Gullivers Reisen in unbekannte Länder von
Jonathan Swift
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Gullivers Reisen in unbekannte Länder von
Jonathan Swift
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Jonathan Swift
Gullivers Reisen in unbekannte Länder (726)
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littera scripta manet
Jonathan Swift (30.11.1667 - 19.10.1745)
. Ausgabe, März 2005 © eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe Nach der Buchausgabe »Gullivers Reisen in unbekannte Länder«, Union Deutsche Verlagsgesellschaft, 4. Auflage, 922 Textbearbeitung von Dr. Karl Seifart, 870 Textnachbearbeitung von Manfred Kyber, 922 Illustrationen von Grandville, 838
Erster Teil
Reise nach Liliput
Erstes Kapitel Der Verfasser macht uns mit seinen Familienverhältnissen und mit der nächsten Veranlassung zu seiner Reise bekannt. Er leidet Schiffbruch und rettet sich durch Schwimmen an den Strand von Liliput; hier wird er gefangen genommen und in das Innere des Landes geführt.
Mein Vater, der ein kleines Landgut in Nottinghamshire, einer englischen Grafschaft, besaß, hatte fünf Söhne, von denen ich der dritte war. Ich war ein munterer, aufgeweckter Knabe, auch dem Lernen nicht abgeneigt, darum schickte mich mein Vater, als ich kaum das vierzehnte Jahr erreicht hatte, auf die Universität Cambridge, wo ich drei Jahre lang fleißig und zur Zufriedenheit meiner Professoren studierte. Jedoch die kleinen Einkünfte meines Vaters, die auch für den Unterhalt und die Erziehung meiner Brüder verwandt werden mußten, erlaubten es nicht, mein Studium in Cambridge weiter fortzusetzen, und darum wurde ich bei Herrn James Bates, einem der tüchtigsten Wundärzte Londons, in die Lehre gegeben, wo ich ebenfalls drei Jahre blieb und neben meinen Berufsgeschäften der Mathematik und anderen für die Schiffahrtkunde nötigen Wissenschaften mit Eifer oblag, weil mir eine innere Ahnung sagte, daß mich mein Schicksal einst für große Reisen bestimmen würde. Eine große Reiselust, die mich von jeher beseelte, die Begierde, fremde Länder, Völker und Sitten kennenzulernen, machte mich mit der Bestimmung dieses meines Schicksals vertraut. Aus dem Grunde studierte ich auch, nachdem ich bei Herrn Bates meine Lehrzeit beendet und von meinem Onkel und
meinem Vater bereitwillig mit einer kleinen, aber genügenden Geldsumme unterstützt war, in Leyden beinahe drei Jahre Medizin und bildete mich in dieser Wissenschaft tüchtig aus, weil ich sehr wohl aus Reisebeschreibungen und aus Mitteilungen welterfahrener Leute wußte, daß mir die Arzneikunde auf großen Reisen sehr nützlich werden könnte. – Schon manchem hat die genaue Kenntnis des menschlichen Körpers und seiner Leiden unter wilden Völkern nicht allein das bedrohte Leben gerettet, sondern ihm auch zu Reichtümern, Macht und Ansehen verholfen. Mein Schicksal sollte sich bald erfüllen, denn kaum war ich von Leyden zurückgekehrt, als ich durch Vermittlung meines ehemaligen braven Lehrers Bates die Stelle eines Wundarztes auf der »Schwalbe« erhielt, deren Kapitän Abraham Pannel war. Mit diesem Schiffe machte ich Reisen nach Kleinasien und anderen vom Mittelländischen Meere berührten Ländern, ohne daß ich bemerkenswerte Abenteuer erlebt hätte. Fast schien es, als ob mein Leben ruhiger verlaufen sollte, als ich geahnt, denn nach meiner Rückkehr ließ ich mich auf den Rat meines guten Bates, der mir einen Teil seiner ärztlichen Praxis überließ, in London nieder und verheiratete mich mit einem wakkeren Mädchen namens Marie Burton, der Tochter eines nicht unbemittelten Strumpfhändlers. Zwei Jahre hatte ich in meinem häuslichen Glück, und pflichtgetreu meinen Berufsgeschäften obliegend, ruhig dahingelebt, als mich der Tod meines guten Lehrers und Freundes Bates wieder über Land und Meer treiben sollte. Mit seinem Tode verlor ich nämlich den größten Teil meiner Praxis und wurde von neidischen Kollegen verdrängt, die es nicht verschmähten, mir durch Prahlereien und Scharlatanerien bei dem leichtgläubigen Volke überall den Rang abzulaufen. So kam ich denn in meinen Vermögensverhältnissen merklich zurück, und dies veranlaßte mich, mit Zustimmung meiner Frau und meiner wenigen Freunde, wieder
in Seedienste zu treten. Ich fand bald wieder eine Anstellung als Schiffswundarzt und machte sechs Jahre lang Reisen nach verschiedenen Gegenden Ostindiens und Amerikas, wodurch ich nicht nur mein und der Meinigen Einkommen vermehrte, sondern mir auch nützliche Kenntnisse in fremden Sprachen und in der Länder- und Völkerkunde erwarb. Endlich aber wurde ich, zumal die letzten Reisen nicht glücklich ausgefallen waren, des Seefahrens müde und beschloß, bei meiner Frau und meiner Familie zu bleiben. Doch der Mensch denkt und Gott lenkt! Meine Hoffnungen auf eine gute Praxis und ein gutes Einkommen erwiesen sich abermals als trügerisch, und ich fand keinen anderen Rat, um unsere Lage zu verbessern, als trotz der Tränen meiner Frau wiederum in See zu gehen. Der Eigentümer und Befehlshaber der »Antilope«, Kapitän William Prichard, machte mir ein vorteilhaftes Anerbieten, und am 4. Mai des Jahres 1699 ging ich mit ihm als sein Schiffsarzt in See. Unsere Reise war anfangs glücklich und bot nichts Bemerkenswertes, dann aber, als wir uns etwa in der zweiten Minute des dreißigsten Grades südlicher Breite befanden, stieg – es war am 5. November, ein mir ewig unvergeßlicher Tag – ein schreckliches Unwetter auf und entlud sich mit einem so heftigen Sturme über die Wasserwüste, daß unser Schiff bald ein rettungsloses Spiel berghoher Wogen wurde. Alle Anstrengungen des Kapitäns und der Matrosen waren vergeblich, der Sturm trieb uns unaufhaltsam einem Felsenriff zu, ein donnerähnliches Krachen, ein verzweifelter Angstschrei der ganzen Mannschaft und – wir waren gescheitert. Bald tanzten auf den schäumenden Spitzen der wilden Wogen die Masten, Planken und Rippen unseres geborstenen und zertrümmerten Schiffes. Kapitän und Mannschaft wurden von den Wogen verschlungen. Mir allein hatte die Vorsehung noch andere Dinge vorbehalten. Ich hatte mich in meiner Jugend, als ein Freund nützlicher
Leibesübungen, auch zu einem tüchtigen Schwimmer ausgebildet, und so schwamm ich denn, vom Selbsterhaltungstrieb beseelt und gekräftigt, auf gut Glück darauf los, oder ließ mich vielmehr von Sturm und Wogen treiben; denn mit meiner Kunst konnte ich mir in diesem entsetzlichen Wogendrange keine Richtung nach meinem Willen geben, sondern sie reichte eben nur aus, um mich über Wasser zu erhalten. Nach und nach fühlte ich aber meine Kräfte schwinden, und schon glaubte ich mich verloren, als ich Grund unter meinen Füßen fühlte und der Sturm zugleich nachließ. Ich war gerettet, aber durch die bestandenen Schrecken und die übermenschlichen Anstrengungen so ermattet, daß ich mich kaum auf den Beinen erhalten konnte. Dennoch watete ich, alle meine Kräfte zusammennehmend, durch das flache Wasser mit möglichster Eile der Küste zu, die sich etwa in der Entfernung einer halben Stunde sanft aufsteigend aus dem Meere erhob. Ich hoffte Menschen, Hilfe und Erquickung zu finden. Als ich aber das Land erreichte, erblickte ich weder Menschen noch menschliche Wohnungen. Ich wanderte mit der letzten Anstrengung meiner Kräfte wohl noch eine halbe Stunde durch Gestrüpp und Buschwerk in das öde Land hinein und sank endlich ganz erschöpft und todmüde auf einem freundlichen Wiesenplan nieder, der auffallend weiches und kurzes Gras trug; bald versank ich hier in einen tiefen Schlaf und schlief fester denn je in meinem Leben. Als ich erwachte, war es heller Tag und die Sonnenstrahlen schienen mir brennend ins Gesicht. Ich versuchte aufzustehen, konnte mich aber nicht bewegen und meinte anfangs, daß meine Glieder durch die gemachten Anstrengungen steif und unbrauchbar geworden seien. Indes bald merkte ich, auf dem Rükken liegend, zu meiner größten Verwunderung, daß mir Arme und Beine an den Boden gefesselt waren; selbst mein ziemlich langes und dichtes Haar war am Boden befestigt. Auch fühlte ich
mehrere kleine Schnüre am ganzen Leibe von den Achselhöhlen bis zu meinen Schenkeln. Zugleich vernahm ich in meiner Nähe ein merkwürdiges Geräusch gleich dem Summen eines Bienenschwarms und fühlte, daß etwas auf meinem linken Schenkel umherkrabbelte. Himmel! wer malt mein Erstaunen, als sich über Schenkel und Brust meinem Gesicht ein Geschöpfchen von etwa sechs Zoll Höhe nähert, das eine zierliche, mit Bogen und Pfeil bewaffnete Menschengestalt nicht verkennen läßt! Zugleich belehrte mich das Gekrabbel auf meinen Beinen und meiner Brust, daß wenigstens noch vierzig bis fünfzig ähnliche Menschlein dem Vorausgegangenen folgen müßten. Ich stieß einen so lauten Ausruf der Überraschung und des Erstaunens aus, daß die kleinen Geschöpfe erschrocken und sich überpurzelnd davonliefen; einige beschädigten sich, wie ich nachher hörte, durch den Fall, als sie von meiner Seite herabsprangen. Bald aber kamen die Kleinen wieder, und einer von ihnen wagte sich so weit, daß er mir ins Gesicht blicken konnte, schlug dann voll Verwunderung seine kleinen, den Pfoten eines Maulwurfs ähnlichen Händchen zusammen und rief mit feiner, aber deutlicher und klarer Stimme: Hekina Degul! Ermutigt näherten sich nun auch die übrigen Menschlein wieder, und aus dem Stimmengewirr, das unter ihnen laut wurde, konnte ich deutlich vernehmen, daß sie das Wort: Hekina Degul, dessen Sinn ich damals nicht verstand, wiederholten. Wie leicht zu erachten, befand ich mich in keiner bequemen Lage und suchte daher die Bindfäden zu zerreißen, mit denen man meine Glieder an eingerammte Stecken befestigt hatte. Es gelang mir auch, meinen rechten Arm zu befreien, und durch einen heftigen Ruck, der mir viel Schmerz verursachte, befreite ich mich auch von den Banden, die mein Haar auf der rechten Seite des Kopfes fesselten, so daß ich meinen Kopf etwa zwei Zoll hoch erheben konnte. Mit der freigewordenen rechten Hand suchte ich nun eines der Männlein zu erhaschen, aber es wich
geschickt aus und lief Hals über Kopf mit den übrigen davon. Eine Zeitlang blieb’s rings um mich her ruhig, dann aber hörte ich deutlich, wie einer im Kommandotone rief: Tolgo Phonac! Und in demselben Augenblick fühlte ich ein so heftiges Beißen und Prickeln auf meiner linken Hand, als ob ich sie in einen Ameisenhaufen gesteckt hätte. Es war eine Salve von den kleinen Leuten abgeschossener Pfeile, die mir diesen Schmerz verursachten; die Spitzen dieser Pfeilchen wirkten wie Nadelstiche, drangen aber nicht völlig durch die Haut. Gleich darauf traf mich ein anderer Pfeilhagel, der aber, nach Art wie man die Bomben wirft, im Bogen geschossen und darauf berechnet war, mein Gesicht zu verwunden. Da die prickelnden Dinger mir doch höchst unangenehm waren, so ward ich unwillig und zornig und versuchte mit drohender Gebärde, wiederum mich mit Gewalt aus meinen Umstrickungen loszureißen. Meinen Bewegungen folgte aber sogleich wieder eine noch stärkere Salve von Pfeilen, und einige der verwegensten der kleinen Knirpse traten an mich heran und versuchten, mir ihre acht Zoll langen Lanzen in die Seite zu bohren, was ihnen aber nicht gelang, da das Wams von Büffelleder, das ich trug, viel zu stark für ihre schwachen Klingen und Kräfte war. Unsereins würde leichter eine Rhinozeroshaut mit einem Dolchstich durchbohren, als diese Krieger mein Büffelwams mit ihren Zahnstochern. Gleichwohl hielt ich es, des unangenehmen, prickelnden Pfeilregens wegen, für geraten, mich ruhig zu verhalten und die Nacht zu meiner Befreiung abzuwarten, indem ich mir sagte, daß ich, einmal frei, sämtliche Heere der kleinen Leutchen nicht zu fürchten haben würde. Als indes das Völkchen sah, daß ich mich ruhig und friedlich verhielt, belästigte es mich nicht weiter mit Pfeilschüssen, doch konnte ich aus dem zunehmenden Summen und Lärmen schließen, daß meine kleinen Feinde fort und fort durch Hilfstruppen und anderes herzulaufende Volk verstärkt wurden. Auch hörte ich in der Nähe meines rechten Ohrs wohl eine Stunde hindurch
ein Klappern wie von kleinen Hämmern und ein leises Knirschen von Sägen, wie sie zum Diebsgebrauch etwa aus Uhrfedern verfertigt werden. Das Geräusch mochte etwa acht Fuß weit von meinem Ohre laut werden. Ich drehte meinen Kopf, so gut es gehen wollte, nach dem Geräusch um und sah, daß man an einem etwa anderthalb Fuß hohen Gerüste arbeitete, das mit Leitern zum Hinaufsteigen versehen war und oben eine umschränkte Fläche bot, auf der wohl vier oder fünf der kleinen Männlein Platz nehmen konnten. Bald sollte es mir klar werden, daß das Gerüst als Rednerbühne dienen sollte, denn als es fertig war, bestieg ein seiner Kleidung und seinem würdevollen Benehmen nach vornehmer Mann in Gesellschaft einiger Begleiter, von denen einer, anscheinend ein Page, ihm die Schleppe seines langen, kostbaren Mantels trug, die Plattform des Gerüsts und hielt eine lange Rede an mich, von der ich jedoch begreiflicherweise kein Wort verstand. Doch darf ich nicht unerwähnt lassen, daß, bevor der vornehme Mann seine Rede begann, er dreimal ausrief: Langro dehul san! (Worte, die mir später wiederholt und erklärt wurden), worauf etwa fünfzig der Leutchen diensteifrig dicht an mich heranliefen und die Bindfäden, die noch die linke Seite meines Kopfes festhielten, rasch durchschnitten, so daß ich nun Gestalt und Gebärden des Redners bequem beobachten konnte. Der Mann war von schlanker, schöner Gestalt und ragte wenigstens um zwei Haare breit über seine Begleiter hervor, von denen zwei an seiner Seite standen, um ihn zu halten, damit er nicht etwa im Eifer seiner Rede vom Gerüst falle. Obgleich ich nichts von den Worten des Redners verstand, so konnte ich doch aus seinen Gebärden wahrnehmen, daß er sich in Drohungen und Versprechungen, in Teilnahme und in Artigkeiten erging. Ich antwortete in wenigen Worten und in untertänigster Weise, erhob die linke Hand und die Augen zur Sonne, als wollte ich sie zum Zeugen meiner friedfertigen Gesinnung anrufen, führte
dann aber, da ich sehr hungrig war, die Hand wiederholt zum Mund. Der Hurgo (so nannte man den vornehmen Redner, wie ich nachher erfuhr) verstand meine Bewegung vollkommen und nickte zustimmend. Darauf stieg er von seiner Bühne herab und gab Befehl, mehrere hohe Feuerleitern an meine Seite zu stellen. Als dies geschehen war, kletterten etwa hundert Mann mit Körben voll Fleisch und Brot bepackt an mir herauf und näherten sich meinem Munde. Die Speisen hatte, wie ich später erfuhr, der Kaiser des Landes, gleich nach der ersten Nachricht von meiner Ankunft, meine Bedürfnisse in seiner Weisheit voraussehend, hierhergesandt. Ich erkannte in dem Fleische Keulen und Rippenstücke verschiedener Tiere; sie waren sehr schmackhaft zubereitet, aber der größte Hammelbraten war nicht größer als bei uns in England ein Lerchenschenkel. Zwei oder drei solcher Braten steckte ich auf einmal mit einer hohlen Handvoll runder Brötchen, welche die Größe von Flintenkugeln hatten, in den Mund und aß bei meinem ausgehungerten Magen und ungewöhnlichen Appetit so rasch, daß die Leutchen vollauf mit dem Heranschleppen der Speisen zu tun hatten. Unbeschreiblich war ihr Erstaunen über meinen Appetit. Nachdem ich meinen Hunger gestillt, gab ich ein deutlich zu erkennendes Zeichen, daß ich zu trinken wünschte. Man verstand mich sogleich, hatte sich auch darauf vorgesehen, und etwa zweihundert Arbeiter zogen mit viel Geschicklichkeit eines ihrer größten Fässer zu mir hinauf, rollten es auf meine Hand und schlugen den Boden ein. Durstig, wie ich war, trank ich das Faß in einem Zuge leer, und das war nicht groß zu verwundern, da es kaum einen Schoppen hielt. Übrigens war das Getränk sehr gut und erfrischend und schmeckte fast wie Burgunderwein, nur war seine duftende Blume noch viel feiner. Unter Lachen und Jubeln rollte man ein zweites Faß von derselben Größe auf meine Hand, das ich ebenso rasch leerte wie das erste. Da mein Durst noch immer nicht völlig gelöscht war, so gab ich durch weitere
Zeichen zu verstehen, daß man mir noch mehr Fässer bringen möchte, allein auf einen solchen Riesendurst hatte man sich doch nicht vorgesehen, es war kein Getränk mehr vorhanden und ich mußte mich wohl oder übel mit dem Genossenen begnügen. Mein gewaltiges Essen und Trinken ließ die Leutchen nicht aus einem fortwährenden Geschrei des Staunens und der Verwunderung kommen, sie tanzten, die Hände zusammenschlagend, auf meinem Bauche und meiner Brust herum und riefen wiederholt wie früher: Hekina Degul! Dann bedeuteten sie mich, die leeren Fässer von mir zu werfen, vergaßen aber vorher nicht, die Umstehenden zu warnen, vor den herabfallenden Fässern auf ihrer Hut zu sein. Ich machte ihnen nun den Spaß und ließ die Fässer hoch durch die Luft sausen, wodurch ich ein abermaliges Geschrei der Verwunderung hervorrief. Eine Zeitlang hatte ich nicht übel Lust, dreißig oder vierzig der kleinen Gesellen, die allzukeck auf mir herumkrabbelten, zu packen und gegen den Boden zu schmettern, allein der Gedanke, daß sie mir bei ihrer großen Zahl und anerkennenswerten Tapferkeit doch unangenehme Plagen und Schaden zufügen könnten, hielt mich davon zurück, auch sagte ich mir, daß es ja meinerseits der schwärzeste Undank für die genossene Gastfreundschaft sein würde, wenn ich so grausam und unbarmherzig zwischen die guten Leutchen griffe. Ich verhielt mich also nach wie vor ruhig und friedlich. Als meine kleinen Gastfreunde bemerkten, daß ich nicht mehr zu essen wünschte, machten sie einem hohen Staatsbeamten Platz, den Seine Majestät der Kaiser hergeschickt hatte. Die mit Orden geschmückte Exzellenz stieg auf einer Leiter, wie man sie bei uns wohl den Laubfröschen ins Glas stellt, zu meinem Knie hinauf und marschierte, von zwölf Trabanten gefolgt, gravitätisch meinem Gesichte zu. Hier angekommen, hielt er mir ein besiegeltes Beglaubigungsschreiben seines Souveräns vor die Augen und richtete dann eine lange Rede an mich, aus der ich, seinen
Mienen und Gebärden aufmerksam folgend, vernahm, daß er zwar nicht im Zorn, aber doch mit Ernst und Entschlossenheit sprach; wiederholt wies der Herr Geheimrat oder Minister nach einer bestimmten Richtung hin, wo, wie ich bald bemerkte, in der Entfernung einer guten Wegstunde die Haupt- und Residenzstadt des Landes lag. Es ward mir klar, daß man mich dorthin abführen wollte, und ich gab mit de- und wehmütigen Gebärden zu verstehen, daß man mich meiner Fesseln entledigen möchte. Die Exzellenz verstand meinen Wunsch, nahm ihn aber mit unwilligem Kopfschütteln auf und machte mir deutlich, daß ich als Gefangener abgeführt werden müsse; übrigens gab sie mir zu verstehen, daß ich an Speise und Trank keinen Mangel leiden und gut behandelt werden würde. Ärgerlich suchte ich jedoch noch einmal meine Fesseln zu brechen, empfand aber sogleich wieder einen prickelnden Pfeilregen auf den Händen und im Gesicht. Da hielt ich es denn für das Klügste, mich den Wünschen des kleinen Volks zu fügen und gab Zeichen, daß sie ganz nach ihrem Belieben mit mir verfahren möchten. Dies nahm der vornehme Mann mit seinem Gefolge sehr gut auf und entfernte sich mit vergnügtem Gesicht und befriedigter Amtsmiene. Bald darauf fühlte ich, daß, wahrscheinlich auf hinterlassenen Befehl des hohen Herrn, eine Menge der Leutchen die Strikke an meiner linken Seite in der Art lösten, daß ich mich auf die rechte umdrehen konnte, und diese Veränderung meiner Lage war mir sehr wohltuend. Die veränderte Lage und das genossene Getränk machten mich zum Schlaf geneigt. Ich schlief sanft ein und, wie man mir nachher sagte, schlief ich acht Stunden hintereinander, was nicht zu verwundern war, da die Ärzte auf Befehl des Kaisers einen Schlaftrunk in den von mir genossenen Wein gemischt hatten. Wie es scheint, hatte man gleich nach meiner Entdeckung Eilboten an den Kaiser geschickt, um hinsichtlich meiner Befehle einzuholen, und diese waren dann nach erfolgtem Ministerrat
dahin gegangen, daß ich in der beschriebenen Weise gefesselt, gespeist, getränkt und eingeschläfert werden sollte, um dann auf einer Transportmaschine nach der Residenz zur allerhöchsten Besichtigung geführt zu werden. Dieser Entschluß könnte vielleicht allzu kühn und gefährlich erscheinen, und ein europäischer Fürst würde bei ähnlicher Gelegenheit schwerlich eine solche Maßregel ergreifen. Allein bei reiflicher Überlegung fand ich, daß die Verfügung des Kaisers ebenso weise wie edelmütig war; denn welches Unglück hätte daraus entstehen können, wenn man etwa versucht hätte, mich während meines Schlafes zu ermorden! Die Mordversuche würden mir Schmerz verursacht und mich geweckt haben, und dann hätte ich im Aufwallen des Zornes und der Wut leicht ein fürchterliches Blutbad unter den Untertanen Seiner Majestät anrichten können. Wie ich später oft in Erfahrung zu bringen Gelegenheit hatte, besitzt das kleine Völkchen eine außerordentliche Geschicklichkeit in mechanischen Arbeiten; der Kaiser beschützt und fördert sowohl diese als andere nützliche Tätigkeiten und Wissenschaften, und daher kommt es, daß ihm auch eine Menge sehr sinnreich konstruierter Maschinen zur Beförderung großer Lasten zu Gebote stehen. Er läßt auf solchen durch Räder bewegten Maschinen oft sogar seine größten Kriegschiffe, die gegen sechs Fuß lang sind, von der Stelle ihres Bauplatzes auf eine Entfernung von vierhundert Ellen zur See und bis an die Stelle fahren, wo sie flottgemacht werden können. Die größte Maschine dieser Art war nun zu meiner Beförderung bestimmt, und der König befahl fünfhundert Zimmerleuten und Ingenieuren, sich rasch ans Werk zu machen und die Maschine in den nötigen Stand zu setzen. Sie bestand aus einem von derbem Holz gefügten und drei Zoll über dem Boden erhabenen Bau, sieben Fuß lang, vier Fuß breit und mit zweiundzwanzig Rädern versehen. Als diese Maschine, die, wie es schien, bereits einige Stunden nach meiner
Entdeckung schon in Bewegung gesetzt war, ankam, erscholl ein vieltausendstimmiges Freudengeschrei, denn das kleine Volk fühlte sein Selbstgefühl gehoben durch die Weisheit seines Monarchen und die Geschicklichkeit seiner Gelehrten und Künstler. Man stellte nun zunächst die Maschine meiner Lage parallel, aber nun war die große Schwierigkeit zu überwinden, mich hinaufzuheben. Achtzig Stöcke von der Länge eines Fußes wurden eingerammt, und die stärksten ihrer Seile, von der Dicke eines Bindfadens, wurden mit Haken an eine gleiche Zahl von Banden geheftet, welche die Arbeiter mir um Hände, Hals, Leib und Arme wanden. An den eingerammten Pfählen nun hingen diese Seile auf Rollen, und neunhundert der stärksten Männer begannen, sie aufzuwinden. Auf diese Weise wurde ich etwa drei Stunden lang emporgehoben, endlich in die Maschine geworfen und dort festgeschnürt. Man hat mir das alles nachher, nachdem ich die Landessprache erlernt hatte, erzählt, denn während des ganzen Vorgangs lag ich noch infolge des genossenen Weines in tiefem Schlafe, nur das überlaute Freudengeschrei bei Ankunft der Maschine hatte mich, jedoch nur auf wenige Augenblicke, geweckt. Fünfzehnhundert der stärksten Pferde, die der Kaiser besaß und die nach den Begriffen des Landes die ansehnliche Länge von acht Zoll und eine Höhe von vier und einem halben Zoll hatten, wurden vorgespannt; die mutigen Tiere zogen kräftig an und die Reise ging ohne allen Unfall von statten. Nur, als wir etwa vier Stunden unterwegs gewesen waren, wäre beinahe durch die Neugier eines vorwitzigen Gardeoffiziers ein Unglück herbeigeführt worden. Der Leutnant nämlich war, um mein Gesicht in der Nähe zu betrachten, mit einigen ebenso vorwitzigen Kameraden zu meinem Kopf heraufgeklettert, um möglichst genau meine Züge zu sehen. Da hatte er es denn nicht lassen können, mich mit der Spitze seines Degens im Nasenloch zu kitzeln, so daß ich mehrmals laut niesen mußte und erwachte. Durch mein Niesen und Blasen aber war der Gardeleutnant nebst
seinen Kameraden über und über gepurzelt, und alle würden sich schwer durch einen Sturz beschädigt haben, wenn sie sich nicht glücklicherweise in den Falten meines Wamses gefangen hätten. Wir erreichten an demselben Tage die Stadt noch nicht, sondern mußten auf freiem Felde übernachten. Es wurde also halt gemacht und fünfhundert mit Bogen und Spießen bewaffnete Leibgardisten wurden kommandiert, mich bei dem Schein angezündeter Fackeln zu bewachen; sie hatten den Befehl, sofort auf mich zu schießen, wenn ich mich rühren sollte. Bei Sonnenaufgang setzten wir am nächsten Morgen unsere Reise fort und waren gegen Mittag nur noch etwa zweihundert Ellen von den Stadttoren der Residenz entfernt. Der Kaiser kam uns mit seinem ganzen Hofe entgegen; die ihn begleitenden Generale wollten aber durchaus nicht dulden, daß Seine Majestät durch das Besteigen meines Körpers sein kostbares Leben in Gefahr brächte. Der Wagen fuhr bei einem uralten Tempel vor, der nicht mehr zum Gottesdienst benutzt wurde und, wie man sagte, das größte Gebäude im ganzen Lande sei. Dieser ehrwürdige Bau nun wurde mir zur Wohnung angewiesen. Das große, gegen Norden gelegene Tor hatte die ansehnliche Höhe von vier Fuß und war beinahe zwei Fuß breit, so daß ich bequem hindurchkriechen konnte. Auf jeder Seite des Tores befand sich ein kleines Fenster; an den eisernen Fensterkreuzen des links gelegenen befestigte nun der Hofschmied an starken eisernen Ringen einundneunzig Ketten, von der Dicke unserer goldenen Damenuhrketten, und schloß sie mit wohlverwahrten Schlössern an meinem linken Fuß. Nachdem dies geschehen war, bestieg der Kaiser mit seinem Gefolge einen etwa fünf Fuß hohen, in unmittelbarer Nähe des Tempels stehenden Turm, um eine gute Übersicht über meinen ganzen Körper zu haben. Unzählbar war das Volk, das zu demselben Zweck aus der Stadt zusammengelaufen war und mich mit staunender Bewunderung betrachtete. Viele wagten, auf Leitern zu mir heraufkletternd, ihr Leben, so daß sich Seine Majestät
veranlaßt sah, bei Todesstrafe diese allzuweit getriebene Neugier zu verbieten. Als man sich überzeugt hatte, daß meine Ketten fest genug waren, durchschnitt man alle Stricke, womit ich gefesselt war. Ich stand nun eben nicht in rosenfarbener Laune auf und schritt, soweit es die Ketten erlaubten, ein paarmal hin und her, um meine von dem langen Liegen steif gewordenen Glieder wieder geschmeidig zu machen. Meine Feder ist zu schwach, um das Staunen und den jubelnden Lärm des Volkes zu schildern, als es mich nun in meiner ganzen Länge aufgerichtet umhergehen sah. Die Ketten an meinem linken Fuß gaben mir ungefähr vier Fuß Spielraum und gestatteten, daß ich in den Tempel kriechen konnte. Dies tat ich, um mich dem unaufhörlichen Lärm zu entziehen, und streckte mich der Länge nach in dem geräumigen Tempel aus.
Zweites Kapitel Der Verfasser sieht sich die schöne Gegend an und wird vom Kaiser mit Gefolge besucht. Beschreibung des Kaisers und der Großen seiner Krone. Gelehrte erhalten Befehl, den Verfasser in der Landessprache zu unterrichten. Seine Sanftmut und Freundlichkeit gewinnen ihm die Gunst des Kaisers und des Volkes. Seine Taschen werden untersucht, Degen und Pistolen werden ihm abgenommen.
A ls ich mich ein Weilchen im Tempel ausgeruht hatte, kroch ich wieder hervor und sah mich im Freien in der Gegend um, die überall eine entzückende Aussicht bot. Die ganze Umgebung erschien wie ein wohlgepflegter Garten, und die eingehegten Felder, die in der Regel vierzig Quadratfuß hielten, glichen Blumenbeeten. Diese Felder waren von kleinen Wäldern oder Baumgruppen unterbrochen, deren höchste Stämme sich bis zu sieben Fuß erheben mochten. Mit bunten Schiffchen bedeckte, silberklare Flüsse, welche die Größe unserer Bäche hatten, wanden sich durch Wiesen von einem herrlichen, sanften Smaragdgrün und nahmen ihren Lauf der von meinem Tempel links gelegenen Hauptstadt zu. Diese Hauptstadt mit ihren schlanken Türmchen, sauberen Häuschen und regelmäßigen Gäßchen, die ich bequem aus der Vogelperspektive überschauen konnte, bot einen ganz reizenden Anblick und erinnerte lebhaft an die Buden des Weihnachtsmarkts, wo man schön und glänzend lackierte Städte und Festungen aus Holz und Blech zum Verkauf ausstellt. Als ich noch ganz im Anschauen des freundlichen Städtchens und der lieblichen Landschaft versunken war, stieg Seine
Majestät mit seinem Gefolge vom Turm herab, schwang sich auf ein ihm vorgeführtes Pferd von edelster Rasse und ritt kühn auf mich zu. Dies hätte ihm beinahe gefährlich werden können, denn sein Pferd, obgleich trefflich zugeritten, bäumte sich entsetzt vor meinem Anblick, da ich ihm wie ein wandelnder Berg erscheinen mochte. Der Fürst, ein vorzüglicher Reiter, blieb jedoch sattelfest, bis die Reitknechte herbeikamen, das Pferd beruhigten und ihm absteigen halfen. Als der Kaiser nun abgestiegen war, trat er nahe an mich heran und betrachtete mich mit dem unverkennbarsten Erstaunen, doch hielt er sich auf den besorgten Rat seiner Großen außerhalb des Bereichs meiner Ketten, denn immer noch traute man mir Tücke zu, und das war ohne Zweifel sehr weise gedacht, denn wie leicht konnte ich in einem Anfall von Wut oder Zorn über meine Lage nach Seiner Majestät auslangen und seinen Leib zwischen meinem Daumen und Zeigefinger zerdrücken! – Solch grausame Gedanken waren mir indes fern. – Ich merkte aus des Kaisers Mienen und Bewegungen, daß es ihm Vergnügen machen würde, mich speisen zu sehen, und da ich bereits wieder einen guten Appetit fühlte, so beeilte ich mich dadurch, daß ich wiederholt die Hand an den Mund führte, meine Kinnladen in kauende Bewegung setzte und aus der hohlen Hand anscheinend schlürfte, anzudeuten, daß man mich mit Essen und Trinken versehen möge. Der Kaiser war in seiner Weisheit längst auf diesen meinen Wunsch vorbereitet, und ehe ich’s mir versah, beeilte man sich, mir eine Menge Fuhrwerke mit Speisen und Getränk zuzuschieben. Zwanzig dieser Fuhrwerke waren mit gebratenem Fleisch und, wenn ich nicht irre, zehn mit irdenen Geschirren beladen, die Getränke enthielten. Ich verspeiste jedesmal den Inhalt von dreien solcher Wagen auf einen Bissen, goß das in zehn irdenen Gefäßen enthaltene Getränk in das dichtgefügte und festverpichte Fuhrwerk und trank es auf einen Zug leer. Mit sichtlichem Vergnügen verfolgten der Kaiser, die Kaiserin und die kaiserlichen Kinder die Art und Weise, wie ich unter
den Speisen und Getränken aufräumte, und ich hatte bei dieser Gelegenheit Muße, mir den Kaiser und die Herren und Damen seines Gefolges genau zu betrachten. Der Kaiser ist um die Breite eines ganzen Fingernagels größer als seine Hofleute und mag überhaupt über seinem ganzen Volke so hoch hervorragen, wie weiland König Saul über die ihm untertänigen Juden. Diese auffallende Größe schon ist ganz geeignet, um sein Volk gegen ihn mit Ehrfurcht zu erfüllen, eine Ehrfurcht, die auch durch die Männlichkeit seiner Gesichtszüge und durch die Majestät seiner Haltung und Bewegung wach erhalten wird. Jeder Zoll an ihm war ein Kaiser! Die Majestät mochte damals wohl in ihrem neunundzwanzigsten Jahre stehen und hatte die Regierung seit sieben Jahren zur Zufriedenheit seiner Untertanen geführt; mehrere Kriege, die er siegreich durchgeführt, hatten die Achtung seines Volkes vor ihm noch bedeutend gesteigert. – Um den Kaiser besser betrachten zu können, legte ich mich auf die Seite, so daß sein Gesicht dem meinen gerade gegenüberstand, während er sich auf eine Strecke von sechs Fuß von mir entfernt hielt; auch vergaß er nicht, sein gewaltiges Schlachtschwert, das fast die Größe einer Federmesserklinge hatte, immer kampfbereit in der Hand zu halten, damit er sich, wenn ich den Versuch machen sollte, mich loszureißen, verteidigen könnte. Seine Kleidung war zwar reich und geschmackvoll, aber doch von einer edlen Einfachheit. Er trug einen goldenen, mit Juwelen sinnreich verzierten Helm, einen grünseidenen, mit Silber verzierten Rock, der sich sehr eng anschloß und die Kraft und das Ebenmaß seiner Glieder vorteilhaft hervorhob. In malerische Falten gelegt, umfloß ein langer, weiter Purpurmantel die ganze Gestalt. Die Damen und Herren des Hofes waren noch reicher wie der die Einfachheit liebende Kaiser und mit ausgesuchter Pracht gekleidet. Wie sie so auf kostbaren Sesseln dasaßen zu meinen Füßen, schien es mir, als blickte ich auf einen buntfarbigen persischen Teppich, der mit Edelsteinen in allen Farben durchwirkt sei.
Seine Majestät war so herablassend, mich zu wiederholten Malen anzureden, und ich erwiderte stets respektvoll, doch konnten wir uns begreiflicherweise nicht verstehen. Auch ließ mir der Kaiser mehrere Theologen und Juristen (ich schloß auf ihren Stand aus ihren langen Perücken und ihrer Kleidung) vorführen, die mich in verschiedenen, mir unverständlichen Sprachen anredeten. Ich nahm meine nicht unbedeutenden Sprachkenntnisse zusammen und versuchte, mich ihnen im Deutschen, Holländischen, Lateinischen, Französischen und Spanischen verständlich zu machen. Allein vergebens, es wurde mir klar, daß die Sprache dieses Volkes mit den genannten in keinerlei Stammverwandtschaft stehen müsse. Nach etwa zweistündigem Aufenthalt entfernte sich der Hof, nachdem der Kaiser befohlen hatte, eine starke Wache bei mir aufzustellen, die mich gegen die Belästigungen des zudringlichen, neugierigen Volkes schützen sollte. Es waren recht mutwillige, tückische Racker unter diesen Knirpsen, die sich nicht begnügten, bloß auf mir herumzukrabbeln, sondern auch aus der Ferne ihre Pfeile auf mich abschossen, wovon mir einer beinahe das Auge verletzt hätte. Dieses wurde dem Obersten der bei mir aufgestellten Wache doch zu bunt, und streng und energisch wie er war, befahl er seinen Soldaten, fünf oder sechs der Mutwilligen zu ergreifen und sie mir zu beliebiger Bestrafung gebunden zu überliefern. Das aber gab ein Jammergeschrei! Sechs der Übeltäter wurden mir überliefert, von denen ich fünfen zunächst ein wohlverdientes Gefängnis in meiner Rocktasche gab und den sechsten mir vor den Mund hob, als wollte ich ihn lebendig verspeisen. Die arme Kreatur stieß ein furchtbares Angstgeschrei aus, und der Oberst und seine Offiziere wurden doch um ein Menschenleben besorgt, als sie sahen, daß ich mein Taschenmesser hervorzog. Allein mein Herz dachte nicht daran, mit dem armen Geschöpf grausam zu verfahren, ich beruhigte das Männlein durch freundliche Mienen und
durch ein sanftes Gebrumm, womit Ammen wohl schreiende Kinder beschwichtigen, nahm mein Messer und schnitt statt seines Halses die Fesseln durch, womit ihn die Soldaten gebunden hatten. Dann setzte ich das hochaufatmende und mich dankbar aus seinen kleinen Mäuseaugen anblickende Menschlein sanft und unversehrt auf den Boden. Die übrigen kleinen Sünder in meiner Rocktasche zog ich hervor und behandelte sie mit derselben Milde und Sanftmut. Dies verfehlte nicht, auf den Obersten sowohl wie auf die Soldaten und das umstehende Volk einen sehr günstigen Eindruck zu machen, und die Nachricht von dieser meiner Milde und Menschenfreundlichkeit hat mir hinterher die Huld und Gnade Seiner Majestät des Kaisers im hohen Grade erworben. Gegen Abend kroch ich, der Ruhe sehr bedürftig, wieder in meinen Tempel und legte mich zum Schlafen nieder. Das Lager auf dem Steinpflaster war indes keineswegs angenehm, aber vierzehn Tage hindurch mußte ich mich damit begnügen, weil die Anfertigung des mir auf kaiserlichen Befehl bestellten Betts eine so lange Zeit in Anspruch nahm. Sechshundert landesübliche Betten wurden in meinen Tempel getragen und dort zu meinem Bedarf verarbeitet. Es entstand nun aus den zusammengenähten Betten zwar eine meiner Körperlänge entsprechende Matratze, aber das Lager war doch hart, weil die zusammengenähten Bettchen nicht dicht und hoch genug waren, um mich die harten, polierten Pflastersteine des Tempels, auf denen das Riesenbett endlich ausgebreitet wurde, gar nicht fühlen zu lassen. Indes, es war doch immerhin etwas und tat mir nach meinem langen Lagern auf harter, bloßer Erde ganz wohl, auch vergaßen die guten Leutchen nicht, mich mit Bettdecken und Kissen reichlich zu versehen, die ebenfalls aus Hunderten von landesüblichen Bettchen zusammengenäht waren. Ich schlief die erste Nacht auf diesem Lager ganz herrlich, gewöhnte mich nach und nach an meine seltsame Lage und war, da man mich an den nötigsten Lebensbe-
dürfnissen durchaus keinen Mangel leiden ließ, so ziemlich mit meinem Schicksal zufrieden. Bevor ich in meiner Erzählung fortfahre, muß ich hier eines Umstandes erwähnen, der wiederum ein helles Licht auf die Weisheit des Fürsten wirft, von dem dies kleine Volk regiert zu sein das Glück hatte. Auf die schnell verbreitete Nachricht von meinem Erscheinen im Königreiche nämlich war von allen Seiten eine ungeheure Menge neugieriger Menschen nach der Residenz und meinem Tempel zusammengeströmt. Das dauerte nun tage- und wochenlang fort, Geschäfte und Arbeiten gerieten in gefährliche Stockungen und die notwendigen Feldbestellungen wurden vernachlässigt. Da beeilte sich der Kaiser, die Gefahr, die für Land und Leute aus solcher Wirtschaft entspringen müsse, erkennend, durch Aufrufe und gemessene Staatsbefehle anzuordnen: daß alle, die mich bereits gesehen, sofort nach Hause und an ihre Geschäfte zurückkehren sollten, außerdem sollte es ohne besonderen Erlaubnisschein niemand gestattet sein, mir bis auf fünfzig Ellen nahezukommen. Dieser Befehl gab sowohl Zeugnis von dem Scharfblick des Kaisers, wie von seiner gastfreundschaftlichen Rücksicht gegen mich, und hatte zudem für die Staatssekretäre und Polizeibeamten den Vorteil, daß sie durch Ausstellung von Erlaubnisscheinen ihr Einkommen vergrößern konnten. Während ich nun so ganz gemächlich dahinlebte, hatte ich keine Ahnung davon, daß meinetwegen unter dem Vorsitz des Kaisers der Reichsrat häufig zusammentrat und über mein Wohl oder Wehe die ernstesten und eingehendsten Beratungen hielt. Später erfuhr ich von einem mir wohlgesinnten Geheimrat, daß von verschiedenen Seiten Vorschläge gemacht worden waren, mich aus dem Wege zu räumen, denn man glaubte aus verschiedenen Gründen das Wohl des Landes ernstlich durch mich bedroht. Einige meinten, ich möchte doch über kurz oder lang meine Ketten zerreißen und feindlich auftreten, andere gaben zu
bedenken, daß meine kostspielige Unterhaltung eine Hungersnot über das Reich verhängen müsse. Man beschloß daher in der überwiegenden Mehrheit, mich zu töten, und nur über die Art und Weise, wie ich am bequemsten aus der Welt zu schaffen sei, war man uneins. Einige schlugen vor, mich mit vergifteten Pfeilen zu erschießen, andere rieten, mir alle Nahrung zu entziehen und mich Hungers sterben zu lassen, noch andere machten sogar den grausamen Vorschlag, mich nächtlicherweise meuchlings mit meinem Tempel zu verbrennen. Allein allen diesen Blutdürstigen gegenüber stand mir wiederum die Weisheit und die Güte des Kaisers schützend zur Seite, er wollte meinen Tod nicht und machte die Kurzsichtigen darauf aufmerksam, daß im Fall ich getötet würde, der von einer so großen, verwesenden Leiche ausgehende Gestank Pest und Seuchen in der Hauptstadt und im ganzen Reiche verbreiten könnte. Während dieser Beratungen brachten Offiziere die Nachricht über mein mildes Verfahren gegen die mir überlieferten sechs Verbrecher; dies gab den Ausschlag und wandte mir das Herz des Kaisers in dem Grade zu, daß von nun an nicht allein von meinem Tode überall keine Rede mehr war, sondern daß auch aufs ausreichendste für meinen Lebensunterhalt gesetzlich gesorgt wurde. Auf des Kaisers Befehl nämlich wurden alle Dörfer bis auf neunhundert Ellen Entfernung angewiesen, mir jeden Morgen sechs Ochsen und vierzig Schafe nebst einer entsprechenden Menge Brot und Wein zu meinem Unterhalt zu liefern. Dafür gab der milde und gerechte Kaiser den Lieferanten Anweisungen auf seine Schatzkammer, die durch den Ertrag seiner reichen und musterhaft bewirtschafteten Güter immer wohl gefüllt war. Die Steuern in diesem glücklich regierten Ländchen sind nicht hoch, dagegen aber ist, und das finde ich gerecht und billig, die Last des Kriegsdienstes eine allgemeine, so daß, wenn es sich um die Wohlfahrt des Vaterlandes handelt, der Sohn des höchsten Staatsbeamten neben dem Sohne des ärmsten und geringsten
Mannes zu Felde ziehen muß. Ferner ordnete der Kaiser zu meinem Besten an, daß sechshundert Mann zu meiner beständigen Bedienung angewiesen werden sollten; diese errichteten ein Lager bei meinem Tempel und waren stets meines Winkes gewärtig. Ferner wurden dreihundert Schneider beordert, mir so rasch wie möglich einen Anzug nach der Mode des Landes zu verfertigen, da der meine während der vielen Strapazen, die ich ausgestanden, stark gelitten hatte und sehr fadenscheinig geworden war; auch wurden sechs ausgezeichnete Gelehrte angewiesen, mich fleißig in der Landessprache zu unterrichten, in der ich auch bald gute Fortschritte machte. Endlich verfügte der Kaiser auch noch, daß seine und die Pferde des Adels und der Gardereiter häufig vor mir zugeritten und getummelt würden, damit sie sich an meine Person gewöhnten. Während alle diese Befehle pünktlich ausgeführt wurden und ich mich eifrig mit dem Studium der Landessprache beschäftigte, beehrte mich der Kaiser häufig mit seinen Besuchen und hatte sogar die Gnade, meinen Unterricht zu überwachen und meinen Lehrern manch nützlichen und praktischen Wink zu geben. So kam es denn, daß ich bald einige meiner Gedanken in die Worte der Landessprache kleiden konnte, und der erste Satz, den ich erlernte, bestand in folgender Anrede: »Allerdurchlauchtigster, großmächtigster und gnädigster Kaiser, Herr der Könige und Völker, habt die Gnade, mir meine Freiheit zu schenken.« Diese Bitte wiederholte ich kniend, so oft mich der Kaiser mit seinem Besuche beehrte, allein er ging nicht darauf ein, sondern gab die ausweichende Antwort, ich müßte zuerst Lumos kelim pesso desmar lon emposo, das heißt ihm und seinem Königreiche Frieden schwören. Übrigens könne ich bei der milden und vorsorglichen Behandlung, die mir zuteil würde, mich wohl geduldig in mein Schicksal fügen. Auch solle ich fortfahren, durch kluges und gesittetes Betragen mir seine und seiner Untertanen Achtung zu bewahren.
Eines Tages erklärte mir der Kaiser bei seinem Besuche, ich möge es nicht übelnehmen, daß er einigen Beamten vom Polizeidienst Befehl erteilt habe, mich genau zu durchsuchen, denn ich werde wohl Waffen und andere gefährliche Dinge bei mir tragen, deren man sich versichern müsse. Ich erklärte Seiner Majestät, teils durch Worte, teils durch Zeichen, daß ich mich ohne Widerspruch diesem Befehle fügen würde, worauf der Kaiser befriedigt erwiderte, daß mir alle meine Sachen, welche die Beamten bei mir fänden, bei meiner einstigen Abreise zurückerstattet, oder mir ein ihrem Werte entsprechender Preis dafür gezahlt werden sollte. Nach dieser Verhandlung erschienen auf den Wink des Kaisers sogleich zwei der betreffenden Beamten, um die Durchsuchung vorzunehmen. Um ihnen das Geschäft zu erleichtern, setzte ich sie zunächst behutsam auf meine Hand und steckte sie zuerst in die weiten Taschen meines Oberrocks, sodann in die übrigen Taschen der Kleider, nur eine versteckte Hosentasche, die einige mir nötige und für sie gleichgültige Gegenstände enthielt, ließ ich undurchsucht. Die Herren hatten Papier, Tinte und Feder bei sich und nahmen ein genaues Verzeichnis von all den Gegenständen auf, die sie bei mir fanden. Dies Aktenstück, das mir später in die Hände fiel, übersetzte ich möglichst getreu in meine Muttersprache. Es lautete wie folgt: Wir Unterzeichnete, auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers zur Durchsuchung der Kleider des Quinbus Flestrin (diesen Begriff weiß ich nicht anders als durch den Ausdruck »Menschberg« wiederzugeben) bestellte untertänigste Diener, fanden nach genauer und gewissenhafter Untersuchung folgende Dinge: Erstens: In seiner rechten Tasche ein quadratisches Stück rauhen Tuchs, groß genug, um einen Teppich für das größte Staatszimmer Seiner Majestät daraus zu machen. Auf Befragen nach dem Zweck dieses riesigen Tuches sagte der Menschberg, daß es sein Taschentuch sei.
Zweitens: In der linken Rocktasche fanden wir eine große silberne Kiste, deren Deckel wir zu heben suchten, um nach dem Inhalt der Kiste zu forschen, allein der schwere Deckel wich unseren vereinten Anstrengungen nicht, und darum ersuchten wir den Menschberg, sie uns zu öffnen. Er tat es bereitwillig und wir erblickten die Kiste etwa in halber Höhe mit einem dunkelbraunen Staub angefüllt. Der genaueren Untersuchung wegen traten wir bis an die Knie in den Staub, mußten uns aber eiligst wieder zurückziehen, weil uns der aufwirbelnde Staub ein solches Niesen verursachte, daß es nicht zum Aushalten war. Auf Befragen nach dem Zwecke der Kiste und des ätzenden Staubes nannte er sie seine »Schnupftabaksdose«, ein barbarisches Wort, mit dem wir keinen Begriff verbinden können. Drittens: In der rechten Tasche seines Unterwamses fanden wir ein ledernes, mit einem starken Tau umwundenes Bündel, das, nachdem wir das Tau abgewunden hatten, sich öffnete und eine Menge großer, aber ganz dünner und biegsamer Bretter enthielt. Diese Bretter waren mit Figuren bemalt, die wir, unserer untertänigsten Meinung nach, für Buchstaben halten. Jede dieser Figuren hat die Größe einer halben, manche auch die einer ganzen Hand. Der Menschberg erklärte, es sei sein Tagebuch. Viertens: In der anderen Tasche desselben Kleidungsstückes entdeckten wir einen horn- oder elfenbeinartigen Balken, aus dem zwanzig etwa vier Fuß lange Pfähle hervorragten, von denen einige schadhaft waren. Dies war augenscheinlich der Haarkamm des Menschberges; wir baten ihn deshalb um keine weitere Erklärung. Fünftens: In der rechten Tasche seiner Panfu-to (mit diesem Worte bezeichnet man in der Landessprache die Hosen. Der Verfasser) stießen wir auf eine ungeheuer hohe Säule von sauber poliertem Eisen, die auf einem großen Stücke harten und gekrümmten Holzes ruhte, aus dem sich sonderbar gestaltete eiserne Figuren hervorhoben, die mit der hohlen Säule in irgend
einem Zusammenhange zu stehen schienen. Der Menschberg nannte den seltsamen Koloß, wenn wir das Wort richtig notiert haben, »Pistole«. Sechstens: Die Nachsuchung in der linken Tasche der Panfuto ergab zwei große horn- oder knochenartige Bohlen von mehr als Manneslänge, aus denen starke Stahlplatten hervorragten. Wir vermuten, daß diese unheimlichen Maschinen irgendwelche staats- oder landesgefährliche Dinge enthalten könnten, und befahlen daher dem Menschberg aufs ernstlichste, uns die Konstruktion der Maschinen genau zu erklären und uns mit ihrem Zweck bekannt zu machen. Er gehorchte auch sofort und bog aus den Bohlen die Stahlplatten hervor, die sich nun als ungeheure Messerklingen erwiesen. Wie er angab, diente ihm die eine Klinge zum Rasieren seines Bartes und die andere zum Zerschneiden der Speisen. In einem anderen ziemlich engen Behälter desselben Kleidungsstückes machten wir einen höchst merkwürdigen Fund. Eine gewaltige silberne Kette, etwa von der Größe unserer Ankerketten, die aus jenem Behälter herabhing, führte uns auf die Spur, indem wir entdeckten, daß die Kette an einer Maschine befestigt war, die wir ihrer Schwere wegen nicht herauszuziehen vermochten. Wir befahlen dem Menschberg deshalb, das verdächtige Ding sogleich herauszuziehen, möge es sein, was es wolle. Er gehorchte und brachte eine große abgeplattete Kugel hervor, deren unterer Teil aus Silber bestand, während der obere mit einer ungeheuren Glaskuppel bedeckt war, durch die wir, nachdem wir mit einiger Mühe bis zum Rande hinaufgeklettert waren, seltsame schwarze Figuren erblickten, die sich auf einer weißen kreisrunden Fläche in regelmäßigen Zwischenräumen ausbreiteten. Unser Erstaunen wuchs, als wir ein fortwährendes, lautes Geräusch, gleich dem einer Wassermühle vernahmen, das aus der Maschine hervordrang. Wir sind der Meinung, daß der Gegenstand entweder gar kein lebloser, sondern ein eigentümliches
Tier seines Landes, oder aber der Gott ist, den der Menschberg verehrt. Zu letzterer Meinung neigen wir umso mehr, als er uns auf Befragen, soviel wir aus seiner noch immer mangelhaften Sprachkenntnis entnehmen konnten, erklärte, daß dies ein Ding sei, das er bei allen seinen Handlungen um Rat frage und das ihm die Zeit zu seinen Geschäften zumesse. Auch fanden wir in einer seiner Taschen noch eine Art Fischernetz, das er seinen Geldbeutel nannte, was auch durchaus wahrscheinlich schien, da es mehrere große, runde Platten von Gold und Silber enthielt, auf denen sich ausgeprägte Köpfe und Schriftzeichen befanden. Nach dem kolossalen Gewicht müssen diese Geldstücke, wenn sie wirklich, wie es allerdings den Anschein hat, von Gold und Silber sein sollten, einen unermeßlichen Wert haben. Die bisher aufgezählten Gegenstände ergab die Durchsuchung der Taschen. Außerdem aber fanden wir an seinem Gürtel hängend einen Degen von etwa fünfzehn Ellen Länge, und am anderen Ende des Gürtels einen ledernen, durchnähten Sack, dessen eine Seite sehr schwere Bälle oder Kugeln von der Dicke unserer Köpfe enthielt, während die andere Hälfte einen Haufen weit kleinerer und leichterer Kügelchen und Körnchen barg; von letzteren nahmen wir einige zwanzig ohne Mühe auf die Hand, doch konnte uns ihr Zweck nicht klar werden. Dies ist das genaue Verzeichnis sämtlicher Gegenstände, die wir in den Taschen und am Leibe des Menschbergs gefunden haben. Er fügte sich willig und höflich in Seiner Majestät durch uns vollzogenen Befehl und hat uns keinerlei Anlaß zur Klage gegeben. Unterschrieben und mit unserem Siegel versehen am vierten Tage des neunundachtzigsten Monats der glücklichen und gesegneten Regierung Seiner Majestät unseres allergnädigsten Kaisers. Flessen Frelock, Marsi Frelock
Als nun dies hier wörtlich mitgeteilte Verzeichnis dem Kaiser vorgelesen war, befahl er mir, jedoch in sehr herablassender und leutseliger Weise, sämtliche im Verzeichnis benannten Gegenstände auszuliefern. Zuerst verlangte er meinen Degen, den ich dann sogleich auch nebst Scheide und Degenkoppel zu seinen Füßen niederlegte. Während dieses Vorgangs hatten mich, ohne daß ich groß Arg daraus hatte, etwa dreitausend Mann der auserlesensten und zuverlässigsten Truppen geschickt manöverierend umringt. Sie hatten den Befehl, mit einem Pfeilregen gegen mich vorzugehen, sobald ich nur eine verdächtige Bewegung mache. Nach dieser Vorsichtsmaßregel befahl mir der Kaiser, den Degen aus der Scheide zu ziehen, und als ich dem Befehl gehorchte und die trotz einiger durch das Seewasser herbeigeführten Rostflecke noch immer blanke Klinge im hellen Sonnenschein spiegeln ließ und nach Fechterart hin und her schwang, blendete der Lichtreflex so sehr die Augen des versammelten Heeres, daß die Mannschaft in laute Rufe des Schreckens und der Überraschung ausbrach. Seine Majestät, wie schon früher bemerkt, ein sehr mutiger Mann, bewahrte indes seine ganze Kaltblütigkeit, befahl mir, den Degen wieder in die Scheide zu stecken und ihn sanft auf den Boden niederzulegen. Zunächst verlangte man dann den hohlen eisernen Pfeiler, wie man mein Terzerol benannte. Ich zog es hervor, suchte seinen Gebrauch zu erklären und lud es dann aus meiner wasserdichten Pulvertasche, die sich gegen das Eindringen des Seewassers trefflich bewährt hatte und setzte, um den Knall zu verstärken, einen starken Pfropf auf die Ladung. Sodann machte ich den Kaiser darauf aufmerksam, daß er vor einem starken, plötzlichen Donnerschlage nicht erschrecken möge, und schoß hoch über die Köpfe der Mannschaften hin in die Luft. Unbeschreiblich war die Überraschung und der panische Schrekken, der mit dem Knall das ganze Heer befiel, einige stürzten vor Betäubung wie tot zusammen, und selbst der mannhafte Kaiser konnte sein Entsetzen nicht verhehlen.
