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Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
Heftpreis 75 P...
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L U X
H I S T O R I S C H E
R E I H E
Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
Heftpreis 75 Pfg.
LUX HISTORISCHE REIHE bringt in fesselnder Darstellung, plastisch und farbig, Zeilbilder und Szenen aus dem großen Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Menschen, Völker, historische Schauplätze und Landschaften aus allen Zeitaltern der Vergangenheit erstehen in bunter Folge vor dem Auge des Lesers. Geschichte wird hier zur lebendigen Gegenwart. Jedes Heft gibt ein abgerundetes und in sich abgeschlossenes Bild des dargestellten Zeitraumes. Titel der ersten Hefte: Sphinx am Strom Priester und Magier Götter und Helden Die Griechen Die Perserkriege
6. 7. 8. 9. 10.
Die Tempel Athens Alexanderzug Pyrrhus — der Abenteurer Hannibal Untergang Karthagos
Titel der folgenden Nummern: Kaiser ohne Krone Das Goldene Rom Die ersten Christen Caesaren und Soldaten Germanenzüge Die Hunnenschlacht Die Mönche von Monte Cassino Der Prophet Allahs Karl der Große Heiliges Römisches Reich Kaiser und Päpste Die Kreuzfahrer Friedrich Barbarossa Die Hohenstaufen Bürger und Bauern Die Humanisten Der Schwarze Tod Die Renaissance Neues Land im Westen
Fahrendes Volk Ritter und Landsknechte Kaiser der Welt Der Große Krieg Der Sonnenkönig Ruf übers Meer Der Preußenkönig Rokoko Im Schatten der Bastille General Bonaparte Kaiser Napoleon Kongreß in Wien Eiserne Straßen Der vierte Stand Verschwörer und Rebellen Sieg der Technik Bismarck Die rote Revolution Demokratie und Diktatur
und viele weitere Hefte. LUX HISTORISCHE REIHE bringt jedes Heft mit farbigem Umschlag, Illustrationen, Geschichtskundlichen Landkarten, Anmerkungen und Zeittafel.
VERLAG SEBASTIAN L U X - MURNAU VOR MÜNCHEN
LUX
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OTTO Z I E R E R
GÖTTER UND H E L D E N AUS DER ZEIT DER F R Ü H E N WANDERVÖLKER
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN
WANDERER
DER
VORZEIT
Seit der Mittleren Steinzeit steigt in den großen Stromtälern des Nil, des Euphrat und Tigris langsam die Morgenröte früher Menschheitskulturen aus dem Dunkel der Vorgeschichte. Ackerbau und Viehzucht entwickeln sich, die grob bearbeiteten Steinwerkzeuge weichen feingeschliffenen, scharfen Klingen, die Bearbeitung von Gold, Silber, Kupfer zu Werkzeugen, Schmuck- und Gebrauchsgegenständen, Waffen und Gefäßen beginnt. Die Kunst der Töpferscheibe schafft Tongeschirr, es wird bemalt und mit eingeprägten Verzierungen geschmückt. Ziegel werden geformt, gebrannt, farbig glasiert und zu gewaltigen Bauten getürmt. Auf dem Webstuhl erzeugt die Hand der Frauen einfache und kostbare Gewebe. Der forschende Sinn der Völker verleiht dem Sein Dauer durch die Schrift und ordnet zugleich in Religion, Recht und Verwaltung die Grundlagen menschlichen Zusammenlebens in Dörfern, Städten und Staaten. Wissenschaft und Kunst deuten und gestalten das Leben des Menschen und seine Bindung an die überirdischen Mächte. Handel und Verkehr breiten zu Wasser und zu Lande ein Netz von Verbindungen über die bekannte Welt, diplomatische Beziehungen der Völker und Staaten führen Fremde und Nachbarn enger zusammen, bewaffnete Auseinandersetzungen, Eroberungszüge und Einfälle von Wandervölkern ändern die Staatsgrenzen und die Herrschaftssysteme. Während diese Völker unter einer wärmeren Sonne schon im hellen Licht einer überlieferten Geschichte leben und zum sicheren Bewußtsein ihrer selbst gelangt sind, schafft sich der Mensch des Nordens im Schweigen der noch ungestalteten Landschaft der Mischwälder und Stromtäler, der Waldgebirge und Niederungen Mitteleuropas in langem und zähem Kampf mit der Natur und der Unbill der Elemente jene Lebensformen, die sein Dasein sichern und ihm und den Seinen Dauer verbürgen. Weder Städte noch Staaten, weder Könige noch Herrscher haben ihre Namen hinterlassen, und doch sind die Völker des Nordens von weltverändernder Bedeutung gewesen. 2
Wo die Erde Mitteleuropas fruchtbar ist, haben sich in der Jungsteinzeit die wandernden Jäger und Sammler niedergelassen. Streifen dünn besiedelten Landes ziehen sich die Gebirge entlang, den Tälern folgend bis zu den Vorbergen der Alpen. Gehöfte und Dörfer stehen in den unbewaldeten Lichtungen, die sich zum Ackerbau eignen. Die Wildnis der Eichen-, Buchen- und Tannenwälder bietet Schutz vor überraschenden Überfällen und liefert noch immer Wildpflanzen und Beeren, Pilze, Wurzeln und Baumfrüchte. Aber die Beschaffung der notwendigen Nahrung ist schon unabhängig von den Zufällen des Sammlerdaseins. In den Dörfern Mitteleuropas hat der Anbau des Zwergweizens begonnen, der aus Kleinasien eingeführt worden ist. Roggen und Emmer haben Einwanderer aus dem Osten mitgebracht, sie verstehen sich auf die Anpflanzung von Mohn und Rispenhirse. Aus westlichen Gebieten stammt die sechszeilige Gerste. Die kurzen kraftvollen Halme des Dinkelweizens tragen körnerreiche Ähren, die Wind und Wetter leicht widerstehen und bei Regen nicht zu Boden geknickt werden. In den Hausgärten rings um die Höfe der Bauern stehen Petersilie, Gänsefuß, Möhre und Erbse neben schwarzem und bittersüßem Nachtschatten. Für Heilzwecke hält man sich Beete mit Eisenhut, Seifenkraut und Quicke.
* Flaumig hängt das hohe Gewölk über dem großen Voralpensee, von den blauen Bergen weht der warme Südwind und rückt die entfernten Schroffen und Wälder ganz nahe heran. Am flachen Ufer des Sees, in einer schilfigen 3
Bucht, hegt das Dorf. Die niedrigen Hütten, aus gleichmäßigen runden Stämmen gefügt, mit dichtem Schilf abgedeckt, ruhen geschützt vor Hochwasser und Wild auf hohen Pfahlrosten. Leitern führen zum sumpfigen Ufer hinab. Am nahen Seeufer liegen die Boote vertäut, die mit Feuerbrand und Steinaxt aus mächtigen Stämmen gehöhlt sind. Männer in Einbäumen staken durch das Niederwasser; hier mündet der klare Bergbach, und die Fische stehen mit Vorliebe an der Grenzscheide, wo sich das tiefere Blau des Sees mit dem hellen Grün des strömenden Wassers mischt. Die Fischer stellen Netze an der Bachmündung und längs des Schilfrandes und sehen die geflochtenen Reusen und beinernen Legangeln nach. Die Frauen werken in den kleinen Gärten und Äckern am Ufer. Sie verwenden Hacken und Grabschaufeln aus Holz oder Bein, andere drücken den Hakenpflug in die Schollen, während jüngere Söhne an den Zugseilen zerren. Dieser Pflug ist nichts weiter als ein starker, gegabelter Ast, ein Ende dient zugespitzt als Pflugschar, das andere zum Ziehen. Der Fuß der Pflügenden drückt das Werkzeug in die Erde, um den Boden aufzulockern. Manchmal, bei einer kurzen Rast, geht der Blick der Arbeitenden über die Wiese, die sich von den Äckern zum dunklen Walde hinaufzieht. Nur ein paar kümmerliche Apfel- und Pflaumenbäume gedeihen hier. Aus den Hütten am Sumpfufer tönt gleichmäßiges Geklapper und Gesang. Die Frauen reiben mit den Mahlsteinen oder den kleinen Handmühlen in gleichmäßigem Takt das Korn zu Mehl. Im Schatten der Hütten sind Weiber und Kinder an einem mächtigen Webstuhl beschäftigt, der wie eine bunte Wand zwischen zwei gegabelten Stämmen steht. Früher haben sich die Dörfler mit dem starren Lindenbast abgemüht; auch Rohr, Seegras und zerschnittene Tierfelle mußten das Material zur Flechtarbeit der Vorfahren liefern. Das ist aber anders geworden, seit der Anbau des Flachses aufgekommen ist. Nun verstehen die Frauen nicht nur Stricke und Netze zu fertigen, sondern auch feine Leinwandgespinste zu weben. Von dem Nachbardorf, das drüben an der Uferbiegung liegt, nähert sich ein Boot. Die Kinder haben es schon entdeckt und spähen ihm erwartungsvoll entgegen. Ab und 4
zu verschwindet es hinter einem Röhrichtfeld, Wasservögel fliegen auf und fallen weiter draußen im See wieder ein. Das Boot biegt aus der Bucht heraus, man sieht es ganz deutlich, es ist etwa drei Speerlängen lang, ein plumper, aus einem einzigen Stamme gearbeiteter Kahn. Ein großer Mann steht aufrecht darin und handhabt die Ruderstange. Mit kraftvollen Stößen treibt er das Fahrzeug voran, es gleitet auf das Dorf zu und legt sich neben die Festmachepfähle. Der Besucher springt an Land, klettert die Leiter zu den Hütten empor, neugierig umringen ihn die Frauen und Kinder. Er bringt böse Kunde für die Nachbarn. Die Gegend ist unsicher geworden. Seit Wochen weiß man, daß eine fremde Horde durch die Wälder wandert. Man hat die Männer beobachtet, wie sie am Seeufer Fischreusen, die von den Pfahlbauern gelegt sind, ausgeplündert haben. Auch zeigen die aufgefundenen Spuren, daß die Fremden in den Wäldern unter dem heimischen Wildbestand räubern. Immer stehen die blauen Rauchfahnen der Lagerfeuer über den Baumkronen. Als die Fischer zurückkehren, wird Rat gehalten. Woher kommen die Eindringlinge? Sind sie aus ihren Wohnsitzen vertrieben, oder ist es junge Mannschaft, der die ferne Heimat zu eng geworden ist? Hat der ewig fruchtbare Wald ihre Äcker erdrückt oder ist es nur arbeitsscheues Gesindel, das sich leichten Raub erhofft? Vielleicht werden sie eines Nachts über die Dörfer am See herfallen, die Männer töten und die Weiber mit aller Habe in Besitz nehmen. Man wird der drohenden Gefahr durch gemeinsame Anstrengung zuvorkommen. Am nächsten Morgen sammeln sich die Männer am Waldrand. Sie sind gut bewaffnet und führen Steinklingen, die in Hirschhorn eingelassen sind, Streithämmer, Äxte, Beindolche, Pfeile und Bogen. Einzelne tragen auch schwere, mit Wisentfell überzogene Holzschilde. Die Männer der beiden Dörfer wählen einen gemeinsamen Anführer, dann brechen sie auf. Vorsichtig pirschen sie durch den Buschwald zum toten Wasser; ein dünner Rauchschleier steigt vom Ufer auf. Es gelingt ihnen, die fremde Sippe bei der Mahlzeit zu überraschen. Für kurze Zeit wogt die Wildnis von dem Lärm des Kampfes. Die scharfgeschliffenen Steinäxte 5
Verborgen bleibt den Augen späterer Zeiten, was in den Jahrtausenden nordischer Frühentwicklung geschah. Nur die wenigen Spuren, die in Gräbern, im Moorboden oder unter konservierenden Sandschichten erhalten geblieben sind, Dinge, die kunstfertige Hände vor vielen Jahrhunderten geschaffen und die durch eine Kette von Zufällen bewahrt wurden, sprechen von der Geschichte dieser versunkenen Zeit. Da gibt es im Uferfels der schwedischen Küste Zeichnungen, die Seeschlachten ganzer Flotten darstellen; in später verlandeten Buchten Norwegens wurden Reste von Schiffen freigelegt, die mit so viel Geschick gebaut waren, daß sie auch bei Sturm über die grauen Wogen fahren konnten; Gräber wurden erschlossen, aus deren steinernen Kammern wunderbar geschliffene und geformte Waffen, ornamentierte Tongefäße, bemalte Schalen und Eeste gewebten Tuches ans Licht kamen, sichere Zeichen dafür, wie der Menschengeist aus der Nacht der Vorzeit ins Licht der Morgenröte emporstrebte. Aber sie bezeugen nur stumm den Kampf und Aufstieg einer Menschheit, die mit all ihren Gedanken, Gefühlen und Sehnsüchten, in Liebe, Leid und Größe ohne Überlieferung dahinsank, Wegbereiter einer beredteren Generation, von deren Leben, Handeln und Sterben uns umfassendere Kunde ward. Wieder gehen Jahrhunderte einer steten, von Dunkel und Schweigen verhüllten Entwicklung dahin. Die Bauern am See haben ihr Dorf auf mehr als den doppelten Umfang vergrößert und stattlicher ausgebaut, es ist zum Marktplatz der weiten Umgebung geworden. Auf den entfernten Hügeln des Voralpenlandes stehen, von mehrfachen Wällen und Palisaden umgeben, die Straßenzeilen neuer Siedlungen. Aus den früheren Jägerpfaden sind Trampelwege und Straßen geworden, die sich meilenweit durch Wälder und Buschgebiete ziehen. Und über allem spannt sich der blaue Himmel, die Waldberge stehen wie dunkle Wolken über der Landschaft, und der graugrüne See spiegelt das Licht der Sommersonne und den Schimmer des Mondes. In den Siedlungen geht seit einiger Zeit ein seltsames, kaum glaubhaftes Gerücht von einem neuen Stoff um, der geeignet sein soll, den schönen, geschliffenen Stein der Werkzeuge nicht nur zu ersetzen, sondern weit zu übertreffen. Irgendwo im Westen, wohin die Händler aus dem Süden häufiger kommen, sind nach der von Dorf zu Dorf 8
getragenen Kunde diese neuen Geräte bereits in Gebrauch, Messer, Äxte, Armreifen und Schmuckgegenstände. Das ist erregende und wichtige Botschaft, und sie wird immer wieder besprochen. Ein neues Material, das die Formbarkeit des köstlichen Goldes und Silbers mit der Härte und Wohlfeilheit des Feuersteins vereint — das wäre ein Umsturz alles Bisherigen, und darum gibt es viele, die an der Wahrheit des Geredes zweifeln. Freilich, der Stein ist hart und spröde und hemmt seit Urvätertagen den Fortschritt der Menschen. Ein bearbeitungsfähiger Stoff würde ungeahnte Möglichkeiten für die Zukunft eröffnen. Während das Geraune von dem neuen, glänzenden Werkstoff durch die Welt der Bauern und Viehzüchter im Norden der Alpen läuft, zieht auf gebirgigen Saumpfaden ein Händler der Siedlung am See zu. Er kommt weit aus dem Westen. Seine Ware übernimmt er an einem Anlegeplatz der Schiffer am Südmeer 3 und folgt auf weitgreifendem Weg dem Lauf der großen Ströme, bis er am Alpenrand entlang zu den Siedlungen gelangt. Sein kleiner Trupp besteht aus einigen Karren mit zwei klobigen, aus mehreren Teilen zusammengesetzten Rädern und einem Speichenkreuz. Vor jeden Wagen sind Rinder gespannt. Knechte in Leinenkitteln gehen neben den Wagen. Es dämmert zwischen den Bäumen, die Sonne sinkt wie ein roter Ball auf den Saum der Wipfel. Da befiehlt der Händler zu halten; er hat eine abseits gelegene Lichtung entdeckt, die zu seinem Vorhaben geeignet scheint. Die Last der Warenfracht ist zu kostbar, als daß sie weiter den Gefahren der Wildnis ausgesetzt werden dürfte; man wird also — nach dem Brauch der Händler —• die Masse der mitgeführten Vorräte sorgfältig vergraben, um mit erleichterten Achsen vom Lagerplatz aus sternförmig die umliegende Landschaft zu versorgen. Vorsichtig durchstreifen die Fremden die nähere Umgebung, um nach ungerufenen Lauschern zu sehen, dann beginnen sie das Ausheben der Grube. „Handelsmann zu sein ist ein hartes Brot!" klagt der Händler, „wie viele sind in die nördlichen Wälder gezogen und nicht wiedergekehrt! An den Saumpfaden mag mancher Schatz vergraben hegen, dessen Besitzer irgendwo erschlagen m o d e r t . . . " 2(3)
