelnd die Vögel füttert, doch sie ist nicht bei der Sache. Sie nimmt die neugekaufte Tasche zur Hand, die sie bisher, in Packpapier eingeschlagen, unter dem Arm trug, sie versucht sich über den Kauf zu freuen, aber es bleibt beim Versuch. Langsam kriecht Wut in ihr hoch, ergreift Besitz von ihr, schaltet das Denken aus. Ihre Finger verkrampfen sich, wild stampft sie mit dem Fuß
auf. „Alles verdirbt einem diese Henneberg, alles“, schreit sie plötzlich so laut, daß sich die Frau am Wasser erschrocken umdreht. Die Gestalt im Regenmantel kommt zu sich, einige Augenblicke steht sie starr, wie benommen da. Dann reißt sie wütend einen Weidenzweig ab und geht, die noch immer halb eingewickelte Tasche in der Hand, mit schnellen Schritten in Richtung Stadtzentrum davon.
19. Es ist eigenartig, ich versuche mit der Gegenwart fertig zu werden, mit den Dingen um mich her, aber immer wieder kommt die Vergangenheit auf mich zu. Und zwar nicht nur in meinen Gedanken, sondern ganz real: Gestern diese Worte Karl Brauns über Margit, die mich mehr aufgewühlt haben, als mir lieb ist, und heute ein Besuch von einer Frau, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnerte. Dabei hat sie einmal für kurze Zeit eine ziemlich wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Sie heißt Hella Simonsen, diese Frau, und ist eine Deutsche, die einige Zeit mit einem Dänen verheiratet war. Sie arbeitete in den fünfziger Jahren beim Rat des Kreises und hatte wesentlichen Anteil daran, daß ich wieder Kontakt mit Siegfried aufnehmen konnte. Ich war damals wegen eines Antrags auf eine zusätzliche Kohlenkarte bei ihr gelandet – Jutta fror als kleines Kind sehr, und mein Zimmer war im Winter einfach nicht warm zu kriegen –, bei dieser Gelegenheit hatte ich ihr meine Geschichte erzählt. Sie konnte sich in meine Lage versetzen, denn sie hatte Schlimmeres hin-
ter sich, war während der Nazizeit von Mann und Sohn getrennt worden. Jetzt dagegen hatte sie als VdN ein Wort im Kreis mitzureden. In ihrer Wohnung konnte ich mich nach einiger Zeit zum ersten Mal wieder mit Siegfried treffen. Als Frau Simonsen heute morgen zur Tür hereinkam, erinnerte ich mich als erstes an ihre Wohnstube mit den Bauernmöbeln. Vielleicht, weil das Zusammentreffen mit meinem Mann halb illegal war – ich entsinne mich, wie ich beim Ruf der Kuckucksuhr zusammenfuhr. Später setzte Siegfried endlich seine Scheidung durch, und ab da ging’s besser: Wir konnten uns wieder offiziell sehen. In die Stadt kam er allerdings noch lange nicht zurück, ihm war eine Arbeit in der Produktion zugewiesen worden; er mußte sich bewähren, und das dauerte seine Zeit. Wir haben Frau Simonsen über Jahre hinweg immer mal besucht, dann verlor sich der Kontakt. Inzwischen ist sie schon über siebzig, eine gediegene Person mit weißem Haar, klein und zierlich, aber nach wie vor voller Anteilnahme. Sie hat es von Jutta erfahren, daß ich hier im Krankenhaus bin, sie hat sie auf der Straße getroffen und gleich wiedererkannt, sie war, wie sie sagte, ganz begeistert, was mein Töchterchen für eine selbstbewußte junge Frau geworden sei, wie sie sich herausgemacht habe. „Die Jutta hat mir von ihrem Beruf als Modell-Zeichnerin berichtet“, sagte sie, „und von ihrem Leben in Berlin, sie fand gar kein Ende.“ Doch so wohl mir ihr Lob für meine Tochter tat, ein wenig hat mich die Sache auch gewurmt. Wie lange ist es her, daß Jutta mir von ihrem Beruf, von ihrem Leben erzählt hat. In den letzten Jahren kaum ein Wort, als ginge es mich
nichts an. Ich brachte es nicht fertig, Frau Simonsen gegenüber die absolut glückliche Mutter zu spielen, ich machte ein paar Andeutungen, doch ich traf bei ihr eher auf Unverständnis. Als ließe ich es an Einfühlungsvermögen fehlen, als wäre es an mir, diese Dinge aus ihr herauszulocken. Ob ich tatsächlich manchmal zu sehr auf meinen Stolz poche? Na, sie kennt die Streitlust meiner Tochter nicht, ihre Dickköpfigkeit. Natürlich redeten wir auch von meinem Unfall. Frau Simonsen bedauerte mich, doch es war ihr wie allen, die mich besuchen, anzusehen, daß sie mich selbst für schuldig an dem Sturz hält. Allmählich fällt es mir schwer, immer so zu tun, als hätte ich die Kontrolle über das Fahrzeug verloren, manchmal möchte ich die Wahrheit herausschreien und jedermann fragen, weshalb man gerade mir so mitspielt. Eine Motorradbrille … bei Holger Franke hab ich nie so was gesehn, die Jungen tragen Sturzhelme. Da käme schon eher die ältere Generation in Frage, ich glaube, vor Jahren ist Junghans Motorrad gefahren und Hoffmann II, aber was spinne ich da zusammen, wo sollte zum Beispiel bei meinem Kollegen Manfred Junghans das Motiv liegen. Oder bei Grollmann, Braun, der Polly, Der dicke Hauke, ja, mit dem bin ich schon öfter zusammengerasselt, der hätte eher einen Grund, der kommt nicht weg von der Flasche. Drei Kinder zu Hause, aber nichts als die Kneipe zur Freizeitgestaltung; morgens schwenkt er manchmal noch die Fahne vom vergangenen Abend vor sich her, zwei Vorstrafen hat er, weil er im Suff handgreiflich geworden ist, und vom Hof mußte ich ihn auch
schon schicken: Beim Abladen von Fernsehgeräten nützt einem keiner was, der das Feuerwasser in der Rocktasche mitschleppt. Der Hauke braucht auch immer Geld, seine Frau hält ihn so knapp, wie sie nur kann, denkbar wär’s, daß er in meinem Haus etwas holen wollte. Aber die Schnur über die Straße, so was traue ich ihm nun doch nicht zu. Ich muß einen Gegner haben, von dem ich nichts weiß, jemanden, der mich furchtbar haßt, ohne daß ich sagen könnte, warum. Frau Simonsen würde eine solche Sache gewiß nicht passieren, die ist immer gütig, freundlich, verständnisvoll, die hat bestimmt keine Feinde. Aber ich hab’ eben meine Grundsätze, ich kann es einfach nicht mit ansehn, wenn Hauke herumschlampt, Hoffmann leichtes Geld machen will, die Grenz bummelt. Selbst die Kinder fangen ja schon damit an: Holgers Freundin spielte sich neulich in meinem Garten auf, als habe sie zu bestimmen, was Ordnung und Recht sei – wie soll man da immer zurückstecken und die Ruhe bewahren. Es stimmt, damals, als ich Siegfried wiederhatte, konnte ich auch nicht zurückstecken, das heißt, ich hab’s in der ersten Zeit sogar versucht, hab’ lange an mich gehalten, doch da war Jutta, und ich durfte nicht zulassen, daß sie mir mit jeder Woche mehr aus den Händen glitt. Denn Siegfried hatte großen Einfluß auf meine Tochter, er versteht es, mit Kindern umzugehen, das muß ich zugeben, und wenn mir das Leben beigebracht hatte, nüchtern zu denken, er ließ sich nicht davon abbringen, Märchenschlösser zu bauen. Die Nieder-
lagen, die er in der Realität erlitt, bestärkten ihn nur noch in seiner Träumerei. Daß man ihm seine Berufsschule weggenommen hatte, blieb sein großer Kummer, er hat das im Grunde nie verwunden. Er wollte mit Menschen arbeiten, er wurde dann zwar bei uns im Betrieb Lagerleiter im Bereich Glaswaren, was auch nicht schlecht war, ein ziemlicher Fortschritt gegenüber seiner Schufterei in Dresden, doch das lebendige Leben, das er um sich brauchte, war es nicht. Siegfried fand, daß ich Jutta zu streng an der Leine hielt, so wie ich im Betrieb nach seiner Meinung zu sehr aufs Reglementieren bedacht war, er plädierte immer für Großzügigkeit, wollte diese und jene Neuerung einführen und war dann betroffen, wenn er nicht sofort auf Gegenliebe stieß. Bei den Frauen kam er freilich an, das weiß ich am allerbesten, er hatte eine so ungestüme und gewinnende Art, auch noch, als er nicht mehr ganz jung war, mich hat er damit eingefangen, und als wir uns später wegen allem möglichen zu streiten begannen, fing er auch Margit damit ein. Margit … daß unsere Freundschaft so auseinanderbrach, schmerzt mich am meisten. Viele Jahre kannten wir uns, und ich wußte auch, daß sie Siegfried seit langem mochte, schon als sie ihn mir zum ersten Mal vorstellte. Sie hat es stets abgestritten; damals, als wir unsere große Auseinandersetzung wegen Siegfried hatten, behauptete sie, ich hätte ihn ihr in die Arme getrieben, aber das stimmte nicht. Ich wußte, daß sie ihn ständig anrief und mit zu irgendwelchen Literaturveranstaltungen schleppte. Sie arbeitete seinerzeit noch im Versand, begann gerade ihr Fernstudium als Bibliothekarin; sie
blühte jedesmal auf, wenn sie ihn in eine Diskussion über Heine oder Tucholsky verwickeln konnte. Das schlimmste jedoch war – auch Jutta hielt sich mehr und mehr bei ihr auf, Tante Margit hier, Tante Margit dort, und wenn ich mit ihrem Vater darüber sprach, lachte er nur. „Was verlangst du, Kinder in diesem Alter wollen nicht ständig zu Hause hocken.“ Aber darum drehte sich’s ja gar nicht, in Wirklichkeit, versuchte sie, die Mutter zu spielen, weil sie selbst keine Kinder hatte. Es ging so weit, daß meine Tochter bei ihr (vielleicht müßte ich besser sagen, bei ihnen) ihre Schulaufgaben machte, ja sogar übernachtete. Bis ich es ihr strikt untersagte und es zum Krach mit Siegfried kam. Bei dem wir uns nochmals alles an den Kopf warfen, was wir mittlerweile gegeneinander vorzubringen hatten. Er verließ meine … unsere Wohnung für immer, obwohl ich an seinen Gerechtigkeitssinn und seinen Verstand appellierte. Mir blieb der Trost, ihnen Jutta entrissen, wenigstens in diesem Punkt gesiegt zu haben. Heute allerdings kommt es mir manchmal so vor, als sei das nur ein Pyrrhussieg gewesen…
20. Kielstein kann Mona nicht nach der Anwesenheit Holger Frankes beim Lichtbildervortrag fragen, wie es der Oberschüler vorgeschlagen hat, er kann es wenigstens im Augenblick nicht, denn er trifft sie nicht zu Hause an. „Meine Tochter ist unterwegs, wahrscheinlich mit einer Freundin“, knurrt der Vater, seinem Bart nach ein Schiffbrüchiger, der soeben von einem unbewohnten Eiland zurückgekehrt ist, und zieht die
Stirn kraus. Er steht hemdsärmlig in der halbgeöffneten Tür seiner Wohnung, einen Hammer in der Hand. Der Leutnant beeilt sich, seinen Ausweis zu zücken. „Wann sie zurückkommt, können Sie mir nicht sagen?“ „Polizei, wieso? Hat sie was ausgefressen?“ „Nein, nein. Wir möchten ihr nur einige Fragen stellen.“ Kielstein schaut mit schrägem Blick auf den Hammer. Der Bärtige bemerkt es, und sein Gesicht hellt sich etwas auf. „Entschuldigen Sie, ich wollte gerade einen Wandteppich anbringen… Wann Mona zurückkommt? Ach, das ist ganz unbestimmt. Vielleicht ist sie mit dem Bus in die Stadt, in die Disko. Dann kann’s spät werden.“ „Und wo ist sie morgen zu erreichen?“ „Im Konsum, sie lernt Verkäuferin.“ Kielstein, der sich Gedanken über die Freiheiten macht, die eine Sechzehnjährige haben sollte oder nicht, setzt sich in den Wagen und läßt sich zurück zur Stadt fahren. Im Augenblick kann er nicht viel anderes machen. Er hat allerdings auch nicht den Eindruck, daß ihm in dieser Angelegenheit die Zeit im Nacken sitzt. Im Gegenteil, Bothe hat ihn heute morgen darauf gebracht, daß der Diebstahl für die Ermittlungen durchaus so etwas wie einen vorteilhaften Aspekt hat. Er liefert das Argument, weitere Nachforschungen im Fall Henneberg anzustellen, ohne den eigentlichen Grund enthüllen zu müssen. Gegenüber den Bekannten der Frau und den Leuten im Betrieb. Denn die Untersuchungen, die bisher in dieser Richtung liefen, sich mit den Alibis für den Tag des Anschlags befaßten, Motorradfahrer und Angler aufs Korn nahmen, haben nicht allzuviel ge-
bracht. Vielleicht dringt man über dieses zweite Vergehen zum Kern des Falles vor. Endlich einmal pünktlich Feierabend – Kielstein verabschiedet sich an der Hauptpost vom Fahrer und steigt aus. Von einer der Telefonzellen ruft er Cordula an, die schon zu Hause ist. Sie arbeitet als Sprechstundenhilfe bei einem Hals-Nasen-Ohren-Arzt und hatte an diesem Tag Frühdienst. „Ich bin heute frei“, sagt Kielstein, „wenn du möchtest, können wir groß zu Abend essen.“ Cordula möchte natürlich, sie freut sich über die Einladung, sie hatte schon gehofft, daß er sich meldet, und sie hat auch, wie erwartet, nichts Besonderes vor. „Gut“, sagt Kielstein, „dann hol’ ich dich ab, wir nehmen ein Taxi und fahren in die Vorstadt, in die ,Traube’ oder zu ,Möwenberg’.“ Er ist froh, daß die Sache geklappt hat, und doch ein ganz klein wenig verstimmt. Er wundert sich wieder einmal, wie bereitwillig das Mädchen auf seine Vorschläge eingeht. Marianne hätte in einem solchen Fall bestimmt etwas vorgehabt oder zumindest hinterher ins Kino, Theater, Konzert gehen wollen. Falls an diesem Tag überhaupt mit ihm. Ich bin ein Idiot, denkt Kielstein, wenn ich schon mal mit einer Frau keine Probleme habe, muß ich mir unbedingt welche einreden. Um sich abzulenken, kauft er das „Sportecho“ und vertieft sich, während er auf die Straßenbahn wartet, in einen Artikel über die kommende Eiskunstlaufsaison. Die „Traube“, ein Weinlokal, ist zwar für Kielsteins Geschmack ein wenig zu vornehm, doch bei „Möwenberg“ stand ein Trupp von Wartenden vor der Tür, und deshalb ist er ganz froh, hier unterzukommen. Nichts
Dümmeres, als es in drei, vier Lokalen vergeblich zu versuchen und schließlich doch wieder zu Hause in der eigenen Küche zu landen. Ein 4-Mann-Tisch ist ihnen zugedacht, an dem bisher nur zwei Plätze besetzt sind: Zwei gut angezogene, sauertöpfisch dreinblickende Herren sitzen hinter ihrem „Lindenblättrigen“. Immerhin hat man von hier aus einen guten Blick über den langgestreckten Raum mit seinen kleinen und großen Tischen, seinen bemalten Holzparavents und den stilisierten Trinkergestalten an den Wänden. Kielstein und Cordula, von einem auf Würde bedachten Ober höflich-bestimmt eingewiesen, setzen sich. Leises Stimmengemurmel dringt von allen Seiten auf sie ein, wird aber plötzlich von Rockmusik übertönt, die von einem Tonband hinter der Bar stammt. Cordula hat sich wirklich schick gemacht, die eng anliegenden, bis unters Knie reichenden Stiefel, das Kleid mit den Fledermausärmeln, der Amethyst am goldenen Halskettchen ziehen die Blicke der weiblichen, ihre schlanke Figur und das ebenmäßige Gesichtchen unter sorgfältig onduliertem Haar die der männlichen Wesen auf sich. Auch den beiden Tischpartnern ist ein Schimmer des Wohlgefallens vom Antlitz abzulesen. Kielstein, der wegen seiner Gedanken von vorhin insgeheim Abbitte tut, beschließt, sich den Abend etwas kosten zu lassen. „Wie wär’s mit einem Aperitif und gefüllten Schinkenröllchen für den Anfang, dann mit einer Champignonsuppe in der Schale und als Hauptgericht Burgunder Filets mit Kartoffelbällchen?“ „Burgunder Filets?“
„Wird was mit Rotwein sein. Du kannst auch Rumpsteak haben.“ „Was ißt du denn?“ „Ich bin für die Filets.“ „Dann nehm’ ich sie auch.“ „Aber du brauchst’ dich nicht nach mir zu richten. Vielleicht möchtest du lieber Entenbrust nach Art des Hauses. Oder die Weißweinmedaillons.“ „Nein, nein, die Filets.“ Kielstein hat Lust, für sich Rumpsteak zu bestellen, um zu sehen, was Cordula dann nimmt, aber er verkneift es sich. Was verlangt er eigentlich von ihr. Sie tafeln, lassen sich die Filets schmecken, trinken „Donaldo“, einen portugiesischen Rotwein, und danach Sekt. Dann setzen sie sich an die Bar und schlürfen erneut Sekt, diesmal mit Ananas. Cordula ist glücklich und beschwipst, sie lehnt sich an Kielstein, raucht „Milde Sorte“ und erzählt von ihrem Chef, der nach ihrer Ansicht außerordentlich tüchtig ist. Schon etwas älter, aber nicht unterzukriegen. Charmant ihr gegenüber und stets guter Laune, so voll das Wartezimmer immer sein mag. Natürlich hat er auch mal einen schlechteren Tag, doch das kommt sehr selten vor. Kielstein beneidet den Mann, den er nur aus den Erzählungen Cordulas kennt, um seine, wie’s aussieht, anhaltend heitere Stimmung. Er selbst fühlt sich im Augenblick eher halb und halb. Er genießt dennoch seinen Sekt, steckt sich gleichfalls eine Zigarette an, was ihm lediglich zu besonderen Gelegenheiten widerfährt, und streichelt die Hand der jungen Frau. Freilich hört er ihr bald nur noch mit einem Ohr zu, denn der Trubel an der Bar verstärkt sich, und
er wird zur Rechten von einem weiblichen Wesen bedrängt, das unbedingt einen Martini trinken möchte. Sie ist schwarzhaarig, trägt Satinhosen und einen silbrig flimmernden Kasack. Ein Mann im grauen Anzug, einige Jahre älter, bemüht sich um sie, bittet Kielstein, ein Stück zur Seite zu rücken. Diesem Wunsch kann der Leutnant nur schwer nachkommen – die Barhocker stehen ohnehin eng genug. Er versucht es trotzdem und erntet einen von Dank behauchten Blick aus den graugrünen Augen der Schwarzhaarigen. Ihr Partner rückt näher an den Schanktisch heran und studiert die Getränkepreise. Kielstein, der die Fähigkeit entwickelt hat, durch die laute Tonbandmusik hindurch sowohl einem Filmbericht Cordulas als auch dem Gespräch seiner Nachbarn an der anderen Flanke zu lauschen, hört amüsiert den Dialog: „Preise haben die wie im Interhotel.“ „Es gibt ja auch die gleichen Getränke.“ „Trotzdem könnten sie’s ‘n bißchen billiger machen. Aber es stimmt. Du scheinst im Geistigen Bescheid zu wissen.“ „Warum nicht. Ich bin eben gebildet.“ „Ich denk eher, du hast irgendwo noch einen, der dich ausführt. So wenig Zeit, wie du für mich aufbringst.“ „Beschwer dich bloß. Wer von uns hat denn Familie.“ „Das ist was anderes, du dagegen …“ „Ich hab’ die Kleine. Und im übrigen keine Lust, immer zu Hause rumzusitzen. Ja, du hast recht, da gibt’s noch jemanden, der sich um mich kümmert. Wie eine Mutter. Der außerdem sehr spendabel ist. Hat mir mehr als einmal aus der Patsche geholfen.“ Die Schwarzhaa-
rige lacht. „Wenn du wüßtest. Aber du hast keinen Grund, eifersüchtig zu sein.“ In diesem Augenblick sagt Cordula, die ihr letztes Ananasstückchen aus dem Glas gelöffelt hat: „Du bist so still geworden, bist du müde?“ „Entschuldige … der Tag war anstrengend.“ Er zahlt, und sie gehen zu ihrem Tisch zurück, wo anstelle der beiden gut angezogenen Herren inzwischen zwei Männer sitzen, die Sekt mit Pilsner trinken. Wenig später brechen sie auf, erwischen eine Straße weiter ein Taxi und fahren zum Ringhochhaus, wo Cordula eine Eineinhalbzimmerwohnung besitzt. Cordula ist ein Mädchen, das sehr lieb sein kann, wenn man es ein bißchen verwöhnt, und da sie sich an diesem Abend verwöhnt fühlt, braucht sich Kielstein bei ihr keineswegs über mangelnde Liebe zu beklagen. Am nächsten Tag macht sich der Leutnant zum Betrieb der Roswitha Henneberg auf, zum Großlager am Virchowbogen, das in einem ehemaligen Fabrikgebäude, einem Mittelbau mit gleichgearteten Flügeln, untergebracht ist. Die beiden Flügel stehen fast rechtwinklig zueinander und führen mit ihrer Schmalfront auf einen gemeinsamen Hof. Der gesamte Komplex wirkt düster und wuchtig. Kielstein, während er über den Lagerhof geht, denkt noch an das Frühstück bei Cordula: Röstbrot, Ei im Glas, Tomatensaft, Kaffee, dennoch nimmt er routinemäßig das Treiben um sich her auf. Männer in Arbeitskluft entladen einen Lastwagen, machen sich an Kisten und Blechbehältern zu schaffen; ein Barkas fährt brummend an, aus dem Fenster des linken Gebäudes ruft eine Frau nach einem Kollegen Zwillig, der an-
scheinend dringend benötigt wird. Wenigstens kein Maschinenlärm, sagt sich der Leutnant, denn die Lagerräume selbst liegen relativ still da. Er betritt den Querbau und steht in einer Halle mit hohen, bis zur Decke reichenden Blechgestellen voller Pappkartons. Eine junge Frau im blauen Kittel schiebt langsam einen Karren mit Elektromaterial, Schnüren und Steckdosen vorüber. Kielstein spricht sie an und stutzt im gleichen Augenblick: die schwarzen Haare, von einem Band zusammengehalten, die graugrünen Augen – es ist die Zufallsbekannte vom gestrigen Abend. „Hallo“, sagt er überrascht. Sie hat ihn gleichfalls erkannt, zeigt sich aber weniger beeindruckt. Viel geschlafen scheint sie nicht zu haben, sie sieht müde aus. „Hallo?“ erwidert sie fragend. „Nie vorher gesehen und dann gleich zweimal hintereinander“, sagt Kielstein. „Was so alles passiert im Leben.“ Der Leutnant ist ein wenig irritiert. „Ja … ich wollte eigentlich zum Kollegen Junghans. Bin ich hier richtig?“ „Und ich dachte schon, Sie wären meinetwegen am frühen Morgen aus der Heia gesprungen.“ Die Frau gähnt. „Na, wieder mal Pech gehabt … Zu Junghans … Gerade durch ist sein Büro. Sie können hinter gehn, ich glaub’, er ist da.“ Sie schiebt ihren Karren an, und Kielstein steuert auf die Tür „grade durch“ zu. Kurz darauf sitzt er einem Mann von mittlerer Statur gegenüber, dessen herausragendes Merkmal seine Bedächtigkeit zu sein scheint. Die Art weist darauf hin, wie er den Karteikasten zur Seite stellt, an dem er sich gerade zu schaf-
fen gemacht hat, wie er eine Zigarette anbietet und den eigenen Glimmstengel zurücksteckt, als Kielstein ablehnt, die Art vor allem, wie er die ersten Fragen beantwortet. „Gewiß kenne ich die Witha Henneberg … schon lange … vor mehr als zwanzig Jahren fing ich hier im Lager an, da war sie bereits da, arbeitete in der Buchhaltung. Sie wurde dann Packerin, obwohl das schwerer war und schlechter bezahlt wurde. Eine niedrigere Rangstufe gewissermaßen … Aber sie tat es auf eigenen Wunsch, sie wollte die Probleme der Arbeiter hautnah kennenlernen … Das waren so verrückte Ideen damals, auf die kam heute keiner mehr … Später rückte sie dann auf.“ Die Worte rutschen zögernd über die Lippen; Junghans wägt sie ab, bevor er sie ausspricht, er will offenbar weder zuviel noch zuwenig sagen. Auch als zwischendurch das Telefon klingelt und er eine Entscheidung treffen muß, tut er das erst nach einigem Hin und Her. Der Entschlossenste scheint er nicht zu sein, wenn er vielleicht auch die Erfahrung mitbringt, die notwendig ist, einen solchen Posten wenigstens vorübergehend zu besetzen. „Die Kollegin Henneberg hat hier eine verantwortliche Stellung“, sagt Kielstein, „Leiter für Warenbewegung in einem so großen Lager, das ist für eine Frau sicherlich nicht leicht. Um dahin zu gelangen, brauchte sie Durchsetzungsvermögen … Unter uns – stimmt es, daß sie Schwierigkeiten mit jungen Leuten hat?“ „Ach, wissen Sie, Schwierigkeiten mit jungen Leuten haben wir anderen auch. Generationsprobleme … Außerdem gibt’s da wie bei uns Alten solche und solche.