Ich lieferte nun meine Taschenpistole nebst Kugel- und Pulverbeutel in derselben Weise aus wie meinen Degen, bat aber den Kaiser, daß er den Pulverbeutel vor Feuer bewahren möge, indem ein kleiner Funke hinreichend sei, die in dem Beutel enthaltenen schwarzen Körner zu entzünden und ihn nebst seinem ganzen Palast in die Luft zu sprengen. Der Kaiser schenkte mir vollen Glauben und befahl, den gefährlichen Beutel mit der äußersten Vorsicht vor der Berührung aller brennenden und brennbaren Gegenstände zu bewahren. Ich übergab nun alle bei mir gefundenen Sachen, zunächst meine Uhr, durch deren Ring zwei Gardisten eine lange Stange steckten und sie dann unter saurem Schweiß auf den Schultern zum Kaiser trugen, der großes Interesse an ihrem Geräusch und an der Bewegung ihrer Zeiger nahm. Er fragte die ihn begleitenden Gelehrten nach ihrer Meinung über die seltsame Maschine, und diese ließen sogleich eine Menge der verschiedensten und widersprechendsten Vermutungen laut werden, die natürlich aber alle den Nagel nicht auf den Kopf trafen. Meine Uhr, mein Degen nebst Terzerol, Kugeln und Pulvertasche wurden nun durch Flaschenzüge auf Wagen geladen und nach der Residenz abgeführt, meine übrigen Habseligkeiten aber, wie Kamm, Taschen- und Rasiermesser, Tabaksdose, Geld und Schnupftuch, erhielt ich sogleich wieder zurück. Wie schon oben bemerkt, hatte ich eine Tasche ganz von der Durchsuchung zu bewahren gewußt, diese enthielt nämlich meine Brille und ein kleines Fernrohr, welche Gegenstände dem Kaiser von keinerlei Nutzen sein konnten und von denen ich mich ungern getrennt hätte.
Drittes Kapitel Der Verfasser unterhält den Kaiser und die Herren und Damen seines Hofs auf eine sehr belustigende Weise. Vergnügungen des Hofs von Liliput. Der Verfasser wird unter gewissen Bedingungen in Freiheit gesetzt.
Mein friedliches und freundliches Betragen hatte Kaiser und Volk nach und nach mir so gewogen gemacht, daß ich hoffen durfte, binnen kurzem meine Freiheit zu erhalten, und ich war wohlweislich bemüht, mir diese günstige Stimmung zu bewahren. Ich ließ die Kinder auf meiner flachen Hand tanzen, und diese wurden bald so dreist, daß sie in meinen Haaren Verstecken spielten. Auch um den Erwachsenen gefällig zu sein, legte ich mich oft auf den Boden nieder und ließ sie ungestört auf meinem Körper umherspazieren und klettern, dadurch verloren sie nach und nach alle Furcht vor mir, und ich hatte außerdem den Vorteil, daß ich mich durch den vertrauten, freundlichen Umgang mit den Leutchen immer mehr in der Landessprache ausbilden konnte. Da ich nun so allgemein beliebt war, beschloß der Kaiser eines Tages, mich durch ein außerordentliches Vergnügen, und zwar durch ein Volksfest zu erfreuen, an dem auch die ersten Staats- und Hofbeamten teilnahmen und dessen Höhepunkt in einem Seiltanz besteht, worin sich dies Volk vor allen anderen Erdbewohnern wahrhaft auszeichnet. Dieser Seiltanz wird auf einem etwa vier Fuß langen, dünnen Faden ausgeführt, der in einer Höhe von zwölf bis vierzehn Zoll über der Erde ausgespannt
ist. Die Art und Weise dieses Seiltanzes, sowie Stand und Charakter der Künstler bieten so viel Eigentümliches, daß ich die Geduld der Leser nicht zu ermüden hoffe, wenn ich mich etwas ausführlich darüber auslasse. Vor allem ist es höchst eigentümlich und bemerkenswert, daß sich bei diesen Unterhaltungen nur solche Personen als Seiltänzer produzieren, die sich um bedeutende Staatsämter und um die höchste Gunst bei Hofe bewerben. Von Jugend auf erlernt man die Kunst des Seiltanzens, um sich dadurch einst für die höchsten Staatsämter zu befähigen. Wenn nun irgend eine hohe und einflußreiche Stelle durch Tod oder Ungnade des Kaisers anderweit zu besetzen ist, so melden sich fünf oder sechs mit dem Seiltanz wohlvertraute Kandidaten und ersuchen den Kaiser in einer untertänigsten Bittschrift, ihn mit ihrer Kunst unterhalten zu dürfen. Der Kaiser bewilligt gern ein solches Gesuch, die Kandidaten produzieren sich auf dem Seile, und wer von ihnen am höchsten springt oder die erstaunlichsten und halsbrecherischsten Purzelbäume schlägt, erhält das freigewordene Amt. Oft erhalten auch die bereits lange im Amte stehenden Minister Befehl, ihre Geschicklichkeit im Seiltanz zu zeigen, damit sich der Kaiser vergewissert, daß sie in dieser Kunst keine Rückschritte gemacht haben. Eine ganz besondere Kunstfertigkeit hat der Finanzminister Flimnap an den Tag zu legen; er springt in der Regel einen ganzen Zoll höher als alle übrigen Beamten und übertrifft alle durch die Sonderbarkeit und das Halsbrecherische seiner Kapriolen. Ihm fast gleich tut es mein Freund Redresal, erster Staatssekretär für die Hausangelegenheiten; die übrigen Großen stehen beiden nach, leisten aber doch auch Vorzügliches in ihrer Kunst. Freilich gehen diese halsbrecherischen Unterhaltungen nicht immer – die Annalen des Kaiserreichs wissen viel davon zu erzählen – ohne Unglücksfälle ab; mancher büßt seinen Ehrgeiz oder seine Stellenjägerei mit einer gefährlichen Körperverletzung
oder gar mit dem Tode, und es wurde mir erzählt, daß selbst Flimnap vor einigen Jahren beinahe den Hals gebrochen hätte, wenn er nicht glücklicherweise auf ein gut gepolstertes kaiserliches Ruhekissen gefallen wäre, das auf dem Fußboden ausgebreitet lag. Ein anderer Liliputischer Zeitvertreib ist den Augen des Volkes entzogen und findet nur in Gegenwart des Kaisers, der Kaiserin und des Premierministers statt. Er besteht darin, daß der Kaiser drei seidene Fäden auf den Tisch legt, und zwar einen grünen, einen roten und einen blauen. Diese Fäden werden denjenigen als Belohnung bestimmt, die der Kaiser besonders auszeichnen will. Die Bewerber müssen nun in des Kaisers großem Staatszimmer eine Probe von Geschicklichkeit ablegen, die von der vorher beschriebenen ganz verschieden und so sonderbar und seltsam ist, daß ich etwas auch nur annähernd Ähnliches weder in der Alten noch in der Neuen Welt gesehen habe. Der Kaiser hält nämlich einen Stock wagrecht in der Hand, und die Fadenbewerber stellen sich nun einer nach dem anderen vor den Stock hin, springen mehrmals vor- und rückwärts darüber hinweg oder kriechen darunter durch, je nachdem es Seiner Majestät beliebt, den Stock zu heben oder zu senken. Zuweilen löst der Premierminister den Kaiser im Halten des Stockes ab, oder hält ihn gemeinschaftlich mit dem Kaiser. Wer nun im Springen und Kriechen die meiste Geschicklichkeit zeigt, erhält als Auszeichnung das blaue Band, der nächstfolgende das rote und der dritte das grüne. Diese bunten Bänder tragen sie dann nach Gürtelart mehrmals um den Leib geschlungen, und man sieht selten einen Hofbeamten, der nicht mit der einen oder anderen dieser Dekorationen geziert wäre. Wie die Menschen, so gewöhnten sich auch die Tiere immer mehr an meine ungewöhnliche Erscheinung, und besonders waren es die Pferde, die nach und nach alle ihre anfängliche Scheu vor mir verloren und sich mit ihren kühnen Reitern täglich um mich herumtummelten. Die Reiter setzten manchmal in weitem
und gefährlichem Sprung über meine flach auf den Boden gelegte Hand, und ein kaiserlicher Jäger, ein besonders kecker Reiter, der allerdings ein Pferd edelster Rasse ritt, wagte es sogar einmal, zum Erstaunen der umstehenden Menge, über meinen Fuß mit Schuh und erhabener Schnalle hinwegzusetzen, welches Wagstück auch vollkommen gelang. Da man nun so vertraut mit mir geworden war und mir so viel Gutes und Liebes erwies, so sann ich darauf, die mir erzeigten Aufmerksamkeiten in irgend einer außerordentlichen Weise zu vergelten und bat den Kaiser, er möge einige seiner Forstbeamten beauftragen, mir einige starke und dicke Baumstämme aus den kaiserlichen Forsten herbeizuschaffen. Der Kaiser willigte gnädig lächelnd ein, und schon am nächsten Morgen erschienen neun Förster, die mir auf Lastwagen eine genügende Menge etwa zwei Fuß hoher Stöcke von der Dicke eines spanischen Rohres zufuhren. Ich nahm neun dieser Stöcke, stieß sie im Viereck von zwei Fuß in den Boden und band vier andere wagrecht daran fest, sodann befestigte ich mein Schnupftuch in strammer Spannung an die aufrecht stehenden kleinen Pfähle, so daß die anderen vier wagrecht liegenden Stöcke eine Schranke oder Brustwehr darum bildeten. So hatte ich eine wohlumschränkte, festliegende Ebene hergestellt. Nun bat ich den Kaiser, er möge vierundzwanzig seiner besten Reiter den Befehl erteilen, auf dieser Ebene zu exerzieren und zu manövrieren, auf welchen Vorschlag Seine Majestät bereitwillig einging und alsbald die gewünschten Mannschaften herbeorderte. Ich hob nun einen Reiter nach dem anderen mit Pferd und Rüstung behutsam auf mein Schnupftuch, und sobald sie sich in Reih und Glied gestellt hatten, teilten sie sich in zwei Parteien und führten mit großer Präzision die zierlichsten Manöver aus; sie beschossen sich mit stumpfen Pfeilen, machten Angriffe mit gezogenen Schwertern, flohen und verfolgten. Kurz, sie zeigten eine militärische Disziplin und Ausbildung, die
wahrhaft musterhaft zu nennen war. Die Schranken der wagrecht liegenden Stäbe schützten sie bei den kühnsten Schwenkungen vor dem Herabfallen, und der Kaiser war so befriedigt von dem ungewöhnlichen Schauspiel, daß er es mehrere Tage zu wiederholen befahl und sogar selbst einmal die Gnade hatte, sich auf mein Taschentuch heben zu lassen, um das Kommando zu übernehmen. Sogar die Kaiserin nahm Interesse an dem Schauspiel und ließ sich von mir in ihrer Sänfte an die Schranken heben, damit sie alles genau übersehen könne. – Alle Vorstellungen liefen ohne Unglück ab, nur einmal trat das Pferd eines Hauptmanns beim Ansetzen ein Loch in mein Schnupftuch, verwickelte sich mit dem Huf und warf seinen Reiter ab, der indes keinen Schaden nahm. Ich war bedacht darauf, den gestürzten und anfangs betäubten Hauptmann, sowie auch alle übrigen Reiter sanft wieder auf die Erde zu setzen und gab von dieser Zeit an, womit der Kaiser auch einverstanden war, solche Schauspiele auf, weil sie doch nicht ganz gefahrlos waren. Einige Tage vor diesen eigenartigen Reiterspielen hatte man mir infolge meines wiederholten Ansuchens und meiner bewährten Friedfertigkeit die Freiheit geschenkt. Ehe ich jedoch auf die Bedingungen zurückkomme, unter denen mir die Freiheit gewährt wurde, muß ich noch eines Vorfalls erwähnen, der sich zutrug, während ich den Hof mit den erwähnten Reiterspielen unterhielt. Es langte nämlich in gestrecktem Galopp plötzlich ein Kurier an, der Seine Majestät benachrichtigte, daß jemand an dem Orte, wo ich zuerst gefunden wurde, abermals einen ganz ungewöhnlichen Fund gemacht habe. Nach der Beschreibung bestand das aufgefundene Ding aus einer schwärzlichen Substanz, streckte seinen Rand in der Größe eines mittelgroßen Zimmers aus und hatte in der Mitte eine breite Erhöhung von Manneslänge; Extremitäten oder Arme und Beine waren bis jetzt nicht daran bemerkt worden. Dieser Umstand, hieß es weiter in dem Bericht, habe den anfänglichen Glauben beseitigt, daß man ein
lebendes Wesen vor sich habe, mutige Männer seien dann an der mittleren Erhöhung bis zum Gipfel hinaufgestiegen und hätten den Grund unter sich überall weich gefunden, auch durch Aufstampfen bemerkt, daß das Ding inwendig hohl sein müsse. Man hege nun die untertänigste Meinung, daß dies wohl etwas sein müsse, was dem Menschberge gehöre, und lasse anfragen, ob Seine Majestät befehle, daß man Lastwagen ausrüste und das Ding herschaffe. Da ich gerade wegen der Bequemlichkeit des Verkehrs mit den Leuten wieder flach an der Erde lag und mein Kopf sich in ziemlicher Nähe des Berichterstatters befand, so verstand ich vollkommen, was er aussagte, und begriff, daß von nichts anderem, als von meinem verlorenen Hut die Rede war. Ich hatte ihn schon empfindlich entbehrt und bat daher den Kaiser, nachdem ich Beschaffenheit und Nutzen meiner Kopfbedeckung genau auseinandergesetzt hatte, zu befehlen, daß sie mir so schnell wie möglich ausgeliefert würde. Am folgenden Tage schleppten denn auch schon eine Anzahl Fuhrleute den Hut herbei, brachten ihn aber nicht im saubersten Zustande, da sie ihn nicht auf einen Wagen geladen, sondern, nachdem sie zwei Löcher in den Rand gebohrt und Seile hindurchgezogen, diese einfach an das Geschirr der Pferde befestigt und so meinen bewährten Hut durch dick und dünn hergeschleift hatten. – Nun, ich freute mich doch, er war auch so noch immer besser als gar keiner. Einige Tage, nachdem ich wieder im Besitz meines Hutes war, hielt der Kaiser Heerschau und beschloß, daß ich ihm bei dieser Gelegenheit zu einem seltsamen Schauspiel dienen solle. Er eröffnete mir nämlich, daß er wünsche, ich möchte mich mit möglichst weitgespreizten Beinen gleich einem Koloß aufstellen. Und als ich diesem Wunsche nachgekommen war, befahl er seinem General, sämtliche Truppen in geschlossener Ordnung und unter klingendem Spiel zwischen meinen Beinen durchmarschieren zu lassen.
So geschah es; eine Abteilung leichter Kavallerie eröffnete unter Trompetengeschmetter den Zug, dann folgten mehrere Regimenter Küraßreiter in glänzenden Rüstungen, die langen Lanzen so hoch emporgerichtet, daß deren Spitzen beinahe in einer Linie mit meinem Knie standen. Nach ihnen rückte in musterhaftem Gleichschritt die Infanterie, die sich auf drei- bis viertausend Mann belaufen mochte, unter rauschender Janitscharenmusik an, und endlich schloß der Train und eine ungeheure Menge Gepäck den imposanten Zug. Dieses Schauspiel, das den Kaiser sehr ergötzte, fiel wie die oben erzählten Reiterspiele schon in die Zeit meiner Freiheit; ich bin es nun dem Leser schuldig, auf die Vorverhandlungen zurückzukommen, die zur Beseitigung meiner Ketten führten, und auf die wohlüberlegten Bedingungen, unter denen man es mir gestattete, frei im Lande umherzuwandeln. – Meine wiederholten mündlichen und schriftlichen Gesuche (ich hatte mich bei Erlernung der Landessprache durch fleißige Übung nämlich auch sehr bald mit den Schriftzeichen des Landes vertraut gemacht) um Wiedererlangung meiner Freiheit waren im Staatsrat ernstlich erwogen worden und hatten infolge meines friedlichen und sanften Betragens geneigtes Gehör gefunden. Nur der Galbet oder Reichsadmiral, Skyresh Bolgolam, ein mürrischer, sauertöpfischer Gesell, war hartnäckig gegen meine Freilassung gewesen, wie er sich denn auch bei anderen Gelegenheiten immer feindlich gegen mich gesinnt zeigte, ohne daß ich wüßte, womit ich ihn jemals beleidigt hätte. Endlich aber ward dieser verknöcherte, herzlose Hofmann, zumal mir die Gunst des Kaisers zur Seite stand, doch zum Nachgeben überredet, setzte es aber durch, daß er die Bedingungen entwarf, unter denen ich meine Freiheit erhalten sollte. Skyresh Bolgolam brachte mir, von seinen Sekretären begleitet, mit seiner gewöhnlichen sauertöpfischen Miene die Urkunde mit den betreffenden Artikeln, die ich, nachdem sie mir vernehmlich vorgelesen, nach landesüblicher Sitte beschwören
mußte. Diese Zeremonie der Eidesabnahme war lästig; sie bestand darin, daß ich meinen rechten Fuß mit der linken Hand erfassen und den Mittelfinger der rechten Hand über die Stirne und den Daumen an das rechte Ohr legen mußte. Ich machte auf diese Weise fast eine Figur wie jemand, der in den spanischen Bock gespannt ist, und war froh, als ich mich aus dieser unbequemen Lage wieder erheben konnte. Gewiß ist es dem Leser von Interesse, den genauen Inhalt der Urkunde mit den Bedingungen meiner Freiheit kennen zu lernen, weil man mit Recht vermuten darf, daß sie von dem eigentümlichen Stil und der Ausdrucksweise dieses Volkes einen klaren Begriff geben und ein helles Schlaglicht auf die obwaltenden Verhältnisse werfen könne. Ich lasse darum das merkwürdige Aktenstück, von dem ich eine getreue Kopie genommen, hier Wort für Wort folgen: Golbasto Momaren Eulamé Gurdilo Shefin Mully Ully Gué, der allergroßmächtigste Kaiser von Liliput, Entzücken und Freude der Welt, dessen Reich sich fünftausend Blustrugs weithin ausdehnt (im ganzen ungefähr sechs Stunden), bis an den Rand des Erdreichs; Monarch aller Monarchen, größer an Wuchs als die Söhne der Menschen; dessen Füße den Mittelpunkt der Erde drücken und dessen Haupt sich bis zur Sonne erhebt; auf dessen Wink die Fürsten der Erde mit den Knien zittern; süß wie der Frühling, voll Behaglichkeit wie der Sommer, fruchtbar wie der Herbst, furchtbar wie der Winter. Seine hocherhabene Majestät macht dem in unseren himmlischen Provinzen kürzlich angelangten Menschberge folgende Vorschläge, deren Artikel er mit feierlichem Eide beschwören muß. I. Der Menschberg soll unser Reich nicht ohne besondere, mit unserem Reichssiegel versehene Erlaubnis verlassen dürfen. II. Er soll ohne besonderen Befehl unsere Hauptstadt nicht zu betreten wagen; alsdann soll den Einwohnern zwei Stunden
vorher eine Warnung verkündet werden, damit sie ihre Häuser nicht verlassen. III. Der besagte Menschberg soll seine Spaziergänge auf unsere hauptsächlichsten Heerstraßen beschränken und auf Wiesen oder Kornfeldern sich weder niederlegen, noch auf ihnen umherwandeln. IV. Wenn er auf besagten Heerstraßen spazieren geht, soll er mit der äußersten Sorgfalt sich in acht nehmen, nicht auf die Leiber unserer geliebten Untertanen, ihre Pferde oder Wagen zu treten; er soll auch keinen unserer Untertanen ohne besondere Erlaubnis auf die Hand nehmen. V. Wenn die außerordentliche Abfertigung eines Kuriers erforderlich ist, so soll der Menschberg den Kurier, sowie dessen Pferd sechs Tagereisen in seiner Tasche tragen und zwar einmal monatlich; ferner soll er den besagten Kurier, im Fall dies erforderlich ist, in unsere kaiserliche Gegenwart wohlbehalten zurückbringen. VI. Er soll unser Verbündeter gegen unseren Feind auf der Insel Blefusku sein, und alles aufwenden, dessen Flotte zu zerstören, die einen Angriff auf unsere Besitzungen vorbereitet. VII. Besagter Menschberg soll nach Zeit und Muße unsere Arbeiter unterstützen, gewisse große Steine aufzuheben, die auf die Mauer unseres Parkes und andere königliche Gebäude verwendet werden sollen. VIII. Besagter Menschberg soll in der Zeit von zwei Monaten eine genaue Übersicht des Umfangs unserer Königreiche einliefern, indem er seine Schritte im Umkreise der Küste berechnet. IX. Letztens. Der besagte Menschberg, nachdem er die Beobachtung dieser Artikel feierlichst beschworen hat, soll eine tägliche Ration von Speise und Trank, die zur Ernährung von tausendachthundertvierundzwanzig unserer Untertanen genügend ist, sowie freien Zutritt zu unserer Person und andere Beweise unserer Gunst erhalten. Gegeben in unserem Palast im
Belsuborac am zwölften Tage des einundneunzigsten Monats unserer Regierung. Obgleich einige dieser Artikel recht demütigend für mich waren, worauf der tückische Skyresh Bolgolam recht wohl bedacht gewesen war, so beschwor ich sie, weil sie mir die ersehnte Freiheit verschafften, doch gern und ohne alle Hintergedanken. Nach getanem Schwur wurden mir angesichts Seiner Majestät des Kaisers, der mir die Ehre erwiesen hatte, bei der feierlichen Handlung gegenwärtig zu sein, die Ketten abgenommen, und ich konnte unter dem Einhalten der Bedingungen gehen wohin ich wollte, nur nicht außer Landes. Der erste Akt des freien Gebrauchs meiner Glieder bestand darin, daß ich dicht vor den Kaiser hintrat, die Knie beugte und ihm in warmen, herzlichen Worten meinen Dank aussprach. Wie immer gütig und wohlwollend gegen mich gesinnt, befahl er mir aber, aufzustehen, und richtete so gnädige und schmeichelhafte Worte an mich, daß ich sie hier nicht wiederholen mag, aus Besorgnis, daß mich der geneigte Leser für einen eitlen Menschen halten möchte. Schließlich sprach der Kaiser die Hoffnung aus, daß ich seinem Reiche ein nützlicher Diener sein würde und ermahnte mich, stets durch mein Betragen darauf bedacht zu sein, daß ich mich seiner bereits genossenen und künftigen Gunstbezeigungen wert mache. Bevor ich dieses Kapitel schließe, kann ich nicht umhin, den Leser auf einen merkwürdigen Beweis vom Scharfblick und der weisen Umsicht dieses Volkes aufmerksam zu machen. Man wird sich erinnern, daß der letzte Paragraph der Urkunde meinen Etat an Speise und Trank auf diejenige Quantität festgesetzt hatte, die tausendachthundertvierundzwanzig Landeseingeborene zu ihrem Unterhalt brauchten. Da ich mir nicht erklären konnte, wie man gerade auf eine so scharf bestimmte Zahl gekommen war, so bat ich später einen meiner Freunde um Aufschluß.
»Nun,« meinte er lächelnd, »das ist ganz einfach. Als der Etat für Euch berechnet werden sollte, mußten die Hofmathematiker die Größe Eures Körpers genau mit einem Quadranten aufnehmen, und da sich nun ergab, daß sich die Länge Eures Körpers zu der hiesigen gewöhnlichen Menschenlänge wie zwölf zu eins verhielt, so hatten sie einen Maßstab für die Berechnung Eures ganzen Körperinhalts und fanden, daß er genau dem Maßinhalt von tausendachthundertvierundzwanzig Landeseingeborenen entsprechen müsse; da lag die Folgerung auf der Hand, daß Ihr geradeso viel an Nahrung bedürftet wie die genannte Zahl von Liliputern.«
Viertes Kapitel Der Verfasser besucht die Hauptstadt Mildendo und den Palast des Kaisers. Der Geheimsekretär Redresal unterrichtet den Verfasser in einer diplomatischen Mission über die politischen Zustände und Angelegenheiten des Reichs. Der Verfasser ist bereit, dem Kaiser mit allen Kräften getreu gegen die Feinde des Reichs zu dienen.
Freigegeben, war es nun mein nächster Wunsch, mir die Hauptstadt Mildendo anzusehen und zu diesem Ende reichte ich eine Bittschrift ein. Der Kaiser gewährte gern meine Bitte, ließ mir aber noch einmal die betreffenden Artikel der Befreiungsurkunde einschärfen, damit ich auf meiner Hut sei, keine Menschen zu verletzen und an den Gebäuden keinen Schaden anzurichten. Vor meinem Besuche wurden auch die Bewohner von Mildendo durch eine an allen Ecken angeschlagene Proklamation von meinem Vorhaben unterrichtet und ebenfalls zur Vorsicht ermahnt; auch ward ihnen darin untersagt, während meiner Anwesenheit auszugehen. Als ich nun von meinem bisherigen Wohnort, dem Tempel aus, nach etwa hundertdreiunddreißig Schritten die Stadt erreicht hatte, fand ich, daß sie von einer Ringmauer von zweieinhalb Fuß Höhe und wenigstens elf Zoll Breite umgeben war, so daß ein mit Pferden bespannter Wagen bequem darauf fahren und sogar ausweichen konnte. Die ganze Ringmauer war von je zehn zu zehn Fuß mit stark befestigten Türmen gekrönt. Ich schritt nun über das mir zunächstliegende große Tor hinweg und ging durch zwei Hauptstraßen mit aller Vorsicht und nur mit meinem enganliegenden Wams bekleidet – meinen Rock
hatte ich zurückgelassen, damit nicht etwa das Anstreifen seiner Schöße an den Dächern und Gesimsen Schaden anrichtete. Die Fenster, Bodenluken, ja die Dächer waren derartig mit Zuschauern angefüllt, daß ich mich nicht erinnern konnte, jemals auf meinen weiten Reisen einen so bevölkerten Ort gefunden zu haben. Die Stadt mußte mindestens an fünfmalhunderttausend Einwohner enthalten und war sehr regelmäßig gebaut, indem von den breiten Hauptstraßen stets in regelmäßigen Zwischenräumen kleinere Straßen ausliefen, die ich aber, da sie nur zwölf bis achtzehn Zoll Breite hatten, nicht betreten konnte. Die drei bis fünf Stockwerk hohen Häuser der Hauptstraßen hatten meist im unteren Stock sehr elegante Kaufläden, die wie auch die Märkte reichlich mit Waren versehen waren. – Genau im Mittelpunkte von Mildendo, wo sich die beiden Hauptstraßen kreuzen, lag der kaiserliche Palast, ein Prachtbau, der meine Achtung vor den mathematischen und architektonischen Fertigkeiten dieses Volkes noch um vieles erhöhte. Den Zugang zu den inneren Gebäuden dieser großartigen Hofburg konnte ich nur mit einiger Mühe bewerkstelligen. Ich überschritt die zwei Fuß hohe Umfassungsmauer und stand nun vor einem äußeren Hof, dessen Gebäude im Quadrat von vierzig Fuß wiederum zwei Vierecke umschlossen, welche die eigentlichen Prachtbauten mit den kaiserlichen Prunksälen und Wohngemächern enthielten. Mir lag am meisten daran, gerade diese zu sehen, und auch der Kaiser wünschte angelegentlich, daß ich von seinen Bauten und Prachträumen eine genügende Einsicht nähme. Um aber zu dieser Ein- und Ansicht zu kommen, hätte ich beim Übersteigen unfehlbar mehrere vor diesem inneren Bau liegende Gebäude beschädigen müssen. Deshalb kam ich auf folgenden Ausweg: Ich fällte mit meinem Taschenmesser einige der größten Bäume des kaiserlichen Parks und machte mir daraus zwei Fußbänke, von diesen stellte ich nun die eine vor die mich behindernden Gebäude, trat darauf und hob die andere über
das Dach hinweg auf den jenseitigen Hof, so daß mein Fuß sie beim Übersteigen bequem erreichen konnte. Dieses Verfahren gelang vollkommen; durch das stützende Mittel der Fußbänke überschritt ich hochbeinig genug die Häuser, ohne im geringsten eines zu beschädigen und befand mich nun vor den kaiserlichen Hauptgebäuden, deren Inneres zu übersehen ich sehr gespannt war. Zu diesem Zweck hockte ich nieder, so daß mein Gesicht die offen gelassenen Fenster des ersten Stockes erreichte, und hier überblickte ich eine kaum zu beschreibende Pracht an wohnlicher Ausstattung. Die Kaiserin näherte sich mit den kaiserlichen Kindern und dem Hofstaat einem der Fenster und hatte die Gnade, mir mit huldvollem Lächeln ihre zarte Hand zum Kuß zu reichen. Ich breche jedoch hier meine Beobachtungen und Bemerkungen bei weiterer Besichtigung des Palastes und seiner kostbaren Ausschmückung ab, weil ich sie mir für ein größeres, fast schon druckfertiges Werk vorbehalte, das eine eingehende Geschichte und Beschreibung des ganzen Reiches Liliput auf Grund der besten Quellen enthalten soll. Die Hauptabsicht meiner vorliegenden Darstellung ist lediglich, die Vorfälle und Begebenheiten mitzuteilen, die durch meinen neunmonatlichen Aufenthalt in diesem Reiche eintraten und vorzugsweise mit meiner Person zu tun hatten. Ich fahre daher in der Erzählung der mich persönlich berührenden Angelegenheiten fort. Einige Tage, nachdem ich die Residenz und den Palast in Augenschein genommen hatte, fuhr eine Staatskarosse bei mir vor, der mein schon genannter Freund Redresal, erster Privatsekretär des Kaisers, entstieg; er ließ mich durch den einzigen ihn begleitenden Diener bitten, ihm in einer wichtigen Angelegenheit ein Stündchen Audienz zu gewähren. Redresals liebenswürdige Persönlichkeit, sowie auch die vielen freundlichen Gefälligkeiten, die er mir bei Hofe erwiesen hatte, ließen mich ihn mit
Freuden willkommen heißen, und ich machte ihm, nachdem wir nicht ohne Herzlichkeit die landesüblichen Höflichkeiten ausgetauscht, den Vorschlag, ihn auf meine Hand zu setzen und ihn meinem Ohr nahe zu bringen, damit wir uns desto bequemer unterhalten könnten. Herr Redresal war ganz damit einverstanden und holte nun, als ich ihn in die rechte und bequeme Lage gebracht hatte, etwas diplomatisch weit aus, sprach in zarter Weise von den Diensten, die er mir bei Hofe geleistet und kam dann allgemach auf die Zustände des Reiches, in die ich ja nun wohl schon einen kleinen Einblick zu tun Gelegenheit gehabt habe. Sich räuspernd fuhr er sodann fort: »Es wird Euch, großgeehrter und größestgeborener Herr Menschberg, nicht entgangen sein, daß die Zustände unseres Landes blühend sind und im allgemeinen nichts zu wünschen übrig lassen. Allein wie nichts vollkommen ist auf diesem mangelhaften Weltkörper, den wir Liliputer mit unserem Dasein beehren, so will ich Euch als Freund und Gönner nicht verhehlen, daß unser Reich an zwei großen Übeln leidet, nämlich an einer heftigen, politischen Parteiung im Innern und an der stetigen Gefahr eines äußeren Angriffs von seiten eines mächtigen und eifersüchtigen Feindes. Was den leidigen Parteistreit im Innern betrifft, so handelt es sich dabei um nichts Geringeres als um die Trameksan und Slameksan, das heißt um die Parteien der hohen und der niedrigen Stiefelabsätze. Indem nun viele der Meinung sind, daß hohe Absätze sich am besten für unsere Konstitution eignen und in der Presse, sowie in öffentlichen Versammlungen mächtig dafür agitieren, neigt Seine Majestät mit uns den niederen Absätzen zu, was zu hunderterlei Verdrießlichkeiten Anlaß gibt, zumal die demokratisch gesinnten Hohenabsätze ihre Ansichten und Gründe nicht immer in der respekt- und taktvollsten Weise laut werden lassen. Dazu kommt nun noch, daß es allen Anschein hat, als ob Seine Kaiserliche Hoheit, der präsumtive Thronerbe sogar einige Neigung
für die hohen Absätze zeige, wenigstens ist man in Hofkreisen überzeugt, daß er hochabsätzig demonstriere, weil er einen hohen und einen niederen Absatz trägt, was ihm einen hinkenden Gang verleiht. Bei den Familienzwisten, die dadurch höchsten Ortes herbeigeführt werden, ist dieser leidige Parteistreit, der mit der größten Erbitterung geführt wird, eine wahre Kalamität für das Land, und eine um so fühlbarere und drohendere, als wir während dieser Unruhen durch einen feindlichen Angriff des Beherrschers der Insel Blefusku, des zweitgrößten Reiches der Welt, das beinahe den Umfang von unserem erhabenen Liliput hat, ständig bedroht sind. Wendet mir nicht ein, wie Ihr oft getan, lieber Menschberg, daß es noch größere, von Menschen Eurer Art bewohnte Reiche in der Welt gebe als Liliput und Blefusku, ich muß darüber trotz Eurer Versicherungen und Träumereien wenigstens in Zweifel bleiben, denn unsere zuverlässigen Philosophen haben erklärt, daß dem nicht so sei, sondern daß Ihr aller Wahrscheinlichkeit nach vom Monde herabgefallen wäret. Außerdem wissen unsere ältesten, beinahe bis zu sechstausend Monaten hinaufreichenden Annalen von keinen anderen Weltgegenden zu erzählen als von Liliput und Blefusku. – Doch zur Sache! Die beiden Großmächte Liliput und Blefusku führen, wie ich Euch berichten wollte, seit dem gewaltigen Zeitraum von sechsunddreißig Monaten, mit wenigen Unterbrechungen, den erbittertsten Krieg miteinander. Ursprüngliche Ursache dieses beklagenswerten und verderblichen Streites war folgende. Es ist allgemeiner Brauch, daß man, um ein gekochtes Ei zu essen, das breitere Ende der Schale zerklopft oder abschneidet. So tat auch der höchstselige Großvater Seiner Majestät des jetzt regierenden Kaisers, als er als Knabe einst ein Ei essen wollte, schnitt sich aber dabei unglücklicherweise in den Finger. Der regierende, allerhöchste Vater nun, der von etwas raschem Temperament war, ward so aufgebracht über das Mißgeschick seines erlauchten Sohnes, daß er ein Edikt erließ, in dem allen Untertanen
aufs gemessenste bei schwerster Strafe befohlen wurde, niemals ein Ei an seinem breiteren Ende zu öffnen. Das Volk aber geriet über diese Verfügung, die es despotisch und tyrannisch zu nennen sich erlaubte, in solche Aufregung, daß sechs Rebellionen hintereinander ausbrachen, durch die ein Kaiser die Krone, ein anderer sogar das Leben verlor. Da ein Teil der Untertanen, besonders das Militär und die Beamten, mit jener unglückseligen Verfügung einverstanden waren und ihre Eier am spitzen Ende aufklopften, so gerieten sie mit den breitendigen Demokraten in tödlichen Zwist, und die Folge war ein andauernder Bürgerkrieg zwischen den Breitendigen und Spitzendigen. Diese bürgerlichen Zwistigkeiten wußten nun die eroberungslustigen Könige von Blefusku durch ihre geheimen Agenten zu erhalten und zu fördern; diese flammten den Parteihaß bis zum Fanatismus an, so daß Tausende von Menschen lieber den Tod erlitten, als daß sie die Eier am spitzen Ende geöffnet hätten. Eine ganze Bibliothek ist über diesen Streit geschrieben worden, und die Menge der Flugschriften ist zahllos; allein nach dem entschiedenen Überwiegen der Spitzendigen, die den größten Teil des Militärs auf ihrer Seite hatten, wurden die Bücher der Breitendigen verboten, und ein Gesetz erklärte die ganze Partei für unfähig, fernerhin öffentliche Ämter zu verwalten. Noch nicht zufrieden mit ihren Wühlereien, machten uns während der Unruhen die Könige von Blefusku auch den Vorwurf, eine Spaltung in der Religion hervorzurufen, indem wir uns gegen die Grundlehren unseres großen Propheten Lustrogg im fünfundvierzigsten Kapitel des Blundekral (so heißt die Heilige Schrift der Liliputer) vergingen. Dies war aber nur ein Versuch, uns durch Textverdrehung ketzerische Meinungen anzudichten, denn in dem beregten Kapitel lauten die Worte des dritten Absatzes: ›Alle wahren Gläubigen öffnen die Eier an dem passenden Ende.‹ Nach meiner demütigen Meinung nun, mit der ich übrigens als Laie nicht allein dastehe, sondern welche die Zustimmung des größten Teils
unserer ausgezeichnetsten Theologen hat, müßte es doch wohl dem Gewissen eines jeden überlassen bleiben, welches Eiende ihm am besten zum Öffnen paßt. – Kurz, die Aufhetzereien und Nörgeleien der Blefuskuer nehmen kein Ende, und die zu ihnen geflüchteten, verbannten Breitendigen werden nicht müde, Öl ins Feuer zu gießen und den Feind gegen ihr eigenes Vaterland in Harnisch zu bringen. Um es mit einem Worte zu sagen, geehrtester Herr Menschberg, die Sachen stehen so, daß es jeden Augenblick wieder zum Losschlagen kommen kann, und daß man in den Häfen von Blefusku bereits eine starke Flotte ausrüstet und unsere Küste mit einer Landung bedroht. Unter diesen Umständen hat mir nun Seine Kaiserliche Majestät befohlen, Euch Bericht zu erstatten und, da Seine Majestät viel Vertrauen in Eure Kraft und Tapferkeit setzt, bei Euch anzufragen, ob Ihr geneigt wäret, uns in dem bevorstehenden Kriege als ein treuer Bundesgenosse zu unterstützen?« Ich erwiderte dem Diplomaten kurz und herzlich: »Hochgeehrtester Herr Geheimsekretär und verehrungswürdigster Freund, ich bitte Euch, Seiner Majestät dem Kaiser meinen Gehorsam zu vermelden und ihn wissen zu lassen, daß, obgleich ich mich meiner friedlichen Natur wegen nicht gern in Parteistreitigkeiten mische, ich doch jeden Augenblick bereit bin, für Kaiser und Reich Blut und Leben zu wagen und alle meine Kräfte gegen einen feindlichen Angriff einzusetzen.«
Fünftes Kapitel Der Verfasser erobert durch einen Handstreich die feindliche Flotte und erhält den hohen Titel eines Nardak. Seine Gerechtigkeitsliebe läßt ihn in Ungnade fallen. Eine Gesandtschaft von Blefusku hält ihren prächtigen Einzug und erbittet den Frieden. In den Zimmern der Kaiserin bricht eine Feuersbrunst aus, die der Verfasser auf eigentümliche Weise löscht.
Liliput
wird durch einen achthundert Ellen breiten Kanal von dem feindlichen Reiche Blefusku, einer in nordöstlicher Richtung liegenden Insel, getrennt. Da jede Verbindung zwischen beiden Reichen bei nunmehr angekündigtem Kriege untersagt war, so hatte ich mich an der Blefusku gegenüberliegenden Küste noch gar nicht gezeigt und kein Blefuskude hatte eine Ahnung von meinem gefährlichen Dasein in Liliput. Nach meiner Ansicht, die ganz mit der des Staatsrats übereinstimmte, kam es nun zunächst darauf an, die zum Auslaufen bereite feindliche Flotte unschädlich zu machen, und in bezug darauf teilte ich dem Kaiser einen Plan mit, der seine vollkommene Billigung fand. Gelang die Ausführung des Planes, und an ein Mißlingen war kaum zu denken, so mußte sich sehr bald die ganze feindliche Flotte in der Gewalt des Kaisers befinden, der strengen Befehl gab, allen meinen Anordnungen und Forderungen unbedingt Folge zu leisten. Ich erkundigte mich nun zunächst bei den erfahrensten Matrosen nach der Tiefe des Kanals und erfuhr, daß er bei der Flut in der Mitte siebzig Glumgluffs, das heißt höchstens sechs Fuß
betrug, während sie in der Nähe der Küsten nur vierzig bis fünfzig Glumgluffs maß. Als ich mich dessen vergewissert hatte, versteckte ich mich an der Blefusku gegenüberliegenden Nordostküste hinter einem Hügel, in liliputischen Augen einem der größten Berge des Landes, und beobachtete durch mein Taschenfernrohr die im Hafen liegende feindliche Flotte. Nachdem ich mir über die Zahl der Schiffe klargeworden war, ging ich wieder zu meiner Behausung und ließ eine große Menge von starken Tauen und eisernen Stangen herbeischaffen. Die Taue hatten reichlich die Stärke eines Bindfadens, und die eisernen Stangen gaben unseren Stricknadeln nichts an Länge und Stärke nach. Um mit den Tauen aber ganz sicher zu verfahren, drehte ich ihrer drei zu einem Tau zusammen und tat dasselbe mit den eisernen Stangen, deren Spitzen ich zu einem Haken umkrümmte. Diese Haken befestigte ich dann an die Taue, kehrte damit zur Nordküste zurück, zog im Angesichte des Kaisers und des Hofes Rock, Schuhe und Strümpfe aus und watete ungefähr eine Stunde vor der Flut mit meinem Bündel Taue in die offene See hinein. Als mir in der Mitte der Grund ausging und mir Wasser in die Nase stieg, verlegte ich mich aufs Schwimmen, und gewann, nachdem ich etwa dreißig Ellen zurückgelegt, wieder Boden. Keine halbe Stunde hatte ich gebraucht, um bei der Flotte anzulangen. Der Feind, wohl etwa dreißigtausend Mann stark, wurde bei meinem Anblick von einem panischen Schrecken befallen und stürzte sich, Kapitäne und Offiziere an der Spitze, ins Meer, um schwimmend das Ufer zu erreichen. Darauf machte ich mich mit meinen Tauen an die menschenleer gewordene Flotte, befestigte an den Vorderteilen eines jeden Schiffes einen meiner Haken und band die daran befestigten Stricke an ihren Enden mit einem Knoten zusammen. Diese Arbeit wurde mir indes nicht unwesentlich erschwert, denn unterdessen schoß der Feind Salve auf Salve von Pfeilen auf mich ab, die mich, wo sie Gesicht und Hände trafen, empfindlich prickelten und teilweis gar blutrünstig machten. Da
viele der Pfeile mein Gesicht trafen, so hatte ich ernstlich Ursache, um meine Augen besorgt zu sein, als mir gottlob meine Brille einfiel, die ich, wie sich der Leser erinnern wird, nebst meinem Fernrohr bei der Durchsuchung von seiten der kaiserlichen Kommissare verborgen und bei mir behalten hatte. Mit dieser Brille schützte ich meine Augen und die Pfeile prallten unschädlich und machtlos von den starken Gläsern ab. Als ich so, um die ferneren Schüsse unbekümmert, sämtliche Haken an den Schiffsvorderteilen befestigt hatte, nahm ich den Knoten in die Hand und zog an. Allein kein Schiff wollte folgen, weil sie sämtlich fest an den Ankern lagen. Nun blieb mir nichts übrig, um dies letzte Hindernis zu überwinden, als die Ankertaue eines nach dem anderen mit meinem Taschenmesser zu durchschneiden, bei welcher Arbeit ich wiederum einige hundert Schüsse ins Gesicht und auf die Hände bekam. Das hinderte mich aber nicht an der Vollendung meiner Arbeit, und schließlich ergriff ich wieder das Knotenende meiner Taue und zog nun die losgelösten Kriegschiffe, es waren wohl fünfzig, mit Leichtigkeit hinter mir her. Den Blefuskuden, die anfangs keinen Begriff von meinem Vorhaben hatten, wurde nun zu ihrem Schrecken und Schmerz meine Absicht klar und sie ließen einen Wehe- und Klageruf erschallen, so jammervoll, wie ich ihn noch nicht gehört; es ging mir durch Mark und Bein. Als mich ihre Pfeile, die sie mir nachsandten, nicht mehr erreichen konnten, hielt ich einen Augenblick an, verschnaufte und zog mir die Pfeilspitzen aus Gesicht und Händen. Dann watete ich, nachdem ich meine Brille wieder eingesteckt, wohlgemut weiter und erreichte bald den Hafen von Liliput. Der Kaiser, der gespannt mit seinen Großen am Hafendamm den Ausgang meines Unternehmens erwartete, hatte mich anfangs, als ich noch bis an den Hals im Wasser watete, nicht bemerkt und nur die feindlichen Schiffe sich im Halbkreise nähern
sehen. Erschrocken darüber, hatte er schon gemeint, ich sei dem Feinde erlegen, da aber erschien ich bald mit halbem Körper über Wasser, hielt das Knotenende der Taue, an denen ich die Schiffe nachschleppte, in die Höhe und rief siegestrunken: »Lang lebe der großmächtigste und unüberwindlichste Kaiser von Liliput!« – Nicht endenwollender Jubel beantwortete diesen Zuruf, und als ich nun ans Land stieg und dem Kaiser die ganze feindliche Flotte sozusagen zu Füßen legte, spendete er mir das größte Lob und ernannte mich zum großen Ärger meines Feindes, des Admirals Skyresh Bolgolam, zum Nardak, der höchsten Würde seines Reiches. Wie es aber schon manche erfahren haben, daß, wenn sie die fürstliche Gnadensonne am hellsten und wärmsten bescheint, finstere Wolkenschatten nicht fern sind, um das strahlende Licht zu verdunkeln und die behagliche Wärme in bittere Kälte zu verwandeln, so sollte auch mir diese trübe Erfahrung nicht erspart bleiben. – Die nächste Veranlassung dazu war des Kaisers Ehrgeiz und Herrschsucht. »Je mehr man hat, je mehr man will«, ist ein Sprichwort, das sich allezeit weniger beim Volk, als bei den Fürsten bewahrheitet. – Der ungeheure Erfolg, die ganze feindliche Flotte ohne Schwertschlag und ohne Verlust eines einzigen Matrosen oder Soldaten in seiner Gewalt zu haben, machte den sonst wohlwollenden und mit vielen guten Eigenschaften gezierten Kaiser übermütig und grausam. So wurde er mit dem Plan immer vertrauter, ganz Blefusku zu erobern und die Herrscherfamilie dieses Reiches zu vernichten, weil er damit, nach seiner und seiner Gelehrten Meinung, Herr der Erde oder, nach welchem Titel er noch mehr dürstete, Beherrscher der Welt wurde. Er teilte mir als seinem ersten Staatsbeamten und vertrautesten Diener diesen Plan unter der Voraussetzung mit, daß ich ihm zu dem Unterjochungswerke meinen starken Arm leihen würde, und ließ zugleich durchblicken, daß er darauf denke, alle breitendigen Verbannten in Blefusku zu töten und die Blefuskuden
zu zwingen, auch ihre Eier am spitzen Ende zu öffnen. – Ich, der ich von jeher Recht und Billigkeit geliebt habe, hörte diesen Auseinandersetzungen mit Unwillen zu und suchte dem Kaiser seinen Plan auszureden. Allein er wollte sich nicht davon abbringen lassen, ein Wort gab das andere, und ich erklärte schließlich ganz entschieden, daß ich mich nie zum Werkzeug gebrauchen lassen würde, um ein freies und tapferes Volk in das Joch der Sklaverei zu zwängen. Diese offene und entschiedene Erklärung nahm der Kaiser übel auf und trug sie mir nach. Er wandte sich nun mit seinem Plan an den Staatsrat, aber auch hier waren die rechtlichsten Räte auf meiner Seite, während die Kriecher und Speichellecker die Eroberungs- und Unterdrückungslust des Kaisers vollkommen billigten und meine Weigerung, die der Kaiser erwähnt und nicht im besten Lichte dargestellt hatte, als strafwürdigen Ungehorsam und als die schwärzeste Undankbarkeit bezeichneten. Von dieser Zeit an begann von seiten des Kaisers und der mir feindlichen Minister eine Intrige gegen mich zu spielen, die mich beinahe nach etwa zwei Monaten das Leben gekostet hätte. – So lohnen oft die Fürsten die größten Dienste, wenn man sich nicht willig finden läßt, all ihren Leidenschaften und Launen gehorsamst entgegenzukommen. Kurze Zeit nach meiner Eroberung der Flotte erschien eine Gesandtschaft aus Blefusku, die unter demütigen Ausdrücken um Frieden bat. Dieser wurde dann auch unter sehr vorteilhaften Bedingungen für Liliput abgeschlossen. Die aus sechs Gesandten mit einem Gefolge von fünfhundert Großen des Reiches und ihrer Dienerschaft bestehende Gesandtschaft hielt einen überaus pomphaften Einzug, wie es der Würde ihres Auftrages und der Größe ihres Reiches angemessen war. Auf den Turm des Stadttores mich stützend, beobachtete ich den Einzug und bemerkte an ihren Mienen und Bewegungen das maßlose Erstaunen, das die vornehmen Sendlinge über meine Größe an den Tag legten. –
Als es während ihres mehrtägigen Aufenthaltes zur Sprache kam, daß ich durch meine Vorstellungen und Weigerungen einen Vernichtungskrieg gegen Blefusku verhindert habe, drückten sie mir ihren Dank auf die verbindlichste Weise aus und luden mich im Namen ihres Herrn und Königs ein, auch ihr Reich bald mit einem Besuche zu beehren. Auch ersuchten sie mich freundlichst, ihnen die eine oder andere Probe meiner außerordentlichen Kraft zu zeigen. Ich machte ihnen bereitwillig das Vergnügen und zerbrach vor ihren staunenden Augen zunächst einen der größten Schiffsanker (zwanzig Blefuskuden oder Liliputer hätten ihn nicht ohne Winden und Flaschenzüge von der Stelle bewegt), der gerade in der Nähe lag, zwischen Zeigefinger und Daumen wie ein Schwefelhölzchen. Dann langte ich mit meiner Rechten nach dem zunächstliegenden Gebirge, brach ihm einige der größten Felsblöcke von zehn bis zwölf englischen Pfunden aus und warf sie in das Meer, daß es so hoch aufspritzte, wie der höchste liliputische Turm aufragt, auch riß ich einige Eichbäume mit der Wurzel aus und bediente mich ihrer als Wurfspeer. – Ich habe wohl nicht nötig, meinen Lesern die Bewunderung auszumalen, die diese Kraftproben hervorriefen! – Nach solchen Unterhaltungen bat ich die Gesandten, ihrem Herrn und König meinen tiefsten Respekt zu vermelden und ihm mitzuteilen, daß es mir eine große Ehre sein würde, seiner huldvollen Einladung vor meiner Abreise in mein Vaterland zu folgen. – Ich benutzte auch die nächste Audienz, um meinen Kaiser um die Erlaubnis zu einem solchen Besuche zu bitten, und er gab sie mir auch, aber in einer auffallend kalten und frostigen Weise; ein Freund vertraute mir später, daß Flimnap und Skyresh Bolgolam den mir schon abgeneigten Kaiser noch mehr dadurch gegen mich eingenommen hätten, daß sie hinterlistig bemüht gewesen wären, ihm meinen vertrauten Verkehr mit den blefuskudischen Gesandten als eine Neigung zur Verräterei darzustellen, eine Niedertracht, woran mein Herz nicht dachte.