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Bei allen Göttern!" meint einer der Knechte, „das •wäre ein Geschäft! Man müßte diese Verstecke finden!" Suche sie!" spottet der Händler und weist in die Unendlichkeit der Wälder, Hügel und Fluren. Dann faßt ihn wieder der Jammer seines ruhelosen Daseins. „Wir Wanderkaufleute sind doch die bedauernswertesten Schelme, die es gibt! Monatelang karren wir durch unwegsame Wildnis, immer in Gefahr, beraubt zu werden, auf die Gunst grober Bauern und Viehzüchter angewiesen und von fremden Händlern belauert. Was wissen jene gesalbten Herren aus dem Osten, die uns die teure Ware an die Küste liefern, von unserer Plage? Das ist freilich einfacher, von Kreta, Tyrus oder Etrurien aus sich am Strand entlang rudern zu lassen! Ich kenne doch die Kniffe dieser Leute; die meisten fahren immer dieselbe Strecke zwischen zwei Häfen, laden ab, verkaufen mit Gewinn und kehren zurück, während vom Endhafen aus ein anderer Schiffer weiterfährt. So geht das vom Südmeer zum Ozean, von der Kupferküste 4, zur Zinninsel 5 und ins Bernsteinland 6 , von Ankerplatz zu Ankerplatz, und jedesmal wird die Ware teurer, bis am Ende der langen Kette der arme Wanderkaufmann zusehen muß, wie er sie mühselig losschlägt!" „Nun, Herr", meint der andere, „ich glaube, daß du diesmal gewiß zufrieden sein wirst. In dieser abgelegenen Gegend, in der wir von früheren Beisen her bekannt sind, sind wir bestimmt die ersten, die mit dem neuen Metall auf dem Markt erscheinen, wir können die Preise bestimmen." „Mag sein, mag sein, aber wie lange wird das Geschäft blühen? Hörte ich doch von einem Händler, daß nun auch am Mittellauf des großen Stromes 7 Metall geschmolzen wird. Es wird nicht lange dauern, und die andern verderben uns das ganze Geschäft." Schweigend arbeiten sie weiter, schaufeln Erde über die Versteckgrube, stampfen sie fest und breiten Grassoden über die Decksteine. Am nächsten Tage erreicht der Händler das umwallte Dorf, das auf den Hügeln über dem See liegt. Von hier aus geht der Blick schon bis zur Pfahlbauernsiedlung, die wie ein Geflecht aus Schatten im Nebel des Seeufers steht. „Der Händler ist da!" schreien die Jungen durch die Dorfstraße und rennen zum gatterartigen Tor im Wall. 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.03.04 08:22:30 +01'00'
In den niederen, schilfgedeckten Holzhütten verlassen die Weiber die Webstühle, auf denen wunderschöne Flächen- und Streifenmuster aus Leinen oder Wolle aufgespannt sind, sie raffen rasch einen der weiten Umhänge um die losen Kittel, legen ihre Schmuckreifen an und laufen mit gebauschten Röcken auf die Dorfstraße. Das sind nicht mehr die von der Not des Augenblicks gejagten Menschen der Vorzeit. In Gold- und Silberschmuck, mit funkelnden Armreifen und verzierten Gürtelplatten kommen sie daher; die Frau des reichsten Bauern klappert sogar mit mehrfachen Reifen an den Fußknöcheln. Der Vorsteher mit seinem rundkrempigen Filzhut, im gestreiften Mantel, unter dem man die riemenverschnürten Leinenhosen sieht, folgt würdevoll dem plappernden Weibervolk; er wollte eben nach dem Pfahldorf hinübergehen, einen Nachbarn zu besuchen, hat sich aber eines anderen besonnen, als er von der Ankunft der Fremden hörte. Aus seinem mit Weidengeflecht umzäunten Gehöft treibt Bauer Chempo ein Joch Ochsen, um das schöne, trockene Wetter zum Pflügen zu nutzen. Als ihn die Nachricht vom Auftauchen des Händlers erreicht, wirft er das Leitseil einem Jungen zu und schließt sich — in seiner Arbeitskleidung, dem Lederwams, dem kurzärmeligen Hemd und der verschnürten Leinenhose — dem Trupp der Neugierigen an. Und da poltern schon, wie im Triumph eingeholt, die Karren des Kaufmanns heran. Die Räder quietschen, Staub wölkt auf, und fröhliche Zurufe begrüßen die Fremden. Der Händler biegt in das Hoftor seines alten Gastgebers, des Werkzeugmachers Irvin, ein. Irvin ist ein kunstfertiger Mann; seine Erzeugnisse sind weit im Lande begehrt. Er hat es selbst schon mit dem Handel versucht und mehr als einmal Ladungen von Rohfeuerstein, grobgearbeitete Axtrohlinge und Messersteine nach dem Norden geliefert und dafür den köstlichen Bernstein eingetauscht. Irvins Haus ist das größte und schönste des Dorfes. Als er damals baute, ging ihm fast das ganze Dorf zur Hand; mit einer Armlänge Zwischenraum sind Stämme errichtet und durch Querbalken verbunden. Die Felder zwischen den Stämmen hat man mit geflochtenen Weidenruten ausgefüllt und mit Lehm beworfen. Als Stützen des wuchtigen Schilfdaches stehen in der Längs11
richtune des Firstes drei gewaltige Stämme, deren mittlerer, die Hoclisäule des Hauses, vom Hausherrn mit schönen Schnitzereien verziert ist. Meister Irvin arbeitet auf dem überdachten Vorplatz, seine junge Frau kocht drinnen im Haus an der Feuerstelle, über der durch die Giebelöffnung eine starke Rauchfahne abzieht. Da nähert sich das Geschrei von der Dorfstraße; das Getrappel der Pferde, das Knarren der Räder wird hörbar, und nun tritt auch Irvin ans Tor, zu sehen, was es gibt. Als er den Kaufmann erkennt, schiebt er freundlich lachend die starken Riegel zurück und wirft die Torflügel auf. Der Zug rollt in den Hof. Auf dem Vorplatz, der sich allmählich mit Menschen füllt, begrüßt der Kaufmann den alten Freund. Plaudernd gehen sie dem Hause zu. Da fällt der Blick des Gastes auf eine einfache Maschine, an der Irvins Gehilfe hantiert. Der Hofherr bemerkt die Verwunderung des Fremden, er schmunzelt und erklärt die Arbeitsweise seines neuesten Hilfsmittels. Zwischen zwei kurze, starke Balken ist ein beweglicher dritter so als Hebel eingefügt, daß ein Zug am langen Ende sich mit vervielfachter Kraft auf das Ende eines Bohrers überträgt — einen spitzen Knochenstab, der in einem gerillten Feuerstein endet und sich auf der bearbeiteten Steinaxt dreht. Ein Gehilfe preßt mit dem Hebel den Bohrer auf den Stein, Irvin dreht den Knochen, indem er einen Bogen, dessen Sehnenschnur um den Stab gewickelt ist, hin und her bewegt. Manchmal gießt der Gehilfe Wasser auf die erhitzte Bohrstelle. „Ihr seid kunstreiche Leute", sagt der Händler anerkennend, „bei jedem meiner Besuche finde ich eure Geräte verbessert." „Sieh dir erst meine Steinsäge an!" lacht Irvin stolz, „tüchtigere Werkzeuge habt selbst ihr Kelten nicht." Auch hier ist in einem Gerüst von festen Balken ein beweglicher Hebelarm angebracht, an seinem Ende hängt in einem Lederknie ein schwerer Eichenklotz, dessen Kante mit Feuersteinspitzen besetzt ist. Durch Hin- und Herschwingen des Hebels wird ein daruntergelegter Stein säuberlich zersägt. Auf einer Bank daneben liegen blankpolierte Äxte und Kurzmesser aufgereiht, die fertigen Werkstücke aus Irvins Hand. 12
„Prächtige Arbeiten!" lobt der Händler. „Und doch werde ich diesmal keines der Stücke kaufen, denn ich habe bessere .. . und auch ihr werdet bessere besitzen." Er begnügt sich mit dieser Andeutung und sieht anscheinend nicht die Bestürzung im Gesicht Irvins. Der Werkzeugmacher denkt an das Gerücht, das über jenes neuartige Metall umläuft. Man sagt, es sei eine Mischung aus einem weichen Metall, „Zinn" genannt, und dem roten Kupfer. Die Südvölker 8 halten seine Mischung streng geheim. —- Was soll aus den Werkzeugmachern werden, wenn der fremdländische Stoff besser als der gute heimische Stein ist? Die Hausfrau tritt im prächtigen Goldschmuck aus der Halle; sie hat eilig Gerstenbier warm gemacht. Eine Magd stellt schön geformte Tonbecher mit Kerbschnitten, Buckeln und schnurartigen Verzierungen auf die Hausbank. Dann gießt sie ein; die Männer des Dorfes nehmen ringsum Platz. Der Händler weiß, was man von ihm erwartet, und nachdem er einen tiefen Schluck getan hat, beginnt er von den fremden Menschen und Ländern zu erzählen, die er als Kaufmann kennengelernt hat. Er erzählt von jenem großen Südmeer, das blauer als der Sommerhimmel des Nordens ist und auf dem vielrudrige Schiffe wie Wasserläufer dahinkriechen. Mit gestreiftem, schräggestelltem Segel verschwinden die großen Kähne hinter der Kimmung des Ostens, wo ferne die sagenhaften Wunderländer liegen. Denn dort im Lande des Sonnenaufgangs und Mittags prunken helle Tempel aus Stein oder Lehmziegeln, riesige Häuser aus seltenen Hölzern und wunderschönen, bunten Steinen unter rätselhaftem Himmelsbogen, der vom Licht einer verzehrenden, glutenden Sonne überflutet ist. Und wie hier im Norden die Ringwälle, so umkränzen dort Mauern, Türme und Tore die gewaltigen Plätze uralter Völker, in denen sich reiche Schätze und Wunder bergen. Knossos und Troja, Sidon und Tyrus sind die Namen solcher Städte, die wie funkelnde Steine auf dem Dunkel der Erdscheibe locken und glänzen. Vor Generationen schon sollen weit im Norden und Osten Stämme aufgebrochen sein zu jenen gepriesenen Gestaden — so erzählen sich die Bauern am Herdfeuer. Aber immer wieder sei die Bewegung der Stämme und Völkermassen nach kurzem Wandern vorübergehend zum Stillstand gekommen. Nun 13
aber hätten Heerzüge die Mittelgebirge überstiegen, und am „Großen Strom" sei es zu blutigen Kämpfen gekommen. Von diesem Völkerwandern spricht der Fremde zu den Bauern, aber selbst der Vielgereiste kann nur nacherzählen, was er von anderen in den Dörfern weit im Westen und Süden gehört hat, und das sind nur kleine Ereignisse vom Rande des großen Geschehens, das die Völker durcheinanderwirbelt. So bricht er seine Erzählung ab und läßt die Tore zu Irvins Schuppen, in dem die Warenballen lagern, öffnen. Die beiden Knechte bringen die Bündel herbei, schnüren sie auf und breiten die Herrlichkeiten vor den Dörflern aus, daß die Bauern meinen, nun leibhaftig in einem jener geschilderten Paläste von Sidon oder Tyrus zu stehen. Da sind ägyptische Glasperlen, und der Händler plaudert vom Lande ihrer Herkunft, von den volkreichen Ufern eines majestätischen Stromes, der von Palmen und goldenen Weizenäckern gesäumt, mitten durch das ausgeglühte Tafelland einer Wüste fließt. Er spricht von jenen spitzen Begräbnisbergen — den Pyramiden —, die, aus ungezählten Granitblöcken geschichtet, zum gelben Himmel der Einöde aufragen; von weißen Lilienstengeln aus Stein, die auf steinernen Knospen das schwere Gebälk der Paläste und Tempel tragen. Nun prahlt der Kaufmann mit schön polierten Stücken schwarzem britannischen Schmuckstein, er zeigt phönikischen Bernstein und bunt gefärbte Webwaren, die aus dem Osten stammen und mit Schiffen entlang den Küsten ins Keltenland verfrachtet wurden. Diese roten und blauen Tuche werden im Norden sehr geschätzt, denn man versteht hier zwar Flachs und Wolle zu kunstvollen Geweben zu verarbeiten, aber es mangelt an dauerhaften Färbstoffen. Einer der Gehilfen bringt Krüge mit Salz, doch findet er nur wenig Kauflust. Die Bauern beziehen seit einiger Zeit das Steinsalz aus den nahen Gebirgen, wo es in großen Blöcken gehauen wird. Der Lärm der Stimmen erfüllt den Hofraum, das ganze Dorf ist bei Irvin versammelt; die Fauen prüfen die Güte der Waren und verhandeln mit den Knechten. Da steigt der Kelte auf die Hausbank und hebt ruhegebietend die Arme. Einer seiner Gehilfen ist mit einem schweren verschnürten Bündel neben ihn getreten. 14
„Nun kommt das Beste, ihr Freunde!" ruft er, „das neue Metall. Ihr habt schon von dem roten Kupfer gehört, das auf einer Insel mit Namen Kypern gefunden wird. Ich aber habe ein noch brauchbareres Metall zu bieten, das die Härte mit der Weichheit, die Formbarkeit mit der Schönheit verbindet: die Bronze!" Fast feierlich greift er in das Bündel und breitet Bronzereifen, Gürtelpatten, Sicheln und Äxte auf der Bank aus. Als er einen dreieckigen, scharfgeschliffenen, aus einem Stück gegossenen Dolch mit festem Griff vorzeigt, geht ein Raunen durch die Beihen der Männer. Wer diese Waffen besitzt, wird allen anderen weit überlegen sein.
* Und wieder vergehen viele Jahrzehnte. Die schönen, vielseitig verwendbaren Geräte und Waffen haben den Alltag des Menschen leichter gemacht und so vieles Gewohnte geändert. Eine Zeitlang noch haben sich die schönen, polierten und wuchtigen Steinwerkzeuge neben den bronzenen Äxten, Dolchen, Pfeil- und Lanzenspitzen zu halten vermocht, aber dann setzte sich doch das Neue, das Formbare und Bessere durch. Auch in der Heimat Irvins ist seit jenem Tage, als der keltische Händler mit dem Wundermetall der Bronze ins Dorf gekommen ist, das Leben anders geworden. Wie Spiel erscheint es nun den Männern, ein Boot mit den neuen, scharfen Äxten zu höhlen, und nicht halb so vieler Schläge bedarf es, um einen der Biesen des nahen Urwaldes zu fällen. Den Jungen wird das dunkel glänzende Werkzeug zur selbstverständlichen Gewohnheit, und sie lächeln mitleidig, wenn einer der Alten sich noch mit dem Steinbeil müht. Auf allen Straßen ziehen nun die Händler durch das Land, Schmelzstätten entstehen, die von Ungarn und Spanien das Kupfer und von der britannischen Insel im Nordmeer das Zinn beziehen. Längst schon ist das Geheimnis um das Zusammenschmelzen und die Herstellung nicht mehr den Menschen des Südens vorbehalten. Auch Irvins Nachkommen betreiben nun eine eigene Bronzegießerei. Das Rohmaterial bringen ihnen immer noch die fremden Händler, aber die Fremden führen ihnen nicht mehr die fertigen Waren, sondern rohe, spiralförmige 15
Einge, Spangen und Sicheln im Grobzustand zu 9 . Die Gegenstände haben jeweils gleiches Maß und Gewicht und werden von allen Händlern in derselben Form und zum selben Preis geliefert. Für den örtlichen Bronzegießer sind sie der Rohstoff, aus dem er seiner Kundschaft die Ware nach Wunsch und Auftrag ausgestaltet oder sogar neugießt. Der jüngere Irvin trägt ein Schurzfell aus Ochsenleder und steht mit dem Gesellen an der lodernden Glut des Schmelzofens. Über der Flamme hängt das gebrannte Tongefäß mit dem Schmelzgut. Irvin löst aus einer verschlungenen Kette großer Bronzerohlinge drei Ringe heraus, zerschlägt sie in kleine Stücke und wirft sie in den Glutbrei. Sein Geselle macht die letzten Handgriffe an der „verlorenen Form". Man hat eine Axt aus Bienenwachs nachgeformt, mit Ton überkleidet und im Ofen hart gebrannt. Dabei floß das Wachs aus einer kleinen, freigelassenen Öffnung heraus, und die Tonform blieb übrig. Jetzt setzt der zweite Mann den Gußtrichter aus Bronze in die Öffnung ein und bohrt in den Tonmantel einige feine Luftabzugslöcher. Gerade als der Gehilfe den Schmelzeimer vom Feuer nehmen will, betritt eine Frau aus dem benachbarten Dorf den Hof und wünscht den Meister zu sprechen. Sie hat für den Besuch ihr bestes Kleid gewählt, eine glatte, hochgeschlossene Leinenjacke und einen schweren, gefältelten Rock, dessen Rüschen mehr als eine Handbreit über den Gürtel hinausragen. Das Schönste aber ist der funkelnde, golden glänzende, Bronzeschmuck aus vielfachen Armringen, der Halskette und der polierten, tellergroßen Gürtelpatte; das hochgesteckte Haar wird durch ein feines Haarnetz zusammengehalten. Umständlich bringt sie aus der geflochtenen Tasche eine der mit Bandornamenten 10 verzierten Prunkschalen hervor, wie sie häufig von den Frauen hergestellt werden. Die Tonschale ist in drei Teile zerbrochen. „Sieh dir das an, Irvin!" sagt sie, „Scherben, nichts als Scherben, und dabei war es ein wahres Prachtstück, Bildseite rechts: o b e n : Pfahlbauten der Jungstein-und Bronzezeit (meist lagen sie im sumpfigen Überflutungsgebiet der Seeufer); Fischnetz, Harpune und Angelhaken; M i t t e : Steinzeitliche Tongeräte; Hakenpflug (darüber: Hirschhornhacken zur Bodenbearbeitung; u n t e n: Webstuhl, Steinsäge und Bronzeäxte.