Es ist schon richtig, die Witha greift manchmal zu schnell zum Hammer. Bildlich gesprochen natürlich. Oft hat sie in der Sache recht, aber ihre Methode stößt die Kollegen vor den Kopf. Auf der anderen Seite ist sie die Zuverlässigkeit in Person.“ „Könnte man von Feinden im Betrieb sprechen?“ „Feinde? Sie denken, daß der Diebstahl bei ihr …“ Kielstein merkt, wie schwierig es ist, etwas zu erfahren, wenn man den eigentlichen Grund der Ermittlungen geheimhält. „Irgendeine Verbindung könnte es ja geben“, sagt er ausweichend. „Direkt Feinde im Betrieb, nein, das kann ich nicht glauben. Möglich, daß der eine und andere mal auf sie schimpft, weil er Krach mit ihr hatte.“ „Wer zum Beispiel?“ „Ich möchte keinen zu Unrecht belasten.“ „Das verlangt ja niemand. Wir wollen uns nur zurechtfinden“, sagt Kielstein beruhigend, denn sein Gegenüber ist bei den letzten Fragen direkt ein wenig rot geworden; er wischt sich über die Stirn und greift nun doch mit ungewohnt hastiger Geste zur Zigarette. „Aber um es Ihnen leichter zu machen, will ich meine Frage gern präzisieren. Gibt es jemanden hier, der sich mit Roswitha Henneberg überhaupt nicht versteht oder den umgekehrt sie auf dem Kieker hat?“ „Hakelei hatte sie immer mal mit der Grenz“, sagt Junghans, „das weiß jeder im Betrieb.“ Kielstein, der diesen Namen schon aus Gesprächen kennt, die mit der Kaderleitung geführt wurden, stellt sich dumm: „Und wer ist das, die Grenz?“ „Eine unserer Packerinnen, das Gegenteil von Witha
… Ein bißchen sprunghaft, sie fehlt des öfteren. Sie ist alleinstehend und hat ein Kind, was ihr Verhalten etwas erklärt. Allerdings ist sie nicht ganz einfach, sie war vor Jahren in so eine Diebstahlsgeschichte verwickelt … Seither gab es aber nichts mehr in der Art.“ „In welcher Abteilung arbeitet diese Packerin denn?“ „In der Elektroakustik. Zur Zeit sortiert sie gerade hier in der Halle Material. Wenn Sie sie sprechen wollen, es ist so eine Schwarzhaarige, Hübsche. Etwa dreißig Jahre, sieht aber jünger aus.“ „Eine Schwarzhaarige … hier draußen …“ Kielstein hebt den Blick. „So eine hab’ ich vorhin gesehen und nach Ihrem Büro gefragt … Nein, sprechen möchte ich im Augenblick nicht mit ihr. Ich bitte Sie auch um Verschwiegenheit über diese Unterredung.“ „Ist klar“, sagt Junghans.
21. Endlich geht es aufwärts, ich habe die ersten Schritte allein gemacht, nachdem ich mit Unterstützung der Schwester immerhin schon im Korridor war, bis zum Klo gehumpelt bin. Ein Blick durchs Fenster auf den Park, das gibt einem ein ganz neues Gefühl nach so langer Zeit. Danach mußte ich mich aber gleich wieder hinlegen. Es ist nicht nur die allgemeine Schwäche, die mich im Bett festhält, auch das rechte Bein tut wieder weh. Ich hab’ den Arzt gefragt; er sprach von einer Venenentzündung, die sich wer weiß wie entwickelt hat, und meinte, das brauche seine Zeit. Etwas viel Zeit, wie mir scheinen will. Obwohl, wenn ich’s recht bedenke, so lange bin ich ja noch gar nicht hier.
Dabei habe ich meine Abwechslung, bekomme Besuch und kann jetzt auch wieder lesen. Anfangs fehlte mir die Lust dazu, die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, verschmolzen zu dunklen Schatten und Flecken. Ich schaffte kaum eine halbe Seite und legte das Buch wieder weg. Ich dämmerte lieber vor mich hin. Wenn ich aber nicht dämmerte, kamen die Gedanken, und ich sah das Gesicht mit der Brille vor mir, ohne es wirklich zu sehen. Ein feindseliges Gesicht, sein Ausdruck quälte mich, tat mir direkt weh. Jetzt ist das besser; ich habe manchmal Mühe, mir den entscheidenden Augenblick zu vergegenwärtigen. Mitunter glaube ich selbst nicht mehr an das, was ich auf so schreckliche Weise erlebt habe. Trotzdem, vergessen werde ich es mein Lebtag nicht. Ich lese, was mir die Schwester besorgt, die sich offenbar ein bißchen mehr um mich kümmert, als es ihre Pflicht wäre. Für sie bin ich mit einer Art geheimnisvollem Nimbus umgeben; ich nehme an, daß sie von der Polizei zum Stillschweigen verpflichtet wurde, aber das hindert sie nicht, ab und zu nach Neuigkeiten oder dem Fortgang der Ermittlungen zu fragen. Die Diebstahlsgeschichte beispielsweise hat sie mehr aufgeregt als mich selbst. Die Rotblonde bringt mir die Zeitung mit oder irgendwelche Illustrierten; ein paar Reclam-Büchlein schleppte sie neulich an und einen 80-Pfennig-Roman vom Kiosk. Früher habe ich ja viel gelesen, als Backfisch Groschenhefte und Jungmädchenbücher: Das arme hochwohlgeborene Fräulein von Felseneck verliebt sich in einen reichen Gutsbesitzerssohn, durchleidet tausend Qualen, weil er sie nicht beachtet, ist zu stolz, ihm ihre
Neigung und Herkunft zu verraten, gewinnt sein Herz am Ende aber doch, und zwar gerade durch ihr edelmütiges Verhalten. Es waren Märchen, keine von den Brüdern Grimm, doch gut genug, mich darin einzuspinnen, selbst das Edelfräulein zu werden, das sich in Liebe verzehrt. Die Kriegsgeschichten dagegen, die mir Gotthard mitbrachte, las ich nur ihm zuliebe. Es gab da zuviel Kampf und Männertreue, wenn ich auch oft den Schmerz und bitteren Stolz jener Mütter teilte, die ihre Söhne in die Schlacht schicken mußten. Als Gotthard gefallen war, las ich nichts mehr, nicht einmal die Bibel, die mir Mutter auf den Nachttisch legte, und auch nicht die Zeitung. Erst zum Zeitpunkt meiner Bekanntschaft mit Siegfried begann ich mich wieder mit Gedrucktem zu beschäftigen. Allerdings weniger mit Romanen und Erzählungen als mit politischen Schriften: Stalin, Engels, Marx, Lenin und Thälmann, dazu manchmal ein Gedichtband von Majakowski oder Weinert. Bei dieser Auswahl blieb’s auch in den folgenden Jahren. Ich hatte nach Siegfrieds … Versetzung weiß Gott andere Probleme. Und als er wieder da war, schleppte ich schon einen guten Packen gesellschaftlicher Arbeit auf dem Buckel. Immerhin bemühte ich mich damals um Bildung, nach dem Motto: „Die Arbeiterklasse erstürmt die Höhen der Kultur.“ Ich erstand die Klassiker: Goethe, Heine – und Margit warb mich für Heinrich Mann. Hat sich eigentlich nie für die Wirtschaft und den Handel interessiert, meine … Freundin, auch damals nicht, als sie noch keineswegs daran dachte, die Betriebsbibliothek zu übernehmen. Dagegen konnte sie endlos über
irgendwelche Erzählungen oder Gedichte reden. Na ja, ein bißchen ließ ich mich davon schon beeinflussen. Doch mit den Jahren habe ich das Lesen immer mehr vernachlässigt. Die Arbeit, die Funktionen, das Alltagstrott. Ein Griff zum Fernsehknopf, und man hat seine Freizeitbeschäftigung. Der Fernseher fehlt mir jetzt übrigens, ich werde Jutta bitten, mir das nächste Mal den „Sharp“ von zu Hause mitzubringen. Wenn man den auf einen Stuhl stellt und auf dem Stuhl vielleicht noch einen Hocker, das müßte gehen … Und doch, die Bücher … es gab Geschichten, die mich richtig durchgerüttelt und mir das Herz weit gemacht haben. Das kann die beste Fernsehtechnik nicht ersetzen. Wenn ich’s mit Ruhe überlege, habe ich da was weggegeben, das ich hätte bewahren sollen. So ist es, man schafft sich alle möglichen Dinge an und wird im Grunde armer. Man stumpft ab – ob ich mit den Jahren wirklich abgestumpft bin? Als Margit die Bibliothek übernahm, hab ich mir geschworen, nie wieder einen Fuß dorthin zu setzen. Ganz habe ich’s nicht durchgehalten, manchmal ließ es sich wegen meiner Gewerkschaftsarbeit nicht umgehen. Ich denke noch daran, wie mich vor einiger Zeit der Junghans mit hingelockt hatte. Wir standen uns wie feindliche Schwestern gegenüber, wechselten Worte ohne Bedeutung, aber ausgeliehen habe ich nichts. Der Manfred Junghans schleppt ab und zu einen Bücherstapel aus der Bibliothek an, für seine Frau, glaube ich; auch Grollmann und Braun holen sich Fachliteratur. Margit wirbt immer wieder bei den Kollegen, sogar bei der Grenz hat sie’s versucht, und die ist nun wirklich
nicht für Bildung, die ein bißchen Mühe verlangt. Eher mal für eine fröhliche Nacht. Einmal habe ich im Elektrolager zufällig hinter einem Pfeiler mit angehört, wie ihr meine ehemalige Freundin einen modernen Roman schmackhaft machen wollte. Die Polly stand noch dabei, die auf kulturellem Gebiet auch nicht gerade vor Eifer glüht, und schließlich endete die Sache mit einer Einladung zu einem musikalisch-literarischen Abend für die beiden. Arme Margit – da wird sie wohl kein Glück gehabt haben –, sie tat mir direkt ein bißchen leid. Ich weiß nicht, wie die Sache ausgegangen ist, ich mußte dann weg. Aber ich kann mir gut vorstellen, welche Musik die Grenz für ihre Entspannung braucht.
22. Felsch ist nach Daggendorf gefahren, er soll den Kleinkram erledigen, der bei der Aufklärung einer Straftat mitunter entscheidend ist. Der Einbrecher hat im Haus der Henneberg auch nicht die geringste Spur hinterlassen, also sieht sich der Kriminalist genötigt, die Nachbarn der Geschädigten zu befragen. Obwohl das Haus links etwa vierzig Meter und das rechts noch ein Stück weiter weg liegt, obwohl die Obstbäume die Sicht versperren und es an jenen beiden Abenden dunkel war, könnte jemand etwas bemerkt haben. Nachbarn in so einsiedlerischer Gegend sind mißtrauisch und haben einen Blick für ungewöhnliche Vorgänge. Felsch, wenig begeistert von seiner Aufgabe, beschließt, mit dem Haus rechts zu beginnen, weil es näher zum Dorf liegt und von zwei Familien bewohnt wird. Der Dieb lief am ersten der betreffenden Abende
nach hinten weg, kam also aller Wahrscheinlichkeit nach über den schmalen Weg, der hinter den Gärten entlangführt. Zweimal, das könnte aufgefallen sein. Doch was bedeutet schon könnte. Der Kriminalmeister findet die Hausbewohner zwar hilfsbereit, aber nicht in der Lage, einen brauchbaren Hinweis zu geben. Die Besitzer des Grundstücks, ein älteres Ehepaar, haben am Nachmittag, als sie sich im Garten aufhielten, nichts bemerkt und an den Abenden ferngesehen. Sie verdächtigen einige Burschen aus dem Dorf, die oftmals mit ihren Feuerstühlen die Straße entlangrasen, ihre Motoren aufheulen lassen, „bloß um die Leute zu ärgern“. Holger Franke freilich soll nicht zu diesem Trupp gehören. Die anderen Mieter, Großvater, Tochter und Enkelsohn, wissen genausowenig. Sie waren am entscheidenden Tag unterwegs, mit dem Trabi bei Bekannten in der Stadt – sie haben auch am Abend zuvor nichts gehört. Nicht einmal das Getöse, das Jutta Henneberg erwähnt hatte. „Wer achtet schon auf so was“, sagt die Frau, „ein paar Eimer fallen hier immer mal um.“ Das Haus links des Hennebergschen Gartens ist kleiner und macht nicht gerade einen stolzen Eindruck. Ein Ziegelbau mit krummen Wänden und schiefem Dach, der Zaun verlottert, ein Wunder, daß alles noch einigermaßen zusammenhält. Heutzutage, denkt der Kriminalist, wo jedermann streicht und putzt, eine Veranda anbaut, ein Nebengelaß, eine Garage, wirkt das geradezu anachronistisch. Ob der Besitzer kein Talent zum Besorgen, zum Organisieren hat? Dann wäre er mir ja direkt sympathisch … Da Felsch keine Klingel am fest verrammelten Gartentor findet, macht er sich durch Ru-
fen bemerkbar. Zunächst passiert nichts, schließlich aber taucht undeutlich eine Gestalt am Fenster auf, das sich einen Spalt öffnet. Eine krächzende Stimme sagt: „Was wollen Sie?“ „Nur ein paar Fragen stellen. Könnten Sie mal ans Tor kommen?“ „Weshalb ans Tor? Fragen Sie gleich.“ „Das geht nicht auf die Entfernung.“ Statt einer Antwort wird das Fenster geschlossen, und die Gestalt verschwindet. Felsch hätte nicht sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Er wartet. Plötzlich fühlt er sich angestarrt und sieht über den Zaun hinweg einem riesigen schwarzen Hund in die Augen. „Bist ein ganz schöner Heimlichtuer“, sagt Felsch, denn der Hund hat sich lautlos herangepirscht und gibt auch jetzt keinen Ton von sich. Er bewegt sacht die Schwanzspitze. Als der Kriminalist jedoch unvorsichtig die Hand auf den Zaun legt, fängt er kaum hörbar zu knurren an. Die Tür des Hauses geht auf, eine Person steht auf der Schwelle, deren Äußeres einen Kontrast zu dem heruntergekommenen Anwesen bildet. Mittleres Alter, sportliche Figur. Die Haare allerdings sind so lang, daß Felsch zweimal hinschauen muß, um zu erkennen: Es handelt sich um einen Mann. Der Typ kommt ans Tor, legt die Hand auf den Kopf des Hundes, dessen Schwanzspitze nun stärker ausschlägt, und sagt: „Sie sind also nicht wegen der Annonce hier?“ „Wegen einer Annonce?“ „Ja, es hatte sich jemand aus Schwerin angesagt. Wohnungstausch.“
„Nein, Kriminalpolizei. Ich komme wegen des Einbruchs bei Ihrer Nachbarin.“ „Ach so“, sagt der Mann enttäuscht. „Dabei hatten sich Fee und ich schon auf einen Umzug gespitzt. Wir beide haben nämlich die Gegend hier satt.“ Der Hund ist demnach eine Sie und heißt Fee. Felsch streichelt ihn mit einem freundlichen Blick. Er besitzt selbst einen Königspudel, dem die Liebe der ganzen Familie gehört. Mit der Hand freilich würde er den hier nicht zu streicheln wagen. Mit diesem Tierchen ist der Hausherr wahrscheinlich trotz der Löcher im Zaun geschützt. „Sie sind der Besitzer des Grundstücks, wohnen hier?“ „Erst seit kurzem, seit mein Vater gestorben ist, und hoffentlich nicht mehr so lange, bis mir das Dach auf den Kopf fällt.“ „Sie haben gewiß von dem Diebstahl bei Frau Henneberg gehört. Nach unseren Ermittlungen ist am Freitag voriger Woche, nachmittags oder am frühen Abend, eine unbekannte Person bei Ihrer Nachbarin eingedrungen. Möglicherweise ist Ihnen etwas aufgefallen, das für uns von Interesse sein könnte.“ „Am Freitag?“ erwiderte der Mann. „Nicht, daß ich wüßte. Nein, wirklich nicht. Ich bin meist erst spät im Haus, ich arbeite bei einem Steinmetz. Bis siebzehn Uhr. Und vorm Wochenende hab’ ich noch Überstunden gemacht. Da könnte eher Fee was bemerkt haben, die war den ganzen Tag hier.“ „Der Hund wird uns leider nichts verraten“. Felsch geht auf den Ton ein. „Und wie sieht’s am Abend vorher aus, da war der Täter eventuell auch schon im Gar-
ten nebenan.“ „Am Donnerstag hatte ich Besuch von Freunden, hab’ überhaupt nicht auf so was geachtet. Das heißt … stimmt ja, einmal war doch was los. Der Hund hat angeschlagen, und Peter, ein Kumpel, behauptete, bei Nachbars sei Krawall. Peter kam aus dem Garten. Ein Mädchen, so ein junges Ding, sei am Zaun entlang nach hinten gerannt, und im Haus habe jemand laut gerufen. Wir waren grad beim Skat, haben nicht weiter auf sein Gerede geachtet. Aber jetzt, wo Sie danach fragen, fällt mir’s wieder ein.“ „Ein Mädchen, sind Sie sicher?“ „Hat er gesagt. Ich hab’ mich auch gewundert.“ „Um welche Zeit war das?“ „Was weiß ich. Es war schon lange dunkel. Vielleicht gegen neun.“ „Und es war bestimmt am vergangenen Donnerstag?“ „Ja, natürlich.“ Felsch zückt sein Notizbuch, anscheinend war der Ausflug hierher nicht umsonst. „Wer ist dieser Peter?“ fragt er. „Wie heißt er mit Nachnamen, und wo wohnt er?“ „Peter Hübner, Daggendorf, Lindenweg drei.“ „Und Sie selbst haben keine Ahnung, wer dieses Mädchen gewesen sein könnte?“ „Nein“, erwidert der Mann und tätschelt seinen Hund. „Leider nicht.“ „Na gut, vielleicht kann uns Ihr Freund weiterhelfen, erst mal besten Dank.“ Felsch steckt das Notizbuch weg, sagt auf Wiedersehen und geht. Der Hund schaut ihm hinterher, bis ihn sein Herr ins Haus ruft.