Hier muß ich noch einen Umstand erwähnen, der für mich einst von den glücklichsten Folgen sein und die tückische Bosheit meiner Feinde nicht zu meinem gänzlichen Verderben ausschlagen lassen sollte. Die Sprache beider Länder nämlich ist eine gänzlich verschiedene. Der Blefuskude sowohl wie der Liliputer ist, wie dies ja auch bei den europäischen Nationen der Fall, stolz auf seine Sprache und hält sie für die vorzüglichste der Welt. Indes verstehen namentlich die Küstenbewohner beider Länder des häufigen gegenseitigen Verkehrs wegen, sowie auch alle Gebildeten beide Sprachen, und es war nur der Übermut des Siegers, der unseren Kaiser darauf bestehen ließ, daß die blefuskudischen Gesandten ihre Verhandlungen in liliputischer Sprache vorbringen sollten. Doch dies beiläufig, ich wollte nur bemerken, daß die gegenseitige Sprachkenntnis mir später von großem Nutzen war. – Man wird sich erinnern, daß einige der Bedingungen, unter denen ich meine Freiheit erhalten hatte, höchst demütigend für mich waren. Anfangs hatte ich mir nicht viel daraus gemacht, jetzt aber hätte es mir, als dem Nardak des Reiches, schlecht angestanden, den Bauleuten Steine auf das Baugerüst zu heben oder sonst sklavische Dienstleistungen zu verrichten. Der Kaiser (diese Gerechtigkeit muß ich ihm widerfahren lassen) war taktvoll genug, solche Dienste auch nicht zu verlangen, und darum war ich stets gutwillig bereit, meinem hohen Herrn und seinem Reiche, wenn es die Not erforderte, nützlich zu sein. Dazu sollte mir bald wieder Gelegenheit gegeben werden. Eines Nachts nämlich wurde ich durch Hilferufe und klägliches Geschrei aufgeweckt und hörte beim Hinauskriechen aus meiner Tür, daß das Wort »Burglum« immer mit allen Zeichen des Schreckens und der Aufregung wiederholt wurde. Endlich wurde es mir aus den Worten der mich flehend umdrängenden Hofleute klar, daß in den Zimmern Ihrer Majestät der Kaiserin durch die Unvorsichtigkeit einer Hofdame (diese hatte nämlich
einen Roman im Bett gelesen und war darüber eingeschlafen, ohne vorher das an einer leicht Feuer fangenden Stelle stehende Licht auszulöschen) Feuer ausgebrochen sei, das rasch um sich greife; ich möge kommen, um beim Löschen zu helfen. Sogleich machte ich mich auf und konnte, da gerade heller Mondschein war, bei aller Raschheit so vorsichtig meinen Weg zum Schlosse nehmen, daß ich niemand zertrat. Als ich bei der Brandstelle angekommen war, beeilte man sich, mir eine Menge mit Wasser gefüllter Feuereimer zu geben; da sie indes nur die Größe von Fingerhüten hatten, so sah ich bald ein, daß diese Art zu löschen bei den immer verderblicher aufwirbelnden Flammen nicht zum Ziele führen würde. Rasch sah ich mich nach größeren Gefäßen um und stürzte das Wasser einiger Feuerbutten von der Größe unserer Weingläser ins Feuer, allein auch das half nicht viel, weil nicht eine hinlängliche Zahl in kurzer Zeit zu beschaffen war. Schon drohte der ganze herrliche Palast ein Raub der Flammen zu werden, als mir ein glücklicher Gedanke kam, den ich fast ebenso rasch ausführte, wie er in mir entstanden war. Ich erinnerte mich nämlich aus meinen Knabenjahren, daß wir beim Baden oft den Mund voll Wasser genommen und uns gegenseitig bespritzt hatten, worin ich mich, da meine Backen ungewöhnlich viel Wasser aufnehmen konnten, immer als einen Meister gezeigt und meinen Kameraden einen so langen und starken Strahl nach dem Gesicht zu spritzen verstanden hatte, daß sie, wenn ich Miene dazu machte, eiligst den Kopf unter Wasser bargen. Die Erinnerung an das kindische und unsaubere Spiel sollte den prächtigen Palast von Mildendo vor dem Verderben retten. Mit einer Löwenstimme brüllend, mir so rasch wie möglich auszuweichen, überkletterte ich, unbekümmert darum, ob in dieser Not etwas an den Dächern beschädigt würde, die Häuser, schwang mich übers Tor und hatte in einigen Sätzen den Park erreicht, in dessen Nähe ein fast handbreiter Mühlbach floß.
Unmittelbar vor dem Getriebe, wo der Bach am höchsten gestaut war, warf ich mich auf den Bauch und sog mit meinem Munde so viel Wasser ein, als nur meine Mundhöhle fassen konnte. (Beiläufig bemerkt, es muß eine tüchtige Portion gewesen sein, denn ich vernahm, daß während meines Saugens das Geklapper in der Mühle aufhörte, weil es dem Wasserrade an Wasser mangelte.) Dann kehrte ich auf dem gleichen Wege so rasch zur Brandstätte zurück, wie ich gekommen war, ließ einen mächtigen Strahl aus meinem Munde zischend in die knatternden Flammen fahren, sprang wieder zum Bach und machte die Räder stocken; und als ich dies zum dritten Male wiederholt und meinen Strahl ins Feuer geblasen hatte, war die Glut ausgespien und der Palast gerettet. Ich ging mit dem erhebenden Bewußtsein, eine gute und nützliche Tat ausgeführt zu haben, nach meinem Haustempel zurück und kroch mit gutem Gewissen in mein Lager, ohne zu ahnen, daß meine nützliche Dienstleistung mir durch die Tücke meiner neidischen Feinde übel ausgelegt werden könnte. Darum vernahm ich am anderen Morgen zu meinem größten Erstaunen von einem treuen Freunde, der sich zu mir hergeschlichen hatte, daß der Kaiser höchst ungehalten über meine Feuerlöschmethode sei, denn den kaiserlichen Palast anzuspeien, sei ein Verbrechen, für das die Landesgesetze den Tod bestimmten. Noch aufgebrachter sei die Kaiserin über die Art und Weise, wie ich den Brand gelöscht und ihre Gemächer, wie sie sich ausdrücke, verunreinigt und entheiligt hätte; es sei ihm kein Geheimnis, daß mir die hohe Frau in Gegenwart ihrer vertrautesten Hofdamen furchtbare Rache geschworen habe.
Sechstes Kapitel Kurze Nachrichten über Land und Leute in Liliput, sowie über ihre Gesetze, Sitten, Gewohnheiten und ihre Kindererziehung. Des Verfassers Lebensweise in diesem Lande, seine Kleidung und seine Tafel. Sein Appetit greift stark in die kaiserlichen Finanzen und dies gibt dem Finanzminister Flimnap Gelegenheit zu neuen Tücken.
Obgleich ich, wie schon erwähnt, eine umständliche und eingehende Beschreibung des Reiches Liliput in einem größeren Werke zum Druck vorbereite, so darf ich es hier doch nicht unterlassen, den Lesern wenigstens einige allgemeine Bemerkungen über Land und Leute dieses Staates zu machen. Vor allem möge es der Leser fest im Auge behalten, daß das Größenverhältnis der Tiere, Pflanzen und Bäume in Liliput durchaus der sechszölligen Länge der Menschen entspricht. Pferde und Ochsen zum Beispiel haben eine Höhe von vier bis fünf Zoll, Schafe und Schweine von etwa anderthalb Zoll, die Gänse haben etwa die Größe unserer Zaunkönige, und in dieser Art ging’s abwärts, bis ich die krabbelnden Dingerchen nicht mehr in ihren Körperumrissen erkennen konnte. Stubenfliegen und Mücken zum Beispiel wären nur mikroskopisch für mich dagewesen. – Indes hat die vorsorgliche Natur die Liliputer mit einem so scharfen Gesicht ausgestattet, daß sie auch die kleinsten Gegenstände erkennen können, und ich habe mich zum Beispiel überzeugt, daß einst ein Koch einen Vogel rupfte, der nicht größer war als eine Fliege, und daß eine Näherin einen mir unsichtbaren Faden in eine mir ebenfalls unsichtbare Nadel einfädelte.
Die höchsten Bäume in Liliput erreichen eine Höhe von höchstens sieben Fuß, so daß ich, ohne mich viel zu strecken oder auf die Zehen zu stellen, ihre Wipfel mit der Hand berühren konnte. Nach diesem Maßstab mag der Leser sich leicht die Größe der kleinen Pflanzen vorstellen, unter denen ich schöne Blumen von den Liliputern bewundern und beriechen sah, die ich kaum mit dem bloßen Auge entdecken konnte. Der Gelehrsamkeit dieses Volkes, namentlich seiner tiefen Kenntnis der Mathematik und Mechanik, habe ich schon wiederholt gedacht und spare das Übrige für mein größeres Werk, doch will ich hier die Art ihres Schreibens nicht unerwähnt lassen. Sie schreiben nämlich nicht wie wir von der Linken zur Rechten, oder wie die Juden von der Rechten zur Linken, sondern quer und unregelmäßig über das Papier, etwa wie unsere Knaben, die noch nicht gewohnt sind, ohne Linien zu schreiben. Auch die Bestattung ihrer Toten hat das Eigentümliche, daß sie diese mit dem Kopfe nach unten ins Grab senken, weil sie der Meinung sind, daß bei der allgemeinen Auferstehung sich die Erde, die sie sich als eine Scheibe vorstellen, auf die andere Seite kehren würde, so daß dann jeder so Begrabene wieder auf die Füße zu stehen komme. Die Naturforscher und Astronomen der Liliputer haben schon längst die Albernheit dieser Vorstellung mit klaren Gründen bewiesen, dennoch halten die meisten Theologen und das Volk jene Meinung aufrecht, weil sie eine altherkömmliche ist. Auch andere Gewohnheiten und gesetzliche Bestimmungen sind von den unserigen sehr verschieden, dabei jedoch so beschaffen, daß ich nicht wüßte wie sie zu tadeln wären. So fehlt es zum Beispiel bei der Strenge, mit der in Liliput Verbrechen gegen den Staat und die geheiligte Person des Kaisers bestraft werden, nicht an Spionen und Angebern, wenn aber ein solcher jemand falsch beschuldigt, so verfällt der Angeber der gleichen Strafe, die den schuldigen Staatsverbrecher getroffen hätte, und außerdem fällt
sein ganzes Vermögen dem unschuldig Angeklagten zu. Hat der Angeber kein oder kein ausreichendes Vermögen, so erhält der unschuldig Verklagte für die Gefahr, in der er schwebte, für Zeitverlust und Untersuchungsgefängnis eine angemessene Entschädigung aus der Staatskasse, und hinterher wird seine Unschuld durch öffentlichen Ausruf im ganzen Reich bekanntgemacht. Betrug wird weit härter bestraft als Diebstahl, weil die Liliputer der Ansicht sind, daß man sich vor Dieben leicht durch Vorsicht und durch Schloß und Riegel hüten könne, während man gegen die tückische List eines Betrügers ganz schutzlos sei. Als ich einst für einen Verbrecher, der seinem Prinzipal eine große Summe Geldes unterschlagen und versucht hatte, sich damit aus dem Staube zu machen, ein gutes Wort beim Kaiser einlegen wollte, erhielt ich eine so derbe Zurechtweisung von ihm, daß ich mich wirklich schämte. Man fördert ferner in Liliput nicht nur Tugend und Sittlichkeit durch Verfolgung und Strafe von Vergehen und Verbrechen, sondern auch durch nützliche und zweckmäßige Belohnung guten Verhaltens und guter Handlungen. So wird jeder, der nachweisen kann, daß er siebenunddreißig Monate lang die Landesgesetze und die Vorschriften der Moral pünktlich befolgt hat, mit gewissen Vorrechten und einer ansehnlichen Geldsumme aus dem Staatsschatz bedacht. Auch darf er von der Zeit an seinem Namen den Titel Frillnall, oder der Gerechte, vorsetzen, welcher Titel aber nicht auf seine Nachkommen übergeht, sondern den sich auch diese durch ihr gutes Betragen wieder selbst erwerben müssen. Mit Rücksicht auf diese Sitte hält das Bild der Gerechtigkeit in ihren Gerichtshöfen in der rechten Hand zwar auch ein Schwert, in der linken aber einen Beutel mit Geld zur Belohnung der Gerechten. Zur Erlangung hoher Staatsämter befähigt in Liliput nicht Reichtum und hohe Geburt, sondern Fähigkeit und gutes Betragen. Außerdem werden die Tugenden der Wahrhaftigkeit,
Gerechtigkeit und Mäßigkeit bei Bewerbungen um ein Amt noch höher angeschlagen als die glänzendsten Verstandesfähigkeiten, weil man der Meinung ist, daß wenn jene Tugenden nur mit einem einfachen gesunden Menschenverstand vereinigt wären, das vollkommen ausreiche, um dem Vaterlande treue und nützliche Dienste zu leisten. Bei Erwähnung dieser wirklich guten und lobenswerten Sitten und Gesetze lasse ich indes nicht unbemerkt, daß sie in früherer Zeit weit genauer beobachtet wurden, als zu der Zeit, als ich in Liliput weilte, sonst wäre die Unsitte nicht möglich gewesen, daß man durch Seiltanzen und durch das Springen über den Stock Orden und Ehrenstellen zu erhaschen suchte. Diese Unsitte hatte zuerst der Großvater des jetzt regierenden Kaisers, der ein launenhafter, tyrannischer Mann war, sich einzuführen unterstanden, weil er dergleichen einem Volke bieten konnte, das durch Parteistreitigkeiten und höfische Liebedienerei schon tief gesunken war. Auch über die Erziehung der Kinder haben die Liliputer von den unserigen abweichende Begriffe. Da nämlich die Eltern oft nur zu geneigt sind, ihre Kinder zu verzärteln und ihnen alle Unarten nachzusehen, so werden die Kinder schon im zwanzigsten Monat öffentlichen Erziehungsanstalten übergeben, wo sie streng zu guten Sitten und anständigem Betragen erzogen und in den für ihr Alter passenden nützlichen Wissenschaften unterrichtet werden. Geschickte Lehrer sind bestellt, die sowohl in der Schule als beim Spazierenführen der Kinder ein aufmerksames Auge auf ihre Fähigkeiten und Neigungen haben; diese bilden sie dann vorzugsweise aus und bestimmen danach den späteren Beruf ihrer Zöglinge. Auf solche Weise werden in jedem Kinde besonders die Kräfte und Fähigkeiten gefördert, die ihm im späteren Leben nützlich sein können. In allen Lehranstalten hält man ganz besonders darauf, den Zöglingen die Grundsätze der Ehre und Gerechtigkeit, der Wahr-
heitsliebe und des Mutes, der Menschenfreundlichkeit und der Dankbarkeit und Gefälligkeit einzuprägen. Da man in Liliput sogut weiß wie bei uns, daß Müßiggang aller Laster Anfang ist, so erhält man die Schüler, die Essens- und Schlafenszeit ausgenommen, in beständiger Tätigkeit, indem man selbst ihre Erholungen so einrichtet, daß sie durch Turnen und andere körperliche Übungen der Ausbildung des Körpers dienen, weil man meint, in einem gesunden, tüchtigen Körper müsse auch ein gesunder, tüchtiger Geist wohnen. Die Eltern, und das würden wir freilich sehr hart finden, dürfen ihre Kinder nur zweimal im Jahre sehen, und dann darf dieser Besuch nur in Gegenwart eines Lehrers gemacht werden und nicht über eine Stunde dauern. Auch hat der Lehrer darauf zu sehen, daß den Kindern kein Zuckerwerk oder Spielzeug, das sie beim Unterricht stören könnte, von den Eltern zugesteckt wird. Die Mädchen werden in ähnlicher Weise wie die Knaben erzogen, namentlich müssen sie, weil beim weiblichen Geschlecht mit dem Ankleiden und Herausputzen viel Zeit unnütz verschwendet zu werden pflegt, frühzeitig und zwar schon mit dem fünften Jahre lernen, sich selbst rasch und vollständig anzukleiden. Streng wird darauf gehalten, daß die Mägde und Aufwärterinnen den kleinen Mädchen keine Gespenster- und Hexengeschichten erzählen. Unterhält eine Magd die Kinder mit diesen oder ähnlichen Albernheiten, so wird sie durch die Stadt gepeitscht und in einen öden Winkel des Landes verbannt. Dadurch bringt man es zuwege, daß später die jungen Damen nicht furchtsam und albern erscheinen. Auch wird darauf gehalten, daß die Mädchen schon frühzeitig allen unnützen Putz verschmähen, dafür aber die äußerste Sauberkeit und Reinlichkeit an ihrem Körper und ihren Anzügen bewahren. Bei den körperlichen Übungen der Mädchen wird weniger auf die Entwicklung ihrer Kraft, als auf die Ausbildung solcher Eigenschaften gesehen, die ihnen in ihrem späteren häuslichen Leben nützlich sein können. Mit dem
zwölften Jahr werden die Mädchen als vollständig ausgebildet entlassen und zu ihren Eltern zurückgeführt, was selten ohne Tränen über die Trennung von den ihnen liebgewordenen Lehrern und Lehrerinnen geschieht. Ärmere Bauern und Taglöhner, die ihre Kinder schon frühzeitig bei ihrem Geschäft nötig haben, behalten ihre Kinder zwar zu Hause, doch haben die Behörden auch hier ein wachsames Auge darauf, daß ihnen der nötige Unterricht zuteil wird und sie nicht wild und ungezogen aufwachsen. Nachdem ich nun so viel in Kürze von den Gesetzen und Sitten der Liliputer berichtet habe, wird es dem Leser eine angenehme Abwechslung sein, wenn ich meine eigene geringe Person einmal wieder in den Vordergrund schiebe und ihm Mitteilungen über meine häuslichen Angelegenheiten und meine Lebensart in Liliput mache. Da ich, wie der Leser weiß, nicht ungeschickt in mechanischen Arbeiten bin, so verfertigte ich mir aus den größten Bäumen, die ich im Forst finden konnte, einen bequemen Stuhl und einen Tisch. Inzwischen waren zweihundert Näherinnen damit beschäftigt, mir Hemden sowie Bett- und Taschentücher aus dem stärksten Segeltuch zu verfertigen, denn ein dünnerer Stoff wäre für mich nicht brauchbar gewesen, da ich durch die Liliputer feine Leinwand wie durch Spinngewebe griff. Die Segeltuchstücke waren nur einige Zoll breit und lang, und es gehörte deshalb eine sehr große Menge dazu, um mir daraus ein Hemd zusammenzuflicken. Wenn die Näherinnen mir das Maß nehmen wollten, mußte ich mich der Länge nach auf den Boden legen. Dann stellte sich die eine auf meinen Hals und eine andere auf mein Knie, indem sie ein langes Seil über mich ausgespannt hielten, von einer dritten wurde dann die Länge dieses Seils gemessen. Die Elle, womit sie dies Geschäft verrichtete, war ungefähr einen Zoll lang. Alsdann baten sie mich, meinen Daumen auszustrecken und maßen dessen Dicke mit einer Schnur. Als ich meine Verwunderung darüber aussprach, warum sie denn
bloß von meinem Daumen und nicht von meinem ganzen Leibesumfange das Maß nähmen, erklärten sie, das sei nicht nötig, denn da das Handgelenk doppelt so stark zu sein pflege wie die Daumenlänge und der Hals wieder doppelt so stark wie das Handgelenk, welches Verhältnis auch in betreff des Halses und der Taille gelte, so kämen sie bloß durch Messung des Daumens ohne große Mühe zu dem richtigen Maß. – Später überzeugte ich mich von der Richtigkeit dieser Berechnung und konnte wiederum den mathematischen Talenten dieses kleinen Volkes meine volle Anerkennung nicht versagen. Zur Anfertigung eines neuen Rockes für mich waren ebenfalls, wie schon früher erwähnt, Hunderte von Schneidern bestellt. Diese aber nahmen die Messung meines Körpers in anderer Weise vor. Sie ersuchten mich nämlich in sehr höflichen Ausdrücken, niederzuknien und setzten eine aus mehreren zusammengebundenen Feuerleitern bestehende Leiter an meinen Hals. Einer stieg hinauf und ließ an langer Schnur von meinem Halse ein Bleilot, wie es die Maurer und Matrosen gebrauchen, auf den Boden herab, wodurch genau die Länge meines Rockes, der mir bis an die Knie reichen sollte, bestimmt war. Die Dicke meines Armes und meines Leibes maß ich auf Begehren desjenigen Schneidermeisters, der der angesehenste unter ihnen zu sein schien, selbst. – Mit großem Fleiße machten sich die Schneider ans Werk, und nach wenigen Tagen war mein Rock fertig, auch saß er mir wie angegossen, hatte indes, aus Hunderten von Flicken und Flickchen zusammengesetzt, ein seltsames Aussehen. – Meine tägliche Nahrung bereiteten mir dreihundert Köche unmittelbar vor meiner Wohnung, wo sie sich Kochherde erbaut und Zelte und Hütten aufgeschlagen hatten. Jeder der dreihundert war verpflichtet, mir täglich zwei Schüsseln mit Speisen zu liefern, die, wie ich gestehen muß, stets sehr schmackhaft zubereitet waren. Um die Speisen auf meinen Tisch zu schaffen, hatte ich zwanzig Bediente auf den Tisch gestellt, welche die Gerichte und Weinfässer auf eine sinnreiche
Art hinaufwanden, gleich wie wir in Europa die Wassereimer aus den sogenannten Ziehbrunnen hinaufwinden. Jedes Fleischgericht gab einen Mund voll und ein Weinfaß einen guten Schluck. Ich fand, daß das Rindfleisch der Liliputer ganz besonders gut ist, woraus ich schloß, daß sich dieses Volk sehr gut aufs Mästen der Ochsen verstehen müsse. Einst wurde mir sogar eine Rindskeule hinaufgewunden, die so groß und feist war, daß ich sie nur in drei Bissen verzehren konnte; ich verzehrte sie zum großen Erstaunen der Bedienten mit Knochen und allem, was drum und dran war. Auch das Geflügel der Liliputer ist von vorzüglichem Wohlgeschmack, doch tat ich in der Regel nur Truthühnern und Gänsen die Ehre an, sie zu verspeisen, denn das übrige Geflügel war gar zu klein. Seine Majestät der Kaiser erwies mir eines Tages die hohe Gnade, daß er sich mit seiner hohen Gemahlin und den kaiserlichen Kindern zu meiner Tafel einlud. Als die höchsten Herrschaften erschienen waren, setzte ich sie in ihren Staatssesseln nebst Gefolge vor mir auf meinen Tisch. Der Finanzminister Flimnap war auch mit seinem weißen Stabe zugegen, und ich bemerkte, daß er meine Eßlust, der ich heute, da ich bei gutem Appetit war und der kaiserlichen Familie auch Vergnügen dadurch zu bereiten glaubte, ganz ungewöhnlich die Zügel schießen ließ, mit mürrischen Mienen beobachtete. Ich machte mir aber nichts daraus und tat, als ob ich’s nicht merkte, da ich recht gut wußte, daß Flimnap immer ein Heuchler gegen mich gewesen war und mir ins Gesicht schön tat, während er mich hinter meinem Rücken bei Seiner Majestät anschwärzte und verleumdete. Ich erfuhr durch meine Freunde später, daß ihm meine Eßlust abermals Gelegenheit gegeben hatte, dem Kaiser ins Ohr zu blasen, daß ich seine Finanzen durch die großen Unterhaltungskosten, die ich verursache, noch ganz und gar ruinieren würde. Schon sei das Land tief verschuldet und alle sonst so guten Staatspapiere tief gesunken. Ich habe nun Seiner Majestät bereits zwei
Millionen Sprugs (die größte liliputische Goldmünze, die unseren Guineen entspricht und etwa die Dicke eines Goldflitters von ein Zehntel Zoll im Durchmesser hat) gekostet, und es sei das Geratenste, mich sobald wie möglich außer Landes oder ins Jenseits zu befördern, sonst fräße ich noch Kaiser und Reich bettelarm. – So pöbelhaft hatte sich der Mensch in seinem feindlichen Ingrimm ausgedrückt. Bei der Tafel, bei der es sich die höchsten Herrschaften, die ihre Tische hatten mitbringen lassen, ebenfalls sehr wohlschmecken ließen und guter Dinge waren, mochten dergleichen Einflüsterungen noch nicht viel geneigtes Gehör gefunden haben, denn Seine Majestät verließ mich höchst gnädig und war so herablassend, mir in verbindlichen Worten für meine freundliche Bewirtung zu danken, obgleich er ja eigentlich der Gastgeber war und ich alles, was aufgetafelt wurde, nur seiner Freigebigkeit verdankte. Indes Flimnaps Einfluß auf ihn war zu meinem Nachteil doch ein sehr großer, und der tückische Minister wurde nicht müde, den Kaiser bei jeder Gelegenheit unter vier Augen vor meinem finanzenzerrüttenden Appetit zu warnen und ihn überhaupt gegen mich einzunehmen.
Siebentes Kapitel Der Verfasser erfährt durch einen Freund, daß man ihn bei Hofe wegen Hochverrats und Palastschändung in Anklage versetzen und grausam hinrichten will. Um sich dieser Unannehmlichkeit zu entziehen, flieht er nach Blefusku. Seine dortige Aufnahme und Lebensweise.
A nknüpfend
an Flimnaps Ohrenbläsereien gehe ich hier dazu über, einer schon seit zwei Monaten gegen mich spielenden Hofkabale zu erwähnen, die nichts weniger bezweckte, als mich ums Leben zu bringen. Ich war gerade mit Anstalten zu meinem auf den morgenden Tag bestimmten Besuche bei Seiner Majestät dem König von Blefusku beschäftigt, schmierte meine Schuhe mit einem Tönnchen Ochsentalg und putzte meine Schuhschnallen aufs sauberste, als ein vornehmer Herr in einer Sänfte vor meine Wohnung kam und mich durch einen seiner Träger um eine augenblickliche, kurze Unterredung bitten ließ. Die Sänftenträger, zuverlässige treue Diener ihres Herrn, wurden entlassen, und ich steckte die Sänfte mit Seiner Exzellenz sogleich in meine Rocktasche, damit sie nicht von dem einen oder anderen der vor den Zelten herumlungernden Köche bemerkt würde, kroch ins Haus und verschloß sorgfältig die Tür. Nach meiner Gewohnheit stellte ich sodann die Sänfte mit ihrem lebendigen Inhalt auf den Tisch, setzte mich und brachte ihr mein aufmerksames Ohr so nahe wie möglich. Nach den gewöhnlichen ersten Begrüßungsformen und Höflichkeitsaustauschen bemerkte ich auf dem Antlitz der Exzellenz eine auffallende Unruhe und erkannte zugleich, daß ich einen
bewährten Freund vor mir sah, dem ich bei Hofe schon manche Gefälligkeit erwiesen hatte; seinen Namen verschweige ich aus leichtbegreiflichen Gründen, denn da Bücher bekanntlich ihre sonderbaren Schicksale haben, so wäre es auch nicht unmöglich, daß das eine oder andere Exemplar dieser meiner Reisen und Erlebnisse über kurz oder lang einmal seinen Weg nach Liliput finden könnte. Der Herr begann: »Ich halte es sowohl für meine freundschaftliche wie menschliche Pflicht, verehrungswürdigster Nardak, Euch damit bekannt zu machen, daß seit kurzem der Ausschuß des Geheimen Rats wiederholt Euretwegen zur Beratung zusammengetreten ist, und daß der Kaiser leider den schlimmsten Vorschlägen nur zu geneigtes Gehör geliehen hat. Ihr wißt selbst, daß Skyresh Bolgolam von Anfang an Euer tödlichster Feind gewesen ist, und es wird Euch auch nicht entgangen sein, daß sich sein Haß durch Euer Kriegsglück noch bedeutend gesteigert hat, weil Ihr ihn durch Euren gelungenen Handstreich gegen die Blefuskusche Flotte ganz und gar als Admiral ausgestochen habt. Dieser einflußreiche Große sowohl, sowie auch der Finanzminister Flimnap, der General Limtock, der Kammerherr Lalcon und der Großsiegelbewahrer Balmaff, haben gegen Euch die Artikel zu einer Anklage auf Hochverrat und andere Kriminalverbrechen aufgesetzt.« Ich war im Bewußtsein meines guten Gewissens so aufgebracht über diese Mitteilung, daß ich meinen Freund mit heftigen Worten des Unwillens unterbrechen wollte, allein er bat mich, zu schweigen und fuhr fort: »Aus pflichtschuldiger Dankbarkeit für die vielen Gefälligkeiten, die Ihr mir erwiesen habt, hochund großgeborener Nardak, habe ich nicht allein die genauesten Nachrichten über die Umtriebe Eurer Feinde eingezogen, sondern mir auch eine Abschrift ihrer Anklageartikel verschafft; hier ist sie:
Artikel der Anklage gegen Quinbus Flestrin den Menschberg. ART. 1 Obgleich es durch ein Reichsgesetz aus der Regierung Seiner Kaiserlichen Majestät Calin Deffar Plune bestimmt und beschlossen ist, daß jeglicher, der den kaiserlichen Palast anspeit, den Strafen und Folgen des Hochverrats anheimfällt, so hat besagter Quinbus Flestrin nichtsdestoweniger besagtes Gesetz gebrochen, und unter dem Vorwand, eine Feuersbrunst in den Gemächern der teuersten, geliebtesten Gemahlin Seiner Majestät zu löschen, höchst boshaft, teuflisch und verräterisch durch respektwidriges Anspeien besagte Feuersbrunst in besagten Gemächern wirklich gelöscht. ART. 2 Als besagter Quinbus Flestrin die kaiserliche Flotte von Blefusku in den kaiserlichen Hafen von Liliput gebracht hatte, und ihm von Seiner Kaiserlichen Majestät geboten ward, alle übrigen Schiffe des besagten Kaisers von Blefusku, mit Segeln, Mastbäumen und so weiter zu erobern, genanntes Reich in eine unterworfene Provinz zu verwandeln, die in Zukunft durch einen Vizekönig unserer Nation regiert werden solle, ferner, nicht allein die breitendigen Verbannten, sondern gleicherweise alle Einwohner jenes Reiches, welche die breitendige Ketzerei nicht sogleich aufgeben, zu vernichten, zu zerstören und zu töten, hat er, besagter Quinbus Flestrin, wie ein falscher Verräter gegen seine Allergnädigste, Durchlauchtigste, Kaiserliche Majestät eine Bittschrift eingereicht, jenes Dienstes entbunden zu werden, unter dem Vorwand, den Gewissenszwang zu vermeiden, sowie die Freiheit und das Leben eines unschuldigen Volkes nicht zu vernichten.
ART. 3 Als ferner gewisse Gesandte des Hofes von Blefusku am Hofe Seiner Majestät, um Frieden bittend, anlangten, hat er, besagter Quinbus Flestrin, als Fälscher und Verräter ihnen Hilfe angeboten und sie aufgereizt, obgleich er wußte, der Fürst, ihr Herr, sei kürzlich offener Feind Seiner Majestät gewesen und habe offenen Krieg gegen Seine Majestät geführt. ART. 4 Besagter Quinbus Flestrin trifft ferner gegenwärtig Vorbereitungen zu einer Reise nach Blefusku und dem Hofe dieses Reichs und verletzt dadurch die Pflichten eines treuen Untertanen, da er nur eine mündliche Erlaubnis von Seiner Majestät dazu erhalten hat. Unter Vorwand besagter Erlaubnis will er auf falsche und verräterische Weise jene Reise unternehmen und dadurch den König von Blefusku, mit dem sich Seine Kaiserliche Hoheit noch vor kurzem als Feind im offenen Kriege befand, unterstützen, ermutigen und aufreizen. Nach Verlesung dieser von der frechsten und tückischsten Bosheit eingegebenen Schandschrift (der geneigte Leser, der mein schlichtes Wesen, meine Offenheit und Geradheit kennt, wird meiner gerechten Aufwallung solch starke, aber bezeichnende Ausdrücke verzeihen), fuhr mein Gönner und Freund fort: »Ich muß es Seiner Kaiserlichen Majestät lassen, daß dieselbe bei den Verhandlungen sehr zur Milde neigte, für die Euch schuldgegebenen Verbrechen Milderungsgründe vorbrachte und überhaupt Euch das Leben zu erhalten geneigt schien. Dagegen schäumten der Admiral und der Finanzminister förmlich vor Zorn und Wut gegen Euch und beharrten bei ihrer Ansicht, daß Ihr zur Sühne Eurer Verbrechen eines schmachvollen und schmerzlichen Todes
sterben müßtet. General Limtock trat diesem grausamen Vorhaben bei und erklärte, er würde mit zwanzigtausend Mann Euer Tempelhaus umringen, das, wie Bolgolam und Flimnap vorgeschlagen, angezündet werden sollte; bei einem Versuch, Euch dem Feuertode zu entziehen, werde er Euch dann mit vergifteten Pfeilen Hände und Gesicht beschießen lassen. Um hinsichtlich Eurer Ermordung umso sicherer zu gehen, sollten auch Eure Diener geheimen Befehl erhalten, Eure Bettücher und Hemden mit einem verzehrenden Giftpulver zu bestreuen. Der Kaiser aber, der zu all diesen Grausamkeiten nicht gern Ja sagen wollte, forderte nun zunächst seinen Geheimsekretär, Euren Freund Redresal, zur Meinungsäußerung in dieser Angelegenheit auf, und ich muß gestehen, daß Ihr stolz darauf sein könnt, solch einen Mann Euren Freund zu heißen. Der feingebildete, edle Mann lieferte ein wahres Meisterstück von Beredsamkeit zu Euren Gunsten. Er gab zwar zu, daß Euer Verbrechen groß sei, allein man möge dagegen das Verdienst abwägen, das Ihr Euch durch Eroberung der feindlichen Flotte erworben hättet. Deswegen möge man diesmal von dem Buchstaben des Gesetzes absehen, der allerdings auf das Verbrechen des Palastanspeiens den Tod setze, allein das edle Herz seines allererlauchtesten Monarchen kennend, sei er überzeugt, daß Allerhöchstderselbe in diesem Falle von seinem göttlichen Vorrecht der Gnade Gebrauch machen und die Todesstrafe in eine mildere verwandeln würde. Er erlaube sich, den Vorschlag zu machen, dem Quinbus Flestrin nur die Augen auszustechen, durch dies Verfahren vollzöge man nicht allein eine zweckmäßige Strafe, sondern es gewähre auch noch den Vorteil, daß Ihr in Kriegszeiten dem Staate mit umso größerem Mute dienen würdet. Denn Blindheit, weil sie die Gefahren verhehle, erhöhe den Mut, darum spreche man von blindwütig, blindem Draufschlagen und so weiter. Habe es sich doch bei der Eroberung der Flotte gezeigt, daß Euch Eure Augen die meisten Besorgnisse gemacht hätten; wäret Ihr aber
blind gewesen, so würdet Ihr keine Furcht gehabt haben, durch die Pfeile des Feindes Eure Augen zu verlieren, schloß der scharfsinnige Redresal mit ausgezeichneter Logik. Trotzdem konnte der zorn- und wutentflammte Bolgolam das Ende dieser glänzenden und überzeugenden Rede Redresals kaum erwarten; er sprang vom Sitze auf und forderte ganz respektwidrig mit geballter Faust unbedingt Euren Tod. Das Verbrechen, den kaiserlichen Palast und die Gemächer der erhabenen Kaiserin zu bespeien (obgleich er ein gehärteter Kriegsmann, könne er nur mit Entsetzen und Schauder daran denken), habe zehnfachen Tod verdient. Zudem könne es Euch, wenn man Euch leben ließe, einmal einfallen, Eure Stärke zugunsten der Blefuskuer zu verwenden, mit deren Gesandten Ihr schon verräterisch verkehrtet. Wenn ihn nicht alles trüge, so klopftet Ihr gar die Eier am breiten Ende auf und wäret ein heimlicher Breitendiger. Der Finanzminister beeilte sich, zu erklären, daß er ganz den Ansichten und Gründen seines geehrten Vorredners beistimme und nur noch hinzuzusetzen habe, daß, im Fall Ihr beim Leben erhalten bliebet, die Kosten Eurer Ernährung den Staatsschatz ganz und gar zerrütten würden. Das bloße Blenden könne letzterem Übel nicht abhelfen. Der Kaiser aber zeigte sich noch immer nicht geneigt, Euer Todesurteil zu unterschreiben und suchte nach einem anderen Auswege. Da erbat sich Euer Freund Redresal noch einmal das Wort und meinte, um die von Seiner Exzellenz dem Herrn Finanzminister erwähnte Gefahr für den Staatsschatz zu vermeiden, könne man ja die Lieferungen an Nahrung für Euch abknappen und Euch im Laufe des Monats immer geringere Portionen geben. Dies Verfahren habe zugleich den Vorteil, daß Ihr nach und nach schwach und hinfällig werden und schließlich sterben würdet. In diesem Falle würde dann auch durch den Gestank Eurer Leiche die Pestgefahr für das Land nicht mehr so groß sein, weil Ihr durch das Abhungern bis zu Eurem Tode mindestens die
Hälfte Fleisch verloren haben würdet. Um ganz sicher zu gehen, könnten dann unmittelbar nach Eurem Tode auch etwa sechstausend Mann von Seiner Majestät Untertanen beordert werden, das Fleisch von den Knochen Eurer Leiche zu lösen und es in den fernen Wüsten des Landes zu begraben. An dem ausgeschälten Gerippe habe man dann zugleich ein merkwürdiges Kabinettstück für das naturhistorische Museum Seiner Majestät. Diese Auseinandersetzung Eures wohlmeinenden Freundes fand Beifall, und der Kaiser neigte sich ihr entschieden zu. Es wurde beschlossen, der Plan, Euch verhungern zu lassen, solle geheimgehalten, dagegen aber das Urteil des Augenausstechens schon nach drei Tagen an Euch vollzogen werden. Wie ich nun weiter in Erfahrung gebracht habe, wird Euch Euer Freund, der Geheimsekretär, nach drei Tagen zunächst das Urteil hier in Eurer Wohnung vorlesen. Hierauf wird er Euch die große Milde und Gnade Seiner Majestät und dero Räte zu Gemüt führen, und sodann werden zwanzig geschickte Wundärzte Euch ersuchen, Euch auf den Boden zu legen, damit man die Augäpfel aus nächster Nähe mit scharfen Pfeilen durchbohren kann. Ich habe nun, verehrtester Freund, meinen Kopf gewagt, Euch diese Entdeckungen zu machen und muß es Euch überlassen, ob und welche Maßregeln Ihr treffen wollt.« Damit nahm Seine Exzellenz Abschied und ließ mich in sorgenvoller Stimmung zurück. Augenausstechen und verhungern lassen! Das war also der Dank, den ich von dem Kaiser und seinen sauberen Räten haben sollte! Von diesem Volke, das in seinen heiligen Schriften und seinen Gesetzbüchern gerade der Dankbarkeit einen Platz unter den vorzüglichsten Tugenden anweist! Dafür also hatte ich das Reich durch Eroberung der feindlichen Flotte vor einem verderblichen Kriege bewahrt, dafür hatte ich den kaiserlichen Palast vor dem Untergang durch die Flammen behütet, dafür war ich mit der größten Milde und Sanftmut gehorsam allen billigen Forderungen und Anforderungen
nachgekommen! Und nun wollte man noch den Akt der Undankbarkeit und Grausamkeit, den man gegen mich auszuüben dachte, mit einem Mäntelchen der Milde und Gnade bekleiden! Aber ich wußte wohl aus ähnlichen Fällen, daß ein solch heuchlerisches Verfahren beim hiesigen Hofe üblich war. Jedesmal, wenn der Hof irgend eine grausame Hinrichtung beschlossen hatte, um der Rache des Kaisers oder der Bosheit einiger Hofschranzen zu frönen, so hielt der Kaiser eine lange, salbungsvolle Rede im Rat, worin er bedauerte, daß er trotz seiner großen Güte und Milde so hart strafen müsse. Die Rede ward dann sogleich im ganzen Reiche dem Volke durch Zettelträger und Herolde bekanntgemacht, aber das Volk schauderte jedesmal bei solchen Bekanntmachungen, denn es wußte wohl, je überschwenglicher der Lobpsalm war, den sich der Kaiser über seine Milde und Güte sang, desto grausamer war die Strafe und desto geringer die Schuld des Verurteilten. Wenn mir dies durch den sorgenvollen Kopf ging, war ich manchmal nahe daran, Gewalt mit Gewalt zu vertreiben. Was wollten denn diese Liliputer mit ihrer ganzen Armee? Ich hätte mir nur einen Eichbaum auszureißen brauchen, und würde damit jedesmal mit einem Streiche ganze Regimenter niedergeschmettert haben. Oder ich brauchte mir nur vor dem Haupttor Mildendos einen Haufen Steine zusammenzulesen und damit ihre prächtige Residenz zu bombardieren; in wenigen Stunden wäre alles ein Trümmerhaufen gewesen. Doch bald schämte ich mich solch grausamer Gedanken, denn einmal sagte mir mein besseres Selbst, daß ich auf diese Weise eine Menge Unschuldiger, die mich nie beleidigt hatten, umbringen würde, und anderseits erinnerte ich mich, daß ich dem Kaiser für alle Zeiten Frieden geschworen hatte. Nur ein Schuft bricht seinen Eid oder sein Wort! Aber was nun tun? Ich sann hin und her auf einen Ausweg und kam endlich zu dem Entschluß, unter dem Vorwande, von der mir erteilten Erlaubnis, das Reich Blefusku zu besuchen, mich für alle Zeit aus dem Staube zu machen. Der Leser,
wenn er den ersten Paragraphen der von mir unterzeichneten Urkunde ansieht, der sagt, daß ich das Reich nicht ohne Erlaubnis des Kaisers auf immer verlassen soll, wird mich vielleicht tadeln, und ich spreche mich auch nicht von allem Tadel frei. Allein was sollte ich machen? Es war doch gewiß meinerseits ein billiger Wunsch, mir meine beiden gesunden Augen zu bewahren und mich vor dem entsetzlichen Hungertode zu schützen! In meiner verzweifelten Lage hätte es der geneigte tadelnde Leser gewiß selbst so gemacht. Kurz, ich blieb bei meinem Entschlusse und schrieb schon am anderen Morgen meinem Freunde Redresal einen Brief, in dem ich ihm mitteilte, daß ich gerade Lust bekommen habe, einmal von der mir längst erteilten kaiserlichen Erlaubnis Gebrauch zu machen, und dem König von Blefusku einen Besuch abzustatten. Kaum war einer meiner Bedienten mit dem Brief unterwegs, so war auch ich schon unterwegs und zwar nach dem Hafen, nahm eines der größten Kriegschiffe, legte meine Kleider und meine mitgenommene Bettdecke hinein und zog es, munter durch den Kanal watend, an einem starken Bindfaden hinter mir her. Als ich mich dem Hafen von Blefusku näherte, sah ich eine ungeheure Volksmenge auf dem Hafendamm herumkrabbeln, die mich mit Jubel empfing, denn im ganzen Reiche hatte sich schon längst die Nachricht von meinem zugesagten Besuche verbreitet und man hatte mich schon seit mehreren Tagen ungeduldig erwartet. Ich nahm zwei mir angebotene Führer, die mich nach der Hauptstadt Blefusku geleiten sollten, in die Hand und setzte sie etwa hundert Schritt vom Tore sanft mit dem Auftrage auf den Boden, Seiner Majestät zu melden, daß ich vor dem Tore stehe und seiner Befehle gewärtig wäre. Man ließ mich nicht lange auf die Nachricht warten, daß Seine Majestät mit allerhöchstdero Familie und den Großen des Reiches im Begriff sei, die Stadt zu verlassen und mich vor dem Tore zu empfangen. Nun ging ich dem herrschaftlichen Zuge wieder einige Ellen entgegen und
machte den in Staatskarossen anfahrenden hohen, höchsten und allerhöchsten Herrschaften meine pflichtschuldigste Reverenz. Als sich der König mit hoher Gemahlin und durchlauchtigsten Kindern mir näherten, legte ich mich auf den Bauch, um dem Herrscherpaare bequem die Hand küssen zu können. Ich will den Leser nicht mit der Schilderung von den Beweisen der Gnade und Huld ermüden, die mir zuteil wurden, sondern mich mit der kurzen Versicherung begnügen, daß in dieser Hinsicht alles meine Wünsche übertraf. Von der Ungnade, in die ich beim Hofe zu Liliput gefallen und von dem mir dort drohenden Geschick erwähnte ich gegen den König nichts, das wäre auch durchaus nicht passend gewesen, zumal da mir von seiten des Staatsrats überhaupt noch nichts Amtliches darüber zugegangen war. Man tat mir in Blefusku alle einem Nardak gebührenden Ehren an und sorgte gewissenhaft für meine Bedürfnisse; nur eine Unbequemlichkeit konnte man mir mit dem besten Willen nicht beseitigen. Es gab im Reiche Blefusku nämlich keinen so großen Tempel, wie ich ihn in Liliput bewohnt, und darum mußte ich mein Nachtlager, nur in meine Decke gehüllt, unter freiem Himmel auf der harten Erde nehmen.
Achtes Kapitel Ein glücklicher Zufall läßt den Verfasser an der Küste von Blefusku ein Boot finden, das er ausrüstet, um damit sein Vaterland aufzusuchen. Es gelingt ihm das auch nach einigen Schwierigkeiten.
Traurigen Herzens ging ich, obwohl mir in Blefusku viel Liebes und Gutes widerfuhr, eines Tages an der Küste spazieren; ich sehnte mich schmerzlich nach meinem Vaterlande und nach den Meinigen. Auch hatte ich das Leben unter den kleinen Leuten, das doch so manche Unbequemlichkeit für mich mit sich führte, herzlich satt. Da sah ich plötzlich, als ich mit trüben Augen über das Meer hinblickte, in der Ferne einen großen, dunklen Gegenstand schwimmen. Anfangs hielt ich ihn für einen Walfisch, nachdem ich mir aber über die Augen gewischt und mein Taschenfernrohr hervorgenommen hatte, erkannte ich zu meiner unaussprechlichen Freude, daß es ein umgeschlagenes Boot war, das durch die Flut der Küste immer näher und näher zugetrieben wurde. Sofort eilte ich zur Stadt und bat Seine Majestät, mir zwanzig wohlbemannte und befehligte Schiffe (so viel waren ihm trotz meines Handstreichs doch noch übrig geblieben) zu leihen. Wie immer huldvoll, willigte der König ein und befahl dem Vizeadmiral, die kleine Flotte zu bemannen, das Kommando zu übernehmen und sich allen meinen Wünschen willig zu zeigen. Die kleine Flotte wurde alsbald mit dreitausend Matrosen bemannt, denen ich eine große Menge vorher von mir bis zur genügenden Stärke zusammengedrehten Tauwerks mitgab; sodann segelte
die Flotte über die Höhe des Hafens, während ich durch das Meer watete und schwamm und bald das noch näher angetriebene Boot erreicht hatte. Nun kam auch die Flotte heran und der Admiral ließ mir das eine Ende des von mir zusammengedrehten Strickes zuwerfen, was bei dessen Dicke und Schwere den Matrosen unsägliche Mühe machte. Endlich hatte ich den Strick in der Gewalt und zog das eine Ende durch ein Loch am Vorderteil des Boots, während ich das andere an dem größten Kriegschiffe befestigte. Darauf bat ich den Admiral, die übrigen Schiffe mit der Fregatte zu verbinden und alle Segel aushissen zu lassen, damit bei dem gerade günstig streichenden Winde die Schiffe mein Boot ans Ufer schleppten. Dies geschah, doch vermochten die Schiffe die ungeheure Last nur langsam fortzubewegen, aber ich wußte zu helfen, schwamm hinter dem Boote her und gab ihm von Zeit zu Zeit einen tüchtigen Stoß. Auf diese Weise hatten wir es bald bis auf vierzig Schritt zum Ufer gebracht, hier aber mußten wir es stehen lassen, weil das Wasser zu seicht wurde. Ich wartete nun die Ebbe ab, die nach etwa zwei Stunden eintrat, und machte mich mit zweitausend Arbeitern und einer großen Zahl von Hebezeugen und Maschinen (im Maschinenfach geben die Blefuskuden den Liliputern nichts nach) daran, das Boot umzukehren. Nach unsäglicher Mühe gelang dies, und ich fand zu meiner Freude, daß das Fahrzeug nur wenig Schaden gelitten hatte und keiner großen Ausbesserung bedurfte. Nun aber war noch der schwierigste Teil der Arbeit zu tun, denn es kam darauf an, das Boot von seiner seichten Stelle ins Fahrwasser und in den Hafen zu bringen. Nach zehntägiger Arbeit war mir dies durch Hebel und Walzen, zu deren Herstellung ich in der Regel sechs bis acht der stärksten Eichbäume zusammenband, und mit Hilfe einiger tausend Menschen gelungen. Unbeschreiblich war der Zusammenlauf und das Erstaunen der Menge, als sich das Riesenschiff nun in ihrem Hafen wiegte.
Der König, dem ich schon gleich nach dem Auffinden des Boots erklärt hatte, daß mir augenscheinlich der Himmel dies Schiff gesandt habe, um damit mein so lange entbehrtes teures Vaterland wieder aufzusuchen, machte anfangs vielerlei höfliche Einwände und meinte, ich möge doch in seinem Lande bleiben und mir seine dauernde Gastfreundschaft gefallen lassen. Allein ich dankte ihm verbindlichst für sein huldvolles Anerbieten und machte ihm begreiflich, daß meine quälende Sehnsucht nach meinem Vaterlande und nach Frau und Kindern mich doch in dem sonst so unvergleichlichen Blefusku nicht zufrieden und glücklich sein lassen könne. Das gab mir denn Seine Majestät, und zwar vergnügten Gesichtes zu, denn ich hatte längst gemerkt, daß ich ihm und seinem Staatsschatz mit den Bedürfnissen meines Magens doch sehr lästig zu werden anfing. Übrigens benahm sich dieser Monarch durchaus edel gegen mich, was recht in der Art und Weise zutage trat, wie er einen meinetwegen von Liliput ausgeschickten Gesandten abfertigte. Als nämlich wegen meines auffallend langen Aufenthaltes in Blefusku mein früherer Herr, der Kaiser von Liliput, Verdacht schöpfte, daß ich wohl gar nicht wieder in sein Reich zurückkehren und mich der Strafe entziehen wolle, hatte er nach vorheriger Beratung mit den mir feindlichen Ministern einen Gesandten mit einer Abschrift meiner Anklage an den Hof von Blefusku geschickt und seinem »königlichen Bruder« eröffnen lassen, daß es eine große Undankbarkeit von mir und eine schnöde Verkennung der kaiserlichen Milde sei, wenn ich nicht binnen zwei Stunden zurückkehrte und mir die Augen ausstechen ließe. Kehrte ich nicht nach der angegebenen Zeit zurück, so würde mir der Titel Nardak aberkannt und ich öffentlich als Verräter ausgerufen werden. Dieses hatte der Gesandte öffentlich vor König und Staatsrat vorgetragen, in geheimem, an den König gerichteten Auftrage hatte er jedoch auf Befehl seines Souveräns zu bedenken
gegeben: daß sein erhabener Herr, der Kaiser von Liliput, um den kaum geschlossenen Frieden beider Reiche ungestört aufrecht erhalten zu sehen, seinem königlichen Vetter und Bruder zu bedenken gebe, daß es das Geratenste sein würde, wenn er den Menschberg gebunden und gefesselt nach Liliput ausliefere, damit er dort auf eine ausgesuchte und exemplarische Weise am Leben gestraft werde. Alles dies hat mir nachher Seine Majestät in gewohnter huldvoller Weise wiedererzählt und mir auch die Antwort nicht verhehlt, mit der er den Gesandten abgetrumpft und heimgeleuchtet hat. Sie lautete etwa folgendermaßen: »Gehe heim, guter Freund, und sage deinem Herrn, meinem mir so brüderlich gesinnten, kaiserlichen Vetter, daß die Forderung, den Menschberg gebunden auszuliefern, mir so unausführbar wie ihm selbst sei, denn der Quinbus Flestrin würde, obwohl sonst sehr gutmütig, sich doch mit Felsstücken und Eichbäumen dagegen wehren, wenn man ihn fesseln wolle. Übrigens erkläre deinem Herrn ferner, daß mir gar keine Veranlassung vorliege, gegen den Menschberg feindlich zu verfahren, da er sich in meinem Reiche stets anständig und bescheiden betragen hat. Auch magst du nicht zu bemerken vergessen, daß der Quinbus Flestrin bald weit genug aus deines Herrn und aus meinem Strafbereich sein werde, denn er habe kürzlich ein ungeheures Riesenschiff an der Küste gefunden, das er jetzt ausrüste, um damit in sein Vaterland zurückzukehren.« Mit diesem Bescheid mußte sich der Gesandte trollen, und der König bot mir, nachdem er mir von allem Mitteilung gemacht, nochmals an, in seinem Lande zu bleiben und bei ihm Dienste zu nehmen. Mein Vertrauen zu Fürsten, Höfen und Ministern war aber durch meine Erlebnisse in Liliput so erschüttert, daß ich nicht im Traum daran dachte, jemals wieder eine hohe Stelle im Staatsdienst anzunehmen, und ich wiederholte daher unter Angabe meiner früheren Gründe meine Weigerung aufs bestimmteste, zumal ich wußte, daß meines kostspieligen Magens wegen
im Grunde König und Minister wünschten, daß zwischen mir und Blefusku tausend Meilen lägen. Übrigens beschleunigte dies immerhin drückende Gefühl, durch meinen Magen dem Reiche Blefusku eine große Last zu sein, meine Arbeiten zur Herrichtung des Boots und zur Beschleunigung meiner Abreise, wobei mich der König durch Arbeiter und alles, was ich wünschte, aufs bereitwilligste und freigebigste unterstützte. Fünfhundert Segeltuchfabrikanten wurden beordert, nach meiner Anweisung zwei Segel für mein Boot zu verfertigen. Dazu bedurften sie etwa fünfzehnhundert Ellen ihrer stärksten Leinwandstücke und mußten diese in dreizehn Lagen übereinandernähen, damit sie stark genug würden. Zur Anfertigung der nötigen Taue bedurfte ich zwanzig bis dreißig landesübliche Taue, um mir einen tauglichen Strick daraus zusammenzudrehen. In großer Verlegenheit war ich um einen Anker, denn auch die Anker ihrer größten Schiffe, von denen ich noch heute zum Andenken einen an der Uhrkette trage und mich seiner zuweilen als Zahnstochers bediene, reichten bei weitem für meine Bedürfnisse nicht aus. Ich suchte daher im Gebirge nach einem tüchtigen Felsblock und fand auch einen solchen von etwa fünfundzwanzig bis dreißig Pfund, der zu meinem Zweck genügte und mir wiederholt auf der Reise gute Dienste als Anker geleistet hat. Als man mich mit diesem Stein unterm Arm so leicht und ruhig zum Strande schreiten sah, wie die blefuskudischen Schüler mit ihrem Pulmoklisch (so nennt man die von den blefuskudischen Theologen bearbeitete landesübliche Bibel, die von den liliputischen, spitzendigen Theologen als ketzerisch verworfen wird) unterm Arm zur Schule gehen, war das Erstaunen ein ganz maßloses. Das Fett von dreihundert Ochsen brauchte ich, um mein Boot einzuschmieren, und zum gleichen Zwecke kochte ich noch das Fett von dreihundert tranhaltigen Fischen aus, die an der Küste häufig gefangen werden und die eine für die Eingeborenen
erhebliche Länge von sechs Zoll haben. Um für mein Segel eine tüchtige Segelstange herstellen zu können, mußte ich mit meinem Taschenmesser eine ziemliche Verwüstung unter den stärksten Bäumen des königlichen Forstes anrichten, brachte aber durch Zusammenbinden der verschiedenen Stämme, die mir die Schiffszimmerleute glattzimmerten, endlich eine brauchbare Segelstange zustande. Nach zweimonatiger angestrengter Arbeit war endlich mein Boot segelfertig, und ich ließ dem König sagen, daß ich, seine Befehle erwartend, zur Abreise bereit sei. Darauf bestellte mich der König zu einer feierlichen Abschiedsaudienz und empfing mich mit seiner hohen Gemahlin und den Prinzen von Geblüt mit solchem Aufwand, als ob ich ein ihm ebenbürtiger, sechs Zoll hoher Monarch gewesen wäre. Ich wußte diese Ehrenbezeigung wohl zu würdigen, warf mich anmutig auf den Bauch und führte sämtliche fürstlichen Hände zierlich an meine Lippen. Darauf schenkte mir der König fünfzig Beutel, von denen jeder zweihundert Sprugs enthielt, sowie sein Bild in Lebensgröße, das ich gleich in meinen Handschuh steckte, um es nicht zu verlieren. Die Abschiedszeremonien waren so umständlich und zahlreich, daß ich den Leser nicht mit ihrer Schilderung ermüden will. Durch die Freigebigkeit des Königs versah ich nun mein Boot mit dem gebratenen und zubereiteten Fleisch von hundert Ochsen, dreihundert Schafen und einer entsprechenden Menge von Brot, Wasser und Wein. Ferner vergaß ich nicht, sechs Kühe, zwei Stiere und ebensoviele Mutterschafe mit Böcken lebendig einzuschiffen, weil ich diese Rassen nach meinem Vaterlande zu verpflanzen wünschte. Gern hätte ich auch einige Pärchen von den Eingeborenen mitgenommen, allein das wollte der König nicht gestatten und ließ noch kurz vor meiner Abreise durch geschickte Steuerbeamte meine Taschen genau nach etwa versteckten Blefuskuden und Blefuskudinnen durchsuchen.