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das meine Mutter noch angefertigt und ausgemalt hat. Aber nun soll das ein Ende haben; man erzahlt mir, daß es auch schon Gefäße und Geschirr aus dem neuen Metall gibt? Wir sind wohlhabend, Irvin, unsere Viehherden haben sich gut vermehrt, und darum sollst du dies Stück aus schönster Bronze nachbilden!" Meister Irvin macht ein bedenkliches Gesicht. Da ist er stolz auf seine kunstreichen, gedrehten und gebogenen Gewandnadeln, die Haften und Schließen, die verzierten und gehämmerten Spangen und Hinge, und nun verlangen die Weiber immer mehr, immer Neues, Krüge und Schalen aus Bronze . . . ,Du kennst doch den umherziehenden Händler", fährt die Frau fort, „den kraushaarigen Bronzegießer, der überall die zerbrochenen Gegenstände sammelt und sie neugießt? Er sagte, in seiner Heimat gäbe es schon längst metallenes Geschirr." „Was es bei denen gibt, können wir auch!" entscheidet Meister Irvin grimmig, nimmt die Scherben der Schale und sieht sie fast feindselig an. „Du kannst beim nächsten Neumond wieder vorbeikommen, dann sollst du dein Bronzegeschirr haben." Lange probieren der Erzgießer und seine Gesellen hin und her, bis es ihnen gelingt, die rechte Methode zu finden. Sie drücken das Modell in weichem Ton ab und gewinnen dadurch einen Tonkern, der mit einer dünnen Wachsschicht überzogen wird. Dann überdecken sie diese sorgfältig ausgearbeitete Schicht ebenfalls mit Ton, verbinden inneren und äußeren Körper durch kleine, durch das Wachs gesteckte Stifte und schmelzen beim Brennen der Kohform die Wachsschicht aus. Die so entstehende Hohlform wird mit flüssiger Bronze ausgegossen. Nach dem Guß und Erkalten wird der Tonmantel zerschlagen, und die bronzene Schale tritt zutage. Aber das Ergebnis der Mühe entspricht keineswegs den Erwartungen des Meisters, die Wandstärke ist unregelmäßig, eine Stelle ist nicht vom Metall ausgefüllt, kurz, das erste Gußstück wandert wieder in den Ofen. Unermüdlich versucht Irvin die Lösung der neugestellten Aufgabe, und endlich hält er eine Schale in der Hand, deren Wandstärke von wunderbarer Gleichmäßigkeit ist, kaum dicker als ein Baumblatt. Nachdem die Unreinheiten des Gusses ausgefeilt und abgeschliffen sind, beginnt der Meister mit feinem Stift 18
zu „punzen" — die Ornamente und Bänder, die Spiralen und Schmucklinien des Modells mit zahllosen, eingetriebenen Pünktchen zu übertragen. Nun hat er einen neuen Handwerkszweig entdeckt, er wird künftig mehr Gefäße, auch Krüge und Becher aus Bronze herstellen und berühmt werden unter allen Werkleuten am See. Die Wanderbewegung, von der die Bauern am See an den langen, düsteren Winterabenden erzählt haben, ist nur ein Teil einer riesenhaften Völkerverschiebung, die sich über die Weite der Kontinente verteilt. Nicht erst seit gestern wandern die Stämme oder Völkerschaften aus ihren Heimaträumen ab; das große Geschiebe und das weitläufige Aufwogen der Nordländer kommt aus dunklen Vortagen herüber, schwillt an und ab und setzt sich immer von neuem fort. Es ist eine Welle, die sich vor Zeiten aus dem Abgrund unabsehbarer Fernen erhoben hat; man sagt, ihr Ausgangspunkt seien große Ebenen im Osten zu Füßen des Kaukasus oder am Kaspisee. Seit vielen Generationen strömt es wandernd, kämpfend und Lebensraum suchend durch die Länder. Es gibt kein klares Beginnen, kein deutliches Ziel, keine Namen der ziehenden Völker. Dunkel und Sage umhüllen die Geschichte des großen Aufbruchs. Mannigfaltig sind die Gründe, die als Anlaß dieses Völkerstromes angegeben werden. Es heißt, die Unruhe sei im Osten ausgebrochen, weil Nomadenvölker vom andern Ende der Welt in die mittelasiatischen Steppen drängten; andere meinen, das Klima habe sich jählings verschlechtert; man erzählt von aufeinanderfolgenden Mißernten und Hungersnöten und spricht vom zunehmenden Bevölkerungsüberschuß des Ostlandes, der sich den Ausbruch nach dem Westen erkämpft habe. Jahrhunderte des zähen Dahinströmens und Uberfließens vergehen. Immer wieder vollzieht sich derselbe Vorgang. Die wandernden Stämme finden gutes Ackerland, vertreiben eine schwächere Urbevölkerung oder saugen sie auf, bauen in fruchtbaren Ebenen oder Tälern ihre Dörfer und Höfe, auf denen sie manchmal Generationen lang sitzen. Dann steigen andere nachdrängende Scharen über die Berge hernieder, die sie selbst einst überquert haben, greifen an oder schieben sich in den enger werdenden Raum. Bald steht wieder die Notwendigkeit vor den kaum 19
Seßhaftgewordenen, die Karren zu bepacken, die Rosse zu schirren — aufzubrechen, andere Acker und Weiden zu ü n d ' w i e stolz waren doch die Höfe, die großen Fachwerkhäuser mit den kunstreich geschnitzten Mittelsäulen aufgeführt. Die Viehherden weideten in umzäunten Wiesen, die Felder begannen gute Frucht zu tragen — und da war alles zu Ende, der Fluß der Wanderung riß alle Dämme nieder und sog die Bauern in seinen Mahlstrom. So war es auch jenen Stämmen am „Großen Strom", der Donau, ergangen, von deren Kampf den Bauern des Voralpenlandes sagenhafte Kunde zugetragen wurde. Angestoßen von Nachdrängenden, haben sie abermals die Fahrt ins Unbekannte aufgenommen, vor ihnen stehen wälderschwarz die Höhenrücken des Balkangebirges, namenlose, wolkenverhüllte Länder liegen hinter ihnen. Über die Gebirgskämme wälzt sich der Zug, plumpe, schwerbeladene Karren mit Scheibenrädern werden von vier oder sechs Ochsen gezogen; Kranke und Frauen mit kleinen Kindern sitzen unter den Planen der Wagen. Der Weg ist holperig und uneben, an den Steigungen müssen die Karren geschoben werden. Die Männer, die sich in der Siedlung sorgfältig kleideten, machen einen verwilderten und ermüdeten Eindruck. In den Tagen der Seßhaftigkeit war man anspruchsvoll geworden. Man begann, sich in gefärbte Leinen- und Wollstoffe zu kleiden, die Vornehmen trugen Kupfer-, Silberund Goldschmuck. Damals waren die Männer rasiert oder sie trugen kurz gestutzte Barte, jetzt — auf neuerlichem Wandermarsch — hängen ihnen wilde Bartzotteln um die geröteten, wettergegerbten Gesichter. Selbst die Frauen, die ihr Haar zu flechten und in aufgesteckter Krone zu tragen pflegten, schlingen es nur mehr zu losem Knoten. Keitertrupps sprengen an den Flanken des Menschenstroms entlang. Aus der Kolonne erschallen Zurufe; man will wissen, was die Berittenen erkundet haben, denn sie kommen von Nahrungssuche zurück, die Vorräte sind knapp geworden. Nun ergeht es den Bauern der durchwanderten Gebiete nicht anders als ihnen selbst, die hereinbrechende Masse der Fremden nimmt sich das Korn aus den Scheuem, sie jagt das Wild der Wälder und plündert die Felder am Wege. Das wieder veranlaßt viele Familien der durchzogenen Landschaften, sich der Wanderung an20
zuschließen und lieber zu erobern, anstatt zu Eroberten zu werden. Auf der Paßhöhe hält der Anführer des Stammes hoch zu Boß und überblickt seinen Heerwurm. Er trägt einen Helm mit hochgestellten Adlerflügeln, einen blaugefärbten Umhang und kreuzweis verschnürte Ledersandalen. Mühsam schleppen sich die Fahrzeuge die Höhe herauf. Die Viehherden, die am Ende marschieren, begleitet von einer starken Nachhut, sind noch hinter den Wäldern verborgen, aber aufwolkender Staub und von weitem herandringendes Gebrüll verkünden ihr Nahen. Nun wendet der Vorreiter auf dem Bergsattel den Blick zum jenseitigen Land. Dort windet sich die Straße sanfter bergab und führt zwischen Höhen in ein breites fruchtbares Tal. Ganz ferne erkennt er den vorausgeschickten Trupp, der an den Ufern eines Baches das Lager absteckt; es soll keinen Streit um den besten Platz geben. Es gilt noch immer die alte, aus dörflicher Urheimat mitgebrachte Ordnung der freien Genossenschaft. Eine Schar von Männern hat sich mit ihren Familien einem besonders tapferen und tüchtigen Führer als Gefolgschaft angeschlossen. Diese Dorfhäuptlinge wiederum folgen einem Herzog, der den ganzen Stamm zusammenfaßt. Während der Anführer über seine große Gefolgschaft hinblickt, empfindet er stärker denn je die Klarheit und Einfachheit jener Ordnung, die ihn an das Volk und das Volk an ihn bindet. Sie alle träumen von reicher Beute, von Machtfülle über andere Menschen, von Herrschaft —• und sei es nur die über einen Hof und seine Knechte. Es gibt nur einen Weg, diese Träume zu verwirklichen, Waffentüchtigkeit und siegreiche Kämpfe; Niederlage bedeutet unweigerlich Untergang und Versklavung. Aus dieser einfachen Folge von Gedanken ist der Vertrag zwischen Häuptling und Gefolgschaft geschlossen worden. Der Führer hat die Pflicht, seine Mannen so zu leiten, daß Land, Schätze, Sklaven oder andere kostbare Beute in die Hände der Gefolgschaft fallen. Dafür geben sich ihm die Mannen beinahe willenund gedankenlos hin, er kann sich — besonders solange er zu siegen und zu belohnen versteht — auf die Treue seines Stammes verlassen. Der Horizont steht in Dunst gehüllt über den flachen Hügeln. Vielleicht endet dort das Gebirge, und das Land 21
senkt sich zum sagenhaften, von hundert Fabeln umkränzten Südmeer? Weiter als die Blicke fliegen die Gedanken voraus zu den weißen Küsten, den grünen Inseln und fruchtbaren Ebenen, von denen Kaufleute und Kundschafter berichtet haben. Sprachen sie nicht von ewigem Sonnenschein, von reichen Ackern und unermeßlichen Schätzen? Auch haben die Späher an den Küsten nur eine zahlenmäßig geringe und unkriegerische Bevölkerung gefunden, die mühelos zu unterwerfen wäre. Alles Kommende liegt in der Hand der waltenden Götter. Der Keiter auf der Paßhöhe drückt seinem Gaul die Fersen in die Weichen, trabt an und verschwindet zwischen den Stämmen des Waldes. Dann wälzt sich der Heerzug des wandernden Volkes über den Bergkamm. *
Mehr als ein Jahrtausend, in dem sich dieses langsame und durch lange Ruhepausen unterbrochene Vorschieben der jungen Nordvölker vollzieht, ist für den Blick einer späteren Menschheit in beinahe undurchdringliches Dunkel gehüllt. Aus den Bezirken des Zwielichts, in denen sich all jene nordischen Großereignisse abspielten, ragen nur wenige und undeutliche Denkmäler, denen zudem die Überzeugungskraft der Sprache fehlt und die erst in der Ausdeutung durch die Wissenschaft zu reden beginnen. Die Forschung versucht durch Auswertung der vorgeschichtlichen Funde die Umrisse des Bildes der Wanderung zu ertasten. Sie hat die über Kontinente verstreuten Gräber der Urzeit geöffnet, nach ihrem Charakter und ihrer Anlage verglichen und die Lageorte wie Meilensteine alter Straßen in die Karte eingezeichnet. Aus der langen Kette von „Groß-Steingräbern", die vom Atlantik nach Südrußland und zum Balkan reicht, schloß man auf den Zusammenhang von Völkern, die einst in diesen Ländern gewandert sein müssen. Die Steinäxte und die mit gleichartigen Ornamenten verzierten Tongefäße, die den vorgeschichtlichen Toten beigegeben worden waren, deuteten ebenfalls auf Zusammenhänge hin. Die vergleichende Sprachforschung kam dem Vorgeschichtler zu Hilfe, indem sie den Urworten nachspürte und 22
in die innersten Bezirke der Sprachen eindrang, gleichsam den ersten Kinderschritten des menschlichen Geistes nachfolgend. Es ergaben sich überraschende Zusammenhänge zwischen Griechisch, Lateinisch, Germanisch, Litauisch, Slawisch und dem indischen Sanskrit. In der gleich oder ähnlich lautenden Bezeichnung einzelner Pflanzen und Tiere, in geographischen Grundbegriffen und Namen erkannte die Nachwelt das Abbild einer gemeinsamen Urheimat, aus der all diese Völker einst wie verschiedene Brandungswogen ein und desselben Meeres hervorgegangen sein müssen, dessen geographische Bestimmung aber noch nicht gelungen ist. Die Tatsache, daß die einfachsten Dinge, Begriffe, Tätigkeiten und Eigenschaften in den verschiedenen Sprachen auf die gleichen Wortstämme zurückzuführen sind, weist mit großer Wahrscheinlichkeit auf ein Zusammenleben in dunkler Vorzeit hin. Dieses Vereinende und zum selben Urgrund Hinweisende wird noch verdeutlicht durch die Übereinstimmung vieler Sitten, Gebräuche, Sagen und religiöser Anschauungen. Wie aus der Nacht nur aufscheint, was sich dem Lichtkreis der Lampe nähert, so werden uns die Völker des Nordens dort am deutlichsten, wo sie in den Bannkreis der reifen Kulturen in Süden und Osten treten. Denn dies ist das Entscheidende und Fortdauernde der Zeit, daß die aufgebrochenen Menschenmassen, die namenlos aus der Dämmerung auftauchen und die eine spätere Forschung nach ihren äußersten Zweigen als Indo-Europäer bezeichnet hat, nun in die Lebensräume der älteren Völker einbrechen und dort, sich berührend, vermischend und zum Kampf mit fremder Art gezwungen, zum eigenen Wesen erwachen. Zu Beginn des zweiten vorchristlichen Jahrtausends etwa stehen die wandernden Völker an den Grenzen der alten Kulturstaaten: weit im Osten, an den Pässen des Himalaja, vor den Toren Indiens; an der Kaspischen Pforte, nur mehr durch die taurischen und iranischen Gebirge von den blühenden Städten des Zweistromlandes an Euphrat und Tigris geschieden; an den Ufern des Schwarzen Meeres; an der unteren Donau und in den Tälern des Balkangebirges, nahe am Strahlungskreis der Kulturen Kleinasiens und Kretas, allein durch das Meer von Ägypten getrennt; in den Alpentälern und vor den Pässen der 23
Pyrenäen. Freilich greifen die Stämme nicht sogleich an. Langsam und bedrohlich staut sich die Menschenflut. Dann bricht der Strom der „weißen Wilden" über die Dämme, die Grundfesten der älteren Mächte werden erschüttert und die reichen Gebiete des Südens überschwemmt. Durch die Kaspische Pforte dringen zu Beginn des 2. Jahrtausends v. Chr. fremde Völkerschaften aus den nördlichen Ebenen in die Hochländer und Ausläufer des Kaukasus ein und versuchen, von hier aus sich auszubreiten. Viele der Nordleute führen keine Götterfiguren nach menschlichem Bilde mit sich, sie beten zu unsichtbaren Himmelsmächten, deren Wirken sie in den Naturgewalten zu erkennen glauben. Die Sonne gilt ihnen als das Zeichen der obersten Gottheit, die goldene Scheibe ist Sinnbild der lebenspendenden Macht. Ein anderer Zweig dieser ,,Sonnenvölker" erreicht das „Dach der Welt", steigt über die Hochebene des Pamir und die Induspässe in die fruchtbare Landschaft der Fünf Ströme — das Pandschab — und beginnt die Eroberung Indiens, die letzte Ausläufer nordischer Wanderzüge bis zur Insel Ceylon führen wird. Stämme, die das Zweistromland angefallen haben, sind den technisch überlegenen Truppen der Kulturstädte am Tigris und Euphrat erlegen und haben sich in die iranischen Berge, die das Stromtal östlich und nördlich in weitem Halbkreis umfassen, zurückgezogen, Sie treten wieder in das unerforschte Dunkel zurück, aus dem sie gekommen waren, um erst nach langer Zeit der Vermehrung und inneren Erstarkung neuerdings und dann unwiderstehlich vorzubrechen. Noch ist die geistige Kraft der alten Mächte ungeschwächt. Sie trotzt dem Anprall der Sturmwogen und sieht die wilden Wasser zurückschäumen. Basch ermüdet die Angriffswucht der Barbaren, und für lange Zeit wird der Pulsschlag der großen Wanderung stiller. Die an die Ufer des Schwarzen Meeres vorgestoßenen Völker erinnern sich der fernen Zeit an nordischen Küsten und beginnen den Bau von Langschiffen. Fortan beunruhigen sie Meere und Häfen und stehen bald im Rufe gefürchteter Piraten. > Um die Zeit, als Babylon, Syrien und Ägypten durch eine andere, aus den Tiefen der Arabischen Wüste vor-