23. Als Kielstein ins Lager für Elektroakustik kommt – es ist im dritten Stock des rechten Gebäudeflügels untergebracht –, erwartet ihn erneut eine Überraschung. Der Erste Lagerist Grollmann erweist sich als jener Bekannte, der am vergangenen Abend mit der Grenz im Weinlokal „Traube“ war. In seinem dunkelblauen Kittel und der großen schwarzumränderten Brille sieht er zwar anders aus, aber der Leutnant erkennt ihn wieder. Aha, so laufen hier die Dinge, denkt er ein wenig belustigt. Grollmann, der gerade gemeinsam mit einer Kollegin Kartons mit Radiogeräten in ein Regal packt, stutzt gleichfalls, doch sieht es aus, als wüßte er das Gesicht des Kriminalisten für den Augenblick nicht einzuordnen. Oder er verstellt sich nur, aus bestimmtem Grund. Sie gehen ein paar Schritte zur Seite, und Kielstein weist sich aus. Er ist etwas unsicher. Das anscheinend enge Verhältnis zwischen dem Lageristen und der Grenz zwingt ihn, anders vorzugehen als geplant. „Kollege Junghans sagte mir, daß Sie Roswitha Henneberg besonders gut kennen, seit langem mit ihr zusammenarbeiten. Bei ihr ist eingebrochen worden. Wir hätten gern einiges über Ihre Vorgesetzte gewußt.“ „Ja, bitte?“ „Über ihre Stellung hier. Das Verhältnis zu ihren Kollegen.“ „Wenn ich Ihnen helfen kann … Mehr als die andern werde ich allerdings kaum zu berichten haben.“ Grollmann hält sich zurück, ist geradezu abweisend. Er gibt
Antwort, gewiß, aber er sagt nur das Notwendigste, und das widerwillig. Er steht steif und leicht geneigt da, die Hand auf einen Packtisch gestützt, er wirkt knöchern, trockener als in der „Traube“ – ein Endvierziger, dem das Leben keine großen Sprünge erlaubt hat. Auch er lobt die Disziplin und Einsatzbereitschaft der Henneberg, bedauert ihren Unfall. „Seit sie weg ist, merkt man, wie sie fehlt. Sie ist eben eine von den Alten.“ „Es heißt, daß sie … nun ja … eine straffe Hand hat“, provoziert Kielstein. „Heißt es das? Tatsächlich? Dann wird’s wohl stimmen.“ „Es gab deshalb Auseinandersetzungen in der Abteilung …“ Nun wird der Lagerist direkt aggressiv. Er nimmt die Hand vom Tisch, strafft sich. „Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen. Junghans hat Ihnen den Namen der Kollegin Grenz genannt. Wenn was passiert, ist Frau Grenz im Spiel. Aber die hat nichts damit zu tun, dafür geb’ ich Garantie.“ Kielstein registriert diese Reaktion ohne besondere Verwunderung. Seine Vermutung, daß der Lagerist einiges für die Packerin empfindet, bestätigt sich. Es wäre freilich falsch, daraus jetzt schon Schlüsse zu ziehen. „Womit hat die Kollegin Grenz nichts zu tun?“ fragt er. „Na, mit dem Einbruch, von dem Sie gesprochen haben.“ „Aber Reibereien zwischen ihr und Frau Henneberg gab es?“ „Ja doch. Weil sie wegen ihres Kindes öfter mal fehlt. Die Witha bringt dafür kein Verständnis auf. Sie hat
sich ja auch mit anderen in der Wolle, mit dem Kollegen Hauke zum Beispiel, der gern mal einen zur Brust nimmt. Bei ihr muß es immer nach der Norm gehn. Schon früher war das so.“ „Was Sie vorhin über Ihre Vorgesetzte gesagt haben, klang anders“, stellt Kielstein fest. „Das ist richtig. Sie hat eben zwei Seiten. Sie weiß Bescheid im Betrieb, ist da, wenn sie gebraucht wird, und ist gleichzeitig starrköpfig. Man könnte es auch stur nennen. Sie geht zuwenig auf die Leute ein.“ „Na gut“, sagt Kielstein. „Sie selbst kommen jedenfalls mit ihr zurecht.“ „Ich, ja. Das hat Ihnen Junghans doch bestimmt erzählt. Ich freu’ mich über das Gute und steck das Schlechte weg. In meinem Alter.“ Er schaut Kielstein an, als wolle er ihn von der Last seiner Jahre überzeugen. „Und wenn’s mal ganz schlimm wird, setzen Sie sich aufs Motorrad und fahren zum Angeln, stimmt’s?“ „Wieso das?“ fragt Grollmann überrascht. „Ich fahr’ einen Trabant und angle ganz selten mal. Höchstens im Urlaub.“ „Entschuldigung. War nur ein dummer Scherz von mir.“ Die Kollegin, mit der Grollmann vorhin Radios ins Regal gepackt hat, kommt heran und will wissen, wo sie eine bestimmte Sorte von Tonbandgeräten hinstellen soll. Sie ist mittelgroß und dickbeinig. Sie sieht Kielstein nicht an. „Vorn bei den Plattenspielern“, erwidert der Lagerist. „Räum aber erst die ,Lausitz II’ ein. Das ist im Augenblick wichtiger.“
Die Dickbeinige geht, und weil ihr Kielstein hinterherblickt, sagt Grollmann: „Das ist Anna Polly, auch eine langjährige Kollegin, die Sie über die Witha Henneberg befragen können. Sie ist freilich bloß zur Aushilfe hier, gehört eigentlich zur Abteilung Glas.“ „Nun wenn sich’s wirklich notwendig machen sollte, ich hab’ ja Sie.“ Der Leutnant lächelt gewinnend. „Ja also, ich wüßte dann nicht mehr …“ „Doch, doch. Die letzten Wochen, als Frau Henneberg im Betrieb arbeitete, die letzten Tage … Bitte, versuchen Sie sich genau zu erinnern. Gab’s da vielleicht so eine Auseinandersetzung? Irgendeinen Krach?“ „Nein, nicht, daß ich wüßte“, entgegnet sehr bestimmt der Lagerist. „Und vor allen Dingen nicht mit der Kollegin Grenz. Die beiden haben sich zuletzt besser verstanden. Das ist Tatsache.“
24. Die Kammer ist nicht allzu groß, dafür aber hell und einigermaßen aufgeräumt. Auf der einen Seite ein Bett, dunkel gebeizt, auf dem eine blau und rot karierte Decke liegt. Auf der anderen eine Truhe aus Eichenholz, mit allerlei Beschlagen altertümlich verziert, sowie – nicht recht dazu passend – eine kleine Werkbank mit Schraubstock, Feilen, Draht, Blechresten. Dann ein Regal, auf dem Pappkartons stehen, ein Transistorradio und ein Leuchter aus dem Intershop. Ein Zeitungsständer mit Illustrierten, ein Tisch und zwei Stühle. Ein Schrank ohne Türen, angefüllt mit einer Menge zum Teil golden bemalter metallener Aschenbecher, Vasen, sitzender und stehender Figuren. Daneben aber
auch Schnapsflaschen nebst Gläsern, weiteres Handwerkszeug, Malerpinsel, Schlüsselbunde, Stricke und Schnüre jeder Art. Vor kurzem befand sich hier auch noch eine Dederonangelschnur Marke Leska-Exquisit, 0,35 mm stark, doch die liegt nun, von Schutt und Asche bedeckt, vor der Stadt auf der Müllkippe. Zusammen mit einer alten, ausgedienten Motorradbrille. Der klügste Spürhund könnte sie nicht aufstöbern. Die Gestalt – jetzt ohne Regenmantel, denn er hängt draußen an der Flurgarderobe – sitzt am Tisch auf einem der beiden Holzstühle, stützt den Kopf in die Hände und starrt vor sich hin. Ich bin erschöpft, denkt sie, dieses Warten bringt mich um; solange Bewegung um mich ist, Menschen in meiner Nähe sind, spür’ ich es nicht so, aber wenn ich allein bin, stürzen die Wände ein, fällt mir die Decke auf den Kopf. Sie erhebt sich, geht zum Schrank, nimmt eine halbvolle Flasche Nordhäuser Doppelkorn heraus. Sie greift sich ein Schnapsglas und schenkt ein. Sie trinkt, stellt das leere Glas und die Flasche auf den Tisch, setzt sich wieder hin. Wie war das eigentlich, überlegt sie, wann hat mich die Henneberg zum ersten Mal gegen sich aufgebracht? Das liegt Jahre zurück, viele Jahre, sie war ja immer schon so hochfahrend und rechthaberisch, auch im Umgang mit ihren Nächsten, ihre Meinung galt und sonst nichts, eine Verbohrtheit ohnegleichen. Anfangs – jedenfalls kommt mir das jetzt so vor – hab’ ich das nicht gemerkt, sie bildete sich ein, mehr zu sein als ich, war in gewisser Weise auch mehr, na gut, ich hatte mein Leben, ihrs fuchste mich überhaupt nicht. Sie hatte manchmal was an mir rumzumeckern, wie an
jedermann, ich schluckte das, sie meinte es nicht so, ich sah ihr’s nach. Zumal sie Sorgen hatte, echte, das geb’ ich zu, mit ihrem Mann, ihrem Verlobten, wie sie ihn nannte. Siegfried Holz – er war ganz anders als sie, entgegenkommender, verständnisvoller, auf seine Weise schwierig, das durchaus, ein Dickkopf mit Phantasie, mit Ideen, der aber auch plötzlich nachgeben konnte, hinschmeißen sogar, und das haben wir ihm alle übelgenommen; Siegfried – er paßte absolut nicht zu ihr. Ich weiß nicht, ob er immer so sprunghaft war wie in der Zeit, als ich mit ihm zu tun hatte, aber durch sie ist er erst richtig verrückt geworden, das steht fest. Sie schafft jede und jeden mit ihrer Kälte, und einmal, als sie ihn in meiner Gegenwart runtergemacht hat, so richtig abgekanzelt, wegen einer Kleinigkeit, sie war ja seine Chefin, daß ich nicht lache, da war’s, als hätte sie mich selber getroffen. Denn Siegfried war damals wer für mich, er hat mich mehrmals verteidigt, als sie alle wegen meinem Vater auf mir rumhackten, und ich glaube, in jenem Augenblick hab’ ich auch zum erstenmal so was wie ‘ne ohnmächtige Wut auf sie gekriegt. Die Gestalt greift erneut zur Flasche und schenkt sich einen zweiten Doppelkorn ein. Die Tatsache, daß sie zu den Ursprüngen ihrer Abneigung gegen die Henneberg zurückgefunden hat, verschafft ihr Genugtuung. Diesmal trinkt sie langsam und mit Genuß. Die Schwere in ihrem Kopf beginnt sich zu lösen. Sie setzt das Glas ab und lehnt sich im Stuhl zurück, so daß das alte, wurmstichige Holz einen müden Seufzer von sich gibt. Durch die halboffene Tür zum Wohnzimmer dringt Musik, drinnen ist der Fernseher eingeschaltet. Siegfried Holz,
denkt die Gestalt, Siegfried, ja, das war der Anfang. Danach war’s dann mit der Witha nicht mehr auszuhalten, monatelang ging das, Jahre. Sie reagierte sich an ihrer Umgebung ab, und die Zeit, da ich ihr alles nachsah, war vorbei. Sie hat nicht gemerkt, was sie anrichtete, sie merkt nie was. Deshalb war sie gar nicht drauf gefaßt, daß jemandem mal die Galle überlaufen könnte, daß man ihr’s heimzahlt. Und deshalb wird sie auch nie im Leben darauf kommen, daß ich das sein könnte. Die Gestalt schenkt sich ein drittes Glas voll, sie fühlt sich beschwingt und beruhigt. Aber plötzlich fällt ihr Stimmungsbarometer erneut. Siegfried, das ist lange her, überlegt sie, fünfzehn Jahre jünger war ich seinerzeit und hab’ mir gesagt, wenn du auch schon ein gutes Stück Leben hinter dir hast, da kommt noch einiges. Damals gab es Ilona noch nicht, war noch nicht mal an sie zu denken, und damals lebte Vater noch. Ich hab’ viel von ihm gelernt, er brachte mir bei, mit der Feile umzugehn, aber er war alt und manchmal unerträglich. Er war jähzornig, das hat sich vererbt, als Kind hab’ ich mich sonstwohin verkrochen, wenn er seine Wutanfälle kriegte, doch in den letzten Jahren hatte er keine Kraft mehr. Er tyrannisierte mich trotzdem mit seinen Wünschen und seinem Eigensinn; ein paarmal hat er mich damit zur Weißglut gebracht, dann wurde ich rasend und hab’ mit seinem Krückstock auf den Tisch geschlagen. Er sagte, ich sei schlimmer als er, ein richtiger Teufel, ich solle bloß auf mich aufpassen. Aber ich hab’ an ihm gehangen, und ich werd’ nie vergessen, daß die Henneberg zwei Jahre vor seinem Tod in dem Prozeß mitgewirkt hat, wo ihm seine Klit-
sche weggenommen wurde. Angeblich wegen Steuerhinterziehung, in Wirklichkeit aber, weil er nicht der PGH beitreten wollte. Sie war eine der Eifrigsten und Schärfsten dabei, ich kann mir’s vorstellen, und man hat mir’s auch geflüstert. Als er dann gestorben war, hat sie’s fertiggebracht, mir ihr Beileid auszusprechen. Ich hätt’ ihr ins Gesicht spucken können, aber man ist ja so feige. Ich hab’ sie stehnlassen, ohne ein Wort zu sagen. Und wenn ihr nun eines Tages diese Dinge doch in den Sinn kommen, und sie bringt meine Person mit ihrem Sturz in Verbindung? Ach was, es reicht zu, daß man im Finstern schwarz sieht, sie ist viel zu selbstgewiß, um solche Gedanken zu haben – nichts wird sie miteinander in Verbindung bringen, überhaupt nichts! Im Grunde müßte man viel frecher sein, denkt die Gestalt, man müßte den Stier bei den Hörnern fassen, einfach hingehn zu ihr, als sei nichts gewesen, mit einem Strauß Astern in der Hand. Was kann schon geschehen. Eher ist’s auffällig, wenn ich mich so gar nicht bei ihr sehn lasse. Die Gestalt steht auf, in ihrem Kopf wirbeln die Gedanken, sie ist von der Kühnheit ihrer Idee selbst betroffen. Das ist es, sagt sie sich, was kann schon passieren. Ich muß nur mutig sein, dann weiß ich endlich Bescheid. Ich muß nur sicher auftreten, mich so verhalten, wie ich es stets getan hab, dann wird die Henneberg keinen Verdacht schöpfen. Und wenn ihr wirklich was dämmern sollte, wird sie so viel Unverschämtheit nicht für möglich halten. Sie wird nicht zu sprechen wagen, denn sie wird ihrer eigenen Erinnerung mißtrauen.
25. Die Aufregungen reißen nicht ab. Junghans war da, und wir hätten uns beinahe gestritten. Er ist so umständlich, hat eine Art, mit der man auf die Dauer nur schwer zurechtkommt. Bei ihm muß immer noch das bedacht und jenes berücksichtigt werden. „Wichtig scheint mir, wie die Kollegen darüber denken“, das ist ein geflügeltes Wort von ihm. Er will bei jeder neuen Sache erst Hinz und Kunz befragen, statt klar zu sagen: So ist’s, und so machen wir’s. Wieso sie gerade ihm meine Vertretung angetragen haben, na ja. Ich jedenfalls wasche meine Hände in Unschuld. Junghans war also da, und natürlich ging’s um die Arbeit. Das heißt, nicht gleich, er schob sich, wie er leibt und lebt, zur Tür herein, schaute sich im Zimmer um und guckte mich dann groß über drei Meter Entfernung weg an. „Grüß dich Witha“, sagte er, „bist ja wirklich ‘ne wichtige Persönlichkeit, wenn sie dich in diesem Einzelzimmer untergebracht haben, alle Achtung.“ Er hatte Blumen mit, denen zerdrückte er fast die Stengel, bevor er sie endlich auswickelte und auf den Nachttisch legte. Schließlich kam er ans Bett und gab mir die Hand. „Mit der Wichtigkeit hält sich’s in Grenzen“, erwiderte ich, „aber es gibt da ein paar besondere Umstände. Außerdem ging’s mir wirklich mies.“ „Will ich dir gern glauben. Wir waren alle ziemlich erschrocken, als wir von deinem Unfall hörten. Na, Hauptsache du fühlst dich jetzt wieder besser.“ Er sah mich forschend an. Es waren die üblichen Floskeln, um mir Mut zu machen; ich kenn’ sie inzwischen auswendig. Nachdem sich Junghans gesetzt hatte, redeten wir
über allgemeine Dinge in der Stadt und in Daggendorf. Was ich nicht wußte – er hat im Fichtengrund ganz in meiner Nähe ein Grundstück gepachtet und baut einen Bungalow. Deshalb war er über den Diebstahl bei mir besonders empört. „Diese Dummejungenstreiche nehmen wirklich Überhand“, schimpfte er und fügte zuversichtlich hinzu: „Aber die Kripo scheint ja dranbleiben zu wollen, die werden den Übeltäter schon fassen.“ Wenn du wüßtest, weshalb die Kripo so dranbleibt, dachte ich, hielt jedoch wohlweislich meine Zunge im Zaum. Obwohl mir’s wieder schwerfiel, ich möchte am liebsten mit jedem darüber reden. Dann trat in unserm Gespräch eine Pause ein. Bis er schließlich mit seinen Problemen im Betrieb rausrückte, er hat offenbar Mühe, alles unter einen Hut zu bringen. Die verschiedenen Lager, die An- und Auslieferungen, den Abtransport des Leerguts. „Wie soll ich das bloß machen“, fragte er, „die Termine überschneiden sich ständig, und der Hof steht schon jetzt mit Kisten voll. Wo nehm’ ich nur die Leute her, ich hab’ Angst vor jedem neuen Container.“ Na, mir verschaffte seine Hilflosigkeit eine stille Genugtuung. Junghans war zwar nie einer gewesen, der mich wegen angeblicher Intoleranz kritisiert hatte, aber ich konnte auch nicht fest auf ihn zählen, wenn ich etwas durchsetzen mußte. Vor allem in der letzten Zeit. Ich vergaß für den Augenblick direkt die Dinge, mit denen ich mich herumschlug, und trumpfte auf. „Ein bißchen Druck mußt du ausüben, Manfred, ein klein wenig den Daumen gebrauchen. Das ist das ganze Geheimnis. Nicht so viel Zurückhaltung, sondern mal ein klares
Wort. Gegenüber der Spedition und den eigenen Leuten, sonst erreichst du nie, was du dir vorgenommen hast.“ In Wirklichkeit, das muß ich zugeben, waren die Probleme bei meiner Methode zuletzt auch größer geworden. Die alten Scharniere knarrten eben. Aber irgendwie hatte ich’s immer noch geschafft. Deshalb ärgerte es mich, daß mir Junghans jetzt, obwohl er doch in der Klemme saß, nicht zustimmte. Er schüttelte vielmehr den Kopf und entgegnete sonderbar schroff: „Ach komm mir doch nicht damit, Witha, Druck, das hilft auf die Dauer auch nicht weiter. Es stimmt schon, Schluderei darf man nicht zulassen, die nimmt überhand. Aber manchmal glaub’ ich, das Übel liegt ganz woanders. Wir lassen die Leute zuwenig mitdenken, verstehst du.“ „Wir lassen sie nicht … Du bist gut. Wir fordern sie doch dauernd dazu auf. Wie schön, wenn der Hauke oder die Grenz mal mitdenken würden. Ich war’ als letzte dagegen.“ „Aber nur, wenn sie genauso dächten wie du.“ Wie gesagt, wir hätten uns fast gestritten, und daß mir das ausgerechnet mit Junghans passierte, erstaunt mich besonders. Zumal er ja gekommen war, Rat bei mir zu holen. Es ist, als hätte er mich nur pro forma gefragt, um mir dann widersprechen zu können. Irgendwie verändern sie sich alle, seit ich weg bin. Oder hab’ ich sie früher vielleicht nur falsch gesehn. Ich gab schließlich keine Antwort mehr, zum Teil weil ich wütend, zum Teil weil ich erschöpft war. Ich hab’ meine Kräfte noch lange nicht wieder beisammen. Er merkte es und entschuldigte sich, es wurde ihm wohl bewußt, daß er einen eigenartigen Krankenbesuch machte. Aber zer-
knirscht schien er mir in keiner Weise. Na, er muß es wissen, er wird schon sehn, wie weit er mit seiner Großzügigkeit kommt. Er ging dann, aber zuvor versetzte er mir noch einen zusätzlichen Hieb – ungewollt diesmal, ich kann ihm das nicht ankreiden, doch deshalb kaum weniger wuchtig. Er fragte mich nämlich, was Jutta mache, er habe sie und meinen Schwiegersohn vor kurzem in der Stadt gesehen, von weitem, wie sie ins Auto stiegen; wenn sie mich besuchten, solle ich ihnen einen Gruß bestellen. „Meinen Schwiegersohn“, sagte ich, so ruhig ich konnte, „tatsächlich, wann soll denn das gewesen sein?“ „Na vorgestern, am Nachmittag, ich war wegen einer Lieferung ,Chromat’ unterwegs.“ „Das überrascht mich, ich wußte gar nicht, daß er hier ist.“ „Sag bloß, die beiden haben dich noch nicht besucht?“ „Jutta schon … er … aber das ist ja nicht so wichtig.“ „Komm, komm“, sagte Junghans, „ich fände das durchaus wichtig. Wo er hier in der Stadt ist. Aber selbst wenn er nur auf Durchreise wäre. In so einem Fall.“ Ich entgegnete nichts mehr, ich hatte genug. Detlef hier, und Jutta hatte mir kein Wort davon erzählt. Auf der Durchreise, das würde mich sehr wundern. Er hockte in meinem Haus, er hatte doch nur auf so eine Gelegenheit gewartet. Wer weiß, wen er noch mitgebracht hatte. Als Junghans endlich weg war, mußte ich erst mal zu mir kommen. Und die Nacht von gestern zu heute war eine der schlechtesten, die ich in diesem Krankenhaus verbracht habe.
26. Mona, mit vollem Namen Monika Findeisen, packt gerade Knäckebrot in einen großen Drahtbehälter, als Felsch die Konsumkaufhalle von Daggendorf betritt. Sie ist etwa eins siebzig groß, hat kräftige Beine und Arme, einen Bubikopf und schielt ein bißchen. Der Kriminalist erkennt sie nach der Beschreibung, die er von ihr hat, sofort, er tritt von der Seite an sie heran und spricht sie an: „Fräulein Findeisen?“ „Ja, bitte…“ „Kriminalpolizei, ich hätte mich gern einen Augenblick mit Ihnen unterhalten. Wenn’s geht an einem Ort, der ruhiger ist.“ „Gut“, sagt sie ohne jedes Erstaunen, „ich pack’ bloß den Behälter voll, dann komm’ ich. Am besten reden wir draußen, ich geb’ hier Bescheid. In fünf Minuten…“ Felsch nickt, geht vor die Tür und wartet. Er ist überrascht, wie selbstsicher diese Sechzehnjährige auftritt. Wenig später spazieren sie einen Gartenweg hinter der Kaufhalle entlang. Das Mädchen hat den Arbeitskittel abgelegt und einen blauen Jeansmantel übergeworfen. Sie sieht jetzt kindlicher aus. Sie schaut Felsch beim Sprechen nicht an. „Vermutlich wissen Sie, weshalb ich komme?“ „Nicht genau. Mein Vater hat mir erzählt, daß die Kripo da war.“ „Es geht um den Einbruch bei Frau Henneberg am vergangenen Freitag.“ „Ach so. Holger redete davon.“ „Dann sind Sie also informiert.“
„Na ja, informiert …“, sagt Mona und knautscht mit der Hand ihren Mantelgürtel. „Der Holger Franke hat jedenfalls nichts damit zu tun.“ „Möglicherweise nicht. Er besitzt für die entsprechende Zeit ja ein Alibi.“ Mona hat wohl einen Ton Ironie aus Felschs Worten herausgehört, denn sie bleibt plötzlich stehen. Sie nimmt eine Art Oppositionshaltung ein. „Ich seh’ schon, Sie glauben ihm nicht“, sagt sie. „Wegen der Sache mit dem Taschenrechner und dem Stock. Aber Sie täuschen sich. Wir … wir machen so was nicht.“ „Wir?“ fragt Felsch. „Na, der Holger und ich. Sie wissen doch, daß wir zusammen sind.“ Felsch muß insgeheim schmunzeln, er denkt an das, was ihm Kielstein über die Großfamilie erzählt hat. Er läßt sich nichts anmerken. „Aha“, sagt er spöttisch, „wir machen so was demnach nicht. Wir steigen bei Frau Henneberg nicht ein. Weder an Freitagen noch an den Abenden zuvor.“ „Holger …“ „Lassen wir mal Holger aus dem Spiel. Der kommt nachher dran. Jemand anders ist am Donnerstagabend im Hennebergschen Garten gesehen worden. Obwohl er angeblich um diese Zeit zum Lichtbildervortrag im Klubhaus war.“ „Aber wir waren wirklich zum Lichtbildervortrag. Übers Elbsandsteingebirge.“ Sie versucht sich erneut Haltung zu geben, doch das will nun nicht mehr recht gelingen. Sie ist unsicher. Ihre Fußspitze bohrt im Sand, die linke Hand knautscht un-
entwegt den Gürtel. Felsch beobachtet es und läßt sie ein Weilchen zappeln. Dann sagt er: „Nun hör mir mal zu, meine Tochter, und versuch nicht länger, mich für dumm zu verkaufen. Ein Mann namens Peter Hübner hat am Donnerstag gegen einundzwanzig Uhr im Garten von Frau Henneberg ein junges Mädchen gesehen, dessen Beschreibung haargenau auf deine Person paßt. Der Leiter des Klubhauses, in dem der erwähnte Lichtbildervortrag stattfand, hat dich an dem Abend gleichfalls gesehen, das stimmt, aber nur gegen halb acht, als die Veranstaltung begann. Dagegen behauptet er, daß Holger am Ende allein weggegangen sei. Er hat sich noch gewundert, weil ihr sonst wie die Kletten zusammenhängt. Wie erklärst du dir das?“ Mona erklärt gar nichts, nur ihre Schuhspitze bohrt noch tiefer im Sand. Schließlich stößt sie hervor: „Immer die Jugendlichen. Aber wir waren’s nicht.“ „Ich hab’ was Konkretes gefragt“, sagt Felsch. „Ja, ich wollte rein ins Haus am Donnerstag. Wegen des Buches. Doch es klappte nicht.“ „Wegen welchen Buches?“ „Wegen dieser blöden Schwarte über die Indianer. Die Holger so gern lesen möchte und die sie nicht rausrückt. Weil sie aus einem Verlag von drüben ist. Ich wollte sie ja bloß borgen. Ein wissenschaftliches Werk, verstehn Sie! Aber sie hat da ein einmalig dickes Brett vorm Kopf.“ „Und deswegen warst du am Donnerstag im Garten?“ „Ja. Wenn Sie’s nun doch schon wissen. Ich konnte ja nicht ahnen, daß jemand im Haus ist. Ich hab’ selber
‘nen Riesenschreck gekriegt bei dem Theater. Erst die Blecheimer, dann überall Licht und die Frau, die gerufen hat. Außerdem kläffte noch der Hund nebenan los. Das reichte mir, ich hab’s nicht ein zweites Mal versucht.“ Sie steht da und läßt die Schultern hängen. Sie sieht jetzt irgendwie unzufrieden aus, nicht kläglich, sondern unzufrieden, als würde sie die Niederlage ärgern, und gerade das überzeugt Felsch. „Also gut“, sagte er, „nehmen wir an, es stimmt, und du hast’s nicht noch mal versucht. Dann könnte es nach deinem Mißerfolg erst recht Holger probiert haben. Er hat sich gedacht, nun gerade, ist am späten Nachmittag hin, hat gemerkt, daß das Nest leer war, und klick, mit ‘nem Dietrich durch die Hintertür.“ „Nein! Sie sagten doch vorhin selbst, er besitzt ein Alibi.“ „Leider ein ziemlich wackliges.“ „Holger war’s nicht. Er würde nicht klaun. Keinen Taschenrechner und erst recht kein Geld. Er war dagegen, daß ich ‘rein wollte; ich bin heimlich weg. Ich hab’s aber nur wegen des Buches gemacht. Und das muß noch da sein, im Haus von Frau Henneberg.“ „Hmm“, brummt Felsch, „das wäre ein Argument. Vorausgesetzt, ihr habt euch diese Geschichte nicht ausgedacht. Auf jeden Fall werden wir die Sache überprüfen. Also meinetwegen, dann verschwinde jetzt von mir aus. Lauf zurück in deine Kaufhalle.“ Sie schickt sich an, seiner Aufforderung Folge zu leisten, doch bevor sie geht, tut sie noch etwas Sonderbares. Sie zieht ihren rechten Schuh aus und betrachtet betrübt dessen zerkratzte Spitze. Als trage Felsch Schuld daran,
schaut sie ihn vorwurfsvoll an. Dann entschließt sie sich, den Schuh wieder überzustreifen, und stapft mißmutig davon.
27. „Habt ihr euch eigentlich mal mit dieser Freundin der Henneberg befaßt“, fragt Bothe, „die ihr seinerzeit den Mann ausgespannt hat? Die scheint für den Fall doch nicht ganz uninteressant zu sein. Vielleicht ergeben sich da neue Ansatzpunkte.“ Kielstein rührt in seinem Kaffee und schaut zu, wie sich der Zucker auflöst. Exakt gesagt, er stochert mit dem Löffel auf dem Boden der Tasse herum, befördert ab und zu einen weißen, mit Flüssigkeit getränkten, von Mal zu Mal kleiner werdenden Brocken ans Tageslicht und taucht ihn wieder unter. „Margit Rösler – natürlich haben wir uns über sie informiert, sie stand ja anfangs mit ganz oben auf der Liste. Ohne besonderes Ergebnis. Sie ist nicht nur in ihrem Haus und im Betrieb bestens angesehen, zwischen ihr und der Henneberg bestehen auch seit langem keine Beziehungen mehr.“ Die beiden Kriminalisten sitzen nach überstandenem Mittagsmahl, einem lauwarmen Hühnerfrikassee nebst Pflaumenkompott, in der Kantine, und der Hauptmann nutzt schamlos den Rest der Mittagspause, um ein dienstliches Gespräch zu führen. Das heißt, er fragt die einzelnen Posten der Rechnung Henneberg ab. Einige Ziffern können bereits ausradiert werden, doch ist man noch weit davon entfernt, unter dem Strich zusammenzuzählen.