Nach Vollendung der ganzen Ausrüstung ging ich am 24. September 1701, morgens sechs Uhr, unter dem Zusammenlauf einer ungeheuren Menschenmenge, die mir mit Fahnen und Tüchern Abschiedsgrüße zuwinkte und ein Geschrei erhob, als ob zwanzig Bienenschwärme auf einmal zu summen anfingen, unter Segel. Nach einer Fahrt von etwa vier Meilen, die ich bei sehr günstigem Winde zurückgelegt, entdeckte ich in nordöstlicher Richtung eine Insel, steuerte darauf zu und warf in einer mir zur Landung recht passend scheinenden Bucht meinen Ankerstein aus. Ich stieg ans Land und schaute mich, einen nahe an der Küste gelegenen Hügel besteigend, etwas um; die Insel schien unbewohnt zu sein, und ich streckte mich mit dem beruhigenden Gefühle, nicht gestört zu werden, ins weiche Moos und schlief einen gesunden, traumlosen Schlaf. Früh mit Sonnenaufgang erwachte ich, aß zehn gebratene Ochsenkeulen und einige Hammelviertel zum Frühstück, lichtete meinen Anker und steuerte dann nach der gleichen Richtung wie gestern. Mein Taschenkompaß, der wie meine Brille und mein Fernrohr glücklicherweise nicht in die Hände der Liliputer gefallen war, tat mir jetzt vortreffliche Dienste. Da ich nun mit Hilfe des Kompasses immer wußte, in welcher Himmelsgegend ich mich befand, so mußte ich, wenn ich so fortsteuerte, nach meinen geographischen und seemännischen Kenntnissen eine jener Inseln erreichen, die nordöstlich von Van Diemens Land liegen. An diesem Tage kam mir nichts zu Gesicht als Himmel und Wasser, am folgenden Tage aber – es war nach dem Stande der Sonne etwa nachmittags um drei Uhr – entdeckte ich zu meiner größten Freude ein südöstlich fahrendes Segel. Meine ersten Zeichen, die ich gab, schien man auf dem Schiffe der großen Entfernung wegen nicht zu bemerken; ich suchte deshalb den Wind so geschickt wie möglich zu benutzen und segelte so schnell, daß ich wie ein Pfeil über das Meer dahin-
schoß und dem Schiffe, das sich immer größer und größer aus den Wellen emporhob, rasch näher kam. Man bemerkte mich endlich, hißte eine Flagge auf und schoß, um meine Aufmerksamkeit noch mehr zu erregen, eine Kanone ab; als Gegengruß warf ich jubelnd meinen Hut in die Luft, so hoch ich konnte. Nun zog das Schiff die Segel ein und erwartete mich. Gegen fünf Uhr abends legte ich an Bord an, und wer beschreibt meine Freude, als ich in dem Schiff ein englisches erkannte und nun die begründete Hoffnung hegen konnte, mein geliebtes Vaterland und meine Familie bald wiederzusehen! Rasch steckte ich mein Rindvieh und meine Schafe in die Rocktasche und stieg mit meiner ganzen Ladung an Bord. Das Schiff war erfreulicherweise gerade auf einer Rückreise von Japan nach England begriffen und der Kapitän, Herr Biddel von Deptforth, war ein ebenso artiger und menschenfreundlicher Herr, als er ein tüchtiger Seemann war. Er nahm mich mit in seine Kajüte und trug Sorge, daß ich durch Speisen und guten Wein erfrischt würde, dann erst fragte er mich, wie ich auf offener See in das Boot gekommen sei und bat mich, ihm meine Erlebnisse zu erzählen. Als ich nun mit Eifer seinem Wunsche nachkam und ihm erzählte, daß ich aus einem den Seefahrern und Geographen bis jetzt ganz unbekannten Reiche käme, wo die Menschen nur sechs Zoll hoch wären, merkte ich an dem Kopfschütteln und den bedenklichen Mienen des braven Mannes, daß er mich für verrückt hielt, indem er, wie er mir später sagte, annahm, daß mich Schiffbruch und andere schreckliche Erlebnisse um meinen Verstand gebracht haben müßten. Sobald ich aber merkte, daß Herr Biddel sich mit solchen Ansichten trug, war ich um den Beweis für das, was ich erzählt hatte, nicht verlegen, zog mein kleines schwarzes Rindvieh und meine Schafe aus der Tasche und hielt dem Kapitän einen blefuskuschen Stier von wenigstens eineinhalb Pfund vor Augen. Nun setzte er keinen Zweifel mehr
in die Wahrhaftigkeit meiner Aussagen, zumal als ich ihm auch das Geld und das Bild zeigte, das mir Seine Majestät von Blefusku geschenkt hatte. Ich verehrte dem erfreuten Kapitän zwei Beutel, deren jeder zweihundert Sprugs enthielt, und versprach ihm, nach glücklicher Ankunft in England auch eine blefuskudische Kuh und ein Schaf zu schenken. Unsere Reise lief sehr glücklich ab und bot nichts Bemerkenswertes, nur hatte ich unterwegs das Unglück, daß mir die Schiffsratten einen meiner schönsten Schafböcke auffraßen; die gänzlich abgenagten Knochen des armen Viehs fand ich nachher in einem Rattenloche. Am 2. April 1702 betrat ich wieder den Boden meines lieben Vaterlandes und trug sogleich Sorge für mein kostbares kleines Vieh. Ich ließ es bei Greenwich auf einem Rasenplatz weiden und hatte die Freude, daß ihm das Futter nicht zu hart war und recht gut bekam. Die Freude meiner Frau und meiner Kinder, die mich längst als einen Toten beweint hatten, war grenzenlos, als sie mich wiedersahen, indes, da sie in ziemlich dürftigen Verhältnissen lebten, so merkte ich wohl, daß ihre Freude dadurch gemindert wurde, daß sie glaubten, ich hätte aus der ganzen Reise gar nichts erworben, was ihre Lage aufbessern könnte. Darin aber hatten sie sich doch getäuscht, ich hatte nicht nur meine Beutel mit Goldflitterchen, sondern, was noch weit mehr war, meine blefuskudischen Kühe und Schafe, die mir bald zu einer ergiebigen Goldquelle wurden, indem ich sie für Geld sehen ließ. Wie ich nach der Rückkehr von meiner folgenden Reise hörte, hatten sich inzwischen meine Schafe außerordentlich vermehrt und waren viele Tiere in die Hände geschickter Schafzüchter übergegangen, was zuversichtlich für die englische Wollmanufaktur wegen der Feinheit der Vliese des blefuskudischen Schafviehs von großem Nutzen sein wird. Der geneigte Leser wird sich gewundert haben, daß ich eben schon wieder einer neuen Reise erwähnte, die ich gemacht, da er
zu der Annahme berechtigt ist, daß ich nach so vielen erlebten Abenteuern und Unglücksfällen wohl froh gewesen sein müßte, endlich ruhig zu Hause zu sitzen und mit meiner Familie die goldenen Früchte, die uns das kleine Vieh eintrug, gemächlich zu verzehren. Allein meine Reiselust war eben eine ganz unbändige, und ich war erst zwei Monate bei meiner Familie, als mich die unersättliche Lust, fremde Länder und Menschen zu sehen, wieder auf See trieb. Ich wußte meine Familie jetzt gut versorgt und ließ ihr noch fünfzehnhundert Pfund an barem Gelde zurück, dann nahm ich Abschied, bei dem freilich recht viel Tränen flossen, und ging an Bord des »Abenteurers«, eines Kauffahrers von dreihundert Tonnen, der nach Surate bestimmt war und unter dem Befehl des Kapitäns John Nicholas stand. – Die Erzählung der fast unglaublichen Begegnisse und Abenteuer, die ich auf dieser neuen Reise erlebte, muß ich jedoch, da sonst der erste Teil zu lang würde, für den zweiten Teil meiner Reisebeschreibung aufsparen.
Zweiter Teil
Reise nach Brobdingnag
Erstes Kapitel Der Verfasser wird durch einen heftigen Seesturm nach einem unbekannten Lande verschlagen. Von seinen Gefährten zurückgelassen, wird er von einem Eingeborenen ergriffen und einem Pächter ausgeliefert. Seine Aufnahme und was sich sonst zunächst mit ihm begeben und zugetragen hat.
A nfangs begegnete uns auf der Reise, die ich nach zweimonatigem Aufenthalt in meinem Vaterlande mit Kapitän John Nicholas nach Surate angetreten hatte, durchaus nichts Bemerkenswertes. Wir hatten sehr günstigen Wind bis zum Kap der Guten Hoffnung, wo wir landeten, um Wasser einzunehmen. Der Aufenthalt am Kap sollte sich aber sehr in die Länge ziehen, weil unbegreiflicherweise unser Schiff trotz seiner glücklichen Fahrt ein bedeutendes Leck bekommen hatte, dessen Ausbesserung uns zwang, den ganzen Winter über am Kap zu bleiben. Im April endlich konnten wir wieder unter Segel gehen und erreichten sehr bald die Meerenge von Madagaskar; am neunzehnten desselben Monats aber, als wir uns nördlich von Madagaskar im fünften Grade südlicher Breite befanden, schlug der Wind um und trieb uns, während einer Fahrt von zwanzig Tagen, etwas östlich über die Molukken hinaus. Dann trat plötzlich eine solche Windstille ein, daß die Segel schlaff an den Masten herabhingen und das Schiff fast unbeweglich auf der spiegelglatten Meeresfläche lag. Ich freute mich anfangs über diese uns durch die Windstille aufgezwungene Ruhe, denn die letzten Tage hindurch war das Schiff durch den sehr scharf streichenden Wind
stets in einer schaukelnden, mir sehr lästigen Bewegung gewesen, allein die höchst bedenkliche Miene, die der Kapitän zeigte, verdarb mir bald die Freude, zumal als er erklärte, daß ihm die Windstille in diesen Meeren ein sicheres Vorzeichen eines nahen Sturmes sei. Er traf auch zur Sicherung der Mannschaft und des Schiffes sofort alle Vorbereitungen, welche die drohende Gefahr nötig machte, und schon der folgende Tag zeigte, daß sich der erfahrene Seemann in seinen Voraussetzungen nicht getäuscht hatte. Der Sturm brach mit einer Heftigkeit los, die uns nötigte, die Kanonen festzumachen und sämtliche Segel einzuziehen; das Bugsprietsegel war schon vor Ausbruch des Sturmes durch die Vorsorge des Kapitäns eingezogen und überhaupt nichts unterlassen worden, seinem Ungestüm einigen Widerstand entgegenzusetzen. Die Vorkehrungen bewährten sich auch, denn das gut verwahrte Schiff hielt sich wacker in den brüllenden Wogen; zwar konnten wir ihm keine bestimmte Richtung geben, sondern mußten machtlos der Gewalt der Wellen und der Windstöße folgen, aber unser Leben war doch gesichert, da sich die Wut der Wogen an den derben Rippen unseres Schiffes machtlos brach und wir hier auf hoher See von Klippen und Riffen nichts zu fürchten hatten. Mehr als vierzehn Tage lang blieb unser Schiff ein Spielball der tobenden Wogen und wurde in uns ganz unbekannte wildfremde Gewässer getrieben. Nach meiner Berechnung waren wir, als der Sturm endlich nachließ und von einer anhaltend heftig streichenden Brise abgelöst wurde, ungefähr dreihundert Stunden von unserer ursprünglichen Richtung nach Osten verschlagen worden; der erfahrene Kapitän und auch die ältesten Seeleute wußten nicht, in welchem Teile der Welt wir uns befinden möchten. Das mit Vorräten gut versorgte Schiff hatte uns vor Mangel geschützt und die gesamte Mannschaft war vollkommen gesund; schließlich aber kamen wir doch in Not um Trinkwasser und beschlossen daher, die Richtung, die
wir unfreiwillig verfolgt hatten, vorderhand noch beizubehalten, weil sie uns endlich doch an eine Küste führen würde, wo wir Trinkwasser einnehmen könnten. Diese Vermutung bewährte sich auch bald, denn am 16. Juni 1703 rief plötzlich der Schiffsjunge im Mastkorbe: Land! Land! und am 17. Juni warfen wir an einer sich unermeßlich weithin ausdehnenden Küste Anker. Wir blieben in Ungewißheit darüber, ob wir uns vor einer Insel oder einem Festlande befanden. Der Kapitän beauftragte nun zwölf Matrosen, das lange Boot auszusetzen und sich bewaffnet und mit Wassergefäßen versehen ans Land zu begeben, um Trinkwasser aufzusuchen. Weil ich mich nun nach so langer, sturmbewegter Fahrt danach sehnte, einmal wieder festes Land unter den Füßen zu haben und zudem vermutete, daß ich bei einem kleinen Ausflug in dies fremde Land wichtige Entdeckungen machen könnte, so bat ich den Kapitän, mir zu erlauben, die Matrosen zu begleiten. Herr Nicholas erteilte mir diese Erlaubnis bereitwilligst; ich schiffte mich wohlgemut mit den Matrosen ein und war sehr gespannt auf die neuen Dinge, die ich in dieser unbekannten Welt sehen würde. Als wir jedoch das Land betraten, sah ich mich anfangs in meinen Hoffnungen getäuscht, denn das felsige Land lag in öder Einförmigkeit da und zeigte keine Spur von menschlichen Bewohnern oder Tieren. Auch fand sich keine Quelle und kein Fluß, so daß unsere Leute die Küste entlang gingen, um weiter nach Süßwasser zu suchen. Diesen Aufenthalt benutzte ich, um etwa eine halbe Stunde weiter ins Land zu gehen und mich nach seinen etwaigen Eigentümlichkeiten umzuschauen, allein ich fand auch auf dieser Exkursion nichts Bemerkenswertes und kehrte bald nach dem Meeresufer zurück. Doch wer malt meinen Schrecken, als ich hier das Boot nicht mehr vorfand, sondern es schon wieder in See erblickte und die Matrosen mit der äußersten Anstrengung, als gälte es Tod oder Leben, unserem Schiffe zurudern sah. Ich schrie aus Leibeskräften, mich aufzunehmen,
allein sie hörten mich nicht oder konnten mich nicht mehr hören, weil sie schon zu weit in See waren. In Verzweiflung erhob ich doch wieder meinen Ruf so laut ich konnte, als mir plötzlich über einer Entdeckung, die ich machte, von starrem Entsetzen der Ton in der Kehle stecken blieb. Ich entdeckte nämlich, daß die Matrosen sich vor einem ungeheuren, kirchturmhohen Geschöpfe, das sie verfolgte, so gewaltig in die Riemen legten. Die See reichte dem verfolgenden Ungeheuer nur bis an die Knie, doch war zu hoffen, daß es trotz seiner Siebenmeilenstiefelschritte unsere Leute nicht erreichte, denn das Boot hatte mindestens eine Viertelstunde Vorsprung und das Meer war zwischen ihm und dem Ungetüm voll scharfer Klippen und Korallenriffe, die das Vorwärtsschreiten hemmten. Das erfuhr ich alles später, denn kaum hatte ich den Grund der Flucht der Matrosen begriffen, als ich mich aufs Laufen legte, um mich weit von der Küste im Innern des Landes zu verbergen. Ich fand einen steilen Hügel, den ich erkletterte, um mich nach einem sicheren Versteck umzuschauen, und sah bei dieser Gelegenheit, daß das Land keineswegs öde, sondern vollkommen bebaut und in guter Kultur gehalten war. Auffallend war mir die Länge des Grases, das am Hügel wuchs, denn die Höhe seiner Halme betrug mindestens zwanzig Fuß. Der Gedanke, mich in diesem hohen Grase leicht verbergen zu können, beruhigte mich etwas, und ich setzte meine Wanderung behutsam fort. Bald gelangte ich auf einen breiten, festen Weg, den ich für eine im guten Stande erhaltene Landstraße hielt, erfuhr aber später, daß es nur ein durch ein Kornfeld führender Fußpfad für die Eingeborenen war. Auf dem Wege fortschreitend, konnte ich zu beiden Seiten nichts sehen, denn die Halme des Getreides, das bereits der Ernte entgegengereift war, überragten mich um mehrere Manneslängen, ja, ich überschätze die Höhe kaum, wenn ich sie auf mindestens vierzig Fuß bestimme. Über eine Stunde bedurfte ich, um das Ende des Feldes zu erreichen, das ich nun von einer etwa hundertundzwanzig Fuß hohen
Hecke eingehegt fand, aus der Bäume von solcher Höhe aufragten, daß sich ihre Wipfel in den Wolken verloren. Am Ende des Feldes war eine steinerne Treppe angebracht, die zum nächsten Felde führte; diese Treppe versuchte ich zu ersteigen, stand aber bald davon ab, weil ich die Unmöglichkeit einsah, denn jede der glattbehauenen Stufen hatte Manneshöhe. Ich suchte nun nach einem Schlupfwege durch den Zaun, und hatte auch bald einen solchen gefunden, als ich über mich blickend einen Eingeborenen die Treppe betreten sah, der an Größe dem Verfolger des Boots nicht nachstand. Ein kalter Schauder überlief mich, wenn ich daran dachte, daß dies kirchturmhohe Ungetüm mich entdecken und verfolgen könnte. Ihm zu entlaufen war ein Ding der Unmöglichkeit, denn nach der Länge seiner Beine zu urteilen, konnte dieser Riese mit jedem Schritt mindestens zehn Ellen abschreiten; ich hielt es daher fürs geratenste, mich im Korn zu verstecken. Von hier aus sah ich, wie er von der Treppe ins Feld hineinschaute, als wenn er sich nach jemand umsähe, sodann erhob er seine Stimme, die dem Rollen des Donners gleichkam und mich erbeben machte. Augenscheinlich hatte er seine Kameraden angerufen, denn es dauerte nicht lange, so kamen sechs ähnliche Giganten, die wie er Sicheln in der Größe von fünf oder sechs aneinandergeschmiedeter Sensen in den Händen trugen. Die Hinzugekommenen waren schlechter und dürftiger gekleidet als der erste, und da sie sich ihm demütig und unterwürfig näherten, so schloß ich daraus, daß es wohl seine Knechte oder Diener sein müßten. Ich hatte mich darin nicht getäuscht, denn der Herr befahl ihnen, an die Arbeit zu gehen und das Korn abzuschneiden. Sie machten sich auch sogleich rasch ans Werk und brachten mich dadurch in die äußerste Gefahr, von ihren Sicheln zerschnitten oder von ihren Füßen zermalmt zu werden. Nur die eiligste Flucht konnte mich retten, aber dieser Flucht standen Schwierigkeiten entgegen, denn hin und wieder standen die Getreidehalme nur einen Fuß breit auseinander, so daß ich mich nur
mit Mühe hindurchzwängen konnte. Endlich gelang es meinen verzweifelten Anstrengungen, vorwärtszukommen, bis ich an einen Teil des Feldes gelangte, wo sich das Korn durch Wind und Regen gelegt hatte. Hier war es mir unmöglich, weiter vorzudringen, weil die Halme so dicht übereinanderlagen, daß meine Kräfte viel zu schwach waren, mich hindurchzuarbeiten, außerdem verwundeten mich die harten, scharfen Spitzen der herabgefallenen Ähren, so daß ich erschöpft von Anstrengung und Schmerz in einer Furche zusammensank. Kaum hundert Ellen von mir hörte ich die immer näherkommenden Schnitter arbeiten und verwünschte hundertmal meine unbändige, törichte Reiselust, die mich von Frau und Kindern weg übers Meer getrieben und nun in so große Not und Gefahr gebracht hatte. Während meiner Angst und meines Kummers dachte ich an Liliput, wo die Einwohner mich als einen wunderbaren Koloß anstaunten, wo ich es vermochte, eine ganze Kriegsflotte mit meinen Händen fortzuführen und Taten zu tun, die ewig in den Geschichtsbüchern dieses Reichs prangen und die Bewunderung der Nachwelt rege erhalten werden. Mich überkam ein äußerst demütigendes und drückendes Gefühl über meine jetzige Unbedeutendheit diesen Riesen gegenüber, denen ich ebenso winzig erscheinen mußte, wie mir die Liliputer erschienen waren. Unsere Philosophen haben vollkommen recht, wenn sie behaupten, daß groß und klein nur Begriffe seien, die sich durch Vergleichung ergeben. Vielleicht gibt es ein Land, wo die Menschen so klein sind, daß ihnen gegenüber wiederum die Liliputer als Riesen erscheinen würden, und unmöglich ist es auch nicht, daß in irgend einem Teile der Welt diese wandelnden Türme, die mich hier in Angst und Schrecken setzten, sich zu den Eingeborenen wie Liliputer verhalten würden. In solchem Nachsinnen über die Wunder der Natur und die Mannigfaltigkeit ihrer Geschöpfe verloren, wurde ich plötzlich durch in der Nähe erdröhnende Tritte und durch das laute
Niederprasseln von Halmen aufgeschreckt, denn es war mir einer der Schnitter bereits so nahegekommen, daß mich sein nächster Tritt zermalmen mußte. In größter Todesangst schrie ich so laut auf, wie ich konnte und ward von dem Geschöpf vernommen, das stillstand, einige Zeit am Boden umhersuchte und mich endlich erblickte. Es bückte sich, um nach mir zu haschen, tat dies aber mit Vorsicht, wie wenn man bei uns nach einem Wiesel oder sonst nach einem bissigen Tierchen hascht; ich suchte mich wieder zwischen den Halmen zu verbergen, aber kaum hatte ich einige verzweifelte Sprünge gemacht, als ich mich vom Daumen und Zeigefinger des Riesen gepackt und emporgehoben fühlte. Er brachte mich dicht vor seine Augen und betrachtete mich kopfschüttelnd mit der größten Verwunderung. Fast zerbrachen mir die Rippen von dem Druck seiner Finger, und ich machte die deund wehmütigsten Gebärden, faltete die Hände wie zum Gebet und sprach dann mit kläglicher Stimme, ich weiß nicht mehr, welche bittenden Worte, denn ich fürchtete jeden Augenblick, daß er mich wie ein giftiges Insekt von sich schleudern und aus einer Höhe von mindestens sechzig Fuß auf den Boden schmettern möchte. Allein der Riese schien an meinen Bewegungen und an meiner Stimme Gefallen zu finden, er betrachtete mich immer aufmerksamer und schien erstaunt, daß ich in artikulierten Tönen sprach, obgleich er natürlich kein Wort von meiner Sprache verstehen konnte. Als ich ihn so aufmerksam sah, beeilte ich mich, durch Wimmern und Stöhnen den Schmerz auszudrücken, den mir der Druck seiner Finger verursachte, und glücklicherweise schien er mich vollkommen zu verstehen, denn er steckte mich sanft und behutsam in seine Rocktasche. Dann lief er mit einer Hast, die in mir das Gefühl hervorrief, als ob ich mich in der Tasche des Riesen auf einem im Sturme schwankenden und auf den Wogen tanzenden Schiffe befände, zu seinem Herrn, der ein wohlgenährter Pächter und dieselbe Person war, die ich zuerst auf der Treppe erblickt hatte.
Ich hörte, wie ihm der Schnitter in eiligen Worten Bericht über seinen merkwürdigen Fund erstattete, worauf er mich aus der Tasche nahm und mich seinem Herrn auf der Hand vorzeigte. Dieser nahm einen abgerissenen Strohhalm von der Länge eines spanischen Rohrs und hob mir zunächst damit die Rockschöße auf, als ob er untersuchen wollte, ob dies ein Stück von meiner Haut oder ein Kleidungsstück sei. Hierauf blies er mir – es war, als ob der heftigste Windstoß mein Gesicht traf – das Haar seitwärts, um mein Gesicht besser beobachten zu können, betastete meine Hände, meine Füße und meinen Rücken und stieß einen Ausruf der Verwunderung nach dem anderen aus. Endlich rief er seine übrigen Leute zusammen und zeigte mich den Erstaunten mit einem Lächeln und mit Worten, die zu sagen schienen, daß sie ein so kleines Menschlein wohl noch nie in ihrem Leben gesehen haben mochten. Alsdann setzte er mich behutsam auf den Boden, jedoch so, daß ich auf allen vieren zu liegen kam, indem er zu glauben schien, ich würde mich wie ein Vierfüßler bewegen. Diesen Glauben aber suchte ich ihm sogleich dadurch zu benehmen, daß ich aufstand und langsam vor- und rückwärts ging, womit ich den Riesen zugleich andeuten wollte, daß ich nicht die Absicht hätte, zu entfliehen. Nun setzten sich alle im Kreise um mich herum, um mich und meine Bewegungen besser beobachten zu können; ich nahm meinen Hut ab und machte dem Pächter eine tiefe Verbeugung, dann sprach ich bittende Worte und kam endlich auf den Einfall, ihm meine gefüllte Geldbörse zu überreichen. Er nahm sie lächelnd und kopfschüttelnd auf die Handfläche und drehte sie mit einer Nadel, die er aus seinem Halstuch zog, mehrmals hin und her, schien aber durchaus nicht zu begreifen, was er aus dem Dingelchen machen solle. Ich bedeutete ihm nun durch Gebärden, er möge seine Hand flach auf die Erde legen, und als er dies getan, schüttelte ich ihm den Inhalt der Börse, der aus einigen zwanzig Gold- und Silbermünzen bestand, auf die Handfläche. Er feuchtete nun die Spitze seines
Zeigefingers am Munde, tupfte eins der größten spanischen Geldstücke auf und hielt es dicht vors Auge, ohne jedoch auch jetzt zu begreifen, was er mit dem Goldstäubchen machen sollte. Dann bedeutete er mich durch Zeichen, die Börse nebst Inhalt nur wieder in die Tasche zu stecken, was ich auch gern tat, indem ich es nämlich für das beste hielt, mein Geld zu behalten. Inzwischen hatte sich der Pächter völlig überzeugt, daß ich ein vernünftiges Geschöpf sei, mit dem ein Wort zu reden sein müsse und richtete deshalb mit seiner Donnerstimme verschiedene Fragen an mich, die ich ihm freilich nicht beantworten konnte, obschon ich in mehreren Sprachen den Versuch machte. Darauf schickte er seine Knechte wieder an die Arbeit, zog sein Schnupftuch aus der Tasche und breitete es über seine flach auf den Boden gelegte Hand mit dem Bedeuten, daß ich hinauf- und hineinsteigen möchte. Dies bewerkstelligte ich leicht, da die Dikke seiner Hand nicht viel über einen Fuß betrug. Nachdem ich mich nun auf seinem Schnupftuch in eine bequeme Lage gebracht hatte, band er die Zipfel des Tuchs über mir zusammen und trug mich nach seinem Hause. Hier rief er mit schelmischem Lachen seine Frau und zeigte mich ihr, als er die Zipfel des Schnupftuchs wieder gelöst hatte. Diese aber lief, nachdem sie einen flüchtigen Blick auf mich geworfen, kreischend davon, gleichwie es bei uns die Weiber zu tun pflegen, wenn man ihnen eine Maus, eine Spinne oder einen Frosch nahebringt. Als sie mich jedoch, von ihrem laut auflachenden Mann einigermaßen beruhigt, eine Zeitlang näher betrachtet hatte und erkannte, daß ich mich ihrem Gatten gegenüber durch meine Gebärdensprache so benahm, wie es einem vernünftigen Geschöpf zukommt, ward sie zutraulich und endlich sogar recht freundlich gegen mich. Es war gerade Mittagszeit und ein Dienstmädchen trug das aus einem ungeheuren Stück Fleisch bestehende Essen in einer Schüssel auf, die wenigstens zwanzig Fuß im Durchmesser hatte. Nachdem sich nun der Pächter und seine Frau nebst drei Kindern
und einer alten Großmutter zum Essen niedergesetzt hatten, hob mich der Pächter auf den etwa dreißig Fuß hohen Tisch, von dessen Rande ich mich vorsichtig fernhielt, damit ich nicht durch Herabfallen mein Leben einbüßte oder alle Glieder zerbräche. Sodann zerschnitt die Frau einen Bissen Fleisch in ganz kleine Stücke, zerkrümelte ein Stückchen Brot darüber und setzte mir beides in einem hölzernen Tellerchen vor, das vielleicht den Kindern zum Spielzeug diente. Ich drückte der Frau durch eine höfliche Verbeugung sogleich meinen Dank aus, zog mein Besteck mit Messer und Gabel hervor und fing an zu essen, worüber sich alle sehr zu freuen schienen. Die Frau sorgte nun auch dafür, daß ich nicht Durst litt, und füllte für mich ein kleines Gläschen, das etwa sechs Schoppen halten mochte, mit Getränk. Ich faßte das Glas mit beiden Händen, hob es mit einiger Schwierigkeit an den Mund und trank auf die Gesundheit der guten Frau, indem ich, mich höflich gegen sie verneigend, meine Stimme so laut erhob wie ich konnte, worüber alle in ein solch schallendes, donnerndes Gelächter ausbrachen, daß mir fast das Trommelfell platzte und ich taub zu werden fürchtete. Das Getränk schmeckte wie schwacher Most, war aber sehr angenehm und erfrischend. Mein Herr (ich werde fortan den Pächter immer so nennen) winkte mir nun, an seinen hölzernen Teller zu treten, und als ich, dem Winke folgend, auf den Teller losmarschierte, stolperte ich über eine Brotkruste und fiel der Länge nach auf den Tisch, ohne mich jedoch im mindesten zu verletzen. Ich erhob mich sogleich wieder, und als ich bemerkte, daß die guten Leute besorgt um mich waren, schwenkte ich meinen Hut und bewegte meine gesunden Glieder, um ihnen zu zeigen, daß ich keinen Schaden genommen hätte. Indes, bei meinem weiteren Vorschreiten zum Teller meines Herrn, sollte ich noch in eine drohende Gefahr geraten, denn der jüngste Sohn, ein ausgelassener Knabe von zehn Jahren, packte mich bei den Beinen und hob mich so hoch in die Luft, daß ich an allen Gliedern zitterte. Sein Vater aber entriß mich
sofort seinen Fingern und gab ihm eine so derbe, flatschende Ohrfeige, daß die hingereicht haben würde, bei uns zulande eine Schwadron Dragoner niederzuschmettern. Außerdem befahl er dem unartigen Buben, sogleich den Tisch zu verlassen. Dieser Befehl aber flößte mir Besorgnis ein, weil ich wußte, daß Knaben rachsüchtig sind und sich auch ohne Veranlassung oft sehr grausam gegen kleine Geschöpfe, wie Sperlinge, junge Katzen, Kaninchen und so weiter benehmen. Ich fiel deshalb vor meinem Herrn auf die Knie und legte, auf den Knaben deutend, durch Gebärden eine gute Fürsprache für ihn ein, so daß er ihm verzieh und ihn wieder am Tische Platz nehmen ließ. Damit versicherte ich mich der Gewogenheit des kleinen Schlingels, und um mich seiner noch mehr zu vergewissern, ging ich auf ihn zu und küßte ihm die Hand. Im weiteren Verlauf des Essens hörte ich plötzlich in meiner Nähe ein Brummen und Schnurren, als ob zwölf Strumpfwirker in Tätigkeit wären, und bemerkte, daß das Geräusch von der Hauskatze herrührte, die meiner Herrin auf den Schoß gesprungen war und von ihr gefüttert und gestreichelt wurde. Das Tier, von der Größe eines Rhinozerosses oder Nilpferdes, bot mit seinen funkelnden Augen einen entsetzlichen Anblick und ließ mich fürchten, daß es plötzlich die fünfzig Fuß, die zwischen mir und ihm lagen, überspringen und mir seine fürchterlichen Krallen, mit denen verglichen Löwentatzen wie unsere Katzenpfötchen erschienen, in den Leib schlagen würde. Allein, als ich sah, daß die Herrin meine Besorgnisse teilte und das Ungeheuer festhielt, ermutigte ich mich und ging dreist auf die Katze los, indem ich fest meinen Blick auf ihre funkelnden Augen richtete, weil ich immer gehört hatte, daß dies wilden Tieren Respekt einflöße, während sie sogleich gefährlich werden, wenn man Furcht zeigt oder sich zur Flucht wendet. Die Katze wich sogar etwas vor mir zurück, als ich dicht vor ihren Kopf trat und machte keine Miene, auf mich loszuspringen. Weniger Besorgnis hatte ich
vor den beiden Haushunden, die ins Zimmer kamen, um sich die Knochen unterm Tisch hervorzusuchen; der eine war eine Dogge, so groß wie vier Elefanten, der andere, ein Windhund, war noch etwas größer, aber nicht so plump gebaut. Nach dem Mittagessen trat eine Amme mit einem einjährigen Säugling ins Zimmer, der mich sogleich erblickte und, ein Spielzeug in mir witternd, mit den Händen nach mir langte und so fürchterlich zu schreien anfing, daß man das Geschrei von der Londoner Brücke bis nach Chelsea, also über eine halbe Stunde weit hätte hören können. Die Mutter, um den Schreihals zu befriedigen, war so unvorsichtig, daß sie mich ergriff und mich den zappelnden Händen des Kindes übergab, das mich nach kleiner Kinder Art sofort in den Mund steckte. Ich aber brüllte in entsetzlicher Todesangst so laut, daß mich das kleine Ungetüm erschrocken fallen ließ, wodurch ich unfehlbar meinen Tod gefunden haben würde, wenn mich die Mutter nicht in ihrer Schürze aufgefangen hätte. Die Amme brummte und schnurrte nun wie ein Dutzend Löwinnen, um das Kind zu beruhigen, was ihr auch endlich gelang, nachdem sie noch die Kinderklapper zu Hilfe genommen hatte, die in Gestalt eines halben, mit einem Weberbaum versehenen und mit schweren Kieselsteinen gefüllten Oxhoftfasses, an einem Tau dem Säugling am Gürtel hing. Nach Beendigung der Mahlzeit ging mein Herr wieder mit seinen Arbeitern aufs Feld, nachdem er, wie ich aus seinen Mienen und Bewegungen schließen konnte, seiner Frau anbefohlen hatte, sorgfältig auf mich zu achten und mich vor Schaden zu bewahren. Kaum war er fort, so gab ich der Herrin dadurch, daß ich die Augen schloß und den Kopf auf die Seite legte, zu verstehen, daß ich sehr ermüdet sei, was sie auch sogleich bemerkte; sie trug mich auf ihr eigenes Bett und deckte mich sorgfältig mit einem ihrer feinsten Batisttaschentücher zu. Das Tuch war aber dennoch dicker und gröber als das gröbste Segeltuch, das man in England für die Kriegschiffe verwendet.
Ich schlief einige Stunden ruhig und erwachte endlich über einem Traum, der mich in die ferne Heimat versetzt und in die Mitte meiner geliebten Familie geführt hatte. Als ich, infolge dieses Traums recht wehmütig gestimmt, mich meiner verlassenen Lage unter wildfremden Riesen erinnerte, betrachtete ich die Gegenstände um mich genauer und fand, daß mein etwa zwanzig Ellen breites und vierundzwanzig Fuß über dem Boden erhabenes Bett in einem Schlafgemach von mindestens zweihundert Fuß Breite und dreihundert Fuß Länge stand. Meine Herrin, die ihren häuslichen Geschäften nachgegangen war, sah sich nicht weiter nach mir um, weil sie mich im Bette hinlänglich vor allen Gefahren sicher glaubte. Doch darin sollte sie sich geirrt haben. Ich mochte nämlich wohl eine halbe Stunde wachend dagelegen und an mein Schicksal gedacht haben, als ich plötzlich ein starkes, krabbelndes und nagendes Geräusch an den Pfosten meines Bettes hörte, und ehe ich mir’s versah, kletterten zwei Ratten von der Größe starker Bullenbeißer zu mir herauf und machten sofort Miene, mich anzugreifen, indem sie mich zähnefletschend bedrohten. Glücklicherweise hatte ich meinen Degen zur Hand, zog ihn flugs zu meiner Verteidigung und führte einen so glücklichen Stoß gegen die eine der mich anspringenden Ratten, daß ihr mein Degen bis ans Heft in den dicken, aufgeschwemmten Leib fuhr. Die Ratte stürzte in Todeszuckungen auf dem Bett zusammen und die andere, das Schicksal ihres Kameraden fürchtend, entfloh eiligst. Bald nach meinem siegreichen Kampfe trat die Herrin ins Schlafgemach und war sehr erschrocken, als sie mich und das Bett mit Blut befleckt sah; ich beruhigte sie jedoch bald, indem ich, ihr meine gesunden Glieder zeigend, munter auf dem Bette hin und her spazierte und triumphierend auf die tote Ratte deutete. Erfreut und mich wegen meiner Tapferkeit liebkosend, hob mich die Frau vom Bett und befahl der eintretenden Magd, eine Zange zu holen und das getötete Tier zum Fenster hinauszuwerfen.
Zweites Kapitel Der Verfasser schildert Gestalt und Eigenschaften der jüngsten Tochter des Pächters und wird von ihr in sorgsame Pflege genommen. Der Verfasser wird auf einem Jahrmarkt für Geld gezeigt und später zu dem gleichen Zweck nach der Hauptstadt geführt.
Meine Herrin hatte eine gutgeartete, neunjährige Tochter, die für ihr Alter noch ziemlich klein war, indem sie kaum die Höhe von vierzig Fuß erreicht hatte. Gleichwohl war das Kind aber schon sehr geschickt im Nähen und Stricken und wußte seine Puppe mit vielem Geschmack anzukleiden und herauszuputzen. Auf den Rat ihrer Mutter gab mir das Töchterchen die Wiege seiner Puppe zum Nachtlager und bereitete mir, da sie viel Gefallen an mir fand, dies Lager außerordentlich weich und sorgsam. Überhaupt sorgte die Kleine aufs aufmerksamste für meine Bequemlichkeit, kleidete mich wie ihre Puppe aus und an, und verfertigte mir Hemden und sonstige Wäsche von der feinsten Leinwand, die sie auftreiben konnte. Freilich war auch diese immer noch gröber, als mein aus grober Leinwand bestehendes Sacktuch. Zugleich war sie meine Sprachlehrerin, und dem Verkehr mit ihr verdankte ich’s, daß ich bei meinem Sprachtalent bald die notwendigsten Lebensbedürfnisse in der Sprache der Eingeborenen bezeichnen konnte. Die liebenswürdige Kleine gab mir den Namen Grildrig, den die Familie und später sogar das ganze Königreich für mich beibehielt. Das Wort bezeichnet ungefähr das lateinische Homunculus oder das italienische Uomicciulo, wir können es, uns an unser berühmtes Märchen erinnernd, am besten durch Däumling
übersetzen. Ich nannte meine Pflegerin Glumdalclitsch, was wir in unserer Sprache etwa durch »mütterliche Freundin« wiedergeben können. Ich würde mich des größten Undanks schuldig machen, wenn ich die treue und liebevolle Pflege, die mir Glumdalclitsch zuteil werden ließ, nicht gebührend anerkennte; nie trennten wir uns, solange ich in Brobdingnag, so hieß das Land der Riesen, war, und vorzugsweise verdanke ich dieser mütterlichen Freundin die Erhaltung meines Lebens in einem Lande, in dem mich meiner Kleinheit wegen alle Augenblicke die tödlichsten Gefahren bedrohten. Nach und nach verbreitete sich in der ganzen Nachbarschaft das Gerücht, mein Herr habe auf dem Felde ein Geschöpfchen von der Größe eines Splacknuks (eines der kleinsten vierfüßigen Tiere des Landes) gefunden, das jedoch vollkommene Menschengestalt besitze, eine eigene Sprache spreche und sich sehr vernünftig und anständig betrage. Das Gerücht kam auch einem anderen in der Nähe wohnenden Pächter, einem alten mürrischen Kauz, zu Ohren, den alsbald die Neugier trieb, meinem Herrn einen Besuch zu machen, um mich in Augenschein zu nehmen. Mein Herr stellte mich sogleich vor dem Gast auf den Tisch, wo ich auf seinen Befehl hin und her ging, den Degen zog, ihn wieder einsteckte, mich verbeugte und dann dem Fremden das Kompliment machte: er sei vollkommen. Glumdalclitsch hatte es mich gelehrt. Aufs höchste verwundert, setzte nun der alte Mann seine Brille auf, um mich genauer zu betrachten. Die Brille aber, hinter deren Gläsern mir seine Augen wie der Vollmond erschienen, wenn er durch zwei Fenster leuchtet, gab dem Alten ein so komisches Ansehen, daß ich mich nicht enthalten konnte, laut aufzulachen, und als die Umstehenden den Grund meiner lustigen Stimmung merkten, fielen sie mit ihrem donnernden Gelächter ebenfalls ein, was der Alte sehr übel aufnahm und mir einen Blick voll Groll und Ärger zuwarf. Um sich an mir zu rächen, gab er auch meinem Herrn den mir sehr widerwärtigen Rat,
mich auf dem Jahrmarkt der nächsten Stadt als Merkwürdigkeit für Geld zu zeigen. Der böse Rat fiel leider bei meinem Herrn, wie ich wohl merkte, nur auf allzu fruchtbaren Boden, und am anderen Morgen erfuhr ich durch Glumdalclitsch, daß ich mich in meiner Vermutung nicht geirrt habe und für eine Schaubude des Jahrmarkts bestimmt sei. Das arme Mädchen, das nicht allein fürchtete, daß mir während des Marktgewühls ein Unheil widerfahren könnte, sondern auch meine Schamhaftigkeit und mein Ehrgefühl zu würdigen wußte, legte mich an ihren Busen und weinte bittere Tränen über mein Unglück. Sie erzählte, Vater und Mutter hätten ihr versprochen, der Grildrig solle ihr gehören; wie sie jedoch sähe, werde sie wieder so behandelt wie im vergangenen Jahr, wo ihr die Eltern ein Lämmchen geschenkt, hinterher aber, als es feist geworden, es dennoch dem Metzger verkauft hätten. Wie leicht, klagte sie weiter, könnte mir der rohe Jahrmarktspöbel mit seinen plumpen Fäusten die Rippen in meinem zarten Leibchen oder sonst etwas zerbrechen, und dann sei ihr liebstes Spielzeug dahin. Was mich betrifft, so fürchtete ich mich nicht sowohl vor den plumpen Fäusten neugieriger Riesen, als vielmehr vor der Schmach, so öffentlich wie ein Wundertier zur Schau gestellt zu werden. Allein mit der Zeit wußte ich mich mit dem Gedanken zu trösten, daß mir dies Unglück nicht zum Vorwurf gemacht werden könne, denn hier in Brobdingnag hätte sich schon jeder Engländer, und wäre es Seine Majestät von Großbritannien selbst gewesen, diesen Unfug wohl oder übel gefallen lassen müssen. Wirklich brachte mich nun, nach dem Rat des alten mürrischen und geldgeizigen Kauzes, mein Herr in einer Schachtel zum Jahrmarkt in die nächste Stadt. Zu meinem großen Trost begleitete uns Glumdalclitsch, die der Vater hinter sich aufs Pferd nahm. Die Schachtel, worin ich mich befand, hatte nur eine kleine Tür und mehrere Löcher zum Luftschöpfen, aber meine kleine Pflegerin hatte Sorge getragen, daß ich’s möglichst bequem darin
hätte. Sie hatte mir die Matratze ihres Puppenbetts und einige weiche Puppenkissen hineingelegt, aber dennoch ward ich auf dieser Reise, obgleich sie nur eine halbe Stunde währte, fürchterlich zusammengerüttelt, denn das Pferd, das bei jedem Schritt etwa vierzig Fuß zurücklegte, trabte mehr als haushoch. Nachdem mein Herr sehr wohlgemut, ich aber wie gerädert in der Stadt angekommen war, stieg er in einem ihm bekannten Wirtshause ab und beriet sich mit dem Wirt über das Verfahren bei meiner Schaustellung. Auf den Rat des in solchen Dingen erfahrenen und gewandten Menschen mietete er sodann den Gultrud oder Ausrufer, damit dieser in der Stadt bekannt mache, es sei im »Grünen Adler« ein höchst merkwürdiges Geschöpf von der Größe eines Splacknuks zu sehen, das vollkommene Menschengestalt habe, einige brobdingnagsche Worte sprechen und allerlei ergötzliche Possen treiben könne. Die Bekanntmachung hatte alsbald großen Erfolg, und ich ward in einem der größten Zimmer des Gasthofs vor dem zahlreich versammelten Publikum auf einen Tisch gestellt. Glumdalclitsch stand auf einer Fußbank dicht an meinem Tisch, um auf mich achtzuhaben und mir zu befehlen, was ich tun sollte. Mein Herr wußte es mit Hilfe der Polizei einzurichten, daß zu jeder Versammlung nur dreißig Personen zugelassen wurden, damit ich durch zu großes Gedränge nicht in Schaden und Gefahr käme. War nun die gehörige Zahl versammelt und der Saal einstweilen abgesperrt, so holte mich meine Pflegerin aus der Schachtel hervor und ließ mich auf dem Tisch herumspazieren, was ich dann mit großer Würde und vielen Verneigungen tat. Sodann legte sie mir verschiedene Fragen vor, von denen sie wußte, daß ich sie in der Landessprache beantworten könnte, was die Zuschauer so in Erstaunen setzte und belustigte, daß sie nicht müde wurden, verwundert die Hände zusammenzuschlagen und mich durch ihr fürchterliches Gelächter zu betäuben. Glumdalclitsch gab mir auch einen Strohhalm, den ich wie eine Pike handhabte und
damit regelrecht exerzierte. Außerdem mußte ich noch hundert ähnliche Possen treiben, die mich schließlich, nachdem ich zwölf verschiedenen Gesellschaften gezeigt war, so ermüdeten, daß ich halbtot zusammensank. Da die Personen, die mich bereits gesehen, der draußen stehenden Menge versicherten, daß meine Gestalt und meine Künste noch bei weitem die Anpreisungen des Ausrufers überträfen und erstaunliche Berichte über den Unterschied zwischen meiner und ihrer Größe gaben, so fehlte nicht viel, daß die Leute in unbändiger Schaulust die Tür erbrochen hätten. Indes mein Herr hielt die Bestimmung, daß nur immer dreißig Personen zugelassen werden sollten, energisch aufrecht und litt aus eigenem Interesse auch nicht, daß mich jemand außer Glumdalclitsch berühre; um jede zu große Annäherung und Berührung zu vermeiden, wurde der Tisch mit Bänken umgeben, die niemand besteigen oder betreten durfte. Ein tückischer Schulbube aber konnte es trotz des Verbots und der Vorkehrungen doch nicht unterlassen, mir eine Haselnuß nach dem Kopf zu werfen, die etwa so groß wie vier Kokosnüsse zusammen war, und die mit solcher Gewalt vor mir niederschlug, daß sie mir unfehlbar den Schädel zerschmettert haben würde, wenn sie mich getroffen hätte. Ich hatte jedoch die Genugtuung, daß der kleine Bösewicht tüchtig geprügelt und zur Tür hinausgeworfen wurde. Nachdem mein Herr eine bedeutende Summe Geldes durch meine Schaustellung gewonnen hatte, machte er bekannt, daß er mich am nächsten Jahrmarkt wieder zeigen werde und reiste mit mir ab, sorgte aber zuvor für ein bequemeres Transportmittel, und das war sehr geraten, denn ich bedurfte nach den Anstrengungen, die ich durchgemacht, der größten Gemächlichkeit und Ruhe, um wieder einigermaßen zu Kräften zu kommen. Kaum aber war ich zu Hause und wieder etwas munter und erstarkt, als meine Plage auch von neuem anging, denn nun kamen, oft auf dreihundert Meilen Wegs her, eine Menge Herren von Stande mit ihren Familien, um das Wundermännlein zu sehen, das ein
so großes Aufsehen auf dem letzten Jahrmarkt gemacht habe. Keinen Tag, den Mittwoch ausgenommen, der in Brobdingnag als Sonntag gefeiert wird, hatte ich Ruhe, und mein Herr, der sich meine Vorstellungen gut bezahlen ließ, nahm wahre Schätze ein. Je mehr Geld aber, sowohl in England wie in Brobdingnag, der Mensch hat, desto mehr will er haben, und somit trieb die Habsucht meinen Herrn zu dem Entschluß, mich in allen größeren Städten des Königreichs für Geld zu zeigen. Er versah sich also mit allem Nötigen zu einer weiten Reise, bestellte sein Haus, nahm für lange Zeit von Weib und Gesinde Abschied und machte sich am 17. August des Jahres 1703 auf den Weg nach der Residenzstadt des Landes, die ungefähr in der Mitte des Landes und etwa dreitausend Meilen von seinem Dorfe entfernt liegt. Glumdalclitsch saß wie gewöhnlich hinter dem Vater zu Pferde und hielt sorgsam die von mir bewohnte Schachtel, die sie diesmal so bedachtsam mit ihren Puppenbettchen ausgepolstert hatte, daß mir die Reise wirklich nicht so beschwerlich wurde wie das vorige Mal. Wir waren nur von einem jungen Knecht begleitet, der mit dem Gepäck hinter uns herritt. Meine mütterliche Freundin tat alles mögliche, um mir die weite Reise erträglich und angenehm zu machen. Sie fütterte mich mit den wohlschmeckendsten Speisen und nahm mich oft liebkosend aus der Schachtel, um mir die schönen Gegenden zu zeigen, die wir durchreisten. Da sah ich denn, mich zugleich der frischen Luft erfreuend, allerdings Staunenswertes in Hülle und Fülle. Wir setzten über Ströme, die bedeutend breiter als der Nil und Ganges waren und passierten Bäche, die mindestens die Breite und den Wassergehalt der Themse an der Londonbrücke hatten. Auf der ganzen Reise, die zehn Wochen dauerte, versäumte mein Herr nicht, mich nicht allein in den Städten, sondern auch in Dörfern und auf großen Gütern zu zeigen, wodurch seine Kasse so anwuchs, daß die Pferde das Geld kaum tragen konnten.
Am 26. Oktober endlich erreichten wir die Hauptstadt Lorbrulgrud, welcher Name soviel wie »Stolz des Weltalls« bedeutet. Hier bezogen wir in der Hauptstraße nahe beim königlichen Palaste den ersten Gasthof, und nach Verständigung mit dem Hotelbesitzer mietete mein Herr ein drei- bis vierhundert Fuß breites Zimmer von entsprechender Länge und ließ Anschlagezettel an die Straßenecken kleben und im Publikum verteilen, welche die Ankündigung meiner Person und meiner Eigenschaften enthielten. Darauf beschaffte er einen Tisch von sechzig Fuß im Durchmesser, auf dem ich mich mit meinen Künsten zeigen sollte, und zog eine Schranke um ihn in der Höhe von drei Fuß und in gleicher Entfernung vom Rande, damit ich nicht herunterfiele. Nun begannen die Vorstellungen, und ich wurde wohl zehnmal des Tages den sich begierig hinzudrängenden und höchst erstaunten Leuten gezeigt. Mein Herr mußte den Eintrittspreis bedeutend erhöhen, um den enormen Zudrang zu mäßigen, der sich noch vergrößerte, als es ruchbar wurde, daß ich das Brobdingnagsche ganz gut verstände und auf alle vorgelegten Fragen eine richtige und passende Antwort gebe. Ich hatte mich nämlich durch Glumdalclitschs Hilfe in meinen Mußestunden zu Hause, sowie auch auf der langen Reise in der Landessprache bedeutend ausgebildet. Sie hatte zu meinem Unterricht auch ein kleines Buch, nicht viel größer als bei uns ein Atlas, mitgenommen, das Lehren der Weisheit und Tugend für junge Mädchen enthielt, mir mit dessen Hilfe die landesüblichen Buchstaben eingeübt und mich leichtere Sätze ziemlich geläufig lesen gelehrt.
Drittes Kapitel Die Königin kauft den Verfasser von seinem bisherigen Herrn und er kommt an den Hof. Er disputiert über sein Wesen und seine Beschaffenheit mit den größten Gelehrten des Landes. Eine passende Wohnung wird für den Verfasser bei Hofe hergerichtet. Die Königin gibt ihm viele Beweise ihrer Huld und Gnade. Er vertritt die Ehre seines Vaterlandes gegen den König. Der Hofzwerg spielt ihm mehrere tückische Streiche.