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dringende Wanderwelle semitischer Stämme in Aufregung gebracht werden, haben die „Sonnenvölker" im Norden jene Stärke erreicht, um einen zweiten, mächtigeren Angriff auf die Mittelmeerwelt vorzubereiten. Sie tragen die ersten Stöße des vernichtenden Sturmes gegen die alten mächtigen Städte, hinter deren Mauern sagenhafte Schätze auf den siegreichen Überwinder warten. Seeräuberflotten plündern im ägyptischen Delta, andere lauern vor den Häfen von Kreta und Tyrus und Sidon. Neue, bisher unbekannte Stämme rücken ins iranische Bergland vor, lassen sich dicht am gebirgigen Rande des Zweistromlandes nieder und stehen fortan wie drohende Wetterwolken zu Häupten Babylons und Ninives. Aus dem Gebiet zwischen Rhein und Weser wandert der indoeuropäische Volksstamm der Kelten ins Land westlich des Rheins und in die Hochebene südlich der Donau ein. Ein Teil setzt sich auf die britannischen Inseln über und unterwirft die Urbevölkerung. Auch nach Italien sickert ein Rinnsal der großen Kelten Wanderung; Stämme, die sich vom Hauptstrom abgespaltet haben, erreichen nach Überwindung der Alpen die Po-Ebene. Kelten gehen auch nach Spanien, Ungarn, Böhmen und Mähren. Der Angriff auf die Welt des Südens erfolgt an allen Fronten zugleich. Von den Bergen des Balkan steigen indogermanische Stämme in die griechische Halbinsel hernieder und verschmelzen nach und nach mit den vorgefundenen Ureinwohnern zum Volk der Griechen. Die zerklüftete griechische Halbinsel, in welche die Wanderzüge des Nordens eingetreten sind, springt zwischen dem Ägäischen und Adriatischen Meer vor. Ein Gewirr von Waldrücken, Felshöhen und schneeigen Berghäuptern füllt den Raum Mittelgriechenlands.Von dunklen, scharf eingekerbten Tälern steigt das Land bis zur Hochgebirgshöhe an. Wie ein zerstampfter und aufgewühlter Götterkampfplatz ist diese Welt. Die tausend eingerissenen Talgründe, Schluchten und Felsen, die vielfältigen Landwinkel und Gaue, durch Gebirgszüge voneinander gesondert, bestimmen die Entwicklung der Einwanderer, die sich am liebsten in kleinstem Kreise umgrenzt halten und in Gemeinden, Dorfgemarkungen und Städten unabhängig von Nachbarn und Freunden ein Leben eigener Art führen. Die Kleinstlandschaften zwischen den Hügelketten umschließen Siedlungen mit eigenem ausreichendem Ackerland. 4(3)
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Die Stadt, die „Polis", ist eine Siedlung, in der die Ackerbauern noch lange Zeit das Leben bestimmen. Die räumliche Trennung der Stadtgemeinschaften steht der politischen Einigung der Griechenstämme immer entgegen. Nur in der Religion und einem ursprünglichen Naturgefühl ist das Griechenvolk der Frühzeit zur Gemeinsamkeit der Götterverehrung verbunden. Im Einssein mit den Mächten der Erde, des Himmels und der blauen Wasser des südlichen Meeres entsteht die Sage vom Werden der Welt, von der Erschaffung der Götter und des Irdischen, wie sie der Dichter Hesiod aufgezeichnet hat: „Kündigt mir, wie die Götter zuerst und die Erde geworden, Flüsse auch und unendliches Meer mit brausenden Wellen, leuchtende Sterne, soweit dort oben die Räume des Himmels, welche der Götter daraus entsprossen, die Geber des Guten, wie sie die Macht dann schieden und jegliche Ehre verteilten und auch, wie sie zuerst des Olymps Bergtäler bewohnten. . . " „Nun als frühestes wurde von allem das C h a o s ; hieraufkam G ä a mit breiter Brust, ein dauernder Sitz für die Götter .. . " u Das Chaos, die rohe, formlose Masse, der „leere Raum", der Schlund und Urabgrund, gebar die Riesin Gäa, die Erde, aus derea Schoß dann Himmel und Meer hervorbrachen. Aus dem wirbelnden Gebrodel der Erde ersteht, so erzählt die Sage, ein erstes Geschlecht halb tierhafter Wesen. Das „verödete Meer mit brausenden Wogen" belebt sich, die Gebirge, Haine und Wälder atmen im neuen Leben. Das Zeitalter der Nymphen, Satyrn, Kyklopen und Titanen 12 nimmt seinen Anfang. Die rohen Naturkräfte, die blind waltenden Elemente, werden zu Gestalten. Berghoch und zerstörerisch schreiten titanische Ürgötter durch die Dämmerung einer erwachenden Welt. Aber da tritt ein veredeltes Geschlecht auf den Plan, berufen, die Erde aus den Händen der Titanen zu befreien. Zeus, der Sohn des obersten Titanen Kronos, ist der Herr und Gott einer künftigen, schöneren Welt. Um ihn, „den 26
donnernden Ländererschütterer, den Erzeuger der Götter" sammeln sich die milderen und erhabeneren Mächte eines neuen, gemäßigteren Zeitalters. Vereint stürzen sie das Geschlecht der rohen Urgötter hinab in die Erdklüfte, türmen Felsen und Berge auf die Brust der Riesen und erbauen sich unter beruhigtem Himmelsgewölbe die schimmernde Götterburg auf dem Rücken des hohen Olympgebirges. * Weithin rollt das blaue Meer, durch die Lüfte segeln die beflügelten Vögel, in der Flut spielen schuppige Fischleiber, und in den Wäldern zu Füßen des Olymps schallt der Lockruf der Tiere. Aber noch gibt es kein Wesen, dessen Leib würdig und fähig wäre, Gefäß des göttlichen Geistes zu sein. Durch die geordnete, friedlich den Göttern gehorchende Welt streift ruhelos Prometheus, der Sohn eines Titanen, Abkömmling des entthronten Urgöttergeschlechts. Sein Herz ist von Rachegefühlen erfüllt, und mißgünstig sinnt er auf Böses wider die Unsterblichen. In der Erde schlummert aus Urtagen die Kraft des Himmels. Und so nimmt der Ruhelose den Ton, befeuchtet ihn mit dem Wasser des Flusses und knetet ein Wesen nach dem Abbild der Götter. Um den Erdenkloß zu beleben, entlehnt er von jedem der atmenden Wesen der Wälder und Berge ein Teil und verschließt es in das Herz des neuen Geschöpfes. Nur einer einzigen Göttin zeigt er sein Werk, der himmlischen Freundin Athene, der Hüterin der Weisheit, die als göttlicher Funke aus dem Haupte des Vaters Zeus entsprungen ist. Und Athene, begeistert und hingerissen vom Gedanken, die Erde mit Ebenbildern der Gottheit erfüllt zu sehen, haucht den Erdenkloß an und verleiht ihm den Geist, das Feuer der Unsterblichen. Der Mensch ist geschaffen. Die Menschenkinder des Prometheus aber wissen nichts mit ihren vielfältigen Gaben und Möglichkeiten anzufangen, unbeholfen und verwirrt stehen sie zwischen Tieren und Göttern. Da erbarmt sich Prometheus ihrer Verlassenheit. „In Kluft und Höhle war ihr Nest ameisengleich, unaufgeschlossen lag des Denkens Hort in ihnen. 27
Ich aber tat ihn auf, ich lehrte Maß und Zeit, ließ messen der Gestirne Lauf, die Stunden merken, die zwischen Auf- und Niedergang stets gleich verfließen. Den Menschen zeigte ich den Sinn der heil'gen Zahl und schuf das Wort mit Buchstab wohlgefügt an Buchstab. Was ich gelehrt, war der Erinnerung anvertraut, der Mutter aller Menschen. Tiere bändigten zu ihrem Dienst auf mein Geheiß die Kluggewordenen. Den Menschen nahm das Tier die schwerste Arbeit ab. Des Eeiches größten Stolz, das wohlgeschirrte Pferd, führt ich ihm zu und spannt es vor den Wagen, und für des Wassers Flut erfand ich ein Gefährt, mit Segeln fährt's und fliegt wie wohlgeschirrtes Eoß . . ."13 Zuletzt öffnet der Titan seinen Geschöpfen noch die Augen für die heiligen Zauber des Lebens, für die Deutung der Vorzeichen, für Träume und Opfer und für die weise Auslegung des Vogelfluges. Nun aber kann das Werk nicht länger vor den Augen des Göttervaters Zeus verborgen bleiben. Wenn Helios auf flammender Bahn den Sonnenwagen vom Rand des Ozeans zur Höhe des Himmelsbogens und wieder abwärts zum westlichen Ozean lenkt, fällt sein strahlender Blick auf das Menschengeschlecht. Auch der göttliche Bruder des Zeus, Poseidon, der Beherrscher der Meere, sieht ein neues Geschlecht von Lebewesen auf kühnen Booten, unter flatternden Segeln über das grüne Gewölbe seines Wasserpalastes ziehen, und auch die keusche Artemis, die des Nachts auf dem Mondsichelwagen über die rauschenden Wipfel der Wälder treibt oder im Dämmerschein der Dickungen als Göttin der Jagd hinter dem scheuen Schritt des Wildes pirscht, begegnet den Spuren der Menschen. Da fordern die Olympier Rechenschaft von Prometheus; als sich aber in ihrem Rate erweist, daß viele der Unsterblichen dem klugen und nicht ehrfurchtslosen Geschlecht der Menschen gewogen sind, erkennen die Götter es an und 28
versprechen ihm künftigen Schutz. Als Dank erheischen sie Verehrung, Gebet und Opfer von den Menschen. Zu Mekone in Griechenland werden die Kechte zwischen Olympiern und Erdgeborenen festgelegt, Prometheus ist dabei der Anwalt der Menschheit. Nur eine einzige Gabe — die höchste und beste — haben die Götter den Menschen versagt, die schöpferische, lebenspendende Kraft des Feuers. Zeus duldet nicht, daß die heilige Flamme aus der Weihe der Götterburg in die Welt hinausgehe, um Eigentum der Niederen und Sterblichen zu werden. * Eines Urtages lädt Zeus wiederum die Götter und Göttinnen, die Hausleute und Freunde auf die olympische Wolkenburg, um mit ihnen zu feiern und sich ihrer Reden zu erfreuen. Aus den vier Richtungen des Alls streben die Unsterblichen heran. Mit Delphinen bespannt, zieht über die kornblumenblaue Flut des Ägäischen Meeres eine riesige Muschel, so rosenrot, als habe die Göttin der Morgenröte sie aus dem Hauch ihres Atems geschaffen. In der Muschel steht, vom goldroten Mantel des Haares umweht, die Göttin Aphrodite, die Schaumgeborene. Aus grünblauen Augensternen lächelt sie betörend zu Helios hinauf, der ihrer Fahrt mit rollendem Sonnenwagen folgt. Grollend sieht Hephaistos, der hinkende, rußige Schmiedegott, das Spiel zwischen dem Sonnengott und seiner ewig wankelmütigen Gattin Aphrodite. Der göttliche Schmied hält auf dem Rücken eines Kentauren, jenes Lebewesens mit dem Oberkörper eines Mannes und dem Leib eines Pferdes, im dichten Gebüsch des Strandes und trabt nun finster davon. Er erreicht die Höhen des Olymposgebirges, sein Blick schweift über die Welt hin, in der die Essen seiner Werkstätten rauchen, drüben in Lemnos und aus dem Schlund des Aetna auf Trinacria 14 . Rauschend taucht Poseidons schilf- und tangbekränztes Haupt aus der Flut. Er blickt zum bewaldeten Strand und sieht über sich, von windschnellen Rossen gezogen, die Segelwagen des Aeolos zur Götterburg jagen. Aus dem geheimnisvoll belebten Walde kommen die Halbgötter, die seit dem Tage des Titanensturzes dem Befehl des Olympiers gehorchen. Nymphen verlassen scheu ihre Quellen und Teiche, aus den seltsam geformten Stäm29
men der Ölbäume und Weiden huschen Dryaden, bocksfüßige Satyrn springen aus dem Schilf. Im Wasser, über dem Poseidons Dreizack blitzt, schwimmen und tauchen die Meerfrauen und Meermänner mit schlanken Fischleibern. Häute spannen sich zwischen Fingern und Zehen. Auf dumpf dröhnenden Muschelhörnern melden die Meergeister ihre Ankunft den Wächtern des Olymps. Poseidon schickt mit einem schnaubenden Kentaurenhengst Botschaft an seinen Bruder Zeus; er, der Meerbeherrscher, werde sein Element nicht verlassen und am Gastmahl der Götter nicht teilnehmen. Auch der andere Bruder des Zeus, Pluto, der Gott der Unterwelt und Herr der Schatten, weigert sich, aus dem Dämmerlicht jenseits des Totenflusses unter die Sonne der Oberwelt zu treten. Aber die übrigen Götter finden sich ein, vom Türmer Lynkeus auf dem Bergfried der Burg mit schmetternden Hornrufen begrüßt. Es kommt der strahlende Apollo mit den neun Musen, es kommt Ares, der gepanzerte, wildbärtige Kriegsgott mit rotem Boßschweif auf dem kühnen Goldhelm und als einer der letzten Hermes, der Götterbote. Am flackernden Herde, unter der Deckenöffnung des Saales der Götter, steht Hestia, die Hüterin des häuslichen Feuers. Demeter, die Göttin des Ackerbaues, spricht mit ihr von dem nie vernarbenden Schmerz um Persephone, ihre Tochter, die Pluto in sein Unterweltsreich entführt hat. Aphrodite, die Unfrieden und Betörung schaffende, liebreizende Göttin, hat ihren Zaubergürtel umgelegt und „bezwingt aller Götter und Sterblichen Herzen". „Buntgestickt dort waren des Zaubers Beize versammelt, schmachtende Liebe war dort und Sehnsucht, süßes Getändel und einschmeichelnde Bitte, die selbst den Weisen betört16." Zeus thront machtvoll und überwältigend im Hochsitz, der unter der Mittelsäule des Trinksaales, einem schönBüdseite rechts: o b e n : Zeus besiegt die Giganten; in Kreta ausgegrabene Vase; M i t t e : Goldmaske aus der peloponnesischen Stadt Mykene, dem Mittelpunkt einer von den Achäern begründeten Hochkultur (vgl. die Zeittafel); auf Kreta blühte (rd. 3000-1400 v. Chr.) die minoischeKultur (Bild: Ruinen des „MinosPalastes"); u n t e n : Kretischer Schmuck, Harfenspielerin und Priester.
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geschnitzten Baumstamm, errichtet ist. Neben ihm sitzt seine Gemahlin Hera und zur Linken die weise, kühle Pallas Athene. Ganymed, der schöne Mundschenk, geht von Sitz zu Sitz und füllt die goldenen Becher mit Nektar, dem Unsterblichkeit verleihenden Wundergetränk, er verteilt die köstliche Ambrosia, die Speise der Götter. Neben dem wärmenden Herde kauert, halb geduldet, halb gefürchtet ob seiner Arglist, Prometheus, der Sohn der gestürzten Titanen. Als sich die silberhelle Nacht über die Burg senkt und Artemis auf stillem Mondwagen heransegelt, huscht ein einsamer Gast aus der Götterhalle, er birgt unterm gerafften Mantel kostbaren Baub. Im hohlen Stengel des Schilfs hat er ein zartes Flämmchen vom Herd der Götter entwendet und es auf Zunder gebettet. Er wird es den Menschen schenken, jenem Geschlecht von Trotzigen und Sterbenden, die nach dem Willen des Schicksals berufen sind, den Sturz der Titanen einst an den Göttern zu rächen. Es ist die letzte Gabe, die ihnen fehlt, um den Unsterblichen ähnlich zu sein. Und wieder atmet die Biesenbrust Gäas in tiefer Nacht. Da gellt das Hörn des Wächters Lynkeus vom Turm. Feuerbrände rasen weit unten im Tal, glühende Ströme kriechen züngelnd die Flanken des Olymps herauf. Die heilige Flamme, von Frevlerhand geraubt, ist wild entfacht und hat sich der Ordnung der göttlichen Gewalt entrissen. Stehen die gefesselten Titanen auf? Zeus greift auffahrend zum Bündel der Wetterkeile, die ihm Hephaistos geschmiedet hat, Ares lockert das Schwert, und Poseidon wühlt mit dem Dreizack gewaltig die Flut auf, bereit, sie stürmend gegen die Küsten zu werfen. Da aber erkennt das Auge des Göttervaters den Urheber des Unheils. Prometheus hat den Menschen das Feuer gebracht. „Weh! Himmelsfunken schenktest du! Den Sterblichen gabst du des Feuers ew'ge Glut, den Flammenstrahl!" 1 6 _ Den Frevler ereilt das Schicksal. Von Biesen überwältigt und gefesselt, wird Prometheus zur olympischen Burg geschleppt. Die Götter sitzen über ihn zu Gericht. In Furcht vor dem Aufstand der ungezügelten Erdgewalten 32
und Elemente würden sie ihn töten, wenn sie die Macht dazu hätten. Aber über die Olympier regiert das Gesetz des Schicksals, die Ordnung des Weltalls. So ersinnen sie für den Unsterblichen eine Strafe, die härter ist als der Abstieg in die wesenlose Unterwelt. Prometheus wird dem kunstreichen Hephaistos und seinen beiden Knechten übergeben; grausam schmieden sie den Gefangenen an den nackten Fels des Kaukasusgebirges. Zeus aber verschärft die schreckliche Strafe. Täglich schickt er einen Adler, der die Leber des Gefesselten zerreißt und frißt, doch der Gequälte wird niemals sterben. Weithin tragen die Winde, die um das einsame Felsenhaupt brausen, die Klage des Titanen. Leidend und fast ersterbend unter dem Übermaß der Qual und doch im Hochmut ungebrochen, ruft er die Meere, die Himmel und Gestirne, die flammende Sonne und die Allmutter Erde gegen den tyrannischen Göttervater auf. Aber sein Rufen bleibt ungehört. Den Geschöpfen des Prometheus, die im Besitz des Feuei's sind, hat Zeus ein anderes Gericht zugedacht. Sie sollen nicht übermütig werden und für immer ihre eigene Ohnmacht erkennen. Zeus erschafft Pandora — die „Allbeschenkte". Nach dem Bilde eines schönen Mädchens gestaltet er ihren Leib; Hermes muß dem Geschöpf des Allvaters gewandte Sprache, Aphrodite ihr Liebreiz verleihen, aber zugleich gibt ihr jeder der Unsterblichen ein Unheil mit, das Pandora in einem Kruge verschließt. So tritt die Unheilbringerin den Weg zur Erde an, wo bislang die Menschen ohne Krankheit, frei von Mühsal und Krieg, ohne Hader und Haß gelebt haben. Im Lande der Irdischen schlägt Pandora den Deckel zurück, und wie ein Feuerwind von Dämonen entfahren die schrecklichen Geschenke dem Gefäß, Elend und Not, Sorge und Kummer. Nur ein einziges wertvolles Gut bleibt in dem Kruge zurück. Auf dem Grunde liegt der Lichtfunke der Hoffnung. Zeus aber will das Dunkel über der Menschheit nicht erhellen. Auf den Wink des Gottes verschließt Pandora den Krug, bevor die Hoffnung herausflattern kann, und so ist der leidvollen Welt jene letzte Möglichkeit versagt, durch die sich die Seele zum Jenseits zu flüchten vermöchte. Das Diesseits allein bleibt ihr Reich. 33
Wie das Echo eines uralten Liedes von den heiligen Ufern des Nils dringt es in die Morgenfrühe der neuen Völker: „Feiere den frohen Tag; denn siehe, niemand nimmt seine Güter mit sich, und noch keiner kehrte zurück, der dorthin gegangen ist!" Das dunkle Tor zu der Menschenwelt ohne Hoffnung schwingt lautlos auf. In dieser Stimmung wird dereinst der Sänger Pindar sagen: „Eines Schattens Traum ist der Mensch . . . " Auch der Philosoph Plato wird keinen anderen Sinn des Lebens erkennen als diesen: „Der Mensch: zu Gottes Kurzweil e r d a c h t . . . " Und die letzte Lebensweisheit des Volkes wird in dem Satze der tiefüberzeugten Hoffnungslosigkeit enden: Nütze den Tag und erwarte nichts anderes.