„Aber vielleicht“, versteift er sich jetzt, „kann dir diese Margit helfen, besser an die anderen Bezugspersonen heranzukommen.“ „Worauf spielst du an?“ „Sie kennt die Tochter der Henneberg gut und gewiß auch den Schwiegersohn, mit dem sich diese Frau so schlecht verträgt.“ „Das ist richtig, bloß hat der Schwiegersohn ein Alibi. Er war zur Tatzeit mit Bekannten zusammen.“ „Sie kennt die Vergangenheit der Henneberg und wahrscheinlich die älteren Kollegen im Betrieb.“ „Ich sehe schon, du gibst keine Ruhe“, sagt Kielstein, „und ich werde selbstverständlich auch mit ihr reden. Bloß nicht sofort. Ich glaube, es gibt Wichtigeres.“ Bothe hat seinen Kaffee ausgetrunken. Er stellt die Tasse zur Seite und schaut mißbilligend einem Kollegen hinterher, der den Raum mit hastigem Schritt verläßt. Der Kollege ist eine ganze Weile nach ihnen gekommen und hat sein Essen in fünf Minuten hinuntergeschlungen. Der Hauptmann, oftmals selbst in Eile, wehrt sich gegen eine solche Verköstigung. Er empfindet sie als ungebührlich gegenüber dem eigenen Magen. „Zum Beispiel?“ fragt er Kielstein. „Zum Beispiel ist mir im Großlager etwas aufgefallen. Im Zusammenhang mit jener Packerin namens Grenz. Ich hatte dir von ihr erzählt.“ „Die Vorbestrafte? Ich hab’ mir den Vorgang angesehen. Nach dem Foto, das allerdings schon ein paar Jahre alt ist, ein munteres Frauchen.“ „Das kann man wohl sagen.“ „Ja und? Was ist mit ihr los?“
„Die meisten Zusammenstöße hatte die Henneberg in den letzten Jahren mit dieser Grenz. Zum Teil wegen gewisser Disziplinverstöße, vor allem wohl wegen grundsätzlich verschiedener Auffassungen. Beide scheinen schwierig zu sein. Kompromißlos, nur jede auf ihre Art.“ „Und wer von beiden war im Recht?“ „Du stellst vielleicht Fragen“, sagt Kielstein. „Wie soll ich das beantworten können. Und inwiefern trägt es zur Klärung unseres Problems bei.“ „Wir lernen die Personen besser einschätzen, mit denen wir’s zu tun haben.“ „Also gut, in der Sache scheint die Henneberg zum Teil recht gehabt zu haben. Nicht in jedem Fall, doch immer dann, wenn es ums Zuspätkommen ging, um die Einsatzbereitschaft, Ordnung am Arbeitplatz und so weiter. Aber da sie die persönlichen Umstände und die jeweilige Veranlagung nicht berücksichtigte, wurde sie wohl oft ungerecht. Spitz in den Worten, rigoros im Handeln. Sie hat ihr zweimal die Prämie gestrichen, einmal ihre Entlassung durchzusetzen versucht. Daß die Grenz hin und wieder wegen ihres Kindes fehlen mußte, hat sie nicht einsehen wollen. Auch die Diebstahlsgeschichte, in die die junge Frau seinerzeit verwickelt war, hat sie immer wieder aufs Tapet gebracht.“ „So daß ein Motiv für einen Racheakt durchaus vorhanden wäre.“ „Auszuschließen ist es jedenfalls nicht.“ „Na, das ist doch ein Anhaltspunkt“, sagt Bothe. „Hast du diese Grenz gefragt, was sie zur Tatzeit getrieben hat?“
„Nein, bisher nicht.“ „Und warum nicht?“ Kielstein zögert mit der Antwort, es sieht aus, als wäre er sich selbst nicht darüber im klaren.* Schließlich sagt er: „Erstens scheint es, als habe sich ihr Verhältnis zur Henneberg in der letzten Zeit gebessert, zweitens sollten wir noch ein Weilchen damit warten, die Karten auf den Tisch zu legen. Unserem bisherigen Vorgehen entsprechend. Wenn wir das Ziel zu frontal ansteuern, könnten wir den Täter warnen.“ „Den Täter?“ fragt Bothe. „Oder die Täterin. Aber es gibt da noch so eine Sache.“ „Sie hat einen Liebhaber“, sagt Bothe. „Woher weißt du das?“ „Hab’ ich mir halt gedacht. Auf solch eine Idee sollte ein Kriminalist kommen.“ „Spotte ruhig“, sagt Kielstein. „Es ist trotzdem etwas Besonderes. Ihr Freund heißt nämlich Grollmann, ist Erster Lagerist unter der Henneberg, ein langjähriger Kollege von ihr und hält seine Beziehungen zur Grenz geheim. Niemand im Betrieb scheint etwas davon zu wissen, vielleicht geht die Geschichte noch nicht lange. Doch die Grenz bedeutet ihm eine ganze Menge, das ist klar.“ „Und weshalb hält er die Beziehung zu ihr geheim, wie du dich ausdrückst?“ „Das Übliche: Er ist verheiratet, hat Kinder. Aber er besitzt eine zweite, bescheidene Wohnung in einem Hinterhaus. Für seine Arbeit, wie er sagt. Dort trifft er sich meist mit ihr.“ Die Kantine, ein sauberer, doch
ziemlich nüchtern wirkender Saal, hat sich inzwischen fast geleert. Die Küchenfrau in der Essenausgabe schaut mißbilligend zu den beiden Männern herüber, die das leere Geschirr noch immer neben sich stehen haben. Kielstein stört sich nicht an ihrem Blick, doch Bothe wird unruhig. Er stellt schuldbewußt die Teller und Kompottschüsseln auf ein Tablett, erhebt sich und trägt das Ganze zum Büfett. Der Leutnant folgt ihm mit den Kaffeetassen in der Hand. „Sie könn’ ja noch sitzen bleiben“, sagt die Köchin, eine dralle Braungelockte, die in ihrem Kittel dampft wie eine kräftig erhitzte Bouillonwurst, „bloß der Abwasch muß gemacht werden, ich brauch’ das Geschirr.“ Bothe murmelt ein: „Ja, ja, ist schon klar, wir wollten sowieso gehn“, und Kielstein grinst freundlich zu diesen Worten. Dann verlassen sie den Raum. Als sie draußen sind, fragt der Hauptmann: „Also gut, wie wollt ihr nun weitermachen?“ „Ich werde heut nachmittag noch mal mit der Henneberg reden.“ „Über Grollmann?“ „Über Grollmann, die Grenz und noch ein paar Leute, die was gegen ihre Chefin haben könnten. Vielleicht auch über ihre Freundin Margit.“ „Und was ist mit den anderen, diesem Jungen in Daggendorf zum Beispiel? Was ist überhaupt mit dem Diebstahl?“ „Da treten wir auf der Stelle. Das heißt, nicht ganz. Der Junge jedenfalls scheint nichts damit zu tun zu haben, obwohl einiges auf ihn hindeutet. Etwas undurchsichtig, die Geschichte. Vielleicht hat jemand den Verdacht auf ihn lenken wollen.“
28. Ob es stimmt oder nicht, daß Detlef hier in der Stadt ist und in meinem Haus wohnt, hab’ ich Jutta gefragt – das letztere konnte ich ja nur vermuten, aber wo sollte er sonst unterkriechen –, und sie druckste ziemlich herum, bevor sie es zugab. Doch sie hatte kaum ein schlechtes Gewissen, meine Tochter, ließ sich jedenfalls keins anmerken, sie sagte nur: „Ja, Mutter, er ist hier, und wenn du’s nun schon mal erfahren hast und davon anfängst, dann hol’ ich ihn auch gleich dazu.“ Da war ich die Überraschte, ich glaub’, ich hab’ die Augen aufgesperrt wie eine Eule um Mitternacht, als sie prompt zur Tür lief und mit ihrem Mann wiederkam. Er hatte draußen im Korridor gewartet. „Ich war’s, ich hab’ ihn gebeten, nach Daggendorf zu kommen, damit du’s nur weißt“, sagte sie, „du mußt doch begreifen, daß mir’s nach der Geschichte da draußen allein unheimlich war, vor allem abends, wenn es dunkel wurde und der Wind so ums Haus pfiff, und zurück nach Berlin fahren wollt’ ich auch noch nicht, wenigstens nicht, bevor ich sicher bin, daß es dir wieder gut geht.“ „Wir verrücken kein Möbelstück in deinem Haus, Mutter“, sagte nun auch Detlef und trat an mein Bett, „du kannst absolut beruhigt sein. Aber mit Jutta allein in dieser verlassenen Ecke, das war wirklich nichts. Außerdem wollte ich dir endlich selber mal guten Tag sagen nach deinem Unfall.“ Er hielt mir die Hand hin. Sie hatten mich überrumpelt, einfach Tatsachen geschaffen. Es stimmt zwar, was Jutta erzählt: Im Haus
kriegt man abends oder in der Nacht wirklich manchmal Platzangst, vor allem, wenn man die Einsamkeit nicht gewohnt ist, doch das ist noch kein Grund. Und dann so klammheimlich. Ich gab ihm die Hand nicht gleich. „Ihr hättet mich wenigstens fragen können“, sagte ich. „Du hast ja recht, aber die Dinge überstürzten sich zu sehr. Als ich Detlef die Geschichte von dem Einbruch erzählte, bot er mir sofort an zu kommen. Er schlug vor, daß wir ein Zimmer im ,Löwen’ nehmen. Doch das hab’ ich nicht mitgemacht. Das hättest du bestimmt auch nicht gewollt.“ Sie sah mich beschwörend an, und plötzlich kam mir die ganze Situation absurd vor. Wenn ihr wüßtet, welchen Verdacht ich hatte, dachte ich. Ich schaute Detlef ins Gesicht, der in seinem Kordanzug und seinem Künstlerpullover vor mir stand, die Stirn unter der krausen Mähne leicht gefurcht, bloß die Tabakpfeife fehlte, die er sonst nie aus dem Mund kriegt, und stellte mir seine Augen hinter einer Motorradbrille vor. Zusammengekniffen, voller Haß. Ja – wenn wir uns über Familienangelegenheiten oder die Politik stritten, konnten sich seine Züge schon verändern: Der Mund wurde dann schmal, die Augenbrauen senkten sich, das Antlitz bekam etwas Scharfes, Bissiges. Und dennoch, es gab keine Verbindung zwischen seinem Gesicht und dem an jenem verhängnisvollen Tag. Wenigstens stellte sich kein Bezug her, und ich bin mir sicher: Würde der Attentäter vor mich hintreten – etwas in meiner Erinnerung müßte aufflackern. Irgend etwas. Aber in diesem Fall rührte sich nichts. Außerdem halte ich es für unmöglich, daß der Täter den Mut aufbringen könnte, mich im Krankenhaus zu besuchen und mir – wie Detlef
in diesem Augenblick – auf zwei Schritt Entfernung entgegenzutreten, als sei nichts geschehen. Deshalb gab ich meinem … Schwiegersohn schließlich die Hand, sah aber Jutta an, als ich sagte: „Meinetwegen, dann habt ihr wieder mal recht. Wie immer. Ich bin auch zu kaputt zur Streiterei. Wahrscheinlich ging’s wirklich nicht anders. Ist vielleicht gut, wenn ein Mann im Haus ist. Besonders nach solchen Vorfällen.“ Danach trat eine Pause ein, doch zum Glück nicht lange, denn Detlef fing von dem Buch zu erzählen an, das er schreibt, und einige seiner Thesen erschienen mir diesmal ganz akzeptabel. Hauptsächlich die über die dritte Welt. Aber als es um die Situation hier, um unsere Realität ging, wären wir uns fast erneut in die Haare geraten. Dabei hat er sich bestimmt zurückgehalten. Redete nur von Dingen, die sie mir glaubten zumuten zu können. Soll er in drei Gottes Namen sein Buch veröffentlichen, wenn sie’s ihm abnehmen, ich hab’ andere Sorgen. Kaum waren die beiden nämlich weg, tauchte Kielstein auf und stellte mir diesmal Fragen, die mich ziemlich aus der Fassung brachten. Über mein Verhältnis zu den Kollegen im Betrieb, vor allem zur Grenz und zu Gerd Grollmann, und ob ich gewußt hätte, daß die beiden was miteinander „verbindet“. Na, das hat mich fast aus dem Bett geworfen. Ich war sprachlos, völlig perplex. „Ausgerechnet der Grollmann, Leutnant“, sagte ich, „der nie was mit anderen Frauen hat und den ich so gut kenne, weil er zeitweise meine rechte Hand war, das kann ich nicht glauben. Der hat doch Familie und hält, genau wie ich, nichts vom ständigen Durcheinander-
schlafen, das für manchen heutzutage zum einzigen Lebenssinn geworden ist. Warum wollen Sie mir nicht gleich noch einreden, daß die Petra Ruß ein Kind vom Braun kriegt und die Polly in den Junghans verknallt ist. Das liegt ungefähr auf derselben Ebene.“ „Das will ich Ihnen nicht einreden, Frau Henneberg“, erwiderte Kielstein ganz ernsthaft, „weil mir davon nichts bekannt ist. Und weil es für unsere Ermittlungen auch nicht so interessant wäre. Das mit der Grenz und Grollmann dagegen könnte interessant sein. Warum haben Sie mir eigentlich nie etwas von Ihren Differenzen mit Frau Grenz erzählt?“ „Differenzen – mein Gott. Sie gehört zu jenen Leuten, die von der Gesellschaft möglichst viel haben und ihr möglichst wenig geben wollen, deshalb geraten wir manchmal aneinander. Das ist doch kein Grund, sie zu verdächtigen.“ „Und Sie haben das nach Ihrem Sturz nie getan, ich meine, auch insgeheim nicht?“ Dumm ist er nicht, dieser Leutnant, er kennt seine Pappenheimer, weiß ziemlich gut über mein Innenleben Bescheid. Ihm ist wahrscheinlich klar, daß ich mich mit der Grenz und anderen immer wieder beschäftige, ohne was davon nach außen dringen zu lassen. „Ja“, sagte ich, „an diese Frau hab’ ich schon gedacht, das geb’ ich zu, sie kann unter Umständen ganz schön aggressiv werden. Aber zuletzt gab’s eigentlich nicht mehr so viel Schwierigkeiten, und dann, wenn ich mir ihr Gesicht vorstelle und mit der Fratze von jenem Tag vergleiche, rührt sich nichts bei mir, verstehen Sie. Absolut nichts, deshalb hab’ ich sie nicht erwähnt.“
„Das war falsch, Frau Henneberg, wir wären vielleicht schon weiter.“ „Nehmen Sie denn wirklich an, daß die Grenz …“ „Wir nehmen vorläufig nichts an, wir sammeln noch immer Fakten. Aber wichtig ist es schon, die Einzelheiten zu wissen. Übrigens … hat Sie der Kollege Grollmann eigentlich mal hier im Krankenhaus besucht?“ „Gerd Grollmann? Nein. Es ist richtig, die meisten aus dem Betrieb waren da, die meisten, die mich näher kennen. Aber alle natürlich nicht.“ Da holte Kielstein ein Foto aus der Jackentasche, ein Foto Gerd Grollmanns, und hielt es mir unter die Nase. Es war eine Aufnahme, die irgendwo draußen gemacht sein mußte, in einem Garten oder Park. Gerd stand im Mantel ohne Kopfbedeckung neben einem Baum und blickte schräg nach oben. Nach einer Wolke, einem Vogel, was weiß ich. Er hatte keine Brille auf, die trägt er nur zur Arbeit, in den Fäusten hielt er eine braune Handtasche. Er sah irgendwie gelöst aus, glücklich, aber vielleicht empfand ich das nur so. „Und wenn Sie sich jetzt an jenen Tag zurückversetzen, als sich das Gesicht über Sie beugte, rührt sich dann etwas?“ fragte der Leutnant. Ich starrte auf das Foto, ich starrte in mich hinein, aber ich konnte mich nicht zur Antwort entschließen. Gerd Grollmann, das kann doch nicht sein, das ist unmöglich, dachte ich. Der hatte doch stets die gleiche Meinung über die Dinge im Betrieb wie ich. Über die Kollegen, die Grenz. Was soll jetzt bloß das Verhältnis mit ihr, was soll die Heimlichtuerei. Bin ich denn bisher mit Scheuklappen durch die Welt gegangen? Ich schaute das Gesicht auf dem
Foto an, und es kam mir mit einemmal so fremd vor, als hätte ich es noch nie gesehen. „Ich weiß nicht“, erwiderte ich endlich, „ich finde mich kaum noch zurecht, bin wie vor den Kopf geschlagen. Ich glaube, ich begreife überhaupt nichts mehr.“
29. Es ist Sonntag, kurz nach Mittag, und der Bus, der zum Krankenhaus fährt, ziemlich leer. Acht Fahrgäste, dann elf, dann sieben, weil sechs aus-, aber nur zwei zusteigen, dann zehn – die Gestalt im Regenmantel registriert den Wechsel an jeder Haltestelle im Unterbewußtsein, während sie mit beiden Händen die Stiele eines großen rostbraunen Asternstraußes preßt, als wolle sie sich daran festhalten. Die Kantstraße, Lilienhof, nun der Wiesentaler Weg. Die Bäume draußen sind kahl, die Häuser stehen da, als würden sie in dem kühlen Novemberwetter frösteln. Ein Schwärm Krähen läßt sich auf einem abgeernteten Feld nieder, in den Gärten wird hier und da Laub verbrannt. Noch zwanzig Minuten, denkt die Gestalt, dann bin ich da. Ich bin viel zu früh dran, was mach’ ich mit den anderthalb Stunden bis zum Beginn der Besuchszeit, ich kann mich unmöglich so lange im Klinikpark herumdrücken. Ich wollte nicht erst in letzter Minute fahren, hatte keine Lust, etwa kurz vorher noch Bekannte zu treffen, die auch zur Henneberg pilgern, aber so schnell hätte ich nicht aufzubrechen brauchen. Ich hätt’ mir mehr Zeit mit dem Mittagessen lassen und den Tag überhaupt anders einteilen sollen. Doch das ist leicht gesagt, es sind die Nerven, die anfangen Streiche zu spielen und kein vernünf-
tiges Überlegen mehr zulassen. Die Unruhe sitzt mir im Leib drin, in der Brust, im Kopf, was weiß ich, sie treibt mich an, schon seit Tagen geht das, es wird Zeit, daß ich die Sache hinter mich bringe. Was wird die Witha sagen, wenn ich auftauche, denkt die Gestalt, wie wird sie sich verhalten? Ob sie überrascht ist, verwundert oder das Ganze einfach als normalen Krankenbesuch nimmt? Wie wird sie überhaupt aussehn in ihrem Bett, sie soll ziemlich mitgenommen sein, wie man erzählt, blaß und spitz … trotzdem, ich bedaure sie nicht. Bestimmt wird sie Langeweile haben, wenn sie ständig ruhig liegen muß, so wie sie veranlagt ist: Sie wird jeden Besuch als Abwechslung empfinden, vielleicht freut sie sich sogar, daß ich komme. Die Gestalt lacht vor sich hin, so absurd scheint ihr dieser letzte Gedanke. Doch gleich darauf wird ihr Gesicht wieder ernst. Wenn der Henneberg nichts dämmert – und das darf einfach nicht geschehen –, weshalb sollte sie sich dann eigentlich nicht freuen? Noch zwei Stationen. Vorn links taucht das neuerbaute Schwesternheim auf, das Gelände gehört schon zum Klinikum. Ich könnte hier aussteigen und den Rest des Weges laufen, überlegt die Gestalt, ich könnt mich zwischendurch auf eine Bank setzen und warten. Doch sie bleibt auf ihrem Platz. Nein, ich mach’ es lieber umgekehrt. Ich fahr’ bis zur Endstelle und geh’ zurück, irgendwo dahinten ist ein Cafe, wo ich die Zeit bis drei rumbringen kann. Der Bus hält, fährt an, hält wieder. Am Krankenhaus steigen die meisten Fahrgäste aus, sie gehören zum Klinikpersonal oder haben eine besondere Besuchserlaub-
nis. Die Gestalt im Regenmantel steigt nicht aus. Sie preßt den Asternstrauß an sich, zupft mit einer Hand am Seidenpapier herum, in das die Blumen gewickelt sind. Beim nächsten Halten steht eine junge Frau mit Kinderwagen draußen. „Ach bitte, könnten Sie mir mal helfen?“ Die Gestalt schreckt zusammen, sie begreift nicht gleich, daß sie angesprochen ist. Aber ja, außer ihr und dem Fahrer befindet sich nur noch ein alter Mann im Bus. Sie legt den Strauß hastig ab, ist mit zwei Schritten an der Tür. Gemeinsam heben sie den Wagen, in dem still ein rosavermummtes Baby liegt, auf die Plattform. Wenig später setzt sich die Gestalt an einen Tisch des um diese Tageszeit kaum besuchten Cafes „Waldfrieden“. Sie hat den Mantel an einen der Holzknöpfe gehängt, die hier als Garderobenhaken dienen, und einen „Kaffee schwarz“ bestellt. Der Gastraum ist klein und quadratisch, eine gelbliche Tapete an den Wänden verhilft ihm zu einem Schimmer Freundlichkeit. Ein älteres Fräulein sitzt schräg gegenüber an einem Ecktisch, mit einem Tortenstück Marke „Elite“ beschäftigt, seine Augen huschen ab und zu zur Tür. Die Serviererin, eine zierliche Blondine, stellt die Tasse „Schwarzen“ auf den Tisch und verschwindet dann in einem Nebenraum, aus dem Männerlachen dringt. Die Tür zum Eingang steht auf, ein junges Mädchen tritt ein. Sie ist schlank, brünett, ihr langes Haar fällt locker über die Schultern. Die Gestalt wendet ihr den Blick zu und fährt unwillkürlich zusammen. Jutta, Jutta Henneberg, denkt sie schockiert, wie kommt die hierher. Doch im nächsten Augenblick erkennt sie ihren Irrtum und atmet auf. Nein, Jutta Hen-
neberg ist das nicht, die ist schon lange kein junges Mädchen mehr. Nur eine Ähnlichkeit, nicht mal allzu groß, ich fange an zu spinnen, sagt sich die Gestalt, meine Phantasie gaukelt mir die unmöglichsten Bilder vor. Der neue Gast hat das ältere Fräulein entdeckt und steuert den Ecktisch an, die beiden waren verabredet. Die blonde Serviererin taucht auf; die Gestalt hätte sich jetzt gern einen Klaren bestellt, aber sie hat nicht den rechten Mut dazu – vor diesem Besuch, nein! Um sich abzulenken, greift sie nach den Zigaretten, die vor ihr auf dem Tisch liegen, steckt sich eine an. Die kleine Jutta, denkt sie fast melancholisch, ein hübsches Mädchen war das, ein aufgewecktes Ding, eigensinnig wie ihre Mutter, na, das hat keinen gewundert, stets in Opposition, schon damals, als sie noch abhängig von ihr war; mir hat das innerlich gutgetan, wenn ich sie natürlich auch bedauerte. Ich hatte was übrig für die Kleine, ich hatte schon immer was für junge Mädchen übrig; solange mein Vater noch lebte, hab’ ich das bloß zurückgedrängt, der brauchte meine ganze Kraft, wir waren aufeinander eingespielt und angewiesen, da blieb für nichts andres Zeit. Obwohl ich vielleicht auch zu schüchtern war, verklemmt, sagte er, wenn er seinen bösartigen Tag hatte, wenn er mit aller Welt haderte und mir weh tun wollte; verklemmt hat mich auch Ilona mal genannt, anfangs, als sie mich noch nicht so kannte, aber ihr nehm’ ich’s nicht übel, ihr nehm’ ich überhaupt nichts Übel. Vaters Tod – na ja, die Jahre gehn ins Land, man merkt’s gar nicht. Die Arbeit frißt einen auf, der Alltag, und dann war da ja auch immer mein Hobby. Das war
gewissermaßen Tradition in der Familie, mein Großvater bastelte Vogelkäfige, mein Vater hämmerte an seinen Figuren herum, und ich … ich hab’s eben fortgesetzt. Zugegeben, ich verstand’s nicht so gut wie er, er war ein Meister in diesen Dingen, ein richtiger Künstler, er hat sogar Preise auf Ausstellungen gewonnen. Aber abgesehen hab’ ich mir doch einiges, ich hab’ gut gelernt, mit Hammer, Feile und Bunsenbrenner umzugehn. Und ich hab’ mir auch Neues ausgedacht, den Schmuck aus Kupferdraht zum Beispiel, die schmiedeeisernen Kerzenhalter und vor allem die Weihnachtsengel. Es macht mir einfach Spaß, die Blechflügel zurechtzuschneiden, sie anzuschweißen und das Ganze schön golden zu bemalen. Ich weiß, das sind keine großen Kunstwerke, aber vielen gefällt’s doch. Bloß Roswitha Henneberg nicht. Einmal hab’ ich ihr zwei solcher Engel geschenkt – sie waren eigentlich gar nicht für sie bestimmt, sondern für ihre Tochter –, doch anstatt sich zu bedanken, hat sie mitleidig gelächelt und mir einen langen Vortrag über die volksverdummende Rolle der Religion gehalten. So ist sie, kein Wort über meine Geschicklichkeit, die Mühe, die ich mir gemacht hatte. Für sie war’s Kitsch, überflüssiges Zeug, bestenfalls eine Spielerei. Im Predigen und Schlechtmachen war diese Frau schon immer groß. Es geht auf drei, nun, zum Nachmittag hin, beginnt sich das Cafe doch zu füllen. Es wird Zeit, denkt die Gestalt, wenn ich jetzt aufbreche, bin ich Viertel vier im Krankenhaus, es war’ gut, ihr allein gegenüberzustehn, einen Augenblick wenigstens, aber auch wenn andre Besucher da sind, vielleicht tatsächlich Jutta, Leute aus
dem Betrieb, ändert das nichts. Ich will, daß sie mich anschaut, ich will die Probe aufs Exempel. Dann werd’ ich endgültig Bescheid wissen. Die Serviererin taucht mit einem Tablett leerer Gläser auf, die Gestalt nimmt die Gelegenheit wahr zu zahlen. Dann erhebt sie sich, greift ihre Sachen, verläßt das Cafe. Erst draußen streift sie den Regenmantel über, der nun für die Jahreszeit langsam zu dünn wird.
30. Ich weiß nicht, ob es die Aufregungen der letzten Tage sind, die mir zu schaffen machen, oder ob ich das Bein bei meinen Gehversuchen zu sehr strapaziert habe, jedenfalls fühle ich mich nicht besonders gut. Ich lass’ es die Schwester nicht merken und schon gar nicht den Arzt, ich verstelle mich ein bißchen, denn ich möchte auf keinen Fall, daß er mir vielleicht wieder absolute Ruhe verordnet und untersagt, Besuch zu empfangen – ich brauche jetzt Kontakt nach draußen … Ich werde mich schon durchbeißen. Der Gerd Grollmann und die Grenz, das hätte ich niemals gedacht, das ist verrückt, doch wenn ich mir’s in aller Ruhe überlege, jetzt, nachdem die Überraschung abgeklungen ist – ein paar Anhaltspunkte gäbe es schon. Er hat mir zwar nie direkt widersprochen, wenn’s um sie ging, er widerspricht überhaupt kaum, man kommt gut mit ihm aus, aber das mit ihrem Kind hat er schon manchmal als Einwand angeführt, daß man so etwas berücksichtigen müsse, daß für eine alleinstehende Frau eine solche Lage bestimmt nicht einfach zu bewältigen sei und so fort.