Leiden
und Mühseligkeiten, die ich täglich zu ertragen hatte, wirkten schädlich auf meine Gesundheit ein, ohne daß mir mein Herr genügende Ruhe und Erholung gestattet hätte, denn je mehr Geld er durch mich gewann, desto größer wurde seine Habsucht. Ich hatte durch die übermäßigen Anstrengungen schon allen Appetit verloren und war nahe daran, zum Skelett abzumagern. Mein Herr bemerkte das wohl, und da er befürchtete, daß ich bald sterben würde, so beschloß er, bis zu meinem Tode noch so viel Geld als möglich durch mich und aus der Leute Neugier herauszuschlagen. Während er überlegte, wie dies wohl am besten anzufangen sei, kam ein Sardral oder Kammerherr des Königs, um meinem Herrn zu befehlen, mich augenblicklich an den Hof zu bringen, damit ich Ihre Majestät die Königin nebst ihren Hofdamen durch meine Figur und meine Mienen unterhielte. Einige der Damen hatten mich nämlich schon gesehen und sehr merkwürdige Dinge von meiner kleinen Person, meinem anmutigen Betragen und meinem aufgeweckten Kopfe erzählt. Ihre Majestät war nebst ihren Damen auch ganz entzückt über mein Benehmen. Ich fiel auf die Knie und wollte den königlichen Fuß
küssen, allein die hohe Frau war so huldreich, mir statt dessen ihren kleinen Finger zu reichen, dessen Spitze ich nun zierlich mit beiden Armen umfaßte und an meine Lippen führte. Sie richtete einige Fragen an mich, die sich auf mein Vaterland und meine Reisen bezogen, und ich gab mir Mühe, sie kurz und deutlich zu beantworten. Darauf fragte sie sichtlich befriedigt, ob ich nicht Lust hätte, bei Hofe zu leben, worauf ich nach einer tiefen Verbeugung erwiderte: ich sei nur der Sklave meines Herrn, stände es jedoch in meiner Macht, so würde ich meinen höchsten Stolz darein setzen, einer so erhabenen Fürstin mein Leben und meine Dienste zu weihen. Die Königin schien das nicht ungern zu hören und fragte sogleich meinen Herrn, ob er nicht Lust habe, mich zu einem guten Preise zu verkaufen. Da er nun, wie schon bemerkt, befürchtete, daß ich nur noch kurze Zeit leben möchte, so willigte er ein und verlangte tausend Goldstücke, die ihm auch sogleich ausgezahlt wurden; jedes dieser Goldstücke hatte ungefähr die Dicke und Schwere von achthundert zusammengeschweißten holländischen Dukaten. Nachdem der Handel abgemacht, wandte ich mich wieder mit einer tiefen Verneigung zur Königin und fragte, ob ich mir nunmehr als ihr ergebenster Sklave die Gnade ausbitten dürfe, daß meine Wärterin und Lehrerin Glumdalclitsch bei mir bleibe, da diese mich stets mit vieler Sorgfalt und Güte gepflegt habe. Ihre Majestät gewährte huldreichst meine Bitte und erlangte ohne Mühe die Einwilligung des Vaters, den es nicht wenig erfreute, seiner Tochter eine Stelle bei Hofe verschaffen zu können. Meine liebe Glumdalclitsch aber konnte kaum ihr Entzücken verbergen. Mein Herr entfernte sich darauf mit der Bemerkung, er habe mir einen sehr guten Dienst verschafft, worauf ich nur durch eine ziemlich kühle Verbeugung antwortete. Die Königin, der diese Kälte nicht entgangen war, fragte, sobald der Pächter das Zimmer verlassen hatte, nach dem Grunde. Ich stand nicht an zu erwidern, daß ich nicht die geringste
Ursache habe, dankbare Gefühle für meinen ehemaligen Herrn und Meister zu hegen, denn meinen Dank dafür, daß er mich aufgenommen und leidlich ernährt habe, hätte ich ihm reichlich durch den großen Geldgewinn abgetragen, den ich ihm eingebracht und wozu er mich rücksichtslos ausgebeutet. Das Leben, das ich unter fortwährenden Anstrengungen vor einem schaulustigen Publikum geführt, sei ein höchst mühseliges gewesen und habe endlich meine Gesundheit in ernstliche Gefahr gebracht. Da ich aber nun gegenwärtig von der Gnadensonne einer so erhabenen Königin beschienen würde, die ein Schmuck der Natur, ein Liebling der Welt und der Phönix der ganzen Schöpfung sei, so dürfe ich hoffen, daß meine Gesundheit wieder erstarken und meine Lebenskraft unter dem Einfluß ihrer hocherhabenen Gegenwart einen neuen, gedeihlichen Aufschwung nehmen werde. Das war der Hauptinhalt meiner Rede, die ich, allerdings nicht ohne Stocken und Stottern, hervorgebracht hatte, aber gleichwohl hatte ich sie, zumal was die Komplimente gegenüber der Königin betraf, ganz im landesüblichen Stil gehalten, denn ich war durch Glumdalclitsch, als sie mich an den Hof brachte, ziemlich genau darin unterrichtet worden. Die Königin aber sah mit gütiger Nachsicht die Mängel in meiner Aussprache nach und war sichtlich erstaunt, so viel Geist und Witz bei einem so winzigen Däumling zu finden. Sie fühlte sich deshalb gedrungen, mich sofort ihrem hohen Gemahl vorzustellen, nahm mich auf ihre schöne Hand und begab sich mit mir in das Arbeitskabinett des Königs. Dieser, ein Fürst von ernstem, gemessenem Charakter und etwas kurzsichtig, konnte meine Gestalt nicht sogleich erkennen und fragte verwundert, wie sie dazu komme, so viel Interesse für einen Splacknuk an den Tag zu legen. Nachdem mich aber die Königin neben das Tintenfaß auf den Schreibtisch gestellt und mir befohlen hatte, selbst Bericht über mich zu erstatten und ich das in wenigen, aber zusammenhängenden und klaren Worten tat, konnte er sein Erstaunen nicht
verhehlen und ließ, als er nun auch durch sein Augenglas meine vollkommen menschliche Gestalt wahrnahm, meine vor der Tür ungeduldig harrende Wärterin herbeikommen, die ihm auf seine Fragen alle meine Mitteilungen als begründet bestätigte. Indes war er als Philosoph und gründlicher Gelehrter noch keineswegs mit der gegebenen Auskunft zufrieden und glaubte auch, daß die Geschichte meiner Ankunft in seinem Königreich wohl nur von Glumdalclitsch und ihrem Vater erfunden sein möchte, um mich zu desto höherem Preise zu verkaufen, während ich in Wahrheit nicht von einem fremden Zwergenvolke stamme, sondern nur eine in seinem Lande entsprossene kleine Mißgeburt sei. Er legte mir, um genauer hinter den wahren Sachverhalt zu kommen, einige geschickte Kreuz- und Querfragen vor, die ich aber alle so treffend und vernünftig beantwortete, daß er aus seiner Verwunderung kein Hehl mehr machte; zwar war meine Ausdrucksweise nicht ganz dem Hofton angemessen und viel mit bäuerischen Ausdrücken untermischt, was ihm aber leicht aus meinem langen Aufenthalte in dem Hause eines schlichten, fast nur mit Landleuten verkehrenden Pächters begreiflich war. Um nun mein Dasein und Wesen gründlich zu erklären, ließ Seine Majestät drei der zuverlässigsten Hofgelehrten kommen und stellte mich ihnen als lebendiges Problem vor. Diese Gelehrten untersuchten eine geraume Zeit meine Gestalt mit der Lupe und waren dann selbstverständlich über mich verschiedener Meinung. Doch stimmten alle drei darin überein, daß ich nicht nach den regelmäßigen Naturgesetzen geschaffen sein könne, weil ich so gebildet sei, daß ich mein Leben nicht durch Erklettern der Bäume oder durch Eingraben in die Erde erhalten könne. Es würde zu weitläufig und langweilig sein die verschiedenen närrischen Vermutungen, die diese gelehrten Herrn über mich laut werden ließen, hier zu verzeichnen, darum will ich nur das allgemeine Endergebnis, worin sie wieder übereinkamen, hier mitteilen, daß ich nämlich nur ein Replum Scalcath, das heißt
ein Naturspiel sei. Nach dieser mit der Miene der unumstößlichsten Gewißheit vorgebrachten Meinung erbat ich mir das Wort zur näheren Erklärung der Zweckmäßigkeit und Berechtigung meines Daseins. Der König winkte mir huldreich zu, und nun versicherte ich auf mein Ehren- und Manneswort, daß ich keineswegs ein bloßes Naturspiel sei, sondern daß ich aus einem weit entfernten Lande komme, das mit vielen Millionen Menschen meiner Größe bevölkert sei und woselbst Bäume, Häuser, Tiere, kurz alles im Verhältnis zu meiner Größe stände, so daß ich dort recht wohl meine Existenz behaupten, meinen Lebensunterhalt finden und mich gegen meine Feinde verteidigen könne. – Diese Erklärung, von welcher der geneigte europäische Leser zugeben wird, daß sie die vollste Wahrheit enthielt, wollte den drei großen Gelehrten dennoch nicht einleuchten; sie nahmen sie mit verächtlichem Lächeln auf und machten die boshafte Bemerkung: mein bisheriger Herr, der Pächter, müsse mir die Fabeln gut einstudiert haben, die ich vor den Majestäten aussagen solle. – Der König aber, ein verständiger Mann und gewonnen durch die Klarheit meiner Erklärung und durch den Ton der herzlichen Aufrichtigkeit, womit ich sie vorgebracht hatte, entließ die Gelehrten und befahl, den Pächter herbeizurufen, der zum Glück die Stadt noch nicht verlassen hatte. Als dieser gekommen war, verhörte ihn der König zuerst unter vier Augen, alsdann in der gleichen Weise Glumdalclitsch, und als er nun fand, daß beider Aussagen ganz mit der meinigen übereinstimmten, schenkte Seine Majestät unserem Berichte vollen Glauben. Er empfahl mich mit gütigen Worten der Sorgfalt seiner hohen Gemahlin und war der Meinung, Glumdalclitsch solle ihr Amt, mich zu warten und zu pflegen, beibehalten, da er bemerkt habe, daß wir beide große Zuneigung zueinander hätten. Nun ward sofort für Glumdalclitsch ein passendes Zimmer bei Hofe eingerichtet und ihr eine Gouvernante, ein Kammermädchen und zwei Mägde als Dienstboten überwiesen. Nachdem
diese Angelegenheit geordnet war, befahl die Königin ihrem Hoftischler, der ein sehr geschickter Mann war, eine passende Wohnung für mich zu verfertigen, die mir zugleich als bequemes Schlafgemach dienen könne; über das passendste Modell dazu und seine innere Einrichtung könne er sich am besten mit Glumdalclitsch und mir ins Einvernehmen setzen. Unter unserer beiderseitigen Anleitung, verfertigte der Tischler sehr bald ein hölzernes Kästchen von sechzehn Fuß im Geviert und von zwölf Fuß Höhe. Es ward mit einer Türe, durch die ich bequem ein- und ausgehen konnte und mit zwei Fenstern versehen. Die Decke des Zimmers, die aus einem einzigen Brett bestand, konnte mit Leichtigkeit auf- und zugeklappt werden, damit ein bequemes, von den Tapezierern Ihrer Majestät möglichst weich hergestelltes Bett hineingelassen werden konnte. Glumdalclitsch öffnete an jedem Morgen, nachdem ich aufgestanden war, die Klappe, holte das Bett heraus und klopfte und schüttelte es gewissenhaft im Sonnenschein auf. Ein anderer geschickter Tischler, dessen besondere Kunstfertigkeit in der Herstellung von Kinderspielzeug bekannt war, verfertigte mir im Auftrag der Königin zwei bequeme Lehnstühle aus einem elfenbeinartigen Stoff, ferner ein Sofa, einen Kleiderschlank und einen mit eingelegter Arbeit gezierten, zu meiner Größe passenden Tisch. Die Wände meines Zimmers und sogar der Fußboden waren sorgfältig gepolstert, damit ich, wenn ich bei einem Transport einen Fall täte, mich nicht beschädigen könnte. Auch bat ich um ein Schloß, womit ich die Türe gegen Ratten und Mäuse verschließen könnte. Zu dessen Anfertigung wurde ein in feinen Metallarbeiten erfahrener Goldschmied aufgesucht, der auch nach mehreren fehlgeschlagenen Versuchen endlich ein Schloß zustande brachte, so klein, wie es in Brobdingnag noch nicht gesehen war und wie ich es größer an keiner Haustür in England erblickt habe; den Schlüssel dazu verwahrte ich in meiner eigenen Tasche, weil ich fürchtete, Glumdalclitsch möchte ihn wegen seiner winzigen Größe leicht verlieren.
Nachdem meine Wohnung nun so bequem wie möglich eingerichtet war, befahl die Königin, in den besten Kaufläden der Residenz nach dem feinsten Seidenzeug zu suchen, woraus mir Kleider verfertigt werden sollten, weil die meinigen bereits sehr abgetragen waren. Es wurde auch ein nach den Begriffen des Landes außerordentlich feiner Stoff beschafft, allein als die Kleider, die nach der Mode des Landes zugeschnitten, teils der persischen, teils der chinesischen Kleidertracht ähnlich, fertig waren, fand ich sie so dick und schwer, als ob sie aus einer englischen Bettdecke verfertigt wären, was mir anfangs sehr lästig war. Je länger ich nun in meiner neuen Einrichtung und unter meinen neuen Verhältnissen bei Hofe lebte, desto mehr Gefallen fand die Königin an meiner Gesellschaft, so daß sie schließlich ohne mich nicht einmal ihr Mittagsmahl halten konnte. Es wurde für mich ein Tisch und ein Stuhl auf die Tafel gesetzt, an der Ihre Majestät speiste, und ich mit einem Silberbesteck versehen, so groß wie man es in Brobdingnag für die Puppenstübchen anfertigt. Glumdalclitsch, die auf einem Schemel an der Tafel stehend mich beim Essen bediente, säuberte nach Tisch immer sorgfältig mein kostbares Geschirr und verwahrte es in einem silbernen Döschen in ihrer Tasche. Es speisten in unserer Gesellschaft nur noch die beiden königlichen Prinzessinnen, von denen die eine sechzehn, die andere dreizehn Jahr und einen Monat alt war. Ihre Majestät bediente mich beim Essen gern selbst, sie zerschnitt mir das Fleisch in kleine Stücke, reichte es mir und hatte ein inniges Vergnügen daran, wenn ich unter höflichen Verbeugungen tapfer zulangte und es mir schmecken ließ. Mich setzte die Eßlust der Königin, die doch nur einen schwachen Magen hatte und nach den Begriffen des Landes wenig aß, anfangs in das größte Erstaunen, denn sie nahm gewöhnlich auf einen Bissen so viel in den Mund, daß sich zwölf englische, mit gutem Appetit versehene Pächter daran hätten sattessen können. Die Knochen eines kleinen Vogels, der wenigstens die neunfache Größe unserer
Gänse hatte, zermalmte sie mit Leichtigkeit, und ohne alle Mühe steckte sie ein Stück Brot in den Mund, so groß wie bei uns ein Viergroschenlaib. Aus einem feingearbeiteten, silbernen Becherchen, das einen halben Oxhoft fassen mochte, trank sie bei jedem Schluck eine Menge, die dem Umfang eines Schweinskopfs gleichkam, und doch nannte man die Art der hohen Dame zu trinken, hierzulande nur am Glase nippen. – Ihr Messer war um ein gut Teil länger als eine am Stiele gerade geschmiedete Sense, und Gabel, Löffel und anderes Gerät waren der Größe des Messers entsprechend. Einst war ich neugierig, einmal eine offene Tafel bei Hofe zu sehen, und Glumdalclitsch trug mich zu einer solchen hin, wo ein paar Dutzend solcher Messer und Gabeln in beständiger Bewegung waren. Die ungeheuren funkelnden und blinkenden Klingen und Zacken gewährten mir aber einen so grauenhaften Anblick, daß ich niemals wieder Lust zeigte, bei einer Hoftafel gegenwärtig zu sein. – Wie gesagt, speiste ich gewöhnlich nur mit der Königin und den beiden Prinzessinnen allein, am Mittwoch aber, dem Sonntag des Volks, verlangte es die Hofsitte, daß wir in Gesellschaft des Königs und der königlichen Prinzen speisten, bei welcher Gelegenheit mir der König sehr häufig Beweise seiner hohen Gunst gab. Mein Stuhl und mein Tisch wurden ihm nahe zur Linken neben das Salzfaß hingestellt, damit er meine Stimme bequem vernehmen konnte; er erkundigte sich gern nach den Sitten, Gewohnheiten, nach dem Stande der Gelehrsamkeit, nach der Regierungsform und nach der Religion in meinem Vaterlande, worüber ich dann möglichst vollständige Auskunft gab und nicht selten Gelegenheit hatte, wahrzunehmen, daß die Bemerkungen, die mir der König machte und die Urteile, die er über meine heimatlichen Zustände abgab, von einer außerordentlichen Verstandesschärfe zeugten. Eines Tags aber brachte er mich durch die Ansichten, die er über mein geliebtes Vaterland darlegte, sehr auf. Ich hatte weitläufig von unseren See- und Landkriegen, unseren Religionsspaltungen und
unseren sich heftig befeindenden politischen Parteien erzählt, als er sich schließlich lächelnd und kopfschüttelnd an seinen mit einem weißen Stabe (der Stab war ungefähr so lang wie der Hauptmast des englischen Linienschiffs »Royal Sovereign«) hinter ihm stehenden Premierminister wandte und sagte: »Wie erbärmlich und verächtlich ist doch die menschliche Größe, auf die man so viel pocht, da sie von solch kleinen miserablen Insekten, wie der Däumling da, nachgeäfft werden kann. Es ist Tatsache, daß dieses kleine Gewürm ebensogut wie wir seinen Rangstolz, seine Titel und Würden hat. Es baut sich Löcher und Ameisenhaufen, die es Städte nennt, stolziert in prächtigen Kleidern einher, fährt in Staatskarossen und liebt, kämpft, betrügt, verrät und intrigiert ganz wie wir. Ich brauchte keine halbe Kompanie Soldaten, um das Reich dieser Däumlinge in kurzer Zeit vom Erdboden zu verwischen, und doch dünken sie sich die Herren der Welt!« In dieser Weise sprach er längere Zeit, während ich voll Unwillen die Farbe wechselte, als ich mein edles Vaterland, so ausgezeichnet durch Künste und Waffen, die Herrin der Meere, den Ruhm des Weltalls und den Schiedsrichter Europas, mit solcher Verachtung besprechen hörte. Beinahe hätte ich den Respekt vor Seiner geheiligten Majestät hintenangesetzt und eine derbe Erwiderung gegeben. Allein ich besann mich noch zu rechter Zeit und überlegte, daß ich an die Größenverhältnisse in Brobdingnag nun einmal gewöhnt, selbst gelacht haben würde, wenn ich hier eine vornehme Gesellschaft von Europäern sich hätte brüsten und großtun sehen. Konnte ich es doch manchmal nicht unterlassen, über mich selbst zu lächeln, wenn mich die Königin auf die Hand nahm und mit mir vor einen Spiegel trat; nichts hätte dann so albern sein können, als ein Vergleich zwischen uns, und es schien mir dann wirklich, als ob meine Gestalt um mehrere Grade zusammengeschrumpft wäre. Ich wurde bei Hofe nicht allein von den allerhöchsten Herrschaften, sondern von jedermann gut und liebevoll behandelt,
nur der Zwerg der Königin nahm es sich heraus, mich oft empfindlich zu kränken und zu ärgern. Da er nämlich so klein von Körper war (ich glaube, er maß kaum volle dreißig Fuß), wie man ähnliches noch nicht im Lande gesehen, so blähte sich bei meinem Anblick sein Stolz ungemein aus, weil er mit mir verglichen, für einen Riesen gelten konnte. Keine Gelegenheit ließ er vorübergehen, um mir seine Größe und meine Wenigkeit empfindlich fühlbar zu machen, und immer mußte ich spitzige Worte über meine »Kleinheit« hören, wofür ich mich nur dadurch rächte, daß ich ihn »Bruder« nannte, ihn spöttisch zum Ringen aufforderte und Erwiderungen gab, wie sie wohl Hofpagen im Munde führen. Eines Tags ward der boshafte Knirps über eine meiner Erwiderungen so wütend, daß er mich, ehe ich Arges dachte, um den Leib packte, mich in eine auf dem Tische stehende silberne Schale voll Milch warf und dann eiligst davonlief. Ich plumpste infolge des heftigen Wurfs fast bis auf den Grund der Schüssel und wäre, da Glumdalclitsch gerade nicht gegenwärtig und die Königin vor Schrecken ganz außer Fassung gekommen war, unrettbar verloren gewesen, hätte ich als vortrefflicher Schwimmer nicht sogleich die Oberfläche wieder gewonnen und mich über »Milch« gehalten. Mittlerweile eilte Glumdalclitsch herbei, schöpfte mich aus dem Milchsee heraus und brachte mich, nachdem sie mich getrocknet und gesäubert, zu Bett, damit ich mich von meinem Schrecken erhole und mir die Erkältung nicht schade. Der Zwerg aber erhielt eine tüchtige Tracht Prügel und mußte zur Strafe die Milch austrinken, in die er mich geworfen; zu meiner größten Freude verschenkte Ihre Majestät auch bald den Zwerg, der seit seinem tückischen Streich ihre Gunst verloren hatte, an eine befreundete Dame von Stande; wäre der Kobold bei Hof geblieben, so hätte er sich wegen der erhaltenen Prügel gewiß empfindlich an mir gerächt. Früher schon hatte mir der Schlingel einen Streich gespielt, der freilich harmloser war und über den die Königin zu lachen
geruhte. Ihre Majestät nämlich hatte einen Markknochen auf den Teller genommen und stellte ihn, als sie ihn vom Marke geleert, wieder aufrecht in die Schlüssel. Da benutzte der Zwerg eine augenblickliche Abwesenheit meiner lieben Glumdalclitsch, packte mich und steckte mich bis über den halben Leib in den hohlen Knochen, auf welche Weise ich, wie leicht zu erachten, eine sehr lächerliche Figur spielte. Der Zwerg hatte seinen Streich so rasch und geschickt ausgeführt, daß man mich nicht gleich vermißte, und ich schämte mich, in meiner demütigenden Stellung um Hilfe zu schreien. Erst nach etwa einer Minute entdeckte mich die Königin und befreite mich aus meiner ebenso lächerlichen als hilflosen Lage. Meine Kleider aber waren durch den fettigen Knochen völlig verdorben. Schon damals sollte der Tückebold fortgejagt werden, blieb aber auf meine Fürbitte und erhielt nur eine gehörige Anzahl Peitschenhiebe. Zuweilen neckte mich die Königin in ihrer huldvollen Weise auch, aber das geschah stets in einer harmlosen, nicht verletzenden Art. So warf sie mir wiederholt allzu große Furchtsamkeit vor, weil ich mich vor den Stubenfliegen fürchte, allein ich fürchtete mich eigentlich nicht vor diesen ekelhaften Geschöpfen, sondern scheute nur ihren widerlichen Anblick, ihr unerträgliches Gesumm und ihren unausstehlichen Geruch. Diese brobdingnagschen Fliegen sind nämlich so groß wie unsere Lerchen und konnten mich daher, wenn sie mich umsummten oder sich gar auf meine Nase setzten, aufs Unangenehmste molestieren, so daß ich ihnen gern auswich, zumal ich für alle ihre Ekelhaftigkeiten ein schärferes Auge hatte als die Eingeborenen, für die das nur mikroskopisch da war, was ich mit bloßem Auge sah. So sah ich die Fliegen in ihrer ganzen widerwärtigen Gestalt, ihren borstigen Haaren und runzlichen Leibern, ja ich erblickte sogar die übelriechende, klebrige Feuchtigkeit an ihren Füßen, mit deren Hilfe diese Insekten steil an den Wänden heraufgehen und sogar, ohne herabzufallen, an den Zimmerdecken spazieren können. Der Zwerg, der meine
Scheu vor diesen Geschöpfen bemerkt hatte, fing oft eine ganze Handvoll davon und warf sie mir ins Gesicht, um mich zu erschrecken und die Königin zu amüsieren. Ich erwehrte mich der abscheulichen Insekten, indem ich mein Messer zog und sie mit einem gutgezielten Hiebe, während sie durch die Luft flogen, zerschnitt, eine Kunst, in der ich es nach und nach zu großer Fertigkeit brachte. Diese Art von Kunstfertigkeit sollte mir eines Tags gegen gefährlichere Feinde nützlich werden. Glumdalclitsch hatte mich einst wieder, wie sie oft an schönen sonnigen Tagen zu tun pflegte, mit meiner kleinen Wohnung ans offene Fenster gesetzt, damit ich mich der frischen Luft erfreute. Da summten, während ich gerade ein Stück Kuchen zum Frühstück aß, mehrere Wespen so groß wie Rebhühner durch mein offenstehendes Fenster in mein Zimmer, fielen über meinen Kuchen her und trugen ihn stückweise fort. Andere flogen mir, wie Dudelsäcke brummend, um den Kopf und bedrohten mich mit ihren fürchterlichen Stacheln. Aber auf meine gegen die Fliegen erworbene Fertigkeit vertrauend, ergriff ich mutig mein Messer, hieb ein Dutzend der Plagegeister zusammen und schlug die übrigen in die Flucht. Den Getöteten zog ich die wenigstens anderthalb Zoll langen Stacheln aus und bewahrte sie mit Sorgfalt auf. Nach meiner Rückkehr schenkte ich drei Stacheln davon der Schule zu Gresham und machte mit den anderen einigen Naturforschern eine Freude.
Viertes Kapitel Beschreibung des Landes, der Hauptstadt und des königlichen Palastes. Die Reiseschachtel des Verfassers, sowie auch etwas über die äußerliche Beschaffenheit der Landeseinwohner. Beschreibung des Haupttempels. Großartiger Anblick des königlichen Militärs.
Jetzt wäre es wohl angemessen, daß ich dem Leser eine kurze Beschreibung des merkwürdigen Landes lieferte, in dem ich alle die bisher erzählten Abenteuer erlebte und noch andere erleben sollte. Freilich kann ich nur über das berichten, was ich in Brobdingnag selbst gesehen habe, und das beschränkt sich nur auf einen Umkreis von zweitausend Meilen. Die Königin nämlich, die ich stets auf ihren Reisen begleitete, schränkte ihre Reise immer auf eine Strecke von nur zweitausend Meilen ein, während der König sein großes Reich zweimal im Jahr bis zu den Grenzen bereiste. Die Größe des Reiches beträgt nach genauen Messungen sechstausend Meilen (natürlich sind geographische, nicht englische Meilen zu verstehen) in der Länge und fünftausend in der Breite. Eine Bergkette, deren höchste Spitzen sich bis zu dreißig Meilen erheben, begrenzt dieses Reich im Nordosten und schließt es nach dieser Seite vollständig von allem Verkehr mit der Welt ab, denn das Gebirge ist stets in so starker vulkanischer Tätigkeit, daß die von ihm ausgehenden Steinregen und Lavaströme das Übersteigen ganz unmöglich machen. Daher hat man auch in Brobdingnag nicht die geringste Kunde davon, ob und welche Menschen jenseits dieses Gebirges wohnen. An den drei anderen
Seiten wird das eine Halbinsel bildende Land vom Ozean begrenzt, allein so sehr sonst das Meer gerade den Verkehr vermittelt, so ist er doch hier ebenso abgeschnitten, wie im Nordosten durch das Gebirge, denn die in das Meer mündenden Flüsse und das Meer selbst bis auf Hunderte von Meilen von der Küste, sind so sehr durch scharfe und kantige Felsen versperrt, daß auch das kleinste Boot nicht hindurchkann und sich also die Schiffahrt nur aus das Innere des Landes beschränkt, wo allerdings die Flüsse von solcher Breite und Tiefe sind, daß sie die größten Fahrzeuge tragen können. Unter diesen Umständen erklärt es sich leicht, daß die Einwohner von Brobdingnag von allen übrigen Völkern abgeschlossen bleiben, weshalb auch unsere besten Geographen von dem Dasein dieses Landes nichts wissen, ebensowenig wie die Brobdingnagschen Gelehrten eine Ahnung von den Europäern und anderen uns an Größe ähnlichen Völkern haben. Die Unzugänglichkeit des Meeres verhindert selbst größere Seefische, sich der Küste zu nähern, und nur bei heftigen Stürmen zerschellt zuweilen ein Walfisch an den scharfen Klippen, der dann in der Regel den Leuten aus den ärmeren Klassen zur Beute wird. Ich habe ab und zu dergleichen gestrandete Walfische gesehen, welche so groß waren, daß sie ein Eingeborener nur mit Mühe auf den Schultern nach Hause tragen konnte. Zuweilen kam ein solcher Walfisch auch auf die königliche Tafel, jedoch mehr als bloßes Schaugericht. Das Land ist sehr bevölkert und enthält außer einundfünfzig Hauptstädten eine große Menge von Landstädtchen und Dörfern. Die Bauart und Beschaffenheit der Städte entspricht ganz der Residenz Lorbrulgrud, weshalb es genügen wird, wenn ich von dieser eine kurze Beschreibung gebe. Die Stadt wird von einem mächtigen Strom in zwei ganz gleiche Hälften geschieden, deren jede fünfzigtausend Einwohner zählt. Ihre Länge beträgt drei Glomglungs, oder vierundfünfzig englische Meilen und ihre
Breite drei und einen halben Glomglung. Das Hauptgebäude der Stadt, der Palast des Königs, hat mit allen dazu gehörigen Gebäuden einen Umfang von sieben Meilen in der Runde und bildet sozusagen eine Stadt für sich. Seine inneren Räume sind, wie leicht zu erachten, von ungeheurem Umfange, so daß ich mich oft nach Durchschreitung einiger Hauptsäle recht ermüdet fühlte. Damit ich die Stadt bequem besehen könne, hatte die Königin befohlen, daß man stets für mich sowie für Glumdalclitsch und deren Gouvernante eine Kutsche in Bereitschaft halten sollte, in welcher wir nun häufig ausfuhren und uns die Merkwürdigkeiten der Stadt, ihre hervorragendsten Gebäude und prachtvollen Kaufläden besahen. Unsere Kutsche war ungefähr so breit, wie der Platz von Westminsterhall, jedoch nicht ganz so hoch wie der Westminster Dom. Fuhren wir an einem sehenswerten Gebäude oder Monument vorbei, so nahm mich Glumdalclitsch sorgsam auf die Hand, damit ich einen bequemen Überblick hätte. Auf diese Weise überblickte ich wiederholt das lebendigste Volksgewühl und hatte Gelegenheit, Menschen aller Stände und Berufe in ihren verschiedenen Tätigkeiten genau zu beobachten. Ich fand auch hier in der Residenz, daß der Brobdingnagsche Menschenschlag, wie ich bei meinem bisherigen Verkehr unter diesen Riesen schon bemerkt, ein sehr ebenmäßig gebauter und wohlgebildeter sei, allein für unsere Augen sind diese Riesenmenschen das, was man »fernschön« nennt, denn betrachtete ich die Haut auch der zartesten Damen in der Nähe, so erschrak ich anfangs über ihre abstoßende Grobheit und Häßlichkeit. Meinem für das Kleine scharfen Auge entging keine Borste und kein Wärzchen, womit die Haut bedeckt war und selbst die von den einheimischen Dichtern oft besungene Hand Ihrer Majestät, die zu den schönsten und zartesten Frauen des Reichs zählte, erschien mir in der Weise, als wenn wir einen unserer Finger durch ein sehr starkes Vergrößerungsglas betrachten, das alle sonst unsichtbaren Fleckchen, Haare und Narben auf unserer Haut bloß
legt. Bei dieser Beschaffenheit der Haut ist es nicht zu verwundern, daß mir häßliche, schmutzige Menschen, wie ich sie häufig im Marktgewühl und vor den Kirchen unter den Bettlern fand, einen ganz scheußlichen Anblick boten. Die Königin ließ außer meiner größeren Wohnung noch eine andere »Schachtel«, wie sie sich ausdrückte, für mich verfertigen, die kleiner war und nur einen Umfang von zwölf Quadratfuß und eine Höhe von zehn Fuß hatte. In dieser wurde ich, des bequemeren Transports wegen, mit auf Reisen genommen. Sie bildete ein Viereck, das an drei Wänden mit Fenstern versehen war. Jedes Fenster war mit starken eisernen Stangen verwahrt, die mindestens die Dikke Brobdingnagscher Stricknadeln hatten, um auf langen Reisen ein Unglück zu verhüten. An der vierten, mit keinem Fenster versehenen Wand befanden sich zwei dicke Krampen, durch welche die Person, die mich trug, einen ledernen Riemen zog, den sie um den Leib schnallte. Dies war, wenn Glumdalclitsch sich nicht wohl befand oder sonst behindert war, immer das Amt eines getreuen, zuverlässigen Dieners. Die Reiseschachtel war wie meine andere Wohnung mit allen Bequemlichkeiten versehen, enthielt fest in den Boden geschraubte Stühle und Tische, Hängematte und Bett und war so gut gepolstert, daß ich, wenn ein Bedienter zu Pferde mit mir ausritt oder ich in der Kutsche fuhr, keine großen Unannehmlichkeiten, sondern etwa nur die Bewegungen fühlte, die ein ziemlich lebhaft vom Winde getriebenes Schiff verursacht, und an solche Bewegungen war ich ja durch meine vielen Seereisen hinlänglich gewöhnt. In dieser Reiseschachtel, die Glumdalclitsch bequemer als meine größere Wohnung auf dem Schoß halten konnte, besah ich mir auch die Stadt und ließ mich auch eines Tages zu dem Haupttempel führen, dessen Turm der höchste und schönste im ganzen Reich sein sollte. Allein ich fand mich doch in meinen Erwartungen getäuscht, denn die Höhe dieses Turmes betrug nach oberflächlicher Schätzung vom Fuß bis zur Spitze nur höchstens
dreitausend Fuß. Ein Verhältnis zu der Größe der Einwohner, das dem des Straßburger Münsters zu uns Europäern noch bei weitem nicht entspricht; was jedoch dem Turm an Höhe fehlte, ward reichlich durch seine Schönheit und Stärke ersetzt. Seine hundert Fuß dicken Mauern sind aus sauber behauenen Quadern erbaut, von denen jeder vierzig Quadratfuß mißt, und dabei erheben sich diese Mauern nicht kahl und nüchtern, sondern sind aufs reichste durchbrochen und verziert mit den Statuen der Götter und Könige, sowie mit anderen geschmackvoll und kunstreich ausgeführten Ornamenten. Die Statuen mochten meist die Größe haben wie einst der Koloß von Rhodus, denn ich fand unter einem Schutthaufen einen von einer Figur herabgefallenen kleinen Finger, der genau vier Fuß und einen Zoll maß. Glumdalclitsch wickelte den schön in Marmor ausgearbeiteten Finger in ihr Schnupftuch und nahm ihn als ein Spielzeug mit nach Hause. Auch der Tempel oder die Kirche erhebt sich in großartigen, prächtigen Verhältnissen und ist im Inneren vortrefflich geziert, die gewölbte Decke gipfelt bis zu einer Höhe von sechshundert Fuß und die reich ornamentierten Altäre und Bänke haben einen Masseninhalt von Holz und Stein, daß man aus jeder Bank oder jedem Altar bei uns zu Lande einen stattlichen Palast herstellen könnte. Überhaupt übertrifft die Größe der Gegenstände, wie sie in Brobdingnag gebraucht werden, alle unsere Vorstellungen. Ich sah Öfen, die dem Umfang der St. Paulskirche zu London wenig nachgaben. Ich will es unterlassen, den Küchenherd, die ungeheuren Töpfe und Kessel, sowie die Fleischstücke zu beschreiben, die man an Spießen von der Höhe unserer größten Mastbäume briet, weil ich fürchten muß, der Übertreibung beschuldigt zu werden. Einen prächtigen Anblick gewährt die Gardereiterei des Königs auf ihren fünfzig bis sechzig Fuß hohen Pferden und mit ihren Lanzen, deren Spitzen sich bei uns in niedrig streichenden
Wolken verlieren würden. Der König nimmt immer fünfhundert dieser Gardereiter als Bedeckung und Ehrenwache mit auf Reisen; ihr Achtung und Bewunderung gebietender Anblick wird nur dann übertroffen, wenn man einen größeren Teil des Heeres in Schlachtordnung aufgestellt sieht, wozu ich später auch einmal Gelegenheit hatte.
Fünftes Kapitel Der Verfasser erzählt eine Reihe von Abenteuern und Gefahren, die er zu bestehen hatte. Der Verfasser zeigt dem Hofe seine Geschicklichkeit im Lenken und Regieren eines Boots. Er kommt in große Gefahr durch einen Hofaffen.
Ich würde mich unter der hohen Gunst und liebevollen Fürsorge der allerhöchsten Herrschaften ganz behaglich und glücklich in diesem Riesenlande gefühlt haben, wenn mein nach den dortigen Landesverhältnissen leider zu winziger Körper mich nicht allzuhäufig verdrießlichen und ärgerlichen Vorfällen ausgesetzt hätte. Um dem Leser einen richtigen Begriff von dergleichen Unannehmlichkeiten zu geben, will ich noch einige dieser mir oft gefährlichen Vorfälle erzählen. So pflegte mich Glumdalclitsch mit meiner kleinen Behausung zuweilen in den Hofgarten zu tragen und dann ins Freie zu setzen, damit ich mich der frischen Luft erfreue. Eines Tages folgte uns der Zwerg, der damals noch bei Hofe war, in den Garten, wo mich Glumdalclitsch eben unter einen jungen Apfelbaum an den Boden gesetzt hatte. Kaum hatte dies der Kobold bemerkt, so schlich er heran und schüttelte den Baum so heftig, daß die Äpfel, fast so groß wie ein Faß, mir um die Ohren regneten und als ich mich, um ihnen auszuweichen, bückte, fiel mir gerade einer so heftig auf den Rücken, daß ich alle Viere von mir streckte; doch wurde ich glücklicherweise durch den Fall nicht beschädigt. Ein andermal hatte mich Glumdalclitsch, um sich mit ihrer Gouvernante ein wenig zu ergehen, auf einem freien Rasenplatz
zurückgelassen, als sich plötzlich der Himmel umzog und sich unter fürchterlichen Blitzen und betäubendem Donner ein Hagelwetter entlud. Schon die erste faustdicke Schloße, die mich traf, hatte mich fast betäubt und die nachsausenden Körner zerbläuten mich bald derart, daß ich schnell das Ende des heiligen Stephan gefunden haben würde, wenn ich mich nicht mit möglichster Raschheit unter eine dichte Taxushecke geflüchtet hätte. Ich war hinterher ganz mit Beulen bedeckt, und wäre meine Kleidung nicht von diesem Brobdingnagschen Stoff gewesen, der mich wie ein elastischer Panzer schützte, so hätte ich keinen heilen Knochen am Leibe behalten. Noch gefährlicher war ein Abenteuer, das ich ebenfalls in diesem Hofgarten bestand. Glumdalclitsch glaubte mich unter einem Wacholderbusch in größter Sicherheit und hatte sich mit ihrer Begleiterin nur auf wenige Schritte entfernt, als zufällig des Gärtners Wachtelhündchen nach Hundeart schnobernd und suchend des Weges kam und mich unter dem Busche liegend fand; mich sehen und erschnappen war eins. Ich schrie und zappelte vergebens; mich fest im Rachen haltend, lief der Hund zu seinem im Garten arbeitenden Herrn, dem er mich mit dem Schwanze wedelnd zu Füßen legte. Der Gärtner, der mich und meine Beliebtheit bei Hofe kannte, geriet in die größte Bestürzung, nahm mich behutsam vom Boden auf und fragte mich, tausend Entschuldigungen über seinen nichtsnutzigen Köter vorbringend, aufs teilnehmendste nach meinem Befinden. Nachdem ich mich erholt und bemerkt, daß ich keine Verletzung erlitten hatte (denn der Hund hatte mich nicht gebissen, sondern seine Beute, wie es die Dressur verlangte, nur lose im Rachen getragen), tröstete ich den Gärtner und sprach ihm zu, unbesorgt zu sein. Darauf brachte er mich zu Glumdalclitsch und beide vereinigten ihre Bitten dahin, daß ich über diesen unangenehmen Vorfall bei Hofe schweigen möchte, was ich gern versprach und was selbstverständlich auch geschah.
Ein anderes Mal hätte ich beinahe das Schicksal des Ganymed, aber wahrscheinlich mit schlimmerem Ende, geteilt. Ich lag nämlich, an nichts Arges denkend, unter einem blühenden Rosenstrauch und freute mich seines Duftes und der reichen Fülle seiner schüsselgroßen Blüten, als mich plötzlich ein heftiger Sturmwind anhauchte und meine Augen wie von einer niedersinkenden schwarzen Wolke verdunkelt wurden. Bald erkannte ich, daß es nur ein Habicht war, der sich mit heftigem Flügelschlag, vielleicht zehn Ellen klafternd, auf mich niedergestürzt hatte, um mich in seinen Fängen fortzutragen. Kaum war mir das klar, so flog auch mein Degen aus der Scheide und das Ungetüm stieß bei mir auf heftigen Widerstand und trug auch einige Wunden davon. Allein auf die Dauer hätte ich den mir an Kräften bei weitem überlegenen Vogel doch nicht bekämpfen können, darum zog ich mich rasch hinter ein dichtes Spalier zurück und wurde durch herbeieilende Leute, vor denen das Untier davonflog, von meiner Angst befreit. Bald darauf fiel ich nicht weit vom Schauplatz dieses Kampfes, als ich eben meinte, über einen im Garten künstlich aufgeworfenen Erdhügel zu gehen, bis an den Hals in einen Maulwurfshaufen, aus dem ich mich nur mit Mühe selbst wieder hervorarbeitete. Um den Schmutz an meinen Kleidern zu erklären, erfand ich hinterher vor Glumdalclitsch und anderen mich befragenden Leuten eine Notlüge, die hier nicht weiter des Erwähnens wert ist. Ein anderes Mal verursachte ich mir eine erhebliche Beschädigung am Knie, weil ich über ein Schneckenhaus gestolpert war; kurz, solche und ähnliche Dinge begegneten mir alle Augenblicke. Vergnüglich und gleichzeitig ärgerlich war es mir, daß selbst die kleinsten Vögel keinen Respekt vor mir hatten: die Sperlinge, Meisen und Buchfinken (die alle natürlich eine den Landesverhältnissen entsprechende Größe hatten) hüpften, Insekten und Würmer haschend, um mich herum, als ob ich gar nicht auf der Welt wäre, kümmerten sich gar nicht um mein
Zurückscheuchen und holten mir oft Kuchen oder Brot aus der Hand. Die Königin, die jede Gelegenheit benützte, um mich aufzuheitern und mir das Leben in Brobdingnag angenehm zu machen, kam dadurch, daß ich häufig von meinen Seereisen erzählte, auf den Gedanken, mir zu meiner Unterhaltung ein Boot anfertigen zu lassen, und als sie mir dies gütige Vorhaben mitteilte und mich fragte, ob mir damit wohl eine Freude gemacht sei, umarmte ich aufs dankbarste die Spitze ihres kleinen Fingers. Die Königin war sichtlich erfreut darüber, daß mir ihr Plan gefiel und hieß mich nun mit einem ihrer Hoftischler sprechen und ihm das Modell zu einem für mich passenden Boote angeben. Ihre Majestät begriff in ihrer Weisheit wohl, daß ich keines der im Lande üblichen Boote würde handhaben können, denn in der Tat kam der kleinste Nachen in Brobdingnag dem Rumpfe unserer englischen Kriegschiffe ersten Ranges gleich. Ich gab dem Tischler nun Anweisung zur Verfertigung eines Bootes, das ungefähr acht Mann meiner Größe fassen konnte, und der geschickte Mann, dessen Hände an feine Arbeiten gewöhnt waren, brachte das Fahrzeug auch in verhältnismäßig kurzer Zeit mit Segel, Takelwerk und allem Zubehör zustande. Als es fertig war, freute sich die Königin so sehr darüber, daß sie es in ihre Schürze nahm und zum König lief, der es mit mir zur Probe in ein Goldfischglas setzen ließ. Allein der Raum war mir doch zu klein und zu wenig der streichenden Luft ausgesetzt, um Ruder und Segel anhaltend gebrauchen zu können. Das hatte auch die Königin schon vorausgesehen, und damit ich ein bequemes Feld zum Fahren hätte, bei ihrem Tischler einen vierhundert Fuß langen und fünfzig Fuß breiten, wohlverpichten Trog bestellt. Als dieser fertig war, wurde er in ein Vorzimmer des Palastes gesetzt und von einer Anzahl Diener mit Wasser gefüllt. Hier zeigte ich nun häufig zum Vergnügen der Königin und ihrer Hofdamen meine Schifferkünste. Ich ruderte nach allen Richtungen hin, zeigte meine Geschicklichkeit im
Wenden und Drehen des Bootes und alle kunstgerechten Handgriffe geübter Schiffer. Wenn ich die Ruder einzog, das Segel aufhißte und mich ans Steuer setzte, machte es den Damen viel Vergnügen, mein Segel durch den Luftzug zu blähen, den sie mit ihren Fächern erregten, und ermüdeten sie im Fächeln, so traten einige Diener abwechselnd heran und bliesen das Segel auf; auf diese Weise fehlte es mir nie an hinreichendem und günstigem Winde. Wenn ich genügend gerudert und gesegelt hatte und ans Land stieg, trug Glumdalclitsch mein Boot in ihr Zimmer und hing es zum Austrocknen an einen Nagel auf. Bei diesen Wasserfahrten bestand ich indes einst ein Abenteuer, das mir fast die ganze Lust am Spiel verleidet hätte. Das Boot war nämlich eben von einem Pagen aufs Wasser gesetzt worden, und die Gouvernante meiner Glumdalclitsch hob mich freundlich vom Boden auf, um mich in das Fahrzeug zu setzen. Unglücklicherweise faßte sie mich aber aus Vorsicht, mir keine Rippe zu zerdrücken, nicht fest genug, ich glitt ihr durch die Finger, stürzte aus einer Höhe von sechzig Fuß herab, und würde auf dem Fußboden in Stücke zerschmettert worden sein, wenn ich nicht glücklicherweise an einer Busennadel der Gouvernante hängen geblieben wäre. Die Nadel verfing sich nämlich, ohne mich zu schädigen, in meinem Hosenträger, und ich schwebte festgespießt und zappelnd in der Luft, bis Glumdalclitsch hinzusprang und mich befreite. Ein anderes Abenteuer, das ich bald darauf bei meinen Wasserbelustigungen erlebte, hätte mir ebenfalls recht gefährlich werden können. Einer der Diener nämlich hatte, als er mit anderen mein Boot wieder mit frischem Wasser füllte, ohne daß er’s merkte, einen lebendigen Frosch mit hinein schlüpfen lassen, und als ich nun meine Wasserfahrt begann, kam der Frosch herangeschwommen und erkletterte die eine Seite des Bootes, so daß es durch seine Schwere aus dem Gleichgewicht kam und fast umgestützt wäre. Der ekelhafte Gesell, bei dessen Größe seine ganze Häßlichkeit
in der widerwärtigsten Deutlichkeit erschien, hüpfte dann einige Male über mein Gesicht hinweg, beschmutzte mich mit seinem ekelhaften Schlamm und machte Miene, sich in meinem Boot häuslich niederzulassen. Glumdalclitsch eilte herbei, um mich mit einem Stöckchen von dem häßlichen Ungetüm zu befreien, aber ich bat, mich nur allein gewähren zu lassen und zählte dann dem Quackhans ein paar so tüchtige Hiebe auf sein haarloses, schlüpfriges Fell, daß er erschrocken und grunzend zum Boot hinaussprang und sich eiligst in der Tiefe des Wassers verbarg. Weit schlimmer hätte folgendes Abenteuer für mich ausschlagen können. Glumdalclitsch hatte mich einst, als sie einen Besuch zu machen hatte, in ihrem Zimmer verschlossen. Der Tag war sehr heiß und es standen deshalb sowohl die Fenster des Zimmers, als auch die Tür und die Fenster meiner Wohnung, in der ich eben, mit sehnsüchtigen Gedanken an meine Heimat beschäftigt, an einem Tische saß, weit offen, als ich etwas in das Zimmer plumpen hörte, und als ich von meinem Fenster mich nach dem Geräusch umschaute, erblickte ich einen Affen, der zum offenen Fenster hereingeklettert war und nun mit hundert Grimassen und Kapriolen über Tische und Stühle hinwegsetzte. Ich zog mich in den fernsten Winkel meiner Wohnung zurück, als der Affe herankam und mein Häuschen von allen Seiten beschnupperte. Bald machte mich jedoch das neugierige Tier, das die Hand durchs Fenster gesteckt hatte, ausfindig und zog mich, indem sich mir vor Angst und Schrecken die Haare sträubten, unterm Bett hervor. Nachdem mich der Affe trotz meines Widerstandes aus meiner Wohnung herausgezerrt hatte, setzte er mich auf seine rechte Hand, schaute mir grinsend ins Gesicht und streichelte mich, wie etwa Ammen ein Kind streicheln und beschwichtigen, ohne mir indes ein Leid zu tun. Wollte ich mich aber loswinden und zu entfliehen suchen, so drückte er mich so stark an sich, daß ich Gefahr lief, alle Rippen zu brechen und ich es daher fürs klügste hielt, mich geduldig in mein Schicksal zu ergeben. Aus seinen
fortgesetzten ekelhaften Liebkosungen ging hervor, daß er mich für einen jungen Affen hielt. Plötzlich scheuchte ihn ein im Zimmer entstehendes Geräusch auf, und ich hoffte schon, er würde mich loslassen und entfliehen, als die Sache erst recht gefährlich für mich wurde. Der Affe sprang zwar zum Fenster hinaus, aber nicht ohne mich mitzunehmen, er drückte mich mit seiner Pfote fest an sich, erkletterte das Dach und spazierte nun zu meinem Grausen mit mir auf den Ziegeln und in den Dachrinnen umher. Ich hörte wie Glumdalclitsch, die ins Zimmer getreten war und das den Affen verscheuchende Geräusch verursacht hatte, laut aufschrie, als sie mich in der entsetzlichen Gefahr sah. Das arme Mädchen verlor beinahe den Verstand; der ganze Palast geriet in Aufruhr, Diener kamen mit Feuerleitern. Der Affe ward von Hunderten vom Hofe betrachtet, wie er auf dem Dachfirst saß, mich wie ein Kind mit der einen Pfote streichelte und mit der anderen – Entsetzen und Ekel sträuben noch mein Haar, wenn ich daran denke – fütterte; er nahm nämlich kurz vorher gekauten Zwieback aus seinen Backentaschen und stopfte mir ihn mit Gewalt in den Mund. Der unten versammelte Pöbel lachte über meine Lage, aber mir war sie wahrlich schrecklich genug. Einige warfen Steine auf das Dach, um den Affen zu vertreiben, allein das ward sogleich streng untersagt, weil ich durch solch einen Stein auch leicht getroffen werden konnte. Endlich wurden Leitern angelegt, und von verschiedenen Seiten kletterten Menschen zu meiner Rettung hinauf. Als der Affe dies bemerkte und sich umringt sah, ließ er mich auf einen Dachziegel fallen, um mit dem freien Gebrauch aller vier Hände so schnell als möglich entwischen zu können. So saß ich denn auf dem in der Sonnenglut brennenden Dachziegel wohl fünfhundert Ellen über dem Erdboden und fürchtete jeden Augenblick, vom Winde herabgeweht zu werden, als endlich ein mutiger Junge, kühn zu mit herkletternd, mich erreichte, in seine Hosentasche steckte und glücklich herunterbrachte.
Ich war an den gekäuten Zwiebackskrumen, die mir der Affe in den Mund gesteckt, beinahe erstickt, und Glumdalclitsch hatte Mühe, mir meinen Mund mit einer Nadel von den ekelhaften Speiseresten zu leeren, dann erbrach ich heftig und wurde zu Bett gebracht, das ich infolge des ausgestandenen Schreckens und der durch die Zärtlichkeit des Affen mir beigebrachten Quetschungen vierzehn Tage lang hüten mußte. Der König und die Königin, sowie der ganze Hofstaat erzeigten mir viel Teilnahme und ließen sich täglich nach meinem Befinden erkundigen. Als ich wieder genesen war und dem König einen Besuch machte, um mich für seine Teilnahme und Güte zu bedanken, fragte er mich mit leichtem Spott, welche Betrachtungen ich wohl angestellt hätte, als mich das Tier in seinen Pfoten gehabt, wie mir die so zärtlich gereichte Speise geschmeckt habe und ob mein Appetit nicht durch die frische Luft auf dem Dache geschärft worden sei. Er möchte wissen, was ich bei dieser Gelegenheit in meinem Vaterlande getan haben würde. »Majestät,« erwiderte ich etwas erregt, »in Europa haben wir nur Affen, die als Merkwürdigkeit aus anderen Weltteilen hingebracht werden und sie sind im Verhältnis zu uns so klein, daß ich wohl mit einem ganzen Dutzend fertig werden würde, wenn sie Miene machten, sich an mir zu vergreifen. Auch würde ich, wenn ich nicht die Geistesgegenwart verloren und mich meines Degens erinnert hätte, jenem elefantengroßen einheimischen Affen neulich tüchtig eins über die Tatze gegeben und ihn in die Flucht geschlagen haben.« Diesen in festem Ton gesprochenen Worten suchte ich dadurch Nachdruck zu geben, daß ich mit drohender Miene meine Hand an den Degen legte, allein meine mannhafte Gebärde und meine kühne Rede riefen nur ein lautes Gelächter hervor. Solchem Gelächter und Spott setzte mich oft mein unter Europäern nie bezweifelter Mut aus; so stiegen einst auf einer Spazierfahrt Glumdalclitsch und ihre Gouvernante mit mir aus
dem Wagen, damit ich mich ein wenig auf einer schönen Wiese erginge, die im frischesten Smaragdgrün meilenweit vor uns ausgebreitet lag. Auf dem Wiesenpfad, den wir betraten, lag ein Haufen Kuhdünger, und ich konnte es, um den Damen meine Keckheit und Behendigkeit zu zeigen, nicht unterlassen, den Versuch zu machen, mit einem kühnen Ansatz hinüberzuspringen. Allein der Fladen war doch für meine Sprungkraft viel zu weit ausgebreitet, ich sprang zu kurz und geriet gerade in der Mitte bis über die Knie hinein. Die Damen ließen über meine komische Situation ihrer Lachlust alle Zügel schießen, aber ich hätte vor Wut und Scham vergehen mögen. Ein Bedienter zog mich endlich aus der unsauberen Geschichte heraus, reinigte mich so gut es gehen wollte und Glumdalclitsch verschloß mich, noch immer lachend, in meine Reisewohnung, um mit mir zu vollständigerer Reinigung nach Hause zurückzukehren. Wer den Schaden hat, darf bekanntlich für den Spott nicht sorgen, und so hatte ich denn von der Königin und den Hofdamen, denen Glumdalclitsch die Sache ausgeschwatzt hatte, noch lange Neckereien über den unangenehmen Vorfall zu ertragen.
Sechstes Kapitel Der Verfasser erfreut den König und die Königin durch Anfertigung von Nippsachen. Er gibt einen Beweis von seinem musikalischen Talent. Der Verfasser berichtet dem König eingehend über Zustände und Einrichtungen Englands. Des Königs kritische Bemerkungen zu diesem Bericht.