* Und doch ruft dieses Erdenvolk, das unter der belebten Himmelskuppel atmet, mit Leidenschaft zu den verklärten Sinnbildern des eigenen Wesens, zu seinen Göttern. Aus großen, reichgestalteten Tempeln oder schattigen Kulthainen steigen die Opferfeuer empor; rührend in ihrer kindlichen Gläubigkeit sind die namenlosen Altäre, die, aus Feldsteinen errichtet, hier und da im Ackerland, im Herzen der Wälder und des Weidelandes von einer allumfassenden Sehnsucht zeugen. Es gibt Seher und Berufene, die vom Anhauch der Gottheit bewegt, dem Volke auf den unbekannten Wegen'voranschreiten; aber eigentlich ist jeder zum Priester erwählt, der die schlichten Formen der Götterverehrung kennt und dessen Herz von tiefer Hingabe erfüllt ist. So opfert der Hausvater oder die Mutter unter feierlicher Einhaltung des frommen Brauches am Morgen und am Abend den Schutzgöttern die Spende auf dem häuslichen Altar; Kinder, Verwandte und Gesinde wohnen ehrfürchtig dem Gottesdienst bei. Die Bauern versammeln sich unter den rauschenden Kronen der Eichbäume, wenn der Glutball der Sonne im Westen versinkt. Der Älteste tritt vor und hebt seine Arme zum Himmel, auf dem Tisch aus Steinblöcken wölkt das Opferfeuer auf. Die gläubigen Herzen senden im Brand des M
Opfers den Unsterblichen ihre Gaben, Getreide, Tierblut, Milch, Wein und wohlriechende Kräuter. In den größeren Siedlungen aber, wo den Göttern Häuser gebaut sind, wogt an den Festtagen feierlicher Aufzug durch die Gassen, bekränzt sind die Hütten, und die Menschen tragen Blumen- oder Lorbeerzweige im Haar, unter Flötenton und Saitenspiel werden bändergeschmückte Opfertiere angetrieben undfunkelnde Weihegeräte mitgeführt. So schreitet die Prozession zum holzgefügten Tempel, dessen Vordach auf rundgeschälten Baumstämmen ruht. Die Ägypter überlieferten der Nachwelt Zahlen und Daten ihrer Vergangenheit; die neuauftretenden Völker haben bis weit in die historischen Zeiten hinein nichts festgehalten. Sie empfanden nicht die Notwendigkeit einer Zeitrechnung und lebten dem glücklichen, enteilenden Augenblick. Unbeschwert traten sie, ganz dem Dasein hingegeben, in die schöne Küsten- und Insellandschaft des Ägäischen Meeres. In der Provinz Argolis lagen zwei stark befestigte Städte, Vorposten eines Seereiches, dessen Mittelpunkt die Stadt Knossos auf Kreta war: Tiryns breitete sich, einige Kilometer von der tiefen argolischen Bucht entfernt, auf dem Bergrücken aus, die Schwesterstadt Mykene beherrschte weiter im Landinnern die Wege, die nach Süden ans Meer und nach Norden zur nahe gelegenen korinthischen Landenge führten. Als die Einwanderer in den Machtbereich der alten Kultur eintraten, fügten sie sich zunächst dem Recht der Ureinwohner und zahlten den Herren von Mykene und den Königen auf Kreta Zins. Aber Welle um Welle der Barbaren drang von Norden herab, das neue Volk erstarkte durch Geburtenüberschuß und sammelte seine Kraft unter eigenen Fürsten. In dieser Zeit, um 1500 v. Chr., wurde es zuerst unter einem gemeinsamen Namen bekannt, es nannte sich Volk der Achäer17. Mykene und Tiryns erlagen schließlich seinem Ansturm, die Tribute nach Kreta hörten auf, und in der Landschaft Argolis entstand eine achäische Herrschaft. * Ein spitzschnäbeliges Kriegsschiff zieht von der Insel Melos, die zum Kreterreich gehört, über das Meer nach Süden. Der Rumpf des Fahrzeugs liegt nur halbmanns35
hoch über dem Seespiegel, die Dünung rollt in langen, öligen Wogen unter dem Kiel. Heiß brennt die Mittagssonne auf das flache Deck. Auf jeder Seite sitzen zwanzig Männer an den langen Euderstangen und unterstützen durch taktmäßiges Durchziehen der Riemen den Druck des weitgewölbten Segels, das an langer Rahe am Mast befestigt ist. Der Steuermann hält Kurs auf die schwarzgraue Felsenküste Kretas, die höher und höher aus dem satten Blau des Wassers aufsteigt. Wo eine tiefe Bucht zwischen den steilen Vorgebirgen ins Land schneidet, glättet sich das Meer und mündet in einen natürlichen Hafen. Im Hintergrund liegt auf beherrschender Anhöhe eine Palastanlage, talwärts erstrecken sich blendend weiße Steinhäuser, Holz- und Schilfhütten. Das ist Knossos, die Hauptstadt des Kreterreiches. Langsam legt sich das Fahrzeug mit der Breitseite neben den aus großen Steinblöcken gefügten Hafendamm. Eine Laufplanke wird ans Ufer geschoben, Schiffsknechte eilen hinüber und halten an zugeworfenen Tauen das Schiff. Nun gehen auch die Fahrgäste, die bisher unter dem Schatten eines Sonnensegels auf Deck ruhten, an Land. Sie sind nach ägyptischer Sitte nur mit kurzem Lendenschurz bekleidet, aber die gepflegten Hände, die glattrasierten Gesichter, die gesalbten Knebelbärte und der reiche Goldschmuck mit eingelegter Emaille an Arm, Hals und Fußknöchel kennzeichnen sie als Mitglieder der herrschenden Kaste des kretischen Reiches. Sie überqueren den Hafenplatz und steigen die aus Stein gehauene Treppe zum Palasthügel empor. Ehrfürchtig gibt ihnen das Volk, das die Straßen der Niederstadt mit seinem Getriebe erfüllt, den Weg frei. Durch ein gewaltiges Tor betreten die Männer den Palastbezirk. Hier sind die Wege mit Alabasterplatten gepflastert, über den Felsentoren sind riesige Tierbilder eingehauen, und in den weitläufigen Höfen plätschert kühlendes Wasser in Brunnen und Becken aus Lapislazuli. Palastsklaven laden von hohen Zweiräderkarren große, kunstvoll verzierte doppelhenklige Tonkrüge ab, die zu Geschmeidebehältern für die königlichen Schatzkammern bestimmt sind. Eine offene Säulenhalle mit ägyptischen Lotoskapitellen18 führt die Fremden in einen von Quadermauern umschlossenen Innenhof, der von lautem Leben erfüllt ist. Rings an den Wänden haben Goldschmiede, Haarkünstler 36
und Feinbäcker ihre Buden aufgeschlagen, hier gibt es Luxuswaren aus Syrien, Kleinasien und Ägypten zu kaufen. Frauen aus der königlichen Hofhaltung mustern die Köstlichkeiten, die kunstvollen Tonschalen, Glasgehänge und getriebenen Armreifen, den phönikischen Purpurstoff und das Leinen aus Theben. Sie tragen Kleider mit enganliegendem Oberteil und gefältelten Röcken. Die blauschwarzen Haare sind kunstvoll gelockt, gesalbt und mit Golddraht durchflochten. Wangen und Lippen sind geschminkt und die Augenbrauen weit ausgezogen. Eine Eingangshalle mit Gebälk aus ägyptischem Marmor leitet hinüber in einen großen Raum mit glasierten Wänden, den man „die Halle Europas" nennt. Bunte Wandmalereien zeigen die alte Kretersage vom Raub der phönikischen Mondgöttin Europa durch den stierköpfigen Gott Minos-Zeus; man sieht die schöne Frauengestalt auf dem Rücken des Ungeheuers ruhen, das sie durch die Lüfte nach Westen entführt, als trüge ein Unsterblicher die Seele des alten Orients in die Stille eines neuen Erdteils 19 . Prächtig gestickte Purpurvorhänge verwehren den Blick in die königlichen Gemächer; die Pfosten des Türrahmens sind mit eingehauenen Ornamenten geschmückt, unter denen die Doppelaxt immer wiederkehrt. Sie ist das Würdeund Geheimzeichen des Donnergottes Zeus. Hofbeamte fragen die Besucher nach ihrem Begehren und eilen, dem König die Gäste zu melden. König Minos liegt auf dem Ruhebett. Bunte Tücher und Felle hängen bis zum spiegelnden, in Mäandermustern 20 eingelegten Marmorboden herab. Rings um dreifüßige, niedrige Tische ruhen die Würdenträger des Hofes und die Gesandten der benachbarten Staaten. Sie tragen reichen Schmuck, der ägyptische Gesandte unterscheidet sich von den anderen durch das Nackentuch und den breiten, abstehenden, edelsteinbesetzten Halskragen. Der Vertreter Phönikiens prunkt mit einem goldschweren Nasenring; auf den rasierten Schädel sind seltsame Lackzeichen gemalt. Tief verneigen sich angesichts der glänzenden Versammlung die Männer aus Melos; die gekreuzten Arme sind vor die Brust gelegt. Auf Befehl des Königs beginnt der Anführer zu sprechen. Er zeichnet mit wenigen zusammenfassenden Worten das Bild seiner heimatlichen Insel, die im Schutz des mächtigen Kreterreiches Handel getrieben 37
hat und reich geworden ist. Friede und Wohlstand herrschten im Lande bis zu jenem Tage, an dem die ersten Raubflotten der Achäer am Horizont kreuzten. Seit dem Fall von Tiryns und Mykene gibt es keine Sicherheit mehr auf der See. Sorgenvoll blicken seitdem die Wächter der Küstenstädte über das Meer, jedes auftauchende Segel kündet Gefahr. Wo die Barbaren landen, erstürmen sie mit Ungestüm die Städte, plündern sie aus und machen die Einwohner zu Sklaven. Der Mann aus Melos ist als einer der wenigen der Katastrophe entronnen, die auch seine Heimat vernichtet hat. Das Grauen über das Schicksal der Brüder und Freunde steht noch in seinem Antlitz, als er dem König berichtet: „An jenem Tage des Überfalls schoß plötzlich aus den Morgennebeln ein breitbrüstiges Langboot unter gestreiftem Segel auf die Stadt zu, ein Dutzend Buderer auf jeder Seite trieben das Schiff voran, und es schoß in schneller Fahrt in die Bucht. Hinter dem ersten PiratenschirT tauchte ein zweites, ein drittes . . . eine lange Kiellinie von Booten auf. Sie rauschten unter geblähten Segeln in den Hafen. Den Göttern sei Dank, Herr, daß ich eben meine Schiffsmannschaft an Bord hatte und dabei war, in See zu stechen, ich säumte nicht lange und Heß die Trossen loswerfen, meine Leute ruderten um ihr Leben. Das Letzte, was wir auf der Höhe von Ephyra, nach Mittag steuernd, von Melos sahen, waren dicke, braune Bauchwolken über der Stadt, die weit den Himmel bedeckten." König Minos hat schweigend, mit gesenktem Haupt, zugehört. Seine Stirn ist umwölkt, und tiefe Schattenringe liegen unter seinen Augen. In dem bedrückenden Schweigen beginnt der ägyptische Gesandte zu sprechen. „Wie vermögen es diese Achäer", sagt er, „die nach allem, was man am Hofe des erhabenen Pharao vernimmt, wilde Barbaren sind, dem kretischen Seereich gefährlich zu werden ? Man weiß, daß sie weder in Stein zu bauen noch zu schreiben verstehen, und es will mir undenkbar scheinen, daß derart unwissende Völker auf die Dauer gegen ein Land von hoher Kultur bestehen können, wie es das Deinige ist, o König." König Minos greift in Gedanken verloren zum Becher. Er hält ihn gegen das Licht und betrachtet die wundervolle, goldgetriebene Arbeit, ein Bildband mit kämpfenden Stieren. 38
„Wie schön!" sagt er anscheinend ohne Zusammenhang und stellt das Gefäß auf den eingelegten Tisch zurück, spielerisch zieht er einen Bronzedolch aus der elfenbeingeschnitzten Scheide und streicht über die in Gold und Silber eingelegte Klinge, die eine Löwenjagd darstellt. „Prachtvoll, nicht wahr?" fährt Minos spöttisch fort, dann ruft er in zornigem Schmerz: „Ach, daß die Künste schwach, daß die Weisheit krank und die Kultur ohnmächtig macht! J a , wenn es sich um einen Wettkampf in den Kunstfertigkeiten handelte, wie wollte ich über den Angriff der Achäer lachen! Es stimmt, sie wohnen in Holzhütten, die um einen Pfosten gebaut sind, ein Vorraum und ein Wohnraum mit dem Herd sind ihre ganze häusliche Behaglichkeit — aber alle Dämonen hausen in diesen Hütten. Es ist richtig: sie können nicht schreiben wie die Ägypter oder wir, sie reden dafür mit dem Schwert eine um so kraftvollere Sprache. Sie können kein Gold zu köstlichen Bildern treiben, aber sie beherrschen die tödliche Kunst, Häfen zu erobern und Städte zu plündern." „Deine Herrschaft, König Minos", unterbricht ihn der Phöniker, „ist durch vielfältige Bündnisse gesichert. Babylon und die phönikischen Städte Sidon und Tyrus, die reichen Handelsstädte Kleinasiens und die Großmacht Ägypten stehen auf der Seite ihres alten Handelspartners Kreta. Darum begreife ich deine Sorge nicht." Der Kreter beurteilt die Lage klarer; er weiß mehr von dem drohenden Feind als die Völker, denen die Gefahr nicht so dicht auf den Leib gerückt ist. „Seit mehr als tausend Jahren stehen die Paläste Kretas, seit mehr als tausend Jahren häufen sich die Schätze in unseren Kammern, ein friedliches Beich der Seefahrer blüht in der Ägäis. Auf dem Festlande hielten unsere Pflanzstädte Mykene und Tiryns Wacht, geschützt durch feste Mauern und Wälle. Heute sitzen in diesen Städten, die das Festland beherrschen, die achäischen Fürsten, nehmen Zoll von allem Beichtum und füllen ihre Schatzkammern. Sie haben Handwerker, Bildhauer und Künstler aus Kreta an sich gezogen. Wie man mir berichtet, gibt es auch im heutigen Mykene und Tiryns prachtvolle Hallen, Höfe und Steinbildwerke. Die achäischen Fürsten leben in kaum geringerem Wohlstand und Luxus als wir, ihre 39
Toten schlummern unter goldenen Masken wie die unseren, und sie werden in steinernen Grabmälern beigesetzt wie unsere Toten. Die Barbaren sind gelehrige Schüler unserer Kultur. Aber ihre Sitten sind rauh, ihr Wesen ist wild und ihr Charakter ungestüm. Die Kräfte dieses Volkes haben sich noch nicht gleich den unseren in einem Jahrtausend des Wohllebens verbraucht. Scheint euch das alles nicht Gefahr genug, um davor zu erzittern?" „Aber das heißt sich selber aufgeben, Herr!" ruft einer aus dem Kreise der Hof beamten. „Wozu haben wir unsere Bundesgenossen? Man wird gemeinsame Sache gegen die Achäer machen, denn sie belästigen nicht nur die Ägäische Inselwelt, sondern stoßen bereits ins freie Meer und bis zu den Küsten Libyens und Ägyptens vor. Überall gelten die ,Seevölker' als Schrecknis der Meere!" König Minos zuckt die Achseln. „Sprechen wir offen über das, was geschieht: seit die neuen Märkte, Mykene auf dem Festland des Westens und Troja an der Einfahrt der Meerengen, emporstreben, geht die Vormachtstellung unseres Handels verloren. In Kleinasien und auf Cypern weichen unsere Kaufleute unaufhaltsam zurück. Die achäische Seeräuberei macht den Handel über See zum gefährlichen Wagnis und läßt jeden Gewinn schnell zerrinnen. Trojaner und die neuen Herren Mykenes sind überall dort gute Freunde, wo es gilt, dem kretischen Reich zu schaden." „Unsere Freunde sind mächtiger!" Der Zwischenruf kommt aus der Reihe der königlichen Räte. Minos neigt__sich zu dem ägyptischen Gesandten. „Das große Ägypten ist unter der glorreichen Regierung seines Pharao Thutmosis in Auseinandersetzungen mit seinen westlichen, südlichen und östlichen Nachbarn verwickelt. Wird es geneigt sein, seine Kraft um Kretas willen an irgendeiner dieser Fronten zu schwächen?" Der ägyptische Gesandte schweigt. Minos aber wendet sich, spöttisch lächelnd, an den Phöniker. „Die Hethiter 21 , die jetzt Oberhoheit über die machtvollen Seestädte Phönikiens haben, stehen im Bündnis mit den Fürsten von Mykene 22 . Außerdem sind sie wegen des aufstrebenden Assyriens besorgt. Werden die weisen Kaufherren in Sidon und Tyrus nicht im Kriege das größte aller 40