Na, bei mir war er da an der falschen Adresse. Ich wußte, was man als alleinstehende Frau kann und was nicht, und das Argument von den anderen Zeiten, in denen wir inzwischen leben, zieht bei mir auch nicht. Ich kann mich übrigens nicht entsinnen, daß Gerd in Hinsicht auf die Grenz einmal auf seiner Meinung beharrt hätte. Ich dachte immer, er sähe ein, daß ich im Recht sei, aber so, wie’s nun scheint, hatte er möglicherweise nur Angst, seine Beziehung zu ihr zu verraten. Und tatsächlich, je mehr ich über diese Beziehung nachdenke, desto einleuchtender wird sie mir. Die eine oder andere Episode, der ich weiter keine Bedeutung beigemessen habe, kommt mir in den Kopf. An einem Wochenende zum Beispiel traf ich Gerd Grollmann in der Südstadt, wo ich mich sonst nie aufhalte, ich war wegen einiger alter Stühle dort, die jemand verkaufen wollte. Er lief mir zufällig über den Weg, und ich fragte ihn, was er bei diesem trüben Wetter hier so mutterseelenallein mache. Er stammelte was von einer Privatangelegenheit. Dieses Wort, für sich genommen, klang schon komisch, aber wie er’s rausbrachte, direkt rot wurde vor Verlegenheit, da hätte mir einfach was auffallen müssen. Doch ich war zu sehr mit den Stühlen beschäftigt, ich hatte sie mir für die Veranda in den Kopf gesetzt – übrigens hab’ ich sie dann nicht gekriegt – , und so machte ich mir weiter keine Gedanken. Ich kam nicht auf die Idee, daß dort, gleich um die Ecke, der Hansa-Platz ist, wo die Grenz wohnt. Hansa-Platz 10, das hat sich mir seit der Diebstahlsgeschichte im Betrieb eingeprägt, mir ist nichts bekannt, daß sie seit-
her umgezogen wäre. Der mißglückte Stuhlkauf liegt ein gutes halbes Jahr zurück, und dann gab’s da noch so eine Geschichte; Grollmann und ich hatten mal ein Gespräch, wo er etwas mehr aus sich herausging als üblich. In der Kantine war das, er beklagte sich über seine Frau, die derart kleinkariert und altmodisch sei, daß er nicht wisse, wie lange er es mit ihr noch aushalten werde. Ich jedenfalls könne froh sein, daß ich allein wäre, keinen am Hals hätte. Na, ich dachte mir auch da nichts weiter. Ich kenne seine Frau ein bißchen, hab’ sie ein paarmal gesehen, sie machte eigentlich einen guten Eindruck auf mich, und das sagte ich ihm. Ich sprach auch von seinen Kindern, die sie doch gemeinsam großgezogen hätten. Da wurde Grollmann dann still, und weil die Mittagspause zu Ende war, brachen wir das Gespräch ab. Wir kamen nicht mehr auf das Thema zurück. Vielleicht ließen sich noch mehr Anhaltspunkte finden, noch beweiskräftigere – und trotzdem, wenn Kielstein es nicht erzählt hätte, ich wäre nie daraufgekommen. Aber das ist es ja nicht allein, der Leutnant hat nicht nur vom Verhältnis zwischen den beiden gesprochen, er hat aus dieser Verbindung auch eine Schlußfolgerung abgeleitet, sie zumindest angedeutet, einen Bezug zur Tat. Und schließlich – er hat mir das Foto gezeigt. Es ist unvorstellbar, aber irgendwie logisch. Die Grenz haßt mich, weil ich ihr die ständigen Disziplinlosigkeiten nicht durchgehen lasse, und stachelt ihren Geliebten an, es mir eines Tages heimzuzahlen. Gerd Grollmann, hab’ ich den nicht mal mit solchen schwarzen Handschuhen gesehen, wie sie Kielstein sucht? Aber warum dann gerade an diesem Tag, die
letzte Auseinandersetzung mit der Grenz liegt Wochen zurück. Nein, ich kann nicht verstehen und nicht begreifen, daß Gerd Grollmann sich auf so was einlassen soll, gerade er. Freilich, sein Gesicht, nicht das heitere von dem Foto, sondern sein Alltagsgesicht, wenn ich mir die Motorradbrille dazudenke, das Zwielicht an dem Abend, die gesamten Umstände: Auszuschließen ist es nicht. Die anderen aus dem Betrieb waren schon hier: der Junghans, der Braun; Gerd Grollmann hat mir nur Grüße ausrichten, lassen. Und doch bleibt es unverständlich, ich kann ihn nicht so einfach belasten. Es wäre furchtbar, wenn er nichts damit zu tun hätte, ich ihn aber vor der Polizei verdächtigen würde. Und ein anderer liefe frei herum, den ich nicht nach den Gründen seiner hinterhältigen Tat fragen könnte.
31. „Dieser Abteilungsleiter aus dem Großlager, der zur Zeit die Arbeit der Henneberg macht, baut einen Bungalow in Daggendorf“, sagt Felsch und hebt einen kleinen Stock vom Boden auf. Mynheer, sein Hund, steht bereits erwartungsvoll vor ihm, die Augen auf die Hand mit dem Stückchen Holz gerichtet. „Junghans? Das war mir nicht bekannt.“ Kielstein zeigt sich überrascht. „Jutta Baum hat es mir erzählt. Vor ein paar Tagen hat er sich ihr als Nachbar vorgestellt. Er sei zwar noch nicht lange im Fichtengrund und auch ein paar hundert Meter weg, aber da man sich durch die Mutter von früher her kenne … Man müsse doch zusammenhalten.
Die Einbruchsgeschichte muß ihn ziemlich aufgeregt haben.“ „Ich hab’ ausführlich mit ihm gesprochen, von einem Grundstück da draußen hat er mir nichts erzählt.“ Felsch wirft seinen Stock, und der Pudel jagt über die Wiese. Es ist Sonntag nachmittag und Kielstein bei seinem Kollegen, weil der inzwischen Monas Buchversion überprüft hat. Die sich bestätigte. Dabei hätte der Leutnant jetzt zusammen mit Cordula an der Kaffeetafel ihrer Eltern sitzen sollen. Doch der Fall Henneberg hat ihn voll gepackt, er will ihn unbedingt zum Abschluß bringen. Bothe wird auch langsam ungeduldig. „Du meinst, es könnte einen Zusammenhang geben?“ Kielstein zieht mit einer für ihn typischen Geste die Schultern hoch. „Was weiß ich.“ Er setzt sich auf einen Baumstumpf, reibt sich das Kinn. Der Hund, den Stock in der Schnauze, fegt heran. Felsch schickt ihn erneut los. Plötzlich springt der Leutnant auf. „Hast du eine Ahnung, wo sich das Grundstück von Junghans genau befindet?“ „Von der Henneberg aus gesehen überm Tal drüben. Schräg links. Wo’s bereits wieder hügelan geht, glaub’ ich.“ „Das … das ist interessant.“ „Interessant, weshalb?“ Kielstein geht nicht auf die Frage ein, er steht einen Augenblick lang nachdenklich da und sagt dann überraschend: „Entschuldige, mir ist was eingefallen. Ich muß weg.“ „Mit einemmal“, sagt Felsch, „aber wieso denn?“
„Nur so eine Idee. Wir haben ja sowieso alles besprochen, und ihr findet auch ohne mich nach Hause. Einen schönen Gruß noch an deine Frau.“ Kielstein läuft zu seinem Wartburg, den er fünfzig Meter weiter geparkt hat. Mynheer, der an ein Spiel glaubt, setzt ihm zunächst nach, kehrt aber dann schwanzwedelnd zu seinem Herrn zurück. Keine dreißig Minuten braucht Kielstein bis zur Siedlung Fichtengrund. Unterwegs kommt ihm der Gedanke, daß er sich möglicherweise Dinge zusammenreimt, die nichts miteinander zu tun haben. Aber das kann ihn nun nicht mehr aufhalten. Auch Handlungen, die von falschen Voraussetzungen ausgehen, können sich als nützlich erweisen. Man gewinnt oft Einsichten, die einem am Schreibtisch nie und nimmer gekommen wären. Die Laubbäume recken sich blattlos in den Himmel, die Kiefern und Fichten wirken eher grau als grün. Wo der Wald zu Ende ist, geht links ein Feldweg ab, führt zu dem jüngst von der Gemeinde verpachteten Land. Der Weg ist befahrbar; über eine hölzerne Brücke gelangt Kielstein zu den ersten Parzellen, auf denen kleine, meist erst im Rohbau fertige Häuser stehen. Sie sind fast alle von Drahtzäunen umgeben, hier und da machen sich, trotz des kalten Novemberwetters, die Besitzer zu schaffen. Während der Wartburg den Weg entlangzuckelt, versucht der Leutnant die Namensschilder an den Gartentüren zu entziffern. Nach dem fünften Grundstück hält er an und steigt aus. Hier etwa müßte es sein. Am Gartentor steht „Ahrend“, und die nächste Tür ist nicht beschriftet. Doch dann hat er es. Ein Holzschild, anscheinend selbst gefertigt, in das verschnörkelt der
Name Junghans eingeschnitten ist. Auf dem Grundstück befindet sich niemand – Kielstein hat damit gerechnet. Zwar hätte er sich jetzt gern mit dem kommissarischen Abteilungsleiter unterhalten, ihm ein paar Fragen gestellt, aber das läßt sich nachholen. Für den Augenblick genügt ihm dies hier: die Aussicht von der Gartentür aus, genauer gesagt, der Blick schräg über Wiese, Bach und Straße hinüber zum Haus von Roswitha Henneberg. Man kann die Vorgänge dort gut beobachten – wenn man einigermaßen scharfe Augen hat, braucht man noch nicht mal ein Fernglas. Kielstein geht nachdenklich am Zaun auf und ab, er überlegt. Auch zum Unfall – oder besser Tatort ist es von hier aus nicht allzuweit. Junghans, das ist ja Unsinn, was für ein Motiv sollte dieser bedächtige, langgediente Kollege der Henneberg haben? Aber eine Rolle im Puzzlespiel bekommt sein Name plötzlich. Es gibt bei ihm einige Widersprüche – auf der einen Seite verschweigt er der Polizei, daß er hier ein Grundstück hat, ausgerechnet hier, auf der anderen Seite stellt er sich Jutta Baum als Nachbar vor. Gut wär’s, sich einmal in dem fast fertigen Bungalow hinterm Zaun umzusehn, aber ohne Genehmigung des Staatsanwaltes ist das nicht möglich. Die Verlockung ist dennoch groß, der Leutnant hält Ausschau nach allen Seiten, niemand scheint in der Nähe zu sein. Doch die Entscheidung wird ihm abgenommen, denn plötzlich tritt rechts aus dem Häuschen eine Frau: „Hallo, Sie, sind Sie der Elektriker?“ Kielstein erwidert erst mal nichts, und dann, als er die Situation erfaßt hat, geistesgegenwärtig: „Seh’ ich so aus?“
„Sind Sie’s nun oder nicht? Nachbars haben gestern den ganzen Tag auf Sie gewartet. Heute sind sie nicht da. Sie haben mir aber den Schlüssel dagelassen. Für alle Fälle.“ „So“, sagt Kielstein, „dann bin ich also nicht umsonst hier herausgefahren. Ich dachte schon …“ „Was war denn gestern?“ fragt die Frau, ein bäuerlicher Typ mittleren Alters, und kommt ans Tor. „Gestern … ach, zuviel Arbeit.“ „Ihr macht’s euch einfach“, sagt die Frau, „versetzt die Leute, wie’s euch gerade paßt. Schämt euch nicht mal. Na, bei mir legt der Schwager die Anschlüsse, ich bin zum Glück nicht auf Fremde angewiesen. Also dann schaun Sie sich an, was zu tun ist, aber beeilen Sie sich. Ich will nämlich weg.“ Korrekt ist das nicht, was ich hier mache, denkt Kielstein, doch wenn einem so der Weg geebnet wird … Direkt ungesetzlich würde ich’s auch nicht nennen. Die Frau schließt die Gartentür ihres Nachbarn auf und bleibt unschlüssig stehen. Sie schaut etwas mißtrauisch drein. Kielstein sagt: „Kommen Sie nur mit, sonst fehlt hinterher noch was.“ „Na, wissen Sie, so war’s nun auch nicht gemeint.“ Sie zögert, schließt sich dann aber dem vermeintlichen Handwerker an. Kielstein steuert zielgerichtet den Bungalow an und pflanzt sich auf der leicht erhöhten Plattform vor dem Eingang auf. Ja, von hier aus hat man einen noch besseren Blick nach drüben. Die Tür scheint erst kürzlich eingesetzt worden zu sein, ungestrichen und frisch wie sie ist; die Frau hat auch für sie einen Schlüssel. Kielstein tritt ein: zwei kleine Räume, eine
winzige Küche, ein Klo – er schaut sich aufmerksam um. Aber wenn er gehofft hat, ein Beweisstück zu finden, einen Wanderstock vielleicht, einen Taschenrechner oder gar eine Motorradbrille, eine bestimmte Angelschnur, so irrt er sich. Nur einiges Gartenwerkzeug steht in einer Ecke, und in einem alten Schrank, dem einzigen Möbelstück im Haus, befinden sich Teller, Eßbesteck, ein Hammer, Nägel und Schrauben. „Machen Sie sich denn gar keine Zeichnung?“ fragt plötzlich die Frau, die Kielsteins Bewegungen mit wachsender Unruhe verfolgt. „Eine Zeichnung, wozu?“ „Na, mein Schwager macht immer ‘ne Zeichnung. Sie müssen doch was notieren; wieviel Material Sie brauchen und so.“ Kielstein brummt etwas Unverständliches und beeilt sich, den Bungalow zu verlassen. Im Augenblick ist hier sowieso nichts zu holen. Da die Frau zunächst die Tür verschließt, hat er noch Zeit, einen Blick auf den Garten zu werfen. Auf das, was einmal ein Garten werden soll. Ohne freilich Besonderes feststellen zu können. Wiesenland, erst zum Teil umgebrochen, Steine, einige junge Obstbäume. Als sie wieder vorn am Gartentor stehen, fragt die Frau: „Was soll ich Herrn Junghans denn nun ausrichten?“ „Gar nichts … Ich bin nämlich nicht der Elektriker.“ Der Nachbarin verschlägt’s die Sprache, sie läuft rot an, doch bevor sie dazu kommt loszubelfern, ist Kielstein ein paar Meter weg. „Regen Sie sich nicht auf“, sagt er beruhigend, „es war trotzdem nett, daß Sie mich mal reingelassen haben. Ich will mir auch so was zule-
gen, wissen Sie. Man muß sich doch informieren.“ Dann sieht er zu, daß er zu seinem Auto kommt, 32. Der Plattenweg und die paar Stufen zur Anmeldung, das Schiebefenster, wo man sich nach der Zimmernummer der Patientin erkundigt, die Treppe, der Korridor und schließlich die Tür zum Krankenzimmer. Die Gestalt, den Regenmantel überm Arm, die Blumen in der rechten Hand – das Seidenpapier ist noch nicht abgenommen –, steht reglos im Flur, gerade aufgerichtet und in jeder Faser ihrer Muskeln angespannt. Die nächsten Augenblicke werden von ungeheurer Bedeutung für ihr weiteres Leben sein, und sie ist versucht, auf dem Absatz kehrtzumachen, die Entscheidung nochmals hinauszuschieben. Stimmen sind zu hören, es bleibt keine Zeit, genau zu ermitteln, ob sie aus dem Zimmer der Henneberg oder von nebenan kommen, denn nun ertönen auf dem Gang hinter ihr Schritte. Ein Besucher, der zu einem anderen Kranken will, oder eine Schwester die Gestalt fühlt sich gedrängt. Ruhig Blut, denkt sie, nur ruhig Blut. Dann, ohne anzuklopfen, drückt sie mit einem Ruck die Klinke herunter. Das Zimmer ist klein und genauso weiß, wie Klinikräume zu sein pflegen. Trotz der noch frühen Stunde ist das Licht nicht besonders gut, was am November und am trüben Wetter liegt. Der Blick der Gestalt fällt zunächst auf das große Fenster gegenüber der Tür, dann auf ein tragbares Fernsehgerät, das auf einem Tischchen steht, und erst zuletzt auf die Patientin im Bett. Die sich in den Kissen aufgesetzt hat und zur Tür herüberschaut. „Tag, Witha“, sagt die Gestalt, so gleichgültig sie es vermag, „wie geht’s
denn, ich dacht’, ich müßt dich endlich mal besuchen.“ Sie zieht die Tür hinter sich zu, tritt einen Schritt nach vorn und lächelt. Es fällt ihr ungemein schwer. Ein paar Sekunden lang ist es still. In Roswitha Hennebergs Augen tritt ein leichtes, unbestimmtes Flackern. Dann sagt sie zögernd, aber nicht unfreundlich: „Ach, du bist’s … Man hat mir deinen Besuch angekündigt … Das ist schön, daß du auch mal kommst. Im Augenblick hatte ich freilich meine Tochter erwartet.“ Die Gestalt tritt auf das Bett zu. Ich muß mich jetzt ganz natürlich geben, denkt sie und wickelt das Papier von den Blumen. Den Mantel noch immer über dem Arm, reicht sie der Kranken mit der andern Hand den Strauß hin: „Hier, ein paar Astern. Direkt aus der Gärtnerei.“ Die Blicke kreuzen sich, es ist, als ob die der Patientin verharren wollten. Als müßten sie etwas Verborgenes aufspüren, aus dem Dunkel holen. Die Gestalt bringt es nicht fertig, standzuhalten. Sie wendet die Augen ab. Sie läßt auch, ehe die Henneberg noch richtig zugegriffen hat, die Blumen los, so daß der Strauß um ein Haar auf den Boden gefallen wäre. „Entschuldige … das wollt ich nicht.“ „Ist ja nichts passiert. Warum erschrickst du?“ „Erschrecken? Aber ich erschreck’ nicht. Hab doch gar keinen Grund.“ Das Lachen klingt gezwungen. Die Henneberg nimmt die Blumen und riecht daran. Sie schickt über den Strauß einen weiteren tastenden Blick nach oben. „Schöne Astern, wirklich. Aber warum stehst du so steif herum. Leg den Regenmantel ab, am
besten dort auf den Tisch. Und hol dir den Stuhl vom Fenster, du willst doch wohl nicht die ganze Zeit stehn.“ Es soll scherzhaft klingen – in den Ohren der Gestalt ist es ein herablassend-befehlender Ton. Wie früher auch, denkt sie, da ändert sich anscheinend nie was. Und weiter: Sie regt mich schon wieder auf, kaum daß ich da bin, doch ich darf mich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Die erste Ungeschicklichkeit hab’ ich bereits begangen, ob sie etwas gemerkt hat? Ihr Blick eben – als ob sie nahe dran gewesen war’, ganz nahe an der Wahrheit. Die Patientin hat die Blumen auf das Nachttischchen gelegt. „So“, sagt sie, „jetzt setz dich her und erzähle. Es ist zwar allerhand geschehen, seit wir das letzte Mal miteinander gesprochen haben, doch wir wollen so tun, als wäre nichts passiert, als säßen wir nicht hier im Krankenhaus, sondern bei einem Bier, ‘ner Tasse Kaffee. Jutta wird dazwischenplatzen, aber das macht nichts. Wie geht’s bei dir, zu Hause, in der Arbeit? Wir haben uns schließlich … eine ganze Weile nicht gesehn.“ „Nein“, sagt die Gestalt abwehrend, „erst bist du dran. Bei mir, das ist immer der gleiche Trott, das Übliche, mal ist mehr Trubel, mal weniger; kürzlich, am Wochenende haben wir ‘nen Ausflug gemacht, ein paar Kollegen und Kolleginnen, das ging hoch her, na ja. Man wird nicht jünger, das merkt man bei so ‘ner Sache, aber davon wollt ich gar nicht reden, du siehst, ich quatsch bloß Unsinn …“ „Ganz und gar nicht, sprich ruhig weiter, wenn man so lange hier drin liegt, hört man gern etwas von draußen.“
„Du hast jetzt sicherlich andre … Probleme.“ „Darauf brauchst du keine Rücksicht zu nehmen, wirklich nicht. Damit werd’ ich schon fertig.“ „Bei dir in Daggendorf ist eingebrochen worden. Die Polizei fragt überall herum. Weiß man denn schon, wer’s war?“ „Leider noch nicht. Der Kerl ist sehr geschickt vorgegangen.“ Im Blick der Gestalt ist ein Funken Genugtuung, sie richtet sich in ihrem Stuhl auf. „Und dein Unfall“ fragt sie schnell, „wie ist’s damit? Erzähl doch mal.“ „Was denn erzählen? Was soll damit sein?“ „Na alles. Wie’s zu dem Sturz kam.“ Die Worte sind ganz unbefangen hingesagt, und doch liegt eine leichte Gespanntheit darin. Die Henneberg hebt den Kopf. Erneut tritt das Flackern in ihre Augen, wird stärker. Sie sucht nach Worten: „Der Sturz … ja … die Straße war so glatt … durch den Regen…“ Ich bin zu weit gegangen, sagt sich die Gestalt, schon zu weit. Ich will herausbringen, was sie weiß, aber ich helf ihr nur auf die Sprünge. Wie sie mich anstarrt, das halt’ ich nicht aus. Ich bin zu sensibel, hab’ einfach nicht die Nerven dazu. „Das nimmt dich wohl sehr mit?“ fragt sie. „Es fällt mir schwer … mich genau daran zu erinnern“, murmelt die Patientin. Die Gestalt zieht die Schultern hoch, als fröstelte sie. Sie starrt mich an, denkt sie, man könnt’ meinen, sie will mir das Hirn auskratzen. Vielleicht war’s doch falsch hierherzukommen. Was mach’ ich denn, wenn sie plötzlich sagt: „Du warst’s, du hast die Schnur ge-
spannt“? Tu’ ich so, als würd’ ich nicht verstehn, leugne alles ab? Oder sag’ ich ihr, hier, ohne Zeugen, ins Gesicht, was ich von ihr halte? „Was ist?“ fragt die Henneberg. „Du bist so abwesend.“ „Ich, wieso … Du hast gesagt, daß die Straße glatt war…“ Die Worte kommen, entgegen ihrem Willen, unüberlegt und stockend. Die Patientin merkt es, betrachtet ihr Gegenüber erneut aufmerksam. Forschend, als wolle sie eine verborgene Wahrheit aufspüren. „Könntest du …“, sagt sie, „könntest du uns Licht machen, es ist so dunkel.“ Es war falsch herzukommen, denkt die Gestalt, meine Nerven taugen nicht für so was. Ich mach’ alles verkehrt, gleich wird sie begriffen haben, ich reit’ mich von Minute zu Minute mehr ‘rein. Sie sitzt steif auf dem Stuhl, die Hände auf den Oberschenkeln. Sie spürt, wie eine maßlose, ohnmächtige Wut in ihr hochkriecht. „Nein“, sagt sie mit gepreßter Stimme. „Nein?“ „Ich meine … wir sollten lieber ohne Licht … es ist gemütlicher …“ Die Henneberg lacht kurz und trocken auf, ihr Blick ist weiterhin auf das Gesicht vor ihr gerichtet, tastet es jetzt geradezu ab. „Das ist komisch“, sagt sie, „gemütlich, im Krankenhaus. Das Wort hat noch keiner gebraucht, der mich hier besucht hat. Ich wußte gar nicht, daß du solchen Humor hast.“ Der letzte Satz klingt beinahe höhnisch. Wie überheblich sie ist, denkt die Gestalt, überheblich wie eh und je. Und ihre Augen, ihre aufdringlichen Augen bringen mich zur Weißglut. Sie
forschen mich aus, nageln mich fest. Sie krallen sich richtig ein. Wenn sie nicht endlich aufhört, mich so anzuglotzen, verlier’ ich die Beherrschung. Sie beugt sich leicht nach vorn, die Hände auf ihren Schenkeln krampften sich zur Faust zusammen. Die Patientin im Bett, keinen Meter entfernt, macht eine Bewegung, als wolle sie sich zur Wehr setzen. Ihre Finger fassen die Bettdecke, ihre Augen weiten sich, so etwas wie Angst, tritt in ihr Gesicht. Plötzlich läßt sie sich in die Kissen zurücksinken, der Blick gleitet zur Seite. „Mir ist nicht gut“, flüstert sie. Schritte auf dem Korridor, ein Klopfen, die Tür geht auf: Jutta. „Entschuldige, Mutter, ich bin spät dran. Der Wagen wollte nicht, da mußte ich mit dem Bus fahren.“ Die Gestalt hat sich gefangen und ist aufgestanden, auch Roswitha Henneberg scheint sich zu erholen. Sie hebt den Kopf, stützt sich auf die Ellenbogen. „Jutta“, sagt sie, nichts weiter, nur: „Jutta.“ Jutta streift die Gestalt mit einem Blick. „Was ist, Mutter? Fehlt dir was? Warum sitzt ihr so im Dunkeln?“ Sie schaltet das Licht an, gibt ihrer Mutter einen flüchtigen Kuß, macht sich gleich am Kissen, an der Bettdecke zu schaffen; sie ist mittlerweile hier heimisch. Dann richtet sie sich aber schnell wieder auf und reicht der Gestalt, die einen Schritt zurückgetreten ist, die Hand. „Das ist fein, daß du – ich darf doch noch du sagen? – Mutter auch mal besuchst.“ „Die kleine Jutta“, erwidert die Gestalt, „sieh an. Eine hübsche junge Frau bist du geworden.“ „Hübsch, na ja“, sagt Jutta. „Aber setz dich doch wieder. Du willst doch noch nicht weg. Was war denn,
Mutter? Siehst ja so blaß aus.“ „Ach nichts, ein dummer Schwächeanfall; ist schon wieder in Ordnung. Ich bin in den letzten Tagen einfach zuviel auf den Beinen gewesen. Die Heilung geht langsamer voran, als ich dachte.“ Das Licht der Lampe erfüllt den Raum mit einem kalten, unwirklichen Schimmer. Roswitha Henneberg spricht mit gefaßter Stimme, schaut aber die beiden Besucher nicht an. Die Gestalt hat sich wieder hingesetzt und nimmt ein wenig einsilbig an der Unterhaltung teil. Sie ahnt etwas oder hat es schon begriffen, hämmert es in ihrem Hirn. Was soll ich machen, wie soll ich mich jetzt verhalten. Die Stimmen der beiden Frauen verschmelzen in ihren Ohren zu einem unverständlichen Getön, sind mal fern, mal nah, mal laut, mal leise. Die Gestalt sitzt da und hört zu, ohne etwas zu verstehen, auf ihrer Brust lastete ein dumpfer Druck.