Ich hatte die Gewohnheit, mich wöchentlich ein- oder zweimal des Morgens beim König einzufinden und hatte ihn bei dieser Gelegenheit oft unter den Händen seines Leibkammerdieners gesehen, wenn dieser ihn rasierte, ein Anblick, der mir anfangs in hohem Grade furchtbar war, denn das Rasiermesser, dessen sich der Kammerdiener bediente, war wenigstens zweimal so lang als eine Sense. Ich erbat mir einst von dem Kammerdiener etwas von dem abrasierten Seifenschaum, aus dem ich vierzig bis fünfzig der stärksten königlichen Bartstoppeln hervorsuchte. Alsdann schnitt ich ein Stückchen feinen Holzes wie den Rücken eines Kammes zu, bohrte mir mit einer Nähnadel Löcher hinein und fügte in diese die Bartstoppeln mit solcher Kunst, daß ich dadurch einen für mich brauchbaren Kamm zustande brachte. Die Hände des geschicktesten Künstlers im Lande wären nicht fein und zierlich genug gewesen, um mir dies nützliche Gerät zu verfertigen. Da ich nun merkte, daß ich in der Herstellung von dergleichen Sächelchen nicht ohne Geschick war, so verkürzte ich mir manche Stunde damit. Aus ausgekämmten Haaren der Königin, die mir auf meine Bitte die Kammerfrau aufbewahrte, flocht ich
zwei Polstersitze für kleine Lehnstühle, deren Gestell in der Größe der meinigen ich vom Tischler anfertigen ließ. Als sie fertig waren, schenkte ich sie Ihrer Majestät, die sie im Kabinett aufbewahrte und als Merkwürdigkeit gern vorzeigte; sie erregten auch wirklich die Verwunderung aller, die sie erblickten. Sie Königin wünschte einst, ich möchte mich auf einen dieser Stühle setzen, allein ich erwiderte verbindlich, ich wolle lieber sterben, als mich auf die allerhöchsten Haare Ihrer geheiligten Majestät setzen; eine rücksichtsvolle Artigkeit, die von der Königin sehr hoch aufgenommen wurde. Auch verfertigte ich aus diesen Haaren eine niedliche kleine Börse, von nur fünf Fuß Länge, die ich mit Einwilligung der Königin meiner Glumdalclitsch schenkte. Die Börse war freilich nicht stark genug, um größere landesübliche Münzen zu tragen, und Glumdalclitsch bewahrte sie deshalb unter ihrem Spielzeug auf. Der König, der die Musik sehr liebte, ließ häufig Konzerte bei Hofe aufführen, zu denen man mich bisweilen, um mir eine Freude zu machen, in meiner Schachtel herbeiholte. Ich hatte aber keine Freude an dem Lärm der riesigen Instrumente, der so furchtbar war, daß ich kaum die Melodien unterschied und genötigt wurde, mir die Ohren zuzuhalten. Ich bin der festen Überzeugung, daß alle Trommeln und Trompeten der englischen Armee keinen Lärm hervorbringen können, der jenem gleichkäme. Ich ließ deshalb bei späteren Konzertbesuchen meine Schachtel gewöhnlich so weit als möglich von dem Ort entfernen, wo die Musikanten saßen, schloß Tür und Fenster und zog die Fenstervorhänge zusammen. Alsdann fand ich, daß die Musik gar nicht unangenehm war, zumal wenn ich sie noch dadurch dämpfte, daß ich mir die Hände flach auf die Ohren drückte. Glumdalclitsch erhielt wöchentlich zweimal Unterricht auf einem Instrument, das große Ähnlichkeit mit unserem Klavier hatte und in der gleichen Art mit den Fingern gespielt wurde. Da ich nun in meiner Jugend ein wenig Klavierspielen gelernt
hatte, so kam mir der Einfall, den König und die Königin mit einer englischen Melodie auf diesem Instrument zu erfreuen. Um die Unterhaltung, auf welche die Majestäten sehr gespannt waren, zustande zu bringen, bedurfte es aber erst der Überwindung vieler Schwierigkeiten von meiner Seite, denn das Klavier war beinahe sechzig Fuß lang und jede Taste einen Fuß breit, so daß ich mit ausgebreiteten Armen nicht über fünf Tasten greifen konnte. Auch das Herunterdrücken der Tasten wäre mir zu schwer geworden, darum erfand ich folgendes Auskunftsmittel. Ich schnitzte mir ein paar tüchtige, oben mit einem Knopf versehene Knüttel, um die ich Werg wand, so daß sie das Ansehen hatten wie der Trommelstock, womit unsere Regimentsmusiker die große Trommel schlagen, nur daß ihre Stiele um ein gut Teil länger waren. Damit übte ich mich die Tasten zu schlagen, und als ich mir einer gehörigen Fertigkeit darin bewußt war und mir vor dem Klavier eine hohe Bank hatte aufstellen lassen, erwartete ich getrost meine erlauchte Zuhörerschaft. Als sie versammelt war, bearbeitete ich mit meinen Knütteln die Tasten so geschickt, daß ich weder aus Takt noch Melodie fiel und mir den lebhaftesten Beifall des Königspaares und seines Gefolges erwarb. Das Spielen aber, bei dem ich natürlich immer an dem langen Instrument hin und her springen mußte, strengte mich außerordentlich an, und doch konnte ich trotz dieser Anstrengungen nichts Vollkommenes leisten, weil ich mit meinen Schlegeln nicht Baß und Diskant zugleich erreichen konnte. Indes zeigten sich die höchsten und hohen Herrschaften doch von meinem Spiel sehr befriedigt. Der König, der, wie schon früher bemerkt, ein Fürst von vielem Geist war, ließ mich häufig zu sich bringen und auf seinen Schreibtisch in die Nahe seines Ohres setzen, um sich mit mir bequem unterhalten zu können. Eines Tages nahm ich mir bei einer solchen Gelegenheit die Freiheit, seiner Majestät zu bemerken, daß die geringschätzige Ansicht, die er so oft über uns Europäer
laut werden lasse, durchaus keine Berechtigung habe und von einer ganz irrtümlichen Auffassung zeuge, die den sonstigen trefflichen Urteilen und hervorragenden Geisteseigenschaften Seiner Majestät nicht entspräche. Er scheine immer zu glauben, daß unsere winzige Körpergröße eine großartige Entfaltung des Verstandes nicht zulasse, allein er möge bedenken, daß das Maß des Geistes nicht an das Maß des Körpers gebunden sei. Nicht selten könne man sogar die Beobachtung machen, daß lang aufgeschossene Schlingel sehr wenig Verstand besäßen, während kleine Leute in der Regel scharfen Verstand und schlagenden Witz zeigten. Auch unter den Tieren zeichneten sich oft kleinere Geschöpfe, wie Bienen und Ameisen, durch hervorragende Intelligenz vor manchen größeren Tieren vorteilhaft aus. Der König möge mich und mein Volk ja nicht für zu gering ansehen; wenn es ihm Vergnügen mache, so sei ich bereit, ihm durch eingehende Auseinandersetzungen über Europa, namentlich über mein Vaterland eine Meinung beizubringen, die seine geringschätzigen Vorstellungen von uns zu unserem Vorteile berichtigen würde. Der edle König, anstatt über meine Freimütigkeit ungehalten zu werden, hörte mich mit Aufmerksamkeit an und forderte mich auf, ihm die angedeuteten Auseinandersetzungen über England zu machen. Ich schiene zwar, und das könne er nur lobenswert finden, sehr eingenommen für mein Vaterland zu sein, allein er wisse, daß ich mich zugleich der Wahrheitsliebe befleißige; ich möge daher nur zur Sache kommen, und wenn er fände, daß wirklich etwas Nachahmenswertes in den Sitten und Einrichtungen meines Vaterlandes vorliege, so werde er das nicht allein anerkennen, sondern selbst zu seinem und seiner Untertanen Nutzen davon nehmen. O wie wallte mir jetzt mein Herz auf, als ich diese schöne Gelegenheit hatte, die Größe und den Ruhm meines Vaterlandes mit beredten Worten vor einem so mächtigen, leutseligen Herrscher zu verkünden!
Ich begann zunächst mit einem geographischen Bericht über unsere drei vereinigten Königreiche und unsere Kolonien, sprach über die Bedeutung unseres Handels und unserer Seemacht und ging darauf genauer als früher auf unsere Staatsverfassung und unser Parlament ein. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß dieses Parlament teilweise aus einem erlauchten, durch Personen vom edelsten Blute gebildeten Staatskörper bestehe, die mit der größten Sorgfalt von Kindesbeinen an in den Künsten des Krieges und des Friedens unterrichtet würden, damit sie einst als wertvolle Ratgeber der Krone des Landes zur Seite stehen und das Gemeinwohl mit Erfolg fördern könnten. Diese Männer, Nachkommen hoher berühmter Ahnen, machten sich stets dieser Abkunft würdig. Ihrer Versammlung seien mehrere heilige Personen unter dem Namen »Bischöfe« beigegeben, die sich durch ihre Weisheit auszeichneten und ein wachsames Auge über die Pflege der Religion und den Unterricht des Volkes hielten. Nur die durch frommen Wandel und große Gelehrsamkeit ausgezeichneten Geistlichen würden zu dieser hohen Würde aus den übrigen erwählt. Die andere Abteilung des Parlaments bilde das »Haus der Gemeinen«, in welches das Volk nur die gebildetsten und fähigsten Köpfe wähle, damit durch sie die Nation würdig vertreten würde. Diese beiden Häuser, denen gemeinsam mit dem Könige die Gesetzgebung anvertraut sei, stellten wie in einem großen Staate des Altertums, namens Rom, wahrhaft eine Versammlung von Königen dar. Sodann sprach ich über die vorzügliche Zusammensetzung unserer Gerichtshöfe, erwähnte die treffliche Verwaltung der Finanzen und die Tapferkeit und Disziplin unserer Krieger zu Lande und zur See. Ich berechnete ferner die Gesamtzahl der Einwohner Großbritanniens und vergaß nicht, wie viele Millionen zu jeder Religionssekte und zu jeder politischen Partei gezählt würden. Auch vergaß ich nicht unserer interessanten Schauspiele zu
erwähnen, bei denen bewunderungswürdige körperliche Kraft und Gewandtheit an den Tag gelegt würde. Schließlich hing ich meinem ganzen Bericht, der fünf Audienzen erfordert hatte und den ich hier nur in aller Kürze wiedergebe, einen historischen Überblick über die wichtigsten Ereignisse an, die seit hundert Jahren in England stattgefunden hatten. Der König hatte mir während der fünf Audienzen mit großer Aufmerksamkeit zugehört und dazwischen Bemerkungen in sein Notizbuch geschrieben. Als ich nun mit meinem fünften und letzten Vortrag ganz zu Ende war, übersah er nochmals die niedergeschriebenen Bemerkungen und knüpfte manche Fragen, Zweifel und Einwände daran. Er erkundigte sich näher nach der Art und Weise der Erziehung unseres jungen Adels, der einst eine so wichtige Stelle in unserem Staate einzunehmen hätte. Ferner, in welcher Art man das Oberhaus wieder vollzählig mache, wenn eine alte Familie ausgestorben sei? Welche Eigenschaften zur Ernennung eines Lords erforderlich wären? Ob die Laune des Fürsten oder die Bestechung einer Hofdame nicht zuweilen bei diesen Beförderungen mitwirkten? Welche Kenntnis diese Lords von den Gesetzen des Landes hätten und wie sie sich diese Kenntnis erwürben, damit sie über Wohl, Weh und Eigentum der Staatsangehörigen in letzter Instanz entscheiden könnten? Ob sie stets so frei von Habsucht, Parteilichkeit oder Mangel seien, daß sie keiner Bestechung zugänglich wären? Ob die heiligen Bischöfe, von denen ich gesprochen, wirklich stets wegen ihres unsträflichen Lebenswandels und ihrer großen Gelehrsamkeit zu dieser Würde erhoben würden? Nach und nach wurde es mir klar, daß diese und viele ähnliche Fragen des Königs in einem spöttischen Tone gestellt wurden; das ließ sich gar nicht mehr verkennen, als er fragte, ob denn wirklich immer in das Haus der Gemeinen Männer von Bildung ihrer Verdienste wegen vom Volke gewählt würden, oder ob die Wähler aus dem gemeinen Volk sich nicht auch durch einen vollen Geldbeutel bei
ihrer Stimmenabgabe leiten ließen? Recht deutlich wurde mir der ironische Ton des Königs, als er mit seinen Fragen auf unsere Gerichtshöfe einging, über die ich ihm umso ausführlichere Berichte geben konnte, als ich früher durch einen langen Prozeß beim Kanzleihofe beinahe ruiniert wurde. Der König erkundigte sich nach den Kosten und nach dem Zeitaufwand des Verfahrens und ob Parteileidenschaft oder religiöser Fanatismus nicht zuweilen auf die Entscheidungen einwirkten? Ob Advokaten und Richter nicht zu verschiedenen Zeiten für und gegen dieselbe Sache sprächen? Wie es mit dem Wohlstande dieser Herren bestellt und ob sie jeglicher Verführung durch Geld unzugänglich seien? Ähnliche kritische Fragen setzte er meinem Bericht über die Verwaltung des Landes und über die Finanzen entgegen und meinte, nach der Berechnung der Schuldenlast des Landes, die ich ihm gegeben, könne er nicht begreifen, daß ein Königreich, wie mancher Privatmann, über sein Vermögen hinaus verschwende. Unsere Kriege müßten freilich viel Geld kosten, allein wenn er meinen historischen Bericht genau verfolge, so sehe er nicht ein, wozu alle diese großen Kriege nötig gewesen wären, in denen es sich keineswegs immer um eine zu billigende Verteidigung des Vaterlandes gehandelt habe. Auch sei er geradezu erstaunt darüber, daß ich von einem besoldeten und stehenden Heere spräche, das mitten im Frieden in einem freien Lande gehalten würde, denn wenn wir uns durch selbstgewählte Personen, wie ich meinte, vortrefflich regierten, und Gesetz und Ordnung aufrecht zu erhalten wüßten, so sehe er nicht, vor wem wir uns eigentlich mitten im Frieden zu fürchten hätten. Meine Berechnung der Einwohnerzahl nach religiösen und politischen Parteien scheine ihm, ich möge ihm das nicht übelnehmen, geradezu lächerlich; wie man so viel Gewicht auf Meinungs- und Glaubenssachen legen könne, die doch jedes Menschen eigene Angelegenheit seien, verstehe er nicht. In seinem Reiche sei es gleichgültig, ob man den Tschieluloh oder den Tschielulah (mit diesen nur durch einen
Buchstaben verschiedenen Namen bezeichnen verschiedene Sekten in Brobdingnag ihre Gottheiten) anbete, wenn nur jeder Gesetz und Recht befolge und sonst gewissenhaft seinen Pflichten nachkäme. Die Wetten und Spiele, meinte er ferner, womit sich nach meiner Erzählung die Großen und Reichen vergnügten, schienen ihm auch nicht derart zu sein, daß sie Geist und Herz bilden oder von günstigem Einfluß auf die Vermögensverhältnisse sein könnten, und ich müßte ihm gewiß zugeben, daß Leute gemeiner Gesinnung nicht selten danach trachteten, sich durch solche Spiele zu bereichern. Was nun endlich meinen historischen Bericht über die Geschichte der letzten hundert Jahre meines Vaterlandes beträfe, so könne er daraus auf keinen besonders glücklichen Zustand schließen, denn alles, was ich ihm erzählt, sei ja nur eine Anhäufung von Verschwörungen, Rebellionen, Morden, Verbannungen und anderen Begebenheiten, die durch die Leidenschaften des Hasses, des Geizes und der Selbstsucht in Szene gesetzt würden. Das ganze Ergebnis meiner begeisterten Lobrede auf mein Vaterland war dem König gegenüber kein anderes, als daß er mich nach der Schlußaudienz lächelnd auf die Hand nahm und sagte: »Mein lieber kleiner Freund Grildrig. Sie haben Ihrem Vaterlande eine bewundernswerte Lobrede gehalten; Sie haben deutlich bewiesen, daß Unwissenheit, religiöse Unduldsamkeit, Faulheit, Heuchelei und Laster die passendsten Eigenschaften sind, um zu hohen Würden zu kommen und einen Gesetzgeber zu bilden. Aus allem, was Sie mir gesagt haben, geht hervor, daß keine Vollkommenheit erfordert wird, um den Bewerbern höhere Stellen zu verschaffen, noch viel weniger, daß die Menschen wegen ihrer Tugend den Adelsrang erhalten. Ihnen ist gewiß infolge Ihrer vielen Reisen der Abgrund von Heuchelei und Verworfenheit, der sich in Ihrem Lande auftut, in seinem ganzen Umfange nicht zur Übersicht gekommen, ich aber kann Sie versichern, daß ich nach
Ihrem Bericht und nach den Antworten, die Sie mir auf meine Fragen gegeben haben, schließen muß, daß die Mehrzahl Ihrer Landsleute das verderblichste und ekelhafteste kleine Gewürm sein muß, das auf Gottes Erdboden herumkriecht.«
Siebentes Kapitel Der Verfasser macht dem König einen Vorschlag, den dieser mit Abscheu zurückweist. Des Königs und seiner Räte Unwissenheit in der Politik. Die Gelehrsamkeit von Brobdingnag ist nur auf wenige Wissenschaften und Künste beschränkt. Gesetze und Militärangelegenheiten.
Liebe zur Wahrheit allein hat mich verhindert, die eben erzählten groben Auslassungen des Königs über mein Vaterland zu unterdrücken. Es tat mir, und so wird es gewiß jedem Leser gehen, tief in der Seele weh, mein herrliches Vaterland so geschmäht zu hören und ich hätte guten Grund gehabt, auf den König recht böse zu sein, wenn ich mir bei näherer Überlegung nicht gesagt hätte, daß man dem König manches schiefe Urteil nachsehen müsse, weil seine Erziehung und Lebenserfahrung dadurch, daß Brobdingnag von allen anderen Nationen abgeschlossen ist, eine einseitige und beschränkte sein mußte. Diese Beschränktheit trat recht klar zutage, als ich, um seine Aufmerksamkeit wieder auf großartige Erfindungen und Einrichtungen hinzulenken, die man in dem abgeschlossenen Brobdingnag nicht kannte, eines Tages erzählte, daß man in Europa vor drei- oder vierhundert Jahren ein Pulver erfunden habe, das der kleinste Feuerfunke unter Donnergekrach zu den verderblichsten Wirkungen anfachen könne. Wenn man eine bestimmte Menge dieses Pulvers in eine eiserne Röhre stopfe, so treibe es, nachdem es entzündet, eine darauf gepflanzte eiserne oder bleierne Kugel mit solcher Gewalt vorwärts, daß alles, was der Kugel in den Weg käme, niedergeschmettert würde. Die größeren dieser Kugeln vermöchten nicht allein ganze Reihen eines
Heeres niederzustrecken, sondern auch Mauern einzureißen und ganze Städte und Flotten zu zertrümmern. Mir wären, fuhr ich fort, die Bestandteile, aus denen man dies vernichtende Pulver verfertige, genau bekannt, auch könne ich, wenn Seine Majestät befehle, seinen Eisenarbeitern und Erzgießern Anweisung geben, wie sie solche Menschen und Städte zertrümmernde Röhren herzustellen hätten. Im Besitze eines solchen Pulvers und solcher Röhren könne Seine Majestät jede Stadt, die es sich einmal herausnehmen sollte, sich den Befehlen des Königs zu widersetzen, in wenigen Stunden in einen Trümmerhaufen verwandeln. Gern sei ich bereit, Seiner Majestät die Anweisung zur Herstellung dieser mächtigsten und unüberwindlichsten Waffe zu geben, weil ich dadurch auch einen kleinen Tribut meiner Dankbarkeit abtragen könnte, für die vielen Beweise der königlichen Huld und Gnade, die ich hier am Hofe erfahren hätte. Der König aber, anstatt sich über meinen Antrag zu freuen, zog die Stirne in die ernstesten Falten zusammen und sagte mit einer Miene des Widerwillens und des tiefsten Abscheues: er erstaune, wie ein so schwaches, kriechendes Insekt, wie ich, solch grausame und unmenschliche Gedanken hegen könne. Diese scheußlichen Mordmaschinen, von denen ich so ganz ohne Schauder wie von den gleichgültigsten Dingen spräche, müsse wohl irgend ein böser Geist, ein unversöhnlicher Feind der Menschen erfunden haben. Wenn mir mein Leben lieb sei, so solle ich nie wieder von solch unmenschlichen Erfindungen reden, er wolle lieber sein Königreich verlieren, als sich näher mit solchen Scheußlichkeiten bekannt machen. Da sehe man nun die einseitigen und beschränkten Ansichten eines Fürsten, der sonst bei hohen Geistesgaben und durch seine anerkennenswerten Tugenden der Abgott seines Volkes war! Seine einseitige Erziehung und Bildung ließ ihn Gewissensbedenken hegen, von denen kein gebildeter Europäer einen Begriff hat und so ließ er sich die beste Gelegenheit entgehen, sich zum
unumschränkten Herrn über Leben, Freiheit und Vermögen seiner Untertanen zu machen! Solch beschränkte Ansichten wie der König hatten auch in politischen Dingen seine Räte und Gelehrten, woraus ich den Schluß zog, daß in Brobdingnag die Politik noch nicht zur Wissenschaft entwickelt sei, während dies in Europa durch scharfsinnige Männer längst geschehen ist. Den Wert einer solchen Wissenschaft sah der König sehr geringschätzig an, denn als ich einst erwähnte, daß wir Tausende von Büchern über die Regierungskunst und über die Art und Weise, wie die Untertanen am besten unterm Fuße zu halten seien, besäßen, meinte er, das könne ihm keine große Meinung von unserem Verstande beibringen, es gehöre nicht viel Klügelei dazu, um herauszubringen, wie man gerecht zu regieren habe, der Regierende habe sich nur vom gesunden Menschenverstande und von Gerechtigkeit und Menschenfreundlichkeit leiten zu lassen, das reiche vollkommen aus und mache große Lehrbücher darüber unnötig. Da die wichtige Wissenschaft der Politik ganz ausfällt, so kann man sich leicht vorstellen, daß die Literatur in Brobdingnag überhaupt eine nur mangelhafte ist. Die Brobdingnagschen Bücher handeln allein von Moral, Geschichte, Poesie und Mathematik, geben aber allerdings in diesen Fächern Vorzügliches. Nur ist bei der Behandlung der Mathematik zu tadeln, daß man sich lediglich auf die angewandte Mathematik und ihren Nutzen für das praktische Leben beschränkt. Die geschriebenen Gesetze des Landes, das muß man zugeben, zeichnen sich durch kurze Fassung und durch Deutlichkeit aus, kein Gesetz darf in Worten die Zahl der Buchstaben des Alphabets überschreiten und dieses besteht nur aus zweiundzwanzig Lautzeichen. Die Klarheit der Gesetze läßt daher bei Prozessen keine krausen Auslegungen und Vieldeuteleien zu, weshalb dieses Volk auch keine Kommentare oder nähere Erklärungen über die Gesetze besitzt.
Die Buchdruckerkunst ist in Brobdingnag schon lange bekannt und wird ähnlich wie in China ausgeübt, doch wirft man bei weitem nicht eine so große Anzahl von Büchern auf den Markt, wie bei uns, woher es auch kommt, daß die Bibliotheken nicht groß sind. Die des Königs, die für die größte im Reiche gehalten wird, beträgt nicht über tausend Bände, die in einer Galerie von eintausendzweihundert Fuß Länge aufgestellt sind. Ich hatte die Erlaubnis, mir Bücher aus dieser Bibliothek in Glumdalclitschs Zimmer kommen zu lassen; um sie aber lesen zu können, mußte mir der Tischler eine fünfundzwanzig Fuß hohe Doppelleiter machen, die ich dann, nachdem das Buch aufgeschlagen an die Wand gelehnt war, erstieg, und Stufe um Stufe herabsteigend, die Zeilen bequem überlas. Manche dieser Bücher enthielten Lehren, die unseren besten Philosophen alle Ehre machen würden und waren meistens in einem sehr klaren und jedermann verständlichen Stil geschrieben, eine löbliche Eigenschaft, die bekanntlich vielen unserer Moralisten und Philosophen abgeht. Es bleibt mir bei meiner kurzen Übersicht Brobdingnagscher Einrichtungen noch übrig, etwas über das dortige Militär zu sagen. Die königliche Armee besteht aus hundertsechsundsiebzigtausend Mann Infanterie und zweiunddreißigtausend Mann Kavallerie. Diese Armee ist aber lediglich aus Bürgern und Bauern zusammengesetzt und wird von Leuten aus den gebildeten Ständen einexerziert und befehligt. Sold wird nicht gezahlt, weil man der Ansicht ist, es sei jedes Staatsbürgers selbstverständliche Pflicht und Schuldigkeit, dem Vaterlande zu dienen. Ich habe häufig den Waffenübungen der Miliz von Lorbrulgrud, die auf einer ungeheuren Ebene vor der Stadt stattfanden, zugesehen und ich muß gestehen, daß mir Großartigeres noch nicht vorgekommen ist. Ein Reiter auf seinem Pferde mochte bis zur Spitze seines Helms reichlich neunzig bis hundert Fuß messen. Wenn einige Schwadronen dieser Kavallerie auf Kommando die Säbel zogen, in der Luft schwangen und im Galopp zu einem
Scheinangriff ansetzten, so schien es, als ob die funkelnden Klingen als ebensoviele Blitze die Luft durchschnitten, und das gab einen Anblick, wie ihn sich die lebendigste Einbildungskraft nicht großartiger ausmalen kann. Es war mir anfangs unerklärlich, weshalb der König, dessen Reich doch die Natur schon gegen jeden Feind abgeschlossen hat, einer Armee bedürfe und sein Volk an den Kriegsdienst gewöhne. Doch wurde ich bald gesprächsweise und auch durch das Lesen Brobdingnagscher Geschichtsschreiber belehrt, daß das Volk viele Menschenalter hindurch in Bürgerkriege verwickelt gewesen war, weil Herrschsucht des Adels und der Könige einerseits und Unabhängigkeitssinn des Volkes andererseits zu Parteiungen und Ausschreitungen geführt hatten. Der letzte Bürgerkrieg war indes schon zu den Zeiten des Großvaters des jetzt regierenden Königs durch einen Vergleich beigelegt, und die Miliz bestand nur fort nach alter Gewohnheit und zum Schutze der Gesetze und der Verfassung des Landes.
Achtes Kapitel Der Verfasser begleitet den König und die Königin auf einer Reise. Er wird auf wunderbare Weise dem Lande entrückt und kehrt in sein Vaterland zurück.
Ich konnte trotz der oft gehörten Schmähungen meines Vaterlandes und trotz der guten, ja ausgezeichneten Behandlung, die ich am Hofe von Brobdingnag erfuhr, dennoch kaum eine Stunde für mich allein sein, ohne den sehnsüchtigsten Gedanken an mein Vaterland nachzuhängen. Ich sann hin und her, wie ich wohl diesem Riesenlande, das meinem körperlichen Zuschnitt ebenso unbequem, ja in mancher Beziehung noch unangemessener und unbequemer als einst Liliput war, entkommen könnte, allein es wollte sich so leicht kein Ausweg finden. Nur ein außerordentliches Ereignis, wie der ungewöhnliche, anhaltende Sturm, der mich nach diesem Lande verschlagen, konnte ein europäisches Schiff, das mich vielleicht in mein Vaterland befördert hätte, der Küste nahe bringen, aber darüber konnten viele Jahre vergehen, und überdies hatte der König Befehl gegeben, daß wenn jemals sich wieder ein Schiff mit solchen Däumlingen, wie ich, der Küste nähere, man es sofort anhalten und die Mannschaft ins Innere des Landes transportieren solle, weil er Lust hatte, eine ganze Ansiedlung solch kleiner Menschlein in seinem Lande sich festsetzen zu sehen. So hatte ich manche trübe, mich in Sehnsucht nach dem Vaterlande verzehrende Stunde, als ein Ereignis eintrat, das schneller als mein kühnstes Hoffen meine Befreiung herbeiführte und meine Rückkehr nach dem Vaterlande
vermittelte. Ich will dies merkwürdige Ereignis mit allen seinen Nebenumständen und Folgen hier, wie es meine Gewohnheit ist, wahrheitsgetreu berichten. Es war am Ende des zweiten Jahres meines Aufenthaltes in Brobdingnag, als ich den König und die Königin mit Glumdalclitsch, wie das schon oft geschehen, auf einer Reise begleitete. Die Reise bot anfangs durchaus nichts Bemerkenswertes oder Abenteuerliches für mich; ich saß und schlief bequem in meiner gutausgepolsterten, dem Leser ihrer inneren und äußeren Einrichtung nach bekannten Reiseschachtel und sah es gern, wenn wir einmal anhielten, damit ich mich ein wenig in der frischen Luft ergehen könne. Ein solches Bedürfnis nach frischer Luft fühlte ich auch wieder recht lebhaft, als wir nach langer Fahrt bei dem an der Südküste liegenden königlichen Palast Flanflasnic angekommen waren, wo der König halten ließ, um hier einige Tage zu ruhen. Diese Ruhe kam mir sowohl wie Glumdalclitsch sehr zustatten, die infolge ihrer zarten Konstitution noch mehr als ich von der langen Reise angegriffen war. Nachdem ich unser Lustschloß flüchtig betrachtet, sehnte ich mich danach, den Ozean einmal wieder zu sehen, für den ich immer eine große Vorliebe hatte, weil ich mir sagte, daß nur er allein die Brücke zu bilden vermöchte, auf der ich wieder in mein Vaterland gelangen könne. So stellte ich mich denn, um die Erlaubnis zu der Reise ans Meer zu bekommen, unwohler als ich war und wußte die Meinung geltend zu machen, daß mir nur die frische Seeluft helfen könne. Ich wurde darum mit meiner Reiseschachtel einem zuverlässigen Pagen anvertraut, der mich zur Seeküste tragen sollte, und nie vergesse ich’s, wie Glumdalclitsch, bitterlich über die Trennung von mir weinend, dem Pagen die größte Sorgfalt für mich einschärfte. Es war, als ob sie’s geahnt hätte, daß sie mich, ihren besten Freund und ihr liebstes Spielzeug, nicht wiedersehen würde. Der Page trug mich in meiner Behausung ungefähr eine halbe Stunde weit vom Palast ans
Meeresufer; hier befahl ich ihm, mich niederzusetzen und mich eine Zeitlang nicht zu stören, weil ich der Ruhe bedürftig sei und in meiner Hängematte ein Stündchen schlummern wollte. Der Knabe gehorchte, schob, damit ich recht ungestört sei, das Schiebfensterchen meiner Schachtel zu und entfernte sich sorglos, um am Strande nach Muscheln zu suchen. Kaum war ich indes in meiner Hängematte ein wenig eingeschlummert, als mich ein heftiges Ziehen an dem Ring erweckte, der sich an meiner Schachtel befand, um sie bequemer um den Leib gürten und tragen zu können. Ich fühlte deutlich, wie meine Schachtel hoch in die Luft emporgehoben und dann mit wunderbarer Schnelle fortgeführt wurde, die Bewegung war indes eine so sanfte, daß ich ruhig in meiner Hängematte liegen bleiben konnte. Ich verließ sie jedoch aus Verwunderung und Furcht und trat ans Fenster, um nach der Ursache meiner Fortbewegung zu sehen, erblickte aber nichts als Himmel und Wolken, die oft so nahe über meine Behausung hinstrichen, daß ich sie mit den Händen hätte ergreifen können. Endlich vernahm ich über mir ein Sausen und Geräusch, wie von einem starken Flügelschlage, und nun wurde mir mit einem Male die ganze Furchtbarkeit meiner unerhörten Lage klar. Ein den Größenverhältnissen des Landes angemessener Adler hatte die Schnur, die durch den Tragring meiner Schachtel geschlungen war, mit dem Schnabel ergriffen und sie in keiner anderen Absicht hoch in die Lüfte erhoben, als um sie, damit er zu ihrem von ihm ausgewitterten, lebendigen Inhalt komme, auf den ersten besten Felsen herabfallen zu lassen und zu zerschmettern, gleichwie es diese Tiere wohl mit einer Schildkröte zu tun pflegen. Als ich noch über die Hilflosigkeit meiner schrecklichen Lage mit Schaudern nachdachte, hörte ich deutlich, wie sich der brausende Flügelschlag über mir verdoppelte und zugleich empfand ich infolge eines plötzlichen Hinund Herschwankens meiner Schachtel die heftigsten Erschütterungen. Dann fühlte ich, wie ich schnurgerade und senkrecht
herabfiel, und zwar mit einer von Sekunde zu Sekunde zunehmenden Schnelligkeit, daß mir der Atem verging. Endlich fiel ich mit meiner Schachtel auf einen laut aufrauschenden Gegenstand, und gleich darauf verfinsterten sich meine Fenster so sehr, daß es dunkle Nacht um mich wurde. Doch auch dieser überraschende Zustand währte nicht lange; ich fühlte mich mit meiner Schachtel wieder gehoben, Tageslicht drang durch meine Fenster und als ich heransprang, um hinauszuschauen, erkannte ich, daß ich in die offene See gefallen sein müsse. Meine Schachtel schwamm wegen meines Körpergewichtes, wegen der Sachen, die sie enthielt und der breiten eisernen Platten, die, um ihr mehr Halt zu geben, an den vier Ecken des Bodens befestigt waren, etwa fünf Fuß tief im Wasser. Meine neue, mir im Vergleich zur früheren gar nicht unwillkommene Lage, wußte ich mir sehr wohl zu erklären. Der Adler, der mich geraubt hatte, wurde, das sagte mir der vernommene verdoppelte Flügelschlag, in der Luft von zwei oder drei anderen Adlern angefallen, die ihm seine Beute streitig machten, und in dem darüber sich entspinnenden Kampfe hatte er mich, weil er seinen Schnabel gebrauchen mußte, fallen lassen; bei allem Unglück ein Glück, daß ich ins Meer und nicht auf einen Felsen gefallen war. Dank der guten, soliden Riesenarbeit, womit meine Schachtel verfertigt war, war sie vollkommen dicht genug, um kein Wasser einzulassen, so daß ich wie in einem gutverwahrten Schiff dahinschwamm. Freilich war meine Lage keineswegs beneidenswert, denn ich war ohne Ruder und Segel ein willenloses Spiel der Wellen und mußte dazu noch jeden Augenblick fürchten, gegen eine Klippe geworfen zu werden; zerbrach dann nur eine einzige Glasscheibe und das Wasser drang ein, so mußte ich elend ertrinken. Unter solchen Befürchtungen gedachte ich auch mit inniger Wehmut meiner lieben, mütterlichen Freundin, meiner teuren Glumdalclitsch, und malte mir den herben Schmerz aus,
den sie über meinen Verlust empfinden würde. O das gute, liebe Kind, wie wird es meinen Verlust beweint haben! Ich dachte daran, mich nach einem rettenden Schiff umzusehen und versuchte die Decke meiner Schachtel zu heben und mich oben daraufzusetzen, denn es war trotz des festen Baues meiner Schachtel doch nach und nach so viel Wasser eingedrungen, daß ich wegen ihres Tiefgangs kein Fenster mehr öffnen und hinausschauen konnte. Allein ich hätte ebenso wenig einen Berg wie den schweren Deckel heben können. So ergab ich mich denn schon in mein Schicksal, entweder zu ertrinken oder Hungers zu sterben, als ich nach mehreren Stunden der verzweiflungsvollsten Angst etwas an dem Ringe meiner Schachtel graspeln hörte. Zugleich verspürte ich ab und zu einen heftigen Ruck, so daß ich auf den tröstlichen Gedanken kam, meine Schachtel sei von irgend einem Schiff ins Schlepptau genommen. In dieser Hoffnung kletterte ich auf einen Stuhl zu einem nicht weit unter der Decke befindlichen Luftloch und schrie in allen mir bekannten Sprachen um Hilfe. Auch befestigte ich mein Taschentuch an einen Stock und steckte es durch das Loch, indem ich es, so gut es gehen wollte, als ein Notzeichen hin und her schwenkte, allein alles war vergebens; doch fühlte ich, daß sich meine Schachtel immer in gleicher Richtung ruckweise fortbewegte. Plötzlich stieß sie so heftig auf einen harten Gegenstand, daß ich zu Boden stürzte und schon besorgte, an einer Klippe gescheitert zu sein. Doch mein schwimmendes Häuschen hielt zusammen und bald hörte ich auf dem Deckel deutlich ein Geräusch, wie von angezogenen Tauen. Jetzt steckte ich in der Hoffnung, daß mein seltsames Fahrzeug von Menschen entdeckt sei und durch ein Tau herangezogen werde, nochmals den Stock mit meinem Schnupftuch zum Loch hinaus und schrie mich fast heiser nach Hilfe. – O welch ein unnennbares Entzücken durchströmte mich, als ich jetzt als Antwort auf meinen Ruf ein dreimaliges kräftiges Hurra vernahm! Zugleich hörte ich ein heftiges Getrampel auf dem Deckel meiner
Schachtel und eine Männerstimme rief in englischer Sprache laut durch das Luftloch: »Ist jemand hier in dem Kasten, so gebe er sich zu erkennen!« – »Um Gottes willen, kommt mir sogleich zu Hilfe,« rief ich zurück, »ich bin ein Engländer und durch ein wunderbares Mißgeschick in diese seltsame und gefährliche Lage geraten.« – »Seid nur ruhig, Mann,« rief die Stimme von oben, »Euer Fahrzeug liegt fest an unserem Schiff, gleich wird unser Zimmermann kommen und ein Loch in die Decke sägen, das groß genug ist, um Euch ans Licht zu bringen.« – »Ei, macht doch nicht so viel Umstände und Weitläufigkeiten, lieben Leute,« entgegnete ich, »es darf ja nur jemand seinen Finger durch den Ring stecken, den Ihr auf dem Deckel meiner Schachtel seht, um mich mit Leichtigkeit an Bord zu heben!« Nach diesen Worten hörte ich die Leute laut auflachen und schloß aus einigen Bemerkungen, die ich auffing, daß sie mich für verrückt hielten. Indes kam der Zimmermann und sägte ein Loch in meine Schachtel, das groß genug war, um einen Mann hindurchzuziehen. Dann warf man mir eine Strickleiter hinab, ich bestieg sie und befand mich nach wenigen Minuten äußerst schwach und bis zum Umfallen matt an Bord eines englischen Kauffahrers. Hunderte von Fragen, die von den erstaunt mich anstarrenden Leuten an mich gerichtet wurden, konnte ich vorderhand wegen meiner Schwäche und Müdigkeit nicht beantworten. Auch hinderte mich selbst Staunen und Überraschung am Sprechen, als ich mich von so vielen Zwergen umwimmelt sah, denn mein Auge war ja seit Jahren an die ungeheuersten Größenverhältnisse gewöhnt. Der Kapitän des Schiffs, Thomas Wilcock, ein menschenfreundlicher Mann, mußte wohl einsehen, daß mir Ruhe und Erquickung vor allen Dingen Not taten. Er führte mich darum in seine Kajüte, erquickte mich durch ein Glas guten spanischen Weines und sprach mir zu, daß ich mich auf sein Bett legen und
ein paar Stündchen ruhig schlafen möchte. Ich befolgte gerne den freundlichen Rat, bat aber, ehe ich mich niederlegte, den Kapitän, er möge doch freundlichst Sorge für meine Hausrat und Wertsachen enthaltende Schachtel tragen, und einem Matrosen befehlen, daß er sie in die Kajüte bringe. Der Kapitän, dem ich mit meinen an Brobdingnagsche Verhältnisse gewöhnten Augen und unfähig, mich gleich in die neuen Zustände zu finden, zumutete, einen Kasten von zwölf Quadratfuß Umfang und zehn Fuß Höhe durch einen Matrosen in die Kajüte tragen zu lassen, sah mich mit bedenklichem Kopfschütteln an und hielt mich ohne Zweifel für toll. Doch sprach er mir gütig zu, ich möchte mich nur niederlegen und gehörig ausruhen, er werde schon für die Bewahrung meines Eigentums Sorge tragen. Der Kapitän erteilte dann sogleich Befehl, daß meine Stühle, Bettstelle und andere Habseligkeiten aus dem Kasten aufs Schiff befördert wurden, ließ auch von dem seltsamen Fahrzeug einige brauchbare Bretter und Balken loslösen und aufs Schiff bringen und den dann nutzlosen Rumpf ins Meer versenken. Inzwischen erquickte mich ein anhaltender Schlaf, aus dem ich endlich über Traumbildern erwachte, die mir meine liebe Glumdalclitsch, das von mir verlassene, wunderbare Riesenland und die zuletzt bestandenen Gefahren aufs lebhafteste vorführten. Als der Kapitän eintrat, mich wachend sah und sich teilnehmend nach meinem Befinden erkundigte, konnte ich ihm die Versicherung geben, daß ich mich vollkommen wohl und gestärkt fühlte. Darauf ließ Herr Wilcock das Abendessen auftragen und bat mich, sein Gast zu sein. Anfangs betrachtete er mich mit etwas mißtrauischen Augen, indem er nach meinen früheren Äußerungen glaubte, mein Verstand habe gelitten, als er aber sah, daß ich wie ein anständiger Mann aß und vernünftig und zusammenhängend redete, bat er mich, ihm einen Bericht von meiner Reise zu geben und ihm zu erklären, wie ich in die seltsame, ungeheure Kiste geraten und mit dem plumpen,
untauglichen Fahrzeug ins Meer gekommen sei. Ich fragte ihn zunächst, auf welche Weise er die Kiste entdeckt und mir Rettung verschafft habe. »Nun, das ist ganz einfach,« meinte er, »ich stand etwa um zwölf Uhr mittags auf Deck und glaubte durch mein Fernrohr ein Segel zu entdecken, als aber Ihre Kiste näher kam, erkannte ich meinen Irrtum und ließ das Langboot aussetzen, um durch einige meiner Leute den mir unerklärlichen Gegenstand untersuchen zu lassen. Diese kamen alsbald mit allen Zeichen des Schreckens und Erstaunens zurück und berichteten, es sei ein schwimmendes Haus. Ich glaubte, die Leute seien über ihre Ration Rum hinausgegangen und nicht recht bei Verstande, begab mich selbst in das Boot und ließ ein starkes Tau mitnehmen. Darauf untersuchte ich Ihre Behausung genau, und als ich die Krampen daran entdeckte, ließ ich das Tau hindurchziehen und Ihre Schachtel, wie Sie seltsamerweise diese kolossale Kiste nennen, zum Schiff schleppen. Am Bug des Schiffes angekommen, ließ ich ein anderes Tau durch den Ring auf der Decke ziehen und versuchte die Kiste durch Rollen und Flaschenzüge in die Höhe heben zu lassen, allein die vereinigten Kräfte meiner ganzen Mannschaft vermochten das Ungeheuer nur drei Fuß zu heben; sodann sahen wir ihren Stock mit dem Schnupftuch und schlossen daraus, daß irgend ein nach Rettung Verlangender in dem merkwürdigen Behälter stecken müsse.« Ich hörte diese Erklärung des Kapitäns aufmerksam an und fragte darauf, ob er oder seine Leute nicht beim ersten Erblikken der Schachtel ein paar ungeheuer große Vögel in der Luft bemerkt hätten? »Jawohl,« erwiderte er, »einer meiner Leute wenigstens hat mir erzählt, er habe zur Zeit der Entdeckung der Kiste in beträchtlicher Höhe drei Adler nach Norden fliegen sehen; von ihrer auffallenden Größe aber hat er nichts bemerkt.« Ich konnte mir diese Augentäuschung leicht aus der ungeheuren Entfernung der Vögel erklären und fragte, wie weit wir
wohl vom festen Lande entfernt wären? Er antwortete: nach der genauesten Berechnung etwa fünfzig Stunden. Ich gab ihm die Versicherung, er müsse sich wenigstens um die Hälfte irren, denn ich hätte das Land, woher ich gekommen sei, höchstens zwei Stunden vor meinem Niederfallen ins Meer verlassen. Diese Behauptung brachte den Kapitän doch wieder auf den Gedanken, daß es bei mir im Oberstübchen spuken müsse und er meinte: »Es scheint, werter Freund, daß Sie sich von Ihren Unglücksfällen und Strapazen doch noch nicht wieder recht erholt haben, es wird gut sein, wenn Sie wieder zu Bett gehen und noch eine Zeitlang der Ruhe pflegen.« »O nein, verehrtester Herr,« entgegnete ich eifrig, »ich bin so gesund und munter wie ein Fisch und bei vollem Verstande, lassen Sie uns nur noch ein paar Stündchen verplaudern, es wird Ihnen alles klar werden.« Herr Wilcock schüttelte indes wiederholt den Kopf, sah mich mit einem durchdringenden Blick an und sagte dann sehr ernst. »Mein Herr, seien Sie offen und aufrichtig gegen mich. Sie haben sich sicherlich in einem fremden Lande, wo es Sitte ist, Missetäter ins Meer auszusetzen und dem Hungertode preiszugeben, eines schweren Verbrechens schuldig gemacht und wurden zur Strafe in jene Kiste verschlossen. Es ist mir nun freilich nicht lieb, einen so bösen Mann an Bord genommen zu haben, denn Sie werden wissen, wie wir Seefahrer darüber denken; ich bin zwar nicht abergläubisch, aber wenn meine Matrosen erfahren, daß ich einen schweren Verbrecher an Bord genommen habe, an dessen Fersen sich Fluch und Unglück für das Schiff heften, so kann ich Sie schwerlich dagegen schützen, über Bord geworfen zu werden. Seien Sie aufrichtig gegen mich, Mann, erleichtern Sie Ihr Gewissen und geben Sie mir ein offenes Bekenntnis, dann gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, über die Sache zu schweigen und Sie an der ersten besten Küste auszusetzen. Ihr sonderbares Betragen, Ihre scheuen Blicke und verworrenen Reden rechtfertigen nur
zu sehr meinen Argwohn und ich verlange nun vollkommene Aufrichtigkeit von Ihnen.« Im Bewußtsein meiner Unschuld schlug ich aus Verwunderung über diesen Argwohn die Hände über meinem Kopf zusammen und bat dann den Kapitän, mich eine Weile geduldig anzuhören, dann würde er bald von seinem Irrtum zurückkommen und einsehen, daß ich ein ehrenhafter, wahrheitsliebender Mann bei völligem Verstande sei. Nachdem er zustimmend genickt, erzählte ich ihm nun meine ganzen Schicksale von dem Augenblick an, wo ich England zum letztenmal verlassen, bis auf mein Abenteuer mit dem Riesenadler, und unterstützte die Glaubwürdigkeit meiner Erzählung dadurch, daß ich aus meinem in die Kajüte geschafften Schrank mehrere Brobdingnagsche Landesprodukte hervornahm und sie dem erstaunten Kapitän vorlegte. Ich zeigte ihm einen goldenen Ring vom kleinen Finger der Königin, die ihn mir einst in huldvoller Laune geschenkt und wie ein Hundehalsband über den Kopf geworfen hatte. »Nehmen Sie, Herr Kapitän,« sagte ich, »diesen Ring von mir als ein Zeichen meiner Dankbarkeit für meine Lebensrettung und die mir erwiesene Menschenfreundlichkeit.« Sodann zeigte ich ihm meinen Kamm aus den Bartstoppeln des Königs, meine Wespenstacheln und ein Hühnerauge, das ich einst mit eigener Hand von der kleinen Zehe einer Hofdame abgeschnitten hatte. Es war von der Dicke eines großen Apfels und so hart geworden, daß ich es nach meiner Ankunft in England aushöhlen, mit Silber einfassen ließ und als Becher gebrauchte. Als ich ihm auch noch meine aus Mäusefellen verfertigten Beinkleider und meine übrigen Merkwürdigkeiten gezeigt hatte, ergriff der Kapitän meine Hand, bat mir seinen Argwohn ab und versicherte, daß er nun vollkommen von der Glaubwürdigkeit meiner Aussagen überzeugt sei. Den Ring gab mir der bescheidene Mann als ein zu wertvolles Geschenk wieder zurück, und da ich darauf bestand, er müsse sich durchaus etwas zum Andenken aus meinen Sachen wählen, so
begnügte er sich mit dem Zahn eines Bedienten, der diesem einst von einem ungeschickten Zahnarzt statt eines schadhaften Zahnes in Glumdalclitschs Zimmer ausgezogen worden war. Der Kapitän hatte von dieser Zeit an einen großen Respekt vor mir, da ich ein Mann von Erfahrungen und Erlebnissen war, mit denen sich die seinigen nicht im Entferntesten messen konnten, und er ließ es sich angelegen sein, mich zu überreden, daß ich doch gleich nach meiner Ankunft in England meine Erlebnisse niederschreiben und zum Besten der wißbegierigen Welt durch den Druck veröffentlichen möchte. Wie der geneigte Leser sieht, habe ich den Rat des braven Mannes befolgt, muß indes um Entschuldigung bitten, wenn meine Reisebeschreibung nicht so viel des Erstaunlichen und Wunderbaren über fremde Länder und Völker bietet, als andere Reisebeschreibungen, womit alljährlich der Büchermarkt überschwemmt wird. Auf ein Verdienst stolz zu sein, möge mir dafür der geneigte Leser gestatten, es ist dies, daß ich mich bei meinen Berichten immer der strengsten Wahrheitsliebe beflissen habe. Eines Tages machte der Kapitän die Bemerkung, warum ich denn beim Sprechen immer so laut schreie, ob vielleicht der König und die Königin von Brobdingnag harthörig gewesen seien? Ich erklärte ihm, daß ich seit zwei Jahren an eine so laute Sprache gewöhnt sei, weil ich oft, um mich verständlich zu machen, so laut habe reden müssen, wie etwa jemand in England, der zu einem aus einem Kirchturmfenster herausblickenden Mann hinaufrede. Es hänge mir eben noch sehr viel von den Riesengewohnheiten an, und habe ich zumal anfangs hier im Schiff alles mit anderen Augen angesehen. So seien mir die Matrosen als die winzig kleinsten Geschöpfe vorgekommen, die ich je erblickt hätte. »Ah,« meinte der Kapitän, »nun ist mir auch Ihr seltsames Benehmen beim Essen erklärlich. Sie pflegen da fast jeden Gegenstand zu belachen, wahrscheinlich weil er Ihnen so klein vorkommt.« – »Allerdings!« erwiderte ich, »muß es mir nicht höchst
komisch vorkommen, wenn ich Schüsseln von der Größe eines Silberdreiers, eine Schweinskeule von der Größe eines Lerchenflügels und einen Becher nicht größer als einen Fingerhut erblikke!« – Obgleich mir nämlich, wie der Leser weiß, die Königin, als ich in ihren Diensten stand, einen vollkommenen Hausrat und ein für mich passendes Besteck hatte machen lassen, so hatten sich meine Ideen doch nach den Verhältnissen meiner Umgebung gebildet und ich war mir über meine eigene Kleinheit unklar, wie es die meisten Menschen über ihre Fehler sind. Woher es auch kam, daß ich mich nach meiner Rückkehr für wunder wie groß hielt und mich wie ein Brobdingnagscher Riese aufblähte. Kapitän Wilcock kam von Tongking und war auf seiner Rückkehr nach England in den vierundvierzigsten Grad nördlicher Breite und den hundertdreiundvierzigsten Grad östlicher Länge verschlagen worden. Zwei Tage nach meiner Aufnahme an Bord erhob sich ein Passatwind; wir segelten zuerst südlich, dann der Küste von Neuholland entlang, hierauf Südsüdwest, bis wir das Kap der Guten Hoffnung umfuhren. Unsere Reise wurde durch keinen Unfall gestört, und am 3. Juli 1706, gerade neun Monate, nachdem man mich an Bord genommen, langten wir in den Dünen an. Ich bot dem Kapitän einen Teil meiner Güter als Bezahlung für die Überfahrt an, allein er lehnte aufs entschiedenste ab, schüttelte mir beim Abschied die Hand, und versprach, meiner Einladung zu folgen und mich in meiner Wohnung zu Redriff zu besuchen, wenn er alle seine Geschäfte abgewickelt habe. Als ich mir nun ein Pferd aus dem Erlös eines kleinen Teils meiner Sachen gekauft hatte und meinem Wohnorte zutrabte, erschienen mir Bäume, Häuser, Menschen und Vieh so klein, daß ich mich allen Ernstes nach Liliput zurückversetzt glaubte. Ich fürchtete, die mir begegnenden Wanderer zu zertreten und schrie ihnen oft so laut ich konnte zu, sie möchten mir doch aus dem Wege gehen, wofür ich einigemal nahe daran war, eine tüchtige Tracht Schläge zu bekommen.
Mein Haus fand ich erst nach langem Suchen und nach vielen Umfragen unter Leuten, die mich meiner Sprache und Manieren wegen lachend verfolgten. Als mir ein Bedienter die Türe zu meiner Wohnung öffnete, bückte ich mich beim Hineingehen wie eine Gans, die durch ein Scheunentor geht, denn ich fürchtete, mir den Kopf einzustoßen. Meine Frau stürzte mir mit einem lauten Freudenschrei entgegen und wollte mich in ihre Arme schließen und küssen; da hielt ich’s aber für nötig, mich auf die Knie niederzulassen, weil ich glaubte, sie würde sonst meinen Mund nicht erreichen können. Mein Töchterchen kniete vor mir nieder, um meinen Segen zu empfangen, aber ich sah sie anfangs gar nicht, weil ich so lange Zeit gewöhnt gewesen war, den Kopf immer im Nacken zu halten und die Augen in die Höhe zu richten, um an Personen über sechzig Fuß emporzusehen. Als ich sie endlich bemerkte, umschlang ich sie mit einem Arm, hob sie in die Höhe und versuchte, sie auf meine Hand zu setzen. Frau und Kind rangen die Hände und glaubten, ich sei toll geworden, zumal ich meiner Frau den Vorwurf machte, sie sei gewiß während meiner Abwesenheit unverantwortlich geizig gewesen und habe sich und dem Kinde die nötige Nahrung entzogen, wodurch sie nun beide ganz ausgedörrt und wie die Zwerge zusammengeschrumpft seien. Einige Verwandte und Freunde, die gerade anwesend waren, behandelte ich ebenso, als ob ich ein Riese und sie nur Zwerge wären, und brachte es durch mein Benehmen dahin, daß sie, wie früher Kapitän Wilcock, glaubten, Unglücksfälle und Strapazen hätten mich um meinen Verstand gebracht. Indes nach einiger Zeit gewöhnte ich mich wieder an meinesgleichen und an die heimischen Verhältnisse, und wenn ich ab und zu noch mit Brobdingnagschen Augen sah und mit Brobdingnagschen Ohren hörte, so begnügte man sich mit einem Lächeln und bat mich, zu bedenken, daß ich im lieben Alt-England unter Vettern und Freunden sei. Meine Frau, nachdem sie alle meine bestandenen Abenteuer und Gefahren unter allen Zeichen
der Angst und des Schreckens angehört hatte, schwur hoch und teuer, daß ich nie wieder in See gehen sollte; allein die Zukunft hat gelehrt, daß meine Frau über mein Schicksal und meine Reisewut keine Gewalt hatte, wie der geneigte Leser bald aus dem dritten Teile meiner Reisebeschreibung erfahren wird.
Dritter Teil
Reise in das Land der Hauyhnhnms
Erstes Kapitel Der Verfasser wird Schiffskapitän und tritt abermals eine Seereise an. Seine Leute meutern und setzen ihn an einer unbekannten Küste aus. Auf seiner Reise in das Innere des Landes trifft er auf Yähus und sodann auf zwei Hauyhnhnms.