Übel sehen und werden sie nicht wie heute mit uns, so morgen mit Mykene und Troja handeln?" Der König horcht seinen eigenen Worten nach; schwer und drohend steht das Schweigen in dem weiten Eaum, das leise, stetige Rieseln der Sanduhr macht die Stille noch schwerer und drückender. Der Phöniker holt Atem, er will sprechen, aber dann preßt er die Lippen zusammen, hebt wie hilflos die Hände und läßt sie wieder fallen. „Und was ist unser Schicksal, o König?" fragt endlich der Führer des melischen Schiffes. „Soll unsere Heimat für immer verloren sein? Gibt es keine Hoffnung für uns? Keine Hilfe?" „Doch!" Der Herrscher richtet sich auf, seine Stimme ist klar und hell. „Wir haben die Hilfe und Hoffnung, die wir uns selber zu geben vermögen." Er winkt einem Hofbeamten, der mit Silberstift und Tontäfelchen herantritt, und diktiert einen Befehl. Der Beamte drückt mit dem Spachtelstift rasch die kleinen Zeichen in den Ton. Mit einem geschnittenen Karneolring 23 siegelt der Fürst das Schreiben. „Die Kriegskreuzer werden gegen Melos vorstoßen", sagt er. „Ihre scharfen Rammsporne werden die See reinfegen von den Barbarenschiffen. Noch beherrscht Kreta das Meer, das an seine Küsten brandet. Und nun, Freunde, folgt mir zum Altar des großen Gottes Labrayndos, wir werden ihm Rinder schlachten, auf daß er die Ausfahrt der Flotte segne!" * Doch die Schicksalsstunde des kretisch-minoischen Seereiches hat geschlagen. Seine Flotten werden von den Achäern vernichtet, und die feindlichen Geschwader landen auf der Insel. Die Riesenpaläste von Knossos versinken in Feuer und Rauch. Viele Einwohner entkommen zu Schiff nach Phönikien, wo sie kurze Zeit eine Rolle spielen, ehe sie im historischen Dunkel vergehen. Die zurückgebliebenen Handwerker und Künstler werden nach Mykene und Tiryns verschleppt, sie schaffen dort eine späte Nachblüte der kretischen Kultur. Aus diesen wildbewegten Tagen der Achäer berichten nur noch Sagen und farbig ausgeschmückte Heldenge41
sänge; das neue Volk hat kein Bedürfnis nach Verewigung in Schrift und Stein. Mit dem fortschreitenden Aussterben des kretisch-minoischen Reichsgebildes verschwinden auch die Erzeugnisse seiner Kultur. Die Kunst der Töpferei und des Schmiedens nimmt primitivere Züge an, die von Kreta beeinflußten verfeinerten Sitten werden vergessen, und der ursprüngliche Charakter der Achäer bricht wieder durch. Es verfallen die prächtigen Grabmäler der frühmykenischen Epoche, jene von mächtigen Steinblöcken überwölbten, unterirdischen Räume, die vom Willen nach Verewigung des Leibes zeugen. Die neuen Herren der griechischen Erde übergeben ihre Toten wieder den reinigenden Flammen. Auch die äußeren Formen des Lebens nehmen andere Züge an, kehren zur Ursprünglichkeit der jugendlichen Völker zurück. Die luftigen, farbenbunten Palasthallen der alten Fürsten weichen dem strengen nordischen Herrenhaus. Um den Hochsitz des Hausherrn dehnt sich die lange, schmale Herrenhalle, das „schattige Megaron" mit dem Herd, dessen Rauch durch eine Öffnung in der Decke abzieht. Ohne Fenster, nur durch Tür und Rauchloch erhellt, macht der Raum einen finsteren und barbarischen Eindruck. In den Heimstätten der Vornehmen lagern sich um diese Halle und einen Innenhof die Nebenräume, Schuppen und Stallungen. Die Achäer besinnen sich mehr und mehr auf ihrer Väter Sitte und Brauch, die bisher unter dem fremdartigen Himmel Kretas und Mykenes nicht zur Entfaltung gekommen sind. Das Bewußtsein der Fragwürdigkeit alles Daseins, das Durchdrungensein von der einzigen Sicherheit des Lebens, dem schönen, enteilenden Tage und dem Genuß des Diesseits, überdeckt nun das vom dunklen Zauber des Jenseits erfüllte Empfinden der untergegangenen Vorzeit. So gering ist die Neigung, das Fremde weiter zu pflegen, daß die neuen Herren nicht einmal die Schrift der Kreter übernehmen. Die Völker des Nordens bauen inmitten einer von riesigen Steinmonumenten erfüllten Welt ihre schlichten Holzund Schilfhäuser und stellen den geschälten Baumstamm als Säule vor die bescheidenen Tempel. Ihre Seele hängt noch an der mütterlichen Urheimat, drängt zurück ins Kinderland jener schneebedeckten Berge und namenlosen 42
Wälder, aus dem sie hervorgetreten sind. So erhält sich bis in die geschichtlichen Jahrhunderte die Sitte, alljährlich zur Saatzeit Weizenkörner aus dem Land jenseits der makedonischen Berge in die neue Heimat Griechenland holen zu lassen. Der Mangel jeder geschichtlichen Darstellung in Stein, Bild oder Schrift überläßt die Erinnerungen an stürmische Eroberung und Landnahme der dunklen, sich verwischenden Überlieferung, die sich von Generation zu Generation und von Mund zu Mund vererbt. Phantasie und angeborene Fabulierlust flechten aus den Alpträumen völkischer Kindertage einen bunten Kranz von Sagen. „Die Menschen träumten dumpf, sie selber waren Träume, Verwirrt und sinnlos nur, wie nächt'ge Träume sind. . ." So erhält sich auch die Kunde von Glanz und Untergang des kretischen Seereiches den späteren Geschlechtern nur in sagenhafter Überlieferung. Das Bild der großen kretischen Vergangenheit wird bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Der Inselkönig wird zum schrecklichen „Minotaurus", dem die Vorfahren Zins zahlen mußten, sein ausgedehnter Palast zum „Felsenlabyrinth" und der unverstandene Kult fremder Götter zur schaurigen Menschenfresserei. Alljährlich, so erzählt die Sage, kamen Gesandte des Minotaurus nach Athen, um sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen als Tribut abzuholen. Da aber trat Theseus auf, der Sohn des Königs Ägeus von Athen, und erklärte sich bereit, die vierzehn Opfer freiwillig zu begleiten, um das Scheusal in Kreta zu bezwingen oder zu sterben. Bei der Abfahrt vereinbarte er mit seinem Vater, daß bei glücklichem Ausgang auf dem heimkehrenden Schiff ein weißes, im Falle des Unheils aber ein schwarzes Segel gesetzt werden sollte. Der Königssohn landete auf Kreta und gewann die Liebe der Königstochter Ariadne, die ihm verriet, wie er das Untier im Labyrinth überlisten könnte. Mit Hilfe eines Knäuels roter Wolle, das Theseus bei seinem Gang durch die Irrwege des Felsenpalastes ablaufen ließ, fand er nach Überwältigung des Stierungeheuers den Weg aus dem Labyrinth zurück. 43
Glücklich brach er mit Ariadne von Kreta auf, um in Athen Hochzeit zu feiern. Aber auf dem Paare ruhte das neidische Auge des Gottes Dionysos, eines spätgeborenen Sohnes des Zeus. Er war vom asiatischen Strande des Meeres in die Griechenwelt gekommen, um sie mit seinen Geheimnissen, mit Fruchtbarkeit, Rausch, Tod und Wiedergeburt vertraut zu machen. Auf der Fahrt nach dem Festlande legte das Hochzeitsschiff am Strande der schönen Insel Naxos an. Während Theseus und seine Gefährten, von der Kraft des Weines überwältigt, schliefen, entführte der lachende Gott die Braut. Zum Zeichen seines Triumphes versetzte er ihren Gürtel als Sternbild an den Himmel. Trauernd verließ Theseus die Küste der Insel. Als sein Schiff den Schnabel meerwärts wandte, befahl er den Gefährten, als Zeichen seines Schmerzes das schwarze Segel zu hissen, vergessend, welch unheilschwere Bedeutung das düstere Zeichen für Athen haben mußte. Aufgewühlt von Furcht und Sorge wartete König Ägeus auf der Höhe des Vorgebirges und blickte sehnsüchtig forschend über die See. Als er das schwarze Schiff über die Kimmung aufsteigen sah, verhüllte er trauernd sein Haupt und stürzte sich ins Meer. Aus diesem tragischen Ereignis leitet die Sage den Namen des Agäischen Meeres ab.
* Die Erinnerung an weite Seefahrt und kühnen Abenteuersinn bewahrt auch ein anderer Sagenkreis, der eng mit der Altgöttersage der Griechen verwoben ist. In der Geschichte der Argonauten spiegelt sich das Bild jener stürmischen Vorzeit, in der die hochgeschweiften Seeräuberschiffe über die Meere zogen und beutelüstern an fremden Küsten landeten. Die Sage erzählt, wie Jason die kühnsten Krieger Achäas aufrief, das heilige „Goldene Vlies" — ein Widderfell mit goldener Wolle — zu holen, das im Areshain des König Aetes von Kolchis hing. Die weise Göttin Athene half den Achäern, aus „niefaulendem Eichenholz" das Schiff „Argo" zu zimmern, so stattlich, wie vorher noch keines gesehen ward. Es bot fünfzig Ruderern Platz und fuhr unter hochragendem Segel.
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Guten Mutes warfen die Helden vom Thessalischen Strande los, unterm Mastbaum stand Jason auf der Wacht, der riesenhafte Herakles saß am weitvorragenden Bugspriet, neben dem Steuermann am Heck hatten Telamon, der Vater des Ajax, und Peleus, der Vater Achills, Platz genommen, auch Theseus und viele andere Sagenhelden befanden sich an Bord. Unter ihrem rotgelb gestreiften Segel und von kraftvollem Ruderschlag getrieben, flog die „Argo" durch die blaue Ägäis der unbekannten Ferne entgegen. Diese Welt war noch erfüllt von Unholden, Riesen und Fabelgeschöpfen, der Erdkreis war wie ein verschlossenes Buch mit tausend bunten, unerwarteten Bildern von niegesehenen Wundern, fremden Völkern und seltsamen Dingen. Durch diese Märchenwelt ging die Argonautenfahrt. Kriegerische Amazonen hielten die Helden auf; sie kämpften mit den Bewohnern fremder Küsten, die in den landenden Achäern nicht zu Unrecht Piraten erblickten; am thrakischen Strande besuchten sie den Pferdemenschen Chiron, in Bithynien maßen sie sich mit einem Barbarenkönig im tödlichen Faustkampf. Im Lauf der Abenteuer gingen einige der Helden, unter ihnen auch der unbesiegbare Herakles, ihre eigenen Wege. Herakles wanderte mit seiner Keule bewaffnet ostwärts, bis die Mauer des Kaukasusgebirges aus dunkler Meerflut aufstieg. Dort oben in unzugänglicher Einöde schmachtete seit dreißigtausend Jahren der gefesselte Titan Prometheus, der erste Wohltäter der Menschheit, der den Olympiern das Feuer geraubt hatte. Nun war endlich die Stunde seiner Erlösung gekommen; denn Herakles — von Mitleid ergriffen — stieg die Felswand empor und befreite den Gequälten aus dem furchtbaren Bann, in den ihn die Götter geschlagen. Auch die „Argo" erreichte den Strand zu Füßen der Kaukasusberge. Die Helden kamen nach Kolchis, traten kühn vor König Aetes, ihm das „Goldene Vlies" abzufordern. Aber der zauberkundige Herrscher machte die Herausgabe des heiligen Widderfelles von der Erfüllung schier unlösbarer Aufgaben abhängig und hoffte, daß diese Bedingung den Achäern den Tod bringen werde. Wie beim Abenteuer des Theseus auf Kreta war es auch diesmal die lösende Macht der Liebe, die Jason und seinen Gefährten weiterhalf. Medea, die dämonische, wildschöne Tochter des Barbarenkönigs, entbrannte in tiefer Leiden45
schaft zu Jason und stand ihm mit ihren magischen Künsten bei. Durch ihre Zaubersalbe geschützt, konnte er die erzfüßigen Stiere, aus deren Nüstern Rauch und Feuer sprühten, vor den gewaltigen Pflug spannen, ohne zu verbrennen. Dann mußte er Drachenzähne aussäen, die hinter seinem Rücken zu Giganten aufwuchsen. Auch diese finsteren Erdgewalten überwand Jason durch Medeas listigen Rat, indem er ein Felsstück unter sie warf. Um den Besitz des Steines entbrannte zwischen den Riesen ein Streit blinder Raserei, bei dem sie sich gegenseitig erschlugen. Als alle Aufgaben erfüllt waren, weigerte König Aetes die Herausgabe des versprochenen Preises. Da raubte Jason, von Medeas Zauber beschirmt, das „Goldene Vlies" und verließ bei Nacht, von Medea begleitet, das ungastliche Kolcherland. Nach langer Irrfahrt lief die „Argo" an den heimatlichen Strand. Wieder unter Achäern wohnend, schämte sich Jason der barbarischen Gemahlin, die im Rufe einer Zauberin und Hexe stand. Um einer griechischen Königstochter willen wandte er sich von ihr ab und verstieß die Mutter seiner beiden Söhne. Da nahm Medea barbarische, furchtbare Rache. Sie tötete die Kinder und beraubte den alternden Helden damit seiner Erben. Auf feurigem Wagen, den Drachen durch die Lüfte führten, kehrte die Zauberin ins Kolcherland heim. Groß war Jasons Schmerz und furchtbar sein Grollen wider das mordende Weib: „Vernimmst du es, Zeus, wie sie weist mich zurück, Was von ihr ich erfuhr, die mit Blut sich bedeckt, Von der Löwin, die ihre Kinder erwürgt? Doch so viel mir noch bleibt und so viel ich vermag: Ich klage und rufe die Götter an, Zu Zeugen auch die Dämonen, daß Du die Kinder erschlugst und verhinderst mich, Zu berühren den Leib, zu bestatten ihn sanft — H ä t t ' niemals ich die Kinder gezeugt, Um von dir sie gefällt zu erblicken .. ," 24 * 46
Die Gefährten Jasons setzten das Abenteuer fort. Herakles holte die Äpfel der Hesperiden von den Azoren, nahm dem Eiesen Atlas das Himmeisgewölbe ab und lud es sich selbst auf die gewaltigen^chuitern. Er reinigte den Stal^deSjAugias, indem er einen Fluß hindurchleitete, und überwand mythische Ungeheuer: den nemäischen Löwen, dessen Fell er seither als Umhang trug, den kalydonischen Eber und die lernäische Schlange, und er kämpfte mit dem Höllenhund Cerberus. Aber seine göttliche Kraft versagte gegenüber dem Liebeszauber einer Frau. Die Geliebte schenkte ihm das giftgetränkte Nessushemd, um ihn damit für ewig zu fesseln; aber Herakles litt unter dem fressenden Gift so fürchterliche Qualen, daß er sich selbst verbrannte. Die Götter versetzten den Vielgeprüften und Unbesiegten unter die Unsterblichen, er wurde zum Heros, zum Halbgott. Herakles ist das Sehnsuchtsbild der Achäer aus frühen Wandertagen, das Idealbild des Helden, und Griechenland selbst schafft sich in ihm einen Abglanz der Unsterblichkeit, indem es ihn auf den Inseln der Seiigen leben läßt, in der paradiesischen Heimat der Heroen, die Pindar in seinem Trauergesang gepriesen hat: „Bei uns oben ist Nacht, ihnen aber leuchtet in der Unterwelt die Herrlichkeit der Sonne; vor ihrer Stadt hegt purpurrosig die Flur; Schatten gibt der Weihrauchbaum, und schwer lasten die goldenen Früchte. Sie aber ergötzen sich zu Roß und im Ringkampf, andere mit Würfeln oder mit Saitenspiel, und was nur Wonne heißt, ist hier völlig aufgeblüht. Und Duft verbreitet sich über dem Heblichen Gefilde, da sie mit der fernhinleuchtenden Opferflamme vielerlei Rauchwerk mischen auf den Altären der Götter." Der heimgekehrte Theseus gründet die Burg Athen, in der sich die verstreuten Siedler Attikas sammeln. Am Fuß des Burgfelsens entsteht die erste Stadt. Als äußeres Zeichen der Zusammengehörigkeit stiftet Theseus das Fest aller attischen Menschen: Die Pan-Athenäen; dann geht auch er als Heros ans jenseitige Ufer des Lebens. *
Für die übrigen Helden und deren Söhne aber hält das Schicksal das größte aller Abenteuer bereit, den Krieg um die Felsenfeste Troja. 47
Wieder vermischen sich Fabel und geschichtliches Geschehen in einem Sagenkreis. Den historischen Hintergrund bildet die Auseinandersetzung der Achäer und der stammverwandten Dardaner, der Konkurrenten Kretas auf dem asiatischen Ufer. Nach dem Untergang der kretischen Herrschaft ist der Handel, den einst Knossos mit der ägäischen Inselwelt, mit Cypern, Kleinasien und den Schwarzmeerländern trieb, an Troja und Mykene übergegangen. Die Dardaner, die in der Nähe der Meerengen (der „Dardanellen") auf den Trümmern einer älteren, durch die Stürme der Einwanderung zerstörten Siedlung die Stadt Troja erbaut haben, nehmen Zoll und Tribut von den vorbeifahrenden Schiffen. Aber die Achäer, deren Seeweg zur nordischen Urheimat durch diese Enge führt, sind nicht gewillt, die Anmaßung der Trojaner kampflos hinzunehmen; sie rüsten unter Führung des Königs Agamemnon von Mykene die Kriegsfahrt gegen Troja, die Stadt der Dardaner. Die Sage erfindet für den ausbrechenden Kampf eine romantischere Ursache. Sie erzählt vom trojanischen Königssohn Paris, dem die drei Göttinnen Hera, Athene und Aphrodite erscheinen, um ihn als Schiedsrichter entscheiden zu lassen, wer von ihnen die Schönste sei. Sie reichen ihm einen goldenen Apfel, den er als Siegespreis der Herrlichsten überreichen soll. Jede der Himmlischen verspricht göttliche Gaben; Hera bietet Macht und Kuhm, Athene Weisheit und Aphrodite die Liebe der begehrenswertesten Frau des Erdenrunds. Paris entscheidet sich für die holde Aphrodite. Sein Lohn wird Helena sein, die Gemahlin des Griechenkönigs Menelaos. Die Hand der Göttin führt das Schiff des Paris nach dem Lande der Griechen. Der Königssohn aus Troja kommt an den Hof des Menelaos, aber er bricht die Gastfreundschaft, die er genießt, indem er die schöne Helena entführt. Das ist Frevel und Beleidigung für ganz Achäa; mit Recht rufen der heimkehrende Menelaos und sein Bruder Agamemnon zum Krieg wider die Trojaner auf. Im Hafen von Aulis sammelt sich das Aufgebot der Stammesfürsten. Der greise Nestor, der kluge Odysseus, der starke Ajax und der gewaltigste der Helden, Achilleus, führen ihre Scharen herbei und unterstellen sich dem Oberbefehl Agamemnons. Das Heer ist zur Abfahrt bereit, 48