33. „Sie müssen mir schon erklären, Herr Junghans“, sagt Kielstein, „weshalb Sie bei unserem ersten Gespräch nichts von Ihrer Datsche in Daggendorf erzählt haben. Eine so schöne Gegend! Ich hätte Sie dort gern einmal besucht.“ Junghans, hinterm Schreibtisch seines Büros verschanzt, wirkt verlegen. Er greift auch diesmal zum Zigarettenkästchen, ohne sich letztlich einen Glimmstengel anzuzünden. Allerdings bietet er dem Leutnant keine Zigarette an, er erinnert sich wohl, daß er es mit einem Nichtraucher zu tun hat. „Weshalb hätt’ ich davon reden sollen? Ist das von Bedeutung?“ „Das Haus Ihrer Kollegin Henneberg befindet sich
ganz in der Nähe. Fast könnte man annehmen, es sei von Bedeutung, daß Sie nicht davon gesprochen haben.“ „Genosse Leutnant“, sagt der kommissarische Leiter für Warenbewegung bedachtsam und das Wort Genosse betonend, „Sie wollen mich doch nicht im Ernst des Diebstahls bezichtigen. Ein Taschenrechner, ich bitte Sie!“ „Also, weshalb haben Sie Ihr Grundstück nicht erwähnt?“ wiederholte Kielstein. „Weil die Sache damals – ja, wie erklär ich’s – noch nicht ganz sicher war. Den Pachtvertrag mein’ ich. Inzwischen ist er aber ordnungsgemäß unter Dach und Fach.“ „Der Vertrag war noch nicht abgeschlossen, als wir miteinander sprachen? Sie bauen doch bestimmt schon seit dem Sommer.“ „Ja … nein … das ist ein bißchen komplizierter. Das Grundstück gehörte zuerst jemand anderem, und der hatte bereits angefangen zu bauen. Dann ist er aber zurückgetreten – da hab’ ich’s übernommen. Bloß mit den Formalitäten dauerte es ewig.“ „Hm“, sagt Kielstein ein wenig enttäuscht, denn das Gespräch geht in eine Richtung, die ihn weniger interessiert, „wenn ich’s recht verstehe, ein bißchen MuscheMusche. Die Gemeinde Daggendorf wollte das frei werdende Grundstück anderweitig vergeben, und Sie…“ „Ich stand auf der Liste“, unterbricht ihn Junghans fast beschwörend. „Die Frage ist nur, an welcher Stelle.“ Der andere rutscht auf seinem Stuhl etwas tiefer, dann strafft er sich jedoch. „Ich bin ja auch gegen Schie-
bung“, sagt er, „doch so was war’s nicht. Na gut, vielleicht bin ich leicht … begünstigt worden, deshalb … ich meine, weil der Gemeinderat das nicht wollte … klappte es mit dem Vertrag nicht gleich. Ich hatte aber schon bestimmte Kosten übernommen und war wirklich selber eine ganze Weile angemeldet, das müssen Sie mir glauben.“ „Müssen?“ brummt Kielstein und kratzt sich unzufrieden am Hinterkopf. „Was muß man schon. Bei Regen einen Schirm nehmen, wenn man nicht naß werden will, pflegte meine Großmutter zu sagen. Aber setzen wir ruhig voraus, Sie seien bloß leicht begünstigt worden, wie Sie’s nennen, dann haben Sie uns immerhin wertvolle Zeit gestohlen.“ „Ich … verstehe nicht.“ Der Leutnant erhebt sich und geht ans Fenster. Wie soll er verstehen, ich spekuliere ja bloß, denkt er. Aber es hilft nichts, ich kann nicht auf halber Strecke haltmachen. Ohne sich dem Mann am Schreibtisch zuzuwenden, fragt er: „Waren Sie am Freitag, dem neunzehnten Oktober, nachmittags, auf Ihrem Grundstück im Fichtengrund, Herr Junghans?“ „Da wurde der Einbruch begangen, nicht wahr?“ „Ja, an diesem Tag.“ „Nein“, erwidert Junghans, ohne länger zu zögern, „da war ich im Betrieb und bin nach Feierabend in meine Wohnung gefahren.“ „Sie wissen das bestimmt? Sie hatten nicht zufällig ein verlängertes Wochenende?“ „Seit die Witha weg ist, mach’ ich Überstunden, aber kein verlängertes Wochenende … Ich hab’ alle Hände
voll zu tun, die Arbeit hier zu schaffen. Ich komm’ kaum sonnabends aufs Grundstück, geschweige denn an anderen Tagen … Leider …“ Kielstein, den Blick durchs Fenster nach draußen gerichtet, sieht, wie zwei Männer über den Lagerhof kommen. Der eine, in blauem Kittel und mit Brille, ist Grollmann. Er wirkt einsilbig, während sein Kollege heftig auf ihn einredet. Kielstein beobachtet es mechanisch, dann dreht er sich endlich wieder zu Junghans um, der unverändert auf seinem Platz sitzen geblieben ist. „Könnte sich an dem Tag denn sonst jemand in Ihrem Bungalow aufgehalten haben? Von Ihrer Familie vielleicht?“ „Niemand, jedenfalls nicht mit meinem Wissen. Meine Söhne sind längst aus dem Haus … wohnen nicht mehr in der Stadt … meine Frau arbeitet bis siebzehn Uhr. Im Dienstleistungszentrum … Sie fährt selten ohne mich ‘raus.“ „Gut“, sagt der Leutnant, „dann interessieren mich im Augenblick nur noch zwei Dinge. Erstens: Wer von Ihren Bekannten und Arbeitskollegen weiß von diesem Bungalow in Daggendorf, war vielleicht schon mal dort? Und zweitens: Wie heißt der frühere Pächter Ihres Grundstücks?“
34. Die Liste, die Junghans nach langem Überlegen von seinen Bekannten und Arbeitskollegen zusammengestellt hat, ist umfangreich, doch übersichtlich. Zuerst sind alle aufgeführt, die schon mal auf dem Grundstück waren, danach alle, die seiner Meinung
nach von der Sache wissen. Obwohl sich so etwas, wie er betont, natürlich ohnehin rumspricht und man folglich gar nicht jeden anführen kann. Aber das hat Kielstein einkalkuliert. Er wird sich zunächst an diejenigen Bekannten des Abteilungsleiters halten, die auch mit der Henneberg zu tun haben. Freilich, die Zahl bleibt groß genug, und es läuft nicht alles nach seiner Vorstellung. Grollmann zum Beispiel hat Junghans noch nicht in Daggendorf besucht, interessiert sich anscheinend in keiner Weise für den Datschentrend. Er ist wohl durch sein Verhältnis zur Grenz ausgelastet. Dagegen waren Braun, Anna Polly, Wassermann vom Werk II, Petra Ruß und vor allem Margit Rösler im Fichtengrund. Ihr Name taucht auch in Verbindung mit dem früheren Pächter nochmals auf, der ein guter Bekannter von ihr ist. Das Grundstück gelangte quasi durch ihre Vermittlung an Junghans. Kielstein pfeift überrascht durch die Zähne, als er von diesem Zusammenhang erfährt. „Wie gut kennen Sie Margit Rösler eigentlich?“ „Ziemlich gut, sie arbeitet ja schon sehr lange im Betrieb. Meine Frau ist mit ihr befreundet, sie liest gern, da hat sich das so ergeben.“ Die Liste in der Tasche, allerlei Gedanken ungeordnet im Kopf, verläßt Kielstein das Großlager. Grollmann und die Grenz sind in seinen Überlegungen erst mal nach hinten gerückt. Nicht außer Sichtweite, aber doch nach hinten. Wenn die Rösler tatsächlich drinhängt, wird mir Bothe ganz schön den Kopf waschen, denkt er. Aber ein Racheakt nach so vielen Jahren, das gibt keinen Sinn. Außerdem ist die Frau überall gut angesehen.
Trotzdem, jetzt kann ich’s nicht länger hinausschieben, jetzt muß ich mich mit ihr befassen. I Er fährt zur Dienststelle, darauf bedacht, nicht mit seinem Vorgesetzten zusammenzutreffen. Deshalb kommt es ihm ganz gelegen, daß ihn im Flur Felsch wegfängt: „Gut, daß du da bist, wir haben Besuch, und er hat uns etwas Interessantes mitgebracht.“ „Tu nicht so geheimnisvoll“, sagt Kielstein, „wir sind hier in keinem Edgar-Wallace-Film. Also wer ist es, und worum geht’s?“ Doch statt zu antworten, reißt Felsch seine Tür auf. Im Zimmer sitzen auf Stühlen mit Stahlrohrbeinen Holger Franke und seine Freundin Mona. Vor allem das Mädchen wirkt selbstsicher. Während der Junge zur Begrüßung schlaksig aufsteht, nimmt sie nur betont gemessen das linke Bein vom rechten. „Schön, euch zu sehen“, sagt der Leutnant, „und dazu noch gemeinsam. Na mal los, was gibt’s?“ „Wir haben das da mitgebracht.“ Der Kopf des Mädchens deutet lässig auf den Schreibtisch, wo auf einem Tuch ein Stück von einem Knüppel liegt. „Ihr Kollege weiß schon Bescheid.“ Kielstein, mit seinen Gedanken noch bei Margit Rösler, fragt begriffsstutzig: „Was soll das sein?“ „Aber sehn Sie das denn nicht?“ „Unsere beiden Freunde hier behaupten, es sei das Kopfstück des Wanderstocks, der bei Frau Henneberg gestohlen wurde“, schaltet sich Felsch ein, „sie sagen, sie hätten es gefunden.“ Das Apfelgesicht nimmt einen verstimmten Ausdruck an. „Es ist der obere Teil des
verschwundenen Stocks, das wird Ihnen die Alte … äh… Frau Henneberg bestätigen.“ „Und wo habt ihr das … gefunden?“ „Im Fichtenbach. Am kleinen Wehr.“ „Ausgezeichnet“, sagt Kielstein, „da kann ich euch und uns nur beglückwünschen. Wo ist denn dieses kleine Wehr?“ „Dort, wo der Bach aus dem Wald kommt. Früher wurden da die Rinder getränkt.“ „Wenn Sie vielleicht glauben, das war’ einfach gewesen“, sagt Mona, „irren Sie sich. Tagelang haben wir die Gegend abgesucht. Vor allem den Bach.“ „Mona hatte die Idee“, ergänzt Holger Franke, „sie meinte gleich, der Dieb hätte das Ding in den Bach geschmissen.“ „Die Blechbeschläge sind schon ganz verrostet“, fügt Mona noch hinzu. „Wenn ihr den Stock irgendwo vergraben hättet“, sagt Felsch betont gleichmütig, „wäre auch Rost dran.“ Holger Franke wendet sich seiner Freundin zu: „Du mit deiner Polente. Ich wußte, daß sie uns damit kommen.“ „Weshalb sollten wir ihn herbringen, wenn wir ihn geklaut hätten“, sagt das Mädchen. „Wir würden uns ja bloß selber reinlegen.“ Kielstein geht zum Schreibtisch und nimmt den Knauf mitsamt dem Tuch auf. Es handelt sich ohne Zweifel um das Ende eines Wanderstocks, oben verdickt und unten abgebrochen. Knapp über der Bruchstelle sind zwei ovale Beschläge angebracht: Auf dem einen ist ein Waldhaus zu erkennen, umgeben von Bäumen, auf dem andern die Beschriftung: „Gruß dem Wandersmann,
März 1921“. Wirklich, bei einem solchen Stück kann es keine Verwechslung geben. „Ihr habt nur das da gefunden?“ fragt der Leutnant. Die beiden nicken. „Wer weiß, wo er das andre Stück hingeschmissen hat“, sagt Mona. „Würd’s euch was ausmachen, Genossen Felsch die Stelle zu zeigen?“ „Jetzt gleich?“ „Ja. Er kann euch danach zu Hause absetzen.“ „Ich muß noch zur Arbeit“, sagt Mona. „Na, dann an der Kaufhalle.“ „Einverstanden.“ Die beiden ziehn mit Felsch ab, und Kielstein trägt das Fundstück gleich selbst zu den Technikern. Der Knauf hat Tage im Wasser gelegen, aber man soll die Hoffnung nie aufgeben. Vielleicht findet sich doch noch eine Spur, die auf den Täter hindeutet, bestünde sie auch nur aus einigen besonderen Schmutzpartikeln.
35. Nun ist schon fast ein Tag vergangen, seit sie weg sind, ich wollte Kielstein anrufen, gleich als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wollte es auch später noch tun, am Abend, ich habe seine Dienstnummer, und auch die Privatnummer hat er mir gegeben, ich konnte mich nicht dazu entschließen. Ich weiß nicht, warum, der Schock war wohl zu stark. Denn es war ungeheuerlich – Jutta kann ja nichts dafür, aber es war ungeheuerlich, wie sie gemeinsam aus dem Zimmer gingen. Einträchtig wie alte Bekannte, gute Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten; sie haben miteinander
gesprochen, Erinnerungen ausgetauscht, das heißt, in der Hauptsache hat meine Tochter gesprochen, sie war offensichtlich angetan von dieser Begegnung, und wie sollte sie auch nicht, sie ist doch völlig ahnungslos, weiß noch nicht mal, was meinem Sturz voranging, was es mit diesem angeblichen Unfall wirklich auf sich hat. Ahnungslos … bin ich es nicht selber die ganze Zeit gewesen, hab’ ich nicht selber im dunkeln getappt und niemals, nie an so etwas gedacht? Die Schwester kam irgendwann mit dem Abendbrot, es war appetitlich zurechtgemacht auf dem Teller: eine Stulle mit Kräuterquark, eine mit Leberwurst, dazu Radieschen, etwas rote Rübe, ein Apfel – ich hab’s im Unterbewußtsein registriert, aber nichts angerührt, ich konnte nicht, mir war der Hals wie zugeschnürt. „Was ist los, Frau Henneberg?“ fragte die Rotblonde. „In der letzten Zeit haben Sie immer schlechter gegessen, heute nun gar nicht mehr. Hat Sie das Heimweh gepackt? Wenn das mit Ihnen so weitergeht, muß ich’s dem Arzt melden.“ „Nehmen Sie mir’s nicht übel, Schwester. Mein Besuch hat herrlichen Obstkuchen mitgebracht, ich bin noch satt vom Nachmittag. Hab’ mich einfach zu vollgestopft. Sie wissen doch, alte Leute sind naschhaft.“ Sie zog unzufrieden mit dem Teller wieder ab, nicht ohne mir versichert zu haben, daß ich alles andere als alt sei und das auch ganz genau wisse. Ich wolle mit meinen Jahren bloß kokettieren. Wenn ich die Nacht über Hunger kriegen würde, wäre das jetzt meine Schuld. Den Tee ließ sie stehn. „Wenigstens trinken werden Sie doch was.“
Ich brauchte nichts zu essen, ich brauchte nichts ia trinken, ich lag im Dunkeln in meinem Bett und überlegte. Ich starrte zur Decke, die ich in der Finsternis mehr vermuten als sehen konnte, ich starrte in ein Gesicht. In dieses mir so bekannte, mir so fremde Gesicht. Ja, da war jener Funke aufgeglommen, der vorher nie hatte überspringen wollen, da hatte ich förmlich die innere Stimme gehört, die mir sagte: „Das ist’s.“ Schon als mein Besuch eingetreten war, mich zum ersten Mal angeschaut hatte, war ich von einem sonderbaren Gefühl erfaßt worden. Als hätte mich ein Schatten körperlich gestreift. Dann war der Schatten weggeglitten, alles normal, wie bei den Besuchern sonst, ich dachte, es war nichts gewesen, es hätte an mir gelegen. Aber das stimmte nicht, denn da war die Unsicherheit mit den Blumen, dieses grundlose, scheinbar grundlose Erschrecken, die Frage nach meinem Sturz, die nicht echt klang, hinter der eine Absicht steckte, und dann, als ich erneut aufmerksam wurde, passierte die Sache mit dem Licht. „Nein … kein Licht … wir sollten lieber im Dunkeln … es ist gemütlicher.“ Gemütlich … dieses Wort und dazu der kalte, haßvolle Blick – da war die Erinnerung wieder dagewesen, wurde die Ahnung Gewißheit. Wie der Kopf nach vorn auf mich zugekommen war, wie sich der gesamte Oberkörper verkrampft, das Gesicht verzerrt, die Augenpartie verschoben hatte – nur die Brille mußte ich mir hinzudenken. Das Kinn ist rund und weich, ich hatte es richtig im Gedächtnis, die Nase ganz normal, ich habe mich nicht geirrt, kein Bart, nein, nein, höchstens so ein unschöner Flaum auf der Oberlippe, die Augen … da könnte ich
nichts beschwören. Aber weshalb gerade diese Augen, dieses Kinn, diese Nase, weshalb dieses Gesicht … weshalb … überhaupt diese … Person? Ich lag in meinem Bett, und mir kamen Begebenheiten in den Sinn, die ich schon lange vergessen hatte. Gespräche, wie sie sich ergeben, wenn man miteinander zu tun hat, über private Dinge, die Arbeit, die Politik. Ja, damals am Anfang spielte die Politik eine große Rolle, man stritt viel mehr als heute über alles, was nicht in Ordnung war, was störte. Wir waren nie ein Herz und eine Seele, weshalb denn auch, da gab’s zu große Unterschiede zwischen uns, im wesentlichen aber stimmten wir überein. Es hatte eine Zeit gegeben, da tauschten wir sogar recht persönliche Dinge aus, redeten über die Familie, die Liebe zwischen Mann und Frau, über unsere Hobbys. Manchmal, das ist richtig, kam Mißstimmung zwischen uns auf, wenn’s um Konkretes ging, zum Beispiel um den Vater mit seiner Schlosserwerkstatt, einen Einzelgänger, der sich dem Fortschritt verschloß. Ich mußte als Schöffin sogar an einem Prozeß gegen ihn teilnehmen. Und dann waren da – auch so ein Erbe vom Vater – diese Metallengel, dieser Kitsch aus Blech und Farbe, ein Hobby, dem ich vielleicht hätte was abgewinnen können, wäre es mehr auf die Realität gerichtet gewesen, auf unsere Probleme. Ich verstand nicht viel von Kunst, hatte mich nie besonders dafür interessiert, aber daß solches Zeug den Geschmack nur verbildete und die Menschen überhaupt falsch orientierte, wußte ich doch. Ich habe meine Meinung damals wohl auch gesagt, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Doch das waren
längst beiseite gelegte Dinge, in den letzten Jahren hatte es solche Gespräche zwischen uns kaum noch gegeben. Wir waren weiter auseinandergerückt, hatten jeder die eigne Arbeit getan, das eigne Leben gelebt. Ich hatte weiß Gott mit mir zu schaffen, mit Jutta, ihrem Mann und den Problemen im Betrieb. Bei meiner Leitungstätigkeit den Kopf oben zu halten, das war wirklich nicht einfach. Objektiv gesehen waren all die Jahre ohne Zwischenfälle verlaufen. Wir kamen uns nicht in die Quere, es gab genug andere, mit denen ich mich herumstreiten mußte. Und gerade deshalb frage ich mich: Warum diese Hinterhältigkeit? Oder hat mich mein Gefühl trotz allem getäuscht? Es gehört schon Kaltschnäuzigkeit dazu, ausgemachte Unverfrorenheit, jemanden im Krankenhaus zu besuchen, ihn freundlich zu begrüßen und mit Blumen zu beschenken, den man selbst auf brutale, heimtückische Weise dorthin gebracht hat. Es war Nacht, Dunkelheit um mich her, durch die nur ab und zu abgeschwächt Lichter von jenseits des Parks geisterten, ich lag mit offenen Augen da, und meine Gedanken gingen im Kreis. Mein Verstand lehnte ab, was mir mein Gefühl sagte, aber offenbar hatte mein Verstand diesmal nicht recht. Da gab es Dinge links und rechts der eingefahrenen Bahnen, die ich bisher nicht gesehen hatte, nicht hatte wahrhaben wollen, Vorgänge, denen ich unbedingt auf die Spur kommen mußte. Weshalb dieser Hai?, weshalb gerade von diesem … Menschen? Ich starrte in die Finsternis, ich verbohrte mich mit fast unbegreiflicher Lust in diese Frage, und eigentlich hätte ich Kielstein meinen Verdacht mitteilen müssen.
Aber ich konnte mich nicht dazu aufraffen, die Nachtschwester herauszuklingeln, ihr zu erklären, daß ich unbedingt jetzt, zu dieser Zeit, die Kriminalpolizei sprechen müßte, ich konnte mich nicht entschließen. Ich konnte auch nicht schlafen, die Ereignisse des Tages und der letzten Wochen bildeten ein Knäuel in meinem Kopf; erst gegen Morgen dämmerte ich ein, schreckte wieder hoch, hatte Alpträume, schwitzte und wälzte mich im Bett. Ich hab’ das Frühstück verschlafen, die Rotblonde hatte wohl Mitleid mit mir, denn sie weckte mich nicht; ich wachte schließlich gegen Mittag auf, mir war schlecht, hundsmiserabel, ich hätte einen Mordshunger haben müssen, würgte aber mit Mühe einen Teller Eintopf ‘runter, und jetzt zermartre ich mir schon wieder das Hirn. Das Verbrechen muß bestraft werden, ich werde Kielstein meinen Verdacht mitteilen, nur ein paar Stunden zum Nachdenken brauch’ ich noch, aufgeschoben ist nicht aufgehoben, auf gar keinen Fall.