Ich hatte nach meiner letzten Reise unter den glücklichsten Verhältnissen einige Zeit in meiner Familie gelebt, als meine unbändige Reiselust wieder erwachte und ich trotz der Tränen und des Widerstandes meiner Frau mich entschloß, abermals eine Seereise anzutreten. Teil an diesem meiner Familie so schmerzlichen Entschlusse hatte, ich muß es aufrichtig gestehen, meine Eitelkeit, denn man hatte mir, meine nautischen Kenntnisse berücksichtigend, das schmeichelhafte und vorteilhafte Anerbieten gemacht, als Kapitän die Führung des »Abenteurers«, eines großen Kauffahrers von dreihundertfünfzig Tonnen zu übernehmen. Das Amt eines Kapitäns war mir überdies auch aus dem Grunde angenehm, weil ich es müde war, ferner noch als Wundarzt zur See tätig zu sein, und ich nahm deshalb auch einen jungen geschickten Mann, namens Robert Purefoy, an Bord, damit er die wundärztlichen Geschäfte versehe. Wir gingen am 7. September 1710 von Portsmouth aus in See und hatten anfangs eine glückliche Fahrt. Aber in den tropischen Gegenden angekommen, wurde meine Mannschaft zum Teil von hitzigen Fiebern aufgerieben und ich sah mich genötigt, Matrosen in Barbados und auf den Inseln unter dem Winde anzuwerben, wo ich sowieso nach dem Auftrage der Reeder anlegen
mußte. Nur zu bald aber nahm ich mit Schrecken wahr, daß die meisten der Neuangeworbenen ehemalige Flibustier oder Seeräuber waren. Diese Schurken verführten bald durch Versprechungen und Drohungen auch meine übrigen Leute und bildeten eine Verschwörung, um sich des Schiffes zu bemächtigen und mich unschädlich zu machen. Eines Morgens stürzten sie in meine Kajüte, banden mich an Händen und Füßen und drohten, mich über Bord zu werfen, wenn ich den geringsten Widerstand versuchte. Ich nahm mir, weil ich wußte, daß es doch nichts helfen konnte, nicht einmal die Mühe, den Elenden ihr schändliches Betragen vorzuwerfen und sagte, ich müsse der Gewalt weichen und sei ihr Gefangener. Darauf mußte ich ihnen einen Eid leisten, daß ich mich als ehrlicher Gefangener halten wolle, und als ich diesen Eid abgelegt, nahmen sie mir zwar die Banden wieder ab, fesselten aber meine Füße an meine Bettstelle und befahlen einer vor meiner Tür aufgestellten Schildwache, sofort auf mich zu schießen, wenn ich den Versuch machen sollte, mich zu befreien. Es war die Absicht der Bösewichter, ihr altes Seehandwerk wieder zu treiben und, nachdem sie noch mehr Mannschaft an sich gezogen, Jagd auf spanische Schiffe zu machen. Zuerst aber wollten sie die Güter des Schiffes verkaufen und segelten deshalb in die indischen Gewässer, weil sie hier den besten Markt dafür zu finden hofften. Wochenlang war ich ihr Gefangener und wurde zu verschiedenen Malen mit dem Tode bedroht. Am 9. Mai 1711 kam ein gewisser James Welch zu mir und sagte, er habe vom jetzigen Kapitän des Schiffes Befehl erhalten, mich ans Land zu setzen. Ich wollte einige nähere Auskunft über das mir bereitete Schicksal haben, aber er ließ sich auf nichts ein und wollte mir nicht einmal den Namen dessen nennen, den er Kapitän zu nennen beliebte. Man trieb mich an, sofort das Langboot zu besteigen und gestattete mir, meinen besten Anzug und ein Bündel Wäsche, doch, außer meinem Degen, keine Waffe
mitzunehmen. Meine Taschen, in denen ich Geld, Messer und einige auf den Geschmack der Wilden berechnete Spielereien bewahrte, ließen sie undurchsucht. Nach einer Fahrt von einer Stunde setzten sie mich an einem Strande aus, und auf meine Frage, was das für ein Land sei, in das sie mich geführt hätten, schwuren sie, daß sie es selbst nicht wüßten. Ich erfuhr nichts weiter, als daß der sogenannte Kapitän beschlossen habe, sich meiner beim ersten besten Lande zu entledigen, sobald die Ladung verkauft sei; das sei jetzt geschehen und darum sei ich hier, ich solle nur machen, daß ich rasch fort und landeinwärts komme, sonst würde mich die Flut überraschen. Betrübten Herzens wanderte ich in das unbekannte Land hinein und dachte daran, im Fall ich Wilden und Kannibalen begegnen sollte, meine Sicherheit mit einigen Armbändern und Glasringen zu erkaufen, die ich bei mir trug. Ich fand indes, daß das Land nicht ohne Kultur war, namentlich fielen mir schöne Wiesen und gutbeackerte Haferfelder auf, auch entdeckte ich viele Spuren von Menschenfüßen und Kuhhufen, am meisten aber fanden sich Spuren von Pferdehufen, und ich kam deshalb auf die Vermutung, daß dieses Land wohl von einem Reitervolk bewohnt sein müsse. Ich ging vorsichtig zwischen einigen Baumgruppen immer tiefer ins Land hinein und entdeckte unter einer solchen Baumgruppe und zugleich auf ihren Zweigen eine Anzahl häßlicher Tiere, die ich zunächst für Affen oder für Faultiere hielt; als ich sie aber, hinter einem Busche liegend, länger und genauer betrachtete, erschienen sie mir als eine eigentümliche Art von höchst widerwärtiger Häßlichkeit. Sie hatten Bärte wie Ziegenböcke und zumeist einen langen Streifen Haar auf dem Rücken und an den Schenkeln. Der übrige Teil ihres Körpers war unbehaart und zeigte eine schmutzig-braune Haut. Auf Bäume kletterten sie behend wie die Affen, wobei ihnen ihre starken, scharfen Klauen sehr zustatten kamen. Übrigens fiel es mir auf, daß diese
Tiere ungeschwänzt waren. Die Weibchen waren nicht so groß als die Männchen und trugen langherabhängendes Haupthaar, das bei allen, sowie auch bei den Männchen nicht von gleicher Farbe, sondern bald braun, bald rot, bald schwarz oder gelb war. Niemals auf meinen ganzen Reisen erinnerte ich mich, Tiere gesehen zu haben, die einen so ekelhaften abstoßenden Eindruck machten, wie diese. Ich wollte mich daher dem unangenehmen Anblick sobald wie möglich entziehen und folgte einem betretenen Weg, weil ich hoffte, er würde mich zu der Hütte eines Eingeborenen bringen. Kaum aber hatte ich einige Schritte getan, als mir eines jener häßlichen Geschöpfe in den Weg trat. Es machte eine widerliche Grimasse und hob, ich weiß nicht zu welchem Zwecke, seine Vorderpfote auf; ich aber zog, um das ekelhafte Tier zu verscheuchen, meinen Degen und gab ihm einen tüchtigen Hieb mit der flachen Klinge über den Rücken, worauf es laut heulend davonlief. Dies Geschrei wirkte wie ein Alarmsignal, denn sogleich prasselte und krachte es in allen Büschen und Bäumen, und wenigstens fünfzig der widerlichen Geschöpfe stürzten auf mich los. Meinen Degen gegen sie schwingend, lehnte ich mich gegen einen Baum, um meinen Rücken zu decken; die feigen Tiere griffen mich nicht an in dieser Stellung, kletterten aber zu Dutzenden auf den Baum und beschmutzten mich aus ihrem sicheren Versteck derart mit ihrem Unrat, daß ich hätte vor Ekel vergehen mögen. Mit einem Male aber flohen sie – ich begriff die Ursache nicht – so plötzlich und rasch davon, als ob der Blitz zwischen sie geschlagen sei. Ich verließ nun den Baum, verfolgte den eingeschlagenen Weg weiter und sah mich nach allen Seiten um, indem ich nach der Veranlassung suchte, die den Tieren einen solchen Schrecken eingejagt haben möchte. Gewiß dachte ich, war es ein mit einem Schießgewehr bewaffneter Eingeborener, doch entdeckte ich weit und breit niemand, und endlich blieben meine suchenden Blicke auf einem Pferde haften, das gemächlich daherspazierte. Da rings in der Runde weiter
kein lebendes Wesen zu sehen war, so mußte wohl dies Pferd die Ursache jener plötzlichen Flucht gewesen sein. Das Pferd schien äußerst zahm zu sein. Es kam auf mich zu, stutzte zwar etwas bei meinem Anblick, trat dann aber näher und betrachtete mich aufmerksam mit allen Zeichen des Erstaunens. Ich dachte bei mir, es sei sicher ein sehr gut geschultes Pferd eines Eingeborenen, die hier also nicht ohne Kultur und Geschicklichkeit sein können, und wollte mit diesem Gedanken, das Pferd weiter nicht beachtend, meinen Weg verfolgen, als das schöne Tier dicht vor mich hintrat, um mich mit verdoppelter Aufmerksamkeit zu betrachten. Ich erhob nun meine Hand, um seinen Hals zu streicheln und pfiff dabei, wie die Reitknechte zu tun pflegen, wenn sie ein fremdes Pferd anlocken und ihm schöntun wollen. Allein – so etwas war mir doch in meinem ganzen Leben nicht vorgekommen! – das Tier wies kopfschüttelnd und mit deutlicher Verachtung meine gutgemeinten Schmeicheleien zurück. Alsdann wieherte es drei- oder viermal in so verschiedenen, fast artikulierten Tonarten, als spräche es eine Sprache. Gleich nach diesem Gewieher kam ein anderes Pferd herbei, nickte dem ersteren zu und erhob wie zur Begrüßung den Vorderfuß. Darauf gingen die beiden Tiere einige Schritte zurück, als wollten sie sich miteinander beraten, spazierten nebeneinander her, rückwärts und vorwärts, wie Menschen, die sich über eine wichtige Angelegenheit unterhalten, wobei sie häufig ihre Blicke auf mich wandten, als wollten sie mich bewachen. Ich war vor Verwunderung über dies Benehmen ganz außer mir und dachte: nun, wenn in diesem Lande selbst die unvernünftigen Tiere so viel Intelligenz zeigen, so bist du bei den menschlichen Bewohnern sicher gut aufgehoben. Ich schickte mich deshalb zum Gehen an, um sobald wie möglich auf diese ausgezeichneten Menschen zu stoßen, allein das Pferd, dem ich zuerst begegnet war, ein hübscher Schecke, wieherte so ausdrucksvoll und drohend, daß ich unwillkürlich stehen blieb. Nun kamen beide Pferde
heran, besahen wiederum aufmerksam mein Gesicht und meine Hände und nickten einander zu. Dann tastete mir der Scheck sanft mit dem Vorderhuf auf dem Kopf umher und verschob mir dadurch den Hut, so daß ich genötigt war, ihn abzunehmen und wieder zurechtzusetzen, worüber beide Pferde höchst erstaunt schienen. Das andere, ein Kastanienbrauner, befühlte nun meine Rockschöße und als er fand, daß sie locker um meinen Körper herumhingen, wechselten beide wieder neue Zeichen der Verwunderung. Der Braune streichelte auch meine rechte Hand und schien die weiße Farbe und Zartheit zu bewundern, drückte sie aber so stark zwischen Huf und Fesselgelenk, daß ich laut aufschreien mußte, worauf er mich sofort losließ. Im allgemeinen war das Benehmen dieser Tiere so anständig und vernünftig, daß ich schon anfing, an Märchen zu glauben, und nicht anders meinte, als ich habe Menschen vor mir, die durch einen Zauberer in Pferde verwandelt seien, oder durch Zauberkraft sich selbst verwandelt hätten. In dieser Meinung hielt ich etwa folgende Anrede an sie: »Meine Herren, wenn Sie Zauberer sind, wie ich zu vermuten Grund habe, so müssen Sie jede Sprache verstehen können. Ich bin darum so frei, Euer Gnaden wissen zu lassen, daß ich ein armer, unglücklicher Engländer bin, der durch Mißgeschick an dieses Land verschlagen wurde. Deshalb bitte ich einen von Ihnen, mich seinen Rücken besteigen zu lassen, und mich nach einer Ortschaft zu Menschen zu bringen, wo ich Hilfe und Unterstützung finden kann. Aus Erkenntlichkeit für Ihren Dienst werde ich Ihnen dies Messer und dieses Armband geben.« Ich hatte beides zuvor aus meiner Tasche gezogen. Die Pferde hatten mir mit großer Aufmerksamkeit zugehört und wieherten nun so lange miteinander, daß ich überzeugt war, sie sprächen eine Sprache, die in ein Alphabet von weit größerer Einfachheit als das Chinesische aufgelöst werden könnte. – Sehr häufig gebrauchten sie bei ihrer Unterredung das Wort Yähu, dies merkte ich mir und rief, als sie schwiegen, wiederholt Yähu!
Yähu! Darauf trat mir der Scheck mit beifälligem Kopfnicken näher und wiederholte dasselbe Wort, jedoch in einer Weise, als ob er mich seine richtige Betonung lehren wollte. Als ich ihm nun gelehrig nachsprach, übte er mir noch ein anderes Wort ein, das aber sehr schwer auszusprechen ist; es gehört eben eine Pferdezunge dazu. Nach einigen verfehlten Versuchen brachte ich’s aber doch zur sichtlichen Zufriedenheit der Pferde heraus. Es ist aber ein ganz verteufeltes Wort und läßt sich ebenso schwer aussprechen, als durch Schriftzeichen wiedergeben, der Leser muß sich darum begnügen, wenn ich mein Möglichstes tue und das Wort durch folgende Buchstaben ausdrücke: Hauyhnhnms. Nach einer weiteren Unterhaltung, die sich augenscheinlich wieder auf mich bezog, reichten sich die merkwürdigen Pferde wie zum höflichen Abschied die Hufe und der Braune gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Ich gehorchte, ging aber teils in sinnender Verwunderung, teils aus Furcht etwas langsam. Darauf schrie er, wie um mich anzutreiben, huun! huun! Allein ich fühlte das Bedürfnis, ein wenig auszuruhen und gab das durch Gebärden dem Pferde zu verstehen. Das kluge Tier verstand mich sogleich, nickte und setzte sich, als ich mich auf einer Rasenbank niederließ, mir gegenüber.
Zweites Kapitel Der Verfasser wird von einem Hauyhnhnm in dessen Haus geführt. Beschreibung des Hauses. Es wird ein unangenehmer Vergleich mit dem Verfasser angestellt. Er kommt in Not wegen Mangels an Nahrung, weiß sich aber zu helfen.
A ls ich mich mit dem Pferde wieder auf den Weg machte und wir etwa anderthalb Stunden gegangen waren, kamen wir an ein scheunenartiges Haus, dessen niedriges Dach mit Stroh gedeckt war. Das Pferd gab mir ein Zeichen, zuerst in das Haus zu treten, und ich fand einen Raum, der von nackten Wänden eingeschlossen war, an denen man Tröge und Krippen aufgestellt hatte. Hier sah ich mehrere Pferde, die sich teils in sitzender Stellung unterhielten, teils häuslichen Geschäften nachgingen, so daß mir wieder der Gedanke kam, ein Volk, das unvernünftige Tiere so sehr zu zivilisieren verstehe, müsse notwendig alle Nationen der Welt an Weisheit übertreffen. Der Braune war mir unmittelbar gefolgt, wieherte laut und schien den anderen Pferdepersonen Befehle zu erteilen. Darauf winkte er mir, ihm zu folgen, und führte mich in einen kleineren Raum, in dem ich die menschlichen Bewohner vermutete, und etwas zaghaft mein zu Geschenken bestimmtes, wertloses Gerät hervorzog, nämlich zwei Messer, drei Armbänder von Glasperlen, einen kleinen Spiegel und ein Halsband von Glaskorallen. Der Braune wieherte mit besonderer Betonung, und ich glaubte schon, er wolle sich dadurch den menschlichen Bewohnern bemerklich machen. Ich vernahm jedoch keine menschliche
Stimme, sondern nur eine Antwort in dem gleichen Dialekt, die aber etwas heiserer klang. Das wunderbare Benehmen der Pferde und meine ganze seltsame Umgebung ließen mich nach und nach an meinem Verstande zweifeln, ich versuchte darum folgerichtig über ein philosophisches Problem nachzudenken, und da mir dies leidlich gelang, so beruhigte ich mich über die Gesundheit meines Verstandes, meinte aber, ich liege wohl in einem tiefen Schlaf und träume alle die seltsamen Dinge, die ich sah und hörte. Ich rieb mir die Augen und kniff mich in die Arme und in die Seiten, um mich zu erwecken, erreichte aber damit nichts weiter, als daß ich mich überzeugte, ich müsse vollkommen wach und alles, was ich sah und hörte, Wirklichkeit sein. Der Braune riß mich durch einen energischen Wink aus diesen Betrachtungen und führte mich in einen dritten, eleganter ausgestatteten Raum, dessen Boden mit schön geflochtenen Strohmatten belegt war, auf denen zwei Stuten edelster Rasse mit zwei Füllen saßen. Der Braune, ein Hengst, der hier der Herr im Hause zu sein schien, stellte mich den Stuten vor, worauf sich eine dieser Pferdedamen erhob, genau mein Gesicht und meine Hände betrachtete und dann mit einem unbeschreiblich verächtlichen Blick, naserümpfend, das Wort Yähu aussprach. Dieses dem Leser schon bekannte Wort, dessen Bedeutung ich aber damals noch nicht verstand, ward nun mehrere Male wiederholt. Sodann forderte mich der Hengst wie unterwegs mit den Worten: huun! huun! auf, ihm weiter zu folgen, und führte mich über den Hof in ein Stallgebäude, in dem ich drei jener scheußlichen Geschöpfe wiederfand, die mir zuerst in diesem Lande begegnet waren. Sie waren mit gedrehten Weidenruten an Krampen gebunden und verzehrten ihre aus übelriechendem Fleisch und Mohrrüben bestehende Nahrung aus ihren haarigen und schmutzigen Vorderpfoten. Der Herr-Hengst befahl nun einem etwas schäbigen Klepper, der Stallknecht zu sein schien, das größte der häßlichen Tiere aus dem Stall und auf den Hof zu ziehen. Sodann wurde ich mit
dem Scheusal zusammengestellt, und nachdem Herr und Diener unsere Gesichtszüge und Gestalt verglichen, sprachen sie einander zunickend wiederum das Wort Yähu aus. Es ist schwer, meinen Schrecken und meinen Abscheu zu beschreiben, als ich jetzt nach genauerer Betrachtung in der neben mir aufgestellten Schandkreatur eine vollkommene Menschengestalt erblickte. Zwar war das Gesicht häßlich und von affenartigem Ausdruck, wie bei den Australnegern, allein es war doch immerhin ein menschliches. Nun wußte ich, was ein Yähu sei, und mit einem solchen Scheusal stellte man mich auf eine Stufe! Die Vorderpfoten des Yähu unterschieden sich von meinen Händen nur durch die Länge der Nägel, durch die haarige Rückseite und durch die Rauheit und braune Färbung der Handflächen. Gleiche Ähnlichkeit bestand zwischen unseren Füßen, was aber die Pferde nicht wußten, da ich Schuhe und Strümpfe trug. Überhaupt verdankte ich es nur meiner Bekleidung, daß die beiden Pferde, wie ich an ihrem Kopfschütteln und Nicken merkte, eine kleine Verschiedenheit zwischen mir und dem Yähu zu finden schienen. Der dienende Klepper reichte mir eine Mohrrübe, die er zwischen seinem Huf und dem Fußgelenk hielt; ich nahm sie, roch daran und gab sie mit abweisendem Dank zurück. Darauf brachte er mir aus dem Stall der Yähus ein Stück Eselsfleisch, das so übel roch, daß ich es mit Ekel von mir wies, worauf er es dem Yähu gab, der es gierig verschlang. Schließlich versuchte es der Klepper mit einem Bündel Heu und einem Kübel voll Hafer, aber auch dies mußte ich natürlich dankend ablehnen, und fürchtete schon Hungers zu sterben, wenn ich nicht bald zu meinesgleichen käme. Mein Widerwille gegen den ekelhaften Yähu neben mir war so deutlich, daß ihn der Herr-Hengst nicht verkannte und das Scheusal deshalb wieder in seinen Stall abführen ließ. Sodann legte er mit staunenswerter Gelenkigkeit seinen Vorderhuf an das Maul und sah mich fragend an, wodurch er zu verstehen
geben wollte, ich möge andeuten, was ich zu essen wünsche. Ich suchte vergebens eine ihm verständliche Antwort durch Gebärden auszudrücken, als eben eine Kuh an uns vorüber ging. Nun war mir geholfen, ich deutete auf das Euter und tat, als ob ich melke. Dies half. Das Pferd führte mich in das Haus zurück und befahl einer dienenden Stute ein kleines Zimmer zu öffnen, in dem ich einen großen Milchvorrat in hölzernen Schalen fand. Ich verzehrte eine Schale davon und fühlte mich dadurch sehr erquickt. Vor das Haus tretend, sah ich ein schlittenähnliches Fuhrwerk, das von zwei Yähus gezogen wurde, und worin sich ein altes, beleibtes Pferd befand, das eine Person von hohem Stande zu sein schien. Es stieg, weil die Vorderfüße offenbar gelähmt waren, schwerfällig mit den Hinterfüßen zuerst vom Wagen und wurde von meinem Hauswirt, mit dem es zu Mittag speisen wollte, sehr höflich empfangen. Man speiste gemeinschaftlich im Staatszimmer, woselbst die Tröge in Kreisform aufgestellt waren und von einer dienenden Magd mit Hafer und Milch gefüllt wurden, welche Speise das alte Pferd warm aß. Man aß sehr anständig, und das Benehmen der männlichen und weiblichen Füllen war weit bescheidener und artiger, als es unsere Kinder in Europa bei Tische oft an den Tag zu legen pflegen. Der Hengst winkte mir, mich an seine Seite zu stellen und pflog mit seinem Freunde eine lange Unterredung, die sich unverkennbar auf mich bezog und in der das Wort Yähu oft genannt wurde. Ich hatte zufällig meine Handschuhe angezogen, und da das Pferd vorher meine Hände nur entblößt gesehen hatte, so deutete es mit fragender Verwunderung mit dem Huf darauf und schien sagen zu wollen, was ich mit meinen Händen angefangen habe, worauf ich meine Handschuhe wieder auszog und in die Tasche steckte. Dies rief ein neues Gespräch hervor, und ich glaubte zu bemerken, daß die Pferdegesellschaft mit meinem Betragen zufrieden war. Darin hatte ich mich nicht getäuscht, denn der Herr-Hengst nahm sich
meiner wohlwollend an und lehrte mich einige der notwendigsten Bedürfnisse, als Wasser, Milch, Hafer, Feuer in der Pferdesprache bezeichnen. Bei meinem, dem Leser aus meinen früheren Reisen bekannten Talent für fremde Sprachen, sprach ich ihm diese Worte auch bald ziemlich richtig nach, was mit sichtlicher Befriedigung aufgenommen wurde. Nach Tisch gab mir mein Gastfreund zu verstehen, daß es ihm leid tue, mir kein Essen nach meinem Geschmack und meinen Gewohnheiten bieten zu können. Da erinnerte ich mich, daß aus Hafer (in der Landespferdesprache Hlumch genannt) eine Art Brot gemacht werden könne, das nebst der Milch ausreichen würde, mein Leben zu fristen, bis ich wieder zu Menschen käme. Nachdem ich meine ziemlich richtig verstandenen Andeutungen gemacht, befahl das Pferd der dienenden Stute, mir in einer großen Mulde eine Menge Hafer zu bringen, diesen enthülste ich dann so gut es gehen wollte durch Erhitzung und mahlte ihn zwischen zwei Steinen zu Mehl, tat Wasser und Milch dazu und buk mir einen Kuchen daraus. Anfangs wollte er mir nicht munden, da aber Hunger die beste Würze ist, so verzehrte ich ihn mit umso größerem Appetit, als der Magen gebieterischer wie je seine Rechte forderte. Diese Lebensart führte ich nun drei Jahre lang unter diesen Pferden, die sich in ihrer Sprache als Hauyhnhnms bezeichneten. Meine Nachtruhe fand ich in einem abgesonderten Raume auf einer reinlichen Schütte Stroh, nachdem man dafür gesorgt hatte, daß mir die dienende Stute einen warmen Haferbrei als Nachtessen bereitete.
Drittes Kapitel Der Verfasser erlernt die Sprache der Hauyhnhnms. Ähnlichkeit dieser Sprache mit dem Deutschen. Hauyhnhnms von Stande besuchen ihn und unterhalten sich mit ihm, wodurch er sich in der Sprache immer mehr vervollkommnet. Sein Herr kommt hinter ein Geheimnis. Kurze Andeutung über europäische Zustände.
Meine hauptsächlichste Beschäftigung bestand vorläufig in Erlernung der Sprache der Hauyhnhnms, in welcher mich mein Herr (so werde ich fortan den Herrn-Hengst nennen), sowie dessen Kinder und Gesinde freundlich unterrichteten. So machte ich denn bald bedeutende Fortschritte in der Erlernung dieser Sprache, und als mein Herr das bemerkte, war er sehr erfreut darüber und verwandte alle seine Mußestunden zu meinem Unterricht, so daß ich rasch vorwärts kam. Nach meinem Urteile, das ich mir über diese an Kehl- und Nasallauten sehr reiche Sprache gebildet habe, kommt sie dem Deutschen am nächsten, welche Auffassung ich mit Kaiser Karl V. gemein habe, der bekanntlich sagte: Mit Gott spreche er Lateinisch, mit seinen Großen Spanisch, mit seiner Braut Französisch, mit seinem Pferde aber Deutsch. Mein Verstand und meine Gelehrigkeit, die ich bei Erlernung der Sprache entwickelte, setzten meinen Herrn ebenso wie mein anständiges Betragen und meine Reinlichkeit in Erstaunen, weil er sonst bei allen Yähus das Gegenteil dieser Eigenschaften fand. Er ließ also zu meinem Verdruß immer nicht von der Meinung ab, daß ich auch zu den ekelhaften Yähus gehöre. – Nach ungefähr zehn Wochen war ich imstande, die meisten Fragen zu verstehen,
und nach drei Monaten konnte ich schon leidliche Antworten geben. Ich verstand nun bereits meinen Herrn vollkommen und erfuhr, daß er sehr gern zu wissen wünsche, woher ich gekommen sei und wie ich gelernt habe, vernünftigen Geschöpfen nachzuahmen, da die Yähus doch sonst die ungelehrigsten aller Tiere seien. Ich konnte ihm ziemlich geläufig erwidern, daß ich aus einem fernen Lande mit anderen meines Geschlechts in einem großen hölzernen Gefäß über See gekommen sei. Meine Gefährten hätten sich gegen mich, der ich ihr Befehlshaber gewesen, empört und mich gezwungen, an dieser Küste zu landen, ohne mir Lebensmittel mitzugeben. Es war schwierig, ihm manche Dinge zu bezeichnen, für welche die Hauyhnhnms keine Begriffe haben. Er meinte, auf meine eben erzählte Mitteilung erwidernd, ich müsse mich notwendig irren, denn ich habe Dinge gesagt, die es gar nicht gäbe (daß ich gelogen habe, konnte er weder meinen noch sagen, denn die Sprache der Hauyhnhnms hat kein Wort für Lüge oder Falschheit), denn er wisse, daß sich jenseits des Meeres kein Land befinde, und halte es für unmöglich, daß ein Haufen Tiere ein hölzernes Gefäß auf dem großen Wasser beliebig leiten könne. Kein Hauyhnhnm könne ein solches Gefäß verfertigen, wie denn ein Yähu zu dieser Kunstfertigkeit kommen solle! – Das Wort Hauyhnhnm oder Pferd bezeichnet nämlich in seiner Ableitung die »höchste Vollkommenheit der Natur«. Nachdem sich das Gerücht von meiner Gelehrigkeit und meinem gesitteten Betragen im Lande verbreitet hatte, kamen häufig vornehme Hengste und Stuten aus der Nachbarschaft in unser Haus, um den wunderbaren Yähu zu sehen, der sprechen könne und in seinen Handlungen und Worten einige Spuren von Vernunft offenbare. Die Gäste unterhielten sich gern mit mir und legten mir häufig Fragen vor, wodurch ich mich immer bedeutender in der Sprache vervollkommnete. Einige der Besucher waren darüber im Zweifel, ob ich ein wirklicher Yähu sei, weil ich mit Ausnahme des Gesichts und der Hände eine andere Haut habe.
Mein Herr war aber durch einen Zufall hinter das Geheimnis gekommen, daß diese vermeintliche Haut nicht zu meinem Körper gehöre, sondern durch meine Kleider gebildet werde, indes hatte er auf meine Bitte dies Geheimnis für sich behalten. Wie er hinter dies Geheimnis gekommen war, will ich jetzt erzählen. Eines Morgens nämlich ließ mich der Herr durch seinen dienenden Klepper ungewöhnlich früh zu sich bestellen. Ich lag noch in tiefem Schlaf, bloß mit dem Hemd bekleidet, auf meiner Streu, und erwachte erst, als der Diener durch wiederholtes Scharren seine Gegenwart anzeigte. Unbeschreibliche Verwunderung malte sich auf seinem Gesicht, als er mich kleiderlos, in einer ganz anderen Gestalt als sonst vor sich sah. Flugs lief er zu seinem Herrn und gab ihm den verworrenen Bericht, ich sei ein Doppelyähu, könne mich in mehrere Gestalten verwandeln und meine Haut abstreifen. Als ich mich angekleidet hatte und zu meinem Herrn ging, fragte dieser sogleich, was das bedeute, daß ich, wie sein Diener berichte, im Schlafe ein anderes Geschöpf sei, als im Wachen, er könne nicht recht aus der verworrenen Mitteilung seines aufs höchste verwunderten Dieners klug werden. Ich erklärte ihm nun, daß in dem Weltteil, woher ich gekommen, mein ganzes Geschlecht sich teils des Anstandes wegen und teils um sich gegen Hitze oder Kälte zu schützen, mit künstlichen Hüllen bedecke. Da ich bemerkte, daß ihm meine Erklärung nicht recht faßlich war, bat ich ihn, mich zu entschuldigen, wenn ich ihm unanständig erscheinen sollte, ich könne ihm aber nur dadurch einen deutlichen Beweis meiner durch Kunst hergestellten gewöhnlichen Erscheinung geben, wenn ich mich nackt auszöge. Ich entkleidete mich nun vor den verwunderten Augen meines Herrn, der jede meiner Bewegungen mit der größten Aufmerksamkeit verfolgte; er nahm ein Stück meiner Kleider nach dem anderen mit dem Fußgelenk auf, betrachtete es genau und streichelte dann sanft meinen nackten Leib. Das Resultat seines Betastens und Beobachtens war aber kein anderes, als daß er zu
meinem großen Verdruß sagte, er wisse nun, daß ich ein vollkommener Yähu sei, ich unterscheide mich nur von den übrigen meines Geschlechtes durch die Weiße und Glätte meiner Haut und durch die etwas abweichende Form meiner Vorder- und Hinterklauen. Er habe genug gesehen und ich möge nur meine fremden Häute wieder anlegen. Ich bat ihn, die Benennung Yähu, dieses mir so ekelhaften verhaßten Tieres doch nicht auf mich anzuwenden und meine künstliche Umhüllung für sich als ein Geheimnis zu bewahren. Was er auch versprach und redlich hielt, so daß das Geheimnis erst später offenkundig wurde, als ich genötigt war, meine abgenutzten Kleider durch neue zu ersetzen, die ich mir selbst anfertigte. Täglich wiederholte mein Herr seine Erkundigungen nach der Art und Weise, wie ich ins Land gekommen sei, und nach den Sitten und Einrichtungen meiner Mityähus. Je geläufiger mir nun die Landessprache wurde, desto mehr konnte ich ins Einzelne gehen, mußte aber, um ihm manches, wofür er keinen Begriff hatte, recht klar zu machen, doch die Gebärdensprache zu Hilfe nehmen. So erklärte ich ihm die Bewegung des großen hölzernen Gefäßes, in dem ich übers Meer gekommen sei, dadurch, daß ich vor seinen Augen mein Schnupftuch wie ein Segel aufblies. Ich sagte ihm, ich wolle genau über meine Heimat berichten, wenn er mir verspräche, nicht ärgerlich zu werden, denn ich habe ihm manches mitzuteilen, was sicherlich keinen guten Eindruck auf ihn machen würde. Als er mir nun seinen Huf darauf gegeben, daß er mir nichts übelnehmen wolle, sagte ich, in meinem Vaterlande, sowie in allen Ländern, die ich durchreist hätte, seien die Yähus allein die vernünftigen und regierenden Tiere; darum sei ich hier bei meiner Ankunft so erstaunt gewesen, daß die Hauyhnhnms als vernünftige Geschöpfe handelten und die Yähus sich wie das Vieh betrügen. Ich gestand ein, daß ich den Yähus in jedem Teile meines Körpers gleiche, daß ich mir
jedoch ihre ausgeartete und viehische Natur nicht erklären könne. Wenn ich jemals das Glück haben sollte, in mein Vaterland wieder zurückzukehren, um meine Reise hierher, zu erzählen, so würde jeder glauben, ich erzähle etwas, was es gar nicht gäbe. Ich müsse bei aller Achtung, die ich für ihn, seine Familie und Freunde hege, offen gestehen, daß meine Landsleute schwerlich glauben würden, ein Hauyhnhnm sei hier das vernünftige und herrschende Geschöpf und der Yähu das Vieh.
Viertes Kapitel Der Verfasser berichtet seinem Herrn über die Hauyhnhnms in seinem Vaterlande, sowie über europäische Zustände im allgemeinen. Sein Bericht wird von seinem Herrn nicht gebilligt. Auch die weitere Fortsetzung dieses Berichts erhält den Beifall des Herrn nicht.
Mein Herr hörte mit unverkennbaren Zeichen des Mißmuts, daß die elenden Yähus in anderen Ländern eine so große Rolle spielten, denn daß ich die Unwahrheit sage, konnte er nicht annehmen, weil, wie schon bemerkt, seine Sprache für Lüge und Unwahrheit gar keine Worte hat. Er meinte indes mit mürrischem Kopfschütteln, es gehe ganz über seine Begriffe, daß die Yähus herrschende Tiere sein könnten und fragte, ob wir denn keine Hauyhnhnms im Lande hätten und womit sich diese zu beschäftigen pflegten? Ich erwiderte ihm, wir hielten viele Hauyhnhnms zu den verschiedensten Zwecken. Im Sommer grasten sie auf großen Weiden, während sie im Winter in Häusern ähnlich wie das seinige gehalten und mit Heu und Hafer ernährt würden; dienende Yähus versorgten sie mit Futter, striegelten ihre Haut rein, kämmten ihre Mähne und untersuchten ihre Hufe. »Ich sehe also,« sagte mein Herr, »daß die Hauyhnhnms doch die Herren des Landes sind, da sie von Yähus bedient werden, wogegen wir hierzulande freilich sehr protestieren würden.« »Bitte um Entschuldigung, Euer Gnaden,« erwiderte ich, »die Yähudiener handeln nur im Auftrage und auf Befehl ihrer Yähuherren, aber ich fürchte Euer Gnaden im höchsten Grade zu
mißfallen, wenn ich weiter in meinem Bericht fortfahre und über die Stellung erzähle, die bei uns die Hauyhnhnms einnehmen.« Da aber mein Herr befahl, ich solle nur erzählen, er würde mir nichts übelnehmen, so fuhr ich fort: »Die Hauyhnhnms, die wir bei uns zu Lande Pferde nennen, sind wegen ihrer Schönheit, Körperkraft und Schnelligkeit sehr geschätzt. Wenn sie Eigentum vornehmer Personen sind, so werden sie zum Reiten, Wettrennen und Wagenziehen gebraucht und sehr gut behandelt, bis sie alt oder krank werden. Dann verkauft man sie an Yähus niederen Standes, wo ihre schwindenden Kräfte noch so lange ausgenutzt werden, bis sie sterben, worauf man ihnen die Haut, um sie zu verwerten, abzieht, den Leichnam aber den Hunden und Vögeln zum Fraß überläßt. Die Pferde von minder edler Rasse haben es aber in ihrer Jugend bei weitem nicht so gut; sie werden von Pächtern, Fuhrleuten, Bauern und anderen Leuten geringen Standes gehalten, die schwerere Arbeit verlangen, wenig und schlechteres Futter, aber destomehr Prügel geben.« In den Augen meines Herrn malten sich nach diesen wahrheitsgetreuen Auseinandersetzungen Mißmut und Zorn, aber ich ließ mich nicht dadurch beirren, fuhr fort und beschrieb ihm so gut es gehen wollte, unsere Art zu reiten, die Form und den Gebrauch des Zaumes, des Sattels, der Sporen, der Peitsche, des Geschirres und der Räder. Sodann ging ich auf die Behandlung des Hufes über und beschrieb ihm, daß wir unter ihn eiserne Sohlen zu nageln pflegten, damit sich der Huf auf den steinigen und harten Wegen, die wir auf unseren Reisen und beim Reiten meist zu passieren hätten, nicht abnutze. »Das ist denn doch zu toll,« fiel mir mein Herr ärgerlich in die Rede, »ich begreife überhaupt nicht, wie Ihr elenden Yähus es nur wagen könnt, den Rücken eines Hauyhnhnm zu besteigen, der schwächste meiner Diener würde den stärksten Yähu, der
es wagt, abwerfen oder, sich auf den Rücken legend, ihn wie Brei zerquetschen!« Ich erwiderte, Prügel und pfiffige Behandlung, die man Dressur nenne, wüßten schon bei uns von Jugend auf die Pferde so zu erziehen, daß sie von ihrer Stärke gar keinen Gebrauch zu machen wagten, eine Erläuterung, die meinem Herrn wahrlich keine willkommene war, allein er hielt gewissenhaft sein ehrliches Pferdewort und ließ es mich in keiner Weise übel empfinden, oder gar empfindlich fühlen, daß ich ihm die unangenehmsten Dinge über sein Geschlecht sagte, das er als das vollkommenste in der ganzen Natur anzusehen gewohnt war. Doch bemerkte er: Wenn es möglicherweise ein Land geben könne, wo die Yähus allein Vernunft besäßen, so sehe er nicht ein, wie sie diese mit Hilfe ihres schwächlichen und unzweckmäßig gebauten Körpers betätigen und anwenden könnten. So könnte ich meine Nägel an den Vorder- und Hinterfüßen zu nichts Rechtem gebrauchen und seien die Raubvögel in dieser Beziehung mit mir und meinen Mityähus verglichen, weit besser ausgestattet. Meine Vorderfüße verdienten nicht einmal den Namen von Füßen, denn sie seien so weich und zart, daß ich gar nicht darauf gehen könne, weshalb ich es auch wie seine einheimischen Yähus vorzöge, immer auf den Hinterfüßen zu gehen. Er könne auch nicht begreifen, wozu die vielen Abteilungen und Gelenke an meinen Vorder- und Hinterfüßen dienen sollten, es sei doch weit vernünftiger und zweckmäßiger, solch weiche und der Verletzung leicht ausgesetzte Körperteile von der Natur, wie bei den Hauyhnhnms, mit einer starken Hornhaut umhüllt zu haben. Mein ganzer Körper sei überhaupt ein elendes Machwerk, da ich ihn täglich durch lästiges Aus- und Ankleiden gegen Hitze oder Kälte zu schützen habe. Bei solcher unvollkommenen Beschaffenheit wisse er sich in der Tat nicht zu erklären, wie wir es möglich machten, andere vollkommenere und stärkere Tiere zu unserem Willen zu zwingen, doch wolle er mit mir
nicht darüber streiten, sondern ich solle nur fortfahren, ihm das Eigentümliche aus meinem und meiner Mityähus Leben, sowie von den Zuständen in Europa und in meinem Geburtslande zu erzählen. Ich gehorchte, und an meine früheren kurzen Mitteilungen anknüpfend, erzählte ich ihm nun zunächst ausführlicher meine letzten Reiseschicksale und erwähnte, daß die Matrosen, die sich gegen mich empört und mich ausgesetzt hätten, aus Gesindel aller Nationen zusammengesetzt gewesen wären. Einige hätten all ihr Vermögen im Trinken, Spielen und anderen Ausschweifungen vergeudet, andere seien wegen Mordes, Diebstahles, Raubes, Fälschung oder Meineides flüchtig geworden. Noch andere hätten ihren Fahneneid gebrochen und seien desertiert, keiner aber wage, in sein Vaterland zurückzukehren, weil er befürchten müsse, gehängt oder zeitlebens ins Gefängnis geworfen zu werden. Während dieser Mitteilung wurde ich wiederholt von meinem Herrn unterbrochen, um ihm zu erläutern, was ich unter den genannten Verbrechen eigentlich verstehe. Dazu hatte ich nun, weil in der Landessprache die Worte dafür fehlten, mancherlei Umschreibungen nötig, und als auch diese zu meinem Zwecke nicht vollkommen ausreichten, bat ich ihn, er möge nur geduldig meinen weiteren Auseinandersetzungen über europäische Yähus und Zustände folgen, dann werde ihm die Entstehung und Beschaffenheit der im Lande der Hauyhnhnms unbekannten Verbrechen schon vollkommen klar werden. Mein Herr nickte befriedigt, stützte sein Haupt auf den Vorderhuf und schickte sich an, eine längere Erzählung mit Ruhe und Geduld anzuhören. Ich gab ihm nun, so gut es gehen wollte, ein möglichst vollständiges Bild von den Zuständen in ganz Europa, die, einige Sitten, Gebräuche und Regierungsformen abgerechnet, im wesentlichen einander ganz gleich seien. Dann ging ich auf mein Vaterland
über und erzählte von dem letzten großen Krieg unter unserer Königin Anna, an dem sich alle großen Mächte der Christenheit, besonders der allerchristlichste König von Frankreich, beteiligt hätten. Ich berechnete, daß durch diesen Krieg ungefähr hundert Städte eingenommen und beschädigt und mindestens fünfhundert Schiffe zertrümmert und verbrannt seien, die Yähus aber, die das Leben durch diesen Krieg verloren hätten, zählten nach Hunderttausenden. Hier konnte es mein Herr wieder nicht unterlassen, mich entrüstet zu fragen, welche Beweggründe denn in der Regel diese scheußlichen Metzeleien und Zerstörungen hätten, die ich unter dem Namen Krieg begriffe? »Ah, Euer Gnaden,« sagte ich, »dieser Beweggründe und Ursachen gibt es unzählige. Zuweilen ruft die Habsucht und Herrschsucht der Oberyähus oder Fürsten solche Kriege hervor, weil sie meinen, sie hätten noch nicht Land und Yähus genug, die ihnen dienen und sie ernähren müssen; dann nehmen sie an Land und Leuten mit Gewalt, was nicht ihr Eigentum ist und nennen diesen Akt mit ihren Großen Eroberung; der gemeine Yähu aber nennt es Raub und wird, wenn er sich in seinen kleinen Verhältnissen dieses Verbrechens schuldig macht und zum Beispiel ein ihm nicht gehöriges Hauyhnhnm mit Gewalt an sich nimmt, gehängt. Euer Gnaden werden nun begreifen, weshalb einige meiner nichtsnutzigen Matrosen wegen Raubes nicht in ihre Heimat zurückkehren durften. – Oft verwickeln auch die Minister oder ersten Diener der Oberyähus diese in einen Krieg, indem sie dadurch das Geschrei der Untertanen über eine schlechte Regierung zu betäuben hoffen; besonders aber haben Verschiedenheit der Meinung und des Glaubens die verheerendsten Kriege angefacht und vielen Millionen das Leben gekostet. So die Frage, ob es besser sei, einen Pfahl oder ein hölzernes Bild zu küssen oder Der Verfasser meint den spanischen Erbfolgekrieg von 1701 bis 1714. Königin Anna regierte von 1702 bis 1714.
es ins Feuer zu werfen. Ferner die verschiedenen Meinungen, wie man sich am besten kleiden müsse, schwarz, weiß, rot, grün oder blau , ob der Rock lang oder kurz, eng oder weit, schmutzig oder reinlich sein solle. Je unbedeutender und gleichgültiger die Streitfragen waren, desto erbittertere und vernichtendere Kriege haben sie in der Regel hervorgerufen. Es ist ferner eine leicht zu rechtfertigende Ursache, ein Land mit Krieg zu überziehen, wenn das Volk durch Hungersnot oder Pest geschwächt, oder durch bürgerliche Parteikämpfe entzweit ist. Wenn ein Fürst seine Streitkräfte einer Nation sendet, die arm und unwissend ist, so darf er mit Recht die eine Hälfte töten und die andere zu Sklaven machen, um sie, wie man das nennt, zu zivilisieren und an eine bessere Lebensart zu gewöhnen. Auch kommt es vor, daß ein Fürst die Hilfe eines anderen nachsucht, um sich vor einem mit bewaffneter Hand in sein Land eingefallenen Feind zu retten; dann ist es ein königliches, höchst ehrenvolles und häufiges Verfahren, daß der herbeigerufene Bundesgenosse, nachdem er den Feind vertrieben, das Land für sich selbst in Besitz nimmt und den geretteten Fürsten tötet, verhaftet oder verbannt. Verbindung durch Blutsverwandtschaft oder Ehe ist eine häufige Ursache zu Kriegen zwischen Fürsten, und je näher die Verwandtschaft ist, desto größer ist auch die Neigung zum Zwist. Krieg ist unter allen Umständen eine Ehrensache, deshalb wird auch das Handwerk eines Soldaten für das allerehrenvollste gehalten. Ein Soldat ist nämlich ein Yähu, der gemietet wird, um möglichst viele Exemplare seiner Gattung, die ihn nie beleidigt haben, mit kaltem Blute zu töten. Auch gibt es bettelhafte Fürsten oder Oberyähus von Kleinstaaten in Europa, deren Macht zu klein ist, um selbst Kriege zu führen, und die deshalb ihre Truppen an reichere Nationen Der Verfasser denkt hier an die sich befehdenden Parteien im alten Byzanz. Solchen verwerflichen Menschenhandel trieben auch noch nach Swifts Zeiten mehrere kleine Fürsten im achtzehnten Jahrhundert.
verkaufen. Für den Erlös bauen sie sich dann Paläste, legen Springbrunnen an, halten sich Tänzerinnen und andere, das zivilisierte Leben angenehm machende Dinge«. Hier unterbrach mich mein Herr wieder und meinte: »Nichts kann einen besseren Beweis dafür geben, daß Ihr nichts weiter als unvernünftiges Vieh seid, als wenn sich alles so verhält, was Ihr mir vom Krieg und seinen Ursachen erzählet. Es ist bei Eurer Unvernunft nur ein glücklicher Umstand, daß Ihr infolge Eurer mangelhaften Körperbildung nicht viel Unheil anrichten könnt; denn Euer Mund ist zu klein und flach, um damit gehörig beißen, und die Nägel an Eueren Klauen sind zu kurz und weich, um gefährlich damit zerreißen zu können. Mit Euch verglichen sind schon unsere Yähus besser bewaffnet, und ein einziger von ihnen würde mit seinen scharfen Klauen ein Dutzend von den, wie Ihr sagt, Euch gleichenden, europäischen Yähus vor sich hertreiben können. Deshalb müßt Ihr etwas gesagt haben, was es nicht gibt, wenn Ihr erzähltet, daß durch die Kriege Millionen getötet würden.« Ich mußte zu dieser naiven Unwissenheit meines Herrn lächeln und beeilte mich, ihm eine Beschreibung von unseren furchtbaren Waffen und Geschützen, sowie von unseren Belagerungen, Angriffen, Minen, Bombardements und Seeschlachten zu geben, bei denen oft tausend Mann haltende Schiffe durch die Kraft des Pulvers in die Luft flögen, so daß die abgerissenen und zerschmetterten Glieder wie ein Hagelwetter niederregneten. Ferner gab ich ihm eine möglichst anschauliche Beschreibung von den Schrecken des Schlachtfeldes, dem Fluchen und Toben der Führer, dem Geheul und Gewimmer der Sterbenden und Verwundeten, von dem Rauch, dem Lärm, der Verwirrung, von Flucht, Verfolgung und Sieg; wie die Felder alsdann mit Leichen bedeckt seien als Futter für Wölfe, Hunde und Raubvögel. »Ich selbst«, fügte ich hinzu, »habe gesehen, daß bei einer Belagerung durch eine Pulvermine wenigstens hundert Feinde in die
Luft gesprengt wurden, und eine mehr als doppelte Zahl ist vor meinen Augen aus einem zerschmetterten Kriegschiff aufgeflogen und hat mit ihren herabfallenden blutigen Gliedern zum Ergötzen der Zuschauer weit und breit die ganze See rot gefärbt«. Ich wollte noch mehr ins Einzelne gehen, aber mein Herr befahl mir zu schweigen und äußerte: er fürchte, sein Ohr möge sich an die schändlichen Worte und Scheußlichkeiten gewöhnen, wenn ich davon noch weiter erzählte, es sähe allerdings alles, was ich erzählt habe, einem so nichtswürdigen Geschöpf wie einem Yähu ähnlich, dennoch glaube er kaum, daß die Yähus seines Landes die viehische Wildheit und Mordlust bis zu diesem Grade treiben könnten. Obgleich er die Yähus seines Landes verachte und verabscheue, so tadle er sie wegen ihrer Eigenschaften ebensowenig, wie er einen Gnnahyh (Raubvogel) wegen seiner Grausamkeit, oder einen scharfen Stein, weil er seinen Huf ritze, tadeln könne. Wenn aber ein Geschöpf, das, wie die europäischen Yähus, Anspruch auf Vernunft mache, dennoch Fähigkeit zu solchen Scheußlichkeiten besitze, so besorge er, die Verderbnis dieser Eigenschaften werde noch schlimmer sein, als die bloß tierische Roheit. Er sei deshalb vollkommen überzeugt, daß wir anstatt der Vernunft, nur irgend eine Eigenschaft besäßen, die sich dazu eigne, unsere natürlichen Laster zu vermehren, so wie der Widerschein einer gestörten Wasserfläche das Bild eines schlecht gebildeten Körpers nicht allein größer, sondern auch verzerrter wiedergebe. – Vom Kriege zu erzählen sollte ich also aufhören und auf andere europäische Dinge übergehen, von denen er sich freilich, nach dem, was er bisher von mir gehört, auch nicht viel Gutes vorstellen könne. Ich ging nun zunächst auf eine Beschreibung unserer berühmten Gerichtshöfe über, erzählte ihm von Zivil- und Kriminalprozessen, von dem Scharfsinn und der Zungenfertigkeit unserer Advokaten, die aus Schwarz Weiß und aus Weiß Schwarz zu machen wüßten, und eine außerordentliche Gewandtheit darin
hätten, Dinge zu erzählen, die es nicht gäbe; durch welche Künste sie viel Geld verdienten. Da stieß ich aber bei meinem Herrn auf eine große Schwierigkeit, mich verständlich zu machen, denn es wollte mir lange nicht gelingen, ihm einen auch nur annähernden Begriff von Geld und den Stoffen zu geben, woraus es gemacht wird. Als mir dies endlich doch einigermaßen gelungen war, fuhr ich fort: »Hat nun ein Yähu einen ziemlichen Vorrat von dieser glänzenden Geldsubstanz, so kann er sich dafür alles anschaffen, was er zu besitzen wünscht, wie schöne Häuser, Kleider, köstlich zubereitete Speisen und Getränke. Deshalb glauben unsere Yähus, von diesem Gelde nie genug haben zu können, und jagen ihm umso eifriger nach, je mehr sie bereits davon besitzen. Der Reiche macht vermöge dieses kostbaren Geldes den Armen zum Sklaven und genießt die Früchte seiner Arbeit. Die Zahl dieser Reichen verhält sich zu der der Armen wie eins zu tausend, und die Masse unseres Volkes wird gezwungen, jeden Tag um geringen Lohn zu arbeiten, damit wenige im Überfluß leben können.« Mein Herr begriff nicht, warum alle europäischen und englischen Yähus nicht gleichen Teil an den Erzeugnissen der Erde hätten und was ich mit den köstlich zubereiteten Speisen und Getränken sagen wolle. Hierauf beschrieb ich ihm eine Menge teurer und feiner Gerichte, die nicht anders beschafft und zubereitet werden könnten, als daß man Schiffe nach allen Weltgegenden aussende, um fremde eßbare Waren und Flüssigkeiten zum Trinken einzukaufen. Ich gab ihm die Versicherung, der ganze Erdkreis müsse umschifft werden, bevor ein vornehmer weiblicher Yähu in England ein Frühstück oder ein Geschirr dazu bekommen könne. Dann müsse ja mein Vaterland, meinte mein Herr, ein ganz elender Erdwinkel sein, da es seinen Einwohnern keine genügende Nahrung bieten könne, und es ihm sogar an Wasser mangle, so daß wir genötigt seien, uns Getränk über See zu holen.
Ich benahm ihm seinen Irrtum, indem ich ihm erklärte, daß Wasser hinlänglich da sei, daß es aber als ein Viehgetränk verachtet würde und von den Yähus erst dann genossen werde, wenn es gebrannt sei und dadurch eine betäubende, geistverwirrende und zu allerlei Torheiten führende Kraft gewinne. Auch machten wir Getränke von ähnlicher Wirkung aus Baumfrüchten und holten eine aus gewissen Beeren gewonnene, wohlschmeckende Flüssigkeit von den südlicher wohnenden Yähus. Unser Land sei keineswegs arm und unfruchtbar, aber um die Unmäßigkeit oder den Luxus unserer männlichen und die Eitelkeit unserer weiblichen Einwohner zu befriedigen, schickten wir den größeren Teil unserer Erzeugnisse in andere Länder und erhielten dafür Materialien, die Krankheiten, Laster und Torheiten herbeiführten. Aus der Unmäßigkeit, dem Luxus, der Eitelkeit, den Lastern und Torheiten ergebe sich die notwendige Folge, daß ein großer Teil unserer Yähus gezwungen werde, seinen Lebensunterhalt durch Betteln, Rauben, Stehlen, Morden, Betrügen, Lügen, Falschschwören, Verführen, Fälschen, Spielen, Schwatzen und Klatschen zu suchen. – Es kostete mich indes unendliche Mühe, einen jeden dieser Ausdrücke meinem Herrn verständlich zu machen. Auf den Beerensaft oder Wein wieder zurückkommend, erwähnte ich, daß er von uns sehr geschätzt und von unseren Dichtern besungen sei, weil er uns munter und lebhaft mache, melancholische Gedanken verscheuche und, über den Durst genossen – ein für meinen Herrn ganz unerklärlicher Umstand – ausschweifende Ideen und wunderliche Phantasien im Hirn erzeuge, bis endlich seine Wirkung uns unfähig zum Gebrauch unserer Glieder mache und in einen tiefen Schlaf versenke, aus dem wir in einem elenden, kranken Zustande zu erwachen pflegten. Alsdann erzählte ich von Leuten bei uns, die ein Geschäft daraus machten, Krankheiten zu vertreiben und sich Ärzte nennten. Diese gingen, und auch wohl nicht mit Unrecht, von
dem Grundsatz aus, daß die meisten Krankheiten aus Unmäßigkeit und Überfüllung des Magens entständen, deshalb strebten sie dahin, ihn von seinem Überfluß zu leeren, und beauftragten einen gewissen Sudelkoch, Apotheker genannt, aus Kräutern, Mineralien, Gummi, Ölen, Wurzeln, Salzen, Pflanzensäften, Seegräsern, Exkrementen, Baumrinden, Schlangen, Kröten, Fröschen, Spinnen, Fleisch und Knochen von toten Menschen, Vögeln und Fischen eine Mischung zu bilden, die für den Geschmack und Geruch so ekelhaft wie möglich gemacht werde, so daß sie der Magen sogleich mit dem äußersten Widerwillen wieder auswerfe. Als ich erwähnte, daß durch Unmäßigkeit und Laster erzeugte Krankheiten sich besonders häufig bei unseren Personen höchsten Standes und dem hohen Adel einstellten, unterbrach mich mein Herr wieder und bemerkte, das sei ihm meinetwegen sehr auffallend, da ich wegen meiner Gestalt, Farbe, Reinlichkeit und leidlich anständigen Betragens die einheimischen Yähus weit übertreffe, und deshalb selbst wohl von einer edleren oder wie ich sage adeligen Familie unter diesen Tieren abstammen müsse. Auch sei es wahrscheinlich eine Folge dieser meiner edleren Abkunft, daß ich die Fähigkeit habe zu sprechen und einige Grane von Vernunft in so hohem Maße besitze, daß ich bei allen seinen Bekannten für ein Wundertier gelte. Ich sagte meinem Herrn den verbindlichsten Dank für die gute Meinung, die er von mir hege, fügte aber hinzu, daß ich keineswegs die Ehre hätte, hochgeboren zu sein, sondern nur ein Kind niederen Standes wäre. Übrigens scheine er von unserem höheren Adel eine etwas zu vorteilhafte Meinung zu haben. Unsere jungen Lords wüchsen von Kindheit an in Faulheit und Üppigkeit auf und beschäftigten sich, je älter sie würden, destomehr mit unmäßigem Essen, Trinken, Spielen, Wetten, Hahnenkämpfen, Fuchsjagden und sonstigen Allotriis, was man Sport nenne. Ein schwacher und kranker Körper, die Folge ihrer Unmäßigkeit
und Ausschweifungen sei das untrügliche Zeichen der adeligen Geburt, und ein robuster Körperbau mit einem Gesicht von gesunder Farbe werde von diesem Stande als eine Eigenschaft von Stallknechten und Kutschern mit Verachtung angesehen. Die Seele des größten Teils dieses Adels entspreche dem kränklichen Körper, denn sie sei ein Gemisch von Laune, Eigensinn, Sinnlichkeit, Unwissenheit, Dummheit, und was das Schlimmste wäre, von Stolz, da doch kein Yähu weniger Ursache habe stolz zu sein als ein adeliger.