aber die Götter senden widrige Winde, die Flotte wird in der Bucht festgehalten. Da rät der Seher Tiresias, die Unsterblichen durch ein Menschenopfer zu versöhnen. Iphigenie, die sanfte Tochter Agamemnons, bietet sich dazu an. Aber schon erträgt das Gefühl der jungen Völker solch barbarischen Rückfall in dunkle Urzeit nicht mehr; wie ein Gleichnis erwachender Kultur erscheint Athene, die Göttin der Weisheit, und entrückt Iphigenie ins ferne Tauris 25 . Von hier wird sie später durch ihren Bruder Orestes heimgeholt. Endlich laufen die Schiffe aus. Am Bug stehen die Heerkönige, die Mannen sitzen an den langen Rudern; Schilde, Schwerter und Helme liegen im Kielraum. Unter stürmischem Himmel jagen die Geschwader ostwärts, ein bedrohlicher und schreckhafter Anblick für alle Inselbewohner, die die Segel vorüberziehen sehen. Nach Tagen erreichen die Achäer die Gestade Kleinasiens und fahren die Küste entlang bis zur Mündung des Flusses Skamander. Jenseits der blumigen Ebene erhebt sich auf stolzem Hügel das schimmernde Troja, von dessen Türmen und Zinnen die Hörner gellen. Der Krieg 26 nimmt seinen Anfang. Die Schiffe der landenden Griechenstämme reihen sich am Ufer in der Ordnung aneinander, in der sie einlaufen. Die Langboote werden auf Feldsteinen aufgebockt, damit sie vor der zerstörenden Feuchtigkeit geschützt sind. In mehreren Reihen entsteht das große Kriegslager, eine Ansammlung von Hütten und Scheunen, Lagerschuppen und Ställen. Das Quartier des Achilleus, das Troja am nächsten liegt, gleicht einem weitgegliederten Bauernhofe, in dem es an Stallungen für Vieh und an reichen Vorratshäusern nicht fehlt. Vier Straßen teilen das von Erdwällen und Wassergräben begrenzte Feldlager. Vor dem Hause des Odysseus weitet sich die Anlage zum großen, freien Platz — der Agora —, die für die Ratsversammlungen vorgesehen ist. Vier Wegstunden entfernt, eben noch jenseits der Skamanderwiesen erkennbar, erhebt sich Troja. Sein Apollotempel blitzt golden im Licht der Abendsonne. Noch ist das Lager der Achäer nicht fertig, da tun sich die erzbeschlagenen Stadttore Trojas auf, und ein wohlgerüstetes Kriegsheer bricht im Sturmschritt hervor. Die griechischen Späher jagen ins Schiffslager zurück und mel49
den das Nahen des Feindes, der sich zur blinkenden Schlachtlinie entwickelt hat und unter schmetternden Hörnerrufen heranrückt. Nun stürzen auch die Achäer aus den halbfertigen Holz- und Erdhütten und beginnen sich eilig zu wappnen. Über das schlichte Leinengewand wird der Lederkoller gestreift und der breite, den Unterleib schützende Panzergürtel umgeschnallt. Freunde helfen einander in die bronzenen Brust- und Rückenpanzer, andere schnallen die erzenen Beinschienen an, greifen nach dem hohen, halbrunden Schild aus vielen Lagen gegerbter Rindshaut. Über die Agora rennen die Knechte des Ajax und Odysseus mit den kostbaren, durch getriebene Schreckbilder geschmückten Erzschildern ihrer Herren, aus den Zelten rufen zornig die erregten Helden nach den Dienern. Agamemnon schreit nach seinem Pferd, andere verlangen schnell die langen, zweischneidigen Schwerter, den riesigen Hornbogen und die kurzschäftigen Speere. Als erster erscheint völlig gerüstet Achilleus, vom Helmbogen wallt der rote Roßschweif, ihm zur Seite reitet der geliebte Freund Patroklus, und hinter ihnen klirrt der Marschtritt der gepanzerten Gefolgsmänner, der Myrmidonen. Allmählich kommt Ordnung in das Gewirr des Lagers, und Schar um Schar drängt zu den Toren hinaus, auf die skamandrische Ebene, die von den Göttern zum Schlachtfeld bestimmt ist. Dort drüben, wo die Erlen- und Weidengebüsche das Ufer des silberhellen Skamanders säumen, steigen die Reihen der Trojaner aus einer Bodenwelle hervor, geführt von Hektor, dem Vorkämpfer Trojas. Die Hilfsvölker, die König Priamos zur Verteidigung seiner Stadt gegen den erwarteten Angriff der Achäer aufgeboten hat, sind unübersehbar : schwarze Äthiopier, braune Syrer und knebelbärtige Assyrer. Nach altem Brauche gehen dem Kampfe die Schmähreden der Gegner voraus, bald werden Pfeilschüsse und Speerwürfe gewechselt; einzelne Trupps geraten aneinander, und das Handgemenge beginnt. „Einsam war der Trojer und Danaer schreckliche Feldschlacht. Viel nun hierhin und dorthin durchtobte der Kampf die Gefilde . . ."*' ' Vom hohen Olymp herab betrachten die Götter den Kampf und greifen, selber in Eifer geratend, mehr als 50
einmal zu Gunsten ihrer Schützlinge ein. Wie die Männer im blutigen Gefecht auf der Walstatt, wechseln auch die Ewigen heftige Worte. Sie haben sich in Parteien geschieden und sind uneins, wem der Sieg sich zuneigen soll. Diesmal entscheidet sich Zeus für Troja. „Trojas Volk, blutgierig wie raub verschlingende Löwen, Stürzte nunmehr auf die Schiffe, des Donnerers E a t vollendend, Der sie mit höherem Mute stets kräftigte; doch den Achäern Schwächt er das Herz und schwächt er den Mut, stärkend die Trojer. Denn dem Hektor beschloß sein Ratschluß, Ruhm zu gewähren, Priamos Sohn, damit er die schreckliche Flamme des Feuers W u r f in die herrlichen Schiffe . . ." 2 7 Da stürmt Achilleus an der Spitze seiner Myrmidonen herbei und wendet, furchtbar unter dem trojanischen Kriegsvolke wütend, das Gefecht. Die Scharen Hektors werden geschlagen und fliehen zur schirmenden Stadt zurück. Neun Jahre tobt der furchtbare Streit. Die Völkerschaften am Rande der Welt greifen ein, aus den Ländern der Sage zieht das Weibervolk der Amazonen unter Königin Penthesilea heran. Die Flotte der Achäer brandschatzt und plündert die Küsten Asiens, und Achill zerstört, mit den Schiffen angreifend, zwölf mit Troja verbündete Seestädte, elf andere nimmt er zu Lande ein. „Eisen verführt und reißet von selbst den Mann mit sich fort!" 28 Als der herrlichste der Helden erscheint Achilleus, der Unermüdliche, dem eine Prophezeiung ein kurzes, aber ruhmreiches Leben verheißt. Mit glühendem Herzen strebt er danach, die kurze Daseinsfrist mit unsterblichen Taten auszufüllen. In Achill vereinen sich alle Tugenden seines Volkes; er ist aber nicht mehr jener halbtitanische, urhafte Herakles — dieses Sehnsuchtsbild einer schon versunkenen Epoche —, sondern erscheint als das Ideal einer vorangeschrittenen, sich zu höheren Zielen erhebenden Zeit. So wie er zu sein, bedeutet achäische Erfüllung des Lebens, jung, strahlend und kraftvoll. 51
„Immer der erste zu sein und voranzustreben den andern Und nicht der Väter Geschlecht zu beschämen...29 Achill ist durchaus Mensch, in seiner Brust wohnen alle Leidenschaften, Zorn, Neid, Eifersucht und Eache, und doch ist alles, was er unternimmt, vom Hauch der Größe und Freiheit umweht. Auch über diesem Helden schwebt der Schicksalsspruch, das Bewußtsein der Hoffnungslosigkeit und das Gefühl, „daß früh enden muß, was die Götter lieben." Trotzdem bleibt Achill sich selber treu, er gibt sich dem Unausweichlichen anheim. „Wer mutig vorwärts stürmt, mit dem stürmt auch der G o t t . . ."30 Der Krieg wühlt alle Gewalten der Finsternis und des Trotzes in den Seelen der Helden auf, so daß der zwischen Göttern und Menschen geschlossene Vertrag mehr als einmal in Gefahr gerät. So ungezügelt ist die Wildheit der Griechen, daß sie selbst vor der Hoheit der Götter nicht weichen. Ajax „will ohne die Götter groß sein", Diomedes scheut bei der Verfolgung des trojanischen Prinzen Aeneas selbst das göttliche Halt nicht, bis ihm Apoll zuruft: „Besinne dich und weiche! Götter und Menschen sind zweierlei."31 Wilder und zorniger wird die Schlacht um Troja. Da bricht bei der Verteilung der Beute zwischen dem Heerführer der Griechen, König Agamemnon, und Achill ein leidenschaftlicher Streit aus. Es kommt vor dem versammelten Heere zu grimmigen Redekämpfen zwischen den Fürsten. Der König ist kein Machthaber mit unbeschränkter Befehlsgewalt; freie Männer haben ihn für die Dauer des Krieges zum Anführer gewählt, er ist nur der erste unter Gleichgestellten und auf die Gefolgschaftstreue seiner Männer angewiesen. Aber die Ratsversammlung entscheidet gegen Achill, grollend tritt er zurück und beteiligt sich nicht mehr am Kampfe. Das gibt den Scharen Hektors das Übergewicht, sie drängen die Griechen zurück und erstürmen endlich das Lager. „So wachten dort die Trojer vor Ilion. Doch die Achäer Angstete schauerliche Furcht, des starrenden Schreckens Genossin . . ,"32 52
Immer leidenschaftlicher wogt der Krieg, sogar die Götter greifen in offener Feindschaft auf beiden Seiten in den Kampf ein. „Süß erscheint der Krieg dem, der ihn nicht kennt, Wer ihn aber erlebt hat, dem erschrickt über die Maßen Das Herz, wenn er heraufzieht. . ." 33 In den Reihen der Griechen ermutigt Pallas Athene, selber mit Schild und Lanze kämpfend, die Streiter; mit den gepanzerten Scharen Hektors schreitet der Kriegsgott Ares feueratmend und eisenrasselnd daher. Und Apollo, dessen goldziegelgedeckter Tempel auf Trojas höchster Erhebung leuchtet, ruft von der Stadtmauer: „Räumet dem Feind das Feld nicht! Ihr Leib ist weder Stein noch Eisen, und ihr bester Held Achill grollt bei den Schiffen!" 34 Wieder gibt die Parteinahme eines Olympiers dem hin und her wogenden Kampf eine Wendung. Apoll schlägt dem tapferen Patroklos, dem Freunde Achills, mit der flachen Hand in den Kacken, daß er taumelt und in den Sand stürzt. So wird er, halbbetäubt, eine leichte Beute für Hektor. Auf die Kunde vom Tode des Freundes vergißt Achill seinen Schwur und greift racheschnaubend zum Schwert. Sprühend im blauen Glänze seiner Rüstung, vom roten Roßschweif umflattert, rast er gegen Trojas Mauern und fegt die skamandrischen Felder frei. „So floh'n jene zur Stadt, angstvoll wie die Jungen der Hindin, Kühleten atmend den Schweiß und tranken, den Durst sich zu löschen, Längs der Mauer gestreckt an der Brustwehr.. ." 35 Troja wallt wie ein überschäumender Kessel von Klagen und Jammern. Ein einziger könnte das Unheil noch wenden, Hektor, der Heldensohn des Königs Priamos. Der greise König warnt ihn: „Hektor, erwarte mir nicht, mein trautester Sohn, den Verderber Getrennt von den andern und einsam; sonst wird dich ereilen das Schicksal Unter Achilleus Hand, der weit dir an Stärke voraus i s t . . ," 36 53
Doch der Heldensinn Hektors verträgt es nicht, untätig hinter den Mauern zu bleiben, während die Feinde im Sturme anrennen. Er nimmt Abschied von der Gattin Andromache, vom Vater und den Geschwistern, die Mutter Hekabe segnet ihn ein letztes Mal, dann stellt er sich dem vorbestimmten Los und geht Achill entgegen. Halb Troja steht auf den Mauern und sieht angstvoll dem furchtbaren Zweikampf zu. Endlich flieht Hektor, von Achill verfolgt, viermal um die Mauern der Stadt, bis ihn ein sicherer Speerwurf niederwirft. Laut schreit das Entsetzen des Königs Priamos: „Hektor! Hektor! Alle anderen Söhne, die mir der Feind erschlug, Vergesse ich über dir! 0 wärest du doch in meinen Armen gestorben!" 37 Achill aber schleift triumphierend die Leiche des Erschlagenen hinter den Rossen her zum Strande. Patroklos ist gerächt. * Im Lager Achills erscheint König Priamos mit zerrissenem Gewand, das Haupt in Trauer gehüllt, und bittet um die Auslieferung des Toten. Die bewegte Klage des Greises rührt den Helden, und er übergibt Hektors Leichnam den Trojanern, damit er — wie Patroklos — feierlich bestattet werde. „Jetzo trugen sie weinend hinaus den mutigen Hektor, Legten ihn hoch auf der Scheite Gerüst, und entflammten das Feuer. Als aufdämmernd der Morgen mit Rosenfingern emporstieg, Trat das versammelte Volk um den Brand des gepriesenen Hektors. Diese löschten den glimmenden Schutt mit rötlichem Weine, Überall, wo die Glut hinwütete; drauf in der Asche Lasen das weiße Gebein die Brüder zugleich und Genossen Wehmutsvoll ihr Antlitz mit häufigen Tränen benetzend. 54
Schließlich legten sie das Gebein in ein goldenes Kästchen. Und umhüllten es wohl mit purpurnem, weichem Gewände; Senkten sodann es hinab in die hohle Gruft; und darüber Häuften sie dichtgeordnet gewaltige Steine des Feldes . . ," 38 * Auch für Achill naht die Schicksalsstunde. Ihn, den keines Sterblichen Waffe überwinden konnte, streckt ein Pfeil Apollos nieder. „Wer hat mir aus tückischer Ferne den Pfeil gesandt!" ruft er, „ 0 , daß er mir im offenen Kampfe entgegenträte L." 3 9 Das dröhnt wie eine Herausforderung an die Götter, sich in der Kampfbahn mit irdischen Waffen zu messen; der Trotz der Urzeit, der sich auch den Unsichtbaren nicht willenlos beugt, grollt noch einmal zum Himmel. Das Jenseits ist ein Nichts, ein schattenhaftes, blutloses Schweben zwischen Sein und Nichtsein. Den Helden gilt nur der sonnige Tag des Diesseits, ihm allein sind sie zugetan, und selbst der Mutigste unter ihnen, Achill, wird angesichts des Abgrundes von Schauern erfaßt. Als Odysseus in die Unterwelt hinabsteigt und Achills Schatten beschwört, will er ihn trösten, aber der Tote antwortet klagend: „Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus! Lieber möcht' ich fürwahr dem unbegüterten Landmann, Der nur kümmerlich lebt, als Taglöhner das Feld baun, Als die ganze Schar vermoderter Toter beherrschen . . ." 4 0 * Im zehnten Jahre des Krieges, als beide Parteien des Ringens müde geworden sind, ersinnt Odysseus eine entscheidende List. Die Achäer ziehen zum Scheine ab und hinterlassen am Strande ein riesiges Holzpferd, in dessen Bauch die tapfersten Helden verborgen sind. Trotz der 55
Warnungen ihres Priesters Laokoon reißen die Trojaner ein Stadttor ein, um die vermeintliche Weihegabe der abgezogenen Feinde auf die Burg zu bringen. Damit bereitet sich die stolze Stadt selbst den Untergang. Die Achäer kehren in finsterer Nacht zurück und vereinen sich kämpfend mit den aus dem Bauche des Trojanischen Pferdes gestiegenen Helden. Die Königsburg Ilion sinkt in rasenden Bränden dahin, die Tempel werden geplündert, und Mord und Gewalt toben durch die Straßen Trojas. „Der Männer Schrei, der Weiber jammernd Ach, die ganze Wölbung hallt das Klagegeheule nach, das in den Wolken widerklingt. Man sieht der Mütter Heer die weite Burg durchschweifen zum letzten Lebewohl die Säulen noch umgreifen Und küssen den empfindungslosen Stein . . . " Nur wenige entrinnen der Vernichtung, indem sie aus rauchenden Ruinenhalden zum rettenden Meere streben. Der Anführer der Flüchtlinge ist Aeneas, berufen zu langem, ruhmvollem Leben. „Ein Flüchtling wirst du lang den Wogen dich vertrauen, Bis dein geduld'ger Mut Hesperien erringt, Durch dessen segenvolle Auen Der lyd'sche Tiberstrom die stillen Fluten schlingt.. ." 4 1 * Die siegreichen Achäer haben sich zu Herren des asiatischen Ufers gemacht, das Ägäische Meer ist griechischer Raum. Sie bewahren diese Großtat gemeinsamer, kriegerischer Anstrengung als heilige Tradition, aus der sie noch in späten Tagen Ansprüche auf die kleinasiatischen Küsten ableiten. Doch selbst der Triumph bleibt vom Bewußtsein der tiefen Tragik überschattet, über Ruhm und menschliche Glorie ragt das Schweigen der Ungewißheit. Nichts hat Bestand von dem, was in der Welt für groß gilt. Davon spricht die alte Sage, wenn sie die Schicksale der heimkehrenden Sieger erzählt. 56
Ägäisches Meer Erklärung lateinischer Namen: Mare Ionium = Ionisches Meer, Mare Aegaeum = Ägäisches Meer (Ägäis), Cyclades = Kykladische Inseln, Thracia = Thrakien, Macedonia = Makedonien usw.