36. Gegen Mittag ruft Cordula in der Dienststelle an und tut etwas völlig Überraschendes: Sie tadelt Kielstein. Jawohl, sie beschwert sich, sie hält ihm vor, daß er sie am Sonntag wieder mal habe sitzenlassen, vor ihren Eltern sei ihr das besonders peinlich gewesen, sie ließe sich viel gefallen, aber das nicht, er könne nicht immer die Arbeit vorschützen, sie habe Verständnis für seine Tätigkeit, doch es tue ihr weh, daß er sie nicht als gleichwertigen Menschen behandle. Tatsächlich, sie gibt’s ihm, Kielstein ist so verblüfft, daß er keine über-
zeugende Entgegnung findet. Er stammelt etwas von Zusammenhängen, die sich plötzlich ergeben hätten und denen er unbedingt sofort nachgehen mußte, er entschuldigt sich, verspricht Buße zu tun und am Abend alles wiedergutzumachen, aber was er sagt, klingt ihm selber fade. Er weiß, sie hat recht, er hat sich vor dem Besuch bei ihren Eltern gedrückt und sich wie ein Stiesel benommen. Er weiß auch, daß sie’s weiß. Es imponiert ihm, daß sie mal nicht freundlich zu ihm ist, sondern ihm die Meinung sagt. Sie hat am Abend keine Zeit für ihn, auch morgen nicht, vielleicht am Donnerstag oder Freitag. Sie legt auch als erste auf – Kielstein sitzt eine Weile da und hält nachdenklich den Hörer in der Hand. Wirklich, Cordula hat es geschafft, daß er mal über was anderes nachsinnt als über den Fall Roswitha Henneberg. Am meisten trifft ihn der Vorwurf, sie werde von ihm nicht als gleichwertig behandelt. Er hat sich eigentlich immer was darauf eingebildet, den anderen gelten zu lassen, auf keinen mit Vorurteilen herabzublicken. Er beschließt, in sich zu gehen, gelobt noch während des Mittagessens Wiedergutmachung, dann jedoch holt ihn die Arbeit zurück. Felsch, der mit ein paar Leuten die Umgebung des kleinen Wehrs am Fichtenbach abgesucht hat, ist zwar nicht auf den Rest des Wanderstocks gestoßen, wohl aber auf ein Paar zerrissener schwarzer Handschuhe. Die im Gebüsch liegen, halb von Laub verdeckt. Und noch bevor Kielstein den Beweis hat, daß der Wollfaden vom Ort des ersten Verbrechens dazu paßt, festigt sich in seinem Kopf das Bild vom Ablauf der entscheidenden Ereignisse. Er sieht den Täter, der
die Henneberg – aus welchen Gründen auch immer – stark hassen muß, an jenem Regentag am Straßenrand hinter einem Baum hocken. Die Schnur ist gespannt, der Scheinwerferkegel des Motorrollers tanzt über den nassen Asphalt. Die Fahrerin wird von Schrecken erfaßt, als sie die Falle bemerkt, sie stürzt. Als es still geworden ist, nähert sich der Täter, beugt sich über die nahezu Leblose, die Motorradbrille, die er zur Tarnung aufgesetzt hat, funkelt im dünnen Lampenlicht des „Trolls“. Ein Motorengeräusch aus der Ferne, ein Fahrzeug nähert sich, der Täter handelt mit Überlegung und zugleich in Hast. Er schneidet die Schnur von den Bäumen, bemerkt aber nicht, daß er mit dem Handschuh an der Rinde hängenbleibt. Ein Ende der Schnur hat sich im Schutzblech des Rollers verfangen, er reißt es los. Im Augenblick, da der fremde Wagen in der Kurve auftaucht, springt er in den Schutz des Waldes zurück. Dann, eine Woche danach – die Ermittlungen sind unter größter Verschwiegenheit gelaufen, denn man will den Täter nicht vorzeitig warnen –, unternimmt er einen Einbruch. Er hat doch mitgekriegt, daß die Kripo eingeschaltet ist, will sie ablenken. Er beobachtet vom Grundstück der Familie Junghans, zu dem er sich Zugang verschafft hat, das Haus der Henneberg. Bei Einbruch der Dunkelheit dringt er mit einem Nachschlüssel dort ein. Er stiehlt etwas Geld und Gegenstände, wie sie nach seiner Meinung ein Jugendlicher, Holger Franke, mitgehen lassen würde. Er nimmt, wie schon bei seiner ersten Tat, den Weg durch den Wald, um in die Stadt zurückzukehren. Unterwegs entledigt er sich des Stocks, vielleicht ist der ihm zu auffällig und der Handschuhe,
die beim Überklettern des Zauns zerrissen sind. Nun, glaubt er, wird ihm keiner mehr auf die Schliche kommen … Doch das, Freundchen, ist ein Irrtum, sagt sich Kielstein. Gerade jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, wo es dir an den Pelz geht. Über die Handschuhe kann der Leutnant noch nicht verfügen, doch er hält nun ein offeneres Vorgehen und seinen Besuch bei Margit Rösler für angezeigt. Also macht er sich wieder einmal ins Großlager auf, in jenen mittleren Teil des Gebäudes, wo die Verwaltungsräume untergebracht sind. Im zweiten Stock links, in einem wenn auch ziemlich einfallslos mit hellgrüner Ölfarbe frischgestrichenen Flur, tauchen die ersten Plakate auf, die fürs Lesen und Lernen werben. Am Ende des Korridors, neben dem Kulturraum, befindet sich die Bibliothek. Kielstein öffnet die Tür und betritt einen Raum, der von langen Leuchtstoffröhren an der Decke erhellt wird. Bücherregale an den Wänden, Tische und Stühle, einige hohe Zeitungsständer. Ein einzelner Leser, ein Mann im Arbeitskittel, sitzt an einem der Tische und studiert Kataloge. An einem Pult rechts macht sich ein junges Mädchen zu schaffen. Kielstein geht auf sie zu, bringt artig ein „Guten Morgen“ an und trägt seinen Wunsch vor, die Leiterin, Frau Rösler, zu sprechen. „Sind Sie angemeldet?“ „Nicht direkt.“ „Ich werd’ mal fragen.“ Sie verschwindet in einem Nebenraum, und kurz darauf taucht ihre Chefin auf, eine mittelgroße, etwa fünfzigjährige Frau. „Sie wollten zu mir? In welcher Ange-
legenheit?“ „Ich komme wegen Frau Henneberg. Leutnant Kielstein von der Kriminalpolizei.“ „Ach so“, sagt sie, „Sie sind das. Na, dann gehn wir besser in mein Zimmer.“ Kielstein folgt ihr, und sie betreten einen Raum, der bis zu einem gewissen Grad eine persönliche Note trägt. Durch Bilder, Vasen und Bildbände auf dem Schreibtisch. Durch eine besonders gestaltete Ecke: eine Figur auf einer kleinen Wandkonsole, ein Spiegel mit Zackenrand, ovalgerahmte Bilder. Auf dem Fußboden neben dem Schreibtisch sind irgendwelche Drucke ausgebreitet. „Sie müssen entschuldigen, Herr Leutnant“, sagt Margit Rösler, „aber ich hab’ hier einige Unordnung, bin auch in Zeitnot. Ich muß eine Ausstellung vorbereiten. Wenn wir gleich zur Sache kommen könnten.“ Sie zieht sich einen alten, gewiß schrecklich unbequemen Stuhl heran und bietet auch dem Kriminalisten Platz an. Sie ist ziemlich stämmig, wirkt im Sitzen gedrungen. Sie scheint energisch zu sein; mit ihrem kurzgeschnittenen Haar, den knapp sitzenden Hosen hat sie etwas Männliches an sich. Kielstein denkt, daß durchaus die Funken sprühen könnten, wenn diese Frau und die Henneberg aneinandergeraten. „Sie sind offenbar informiert“, beginnt er. „Ja. Frau Junghans hat mich angerufen. Sie kommen wegen des Grundstücks in Daggendorf und wegen des Einbruchs.“ Sie weiß bestens Bescheid, wahrhaftig eine „schnelle Post“. Kielstein ist von der Mitteilungsfreudigkeit der Familie Junghans nicht gerade begeistert,
doch was bleibt ihm übrig, er schickt sich in die Lage. „Gut, dann brauche ich mich wirklich nicht mit Vorreden aufzuhalten. Sie kennen Frau Henneberg von früher, waren, soviel ich weiß, mit ihr befreundet. Sind die Beziehungen zu ihr jetzt… ganz abgerissen?“ „Ja, das kann man so sagen. Wir sehen uns bisweilen im Betrieb oder auf der Straße, grüßen uns. Das ist alles.“ „Seit wann etwa ist das so?“ „Seit vielen Jahren. In unser beider Leben hatte sich etwas verändert. Durch einen Mann, aber das ist lange vorbei. Ich brauch’ das wohl nicht genauer auszuführen.“ „Nein“, sagt Kielstein. „Obwohl ich, offen gestanden, etwas verwundert bin, daß es zwischen Ihnen nie mehr zu Kontakten kam. Ich meine, auch später nicht.“ „Das können Sie mir nicht anlasten. Ich hab’ es versucht, ihrer Tochter zuliebe, an der ich hing. Ich hab’ selbst keine Kinder. Es war vergebens. Wir hatten uns wohl zu große Wunden zugefügt.“ „Das ist schade“, sagt Kielstein. „Ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas über gemeinsame Bekannte erzählen. Über Leute, die sich mit Frau Henneberg nicht allzu gut stehn.“ Sie horcht auf. „Weshalb das? Wegen des Diebstahls? Das war bestimmt ein ganz gewöhnlicher Spitzbube!“ „Das glaube ich eben nicht“, erwidert Kielstein und beobachtet genau ihre Reaktion. „Übrigens ist der Einbruch nur die eine Sache. Auf Frau Henneberg ist ein Anschlag verübt worden.“ Nun flackern ihre Augen doch. Ist die Verblüffung echt, die sie zeigt? Sie rückt
mit ihrem Stuhl, beugt sich nach vorn: „Ein Anschlag? Wieso?“ „Der Unfall, den sie hatte, war kein Unfall, sondern ein Verbrechen. Gewiß verstehen Sie jetzt meine Frage nach den Bekannten von Frau Henneberg.“ „Also das ist …“, sagt Margit Rösler, „das find’ ich…“ Sie krampft die Hände ineinander. Doch sie hat sich gleich wieder gefaßt. „Sie meinen, daß es zwischen dem Einbruch und dieser … Tat … einen Zusammenhang gibt?“ „Es wäre schon möglich. Wüßten Sie jemanden, der für einen Racheakt an Ihrer früheren Freundin in Frage käme?“ Sie weicht seinem Blick aus. „Nein … weshalb sollte ich“, sagt sie zögernd. „Überlegen Sie in Ruhe. Es ist wichtig.“ „Ich könnte wirklich niemanden nennen.“ „Dann möchte ich noch wissen, ob Sie sich am neunzehnten Oktober in Daggendorf aufgehalten haben. Auf dem Grundstück von Herrn Junghans. Es war ein Freitag.“ Auf diese Frage war Margit Rösler durch ihr Telefongespräch mit der Frau von Junghans offenbar auch vorbereitet. Sie schaut Kielstein leicht ironisch an, als sie entgegnet: „Bin ich etwa verdächtig?“ „Ein bißchen schon.“ Der Kriminalist lächelt. „Am Neunzehnten hab’ ich lange hier in der Bibliothek gearbeitet und war dann mit Herrn Kraushaar, einem Bekannten, in der Oper. Er wird es Ihnen bestätigen. In Daggendorf hab’ ich mich nicht aufgehalten.“ Kielstein nickt. „Da kann ich diesen Punkt wohl abhaken“, sagt er und erhebt sich. „Ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“
Doch die Frau bleibt noch sitzen. „Wenn der Sturz von Witha kein Unfall war … ich meine, Sie fragen mich ja gar nicht, was ich am elften Oktober getan habe.“ „Wie kommt es, daß Sie sich so genau an dieses Datum erinnern, obwohl Sie nichts mehr mit Roswitha Henneberg verbindet?“ Sie ist keineswegs aus der Fassung gebracht. „Das schlug doch damals im Betrieb ein wie eine Bombe. Ich hab’ es mir gemerkt, ich besitze ein gutes Zahlengedächtnis.“ „Und was haben Sie nun an diesem Tag getan, Frau Rösler?“ „Ja, wenn ich das noch wüßte“, antwortete sie und steht jetzt gleichfalls auf. „Ich war wahrscheinlich bis zum Feierabend hier, wie immer, doch danach, das kann ich wirklich nicht mehr sagen. Beim besten Willen könnt ich Ihnen kein Alibi bringen. Und wenn ich noch so in Verdacht gerate.“
37. Sie ahnt es oder hat es begriffen, denkt die Gestalt zum vielleicht hundertsten Mal, sie hatte sich zwar wieder gefangen, als ich mit Jutta das Krankenzimmer verließ, sie tat, als sei alles in bester Ordnung mit uns, aber vorher … vorher – ich werde nie vergessen, wie angstvoll sie vor mir zurückwich. Als sei ich ein Tier, das man fürchten müsse, ein Ungeheuer. Sie hat Angst vor mir gehabt, einen Augenblick lang, ich hab’ es gesehn. Licht wollte sie machen, um mich besser beobachten zu können, und dann, als die Wut in mir hochstieg, begann sie zu zittern; eine
Roswitha Henneberg, die vor Furcht zittert, ein einmaliges Erlebnis. Ich hab’ sie in ihrer Schwäche gesehn, das allein war den Besuch bei ihr wert, freilich ist die Gefahr dadurch nicht geringer geworden, sondern größer, ich hätt’ fast die Beherrschung verloren, und genau das durfte mir nicht passieren. Statt ihr höflich und kalt in die Augen zu sehn, hab’ ich mich hinreißen lassen, zum Glück konnte ich mich wenigstens am Ende wieder fangen. Vielleicht hat sie die Wahrheit trotz allem nicht erkannt, wagt es nicht, einen Verdacht, der ihr ganz unsinnig erscheinen muß, vor sich selbst zuzugeben und vor andern auszusprechen. Sie hat keinen Versuch gemacht, ihre Tochter zurückzuhalten, als ich zum Aufbruch drängte, hat nichts unternommen, sie einzuweihen. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen. Doch selbst wenn es anders wäre – sie haben nicht den Schatten eines Beweises. Niemand außer mir weiß etwas, nicht einmal Ilona. Ich hab’ ihr nichts erzählt, nichts, nichts, obwohl ich es seit zwei Wochen mit mir herumschleppe, obwohl es mir fast das Herz zerreißt. Ich war eisern gegen mich selber, und jetzt muß ich doppelt so eisern sein und stark, nervenstark. Die Gestalt, das Glas Doppelkorn vor sich auf dem Tisch, starrt ins Leere, zum Fenster mit der schon angeschmutzten Gardine. Ich darf nicht soviel trinken, sagt sie sich, auch wenn mich die Anspannung fast umbringt. Seit gestern bin ich kein Mensch mehr, ich bin durch die Straßen gelaufen, als ich mich von Jutta verabschiedet hatte, ich wollte ins Kino gehn und hab’ es nicht fertiggebracht, saß dann noch Stunden in der Mitropa, bevor ich nach Hause
schlich, ich versuchte sogar Ilona anzurufen, doch sie war nicht da. Ilona, ich brauch’ sie doch, ich hab’ es doch ihretwegen getan! Ich könnt es nicht mit anschaun, wie sie schikaniert wurde, im Namen irgendwelcher dummer Phrasen; die Menschen sind nicht alle Hennebergs, und Ilona ist besonders schutzlos, so allein mit ihrem Kind. Die Sache mit Siegfried Holz hat mich seinerzeit hellhörig gemacht, die Attacken auf meinen Vater haben mir die Augen über die Henneberg geöffnet – durch ihr Verhalten gegenüber Ilona hat sie sich endgültig entlarvt. Ich bin ein Mensch, der vieles in sich hineinfressen kann, der schweigt, schweigt und sich nichts anmerken läßt … Bis es ihm dann eines Tages nicht mehr gelingt, den Haß, der sich angestaut hat, zurückzuhalten. Aber den Ausschlag gaben die letzten Wochen, vielleicht sogar die letzten Tage. Solange sie Ilona quälte, anschwärzte, ihr den Weg verbaute, waren wenigstens die Fronten klar. Ilona wehrte sich, schimpfte auf sie, kam zu mir, um ihren Zorn und ihre Bitterkeit loszuwerden. Doch mit einemmal eine Kehrtwendung, man schließt einen Kompromiß, macht einander schöne Augen, und alles ist in Butter. Eine DSF-Feier, ein kleiner Gewerkschaftsauftrag: Komm doch, mein Mädchen, weshalb zanken wir uns, sei brav, dann kann ich dich auch streicheln. Sie wollte, daß die verhaßte Grenz, die sie all die Zeit so runtergemacht hatte, zu Kreuze kroch, das war’s und weil sie’s mit Strenge nicht erreicht hatte, weil sie mit ihrer Art im Lager allmählich immer mehr
Schwierigkeiten bekommt, versuchte sie’s mal auf andre Weise. Und Ilona ließ sich beschwatzen, fiel drauf ‘rein, sie ist ja so naiv. Als hätte sie völlig vergessen, daß sie bis dahin wie eine Aussätzige behandelt wurde. Ich hab’s doch gemerkt, wie sie sich in der letzten Zeit wandelte, wie sie umschwenkte. An ihren Augen hab’ ich’s gesehn, als sie an jenem Tag aus dem Büro der Henneberg zurückkam, sie brauchte gar nicht erst zu sprechen. „Na, hat sie dich belobigt, die nette Chefin“, sagte ich sarkastisch, „hat sie dir Honig ums Maul geschmiert.“ „Honig ums Maul, wie spöttisch du bist … Sei doch froh, daß sie jetzt umgänglicher wird.“ „Sie wird nicht umgänglicher“, erwiderte ich heftig, „sie wird raffinierter, wenn du das nur begreifen wolltest.“ Doch sie begriff es nicht, ich merkte es, ich sah’s ihr an, und ich kriegte es zu hören. „Ach, Unsinn“, schrie sie, „du malst absichtlich alles so schwarz, du willst mich nur aufhetzen. Aber ich hab’ die Bevormundung satt, ich bin erwachsen, verstehst du, und ich will endlich mal weiter im Leben. Die Henneberg gibt mir die Hand – ich nehm sie, und wenn du dich auf den Kopf stellst.“ Sie lief weg, Ilona, und was sie gesagt hatte, reichte auch, ich wußte nun Bescheid. Sie würde mir entgleiten, ich spürte es mit allen Fasern meines Körpers. Ich hatte mein Herz an sie gehängt, aber sie würde mich aufgeben, nicht für eine ihrer anderen Bekanntschaften, nein, die waren flüchtig, die störten mich nicht, für die Henneberg würde sie mich fallenlassen, ausgerechnet für sie.
Das gab den Ausschlag, in mir loderte die Wut hoch, ich rannte aus dem Betrieb, und mir wurde klar, was ich tun mußte. Es war eine Tat der Befreiung, für Ilona, für meinen Vater, für Siegfried Holz, für mich; es war der Ausweg, die einzige Lösung. Ja, ich mußte es tun, von da an ging alles wie von selbst. Es ist nicht weit bis zu mir, ich wußte, daß die Henneberg nach der Arbeit noch Besorgungen macht, ich nahm das Fahrrad, die Abkürzung durch den Wald, ich hatte Zeit, nicht viel, aber doch genug, alles zu … organisieren. So hab’ ich es getan, ich handelte wie im Rausch, aber ich konnte nicht anders. Es war die Liebe, die mich trieb, oder nein – ich möchte das, was ich für Ilona empfinde, nicht einfach Liebe nennen, es ist etwas Stärkeres, Reineres. Obwohl ich zugeben will, ihr schlanker, mädchenhafter Körper, der so ganz anders ist als meiner, gefällt mir auch. Als ich sie zum ersten Mal nackt sah, war das eine völlig überraschende und ungewohnt erregende Empfindung für mich. Es war eines Abends, als die meisten den Betrieb schon verlassen hatten; ich hatte mich dem Frauenduschraum unabsichtlich genähert und erblickte sie plötzlich unterm Wasserstrahl in all ihrer Jugendlichkeit. Sie war allein, sie bewegte sich völlig ungezwungen, hüpfte auf einem Bein, beugte sich nach vorn und nach hinten, um sich das Wasser voll über den Körper laufen zu lassen. Sie seifte sich ab, gewisse Partien, wie mir scheinen wollte, mit besonderer Lust. Man freute sich beim Zuschaun. Sie sah mich nicht, weil ich im Gang zur Toilette halb hinter der Tür stand, und als sie mich dann bemerkte, machte es ihr überhaupt nichts aus. Von diesem Tag an versuchte ich,
mich ihr zu nähern, und in mein eintöniges Leben drang ungewohnte Helligkeit. Ein Sonnenstrahl, mit dem ich nicht mehr gerechnet hatte. Sie reagierte ganz natürlich auf meine Bemühungen, zu ihr eine Verbindung herzustellen, sie war für Geschenke empfänglich, freute sich zum Beispiel echt über einen meiner Kerzenhalter, einen vergoldeten Weihnachtsengel. Und über andere Gefälligkeiten, so konnte ich ihr in der Wohnung helfen; sie staunte oft, wie geschickt ich handwerklich bin. Sie brauchte auch Geld, Ilona, ihr Verdienst ist nicht hoch, und sie liebt die schönen Dinge. Sie liebt es, ab und zu auszugehn, nun ja, wenngleich ich nicht reich bin, sie ein bißchen zu verwöhnen, dazu langt es. Als ich ihr neulich die Handtasche schenkte – ich hatte lange überlegt, ob ich sie in meiner Situation aufsuchen darf, es dann aber nicht mehr ausgehalten –, war das ein Fest. Sie kann sich unheimlich freun, mein kleines Mädchen, der Streit zwischen uns war vergessen, sie fiel mir um den Hals und küßte mich. „Du bist so lieb zu mir, so großzügig, wenn ich dich nicht hätte“, rief sie. Ich war ganz gerührt, ich hielt sie fest und streichelte ihr Haar, es ist ein eigenartig-beglückendes Gefühl, sie zu liebkosen: Wenn ich nur bei ihr sein und sie ab1 und zu streicheln kann, mehr brauche ich nicht. Ich weiß nicht, wie wir auf die Henneberg kamen, es lag wohl nahe, von ihr zu reden, denn sie hat uns allen ihren Stempel aufgedrückt, jedenfalls bedauerte Ilona sie, und das brachte mich gleich wieder auf. „Meinetwegen kann sie verrecken“, sagte ich wütend. „Sie hat dich schikaniert, sie schikaniert uns alle, du warst selbst immer der Meinung, mit ihr sei’s nicht auszuhalten, denk doch an dei-
ne Zeit im Gefängnis, an die Prämien, die sie dir vermasselt, an die Schwierigkeiten, die sie dir wegen deiner Kerstin gemacht hat. Ich erinnere mich, wie du hier auf dem Sofa gesessen und geheult hast, als sie dir die längst fällige Gehaltserhöhung verweigerte, wie du immer wieder geschrien hast: ,Ich bring sie um, dieses Biest, ich erwürg’ sie mit eignen Händen’ – hast du das alles schon vergessen?“ „Ich hab’s nicht vergessen, ich find’s nach wie vor gemein, aber das Leben geht weiter, man soll nicht so nachtragend sein.“ Ich war plötzlich ganz still, ich konnte nicht mehr weitersprechen, mir war der Hals zu, die Kehle wie ausgetrocknet. Wir tranken dann noch ein Glas Wein zusammen, sie bewunderte die Handtasche, begutachtete sie von außen und innen, überprüfte, welche von ihren Blusen und Röcken am besten dazu paßten, wir schwatzten allgemeines Zeug, während nebenan die Kleine von Zeit zu Zeit leise im Schlaf hustete. Spät in der Nacht kam ich nach Hause; niemand bemerkte, daß ich bei Ilona war, ich hab’ mich vorsichtig verhalten. Doch als ich im Bett lag, war mir sehr elend. Ich wußte, daß ich den Stein ganz allein schleppen mußte, ich wußte auch, daß ich auf niemanden rechnen konnte, wenn mich die Kripo tatsächlich in die Finger kriegte. Die Gestalt läßt den Kopf auf die Arme sinken, stumm sitzt sie am Tisch, von Selbstmitleid geschüttelt, doch zugleich grimmig entschlossen, sich ihrer Haut zu wehren. Wenn nur ‘meine Nerven durchhalten, denkt sie, manchmal bin ich am Zusammenbrechen, könnte den Erstbesten auf der Straße ansprechen und ihm alles erzählen.
Draußen kreischen Kinder, heult ein Motor auf – die Gestalt vernimmt von alldem nichts. Sie sitzt und brütet vor sich hin, zwischen Hoffnung und Verzweiflung, während die abendlichen Schatten vom Fenster her durchs Zimmer kriechen, um mit ihren dürren schwarzen Fingern nach ihr zu greifen.