Fünftes Kapitel Der Herr des Verfassers vergleicht die Eigenschaften der Yähus mit denen der Europäer. Der Verfasser beobachtet Leben und Treiben der Yähus genauer. Er gibt einen Bericht über die Grundsätze und Tugenden der Hauyhnhnms, über ihre Kindererziehung und ihre Parlamente.
Lieber Leser, du wirst es vielleicht mißbilligen, daß ich eine so freimütige und scharfe Schilderung meines eigenen Geschlechtes bei einer Pferdenation gegeben habe, die schon zu sehr geneigt war, die verächtlichste Meinung vom Menschengeschlecht zu hegen, indem sie eine vollkommene Ähnlichkeit zwischen mir und den Yähus fand. Ich muß indes der Wahrheit die Ehre geben und bekennen, daß die vielen Tugenden, die ich bei diesen ausgezeichneten Vierfüßlern entdeckte, mich die Handlungen und Leidenschaften der Menschen in einem so ungünstigen Licht erblicken ließen, daß ich zu der Ansicht kam, es sei nicht der Mühe wert, die Ehre meines Geschlechtes aufrecht zu erhalten. Auch wäre mir das ja, wenn ich in meinem Bericht bei der Wahrheit blieb, bei dem Scharfsinn und der Urteilskraft meines Herrn unmöglich gewesen. Um aufrichtig zu sein, ist auch wohl deshalb meine Schilderung von Menschen und Dingen in Europa so scharf ausgefallen, weil ich, nachdem ich kaum ein Jahr im Lande gewesen, eine solche Achtung und Verehrung für seine vierfüßigen Herren empfand, daß ich fest beschloß, gar nicht wieder zu Menschen zurückzukehren, sondern fern von dieser bösartigen Rasse mein Leben in Ausübung der Tugend bei den bewunderungswürdigen
Hauyhnhnms hinzubringen. – Das Schicksal aber wollte es nicht, daß mir dies große Glück zuteil werden sollte. Als ich nun durch die vollständigsten Berichte, aus denen ich hier natürlich nur eine kurze Andeutung des Hauptinhaltes geben konnte, die Wißbegier meines Herrn vollkommen befriedigt hatte, zog er sich mehrere Tage zurück, um über das Gehörte philosophische Betrachtungen anzustellen. Dann ließ er mich eines Tages rufen, erlaubte mir, mich in einiger Entfernung von ihm niederzusetzen, und teilte mir das Ergebnis seiner Betrachtungen mit. Er sei nun vollständig überzeugt, begann er, daß ich mit meinen Mityähus in Europa eine Tiergattung bilde, der durch einen ihm nicht erklärlichen Zufall einige Gran Vernunft zugekommen seien, die aber von uns nur dazu angewandt würden, unsere Bedürfnisse zu vermehren und uns untereinander das Leben zu verbittern. Wir seien im Grunde kein anderes Geschlecht als die Yähus seines Landes, ständen ihnen aber an Körperkraft und Schnelligkeit nach, während wir an Bösartigkeit und Grausamkeit allerdings viel vor ihnen voraus hätten. Nach meiner Darstellung entsprächen die Sitten, Leidenschaften und Gewohnheiten der europäischen Yähus ganz denen der hiesigen. Die hiesigen Yähus, das sei eine durch Beobachtungen längst festgestellte Sache, haßten sich untereinander heftiger wie jede andere Tiergattung, und nach dem, was ich von den Kriegen, Grausamkeiten und Verbrechen in Europa erzählt habe, müsse bei den dortigen Yähus dieser Haß den höchsten Grad erreicht haben. Ebenso fände er die Leidenschaft der Habsucht und Ungenügsamkeit, von der ich gesprochen, auch bei dem Yähugesindel seines Landes stark ausgeprägt. »Denn wenn man«, fuhr er fort, »fünf Yähus auch so viel Futter vorwirft, daß sich fünfzig davon sättigen könnten, so gönnen sie einander doch keinen Bissen und streiten sich aufs erbittertste darum. Stirbt eine Kuh, die man den Yähus überläßt, so stürzen sie, anstatt sich friedlich und vernünftig darin zu teilen, herdenweise über das Aas her, machen
es sich einander streitig und es entsteht ein Kampf, ähnlich wie Ihr ihn mit dem Namen Schlacht bezeichnet; sie bringen sich mit Klauen und Zähnen die fürchterlichsten Wunden bei, können aber einander nur selten töten, weil ihnen die Mordinstrumente fehlen, die Ihr mit Eurer schief angewandten Vernunft erfunden habt. Auch finden solche Kämpfe manchmal ohne jede erhebliche Ursache, bloß aus Haß und Mordlust statt. Ferner finde ich darin eine überraschende Ähnlichkeit zwischen den hiesigen Yähus und Euch, daß sie wertlosen, unnützen Dingen aufs gierigste nachjagen. So findet sich hier auf verschiedenen Feldern ein gewisser gelber und glänzender Stein, den sie mit ihren Klauen aus der Erde scharren, wütend einander streitig machen und wenn es ihnen gelingt, einen Vorrat davon fortzuschaffen, ihn furchtsam und mißtrauisch in ihren Ställen verbergen. Diese merkwürdige Leidenschaft ist nichts anderes, als was Ihr in Europa mit dem Namen Geiz oder Geldgier bezeichnet. Auch kommt es nicht selten vor, daß wenn ein Streit über den Besitz eines solchen Steines unter zwei Yähus entsteht, ein dritter hinzutritt, seinen Vorteil wahrnimmt und den Stein als sein Eigentum wegnimmt.« Dies, meinte mein Herr, habe einige Ähnlichkeit mit unseren Prozessen, von denen ich mehrfach erzählt habe. Hier konnte ich es aber nicht unterlassen, zu bemerken, daß diese Entscheidung weit billiger sei, als manches bei uns gebräuchliche Verfahren, denn der Kläger und der Beklagte verliere nichts als den strittigen Stein; während unsere Gerichtshöfe einen solchen Streit nicht eher beilegten, als bis den streitenden Parteien auch von ihrer übrigen Habe nichts mehr übrig bleibe. »Überraschende Ähnlichkeit mit Euch,« belehrte mich mein Herr weiter, »zeigen auch unsere Yähus in der Leidenschaft, die Ihr Unmäßigkeit und Völlerei nennt; sie fressen von Kräutern, Beeren, Wurzeln und ekelhaftem Fleisch alles, was nur ihre Zähne bezwingen können, und schätzen solche Speisen umso höher, je ekelhafter sie sind, gleichwie Ihr mir erzählt habt, daß
manches Ekelhafte Eure Lords und Eure Reichen als eine große Delikatesse schätzen. Infolge dieser Freßgier entstehen auch Überladungen des Magens oder Krankheiten bei ihnen, die sie durch das Hineinschlingen einer gewissen Wurzel, die sie eifrig sammeln, zu vertreiben suchen. Auch noch eine andere Wurzel wird von ihnen sehr geschätzt, deren Genuß bei ihnen ungefähr die gleiche Wirkung hervorbringt, wie der von euch genannte Beerensaft, oder das durch Brennen und giftige Beimischung verdorbene Wasser. Nachdem sie eine größere oder geringere Menge dieser Wurzeln verschlungen, pflegen sie sich zu umarmen oder zu prügeln, heulen, lachen, drehen sich im Kreise und stürzen dann gewöhnlich in Pfützen und Morästen zusammen, wo sie einschlafen.« Überhaupt, meinte er ferner, sei ihm die Liebe der Yähus zu Morast und Schmutz sehr auffallend, da sich doch alle anderen Tiere der Reinlichkeit befleißigten. Die Parallelen, die mein Herr zwischen den einheimischen Yähus und dem Menschengeschlecht gezogen hatte, veranlaßten mich, meinen Widerwillen gegen diese Tiere einigermaßen zu überwinden und ihr Tun und Treiben näher zu beobachten. Mein Herr hatte gegen diese Absicht nichts einzuwenden, befahl aber dem dienenden Klepper, mich bei meinen Untersuchungen zu begleiten, und mich gegen die Tücke und Bosheiten des ekelhaften Viehes zu schützen. Auch vergaß ich zu meinem Schutz niemals meinen Degen mitzunehmen, wenn ich mich in die Nähe einer Yähuherde wagte. Oft kamen mir einzelne oder ganze Gruppen dieser widerwärtigen Geschöpfe nahe, ahmten meine Bewegungen wie die Affen nach und zeigten in ihren Gebärden die deutlichsten Spuren von verhaltenem Haß und tückischer Bosheit. Nach allem, was ich entdecken konnte, scheinen die Yähus die ungelehrigsten Tiere zu sein. Ihre Fähigkeiten entwickeln sich nie weiter hinaus, als Lasten zu ziehen und zu tragen. Ich glaube jedoch, daß dieser Mangel nur aus ihrem störrischen
Wesen entsteht. Sie sind, wie schon mehrfach erwähnt, stark und kräftig, aber zugleich feig, unverschämt, niederträchtig und grausam. Die Hauyhnhnms verwahren die zum Lastentragen und Ziehen tauglichen Yähus in Ställen, die möglichst fern von ihren Wohnungen angelegt sind. Die übrigen überläßt man auf den Feldern sich selber, wo sie Wurzeln ausgraben und Kräuter fressen, auch Äser aufsuchen und bisweilen Wiesel oder Luhimuhs – eine Art wilder Ratten – fangen und gierig verschlingen. Auch holen sie als geschickte Schwimmer ihre Nahrung aus dem Wasser, verschmähen aber die besseren Fische, sondern suchen mit Vorliebe nach Eidechsen, Schlangen, Molchen, Seespinnen und anderem ekelhaften Gewürm. Kurz, das Betragen, die Sitten, Gewohnheiten und die ganze Lebensweise dieser Scheusale sind so widerlich, daß ich gern einmal davon abbreche, um, was der geneigte Leser sicherlich schon gewünscht hat, etwas Näheres über die edlen Hauyhnhnms und ihre vorzüglichen Tugenden zu erzählen. Der Hauptgrundsatz dieser edlen und mit ausgezeichnetsten Anlagen begabten Geschöpfe besteht in der Ausbildung der Vernunft, worunter sie die Erkenntnis verstehen, daß die Tugend allein das einzig Begehrenswerte sei, was das Leben verschönern und beglücken könne. Diese geistige Eigenschaft der Vernunft ist bei ihnen aber nicht wie bei uns etwas Zweifelhaftes, so daß deren Begriff von verschiedenen Meinungen verschieden ausgefaßt wird, sondern sie ist das eigentliche Wesen ihrer Natur und das selbstverständliche Richtmaß ihres Handelns. Und da sie infolge dieses Richtmaßes nur das Edle und Gute erstreben, so kommen sie in ihrer Ansicht ganz mit der Behauptung des Sokrates überein, daß nur der Unvernünftige böse und schlecht sein könne. Aus dieser beständigen Betätigung der Vernunft bilden sich bei ihnen die Gefühle der Freundschaft und des Wohlwollens in hohem Grade aus, und diese Freundschaft und dieses Wohlwollen
erstrecken sich bei ihnen nicht auf einzelne Individuen, sondern auf das ganze Geschlecht. Anstand und Höflichkeit, die aber nie in fade Komplimente ausarten, sind wiederum eine Folge dieser edlen Gefühle, doch wird eine übertriebene Zärtlichkeit oder Affenliebe für die Füllen bei ihnen vermißt. Auch in Behandlung und Erziehung dieser ihrer Kinder lassen sie sich ausschließlich von den Vorschriften ihrer Vernunft leiten. Die sorgfältige Kindererziehung bedingt auch ein musterhaftes, eheliches Leben unter ihnen, und ist der Ehebund einmal nach den dortigen schönen und erhebenden Gebräuchen geschlossen, so kann man versichert sein, daß die Gatten bis an ihr Ende in ungestörter Eintracht und schönster Harmonie miteinander leben. Mäßigkeit, Fleiß, Körperbewegung und Reinlichkeit werden den Füllen beiderlei Geschlechts als Grundlehren tief eingeprägt. Man übt die Füllen in Entwicklung ihrer Körperkräfte durch Wettlaufen und durch das Erklimmen steiler Höhen. Sind sie dabei in Schweiß geraten, so müssen sie bis über die Ohren in einen Teich oder Fluß springen. Viermal des Jahres kommt die Jugend eines bestimmten Bezirks zusammen, um ihre Fortschritte im Laufen, Springen und anderen Fertigkeiten zu zeigen; der Sieger oder die Siegerin wird durch eine Lobrede belohnt. Auch treiben bei diesen Festen die dienenden Pferde eine Herde Yähus vor der jungen Pferdewelt zusammen, damit sie sich an deren zänkischem, schmutzigem und unvernünftigem Betragen ein abschreckendes Beispiel nehmen. Nicht lange jedoch wird die Nähe der Yähus geduldet. Sobald sie sich eine Weile gekratzt und gebissen haben, werden sie von den dienenden Pferden wieder nach ihren Ställen zurückgetrieben. Alle vier Jahre im Frühling, zur Zeit der Tag- und Nachtgleiche, versammeln sich die dazu erwählten Hauyhnhnms zu einem Parlament, in dem die gemeinsamen Landesinteressen zur Beratung kommen. Der Zustand der verschiedenen Bezirke wird untersucht, und es wird in Frage gezogen, ob sie Überfluß an
Heu, Hafer, Kühen und Yähus besitzen, oder ob sie daran Mangel leiden; stellt sich letzteres, was jedoch selten vorkommt, heraus, so wird der Mangel durch freiwillige Beiträge sofort wieder ausgeglichen. Wir werden Veranlassung haben, im folgenden Kapitel auf die Verhandlungen dieses großen Parlaments näher einzugehen.
Sechstes Kapitel Eine Debatte in der allgemeinen Versammlung der Hauyhnhnms. Wissenschaften und Künste bei dieser vierfüßigen Nation. Ihre Gebäude, Geräte und ihre Art, die Toten zu begraben. Ihre Gedanken über den Tod. Mangelhaftigkeit ihrer Sprache.
Unter den Beratungen jener großen Versammlungen, die ich im vorigen Kapitel kurz erwähnte, hebe ich eine hervor, die schon oft auf der Tagesordnung gestanden hatte und etwa drei Monate vor meiner Abreise zur Verhandlung gelangte. – Die Frage betraf nichts Geringeres, als die Vertilgung der Yähus von der Erde. – Ein Parlamentsmitglied sprach eifrig für diese Vertilgung und führte folgende wichtigen Gründe für seine Meinung an: Die Yähus seien nicht allein die schmutzigsten, zänkischsten und häßlichsten Tiere, welche die Natur jemals hervorgebracht habe, sondern sie zeigten sich auch störrisch, ungelehrig und boshaft. Im geheimen sögen sie die Milch aus den Eutern der Kühe, die den Hauyhnhnms gehörten, erwürgten und fräßen die Katzen, zerträten Hafer und Gras und begingen tausend andere Nichtswürdigkeiten. Die Yähus, wahrscheinlich durch einen bösen Geist in Morast und Schmutz erzeugt, seien eine wahre Plage des Landes und ihr Nutzen und ihre Leistungsfähigkeit wöge den Schaden, den sie anrichteten, bei weitem nicht auf. Man hätte dies ekelhafte Vieh überhaupt nicht zu Dienstleistungen heranziehen, sondern statt seiner sich lieber der Esel bedient haben sollen, die einst im Lande gezüchtet worden wären, aber deren Zucht man später ganz vernachläßigt hätte. Die Esel seien weit
ordentlichere, zahmere und lenksamere Tiere als die Yähus und hätten auch nicht einen so abscheulichen Geruch. Ihr Geschrei sei zwar etwas unangenehm, aber mit dem Geheul der Yähus verglichen, ein ganz lieblicher Schall. Nachdem noch mehrere andere sich im Sinne des Vorredners ausgesprochen hatten, erhob sich mein Herr (ich muß hier einschalten, daß mein Herr später die Güte hatte, mir einen Bericht über diese ganze wichtige Sitzung zu geben) und meinte, er glaube nicht, daß die Yähus von einem bösen Geist in Schmutz und Morast erzeugt seien, sondern, daß sie in vorgeschichtlichen Zeiten aus fernen Landen übers Meer gekommen sein mögen und an dieser Küste verwildert seien. Diese Ansicht werde bei ihm fast zur Gewißheit, wenn er den zahmen, übers Meer gekommenen Yähu beobachte, den er, wie vielen der geehrten Herren bekannt sein dürfte, als Affen in seiner Familie halte. Dieser Yähu zeichne sich vor den einheimischen durch besseres Betragen und durch einige Spuren von Vernunft aus, was seinen Grund nur in einer besseren Erziehung haben könne, die ihm zuteil geworden wäre. Er gebe deshalb zu bedenken, ob es nicht geraten sei, der Erziehung der jungen Yähus mehr Aufmerksamkeit zuzuwenden, wobei es nicht ausgeschlossen bleibe, daß man auch auf die Zucht der Esel wieder sein Augenmerk richten könne. Dies war indes alles, was mir mein Herr über die damaligen Parlamentsverhandlungen sagen wollte, denn das weitere in den Beratungen hatte sich auf mich bezogen und er fand für gut, mir dies vorläufig zu verhehlen. Später mußte ich es zu meinem Unheil doch erfahren und werde dem Leser am geeigneten Ort erzählen, welches herbe Mißgeschick mir daraus entsprang. Die Hauyhnhnms kennen keine Schrift, weshalb ihr ganzes Wissen auf Tradition beruht, doch ist ihr Gedächtnis ausgezeichnet und bis an ihr Ende ungeschwächt, so daß bemerkenswerte historische Ereignisse und wichtige Gesetze nie vergessen werden. Auch die Wissenschaft der Medizin ist bei ihnen nicht sehr
ausgebildet, aus dem einfachen Grunde, weil sie infolge ihrer mäßigen und geordneten Lebensweise fast gar keinen Krankheiten unterworfen sind; Risse und Beulen, die sie sich zuweilen auf steinigem Boden bei ihren Reisen holen, heilen sie leicht durch einige heilsame Kräuter. Ihre astronomischen Kenntnisse beschränken sich auf die Wissenschaft von den Bewegungen der Planeten und den Ursachen der Verfinsterungen von Sonne und Mond, dagegen steht unter den Künsten die Poesie bei ihnen in hoher Blüte und mögen sie darin wohl alle Sterbliche übertreffen. Ihre Verse, die sie mit der besten Deklamation vortragen, sind außerordentlich reich an treffenden schönen Bildern und haben in der Regel die poetische Verherrlichung der Begriffe der Freundschaft und des Wohlwollens zum Gegenstande, oder preisen den Ruhm der Sieger bei Wettrennen und anderen Leibesübungen. Mechanische Künste sind ziemlich vernachlässigt, weil die geringen Bedürfnisse dieser genügsamen Pferdenation sie nicht erheischen, doch sind sie sehr erfahren darin, zweckmäßige, warme und gegen jede Art von Unwetter geschützte Wohnungen zu erbauen. Ihr Land erzeugt einen Baum, der, wenn er vierzig Jahr alt ist, an der Wurzel abfault und beim ersten, besten Sturm zusammenbricht. Diese häufig vorkommenden Stämme glätten und behauen sie mit einem in diesem Lande zu solcher Verrichtung außerordentlich tauglichen Feuerstein, rammen sie zehn Fuß voneinander in die Erde, verbinden sie mit dichtem Flechtwerk, nachdem sie Öffnungen für Tür und Fenster gelassen, und bedecken dann das so hergerichtete Gebäude mit Schilf und Haferstroh. Bei diesen und ähnlichen Arbeiten bedienen sich die Hauyhnhnms des hohlen Teils ihres Vorderfußes zwischen dem Huf und dem äußerst geschmeidigen Fußgelenk mit großem Geschick. Sie wissen in dieser Weise selbst Arbeiten zu verrichten, wozu eine geübte menschliche Hand gehört, und ich habe selbst
gesehen, daß einst eine weiße Stute aus unserer Familie eine Nähnadel, die ich ihr gegeben, mit ihrem Fußgelenk einfädelte. Mit ihrem Fußgelenk verfertigen sie auch die zu ihrem Haushalt nötigen irdenen und hölzernen Gefäße, die freilich gerade keine zierliche Form haben, aber doch für ihre Bedürfnisse vollkommen genügen. Die Hauyhnhnms erreichen ein hohes Alter, wenn sie nicht durch hier indes sehr seltene Unglücksfälle umkommen. Die Toten werden in dunklen Höhlen würdig, aber ohne Prunk bestattet, wobei weder Freunde noch Verwandte Kummer zeigen. Denn der Tod hat für diese vierfüßigen Philosophen durchaus nichts Schreckliches, sie sehen ihn als eine notwendige Naturerscheinung an und finden sein Eintreten deshalb vernünftig, denn alles, was ihnen nach den Naturgesetzen notwendig erscheint, erscheint ihnen zugleich als vernünftig; somit würde es bei ihnen nur verwerflich oder albern sein, ein vernünftiges und notwendiges Naturereignis zu bejammern und zu beklagen. Die Hauyhnhnms fühlen in der Regel durch Abnahme ihrer Kräfte den Tod einige Wochen vor seinem Eintreten voraus. Dann empfangen sie Abschiedsbesuche ihrer Freunde und Verwandten und statten, wenn es ihre Kräfte noch erlauben, auch wohl noch Gegenbesuche in von Yähus getragenen Tragsesseln ab. Es wird alsdann ein feierlicher Abschied genommen, und jeder der Anwesenden gibt sich dem ernsten Gedanken hin, daß auch an ihn einst die Reihe kommen werde, dem vernünftigen und notwendigen Naturgesetz zu unterliegen. Wie ich schon bemerkt zu haben glaube, hat ihre Sprache kein Wort für den Begriff böse, nur annäherungsweise haben sie dafür einige Ausdrücke, die sie erfunden haben, um damit ihnen ganz fremde, schlechte Eigenschaften der Yähus zu bezeichnen. So bezeichnen sie die Dummheit eines Bedienten, die Unart eines Füllens, einen Stein, der ihren Fuß ritzt, lange Dauer des
schlechten Wetters und ähnliche Dinge durch Hinzufügung des Beiworts Yähu. Ich würde mich gern über die Sitten und Tugenden dieser erhabenen Nation noch weiter auslassen, behalte es mir aber für ein größeres Werk über Moral- und Pflichtenlehre vor, auf das seinerzeit der Buchhandel den geneigten Leser aufmerksam machen wird.
Siebentes Kapitel Des Verfassers glückliches Leben bei den Hauyhnhnms und sein Haushalt. Er verfertigt sich Kleider und Schuhe. Sein Geist und Gemüt bilden sich immer mehr in dem Umgange mit den edlen Vierfüßlern. Ein plötzlicher Glückswechsel läßt den Verfasser ohnmächtig zusammensinken, er findet sich dann aber männlich in sein unvermeidliches Schicksal. Er verfertigt mit Hilfe des dienenden Kleppers ein Boot und stößt auf gut Glück in See.
Ich
lebte recht behaglich unter diesen weisheitsvollen Pferden und hatte mir meinen kleinen Haushalt zur Zufriedenheit eingerichtet. Mein Herr hatte mir in der Nähe seiner Wohnung eine Hütte nach Landessitte bauen lassen, die ich mir mit Binsenmatten ganz wohnlich ausstattete. Auch hatte ich mir ein paar Stühle und einen Tisch, zu denen der Klepper mit seinem Feuerstein die gröberen Vorarbeiten gemacht hatte, verfertigt, und ging nun auch daran, meine abgerissenen Kleider durch neue zu ersetzen. Zu diesem Zweck hatte ich schon lange Zeit Kaninchenfelle gesammelt und getrocknet, die ich mit im Lande wild wachsendem Hanf zusammennähte. Aus den noch zarteren Fellen eines dort häufigen kleineren Vierfüßlers machte ich mir Strümpfe, und meine zerrissenen Schuhe ersetzte ich durch hölzerne Sohlen, die ich mit Riemen aus getrockneten Yähuhäuten befestigte. Ich war vollkommen gesund, heiteren Sinnes und mit dem wenigen, das ich mein nannte, zufrieden. Ich härmte mich nicht über die Verräterei oder die Unbeständigkeit eines Freundes, noch über die Beleidigungen eines offenen oder geheimen Feindes. Ich
brauchte keinen Schutz gegen Betrug oder Unterdrückung, noch brauchte ich mich vor Spionen zu hüten, die einem die Worte im Munde umdrehen. Es gab hier weder Ärzte, die meinen Leib, noch Juristen, die mein Vermögen ruinierten. Man wußte nichts von Räubern, Taschendieben, Spielern, launenhaften Menschen, langweiligen Schwätzern, Zänkern, Narren, Stutzern, Trunkenbolden, dummen und stolzen Pedanten, kurz, ganz und gar nichts von all dem Gesindel, das einem in der sogenannten zivilisierten Welt das Leben sauer zu machen pflegt. Oft hatte ich durch meinen gütigen Herrn die Ehre, besuchenden Hauyhnhnms vorgestellt zu werden, die sich, obwohl ich in ihren Augen nur ein elender Yähu war, herabließen, mit mir eine Unterredung anzuknüpfen, die stets etwas Belehrendes und Erhebendes für mich hatte, so daß ich eine solche Gesellschaft nie verließ, ohne einen erheblichen Gewinn für meinen Geist und mein Gemüt mitzunehmen. Dachte ich bei dieser glücklichen Lebensweise unter den von mir wahrhaft verehrten Hauyhnhnms an meine Familie, meine Freunde, meine Landsleute und an das Menschengeschlecht im allgemeinen, so betrachtete ich sie als das, was sie wirklich waren, nämlich als Yähus in Form und Wesen, obgleich etwas mehr zivilisiert und mit der Gabe der Rede versehen. Unter diesen Umständen kann es nicht befremden, daß ich nach und nach einen lebhaften Widerwillen gegen das ganze Menschengeschlecht, ja gegen mich selbst empfand, denn wenn ich zufällig einmal in einem See oder in einem Bach das Spiegelbild meiner Gestalt sah, so wandte ich voll Schauder über mich selbst mein Gesicht ab. Durch meine Bewunderung der Hauyhnhnms kam ich unwillkürlich dahin, einige ihrer Eigenschaften und Bewegungen nachzuahmen, die freilich nicht zu meiner Körperbeschaffenheit paßten, so trabte ich beim Gehen gern wie ein Pferd, setzte mich beim Schnellgehen in kurzen Galopp, wieherte anstatt zu gähnen und legte in meine Stimme den Akzent der Pferdesprache.
Gewohnheiten, die mir später, als mich das Unglück zwang, in mein Vaterland zurückzukehren, häufig Spöttereien zuzogen, woraus ich mir aber nicht das mindeste machte, sondern zur Vergeltung nur, indem ich den Spötter mitleidig und verächtlich betrachtete, leise und achselzuckend für mich das Wort »Yähu« aussprach. Schon wähnte ich, ich würde mein glückliches und zufriedenes Leben ungestört in dem schönen Lande der Hauyhnhnms beschließen und war meines Daseins recht froh, als mich eine Eröffnung meines gnädigen Herrn wie ein Donnerschlag traf und mich aus allen Himmeln warf. Er ließ mich nämlich eines Morgens sehr früh zu sich bescheiden, und eröffnete mir mit einiger Verlegenheit, daß die letzte Versammlung hinsichtlich meiner einen Beschluß gefaßt habe, dessen Ausführung er sich vernünftigerweise nicht länger mehr widersetzen könne. Ich stand nach diesen Worten wie auf Kohlen und beobachtete mit der ängstlichsten Gespanntheit das Mienenspiel meines gütigen Herrn. Er fuhr fort: Ich werde mich aus seinen Mitteilungen erinnern, daß in der letzten Versammlung auch über Sein und Nichtsein der Yähus verhandelt worden sei; bei dieser Gelegenheit sei auch mein Aufenthalt auf der Insel und mein Verkehr in seiner Familie zur Sprache gekommen, und da habe sich dann die Ansicht geltend gemacht, der er sich leider auch nicht ganz verschließen könne, daß ein weiterer Verkehr mit mir, der ich doch nur ein etwas gezähmter Yähu sei, sich für einen Hengst seines Standes nicht zieme. Zudem sei mein Aufenthalt auf der Insel überhaupt nicht wünschenswert, denn von Natur boshaft, wie alle Yähus, könne ich eines Tages mit meinen Mitgeschöpfen ins Gebirge flüchten, sie zum Aufruhr verleiten und so den Viehherden und übrigem Eigentum der Hauyhnhnms gefährlich werden. Es sei daher der unwiderrufliche Beschluß der hohen Versammlung, mich entweder in den Yähustall zu schicken und mich wie die
übrigen meines Geschlechtes zu behandeln, oder mir zu befehlen, daß ich das Land verließe und nach dem Orte zurückschwimme, woher ich gekommen sei. Mein Herr fuhr fort: Er werde nun täglich von den Hauyhnhnms der Nachbarschaft angegangen, diesen Beschluß der Versammlung auszuführen und könne dies jetzt durchaus nicht länger aufschieben. Er werde mir Materialien zu einem Fahrzeug anschaffen lassen, und dafür Sorge tragen, daß mir der dienende Klepper, mit dem ich ja in gutem Einvernehmen stehe, bei der Herstellung eines solchen Fahrzeuges fleißig zur Hand gehe. Schließlich versicherte er noch, er für seine Person würde mich ganz gerne Zeit meines Lebens in seinen Diensten behalten haben, weil er gefunden, daß ich mich von manchen schlechten Yähugewohnheiten dadurch befreit habe, daß ich mir nach meinen schwachen Kräften Mühe gegeben, den Hauyhnhnms, soweit dies meine untergeordnete Natur erlaube, in jeder Hinsicht nachzuahmen. Diese Eröffnung meines Herrn brachte mich der Verzweiflung nahe, und der Schmerz darüber überwältigte mich so sehr, daß ich ohnmächtig zu seinen Füßen niederstürzte. Als ich wieder zur Besinnung gekommen war, sagte ich unter Tränen und Schluchzen, ich maße mir zwar nicht an, den Beschluß einer so hohen, mir an Geisteskräften und Tugenden weit überlegenen Versammlung zu tadeln, allein ich hätte doch gewünscht, daß man mit weniger Härte und Strenge gegen mich verfahren sei. Wenn es mir auch gelänge, was hier mit großen Schwierigkeiten verbunden sei, ein Fahrzeug zustande zu bringen, so schauderte ich doch bei dem Gedanken, nach einer vielleicht glücklich bestandenen Fahrt, wieder zu meinen Mityähus zu kommen und durch die schlechten Beispiele ihrer Laster und Gewohnheiten wieder in die alte Verderbnis zurückzusinken. Ich wisse indes sehr wohl, daß die Beschlüsse der weisen Hauyhnhnms zu richtig begründet seien, als daß ich, ein
erbärmlicher Yähu, sie erschüttern könne. Darum sage ich ihm, da die Sache nun einmal nicht zu ändern sei, meinen demütigen Dank für das Material zu meinem Schiff und für die versprochene Hilfeleistung seines Dieners, und bäte nur, mir die erforderliche Zeit zu gestatten, um das schwierige Werk zustande zu bringen. Würde ich jemals nach England zurückkehren, so hege ich einige Hoffnung, meinem Geschlechte dadurch nützlich zu werden, daß ich den Ruhm der weisen Hauyhnhnms feiern und ihre Tugenden dem Menschengeschlecht zur Nachahmung hinstellen würde. Mein Herr gab mir eine gnädige und wohlwollende Antwort und gestattete mir einen Zeitraum von zwei Monaten zur Herstellung meines Schiffes. Zunächst ging ich nun an die Küste, um eine passende Stelle zum Bau und zum Flottmachen des Fahrzeuges aufzusuchen. Als ich bei dieser Gelegenheit eine Höhe bestieg und in das Meer hinausblickte, glaubte ich in der Ferne eine Insel zu entdecken, und fand mit Hilfe meines Taschenfernrohrs, daß ich mich nicht geirrt hatte; ich schätzte die Entfernung der Insel auf etwa fünf Stunden. Der dienende Klepper, der mich auf Geheiß seines Herrn begleitet hatte, hielt die Insel aber nur für eine ferne blaue Wolke, weil er sich keinen Begriff davon machen konnte, daß es außer seinem Lande noch ein anderes gebe. Diese Insel setzte ich mir nun als nächstes Ziel meiner Reise, sobald ich mit der Herstellung meines Fahrzeuges zustande gekommen sein würde. Ich machte mich dann mit dem Klepper sogleich ans Werk und wir suchten in dem uns angewiesenen Gehölz die passenden Materialien zum Bau zusammen. Der Klepper fällte mit Hilfe seines geschickt an einem Stiele befestigten Feuersteines mehrere junge und geschmeidige Bäume, und ich half fleißig mit meinem Messer sie zuzurichten. Da wir uns täglich an die Arbeit machten, so hatte ich nach sechs Wochen so viel passendes
Material zusammen, um ein Fahrzeug nach Art der indianischen Kanoes daraus zusammenzufügen. Als eines Bindemittels bediente ich mich starker Riemen aus Yähuhäuten und überzog auch den ganzen Bug des Schiffes mit dem zähen Leder dieser Geschöpfe. Mein Segel verfertigte ich ebenfalls aus der Haut eines solchen Tieres. Auch versah ich mich mit vier Rudern, und versorgte mich mit einem ziemlichen Vorrat gekochten Fleisches von Kaninchen und Vögeln, sowie auch mit Gefäßen voll Milch, Haferbrei und Wasser. Wie nun alles soweit imstande war, versuchte ich mein Boot und fand, daß es bis auf einige unbedeutende Ritzen ganz zweckdienlich sei. Ich verstopfte diese Ritzen glücklich mit zähem Yähutalg, und war dann imstande, den Tag meiner Abreise festzusetzen. Als dieser für mich unvergeßlich schmerzliche Tag herangekommen war, nahm ich unter vielen Tränen von meinem gütigen Herrn und seiner ganzen Familie Abschied. Die Familie beschloß, teils aus Güte, teils aus Neugier, mich abfahren zu sehen, und gab mir deshalb das Geleit zu meinem Boot, wozu sie noch mehrere Freunde der Nachbarschaft eingeladen hatte. Ich erwartete dann die mir günstige Flut, und als sie eintrat, nahm ich zum zweitenmal von meinem Herrn Abschied und machte Miene, mich vor ihm niederzuwerfen und seinen Huf zu küssen; er erwies mir jedoch die Ehre, seinen Huf sanft an meinen Mund zu erheben. Letzteren Umstand werden meine Neider und Verleumder wohl bezweifeln und nicht glauben, daß mir von einer so erlauchten Person eine solche Ehre erwiesen worden. Allein ich kann die feste Versicherung geben, daß sich die Sache so verhält, und wären meine Neider und Verleumder imstande, sich eine Vorstellung von dem edlen und wohlwollenden Wesen der Hauyhnhnms zu machen, so würden sie begreifen, daß mein erhabener Herr zu einer solchen Gunstbezeugung, einem armen Geschöpfe wie mir gegenüber, wohl fähig war.
Ich begrüßte nun noch einmal durch höfliches Schwenken des Hutes seine Gnaden und die ihm befreundeten Hauyhnhnms, bestieg mein Boot und stieß es mit kräftigem Ruderstoß in die See.
Achtes Kapitel Kühne und gefährliche Reise des Verfassers. Er gelangt nach Neuholland und wird von einem Wilden durch einen Pfeilschuß verwundet. Er wird gefangen genommen und mit Gewalt auf ein europäisches Schiff geführt. Große Menschenfreundlichkeit des Kapitäns. Der Verfasser kommt nach England zurück und verkehrt am liebsten mit seinen Pferden.
Ich trat diese unerhört kühne und gefahrdrohende Reise in meinem schwachen Boot am 15. Februar 1715 um neun Uhr morgens an. Anfangs machte ich nur von meinen Rudern Gebrauch; da ich jedoch bedachte, daß ich bald ermüden würde, und der Wind günstig war, so setzte ich mein ledernes Segel auf und kam damit und durch Hilfe der Flut ziemlich schnell vorwärts. Mein Herr und seine Freunde blieben am Ufer, so lange ich in Sicht war. Sehr fühlbar wurde mir bei meiner Fahrt der Übelstand, daß ich keinen Kompaß besaß und nicht wußte, in welcher Weltgegend ich mich befand. Ich sehnte mich freilich durchaus nicht danach, von Menschen bewohnte Länder zu entdecken, vielmehr war mir der Gedanke furchtbar, in Gesellschaft und unter die Regierung von Yähus zu geraten, und mein sehnsüchtigster Wunsch war einzig auf die Entdeckung einer Insel gerichtet, wo ich fern von den mir verhaßten Menschen ungestört leben könnte. Das von dem Lande der Hauyhnhnms aus gesehene Eiland konnte ich wegen widrigen Windes unmöglich erreichen. Hätte ich nun bei meinem wirklich sehr ausgebreiteten geographischen Wissen nur ungefähr gewußt, in welcher Weltgegend ich mich
befände, so hätte ich meinem Fahrzeug wahrscheinlich eine Richtung geben können, die mich einer der vielen unbewohnten kleinen Inseln der Südsee zuführte, allein ich mußte die Sache nun einmal nehmen wie sie war und steuerte auf gut Glück ins Blaue hinein, doch vermute ich, daß ich nach Osten hielt. Das Glück hatte mich begünstigt, denn schon abends gegen sechs Uhr, nachdem ich wohl achtzehn Seemeilen unter immer gleichstreichendem, günstigem Winde gefahren war, entdeckte ich ein kleines Eiland, das ich auch bald erreichte. Die Insel bestand nur aus einem Felsen, mit einem durch die Gewalt der Stürme natürlich gebildeten Damm. Hier legte ich mein Boot an, bestieg den Felsen, um mich umzuschauen, und erblickte in nicht allzuweiter Ferne eine ziemlich ausgedehnte Küste. Froh, wenigstens erst einmal ein bestimmtes, sicher zu erreichendes Ziel vor Augen zu haben, stieg ich getröstet in mein Boot und schlief darin sanft und erquickend bis an den lichten Morgen. Sodann setzte ich, nachdem ich ein reichliches Frühstück eingenommen, meine Reise fort und erreichte nach sechs Stunden das von mir gestern erblickte Land. Wie ich später erfuhr, befand ich mich jetzt an der südöstlichen Spitze von Neuholland. Nachdem ich in einer kleinen Bucht ans Land gestiegen war, wagte ich unbewaffnet nicht weiter zu gehen, sondern sah mich vorsichtig von einer Höhe der Küste nach allen Seiten um; zu meiner Befriedigung erblickte ich kein menschliches Wesen, so weit mein Auge reichen konnte. Drei Tage lebte ich nun an dieser Küste und nährte mich von dem Rest meiner Vorräte und von Austern, die ich ziemlich zahlreich am Ufer fand, wozu mir ein klarer Quell, der, aus einem Felsen entspringend, seine Flut fast unmittelbar ins Meer ergoß, einen willkommenen und erquikkenden Trunk bot. Als ich mich am vierten Tage in dem Glauben, es gebe wohl gar keine Menschen in diesem glücklichen Lande, etwas weiter in das Innere wagte, erblickte ich zu meinem Abscheu und
Schrecken auf einer Anhöhe in meiner Nähe etwa zwanzig schwarze Eingeborene, die um ein Feuer saßen und wahrscheinlich einen ihrer Kameraden verzehrten. Die Scheusale sehen und wieder spornstreichs zum Ufer laufen, war eins. Rasch warf ich mich in mein Boot und stieß vom Lande, allein die Wilden hatten mich erblickt, verfolgt und ehe ich mir’s versah, hatte mich einer, da ich noch nicht weit in See war, durch einen Pfeilschuß heftig am Knie verwundet. Ich fürchtete, der Pfeil könne vergiftet sein und sog daher die Wunde, nachdem ich aus der Schußweite der Wilden war, sorgfältig aus, indes erwies sich meine Befürchtung glücklicherweise als unbegründet und ich konnte, nachdem ich die Wunde verbunden, meine Fahrt bei guten Kräften und ohne großen Blutverlust fortsetzen. Einen anderen, sichereren Landungsplatz aufsuchend, entfernte ich mich nun möglichst rasch von dem Ufer, an dem ich die Wilden gesehen, und bemerkte plötzlich, kaum eine englische Meile entfernt, zu meinem größten Verdruß ein Segel. Ich wollte von dem verhaßten Yähugeschlecht, das in diesem, seiner ganzen Bauart nach, europäischen Schiffe hauste, nicht gesehen sein und nichts mit ihm zu tun haben, deshalb wandte ich rasch mein Boot und fuhr wieder meinem früheren Landungsplatz zu, indem ich es vorzog, doch lieber bei den eingeborenen Barbaren, als bei den europäischen Yähus zu wohnen. Am Lande angekommen, versteckte ich mich hinter dem Felsen, aus dem der Quell entsprang, der mich diese Tage hindurch gelabt hatte. Zu meinem Verdruß bemerkte ich, daß ein von dem sich nähernden Schiffe ausgesandtes Langboot, das wahrscheinlich Trinkwasser einnehmen sollte, gerade auf meinen Landungsplatz zuhielt, so daß ich keine Zeit fand, mein Versteck zu wechseln. Die Matrosen entdeckten mein Boot, schlossen, daß der Besitzer in der Nähe sein müsse und durchsuchten jeden Busch und jede Felsenritze. Endlich fanden sie mich, als ich, um sie nicht weiter anzusehen, mich mit dem Gesicht flach auf den Boden geworfen
hatte; sie griffen mich mit Gewalt empor und betrachteten staunend meine seltsamen Kleider und Schuhe. Ein Matrose richtete in portugiesischer Sprache die Frage an mich, wer ich sei, und da ich Portugiesisch verstand, so erwiderte ich: ich sei ein armer, von den Hauyhnhnms verbannter Yähu und bitte nur, daß man mich abreisen lasse. Die Leute wunderten sich, daß ich ihre Sprache redete, wußten sich aber nicht zu erklären, was ich mit den Hauyhnhnms und den Yähus sagen wollte, und brachen endlich in ein helles Gelächter aus, als ich, um ihnen das, was ich meinte, näher zu erklären, wie ein Pferd zu wiehern und wie ein Yähu zu grunzen anfing. Furcht, Haß und Verachtung ließen mich erzittern und erbeben, und ich bat aufs neue, daß sie sich ihres unangenehmen Geruches wegen rasch aus meiner Nähe entfernen und mich ruhig abreisen lassen möchten. Da packten mich einige der Matrosen ärgerlich an der Brust und verlangten, ich solle nun ernstlich und ohne Kinderpossen sagen, aus welchem Lande ich gekommen sei. Ich erwiderte: Ich sei ein Engländer und habe mein Vaterland vor vier Jahren verlassen, damals habe Frieden zwischen England und Portugal bestanden und ich hoffe daher, daß sie mich nicht als Feind behandeln würden. Ich hätte nicht die Absicht, ihnen irgend einen Schaden zuzufügen, sondern sei nur ein armer Yähu, der irgend ein unbewohntes Land aufsuche, um seine noch übrigen Lebenstage in Ruhe hinzubringen. Die Matrosen berieten nun miteinander und kamen überein, daß einige wieder zum Schiff zurückfahren sollten, um meinetwegen Verhaltungsbefehle vom Kapitän einzuholen. Dies geschah, und inzwischen suchten mich die zurückbleibenden Matrosen von neuem auszuforschen, denn sie waren sehr begierig, meine Geschichte und Schicksale zu erfahren. Übrigens betrugen sie sich ganz menschenfreundlich gegen mich und sagten, ihr Kapitän werde mich gewiß unentgeltlich mit nach Lissabon nehmen, von wo aus ich leicht Gelegenheit hätte, in mein Vaterland
zurückzukehren. Ich flehte auf den Knien um meine Freiheit und gab wiederholt die Versicherung, daß mir gar nichts daran liege, nach Lissabon und nach England zu kommen, allein alles war vergeblich, und als etwa nach einer Stunde die zum Kapitän abgeschickten Matrosen wieder zurückkamen, banden sie mich mit Stricken und hoben mich ins Boot, von wo ich in das Schiff und dann in die Kajüte des Kapitäns gebracht wurde. Der Kapitän, namens Pedro de Mendez, war unverkennbar ein wohlwollender und artiger Mann, allein all sein Entgegenkommen konnte meine verdrießliche Laune nicht verscheuchen, und sein und seiner Leute Geruch war mir so widerwärtig, daß ich fast einer Ohnmacht nahe war. Als mich hungerte, bat ich, man möge mir etwas aus meinem Boot zu essen geben, aber der Kapitän ließ mir ein gebratenes Huhn und eine gute Flasche Wein vorsetzen und überwies mir dann ein reinliches Bett zur Nachtruhe. Ich legte mich nieder, aber es kam kein Schlaf in meine Augen, so unglücklich fühlte ich mich in Gesellschaft dieser Yähus. Ich erhob mich halb in Verzweiflung, als ich alles im Schlafe glaubte, schlich auf Deck und hatte die Absicht, über Bord zu springen und nach meinem Boot zurückzuschwimmen, allein ein wachhabender Matrose entdeckte mich und verhinderte mein Vorhaben. Am folgenden Tag kam der Kapitän, dem mein verzweifelter Entschluß berichtet worden war, zu mir und redete mir gütig zu, ich möge ihm doch den Grund sagen, weshalb ich lieber über Bord springen, als hier auf dem Schiff bleiben wolle, ich könne versichert sein, daß er alles tun würde, um meine billigen Wünsche zu befriedigen. Don Pedro benahm sich in der Tat so liebenswürdig, daß ich wirklich einiges Zutrauen zu fassen anfing und geneigt war, ihn als ein Tier zu betrachten, das wenigstens einige Vernunft besitze. Darum fand ich mich bewogen, ihm in kurzen Worten mitzuteilen, daß ich früher auch Schiffskapitän gewesen, und von meinen meuterischen Leuten in einem unbekannten
Lande hilflos ausgesetzt worden sei. Diese Mitteilung hatte der Kapitän gläubig angehört, als ich aber nun anfing, ihm über meinen Aufenthalt und über meine merkwürdigen Erlebnisse in dem Lande der Hauyhnhnms zu erzählen, schüttelte er den Kopf und schien mich für einen ausgemachten Lügner oder für einen Verrückten zu halten. Sowie ich aber vermutete, daß er glaube, ich könne eine Unwahrheit gesagt haben, wurde ich aufs höchste entrüstet, denn abgesehen von meiner beständigen strengen Wahrheitsliebe, die ja dem geneigten Leser hinlänglich bekannt ist, war mir im Lande der tugendhaften Hauyhnhnms das Lügen so verhaßt geworden, daß mir nichts beleidigender sein konnte, als wenn mir jemand zutraute, daß ich eine Unwahrheit zu sagen vermöchte. Ich fragte deshalb den Kapitän sehr ärgerlich, ob es vielleicht in seinem Lande üblich sei, daß man etwas sage, was nicht wahr sei, und gab ihm die Versicherung, im Lande der Hauyhnhnms würde er von dem geringsten dienenden Klepper keine Unwahrheit hören und wenn er tausend Jahre darin lebe. Der Kapitän, ein unverkennbar verständiger Mann, der mich eher für einen Verrückten, als für einen Lügner halten mochte, suchte mich zu beruhigen und meinte, auf meine Grundsätze eingehend, wenn ich ein so warmer Freund der Wahrheit sei, wie ich versichere, was er nur höchst lobenswert finden könne, so möge ich ihm auf mein Ehrenwort die Versicherung geben, daß ich ihm auf dieser Reise Gesellschaft leisten wolle, ohne je wieder den Versuch zu machen, durch Überbordspringen mir das Leben zu nehmen. Ich gab ihm mein Ehrenwort und habe es natürlich auch redlich gehalten. Unsere Reise verlief ohne bemerkenswerte Vorfälle und unter den beständigen Versuchen des Kapitäns, mich an sich und seine Mannschaft besser zu gewöhnen. Es wollte das aber durchaus nicht gelingen, und ich konnte mich nicht einmal überwinden, die mir von ihm gebotenen Kleidungsstücke mit meinem Eskimoanzug zu vertauschen, denn ich mochte nichts, nichts auf
meinem Leibe tragen, was ein Yähu auf dem seinigen getragen hatte; doch ließ ich mich endlich willig finden, ein paar reine Hemden vom Kapitän anzunehmen, die frisch gewaschen, von der Sonne tüchtig durchgebleicht und von allem Yähudunst gereinigt waren. Am 5. November 1715 landeten wir in Lissabon. Der Kapitän hing mir, was ich in der Not gestattete, seinen Mantel um, damit mir wegen meiner auffallenden Kleidung der neugierige Pöbel nicht lästig falle. Gastfreundlich führte mich Don Pedro in sein eigenes Haus und wies mir auf meine Bitte ein Zimmer im oberen Stock auf der Hinterseite des Gebäudes an, wo ich hoffen konnte, ziemlich ungestört von den mir verhaßten Yähus zu wohnen. Ich beschwor den Kapitän, niemandem Mitteilungen über das zu machen, was ich ihm von den tugendhaften, aber gänzlich ungläubigen und ketzerischen Hauyhnhnms erzählt habe, weil ich sonst, wenn es sich herumspräche, daß ich mit solchen Philosophen verkehrt hätte, Gefahr liefe, von der Inquisition verhaftet und verbrannt zu werden. Der Kapitän versprach dies und überredete mich wiederum, meine Kleider zu wechseln, da ich in meinem Fellkleide gar zu abscheulich aussehe. Ich willigte endlich ein, und er gab mir aus seiner Garderobe passende Kleider, die er lange nicht auf dem Leibe gehabt, und die seit dem Antritt seiner letzten langen Seereise im Schrank gehangen hatten; gleichwohl lüftete ich sie erst vierundzwanzig Stunden, bevor ich sie anzog. Glücklicherweise hatte der Kapitän keine Frau, die mich durch ihre Gegenwart belästigt hätte, und ich sah überhaupt keinen Yähu, weil der Kapitän seinen Bedienten befohlen hatte, sich vor mir niemals sehen zu lassen. Da ich nun, um nicht zufällig auf Menschen zu blicken, mich immer hinter verschlossenen Fenstern im Zimmer hielt, so meinte der Kapitän, diese Lebensweise sei meiner Gesundheit schädlich, ich möge doch das Fenster öffnen, und, um frische Luft zu schöpfen, ab und zu hinaussehen,
auf dem Hofe befänden sich ja keine mich anwidernden Menschen. Ich sah nun zuweilen aus diesem Fenster, und war befriedigt, keinen Menschen zu erblicken; als ich aber einer baulichen Veränderung wegen in ein Zimmer nach der Vorderseite gebracht wurde und meiner Gewohnheit nach aus dem Fenster und auf die Straße sah, fuhr ich aufs höchste erschrocken wieder zurück. Nach einer Woche fühlte ich, daß sich mein Schauder vor der Menschheit etwas gelegt hatte, während Haß und Verachtung gegen sie rege in mir blieb. Auf die Vorstellung des Kapitäns, daß ich mich doch nach und nach wieder an den Anblick von Menschen gewöhnen müsse, da ich in mein Vaterland zurückkehren wolle, ließ ich mich etwa zehn Tage nach unserer Landung überreden, mit ihm einen Spaziergang durch die menschenbelebten Straßen zu machen. Ich mochte ihm das seiner Güte und Gastfreundschaft wegen nicht abschlagen, hielt mir aber wohlweislich auf diesem Spaziergang die Nase zu und nahm häufig eine derbe Prise Tabak. Folgenden Tages kam Don Pedro zu mir und machte mich auf die Pflichten aufmerksam, die ich als Familienvater habe; es würde doch unverantwortlich sein, wenn ich nicht so bald als möglich Frau und Kinder durch meine Rückkehr erfreue, wozu sich gerade eine gute Gelegenheit biete, indem ein englisches Schiff im Hafen liege, das sich dieser Tage segelfertig nach der Heimat mache; er wolle mich gern mit Geld und allem Nötigen versehen. Ich wollte mich zuerst gar nicht zu der Reise entschließen und beharrte auf meinen Wunsch, eine von Menschen unbewohnte Insel als Wohnort zu wählen, doch da mir der Kapitän einredete, daß ich eine solche schwerlich finden würde, und mir nochmals sehr warm meine Pflichten als Familienvater ans Herz legte, gab ich endlich nach. Am 24. November geleitete mich Don Pedro an Board des englischen Kauffahrers, lieh mir zwanzig Pfund und umarmte mich
zärtlich zum Abschied, was ich mit Geduld und Überwindung ertrug. Auf der ganzen Reise kümmerte ich mich weder um den Kapitän noch um die Mannschaft des englischen Schiffes, sondern hielt mich, unter dem Vorgeben, kränklich zu sein, zurückgezogen in meiner Kajüte. Am 5. Dezember 1715 warfen wir gegen neun Uhr morgens in den Dünen Anker, und um drei Uhr nachmittags betrat ich wohlbehalten mein Haus in Redriff. Meine Frau und meine Kinder, die mich längst für tot gehalten hatten, empfingen mich mit lautem Freudengeschrei, und meine Frau schloß mich in ihre Arme und gab mir einen Kuß, welche nahe und innige Berührung mir indes, bei meinem Widerwillen gegen alles, was zum Geschlecht der Yähus gehörte, eine Ohnmacht zuzog, aus der ich erst nach einer Stunde wieder erwachte. Anfangs konnte ich die Gegenwart meiner Frau und meiner Kinder gar nicht ertragen, was mir oft wirklich herzlich leid tat, allein ich konnte mir nicht helfen, ihr Geruch war mir unausstehlich, und der Gedanke, daß sie zum Yähugeschlecht gehörten, machte sie mir abscheulich. Jetzt, da ich dies niederschreibe, sind bereits fünf Jahre nach meiner Rückkehr verflossen, und mein Widerwille gegen die Menschen hat sich etwas gemildert, doch weiche ich ihnen noch immer gern aus und verkehrte mit niemandem lieber, als mit meinen Pferden. Für die erste bedeutendere Geldsumme nämlich, die ich nach meiner Rückkehr zusammenbringen konnte, kaufte ich mir ein paar Hengste edelster Rasse und ließ sie in einen Stall führen, den ich vorher mit allen Bequemlichkeiten, wie er solcher edlen Geschöpfe würdig ist, hatte ausstatten lassen. Sie sind nebst dem Stallknecht, dem der liebliche und der Gesundheit förderliche Stalldunst seinen widerlichen Yähugeruch benimmt, meine besten Freunde, und ich unterhalte mich mit ihnen, da sie sich bei ihrer natürlichen Anlage und ihrer Klugheit sehr bald in der Sprache der edelsten
ihres Geschlechts zurechtfanden, täglich stundenlang über die Torheiten und Laster der Yähus und über die Weisheit und die Tugenden der Hauyhnhnms.