Der starke Ajax, „der Turm der Schlacht", endet noch vor Troja durch eigene Hand. Andere Achäer scheitern an der Küste Euböas, weil dort ein Vater im Verlangen nach Rache für den ermordeten Sohn die Schiffe durch falsche Feuerzeichen in die Klippen der Brandung lockt. Diomedes und Agamemnon finden ihre Gattinnen in den Armen anderer Männer, der eine muß nach Italien fliehen, der andere wird von der Gemahlin und ihrem Liebhaber ermordet. 57
Die bewegtesten Schicksale erwarten den Mann, dessen Klugheit den Krieg gewann, Odysseus. Er ist der „göttliche Dulder", der von übermächtigen Gewalten getriebene und verfolgte Mensch, der alles Leid der Welt durch Ausdauer und List überwindet. Vom stolzen Heerfürsten wird er zum elenden Schiffbrüchigen, grausame Zufälle, Stürme und Meerungeheuer begleiten seinen Weg. Seine Mannschaft verfällt an fremdem Strande beinahe dem einäugigen Kiesen Polyphem. Zwischen den Strudeln der Scylla und Charybdis 42 , an den verführerisch singenden Sirenen vorbei, zieht das einsame Schiff durch das Meer. Poseidon und Äolos, die Gewaltigen über Wellen und Wind, sind dem Heimkehrer feindlich gesinnt. Ohnmächtig gegenüber dem Schicksal, sieht Odysseus seine Gefährten einen nach dem andern die Straße in das Dunkel gehen, bis er endlich allein und verlassen an den Strand der Phäaken geworfen wird. Dieses Land ist eine Küste der Sehnsucht, ein Eiland, das kindlicher Traum mitten in die dämonische, von finsteren Gewalten regierte Welt gestellt hat. Odysseus ist arm, aber sein Menschentrotz, der sich immer neu gegen die Übermacht der Götter auflehnt, ist ungebrochen. Als Kind naiver Urtage bekennt sich der Held ganz natürlich zu seinem Hunger, „dem unverschämtesten, was es g i b t . . ." 4 3 Er bittet, man möge ihn beschenken, weil es für ihn vorteilhafter sei, schatzbeladen heimzukehren. Auch seine Sehnsucht nach Hause entspringt weniger der Sorge um die Gemahlin Penelope und den Sohn Telemach, als dem Verlangen nach „seiner Habe, den Knechten und dem hochgewölbten Hause". Ebenso natürlich und anmutig in ihrer Harmonie zwischen Gefühl, Gedanke und Tat ist Nausikaa, die Tochter des Phäakenkönigs. Sie gibt dem Fremdling zu verstehen, daß sie sich einen Mann wie ihn immer schon zum Gemahl gewünscht habe. Und ihr Vater Alkinoos stimmt ohne Umschweife zu: . . . „einem wie du bist, gleichgesinnt mit mir: Ihm gäbe ich Haus und Habe!"
* Nach zwanzigjährigem Abenteurerleben kehrt Odysseus nach Ithaka heim. Dort wartet noch immer die getreue Penelope, umschwärmt von einer Schar von Freiern, die
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mit ihrer Hand die Herrschaft über die schöne Insel zu gewinnen hoffen. Als Bettler verkleidet, betritt Odysseus sein Haus, nur der alte Hofhund erkennt ihn. Ein letztes Mal bewährt sich List gegen Überzahl. Immer noch im armsehgen Gewände, ergreift Odysseus den gewaltigen Bogen des Hausherrn, den keiner sonst zu spannen vermag. Sein Sohn Telemach und der Erzieher Mentor, in dessen Gestalt sich die Göttin Pallas Athene verbirgt, treten schirmend neben ihn. Dann schwirren die tödlichen Pfeile gegen die Freier. Den Krieg, der sich aus dieser Bluttat auf Ithaka entzünden will, schlichten die endlich versöhnten Götter: „Und zu Odysseus sprach die heilige Göttin Pallas Athene: Halte nun ein und ruhe vom allverderbenden Kriege; Daß dir Kronion nicht zürne, der Gott der weithinschallenden Donner. .. Also sprach sie, und freudig gehorcht' Odysseus der Göttin, Zwischen ihm und dem Volke erneuerte jetzo das Bündnis Pallas Athene, die Tochter des wetterleuchtenden Gottes, Mentorn gleich in allem, sowohl an Gestalt wie an Stimme 44 .
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ANMERKUNGEN ') Hockergrab, Bestattungsart vor allem der Bronzezeit; der Tote sitzt oder liegt mit angezogenen Beinen, vielleicht zum Zeichen dafür, daß der Tod als ewiger Schlaf angesehen wird; — 2) der Spruch wurde bei altlitauischen und altathenischen Totenfesten gebraucht; — 3) Südmeer = Mittel6 e m e e r ; —') Kupferküste = Spanien; — ) Zinninsel = England; — ) Bernsteinland = Jütland; — ' ) Der große Strom ist die Donau; — s ) Südvölker = Völker rings um das Mittelmeer; — ') Beginn des Metallgeld Verkehrs; — 10 ) Ornament, Zierat, schmückendes Beiwerk; aus der Art des Ornaments an einem Gerät oder Bauwerk läßt sich oft dessen Stil und dadurch die Zeit der Entstehung erkennen; Bandornament ist eines der wichtigsten Kennzeichen der Keramik in Südosteuropa von etwa 2600—2000 v. Chr.; — u ) Hesiod, griech. Dichter einer erdverbundenen Religion, um 700 v. Chr.; schrieb die „Theogonie", d. h. Das Werden der Götter; —12) Nymphen — anmutige Halbgöttinnen der Haine (auch Dryaden genannt) und Quellen (Najaden); Satyrn, Waldgeister mit Bocksfüßen und Bockshörnern; — 18) so läßt der griech. Dichter Aischylos (525—456 v. Chr.) seinen Helden Prometheus in dem Drama „Der gefesselte Prometheus" sprechen; — 1 4 ) Sizilien; — 1B) so beschreibt um 800 v. Chr. der Dichter Homer dieses Kleinod in dem Heldenlied „Diellias"; — 1 6 ) der Dichter Aischylos in „DergefesseltePrometheus"; •—17) Achaier, Achäer; bei Homer werden die Griechen entweder als „ Achaier'' oder „Danaer" bezeichnet. Der Name der Achäer ist vermutlich der Name des ältesten in Griechenland eingewanderten indogermanischen Stammes. Aus Nordgriechenland wanderten die Achäer vermutlich auf den Peloponnes (Mykenä, Argos, Sparta), von dort wurden sie um 1200 v. Chr. von den Dorern vertrieben. Abwanderung in den Nord-Peloponnes (Landschaft Achaia), nach Kleinasien; Koloniegründungen in Unteritalien; — l s ) Kapitell, der verzierte obere Abschluß einer Säule zwischen Säulenschaft und Gebälk; — l ö ) seit 1899 Ausgrabungen im Ruinenfeld von Knossos durch den Engländer Evans; — 20) Mäander, rechtwinkelig gebrochenes Ornamentband, das seinen Namen von dem in vielen engen Windungen dahinfließenden kleinasiatischen Fluß Maiandros erhielt; — 2 1 ) Hethiter, indogerm. Kulturvolk, das im 2. Jahrtausend v. Chr. in Kleinasien ein Großreieh gründete; — **) so berichten hethitische Tontafeltexte; — 23) Karneol, Halbedelstein; — 24 ) Klage des Jason im Drama „Medea" des griech. Dichters Euripides; — *6) Tauris, die Krim; — 2e) die dem Trojanischen Krieg zugrunde liegenden Ereignisse werden in die Zeit um 1190 v. Chr. verlegt; — 27) Homer „Ilias"; — M ) Homer „Odyssee"; — M ) Homer „Ilias"; — 30) Aischylos in seinem Drama „Die Perser"; —*1/M) Homer „Ilias"; —3S) der griech. Dichter Pindar (522 bis um 445 v. Chr.) in den „Fragmenten"; — s1 / 39 ) Homer „Ilias"; — «) Homer „Odyssee"; — «) Vergil, röm. Dichter (70—19 v. Chr.), in seinem Epos „Aeneis", übersetzt von Friedr. v. Schiller; — 42 ) Meerenge von Messina zwischen Sizilien und Süditalien; — " / " ) Homer „Odyssee".
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D I E G R I E C H I S C H E GÖTTERWELT In der Glaubenswelt der Altgriechen haben sich religiöse Vorstellungen der eigenen indogermanischen Vergangenheit wie der Urbevölkerung verschmolzen, mit der die Einwanderer aus dem Norden zusammengetroffen sind. In der mykenischen Zeit verehrt man Wald-, Gesteins- und Gewässergötter und treibt Toten- und Ahnenkult. Ungeklärt ist, wann die Verehrung der olympischen Götter begonnen hat, vielleicht ist sie aus dem Kult der großen Helden der Frühzeit hervorgegangen. Denn die „Olympischen" sind ins Übermaß gesteigerte Menschen mit menschlichen Gedanken und Leidenschaften; ihnen ist es gegeben, in uneingeschränktem Glück unsterblich zu sein. Nur das Schicksal begrenzt ihre Macht. Die Ordnung des Götterhimmels ist in den Dichtungen Homers und Hesiods niedergelegt. Im Anfang war das Ungeordnete, das Chaos, dem Uranos und Gäa (Himmel und Erde) ein Ende setzen. Sie sind die Eltern der 12 Titanen. Von ihnen stammen die zwölf oberirdischen Götter ab: Zeus und seine Gattin Hera, Poseidon, Apollo, Ares, Hephaistos, Hermes, Artemis, Aphrodite, Athene, Demeter und Dionysos. Den oberirdischen Göttern stehen die unterirdischen Götter gegenüber: Pluto und Persephone. Von den Göttern stammen die Heroen ab, hervorragende Menschen, die als Halbgötter in den Kreis der Unsterblichen aufgenommen sind. Mit ihnen im Bunde stehen die zahlreichen Stadt- und Dorfgötter, die in alljährlichen Festen gefeiert werden. Im Volk bleibt bis in die Spätzeit auch der Glaube an Naturgottheiten und Schicksalsmächte lebendig; das Volk wendet sich auch am frühesten fremden Göttern zu, sofern sie ihm mächtiger erscheinen als die einheimischen. Man verehrt die Götter seit der homerischen Zeit in Tempeln und heiligen Bezirken mit Speise- und Tieropfern, Reinigungs- und Sühnetaten, Weihegeschenken, Prozessionen, Festspielen und Wettkämpfen. Nur an den heiligen Stätten gibt es Berufspriester, in den Städten übernehmen Angehörige alter Geschlechter oder höchste Beamte die Aufgaben, die mit dem Kult der Götter verbunden sind. Die Toten nehmen Aufenthalt in der Unterwelt des Hades, wo sie ein Schattendasein führen, den Götterlieblingen und Gerechten aber ist das Elysium beschieden, das Land der Seligen. 61
ZEITTAFEL K u l t u r der J u n g s t e i n z e i t Gegen Ende des 3. Jahrtausends, als in Vorderasien und Ägypten erste Hochkulturen mit städtischen Siedlungen und festgefügten Staaten ausgebildet sind, leben in Mitteleuropa nördlich der Alpen in den von den Wäldern freien Landstrichen, an Flußufern und Seen Menschen, die aus Jägern und Sammlern zu seßhaften Bauern geworden sind. Ihre verfeinerten Steingeräte ermöglichen ihnen die Anfertigung besserer Hausgeräte, sie formen Tongerät, sie umhüllen sich mit gewebter Kleidung und bauen auf ihren Äckern und in ihren Gärten mannigfache Feldfrüchte. Kunstfertige Handwerker verarbeiten Kupfer und Gold, das aus dem Orient durch das Rhonetal, über die Alpen oder vom Schwarzen Meer her durch Händler ins Land gebracht wurde. Man glaubt an Geister und Zauberei. Das Eindringen der Indogermanen Gegen Ende der Jungsteinzeit überfluten Steppenvölker aus dem Osten das Bauernland Mitteleuropas. Vor die Zweiräderwagen haben diese indogermanischen Kriegerstämme das gezähmte Pferd gespannt. Vom Kaspischen Meer bis hinter den Ehein, im Norden bis in die Landstriche Südskandinaviens breiten sich die Eroberer aus, unterwerfen sich die Ureinwohner und machen sie sich dienstbar. Als Herrenschicht herrschen sie über die Unterworfenen. Sie werden in den vorgefundenen Siedlungen seßhaft, umwehren ihre Dörfer und Gehöfte und entwickeln aus der Vermischung mit den einheimischen die eigenen landschaftlich gegliederten Kulturen der indogermanischen Teilvölker: der Ur-Germanen, Ur-Kelten, Ur-Hellenen, Ur-Italiker. 62
1800—1200 Mit dem erneuten Wanderauf brucli und v. Chr. dem Eintritt dieser Völker in die „Alte Welt" der Südländer beginnt ein neuer Abschnitt der Geschichte. Stämme der großen Wanderung finden in Nordindien, im Iranischen Bergland und auf den Halbinseln des Mittelmeeres, in Spanien, Italien und Griechenland eine neue Heimat. Der Grenzraum zwischen Westen und Osten, das lichtüberflutete Griechenland, wird zur Geburtsstätte Europas. Hier entwickelt sich die erste hohe, zu klassischer Blüte emporwachsende Kultur auf europäischem Boden. Sie ist eine der lebenskräftigsten Wurzeln des abendländischen Geistes und Kulturlebens bis heute. Die einwandernden indogermanischen UrGriechen lernen in der Berührung mit den alten Mittelmeervölkern viele Errungenschaften der dortigen Hochkulturen kennen: die Metalle, die Steinbaukunst, die städtische Siedlungsform u. a. Bedeutenden Einfluß auf die Frühgriechen hat die minoische, nach dem sagenhaften König Minos benannte, Kultur von Kreta (3000—1400 v. Chr.), die in den Palästen von Knossos und Phaistos Glanzpunkte der Baukunst geschaffen hat. Das Eintreten in diesen Kulturkreis führt zur ersten eigenen Kulturschöpfung auf griechischem Boden, der mykenischen Kultur (Mitte des 16. bis zur Mitte des 12. Jhr. v. Chr.) mit ihrer monumentalen Baukunst in den gewaltigen Burgbauten von Mykene, Tiryns und Orchomenos. Schachtgräber der Könige, kühn gewölbte Kuppelgräber (unter ihnen das sogenannte Schatzhaus des Königs Atreus) und das berühmte Löwentor von Mykene sind Zeugen dieser Zeit. 1400v.Chr.
Eaubzüge mykenischer Eroberer nach Kreta vernichten die kretische Kultur (um 1400 v. Chr.), Abenteuerfahrten zur See führen zu ersten Koloniegründungen, Zypern wird griechische Siedlung, Handelswege nach
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Syrien, Ägypten und Unteritalien werden erschlossen. Die Erinnerung an die Wanderungen, Kriegsfahrten und Kulturleistungen dieser Frühzeit lebt in den Epen Homers, „Ilias" und „Odyssee", fort. Die Heldenkönige kämpfen als Streitwagenkämpfer oder auch zu Fuß mit ebenbürtigen Gegnern. Das Fußvolk, die „Laioi" (daher das Fremdwort „Laie") bildet die begleitende Masse, die zugleich den König durch Abgaben und Ehrengeschenke unterhält. Einen gemeinsamen Heerkönig gibt es nur bei größeren Kriegen. Ob und wo Homer gelebt hat, ist noch immer umstritten. Die Dichtung, die mit seinem Namen verbunden ist, geht gewiß auf eine weit zurückreichende Überlieferung zurück. Vielleicht ist es eine Huldigung an den schöpferischen Menschengeist gewesen, einem einzigen, Homer, den Dichterlorbeer für die großen altgriechischen Epen zuzuerkennen.
Alle Rechte vorbehalten. Binbandgestaltung: Karlheinz Dobsky Kartenzeichnungen: Anton Eckert; Illustrationen: H. G. Strick Druck.: Dr. F. P. Datterer & Cie. - Inhaber Sellier - Freising/Obb.
Der Leser, der die in diesem Heft geschilderten Ereignisse im großen Rahmen weiterverfolgen will, wird auf die spannend geschriebene Weltgeschichte
BILD DER JAHRHUNDERTE von OTTO Z I E R E R verwiesen. In neuartiger, eindrucksvoll erzählender Darstellung behandelt Otto Zierer im „Bild der Jahrhunderte", dem der Text zu dem vorliegenden Heft im wesentlichen entnommen ist, die Geschichte des Abendlandes und der Welt von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.
Gesamtauflage über 2 Millionen Bände Der Umfang des Geschichtswerkes beträgt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunstdrucktafeln und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enthalt im Anhang Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen, Zeittafeln, Quellen- und Literaturnachweise. Das zum Gesamtwerk gehörende „Historische Lexikon" bietet in 12000 Stichwörtern und 500 Bildern einen Querschnitt durch die Universalgeschichte. Der Registerband mit Sach- und Namensverzeichnis und einer Inhaltsübersicht über das Gesamtwerk und Lux-Historischen Bildatlas mit 131 sechsfarbigen Karten 18,5 x 25,5 cm sowie 72 Seiten historische Bilder und Texte ergänzen das „Bild der Jahrhunderte". Preis des Werkes Rotleinenausgabe DM 198,— I Lux-Luxusausgabe DM 250,— Registerband DM 7,50 | Begisterband DM 10,50 Lux-Historischer Bildatlas, Lux-Luxusausgabe DM 19,80 Über die günstigen Zahlungsbedingungen unterrichten wir Sie gern. Presseurteile zu Otto Zierer: BILD DER JAHRHUNDERTE „Wenn Napoleons Formulierung, Genie sei die Verbindung von Phantasie und Fleiß, zutrifft, so liegt diesem Werk gewiß Genie zugrunde. Die Wucht, mit der dem wissenden Leser längst Versunkenes wieder emporgeholt, dem weniger wissenden Neues vorgetragen wird, bleibt aller Bewunderung wert." Die Neue Zeitung „Mit einer unwahrscheinlichen Anpassung in Sprache und Szenerie trifft der Autor die Atmosphäre, die aus dem Wissen um die geschichtlichen Ereignisse ein so lebendiges Erleben schafft, daß der Leser sich als Teilnehmer an den abrollenden Ereignissen wähnt. Mehr mag ein Geschichtswerk nicht zu geben. Die Absicht des Autors ist in diesem Werk voll erfüllt." EUR OPA-Ünion Prospekte durch jede Buchhandlung und durch den Verlag V E R L A G S E B A S T I A N L U X - M U R N A U VOR MÜNCHEN