38. Es geht mir schlecht … Ich mußte ganz plötzlich noch mal auf den Operationstisch … Das Bein… etwas war nicht in Ordnung … ich hatte es all die Wochen schon gemerkt … es tat weh, es war nicht so zusammengewachsen, wie sie dachten. Eine Entzündung, das ständige Brennen brachte mich zuletzt fast um… Deshalb mußten sie noch mal schneiden, und sie haben das schnell gemacht … ohne großes Hin und Her… Aber jetzt liege ich hier, und mir ist ganz miserabel. Dieser körperliche Schmerz und die innere Anspannung, es ist einfach zuviel … Die Rotblonde war eben bei mir, sie hat mir eine Tablette gebracht – wie konnte ich diese Schwester nur mit Anna Polly vergleichen, da gibt es keine Ähnlichkeit, sie ist ganz … anders –, aber ich brachte es wieder nicht fertig, den Verdacht, den ich habe, auszusprechen. Sie hat es wohl aufgegeben … die Rotblonde, jemals etwas Genaueres über das Verbrechen zu erfahren, das an mir begangen wurde. Ein Racheakt, aber wofür? Dieser Haß muß eine tiefe Wurzel haben, er muß lange, sehr lange genährt worden sein. Wenn ich zurückdenke … das Altgedächtnis funktioniert am besten … das mit dem Vater, mit seiner Klit-
sche, an der die ganze Familie hing … wir diskutierten mehrfach darüber, ich sagte wie immer un … mißverständlich meine Meinung … es hat wohl doch tiefere Wunden geschlagen, als ich dachte. Ich glaubte, es sei erledigt, aber mancher verzeiht nie. Ich hab’ das nicht so ernst genommen, nicht ernst genug, hab’ etwas falsch gemacht, und das richtet sich jetzt gegen mich. Ich hab’ mich zuwenig um das gekümmert, was andere … dachten. Vielleicht hat Junghans doch recht mit seinem Grundsatz, die Kollegen mehr mitreden zu lassen. Und ich hatte Hoffmann II in Verdacht, Hauke, den Säufer, Ilona Grenz. Wenngleich, die Grenz … ich hab’ nie drauf geachtet, aber man munkelte mal was, daß die zwei in einer Bar gesehen worden wären. Bei zärtlicher Musik, ziemlich intim. Ich hielt das für Spinnerei, für albernen Klatsch. Der Altersunterschied und dann, die Grenz hat doch andere … Liebschaften … ist darauf nicht angewiesen. Petra Ruß hat mir seinerzeit davon erzählt… oder war’s Braun, es wird ja so viel geredet, wer da überall hinhören, alles für bare Münze nehmen wollte. Die Grenz hätte sich einen Kordanzug schenken lassen, so ein todschickes teures Ding ich hab’ sie mal damit gesehn, na und … Freilich, wenn ich jetzt überlege, von ihrem Gehalt konnte sie den Anzug bestimmt nicht bezahlen. Es muß Verbindungslinien zwischen den beiden geben, die ich nicht beachtet habe. Dieser Haß in den Augen – zweimal hab’ ich ihn gespürt, nach dem Sturz, als ich, schon halb ohnmächtig, am Boden lag und sich diese Fratze über mich beugte,
und dann jetzt, am Sonntagnachmittag. Wie konnte es dieser … Mensch wagen hierherzukommen, mich zu besuchen, mit mir zu sprechen, als sei ich seinesgleichen? Die Augen … ich erinnere mich, mitunter gab es darin so etwas wie Gekränktheit, ein Beleidigtsein, wenn ich meine Meinung sagte … über den Vater zum Beispiel oder die goldenen Kitschengel … ein Beleidigtsein, mehr nicht, oder hatte ich nur nicht den Blick dafür. Die Motorradbrille … woher … War’s nicht gleichfalls der Vater, der immer mit dem Seitenwagengespann zum Angeln an den Schwarzen See fuhr, sogar dann noch, als er ziemlich krank war? Ich muß die Rotblonde rufen … mein Gott, ist mir miserabel … die blechernen Engel … der Vater Schlosser … der Einbruch in meinem Haus in Daggendorf mit einem Nachschlüssel … das war doch gar kein Problem für … Ich hab’ Holger Franke verdächtigt … seine Freundin … ich glaubte sonst – wer … aber das da… weshalb? Mein Kopf … wo kommt plötzlich dieser Nebel her … eben … war … noch alles … klar … „Schwester … gut, daß Sie … kommen … ich muss … Ihnen… der Kripo … der Po … Poli …“
39. „Goldbronze“, sagt Kielstein und kann die Erregung in seiner Stimme nicht ganz unterdrücken, „an dem Stockknauf nichts Besonderes, aber an den Handschuhen winzige Spuren von Goldbronze. Und das Schönste ist, ich hab’ kürzlich irgendwo so was Vergoldetes gesehn, etwas Kunstgewerbliches. Wenn ich nur
wüßte, bei welcher Gelegenheit.“ „Gewiß hinter einer. Schaufensterscheibe“, mutmaßt Bothe spöttisch, „die Kunstgewerbeläden schießen ja neuerdings wie Pilze aus dem Boden.“ „Nein, eben nicht. Hätt’ ich bloß besser drauf geachtet. Ich muß mich unbedingt erinnern. Ich muß in Ruhe drüber nachdenken.“ „Tu das.“ Bothe baut sich vor einer der Grünpflanzen auf, die sich aus einem großen Steingutkrug seitlich am Rollschrank seines Dienstzimmers herabringelt, und prüft einen neuen Trieb. „Aber vergiß nicht, der Henneberg diese Handschuhe zu zeigen. Und ihren Arbeitskollegen. Könnte immerhin sein, daß jemand was damit anzufangen weiß.“ „Steht schon auf dem Programm, ich warte nur noch auf Felsch.“ „Hör mal“, sagt Bothe, „der schwarze Faden vom Ort des Sturzes stammt aus diesem Handschuh – du bist dir doch darüber im klaren, daß wir damit endlich den Trumpf in der Hand halten, der uns direkt ans Ziel führen wird.“ „Eigentlich müßtest du mein Herz schlagen hören. Es dröhnt wie ein Schlegel in einem leeren Faß.“ „Wenn wir den Einbrecher von Daggendorf haben, bedeutet das, wir haben auch den Attentäter …“ „Ich wußte es schon lange“, sagt Kielstein, „ich war mir sicher, Daggendorf, der Fichtengrund, die Feinde, die sich die Henneberg mit ihrer rigorosen Art geschaffen hat, das alles hängt zusammen. Und die Spur führt in ihren Betrieb. Die Grenz, Grollmann, die Rösler, Junghans und noch ein paar andere kommen in Frage.“
„Aber wir haben die Alibis all dieser Personen überprüft, zum Donnerwetter.“ Kielstein schaut überrascht auf, die Heftigkeit seines Vorgesetzten ist ungewöhnlich und zeigt seine Engagiertheit. Er entgegnet: „Stichhaltig scheint das Alibi von Junghans zu sein. Er ist zum entsprechenden Zeitpunkt in der Sauna gewesen, er hat Zeugen. Ähnliches gilt für einen gewissen Hoffmann, der mit der Henneberg Krach hatte. Bei den anderen wird’s schwieriger. Sie haben bis siebzehn Uhr gearbeitet, waren dann auf dem Nachhauseweg, allein in ihrer Wohnung, beim Einkaufen usw. Angeblich hat keiner etwas gesehen oder gehört. Mehrere verdächtigen die Grenz – in Schutz genommen wurde sie nur von … Anna Polly, einer Packerin. Und natürlich von Grollmann. Aber die Grenz hat am entscheidenden Tag gegen fünf Uhr abends ihre Tochter aus dem Kindergarten abgeholt. Sehr unwahrscheinlich, daß sie eine solche Tat beging, wenn sie das Kind dabei hatte.“ „Und bei der Daggendorfer Geschichte?“ „Da kommt sie noch weniger in Frage. Am Nachmittag im Betrieb, danach wieder das Kind, mit dem sie zum Arzt mußte, nein, da ist nichts zu holen.“ Bothe dreht sich um und geht zu seinem Schreibtisch. „Alles Unschuldsengel“, sagt er unzufrieden. Er will weitersprechen, aber er kommt nicht dazu. Bei den Worten seines Vorgesetzten ist Kielstein, der nur scheinbar ruhig im Stahlrohrsessel hockte, aufgesprungen, schlängt sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Was ist denn nun wieder los?“ fragt Bothe. „Unschuldsengel! Du hast mich drauf gebracht.“
„Wieso denn, worauf?“ „Auf den Engel, den mit Goldbronze bemalten. Erst gestern hab’ ich ihn gesehn. Bei Margit Rösler.“ Kielstein ist bereits auf dem Weg zur Tür. Bothe hält ihn mit einer Handbewegung zurück, greift dann zum Telefonhörer. „Warte“, sagt er, „das interessiert mich genauso, ich ruf uns einen Wagen, ich komme mit. Womöglich vergißt du sonst noch, sie nach ihrer Handschuhgröße zu fragen.“
40. Sie fahren zu dritt los, laden noch Felsch ein, der sich ans Steuer des Wartburgs setzt. Bothe hat sich gefaßt, strahlt wieder Ruhe aus, während Kielstein seiner Erregung kaum noch Herr wird. In der Manteltasche trägt er, säuberlich zusammengelegt in einer Plasttüte, die zerflederten Handschuhe, die aller Wahrscheinlichkeit nach dem Täter gehören. Die kurze Fahrt dauert ihm viel zu lang. Mehrfach Rot an den Kreuzungen und zu allem Überfluß am Heineplatz ein Unfall, der einen Fahrzeugstau mit sich bringt. Felsch reagiert geschickt, legt den Rückwärtsgang ein, bevor sie eingekeilt sind, setzt sich rechts über den Rand des Bürgersteigs in die nächste Seitenstraße ab. Schließlich halten sie vor dem Mittelgebäude des Großlagers. Felsch bleibt unten, die beiden andern hasten die Treppe zum ersten Stock hoch, als gelte es, einen Einbrecher auf frischer Tat zu stellen. Wieder steht das junge Mädchen vom Vortag am Ausleihpult, diesmal mit einem Kunden beschäftigt. Durch ein flüchtiges Lächeln zeigt sie, daß sie Kielstein erkannt hat. Ja, die Chefin ist
hinten und im Augenblick auch frei, gerade ist in ihrem Zimmer eine wichtige Besprechung zu Ende gegangen. Margit Rösler ist ein wenig erstaunt, daß die Kripo schon wieder auftaucht, man sieht es ihr an. Mit dem Rücken an ihren Schreibtisch gelehnt, auf dem von der Sitzung her zwei volle Aschenbecher stehen – der Raum ist mit Zigarettenrauch angefüllt –, schaut sie Kielstein fragend an. Sie scheint mit ihren Gedanken noch beim vorangegangenen Gespräch zu sein. Bothe stellt sich kurz vor, Kielstein kann sich mit einem „Guten Tag“ begnügen. Seine Augen wandern durchs Zimmer, zur Konsole mit dem goldenen Engel. Diesmal nimmt er die Einzelheiten in jener Ecke bewußt in sich auf, die altertümlichen Köpfe auf den beiden ovalgerahmten Bildern, den Zackenrand des Spiegels. Der Engel, für sich genommen vielleicht nicht gerade ein Kunstwerk, paßt durchaus in dieses Ensemble. „Frau Rösler“, beginnt Bothe, „mein Kollege war zwar gestern schon mal bei Ihnen, aber es haben sich ein paar neue Fragen ergeben, die wir klären müssen.“ „Wenn es sein muß, stellen Sie Ihre Fragen“, erwidert die Frau, ohne sich vom Tisch zu lösen. Kielstein nimmt die schwarzen Handschuhe aus der Tasche, streift den Plastbeutel ab, hält sie ihr auf der flachen Hand hin. „Kennen Sie diese Handschuhe?“ Ihr Blick streift die schmutzigen, zerrissenen Fingerlinge etwas angeekelt. „Nicht, daß ich wüßte. Gehören Sie dem Täter?“ Und als keine Antwort erfolgt: „Meine sind’s nicht, wenn Sie das geglaubt haben sollten. Mir wären sie viel
zu groß.“ „Ja, das ist wahr“, stimmt Bothe freundlich lächelnd zu und betrachtet ungeniert ihre überraschend zierlichen Hände, die ein Taschentuch kneten. „Aber vielleicht haben Sie sie schon mal gesehen. Dieser grobgestopfte Riß hier, so was fällt einer Frau doch auf.“ Sie betrachtet die Handschuhe genauer, schüttelt aber erneut den Kopf. „Tut mir leid, ich kann Ihnen nichts dazu sagen. Hätt’ ich sie gesehn, würde ich mich wahrscheinlich tatsächlich erinnern.“ „Da kann man nichts machen“, sagt Bothe. „Künstlerpech, wie es so schön heißt.“ „A propos Kunst“, schaltet sich Kielstein ein, „der Engel dort auf der Konsole, gehört er Ihnen?“ „Der Engel? Wie kommen Sie darauf? Ja, ich hab’ diese Ecke mit meinen persönlichen Gegenständen gestaltet.“ Bothe geht um den Tisch herum, schaut sich die Figur genauer an. Sie ist aus dünnem Bandstahl gehämmert, die Flügel sind angeschweißt. Das Ganze wurde dann golden angestrichen. Keine ungeschickte Arbeit. „Handgefertigt?“ fragt er. „Ja. Gewissermaßen Laienkunst. Nicht gerade wertvoll, aber darauf kommt es nicht immer an.“ „Er müßte wohl mal neu gestrichen werden. Die Goldbronze blättert ab.“ Margit Rösler zuckt ungeduldig mit den Schultern. „Sind Sie gekommen, um mit mir über diese Figur zu reden? Ich dachte, Sie hätten wichtigere Fragen.“ „Die Polizei ist eben vielseitig interessiert“, sagt Kielstein leicht spöttisch.
„Verraten Sie uns trotzdem, ob Sie solche Engel selber herstellen“, fordert Bothe sie auf. „Oder wenigstens anmalen. Möglicherweise kaufen wir Ihnen einen ab.“ Sie schaut ihn aufmerksam an, sie hat wohl begriffen, daß die Sache von Bedeutung sein muß. Gerade will sie antworten, da wird nach kurzem Klopfen die Tür aufgerissen. Felsch stürzt herein: „Entschuldigung.“ „Was ist denn los?“ fragt der Hauptmann gereizt. „Ich… eine wichtige Meldung von der Zentrale.“ „Hat das nicht noch fünf Minuten Zeit?“ „Nein“, erwidert Felsch, „bestimmt nicht.“ „Ich möcht’ bloß wissen, was die wieder Eiliges haben“, sagt Bothe zu Kielstein. „Geh schon mit, ich komm’ dann nach, wir sind ja gleich soweit.“ Kielstein verläßt widerstrebend mit Felsch den Raum, nur mit Rücksicht auf die Rösler unterdrückt er einen Protest. Doch kaum hat sich die Tür hinter ihnen geschlossen, platzt der Kriminalmeister heraus: „Ein Anruf vom Krankenhaus. Wir sollen sofort hinkommen, die Henneberg liegt im Sterben.“ Kielstein ist so verblüfft, daß er kein Wort herausbringt. Er glaubt nicht recht verstanden zu haben, er verharrt auf der Stelle und glotzt den andern an, als habe der soeben um seine Hand angehalten.
41. „Bleiben Sie still, ganz still“, sagt … die Rotblonde, „wir haben die Polizei verständigt. Sie können mit Leutnant Kielstein sprechen.“ Sie beugt sich … über… mich rückt mir das Kissen zurecht … nur … warum bewegt sie … dabei immer so den Kopf … hin und
her … Als ob sie tanzte … Dann weicht sie zurück … Weg von mir … zum Schrank hin … zum Fenster. Wie … verworren plötzlich alles … ist, wie … dunkel … die Decke grau … die Wände hinter … einer … Nebelschicht. Vorhin war alles … noch gut … nein … nicht gut, aber … besser … ich hatte mich … erinnert … woran… an … diese … Person. Jutta … ich möchte sie sehn … es tut mir leid, daß wir uns … in der letzten Zeit … in der … Zeit vor dem … Sturz … so wenig gesehn … so wenig verstanden haben … Ich muß ihr unbedingt sagen… Dieser spitze Schmerz … was war das … wieder ist die Schwester da … eine Spritze … warum … sie hat nichts davon … erwähnt. Da ist auch der … Arzt … er schaut mich an … stumm, fast … erschrocken … ein Krankenpfleger … zwei … was wollen sie … „Schön ruhig“, sagt der Arzt … wie zu einem Kind … sie heben mich aus dem Bett … rollen mich aus dem … Zimmer … Geht es mir so schlecht, daß sie mich … weg … vielleicht auf die Intensiv… Ich muß durch … halten … diese Person … darf nicht … triumphieren… Vielleicht, wenn ich … sie mehr beachtet … hätte … mehr auf sie eingegangen … wäre … daß ich dann … Allein … ich hab’ zuviel allein … machen … wollen. Margit … die Grenz … Grollmann … Junghans … der kleine … Holger. Die Spritze … warum wirkt sie nicht … was ist geschehn mit mir … was starren die mich … alle … so
an? Kielstein … vielleicht hätt’ ich … ihm eher … Kielstein … ich wollte doch selbst … jetzt weiß ich, daß ich … eher … wo bleibt bloß … die Kripo … Allein … zu allein … Jutta … meine Tochter. Es geht … nicht mehr … alles … so fern … die Pol … Die Pol … Po … liii…
42. „Wir sind zu spät gekommen“, sagt Kielstein enttäuscht und knüllt ein Blatt Papier zusammen, auf das er nervös Zeichen und Figuren gekritzelt hat, die in keinerlei Beziehung zueinander stehen. „Eine Embolie, ein völlig überraschender und sinnloser Tod. Es ging so schnell, daß der Arzt bestürzter war als wir. Sie hat nach der Polizei gerufen, sagt die Schwester, mit den letzten Worten noch, sie wollte uns etwas mitteilen. Aber was? So oft hab’ ich mit ihr gesprochen, nie konnte sie etwas Genaues sagen. Auch bei dem Bild Grollmanns nicht. Ich hatte den Eindruck, sie wollte nicht mit der Sprache heraus. Nun ist es zu spät.“ „Die Benachrichtigung erfolgte durch diese Schwester?“ fragt Bothe. „Ja. Sie hat mir auch gesagt, daß die Henneberg schon vor der neuen Operation anders als früher gewesen sei. Am Sonntag und Montag.“ „Am Sonntag war Besuchszeit.“ „Daran hab’ ich auch sofort gedacht. Vielleicht hat sie was Neues erfahren. Die Schwester glaubt, daß ihre Tochter da war. Genau wußte sie es nicht. Ich hab’ Felsch hingeschickt.“ Bothe setzt sich auf die Ecke seines Schreibtischs, was eher zu Kielstein passen würde. Mit seinem Gewicht drückt er die Beine des Möbel-
stücks einen Millimeter tiefer in den Fußbodenbelag. „Gut, warten wir ab, was er uns zu sagen hat.“ „Was ist mit Margit Rösler?“ fragt Kielstein. „Was erwartest du? Sie sagt, daß sie den Engel von jemandem erstanden hat. Vor Jahren.“ „Und du glaubst ihr?“ „Vielleicht glaub’ ich ihr, vielleicht nicht. Die Handschuhe waren ihr ja tatsächlich zu groß.“ „Aber dieser Engel, von wem…“ „Sie hat ihn von jemandem aus dem Betrieb“, sagt Bothe, „dem man die handwerklichen Fertigkeiten für so eine Arbeit gar nicht zutraut. Wie jedenfalls die Rösler behauptet. Hättest du die Handschuhe nicht mit ins Krankenhaus geschleppt, wäre ich jetzt bereits im Großlager. Aber so ist’s wohl besser. Da können wir gemeinsam hinfahren. Ist ja in erster Linie dein Fall. Außerdem wird uns gewiß gleich Felsch anrufen. Wahrscheinlich ist aufschlußreich, was er mitzuteilen hat.“ Als hätte das Telefon nur auf diese Bemerkung gewartet, beginnt es zu läuten. Bothe schnappt sich den Hörer, doch es ist nicht Felsch. „Für dich“, sagt er mißvergnügt, „eine deiner kleinen Freundinnen. Angeblich ist es sehr wichtig. Eigentlich müßte ich dir so was in der Dienstzeit verbieten.“ Kielstein, gleichfalls nicht begeistert, nimmt den Hörer. Er will es kurz machen, lauscht der Stimme am anderen Ende der Leitung dann aber doch aufmerksam. Mit plötzlich roten Ohren wie ein Schuljunge. Außer einem Ja ab und zu und einem „Na, dann meinen Glückwunsch“ steuert er freilich nichts zur Unterhaltung bei. „Na“, fragt Bothe, als der Leutnant aufgelegt hat und
mit einemmal dasteht wie ein begossener Pudel, „klappt das Rendezvous nicht?“ „Das war Cordula“, erwidert Kielstein betreten, „sie hat mir mitgeteilt, daß sie ihren Chef heiraten wird. Einen Ohrenarzt. Er hat ihr einen Antrag gemacht.“ „Oje“ sagt Bothe mitfühlend. „Schade. Sie ist ein nettes Mädchen. Ich fing gerade an, mich für sie zu interessieren.“ „Das gibt’s nicht“, sagt Bothe. „Kriegt den Laufpaß und hat schon wieder das große Maul. Wenn man dich so reden hört, begreift man, warum dich die Frauen sitzenlassen. Einschließlich deiner gewesenen Ehehälfte Marianne. Geschieht dir nur recht.“ Das Telefon klingelt erneut, und der Hauptmann hebt ein zweites Mal ab. Diesmal ist es wirklich Felsch. Er berichtet sachlich, was er von der Tochter der Henneberg erfahren hat. Bothe drückt den Hörer so fest ans Ohr, daß Kielstein nichts mitbekommt. „Na, was gibt’s?“ fragt er. „Es stimmt alles überein. Wie’s aussieht, hat die Henneberg mit ihren letzten Worten nicht nur nach der Polizei gerufen. Wir fahren sofort los.“ „Ins Lager?“ „Ja“, sagt Bothe. „Wir probieren Handschuhe an. Und ich glaube, diesmal werden sie passen.“
43. Ich bin gerettet, denkt die Gestalt und spürt förmlich das Blut durch die Adern schießen, ich bin
gerettet, ein Felsblock ist mir von den Schultern genommen. Heute war Junghans in der Klinik, er glaubt nicht, daß er ohne die Henneberg auskommen kann, er wollte sie irgendwas wegen der alten Bestände fragen und kam völlig aufgelöst, völlig verstört wieder. „Sie ist tot“, sagte er, „gestern ist sie operiert worden, und heute ist sie gestorben, vorhin, vor einer Stunde, sie wollten mir’s erst gar nicht verraten, aber die Schwester konnt’s nicht für sich behalten. Sie war total geschafft, so wie der Arzt auch; sie haben wohl alles versucht, sie zu retten, doch es ist nicht gelungen.“ „Das hat sie nicht verdient“, jammerte er noch, „sie war ja manchmal unausstehlich, aber das hat sie nicht verdient. Ein Blutgerinnsel, behaupten sie, eine Verengung der Blutgefäße, das soll gereicht haben. Jede ärztliche Hilfe vergebens – ist das nicht furchtbar.“ Junghans stand mit Hoffmann drüben am Packtisch, und das halbe Lager lief zusammen, so gestikulierte er. Eigenartig, wie schnell so was ‘rum ist. Sie hat sich einen guten Abgang verschafft, die Witha, das wenigstens will ich ihr bescheinigen, so ein Tod macht mehr Aufsehen, als wenn einer Jahr um Jahr still vor sich hin siecht. Sicherlich wird sie ‘ne große Trauerrede kriegen und überhaupt ein Begräbnis mit Brimborium. Soll sie, soll sie meinetwegen; die Hauptsache, sie hat mich nicht gekriegt und keine Gelegenheit mehr, mich je zu fassen. Was nützt es ihr jetzt, daß sie was geahnt, vielleicht sogar gewußt hat? Aus und vorbei, sie hatte keine Zeit mehr zu reden. Sonst war die Polizei schon gestern, vorgestern bei mir gewesen. Weiß Gott, ich glaub’, ich hätt’ nicht durchgehalten, wenn es zur Gegenüberstel-
lung gekommen war’. Wenn sie mich angestarrt und auf mich gezeigt hätte mit ihrem knochigen Finger. Aber jetzt wird sie nie mehr die Hand heben können. Sie kamen alle angelaufen und bestürmten Junghans mit Fragen. Aus den anderen Abteilungen tauchten sie auf, sogar aus dem Zweigwerk, auch Ilona kam, sie war im Hof gewesen, sie trat zu mir und sagte: „Hast du das gehört?“ „Natürlich hab’ ich’s gehört. Junghans macht ja ein Aufsehen, daß es ein Tauber mitkriegt.“ „Wie du redest. Immerhin ist sie tot.“ „Woran sich nichts mehr ändern läßt. Ob man das nun bedauert oder nicht.“ „Na ja, das stimmt schon. Ich hab’ sie ja auch nicht grad gemocht. Aber so plötzlich. Das geht einem doch an die Nieren.“ „Mir nicht. Ich hab’ nicht vergessen, wie sie dir mitgespielt hat. Uns allen. Und heucheln mag ich nicht.“ Sie war nicht einverstanden, Ilona, ich hab’s gemerkt. Sie hat sich umgedreht, ohne ein Wort zu sagen, und ist zu den andern gegangen. Na, meinetwegen. Das wichtigste ist, daß ich mich wieder frei fühle. Es ist eine Fügung, ja, eine Fügung. Das mit Ilona krieg’ ich hin. Ich hab’ kürzlich ein silbernes Armband gesehn mit grünen Emailletupfen – sie wird vor Freude außer sich sein, wenn das vor ihr auf dem Tisch liegt. Wenn es je einen Schatten zwischen uns gab, wird er im Nu weggewischt sein. Die Henneberg ist tot, sie wird sich nicht mehr zwischen uns schieben. Die Gestalt geht zu einem Regal mit Pappkartons, in denen sich, sorgfältig verpackt, teure Porzellankrüge
befinden, und beginnt zu räumen. Sie arbeitet routiniert und flink, ihre Hände führen die tausendmal gemachten Bewegungen absolut sicher aus. Sie fühlt sich leicht, die Gestalt, fast beschwingt durch die Nachricht aus dem Krankenhaus, sie ist direkt versucht, ein Lied anzustimmen, einen Schlager, der gerade im Schwange ist. Sie holt einen Karren, beginnt ihn vollzupacken, allein mit ihrer Arbeit und ihren Gedanken in der großen Lagerhalle, in die sie sich zurückgezogen hat, während nebenan noch immer die Kollegen diskutieren. Die Tür geht auf, zwei Männer kommen herein, der eine, groß und schlank, hält sich hier nicht zum ersten Mal auf. Da sie im Rücken der Gestalt stehen, werden sie von ihr nicht bemerkt. „Dort“, sagt Kielstein, „das ist sie, ich bin ihr schon mal begegnet, wollen sehn, was sie uns zu sagen hat.“ Er setzt sich auf das Regal zu in Bewegung, und Bothe folgt ihm. Es ist fast Mittag, von der Hofseite her ist das Surren und Quietschen des Lastenaufzugs zu hören, der offenbar unablässig in Betrieb ist. Durch das Geräusch des Fahrstuhls werden die Schritte der beiden Kriminalisten übertönt, sind nahezu lautlos. Nun stehen sie, Kielstein rechts, Bothe links, hinter der Gestalt, der Packerin mit der gedrungenen, männlichen Figur, mit den etwas dicken Beinen und dem Kopftuch. Die Männer beobachten die Frau einen Augenblick lang schweigend bei der Arbeit, schauen auf ihre Hände, und Bothe nickt seinem Mitarbeiter zu. „Anna Polly?“ fragt er dann laut. Die Gestalt fährt herum, in ihren Augen steht Erstaunen. „Ja?“
„Anna Polly, wir haben ein paar Fragen an Sie im Zusammenhang mit dem Verbrechen, das an Roswitha Henneberg begangen wurde.“ „Mit dem Verbrechen?“ „Ja. Sie sind dringend verdächtig, einen Anschlag auf Frau Henneberg verübt zu haben. Bitte, kommen Sie mit, wir möchten uns mit Ihnen unterhalten.“ „Mitkommen? Wohin? Ich hab’ hier zu tun.“ „Zunächst einmal in Ihre Wohnung“, sagt Kielstein, „wir wollen uns nach einigen gestohlenen Gegenständen umschauen und nach Metallengeln, die Sie so gern golden anmalen.“ Anna Polly schüttelt den Kopf, als könne sie nicht begreifen. Sie gibt keine Antwort, doch als Bothe sie leicht beim Arm faßt, macht sie, ohne sich zu widersetzen, einen Schritt nach vorn. Ihre Finger krümmen sich, als wollten sie etwas festhalten. Ihre Augen sind plötzlich dunkel vor Schrecken. Sie sind auf Kielstein gerichtet, der bedachtsam ein paar schwarze, zerrissene Handschuhe aus der Tasche holt. ENDE
1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin 1981 Lizenz-Nr.: 409-160/112/81 • LSV7004
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